Nr. 408
Der Meisterträumer Die Revolte der Versklavten beginnt von Peter Terrid
Als Atlantis-Pthor, der durch die Dim...
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Nr. 408
Der Meisterträumer Die Revolte der Versklavten beginnt von Peter Terrid
Als Atlantis-Pthor, der durch die Dimensionen fliegende Kontinent, die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht – also den Ausgangsort all der Schrecken, die der Dimensionsfahrstuhl in unbekanntem Auftrag über viele Sternenvölker gebracht hat –, ergreift Atlan, der neue Herrscher von Atlantis, die Flucht nach vorn. Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zukommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, und einer Gruppe von ausgesuchten Dellos die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an. Nach gefährlichen Abenteuern auf Enderleins Tiegel, dem Schrottplaneten, auf Xudon, dem Marktplaneten, und bei den Insektoiden von Gooderspall wirkt sich die Begegnung mit dem Spezialkurier beinahe tödlich für den Arkoniden und seine Gefährten aus. Jedenfalls werden Atlan und die Mitglieder seiner Gruppe zu Gejagten – und das planetarische Ziel, das Sicherheit vor den Verfolgern verspricht, erweist sich als teuflisch schlaue Falle der Scuddamoren. Atlan und Thalia geraten in die Gewalt der Kämpfer der Schwarzen Galaxis. Sie werden einem Mann übergeben, der sie zu Verhörzwecken in eine Scheinwelt versetzt, die er nach Belieben manipulieren kann. Dieser Mann ist DER MEISTERTRÄUMER …
Der Meisterträumer
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Thalia - Der Arkonide und seine Gefährtin befreien sich aus der Traumwelt. Päär und Banjar - Sklaven des Meisterträumers. Länerth und Keschmal Schado - Der Meisterträumer und eine Figur seines Szenariums. Yärling - Kommandant des Mittleren Forts von Breisterkäh-lFehr.
1. Atlan war ich, Kristallprinz des Großen Imperiums, Erbe und Nachfolger Gonozals VII. Aber was besagte das schon? Ich wußte, daß die Information stimmte. Ich hieß Atlan, ich war Prinz – und was ein Prinz war, wußte ich auch. Aber schon mit dem Ausdruck Kristallprinz vermochte ich nichts mehr anzufangen. Und was war unter einem Imperium zu verstehen, einem Großen Imperium noch dazu? Was war das für ein Erbe, das ich angetreten hatte oder noch antreten mußte? Und wer war Gonozal VII.? Ich sah in das Gesicht des Mannes, der sich Keschmal Schado nannte, Superintendent von Äleas. Die fettglänzenden Lippen des Mannes waren zu einem bösartigen Lächeln verzogen, das eine stark gelichtete Reihe schwärzlicher Zähne erkennen ließ. »Erfreut, Erhabener«, hatte der Mann gerade gesagt. »Ich bin beglückt, Eure Bekanntschaft zu machen.« Beglückt, sagte jemand, der in mir zu wohnen schien. Er hat beglückt gesagt. Und wenn schon. Und wie war ich dazu gekommen, mir einen solchen Titel zuzulegen – wenn die Bezeichnung Kristallprinz überhaupt ein Titel war. War ich von Sinnen? Neben mir stand eine junge, schöne Frau. Sie hieß Thalia, und ich kannte sie. Dabei hatte ich sie vor einigen Tagen zum erstenmal gesehen. Und doch war mir diese Frau vertraut. Ich fühlte, daß ich sie kannte, sehr gut sogar. Aber ich hatte nichts, womit ich dieses Gefühl hätte begründen können. Die Konsequenzen aus diesem Sachverhalt waren grauenvoll. Ich war vernünftig genug, mir klarmachen zu können, daß ich den Ver-
stand verloren hatte. Mit klarem Kopf diagnostizierte ich, daß ich nicht klar im Kopf war. Die Vernunft sagte mir, daß ich mich unvernünftig betrug. Die Logik bewies mir, daß ich irre war. »Setzt Euch, Kristallprinz«, sagte Keschmal Schado. Er deutete auf einen Platz zu seinen Füßen. War das eine Auszeichnung oder eine Demütigung? Mit bleichen Gesichtszügen saß Thalia auf einem Thronsessel zur Linken des Superintendenten. Sie war, ich hatte es aus ihrem Mund erfahren, die Urenkelin des Dirigenten Habos Matera – gleichzeitig wußte ich, daß diese Information falsch war. Thalia war eine Odinstochter, das stand fest. In mir wüteten Schmerzen, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Es war keine körperliche Qual, die man überstehen konnte, wenn man sich zusammennahm und die Zähne aufeinanderpreßte. Dieser Schmerz ließ sich auch nicht mit Medikamenten besänftigen. Es war das schreckliche Gefühl, der eigenen Person nicht mehr sicher sein zu können. Ich dachte. Ich existierte, war vorhanden – aber ich wußte nicht, wer da dachte. Ich wußte, daß da jemand war, und dieser Jemand war ich – aber wer war ich? Und weiter: wo war ich, wann, warum? Fragen, die an die Existenz gingen, auf die ich nicht einmal eine konventionelle Lüge als Antwort vorweisen konnte. Ich wußte nichts, mußte aber handeln, auf Reize und Personen reagieren. Ich kam mir vor, als sei ich in ein surrealistisches Theaterstück geraten, ohne zu wissen, was gespielt wird und welche Rolle mir zugefallen war. Ich machte die zwei Schritte und setzte mich. Was hätte ich anderes tun sollen? Ich hätte nicht einmal einen Grund angeben können, mich dieser freundlichverschlage-
4 nen Einladung zu widersetzen. Daß der Fettwanst auf dem Thron mein Feind war, erschien mir absolut klar und einleuchtend. Einzig die Frau, Thalia … Ich liebte sie. Aber: Wer war ich? Wer war sie? »Ein schönes Land, aus dem Ihr stammt?« Der Herrscher von Äleas sprach freundlich, man konnte es nicht anders nennen. Hatte ich Grund, ihm zu mißtrauen – nur weil er häßlich war, abgrundtief häßlich. »Schön«, antwortete ich automatisch. »Wunderschön.« Ich schloß die Augen. Mir fiel etwas ein. Endlich kamen die Informationen, tief aus meinem Innern … »Arkon«, sagte ich leise. »Das große, mächtige Arkon, dessen Macht und Herrlichkeit ewig währt. Nichts kommt ihm gleich.« »Gebietet Ihr über viele Krieger?« Ein Bild tauchte vor meinen Augen auf, schemenhaft, verschwommen. Ein strahlendes Etwas in der Mitte, in weitem Abstand tanzten goldene Bälle um dieses Etwas, drei Bälle, zählte ich. Das Bild verschwand, es wurde beiseite gerückt. Wenig später tauchte eine neue Erinnerung auf, diesmal nicht verschwommen. Klar und deutlich sah ich sie, die ragende Burg auf dem steilen Felsen, Symbol der Wehrhaftigkeit. In der Ebene sammelten sich die Heerscharen, über die ich gebot – Tausende, Reiter und Fußsoldaten, jeder gewappnet bis an die Zähne. »Es sind viele«, antwortete ich, ohne die Augen zu öffnen. »Und sie sind die Blüte der Tapferkeit.« »Das Reich, über das ihr gebietet, wie heißt es?« »Arkon«, sagte ich sofort. »Ich bin Erbe des Großen Imperiums der Arkoniden.« »Seltsam«, sagte Keschmal Schado. »Ich habe noch nie von diesem Imperium gehört.« Es war seltsam still geworden in der großen Festhalle, die einigen tausend Gästen
Peter Terrid Platz bot. Ich öffnete die Augen. Das gesamte Publikum starrte nach vorn, auf Keschmal Schado und seine Braut. Thalia war ausersehen, die achtunddreißigste Frau des Superintendenten zu werden, ein keineswegs beneidenswertes Schicksal. »Es liegt weit entfernt von hier«, sagte ich lächelnd. »Sehr weit entfernt, Herr.« Ein Bediensteter reichte mir einen gefüllten Pokal. Der Wein war dunkel und duftete würzig. Ich tat dem Herrscher von Äleas Bescheid. Thalia an seiner Seite wirkte wie versteinert, fast geistesabwesend. Der Wein war stark, ich mußte mich in acht nehmen. Schon lagen die ersten Gäste des Festes unter den Tischen. Oben, auf der Plattform des Wärterbunkers, stand der Zug, der Keschmal Schado nach Henner-Theel gebracht hatte. Ich war mir sicher, daß er praktisch nur Soldaten enthielt. Eine Gruppe davon hatte sich an den Wänden und den Türen der Festhalle aufgebaut. Die Leute waren bewaffnet, und sie nahmen an dem Gelage nicht teil – den Rest konnte sich jedermann denken. Die Menschen in diesem Saal waren nicht Gäste, sie waren Gefangene von Keschmal Schado. Gefangen war auch ich, darüber machte ich mir keine Illusionen. Ich fragte mich, wie lange dieser Zustand andauern sollte. Was konnte ich tun? Ich konnte versuchen zu fliehen. Das sagte sich einfach, war aber schwierig durchzuführen. Ich befand mich, während ich an meinem Wein nippte, im Innern des Wärterbunkers Henner-Theel. Das war einer von insgesamt mindestens siebzehn Bunkern, auf denen die sogenannte Kontinentalbrücke ruhte. Sie überspannte den Ozean Puer und führte von Schbura – dorther kam Thalia – nach Äleas, dessen Herrscher mir in diesem Augenblick buchstäblich im Nacken saß. Zwischen Henner-Theel und Äleas lagen noch sechs Bunker, jeder davon war vom anderen jeweils einhundert Kilometer weit entfernt. Dieser Tatbestand erfüllte mich mit etwas Ruhe.
Der Meisterträumer Auf der Brücke regierte keiner der beiden mir bekannten Herrscher, weder Habos Matera noch Keschmal Schado. Die Brückenleute waren autark, sie regierten sich selbst – so hieß es jedenfalls. Wenn ich meine Flucht unter diesem Gesichtspunkt betrachtete, waren meine Aussichten gar nicht einmal schlecht. Ich konnte mich davonschleichen, sobald ich wieder an die Oberfläche kam. Dann allerdings stand ich vor dem Problem, mich bis zum nächsten Wärterbunker durchzuschlagen, ohne Hilfsmittel – und vor allem, ohne Plan und Ziel. Was hätte ich im nächsten Bunker anfangen sollen? Ich wußte ja nicht einmal, wie ich überhaupt auf diese Brücke gekommen war. Banjar und Päär, zwei junge Männer aus Henner-Theel, hatten mich in einem verunglückten Zug bewußtlos gefunden – und erst vom Zeitpunkt meines Erwachens an konnte ich mich erinnern. Alles, was sich vorher abgespielt hatte, war mir unbekannt. Im Hintergrund des Saales begannen die Musiker wieder zu spielen. Was sie produzierten, war ein infernalischer Lärm, aber den Bewohnern von Henner-Theel schien es zu gefallen. Das war ein Hinweis mehr, daß ich nicht zu diesem Volk gehörte. Ich war kein Brückenmann, ich war Arkonide – was immer sich hinter diesem Namen auch verbergen mochte. Aber was war mit mir geschehen, wie war ich auf diese seltsame Welt mit ihren noch befremdlicheren Bewohnern gekommen? Ein Gedanke durchzuckte mich. Was hatte ich mich da eben gefragt? Wie ich auf diese Welt gekommen war? Gab es denn auch andere Welten? Mein Zustand war entsetzlich. Jeder andere Schmerz hätte sich bekämpfen lassen, aber diese Quälerei schien unwiderstehlich. Sie nahm kein Ende, schien sich in alle Ewigkeit fortsetzen zu wollen. Wenn ich nur einen Anhaltspunkt gehabt hätte, einen einzigen brauchbaren Hinweis, von dem aus man logisch hätte weiterarbeiten können. Nichts dergleichen stand mir zur
5 Verfügung. »Erhabener«, sagte Keschmal Schado freundlich. »Werdet Ihr unsere Reise begleiten? Ich möchte Euch bei den Hochzeitsfeierlichkeiten unter den Gästen wissen. Und …« Er beugte sich vertraulich vor und flüsterte mir ins Ohr. »Unter uns gesagt«, raunte er. »Vielleicht könnten wir ein Abkommen schließen. Ich hätte für militärische Hilfe durchaus Verwendung, und wahrhaftig, ich bin kein Knicker.« War ich betrunken, oder warum kam mir dies alles so entsetzlich unwirklich, ja alptraumhaft vor? Dieser feiste Tyrann bot mir ein Bündnis an, mir, der ich nicht einmal genau wußte, wer ich war. Keschmal Schado schien da keine Schwierigkeiten zu haben. Er glaubte mir einfach. Unvorstellbar, aber witzig. »Du kannst eine von meinen Töchtern haben«, murmelte Schado. Er hatte einen Mundgeruch, daß einen das Grausen ankam, und er blies mir diesen Atem mitten ins Gesicht. »Ich habe eine ganze Menge Töchter, eine hübscher als die andere. Hehehe, mein Blut.« Die Vorstellung, meine Nächte mit einer Frauensperson verbringen zu müssen, die Keschmal Schado ähnlich sah, erregte Entsetzen. Ich machte dennoch ein möglichst freundliches Gesicht. Ich warf einen Blick auf Thalia. Was hatte ich mit der Frau zu tun? Sie war im Saal weitaus die schönste Frau, und das nicht nur nach meinem Maßstab. Aber das allein konnte mich nicht mit ihr verbinden. Da war mehr im Spiel. Merkwürdig genug – wir kannten uns. Die selbstverständliche Vertrautheit, die ich bereits bei der ersten Nennung ihres Namens verspürt hatte, hatte auch Thalias Verhalten mir gegenüber geprägt. Auf geheimnisvolle Weise waren wir vom ersten Kontakt an miteinander befreundet gewesen – wenn nicht gar mehr. Im Augenblick konnte uns diese Beziehung leicht zum Verhängnis werden. Ke-
6 schmal Schado sah nicht so aus, als würde er mir Thalia freiwillig abtreten. »Nun, was meint Ihr?« »Es wird sich zeigen«, sagte ich und lächelte dazu. »Ich finde, dieser Abend ist zu schön, um ihn so komplizierten Dingen wie hoher Politik zu widmen.« »Da habt Ihr recht, Atlan – ich darf Euch doch so nennen?« Ich neigte den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses. »Heda, Schankknechte. Beeilt euch, die Gläser sind leer. Du da, fülle meinem Freund den Pokal!« Ein Mundschank näherte sich unterwürfig. Er füllte mir den Pokal nach. Dabei konnte ich die Narben im Gesicht des noch jungen Mannes erkennen. Ein sehr umgänglicher Herr und Gebieter war Keschmal Schado nicht. Immerhin hatte ich das zweifelhafte, wahrscheinlich sogar lebensgefährliche Vergnügen, von diesem Mann Freund genannt zu werden. Keschmal Schado setzte den Humpen an die Lippen, dann stürzte er mit atemberaubender Geschwindigkeit einen Liter starken Wein die Gurgel hinunter – ohne abzusetzen. Ich trank vorsichtig, ich war mir sicher, daß ich meinen Kopf noch brauchen würde – vielleicht sogar noch in dieser Nacht. Wieder sah ich über die Schulter hinweg nach Thalia. Keschmal Schado rülpste ungeniert und wandte sich zur Seite, um nach einem Stück Braten zu greifen. Einen Augenblick lang brauchte sich Thalia nicht zu verstellen, und in dieser Zeitspanne zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck des Ekels und des Hasses. Sie hatte sich aber einen Herzschlag später wieder in der Gewalt. »Herr?« Erst beim zweiten Anruf entdeckte ich, daß ich selbst mit dieser Anrede gemeint war. Päär und Banjar näherten sich mir, beide mit Gesichtern, die einen kleinen Schwips und eine große Portion Verlegenheit zeigten.
Peter Terrid »Wir wollten um Entschuldigung bitten«, sagte Banjar, der ältere der beiden Brückenleute. Sie waren hier in Henner-Theel zu Hause. »Wofür entschuldigen?« »Wir wußten nicht, daß du … daß Ihr …« Ich stieß mit Banjar an. »Ich wußte es selbst nicht mehr«, sagte ich lächelnd. »Vergeßt die Angelegenheit.« »Danke, viele Dank …« Die beiden waren geradezu überschwenglich. Offenbar hatten sie gnadenlose Bestrafung erwartet für ihr Betragen. Keschmal Schado war dem kurzen Wortwechsel aufmerksam gefolgt, sein Blick war unablässig zwischen Banjar und mir hin und her gependelt. Seine Miene drückte Erstaunen aus. Ich lächelte zurückhaltend. Keschmal Schado lächelte zurück. Was hatte ich nun wieder falsch gemacht? »Ich habe eine Bitte«, wandte ich mich an den Herrscher von Äleas. Er neigte den Kopf. »Um mir und Eurer Braut zu helfen, haben diese beiden ihre Wanderung unterbrechen müssen, ja sie mußten sogar in ihren heimatlichen Bunker zurückkehren. Kann man ihnen nicht trotzdem ein Diplom ausstellen?« Banjar und Päär standen erstarrt. Keschmal Schado sah mich entgeistert an. Erst nach einer halben Minute war er in der Lage zu sprechen. »Ich werde sehen«, stotterte er. »Es wird sich machen lassen, obwohl mein Einfluß auf die Brückenleute nicht sehr groß ist. Aber ich werde sehen, was sich in diesem besonderen Fall tun läßt.« Ich lächelte dankbar, obwohl mir ganz anders zumute war. Ich hatte wieder etwas falsch gemacht, das war offenkundig. Aber was?
2. Der Meisterträumer konnte mit sich zufrieden sein – er war es aber nicht. Die Gedanken, die Länerth beschäftigten,
Der Meisterträumer waren von Angst und Erschrecken gezeichnet, trotz des sichtbaren Erfolges. Zunächst hatte sich die Sache gut angelassen. Er wußte nun endlich, wer dieser Atlan war. Der Gefangene bekleidete eine hohe Erbfolgestellung in einer Hierarchie, die er Arkon oder das Große Imperium nannte. Diese Information war bedeutungsvoll, auch wenn sich erst herausstellen mußte, ob es sich bei diesem Großen Imperium nicht um irgendein Duodezfürstentum bei kosmischen Vagabunden handelte. In der Regel waren die schäbigsten Besitztümer mit den üppigsten Titeln verziert. Wichtig aber war die Information, daß Atlan es wagte, dem Superintendenten Keschmal Schado zu trotzen. Länerth hatte diese Person liebevoll und sorgsam konstruiert und in das Szenarium eingefügt. Am Rang Keschmal Schados im Szenarium konnte jedenfalls nicht der geringste Zweifel bestehen. Wenn Atlan es also wagte, diesem Tyrannen mit Worten zu trotzen, dann nur, weil er sich zumindest ebenbürtig fühlte. So weit war Länerth gekommen. Er hätte mit diesen vorläufigen Ergebnissen zufrieden sein können. Was ihn aber in echte Alarmstimmung versetzt hatte, war der Umstand, wie Atlan dem Superintendenten zu trotzen wagte – und was für Motive er dabei an den Tag legte. Von Yärling wußte Länerth, daß es sich bei den Gefangenen um Verbrecher handelte. Was der Kommandant aber verschwiegen hatte, war die Tatsache, daß dieser Atlan nicht nur ein gewöhnlicher Krimineller war – er zeigte auch erste Ansätze eines revolutionären Philosophierens. Sein ganzes Betragen war eine einzige Herausforderung. Nach den Gegebenheiten des Szenariums mußte Atlan wissen, daß er in Keschmal Schado einen Feind hatte – und trotzdem wagte es der Gefangene, für seine beiden völlig unbedeutenden Gefährten zu bitten. Eine Ungeheuerlichkeit, die seinesgleichen suchte.
7 Dieser Atlan tat gerade so, als gäbe es keine naturgegebenen Unterschiede zwischen Lebewesen, als gäbe es nicht Völker, die zum Herrschen, und andere Völker, die zum Gehorsam geschaffen waren. Länerth begriff langsam, daß er es mit einem Feind zu tun hatte, dessen Denkschemata ihm fremd war und wahrscheinlich lagen in diesen umstürzlerischen Gedanken die Schwierigkeiten begründet, die Länerth bislang mit den beiden neuen Personen im Puer-Szenarium gehabt hatte. Länerth wußte nun, daß er vor einer besonders schwierigen und kniffligen Aufgabe stand. Noch einmal überprüfte der Meisterträumer seine Strategie, ging er mit sich zu Rate, ob er Yärling über seine Entdeckung unterrichten sollte. Länerth sagte sich aber, daß sein Triumph wesentlich glorioser ausfallen mußte, wenn er nicht nur die gewünschten Informationen beschaffte, sondern auch die Namen und Daten einer revolutionären Verschwörung, zu der die beiden Gefangenen offenbar gehörten. Noch hatte der Meisterträumer sein Szenarium fest im Griff, wie konnte es anders sein? Warum sollte er dann nicht versuchen, diese ganze Problematik auf eigene Faust zu lösen? Wahrscheinlich … Länerth wagte den Gedanken kaum zu Ende zu denken … vielleicht berief ihn der Neffe des Dunklen Oheims in seine Dienste. Meisterträumer nicht nur von Breisterkähl-Fehr zu sein, nein, Meisterträumer für das ganze Marantroner-Revier … der Gedanke war schwindelerregend. Aber er war nicht verwegen, er war der Wirklichkeit verhaftet. Länerth träumte nicht ins Blaue. Er überlegte nur. Zwischen ihm und einer atemberaubenden Karriere stand nur ein Gefangener. Hatte er dieses Problem gelöst, dann standen dem Meisterträumer des Mittleren Forts alle Türen offen. Länerth machte sich an die Arbeit.
*
8 An diesem Morgen dürfte ich der einzige Bewohner des Wärterbunkers Henner-Theel gewesen sein, der nicht mit einem Brummschädel herumlief – Thalia nicht ausgenommen. Sie hatte so oft mit ihrem zukünftigen Gemahl anstoßen müssen, daß sie um einen handfesten Rausch beim besten Willen nicht herumgekommen war. Immerhin hatte sie den Weg in ihre Gemächer noch auf den eigenen Beinen zurücklegen können. Keschmal Schado hatte man schleppen müssen. Ich war einer der Glücklichen gewesen, die man mit der Aufgabe betraut hatte, den volltrunkenen Fettwanst in sein Bett zu schleppen. Einen Augenblick lang hatte ich tatsächlich mit dem Gedanken geliebäugelt, Keschmal Schado die Kehle durchzuschneiden. Die Gelegenheit war günstig gewesen. Von den vier Trägern waren zwei meine Freunde Banjar und Päär gewesen. Der Anschlag wäre zweifellos erfolgreich gewesen. Irgend etwas hatte mich zurückgehalten, ich wußte selbst nicht was. Eine Anwandlung, mehr nicht. Aber diese Anwandlung hatte zur Folge, daß mein Kopf nach wie vor in großer Gefahr schwebte, und nicht nur der meine. In Keschmal Schados Bett hatte eine junge Frau gelegen und geschlafen, eine von Schados zahlreichen Weibern oder Sklavinnen. Unser Eintreten war so geräuschvoll gewesen, daß das Mädchen erwacht war. Beim Anblick des schnapsgefüllten, schnarchenden Keschmal Schado hatte ihr Gesicht einen Ausdruck von Ekel und Verzweiflung gezeigt, den ich lange nicht würde vergessen können. Noch einmal hatte ich an den Dolch in meinem Gürtel gedacht. Ein rascher Stich, und Keschmal Schados Schicksal wäre besiegelt gewesen. War es Feigheit gewesen, was mich zurückgehalten hatte, auch in dieser Sekunde? Ich wußte es nicht, weil ich überhaupt viel zuwenig wußte. Ich hatte nur einer Eingebung gehorcht, einem Drängen, das aus mir selbst zu kommen schien. Mir war, als lebten zwei völlig verschiedene Personen in meinem Körper, von denen die eine tief im
Peter Terrid Innern vergraben lag. Mir war allerdings klar, daß jeder neutrale Beobachter aus dieser Erklärung, hätte ich sie laut ausgesprochen, akuten Irrsinn diagnostiziert hätte. Als es Morgen wurde – die Sirenen verkündeten den Beginn der Arbeitszeit –, war ich stundenlang in verlassenen Gängen und Fluren herumgelaufen, auf der Suche nach dem eigenen Ich. Die Wanderung hätte ich mir sparen können. Ich war keinen Schritt weitergekommen. Ich hieß Atlan, das zumindest schien festzustehen. Ich stammte aus Arkon, jedenfalls hatte ich das Keschmal Schado gegenüber behauptet, und ich hatte dabei das Gefühl gehabt, die Wahrheit ausgesprochen zu haben. Allein in diesem Punkt wurde schon erschreckend deutlich, wie zerstört mein Geist sein mußte. Ich hatte geglaubt, die Wahrheit gesagt zu haben! Bei allen Dingen, die heilig waren – wer, wenn nicht ich, hätte sagen sollen, was die Wahrheit war? Eingefallen war mir bei dieser nächtlichen Wanderung, daß ich Banjar und Päär gegenüber behauptet hatte, von Thäär-Rha zu kommen. Thää-rRha war, das hatten die beiden jedenfalls behauptet, der erste Wärterbunker auf der Schbura-Seite der Kontinentalbrücke. Gleichgültig, wen ich angelogen hatte, ob Keschmal Schado oder die Freunde, eine von beiden Informationen mußte falsch sein. Entweder kam ich von Thäär-Rha, oder ich kam von Arkon. Beides zusammen ging nicht. Immerhin hatte mir Banjars Antwort verraten, daß es Thäär-Rha gab. Ich hatte also wenigstens eine Information von mir gegeben, die man nachprüfen konnte – und diese Information war offenbar zutreffend. Es gab Thäär-Rha. Daraus ergab sich eine naheliegende Konsequenz. Ich mußte nach Thäär-Rha zurück. Nur dort konnte ich hoffen, Menschen zu finden, die mich kannten und die in der Lage waren, die Lücken zu schließen, die in mei-
Der Meisterträumer nem Gedächtnis klafften. Ich hörte die Sirenen heulen, sah die Bewohner in die Gänge hasten – und ich sah die Posten Keschmal Schados an den Knotenpunkten der Wege stehen. Ich schritt wie abwesend durch die Menge. Ich sollte nach Thäär-Rha, das sagte mir mein Verstand. Aber das Etwas, jener grauenvolle Dämon in meinem Innern, widersetzte sich diesem Gedanken. Mit aller Macht arbeitete dieses Gefühl gegen den logischen Verstand an. Wenn ich auch nur an Thäär-Rha dachte, überfielen mich Trauer und Schmerz, und das ohne jeden ersichtlichen Grund. Denn ich verband mit diesem Namen nicht die Spur einer Erinnerung. »Sperrgebiet!« sagte der Posten und hielt mir seine Pike entgegen. Ich hob die Hände, deutete eine Entschuldigung an und kehrte um. Ich suchte das Quartier auf, das mir zugewiesen worden war. Es war nicht mehr als eine Kammer mit drei Strohsäcken darin, auf denen Päär, Banjar und ich schlafen sollten. Die jungen Brückenleute lagen noch in tiefem Schlaf, als ich den Raum betrat. Nachdenklich betrachtete ich die Schläfer. Sie sahen aus wie ich. Sie hatten einen Rumpf, der wie bei mir mit kurzen schwarzen Haaren bedeckt war. Sie hatten zwei Beine mit Füßen daran, sie hatten zwei Arme mit gelenkigen Händen an den Enden. Bei ihnen wie bei mir saßen Schwimmhäute zwischen den Fingern, bis hart an die gelblichen Nägel. Sie trugen wie ich einen breiten Haarkamm von einer Höröffnung zur anderen. Nicht einmal in der Haarfarbe unterschieden wir uns – wie alle, denen ich begegnet war, trugen sie blaues Haar. Und wenn ich mich umwandte und in den Spiegel blickte, dann sahen mich die gleichen … Ich stutzte. Jeder, dem ich bisher begegnet war, hatte gelblich schimmernde Augen, die leicht ins Grünliche spielten.
9 Meine Augen aber … Ich beugte mich vor, faßte mein Spiegelbild schärfer ins Auge. Tatsächlich, meine Augen schimmerten rötlich. Der Farbton war nicht zu verkennen. »Ein Rätsel mehr«, murmelte ich bitter. Ich setzte mich in einen Winkel des kleinen Zimmers auf den Boden, verschränkte die Hände über den angezogenen Knien und barg den Kopf darin. Mir war nach Weinen zumute, ein Gefühl der Hilflosigkeit hatte mich im Griff, gegen das ich mich nicht zur Wehr setzen konnte. »Sorgen, Freund?« Ich sah auf. Banjar war erwacht und lächelte mich an. Ich lächelte matt zurück. »Ich finde mein Gedächtnis nicht wieder«, sagte ich. »Ich kann machen, was ich will – ich kann mich an nichts erinnern.« »Manch einer wäre froh deswegen«, murmelte Banjar. Er rieb sich den Schädel. »Was kümmert es dich – du bist ein Prinz, alles weitere wird sich finden.« Der Trost war billig, aber er tat wohl. »Was werden wir heute unternehmen?« fragte Banjar. Er wusch sich kurz. »Wahrscheinlich wird Keschmal Schado nach Äleas zurückkehren wollen«, mutmaßte ich. »Und ich nehme an, daß er uns mitnehmen wird.« »Mitnehmen«, murmelte Banjar. Im Hintergrund räkelte sich Päär. »So kann man das natürlich auch nennen. Ich würde es eher als Verschleppen bezeichnen.« »Hüte dein Maul«, knurrte Päär. »Es ist ein Freund des Superintendenten, denk daran.« Päär grinste breit. Es tat gut, diese beiden zu Freunden zu haben. Wenn ich wirklich Prinz war, wollte ich mich für diese Hilfe erkenntlich zeigen. Es klopfte. Dann trat einer der Leibgardisten Keschmal Schados ein. Er deutete eine Höflichkeitsgeste an, die sich allerdings nur auf mich bezog. »Keschmal Schado wünscht Euch zu sehen«, erklärte er knapp, verbeugte sich abermals und zog sich wieder zurück.
10 »Maulfauler Geselle«, knurrte Banjar. »Beeile dich, Päär, sonst kommen wir noch zu spät.« Gepäck besaß ich nicht, ich war also sofort reisefertig. Es stand zudem zu erwarten, daß es im Innern von Keschmal Schados Zug Vorräte aller Art gab, deren ich mich bedienen konnte. Die beiden Brückenleute waren bald fertig. Wir verließen das Quartier und stiegen langsam die vielen Treppen zur Oberfläche hinauf. An uns vorbei hastete ein langer Zug schwerbepackter Männer. Es war leicht zu erraten, was sie schleppten. Die Gesichter meiner beiden Begleiter verfinsterten sich, als sie die Beute sahen, die Schados Männer fortschleppten. »Hoffentlich versuchen sie nicht, Sklaven zu machen«, murmelte Banjar bleich. »Unsere Eltern leben hier und unsere Freunde.« Ich versuchte die beiden zu beruhigen. Sklaven besaß Keschmal Schado wahrscheinlich genug, obendrein waren die Brückenleute wichtige Menschen – sie mußten die gigantische Brücke zwischen Äleas und Schbura in gutem Zustand halten, eine Aufgabe, zu der man Tausende in immerwährendem Einsatz brauchte. Wer die Brückenleute fortzuschleppen trachtete, schnitt sich ins eigene Fleisch. Überraschenderweise war das Wetter gut, als wir die Oberfläche des Wärterbunkers erreichten. Eine fahlgelbe Sonne schien auf uns herab. In ihrem Licht stand der Zug auf der Plattform. Es war ein gigantisches Gebilde. In der Nacht hatten wir die wahren Ausmaße dieses Giganten gar nicht erkennen können. Geformt im Querschnitt wie eine riesige Raupe war der Zug zumindest zwei Kilometer lang. In der Höhe maß er annähernd sieben Meter, das bot Platz genug für zwei Stockwerke. Untergliedert war das Gefährt in Segmente von je fünfzig Meter Länge, jedes einzelne gepanzert und mit Soldaten besetzt. »Darin kann man ein Heer unterbringen«,
Peter Terrid sagte Banjar beeindruckt. »Darin ist ein Heer untergebracht, junger Mann!« Infam grinsend stand Keschmal Schado hinter uns. Von dem Gelage schien er sich gut erholt zu haben. Hinter ihm waren zwei Frauen zu erkennen. Die eine hatte ich in der Nacht gesehen – sie hatte ein geschwollenes Auge. Neben ihr stand, bleich und mit zusammengepreßten Lippen, Thalia. Sie sah kurz zu mir hinüber, lächelte rasch und ließ ihr Gesicht dann wieder versteinern. »Wollt Ihr die Brücke plündern?« Keschmal Schado beantwortete meine Frage mit einem weiteren Ausbruch seines Gelächters, das einem handfestes Alpdrücken bescheren konnte. »Ich wollte mir holen, was man mir freiwillig kaum gegeben hätte«, erklärte er. »Tribute, Ihr versteht, Freund?« »Ihr solltet den Leuten genug lassen, damit sie den nächsten Tribut zustande bringen«, warf ich ein; meine Stimme sollte gelassen, gleichgültig klingen. Ich konnte nur hoffen, daß von meiner fürchterlichen Wut nichts darin zu hören war. »Verhungerte sind selten zahlungskräftig.« »Gut beobachtet, aber nicht meine Sorge«, sagte Schado und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Soll das Gesindel doch dahinsterben – es wird sich Nachschub finden.« Ich hielt die Luft an und knirschte leise mit den Zähnen. Oh, wenn doch meine Freunde zur Stelle gewesen wären, ich hätte mit diesem Lumpen aufgeräumt … Freunde? Ich hatte Freunde? Ein hageres Gesicht, grauäugig, tauchte auf, eine kleine Narbe auf dem rechten Nasenflügel … und dann war das Bild wieder verschwunden. »Steigt ein«, forderte mich Keschmal Schado auf. Ich lächelte mit zusammengebissenen Zähnen und schritt an ihm vorbei in das Innere des Zuges.
*
Der Meisterträumer
11
Keschmal Schado hatte mich in sein privates Abteil eingeladen, ein mit barbarischem Prunk überladenes Segment des Zuges. Es enthielt Lebensmittel und Schnapsvorräte, beherbergte einen kleinen Harem und war sogar mit einer kleinen Folterkammer ausgestattet. Es fehlte an nichts, was einem Keschmal Schado die Stunden des Transports versüßen konnte. Einstweilen ermangelte es Schado noch an Kandidaten für Streckbett und Daumenschrauben, aber wenn ich mir die Blicke ansah, mit denen er mich und meine beiden Freunde maß, dann wußte ich, daß er um Kandidaten nicht verlegen war. Thalia zog sich, kaum daß sie den Zug betreten hatte, in den Harem zurück. Keschmal Schado hatte insgesamt acht Frauen auf seinen Raubzug mitgenommen. Als Thalia verschwand, lauerte mich Schado von der Seite her an, aber ich zuckte mit keiner Miene. Hatte der Grausame etwas bemerkt? Wenn ja, dann war nicht nur ich in höchstem Maß gefährdet – dann war auch Thalias Leben keinen lumpigen Skalito mehr wert. »Nun, wohin soll die Reise gehen?« fragte Schado boshaft. Ein leises Rumpeln hatte ihm und uns angezeigt, daß die Türen des Zuges sich geschlossen hatten. Auf diese Frage konnte es nur eine Antwort geben. Weiterzufahren nach Schbura hätte bedeutet, diesem unersättlichen Räuber noch weitere Opfer seiner Gier und Grausamkeit zuzutreiben. »Ihr habt, was Ihr wolltet«, sagte ich. »Kehrt also um, Richtung Äleas.« Keschmal Schado klatschte in die Hände. Der Zug setzte sich in Bewegung.
3. Länerth, der Meisterträumer, konnte dem bisher gesammelten einige weitere Informationen zufügen. Beispielsweise wußte er nun, daß es im Land des Gefangenen eine Währung gab, deren Einheit ein Skalito war. Das waren zwar nicht gerade sensationelle
Erkenntnisse, aber viele kleine Einsichten erweisen sich mitunter als ebenso wichtig wie eine große Information. In jedem Fall zeigte dies alles, daß der Meisterträumer auf dem richtigen Weg war. Es kam nun darauf an, diesen Weg konsequent weiterzugehen. Die Vorbereitungen dafür waren längst getroffen. Der Meisterträumer hatte nichts außer acht gelassen. Sein Plan, der eines Meisterträumers würdig war, konnte nicht fehlschlagen.
* Für die Begriffe dieser Welt war der Zug außerordentlich schnell. In einer Stunde legten wir knapp siebzehn Kilometer zurück. Ich stellte diese Überlegung während der Fahrt an, und mir entging nicht, welch seltsame Gedanken in diese Überlegung eingearbeitet waren. Beispielsweise die Vorstellung, daß ich mich auf einer Welt bewegte – auf einer, wohlgemerkt. Der Gedanke schloß die Vorstellung anderer Welten mit ein. Niemand hatte mit mir über dieses Thema gesprochen, aber trotzdem wußte ich plötzlich, daß es mehr als eine Welt gab. Ich wußte, und das war das Beklemmende daran, daß diese Information meines seltsamen Gedächtnisses stimmte. Ich konnte mich auf diese Information verlassen. Die Fahrt verlief in den ersten Stunden ruhig und gleichmäßig. Zwar fegte ein Nordoststurm über die Brücke, aber an der glatten Wandung des Zuges glitten die Kräfte des Windes ab. Unbeirrbar schob sich das monströse Gebilde vorwärts. »Wie wird dieses Ding eigentlich angetrieben?« fragte ich Keschmal Schado, der die Mußestunden dazu nutzte, seine Getränkevorräte einer eingehenden Musterung zu unterziehen. »Seht es Euch an, wenn Ihr wollt«, sagte Schado ohne aufzublicken. »Der Zug steht Euch zur Verfügung – ausgenommen natürlich diese Räume.« Er deutete dabei auf sein Schlafzimmer
12 und den daran angrenzenden Aufenthaltsraum der Frauen. Ich erwiderte sein Gelächter mit einem freundlichen Grinsen, dann winkte ich Päär und Banjar. Zusammen gingen wir den Zug entlang. Ich wollte nicht nur wissen, wie dieser Zug voranbewegt wurde, ich wollte auch die Besatzung näher betrachten. Was ich bereits vermutet hatte, bestätigte sich. Der ganze Zug enthielt praktisch nichts anderes als Soldaten und Beutegut. Ich schätzte, daß Keschmal Schado mindestens zehntausend Bewaffnete mitgenommen hatte, wahrscheinlich sogar erheblich mehr. Die Wärterbunker waren zwar dicht besiedelt, aber gegen eine solche Streitmacht waren sie, vor allem, wenn sie einzeln nacheinander angegriffen wurden, völlig hilflos. »Bei allen Sturmhexen«, murmelte Banjar. »Wie kommen wir jemals wieder hier heraus?« »Wahrscheinlich tot«, antwortete Päär trocken. Angesichts der Machtfülle, die hier zusammengedrängt war, konnte es einem die Sprache verschlagen. Wir waren zu dritt – vier, wenn wir Thalia mitrechneten – und hatten es mit einer perfekt ausgerüsteten, gnadenlos gedrillten und erbarmungslos geführten Armee zu tun. Angesichts dieser Verhältnisse an Widerstand zu denken, war blanker Wahnsinn. Nun, in dergleichen Dingen hatte ich ja Erfahrung – es waren die einzigen konkreten Erfahrungen, die ich überhaupt hatte. Langsam bewegten wir uns den Zug entlang, auf die Spitze des riesenhaften Gebildes zu. Mir war ein Rätsel, wie diese ungeheure Masse fortbewegt werden konnte. Erst als wir die Spitze des Zuges erreicht hatten, erkannte ich des Rätsels Lösung. Zweihundert Meter Länge nahm der Antrieb in Anspruch, einhundert Meter wurden als Lagerplatz für Treibstoff benötigt. Der Treibstoff war eine grünliche Paste, die infam stank und in großen Tanks gluckerte und schwappte. Der Antrieb, das waren lebende Wesen.
Peter Terrid Jetzt begriff ich, warum die Züge die äußere Form einer riesigen Raupe hatten. Es waren Raupen, die diese Kolosse von der Stelle bewegten. Keschmal Schados Zug wurde von vier dieser Tiere bewegt, von vier jeweils knapp fünfzig Meter langen Raupen, die in der engen Hülle des Zuges rhythmisch zuckten und sich krümmten. Über komplizierte Hebelsysteme, Hydrauliken und Gestänge wurden die Bewegungen der Tiere auf Räder und Panzerketten übertragen. »Was sind das für Tiere?« fragte ich einen Mann, der damit beschäftigt war, einer der Raupen Fressen in einen großen Trog zu schaufeln. »Zugtiere«, sagte der Mann verständnislos. »Ganz einfach Zugtiere. Sie haben keinen Namen.« »Sie werden an Bord der Züge geboren und großgezogen«, wußte Banjar zu berichten. »Wenn sie groß genug sind, wird das ganze Segment abgetrennt und vor einen leeren Zug gespannt. Das ist alles.« Ich sah die Zugtiere an. Wellenförmig liefen Bewegungen über die langgestreckten Körper der Tiere. Zuckten sie, weil sie sich immer so bewegten? Oder waren diese Bewegungen vom Schmerz erzeugt? Ich wußte es nicht, aber mir ahnte, daß ich es hier mit Sklaven zu tun hatte. Den bedauernswerten Geschöpfen hatte man nicht einmal mehr die Bewegungsfreiheit der Körper gelassen. »Und dieses Zeug?« Ich deutete auf den grünlichen Brei, den der Mann in den Trog schaufelte. Das Klatschen rief in Verbindung mit dem Geruch ein unerträgliches Ekelgefühl hervor. »Nährbrei«, sagte der Mann mit der Schaufel. Seine Kleidung war von dem Brei beschmutzt worden, er achtete nicht darauf. »Irgendein Algenzeug, und natürlich ein Beruhigungsmittel – Sconder-Samen.« Ich konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Banjar klärte mich auf. »Wenn du davon ein Körnchen nimmst, bist du stundenlang ohne Besinnung. Du kannst dich zwar bewegen, aber du merkst
Der Meisterträumer es gar nicht.« Also doch – die Raupen waren betäubt und wurden in diesem Zustand gereizt, entweder mechanisch oder mit elektrischem Strom. Ihre unwillkürlichen Muskelbewegungen waren wahrscheinlich kräftiger und gleichmäßiger als ihre Bewegungen in wachem Zustand. Sie wurden von der Maschinerie, die ich gesehen hatte, zum Antrieb des Zuges ausgenutzt. (Was war eigentlich der elektrische Strom, an den ich gerade gedacht hatte?) »Was passiert eigentlich, wenn man dem Futter keinen Sconder-Samen beimischt?« Der Wärter sah mich mit hervorquellenden Augen an. »Herr«, stammelte er. »Der Gedanke allein ist Frevel. Wie könnt Ihr nur so etwas fragen? Es gäbe eine Katastrophe. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, so schlimm würde das sein.« Ich lächelte den entsetzten Mann freundlich an. Er hatte mir einen wichtigen Hinweis gegeben. In meiner augenblicklichen Seelenverfassung war es mir ziemlich gleichgültig, was für Katastrophen ich auslöste – sofern ich damit nur Keschmal Schado schaden und mir selbst nutzen konnte. »Gehen wir«, sagte ich. Der Anblick der Zugtiere drehte mir den Magen um. Wir verließen die Antriebssektionen des Zuges. Auf dem Gang lehnte ich mich erst einmal gegen eine Wand und holte tief Luft. Dann sah ich meine Begleiter an. Durfte ich auf Banjars und Päärs Hilfe rechnen, wenn ich einen Aufstand gegen Schado versuchte? Konnte ich den beiden so weitgehend vertrauen? Ich wußte viel zuwenig, um das beurteilen zu können. »Hört zu, Freunde«, sagte ich leise. Ich hatte mich umgesehen, keiner von Schados Leuten war in der Nähe. »Ich habe vor, diesem fetten Scheusal den Hals umzudrehen und mit Thalia zu verschwinden. Was haltet ihr davon?« Banjar machte eine Geste, die ich nicht
13 verstand. Päär sah mich entgeistert an. »Gefährlich«, sagte der Jüngere knapp. »Überaus gefährlich. Wir sind von einer ganzen Armee umzingelt und wollen dem Befehlshaber an die Gurgel … ob das gutgeht?« Ich lächelte ihn an, dann wandte ich mich an Banjar. »Und du?« Der Ältere wiegte den Kopf. Er hatte Bedenken. »Wenn die Sache danebengeht, und ich bin mir sicher, daß sie danebengehen wird … Keschmal Schado wird kein freundlicher Gewinner in diesem Spiel um Köpfe sein.«
* Keschmal Schado leckte sich die Lippen und grinste vor Vergnügen. Endlich hatte er Atlan in der Falle. Das kleine Mikrophon hatte den geflüsterten Wortwechsel deutlich aufgenommen und übertragen. Das hatte nichts mit Zufall zu tun, Keschmal Schado pflegte Dinge, die mit seinem Hals zu tun haben, niemals dem Zufall zu überlassen. Es gab in jedem Abteil des Zuges mehrere Mikrophone. Die Verschwörung konnte also gar nicht geheim bleiben. Keschmal Schado lehnte sich in den Kissen zurück. Er wollte nachdenken. Es klopfte, dann trat eine der Sklavinnen ein. »Jetzt nicht«, sagte Schado und lächelte freundlich. »Du kannst dich zurückziehen.« Die Frau starrte Schado entgeistert an, dann zog sie sich hastig zurück. Schado ärgerte sich. Er war aus der Rolle gefallen, aber er vergaß den Auftritt bald wieder. Er hatte Wichtigeres zu bedenken. Da war beispielsweise die Frage, ob er Banjar und Päär aus dem Verkehr ziehen sollte. Daß die beiden Brückenleute von Henner-Theel mit Atlan gemeinsame Sache machen würden, hatte schon vorher festgestanden. Schados Plan hatte diese Variante enthalten, noch bevor Atlan ein Wort gesagt hatte.
14 Daß Keschmal Schado die ganze Angelegenheit in der Hand hielt, verstand sich von selbst. Die Frage war, wie er künftig taktieren wollte. Einstweilen hatte er Zeit. Atlan würde nichts unternehmen, solange er nicht aus dem fahrenden Zug herauskam. Bis zur Ankunft am nächsten Wärterbunker waren ihm die Hände gebunden. Versprach es einen Fortschritt, Banjar und Päär zu eliminieren? Keschmal Schado kam zu dem Ergebnis, daß es seinen Absichten eher schaden würde. Das ganze Spiel lief schließlich darauf hinaus. Atlan kunstvoll in eine Situation zu locken, wo er von sich aus all das sagen oder zumindest denken würde, was Keschmal Schado in Erfahrung zu bringen wünschte. Das oft erprobte und immer wieder bewährte Verfahren in solchen Fällen bestand darin, den Kandidaten mit sanfter, aber sicherer Hand bis hart an die Grenze des Triumphes zu führen, in schwindelnde Höhen – um ihn dann in rasendem Flug in tiefste Verzweiflung absacken zu lassen. In Atlans Fall hieß das: Keschmal Schado mußte Banjar und Päär als Gehilfen Atlans weiter agieren lassen, ja sogar die Verschwörung gegen sein Leben fördern, indem er dafür eine günstige Gelegenheit schuf. Danach war der Rest einfach. Schado würde Atlan und seine Helfer festnehmen lassen – und das schloß Thalia ein, die Frau, an der Atlan so interessiert war und die ihm zum Verhängnis werden sollte. Als erstes wollte Keschmal Schado die beiden Gehilfen foltern und hinrichten lassen – natürlich im Beisein des Hauptverschworenen. Reichte das noch nicht aus, die seltsame Gedächtnissperre zu beseitigen, mit der sich Atlan herumschlug, dann war als nächstes Thalias Folterung und Tod geplant. Keschmal Schado konnte sich nicht vorstellen, daß Atlans Hirn auch dies noch klaglos ertrug. Denn eines war Keschmal Schado unterdessen klargeworden – daß er keine Informationen aus dem seltsamen Mann heraus-
Peter Terrid zuholen vermochte, lag nicht daran, daß Atlan nicht reden wollte – er konnte nicht, etwas hinderte ihn daran, zu seinen eigenen Erinnerungen vorzustoßen. Keschmal Schado war gewillt, diese Barriere zu sprengen. Und Keschmal Schado konnte sich nicht erinnern, daß er seinen Willen jemals nicht hätte durchsetzen können.
* »Wir machen mit«, sagte Banjar zögernd. »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß wir Erfolg haben werden.« »Warum willst du dann mitmachen?« fragte ich erstaunt. »Wenn du keine Aussichten siehst …?« Banjar spähte durch eines der zahlreichen Bullaugen ins Freie. Es gab nicht viel zu sehen, nur den Stahl der Brücke und das wogende Graugrün des Ozeans. Leise sagte Banjar: »Ich glaube nicht an einen Erfolg. Aber ich wünsche mir den Fehlschlag. Mir ist, als würde uns nur eine Katastrophe helfen.« »Helfen? Wozu? Oder wogegen?« Nach Päärs hastig hervorgestoßener Frage entstand eine Pause. Banjar sah noch immer auf das Meer hinaus. Er zuckte mit den Schultern. »Ich fühle Schmerz«, sagte er. »Namenlosen, nicht enden wollenden Schmerz, und ich habe das Gefühl, daß nur der Tod diesen Schmerz enden kann.« »Was fehlt dir?« fragte Päär mit hörbarer Besorgnis. »Keschmal Schado hat Ärzte an Bord, vielleicht können die …« Banjar winkte ab. »Laß nur«, sagte er ruhig. »Es sind nur Ahnungen, mehr nicht. Also, Atlan, ich helfe dir.« »Und ich auch«, sagte Päär begeistert. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Schado den feisten Leib aufzuschlitzen.« »Wenn es überhaupt dazu kommt«, wehrte ich hastig ab. »Ich will versuchen, die Sache ohne Blutvergießen durchzuführen. Ich hasse Grausamkeiten.«
Der Meisterträumer (Woher wußte ich nun das schon wieder? Die Unsicherheit hörte nie auf, mit jedem Wort das ich sprach, tauchte eine neue, quälende Frage auf.) »Atlan!« Banjars Stimme riß mich in die Wirklichkeit zurück. Diese Anfälle kamen immer öfter, quälten mich mit blitzartig auftauchenden, qualvollen Gedanken, in denen kein Sinn enthalten schien. Der Dämon in mir wurde lauter und lebendiger, und mich peinigte die Angst vor dem Augenblick, in dem dieser böse Geist die letzten Hemmnisse sprengen und völlig von mir Besitz ergreifen würde. »Du mußt krank sein«, sagte Banjar besorgt. »Können wir etwas für dich tun? Du siehst entsetzlich aus. Deine Augen sind ganz rot!« Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Also doch, ich hatte mich bezüglich meiner Augen nicht getäuscht. Sie hatten einen rötlichen Schimmer, und dieser Schimmer blieb, selbst wenn ich mich kerngesund fühlte. Besaß ich vielleicht von Natur aus rötliche Augen? Steckte ich in einer fremden Haut? Ich kehrte zu unserem Plan zurück. »Keine voreiligen Handlungen«, sagte ich beschwörend. »Wir brauchen Keschmal Schado in jedem Fall lebend – sobald er tot ist, werden seine Leute nicht mehr die geringste Rücksicht nehmen. Habt ihr das begriffen?« Beide nickten. »Dann los«, sagte ich. »Wir warten, bis wir den nächsten Wärterbunker erreicht haben. Dann versuchen wir, uns Keschmal Schado zu schnappen. Er wird seinen Soldaten Befehl geben müssen, den Zug zu räumen.« »… und wir verschwinden mit dem Zug und Schado als Geisel«, setzte Banjar meinen Gedankengang fort. Er hatte augenscheinlich begriffen, was für einen Plan ich geschmiedet hatte. »Genau so werden wir es machen«, sagte ich. Unwillkürlich sah ich auf mein linkes
15 Handgelenk. Dort war natürlich nicht das geringste zu erkennen, außer einem ganz gewöhnlichen Handgelenk selbstverständlich. Banjar machte ein fragendes Gesicht, ich zuckte mit den Schultern. Hätte ich ihm erklären sollen, daß mich plötzlich der verrückte Gedanke überfallen hatte, ich könnte dort ablesen, wieviel Zeit noch bis zur Ankunft am nächsten Bunker verstreichen würde? Ich mußte höllisch aufpassen. Ich mußte nicht nur darauf achten, in meinem Kampf gegen Keschmal Schado keinen Fehler zu machen. Ich mußte auch darauf achten, meinen beiden Verbündeten gegenüber keine Fehler zu begehen. Einen Mann, der alle Anzeichen beginnenden Wahnsinns aufwies, unterstützte niemand gern in einem Kampf, dessen Ausgang lebensgefährlich war. Wenn ich ganz ehrlich war, dann hätte ich mir am liebsten selbst nicht geholfen, so verrückt kam ich mir vor. Der einzige Gedanke, der mich immer wieder unablässig vorantrieb, war der Wunsch, endlich Klarheit zu schaffen – so oder so.
4. Das Verfahren, das sich Atlan ausgedacht hatte, war nicht übel. Es versprach Aussicht auf Erfolg, vorausgesetzt, das Opfer merkte nichts von dem Anschlag. Keschmal Schado aber war über alles, was im Innern des Zuges vor sich ging, bestens informiert. Er war überhaupt recht gut informiert. Schado berechnete die Zeit, die noch verstreichen mußte, bis der nächste Wärterbunker erreicht war. Er kam zu dem Ergebnis, daß er ziemlich genau drei Stunden Zeit hatte, seine Gegenmaßnahmen zu treffen. Das war mehr als genug, um Atlans verwegenen Plan scheitern zu lassen.
* Ein heftiger Ruck verriet mir, daß die Zeit gekommen war. Der Zug hatte angehalten, der Wärterbun-
16 ker war erreicht. Rhen-Phi hieß dieser Bunker, seine Bewohner galten unter den Brückenleuten als besonders lebenslustig und sinnenfroh. Ich sah meine beiden Freunde an. Sie zeigten keinerlei Anzeichen von Nervosität oder Aufregung. Ich hätte mir keine besseren Gefährten wünschen können. Einer unserer potentiellen Gegner tauchte auf, einer von Schados Leibgardisten. »Der Superintendent wünscht Euch zu sprechen«, sagte er. Wir machten uns auf den Weg zu Schados Räumen. Ich war einigermaßen gespannt, was Keschmal Schado mit diesem Wärterbunker vorhatte. Wahrscheinlich würde es nur einen kurzen Aufenthalt geben. Die Bewohner des Bunkers waren vermutlich froh darüber, daß dieser Gast rasch wieder verschwand. Schado wartete auf uns. Er hatte sich kriegerisch aufgeputzt, trug ein langes Schwert mit breiter Klinge am Gürtel, einen Dolch mit einer herrlichen Ziselierung – (war das nicht eine Sternenkonstellation auf dem Griffstück? Aber woher wußte ich, was eine Sternenkonstellation war?) – und in der Hand ein unförmiges Etwas, eine Art Griff mit einer metallenen Röhre daran. Ich wußte sofort, daß es sich dabei um eine Waffe handelte, und aus meinem Innern schickte der Dämon das Gefühl in mein Bewußtsein, daß diese Waffe ganz besonders gefährlich war. »Ich wollte Euch eine Freude machen, Prinz Atlan«, sagte Schado mit der ihm eigenen freundlichen Widerwärtigkeit. »Habt Ihr schon einmal einen Überfall auf einen Wärterbunker erlebt?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber …«, stotterte ich. »Habt Ihr nicht schon … auf dem Hinweg?« Keschmal Schado lachte breit. »Nicht doch«, sagte er amüsiert. »Ich werde die Beute doch nicht erst nach Henner-Theel schleppen und dann wieder zurück. Mitnichten, junger Freund, ich habe mir diese … nun, sagen wir Tributforderungen … für den Rückweg aufgehoben.«
Peter Terrid Ich hatte die Hand am Gürtel, spürte den Griff meines Dolches. Auszurichten war hier nichts. Zwischen mir und Schado standen zwei Wachen. Bis ich auch nur die Haut des Tyrannen geritzt hatte, kollerte mein Schädel bereits über den kostbaren Teppich. Ich mußte warten, zähneknirschend und ohnmächtig. »Ruft Thalia«, bestimmte Schado. »Ich will ihr das Schauspiel nicht vorenthalten.« Wieder meldete sich mein böser Geist. Dieses grauenvolle Wesen, das da in mir zu hausen schien. Es meldete sich nur ab und zu, aber in einer Stärke, die es mir unmöglich machte, mich gegen diese Gefühle zur Wehr zu setzen. In diesem Fall bestand das Gefühl in einer Warnung, in dem dringenden Impuls auf der Hut zu sein, keinen Fehler zu machen. In diesem besonderen Fall dachte der Dämon ähnlich wie ich, nur schwang in dem Impuls, den ich in schmerzhafter Stärke in mir aufsteigen spürte, eine Komponente mit, die mir sagte, daß der Dämon nicht nur eine Ahnung hatte – seine Warnung stützte sich auf Wissen, nicht Vermutungen. Ich wußte nicht, was ich gegen dieses Gefühl tun sollte, das sehr rasch wieder abklang. Dieser Dämon, ich fand beim besten Willen keine andere Bezeichnung dafür … meinte er es gut mit mir? Oder war dies eine List, ein mir unbegreifliches Spiel? »Kommt«, sagte Schado; seine Blicke hatten etwas Lauerndes bekommen. Der Mann wartete auf etwas, und dieses Etwas hatte mit mir zu tun. Mich durchzuckte der aberwitzige Gedanke, daß dies alles nur ein Spiel war, das um meinetwillen gespielt wurde. Thalia erschien. Sie wirkte müde und erschöpft. Ab und zu griff sie sich an den Kopf. Keschmal Schado gab Befehl, die Türen des Zuges zu öffnen. Fast geräuschlos bewegte sich der Panzerstahl in den gutgeschmierten Angeln. Der Anblick, der sich uns bot, war vertraut. Der Zug stand auf einer riesigen Plattform aus Stahl. Banjar stieß einen leisen Pfiff aus.
Der Meisterträumer »Die Leute von Rhen-Phi haben offenbar besser gearbeitet als unsere«, sagte er anerkennend. »Unsere Plattform sieht nicht so sauber aus.« In geringer Entfernung war eine Öffnung in dem Stahl zu erkennen. Dort ging es hinab in das Innere des Bauwerks, das bis tief hinab in den Meeresgrund reichte. Die Kontinentalbrücke war eine Konstruktion von unerhörter Kühnheit, gepaart mit barbarischer Wucht. (Woher ich das nun wieder wußte, blieb ein Rätsel.) »Seltsam«, sagte Keschmal Schado. »Kommt keiner, uns zu grüßen?« »Hm«, machte Banjar. »Vielleicht hatte sich der Besuch von Henner-Theel herumgesprochen.« »Und wie?« fuhr Keschmal Schado ihn an. »Es gibt nichts Schnelleres als diesen Zug.« Mir kam der Gedanke, daß es für die Bewohner des Bunkers wahrscheinlich besser war, nicht zu existieren. Dann blieb ihnen manches erspart. »Ausschwärmen«, befahl Keschmal Schado und begleitete die Anordnung mit einer herrischen Geste. »Versucht, einen Bewohner lebend zu fangen.« Ich winkte Banjar und Päär zu mir heran. »Sollen wir vordringen?« fragte ich Schado. Ich war gespannt, was er dazu sagen würde. »Es würde mich reizen, in den Bunker einzudringen.« Keschmal Schado zwinkerte. Er schien verwirrt zu sein. Die Tatsache, daß keiner der Bunkerbewohner sich zeigte, schien ihn über die Maßen zu verwundern. »Meinetwegen«, sagte er hastig. »Gebt acht, daß Euch nichts zustößt.« Er wandte sich ab und ging auf einen Offizier seiner Leibgarde zu. Thalia nutzte die Gelegenheit und schob sich an meine Seite. »Ich begleite euch«, sagte sie entschlossen. Ich zögerte nicht lange. Keschmal Schado redete auf den Offizier ein und gestikulierte dabei wild. Seine Erregung war mir unbegreiflich.
17 Während die Soldaten den Zug verließen und über die Plattform ausschwärmten, hasteten wir auf die Einstiegsöffnung zu. Die Treppenstufen waren regennaß. Zu sehen war niemand. »Wahrscheinlich haben sie sich in die Tiefe des Bunkers verkrochen«, überlegte Banjar halblaut. »Vielleicht haben sie den Braten gerochen, ihre Wertsachen in Sicherheit gebracht und sich in den unteren Etagen verschanzt.« »Dann wird Schado einen hohen Preis für die Eroberung zahlen müssen«, erklärte Päär. Ich winkte ab. »Überlegungen dieser Art können wir später anstellen«, sagte ich. Ich stieg die ersten Stufen hinab. Wie auch bei den anderen Bunkern waren in den Wänden metallene Halter zu erkennen, in denen Fackeln steckten. Sie konnten erst vor kurzer Zeit erneuert worden sein, denn sie brannten hell und gaben uns genügend Licht. »Seltsam«, murmelte Banjar. Langsam stiegen wir hinab in die Tiefe des Wärterbunkers. Eine Zeitlang hörten wir über unseren Köpfen noch das Geschrei von Schados Soldaten, dann wurde es beängstigend ruhig. Kein Laut war zu hören, vom leisen Knistern der Fackeln abgesehen, und von den Geräuschen, die wir selbst machten. Thalia faßte mich an der Schulter. Sie schwankte leicht. »Ich habe Träume«, sagte sie unvermittelt. »Ich träume tagsüber, mit offenen Augen, und ich kann nichts dagegen tun.« Sie schien an mir vorbei oder durch mich hindurch zu sehen. Sie atmete hastiger. Der Druck auf meine Schulter verstärkte sich. »Odin«, flüsterte Thalia. Ihre Mundwinkel waren verzogen, die Lippen zitterten. Unser Vormarsch geriet ins Stocken. Ich hielt Thalia fest, die zusammenzubrechen drohte. Ihre Lage kam mir bekannt vor, ungeheuer vertraut. »Diese Träume«, stöhnte die Frau leise. »Diese fürchterlichen Träume. Wenn ich
18 doch nur wach werden könnte.« »Es ist ein Gefühl, als würde man immerzu nur träumen, nicht wahr?« Thalia nickte mit leerem Blick. »Ein häßlicher Traum, der niemals endet!« stieß sie hervor. »Atlan, wir sind in Gefahr. Hörst du, wir sind in größter Gefahr.« »Ich weiß«, sagte ich ratlos. »Aber ich kann nichts dagegen tun.« Die Frau fing sich wieder. Ihre Gestalt straffte sich, und ihre Stimme klang energischer. »Wir müssen nach dem Schlüssel suchen«, stieß sie heftig hervor. »Es gibt eine Erklärung für dies alles, eine logische Erklärung. Und wir werden aus diesem Traum erst entlassen, wenn wir den Schlüssel gefunden haben.« Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich dazu sagen? Ich konnte ja selbst Wirklichkeit und Spuk nicht voneinander trennen. »Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun«, sagte Banjar, der an der Spitze ging, das Schwert in der Faust. »Hier scheint überhaupt niemand mehr zu leben.« »Seht nur!« rief Päär. Wie in den Wärterbunkern üblich, waren in den Etagen, die unmittelbar unter der Plattform lagen, Waren gestapelt. Wir waren an gefüllten Lagern vorbeigekommen, und ich hatte dies als Zeichen gewertet, daß es so schlecht um den Bunker nicht bestellt sein konnte. Päär deutete mit dem Finger auf einen Winkel der großen Lagerhalle. Ich sah Käfige, in denen verschiedene Tiere ruhig lagen. Oder waren sie …? »Kinnther«, stieß Päär hervor. »Und sie sind tot. Seht nur, sie sind ganz gelb angelaufen.« Wir gingen zu den Käfigen hinüber, und der erste Eindruck fand sich grausam bestätigt. Es gab Dutzende von Käfigen in dieser Abteilung der Halle. Sie hatten Vögel enthalten, Singvögel und Beiztiere; ich erkannte kleine Pelztiere und buntschillernde
Peter Terrid Schlangen. Kein einziges Tier war mehr am Leben. Ich schluckte. »Was mag hier geschehen sein?« flüsterte Banjar erregt. »Die Käfige sind versiegelt, und die Tiere zeigen keinerlei Verletzungen.« »Gas«, murmelte ich. »Giftgas.« Zu riechen war nichts. Auch das verwunderte nicht. Die meisten hochgiftigen Gase waren geruchlos – Kohlenmonoxyd beispielsweise. Ich sah nach den Nasenlöchern der verendeten Tiere, fand aber keine Verfärbung, keinen feinblasigen Schaum an den Nasenlöchern. Es roch auch nicht nach Amygdalin. Wie üblich – ich hatte mich fast schon daran gewöhnt – verdankte ich diese Einsichten dem Dämon in meinem Innern. Mit dem Begriff Amygdalin konnte ich nicht das geringste anfangen. »Weiter?« Banjar sah mich fragend an. Ich nickte. Was hätten wir anderes tun sollen? Durch Warten und Herumstehen war das Geheimnis dieses Wärterbunkers nicht zu lösen. Treppe um Treppe stiegen wir hinab in die Tiefe. Ich wußte inzwischen, daß unmittelbar unter der Plattform die Lagerdecks zu finden waren. Wir bewegten uns noch in dieser Zone. Es schloß sich, je weiter man abwärts stieg, die Verwaltungszone an, dann folgten die Decks mit den öffentlichen Einrichtungen – Bädern, Festhallen und dergleichen. Darunter wiederum lagen die Wohndecks, in denen die Familien der Brückenleute wohnten. Und noch darunter lagen die Versorgungseinrichtungen, der Maschinenpark, die Belüftungsanlagen, die riesigen Apparate zur Gewinnung von Trinkwasser aus dem Meer und vieles mehr. Ganz unten, tief unter der Wasserlinie, waren die Gärten und Treibhäuser zu finden, die Algenkulturen, die Fleischfabriken. Alles war sorgsam geordnet, wie es Art der Brückenleute war. Wir erreichten die Verwaltungszone und fanden niemanden. Die Angelegenheit wur-
Der Meisterträumer de nachgerade beängstigend. Verlassene Warenlager, verlassene Amtsstuben … hatte es eine Katastrophe gegeben? Vielleicht eine Seuche? Banjar sprach den Gedanken laut aus. Päär schüttelte sofort den Kopf. »Dann müßten wir Leichen finden«, sagte er energisch. »Ich schätze, daß sich die ganzen Einwohner in die tiefsten Decks verzogen haben, als sie Schados Raubkarawane ankommen sahen.« »Ohne die kostbaren Waren in Sicherheit zu bringen?« fragte ich. »Und wer oder was hat die Tiere getötet, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen?« »Fragen haben wir selber«, fauchte Banjar. »Was wir brauchen, sind Antworten.« »Es gibt nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden«, stellte Thalia fest. »Wir müssen weiter hinabsteigen.« »Dabei entfernen wir uns von Keschmal Schado«, sagte ich warnend. »Und wenn schon«, warf Banjar ein. »Vielleicht fährt er ohne uns ab.« Das wäre natürlich eine Lösung gewesen. Wir vier hätten uns nach Henner-Theel durchschlagen können. Dort hätten wir friedlich und glücklich leben können, sicher vor Keschmal Schados Nachstellungen – wenigstens vorläufig. Wir konnten auch, fiel mir ein, in diesem Bunker bleiben. Wenn er, wie zu befürchten stand, verwaist war, hatten wir einen ganzen Bunker für uns allein. Auch das waren ermutigende Aussichten – vorausgesetzt natürlich, Keschmal Schado ließ seine Braut im Stich und zog ab. Nicht nur, daß mir das unwahrscheinlich vorkam – ich hatte auch gar nicht den Wunsch, Schados Rückzug erleben zu können. Unter den gegebenen Umständen war es ein klarer Beweis für meine Geisteskrankheit. Ich hatte nicht die geringste Lust, an diesem Ort, ja überhaupt auf dieser Brücke zu bleiben. Im Gegenteil: ich hatte das sichere Gefühl, gar nicht hierhin zu gehören.
19 Es gab zwar nichts anderes als diese Wirklichkeit, aber dennoch – ich wollte weg von hier, zu einem Irgendwo, das es gar nicht geben konnte. Ich hütete mich, auch nur das kleinste Zeichen zu geben, das meinen Gefährten verraten hätte, daß ich gerade wieder unter einem akuten Wahnsinnsanfall zu leiden hatte. Es war mein Glück, daß ich keine Zeit zu der selbstquälerischen Frage fand, ob jemand wahnsinnig sein konnte, wenn er genügend Verstandeskräfte und klare Einsicht besaß, seinen eigenen Irrsinn einwandfrei zu diagnostizieren. »Ob er abfährt oder nicht«, sagte Päär. »In jedem Fall werden wir klären müssen, was hier vorgefallen ist.« Wir setzten unseren Vormarsch fort. Wir fanden nichts. Alles sah völlig normal aus. Kein Anzeichen für einen Kampf, keine Hinweise auf eine Katastrophe. Keine Brandspuren, keine Blutflecken, nicht einmal Unordnung. Was aber immer stärker wurde, war die Atmosphäre, das Gefühl, das in immer stärkerem Maß von uns Besitz ergriff. Eine Wolke der Beängstigung lag in der Luft. Eine unwirkliche Bedrohung war spürbar und wurde stärker, die Ahnung einer Katastrophe, die sich zur festen Überzeugung zu verdichten begann, je tiefer wir in den Bunker hinabstiegen. Hatten wir anfänglich befürchtet, auf Tote zu stoßen, so wurde es jetzt beängstigend, keine zu finden. Was konnte in diesen Räumen geschehen sein, daß es nicht einmal mehr Spuren der Bewohner gab? Wir erreichten die Wohnbezirke – und fanden niemand. Wir durchstöberten die Wohnungen – leer. Wir suchten auf den Gängen, in den kleinsten Räumen – vergeblich. Die Möbel standen in den Zimmern, alles war aufgeräumt. In den Schränken und Spinden lagen Kleidung und Wäsche, die Vorratskammern waren mit Lebensmitteln gefüllt – aber wir fanden nicht einmal ein Insekt, geschweige
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Peter Terrid
denn höheres Leben. Nach einer weiteren Stunde hatten wir den Wohnbereich durchquert. Im Maschinenpark fehlte ebenfalls jede Spur. Tiefer hinab, zu den Parks und Gartenanlagen. Eine künstliche Sonne hing an der Decke. Ich achtete nicht darauf, daß es einen seltsamen Widerspruch gab – Kienfackeln am Eingang, hochwertige elektrische Lampen in der Tiefe. Die Pflanzen lagen am Boden, als hätten sie kein Wasser oder keine Luft bekommen. In den Algentanks begann eine bräunliche Brühe langsam zu verfaulen. Auf den künstlichen Weiden lag Vieh. Tot, steif und starr. Es gab kein Leben mehr in RhenPhi. Ich blieb auf einer der Weiden stehen, während Banjar und Päär noch weiter hinabstiegen. Sie wollten auch die letzten Zweifel beseitigen, obwohl es dessen nicht mehr bedurfte. Auf den wenigen Quadratmetern Fläche, die noch zu untersuchen waren, konnte man die nach Tausenden zählende Bevölkerung des Bunkers niemals unterbringen. Wir waren allein in Rhen-Phi. Es war, als hätte die gesamte Bewohnerschaft zu existieren aufgehört.
5. Der Kommandant des Mittleren Forts sah auf die Uhr. Es war viel Zeit verstrichen, seit er die beiden Gefangenen dem Meisterträumer übergeben hatte – zuviel Zeit, wie Yärling urteilte. Er ließ die Arbeit liegen, mit der er sich in den letzten Stunden beschäftigt hatte. Es ging um Sicherungsmaßnahmen für die Kartei Gär, deren Schutz beständig verbessert werden mußte. Die politische und militärische Bedeutung der gesamten ScuddamorenMacht hing nicht zuletzt von der einwandfreien Funktion dieser Kartei Gär ab. Sie enthielt alle verfügbaren Daten der Planeten und Völker des gesamten Marantroner-Reviers – und die Scuddamoren verstanden die Kunst, Daten zu sammeln.
Das Problem, mit dem sich Yärling herumgeschlagen hätte, war nicht ohne Kniffligkeit. Zum einen mußte gewährleistet sein, daß jeder Scuddamoren-Offizier sich des Datenmaterials jederzeit bedienen konnte, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Zum anderen mußte aber auch gewährleistet sein, daß Hochstapler und Betrüger oder Saboteure keinen Zugang zu den Daten fanden. Neben den Organschiffen war die Kartei Gär eine der Säulen der Scuddamoren-Macht. Yärling entschloß sich, diese Arbeit zurückzustellen. Er wollte erst einmal feststellen, was der Meisterträumer aus den Gefangenen herausgeholt hatte. Yärling war gespannt auf die Daten. Der Diebstahl der Ärgetzos hatte – unter der Hand einstweilen – Aufsehen erregt. Der Scuddamore, dem es gelang, dieses Verbrechen lückenlos aufzuklären, hatte, was seine Zukunft betraf, ausgesorgt. Yärling war gewillt, dieser Scuddamore zu sein. Was ihn aber noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, daß er sich über die Volkszugehörigkeit der beiden Häftlinge nicht im klaren war. Sie gehörten, wie Sprache, Kleidung, Gestik und Verhalten bewies, zu keinem der vielen Völker des Marantroner-Reviers. Das war eine Tatsache, die Nachdenken und Vorsicht herausforderte. Die beiden Gefangenen hatten eine Dreistigkeit des Verhaltens an den Tag gelegt, eine Unverfrorenheit und Selbstsicherheit, die allein ausgereicht hätte, ihnen den Tod zu sichern. Die Vorstellung, daß womöglich ein ganzes, bislang unbekanntes Volk solcher Lebewesen existierte, hatte etwas Schaudererregendes an sich. Den Neffen des Dunklen Oheims frühzeitig vor dieser Gefahr gewarnt zu haben, war verdienstvoll und wahrscheinlich auch lohnend – und der Erfolg für Yärling würde noch größer sein, wenn er melden konnte, daß er bereits Vorbereitung zur endgültigen Lösung dieses Problems getroffen hatte. Alles aber hing davon ab, was bei der Be-
Der Meisterträumer fragung der beiden Gefangenen herauskam. Yärling suchte den Meisterträumer auf, um sich über den letzten Stand der Dinge zu informieren. Er war sicher, daß Länerth inzwischen gute Arbeit geleistet hatte. Länerth trug nicht ohne Grund Titel und Rang eines Meisterträumers. Er verstand von der Technik der Szenarien wahrscheinlich mehr als jeder andere auf BreisterkählFehr. Um so erstaunter aber war der Kommandant des Mittleren Forts, als er Länerths Zentrale betrat. Der Meisterträumer ignorierte den eintretenden Yärling. Der Kommandant des Mittleren Forts wertete dies als ein Zeichen der Konzentration. Tatsächlich saß Länerth auch über den Schaltungen des Szenariums. Auf den Bildschirmen liefen Geschehnisse ab, die Yärling nicht erklären konnte, da es ihm an Kenntnissen fehlte. Er sah allerdings, daß auf den Schirmen eine gigantische Brücke zu sehen war, über die sich ein riesenhafter Transporter wälzte. Anhand dieser wenigen Informationen kam Yärling zu dem Schluß, daß der Meisterträumer sich nach wie vor mit dem Puer-Szenarium beschäftigte. Er hatte sich augenscheinlich ganz in seine Arbeit vertieft. Yärling gab ein leises Geräusch von sich, um Länerth auf sein Eintreten aufmerksam zu machen. Sich mit mehr Lautstärke zu äußern, schien ihm nicht ratsam, er wollte die Konzentration des Meisterträumers nicht abrupt stören – das Szenarium hätte darunter gelitten. Länerth reagierte nicht auf diesen diskreten Hinweis. Er rührte sich auch nicht, als Yärling sich nun geräuschvoller meldete. Und es kam auch kein Leben in die Gestalt, als Yärling den Meisterträumer anfaßte und wachzurütteln versuchte. Der Meisterträumer erwachte nicht. Yärling probierte es mit Schlägen, aber nicht einmal das half. Der Fall war klar. Länerth hatte sich selbst in das Szenarium integriert – und ganz offensichtlich kam er einstweilen aus diesem
21 Szenarium nicht mehr heraus. Der Kommandant des Mittleren Forts löste den Alarm aus.
* »Nichts«, sagte Banjar. »Kein Hinweis, kein Zeichen – nichts. Als hätten sie nie existiert.« Wir stiegen langsam wieder die Treppen hinauf, die wir vor kurzer Zeit erst hinabgestiegen waren. Daß der Aufstieg langsamer vonstatten ging, lag nicht nur daran, daß das Hinaufsteigen anstrengender war. Wir waren langsam geworden, weil wir nicht mehr wußten, was wir tun sollten. Das alptraumhafte Gefühl, das auf der untersten Sohle über uns hereingebrochen war, hatte nichts an Intensität verloren. Im Gegenteil, die gespenstische Atmosphäre hatte sich noch verdichtet. Die Beklemmung war stärker geworden. »Was wird Keschmal Schado dazu sagen«, fragte Päär. Wir alle hatten unsere Waffen weggesteckt. Es gab nichts, was man hätte bekämpfen müssen. »Hast du keine größeren Sorgen?« fragte Banjar scharf. »Was heute Rhen-Phi entvölkert hat«, sagte Thalia langsam, »kann morgen über Henner-Theel herfallen.« Irgendwoher kannte ich dieses Phänomen, irgendwoher … (Es war natürlich wieder der Dämon, der mir diese Information zuspielte. In letzter Zeit wurden die Impulse dieser Besessenheit deutlicher. Wenn meine Krankheit fortschritt, würde ich in absehbarer Zeit Stimmen hören, die zu mir redeten – das war dann wahrscheinlich der Zeitpunkt, an dem ich mich besser entleibte.) Ein zweites Mal durchstiegen wir den Wohnbereich, ohne auf Leben zu stoßen. Ich schwankte leicht. Der Dämon setzte mir zu. Die Impulse kamen mit schmerzhafter Stärke. Obendrein fühlte ich einen immer stärker werdenden Juckreiz – albern, aber unerträglich. Mitten in den Wohnbezirken stießen wir auf Keschmal
22 Schados Soldaten. Die Männer waren bis an die Zähne bewaffnet und hatten deutlich erkennbar Angst. »Wo kommt ihr her?« schrie mich ein Offizier an. Der Mann war am Ende seiner Fassungskraft. Banjar beantwortete die Frage. Er deutete auf den Boden. »Von unten«, sagte er dumpf. »Dort lebt niemand. Auch die Pflanzen und Tiere sind tot.« Der Soldat lief grün an vor Schreck. Seine Männer wichen einige Schritte zurück, als trüge unser Atem den Tod in sich. Angst breitete sich aus. »Was denn«, stammelte er. »Nichts? Gar nichts mehr?« »Nicht ein Grashalm«, sagte Päär. »Ihr braucht nicht zu suchen, wir haben alles untersucht. Wo ist Schado?« Der Offizier deutete zur Decke. Seine Hände zitterten heftig. Er strengte sich sichtbar an, das Zittern zu unterbinden, und brach dann schluchzend zusammen. Seine Soldaten sahen sich schweigend an und sammelten sich dann hinter uns. Lächerlich, als ob wir ihnen hätten helfen können – wir konnten uns nicht einmal selbst helfen. Wir stiegen weiter in die Höhe. Unsere Prozession vergrößerte sich. Andere Soldaten, die auf Gängen Wache standen oder Wohnräume zu plündern versuchten, sahen unseren Zug – und schlossen sich uns an. Angst breitete sich aus, ergriff Besitz von den Soldaten und entließ sie nicht mehr. Hätte unsere kleine Gruppe nicht das Tempo bestimmt, die Truppe des Keschmal Schado wäre in Panik geraten. Und je größer und länger unser Zug wurde, um so schneller und williger schlossen sich die Soldaten dem Zug an, sobald sie ihn zu Gesicht bekamen. Es wurde kein Wort gesprochen dabei, unser Marsch verlief schweigend. Ihre Beute ließen die Soldaten achtlos liegen. Ihnen saß die Angst im Nacken, die Furcht vor einem lautlosen, unerbittlichen Gegner. Irgendeine Macht hatte die Bewohner von
Peter Terrid Rhen-Phi verschwinden lassen, und das praktisch ohne Spuren – vor allem aber ohne jede Ausnahme, das war das Bestürzende an diesem Vorgang. Niemand hatte sich vor der Katastrophe verstecken können. Was war das für ein Gegner, mit welchen Mitteln hatte er angegriffen – und vor allen Dingen, wem galt dieser Angriff? Den Bewohnern des Bunkers? Oder war die Truppe des Superintendenten gemeint? Keschmal Schado wartete bereits auf uns. Er hatte sich nicht sehr tief in das Bunkerinnere hinabgewagt. Er hielt sich im Wohnbereich auf, in jenem Trakt, der dem Brückenmeister vorbehalten war, dem Ranghöchsten in der Hierarchie eines Wärterbunkers. Keschmal Schado wirkte nervös. Die Erregung, die ihn beim Betreten des Bunkers befallen hatte, war noch stärker geworden. »Nun?« fragte er, sich mühsam zu einem Lächeln zwingend. »Wo sind sie, die Bewohner …« Seine Stimme wurde leiser und schließlich unhörbar. Hinter mir und Banjar hatten die Soldaten den Raum betreten. Sie wagten nicht, näher als ich an Schado heranzugehen, aber hinter mir drängten sie sich. »Was, bei allen Geistern …?« Keschmal Schados Hände begannen zu zittern, seine Augen quollen hervor. »Es gibt keine Bewohner von Rhen-Phi«, sagte ich hart. »Oder es gibt sie nicht mehr. Wir haben jedenfalls niemanden gefunden.« Schado bot ein Bild nackten Entsetzens. Er war noch stärker von Furcht gepackt als wir. »Das kann nicht sein«, stotterte Schado. Er stand auf und starrte mich an. Fast glaubte ich, in seinem Gesicht Verzweiflung erkennen zu können. Was war in Schado gefahren? Er fuhr mit einem ganzen Heer spazieren, einer schier unüberwindlichen Streitmacht, noch dazu in einem schwergepanzerten Zug, dessen Geschwindigkeit unerreicht war. Wovor hatte Keschmal Schado Angst? »Unmöglich«, rief Keschmal Schado. Er zitterte nun am ganzen Leib. »Völlig ausge-
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schlossen, das kann einfach nicht sein!« »Woher wollt Ihr das wissen?« Es war Banjar, der die Frage ausgesprochen hatte. Keschmal Schado machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unsinn«, sagte er. Er schien uns plötzlich nicht mehr wahrzunehmen. »Einfach unmöglich. Ich habe doch keinen Fehler gemacht, doch nicht ich.« Ich verstand nicht, was er sagte. Schado schien auf geheimnisvolle Weise entrückt zu sein, sein Blick wanderte durch den Raum, fand aber nirgendwo Halt. Nur bei mir verweilte er sekundenlang, aber sein Blick schien förmlich durch mich hindurchzugehen. »Herr, Herr!« Von hinten drängte sich ein Offizier aus Schados Garde durch die Reihen der Wartenden. »Wir werden angegriffen«, rief der Mann. »Auf der Plattform toben Kämpfe.« Schado zwinkerte verwirrt. »Kämpfe? Wer kämpft gegen wen?« »Meeresungeheuer, Herr«, sagte der Soldat. Er war völlig außer Atem. »Eine große Zahl dieser Bestien greift den Bunker an. Wir haben Verluste, Herr.« »Meeresungeheuer, sagst du?« Schado schien noch immer weit entfernt zu sein. Tatsächlich, er lächelte. »Entsetzliche Bestien«, rief der Offizier. »Wir brauchen jeden Mann, der ein Schwert führen kann.« Keschmal Schados Lächeln wurde breiter. »Wir werden sehen«, versprach er freundlich. »Und es sind wirklich Meeresungeheuer, die euch angreifen …?«
* Es waren Ungeheuer. Vergessen waren die Feindschaften früherer Zeit. Nach dem ersten Kontakt mit diesem neuen Gegner wußte ich, daß uns nur Gemeinsamkeit retten konnte. Nur wenn wir gegen diesen Gegner gemeinsam antreten und ihn mit vereinten Kräften bekämpften, hatten wir eine Chance. Das erste, was ich von den Angreifern zu
sehen bekam, war das Endstück eines Tentakels. Zwei Meter Länge, einen halben Meter Durchmesser und Saugnäpfe von dreißig Zentimetern Größe bewiesen jedem zur Genüge, daß wir es mit ernstzunehmenden Gegnern zu tun hatten. Gegen einen solchen Feind durfte man sich keine Fehler erlauben, oder man war verloren. Ich warf aus den Augenwinkeln heraus einen Blick auf Keschmal Schado, und was ich sah, stimmte mich nachdenklich. Keschmal Schado schien in diesem besonderen Fall keine Angst zu kennen. Den Resten eines Monstrums schenkte er keine Beachtung – und doch war er vor kurzem erst beinahe zusammengebrochen angesichts einer weit weniger handfesten Bedrohung. Keschmal Schado war mir ein Rätsel. Einstweilen aber hatte ich keine Zeit, mich mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Der Feind, der den Wärterbunker angriff, erforderte unsere Aufmerksamkeit zur Gänze. Ich hatte mein Schwert bereits in der Hand. Ich brauchte daher nur noch zuzuschlagen, als mir ein kopfgroßes, wolliges Etwas entgegengekollert kam. Das Etwas fiel auseinander und entpuppte sich als ein zuckendes Bündel von Nesselfäden, die mindestens so gefährlich waren wie die Tentakel, gegen die Schados Soldaten sich nach Kräften zur Wehr setzten. Der Mann, der von einem solchen harmlos erscheinenden Geschoß getroffen wurde, war unrettbar verloren. Wenn ihn nicht das Nesselgift nach kurzer Zeit qualvoll tötete, dann war das Opfer in jedem Fall so abgelenkt, daß es anderen Angreifern zur leichten Beute wurde. »Banjar, Päär – an meine Seite.« Die beiden gehorchten sofort. Auch sie hatten ihre Schwerter in der Hand. Nebeneinander stiegen wir die Treppe hinauf, dem Feind entgegen. Jeden Schritt mußten wir uns erkämpfen, und je höher wir stiegen, desto härter wurde dieser Kampf. In den Winkeln und Ecken fanden wir die Spuren, die das erbitterte Gemetzel hinterlassen hatte – schmerzgepeinigte Soldaten, daneben die zuckenden Überreste angreifender Seeunge-
24 heuer. Ein Schädel tauchte in meinem Blickfeld auf, ein riesenhafter Schädel mit einem weitaufgerissenen, stinkenden Maul, das Platz genug bot, uns drei mit einem Bissen zu verschlingen. Ich spürte etwas in meiner Brust pulsieren, trotz der Hektik und der Anstrengung des Kampfes, aber ich unterdrückte die Empfindung. Mit aller Kraft hauend und stechend drang ich auf den Schädel ein. Banjar und Päär standen neben mir. Wir trieben das Ungeheuer zurück. Hiebe auf den langen, biegsamen Hals erzielten die größte Wirkung. Zwar konnten wir die Bestie, zu der sicherlich nicht nur dieser eine Hals gehörte, nicht sofort töten, aber sie verlor viel grünliches Blut, und das ließ uns vorsichtig werden. Unsere Rettung war, daß die Bestien ziemlich langsam waren in ihren Bewegungen. Das gab uns genügend Freiheit, diesen Angriffen auszuweichen, uns unter Prankenhieben wegzuducken, die in der Lage waren, daumenstarkes Metall zu zerknicken. Wir mußten aufpassen. Der Boden war schlüpfrig geworden vom Blut. Wer ausglitt, fand so schnell keinen Halt mehr. Unablässig schwang ich mein Schwert, ließ es auf grünlich schillernde Schuppen herabsausen, hackte und stach nach gierig gereckten Pranken. Ohrenbetäubendes Gebrüll tönte durch die Räume. Die Angreifer schrien vor Wut, Gier und Schmerz, es schrien auch die Verwundeten in unseren Reihen. Stahl klirrte gegeneinander, und über allem lag das ferne Tosen des Sturmes. Ich wußte nicht, was für Kreaturen uns da angriffen, woher sie kamen. Ich wußte nur, daß wir uns unserer Haut zu wehren hatten, wenn wir überleben wollten. Wir brauchten mittlere Ewigkeiten, bis wir uns den Weg freigekämpft hatten. Keschmal Schados Männer griffen mit erheblich gesteigertem Mut an, als sie uns sahen, aber sie sorgten dafür, daß Päär, Banjar und ich stets an der vordersten Front standen.
Peter Terrid Dennoch halfen sie uns, den Weg nach oben freizukämpfen. Zwar mußten wir uns immer wieder ducken, damit wir nicht selbst in die Schußlinie gerieten, aber wir erreichten damit, daß die Armbrustschützen ihre Bolzen gezielt verschießen konnten. Sie zielten vornehmlich auf die Augen der Seeungeheuer, und dort erwiesen sich die Geschosse als besonders wirkungsvoll. Endlich erreichten wir die letzte Treppe. Wenn es gelang, diesen Zugang zu sperren, waren wir leidlich in Sicherheit. Zwar hatten wir dann immer noch das Problem zu klären, wie wir aus dem Bunker herauskamen und was mit Keschmal Schados Zug unterdessen geschehen war, aber vorläufig hatten wir mehr als genug mit den naheliegenden Sorgen zu tun. »Armbrustschützen her!« schrie Banjar, als im Eingang zum Bunker ein Drachenkopf erschien, der uns aus einem Dutzend gelblicher Augen gierig anfunkelte. Wie immer zielten die Armbrustschützen auf die Augen, und wie immer trafen sie gut. Einige der Bolzen prallten an den rasch herabgeklappten Lidern des Drachen ab, aber der Rest saß im Ziel. Das Tier brüllte schmerzerfüllt auf. Eine Pranke, groß genug, um einen Mann vollständig darin verschwinden zu lassen, wischte über den Treppenabsatz. Wir konnten uns knapp darunter hinwegducken. Ich spürte den Luftzug dieses Hiebes meine Haare durcheinanderwirbeln. Ich überlegte keine Sekunde. Ich sprang auf und stürmte die Treppe hinauf. Die Brust des Drachen war zu sehen, wenn ich ihn erreichte, ihm das Schwert zwischen die Rippen trieb – der riesenhafte Körper verdeckte den halben Eingang und bot uns in gewisser Weise Schutz vor weiteren Angreifern. Ich nahm zwei Treppen auf einmal. Noch einmal mußte ich mich flach auf den Boden werfen, wieder fegte die mörderische Tatze über mich hinweg. Ich kam wieder auf die Füße, hetzte hinauf, das Schwert in der Faust. Ich sah, wie der Drachen zuckte, wie sich
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sein gigantischer Körper aufbäumte. Ein markerschütternder Schrei entfuhr dem Maul des Seeungeheuers, dann prallte donnernd der riesige Schädel auf den Boden. Ich hielt ein. Die Bestie war tot, aber ich war nicht der Mann, der dieses kleine Wunder bewerkstelligt hatte. Unversehens überfiel mich rasender Kopfschmerz. Ich taumelte mehr, als daß ich die Stufen hinaufging. Neben dem Schädel des Drachen tauchte eine Gestalt auf, schlank und hochgewachsen, mit weißen Haaren und rötlich schimmernden Augen. »Willkommen, Erhabener«, sagte die Gestalt und hob die Hand zum Gruß. »Woher …?« ächzte ich. Die Welt begann vor meinen Augen zu flimmern, der Kopfschmerz wurde unerträglich. »Von Arkon kommen wir«, sagte die Gestalt. »Wir grüßen den Prinzen des Großen Imperiums.« Hinter mir schrie Keschmal Schado gellend auf.
6. Panik überfiel den Meisterträumer. Nacktes Entsetzen hatte ihn im Griff, würgte ihn und versetzte Länerth in einen Zustand, wie ihn der Meisterträumer noch nie erlebt hatte. Länerth fühlte die Erde unter sich beben, er glaubte das Sonnenlicht flackern sehen zu können. Was geschah, war unmöglich, widersprach allen Gesetzen der Natur und der Scuddamoren. Was sich abspielte, durfte nicht sein. Der Plan war perfekt gewesen, wie jeder Plan, den der Meisterträumer sich erdacht hatte. Nun aber waren Störungen aufgetreten, Widersprüche, die in Länerths meisterlichem Plan nicht enthalten waren – ja, die es gar nicht geben durfte. Da war der unglaublich hartnäckige Widerstand von Atlan und Thalia. Da war das unbegreifliche Phänomen, daß die Bewohnerschaft von Rhen-Phi einfach verschwunden war. Welche Kraft hatte dies bewirkt? Es gab keinen anderen Einflußfaktor auf
das Puer-Szenarium als den Willen des Meisterträumers. Er allein – niemand sonst – bestimmte Zusammensetzung und Verlauf des Szenariums. Und er hatte den Befehl gewißlich nicht gegeben, der das Verschwinden der Rhen-Phi-Bevölkerung bewirkt hatte. Was also hatte das rätselhafte Verschwinden bewirkt? Hatte Yärling in das Szenarium eingegriffen, oder ein anderer Scuddamore? Eher war Länerth bereit, an Wunder zu glauben, als an diese Möglichkeit. Yärling verstand von der ganzen komplizierten Materie nicht genug, und ein anderer Meisterträumer hätte niemals in ein laufendes Szenarium eingegriffen. Länerth war tief erschüttert gewesen, als er diese Fakten hatte verarbeiten müssen. Dann aber war programmgemäß der Stressor aufgetreten, den Länerth für diesen Teil des Szenariums ausgewählt hatte – die Seeungeheuer waren pünktlich erschienen. Daß sich Atlan und die Frau nicht hatten beeindrucken lassen, war schade, aber nicht weiter von Belang. Daß die von Atlan geführten Truppen die Bestien erfolgreich bekämpft hatten, war ebenfalls nicht ganz Länerths Plan gewesen, aber er war durchaus in der Lage, solche kleinen Abweichungen zu korrigieren, wie sie immer wieder einmal auftraten. Jedes Szenarium hatte kleinere Eigengesetzmäßigkeiten, die auszusteuern Aufgabe eines Meisterträumers war. Dann aber … Keschmal Schado lehnte sich fassungslos gegen die Wand. Sein Körper wurde von unkontrollierbaren Angstgefühlen geschüttelt. Woher kamen diese Wesen? Brückenleute mit weißen Haaren und rötlichen Augen gehörten nicht zum Szenarium, es gab sie nicht. Und doch standen sie da und entboten ihrem Herren den Gruß. Wie betäubt wankte Länerth die wenigen Stufen zur Plattform hinauf. Keschmal Schado zitterte am ganzen Leib, Länerth bekam seine Gliedmaßen nicht unter Kontrolle. Er sah den toten Drachen, den sein Geist
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erschaffen hatte. Länerth sah den reglosen Körper. Keschmal Schado sah den riesigen Zug, dahinter erkannte der Meisterträumer die Arkoniden. Es waren Tausende, und sie standen auf der Plattform, sturmumtobt, kerzengerade, mit harten, unerbittlichen Gesichtern. Sie präsentierten die blitzenden Waffen, ihr Gruß hallte über die Plattform, übertönte das Brüllen des Sturmes. Schado/Länerth wußte, daß er verloren war. Längst hatte ein anderer die Leitung des Szenariums übernommen. Länerth sah zu, daß er sich zurückzog. Notfalls mußte er, um wieder Ordnung in die Dinge zu bringen, das gesamte PuerSzenarium opfern. Dann aber entdeckte Schado, daß er nicht länger über den Dingen stand. In grauenvoller Deutlichkeit spürte er, daß er nicht nur die Kontrolle über das Szenarium verloren hatte … … er kam aus dem selbsterschaffenen Szenarium nicht mehr heraus. Der Meisterträumer war gefangen, gebunden an die selbsterzeugte Wirklichkeit. Ein anderer hatte die Macht übernommen. Länerth schrie …
* Gellend klang Keschmal Schados Schreien über die Plattform, auf der meine Truppen standen und salutierten. Arkoniden, vom alten Schlag, Männer, die Welten bezwungen hatten, Frauen, denen nichts glich, was sich sonst im Universum bewegen mochte. Meine Männer, meine Frauen – Arkoniden. Wo kamen sie her, die mich grüßten? Wer hatte sie gerufen? Immer undurchschaubarer wurde dies alles. »Atlan«, flüsterte Thalia erschrocken. »Wer sind diese Leute, wo kommen sie her?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich hilflos. Zwei Schritte entfernt standen Banjar und Päär, offenkundig unschlüssig, was sie nun zu tun hatten. Die Soldaten des Keschmal
Schado standen hinter mir, die Hände an den Waffen, die Mienen aber zeigten, daß sie keine Lust auf Fortsetzung der Kämpfe hatten. Der Streitmacht, die sich da aufgebaut hatte und erklärt hatte, sie sei mir untertan, wären Schados Truppen schwerlich gewachsen gewesen. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich. Von innen stieg der Schmerz in die Höhe. »Ich begreife es nicht.« Da verschwanden lebende Wesen im Nirgendwo … Nirgendwann! Zum erstenmal sprach der Dämon mit deutlicher, spöttischer Stimme, dann aber wurde der Klang undeutlich. Druuuuuufff, hörte ich noch, dann verstummte der Dämon. War dies sein Name? … und andere kamen, angeblich von Arkon, jenem Land, aus dem auch ich angeblich stammte. Sie nannten mich ihren Gebieter, mich, der ich nicht wußte, wer oder was ich war. Arkon, meldete sich der Dämon. Arkon, Arkon, Arkon. Das Wort sagte mir nichts, ich verband nichts damit. Ich starrte auf die Männer und Frauen, die in Hundertschaften angetreten waren. Die Anordnung machte es möglich, ihre Zahl zu schätzen. Dreißigtausend. Eine Armee, aufgetaucht aus dem Nichts. Von Arkon III, wußte der Dämon spöttisch zu melden. Ich versuchte die lästige Stimme zu vergessen, aber es gelang mir nicht. Der Schwindel, der mich gepackt hatte, wurde stärker. »Atlan«, sagte Thalia drängend. »Atlan, wach auf!« Ich fühlte mich, als würde ich langsam in der Mitte zerrissen. Verzweifelt wandte ich mich um. Keschmal Schado, der mächtigste Mann unter uns, lag am Boden und wimmerte. Ich ging auf ihn zu. »Schado«, sagte ich. »Was fehlt Euch? Kann ich Euch helfen?« Hilf dir selbst, forderte mein böser Geist.
Der Meisterträumer »Helfen?« kreischte Schado. »Helfen? Mir? Du?« Er schien dem Wahnsinn nahe. War dies alles ansteckend? Ich fuhr herum. Thalia griff sich an den Kopf. Sie schwankte. »Mir wird übel«, sagte sie. Hinter ihr sah ich die Arkoniden stehen, als wären sie gefroren. Keiner rührte auch nur ein Glied. »Atlan«, stammelte die Frau. »Was ist mit uns? Alles verschwimmt vor meinen Augen. Mir ist, als würde ich zerrissen.« Ich konnte sie verstehen, helfen konnte ich ihr nicht. Ich hatte genug mit mir zu tun. Keschmal Schado kicherte unterdrückt. »Schwierigkeiten?« fragte er höhnisch. »Bekommt dir das Szenarium nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Was redest du da?« »Du hast doch die Kontrolle übernommen«, kreischte Schado mit überschnappender Stimme. »Du hast doch jetzt die Fäden in der Hand. Gefällt dir mein Szenarium?« »Was ist ein Szenarium?« Ahnung überfiel mich, von ferne wehten Erinnerungsfetzen auf mich zu, Gefühle, die mich warnten – Angst, Entsetzen, Grauen: dies alles wartete auf mich, am Ende dieser Gedankenstraße. »Woher kommst du?« fragte Schado. Er stand auf, griff nach meinem Gürtel. »Wer bist du? Du kannst es mir sagen, ich bin doch dein Gefangener. Woher kommst du?« »Von Arkon?« riet ich. Ich wußte es selbst nicht. »Von Pthor kommen wir, Atlan«, sagte Thalia hinter mir. Blitzartig durchzuckte mich die Erkenntnis. Ja, Thalia und ich kamen von Pthor. Und beinahe ebenso schnell war der Gedanke wieder verschwunden. Ich wandelte am Rand der Erkenntnis, die verborgen lag hinter einer seltsamen Wand, die ich nicht zu durchstoßen vermochte. »Von Pthor also«, sagte Schado. »Heheh, sind alle dort wie du? Könnt ihr alle mein Wirken abblocken?«
27 Ich verstand überhaupt nichts mehr? Wovon redete der Mann? Wer von uns beiden war nun irre – er oder ich. Oder beide? Mein Blick wanderte unsicher umher. War das Ungeheuer verschwunden? Wer hatte es fortgetragen? Der Sturm hatte aufgehört, durch das Gewölk stahlen sich erste Sonnenstrahlen. »Wie hast du das gemacht?« kreischte Schado. »Wie hast du es geschafft, die Impulse abzublocken, ja selbst die Herrschaft im Szenarium zu übernehmen?« Ich sah mich hilfesuchend um. Der Anblick der Arkoniden beruhigte mich. Sie würden mir helfen, wenn es nottat. Die Männer, die Schado begleitet hatten, konnten es mit meiner Armee nicht aufnehmen. »Rede doch«, flehte Schado. Sein Gesicht zeigte alle Anzeichen des Irrsinns. »Wie hast du das gemacht. Ich muß es wissen, für mein nächstes Szenarium, weißt du? Bitte, Herr, redet. Wohin habt Ihr die Bewohner von Rhen-Phi verschwinden lassen?« »Wir?« Drruuufff, meldete sich der Dämon und kicherte dazu. Drruuufff! »Sie sind verschwunden, alle 72.000«, sagte ich unwillkürlich. Wie kam ich ausgerechnet auf diese Zahl? Was hatte sie mit – Drruuuff, meldete sich wieder der Dämon – dem Problem zu tun. »Aber ich habe nichts damit zu tun«, sagte ich und machte eine abwehrende Handbewegung. Keschmal Schado, der ganz allein vor mir stand, schüttelte traurig den Kopf. Seine schwarze Kleidung schien das strahlende Sonnenlicht fast zu verschlucken. »Du mußt«, sagte er. »Niemand sonst hätte das gekonnt. Hat dir das Goldene Vlies dabei geholfen?« »Wobei?« schrie ich. Langsam verlor ich die Beherrschung, das Gefühl der Zerrissenheit wurde immer stärker, immer unerträglicher. »Das Szenarium zu sprengen«, schrie Schado mit verzerrtem Gesicht. »Sieh dich
28 doch um, sieh dir an, was du getan hast? Wohin sind diese nun alle verschwunden?« Ich drehte mich um. Wir waren allein. Verschwunden die Arkoniden, dorthin zurückgekehrt, woher sie unbegreiflicherweise aufgetaucht waren. Verschwunden Päär und Banjar, wie in Luft aufgelöst. Thalia war bleich geworden. »Atlan«, flüsterte sie. »Was tust du?« Ich starrte sie verständnislos an. Ja, was um alles in der Welt tat ich denn? Ein warmer Wind strich sanft über die blumenbestandene Wiese, trug die Düfte der Blumen herüber. Trotzdem fröstelte ich leicht. Nicht einmal das Licht der drei Sonnen am Himmel vermochte mich zu wärmen. Mir wurde übel, irgend etwas saß mir in Magen und Kehle. »Drei Sonnen?« sagte Keschmal Schado. »Kommst du aus einem System mit drei Sonnen?« »Drei Planeten«, sagte ich automatisch, ich gab nur die Einflüsterungen des Extrasinns weiter. Ein Gebilde tauchte in der Luft auf, flimmernde Konturen, von einem Schirmfeld überwölbt. »Pthor!« stammelte Thalia. Sie wurde zusehends blasser. War Keschmal Schado lichtempfindlich? Er wurde nicht bleich, er verdüsterte sich. Sein häßliches Gesicht war von der schwarzen Kleidung kaum noch zu unterscheiden. Das Gebilde verschwand ebenso überraschend, wie es gekommen war. Wahrscheinlich lag es daran, daß ich mich auf nichts mehr recht konzentrieren konnte. Ich krümmte mich. Wurde der Dämon nun auch körperlich aktiv? Beschränkte er sich nicht länger darauf, meine Gedanken zum Chaos werden zu lassen? Wollte er jetzt auch meinen Körper gleichsam verknoten? »Wohin hast du sie alle verschwinden lassen«, wimmerte Keschmal Schado. Meine Augen konnten ihn immer schwerer erfassen.
Peter Terrid »Ich flehe dich an, sage mir, wie du das gemacht hast. Ich werde dich belohnen, ich werde dir jeden Wunsch erfüllen, wenn du mir verrätst, wie du sie hast verschwinden lassen. Und wahrlich, Länerth, der Meisterträumer, hält sein Wort!« Thalia schrie auf und knickte ein. Ich machte zwei Schritte, um sie aufzufangen. Seltsam leicht fühlte sich die Odinstochter an. »Du heißt also Länerth?« Das schwärzliche Wesen winkte undeutlich. »Sage nicht, du weißt es nicht mehr, wer ich bin!« sagte Schado undeutlich. »Weißt du nicht, wen du bekämpft hast? Hahaha, er weiß nicht einmal, wen er besiegt hat, dieser Tor.« Ich fühlte grenzenlosen Haß in mir aufsteigen. Ich machte einen Schritt auf Länerth zu, krümmte mich aber wieder, weil mir ein riesiges, glühendes Messer durch den Leib zu fahren schien. Zurück! sagte auch der Dämon. Jetzt fiel mir auch sein Name ein. Er hieß ARK SUMMIA. Daß ich früher darauf nicht gekommen war … »Noch einmal, wohin hast du sie alle verschwinden lassen?« wollte Länerth wissen. ARK SUMMIA hatte eine Antwort parat, sie war zwar unsinnig, aber vielleicht genügte sie dem Meisterträumer. In einem Paralleluniversum, sagte der Dämon durch meinen Mund. Ich spürte wie er immer mehr Besitz von mir ergriff. Dort vergeht die Zeit um den Faktor 72.000 langsamer. »Einfach, aber wirkungsvoll«, kicherte Länerth. »Ein guter Gedanke. Vielleicht kann ich darauf zurückkommen.« Er begann zu wachsen, vor meinen Augen. Oder wurde ich kleiner? »Nun sind wir allein«, sagte Keschmal Schado schadenfroh. »Endlich allein. Warum hast du deine Helfer nicht behalten, dummer Tropf.« Ich verstand nicht, was er damit sagen
Der Meisterträumer wollte. Er wuchs und wuchs, ein schwärzliches Gebirge von einem Wesen. Auch um mich herum wurde es finster. Die Sonnen verschwanden, der Rasen verschwand, auf dem ich stand. Ich verlor den Halt unter den Füßen, schwebte frei. Angst breitete sich in mir aus. Schwärze hüllte mich ein, endlos und undurchdringlich. In dieser Schwärze lauerte jemand auf mich, suchte einer den Kampf. Nur ruhig, Atlan, sagte der Extrasinn kalt. Diese – innere – Stimme war alles was ich wahrnehmen konnte in diesem Universum der Schwärze. Ich war allein, und doch wiederum nicht. Irgend jemand, irgend etwas versuchte, mich zu beeinflussen. In der Ferne wurde ein Lichtschein sichtbar, weit entfernt, mehr zu ahnen als zu sehen. Ich strebte dorthin. Ein Gedanke genügte, und ich hatte das Gefühl, auf den Lichtpunkt zuzufliegen. Du wirst es schaffen, gab der Extrasinn durch. Ich verließ mich auf die beruhigende Auskunft. Schwärzlich in der Schwärze, körperlos im leeren Raum griff mich ein Etwas an, drängte und stieß mich zurück. Länerth. Ich widersetzte mich dem Druck, stemmte mich dagegen. Das helle Fenster hatte sich von mir entfernt, jetzt kam es wieder näher, und damit kamen peinigende Gefühle auf mich zu. Angst, Grauen, Furcht, nacktes Entsetzen. Etwas wartete auf mich, wenn ich durch jenes Tor aus Licht schritt, das in der Ferne auf mich wartete. Es war sicherer, in der Dunkelheit zu bleiben, sich in die wärmende Schwärze zu hüllen. Grell und kalt stand das Licht am anderen Ende des Weges, mehr Bedrohung als Verheißung. Ich steuerte dennoch darauf zu, vorangetrieben von den Impulsen des Extrasinns, gesichert von dem Gefühl, daß man dem Goldenen Vlies nichts anhaben konnte. Zum Greifen nahe das Fenster, zum Grei-
29 fen nahe die Angst. Ich zögere, das Lichtfeld zu durchstoßen. Vorwärts, drängt der Logiksektor. Du mußt, Atlan, du hast keine andere Wahl! Noch einen Herzschlag lang zögere ich, dann gebe ich mir den letzten Stoß. Jäh fällt das Grauen über mich her, würgende Angst. Ich sitze irgendwo in der Helligkeit fest, kann mich nicht rühren, und etwas zerrt und reißt an mir und in mir. Ich trete mit beiden Füßen um mich, spüre Widerstand, der nachgibt. Der Schmerz hört nicht auf, aber ich spüre, wie mein Körper sich bewegt, auf einer glatten Unterlage ins Rutschen gerät. Ich falle vornüber. Der Schmerz hört auf. Stahl spüre ich an den Händen, kalten Stahl. Ich kann nicht anders, ein Schrei löst sich von meinen Lippen, dann ein tiefes Aufatmen. Ich bin erwacht.
7. Allein. Die Lichtkabinen um mich herum waren besetzt. Ich war das einzige lebende, freie Wesen in diesem Bereich des Mittleren Forts. Zwei Schritte von mir entfernt tobte jemand in seiner Lichtkabine, und ich wußte sofort, um wen es sich handeln mußte. Ich hastete zu der Lichtkabine hinüber, mit zitternden Fingern löste ich die Verschlüsse, die ich an meiner Kabine mit letzter Körperkraft gesprengt hatte. Thalia fiel mir in die Arme, schweißgebadet, kreideweiß im Gesicht und zuckend vor Angst und Entsetzen. »Atlan«, stammelte sie. »Was ist mit uns geschehen?« Ich richtete sie langsam auf. Ich sah mich um, betrachtete die Lichtkabinen … … und erinnerte mich …
* Yärling war die Freude anzusehen, mit der er uns den Zweck der ganzen Anlage er-
30 läuterte. Zwar konnte ich keine Konturen erkennen, aber die Bewegungen des Schattenschildes schienen mir deutlich zu sein. »Ihr wollt wissen, was der Ausdruck Meisterträumer bedeutet, nicht wahr? Nun, Länerth hier, der beste unter den Meisterträumern hatte sich eine Welt erdacht. Und er hat auch Bewohner für diese Welt.« Yärling stieß einen Laut aus, der nur als höhnisches Lachen zu bezeichnen war. Ich begriff. Der Meisterträumer belauschte nicht die Träume der Sklaven des Mittleren Forts. Viel schlimmer – er träumte sie! Er schuf eine künstliche Welt, geboren aus Illusionen, undurchschaubaren Träumen, aus Vorstellungen, die dem Meisterträumer genehm waren. Woher sollten die Sklaven dieser Welt wissen, was Wahrheit, was Blendwerk war? Für sie mußte jede Illusion perfekt sein, und widerstandslos würden sie sich dem Willen des Meisterträumers beugen. Aus dieser Sklaverei gab es kein Entkommen – nicht einmal in Gedanken war Widerstand gegen dieses perfekte System der Unterdrückung möglich. Mich schauderte. Viel hatte ich schon erlebt und gesehen, aber dergleichen war mir noch nie begegnet. »Die Hölle!« stieß ich hervor. »Das Inferno selbst kann nicht schlimmer sein.« Wieder kicherte Yärling. Ich wollte einen Sprung machen, ihn angreifen … ein scharfer Impuls des Extrasinns hielt mich zurück. Welches Hirn dachte sich so etwas aus? Wahrscheinlich wurden die Wünsche der Meisterträumer von den Komputersystemen aufgearbeitet und den Lichtkabinen zugeführt. Das Ergebnis, die kollektive Vorstellung der Sklaven wurde abgezapft und auf einen oder mehrere Bildschirme projiziert. Auf diese Weise hatte der Meisterträumer stets einen vollständigen Überblick über das gesamte Szenarium – so wurde vermutlich der Verbund genannt, in den Hunderte von Sklaven verstrickt waren, ohne sich gegen diese Pseudowirklichkeit zur Wehr setzen zu
Peter Terrid können. Was die Sklaven des Meisterträumers zu erleben glaubten, war eine perfekte Welt für sich, ein in sich selbst abgeschlossenes System. Woher sollte einer der Insassen wissen, was mit ihm gemacht wurde – wie wollte er die perfekte Täuschung von der Wirklichkeit unterscheiden. Wenn er sich, um ein beliebtes irdisches Bild zu gebrauchen, in den Arm kniff, dann tat dies im Traum weh – es gab aus dieser Illusion keinen Ausgang …… es sei denn, der Meisterträumer entließ seine Sklaven, und ich war mir sicher, daß dies für den Betreffenden den Tod bedeutete, wenn nicht eine geistige Umnachtung, die schlimmer war als der Tod. Ich schluckte. Ich hatte schon oft in Gefahr geschwebt, in Todesangst – aber dies war grundsätzlich anders. Ich konnte mir das Gehirn zermartern, aber mir wollte kein Weg einfallen, diesem Leben zu entrinnen. Wer einmal in einer Lichtkabine steckte, fand daraus nie mehr zurück. Ich sah auf die Scuddamoren. War es nicht besser, den entscheidenden Schritt jetzt zu tun, den Scuddamoren in die schußbereiten Waffen zu laufen? War dies nicht tausendmal besser als das Schicksal, das vor uns Tausende bereits erlitten hatten – und noch erleiden mußten? Keine voreiligen Entschlüsse, warnte der Logiksektor. Ich zweifelte am Optimismus, den der Extrasinn damit wohl ausdrücken wollte. Alles in mir sträubte sich dagegen, sich dieser Behandlung zu unterwerfen, in der aberwitzigen Hoffnung, daß es ausgerechnet mir gelingen würde, aus diesem Traumgefängnis einen Fluchtweg zu finden – den Tausende vor mir nicht gefunden hatten. »Was versprecht ihr euch davon, alle Untertanen in solche Käfige zu sperren?« fragte Thalia. Ihr klarer Verstand hatte sofort die Schwachstelle gefunden. »Natürlich nicht alle«, sagte Yärling, offenbar amüsiert. »Das System ist viel zu kompliziert. Es steht allerdings erst am Anfang.«
Der Meisterträumer Was denn? Hatte das Grauen noch eine Steigerungsmöglichkeit? Gab es dazu noch eine Verbesserung? »Sehr ihr die Projektoren?« fragte Yärling. Jetzt erst begriff ich, was die seltsam geformten Metallgebilde zu bedeuten hatten, die ich schon mehrfach gesehen hatte. »Projektoren?« »Das System ist – noch – kabelgebunden«, erklärte Yärling. »Aber wir arbeiten daran, es zu verbessern. Und es wird uns gelingen.« Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. »Eines nicht zu fernen Tages werden die Projektoren zu arbeiten beginnen«, versprach Yärling. »Dann wird es keine Rebellionen, keine Aufstände mehr geben. Glück wird sich ausbreiten, auf allen Welten des Marantroner-Reviers.« Glück, dachte ich. Was für ein Wort. Natürlich würden sie glücklich sein, die Sklaven der Scuddamoren. Die Traumprojektoren würden sie in eine immerwährende Illusion des Glücks versetzen. Sie würden arbeiten und schuften. Im Pseudoglück dieser Projektoren. Man würde ihnen Entbehrung als Vergnügen verkaufen können, Plackerei als Sport, Menschenschinderei als Freizeitvergnügen. Was immer die Scuddamoren von ihren Sklaven verlangen mochten, sie würden es bekommen – die Sklaven des Grauens würden sich förmlich darum prügeln, den Scuddamoren gefällig sein zu dürfen. Die Scuddamoren hatten ein perfektes Glasperlenspiel des Grauens erfunden; sie könnten ihre Untertanen ausbeuten, wie niemals zuvor Untertanen ausgebeutet worden waren – und niemals zuvor waren die Glasperlen, die man den Sklaven als Ausgleich bot, zum einen billiger und zum anderen glänzender und perfekter gewesen. Ein entsetzliches Bild machte sich in meinen Gedanken breit: Irgendwo in dem riesigen Gebiet, das Marantroner-Revier genannt wurde, saß Chirm-
31 or Flog, einer Spinne vergleichbar, die inmitten eines unsichtbaren, absolut perfekten Netzes hockte. Von diesem Mittelpunkt aus konnte Flog über seine willfährigen Sklaven gebieten. Und nur die Ewigkeit selbst, das Ende aller Zeit, konnte dieser Herrschaft ein Ende bereiten. Wer hätte gegen ihn rebellieren, ihn bekämpfen können? Niemand! Diese Überspinne in ihrem Netz konnte sicher sein, daß niemand jemals auf den Gedanken verfallen würde, einen solchen Aufstand auch nur zu wollen. »Perfekt, nicht wahr?« Es war perfekt, Yärling hatte in seiner perversen Freude recht. Was die Scuddamoren hier erprobten – und zur Perfektion zu entwickeln schienen –, war nicht das Ende der Freiheit im üblichen Sinn. Schon oft hatte es im Universum Diktaturen gegeben – aber niemals perfektere. Denn dieser Diktator bestimmte nicht nur das Handeln seiner Untertanen – er gebot, mit universeller Macht, über den Willen seiner Opfer. Zu mehr als Wehrlosigkeit waren die Sklaven des Mittleren Forts verdammt – sie waren verurteilt zur Willenlosigkeit. Wir waren verurteilt zur Willenlosigkeit. »Vorwärts!« gebot Yärling. »Wir wollen sehen, wie euch das Leben gefallen wird, wenn ein Meisterträumer sich um euch kümmert.« Ich vergaß Thalia, ich vergaß alles. Nur ein Wille beherrschte mich noch. Ich wollte diesem Schicksal entgehen, lieber sterben als das … Ich schaffte es gerade noch, mich halb herumzudrehen … Dann traf mich der harte Schlag, der mich sofort bewußtlos werden ließ.
* Was mich letztlich gerettet hatte, ließ sich in diesem Augenblick nicht sagen. Ich konnte darüber nur Vermutungen anstellen.
32 Wahrscheinlich hatten mich das Goldene Vlies und der Extrasinn gerettet. Auf eine Art und Weise, die ich selbst nicht begriff, hatte ich mich offenbar von Anfang an gegen das Szenarium – die Pseudowelt der Kontinentalbrücke – zur Wehr gesetzt, und dies offenbar mit immer größeren Erfolg. Zum Schluß nämlich hatte ganz offenbar der Meisterträumer die Kontrolle über sein Szenarium verloren und an mich abtreten müssen. Unbewußt hatte ich den Spieß herumgedreht. An Einzelheiten wurde mir das schlagartig klar. Ich hatte Thalia als Odinstochter bezeichnet, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ich hatte mich eine fünfhundert Meter hohe Brücke hinab ins Wasser gestürzt – eine Handlungsweise, die nur für den selbstmörderisch war, der nicht wußte, daß es sich um ein Traumphänomen handelte, und der vor allem die unglaublichen Defensivkräfte des Anzugs der Vernichtung nicht kannte. Langsam kam Licht in dies alles. Daß Banjar, der Brückenmann, plötzlich so tapfer geworden war – Länerth, der Meisterträumer hatte hier nachgeholfen. Unsere verblüffend einfache Befreiung aus Piratenhand – von Länerth gesteuert. Und dann war Länerth selbst auf den Plan getreten, mit seinem Riesenzug und seinen zahlreichen Soldaten – als Keschmal Schado hatte er sich selbst in sein eigenes Fiktivspiel eingebaut. Für ihn, der die Daten des ganzen Szenarium kontrollierte, mußte es natürlich ein Schock sein, daß die Bewohner des Wärterbunkers RhenPhi verschwunden waren. Ich hatte sie verschwinden lassen. Mein Unterbewußtsein – präziser gesagt, mein Extrasinn – hatte eine Gegenillusion geschaffen und die Bewohner in das Paralleluniversum der Druuf mit ihrer 72 000fach langsameren Zeit versetzt. Der Extrasinn hatte auch die Informationen herausgerückt, die ich Keschmal Schado in Brocken vor die Füße geworfen hatte – als Köder gleichsam.
Peter Terrid Ich konnte im Nachhinein die stille Raffinesse des Extrasinnes nur bewundern, mit der er – vorsichtig, wie es seine Art war – nur solche Informationen freigegeben hatte, die zwar nachweislich stimmten, aber im Augenblick nicht von wesentlicher Bedeutung waren. Wahrheitsgemäß hatte ich ausgesagt, von ThäärRha zu kommen – Länerth, damals noch außerhalb des Szenariums, hatte die halbe Wahrheit aufgegriffen und sofort eingebaut – plötzlich gab es, und niemand Wunderte sich darüber, einen Wärterbunker, der Terra hieß. Zu seinen Leidwesen hatte Länerth aber keine weiteren wichtigen Informationen aus mir herausholen können. Auch meine Behauptung, ich sei Kristallprinz von Arkon war richtig – nur um Jahrtausende veraltet. Kein Wunder, daß es Keschmal Schado alias Länerth vorgezogen hatte, die gewünschten Daten im persönlichen Kontakt aus mir herauszuholen. Ich vermutete, daß eigens zu diesem Zweck die Seeungeheuer erschaffen worden waren. Sie hatten uns in eine psychologische Ausnahmesituation treiben sollen, in der Länerth hoffte, uns gefügiger zu finden. Das Gegenteil war eingetreten. Der Extrasinn hatte die Kontrolle über das Szenarium übernommen. Ihm hatte ich es zu verdanken, daß urplötzlich 30.000 Arkoniden auf den Plan getreten waren, Gestalten, die niemals zu Länerths Szenarium gehört hatten. Sie waren allein meiner Erinnerung entsprungen. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, wie viele Stunden Thalia und ich in den Lichtkabinen gesteckt hatten. Das Gefühl der Müdigkeit aber, das sich trotz des lebenserhaltenden Zellaktivators in mir ausbreitete, ließ darauf schließen, daß der Kampf zwischen Länerth und mir viel Zeit und vor allem viel Kraft gekostet hatte. Ich mußte mich gegen eine Wand lehnen, um nicht einzuknicken. Nach den Anstrengungen des lautlosen, rein geistigen Kampfes kam die Reaktion besonders stark. Thalia atmete tief durch. Es war bewundernswert, daß sich auch
Der Meisterträumer Thalia hatte wehren können. Ich konnte mich an Äußerungen von ihr erinnern, die sie im Traum gemacht hatte und die sehr deutlich gezeigt hatten, daß sich auch die Odinstochter wacker gewehrt hatte. »Was machen wir jetzt, Atlan?« Thalias Frage klang ruhig und bestimmt. Der erste Anfall von Erschöpfung war vorüber. Odins Tochter fand zur Selbstbeherrschung und Verstandeskälte zurück, die in dieser Lage dringend nötig waren. »Vorerst sind wir in Sicherheit«, sagte ich. »Aber das wird vermutlich nicht sehr lange dauern. Irgendwann werden die Scuddamoren merken, daß ihr Meisterträumer aus seinem eigenen Traum nicht mehr herausfindet. Und dann wird hier die Hölle los sein …« Es war eine dumme Formulierung, schließlich hatten wir so etwas wie die Hölle bereits hinter uns gebracht. Verglichen mit der grauenvollen Existenz als unfreiwilliger Träumer konnte der Tod in einem Kampf nur eine Verheißung sein. Eines stand für mich fest: beim nächsten Versuch würden die Scuddamoren keine Fehler mehr machen. Sie würden mir den Anzug der Vernichtung wegnehmen. Ob ich ohne dieses Hilfsmittel in der Lage war, den Zwang des Meisterträumers abzustreifen …? Ich glaubte es nicht. Beim nächsten Mal würde es kein Erwachen mehr geben für Thalia und mich. Irgendwo gellte der Klang einer Sirene. Das Geräusch kam mir erst jetzt zum Bewußtsein. Waren wir bereits entdeckt worden? Suchten die Scuddamoren bereits nach uns, um den Fehler wiedergutzumachen, der uns unverhofft die Handlungs- und Gedankenfreiheit wiedergegeben hatte? »Wir müssen zunächst einmal von hier verschwinden«, sagte ich leise in Thalias Ohr. »Ich fürchte, daß die Scuddamoren bald nach uns suchen werden.« Thalia nickte. Wohin sollten wir uns wenden? Es gab Längs und Quergänge, jeder gerade breit ge-
33 nug, uns durchzulassen. In welche Richtung wir flüchten sollten, war unserer Phantasie überlassen – wir hatten nicht die leiseste Ahnung, in welchem Winkel der stählernen Festung wir steckten. »Los, nehmen wir diesen Gang.« Ich faßte Thalia bei der Hand und zog sie in einen der Gänge. An der nächsten Abzweigung blieb ich stehen. Links, bestimmte der Logiksektor. Einmal mehr verließ ich mich auf den Zusatzsinn, dessen Aktivierung ich der ARK SUMMIA verdankte. Im Nachhinein kam es mir fast als Witz vor, daß ich die Informationen und Impulse des Extrasinns für einen Dämon gehalten hatte. Wieder links! Ich wußte nicht, ob der Extrasinn einen Lageplan des Mittleren Forts erarbeitet hatte. In unserer Situation blieb uns nichts anderes, als blind und ergeben den Befehlen des Logiksektors zu folgen, von denen ich nicht wußte, auf welchen Überlegungen sie basierten. Plötzlich verstummte das Sirenengeheul. Ich sah nach oben. Es war keine Kamera zu sehen, nichts deutete darauf hin, daß wir beobachtet wurden. Wir mußten dennoch auf der Hut sein. Schwer atmend blieben wir an einer Wegkreuzung stehen. »Ich schlage vor«, sagte ich keuchend, »daß wir den Stier bei den Hörnern fassen.« Thalia sah mich verständnislos an. Nun, woher hätte sie die Sitten, des minoischen Kreta kennen sollen, die kultischen Tänze mit lebenden Stieren …? »Wir sollten angreifen, anstatt zu fliehen«, antwortete ich. »Die Scuddamoren sind von ihrer Macht überzeugt. Sie können sich wahrscheinlich gar nichts anderes vorstellen, als daß wir fliehen, sobald wir aus den Lichtkabinen herausgekommen sind.« »Was sollten wir denn anderes tun?« Ich versuchte ein grimmiges Lächeln aufzusetzen. »Wir werden den Löwen in seinem Bau
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Peter Terrid
aufsuchen. Ich möchte ein paar Worte mit Yärling und dem Meisterträumer reden.«
8. Länerth, der Meisterträumer, sah sich um. Er sah nichts, und als er den Blick senkte, stellte er fest, daß er nicht einmal sich selbst sehen konnte. Länerth kicherte in sich hinein. Sieh an, der Fremde hatte noch immer die Kontrolle über das Szenarium. Sein Verstand, der offenbar dem Willen Länerths mehr als gewachsen war, hatte nach und nach immer größeren Einfluß auf das Szenarium genommen. Zuerst hatte sich Atlan der Integration in das Szenarium widersetzt, danach hatte er Länerths Impulse einfach ignoriert. Und irgendwie hatte er es fertiggebracht, die Bewohner von Rhen-Phi einfach verschwinden zu lassen, ins Nirgendwo. Natürlich konnte er die Brückenleute nicht tatsächlich nonexistent gemacht haben, das ging nicht – jedenfalls soweit Länerth über die Bedingungen seines Szenariums informiert war. Zweifel nagten an ihm, ob er tatsächlich alle Gegebenheiten des PuerSzenariums kannte. Und dann diese sogenannten Arkoniden – Länerth hätte nur zu gerne gewußt, woher Atlan diese Personen genommen hatte. Wirklich, es war erstaunlich, was der Fremde aus Länerths meisterlichem Szenarium gemacht hatte. Natürlich hatte der Meisterträumer seine Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft. Länerth schmunzelte erheitert. Er hatte noch einiges zu bieten. Zuvörderst aber mußte er die Welt wiederherstellen, in deren Rahmen das PuerSzenarium gestanden hatte. Länerth konzentrierte sich. Zuerst schuf er sich selbst, gab er sich seine Gliedmaßen wieder. Er kicherte fröhlich, und er fühlte erfreut, daß er sein Kichern wieder hören konnte. Es gab wieder einen Himmel, der sich über weitem Land wölbte.
In rascher Folge schuf sich Länerth, was er für nötig erachtete. Der Meisterträumer verstand sich auf sein Handwerk. Er brauchte nicht viel Zeit, sich ein neues Szenarium auszudenken. Einstweilen brauchte er ohnehin nur die Grunddaten, eine Welt und ihre Bewohner. Um Bewohner war Länerth nicht verlegen. Wieder konzentrierte er sich. Diesmal vergebens. Niemand erschien, um Länerth in seiner Welt Gesellschaft zu leisten. Grauen beschlich den Meisterträumer. Das durfte nicht sein. Hatte Atlan auch ihn verbannt? Wo steckte dieser Mann überhaupt? Länerth strengte sich an. Er wußte schließlich, daß die Welt, die ihn umgab nichts weiter war als ein künstlich erzeugter Traum – und er hatte dies Traumgebilde erschaffen. Oder saß jetzt Atlan an den Schaltern und Kontrollen der Traumzentrale? Länerth steigerte sich in das Gefühl hinein, den Rückzug anzutreten. Er wollte einmal mehr versuchen, sich aus dem Szenarium zu entfernen. Triumphierend kicherte der Meisterträumer, als er zumindest Teil der Wirklichkeit in seiner Nähe auftauchen sah. Da war sein Sessel, und der Sessel war leer. Also steckte dieser Atlan nicht in der Traumzentrale, wahrscheinlich war er noch in der Lichtkabine. Möglich, daß er sich gegen Länerths Beeinflussung wehren konnte, aber das nicht in einem Maß, daß ihm ein Entkommen aus der Lichtkabine möglich gewesen wäre. »Nun«, murmelte der Meisterträumer. »Wenn nicht mit friedlichen Mitteln, dann mit Gewalt. Warte, Bursche, noch hast du das Spiel nicht gewonnen.« Irgendwie flimmerte die Einrichtung der Zentrale vor den Augen des Träumers, aber Länerth schenkte dem keine Beachtung. Ihn hätte auch seltsam anmuten können, daß diese Traumzentrale mitten auf der freien Wiese stand und nicht von den Lichtkabinenar-
Der Meisterträumer
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senalen umgeben war, wie es sich gehörte. Länerth schob dies alles auf den schädlichen Einfluß des Gefangenen Atlan, und er wußte auch schon, wie er diesen Einfluß zunichte machen wollte. »Hähähä«, meckerte Länerth fröhlich. »Dich werde ich lehren, mir die Stirn bieten zu wollen.« Auf der Wiese erschienen die Projektoren, die noch nie im Großversuch eingesetzt worden waren. Länerth war entschlossen, jetzt einen Versuch zu unternehmen. Die Notlage schien diese Sondermaßnahme hinreichend zu begründen. Kichernd und lachend hüpfte Länerth zwischen den Projektoren hin und her, schaltete hier, steckte dort Kontakte, veränderte, prüfte und korrigierte. Dann hockte er sich wieder auf seinen Sessel, den ehrenvollen Stuhl des Meisterträumers, der willens und fähig war, nunmehr sein Meisterstück zu liefern. Was hatten ihm die Gedanken des Gefangenen zuletzt noch verraten? Atlan hatte, wenn Länerth ihn richtig verstanden hatte, für die Bewohner von RhenPhi die Zeit um den Faktor 72.000 beschleunigt … oder verlangsamt? Länerth stieß einen leisen Seufzer aus. Er wußte es nicht mehr. Nun, es kam auf den Versuch an. Länerth konzentrierte sich.
* »Heilige Schwärze«, stieß ein Scuddamore hervor. Yärling äußerte sich mit einer wütenden Verwünschung. Was er da auf den Bildschirmen sah, war eine offenkundige Unmöglichkeit. Eine der Lichtkabinen hatte sich verändert. Sie leuchtete nun heller als normal, und das ohne ersichtlichen Grund. Yärling glaubte zu halluzinieren. Obendrein bewegte sich etwas in der Kabine, und auch das durfte nicht sein. Der Insasse strampelte mit den Füßen, bis der Deckel mit lautem Krachen
aus der Halterung flog – und einen Herzschlag später stand, wie Yärling entgeistert feststellen mußte, der Gefangene Atlan auf dem Boden des Inneren Forts und sah sich verwirrt um. Wenig später standen gar beide Gefangenen in Freiheit, und das ohne die geringsten Anzeichen von Wahnsinn oder geistiger Umnachtung. Yärling ging zu Länerth hinüber. Bevor er den Meisterträumer anschreien oder mit Püffen und Stößen wecken konnte, kam Leben in die reglose Gestalt. »Endlich«, rief Yärling. »Nun, Meisterträumer, was hat das zu bedeuten?« Yärling glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Auf diese scharfe Frage antwortete Länerth mit einer Geste, die Verachtung und den Wunsch ausdrückte, in Ruhe gelassen zu werden. Eine derartige Behandlung hatte Yärling noch nie erfahren. Der Kommandant des Mittleren Forts begann zu ahnen, daß Schwerwiegendes geschehen war. Es war ihm schon rätselhaft, wie die beiden Gefangenen aus den Lichtkabinen herausgekommen waren; das hatte zuvor niemand geschafft. Den letzten Beweis hätte, wenn es dessen noch bedurft hätte, das Verhalten des Meisterträumers geliefert. Ohne sich um Yärling oder die anderen Scuddamoren zu kümmern, marschierte Länerth auf die großen Projektoren zu, die unbenutzt in der Halle standen. Yärling traute seinen Sinnen kaum, als er sah, daß Länerth sich an den Projektoren zu schaffen machte. »Laßt ihn«, rief er seinen Leuten zu. »Er wird wissen, was zu tun ist.« Yärling warf einen Blick auf die Schirme. Der Schirm, der vor kurzem noch die beiden Flüchtigen gezeigt hatte, war nun leer. Atlan und seine Gefährtin hatten sich davongemacht. Nun, mochten sie nur herumlaufen – heraus aus dem Fort kamen sie nicht, dessen war sich Yärling sicher. Die anderen Schirme waren größtenteils leer, und das war eine Tatsache, die Yärling sehr nervös machte.
36 Hatte Länerth, aus welchen Gründen auch immer, das Puer-Szenarium desintegriert? Der Hauptbildschirm jedenfalls zeigte nur eine große Wiese, auf der einige hundert Lebewesen herumstanden und sich langweilten. Yärling erkannte in den Wartenden die gleichen Wesen wieder, die auch das PuerSzenarium bevölkert hatten. Als Yärling sich einigermaßen ratlos wieder zu Länerth umwandte, war der Meisterträumer mit dem ersten Projektor bereits fertig. Was er daran verstellt und geschaltet hatte, wußte der Kommandant nicht. Es interessierte ihn auch nicht sehr, er verstand nichts davon. Wichtig war nur, daß Länerth überhaupt etwas unternahm, um sein Szenarium wieder in den Griff zu bekommen. Es verstand sich von selbst, daß die Flucht der beiden Gefangenen aus dem Szenarium und den Lichtkabinen ein Nachspiel haben würde – aber dazu war später Zeit und Gelegenheit günstiger. Vorläufig mußte alles daran gesetzt werden, die beiden Flüchtigen wieder einzufangen. Erst danach konnten sich die Fachleute damit beschäftigen, die Ursachen dieser unglaublichen Pannen herauszutüfteln. Yärling verharrte schweigend. Er sah zu, wie Länerth an den Projektoren herumarbeitete. Länerth arbeitete rasch und zielsicher. Nach kurzer Zeit waren die Projektoren umgeschaltet. »Nur noch kurze Zeit«, konnte Yärling den Meisterträumer sagen hören. »Dann haben wir es geschafft. Ihr werdet mir nicht entkommen, mir nicht!« Ein wenig fühlte Yärling Erschrecken. Selbstgespräche gehörten nicht zum Normalverhalten eines Scuddamoren, aber die Meisterträumer waren von je her ein wenig seltsam gewesen, Länerth allen voran. Länerth nahm wieder auf dem Sessel Platz, von dem aus er das Szenarium steuerte. Er kicherte leise. Mit flinken Fingern schaltete er ein neues Szenarium zusammen, auf das er sich mit aller Kraft konzentrierte.
Peter Terrid Auf den Bildschirmen tauchte etwas auf, Bilder wurden sichtbar. Die ersten Umrisse erschienen. Länerths neues Szenarium begann Gestalt anzunehmen – eine Gestalt, die Yärling nach und nach immer bekannter erschien. Dann, beinahe zu spät, erkannte der Kommandant des Mittleren Forts, was für ein Szenarium Länerth sich ausgedacht hatte … Auf den Schirmen entstand das Abbild des Mittleren Forts. »Länerth!« rief Yärling scharf. »Was soll das?« Der Meisterträumer antwortete nicht. Er murmelte unverständliche Silben, schaltete und verstellte, während auf den Schirmen immer mehr Einzelheiten sichtbar wurden. Lichtkabinen waren zu sehen, die sich öffneten und ihre Insassen freisetzten – und Yärling wußte in seiner Verwirrung nicht mehr, welche Bildschirme was zeigten, ob dieser Vorgang sich nur in Länerths absurdem Szenarium abspielte, oder aber tatsächlich … Yärling traute Länerth einen solchen Verrat nicht zu, aber man konnte nie wissen. »Ergreift ihn!« rief Yärling stark erregt. »Er soll aufhören.« Ein Wink genügte, seine Scuddamoren setzten sich in Bewegung. Sie marschierten auf Länerth zu, streckten die Gliedmaßen nach ihm aus – und blieben dann stehen, wandten sich um und gingen einfach davon. Yärling erstarrte förmlich. Fassungslos mußte er ansehen, wie sich seine Soldaten gegen ihn auflehnten. Ja, die Rebellen gingen gar so weit, zu den Lichtkabinen zu marschieren und sie zu öffnen. Auf allen Schirmen war dieser Vorgang zu sehen. Wirklichkeit und Szenarium waren miteinander verschmolzen. Yärling wußte nun, daß der Meisterträumer den Verstand verloren haben mußte. Die Waffe, die die Scuddamoren im Mittleren Fort geschmiedet hatten, sich das ganze Marantroner-Revier untertan zu machen, dieses schreckerregend wirkungsvolle Instrument wurde nun von seinem größten
Der Meisterträumer Meister gegen das eigene Volk angewandt. Yärling zögerte nicht lange, er griff nach seiner Waffe. Aber dann hielt er, den Finger bereits am Abzug, inne. Diese Anlage war zu kostbar, um sie durch wildes Herumschießen zu gefährden. In den Apparaturen und Programmen steckte die Arbeit von Jahrzehnten, und noch schien Yärling nicht alles verloren. Es brauchte Zeit, bis ein neues Szenarium aufgebaut war – die Spanne konnte genügen. Yärling steckte die Waffe zurück. Er wußte nun, was zu tun war. Als erstes mußte er sich absetzen, bevor er ebenfalls in das sich langsam ausbreitende Projektorfeld geriet und unter seinem Einfluß selbst zum Verräter und Saboteur wurde. Yärling wandte sich zur Flucht. Er hatte nicht weit zu laufen. Noch beschränkte sich Länerths Projektion auf wenige Quadratmeter, nur auf seine eigene Traumzentrale. Dagegen ließ sich etwas machen. Yärling suchte Jard auf, einen anderen Meisterträumer, nicht so genial und erfolgreich wie Länerth, aber sehr wirkungsvoll. Jard war gerade damit beschäftigt, eine frisch eingetroffene Lieferung von Gefangenen in sein Szenarium zu integrieren. Auf den Kontrollschirmen sah Yärling eine Eiswelt, auf der zu leben wahrlich kein Vergnügen war. Yärling erinnerte sich, daß gerade dieses Szenarium besonders viele Opfer gekostet hatte. Jard begrüßte den Kommandanten mit allem gebührenden Respekt. Yärling nahm sich nicht die Zeit, den Gruß zu erwidern. »Die Zeit drängt«, erklärte er. »Sieh zu, was Länerth versucht – er hat die Projektoren eingeschaltet, mitten im Fort.« »Er ist verrückt geworden«, stieß Jard hervor. »Die Projektoren sind noch lange nicht einsatzreif.« »Das weiß ich, und du weißt es auch«, sagte Yärling. »Aber Länerth scheint es vergessen zu haben. Sieh dir an, was er zuwege gebracht hat.« Jard brauchte nur eine Handbewegung, um auf einem Separatbildschirm das Ge-
37 schehen in der Nähe von Länerths Traumzentrale abzubilden. »Entsetzlich«, stöhnte der Meisterträumer auf. »Das ist offener Verrat.« »Länerth wird sterben«, sagte Yärling gelassen. »Das steht außer Frage – aber wie kommen wir an ihn heran? Selbst unsere Leute erliegen Länerths Projektion.« Jard machte eine Geste, die seine Ratlosigkeit und Angst offenkundig machte. »Man könnte versuchen«, sagte er unsicher, »vielleicht hilft eine Gegenprojektion?« »Unternimm den Versuch«, sagte Yärling entschlossen. »Und mein Szenarium?« Yärling hatte auch das bedacht. »Mobilisiere die Gefangenen im Sinn deiner Projektion. Und dann schick sie in den Kampf gegen Länerth. Seine Projektion darf sich nicht weiter ausbreiten, das versteht sich von selbst. Alle Mittel sind einzusetzen, um diese Revolte schnellstens zu unterbinden. Und noch etwas – achte auf zwei Gefangene, die sich von Länerths Projektion nicht beeindrucken lassen. Sie darfst du unter keinen Umständen töten.« Jard sah seinen Vorgesetzten entgeistert an. »Ich soll sie am Leben lassen?« Kalt erwiderte Yärling: »Nicht für lange. Sie werden mir sagen müssen, was sie wissen und wie sie es fertiggebracht haben, sich dem Szenarium zu widersetzen. Dann erst werden sie sterben.« Er verließ die Zentrale. Über die interne Kommunikation unterrichtete Yärling die anderen Traumzentralen von den Vorfällen. Er befahl seinen Untergebenen, ihre Anstrengungen mit denen des Meisterträumers Jard zu koordinieren. Als Yärling diese Serie von Gesprächen beendet hatte, war seit dem Erwachen der beiden Gefangenen etwas über eine Stunde vergangen. Ein kurzer Blick auf die Kontrollschirme zeigte, daß sich die Projektion des rebellischen Meisterträumers weiter ausgebreitet hatte. Sie umfaßte den gesamten
38 Bereich von Länerths Traumzentrale. Hunderte von aufgeweckten Gefangenen irrten in den Gängen umher, die niemals dafür gedacht worden waren, so vielen Lebewesen Platz zu bieten. Und mit jeder Minute vergrößerte sich die Zahl der Erweckten. Zum Glück waren sie hilflos, so daß sie nichts unternehmen konnten. Was Yärling zu sehen bekam, war ein fürchterliches Durcheinander, aber einstweilen nicht mehr. Seine Furcht, Länerth könnte einen echten Aufstand in Szene setzen wollen, verflüchtigte sich. Allerdings erschreckte den Kommandanten, daß auch seine Scuddamoren den widersinnigen Befehlen der Projektoren gehorchten. Sie rannten ebenso hilflos durch die Gänge wie ihre Gefangenen. Und irgendwo in diesem Trubel steckten Atlan und Thalia, denen dieses Durcheinander zu verdanken war. Yärling hielt vergebens nach ihnen Ausschau. In dem Chaos, das sie hervorgerufen hatten, waren sie praktisch nicht auszumachen. Yärling würde warten müssen, bis sich das Tohuwabohu wieder gelegt hatte. Dann aber, das schwor er sich, würde er Rache nehmen für diese unerhörte Demütigung, die ihm widerfahren war. Yärling überließ nichts dem Zufall. Er sorgte dafür, daß ein Gleiter flugfertig bereitstand, daß außerdem eine Brigade von Scuddamoren in Gleitfahrzeugen vor den Toren des Mittleren Forts Aufstellung nahm. Falls es wider Erwarten den Rebellen gelingen sollte, aus dem Fort herauszukommen … Yärling wußte, daß es ein Blutbad geben würde, aber das störte ihn nicht. Ihn irritierte aber, daß die anderen Meisterträumer noch keine Erfolgsmeldung abgegeben hatten. Yärling hielt nach dem Gegenschlag der loyalen Träumer Ausschau. Er brauchte einige Minuten, bis er begriff, daß dieser Gegenschlag bereits im Ansatz gescheitert war. Die Projektion des Rebellen war stärker als die der Loyalen. Selbst im Verbund reichte die Suggestionskraft der Projektoren aller anderen Meisterträumer nicht aus, die
Peter Terrid Projektion von Länerth außer Kraft zu setzen. Bei dem Sturmangriff war nur eines herausgekommen – in der Grenzzone zwischen beiden Projektionen verfielen die davon Betroffenen in eine Phase akuten Wahnsinns. Sie drehten sich um sich selbst, krümmten sich unter Schmerzen und schossen sinnlos herum. Dabei zerstörten sie wertvolles Gerät und beschworen damit eine Katastrophe herauf. Wenn es einem dieser Irren gelang, sich zu den Zentralreaktoren durchzuschlagen … Yärling sah den Zeitpunkt gekommen, sich aus dem Mittleren Fort abzusetzen. Er erteilte noch eine Reihe von Befehlen, obwohl er sicher war, daß keiner dieser Befehle befolgt werden würde. Danach sah er zu, daß er aus dem Mittleren Fort verschwand. Während hinter ihm die Schlacht um die Vormacht im Mittleren Fort in aller Heftigkeit entbrannte, hastete Yärling durch die Stollen und Gänge seines ehemaligen Machtbereichs. Seltsamerweise fühlte sich Yärling erleichtert, als er das Freie erreicht hatte und sich die Tore des Mittleren Forts hinter ihm schlossen. Auf dem Landefeld standen zwei Dutzend Organschiffe flugbereit. Notfalls, so überlegte sich Yärling, würden sie die Entscheidung herbeiführen. Yärling war fest entschlossen, jeden Widerstand gegen seine Herrschaft zu brechen – notfalls würde er das gesamte Mittlere Fort opfern, samt allen Bewohnern.
9. Sie lagen auf dem Boden und schlugen um sich. Sie standen in Winkeln und schluchzten leise. Sie hatten sich in finstere Löcher verkrochen, von Angst und Entsetzen gepeinigt. Wohin wir uns auch wandten, überall fanden wir ehemalige Gefangene der Scuddamoren. Es waren Lebewesen unterschiedlichster Gestalt, sie entstammten wahrscheinlich allen bewohnten Planeten des
Der Meisterträumer Marantroner-Reviers. Es waren Wesen darunter, deren äußere Gestalt schreckerregend war, wenn man in konventionellen Begriffen von Schönheit dachte. Aber diese Wesen flößten keine Furcht ein, ihr Anblick erregte nur mein Mitleid. Ob sie scheußlich aussahen oder nicht – nichts und niemand im Universum hatte das Recht, diese Geschöpfe zu knechten und zu quälen. Thalia und ich waren auf der Suche nach jenem Scuddamoren, dem die Qual dieser Gefangenen zuzurechnen war. Wir waren auf der Suche nach Länerth, dem Meisterträumer – und nach Yärling, der über dieses Reich der Qual und des Grauens mit kalter Berechnung gebot. Irgendwo in diesem Trubel mußten wir auf diese beiden stoßen. »Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Thalia. »Wieso sind die Gefangenen frei? Und warum verhalten sie sich so merkwürdig?« Ich wußte darauf keine Antwort. Ich entdeckte auf einem Gang ein halbes Dutzend Bewußtloser. Es waren Gestalten, die ich bereits kannte – es waren Brückenleute. Der Meisterträumer hatte diese Spezies als Vorbild gewählt, als er das PuerSzenarium konstruiert hatte. Ich hätte gerne gewußt, ob es eine monströse Konstruktion wie die Kontinentalbrücke auf der Heimatwelt dieser Wesen wirklich gab, aber für diese Untersuchung hatte ich keine Zeit. Ich konnte auch nicht feststellen, ob einer der Bewußtlosen mein Freund gewesen war – Päär oder Banjar. Auch Scuddamoren fanden wir, und die waren ebenso hilflos wie die Gefangenen des Mittleren Forts. Etwas war geschehen, das auch sie völlig verwirrt hatte. Ich vermutete, daß Länerth eine neue Form des Szenariums entworfen hatte – diesmal über die Projektoren, mit denen er in einer späteren Entwicklungsform ganze Welten fernsteuern wollte. Offensichtlich war diese Entwicklung bei weitem noch nicht ausgereift. Jedenfalls waren auch die Scuddamoren gegen die Wirkung der Projektionen machtlos. »Deckung!« flüsterte
39 Thalia. »Dort vorn wird gekämpft!« Ich sah in die Richtung, die sie mir anzeigte. In der Luft flimmerte es, und hinter diesen seltsamen Schlieren sah ich bewaffnete Scuddamoren, die auf alles feuerten, was sich in ihrem Gesichtskreis sehen ließen. Die Interferenzen schienen sie nicht wahrzunehmen. Die Flimmererscheinungen bewegten sich auf die Scuddamoren zu – und als sie sich erreicht hatten, hörte auch der Kampf sofort auf. Nach wenigen Sekunden zeigten die angreifenden Scuddamoren den gleichen Zustand vollständiger geistiger Verwirrung, den alle zeigten, denen wir begegneten. Wir hatten Mühe, uns durch dieses Tollhaus zu kämpfen. Die schmalen Gänge zwischen den Lichtkabinen waren niemals dafür gedacht gewesen, Massenverkehr zuzulassen. Das allgemeine Durcheinander wurde durch die bedrückende Enge noch verstärkt. »Bleib hinter mir«, riet ich Thalia. »Ich werde versuchen, einen Weg freizumachen.« Und tatsächlich gelang es mir erstaunlich leicht, einen Weg durch die Scharen der Tobenden zu bahnen. Sie wichen vor mir zurück, trampelten sich gegenseitig auf die Füße und schrien dazu – als hätten sie panische Angst vor mir. Das haben sie auch, gab der Extrasinn durch. Ich schob und drängelte mich durch, auf das Zentrum der ganzen Anlage zu. Je näher wir diesem Zentrum kamen, um so stärker wurden die Auswirkungen der Projektion. Ich begann mich zu fragen, in welcher geistigen Verfassung Länerth war, daß er aus seiner Traumzentrale ein solches Tollhaus machte. Wenn er die Wirklichkeit, die er selbst erschaffen hatte, nicht unter Kontrolle halten konnte, warum beendete er die Projektion dann nicht? Die Gefangenen würden zu sich kommen, kommentierte der Extrasinn, und du darfst raten, was sie mit Länerth anfangen würden, bekämen sie ihn zu fassen! Im inneren Bereich fanden wir nur noch Bewußtlose. Sie lagen übereinander, wie
40 vom Schlag überrascht, Scuddamoren und ihre Gefangenen bunt durcheinander. Ich blieb stehen. Länerth setzte sich offenbar selbst außer Gefecht, und er würde dafür sicher noch einige Zeit brauchen. Ich meinerseits wollte endlich herausfinden, was es mit den Schattenschilden auf sich hatte. Denn auch die Bewußtlosen Scuddamoren trugen ihre Schilde, offenbar arbeiteten die Anlagen auch in diesem Zustand weiter. Ich zögerte, dann ging ich auf einen besinnungslosen Scuddamoren zu. Ich streckte die Hände nach ihm aus, griff nach dem Fremden … Meine Finger stießen auf Widerstand. Ich spürte eine stoffliche Struktur zwischen den Fingern. Da war etwas, aber mir fehlten die Worte, mit der ich das Material hätte beschreiben können, das ich zu fassen bekam. Es war fest, und gab doch gleichzeitig nach. Er leistete dem Zugriff der Hände Widerstand, aber ich konnte nichts festhalten. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ich zwischen meinen Fingern den Scuddamoren fühlte, oder ob ich die Struktur des seltsamen Feldes zu fassen bekommen hatte, das man Schattenschild nannte? Ich versuchte mehr herauszubekommen, aber der Versuch mißlang kläglich. Jeder Ansatz, fest zuzugreifen, ging daneben – ich bekam, buchstäblich, den Scuddamoren nicht in den Griff. Vielleicht war das, was ich fühlte, der Schattenschild. Vielleicht handelte es sich bei dem Gebilde um eine organische Entwicklung, nicht um ein technisches Gerät. Ich erinnerte mich an das seltsame Organ der Laurins, jener rätselhaften Rasse von Unsichtbaren – auch sie hatten sich hinter einem Feld versteckt, das von einem körpereigenen Organ der Laurins gebildet wurde. Ich brach das Experiment ab. Mehr konnte ich nur herausfinden, wenn ich das Leben des betreffenden Scuddamoren aufs Spiel setzte, und der Gedanke war mir zuwider. Das Geheimnis der Schattenschilde blieb vorläufig ungelöst, aber ich ahnte zu diesem
Peter Terrid Zeitpunkt bereits, daß die Lösung dieses Rätsels mir noch etliches Kopfzerbrechen bereiten würde. Wie fast alles in dieser seltsamen Galaxis war auch das Problem des ScuddamorenSchattenschilds von einer Aura des Grauens umgeben. Vielleicht war es dieses beklemmende Gefühl, das mich zurückschrecken ließ – der Instinkt, der mir sagte, daß die Antwort auf meine Fragen in kristallisiertem Grauen bestand. »Dort hinten muß Länerth stecken«, sagte Thalia. Sie hatte meinem Experiment mit den Scuddamoren mit zusammengepreßten Lippen zugesehen, und sie schien erleichtert, als ich das Experiment unvermittelt abbrach. Ich sah eine Waffe auf dem Boden liegen, in der Nähe eine zweite. Nun, jetzt hatten wir wenigstens eine Möglichkeit, uns unserer Haut zu wehren, falls die Scuddamoren erneut versuchen würden, uns gefangenzunehmen. Unsere Chancen waren gering, das wußte niemand besser als ich. Der Extrasinn brauchte mich nicht erst an die Abmessungen des Mittleren Forts zu erinnern, um mir das klarzumachen. Trotzdem war ich gewillt, das Äußerste zu wagen – nicht nur die eigene Freiheit zurückzuerkämpfen, sondern auch Informationen zu sammeln, die wir in unserem Kampf gegen die Herren der Schwarzen Galaxis bitter nötig brauchten. Niemand aber konnte uns in diesem Augenblick nützlicher sein als Yärling, der Kommandant dieser Stahlfestung, die immer mehr zu einem gigantischen Tollhaus wurde. Je näher ich dem Zentrum der Anlage kam, um so größer wurde der psychische Druck, der auf mir lastete. Ich konnte deutlich spüren, daß ich beeinflußt werden sollte; das Goldene Vlies und mein Extrasinn halfen mir aber, diesen Einfluß zurückzudrängen. Thalia hatte unter den Auswirkungen der Projektion zu leiden. Ab und zu zuckten ihre Mundwinkel schmerzlich, mehr war aber nicht zu erkennen. Dann endlich sahen wir Länerth. Als schwärzlicher Schemen saß er in seiner Zentrale. Auf den Dutzenden von Bildschirmen
Der Meisterträumer hinter ihm war immer wieder das gleiche zu sehen – die Zentrale des Meisterträumers, die dazu gehörenden Lichtkabinen und das unbeschreibliche Durcheinander auf den engen Gängen zwischen den Kabinenstapeln. Länerth selbst rührte sich nicht. Wahrscheinlich konzentrierte sich der Meisterträumer. »Ich begreife das nicht«, murmelte Thalia. »Was soll dieses Chaos bezwecken? Gilt dies uns?« Ich zuckte mit den Schultern. Ich vermutete, daß Länerth ein neues Programm gestartet hatte. Aber er stand ganz offenkundig unter dem Einfluß einer fremden Macht, die seine Pläne gleichsam ins Gegenteil verkehrt hatte. Denn das, was sich um uns herum abspielte, ließ sich in kein vernünftiges Konzept einordnen. Ich ging auf Länerth zu, vorsichtig, die Waffe schußfertig in der Hand. »Atlan!« Thalias Augen waren geweitet. Sie deutete auf mich. Erst jetzt bemerkte ich die flimmernde Aura, die mich umgab und um meinen Körper herum pulsierte. Das Goldene Vlies wehrte die Energien der Projektoren ab, mehr noch … Es wurde schlagartig still. Wie vom Blitz gefällt brachen die Scuddamoren zusammen, ihre Gefangenen standen erstarrt. Also doch. Ich hatte schon seit geraumer Zeit vermutet, daß Länerth nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war, daß er die geistige Auseinandersetzung mit mir verloren hatte – daß er zu meinem Spielball geworden war. Zwar steuerte der Meisterträumer noch die Apparaturen seiner Traumzentrale, aber er tat dies nicht mehr aus freien Stücken und nach seinen Vorstellungen. Er übernahm vielmehr meine eigenen Wünsche und Vorstellungen – allerdings funktionierte diese Übertragung alles andere als störungsfrei. Die Ergebnisse konnte ich allenthalben sehen. Es kam mir zustatten, daß sich auf den Fluren nichts mehr rührte – nur hätte ich an Länerths Stelle eine andere Form gewählt als die, die Betroffenen gleichsam k.o. zu
41 schlagen. »Länerth!« rief ich. Der Meisterträumer rührte sich nicht. Nun, vielleicht wurde er regsamer, wenn ich mich rein geistig auf ihn konzentrierte. Das fahle Leuchten um meinen Anzug verstärkte sich. Auf den Bildschirmen konnte ich sehen, daß die Interferenzzone der Projektoren einen förmlichen Satz machte – und genau das war mein Wunsch gewesen. Ich hatte die Kontrolle über das Mittlere Fort übernommen, und nicht einmal die Schattenschilde bewahrten die Scuddamoren davor, diesem Einfluß zu erliegen. Die Aussichten waren ungeheuer. Wir brauchten nicht mehr um unser Leben zu fürchten. Statt dessen konnten wir uns an die Arbeit machen, die Geheimnisse dieser gespenstischen Welt zu lüften. Ich sah auf den Bildschirmen nach Yärling, fand ihn aber nicht. Hatte sich der Kommandant abgesetzt? Nun, es ließ sich feststellen, wie weit meine Macht reichte. Ich wünschte mir, daß die Projektion des Meisterträumers auf das ganze Fort übergriff – wenig später hatte ich das Vergnügen, auf zwei kleinen Kontrollschirmen ein Dutzend ausgeschalteter Meisterträumer zu sehen. Dann entdeckte ich auf dem Landefeld des Mittleren Forts die Raumschiffe. Sie konnten uns gefährlich werden, auf der anderen Seite aber brauchten wir eine Fluchtgelegenheit. Ich befahl den Lotsen dieser Schiffe, den Raumhafen zu verlassen und einen stabilen Orbit einzuschlagen. Minuten vergingen, dann sah ich, wie die Organschiffe abhoben und in den Himmel über Breisterkähl-Fehr vorstießen. Nur eines der Schiffe blieb am Boden. Ich lächelte Thalia an. »Jetzt haben wir gewonnen«, sagte ich. Meine Freude war voreilig.
* »Was kann man tun?«
42 Yärling war sich der Tatsache sehr wohl bewußt, daß er mit dem Rücken zur Wand kämpfte. Das Mittlere Fort war verloren, es stand vollkommen unter der Kontrolle des übergeschnappten Meisterträumers. Wenn sich diese Schlappe herumsprach, würde die Karriere des Kommandanten ein ebenso rasches wie unwiderrufliches Ende finden. Das Gegenüber des Kommandanten machte eine Geste der Hilflosigkeit. Quärnt war der Chefwissenschaftler des Inneren Forts, das landeinwärts westlich, in den Bergen erbaut worden war. In der Abgelegenheit dieses Forts untersuchten ScuddamorenWissenschaftler alle Möglichkeiten, den technologischen Vorsprung der Scuddamoren zu erweitern. »Wir haben natürlich Probemodelle«, sagte Quärnt einigermaßen kläglich. »Aber wir beschäftigen uns mit Waffen, defensiven und offensiven. Mit der Arbeit der Meisterträumer haben wir nichts zu tun.« »Die Schirmfelder der neuen Serie sollen aber auch gegen die Traumprojektoren helfen«, beharrte Yärling. »Ich brauche die Schirmfeldprojektoren der neuesten Serie, und ich brauche sie sofort.« Quärnt sah sehr unglücklich aus. »Es wird dauern«, sagte er kläglich. Insgeheim pries er sich glücklich, daß er Yärling nicht tatsächlich gegenüberstehen mußte. Der Kommandant des Mittleren Forts hatte sich ins Äußere Fort geflüchtet, in das eigentliche Hauptquartier der Scuddamoren auf Breisterkähl-Fehr. »Ich kann einige Tausendschaften gegen das Mittlere Fort in Marsch setzen«, erklärte Yärling. »Aber diese Truppen nützen nichts, wenn sie von den Traumprojektoren kampfunfähig gemacht oder sogar umgedreht werden.« Quärnt machte eine Geste des Erschreckens. »Wir werden unsere Schirmfeldprojektoren auf den Weg schicken, Kommandant«, sagte er hastig. »Aber ich warne vor übereilten Hoffnungen. Die Geräte sind noch nicht völlig ausgereift.«
Peter Terrid »Wir haben keine andere Wahl«, erklärte Yärling energisch. »Länerths hochverräterische Projektion greift immer weiter um sich. Jetzt hat er auch schon die Besatzungen der Organschiffe übernommen. Wir versuchen ohne Pause, die Besatzungen dazu zu bewegen, in der Nähe des Äußeren Forts zu landen, aber sie gehorchen uns nicht.« »Sind nicht in der Nähe des Äußeren Forts ebenfalls Schiffe stationiert?« Yärling stieß einen Laut der Bitterkeit aus. »Nicht genug«, sagte er hart. »Wenn ich diese Einheiten in Marsch setze, werden sie sich mit den Rebellen eine Schlacht liefern – und die Rebellen verfügen über mehr Schiffe.« »Hhmm«, sagte Quärnt langsam. »Es gibt da natürlich eine Möglichkeit, auf die Organschiffe einzuwirken …« »Dazu bleibt immer noch Zeit«, versetzte Yärling hastig. Er konnte eine unruhige Bewegung nicht unterdrücken. »Wenn die Schirmfelder versagen, können wir immer noch zu diesem Mittel greifen. Aber vorher keinesfalls – ich möchte nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden.« »Das verstehe ich«, erklärte Quärnt. »Ich empfehle dennoch, alles vorzubereiten. Und für den allerärgsten Notfall – ich will hoffen, daß die Kartei Gär gesichert ist.« Der Wissenschaftler hatte das Vergnügen, Yärling erschreckt zu sehen. »Ich werde die Selbstvernichtung der Kartei vorbereiten«, sagte er dumpf. »Für alle Fälle. Wann werden die Transporte mit den Schirmfeldprojektoren eintreffen?« »Eine knappe Stunde, Kommandant«, sagte Quärnt nach kurzem Nachdenken. »Es ließe sich Zeit sparen, wenn uns die Truppen des Äußeren Forts auf halbem Weg entgegenkämen.« »Ich werde das veranlassen«, sagte Yärling. Er trennte die Verbindung. Das Problem Atlan begann sich langsam zur Katastrophe auszuwachsen. Yärling verwünschte den Augenblick, da er sich dem Drängen seiner Untergebenen und Berater
Der Meisterträumer
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gebeugt und den Gefangenen dem Meisterträumer übergeben hatte. Hätte sich Yärling der Gefangenen angenommen und sie nach seiner Methode befragt, wäre es nicht zu dieser verhängnisvollen Entwicklung gekommen. Nun, noch bestanden gute Aussichten, den Kampf mit den Rebellen zu gewinnen – und nach dem Ende dieser Kämpfe wollte sich Yärling der beiden Gefangenen annehmen – auf seine Art und Weise.
10. Es war merkwürdig still. Nirgendwo im Mittleren Fort regte sich noch etwas. Unter dem Einfluß der Projektion des Meisterträumers lagen die Bewohner und Insassen des Mittleren Forts in tiefem Schlaf. Ich hatte es dabei belassen, gegen mein Gefühl. Es war mir zuwider, die Gefangenen des Mittleren Forts so zu behandeln, aber es hätte ein unglaubliches Chaos gegeben, wären alle Insassen der Lichtkabinen erwacht. Dafür bot das Mittlere Fort, bei aller Größe und Riesenhaftigkeit, nicht genügend Platz. Zudem wären dann auch die Scuddamoren erwacht – und das hätte mit großer Sicherheit ein entsetzliches Blutbad bedeutet. Zwar konnte der Meisterträumer Länerth, der ein Opfer seiner eigenen Apparaturen geworden war, nichts gegen mich unternehmen – aber auf der anderen Seite war ich nicht in der Lage, die Projektoren so subtil zu steuern, daß keine unerwünschten Nebenwirkungen auftraten, die ich nicht kontrollieren konnte. Einstweilen jedenfalls waren wir in Sicherheit. Diese Gewißheit steigerte sich noch, als plötzlich einer der größeren Bildschirme in Länerths Zentrale aufflammte. Zu meiner Verwunderung erschien Yärling auf dem Bildschirm. »Ich rufe die Rebellen des Mittleren Forts«, sagte er mit erstaunlicher Ruhe. »Ich fordere euch auf, den Kampf einzustellen und euch zu ergeben.«
Er mußte sehen können, daß Länerth nicht allein in seiner Traumzentrale saß. Er mußte mich sehen können und Thalia – und auch seine schlafenden Scuddamoren. Angesichts dieser Tatsache war seine Redeweise erstaunlich gelassen und selbstsicher. »Was hätten wir davon?« fragte ich zurück. Ich begann zu ahnen, daß der Kommandant des Mittleren Forts etwas im Schilde führte – etwas, das für uns sehr gefährlich werden konnte. »Das Mittlere Fort ist mit einer Selbstvernichtungsanlage ausgerüstet«, erklärte Yärling. »Diese Apparatur kann sowohl vom Inneren als auch vom Äußeren Fort aktiviert werden.« Ich tat, als wäre mir derlei gleichgültig. »Na, und?« »Ich verlange, daß ihr euch sofort ergebt. Andernfalls werde ich die Zerstörung des gesamten Forts einleiten.« Die Drohung ist kein Bluff, meldete der Extrasinn. Geh dennoch nicht darauf ein. »Das interessiert mich nicht«, sagte ich kalt. »Unsere Freiheit ist uns wichtiger als das Leben – und wir werden auch die Sklaven dieses Forts befreien.« »Das werde ich unter keinen Umständen zulassen«, sagte Yärling. Ich dachte fieberhaft nach. Was hätte ich getan, hätte ich dieses Problem lösen müssen? Wahrscheinlich hätte ich ähnlich taktiert wie Yärling. Dennoch erstaunte mich die Ruhe, die der Scuddamore an den Tag legte. Auf der anderen Seite, was wußte ich schon von der Psyche eines Scuddamoren? Ich ahnte, daß Yärling auf Zeit spielte. Er hatte etwas in der Hinterhand. »Was bekommen wir geboten, wenn wir uns ergeben?« Yärlings Antwort war knapp und bezeichnend. »Nichts«, sagte er einfach. »Ich verspreche, euch nicht töten zu lassen, mehr nicht.« Ich lachte laut auf. Yärlings großzügiges Angebot hieß im Klartext, daß er sich das Vergnügen selbst vorbehalten wollte, uns den Hals umzudre-
44 hen. Daß er uns nicht töten lassen wollte, hieß noch lange nicht, daß er uns nicht selbst umbrachte. »Das genügt nicht«, erklärte ich. »Ich verlange freien Abzug für mich …« »… abgelehnt!« »… für meine Gefährtin …« »… abgelehnt!« »… und für alle Sklaven dieses und der beiden anderen Forts.« »Abgelehnt!« Dieser Yärling war kein Mann der Kompromisse. Er gab sich unnachsichtig hart und war es vermutlich auch. Andererseits konnte er diese Sprache nur wagen, wenn er sich seiner Sache völlig sicher war. Wollte er uns nur ablenken? Ich trat näher an die Schirme heran. Im Fort selbst war es ruhig, in der Umgebung war weit und breit kein Lebewesen zu erkennen. Aus welcher Quelle schöpfte Yärling die Zuversicht, mit der er seine Verhandlungen führte? »Unter diesen Umständen«, sagte ich ruhig, »… zerstöre das Mittlere Fort.« Yärling zögerte. Offenbar war er doch nicht so stark, wie er gerne glaubte. Wahrscheinlich würde man es ihm übel ankreiden, wenn er wegen zwei Gefangenen das gigantische Stahlgebilde zerstörte, das als Mittleres Fort bezeichnet wurde. »Ich garantiere euer Leben«, sagte Yärling nach einer kleinen Pause. »Deines und das deiner Partnerin.« Das heißt nicht, daß er euch nicht bis an die Grenze des Todes foltern wird, kommentierte der Logiksektor trocken. »Darauf gehen wir nicht ein«, sagte ich. »Wir lehnen ab.« Zu meiner Verwunderung machte Yärling kein weiteres Angebot. Er schaltete einfach ab. Das war ein Fehler. Mit seiner unbeherrschten Geste zeigte mir Yärling überdeutlich, daß er seine Stärke nicht nur vortäuschte – er hatte tatsächlich einen wichtigen Trumpf in petto.
Peter Terrid Ich mußte auf der Hut sein. Noch einmal betrachtete ich über Bildschirm die Umgebung des Mittleren Forts. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich begriff, was ich sah. Truppen marschierten auf das Fort zu, im Schutz eines simplen Deflektorfeldes. Hätten die Anrückenden nicht unübersehbare Spuren im Gras hinterlassen, ich hätte sie nicht bemerkt. »Länerth!« rief ich. »Feinde greifen uns an. Schalte sie aus.« Der Meisterträumer machte ein Zeichen der Zustimmung. Er gehorchte mir aufs Wort, das hatte ich unterdessen feststellen können. »Versuche, die Projektoren auf die Angreifer zu richten«, bestimmte ich. »Und versuche auch, die beiden anderen Forts damit zu erfassen.« Der Meisterträumer machte sich an die Arbeit. Zunächst zeigten seine Bemühungen keinerlei Wirkung. Er fingerte an Knöpfen, Hebeln herum, betätigte Schalter, ohne daß sich eine Veränderung zeigte. Dann wurden rasch nacheinander zwei grundverschiedene Vorgänge sichtbar. Zum einen erschienen die Angreifer plötzlich auf den Bildschirmen. Der Schutz des Deflektorfelds war nicht mehr vorhanden. Ihren Vormarsch aber stoppten die anrückenden Scuddamoren deswegen nicht. Es waren einige tausend, und sie wurden von einer Heerschar von Robotern begleitet – und die zu übernehmen, war selbst einem Meisterträumer unmöglich. »Sie reagieren nicht«, sagte Länerth. Es war selten, daß er etwas sagte, und seine Stimme verriet Entsetzen. »Sie sind nicht zu beeinflussen.« Ich ballte die Fäuste. Das also war das Mittel, mit dem Yärling unseren Widerstand brechen wollte. Es gab gegen die Traumprojektoren eine wirkungsvollen Schutz – und damit hatte ich nicht gerechnet angesichts der Einzigartigkeit meines Goldenen Vlieses. Die zweite Überraschung bestand darin, daß die Bewohner des Mittleren Forts plötz-
Der Meisterträumer lich wieder erwachten – und sie griffen ohne Zögern zu ihren Waffen. Scuddamoren hasteten auf ihre Positionen, Sklaven von gestern begleiteten sie. Die Traumsklaven und ihre Peiniger formierten sich zur Abwehrfront, die Gefangenen mit spürbarer Wut und Verzweiflung, die Scuddamoren eher widerstrebend. Hier half offenbar Länerths Projektion nach. In breiter Front griffen die Scuddamoren an. Ein Gewirr von Strahlbahnen spann sich zu den Mauern des Mittleren Forts, kleinere Geschütze feuerten zurück. Ich war einen Augenblick lang ratlos. Diese Schlacht hatte ich nicht gewollt. Vermeiden konnte ich sie aber nur, wenn ich Länerth dazu überredete oder zwang, den Kampf einseitig zu beenden – und das wiederum wäre ein Verbrechen an den wiedererwachten Sklaven gewesen. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte – es ließ sich keine Entscheidung finden, die allen gerecht wurde. Ich sah, daß die Angreifer Verluste hatten – überwiegend Roboter, aber auch Scuddamoren. Und auch auf unserer Seite gab es Verletzte und Tote. Die Schlacht um das Mittlere Fort hatte begonnen – sie war nicht mehr aufzuhalten. Es ist an der Zeit sich abzusetzen, sagte der Extrasinn. Ich hatte keine Lust, meine Mitgefangenen in dieser Lage allein zurückzulassen – aber dazu war ich gezwungen. Die Schlacht um das Stahlfort war erbittert, und es zeigte sich, daß die Angreifer stärker waren. Das erste Tor wurde gestürmt. Jetzt tobte der erbitterte Kampf auch im Innern des Mittleren Forts. Ich brauchte meinen Extrasinn nicht zu bemühen, um zu der Schlußfolgerung zu kommen, daß jeder Widerstand gegen die Scuddamoren Yärlings nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen war. »Wir müssen fliehen«, drängte Thalia. »Und nur du kannst mit der Großen Plejade den Lotsen des Organschiffs beeinflussen – und auch das wahrscheinlich nicht mehr lange.«
45 Thalia hatte recht. Uns blieb nicht mehr viel Zeit. An fast allen Fronten drangen die Scuddamoren vor. Der eine oder andere geriet unter den Einfluß der Traumprojektoren, wurde aber sofort von seinen Mitkämpfern ausgeschaltet. Der Sieg des Kommandanten war nicht mehr zu verhindern. »Kommt mit uns!« rief ich einer Gruppe von Gefangenen zu. »Wir haben auf dem Landefeld ein Raumschiff stehen. Folgt uns!« »Rettet euch«, sagte einer der Verteidiger, ein rötlich gefärbtes Spinnenwesen. Die riesigen Facettenaugen schienen voll grenzenloser Trauer zu sein. »Wir danken euch, daß ihr unsere Sklaverei beendet habt – den Rest werden wir selbst erledigen.« »Lauft«, schrie eine andere Stimme. »Rettet euch – und rettet dieses Revier. Kümmert euch nicht um uns!« Ich ahnte, welche Gedanken durch die verschiedenen Hirne dieser Gefangenen gingen. Ich nahm Thalia bei der Hand und rannte los. Ich wußte, daß der Tod – wenn nicht ein noch schlimmeres Schicksal – uns auf den Fersen folgte. Wir hatten wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. Eine kleine Gruppe von Scuddamoren war bereits damit beschäftigt, auf das Landefeld des Mittleren Forts vorzudringen, aber gerade an diesem Abschnitt war der Widerstand der verzweifelt kämpfenden Sklaven besonders hartnäckig. Ein Feuerstoß zwang die Scuddamoren schleunigst in Deckung. Das Tor öffnete sich, von dem ich geglaubt hatte, daß ich es nie wieder offen würde sehen können. Sonnenlicht fiel auf das Landefeld, auf das Organschiff. »Beeilt euch«, hörte ich eine helle Stimme rufen. »Beeilt euch, bevor es zu spät ist.« Wir hasteten über die stählerne Brücke, auf das Organschiff zu, das auf uns wartete.
* Banjar sah, was sich auf den Bildschir-
46 men abspielte. Er sah auch, wer ihn gequält und versklavt hatte. Banjar empfand in diesem Augenblick keinen Haß, eher Mitleid. Die Schlacht war verloren. Nur das Labyrinth von Gängen und Fluren, das es in dem Fort gab, hatte bisher einen vollständigen Triumph der angreifenden Scuddamoren verhindert. Auf einem kleinen Schirm konnte Banjar sehen, wie die beiden Gestalten in dem Organschiff verschwanden. Auf geheimnisvolle Weise hatte jeder erwachte Gefangene der Scuddamoren sofort gewußt, wer die Befreiung von der geistigen Sklaverei bewerkstelligt hatte. »Leb wohl, Atlan«, flüsterte Banjar. »Und auch Thalia«, murmelte Päär neben ihm. Banjar wartete, daß das Organschiff startete. Er wußte, daß es den beiden gelingen würde, das Organschiff zu übernehmen, auch wenn er die Quelle für dieses Wissen nicht hätte nennen können. Ein breites Lächeln flog über die Züge Banjars, als er sah, wie die Scuddamoren einen zweiten Angriff auf das Organschiff starteten und wieder zurückgeschlagen wurden. Und dann hob sich das Organschiff vom Boden. Die SKEILAS – der Name war auf dem Schirm deutlich zu erkennen – hob ab, stieg auf, jagte dem Himmel entgegen – der Freiheit. Dort oben gab es keine Grenzen und Beschränkungen, dachte Banjar. Es gab nichts Freieres als den Weltraum, vor dessen Größe selbst der wahnwitzige Machtanspruch der Scuddamoren nichtig werden mußte. Päär stieß ihn an und riß ihn aus seinen Gedanken. »Es wird langsam Zeit«, sagte der Junge. Die Waffe in seiner Hand war seit langem leergeschossen. Banjar warf einen Blick auf den Meisterträumer, der über seinen Apparaturen hockte. Es war dieses Wesen, das sich Länerth nannte, dem Banjar eine Ewigkeit der geistigen Sklaverei zu verdanken hatte. Banjar
Peter Terrid wußte nicht, wie viele Jahre oder gar Jahrzehnte er in der Traumwelt des Meisterträumers verbracht hatte. Er wußte nur, daß er um keinen Preis in diese Unfreiheit zurückkehren würde. Banjar sah den Meisterträumer an. Er und Päär gehörten zu einem Volk, das von jeher seines Gerechtigkeitssinns wegen bekannt war. Banjar wußte, was zu tun war, aber er zögerte. Hatte er das Recht …? Die anderen nahmen ihm die Entscheidung ab. Die Sklaven des Mittleren Forts wußten, daß ihre Stunde gekommen war. Sie wußten, daß es in dieser Zwingburg des Grauens Apparate gab, die den Geist beeinflußten. Lange Zeit hatten sie unter dem Einfluß dieser Projektoren gelebt und gelitten. Diese Zeit war nun verstrichen, ein für allemal vorbei. Voraussetzung aber war, daß keiner mehr in die Hände der Scuddamoren fiel. Es gab ein Mittel, das zu verhindern, und jetzt war die Stunde gekommen, dieses Mittel einzusetzen. Der Kampf war ein Kampf der Gedanken, eine lautlose Schlacht zwischen einer erbarmungslosen Apparatur und dem Wollen eines nach Tausenden zählenden Sklavenheers. Was sich zuvor in kleinem Maßstab ereignet hatte, vollzog sich nun in weit größerem Maßstab. Der Wille der Sklaven lehnte sich gegen den Zwang der Maschine auf. Und dieser Wille war stark und entschlossen genug, den Zwang der Maschine umzukehren. Es gab nur ein Mittel, einer erneuten Versklavung zu entgehen, und dieses Mittel ließ sich nur einsetzen, wenn alle damit übereinstimmten. Diese Übereinstimmung wurde erreicht. Sie alle konzentrierten sich auf den gleichen Gedanken. Die Sklaven des Mittleren Forts richteten ihre Gedanken auf den Meisterträumer, zwangen ihn zu dem alles entscheidenden Handgriff. Als der Alarm durch die Räume gellte, lächelte Banjar. Päär lä-
Der Meisterträumer
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chelte zurück. Die Freiheit war nur noch ein paar Augenblicke entfernt.
* »Nichts«, sagte der Bote. »Wir haben nichts gefunden, allerdings konnten wir nicht alles untersuchen – die Strahlungsgefahr.« »Die Strahlung interessiert mich nicht«, brüllte Yärling. »Ich will wissen, wo diese beiden Verbrecher geblieben sind.« Der Bote zuckte zusammen. »Wir tun unser möglichstes«, sagte er zaghaft. Yärling erwiderte diese Bemerkung mit einem Fluch. Er stand in der Zentrale des Äußeren Forts, und was er auf den Bildschirmen zu sehen bekam, erfüllte ihn gleichermaßen mit Wut, Entsetzen und ein wenig Angst. Von dem Mittleren Fort zeugten nur noch glühheiße Ruinen. In einer ungeheuren Detonation war das gesamte Fort in die Luft geflogen – zweifelsohne ein Werk der Selbstvernichtungsanlage. Aber weder im Inneren noch im Äußeren Fort war der Befehl zur Vernichtung gegeben worden. Der einzige, der ihn außerdem noch hätte durchführen können, wäre Länerth gewesen, der Meisterträumer. Aber Yärling war sicher, daß Länerth kein Selbstmörder war. Man konnte ihn nicht mehr befragen. Das Vernichtungswerk war gründlich gewesen. Und nun suchten Scuddamoren in den Trümmern nach den Überresten der Verräter und Rebellen. Die Suche würde langwierig werden – in diesem Trümmerhaufen etwas finden zu wollen, war ein reines Glücksspiel. Und noch eine Sorge quälte den Kommandanten des Mittleren Forts, das es nicht mehr gab. Aber er sprach den Gedanken nicht aus. Yärling kochte förmlich vor Haß. Die Zerstörung des Mittleren Forts war eine empfindliche Niederlage für die Scuddamo-
ren, und dieses Desaster hatte Yärling hauptsächlich den beiden Gefangenen Atlan und Thalia zuzuschreiben. Yärling traute diesen beiden durchaus zu, nicht nur die Zerstörung des Mittleren Forts bewirkt zu haben – er argwöhnte auch, daß sie einen Trick gefunden hatten, die Explosion zu überleben – obwohl der Anblick des Trümmerhaufens ziemlich deutlich machte, daß es keine Überlebenden gegeben hatte. »Wir haben etwas gefunden, Herr.« »Was?« »Aufzeichnungen«, wußte Yärlings Gesprächspartner zu berichten. »Eine automatische Kamera hat den Start der SKEILAS aufgenommen.« »Unwichtig«, wehrte Yärling ab. Er erinnerte sich, daß kurz vor der Erstürmung des Forts – der die Vernichtung auf dem Fuß gefolgt war – die SKEILAS sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Dem Lotsen war es offenbar gelungen, den Einfluß von Länerths Projektor abzuschütteln. »Vielleicht doch nicht«, wagte der Scuddamore zu bemerken. »Von der SKEILAS fehlt nämlich jede Spur!« »Raumortung!« Yärling ließ sich das Bild auf einen Bildschirm projizieren. Ein Auswerter zeigte ihm, wie viele Einheiten der Scuddamoren-Flotte im Orbit um Breisterkähl-Fehr standen – und aus den Kodezeichen ging hervor, um welche Einheiten es sich dabei handelte. Die SKEILAS fehlte. »Her mit den Bildern«, rief Yärling erregt. »Projiziert sie auf den Hauptschirm.« Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die ersten Aufnahmen zu sehen waren. Deutlich konnte Yärling seine eigenen Truppen beim Angriff sehen – und auch, wie sie zurückgeschlagen wurden. Dann tauchten zwei Gestalten auf, die über die Brücke hasteten und auf das Organschiff zuliefen. Die Bilder waren nicht sehr gut. »Vergrößern!« rief Yärling. »Zielt auf die Flüchtenden.« Das Bild hielt an, wurde dann größer. Der
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Peter Terrid
Ausschnitt wanderte ein wenig hin und her, dann hatte er die beiden Gestalten erfaßt. »Sie sind entkommen«, murmelte Yärling haßerfüllt. »Es sind die beiden, da besteht kein Zweifel.« Zwar waren die Aufnahmen nicht sehr gut, aber sie zeigten doch sehr deutlich, um wen es sich bei den beiden Gestalten handelte. »Weiter!« bestimmte Yärling. Der Film lief wieder an. Er zeigte, wie die beiden Flüchtigen im Schiff verschwanden, das kurze Zeit später abhob und in den Raum vorstieß. »Anhalten!« rief Yärling. Er glaubte etwas gesehen zu haben. »Ein paar Augenblicke zurückspulen.« Der Film lief rückwärts. »Halt! Und jetzt vergrößern!« bestimmte der Kommandant. Eine grauenvolle Ahnung beschlich ihn.
»Noch näher!« rief er unbeherrscht. Er spähte auf den Schirm, fand aber nicht, was er gesucht hatte. »Noch ein Stück zurück, und dann wieder vergrößern.« Auf dem großen Bildschirm flackerten die Bilder, dann stabilisierte sich die Projektion wieder. Der Ausschnitt wurde herangeholt. Yärling spürte, wie der Haß in ihm kochte. Und die Angst. Denn er hatte etwas entdeckt, daß für ihn – und nicht nur für ihn – von lebenswichtigem Interesse war. Die beiden Flüchtenden waren nicht einfach geflohen. Sie waren kaltblütig genug gewesen, eine Beute mitzunehmen. Auf dem Schirm war es zu sehen, ein wenig verschwommen, aber unverkennbar. Mit Atlan und Thalia waren auch die unersetzlich wertvollen Ärgetzos von Breisterkähl-Fehr verschwunden.
ENDE