Christian Lukas
Der letzte Sonnenaufgang Version: v1.0 Madouni war ein Riese. Über zwei Meter groß, bestand sein Ober...
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Christian Lukas
Der letzte Sonnenaufgang Version: v1.0 Madouni war ein Riese. Über zwei Meter groß, bestand sein Ober körper aus athletischer Muskelmasse. Seine Haare waren kurz ge schoren, im Gegensatz zu anderen Türstehern hatte Madouni ein re lativ fein geschnittenes Gesicht ohne irgendwelche Narben. Ein In diz dafür, dass er zu den Vertretern seines Berufsstandes gehörte, die sich zu schützen wussten. Doch heute Abend hatte er seinen Meister gefunden. »Ich verzich te auf eine Anzeige«, schnaufte er unter dem Handtuch hervor. Der Anblick des völlig benommenen Türstehers erstaunte Walter Benslowski und Peter Farber nicht wenig. Die beiden Polizisten kannten Ali Madouni seit Jahren. Ali M. nannten ihn Freunde und Feinde gleichermaßen, wobei er die Abkürzung »M.« dem Bericht einer Boulevardzeitung verdankte. Eine junge Journalistin hatte Ali eine Nacht lang bei seiner Arbeit beobachtet, seinen Namen aber abgekürzt, wie bei Zeitungen dieser Art üblich. Auf dem Kiez war Ali eine feste Größe. Seit zehn Jahren bewachte
er die Pforten des »Lindors«, einem der edelsten offiziellen Bordelle in Dortmund. Die Mädchen im Lindor waren keine billigen Stra ßennutten, die sich mit einem Job den nächsten Schuss finanzierten. Das Lindor betrachtete sich als ein exklusiver Dienstleister zur Erfül lung der sexuellen Gelüste der Kundschaft. Diskretion wurde groß geschrieben. Dazu gehörte, dass nicht jedem Kunden Einlass ge währt wurde. Dafür verantwortlich war Ali M. Der Dortmunder Sperrbezirk in der so genannten Nordstadt, nur wenige Hundert Meter vom Hauptbahnhof der Stadt entfernt, ge hörte zum Einsatzgebiet von Walter Benslowski und Peter Farber. Die beiden Kommissare genossen selbst unter den schweren Jungs Respekt. Sie waren als unbestechlich bekannt, aber auch als Männer, die bei Konflikten eine schnelle Lösung einer bürokratischen vorzo gen. In der von der Außenwelt durch große Metalltore abgeriegelten Bannmeile herrschten eigene Gesetze. Benslowski, Farber und Madouni hatten sich ins Büro des Ge schäftsführers zurückgezogen. Der Türsteher drückte ein Handtuch auf sein aschfahles Gesicht. Er blutete aus der Nase und einer tiefen Schramme unter dem rechten Auge. »Bei allem Respekt«, Benslowski schüttelte den Kopf, »die Wunde unter deinem Auge muss genäht werden und deine Nase ist defini tiv gebrochen. Was dir zugestoßen ist nennt man Körperverletzung.« Benslowski war fast so groß wie Madouni. Doch er war einige Jah re älter, und sein ebenfalls beeindruckender Körperumfang bestand nicht mehr nur aus Muskeln. Dennoch wirkte seine imposante Figur auf seine Umwelt beeindruckend. Er nannte sich selbst ein Frontschwein und liebte die Arbeit auf der Straße. Peter Farber war mit 35 Jahren über zehn Jahre jünger als sein Partner. Er stand ebenfalls gut im Training, aber im Vergleich zu den beiden Muskelmännern wirkte er fast schmächtig. Er mochte Benslowski und die Art, wie er mit den Menschen hier klar kam –
gerade für Polizisten keine einfache Aufgabe. Farber machte keinen Hehl daraus, dass er nach seiner Prüfung zum Hauptkommissar in spätestens zwei Jahren die Nordstadt verlassen wollte und sich nach einer etwas ruhigeren Gegend umschauen würde. Oft fühlte er sich hier schwach und hilflos, vor allem auf dem illegalen Strich unweit der offiziellen Bannmeile, mit all den Drogensüchtigen und Minder jährigen. Aber das hatte er nicht einmal seinem Partner verraten … »Kann es sein«, fragte Farber den Türsteher, »dass dir diese Sache peinlich ist?« Madouni lachte. Für einen kurzen Moment nahm er dafür das Handtuch von der Nase – und prompt tropfte Blut auf den flau schigen blauen Perserteppich, der den Raum fast ausfüllte und kleines Vermögen gekostet haben musste. »Mist«, fluchte Ali M. und presste das Handtuch wieder auf sein Gesicht. »Es ist ja nichts passiert. Ein normaler Streit, wie er in un serem Gewerbe eben hin und wieder mal vorkommt.« »Ali …« Benslowski schüttelte den Kopf. »Ich stimme meinem Partner zu. Du hast einfach Schiss, dass dein Ruf Schaden nehmen könnte. Ich meine, die Kollegen haben den Typen, der dir ein paar geballert hat, unten im Wagen sitzen. Und machen wir uns nichts vor: Der Kerl ist mindestens 60 Jahre alt. Nichtsdestotrotz muss er bestraft werden.« Benslowski sprach bedächtig und im typischen Ruhrgebiets dialekt. Er neigte dazu, Buchstaben zu verschlucken, sagte »machn« statt »machen«, was stets den Eindruck von Kumpelhaftigkeit erweckte. Daher überließ Farber seinem Partner das Reden und spielte ihm nur von Zeit zu Zeit Bälle zu – wie den vor wenigen Augenblicken, als er die Peinlichkeit dieser Situation angesprochen hatte: Ein Tür steher, ausgezeichnet im Kickboxen und diversen anderen Kampfsportarten, wird von einem 60jährigen Rentner krankenhaus
reif geprügelt. Madounis Ruf war das definitiv nicht zuträglich. »Der Kerl hat einfach ein bisschen Stress gemacht«, murmelte der Rausschmeißer unter dem auf dem Gesicht gepressten Handtuch hervor. »Ich habe Hausrecht ausgeübt und ihn des Hauses verwiesen. Da wurde er wütend, hat um sich geschlagen und ich war wohl für einen Moment unaufmerksam. Das ist mein Pech, aber keine große Sache …« Es fiel Farber nicht gerade leicht, sich zusammenzureißen und nicht zu lachen. Ali M. war in Ordnung. Er mochte als junger Mann mal auf die schiefe Bahn geraten sein, doch das war lange her. Im Karree gehörte er zu den anständigen Jungs. Er war relativ umgäng lich und arbeitete gut mit Polizisten wie Benslowski und Farber zu sammen. Was nicht bedeutete, dass Ali M. als Feingeist bekannt gewesen wäre. Manch ein meuternder Kunde hatte dem gebürtigen Algerier eine Nacht in einem Dortmunder Krankenhaus zu verdanken. Wenn es darum ging, einen nörgelnden Freier an die Luft zu setzen, war dies für den Störenfried definitiv mit Schmerzen verbunden. Es war Farber peinlich, zugeben zu müssen, dass diese Situation nicht eines gewissen Amüsements entbehrte. Opa verprügelt Profi türsteher. Das passierte nicht oft. »Okay, Ali.« Benslowski kratzte sich die Nase. Für Farber ein untrügliches Zeichen dafür, dass der ältere Polizist einen Lösungs vorschlag parat hatte. »Vorschlag zur Güte: Wenn du keine Anzeige erheben willst, soll mir das egal sein. Aber so wie der Kerl dich zugerichtet hat, muss ich davon ausgehen, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. In dem Fall kann ich ihn nicht einfach laufen lassen. Also musst du mir erzählen, was passiert ist. Wir finden dann schon einen Weg, um die Geschichte auf kleiner Flamme zu kochen. Also?« Der Türsteher nahm für einen Moment das Handtuch vom Gesicht. Er versuchte zu schnäuzen, seine Nase war geschwollen,
aber die Blutung stoppte offensichtlich. »Der Kerl kam als ganz normaler Kunde«, begann Ali M. »Ihr wisst schon, älterer Herr, der mal ein bisschen Abwechslung von Mutti sucht.« Er faltete das Blut verschmierte Handtuch zusammen. »Und dann?«, fragte Farber. »Er ging zur Bar und begann, die Mädels anzuquatschen. Zu nächst ganz harmlos. Fragte sie, woher sie kamen und so.« »Smalltalk?« »Ja, genau. Er ist dann mit Monica aufs Zimmer, hier …« Ali zeigte mit dem Zeigefinger zur Decke. »Genau über uns in dem Zimmer waren die beiden. Ich weiß nicht, was dann geschehen ist.« »Monica hat den Alarmknopf gedrückt?« »Hat sie.« Im Lindor stand in jedem Zimmer neben jedem Bett ein Telefon. Es handelte sich ausnahmslos um Apparate aus den 70er Jahren, die eine Besonderheit aufwiesen: Rechts unter der Wählscheibe befand sich ein weißer Knopf, mit dem die Mädchen Alarm auslösen konn ten, wenn sie sich bedroht fühlten. »Komm schon«, trieb Benslowski den Türsteher an. »Weiter, oder wir müssen die Befragung auf dem Revier fortführen.« »Ich bin sofort hochgerannt und …« Madouni verstummte. Er biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. »Ali!«, forderte Benslowski den Türsteher auf, endlich weiterzuer zählen. »Monica war vollständig angezogen. Ebenso wie der Opa. Ich meine …« Der Türsteher suchte nach den richtigen Worten. »Wenn ein Mädchen den Alarm drückt, dann hast du es normalerweise mit Perversen zu tun, die dann in Kinderunterwäsche vor den Mädchen stehen oder Zigaretten auf ihrer Haut ausdrücken wollen … Solche Irren eben. Vergewaltiger und solche Leute … Aber der Opa wirkte eigentlich ziemlich ruhig. Er sprach völlig ganz ruhig mit Monica
…« »Was wollte er von ihr?«, hakte Farber fragend nach. »Keine Ahnung. Monica ist Rumänin und der Opa kommt offen bar auch aus Rumänien. Ich habe nicht verstanden, was er wollte.« Ali Madouni tastete mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Wunde unter seinem rechten Auge. Sie blutete noch leicht. »Scheiße!«, fluchte er. »Die muss ich wirklich nähen lassen.« Er schnaubte. »Ich habe den Opa dann gebeten, mir zu folgen.« »Nur gebeten?« In Benslowskis Frage schwang unterschwellig Zweifel mit. Auch wenn Ali M. zu den eher besonnenen Vertretern seines Berufsstandes gehörte, fasste er Störenfriede nun einmal nicht mit Samthandschuhen an. »Okay«, gab dieser dann auch zu. »Ich habe ihn an den Schultern gepackt und dann freundlich gebeten, mit mir zu kommen.« »Hat er dir da …« Farber ließ den Rest des Satzes ungesagt und machte stattdessen eine Boxbewegung. »Nicht sofort. Er hat noch einmal auf Monica eingeredet. Die fing an zu weinen und rannte davon. Daraufhin wollte der Opa hin terher. Ich habe ihn etwas härter angepackt und …« Ali M. immi tierte seinerseits eine rechte Gerade. »Ich habe den Opa vollkommen unterschätzt. Er war unglaublich flink, rammte mir sein Knie zwi schen die Beine.« »Und anschließend ist er weggerannt«, kombinierte Benslowski. »Genau. Also bin ich hinterher. Der Kerl hat mich zum Glück nicht richtig getroffen, und der Schmerz in meinem Gesicht kam erst spä ter. Na ja, er ist vorne raus – und da standen zufällig Streifen kollegen von euch. Die sahen den Alten, meine blutende Fresse und haben eins und eins zusammen gezählt.« Benslowski nickt Farber zu. »Und?« Sein Partner zuckte mit den Schultern. »Wir müssen mit dieser Monica sprechen.«
»Die ist abgehauen.« Ali M. spukte etwas Blut ins Handtuch. »Sie heißt Nicolescu mit Nachnamen und wohnt in Dortmund-Eving.« Benslowski machte sich Notizen. »Und? Können wir die Sache begraben?«, wollte der Türsteher von Farber wissen. »Das können wir erst entscheiden, wenn wir mit dem – wie du ihn nennst – ›Opa‹ gesprochen haben.«
* Der Mann saß hinten im VW Bully der Streifenpolizisten. Farber hatte die Kollegen, die den Mann verhaftet hatten, gebeten, sich die Beine zu vertreten, um die Befragung de facto inoffiziell durchzuführen. Wenn sie Ali heute einen Gefallen taten, würde dieser sich ein anderes Mal gefällig zeigen. »Heinrich Schaffeisen?«, begann Farber das Gespräch, noch wäh rend die beiden Kommissare in den Wagen kletterten. Der Mann saß, die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, entgegen der Fahrtrichtung. Ihm gegenüber nahmen die beiden Kriminalpolizisten Platz. Sie verzichteten auf die Innenbe leuchtung, um keine unnötigen Blicke auf sich zu ziehen. Der Pass lag auf dem kleinen Tischchen zwischen den Dreien, Farber strahlte ihn mit einer Taschenlampe an. »Das ist mein Name«, antwortete der Mann freundlich mit einem leichten osteuropäischen Akzent. Dem Pass nach war Schaffeisen 61 Jahre alt. Seine blonden Haare waren kurz geschnitten, allerdings verrieten einige Bartstoppeln, dass er sich heute offenbar nicht rasiert hatte. Allerdings wirkte er ordentlich gekleidet – schwarze Lederjacke, eine schwarze Stoffhose, eine graue Krawatte zu einem weißen Hemd. Schaffeisen sah nicht gerade wie ein Millionär aus. Aber in diesem Aufzug war es für ihn
kein Problem gewesen, ins Lindor eingelassen zu werden. »Ich komme aus Siebenbürgen«, fuhr er fort, »und gehöre der deutschen Minderheit an.« Farber nickte. »Meine Herren.« Schaffeisen versuchte, sich zu einem Lächeln zu überwinden. »Sie müssen mir glauben. Es ist niemals meine Absicht gewesen, den Herrn zu verletzen. Ich wollte einfach nur noch ein mal mit dem Mädchen sprechen. Es lag nie in meiner Absicht, Ge walt anzuwenden.« »Dafür haben Sie dem guten Mann aber ganz schön zugesetzt …«, meinte Farber. »Bitte«, fiel ihm Schaffeisen ins Wort. »Wenn ich Ihnen ein Foto zeigen dürfte. Dann wird sich vieles klären. Es ist in meiner Briefta sche. In meiner Jacke.« Farber blickte Benslowski fragend an. Dieser nickte kaum merk bar, und Farber beugte sich über den kleinen Tisch. Er zog ein altes, abgegriffenes beiges Portemonnaie heraus und öffnete es. Ein zerknittertes Foto steckte in dem Schuber für die Geldscheine. Farber zog es hervor. Es zeigte eine junge Frau um die zwanzig Jah re alt, dunkelhaarig, mit fast schon schwarzen Augen und einem wunderschönen Lächeln. Die Farben des Fotos waren verblasst. »Das ist meine Tochter Nadja. Wegen ihr bin ich hier.« Schaffeisen war den Tränen nahe. Farber reichte das Bild Benslowski weiter. »Sie wissen, dass viele Mädchen aus Osteuropa in den Westen ge hen«, sagte der Alte nach einer Weile. »Und nicht wenige von ihnen werden hier zur Prostitution ge zwungen.« Farber nickte. »Genau.« Schaffeisens Augen wurden glasig. Er kämpfte gegen die Tränen an, aber er stand kurz davor, diesen Kampf zu verlieren. »Ich habe nicht geglaubt, dass so etwas meiner Tochter passieren
würde. Unserer Familie ging es immer ganz gut. Meine Frau ist Ru mänin, wir haben …« Schaffeisen zwang sich zu einem Lächeln – und unterdrückte ein letztes Mal seine Tränen. »Wir waren beide Leistungssportler, meine Frau war Leichtathletin, ich Judoka. Wir haben 1972 in München sogar an den Olympischen Spielen teilge nommen und 1984 war ich als Trainer sogar in Los Angeles …« »Hat der Ostblock die Spiele nicht boykottiert?«, fragte Benslow ski. Schaffeisen lächelte. »Nicht Rumänien. Ceausescu war ein Drecks kerl, aber nicht dumm. Er wusste, dass ihm der Boykott des Boy kotts im Westen Sympathien einbringen würde.« Farber erinnerte sich tatsächlich an den Einmarsch Rumäniens und den riesigen Applaus, den das Publikum dem kommunistischen Land spendete. Es war schon verblüffend, welche Informationen das Gedächtnis bereitstellte, wenn bestimmte Erinnerungen benötigt wurden. »Vor allem die deutsche Minderheit hat es in den Jahren Ce ausescus nicht leicht gehabt, aber als Spitzensportler hat man mich in Ruhe gelassen. Es sind Zehntausende von deutschen Familien aus Rumänien nach Deutschland ausgewandert – während des Kom munismus, weil man sie verfolgt hat, danach, weil die wirtschaftli che Lage katastrophal war.« »Aber nicht für Sie …«, folgerte Farber. »Ich habe für das Olympische Komitee gearbeitet und …« Schaff eisen konnte seine Tränen nicht mehr zurück halten. »Wir sind nicht reich, aber Nadja hat sogar eine Privatschule in Bukarest besuchen können. Ich hatte Beziehungen …« Er versuche, seine Tränen an der Schulter abzuwischen. Durch die Handschellen ging es nicht anders. »Vor zwei Jahren wollte sie nach Deutschland, um hier zu stu dieren. Sie ist doch noch fast ein Kind, gerade einmal 22 Jahre alt. Ich weiß noch, wie wir in der deutschen Botschaft in Bukarest die
Formalitäten erledigt hatten und die Dame, mit der wir sprachen, Nadja sogar geraten hat, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, die ihr als Deutsche ja zusteht. Sie hat ein Stipendium erhalten, um hier Medizin zu studieren. Medizin!« »Hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.« Schaffeisen schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist Rumänin, und sie ist ein sehr idealistisches Mädchen. Sie gehört einer jungen Generation von Menschen an, die Rumänien zurück nach Europa führen wollen. Fleißig, strebsam. Ehrbare junge Menschen …« Er schluckte und konnte den Tränenfluss so stoppen. »Ich weiß nicht, was hier in Deutschland passiert ist. Sie hat in Marburg studiert und zunächst hat sie fast jeden Tag eine Email nach Hause geschickt. Bis dann – vor neun Monaten – der Kontakt plötzlich abriss.« »Das war im Februar«, rechnete Farber nach. »Geht da nicht die Vorlesungszeit zu Ende?« »Ja, aber was hat das zu sagen?« Der Mann schnaufte. »Ich habe die Polizei eingeschaltet, und die haben einige ihrer Kommilitonen verhört, die alle behauptet haben, Nadja sei nach Rumänien zurück gekehrt. Doch das ist Unsinn! Ich bin jetzt schon einige Monate in Deutschland auf der Suche nach meinem Mädchen, und ich bin schließlich auf ein Bordell gestoßen, in dem viele Mädchen aus Ru mänien arbeiten. Dort habe ich Karja kennen gelernt – ein Mädchen das Nadja flüchtig kannte. Sie hat mir verraten, dass Nadja in Mar burg eine Freundin gehabt hatte, die aus dem Rotlichtmilieu stamm te. Monica Nicolescu. Ich habe die Spur dieses Mädchens schließlich bis nach Dortmund verfolgen können. Aber als ich sie auf Nadja angesprochen habe, ist sie vollkommen durchgedreht.« Farber musste zugeben, dass sich die Geschichte halbwegs schlüssig anhörte. Allerdings … »Wenn Ihre Geschichte stimmt – und das können wir ja durch ein paar Anrufe herausfinden – sieht es nicht so aus, als würde ein Verbrechen vorliegen. Wir können es natürlich nicht ausschließen, aber zumindest was das Lindor angeht,
sind wir uns ziemlich sicher, dass der Laden sauber ist und mit illegaler Prostitution nichts zu tun hat. Ihre Tochter ist, wie Sie selbst erzählt haben, ganz offiziell als Stipendiatin nach Deutschland ge kommen, und bislang fehlt ein schlüssiger Hinweis darauf, dass ein Verbrechen geschehen ist.« »Haben Sie Kinder?«, fragte Schaffeisen nach einem kurzen Moment des Schweigens. Farber schüttelte den Kopf, während Benslowski nickte. Schaffeisen wandte daraufhin Benslowski den Blick zu. »Dann werden Sie mich verstehen. Mein Kind, mein einziges Kind, scheint im Rotlichtmilieu gelandet zu sein. Was würden Sie tun, wenn Ihre Tochter dort landen würde?«
* »Nein.« Farber schüttelte energisch den Kopf. »Okay, Ali will Schaf feisen nicht anzeigen, weil er Angst um seinen Ruf hat. Ich glaube auch nicht, dass er sich umstimmen lässt, wenn er erfährt, dass sein Gegner als Olympia-Judoka ein gleichwertiger Gegner gewesen ist. Von mir aus soll die Sache damit erledigt sein, aber ich werde für den Kerl jetzt nicht den Chauffeur spielen.« Die beiden Polizisten standen vor dem VW Bully, Farber rauchte eine Zigarette. Schaffeisen saß noch im Wagen, aber Benslowski hatte ihm bereits die Handschellen abgenommen. »Peter«, besänftigte der Ältere sein Partner. »Der Kerl sucht seine Tochter und ist emotional angespannt. Abgesehen davon, dass er in der Lage ist, Leuten wie unseren Kickbox-Ali das Gesicht umzu krempeln. Er wird weiter nach seiner Tochter suchen, egal, was wir ihm auch sagen. Also, was ist dagegen einzuwenden, mit ihm nach Eving zu dieser Monica zu fahren. Wir stellen ihr einige Frage zum
Verbleib seiner Tochter, und damit hat sich die Sache. Wenn wir feststellen, dass möglicherweise ein Verbrechen vorliegt, müssen wir sowieso ran. Sollte das Mädchen aber einfach keine Lust auf ein anständiges Medizinstudium habe und lieber Doktorspiele spielen, dann werde ich mit Schaffeisen sprechen. Von Vater zu Vater.« Farber war kein Polizist, der streng nach Vorschrift agierte, doch diese Geschichte behagte ihn nicht. Zumindest in Marburg hätte er sich bei den Kollegen bezüglich ihrer Suche nach Nadja rückversi chern wollen. Aber mitten in der Nacht telefonisch in einem anderen Bundesland Daten abzufragen über einen Fall, der vielleicht gar kein Kriminalfall war, das war selbst im Zeitalter des Internets und der elektronischen Datenverarbeitung ein schwieriges Unterfangen. Vor allem wenn davon auszugehen war, dass die zuständigen Kollegen zurzeit den Schlaf der Gerechten schliefen und gar nicht erreichbar waren. Farber warf die Zigarette auf den Asphalt, auf dem sich langsam Bodenfrost bildete. »Okay, wir fahren nach Eving, fragen das Mädchen – und dann gehen wir nach Dienstvorschrift vor, wenn ein Verbrechen vorliegt.« Benslowski grinste. »Du bist ein guter Junge.« »Ja, ja … Lass uns fahren, Papa …«
* Der Dortmunder Norden gilt als ein schwieriges Terrain. Die Krimi nalität ist höher als in den anderen rund 80 Stadtteilen der Ruhrge bietsstadt. Vor allem Drogen und die mit ihr verbundene Beschaf fungskriminalität bereiten der Polizei Probleme. Auch Jugendkrimi nalität ist ein Problem. Viele Migranten leben hier, und die Arbeits losigkeit, Auslöser vieler Konflikte, ist hoch. Eving ist von der Größe her eine eigene Stadt, gilt aber als Teil des Dortmunder Nordens.
Monica Nicolescu wohnte in einer heruntergekommenen Neben straße am Ortseingang von Eving. Die Häuser, allesamt über 100 Jahre alt, waren architektonisch durchaus interessant. Einige verfüg ten über liebevoll gestaltete Fassaden, hohe Fenster und verspielte Erker. Aber die Vermieter ließen die Häuser vergammeln. Verschandelt wurden die meisten Häuser darüber hinaus durch talentlos hingeschmierte Graffitis, deren Bedeutung dem Betrachter fremd blieb. Die Tür zu Monica Nicolescus Haus, das mit seiner mintgrünen Fassade immerhin aus dem Grau der anderen Häuser hervorstach, stand offen. »Und das um 1 Uhr 15«, sinnierte Farber und schüttelte den Kopf. Er ging voran, Schaffeisen folgte ihm, Benslowski hielt wiederum ein Auge auf den Rumänen. Die Rollen waren verteilt: Die Polizisten würden mit der Prostitu ierten reden – freundlich, aber bestimmt. Schaffeisen durfte die Polizisten begleiten, was ohnehin gegen jede Regel verstieß, und hielt als Gegenleistung den Mund, solange er nicht direkt angesprochen wurde. Monica Nicolescu wohnte unter dem Dach. Sie logierte auf dieser Etage allein, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Dach boden. Aus der Wohnung unter ihr dröhnte laute Musik – Eminem. »Und niemand beschwert sich«, stellte Farber nüchtern fest. Farber wollte gerade den Klingelknopf betätigen, als die Tür auf gerissen wurde, und Monica Nicolescu stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Polizisten. Eine Blutfontäne schoss aus ihrem Hals!
*
Farber zog seine Waffe aus dem Gürtelholster. Keine zwei Meter hinter der Prostituierten stand ein Mann mit einem Blut verschmierten Mund. Lange Fangzähne blitzten aus dem Oberkiefer hervor. Das bärtiges Gesicht war aschfahl – von dem Blut abgesehen – die Augen funkelten rot im matten Flurlicht. Er war groß, ebenso bullig wie Benslowski – und unglaublich schnell! Er stürzte sich auf Farber, bevor dieser die Waffe entsichert konn te, und riss ihn mit sich über den Flur bis in den Eingangsbereich des Dachbodens. Erst hier stürzten die Männer zu Boden. Aus einem Reflex heraus riss Farber den linken Arm hoch. Keinen Augenblick zu früh. Der Angreif er wollte Farber tat sächlich in den Hals beißen! Stattdessen rammte er nun die Zähne in den Unterarm. Blut spritze. Farber schrie auf. Doch es gelang ihm, die Pistole zu entsichern, die er in der Rech ten hielt. Der Lauf der Waffe zeigte auf den Bauch seines Angreifers. Farber schoss. Zwischen dem Angriff und dem Schuss war kaum mehr als eine Sekunde vergangen. Benslowski stieß Schaffeisen unsanft zu Boden, um freies Schuss feld zu haben, und zog seine Waffe. Sein Blick war auf den Mann gerichtet, der sich in Farbers Arm verbissen hatte. Hätte Benslowski auch nur einen kurzen Blick in die Wohnung der Prostituierten geworfen, wäre ihm der zweite Angreifer nicht ent gangen …
* Der Kerl, der sich auf Farber gestürzt hatte, zerrte mit den Zähnen an dessen Arm wie ein durchgedrehter Kampfhund.
Der Kommissar wusste sich nicht anders zu helfen, als erneut zu feuern. Und noch mal … Und wieder … Erst mit der letzten Kugel ließ der Angreifer von ihm ab. Der leblose Körper war schwer. Farber fühlte sich benommen, nur mit Mühe schaffte er es, den To ten zur Seite zu wälzen und wieder auf die Beine zu kommen. Seine Hände zitterten, er war kaum in der Lage, die Waffe ruhig zu hal ten. Im Treppenhaus, vor der Wohnung der Prostituierten, sah er Schatten. Das Flurlicht war ebenso erloschen wie in das in ihrer Wohnung, und seine Augen versagten ihren Dienst, passten sich der Dunkelheit nicht an. Bei dem Versuch zu stehen versagte sein Sinn für die Schwerkraft, und der Polizist stürzte rücklings zu Boden. Ein Röcheln erklang aus dem Treppenhaus. »Walter?«, rief Farber. Er krabbelte über den schmutzigen Dielenboden des Dachbodens wie ein kleines Kind, das gerade seine ersten Versuche unternahm, sich selbstständig fortzubewegen. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich zu erheben. »Walter!«, schrie er. Das Echo sich nähernder Schritte erklang. Rote Augen bewegten sich im Dunkel. Da ertönte ein Schrei – und die roten Augen erloschen …
* Plötzlich flammte Licht auf. Schaffeisen stand im Türrahmen zum Dachboden. In seinen
Händen hielt er etwas, das nach einem abgebrochenen Stuhlbein aussah. Die Bruchseite war blutverschmiert. Vor ihm lagen eine Ja cke, ein Hemd, eine Hose. Staub … Und etwas, das aussah wie ein Kieferknochen! Der Mann, der sich auf Farber gestürzt hatte, röchelte schmerz erfüllt. Der Schreck verdrängte den Schock, das Gefühl der Ohnmacht verschwand. Farber sprang auf, riss die Waffe in die Höhe und rich tete den Lauf auf Schaffeisen. »Was, zur Hölle …?« Der Rumäne schüttelte den Kopf. »Hören Sie mir zu!« Er sprach schnell und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Situa tion im Griff hatte. »Wir müssen schnell handeln. Der Kerl«, er deu tete auf den offenbar ausblutenden Angreifer, »ist erst einmal außer Gefecht gesetzt. Lassen Sie ihn liegen. Wir müssen uns um das Mäd chen kümmern.« »Mädchen …?« Farber fühlte sich, als sei er von einem Lkw ge rammt worden. »Was …? Benslowski?« Wo war sein Partner? »Walter?« Er lief an dem Rumänen vorbei ins Treppenhaus. Nur einen Wimpernschlag lang starrte er den Körper an, der einst sein Partner und Freund gewesen war, bevor die Magensäfte seine Kehle hinauf schossen und er sich über das Treppengeländer in die Tiefe übergab. Er konnte den Schwall an grünem Schleim nicht zu rück halten. Seine Finger lösten sich kraftlos von der Pistole, die auf die Stufen polterte. Hände griffen nach ihm – Schaffeisens Hände! –, und der Rumäne ließ Farber langsam zu Boden gleiten. Der Polizist stand unter Schock, kaum mehr fähig, seine Gedanken zu ordnen. Das Licht im Treppenhaus erlosch, und der Rumäne betätigte den Lichtschalter, nur damit Farber feststellen musste, dass die Dunkel
heit das Geschehen nicht einfach fortgespült hatte. Kaum mehr als einen Meter von ihm entfernt befand sich Walter Benslowskis bulliger Körper. Er lag auf dem Bauch. So war nicht zu übersehen, dass sein Angreifer ihm das Genick durchgebissen hatte. Welcher Mensch konnte die Kraft aufbringen, einem Menschen die Wirbelsäule durchzubeißen? Aus der Etage unter ihnen ballerten die Boxen noch immer mono tonen HipHop hinaus in die Nacht. Farber konnte es nicht fassen. Er hatte ein ganzes Magazin in einen Kerl gepumpt, der von dieser geballten Ladung Munition einfach nicht sterben wollte. Im Treppenhaus lag der Leichnam eines Poli zisten, ein Mädchen verblutete auf der Schwelle ihrer Wohnung, nachdem es zuvor offenbar misshandelt worden war – und niemand schien sich für den Lärm und die Schreie zu interessieren. Was für eine beschissene Welt … Das Mädchen! Es war Farber nicht klar, wie es ihm – auf dem Boden hockend und vor sich hin wimmernd – plötzlich gelang, einen klaren, zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Aber der Gedanke an das Mädchen taute das in seinen Adern zu Eis gefro rene Blut langsam wieder auf, und er erlangte die Fähigkeit des Handelns zurück. Schaffeisen hatte sich die Jacke ausgezogen und die Krawatte abgenommen, die er nun als Mullbinde verwendete, um mit ihr die Halswunde des Mädchens abzudecken. »Ich rufe einen Krankenwagen …«, stammelte Farber und griff nach dem Handy. »Bitte lassen sie das«, forderte ihn Schaffeisen auf. »Oder wollen Sie ihren Kollegen mitteilen, dass wir gerade von einer Horde Vam pire überfallen worden sind.« »Klar, Vampire …« Farber schnaubte, dachte an irgendwelche neuen Drogen wie Speed oder ähnliches. »Sie sind doch verrückt.«
»Und die roten Augen?«, fragte Schaffeisen in einem überraschend ruhigen Tonfall. »Sie haben doch die roten Augen gesehen, oder nicht? Und warum lebt dieses Stück Dreck auf dem Dachboden noch immer, obwohl Sie ihr gesamtes Magazin nicht nur in ihm entleert haben, sondern die meisten Kugel darüber hinaus noch aus seinem Rücken wieder ausgetreten sind. Ganz abgesehen von den Resten des zweiten Vampirs, der ihren Kollegen ermordet hat und von mir in Staub verwandelt wurde.« Farber wollte etwas sagen, wollte Schaffeisen für verrückt erklä ren. Lachen. Weinen. Irgendetwas. Eine rationale Erklärung für das abgeben, was geschehen war. Aber es gelang ihm nicht. Sein Blick war abwechselnd auf Benslowskis Leichnam und das blutende Mädchen gerichtet. »Wir müssen ihr helfen«, stammelte er schließlich. »Dafür ist es zu spät.« Das Mädchen, Monica Nicolescu, war eine kleine Schönheit. Kaum größer als 1,50 Meter, war sie schlank, hatte schwarze Haare und braune Augen. Nadjas Bild, das Schaffeisen bei sich trug, war sie nicht unähnlich, allerdings war sie etwas jünger, kaum älter als 19 Jahre. Eigentlich war sie noch ein Kind. Ihr Körper zuckte, sie weinte, zitterte, bekam mit, was Schaffeisen gesagt hatte. Der Tod streckte seine kalten Hände aus. Farber spürte das herauf ziehende Ende, hörte den Tod sein widerliches Lied singen. Er musste diesem Kind helfen. Doch etwas in ihm versagte den Dienst. Es war ihm gelungen, sich aufzurichten, aber er stand einfach nur da und starrte das Mädchen an, das Schaffeisen leise zu wiegen be gann. Der Alte kniete, eine Hand mit der Krawatte auf der Hals wunde des Mädchen, den anderen Arm unter ihren Körper gelegt. »Keine Angst«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich bin bei dir, mein Kind. Ich bin bei dir.«
Das Mädchen antwortete etwas auf Rumänisch. Schaffeisen lächelte traurig. »Aber natürlich hat Gott auch dich lieb, mein Kleines. Gott hat uns alle lieb, die Guten genau so wie die kleinen Sünder. Das weißt du doch. Die kleinen Sünder hat er sogar besonders lieb. Weil sie so menschlich sind und seinem Bild des Menschen entsprechen. Er liebt die kleinen Sünder, weil er die Menschlichen liebt.« Das Mädchen lachte. Es erhob die zitternde Hand und streichelte Schaffeisens graublonde Schläfen. Der Rumäne ließ die Krawatte auf ihrer Wunde liegen und nahm sich der streichelnden Hand an. Er küsste sie. An der Art und Weise, wie der Alte ihre Hand zu Boden gleiten ließ, erkannte Farber, dass das Licht des Lebens aus den Augen des Mädchens erloschen war. Schaffeisen legte das Mädchen auf die kal ten Fliesen im Treppenhaus. Er faltete ihre Hände und sprach ein kurzes Gebet – bevor er das abgebrochene Stuhlbein nahm und dieses in ihr Herz rammte …
* »Okay, wir sollten jetzt meine Kollegen rufen«, stammelte Farber. Er war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, und war dankbar, dass ihm die Dienstvorschriften jetzt genau sagten, was er zu tun hatte. Bis sein Blick auf dem Nacken seines toten Kollegen haften blieb. Man hatte ihm beinahe den Kopf abgebissen, eine riesige Blutlache bedeckte den Boden. Blut. Überall Blut. »Wenn Sie uns die Wahrheit gesagt hätten, dann würde mein Kollege noch leben!«, brüllte der Polizist. Wie ein wildes Tier sprang Farber den Rumänen an, der fast das Gleichgewicht verlor. Der Mann wehrte sich kaum. Farber ballte sei
ne Hände zu Fäusten, wollte auf Schaffeisen einschlagen. Der aber wich seinen Schlagversuchen aus oder wehrte sie geschickt ab. »Was hätte ich Ihnen denn erzählen sollen?«, rechtfertigte sich der Rumäne. »Dass ich eine Vampirin namens Nadja jage, die im Ruhrgebiet einen Clan aufbaut?« Schaffeisen ließ Farbers nächsten Angriff ins Leere laufen, sodass der Polizist an ihm vorbeistolperte, und trat zwei Schritte zurück, um etwas Platz zwischen ihm und den Polizisten zu schaffen. »Was ich Ihnen erzählt habe, ist die Wahrheit«, beteuerte er. »Ich habe nur zwei Dinge weggelassen. Man hat mich in Rumänien in Ruhe gelassen, nicht nur, weil ich als Sportler Erfolge für mein Land errungen habe. Ich gehöre einer Familie an, die seit Generationen Vampire jagt.« »Vampire!«, stieß Farber hervor. »Das ist Blödsinn!« Schaffeisen ging nicht darauf ein. »Stellen Sie sich einfach vor, dass ›Dracula‹ kein Roman ist, sondern in Wahrheit ein Sachbuch, das hier und da die Geschichte einfach etwas ausschmückt. Auch was Nadja betrifft, habe ich nicht gelogen. Sie ist wirklich als Stu dentin nach Deutschland gekommen und ist wirklich verschwunden. Aber einen Punkt habe ich weggelassen. Nadja ist von einem sehr alten Vampir, den ich bereits seit Jahren gejagt hatte, verwandelt worden. Und als ich diesen endlich erledigt hatte, ist mir Nadja entkommen.« »Was ist daran prekär, außer dass sie Menschen beißt?« Farbers Herzschlag normalisierte sich, und er bemerkte, wie weh ihm sein Arm tat. Die Bisswunde brannte höllisch. »Vampire leben in festen Clans. Ein Mensch, der von ihnen verwandelt wird, wird von seinem Sire, dem Blutsauger, der ihn verwandelt hat, in den Clan eingeführt. Nadjas Verwandlung fand hier in Deutschland statt, ihr Clan aber lebt auf dem Balkan. Stirbt der Sire vor der Einführung, wird der Verwandelte nicht aufgenom men. Die meisten Vampire, denen dieses Schicksal zuteil wird, über
leben ohne Führer und ohne Clan keine zwei Tage. Zumeist ist es das Sonnenlicht, das sie erledigt. Aber einige wenige, oft Menschen von überragender Intelligenz, Skrupellosigkeit oder Brutalität, über leben länger und gründen einen eigenen Clan.« Farber nickte langsam. Nicht weil er diesen Fantastereien zu stimmte, sondern um zu zeigen, dass er zuhörte. »Die Vampire, die uns angegriffen haben, sind Frischlinge. Sie haben einen typischen Anfängerfehler begangen. Sie haben sich un antastbar gefühlt und ihnen fremde Menschen auf unsicherem Ter rain angegriffen. Der Biss, der Monica getötet hat, war unsauber gesetzt und hat ihre Halsschlagader zerrissen. Das würde einem al ten Vampir nicht passieren. Ein erfahrener Vampir wäre vor uns durch das Fenster geflohen. Vampire können sich nicht in Fle dermäuse verwandeln, Herr Kommissar, aber sie können auf dem Wind reiten. Und sie scheuen die Öffentlichkeit.« Farber glaubte, der Beat aus der eine Etage tiefer gelegenen Wohnung würden sein Gehirn zum Schmelzen bringen. Diese Ge schichte über Vampire war Unsinn! Hanebüchener Unsinn – hätte er nicht die roten Augen gesehen. Und die Überreste dieses Dings, das auf dem Boden verrottete. »Ich habe Nadjas Spur verfolgt«, fuhr Schaffeisen fort. »Von Bordell zu Bordell …« »Woher wussten Sie das mit den Bordellen …?« Farber konnte es kaum fassen, dass er diese Frage stellte. »Überlegen Sie doch einmal: Vampire haben im Allgemeinen be kanntlich Probleme mit dem Tageslicht. Sie müssen also einer Betäti gung nachgehen, die es ihnen ermöglicht, in der Nacht zu arbeiten. Vor allem weibliche Blutsauger suchen oft ein Asyl in einem Puff. Sie arbeiten nachts, können sich tagsüber zurückziehen und bekom men Nahrung. Viele Männer mögen es schließlich, gebissen zu werden. Und ein kleiner Biss verwandelt das Opfer nicht. Eine Verwandlung findet nur statt, wenn sich das Blut von Opfer und
Angreifer vermischt.« Farber blickte auf seinen blutenden Unterarm, in den sich der Vampir verbissen hatte. Als er auf ihn geschossen hatte, hatte das Wesen auch Blut gespuckt – in die Wunde … Vampir? Das war unmöglich. Schaffeisen war verrückt. Genau wie die Ir ren, die sie angegriffen hatten. »Bordelle sind immer wieder Brutstätten neuer Clans. Sie bieten ihnen nicht nur die Möglichkeit, bei Nacht zu leben und am Tag zu schlafen, hier finden sie auch ihre Mitglieder. Es sind vor allem Kriminelle. Aber oft auch Männer, denen ein Abenteuer jenseits des eigenen Bettes zum Verhängnis wird. Diese werden zumeist nicht vollständig verwandelt, sondern vom Blut der Vampire abhängig gemacht, auf dass sie für sie Handlangerdienste am Tag erledigen.« »Wie lange dauert eine Verwandlung.« Farber blickte auf seine Blut durchtränkte Jacke und das zerrissene Hemd. Eigentlich hätte er noch bluten müssen – oder? »Zwei Tage, bei besonders starken, gesunden Menschen vier bis fünf Tage. Nach dem Biss erlangt der Mensch zunächst enorme Kräfte. Der Körper wird robuster, Wunden verheilen, ein Schnupfen verschwindet mit einem Fingerschnippsen. Das dauert kaum mehr als eine Stunde. Der Biss wirkt wie eine Frischzellenkur. Am zwei ten Tag beginnt der Körper gegen diese Veränderungen anzu kämpfen, weil er glaubt, es sei eine Krankheit. Der Mensch be kommt Herzrasen und stirbt schließlich. Den Rest kennen Sie aus ›Dracula‹. Angst vor dem Kreuz, Weihwasser, Sonnenlicht, all diesen Dingen eben. Hat mit ihrer dämonischen Herkunft zu tun. Ach ja: Und der Verwandlungsbiss muss nicht, wie irrtümlich oft angenommen, in den Hals erfolgen.« »Und man kann nichts dagegen tun?« »Jeder Mensch hat einen freien Willen. Ob lebend oder tot. Doch sind die meisten Menschen zu schwach, den Verlockungen des Bö
sen zu widerstehen, wenn es ihnen das Ewige Leben bietet …«
* Farber konnte nicht fassen, was er tat. Er zog Benslowskis Leichnam und den des Mädchens in die Wohnung. Anschließend packten er und Schaffeisen den röchelnden Angreifer unter den Schultern, stemmten ihn gemeinsam in die Höhe und schleiften ihn ebenfalls in die Wohnung auf der anderen Seite des Dachbodens. Der Mann schien einem Klischee beladenen Rockerfilm ent sprungen zu sein. Lange grauschwarze Haare, langer grauschwarzer Bart, Motorradlederjacke, Jeans, Motorradstiefel. Seine behaarten Hände waren tätowiert. Auf den Fingern der rechten Hand stand »Hass«. Sie schafften ihn in die kleine Küche und setzten ihn auf einen dunkelbraunen Küchenstuhl. Der zweite Stuhl lag auf dem Boden, es fehlte ihm ein Standbein. Hier also hat er den Pflock her, mit dem er den Vampir gepfählt hatte, überlegte der Polizist, während Schaffeisen ein zweites Bein ab brach. Aus der Wohnung unter ihnen dröhnte inzwischen wieder ame rikanischer Ghetto-HipHop mit für mitteleuropäische Ohren voll kommen unverständlichen Texten. Und niemand beschwerte sich. Schaffeisen fesselte den Vampir mit seinem Hosengürtel. Farber fiel auf, dass der Gurt weit mehr Löcher aufwies als ein normaler. Offenbar war dies nicht das erste Mal, dass Schaffeisen ihn als Fessel nutzte. Der Polizist beobachtete das Vorgehen des Ru mänen. »Warum haben Sie dem Mädchen den Pflock ins Herz gerammt«, wollte er wissen.
»Sicherheitsmaßnahme. Es kann immer sein, dass eine Verwand lung stattfindet, obwohl das Opfer einfach nur getötet werden sollte. Das passiert selten, aber sicher ist sicher.« Farber überlegte. Die Anspannung und Nervosität verschwand. Er spürte, wie seine Glieder durchblutet wurden. Schnell durchblutet wurden. Zu schnell. »Wenn Monica jemanden angerufen hat, nachdem Sie mit ihr im Lindor gesprochen haben, dann kriege ich das raus …« »Das ist gut«, antwortete Schaffeisen, während er einen Kochtopf mit Wasser füllte, und diesen ein Gebet murmelnd auf den Kü chentisch stellte. Die Küche war klein, aber der kleine, alte Wand schrank mit der grünen Tür war gut sortiert. Ebenso wie der Kühl schrank übrigens. »Wir sollten diese Option nicht aus den Augen lassen, falls unser Freund sich als wenig kommunikativ erweisen sollte.« Schaffeisen schlug dem Vampir ins Gesicht. Der begann zu rö cheln und der Rumäne schüttelte ihn. Als das nicht die gewünschte Wirkung zu erzielen schien, drückte er einen Zeigefinger in die oberste Einschusswunde des Vampirs, kurz unterhalb des Schlüsselbeins. Der Vampir schrie auf und öffnete die Augen, während Schaff eisen mit dem Finger in der Wunde stocherte, und wollte auf springen, doch seine gefesselten Hände ließen ihn kein Gleichge wicht finden. Für Farber war dieses Geschehen vollkommen irreal. Er fühlte sich, als sei er einfach nur ein Beobachter, der einer Geschichte, die ihn nicht interessierte, gelangweilt zuschaute. Stets in der Hoffnung, sie sei nur ein Traum, aus dem er in wenigen Augenblicken erwa chen würde. Aber er wachte nicht auf … Der Vampir starrte Schaffeisen aus hasserfüllten Augen an. Seine
Pupillen verengten sich, das Weiße im Auge färbte sich rot. »Lass diese Zirkustricks. Dies«, Schaffeisen deutete auf den mit Wasser gefüllten Topf, »ist geweihtes Wasser. Wenn ich dir den In halt dieses Topfes ins Gesicht schütte, dann wirst du nicht einfach sterben. Dein Körper wird vom Weihwasser aufgefressen. Stell wir vor, ein totes Rehlein liegt im Wald und dann machen sich Tausende von Maden über das Tier her. Das ist kein schöner An blick. Das Problem für dich wird nur darin bestehen, dass du nicht tot sein wirst, wenn das Wasser deinen Körper auffrisst. Warum? Weil dein Herz weiter schlagen und dein verdorbenes Blut durch die Arterien schießen wird. Bis die Arterien porös werden und du langsam ausblutest, bis das Herz nichts mehr zum Pumpen findet. Das kann bis zu einer Stunde dauern und ist wirklich der fieseste Tod, den man einem Blutsauger nur wünschen kann.« Der Vampir lachte. Farber beobachtete, wie die Fangzähne seines Gegenübers wuchsen und sich das Gesicht der Kreatur langsam de formierte. Es wurde schmaler, dafür länger. Schaffeisen schüttelte den Kopf. Er griff unter sein Hemd und zog ein einfaches Kreuz hervor – das er dem Vampir auf die rechte Wange drückte. Der Blutsauger schrie auf und sein Gesicht verwandelte sich in das eines Menschen zurück. Auf der Wange blieb das Zeichen des Ge kreuzigten zurück, eingebrannt in sein Fleisch. »Ich habe Fragen, du hast Antworten. Ist das klar?«, fragte Schaff eisen. »Verrecke, Drecksack!« Der Rumäne rieb sich die Augen. »Ich hasse es, wenn sie glauben, sie hätten noch eine Chance.« Er sprach Farber an, ganz so, als seien die beiden alleine in dem Raum. »Es gibt ältere Vampire, die haben noch so etwas wie Stil und wissen, wann sie verloren haben. Aber dieser Abschaum … Rufen Sie bitte Ihre Kollegen an und lassen sie Monicas Anrufe zurückverfolgen. Ich schütte ihm dann mal das
Wasser ins Gesicht. Glauben Sie mir, das wollen sie nicht mit anse hen.« Schaffeisen nahm den Kochtopf an sich. »Hey, Moment …«, stieß der Vampir hervor. Schaffeisen beachtete ihn nicht und hob den Topf über den Schädel des Blutsaugers. Farber starrte den Vampir die ganze Zeit aus weit aufgerissenen Augen an. Die Zähne. Die Augen. Das Kreuz … Es war alles wahr! »Halt!«, kreischte die Kreatur. »Ich kooperiere, verdammt, ich ko operiere …« Schaffeisen stellte den Topf auf den Tisch zurück – schüttelte er den Kopf und hob den Topf wieder an. »Halt!« Der Vampir war nun eindeutig hysterisch. »Ich rede! Ich rede!« Schaffeisen verweilte in der Bewegung – und machte erneut eine verneinende Geste. »Wir fragen jetzt bei den Kollegen von der Poli zei nach, mit wem Monica heute Abend telefoniert hat. Das be kommt man ja heutzutage leicht heraus. Anschließend werden wir anhand dieser Nummer eine Adresse in der Hand haben, das Nest besuchen und es ausräuchern. Also, aus welchen Grund sollte ich mir nicht den Spaß erlauben, dich hier genüsslich verrecken zu se hen. Den Mörder eines 19jährigen Mädchens?« »Weil ich euch Eintritt verschaffen kann«, heulte der Vampir. »Ich kann euch Eintritt verschaffen!«
* Farber saß am Steuer seines roten Dienst-Opel-Omegas. Wie soll man das Gefühl beschreiben, neben einem Vampir zu
sitzen? Einem echten, leibhaftigen Vampir? Hinter dem Blutsauger saß Schaffeisen. Dieser hatte die Arme vorgestreckt und hielt sein Kreuz kaum zwei Zentimeter vor dem Gesicht der Kreatur. Farber wusste nicht, ob er Bewunderung oder Abscheu für Schaff eisen empfinden sollte. Er hatte Benslowski und ihn als Chauffeure missbraucht. Ihnen eine ach so herzzerreißende Geschichte aufge tischt, auf die sie letztendlich beide hereingefallen waren. Dieser Schaffeisen hatte mit Monica im Lindor sprechen wollen, aber dem Mädchen war offenbar befohlen worden, nichts zu sagen. Wahrscheinlich gab es weitere Mädchen, die in Angst davor lebten, dass ihnen jemand Fragen über Nadja stellte. Aber an wen sollten sich die Mädchen schon wenden? Sie waren ja nur Prostituierte. Und wussten sie überhaupt, was Nadja war? Schaffeisen hätte diese Geschichte alleine durchgezogen. Aber zu nächst war ihm Ali in die Quere gekommen, dann die uniformierten Kollegen mit ihren Waffen. Schaffeisen war, das hatte Farber am eigenen Leib erlebt, ein Meister der Selbstverteidigung. Aber er war wohl kaum gehen Kugeln immun. Also hatte er improvisieren müssen – mit Erfolg. Sie fuhren zum Nest eines neuen Clans. Der Rumäne würde die Königin töten und eine Horde von jungen Vampiren zurücklassen, die ohne ihre Königin nicht überlebensfähig war. Schaffeisen würde triumphieren – zu einem Preis, der ihm offen bar akzeptabel erschien. Die Nacht legte sich wie ein schützendes Tuch über die Stadt. Die Straßenlaternen erleuchteten die Adern des städtischen Lebens, über die sich am Tage Kolonnen von blechernen Kutschen bewegten, die die Stadt pulsieren ließen – und die sich auf einen neuen Tag vorbe reiteten, auf das Licht der Sonne, das allem was ist Leben einhaucht. Ob Farber die Sonne vermissen würde?
* Der Vampir führt Farber und Schaffeisen aus Dortmund hinaus ins Grüne. Im Dreieck der Städte Dortmund, Witten und Herdecke erstreckt sich ein Waldgebiet mit den idyllischen Namen Schnee. Herdecke ist eine jener Städte, in denen die Menschen schlafen und die Wochen enden verbringen, das Gros der Bevölkerung aber arbeitet außerhalb. In schönen Büros in Dortmund oder auch dem nahen Hagen. Wie in Städten dieser Art üblich, sind die schönen Fleck chen, wie eben der Schnee, vollkommen verbaut. Die Menschen wollen schließlich schön im Grünen wohnen. Bis das Grün gegen das Betongrau der Häuser ins Hintertreffen gerät. Anders sieht es auf der Dortmunder Seite aus, wo das »Wohnen im Grünen« die Be zeichnung noch wirklich verdient. Das Haus, zu dem der Vampir sie führte, lag auf der Dortmunder Seite. Die Straße führte einen Hügel hinab und war eng. Die Häuser, viele von ihnen Villen aus längst vergangenen Zeiten, befanden sich selten direkt an der Straße, sondern waren meist über separate Wege zu erreichen. So auch die Villa, in der Nadjas Clan residierte. Sie war von der Straße aus gar nicht zu sehen. Ein ungepflegter Kiesweg führte eine leichte Erhebung empor, auf der die graue Villa seit über hundert Jahren stand. Das Gebäude, zwei Stockwerke hoch, entstammte einer Zeit, als Stahlbarone noch das Ruhrgebiet beherrscht hatten. Der Weg führte an dem Gebäude vorbei direkt zu einem Park platz, auf dem nur wenige Wagen parkten. Offiziell handelte es sich bei diesem Etablissement um einen »Saunaclub«. Ein Bordell hätte sich hier, inmitten eines reinen Wohngebietes, niemals offiziell an siedeln dürfen. Aber Papier war geduldig, und Clubs wie dieser wurden in aller Diskretion geführt, um die Anwohner nicht aufzu
schrecken. Als Farber den Wagen abstellte und ausstieg, hörte er ein leises Rauschen von der nahe gelegenen Autobahn 45, auch bekannt als Sauerlandlinie. So betrachtet lag das Gebäude ideal – im Ver borgenen und doch nur ein paar Minuten von einem der zentralen Verkehrswege des Landes entfernt. Der Vampir von heute residiert also nicht mehr in einem verfallenen Schloss in Transilvannien, überlegte Farber zynisch. Er lebt in der Moderne und nutzte deren Vorzüge. Schaffeisen ließ ihren Gefangenen nicht aus den Augen. Zu sammen gingen sie einen Weg hinauf, der sie hinter das Haus führte. Aus dem Inneren der alten Villa erklang Musik. Der Vampir, der auf den gar nicht dämonischen Namen Bernd hörte, stolperte voran. Seine Angst war ihm deutlich anzusehen. Bis vor wenigen Stunden hatte er sich noch unangreifbar gefühlt, selbst die Kugeln aus Farbers Waffe hatten ihn nur aufhalten, aber nicht töten können. Doch ein 60-jähriger Mann hatte ihn besiegt. Da war ihm klar geworden, dass er stärker als normale Menschen war – aber nicht unbesiegbar … Farber hielt sich im Hintergrund, die bereits entsicherte Pistole in der Faust. Schaf feisens trug das abgebrochene Stuhlbein, den Holzpflock, fest umklammert in der Rechten. Sein Plan war simpel: Er würde in das Haus gehen, die Vampire abschlachten, Nadja töten und damit die Königin des neuen Clans vernichten. Das war nicht gerade ein Vorgehen, das man als subtil oder gar ausgearbeitet hätte bezeichnen können. Aber Schaffeisen versicherte Farber, dass diese Methode nach wie vor die Effizienteste war. Er musste nur den Sire des Clans töten. Ohne Nadja würde ihre Brut innerhalb von Tagen zu Grunde gehen, denn wahrscheinlich bestanden keinerlei Beziehungen zu anderen Clans, zu anderen Fa milien, zur Kultur der Vampire.
Farber schwitzte. Nadja wusste, dass sich jemand nach ihr erkun digt hatte, schließlich hatte Monica sie gewarnt. Auf der anderen Seite jedoch ahnte Nadja wahrscheinlich nicht, dass einer ihrer eigenen Männer den Feind einließ. Dies war ihre Chance. Hoffentlich …
* Bernd, der Vampir, führte die Männer auf dem von Laub verdreck ten Weg um das Haus herum. Das einzige Licht, das sie führte, war das Licht des Mondes. Der Vampir schien in der Dunkelheit besser zu sehen, denn er stolperte nicht – im Gegensatz zu Schaffeisen und auch Farber. Dem Polizist fiel aber auf, dass sich der Vampir dieses Vorteils of fenbar nicht bewusst war. Es stimmte offenbar, was Schaffeisen be hauptet hatte: Diese neu verwandelten Nachtwandler waren sich ih rer Kräfte und ihrem Können gar nicht bewusst. Sie brauchten einen Führer. Einen Sire. Farber ballte seine Fäuste. Eine angenehme Wärme stieg in ihm auf. Er fühlte sich stark, vielleicht sogar unbesiegbar. Lag das am Biss des Vampirs? Farber wischte diesen Gedanken beiseite. Er musste verhindern, dass dieser Clan noch mehr Unheil anrichtete. Diese Brut hatte seinen Partner ermordet! Mehr noch: Benslowski war sein Freund gewesen. Ein guter Polizist. Ein guter Mensch … Drei Menschen waren tot. Benslowski, Monica – und er selbst. Mochte er sich noch so lebendig fühlen, war dies doch nur eine Illu sion …
* Der Vampir führte Farber und Schaffeisen zu einer Hintertür. Sie bestand aus massivem Holz und führte direkt in den Keller der alten Villa. Eine Kamera oder andere Sicherheitssysteme hatte Farber noch nicht gesehen. Sie betraten die Waschküche. Weiße Bettlaken hingen auf langen Leinen. Es roch nach Weichspüler. Draculas Gruft hatte sich Farber anders vorgestellt. »Hilfe!« Plötzlich stürmte Bernd schreiend davon. »Hilfeeeee!« Schaffeisen ließ ihn rennen. Er umklammerte den Pflock und lä chelte. »Sind Sie bereit?« fragte er Farber. »Lassen Sie uns dieses Nest ausräuchern!« Sie durchschritten die Waschküche und traten ins Treppenhaus. Farber knipste das Licht an. Da hörten sie Schritte. Ein Mann – eine Kreatur! – rannte die Treppe hinunter und stand Schaffeisen und Farber plötzlich gegenüber. Seine Augen leuchteten rot, das Gesicht war zu einer Furcht einflößenden Fratze deformiert – und in den Händen hielt er eine Schrotflinte! Farber zögerte nicht eine Sekunde und feuerte. Er traf den Angreifer genau zwischen den Augen. Dieser brach zusammen, und Schaffeisen stürzte sich auf ihn, rammte ihm den Pflock ins Herz. Das Monster bäumte sich auf, sei ne Haut verwandelte sich in Pergament, das sich bei der geringsten Berührung in Staub verwandelt. Als der Rumäne den Holzplock wieder hochriss, blieb nur eine Staubwolke – und der Unterkiefer, der Farber vor die Füße kullerte. Bevor der Polizist diesen Anblick verarbeiten konnte, spürte er eine Hand, die ihn an der Schulter packte.
»Es hat begonnen«, blaffte ihn Schaffeisen an und zog ihn mit sich. Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen großen Raum. Ein kleiner Saal, in dem vorwiegend rote Sofa standen auf denen sich Frauen lasziv räkelten – zumindest dann, wenn nicht gerade auf sie jagt gemacht wurde. Zwei Männer liefen bei dem Anblick der sich verwandelnden Mädchen schreiend davon. Sie waren bleich vor Entsetzen. Farber ließ sie laufen. Sie waren Menschen. Er roch ihr warmes Blut. Ihr köstliches warmes Blut … Stattdessen stürzte er sich auf eine der drei Frauen, die sich noch in dem Raum befanden. Ob sich unter den verzerrten Fratzen hüb sche Gesichter verbargen, wusste Farber nicht zu sagen. Sein Opfer – es war kaum älter als Monica – wollte fliehen, doch Farber packte das Mädchen im Nacken und schleuderte es zu Boden. Er war stark. So unendlich stark. Mit einem Tritt zerschmetterte er ein kleines Tischchen, das neben einem der Sofa gestanden hatte, griff nach einem vielleicht dreißig Zentimeter langen, aus dem Tisch gebrochenen Holzstück und rammte es dem auf dem Bauch liegendem Mädchen in den Rücken. Wie es sich in Staub verwandelte, interessierte ihn nicht mehr. Er folgte vielmehr Schaffeisen auf den Weg in die erste Etage. Der Rumäne hatte nicht mehr als fünf Sekunden benötigt, um die beiden anderen Vampirinnen in die Finsternis zu schicken. Erst jetzt, als sie sich auf dem Weg nach oben befanden, fiel Farber auf, dass Schaffeisen die Schrotflinte des ersten Vampirs an sich genommen hatte. Ein weitere Vampir stellte sich ihnen in den Weg. Unbewaffnet. Schaffeisen hielt sich nicht weiter mit ihm auf, verpasste ihm eine Schrotladung und rannte an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Ihm reichte es, die Brut zu verwunden. Sein
Hauptinteresse galt der Königin. »Denken Sie dran«, sagte Schaffeisen zu Farber. »Wir müssen Na dja außer Gefecht setzen. Sie ist der Sire – schlagen wir ihr den Kopf ab, stirbt die Brut!« Die Räume in der ersten Etage wurden vom Treppenhaus durch eine Tür verschlossen. Schaffeisen trat sie auf und suchte Nadja, während Farber den Durchgang sicherte. Er konnte nicht beobachten, was geschah, doch er hörte Schüsse und Schreie. Plötzlich rannte ein Mann nur mit einer Unterhose be kleidet auf ihn zu. Farber packte ihn, warf ihn zu Boden und hielt ihm den Lauf seiner Waffe gegen die Stirn »Bitte nicht!«, flehte der Mann weinend. »Vergessen Sie, was Sie heute Nacht gesehen haben, ist das klar?« Der Mann nickte aufgeregt, und Farber ließ von ihm ab. Da wurde der Polizist von hinten zu Boden geschmettert. Bernd, ihr ehemaliger Gefangener, stürzte sich auf den stürzenden Polizisten. Aber Farber fühlte sich unbesiegbar, unangreifbar. Einfach nur un endlich stark. Noch im Sturz wirbelte er herum, feuerte ein zweites Mal den In halt eines Magazins in den Körper des Angreifers. Der Vampir wurde zurückgeworfen, krachte hart auf den Boden. Er war zu schwer verletzt, um sich zu wehren, als Farber über ihm aufragte und den Holzscheit ins Herz rammte …
* Farber fühlte sich im Windschatten des Vampirkillers durchaus wohl. Der Mann beherrschte sein Handwerk. Außerdem roch Adrenalin
geschwängertes Blut wunderbar. Und Schaffeisen verströmte Ad renalin in Massen. Staub lag auf seinen Schultern. Staub von ver nichteten Vampiren. Die Männer standen vor der letzten verschlossenen Tür im Obergeschoss des Hauses. Schaffeisen verpasste ihr einen Tritt. Das Schloss brach aus dem Türrahmen – die Tür sprang auf. Nadja residierte hinter einem großen, braunen Eichenschreibtisch, der mit Insignien und Wappen längst vergangener Zeiten verziert war. Sie tippte etwas in ein silberfarbenes Notebook und wirkte überraschend ruhig. »Du hättest fliehen können«, bemerkte Schaffeisen und deutete auf das offene Fenster hinter Nadjas Schreibtisch. »Du hast mir beigebracht, dass nur Feiglinge einem Kampf aus dem Weg gehen.« Nadja war eine Schönheit. Von schlanker Natur zeichneten sich unter ihrem schwarzen, eng anliegenden Kleid ihre wohl geformten Brüste ab. Ihr Gesicht war zart geschnitten, die Augen waren so schwarz wie ihr Haar. »Was schreibst du da?«, fragte Schaffeisen. »Ich habe über das Internet einige finanzielle Transaktionen vorge nommen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich unser gleich stattfindendes Duell verlieren sollte. Weißt du, früher reisten heimatlose mit ihrem gesamte Habe umher, was keine gute Idee ge wesen ist. Der Vampir von heute nutzt Online-Banking und Banken in verschwiegenen, kleinen Ländern jenseits unserer alten Heimat. Wie du siehst, solltest du gewinnen, tötest du nur den Leib, mein Clan aber wird abgesichert sein.« Schaffeisen klopfte sich etwas Staub von den Schultern. »Du meinst, was von deinem Clan außer diesem Staub hier noch übrig ist?«
Farber konnte nur erahnen, was im nächsten Moment geschah. Nadja war schnell, unglaublich schnell. Sie setzte über den Schreibtisch hinweg, stürzte sich auf Schaffeisen und riss ihn zu Boden. Der Jäger packte seinerseits die Vampirin am Hals und verhinderte so, von ihr gebissen zu werden. Im Gegensatz zu den anderen Blutsaugern verzerrte sich Nadjas Gesicht nicht zu einer dämonischen Fratze. »Schau mich an!«, presste sie hervor. »Was siehst du? Sag mir, was du siehst?« Farber hatte bereits auf der Treppe ein neues Magazin in die Pisto le geschoben. Jetzt war es seiner Meinung nach an der Zeit, diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Er hob die Waffe und schoss. Die Kugeln bohrten sich in Nadjas kaltes Fleisch. Die Vampirin schrie vor Schmerz und Wut auf. Schaffeisen wuchtete Nadja zur Seite, fuhr herum. Mit beiden Händen umfasste er den Pflock – und rammte ihn der Vampirin ins Herz …
* Farber saß auf den Stufen zum Eingang der alten Villa und rauchte eine Zigarette. Schaffeisen ließ sich mit einem Ächzen neben ihm nieder und nickte Farber zu. Der Polizist reichte ihm die Zigarettenschachtel, Schaffeisen zog einen Glimmstängel heraus und zündete ihn an. »Nadja war wirklich meine Tochter.« Er sagte dies ohne Emo tionen. »Sie ist vor neun Jahren gestorben, als sie ein Nest aus nehmen wollte. Sie wollte mir, glaube ich, beweisen, dass sie nicht
mehr auf meine Hilfe angewiesen war.« Er schnaubte. »Neun Jahre habe ich sie gejagt, doch sie kannte alle meine Tricks. Schließlich habe ich ihr alles beigebracht, was ich weiß.« Er verstummte einen Moment. »Das Ding da drin«, er deutete auf das offene Fenster oben, in der zweiten Etage, »sah zwar aus wie Nadja. Aber es war nur eine Hülle.« Farber sog den Nikotingeschmack seiner Zigarette tief ein. »Und was passiert nun mit mir?« fragte er. Schaffeisen zuckte mit den Schultern. »Das müssen Sie ent scheiden.« Der Rumäne reichte dem Polizisten seinen Blut verschmierten Pflock. »Sie können die Geschichte zu Ende bringen und ihre Würde bewahren. Oder aber wir werden uns irgendwann unter weniger erfreulichen Umständen wieder sehen. Sie wissen doch: Man sieht sich immer zweimal! Die Entscheidung liegt allein bei ihnen.« Schaffeisen erhob sich. »Noch haben Sie Zeit.« Farber schnippte den Stummel seiner aufgerauchten Zigarette bei seite und schaute dem Vampirjäger hinterher, der die zwischen ho hen Tannen gelegenen Ausfahrt hinunterschlenderte, bis er aus sei nem Blickfeld verschwunden war. Der Polizist starrte in die Dämmerung. Ein letzter Sonnenaufgang? Die Entscheidung lag bei ihm. Sein Herz pochte laut und viel zu schnell. Sein Geist fühlte sich befreit von der Trauer um Benslowski, vom Schmerz des Lebens, von aller Last. Er zündete sich eine neue Zigarette an und blies den ersten Qualm genüsslich in den kalten Morgenwind … ENDE