Gruselspannung pur!
Der Leichenzug
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Mitternacht auf dem Friedhof! Dumpf klan...
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Gruselspannung pur!
Der Leichenzug
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Mitternacht auf dem Friedhof! Dumpf klangen die Schläge der Kirchturmuhr durch die nächtliche Stille. Nach dem letzten Ton kam Wind auf, der im Herbstlaub der Bäume rauschte und die Gräber mit vielfarbigen Blättern überschüttete. Ein Käuzchen meldete sich und schien anzukündigen, was Geheimnisvolles im hinteren Teil des Friedhofs geschah. Dort, wo sich die ältesten Gräber befanden. Als der Wind dann abriß, zerwühlte eine gewaltige Kraft von unten ein Grab. Das Erdreich brach auf, und weißer Rauch quoll hervor. Jemand stöhnte und rief: »Wacht auf! Die Zeit ist reif. Der Meister kehrt mit seinen Getreuen zurück. - Erhebt euch und bereitet alles vor für den Leichenzug der lebenden Toten!« Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! Die Stimme verklang, als eine bleiche Hand sichtbar wurde.
Feuchte Erdklumpen klebten an den spindeldürren Fingern. In dieser Nacht hielt das Grauen Einzug in dem kleinen Kurort! Die Kurgäste hatten die letzten schönen Herbsttage für Spaziergänge und Freiluftübungen genutzt. Noch war der kleine Kurort Bad Lausick, zwischen Leipzig und Dresden gelegen, von Herbststürmen und Regen verschont geblieben. Der Altweibersommer hatte die Kurgäste in die Straßencafes gelockt. Eisdielen und Biergärten konnten sich ebenfalls nicht über einen Mangel an Gästen beklagen. Jetzt war Ruhe im Ort eingekehrt. Francesca Giusa atmete auf und reckte sich müde hinter der Theke. Die meisten Gäste waren bereits gegangen. Nur ein paar ganz Hartnäckige hielten durch. Paolo Riccis Restaurant war nicht nur eine der üblichen Pizzerien, sondern verfügte über ein reichhaltiges Angebot an italienischen Spezialitäten, die jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. Daß nach der Wende vielerlei Restaurants wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, konnte Paolo Ricci nicht von seinem Vorhaben abbringen, ebenfalls ein Restaurant zu eröffnen. Und der Erfolg gab ihm recht. Inzwischen war seine Küche weit über Bad Lausick hinaus bekannt und beliebt. Francesca Giusa beobachtete, wie sich die letzten Gäste von ihren Plätzen erhoben. Gott sei dank! Sie hatte schon befürchtet, die drei Zecher würden gar nicht mehr gehen. Abkassiert hatte sie schon vor einer ganzen Weile. Sie war hundemüde. Es war ein anstrengender Tag gewesen. »Können wir dich nach Hause bringen, Francesca?« Die Worte des Mannes rissen sie aus ihren Gedanken. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »No, gracie, Martin. Ich muß hier noch aufräumen und komme schon heil nach Hause. Es ist ja nicht weit.« Martin Lorentz zuckte die Achseln. »Wie du meinst«, sagte er. Der junge Rechtsanwalt war erst seit ein paar Monaten in der Stadt und hatte sich unsterblich in Francesca verliebt. Er war sogar schon mit ihr ausgewesen, aber er hatte noch nicht den Mut gehabt, Francesca seine Gefühle zu zeigen. Francesca glaubte, so was wie Enttäuschung in seiner Stimme zu hören. »Ich sehe dich dann morgen, ja? Und bleib nicht mehr so lange, du siehst müde aus.« Die Bedienung schenkte ihm wieder ein bezauberndes Lächeln.
Er ist immer so besorgt, der Gute, dachte sie. »Keine Angst, Martin. Es dauert nur ein paar Minuten. Ciao!« Martin verließ mit seinen Begleitern, einem jungen Paar, das Restaurant. »Mann, dich hat's aber erwischt!« meinte Horst Berger. Er und seine Frau Brigitte waren schon lange mit Martin Lorentz befreundet. Sie kamen aus Berlin, hatten einige Tage bei dem Anwalt verbracht und sich dabei auch die Gegend angesehen. »Es wird auch langsam Zeit, daß du unter die Haube kommst«, fügte Brigitte hinzu. Die beiden hatten schon recht. Mit seinen zweiunddreißig Jahren hatte sich Martin Lorentz für eine Beziehung ziemlich viel Zeit gelassen. Der Beruf war eben immer wichtiger gewesen. Francesca war erst zwanzig. Der Altersunterschied war groß, und es würde nicht leicht werden, die Zustimmung ihrer Familie zu bekommen. Doch Martin hatte sich nun mal in die hübsche Italienerin verliebt, aber er war halt nicht von der schnellen Truppe. »Nur nichts überstürzen«, versuchte er seine Freunde zu beschwichtigen. »Noch sind wir nicht soweit. Ich sage euch schon rechtzeitig Bescheid - allein wegen der Hochzeitsgeschenke.« Das Trio machte sich gut gelaunt auf den Weg durch die Innenstadt. Sie hatten den Wagen in weiser Voraussicht zuhause stehen lassen, um nicht jedes Glas Wein zählen zu müssen. »Lauf nicht so schnell, Biggi!« rief Horst Berger seiner Frau zu. »Vielleicht holt uns Martins Angebetete ja noch ein. Dann können wir ein bißchen nachhelfen, damit sie sich endlich kriegen.« Martin Lorentz warf sich in gespieltem Zorn auf seinen Freund und schüttelte ihn durch, während Brigitte laut lachte. Bald ließen sie die Innenstadt hinter sich und wandten sich an der nächsten Kreuzung nach links. Im selben Moment zerriß ein markerschütternder Schrei die Stille! Martin Lorentz erstarrte wie vom Blitz getroffen und sah seine Freunde erschrocken an. »Francesca!« entfuhr es ihm heiser. »Mein Gott, das war Francesca!« Er wirbelte herum und wollte dorthin laufen, wo der Schrei erklungen war. Horst Berger hielt seinen Freund auf. »Martin, du weißt doch gar nicht, ob es wirklich Francesca war«, versuchte er den Anwalt zu beruhigen. Martin ließ die Schultern hängen. »Laßt uns zumindest nachsehen, ja?« bat er. »Sie wohnt dort hinten, in der Nähe vom Friedhof. Ich schlafe besser, wenn ich weiß, daß alles in Ordnung ist.«
Mit eiligen Schritten liefen Martin Lorentz und seine Freunde in die Richtung, aus der sie den Schrei gehört hatten. Je mehr sie sich der Stelle näherten, desto besorgter wurde der Anwalt. Am Friedhof standen nur noch vereinzelte Häuser. Straßenlaternen tauchten die Umgebung in fahles Licht. »Da vorne ist jemand!« rief Horst und deutete auf eine hagere Gestalt, die im Schatten einiger Bäume stand und nur undeutlich zu erkennen war. »Fragen wir doch mal, ob er was bemerkt hat«, schlug er vor. Sie machten einige Schritte auf die einsame Gestalt zu. Weiter kamen sie nicht. Mit einem Aufschrei stürzte eine Frau aus einem Seitenweg und prallte gegen Martin Lorentz, der reflexartig Zugriff. Zusammen mit der Frau taumelte er zur Seite und geriet in den Lichtstrahl einer Straßenlaterne. »Francesca!« rief Martin plötzlich. Bestürzt blickte er in das tränenüberströmte Gesicht der jungen Italienerin, in deren weit aufgerissenen Augen sich maßloses Entsetzen spiegelte. Ihre Bluse war am Kragen zerrissen. Am Hals waren tiefe Kratzspuren zu erkennen. »Mein Gott, Francesca, was ist passiert?« rief Martin Lorentz bestürzt. Francesca Giusa starrte den Anwalt verständnislos an. Ihre Lippen versuchten, Worte zu formen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Ihr schlanker Körper wurde immer wieder von heftigem Schluchzen geschüttelt. »Der Kerl kommt auf uns zu!« rief Horst Berger. Martin Lorentz hob den Kopf und sah die bleiche, hagere Gestalt des Unbekannten, der sich aus dem Schatten der Bäume löste und mit seltsam hölzernen Bewegungen auf sie zuschlurfte. Francesca Giusa drehte den Kopf und starrte dem Hageren entgegen. Jähes Erkennen blitzte in ihren Augen auf. Dann schrie sie erneut gellend! Francesca riß sich von Martin los. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. »No!« rief sie. »No! Prego! Bitte nicht!« »Den knöpf ich mir vor!« beschloß Horst und eilte dem Hageren entgegen. Brigitte Berger konnte ihren Mann nicht mehr zurückhalten und ging zu Francesca. Vielleicht konnte sie das Mädchen beruhigen. Unentschlossen folgte Martin seinem Freund. Er war hin und hergerissen zwischen seiner. Sorge um Francesca und dem Wunsch, den Hageren zur Rede zu stellen. Aber im nächsten Moment hatte Horst die Gestalt erreicht. »Hör mal, was hast du
mit der Kleinen angestellt, du Sittenstrolch?!« brüllte er. »Ich ruf die Polizei!« Der Fremde schwieg. Seine Hände mit den auffallend langen Fingern öffneten und schlossen sich, während er Horst aus seltsam blicklosen Augen anschaute. Dann riß der Fremde den Mund auf und stieß ein aggressives Fauchen aus. Zwei Reihen spitzer, fauliger Zähne wurden sichtbar. Mit einer blitzschnellen Bewegung schlossen sich die Finger der linken Hand um Horsts Kehle. Gleichzeitig setzte die rechte Faust zu einem gewaltigen Stoß gegen Horst Bergers Leib an. Martin Lorentz blieb starr vor Entsetzen stehen. Was sich da im Schein der Straßenlaterne vor seinen Augen abspielte, ging über sein Begriffsvermögen. Das kann nicht sein! dachte er. So was gibt's nur in Filmen! Er mußte mit ansehen, wie Horst Bergers Körper von dem knochigen Arm des Hageren regelrecht aufgespießt wurde. Blut spritzte. Schließlich ließ der Hagere den leblosen Körper seines Opfers zu Boden sinken und wandte sich Martin Lorentz zu. Hinter Martin erklangen erneut Schreie. Diesmal hatte auch Brigitte Berger geschrien. Martin Lorentz wirbelte herum. Was er sah, brachte ihn an den Rand der Verzweiflung. Eine bleiche, hagere Gestalt wankte aus der Seitenstraße, aus der Francesca gekommen war. Eine weitere dieser Schreckensgestalten hatte sich den beiden Frauen von hinten genähert und Brigitte bei den Haaren gepackt. Kalte, knochige Hände rissen Brigitte Berger nach hinten. Sie versuchte zwar, sich aus dem Griff zu befreien, schlug, kratzte und trat um sich, aber es war vergebens. Der Unheimliche zog Brigitte mit sich in den Schatten einer Hauswand und beugte seinen Kopf, um sich Brigittes Gesicht zu nähern. Francesca Giusa gelang es im letzten Moment, dem Griff der Schreckensgestalt zu entgehen, die ihr aus der Seitenstraße gefolgt war. Sie warf sich zur Seite. Der Unheimliche fauchte ärgerlich. Modergestank ging von ihm aus. Die fauligen Zähne und die blicklosen, stumpfen Augen ließen sein Gesicht widerlich und abstoßend erscheinen. Im Schein der Straßenbeleuchtung erkannte Francesca, daß sich die Haut im Gesicht des Angreifers an mehreren Stellen vom Knochen gelöst hatte und in Fetzen hing. Die junge Italienerin ekelte sich bei dem Anblick entsetzlich. »Laß sie in Ruhe, du Schwein!« Angesichts der bedrohlichen
Situation, in der sich Francesca befand, war Martin Lorentz aus seiner Starre erwacht. Sein Zuruf lenkte den unheimlichen Angreifer für Sekundenbruchteile von Francesca ab. Martin hetzte auf ihn zu, sprang hoch und traf den unheimlichen Angreifer mit seinem ganzen Körpergewicht im Rücken. Der Aufprall warf den Unheimlichen zu Boden und auf das Gesicht. Martin Lorentz rappelte sich auf und ergriff Francescas Arm. »Wir holen Brigitte, und dann nichts wie weg hier!« sagte er keuchend. Er erkannte sie undeutlich im Schatten der Hauswand und zog Francesca mit sich auf die Frau zu. Doch nach wenigen Schritten blieben sie schreckerfüllt stehen. Der Unheimliche, der Brigitte Berger gepackt hielt, hatte seinen weit aufgerissenen Mund dem Gesicht seines Opfers genähert. Seine knochige Hand umfaßte Brigittes Kehle. Die junge Frau riß verzweifelt den Mund auf und japste nach Luft. Darauf hatte der Angreifer nur gewartet. Ein violetter Lichtschimmer erschien in seinem Mund, verdichtete sich zu einem dicken Strahl und drang dann zwischen Brigitte Bergers Lippen. In Sekundenschnelle veränderte sich Brigittes hübsches Gesicht. Schatten entstanden unter ihren Augen. Die Haut straffte sich über den Wangenknochen. Ihr Gesicht schien regelrecht zu verdorren. Die Augen traten aus den Höhlen, die Augäpfel vertrockneten und zerbröselten. Brigitte Bergers Körper schrumpfte unter der Kleidung. Das Fleisch schien von Armen und Beinen zu schwinden. Bald spannte sich nur noch eine dünne, spröde Haut über die Knochen. Der violette Strahl zog sich aus Brigitte Bergers Körper zurück und wurde von dem Unheimlichen verschluckt. Er hob das bleiche Gesicht und stöhnte befriedigt. Mit einem heiseren Kichern knickte er Brigitte Bergers leblosen Körper in der Mitte zusammen wie dürres Reisig und ließ ihn dann achtlos zu Boden sinken, wo er vollends zu Staub zerbröselte. »Mein Gott, das ist - nicht wahr!« stammelte Martin. Brigitte Bergers Mörder schlurfte ungelenk durch den Staub, der von seinem Opfer übriggeblieben war, und ging auf Martin und Francesca zu. Diese Bewegung riß Martin Lorentz aus seiner Erstarrung. »Los, weg hier!« rief er. »Wir können nichts mehr für die beiden tun. Bringen wir uns erst mal in Sicherheit!« Martin rannte los und riß Francesca mit sich. Mit der Schulter rammte er den unheimlichen Mörder aus dem Weg und hörte
dessen wütendes Knurren. »Lauft nur! Lauft!« hörte er hinter sich eine dumpf hallende Stimme. »Ihr entkommt uns doch nicht! Das war erst der Anfang! In drei Tagen kommt der Meister! Er wird wieder seine Macht ausüben. Wie vor langer Zeit. In drei Tagen ist es soweit. Dann folgt auch ihr dem Leichenzug! Drei Tage noch! Nur drei Tage!« Martin Lorentz warf beim Laufen einen Blick über die Schulter zurück. Undeutlich erkannte er den Hageren, der Horst Berger getötet hatte. Er stand mitten auf der Straße und deutete mit dem bluttriefenden Arm auf die beiden Fliehenden. »Drei Tage!« hallte es in Martins und Francescas Ohren nach. Dann bogen sie um eine Hausecke und entzogen sich den Blicken der drei bleichen Schreckgestalten. * »Sie schläft tief und fest. Es war schließlich auch ein aufregender Tag für sie.« Susanne Langenbach kam aus dem angrenzenden Zimmer und ließ sich den Ohrensessel sinken. Gerade hatte sie sich vergewissert, daß Anna, ihre achtjährige Tochter, die von allen zärtlich Floh genannt wurde, erschöpft eingeschlafen war. Susannes Mann, der Kripohauptkommissar Peter »Pit« Langenbach, hatte es sich in einem zweiten Sessel bequem gemacht. Er reichte seiner Frau ein Glas Wein und prostete ihr zu. »Mmh! Der geht runter wie Öl!« meinte Susanne nach dem ersten Schluck genießerisch und ließ einen weiteren Schluck langsam über die Zunge rollen. Pit betrachtete einen Moment den goldgelben Rebensaft, der leicht in seinem Glas schwappte. »Soll er ja auch. Ein großartiger Tropfen, so ein Traminer«, sagte er und hob sein Glas. »Auf dein Wohl, mein Schatz!« Die Langenbachs waren am Vortag in Bad Lausick angekommen. Pits Tante, Hertha Thorberg; hatte wegen ihrer Herzbeschwerden eine Kur antreten müssen. Die Herbstferien hatten gerade begonnen, und so hatte Pit die Gelegenheit ergriffen, seine Tante zur Kur zu fahren und gleichzeitig einen Kurzurlaub mit der Familie zu verbringen. Man würde zwar bald mit Herbstwetter rechnen müssen, aber ein paar Regentropfen und ein bißchen Wind hatten den Langenbachs die Laune noch nie
vermiesen können. Hier, in der Pension der Witwe Radtke, hatten sie ein recht gemütliches Quartier gefunden, und Tante Hertha war im Kurheim Haus Erlenhain ebenfalls gut untergebracht. Floh war noch nie vorher in einem Kurort gewesen, geschweige denn in einem Kurheim, und sie hatte alles ziemlich aufregend gefunden. Der heutige Ausflug zu den nahegelegenen Seen und der Besuch eines Freiwildgeheges hatten das Mädchen schließlich restlos geschafft. Peter Langenbach war froh, daß sich die Gelegenheit für diese Erholungsreise ergeben hatte. Die letzten Wochen hatten ihn ziemlich auf Trab gehalten und ihm kaum Zeit zum Durchatmen gelassen. Neben seinen Aufgaben bei der Weimarer Kripo hatte er sich auch noch gemeinsam mit seinem Freund und Spezi Mark Hellmann in den Kampf gegen Dämonen und Wesen der Finsternis gestürzt. Wenn er an die Begegnung mit dem Skelettritter und den Kampf gegen die Ghule von Berlin (Siehe MH Band 13) dachte, bei dem er durch Schwarze Magie zu Stein erstarrt war, packte ihn das Entsetzen heute noch. Nur Mark Hellmanns Sieg über die Ghule hatte er es zu verdanken, daß er seine menschliche Gestalt wieder zurückbekommen hatte. Pit Langenbach strich mit dem Zeigefinger über seinen dichten Oberlippenbart und betrachtete im sanften Licht der Stehlampe seine Frau. Wie schön sie ist, dachte er. Mit seinen vierunddreißig Jahren war Pit Langenbach glücklich verheiratet. Ganz im Gegensatz zu Mark Hellmann, der an einer festen Bindung noch nicht interessiert war. Pit hatte alles, was er wollte: eine wunderbare Frau, eine reizende Tochter und einen Job, der ihn ausfüllte. Susanne bemerkte seinen träumerischen Blick. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie gähnte, erhob sich und verschwand in dem Meinen Badezimmer nebenan. Das Rauschen der Dusche weckte Pit aus seinen Gedanken. Er goß sich den letzten Rest des Weins ein und schlürfte ihn langsam. Susanne kam zurück, als er gerade den Tisch abräumen wollte. Ihr Haar glänzte feucht. Sie hatte sich in ein flauschiges Badetuch gehüllt. »Laß nur, ich mach das schon«, sagte sie und nahm Pit die Gläser ab. Als Pit aus dem Bad kam, wurde das Zimmer nur noch von einer Nachttischlampe erhellt. Das breite Doppelbett war aufgedeckt. Susanne stand am Fußende des Bettes. Langsam ließ sie das Badetuch zu Boden gleiten und legte sich auf das Bett. Pits Kehle
war auf einmal wie ausgetrocknet. Sein Atem ging schneller. Mit ihren einunddreißig Jahren hatte Susanne einen bezaubernden, reifen Körper, der durch die Geburt ihrer Tochter erst voll erblüht war. Pit glitt neben sie und streichelte sanft ihre weiche Haut. »In deinem Blick kann man manchmal lesen wie in einem Buch«, flüsterte Susanne zwischen Küssen. Pit richtete sich auf. »Dir entgeht aber auch nichts«, meinte er. »Und das ist gut so«, fügte er hinzu. Eng umschlungen sanken sie in die Kissen. Die Leidenschaft ließ sie bald ihre Umgebung vergessen. »Nein! Nicht! Laßt mich in Ruhe! Ich will nicht!!« Flohs weinerliche Stimme drang aus dem angrenzenden Schlafraum. Panische Angst schwang in ihr mit. Susanne war an der Schulter ihres Mannes eingeschlafen und schreckte hoch. Pit knipste die Nachttischlampe an. »Papi! Sie sollen mich nicht holen! Ich will nicht! Papi!« Annas Schreie wurden immer verzweifelter. Pit hastete an Flohs Bett, dicht gefolgt von Susanne. Anna Langenbach wälzte sich im Bett hin und her. Ihre Augen waren geschlossen. Strähnen ihres langen, blonden Haares klebten auf dem schweißnassen Gesicht. »Bitte nicht!« rief sie. »Ich will nicht! Papi, bitte!!« Pit schob seinen Arm unter Annas Rücken und hob sie sachte an. Mit der anderen Hand strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und tätschelte leicht ihre Wangen. »Wach auf, Floh!« flüsterte er. »Es ist nur ein Traum, ein böser Traum!« Er drückte sie sanft an seine Brust und strich ihr über das Haar. Schluchzen schüttelte den kleinen Körper. »Schhh«, machte er. »Es ist schon gut, mein Kleines. Alles ist gut.« Plötzlich schlug Floh die Augen auf und stemmte ihre kleinen Hände gegen die Brust ihres Vaters. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Papi«, sagte sie leise. »Es war so schrecklich. Sie wollten mich holen. Sie wollten, daß ich mitgehe.« Pit schaute Susanne ratlos an. Dann fragte er: »Wer wollte dich holen, Kleines?« »Die Toten!« kam die Antwort. »Sie wollten, daß ich mit ihnen gehe.« Peter Langenbach verstand nicht. »Tote? Hier sind keine Toten, Floh. Nur Mami, du und ich.« »Aber ich hab sie gesehen. Ich soll mit ihnen gehen, haben sie gesagt. - Ich sollte beim Leichenzug mitlaufen.« Flohs Stimme
klang ernst und überzeugend. Pit kannte seine Tochter. Sie hatte noch nie gelogen. Aber sie hatte auch noch nie etwas Derartiges geträumt. Gemeinsam mit Susanne gelang es ihm schließlich, Floh zu beruhigen. Sie beschlossen, die Kleine mit in ihr Bett zu nehmen. Bald war das Mädchen wieder fest eingeschlafen. »Was hältst du davon?« flüsterte Susanne. Sie befürchtete, daß ihre Familie wieder einmal mit den Mächten der Finsternis konfrontiert wurde. Seit ihr gemeinsamer Freund Mark Hellmann der Hölle den Kampf angesagt hatte, war ihr Mann bereits mehrfach mit dämonischen Wesen in Berührung gekommen. Und auch sie war schon in die Klauen gefährlicher Hexen geraten. »Schwer zu sagen«, meinte Pit. »Ich hoffe ja, daß es tatsächlich nur ein Alptraum war. Aber man weiß ja nie.« Susanne und Peter Langenbach fanden nur schwer in den Schlaf. Zu viele Gedanken gingen ihnen durch den Kopf. Beim Frühstück schien Floh den Alptraum vergessen zu haben. »Wann besuchen wir Tante Hertha?« fragte sie. »Sobald du aufgegessen hast, Schatz«, antwortete Pit. Anna stürzte sich mit Feuereifer auf ihre Cornflakes. Pit warf Susanne einen Blick zu und zuckte die Achseln. Es war gegen zehn Uhr, als sie im Haus Erlenhain eintrafen. Tante Hertha empfing sie im Aufenthaltsraum des Kurheims. »Ich muß noch zum EKG«, erklärte sie. Floh schaute besorgt. »EKG? Was 'n das? Tut das weh?« fragte sie ernst. Tante Hertha lachte. »Nein, Floh. Keine Angst. Ich kriege nur ein paar Drähte angeklebt und muß mich auf einem Fahrrad abstrampeln. Das ist alles«, erklärte sie der Kleinen. Hertha hob den Kopf. »Am Nachmittag hätte ich frei. Wollt ihr was unternehmen?« fragte sie. Pit hatte sich bereits ein Ausflugsziel herausgesucht. Dort gab es sogar die Möglichkeit, mit Tretbooten auf einem Fluß zu fahren. Aber jetzt entschied Pit: »Bis Tante Hertha mit dem Fahrradfahren fertig ist, machen wir einen Stadtbummel.« »Papi, das heißt EKG, nicht radfahren«, berichtigte Floh ernst. Sie schaute aus dem Fenster. »Was ist denn?« fragte Pit. »Glaubst du, daß es heute regnet?« kam Flohs Frage. Pit verneinte. »Wenn du unterwegs bist, scheint ganz gewiß die Sonne«, sagte er. Floh klatschte in die Hände. »Au fein, also
Stadtbummel mit Eis!« rief sie. Die Langenbachs wandten sich dem Ausgang zu. Im selben Moment stürzte ein Mann an der Pforte vorbei in den Aufenthaltsraum und zerrte eine junge Frau hinter sich her. Beide waren schweißüberströmt und sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Ihre Kleidung war verschmutzt und teilweise zerrissen. »Hilfe«, krächzte der Mann. »Helfen Sie uns. Bitte!« Die Frau sank in einen Polsterstuhl. Der Mann brach vor Pit in die Knie. Pit versuchte, ihn zu stützen. »Was ist denn, Mann?« fragte er. »Beruhigen Sie sich erst mal. Sie sind ja völlig fertig.« Der Mann befreite mit einer hastigen Bewegung seinen Arm aus Pits Griff. »Die Toten!« rief er. »Die lebenden Toten! Sie sind da! Sie haben meine Freunde umgebracht!« Er umklammerte Pits Beine. »Sie müssen uns helfen! Bitte!« Susanne ließ einen Arzt rufen, der sich um die beiden kümmern sollte. Pit verfrachtete den Mann in einen Polstersessel. Dann ging er zur Pforte und bat um ein Telefon. »Was hast du vor?« fragte Susanne, die ihm gefolgt war. Pit schaute sie ernst an. »Erst Flohs Traum, und jetzt das hier«, sagte er. »Das ist kein Zufall mehr. Ich denke, es ist besser, wenn ich Mark Bescheid gebe.« Er wählte Mark Hellmanns Nummer in Weimar. »Drei Tage!« erklang die verzweifelte Stimme des Mannes hinter ihm, während das Rufzeichen ertönte. »Nur noch drei Tage!« * Ich betrat das Redaktionsgebäude der Weimarer Rundschau mit gemischten Gefühlen. Immer wenn ich knapp bei Kasse war, raffte ich mich auf und versuchte, den Auftrag für eine brisante Reportage zu ergattern. Aber die schwierigen und wirklich brandheißen Themen gab es auch nicht wie Sand am Meer. Außerdem waren da noch etliche andere Kollegen, die sich um bestimmte Themen rissen und mindestens genauso gute Reportagen verfaßten wie ich. Jetzt herrschte zwar keine Ebbe in meiner Kasse, denn auf vom Finderlohn kann man leben (Siehe MH 15), aber das war noch lange kein Grund, meinen Beruf zu verlernen und
Geschäftsbeziehungen aufs Spiel zu setzen. Ich hatte allerdings nur noch wenig Zeit, mir für die Rundschau die Hacken abzulaufen. Seit ich als Träger des Rings den Kampf gegen Mephisto, den Höllenfürsten, und seine dämonische Brut zu meiner Hauptaufgabe gemacht hatte, wurde ich immer öfter in Auseinandersetzungen mit Dämonen und anderen Wesen der Hölle verwickelt. Ich hatte die Wichtigkeit meiner Aufgabe längst erkannt und akzeptiert. Ein Zurück gab es jetzt für mich nicht mehr. Ich heiße übrigens Mark Hellmann, bin achtundzwanzig und sehe eigentlich ganz gut aus, wenn man der Damenwelt Glauben schenken darf. Mit meinem Staatsexamen in Völkerkunde hätte ich mir auch einen ruhigen Lenz machen können, aber der Job war mir zu öde. Da spielte ich schon lieber den rasenden Reporter. Dabei kam ich mit vielen Menschen zusammen, natürlich auch Frauen. Wenn sie einen Blick auf den silbernen Siegelring an meiner rechten Hand warfen, waren sie hin und weg. Warum? War es nur ein Vorwand. Auf dem Ring waren die stilisierten Buchstaben M und N, nach denen mir meine Adoptiveltern Lydia und Ulrich Hellmann die Vornamen Markus Nikolaus gegeben hatten, sowie ein stilisierter Drache zu erkennen. Daß mir dieser Ring bei meinem Kampf gegen das Böse gute Dienste leistete und ich mit seiner Hilfe schon mehrmals in die Vergangenheit gereist war, wußte außer einem kleinen Kreis Vertrauter kaum jemand. Und dann gab es da noch das siebenzackige, sternförmige Mal auf meiner linken Brust, das auf die Vertreterinnen des schwachen Geschlechts einen zusätzlichen Reiz ausübte. Ich hielt das Mal, das Ähnlichkeit mit einer Tätowierung hatte, für ein sogenanntes Hexenmal. Welche Bedeutung es in Wirklichkeit hatte, lag genauso im Dunkeln wie meine Herkunft. Man hatte mich in der Nacht zum 1. Mai 1980 nackt und allein in der Nähe von Weimar aufgefunden. Nur den Ring hatte ich bei mir gehabt. Die Eheleute Hellmann hatten damals mein Alter auf zehn Jahre geschätzt und mich adoptiert. Inzwischen wußte ich, daß ich irgendwann in der Vergangenheit einmal eine kleine Schwester gehabt hatte. Ich hoffte, das Geheimnis meiner Herkunft im Laufe der Zeit lüften zu können. Die Redaktionsetage der Rundschau war zu einer vertrauten Welt für mich geworden. Es herrschte hektische Betriebsamkeit.
Telefone klingelten in den unterschiedlichsten Rufmelodien. Stimmen redeten durcheinander, Faxgeräte piepsten, Drucker ratterten, Tastaturen klapperten, und Redaktionsmitglieder rannten hin und her. Raumteiler lockerten den riesigen Raum auf, machten ihn allerdings zu einem Irrgarten. »He, Mark!« rief mich jemand von hinten an. Ich drehte mich um und erblickte eine blonde Schönheit. Ilona, die Sekretärin! »Der Chef will dich sehen«, sagte sie. »Aber Vorsicht, er ist heute nicht besonders gut drauf!« warnte sie mich. Ich folgte ihr zu Max Unruhs Büro. Es war durch eine Glaswand und eine Glastür vom übrigen Redaktionsbereich abgetrennt. Obwohl der Lärm von draußen nicht in sein Büro drang, entging meinem Chef fast überhaupt nichts, denn er hatte durch die riesige Scheibe einen hervorragenden Überblick. »Morgen, Chef«, grüßte ich den Chefredakteur der Rundschau, der für mich so etwas wie ein väterlicher Freund und Mentor geworden war. Er sah nur kurz von dem heillosen Durcheinander auf seinem Schreibtisch auf. »Komm rein und mach die Tür zu«, sagte er kurzangebunden und fuhr fort, auf seinem Schreibtisch herumzuwühlen. Ich folgte seiner Aufforderung, räumte erst mal einen Stapel Papierkram von dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch, setzte mich und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Das erste, was kam, war ein Topf dampfender Kaffee, den mir Ilona hereinbrachte. Das Gebräu verbreitete ein köstliches Aroma in dem kleinen Raum. Schließlich kratzte sich Max Unruh ratlos am Hinterkopf, rieb sich die Augen und lehnte sich zurück. Sein Drehsessel ächzte protestierend. Langsam und bedächtig rieb Unruh sein Kinn, während er mich betrachtete. Ich schlürfte den Kaffee und schaute meinen Chef erwartungsvoll an. »Ich hoffe, du bist nicht nur zum Kaffeetrinken hergekommen«, sagte Max endlich. »Ganz und gar nicht, Chef«, versicherte ich. »Ich wollte eigentlich nur mal fragen, ob was anliegt.« »Was ist?« fragte er. »Brauchst du Kohle? Du hast dich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht, und jetzt tauchst du auf einmal auf und tust so, als hätten wir nur auf dich gewartet.« Er erhob sich aus seinem Sessel und stützte sich mit einer Hand auf dem
Schreibtisch ab. Mit der anderen deutete er auf die Glasscheibe hinter mir. »Da draußen gibt es Dutzende von Reportern, die nur darauf warten, einmal für uns schreiben zu dürfen!« rief er. »Aber der Herr Mark Hellmann denkt wohl, er ist der einzige in der Stadt, der eine tolle Reportage abliefern kann, wie? Laß dir gesagt sein, mein Junge, das Leben ist hart und ungerecht.« Was ich jetzt am wenigsten brauchen konnte, war eine Moralpredigt von Max Unruh. Wenn er Streß hatte, sollte er ihn bei jemand anderem abladen, aber nicht bei mir. »Das weiß ich, Chef«, unterbrach ich ihn. »Heben Sie sich Ihre Standpauke für einen anderen Tag auf, ich bin heute nicht in Stimmung. Sagen Sie mir lieber, ob Sie einen Job für mich haben oder nicht.« Max ließ sich wieder in den Sessel fallen und klappte den Mund zu. Dann bedachte er mich mit einem grimmigen Blick, schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich mich überhaupt noch mit dir herumärgere«, sagte er brummig. Er schüttelte wieder den Kopf. Schließlich warf er mir ein Blatt Papier herüber. »Hier, das ist was für dich«, meinte er. »Ein Tatsachenbericht über Kampfhunde. Erst vor ein paar Tagen hat wieder ein Pitbull eine Wandergruppe angefallen. Das war drüben bei Oßmannstedt.« Ich war wenig begeistert. »Chef, über die Viecher ist schon so viel geschrieben worden. Das Thema gibt nicht allzu viel her. Und Panikmache ist nun wirklich nicht mein Ding«, versuchte ich ihn umzustimmen. Max Unruhs Blick verdüsterte sich. »Entweder du schreibst die Kampfhundestory, oder du suchst dir selbst ein Thema - oder du schreibst nie wieder eine Story«, sagte er kalt. »Ist das klar?« Ich nickte ergeben. »Ich mach mich dann mal auf den Weg, Chef«, verkündete ich und erhob mich. Max Unruh hob die Hand und hielt mich zurück. »Moment noch!« befahl er und drückte den Knopf an einer Sprechanlage. »Wir wären dann soweit, Ilona!« informierte er seine Sekretärin. Sekunden später öffnete sich die Tür, und Ilona trat in Begleitung einer hübschen, schlanken Blondine ein. Sie war ziemlich salopp mit Jeans und T-Shirt bekleidet. Ich bemerkte sofort, daß sie keinen BH trug. »Das ist Tina Wernicke«, erklärte Max. »Sie ist Volontärin bei uns. Ich denke, du solltest dich ein wenig um sie kümmern, Mark. Zeig ihr, wie man eine richtig gute Story schreibt, ja?«
Verflixt, jetzt drückt er mir auch noch 'ne Anfängerin aufs Auge! dachte ich verärgert. »Chef, denken Sie nicht, daß das zu gefährlich für die Kleine wird?« Max Unruh lächelte süffisant. »Dafür hat sie ja dich. Du wirst schon auf sie aufpassen«, meinte er. Das war's dann wohl, dachte ich. »Also, Kleine, ab geht die Post!« sagte ich zu dem Mädchen und versuchte, sie mit einem Lächeln aufzumuntern. Ein wütendes Blitzen aus ihren Augen war die Belohnung. »Sagen Sie bloß nie wieder Kleine zu mir, Sie Macho!« zischte sie. »Meinen Namen kennen Sie ja! Und nur weil ich blond bin, müssen Sie nicht meinen, daß ich auch blöd bin! Behalten Sie Ihre Machosprüche bloß für sich, Mann!« Na herrlich! Mit einer Wildkatze auf Kampfhundjagd! Das kann ja heiter werden! ging es mir durch den Kopf. Wortlos schob ich die Volontärin zur Tür hinaus und folgte ihr. »Und Mark?« hörte ich da die Stimme meines Chefs hinter mir. »Nicht vergessen: Ich will Fakten, Fakten, Fakten!« Ich drehte mich noch mal um. »Den Spruch haben Sie aber von der Konkurrenz geklaut, Chef!« sagte ich. Max Unruh grinste befriedigt. »Aber gut isser«, antwortete er. »Oder etwa nicht?« Ich gab ihm keine Antwort, sondern sah zu, daß ich wegkam. Ich wollte die Story so schnell wie möglich hinter mich bringen und dann die kleine Wernicke wieder in der Redaktion abliefern. In meinem BMW kamen wir eine knappe halbe Stunde später in Oßmannstedt an. Das Blatt, das mir Max Unruh gegeben hatte, enthielt alle nötigen Informationen. Vor kurzem hatte ein freilaufender Pitbull eine Wandergruppe angegriffen und dabei zwei Männer und eine Frau schwer verletzt. Bevor man das Tier jedoch einfangen konnte, war es entwischt. Man vermutete, daß es von einem Bauernhof in der Nähe der Stadt ausgerissen war, wo schon früher Kampfhunde gezüchtet und abgerichtet worden waren. Als ich den BMW langsam über holprige Feldwege in die Einfahrt des großzügig angelegten Bauernhofes rollen ließ, erkannte ich neben einer Scheune die aufgebockte Suzuki meiner Dauerfreundin Tessa Hayden. Tessa war Fahnderin bei der Weimarer Kripo. Sie war sicherlich auch wegen der Pitbullgeschichte hier. Mir stieß es bitter auf. Tessa war eifersüchtig - und ich hier mit einen fremden Frau unterwegs!
»Kommen Sie, Tina, wir sehen uns erst mal um. Dann versuchen wir, den Besitzer der Hunde zu interviewen. Sie können ja ein paar Fotos von den Viechern schießen«, sagte ich. »Das heißt, wenn Sie keine Angst haben«, fügte ich hinzu. Tina Wernicke erwiderte nichts. Doch der verachtende Blick ihrer blauen Augen sagte alles. Langsam näherten wir uns dem Haupthaus. Links war ein riesiger Misthaufen aufgeschüttet, in dem zwei Mistgabeln steckten. Auf der anderen Seite, zwischen dem Bauernhaus und einem Stall, befand sich ein Hundezwinger, aus dem ein drohendes Knurren drang. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich zwei Pitbull-Terrier und einen Dobermann, die uns lauernd und zähnefletschend beobachteten. »Ich habe Ihnen schon mal gesagt, daß mich Ihre Anweisungen einen Scheißdreck kümmern! Ich hab eure ständigen Schnüffeleien und Kontrollen satt. Laßt mich endlich in Ruhe, ihr Scheißbullen!« erklang eine wütende Stimme aus dem Bauernhaus. »Und jetzt scher dich hier raus, Bullentussi!« Im nächsten Augenblick wurde die Haustür aufgerissen. Tessa Hayden stürzte in den Hof, taumelte und fiel zu Boden. Ein breitschultriger, unrasierter Kerl in schmutzigbraunen Cordhosen folgte ihr. »Und laß dich nie wieder hier blicken, sonst mach ich Hundefutter aus dir!« schrie er, während er wütend an seinem karierten Hemd zerrte. Mit einer geschmeidigen Bewegung kam Tessa auf die Beine. Sie ging auf den Landwirt zu und griff nach ihrer Dienstwaffe. »Herr Möllner, ich verhafte Sie wegen tätlichen Angriffs auf eine Amtsperson und Beamtenbeleidigung«, sagte sie bestimmt. »Ihre Hunde werden heute noch abgeholt. Und jetzt drehen Sie sich um und legen Sie die Hände auf den Rücken!« Möllner schien die Kommissarin nicht ernst zu nehmen. Er grinste ihr frech ins Gesicht und ballte die Fäuste. »Das versuch erst mal, Bullentussi!« sagte er heiser. »Dich vernasch ich zum Frühstück!« Und dann handelte er blitzschnell. Seine Linke zuckte vor und riß Tessas Waffenhand hoch. Seine Rechte prallte unter Tessas Kinn und schleuderte sie zurück. Hart schlug sie auf dem Boden auf. Die Pistole wurde ihr aus der Hand geprellt und rutschte scheppernd über das Pflaster. Tessa Hayden stand wieder auf und schüttelte den Kopf, um einen klaren Blick zu bekommen. Der Bauer ergriff den Stiel einer Mistgabel und zog
sie aus dem Misthaufen. »Fritz!« schrie er. »Es gibt Ärger!« In der Tür des Stalles erschien ein riesiger Kerl mit SkinheadGlatze, der einen Baseballschläger schwang. Dummerweise hielt er wohl mich für das Ärgernis, denn er hetzte mit einem tiefen, wütenden Gebrüll auf mich zu. Ich schob Tina aus dem Kampfbereich, bemerkte noch, wie Tessa die zweite Gabel aus dem Misthaufen zog; dann war Fritz heran. Ich federte zurück und ließ den Baseballschläger ins Leere schießen. Fritz knurrte unwillig und hob den Prügel zu einem weiteren Schlag. Ich hatte als ehemaliger Zehnkämpfer auch einige Kampfsportarten drauf und trainierte zudem regelmäßig mit Pit Langenbach bei der Kripo. Mit einem Spinkick wirbelte ich herum und trat Fritz den Prügel aus der Hand. Fritz wußte nicht, wie ihm geschah. Ungläubig starrte er erst auf seine leeren Hände und dann auf mich, während der Schläger zu Boden knallte. Ich ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken. Ein kraftvoller Karatetritt trieb ihn zurück. Dann traf ich ihn unter dem Kinn, und Fritz prallte gegen die Gittertür des Hundezwingers. Mit glasigen Augen rutschte er daran herunter. Dabei kam er jedoch gegen den Stahlriegel, der den Zwinger normalerweise verschloß, und lockerte ihn. Die Hunde spielten verrückt. Mit wütendem Gekläffe warfen sie sich gegen die Tür des Zwingers und drückten sie so weit auf, daß ein Pitbull hindurchschlüpfen konnte. Verdammt, das hat gerade noch gefehlt! fluchte ich in Gedanken. Auch Fritz hatte in seinem benommenen Zustand die Gefahr erkannt und versuchte verzweifelt, die beiden anderen Hunde am Ausbruch zu hindern. Der zweite Pitbull erwischte Fritz am Arm und biß sich fest. Die Schmerzensschreie des Mannes hallten über den Hof. Tessa hatte inzwischen den Hieb des Bauern abgewehrt und ihm gleichzeitig den Stiel ihrer Mistgabel in den Allerwertesten gerammt. Tessas Motorradstiefel traf den Mann fast gleichzeitig. Die Mistgabel war wieder frei! Möllner lag schwer atmend und wimmernd auf dem Bauch. Tessa kniete auf seinem Rücken und legte ihm Handschellen an. »Achtung, Tessa! Der Hund!« brüllte ich und hetzte los. Der Pitbull sauste mit gefletschten Zähnen auf Tessa Hayden zu. Die Fahnderin wurde bleich. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Speichel troff aus dem Maul des Kampfhundes. Ich riß den Baseballschläger vom Boden hoch und schleuderte ihn dem Hund
hinterher. Treffer! Mit einem Jaulen fuhr der Hund herum und stürzte auf mich los. Blitzschnell riß ich meine Windjacke vom Leib und wickelte sie um meinen linken Unterarm. Tessa schrie. Im selben Augenblick sprang der Pitbull und prallte mit voller Wucht gegen mich. Ich stürzte hinterrücks zu Boden. Die Finger meiner rechten Hand krallten sich in die Kehle des Hundes. Das Tier gebärdete sich wie verrückt. Seine Krallen zerfetzten mein Hemd und brachten mir blutige Kratzer am Arm und auf der Brust bei. Immer wieder machte das Tier Ansätze, mit seinem mörderischen Gebiß meine Kehle zu erreichen. Mit der Linken versuchte ich mein Gesicht und den Hals zu schützen, so gut es ging. Schließlich gelang es mir, dem Hund den geschützten linken Unterarm zwischen die Zähne zu schieben. Wie die Zangen einer Bärenfalle schlossen sich die starken Kiefer um meinen Arm. Der Pitbull biß sich regelrecht in meiner Jacke fest. Ich hieb ihm mehrmals mit der Rechten in den Nacken, doch der Hund wurde dadurch nur noch wilder. Der Pitbull war zu einer wahren Killermaschine geworden und hatte eine unbändige Kraft. Lange würde ich ihm nicht mehr standhalten können. Ein Schuß peitschte über den Hof. Ein Ruck ging durch den Körper des Kampfhundes, dann sackte er zusammen und zuckte noch ein paarmal, bevor er starb. Ich wälzte den Kadaver von meiner Brust und atmete tief durch. Tessa Hayden kam auf mich zugerannt. Sie steckte die Pistole erst weg, als sie sich vom Tod des Kampfhundes überzeugt hatte. »Bist du okay, Mark?« fragte sie, und richtete einen besorgten Blick auf mich. »Abgesehen von ein paar Kratzern schon«, antwortete ich und strich ihr sanft über die Wange. Sie trug wieder einmal grüne Kontaktlinsen. Ich glaubte, nie schönere Augen gesehen zu haben. »Danke, Tessa. Der Schuß kam genau richtig«, sagte ich leise und stemmte mich hoch. Blut rann an meinem rechten Arm und an meiner Brust entlang. Die Bestie hatte mir doch ein paar Kratzer mehr zugefügt, als ich zunächst angenommen hatte. »Warten Sie, ich bringe Verbandsmaterial!« rief Tina hinter mir. Ich drehte mich um. Die Kleine kam mit einer Autoapotheke herbeigelaufen. Sie hatte den BMW geistesgegenwärtig gegen das Tor des Zwingers gelenkt, um den Ausbruch der anderen Hunde zu verhindern. Den verletzten Fritz hatte sie inzwischen ebenfalls notdürftig verbunden. Dafür handelte sie sich ein dickes Lob von
mir ein. Die Besorgnis wich aus Tessas Blick. Dafür stieg Zornesröte in ihrem Gesicht auf, als sie Tina herankommen sah. »Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte sie leise und ging zu ihrem Motorrad. O nein, Tessa, nicht schon wieder! dachte ich. Das war ja nicht auszuhalten. Im Geiste wünschte ich Max Unruh die Pest an den Hals. Der Job hatte mir noch kein Geld eingebracht, dafür aber zerfetzte Klamotten, schmerzhafte Kratzer und eine Tetanusspritze. Ich schaute dem Krankenwagen nach, der Fritz abtransportierte. Im selben Augenblick tutete mein Handy, das ich im Wagen liegen hatte. Ich meldete mich und hörte die Stimme meines Freundes Pit Langenbach. Er klang ziemlich aufgeregt. »Moment, Moment«, unterbrach ich ihn. »Nicht so hastig. Was hast du denn auf dem Herzen?« fragte ich. »Lebende Tote!« erwiderte Pit. »Kannst du mir das genauer erklären?« hakte ich nach. Pit konnte. Nach ein paar Minuten war ich über die Vorfälle in Bad Lausick informiert. »Glaubst du, da ist was dran?« wollte ich wissen. »Durchaus möglich«, lautete Pits Antwort. »Ich denke, du solltest der Sache mal nachgehen. Nach meinem Dafürhalten war der Mann zu schockiert, um sich das alles ausgedacht zu haben.« Ich dachte kurz nach. Noch war nicht abzusehen, ob es sich wirklich um lebende Tote handelte. Wenn das aber der Fall war, mußte man damit rechnen, daß die Gegend bald von Untoten wimmelte. Und das mußte ich verhindern. »Ich versuche, mich hier ein wenig schlau zu machen«, sagte ich. »Ich hoffe, daß ich spätestens morgen früh bei euch sein werde. Versuche, bis dahin die Stellung zu halten. Wenn's was Neues gibt, funkst du mich an, ja?« »Geht klar«, sagte Pit. »Du findest uns im Kurheim Haus Erlenhain. Bis dann.« Damit beendete Peter Langenbach das Gespräch. Es wurde also wieder ernst. Die Höllenbrut hatte mal wieder mobil gemacht. Ich ging zu Tessa und schilderte ihr das Telefonat. »Fährst du hin?« fragte sie ernst. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht gleich. Ich brauche erst noch mehr Informationen. Ich halte dich auf dem laufenden.« Sie nickte. »Ich warte noch, bis die Kollegen Möllner und seine Hunde abgeholt haben. Danach bin ich im Präsidium zu erreichen«, sagte sie und fügte dann
hinzu: »Nur für den Fall, daß du mich brauchst.« Ich setzte Tina Wernicke bei der Rundschau ab. »Wissen Sie was?« fragte ich. »Schreiben Sie einfach die Story, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat. Sie haben ja gehört, was der Chef gesagt hat: Fakten, nichts als Fakten!« Sie schaute mich erschrocken an. »Aber das kann ich doch nicht.« Ich zwinkerte ihr zu. »Sie machen das schon, Kleine!« rief ich und gab Gas, bevor sie antworten konnte. Für mich gab es jetzt Wichtigeres als die Reportage. Es ging um Menschenleben! * Ich fuhr in meine Wohnung im Weimarer Westen und duschte kurz. Danach fühlte ich mich wie neu geboren. Die Kratzwunden waren fachmännisch verpflastert worden. Sie hatten schlimmer ausgesehen, als sie tatsächlich waren. Ich schlüpfte in Jeans, ein Flanellhemd und eine leichte Jacke und machte mich auf den Weg in die Siedlung Landfried, um meinen Eltern einen Besuch abzustatten. Lydia Hellmann entdeckte natürlich sofort ein paar leichte Kratzer an meinem Hals. »Junge, was hast du wieder angestellt?« fragte sie besorgt, packte mich am Kinn und drehte meinen Kopf hin und her, daß meine blonden Haare flogen. Sie behandelte mich immer noch wie einen kleinen Jungen. Das konnte ich ihr einfach nicht abgewöhnen. »Laß gut sein, Mutter«, sagte ich und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Das sind nur ein paar Kratzer. Du weißt doch, so leicht wirft mich nichts um.« Ich lächelte sie an und schob sie sanft vor mir her in die Diele. »Und schon gar nicht so ein mickriger Kampfhund«, setzte ich nach. Mutter kriegte fast einen Anfall. »Kampfhund?!« rief sie und schaute mich streng an. »Willst du allen Ernstes behaupten, du hast dich mit einer dieser vierbeinigen Bestien angelegt?« Sie schüttelte entrüstet den Kopf. »Also, in deinem Alter sollte man wirklich vernünftiger sein, Mark.« »Was höre ich da von einem Kampfhund?« fragte mein Vater, der aus seinem Arbeitszimmer getreten war. Auch mit fünfundsechzig war Pit Langenbachs ehemaliger Chef noch eine imposante Gestalt, trotz der Versteifung an der linken Hand und am rechten Fuß, die er vor Jahren von einer Begegnung mit
Dämonen davongetragen hatte. »Stell dir vor, der Junge hat sich mit einem Kampfhund rumgeschlagen, und er tut so, als wenn das gar nichts wäre«, entrüstete sich Lydia Hellmann wieder. Sie war drei Jahre älter als mein Vater und immer um mich besorgt. Ganz besonders, seit sie von meinem Kampf gegen die Mächte der Finsternis wußte. Ich hatte bis jetzt immer darauf geachtet, ihr einen Teil meiner Auseinandersetzungen mit den Dämonen zu verschweigen, um sie nicht allzu sehr zu beunruhigen. Für mich waren die Hellmanns meine Eltern, die ich liebte und achtete, auch wenn sie mich nur an Kindes Statt angenommen hatten. Und für Ulrich und Lydia war ich der Sohn, den sie sich immer gewünscht hatten. »Reg dich nicht auf, Lydia. Er lebt ja noch«, sagte mein Vater ruhig und zwinkerte mir zu. Wenn etwas meine Mutter auf die Palme bringen konnte, dann war es das Gefühl, daß Vater ihre Besorgnis nicht teilte. »Ich soll mich nicht aufregen!« rief sie. »Er sagt, ich soll mich nicht aufregen!!!« Sie fuchtelte wild mit den Armen herum. »Mein Sohn wird fast von einem Mörderhund zerfleischt, und ich soll mich nicht aufregen!« Wie eine Rachegöttin fuhr sie auf Ulrich Hellmann los. »Weißt du, was du bist, Ulrich Hellmann?« rief sie. »Du bist ein Scheusal.« Weiter kam sie nicht, denn sie sah das Lachen auf dem Gesicht meines Vaters und erkannte, daß wir sie wieder einmal auf den Arm genommen hatten. Ihr Ärger verrauchte wie im Flug. »Ich falle auch jedesmal auf euch rein«, meinte sie kopfschüttelnd. »Geht schon mal ins Arbeitszimmer, ich koche uns inzwischen einen Kaffee«, sagte sie und verschwand in der Küche. »Und wie schlimm war die Geschichte wirklich?« fragte Vater, nachdem wir Platz genommen hatten. Ich winkte ab. »Tessa hat mich rausgehauen und den Hund erschossen. Zum Glück«, antwortete ich. »Aber kein Wort zu Mutter, ja?« »Was soll ich nicht wissen?« fragte Lydia Hellmann im selben Moment. Sie war leise mit einem Tablett voller Kaffeegeschirr hereingekommen. »Es war also doch schlimm, nicht wahr?« wollte sie wissen. »Es ist ja gutgegangen, und jetzt ist es vorbei, Mutter«, erwiderte ich. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« »Und was führt dich jetzt zu uns?« kam Ulrich Hellmanns Frage. »Dein Besuch ist sicher nicht nur als Zeitvertreib zu werten.« Der Kaffeekessel pfiff, und Mutter eilte in die Küche zurück. Sie
bevorzugte frisch aufgebrühten Kaffee. Deshalb war auch keine Kaffeemaschine im Haus zu finden. »Pit hat mich aus Bad Lausick angerufen«, antwortete ich meinem Vater. »Dort sind angeblich lebende Tote erschienen und sollen zwei Menschen umgebracht haben.« Vater lehnte sich zurück. »Peter Langenbach saugt sich so was nicht aus den Fingern, Mark. Wenn Pit sagt, es gibt lebende Tote, dann stimmt es auch«, sagte er. »Schon richtig«, pflichtete ich ihm bei. »Aber er hat sie nicht selbst gesehen. Sie sind angeblich einem jungen Paar begegnet, von dem Pit später informiert wurde. Bis jetzt ist es also nur Hörensagen«, gab ich zu bedenken. Mutter erschien mit dem dampfenden Kaffee und schenkte ein. »Du willst dich natürlich trotzdem darum kümmern«, stellte Vater überflüssigerweise fest. Ich nickte. »Sicher. Aber ich brauche Informationen. Ich möchte so gut wie möglich vorbereitet sein«, erklärte ich. Ulrich Hellmann trank seinen Kaffee und schien nachzudenken. In kleinen Schlucken schlürfte er das aromatische Gebräu. »Und was macht Tessa?« erkundigte sich meine Mutter wie bei jedem meiner Besuche. Ihr war viel daran gelegen, Tessa endlich als Schwiegertochter zu sehen. Ich hob die Schultern und schaute Mutter über den Rand meiner Tasse hinweg an. »Du weißt ja, wie das ist«, sagte ich. »Sie will eine feste Bindung, ich will das nicht. Es ist immer dasselbe.« »Und noch keine Änderung in Sicht?« fragte Mutter. Ich schüttelte den Kopf. Mutter schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Du weißt, mein Junge, was ich von deiner Beziehung zu Tessa halte. Ich kann auch verstehen, wenn du dich noch nicht binden willst. Aber Tessa ist so ein patentes Mädchen, und was Besseres kommt sowieso nicht nach.« Sie holte tief Luft. »Ihr streitet viel zu oft. Ein gesunder Krach hin und wieder bringt Pfiff in jede Ehe«, meinte sie und fügte augenzwinkernd hinzu: »Das sieht man an deinem Vater und mir.« Sie wurde wieder ernst. »Aber was zuviel ist, ist zuviel. Da muß man ja schon bald von Haßliebe sprechen.« »Nun laß den Jungen mal seine Beziehungsprobleme selbst lösen, Lydia«, mischte sich Vater ein. Ich hätte ihn umarmen können. Wenn meine Mutter auf ihr Lieblingsthema zu sprechen kam, konnte das ziemlich lange dauern und endete oft mit einer
Standpauke. Ulrich Hellmann erhob sich und hinkte zu einem Bücherregal, das mit Büchern aller Größenordnungen vollgestopft war. Es waren ausschließlich Bände über Okkultismus und Parapsychologie. Mein Vater war so etwas wie eine Koryphäe auf diesem Gebiet geworden und verfügte über weltweite Kontakte zu Gleichgesinnten. Informationen sammelte er und speicherte sie auf seinem Computer. Nachdem er eine Weile in den Regalen gesucht hatte, zog er endlich ein Buch hervor und begab sich zu seinem Schreibtisch. Dort schlug er den nicht sehr dicken Band auf. Es war ein relativ altes Werk. Die Seiten zeigten schon einige Gilbflecken. »Den Band habe ich vor ein paar Jahren auf einem Flohmarkt ergattert«, erklärte Vater. Ich schenkte mir noch mal nach und nahm die Tasse mit zum Fenster, wo ich abwartend stehenblieb und langsam trank. Vater hatte aufgehört zu blättern und sagte: »Also, hier steht, daß sogenannte lebende Tote hauptsächlich in Gebieten auftauchen, in denen der Voodoo-Kult herrscht. Also in Afrika und Südamerika und im Süden der USA.« Vater schob sich die Hornbrille zurecht und fuhr fort: »Daß es sich dort natürlich nicht um Leichen handelt, die zum Leben erweckt worden sind, sondern um Leute, die sich in einer Art Trance befinden, wissen wir längst.« »Ich glaube auch kaum, daß wir es hier mit Voodoo zu tun haben«, warf ich ein. Vater stimmte mir zu. »Das glaube ich auch nicht«, sagte er. »Aber hier steht noch was: Durch dämonische Kraft oder Schwarze Magie konnte man im Mittelalter offenbar Leichen dazu bewegen, aus ihren Gräbern zu steigen. Das würde dann schon eher zutreffen, nicht wahr?« Ich hatte die Tasse auf der Fensterbank abgestellt. »Was steht noch darüber zu lesen?« fragte ich. Vater blätterte wieder in dem Buch. »Daß es offenbar im späten Mittelalter auch in Böhmen und dem heutigen Tschechien Geheimbünde gab, die Teufelskünste und Zauberei beherrschten.« Er schloß das Buch. »Von dort ist es nicht sehr weit bis zu uns. Es wäre durchaus denkbar, daß diese Geheimbünde auch in den damaligen sächsischen Herzogtümern existierten«, sagte er abschließend. Mehr konnte mir Vater also nicht mitteilen. Aber eins war jetzt
sicher: Wenn es diese lebenden Toten, von denen Pit gesprochen hatte, wirklich gab, dann waren sie durch dämonische Kräfte zum Leben erweckt worden. »Und wie bringt man diese Untoten zur Strecke?« fragte ich. »Gibt es da eine bestimmte Methode, so wie das Pfählen bei den Vampiren?« »Nach allem, was ich weiß, Mark, müßten diese Leichen ziemlich vertrocknet sein. Ich könnte mir vorstellen, daß du unter Umständen mit Feuer etwas erreichen kannst«, meinte Ulrich Hellmann. »Dann werden sie als dämonische Wesen vermutlich auch Weihwasser, Kreuze und geweihtes Silber verabscheuen. Nur eines wird nicht funktionieren: Man wird ihnen nicht mit normalen Waffen beikommen können.« Vater nahm die Brille ab und schaute ernst zu mir herüber. »Aber noch ist nicht sicher, daß es sich tatsächlich um Untote handelt«, gab er zu bedenken. »Ich laß es auf mich zukommen«, sagte ich. Dann verabschiedete ich mich. »Danke für deine Hilfe und den guten Kaffee. Ich versuche, in der Bibliothek noch etwas mehr in Erfahrung zu bringen und fahre dann nach Bad Lausick«, kündigte ich an. Mutter brachte mich zur Tür und strich mir über die Wange. »Paß auf dich auf, Junge«, sagte sie leise. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. »Wie immer, Mutter«, sagte ich beruhigend. »Du weißt doch, ich komme immer wieder heil zurück.« Ich drückte ihr die Hand. »Wird schon schiefgehen«, meinte ich lachend. Doch mit diesem Satz konnte ich Mutters Pessimismus nicht vertreiben. * Da ich nicht besonders hungrig war, beschloß ich, der HerzoginAnna-Amalia-Bibliothek schon während der Mittagszeit einen Besuch abzustatten. In dem Gebäude aus der Rokokozeit, wo ich schon viele Stunden verbracht hatte, um mich mit alten Sagen, Legenden und Überlieferungen vertraut zu machen und Informationen für meinen Kampf gegen die Dämonen zu sammeln, fühlte ich mich wohl. Immer wieder nahm mich der imposante, dreigeschossige Bibliothekssaal mit seiner Bücherflut gefangen. Das war eine andere Atmosphäre als vor einem PC.
Über Mittag war es ruhig in der Bibliothek. Aus einer umfangreichen Kartei suchte ich mir alle Titel heraus, die irgendwas mit lebenden Toten zu tun hatten. Da kamen doch mehr Bücher zusammen, als ich erwartet hatte. Ich suchte mir einen kleinen Tisch mit zwei Sesseln, wo ich ungestört mit der Durchsicht der Bücher beginnen konnte. Stirnrunzelnd betrachtete ich die beiden Bücherstapel, die sich vor mir auftürmten. Herzlichen Glückwunsch, Mark! dachte ich. Ich konnte nur hoffen, rasch auf brauchbare Berichte über lebende Leichen zu stoßen. Ich hatte schon bedauert, mich nicht in dem sich im Aufbau befindlichen EDV-Archiv meines Vaters zu diesem Thema informiert zu haben, da sah ich sie! Sie war Mitte Zwanzig, groß, schlank und bildschön. Das lange, pechschwarze Haar wurde von einem roten Band zusammengehalten. Sie trug dunkle Strumpfhosen, einen Minirock und ein bauchfreies Top. An ihrem Bauchnabel blitzte ein Silberring. »Wollen Sie das alles heute noch durchackern?« fragte sie mit einer rauchigen Stimme, die meinen Blutdruck beschleunigte. Ich konnte erst gar nicht antworten. »Ich darf doch?« fragte sie dann, legte ein paar Bücher auf den Tisch und nahm mir gegenüber Platz. Sie lächelte und vertiefte sich in ihre Bücher. Ab und zu machte sie sich Notizen auf einem Schreibblock. Ich beobachtete sie eine Weile. Das südländische Aussehen des Mädchens konnte jeden Mann um den Verstand bringen. Ich mußte an Tessa Hayden denken. Und an den Seelenklempner, an den sie sich rangemacht hatte. Unsere Beziehung stand nach wie vor auf der Kippe. Schließlich schreckte ich aus meinen Gedanken hoch, zuckte mit den Achseln und versuchte, mich wieder auf die wandelnden Leichen zu konzentrieren. Irgendwie war ich aus dem Rhythmus geraten. Das Mädchen gegenüber geisterte mir im Kopf herum. Krampfhaft suchte ich weiter nach Informationen. Und beim übernächsten Buch hatte ich dann was gefunden. »Lebende Tote gab es auch in Sachsen«, stand da zu lesen. »Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts waren viele Geheimbünde und Anhänger von Geheimwissenschaften in den böhmischen und sächsischen Regionen aktiv. Diese Glaubensbrüder wurden oft mit dem Teufel in Verbindung gebracht und als Teufelskünstler oder Hexer verschrien. Eine der
Künste, die sie beherrschten, war das Erwecken von Toten. In manchen Überlieferungen wird von Toten berichtet, die nachts aus ihren Gräbern steigen und ihre Opfer suchen. Einer der bekanntesten Vorfälle dieser Art fand angeblich im Jahre 1685 in der sächsischen Gemeinde Leisnig statt. Damals soll ein ganzer Trauerzug von lebenden Toten durch den Ort gezogen sein. Über die Hälfte der Einwohner soll in jener Nacht den Tod gefunden haben.« Das war der erste konkrete Hinweis auf lebende Tote in Sachsen. Ich zuckte hoch, bemerkte den überraschten Blick meiner reizenden Tischnachbarin, eilte zu einem Regal mit Büchern über die Region Sachsen und hatte bald meine Vermutung bestätigt. Leisnig war ein kleiner Ort in der Nähe von - Bad Lausick! Das paßt doch wieder mal wie die Faust aufs Auge! dachte ich. Ich kehrte zum Tisch zurück und schloß das Buch. »Und was machen wir jetzt?« erklang die rauchige Stimme wieder. Ihre Hand suchte die meine, und ihre Finger spielten an meinem Siegelring. Ich erwiderte den Blick ihrer dunklen Augen, der mir Schauer über den Rücken jagte. »Was hatten Sie denn so im Sinn?« fragte ich zurück, obwohl ich im selben Augenblick wegen Tessa ein schlechtes Gewissen kriegte. Sie lächelte hintergründig. »Nun, Sie könnten mir zum Beispiel mehr über diesen tollen Ring erzählen«, schlug sie vor. Ihre Fingerspitzen strichen sanft über meinen Handrücken. Diesen Gefallen wollte ich ihr gern tun. Dagegen konnte Tessa doch nichts haben, redete ich mir ein. Und während wir erzählten und erzählten, verließ Hannah mit mir die Bibliothek, weil es bei ihr zu Hause doch angeblich gemütlicher war und die Bibliothek angeblich bald schloß… * Der Mann hieß Martin Lorentz und war Anwalt in Bad Lausick. Peter Langenbach hatte ihn endlich soweit beruhigen können, daß er in zusammenhängenden Sätzen die Ereignisse der vergangenen Nacht schilderte. Nach ihrer Flucht vor den Untoten hatten sich Martin und Francesca immer wieder neue Verstecke in Hinterhöfen und dunklen Hauseingängen gesucht, bis sie es schließlich gewagt hatten, den nächsten Ort aufzusuchen, an dem
sie von Menschen umgeben waren und Hilfe bekommen konnten. Und das war Haus Erlenhain gewesen. Die Geschichte des Anwalts verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Kurgästen, und es hatte einige Aufregung gegeben. Jetzt hatten sich die Gemüter wieder beruhigt. Peter Langenbach strich sich über den dichten Schnurrbart. »Ich würde mir zu gern mal die Stelle ansehen, an der Sie auf die lebenden Leichen gestoßen sind«, sagte er. Martin Lorentz wurde bleich. Entschlossen schüttelte er den Kopf. »Ich führe Sie nicht hin«, sagte er. »Keine zehn Pferde kriegen mich noch mal in die Nähe dieser Bestien!« Bete, daß sie nicht bald hier auftauchen, mein Junge! dachte Pit Langenbach. Wenn die drei Untoten wirklich durch schwarzmagischen Einfluß zum Leben erweckt worden waren, mußte man befürchten, daß bald alle übrigen Toten ebenfalls erwachten. Und dann gute Nacht, Marie! ging es Pit durch den Kopf. Er hatte nur Susanne seine Befürchtungen mitgeteilt. Es gab keinen Grund, warum er Floh und Tante Hertha beunruhigen sollte. Wenn die Toten wirklich kamen, würden sie es früh genug bemerken. »Willst du wirklich allein zum Friedhof?« fragte Susanne. Pit schaute sie ernst an. »Siehst du eine andere Möglichkeit?« fragte er zurück. »Ich muß wissen, ob an der Geschichte was dran ist.« Susanne war verständlicherweise nicht begeistert von der Vorstellung, daß ihr Mann den mordenden Leichen möglicherweise direkt in die Arme lief. Sie hatte sich zwar inzwischen mit seinem auch nicht gerade ungefährlichen Beruf des Kripobeamten abgefunden, aber der Kampf gegen mordende Ungeheuer war etwas ganz anderes. »Und wenn ich mit dir gehe?« schlug sie vor. Aber die Antwort kannte sie schon, bevor Pit überhaupt gesprochen hatte. Er würde sich auf so was nie einlassen. »Bist du verrückt?« kam auch gleich seine entrüstete Reaktion. »Das kommt überhaupt nicht in die Tüte. Du bleibst hier bei Floh und Tante Hertha. Wenn es hart auf hart kommt, kann ich nicht auch noch auf dich aufpassen.« Er umarmte sie und küßte sie sanft. »Schließlich will ich ja noch was von dir haben und dich nicht verlieren«, sagte er leise. »Und wenn dir was passiert?« fragte Susanne besorgt. »Das kann ganz schön ins Auge gehen, mein Lieber.« Pit streichelte ihre Wange. »Keine Angst. Ich paß schon auf«,
versuchte er seine Frau zu beruhigen. Er lieh sich im Kurheim eine starke Taschenlampe und winkte Susanne kurz zu. Floh und Hertha schliefen bereits. Susanne würde sich noch um Francesca und Martin kümmern, die ihr Erlebnis immer noch nicht ganz verkraftet hatten. Aus dem Kofferraum seines Wagens holte Pit das Radkreuz und einen langen Schraubenzieher, um den wandelnden Leichen nicht ganz waffenlos gegenüberzutreten. Pit kannte zwar nicht die genaue Stelle, an der die Untoten zum ersten Mal aufgetaucht waren. Aber er hatte sich den Weg zum Friedhof genau beschreiben lassen. Er rechnete sich auf dem Gottesacker die besten Chancen aus, die lebenden Leichen zu sehen. Das schöne Wetter war am frühen Abend von einem Herbststurm abgelöst worden, der sich aber inzwischen wieder beruhigt hatte. Jetzt huschten vereinzelte Nebelfetzen über den Boden. Es war merklich kühler geworden. Pit Langenbach fröstelte, als er den Erlenpark, dem das Kurheim seinen Namen verdankte, durchquerte. Er erreichte eine breite Straße, überquerte sie, brachte zwei Seitenstraßen hinter sich und stand schließlich an der Friedhofsmauer. Die Umgebung wurde von Straßenlaternen schwach erleuchtet. Stille herrschte. Kaum ein Auto fuhr am Friedhof vorbei. Pit drückte die Leuchtanzeige seiner Armbanduhr. Kurz vor zwölf. Der Hauptkommissar wandte sich nach links und folgte der Friedhofsmauer, bis sie von einer kleinen, schmiedeeisernen Pforte unterbrochen wurde. Pit drückte die Klinke. Die Pforte war verschlossen. Dann also zum Haupttor, entschied er. So kurz vor dem Ziel wollte er sein Vorhaben auf keinen Fall aufgeben. Dumpf klangen seine Schritte auf dem Gehsteig. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Du mich auch, mein Freund! grüßte Pit in Gedanken an den gefiederten Friedhofswärter und mußte unwillkürlich lächeln. Früher hatte er sich bei Nacht nur zum Friedhof gewagt, um den Mädchen seinen Mut zu beweisen. Und heute schlich er hier rum, um irgendwelchen untoten Kreaturen die Flötentöne beizubringen. Die Zeiten hatten sich gewaltig geändert. Pit erreichte das Haupttor, das aus zwei hohen, schmiedeeisernen Torflügeln bestand. Im Schein seiner Taschenlampe erkannte er, daß ein Flügel leicht nach innen gedrückt war. Auf dem Boden lag eine schwere Eisenkette, deren
Vorhängeschloß aufgebrochen worden war. Verdammt, sind die Toten etwa schon draußen? war sein erster Gedanke. Langsam drückte er den Torflügel weiter auf und betrat den Friedhof. Pit Langenbachs Instinkt warnte ihn, bevor er die Bewegung registrierte. Aus dem Schatten neben der Friedhofsmauer prallte ein schwerer Körper mit Wucht gegen ihn. Doch Pit wurde nicht voll erwischt. Es gelang ihm durch eine blitzschnelle Wendung, dem Aufprall die größte Wucht zu nehmen. Pit packte den Angreifer am Kragen und zerrte ihn herum. Gleichzeitig versuchte der Hauptkommissar, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Der Angreifer stürzte auf den Kiesweg. Pit ließ ihn nicht los, sondern zog den Unbekannten heftig am Kragen nach hinten. Ein Röcheln erklang. Pit packte fester zu, zog den Mann hoch und warf ihn gegen die Friedhofsmauer. Dann leuchtete er ihn an, tastete ihn ab und drehte ihn schließlich herum. »So, Freundchen, dann erzähl mal schön!« fuhr er den Unbekannten an. »Was sollte die Scheiße eben?« Der Mann war jung, etwa Anfang Zwanzig. Er versuchte, seinen Kopf aus dem Lichtstrahl der Taschenlampe zu drehen. Aber Pit ließ ihm nicht viel Spielraum. »Los, rede!« herrschte er ihn an. »Es war ein Scherz, Mann!« kam die Antwort, »nur ein Scherz! Ich dachte, Sie wären der Friedhofswärter. Mensch, die anderen wollten doch bloß beweisen, daß die Mädels Schiß davor haben, zur Geisterstunde auf den Friedhof zu gehen. Wir dachten, das ist voll cool, Mann. Und dann kommen Sie und hauen mir die Hucke voll!« Der Kerl redete wie ein Wasserfall. Plötzlich bekam er wieder Mut. »Wer sind Sie eigentlich, Mann? Was haben Sie denn hier verloren?« fragte er wütend und versuchte sich loszureißen. »Ich bin von der Kripo«, antwortete Pit. Er packte den Jungen und schob ihn durchs Eingangstor. »Wo sind deine Kumpels?« wollte Pit wissen. Der Junge gab bereitwillig Auskunft. »Dort hinten links, bei der Friedhofskapelle«, sagte er und deutete auf ein kleines Gebäude, dessen Umrisse schwach zu erkennen waren. Pit versetzte dem Jungen einen leichten Stoß. »Zieh Leine!« sagte er. »Und komm mir nicht mehr unter die Augen!« fügte er hinzu. Im selben Moment schlug die Kirchturmuhr der alten Pfarrkirche. Mitternacht! Pit kreiselte herum und begann zu laufen. Wenn Martin Lorentz recht hat, wachen die Toten jetzt auf! Ich muß die Kids da rausholen, bevor es zu spät ist! schrie es
in Pits Gehirn. Laut knirschten seine Schritte auf dem Kies. Heftiger Wind kam auf und peitschte ihm Herbstlaub ins Gesicht. So schnell er konnte, hastete Peter Langenbach zwischen den Grabreihen entlang zur Friedhofskapelle. * Dumpf hallte der letzte Glockenschlag der Kirchturmuhr über den Friedhof. Urplötzlich legte sich der Wind. Dann begannen sich die Grabhügel zu bewegen. Sie wölbten sich nach oben, als würde von unten dagegen gedrückt. Die Erde riß auf. Weißer Qualm drang durch die Risse hervor. An mehreren Stellen gleichzeitig ertönte tiefes Stöhnen. Fahle, knochendürre Hände durchbrachen die Grabdecken und begannen, die Erde zur Seite zu schaufeln. Bleiche, hagere Körper erhoben sich ächzend aus den Gräbern. Die Toten waren erwacht! * Unterdrücktes Kichern erklang unter der Trauerweide neben der Friedhofskapelle. »Einen Kuß, Lena, dann bist du erlöst, und wir gehen! Nur einen Kuß!« bettelte die Stimme eines jungen Mannes. Das Mädchen namens Lena wehrte sich lachend und rief: »Nicht hier, Micha! Wir haben ja wohl unseren Mut bewiesen! Komm, laß uns gehen.« Sie wandte sich an ihre Freundin. »Bianca, sag auch mal was!« forderte sie das andere Mädchen auf. Bianca lag in den Armen ihres Freundes Timo. Sie ließ von ihm ab und sagte: »Lena hat recht! Hier ist es nicht romantisch genug. Laßt uns abhauen.« Sie schaute Timo an und fügte hinzu: »Wer knutscht schon gerne unter Trauerweiden?« Widerwillig sah Micha ein, daß er auf einen Kuß auf dem Friedhof wohl verzichten mußte. Er nahm Lena bei der Hand und betrat den Kiesweg, der zum Haupttor führte. Die bleiche Gestalt sah Micha erst, als sie dicht vor ihm stand und ihn anfauchte. Lena stieß einen gellenden Schrei aus. »He, Mann!« brachte Micha erschrocken hervor, »Karneval ist doch erst in…« Der Rest des Satzes ging in einem Gurgeln unter, als
sich die knochigen Finger des Unheimlichen um Michas Kehlkopf schlossen und ihm die Luft abdrückten. Lena schrie wieder und drehte sich mit schreckgeweiteten Augen zu Bianca und Timo um. Dadurch bekam sie nicht mit, wie die rechte Hand des Untoten Michas Brust durchbohrte. Timo reagierte zuerst. Er packte die beiden Mädchen am Arm und zog sie auf die Friedhofskapelle zu. »Verflucht, das ist kein Spaß, das ist Ernst, Mädels!« schrie er. »Der Kerl hat Micha abgemurkst! Bloß weg hier!« Damit waren die lebenden Toten allerdings ganz und gar nicht einverstanden. Mit hölzernen, steifen und taumelnden Bewegungen stolperten sie über die Gräber und zwischen den Grabreihen entlang, um den drei Fliehenden den Weg abzuschneiden. Immer enger zogen die Untoten ihr Netz. Lena schrie immer hysterischer. Tränen rannen über ihre Wangen. »Los, in die Kapelle!« brüllte Timo. Lena hatte sich losgerissen und stürzte ziellos und kreischend hin und her. Überall stellten sich ihr Untote in den Weg, bleiche, halbverweste Gestalten, die es eigentlich nur in Horrorfilmen geben durfte. Timo zerrte Bianca mit sich zur Tür der Kapelle und rüttelte verzweifelt an der Klinke. »Nein! Bitte nicht! Bitte tut mir nicht weh!!« Lena schrie sich die Lunge aus dem Leib. Ihre Stimme überschlug sich. Das Mädchen schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Bianca mußte mit ansehen, wie die bleichen Gestalten ihre Freundin umringten. Lena versuchte zwar noch, den Kreis der Untoten zu durchbrechen, doch ihre Kraft reichte bei weitem nicht aus. Knochige Hände zerrten an ihrem T-Shirt, zerkratzten die Haut ihres Oberkörpers. Harte Finger krallten sich in Lenas Haar und um ihren Hals. Das zitternde, strampelnde Mädchen wurde hochgehoben und an einen Untoten weitergereicht, der die anderen fast um Haupteslänge überragte. Der Zombie stieß ein Knurren aus und ließ seine bleiche Hand über den zerkratzten, blutenden Körper des Mädchens gleiten. Dann öffnete er weit das Maul und zeigte seine fauligen Zähne. Ein violetter Lichtschimmer erschien zwischen seinen Zahnstummeln, verdichtete sich zu einem Strahl und drang zwischen Lenas aufgerissene Lippen. Als Lenas blühender Körper vor ihren Augen austrocknete und verdorrte, begann auch Bianca gellend zu schreien. Pit Langenbach hieb wie ein Berserker mit dem Radkreuz auf die
Untoten ein, die sich ihm in den Weg stellten. Unwillig knurrend wichen sie vor ihm zurück, nur um Pit im nächsten Moment mit ungelenken Schritten hinterherzuwanken. Genau in dem Augenblick, als die ersten verwesten, knochigen Hände nach Timo und Bianca griffen und an ihren Kleidern zerrten, durchbrach Pit Langenbach den Ring der lebenden Toten und warf sich gegen die Kapellentür. Dem gemeinsamen Ansturm von Timo und dem Hauptkommissar hielt die Tür nicht stand. Mit einem Ruck öffnete sie sich nach innen, und Pit zog die beiden jungen Leute in die kleine Kirche. Pit trieb die Untoten mit ein paar wuchtigen Hieben etwas zurück, knallte die Tür zu und warf sich aufatmend dagegen. »Sucht irgendwas, womit wir die Tür blockieren können!« rief er Timo und Bianca zu. Die Untoten drückten von außen gegen die Tür. Manchmal gelang es einem von ihnen, seine bleichen Finger in den Türspalt zu zwängen. Doch Pit hieb auf die Finger oder preßte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür. Die fauligen, knochigen Finger der Untoten fielen ab oder wurden zerquetscht. »Beeilt euch!« rief Pit seinen beiden Leidensgenossen zu. »Ich kann sie nicht mehr lange zurückhalten!« Endlich tauchte Timo vor ihm auf und brachte einen langen, schmiedeeisernen Kerzenständer, den er quer vor die Tür klemmte und in der Türklinke einhakte. Mit seinem Hosengürtel band Pit den Halter an der Klinke fest. Das würde ihnen für eine Weile Luft verschaffen. Gemeinsam mit Timo rückte er dann noch ein Holzpodest vor die Tür, auf dem die Kondolenzbücher bei Beerdigungen auslagen, und wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Das war ganz schön knapp«, brachte Pit keuchend hervor. »Wer sind Sie denn?« fragte Timo. »Wieso sind Sie auf einmal hier aufgetaucht?« Pit grinste ihn an. »Sagen wir mal so: Betrachtet es als Wink des Schicksals, daß ich genau im rechten Moment gekommen bin. Ich bin von der Kripo«, erklärte er. Timo drehte sich fluchend um. »O Scheiße!« rief er. »Ein Bulle! Es muß aber auch immer gleich ganz dicke kommen!« Plötzlich dämmerte ihm, was er gerade gesagt hatte. Er schaute den Hauptkommissar entschuldigend an. »Hey, shit, Mann. Sorry, das mit dem Bullen war nicht so gemeint. Echt, Mann!« Pit Langenbach hatte es sich schon lange abgewöhnt, sich über die Beschimpfungen aufzuregen. »Schon
gut«, sagte er nur und winkte ab. Ein plötzlicher Ruck ließ die Kapellentür erbeben und riß die drei Eingeschlossenen mit brutaler Gewalt in die rauhe Wirklichkeit zurück. Der Kerzenständer hielt den Ansturm der Untoten noch ab, aber wie lange noch? »Wir müssen uns was einfallen lassen, und zwar flott«, meinte Pit. »Seht mal nach, ob ihr hier noch einen zweiten Ausgang findet.« Ein hektisches Suchen begann. Bianca fand bald eine kleine Pforte an der Kopfseite der Kapelle, aber die Eisentür war verschlossen und nicht aufzubrechen. Das Mädchen begann verzweifelt zu weinen. In immer kürzeren Abständen erfolgte nun der Ansturm der Untoten gegen die Kapellentür. Die modrigen Gesellen schienen nicht denken zu können, sonst wären sie nach einem bestimmten Plan vorgegangen oder hätten versucht, durch die Fenster in die Kapelle einzudringen. Die Fenster! In Pits Kopf begann sich ein Gedanke zu formen. Wenn sie versuchten, durch den vordersten Fenstern nach draußen zu gelangen, konnten sie mit etwas Glück den nötigen Vorsprung gewinnen, um den Friedhof mit heiler Haut zu verlassen. Sofort lief der Hauptkommissar im Mittelgang entlang auf den kleinen Altar zu, links daran vorbei und blieb schließlich vor einem Fenster stehen, das gerade groß genug war, um hindurchschlüpfen zu können. Es lag ziemlich hoch. Pit sah sich suchend nach etwas um, das als Leiter dienen konnte, und entdeckte ein paar Klappstühle in der Nähe der kleinen Pforte. »Hört mir jetzt genau zu, ihr beiden!« Pits Stimme klang eindringlich. »Wir versuchen, durch das Fenster zu entkommen. Ihr geht zuerst. Ich halte die komischen Figuren so lange auf, bis ihr draußen seid.« Bianca schüttelte den Kopf. »Ich geh da nicht raus«, sagte sie bestimmt. »Wenn die da draußen auf uns warten, machen sie mit uns dasselbe wie mit Lena und Micha.« Sie ließ sich auf einer Kirchenbank nieder und schüttelte wieder den Kopf. »Auf keinen Fall geh ich da raus«, wiederholte sie. Pit verdrehte die Augen. Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt zickt die hier auch noch rum. Warum müssen Weiber bloß immer so schwierig sein? dachte er. »Hör mal zu, Kleine!« sprach er Bianca leise, aber bestimmt an. »Da draußen vor der Tür warten Dutzende stinkender Zombies darauf, uns zu vernichten. Wenn du nicht durch das Fenster da
gehst, werden sie das auch schaffen. Dann bist du Zombiefutter, denn über kurz oder lang sind die hier drin.« Der Hauptkommissar holte tief Luft. »Ich werde langsam stinkesauer, Süße. Wenn du hier rumsitzen und eine von denen da draußen werden willst. - Bitte sehr, von mir aus, aber ich hau hier jedenfalls ab.« Pit drehte sich zu Timo um. »Los, Junge, wir machen, daß wir hier wegkommen!« Timo stellte den Klappstuhl unter das Fenster, stieg hinauf und zertrümmerte mit dem Radkreuz, das Pit ihm reichte, die Scheibe. Ein weiterer Ansturm der Untoten erfolgte genau in dem Augenblick, als die Scheibe zerbrach. Das Klirren ging in dem Lärm, den die Schläge und das ärgerliche Knurren der lebenden Toten verursachten, fast völlig unter. Timo entfernte überstehende Glasscherben aus dem Rahmen und schaute dann unschlüssig zu Pit Langenbach hinunter. »Nehmt mich mit!« rief Bianca plötzlich. »Bitte! Laßt mich hier nicht allein zurück!« So etwas wie Hoffnung klang in ihrer Stimme mit. Pit Langenbach zögerte nicht. Er schob das Mädchen zum Stuhl, half ihm hoch und schob und drückte sie nach oben. »Laß dich einfach nach draußen fallen und lauf los, so schnell du kannst. Wenn sich dir jemand in den Weg stellt, versuche, ihn zur Seite zu schubsen. Nicht stehenbleiben, immer weiterlaufen. Hast du das begriffen?« fragte Pit das Mädchen und versuchte, streng zu klingen. Ihr mußte jetzt einfach einleuchten, daß dies ihre einzige Chance war. Und tatsächlich, sie nickte. »Keine Angst, wir kommen schon nach!« setzte Pit noch hinzu. Dann hievte er Bianca mit aller Kraft hoch und durch die Fensteröffnung. Das Mädchen verschwand aus seinem Blickfeld. »Los, Junge, du als nächster!« gab Pit Anweisung. Timo ließ sich nicht zweimal bitten. Geschmeidig zog er sich am Fensterrahmen hoch und schwang sich durch die Öffnung. »Beeilen Sie sich, Mann!« hörte Pit eine Stimme von draußen. »Die Zombies sind alle an der Vordertür!« Pit mußte grinsen. Der Junge war in Ordnung. »Alles klar!« rief er nach draußen. »Hau jetzt ab!« Pit stieg auf den Klappstuhl. Im selben Moment rammten die Untoten die Kapellentür auf und stürmten die Kirche! Wie eine gewaltige Woge kamen sie über Pit Langenbach. Die Krallenhände der Untoten griffen nach ihm und zerrten an seiner Kleidung. Scharfkantige Fingernägel zogen blutige Striemen über sein Gesicht, seinen Hals und die Hände. Pit riß das Radkreuz
hoch und drosch um sich. Er schlug wahllos auf die Hände, die Gesichter und die Köpfe der lebenden Toten. Manche wichen zurück und knurrten ärgerlich, andere Zombies strömten nach und versuchten, Pit vom Fenster wegzuzerren. »Ihr kriegt mich nicht, verdammte Brut!« brüllte Pit und hieb weiter um sich. Endlich bekam er etwas Luft, warf sich herum und sprang hoch. Er klammerte sich an der Unterkante des Fensters fest, zog sich mit einem Ruck hoch und sauste mit dem Kopf voraus durch die Öffnung. Bleiche Totenhände kriegten seine Schuhe zu fassen und krallten sich an seinen Hosenbeinen fest. Für einen winzigen Moment sah es so aus, als gelänge es den Toten, Pit wieder in die Kapelle zu ziehen. Pit brüllte wütend auf. Dann löste sich ein Schuh von seinem Fuß, und ein Hosenbein zerriß. Pit landete unsanft auf dem Kiesweg vor der Kapelle und rollte sich über die Schulter ab. Als er auf die Beine kam, hörte er das Wutgeheul der Untoten durch das Kapellenfenster dringen. Pit sah sich um. Bianca und Timo hatten seinen Rat befolgt und waren verschwunden. Dafür bemerkte Pit aber bereits die ersten Zombies, die mit schwankenden, ungelenken Bewegungen aus der Kapelle stolperten, um die Verfolgung aufzunehmen. »Du entkommst uns nicht!« dröhnte eine tiefe Stimme über den nächtlichen Friedhof. »Niemand entkommt uns. Bald ist es soweit. Zwei Tage noch, dann kommt der Meister! Er kommt, und ihr alle werdet mit uns dem Leichenzug der lebenden Toten folgen!« Die unheimliche Stimme hallte in Pits Ohren nach, während er sich herumwarf und Fersengeld gab. Er spürte nicht, wie der Kies schmerzhaft in seine bestrumpfte Fußsohle drückte. Er wollte nur eins: Weg von hier, und zwar so schnell wie möglich! Der Hauptkommissar erreichte das Friedhofstor und schlüpfte hindurch. Dann zog er den schmiedeeisernen Torflügel zu und schlang die schwere Eisenkette, die er zuvor entdeckt hatte, mehrmals um die Holme der beiden Torflügel. Pit sah die ersten Untoten schwankend auftauchen und auf das Tor zustolpern. Er rüttelte noch einmal an den Torflügeln, um sicherzugehen, daß sie eine Weile standhalten würden. »Da glotzt ihr blöd, was?« rief er. »Jetzt seht mal zu, wie ihr damit fertig werdet, ihr stinkenden Bestien!« Die Untoten antworteten mit wütendem Knurren und Fauchen. Peter Langenbach wandte sich ab. Jetzt nichts wie zurück zu Susanne! Und Mark muß ich auch Bescheid geben! dachte er.
Die harte, eiskalte Klaue eines Untoten fuhr zwischen den schmiedeeisernen Ornamenten des Friedhofstores hindurch und krallte sich um Pits Hals. Mit einem Ruck wurde er zurückgezogen und prallte mit dem Hinterkopf schmerzhaft gegen das Eisentor. Verzweifelt versuchte Pit, die Totenfinger von seiner Kehle zu lösen, was ihm auch allmählich gelang. Doch noch weitere bleiche Hände zuckten zwischen den Ornamenten hindurch, um sich an Pits Körper festzukrallen. Pit Langenbach war am Ende seiner Kraft. Er schrie. Er schrie, wie er noch nie zuvor geschrien hatte. Mit einer plötzlichen Bewegung wirbelte er herum, zog den Schraubenzieher und stieß ihn zwischen den Ornamenten hindurch. Immer wieder stach er zu. Die Spitze drang den Zombies in die Stirn, in Gesichter und Münder, traf Hände und Arme. Die Untoten verspürten jedoch keinen Schmerz und ließen kaum in ihren Bemühungen nach. Pit mobilisierte erneut all seine Kräfte, stieß sich ab und warf sich nach hinten. Er setzte zu einer Rolle rückwärts an und entriß seine Beine den Klauen der Toten. Diesmal wartete er nicht auf eine Reaktion der Zombies, sondern hetzte los, um den Friedhof so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ein paar Straßen weiter brach er schließlich an einer Hauswand keuchend in die Knie. Plötzlich merkte er, daß er immer noch schrie. Er war heiser und wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt. Tränen liefen über Pits Wangen. Ihm war, als hätte sich eine eiskalte Klaue um sein Herz gekrallt und würde langsam und unerbittlich zudrücken. Pit hatte Todesangst! * Ich war also mit Hannah auf ihre Bude gegangen. Wir flirteten und alberten herum. Das reichte ihr jedoch nicht. Sie ergriff wieder mal die Initiative und wollte mir gerade etwas ganz Wichtiges zeigen, da klingelte mein Handy. »Wer ruft an so spät bei Nacht und Wind?« meldete ich mich mit meiner Version von Goethes Erlkönig. »Laber nicht rum. Komm lieber her geschwind!« kam die blecherne Antwort von Pit Langenbach. »Scherz beiseite, Mark«, fuhr er fort, »jetzt ist die Kacke wirklich am Dampfen. Du wirst
hier dringend gebraucht.« Ein unterdrückter Schmerzlaut war zu hören, dann meldete sich Pits Frau Susanne. »Mark?« fragte sie. »Ich kann euch Kindsköpfe manchmal wirklich nicht verstehen. Pit hat es heute nacht fast erwischt, und ihr reißt hier blöde Witze. Du solltest jetzt wirklich was gegen die lebenden Toten unternehmen, Mark!« Ihre Stimme klang drängend und vorwurfsvoll. »Was ist mit Pit?« wollte ich sofort wissen und warf Hannah einen entschuldigenden Blick zu, da sie für die Störung überhaupt kein Verständnis zu haben schien. »Was soll schon sein? Ich bin gerade mal so an einem Stück geblieben«, kam Pits Stimme zurück. Er hatte Susanne wohl das Telefon wieder abgenommen. »Verzeih, wenn Susanne ein bißchen aufgeregt ist. Aber es stimmt, was sie sagt. Wir haben hier inzwischen nicht nur drei Zombies, sondern einen ganzen Friedhof voll. Also sieh zu, daß du von dem Mädchen runterkommst und hier antanzt. Ich glaube, die Zeit drängt.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. Ich versprach, mich sofort auf den Weg zu machen, und unterbrach die Verbindung. Diesem Anruf verdankte Tessa, daß ich sie nicht wieder betrogen hatte. Ich kann's nicht ändern. Ich bin halt Wachs in den Händen schöner Frauen, die es darauf anlegen, mich näher, genauer und ganz genau kennenzulernen. »Du hast es gehört, Schätzchen. Ich muß dringend weg«, rechtfertigte ich mich und zog mich an. Hannahs dunkle Augen blitzten wütend. »Jetzt? Mitten in der Nacht? Das kann wohl nicht dein Ernst sein, Mark!« machte sie ihrer Enttäuschung Luft. Ich beugte mich zu ihr nieder, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und flüchtete zur Tür, bevor sie Gelegenheit hatte, mich festzuhalten. »Tut mir echt leid, aber es muß sein«, sagte ich zum Abschied und war auch schon draußen. In den frühen Morgenstunden war Weimar so gut wie ausgestorben. Ich brauchte nicht lange bis zu meiner Wohnung im Weimarer Westen. Rasch zog ich mich um. Dann wählte ich Tessa Haydens Nummer. »Was 'n los?« meldete sie sich verschlafen. »Wach auf, Tessa. Dein Chef sitzt in der Klemme!« antwortet ich ohne Umschweife. Sie war schlagartig wach. »Du wolltest mich doch im Präsidium anrufen!« sagte sie vorwurfsvoll. »Aber ein Weiberrock war wohl
wieder wichtiger, was?« schnauzte sie. »Tessa, ich hab jetzt weder Zeit noch Bock auf irgendwelche Eifersuchtsdramen«, gab ich kalt zurück. Und ich hatte ein gutes Gewissen. Diesmal wenigstens. »Pit schlägt sich mit Zombies rum und braucht uns. Bist du dabei oder nicht?« Sie war natürlich mit von der Partie. Ich versprach ihr, sie in ein paar Minuten abzuholen, und legte auf. Dann holte ich meinen Einsatzkoffer hervor, legte ihn auf das Bett und überprüfte den Inhalt. Erst vor kurzem hatte ich mir den Koffer angeschafft, der meine Ausrüstung für den Kampf gegen die Höllenwesen enthielt. Ich hätte auch weiterhin nur mit dem Ring arbeiten können und dann nicht so viel schleppen müssen, doch die Waffen sofort griffbereit zu haben, statt erst einen Gegenstand zu suchen und zu verwandeln, hatte natürlich auch seine Vorteile. In dem Einsatzkoffer befanden sich unter anderem eine SIG Sauer P 6 vom Kaliber neun Millimeter, zwei Magazine mit geweihten Silberkugeln, Flakons mit Weihwasser, Holzkreuze, Holzpflöcke zum Pfählen von Vampiren und ein Silberdolch armenischer Herkunft, in dessen Klinge rätselhafte Symbole eingraviert waren. Außerdem enthielt der Koffer Bücher über Schwarze Magie und das Futhark-Runenalphabet. Ich steckte die Pistole und ein Ersatzmagazin ein. Die restliche Ausrüstung würde ich im Koffer mitnehmen. Zusätzlich befestigte ich eine Lederscheide mit einem Rangermesser am Gürtel. Den Einsatzkoffer und eine kleine Reisetasche mit Ersatzkleidung verstaute ich im Kofferraum des BMW. Tessa wartete bereits auf der Straße vor dem Haus, als ich sie einige Minuten später abholte. Sie trug Jeans, Stiefel, einen leichten Pulli und eine Lederjacke. Tessa hatte ihre Dienstpistole eingesteckt. »Wie geht es den Langenbachs?« fragte sie, während ich den Wagen nach Osten steuerte. »Susanne hat ziemlich aufgeregt geklungen«, antwortete ich. »Anscheinend ist Pit den lebenden Toten nur knapp entkommen.« Eine Weile herrschte Schweigen. Tessa war offensichtlich immer noch sauer, weil ich mich nicht bei ihr gemeldet hatte. Vielleicht hatte sie auch erwartet, den Abend mit mir verbringen zu können, aber so einfach war die Kluft zwischen uns nun auch wieder nicht zu überbrücken. Ich raste auf der A6 Richtung Gera. Bei Meerane würde ich dann auf der Bundesstraße nach Norden weiterfahren. Unser Ziel war Bad Lausick.
»Diese lebenden Toten, sind das Zombies wie in den alten Gruselfilmen?« brach Tessa schließlich das Schweigen. »So ungefähr werden wir sie uns vorstellen müssen«, bestätigte ich. Sie schaute zu mir herüber. »Dann kann man sie also mit einem Kopfschuß erledigen?« wollte sie wissen. Ich hatte da so meine Zweifel. »Zwischen Film und Wirklichkeit gibt es einen himmelweiten Unterschied, Tessa. Die Zombies, mit denen wir es zu tun haben, wurden aller Wahrscheinlichkeit nach durch Schwarze Magie zum Leben erweckt. Mit herkömmlichen Waffen werden wir da kaum weiterkommen«, meinte ich. »Vielleicht können wir mit der Silbermunition oder mit Weihwasser etwas ausrichten.« Ich hob die Achseln. »Ganz sicher werden wir es aber erst wissen, wenn wir auf die Zombies treffen«, fügte ich hinzu. Gegen fünf Uhr morgens erreichten wir den Kurort. An einer Informationstafel am Ortseingang suchte ich den Weg zum Haus Erlenhain heraus und parkte wenig später vor dem Kurheim. Pit Langenbach kam uns entgegen. »Danke, daß ihr so schnell hergekommen seid«, sagte er und schüttelte uns die Hand. »Ich finde es toll, daß du mitgekommen bist, Tessa.« Sie winkte ab und lächelte. »Wie geht's der Familie?« fragte sie. Pit konnte uns beruhigen. »Die sind okay. Der einzige, der was abgekriegt hat, bin ich.« Er schaute mich ernst an. »Mark, die Situation wird immer bedrohlicher. Nach allem, was ich weiß, haben die Toten bereits vier Menschen auf dem Gewissen, und ich wäre beinahe der fünfte geworden.« Pit schüttelte sich. Täuschte ich mich, oder konnte ich tatsächlich so etwas wie Angst in seinem Blick erkennen? Pit bemerkte meinen prüfenden Blick und senkte den Kopf. Wir holten unser Gepäck aus dem Wagen und setzten uns Richtung Kurheim in Bewegung. Tessa ging vor. Plötzlich spürte ich Pits Hand an meinem Arm. Ich blieb stehen und schaute ihn erwartungsvoll an. »Du hast es erkannt, nicht?« fragte er. Ich nickte. »Ja, ich habe Angst, Mark«, gab mein Freund zu. »Du weißt, ich bin normalerweise hart im Nehmen.« Er hob Daumen und Zeigefinger und führte sie zueinander, daß zwischen ihnen nur noch ein haarfeiner Spalt blieb. »Aber diesmal war es so knapp, Alter«, sagte er leise. Ich war verblüfft. So hatte ich meinen Kumpel Pit noch nie zuvor erlebt. Er hatte mich schon wiederholt bei Kämpfen gegen
die Dämonen unterstützt, aber diesmal mußte es besonders schlimm sein, denn ich kannte Pit nicht als ängstlichen Typ. »Es ist ja noch mal gutgegangen, Pit«, versuchte ich ihn aufzumuntern, »und das ist schließlich alles, was zählt.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Gemeinsam betraten wir das Kurheim. Im Haus Erlenhain herrschte ein regelrechter Belagerungszustand. Die Kurgäste waren in helle Aufregung versetzt worden. Jemand hatte Pit beobachtet, wie er völlig erledigt und lädiert in die Eingangshalle getaumelt kam. Die Neuigkeit hatte blitzschnell ihre Runde gemacht. Im Aufenthaltsbereich des Kurheims wimmelte es nun von aufgeregten Kurgästen. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger bemühten sich nach besten Kräften, Ordnung in das Chaos zu bringen. Ich begrüßte Susanne und lernte auch Hertha Thorberg, Pits Tante, kennen. Die rüstige alte Dame machte einen gelassenen Eindruck. »So, junger Mann, Sie sind also Pits Freund Mark. Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte sie. Mit einem schnippischen Seitenblick auf ihren Neffen fügte sie hinzu: »Wissen Sie, Pit erzählt mir ja bei weitem nicht alles. Gott sei Dank ist seine Tochter da etwas redseliger.« »Ach ja, Floh? Wo ist denn der kleine Frechdachs?« hakte ich nach. Ich hatte Pits Tochter in dem ganzen Durcheinander nicht entdeckt. »Sie schläft den Schlaf der Gerechten«, antwortete Pits Tante. »Und sag ruhig Tante Hertha zu mir, mein Junge. Das tut sowieso jeder.« Wir suchten uns eine ruhige Ecke, wo wir einen Schlachtplan entwerfen konnten. Susanne und Tessa besorgten uns starken Kaffee. Nur Tante Hertha machte eine Ausnahme. Sie bevorzugte Tee. »Ist die hiesige Polizei informiert worden?« fragte ich Pit. Er verneinte. »Wir hatten noch keine Zeit«, erklärte er. »Außerdem glaube ich nicht, daß uns die Kollegen die Geschichte von den lebenden Toten abnehmen.« »Wir sollten sie heute früh trotzdem benachrichtigen«, schlug ich vor. »Wir können nur hoffen, daß der Polizeichef den Ernst der Situation erkennt und Schutzmaßnahmen ergreift.« Pit nickte und schaute mich über den Rand seines Kaffeepotts
hinweg ernst an. »Nicht auszudenken, Mark, was passiert, wenn es den Zombies gelingt, in die Innenstadt einzufallen«, sagte er. »Das gibt ein fürchterliches Massaker.« »Wir gehen gemeinsam zur Polizei, Pit«, entschied ich. »Ich habe in Berlin schon einen gewissen Ruf in hohen Polizeikreisen erlangt. Wenn du mich als Berater vorstellst, wirken wir vielleicht glaubwürdiger.« Pit war sofort einverstanden und schien auch irgendwie erleichtert darüber, daß er sich nicht allein mit den Kollegen von der hiesigen Polizei herumschlagen mußte. »Hast du in Weimar etwas über die wandelnden Leichen erfahren können?« fragte er mich dann. »Nicht allzu viel«, gab ich zurück. In der Tat waren meine Erkenntnisse bis jetzt recht dürftig. »Ich möchte mir unbedingt den Friedhof ansehen«, erklärte ich. »Aber bestimmt nicht allein«, sagte Pit. Er gab sich einen Ruck und schien einen Entschluß gefaßt zu haben. »Ich bin auf jeden Fall dabei«, verkündete er. Ich schaute ihn forschend an. »Bist du sicher, Pit?« fragte ich. »Ich meine, du mußt nicht mit. Du hast heute nacht ziemlich viel durchgemacht…« Pit schnitt mir mit einer forschen Handbewegung das Wort ab und warf mir einen wütenden Blick zu. »Ich bin dabei, und kein Wort mehr darüber, klar?« sagte er rauh. Leiser fügte er hinzu: »Ich muß mit, Mark. Wenn ich nicht mitkomme, werde ich meine Angst nie mehr los.« Ich stellte meinen Kaffeepott auf den Tisch vor uns und erhob mich. »Okay«, sagte ich, »also erst zur Polizei und dann auf den Friedhof.« Ich dachte kurz nach. »Vielleicht sollte uns auch der Mann begleiten, dem die Toten zuerst begegnet sind«, schlug ich vor. Pit erhob sich ebenfalls und strich sich über seinen Schnauzbart. Zweifelnd schaute er mich an. »Ich glaube«, sagte er, »da wirst du kein Glück haben. Der Mann ist fix und fertig. Der Schock sitzt noch zu tief.« »Ich möchte trotzdem mit ihm sprechen«, beharrte ich. Pit ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen und zog mich schließlich mit sich. Er führte mich zu einem jungen Paar, das in Polstersesseln saß und sich an den Händen hielt. »Darf ich dir Martin Lorentz vorstellen, Mark?« sagte Pit. »Er ist Anwalt und hat seine Praxis in Bad Lausick. Die junge Frau ist Francesca Giusa. Sie arbeitet als Bedienung hier in der Stadt. Die
beiden haben die Untoten zuerst gesehen.« Fragend hob Martin Lorentz den Blick. Ich las maßlose Angst in seinen Augen. Ich reichte ihm die Hand und stellte mich vor. Die junge Italienerin starrte unbeteiligt vor sich hin. »Ich bin hier, um der Geschichte mit den lebenden Leichen auf den Grund zu gehen, Herr Lorentz«, teilte ich ihm mit. »Dazu ist es unbedingt notwendig, daß Sie mir noch mal alles genau erzählen, was Sie erlebt haben. Lassen Sie bitte nichts aus, beschönigen Sie aber auch nichts. Alles, was Ihnen unbedeutend erscheint, könnte von größter Wichtigkeit sein. Vielleicht können Sie mir später auch die betreffende Stelle zeigen.« Der Anwalt fuhr erschrocken aus seinem Sessel hoch, rang die Hände und schüttelte heftig den Kopf. »Niemals!« rief er. »Auf gar keinen Fall gehe ich noch mal dorthin zurück! Und Sie können mich nicht zwingen, das wissen Sie!« Ich legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte ihn wieder in den Sessel zurück. »Niemand will Sie zwingen, Martin«, beruhigte ich ihn. »Wenn Sie mir die Stelle nicht zeigen können oder wollen, akzeptiere ich das. Aber darüber reden können wir doch, oder?« Dazu war Martin Lorentz dann schließlich bereit. Ich bat Pit, ihm etwas zu trinken zu besorgen. Mit einem Mineralwasser vor sich, begann der Anwalt dann zu erzählen. Ich bekam praktisch all das zu hören, was mir Pit bereits mitgeteilt hatte. Das half mir aber auch nicht viel weiter. »Können Sie sich sonst noch an etwas erinnern, Martin?« wollte ich wissen. »Bitte, denken Sie noch einmal scharf nach. Es ist wichtig, daß Sie mir alles erzählen. Absolut alles!« »Der Meister kommt!« Francescas Stimme klang monoton. »Der Meister kommt, und dann folgen wir alle dem Leichenzug!« Martin Lorentz sprang auf, schaute verblüfft zu Francesca und dann wieder zu mir. »Das ist es!« rief er. »Genau das ist es, was uns dieser Zombie hinterhergerufen hat!« Jetzt mischte sich auch Freund Pit ein. »Es stimmt, Mark! Ich hab auch so was gehört, als ich davongerannt bin. Und wenn ich mich recht erinnere, hat auch Floh neulich einen Leichenzug erwähnt«, sagte er. Mir blieb im wahrsten Sinn des Wortes die Spucke weg. »Floh?« fragte ich. »Was hat Floh denn mit der ganzen Sache zu tun?« Pit erzählte mir von Flohs Alptraum in der Pension, und daß sie im Traum aufgefordert worden war, einem Leichenzug zu folgen.
Der Leichenzug von Leisnig! Das ist die Verbindung! Plötzlich kam mir der Bericht wieder in den Sinn, den ich in der Bibliothek in Weimar gelesen hatte. Darin war ein Leichenzug der lebenden Toten erwähnt worden, der angeblich Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Leisnig stattgefunden hatte. Und Leisnig lag nicht weit von hier entfernt. Ich erzählte den anderen von dem Bericht. »Mir scheint, Drehund Angelpunkt des Ganzen ist Leisnig«, sagte ich. »Und deshalb werde ich heute noch dorthin fahren.« »Und was sollen wir tun?« fragte Pit Langenbach. »Sollen wir vielleicht warten, bis uns die Zombies überrennen?« Wieder kam die Angst in seiner Stimme durch. »Wir brauchen dich hier, Mark!« sagte er eindringlich. »Pit, die lebenden Toten sind hier bereits vor über dreihundert Jahren aufgetaucht. Der einzige konkrete Ort ihres Auftretens, der in den Büchern und Überlieferungen erwähnt wird, ist Leisnig. Ich muß davon ausgehen, daß auch diesmal Leisnig der Ausgangspunkt des Geschehens ist«, erklärte ich. Und dann fügte ich hinzu: »Wenn ich die Antriebskraft der Zombies zerstöre, müßte das eigentlich bewirken, die hiesigen Untoten aufzuhalten.« »Und wenn nicht?« fragte Pit zweifelnd. »Was ist, wenn du dich irrst, Mark?« Verzweiflung klang in seiner Stimme mit. »Ich will dir sagen, was dann passiert!« fuhr er fort. »Wir werden überwältigt und von den Untoten abgeschlachtet! Willst du dieses Risiko wirklich eingehen, Mark?« »Ich muß«, sagte ich leise. »Es ist die einzige Spur, die ich habe.« Ich legte meinem Freund die Hand auf die Schulter und schaute ihn zuversichtlich an. »Glaub mir, Pit, ich weiß, was ich tue«, versicherte ich ihm. »Es wird schon klappen, du wirst sehen!« »Dein Wort in Gottes Gehörgang«, meinte Pit und versuchte, seine Unsicherheit durch ein zwanghaftes Lächeln zu verbergen. Damit war alles gesagt. Die nächsten Stunden verbrachten wir damit, den Leiter des Kurheims und das Pflegepersonal zu informieren. Gleichzeitig versuchten wir, Schutzmaßnahmen zu entwickeln. Tessa, Susanne und sogar Tante Hertha unterstützten uns tatkräftig. Dazwischen wurde ich noch stürmisch von Anna Langenbach begrüßt, die durch den ganzen Trubel endlich aufgewacht war, alles ziemlich »cool« fand und mich mit Fragen
löcherte. Ich gab ihr nur ausweichende Antworten, wodurch Floh erst richtig zur Hochform auflief und ein wahres Feuerwerk an Fragen auf mich abschoß. Tante Hertha erlöste mich endlich von der kleinen Nervensäge. Kurz nach neun bat ich schließlich Tessa, im Kurheim die Stellung zu halten, während Pit und ich zum Polizeirevier und dann weiter zum Friedhof wollten. Kühle Morgenluft schlug uns entgegen, als wir das Kurheim verließen und uns über die Badstraße in die Innenstadt begaben. Ich war gespannt, wie Pits Kollegen die Nachricht über die lebenden Toten in ihrer Stadt aufnehmen würden. * »Nu passen Se mal uff, Kolleche, und horchen Se genau zu!« maulte der diensthabende Polizeihauptmeister in breitestem Sächsisch. Sein Blick sagte uns allzu deutlich, daß er an unserem Verstand zweifelte. »Lebende Tote hier in Bad Lausick? Kollege hin oder her, aber ich glaube, Sie sind nicht ganz bei Trost, Mann!« Er wurde immer lauter. »Wenn Sie mich hier am frühen Morgen veräppeln wollen, sind Sie aber an der falschen Adresse!« rief er. »Lebende Tote! Daß ich nicht lache! Die gibt's nur im Fernsehen und im Kino. Tote sind tot und werden begraben. - Ich hätte wirklich gute Lust, Ihre Vorgesetzten anzurufen.« »Schluß jetzt!« brüllte ich und hämmerte mit der Faust auf den breiten Tresen, der sich quer durch den Raum zog. Der Beamte, dessen Wortschwall ich so drastisch unterbrochen hatte, starrte mich mit offenem Mund an. Sein pausbackiges Pfannkuchengesicht lief langsam dunkelrot an. Seine Daumen hakten sich hinter den Hosenträgern ein und zogen sie langsam von seinem Schmerbauch weg.“ Ich ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. »Jetzt passen Sie mal auf, mein Wertester!« donnerte ich und beugte mich über den Tresen, bis mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. »Die Aussage von Hauptkommissar Langenbach ist wahr!« fuhr ich ihn an. »Wir haben in keinster Weise die Absicht, uns über Sie lustig zu machen. Dazu ist die Situation zu ernst. Sie haben einen Friedhof voller lebender Leichen in Ihrer Stadt, Mann. Vier Tote gehen bereits auf das Konto der Zombies, und
wenn Sie nicht schnell etwas unternehmen, ist Ihr schöner Kurort vielleicht morgen schon eine Geisterstadt! Geht das jetzt endlich in Ihren Dickschädel rein, Mensch?!« Jetzt hatte auch ich zu schreien begonnen, so laut, daß dem Fettwanst vor Schreck die Hosenträger auf die Wampe knallten. Langsam klappte der Polizeibeamte den Mund wieder zu und holte tief Luft. Sein Gesicht nahm allmählich wieder eine normale Färbung an. »Ich - ich weiß nicht, ob ich das allein entscheiden kann«, stammelte er schließlich. »Dann schaffen Sie jemanden her, der hier was zu sagen hat, Mann!« herrschte ich ihn an. »Aber ein bißchen dalli, wenn ich bitten darf!« Die beiden Beamten, die sich außer dem Dicken noch im Dienstzimmer aufhielten, hatten sich bis jetzt aus unserer Auseinandersetzung herausgehalten. Pit Langenbachs Rang des Kripohauptkommissars hatte ihnen Respekt eingeflößt, ganz im Gegensatz zu diesem aufgeblasenen Walroß. »Ruf den Kilian an, Heinz!« riet einer von ihnen dem Dicken. »Soll der doch herkommen und sich um die beiden kümmern.« Und er kam. Polizeirat Kilian war ein großer, breitschultriger Mann Anfang Fünfzig, mit leicht ergrautem Haar. Er kam knapp zwei Stunden später aus dem Polizeipräsidium in Altenburg. Kilian machte einen nüchternen, sympathischen Eindruck. »Tut mir leid, meine Herren, daß ich nicht sofort kommen konnte, aber ich hatte eine wichtige Besprechung«, entschuldigte er sich. Sein Händedruck war fest. Ich rechnete mir gute Chancen aus, daß er unsere Geschichte glaubte. Der Polizeirat führte uns in ein kleines Büro im hinteren Teil des Gebäudes. »Sind Sie doch so gut und bringen Sie uns drei Kaffee, ja?« bat er im Vorbeigehen den Dicken. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm ein schadenfrohes Grinsen zuzuwerfen. Kilian hatte bereits von einem Mark Hellmann mit besonderen Fähigkeiten gehört, deshalb lauschte er, ohne uns zu unterbrechen. Dann lehnte er sich zurück und zupfte nachdenklich an seiner Unterlippe. Schließlich hörte er mit der Zupferei auf und fragte: »Und was genau schlagen Sie vor, meine Herren?« Bingo! Jetzt haben wir ihn am Haken! dachte ich. Mein Eindruck hatte mich also doch nicht getäuscht. »Zunächst mal müßten alle erdenklichen Schutzvorkehrungen getroffen werden, damit es
nicht noch mehr Tote gibt«, antwortete ich. »Man könnte zum Beispiel den Friedhof komplett vom übrigen Ort isolieren«, schlug ich weiter vor. »Das wäre sicher eine Möglichkeit«, gab der Polizeirat zu. »Aber wie halten wir diese Kreaturen auf, wenn sie durchbrechen wollen?« Ich hatte mir diesbezüglich schon meine Gedanken gemacht. »Da es sich um dämonische Wesen handelt, sind sie gegen Silber und Weihwasser allergisch«, sagte ich. »Wir können jedoch nicht alle Sicherheitskräfte mit geweihten Silberkugeln versorgen. Ich würde daher in Erwägung ziehen, einen kombinierten Sperring aus Weihwasser und Feuer um den Friedhof zu legen und ihn so abzuriegeln.« Wieder zupfte Kilian an seiner Unterlippe. Die Minuten verstrichen. Schweigend warteten wir auf die Entscheidung des Polizeirats. Schließlich erhob sich Kilian. »Gut, versuchen wir es«, beschloß er. »Ich bin zwar noch nicht restlos von der Existenz dieser Wesen und der Gefahr, die von ihnen ausgehen soll, überzeugt. Aber Sie, Herr Hellmann, haben einen gewissen Ruf in Polizeikreisen, und dafür muß es Gründe geben«, meinte er. Wir standen ebenfalls auf. Kilian umrundete den Schreibtisch und drückte uns die Hand. »Ich wünsche uns allen, meine Herren, daß Ihr Vorhaben klappt«, sagte er. »Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Toten über die Stadt herfallen.« Wir dankten ihm und wandten uns zum Gehen. »Einen Moment noch, meine Herren!« hielt er uns zurück. »Ich möchte mich an Ort und Stelle von der Existenz der Toten überzeugen, bevor wir den Plan in die Tat umsetzen. Wir sollten deshalb unverzüglich den Friedhof aufsuchen«, sagte er. »Da wollten wir sowieso gerade hin«, entgegnete ich. »Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, daß wir die Untoten bei Tageslicht zu Gesicht bekommen«, ergänzte ich. Kilian war jedoch nicht umzustimmen. »Das muß ich dann eben akzeptieren«, erwiderte er. »Aber ich möchte den Friedhof trotzdem in Augenschein nehmen, bevor wir mit der Absperrung beginnen.« Heinz, der dicke Polizeihauptmeister, sollte uns begleiten. Außerdem wurden zwei Streifenwagen per Funk zum Friedhof beordert. Eine Viertelstunde später stiegen wir vor dem Friedhofstor aus Polizeirat Kilians Dienstwagen. Die beiden schmiedeisernen Torflügel standen weit offen. Die
Kette, mit der Pit sie verschlossen hatte, lag in einer Schubkarre, die etwas abseits auf einem Kiesweg stand. Ein paar Meter weiter harkte ein älterer Mann einen Seitenweg. Kilian befahl dem dicken Polizeihauptmeister, mit einer Streifenwagenbesatzung das Gelände zu inspizieren. Die zweite Streife hielt sich dicht neben dem Polizeirat. Gemeinsam betraten wir den Friedhof. Sofort spürte ich ein heftiges Prickeln an meiner rechten Hand, und der Silberring erwärmte sich. Gleichzeitig begann er zu glimmen und sandte bald einen schwachen Lichtstrahl aus. Für mich war das Beweis genug, denn der Ring reagierte auf dämonische Ausstrahlung, die auch noch auf dem Friedhof vorherrschte, nachdem sich die Untoten in ihre Gräber zurückgezogen hatten. Ich berührte Pit an der Schulter und machte ihn auf die Reaktion des Rings aufmerksam. Er begriff sofort. Auch Pit Langenbach hatte bereits mehrmals Gelegenheit gehabt, die Wirkung des Siegelrings zu beobachten. Ich blieb etwas zurück und schlenderte ein paar Schritte zur Seite. An der Innenseite der Friedhofsmauer kniete ich nieder und zog das Rangermesser aus der Scheide. Der Ring hatte stärker zu strahlen begonnen. Mit dem Lichtstrahl zeichnete ich die FutharkRunen für das keltische Wort Waffe auf die breite Klinge des Rangermessers. Kleine blaue Flämmchen erschienen wie aus dem Nichts und tauchten bald das ganze Messer in ein fahles, blaues Licht. Die magische Kraft des Rings war auf das Messer übergegangen. Mit Hilfe dieser Kraft konnte das Messer nun ebenso als wirksame Waffe gegen Wesen der Hölle eingesetzt werden. Allerdings würde die Kraft nach wenigen Stunden nachlassen und schließlich gänzlich versiegen. Das Messer reichte ich an Pit weiter, damit er eine wirksame Waffe in Händen hatte, falls wir doch auf Zombies stoßen sollten. Bis jetzt sah es allerdings ganz und gar nicht so aus. Der Mann mit der Harke entpuppte sich als Friedhofswärter. Auf unsere Fragen hin schüttelte er nur den Kopf. Er hatte zwar bemerkt, daß man das Vorhängeschloß an der Kette aufgebrochen und in der Friedhofskapelle randaliert hatte, aber sonst war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Polizeirat Kilian wollte noch einen Blick in die Kapelle werfen, also schlugen wir den Weg dorthin ein. Die Gräber sahen unberührt aus, zum Teil zeigten die Grabdecken jedoch
entwurzelte Pflanzen und aufgewühlte Erde. Das allein reichte jedoch nicht als Beweis für die Existenz der Untoten. Wir erreichten die Kapelle. Pit machte den Polizeirat auf das zerbrochene Fenster aufmerksam. Der beleibte Polizeihauptmeister erreichte das Ende des kleinen Kirchenbaus, beugte sich vor und schielte vorsichtig um die Ecke. Vorsicht war ja bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Seine Vorsicht nutzte dem Beamten nicht viel. Die bleiche, knochige Hand schoß urplötzlich vor und krallte sich um den Hals des Polizisten. Heinz konnte nicht mal mehr schreien. »Achtung!« rief ich. »Sie greifen an!« Die beiden Streifenpolizisten, die sich in der Nähe ihres beleibten Kollegen befanden, richteten ihre Pistolen auf den Untoten, der nun sein Opfer vor sich herschob und mit ungelenken Schritten auf dem Kiesweg vor der Kapelle stolperte. Verzweifelt versuchte Heinz, sich aus dem harten Griff der Totenhand zu befreien. Aber je mehr er sich bemühte, desto höher zog ihn der Untote. Heinz strampelte und lief langsam blau an. Der Untote hob langsam die andere Hand. »Der Zombie will ihn durchbohren!« rief Pit. »Verdammt, wir dürfen das nicht zulassen!« Unwillig knurrend drehte sich der Untote mit seinem Opfer hin und her und bot damit ein denkbar schlechtes Ziel. Schießen war also nicht drin, wenn wir den Dicken nicht gefährden wollten. »Lenkt ihn ab!« rief ich den Beamten zu. Sie näherten sich dem Zombie und seinem Opfer, hoben drohend die Pistolen und riefen den Unheimlichen an. Der lebende Tote fauchte ihnen wütend entgegen. Ich rannte los, sprang mitten im Laufen hoch und traf den Zombie mit beiden Beinen in der Seite. Die Wucht des Aufpralls war so groß, daß der Untote ins Taumeln geriet. Um das Gleichgewicht halten zu können, mußte er den dicken Polizeihauptmeister loslassen. Heinz sackte zu Boden und blieb röchelnd liegen. Der Zombie machte einige Schritte auf mich zu. Er war schrecklich anzusehen. Sein Gesicht war teilweise verwest, die Haut hing in Fetzen vom Knochen. Sein aufgerissenes Maul zeigte spitze, faulige Zähne. Er stank furchtbar nach Moder und Verwesung. Wütend hatte der Zombie seine Arme vorgestreckt und zeigte mit beiden Händen auf mich. Seine langen, dürren Finger
öffneten und schlossen sich. »Wenn du dich jetzt bloß nicht übernimmst, du Stinker!« rief ich und zog die Pistole. Ich wollte jetzt ausprobieren, was eine Silberkugel bei ihm bewirkte. Doch ich kam nicht mehr dazu. Schüsse peitschten hinter und neben mir auf. Der Zombie wurde von mehreren Kugeln getroffen. Sein ausgemergelter Körper wurde durchgeschüttelt und zurückgeworfen. Langsam sackte er in die Knie, fiel dann wie eine Strohpuppe zur Seite und bewegte sich nicht mehr. »Sind Sie jetzt überzeugt, Herr Polizeirat?« wandte ich mich an Kilian. Er nickte. »Sie haben auf jeden Fall grünes Licht, Herr Hellmann. Ich werde sofort alles Notwendige veranlassen«, versprach er. Ich drehte mich wieder um und beobachtete, wie sich Pit um den röchelnden Polizeihauptmeister kümmerte. Ein anderer Beamter kniete neben dem Zombie nieder, um ihn zu untersuchen. »Nicht!« schrie ich ihm zu. »Weg von ihm! Hauen Sie ab, Mann, er ist nicht tot!« Mit herkömmlichen Kugeln hatte man Höllenwesen noch nie zu Leibe rücken können. Meine Warnung kam um Sekundenbruchteile zu spät. Die Hände der untoten Kreatur schossen hoch, packten Kinn und Hinterkopf des Beamten und brachen ihm mit einem blitzschnellen Ruck das Genick. Der Beamte zuckte zurück und fiel auf den Rücken. Der Zombie kam auf die Beine und wankte auf die junge Polizistin zu, die in seiner Nähe stand und die Pistole im Anschlag hielt. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie der widerlichen Gestalt des Untoten entgegen. Ich riß meine Waffe hoch und feuerte zweimal. Die geweihten Silbergeschosse drangen dem Zombie in den Rücken und durchbohrten sein totes Herz. Ein Ruck ging durch den Körper des lebenden Leichnams. Er stieß ein tiefes, gequältes Brüllen aus. Ein violetter Schimmer drang aus seinem Mund, der sich in Sekunden zu weißem Qualm verdichtete. Langsam brach der Untote in die Knie und zerfiel zu Staub. »Paß auf, Lisa! Hinter dir!« Der Schrei eines Beamten, der bei Polizeirat Kilian gewartet hatte, ließ mich herumfahren. Die junge Polizistin, auf die der Zombie hatte zulaufen wollen, war zurückgewichen, als er zu Staub zerfiel. Jetzt aber sah ich eine bleiche Hand hinter einem hohen Grabstein hervorschießen und sich in ihren Haaren festkrallen! Lisa schrie. Ich konnte nicht
feuern, denn sie stand genau in der Schußlinie. »Mark, da sind noch mehr von ihnen!« rief Pit Langenbach und hetzte an meine Seite. Sie waren zu fünft. Einer hatte die Polizistin namens Lisa gepackt und zerrte sie mit sich in den hinteren Teil des Friedhofs. Die anderen vier wankten mit gefletschten Zahnstummeln auf uns zu. Jetzt hab ich aber langsam die Faxen dicke! dachte ich wütend. Die Untoten ließen sich nicht mal mehr vom Tageslicht abschrecken. Ihre Gier nach lebenden Menschen war einfach zu groß. Aber es gab glücklicherweise nur einige wenige, die mutig genug waren, das unangenehme Tageslicht in Kauf zu nehmen, um Beute zu machen. Ich drückte ab und leerte mein Magazin in die untoten Körper. Drei Zombies traf ich tödlich. Ihre Körper befanden sich im Auflösungsprozeß, noch bevor sie zu Boden gefallen waren. Jetzt zählte nur noch eins: Die Polizistin namens Lisa schwebte in höchster Gefahr! »Schnapp du dir den Zombie hier!« rief ich Pit zu. »Ich kümmere mich um das Mädchen!« Seine Antwort wartete ich nicht ab, sondern jagte über die Gräber hinweg und dem Untoten hinterher, der die heftig strampelnde und schreiende Polizistin mit sich zerrte. Peter Langenbach starrte dem taumelnden Untoten entgegen. Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht. Seine Hände zitterten. Beim Anblick des lebenden Toten kamen wieder die Ereignisse der vergangenen Nacht und die schreckliche Angst in ihm hoch. Die bleichen, knochigen Hände des lebenden Leichnams zuckten hoch und berührten fast den Hals des Hauptkommissars. Dicht vor seinem Gesicht erkannte Pit die furchtbare Fratze des Untoten. Mit einem Ruck erwachte er aus seiner Erstarrung. Ein Schrei, in dem Angst, Verzweiflung und Wut mitschwangen, löste sich aus seiner Kehle. Sekunden bevor sich die Totenhände um seinen Hals krallen konnten, stieß er mit dem bläulich schimmernden Rangermesser zu. Die Klinge drang tief in die Brust des Untoten. Pit riß sie heraus, holte aus und stach zu. Immer wieder. Der Zombie fuchtelte mit den bleichen Händen herum, aber er hatte nicht mehr die Kraft, Pits Hiebe abzuwehren. Die Bewegungen des Untoten erlahmten allmählich. Auch bei ihm quoll weißer Rauch aus den zahlreichen Wunden,
die das magisch aufgeladene Messer geschlagen hatte. Der Zombie kippte um und zerfiel. * Ich kam mir vor wie in alten Tagen, als ich wie bei einem Hürdenlauf über die Gräber und Grabsteine hetzte, um den lebenden Toten zu stoppen, bevor er Lisa töten konnte. Ich beobachtete, wie er stehenblieb und die Polizistin zu sich herumriß. Sie wehrte sich immer noch verzweifelt. Unwillig knurrte sie der Zombie an, zerrte und fetzte an ihrer Kleidung und brachte ihr blutige Kratzer am Hals, im Gesicht und auf der Brust bei. Dann war ich heran. Der Kerl war riesig. Er überragte mich noch um einige Zentimeter, und ich bin mit meinen Einsneunzig nun wirklich nicht gerade klein. Mitten im Lauf prallte ich gegen den Zombie und klammerte mich an ihm fest, um ihn von Lisa loszureißen. Doch der Untote hatte Bärenkräfte. Er schüttelte mich ab wie eine lästige Fliege und versetzte mir einen Hieb, der mich über zwei Gräber hinwegfegte. Hart landete ich auf dem Boden und rappelte mich benommen wieder auf. Der Untote hielt Lisas Hals mit seiner mächtigen Pranke umklammert. Verzweifelt japste sie nach Luft. Die lebende Leiche zog Lisa mühelos hoch, bis ihre Füße frei in der Luft baumelten. Dann beugte er sich leicht vor und öffnete seinen Mund. Ich konnte einen violetten Schimmer zwischen seinen Zähnen erkennen. »Laß sie los!« schrie ich. »Wenn du unbedingt ein Opfer willst, dann nimm mich!« Der Untote hielt inne und schüttelte ungeduldig den Kopf. Damit hatte er wahrscheinlich nicht gerechnet, daß ich mich freiwillig als Opfer anbieten würde. »Ich kriege euch beide«, kam ein tiefes Grollen von ihm. »Ich habe dem Leichenzug des Meisters den Weg geebnet, und zur Belohnung bekomme ich nicht nur die Lebensenergie der Frau, sondern auch noch deine!« Er stieß Laute aus, die entfernt wie ein Lachen klangen. »Du bist jung und stark!« fuhr er fort. »Doch bald wirst du einer von uns sein und dem Leichenzug der lebenden Toten folgen!« Der Zombie wandte sich wieder Lisa zu.
»Wer ist der Meister?« wollte ich wissen, während ich mich auf ihn zu bewegte. »Wessen Befehl gehorchst du?« schoß ich eine weitere Frage ab. Der Untote warf den Kopf zurück und schien wieder zu lachen. »Du wirst es nie erfahren!« antwortete er. »Er kam einst vom fernen Böhmenland und schuf den Leichenzug der lebenden Toten, um dem Herrn der Hölle viele neue Seelen zu verschaffen. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Nun aber ist die Zeit reif, daß er und seine Getreuen den Leichenzug erneut anführen. Diesmal werden sie mehr Seelen als jemals zuvor für Mephisto, den Höllenfürsten, sammeln! Und deine Seele wird dazugehören!« Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Jetzt setzte er sein grausiges Werk endgültig fort. Wieder erschien der violette Schimmer zwischen seinen Lippen. »Du hast dir den Falschen ausgesucht!« schrie ich und hechtete wieder auf ihn zu. Der Untote wehrte mich mit einer Hand ab. Er stieß mich von sich. Ich kam hoch, und abermals erhielt ich einen gewaltigen Stoß. Dann ließ der Tote die junge Polizistin los, die zu seinen Füßen zusammenbrach, und wandte sich mir zu. »Du kannst es wohl nicht erwarten?« knurrte er. »Nun gut, dann stirbst du eben zuerst!« Er packte mich mit beiden Pranken und riß mich hoch. Ich zog in der Bewegung die Beine an und stemmte ihm die Füße vor die Brust. Er hatte eine Wahnsinnskraft. Schweiß trat mir aus allen Poren, als ich mich mit aller Kraft gegen seinen Griff wehrte. Der Kerl strömte einen ekelerregenden Gestank aus, und der Anblick seiner halbverwesten Fratze konnte schon den unempfindlichsten Magen zum Rebellieren bringen. Wieder tauchte der violette Schimmer zwischen seinen Lippen auf. Damit wollte er wohl meine Lebenskraft in sich aufsaugen. Ich preßte die Lippen zusammen und stemmte mich erneut gegen seinen Griff. »Sieh zu, daß du wegkommst, Mark!« hörte ich Pit Larigenbachs Stimme wie aus weiter Ferne. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Meine Muskeln schmerzten. Ich mobilisierte noch einmal alle Kräfte, riß die Füße von der Brust des Zombies zurück und trat nach oben. Beide Absätze knallten dem Untoten mit voller Wucht gegen das Kinn! Der Kopf des Zombies wurde zurückgeworfen. Für einen winzigen Augenblick lockerte sich sein Griff. Ich stemmte sofort
wieder die Füße gegen seine Brust und stieß mich ab. Und es gelang mir tatsächlich, mich aus dem Griff des lebenden Toten zu befreien! Hart fiel ich auf den Rücken und rollte mich ab. Der Untote hatte Pits Ruf vernommen und drehte sich zu ihm um. Genau in diesem Augenblick schleuderte Pit das Rangermesser. Ich sah die bläulich schimmernde Klinge durch die Luft sausen und vernahm den dumpfen Aufprall, als sie ihr Ziel traf. Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Bewegungslos stand der Untote da. Seine Arme hingen kraftlos herunter. Keinen Laut gab er von sich. Ich erhob mich und rannte zu Pit. Und dann sah ich den Griff des Messers, der aus der Stirn des Zombies ragte. Das bläuliche Leuchten des Messers hüllte den Kopf des Untoten ein. Der violette Schimmer zwischen seinen Zähnen verdichtete sich zu einem Lichtstrahl, der aus seinem Mund schoß und sofort verblaßte. Das blaue Leuchten um den Kopf des lebenden Toten intensivierte sich. Plötzlich fing der riesige Körper an zu zittern und zu beben. Dann zerplatzte der Kopf in einem Schauer aus Staub und Knochenteilchen. Das Rangermesser fiel zu Boden. Der blaue Schimmer auf der Waffe wurde schwächer und würde bald völlig erlöschen. Ich schob es wieder in die Scheide an meinem Gürtel. »Danke, Alter«, sagte ich. »Das war ein guter Wurf. Mit der Nummer könntest du in jedem Zirkus der Welt auftreten, ehrlich.« Pit lächelte. »Nein, danke. Ich bleibe lieber bei der Polizei, da habe ich Zirkus genug«, erwiderte er. Wir halfen Lisa hoch. Sie rieb sich den geschundenen Hals und mußte immer wieder husten. Langsam begleiteten wir sie zum Ausgang, wo Polizeirat Kilian ihr sein Jackett umhängte, um ihren nackten, zerkratzten Oberkörper zu bedecken. »Ich habe über Funk bereits Anweisungen gegeben«, teilte uns Kilian mit. »Wir werden einen Feuerring auf der Friedhofsmauer legen. Rund um den Friedhof werden wir die Straßen sperren und einen weiteren Ring aus Weihwasser legen. Außerdem richten wir eine Postenkette ein, die mit Flammenwerfern und Weihwasserkanistern ausgerüstet sein wird.« Er unterbrach sich kurz und meinte dann: »Glauben Sie, daß wir damit die Untoten aufhalten können?« »Ich denke, wir haben gute Chancen«, erwiderte ich.
»Hauptkommissar Langenbach wird Ihnen bei der Durchführung des Plans behilflich sein, Herr Polizeirat. Mich müssen Sie leider entschuldigen.« »Darf ich fragen, was Sie vorhaben, Herr Hellmann?« wollte er wissen. »Ich fahre nach Leisnig und versuche, dort den Anführer der lebenden Toten zu vernichten«, sagte ich. Ich verabschiedete mich von Kilian und bat Pit, für die Durchführung unseres Verteidigungsplans zu sorgen. Der Polizeirat hatte Pit die Einsatzleitung übertragen. Wir sprachen noch kurz die Einzelheiten des Plans durch. Pit würde im Kurheim Stellung beziehen, wo er über Punk ständig mit den Posten am Friedhof Kontakt hielt. Falls tatsächlich einigen Zombies der Durchbruch gelingen sollte, war es besser, wenn Pit die Verteidigung des Kurheims auch vor Ort koordinierte. Ich ließ mich von Kilians Dienstwagen ins Kurheim zurückfahren und informierte Tessa, Susanne und die Kurheimleitung kurz über den Verteidigungsplan und die Gefahr eines möglichen Durchbruchs der Untoten. Den armenischen Silberdolch aus meinem Einsatzkoffer überließ ich Susanne zu treuen Händen. Sie würde ihn an ihren Mann weitergeben. Wenigstens hatten sie damit eine kleine, aber wirksame Waffe gegen die Zombies. Ich hoffte jedoch, daß die Untoten gar nicht erst bis hierher vordringen konnten. Dann bat ich Tessa, mich nach Leisnig zu begleiten. Sie war sofort einverstanden. Ich war froh, Tessa Hayden als Rückendeckung dabeizuhaben. Außerdem konnte sie im Moment sowieso nichts mehr für die Menschen im Kurheim tun, und Tessa haßte nichts mehr, als tatenlos herumstehen zu müssen. Gemeinsam waren wir wenig später unterwegs nach Leisnig. Wir mußten den Anführer der lebenden Toten stoppen, bevor er seinen Leichenzug auf den Weg brachte. * Es war bereits später Nachmittag, als wir uns der Stadt Leisnig näherten. Mein erster Weg führte mich auf den Friedhof, den ich direkt über die Colditzer Straße erreichen konnte. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen. Sie erschienen mir wie
Vorboten drohenden Unheils. Still lag der Friedhof da. Der graue Himmel schuf eine düstere Atmosphäre über den Gräbern. Das Friedhofstor war unverschlossen. Die Scharniere waren angerostet und erzeugten ein häßliches Quietschen, als ich einen Torflügel aufdrückte. Seltsamerweise waren wir die einzigen Besucher des Friedhofs. Nachmittags traf man normalerweise immer wieder Leute, die Gräber pflegten, doch das war hier und jetzt nicht der Fall. Auch hier waren Kieswege zwischen den Grabreihen angelegt worden. Wir wandten uns nach links und folgten einem etwas breiteren Weg, der unter den überhängenden Zweigen einiger Trauerweiden hindurch direkt zur Friedhofskapelle führte. Die Gräber sahen ähnlich aus wie in Bad Lausick. Viele von ihnen schienen frisch aufgeworfen zu sein. Entwurzelte Pflanzen lagen auf oder neben den Gräbern. Wir entdeckten keinerlei Spuren, die darauf hindeuteten, daß Friedhofsbesucher von den lebenden Leichen angegriffen worden waren. Beim Betreten der Friedhofskapelle gab es auch keine Anzeichen auf ein Eindringen der Zombies. »Und wie geht's jetzt weiter?« fragte Tessa. »Wenn man sich hier umschaut, erscheint einem alles so friedlich. Hier finden wir bestimmt keine Untoten«, meinte sie. »Ihr braucht die Toten nicht zu suchen! Sie werden euch finden!« Die Stimme, die Tessa geantwortet hatte, zitterte leicht. Es war die Stimme einer Frau, die von den Wänden der Kapelle widerhallte. Sie schien von überall herzukommen. Tessa wirbelte herum und griff zu ihrer Pistole. Suchend blickte sie sich in der Kapelle um. Dumpfe, schleppende Schritte erklangen. Langsam näherten sie sich. Dann schälte sich eine kleine, zierliche Gestalt aus dem Halbdunkel der Kapelle und schlurfte auf uns zu. Die Frau war alt. Unzählige Falten bedeckten ihr Gesicht. Eine vorstehende Hakennase gab ihr fast das Aussehen einer Hexe. Die kleine, verhärmte Gestalt machte einen zerbrechlichen Eindruck. Doch ihre hellen Augen drückten eine Stärke aus, die man in dem zierlichen Körper kaum vermutet hätte. »Was wissen Sie über die Toten?« fragte ich leise. Die Alte blieb vor mir stehen und schaute zu mir auf. Sie reichte mir gerade mal bis zur Brust. Ein Lächeln spielte um ihre schmalen Lippen. »Jungchen«, sagte sie, »ich weiß einiges. Ich weiß, daß die Toten
aus ihren Gräbern steigen. Ich weiß, daß Karel Hadek, der Teufelskünstler, zurückgekehrt ist, und daß die Zeit reif ist für den Leichenzug der lebenden Toten!« Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt! dachte ich. Ich strampelte mich ab, um den geringsten Hinweisen über die Untoten und deren Anführer nachzugehen, und geriet ins Schwitzen, weil mir die Zeit unter den Nägeln brannte. Und hier stand eine alte Frau und erzählte mir seelenruhig, daß sie über alles genauestens Bescheid wußte! »„Hören Sie, mein Name ist Mark Hellmann. Das ist Tessa Hayden«, stellte ich uns vor. Ich schaute der Alten eindringlich in die Augen. »Wir müssen alles wissen, was Sie uns über die lebenden Toten berichten können. Es ist ungemein wichtig. Das Leben vieler Unschuldiger hängt davon ab. Bitte, Sie müssen uns weiterhelfen«, sagte ich in flehendem Ton. Die Alte kicherte und erinnerte mich wieder an eine Hexe. Sie winkte mit einer gichtverkrümmten Hand ab. »Jungchen, ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie. Dann wurde sie schlagartig ernst. »Es wird nicht leicht werden, den lebenden Toten Einhalt zu gebieten, das ist Ihnen wohl klar?« fragte sie. Ich nickte. »Wir haben bereits die Bekanntschaft der Untoten gemacht«, erwiderte ich. »Drüben in Bad Lausick. Sie haben schon vier Opfer gefunden.« Ich legte ihr sanft eine Hand auf den Arm. »Es dürfen nicht noch mehr Menschen sterben«, sagte ich. »Das ist leider schon geschehen«, entgegnete sie. »Die lebenden Toten haben sich hier in Leisnig auch einige Opfer geholt. In fast jedem Ort zwischen hier und Bad Lausick sind die Toten erwacht, um Hadeks Leichenzug ein würdiges Geleit zu geben.« Die Alte wandte sich ab und schlurfte auf die Tür der Kapelle zu. »Kommen Sie, Jungchen, ich zeige Ihnen was«, sagte sie und winkte mit ihrer gichtigen Hand. Ich sah Tessa achselzuckend an und folgte der seltsamen Alten. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, aber schließlich standen wir vor einem aufgeworfenen Grabhügel in der hintersten Reihe des Friedhofs. Das Grab war nicht eingefaßt. Ein verwitterter Stein, auf dem die Inschrift verblaßt war, stand schief auf dem Grab. Die Alte näherte sich dem Grabstein und zeichnete mit krummen, knotigen Fingern die Inschrift nach. »Hier liegt er begraben«, sagte sie leise. »Johann Richter, mein
Vorfahr. Er war es, der vor vielen Jahren Karel Hadek den Weg nach Leisnig gezeigt hat. Und er hat auch die lebenden Toten in den letzten Nächten angeführt, als sie aus ihren Gräbern stiegen«, erklärte sie. »Und warum hat man Sie verschont?« fragte Tessa. »Wenn Sie alles beobachten konnten, müssen Sie doch ganz in der Nähe der Untoten gewesen sein.« Die hellen Augen der alten Frau richteten sich auf Tessa. »Ich bin Lina Richter«, antwortete die Alte, »die letzte von Jakob Richters Nachkommen.« Sie hob die schmalen Schultern. »Er schreckte wohl noch davor zurück, seine letzte Verwandte umzubringen«, meinte sie. »Und Ihr Vorfahr ist verantwortlich für das Erwachen der lebenden Leichen?« forschte ich weiter. Lina Richter schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Jungchen«, sagte sie. »Indirekt trägt er vielleicht schon die Schuld daran. Aber der eigentliche Schuldige ist Karel Hadek, der Teufelskünstler.« Jetzt kommen wir der Sache schon näher, dachte ich. Ich beugte mich zu Lina Richter nieder und legte ihr einen Arm um die schmächtigen Schultern. »Warum gehen wir nicht irgendwohin, wo es etwas gemütlicher ist, Frau Richter?« schlug ich ihr vor. »Und Sie erzählen mir dann in aller Ruhe, wie die Geschichte angefangen hat.« Nach kurzem Zögern war sie einverstanden. Wir fuhren direkt vom Friedhof in die Innenstadt von Leisnig. Bald darauf saßen wir bei Kaffee und Kuchen im Cafe Meissner. Die alte Lina machte sich über ihre Schwarzwälder Kirschtorte her, als habe sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Sie verdrückte noch zwei weitere Tortenstücke, bevor sie sich zufrieden zurücklehnte. »Jungchen, das war eine Wohltat«, sagte sie. »Wissen Sie, ich esse selten Kuchen. Und in einem Cafe schon gar nicht. Ich wohne ein paar Kilometer von der Stadt entfernt in einer alten Windmühle, die schon meinem Vater gehörte. Manchmal komme ich mit dem Fahrrad her oder mit dem Bus. Aber nicht zu oft. Was soll ich mit achtundsiebzig auch allein in der Stadt?« Die schrullige Alte gefiel mir. Ich dankte dem Schicksal, das mich mit ihr zusammengebracht hatte. Aber so leid es mir auch tat, ich mußte wieder auf den Grund unseres Besuches in Leisnig zu sprechen kommen. »Lina, Sie wollten mir doch alles über Ihren Vorfahren und diesen Teufelskünstler erzählen«, erinnerte
ich sie. Lina nickte und holte tief Luft. »Recht so, Jungchen, eine alte Frau wie ich braucht ab und zu einen Anstoß«, sagte sie und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Wir lassen nämlich hier oben mit den Jahren ein wenig nach«, fügte sie hinzu. Ich bestellte uns noch etwas zu trinken, um ihr das Reden zu erleichtern. Kaum war die Bedienung wieder verschwunden, begann Lina mit ihrer Geschichte. »Ich werde versuchen, Ihnen nur das Wesentliche zu berichten«, fing sie an und räusperte sich. »Also, was ich Ihnen jetzt erzähle, kann man auch in Sagenbüchern nachlesen, aber dort wurde immer was dazugedichtet oder weggelassen«, fuhr sie fort. »Auf jeden Fall begann alles im Jahre 1685. Johann Richter, mein Vorfahr, war damals Kupferschmied und zog öfters durch die Lande. Auf einer seiner Wanderungen traf er in Prag auf Karel Hadek. Dieser Hadek hatte einen Geheimbund ins Leben gerufen, der sich mit Schwarzer Magie, Zauberei und Teufelsbeschwörung befaßte. Hadek versuchte, Johann zu überreden, dem Zirkel beizutreten. Aber Johann weigerte sich.« Sie trank von ihrem Mineralwasser und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich nehme an, Hadek hat Johann doch noch rumgekriegt«, sagte ich. »Nicht ganz, Jungchen, nicht ganz«, erwiderte Lina Richter. »Johann wußte zuviel von den Teufelskünsten, die Hadek und seine fünf Gefolgsleute betrieben. Hadek mußte befürchten, von Johann an die Hexenjäger verraten zu werden. Deshalb folgte der Teufelszirkel Johann nach Leisnig. Hadek setzte den Kupferschmied unter Druck. Er zwang Johann, dem Zirkel beizutreten, oder man würde seiner Familie etwas antun.« Die alte Frau schüttelte traurig den Kopf. »Johann hatte keine andere Wahl«, sagte sie verbittert. »Und wie kam es nun zu dem Leichenzug der Untoten?« fragte Tessa gespannt. »Kindchen, das wollte ich gerade erzählen«, antwortet Lina Richter. »Karel Hadek und seine Glaubensbrüder trieben es arg in Leisnig und Umgebung. Mensch und Tier wurden verhext. Junge Mädchen fielen ihnen zum Opfer, und selbst die Zisterziensermönche im nahegelegenen Kloster Buch waren vor Hadek und seinem Teufelszirkel nicht sicher. Schließlich wurde die Obrigkeit alarmiert und richtete Hadek und seine Genossen auf
dem Galgenberg bei Leisnig hin. Auch der Kupferschmied Johann Richter wurde gehenkt, denn Hadek hatte ihn unter der Folter der Hexerei bezichtigt.« Lina machte eine kleine Pause, und trank ihr Wasser in kleinen Schlucken. Dann schaute sie mir direkt in die Augen. »So, Jungchen, und jetzt kommt das, worauf Sie die ganze Zeit gewartet haben. Die Figuren von Hadek und seinen fünf Gefolgsleuten wurden an einem Scheunentor in der Nähe des damaligen Leisniger Obertors in Stein gemeißelt. Das sollte wahrscheinlich als Abschreckung für andere Teufelsanhänger dienen. Aber Karel Hadek nahm Rache. In der Nacht des 26. Juni 1685 tauchte eine schwarze Leichenkutsche mit vier schwarzen Pferden auf dem Platz vor dem Friedhof auf. Die Gräber auf dem Friedhof öffneten sich, und die Toten erwachten. Sie bildeten einen Leichenzug, der hinter der Kutsche Aufstellung nahm. Vor der Kutsche aber erschienen sechs Gestalten in hellen Mönchskutten! Das waren Karel Hadek und seine Genossen. Sie führten den Leichenzug an, der seinen Weg durch die Stadt nahm. Mitten auf dem Marktplatz hielt der Zug an. Hadek gab den lebenden Toten ein Zeichen. Sie brachen in die umliegenden Häuser ein und suchten sich ihre Opfer, die sich nach ihrem Tod dem Leichenzug anschlossen. Der Bürgermeister, der Amtsbüttel und der Pfarrer wurden als Vertreter der Obrigkeit in die Kutsche gezwungen. Der Leichenzug begab sich zum Galgenberg, wo die drei Gefangenen einen schrecklichen Tod starben. Danach war der Spuk vorbei. Über die Hälfte der Einwohner von Leisnig fiel damals Karel Hadeks Rache zum Opfer.« Wir schwiegen und ließen die Geschichte erst, einmal auf uns wirken. Der Teufelskünstler Hadek hatte damals seine Rache vollendet. Was mochte ihn wohl bewogen haben, nach über dreihundert Jahren die Toten wieder aufzuwecken? Ich erinnerte mich an die Worte des Zombies, mit dem ich in Bad Lausick gekämpft hatte. Mephisto will Seelen, und Hadek soll sie ihm beschaffen! ging es mir durch den Kopf. Und in Leisnig, Bad Lausick und Umgebung findet er eine Menge Opfer! Also hatte wieder mal mein Erzfeind, der Höllenfürst Mephisto, seine gierigen Finger im Spiel. Doch dieses Süppchen wollte ich ihm gehörig versalzen. »Aber warum gerade jetzt?« unterbrach Tessa meine Gedanken. »Ich meine, warum sucht sich Hadek gerade die nächste Nacht für seinen Leichenzug aus? Ganze
dreihundertdreizehn Jahre nach seinem Tod!« Darauf konnte ich nur mit einer Vermutung antworten. »Das Jahr wird ihm wohl Mephisto vorgegeben haben«, meinte ich. »Es ist die Nacht vor Allerheiligen. Sie gilt schon seit urdenklichen Zeiten als eine wichtige Nacht für Magier, Hexen und Dämonen. Die Kelten nannten diese Nacht Samhain; heute heißt sie Halloween. Ich gehe davon aus, daß Hadek diese Nacht ausgewählt hat, weil sie die nächste magische Nacht nach seinem Todestag ist«, spann ich meine Vermutung weiter. »Sie wollen ihn aufhalten, Jungchen, nicht wahr?« fragte Lina Richter. Ich nickte bestätigend. »Genau das, Lina. Ich darf nicht zulassen, daß Karel Hadek Hunderte von unschuldigen Menschen einfach auslöscht und vielleicht das ganze Land mit seinen Untoten überschwemmt«, antwortete ich. »Jungchen«, sagte die Alte, »vor einigen Nächten habe ich zum ersten Mal von den lebenden Toten geträumt. Sie haben zu mir gesprochen. Aber ich habe auch geträumt, daß sich ein großer, blonder Mann namens Markus den lebenden Leichen in den Weg stellen und sie aufhalten wird.« Sie legte ihre knotigen Finger auf meine Hand. »Du bist ein guter Mensch, Mark Hellmann. Du wirst es schaffen.« Sie drückte meine Hand und blieb weiter beim vertrauten Du. »Und ich werde an deiner Seite sein«, verkündete sie. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, Lina!« erklärte ich entschieden. »Wir bringen Sie in ihre Mühle zurück, und damit basta!« »Jungchen, was soll ich in meiner Mühle? Laß mich noch einmal in meinem Leben etwas Nützliches tun. Ich bleibe bei euch beiden. Das ist mein letztes Wort!« Entschlossenheit lag in ihrem Ton. Ich wußte, daß ich sie nicht mehr umstimmen konnte. »Also gut, Lina«, gab ich nach. »Aber Sie halten sich im Hintergrund, verstanden?« Die Alte lächelte hintergründig, ohne mir zu antworten. Wenig später wurde sie aber wieder ernst und fragte: »Tust du mir noch einen Gefallen, Mark?« Ich konnte ihr nichts abschlagen. Sie hatte uns schließlich erheblich weitergeholfen. »Welchen denn?« fragte ich zurück. Sie sah mich bittend an. Ihre hellen Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Was immer du mit Hadek anstellst, ist mir egal«, sagte sie. »Aber wenn du auf Jakob, den Kupferschmied, triffst, würdest du dann - ich meine, ich will nicht,
daß er weiter als lebender Toter rumläuft und Menschen umbringt. Verstehst du?« »Ich denke, es wird eine Möglichkeit geben, Jakob Richter endgültig seinen Frieden zu geben«, erwiderte ich zuversichtlich. Lina wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte mich dankbar an. »So, ihr beiden, und jetzt möchte ich euch noch die Reste des Scheunentors zeigen, an dem die Teufelskünstler eingemeißelt sind«, sagte sie und erhob sich. »Wir sollten uns beeilen, bevor es dunkel wird«, setzte sie hinzu. Wir nahmen wieder meinen Wagen, durchquerten die Stadt und hielten schließlich in der Nähe einer alten Scheune am Stadtrand. Teile des Gemäuers wiesen Spuren von Renovierungsarbeiten auf. Langsam schritten wir mit der alten Lina über eine Wiese auf das Scheunentor zu. »Dort ist es«, sagte Lina, als wir nur noch wenige Meter von der Scheune entfernt waren, und deutete auf das Tor. Die Steinmauer über dem Tor hatte eine leichte violette Färbung angenommen. Teilweise waren im Gestein die gemeißelten Umrisse von sechs Gestalten zu erkennen, die mit ausgebreiteten Armen zwischen den Zacken eines Pentagramms lagen und sich gegenseitig mit den Füßen berührten. Mein Ring begann zu prickeln und erwärmte sich. Ein leichtes Strahlen ging von ihm aus. Lag hier das Zentrum von Karel Hadeks Macht? * Langsam näherte ich mich dem Scheunentor. Mein Ring begann stärker zu leuchten und wurde heiß. Der violette Schimmer schmerzte in meinen Augen. In der Mitte des Pentagramms schien er am kräftigsten zu sein. Ich wurde von der Kraft des Pentagramms völlig überrascht. Ein violetter Strahl sonderte sich aus der Mitte des siebenzackigen Sterns ab, traf mich an der Brust und hüllte für einen winzigen Augenblick meinen gesamten Körper ein. Dann wurde ich so wuchtig zurückgeschleudert, daß ich fast am Straßenrand aufkam. Ich fühlte mich, als hätte mich ein Pferd getreten. Meine Rippen schmerzten, als ich mich mühsam erhob und erneut auf das Scheunentor zuging. Diesmal zog ich meine Pistole und richtete sie auf das Pentagramm. Aber der Strahl war
schneller als ich. Bevor ich abdrücken konnte, hüllte das violette Licht meine Pistole ein. Die Waffe wurde glühend heiß. Mit einem Aufschrei ließ ich sie fallen. »Runter, Mark!« rief Tessa. Ich ließ mich fallen. Der violette Strahl zuckte knapp über mich hinweg. Tessas Schüsse peitschten über die Wiese. Die Kugeln prallten gegen das Pentagramm, rissen Löcher in das verwitterte Gestein und prellten Steinsplitter ab. Schließlich war das Steinbild so zersplittert, daß von den Gestalten und dem Pentagramm kaum noch etwas zu erkennen war. Die letzten Kugeln trafen die Mitte des Pentagramms. Mit einem dumpfen Knall zersprang das Steinbild in unzählige Stücke. Das violette Leuchten erlosch. »O Mann!« machte Tessa und ließ die Pistole sinken. »Dabei wollte ich doch bloß den Strahl aufhalten!« »Das hast du ja auch geschafft, mein Schatz«, sagte ich und klopfte mir den Staub von der Hose. Ich glaubte allerdings nicht, daß Karel Hadeks magische Kräfte durch das Zerstören des Pentagramms eingeschränkt worden waren. Wahrscheinlicher war, daß das Pentagramm nur als zusätzliche Sicherheit gegen Schnüffler, wie ich einer war, gedient hatte. Tessa warf mir einen seltsamen Blick zu, den ich nicht ganz deuten konnte. Vielleicht hätte ich den Schatz doch besser weglassen sollen. Wir fuhren in die Stadt zurück und quartierten uns im Gästehaus Am Markt ein. Für Lina buchte ich ebenfalls ein Zimmer. Dem Einsatzkoffer entnahm ich ein Fläschchen mit Weihwasser und reichte es Tessa. Auch ich steckte mir einen Weihwasserflakon ein. Das Ersatzmagazin mit Silberkugeln teilte ich zwischen uns auf. Lina Richter ging ziemlich früh schlafen. Tessa und ich warteten bis gegen zehn, dann verließen wir noch einmal das Gästehaus. Wir wollten uns mit der voraussichtlichen Strecke des Leichenzuges vertraut machen. Falls wir dabei auf Zombies stoßen sollten, waren wir gerüstet. Auf der Straße sahen wir uns erst mal um. Links führte die Kirchstraße zur St. Matthäi-Kirche. Der gotische Kirchenbau überragte weithin sichtbar die Häuser von Leisnig. Rechts konnte man über die Chemnitzer Straße fast direkt den Friedhof erreichen. »Wenn alle Stricke reißen, verschanzen wir uns in der Kirche und versuchen, die Untoten hineinzulocken«, sagte ich. »In der
Kirche als heiligem Ort werden die Zombies ziemlich geschwächt sein. Ich hoffe, daß ich Hadek dann erledigen kann.« »Aber die Kirche ist wohl nur als letzter Ausweg gedacht, oder?« hatte Tessa richtig erfaßt. »Genau«, bestätigte ich. »Ich werde Hadek vor dem Friedhof oder auf dem Marktplatz entgegentreten. Vielleicht kann ich ihn dort schon aufhalten.« Wir gingen langsam Richtung Friedhof. Die Stadt erschien mir so ruhig und friedlich. Leichter Wind war aufgekommen. Irgendwie kam mir alles vor wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Der Platz vor dem Friedhof war groß genug, um genügend Raum für eine Trauerkutsche und die Untoten zu bieten. Hier würde ich vielleicht bald Karel Hadek gegenüberstehen. Ich untersuchte das Friedhofstor und stellte fest, daß es sicher verschlossen war. Vielleicht würde das die Zombies in der Nacht abhalten, sich ihre Opfer zu suchen. Im Ratskeller aßen wir eine Kleinigkeit und überbrückten die Zeit bis Mitternacht. Ich wollte unbedingt wissen, wie sich die lebenden Toten hier in Leisnig organisierten und ob sie noch einmal einen Vormarsch in die Stadt wagen würden. Gegen zwölf warteten Tessa Hayden und ich auf dem Friedhofsvorplatz darauf, daß sich die Gräber öffnen würden. Die zwölf Schläge der Kirchturmuhr von St. Matthäi waren weithin zu hören. Durch das Friedhofstor konnten wir genau erkennen, wie sich die Grabhügel nach oben wölbten. Wir sahen den Rauch, der aus den Rissen in der Graberde drang, und wurden Zeugen, wie die ersten Untoten stöhnend ihre Gräber verließen. Zunächst schienen sie unschlüssig zu sein. Bald aber wankten und schlurften sie auf das Friedhofstor zu. Zornig knurrten die ersten Zombies, als sie erkannten, daß das Tor fest verschlossen und verriegelt war. Ihre kalten Hände krallten sich um die schmiedeeisernen Gitterstäbe und rüttelten heftig an den Torflügeln. Dann sahen sie uns, und ihr Zorn wurde noch größer. Hier standen zwei potentielle Opfer, und die Zombies kamen nicht an sie heran! Ihr Wutgeheul klang uns schaurig entgegen. »Sehen wir zu, daß wir hier wegkommen«, sagte ich zu Tessa. »Allein sind wir dieser Zombiearmee nicht gewachsen. Wir können nur hoffen, daß sich Karel Hadek auf einen Zweikampf mit mir einläßt.«
»Das wird er wohl«, erklang eine dumpfe Stimme von der Friedhofsmauer her. »Aber mach dir keine Hoffnungen, er wird dir überlegen sein!« Wir fuhren herum, um den Sprecher in Augenschein zu nehmen. Tessa riß ihre Pistole heraus und hielt sie im Beidhandanschlag. Im fahlen Licht der Straßenlaternen erkannten wir eine hochgewachsene Gestalt, die in ein weißes Leichenhemd gekleidet war. Gesicht und Hände waren mumifiziert. In den Augenhöhlen schimmerte es violett. Dünnes, weißes Haar hing in Strähnen bis auf die Schultern. Der Untote wurde von zwei Mönchen begleitet. So schien es jedenfalls auf den ersten Blick. Bei genauem Hinsehen erkannte ich jedoch, daß sich unter den hellen Leinenkutten Skelette befanden. Bleiche Totenschädel grinsten uns unter den Kapuzen entgegen. Wie es dem lebenden Toten und seinen knöchernen Freunden gelungen war, den Friedhof zu verlassen, war mir ein Rätsel. Wenn es noch einen zweiten Ausgang gab, wieso folgten ihm dann nicht andere Zombies nach? Doch darüber wollte ich mir jetzt nicht unbedingt den Kopf zerbrechen. »Wer bist du?« fragte ich laut. »Führst du die lebenden Toten hier in Leisnig an?« Der Zombie bleckte seine fauligen Zähne und kam ein paar Schritte näher. Mein Ring spielte regelrecht verrückt. Er vibrierte an meiner Hand, wurde heiß und leuchtete rötlichhell. »Ich bin Johann Richter. Der Meister hat mich damit beauftragt, alles für seine Wiederkehr vorzubereiten. Er will einen großen Leichenzug haben. Deswegen brauchen wir noch einige Menschen, die dem Leichenwagen morgen nacht durch die Stadt folgen sollen«, erklärte der Untote. Wieder kam er näher. »Wir wissen aber auch, daß du den Leichenzug verhindern willst, Mark Hellmann!« rief er. Ich war nicht überrascht. In Höllenkreisen hatte ich inzwischen einen Namen. Und wenn Mephisto hinter dem Auftauchen der lebenden Toten stand, hatte er mit Leichtigkeit in Erfahrung bringen können, daß ich seinen Plan verhindern wollte. »Der Hölle bleibt nichts verborgen, Hellmann!« rief Johann Richter dröhnend. »Du wirst jedoch einsehen müssen, daß du diesmal den kürzeren ziehst. Karel Hadek wird den Leichenzug führen, von hier über Colditz nach Bad Lausick. Bald werden uns Tausende von Menschen
folgen, und ein Heer von lebenden Toten wird das Land überschwemmen.« Der Zombie schüttelte den Kopf, daß die dünnen Haare flogen. »Sieh es ein, Mark Hellmann. Du bist uns nicht gewachsen!« »Ich werde Karel Hadek trotzdem aufhalten!« entgegnete ich. »Ohne ihn, euren Meister, seid ihr nichts. Nur seine Magie hält euch am Leben und gibt euch Kraft. Ich werde nicht zulassen, daß Karel Hadek seinen teuflischen Plan durchführt! Und ich stehe nicht allein. Ihr werdet euch wundern, wie viele Menschen sich euch noch in den Weg stellen.« »Du bist ein Tölpel, Mark Hellmann!« hallte die Stimme des untoten Kupferschmiedes über den Platz. »Glaubst du im Ernst, ein Häuflein Menschen kann einer Armee von lebenden Leichen Einhalt gebieten oder sie gar besiegen?« Er lachte laut und meckernd. »Hellmann, dieser Wunsch wird unerfüllt bleiben! Die Hölle wird siegen! Wir, die lebenden Toten, werden die wahren Herren des Landes sein. Und Karel Hadek wird unser aller Herrscher werden!« rief Johann Richter und hob die Arme. Die Zombies auf dem Friedhof stießen ein Triumphgeheul aus. So, Freundchen, genug gelabert! dachte ich. Jetzt wollen wir mal sehen, was du wirklich drauf hast! Ich zog nun auch meine SIG Sauer. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, feuerte ich auf den Untoten. Der lebende Tote reagierte unheimlich schnell. Noch während ich die Pistole hob, richtete er seine Arme auf mich. Zwischen seinen Händen begann es violett zu blitzen. Er breitete die Arme aus, und eine Art violetter Schleier entstand. Meine Silberkugel konnte den Schleier zwar durchbrechen, verlor dann aber ihre Kraft und fiel vor dem Untoten zu Boden. Tessa schoß ebenfalls, doch auch ihr Projektil traf Johann Richter nicht. Der Untote bewegte die Arme auf das Friedhofstor zu und schloß einen Moment lang die Augen. Ein violetter Nebel löste sich aus seinen Handflächen und hüllte das Friedhofstor ein, das daraufhin nach innen aufsprang. Die Torflügel rissen einige Zombies von den Beinen, doch die Untoten erhoben sich rasch wieder. Mit holprigen Bewegungen drängten die Zombies auf Tessa und mich zu. »Weg hier, Tessa!« schrie ich und stieß sie aus der Reichweite der wandelnden Leichen. Johann Richter lachte wieder meckernd. »Du entkommst uns nicht, Mark Hellmann! Über dich und deine
kleine Freundin wird sich unser Meister ganz besonders freuen!« rief er. Ich riß den Weihwasserflakon aus der Tasche, entkorkte ihn und besprengte die Untoten, die auf mich zu stolperten. Die geweihte Flüssigkeit ätzte riesige Löcher in ihre Gesichter und Körper. Einige Zombies brachen zusammen und lösten sich dampfend auf. Die anderen wichen angsterfüllt zurück und fuchtelten abwehrend mit den Armen herum. »Paß auf, Mark!« schrie Tessa. Tessas Warnung bezog sich auf Johann Richter, der hinter meinem Rücken irgendeine Schweinerei im Schilde führte. Ich wandte mich wieder dem Anführer der Leisniger Untoten zu. Der ehemalige Kupferschmied hatte den violetten Schleier zwischen seinen Händen in Bewegung gebracht. Er schwang ihn auf und nieder, hin und her, wie ein Pizzabäcker den Teig seiner Pizza herum wirbelte. Der Schleier wurde erst dünn, dann durchsichtig, bis schließlich nur noch violette Schnüre zwischen den Handflächen des Untoten hingen. Diese Schnüre verknoteten sich plötzlich zu einem grobmaschigen Netz. Die beiden Skelettmönche neben Johann Richter griffen ebenfalls in das magische Netz und zogen es auseinander. Jetzt dämmerte mir, was sie vorhatten. Ich warf mich herum. »Lauf, Tessa!« brüllte ich und begann zu rennen. Tessa warf einen Blick über ihre Schulter und schrie erschrocken auf. Ich hörte das Summen in der Luft und hob den Kopf. Ich wollte mich noch zur Seite werfen, aber es war zu spät. Das violette Netz senkte sich über mich und hüllte mich ein. Wild schlug und trat ich um mich, zerrte und riß an den Maschen des Netzes, aber es war vergebens. Ich verstrickte mich nur noch mehr in das Netz. Durch die Maschen mußte ich mit ansehen, wie die bleichen Hände der Untoten Tessa Hayden packten und die schreiende, zappelnde Fahnderin auf den Friedhof zerrten. Dann wurde auch ich gepackt und mitsamt dem Netz hinterhergetragen. Wie von Geisterhand schloß sich das Friedhofstor wieder hinter den Zombies. Der violette Nebel löste sich auf. Johann Richter und die beiden Knochenmönche schritten neben mir her. Von Tessa sah ich nichts mehr. Irgendwo im hinteren Teil des Friedhofs legten mich die Untoten ab. »Was habt ihr mit Tessa gemacht?« rief ich. »Warum erscheint Hadek nicht selbst zum Kampf, sondern schickt andere vor?« »Keine Angst, Hellmann, du wirst deinen Kampf bekommen«,
sagte Johann Richter. »Aber der Meister will erst gegen dich antreten, wenn der Leichenzug seinen Zweck in Leisnig erfüllt hat. Damit du keine Vorkehrungen für den Kampf oder gegen den Leichenzug treffen kannst, wirst du solange hier auf dem Friedhof bleiben. Die Frau dient als Rückversicherung. Wenn der Meister dich erledigt hat, wird er sich mit ihr befassen. Und glaube mir, er beherrscht sein Fach!« Mit einer Handbewegung gab er den lebenden Toten ein Zeichen. Totenhände hoben mich hoch, schwangen mich hin und her und ließen mich dann wieder los. Ich fiel in ein Loch und krachte hart auf den Rücken. Einen Augenblick lang blieb mir die Luft weg. Die ersten Lehm- und Erdbrocken trafen mein Gesicht und meinen Körper. Ich spuckte und hustete. Immer schneller fiel die Erdmasse auf mich. Ich versuchte mich aufzurichten, aber es gelang mir nicht. »Schlaf gut, Mark Hellmann! Genieße die letzten Stunden deines Lebens, bis du dem Meister gegenüberstehen und um einen gnadenvollen Tod betteln wirst!« hörte ich noch einmal Johann Richters dumpfe Stimme, dann wurde es dunkel und still um mich herum. Ich war lebendig begraben! * Die lebenden Toten hatten in der Nacht erneut einen Vorstoß in die Stadt gewagt, aber Pit Langenbachs Verteidigungsmaßnahmen hatten Wirkung gezeigt. Ein Flammenring, der auf der Friedhofsmauer entlanglief, trieb die Zombies zurück. Das Friedhofstor war verschlossen. Davor waren hohe Holzstöße aufgeschichtet worden, die man ebenfalls in Brand setzte. Einigen Untoten gelang es, den Maschendrahtzaun am hinteren Ende des Friedhofs zu überwinden und ein kleines Wäldchen zu erreichen, von wo sie ihren Weg Richtung Stadt suchten. Dabei gerieten sie aber in den Bereich des zweiten Verteidigungsrings aus Weihwasser. Die Untoten stießen ein infernalisches Brüllen aus, als ihre nackten Füße von der geweihten Flüssigkeit zerfressen wurden. Sie kippten um und wurden von den Wachtposten entweder mit Weihwasser besprengt oder mit Flammenwerfern in Brand gesteckt.
Polizeirat Kilian traf am frühen Morgen mit Pit Langenbach im Haus Erlenhain zusammen. »Das hat ja vorzüglich geklappt«, beglückwünschte Kilian den Hauptkommissar und schüttelte ihm die Hand. »Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Kilian«, dämpfte Pit die Euphorie des Polizeirats. »Die Zombies haben nach meinem Gefühl ein bißchen zu schnell klein beigegeben«, sagte er. »Heute nacht, wenn der Leichenzug stattfinden soll, werden sie erst richtig zuschlagen.« »Hoffen wir, daß unsere Verteidigung dann genauso gut funktioniert«, sagte der Polizeirat. »Wir müssen zwar damit rechnen, daß bei einem vehementen Ansturm einige Untote den Durchbruch schaffen. Aber wir sollten doch alles tun, um die Folgen so klein wie möglich zu halten.« »Worauf Sie sich verlassen können«, versprach Pit. »Haben Sie schon etwas von Ihrem Freund Hellmann gehört?« erkundigte sich Kilian. Pit verneinte. »Ich habe die ganze Nacht über versucht, ihn zu erreichen. Er meldet sich nicht«, antwortete er. Insgeheim machte er sich Sorgen. Was wäre, wenn die Untoten Mark und Tessa in ihre Gewalt gebracht hatten? Falls es tatsächlich so war, sah Pit kaum Chancen, den Kampf gegen die Zombies zu gewinnen. Quälend langsam verstrichen die Stunden. Pit kontrollierte mehrmals die Postenkette um den Friedhof. Im Kurheim hatte man sich auf den Notfall eingerichtet. Den Kurgästen hatte man zwar immer noch keine Einzelheiten mitgeteilt, um sie nicht über die Maßen zu beunruhigen. Aber das Personal des Kurheims war genauestens instruiert und sah den Ereignissen mit gemischten Gefühlen entgegen. Aus der Kirche hatte man Unmengen Weihwasser besorgt. Pit hatte sich zwei Flammenwerfer organisiert und sogar Susanne für alle Fälle mit ihrem Umgang vertraut gemacht. Jetzt konnte man nur noch abwarten. Pit hatte wieder mal zu seinen stinkenden Zigarillos gegriffen. Seine Frau ließ ihn, denn die Warterei zerrte an den Nerven. Wie in jedem Verteidigungsplan gab es auch in Pits Plan Schwachstellen. Zum einen hätte er sich mehr Posten um den Friedhof und auch um das Kurheim gewünscht. Zum anderen wußte man nicht genau, ob die Untoten diesmal genau um Mitternacht auftauchen würden oder vielleicht schon früher. Man mußte mit allem rechnen. Nur mit dem Wetter hatte niemand
gerechnet. Gegen Abend kam ein Herbststurm auf, der heftigen Regen mit sich brachte. Der Regen gefährdete die Schutzringe aus Feuer und Weihwasser. Pit fluchte in sich hinein und paffte wütend einen Zigarillo nach dem anderen. Bei Einbruch der Dunkelheit legte sich der Sturm. Aber es regnete weiter. Die Posten versuchten, den Flammenkranz auf der Friedhofsmauer zu erneuern, aber es gelang nur stellenweise. Das Weihwasser, das man um den Friedhof versprüht hatte, war größtenteils vom Regen weggeschwemmt worden. Zwei Polizeibeamte kontrollierten das Friedhofstor und rüttelten an den Torflügeln. Das Ergebnis der Überprüfung änderte sich nicht. Das Tor war fest verschlossen. »Verdammter Mist!« fluchte einer der beiden Beamten. »Dieses Rumstehen hier geht mir langsam auf den Wecker. So ein Scheißjob! Ich steh mir hier die Beine in den Bauch, es regnet mir ins Genick, und meine Alte sitzt im Riff in der Sauna und amüsiert sich!« Das Riff war ein Freizeitbad am Rande von Bad Lausick, wo sich der Beamte mit seiner Verlobten verabredet hatte. »Hör auf zu mosern«, entgegnete sein Kollege. »Diese Nacht kriegen wir noch rum, dann haben wir sowieso drei Tage frei.« Er zuckte die Achseln. »Gehst du eben dann mit deiner Holden ins Dampfbad«, schlug er vor. »Du sagst das so einfach«, meinte der verärgerte Polizist. »Meine Alte dreht mir den Hals um, weil ich sie heute versetzt habe.« Seine Freundin bekam dazu jedoch keine Gelegenheit mehr, denn die lebenden Toten nahmen ihr die Arbeit ab. Der Beamte hatte kaum ausgesprochen, als zwei eiskalte, bleiche Hände zwischen den Ornamenten auf dem Friedhofstor hindurchschossen, sich um seinen Kopf legten und ihn mit einem heftigen Ruck zur Seite rissen. Sein Kollege starrte mit weitaufgerissenen Augen auf den zuckenden Körper des Polizisten. Als er endlich reagieren wollte, war es schon zu spät. Totenhände verkrallten sich in seinem Haar und rissen seinen Kopf mit Wucht gegen das Eisentor. Die lebenden Toten rüttelten mit Brachialgewalt an dem Friedhofstor. An einigen Stellen, wo das Feuer erloschen war, versuchten sie, über die Friedhofsmauer zu klettern. Eine große Anzahl Zombies drückte den Maschendrahtzaun vor dem
Wäldchen nieder und drang von dort auf die Straße. Die Posten gaben ihr Bestes. Flammenwerfer sprühten ihre tödliche Ladung auf die Zombies. Weihwasser wurde verspritzt. Die Schreie der brennenden und vom Weihwasser zerfressenen Untoten mischten sich mit den Schreckensschreien der Posten, als sie von den Zombies überrannt wurden. Einige Polizisten gerieten in Panik und suchten ihr Heil in der Flucht. Ihre Kameraden stellten sich zum Kampf. Aber sie waren den lebenden Leichen nicht gewachsen. Sie würden bald den Leichenzug der lebenden Toten verstärken, wenn er seinen Weg durch die Innenstadt antrat. Die ersten Untoten stolperten durch den Kurpark. Ihre hellen Leichenhemden und halbverwesten oder mumifizierten Fratzen waren fahle Flecken in der Dunkelheit. Pit Langenbach hatte über Funk einen Situationsbericht von der Postenkette abrufen wollen, doch es war keine Verbindung zustandegekommen. Er versuchte es noch zweimal, aber er erhielt keine Antwort. Wie von der Tarantel gestochen, rannte Pit in den Aufenthaltsraum. Er eilte zu Susanne und informierte sie flüsternd. Dann suchte er Polizeirat Kilian und alarmierte auch ihn. Sofort wurden alle Kurgäste gebeten, ihre Zimmer aufzusuchen und sich einzuschließen. Nur widerwillig leisteten sie den Anordnungen des Personals Folge. »Papi, kommen uns die Toten aus meinem Traum jetzt holen?« fragte Floh und schaute ihren Vater ängstlich an. Pit kniete sich nieder und nahm sie in die Arme. »Floh, du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde jedem, der dir was tun will, gewaltig auf die Finger klopfen, Schätzchen«, sagte er. »Jetzt gehst du bitte mit Tante Hertha nach oben. Dort seid ihr beide besser aufgehoben. Hier unten wärt ihr uns nur im Weg. Mami und ich kommen dann später nach.« Er drückte Floh einen Kuß auf die Wange und nickte Hertha Thorberg aufmunternd zu. Tante Hertha nahm Floh bei der Hand und verschwand im obersten Stockwerk. »Es ist vielleicht besser, wenn du auch gehst«, riet Pit seiner Frau. Susanne Langenbach schüttelte vehement den Kopf. »Kommt überhaupt nicht in Frage, Pit«, lehnte sie ab. »Ich bleibe hier. Ich kann genauso gut gegen Zombies kämpfen wie du. Und du brauchst jede Hilfe, die du kriegen kannst. Es geht schließlich nicht nur um uns, sondern um eine Menge Menschenleben, Pit!«
sagte sie eindringlich. Der Hauptkommissar legte einen Arm um Susannes Schulter, drückte sie an sich und küßte sie. »Du bist eine wunderbare Frau, weißt du das?« fragte er leise. »Natürlich, sonst hättest du mich wohl kaum geheiratet«, erwiderte Susanne und lachte. »Gut, dann los!« gab Pit das Startzeichen. »Du bleibst in meiner Nähe, egal was passiert«, wies er Susanne an. »Greif dir Weihwasser, und wenn dir ein Zombie zu nahe kommt, schütte es ihm ins Gesicht. Falls wir getrennt werden, ziehst du dich zu Hertha und Floh zurück. Ist das klar?« Susanne nickte und ging, um sich mit Weihwasser zu versorgen. Pit Langenbach zog den armenischen Silberdolch, den Mark zurückgelassen hatte. Er würde seine und Susannes Haut so teuer wie möglich verkaufen, das stand für ihn fest. Trotzdem fühlte er wieder diese furchtbare Angst in sich aufsteigen. Pit schüttelte sich. Die Bewegung, die er vor der gläsernen Eingangstür bemerkte, riß den Hauptkommissar aus seinen Gedanken. Plötzlich war seine Angst verflogen. Er stürzte auf den Eingangsbereich des Kurheims zu. Zwei Untote stolperten ihm entgegen. Pit nutzte seinen Schwung aus. Mit einer einzigen fließenden Bewegung säbelte er mit dem Dolch quer durch die Luft. Beiden Zombies riß die silberne Klinge den Hals auf. Sie stießen gurgelnde Laute aus und brachen in die Knie. Weißer Rauch quoll aus den klaffenden Halswunden. Pit Langenbach wartete nicht, bis sich die Zombies aufgelöst hatten. Er schloß hastig die Eingangstür und verrammelte sie. Lange würde sie den Untoten zwar nicht standhalten. Aber je länger die wandelnden Leichen aufgehalten wurden, desto größer wurde die Überlebenschance für die Menschen im Kurheim. Susanne kam zu ihm und schaute ihn besorgt an. Pit versuchte, sie aufmunternd anzulächeln. Wieder entstand Bewegung vor dem Haupteingang. Im nächsten Augenblick drängten sich die bleichen Körper der Zombies vor der Eingangstür. Der entscheidende Angriff der lebenden Toten in Bad Lausick hatte begonnen! *
Das magische Netz strahlte violett in der Dunkelheit. Auch die Erde über mir wies einen blassen violetten Schimmer auf. Schwer drückten die Lehmmassen auf meine Brust. Ich lag auf dem Rücken und atmete flach durch die Nase. Ich hatte mir mein Ende anders vorgestellt. Auf keinen Fall wollte ich hier in einem feuchten Grab ersticken. Panik überfiel mich. Ich fühlte, wie es mir heiß und kalt den Rücken hinunterrann. Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange liege ich schon hier? Wieviel Sauerstoff habe ich noch übrig? Schmerzt es sehr, wenn man erstickt? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf. Bitterkeit und Verzweiflung stiegen in mir hoch. Irgendwann versuchte ich mich zu bewegen. Ich stellte bald fest, daß ich die Arme problemlos zur Seite hin ausstrecken konnte. Nach oben war es schon schwieriger. Die Graberde ließ sich zwar bewegen, aber es kostete viel Kraft. Der Schweiß lief mir in Strömen über den Körper. Ausgepumpt ließ ich meine Arme wieder sinken. Ich stellte fest, daß ich immer noch genug Atemluft bekam, obwohl ich sicherlich schon einige Stunden in diesem Grab lag. Ich mußte nur darauf achten, meinen Atem flach zu halten. Also ist doch noch nicht alles verloren! dachte ich. Die Untoten wollten mich offenbar doch nicht so schnell abservieren. Sie spielten mit meiner Angst und meiner Unsicherheit. Wenn ich mit den Nerven fertig war, hatte Karel Hadek später um so leichteres Spiel. Freunde, eure Rechnung geht nicht auf! hoffte ich. Ich mußte hier raus. Und zwar schnell! Mein Ring fiel mir ein. Und plötzlich formte sich ein Gedanke in meinem Kopf. Das Netz war durch magische Kräfte geschaffen. Vielleicht konnte ich es zerstören! In mühevoller Arbeit gelang es mir schließlich, das Rangermesser aus der Scheide zu ziehen und auf meine Brust zu legen. Ich preßte den Ring gegen das sternförmige Mal auf meiner Brust. Sofort begann er zu strahlen und prickelte an meinem Finger. Mit dem Lichtstrahl zeichnete ich wieder das Wort Waffe in Form von Runen auf die Messerklinge. Der bläuliche Schimmer des Messers erhellte nun zusätzlich zu dem violetten Leuchten des Netzes meine Umgebung. Ich versuchte, die Maschen des magischen Netzes zu zerschneiden. Und es funktionierte! Ich hätte laut jubeln können. Wo die
Schneide des Messers auf die Maschen des Netzes traf, entstanden kleine Funken. Die Maschen des Netzes schrumpften zusammen, und winzige Rauchfahnen kräuselten hoch. Eine Ewigkeit schien vergangen, als ich die letzten Maschen des magischen Netzes auflöste. Jetzt wollte ich es wissen. Was mit dem Netz geklappt hatte, funktionierte vielleicht auch noch ein zweites Mal. Ich rammte die Messerklinge in die Graberde über mir und stemmte mich nach oben. Der violette Schimmer in der Grabdecke erlosch. Immer wieder stieß ich die lange Klinge nach oben und schaufelte mit den Händen Erde und Lehmbrocken an meine Seite und auf meine Beine. Schließlich fühlte ich, wie das Messer die Grabdecke durchstieß. Ich holte nun tief Luft und rammte meine linke Faust nach oben. Mit einem gewaltigen Ruck stieß sie ins Freie. Ein Jubelschrei löste sich aus meiner Kehle. Sofort drangen Erdklumpen in meinen Mund. Ich spuckte und hustete. Als ich mich wieder beruhigt hatte, öffnete und schloß ich langsam die Finger meiner Hand. Es war ein wunderbares Gefühl, bald wieder frei zu sein. Plötzlich schlossen sich Finger um meine Hand! Ich spürte, wie sich mein Herz vor Angst zusammenkrampfte. Nein! Nein!! schrie es in mir. Jetzt war ich so weit gekommen, da durften meine Anstrengungen nicht vergebens gewesen sein! Ich wollte es einfach nicht akzeptieren. Die Graberde über mir geriet in Bewegung. In großen Schüben wurde sie auf die Seite geräumt. Plötzlich traf Tageslicht mein Gesicht. Ich blinzelte. Grauer Himmel und Regenwolken begrüßten mich. Ich spürte kühle Regentropfen auf meiner Haut. »Da hast du dir ja einen denkbar schlechten Platz zum Schlafen ausgesucht, Jungchen«, sagte Lina Richter und lächelte mich mit ihren schmalen Lippen an. Ich erwiderte dankbar ihr Lächeln und stemmte mich hoch. Völlig verdreckt stieg ich aus dem Grab. »Lina, du bist wunderbar!« sagte ich heiser und drückte die Alte. Mein erster Weg führte mich ins Gästehaus, wo ich duschte und mich umzog. Es war später Nachmittag. Zum Essen nahm ich mir keine Zeit, aber Lina überredete mich zu einer Tasse Kaffee. »Weißt du, Jungchen, ich wollte letzte Nacht noch einen Schlaftrunk mit dir und Tessa nehmen! Als ihr nirgends zu finden wart, machte ich mir so meine Gedanken«, erklärte sie auf meine Frage, wieso sie zur rechten Zeit am rechten Platz war. »Ich ging
also zum Friedhof, weil ich euch dort vermutete«, fuhr sie fort. »Doch ich konnte euch auch dort nicht finden. Ich hab mich dann schlafen gelegt, aber abfinden konnte ich mich mit eurem Verschwinden nicht. Als ich heute nachmittag erneut auf den Friedhof ging, bemerkte ich die Bewegungen in dem frischen Grab.« Sie zuckte mit den schmalen Achseln. »Das ist alles«, fügte sie bescheiden hinzu. Ich bedankte mich noch mal bei ihr. Dann erhob ich mich. »Wo willst du hin, Jungchen?« erkundigte sich Lina. »In die Kirche«, antwortete ich. »Ich werde versuchen, Karel Hadek zur Kirche zu locken. Wenn er wirklich so begierig darauf ist, mich zu töten, wird er mir dorthin folgen. Dort habe ich mehr Chancen gegen ihn als auf dem Marktplatz«, erklärte ich. »Aber das ist heiliger Boden«, gab Lina zu bedenken. »Glaubst du wirklich, er wagt sich dorthin?« »Du hast mir erzählt, er hatte zu Lebzeiten vor Klöstern und Kirchen keinen Respekt«, erinnerte ich sie. »Dann wird er jetzt erst recht nicht fromm geworden sein.« Lina wollte im Gästehaus auf mich warten. Ich versprach, bald wieder zurückzukehren. Es war nur ein kurzer Weg zu MatthäiKirche. Ich suchte den Pfarrer und erklärte ihm die Situation. Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. »Ich kann das alles nicht so recht glauben, was Sie mir da erzählen, junger Mann«, sagte er. »Sie reden von Untoten, von längst verstorbenen Menschen, die angeblich aus den Gräbern aufstehen. Das gibt es nicht mein Sohn«, meinte er zweifelnd. »Aber es ist wahr«, beharrte ich. »Ich habe gegen diese Kreaturen gekämpft. Ich wurde vergangene Nacht lebendig begraben. Meine Freundin befindet sich in der Gewalt der Untoten. Und ihr Meister, Karel Hadek, kehrt in dieser Nacht zurück, um den Leichenzug der lebenden Toten anzuführen.« Ich blickte ihn ernst an. »Hunderte sind in Gefahr, Herr Pfarrer! Sie müssen mir helfen, die Untoten zu stoppen!« rief ich eindringlich. Meine Stimme hallte durch das Kirchenschiff. Der Pfarrer schaute nachdenklich zu Boden und begann, um den Altar herumzugehen. Ein paarmal blieb er stehen, schaute zu mir herüber, schüttelte den Kopf und begann seine Wanderung von neuem. »Und was wollen Sie allein gegen die Horde der Untoten ausrichten?« fragte er schließlich.
»Das ist es ja, Herr Pfarrer. Gerade weil ich ihnen allein gegenübertrete, werden mich Karel Hadek und seine Zombies unterschätzen«, erklärte ich. »Hadek wird unvorsichtig werden, und genau das ist unsere Chance, ihn zu vernichten und das Unheil abzuwenden.« Ich ließ meine Worte wirken. »Aber ich brauche Ihre Hilfe, Herr Pfarrer!« fügte ich dann hinzu. Der Geistliche sah zu dem riesigen Kreuz auf, das über dem Altar hing. Er holte tief Luft. Mir schien, als ginge ein Ruck durch seinen Körper. »Nun gut, junger Mann, Ihre Geschichte klingt zwar immer noch unglaublich, aber ich werde Sie unterstützen«, verkündete er. »Wie wollen wir vorgehen?« Ich schaute mich in der Kirche um. Im Prinzip genügte es, wenn ich Karel Hadek dazu bewegen konnte, mir bis zu den hintersten Kirchenbänken zu folgen. Dann mußten wir irgendwie das Kirchenportal verrammeln, und Hadek war von seinen Anhängern isoliert. Ich erläuterte dem Pfarrer meinen Plan. »Vielleicht wäre es auch noch hilfreich, Herr Pfarrer, wenn wir ringsherum im Kirchenschiff Heiligenbilder und -figuren sowie Kreuze an den Wänden anbringen würden«, schlug ich vor. »Je mehr der Teufelskünstler mit Symbolen und Bildern des Guten konfrontiert wird, desto schwächer wird er vermutlich sein.« Der Kirchenmann war zuversichtlich, die Kirche entsprechend herrichten zu können. Ich dankte ihm und drängte zur Eile. * Ich kehrte ins Gästehaus zurück, wo ich Lina Richter in ihrem Zimmer aufsuchte und ihr meinen Plan auseinandersetzte. »Hast du immer noch die Absicht, mitzumachen, Lina?« fragte ich. »Du weißt, ich bin dir nicht böse, wenn du hierbleiben willst.« Lina stand auf und ging zu einem Sessel, auf dem eine Plastiktüte lag. »Ich mache mit, Jungchen, und dabei bleibt es«, war ihre Antwort. »Gut«, sagte ich und reichte ihr meinen Arm. »Ach, Jungchen?« rief die Alte, drehte sich zu mir um und hielt mir die Tüte hin. »Das hätte ich fast vergessen. Ich hab die Dinger auf dem Friedhofsplatz gefunden, als ich dich und Tessa suchte«, sagte sie. Ich schaute nach. Die Tüte enthielt unsere Pistolen! »Lina, du bist wirklich eine Wucht!« rief ich
freudestrahlend und steckte die Waffen ein. Dann gingen wir nach draußen. Es wurde dunkel. Die alten Straßenlaternen tauchten die verwinkelten Straßen der Altstadt in romantisches Licht. Wir traten durch das hohe Kirchenportal der Matthäi-Kirche und schritten langsam den Mittelgang entlang. Der Pfarrer hatte ganze Arbeit geleistet. Überall in der Kirche waren Kerzen entzündet worden. An den Seitenwänden hingen große Bilder, die entweder den Heiland, die Mutter Gottes oder Szenen aus der Heiligen Schrift zeigten. Dazwischen waren in gewissen Abständen Kruzifixe aufgehängt und Podeste mit Heiligenstatuen aufgestellt worden. Selbst auf dem Altar hatte der Kirchenmann Heiligenbilder plaziert. Am verblüffendsten aber waren zwei große Schlafzimmerspiegel, die zu beiden Seiten des Altars angebracht waren. Auf dem Boden schräg gegenüber dem Altar standen zwei Madonnenfiguren. Die beiden Spiegel, in denen sich die Madonnen zeigten, zogen unweigerlich den Blick eines jeden auf sich, der den Mittelgang entlangkam. »Darf ich Ihnen Lina Richter vorstellen, Herr Pfarrer?« sagte ich und schüttelte dem Priester dankbar die Hand. »Sie war mir eine große Hilfe und will uns auch hier tatkräftig unterstützen.« Ich zog das Rangermesser. Der bläuliche Schimmer war verschwunden. Ich übertrug ein letztes Mal die magische Ausstrahlung des Rings auf das Messer und steckte es weg. »Jetzt können wir nur noch warten«, sagte ich leise. Die härteste Phase der Auseinandersetzung begann. Wenn wir Pech hatten, ließ uns Karel Hadek bis Mitternacht schmoren. Ich täuschte mich. Kurz nach neun drangen die ersten gellenden Schreie in die Kirche. »Es geht los!« rief ich und sprang auf. »Herr Pfarrer, Sie warten neben dem Portal. Sobald ich mit Hadek in der Kirche bin, schließen sie die Türen«, wies ich ihn an. Der Pfarrer hatte sich Eisenstangen besorgt, mit denen er das Portal verrammeln wollte. »Lina, du versteckst dich hinter dem Altar!« rief ich der Alten zu und hetzte nach draußen. Hysterische Menschen drängten mir entgegen und stürzten in panischer Angst an mir vorbei. Ich rannte Richtung Marktplatz. Ein unbeschreibliches Chaos herrschte. Leute schlugen auf ihrer Flucht lang hin oder wurden von anderen Fliehenden zu Boden gestoßen. Füße trampelten über sie hinweg. Die
Schmerzensschreie der Gefallenen vermischten sich mit den Angstschreien der Flüchtenden. Auch auf dem Marktplatz von Leisnig lief und schrie alles durcheinander. Mühsam bahnte ich mir einen Weg über den Platz. Und dann sah ich ihn - den Leichenzug der lebenden Toten! Der Anblick war genauso faszinierend wie grauenerregend. Dem Leichenzug voraus schritt ein Mann in einer hellen Kutte. Unter der Kapuze konnte ich ein hageres, bärtiges Gesicht erkennen, das von Pockennarben übersät war. Die stechenden Augen blitzten violett. So also siehst du aus, Hadek! dachte ich. Hinter dem Teufelskünstler folgten fünf weitere Kuttenträger, die aber alle skelettiert waren und Fackeln in den Knochenhänden hielten. Danach kam die hochgewachsene Gestalt Johann Richters. Ein Leichenwagen, gezogen von vier ebenso schwarzen Pferden, aus deren Nüstern violetter Atem schlug, polterte über das Kopfsteinpflaster. Dahinter folgten die lebenden Toten in stolpernden, hölzernen Schritten. Die Untoten befanden sich in verschiedenen Stadien der Verwesung. Es gab Skelette, mumifizierte Tote und halbverweste Leichen. Und es gab Zombies, die erst kürzlich zu den lebenden Toten gestoßen waren und noch die Spuren ihrer tödlichen Wunden trugen. Die Teufelskünstler hatten einen eigenartigen Singsang angestimmt, der an Choräle erinnerte. Die Zombies sangen nicht mit. Sie stolperten schweigend hinter dem Leichenwagen her. Links und rechts von dem unheimlichen Trauerzug flohen Menschen. Doch die Zombies griffen wahllos in die Menschenmenge und töteten ihre Opfer sofort. Die armen Teufel mußten sich dann hinten in den Leichenzug einreihen. Ich eilte der Prozession der Untoten entgegen. Dabei bemühte ich mich, Menschen aufzuhelfen und wegzuschicken. Schließlich stand ich mitten auf dem Marktplatz und hob den Arm. »Halt!« schrie ich. »Nicht weiter, Karel Hadek! Ich gebiete dir, den Leichenzug anzuhalten!« Meine Stimme übertönte die Schreckensschreie der fliehenden Menschen. Der Zug blieb tatsächlich stehen. Karel Hadek hob den Kopf. Das violette Leuchten seiner Augen wurde stärker. »Du gebietest mir, Unwürdiger?« donnerte mir seine Stimme entgegen. »Sollte nicht vielmehr ich es sein, der hier zu gebieten hat?« Ich lachte ihm höhnisch ins Gesicht. »Deine Zeit ist längst vorbei, Karel Hadek!« erwiderte ich. »Du hast hier nichts zu
befehlen. Deine lebenden Toten haben zwar viele Opfer gefunden, aber damit ist jetzt Schluß. Ich stehe hier, um dir den Kampf anzusagen und diesen Leichenzug aufzuhalten. Du wirst Mephisto keine Seelen mehr verschaffen, Hadek. Es ist vorbei. Das war es schon vor dreihundert Jahren!« Der Teufelskünstler starrte mich wütend an. Der flackernde Schein der Fackeln tanzte über sein narbiges Gesicht. »Was willst du allein schon gegen mich und meine Gefolgsleute unternehmen, Menschlein?« fragte er gehässig. »Übernimmst du dich da nicht ein wenig?« Statt einer Antwort zog ich die Pistolen und feuerte beidhändig. Ich hatte noch sechs Silberkugeln, und ich setzte sie gezielt ein. Die Schüsse fetzten in die Körper von zwei Skelettmönchen, und auch Johann Richter wurde getroffen. Hadeks Teufelsmönche sackten lautlos zusammen und zerbröselten zu Staub. Johann Richter aber stieß einen gellenden Schrei aus. Der hochgewachsene Untote riß beide Arme empor. Diesmal hatte er nicht die Zeit gehabt, sich durch den magischen Schleier zu schützen. Er brach in die Knie. Johann Richter schrie laut auf und spie eine Wolke weißen, stinkenden Rauchs aus. Langsam fiel der Untote vornüber auf das Gesicht und rührte sich nicht mehr. »Glaubst du immer noch, ich sei dir nicht gewachsen, Teufelskünstler?« rief ich. Karel Hadek schrie vor Wut. Er begann seine Fassung zu verlieren, und genau das hatte ich erreichen wollen. Doch ich freute mich zu früh. Hadek hob einen Arm und trat zur Seite. Der Leichenwagen setzte sich langsam in Bewegung. Er rollte leicht nach rechts, so daß ich die Seite des Wagens sehen konnte. Hadek gab wieder ein Zeichen, und der Wagen stand. Zwei Skelettmönche schritten neben den Wagen und schoben schwarze Samtvorhänge zur Seite. Mir stockte der Atem. Durch die gläserne Seitenwand erkannte ich Tessa Hayden im Innern des Wagens. Sie kniete auf dem Wagenboden. Ihre Hände hatte man mit Lederriemen links und rechts an den Rahmen der Glaswände befestigt. Eine Lederschnur war um Tessas Hals geknotet und zog ihren nackten Oberkörper straff nach hinten. Tessa konnte den Kopf kaum bewegen. Verzweifelt versuchte sie, einen Blick auf die Vorgänge außerhalb des Wagens zu erhaschen. Verdammter Mistkerl! dachte ich. Ich war stinksauer. Natürlich
hätte ich damit rechnen müssen, daß sich Hadek eine besondere Schweinerei für mich aufgedacht hatte. »Laß sie gehen, Hadek!« rief ich mit heiserer Stimme. »Du willst mich, und hier bin ich!« Der Samtvorhang schloß sich wieder. Karel Hadek lachte triumphierend. »Deine Überheblichkeit hat einen schweren Schlag erlitten, Unwürdiger!« rief er. »Natürlich lasse ich das Mädchen nicht frei! Aber du sollst deinen Kampf haben. Und das Weib wird der Siegerpreis sein!« Wieder lachte er dröhnend. »Auf gar keinen Fall, Hadek! Ich kämpfe nicht um das Mädchen allein, sondern auch für die Menschen dieser Stadt und dieses Landes!« schrie ich und marschierte auf ihn zu. Ich war schnell, so schnell wie selten zuvor. Während ich hochsprang, zückte ich das Rangermesser. Ich stieß einen Kampfschrei aus und flog fast waagrecht durch die Luft. Mein gestreckter Fuß traf die gläserne Seitenwand des Leichenwagens und zertrümmerte sie. Ich konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen, ob Tessa einige Schnittwunden abbekam. Ich mußte sie befreien. Das war das einzig Wichtige im Moment. Es ging alles blitzschnell. Die Scheibe zerklirrte, ich zog mein Bein heraus, riß es wieder hoch, wirbelte auf meinem Standbein herum und traf einen Skelettmönch quer vor der Brust. Er taumelte zurück und prallte gegen Hadek. Das Rangermesser sauste durch die zertrümmerte Scheibe und durchtrennte Tessas linke Handfessel und die Lederschnur, die um ihren Hals lag. Jetzt würde sie sich selbst befreien können. Ich fuhr herum und rammte dem anderen Skelettmönch das Messer mitten in die Knochenfratze. Er stieß einen Schrei aus und wankte nach hinten. Dabei taumelte er gegen einen Untoten und verlor seine Fackel. Sie flog mitten in den Leichenzug der Zombies und setzte mehrere der ausgemergelten Körper in Brand. Eine Kettenreaktion setzte ein. Die brennenden Zombies stießen gegen ihre Genossen und entflammten auch einige von ihnen. Ein unüberschaubares Durcheinander aus wankenden, schreienden Untoten und brennenden Zombies entstand. Ich sah, wie Tessa den Lederriemen von ihrer rechten Hand löste und sich auf die zertrümmerte Scheibe zubewegte. Ich reichte ihr die Hand und half ihr vom Wagen. »In die Kirche!« schrie ich ihr zu. Während Tessa die Kirchstraße entlangrannte, wandte ich mich an den tobenden Teufelskünstler. Ich hieb mit dem Messer nach
ihm, aber er wich geschickt aus. »Komm, Hadek!« schrie ich, »jetzt sind die Chancen gleichmäßig verteilt! Zeig jetzt, was du kannst!« Ich hätte ihn besser nicht dazu auffordern sollen, denn er kam meiner Bitte nach. Seine Augen sandten einen violetten Strahl aus, der seinen gesamten Körper umschloß. Hadek hob mir seine beiden Hände entgegen, und ein violetter Schleier schoß auf mich zu! * Die Glastür widerstand dem unablässigen Ansturm der lebenden Toten nicht lange. Mit einem lauten Knall zerplatzte sie und überschüttete die nachströmenden Zombies mit einem Scherbenregen. Einige Pfleger hatten eine Kette mit Eimern voller Weihwasser gebildet. Auf Pits Kommando schütteten sie die geweihte Flüssigkeit den eindringenden Untoten entgegen. Gellende Schreie aus den aufgerissenen, stinkenden Mäulern der Toten hallte den Verteidigern des Kurheims in den Ohren. Zombies gingen reihenweise zu Boden und behinderten ihre nachfolgenden Genossen. Das Weihwasser fraß riesige dampfende Löcher in ihre toten Körper. Eine weitere Angriffswelle der Untoten wurde ebenfalls mit Weihwasser gestoppt. Dann zogen sich die Pfleger zur Treppe in die oberen Stockwerke zurück. Die lebenden Toten knurrten zornig. Sie stolperten über die rauchenden, zerfallenden Überreste ihrer Genossen hinweg und näherten sich zögernd den Verteidigern des Kurheims. »Geh nach oben!« wies Pit seine Frau an. »Sie gehen besser auch, Herr Polizeirat«, sagte er zu Kilian. Der schüttelte den Kopf. Er hielt eine Dienstpistole und eine Flasche mit Weihwasser in der Hand. »Ich bleibe«, erwiderte der Polizeirat kurz, aber bestimmt. Dann griffen die Zombies an. Blitzschnell bewegten sie sich auf die Menschen zu, deren Seelen und Lebenskraft sie sich holen wollten. Pit hieb mit dem Silberdolch um sich wie ein Berserker und stieß wütende, heisere Schreie aus. Der Polizeirat jagte Schuß um Schuß in die Menge der Untoten und besprengte sie mit Weihwasser. Dabei bemühte er sich, so viele untote Angreifer
wie möglich zu erwischen. Die Kugeln konnten die Zombies zwar nicht vernichten, aber verunsichern und behindern. Dafür leistete das Weihwasser ganze Arbeit! Doch der Wut und Beharrlichkeit der Angreifer war auf die Dauer kaum wirkungsvoll entgegenzutreten. Kilian wurde von mehreren Untoten umzingelt, und auch an Pits Armen und Beinen krallten sie sich fest. Sie versuchten, den Hauptkommissar zu Boden zu ringen, um ihm den Dolch zu entreißen. Kalte, bleiche Totenfinger umklammerten Pit Langenbachs Kehle und schnürten ihm die Luft ab. Rote Blitze zuckten vor seinen Augen. »Laßt ihn los, ihr verfluchten Schweine!« Susanne Langenbachs Schrei erklang hinter den Zombies, die ihren Mann gepackt hielten. Susanne hatte sich einen Flammenwerfer gegriffen und richtete ihn auf die Zombies. »Euch mach ich Feuer unterm Hintern!« schrie sie und betätigte den Abzug. Eine Feuersäule fuhr unter lautem Fauchen aus der Sprühdüse und hüllte die Zombies in Flammen. Pit ließ sich einfach nach hinten fallen und befreite sich so aus dem Griff der Untoten. Sein Hals schmerzte und brannte wie Feuer. Die Totenfinger hatten blutige Kratzer hinterlassen. Pit stemmte sich hoch, hetzte auf den Polizeirat zu und teilte Hiebe mit dem Silberdolch aus. Kilian atmete dankbar auf und zog sich zur Treppe zurück. Susanne stieß einen wilden Schrei aus, wirbelte zu den anstürmenden Zombies herum und jagte ihnen eine Feuerlanze nach der anderen entgegen. Ein flammendes Inferno entstand unter den Angreifern. Ihre Schreckensschreie jagten Susanne eiskalte Schauer über den Rücken. Lebenden Fackeln gleich, taumelten die brennenden Zombies durcheinander. Dann gab das Gerät den Geist auf. Susanne schrie vor Wut und schleuderte den Flammenwerfer zwischen die Untoten. Gemeinsam mit Pit, Kilian und den Pflegern rannte sie die Treppe bis ins oberste Stockwerk hinauf. Es blieb keine Zeit mehr, den zweiten Flammenwerfer mitzunehmen. Türen knallten. Schlüssel wurden umgedreht. Möbelstücke wurden vor die Türen geschoben. Pit und Susanne stürzten in Tante Herthas Zimmer, schlugen die Tür hinter sich zu und schlossen ab. Mit einer Kommode und einem Bett verrammelten sie die Tür. Hertha saß in einem Sessel und hielt die kleine Anna in ihren Armen, die ihre Eltern mit schreckgeweiteten Augen anschaute.
Pit und Susanne ließen sich erschöpft auf dem Bett nieder. Susanne ergriff die Hand ihres Mannes. Ihre Augen sagten ihm das, was er selbst fühlte: Sie hatte die Hoffnung aufgegeben. Schritte erklangen auf dem Flur und verharrten vor der Tür. Langsam bewegte sich die Türklinke nach unten, und Susanne Langenbach stieß einen gellenden Schrei aus! * Ich wirbelte herum und hetzte davon. Der magische Schleier raste hinter mir her. Nur noch Sekunden blieben, bis er mich erreicht hatte. Ich ahnte den Hauseingang zu meiner Rechten mehr, als daß ich ihn sah. Mit einem verzweifelten Sprung brachte ich mich aus der Reichweite des violetten Schleiers und krachte durch eine halboffene Eingangstür in einen Hausflur. Der Schleier sauste an dem Haus vorbei. Ich rannte ihm hinterher und sah, wie er an einer Hauswand zerschellte und in unzählige violette Funken zersprang. Hinter mir hörte ich Karel Hadek fluchen und schreien. Ich warf einen Blick zurück. Über die Hälfte der Untoten waren von den Flammen ergriffen worden. Diejenigen Zombies, die dem Feuer entkommen waren, scharten sich hinter Hadek und den drei Skelettmönchen zusammen. Langsam folgten sie mir. Hadek schritt etwas schneller aus und sandte mir violette Blitze aus seinen Fingerspitzen nach, denen ich nur mit Mühe und Not ausweichen konnte. Auch sie zerplatzten an Hauswänden oder auf dem Kopfsteinpflaster zu einem Funkenregen. Als ich das Kirchenportal erreichte, waren Hadek und seine drei Skelettmönche nicht mehr weit hinter mir. Die Zombies stolperten und wankten langsamer nach. Ich blieb stehen. »Nun, Hadek, wie steht's?« rief ich. »Bist du bereit?« Als Antwort spitzte der Teufelskünstler die Lippen und blies mir seinen Atem entgegen, der mich in Form einer violetten Wolke wuchtig vor die Brust traf und mich durch das Portal in die Kirche schleuderte. Ich schlug mit dem Rücken auf die Marmorfliesen des Mittelgangs und rutschte nach vorne. Mit einem Satz erschien Karel Hadek im Eingang der Kirche und durchschritt das Portal. Die Skelettmönche folgten ihm auf dem Fuß.
Der Pfarrer war auf Zack. Kaum hatte Hadek mit seinen Begleitern den Mittelgang betreten, als der Kirchenmann die schweren Flügel des Portals zuzog, starke Riegel vorschob und die Türen mit zwei dicken Eisenstangen verstärkte. Das dumpfe Knallen, mit dem sich das Portal schloß, ließ den Teufelskünstler herumfahren. Er schleuderte seine Blitze auf den Pfarrer, doch der hechtete hinter einer Kirchenbank in Deckung. Die Blitze schlugen faustgroße Löcher in das Holz, aber sie verfehlten den Priester. »Willkommen in diesem Hort des Guten, Karel Hadek!« rief ich und sprang auf die Beine. »Wie gefällt es dir hier?« Jetzt erst schaute sich Hadek um. Überall fielen seine Blicke auf Symbole und Bilder des Guten. Die Skelettmönche senkten ihre Köpfe, um nicht auf die Wände blicken zu müssen. Der Anblick der Heiligen schien ihnen Schmerzen zu bereiten. »Nun, Hadek, wie geht's jetzt weiter? Ich dachte, du wolltest mir zeigen, wie sehr du mir überlegen bist, Teufelskünstler!« stachelte ich ihn an. Dabei ging ich langsam rückwärts auf den Altar zu. Mit festen Schritten folgte mir der Anführer der lebenden Toten. »Du Hund!« fauchte er. »Du bist schlauer, als ich dachte. Aber dies alles nützt dir nichts. Die Kirche hatte mir schon vor dreihundert Jahren nichts entgegenzusetzen, und so wird es auch heute sein! Sieh her!« rief er und schickte seine Blitze und seinen violetten Atem auf die Reise. Heiligenbilder wurden von den Blitzen durchbohrt und fielen zu Boden. Statuen zerplatzten unter Hadeks gewaltiger Kraft. Minuten später waren die Wände wieder so leer wie früher. »Und nun zu dir, Unwürdiger!« schrie mir Hadek entgegen. Ich stolperte rückwärts und warf mich vor dem Altar zu Boden. Hadeks Atemwolke verfehlte mich. Statt dessen traf sie die Bilder auf dem Altar, fegte sie vom Tisch und fetzte wie mit einer gewaltigen Faust durch die Buntglasscheibe des Mosaikfensters am Rand des Altars. Karel Hadek lachte schallend. »Du Armseliger!« brüllte er. »Ich werde dich zu meinem Gefolgsmann machen, und das Mädchen wird an meiner Seite schreiten und mir zu Willen sein. Und immer, wenn du sie siehst, wird es dir einen Stich versetzen und unsägliche Qualen bereiten!« Sein Lachen hallte von den Wänden wider. Ich drehte den Kopf und suchte den Altarraum nach Tessa
ab. Sie stand zitternd im Schatten einer Wand und hatte beide Arme vor der Brust verschränkt. »Rühr sie bloß nicht an, du Satansbraten!« erklang Lina Richters zitternder Wutschrei und unterbrach das Gelächter des Teufelskünstlers. Die zierliche Gestalt der alten Frau wieselte mit kleinen Schritten auf Hadek zu. In ihren kurzen Armen hielt Lina einen der großen Schlafzimmerspiegel, hinter dem sie fast völlig verschwand. Karel Hadek wandte sich seiner neuen Gegnerin zu. Einen Augenblick lang war er verblüfft, als er den Spiegel auf sich zukommen sah. Dann erkannte er die Madonna, die in dem Spiegel riesengroß erschien. Hadek stieß einen gellenden Schrei aus und legte den Arm schützend über die Augen. Diesen Augenblick nutzte ich aus, um mich aufzurappeln und mir den zweiten Spiegel zu greifen. »Geh in Deckung, Lina!« brüllte ich. Hadek erholte sich rasch von dem Anblick der Mutter Gottes. Er holte tief Luft und schickte Lina eine magische Atemwolke entgegen, die sie mitsamt dem Spiegel von den Beinen fegte. »Fahr endlich zur Hölle, wo du hingehörst, Hadek!« schrie ich in ohnmächtigem Zorn und stürzte ihm entgegen. Ich wollte den Teufelskünstler mit dem Spiegel aus dem Gleichgewicht bringen und ihm dann mit Messer und Weihwasser den Rest geben. Karel Hadek wirbelte herum und erschrak, als er einen zweiten Spiegel auf sich zukommen sah. Er hob seine Arme zur Abwehr. Vielleicht hatte er ein zweites Madonnenbild in dem Spiegel erwartet, doch er sah nur die glatte Spiegelfläche. Und dann reagierte der Teufelskünstler, aber völlig falsch. Anstatt mir wieder seine Atemwolke entgegenzuschicken und mich wegzupusten, verabreichte er mir die gesamte Palette seiner violetten Strahlen. Offenbar wollte er die Auseinandersetzung nun zu einem raschen Ende bringen. Strahlenblitze schossen aus seinen Augen, aus seinem Mund und seinen Handflächen. Mit voller Wucht trafen sie den Spiegel. Doch der Schuß ging im wahrsten Sinn des Wortes nach hinten los. Der Spiegel warf die Strahlen zurück! Noch bevor Karel Hadek reagieren konnte, trafen ihn die magischen Todesstrahlen, die er mir zugedacht hatte. Ein unmenschliches Brüllen löste sich aus Karel Hadeks Kehle. Hochaufgerichtet stand er im Mittelgang. Sein ganzer Körper war in violettes Licht getaucht. Ein Zittern ging durch seine Glieder.
Schaurig hallte sein Schreien in der Kirche. Plötzlich lösten sich Strahlen von seinem Körper und durchschlugen die Totenschädel der drei Skelettmönche. Klappernd fielen die Knochengerippe zu Boden, wo sie langsam zu Staub zerfielen. Karel Hadek brüllte immer noch. Sein Gesicht veränderte sich. Die Haut schien zu vertrocknen und zu schrumpfen. Seine weit aufgerissenen Augen trockneten aus und zerbröselten. Unter der Kutte schrumpfte auch sein übriger Körper. Seine Arme und Beine sahen bald aus wie verdorrte, trockene Zweige. Schlagartig wurde es still in der Kirche. Urplötzlich erlöschte das violette Leuchten um Hadeks Körper. Karel Hadek fiel nach hinten. Als er auf dem Kirchenboden aufprallte, zersplitterte der ausgedorrte Körper wie Glas. Die einzelnen Teile zerfielen zu Staub. Den Teufelskünstler Karel Hadek gab es nicht mehr. * Ich lief zur alten Lina und befreite sie von dem schweren Spiegel. »Wird aber auch allmählich Zeit, Jungchen!« zeterte sie. »Ich befürchtete schon, ich müßte hier für den Rest meiner alten Tage als Spiegelhalter liegenbleiben!« Ich half ihr hoch. »Lina, Lina, was machst du aber auch für Sachen?« schalt ich lächelnd. »Ich hatte doch gesagt, du solltest hinter dem Altar bleiben!« »Dann hätte ich doch das Beste verpaßt«, verteidigte sie sich. »Du mußt zugeben, die Idee mit dem Spiegel war gar nicht so schlecht, Jungchen.« »Du hast recht, Lina. Schlecht war die Idee wirklich nicht«, gab ich zu. Wir gingen zu Tessa. Der Pfarrer erschien auch aus seiner Deckung und hängte Tessa seine Jacke um die Schultern. Plötzlich dämmerte mir, was die Alte eben gesagt hatte. »Moment mal, Lina!« rief ich. »Willst du etwa damit sagen, du hast gewußt, daß er seine Blitze auf den Spiegel abschießt?« Lina grinste und zwinkerte Tessa zu. »Nee, Lina, also wirklich!« rief ich und weigerte mich, ihr zu glauben. * Die Langenbachs beobachteten starr vor Schreck, wie sich die
Türklinke wieder hob und dann erneut senkte. Ein dumpfer Schlag erfolgte gegen die Zimmertür. Es klang so, als würde sich jemand mit der Schulter dagegen werfen. Wieder und wieder erzitterte die Tür unter heftigen Schlägen. »Papi, ich hab Angst!« schrie Floh und klammerte sich fester an Tante Hertha. »Ich will nicht, daß sie mich holen, Papi! Bitte, tu doch was!« Pit Langenbach warf seiner Frau einen verzweifelten Blick zu. Er stand auf und drängte seine Familie und Hertha in eine Zimmerecke. Dann stellte er sich schützend vor sie und umklammerte den Dolch, bis seine Fingerknöchel weiß unter der Haut schimmerten. Innerlich bereitete er sich auf einen Kampf bis zum Äußersten vor. Im nächsten Augenblick zuckte die Türklinke nach oben. Vor der Tür erklang ein dumpfes Poltern. Gegen die Tür wurde kein Schlag mehr geführt. Todesstille trat ein. Auch von den anderen Zimmern war kein Angriffslärm zu vernehmen. Pit warf Susanne einen unsicheren Blick zu. Sekunden später war der Entschluß gefaßt. Gemeinsam schoben sie das Bett und die Kommode zur Seite, schlossen die Tür auf und traten auf den Flur hinaus. An der Wand neben der Tür fanden sie ein Häufchen Staub. Polizeirat Kilian trat auf die Langenbachs zu. Zusammen gingen sie nach unten in die Eingangshalle. Die lebenden Toten gab es nicht mehr. Sie waren allesamt zu Staub zerfallen. Nur noch die Unordnung und die zersplitterte Eingangstür zeugten von den dramatischen Ereignissen der letzten Stunden. »Aber wieso?« fragte Polizeirat Kilian verblüfft. »Ich meine, sie sind verschwunden, einfach so, von jetzt auf gleich. Verstehen Sie das?« Pit lächelte und steckte den Silberdolch weg. »Mark Hellmann«, antwortete er. »Es muß ihm gelungen sein, den Anführer der lebenden Toten zu vernichten und damit seine Magie zu zerstören. Das ist die einzige Erklärung.« Pit Langenbach umarmte Susanne, Floh und Tante Hertha. Tränen schimmerten in seinen Augen. * Wir saßen im Cafe am Weinberg in Bad Lausick. Polizeirat Kilian
hatte uns zur erfolgreichen Bekämpfung der lebenden Toten beglückwünscht. Der Leichenzug von Leisnig hatte sich vollständig aufgelöst. Die lebenden Toten vor dem Kirchenportal waren mit Karel Hadeks Tod zu Staub zerfallen. Die schwarze Leichenkutsche war mitsamt den Pferden spurlos verschwunden. Wir fanden nicht die geringste Spur von ihr. Im Kurheim hatte man rasch Ordnung geschaffen. Der Kurbetrieb war wieder aufgenommen worden, und alles ging seinen gewohnten Gang. Lina Richter hatte sich ebenfalls bei mir bedankt, daß ich den Kupferschmied Johann von seinem untoten Dasein erlöst hatte. Mittlerweile verdrückte sie ihr drittes Stück Schwarzwälder Kirschtorte. »Langsam, langsam, Lina!« versuchte ich sie zu bremsen. »Du haust ja rein, als wenn es das letzte Stück Torte deines Lebens wäre«, sagte ich. »Jungchen, ich weiß nicht, wann ich so was Feines wieder mal bekomme«, verteidigte sie sich. Während sich Tante Hertha wieder ihren Kurbehandlungen unterzog, verbrachten Tessa und ich den Nachmittag mit den Langenbachs im Freizeitbad Riff. Ein bißchen Erholung nach all dem Streß kam uns ganz gelegen. Floh hatte natürlich am meisten Spaß und planschte und tollte munter herum. Die Kleine hatte die Aufregungen der vergangenen Nacht gut verarbeitet. Tessa und ich zogen uns in die Saunalandschaft zurück, als die Langenbachs das Bad verließen. Tessa streckte sich auf der obersten Saunabank aus und legte ihren Kopf auf meinen Schenkel. Ich beobachtete, wie sich die Schweißperlen auf ihrem schönen, nackten Körper sammelten. Sachte ließ ich meine Hand über ihre Brust und den Bauch gleiten und streifte die Schweißtropfen ab. Wir verließen die Saunakabine und stiegen in ein geräumiges Sprudelbecken. Tessa schmiegte sich an mich, während das sprudelnde Wasser unsere Lebensgeister weckte. Ich spürte Tessas Lippen auf meiner Brust, zog sie hoch und küßte sie. Sanft strichen ihre Finger an meinem Oberkörper entlang. »Bleiben wir noch lange?« fragte sie leise. Ich schaute sie an. »Warum fragst du?« wollte ich wissen. »Hast du was Bestimmtes vor?« »Laß dich überraschen«, flüsterte sie und küßte mich wieder. Im Hotel am Markt, wo wir uns einquartiert hatten, besorgte ich eine Flasche Sekt an der Hotelbar, während Tessa schon auf
unser Zimmer vorging. Bei der Gelegenheit ließ ich mir auch noch einen kleinen Imbiß zubereiten. Ich balancierte das Tablett und öffnete mit dem Ellbogen die Zimmertür. Plötzlich erklang gedämpfte Musik aus einem kleinen Radio. Mit dem Absatz drückte ich die Tür ins Schloß. Tessa Hayden stand mitten im Zimmer und wiegte ihre Hüften im Rhythmus der Musik. Und dann begann sie zu tanzen. Langsam zog sie sich aus, Stück für Stück. Es war ein heißer Strip. Nackt schwebte Tessa auf mich zu und sah dabei aus wie ein Engel. Sie nahm mir das Tablett ab und stellte es auf einen kleinen Tisch. Mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen streifte sie mir die Kleider ab. Dabei schmiegte sie sich immer enger an mich. Mein Blutdruck stieg! Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich legte meinen Arm um Tessas Hüften, hob sie hoch und trug sie zum Bett. Eng umschlungen ließen wir unserer Leidenschaft freien Lauf…
ENDE Es war kalt geworden. Herbstnebel zogen von der Spree herauf und hüllten die Anlagen am Altstadtring ein. Nebelfetzen waberten über die Stadtpromenade von Cottbus, die bei diesem Wetter nachts fast ausgestorben war. Hastige Schritte ertönten auf dem Pflaster. Die ihren Blicken den Nebel zu durchdringen. Mit einer Hand geschlossen. Die Hand, die aus der Nebelwand hervorschoß, bemerkte sie erst, als sie sich hart um ihren Mund legte und sie ruckartig entführte
Der Sichelmörder von Cottbus hat wieder zugeschlagen! Rettung für die Blondine scheint es nicht mehr zu geben, doch man soll ja nie die Hoffnung aufgeben. Wie es um das Schicksal der jungen Frau bestellt ist, erfahrt Ihr nächste Woche in C.W. Bachs 18. >Mark Hellmann<-Roman.