Geisterfänger Band 11 Der Lord verlor im teuflischen Spiel von Phyllis Cocker ... und der Mörder schlug nach Hunderten ...
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Geisterfänger Band 11 Der Lord verlor im teuflischen Spiel von Phyllis Cocker ... und der Mörder schlug nach Hunderten von Jahren zu.
Ein merkwürdiges Land, das Land meiner Väter, dachte Edgar Mul-
lingbrook. Bei strahlendem Sonnenschein war er in Edingburgh weggefahren, jetzt goss es in Strömen. Eine graue Wolkendecke schien die grünen Hügel erdrücken zu wollen. Und nirgendwo ein Mensch, den er nach dem Weg fragen konnte. Als kleiner Junge war er mit seinem Großvater einmal hier gewesen, aber die Eindrücke von damals, die haften geblieben waren, halfen ihm überhaupt nicht weiter. So erinnerte er sich genau an einen Schäfer mit einer Hakennase, brandroten Haaren und hellgrauem Umhang, der auf einen gekrümmten Stab gestützt am Straßenrand gestanden hatte, als sein Großvater ausrief: »Siehst du den fünfzackigen Hügelkamm da vorn? Wir sind gleich dort.« Zwei Schwäne auf einem Dorfteich tauchten in seiner Erinnerung auf, Ruderboote, die über irgendeinen See zogen, aber nichts Wichtiges, das ihm jetzt hätte weiterhelfen können. Und obwohl er die Richtung eingeschlagen hatte, kam es ihm wie ein Wunder vor, als der fünfzackige Hügelkamm plötzlich von Sonnenstrahlen vergoldet unter der aufreißenden Wolkendecke dalag, einem Drachenrücken ähnlich. Was war damals weiter geschehen? Vergeblich zermaterte Edgar Mullingbrook sein Gehirn, während er der schmalen Straße weiter folgte, die um den Zackenkamm herumführte. Und dann sah er es - Culver Castle, das Gemäuer, das ihm damals viel eindrucksvoller erschienen war. Es schien geschrumpft zu sein. Oder lag es daran, dass er gewachsen war? Vielleicht auch hatte ihm die Erinnerung ein imposanteres Bild vorgegaukelt. Culver Castle war mehr ein Schlösschen als eine respektgebietende Burg, ein quadratischer Bau mit vier kurzen Türmen, ohne architektonische Schönheit, lieblos in die Landschaft gesetzt. Mullingbrook fragte sich, aus welcher Perspektive die Fotografen es aufgenommen haben mochten, um auf ihren Bildern jene majestätische Größe vorzutäuschen, die nicht vorhanden war. Seine Enttäuschung nahm ab, je mehr er sich dem Bauwerk näherte und wahr4
nehmen konnte, dass über dem Parterre noch drei Stockwerke lagen, deren oberstes von einem Zinnenkranz gekrönt wurde. Doch nicht so übel, sagte er sich, parkte zwischen Beeten, auf denen violette Pompon-Dahlien und hellgelbe Gladiolen blühten und stieg aus. Trotzdem beschloss er, sich vorläufig nicht zu erkennen zu geben. »Ich fürchte, ich bin vorn Weg abgekommen«, sagte Edgar zu dem Mann von Mitte Vierzig mit blondem schütterem Haar, der ihm das reich geschnitzte Portal öffnete. »Dies ist sicher privater Besitz und ich werde wohl kaum eine Tasse Tee erstehen können.« Gordon Slide musterte den Besucher kritisch, aber mit ausdruckslosem Gesicht, das eher verbindlich als misstrauisch wirkte. Dann nickte er lächelnd. »Erstehen nicht, aber ich serviere Ihnen gern eine Tasse, bevor ich Ihnen den Weg erkläre. Wo, sagten Sie, wollten Sie hin?« Mullingbrook wich der Frage aus. Er trat höflich ein und strich sich über sein kurzes dunkelbraunes Haar, das glatt am Kopf anlag. »Mein Name ist Brook, ich bin Amerikaner«, stellte er sich vor und der Blonde nickte. »Ihr Akzent verrät Sie.« Er komplimentierte Mullingbrook zu einem Sessel vor dem Kamin, ging zu einem gestickten Band, das von der Decke herab an einer Wand hing und zog daran. »Aber Sie wollen von mir sicher nicht den Rückweg nach Amerika wissen?« Mit feiner Ironie kam Slide auf seine vorherige Frage zurück. Ein Mädchen erschien in einer der Türen und der Blonde sagte: »Tee und Biskuits, Leontine! Wir haben einen Besucher.« Die Kleine, die ihren rosa Pullover prall ausfüllte, zögerte an der Tür. »Soll ich den Herrschaften Bescheid sagen, Mr. Slide?« »Das wird kaum nötig sein, Leontine. Dieser Herr ist lediglich vom Wege abgekommen.« Leontine wollte die Halle gerade verlassen, da öffnete sich eine andere Tür und eine zierliche Frau mit schulterlangem schwarzem Haar und glänzenden dunklen Augen trat ein. Sie trug ein nachtblaues Kleid mit Ornamenten, die silbernen Halbmonden ähnelten und die schwere Seide rauschte leise, als sie auf Mullingbrook zukam. 5
»Wen will man mir da vorenthalten?«, fragte die Frau in dem bodenlangen Kleid, unter dem silberne Abendschuhe hervorlugten, als sie sich Mullingbrook gegenübersetzte. Er war sofort bei ihrem Eintreten aufgestanden und verbeugte sich jetzt etwas steif, wie es seine Art war. »Frederic Brook ist mein Name. Es tut mir leid, dass ich hier hereingeschneit bin, Madam. Ich bin amerikanischer Tourist, habe einen Wagen gemietet, um ein bisschen umherzufahren und wollte zum Abendessen in Edinburgh sein. Aber daraus wird nun wohl nichts.« Sie lachte hellauf. »Ich bin Hazel Osborne, Herrin auf Culver Castle, Besitzerin einiger Weiden und vierbeiniger Schafe, ein paar zweibeinige arbeiten mehr oder minder gegen teure Bezahlung für mich.« Sie winkte dem Blonden und dem Mädchen zu und die Brillantringe an ihren kleinen Fingern blitzten. »Ihr könnt gehen und etwas zu trinken holen. - Wie wär's, wenn Sie heute Nacht hier blieben, Mr. Brook?« So einfach hatte er es sich nicht vorgestellt. Zunächst spielte er Unentschlossenheit, ließ sich endlich aber doch überreden. Sie kippte ihren Brandy hinunter wie ein Mann, hatte drei davon getrunken, als sie die Halle verließ, um sich fürs Abendessen umzuziehen. Inzwischen hatte Mullingbrook erfahren, dass Gordon Slide nicht nur die rechte, sondern auch der Kopf von Mrs. Osborne war, wie sie versicherte, er war also so eine Art Verwalter auf dem Schloss. Offenbar rechnete sie ihn nicht zu den zweibeinigen Schafen, die für sie arbeiteten. Das Zimmer, in das ihn Slide führte, hatte nichts Hochherrschaftliches an sich und hatte in einem drittklassigen Gasthaus nicht schäbiger möbliert sein können. Bett, Tisch und Schrank aus hellem Fichtenholz waren sicher billig gewesen und offenbar kaum benutzt worden. Mullingbrook warf einen Blick aus dem Fenster, sah den Drachenbuckel schwarz in den Abendhimmel ragen und erinnerte sich an die Geschichte vom alten Henry, die ihm sein Großvater damals in einem dieser Zimmer erzählt hatte. Die Nacht danach war nicht nur für das Kind unruhig gewesen. Großvater Mullingbrook hatte geschworen 6
und das unter Flüchen - dem ›dummen Bengel‹ nie mehr Gespenstergeschichten zu erzählen. Als die Dünste aus den Wiesen stiegen, fühlte sich Edgar in seine Kindheit zurückversetzt. Barfuss hatte er hinabgeschaut auf den Drachenbuckel und geglaubt, dass jetzt der Geist käme, um seine Seele zu holen. Eiskalt war ihm dabei geworden und er hatte sich allen Ernstes eingebildet, von den Füßen herauf zu versteinern. Kopfschüttelnd schloss er das Fenster und ging zum Waschbecken, um sich für das Abendessen zurechtzumachen. * Der Speisesaal hatte - ganz im Gegensatz zu Mullingbrooks Zimmer Museumscharakter. Hier trogen die Fotos nicht, die ihm der Makler geschickt hatte. Rings an den Wänden standen Ritterrüstungen, so klein, dass so mancher zurzeit lebende Zwölfjährige Mühe gehabt hätte, sie anzulegen. Die Tafel war mit schwerem Silber und altem Porzellan auf Brokatdamast gedeckt und wirkte noch riesiger, weil die winzige Hazel, die am oberen Ende den Ehrenplatz einnahm, fast in ihrem hohen Stuhl verschwand. Rechts von ihr saß ein junger Mann mit feinen, fast mädchenhaften Zügen. Da Mullingbrook wusste, dass Mrs. Osborne Witwe und kinderlos war, fragte er sich, in welchem Verhältnis der Junge zu ihr stünde, der ihm von Slide als Bertram Rulan, Student, vorgestellt worden war. Den Platz zur Linken von Mrs. Osborne wies Slide mit einer höflichen Verbeugung Mullingbrook an und setzte sich dann neben ihm. Ein junger Diener mit abstehenden Ohren servierte und Mrs. Osborne nippte von allem nur, außer von den alkoholischen Getränken, denen sie herzhaft zusprach. »So, Sie haben sich also verirrt, Mr. Brook?« Grinste Rulan wirklich unverschämt? Oder bildete sich Mullingbrook das nur ein, weil er eine Lüge aufgetischt hatte? 7
»Und dabei heißt es immer, hier bei uns wäre die Beschilderung perfekt. Na ja, der Linksverkehr wird Ihnen zu schaffen machen. Ich würde mir in New York glatt den Schädel einrennen«, sagte der Junge. »Und niemand würde dir eine Träne nachweinen«, stichelte Hazel lächelnd, wobei ihre Zähne mit der dreireihigen Perlenkette um die Wette schimmerten, die der einzige Schmuck ihres hochgeschlossenen schwarzen Samtabendkleides war. »Ist sie nicht süß?«, fragte der Junge, der zu Mullingbrooks Erstaunen keineswegs verletzt zu sein schien. »Passen Sie nur auf, Mister, dass Sie hier nicht hängen bleiben! Ich habe mich zwar nicht hierher verirrt, sondern kam, um die Reinheit des Baustils von Culver Castle zu studieren. Dann interessierten mich andere Sehenswürdigkeiten und so bin ich noch immer da. Seit zwei Jahren zappele ich in der Falle.« »Von mir aus kannst du noch heute abdampfen, Berty. Die Briefe deiner Mama zerreißen mir sowieso das Herz.« »Wem willst du einreden, du hättest ein Herz, Hazel?« Der Junge sah sie mit leerem Blick an und wandte dann den Kopf, um Mullingbrook forschend zu mustern. »Sie müssen einen gravierenden Eindruck auf Hazel gemacht haben, da sie mich jetzt loswerden will.« Slide räusperte sich hinter vorgehaltener Serviette, Hazel kippte ihren dunkelroten Port hinunter, als wäre er Wasser und tadelte den Jungen: »Du bist ja betrunken.« »Du hast's nötig!«, rief er und kicherte. »Bisher haben Ma's Briefe sie nicht gestört«, erklärte er dann. »Sie nennt sie olle Kuh, obgleich Ma nur zwei Jahre älter ist als Hazel.« »Das genügt. Du wirst packen. Berty«, säuselte Hazel und ihre dunklen Augen funkelten. »Slide Sie veranlassen das Nötige.« »Im Leben nicht! Du brauchst mich, Hazel und ich fühle mich hier wohl. Mr. Brook würde es ohnehin nicht bei dir aushalten. Amerikaner sind die Einsamkeit nicht gewöhnt. Und der Geist, der deine Liebhaber umgebracht hat, würde ihn rascher vertreiben als der Habicht ein Kaninchen. Oder sind Sie absolut geisterfest, Mr. Brook?« 8
»Es steht nicht zur Debatte, ob Mr. Brook bleibt oder geht. Ich selbst werde bald nach Locker House jenseits des Drachenbuckels übersiedeln.« Bertram presste seinen Weinkelch so fest zwischen seinen Händen, dass er ihn zerbrach und dunkelroter Port, vermischt mit seinem Blut, auf die Tischdecke floss. »Wie ungeschickt, Darling.« Gelassen schüttelte Hazel den Kopf, schnippte dem jungen Diener und verlangte, dass man Bertys Hand verbinde. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«, fragte Bertram weinerlich. »Es bestand kein Anlass. Es ist rechtzeitig genug und du hast deine Stunden hier bis zuletzt genossen. Du sagtest selbst, du fühltest dich hier wohl. Ich wollte dir die letzten Tage nicht verderben.« »Und in diesem - wie heißt es? - Locker House, ist kein Platz für mich?« »Leider, Berty, wird mein Mann es nicht erlauben, dass ich mir einen Liebhaber halte.« »Dein - Mann? Ich dachte, du wärest...« »Witwe bin ich war im Augenblick noch. Aber ich werde heiraten.« Sie tätschelte seine unverletzte Hand. »Und dafür kommt natürlich kein vierundzwanzigjähriger Junge in Frage, dessen Mutter nur zwei Jahre älter ist als ich.« »Du hast mir meine Indiskretion doch nicht übel genommen. Hazel? Es kann dir letztlich gleichgültig sein, ob Mr. Brook weiß, wie alt du bist.« »Natürlich, Berty-Darling. Und nun beenden wir die Familiengespräche und reden von amüsanteren Dingen. Erzählen Sie mir von Amerika, Mr. Brook!« »Tja, ähm, womit soll ich da anfangen?« * Edgar Mullingbrook erwachte von einem grässlichen Schrei und ihm war, als gellte er noch in seinen Ohren, als er zum Fenster lief. Hörte 9
er den Nachhall aus seinen Träumen, oder hatte wirklich jemand wie in Todesangst geschrieen? Der Drachenbuckel lag als finsterer schwarzer Streifen inmitten wallender Dünste da, die vom Mondlicht fahlweiß gefärbt wurden. Wieder war er barfuss aus dem Bett gesprungen, so wie damals als Junge. Und wieder stieg eisige Kälte in ihm auf. Der geliehene Schlafanzug, der ihm einige Nummern zu groß war, schlotterte um seinen Körper. Er tastete sich zurück zum Bett, hob die Decke an, um sich wieder hinzulegen und blieb wie erstarrt stehen. Da war es wieder. Ein gequälter Schrei, so grässlich, wie ihn Wesen nur ausstießen, wenn sie Todesangst empfanden. Ich bin kein Held, sagte er sich. Niemand kann von mir verlangen,
dass ich der Sache auf den Grund gehe. Es sind genügend Leute im Haus, die schon länger hier wohnen und die Ursache der Schreie kennen.
Vielleicht gab es hier Wildkatzen, die solche Laute ausstießen? Er bezweifelte es. Er kroch ins noch warme Bett und fühlte mit der Hand auf dem Boden nach den geliehenen Filzpantoffeln. Eben hatte er den einen zu fassen bekommen, da zog er erschrocken die Hand zurück und verschwand bis zum Kinn unter der Decke. Draußen auf dem Flur näherten sich tapsende Schritte. Ein metallisches Klirren begleitete sie. Durch die Türritzen schimmerte gelbliches Licht, wurde heller, verblasste, erlosch. Mullingbrooks Zähne schlugen aufeinander. Er wusste nicht, wie lange er so dasaß, glaubte, sich geirrt zu haben, wenn Ruhe herrschte und zuckte zusammen, wenn das Geschrei erneut durchs Haus schallte. Warum kümmert sich bloß niemand um mich?, fragte er sich verzweifelt. Die wissen doch, dass ich hier bin, ein Fremder, der sich kei-
nen Vers auf diese grauenhaften Töne machen kann, noch dazu ein Amerikaner, der mit Geistern keinerlei Erfahrung hat.
Dieser junge Mann - Berty Rulan hatte Edgars Phantasie erst richtig angeregt. Von einem Geist, der Liebhaber vergiftete, hatte Mul10
lingbrooks Großvater nichts erzählt. Und dass hier ein neues Gespenst Einzug gehalten hatte, war wohl kaum anzunehmen. Lange Zeit hatte er die grässlichen Schreie nicht mehr gehört. Er entspannte sich allmählich, atmete ruhiger, drehte sich auf die Seite, zog aber die Decke über die Schultern bis zum Ohrläppchen. Und dann - ohne Vorwarnung - flog die Tür auf. Eine weiße Gestalt näherte sich, leise schluchzend und eine Stimme flüsterte: »Hilf mir, Frederic!« Himmel, dachte er, in was bin ich da hineingeraten? Bebend fühlte er, wie sich zwei Arme um ihn schlangen. Es waren aber keine kalten Knochen einer aus dem Grab gestiegenen Ahnfrau, sondern weiche warme Glieder. Und er roch auch kernen Moderdunst, sondern vielmehr ein höchst angenehm duftendes Parfüm das ihm schon beim Abendessen und später im Rauchsalon in die Nase gestiegen war - das Parfüm der Schlossherrin Hazel Osborne. »Sind Sie es, Mrs. Osborne?«, fragte er und war sich der Lächerlichkeit der Situation durchaus bewusst. Inzwischen hatte er sich aufgerichtet, saß im Bett und sie hing - noch immer schluchzenden seinem Hals. »Wer sonst? Dachten Sie, ich wäre ein Gespenst?« Sie knipste die Nachttischlampe an und jetzt sah er, dass sie ein fließendes weißes Neglige trug, durch das gebräunte Haut schimmerte. Tränen schien sie nicht vergossen zu haben, denn ihre Wimpern waren ebenso trocken wie ihr dezent geschminktes Gesicht. »Was ist denn geschehen? Wieso kommen Sie zu mir? Wie kann ich Ihnen helfen? Weshalb sind Sie erschüttert?« Sie sah ihn an und seufzte. »Er ist tot«, sagte sie dann und ihre dunklen Augen starrten wie erloschen. »Tot? Der Mensch, der so fürchterlich geschrieen hat?« »Sie haben es gehört?« »Das muss doch jeder hier gehört haben.« »Nein, die Wände sind sehr dick und außer Ihnen schläft niemand hier im ersten Stock.« »Wieso sind Sie dann hier?« 11
»Ich wollte ihn trösten. Damit nicht wieder so etwas Schreckliches geschieht wie schon so oft davor.« »Ich verstehe überhaupt nichts. Wer ist tot?« »Berty.« Wieder schluchzte sie, ohne eine Träne hervorzubringen, was sie durch ständiges Betupfen ihres Gesichtes mit den Ärmeln des weißen Morgenmantels zu vertuschen suchte. »Sie werden es nicht glauben, dass ich trotz meiner dreißig Jahre noch eine große Anziehungskraft auf Männer ausübe. Besonders auf junge.« Erstens bist du älter und zweitens wird es umgekehrt sein, dachte Mullingbrook. Aber er widersprach höflich: »Ich bitte Sie. Sie wirken allenfalls wie neunundzwanzig und die jungen Männer heutzutage sind oft weich und suchen energische Frauen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie ein paar Jahre älter sind, noch dazu, wenn man es nicht sieht.« »Ja, ich habe mich immer gepflegt«, hauchte sie, sah auf ihre brillant geschmückten Hände und blinzelte schüchtern wie ein Teenager. Eine Hollywood-Diva könnte es nicht rührender darstellen, dachte Mullingbrook. Süß, aber verdammt unecht. »Und weil ich liier so allein und verzweifelt war nach dem Tod meines Mannes, habe ich mich eben mit denen angefreundet, die zufällig meinen Weg kreuzten. Aber es waren nie Verhältnisse, die von Dauer hätten sein können. Man sucht ja auch das Geistige in einem Mann und auch eine energische Frau will sich anlehnen können. Na ja, ich habe dann versucht, diesen Männern taktvoll klarzumachen, dass sie wieder abreisen sollen, wie heute Berty. Sie waren dabei. Und Sie sahen, wie er reagierte. Das Schreckliche, was früher geschah, sollte sich bei ihm nicht wiederholen.« Mullingbrook fragte sich, ob es einen Zusammenhang gäbe zwischen der Bemerkung Bertys über vom Geist vergiftete Liebhaber und diesem Schrecklichen, das sie bisher nicht näher benannt hatte. Sie tat es im nächsten Augenblick. »Sie haben sich das Leben genommen. So sehr waren sie von mir abhängig geworden. Es hat mich ungeheuer niedergeschmettert. Nicht, dass ich ihnen nachgetrauert hätte. Immer war ich die Gebende. Die Liebe war einseitig. Ich habe 12
mich allenfalls ein wenig verliebt und in der Gesellschaft die Einsamkeit vergessen wollen. Aber es erschüttert einen doch, wenn man indirekt schuld ist am Tod eines Menschen.« Mullingbrook nickte und räusperte sich. »Und da kamen Sie die Treppe herauf, um Bertrams Selbstmord zu verhindern?« »Ja und da fand ich ihn.« »Sie kamen zu spät. Er hatte es schon getan?« Hazel Osborne schwieg. »Das verstehe ich nicht. Ich habe diese Schreie gehört. Das klang nicht nach Verzweiflung aus Liebeskummer. Es war eher so, als würde jemand körperlichen Qualen ausgesetzt. So schreit niemand, der sich umbringen will, weil ihm eine Frau den Laufpass gegeben hat. So schreit allenfalls jemand im Alptraum oder ein Geistesgestörter während des Anfalls.« Sie riss die Lider auf, atmete schwer, knetete ihre kleinen Hände, dass die Knöchelgelenke knackten und Mullingbrook fragte sich, ob das nun echt oder gespielt sei. Bei ihren nächsten Worten wurde ihm klar, dass sie wirklich Angst hatte. »Er hat es nicht selbst getan«, flüstert sie und ließ den Mund offen, als fiele es ihr schwer, Luft zu holen. »Er hat es nicht... Soll das heißen, jemand...?« Mullingbrook sprang aus dem Bett. Dabei stieß er sie heftig zur Seite, ohne es zu bemerken. Mechanisch ordnete sie ihr Haar. »Ihr Verhalten ist kränkend. Haben Sie überhaupt kein Mitleid? Ich komme schutzflehend zu Ihnen und Sie stoßen mich weg.« »Holen Sie das Personal! Bei Mord hört der Spaß auf«, sagte er hart. »Ich bin nicht gewillt, allein zu dem Toten zu gehen - oder mit Ihnen. Sie haben ihn gefunden, also haben Sie sicher Spuren am Tatort hinterlassen. Wenn es stimmt, dass außer mir keiner auf dieser Etage schläft, bin ich der zweite Verdächtige. Ich muss auf der Hut sein.« »Für einen kleinen Angestellten einer Kartonagenfabrik entwickeln Sie erstaunlich viel Grips«, meinte sie misstrauisch. 13
»Kleine Angestellte sind nicht zwangsläufig bescheuert«, konterte er. Eine weitere Aufklärung hielt er im Augenblick nicht für nützlich. »Nun gehen Sie bitte! Ich möchte mich anziehen. Wenn Sie Slide nicht wecken wollen, besorge ich das selbst.« Sie schritt wie die Miniaturausgabe einer Schlossherrin zur Tür. »Ich füge mich, da Ihre Anweisungen zweckmäßig sind. Aber ich gestehe offen, dass ich bereue, Sie hier beherbergt zu haben. Wer weiß, vielleicht sind Sie tatsächlich Bertys Mörder? Wir kennen Sie nur aus Ihren spärlichen Erzählungen. Jetzt wird mir erst klar, in welch grässliche Gefahr ich mich begab, als ich in Ihr Zimmer kam.« Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss und Edgar Mullingbrook fluchte leise. * Hazel Osborne, die ihr Personal mit viel Willkür beherrschte, ordnete an, dass Jack und Leontine sie in den Salon begleiteten, während Slide und Frederic Brook sich den Toten ansehen sollten, um festzustellen, ob ein Arzt ihm noch helfen könne. »Mir sagten Sie, er sei tot«, rief Mullingbrook der Witwe ins Gedächtnis. »Allerdings. Das war mein Eindruck, Mr. Brook. Aber ich habe nur von der Tür aus nach ihm gesehen, bin nicht hingelaufen, ihm den Puls zu fühlen, oder was man sonst noch in diesen Fällen tut.« »Obgleich Sie sich doch mittlerweile an den Anblick von Leichen gewöhnt haben sollten, Mrs. Osborne, wenn mir die Bemerkung gestattet ist«, murmelte Slide und empfing dafür einen verächtlichen Blick aus dunkelbraunen Augen. »Die Bemerkung ist nicht nur taktlos und frech, sie ist auch unpassend, Slide. Ich ekele mich vor Blut und wollte nicht riskieren, vor dem Bett eines Toten oder Sterbenden in Ohnmacht zu fallen.« »Ach, diesmal ist Blut geflossen?«, fragte Slide verdutzt. Offensichtlich war er aus dem ersten Schlaf gerissen worden. Seine Lider waren dick angeschwollen, die Augen blickten dümmlich und auf der Wange sah man noch das Muster seines Kopfkissens abgedrückt. Ob 14
er in hellwachem Zustand seine Chefin auch derartig blamiert hätte vor Personal und einem Fremden? Mullingbrook bezweifelte es. Die fünf trennten sich. Mullingbrook folgte Slide in den ersten Stock zu Bertram Kulans Zimmer, das am Ende des Flures lag, wie er jetzt sah. Bevor Slide die Klinke berühren konnte, hielt ihn Mullingbrook am Oberarm fest. »Sie sollten nichts anfassen. Wenn ein Mord verübt worden ist, sind wir alle verdächtig.« Slide nahm ein blütenweißes Taschentuch aus seinem braunen Bademantel und drückte damit die Klinke herunter. »Die Polizei wird sich wieder auf Mrs. Osborne konzentrieren«, sagte er und öffnete die Tür. Von der Schwelle aus sahen sie zum Bett. Selbst auf diese Entfernung erkannten sie, dass kein Arzt Bertram Rulan retten konnte. Aus einer klaffenden Kopfwunde war eine Menge Blut geflossen, bedeckte Gesicht und Kopfkissen und sogar am hellen Fichtenholz des Bettes waren Spritzer zu sehen. Slide schaute Mullingbrook an und der schüttelte den Kopf. »Wir brauchen nicht hineinzugehen«, sagte Gordon Slide, er war grün im Gesicht. »Nein. Wir würden allenfalls wichtige Spuren verwischen. Haben Sie eine Ahnung, welches Morddezernat hier zuständig ist?« »Leider.« Slide schloss die Tür, wie zuvor mit dem Taschentuch die Klinke anfassend. »Ich kenne die Nummer bereits auswendig.« Sie gingen zur Treppe. »Mrs. Osborne machte Andeutungen, dass sich einige Liebhaber von ihr das Leben genommen hätten.« Mullingbrook wartete auf eine Erklärung, aber Slide schwieg. Offenbar hatte ihn der Anblick des Toten schlagartig aus dem Zustand der Benommenheit gerissen und jetzt war er nicht mehr bereit, seiner Chefin zu schaden. Mullingbrook blieb bei ihm stehen, während er mit Inspektor McDonald telefonierte. Er wollte wissen, was Mrs. Osbornes rechte Hand der Polizei sagte. Der Beamte brüllte so, dass ihn auch Mullingbrook 15
verstehen konnte, weil Slide mit schmerzhafter Grimasse den Hörer vom Ohr weg hielt. »Schon wieder ein Toter in Culver Castle? Jetzt reicht es mir aber! Diesmal kommt sie mir nicht aus Mangel an Beweisen davon! Am Tatort nichts verändern - und so weiter, alles wie gehabt, Slide! Ich verlasse mich auf Sie.« Nachdem Gordon Slide eingehängt hatte, bat Mullingbrook: »Nun sagen Sie mir wenigstens, wie viele Tote es hier schon gegeben hat!« Diplomatisch wich Slide aus. »Das entzieht sich meiner Kenntnis. Das Schloss ist alt und hat oft den Besitzer gewechselt. Hier mögen Dutzende oder Hundert gestorben sein. Wenn man die Geschichte zurückverfolgt, stößt man immer wieder auf Gewalttaten.« »Ich spreche nicht von der Geschichte des Schlosses, sondern von Mrs. Osbornes Geschichten. Wie viele ihrer Liebhaber starben hier?« »Drei«, antwortete Slide trocken und schürzte die Lippen. »Und jedes mal war es ein unnatürlicher Tod?« »Bedauerlicherweise, ja.« »Und Mrs. Osborne geriet dreimal in Verdacht?« Slide seufzte, zuckte die Achseln und murmelte: »So ist es.« Er wandte sich ab. »Wir gehen lieber in den Salon. Jack wird es kaum gelingen, zwei weibliche Wesen in dieser Situation zu beruhigen. Er ist selbst ein Hasenfuß.« Hazel klammerte sich an ihr Brandyglas und ihre dunklen Augen schimmerten feucht. Aber es waren nicht Tränen der Rührung, sondern Alkohol und Rauch, die das bewirkten. Mullingbrook nahm in einer weit entfernten Ecke des Salons Platz und musterte sie, während Slide ihm seinen Brandy eingoss. Wie konnte ich sie anfangs nur für schön oder interessant halten, wunderte er sich. Sie hat Mäuseaugen, klein, wie alles an ihr, flink und gierig. »Mit Ihrer Erlaubnis, Madam schenke ich auch Leontine und Jack ein Gläschen ein«, sagte Slide zu der Witwe, nachdem er Mullingbrook ein Glas gebracht hatte. »Selbstverständlich, Gordon. Wir halten alles wie beim letzten Mal, ich möchte sagen, wie jedes mal zuvor.« Ihr Lächeln war hintergründig. 16
Kann sie in solch einer Lage spotten?, fragte sich Mullingbrook. In
diesem Augenblick fiel sein Blick auf den Spiegel hinter der Hausbar und er sah sein Gesicht mit einem schiefen Lächeln. Ich wirke auch nicht gerade wie ein von Trauer Betroffener, tadelte er sich und blickte von nun an ernst drein. »Sie müssen mich für kalt und herzlos halten, Mr. Brook. Aber was soll ich tun? Ich weiß, was mir nun blüht. Verhöre, vielleicht Untersuchungshaft, obwohl dieser Mord ja wohl mit einer Kraft ausgeführt worden ist, die man mir nicht zutrauen dürfte. Später muss man mich dann aus Mangel an Beweisen freilassen. Ich hoffe es jedenfalls, so war es bisher. Und dabei bin ich völlig schuldlos. Das, was Sie für Gefühlskälte halten, ist Selbstbeherrschung und Sammlung, denn es wird hart für mich werden und ich werde mich verteidigen müssen. Hysterie nützt mir überhaupt nichts. Der Inspektor ist clever, bärbeißig, weiblichen Reizen durchaus abholt. Außerdem hat er eine Wut auf mich, weil er annimmt - irrtümlich, darf ich betonen - ich schlüpfte immer wieder durch die Maschen des Gesetzes. Außerdem koste ich ihn seine Nachtruhe. Nun zum vierten Mal bereits.« * »Würden Sie sich bitte ausweisen, Mr. Brook?«, fragte McDonald, der den Amerikaner an jenen rothaarigen Schäfer erinnerte, der einst wie ein Wegweiser in der Nähe des Drachenbuckels gestanden hatte. Aber es war kaum anzunehmen, dass McDonald auch nur entfernt verwandt war mit dem Hirten, denn rote Haare und kühne Nasen gab es hier in Schottland wie Heidekraut und scharfe Felsen am Meer. »Dürfte ich Sie unter vier Augen sprechen?« McDonald blickte grimmig drein, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er war klein, sehnig und sicher ein ebenso guter Jäger wie die Scotchterrier, mit denen ihn Mullingbrook unwillkürlich verglich. Draußen in der Halle zeigte er dem Inspektor seinen Pass. »Sie haben sich also unter falschem Namen hier eingeschlichen und die Witwe auch über den Zweck Ihres Hier seins getäuscht?« 17
»Ja«, antwortete Mullingbrook knapp. »Ich wollte mir das Schloss erst mal ansehen, das ich - eventuell - kaufen werde. Wäre ich gleich als Käufer aufgetreten, hätten sie bestimmt versucht, mich zu überreden und das kann sehr lästig sein.« Der Inspektor zeigte spitze weiße Zähne. »Außerdem hört ein verirrter Tourist vielleicht etwas über Mängel des Kaufobjekts, womit er später den Preis drücken kann. Sie sind sicher ein guter Geschäftsmann und haben es nicht von ungefähr zu Vermögen gebracht.« »Dieses Lob verdiene ich nicht. Die Kartonagenfabrik wurde von meinem Urgroßvater errichtet und mit dem Schweiß meiner Großeltern und Eltern zur heutigen Blüte gebracht.« »Das haben Sie schön gesagt. Ein Angeber sind Sie jedenfalls nicht.« »Und ein Mörder auch nicht. Sie können jetzt ruhig Ihr Notizbuch hervorkramen und sich aufschreiben, dass mir jegliches Motiv dazu fehlt. Was geht mich der Liebhaber der Schlossbesitzerin an? Wenn es Mrs. Osborne erwischt hätte, sähe es anders aus.« »Für mich auch«, warf McDonald grimmig ein. »Dann brauchte ich für den Rest meiner Dienstjahre vielleicht nicht mehr in dieser Einöde zu jagen, was mich besonders ärgert, weil es jedes mal mitten in der Nacht ist. Glauben Sie, meine Vorgesetzten ließen mich dafür einen Tag - oder auch nur einen halben – frei nehmen? Keineswegs. Ich muss meine Stunden abdienen, ob mir die Augen zufallen oder nicht. Und das kann in meinem Beruf ein Schließen der Augen für immer bedeuten.« »Jetzt übertreiben Sie aber. Was kann ein Inspektor in Edinburgh zu fürchten haben?« »Ihr Amerikaner denkt, ihr hättet alles gepachtet, sogar die Gangster.« Seufzend wandte er sich um. »Kleiner als in New York ist das kriminelle Unwesen bei uns allerdings. Aber sehen Sie sich die clevere Mrs. Osborne an! Dieses junge Bürschchen war der vierte, der in ihrem Dunstkreis auf unnatürliche Weise starb - abgesehen von Mr. Osborne, ihrem Ehemann.« Darauf ging er zurück in den Salon, wo Leontine, vom ungewohnten Alkoholgenuss eingeschläfert, im Sessel leise schnarchte. 18
»Nehmen Sie sich wie üblich erst das Personal vor, Inspektor, oder wollen Sie sich diese Prozedur ausnahmsweise ersparen?«, fragte Hazel, der man nun doch ihre genossenen Brandys anmerkte. Endlich!, dachte Mullingbrook, sonst wäre sie mir unmenschlich vorgekommen. »Warum sollte ich diesmal anders vorgehen? Nur weil es offensichtlich Mord ist im Gegensatz zu den bisherigen Todesfällen, die durchaus als Selbstmorde getarnt gewesen sein könnten?« »Eins muss man ihm bescheinigen«, sagte Hazel wie zu sich selbst. »Er ist hartnäckig und eigensinnig. Wenn er eine vorgefasste Meinung hat, hält er daran fest, so unsinnig sie auch sein mag.« Sie schritt wie eine ungekrönte Königin zur Tür. »Ich überlasse Ihnen das Feld und begebe mich in die Obhut eines Ihrer Schergen.« Sie rauschte hinaus und Mullingbrook sah, dass sie vor der Tür von einem dicken Konstabler in Empfang genommen wurde. Er grinste sie an wie eine gute alte Bekannte und schloss die Tür. »Gerade Sie müssten doch diesmal etwas gehört haben und mir berichten können«, begann McDonald das Verhör mit Jack. »Den Witz hat Mrs. Osborne auch schon gemacht«, berichtete der Diener traurig. »Aber dass meine Ohren abstehen, bedeutet keineswegs, dass ich damit auch besser hören kann.« McDonald, der mit auf den Rücken gelegten Händen auf und ab gegangen war, unterbrach seine Wanderung vor Jack, sah ihn an und ging dann kopfschüttelnd weiter. »Einen derart geschmacklosen Witz hätte ich nicht gemacht, Jack. Ich erinnere mich nur, dass Ihr Zimmer im zweiten Stock unmittelbar über dem Mordzimmer liegt. Und ich glaube zu wissen, dass Sie bei offenem Fenster schlafen.« »Ach so.« Der junge Mann lächelte erleichtert. »Ja, das ist richtig. Aber ich - ich kann nicht vor allen hier darüber sprechen.« Der Inspektor sah von Jack auf die noch immer leise schnarchende Leontine. Dann bat er Slide und Mullingbrook, hinauszugehen. Dabei nannte er den Amerikaner bei seinem richtigen Namen. In der Halle fragte Slide den Konstabler: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns unterhalten?« »Der Inspektor hat kein Redeverbot erlassen«, brummte der Beamte und klappte sein Comic-Heft zu, in dem er geblättert hatte. »Al19
so, schießen Sie ruhig los. Vielleicht wird es spannend. Kann man brauchen, wenn man so müde ist wie ich.« Slide machte die Andeutung einer Verbeugung in Hazels Richtung. »Ich muss Ihnen mitteilen, Madam, dass es sich bei unserem ›verirrten‹ Amerikaner um Mr. Mullingbrook handelt. So jedenfalls nannte ihn der Inspektor. Und da uns der Makler einen Edgar Mullingbrook ansagte - den Besitzer einer Kartonagenfabrik aus Amerika - wissen wir nun wohl, wen wir tatsächlich bei uns beherbergen.« »Den bösen, bösen Amerikaner, der unser schönes Schloss kaufen will?«, fragte sie mit Schmollmund und drohte Mullingbrook mit dem Zeigefinger. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich hätte Sie mit Pauken und Trompeten empfangen.« »Ich wollte Ihnen keine Umstände machen und mich in aller Ruhe unbeeinflusst entscheiden können, Mrs. Osborne.« »Und - haben Sie sich schon entschieden?« »Ich habe ja kaum etwas vom Schloss gesehen.« »Na, das werden Sie morgen - oder heute, es ist ja schon früh am Tage - an Südes Seite nachholen können und ganz und gar unbeeinflusst von mir. Denn wie ich unseren guten kleinen Bärbeiß kenne, lässt er mich in Ketten legen und nach Edingburgh bringen. Slide, sorgen Sie doch bitte dafür, dass am Tag meiner Entlassung aus der Haft ein Zimmer gemietet wird und ich dort große Abendgarderobe mit allem Zubehör vorfinde. Ich werde mich für die Verwahrung mit einem Besuch einer kulturellen Veranstaltung entschädigen. Vorausgesetzt, die Festspiele sind noch nicht vorbei, wenn man mich entlässt.« * Inspektor McDonald schnüffelte tatsächlich wie ein Terrier durchs Schloss und er forderte auch etwas für die Aufklärung des Mordfalles ungemein Wichtiges zutage - die Mordwaffe. Sie war so außergewöhnlich wie der Tatort, passte jedoch genau ins Milieu, wie Mullingbrook bei sich feststellte. Es schien, als betrachte McDonald den Amerikaner als einzigen unter den Zivilisten, dem er vertrauen konnte, denn er nahm ihn mit 20
ins Mordzimmer, nachdem die Männer von der Spurensicherung dort fertig waren und deutete auf die Ritterrüstung, die in der Ecke an der Fensterwand stand. »Betrachten Sie mal die linke Hand des Eisenmannes, ohne sie anzufassen. Was sehen Sie?« Mullingbrook bückte sich, richtete sich kopfschüttelnd wieder auf und zuckte die Schultern. »Nichts.« »Ihre Beobachtungsgabe ist miserabel.« Mullingbrook versuchte es noch einmal und nun entdeckte er an der Handkante braune Flecke. McDonald hatte seinen Blick gesehen und nickte lächelnd. Dann wies er stumm auf den Boden. Vom blutverschmierten und bespritzten Bett führte eine Tropfenspur zu der Rüstung. »Aber wer passt denn in so was rein?«, fragte Mullingbrook fassungslos. »Hier im Haus sind keine Kinder. Das heißt...« Er hielt sich die Hand vor den Mund und hüstelte. »Es wäre etwa Mrs. Osbornes Kragenweite, nicht wahr?« Der Amerikaner pfiff durch die Zähne. »Sie müssen das Personal fragen, ob diese Rüstung sonst auch hier ihren Platz hatte«, forderte er nun eifrig. »Ich habe doch dieses merkwürdige Tapsen und Klirren gehört. Es könnte sich so anhören, wenn jemand in einer Rüstung durch den Flur geht und sich Mühe gibt leise zu sein. Ich bin gern bereit, bei dieser Rekonstruktion zu helfen.« »So? Sind Sie das? Und Sie meinen, dann wären Sie aller Sorgen ledig, weil Sie nicht in diese Rüstung passen.« Jetzt war McDonalds Grinsen wölfisch. Er winkte Mullingbrook mit dem Zeigefinger, ihm zu folgen und rief die Beamten, die abwartend an der Tür gestanden hatten, zu: »So, meine Herren, jetzt können Sie hier alles einpacken.« McDonald ging voraus in den Speisesaal, trat vor eine der aufgestellten Rüstungen hin und entfernte mit wenigen Handgriffen einen Unterarm samt Hand, auf die er deutete. »Die Mordwaffe, ein Panzerhandschuh. Der Täter muss nicht zwangsläufig winzig gewesen sein. Er konnte die Tat mit einem Teil der Rüstung ausführen, Mr. Mullingbrook. Bringt Sie das in Harnisch?« 21
* Trotz der versteckten Verdächtigungen gegen Mullingbrook nahm McDonald Hazel Osborne im Morgengrauen mit nach Edinburgh. Die Witwe hatte den Amerikaner gebeten, sich in Culver Castle ›wie zu Hause‹ zu fühlen und ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben, dass er es bald zu seinem Zuhause machen würde. »Zu einem angemessenen Preis«, hatte sie augenzwinkernd hinzugefügt, was McDonald veranlasste, Mullingbrook beiseite zu nehmen, während der Konstabler mit Hazel zum Polizeiwagen ging. »Die versucht Sie einzuwickeln. Haben Sie das schon bemerkt? Sie hofft, Sie übers Ohr hauen zu können.« »Glaube ich nicht. Ich bin ihr sympathisch. Sie kam in mein Zimmer und warf sich an meinen Hals, als sie mich noch für einen kleinen Angestellten hielt.« »Sind Sie wirklich so naiv: Amerikaner verirren sich selten in diese Gegend. Und schon gar nicht zufällig zum selben Zeitpunkt, da ein Amerikaner offiziell angesagt ist. Außerdem haben Sie sich Brook genannt und behauptet, Sie arbeiteten in einer Kartonagenfabrik. Mann, Mullingbrook! Die Osborne ist so ausgekocht, mir immer wieder ein Schnippchen zu schlagen, da ist sie Ihnen schon lange gewachsen.« Mullingbrook sah auf den kleinen Kriminalisten hinab und gab sich Mühe, trotzdem Respekt in seinen Blick zu legen. »Verbindlichen Dank für das Kompliment und alles, was ich in den letzten Stunden lernen durfte.« Gordon Slide fragte den Gast, nachdem seine Chefin mit den Beamten fortgefahren war, ob er frühstücken wolle. »Ich glaube, es ist für uns alle viel zu früh nach der durchwachten Nacht. Ich lege mich jetzt erst mal aufs Ohr.« »Können Sie denn schlafen, obwohl ein Mörder hier herumschleicht?«, fragte Slide und Mullingbrook sah ihm an, dass er es ernst meinte. »Sie sind überzeugt, dass es Mrs. Osborne nicht war? Obwohl der Inspektor deutlich gemacht hat, dass mit einer solchen Eisenfaust als Mordwaffe nicht viel Kraft nötig ist, einen Schädel zu zertrümmern?« 22
»Mrs. Osborne hatte kein Motiv. Sie hatte Bertram Rulan gebeten, abzureisen. Damit war der Fall für sie erledigt.« »Hatte überhaupt jemand ein Motiv?« »Niemand, den wir kennen.« »Also glauben Sie, ein Einbrecher hätte ins Schloss eindringen können? Da klappern mir ja noch nachträglich die Zähne. Stellen Sie sich vor, der hätte mich erwischt.« »Vielleicht wollte er genau das, Mr. Mullingbrook und hat sich nur im Zimmer geirrt. Die Leute in der Gegend hier sind gar nicht dafür, dass Culver Castle in amerikanische Hand kommt.« »He, Freund, das klingt ja, als wären wir im Kriegszustand. Meine Vorfahren stammen aus Schottland. Der berühmte Henry Mullingbrook, der Culver Castle im fünfzehnten Jahrhundert erwarb, war mein Ur-Ahn.« »Das haben wir inzwischen in Erfahrung gebracht, ich in Mrs. Osbornes Auftrag. Aber auch Henry ist nicht beliebt. Man nennt ihn den Seelenlosen.« »Ist nicht beliebt? Guter Mann, er ist seit Hunderten von Jahren tot.« »Hoffentlich machen Sie nicht seine Bekanntschaft, Sir.« Slide verbeugte sich steif und ging nach oben. Auf der Treppe wandte er sich noch einmal um und sagte: »Wünsche wohl zu ruhen!« »Wenn Sie so weiterreden, verlange ich, dass jemand an meinem Bett sitzen bleibt und meine schwitzende Hand hält.« »Ich fürchte, dazu reicht unser Personal nicht aus, Sir. Es sei denn, Sie nehmen mit Mary Motterness vorlieb, die in der Küche hilft.« »Wenn sie aus der Gegend ist, weiß sie sicher, wie man einen vor Angst schlotternden Fremden vor Geistern schützt.« »Könnte sein, da sie auf achtzigjährige Erfahrung zurückblicken darf.« Zu Slides Erstaunen sagte Mullingbrook: »Ich nehme Sie beim Wort. Eine achtzigjährige Frau hat Tod und Teufel lange getrotzt. Und sie weiß mehr von Henry als die jungen Dinger.« »Sie hat uns noch mehr voraus, Sir. Mary glaubt an Henry.« 23
»Sie doch auch, Slide. Geben Sie es zu! Oder wollen Sie mir nur Angst einjagen? Aha! Sie möchten mich verscheuchen? Das Schloss wird ohnehin verkauft. Mrs. Osbornes Finanzen lassen es nicht zu, dass sie es behält. Ihnen kann es gleichgültig sein, wer es erwirbt. Sind Sie übrigens der Mann, den Hazel heiraten will?« Slide fasste das Treppengeländer wie halt suchend mit beiden Händen. »Eine lächerliche Idee.« »Möglicherweise haben Sie den Ritterhandschuh abmontiert und Rulan damit erschlagen, weil Sie sich für all die Nächte rächen wollten, in denen die von Ihnen geliebte Hazel das Bett mit ihm teilte?« »Wie absolut geschmacklos. Ein Schotte, ja sogar ein Brite, würde es nicht wagen, solche Vermutungen zu äußern.« »Aha, zu äußern. Bei sich anstellen schon eher, wie? Nichts für ungut, Slide. Ich wollte Sie nur warnen. Lassen Sie es sich nicht einfallen, mich anzurühren. Aus welchen Motiven auch immer. Der Inspektor würde sofort Sie am Kragen packen.« Slide warf Mullingbrook einen feindseligen Blick zu, wandte sich stumm ab und stieg die Treppe hinauf. Mullingbrook verschwand in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und starrte in den grauenden Morgen. Der Inspektor hatte ihn ausdrücklich vor Slide gewarnt und deshalb hatte es Mullingbrook für geraten gehalten, den Sekretär durch einen Schuss vor den Bug von Dummheiten abzuhalten. »Es wäre möglich, dass der Bursche einen Mordversuch vortäuscht«, hatte McDonald zu Mullingbrook gesagt, bevor er abgefahren war. »Als Befreiungstat für die Osborne. Wenn Slide so was plant, wären Sie das geeignetste Opfer für ihn. Mit Ihnen verbinden ihn keine freundschaftlichen Bande wie mit den übrigen Angestellten. Außerdem sind Sie ihm ein Dorn im Auge, weil sie Haus und Hof kaufen wollen, von denen die Osborne vertrieben wird.« Mullingbrook war ziemlich sicher, dass Slide nach diesem Gespräch keinen Anschlag auf ihn wagen würde, hatte aber sicherheitshalber seine Tür doppelt abgeriegelt und einen Stuhl unter die Klinke geschoben. 24
Trotzdem fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Ich bin eben durchaus kein Held, sagte er sich. * Gegen ein Uhr mittags servierte Slide höchstpersönlich ein opulentes Lunch und Mullingbrook rätselte herum, was daran wohl vom Breakfast stammen sollte, da alle Speisen Lunch-Charakter hatten. Auf seine Frage erklärte Slide - mit eisiger Höflichkeit, die fast beleidigend wirkte: »Hierzulande speisen Schlossherren schon zum Frühstück Fasanenbrüste und Räucherforellen, Pfannkuchen mit Marmelade, Hotdogs und Hamburger sind verpönt.« »Ich gönne es denen, die es sich leisten können. Warum setzen Sie sich nicht zu mir und halten mit? Es ist genug für uns beide«, sagte Mullingbrook gutmütig. »Sie wollen wohl kaum mit jemandem am Tisch sitzen, dem Sie einen Mord zutrauen. Und mir vergeht der Appetit in Gegenwart eines Mannes der mich verdächtigt, ein so ungeheuerliches Verbrechen auf dem Gewissen zu haben.« Mullingbrook lachte. »Ich war übernächtigt und gereizt, da quatscht man manchmal Blödsinn. Beim Rasieren fiel mir ein, dass Sie doch ruhig hier weitermachen könnten, falls ich Culver Castle kaufe, vorausgesetzt, Sie sind nicht der Mann, den Mrs. Osborne ehelichen will.« Er sah das Aufleuchten in Slides Augen und setzte nach: »Sie dürfen mir doch mein Misstrauen nicht übel nehmen. Alle, die im Haus waren, sind verdächtig, denn ich glaube auch nicht, dass die zierliche Hazel eine so abscheuliche Tat verübt hat, noch dazu ohne ersichtliches Motiv. Wenn Sie mich beargwöhnen kann ich Ihnen deshalb nicht gram sein, Mr. Slide. Also setzten Sie sich, lassen Sie uns essen und dann zeigen Sie mir Schloss und Umgebung.« Gordon Slide taute merklich auf, während er Mullingbrook durch das alte Gemäuer führte, das zum Teil seit Jahrzehnten leer stand. Statt der Spinnweben sah Mullingbrook vor seinem geistigen Auge hypermodern oder im alten Stil eingerichtete Räume und dachte: Da 25
hätte ich endlich ein Hobby, das mich ausfüllen würde. Je mehr ihm
Slide von den wütend angreifenden Briten und den sich tapfer verteidigenden Schotten erzählte, umso abenteuerlicher wirkte auf ihn sein Vorhaben, aus seiner Villa in den USA zu übersiedeln in ein Gebäude mit jahrhundertealter Vergangenheit. Sie standen auf dem Dach zwischen den gedrungenen Türmen, blickten über die Zinnen ins Land, das sich erikafarben und grün vor ihnen dehnte, bis hin zum Drachenbuckel, der Heidekraut und Wiesen mit seinen schwarzen Zacken durchbrach und Slide erklärte dem Amerikaner, wie weit der Grundbesitz reichte. Aber weder die Naturschönheit noch die Größe beeindruckten Mullingbrook so, dass er sich in diesem Augenblick entschloss, Culver Castle zu kaufen. Eine seltsame Ruhe lag über allem. Von dem Dorf hinter dem Drachenbuckel her tönte Abendläuten. Aus den Wiesen stieg weißer Dunst. Eine Schafherde zog ihrem Pferch zu und der leichte Wind trug das Bellen des Hundes herauf. Mullingbrook drehte sich um und hielt Slide die Hand hin. »Mr. Slide, wir beide werden uns heute Abend schrecklich betrinken.« »Ich fürchte, Sir, dass ich keinen Grund dafür sehe.« »Das wird sich im nächsten Augenblick ändern.« Slide hatte zögernd eingeschlagen und Mullingbrook drückte die Hand des Dieners fest. »Ich habe mich eben entschlossen, Culver Castle zu kaufen.« »Zu einem angemessenen Preis, hoffe ich?« »Es ehrt Sie, dass Sie auch jetzt die Interessen Ihrer Chefin wahrnehmen und ich würde mich freuen, Sie zu übernehmen, nicht wie ein Stück Inventar, sondern weil ich Ihre Kenntnisse schätze. Kommen Sie, jetzt brechen wir einigen Flaschen Scotch den Hals. Und wegen des Preises können Sie beruhigt sein. Ich werde nicht versuchen, Mrs. Osborne herunterzuhandeln. Und falls Sie bereit sind, in meine Dienste zu treten, werden Sie verhindern, dass man mich übervorteilt.« Als die beiden die Treppen hinunter stiegen, fragte sich Slide, ob der Amerikaner einfältig und gutmütig oder ein gerissener Fuchs wäre. 26
Nahm er die Stellung an, waren ihm schon jetzt die Hände gebunden, was die Verkaufsverhandlungen anging. Er hoffte, bei der geplanten Trinkerei mehr über Mullingbrook zu erfahren. Doch es kam etwas dazwischen, mit dem beide Männer nicht hatten rechnen können. * Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Gordon Slide trank seinen Whisky in kleinen Schlucken und aß zwischendurch immer wieder Weißbrot und Käsewürfel. Trotzdem fühlte er sich schon reichlich benebelt, während Mullingbrook noch vernünftig sprach, wenn auch die Pläne, wie er das Schloss einrichten wollte, etwas phantastisch wirkten. Was Gordon am meisten wunderte - der Amerikaner wollte kein Geschäft daraus machen. Er musste noch reicher sein, als Slide sich vorgestellt hatte. Die Standuhr in der Halle schlug viermal für die volle Stunde und dann trafen zwölf melodische Töne die Ohren der beiden Männer, die eben auf Mullingbrooks Drängen zwei dicke Brasil in Brand gesetzt hatten. Kaum waren die Schläge verhallt, da hörte Mullingbrook ein ähnliches metallisches Klirren wie in der vergangenen Nacht. Er steckte den Zeigefinger ins Ohr, zog ihn heraus und lauschte, aber das Geräusch hielt an. Eben wollte er Slide fragen, ob er es auch hörte, sah zu ihm auf und erschrak. Der Diener war leichenblass geworden und starrte mit weit aufgerissenen Augen an Mullingbrook vorbei. »Ist Ihnen nicht gut?« Keine Antwort. Slide öffnete den Mund, brachte aber offensichtlich keinen Ton heraus. »Sagen Sie bloß nicht, dass einer hinter mir steht. Den Trick kenne ich aus unzähligen Krimis und Western. Sie gehen ja sicher kaum ins Kino. Und Fernsehen gibt es hier nicht. Also, passen Sie auf!« Er 27
nahm einen kräftigen Schluck. »Da steht also ein Bewaffneter einem Unbewaffneten gegenüber. Der hat keine Chance mehr. So sieht es aus. Da ruft er: ›He, Sie, mein Kumpel steht hinter Ihnen und zielt genau auf Ihren Kopf!‹ Na, der Trottel dreht sich um und - peng! Aber Sie haben ja nichts gegen mich, Slide und ich halte Ihnen auch keine Waffe unter die Nase. Los, lassen Sie mal die Luft aus unseren Gläsern.« »Mr. - Mr. Mullingbrook - hinter Ihnen - das kann doch nicht - da steht wirklich einer.« Das metallische Klicken war jetzt unmittelbar hinter Mullingbrook. Nun hörte er ein Quietschen, als würde etwas in schlecht geölten Angeln bewegt. Er deutete mit dem Zeigefinger auf seine Brust und dann mit dem Daumen über die Schulter, wobei er Slide mit breitem Grinsen zuzwinkerte. »Ich soll Ihnen unbedingt den Gefallen tun, mich umzudrehen? Ihr habt da einen Gag vorbereitet - als Einstandsgeschenk sozusagen?« Südes Lippen waren blutleer und sein Kopfschütteln sah aus wie eine krampfartige Zuckung. »Okay, ich bin ja kein Spielverderber.« Mullingbrook drehte sich um und sah eine Eisenfaust über seinem Kopf. Trotz des reichlich genossenen Whiskys sträubten sich seine Nackenhaare, als er die Ritterrüstung so dicht hinter sich und den erhobenen Arm über sich sah. »Kinder, macht keinen Quatsch«, sagte er, stand vorsichtig auf, ging um die Tafel herum und setzte sich neben Slide. »So was kann ins Auge gegen. Wenn der Arm zufällig auf meine Birne gefallen wäre, könnte ich eine Keule oder sogar ein Loch darin haben. Wen haben Sie denn überredet, in das Ding zu steigen? Jack passt da nicht rein. Schon wegen der Ohren nicht.« Er lachte laut. »Die würde er sich glatt brechen oder abrasieren bei dem Versuch, den Helm überzustülpen. Und Leontine hat wohl nach all den Aufregungen nicht den Schneid, solche Scherze mitzumachen. Oder doch? Sprich, Eisenmann, wer ist des Harnischs Kern?« 28
»Ich freue mich, einen so beherzten Ur-Enkel kennen zu lernen«, sagte eine Stimme, die wie das Schnarren einer ablaufenden Feder klang. »Die Freude ist ganz meinerseits. Da Henry keine Geister neben sich duldet, sollst du wohl den Seelenlosen darstellen?« »Ich stelle nichts dar, ich bin Henry, nicht die Rüstung, in der Rüstung.« »So und jetzt soll ich zu dir kommen, das Visier öffnen und dann springt mir ein Spiralteufel ins Gesicht, oder jemand pustet mir Pfeffer in die Augen und ihr habt euren Spaß gehabt.« Das Visier öffnete sich von selbst und Mullingbrook konnte sehen, dass die Rüstung leer war. »Mechanisch angetrieben? Gut gemacht.« Er boxte Slide in die Rippen, der noch immer reglos dasaß. »He, Sie, wenn das Ding ferngesteuert ist, könnte der Mord auch per Fernsteuerung verübt worden sein. Kommen Sie, wir untersuchen das Ding.« Noch bevor sich Mullingbrook von seinem Stuhl erheben konnte, spielte das Ding verrückt. Es sah aus, als entkleide sich ein unsichtbarer Ritter. Der Helm hob sich, fiel zu Boden. Ober- und Unterarmschienen lösten sich und schwebten - samt Handschuhen - auf die Tafel zu. Unwillkürlich hob Mullingbrook, der in seiner Jugend mal geboxt hatte, die Fäuste vors Gesicht, aber die Blecharme schlugen nicht zu, sondern legten sich, leise gegeneinander klappernd, auf das Tischtuch. Nun schwebte der Brustpanzer zu Boden und stellte sich neben die Beinröhren, die nacheinander umfielen. »Kein Mechanismus. Zufrieden?«, schnarrte die Stimme. Mullingbrook gegenüber saß plötzlich ein dicker Mann von etwa fünfzig Jahren mit schulterlangem grauem Haar und feisten Wangen. Er trug einen grünen Umhang, der mit Leder eingefasst war. »Hallo, Edgar«, sagte er schnarrend und mit hartem Akzent. Noch immer wehrte sich der Amerikaner, an Spuk zu glauben. Vielleicht hatten sie einen Zauberkünstler herbeigerufen, der ihn mit seinen Tricks verblüffen sollte. Es könnten die Leute der Umgebung gewesen sein, die nicht wollten, dass Culver Castle ›in amerikanische Hand‹ kam. 29
Slide saß da, wie vom Donner gerührt. Leichenblass, blicklos, wie tot. Der Dicke war ein guter Beobachter. Er hatte gesehen, wie Mullingbrook den Diener von der Seite musterte. »Slide hört uns nicht. Er ist jetzt in einer anderen Welt. Das habe ich veranlasst. Soll ich ihn entfernen?« »Er kann dich nicht sehen? Weshalb nicht?« »Ich zeige mich doch nicht jedem hergelaufenen Domestiken.« Dünkelhaft wie ein echter Lord aus alter Zeit, dachte Mullingbrook. »Was meinst du mit entfernen?« Der Grauhaarige machte eine Handbewegung zur Tür hin und schnippte dann mit den Fingern. Steif wie eine aufgezogene Puppe erhob sich Slide, drehte sich um und verließ den Raum. »War ohnehin Zeit für ihn, ins Bett zu gehen. Hast du bemerkt, wie vorsichtig er am Whisky nippte und sich mit Käse und Brot voll stopfte, um dich unter den Tisch zu trinken? Aber du kannst was vertragen, Junge. Freut mich.« Der Dicke nahm eine der Flaschen, die noch verkorkt war, schlug den Hals gegen den Tisch und setzte sorglos den Zackenrand an die Lippen. Staunend sah Mullingbrook, dass der Fremde sich die Hälfte des Inhalts einverleibte. »Ist Ihnen nicht warm?«, fragte er. »Wegen dem Ding da?« Der auf so rätselhafte Weise aufgetauchte Gast zerrte an dem Umhang. »Ich könnte mich ausziehen, nicht nur das Cape, sondern auch Haare, Haut und Fleisch. Aber mit Haut und Haar findest du mich sicher appetitlicher. Und zu warm ist mir seit Jahrhunderten nicht mehr. Tja, ich finde es gut, dass du Mullingbrook Castle kaufen willst.« »Culver Castle«, verbesserte der Amerikaner. »Ja, sie wollten es partout nicht umtaufen. Aber du wirst es nach uns benennen. Irgendwann, in einigen hundert Jahren, wird man sich an den Namen Mullingbrook gewöhnt haben.« »Du denkst in erstaunlichen Dimensionen.« 30
»Fällt mir nicht weiter auf. Gut, dass du endlich die Siezerei einstellst. Ich bin dein Ur-Ahn Henry. Wenn du die Dokumente in der Bibliothek durchblätterst, kannst du mal ausrechnen, wie viele Urs uns beide voneinander trennen.« Er lachte satt und leerte die zerbrochene Flasche. Dann hielt er beide Hände mit den Handflächen nach oben und unter Edgars forschenden Blicken wuchsen ein schäbiger Lederbecher und Würfel aus der leeren Luft in den Handtellern. »Wie wäre es mit einem Spielchen?« »Hast du davon nicht die Nase voll?« Edgar Mullingbrook beschloss, das Spiel dieses dicken Fremden mitzumachen - nicht das Würfelspiel, sondern die Gespensterkomödie. Er hatte eine Menge getrunken und war wohl leichte Beute für einen Jahrmarktsgaukler. Die Europäer verstanden etwas von Vorspiegelungen. Er hatte selbst in Las Vegas gesehen, wie ein Tiger aus einem Käfig verschwand. Und bei der Show war er nüchtern gewesen. Warum sollte es diesem fetten Zauberkünstler also nicht gelingen, sich scheinbar aus einer Ritterrüstung zu pellen? Zunächst unsichtbar und dann plötzlich sichtbar vor dem Bezechten zu sitzen? Noch dazu, da sich Mullingbrook ständig selbst blauen Dunst aus seiner Brasil vormachte. »Warum sollte ich vom Spielen die Nase voll haben, Edgar?« »Ich bin ja ziemlich neu hier und weiß nur von Großvater Oliver, was man sich von dir erzählt. Hast du nicht mit dem Teufel gespielt und deine Seele verloren?« Der Mann, der behauptete, der Geist Lord Henrys zu sein, spuckte dreimal über seine rechte Schulter. »Pfui, pfui, pfui! Nenne ihn nicht, wenn du nicht willst, dass er erscheint!« Angstvoll spähte er mit rollenden Augäpfeln in alle Ecken des Raumes und zog dabei die Schultern hoch. Als er nichts Beängstigendes entdeckte, warf er die Würfel in den Becher, schüttelte und stülpte ihn auf den Tisch. Alle fünf Würfel lagen mit der Eins nach oben da. »Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu«, rief Mullingbrook. »Natürlich nicht, Junge«, freute sich der Dicke. »Aber wer solche Tricks beherrscht, verliert seine Seele?« 31
»Wieso nennen sie dich dann den Seelenlosen?« Henry stieß Löcher in die Luft. »Weil ich das faule Kroppzeug hart ran genommen habe. Unter meiner Herrschaft mussten sie arbeiten. Und es tat ihnen gut. Sie hungerten nicht mehr, vermehrten sich wie die Karnickel, zollten mir aber nicht den Dank, den sie mir schuldeten. Ich ließ hin und wieder einen auspeitschen. Einen für alle.« Er lachte dröhnend und öffnete eine zweite Flasche Whisky auf seine unkonventionelle Art. »Sie waren stumpf und stur und brauchten solche Exempel. Deshalb mein Spitzname. Nein, ich habe meine Seele bei dem Spielchen zwar gesetzt, aber gewonnen. Dafür bekam ich ja Culver Castle. Ich stammte nämlich aus kleinen Verhältnissen, war mittellos. Geadelt wurde ich erst viel später, als ich den gekrönten Häuptern mit Pulver aushalf.« Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Ein gekaufter Titel? Deshalb legten ihn meine Vorfahren wieder ab.« »War blödsinnig. Irgendetwas haben die meisten für ihre Titel gegeben. Ländereien, Bargeld oder schöne Töchter. Da stehe ich verhältnismäßig sauber da. Wenn du meine Geschichte hörst, wirst du den Lordstitel wieder annehmen. Die Dokumente in der Bibliothek berechtigen dich dazu.« Schläfrig lehnte sich Edgar Mullingbrook zurück, paffte graue Wolken aus seiner Brasil, goss sich Whisky nach und dachte: Warum soll
ich einem Schotten nicht zuhören, der mir eine Gespenstergeschichte erzählen will? *
Henry Mullingbrook, der Jagdaufseher von Lord Culver, hatte schon seit vielen Jahren vor, die Herausforderung des Geistes der Ruine anzunehmen. Im Dorf hieß es, der Geist warte an drei Vollmondnächten im Sommer auf junge Männer, die ein Spiel mit ihm wagen wollten. Welche Nächte das seien, müsse man selbst herausfinden. Es sei für jeden Mann verschieden und habe etwas mit der Stunde zu tun, in der man geboren worden sei. 32
Nun war Mullingbrook kein Jüngling mehr. Mehr als die Hälfte seines Lebens hatte er sich abgeplagt und es nicht weit gebracht. Nach einer Hochzeitsfeier im Dorf, bei der sie ihn als Hagestolz gehänselt hatten, schwankte er mit schwerem Kopf in Richtung Burg. Die Ruine, in der Zaitanus auf Mitspieler lauern sollte, lag an seinem Weg. Der Vollmond strahlte vom Himmel herab und leuchtete mit Henrys Stalllaterne um die Wette. Vielleicht ist heute mein Glückstag, sagte er sich, machte den kleinen Umweg, stolperte in die Ruine und setzte sich neben die Mauerreste. Er stellte die Laterne vor sich hin, legte den Kopf auf die Knie und schlief ein. Ein eisiger Windzug weckte ihn. Blinzelnd sah er auf. Zuerst hielt er die graue zerfließende Gestalt für einen Nebelstreifen, der sich vom Fluss unter der Ruine heraufwälzte. Doch dann sah er Arme und Beine, einen Kopf, ein gähnendes Loch, dort wo der Mund hätte sein müssen und - gelbe Lichter, die aus den Augenhöhlen schienen. »Himmel und Hölle, steht mir bei!«, schrie er, denn er war nüchterner geworden und sein kecker Mut nahm im gleichen Maße ab, in dem die Wirkung des Starkbiers nachließ. »Eins von beiden muss genügen«, wisperte die lang gestreckte dünne Gestalt und nahm wie selbstverständlich Henry Mullingbrook gegenüber Platz. »Bist du - bist du...«, stotterte Henry. Weiter kam er nicht. »Ich bin Zaitanus und du hast die Aufforderung angenommen. Also, reden wir nicht lange nun, spielen wir!« Der Geist griff seinen Würfelbecher aus der Luft, ließ die Knöchel darin kreisen und fragte: »Was verlangst du, wenn du gewinnst?« Dabei grinste er so höhnisch, dass Henry vor Wut seine Angst vergaß. Dieser dreckige Zaitanus bildete sich doch tatsächlich ein, er könnte einen Mullingbrook aufs Kreuz legen. Aber da Henry seit Jahren auf diese Gelegenheit gewartet und sich ausgemalt hatte, was er tun wurde, behielt er jetzt die Nerven, obgleich er nicht darauf vorbereitet gewesen war, in dieser Nacht mit dem Geist zusammenzutreffen. 33
Sie saßen einander gegenüber, starrten sich an, schätzten sich ab. So richtig geglaubt hatte Henry nicht an den Geist. Geprahlt hatte er, dass er den Burschen auseinander nehmen und ihm alle Schätze abknöpfen würde, die das Scheusal gehortet hatte. Das sagte sich leicht im Kreis von blutwarmen Menschen. Nun aber wallte abwechselnd Furcht in ihm auf, wurde dann wieder von Zorn verdrängt und die Hoffnung, dass auch Geister mit Bauernschläue zu überlisten seien, verlieh Henry Stärke. »Stimmt es, dass deine Würfel aus Menschenbein gefertigt sind?«, fragte er laut, um das Beben seiner Stimme zu verbergen. »Was stört's dich? Vielleicht freut's den, dessen Knochen wir noch einmal in Bewegung bringen.« »Mit diesen Knöcheln spiele ich nicht. Ich habe andere dabei. Aus Lindenholz geschnitzt. Entweder nehmen wir die, oder es gibt kein Spiel.« »Knochen oder Holz, was liegt mir dran?« Ohne den Geist aus den Augen zu lassen, nahm Henry den Beutel ab, den er an einem Band um den Hals trug wie andere ein Amulett. Seine Mutter, die wusste, was er da mit sich herumschleppte, hatte gesagt: »Es wird ein schlimmes Ende mit dir nehmen, Henry.« Die Erinnerung daran ließ ihn zögern, doch dann öffnete er kurz entschlossen den hirschledernen Beutel. Der Geist kippte seine Würfel einfach über die Schulter und hielt Henry den Becher hin. Der Mensch zeigte dem Geist die hölzernen Würfel auf der Handfläche und Zaitanus nickte. »Was verlangst du?«, fragte der Graue mit den gelb leuchtenden Augen. »Culver Castle.« »Culver Castle?« Vor Lachen schien er zu zerfließen und es hallte schaurig bis hinüber zum Drachenbuckel. »Nicht mehr und nicht weniger. Mit allen Schätzen, die darin, darunter und rings umher vergraben sind. Wie alle Geister wirst du dagegen meine Seele verlangen. Sie ist mir lieb und ein Schloss wert. Um geringeren Preis setze ich sie nicht.« 34
»Es sei«, grollte der Gelbäugige. »Zwar weiß ich nicht, wie ich es dir geben soll, da es mir nicht gehört, aber ich werde das überdenken, wenn du gewonnen hast.« Jetzt erst warf Henry seine Würfel in den hingehaltenen Becher, nahm ihn dem Geist aus der kalten Hand, ließ die Holzstückchen kreisen und sagte: »Wer die niedrigste Augenzahl wirft, hat gewonnen. So ist der Brauch, erzählt man.« »So hab' ich's immer gehalten.« Henry Mullingbrook stülpte den Becher auf den Boden und im Schein der Laterne sahen Geist und Mann fünfmal die Eins. »Fünf mit fünf Würfeln!«, schrie der Graue, dass der Boden bebte. »Wie kann ein Erdenwurm solches Glück haben?« Blitzschnell krallte sich Henry die Würfel, öffnete seine Laterne und warf sie hinein. »Was tust du da? Sie brennen.« »Gut so. Besser kann dein Wurf nicht sein. Ich habe gewonnen. Du selbst hast es bestätigt.« »Gewonnen, gewonnen«, wisperten Stimmen aus den Lüften. »Das war kein ehrliches Spiel.« »Beweise es. Hast du nicht alle Spieler vor mir aufgefordert, zu beweisen, dass du falsch spieltest, nachdem du sie geprellt hattest?« »Wie hast du es gemacht? Sag es mir und du sollst Culver Castle haben.« »Ich werde Culver Castle bekommen, ohne dir noch etwas zu sagen oder zu versprechen. Vergiss nicht, ich habe meine Seele gesetzt. Bei solchem Spiel schaut der Himmel zu. Die Engel werden dafür sorgen, dass du dein Wort hältst.« Henry Mullingbrook nahm seine Laterne und ging. Er drehte sich nicht um, rannte nicht los, schritt rüstig und sicher in Richtung Wildbach. Zwar saß ihm die Angst im Nacken, jagte ihm Schauer über den Rücken, malte ihm scheußliche Bilder von Geisterhänden, die größer und größer werdend nach ihm griffen, aber er blickte nicht zurück. Das Rauschen des Wildbachs übertönte das Dröhnen seines angstvoll klopfenden Herzens. Er hatte gespielt, falsch gespielt, viel 35
gewagt und gewonnen. Aber nun galt es, sich dem Zorn des Geistes zu entziehen. Würde Zaitanus die Schuld begleichen, obwohl er wusste, dass er betrogen worden war? Der seit vielen Jahren kahle Eichbaum reckte seine abgestorbenen Äste ins fahle Mondlicht. Darunter führte die Brücke über den Bach, morsch der Steg, das Geländer locker. Mullingbrooks Fluchtweg konnte von einem Windstoß zerstört werden. Die Alten erzählten sich, dass der Geist der Ruine nie jenseits des Baches gesehen worden war. Eben wollte Henry den Fuß auf die Brücke setzen, da sah er aus dem Augenwinkel den Grauen. Er hockte oben in der Eiche, die Hände vorgestreckt, als wolle er im nächsten Augenblick zupacken, der lange dünne Körper schien zum Sprung bereit Mullingbrook sagte sich: Jetzt
musst du durch. Du hast es eingefädelt, sei kein Hasenfuß. Du wirst reich sein und herrschen, wenn du dir jetzt nicht nachgibst.
Mit einem Satz war Henry auf der Brücke und eilte hinüber. Sein Umhang flatterte im Wind. Er stolperte ans andere Ufer und ihm war, als griffen Hände nach ihm. Er hörte Schritte hinter sich, dröhnendes Tappen auf morschem Holz. Dann Stimmen. »Er hat mich betrogen.« »Zurück, Zaitanus! Strafe wird dir auferlegt, wenn du dein Revier verlässt.« »Ich soll ihm ein Schloss geben, das mir nicht gehört.« »Wie kannst du aufs Spiel setzen, was eines anderen Besitz ist? Du hast betrogen, noch ehe er das falsche Spiel begann.« »Er soll verflucht sein.« Henry fiel zu Boden, die Laterne glitt aus seiner Hand, er schlug mit dem Kopf gegen einen Stein, wurde ohnmächtig, aber die Stimmen drangen weiter in sein Bewusstsein. »Du hast nicht die Macht, einen Menschen zu verfluchen, Zaitanus, nichtswürdiger Unhold.« 36
»Soll das heißen, er kann den Teufel übers Ohr hauen und in den Himmel kommen? Da soll doch der Leibhaftige dreinfahren!« »Der Himmel hat sich von ihm abgewandt, als er seine Seele um irdischer Güter willen aufs Spiel setzte.« »In die Hölle kommt er nie. Dafür sorge ich mit aller Kraft, die mir zu Gebote steht.« »Dann wird er im Zwischenreich warten müssen, bis sich für ihn eine Lösung findet«, sang die helle Stimme und danach herrschte Stille. Als Henry Mullingbrook erwachte, hatte er Schädelbrummen. Es war nichts Außergewöhnliches nach einer Feier wie der vom Vortag. Er fand seine erloschene Laterne, knüpfte den Umhang ab und machte sich auf den Weg nach Culver Castle. Allmählich kam ihm die Erinnerung an das Spiel mit dem Geist. Trotz des Sonnenscheins fröstelte ihn. Schon von weitem sah er, dass um das Schloss herum Dorfbewohner in Gruppen standen, mit offensichtlich bedrückten Gesichtern. Die meisten Frauen hatten ihre Umhängetücher über die Köpfe gezogen. Ein Kind sah ihn kommen und rief: »Da ist er ja!« Sofort fuhren alle übrigen herum und schauten ihn an. Nicht wie sonst, lachend die einen, deren Saufkumpan er war, unterwürfig die anderen, die in ihm den Jagdaufseher fürchteten, der sie bei Lord Culver anschwärzen konnte. Nein, von all diesen vertrauten Zeichen fand er nichts in ihren Gesichtern. Ernst, ein wenig scheu, wichen sie zurück, grüßten ihn leise, schauten ihn abwartend an. Was ist nur los?, fragte er sich, unsicher werdend. Wieso beneh-
men sie sich so anders mir gegenüber.
Es gab nur eine Erklärung. Jemand war ihm in der Nacht gefolgt, hatte das Spiel mit dein Geist beobachtet, es herumerzählt, dem Lord von Mullingbrooks Ansinnen berichtet und nun warteten alle darauf, welche Strafe sich Culver für seinen frechen Diener einfallen lassen würde. 37
Ich werde dem alten Culver schon klarmachen, dass ich bezecht war, dass ich nie wagen würde, die Hand nach seinem Besitz auszustrecken, nahm er sich vor. Er wird einsehen, wie läppisch es sei für armer Leute Kind, sich bei klarem Verstand ein Schloss zu wünschen. Solche Gedanken kommen einem nur im Rausch und verfliegen mit ihm. Mullingbrook ging die Steintreppe zum Schloss hinauf und der Wächter grüßte ihn wie einen hohen Herrn. Dann sagte er: »Ich soll Sie zu Sir Manral bringen.« »Wozu die Förmlichkeiten?«, fragte Henry, während er dem Wächter durch die Halle folgte. »Haben wir nicht gestern noch Arm in Arm gezecht und vom selben Wildschwein gegessen?« »Gestern war gestern. Heute gehörst du nicht mehr zu uns«, gab der Wächter mit ausdruckslosem Gesicht zurück und klopfte an die Saaltür. »Der Teufel mag wissen, wieso«, fügte er leiser hinzu. Sogar Sir Manral, der Berater Lord Culvers, dessen Freund und oberster Diener, empfing Mullingbrook ernst und respektvoll. Und dann eröffnete er ihm das Ungeheuerliche, das der Jagdaufseher zunächst nicht fassen konnte. »Seine Lordschaft äußerten in aller Herrgottsfrühe den Wunsch, auszureiten. Er war kaum aufgesessen, da scheute das Pferd und warf unseren verehrten Herrn - Gott hab' ihn selig - ab. Reglos lag er da, sah und hörte uns, konnte sprechen, aber keines seiner Glieder bewegen. Und in diesem Zustand verfügte er - vor mir und der gesamten Dienerschaft als Zeugen - dass Schloss Culver in Ihren Besitz übergehen sollte, für den Fall, dass er sterben würde. Auf seinen Befehl verfasste ich, so rasch ich konnte, dieses Dokument.« Manral überreichte Mullingbrook eine Pergamentrolle. »Ich ließ alle Zeugen, die des Schreibens kundig sind, unterzeichnen, die übrigen Diener signierten mit Kreuzen. Dann las ich es dem Verehrten vor, zeigte ihm das Blatt mit allen Unterschriften und er lächelte mich dankbar an. Keine Minute später schloss er die Augen für immer. Wollt ihr den Verblichenen sehen? Wir haben ihn in der Schlosskapelle aufgebahrt.« Stundenlang kniete Mullingbrook vor seinem toten Herrn, der aussah, als schliefe er nur und hielt Zwiesprache mit ihm. 38
* »Es war natürlich ein Monolog«, erklärte Henry Mullingbrook seinem Ur-Enkel. »Ich stellte immer wieder dieselben Fragen. Wieso hat das Pferd gescheut? War es ein Geist, der es erschreckte? Wie kam Lord Culver dazu, mir seinen ganzen Besitz zu vermachen? Er hat mich nie sonderlich bevorzugt. Mit meinen Eltern stimmte auch alles. Meine Mutter geriet nach dieser Schenkung in üblen Verdacht, ich sei ein uneheliches Kind seiner Lordschaft. Aber sie schwor Stein und Bein, sie habe meinen Vater nie betrogen. Niemand wusste von meinem Spiel mit dem Geist. Erst viel später habe ich bei Zechgelagen davon gesprochen. Ich glaube, mich plagte das Gewissen. Die Stimmen, die ich in halber Ohnmacht gehört hatte, ließen mich nicht mehr los. Um Ruhe zu finden, holte ich mir alle möglichen berühmten Männer ins Schloss, Geistliche und Geisterseher. Jene, deren Ansichten mir nicht in den Kram passten, wurden rasch wieder hinausgeworfen. Andere, die mir nach dem Munde redeten, schmarotzten jahrelang auf Culver Castle. Ich hätte auf die Unbequemen hören und Buße tun sollen. Hinterher ist man immer klüger.« Auf der Tafel stand eine erstaunliche Batterie geleerter Whiskyflaschen. Edgar Mullingbrook sah zwar schon einiges verschwommen, aber noch nicht doppelt und so konnte er sich ausrechnen, was er konsumiert hatte. Auf seine Rechnung gingen die leeren heilen Flaschen, auf die des Geistes alle mit den gebrochenen Hälsen. Bezahlen würde er alles - er, Edgar Mullingbrook und vielleicht eines Tages Seine Lordschaft. »Wieso hat dir der Tote nicht geantwortet?«, wollte Edgar wissen, spießte ein Stück Schafskäse auf ein Messer und schob es sich in den Mund. »Lord Culver hatte mit seinem Tod den Frieden gefunden«, erklärte Henry. »Dann hast du nie erfahren, ob du das Schloss von diesem Geist Zaitanus bekommen hast?« »Nicht, solange ich lebte.« 39
»Ich an deiner Stelle wäre hingegangen. Du wusstest doch nun, in welcher Vollmondnacht er in der Ruine auf Mitspieler lauerte. Du hättest Gewissheit bekommen, Buße tun können und der Fall wäre erledigt gewesen.« »Du denkst wie ich. Das habe ich versucht. Jahr um Jahr habe ich da oben gehockt, gewartet, seinen Namen in die Nacht geschrieen. Aber er ließ sich nie wieder blicken.« »Und nach deinem - ähm - Tod?« Edgar kicherte in sich hinein. Es kam ihm grotesk vor, dass er hier saß und mit seinem Vorfahren zechte, dessen Knochen längst zerfallen sein mussten. »Nach meinem Ableben begann die Pein. Der Himmel wollte mich nicht nehmen. Die Stimmen hatten wahr gesprochen. Ich sollte im Zwischenreich warten, bis eine Lösung gefunden wurde. Nach etwa zweihundert Jahren war ich so mürbe, dass ich auch in die Hölle gegangen wäre. Man will unter Seinesgleichen sein. Auch wenn man gepiesackt wird. Man trifft da alte Freunde und Bekannte. Selbst die Gesellschaft von Widersachern von einst ist besser als die Einsamkeit. Aber die Hölle will mich nicht. Der Teufel fürchtet sich vor einem, der seinen Geist überlistete.« »Seinen Geist? Oder ihn selbst?« Wieder spuckte Henry dreimal über die rechte Schulter. »Ich weiß es nicht.« »Jedenfalls bist du kein böser Geist«, stellte Edgar fest und goss sein Glas voll. »Das beruhigt mich. Denn solange du noch hier spukst, müssen wir es miteinander aushalten, weil ich das Schloss kaufen werde.« »Das brauchst du vielleicht nicht zu tun. Komm, machen wir ein Spielchen.« »Kein Interesse. Deine Würfel sind präpariert.« Edgar wurde wieder wacher. »Wie hast du das damals eigentlich bewerkstelligt? Ihr wart doch nicht technisch versiert wie wir heute.« »Wir hausten weder in Höhlen noch auf Bäumen, wie diese Mauern beweisen. Wir hatten unsere Tricks. Ich hatte mir von einem Magister, der Lord Culver besuchte, Blei geben lassen und eine Hälfte der Würfel damit ausgegossen. Sie fielen immer mit der Eins nach oben.« 40
Er lachte satt. »Hätte Zaitanus zuerst gewürfelt, ich wäre meine Seele los gewesen und säße jetzt gemütlich in der warmen Hölle.« »Du bist doch böse, denn du versündigst dich. Wer kann sich die Hölle wünschen?« »Einer, der frierend umherirrt, ausgestoßen, keines Menschen Freund. Aber sobald du hier einziehst, habe ich einen Verwandten. Spielen wir!« Edgar hatte den Verdacht, dass Henry einen hinterhältigen Zweck verfolgte, denn seine Augäpfel rollten unruhig in den Höhlen umher. »Du planst etwas Übles«, sagte er ihm auf den Kopf zu. »Du siehst aus wie ein Hund, der eine Pfütze auf den guten Teppich gemacht hat.« »Schau unter meinen Sitz«, rief Henry und lachte, dass sein Bauch wackelte. Der Amerikaner bückte sich und entdeckte eine riesige Pfütze unter dem Stuhl, auf dem der Geist saß. »Pfui Teufel!« »Pssst! Nicht immer diesen Namen. Es ist nur guter Whisky. Oder dachtest du, ich könnte ihn in mich aufnehmen?« »Warum trinkst du dann - oder tust so, als ob?« »Weil es für dich behaglicher ist, einen Kumpan zu haben. Das weiß, wer immer allein sein muss. Komm, jetzt spielen wir!« »Schön, damit du Ruhe gibst. Und dann lege ich mich hin. Es muss schon bald Tag sein. - Aber nicht mit präparierten Würfeln!« »Geh in den Salon, Edgar! Da findest du in einem Wandschrank Spiele und auch einen Becher mit Würfeln. Bring ihn her!« Edgar grinste seinen Vorfahren ironisch an. »Wann hast du den da versteckt? Wenn alles so ist, wie du's erzählst, führst du die Schlossbewohner hier bestimmt schon seit Hunderten von Jahren an der Nase nun und betrügst sie beim Spiel.« »Das habe ich nach der Vollmondnacht in der Ruine nie mehr getan. Ich schwöre.« Henry hob die Hand und sie schien von einem Flammenkranz umgeben. »Ich habe es auch nicht nötig«, sagte er dann leiser. »Was könnte ich verlieren?« 41
Edgar erhob sich schwankend und merkte jetzt, dass er betrunkener war, als gedacht. Trotzdem schaffte er es zum Salon, fand den Würfelbecher, kam zurück und erwartete, der Spuk wäre verschwunden. Aber Henry saß nach wie vor am selben Platz, hieb die letzte Whiskyflasche auf die Tafel und goss den Inhalt in sich hinein. »Diese Verschwendung guten Whiskys hört auf!«, befahl Edgar energisch. »Ich muss das bezahlen und ich sehe nicht ein, warum hier vergeudet werden soll.« »Nur wegen deiner Behaglichkeit.« »Mir wird unbehaglich, wenn ich an die Rechnung denke. Also, Schluss damit!« Schwer ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und probierte die Würfel aus. Sie schienen okay zu sein. »Sieht so aus, als hätten wir beide die gleichen Chancen. Was spielen wir? Chicago scharf?« Henry schüttelte den Kopf. »Ich begreife nichts von diesem neumodischen Zeug. Einem alten Pudel bringt man keine neuen Kunststücke bei, Edgar. Machen wir's wie früher. Wer die wenigsten Augen wirft, hat gewonnen. Ich setze Schloss Culver.« »Du?« Edgar lachte schallend, bis er rot anlief und ihm Tränen über die Wangen kollerten. »Das Castle gehört Mrs. Osborne und ich werde es kaufen.« »Das wird nicht nötig sein. Ich habe Dokumente, die beweisen, dass es nach wie vor den Mullingbrooks - also dir gehört.« »So? Dann brauchen wir darum nicht zu würfeln.« »Doch, schlauer Nachfahr. Ich gebe die Papiere nämlich nicht raus, wenn du dich weigerst, mit mir zu spielen.« »Und was soll ich setzen? Was könnte das Herz eines Geistes, das nicht mehr schlägt, erfreuen?« »Deine Seele.« Edgar hatte plötzlich das Gefühl, als säße ihm ein Dämon gegenüber. Das feiste Gesicht grinste nicht mehr. Die Augen schillerten gelblich und eine nie gesehene Bosheit flackerte in ihnen. Es war so, als risse jemand einen Schleier von Henrys Gestalt. Aus dem gutmütigen 42
Säufer wurde ein hinterhältiger Teufel, der seine Opfer mit Biedermannsmiene in die Falle treiben wollte. »In der Vorstellung der Leute dieser Gegend lebst du als Seelenloser. Ich glaube nicht, dass es auf die Härte zurückzuführen ist, mit der du deine Untertanen regiertest. Du bist der Experte von uns beiden. Deshalb frage ich dich: Hat der Teufel eine Seele?« Mit einem Augenaufschlag spuckte Henry dreimal über seine rechte Schulter. »Immer dieser Name. Ich weiß es nicht. Ich bin kein Experte. Er meidet mich. Wie ich dir sagte, habe ich nicht mal Zutritt zur Hölle.« »Du lügst. Jedes deiner Worte ist gelogen. Du selbst bist der Versucher, tischst mir eine Geschichte von Henry Mullingbrook auf, der ein Schloss gewann und nun soll ich dir meine Seele verspielen. Aber du denkst nicht logisch. Seelenloser. Menschen von heute haben einen analytischen Verstand. Der Teufel hätte sich Henry Mullingbrook nach seinem Tode gekrallt und ihn in seiner heißesten Höhle mit glühenden Zangen gezwackt, um sich zu rächen. Er soll sehr rachsüchtig sein.« Ungerührt hob Henry die Achseln. »Du musst nicht spielen. Ich kann dich nicht zwingen. Aber die Geschichte, die ich dir erzählte, hat sich genauso zugetragen.« Nach einer langen Pause fragte Mullingbrook, der Lebende: »Was willst du mit meiner Seele anfangen, wenn du nicht der Leibhaftige bist?« »Das ist meine Sache.« »Na, schön. - Seele«, sagte Edgar gedehnt und hob die Augenbrauen. »Riecht nicht, schmeckt nicht, kann man nicht sehen oder anfassen. Spielen wir drum, wenn ich damit ein Schloss umsonst bekomme.« Henry lachte. Es sah aus, als fletschte er die Zähne. Gierig griff er nach den Würfeln, die zwischen den beiden auf der Tafel lagen. »Moment! Müsstest du mich nicht warnen, wenn du wirklich mein Ur-Ahn wärst? Du weißt doch, wie schlimm es ist, wenn man seine Seele verspielt. Sogar wenn man gewinnt, wie du, kann man der betrogene Betrüger sein.« 43
»Eben warst du noch bereit«, zischte Henry böse. »Wenn's um die ewige Seligkeit geht, hört der Familiensinn auf.« »Ich könnte von dir verlangen, dass du mir erst sagst, was du mit meiner Seele tun willst, falls du sie gewinnst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Seelen übertragbar sind. Willst du Huckepack auf meiner Seele in den Himmel reiten, der dir verschlossen ist? Oder in die Hölle, falls mir die als späterer Aufenthaltsort zugeteilt wird? Ein zweites mal wirst du diese Institutionen nicht täuschen. Sie nehmen dich altes Schlitzohr wahr, auch wenn du vielleicht unsichtbar bist. Und vor den Augen von Engeln oder Teufeln kann sich eine Seele auch nicht hinter einer anderen verstecken, um sich einzuschmuggeln.« Edgar sah deutlich, wie Henry angstvoll die Augen rollte. Aber der Amerikaner winkte ab. »Gleichgültig, was du planst. Ich halte es für Quatsch. Also, spielen wir, damit ich endlich ins Bett kann.« Wieder wollte Henry die Würfel an sich reißen, aber Edgar klopfte ihm auf die Finger. Er versuchte es wenigstens, hieb jedoch durch die Luft und klatschte aufs Tischtuch. Bedauernd wackelte Henry mit dem Kopf. »Sorry, an mir ist nichts echt.« »Scharlatan«, schimpfte Edgar, schob die Würfel wieder in den Becher und sagte: »Jetzt gilt's. Ich fange an, damit ich bessere Chancen habe als dein Geisterspieler.« Edgar deckte die Linke auf den Becher, rüttelte die Würfel durcheinander, stülpte den Lederbehälter um und stierte schwankend auf die Tischplatte. »Zweimal Eins, einmal die Zwei und die Drei, aber zweimal die Fünf«, freute sich der Geist und rieb sich die Hände. »Das sollte zu schlagen sein. Macht zusammen siebzehn Augen.« Nun ließ er die Würfel im Becher kreisen und Mullingbrook, der Lebende, beobachtete ihn, so scharf er das nach dem genossenen Whisky noch konnte. Henry stülpte den Lederbecher um und die schwarzen Augen schienen Edgar aus dem Elfenbein böse anzuglotzen. 44
»Viermal zwei Augen, einmal drei, macht elf. Okay, Ur-Ahn, du hast meine Seele gewonnen. Jetzt wirst du dich auf deinen Lorbeeren ausruhen und ich kann endlich schlafen.« Er legte die Hand in militärischem Gruß an die Stirn. »Ich muss mir also das Schloss redlich erwerben. Den Köder mit der Urkunde habe ich sowieso nicht geschluckt.« Henry sah mit scheinheiligem Lächeln zur Decke auf. »Der Himmel hat's gesehen, ich habe gewonnen mit ganz normalen Würfeln. Die Urkunde existiert, mein Lieber. Vielleicht gebe ich sie dir irgendwann einmal. Warum sollst du während deines Erdenlebens nicht schöne Stunden haben? Was danach kommt, wird grausam sein. Vergib mir, Eddy, aber auch ein Geist ist sich selbst der Nächste.« * Sie hatten ihr Zelt unmittelbar am Fuß des Drachenbuckels aufgeschlagen. Um die Festspiele anzusehen, waren sie nach Edinburgh getrampt und nun wollten sie einige Tage nur noch schottische Natur erleben. Vergeblich hatten Eve McBain und John Kirkiswood versucht, eine Erlaubnis zur Besichtigung des alten Schlosses zu bekommen. »Das Haus ist seit langem in privaten Händen und hat vor wenigen Tagen den Besitzer gewechselt. Mr. Mullingbrook ist damit beschäftigt, die neue Einrichtung für Culver Castle zu planen und darf nicht gestört werden. Wenn Sie zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen, vielleicht«, hatte ihnen ein Mann mit schütterem Blondhaar, ausgezeichneten Manieren und schottischem Akzent an der Tür erklärt. Schulter an Schulter hockten die beiden in ihrem Zelt, starrten in den Regen hinaus, der ihr Feuer gelöscht hatte und ihre Stimmung war auf den Nullpunkt gesunken. Da hörten sie Schritte durch die Pfützen patschen. »Oh, nein! Da ist man mitten in der Natur und wird doch gerade in so einem Augenblick gestört«, stöhnte John. »Sicher irgendein Bauer, dessen kostbare Weide wir zertrampeln«, wisperte Eve ihm ins Ohr. Zuerst sahen sie die schwarzen dreckverschmierten Gummistiefel und dann das Gesicht eines Mannes mit kurzem dunkelbraunem Haar, 45
aus dem der Regen troff. Er bückte sich, spähte ins Zelt und es sah aus, als wüchse ihm der Kopf zwischen den Stiefeln hervor. Die beiden jungen Leute lachten. »Na, da bin ich aber froh, dass ihr so lustig seid«, sagte er. »Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, dass mein Diener euch weggeschickt hat.« »Ihr Diener? Ah, dann sind Sie Mr. Mullingbrook?« stellte Eve fest. »Wir würden Sie ohne weiteres rein bitten, aber wenn sich drei Personen hier reinzwängen, platzt das Zelt aus den Nähten.« »Mein Name ist tatsächlich Mullingbrook«, sagte er und lachte. Eve stieß ihren Freund unauffällig in die Rippen. »Na, so komisch ist Ihr Name ja nun auch wieder nicht. Sie sind Amerikaner?« »Merkt man das?« »Es lässt sich nicht verleugnen.« Der junge Mann lächelte. Er wunderte sich darüber, dass der Schlossbesitzer ohne Kopfbedeckung vor ihrem Zelt herumstand und mit ihnen redete. War er etwa ihretwegen gekommen? »Allerdings«, beantwortete der Mann Johns Frage. »Das Gewissen hat mich geplagt. Aber nun sehe ich, ihr habt's hier recht gemütlich. Ich schlage vor, Sie holen im Schloss ein paar Sachen, die ich für euch herrichten ließ, nehmen einen kleinen Imbiss ein.« Er wies auf John. »Und ich bleibe inzwischen bei der jungen Dame, denn hier ist es nicht geheuer.« »Wir brauchen nichts«, sagte John, aber Eve wies ihn zurecht: »Sei doch nicht so unhöflich. Wenn man uns partout etwas anbietet, nimm es an.« »Ich hätte es bringen lassen, aber im Augenblick bin ich knapp mit Personal. Das wird sich aber bald ändern.« John holte seinen nassen Anorak aus dem Zeltsack und zog ihn kniend an. Dann schlüpfte er in seine durchweichten Schuhe und warf einen neiderfüllten Blick auf die Stiefel des Schlossherrn. »Sie brauchen nicht bei Eve zu bleiben. Die fürchtet sich nicht vor Gespenstern.« »Ich spreche nicht von Gespenstern. Habt ihr nichts von dem Mord an Bertram Rulan gelesen? Stand doch in allen Zeitungen. Je46
mand hat ihn mit einem eisernen Handschuh erschlagen. Droben im Schloss.« »Nein, wir wussten nichts davon«, sagte das Mädchen. »Und man hat den Täter noch nicht gefasst?« »Eine Mrs. Osborne wurde verhaftet. Sie war die frühere Besitzerin des Schlosses. Aber sie wird bald freikommen.« »Sie wollen sagen, der Mörder läuft noch hier herum?«, fragte John, nun doch erschrocken. »Unter diesen Umständen brechen wir unser Zelt sofort ab, damit wir weit weg sind, wenn es dunkel wird.« »Nun gehen Sie erst mal die Sachen holen. Vielleicht findet sich eine Möglichkeit, dass Sie im Schloss übernachten.« »Nein«, rief Eve. »In einem Schloss, in dem gerade jemand ermordet worden ist, schlafe ich keine Nacht.« »Also schön, dann hole ich eben das Zeug«, brummte John ärgerlich. »Und du machst dich inzwischen ans Packen.« Während er am Drachenbuckel vorbeistapfte, wütete er innerlich über Leute, die sich mit Wohltaten einem aufdrängten. * Eve McBain kroch auf dem Zeltboden umher und sammelte die verstreuten Kleidungsstücke ein. Sie dachte nicht daran, jetzt ordentlich zu packen, sondern warf alles in den Rucksack, wie sie es zu fassen bekam. Plötzlich wurde es noch düsterer im Zelt. Es kam ohnehin wenig Licht durch die Plane. Bei grellem Sonnenschein war das angenehm. Ob sich der Himmel noch mehr zuzog, ein neuer Guss zu erwarten war? Sie drehte sich um, wollte hinausschauen, da sah sie die Ursache der zunehmenden Dunkelheit. Der Schlossherr hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen, füllte den ganzen Zelteingang aus und bewegte sich auf das Mädchen zu. »Ich verstehe ja, dass Sie nicht nass werden wollen«, sagte sie. »Aber bleiben Sie doch bitte vorn am Eingang. Und lassen Sie die Beine draußen. Mit Ihren Dreckstiefeln verschmutzen Sie uns den ganzen 47
Boden. Und schließlich schlafen wir da drauf. Wir hätten unsere Füße gründlich abgeputzt, bevor wir in Ihr kostbares Schloss getreten wären.« Sie lachte. Der Schlossherr hatte plötzlich einen leeren Blick. Sein Gesicht sah aus wie eine Maske. Aus der Innentasche seiner gelben Regenjacke nahm er einen blitzenden Gegenstand. Zunächst erkannte das Mädchen nicht, was er da in Händen hielt. Dann wurde es ihr klar. »Sie - Sie sind gar nicht - Mr. Mullingbrook«, hauchte sie. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.
Nur nicht schreien! Ihn mit nichts reizen! Sie war in einer fürchterlichen Situation. Er blockierte den Eingang. Mit bloßen Händen konnte sie das Zelt nicht zerreißen. Es war neu. John und sie hatten einen guten stabilen Stoff gewählt. Jetzt verstand sie den merkwürdig leeren Blick. John, komm zurück!, dachte sie verzweifelt. Wie konnten wir bloß
auf diesen Wahnsinnigen reinfallen. Lieber Himmel, lass ihn etwas vergessen haben! Ich muss ihn ablenken, hinhalten! Man wird John im Schloss sagen, dass der Schlossherr zu Hause ist, dass niemand anordnete, etwas für uns einzupacken. Vielleicht schöpft er dann Verdacht und beeilt sich auf dem Rückweg. Trotzdem, dann kann es zu spät sein. Viel zu spät. Ein Mann ist erschlagen worden? Dann ist er nicht darauf aus, Mädchen umzubringen. Warum also ich? Sie fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen, aber vor panischer Angst konnte sie nicht einmal weinen. Sie wagte kaum zu atmen.
Wie sollte sie ihn ablenken? Fragen, was er da in der Hand hielt? Nein, bloß das nicht! Es musste ihn an seinen ersten Mord erinnern. - Oder war es nicht der erste gewesen?
Oh, Gott im Himmel, welch grässliche Situation! 48
»Ich - ich habe einen schrecklichen Hunger. Sie - Sie auch?«, stotterte Eve und dachte: Wie albern! Fällt mir wirklich nichts Besseres
ein?
Der Mann, der sich Mullingbrook nennen ließ, reagierte nicht, glotzte weiter starr vor sich hin. »Werden Sie uns die Freude machen, mit uns zu essen? Wäre doch für Sie mal eine Abwechslung. Immer an einer gedeckten Tafel sitzen, kann langweilig werden. John findet vielleicht trockenes Holz, dann machen wir noch mal ein Feuer. Was haben Sie uns denn einpacken lassen?« Stoische Ruhe. »Na, wird sich schon etwas finden, das wir am Feuer rösten können. Sie - Sie werden staunen. Es gibt einen ganz anderen Geschmack, wenn etwas erst ein paar mal in die Glut gefallen ist.« Sie lachte gequält. Dabei wühlten ihre schmalen Finger nervös in dem Rucksack. Sie suchte das Messer. Nicht, um sich damit gegen ihn zu wehren. Sie wusste, dass sie ihm unterlegen war. Aber wenn sie das Messer fand, konnte sie den hinteren Teil des Zeltes aufschlitzen und sich hinauszwängen. Dann würde sie um ihr Leben rennen und schreien, so laut sie konnte. Vor dem Regen hatten sie einen Schäfer vorbeiziehen sehen. Vielleicht war er noch in der Nähe, hörte sie, kam ihr zu Hilfe. Oder John war auf dem Rückweg. Ihre Finger berührten kühles Metall. Das Messer!, durchzuckte es ihr Gehirn. In diesem Augenblick hob der Mann in der gelben Wetterjacke den Eisenhandschuh. Eve McBain konnte sich nicht länger beherrschen. Sie schrie. Dabei zog sie das Messer aus dem Rucksack hervor, ließ es aufschnappen, warf sich zurück und prallte gegen die hintere Zeltwand. Der Eisenhandschuh traf sie auf den Schädel, während sie gellend um Hilfe schrie. * 49
Ein junger Mann mit abstehenden Ohren öffnete John Kirkiswood das Portal. Er sagte ungefähr dasselbe wie der Diener, den John mit Eve zusammen um Besichtigungserlaubnis gebeten hatte. »Vielleicht wissen Sie nicht Bescheid«, erklärte John. »Aber für uns soll hier ein Picknickkorb oder etwas Ähnliches gepackt worden sein. Unter uns gesagt, ich bin nicht scharf drauf. Wir wollen so rasch wie möglich hier weg, seit wir erfahren haben, dass jemand ermordet worden ist. Aber Wohltäter muss man gewähren lassen, sonst werden sie sauer, nicht wahr?« Jack nickte verständnisvoll und entschuldigte sich dann, dass er nachfragen und die Tür schließen müsse. »Ich habe strikte Anweisung, niemanden hereinzulassen.« Als er nach wenigen Minuten zurückkam, war er nicht mehr so freundlich. »Wenn Sie betteln wollen, dann nicht auf so eine blöde Tour«, sagte er und warf das Portal zu. Leise vor sich hin fluchend, ging John zum Drachenbuckel zurück. Er konnte das Zelt noch nicht sehen, denn es war hinter dichtem Gebüsch versteckt, da hörte er einen fürchterlichen Schrei. Noch nie hatte er Eve so schreien hören und doch wusste er, das konnte nur sie sein. Der junge Mann rannte los, bis seine Lungen stachen. Der durchweichte Boden schmatzte unter seinen Füßen, schien ihn festhalten zu wollen. Da, wieder der Schrei, wie in Todesangst! Dann - Stille. Beklemmende, lähmende Stille. * Es war am Tag nach dem Spiel mit dem Geist. Mullingbrook erwachte mit Schädelbrummen, hielt den Kopf unter den kalten Wasserstrahl, aber das half auch nicht viel. Das Frühstück schmeckte ihm nicht, obwohl ihm Slide einen deftigen Katerdrink kredenzt hatte. »Wann sind Sie eigentlich ins Bett gegangen?« 50
»Kurz nach Mitternacht, Sir.« »Und ich?« »Nun, ich hörte sie noch gegen zwei Uhr sprechen.« »Haben wir - ähm - irgendwelche Phänomene gesehen?« »Wir? Sie meinen - Sie und ich, Sir?« Slide schüttelte den Kopf. »Solange ich dabei war, ist nichts Ungewöhnliches geschehen. Das Phänomen entdeckte ich heute früh. Sie haben eine Unmenge von Whisky konsumiert, Sir. Zum Glück haben Sie auch Käse und Brot dazu gegessen. Sie hätten sich umbringen können mit all diesem Alkohol. Aber als Sie dann anfingen, die Flaschenhälse zu zertrümmern, ist viel daneben geflossen. Das hat Ihnen das Leben gerettet.« »Liebe Zeit, das klingt ja nach einer Sauforgie.« »Ich darf mir die Bemerkung gestatten, dass ich mein Lebtag einen einzelnen Mann nicht so viel habe vertilgen sehen.« »Wie viele Flaschen waren's denn?« »Das sage ich lieber nicht, sonst wird Ihnen nachträglich noch schlecht.« »So? Hmhm. Das erklärt ja manches.« »Sir?« Mullingbrook winkte ab. »Wenn man so voll ist, sieht man schon mal Dinge, die gar nicht vorhanden sind nicht wahr?« »Ich habe davon gehört. Erlebt habe ich es noch nicht.« Mullingbrook betrachtete die Ritterrüstungen. »Erinnern Sie sich daran, dass sich vor unseren Augen eine Rüstung entblätterte?« Slide zeigte sein schiefes Lächeln, das allerlei bedeuten konnte, höhnische Überlegenheit oder weltmännische Nachsicht. »Ich war nicht dabei, aber ich habe die Früchte Ihrer Bemühungen wieder zusammengesetzt. Für einen Berauschten haben Sie erstaunliches Geschick entwickelt beim Auseinandernehmen der Rüstung. Es war nichts verbogen oder beschädigt und Sie haben den Harnisch offenbar mit bloßen Händen demontiert, denn ich fand keinerlei Werkzeug.« »So? Das war ich? Na, ich muss Ihnen das glauben.« Angewidert schob er den Kaffee von sich. »Gießen Sie mir mal einen Scotch ein.« 51
Slide gehorchte, schnitt aber ein bedenkliches Gesicht. »Es steht mir nicht zu, Sir, Sie zu bevormunden. Trotzdem wage ich, Ihnen zu raten...« »Schon gut, Slide«, unterbrach ihn Mullingbrook nicht unfreundlich. »Sie meinen es gut. Aber ich bin nicht in Gefahr. Nach allem, was vorgefallen ist, werden Sie mir nicht glauben, dass ich kein Trinker bin.« Er wollte lachen, aber etwas hemmte ihn. Vermutlich das Schädelbrummen, dachte er. Während Mullingbrook seinen Whisky in winzigen Schlucken zu sich nahm wie Medizin, sagte Gordon Slide: »Ich habe mich entschlossen, Sir, in Ihre Dienste zu treten.« »Gut.« Mullingbrook wunderte sich darüber, dass er keine Freude oder Genugtuung empfand. Hätte Slide sich geweigert, wäre ein anderer gefunden worden.
Gestern noch war ich doch ziemlich erpicht darauf, ihn für mich zu gewinnen, ging es Mullingbrook durch den Kopf. Und jetzt lässt mich der Erfolg kalt?
»Sobald wir nach Edinburgh fahren, um die Formalitäten des Schlosskaufs zu erledigen, könnte ich Mrs. Osborne in der Haftanstalt aufsuchen und um eine gütliche Regelung bitten. Vielleicht ist sie ganz froh, mich loszuwerden, da ihre finanzielle Lage ja nicht rosig ist.« »Eben, machen wir. Bereiten Sie sich vor! Können Sie Auto fahren?« »Jawohl.« »Dann fahren Sie! Der Leihwagen muss ja zurück nach Edinburgh und ich will meine Koffer aus dem Hotel holen.« Mullingbrook legte die flache Hand an die Stirn. »Ich fühle mich heute nicht imstande, dem Linksverkehr zu trotzen.« Er stand auf. »Wenn alles bereit ist, rufen Sie mich! Ich werde inzwischen auf dem Dach ein wenig frische Luft schnappen.« * Edgar Mullingbrook stand auf dem Dach des Schlosses, das ihm bald gehören würde und blickte über die Zinnen ins weite Land. 52
Hier an dieser Stelle hatte er am Vortag den Entschluss gefasst, Culver Castle zu kaufen. Nicht wegen der architektonischen Schönheit, der Kindheitserinnerungen, der Größe des Besitzes, sondern wegen der Stimmung, die diese Landschaft auf ihn ausgeübt hatte. Wo war sie geblieben? Vergeblich bemühte er sich, das gleiche zu empfinden wie zuvor. Düster zog sich der Drachenbuckel durch grünes Weideland und violettrosa Heidekrautmatten. In der Ferne lag das Dorf. Ein Kirchturm, Dächer. Na und? Eine Schafherde graste unterhalb des Hügels. Mullingbrook glaubte, den Gestank der Tiere bis hier herauf zu riechen.
Man wird dem Schäfer verbieten müssen, in Schlossnähe zu kommen. Die Romantik war dahin, die ihn angerührt, begeistert hatte. Lag es am Licht? Der wolkenlose Himmel, wirkte nackt, die Sonne blendete ihn und ließ seine Kopfschmerzen stärker werden. Es ist der Kater, dachte er.
Soll ich's vielleicht doch lassen? War ich gestern ein bisschen voreilig? Ein Schloss als Hobby? Irgendwann wird es langweilig werden, allein durch die Räume zu wandern, mit dem sauertöpfischen Slide Schach zu spielen, sein schiefes Lächeln zu sehen. Und wenn ich mir eine Frau suche, wer weiß, ob die gewillt ist, ein Leben in dieser Einöde zu führen. Helles Kinderlachen in den Sälen zu hören, wäre schön. Aber sollen sie in die Dorfschule gehen? Und Hauslehrer machen sich gern an die Gnädige heran. Das bringt Verdruss. Verdammt, heute morgen sehe ich alles düster und bedrückend. Er begegnete Slide im Treppenhaus. »Es ist alles bereit, Sir, wir können jederzeit abfahren.« »Okay, dann bringen wir's hinter uns. Achten Sie darauf, dass mich die Anwälte von Mrs. Osborne nicht übervorteilen.« Gordon Slide wunderte sich. Am Abend zuvor hatte der Amerikaner gesagt, er werde nicht versuchen, Mrs. Osborne herunterzuhandeln. 53
»Es könnte nämlich sein, dass mir Culver Castle mit allem Drum und Dran eines Tages gehörig stinkt. Und wenn ich es verkaufe, will ich keinen Verlust erleiden. Verstanden, Slide?« »Sehr wohl, Sir.« Der Diener hielt Mullingbrook den Wagenschlag auf und zeigte sein schiefes Lächeln und machte eine Verbeugung. Wer kann es ihm übel nehmen, dass er schlechte Laune hat?, dachte Slide. Nach dieser Nacht! * In den nächsten Tagen wurde Edgar Mullingbrook jedoch keine Spur freundlicher, eher noch missmutiger. Manchmal bereute Slide, dass er sich darauf eingelassen hatte, die Stellung zu wechseln. Mrs. Osborne hatte ihm keine Schwierigkeiten gemacht, ihn nur gebeten, an Stelle der einzuhaltenden Kündigungsfrist Locker House für sie herzurichten und ihre Sachen dorthin zu bringen. Das Wetter war umgeschlagen. Sturm peitschte Regenwolken heran. Mullingbrook ließ die Kamine beheizen und stand stundenlang am Fenster, die Hände auf dem Rücken, den finsteren Blick auf den Drachenbuckel gerichtet. »Sind Sie wetterfühlig, Sir?«, fragte ihn Slide eines Morgens, als ein Umschwung in seiner Laune noch immer nicht abzusehen war. »Hatte ich bisher keine Last mit«, gab er in seinem neuerdings üblichen nörgelnden Ton zurück. Aber seit der durchzechten Nacht habe ich Kopfschmerzen, dachte er. Entweder hat der Vollrausch mir doch
einen organischen Schaden zugefügt, oder ich vertrage das Klima hier nicht.
»Dann sollten Sie vielleicht einen Spaziergang machen. Es täte Ihnen sicher besser, als den Regentropfen zuzusehen, die an den Scheiben herunter rinnen.« »Sie zerbrechen sich bitte Ihren Kopf um eigene Angelegenheiten, okay? Soll ich mir da draußen eine Lungenentzündung holen? Mir geht Ihr schiefes Lächeln übrigens auf die Nerven. Es wirkt verdammt höhnisch, Slide.« 54
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir und werde mich bemühen, es zu ändern.« Besser ein schiefes Lächeln als überhaupt keins, dachte er.
Seit dem Morgen nach der Trinkerei hat er nicht einmal gelacht. Vorher schien er ganz fröhlich und umgänglich zu sein. Ob er sich vor uns schämt, weil er hier so eine Schweinerei hinterlassen und bis in den Morgen randaliert hat? Wenn man sich blamiert, muss man dazu stehen. Ein Mann würde es mit Fassung tragen. Er ist ein Weichling, ent-
schied Slide. »Und eine Lungenentzündung ist keineswegs zu befürchten. Ich habe Ihnen wunschgemäß die gleiche Regenjacke gekauft, wie ich sie trage und ein paar Gummistiefel.« »Okay, ich weiß zwar nicht, was ihr hier vorhabt, aber ich merke, ich soll aus dem Haus getrieben werden. Also her mit dem Zeug!« Slide widersprach heftig, was Mullingbrook jedoch nicht daran hinderte, missgelaunt in die Halle zu stapfen. Er zog die gelbe Regenjacke an, stieg kopfschüttelnd in die schwarzen Gummistiefel und verließ das Schloss. Nach einem ausgedehnten Spaziergang kam er mit rotem Gesicht und großem Appetit zurück. »Sie hatten Recht, Slide, tat mir gut. Vergessen Sie meine beleidigenden Unterstellungen.« Dienernd versucht Slide, ein gerades Lächeln zustande zu bringen, aber dabei kam eine Grimasse heraus, die Mullingbrook mit einem tadelnden Kopfschütteln quittierte. Von nun an machte er jeden Tag zwei solcher Spaziergänge. Er fühlte sich körperlich wohl dabei, empfand aber keine Befriedigung oder gar Freude. Ab und zu erblickte er den Schäfer mit seiner Herde in der Ferne und eines Morgens grasten die Schafe in Schlossnähe. Mullingbrook ging zu dem Mann hin und der grüßte verhalten. »Guten Morgen, Mr. Mullingbrook. Ich beglückwünsche Sie zum Kauf von Culver Castle.« »Manchmal frage ich mich, ob es eine gute Idee war. - Übrigens, der Gestank der Tiere stört mich. Halten Sie sich in Zukunft in angemessener Entfernung.« »Wird gemacht, Mr. Mullingbrook.« Forschend blickten die dunklen Augen des alten Mannes ihn an. Und Mullingbrook musterte ihn 55
verstohlen. Er hatte keine Hakennase, kein rotes Haar und jetzt, da er ihn nach jenem anderen Schäfer hätte fragen können, den er vor dreißig Jahren am Drachenbuckel gesehen hatte, spürte Mullingbrook nicht mehr das Verlangen, Kindheitserinnerungen aufzufrischen. Es war ihm gleichgültig, ob der Mann, der vor ihm stand, den Rothaarigen gekannt hatte. »Sie fühlen sich nicht wohl in Ihrer Haut«, stellte der Alte fest. »Nicht sonderlich. Woran merken Sie das?« »Wir Schäfer haben einen Blick dafür. Waren Sie schon mal in der alten Ruine?« Mullingbrook erinnerte sich dunkel, von einem Geist gehört zu haben, der da spuken sollte. Alles, was in der zweiten Nacht seines Aufenthaltes in Culver Castle geschehen war, tatsächlich oder eingebildet, rumorte im Nebel des Whiskyrausches und es gelang ihm nicht, es voll ins Bewusstsein zu zerren. »Nein, alte Ruinen interessieren mich nicht. Mich interessiert überhaupt sehr wenig, seit ich hier bin. Ich hatte mir das völlig anders vorgestellt. Anfangs war ich begeistert, wollte die Räume schön herrichten, im alten Stil und modern, je nach Lust und Laune. Inzwischen ist mir beides vergangen. Das Schloss oder das Klima oder die Landschaft hier verändern mich. Gibt's das?« Mit dem dreieckigen Schippchen am Ende seines Stabes warf der Schäfer Erde nach einem Hammel, der sich zu weit von der Herde entfernt hatte. »Es wird eine andere Ursache haben. Sie sollten sich jemandem anvertrauen, der Ihnen helfen kann.« »Ich weiß ja selbst nicht, was mir fehlt.« »Zum Glück gibt es Hirten, die verirrte Schafe auf den rechten Weg zurückbefördern.« »Wollen Sie das Bild auf mich anwenden?« Mullingbrook funkelte den Alten böse an. »Weil ich Ihre stinkenden Viecher nicht in Schlossnähe dulde, soll ich ein schlechter Mensch sein, wie?« Der Alte pfiff seinem Hund und unwillkürlich hob Mullingbrook die Fäuste. Aber der Schäfer wandte sich ab, ließ ihn einfach stehen und trieb seine Tiere in Richtung Drachenbuckel davon. 56
*
Mir fehlt etwas und ich weiß nicht, was es ist, grübelte Mullingbrook, während er mit seinen steifen Schritten durch den Saal ging wie ein eingesperrtes Tier. Ich kann weder lachen noch weinen, nehme an
nichts Besonderem Anteil. Ab und zu sehe ich in den dunklen Ecken der Räume grinsende Fratzen. Früher hätte mich das zu Tode geängstigt. Jetzt lässt auch das mich kalt. Und wenn ich mir den schönen Wagen ansehe, den ich mit Slide zusammen in Edinburgh gekauft habe, regt sich nicht die Spur von Freude in mir. »Der junge Mann ist wieder da«, sagte Jack von der Tür her. »Was? So eine Frechheit. Diesmal werde ich ihm selbst die Meinung sagen«, rief Mullingbrook und stürmte in die Halle hinaus. Am Vormittag hatte ein Pärchen Einlass begehrt, wollte das Schloss besichtigen. Mullingbrook hatte Anweisung gegeben, niemanden hereinzulassen. Er wollte keine Fremden sehen. Die wenigen Menschen um ihn, die ihn bedienten, langten ihm vollauf. Bei seinem Spaziergang hatte er das Zelt von weitem gesehen und sofort einen anderen Weg eingeschlagen, um den jungen Leuten nicht zu begegnen. Wegen bohrender Kopfschmerzen hatte er den sonst üblichen zweiten Gang an diesem Tag nicht mehr gemacht, sondern sich im Wintergarten auf die Chaiselongue gelegt. Dieser ebenerdige Raum mit den großen Glastüren, die in den Garten hinausführten, war das einzige von Hazel Osborne eingerichtete Zimmer, das ihm gefiel. Die riesigen Blattpflanzen gediehen prächtig dank der eigens für diesen Zweck installierten Klimaanlage und auch Mullingbrook fühlte sich in der feuchten Wärme wohl. Besonders, wenn er seine Migräneanfälle hatte. »Wie ist Ihr Name?«, herrschte Mullingbrook den jungen Mann an, den Jack eben hereingebeten hatte. Statt zu antworten, wich der Junge mit weit aufgerissenen Augen, in denen Panik schimmerte, bis an das Portal zurück. Sein Unterkiefer sackte herab. 57
»Sind Sie stumm?« Mullingbrook wandte sich an Jack, der blinzelnd von dem Besucher zu seinem neuen Herrn blickte. »Hat er nicht bei seinen früheren Besuchen gesprochen?« »Doch, Sir, er hat gesprochen. Erst war er mit dem hübschen Mädchen da, wollte das Schloss besichtigen. Da war ich nicht an der Tür. Hab' draußen Dahlien an Stützen gebunden, aber deutlich gehört, dass er sprach. Später kam er noch mal, wollte einen Picknickkorb.« »Also, Sie Störenfried, was ist es diesmal?«, herrschte Mullingbrook den jungen Mann an, der völlig durchnässt und entgeistert dastand. »Sie sind - Sie sind doch - Mr. Mullingbrook?« »Natürlich. Und wer sind Sie?« »Aber - wir kennen uns doch«, flüsterte der junge Mann. Dann griff er nach der Türklinke und wollte hinausstürmen. Mullingbrook befahl Jack: »Festhalten!« Der Diener packte den Besucher am Anorak und ließ nicht los. Inzwischen war auch Slide gekommen. »Da ist er ja schon wieder. Ein Nein als Antwort akzeptieren Sie wohl nicht?«, fragte er. John Kirkiswood begann heftig zu zittern. Er hatte Eve blutüberströmt mit gespaltenem Schädel gefunden. Von dem Mörder war keine Spur zu sehen. Und jetzt stand er ihm hier gegenüber. Lange hatte sich John überlegt, was er tun sollte. Ins Zelt konnte er nicht. Es widerstrebte ihm, durch die Blutlachen zu kriechen, aber sich die bespritzten Zeltwände. Er konnte Eve nicht einmal anfassen. Kein Streicheln als letztes Lebewohl. Wie lange er so vor dem Zelt gesessen hatte, wusste er nicht mehr. Unzählige Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen.
Wenn der Mörder wirklich dieser neue Schlossherr ist, wird die Polizei ihm mehr glauben als mir, dem trampenden Anstreicher. Natürlich wird er leugnen, bei uns am Zelt gewesen zu sein. Und er hat seinem Personal auch nichts von einem Picknickkorb gesagt, also stehe ich da schon mal dumm und als Lügner da. Am besten wäre es, sich davonzumachen, einfach ein paar Sachen einpacken, laufen, bis sich ein Wagen findet, der mich mitnimmt. 58
Bloß wird der Mörder dann meine Beschreibung an die Polizei geben und irgendwann fassen sie mich. Das sieht dann schlimmer aus, weil ich geflüchtet bin, als wenn ich sie selbst benachrichtige. Und wenn der Mörder nicht der Schlossherr war, uns nur dessen Namen nannte? Ich werde es wissen, sobald ich den echten Mr. Mullingbrook zu Gesicht bekomme. Hin und her gerissen hatte er sich endlich entschlossen, doch zum Schloss zu gehen. Auf einer einsamen Landstraße konnte ihn der Täter leicht auch noch erwischen, um den Augenzeugen - den Beinahe-Augenzeugen, verbesserte sich John - zu beseitigen. War es aber der Schlossherr, so konnte er ihn vor seinem eigenen Personal wohl kaum umbringen. Jetzt, da er Mullingbrook Auge in Auge gegenüberstand, der junge Diener mit den abstehenden Ohren ihn festhielt und der zweite ältere Diener ihn anschnauzte, war er nicht mehr so sicher. Wenn die alle zusammenhielten, dann war sein Leben keinen Heller mehr wert. Der Schlossherr spielte hervorragend. Er leugnete, ihn je gesehen zu haben und fragte dauernd nach seinem Namen. Okay, dachte John, spielen wir es auf deine Art, solange wir auf
die Polizei warten. Aber dann packe ich aus.
»Meine Freundin ist ermordet worden«, sagte er leise. Erschrocken ließ ihn Jack los und John taumelte gegen die Tür. »Ermordet?« Slide wurde blass und sah seinen Chef fragend an. Mullingbrook blieb ruhig. »Das - junge Mädchen, mit dem Sie heute Vormittag hier waren? Sind Sie sicher? Ich meine, ist sie tot? Und wieso wollen Sie wissen, dass es Mord... Meine Güte, ich bin völlig durcheinander.« »Wo ist es geschehen?«, fragte Mullingbrook. Als ob du das nicht am besten wüsstest, dachte John, beherrschte sich aber. »In unserem Zelt. Wir haben es in der Nähe vom Drachenbuckel aufgebaut.« »Ja, ich weiß.« Aha, jetzt hat er sich verraten. »Ich habe heute früh einen Spaziergang gemacht«, fuhr Mullingbrook fort, »da sah ich das Zelt. Wenn es stimmt, was Sie sagen, 59
das wäre fürchterlich. Andererseits - Sie kommen mir ziemlich zwielichtig vor. Wollen Sie uns jetzt endlich Ihren Namen nennen?« »John Kirkiswood. Gehen Sie doch hin und überzeugen Sie sich«, sagte er herausfordernd. »Slide, das übernehmen Sie!«, befahl Mullingbrook. »Sir, tut mir leid, alles, aber das nicht«, lehnte der Diener ab. »Wenn es eine Falle ist, setze ich mein Leben aufs Spiel. Wir glauben doch, dass Mrs. Osborne die Wahrheit sagt. Also treibt sich hier noch ein Mörder herum. Kann es nicht dieser Bursche sein? Mit einem Komplizen? Und wenn wirklich ein Mord verübt wurde, möchte ich nicht meine Spuren am Tatort hinterlassen. Sie verstehen das ganz besonders gut, Sir, wenn Sie an unser Gespräch am Morgen nach Mr. Kulans Tod denken.« »Daran denke ich die ganze Zeit, Slide - und an die Unterstellungen des Inspektors. Wenn uns Kirkiswood keinen Bären aufbindet, dürfte Mrs. Osborne bald frei sein. - Wie wurde Ihre Freundin umgebracht?«, fragte Mullingbrook den jungen Mann. John Kirkiswood wurde in Erinnerung an den grässlichen Anblick leichenblass und schluckte trocken. »Schlag über den Schädel«, würgte er hervor. »Mir - wird schlecht.« Mullingbrook bedeutete Jack mit einer Geste, den jungen Mann zu einem Sessel zu führen. Dann forderte er: »Slide, bringen Sie unsere Stiefel und Jacken! Wir gehen gemeinsam. So langsam werden auch wir ein gut eingespieltes Team.« Als Slide sich entfernt hatte, nahm Mullingbrook eine Pistole aus der Kommode neben der Tür. Sie gehörte Hazel Osborne und war auf ihren Namen registriert. Der Amerikaner lud die Waffe, entsicherte sie und reichte sie Jack, dessen abstehende Ohren rot angelaufen waren und wie Schlusslichter leuchteten. »Sie halten ihn in Schach. Möglicherweise haben wir hier den Mörder, nach dem die Polizei seit Jahren sucht.« Jack nickte stumm. Slide kam mit gelben Jacken und schwarzen Gummistiefeln zurück und half Mullingbrook beim Anziehen. Von hinten konnte man sie nur an der Haarfarbe unterscheiden. 60
John Kirkiswood sah ihnen schwer atmend zu. Als sie fertig angezogen waren, reichte Slide dem Amerikaner eine der beiden Büchsen, die er mitgebracht hatte. Von einem Jagdausflug her, den sie kurz nach Mullingbrooks Einzug in Culver Castle gemacht hatten, wusste Slide, dass er ein guter Schütze war. »In Ihrer Gegenwart fühle ich mich bedeutend sicherer, Sir«, sagte er und hielt Mullingbrook die Tür auf. »Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig«, rief John den beiden nach, aber sie hörten ihn nicht mehr. * Nachdem die Tür krachend ins Schloss gefallen war, wagte sich Leontine aus ihrem Versteck hinter der Tür zum Korridor, der in die Küche führte. »Was ist denn los, Jack?«, fragte sie im Flüsterton. John, der in einem hochlehnigen Sessel saß, drehte ihr den Rücken zu und sie konnte ihn nicht sehen. Als sie die Pistole in Jacks zitternder Hand entdeckte, schrie sie vor Schreck leise auf. »Ich bewache hier einen. Vielleicht ist es der Mann, der Mrs. Osbornes Liebhaber vergiftet und den letzten erschlagen hat.« Leontine ging um den Sessel herum und sah John an. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nie! Der ist doch viel zu jung.« »Egal, ich soll ihn bewachen.« »Steck das Ding lieber weg, sonst geht's noch aus Versehen los«, sagte John Kirkiswood. »Wie lange kennt ihr den Amerikaner schon?« »Ein paar Tage«, antwortete Leontine freundlich. John gefiel ihr, was Jack bemerkte. Mit wachsendem Unmut musterte er den Fremden. »Ist euch an ihm nichts aufgefallen?« »Erst war er ganz nett. Dann passierte der Mord. In der nächsten Nacht hat er sich betrunken. Wir hörten ihn reden. Nicht wahr, Jack?« Jack schwieg mit finsterem Gesicht. 61
»Jack ist nämlich in mein Zimmer gekommen. Ich konnte es vor Angst nicht aushalten.« »Ich bin schon vorher in dein Zimmer gekommen. In der Mordnacht war ich auch da. Der Inspektor weiß es, Slide weiß es, warum es also verschweigen?« Leontine seufzte. »Ist ja gut. Was hätte uns denn an Mr. Mullingbrook auffallen sollen?« »Dass er im Kopf nicht ganz richtig ist. Er hat mich nämlich schon früher gesehen. Und dann, als ich herkam, brüllte er dauernd nun, ich sollte ihm meinen Namen sagen. Dabei wusste er ihn. Wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, geht ans Telefon und ruft die Polizei!« »Das dürfen wir nicht.« »Ihr hättet Eve sehen sollen. Und das Zelt. Als hätte einer alles mit roter Farbe voll gespritzt. Und ihr Kopf... Schrecklich! Der muss einen scharfen Metallgegenstand benutzt haben. Sonst kann man doch nicht den Schädel... Oh, ist mir schlecht.« »Wie bei Mr. Rulan«, sagte Leontine zu Jack. »Komm, wir geben ihm einen Schluck Whisky. Wenn Mr. Mullingbrook den Saal damit überschwemmt, können wir jemandem ein Glas voll gönnen, der's nötig hat.« Als Jack keine Einwände erhob, ging das Mädchen und kam mit einem Wasserglas zurück. Dankbar trank John Kirkiswood. Dann meinte er: »Wir Schotten sollten zusammenhalten. Ich sage euch, der ist verrückt. Ich glaube ihm sogar, dass er mich nicht wieder erkannt hat. Wenn Irre ihren Anfall haben, wissen sie hinterher auch nichts mehr. Und nur ein Irrer konnte Eve umbringen. Sie hätte nie einer Fliege was zuleide getan. Jetzt ist mir auch klar, warum er mich weggeschickt hat. Er trug genau die Klamotten, die die beiden eben angezogen haben. Schwarze Gummistiefel, gelbe Jacke, nichts auf dem Kopf.« John erzählte den beiden jungen Dienstboten, was sich am Zelt zugetragen hatte. Aber Jack blieb skeptisch. »Das kann nicht stimmen. Als Sie herkamen, um nach dem Picknickkorb zu fragen, war er im Schloss. Und zu der Zeit muss es ja passiert sein.« 62
»Seid ihr ganz sicher?« Die beiden dachten eine Weile nach. Dann sagte Leontine: »Er war im Wintergarten. Schließt sich dort ein, wenn er Migräne hat. Dann darf ihn niemand stören. Hast du mit ihm gesprochen, Jack?« »Nein, ich habe Mr. Slide gefragt, ob etwas von einem Picknickkorb bekannt sei.« Leontine befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Dann weißt du auch nicht, ob Mr. Mullingbrook im Schloss war. Aus dem Wintergarten führen Türen in den Garten. Er konnte gehen und kommen, ohne dass wir ihn gesehen hätten.« »Das stimmt.« Nun wurde es auch Jack mulmig. Hatten sie all die Nächte mit einem Wahnsinnigen unter einem Dach gehaust? * Schweigend hatten Mullingbrook und Slide den Weg zum Drachenbuckel und zum Zelt zurückgelegt. Es wurde jetzt rasch dunkel, aber der umsichtige Diener hatte in jede Jacke eine Taschenlampe gesteckt. Slide leuchtete in das Zelt hinein, Mullingbrook sah ihm über die Schulter. Der Diener sagte leise: »O Gott!« Er wandte sich ab, presste die Lippen zusammen, biss sich auf die Zähne und versuchte, sich zu fassen. Mullingbrook schaltete seine Taschenlampe ein und betrachtete die scheußliche Szenerie. Zweifellos war dies hier dieselbe Handschrift wie bei Bertram Rulan. Sogar die Mordwaffe konnte die gleiche sein, denn die Wunde hatte die gleiche Form und Größe. Der Amerikaner wunderte sich darüber, dass er nichts empfand. Weder Schreck noch Abscheu gegen den Täter oder Mitleid mit dem Opfer. In aller Ruhe leuchtete er den Boden neben dem Zelt ab, ging darum herum und sah etwas metallisch aufblitzen. Die Eisenhand einer Rüstung. 63
»Slide, dies dürfte die Mordwaffe sein. Wir sollten sie in etwas einwickeln und mitnehmen, um eventuelle Fingerabdrücke zu sichern.« Er sah zum Himmel. »Bevor der Terrier hier ist, kann es noch einige Güsse geben.« Als Slide sich bückte und den Eisenhandschuh in eines seiner blütenweißen Taschentücher wickelte, ermahnte ihn Mullingbrook: »Merken Sie sich den Fundort genau. Sie wissen, der Terrier ist pedantisch.« »Warum, um alles in der Welt, nennen Sie den Inspektor Terrier?« »Er erinnert mich an diese Jagdhunde«, gab Mullingbrook gelassen zurück. »Ich bewundere Ihre Selbstbeherrschung, Sir. Ist es nicht abscheulich?« »Allerdings. Ein ermordetes Mädchen wirkt irgendwie rührender als ein erschlagener Mann. Ist es das, was Ihnen zu schaffen macht?« Slide antwortete nicht. Mullingbrook wurde ihm allmählich unheimlich. Er konnte nicht ahnen, dass Edgar seine Reaktion selbst unnatürlich fand. Was ist nur mit mir los?, fragte er sich. Der Mord erschütterte ihn nicht. Er ließ ihn buchstäblich kalt. * Inspektor McDonald brachte es fertig, noch aufgebrachter und bärbeißiger zu sein als bei seinem ersten Besuch. Seine Beamten und er arbeiteten in strömendem Regen und im gleißenden Licht ihrer Wagenscheinwerfer am Fuß des Drachenbuckels. Es dauerte Stunden. Als sie müde, durchnässt und beschmutzt ins Schloss kamen, hatte Slide für heißen Tee und einen warmen Imbiss gesorgt. McDonald stärkte sich und nahm sich dann als ersten Slide vor. Die beiden waren allein im kleinen Salon. Vor der Tür war ein Beamter postiert, der dafür sorgen sollte, dass niemand lauschte. »Sie können sich denken, warum mein Verdacht zunächst auf Sie fällt, Mr. Slide?« 64
»Ich hoffe, dass es unter uns bleibt, wenn ich Ihnen sage, Mr. Mullingbrook hat mir gegenüber etwas durchblicken lassen. Sie meinten, ich könne eine Befreiungstat planen. Aber ich schwöre Ihnen, Mrs. Osborne könnte mich nie zu einem Mord verleiten. Ich liebe sie nicht, es gab auch nichts zwischen uns. Und selbst wenn sie unschuldig hinter Gittern sitzen müsste, ein Leben lang, das würde mich nie zu einem Verbrechen bewegen.« »Nun schildern Sie mal genau, was sich heute hier abgespielt hat, möglichst mit Zeitangaben. Von unseren früheren Begegnungen weiß ich, dass Sie ein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis haben.« Slide tat sein Bestes und wurde - scheinbar gnädig - entlassen. McDonald ließ einen seiner Beamten zu sich kommen und befahl ihm, Slide zu beobachten und zu verhindern, dass er sich aus dem Schloss entfernte. Als nächsten nahm sich McDonald den jungen Mann vor, dessen Freundin erschlagen worden war. Er hörte sich seine Schilderung an, ohne ihn zu unterbrechen und fragte ihn, als er geendet hatte: »Waren Sie je zuvor in dieser Gegend?« John Kirkiswood verneinte. »Haben Sie Mullingbrook heute zum ersten Mal in Ihrem Leben gesehen?« »Als er zu uns ans Zelt kam, ja.« »In Edinburgh nicht? Er war dort, Sie waren dort. Man könnte sich begegnet sein.« »Nein, ich hätte ihn sicher erkannt. Dieser merkwürdig starre Blick - wie von einem Geistesgestörten. Solche Menschen übersieht man nicht so leicht.« »Wir werden all das nachprüfen.« »Ist mir klar. Hoffentlich glauben Sie ihm nicht mehr als mir.« »Warum sollte ich das?« John zog die Mundwinkel herab und wies mit einer umfassenden Geste in den Raum. »All das hier gehört ihm. Und ich bin ein armer Schlucker.« 65
»Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, unterstellen Sie mir keine Vorurteile«, schnappte der Inspektor - und sah jetzt tatsächlich einem gereizten Terrier ähnlich. »Bei Ihrem ersten Besuch hier im Schloss ließen Sie nicht zufällig einen Eisenhandschuh von einer Rüstung mitgehen?« »Wir kamen ja gar nicht rein. Und wozu sollte ich einen...« »Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Sie in Edinburgh nichts von dem spektakulären Mord gelesen haben.« »Wir haben nie Zeitungen gekauft.« »Denn wenn Sie Ihre Freundin los sein wollten - vielleicht für immer und auf eine Weise, die kein Zurück erlaubt - hätten Sie es gar nicht besser einfädeln können. Man nehme einen Handschuh von einer Rüstung, gebe seiner Freundin eins über den Schädel und der Mord wird dem Unbekannten zugeschrieben, der kurz zuvor auf die gleiche Weise tötete. Die blöde Polizei wird es schlucken. Aber ganz so stupide sind wir nicht. Wir haben nämlich Erfahrungen mit Nachfolgetaten.« Gespannt wartete McDonald auf die Reaktion. Aber John Kirkiswood brüllte nicht im Jähzorn los und wurde auch nicht handgreiflich wogegen sich der Inspektor schon gewappnet hatte. John Kirkiswood sackte in sich zusammen, ließ Arme, Kopf und Schultern hängen und begann zu weinen. »Ich habe sie geliebt. Warum hätte ich sie denn... Sie war so ein gutes Mädchen. Wir waren glücklich. In ein paar Jahren hätten wir vielleicht, hätten wir geheiratet. Und da werfen Sie mir - solchen Dreck an den Kopf. Mann, seid ihr Bullen Schweine.« »Danke, John, das war so ungefähr das beste Plädoyer in eigener Sache, das ich je gehört habe.« Als dritten befragte McDonald den neuen Schlossherrn, Edgar Mullingbrook. Seine Schilderung wich kaum von dem ab, was der Inspektor von Slide und John erfahren hatte. Allerdings leugnete Mullingbrook, allein und solange das Mädchen noch lebte am Zelt gewesen zu sein. »Ich habe es von weitem gesehen und absichtlich einen anderen Weg eingeschlagen. Früher war ich kein Einsiedler. Aber, jetzt ziehe 66
ich mich am liebsten zurück. Irgendetwas hier verändert mich, die Landschaft, das Klima, ich weiß es nicht.« »Trinken Sie viel Whisky?« »Nein. Ach so, Slide hat Ihnen von unserer Sauferei erzählt. Das war eine Ausnahme.« Slide hatte nichts Derartiges erzählt, aber McDonald nahm sich vor, da nachzuhaken. Seit Mullingbrooks Auftauchen in Culver Castle waren zwei Morde verübt worden, die mehr auf einen männlichen Täter hinzuweisen schienen als die drei ungeklärten Todesfälle, wegen der Hazel Osborne immer wieder in Untersuchungshaft gewandert war. Gordon Slide und John Kirkiswood hatten den Inspektor fast davon überzeugt, dass weder eine Befreiungstat vorlag, für die der Diener in Frage gekommen wäre, noch eine Nachfolgetat, die auf Kirkiswoods Konto gegangen wäre. Hazel Osborne konnte den Mord an dem Mädchen nicht verübt haben. Während McDonald den neuen Schlossherrn mit seinem Glasmurmelblick fixierte, folgerte er weiter. Drei Selbstmorde mit Gift, weil Hazel Osborne ihren jungen Liebhabern den Laufpass gegeben hatte? Es war denkbar. Er hätte sie wahrscheinlich nie festgenommen, wenn der anonyme Anrufer nicht immer wieder versichert hätte: »Hazel Osborne ist eine Giftmörderin. Solange sie frei herumläuft, werden ihre Liebhaber sterben.« War der Anrufer selbst der Täter? Es gab sicher genug Männer, die bei Hazel abgeblitzt waren. Dieser eine mochte so viel Hass empfinden, dass er ihre Liebhaber tötete und sie als Giftmörderin im Gefängnis sehen wollte. Wenn er auch für die beiden anderen Morde verantwortlich war, weshalb hatte er dann seine Methode geändert? Giftmorde waren typisch für Frauen, nicht aber, jemanden mit dem Eisenhandschuh einer Rüstung zu erschlagen. Und für den Mord an Eve kam Hazel überhaupt nicht in Betracht, denn sie saß im Gefängnis von Edinburgh. Die fünf Todesfälle ergaben kein einheitliches Muster, das die Handschrift eines einzigen Täters verriet. 67
So komme ich nicht weiter, dachte McDonald.
»Sie müssen ein sehr gutes Gewissen haben, Mr. Mullingbrook.« »Wieso? - Natürlich, warum auch nicht?« »Normalerweise werden Menschen unruhig, wenn ich sie lange stumm ansehe.« »So? Ist das Ihre Masche? Ich dachte, Sie überlegten.« »Ja, das habe ich auch getan. Sie haben sich wirklich sehr verändert seit unserer ersten Begegnung. Sie strahlen etwas aus, das nicht leicht zu beschreiben ist, etwas Düsteres, Abgeklärtes, irgendwie Unnatürliches.« In Mullingbrooks leerem Gesicht ging nichts vor. »Ich leide unter Migräne, seit ich hier bin. Vielleicht liegt es daran.« John hat Recht, dachte der Inspektor. Er muss irre sein. Weshalb
kommt ein reicher Amerikaner in die Einöde, kauft ein Schloss und lebt zurückgezogen? Ich werde Erkundigungen einziehen, ob in seiner Heimat etwas gegen ihn vorliegt, ob es in seiner näheren Umgebung, in seinem Bekanntenkreis ungeklärte Todesfälle oder gar Morde gab.
»Für den Augenblick haben Sie mir wohl nichts mehr zu sagen?« Mullingbrook zuckte die Schultern. »Sie müssen schon fragen. Ich bin kein Kriminalist und weiß nicht, welche Einzelheiten für Sie wichtig sein könnten.« McDonald begleitete ihn hinaus und ließ zunächst Jack, dann Leontine kommen. Als er mit den beiden fertig war, stand der Schäfer in der Halle, den ein Beamter auf McDonalds Anweisung herbeigeholt hatte. Nachdem sich der Inspektor vergewissert hatte, dass sein Beamter vor der Tür Neugierige vom Lauschen abhielt, bot er dem Schäfer Platz an. »Sie wissen, was geschehen ist?« »Hier in der Einsamkeit fällt es auf, wenn Autos herumkurven und stundenlang Scheinwerfer durch die Nacht leuchten. Ich dachte mir schon, dass wieder was mit den Schlossleuten los ist, aber so was Schreckliches nicht.« McDonald befragte den alten Daniel McRycer und verglich die Zeiten mit dem, was ihm die anderen bisher geschildert hatten. 68
»Sie sind also sicher, dass Edgar Mullingbrook heute seinen sonst üblichen Nachmittagsspaziergang nicht machte?« »Sicher kann ich da nicht sein. Mr. Mullingbrook hat mir ja verboten, in Schlossnähe zu kommen. Ich habe meine Tiere fortgetrieben und ihn nicht mehr gesehen.« »Welchen Grund nannte Ihnen der Amerikaner?« »Der Gestank störte ihn.« »Wenn er am Nachmittag in der Nähe des Zeltes gewesen wäre, hätten Sie ihn auf dem Hinweg oder auf dem Rückweg sehen können?« »Nur, wenn er über den Drachenbuckel gestiegen wäre. Aber das tat er nie.« * Im Morgengrauen verabschiedete sich ein sehr missmutiger McDonald von Mullingbrook. Während der Inspektor dem Amerikaner kurz die Hand drückte, fragte er sich, ob er außer dem, Gestank der Schafe noch einen Grund gehabt haben könnte, McRycer vom Schloss fernzuhalten. Edgar Mullingbrook überlegte zur selben Zeit, wieso die Haltung des Inspektors ihm gegenüber so völlig anders geworden sei. Nach dem ersten Mord hatte er ihn regelrecht ins Vertrauen gezogen und vor Slide gewarnt. Nun schien er misstrauisch und wahrte Distanz. Er erinnerte sich noch genau an seine Reaktionen vor der unerklärlichen Veränderung. Diese eisige Atmosphäre hätte ihn früher beunruhigt. Nun aber registrierte er sie lediglich.
Ich komme mir neuerdings vor wie eine Rechenmaschine. Ich addiere bloß Gedanken statt Zahlen, ging es Mullingbrook durch den Kopf, als er die Abfahrt der Polizeifahrzeuge beobachtete. »John Kirkiswood wird sich hier in der Nähe zur Verfügung halten«, hatte der Inspektor angeordnet, bevor er ging. »Er kann sich im Schloss nützlich machen, um sein Essen zu verdienen. Sie wissen sicher, dass er Anstreicher ist. Da Sie hier einiges verändern wollen, 69
trifft sich das gut. Sollten Sie ihn nicht aufnehmen wollen, kann er bei McRycer bleiben. Hazel Osborne wird nun wieder triumphieren.« McDonald winkte Mullingbrook nicht zu, wie er das nach ihrer ersten Begegnung getan hatte. Er murmelte mit verkniffenem Gesicht etwas zu dem Beamten, der ihn fuhr. Mullingbrook bezog es auf sich, aber es glitt an ihm ab. Tatsächlich machte der Inspektor jedoch eine Bemerkung über Hazel Osborne und seine Karriere. »Diese Lebedame bringt es noch soweit, dass ich meinen Hut nehmen muss. Anfangs hat der Chef mich ja gestützt. Allmählich wird er weich unter dem ständigen Beschuss der Presse. Wissen Sie, was er gesagt hat? ›Wenn Sie sich schon jemanden aussuchen, den Sie immer wieder festsetzen, Gordon, obwohl die Beweise nicht ausreichen, warum dann ausgerechnet eine Frau wie Hazel Osborne, die so seelenvoll mit den Wimpern klimpern kann? Da schmelzen die Herzen von Geschworenen, Untersuchungsrichtern und Journalisten und wir sind die Blödiane.‹ Hat er mir an den Kopf geworfen, der Super«, grollte McDonald und war froh, dass sie gewendet hatten und Culver Castle nicht mehr sahen, das so langsam zum Trauma für ihn wurde. »Seelenvoll! Die Osborne und seelenvoll. Alles Mache. Wer darauf reinfällt...« Er unterbrach sich und grübelte angespannt. »Ich hab's«, rief er dann. »Doch ein Beweis gegen die Osborne, Chef?«, fragte der Beamte gutmütig. »Quatsch! Die müssen wir nun wieder sausen lassen. Ich hab's endlich gefunden, was von Mullingbrook ausgeht, neuerdings. Er wirkt seelenlos. Ist Ihnen das auch aufgefallen?« Der Konstabler zuckte die Achseln. »Auf mich wirkt er leicht bekloppt.« * »Okay, wenn wir Sie John nennen? Ihr Name ist für mich zu lang«, sagte Mullingbrook jovial zu Kirkiswood, als die Polizeifahrzeuge außer Sicht waren. »Lassen Sie ihm ein Zimmer herrichten, Slide.« Damit 70
drehte er sich um und ging hinter dem Schäfer her, der in Richtung Drachenbuckel davon stapfte. »Sie wollen wissen, was ich der Polizei erzählt habe?«, fragte McRycer, ohne Mullingbrook anzusehen. »Nein, wie kommen Sie darauf?« »Was soll ich sonst denken? Dass Sie mir folgen, um in den Genuss einer Nase voll Schafsgestank zu kommen?« »Das haben Sie mir wohl schwer übel genommen, wie? Sie sind das gewohnt. Ich komme aus der Großstadt und nehme Abgase schon kaum mehr wahr. Die Welt ist halt voller Spezialisten.« Jetzt hätte er gelacht, aber er konnte nicht. McRycer blieb stehen und sah ihn an. »Wollten Sie eben lachen?« »Wieso?« »Ich dachte. Es klang fast so.« »Na ja, meine Bemerkung war zumindest als bescheidener Witz gedacht. Ich meine, jeder ist auf irgendeine Art verdorben.« »Sie - können nicht mehr lachen«, sagte ihm der Schäfer auf den Kopf zu. »Das beunruhigt Sie. Nein, Sie sind mir wirklich nicht gefolgt, um zu erfahren, was ich dem Inspektor gesagt habe. Sie denken über die Hirten nach, die verlorene Schafe auf den rechten Weg zurückbringen.« Er ging weiter und Mullingbrook lief hinter ihm her. Sein Verstand sagte ihm, dass er sich ziemlich lächerlich benahm. Was ging ihn der alte Mann an, der sein Leben mit Tieren und in der Natur verbrachte? Ein Gespräch mit McRycer konnte wohl kaum interessant sein. Und doch zog es ihn zu dem Alten hin. McRycer setzte sich auf einen Stein und sah zu der Stelle hin, wo das Zelt gestanden hatte. Das Gras begann sich wieder aufzurichten, wenn auch vorerst nur an wenigen Stellen. Die Reifenspuren würden noch lange zu sehen sein. »Es ist schon lange nicht mehr geschehen, soviel wir wissen«, sagte McRycer. »Aber das ist keine Garantie dafür, dass es nie wieder geschehen wird.« »Sie drücken sich in Rätseln aus.« »Sie haben - gespielt?« 71
Mullingbrook begriff noch immer nicht. Etwas in ihm wehrte sich dagegen, mit diesem Mann offen zu sprechen. Andererseits war eine dumpfe Hoffnung in ihm, dass der Schäfer ihm helfen könne. »Ich verstehe mich selber nicht. Daheim in den USA wäre ich nie zu einem Wunderheiler gegangen. Aber diese Migräne macht mich wahnsinnig. Ich bin ständig wie gedopt. Obwohl ich keine Drogen einnehme, bin ich von einer unnatürlichen Ruhe und Gelassenheit. Ich konnte das dem Inspektor ja wohl kaum erzählen. Der hätte mich glatt für übergeschnappt gehalten. Als ich das tote Mädchen fand - zusammen mit Slide - fühlte ich überhaupt nichts. Das ist doch unnatürlich. Ich war nie so kalt. Und jetzt benehme ich mich wieder eigenartig. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen nachlaufe. Etwas sagt mir, Sie könnten mich heilen. So ein vages Gefühl...« »Ihr Instinkt bewirkt, dass Sie mir vertrauen. Ich will Sie nicht enttäuschen. Dann stimmt es also doch. Sie haben Ihre Seele verspielt.« Wieder wollte Mullingbrook lachen, aber es kam nur ein trockenes Husten dabei heraus. Böse und doch gelassen sagte er: »Sie wollen mich nicht enttäuschen? Scheint mir eher, als wollten Sie mich mit Ihrem Geschwätz um den Verstand bringen.« »Es klingt wirklich verrückt. Aber alle Anzeichen deuten darauf hin. Mary Motterness, die dreiundachtzigjährige Frau, die auf Culver in der Küche aushilft, hörte vom Personal, dass Sie in der Nacht mit Slide zechten. Lange nachdem Slide gegangen war, hat man Sie noch reden hören. Leontine fand morgens die Würfel und den Becher auf dem Tisch. Sie haben mit einem Geist um Ihre Seele gewürfelt - und verloren. Erinnern Sie sich nun?« Vage kam es Mullingbrook zum Bewusstsein, dass der Schäfer Recht haben konnte. Er sagte es ihm, versuchte zu beschreiben, dass es keine präzise Erinnerung war, dass es unfassbar wie ein Traumerlebnis blieb. »Aber wenn das möglich wäre, seine Seele zu verspielen, könnte ich mir manches erklären, das mich in letzter Zeit beunruhigt. Mein völlig verändertes Wesen, meine Gemütsverfassung. Es gibt keine Höhen und Tiefen mehr für mich, alles ist gleichförmig, gleichgültig. Keine Freude, keine Qual. Ach, ich sollte lieber zu einem Psychiater 72
gehen. Sie können mir doch nicht helfen. Sie glauben an eine Seele, ich nicht.« Der alte Mann lächelte überlegen, weise. »Und doch fehlt sie Ihnen sehr, Ihre Seele, an deren Existenz Sie nicht glauben. Kommen Sie heute gegen Mitternacht in die alte Ruine. Ich werde ein Experiment machen. Angst kennen Sie wohl auch nicht mehr, seit Sie sich - verändert haben?« »Erstaunlicherweise nicht. Und dabei war ich schon immer ein Feigling.« Als sich Mullingbrook gegen elf Uhr zur alten Ruine auf den Weg machte, konnte er verstehen, weshalb der Inspektor in der vergangenen Nacht nach seiner Arbeit am Drachenbuckel so wütend gewesen war. Es war schon fast winterlich kalt und stockfinster, wenn der Sturm Wolken vor den Mond trieb. Eisige Regengüsse hatten die Weiden in Morast verwandelt. In der Ferne tobte ein Gewitter, erhellte den Himmel von Zeit zu Zeit mit gleißenden Blitzen, wonach das Dunkel ringsum noch schwärzer schien. Eine richtige Spuknacht, dachte Mullingbrook mit einem Anflug seines früheren Humors. Daniel McRycer war schon da und bei ihm schien es vergleichsweise gemütlich. Er hatte mehrere Stalllaternen im Kreis aufgestellt und in einer Mauernische der Ruine ein Feuer entfacht. Außerhalb des beleuchteten Halbkreises vor der Mauer blökte ein angepflockter Schafbock. »Du kommst spät, Edgar«, sagte der Schäfer und Mullingbrook wunderte sich über die respektlose Anrede. Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Nichts machte ihm etwas aus. Sein Zustand war nach wie vor benommen. »Für die Geisterbeschwörung lassen wir alle Formalitäten«, sagte der Schäfer. »Nenn mich Daniel. Wir werden unsere Kräfte für anderes brauchen. Ein Blutopfer wird dich in deiner jetzigen Verfassung kaum schrecken. Es ist nötig, um Zaitanus anzulocken.« Zaitanus. Da war wieder dieser Hauch von Erinnerung. Wie ein Glockenläuten aus weiter Ferne. 73
Ungerührt sah Mullingbrook zu, wie der Schäfer dem Hammel mit dem zwölften Glockenschlag, der vom Kirchturm des Dorfes herüber klang, die Kehle durchschnitt. Er wusste genau, dass sich ihm noch vor wenigen Tagen bei diesem Anblick der Magen umgedreht hätte. Der alte Daniel fing das Blut in einem Blechtopf auf und stellte ihn ins Feuer. Dann trug er das tote Tier zu einem flachen Stein, in den merkwürdige Zeichen eingemeißelt waren. »Zaitanus, nimm das Opfer an und erscheine!«, brüllte er, dass Mullingbrook zusammenfuhr. Dann trat er zu dem Amerikaner, nahm seine Hände und forderte ihn auf, dieselben Worte dreimal mit ihm zu rufen, so laut er könne. Von den Händen des Alten schien eine eigenartige Kraft auszugehen, wie von einem Magneten. »Nun setz dich vor das Feuer und ruf ihn weiter herbei!«, befahl Daniel. Er ging mit hocherhobenen Händen von der Mauer zum Opferstein und zurück, dabei sprach er Gäisch, eine keltische Mundart, die Mullingbrook nicht verstand. Die dunkle Flüssigkeit im Blechtopf begann grünlich zu leuchten. »Er kommt«, raunte Daniel dem Amerikaner ins Ohr und Edgar gab zurück: »Wenn du das vor einigen Tagen mit mir probiert hättest, wäre ich glatt davongelaufen oder vor Angst ohnmächtig geworden.« »Vor einigen Tagen wäre es nicht nötig gewesen. Da hattest du noch deine Seele«, tönte es. Wer hatte da gesprochen? Daniel war es nicht gewesen. Die Stimme kam vom Opferstein her. Und jetzt sahen der Schäfer und der Amerikaner die Erscheinung. Ein grauer Nebelstreif, der sich zu einer Gestalt verdichtete. Die Augen leuchteten wie gelbe Scheinwerfer. Die Stimme klang wie aus weiter Ferne und doch klar und deutlich. »Ihr habt den Falschen zitiert«, sagte die Erscheinung drohend. »Seit ich gegen den Schuft Henry verloren habe, spiele ich nicht mehr mit Menschen. Henry hat sich die Seele dieses Unglücklichen erwürfelt. Und er hat nicht einmal betrogen.« »Dann hol ihn herbei!«, forderte der Schäfer. 74
»Weshalb sollte ich das tun?« »Hast du nicht noch eine alte Rechnung mit ihm zu begleichen?« »Das habe ich. Aber dabei könnt ihr mir nicht helfen.« »Vielleicht doch. Henry könnte schwören, dass er dich betrog und damit zwang, Lord Culver vom Pferd zu werfen. Das hast du doch getan, Zaitanus?« »Ich habe es getan. Die Himmel wissen es. Aber Henry wird nicht schwören und damit die Last meiner Strafe mindern. Erdenwürmer können ihn nicht dazu bringen.« »Ich kann es«, behauptete Daniel siegessicher, richtete sich hoch auf und zeigte dem Geist eine grüne dickbauchige Flasche. »Ich habe den Sud aus der Holyroot.« Der graue Geist schwebte näher heran, die gelben Scheinwerfer seiner Augen beleuchteten die Flasche von allen Seiten. Er witterte, als könne er die Echtheit des Inhalts dadurch prüfen. »Willst du einen Tropfen probieren?«, fragte Daniel. Zaitanus wich zurück wie vom Sturm gepeitscht. »Nein!«, schrie er. »Sud aus der heiligen Wurzel ätzt für alle Zeiten Wesenheiten wie mich. Es brennt und beißt schlimmer als Höllenfeuer.« »Dann schlepp mir Henry herbei und ich will ihn mit Holyroot-Sud taufen!«, rief Daniel. Der Graue lachte hasserfüllt und verschwand. »Sie werden gleich zurück sein. Erinnerst du dich jetzt, Edgar Mullingbrook?«, fragte der Schäfer eindringlich. »Ein wenig mehr. Wir haben getrunken, Henry und ich. Wir haben gewürfelt. Ich wollte ins Bett und machte gute Miene zum bösen Spiel. Henry hat gewonnen. Ja, ich erinnere mich jetzt. Aber es ist unmöglich. Niemand kann seine Seele verspielen.« »Du musst es glauben, Edgar. Sonst nützt der ganze Beschwörungszauber nichts. Zaitanus wird ihn herbringen. Und Henry wird deine Seele bei sich haben. Sobald die beiden anfangen zu kämpfen, nimm sie dir. Pack sie, halt sie fest, flüchte mit ihr über den Fluss! Ich werde mich den beiden in den Weg stellen, sie aufhalten, Henry mit dem Sud besprengen, wie ich es Zaitanus versprach. Man prellt keinen Geist ungestraft, weder die guten noch die bösen.« 75
Er hatte eben zu Ende gesprochen, da schwebten der Graue und der Geist Henry Mullingbrooks aus dem Nachthimmel herab. »Das ist er!«, schrie Mullingbrook, der Lebende. Er erkannte den Dicken mit dem schulterlangen grauen Haar, dem grünen Umhang und schlagartig waren die Geschehnisse der Nacht wieder in seinem Bewusstsein. »Aber - wo hat er meine Seele?« Weiter kam er nicht. Henry und der Graue standen sich gegenüber wie zwei gereizte Shere. »Du hast mich betrogen«, grollte Henry. »Hier will niemand mit mir um seine Seele spielen. Hier ist mein Ur-Enkel, der seine Seele zurückhaben will. Da kann er lange betteln und warten.« Er lachte höhnisch. Die gelben Augen des Grauen sprühten Funken. Mit Händen, die wie Rauch aussahen, aber so stark waren wie Schaufelbagger, riss er die Erde auf und förderte gebleichten Knochen zutage. »Du wagst es, von Betrug zu reden? Wie hast du dir Culver ergaunert? Schuft, jetzt wird abgerechnet.« Er drosch mit dem Knochen auf Henrys Schädel und plötzlich stand ein Skelett dort, wo eben noch der Dicke mit dem grünen Umhang gewesen war. Das Skelett hielt eine blühende Rose in den Knochenhänden. Mullingbrook, der Lebende, roch den Duft, aber er empfand ihn nicht als angenehm, genauso wenig, wie ihn der fürchterliche Kampf erschreckte, der nun inmitten der alten Ruine tobte. Der Graue hatte sich von dem zerfließenden Nebel in ein Skelett verwandelt, das metallisch funkelte. Henry drosch mit seinen Knochenhänden auf Zaitanus ein, die Knochen splitterten, dumpf hallten die Schläge durch die Nacht. Gestein und Erde flogen empor. Die Rose wurde in die Höhe geschleudert und landete unbeachtet jenseits der Mauer. Henrys Skelett gewann langsam die Oberhand. Der Boden sah aus, als hätte ihn eine Herde von Wildschweinen aufgewühlt. Jetzt packte der Graue seinen Widersacher an den Halswirbeln und rang ihn zu Boden. 76
»Komm, Schäfer, träufle deinen Sud über ihn!«, schrie er. »Flieh diesen Ort des Grauens, Edgar, bevor es zu spät ist!«, rief Daniel und näherte sich den Kämpfenden mit seiner grünen Flasche. Obwohl der Amerikaner keine Angst empfand, gehorchte er. Als er in Richtung Fluss stolperte, erinnerte er sich genau an Henrys Erzählung. Er sah die morsche Brücke in Gedanken, die entlaubte Eiche. Das musste die Stelle sein. Jetzt führte eine stabilere Brücke hinüber, die auch von Fahrzeugen benutzt werden konnte. Und die Eiche hatten sicher Menschen gefällt, deren Knochen längst zerfallen waren. Eben wollte Mullingbrook den Fuß auf die Brücke setzen, da hörte er hinter sich einen gellenden Schrei. Er drehte sich um. »Erdenwurm!«, dröhnte hinter der Mauer die Stimme des Grauens, die dunkler war als Henrys Schnarren. »Verräterischer Betrüger! Das ist kein Holyroot-Wasser! Oder siehst du eine Wirkung bei ihm?« »Es ging darum, einem Menschen, der ohne Schuld ist, seine Seele zurückzuholen. Dieser Zweck heiligt die Mittel. Hebe dich hinweg, Zaitanus!«, rief Daniel und Mullingbrook sah, wie er auf die Mauer kletterte. Offenbar wollte er ihm folgen. Aber schon erschienen die beiden Knochenmänner hinter dem Schäfer. McRycer sprang auf der Außenseite der Mauer herunter. Er rannte um sein Leben. Sekundenlang stand Edgar Mullingbrook unentschlossen da. Konnte er, der nichts von Beschwörungsformeln verstand, etwas gegen die beiden Geister ausrichten? Er musste es zumindest versuchen, entschied er, denn der Schäfer hatte sich für ihn eingesetzt und nicht einmal nach Entlohnung gefragt. Der Amerikaner lief zurück auf die alte Ruine zu. Sekundenlang war unterhalb der Mauer alles dunkel. Jetzt leuchteten die gelben Scheinwerfer wieder auf und im nächsten Augenblick trieb der Sturm die Wolken auseinander, die den Mond verhüllten. 77
Was er nun sah, brannte sich für alle Zeiten in Edgar Mullingbrooks Gedächtnis ein. Henry Mullingbrook - oder wer immer das übel zugerichtete Knochengerüst sein mochte - hob einen Stein und ließ ihn auf den Kopf des Schäfers niedersausen. Der alte Mann brach mit einem Wehlaut zusammen und blieb reglos liegen. »Und nun zu dir!«, schrie Henry, wandte sich dem Grauen zu und rannte mit gesenktem Kopf gegen ihn an. Es dröhnte, als wäre ein mittelalterlicher Rammbock auf ein Bronzetor getroffen. Grüne Funken stoben. Die Erde um die kämpfenden Skelette schien in weißer Glut zu brennen. Wie unzählige Magnesiumblitze schlängelten sich die gleißenden Brände im Zickzack durch Gräser und über das Gestein. Dann hörte Mullingbrook einen Knall, der wie ein Donner in unmittelbarer Nähe oder wie eine Explosion klang. Danach war Schwärze und Stille ringsum. * Als Edgar ins Schloss zurückkam, hockte Slide auf der Vorderkante eines Stuhles, in sich zusammengesunken und schnarchte leise. Bei Edgar Mullingbrooks Eintritt fuhr er auf. »Oh, Sir? wo in aller Welt waren Sie zu dieser Zeit und bei dem Wetter? Und wie sehen Sie aus? Als wären Sie einem Gespenst begegnet.« »Es waren zwei«, sagte Mullingbrook, verlangte einen Whisky und eine Verbindung mit Inspektor McDonald. »Es ist doch nicht schon wieder...?« Slide reichte Mullingbrook das gefüllte Glas und sprach nicht weiter. »Doch, ein weiterer Mord.« Slide bewegte sich rückwärts auf einen Sessel zu und fiel hinein. Er wartete darauf, dass ihm Mullingbrook sagen würde, wer das Opfer war. Aber der Amerikaner schwieg. 78
Sein Blick wird immer weltentrückter, dachte Slide. Manchmal kann man sich vor ihm fürchten. Es scheint ihn kaum zu erschüttern. Er trinkt in aller Ruhe und lässt mich zappeln. Aber ich tue ihm den Gefallen nicht, zu fragen, wer das Opfer sei.
»Wollen Sie mich nicht mit dem Inspektor verbinden?« »Nein, Sir«, sagte Slide fest und bestimmt. »Ich lasse mich nicht schon wieder anbrüllen. Außerdem weiß ich ja überhaupt nicht, wie und wo es geschehen und wer das Opfer ist.« Ohne das Gesicht zu verziehen, sagte Mullingbrook: »Sie werden's gleich hören.« Er zog das Telefon heran und wählte die Nummer, die ihm Slide nannte. »Nein, nicht schon wieder!«, schrie McDonald in den Hörer. »Ich kann's nicht ändern, Inspektor. Schließlich erschlage ich die Menschen hier ja nicht selbst.« »Amerika, du hast es besser«, stöhnte McDonald. »Bei euch werden die Leute am helllichten Tag umgelegt. Aber dieser Wahnsinnige schlägt immer nachts zu.« »Ich glaube, dafür haben wir jetzt die Erklärung. Der Mörder ist am Tage nicht fähig, zu erscheinen.« »So, Sie kennen also den Mörder?« Jetzt war McDonald hellwach. »Interessant. Wer ist es?« »Das muss ich Ihnen hier erzählen. Es klingt zu phantastisch.« * »Die Geschichte klingt auch viel zu phantastisch, um glaubhaft zu sein«, sagte McDonald und unterbrach seine Wanderung durch den Salon. Er blieb vor Mullingbrook stehen. »Eigentlich müsste ich Sie festnehmen. Der gesunde Menschenverstand sagt mir, dass der Schäfer Sie beobachtete, als Sie zum Zelt der jungen Leute gingen. Deshalb erschlugen Sie diesen Augenzeugen.« Mullingbrook nickte. Er fand die Folgerungen des Inspektors logisch. Wie kann ich bloß so gelassen auf eine derartig ungeheuerliche Anschuldigung reagieren?, fragte er sich. So langsam fürchte ich mich
vor mir selber.
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»Für Sie spricht allerdings gerade diese phantastische Geschichte und die Tatsache, dass Sie mir sofort den Fund der Leiche meldeten. Ein normaler Mensch kann sich solch ein Märchen überhaupt nicht ausdenken. Also muss sich entweder alles so zugetragen haben, wie Sie es schildern, oder es erhebt sich die Frage: Sind Sie normal, Mr. Mullingbrook?« »Auf die Gefahr hin, dass ich mir schade - seit dem Würfelspiel mit dem Geist komme ich mir seltsam verändert vor.« »Mit Ihrer Offenheit mir gegenüber haben Sie sich nur genützt, Mullingbrook. Ich glaube zwar nicht an Geister und bin auch noch nie einem begegnet, aber ich kenne angesehene Leute, die mir persönlich Versicherten, ähnliche Phänomene erlebt zu haben. Deshalb fahren wir beide jetzt unverzüglich zu einem Spezialisten. Wir nehmen Ihren Wagen, denn meine Leute werden alle Fahrzeuge brauchen, um an der alten Ruine die Spuren zu sichern.« »Nehmen wir Slide mit«, schlug der Inspektor ein wenig später vor. »Es kann nichts schaden, ihn im Auge zu behalten, auch wenn sich unser Hauptaugenmerk jetzt auf Geister richten sollte, wie Sie meinen, Mullingbrook.« Im Hinausgehen fragte er leichthin: »Hatten Sie irgendwann mal Störungen psychischer Art?« »Ich war mal in psychiatrischer Behandlung, wenn Sie das meinen. Aber es hatte nichts mit Wahnsinn zu tun. Mein Vater und mein Großvater waren dominierende Persönlichkeiten. Mir wurde immer vorgeworfen, ich sei feige und zu weich. Ich litt sehr darunter, bis ich diese Behandlung bekam.« »Und der Psychiater hat Sie geheilt, eine heldenhafte Persönlichkeit aus Ihnen gemacht?«, wollte McDonald wissen. »Nein, er machte mir nur klar, dass es keine Schande ist, weich zu sein und dass auch Feiglinge im Leben etwas leisten können.« »Bravo! So war das also. Und ich dachte sonst was.« »Bitte?« »Ich habe natürlich etwas nachgeforscht, mit Hilfe von Kollegen in den Staaten. Aber der Psychiater berief sich auf seine Schweigepflicht und wollte über die Art Ihres Leidens nichts aussagen.« 80
Sie gingen in die Halle und Slide versuchte, sich vor der Fahrt zu drücken. Aber McDonald blieb hart. »Ich habe Sie gern dabei. Im Fall eines neuerlichen Mordes in unserer Abwesenheit reduziert das den Kreis der Verdächtigen. Ich soll Sie übrigens von Mrs. Osborne grüßen. Sie wohnt seit gestern im Hotel, möchte aber so schnell wie möglich abgeholt werden, um sich in Locker House einzurichten.« Slide hielt zuerst McDonald, dann Mullingbrook den Wagenschlag auf und fragte, als er sich hinter das Lenkrad klemmte: »Wohin, Sir?« »Nach Folker Cathedral zu Vikar Greenock. Er ist ein aufgeschlossener junger Mann und wird uns beraten können, was Geister und im Würfelspiel verlorene Seelen angeht.« Während der Fahrt nickte der übermüdete Inspektor ein und Slide sagte zu Mullingbrook: »Offenbar hat er uns beide im Verdacht und kann sich nur noch nicht entscheiden, wen er einlochen will, Sir.« Daraufhin murmelte McDonald wie im Halbschlaf: »Sie sind noch aus einem anderen Grand hier, Slide. Wenn der Geist kommt, ist es besser, wir sind zu dritt. Stellen Sie sich vor, der Geist würde mich erschlagen, denn Mullingbrook ist kein Held, wie er von sich selbst behauptet. Dann hätte unser armer amerikanischer Freund wieder einen Toten auf dem Hals und müsste meinem Nachfolger die ganze Geistergeschichte von vorn zu erklären versuchen. Und nicht jeder im Präsidium ist bereit, an mordende Geister zu glauben.« »Da haben Sie's, Slide«, sagte Mullingbrook gelassen. »Mich verdächtigt er, nicht Sie. So langsam fängt er an, mich von meiner Schuld zu überzeugen. Er hat etwas ähnlich Dominierendes wie mein Vater, mein Großvater und Henry - falls ich dem wirklich begegnet bin.« * Vikar Greenock, ein blonder, sportlich aussehender junger Mann, hörte sich Mullingbrooks Bericht aufmerksam an. Der Amerikaner hatte darum gebeten, dass der Inspektor und Slide am Gespräch teilnahmen. »Ich habe nämlich nichts zu verbergen«, war seine Begründung gewesen. »Jedenfalls nicht, soviel ich weiß.« 81
Als er mit seiner Geschichte zu Ende war, sagte der junge Geistliche: »Einem Menschen, der seine Seele sozusagen verkaufen will, muss man alles zutrauen. Er will das Beste, das er hat, veräußern. Es ist bekannt, dass der Versucher nicht um ein Stück Brot Seelen erwarb. Und seine bösartige Gefolgschaft handelt wie er.« Mullingbrook senkte den Blick zu Boden und nickte langsam. »Das ist also das Ende. Ich hatte mich in den letzten Stunden auch schon in Verdacht. Alles spricht gegen mich. Ich könnte es gewesen sein. Und nun sagen Sie mir, dass ich es war. Wer die Seele verspielen will, ist auch zu Morden fähig. Habe ich Sie richtig verstanden?« »Überhaupt nicht«, rief der junge Geistliche, ging auf Mullingbrook zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie glaubten doch nicht an die Seele, als Sie mit Henry spielten. ›Riecht nicht, schmeckt nicht, kann man nicht sehen oder anfassen.‹ Waren das nicht Ihre Worte, Mr. Mullingbrook?« »Ja, soweit ich mich erinnere. Ich war ja ziemlich betrunken und hundemüde. Ich wollte einfach ein Ende machen, um im Guten ins Bett zu kommen. Aber Sie haben Recht. Ich weiß es jetzt wieder genau. Ich glaubte nicht an meine Seele. Das änderte sich dann, als ich sie verspielt hatte. Ich bilde mir ein, dass ich von Tag zu Tag kälter, gefühlloser werde. Vielleicht verrohe ich richtig und merke es selbst nicht. Mir fehlt - das Maß. Alles lässt mich kalt, sogar ein erschlagenes junges Mädchen und der Schäfer, der mir helfen wollte und deshalb sterben musste.« »Sie haben es selbst gesagt, Mr. Mullingbrook. Sie bilden es sich ein. Der Himmel wird nicht erlauben, dass ein böser Geist die Seele eines Menschen gewinnt.« »Aber wen meinten Sie denn, als Sie sagten, wer die Seele verkaufen will, ist zu allem Bösen fähig?« »Henry Mullingbrook, nicht Sie. Henry glaubte an die Seele und setzte sie für den Besitz von Culver Castle aufs Spiel.« Edgar Mullingbrook schüttelte langsam den Kopf. »Das stimmt doch wohl nicht ganz. Henry war sicher, dass er mit den präparierten Würfeln gewinnen würde.« 82
»Konnte er das sein? Völlig sicher?«, fragte der Vikar. »Ein Geist vermag es, Würfel mit unsichtbaren Händen in der Luft zu drehen. Henry ging ein Risiko ein. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass der Geist seiner Sache sicher sein würde. Zaitanus hatte nie zuvor verloren, wenn die Legenden über ihn stimmen.« Der Vikar wandte sich an den Inspektor. »Ich kann Ihnen zwar keine schlüssigen Beweise liefern, mit denen Sie Ihre Vorgesetzten, die Richter und die Geschworenen überzeugen können. Aber ich halte Henry Mullingbrook für den Mörder.« »In allen Fällen? Hat er auch Hazel Osbornes Liebhaber auf dem Gewissen?« Der Geistliche schwieg eine Zeitlang. Dann meinte er: »Wir müssten ihn herbeizitieren.« »Können Sie das?«, fragte McDonald gespannt. Lächelnd antwortete Greenock: »Nein, mit solchem Hokuspokus beschäftigen wir uns nicht. Aber man könnte Piper holen.« »Wer ist Piper?«, wollte Mullingbrook wissen. »Kein gewöhnlicher Geisterbanner«, erklärte der Vikar. »Ich habe ihn bei einer Teufelsaustreibung in Aktion gesehen. Er geht mit Ernst und Sorgfalt an seine Aufgaben. Mehr ein Spezialist für Parapsychologie als ein spinnender Spiritist.« »Mir ist es gleich, was Sie tun werden, Inspektor«, sagte Mullingbrook. »Ich fürchte nur, der Hellseher findet heraus, dass ich der Mörder bin. Früher wäre ich beim Anblick eines erschlagenen Mädchens vor Grauen und Mitleid zerflossen.« Er klopfte sich auf die Herzgegend. »Aber jetzt ist eine Leere da drin, wie ich sie nie zuvor gefühlt habe. Ich wundere mich richtig, dass mein Herz noch schlägt. Aber dann sage ich mir, es ist ja nur ein Muskel. Da sitzt die Seele nicht. Das ist mir klar geworden, als die Ärzte begannen, Herzen zu verpflanzen.« Der Vikar nahm beide Hände des Amerikaners, legte sie zusammen und hielt sie fest. »Einbildung kann viel bewirken, Mr. Mullingbrook. Sie sind seelisch krank. Der Schock, einen Geist gesehen zu haben, macht Sie fertig. Sie wollen nicht akzeptieren, dass es Gespenster gibt. Wären Sie in Schottland aufgewachsen, würde Ihnen 83
das nicht so schwer fallen. Viele von uns wissen, was hier webt und schwebt. Andere ahnen es. Sie aber sind in einem Konflikt, der Sie seelisch krank macht. Vielleicht wird Piper auch Ihnen helfen, nämlich indirekt, wenn wir alle den sehen, der Sie um Ihre Seele bringen wollte.« * Slide bekam den Auftrag, Piper aus Edinburgh zu holen und von Mullingbrook die Erlaubnis, Hazel Osborne bei dieser Gelegenheit mitzubringen. Die Beschwörung war für Mitternacht geplant. Der Inspektor hatte noch - wie nun schon alle Beteiligten als unausweichlich ansahen, das Personal verhört. Diesmal jedoch konnte ihm niemand Hinweise geben. Auch John Kirkiswood nicht, der angab, zur mutmaßlichen Tatzeit tief und fest geschlafen zu haben. Für den Inspektor kam auch er als Mörder des Schäfers in Frage, aus demselben Motiv, das für Mullingbrook gelten konnte. Noch legte sich McDonald nicht auf den Geist als einzigen Verdächtigen fest. Zwar wünschte er keinem Unschuldigen, fälschlich als Mörder verurteilt zu werden, aber insgeheim hoffte er, einen Täter aus Fleisch und Blut entlarven zu können. Vielleicht den anonymen Anrufer. Er verbrachte einen angestrengten Arbeitstag in Edinburgh und schlief dann im Fond des Polizeiwagens ein, als ihn sein Konstabler nach Culver Castle fuhr. Beim Aussteigen sagte McDonald: »Diesmal verfahren wir mal völlig anders, kommen her, bevor ein Mord verübt wurde.« »Wieso? Ist - noch ein Verbrechen zu erwarten, Chef?« »Um Himmels willen, nein!«, rief McDonald mit komischem Augenaufschlag und schleppte sich müde die Freitreppe hinauf. Hellwach wurde er, als ihn der Vikar dem Geister-Experten vorstellte und Norbert Piper sagte: »Ich hoffe sehr, Licht in das Dunkel um die zahlreichen Toten bringen zu können.« »Ich auch«, sagte der Inspektor und Mullingbrook, der neben ihm stand, hörte ihn leise schnaufen. 84
Weshalb ist er so erregt?, fragte sich der Amerikaner. Und auch
das Gespräch zwischen McDonald und Piper, das nun folgte, verstand er nicht. »Sie haben doch die Fälle sicher in der Presse verfolgt, Mr. Piper. Besonders die älteren. Was halten Sie davon?« »Ich habe immer angenommen, Mrs. Osborne sei eine Giftmörderin.« Piper sprach leise, denn Hazel stand nicht weit von ihnen entfernt bei Slide und John Kirkiswood. »Wie bitte?«, fragte der Inspektor und Mullingbrook wunderte sich. Er hatte nie bemerkt, dass der Kriminalist schlecht hörte. »Wiederholen Sie doch bitte, was Sie eben sagten.« Piper sah sich verlegen nach Hazel um. »Muss das sein?« »Unbedingt!« Der Geister-Experte wiederholte seine Worte lauter. Hazel war so damit beschäftigt, John Kirkiswood für die Malerarbeiten in Lockers House zu gewinnen, dass sie diese Anschuldigung nicht hörte. »Ja, jetzt bin ich ganz sicher, Mr. Piper«, sagte der Beamte und entblößte spitze weiße Zähne in einem grimmigen Lächeln. »Ihre Stimme kam mir gleich bekannt vor. Wir haben die Anrufe auf Band mitgeschnitten. Sie wissen, dass es Apparate gibt, mit denen man die Identität einer Stimme beweisen kann.« »Ich kann es Ihnen erklären, Inspektor«, sagte Piper bedrückt. Mullingbrook musterte ihn von oben bis unten. Piper wirkte keineswegs wie ein Mann, der Verbindungen zum Jenseits hatte. Er war blass und schmächtig, trug einen abgewetzten Tweedanzug, war offenbar stark kurzsichtig, wie die dicken Brillengläser verrieten und der breite schwarze Schnurrbart teilte sein Gesicht in zwei Hälften. »Ja, ich höre?«, forschte McDonald und sah Piper finster an. »Ich möchte es nur in Anwesenheit derer sagen, die an der spiritistischen Sitzung teilnehmen.« »Okay, dann gehen wir in den Speisesaal. Dort schien sich der Geist so wohl zu fühlen, dass er stundenlang hocken blieb und so tat, als zeche er. Halten Sie das für möglich?« 85
Piper hob die Hände. »Geister haben die unterschiedlichsten Neigungen, ähnlich wie wir Menschen.« Der Inspektor forderte den Vikar und Mullingbrook auf, in den Speisesaal zu gehen. Dann wies er den Konstabler an, Slide, Mrs. Osborne, John Kirkiswood, Leontine und den Diener Jack im oberen Stockwerk zu bewachen. »Lassen Sie keinen von ihnen aus den Augen. Wir wollen nicht riskieren, dass jemand in einer Rüstung herumschleicht, Spuk vortäuscht und ein Verbrechen begeht. Sollte jemand zur Toilette müssen, schicken Sie immer einen Zweiten mit und beobachten Sie inzwischen die anderen.« Als der Inspektor in den Speisesaal zurückkam, saß Norbert Piper am Kopfende der Tafel, links von ihm Mullingbrook und der Vikar stand in der äußersten Ecke des Raumes. »Sie sollen sich fernhalten?«, fragte der Inspektor. »Ich nehme nicht teil. Ich beobachte. Fall es nötig ist, berate ich.« »Gut.« McDonald setzte sich Mullingbrook gegenüber und betrachtete die riesige Tafel. »Ich fürchte, wir drei werden diesen Tisch nie zum Rücken bringen können.« »Was wir vorhaben, hat mit Tischrücken nichts zu tun, Inspektor«, begann Piper, aber McDonald schnitt ihm das Wort ab. »Ist mir klar. Mir traut niemand Humor zu, weil ich ständig mit Leichen zu tun habe. Glauben Sie mir, Piper, ohne ein Lächeln hie und da wäre mein Job unerträglich. Bevor Sie uns Ihre Künste vorführen, möchte ich eine Erklärung für Ihre irreführenden Anrufe haben.« Mullingbrook und dem Vikar erklärte er, dass er Pipers Stimme als die des anonymen Anrufers erkannt hatte, der nach jedem Todesfall auf Culver Castle der Polizei gegenüber behauptete, Hazel Osborne sei eine Giftmörderin. »Es war ein Auftrag aus dem Jenseits, der mich dazu veranlasste. Ein Geist, der keinen Namen nannte, verlangte von mir, ich solle Mrs. Osborne anzeigen. Vielleicht erfahren wir heute, weshalb er das tat und wer es war.« »Das hoffe ich in Ihrem Interesse«, brummte McDonald grimmig. »Und was geschieht jetzt?« 86
Eine Zeitlang herrschte spannungsgeladene Stille. Mullingbrook beobachtete alle Rüstungen, die im Saal aufgereiht waren. Sie schienen nur leere Hüllen zu sein. Und doch konnte in einer Henry Mullingbrook lauern. Oder saß er im Kamin? Das Feuer brannte anders als sonst. Grünliche Flämmchen zuckten zwischen den normalen Flammenzungen auf. Aus Rauch bildete sich ein Gesicht. Dann - ein Knall und der Spuk war vorbei. Norbert Piper hatte die Hände mit gespreizten Fingern gehoben, die Fingerspitzen gegen die Decke des Saales gerichtet. »Wenn du die Herausforderung zum Spiel gehört hast, Henry Mullingbrook, erscheine«, sagte er so leise, dass man sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. In diesem Augenblick fiel etwas krachend auf die Tafel zwischen die drei Männer. Unwillkürlich sahen McDonald und Mullingbrook zur Decke und dann erst wieder auf den Gegenstand. Es war ein Totenschädel, übel zugerichtet, aber noch erkennbar. Er erhob sich, schwebte auf Edgar Mullingbrook zu und alle im Raum hörten Henrys schnarrende Stimme befehlen: »Weg da, UrEnkel! Jetzt werde ich dem frechen Nachkommen von Schafshirten und Mägden zeigen, ob Lord Mullingbrook feige ist.« Edgar fühlte sich vom Stuhl gestoßen, rappelte sich vom Boden auf, ging um den lisch herum und setzte sich neben den Inspektor. Obwohl Edgar keine Freude und keinen Schmerz empfinden konnte, fühlte er sich unendlich erleichtert. Er war nicht übergeschnappt. Sie alle sahen jetzt, dass Henry existierte. Allerdings folgt daraus, dachte der Amerikaner, dass ich wirklich um meine Seele gespielt und verloren habe. Es war keine Einbildung. Aber auch diese Erkenntnis ließ ihn nicht in Panik ausbrechen. Er fühlte lediglich eine Leere in sich, sah zu dem Vikar hinüber und als der ihm begütigend zunickte, wandte er sich wieder den Männern an der Tafel zu. Inzwischen hatte sich Henry zu einem lädierten Skelett vervollkommnet. »Her mit den Würfeln!«, schnarrte er. 87
Norbert Piper bückte sich zu einer Aktentasche, die er mitgebracht und neben seinen Stuhl gestellt hatte und holte daraus einen Würfelbecher. »Bist du zu krank, Henry, um uns ein angenehmes Äußeres vorzuspiegeln?«, fragte er und setzte die Brille wieder auf. »Vielleicht können wir helfen.« »Ja, ich bin gebrochen. An tausend Stellen gesplittert. Zaitanus hat mir dafür heimgezahlt, dass ich ihn überlistete.« »Du hast dich ja gerächt an dem armen Schäfer, der Zaitanus beschwor und ihm versprach, dich mit Holyroot-Sud zu ätzen.« Pipers Stimme war sanft und einschmeichelnd. »Das hatte er verdient. Ich hasse sie alle, die stinkenden Schäfer und ihre Nachkommen«, schnarrte er und funkelte den Inspektor an. »Als ich von einem Tag auf den anderen Schlossherr wurde, stießen sie mich aus. Ich wurde der Seelenlose genannt, aber sie machten mich dazu, dass ich grausam und böse wurde, im Leben und nach dem Tod. Ihr könnt nicht nachfühlen, wie grässlich die Schrecken der Verdammnis sind. Nach Hunderten von Jahren wird man mürbe. Man sehnt sich sogar nach der Hölle.« »Demnach hattest du das Pech, eine ungeläuterte - Seele zu sein. Wer sich nach der Hölle sehnt, verdient und bekommt sie. Er muss zurück in den großen Schmelztiegel wie ein misslungenes Werkstück.« »Ja, aber wer des Teufels Geister betrügt«, der Totenkopf wandte sich um, bis der Unterkiefer fast das Schlüsselbein berührte und machte spuckende Geräusche. »Wer das auf sich lädt, wird in der Hölle abgewiesen.« »Wenn es ein schlauer Geist ist, kann er Wege finden, die Himmel zu zwingen, ihm die Hölle zu öffnen, denn auch der Teufel muss gehorchen.« Henrys Kinnlade klappte herunter und er lachte hohl. »Du weißt vieles, Piper.« Jetzt bildeten sich auf dem Totenschädel Umrisse eines Gesichtes. Es war die Dämonenfratze, die Edgar schon einmal zu sehen geglaubt hatte, als er mit Henry allein gewesen war. »Aber du bist ein Verräter, 88
Piper. Weshalb hast du dem Nachfahren von Hirten und Mägden gesagt, dass ich dich zu der Anzeige veranlasste?« »Das habe ich nicht«, verteidigte sich Piper mit Unschuldsmiene. »Das konnte ich nicht, weil ich nicht wusste, wer mir den Auftrag gegeben hatte. Du warst es also Lord Henry Mullingbrook? Hast du Hazel Osborne bei den Untaten belauert? Du wolltest der Gerechtigkeit Genüge tun?« McDonald bewunderte Mut und Verstand des unscheinbaren Geister-Experten. Besser hätte er den Knochenmann nicht verhören können. Und offenbar vergaß Henry ganz, weshalb er hergekommen war um eine Seele beim Spiel zu gewinnen. Kein Wunder, bei dem Alter, dachte der Inspektor. »Was geht mich eure Gerechtigkeit an? Wo gibt es Gerechtigkeit, wenn man böser und böser wird, bis man anderen das Leben nimmt?« Norbert Piper saß reglos wie eine Puppe da, mit erhobenen Händen, die Fingerspitzen gegen die Decke gerichtet und sprach mit weicher schmeichelnder Stimme. »Du hast sie alle getötet?« Die Knochenhände ballten sich zu Fäusten und fielen krachend auf die Tafel nieder. »Erst das Spiel! Nur wenn ich verliere, rede ich.« Wieder warf McDonald dem Vikar einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Der junge Geistliche stand nach wie vor an die Wand gelehnt da, die Hände wie im Gebet gefaltet. Er schien ihm lächelnd zuzunicken, aber die Bewegung war so vage, dass sich der Inspektor nicht sicher sein konnte. Piper stellte den Becher zwischen die beiden. »Ich bin sicher, Inspektor, dass Ihnen höheren Ortes mildernde Umstände zugebilligt werden, so wie es bei irdischen Richtern üblich ist. Sie setzen sich dafür ein, die Menschheit von einer üblen Plage zu befreien.« Lag es daran, dass die Aussicht auf eine Seele dem Geist neue Kraft verlieh? Allmählich bildeten sich um das Knochengerüst menschliche Formen und plötzlich saß Henry Mullingbrook so da, wie ihn Edgar gesehen hatte, mit grauem schulterlangem Haar und einem grünen Umhang. 89
»Gespielt wird nach denselben Regeln wie neulich, als Edgar seine Seele an dich verlor, Henry Mullingbrook. Bist du damit einverstanden?«, fragte Piper mit Samt in der Stimme. »Ist in Ordnung.« Die vier Menschen im Raum ließen sich nicht anmerken, dass sie innerlich triumphierten, weil Piper dem Geist wieder ein Geständnis abgelistet hatte. »Prüft die Würfel«, forderte Piper und Henry riss sie gierig an sich. Offenbar hielt er sie für unpräpariert, denn mit einem zufriedenen Grinsen überließ er sie McDonald. »Und nun beschwören wir Menschen bei Gott und du, verruchter Geist, bei Satan, für den du dich entschieden hast, dass die Abmachungen eingehalten werden, die wir jetzt treffen. Gewinnt McDonald das Würfelspiel, so wirst du, Verdammter, die Wahrheit über die Morde auf und um Culver Castle sagen. Gewinnt er...« Piper wandte sich an den Inspektor. »... so ist Ihre Seele sein Eigentum.« McDonald brachte den Schwur rasch hinter sich, Henry wandte sich, spuckte dreimal über seine Schulter und bequemte sich dann auch, die Worte zu sprechen, mit der Abwandlung: »So wahr mir Satan helfe.« Das hatte Piper ausdrücklich gefordert. »Wer wirft zuerst?«, fragte der kleine unscheinbare Mann, der auf einmal gar nicht mehr so klein und unscheinbar erschien. Henry wies auf McDonald. »Lass ihn beginnen. Ich habe nichts zu verlieren.« McDonald legte die Hand auf den Becher, schüttelte die Würfel durch, stülpte den Lederbehälter auf die Tafel und hob ihn hoch. Alle Würfel lagen mit der Eins nach oben da. Henry begann grün zu schillern und schrie: »Mein Trick! Mein eigener Trick! Ihr habt mich betrogen! Her mit den Würfeln! Ich bin nicht blöd wie Zaitanus. Ich will die Probe machen.« Piper saß mit ausdruckslosem Gesicht da und ließ den Geist gewähren. Außer sich knallte Henry den Becher auf den Tisch, nahm ihn fort und starrte ungläubig die Würfel an. 90
»Nicht eine Eins? Fünfmal die Sechs? Das kann doch nicht möglich sein!« »Dafür gibt es nur eine Erklärung«, sagte Piper mit gespielter Ergriffenheit. »Die guten Geister hatten ihre Hand im Spiel. Niemand steht dir mehr bei, Henry Mullingbrook. Gib auf! Erleichtere dein Gewissen mit einem Geständnis. Danach werden wir beraten, ob wir dir zu dem warmen Plätzchen im Höllenfeuer verhelfen können, nach dem du dich so sehnst.« McDonalds Bewunderung für das unscheinbare Männchen wuchs noch mehr. Als er gewürfelt hatte, war er zu aufgeregt gewesen, um Piper zu beobachten. Aber als der Geist den Becher schüttelte, sah McDonald, dass Piper in die Tasche seines abgetragenen Jacketts griff und er glaubte zu wissen, wer die guten Geister waren. »Ihr wollt das schaffen, was fünf Morde und eine Seele nicht vermochten?« Henry lachte verzweifelt. »Ja, ich habe die Liebhaber vergiftet. Ich hatte nichts gegen sie. Aber die lachende Osborne, prall voller Leben, in meinem Schloss, das war unerträglich. Immer wenn ich mürbe durch die Gänge schwebte, voller Sehnsucht nach Ruhe, verfolgte mich ihr Lachen. Ich gab dem ersten Gift in den Wein und dachte, sie würde trauern - wie ich. Aber sie fing an zu trinken, nahm sich den nächsten. Da tötete ich auch ihn und den dritten. Und obwohl ich dich, Piper, der du immer Kontakt mit unserer Welt aufnimmst, veranlasste, der Polizei zu sagen, dass die Osborne eine Giftmörderin sei, gelang es dem da nicht, sie für immer aus Culver Castle zu entfernen.« Anklagend wies er auf McDonald.
Ich habe mir noch nie ein Verhör so aus der Hand nehmen lassen und mit Genuss gelauscht, dachte der Inspektor und grinste Henry
höhnisch an. »Dann tauchte Edgar auf, ein Trottel, ein Feigling, der weder an Seelen noch an Geister glaubte, obwohl ich mit ihm sprach, mich ihm zeigte. Und da wusste ich, mit Edgar Mullingbrook würde ich leichtes Spiel haben. Die Welt ist voller Zeichen. Viele davon sehen wir nicht. Ich sehe so manche Zusammenhänge. Es war Fügung, dass sich Rulan weigerte, den vergifteten Wein zu trinken. Ich erschlug ihn mit der eisernen Faust. In der Nacht darauf gewann ich Edgars Seele. Nun 91
hatte ich mein Eintrittsgeld in die Hölle. Nach im Spiel gewonnenen Seelen lecken sich selbst die Teufel die Klauen. Nur muss der Seelenlose sterben, bevor die Seele reisefertig ist. Solange der Körper, in dem sie gewohnt hat, noch lebt, hängt sie an der Erde.« Er schwieg und die Männer im Raum wagten nicht zu atmen. »Leider ist die Todesstrafe abgeschafft. Aber in Gefängnissen sterben Leute wie Edgar rascher. Ich musste dafür sorgen, dass er als Mörder festgenommen wurde. Von dem da«, wieder wies er auf den Inspektor, »habe ich viel gelernt. Indizien, Mangel an Beweisen, Zeugen? Tatzeit. Er hat mich auf die Idee gebracht mit seinem Gerede von der veränderten Tatmethode. Edgar war im Schloss, als ich Rulan erschlug. Er hörte mich in der Rüstung an seinem Zimmer vorbeitappen. Ich konnte seine Angst durch die Tür hindurch riechen. Seine Feigheit ist eine Beleidigung für alle Mullingbrooks. Ich nahm seine Gestalt an, ging zu den jungen Leuten, schickte den Mann fort und erschlug das Mädchen. Und mein vertrottelter UrEnkel begann schon zu glauben, er selbst hätte den Mord verübt. Aber er fand einen Helfer. Den stinkenden Schäfer McRycer, der meinen Erzfeind Zaitanus auf mich hetzte. Und bei dem fürchterlichen Kampf in der alten Ruine habe ich die gewonnene Seele meines UrEnkels verloren.« Ein Rasseln drang aus seinem Mund und der ganze Körper schüttelte sich. »Es ist, als habe sie der Boden verschlungen. Mein ehrlich verdienter Obolus an den Höllen-Fürsten war dahin. Deshalb bin ich gekommen. Euer Gespött hätte mich nicht gelockt. Die Not trieb mich her. Und nun sitze ich da mit leeren Händen.« »Und ich erst«, brummte McDonald. »Ich kann meinen Vorgesetzten viel erzählen. Eine solche Geschichte nicht. Es sei denn, ich will vorzeitig pensioniert werden. Womit habe ich das nur verdient?« Er stützte die Ellenbogen auf die Tafel und begrub das Gesicht in den Händen. Langsam kam der Vikar heran und stellte sich neben Norbert Piper. »Es steht uns nicht zu, über dich zu Gericht zu sitzen, Henry Mullingbrook. Hast du in deinem Leben nie bereut und um Vergebung gebeten?« 92
Der Geist starrte den Vikar an. »Ich fand es in Ordnung, den Teufelsgesellen zu betrügen.« »Aber Lord Culver starb deinetwegen.« »Weiß ich das mit Sicherheit?« »Hat es dein Gewissen belastet?« »Ja«, rief Henry ärgerlich. »Dann hättest du um Vergebung bitten müssen. Spätestens in den Stunden, da dein Körper erkaltet war.« »Ihr wisst nicht, wie fürchterlich es ist, wenn das Gehäuse, das einen beherbergt hat, erstarrt, keinem Gedanken mehr gehorcht, gleichgültig, was man vorher geglaubt hat. Jetzt hat man den Wunsch, sich emporzuschwingen. Es ist ein Instinkt, ein Trieb, wie Hunger und Durst. Aber ringsum sind Schranken, Mauern, Dämonenfratzen. Eine halbe Ewigkeit habe ich mir die Seele wund gestoßen bei dem Versuch, diesem Gefängnis zu entfliehen, in dem mein toter Körper lag. Irgendwann später wurde das Gestein porös, das zuvor härter als alle Metalle gewesen war. Ich konnte hinaus. Aber die Flügel waren mir gebrochen. Von da an kroch ich einsam und zerstört auf der Erde umher. Bis ich beschloss, den Schrecken mit Schrecken zu enden. Ich habe getötet. Und nun gibt es für mich kein Erbarmen mehr.« Der Vikar wandte sich an den Parapsychologen. »Können Sie dieses Erlebnis deuten?« Piper, der noch immer mit erhobenen Händen dasaß, die Finger gespreizt und die Spitzen zur Decke gerichtet, nickte langsam. »Die Menschen, die damals unter ihm lebten und litten, müssen ihn fürchterlich gehasst haben. Mir scheint, dass sie ihn in einem dem Satan geweihten Raum einmauerten. Daraus gab es für die mit Schuld belastete Seele kein Entweichen. Ein solcher Satanszauber kann Jahrhunderte überdauern wenn niemand eingreift, um ihn zu neutralisieren.« »Alles fauler Zauber«, stöhnte McDonald. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, dass Sie so denken. Aber Sie glauben an Radioaktivität, an Atommüll, der für Menschen lange Zeit lebensgefährlich bleibt.« In McDonald regte sich der Widerspruchsgeist und das zeigte, dass er begann, seine Niedergeschlagenheit zu überwinden. »Wollen 93
Sie behaupten, dass die Menschen im Mittelalter einen Raum radioaktiv verseuchen konnten?« »Es war ein Vergleich. Ich habe von Fällen gehört, die dem Erlebnis Henry Mullingbrooks ähneln. Räume wurden mit Hilfe von Satanszauber für Seelen unpassierbar gemacht.« »Wie wollen Sie das erfahren haben?« McDonald wurde wieder zum Kriminalisten aus Leidenschaft, der auch in dieser Situation Unlogik aufdecken musste. »Sie haben Kontakte mit Geistern, okay, das glauben wir jetzt, denn wir haben den Beweis hier vor uns sitzen. Aber der Teufel lässt Sie wohl kaum einen Blick in seine versiegelten Räume, in die Tresore werfen, in denen gebannte Seelen hocken.« Piper blieb ruhig und überlegen. »Sie hörten, dass Henry irgendwann entkam. Zermürbt, mit gebrochenen Flügeln, wie er sagt. Aber er entkam. So wurden auch andere Seelen vor ihm befreit. Die Natur hat ihnen geholfen. Erdstöße ließen Mauern einstürzen, eine Wurzel zwängte sich zwischen Fugen, sprengte den Bannkreis. Frost und Hitze ließen Felsen zerfallen, Wasser unterspülten die Gefängnisse, in denen die Seelen schmachteten. Die Natur hat viele Möglichkeiten.« »Wollen Sie behaupten, dass die Erde bebt, um gebannte Seelen zu befreien?«, fragte McDonald höhnisch. »Sagte ich, dass eine Absicht dahinter steckt? Ich kann nicht mit der Erde reden, Inspektor.« Eine Zeitlang herrschte spannungsgeladene Stille. Dann fragte der Vikar: »Können Sie das Gefängnis sehen, in dem die Gebeine dieses Schuldbeladenen liegen?« »Die sitzen uns doch gegenüber!«, schrie McDonald wütend. »Der Gedanke sitzt uns gegenüber«, antwortete Piper und wandte sich an den Geistlichen. »Ja, ich kann es sehen, wenn ich in Trance bin.« »Dann gehen Sie in Trance, damit wir endlich was Greifbares zwischen die Finger kriegen!«, rief der Inspektor. »Dass mir der Gedanke eines Mörders gegenübersaß, wird meinen Chef nicht einmal erheitern.« Piper berührte die Tafel mit den Fingerspitzen, dass seine Hände aussahen wie weiße Riesenspinnen. Sein Kopf sank gegen die Lehne 94
des Stuhls zurück. Er hörte auf zu atmen, wurde noch bleicher und seine Augen starrten glasig. McDonald sah weg und wieder zu ihm hin. »Er wird uns doch nicht abkratzen?«, fragte er den Vikar. »Ich habe dort gespielt«, sagte eine Kinderstimme, die gleichzeitig aus Pipers Mund und dem des Geistes zu kommen schien. »Es war verboten, dort zu spielen, weil die Gefangenen Botschaften an die Felsen klopften. Sie sollten aber keine Verbindung mit der Außenwelt haben. Einmal erwischte mich mein Vater dort und schlug mich.« Der Parapsychologe sank in sich zusammen, richtete sich wieder auf und sah sich um. »Habe ich etwas gesagt?« Der Vikar wiederholte ihm die Worte und wies auf Henry. »Es war, als sprächen Sie gemeinsam.« Henry nickte eifrig. »Ich erinnere mich daran. Ich war noch sehr klein. Alle anderen sind weggelaufen. Ich konnte nicht so schnell und da erwischten mich die Erwachsenen.« »Wo war das?«, wollte McDonald wissen. »Am Drachenbuckel. Sie hatten eine natürliche Höhle zu einem Gefängnis umgebaut. Es ist längst alles verschüttet und zugewachsen.« McDonald stand auf. »Wir gehen der Sache auf den Grund. Und wenn wir den ganzen Drachenbuckel mit Dynamit in die Luft jagen müssen.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Piper. »Ich habe die Stelle gesehen, unter der die Öffnung liegt. Ein pilzförmiger Stein steht daneben.« »Ein pilzförmiger Stein!«, rief nun Edgar Mullingbrook, der die ganze Zeit über stumm beobachtet und gelauscht hatte. »Da war ich mit dem Schäfer, als er mir riet, zur Ruine zu kommen. Ich kenne den Weg dorthin.« »Lassen Sie Spitzhacken und Schaufeln in Ihren Wagen laden, Mullingbrook«, forderte der Inspektor den Amerikaner auf. »Wir fangen gleich mit dem Graben an.« »Jetzt, mitten in der Nacht?«, fragte Mullingbrook, der Lebende. 95
»Na und? Die Morde auf Culver Castle haben mich zur Nachtarbeit gezwungen. Warum soll's euch allen besser gehen als mir? Da es ohnehin mein letzter Fall sein wird, will ich ihn gründlich zu Ende bringen und alle Möglichkeiten ausschöpfen - notfalls bis ins Grab des Mörders vordringen, der schon Hunderte von Jahren tot war, bevor er zuschlug.« Er lachte verächtlich und verließ den Saal. * Als der Inspektor den Raum betrat, in dem der Konstabler die Angestellten und die unfreiwilligen Gäste bewachte, torkelte ihm Hazel Osborne entgegen. »Nun, Inspektor, haben Sie jetzt endlich den Schuldigen gefunden? Nach all den Jahren und den vielen fehlenden Beweisen gegen mich wäre es an der Zeit.« Es kostete ihn Überwindung, aber er war es ihr schuldig, sie um Verzeihung zu bitten. Hazel nahm die Entschuldigung an und küsste ihn auf die Wange. »Sie wissen gar nicht, wie erleichtert ich bin«, sagte sie und warf ihr Brandyglas an die Wand. »Jetzt ist Schluss mit dem Alkohol. Können wir gehen?« »Wer - wir?« »John und ich. Er ist Anstreicher und wird Locker House für mich herrichten.« »Sie könnten gehen. Aber ich brauche alle kräftigen Männer und beide Wagen. Von mir aus kann John bei Ihnen und Leontine bleiben. Zwei Frauen allein in einem Spukschloss zur Geisterstunde, das wäre unfair.« Kurz darauf setzten sich der neue aprikosenfarbene Straßenkreuzer Mullingbrooks und der Polizeiwagen in Richtung Drachenbuckel in Bewegung. Aus den Kofferräumen ragten die Stiele von Schaufeln und Hacken. Slide saß am Lenkrad von Mullingbrooks Auto und der Amerikaner wies ihm den Weg. »Ah, den Krötenstuhl meinen Sie«, sagte der Die96
ner. »Den kennen wir alle hier. Da sollen sie in grauer Vorzeit Leibeigene drauf gefesselt und ausgepeitscht haben.« Durch Regen und Morast arbeiteten sich die Wagen bis in die Nähe des pilzförmigen Felsens vor und stellten sich so auf, dass sie mit ihren Scheinwerfern eben noch den Krötenstuhl anstrahlten und den Drachenbuckel so weit nach links ausleuchteten, wie die Kegel ausreichten. Piper stieg als erster den Hügel hinauf, in der Hand eine Metallspirale. Die anderen warteten unten bei den Wagen. Sie sahen ihn auf und ab gehen, die Arme, vor sich ausgestreckt, die Spirale in den Fäusten. Plötzlich bewegte sich der Draht, als sei Leben in ihn gekommen. »Hier ist es!«, rief Piper und McDonald hob die Rechte. »Los, Männer!«, befahl er dann und sein Schaufel- und Spitzhackenkommando trabte den Hügel hinauf. Um das Scheinwerferlicht nutzen zu können, mussten sie dem Kamm des Drachenbuckels den Rücken kehren, was ihnen die Arbeit erheblich erschwerte. Metall traf auf Gestein und erfüllte die Nacht mit hellem Klingen. Trotz des eisigen Windes floss ihnen bald der Schweiß aus den Haaren über die Gesichter. Das abgestochene Heidekraut duftete stark würzig und Edgar Mullingbrook spürte eine merkwürdige Regung in sich aufsteigen. Sie alle schufteten unter höchst unangenehmen Bedingungen und wussten nicht einmal, ob ihr Tun sinnvoll war. Und doch erfüllte es ihn mit Befriedigung, dass sie etwas taten. Dass ich mich hier jetzt wohl fühle, sagte er sich, ist genauso ver-
rückt wie alles, was ich bisher in dieser Gegend erlebt habe.
»Hilfe!«, tönte da ein lang gezogener Schrei rechts von ihm und er sah eben noch, wie der Diener Jack in einem Loch verschwand. »Er hat den Eingang gefunden«, rief McDonald. »Wo ist Piper? Ohne ihn werden wir vielleicht alle des Satans fette Beute.« Norbert Piper strebte schon dem Loch zu, in dem Jack verschwunden war. Unter dem Arm trug er seine Aktentasche und Mullingbrook verspürte Lust zu lachen, denn er sah aus wie ein Gerichtsvollzieher vor der Pfändung. Aber Mullingbrook konnte noch immer nicht lachen. 97
»Der Zauber wirkt nur auf die Seelen Verstorbener«, erklärte Piper, als ihn alle außer Jack umringten. »Sonst hätten unsere Vorfahren ihr frevelhaftes Tun nicht überlegt.« Der Parapsychologe wollte in das Loch springen, aber McDonald hielt ihn am Arm zurück. »Warten Sie! Unseren einzigen Experten dürfen wir nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen.« Er rief in das Loch hinunter: »Sind Sie verletzt, Jack?« »Nein, Sir. Bloß halbtot vor Angst. Es ist stockdunkel hier und von irgendwo kommt ein grünes Leuchten. Zieht mich raus, bevor ich verrückt werde.« McDonald reichte Piper die Hand und ließ ihn in das Loch hinab. »Jack, fassen Sie seine Beine.« »Hab' ihn«, tönte es von unten herauf. Eine Viertelstunde später standen sie alle in dem Gewölbe unter dem Drachenbuckel. Es war ein Raum, aus dem verschiedene Gänge sternförmig in den Berg hinein führten. Piper nahm wieder seine Spirale zur Hand und als sie ausschlug, wies er auf den mittleren Stollen. Sorgfältig verstaute er die Spirale in seiner Aktentasche und klemmte sie unter den Arm. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein und marschierte los. »Er meint, da liegt der Hund begraben«, stellte McDonald sarkastisch fest und folgte Piper. Edgar Mullingbrook hielt sich dicht neben dem Inspektor. »Sie sind doch kein Terrier.« »Wie belieben?« »Sie wittern nicht, was zum Himmel stinkt.« »Im Allgemeinen schon, sofern es sich um reale Täter handelt. Aber wenn man mir Zeit ließe, mich an dieses Genre zu gewöhnen, würde ich sicher auch ein guter Geisterjäger. Nur - und jetzt spreche ich als Hellseher - wird das nicht eintreten.« Piper war vor einer morschen Bohlentür angekommen, rüttelte daran und sprang zurück, als sich die Balken aus der Verankerung in den Wänden lösten und herabstürzten. »Ist etwas passiert?«, fragte der Vikar, denn vor lauter Staub konnte man nichts sehen. 98
»Er ist hier«, antwortete Piper mit einem Ernst, der die anderen frösteln ließ. Sie drängten sich durch die Öffnung, die von den gesplitterten Pfählen gebildet wurde, einem Rachen mit Zahnstummeln ähnlich. Der kleine Parapsychologe stand hoch aufgerichtet da und starrte das grauenvolle Bild unverwandt an. Mullingbrook, der Vikar und der Inspektor konnten ihm über die Schultern sehen. Auf einem Sockel aus Stein lag ein beleibter Mann mit schulterlangem grauem Haar. Sein fleischiges Gesicht, bewegte sich, als litte er unsägliche Qualen. Ein grüner Umhang bedeckte den Körper bis zu den Stiefeln. Es sah aus, als atme der Mann. »Henry Mullingbrook, wir sind gekommen, um dich aus dem Satansbann zu lösen«, sagte Piper in singendem Ton. Er stellte seine Aktentasche auf den Boden, nahm ein Gerät heraus, das wie ein Drahtbesen aussah und wandte sich den Wänden zu. Jetzt sahen die anderen, dass ringsum an den roh behauenen Felsen Teufelsfratzen hingen. Jedes mal, wenn Piper eines dieser Gebilde mit seinem Werkzeug berührte, leuchtete es auf und verglühte. Als er das letzte Dämonengesicht zerstört hatte, seufzte der Mann auf dem Steinsockel. Sein Gesicht wurde ruhig, fast friedlich. »Ich danke euch. Jetzt kann ich vor meinen Schöpfer treten und um Strafe bitten für alles, was ich getan.« »Vergiss nicht deine Dankesschuld«, rief da Piper mit einer Stimme, in der etwas Metallisches mitschwang. »Nein«, klang es wie aus weiter Ferne. »Ich werde regeln, was der Regelung bedarf.« Edgar Mullingbrook stützte sich erschrocken auf den Inspektor, als plötzlich Bewegung in den Toten kam. Die eben noch feste Haut begann zu welken. Wie braunes Leder lag sie jetzt auf den Knochen. Im nächsten Augenblick löste sie sich auf, entblößte einen Schädel, der Umhang und die Stiefel verflüchteten sich. Niemand wusste, wie lange der Zerfallsprozess gedauert hatte. 99
Als sich Slide und Jack in den Raum schoben, lag nur noch ein lädiertes Skelett auf dem Steinsockel. »War das alles?«, fragte Jack. »Haben wir wie die Sklaven schuften müssen, bloß um ein Skelett im Berg zu finden? Und das mitten in der Nacht?« »Wenn man nicht hinter die Dinge sehen will, junger Freund, war das alles«, erwiderte der Vikar und wandte sich zum Gehen. * Nach der betretenen Stille fingen alle plötzlich an zu reden. Jeder fragte den anderen, ob er die gleichen Geschehnisse gesehen habe. Das Stimmengewirr hallte von den Wänden des Ganges wider. Mullingbrook hörte es zuerst und legte dem Inspektor die Hand auf den Arm. »Was ist das?« »Ruhe!«, rief McDonald. Es dauerte einige Augenblicke, dann schwiegen sie alle, blieben stehen, reglos. Ein Grunzen und Schmatzen hallte durch die Gänge im Berg. Ein Splittern, als zerbisse eine riesige Bestie Knochen. Es roch nach Feuer und Schwefel. Das Grunzen kam näher. Der Boden schien aus Gummi. Er bewegte, sich wie ein See bei leichtem Wind. Aber alle hatten das Gefühl, als könnte im nächsten Moment Sturm aufkommen. »Satan ist in der Nähe«, erklärte Piper mit einer Ruhe, um die ihn selbst der abgebrühte Inspektor beneidete. »Er will uns alle in seine Gewalt bringen für die eine Seele, die wir aus seinem Bann befreit haben.« Jack, der zwar nicht begriff, worum es eigentlich ging, aber wusste, dass ein Geistlicher da war, klammerte sich an dem Vikar fest. »Helfen Sie uns, Reverend! Wir alle sind ohne Schuld!«, schrie er außer sich. »Wir alle sind schuldig«, sagte der Priester leise, aber mit fester Stimme. 100
»Nicht schuldig an den Morden, aber auf die eine oder andere Weise schuldig geworden im Laufe unseres Daseins. Wenn wir um Vergebung bitten, hat der Teufel keine Macht über uns. Sprecht mir nach!« Das Grunzen war jetzt so nah, dass sie alle meinten, von einer Herde Wildschweinen niedergetrampelt zu werden. Rings um sie fielen Gesteinsbrocken zu Boden. Die Taschenlampen gingen zu Bruch. Aus Erdspalten schlug Feuer. Dann war es wieder rabenschwarz ringsum. Giftige Dämpfe hüllten die Menschen ein. Aber sie murmelten das Gebet gemeinsam mit dem Vikar. Und plötzlich, nach unendlich langer Zeit - so schien es ihnen - beruhigte sich der Berg. Benommen, nach Luft ringend, hustend und keuchend krochen sie dem Loch zu, über dem fahles graues Licht den neuen Morgen ankündigte. * Um für das Gefecht mit seinem Vorgesetzten wenigstens ausgeruht zu sein, hatte MacDonald das Angebot Edgar Mullingbrooks angenommen, auf Culver Castle einige Stunden zu schlafen. Auch der Parapsychologe war in einem der Gästezimmer verschwunden. Slide servierte auf Mullingbrooks Wunsch Kaffee in der Halle, für den Schlossherrn und den Vikar. Dann zog sich auch der Diener zurück, obgleich die Sonne im Osten über die Hügel stieg. »Machen wir einen kleinen Spaziergang?«, fragte der Geistliche und Mullingbrook stand auf. »Führen Sie mich zu der alten Ruine«, bat der Vikar, als sie schon ein gutes Stück vom Schloss entfernt waren. »Aha! Sie wollen mir helfen, meine Seele wieder zu finden? Henry hat behauptet, sie sei ihm beim Kampf gegen Zaitanus verloren gegangen.« »Henry sagte vieles, Richtiges und Falsches. Es scheint, als wüssten nicht einmal die Toten, was das Wesen der Seele ist. Ich glaube, 101
dass sich die Seele nicht aufs Spiel setzen lässt. Dass nur der Tod sie vom Körper lösen kann, Edgar.« »Dann - hätte ich sie nie verloren?« »Habe ich nicht versucht, Ihnen das begreiflich zu machen?« »Aber diese Veränderung in mir. Ich war nicht mehr ich selbst. Das heißt, ich bin es auch jetzt nicht. Ich kann nicht glauben, dass jeglicher Verdacht von mir genommen wurde, bloß weil wir einen Toten im Berg fanden, der zerfiel, als Luft an den Leichnam kam.« »Haben Sie getötet?« »Nein!«, rief Mullingbrook. »Dann überlassen Sie es den Experten von der Polizei, den Täter zu finden. Kümmern Sie sich um Ihre Seele.« Schweigend gingen sie weiter. »Angenommen, das alles wäre nicht bloß eine Art Fiebertraum gewesen, welche Strafe hätte Henry zu erwarten? Er gab doch all diese grässlichen Verbrechen zu.« »Eigentlich wollte er sich wohl nicht verteidigen, als er sein Geständnis ablegte. Und doch tat er es - für meine Begriffe. Der Satanszauber hat ihm die Flügel gebrochen und das war nicht seine Schuld. Natürlich wird ihm Buße auferlegt werden. Aber ganz ohne Hoffnung braucht auch dieser Sünder nicht zu sein.« Edgar Mullingbrook setzte sich auf die Mauer der alten Ruine, die sie inzwischen erreicht hatten. »Sie können einen zum Wahnsinn treiben mit Ihrem Gerede, Vikar. Irgendwo muss doch eine Grenze sein. Schön, einem Massenmörder, der unzurechnungsfähig ist, wird das per Gutachten bescheinigt und die Gesellschaft füttert ihn weiter durch. Aber mordende Geister? Da hört es auf.« Der junge Geistliche betrachtete die verwitterten Steine ringsum und er dachte an den Kampf der Gespenster, den Mullingbrook so geschildert hatte dass man das Gefühl hatte, dabei gewesen zu sein. »Die Barmherzigkeit hört nie auf, Edgar. Auch am Rande des Grabes nicht. Sonst wäre das Leben unerträglich.« »Für mich ist mein Leben unerträglich geworden. Zwar habe ich keine Angst mehr, aber ich kann mich auch nicht mehr freuen«, sagte Mullingbrook, stand auf und schlenderte an der Mauer entlang. Der Vikar folgte ihm. 102
»Wenn man so weit gesunken ist, sollte man abtreten, Vikar. Sie werden natürlich widersprechen, argumentieren. Aber bin ich nicht Herr über mich?« Sie standen Schulter an Schulter, als Edgar Mullingbrook die Rose sah. Sie lag inmitten der aufgewühlten und vom Blut des Hammels braun gefärbten Erde. Duftend, als sei sie eben erst vom Stock gebrochen worden. »Sehen Sie sich das an«, rief Edgar, lief hin, bückte sich, hob die Rose auf. »Ist das nicht wie ein Wunder? Hier gibt es weit und breit keine Rosen. Jemand muss sie...« Er sprach nicht weiter, sah den Vikar nur fassungslos an. In den hellen Augen des jungen Geistlichen brannte ein Feuer, das auf Mullingbrook übersprang. Als er weiter sprach, noch immer den Rosenzweig in der Hand haltend, löste sich die Starre seiner Gesichtszüge. »Ich erinnere mich deutlich. Als Zaitanus den Geist meines Ur-Ur-Ahns mit Gewalt herbeischleppte, brachte Henry eine blühende Rose mit. Habe ich Ihnen das erzählt?« Er war so im Eifer, dass er keine Antwort abwartete. »Ich habe mich noch darüber gewundert. Ein Skelett und eine Rose, dachte ich. Und der Schäfer hatte mich aufgefordert, meine Seele zu nehmen und zu fliehen. Vikar, glauben Sie, dass diese Rose meine Seele ist?« »Glauben Sie es, Edgar?« »Nein, ich - ich kann es - ich weiß nicht«, stammelte der Amerikaner. »Wieso - eine Rose?« »Die Blüte der Freude, die Dornen der Pein«, erwiderte der junge Geistliche leise. »Sie glauben es also. Was muss ich jetzt tun, um meine Seele wiederzubekommen? Die Rose essen, verbrennen, zerstampfen? Was?«, rief Edgar Mullingbrook gequält. Edgar hielt den Zweig jetzt in beiden Händen, vorsichtig, als sei er etwas sehr Zerbrechliches. 103
»Riecht nicht, schmeckt nicht, kann man nicht sehen und nicht anfassen«, murmelte der Vikar und mit jedem Wort wurde die Rose durchsichtiger, bis sie ganz verschwand. »Und schon gar nicht sehen«, sagte der Geistliche, als Mullingbrook mit leeren Händen dastand. Der Mann, der seine Seele verloren geglaubt hatte, schüttelte den Kopf, fassungslos vor Glück und begann zu lachen. »Ich habe sie wieder gefunden! Vikar, ein Wunder ist geschehen! Ich kann wieder lachen! Es ist - unglaublich!« * »Unglaublich, welche Frechheiten man sich mir gegenüber herausnimmt«, sagte McDonalds Chef, als er mit ihm gemeinsam sein Allerheiligstes betrat. Auf dem ledernen Besuchersessel, der dem Schreibtisch gegenüber stand, hockte ein Skelett. »Ich fürchte, Sir, das hat etwas mit mir zu tun«, erklärte der Inspektor. Er erkannte Henry Mullingbrooks Knochen. Aber er verstand nicht, was der Geist, der ihm ohnehin schon viel zuviel Schaden zugefügt hatte, hier noch wollte. »So, Sie haben das Ding hergebracht? McDonald, ich habe Sie immer geschätzt. Aber in letzter Zeit ist etwas mit Ihnen nicht in Ordnung.« Der Chef trat hinter den Besuchersessel und wollte dem Schädel des Skeletts einen Schlag versetzen, aber seine Hand fuhr durch die Luft. »Entfernen Sie die Spiegel und alles, was dieses Bild hier aufbaut, McDonald.« »Das kann er nicht«, sagte Henry Mullingbrook mit Grabesstimme. »Ich habe versprochen, zu regeln, was der Regelung bedarf. Da Sie Ihrem Inspektor McDonald nie glauben würden, was wirklich geschehen ist, bin ich selbst hergekommen, um es Ihnen zu erzählen. Es gibt glaubwürdige Zeugen, die meine Geschichte bestätigen werden, falls Sie das wünschen - Sir. Und damit niemand mehr unter meinen Handlungen leidet, schlage ich vor, Sie beide erfinden einen Täter. McDo104
nald verfasst einen Bericht, in dem geschildert wird, wie er den Mörder bis ans Meer verfolgte und sah, dass sich der Mann in die Brandung stürzte. Da die Mordserie beendet ist, wird es niemand widerlegen können.« »Moment, Augenblick! Was geht hier vor?«, rief McDonalds Chef. Lord Henry begann, seine Geschichte zu erzählen. Als er die letzten Worte gesagt hatte, forderte der Chef McDonald auf: »Bringen Sie uns einen Whisky mein Lieber.« McDonald tat es und während er den Rücken wandte, zerfloss das Geisterskelett. »Sie haben mich noch nie ›mein Lieber‹ genannt«, sagte der Inspektor drei Whisky später. »Stimmt genau, McDonald. Und ich habe noch nie ein Protokoll gefälscht, einen Tathergang fingiert und einen Täter erfunden. Sagen Sie mal, McDonald, sind wir noch normal?« »Wir sind es, Sir. Aber wir müssen all das, was Sie eben aufzählten, tun, um auch in den Augen der anderen als normal zu gelten.« »Sie haben Recht, mein Lieber. Dienst ist Dienst. Ich hoffe nur, dass wir in Zukunft nie mehr mit mordenden Geistern konfrontiert werden.« »Vielleicht sorgt Lord Henry Mullingbrook dafür. Wer weiß?« Ende
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