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Frank Quilitzsch
Der Marssturm Wissenschaftlich-phantastisc...
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Scanned by Manni Hesse eBook nicht zum Verkauf bestimmt!
Frank Quilitzsch
Der Marssturm Wissenschaftlich-phantastische Erzählung
Verlag Neues Leben Berlin
© Verlag Neues Leben, Berlin 1976 Lizenz Nr. 303 (305/69/76) LSV 7503 Umschlag und Illustrationen: Wolfgang Freitag Typografie: Christel Ruppin Schrift: 8p Excelsior Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland (140) Berlin Bestell.-Nr. 6422671 DDR 0,25 M
1, Allein im „Staubteufel" Luco stoppte den Geländewagen und griff zur Karte. Der Wind bewegte leicht die Seitenplanen des halboffenen Fahrzeuges und verursachte in der dünnen Atmosphäre ein eigenartiges Geräusch. Hin und wieder wurde die linke Plane von einer Bö erfaßt und zurückgeschlagen, so daß feiner roter Staub in die Kabine wirbelte und alle Gegenstände mit einer hauchdünnen Schicht überzog. Luco wischte die Karte ab und versuchte, seine Position zu bestimmen. Dann legte er sie auf den Nebensitz zurück, schlug die Plane zur Seite und kletterte ins Freie. Er hatte das Gefühl, in graue Dämmerung zu tauchen. Die Sonne schimmerte schwach am Horizont. Sie schien blasser als sonst und war von einem violetten Schleier umgeben. Luco ging ein paar Schritte und blickte sich aufmerksam um. Überall erstreckte sich die Sandwüste. Der Wind trieb Staubwolken über sie hinweg und gab ihr ständig neue Formen. Lediglich im Westen wurden die sanften Hügelwellen durch die Randerhebungen eines Gebirges abgelöst. Schwarz und schemenhaft schienen die Berge mit dem Himmel zu verschmelzen. Luco erspähte den gesuchten Orientierungspunkt. Wie verloren erhob sich mitten in der Wüste eine graue, vom Sand abgeschliffene Felsgruppe. Über mehrere Kilometer war dort das Gelände zerklüftet, von Schluchten zerfurcht und mit Geröll bedeckt. Auf der Karte trug dieses Gebiet die Bezeichnung „Labyrinth". Da man dort zwar Spuren früherer vulkanischer Aktivitäten nachgewiesen, aber keine größeren Erzvorkommen gefunden hatte, war es für die Station ohne Bedeutung, und nur höchst selten kam einmal ein Besatzungsmitglied dahin. Plötzlich fesselte etwas anderes Lucos Aufmerksamkeit. Ungefähr zweihundert Meter vor ihm regte sich etwas im Sand. Zunächst bemerkte er nur den Schatten, der lautlos und träge dahinkroch. Vermutlich war der Körper gerade hinter eine Bodenwelle getaucht. Dann wurde Luco auf ein schwaches Glitzern aufmerksam, das aus jener Richtung stammte. Da, noch einmal, diesmal schon etwas näher. Er überlegte, ob er nicht lieber den Feldstecher aus dem Wagen holen sollte, da schob sich eine riesige, metallisch glänzende Spinne über den Kamm des Hügels. Der halbkugelförmige Rumpf wurde von sechs gelenkigen Gliedmaßen getragen, die im Sand kaum sichtbare Spuren hinterließen. Auf dem Rücken vibrierten zwei fühlerartige Auswüchse im Takt der Fortbewegung. Ein Stieläuge war regungslos zu Boden gerichtet. Luco blickte dem Körper nach, bis der erneut hinter einem Sandhügel verschwunden war. Sein Blick verriet kein besonderes Interesse, er registrierte lediglich. Monströse Marslebewesen gab es weder in der Wüste noch im Bereich der Riesengebirge oder sonstwo auf dem Planeten. Es sprach auch nichts dafür, daß es sie jemals gegeben hatte. Luft und Nahrung, 3
die ihnen hier fehlten, vermochte ihnen höchstens die Phantasie der Menschen zu bieten. Die „Spinne" trug die Katalognummer „8" und war nichts w.eiter als einer von Colins Analyserobotern, der sich, seinem Programm gehorchend, auf dem Weg zum sturmsicheren Unterstand befand. Damit hatten alle Roboter ihre Analysepunkte verlassen. Bis auf einen. Der Untersuchungsbereich der defekten „9" grenzte direkt ans Labyrinth. Auf keinen Fall durfte der Analyseroboter dem aufziehenden Sturm überlassen werden. Die Staubmassen würden ihn unter sich begfaben. Ein kräftiger Windstoß fegte über den Boden und hüllte Luco in eine Staubwolke. Ihn fröstelte. Besorgt blickte er zum Horizont. Die Sonne schien unmerklich zu verlöschen. Der Himmel verdunkelte sich. Der Wind zerrte mit zunehmender Heftigkeit am Skaphander. Es wurde immer ungemütlicher. Luco zögerte nicht länger und eilte zum Fahrzeug zurück. Als er in der Kabine Licht machte, war alles mit rötlichem Staub bedeckt. Luco fluchte. Warum konnte er sich nur nicht daran gewönnen, nach Verlassen des Wagens die Tür wieder mit der Plane zu verschließen? Gerade wollte er den Motor anlassen, als er den Ruf ton des Videos vernahm. Er verband den Helmkontakt mit dem Fahrzeugempfänger und reinigte mit seinem Handschuh den kleinen Bildschirm. Auf der Leuchtfläche erschien das Gesicht des Marsologen. „Hallo, Luco! Was macht denn der kranke Roboter? Hast du ihn aufgespürt?" „Noch nicht", antwortete Luco. „Ich nähere mich seinem Analysebereich. Und wie geht es euch? Seid ihr endlich fertig?" Dilo, der Marsologe, lächelte. Er war der älteste von ihnen, hatte ein gutmütiges Gesicht und fühlte sich auch als der „Vater" der Besatzung für vieles verantwortlich. „Alles in Ordnung, Luco. Wir brechen sofort auf. Der Ausflug hat sich übrigens gelohnt. Wir haben jetzt den Beweis, daß in den Bergen noch immer Vulkanismus auftritt. Donny hat außerdem Spuren radioaktiver Elemente gefunden." „Gratuliere!" entgegnete Luco. „Und wie sieht es mit Wasser aus?" Der Marsologe winkte ab. „Trocken, Luco, äußerst trocken. Nicht einen Tropfen haben wir entdeckt. Der Mars ist so trocken wie meine Kehle. Ein trostloser Planet." „Und so was nenrit sich Marsologe", mischte sich Donny ein, der neben Dilo Platz genommen hatte. „Beschimpft seinen Forschungsgegenstand!" Trotz Bemühens gelang es ihm nicht, sich gegen Dilo durchzusetzen und richtig vor der Kamera zu postieren. Es sah komisch aus, wie er mit einem Auge um die rechte Bildschirmkante lugte. Dilo schob ihn einfach aus dem Bild. „Mal Spaß beiseite", fuhr er fort. Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Gibt es etwas Neues von der Orbitalstation?" Luco schüttelte den Kopf. „Cerry meldet sich, sowie eine Information eingetroffen ist." „Ich weiß. Aber das Wetter gefällt mir ganz und gar nicht. Der Wind wird stärker. Ich habe das Gefühl, die schlafen da oben, anstatt uns auf dem laufenden zu halten. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, daß uns noch acht Stunden bis zum Sturm verbleiben. Da braut sich ganz schön was zusammen." Luco teilte Dilos Bedenken. Plötzlich begann der Bildschirm zu flackern. Störgeräusche beeinträchtigten die Verbindung. Dilos Miene wurde bedenklicher. „Was machen die neuen Basisgebäude?" Er versuchte, die atmosphärischen Störungen zu überschreien. „Sie müssen vor dem Sturm geschützt werden." „Die Automaten haben vor einer halben Stunde die Kuppeln aufgesetzt", 4
berichtete Luco. „Die Befestigungsarbeiten laufen auf Hochtouren." Die Antwort war nur noch in Wortfetzen zu verstehen. Der Marsologe und die anderen wollten augenblicklich zur Station zurückkehren. Luco brach die Verbindung ab. Erst jetzt bemerkte er, daß sich die Sonne weiter verdunkelt hatte und der Wind heftiger am Geländewagen rüttelte. Eine, eigenartige Beklommenheit machte sich in Luco breit. Er zweifelte nicht mehr daran, daß er in wenigen Stunden seine Sturmtaufe erleben würde. Das Unwetter rückte unaufhaltsam näher, die Vorzeichen waren nicht zu übersehen. Angst? Er hatte schon so manches über die gefürchteten „Staubteufel" gehört, die häufig ganze Landstriche verwüsteten. Damals, noch bevor die Marsstation „Terra" fertiggestellt war, wurde die Besatzung einer Raumexpedition von solch einer Windhose, die mitunter eine Geschwindigkeit von über hundert Meter pro Sekunde erreicht, überrascht. Die Kosmonauten konnten sich in den sturmgeschützten Bunker retten. Die provisorische Station aber glich später einem Trümmerhaufen. Daß es auch keineswegs ratsam war, Staubstürme von weitaus geringerer Intensität zu unterschätzen, bewies ein anderer Vorfall. Deric Corban, seinerzeit der namhafteste Marsologe, war sich seiner Sache zu sicher gewesen. Er vertraute der Harmlosigkeit der atmosphärischen Bewegungen und entfernte sich zu weit von der Station. Als dann der Sturm unvermittelt losbrach, verlor er die Orientierung. Erst nach vier Tagen flaute das Unwetter langsam ab. Zu diesem Zeitpunkt wurde es zur Gewißheit, daß Corban dem „Staubteufel" zum Opfer gefallen war. Man wußte heute noch nicht, wo er unter den Sandmassen begraben lag. Dies alles ging Luco durch den Kopf, während der Wind draußen stärker wurde und der Staub durch alle Lücken und Risse in die erleuchtete Kabine 5
des Geländewagens drang. Zugegeben, wohl war ihm nicht bei dem Gedanken an das heranziehende Sturmzentrum. Er war Neuling, arbeitete erst vier Monate hier, und bisher war alles ruhig geblieben. Aber Angst? Seit nun schon drei Jahren standen die ersten Kuppeln der Station „Terra". In dieser Zeit hatten insgesamt neun Staubstürme über ihr getobt, hatten die Masten umgeworfen und ganze Anlagen verschüttet. Der Sachschaden war mitunter erheblich, aber Menschen wurden dabei nie verletzt. Luco löste sich aus der Erstarrung. Sicher war es besser umzukehren. Bei diesen Sichtverhältnissen würde es sowieso schwierig sein, den Analyseroboter ausfindig zu machen. Dilo hatte zweifellos recht, das Wetter verhielt sich nicht so wie erwartet. Die Orbitalstation mußte doch die neuen Meßwerte zur „Terra" liefern! Warum aber ließ Cerry nichts von sich hören? Luco beugte sich vor und betätigte das Video. Zu seiner Überraschung meldete sich niemand. Selbst die Stationskennung, welche die Empfangsbereitschaft anzeigte, blieb aus. Aus dem Helmlautsprecher drang nur das Knistern und Rauschen der atmosphärischen Entladungen. Was hatte das zu bedeuten? Luco spürte, wie seine Hand leicht zitterte, als er erneut die Sprechfunktaste drückte. Das Resultat war dasselbe. Auf „Terra" herrschte Schweigen. Die Entfernung zur Station war nicht sehr groß, also konnte wohl kaum das Unwetter dafür verantwortlich sein. Luco ließ den Motor an. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Womöglich benötigte Cerry, der allein auf der Station weilte, seine Hilfe. Das Fahrzeug wendete und nahm Kurs auf den Rand der Wüste. Die Sicht wurde von Minute zu Minute schlechter. Sandkörner prasselten gegen die Frontscheibe. Die Seitenplanen knatterten im Wind. Hin und wieder begann der Wagen leicht zu schlingern. Der Rufton des Videos durchzuckte Luco wie ein Schlag. Auf dem Leuchtschirm erschien der Kopf des Astronomen. Im ersten Augenblick atmete Luco erleichtert auf. Cerry war also nichts passiert. Doch schon im nächsten Moment hatte er die Sorge um den Astronomen vergessen. Das alte Unbehagen gewann die Oberhand. Er mochte diesen Menschen nicht. „Hallo, Luco! Hören Sie mich?" ließ sich Cerrys Stimme vernehmen. Das Prasseln der Störungen war unbedeutend. „Ja, ich höre", erwiderte Luco. „Was gibt es?" „Sie müssen sofort umkehren." Luco versuchte, ruhig zu bleiben. Rein mechanisch bewegte er das Steuer. Eigentlich gab es kaum Grund zum Lenken. Vor ihm war nichts als Sand. Luco tat es trotzdem, um seine Nervosität zu verbergen. F ü r einen Moment sah er den Astronomen auf dem Bildschirm. Cerry schwieg. Sein kühler, fast ausdrucksloser Blick ruhte auf einem unbestimmten Punkt inmitten der Fahrzeugkabine. Luco glaubte, die Kälte zu spüren, die von ihm ausging. Cerry war Mitte Dreißig, unverheiratet, von Beruf Astronom und Kybernetiker. Man hatte ihn ein halbes J a h r früher auf „Terra" eingesetzt als Luco. Er lebte sehr zurückgezogen und war für keinen Menschen, nicht einmal für Dilo, zugänglich. Außer durch seine radioastronomische Forschung trat er kaum in Erscheinung. Luco dagegen hatte sich schnell in das neue Kollektiv eingewöhnt. Er kannte alle Vorzüge, Schwächen und Gewohnheiten der Besatzung. Selbst Colins Schwäche für Märchenbücher war ihm nicht entgangen. Er hatte ihn mehrmals dabei ertappt, wie er heimlich in „Hansel und Gretel" las. Nur Cerry war ihm noch immer fremd. In vier Monaten gemeinsamer Arbeit waren sie sich kaum nähergekommen. In Lucos Augen war der Astronom ein seltsamer Mensch, schweigsam, zurückhaltend, verschlossen, 6
unnahbar. Ein Mensch, der jedem Scherz verständnislos gegenüberstand, dem Emotionen fremd waren. Ein Eisblock, wie ihn Luco im stillen nannte. „Wieso umkehren?" fragte Luco verwundert. „Nach letzten Messungen erreicht uns der Staubsturm nicht vor acht Stunden." Er verschwieg, daß er sich bereits auf dem Rückweg befand. „Diese Meldung ist schon drei Stunden alt", gab der Astronom zu bedenken. Seine Stimme war sachlich wie immer. Trotzdem hatte Luco das Gefühl, daß sich Cerry, ganz gegen seine Gewohnheit, zur Ruhe zwingen mußte. „Ich habe bis jetzt keine weitere Information. Alle Anzeichen sprechen aber dafür, daß es früher losgeht. Die Windgeschwindigkeit ist alarmierend. Ich glaube, das hängt mit den unerwartet hohen Temperaturschwankungen heute morgen zusammen. — Luco, bitte kehren Sie so schnell wie möglich zur Station zurück!" Luco glaubte sich verhört zu haben. Hatte Cerry eben „bitte" gesagt? „Bin schon unterwegs", murmelte Luco verstimmt. Er ärgerte sich, daß auch der Astronom nur Vermutungen äußerte. Da draußen braute sich wer weiß was zusammen, und niemand wußte Konkretes. „Sagen Sie, Cerry, was ist nur mit der Orbitalstation? Warum bekommen wir keine Meßwerte?" Der Astronom zögerte eine Sekunde. Seine Stimme wurde unsicher. „Der Empfänger war defekt. Jetzt müssen wir warten, bis die Station wieder aus dem Funkschatten auftaucht. — Was ist mit den anderen im Gebirge? Sind sie in Sicherheit?" ' Luco horchte auf. Cerry schien seiner Frage auszuweichen. „Nein", gab er zur Antwort. „Sie sind vor wenigen Minuten aufgebrochen. Ich habe keine Verbindung mehr." „Auch das noch." Der Astronom stöhnte. „Beeilen Sie sich, Luco!" Was eigentlich mit dem Empfänger gewesen sei, wollte Luco noch wissen. Aber der Bildschirm verdunkelte sich. Cerry hatte die Verbindung unterbrochen. Die Fahrzeugkabine war erfüllt vom Heulen des Windes. Als sich nach fünf Minuten das Video erneut meldete, ahnte Luco, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Der Astronom war wie verwandelt und bezwang seine Erregung nur mühsam. Seine Stimme bebte. „Hören Sie, Luco! Ich habe Verbindung mit dem Orbit. In der Nachbarwüste ist der Teufel los. Die Windgeschwindigkeit beträgt über achtzig Meter pro Sekunde. Voraussichtlich wird uns das Unwetter schon in zehn Minuten erreichen. Sie schaffen es nicht bis zur Station. Wo befinden Sie sich momentan?" „Ich weiß nicht", antwortete Luco unsicher. „In dieser Dämmerung ist kaum etwas zu erkennen. Aber vermutlich noch immer im Analysebereich der ,8'." Er hatte sofort den Wagen gestoppt. Sein Gesicht war bleich. Wie aus weiter Ferne vernahm er Cerrys erregte Stimme: „Gut, es gibt nur eine Möglichkeit. Sie kennen doch das Gebiet der ,9'. Sie müssen unter allen Umständen versuchen, das Labyrinth zu erreichen. Beeilen Sie sich, Luco! Der Geländewagen ist dem Sturm in keiner Weise gewachsen." „Die Basisgebäude", fragte Luco, „was ist, wenn der Wind die Kuppeln herunterreißt?" Cerry winkte ab. „Das ist jetzt nicht so wichtig. Ich tue aber mein möglichstes. Nehmen Sie Kurs auf das Labyrinth. Sie müssen es schaffen!" Der Bildschirm erlosch. Noch ganz benommen, wandte Luco den Blick vom Video und sah aus der Fahrzeugkabine. Das Bild, das sich ihm draußen bot, flößte ihm Furcht ein. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt. An Stelle der Sonne schimmerte nur noch ein schwach violetter Fleck am Horizont. In der Atmosphäre wirbelten un7
zählige mikroskopisch kleine Staubteilchen und bildeten einen Nebel, der das spärliche Tageslicht zu verschlucken schien. Heftige Böen griffen das Fahrzeug an und zerrten an der Plane. Luco kamen Dilos Worte in den Sinn. Er hatte ihm den „Staubteufel" als eine drohende schwarze Wand beschrieben. Wo sie auftauche, fege sie alles davon und lasse keinen Stein auf dem anderen. Luco zog gerade die Sicherheitsgurte fest, als er sie entdeckte. Am Horizont ballte sich ein gewaltiger, dunkel wogender Staubwall. Wie ein gefräßiges Tier verschlang er auch den letzten Lichtstrahl und hinterließ eine schreckliche Finsternis. Die Sturmfront rückte langsam näher. Das Labyrinth, dachte Luco. Nur die Schluchten des Labyrinths konnten ihn vor der Gewalt des Unwetters retten. Der Motor sprang an. Die Scheinwerfer flammten auf. Luco wendete und steuerte auf die fernen, nur schemenhaft erkennbaren Felsen zu. Der Sturm trieb den Wagen aus der Fahrtrichtung. Er änderte jeden Augenblick seinen Angriffspunkt. Eine Orientierung war kaum noch möglich. Das starke Scheinwerferlicht verschwand im Staubnebel. Schon nach wenigen Minuten verlor sich das Fahrtziel in der Dunkelheit. Nach einer Weile, Luco empfand sie als eine Ewigkeit, änderte sich die Marsoberfläche. Der Sand wich zurück und legte unregelmäßigen steinernen Untergrund frei. Das leichte Fahrzeug holperte über eine Geröllhalde. Im Licht der Scheinwerfer hoben sich die Umrisse eines Felsbrockens ab. Luco riß das Steuer herum, aber die Reaktion kam zu spät. Der Wind hatte den Wagen erfaßt und schleuderte ihn gegen das Gestein. Luco stieß mit dem 8
Helm an den Bildschirm. Glas splitterte. Die rechte Fahrzeugwand war eingerissen. Der Sturm fegte durch die Öffnung in die Kabine. Luco richtete sich auf. Nur nicht die Nerven verlieren, dachte er. Der Motor brüllte heiser, wurde aber vom Sturmgeheul übertönt. Sand und sogar kleine Steine prasselten immer heftiger gegen die Windschutzscheibe. Das Fahrzeug bäumte sich auf, kam nur langsam voran. Ringsum brodelte ein Ozean aus Wind und Staub. Der Mars selbst glich der Hölle. Luco begriff sehr gut, welch treffende Bezeichnung die Stürme erhalten hatten. Lange Zeit kämpfte Luco verbissen um jeden Meter Boden. Sein Blick suchte in der Dunkelheit nach den Umrissen der Felsen. Die Konzentration ließ langsam nach. Gleichzeitig befiel ihn lähmende Verzweiflung. Er kam sich vor wie ein Blinder, der völlig die Orientierung verloren hat. Nur für einen Augenblick dachte er an die anderen, die auf dem Rückweg vom Gebirge wie er vom Sturm überrascht worden waren. Sie waren zu dritt. Er mußte sich allein durchkämpfen. Warum bloß war die Sturmwarnung zu spät gekommen? Das Fahrzeug wurde erneut herumgerissen. Luco verlor das Steuer aus den Händen und suchte am Armaturenbrett Halt. Vor Anstrengung brach ihm der Schweiß aus allen Poren, Seine Kleidung unter dem Skaphander klebte am Körper. Die Augen brannten. Er konnte sich nicht einmal über das Gesicht wischen. Was dann geschah, kam Luco später unwirklich vor, fast wie ein Traum. Plötzlich erkannte er im Scheinwerferlicht eine dunkelgraue, rissige Masse. Die Steilwand schien direkt vor ihm aus dem Boden geschossen zu sein. Das Labyrinth, dachte er. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn er nur einen Zugang ins Innere der Bergformation finden könnte, wo Steilwände und Schluchten Sicherheit boten! Wieder versperrten dichte, wirbelnde Staubmassen die Sicht. Das Felsmassiv war in der Dunkelheit untergetaucht. Der Sturm ergriff den Geländewagen von hinten und beschleunigte die Fahrt. Luco bremste ab, konnte aber nicht verhindern, daß das Fahrzeug ins Schleudern geriet. Plötzlich neigte es sich zur Seite und glitt einen Hang hinab. Luco löste die Bremse, um zu vermeiden, daß sich der Wagen überschlug. Die Neigung wollte kein Ende nehmen. Die Lichtkegel der Scheinwerfer verloren sich in der Dunkelheit. Luco befürchtete-schon, in einen Abgrund zu stürzen, da ging ein Ruck durch die Kabine. Das Fahrzeug stand. Der rechte Scheinwerfer war erloschen. Der Motor lief unregelmäßig und ließ die Kabinenwände leicht erzittern. Luco verharrte regungslos auf dem Sitz und lauschte. Das Sturmgeheul hatte nachgelassen. Durch die eingerissene Fahrzeugwand wirbelte kein Staub mehr. Luco löste die Gurte, richtete sich stöhnend auf und blickte nach draußen. Der linke Scheinwerfer riß ein Stück Steilwand aus der Finsternis. Ein warmes Gefühl der Freude lief durch Lucos Körper. Erst jetzt begriff er, daß er dem „Staubteufel" entkommen war.
2. Chaos über Stützpunkt „Terra" Die Zeit verstrich unendlich langsam. Wie eine dickflüssige, zähe Masse flössen die Stunden dahin, ohne daß es Anzeichen für das Nachlassen des Sturmes gab. Der „Staubteufel" wütete mit unverminderter Stärke. Sogar in die Tiefe der Schlucht drang in unregelmäßigen Abständen der Wind und jagte dunkle Staubwolken über den Geländewagen. Das Warten wurde Luco unerträglich. Er hatte die schützende Fahrzeugkabine verlassen und bemühte sich, Wagenteile auszuwechseln, die bei der Irrfahrt im Staubsturm Bruch erlitten hatten. Der rechte Scheinwerfer war zersplittert. Luco kehrte zur Kabine zurück, um eine Ersatzleuchte zu holen. Er öffnete die sorgfältig verschlossene Seitenplane und wollte sich gerade hineinschwingen, als er auf dem Boden ausglitt und hinschlug. Ärgerlich rieb er sich die schmerzenden Gelenke und tastete dann nach der Ursache seines Sturzes. Seine Hand stieß auf etwas Glattes und Glitschiges. Luco schlug die Plane zurück und machte Licht. Die kleine Deckenleuchte erhellte schwach den Marsboden. Erst jetzt bemerkte Luco, daß der Wagen in einer Senke stand. Er traute seinen Augen nicht: An einer Stelle war der mit dunklem Staub bedeckte Boden von einer weichen, schimmelähnlichen Schicht überzogen. Die Fläche, die nicht mal einen Quadratmeter ausmachte, schimmerte leicht bläulich. Der „Schimmel" war nicht gleichmäßig über sie verteilt, er konzentrierte sich an der tiefsten Stelle der Senke. Deutlich war der Abdruck zu erkennen, den Lucos Schuh hinterlassen hatte. Luco beugte sich vor und betrachtete die rätselhafte Substanz aus der Nähe. Bei der dürftigen Beleuchtung ließen sich Einzelheiten schwer ausmachen. Die Schicht, die vermutlich aus einem organischen Fadengeflecht bestand, erinnerte in der Tat stark an Schimmel. Luco kratzte vorsichtig eine Probe aus der Senke und verstaute sie in einer hermetisch schließenden Kapsel. Das Herz des Marsologen würde sicher einen Freudenhüpfer machen, wenn er sie Dilo überreichte. Das Labyrinth war wohl doch nicht so uninteressant, wie sie alle gedacht hatten. Wenn schon hier-der Boden stellenweise Feuchtigkeit aufwies, konnte man womöglich in den tieferen Schluchten mit größeren Wasservorräten rechnen. Ein Windstoß traf das Fahrzeug und schüttelte es. Luco steckte die Kapsel in seinen Skaphander, kletterte, diesmal mit Vorsicht, ins Innere des Wagens und beeilte sich, die Kabine zu schließen. Seine Gedanken schweiften ab. Wie mochte es wohl den anderen ergangen sein? Wenn die drei tatsächlich sofort aufgebrochen waren, wie Dilo gemeldet hatte, mußte sie der „Staubteufel" in der Wüste überrascht haben. Hoffentlich waren sie in die schützenden Berge zurückgekehrt! Obwohl das Expeditionsfahrzeug, das sie beförderte, wesentlich robuster gebaut war als Lucos kleiner Geländewagen, erschien es ihm zweifelhaft, daß es der elementaren Gewalt des Sturmes standhalten konnte. Wenn nur nicht diese quälende Ungewißheit wäre! Das untätige Herumsitzen, nur mit der Hoffnung auf ein baldiges Abflauen des Unwetters, nagte an Lucos Nerven. Er erinnerte sich, daß der letzte Staubsturm, der die Station heimgesucht hatte, erst nach vier Tagen vorüber gewesen war. In anderen klimatischen Zonen tobten die Stürme sogar Wochen und Monate. Luco betätigte die Videoanlage. Vielleicht gelang es ihm, Verbindung aufzunehmen. Doch schon im nächsten Augenblick ließ er entmutigt die Hand sinken. Sein Blick fiel auf den zersplitterten Bildschirm. Außerdem 10
befand er sich in einer Schlucht und war nach zwei Seiten abgeschirmt. Luco nahm die Handleuchte vom Nebensitz. Abermals öffnete er die Plane und sprang ins Freie. Diesmal, um die Schlucht zu erkunden. Als er nach zwei Stunden zurückkehrte, spürte er, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel. Ein Blick auf die Skala am Sauerstoffgerät sagte ihm, daß der Vorrat zur Neige ging. Luco holte einen neuen Sauerstoffbehälter unter dem Sitz hervor und wechselte den verbrauchten aus. Nachdem er die Verbindungsschläuche wieder am Skaphander befestigt hatte, lehnteer sich im Sitz zurück. Trotz seiner Erschöpfung fand er keine Ruhe. Seine Gedanken kreisten alle um einen Punkt, die späte Warnung. Was war mit Cerry los? Manchmal versuchte Luco, den Astronomen zu begreifen. Er war ehrlich bemüht, ihm näherzukommen, aber dann spürte er die unsichtbare Wand, die zwischen ihnen stand. Cerrys kühles und verschlossenes Wesen stieß ihn ab. Die guten Vorsätze schmolzen dahin, was blieb, war Kälte. Cerrys Welt war die Wissenschaft. Ihr widmete er seine ganze Aufmerksamkeit, ihr opferte er die freien^tunden. Die Forschungen füllten ihn voll aus. Er brauchte nichts weiter, alles andere ließ ihn kalt. Tagelang hockte er im Observatorium und wollte von niemandem gestört werden. Er lebte in einer anderen, für Luco unerreichbaren Dimension, umgeben von Formeln, Zahlen, Meßwerten und Berechnungen. Es war offensichtlich, daß Cerry abseits des kleinen Kollektivs stand. So mußte es unweigerlich zu Spannungen kommen. Luco erinnerte sich noch sehr gut an jene Silvesternacht vor knapp vier Wochen. Es war der erste Jahreswechsel gewesen, den er weitab vom heimatlichen Planeten auf einem anderen Himmelskörper erlebt hatte. Sie waren zum verabredeten Zeitpunkt in der Zentrale zusammengekommen, die Donny, der junge Ingenieur, mit viel Witz und Erfindungsgabe in einen Festsaal verzaubert hatte. Die Stimmung war großartig. Wie zu solchen Feierlichkeiten üblich, war Colin auf Konferenzschaltung gegangen. Damit war das Problem der Einsamkeit gelöst. Er hatte an den Wänden mehrere Kameras installiert und ein Dutzend Mikrophone auf den Tischen verteilt. Von den beiden Hauptbildschirmen lächelten die Gesichter der Besatzungsmitglieder der Orbitalstation und des auf der Umlaufbahn parkenden Versorgungsraumschiffes herab. Die Zentrale war erfüllt von leiser Musik, vom Gläserklirren und den Gesprächen der Leute. Man unterhielt sich, als säßen die Kollegen auf der Umlaufbahn direkt nebenan. Dilo, der sich in seiner freien Zeit ab und zu als Maler versuchte, die Versuche waren teilweise sogar ansprechend, enthüllte in feierlichem Zeremoniell zwei seiner neuesten „Werke". Die dreidimensionalen Bilder mit lebendigen irdischen Motiven brachten ein bißchen heimische Atmosphäre in den Raum. Verständlicherweise drehten sich die Gespräche im allgemeinen nur noch um Mutter Erde. Alle, selbst der sonst so sachliche Colin, schwelgten in Erinnerungen. Nur Cerry fehlte. Luco fand ihn im Observatorium. Der Astronom saß am Radioteleskop und war in Berechnungen vertieft. „Warum kommen Sie nicht in die Zentrale, Cerry? Die Feier ist längst im Gange. In zehn Minuten trifft die Funksendung von der Erde ein." „Ich habe zu tun", erwiderte der Astronom abweisend und hob dabei nicht einmal den Blick vom Notizblock. „Ihr werdet sicher auch ohne mich auskommen." Luco wurde ärgerlich. Seine Stimme zitterte vor Erregung. „Können Sie nicht wenigstens heute auf Ihre ewigen Messungen verzichten? Merken Sie denn gar nicht, wie Sie sich abkapseln, sich wie eine Maus in ihrem Loch 11
verkriechen? Wir haben allen Grund, unsere gemeinsamen Erfolge zu feiern. Sie aber brüten in aller Abgeschiedenheit über Ihren Berechnungen." Er machte eine kurze Pause und fügte etwas ruhiger hinzu: „Im übrigen haben wir keinen Platz für Einzelgänger und Egoisten." Der Vorwurf tat seine Wirkung. Cerry sah erschrocken auf und streifte Luco mit einem Blick. Er sagte aber keinen Ton. Schließlich vertiefte er sich wieder in seine Notizen. ' „Bitte gehen Sie, Luco", sagte er nach einer Weile, leise, aber nicht ohne Schärfe in der Stimme. „Sie stören mich bei der Arbeit." Luco hatte schon eine grobe Entgegnung auf der Zunge, unterdrückte sie aber. Wortlos verließ er den Raum. Erst Stunden später, als sie im Freien standen und das neue J a h r mit einem Schwärm bunter Signalraketen begrüßten, ließ sich Cerry für kurze Zeit sehen. Verständnislos beobachtete er das begeisterte Treiben. Es entlockte ihm nicht einmal ein Lächeln. Unauffällig, wie er gekommen war, zog er sich in die Station zurück. Es war nicht das erstemal, daß Luco an jene Silvesternacht dachte. Damals waren die Spannungen zwischen Cerry und ihm offen zutage getreten. Seit dieser Zeit ging er dem Astronomen aus dem Weg. Luco löschte das Licht in der Kabine. Es war ratsam, mit der Energie sparsamer umzugehen. Sofort herrschte Dunkelheit um ihn. Nur die Lämpchen am Armaturenbrett glommen schwach und spiegelten sich in der Scheibe. Die Geräusche des Windes drangen wie von fern an sein Ohr. Nachdenklich betrachtete Luco die bunten Lichter. Er hatte das Gefühl, der Astronom habe sich irgendwie verändert. Vor ein paar Stunden, bei seinem letzten Videogespräch, hatte er Cerrys typische Selbstsicherheit vermißt. Ob dies mit dem Defekt im Stationsempfänger zusammenhing? Der Astronom hatte eine ungewisse Zeit lang keine Verbindung mit der Orbitalstation gehabt und deshalb die Sturmwarnung zu spät erhalten. Warum eigentlich? Luco stutzte. Ihm war ein sonderbarer Gedanke gekommen: Wieso konnte denn Cerry nicht den Ersatzempfänger benutzen? Es war unmöglich, daß beide Empfangssysteme gleichzeitig ausfielen. Cerrys Handlung wurde immer rätselhafter. Luco sah die bunten Lichter schon nicht mehr. Er merkte gar nicht, wie träge die Gedanken auf einmal flössen. Wohltuende Müdigkeit breitete sich in seinem Körper aus und setzte der Grübelei ein Ende. Trotz Aufregung und Erschöpfung schlief er unruhig. Es war eher ein Halbschlaf, ein Dämmern zwischen Schlafen und Wachen. Die überspannten Nerven machten ihm zu schaffen. Mehrmals wachte er kurz auf, überprüfte erregt die Sauerstoffzufuhr, glaubte, einen Riß im Skaphander zu haben, oder war überzeugt, daß es in ihm ständig heißer würde, weil die Heizung defekt wäre. In wirren Träumen durchlebte er noch einmal die Fahrt im „Staubteufel", nur waren diese wesentlich schrecklicher als seine tatsächlichen Erlebnisse. Einmal wachte er schweißgebadet auf. Sein Blick fiel durch die Fahrzeugscheibe nach draußen. Jenseits des Frontglases herrschte undurchdringliches Dunkel. Mit Schrecken stellte er fest, daß es um ihn herum seltsam still war. Er vermißte das vertraute Geräusch des Sturmes. Eine unbändige Angst ergriff ihn. Er machte Licht und löste mit zitternden Fingern die Seitenplane. Als seine Hand ins Freie griff, atmete er erleichtert auf. Er hatte schon befürchtet, mitsamt dem Fahrzeug unterm Sand begraben zu sein. Luco erhob sich und kletterte hinaus. Zwei Stunden lang tappte er durchs Dunkel und suchte in der Schlucht nach weiteren Stellen mit dieser schimmelartigen Masse. Da er nichts fand, machte er bald kehrt und streckte sich 12
wieder im Wagen aus. Später, als er erneut aufwachte, fiel ihm auf, daß es draußen heller wurde. Seit seiner Rettung waren fast zwanzig Stunden vergangen. Der Wind hatte nachgelassen. Im Staubnebel hoben sich verschwommen die Felswände der Schlucht ab. War das Unwetter vorübergezogen? Luco rieb sich benommen die Augen. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seines letzten Traumerlebnisses... Der Traum war seltsam und schrecklich zugleich. Luco fuhr im Geländewagen durch die Wüste. Der Sturm schien längst abgeflaut zu sein, denn die Sonne leuchtete wie gewöhnlich am leicht violetten Himmel und tauchte die Umgebung in helles Tageslicht. Nur ein hauchdünner Nebel aus unzähligen mikroskopisch kleinen Staubpartikeln hing unbeweglich in der Atmosphäre und zeugte noch von dem Unwetter, das hier vor Stunden gewütet haben mußte. Luco wußte nicht, weshalb und wohin er fuhr. Mit gleichgültiger Miene sah er aus dem Fenster und langweilte sich beim Anblick der endlosen Staubmassen. Nur ab und zu drehte er den Kopf zu Cerry, der schweigend den Wagen steuerte. Plötzlich beugte sich Luco vor. Ein Gegenstand im Sand hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Noch war die Entfernung zu groß, und es ließen sich keine Einzelheiten ausmachen. Cerry fuhr dichter heran. Luco sah, daß der Fund die Form eines abgeflachten Quaders von etwa einem halben Meter Länge hatte. Die Breite war nicht ohne weiteres festzustellen, da der Gegenstand zum Teil mit Sand bedeckt war. An einer Seite ragte ein kurzes, schlauchähnliches Gebilde hervor. Luco traute seinen Augen nicht: Auf dem Quader waren deutlich Zeichen zu erkennen. Diese Entdeckung traf ihn wie ein Schlag. Er wagte nicht wegzublicken. Dilo war tot! Der rätselhafte Gegenstand war ein Sauerstoffgerät und gehörte dem Marsologen... Den Fortgang des Traumerlebnisses hatte Luco nur noch flüchtig im Gedächtnis. Die Bilder wechselten in wirrer Folge. Cerry saß mit versteinertem Blick am Steuer und nahm kaum Notiz von dem schrecklichen Fund. Luco wollte den Wagen stoppen, doch der Astronom fuhr unbeirrt weiter. Luco verlor die Beherrschung und wollte Cerry gewaltsam daran hindern. Es kam zum Handgemenge. Cerry ließ das Steuer aus den Händen, und das Fahrzeug raste führerlos in den Nebel. Plötzlich ging ein Ruck durch die Kabine. Die Frontscheibe splitterte, beide Insassen wurden nach vorn geschleudert. Auf einmal lag Luco im Freien. Vor ihm erhob sich ein metallenes Wrack, teilweise verschüttet, die Seitenwände zerbeult und eingerissen. Eine Waigentür hing schief in den Angeln, und die schweren Räder waren gen Himmel .gestreckt. Der Geländewagen war mit den Überresten des Expeditions'fahrzeugs kollidiert. In der geräumigen Kabine sah es .wüst aus. Von den Insassen fehlte jede Spur. In einer Ecke lag ein Schutzhelm. Luco erkannte an der Kennzeichnung, daß er Colin gehörte. Ein kalter Schauer überlief ihn. Wie benommen trat er ins Freie. Etwa zehn Schritte entfernt stand Cerry. Der Astronom rührte sich nicht und starrte unentwegt auf einen Punkt. Lucos Augen folgten seinem Blick. Nur mit Mühe konnte er einen Aufschrei unterdrücken. Übelkeit stieg in ihm auf. Nur wenige Meter vor Cerry ragte eine Hand aus dem Sandhügel. Die Finger waren unnatürlich verkrampft. Der feine rötliche Sand verdeckte den Körper und ließ nur den helmlosen Kopf frei. Luco erkannte das verzerrte Gesicht Donnys... An dieser Stelle war er aufgewacht. Obwohl er alles nur geträumt hatte, wurde er nicht ruhiger. Tatsache war, daß die Gefährten im Expeditionsfahrzeug genauso vom Sturm überrascht worden waren wie er. Er wußte nichts über ihr Schicksal. 13
Wie konnte das nur geschehen? dachte er, als er den Wagen verließ, um festzustellen, ob der Sturm tatsächlich nachgelassen hatte. War Cerry an der verspäteten Meldung schuld? Der Defekt im Empfänger und die Unsicherheit des Astronomen sprachen dafür. Aber was sollte sich auf der Station ereignet haben? Luco kehrte in die Kabine zurück. Seine Unruhe wuchs. Sie drängte ihn zum Aufbruch. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß das Sturmzentrum weitergezogen war. Doch noch immer verhüllte eine eintönig rötlichgraue Dämmerung die Landschaft. Unheimlicher, dichter Nebel hing über der Schlucht. Nur selten verirrte sich ein Windstoß in die Tiefe und brachte den Staubvorhang in Bewegung. Luco wußte, daß sich der Nebel nur sehr langsam lichten würde, daß sich die Staubteilchen erst nach Stunden wieder absetzten. So lange konnte er unmöglich warten. Sicher brauchte Cerry seine Hilfe. Sein Blick glitt über die Reste des zerschlagenen Videoschirms. Er überprüfte noch einmal die Energieversorgung, dann startete er den Motor. Gleichzeitig flammten die Scheinwerfer auf. Der Wagen verließ die Senke und folgte dem Verlauf der Schlucht. Schon vor Stunden hatte Luco einen Weg erkundet, der sicher aus dem Labyrinth führte. Geschafft! — Luco brachte das Fahrzeug unter dem Hangar zum Stehen und lehnte sich erschöpft zurück. Eine Weile blieb er regungslos sitzen. Drei Stunden Irrfahrt durch Staub und Nebel lagen hinter ihm. Jenseits der Frontscheibe kein Horizont, kein Fels, kein Stein, kein Orientierungspunkt. Nur Sand. Drückende Dämmerung. Überall das gleiche Bild. Als hätte der Sturm die gesamte Marsoberfläche in eine endlose Wüste verwandelt. Luco löste sich aus der Erstarrung und wischte sorgfältig ein paar Staubteilchen vom Kompaß, als wollte er ihm damit für die erwiesenen Dienste danken. Die Magnetnadel war sein einziger Verbündeter gewesen und hatte ihn auch sicher ans Ziel gebracht. Luco ließ seinen Blick noch einmal über das Armaturenbrett gleiten und stieg aus dem Fahrzeug. Er verspürte den Wunsch, den Helm abzunehmen und sich die schmerzenden Augenlider zu reiben. Die verschwitzten Sachen, die er seit zwei Tagen am Leibe trug, klebten an der Haut. Ein Bad, dachte er, ein Königreich für ein heißes Bad! Auf dem Weg zur Wohnkuppel kam er nur langsam voran. Der Wind hatte für kurze Zeit nachgelassen, so daß der Staubvorhang unbeweglich stand. Im Halbdunkel hoben sich nur undeutlich die Umrisse der Stationsanlagen ab. Mit jedem Schritt wurde Luco ruhiger. Die Station schien heil geblieben zu sein. Der Fahrzeughangar, die große Wohnkuppel und auch die angrenzenden Laboratorien wiesen keinerlei Beschädigung auf. Das Radioteleskop lag in der schützenden Verschalung geborgen, die Sendemasten hatte Cerry vorsichtshalber umgelegt. Sie waren lediglich verschüttet. Luco stapfte auf die Schleuse zu. Plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Hartes. Ein Bruchstück? Er sah sich besorgt um. Vier Meter weiter lag ein zweites, viel größeres, zum Teil im Sand verborgen. Luco ahnte Schlimmes. Er drehte sich um und beschleunigte seine Schritte. Fast wäre er über den Schweißautomaten gestolpert, der zerstört am Boden lag. Nach hundert Metern blieb er resigniert stehen. Vor ihm erhoben sich die halbfertigen Basisgebäude. Sie boten ein Bild der Verwüstung. Die Baugerüste waren eingestürzt. Der Sturm hatte die neu aufgesetzte.Kuppel der zukünftigen Funkleitzentrale fast völlig heruntergerissen. Die Bruchstücke lagen weit in der Umgebung verstreut. Aus dem dachlosen Bauwerk ragten verbogene Metallspanten. 14
Zu spät! dachte Luco verbittert. Die Automaten hatten es nicht mehr rechtzeitig geschafft, die einzelnen Teile der Kuppel sicher zu befestigen. Der Staubsturm mußte sie bei den letzten Abstützarbeiten überrascht haben. Dafür sprachen die zerbeulten Wracks einiger Automaten, die rund um das Gebäude regungslos im Sand lagen. Cerry hatte augenscheinlich bis zur letzten Sekunde mit dem Abbruch der Arbeiten gezögert. Erst der Wind schien die Roboter von der Kuppel geweht zu haben. Niedergeschlagen wandte Luco seinen Blick von den Trümmern. Die zerstörte Kuppel bedeutete einen erheblichen Rückschlag. Womöglich mußte der Termin für den Ausbau der Marsbasis verschoben werden, zumal das Ausmaß der Zerstörungen noch nicht zu überblicken war. Im Innern der Station angelangt, riß sich Luco den Helm vom Kopf und fuhr mit dem Arm über die feuchte Stirn. Kein Laut drang an sein Ohr. Die Station schien wie ausgestorben. Vom Korridor aus warf er eitlen flüchtigen "Blick in die angrenzenden Räume. Die Einrichtung war unberührt. Auch oben, im Beobachtungszimmer des Astronomen, herrschte die gewohnte Ordnung. Nur ein paar Tonkassetten lagen vor dem Bildschirm auf dem Schaltpult. Von Cerry keine Spur. Luco eilte die Stufen wieder hinunter und betrat die Stationszentrale. Auch hier konnte er den Astronomen nicht finden. Er ließ seinen Blick über die Einrichtung gleiten und stutzte. Cerry hatte die Schutzverkleidung am Hauptempfänger entfernt und ein Gewirr von Kabeln und elektronischen Bauelementen freigelegt. Die Sicherungen waren herausgezogen und noch nicht wieder hineingedrückt worden, ein Zeichen, daß der Astronom den Defekt noch nicht beseitigt hatte. Dafür war der Ersatzempfänger pro15
visorisch in den Stromkreis geschaltet. Eine Lampe zeigte dessen Funktionstüchtigkeit an. Luco erinnerte sich an das Video-Gespräch mit Cerry. Die Unsicherheit des Astronomen, als er ihn nach dem Empfänger fragte. Cerrys Worte sollten den Anschein erwecken, daß er den Fehler gefunden habe, die Orbitalstation jedoch in den Funkschatten getaucht sei. Warum war er seiner Frage ausgewichen? Weshalb hatte er sich vergeblich mit dem Hauptempfänger abgeplagt, statt sofort das Ersatzgerät zu benutzen? Luco wurde klar, daß die Antwort auf diese Fragen gleichzeitig die verspätete Sturmwarnung erklären würde. Schon war er im Begriff, die Zentrale wieder zu verlassen, als er ein rotes Licht an der Kontrollwand bemerkte. Er trat näher heran und las die Aufschrift „Reaktorkammer". Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Was hatte denn Cerry in der Energiestation zu suchen? Ein großes Bruchstück der Kuppel war vom Sturm gegen die Außenwand des Reaktors geschleudert worden. Obwohl das Kraftwerk dicht bei den Basisgebäuden stand, war Luco dieser Schaden völlig entgangen. Durch den Nebel ließ sich auch nicht erkennen, wie stark die Schutzwand beschädigt war. Luco zögerte nicht länger, sondern schleuste sich ins Innere. Ein neues Rätsel tauchte auf: Die Luke zur Reaktorkammer war blockiert. Hatte Cerry den Verstand verloren? Warum schloß er sich in der Kammer ein? Wollte er verhindern, daß sich noch jemand der harten Strahlung aussetzte? Luco legte den Bleianzug wieder aus der Hand und eilte in den angrenzenden Schaltraum. Sein Blick fiel auf ein Meßgerät an der Wand. Wie lange war der Astronom bereits der harten Strahlung ausgesetzt? Die Zeiger standen still. Das war Cerrys Werk. Luco begriff nichts mehr. Er beugte sich vor und drückte die Sprech taste: „Hallo, Cerry! Hier spricht Luco. Was ist passiert?" Er bekam keine Antwort. Deutlich war ein anhaltendes schabendes Geräusch zu vernehmen. Ein Gegenstand fiel zu Boden. „Cerry, so melden Sie sich doch!" Schweigen. „Warum haben Sie sich eingeschlossen?" Schweigen. „Hören Sie doch, Cerry, ich muß wissen, was los ist! Brauchen Sie meine Hilfe?" Wieder folgte Lucos Worten angespannte Stille. Nur dieses aufreizende Schaben. Plötzlich brach es ab. „Sie können mir nicht helfen", klang es müde aus dem Lautsprecher. „Ich bin außerdem gleich fertig." Das schabende Geräusch setzte abermals ein, zerrte an den Nerven. „Wie lange sind Sie schon in der Kammer?" fragte Luco ungehalten, bekam jedoch erneut keine Antwort. Er machte sich am Schaltpult zu schaffen.^ Wenn der Astronom nicht auch noch die Verbindungskabel zum stationären" Informationsspeicher blockiert hatte, mußte sich doch die Aufenthaltsdauer aus den automatischen Aufzeichnungen ermitteln lassen. Sekunden später erschienen die Daten auf dem Bildschirm. Luco beugte sich unwillkürlich vor, als wollte er nicht glauben, was er sah. Das war doch nicht möglich! Um null Uhr sechs Stationszeit hatte der Astronom die Reaktorluke passiert. Das war kurz nachdem der Sturm nachgelassen hatte. Und bis jetzt hatte er die Kammer noch nicht wieder verlassen. Seit dieser Zeit waren beinahe vier Stunden vergangen. Auf diese Dauer konnte die Strahlung selbst durch den Schutzanzug schädlich wirken. Luco war entgangen, daß das Schaben wieder aufgehört hatte. Die Stille kam ihm plötzlich unheimlich vor. Jenseits der Wand rührte sich nichts. Er 16
beugte sich dicht über den Lautsprecher. Irgend etwas fiel scheppernd zu Boden. Sekunden später glaubte er, ein unterdrücktes Aufstöhnen vernommen zu haben. Gleich darauf folgte ein dumpfer Aufprall. „Cerry!" schrie Luco entsetzt und stürzte aus dem Schaltraum. Wenn dem Astronomen etwas zugestoßen war, mußte er versuchen, die Luke gewaltsam zu öffnen. ' Doch als er den Nebenraum betrat, stand Cerry plötzlich vor ihm. Im schweren Strahlenschutzahzug wirkte er unbeholfen. Luco spürte, daß sich der Astronom nur noch mühsam auf den Beinen hielt. Bereitwillig half er ihm beim Ablegen der lästigen Hülle. Wie hatte sich Cerry verändert! Er schien um J a h r e gealtert, das Gesicht war eingefallen und wirkte müde. Von seiner gewohnten Spannkraft war kaum etwas geblieben. Einzig und allein sein kühler Blick war der alte. Von ihm ging feste Entschlossenheit aus, die einen eigenartigen Kontrast zu seiner körperlichen Niedergeschlagenheit bildete. Luco deutete wortlos auf das Meßgerät an der Wand, das noch immer in Nullstellung verharrte, und blickte den Astronomen fragend an. Dieser zuckte kaum merklich die Schultern. Ohne eine Erklärung wandte er sich ab und ergriff den Werkzeugkasten. „Ich will wissen, wie lange Sie in der Kammer waren", fragte Luco zornig. „Womöglich muß ich Sie behandeln." Der Astronom winkte ab. „Genau weiß ich das nicht. Vielleicht eine, höchstens zwei Stunden..." „Warum lügen Sie?" Cerry antwortete nicht. „Und die Luke?" Lucos Stimme wurde herausfordernd. „Warum haben Sie die Luke blockiert? — Vielleicht geben Sie mir mal eine Erklärung dafür!" Der Astronom lehnte sich schwerfällig gegen die Wand. „Hören Sie", entgegnete er leise, „jederzeit kann die Energiestation hochgehen, und Sie verlangen große Erklärungen. Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun. Den Reaktor konnte ich erst einmal notdürftig abdichten. Der Rest ist Sache der Automaten. — Ihre Erklärung, die", Cerry senkte den Blick und sprach noch leiser, so daß Luco Mühe hatte, ihn zu verstehen, „die bekommen Sie, wenn alles vorbei ist." Wenn was vorbei sei? wollte Luco fragen, doch er besann sich und folgte dem Astronomen in die Wohnkuppel, um die Automaten für die Reparatur zu programmieren. Während der Arbeit ließ er den Astronomen keinen Augenblick aus den Augen. Cerry war deutlich die physische Belastung anzumerken, dennoch weigerte er sich, Lucos Rat zu folgen und sich für kurze Zeit hinzulegen. Er sträubte sich auch gegen eine sofortige Desaktivierung. Er benahm sich wie ein ungehorsames Kind und stürzte sich von einer Arbeit in die andere, als wäre es möglich, den gesamten Schaden sofort zu beheben. Erschöpft ließ sich Cerry in einen Sessel sinken. Sein Blick war auf die Kontrollwand gerichtet. „Wir müssen nach draußen, Luco", sagte er tonlos. „Der Eingang zum Automatenbunker ist verschüttet." Luco erhob sich und schloß seinen Skaphander. Als es ihm der Astronom gleichtun wollte, hielt Luco ihn zurück. „Sie bleiben hier", sagte er entschieden. „Ich schaff das auch allein. Halten Sie Verbindung mit der Landefähre!" Er schien aber gegen eine Wand zu sprechen. „Der Reaktor ist wichtiger als alles andere", entgegnete Cerry und erhob sich mühsam. „Wenn die Energieversorgung ausfällt, liegt die gesamte Station lahm." 17
Luco wurde wütend. Dieser „Eisblock" wollte einfach keine Vernunft annehmen. „Was ist nur mit Ihnen los, Cerry! Wollen Sie vielleicht, daß ich Sie in der Station einschließe?" Keine Antwort. Luco drehte sich um und ging zur Tür. Er spürte, wie Cerry ihm folgte. Plötzlich ein kurzes Stöhnen. Luco fuhr blitzschnell herum. Er sah gerade noch, wie der Astronom wankte und zusammenbrach. Bestürzt beugte er sich über ihn. Cerry war bewußtlos. Luco richtete sich langsam auf, ohne den Blick von der Gestalt zu lösen. Er merkte, wie seine Arme beim Abstützen leicht zitterten. Für Sekunden empfand er eine tiefe Abneigung gegen den Mann, der regungslos vor ihm lag. Jetzt war er nicht nur völlig auf sich selbst angewiesen, sondern hatte noch dazu den hilflosen Astronomen auf dem Halse. Das alles war allein Cerrys Starrköpfigkeit zu verdanken!
3. Kein Hügel mehr am Horizont Der Staubvorhang hatte sich schon merklich gelichtet. Das Licht der aufgehenden Sonne kämpfte gegen die Dämmerung an, war aber noch zu schwach, um die Dunkelheit zu vertreiben. Ein kleiner, blutroter Fleck zunächst, der sich am Horizont noch unscheinbar ausnahm, sich jedoch langsam und unaufhaltsam nach allen Richtungen ausbreitete und ständig an Helligkeit zunahm. Bald würde die Sonne den Staubnebel durchbrechen und die Marsoberfläche in gewohntes Tageslicht tauchen. Luco stand am Fenster und blickte, in Gedanken versunken, in die graurote Dämmerung. Er hatte das Licht gelöscht, um ungestört nachdenken zu können. Eine Fähre von der Orbitalstation war bereits auf dem Wege zum Stützpunkt, und wenn die Havariemannschaft hier eintraf, war es mit der Ruhe vorbei. Bei der Behebung der Sturmschäden wurden jede Hand und jeder Kopf dringend gebraucht, auch der des Astronomen, der im angrenzenden Behandlungsraum lag. Luco schloß für einen Moment die Augen und hatte das Gefühl völliger Leere im Kopf. Kein vernünftiger Gedanke, nur flüchtige Erinnerungen, Bildfetzen, Gesichter, Staub. Staub? Ja, dieser rötliche Staub war überall. Er bedeckte nicht nur weite Flächen des Planeten, sondern drang durch tausend Ritzen und setzte sich überall ab. Manchmal schien er zwischen den Fingern zu reiben, man glaubte, ihn nach dem Erwachen aus den Augenwinkeln zu wischen, und fühlte ihn sogar, wie Donny einmal scherzhaft meinte, beim Essen zwischen den Zähnen knirschen. Eine Wüste aus Sand und Staub, unendlich und furchteinflößend. Ein Schwindel ergriff Luco. Seine Hand tastete in der Dunkelheit nach einem Halt. Plötzlich bemerkte er, daß er die Augen längst wieder offen hatte. Der rote Staub war keine Einbildung. Als hauchdünne Schicht bedeckte er das äußere Panzerglas des Fensters. Luco ertappte sich dabei, wie er begann, den Mars zu hassen. Die Dämmerung da draußen widerte ihn an. Er verabscheute diese trostlose, lebensfeindliche Welt mit ihren kraterübersäten Wüsten und gewaltigen, zerklüfteten Gebirgen. Der Planet mit seinem ewig düsteren Himmel und der trostlosen, nackten Oberfläche flößte ihm Furcht ein. Aber war denn der Staubsturm schuld an der Katastrophe? Hatte 18
er das Expeditionsfahrzeug mit den drei Gefährten, von denen noch immer jede Spur fehlte, in die Irre geführt? Hatte nicht eher einer von ihnen, den Menschen, versagt? Lucos Hand tastete nach dem Schalter. Im Zimmer flammte Licht auf. Er stand wie benommen. Das unerwartete Geständnis des Astronomen ging ihm nicht aus dem Sinn. Cerry, der pflichtbewußte und aus Lucos Sicht unfehlbare Mensch, hatte durch eine leichtsinnige Handlung die Verspätung der Sturmwarnung verschuldet. Weshalb? Aus übertriebenem Forscherehrgeiz? Luco versuchte, sich das Geschehen vor dem Sturm zu verdeutlichen. Cerry ist allein auf der Station, während Dilo, Donny und Colin ihre Arbeiten im Gebirge abschließen und Luco nach dem Analyseroboter sucht. Da Cerry die Automaten beim Befestigen der Kuppel sowieso nicht unterstützen kann, beschäftigt er sich mit seinen radioastronomischen Forschungen. Plötzlich empfängt er unbekannte, merkwürdige Impulse. Der Empfang ist außerordentlich schlecht, aber alle Anzeichen sprechen dafür, daß es sich um einen Pulsar handelt. Cerry vermutet, daß dieses kosmische Gebilde noch in keiner astronomischen Kartei erfaßt ist, und das weckt seine wissenschaftliche Neugier. Er muß unter allen Umständen den genauen Standort des Pulsars bestimmen. Jedoch ist die Intensität der Impulse für exakte Messungen zu schwach. Luco hörte Cerrys Worte noch deutlich: „... so beging ich in meiner Erregung eine überaus leichtsinnige Handlung. Um den Empfang zu verstärken, koppelte ich die Antenne mit den Schaltkreisen des Stationsempfängers. Das Resultat meines unüberlegten Eingriffs war, daß ich in der Eile einen Fehler in die provisorische Anlage einbaute. Da ich die Sicherungen vorher hatte überbrücken müssen, ging die gesamte Apparatur zum Teufel..." 19
Soviel war Cerrys Aussage zu entnehmen. Sie unterstrich, Lucos Meinung nach, das Wesen des Astronomen. Er hatte über seinen Forschungen die Umwelt völlig vergessen. Dennoch schien Luco das Geständnis zweifelhaft. In der Geschichte gab es einen überaus schwachen Punkt: den Ersatzempfänger. Gewiß gibt es Augenblicke im Leben, in denen man keiner sinnvollen Handlung fähig ist. Aber ein Mensch wie Cerry ließ sich doch nicht eines Neutronensterns wegen aus der Fassung bringen. Trotzdem mußte er so erregt oder benommen gewesen sein, daß er nicht auf den simplen Gedanken gekommen war, den Ersatzempfänger anzuschließen und sofort Verbindung zur Orbitalstation aufzunehmen. Statt dessen hatte er sich bemüht, den Hauptempfänger zu reparieren, mit dem er nicht zu Rande gekommen war. Luco wurde das Gefühl nicht los, daß ihm der Astronom etwas verschwieg. Dieses geheimnisvolle Etwas war offensichtlich des Rätsels Lösung. Ein Rufsignal erregte Lucos Aufmerksamkeit. Er ging zum Schaltpult und drückte eine Taste. Aus dem Lautsprecher kam ein Funkspruch: „Landefähre ruft ,Terra'! Setzen zur Landung an. Erbitten Funkleitstrahl. Ich wiederhole..." Luco bestätigte den Empfang und eilte in die Zentrale, um den Funkleitstrahl zu senden. Sofort nach Eintreffen der Havariemannschaft von der Orbitalstation wurden die Räumarbeiten in Angriff genommen. Zunächst konzentrierten sie sich auf das unmittelbare Stationsgebiet. Nachdem die Bruchstücke der zerstörten Kuppel beseitigt waren, begann die sechsköpfige Besatzung mit der Planierung des Geländes. Ein großer Teil der Bauten war vom Sand verweht. Die Kuppeln der Basisgebäude konnten noch nicht erneuert werden, weil das entsprechende Material fehlte. Viel Zeit nahm die Reparatur der beschädigten Bauautomaten in Anspruch. „Alle Werte haben Sollstand erreicht", meldete Luco aus der Zentrale. Sein Blick verfolgte das Spiel der Meßgeräte an der Kontrollwand. „Der Reaktor arbeitet wieder normal." „Na also", antwortete ein Techniker über Funk, „damit ist die Reparatur abgeschlossen. Wie hoch ist die Leistung?" „Neunzig Prozent." „Gut, ich komme rüber." Der Techniker unterbrach die Verbindung. Luco erhob sich aus dem Sessel. Er warf einen kurzen Blick auf den Mann, der neben ihm mit der Wiederinstandsetzung des Empfangssystems beschäftigt war, und verließ dann den Raum. Auf dem Korridor stieß er beinahe mit Corell zusammen, der soeben aus dem Behandlungszimmer getreten war. „Nun, wie steht es um ihn, Doktor?" „Bitte?" Corell, Arzt und gleichzeitig der Leiter der Havariemannschaft, blickte erschrocken auf. „Ach Sie, Luco. Ich wollte Sie gerade aufsuchen. Wissen Sie, irgendwie gefällt mir mein Patient nicht. Ich kann nicht verstehen ..." „Sie meinen sicher den psychischen Zustand des Patienten", warf Luco ein. Corell nickte. „Genau das ist es. Die Strahlenkrankheit tritt bei Cerry nur schwach auf. Darüber brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Ihn scheint aber etwas zu bedrücken, innerlich stark zu beschäftigen. Wahrscheinlich belastet ihn der Gedanke, daß er das Unheil heraufbeschworen hat." „Schon möglich", stimmte Luco zu. „Aber ich glaube nicht, daß dies die einzige Ursache ist." Er sah den Arzt einen Augenblick nachdenklich an und fuhr dann fort: „Ich begreife Cerry nicht. Ich bin überzeugt, daß er nicht die 20
volle Wahrheit sagt. Er will etwas vor uns verbergen. Wissen Sie, Corell, es fällt mir einfach schwer, zu glauben, daß ein so zuverlässiger Mensch wie Cerry der Entdeckung eines Neutronensterns wegen die Vorschriften mißachten und eine verantwortungslose Handlung begehen kann. Finden Sie nicht auch, daß es schon allein unverantwortlich wäre, sich in einer Situation, in der die Besatzung außerhalb der Station tätig und jede Information über den bevorstehenden Staubsturm von enormer Bedeutung ist, mit radioastronomischen Forschungen zu beschäftigen? Es ist doch nicht das erstemal, daß uns der ,Staubteufel' an der Nase herumgeführt hat. Noch rätselhafter erscheint mir aber Cerrys Verhalten nach dem Defekt im Hauptempfänger. Wie kann nur jemand, der für seine Kaltblütigkeit und sein schnelles Reaktionsvermögen bekannt ist, bei einer solch lächerlichen Sache versagen? Ist das nicht paradox?" Corell schwieg. Er war an der Wand neben der Schleusenkammer stehengeblieben. Seit dem Jahreswechsel hingen hier Dilos Bilder. Sie waren sehr dekorativ und fielen auch sofort ins Auge, wenn man von draußen her den Korridor betrat. Corells Gesicht hatte unvermittelt ernste Züge angenommen. Noch immer fehlte jedes Lebenszeichen von den Insassen des Expeditionsfahrzeugs. „Sicher haben Sie recht", sagte der Arzt endlich. „Aber was ich noch weniger begreife, ist das Warum. Warum verschweigt Cerry etwas? Warum sagt er nicht die reine Wahrheit, sondern tischt uns seine zweifelhafte Pulsargeschichte auf? Warum belügt er sogar Sie, seinenengsten Gefährten? Sie müßten es doch wissen, Luco. Sie kennen doch den Astronomen. Hat er kein Vertrauen zu Ihnen?" Luco zuckte ratlos die Schultern. Ihm war beklommen zumute, denn eine so direkte Frage nach seinem Verhältnis zu Cerry kam überraschend. Cerry sein engster Gefährte! Was sollte er darauf erwidern? Zum Glück erschien in diesem Augenblick ein Mann im Skaphander auf dem Gang. Er kam aus der Zentrale und wollte wohl zur Schleuse, denn er trug bereits den Schutzhelm unterm Arm. „Hallo, Doktor! Ein Ruf aus dem Orbit. Die Leitung fordert einen ersten Bericht. Sie scheint ernsthaft in Sorge zu sein, lassen Sie sie also nicht lange warten." „In Ordnung, Zarek. Ich komme sofort." Corell entschuldigte sich und verschwand in der Zentrale. Luco atmete erleichtert auf. So hatte er erst einmal Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Langsam schlenderte er durch den schmalen Verbindungstunnel zu den Laboratorien. Ohne zu wissen, weshalb, stieg er die wenigen Stufen zum Observatorium hinauf. Etwas unterhalb der Kuppel mit den Teleskopen befand sich Cerrys Arbeitszimmer. Luco trat ein und blickte sich um. Das Zimmer war nicht im geringsten verändert. Die Wände des runden Raumes waren wie immer kahl, es stand nur das Nötigste da, und in allen Winkeln blitzte es vor peinlicher Ordnung und Sauberkeit. Nur die Magnetaufzeichnungen, die Luco vorhin hier gesehen hatte, waren verschwunden. Ein großer Teil der gewölbten Zimmerwand war mit kleinen Bildschirmen, Oszillographen, Kontrollampen und sonstigen Meßinstrumenten ausgefüllt. Von diesem Raum aus überwachte der Astronom die Arbeit der weit von der Station entfernten automatischen Kleinstobservatorien, konnte er die Teleskope sowie die radioastronomische Antenne bedienen. Zur Zeit war die Kontrollwand wie abgestorben. Nur vereinzelt glommen ein paar Indikatoren. Kein Wunder, denn noch vor dem Sturm hatten sämtliche von Cerry gesteuerten Geräte ihre Tätigkeit eingestellt. 21
Zufällig fiel Lucos Blick auf ein Foto, das vor dem Video auf dem Schaltpult lag. Vorsichtig hob er es auf und betrachtete es. Es war das Bild einer jungen Frau, die er nicht kannte. Oder etwa doch? Cerry hatte allerdings nie eine Frau erwähnt. Aber das hatte nichts zu sagen. Wann kam es schon einmal zu einer privaten Unterhaltung! Auf der Rückseite des Fotos stand kurz und knapp mit fremder Handschrift „Oana". Nachdenklich legte er das Bild wieder auf seinen Platz. „Kennst du diese Frau?" Luco fuhr erschrocken herum. Hinter ihm stand Janetta, eine junge Ingenieurin vom Havariedienst. Ihr sonst immer heiteres Gesicht war ernst. Die großen dunklen Augen blickten Luco fragend an. „Ich weiß nicht", antwortete er unsicher. „Vielleicht habe ich sie irgendwo schon einmal gesehen? Ich kann mich leider nicht entsinnen." „Hör zu, Luco, ich muß mit dir reden", sagte Janetta. „Am besten, wir setzen uns." Luco nahm ihr gegenüber im Sessel Platz. Er hatte Janetta vor zwei J a h r e n am Institut kennengelernt. Sie waren oft zusammen gewesen. Er hatte es als Selbstverständlichkeit empfunden, hatte selten über ihre Beziehungen nachgedacht. Erst später, als er, von ihr getrennt, ein J a h r lang in der Station auf der Umlaufbahn um den Mars arbeitete, war ihm endgültig klargeworden, was ihm Janetta bedeutete. Der Zufall wollte es, daß sie ein halbes J a h r später zu ihm auf die Orbitalstation versetzt wurde. Vielleicht aber hatte sie das auch selbst eingefädelt. Luco wußte es nicht. Zwar wechselte er kurz nach ihrer Ankunft auf den Marsstützpunkt über, doch die Trennung wurde ihnen nicht mehr so schwer. Oft begleitete sie eine Transportfähre, die „Terra" mit Lebensmitteln und Material versorgte. Sie hatten beschlossen, den nächsten Urlaub gemeinsam zu verbringen. „Es geht um Cerry", begann Janetta. „Mir ist aufgefallen, daß es zwischen euch beiden Spannungen gibt. Ich meine jetzt nicht nur die Auseinandersetzung am letzten Jahresende. Habe ich recht, wenn ich annehme, d a ß du den Astronomen nicht magst?" „Was heißt, nicht mögen?" erwiderte Luco trocken. „Ich kenne Cerry jetzt fast ein halbes Jahr. Seit dieser Zeit sehe ich täglich, daß für ihn nur seine Wissenschaft, seine Forschungen, Formeln, Fakten und Zahlen existieren. Ich finde seine Verschlossenheit abstoßend. Sein Schweigen ist manchmal unerträglich. Wenn dieser Mensch in seine Forschungsarbeit vertieft ist, vergißt er alles andere. Kein Wunder, daß es soweit gekommen ist!" „Luco, du beurteilst Cerry einseitig. Du siehst nur immer seine negativen Seiten." „Ich sehe die Tatsachen", verteidigte sich Luco, „und die sind bitter genug. Du siehst doch, was Cerry angerichtet hat." „Ich weiß", sagte Janetta. „Ich will den Astronomen ja auch nicht in Schutz nehmen. Aber ich möchte verhindern, daß du nur versuchst, Cerrys Schuld zu beweisen, und dann glaubst, die Sache aus der Welt geschafft zu haben. Der Fehler liegt auch bei euch, bei dir und deinen Gefährten. Ihr hättet es nicht soweit kommen lassen dürfen. Cerrys Verhalten muß doch Ursachen haben. Habt ihr euch schon mal damit beschäftigt?" Luco stützte den Kopf in die Hände und erwiderte mit leichtem Vorwurf in der Stimme: „Was soll diese Moralpredigt? Cerry ist doch kein kleines Kind, um das man sich dauernd kümmern muß." „Das wollte ich damit auch gar nicht sagen", erklärte Janetta ruhig. Sie besaß die bewundernswerte Fähigkeit, sich in keiner Situation herausfordern zu lassen. Sie ging auch jetzt nicht auf Lucos Tonart ein. „Aber eines steht fest. Ich habe dir noch nicht gesagt, daß ich Cerry von früher her kenne. 22
Ja, du brauchst dich nicht zu wundern, er besuchte damals dieselbe Universität wie ich. Seit er auf dem Mars tätig ist, hat er sich nie blicken lassen, wenn ich mit dem Transporter gelandet bin. So habe ich ihn heute zum erstenmal wiedergesehen. Seit sechs Jahren! Ehrlich gesagt, ich habe ihn kaum erkannt. Es kommt mir vor, als sei er in den sechs Jahren um mehr als ein Jahrzehnt gealtert. Damals an der Uni war er ein ganz anderer Mensch. Zwar nicht gerade redselig oder sehr temperamentvoll, aber längst nicht so verschlossen und kalt wie jetzt. Im Gegenteil, man konnte ihn jederzeit um einen Rat bitten und dabei sicher sein, von ihm verstanden zu werden. Aber heute...? In den letzten sechs Jahren muß etwas geschehen sein, das ihn so stark verändert hat, anders kann ich mir die Wandlung nicht erklären." „Die Frage ist nur, was?" ergänzte Luco, der sich inzwischen beruhigt hatte und Janetta innerlich recht gab. In diesem Moment betraten Cerry und Jirdon, der Kybernetiker der Havariemannschaft, den Raum. Das Gespräch verstummte. „Janetta, seien Sie doch so freundlich und helfen Sie Cerry beim Nachfüllen der Sauerstoffgeräte", bat Jirdon. „Unsere Leute haben wegen der Außenarbeiten einen enorm hohen Verbrauch. Außerdem brechen wir, sobald sich der Nebel gelichtet hat, mit zwei Geländewagen in die Wüste auf. Dazu brauchen wir einen entsprechenden Vorrat." Janetta warf Luco einen kurzen Blick zu. „Gut, ich komme", sagte sie dann und erhob sich sogleich. Sie ging mit dem Astronomen zur Tür. Luco war gleichfalls aufgestanden, so daß Cerry an ihm vorüber mußte. „Es freut mich, d a ß Sie wieder auf den Beinen sind, Cerry. Wie fühlen Sie sich?" Er blickte den Astronomen fragend an. 23
„Danke, es geht wieder", erwiderte der knapp und verließ den Raum. Luco sah ihm nachdenklich hinterher. Jirdon, der an Janettas Stelle Platz genommen hatte, legte einen Stapel Magnetaufzeichnungen auf den Tisch. „Gut, daß ich Sie mal allein antreffe", sagte er. Er spielte nervös mit den Tonkassetten. Luco konnte den lebhaften Kybernetiker gut leiden. Nur seine Wichtigtuerei ging ihm manchmal auf die Nerven. Auch jetzt hatte Jirdon wieder eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt. „Ich glaube, ich bin auf eine bemerkenswerte Tatsache gestoßen", fuhr er fort, „die Ihnen möglicherweise weiterhelfen könnte. Ich wollte vorerst nicht mit Cerry darüber sprechen, weil ich mir über die Bedeutung der Entdeckung nicht ganz klar bin. Mit wenigen Worten: Ich habe mich mal um Cerrys Forschungsarbeit gekümmert und dabei festgestellt, daß in seinen radioastronomischen Aufzeichnungen häufig dieselben Koordinaten auftauchen. Und zwar lokalisieren diese einen bestimmten Abschnitt im Asteroidengürtel. Ich frage mich, weshalb interessiert sich Cerry so sehr für dieses Gebiet, denn ich weiß genau, daß in seinem Arbeitsprogramm eine solch intensive Erforschung des Meteoritenfeldes nicht vorgesehen ist." Luco war überrascht. „Ich wußte gar nicht, daß Cerry den Asteroidengürtel beobachtet", gestand er. „Mir ist lediglich aufgefallen, daß er auch außerhalb der vorgeschriebenen Arbeitszeit stundenlang hinter seinen Geräten sitzt. Colin hat dauernd Schwierigkeiten mit ihm, weil er gegen die Ruhevorschrift verstößt. Aber womit er sich in dieser Zeit beschäftigt, weiß ich nicht." „Ich glaube, ich bin dahintergekommen", erklärte Jirdon ernst. Er nahm eine Kassette und drehte sie bedeutsam in der Hand. „Die Sache hat mir nämlich keine Ruhe gelassen, nachdem ich gehört hatte, daß Cerry die Sturmfolgen verschuldet haben soll, und so bin ich ihr nachgegangen. Die Koordinaten, die Cerry so häufig benutzt, kennzeichnen eindeutig den vermeintlichen Ort der ,Astrid'-Katastrophe." Luco verschlug es die Sprache. Er saß regungslos im Sessel, blickte schweigend zu Jirdon und sah ihn doch nicht. Statt dessen bemühte er sich, die schrecklichen Einzelheiten über das Raumschiffunglück vor drei Jahren ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Raumexpedition „Astrid 5", die den Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter erforschen sollte, war nicht zurückgekehrt. In einem Funkspruch sprach die Besatzung plötzlich von einem nicht zu behebenden Schaden am nuklearen Triebwerk. Es gab nur eine winzige Rettungschance: Die Wohnsektion mußte vom gefährlichen Antriebsteil des Raumschiffes abgetrennt werden. Das war ein riskantes Unternehmen, denn die Lostrennung des Heckteils konnte die Explosion der Treibstoffkammern auslösen. Die letzte Meldung der „Astrid 5" besagte, daß die Besatzung mit dem Rettungsversuch beginne. Danach blieb jede weitere Nachricht aus. Von automatischen Sonden im Asteroidengürtel wurde eine atomare Explosion registriert. Alle Suchaktionen blieben erfolglos. Luco begriff nichts mehr. Was hatte Cerry mit der Raumschiffkatastrophe zu tun? Warum richtete er dauernd das Radioteleskop auf den Unglücksort? Gab es einen Zusammenhang zwischen dem tragischen Geschehen im Asteroidengürtel und dem unbekannten Ereignis unmittelbar vor dem Staubsturm? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er begleitete Jirdon hinunter und suchte die Stationszentrale auf. Außer Zarek, dem Techniker, der die Reparatur des Hauptempfängers beendet und soeben die Schutzverkleidung wieder befestigt hatte, befand sich niemand im Raum. Luco setzte sich vor der Schaltwand in einen Sessel und betätigte den Sender. 24
Zarek blickte kurz auf. „Ist was passiert?" fragte er. „Nichts von Bedeutung", erwiderte Luco. „Ich brauche nur eine Information vom Zentralspeicher." Auf dem Schirm erschien der Kopf des diensthabenden Funkingenieurs auf der Orbitalstation. Luco bat um Material über die „Astrid"-Katastrophe. „Bitte nicht die Protokolle, sondern nur eine Zusammenstellung der Besatzung", verlangte er. Es dauerte eine Weile, bis der Mann auf dem Bildschirm die Informationen vom Speicher abgefordert und Luco zugestellt hatte. Er schien ziemlich verwundert, daß sich jemand nach drei Jahren dafür interessierte. Nach und nach erschienen die Gesichter der Frauen und Männer, die der Raumschiffkatastrophe zum Opfer gefallen waren, auf dem Schirm. Luco fuhr ein Schauer über den Rücken. Lauter frohe und zum Teil auch junge Gesichter. Einige hatte er sogar persönlich gekannt. Bei einer Person verhielt er. Es war das gleiche Gesicht wie auf dem Foto, das er bei Cerry gefunden hatte. „Oana Bering, Raumfahrtmedizinerin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Bereich Genetik...", las Luco. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Lange Zeit regte er sich nicht. Er bemerkte auch nicht, wie ihm Zarek verstohlene Blicke zuwarf. Ihm wurde auf einmal vieles verständlich, was er vorher an Cerrys Verhalten verurteilt hatte. Er begann zum erstenmal den Astronomen zu begreifen. Janetta hatte recht. Es war etwas geschehen, das Cerry stark verändert hatte, die „Astrid"-Katastrophe. Der Verlust seiner Gefährtin mußte dem Astronomen so nahegegangen sein, daß er Zuflucht in der Wissenschaft suchte, sich nach außen hin abkapselte und in sich selbst zurückzog. Aber warum hatte niemand von dieser Frau gewußt, nicht einmal Duo? Luco löschte die Daten und brach die Verbindung zur Orbitalstation ab. Einiges schien jetzt klar und verständlich. Aber da war noch immer das rätselhafte Geschehen vor dem Sturm, Cerrys totales Versagen. Was hatte sich bloß in Lucos Abwesenheit auf der Station abgespielt? Als er die Zentrale verließ, traf er auf Janetta und Corell, die direkt von draußen kamen. Der Arzt nahm gerade den Helm ab und entledigte sich des Sauerstoffgerätes. „In zwei bis drei Stunden brechen wir auf", sagte er. „Wie weit ist eigentlich Zarek?" „Ich glaube, er hat seine Reparatur abgeschlossen", antwortete Luco. „Er ist aber noch in der Zentrale." In diesem Augenblick erlosch das Licht im Gang. Auf dem Korridor brannte nur schwach die Notbeleuchtung. Der Techniker hatte wohl einen Abschnitt der Stromversorgung abgeschaltet. „Mir scheint, Zarek hat etwas vergessen", meinte Corell und tastete sich zur Zentrale. Janetta, die ihm folgte, lachte. Luco ging ein paar Schritte und blieb dann im Dunkel des Ganges stehen. Die Information vom Zentralspeicher ließ ihm keine Ruhe. Er war fest entschlossen, das Geheimnis um Cerry vollständig zu lüften. Nur, was sollte er tun? Mit dem Astronomen reden? Nein. Es stand zuviel zwischen ihnen. Die Spannungen ließen sich nicht so leicht abbauen. Cerry würde ihm gegenüber kaum die Wahrheit sagen. Plötzlich vernahm er Schritte hinter sich. Jemand tastete sich, ohne Luco zu bemerken, an ihm vorbei und stieg die Treppe zum Observatorium hinauf. Im schwachen Schein der Notbeleuchtung erkannte er die Gestalt des Astronomen. Es vergingen nur wenige Minuten, und Cerry kam wieder herab. Als er 25
Luco bemerkte, schrak er kurz zusammen. Ohne ein Wort zu verlieren, ging er an ihm vorüber. Das Licht auf dem Korridor flammte wieder auf. Aus der Tür zur Zentrale traten Zarek und Corell. „Na also", sagte der Arzt und klopfte dem Techniker anerkennend auf die Schulter, „der Schaden ist behoben." Luco überlegte, was der Astronom wohl gewollt haben mochte, als er im Dunkeln zum Observatorium hinaufgestiegen war. Er zögerte einen Moment, dann nahm er selbst die Stufen zu Cerrys Arbeitszimmer. Luco sah sich aufmerksam um. Nichts schien verändert, n u r die Forschungsaufzeichnungen waren vom Tisch verschwunden. Er entdeckte sie neben dem Speicher des Radioteleskops. Kein anderer als Cerry konnte sie dort hingelegt haben. Eine Kassette befand sich in der Apparatur. Als er die Anlage einschaltete und die gespeicherten Informationen abrufen wollte, stutzte er. Aus dem Lautsprecher kam kein Ton. Er wechselte die Kassette, horchte. Das gleiche Resultat. Die Aufzeichnungen waren gelöscht. Warum hatte der Astronom das getan? Lucos Blick fiel auf das Bedienungspult der radioastronomischen Antenne. Einer plötzlichen Vermutung folgend, trat er näher und machte sich an den Geräten zu schaffen. Sekunden später erschien eine kleine Ziffernfolge auf dem Bildschirm. Luco holte tief Luft. Seit dem Sturm hatte Cerry das Radioteleskop nicht mehr benutzt. Es bestand also kein Zweifel: Die Antenne war genau auf den Ort der „Astrid"-Katastrophe gerichtet!
4. Der Ruf aus dem All Luco stoppte den Geländewagen neben der Wohnkuppel und stieg aus. Der kleine Laderaum wurde mit Sauerstoffgeräten, Ausrüstungen und Medikamenten gefüllt. Die beiden Rücksitze sollten frei bleiben. Sie konnten notfalls nach hinten geklappt und als Liegen benutzt werden. Als Luco das Schleusenschott öffnen wollte, um ins Innere der Station zu gelangen, war es blockiert. An der Wand blinkte warnend eine rote Lampe, ein Zeichen, daß die Schleusenkammer besetzt war. Luco wartete, bis das Schott aufging und zwei Männer vom Havariedienst ins Freie traten. Dann zwängte er sich hinein und verschloß sorgfältig den Eingang. An der Decke flammte gelbes Licht auf. Während die Kohlendioxid-Atmosphäre aus der Kammer gesaugt wurde, griff er rein zufällig in die Gerätetasche an seinem Skaphander und fühlte einen glatten runden Gegenstand. Zu seiner Überraschung holte er die Kapsel mit der Bodenprobe hervor, die er dem Labyrinth entnommen und in der Aufregung ganz vergessen hatte. Er öffnete den Behälter und hielt den Inhalt gegen das Licht. Die schimmelähnliche Schicht hatte sich verändert. Der leicht bläuliche Farbton war in ein schmutziges Graugelb übergegangen. Sie schien auch etwas ausgetrocknet zu sein, und so waren jetzt deutlich die einzelnen Fasern des dichten Geflechts zu erkennen. Luco strich vorsichtig mit dem Handschuh über die samtige Fläche. In diesem Augenblick verstummte das leise Zischen, und über dem Innenschott 26
brannte grünes Licht. Die Schleusenkammer hatte sich mit der Sauerstoffatmosphäre der Station gefüllt. An der gepolsterten Seitenwand glitt eine Schutzscheibe in den Boden und gab den Weg zur Ablage der Raumanzüge frei. Luco verschloß die Kapsel wieder, nahm lediglich den Helm ab und trat auf den Korridor. „Wo ist der Doktor?" fragte er, als ihm Jirdon entgegenkam. „In der Zentrale. Er spricht gerade mit dem Orbit." In der Zentrale saß Janetta und studierte die Marskarte. Als sie Luco bemerkte, nickte sie ihm zu. „Ich habe alles Nötige veranlaßt", sagte sie. „Der Funkingenieur prüft die Sendungen, die zu der bewußten Zeit in den Speicher gegangen sind. Er will auch auf dem Raumtransporter, der seit einer Woche im Orbit parkt, anfragen. Sowie er etwas für uns hat, meldet er sich." „Danke, Janetta", sagte Luco und setzte sich ebenfalls. „Vielleicht haben wir Glück." Er schien aber wenig zuversichtlich zu sein. Corell hatte inzwischen das Gespräch mit der Orbitalstation beendet und trat an den Tisch heran. Luco nutzte die Gelegenheit und unterrichtete ihn über seinen Fund. Der Arzt war sehr erstaunt. „Wasser im Labyrinth?" Er wiegte ungläubig den Kopf. „Sind Sie sicher, daß es sich um eine lebende Substanz handelt?" Auch Janetta war skeptisch. Luco führte die beiden ins Labor. „Was machen wir jetzt damit?" fragte Corell, nachdem sie die Probe in Augenschein genommen hatten. Er hielt den Behälter unschlüssig in der Hand. „Am besten, wir nehmen die Probe mit zur Orbitalstation", schlug Janetta vor. „Unsere Leute werden sie in den Labors untersuchen." Luco schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er. „Es gibt nur einen, dem ich die Kapsel überreichen möchte. Er hofft seit Jahren auf solch eine Entdeckung." Corell senkte den Blick. „Sie meinen Duo, nicht wahr?" „Ja", bestätigte Luco. „Sowie wir ihn gefunden haben, werde ich ihn persönlich unterrichten." „Einverstanden." Der Arzt nickte. „Was macht Ihr Geländefahrzeug? Haben Sie es überprüft?" „Alles in Ordnung", bestätigte Luco. „Um den anderen Wagen kümmert sich Zarek. Ich glaube nicht, daß er lange brauchen wird." „Gut, dann brechen wir in", Corell blickte auf die Uhr und dachte kurz nach, „sagen wir, spätestens zwanzig Minuten auf." Luco suchte sein Zimmer auf und traf die letzten Vorbereitungen für die Suchexpedition. Er duschte sich sogar und zog eine frische Kombination über. Als er wieder auf dem Korridor stand, eilte ihm Janetta entgegen. Sie war ganz außer sich und rief schon von weitem: „Es ist unglaublich, Luco, einfach unglaublich!" Sowie sie ihn erreicht hatte, holte sie erst einmal tief Luft und ließ dann, ein wenig stockend, ihre Erklärung folgen: „Ich habe gerade mit dem Funker von der Orbitalstation gesprochen. Der Raumtransporter, der seit Tagen um den Mars kreist, hat, kurz bevor das Sturmzentrum das Stationsgelände erreichte, eine Funksendung aus dem Asteroidengürtel empfangen. Hörst du, aus dem Asteroidengürtel!" Luco glaubte zu träumen. „Was für eine Funksendung?" „Die Kennung der verschollenen ,Astrid'-Expedition", fuhr Janetta fort. „Der Ruf ist an Bord des Raumtransporters aufgezeichnet worden. Ein Irrtum ist ausgeschlossen." Luco blickte Janetta fassungslos an. Die Ungeheuerlichkeit dieser Nach27
rieht nahm ihn so gefangen, daß er die folgenden Worte gar nicht mehr aufnahm. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?" fragte Janetta irritiert. Luco kam wieder zu sich. „Heißt das etwa, daß die Besatzung des verunglückten Raumschiffes am Leben ist?" „Aber nein", Janetta schüttelte den Kopf, „die ,Astrid 5' existiert nichtmehr. Der Diensthabende auf dem Transporter hätte sicher sofort die Weltraumbehörde informiert, aber dazu bestand kein Anlaß." Luco lehnte sich schwerfällig gegen die Wand, während Janetta ihre Erklärung von neuem begann. Eine Ortung vom Raumtransporter aus habe ergeben, daß die Signale von einer unbemannten Sonde im Asteroidengürtel stammten. Sie seien übrigens schon früher einmal kurzzeitig von einem Forschungsschiff empfangen worden. Damals habe man geglaubt, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Jetzt vermute man, daß die „Astrid 5"Kennung vor langer Zeit von der Raumsonde-empfangen und gespeichert und dann aus ungeklärten Gründen, vielleicht durch einen Defekt; wieder ausgesendet worden sei. „Wir müssen Cerry helfen", schloß sie ihren Bericht. „Du, Luco, bist doch der einzige, der mit dem Astronomen darüber sprechen kann." Luco stand regungslos an der Wand. Die Plastverkleidung fühlte sich angenehm kühl an. Einige Zeit dachte er nach und sagte kein Wort. Es gab für ihn kein Zurück mehr. Jetzt mußte er den Schritt gehen, der ihm so schwerfiel und den er immer wieder aufgeschoben hatte. Endlich gab er sich einen Ruck und blickte auf Janetta, die geduldig neben ihm wartete. „Wo ist Cerry?" fragte er. „Er muß im Observatorium sein. Ich habe gesehen, wie er vorhin die Treppe hinaufgestiegen ist." Luco setzte sich zögernd in Bewegung. Er spürte Janettas Blick im Rücken, als er die ersten Stufen nahm. Die Tür zu Cerrys Arbeitszimmer war nur angelehnt. Luco hörte Stimmen. Jemand redete heftig auf den Astronomen ein. Er erkannte die Stimme von Jirdon. „Es ist unmöglich, daß die Basis noch rechtzeitig fertig wird", sagte Jirdon gerade. „Die Havariemannschaft wird wieder auf der Orbitalstation gebraucht. Wir können nicht ewig hier unten bleiben, um euren Schaden zu beheben. Und Dilo, Donny, Colin?" Seine Stimme wurde bitter. „Sie haben sich immer noch nicht gemeldet. Niemand weiß, ob wir sie noch lebend finden werden." Cerry schwieg. Jirdon, der vermutlich im Zimmer unruhig auf und ab schritt, blieb nahe an der Tür stehen. „Ich begreife nicht, wie Sie sich unmittelbar vor Beginn des Staubsturmes mit radioastronomischen Forschungen beschäftigen konnten!" rief er. „Statt exakt die Werte über die Entwicklung des Sturmgeschehens zu verfolgen. Sie wissen doch, daß diese verdammten Staubteufel manchmal unberechenbar sind. Aber nein, Sie befassen sich mit der Erforschung von Pulsaren. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe. Inzwischen werden Ihre Gefährten vom Unwetter überrascht und geraten in Lebensgefahr. Und das alles nur, weil Sie so in Ihre Forschung vertieft sind, daß Sie die anderen nicht mehr rechtzeitg warnen können." , „Warum erzählen Sie mir das alles?" unterbrach ihn Cerry leise. „Ich weiß, es war eigensinnig und falsch von mir, a b e r . . . " „Kein Aber!" fiel ihm Jirdon ins Wort. So heftig hatte ihn Luco noch nie erlebt. „Ich verstehe nicht, wie Sie überhaupt so verantwortungslos handeln konnten. Seit wann steht bei uns die Forschung vor der Sicherheit des Menschen?" 28
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„Lassen Sie ihn in Ruhe. Dauernde Vorwürfe helfen auch nicht", sagte Luco, der unbemerkt eingetreten war. Jirdon drehte sich überrascht um. Seine rechte Hand spielte nervös mit dem Reißverschluß der Kombination. Als er Luco sah, setzte er zu einer Entgegnung an, doch er öffnete nur kurz den Mund, ohne daß er einen Ton hervorbrachte. Schließlich ließ er die Arme sinken. „Sie haben recht", sagte er bitter. „Wir können die Zeit nicht zurückdrehen." Damit verließ er den Raum. Luco warf einen Blick auf Cerry, der sichtlich in sich zusammengesunken war, und nahm dann ihm gegenüber im Sessel Platz. Ihm war heiß und unbehaglich. Wie sollte er beginnen? „Sie haben die Aufzeichnungen gelöscht?" fragte er endlich. Aber es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Der Astronom reagierte auch nicht. Stille. Deutlich spürte Luco die unsichtbare Wand, die zwischen ihnen war. „Warum sagen Sie uns nicht die Wahrheit, sondern verschweigen etwas?" begann er erneut. Dabei blickte er den Astronomen fest an. Keine Antwort. Cerrys Blick schien in die Ferne zu gehen. .Er war verschlossen wie immer. Wieder diese Wand, fest und schier unüberwindlich. „Ich weiß, daß Sie die ,Astrid-5'-Kennung empfangen haben", fuhr Luco fort. „Und zwar unmittelbar vor dem Sturm." Er sah, wie ein leichtes Zucken über Cerrys Gesicht lief. Die Augen irrten hilfesuchend durch den Raum und blieben schließlich am Fußboden haften. „Sie wissen...?" fragte Cerry leise, ohne cvfzublicken. „Noch nicht alles, Cerry." Der Astronom lehnte sich schwer im Sessel zurück. „Ja, ich.habe die Peilzeichen empfangen", begann er zögernd. „Jahrelang hatte ich gehofft, 29
diesen Ruf eines Tages aufzuzeichnen, als Beweis, daß die Besatzung, daß Oana noch am Leben ist. Ich weiß nicht, was mir die Hoffnung gab. Vielleicht wollte ich es einfach nicht wahrhaben, daß Oana nicht mehr lebt..." Er machte eine kurze Pause, als müßte er sich seine Worte erst gründlich zurechtlegen, und sagte dann: „Immer wieder habe ich den Asteroidengürtel nach Funkmeldungen der verschollenen Expedition abgehört. Ich redete mir ein, daß die Rettung der Besatzung geglückt sei und sie nun hilflos im Raum schwebe. Möglicherweise, so dachte ich, ist es der Expedition gelungen, sich noch vor der Explosion in Sicherheit zu bringen." Während Cerry weitersprach, spürte Luco, wie die Wand zwischen ihnen dahinschmolz. Der Astronom hatte sich im Sessel etwas aufgerichtet. Er redete jetzt flüssig, beinahe lebhaft. Sein Gesicht schien Luco längst nicht mehr so verschlossen wie vorher. Er sah den Astronomen plötzlich in einem anderen Licht. Deutlich zeichnete sich das Geschehen vor dem Sturm a b . . . Cerry war es gelungen, die ersehnten Funksignale des verschollenen Raumschiffes zu empfangen, als er schon selbst nicht mehr daran geglaubt hatte. Damit wurde für ihn Gewißheit, was alle für unmöglich hielten, worauf er jedoch im stillen immer gehofft hatte: Oana lebt! Seine verzweifelten Versuche, mit dem Radioteleskop ein Lebenszeichen von der „Astrid"-Expedition aufzufangen, waren von Erfolg gekrönt. Was dann passierte, konnte sich Luco gut vorstellen. Irgendwie mußte der Astronom geortet haben, daß die Signale unmöglich vom Raumschiffswrack stammen konnten, sondern von der defekten Meßsonde im Asteroidengürtel ausgingen. Damit waren alle seine Hoffnungen, die er bereits erfüllt glaubte, mit einem Schlag zerstört. Dies mußte eine Schockwirkung zur Folge gehabt haben. Der Defekt, die verzweifelten Versuche, den Stationsempfänger zu reparieren. Seine Benommenheit hatte wohl einen solchen Grad erreicht, daß er nicht fähig war, einen vernünftigen Entschluß zu fassen, daß er gar nicht an den Ersatzempfänger d a c h t e . . . „Ich weiß nicht, wie lange ich regungslos dagesessen habe, ohne etwas zu unternehmen. Mir war mit einemmal alles gleichgültig. Als ich endlich wieder einen klaren Kopf hatte, versuchte ich Sie zu warnen. Aber es war schon zu spät." Cerry brach ab, denn Corell und Zarek betraten den Raum. „Es ist höchste Zeit, wir müssen aufbrechen", sagte der Arzt. Er wandte sich an Cerry: „Sind Sie bereit, den einen Wagen zu steuern? Sie kennen sich doch am besten aus." Der Astronom nickte und erhob sich schwerfällig. Als Luco hinter den anderen die Stufen hinabstieg, war eine Last von ihm gefallen. Warum hatte er nur früher nicht den Mut gehabt, die Verhältnisse geradezurücken? Die Fahrt im Staubsturm, die zerstörten Kuppeln, das verschollene Expeditionsfahrzeug — einiges wäre ihnen sicher erspart geblieben. Aber nein, statt bei seinen Versuchen, Cerry zu begreifen, konsequent zu bleiben, hatte er sich immer wieder von seinen eigenen Gefühlen leiten lassen und den Spannungen neue Nahrung geliefert. Luco schüttelte unbemerkt den Kopf, als wollte er die Vorwürfe loswerden. Jirdon hat recht, dachte er, die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen. Als sie an der Zentrale vorbeigingen, spürte er Janettas fragenden Blick. Er zwinkerte ihr zu, und sie schien zu verstehen, was er damit sagen wollte, denn um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. Luco sah es noch immer, obwohl er bereits in der Schleuse stand und das Innenschott hinter sich geschlossen hatte. Draußen bemerkte er eine Veränderung. Es war heller geworden. Die graue Dämmerung wich immer weiter vor dem Licht der noch verdeckten 30
Sonne zurück, die inzwischen fast im Zenit stand. Die Umgebung war mit einem leuchtendroten Schein überzogen, der sich nach und nach aufklärte. Luco ging langsam auf das Fahrzeug zu. Das Stationsgelände war von Trümmern und Sand geräumt und planiert, die defekten Automaten waren im Bunker verstaut und zum Teil repariert. Die Havarief ähre, die abseits der Gebäude auf dem Landeplatz stand, wurde bereits wieder startklar gemacht. Luco nahm neben Cerry im Geländewagen Platz und verschloß die Plane. Es war das gleiche Fahrzeug, mit dem er vor nicht allzu langer Zeit dem „Staubteufel" knapp entronnen war. Ein paar Beulen und der zerschlagene Bildschirm erinnerten noch daran. Luco wischte die Gedanken beiseite und sah hinüber zu Cerry. Der Astronom saß am Steuer und beobachtete, wie sich das Fahrzeug vor ihnen langsam in Bewegung setzte, In Lucos Gedächtnis zeichnete sich ein verschwommenes Bild ab. Es war genau wie damals im Traum. Er fuhr mit Cerry durch den Nebel u n d . . . Nein! Seine Angst hatte ihm das schreckliche Geschehen nur vorgetäuscht. Damals war er allein gewesen. Cerry startete den Motor und folgte dem Wagen. „Wir werden sie finden", sagte Luco leise, aber so deutlich, daß es der Astronom vernehmen konnte. Cerry warf ihm einen dankbaren Blick zu. Luco sah wieder durch die Frontscheibe zum Horizont. Nur ein hauchdünner Staubnebel über der Wüste kündete noch von dem ungeheuren Sturm, der vor Stunden hier gewütet hatte. Es schien Luco kein Zufall zu sein, daß gerade in diesem Augenblick die ersten Sonnenstrahlen hindurchbrachen und die Umgebung in helles Tageslicht tauchten.
Jack London
3 6 2 Der Nachkomme McCoys Pitcairn, Mangareva, Moerenhout, Hao — keine der Poumontu-Inseln konnte bisher angelaufen werden. Die Mannschaft der Pyrenees ist in Aufregung, denn seit Wochen brennt die Fracht ihres Schoners; eine Explosion ist jeden Augenblick möglich. Zwar hatte der alte McCoy, oberster Beamter der Insel Pitcairn, versprochen, das Schiff schnell und sicher in eine Lagune zu bringen, doch bisher ist ihm das nicht geglückt. Liegt es wirklich nur an den Untiefen und Strömungen oder plant der Alte ein Verbrechen — er, der Enkel des berüchtigten „Bounty"-Meuterers McCoy?
Der Sohn des
html Manoxv Der Sohn des Direkte
Erzählung von Emil Manow
Aus dem Bulgarischen. Illustriert. 248 Seiten. Pappband 5,80 M
Der einundzwanzigjährige Peter hätte nach dem Armeedienst die Prüfungen in der Schule nachholen, das Abitur machen und studieren können. Aber zum Lernen hat er keine rechte Lust mehr, er will nicht mit „Kindern" die Schulbank drücken. In der Fabrik seines Vaters möchte er auch nicht wieder arbeiten, denn als Sohn des Direktors bleibt er immer Außenseiter. Schließlich geht er am Hauptbahnhof Pakete schleppen. Die Begegnungen mit den verschiedensten Menschen, Erfolge und Mißerfolge in der Arbeit lassen Peter sicherer werden und geben ihm Anlaß, ernsthaft über seine Zukunft nachzudenken.
Verlag Neues Leben Berlin