Kapitel 1
Die Armee war schon fast einen Monat unterwegs, in dem sie immer etappenweise vorankam. Die Truppen bauten f...
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Kapitel 1
Die Armee war schon fast einen Monat unterwegs, in dem sie immer etappenweise vorankam. Die Truppen bauten für mehrere Tage ein Lager auf und schickten die Jäger und Diebe aus, um ihre Vorräte aufzufüllen, dann brachen sie die Zelte ab, zogen eine Woche lang weiter, um anschließend den Vorgang zu wiederholen. Sie waren soviel wie möglich unterwegs, denn sie befürchteten, daß die verhaßten Ritter von Solamnia – die angeblich in der Nähe waren – sie überfallen würden, bevor sie bereit waren. »Ich werde das Gelände auswählen«, sagte Moorgoth gern. »Sie werden mich auf meinem Gelände bekämpfen.« Die Armee war ein zusammengewürfelter Haufen Männer und Frauen aus diesem Teil von Ansalon. Ihr Rückgrat war die Söldnertruppe. Diese Männer und Frauen wurden gut behandelt, aßen das Beste, bekamen den besten Wein und die besten Plätze für ihre Zelte. Die übrigen waren Angeworbene oder Schuldner. Wer dem Baron Geld schuldete – und davon gab es in Sanction nicht wenige –, konnte diese Schulden durch Dienst in seiner Armee begleichen. Sie waren diejenigen, die Uwels Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Die Söldner – die ihren eigenen Wert kannten – ließen sich so etwas nicht gefallen. Die Soldaten waren zum größten Teil Menschen, höchstens hin und wieder ein Halbblut. Moorgoth lehnte es ab, mit Hobgoblins oder Ogern zu kämpfen, die angeblich zu undiszipliniert waren. »Wir haben unsere eigenen Maßstäbe, Sir!« schnaubte
Uwel. Zu Theros’ Erleichterung – und Überraschung – befand sich der schwarzgekleidete Zauberer, der seine Schmiede niedergebrannt und damit bewiesen hatte, daß er mit Feuersprüchen umzugehen wußte, nicht in ihren Reihen. Er fragte Uwel nach dem Magier. »Wenn es jemanden gibt, der sich keiner Disziplin unterwirft, Sir, dann sind das die Magier. Zu sehr daran gewöhnt, daß alles nach ihrer Nase geht, Sir, soviel steht fest. Außerdem sind sie allesamt eingefleischte Feiglinge. Wir haben es einmal mit einem probiert, aber der Baron sagte: ›Nie wieder!‹ Sobald der erste Pfeil an seinem Kopf vorbeipfiff, kippte der Mann einfach um. Und als ich ihn ein bißchen mit meinem Messer piekte, Sir, damit er wieder zu sich kam, quiekte er wie ein abgestochenes Schwein. Hat dem Feind unsere Position verraten. Ich war gezwungen, ihm meinen Schwertgriff über den Kopf zu ziehen, um ihn zum Schweigen zu bringen.« »Hat das gewirkt?« fragte Theros. »Ja, Sir. Dauerhaft, Sir.« Uwel machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe wohl ein bißchen zu hart zugeschlagen, Sir.« Die Soldaten wußten nicht, daß sie auszogen, um Ritter von Solamnia zu bekämpfen, die einzige organisierte Armee, die zwischen Moorgoths Truppe und den Städten und Dörfern stand, die sie plündern wollten. Die Offiziere wußten Bescheid, aber sie gaben nichts an die Männer und Frauen unter ihrem Befehl weiter. Die Soldaten sollten sich rühren und kämpfen, wenn man es ihnen befahl, nicht aber in die Entscheidungen einbezogen werden, wohin man zog oder weshalb. Sie wurden bezahlt, und für Dargon Moor-
goth reichte das. Wenn es nicht reichte, sorgte Uwel Lors, der dienstälteste Gemeine, für eine rasche, wirksame Strafe. Yuri war nicht der einzige, der Uwels Peitsche zu spüren bekam. Der Mann war sehr geschickt damit und belebte einen ansonsten langweiligen Marsch gern, indem er sie über die Köpfe der Soldaten oder nach ihren Hacken knallen ließ. Wer sich beschwerte, wurde aus der Reihe genommen und erfuhr eine gröbere Behandlung. Zur Abwechslung benutzte Uwel dann neben seiner Peitsche auch die Fäuste. Manchmal gehörte es zu Theros’ Aufgaben, solche Unglücklichen aufzulesen, die gewöhnlich bewußtlos am Straßenrand liegenblieben, bis die Wagen am Ende des Zuges heranrollten. Angst und Geld – oder die Hoffnung darauf – waren es, was die Armee zusammenhielt. Theros verglich das mit den Minotauren, die für den Ruhm ihres Landes, ihres Clans und für ihre persönliche Ehre kämpften. Die Begeisterung, die Theros gefühlt hatte, weil er wieder einer Kampfeinheit angehörte, verflog rasch. Aber er sagte nichts. Das war nicht seine Aufgabe. Es war nicht seine Armee. Er würde die Arbeit erledigen, für die er bezahlt wurde – gut bezahlt. Nach drei Marschtagen ließ Moorgoth die Armee anhalten. Es wurden wieder Zelte aufgestellt, aber Theros bekam den Befehl, die Schmiede und die Ausrüstung noch nicht aufzubauen. Sie würden wieder weiterziehen. Theros und Yuri kümmerten sich um kleinere Reparaturen der Ausrüstung, die sie mit dem kleineren Schmiedefeuer bewerkstelligen konnten, als ein Läufer heranflitzte. »Herr Baron Moorgoth ersucht um das Vergnügen Eurer Anwesenheit bei einer Offiziersversammlung in dreißig
Minuten. Soll ich ihm mitteilen, daß Ihr teilnehmen werdet?« Theros nickte und schickte den Soldaten mit einer Handbewegung weg. Er traute Moorgoths großspurigen Worten nicht so recht – Theros mußte immer die höflichen Nichtigkeiten durchforsten, bis er zum Kern der Sache kam –, doch er freute sich auf die Gelegenheit, mit ihm reden zu können. In den letzten Tagen hatten die anderen Offiziere der Armee begonnen, ihn und die anderen beiden neuen Männer zu schneiden. Sie redeten nicht weiter, wenn Theros, Cheldon oder Belhesser zu ihnen traten. Theros hatte keine Ahnung, was er gesagt oder getan hatte, das jemanden beleidigt hätte. Er hoffte, Moorgoth könnte ihm vielleicht eine Erklärung geben. Das Kommandozelt stand in der Mitte des kleinen Lagers. Die Standarte der Armee – ein schwarzer Schlangenkopf auf rotem Grund – flatterte an der vorderen Zeltstange. Vier Wachen standen vor dem Zelt bereit. Das waren doppelt so viele wie in einer Minotaurenarmee. Die Wachen winkten Theros durch. Offensichtlich wurde er erwartet. Er betrat das Zelt, wo die anderen Offiziere bereits versammelt waren. »Ich will gleich zur Sache kommen«, erklärte Moorgoth. Seine Stimme war scharf, sein Gesicht gerötet. »Es ist ein Spion im Lager. Und einer von Euch dreien«, er wies auf Theros, Cheldon und Belhesser, »ist dafür verantwortlich.« Die drei Offiziere starrten einander an. Cheldon schüttelte ungläubig den Kopf. Theros flüsterte ihm zu: »Also darum geht es! Sie glauben, es ist jemand aus unseren Reihen! Wir sind die Neuen.« Cheldon nickte. Er sagte nichts, machte aber ein besorg-
tes Gesicht. Moorgoth fuhr fort: »Wir haben ein Problem, meine Herren. Jedesmal, wenn wir weiterziehen, kommt die Armee der Solamnier uns zuvor, bleibt in Reichweite und schneidet uns von unserem Ziel ab. Unsere Armee ist klein. Wir können nicht ein Dorf angreifen und gleichzeitig genug Leute zurückhalten, um diese verdammten Ritter abzuwehren. Unseren Fährtenlesern zufolge sind wir den Rittern zahlenmäßig überlegen, aber ihre Truppe besteht fast zur Hälfte aus schwerer Kavallerie. Sie sind sehr mobil, und darin liegt unser Problem. Uns läuft die Zeit davon, meine Herren. Wir müssen die drei Orte in dieser Gegend bald einnehmen. Ich brauche neue Rekruten, Geld und Vorräte für meine Armee. Bevor wir diese Orte angreifen, müssen wir diese verdammte Solamniertruppe erledigen!« Moorgoth warf einen strengen Blick auf die drei Offiziere und starrte sie nacheinander an. Jeder von ihnen hielt dem Blick des Kommandanten stand, auch Theros. Moorgoth schien zufrieden zu sein. »Ich vertraue Euch Männern. Jedem von Euch. Aber einer von Euch beherbergt einen Spion. Findet diesen Menschen, bringt ihn oder sie zu mir, und Ihr werdet gut belohnt werden. Verstanden?« Die Offiziere nickten zustimmend. Nach dem Treffen hielten Theros und die beiden anderen Männer in Belhessers Zelt ein eigenes Treffen ab. »Jetzt haltet aber wirklich bei euren Leuten die Augen offen. Besonders du, Theros«, betonte Belhesser. »Ich kenne alle meine Leute. Sie sind schon seit Jahren bei mir. Aber
du hast frische Rekruten unter dir. Wer weiß, wo die herkommen oder wer sie sind.« Theros hatte drei Männer eingestellt, die in seiner Schmiede helfen sollten. Er hatte sie unter den Angeworbenen ausgesucht, weil sie stark genug waren, die schwere Schmiedeausrüstung zu schleppen. Yuri war immer noch Theros’ Lehrling, und die anderen drei taten, was anfiel. Sie arbeiteten hart. Theros kannte sie wirklich noch nicht gut, und er mußte zugeben, daß jeder von ihnen der Spion sein könnte. Bisher hatte er an den Männern nur auszusetzen, daß sie den jüngeren Yuri hänselten und schlecht behandelten, wenn sie glaubten, Theros sähe nicht hin. Eines Tages hatte Theros hingesehen. Er hatte einschreiten wollen, hatte es sich dann aber anders überlegt. Yuri mußte lernen, sich alleine durchzusetzen. Schließlich waren sie nicht in einer elfischen Tanzschule. Das hier war eine Armee. Das Leben hier war so rauh wie die Männer und Frauen, die es führten. Theros nickte. »Ich werde ein Auge auf sie haben. Dennoch glaube ich, daß der Spion höchstwahrscheinlich im Troß steckt. Die Frauen aus dem sogenannten ›Freudentroß‹ kommen und gehen, wie es ihnen gefällt.« Cheldon Sarger lachte nervös. Jeder von ihnen war nervös, angespannt, sah immer wieder über die Schulter. »Es könnte jeder sein, bei Morgion! Wir müssen gut achtgeben. Ganz gleich, was Moorgoth sagte, der Offizier, bei dem man einen Spion findet, ist unten durch.« »Wahrscheinlich tot!« stellte Belhesser finster richtig. Nach dieser bedrückten Feststellung lösten sie das Treffen auf. Theros ging durch die Reihen der Infanteriezelte zu seinem eigenen Zelt zurück.
Als er durch das Lager lief, bemerkte er eine auffällige Unruhe. Soldaten, die normalerweise herumfaulenzten und spielten, plauderten oder kochten, polierten statt dessen ihre Waffen und überprüften ihre Rüstungen. Offiziere liefen zum Kommandozelt und wieder zurück. Moorgoth hatte angekündigt, es würde einen Kampf geben, aber er hatte nicht gesagt, wann. Offensichtlich wußten alle anderen im Lager Bescheid. Theros nicht. Dieses Wissen machte ihn wütend. Er war praktisch des Verrats angeklagt. Seine Ehre war in Frage gestellt. Aber er konnte sich nicht verteidigen. Nicht, ehe er sicher wußte, daß keiner seiner Leute der Spion war.Theros hatte Yuri den Auftrag gegeben, ihn vor Sonnenaufgang zu wecken. Der Himmel war grau, und man konnte bereits etwas sehen, doch bald würde das Tal von der Sonne überflutet und heiß werden. »Hol mir etwas zu essen aus den Verpflegungszelten und sieh zu, ob du noch etwas Brot zusätzlich bekommen kannst«, knurrte Theros. »Ja, Herr.« Yuri lief davon. Theros sah ihm nach. »Er könnte der Spion sein. Jeder von ihnen könnte der Spion sein! Wenn es einer von ihnen ist, wird er meinen Zorn zu spüren bekommen!« Er zog seine Kniehosen und die schwarzen Lederstiefel an. Theros trug den rotbraunen Übermantel und darüber einen Gürtel mit ledernen Schulterriemen, die in der Rückenmitte zu einem »Y« zusammenliefen. Dort war die Metallhalterung befestigt, in der seine doppelköpfige Streitaxt steckte. Hran hatte immer erklärt, daß die Axt die perfekte Waffe für einen Schmied sei. Man war bewaffnet und kampfbereit, hatte aber dennoch beide Hände frei, um zu arbeiten,
wenn dies nötig war. Diese Streitaxt hatte Theros selbst entworfen, und sie war seine Lieblingswaffe. Auf dem Weg zur Schmiede sah Theros Yuri beim Essen anstehen. Die junge Frau, die ihn bediente, flirtete mit dem jungen Mann. Die beiden redeten eine ganze Weile miteinander. Hin und wieder wurde die Frau rot oder kicherte. Yuri sah sie bewundernd an, ein Gefühl, das offensichtlich erwidert wurde. Soviel Geturtel, während Theros am Verhungern war! Er wollte gerade hinstapfen und seinen Lehrling abholen, als Yuri mit dem Essen zurückkam. Er hatte sogar das zusätzliche Brot, das Theros sich gewünscht hatte. Ohne ein Wort nahm Theros Yuri das Essen ab und schlang es hungrig herunter. Die Männer hatte schon früher gegessen, als es noch dunkel gewesen war. In dieser Armee aßen die Offiziere zuletzt. Es waren die Soldaten, die zuerst an der Reihe waren, damit sichergestellt war, daß sie gut ernährt waren. Keine Armee konnte überleben, wenn ihre Truppen hungerten. Apropos Truppen… Die plötzliche Erkenntnis traf Theros wie ein Schlag auf den Kopf. Wo waren die Pferde? Theros stellte seinen Teller ab und stand auf. Er sah sich im Lager um. Die Stelle, wo die Kavallerie gestanden hatte, war leer. Dort grasten keine Pferde. Keine Zelte, keine Männer. Theros hatte einen gesunden Schlaf. Dennoch hätte er hören müssen, wie die Männer losgeritten waren – wenn sie sich nicht absichtlich im Dunkeln davongestohlen und jedes Geräusch vermieden hatten. Als ob sie sich vor dem Feind verbargen. Nur steckte dieses Mal der Feind im Inne-
ren! Er rief nach Yuri. »Wo beim Abgrund ist die Kavallerie hin?« Yuri zwinkerte erstaunt. »Tut mir leid, Herr, ich hatte gar nicht bemerkt, daß sie weg sind.« »Dann finde es heraus, verdammt noch mal!« knurrte Theros. Die scharfen Hornklänge des »Offiziere zu mir« schallten durch das Lager. Fluchend nahm Theros einen tiefen Schluck aus dem Wassereimer und eilte im Laufschritt zum Kommandozelt. Als er diesmal durch die Reihen der Infanterie lief, sah er, daß die Soldaten marschbereit waren. Ihre Befehlshaber hatten sie in Reih und Glied antreten lassen, und sie warteten auf den Befehl zum Aufbruch. »Wie nett von Moorgoth, daß er mir sagt, was los ist«, murmelte Theros. Er betrat das Zelt gleichzeitig mit den übrigen Offizieren. Cheldon und Belhesser standen in einer Ecke zusammen, und Theros gesellte sich zu ihnen. »Weiß einer von euch, warum die Kavallerie heute morgen aufgebrochen ist?« fragte Theros mit gedämpfter Stimme. Beide schüttelten den Kopf. Sie wirkten verstimmt. »Ich habe nicht einmal gehört, wie sie fort sind«, erwiderte Belhesser. »Offenbar wissen die Infanterieoffiziere Bescheid. Sie sind marschbereit.« »Jeder weiß Bescheid, nur wir nicht«, stellte Theros ärgerlich fest. Baron Moorgoth betrat das Zelt, dicht gefolgt von Uwel Lors. Uwel bellte den Offizieren einen Befehl zu, und diese
nahmen Haltung an. Moorgoth trat in den vorderen Teil des Zeltes. »Meine Herren, bitte nehmt Platz. Wir Ihr wißt, ist die Kavallerie während der Nacht aufgebrochen.« »Verzeihung, Sir«, sagte Theros, »aber einige von uns wußten nicht Bescheid.« Moorgoth wandte seine Aufmerksamkeit den drei Offizieren zu. »Quartiermeister, Schmied und Logistikoffizier – ich bin jedem von Euch eine Erklärung schuldig. Ich habe nicht vor, Euch auszuschließen, aber wie ich schon sagte, ich habe Grund zu der Annahme, daß der Spion in Euren Reihen steckt, und keiner von Euch hat mich eines Besseren belehrt.« Die drei Offiziere tauschten Blicke aus. »Ihr traut uns nicht«, sagte Theros zornentbrannt. »Ich traue Euch dreien«, stellte Moorgoth ruhig richtig. »Deshalb seid Ihr hier.« Theros’ Ärger legte sich. Immerhin stand seine Ehre nicht in Frage. Nur das zählte. Moorgoth fuhr fort: »Ich habe gegen Mitternacht die Nachricht erhalten, daß die Truppe der Solamnier nur noch zehn Meilen nördlich von hier steht und in unsere Richtung zieht. Wir stehen nur zehn Meilen östlich der Stadt Milikas, unserem derzeitigen Ziel. Ich habe die Kavallerie ausgeschickt, um die Stadt zu überfallen. Sie werden zuschlagen, wenn die Sonne am höchsten steht. Dieser Angriff wird die Solamnier dazu veranlassen, aus ihrem Versteck zu kommen, und sie dazu zwingen, sich uns zum Kampf zu stellen – zu unseren Bedingungen! Auf unserem Gelände!« Moorgoth grinste, genau wie jeder andere im Zelt. Der
Plan wurde langsam deutlich. »Während die Kavallerie die Ritter an der Front beschäftigt, wird die Infanterie sie von hinten angreifen. Wir legen uns in den Hinterhalt und erledigen diese Hunde, ehe sie wissen, was ihnen widerfahren ist. Aber dazu müssen wir heute morgen einen Gewaltmarsch ansetzen, bis wir nur noch eine Meile vor der Stadt stehen. Wir haben neun Stunden für neun Meilen. Glaubt Ihr, das schaffen wir?« Lauter Jubel erhob sich. Moorgoth lächelte und ging. Danach sahen alle einander an. Eine Armee von tausend Mann, jeder mit schwerem Marschgepäck, sollte über diese Entfernung marschieren – nein, rennen? Sie in neun Stunden bewältigen? Nun, sie hatten gesagt, sie könnten es schaffen. Jetzt waren sie dazu verpflichtet. Kurz darauf löste sich die Versammlung auf. Die Offiziere liefen zu ihren Abteilungen, um mit den Vorbereitungen zu beginnen. Theros trieb seine Soldaten an. Er schickte Yuri nach den Wagen. Als die Wagen ankamen, war die Schmiede bereits abgebrochen und verladebereit. Sie schoben gerade die schweren Kisten auf die Gefährte, als Baron Moorgoth kam. »Macht weiter, Männer. Gute Arbeit, allesamt. Oh, Hauptmann Eisenfeld, auf ein Wort, bitte.« Moorgoth zog Theros zur Seite und sah sich um, ob auch niemand zuhörte. Nachdem er sicher war, daß sie allein waren, hockte sich Moorgoth auf den Boden. Er zog eine Karte heraus und rollte sie vor ihnen aus. »Eisenfeld, Ihr und die anderen Versorgungseinheiten werdet langsamer sein als der Rest der Armee. Ich werde eine Kompanie Infanterie abstellen, um Euch zu begleiten.
Wenn Ihr diese Position erreicht«, Moorgoth zeigte ihm die Stelle auf der Karte, »möchte ich, daß Ihr dort die Schmiede aufbaut. Wenn der Plan funktioniert, will ich, daß Ihr Pfeile und Speere herstellt, bis wir in diese Gegend zurückkehren. Wir brauchen schnell neue Waffen. Wird das gehen?« Theros nickte. »Ja, Sir. Aber warum sagt Ihr mir das? Belhesser Vankjad ist Kommandant der Logistik.« »Ich sage es Euch, weil Ihr es wissen müßt. Mit Vankjad habe ich bereits gesprochen. Er informiert den Quartiermeister. Ihr habt etwas auf dem Herzen, Eisenfeld. Was ist los?« Theros kratzte sich am Kinn. »Sir, diese Geheimniskrämerei gefällt mir nicht. Ihr sondert uns vom Rest der Armee ab. Die anderen Offiziere vertrauen uns nicht. Wir sind loyal, genau wie sie.« »Ja, das weiß ich«, erwiderte Moorgoth. »Und ich weiß jetzt, wo der Spion steckt. Ich weiß nur noch nicht, wer es ist. Und keine Sorge, er ist nicht in der Schmiede. Ihr könnt beruhigt sein.« Theros stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Moorgoth lächelte und schlug Theros auf die Schulter. »Ich muß gehen. Wir sehen uns heute abend. Seid pünktlich auf Eurem Posten. Guten Marsch!« Theros salutierte, während der Baron zu der Kolonne ging, die sich jetzt formierte. Wenn sein Plan aufging, würde Moorgoth für seine Armee ein Held sein. Wenn nicht, würde Theros womöglich wieder vor einem siegreichen Feind davonlaufen. Er betete nicht gern um Hilfe, aber er bat Sargas doch darum, ein Auge auf sie zu haben. Theros wußte nicht viel über Sargas, aber er war ziemlich sicher, daß der gehörnte Gott für die Ritter von Solamnia wenig übrig hatte.
Kapitel 2
Baron Dargon Moorgoth trat vor die Kolonne. Sein Stab stand bereit zum Ausrücken. Der Standartenträger der Armee, ein hochgewachsener, junger Offizier namens Berenek, hielt die Flagge in den Morgenwind. Die Sonne hatte erst vor einer Stunde den Horizont berührt. Theros sah sich im Stab des Barons um. Er bestand aus vier Offizieren, einschließlich Berenek, und vier Soldaten im Rang von Feldwebeln. Normalerweise diente die schwere Kavallerie Moorgoth als persönliche Leibwache, aber heute waren sie zu einer anderen Mission aufgebrochen. Die Feldwebel – eigentlich seine Verwalter und Schreiber – würden als Leibwache fungieren. Wenn er ihre faltigen Gesichter und schwieligen Fäuste so ansah, ging Theros davon aus, daß Baron Moorgoth in guten Händen war. »Also gut, Männer. Fertig?« Alles antwortete mit Ja. Der Baron winkte und begann, in leichtem Laufschritt die Straße hinunterzutraben. Der Kommandostab hielt sich wenige Schritte hinter ihm. Die Bataillonskommandanten der Infanterie brüllten ihre Marschbefehle, und die ganze Armee setzte sich in Bewegung, um dann in schnellen Trott zu verfallen. Wie eine Riesenschnecke begann die Armee, die Straße entlangzukriechen. Nach der ersten Meile im Laufschritt forderte der lange Gewaltmarsch seinen ersten Tribut. Die Reihe der Männer und Frauen sah müde aus. Aber niemand dachte auch nur
daran zurückzubleiben. Zum einen würden sie Uwels Peitsche zu spüren bekommen, und vor ihren Kameraden würden sie sich als Schwächlinge lächerlich machen. Die zweite Meile, und sie liefen immer noch. Die Truppe bewegte sich mit leichtem Gepäck, aber jeder trug seine eigenen Waffen und Vorräte. Dennoch kamen sie rasch voran. Die Männer und Frauen hielten durch, denn ihnen war bewußt, daß sie am Ziel um so mehr Zeit zum Ausruhen haben würden, je schneller sie die Entfernung überwanden. Die langsameren Versorgungswagen ließen sie weit hinter sich. Die Wagen würden später aufschließen, möglicherweise erst dann, wenn der Kampf vorüber war.Nach der dritten Meile rief Moorgoth einen Halt aus. Die Soldaten hinter ihm sackten auf den Boden und blieben schwitzend und keuchend sitzen. Moorgoth zog seine Stiefel aus. Auf der Ferse seines linken Fußes hatte sich eine ansehnliche Blase gebildet. Er nahm seinen Dolch zur Hand und stach sie auf. Sofort rann wässerige Flüssigkeit heraus. Dann zog er Socken und Stiefel wieder an und schnürte die Riemen zu, so fest es ging. Nachdem er sich hingestellt hatte, prüfte er seinen Fuß. Der Schmerz war durchaus erträglich. Er ging durch das erste Bataillon der Infanterie und blieb bei einzelnen Soldatengrüppchen stehen. »Und, Korporal? Schafft Ihr es bis zum Ende?« »Wir schaffen es, Sir. Gar keine Frage.« Von der Antwort befriedigt, nahm Moorgoth wieder seinen Platz an der Spitze der Kolonne ein. Jetzt ging es ihm wieder gut. Sein Fuß würde durchhalten. »Fertig?« fragte er seine Kommandogruppe.
Er hob die Hand über den Kopf, winkte nach vorn und begann zu marschieren, nicht aber zu rennen. Er schlug ein scharfes Tempo an, aber die Soldaten wußten es zu schätzen, daß sie nicht rennen mußten. Sie brauchten ihre Pause. Sie hielten nicht wieder an, bis sie einen kleinen Wald erreicht hatten, der sich zu beiden Seiten der Straße erstreckte. Als sie in den Schatten der Bäume kamen, trafen sie auf drei Frauen auf einem Eselskarren, die aus der entgegengesetzten Richtung kamen. Erschrocken über den Anblick der Soldaten sprangen die Frauen von ihrem Karren und liefen davon. »Schnappt sie euch!« befahl Moorgoth. Zwei der Frauen fingen seine Leute leicht ein. Die dritte rannte wie eine aufgeschreckte Hirschkuh die Straße entlang und drohte dem Mann in Rüstung, der sie verfolgte, zu entkommen. »Haltet sie auf!« befahl der Baron mit einem Blick nach hinten. Ein Bogenschütze eilte vor. Er nahm einen Langbogen von der Schulter, zielte sorgfältig und schoß seinen Pfeil ab. Der Pfeil flog mit einem sirrenden Geräusch durch die Bäume. Die Frau kam plötzlich ins Stolpern, dann fiel sie auf ihr Gesicht. Aus ihrem Rücken ragte der Pfeil. »Guter Schuß, Korporal. Gut gemacht«, gratulierte Moorgoth seinem Schützen. Der Soldat salutierte und kehrte an seinen Platz in der Reihe zurück. Der Baron merkte sich den Mann. Er sollte seinen Extraanteil von der Beute bekommen. Die Feldwebel zerrten die anderen Frauen zur Armee zurück. Die Frauen schluchzten vor Entsetzen über den Tod ihrer Gefährtin.
Einer der Feldwebel trat vor, um Befehle entgegenzunehmen. »Wenn wir sie laufenlassen, Sir, werden sie sicher verraten, daß sie uns gesehen haben.« »Tötet sie«, erwiderte der Baron. Die Frauen begannen zu schreien und zu jammern. Eine der beiden, eine ältere Frau mit grauem Haar, fiel auf die Knie, rang die Hände und bat um Gnade. Bei diesem Anblick fiel den Männern ihre Aufgabe nicht leicht. Sie befingerten ihre Waffen, zogen sie aber nicht. »Mir gefällt das nicht, Sir«, sagte einer. »Dazu wurden wir nicht angeworben – ein Kind und eine alte Oma zu töten.« »Wir könnten sie fesseln und im Wald zurücklassen«, schlug ein anderer vor. Moorgoth schäumte. Sie verschwendeten nur Zeit. Er sagte jedoch nichts, sondern warf Uwel Lors einen Blick zu. Uwel trat vor. Zuerst ergriff er die ältere Frau, warf sie vor sich auf den Boden, zog einen Dolch und packte sie an den Haaren. Dann riß er ihr mit einem Ruck den Kopf zurück und schlitzte ihr die Kehle auf. Die jüngere Frau schrie auf und fiel in Ohnmacht. Das erleichterte Uwel die Arbeit. Er bückte sich und schnitt auch ihr den Hals durch. Nachdem dies getan war, halfen ihm die beiden Männer, die diese Aufgabe hätten ausführen sollen, die Leichen an den Straßenrand zu ziehen. Baron Moorgoth merkte sich auch diese beiden Männer. Er würde ihnen später einiges zu sagen haben. Besser gesagt, Uwel würde ihnen etwas zu sagen haben. Moorgoth winkte die Truppen wieder weiter. Die Toten blieben an Ort und Stelle liegen. Der verwunderte Esel stand mit seinem Karren an der Straße und brüllte bekümmert, als die
Armee vorbeimarschierte.Theros führte die Wagenkolonne an, die der Hauptarmee folgte. Er und Belhesser gingen zu Fuß, begleitet von Yuri und den Soldaten aus der Schmiede. Als nächstes kamen die Schmiedewagen, gefolgt von den Arbeitern und Wagen des Quartiermeisters. Die Nachhut bestand aus sechzig Soldaten und einem Offizier. Der Treck bewegte sich gemächlich voran. »Ich verstehe, warum sie uns zurückgelassen haben«, sagte Theros zu Belhesser. »Ja, wir sind viel zu langsam für die Hauptarmee. Sie werden den Sammelplatz für den Hinterhalt erreichen, bevor wir auch nur den halben Weg geschafft haben.« Sie marschierten vier Meilen ohne Pause, dann betraten sie denselben Wald, den eine gute Stunde zuvor die Hauptarmee durchzogen hatte. Dort sahen sie einen Eselskarren am Straßenrand stehen. »Merkwürdig. Was haltet ihr davon?« meinte Belhesser. Er ließ den Zug anhalten. Die Versorgungswagen waren lebenswichtig für die Armee. Und obwohl der Karren ganz unschuldig aussah, wollte niemand ein Risiko eingehen. Zauberer waren dafür bekannt, ihre verschlagenen Künste darauf zu verwenden, sich so harmlos wirkende Dinge wie diesen Esel mit seinem Karren auszudenken, die sich als tödliche Fallen für den erwiesen, der nicht auf der Hut war. »Ich gehe hin und sehe mir das an.« Theros nahm seine Axt zur Hand und gab Yuri und den Soldaten ein Zeichen, ihn zu begleiten. Theros war der erste, der die Frauen im Graben liegen sah. Er ging hin, um näher hinzusehen. Über den Körpern, die in ihrem eigenen Blut lagen, schwirrten Fliegen herum. Eine der Frauen war jung, höchstens achtzehn. Die andere,
eine ältere Frau, war entweder die Mutter oder sogar die Großmutter. Theros, der einen Hinterhalt befürchtete, sah sich um. Er sah und hörte jedoch nichts. Der Wald war ruhig, aber das war nicht ungewöhnlich, wenn man die große Zahl Soldaten bedachte, die vor kurzem hier entlangmarschiert waren. Er schickte Yuri voraus und winkte den Wagentreck weiter. Die Infanterie eilte mit gezogenen Waffen von hinten herbei. Als der Kommandant die Leichen sah, blieb er stehen. Belhesser, der hinter ihm auftauchte, ergriff als erster das Wort. »Was kann hier geschehen sein? Der Baron hatte doch gewiß keine Angst vor zwei Frauen?« Der Infanteriekommandant lachte abfällig. »Baron Moorgoth konnte nicht zulassen, daß sie überall herumkreischten, sie hätten eine Armee gesehen. Sie hätten die verfluchten Ritter von Solamnia warnen können.« Theros stimmte achselzuckend zu. Den Anflug von Mitleid, den er verspürt hatte, erstickte er rasch. »Pech für sie. Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.« Yuri kam die Straße heruntergerannt. Sein Gesicht war weiß, und als er die Leichen im Graben sah, wurde es noch weißer. Er gab einen erstickten Laut von sich, würgte und wandte sich hastig ab. »Was ist los, Yuri?« rügte Theros ihn rauh. Er konnte sehen, wie die anderen Blicke wechselten und grinsten. Er verpaßte Yuri einen leichten Schlag aufs Ohr. »Reiß dich zusammen«, befahl er gedämpft. »Die Leute sehen her!« Während Yuri sich noch keuchend die Lippen wischte, erstattete er Meldung: »Da hinten liegt noch eine tote Frau auf der Straße.« Er wies in die Richtung.
»Bist du sicher, daß sie tot ist?« Yuri nickte. Er brachte kein Wort mehr heraus. »Nun, dann stellt sie für uns keine Bedrohung mehr dar. Am besten ziehen wir weiter.« Die Infanterie und die Wagen zogen an den Leichen im Graben vorbei. Auf Theros’ Befehl hin schnitt Yuri den Esel aus seinem Geschirr frei. Es gab keinen Grund, ihn verdursten oder verhungern zu lassen. Der Esel trottete in den Wald, froh, dem Geruch nach Blut und Tod zu entkommen. Den Karren ließen sie am Straßenrand stehen. Theros kam am Körper der dritten ermordeten Frau vorbei. Man hatte ihr mit einem Langbogen in den Rücken geschossen – der zerbrochene Pfeil ragte noch immer aus ihrem Rücken. Sie lag auf der Straße, wo sie gestürzt war. Die Soldaten waren geradewegs über sie hinwegmarschiert. Die Frau war kaum noch zu erkennen. Ihr Körper war eine Masse aus Blut und Knochen. Yuri sah sich um und stolperte dabei. »Wir hätten sie wenigstens begraben müssen«, sagte er mit erstickter Stimme. »Keine Zeit«, knurrte Theros. »Ich hasse diese Armee!« murmelte Yuri plötzlich leise. »Ich hasse den Baron. Ich hoffe, sie werden alle sterben!« »Dumme Hoffnung, Junge«, rügte Theros mit grimmigem Blick. »Du hast dir gerade deinen eigenen Tod gewünscht.« »Der würde mir jetzt nicht mehr viel ausmachen«, meinte Yuri. »Ich fühle mich dem Leben nicht gewachsen.« Theros sagte nichts mehr. Er konnte den heißen, zornigen Atem von Sargas fast an seinem Rücken fühlen. Kein Minotaurus auf Krynn hätte je eine so ehrlose, feige Tat began-
gen. In diesem Augenblick schämte sich Theros, ein Mensch zu sein. Sie marschierten weiter.Der Baron ließ wieder haltmachen. Sie waren kaum noch zwei Meilen von ihrem Ziel entfernt. Die Sonne hatte ihren Höchststand gerade erst überschritten, und wenn alles nach Plan verlief, begann die Kavallerie gerade mit ihrem Angriff auf den Ort. »Was glaubt Ihr, wie sie sich schlagen, Sir?« fragte Berenek, der Fähnrich. »Die Kavallerie – ich hoffe, sie macht ihre Sache gut. Mein Bruder ist bei ihnen.« Moorgoth klopfte dem großen Mann auf den Rücken. »Ich hatte ganz vergessen, daß Wirjen Jamaar Euer älterer Bruder ist. Er ist mein bester Kavallerieoffizier. Er wird es sehr gut machen. Ist Euer Familienname auch Jamaar?« »Nein, Sir. Mein Familienname ist Ibind. Wirjen und ich sind nur Halbbrüder. Sein Vater starb bei einem Goblinüberfall, bevor ich geboren wurde. Meine Mutter hat wieder geheiratet.« Sie wurden von einem Boten unterbrochen, der von den vorderen Linien zurückgelaufen kam. Der Mann brauchte einige Augenblicke, bis er wieder Luft bekam. »Sir, ich soll Euch zeigen, wo Ihr Feldwebel Jogoth finden könnt. Wir haben die ganze Gegend ausgekundschaftet. Von unserem Standort aus könnt Ihr die Stadt sehen.« Der Baron zeigte sich sehr interessiert. »Und wie läuft der Angriff der Kavallerie? Konntet Ihr etwas sehen?« »Es sieht so aus, als wäre die Kavallerie in die Stadt eingedrungen. Wir haben Kampfgeräusche gehört – wahrscheinlich die Stadtwache –, aber wir konnten nichts sehen.« »Keine Spur von den Rittern?«
»Nein, Sir.« »Gut.« Moorgoth befahl den Männern, wieder in Laufschritt zu verfallen. Sie reagierten langsamer als beim Aufbruch am Morgen, denn alle waren müde. Dennoch, je schneller sie aufbrachen, desto länger würden sie ausruhen können und kräftiger sein, wenn sie auf den Feind trafen. Der Baron gab das Tempo vor. »Kommt schon, ihr Hunde, vorwärts!« schrie er über die Schulter zurück. Er warf keinen Blick nach hinten, um zu erfahren, ob alles mit ihm Schritt hielt. Sie würden ihm auch noch schneller folgen, wenn es sein mußte. Jeder wußte, daß Ungehorsam den Zorn von Uwel Lors entfachen würde. Der Späher rannte neben dem Baron her. Nach der ersten Meile fiel das Gelände ab. Links lag ein großer Hügel. Sie hielten auf den bewaldeten Grund des Flußtals zu. Der Soldat zeigte nach vorn. »Dieser Wald dort, Sir. Den betreten wir. Auf der anderen Seite sieht man nach etwa fünfhundert Schritt die Stadt. Hier draußen ist niemand. Ich vermute, sie sind alle in der Stadt und kämpfen. Wir haben das Gelände gründlich durchsucht, aber wir haben keinerlei Spuren gefunden. Entweder sind sie nicht da, oder sie haben sich wirklich gut versteckt.« Sie fielen in langsamen Trott und schließlich in Marschtempo, als sie in den Wald einzogen. Dort verließen sie die Straße und liefen zwischen den Bäumen hindurch. Als der Baron den Wald betrat, kam ein anderer Späher hinter einem Baum hervor. »Sir! Hier herüber, Sir!« Der Feldwebel winkte den Baron zu sich. Der erste Späher führte den Rest der Truppe weiter durch den Wald.
Der Feldwebel hielt eine Karte, die mit Holzkohle auf ein glattes Stück Baumrinde gezeichnet war. »Hier ist der Plan, Sir. Sagt mir, ob Ihr eine Änderung wünscht.« Die einfache, eilig gezeichnete Karte zeigte die Stadt und den Waldrand. Die Straße führte etwa tausend Schritt nach ihrem Austreten aus dem Wald in die Stadt hinein. Die erste und zweite Brigade der Infanterie sollten im Wald Stellung beziehen, während die Bogenschützen sich vorne am Waldrand postieren würden. Die Kommandogruppe war in der Mitte eingezeichnet. »Ja, das ist gut, Feldwebel. Wenn Ihr alle Truppen am richtigen Platz habt, versammelt Ihr Eure Männer und plaziert Euch an der Straße. Wenn unsere Kavallerie kommt, haltet Ihr sie an und laßt sie auf der anderen Seite des Waldes dicht an der Straße Stellung beziehen. Ich will, daß sie bereitsteht, eilends über die Straße zurückzujagen. Und schickt mir Hauptmann Jamaar. Weiter so, Feldwebel.« Die Truppen zogen noch durch den Wald und zu ihren Stellungen. Alle waren still, denn sie waren zu müde zum Reden. Der letzte Lauf hatte seinen Tribut gefordert. Jetzt hatten sie wenigstens Zeit zum Atemholen. Moorgoth erwiderte die Grüße, als die Soldaten an ihm vorbeikamen. Schließlich tauchte die Nachhut auf, die letzte Kompanie der zweiten Brigade. Der Kommandant der Kompanie salutierte, als er den Baron erreichte. »Sir, wir sind die letzten. Einundsechzig Soldaten haben wir auf der Straße zurückgelassen. Die meisten sind vor Erschöpfung umgefallen. Sie müßten von den Wagen aufgesammelt werden. Wir haben niemanden bemerkt, der uns folgt, Sir.« Einundsechzig Leute hatten dem mörderischen Tempo
nicht standgehalten und waren aus den Reihen ausgeschert. Doch das war nicht schlecht für eine Infanterietruppe dieser Größe. Überhaupt nicht schlecht. Jede vergleichbare Armee hätte mindestens die dreifache Menge verloren. Dennoch würde Moorgoth dafür sorgen, daß diese einundsechzig Mann ausgepeitscht wurden und ihren Sold verloren. Er zahlte nicht für Soldaten, die nicht mithalten konnten. Der Baron folgte der letzten Kompanie durch den Wald und bog dann ab, um seine Kommandogruppe zu suchen. Sie würden gegenüber der Stadt stehen. Die flatternde rote Fahne zeigte sein Zelt an. Als der Baron sie entdeckte, war er zutiefst verärgert. »Berenek, packt diese Flagge ein. Ich will nicht, daß man von der Stadt aus eine rote Fahne hier im Wald sieht. Holt sie nicht wieder heraus, bis ich eine Bewegung befehle. Und jetzt gebt nach rechts und links Nachricht aus. In zehn Minuten will ich die höheren Offiziere hier sehen.« Das Warten hatte begonnen. Die Falle war gestellt. Würden die Solamnier den Köder schlucken?
Kapitel 3
Der Wagenzug kam nur langsam voran. Mit so schwer beladenen Wagen war ein schnelleres Tempo unmöglich. Theros und Belhesser wanderten vor dem ersten Wagen her. Die Straße wand sich durch eine Reihe von Hügeln und Wäldern. Man kam nur schwer voran. Manchmal war die Straße festgetreten und eben, an anderen Stellen holprig und aufgerissen. Manchmal war sie breit, manchmal so schmal, daß Äste an den Seiten des Karrens entlangkratzten. Der Troß rollte an den Ort, den Moorgoth ausgewählt hatte. Die Stelle lag fast eine Meile vom Schlachtfeld entfernt zwischen einer Hügelkette, die die Armee von den Wagen trennte. »Belhesser, gibt es irgend etwas über unseren Spion zu berichten?« fragte Theros leise. »Nein, nichts. Ich denke, unser Problem wird verschwinden, wenn Moorgoth seinen nächsten Kampf gewinnt. Falls es einen Spion gibt, hätte er dann versagt und wird nur noch Fersengeld geben. Und nichts heitert den Baron mehr auf als ein Sieg. Er wird vergeben und vergessen. Aber wenn wir unterliegen, müssen wir wirklich auf der Hut sein.« Theros war derselben Ansicht. Er konnte sich gut vorstellen, daß der Baron übelgelaunt sein würde, wenn seine Armee mit eingekniffenem Schwanz nach Sanction zurückschleichen mußte. Theros sah zu, wie der Treck vorrückte.
Zwei seiner Soldaten unterhielten sich im Gehen, gefolgt von dem dritten, der den Wagen mit der Ausrüstung der Schmiede und den Vorräten fuhr. Yuri war nirgendwo zu sehen. »Wo in Sargas’ Namen ist er hin?« murmelte Theros. Er blieb zurück und ließ die Wagen mit seiner Ausrüstung an sich vorbeirollen. Keine Spur von Yuri. Theros schloß sich der Versorgungsgruppe an, die viel größer war als Theros’ Handvoll Männer. Als er zwischen den Arbeitern herumsuchte, entdeckte Theros die Frau, die für das Brotbacken verantwortlich war. »Hast du Yuri gesehen, meinen Lehrling?« Die Frau trug ein weißes Männerhemd aus Baumwolle, wie es auch an die Soldaten ausgegeben wurde. Sie hatte es in ihren langen, lederfarbenen Rock gesteckt. Darunter trug sie hochgeschnürte, schwarze Stiefel. Ihr Kopf war mit einem Taschentuch bedeckt, das den Staub von ihren Haaren und ihrem Gesicht fernhalten sollte. Sie war über vierzig und ihrem wettergegerbten Gesicht nach nicht neu im Gefolge. Lachend sah sie Theros an. »Natürlich ist der hier! Das wißt Ihr doch!« Theros runzelte die Stirn. »Nein, das weiß ich nicht. Warum sollte ich? Kommt er oft hierher?« »Morgion segne uns, ja! Erzählt mir nur nicht, Ihr hättet es nicht bemerkt! Er kommt immer, wenn wir unterwegs sind. Er kommt sogar nach der täglichen Arbeit in der Schmiede. Aber das ist ja schließlich nur natürlich, nicht wahr, Meister Schmied?« Die Frau zwinkerte anzüglich. »Junges Blut ist heißes Blut, sagt man.« Sie streckte die Hand aus, um Theros spielerisch die brei-
te Brust zu kitzeln. »Aber Erfahrung ist auch nicht zu verachten, guter Mann. Kommt doch heute nacht in mein Zelt…« Theros wurde die Sache peinlich, und er ärgerte sich. Er sah, daß einige Männer grinsten und einander anstießen. »Wo ist er?« wollte Theros wissen, ohne auf das Angebot der Frau näher einzugehen. »Er ist da hinten, hinter dem zweiten Wagen. Wahrscheinlich bei Telera, meiner Gehilfin.« Theros drehte sich um und eilte an den Wagen vorbei, um der Sache auf den Grund zu gehen. Genau wie die Frau gesagt hatte, spazierte Yuri dort mit einem jungen Mädchen herum. Sie trug die gleiche Kleidung wie die andere Frau. Ihre langen, blonden Haare waren geflochten und aufgesteckt, um sie vor Staub und Schweiß zu schützen. Sie konnte höchstens achtzehn sein. Doch als Theros sie jetzt genauer ansah, erkannte er, daß sie sich von den meisten Frauen, die in dieser Armee kämpften oder dienten, unterschied. Ihre helle Haut war von der Sonne gerötet, als wäre sie nicht daran gewöhnt, viel im Freien zu sein. Sie hatte eine zarte, feine Art, die ihre schäbigen Kleider viel hübscher erscheinen ließen, als sie tatsächlich waren. Kein Wunder, daß Yuri sich zu ihr hingezogen fühlte. Theros baute sich vor den beiden auf und versperrte ihnen den Weg. Bei seinem Anblick erblaßte die junge Frau und scheute wie ein schreckhaftes Füllen. Yuri wurde knallrot und wollte etwas sagen. Bevor einer von beiden ein Wort herausbrachte, ging Theros auf Yuri zu und nahm ihn am Arm. »Verdammt noch mal! Was in Sargas’ Namen glaubst du,
was du hier tust? Du gehörst auf unseren Wagen, nicht hier hinten zu den Weibern.« Yuri protestierte. »Aber Meister! Ich habe nichts Verbotenes getan! Ich habe doch nur – « Theros konnte es nicht fassen. Der Junge hatte tatsächlich keine Ahnung, in welcher Gefahr er schwebte. Er verpaßte Yuri einen harten Schlag auf den Hinterkopf, der ihn zum Stolpern brachte. »Sei still und verschwinde hier, oder ich werde dich wegen Befehlsverweigerung auspeitschen!« Yuri warf Telera einen hastigen Blick zu. Sie war blaß und ängstlich. »Geh!« gab sie ihm stumm zu verstehen. Yuri blickte zu Theros, dann rannte er eilig davon. Theros warf der Frau einen Blick zu. Sie wich erschrocken zurück. In ihren Augen sah er die gleiche Angst, die in den Augen der Soldaten war, kurz bevor sie die Peitsche oder eine Faust zu spüren bekamen. »Schlagt Yuri nicht, Sir!« bat sie mit flehend erhobenen Händen. »Es war meine Schuld. Ihr«, sie schluckte, dann bot sie tapfer an, »Ihr könnt Euren Zorn an mir auslassen, wenn Ihr wollt.« Theros starrte sie an. Er traute seinen Ohren nicht. Diese junge Frau glaubte tatsächlich, er wäre dazu fähig, sie zu schlagen! »Großer Sargas! Wo ist meine Ehre?« fragte sich Theros. »Ich verwandele mich in einen dieser Schufte, die Drohungen und Peitschen benutzen, um einen Scheinrespekt aufrechtzuerhalten, der in Wahrheit gar kein Respekt ist, sondern einfach nur Angst. So führt man keine Männer.« Theros merkte, daß er immer noch die Frau anstarrte. Sie
war hübsch, doch jetzt, da er sie näher ansah, wirkte sie übermüdet und viel zu dünn. Moorgoth verlangte Männern wie Frauen sehr viel ab. Und nur den Soldaten stand gute Verpflegung zu. Wenn die Vorräte knapp wurden, hungerten zuerst die Köche, nicht die Kämpfer. Die Frau konnte kein leichtes Leben haben. Und jetzt wirkte sie fast krank vor Angst. Ein Wagen, der vorbeirollte, hielt an, weil sein Fahrer den interessanten Zwischenfall am Wegrand beobachten wollte. Theros fand wieder zu seiner Haltung zurück und brüllte dem Fahrer zu: »Wieso hältst du an? Niemand hat das befohlen!« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging an den Verpflegungswagen vorbei nach vorne. Die angsterfüllten Augen der Frau gingen ihm nicht aus dem Sinn. Er sah sie, und er sah die Frauenleichen im Graben. Yuris Worte fielen ihm ein. Ich fühle mich dem Leben nicht gewachsen. Ganz in Gedanken schritt Theros vor sich hin. Erst als Belhesser nach ihm rief und seine Gedankengänge unterbrach, merkte er, daß er seine eigenen Wagen erreicht hatte. »Was ist denn, Belhesser?« Belhesser hielt ihm seine Karte hin. »Würdest du sagen, daß dieser Hügel da der Hügel hier ist?« Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte direkt hinter dem Platz, wo sie das Lager aufbauen wollten. Theros nahm die Karte und sah sie einen Moment lang an. Nachdem er die Straße gefunden hatte, blickte er auf, um sie mit dem vor ihnen liegenden Gelände zu vergleichen.
»Ja, das ist der richtige Platz.« Die Wagen zogen weiter die Straße entlang. Theros ging zu seinen Wagen zurück. Yuri lief mit gesenktem Kopf neben ihm her. Theros versuchte zu vergessen, daß er Yuri geschlagen hatte. Er würde einfach so tun, als wäre die Sache nie geschehen. Wieder sagte er sich, daß es nur zum Besten des jungen Mannes sei. Wenn der Spion in der Verpflegungseinheit steckte, dann würde jeder aus Theros’ Abteilung, der mit jemandem aus Cheldons Abteilung sprach, sofort verdächtig sein. Er versuchte sogar, dies Yuri zu erklären, doch der starrte ihn nur ungläubig an. Er sah so verständnislos aus wie ein Zeltpfosten. »Spion?« wiederholte Yuri dümmlich. »Was meint Ihr damit?« Schließlich gab Theros es auf. »Vergiß es. Gehorch mir nur dieses eine Mal. Ich will dich nie wieder zusammen mit dieser jungen Frau sehen. Um ihret- wie um deinetwillen. Jetzt lauf vor und such mir einen guten Platz für die Schmiede. Wir sollen sofort aufbauen, wenn wir den Befehl bekommen.« Theros drehte sich zu einem der Soldaten um. »Erela, geh zurück und sag dem Feldwebel der Verpflegung, daß wir an diesem Ort dort vor jenem Hügel«, er zeigte darauf, »lagern werden.« Die beiden eilten los. Bis sie die Wagen vor Ort hatten, stand die Sonne direkt über dem Hügel vor ihnen. Yuri hatte die Grabwerkzeuge aus dem Wagen der Schmiede geholt, und er und die Soldaten hoben eine Grube für die Esse aus. Zwei von den Soldaten wurden losgeschickt, um ausreichend Holz für die nächsten paar Tage zu besorgen. Theros ging zu Bel-
hesser hinüber. »Hör mal, weißt du etwas über eine Frau in der Verpflegung, sie heißt Telera?« Belhesser grinste lüstern. »Du hast ein Auge auf sie?« »Nein, ganz und gar nicht.« Theros schnaubte. »Ich muß nur etwas über sie wissen.« Belhesser schaute ihn verwirrt an. »Ich weiß, daß sie Hercjal beim Brotbacken hilft. Sie ist in Sanction zu uns gestoßen. Hat gesagt, sie wäre verwaist. Ihre Leute wären an Fieber gestorben. Mehr weiß ich nicht. Warum fragst du?« Theros tat die Sache mit einem Achselzucken ab. »Ich dachte, ich würde sie aus der ›Rülpsenden Furie‹ kennen. War wohl ein Irrtum. Ist nicht wichtig.« Belhesser zwinkerte. »Du hast eine Auge auf sie geworfen. Du schlauer Hund. Na, dann viel Glück. In den nächsten ein, zwei Tagen wird wenig Zeit zum Klapsen und Kitzeln bleiben. Sind deine Wagen aufgestellt? Bau deine Schmiede erst auf, wenn ich es anordne. Falls wir verlieren, will ich hier verschwinden können, bevor die verfluchten Ritter uns erwischen.« Theros kehrte zu seiner Schmiede zurück und stellte dort fest, daß die Feuergrube so gebaut war, wie er es bevorzugte. Die Erde in diesem Bereich war hart und felsig. Die Männer hatten mit Schaufeln und Pickeln eine Mulde in der Mitte der Stelle ausgehoben, wo Theros seine Schmiede wünschte. Die Grube war von größeren Steinen gesäumt, die sie gefunden oder ausgegraben hatten. Die Steine würden die Hitze des Feuers gut reflektieren. Die Soldaten hackten jetzt das tote Holz, das sie angeschleppt hatten, und stapelten es neben der Grube auf, damit sie jederzeit ein Feuer entzünden konnten. Yuri war
drüben beim Wagen, wo er überprüfte, ob auch keines der Werkzeuge verrutscht oder beschädigt war. Theros überließ ihn seiner Arbeit. Er hatte ihm für diesen Tag genug zugesetzt. Theros ging ein Stück bergauf und setzte sich, um den Platz zu überblicken. Die Verpflegungssektion wurde am Rande des Hügels aufgebaut und bildete die vordere Seite des Quadrats. Der Quartiermeister lagerte seine Vorräte mehrere hundert Fuß hinter der Verpflegung, wodurch er die ferne Seite des Quadrats darstellte. Die Schmiede würde von Theros’ Standort aus auf der linken Seite liegen. Die rechte Seite war offen, denn dort würde die Infanterie ihre Zelte aufstellen. Als die Sonne weiter hinter dem Hügel versank und es so dunkel wurde, daß man nicht mehr viel sehen konnte, dachte Theros über sich selbst nach. Was geht in mir vor? Ich bin ein Ehrenmann. Ich hätte diese Aufgabe niemals annehmen sollen, ganz gleich, wieviel Geld dafür winkte. Moorgoth läßt Männer für kleinste Übertretungen fast zu Tode peitschen. Er hat diese armen Frauen ermordet, obwohl er sie ebenso leicht hätte gefangennehmen können. Er hat meine Schmiede zerstört, und anstatt ihn zu töten, wie jeder Minotaurus es getan hätte, habe ich ihn begleitet! Ich habe sein Blutgeld angenommen! Gib’s zu, Theros, dachte er bekümmert, du wolltest nur wieder bei einer Kampfeinheit sein. Du wolltest den Kitzel der Schlacht, den Ruhm des Tötens. Ruhm! Er schnaubte. Wir sind nichts weiter als uniformierte, organisierte Banditen. Theros schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden. Und wie erkläre ich den heutigen Tag? Wie erkläre ich, wa-
rum ich Yuri so behandelt habe? Ich kann es nicht. Und das war nicht das erste Mal. Er hatte recht, als er mich damals anschrie. Ich behandele ihn wie einen Sklaven. Und ich weiß, wie es sich anfühlt, wie ein Sklave behandelt zu werden. Sargas soll mich holen! Was mache ich nur? Ich habe Moorgoths Geld genommen. Wir haben einen Vertrag. Es wäre ehrlos, seine Armee zu verlassen. Und gefährlich dazu. Zweifellos würde er mich für den Spion halten. Aber Bleiben macht mir auch keine Ehre. Was mache ich nur? Theros hob die Augen zum Himmel. »Sargas, gib mir ein Zeichen. Zeig mir den Weg. Das ist alles, worum ich dich bitte. Den Rest mache ich schon selbst.« Theros blickte hinauf und wartete. Vielleicht würde er den riesigen schwarzen Vogel mit den Feuerflügeln sehen, der ihm schon einmal erschienen war. Es kam kein Zeichen, aber vielleicht war es nur nicht der rechte Zeitpunkt. Nachdem er sich besser fühlte, weil er seine Last Sargas anvertraut hatte, stand Theros auf und ging wieder den Berg hinunter. Zweifellos würde schon jemand nach ihm Ausschau halten und eine Antwort auf eine dumme Frage wünschen. Er fragte sich, wie Moorgoths Armee sich wohl schlug.
Kapitel 4
Die Armee, die sich im Wald versteckt hielt, wartete über eine Stunde, ohne daß es etwas Neues gab. Das Warten war zermürbend. In der Stadt war nichts zu sehen. Auf den Feldern rund um die Stadt war nichts zu sehen. Nichts. Ein Soldat schlich durch das Unterholz zum Baron. »Keinerlei Anzeichen, Sir«, flüsterte er. »Die Späher haben keine Spur vom Feind gefunden.« Moorgoth nickte, und der Soldat schlich zurück in die Büsche, um seinen Platz weiter vorn wieder einzunehmen. Sie warteten weiter. Plötzlich kam von vorne ein donnerndes Geräusch, das von der Stadt ausging und lauter wurde. Moorgoth erhob sich und blickte hinüber. Er zog ein Fernrohr aus einem Beutel an seinem Gürtel und setzte es ans Auge. Rauch stieg auf. Auf der anderen Seite der Stadt loderten Flammen. Der Rauch erschwerte ihm die Sicht, doch der Baron konnte einzelne Häuser erkennen und die Straßen dazwischen. Er behielt die Hauptstraße im Auge, die in die Stadt führte. Das nächste Geräusch, das er hörte, stammte von den Pferden, die durch die Straßen galoppierten. Er konnte sie noch nicht sehen, doch er kannte den Klang von Hufen, die über harten Boden donnern. Stahlblitzen. Noch ein Blitz. Moorgoth folgte der Straße mit dem Fernrohr und konzentrierte sich auf zwei Reiter. Das waren seine Männer. Der Baron setzte das Fernrohr ab. Jetzt konnte er die bei-
den deutlich erkennen. Sie galoppierten die Straße herauf. Hinter ihnen sah er weitere Pferde aus der Stadt jagen. Wieder setzte er das Fernrohr an. Ja, er erkannte die rotbraunen Uniformen. Das war seine Kavallerie. Mit scharfer Stimme schrie er einem Läufer Befehle zu. »Das ist unsere Kavallerie. Sag Hauptmann Jamaar, er soll seine Schwadronen hinter dem Wald bereithalten, bis ich sie über das Horn rufe. Sag ihm, er soll mir Bericht erstatten, wie es gelaufen ist. Verstanden?« Der junge Mann nickte und war im Nu im Wald verschwunden. Die ersten beiden Reiter galoppierten in den Wald. Sobald sie außer Sichtweite der Stadt waren, sprangen die Reiter ab. Der Läufer eilte zu ihnen, um mit den beiden zu sprechen. Einer der Reiter saß wieder auf, gerade rechtzeitig, um den Rest der Kavallerie durch den Wald zur Nachhut zu führen. Der andere Reiter kehrte mit dem Läufer zu Baron Moorgoths Stellung zurück. »Guten Tag, Sir. Es war ein guter Kampf, aber kein leichter«, rief der Offizier. »Leutnant Boromus, nicht wahr? Ihr seid doch der stellvertretende Kommandant der leichten Kavallerie?« fragte Moorgoth den jungen Offizier. »Ja, Sir, der bin ich.« »Habt Ihr Eure Ziele erreicht?« Der Offizier schüttelte den Kopf. »Nicht alle Ziele, Sir. Wir sind in die Stadtmitte geritten. Zuerst lieferte uns die Stadtwache einen Kampf, aber sie war schlecht vorbereitet. Wir haben sie geschlagen. Ihr hattet recht, Sir. Es gibt einen Spion in unseren Reihen.« Der Soldat machte ein finsteres Gesicht. »Sie haben uns erwartet.«
»Verdammt!« fluchte Moorgoth leise. »Als wir die Stadtwache zurückgedrängt hatten, begannen wir, die Bewohner auf dem Marktplatz zusammenzutreiben.« Der Offizier machte eine Pause. »Weiter«, drängte der Baron. »Es waren mehr Bewohner, als wir dachten, und sie waren kampfbereit. Sie haben gekämpft wie Teufel aus dem Abgrund, Sir. Schließlich zerrten sie einen Mann aus der schweren Kavallerie von Hauptmann Jamaar aus dem Sattel und schlugen ihn tot. Wir haben die Leute zurückgedrängt, aber es wurde viel Blut vergossen. Die Stadtwache hatte sich neu formiert und griff uns auf der Westseite des Marktplatzes an, – von hinten. Sie haben mindestens vier von uns getötet und vier weitere verwundet, bevor wir uns umdrehen und den Kampf richtig aufnehmen konnten.« Moorgoth sah, daß der Mann fast am Ende seiner Kräfte war. »Kommt schon, trinkt einen Schluck Wasser.« Er bot dem Kavallerieoffizier seinen Wasserschlauch an. »Danke, Sir.« Boromus nahm einen Schluck. »Nachdem wir die Stadtwache verprügelt hatten, stiegen wir ab und hielten die Pferde auf der Ostseite der Stadt, damit wir uns wie geplant zurückziehen konnten. Wir dachten, wir hätten alle Zivilisten eingekesselt, aber eine Gruppe muß sich versteckt haben. Sie müssen durch die Häuser geschlichen sein, anstatt auf die Straße zu gehen, wo wir sie hätten sehen können. Sie töteten die Wachen, die wir bei den Pferden aufgestellt hatten, und machten die Tiere los. Wir konnten sie aufhalten, aber wir haben eine ganze Reihe Männer, dazu Pferde und Ausrüstung verloren.« »Was ist dann geschehen?« fragte der Baron stirnrun-
zelnd. »Wir haben weitergekämpft, sowohl gegen die Zivilisten auf dem Platz als auch gegen die Wache. Wir haben bis in den Nachmittag durchgehalten, wie Ihr befohlen hattet. Dann sind wir aus diesem Hornissennest geflohen, so schnell wir konnten. Sir, ich kann Euch sagen, ich freue mich darauf, diese Jauchegrube von einer Stadt niederzubrennen. Ich werde…« Moorgoth ließ den Mann reden. Er sah, daß Boromus vor Anspannung fast platzte. Er mußte Dampf ablassen. Der Baron wartete in Ruhe ab, bis der Mann sich beruhigt hatte. »Ihr sagtet, Ihr hättet nicht alle Ziele erreicht«, fuhr Moorgoth fort. »Euer einziges Ziel war, mit der Kavallerie bis in den Nachmittag in der Stadt Ärger zu machen. Mir scheint, das habt Ihr ganz gut geschafft.« »Sir, ich glaube nicht, daß Ihr befohlen habt, wir sollten die halbe Kavallerie verlieren! Die Hälfte, Sir. Die Hälfte ist tot. Ihr habt rund fünfzig Reiter aus der Stadt kommen sehen – mehr sind nicht mehr da. Es gab ein paar Verwundete, aber die sind inzwischen sicher tot.« Moorgoth blickte auf den Boden. Wieder fluchte er leise. Er schwor Rache für seine Männer. Die Stadt würde dafür bezahlen. »Ihr habt Eure Sache gut gemacht. Ihr habt durchgehalten, und nur das zählt. Geht zurück zu Eurem Hauptmann.« Der Offizier preßte die Lippen aufeinander und sah ihn in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung an. »Sir«, setzte er an, konnte jedoch nicht weitersprechen. Moorgoth begriff. »Euer Hauptmann ist tot, stimmt’s? Ihr habt jetzt das
Kommando. Ist das richtig?« Der junge Offizier nickte. »Sehr gut, dann sollt Ihr auch den passenden Rang erhalten. Ihr seid ab sofort Hauptmann Boromus. Ich wünschte, dies geschähe unter besseren Umständen. Der Kampf ist für heute noch nicht vorbei. Sorgt dafür, daß Eure Männer etwas essen und sich ausruhen. Ich werde Euch vielleicht noch einmal rufen lassen. Sprecht Euch mit Hauptmann Jamaar ab. Zurück zu Eurer Einheit.« Der Mann nickte, salutierte jedoch nicht. Er kroch durch das Unterholz zu seinem Pferd zurück. Nachdem er aufgestiegen war, lenkte er es langsam zu seinen Männern zurück. Moorgoth schüttelte den Kopf. Die Hälfte? Über die Hälfte! Mehr als die Hälfte seiner Kavallerie war verloren. Schon die Kosten waren verheerend, aber der Verlust guter Soldaten wog schwerer. Es waren einige der besten Söldner darunter gewesen, die ihm je über den Weg gelaufen waren. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Spitze der Anhöhe an der linken Front. Auf dem Grat stand ein einzelner Reiter. Moorgoth hob wieder das Fernrohr, um den Reiter besser erkennen zu können. Durch das Glas sah er einen Krieger mit Rüstung auf einem weißen Streitroß. Er konnte das Emblem auf dem Brustpanzer sehen – einen Vogel. Der Reiter war eine halbe Meile entfernt, und Moorgoth konnte weiter nichts erkennen. Doch er wußte, was für ein Emblem das war – ein Eisvogel, das Symbol eines Ordens der Ritter von Solamnia. Der Ritter ritt auf den Hügel hinunter auf die Stadt zu. Der Rauch der Feuer auf der anderen Seite der Stadt be-
fleckte den schönen Sommerhimmel. Moorgoth verlor den Ritter aus den Augen, als dieser sich der Stadt näherte. Der Baron drehte sich um, um seinen Männern zu befehlen, sich bereitzuhalten, doch er brauchte nichts zu sagen. Jeder beobachtete den Ritter. Fertig zum Losschlagen hockten sie in ihren Verstecken. Die Aufregung durchfuhr sie wie der Wind die Blätter der Bäume. Zwei Minuten später kam der Ritter aus der Stadt geprescht. Er galoppierte in derselben Richtung über den Hügel, aus der er gekommen war. »Ganz ruhig«, beschwor Moorgoth seine Männer, obwohl er wußte, daß sie ihn nicht hören konnten. »Ganz ruhig, Jungs. Jetzt kommt das Schwerste. Wir müssen warten, bis die Hauptstreitmacht der Ritter erscheint. Wir müssen sogar hier sitzenbleiben und zusehen, wie sie sich genau vor unserer Nase aufstellen. Und wir dürfen es nicht wagen, ein Geräusch zu machen. Das wird hart.« Er winkte nach dem Läufer hinter sich. »Gib diese Nachricht an all meine Offiziere weiter. Wenn ein Mann ein Geräusch macht oder sich in einer Weise rührt, daß der Feind uns entdeckt, bevor wir bereit sind, schneide ich ihm persönlich die Kehle durch. Lauf und gib diese Nachricht weiter.« Ein anderer Läufer kam zur Stellung des Barons geschlichen. »Sir, Kommandant Omini läßt Euch grüßen.« Moorgoth funkelte den Mann an. »Ich brauche Ominis Grüße nicht! Wie lautet seine verdammte Nachricht?« »Er möchte Euch mitteilen, Sir, daß seine Späher eine Truppe schwerer Kavallerie und eine Truppe Fußsoldaten
melden, die sich in schnellem Tempo der Stadt nähern.« Moorgoth war ungemein zufrieden. Sie liefen ihm geradewegs in die Falle! »Gut«, sagte er zu dem Läufer. »Sag Omini, daß ich seine Brigade flach auf dem Bauch sehen will, bis sie mein Hornsignal hören. Sag ihm, er soll alle Späher zurückrufen und sich verstecken.« Der Läufer, der auf allen vieren hockte, salutierte. Moorgoth bemühte sich, nicht zu lachen. Auf allen vieren zu kriechen und dabei zu salutieren sah extrem idiotisch aus.Sonnenlicht blitzte auf der Rüstung. Etwa zwanzig Minuten später war der Ritter auf den Grat zurückgekehrt. Moorgoth beobachtete ihn durch das Fernrohr. Durch das Glas sah der Ritter ihm direkt in die Augen. Der Baron warf sich auf den Bauch und blickte rasch auf. Alles in Ordnung – er hatte im Schatten gestanden. Er hatte befürchtet, der Ritter hätte eine Lichtreflektion von der vorderen Linse des Fernrohrs gesehen. Er mußte gerade den Wald abgesucht haben. Zu dem Ritter gesellte sich ein zweiter, dann noch einer, dann zwanzig weitere. Einer hielt eine Standarte – eine weiße Fahne an einer langen Stange mit Querstrebe. Das Emblem auf der Fahne war derselbe schwarz-rote Eisvogel, den der Ritter auf seiner Rüstung trug. Der Rittertrupp stand minutenlang oben auf dem Grat, um sich umzusehen. Moorgoth merkte, daß er schwitzte. Jetzt mußte nur irgendein Dummkopf laut niesen, und die Ritter würden wissen, daß sie in einen Hinterhalt zogen. Stille. Zehn Ritter lösten sich aus der Hauptgruppe und galoppierten den Hügel hinunter auf die Stadt zu. Ein Hornruf
schallte durch das Tal. Der Baron sah sich nervös um. Einer seiner Männer konnte den Hornruf fälschlich für sein eigenes Signal halten. Angespannt wartete er darauf, daß seine Soldaten vorsprangen – zu früh. Keiner rührte sich. Alles beobachtete den Grat. Moorgoth atmete auf. Der Haupttrupp ritt über den Hügel. Sie führten ihre Pferde. Auf dem Grat tauchte eine vier Mann starke Ritterkolonne auf. Hinter den Rittern kamen ihre Fußsoldaten. Sie marschierten in Achterreihe und hielten mit der Kavallerie Schritt. Moorgoth hob sein Fernrohr wieder an, um die Infanterie anzusehen. Alle trugen Lederküraß und Stahlhelm. Die meisten waren mit Schwert oder Axt bewaffnet. Auf dem Rücken trugen sie große Schilde. Dann bemerkte er eine Lücke in der Kolonne. Dahinter kam eine Gruppe von zweihundert Bogenschützen. Sie trugen keinerlei Rüstung, hatten nur ihre Langbögen über den Schultern. Der Baron schaute sich um. Er konnte die besorgten Gesichter seiner Soldaten sehen. Er bedachte sie mit einem strengen Blick, der die Disziplin stärken sollte – darauf kam es bei einem Hinterhalt am meisten an. Seinem Hornisten gab er ein Zeichen. Der Baron konzentrierte sich wieder auf die Armee, die die Entfernung zwischen dem Grat und der Stadt hinter sich brachte. Als der letzte Mann der Infanterie den Grat überschritten, der erste aber die Stadt noch nicht betreten hatte, wußte er, daß es an der Zeit war. Er stand auf. Der Hornist stand einsatzbereit neben ihm. »Hornist, blas ›Bogenschützen vortreten‹«, befahl der Ba-
ron. Die zwölf Töne erklangen perfekt geblasen über das Feld und durch den Wald. Zuerst geschah gar nichts, als hätte niemand den Ruf gehört. Mit einem Mal traten überall am Waldrand tausend Bogenschützen hervor und stellten sich vor den Bäumen auf. Sie hielten an, stellten ihre Pfeile vor sich ab und spannten die Bögen. Ein Offizier hielt sein Schwert hoch. Mit einem einzigen Ruf und einer schnellen Abwärtsbewegung des Schwerts ließ er die Schlacht beginnen. »Schuß!« Die Pfeile sprangen fast gleichzeitig von den Langbögen. Sogleich nahm jeder Schütze den nächsten Pfeil vom Boden auf, spannte den Bogen und zielte in maximale Entfernung. »Schuß!« Der zweite Pfeilhagel flog in den Himmel, bevor der erste den Boden erreicht hatte. Viele Pfeile fanden ihr Ziel, denn sie regneten auf eine nichtsahnende Infanterie nieder, die sich auf offenem Gelände befand. Sofort entstanden Lücken in der Kolonne der solamnischen Infanterie, überall waren Tote und Verwundete. Ihre Offiziere reagierten schnell. Sie riefen zum Sturmangriff auf. Erschüttert, aber doch ungebrochen, eilte die Infanterie vorwärts. Der Instinkt der solamnischen Offiziere war richtig. Wären die Männer geblieben, wo sie waren, wären sie niedergestreckt worden. Auch so fielen nicht wenige dem zweiten Pfeilhagel zum Opfer. Doch die dritte Salve ging vollständig daneben, denn sie ging über ihr Ziel hinaus. Jetzt kam die schwerste Aufgabe für Moorgoths Schützen. Sie mußten ein Ziel in Bewegung treffen.
Die vorstürmende Infanterie konnte nur die Schützen sehen. Das machte ihnen Mut – einer guten, schweren Infanterie waren Schützen nicht gewachsen. Hinter ihnen hörte die solamnische Kavallerie den Kampflärm und wendete die Pferde, um zurück in die Schlacht zu jagen. Hörner ertönten, bliesen Alarm und riefen zum Angriff. Dies war für Baron Moorgoth der härteste Teil der Schlacht. Er mußte seine Infanterie verborgen halten. Die Solamnier kamen näher, aber jede Pfeilsalve streckte ein paar mehr nieder. Als sie auf zweihundert Schritt herangekommen waren, verstärkten die Schützen ihr Feuer. Ihr Offizier befahl ihnen, selbständig zu schießen und ihre Ziele selbst auszuwählen. Der Baron rief seinem Hornisten über den Kampflärm hinweg zu: »Blas ›Infanterie vorrücken!‹« Der Hornist nickte und setzte das glänzende Instrument an seine Lippen. Die klaren, kalten Töne des Befehls erklangen. Männer stürmten vor, um in den Kampf zu ziehen. Es sah aus, als wären die Bäume selbst lebendig geworden. Die Infanterie stürmte vor, um dem Angriff zu begegnen. Die Bogenschützen eilten in die Sicherheit des Waldes zurück. Sie waren den gut bewaffneten Angreifern in Rüstung nicht gewachsen. Diese Aufgabe würden die Männer aus der Infanterie des Barons übernehmen, die jetzt ausschwärmten. Den Soldaten blieb keine Zeit, sich aufzustellen. Sie rannten in die müden, dezimierten Ränge der anstürmenden Solamnier hinein. Beide Seiten trafen mit donnerndem Krachen aufeinander. Es klang, als würden fünfzig Bäume
gleichzeitig auf die Erde stürzen. Wegen der Überzahl konnten nicht alle Männer von Moorgoth gleichzeitig den Kampf aufnehmen. Es waren einfach nicht genug Solamnier für alle da. Die Bogenschützen holten tief Luft und beobachteten den Kampf genau. Wenn die Solamnier durchbrachen, oblag es den Schützen, sie aufzuhalten. Zu ihrem Glück sah es nicht so aus, als würde die Hauptinfanterie aufbrechen oder versagen. Moorgoth winkte wieder nach seinem Läufer. »Sag der Kommandogruppe, sie soll sich aus dem Kampf zurückziehen und hierher zu mir kommen. Dann geh und sag den Kavalleriekommandanten, daß ich will, daß sie rasch auf die Rückseite dieses Hügels reiten.« Er deutete auf den Grat, den die Solamnier vor kurzem überquert hatten. »Sag ihnen, sie sollen auf meinen Ruf warten. Wenn er kommt, will ich, daß sie die Solamnier von hinten angreifen. Jetzt lauf!« Dem Baron klopfte das Herz. Er lebte für die Aufregung der Schlacht. Dann sah er nach den Kämpfenden, die keine fünfzig Schritt entfernt standen. Seine Infanterie drängte die Solamnier zurück. Sie wichen zurück, ihre Linien konnten nicht mehr standhalten. »Jagt sie, verdammt!« schrie Moorgoth niemand Bestimmtem zu. Als ob sie ihn alle gehört hatten, drängte die Infanterielinie des Barons vorwärts. Die solamnische Infanterie brach zusammen. Sie waren keine Einheit mehr, nicht einmal eine Gruppe von Einheiten. Jetzt waren sie einzelne Männer, die um ihr Leben rannten. Die Solamnier liefen auf die Stadt zu. Die Infanterie des Barons wollte ihnen nachsetzen.
Moorgoth wandte sich an seinen Hornisten. »Schnell, blas ›Linien bilden!‹« Die Hornsignale übertönten den Lärm. Offiziere brüllten, und erfahrene Soldaten schoben und stießen die Männer auf ihre Positionen zurück. Die Kommandogruppe aus vier bewaffneten Leibwächtern und zwei Offizieren kam auf den Baron zu. Moorgoth gab dem Hornisten einen Wink, ihm zu folgen, dann trat er zwischen den Bäumen hervor, um sich den anderen anzuschließen. Das rot-schwarze Banner flatterte stolz im Wind. Moorgoth begann zu laufen. Er rannte durch seine Kommandogruppe und zu der Infanterielinie, die direkt davor stand. »Kommt!« befahl er. »Folgt mir.« Die Leibwächter und Offiziere taten, wie ihnen geheißen worden war. Moorgoth durchbrach die Ränge, um zu sehen, was vor sich ging. Seine Infanterie richtete sich gerade in Reihen aus. Zahlreiche Infanteristen waren vorne an der Front, wo sie Verwundete aus dem Kampf nach hinten in den Wald zogen. Sie nahmen nur die Männer in rotbrauner Uniform mit. Die Solamnier wurden entweder zum Sterben liegengelassen, oder man half mit einem Stich ins Herz nach. Dann, im Augenblick seines Triumphes, sah der Baron die Gefahr. Anstatt nach und nach anzugreifen, wie er es erwartet hatte, formierte sich die solamnische Kavallerie auf dem Feld. Sie zählten um die achthundert Mann, schätzte der Baron, was den Bericht des Spähers bestätigte. Moorgoth befahl dem Hornisten den Ruf »Offiziere zu mir«. Die Arroganz der Ritter machte ihn wahnsinnig. Ihr
Kommandant stellte sich vor seine Kavallerie, und anstatt den Angriff zu befehlen, schien er eine Rede zu halten! Die Offiziere des Barons kamen eilends angelaufen. »Meine Herren, ich will mich kurz fassen. Wenn Ihr den Ruf zum Rückzug hört, laßt Ihr Eure Männer zurück in den Wald laufen. Haltet Euch bereit, Euch wieder in den Kampf zu stürzen. Laßt sie von den Bogenschützen spicken, sobald wir zwischen den Bäumen sind. Verstanden?« Er sah sich um. »Gut. Sobald wir den Angriff aufgehalten haben, geht der Kampf weiter. Tut Euer Bestes. Jetzt schnell!« Die Offiziere rannten zu ihren verschiedenen Posten zurück und begannen, Befehle zu brüllen. Oben auf dem Grat war der Kommandant der Ritter zu einem begeisternden Schluß gekommen. Die Ritter brachen in Jubel aus. Mit erhobenen Lanzen kamen sie angetrabt. Die Kavallerie bot einen prachtvollen Anblick. Achthundert Ritter und Pferde, die in exakten Reihen vorwärtszogen, dazu die stolz präsentierten Wappen zahlreicher Familien. Sie fielen in leichten Galopp. Die Entfernung zwischen den beiden Armeen schrumpfte rasch. Als sie näherkamen, konnte die Kommandogruppe mehr und mehr Einzelheiten erkennen. Sie hielten ihre Reihen streng ein, während sie vorrückten, um sich dem Feind zu stellen. Bei fünfhundert Schritt Abstand ertönten an zahlreichen Stellen in der vorrückenden Kavallerielinie die Hörner. Ihre Lanzen wurden in die Horizontale gesenkt und angelegt, um schon durch den Aufprall zu töten. Die Ritter gingen in gestreckten Galopp über.
Kapitel 5
Theros kam vom Hügel und ging zu seiner Schmiede zurück. Moorgoth hatte nichts darüber verlauten lassen, wie die Schlacht lief. Es war schon spät. Wenn sie noch aufbauen sollten, mußten sie bald Nachricht erhalten, sonst würde das Licht nicht mehr ausreichen. Er hatte keine zwei Schritte gemacht, als ein Reiter in den von den Wagen umstellten Bereich galoppierte. Der Reiter hielt direkt auf Belhesser zu, den Logistikoffizier. Theros eilte herbei, um die Nachricht zu hören. Als er ankam, salutierte der Reiter vor Theros, redete jedoch weiter mit Belhesser. »… und wenn der Kampf gut verläuft, müßten wir kurz nach Sonnenuntergang hier sein. Baron Moorgoth wünscht, daß Ihr alles bereitmacht. Er ist zuversichtlich, was diesen Tag betrifft, und möchte, daß er und seine Truppen von einer heißen Mahlzeit und einem fertigen Lager erwartet werden, wenn sie ankommen.« Belhesser warf einen Blick auf die sinkende Sonne. Er dachte einen Augenblick nach, dann wandte er sich an Theros. »Was meinst du, Eisenfeld? Könnt ihr vor Sonnenuntergang mit dem Aufbau fertig sein?« »Jawohl. Ich kann fertig sein.« Belhesser wandte sich wieder dem Reiter zu. »Bitte sehr, Korporal, da habt Ihr Eure Antwort. Wir werden soweit sein. Ihr könnt Baron Moorgoth mitteilen, daß wir ihm auf dem Feld weiter viel Glück wünschen.«
Der Reiter salutierte, saß wieder auf und jagte davon, zurück zur kämpfenden Armee. »Neuigkeiten von der Schlacht?« fragte Theros. Er war durcheinander, denn er wußte nicht recht, ob er dem Baron einen Sieg oder eine vernichtende Niederlage wünschte. Belhesser schüttelte den Kopf. »Er wußte nur, daß es zu heftigen Kämpfen gekommen ist und daß die Solamnier in der Nähe der Stadt kämpften. Moorgoth scheint jedoch zuversichtlich zu sein. Wir sollen alles bereitmachen.« Theros stimmte zu. »Ich muß zurück und an die Arbeit, wenn ich heute abend noch Waffen und Rüstungen reparieren soll.« Er drehte sich um und rannte zu seinem Wagen zurück. Erela war der erste Soldat, den er antraf. »Wo ist Yuri?« fragte Theros, um dann festzustellen, daß er die Antwort bereits wußte. Der Soldat sah auf. »Ich dachte, er wäre hier irgendwo, Sir. Vorhin war er noch da. Ich weiß nicht, Sir. Ich habe ihn die letzte halbe Stunde nicht gesehen. Soll ich ihn suchen gehen?« Innerlich verfluchte Theros seinen jungen Lehrling. »Schon gut. Ich finde ihn. Baut das Zelt da drüben auf.« Mißgestimmt stapfte Theros zur Verpflegungseinheit hinüber. Dort scharten sich die Leute bereits um die Wagen, luden aus und bauten auf. Er konnte Quartiermeister Sarger Befehle brüllen hören. Und da war auch Yuri, der hinter einem Wagen hervorkam und auf die Schmiede zueilte. Und da war Telera, die hinter die Wagen zurückrannte und bestimmt hoffte, daß sie ankam, bevor jemand sie bemerkte. Es konnte alles völlig harmlos sein – ein heimlicher Kuß hinter einem Wagen.
Theros blieb abrupt stehen und zeigte auf Yuri. »Du! Komm hierher!« Die Männer und Frauen, die damit beschäftigt waren, die Verpflegung aufzustellen, hielten ein und blickten auf, weil sie sich fragten, ob der Schmied wohl sie anschrie. Yuri rannte herbei. Mit trotzigem Gesicht stellte er sich vor Theros. Theros hob die Hand, um den jungen Mann Disziplin zu lehren. Yuri biß die Zähne zusammen und wappnete sich für den Schlag. Stirnrunzelnd ließ Theros die Hand sinken. »An die Arbeit!« befahl er. »Und lauf nicht ständig diesem Weibsstück hinterher. Die Leute kommen noch auf falsche Gedanken.« Yuri blinzelte vor Staunen über den Befehl und darüber, daß er nicht geschlagen worden war. »Was für Gedanken? Wie – « »Sei still, du Dummkopf. Die Leute hören zu. Sieh zu, daß du zum Wagen kommst, und sorg dafür, daß die Schmiede richtig aufgebaut wird. Geh!« Yuri lief zum Bereich der Schmiede, wo die Soldaten die ersten Zeltpfosten aufstellten. Theros starrte seinem Lehrling nach. Yuri wollte kein Soldat sein. Er hatte nie Soldat sein wollen. Er wollte Schmied werden. Er war zu Theros gekommen und hatte ihm angeboten, nur für Verpflegung und Unterkunft zu arbeiten, wenn Theros ihn sein Handwerk lehrte. Yuri hatte ein Talent für Feinarbeiten, aber er hatte weder die Stärke noch die Größe, riesige Äxte oder Schwerter zu hämmern. Das war nicht seine Schuld. Er war dünn und drahtig geboren, und so würde er bis an sein Lebensende bleiben. Den-
noch, er hatte genug Verstand, um zu wissen, daß er innerhalb seiner Grenzen gute Arbeit leisten konnte. Aber Yuri brauchte Disziplin. Er konnte sich offenbar nicht im Zaum halten, deshalb mußte Theros das für ihn übernehmen. Und als erstes mußte Theros jetzt dafür sorgen, daß diese Liebelei ein Ende fand. Zu Yuris Bestem. Theros suchte Cheldon auf, der den Leitern seiner Abteilung letzte Befehle erteilte. »… und ich will, daß die Kochfeuer angezündet werden, bevor es dunkel wird. Ich will heißes Essen für jeden Soldaten. Oh, und haltet zwei zusätzliche Kessel mit kochendem Wasser bereit. Auch die Verwundeten müssen versorgt werden, wenn sie ankommen. Also an die Arbeit.« Die beiden Männer salutierten und gingen dann ihren Pflichten nach. Die Arbeiter des Quartiermeisters stellten ihre Wagen hinter ihren Zelten ab, wo sie lange Holztische zum Austeilen von Essen und Ausrüstung aufstellten. »Cheldon, ich muß mit dir reden«, sagte Theros. »Was ist denn, Eisenfeld?« »Ich habe ein Problem mit meinem Lehrling, Yuri. Dauernd erwische ich ihn hier drüben mit einer deiner Mägde.« Cheldon lachte. »Ach, das ist alles? Du hast mir schon einen Schrecken eingejagt.« Er zwinkerte. »Burschen bleiben Burschen, was, Theros? Und Mädchen bleiben Mädchen, gepriesen seien die Götter der Sucher. Laß ihnen doch ihren Spaß.« Theros machte ein finsteres Gesicht. »Hör mal, ich habe Gerüchte gehört, daß eine von euren Frauen der Spion sein könnte. Vielleicht holt sie des Nachts mehr als ein Kichern aus Yuri heraus. Wenn er Probleme bekommt, wird man mir die Schuld geben. Ich bitte ja nur darum, daß du mei-
nen Mann von hier fernhältst.« »Eine von meinen Frauen ein Spion?« Cheldon wurde ärgerlich. »Hör mal, Eisenfeld. Es ist dein Mann, der dauernd hier herüber kommt, nicht umgekehrt. Wenn du ein Problem mit ihm hast, dann kümmere dich um ihn. Was meine Leute angeht, so habe ich die meisten aus Sanction mitgebracht. Ich kenne sie erheblich besser als du. Jetzt laß mich in Ruhe. Ich habe ein Menge zu tun!« Cheldon Sarger stürmte davon. Schäumend drehte Theros sich um und kehrte zu seiner eigenen Abteilung zurück.
Der Hornist stand neben Moorgoth und wartete auf Befehle. »Noch nicht… noch nicht… noch nicht – jetzt!« Die angreifende solamnische Kavallerie war hundertfünfzig Schritt vor der Front. Wieder blies das Horn klar und deutlich zum Rückzug. Der Baron sah dem Hornisten zu. »Ich muß diesen jungen Kerl belohnen«, meinte er. »Er hat unter diesem ungeheueren Druck nicht einmal versagt.« Als der Junge die Tonfolge beendet hatte, drehte sich die ganze Kommandogruppe um und rannte um ihr Leben auf die Bäume zu. Das Donnern der Ritterpferde hinter ihnen wurde lauter und lauter. Viele Soldaten rannten so schnell, daß sie, als sie die Baumlinie erreichten, stolperten und kopfüber gegen die Stämme fielen. Die meisten schafften es rechtzeitig. Einige waren weniger glücklich. Das linke Ende der Linie erstreckte sich über die Bäume hinaus ins Freie. Diesen Männern setzten die Ritter schwer zu, denn sie erwischten sie von hinten und überrannten sie. Fast die Hälfte wurde niedergeritten, ehe der Rest zwischen den Bäumen war. Am Waldrand scheiterten die Ritter. Ihre Pferde scheuten, denn sie wollten nicht in vollem Galopp zwischen die Bäume galoppieren. Einige Reiter wurden aus dem Sattel geworfen. Diejenigen, die sich halten konnten, trieben ihre Rösser vorwärts. Moorgoth gab einen neuen Befehl. Bogenschützen sprangen auf und schossen auf die Ritter. Der Baron und der Hornist wichen einem Schwert aus, das von einem Ritter geschwungen wurde, der es geschafft hatte, sein Pferd zwischen die Bäume zu treiben. Einer von
Moorgoths Leibwächtern streckte den Mann nieder. Der Hornist harrte neben dem Baron aus. »Blas zum Angriff!« schrie Moorgoth. Erneut blies der Junge den Befehl. Die Solamnier hatten gerade gemerkt, daß sie in einen Hinterhalt geraten waren. Sie versuchten, sich neu zu formieren. Ihre eigenen Hornisten bliesen zum Rückzug, so daß die Klänge sich schaurig vermischten. Es schien, als würden die Bläser ihren eigenen Kampf austragen. Moorgoths Soldaten eilten vorwärts. Sie schlugen auf die Ritter ein, wo sie konnten, oder auf die Pferde, wenn sie die Reiter nicht erreichten. Zahlenmäßig waren sie ihren berittenen Gegnern um das Zweifache überlegen. Die Ritter versuchten, sich zurückzuziehen, aber sie wurden umzingelt und mußten weiterkämpfen. Vor dem Baron standen fünf Ritter Rücken an Rücken in einem Kreis. Zwanzig Soldaten umringten sie, doch noch hatte keiner einen Treffer erzielen können. Das stolze Auftreten der Ritter, ihre blinkenden Rüstungen und die blitzenden Schwerter schienen Moorgoths Männer einzuschüchtern. Als der Baron den Stillstand sah, rannte er herbei, schob seine Männer beiseite und trat nach vorn. »Ergebt Euch oder sterbt hier auf diesem Feld. Ihr habt die Wahl«, rief Moorgoth den Rittern zu. Die Ritter sahen einander an. Es war eine harte Entscheidung, aber schließlich nickte einer langsam. Steifbeinig ging er vor, klappte das Visier seines Helmes hoch und hielt Moorgoth sein Schwert hin – mit dem Heft voran. Der Baron nahm die Waffe höflich entgegen. »Ihr werdet gut und ehrenvoll behandelt werden. Legt die Waffen nieder«, befahl er den anderen Rittern.
Sie taten, wie ihnen befohlen war, indem sie ihre Schwerter auf den Boden legten. Sobald die Ritter entwaffnet waren, gab Moorgoth ein Handzeichen. Seine Soldaten sprangen auf die Wehrlosen zu und stachen sie nieder. »Seid verdammt!« schrie der Ritter, der Moorgoth sein Schwert überreicht hatte. »Seid verdammt in den Abgrund, aus dem Ihr stammt –« Das waren seine letzten Worte. Vom überraschten Ausdruck auf den Gesichtern der Ritter belustigt, zog sich der Baron aus dem Kampfgeschehen zurück. Was waren diese Ritter doch für Dummköpfe! So verdammt vertrauensvoll. Als er zurückblickte, sah er alle fünf Ritter brutal zerhackt tot auf dem Feld liegen. Die übrigen Ritter zogen sich zurück. Ihr General versuchte verzweifelt, seine Truppen zu einer Sturmlinie aufzustellen. Zwischen den Bäumen wurde immer noch gekämpft. Dort konnten die Bogenschützen nichts ausrichten, weil sie befürchten mußten, ihre eigenen Kameraden zu treffen. Der Baron wendete sich der linken Flanke der Armee zu. Dort lief die Schlacht nicht so gut. Die Ritter hatten viele seiner Männer im Freien erwischt. Es sah so aus, als würde die linke Flanke einbrechen und den Rittern eine Chance geben, ihn von dieser Richtung her aufzurollen. Da hörte er Rufe. Moorgoth schaute zum Hügel hinauf, auf dem gerade seine eigene Kavallerie auftauchte. Die Ritter von Solamnia standen bereits in der Schlacht. Sie konnten nicht umdrehen und sich dieser neuen Drohung stellen. Moorgoths Kavallerie ging von hinten auf die Ritter los.
Die Reaktion kam sofort. Die Reihen der Solamnier auf der linken Seite lösten sich auf. Die Infanterie des Barons nutzte die Verwirrung unter den Rittern aus und kämpfte mit frischem Mut weiter. Der Kommandant der Solamnier hatte zweihundert Ritter aus dem Kampf herausgezogen. Ursprünglich hatte er gehofft, wieder am Waldrand anzugreifen. Jetzt konnte er erkennen, daß er unterlegen war. Ein neuerlicher Angriff wäre Selbstmord gewesen. Er befahl den Rückzug. Dennoch wollten viele Ritter nicht gehorchen, sondern lieber sterben, als den Sieg diesen Schlächtern zu überlassen. Der Kommandant rief etwas, das mit den Worten endete: »… beim Eid und beim Maßstab!« Er wendete sein Streitroß und galoppierte über das Feld auf die Stadt zu. Die Mehrheit der Ritter folgte ihm. Eine kleine Gruppe von etwa zwanzig Mann hatte anscheinend beschlossen, im Kampf zu sterben. Sie hielten wieder auf das Getümmel zu und durchbrachen die Infanterie direkt vor dem Baron. Wer ihnen im Weg stand, starb. »Sie wollen die Standarte!« rief der Baron Berenek Ibind zu, dem Fahnenträger. Der große Mann blieb stehen. »Schützt die Standarte!« schrie Moorgoth. Er zog sein Schwert und stürzte sich in den Kampf. Seine Leibwächter scharten sich um die Standarte. Die Ritter kämpften wie irrsinnig in ihrem Versuch, nahe genug heranzukommen, um die Standarte zu erwischen und zu zerfetzen. Dann hätten sie wenigstens einen symbolischen Sieg, wenn auch keinen echten. Soldat um Soldat fiel den Solamniern zum Opfer. Aber die Männer des Barons landeten auch einige Treffer, zogen die Ritter von ihren
Pferden und erstachen sie, sobald sie auf dem Boden lagen. Nur noch acht Ritter waren übrig, als Moorgoth den Ort des Geschehens erreichte. Ein riesiger Mann auf einem weißen Streitroß wandte sich ihm zu. Moorgoth duckte sich rechtzeitig, um dem Schwerthieb des Ritters auszuweichen. Im Hochkommen zog er dem Pferd des Gegners sein eigenes Schwert über den Bauch. Das Tier bäumte sich hoch auf, sein Blut spritzte in alle Richtungen. Der Ritter wurde abgeworfen. Sofort stand er wieder auf den Beinen und Moorgoth gegenüber. Ein Soldat stürmte von rechts heran und versuchte, den Ritter von der Seite zu erwischen, aber der sah ihn kommen, wich dem Angriff aus und schlug den Mann fast entzwei, als dieser vorbeilief. Der Soldat war sofort tot. Während der Ritter sich wieder faßte, holte der Baron aus, doch sein Gegner konnte dem Schlag knapp ausweichen. Die beiden umkreisten einander, und das tote Pferd war wie ein kleiner Wall um den Kampfplatz. Der Rest der Ritter war inzwischen entweder tot oder vom Pferd gerissen. Moorgoth konnte es sich nicht leisten, sich umzuschauen. Der Ritter vor ihm war zum Sterben bereit, und er wollte den Baron mit in den Tod nehmen. Moorgoth parierte Schlag um Schlag, ohne einen Angriff anbringen zu können. Plötzlich wurde der Ritter steif. Ein Soldat hatte ihn von hinten mit einem Speer durchbohrt, den er dem Mann durch die Rüstung in den Rücken gestoßen hatte. Der Ritter fiel nicht. Er riß sein Schwert hoch und zog es gewaltsam auf Moorgoth herunter, um den Baron in der Mitte zu spalten. Das Schwert des Barons fuhr hoch, um den Angriff ab-
zuwehren. Die Klinge des Ritters traf Moorgoths Schwert und brach es einfach ab. Durch die Wucht des Aufpralls sprang auch die Klinge des Ritterschwerts. Ihr Ende flog trudelnd davon, bis es im Boden steckenblieb. Der Ritter fiel vornüber auf den Boden. Der Arm des Barons glühte nach dem heftigen Schlag vor Schmerz. Er wurde zurückgeworfen und landete auf der Erde. Dort lag er einen Augenblick still, während das Klingeln in seinen Ohren jeden anderen Ton überdröhnte. Gleich darauf setzte er sich auf. Noch immer hörte er nur das Klirren von Stahl auf Stahl. Er sah sich um. Kein Ritter stand mehr. Der Kampf war vorbei. Die Standarte war noch gehißt. Berenek Ibind stand mit gezogenem Schwert da, von dessen Spitze Blut tropfte. Seine linke Hand unklammerte die Standarte und hielt sie hoch. Der Sieg gehörte Baron Dargon Moorgoth.
Kapitel 6
Baron Moorgoth war über die Wendung der Ereignisse entzückt. Die Stadt stand ihm zur Plünderung offen. Er würde dafür sorgen, daß ihre Bewohner den Tag bereuten, an dem sie es gewagt hatten, sich ihm zu widersetzen. Er würde seine verlorenen Männer rächen. Die Sonne sank langsam am westlichen Himmel. Noch immer waren Verwundete auf dem Feld, aber niemand aus Moorgoths Armee. Seine Soldaten waren gefunden und in den Wald getragen worden, von wo aus man sie später ins Lager zurückbringen würde. Die solamnischen Verwundeten mochten zum Abgrund fahren, soweit es Dargon Moorgoth betraf. Wer dem Zorn seiner Männer entgangen war, sollte die ganze Nacht und den folgenden Tag hindurch leiden. Sollten sie ruhig um ihr Leben kämpfen. Er rief seine Offiziere zu einer Versammlung am Waldrand zusammen. »Also, meine Herren, sehr gute Arbeit. Ich gratuliere. Gut gemacht! Ich wünsche, daß die erste Brigade heute nacht rund um die Stadt Posten aufstellt. Keiner rein, keiner raus, bei Todesstrafe. Wenn es in dieser Armee Männer gibt, die beim Plündern eine Nase voraus sein wollen, dann hängen sie morgen früh. Ich kann mir keine Verluste mehr leisten. Ich brauche eine kampfbereite Armee. Das ist erst die erste Stadt, die erste Schlacht. Wir haben noch Überfälle für einen ganzen Sommer geplant, und in sechs bis sieben Wochen wird schon der Winter hereinbrechen. Ruft die Männer zu Ge-
duld auf. Wir bekommen unsere Beute, ja, aber erst auf meinen Befehl. So, wie viele Gefangene haben wir?« Berenek Ibind war für die Armeestandarte und für die Kommandogruppe verantwortlich. Die Leibwachen des Barons paßten auf die Gefangenen auf. »Sir, wir haben nur zwanzig Ritter festgenommen. Der Rest war verwundet und wurde erledigt.« Der Baron rieb sich die Hände. »Gut. Dann haben wir heute nacht wenigstens ein wenig Unterhaltung. Führt die zweite und die dritte Brigade zu dem Lager zurück, das hinter dem zweiten Hügel dort hinten bereitsteht. Sorgt dafür, daß die Verpflegungseinheit der ersten Brigade heute abend etwas Warmes zu essen bringt. Die Nacht wird ihnen lang werden.« Die Offiziere salutierten und kehrten zu ihren Kommandos zurück. Bald wurden auf dem ganzen Feld Befehle gebrüllt. Die erste Brigade begann, sich um die Stadt herum aufzustellen, wobei sie mindestens zweihundert Schritt Abstand zwischen der Postenlinie und den nächsten Gebäuden hielt. Geplant waren Straßenblockaden auf beiden Seiten der Stadt, wo die Straßen hinein und hinaus führten. In dieser Nacht würde keiner fortlaufen. Jeder Bürger, der dumm genug war, dies zu versuchen, würde nach Waffen durchsucht werden und nach einer unsanften Behandlung nach Hause geschickt werden. Die zweite und dritte Brigade hielten auf den Lagerplatz zu. Unter ihnen war die Kommandogruppe, die die zwanzig Gefangenen mit sich führte. Man hatte den Rittern die Hände und Füße gefesselt und sie entwaffnet. Die Rüstung ließ Moorgoth ihnen. Sie war schwer und würde ihnen das Marschieren nicht leichter machen.Als
Theros aufblickte, sah er eine Kolonne auf dem Hügel auftauchen. Die Armee war zurück! Seine Schmiede war aufgebaut, aber das Feuer in der Esse brannte noch nicht. »Yuri, beeil dich mit dem Holz!« brüllte er seinen Gehilfen an, der mit einem Stoß Slumakrinde und Holz kämpfte. Theros hatte die Gitter über die Feuerstelle gelegt, um das Metall zu erhitzen. An einer Seite standen zwei große Wasserfässer, um es zu härten. Yuri stolperte ins Zelt und warf das Holz hin. Er begann, es am Zeltrand aufzustapeln, abseits vom Feuer. Sie wollten gewiß nicht, daß das Klafterholz Feuer fing und die ganze Schmiede in Brand setzte. »Sieht so aus, als müßten wir die ganze Nacht Waffen reparieren«, meinte Theros in der Hoffnung, Yuri in ein Gespräch zu verwickeln. Yuri sah Theros nicht einmal an. Er drehte sich nur um und lief wieder in die Dämmerung hinaus, um mehr Holz zu sammeln. Die anderen Soldaten kamen herein und stapelten ebenfalls ihre Rinde und ihr Holz auf. Erela – der Soldat, den Theros mittlerweile am besten kannte – traf zuletzt ein. Theros hatte bereits eine Lage Steinkohle ausgebreitet. Darüber hatte er Zweige und Blätter gelegt. Jetzt kam der Slumak – ein sehr hartes Holz. Es dauerte lange, bis es Feuer fing, aber dann brannte es lange und heiß. Theros und Erela waren noch mit dem Feuer beschäftigt, als die zweite Brigade auf ihrem Weg auf die andere Seite des Lagers am Zelt vorbeimarschierte. Dort würden die Soldaten ihre Zelte aufschlagen. Sie sahen erschöpft, aber zufrieden aus. Sie hatten gesiegt, und nichts heilte leichte Wunden besser als ein Sieg. Sie würden gut belohnt wer-
den. Sobald ihre Zelte standen, würden sie mit dem Feiern beginnen. Die entladenen Verpflegungswagen mit den Zugpferden rollten zum Schlachtfeld, von wo sie die Verwundeten zum Lager bringen sollten. Unter Theros’ Händen begann das Feuer zu brennen. Die Klappen für den Rauchabzug waren zurückgebunden, damit Rauch und Hitze entweichen konnten. Yuri hatte einen Metallring um das Loch befestigt, damit das Leinen vor zu starker Hitze geschützt war und nicht in Brand geriet. Theros schürte das Feuer und vergaß eine Zeitlang seine Sorgen. Die Flammen tanzten, wogten auf und ab, verschmolzen, teilten sich und kamen wieder zusammen. Es erinnerte ihn an zwei Liebende. Er dachte an Yuri und Telera. Theros dachte an Marissa zurück. Sein Herz wurde weit, als er sich an seine Nacht mit ihr erinnerte. Wie ein Traum war sie für ihn, ein leuchtender Augenblick in einem nüchternen Leben. Er erinnerte sich an ihren Abschiedskuß. Sie hatte jedem deutlich gezeigt, daß sie ihn mochte. Vielleicht liebte sie ihn sogar. »Aber was macht mich anders als die anderen?« fragte er sich. »Warum sollte sie mich erwählen? Bestimmt nicht wegen meines Äußeren!« Er lachte in sich hinein. Er hatte nie viel über sein Aussehen nachgedacht, bis er unter Menschen zu leben begann. Bei den Minotauren setzte man Häßlichkeit mit Kühnheit in der Schlacht gleich. Narben und Beulen waren Ehrenmale. Eine aufgeschlitzte Nüster, ein zerrissenes, zerfetztes Ohr, fehlende Zähne – das waren die äußerlichen Merkmale eines stolzen Kriegers, die eine Minotaurenfrau sehr beeindruckten.
Erstaunt hatte Theros festgestellt, daß die Menschenfrauen Männer mit glatter Haut und gerader Nase bevorzugen, deren Haut nicht rauh und schwielig war. Er hatte ein hartes Leben hinter sich, das Spuren auf seinem Körper hinterlassen hatte. Er trug Narben aus der Schlacht – nicht nur aus Kämpfen mit Männern, sondern auch aus denen mit seiner Arbeit. Wenn er sein dunkles Gesicht im Rasierspiegel betrachtete, war er nie mit sich zufrieden. Seine Nase war mehr als einmal gebrochen. Während einer »Disziplinierung« an Bord des Minotaurenschiffes hatte er einen Schneidezahn eingebüßt. Bei einem Brand hatte er einen Teil seiner Haare verloren, die nie wieder nachgewachsen waren. Da Theros sich selbst häßlich fand, hatte er die Leute davon überzeugen können, daß er häßlich war. Aber Marissas Augen hatten eine andere Seite von ihm widergespiegelt. Ihm war nie in den Sinn gekommen, daß Frauen in der Lage sein könnten, unter die Narben und das rauhe Äußere zu blicken und die Träume und das Verlangen seiner Seele zu erkennen. Während der Nacht mit Marissa hatte er ihr plötzlich von solchen Dingen erzählt. Sie hatte zugehört, hatte sich für ihn interessiert. Er hatte ihr sogar erzählt, wie er im Traum Gott Sargas gesehen hatte. Sie hatte nicht gelacht, wie er es erwartet hatte. Yuris Stimme, die vor dem Zelt zu jemandem sprach, weckte Theros aus seinen Gedanken und floß dann in sie ein. Yuri war im gleichen Alter wie Theros, als dieser damals von den Minotauren freigelassen worden war und man ihm gestattet hatte, sein Leben selbst zu gestalten. Yuri hatte diese Wahl nicht. Er war kein Sklave, aber er schien kaum in einer besseren Lage zu sein als Theros damals.
Plötzlich stellte Theros erschüttert fest, daß es einfacher war, Yuri anzuschreien, zu schlagen und zum Gehorsam zu zwingen, als mit Yuri zu reden und ihm Dinge vernünftig zu erklären. Theros dachte an Telera, das Mädchen, das Yuri liebte. Yuri hatte das Recht, genauso für eine Frau zu empfinden wie Theros, aber der junge Mann mußte lernen, daß es für alles eine Zeit und einen Ort gab – selbst für die Liebe. Wenn dieses Mädchen nun eine Spionin war? Der unerfahrene, naive Yuri wäre leicht zu verführen. Und selbst wenn diese Beziehung ganz unschuldig war, machte sie dennoch einen sehr schlechten Eindruck. »Das kann nicht so weitergehen«, sagte sich Theros. »Es ist eine Frage der Disziplin.« Aber vielleicht sollte er versuchen, noch einmal mit Yuri zu reden, ihm erklären, warum es schlecht war, anstatt ihm einfach zu befehlen, das Mädchen nicht mehr zu besuchen. Damit war Theros wieder bei Marissa angelangt. Er lächelte. Wenn er seine Zeit in dieser Armee abgedient hatte, wenn er das Gefühl hatte, er hätte Moorgoth sein Geld zurückgezahlt, würde Theros geradewegs nach Sanction zurückkehren, geradewegs zu Marissa. Rufe und Hohnlachen rissen Theros aus seinen Überlegungen. Er blickte aus dem Zelt und sah, wie die Leibwachen aus der Kommandogruppe in die Mitte des Lagers marschierten. Sie brachten zwanzig Gefangene mit, die zu einer Menschenkette zusammengebunden waren. Erschöpft stolperten die Männer über das unebene Gelände. Also das ist unser Feind, dachte Theros. Über die Ritter von Solamnia hatte er nichts Gutes gehört. Die Minotauren hatten nichts für sie übrig, denn sie
behaupteten, daß die Ritter all ihre Ehre verloren hätten, weil man ihnen die Chance gegeben hätte, die Umwälzung zu verhindern, doch sie hätten versagt oder so ähnlich. Aber nach allem, was Theros gehört hatte, hatten sich diese Ritter wacker geschlagen. Er kam aus dem Zelt, um sie sich näher anzusehen. Die Leibwachen zerrten die Gefangenen in die Mitte des Quadrats aus den Wagen und den Zelten. Dort hämmerten sie einen langen Pflock in den Boden und banden die angeketteten Ritter daran fest. »Haltung annehmen, ihr Hunde«, brüllte ein Feldwebel. Die meisten Ritter blieben stolz stehen, aber einer – vielleicht ein Verwundeter – sank auf die Knie. Der Feldwebel ging hin und trat dem Mann ins Gesicht. Die Soldaten lachten, höhnten und bewarfen den Gefangenen mit Essensresten. Theros war angewidert. Allen Berichten zufolge hatten die Ritter tapfer gekämpft. Bei den Minotauren wurde ein Gegner, der sich im Kampf gut gehalten hatte, geehrt und nicht gequält oder mißhandelt. Die Ritter versuchten, ihrem gestürzten Kameraden beizustehen. Der Feldwebel wollte erneut nach dem Mann treten. Da merkte er, daß Theros’ Pranke seinen Arm umschloß. Theros funkelte den Feldwebel an. »Diese Männer haben Durst. Holt ihnen Wasser.« Der Feldwebel erwiderte den finsteren Blick. »Das hat Moorgoth nicht befohlen, Sir.« »Das habe ich befohlen«, gab Theros finster zurück. Der Feldwebel gehorchte ungern, aber Theros stand höher im Rang, deshalb salutierte er und zog ab. Theros half dem verwundeten Ritter beim Aufrichten, bis
er bequem an dem Pfosten lehnte. Indem er beobachtete, zu welchem Ritter die anderen hinsahen, stellte Theros fest, welcher ihr höchster Offizier war. Weil er neugierig war, befragte Theros den Mann. »Wer seid Ihr? Wie lautet Euer Name?« Der Ritter warf Theros einen bitteren, haßerfüllten Blick zu. Zuerst sah es so aus, als würde der Mann nicht antworten, aber dann – vielleicht aus der Überlegung heraus, daß sie Theros etwas schuldig waren, weil er die Mißhandlung des Verwundeten unterbunden hatte –, reagierte der Ritter doch. »Richard Stahlpanzer, Ritter des Ordens des Eisvogels der Ritter von Solamnia.« Der Ritter verkündete seinen Namen und seinen Rang mit stolzer Stimme, obwohl er als Gefangener in Ketten lag. In Theros stiegen Erinnerungen an eine andere Schlacht, eine andere Niederlage auf. »Ich bin Hauptmann Theros Eisenfeld. Ich bin der Schmiedemeister dieser Armee. Sagt mir, Ritter von Solamnia, weshalb seid Ihr hier?« Der Ritter zeigte seine Verachtung. »Wenn Ihr wissen wollt, warum wir heute gekämpft haben – wir tun es deshalb, weil die Orden von Solamnia sich persönlich verpflichtet haben, die Stadt Neugardj vor dem Angriff von Moorgoth und seinen Dieben zu verteidigen.« Theros ließ sich ungern einen Dieb schimpfen, ging aber nicht darauf ein. Er hatte nicht das Gefühl, als hätte er viel zu seiner Verteidigung anzuführen. »Das habe ich nicht gemeint«, erklärte er. »Ich meine, warum habt Ihr Euch gefangennehmen lassen?« Minotauren wären kämpfend gestorben, wenn man sie gelassen
hätte. »Ich wurde auf dem Schlachtfeld besiegt«, erwiderte der Ritter, »und als deutlich wurde, daß ich nur noch bis zum Tod kämpfen konnte, habe ich mich ergeben. Es liegt keine Ehre darin, eine verlorene Schlacht auszufechten. Rache zählt nicht zu den Tugenden meines Ordens.« Theros rieb sich das Kinn. »Also habt Ihr Euch freiwillig ergeben. Ihr wurdet nicht niedergeschlagen und seid als Gefangener aufgewacht?« »Bei meinem Eid, nein! Ich habe mich ergeben und auch die ausgeliefert, die von meinem Kommando noch übrig waren.« Sir Richards Augen blitzten. »Mir wurde eine ehrenvolle Behandlung zugesagt. Meine Männer haben seit dem Kampf weder etwas gegessen noch Wasser bekommen. Sollen wir verhungern oder verdursten? Ist das die Art, wie Ihr Eure Gefangenen behandelt?« Theros war ungehalten. Ja, sie waren Gefangene, aber sie waren keine Tiere. Und selbst Tieren mußte man Wasser geben. »Das ist nicht recht«, befand Theros. »Ich will sehen, was ich tun kann.« Sir Richard betrachtete Theros mit größerem Respekt als zuvor. »Danke«, murmelte er und wandte sich wieder seinen Männern zu. Theros verließ die Ritter, um zum Verpflegungszelt zu gehen. Die meisten Männer und Frauen der zweiten Brigade hatten die Essensschlange hinter sich. Jetzt stellten sich die dritte Brigade und die Kavallerie an. Theros betrat das Zelt, in dem das Essen ausgegeben wurde. Es duftete wunderbar. Man hatte einen kräftigen
Eintopf mit viel Fleisch und Gemüse zubereitet. Auf einem Tisch lagen frische Brotlaibe. Die Soldaten kamen vorbei, ließen ihre Schalen füllen und rissen sich dann Stücke von dem Brot ab. Anschließend verließen sie das Zelt auf der anderen Seite, wo sie essen und trinken konnten. Der Wein war bereits ausgegeben worden. Heute nacht sollte gefeiert werden. Theros fand Cheldon Sarger vor dem Zelt, wo er seine Untergebenen im Auge hatte. »Ah, Theros. Gut, daß ich dich sehe. Ich habe einen Topf Suppe und ein paar Brote für die Logistik beiseite stellen lassen. Wir essen hier, abseits von den Fliegen und Wanzen. Bring deine Männer rüber, wenn du soweit bist. Oh, ich habe noch ein paar Flaschen guten Wein aus den Kasernen in Gargath.« Cheldon zwinkerte. »Ich finde, wir haben zur Feier des Tages welchen verdient.« »Sicher, danke, Cheldon. Hör mal, es tut mir leid, daß ich wegen der Sache mit meinem Gehilfen so heftig geworden bin. Ich mache mir Gedanken um den Jungen, das ist alles. Ich werde meine Männer herholen, aber vorher möchte ich wissen, ob ich für die Gefangenen etwas zu essen bekommen kann, wenigstens etwas Brot.« Cheldon Sarger sah Theros an, als wären diesem plötzlich drei Köpfe gewachsen. »Essen? Für die Gefangenen? Wozu? Wo die hingehen, brauchen sie bestimmt nichts mehr zu essen!« Theros begriff nicht. »Was meinst du damit? Lassen wir sie nicht gegen Lösegeld zu ihren Familien zurückkehren?« Cheldon lachte. »Und was sollten wir für sie bekommen? Diese Ritter sind arm wie die Ratten, jedenfalls die meisten. Nein, wir werden heute nacht Spaß haben. Hauptmann
Ibind hat mir erzählt, daß diese Ritter die Nacht nicht überleben werden. Sie sollen uns nach dem Essen zur Unterhaltung dienen! Ein Riesenspaß, was?« Theros traute seinen Ohren nicht. Moorgoth wollte diese Gefangenen martern! »Sie brauchen wenigstens Wasser«, knurrte Theros. »Ich kann nicht glauben, daß Baron Moorgoth so etwas zuläßt. Ich kann es einfach nicht.« Aber Theros konnte es glauben. Das war das Problem. Unglücklicherweise überraschte ihn diese Neuigkeit über Baron Moorgoth nicht besonders. »Denk einfach daran, daß man Sieger verwöhnt, und heute nacht sind wir Sieger!« Cheldon redete laut und deutlich. »Bring deine Jungs in einer Stunde her.« Nachdem er dies gesagt hatte, zog er Theros zur Seite, wo er mit leiser Stimme fortfuhr: »Hör zu, mir gefällt diese Art von ›Unterhaltung‹ genausowenig wie dir. Aber was können wir schon dagegen tun? Ich schlage vor, wir bleiben hier und essen und trinken, bis wir nichts mehr mitkriegen.« Theros murmelte etwas Zustimmendes und ging. Cheldon hatte recht. Wenn Theros Einwände erhob oder versuchte, die Gefangenen zu schützen, würde Moorgoth den Schmied für einen Verräter halten. Er würde vielleicht sogar auf die Idee kommen, daß Theros der Spion sei. Ganz in Gedanken und mit gesenktem Kopf merkte Theros nicht, wohin er lief. Als er über einen Zeltpflock stolperte, sah er sich um und stellte fest, daß er sich bei den Frauenzelten befand. Er machte kehrt, um rasch zu verschwinden, als er aus einem der Zelte plötzlich Stimmen hörte. Eine der Stimmen erkannte Theros. »Wir fliehen heute nacht«, sagte die Stimme, »wenn alle
betrunken sind…« Theros ging zu dem Zelt und riß die Klappe auf. Erschrockene Augen starrten ihn an. Yuri und Telera saßen in dem Zelt beisammen und wichen angesichts von Theros’ Zorn zurück. »Was hat das zu bedeuten?« herrschte der Schmied sie an. Yuri sprang auf, um sich rasch zwischen Theros und Telera zu stellen. »Ich bin der Spion, Meister. Ich gestehe es. Nimm mich mit. Ich werde – « »Nein, nicht, Yuri!« Telera war auch auf den Beinen. Sie klammerte sich an Yuri fest. Der versuchte, etwas zu sagen, zu streiten. Sie schüttelte den Kopf, trat vor und stellte sich Theros. »Ich bin die Spionin, Sir. Ich bin diejenige, die Ihr sucht. Laßt Yuri laufen. Er wußte von nichts. Das werde ich beschwören – « Yuri wollte Einwände erheben, doch Telera schüttelte den Kopf. »Still!« zischte Theros mit leiser, leidenschaftlicher Stimme. Beide hielten überrascht den Mund. Theros hob die Zeltklappe und spähte vorsichtig wieder nach draußen. Es war niemand in der Nähe. Er senkte sie wieder und drehte sich dann – immer noch kochend vor Wut – zu den beiden um. »Erzählt mir die Wahrheit, verdammt noch mal«, forderte er sie auf. Telera leckte sich die Lippen und schluckte, doch ihre Stimme war stark und fest. »Ich bin die Tochter eines Rit-
ters. Mein Vater wurde von Baron Moorgoth und dessen Männern umgebracht, als sie unsere Burg überfielen. Ich bin entkommen, weil ich mich im Wald versteckt habe. Als ich wieder nach Hause kam, fand ich die Leichen…« Ihre Augen wurden feucht. Yuri nahm ihre Hand. Nach einem Augenblick fuhr Telera fort. »Ich habe Moorgoth Rache geschworen. Aber ich bin eine Frau und keine ausgebildete Kämpferin. Was konnte ich tun? Ich beschloß, mich seiner Bande anzuschließen und die Freunde meines Vaters zu informieren, was die Armee vorhatte und wieviel Mann sie zählt, wann immer es mir möglich war. Um diese Information zu bekommen, habe ich Yuri benutzt. Er hat nicht gewußt – « »Ich habe es herausgefunden, Meister«, unterbrach Yuri das Mädchen. »Ich war froh, daß ich helfen konnte, obwohl Telera mich nicht in Gefahr bringen wollte. Und ich bin immer noch froh darüber, ganz gleich, was sie mir antun. Nur, bitte, Meister, sorg dafür, daß Telera nichts geschieht.« »Lieber sterbe ich unter ihren Händen, als daß ich ohne Yuri verschwinde«, beharrte Telera. »Ich könnte in keiner besseren Gesellschaft sterben als in der von Yuri und den edlen Rittern. Ich bedaure nur«, ergänzte sie bitter, »daß ich versagt habe. Moorgoth und seine Armee leben immer noch.« »Nicht alle. Bei weitem nicht. Soviel habt ihr immerhin erreicht.« Theros murmelte diese Worte und merkte nicht, daß er sie ausgesprochen hatte, bis er sah, wie die zwei ihn mit erneuter Hoffnung ansahen. »Meinst du das ernst, Meister?« Yuri konnte kaum sprechen.
Theros antwortete nicht. Er dachte nach. »Hör zu, Telera, kennst du dich in dieser Gegend aus?« »Ja, Sir. Nicht weit von hier bin ich geboren und aufgewachsen.« »Könntest du dich zurechtfinden, auch im Dunkeln?« »Ja, Sir. Und heute nacht wird es nicht dunkel sein. Das Mondlicht wird zum Laufen hell genug sein.« »Gut. Auf der anderen Seite des Hügels steht eine Baumreihe. Dort ist niemand. Ihr werdet keine bessere Chance bekommen. Haltet auf diese Bäume zu und wartet dort. Euch werden sich andere anschließen.« »Du, Meister?« Yuri betrachtete Theros mit dem Respekt und der Bewunderung, die Theros bei seinem Lehrling lange gesucht hatte. »Wirst du dich uns anschließen? Du wirst selbst in Gefahr sein, wenn sie entdecken, daß ich weg bin.« »Kümmere dich nicht um mich. Tu einmal in deinem Leben, was man dir sagt«, knurrte Theros, doch er lächelte dabei. »Ja, Meister«, antwortete Yuri leise. »Meister, ich möchte dir danken – « »Keine Zeit.« Theros schnitt ihm das Wort ab. »Belhesser wird nach uns Ausschau halten. Dich decke ich. Sorg dich nicht um mich. Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Telera legte Theros zögernd die Hand für einen Augenblick auf den Arm. »Danke, Sir«, sagte sie schlicht. Theros grunzelte und nickte. Dann hob er die Zeltklappe an, schlich hinaus und blickte sich um. Es war niemand in der Nähe. Er winkte die beiden heraus. Yuri nahm Telera an der Hand. Gemeinsam schlüpften
sie aus dem Zelt und eilten in den Wald. Theros wartete einen Augenblick, um sicher zu sein, daß ihre Flucht geglückt war, dann kehrte er zu seiner Schmiede zurück. Er hatte das Gefühl, daß er Yuri nie wiedersehen würde, ganz gleich, was geschah. Theros wünschte ihm und Telera alles Gute. Bei der Schmiede saßen die Soldaten herum und warteten auf ihre Gelegenheit zu essen. Theros winkte ihnen zu. »Kommt, Männer. Stellt euch auf. Wir sollen heute abend mit den Leuten des Quartiermeisters im Verpflegungszelt essen. Er hat uns auch Wein aufgespart.« Die Soldaten sprangen auf, griffen nach ihren Schalen und liefen los, um sich anzustellen. Theros nahm seine eigene Tasse und legte sie in einen der Eimer, die neben den Wasserfässern standen. Er füllte den Eimer und verließ das Zelt. Draußen vergewisserte er sich, daß niemand ihn beobachtete. Auf der anderen Seite des Platzes konnte er Lagerfeuer ausmachen, um die Männer saßen, die aßen, tranken und feierten. Niemand achtete auf die Gefangenen in der Mitte. Es war nicht nötig. Die Ritter hatten ihr Ehrenwort gegeben, daß sie keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Moorgoth respektierte das Wort der Ritter, obwohl er sie offenkundig für Narren hielt, weil sie ein so absurdes Versprechen gaben. Der Baron würde ihnen heute nacht beweisen, wie dumm sie waren. Vielleicht sind die Ritter Narren, dachte Theros, aber nur weil sie glauben, daß andere Menschen so ehrenhaft sind wie sie selbst. Mit dem Eimer Wasser ging Theros zu den Rittern. Die meisten hatten ihre metallenen Brustpanzer und den Rest
ihrer Rüstungen abgelegt. Theros suchte Sir Richard auf, der müde aufblickte. »Hier, trinkt etwas«, sagte Theros. Der Ritter nahm Theros die Tasse aus der Hand und trank sie leer. Dann reichte er die Tasse an den nächsten Ritter weiter, der sie aus dem Eimer nachfüllte. Einer der Ritter hielt dem Verwundeten die Tasse an die Lippen. Sir Richard war aufgestanden. »Danke«, sagte er widerwillig. »Vielleicht könnt Ihr uns sagen, was hier los ist. Niemand hat mit uns über ein Lösegeld oder einen Gefangenenaustausch gesprochen – « Theros unterbrach ihn. »Deshalb bin ich hier. Es wird kein Lösegeld geben. Keinen Austausch. Ihr und Eure Männer sollt den Truppen heute abend als ›Unterhaltung‹ dienen. Ich schätze, Ihr könnt Euch vorstellen, was das bedeutet.« Seinem grimmigen Gesichtsausdruck nach wußte Sir Richard jetzt, was ihm und seinen Männern bevorstand. »Baron Moorgoth hat versprochen – « »Er ist kein Ehrenmann«, erklärte Theros beschämt. »Als Offizier in dieser Armee kann ich nichts gegen das unternehmen, was er Euch antun will, aber als Ehrenmann kann ich es nicht zulassen. Ich rate Euch, alles zu tun, was in Eurer Macht steht, um Euer Kommando am Leben zu erhalten. Ich weiß, daß Ihr einem Offizier Euer Wort gegeben habt, daß Ihr nicht fliehen werdet. Nun, ich bin auch Offizier, und ich entbinde Euch von Eurem Wort.« »Wollt Ihr damit sagen, daß wir – «, setzte Sir Richard an. Theros brachte ihn zum Schweigen. »Ich wünsche Euch alles Gute und hoffe, daß Sargas Euch durch die Nacht führt. Solltet Ihr zufällig zu dieser Baumreihe dort drüben
spazieren, fändet Ihr dort Leute, die Euch helfen können. Ihr könnt ihnen trauen.« Theros drehte sich um und ging schnell davon. Er betrat sein Zelt. Er hatte für die Ritter getan, was er konnte. Jetzt waren sie auf sich selbst gestellt. Theros hatte nichts weiter zu tun, als sicherzustellen, daß mindestens einen Tag lang niemand bemerkte, daß Yuri fehlte. Wie Belhesser gesagt hatte, Moorgoth würde nach seinem Sieg gute Laune haben. Er würde jetzt nicht mehr über Spione nachgrübeln. Nachdem Theros seine Schale genommen hatte, ging er zum Verpflegungszelt.
Kapitel 7
Theros betrat das Essenszelt mit einer Schale in der Hand. Cheldon Sarger und Belhesser Vankjad saßen seitlich an einem Tisch. Der Rest des Zelts war voller Arbeiter und Soldaten, die in der Verpflegung, beim Quartiermeister und beim Schmied arbeiteten. Seine vier Gehilfen saßen mit Frauen aus der Verpflegung zusammen, wo sie lachten und tranken und es genossen, ihren Pflichten für eine Weile entronnen zu sein. Theros ging zu ihnen. Als die Soldaten ihn kommen sahen, sprangen sie auf. Theros winkte ab. »Nein, ist schon gut. Bleibt sitzen. Amüsiert euch heute abend. Denkt nicht an die Schmiede. Ich lasse Yuri heute nacht dort Wache stehen. Bei Sonnenaufgang weckt er einen von euch, der dann übernimmt.« Erela antwortete für die Gruppe: »Ja, Sir. Danke, Sir.« Theros kehrte um und ging zum Offizierstisch. Belhesser sah auf. »Ah, Theros. Ich habe mich schon gefragt, wo du hingekommen bist. Wir haben dir Essen und Wein aufgehoben.« Der Offizier reichte Theros einen Kelch mit schwerem Rotwein. Theros nahm ihn entgegen und setzte sich zu den anderen. Cheldon lehnte sich nach hinten. Er sah zu Theros auf. »Ich habe dich drüben bei den Gefangenen gesehen. Du wolltest dich doch bestimmt vergewissern, daß ihre Ketten noch gut und fest sitzen.« »Ich haben ihnen Wasser gebracht«, antwortete Theros,
der nicht lügen wollte. »Sie haben gut gekämpft, nach allem, was ich gehört habe. Sie litten Durst.« Belhesser runzelte irritiert die Stirn. Er starrte Theros durchdringend an. »Das schert doch keinen mehr, wenn Baron Moorgoth sie sich nachher vorknöpft. Nach dieser Nacht werden sie sich wünschen, sie wären nie auf Ansalon geboren worden.« Er lachte. Theros nickte. »Vermutlich hast du recht.« In der Hoffnung, das Gespräch dadurch zu beenden, widmete er sich seinem Essen. Zwei Teller später ging es ihm schon besser. Der Wein nahm dem Tag seine Härte. Der Schmied zwang sich dazu, die Sache mit den Rittern zu vergessen, und überlegte lieber, wie er mit Yuris Verschwinden umgehen sollte. Es wurde spät. Draußen hörte er die Geräusche trunkenen Feierns. Drinnen waren die Männer genauso laut. Cheldon stupste Theros an. »Kopf hoch, Mann! Trink noch’n Wein.« Er gab sich große Mühe, sich zu betrinken. »Sitz da nich’ so rum und schmoll. Was is’ los mit dir?« Theros merkte, daß er eine Stunde vor sich hingebrütet hatte, anstatt zu feiern. Er versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen. »Ich habe gehört, der Baron hätte heute einen überragenden Sieg davongetragen!« Belhesser nickte, schwenkte sein Glas und bespritzte sich dabei über und über mit Wein. »Verdammt richtig. Ich habe gehört, wir hätten über fünfzehnhundert Feinde getötet. Wir selbst haben nur hundert Tote und hundert Verwundete. Das ist unglaublich, wenn man bedenkt, daß die solamnische Armee hauptsächlich aus Berittenen bestand!« Cheldon stimmte ihm zu. »Was müssen die gestaunt haben, als der alte Dargon mit einer Armee aufgetaucht ist,
die dreimal so groß war wie die ihre!« Alles lachte, auch Theros. »Ja, das war bestimmt ein sehenswerter Kampf. Hauptmann Ibind hat mir erzählt, daß sie den Wald benutzt haben, um die Attacke der Kavallerie abzufangen. Moorgoth hat zur Täuschung eine Linie Männer vor dem Wald aufgestellt, aber als die Kavallerie zu nahe kam, ließ er sie in den Büschen untertauchen. Die Ritter wurden abgebremst, weil ihre Pferde nicht hinterherrennen wollten. Unsere Jungs liefen wieder aus dem Wald heraus, und dann ging’s los! Ich habe sogar gehört – « Ein gequälter Schrei gellte durch die Nacht und störte jäh die Fröhlichkeit. Jeder im Zelt hörte auf zu reden. Der Schrei wiederholte sich. Alle starrten einander an. Theros versuchte, genauso verblüfft auszusehen wie der Rest. »Vielleicht hat der Spaß früher angefangen«, meinte Belhesser. In diesem Augenblick stürmte Uwel Lors durch die hintere Zeltklappe herein. Er marschierte an den Offizierstisch und salutierte. »Meine Herren, ich habe die Meldung, daß mehrere von den Gefangenen entkommen sind.« »Und was zum Teufel war das für ein Schrei?« wollte Belhesser wissen. »Ah, Sir. Einige der Gefangenen haben es nicht ganz geschafft. Sie hatten einen Verwundeten, wißt Ihr, und – anstatt ihn zurückzulassen – ein paar dieser Dummköpfe sind bei ihm geblieben. Aber Sir, ich habe gehört, daß einer von Euch dabei beobachtet wurde, wie er mit den Gefangenen redete. Ist das wahr?« Belhesser und Cheldon sahen Theros an.
Der Schmied stand auf. Er räusperte sich. »Ja, das ist wahr. Ich habe ihnen vorhin Wasser gebracht.« »Und habt Ihr da bemerkt, ob jemand fehlte?« fragte Uwel, während er langsam mit dem Griff seiner Peitsche an sein Bein klopfte. »Nein, alle zwanzig waren da.« Theros zuckte mit den Schultern. »Sie müssen später geflohen sein. Wie viele sind denn entwischt?« Uwel sah Theros argwöhnisch an. »Ich werde das Baron Moorgoth melden müssen. Fünfzehn Ritter sind geflohen. Fünf wurden wieder eingefangen. Wir werden an ihnen ein Exempel statuieren.« Wie um seine Aussage zu bekräftigen, echote ein weiterer Schrei durch das Lager. Uwel salutierte wieder, dann verließ er das Zelt. Belhesser wandte sich Theros zu. »Vielen Dank!« Sein Ton war bitter. »Du stehst unter meinem Kommando. Was hast du dir dabei gedacht?« »Hör mal, es tut mir leid, wenn ich dir Ärger gemacht habe. Ich übernehme die volle Verantwortung. Ich werde Moorgoth sagen, daß es meine Schuld ist, und meinen Abschied nehmen«, bot Theros an. Belhesser machte immer noch ein finsteres Gesicht. »Wenn du mit der Flucht dieser Ritter etwas zu tun hattest, wird man dich nicht deinen Abschied nehmen lassen. Du landest direkt im Abgrund. Verglichen mit dem, was Moorgoth dir – und wahrscheinlich auch mir – antun wird, werden diese Ritter noch gut davonkommen. Vielleicht kann ich Lors noch überholen und eine Art Entschuldigung anführen.« Der entsetzliche Schrei und das Wissen um die Gefahr
für seine eigene Person hatten Belhesser ernüchtert. Mit einem finsteren Blick auf Theros stand der Offizier vom Tisch auf und eilte aus dem Zelt. Theros erhob sich ebenfalls. Er wollte nicht hinausgehen, aber er hatte Angst, sich verdächtig zu machen, wenn er es nicht tat. Er warf Cheldon einen Blick zu. »Kommst du?« Der Schrei hatte dem Offizier ziemlich zugesetzt. Er kippte noch mehr Wein in sich hinein. Erschauernd schüttelte er den Kopf. Mühsam brachte er ein Lächeln zustande. »N-nein. Zu solchen Dingen tauge ich nicht. Brotbacken, das ist mein Geschäft.« Er sah zu Theros hoch. »Aber verrat’ es keinem. Ja?« Er trank mehr Wein. Als Theros aus dem Zelt trat, landete er in einer alptraumhaften Szene. Jeder der fünf Ritter war an einen langen hölzernen Dreifuß gefesselt. Man hatte jedem Mann die Handgelenke zusammengebunden und ihn dann über die Mitte des Dreifußes gehängt. Die Beine waren gespreizt und an zwei der Stangen gefesselt. Rüstung und Kleidung waren bis auf die Lendenschurze und Unterhemden ausgezogen worden. Einer der Ritter war bereits gefoltert worden. Er hing schlaff über seinem Gestell. Sein Gesicht war praktisch zu Brei geschlagen. Sein Hemd war blutdurchtränkt. Baron Dargon Moorgoth sprach zu den Soldaten. »Wir haben heute einen großen Sieg errungen, aber zu einem hohen Preis. Viele eurer Kameraden leiden unter den Wunden, die diese Ritter ihnen beigebracht haben. Viele unserer guten Freunde sind tot. Es ist schlimm, daß die Kameraden dieser Ritter so unritterlich waren, feige davonzurennen. Aber diese hier werden dafür bezahlen.«
Ein Soldat zog einen brennenden Ast aus einem der Feuer und brachte ihn herbei. Uwel Lors nahm den Ast entgegen. »Jetzt wollen wir Spaß haben!« verkündete Uwel. Er ging zu dem bewußtlosen Mann und hielt ihm die Flamme unter den linken Fuß. Plötzlich zuckte der Kopf des Ritters zurück. Er schrie auf und versuchte, seinen Fuß wegzuziehen. Die Seile hielten. Obwohl Theros ein Stück entfernt stand, konnte er den Gestank des verbrannten Fleisches riechen. Ihm wurde übel davon, aber der betrunkenen Menge gefiel es. Grölend verlangten sie nach mehr. Uwel nahm den Ast und ging zum nächsten Ritter. Im Licht der Flamme erkannte Theros Sir Richard. Natürlich, er war bei seinen Männern geblieben, hatte bei dem verwundeten Ritter ausgeharrt, obwohl er genau wußte, welches Schicksal ihn erwartete. »Sargas ehre ihn«, flüsterte Theros. »Und schenke ihm einen schnellen Tod.« Uwel setzte den Lendenschurz des Ritters in Brand. Sir Richard versuchte, sich nach links und rechts zu winden, um der sengenden Flamme zu entkommen, aber vergeblich. Die Haut warf Blasen und schmolz und wurde schließlich um die Leistengegend schwarz. Der Mann versuchte tapfer, seine Qual zu verbergen, aber der Schmerz war nicht auszuhalten. Seine Schreie ließen die Betrunkenen noch lauter lachen. Gnädigerweise – soweit es Theros betraf – verlor der Ritter bald die Besinnung. Der Menge gefiel das Schauspiel. Uwel ging von Ritter zu Ritter, um Füße, Hände und Unterkleider zu verbrennen. Der erste Ritter rührte sich nicht mehr. Theros hielt ihn
für tot. Uwel nahm sein Kampfmesser und schlitzte dem Mann den Bauch auf. Der Körper bäumte sich auf und spannte sich, aber der Ritter kam nicht mehr zu sich. Kurz darauf hörte der Körper auf zu zucken. Die Seele des Ritters war zu dem Gott geeilt, der sie erwartete. Die Folter dauerte noch eine Stunde an. Drei Ritter lebten noch, alle wanden sich verzweifelt in ihren Fesseln. Es war ein grauenvoller Anblick. Theros hielt es nicht mehr aus. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er hatte Menschen und Minotauren in der Schlacht sterben sehen, doch nie war ihm so übel geworden. Sein einziger Trost war, daß er Sir Richard rechtzeitig gewarnt hatte und daß der Kommandant der Ritter seine Warnung ernst genommen und danach gehandelt hatte. Fünfzehn Ritter waren entkommen und hatten hoffentlich in den Wald gefunden, wo Yuri und Telera sie führen konnten. Theros drängte sich durch die Menge der Soldaten. Er brauchte Wasser, um den Geschmack und den Gestank des Blutes abzuwaschen. Er stolperte zu einem Wasserfaß, trank einen Schluck und bereute dies sofort, denn er mußte sich vornüberbeugen, um sich zu übergeben. Jeder Krampf wurde von einem Schrei eines Ritters begleitet, die noch über ihren Dreifüßen hingen. Als er schließlich nichts mehr im Magen hatte, richtete sich Theros auf und holte tief Luft. Er wusch sich den Mund aus und spritzte Wasser über sein glühendes Gesicht. Ein letzter Blick zurück zeigte ihm, wie Uwel gerade ein Langschwert schwang und es tief in Sir Richards Hals senkte. Uwel wurde von Blut übersprüht – und er lachte. Sir Richard hing schlaff herunter. Der Ritter war tot. Jetzt
waren alle Ritter tot. Theros wußte, daß er sich tief in seiner Seele das, was er mitangesehen hatte, niemals verzeihen würde. In seinen Träumen würde es ihn bis an sein Lebensende peinigen. Taumelnd wie ein Mann, der mehr Wein braucht, kehrte er zum Verpflegungszelt zurück.
Kapitel 8
Theros durchquerte das Verpflegungszelt, um dann zu den Zelten zurückzukehren, wo er Yuri und Telera angetroffen hatte. Dann lief er weiter in den Wald, ohne zurückzublicken. Sein Körper zitterte vor Wut und Entsetzen. »Ich kann nicht hierbleiben«, sagte er sich. »Moorgoth ist kein General. Er ist ein Feigling und ein Schlächter. Diese Männer sind keine Soldaten, sie sind Tiere. Diese Menschen behaupten, Minotauren seien Ungeheuer, aber Minotauren würden einen ehrenhaften Feind niemals so behandeln. Und ihrer eigenen Rasse würden sie so etwas ganz gewiß nicht antun.« Theros schnallte den Feldharnisch ab, dann zog er den Mantel mit den Armeefarben aus und warf ihn auf den Boden, setzte seinen Absatz darauf und drehte den Stiefel hin und her, bis der Stoff zerriß. Er zog den Harnisch wieder über sein weißes Hemd und stapfte tief in den Wald. Er hatte gerade seinen Abschied genommen. Theros wußte nicht genau, wo er war. Monde und Sterne waren teilweise von Wolken verdeckt. Er hatte keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Aber er hatte die vage Vorstellung, nach Süden zu ziehen, weg von der Schlacht, weg von der Stadt. Er lief zwischen den Bäumen hindurch, ohne sie richtig zu sehen. Noch immer sah er die sterbenden Männer vor sich, hörte ihre Schreie in seinem Kopf. Wie konnte ich so blind sein, dachte er. Das einzige, was diese sogenannte Armee zusammenhält, ist die Peitsche. Und ich bin genauso schlimm wie der Rest. Yuri konnte ich
nur halten, indem ich ihm Angst einjagte. So schlecht hat Hran mich nie behandelt, und dabei war ich sein Sklave. Er lief weiter durch den Wald, doch er kam nur langsam voran. Im Dunkeln konnte er kaum sehen, wohin er ging. Er stolperte über Baumwurzeln. Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er machte sich kaum Gedanken, ob er wohl verfolgt werden würde. Moorgoth hatte sich keine große Mühe gegeben, die verschwundenen Ritter einzufangen, und so betrunken, wie alle waren, würde man Theros bis zum Morgen nicht vermissen. Dann würden sie auch feststellen, daß Yuri und Telera fehlten. Theros lächelte zum ersten Mal seit einer Woche. »Ich wette, Moorgoth hat noch nie so viele Desertationen trotz Sieg und Aussicht auf Beute erlebt!« Schließlich erreichte Theros eine Lichtung im Wald. Er sah in den Himmel hinauf, weil er hoffte, die Wolken wären endlich aufgerissen. Der Anblick von zwei Monden und den Sternen belohnte ihn. Solinari und Lunitari warfen genug Licht, daß er ausreichend sehen konnte. Er hatte die Grenze des Waldes erreicht. Vor ihm lagen gepflügte Felder, deren Früchte geerntet und für den Winter eingebracht waren. Für Moorgoth, der sie stehlen wollte. Theros marschierte weiter, weil er niemanden sah. Daran hatte er jedenfalls keinen Anteil mehr.Zwei Stunden, als er gerade über eine niedrige Steinmauer kletterte, die zwei Felder trennte, hörte er fernes Hufgetrappel. Er warf sich neben der Mauer flach auf den Bauch und zog seine Axt. Als er an sich herunterblickte, stellte er fest, daß sein weißes Hemd in der Nacht hell leuchtete. Rasch warf er seinen Lederharnisch ab und riß das Hemd herunter.
Nachdem er den Harnisch wieder über seinen nackten Leib gezogen hatte, grub er ein Loch und verbarg das Hemd darin. Dann legte er sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde. Theros hielt ganz still. Er wagte es nicht aufzublicken. Der Reiter galoppierte auf der anderen Seite der Mauer vorbei, ohne ihn zu bemerken. Theros wartete. Das Geräusch des Hufschlags wurde schwächer und schwächer. Als fast nichts mehr zu hören war, setzte er sich auf und blickte an der Mauer entlang, um zu prüfen, ob er den Reiter noch sehen konnte. In der Ferne konnte er eine Gestalt erkennen. Es war ein Kavalleriespäher aus Moorgoths Armee. Entweder gehörte er zu einer Außenpatrouille, oder er war Teil der Postenlinie. »Oder ich habe mich womöglich getäuscht«, sagte sich Theros. »Vielleicht sind sie nicht alle betrunken. Vielleicht suchen sie mich!« Anstatt weiter an der Mauer entlangzulaufen, beschloß er, das Feld zu überqueren. Er erreichte einen Zaun, dem er bis zum Ende folgte. Als Theros einen Hügel hinaufsteigen wollte, merkte er, daß er schon ziemlich weit gekommen sein mußte. Am östlichen Himmel war ein tiefgrauer Schimmer zu erkennen, der den Sonnenaufgang ankündigte. Der Hügel war der erste von einer langen Reihe miteinander verbundener Erhebungen, wahrscheinlich Ausläufer des Busuk. In diesen Bergen konnte er tagelang herumstreifen, ohne in die Zivilisation zurückzufinden. Angeblich lebten in diesen Bergen Oger, Hobgoblins und andere Wesen, die für Menschen wenig übrig hatten. Nicht einmal
Moorgoth würde sie herausfordern. Theros hatte die falsche Richtung eingeschlagen. Er versuchte, einen Weg zu finden, der ihn hoffentlich weiter nach Süden führen würde. Die Sonne kroch über den Horizont und überflutete das Land mit Wärme und Licht. Theros stieg auf einen Hügel und sah sich von dort aus um. Er konnte keine Reiter sehen, keine Spur von einem lebenden Wesen. Es gab keine Felder, keine Zäune. Keine Dörfer oder Höfe. Er sah auch keine Straßen. Und selbst wenn er eine Straße fand, wohin würde sie ihn führen? Theros ging auf, daß er nirgendwohin konnte. Seine Schmiede war weg. Moorgoth behielt seine Leute bei sich, weil er sie von sich abhängig machte. Theros fragte sich, wie Moorgoth ihn so hatte einwickeln können. Es war leicht gewesen, stellte er fest. Ich habe kein Selbstbewußtsein, dachte er. Ich habe mich von der Aussicht auf Ruhm und Reichtum ködern lassen. Moorgoth hat mich für einen Idioten gehalten oder für einen ebenso feigen Hund, wie er selbst einer ist. Und damit hatte er beinahe recht. Beinahe. Theros beschloß, die Richtung zu ändern und, wie er nach dem Sonnenstand schloß, in Richtung Westen zu laufen. Die Armee hatte östlich der Hauptstraße gelegen, und wenn er nach Westen zog, würde er diese irgendwann überqueren. Er zwang sich dazu, bis zur Mittagszeit weiterzulaufen. Sein Magenknurren erinnerte ihn daran, daß er fortgegangen war, ohne zuvor etwas zu essen einzupacken. Am Fuß eines Hügels entdeckte er einen klaren Bach, zu dem er
hinunterstieg, um sich ans Ufer zu knien. Durstig trank er. Das kalte Wasser machte seinen Kopf klarer und besänftigte seinen leeren Magen. Später am Nachmittag, nachdem er mehrere Hügel hinter sich hatte, kam er auf eine weitere Kuppe. Unten vor ihm lag die Straße. Sie war leer. Theros stieg herunter und ging zur Straße. Für eines war er Moorgoth dankbar – er hatte darauf bestanden, seine Offiziere und die Männer mit guten Stiefeln auszurüsten. Diese Stiefel erwiesen sich jetzt als unbezahlbar. Er marschierte weiter nach Süden. Die Hügel waren nicht weniger steil, aber die Straße erleichterte das Vorwärtskommen, und Theros kam schneller voran. Die Sonne sank hinter die Baumkronen und warf lange Schatten über die Straße. Theros wollte sich gerade zu seiner leichten Flucht gratulieren und begann zu überlegen, ob er jetzt nicht bald Rast machen könnte, als er Hufschläge hörte. Als er sich umdrehte, sah er weit hinten auf der Straße einen Reiter in Richtung Süden kommen, direkt auf ihn zu. »Vielleicht hat er mich noch nicht bemerkt«, murmelte Theros. Eilig sprang er an die Seite der Straße, wo er sich zwischen den riesigen Föhren versteckte. Er duckte sich in den Schatten und wartete. Der Reiter ließ sich Zeit. Als er so nahe war, daß Theros ihn gut sehen konnte, zügelte er sein Pferd einen Augenblick und sah sich um. Theros erkannte die Uniform des Reiters – kastanienfarbener Umhang mit schwarzem Muster vorn. Wieder einer von Moorgoths Spähern. Dieser Späher konnte nur aus ei-
nem einzigen Grund so weit weg von der Armee sein: Er hielt Ausschau nach Deserteuren. Der Späher beugte sich über den Pferdehals, um den Boden nach Fußabdrücken abzusuchen. Theros dankte Sargas, daß die Erde fest und hart war – es hatte seit einer Woche nicht mehr geregnet. Der Späher schüttelte den Kopf und ritt weiter. Er hatte Theros nicht bemerkt. Dennoch, dachte Theros, auf der Straße kann ich nicht weitergehen. Das ist der Beweis, daß sie mich suchen. Wo einer war, werden auch andere sein. Er wollte aufstehen, wäre aber fast umgefallen. Ihm wurde klar, daß er ohne Schlaf nicht weitergehen konnte. Dennoch war es zu gefährlich, draußen im Freien zu schlafen, solange ihm Moorgoths Männer auf den Fersen waren. Theros kehrte der Straße den Rücken und suchte sich einen Weg durch das Föhrendickicht. Er durchquerte den Wald und kam an einem einfachen Holzzaun heraus, der ein kleines Feld umgab. Auf der anderen Seite des Feldes lag eine Scheune. Theros verbarg sich im Schatten der Bäume und beobachtete sie. Die Scheune wirkte verlassen. Vielleicht war ihr Besitzer vor der nahenden Armee geflohen. Er sah niemanden kommen und gehen. Theros nahm seine Axt zur Hand und überquerte das Feld, obwohl er nur ungern aus dem Wald trat, und schlich an die Scheune heran. Er lief einmal rundherum. Dann öffnete er die Tür und spähte hinein. Es war still und dunkel. Er mußte das Risiko eingehen. Theros betrat das Gebäude und machte die Tür hinter sich zu. Es war gerade hell genug, um drinnen noch die ungefähre Lage der Wände zu erkennen.
In einer Ecke lag ein Heuhaufen. Er sah äußerst einladend aus, einladender – im Augenblick jedenfalls – als das schönste Bett von Sanction. Theros war zum Umfallen müde. Es war seit dem Vorabend praktisch ohne Pause unterwegs gewesen. Er brauchte Schlaf. Also würde er hierbleiben. Er grub sich in das Heu, um sich damit zu bedecken. Gerade als der Schlaf kommen wollte, hörte Theros das Scheunentor knarren. Es ging auf, und helles Licht fiel herein. Theros sprang aus dem Heu hoch und suchte hektisch nach seiner Axt. Ein riesiger Minotaurus kam zur Tür herein. Er mußte sich ducken, damit seine gewaltigen Hörner nicht an den Rahmen stießen. Theros war ein Kind gewesen, als er diesen Minotaurus das letzte Mal gesehen hatte, aber er erkannte ihn augenblicklich. »Sargas!« Der Minotaurus schien jetzt, da er in der Scheune stand, noch zu wachsen. Ich bin Sargas. Du bist weise, daß du deinen Gott erkennst. Du ehrst mich. Theros warf die Axt neben sich auf den Boden und fiel auf die Knie. »Oh, großer Sargas! Du ehrst mich, weil du mir erscheinst.« Allerdings, Mensch. Wie damals kamen Sargas’ Worte nicht aus seinem Mund. Hell und gleißend wie Blitze bildeten sie sich in Theros’ Kopf. Mehr als du verdienst! Theros starrte ihn erstaunt an. »Womit habe ich dein Mißfallen erregt, großer Sargas?« fragte Theros. Du hast dich als Schwächling erwiesen! Zugegeben, du hast
bewiesen, daß du Ehre im Leib hast, aber du versuchst nicht, dich an denen zu rächen, die deine Ehre besudelt haben, und Wiedergutmachung zu erlangen. Dieser Halbgoblin Lors hat dich praktisch als Verräter bezeichnet! Du hast ihm nicht einmal widersprochen, geschweige denn ihn niedergeschlagen, wie es richtig gewesen wäre! Theros wußte nicht, was er zu seiner Verteidigung anführen sollte. Er schwieg. Sargas fuhr fort. Dein Gehilfe, Yuri. Er ist ein Spion, ein ehrloses Geschöpf. Du hättest ihn töten sollen! Statt dessen läßt du ihn entkommen. Und jetzt das! Du läufst von deinem Posten weg! »Wie kannst du mir befehlen, einem ehrlosen Mann wie Moorgoth zu dienen, oh, großer Sargas?« wollte Theros wissen. Wenn du Moorgoths Führung so schlecht fandest, hättest du ihn zum Zweikampf herausfordern müssen! Das Kommando übernehmen! Die Männer selbst führen! Das ist es, was einer meiner Anhänger tun würde! Theros versuchte, Einwände zu erheben. »Er hätte sich geweigert und seine Männer einfach angewiesen, mich zu töten – « Dann wärst du ehrenhaft gestorben, zu meinem Ruhm, beharrte Sargas. Der Makel der Ehrlosigkeit würde an ihm haften, nicht an dir. Ja, aber das nützt mir wenig, wenn ich tot bin, dachte Theros, ohne es auszusprechen. Das half ihm jedoch nichts. Sargas hörte seine Gedanken. Pah! Das ist das Menschenblut, das in dir spricht! Ich hatte mir von dir Besseres erhofft, Theros Eisenfeld. Du bist nicht der Mann des Schicksals, den ich in deiner Jugend vorhergesehen
habe. Von nun an mußt du dir große Mühe geben, um mein Wohlwollen wiederzuerlangen. Du wirst deine Sünden wieder gutmachen! Du wirst dich besser verhalten! Du wirst mir gehorchen, sonst siehst du mich nie wieder! Die Worte dröhnten wie Donner in Theros’ Kopf. Er blickte auf, weil er eine Strafe befürchtete. Der Minotaurus verwandelte sich in einen riesigen Vogel mit brennenden Flügeln. Er schwang sich hinauf, schoß geradewegs durch das Dach der Scheune und verschwand in der Nacht. Theros verharrte lange Zeit auf den Knien, lang genug, um steif zu werden. Schließlich hob er den Kopf, weil er ein Loch im Dach und brennendes Holz erwartete. Das Dach war heil. Nichts. Er dachte an Sargas’ Anschuldigungen. Sie entsprachen der Wahrheit, und er verspürte Scham. Er hätte Moorgoth herausfordern sollen. Er hätte etwas sagen sollen, einen Versuch unternehmen, die Folter abzuwenden. Es hatte auch andere gegeben, die davon abgestoßen waren. Vielleicht hätten sie sich ihm angeschlossen und Moorgoth gezwungen, dem ein Ende zu machen. Theros schnaubte. »Sieh’s ein. Niemand hätte mich unterstützt. Ich wäre tot, genau wie diese armen Teufel von Rittern. Ich bin kein Mann des Schicksals, Sargas. Du hast dich in mir getäuscht. Ich will nur ein guter Waffenschmied sein.« Erschöpft kippte er ins Heu.Theros erwachte am nächsten Morgen, als von Osten Sonnenlicht hereinströmte. Er dachte an den Vortag zurück und fragte sich, ob alles ein Traum gewesen war. Nein, er wußte, daß es nicht so war.
Sargas war ihm wieder erschienen. Er erinnerte sich an den ersten Besuch. Er war erst acht gewesen. Sargas hatte gesagt, er würde dreimal erscheinen. Das hier war das zweite Mal. Es würde ein weiteres Mal geben – vielleicht. Der Gedanke ließ ihn erschauern. Sein leerer Magen holte ihn in die Gegenwart zurück. Ihm war schwindelig vor Hunger. Er brauchte auch etwas zum Anziehen. Schließlich konnte er nicht halbnackt durch die Gegend laufen. Vorsichtig spähte Theros nach draußen. Die Scheune lag bei einem alten Garten am Rande eines Maisfeldes. In der Mitte des Feldes stand eine Vogelscheuche, deren Hemdsärmel im Wind flatterten. Da er niemanden sah, verließ Theros sein Versteck und ging zu der Vogelscheuche. Die Hosen waren zerrissen, aber das Hemd war in brauchbarem Zustand. Er nahm es ab und schüttelte das Stroh heraus. Nachdem er den Harnisch abgelegt hatte, zog er das Hemd über. Eine Naht am Arm gab sofort nach, aber das Hemd spendete zumindest etwas Wärme. Die braune Farbe würde es ihm auch erleichtern, sich im Wald zu verstecken. Dennoch würde er für den Bergpaß wärmere Kleider brauchen. Er ging zum Garten zurück, der jahrelang nicht gepflegt worden war. Es wuchs alles mögliche darin, einschließlich einer Menge Unkraut. Aber er fand Karotten und auch eine Reihe Kartoffeln, von denen er einige ausgrub und roh hinunterschlang. Als er nichts mehr essen konnte, zog er noch ein paar aus dem Boden und stopfte sich damit die Taschen voll. Er würde sie später brauchen. Dann brach er auf und marschierte weiter nach Süden, wobei er jedoch die Straße mied.
Kapitel 9
»Freund oder Feind?« Der Elf war hartnäckig. Der Pfeil auf seinem Bogen, der auf Theros’ Herz zeigte, unterstrich seine Frage noch. »Was soll das heißen?« wich Theros aus. Der Elf hatte ihn überrascht und fast zu Tode erschreckt. »Ich verstehe nicht.« »Antworte mir jetzt oder stirb, wo du bist.« Theros war klar, daß der Elf es nur auf eine von zwei möglichen Antworten abgesehen hatte. Er ließ sein Gepäck auf den Boden gleiten. Dann streckte er beide Hände nach vorn, um zu zeigen, daß er unbewaffnet war. »Ich schätze, ich bin ein Freund.« Der Elf nickte, ließ aber seinen Bogen nicht sinken. »Gut, dann beweise es.« »Was? Wie soll ich das – « Theros hielt inne. Er hatte das Falsche gesagt. Der Elf kniff die Augen zusammen, als würde er gleich seinen Pfeil abschießen. Theros wedelte mit den Händen. »Warte! Warte! Was soll ich denn tun?« Theros war auf der Straße nach Solace unterwegs gewesen. Die Nacht brach schon herein, und er hatte noch keinen Lagerplatz gefunden. Er hatte vorgehabt, ein paar Schritte in den Wald zu gehen, um einen Bach zu suchen, wo er gut ein Feuer anzünden und sich für die Nacht hinlegen könnte. Wasser hatte er nicht gefunden, deshalb war er weiter in den Wald eingedrungen. Er war erst hundert Schritt weit gekommen, als der Elf aus einem Busch gesprungen war
und mit dem Pfeil auf sein Herz gezielt hatte. Der Elf pfiff wie ein Ziegenmelker. Daraufhin tauchten vier andere Elfen auf, die hinter Büschen und Bäumen hervorsprangen. Alle hatten Bögen, auf allen Bögen lagen Pfeile, und alle Pfeile zielten auf Theros. »Hört mal, ich laufe euch doch nicht davon, oder?« sagte der Schmied. Er trug seine Streitaxt auf dem Rücken, hatte sie jedoch nicht gezogen. Wenn er nach der Waffe griff, würde er gleich fünfmal tot sein. Der erste Elf ließ den Bogen sinken und trat vor. Er umkreiste Theros langsam und sah ihn genauer an. Der Elf griff nach Theros’ Packsack, öffnete die Zugschnur und wühlte rasch den Inhalt durch. Anscheinend fand er nichts Interessantes. »Nimm die Axt ab und leg sie hin«, befahl der Elf. Theros griff nach hinten und ließ die Axt mit geübter Bewegung vorschnellen. Der Elf wich zurück, weil er wohl dachte, daß Theros angreifen würde. Statt dessen warf Theros die Waffe vor sich auf den Boden. Er sah auf und registrierte, daß die anderen Elfen ihre Bögen sinken ließen, die Pfeile allerdings nicht wegsteckten. »Das beweist, daß ich kein Feind bin. Ich bin nur hier vorbeigekommen«, beteuerte Theros. »Es beweist überhaupt nichts, Mensch, außer daß du um dein Leben fürchtest. Und zwar mit gutem Grund. Du kommst mit uns.« Der Elf schlang seinen Bogen über die Schulter und wollte die große Streitaxt aufheben. Er taumelte und hätte sie fast fallen gelassen. Mit einiger Mühe gelang es ihm, die Waffe anzuheben und halb zu ziehen, halb zu schleifen. Theros zuckte mit den Schultern und hob sein Gepäck
auf. Er hatte es nicht eilig mit seiner Reise nach Solace. Er hatte keine Verabredung dort, niemanden, der auf ihn wartete. Er wußte nur, daß die meisten Leute diese Stadt als einen Ort bezeichneten, wo man hinging, wenn man nicht wußte, wo man hingehörte. Vielleicht konnten solche Leute einen guten Schmied gebrauchen. Für Theros klang das nach guten Geschäften. Er folgte dem Elfen. Die fünf Elfen und Theros schlängelten sich durch den dunkler werdenden Wald. Die Sonne versank im Westen, ein roter Feuerball, der durch die Bäume des großen Waldes von Qualinesti gerade eben zu sehen war. Sie waren fast eine Stunde unterwegs. Als sie ihr Ziel erreichten, hing der Wald voller nächtlicher Schatten. Dann betraten sie ein altes, in die Bäume gebautes Elfendorf. Die Gebäude hier waren tatsächlich Teil der Bäume, als hätte man diese Formen gewebt, die die Elfen wünschten. Etwas Vergleichbares hatte Theros noch nie gesehen. Das Dorf war in Licht aus zahlreichen Feuergruben in der Mitte eines Kreises getaucht. Soweit Theros sehen konnte, umgaben alle Gebäude diesen Kreis. Seiner Schätzung nach lebten wohl nicht mehr als hundert Leute in diesem Dorf. Sie betraten das größte Gebäude, das aus dem mächtigsten Baum bestand, dessen Inneres zu einem Zimmer ausgehöhlt worden war. Eine enge Wendeltreppe, die aus dem Baum herausgeschnitzt war, führte nach oben. »Laß deine Sachen hier liegen und komm mit.« Der Elf begann, die Wendeltreppe hinaufzusteigen. Theros folgte ihm. Die anderen vier Elfen kamen ihm nach. Alle behielten ihn aufmerksam im Auge und hatten die Hände an ihren Waffen liegen. Theros prüfte, ob er ent-
kommen konnte. Den Elfen über sich konnte er mit einem einzigen Faustschlag erwischen, dann nach den Elfen unter sich treten, daß sie die Stufen hinabrollten. Ehe die Elfen wüßten, wie ihnen geschehen war, würde er draußen in der Nacht sein. Er dachte darüber nach, ließ den Plan jedoch fallen, denn er war neugierig, was die Elfen von ihm wollten. Vor Jahren, als er Sklave der Minotauren gewesen war, hatte er im Wald von Silvanesti gegen Elfen gekämpft. Er hatte gesehen, wie die Minotauren in der Schlacht geschlagen worden waren und eine demütigende Niederlage davongetragen hatten. Für Silvanesti-Elfen hatte er nichts übrig. Das hier waren Qualinesti, ihre Verwandten. Er hatte vermutet, daß sie genauso sein würden, doch diese Elfen unterschieden sich von ihren Vettern. Sie hatten die gleichen zarten Gesichtszüge, aber ihre Kleider, ihre Sprache und selbst ihre Waffen unterschieden sich von denen der Silvanesti. Die Treppe führte in einen großen, runden Raum von ungefähr fünfzehn Schritt Durchmesser. Zwei Elfen saßen auf Stühlen neben einem Kamin, der in die Holzwand eingelassen war. Ein dritter saß hinter einem Tisch, der aus der Seite des Baumes herausgearbeitet sein mußte. Theros blieb in der Mitte des Raumes stehen. Der Elf, der ihn festgenommen hatte, legte die Streitaxt auf den Tisch und begann dann – vermutlich in Qualinesti-Sprache – mit dem Elfen am Tisch zu reden. Dieser nickte, und die fünf Elfen, die Theros seit seiner Gefangennahme begleitet hatten, stiegen die Wendeltreppe wieder hinunter. »Setzt Euch«, sagte der Elf in der Gemeinsprache.
Theros nahm den angebotenen Stuhl an. Es wäre sinnlos gewesen, herumzuspringen und seine Freilassung zu fordern. Wenn er sich einfach setzte und zuhörte, würde er mehr erfahren. Der Elf sprach mit kühler Stimme weiter. Es fiel ihm offenbar schwer, mit einem Menschen zu reden. »Mein Name ist Gilthanas. Ich bin Mitglied der königlichen Familie von Qualinesti. Wie heißt Ihr?« Theros sah sich im Raum um. Die beiden Elfen am Feuer trugen Lederausrüstungen mit Metallküraß. Jeder hatte ein kunstvoll verziertes Elfenschwert auf dem Schoß liegen. Sie beobachteten Theros genau. Das mußte die Leibwache sein. Er hatte nichts falsch gemacht und nichts zu verbergen. »Mein Name ist Theros Eisenfeld«, erklärte er schlicht. »Was macht Ihr auf dem Territorium von Qualinesti, Meister Eisenfeld?« Der Elf sprach abgehackt, beherrschte die Umgangssprache jedoch ausgezeichnet. »Ich bin auf dem Weg nach Solace. Ich habe gehört, man könnte dort gute Geschäfte machen.« Der Elf zog die Augenbrauen hoch. »Und was für Geschäfte sollten das sein, Meister Eisenfeld?« »Ich bin Schmied. Ich schmiede Waffen und Rüstungen. Ich habe gehört, daß man dort großen Bedarf an solchen Dingen hat. Ich glaube, ich kann davon gut leben.« Theros’ Antwort schien Gilthanas aufmerken zu lassen. Er redete mit den zwei Elfen am Feuer. Beide antworteten, aber Theros konnte nichts von dem verstehen, was sie sagten. Schließlich wandte Gilthanas sich wieder dem Schmied zu. »Erzählt mir von Euch. Wo habt Ihr Euer Handwerk ausgeübt und für wen?«
Theros dachte einen Augenblick nach, weil er überlegte, was er sagen und was er verschweigen sollte. Das meiste von seiner Geschichte taugte sicher nicht für die spitzen Ohren der Elfen. Nachdem er Moorgoths Armee verlassen hatte, war er nach Sanction zurückgekehrt und hatte versucht, Marissa zu finden. Diese war jedoch verschwunden. Sie war seit dem Tag fort, an dem Moorgoths Soldaten aus der Stadt marschiert waren. »Wir dachten, sie wäre mit der Armee davongelaufen«, erzählte der Wirt Theros. »Sie hat an dem Tag eine Nachricht von einem von Moorgoths Männern bekommen. Sie ging und kam nie wieder zurück.« Theros war krank vor Kummer und Wut. Er erinnerte sich an Moorgoths Ausdruck des Mißfallens, als Marissa Theros öffentlich geküßt hatte. Theros würde es nie beweisen können, aber er zweifelte nicht daran, daß Moorgoth für Marissas Verschwinden verantwortlich war. Jetzt gab es nichts mehr, was Theros in Sanction hielt. Er kehrte kurz bei Yuris Familie ein, um zu erzählen, daß ihr Sohn ein Mädchen gefunden hätte und heiraten wollte. Mehr verriet er ihnen nicht. Bitter enttäuscht, wollte er Sanction verlassen, als er mit einer der Stadtwachen zusammenstieß, einem früheren Kunden. Moorgoth hatte Soldaten zurückgelassen, die Sanction für ihn regierten. »Na so was, Eisenfeld.« Die Wache erkannte ihn. »Habe ich nicht gehört, du hättest dich Moorgoth angeschlossen? Was machst du denn wieder in der Stadt? Seine Armee ist doch oben im Norden.« Theros murmelte, Moorgoth hätte einen anderen
Schmied gefunden, und versuchte zu verschwinden. Der Wachmann hängte sich wie ein Blutegel an ihn. »Na, ist das nicht ein Glück? Kennst du Yagath? Er sucht gerade einen guten Schmied für seine Armee. Er hat mir gesagt, daß er gut dafür bezahlt, wenn man ihm einen bringt. Soll ich ihm mal deinen Namen nennen?« »Sollst du nicht«, sagte Theros. Yagath war ein Barbar aus dem Süden, dessen berittene Horden wie ein Feuersturm über seine Feinde herfielen und nichts übrig ließen. Theros wollte keiner Armee mehr angehören, am allerwenigsten Yagaths. Er wollte verschwinden. »Vielleicht sollte ich Moorgoth wissen lassen, wo er dich finden kann«, höhnte der Wachmann. Theros drehte sich um und starrte den Mann an. »Ich hörte, du wärst desertiert«, sagte der. »Und warum nimmst du mich dann nicht fest?« »Weil Yagath mir mehr für dich gibt, wenn du lebst, als Moorgoth, wenn du tot bist. Wie ich schon sagte, Yagath braucht einen Schmied.« Theros hatte die Wahl, sich bei Yagath zu verdingen oder Moorgoths Männern übergeben zu werden. Er hatte kein Geld und keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die Frau, die er liebte, war verschwunden. Entweder hatte man sie in die Sklaverei verkauft, oder sie war tot – wenn sie Glück hatte. Vermutlich hatte Theros nichts mehr zu verlieren.Fünf Jahre arbeitete Theros für Yagath. Während dieser Zeit errichtete er in einem Bergtal bei Neraka ein Basislager und leitete eine Schmiede. Unterdessen zogen sich in der Gegend von Neraka und Sanction Armeen zusammen. Yagaths Armee brodelte vor Gerüchten, aber Theros war
blind, taub und stumm. Er blieb für sich, machte seine Arbeit, nahm seinen Lohn. Er hatte gelernt, was schiefgehen konnte, wenn er seine Nase in die Angelegenheiten anderer steckte. Theros konzentrierte sich auf seine Kunst. Die Rüstungen und Schwerter, die er herstellte, waren unübertrefflich. Fünf Jahre nachdem er bei Yagath angefangen hatte, brach der Krieg aus, den man später den Krieg der Lanze nennen würde. Die meisten kämpfenden Truppen zogen unter der Führung eines Mannes namens Ariakan nach Norden oder Osten, um die stärker bevölkerten Gegenden zu erobern. Yagaths Armee zog mit ihnen, um nie wiederzukehren. Yagath war tot, von einem Elfenscharfschützen erschossen. Der Rest seiner Armee hatte sich anderen Truppen angeschlossen. Theros packte zusammen und machte sich auf den Weg. Er fühlte sich fast wie nach seiner Freilassung durch die Minotauren. Er freute sich, wieder sein eigener Herr zu sein, aber was sollte er jetzt mit sich anfangen? Auf dem Weg zurück nach Sanction geriet er in eine Horde Hobgoblins, die nach Norden marschierten. Er hatte seine Axt gezogen und um sein Leben kämpfen wollen, mußte aber feststellen, daß die Hobgoblins ihn behandelten, als wäre er eine Art Gott. Sie trugen ihn als Ehrengast in ihr Lager. Clan Brekthrek zog in einen sicheren Teil von Nordmaar, und sie brauchten einen Schmied. »Wir haben viel Gutes von dir gehört«, sagte der Clanführer und zeigte auf Theros’ Brust. »Komm mit. Arbeite für uns.« Theros lehnte ab. Er mochte Hobgoblins nicht, weil er sie
unsauber, grobschlächtig und stinkend fand. Der Clanführer bot Theros eine Summe von tausend Stahlstücken an, wenn er sich ihnen anschließen würde. »Und«, sagte der Hobgoblin grinsend, »ich verrate Baron Moorgoth nicht, wo er dich finden kann.« Theros verwünschte den Tag, an dem er Moorgoth über den Weg gelaufen war. Dieser Mann hatte einen bösen Fluch über Theros’ Leben gebracht. Theros wurde Mitglied des Clan Brekthrek. So schöne Waffen und Rüstungen, wie Theros sie machte, hatten die Hobgoblins noch nie gesehen. Ja, die Rüstungen und Schwerter waren dem Clanführer zu gut, um sie an seine Goblins zu verschwenden. Clan Brekthrek brauchte nur einfache Schwerter, Speere und Lederwamse zum Schutz. Die meisten Waffen verkaufte der Hobgoblin an Menschen aus den Armeen von Ariakan. Die Hobgoblingarnison in Nordmaar wurde reich. Theros sorgte dafür, daß er an dem Gewinn beteiligt wurde. Er tauschte alle Stahlstücke in Edelsteine um, die er zu jeder Zeit bei sich trug. Er hoffte, eines Tages fliehen zu können, irgendwohin zu ziehen und ein neues Leben anzufangen. Zwei Jahre später, als die Garnison Pflichten in Neraka bekam, verließ Theros den Clan. Der Schmied durfte nicht bei ihnen bleiben, obwohl der Hobgoblin heftig darum gebettelt hatte, ihn behalten zu dürfen. Man ließ nur sehr wenige Menschen nach Neraka. Wenn Brekthrek den Grund kannte, was Theros bezweifelte, wollte der Hobgoblin ihn nicht verraten. Theros hatte Andeutungen gehört, daß in den Tempeln von Neraka seltsame und schreckliche Dinge geschahen. Er hatte keine Ahnung, um was es ging, und es kümmerte ihn auch nicht.
Es ging ihn nichts an. Das war keine besonders gute Geschichte für diese Elfen. Wenn sie herausfanden, daß er für Hobgoblins gearbeitet hatte, würden diese verzierten Schwerter in seinem Herzen stecken. »Ich stamme aus Nordmaar«, erklärte Theros. »Mein Vater war Fischer. Ich wurde von Minotauren gefangengenommen und habe jahrelang auf ihren Schiffen als Sklave gearbeitet.« Täuschte er sich, oder wirkte der Elf plötzlich äußerst interessiert? »Ich gehörte zur Dritten Armee der Minotauren, als diese Silvanesti angriff. Ich wurde von einem Elfenkämpfer der Silvanesti befreit. Ich werde ihm ewig dankbar sein.« Das war die Wahrheit – im Grunde genommen. Die Elfen hörten zu, ohne einen Kommentar abzugeben. Ihm war nicht klar, ob sie ihm glaubten oder nicht. »Ich habe mich hier und da umgesehen. Jetzt bin ich auf dem Weg nach Süden, weil ich einen guten Platz suche, um ein Geschäft zu eröffnen. Oben im Norden gehen üble Dinge vor. Die Armeen marschieren. Man hört sogar von Drachen.« Bei diesen Worten lächelte er. Diese Gerüchte brachten die Leute immer zum Lachen. Die Elfen lächelten nicht. »Was hat Euch hierher geführt?« fragte Gilthanas. »Wohin ich auch ging, überall hörte ich von Solace. Reisende, die ich traf, schienen alle nach Solace zu ziehen oder von dort zu kommen. Der Name der Stadt hat mich angezogen.« Theros zuckte mit den Schultern. »Ich habe kein leichtes Leben gehabt. Ich könnte ein wenig Trost gebrau-
chen.« Wieder verzogen die Elfen keine Miene. Er fuhr fort: »Ich bin durch Thorbardin gezogen, und ich war in Pax Tharkas. Überall redete man von Krieg. Ich mag das nicht.« Das war allerdings die Wahrheit. Er hatte den Krieg satt, hatte das Kämpfen und Töten so satt. Gilthanas blickte die anderen zwei Elfen an. Beide nickten. Er wandte sich wieder Theros zu. »Meister Eisenfeld, um ehrlich zu sein, als wir Euch hierherbrachten, hielten wir Euch zunächst für einen Spion von Verminaard.« »Verminaard?« Theros wiederholte den Namen. »Von dem habe ich gehört. Eine Art neuer Kleriker, oder?« »Er ist ein Kleriker des Bösen und Kommandant der Armee in Pax Tharkas.« Gilthanas schlug einen ernsten, strengen Ton an. »Dieser Verminaard hat nur ein erklärtes Ziel. Er will alle Elfen von Qualinesti auslöschen.« Gilthanas beobachtete Theros’ Reaktion. Theros brummte: »Das wollten nicht einmal die Minotauren. Sie wollten nur eine Kolonie gründen.« Dieses Mal lächelte Gilthanas. Er sah Theros ein wenig verwundert an. »Ich habe eine Frage. Ihr werdet sie vielleicht merkwürdig finden.« Theros zuckte mit den Schultern. »Fragt nur.« »Warum hat der Elfenkrieger Euch freigelassen, Meister Eisenfeld? Normalerweise würden unsere Vettern aus Silvanesti einen Menschen ebenso schnell töten wie einen Minotaurus. Ich finde das sehr eigenartig.« Theros dachte einen Augenblick nach. »Es war ein fairer Kampf und eine ehrenvolle Niederlage. Ich habe sein Leben verschont, anstatt ihn zu töten. Das hat er mir auf seine Weise vergolten.«
»Verstehe.« Gilthanas sah den Schmied nachdenklich an. Theros kam es so vor, als würde der Elf tatsächlich etwas sehen. Vielleicht sah er in dem Ereignis mehr als er selbst. Theros unterdrückte ein Gähnen. Er wünschte, sie würden fortfahren. Er brauchte Schlaf, damit er am Morgen nach Solace weiterziehen konnte. Gilthanas stand auf und kam um den Tisch herum. Die beiden anderen Elfen erhoben sich ebenfalls. »Ihr seid heute abend unser Gast, Meister Eisenfeld. Hirinthas und Vermala werden Euch Euer Zimmer zeigen.« Das war keine Einladung, die man ausschlagen konnte. Theros war unbewaffnet, allein in einem bewaffneten Lager. Achselzuckend ging er auf das Angebot ein. Solange die Elfen ihm etwas zu essen und einen warmen Platz zum Schlafen gaben, würde er mitmachen – jedenfalls für diese Nacht. Er hatte an viel schlimmeren Orten geschlafen. Hirinthas und Vermala führten Theros in den Eingangsbereich zurück. Theros sah sich nach seinen Sachen um. Sie waren verschwunden. »Keine Sorge, Meister Eisenfeld«, sagte Vermala, »Ihr werdet Euren Besitz morgen früh wiederbekommen.« Die Elfen führten Theros über den runden Dorfplatz zu einem anderen Gebäude, das sich auch in einem ausgehöhlten Baum befand. Man führte ihn hinein und über eine neue Wendeltreppe bis zu einer Falltür in der Decke. Vermala öffnete die Tür. »Hier ist Euer Zimmer, Meister Eisenfeld. Wir holen Euch morgen früh wieder ab.« Theros stieg hinauf. Die Elfen schlossen die Tür hinter ihm. Theros schaute sich um. Der Raum war sauber und ordentlich. Auf einer Seite stand ein strohbedecktes Bett,
auf der anderen ein kleiner Ständer mit einem Waschbecken. Auf einem Tischchen am Bett befand sich eine Schale mit Brot und Obst. Er verzog das Gesicht. Er hatte lange genug bei den Minotauren gelebt, um an Fleisch Geschmack zu finden, doch er wußte durchaus, daß Elfen selten Fleisch zu sich nahmen. Er aß, dann wusch er sich. Er war fast eine Woche lang unterwegs gewesen und hatte nur im Freien geschlafen. Ein Bett war Luxus. Die Nacht verschlief er in aller Ruhe.
Kapitel 10
Theros war angezogen und bereit, als es an der Tür klopfte. Die Falltür klappte auf. Ein Elf winkte. »Bitte folgt mir, Meister Eisenfeld.« Der Elf lief die enge Treppe eilig hinunter. Theros, der nicht an das Leben in Baumhäusern gewöhnt war, war weniger behende. Es fiel ihm schwer mitzuhalten. Sie kehrten wieder zu dem ersten Baumhaus zurück, und der Elf führte Theros erneut die Treppe hoch. Der Raum war unverändert. Auf dem Tisch lag seine Streitaxt, daneben sein Packsack. »Setzt Euch. Kann ich Euch etwas zu essen oder trinken anbieten?« fragte Gilthanas. Seine Stimme war einen Hauch wärmer als am Vortag, und da hatte er Theros nichts angeboten. Theros hatte Hunger, wenn auch nicht gerade auf mehr Obst und Nüsse. Aber er nahm bewußt von dem Essen und trank das Wasser. Er wußte genug über Elfenbräuche, um zu begreifen, daß er dadurch ein offizieller Gast war und daß er als Gast unter dem Schutz der Elfen stand, solange er sich in ihrer Gesellschaft befand. Wie sich herausstellte, war das Essen überraschend gut. Das Wasser schmeckte süß wie Wein. Die Nüsse und Beeren waren sättigend wie jedes Wildbret. Während des Essens, wenn der Körper sich auf den wichtigen Vorgang der Stärkung und Wiederherstellung konzentrierte, wollte Gilthanas nicht über Geschäfte reden. Statt dessen erzählte er von seiner Familie.
»Ich bin der Jüngste. Ich habe einen älteren Bruder, Porthios, und eine Schwester, deren Name in Eurer Sprache Laurana ist.« »Eure Schwester ist sicher sehr schön«, erklärte Theros, der wußte, was von einem Gast erwartet wurde. »Sie muß viele Verehrer haben.« »Einen zuviel, wenn Ihr mich fragt«, meinte Gilthanas trocken. Er erzählte nichts mehr von seiner Schwester, und da Theros merkte, daß der Elf verstimmt wirkte, fragte er nicht nach. Als Theros seine Mahlzeit für beendet erklärte, drängte Gilthanas ihn höflich, mehr zu nehmen, was Theros ebenso höflich ablehnte. Dann setzte Gilthanas sich an seinen Tisch. Es wurde Zeit, zum Geschäftlichen zu kommen. »Meister Eisenfeld, ich habe einen Vorschlag für Euch. In der begrenzten Zeit, die mir zur Verfügung stand, habe ich Eure Geschichte nach bestem Vermögen überprüft, und Ihr scheint mir bisher die Wahrheit gesagt zu haben.« Theros war unbehaglich zumute. Gilthanas, der die Unsicherheit des Mannes bemerkte, setzte ein feines Lächeln auf. »Ich bin sicher, daß es in Eurer Vergangenheit Dinge gibt, die Ihr lieber verbergen möchtet. Wer hätte das nicht? Aber zumindest habe ich genug erfahren, um zu wissen, daß Ihr ein Mann seid, dem man trauen kann. Nein, fragt nicht, wie. Ich habe meine Quellen. Wenn wir in meiner Heimat wären, so hätten wir in den alten Zeiten heute morgen mit den Verhandlungen begonnen, und sie hätten sich Tage, vielleicht Wochen hingezogen. Aber diesen Luxus können wir uns nicht leisten. Die
Zeit drängt. Ich will offen sein und gleich zur Sache kommen. Mein Volk braucht jemanden von Euren Fähigkeiten, Meister Eisenfeld. Wäret Ihr daran interessiert, für uns zu arbeiten?« Theros setzte sich erstaunt zurück. Damit hatte er bestimmt nicht gerechnet. Er fand wenig Geschmack an der Vorstellung, für eine weitere Armee zu arbeiten, und dazu ausgerechnet für eine Elfenarmee. Er sah Hran vor sich, der unter Elfenklingen gefallen war… »Wißt Ihr, Gilthanas, ich danke Euch für Euer Angebot und alles, aber eigentlich möchte ich nur eine Schmiede in Solace eröffnen und meine Waren und Dienste Zivilisten anbieten. Ich habe vom Kämpfen die Nase voll. Ich möchte ein friedliches Leben führen. Ich glaube, ich bin nicht interessiert.« Theros stand auf, weil er fand, es wäre alles gesagt und Zeit zum Gehen. Gilthanas war nicht dieser Meinung. »Bitte, hört mich an.« Widerstrebend setzte Theros sich noch einmal hin. Gilthanas seufzte. »Ich habe Euch noch nicht die ganze Geschichte erzählt. Ich habe Euch gesagt, daß Verminaard das ausdrückliche Ziel hat, das Volk der Qualinesti auszulöschen. Was ich Euch nicht verraten habe, ist, daß er diesem Ziel schon sehr nahe ist. Dennoch brauche ich Euch nicht, um Waffen herzustellen. Um ehrlich zu sein, ich bezweifle, ob Eure begrenzten menschlichen Fähigkeiten uns reichen würden. Das soll keine Beleidigung sein, aber Menschenwaffen sind recht grobschlächtig im Vergleich zu denen, die mein Volk benutzt.« Bei diesen Worten warf er einen verächtlichen Blick auf die Axt. Theros wollte aufbrausen, aber der Elf hörte ihm gar
nicht zu. »Ihr sagtet, Ihr wärt aus Nordmaar. Ihr wurdet von einem Minotaurenschiff an Bord genommen und hättet mehrere Jahre auf dem Schiff gearbeitet.« Theros nickte. »Ja, ich war Sklave der Minotauren, seit ich acht war, bis ich befreit wurde. In dieser Zeit habe ich jahrelang auf einem Schiff gedient. Das habe ich Euch alles erzählt.« »Ich wollte es nur bestätigen. Das ist ausgezeichnet. Mein Volk braucht Hilfe für die Evakuierung von Qualinesti. Seht Ihr«, Gilthanas breitete die Hände aus, »wir verstehen sehr wenig von Schiffen und von der Seefahrt.« Theros war erstaunt. Die Elfen hatten in Qualinesti gelebt, seit es ein Qualinesti gab. Vielleicht noch länger. »Was soll das heißen, Evakuierung? Wo wollt Ihr denn hin?« »Nur eine Handvoll Leute wissen von dem Plan. Wir werden den Großteil der Bevölkerung in eine Gegend im Südlichen Ergod bringen, an einen Ort, den wir Qualimori nennen. Wir sind kein Seefahrervolk. Wir brauchen Eure Hilfe.« Theros runzelte die Stirn. »Ich kann keine Schiffe bauen, wenn Ihr das meint. Ich bin damit gesegelt. Ich habe sie nicht gebaut.« Gilthanas erklärte es ihm. »Wir haben einen Schiffsbauer aus dem Nördlichen Ergod, der die Schiffe entworfen hat. Er wird von einer Elfenmannschaft beim Bau unterstützt. Aber er hat um einen Schmied gebeten, der die nötigen Metallteile herstellen kann. Niemand in unserem Volk hat diese Fähigkeit. Ich weiß, daß Ihr ein Waffenschmied seid, aber könntet Ihr diese Arbeit leisten? Er würde alle Teile genau beschreiben. Wir würden Euch gut bezahlen.«
Theros überlegte. »Wenn dieser Verminaard gewinnt und ich auf der Seite der Verlierer stehe, wäre mein Leben nicht mehr viel wert, hm? Was hilft mir Geld, wenn ich es nicht ausgeben kann, weil ich tot bin?« »Sehr wahr«, bestätigte Gilthanas und hätte fast gelächelt. »Ich verspreche Euch, daß wir Eure Arbeit bei uns geheimhalten werden. Wir werden Euch in unser Lager an der Westküste bringen. Ihr erhaltet zwanzig Stahlstücke pro Tag, dazu fünfhundert als Prämie vorab. Ich bitte Euch nur, uns ein paar Monate zu unterstützen, danach würden wir Euch helfen, nach Solace zu gelangen, falls Ihr dann immer noch dorthin wollt. Werdet Ihr Euch unserer Sache anschließen?« Theros überlegte eine ganze Weile. Er wollte nichts mehr mit anderer Leute »Sache« zu tun haben. Er wollte ein eigenes Geschäft eröffnen. Wie kam es nur, daß er immer wieder in solch mißliche Lagen geriet? Würde er je ein eigenständiges Leben führen können? Dennoch, die Bezahlung war gut, und er würde fernab aller Kämpfe sein. Und es war ja nur für ein paar Monate. »Einverstanden, ich arbeite für Euch«, sagte er. Gilthanas war erfreut. »Danke, Meister Eisenfeld. Ich muß Euch daran erinnern, daß es wichtig ist, daß Ihr nichts hiervon weitergebt, nicht einmal an mein eigenes Volk, bis Ihr die Werft in Quivernost erreicht habt.« Theros hob seine Axt und steckte sie wieder in die Rückenhalterung, die er umgehängt hatte. Er öffnete kurz seinen Sack, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung war. Unten traf er Hirinthas und Vermala, die zwei Elfen, die Theros am Vorabend begleitet hatten. »Das hier sind zwei Krieger vom Königshof der Quali-
nesti. Sie werden Euch sicher nach Quivernost geleiten. Ihr brecht sofort auf.« Um den Pakt zu besiegeln, händigte Gilthanas Theros eine große Filztasche aus. Die Tasche war schwer. Als Theros sie öffnete, sah er Stahlstücke, die er gar nicht erst zählte. Er hängte die Tasche an seinen Sack und schulterte sein Gepäck. Dann zogen die drei in den Wald. Im Geiste beschäftigte er sich bereits mit der Herstellung von Seilzügen und Winden und Nägeln…Theros und seine Begleiter zogen eilig in Richtung Westen durch den Wald. Jede Nacht hielten sie erst nach Anbruch der Dunkelheit an und standen schon vor Anbruch der Dämmerung wieder auf. Die beiden Elfenkrieger trugen die gesamte Nahrung, dazu ihre eigenen Schlafsäcke und Waffen. Theros, der sie für zart gehalten hatte, war von ihrer Kraft und ihrem Durchhaltevermögen beeindruckt. Zudem hatte er das Gefühl, daß die Elfen seinetwegen zu einem langsameren Tempo gezwungen waren, so daß er so schnell ausschritt, wie er konnte. Diese Elfen waren menschliche Gesellschaft offenbar nicht gewöhnt, anders als Gilthanas. Sie sprachen selten mit Theros und auch dann nur, um ihm Anweisungen zu geben oder um ihn zu fragen, ob er noch etwas Brot wollte. Untereinander redeten sie in ihrer eigenen Sprache. Trotz seiner zwei Begleiter hatte sich Theros noch nie so allein gefühlt. »Wir werden heute nacht hier Rast machen«, erklärte Hirinthas am dritten Tag. Theros sah sich um. Es war ein schöner Platz. Ein Bach plätscherte an einer baumumstandenen Wiese vorbei. Neben dem Bach befand sich eine kleine Grube mit Asche auf
dem Boden. Sie war schon oft als Feuerstelle benutzt worden. »Warum halten wir hier an?« fragte Theros. Es war früher Nachmittag. »Wir könnten vor Einbruch der Dunkelheit noch viel weiter kommen.« Hirinthas legte schon sein Gepäck ab. »Wir sind nur noch eine knappe Tagesreise von Quivernost entfernt. So weit im Westen dürften wir sicher sein. Dieser Ort wird schon seit Jahrhunderten von Reisenden genutzt. Wir werden heute nacht hier lagern.« Theros zuckte mit den Schultern. Er hatte in dieser Frage nichts zu sagen. Wenn es nach ihm ginge, wäre er weitergelaufen. Es ging aber nicht nach ihm. Obwohl ihn die beiden Elfen respektvoll behandelten, wußte er genau, daß sie ihm nicht trauten. Sie ließen ihn nie Wache halten. Sobald seine Hand nach seiner Axt griff, glitt eine Elfenhand ans Messer. Sie beobachteten ihn unablässig, und das war er einfach leid. Da hatten ihn die Hobgoblins besser behandelt! »Ich hole Holz«, bot Theros an, nachdem er seine Tasche abgelegt hatte. Dann ging er in den Wald, um nach Fallholz Ausschau zu halten. Vermala hatte ihm erklärt, daß er im Wald keine Bäume schlagen dürfte, um Feuerholz zu bekommen. Die Geister der Bäume würden vor Schmerz aufschreien, wenn ihre lebenden Glieder so grausam abgehackt würden. Nur die Zweige, die heruntergefallen waren, tote Zweige, die der Baum abgeworfen hatte, durften verwendet werden. Theros grinste in sich hinein. Diese dumme Geschichte hätte er liebend gern dem guten, alten Hran erzählt. Der Minotaurus hätte sich die Hörner abgelacht. Da der Lagerplatz so häufig benutzt wurde, lagen natür-
lich keine größeren Äste mehr in der Nähe herum. Theros drang tiefer in den Wald ein. Er sorgte sich nicht, daß er sich verirren konnte. Die beiden Elfen würden ihn sehr schnell wiederfinden. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn einer von ihnen ihm schon jetzt nachspürte. Hundert Fuß weiter stieß er auf einen umgestürzten Eichenstamm. Die Äste lagen größtenteils halb verrottet und unbrauchbar herum, doch der Stamm war ausgetrocknet und sah nach gutem Brennholz aus. Er zog die Streitaxt aus dem Halfter. Ein Rascheln in einem Busch ließ ihn aufmerken. Er hatte sich gerade gesagt, daß dort nur wieder seine elfischen Bewacher steckten, als er eine Farbe bemerkte – kastanienbraun. Theros duckte sich. Da war es wieder – ein kastanienbrauner Fleck hinter einem Baum in der Nachmittagssonne. Elfen trugen Grün- und Brauntöne, die mit dem Wald verschmolzen. Theros blieb ganz still. Er wartete fast eine Minute lang, ehe der rotbraune Fleck sich wieder bewegte. Ein Mann – ein Mensch – tauchte hinter dem Baum auf und kam vorsichtig zehn Schritte näher, um sich dann zu ducken. Er trug schwarze Hosen und dazu einen kastanienfarbenen Mantel. »Hol mich Sargas!« fluchte Theros in sich hinein. »Diese Uniform würde ich überall erkennen! Einer von Moorgoths Männern. Was macht er in dieser Gegend?« Er packte seine Axt fester. Der Soldat stand auf und schlich vorsichtig weiter. Dieses Mal bewegte sich auch Theros, blieb aber hinter dem Soldaten. Im Schleichen sah Theros sich nach anderen Soldaten um. Ganz sicher war nicht nur einer da. Dieser Mann war
kein Spion oder Späher. Seiner Uniform nach gehörte er zu einer Patrouille. Es mußten Kameraden in der Nähe sein. Es kann nur eine Erklärung geben, dachte Theros. Moorgoth hat sich diesem Verminaard angeschlossen. Und die Elfen und ich sind mitten in eine Falle gelaufen! Sein gesunder Menschenverstand drängte ihn zum Weglaufen. Sollten die verdammten Elfen für sich selbst kämpfen. Er kannte Moorgoth gut genug, um zu wissen, daß der Baron niemals vergab, niemals vergaß. Theros kam lebhaft das Bild der gemarterten Ritter in den Sinn. Verglichen damit, was Moorgoth ihm antun würde, waren diese Männer leicht gestorben. Ich wollte doch immer nur Zivilist werden, ein ehrliches Geschäft in einer ehrlichen Stadt gründen. Was mache ich nur immer wieder falsch? Langsam schlich er hinter dem Soldaten her. Theros kannte den Mann nicht, doch das war wenig überraschend. Sein Dienst in Moorgoths Armee war beinahe zehn Jahre her. Und auch die Richtung, die der Soldat einschlug, überraschte ihn nicht. Er hielt direkt auf das Elfenlager zu. Wieder ein Hinterhalt. Theros stand auf, hielt aber die Axt hinter seinem Rücken versteckt. »Sucht Ihr Elfen?« fragte er mit lauter Stimme. Der erschrockene Soldat sprang auf und stieß sich an einem tiefhängenden Ast den Kopf. Schmerzverzerrt drehte er sich zu Theros um. Der Soldat starrte ihn an, dann grinste er. »Na, wenn das nicht der Verräter Eisenfeld ist. Wir verfolgen deine Spur schon seit Tagen. Moorgoth bietet eine fette Belohnung für deine Haut. Scheint, als würde ich mir die verdienen.« Der Soldat zog sein Schwert und sprang direkt auf The-
ros zu. »Das Geld würde ich lieber noch nicht zählen!« Theros zog seine Axt hervor und stellte sich breitbeinig hin. Dem Angriff des Soldaten wich er aus und schlug selbst zu. Die Axt klirrte gegen das Schwert des Soldaten. Dann umkreisten die beiden einander. Der Soldat hatte den Vorteil, daß sein Schwert zum Stoßen ebenso taugte wie zum Schlagen. Er versuchte, näher an Theros heranzukommen. Der Schmied ließ ihn kommen. Der Soldat stieß nach Theros, der ihm nur knapp entging. Dummerweise verlor er beim Ausweichen das Gleichgewicht, stolperte über einen Ast und landete schwer auf der Seite. Der Soldat erhob sein Schwert zum Todesstoß. Theros verschränkte seine Beine mit denen des Soldaten, warf ihn um und kippte ihn auf den Boden. Seine Axt ließ Theros liegen, wo sie war, als er vorwärts sprang. Der Soldat sah ihn kommen und versuchte, zur Seite zu rollen. Deshalb landete Theros nicht mit dem ganzen Gewicht auf ihm, konnte dem Soldaten aber trotzdem die Waffe aus der Hand schlagen. Jetzt gingen sie zum Ringkampf über. Der Soldat griff nach dem Hirschfänger an seiner Seite. Theros sah die Bewegung und schlug dem Mann seine Faust ins Gesicht. Aus der gebrochenen Nase spritzte Blut. Theros sprang auf den Mann, und beide landeten unsanft auf dem Boden, als Theros den Soldaten mit seinem Gewicht nach unten drückte. Er schlang seine riesigen Hände um den Hals des Soldaten, um ihn langsam zu erdrosseln. Der Mann geriet in Panik. Er kämpfte um Luft. Seine Hände versuchten Theros wegzuschlagen, aber der
Schmied war zu groß für ihn. Der Mann wand sich hin und her, um sich zu befreien. Seine Augen verrieten seine Angst. Schließlich gab Theros etwas nach, hielt jedoch weiter seine Hände um den Hals des Mannes. Der Soldat holte einmal tief Luft. »Wie viele Soldaten sind bei dir?« fragte Theros. Der Soldat geriet ins Stottern. Theros drückte wieder zu und schnitt dem Mann die Luft ab. Die Augen des Soldaten traten hervor. Im letzten Augenblick ließ Theros wieder los. »Wir sind zu viert«, japste der Mann, als er wieder reden konnte. »Bitte verrate ihnen nicht, daß ich es dir gesagt habe. Sie bringen mich um! Bitte, laß mich laufen.« »Und du rennst weg und bist ein braver, kleiner Junge? Irgendwie kann ich das nicht glauben. Seid ihr hier, um den Elfen aufzulauern?« Der Soldat nickte. »General Moorgoth –« »Ach, jetzt ist er General«, knurrte Theros. »General Moorgoth hat gehört, daß die Elfen für ein geheimes Vorhaben Leute an die Westküste des Ozeans bringen. Wir sollen jeden töten oder gefangennehmen, der in diese Richtung zieht.« »Du sagst, Moorgoth hat eine Belohnung für mich ausgesetzt?« erkundigte sich Theros. »Wie hat er mich gefunden? Und woher weißt du, wer ich bin? Ich habe dich noch nie in meinem Leben gesehen.« »Moorgoth erhält seit Jahren Berichte über dich. Diesmal konnte er zum erstenmal reagieren. Er hat deine Beschreibung an alle Soldaten ausgegeben. Ein großer Mann mit nachtschwarzer Haut und einer Stimme wie Donnergrollen. Das waren seine Worte.«
Theros seufzte. Er zog dem Mann den Dolch aus dem Gürtel und ließ ihn dann aufstehen. »So, jetzt zieh deine Stiefel aus und mach die Schnürbänder ab. Los!« Der Mann tat, wie er ihm geheißen hatte. Theros hob seine Axt und das Schwert des Soldaten auf. Mit den Schnürsenkeln band er den Soldaten mit Händen und Füßen an einen Baum. Mit Knebeln gab er sich nicht ab. Es war überflüssig. Wenn der Mann schrie, würde er nur die Elfen auf sich aufmerksam machen, und das war vermutlich nicht die Aufmerksamkeit, die er wünschte. Klirrender Stahl erinnerte Theros daran, daß er in diesem Wald nicht allein war. Er stieß die Axt in das Halfter zurück und stürmte mit dem Schwert in der Hand zum Lager zurück. Als er im Lager ankam, sah er Hirinthas und Vermala gegen zwei Soldaten kämpfen. Ein dritter Soldat lag tot auf dem Boden. Vermala war blutüberströmt und wurde sichtlich schwächer. Theros brüllte einen Kriegsschrei und sprang ins Getümmel. Die beiden Soldaten steckten in der Zwickmühle – vor ihnen die Elfen, hinter ihnen Theros. Sein Schrei erschreckte sie so, daß sie sich nach dem neuen Feind umsahen. Hirinthas nutzte die Ablenkung, um dem einen Mann sein Schwert zwischen die Rippen zu stoßen. Der Mann fiel. Der andere Soldat parierte Vermalas Schlag und wich an einen Baum zurück. »Gib auf«, befahl Theros. »Du stehst allein gegen drei.« Der Soldat ließ sein Schwert sinken. »Na gut. Nehmt mich gefangen. Ihr werdet nichts aus mir rauskriegen.« Hirinthas nahm dem Mann das Schwert ab und zwang
ihn, sich auf den Boden zu setzen. Theros nahm den Dolch des Mannes an sich. Vermala sank auf die Knie. Er hatte eine Wunde in der Seite. Das Blut hatte seine Kleider durchtränkt. Hirinthas nahm einem der toten Soldaten den Mantel ab und drückte diesen auf Vermalas Wunde. Theros fesselte rasch den Soldaten, dann lief er zurück, um seinen eigenen Gefangenen zu holen. Er band sie Rücken an Rücken aneinander. Nachdem die Gefangenen sicher gefesselt waren, zündete er ein Feuer an. Die Sonne würde bald untergehen. Vermala war blaß und zitterte. Er hatte eine ernste Wunde davongetragen. Während Theros das Feuer schürte, dachte er daran, wie er schon einmal einen verwundeten Soldaten bewacht hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es damals ein Minotaurus gewesen war. Ihm fielen Huluks Befehle an jenem Tag ein, und er sah Hirinthas an. »Ihr habt gesagt, es wäre nur noch eine Tagesreise bis zu Eurem Volk. Ihr müßt hingehen und Hilfe holen. Vermala braucht einen Heiler oder Arzt. Ich habe für ihn getan, was ich konnte. Ich werde ihn bewachen und diese beiden dazu, bis Ihr wieder hier seid.« Hirinthas gefiel dieser Vorschlag nicht. »Nein, ich habe den Auftrag, Euch sicher durch Silvanesti zu geleiten. Ich kann meine Aufgabe nicht – « »Oh, verdammt! Euch liegt doch überhaupt nichts an mir«, fuhr Theros auf. »Ihr traut mir nicht! Das ist es, nicht wahr?« Hirinthas warf den beiden Soldaten einen haßerfüllten Blick zu. »Warum sollte ich Euch trauen, Mensch?« »Weil Vermala sterben wird, wenn Ihr es nicht tut! Seht
mal, wenn ich Euch töten wollte, hätte ich das schon getan. Ich hätte mich diesen beiden und ihren Kumpanen jederzeit anschließen können. Ich schwöre Euch bei…«, fast hätte er gesagt, bei Sargas, hielt sich dann aber doch zurück, »ich schwöre beim Grab meiner Mutter, daß ich Vermala mit meinem Leben verteidigen werde!« Hirinthas war klug genug, um zu begreifen, daß Theros’ Worte logisch klangen. Wenn Theros mit diesen Menschen im Bunde war, wäre Hirinthas jetzt tot. Außerdem sah er, daß sein Kamerad in sehr schlechter Verfassung war. »Also gut, Eisenfeld, aber wenn ich zurückkomme und feststelle, daß Ihr mich belogen habt, wird die Welt Krynn nicht groß genug sein, Euch zu verstecken. Ich würde Euch noch in den Abgrund folgen.« Hirinthas stand auf und eilte in die Nacht hinaus. Die vier Zurückbleibenden saßen am Feuer und warteten auf den Morgen. Keiner redete viel.
Kapitel 11
Am nächsten Tag erhob sich die Sonne strahlend und warm. Kein Wolke stand am Himmel. Vermala lag dick zugedeckt am Feuer und zitterte so heftig, daß seine Zähne klapperten. Theros beugte sich über ihn, wusch sein glühendes Gesicht mit kaltem Wasser und tat, was er konnte, um es ihm erträglicher zu machen. Das Fieber setzte ein. Der Elf hatte viel Blut verloren und würde nicht mehr lange durchhalten. Die beiden Gefangenen schliefen fest, immer noch aneinandergefesselt. Irgendwann während der Nacht hatten sie geglaubt, Theros wäre eingeschlafen. Sie hatten sich auf eine Seite gerollt und angefangen, den Knoten zuzusetzen, die sie aneinanderbanden. Ein Tritt gegen den Kopf hatte den Gefangenen gezeigt, daß sie sich da ein wenig verrechnet hatten. »Aufwachen«, sagte Theros zu Vermala. Er fürchtete, der Elf wäre womöglich in jenen merkwürdigen Tranceschlaf gefallen, aus dem man nie mehr erwacht. »Bleib wach, wenn du kannst.« Vermala schlug die Augen auf. »Ich habe Durst«, flüsterte er. Er sagte diese Worte auf elfisch, denn die Beherrschung der Umgangssprache war im Schmerz untergegangen. Theros verstand seine Worte nicht, erriet aber ihren Sinn. Der große Mann war gleichzeitig erleichtert und besorgt, weil Vermala wach war. Der Wasserschlauch war leer. Er überlegte gerade, ob er das Risiko eingehen sollte, aufzu-
stehen und ihn zu füllen, als die Bäume ringsherum zum Leben erwachten. Er sprang auf und hielt die Axt bereit. Aus den Bäumen sprangen Elfen und liefen auf die Lichtung, geführt von Hirinthas. Weitere Elfen rannten aus dem Wald und schlossen sich ihnen an. Hirinthas eilte zu Vermala, der zwischen Bewußtsein und Ohnmacht hin- und herglitt. Ein zweiter Elf setzte sich neben seinen verletzten Kameraden. Er begann, eine seltsame Melodie zu summen. Aus der Tasche an seinem Gürtel holte er alle möglichen Kräuter, Tränke und Salben heraus. »Wird er überleben?« fragte Theros in der Gemeinsprache. Der Elfenheiler ignorierte ihn zunächst, weil er dabei war, die Wunde zu versorgen. Dann zwang er Vermala einen Trank auf, der – nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen – gräßlich schmecken mußte. Der Heiler sagte etwas auf elf isch. Hirinthas übersetzte. »Das wird sich in den nächsten Minuten herausstellen.« Hirinthas wandte sich an die restlichen Elfen, inzwischen rund zwanzig, die sich auf der Lichtung versammelt hatten. Eilig gab er ihnen Anweisungen auf elfisch, die er dann mit einem Blick auf Theros übersetzte. »Ich habe ihnen befohlen, diesen Bereich zu umstellen. Ich will hier sicher sein, bis wir soweit sind, daß wir weiterziehen können.« »Gute Idee«, fand Theros. Die Elfen verschwanden im Wald. Leiser als der Wind glitten sie zwischen die Bäume. Der Wind brachte hier und da ein Blatt zum Rascheln, die Elfen nie. Ein Elf wurde angewiesen, bei den Gefangenen zu bleiben, damit diese kei-
nen Fluchtversuch wagten. Die Gefangenen waren jetzt hellwach und schienen nicht übermäßig erfreut über die neue Wendung. Theros beobachtete den verletzten Elf mit Besorgnis. Der Heiler sang leise weiter. Obwohl Theros die Worte nicht verstand, fühlte er, wie die Musik ihn beruhigte und seine Ängste hinwegtrug. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und war gerade am Einnicken, als ihn eine Stimme neben ihm wieder hochschrecken ließ. Es war Hirinthas, der seinen Namen sagte: »Meister Eisenfeld.« Theros blinzelte und drehte sich um. »Entschuldigung, ich muß eingedöst sein.« Hirinthas war unbehaglich zumute. Seine Worte fielen ihm offenbar nicht leicht. »Ich möchte… Euch meinen Dank aussprechen, weil Ihr bei meinem Vetter geblieben seid. Und nicht nur das, Ihr habt uns auch gestern das Leben gerettet. Ich war… unfreundlich.« Der Elf straffte sich. »Ich möchte mich entschuldigen.« Theros zuckte lächelnd mit den Schultern. »Mhm. Ich verstehe. Wahrscheinlich hattet Ihr in letzter Zeit wenig Grund, Menschen zu vertrauen.« Hirinthas nickte kurz und setzte sich dann wieder neben seinen Vetter. Auf einmal keuchte Vermala und drehte sich zur Seite, um den braunen Trank, den er geschluckt hatte, herauszuwürgen. Der verwundete Elf krampfte sich zusammen. Der Elfenheiler schob Vermala einen Stock in den Mund, damit er sich nicht auf die Zunge biß, und versuchte, ihn festzuhalten. Die Krämpfe waren zu stark. Theros kniete vor Vermala nieder. So sanft er konnte, hielt er die Schultern
des Elfen an den Boden gedrückt. Nach einer halben Minute blieb der Elf still liegen. Zuerst dachte Theros, er wäre tot, aber dann schlug Vermala die Augen auf. Er sah sich um und schaute erst Theros, dann den Heiler an. »Was ist passiert? Wird er durchkommen?« fragte Theros erschüttert. »Das Fieber ist gebrochen, die giftigen Säfte sind aus seinem Körper vertrieben. Er wird gesund werden.« Der Heiler begann, seine Kräuter und Tränke zusammenzupacken. »Scheint, als wäre die Heilung fast so schlimm wie die Verletzung«, stellte Theros fest. Der Heiler wickelte weitere Bandagen um die Wunde. »In früheren Zeiten hatte unser Volk Heiler, die mit einem Lied Schmerz lindern, durch Berührung zerrissenes Fleisch heilen und sogar Tote zum Leben erwecken konnten, wenn man den Geschichten glauben mag. Aber dann kam die Umwälzung, und die Götter haben uns verlassen. Jetzt müssen wir uns auf unseren Verstand verlassen. Und selbst dann ist meine Kunst oft nicht ausreichend.« Der Heiler sah Theros an. »Ihr habt für Vermala alles getan, was nötig war. Ihr habt dafür gesorgt, daß er es warm hatte und wach war.« »Ich habe solche Wunden schon früher gesehen«, erklärte Theros schroff. »Zu oft. Zu viele.« Er schüttelte den Kopf. Der Heiler half Vermala, etwas Wasser zu trinken. »Er ist außer Gefahr. Man kann ihn transportieren. Wir sollten ihn nach Quivernost bringen.« Vermala winkte den Heiler heran, damit er sich im Flüsterton mit ihm unterhalten konnte. Dann legte der verwundete Elf sich wieder zurück und schloß die Augen. Mit
einem Seufzer schlief er ein. Der Heiler setzte sich mit einem nachdenklichen Blick auf Theros, der das Gefühl hatte, daß sich das Gespräch um ihn gedreht hatte. »Wenn er mir danken wollte«, sagte er beschämt, denn er wünschte, diese Elfen wären nicht so verdammt höflich, »dann sag ihm, er soll nicht weiter darüber nachdenken.« Der Heiler steckte eine Decke um Vermalas Schultern fest. »Er hat mich gebeten, Euch zu danken. Dann dankte er mir für meine Dienste und gab den Auftrag, Euch sicher durch den Wald zu führen, an mich weiter. Jetzt bin ich zusammen mit Hirinthas für Eure Sicherheit verantwortlich.« Der Elf erhob sich und verbeugte sich förmlich. »Mein Name ist Berenthinis. Ich bin der Heiler des Dorfes Quivernost.« Theros verneigte sich schwerfällig. Etwas an den Worten des Elfen irritierte ihn. »Ich habe ein kleines Verständnisproblem. Sagtet Ihr, Ihr wäret der Heiler des Dorfes? Heißt das, es gibt keinen anderen außer Euch?« Der Elf nickte. »Das stimmt. Die Aufgabe, die Kranken zu pflegen, gilt in meinem Volk als unangenehm. Sie erinnert uns ständig daran, daß die Götter uns verlassen haben. Man weiß, daß sie getan werden muß, aber es gibt nur wenige, die dazu bereit sind.« »Und Ihr verlaßt Eure Leute, um mich zu begleiten? Was ist, wenn jemand Euch braucht? Wenn ein Kind krank wird? Wenn jemand sich verletzt?« Berenthinis zog eine Braue hoch. »Das soll nicht Eure Sorge sein, Meister Eisenfeld. Ich habe den Auftrag angenommen. Meine Ehre bindet mich.«
Theros kratzte sich den Bart. Verwünschte Elfen! Kein gesunder Menschenverstand. Theros war es sowieso allmählich leid, daß diese Elfen ihn im Wald anscheinend für ein hilfloses Baby hielten, das ohne ihre sorgfältige Führung bestimmt zu Schaden kommen würde. »Seht mal, Heiler.« Theros hatte den Namen des Elfen schon wieder vergessen. Für ihn klangen die Namen ohnehin alle gleich. »Ich bin für mein Wohlergehen selbst verantwortlich. Ich weiß es zu schätzen, daß Ihr mir sicheres Geleit geben wollt, aber Ihr werdet in Eurem Dorf gebraucht. Ich bin hier, um Euch zu helfen, nicht, um Euch zu belasten. Ich werde Vermalas Auftrag übernehmen. Ihr seid von Eurer Verpflichtung entbunden.« Der Heiler musterte Theros einen Augenblick, dann verbeugte er sich wieder. »Wie Ihr wünscht« war alles, was er sagte. Zumindest hatte er nicht widersprochen. Theros vermutete, daß es dem Elfen nicht schwerfiel, die Verantwortung weiterzugeben. Welcher Elf sorgte schon gern dafür, daß ein Mensch am Leben blieb, ganz gleich, wie dankbar sie ihm waren? Gemeinsam bauten Theros und Hirinthas eine Trage aus zwei Pinienästen, die von Lederriemen lose zusammengehalten wurden. Über die Riemen legten sie weiches Geäst als Bett für den Verwundeten. Hirinthas pfiff wie ein Vogel. In Minutenschnelle waren die Elfen, die die Umgebung bewacht hatten, zurück. Sie waren so leise gewesen, daß Theros sie da draußen ganz vergessen hatte. Zwei wurden dazu ausersehen, Vermala zu tragen. Theros band die Gefangenen los und gestattete ihnen, ihre Stiefel anzuziehen. Die Elfen banden den Ge-
fangenen die Hände mit Lederriemen auf den Rücken. Dann bildeten sie eine Reihe mit Hirinthas an der Spitze und Theros als Nachhut. Sie kamen nur langsam voran, weil sie sich vorsichtig bewegten, um den verletzten Elfen nicht durchzuschütteln. Theros trug sein Gepäck und die Axt im Halfter auf dem Rücken. Die Gefangenen behielt er ständig im Blick, denn er fragte sich, was er ihretwegen und wegen Moorgoth anfangen sollte. Man hatte die Gefangenen geknebelt, wofür Theros dankbar war. Wenn sie anfingen, über Theros’ einstige Arbeit für Moorgoth zu sprechen, konnten sie ihm große Schwierigkeiten bereiten. Es würde nicht leicht sein, den Elfen das zu erklären. Die ganzen Jahre war für Theros ein Kopfgeld ausgesetzt gewesen, und er hatte nie davon erfahren. Unwissenheit ist ein Segen – wie die Kender sagen. Kurz nach Einbruch der Nacht erreichten sie Quivernost. Der Heiler ließ Vermala in sein Haus bringen. Berenthinis folgte den Trägern. Bevor er ging, hielt Theros ihn auf, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte. Als der Elf unter der Berührung zusammenzuckte, nahm er die Hand schnell wieder weg. »Hört mal, ich möchte nur, daß Ihr wißt, daß ich es zu schätzen weiß, daß Ihr die Verantwortung für meine Sicherheit übernehmen wolltet. Es war eine ehrenhafte Entscheidung. Aber Ihr habt eine größere Verantwortung gegenüber diesen Leuten. Das brauche ich Euch nicht zu sagen. Dennoch habt Ihr mir heute eine große Ehre erwiesen.« Theros verbeugte sich ungeschickt vor dem Elfen. Berenthinis wirkte verwundert. Er musterte Theros. »Ihr seid ein seltsamer Mann, Meister Eisenfeld. Heutzutage
hört man selten jemand von Ehre reden, schon gar nicht einen Menschen.« Er erwiderte die Verbeugung, dann lief er den Trägern nach. Theros grinste in sich hinein. »Bestimmt habe ich diesem armen Elfen sein ganzes Weltbild über uns grausame Menschen zerstört.« Hirinthas zupfte an Theros’ Ellbogen. »Kommt mit, Meister Eisenfeld. Ich möchte Euch dem anderen Menschen vorstellen, der mit Euch zusammenarbeiten wird.« Theros folgte Hirinthas zu einem Saal, der in einen gewaltigen Baumstamm gehauen war. Sie betraten einen großen Raum voller Elfen, die aßen und tranken. Es war Essenszeit, und man benutzte den Raum offenbar als Taverne, wenn er nicht für offizielle Geschäfte gebraucht wurde. Hirinthas sah sich um. Der einzige andere Mensch hier saß an einem Tisch, wo er Brot und Krebse aß. Neben ihm saß ein Elf, der ebenfalls aß. Die beiden redeten nicht miteinander, und Theros hatte den Eindruck, der Elf wäre eine Art Wache. Als sie näherkamen, sah der Mensch auf, und beim Anblick von Theros heiterte sich sein Gesicht auf. Der Mann stand auf, wischte sich die Reste von Krebsschwänzen von den Händen und streckte Theros eine Hand entgegen. »Ich bin Koromer Vlusaj. Sie haben mich als Schiffsbauer hierhergebracht. Freut mich, einen anderen Menschen zu sehen! Was keine Beleidigung sein soll.« Er nickte Hirinthas zu. »Aber es tut gut, jemanden der eigenen Art zu sehen.« Theros setzte sich neben Koromer. Der Mann war groß, fast so groß wie Theros. Koromers Gesicht war offen und ehrlich. Seine Haut war von der Arbeit im Freien bronze-
farben getönt, und seine Haare waren von der Sonne ausgebleicht. Er hatte ein dröhnendes Lachen, das den Baum erschütterte, in dem sie saßen, und unweigerlich die Elfen erschreckte. Koromers Lachen klang wie ein Donnerschlag. Als alle sich setzten, nahm Hirinthas neben Theros und gegenüber dem anderen Elfen Platz, der bei Koromer saß. Eine Kellnerin brachte Hirinthas und Theros jeweils einen Teller Krebse und Brot. Dann kam sie noch einmal mit zwei Gläsern süßen Elfenweins und einem Krug Wasser. Theros bedankte sich bei der Frau, die ihn verständnislos anstarrte. Offensichtlich verstand sie kein Wort. Sie war schnell wieder weg. »Ich hörte, Ihr seid Schmied«, meinte Koromer. Theros nickte. »Ich bin Schmied, allerdings bin ich zum Waffenschmied ausgebildet. Dennoch bin ich in der Lage, alles herzustellen, was Ihr braucht, solange ich die Schmiede, das Werkzeug und den Stahl dazu habe.« Koromer beschrieb, welche Werkzeuge zur Verfügung standen. Theros dachte nach und fand, daß er noch einiges brauchen könnte. Er wandte sich an Hirinthas. »Hört mal, wenn Ihr nach Solace zurückkehrt, könntet Ihr da bitte versuchen, einen – « Hirinthas entgegnete ruhig: »Ich kehre nicht nach Solace zurück, Meister Eisenfeld. Ich werde aber gern jemanden ausfindig machen, der dorthin geht, und ihm die Aufgabe übertragen.« Koromer wies mit dem Daumen auf den Elfen, der bei ihm saß. Theros verstand. Er brummte: »Also bekomme ich meinen persönlichen Wachhund, ja?« »Es ist zu Eurer eigenen Sicherheit«, erwiderte Hirinthas,
dessen Wangen sich leicht röteten. Immerhin war er anständig genug, eine gewisse Scham zu empfinden. »Mein Auftrag lautete, Euch sicher durch den Wald von Qualinesti zu geleiten. Ihr seid immer noch in Qualinesti. Bis Ihr geht, werde ich Eure Wache sein. Dasselbe gilt für Taranthas. Wir werden Euch und Meister Vlusaj beschützen, bis Ihr aus unseren Diensten tretet.« Theros erriet, was die Aussage des Elfen tatsächlich bedeutete: Und wir werden unser Volk vor dem Kontakt mit Menschen beschützen. Koromer und Theros wechselten einen Blick. Es hatte keinen Sinn, mit dem Elfen über die Sache zu streiten. Er hatte seine Befehle. Und Theros mußte zugeben, daß die Vorstellung, eine Wache zu haben, in gewisser Hinsicht beruhigend war. Die Elfen führten Krieg, und es gab keinen Grund, zum Opfer zu werden. Er mußte Hirinthas nur als Leibwächter und nicht als Gefängniswärter ansehen. Theros wandte sich wieder Koromer zu, und gemeinsam begannen sie, eine Strategie zu entwickeln, wie sie die erste Elfenflotte bauen würden.
Kapitel 12
»Hübsch ist sie nicht gerade, aber sie wird schwimmen«, befand Theros. »Mhm, das wird sie«, bestätigte Koromer stolz. Sie blickten über den Pier zum letzten der Evakuierungsschiffe. Sein Elfenname war Spirinilthan’thimis. Koromer, der mit der Sprache Probleme hatte, versuchte gar nicht erst, den Namen auszusprechen. Er nannte es einfach »Spirit«. Theros stand mit dem Schiffsbauer und ihren beiden allgegenwärtigen Leibwächtern zusammen. Sie hatten die letzten elf Monate damit verbracht, die Schiffe zur Evakuierung von Qualinesti zu bauen. Dieses hier würde sich zu den anderen gesellen, die jetzt von Quivernost, das an der Küste der Nation Qualinesti lag, nach Qualimori am Südzipfel des Südlichen Ergod fuhren. Oben war eine Elfenmannschaft damit beschäftigt, die Takelung des Schiffes fertigzustellen. »In drei Tagen wird sie ihre erste Reise antreten. Ein gutes Schiff. Aber ich muß zugeben, daß du recht hast, Theros. Hübsch ist sie wirklich nicht.« Koromer hatte ein langes, flaches Schiff mit nur zwei Hauptmasten gebaut, genau wie seine drei Vorgänger. »Aber sie wird ihre Aufgabe erfüllen.« Die Fahrt nach Qualimori führte nur drei Tage über das offene Meer. Dieses Schiff war nicht dafür gebaut, Monate oder auch nur Wochen auf hoher See zu verbringen. Der Entwurf erlaubte eine höchstmögliche Lademenge. Es
konnte achthundert Elfen mit den nötigsten Vorräten oder fünfhundert mit vollem Gepäck transportieren. Hirinthas konnte sich dem Lob nicht anschließen. Das platte, schaukelnde Schiff verletzte offenbar seinen Sinn für Ästhetik. In seiner Muttersprache sagte er etwas zu dem anderen Elfen. Theros verstand ihn, obwohl er dies nicht zeigte. Im Laufe der Zeit war es ihm gelungen, eine ganze Menge von der Elfensprache aufzuschnappen, aber er achtete sehr darauf, nicht mit seinen Kenntnissen zu prahlen. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, die Worte so auszusprechen wie die Elfen, so daß sie immer das Gesicht verzogen, wenn sie hörten, wie er ihre schöne Sprache verunstaltete. »Wie bei den anderen sieht man es deutlich, daß es von Menschen stammt«, meinte Hirinthas. Ein Elfenschiff wäre schlank wie ein fliegender Fisch gewesen und ebenso nutzlos. Das war einer der Gründe, vermutete Theros, weshalb Gilthanas für den Bau der Schiffe Menschen angeheuert hatte. Sie hatten keine Zeit für schöne Schiffe – nur für funktionstüchtige. Theros hatte seine Schmiede in einem Gebäude in der Nähe des Piers gebaut. Er stellte alle Nägel, Flaschenzüge, Ketten und Metallklammern her. Koromer gab ihm für jedes Teil eine genaue Zeichnung, dann besprachen die beiden Größe, Art und Gewicht. Anschließend fertigte Theros ein Probestück. Sobald Koromer es guthieß, begann Theros die Mengen herzustellen, die gebraucht wurden. Mittlerweile hatten sie eine Flotte von vier Schiffen gebaut. Gilthanas hatte errechnet, daß diese vier Schiffe Tag und Nacht unterwegs sein mußten, um den Großteil der Bevölkerung von Qualinesti rechtzeitig zu evakuieren.
Fünfzehntausend Elfen hatten inzwischen nach Qualimori übergesetzt. Man hatte damit begonnen, sobald das erste Schiff fahrtüchtig gewesen war, und immer noch kamen Elfen. Jetzt, da drei Schiffe unterwegs waren, brachten sie jede Woche zweitausend Elfen hinüber. Mit diesem vierten Schiff würden sie fast dreitausend schaffen. Das erste Schiff war am schwierigsten gewesen. Sie waren von einem Vorentwurf ausgegangen, den Koromer entwickelt hatte. Jeden Tag hatten sie den Werkplan verändert, weil sie Probleme entdeckten oder manches einfach unmöglich war. Wegen einer Ruderhalterung, die Koromer Theros bauen, dann noch einmal und schließlich noch einmal ändern ließ, hätten die beiden sich fast geprügelt. Die letzte Version funktionierte, und die beiden legten ihren Streit bei. Nach vier erfolgreichen Stapelläufen betrachteten die beiden sich jetzt als Freunde. Und eines Morgens wachte Theros auf und stellte fest, daß er zum erstenmal in seinem Leben glücklich war. Nach den Jahren in einer stinkenden, engen Stadt war es schön, wieder an der See zu sein, das endlose Lied der Wellen und die Rufe der Vögel zu hören, die saubere, frische Seeluft einzuatmen. Tagsüber arbeitete er hart, abends aß, trank und redete er mit Koromer. Jetzt, als das letzte Schiff fast bereit zum Auslaufen war, ging Theros an Bord, um es zu inspizieren. Er befand es für seetüchtig und überließ den Rest der Arbeit und das Aufräumen der Elfenmannschaft. Seine Gedanken und Schritte richteten sich schon auf das wohlverdiente Essen. Bis er im Versammlungssaal ankam, ging die Sonne unter. Als Theros eintrat, erhob sich Jubel. Koromer saß mit einem großen Krug in der Hand an einem Tisch. Theros lä-
chelte, verbeugte sich vor den anwesenden Elfen und ging auf Koromer zu. »He! Wo hast du das her?« wollte Theros wissen, als er in Koromers Krug schaute. Wenn seine Augen ihn nicht täuschten, trank Koromer Bier! Es war viele Monate her, seit Theros Bier geschmeckt hatte. Koromer zeigte auf ein Fäßchen, das neben ihm auf dem Boden stand. Er nahm einen leeren Krug vom Tisch und füllte ihn mit dunklem, schäumendem Bier. Theros lief das Wasser im Mund zusammen. »Ein Geschenk von Gilthanas! Er sagt, es kommt aus einem gewissen Gasthaus ›Zur Letzten Bleibe‹ in Solace. Hier, probier mal. Es ist unvergleichlich gut!« Theros hob den Krug an die Lippen und leerte ihn in einem Zug. Das Bier war holzig und bitter und überdeckte den salzigen Geschmack, den er immer im Mund zu haben schien. Noch nie hatte er etwas so Köstliches getrunken. Nachdem er den Krug abgesetzt hatte, wischte er sich die Augen und konnte kurze Zeit nichts sagen. Koromer füllte lachend den Krug nach. »Das ist wirklich gut. Hast du gesagt, Gilthanas wäre hier?« »Ja, er ist da drüben in der Ecke und redet mit Hirinthas«, bestätigte Koromer. »Ich möchte mit ihm sprechen. Kommst du mit?« Koromer schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich verlasse dieses Faß nicht, bevor es leer ist!« Theros lachte. Mit seinem schäumenden Krug ging er in die Ecke, die Koromer angegeben hatte. Gilthanas erwies ihm tatsächlich die Ehre, sich zu erheben, um ihn zu begrüßen. »Theros Eisenfeld. Es ist schön,
Euch zu sehen. Wir schulden Euch viel, nicht nur für Eure Arbeit, sondern auch für Eure Loyalität und Geduld. Ich weiß, das Leben bei meinem Volk kann für Euch nicht leicht gewesen sein.« Er sprach das Elfisch der Qualinesti, offenbar in der Erwartung, daß Theros ihn verstehen würde. Theros warf einen Blick auf Hirinthas. Der Elf war aufmerksamer, als Theros klar gewesen war. Theros gab eine passende Erwiderung, ebenfalls in Qualinesti, wobei er sich die größte Mühe gab, die schwierigen Wörter richtig auszusprechen. Unterdessen musterte er Gilthanas. Der Elf sah viel dünner aus als bei ihrer letzten Begegnung. Er war abgekämpft, hager und unendlich müde. Dennoch hielt er sich gerade, um seine königliche Herkunft zu betonen. »Danke«, sagte Theros. »Es hat gutgetan, an etwas mitzuarbeiten, das wirklich jemandem nützt. Die Spirinilthan’thimis«, er stolperte über den Namen, »ist das beste der vier Schiffe. Diesmal konnten wir die Segel anders ausrichten, so daß sie im Wasser besser vorwärtskommt. Sie wird einige Knoten schneller fahren als die anderen. Nun erzählt mir, wie der Krieg gegen diesen Verminaard läuft.« Gilthanas machte ein finsteres Gesicht. »Ich kann nicht behaupten, daß es gut läuft. Aber wir kämpfen weiter. Verminaard ist von Süden her in den Wald eingedrungen, und wir können ihn nicht wieder vertreiben. Es ist schon fast einen Monat her, seit wir Pax Tharkas überfallen konnten. Ich glaube nicht, daß wir noch einmal so viele Männer aufbringen können. Er wird stärker, und wir werden schwächer. Immerhin geht die Evakuierung schneller vonstatten als geplant, was Euch und Koromer zu verdanken
ist. Die Qualinesti-Nation und ich stehen für immer in Eurer Schuld.« Theros lächelte. »Ich habe getan, was nötig war. Ich bin nur froh, daß es nun geht.« Gilthanas nickte. »Eure Arbeit hier ist beendet, Theros Eisenfeld. Jetzt, da das vierte Schiff zum Auslaufen bereit ist, bin ich gekommen, um meine Versprechungen zu erfüllen. Ich werde Euch Euren wohlverdienten Stahl geben und noch etwas dazu – ein Geschenk meines Vaters, der Stimme der Sonnen, um Euch zu danken, daß Ihr geblieben seid, bis alle vier Schiffe vollendet waren. Das hättet Ihr nicht tun müssen. Hirinthas und Vermala werden Euch nach Solace eskortieren, vorausgesetzt, Ihr wollt immer noch dorthin.« Theros trank aus seinem Krug. »Um die Wahrheit zu sagen, ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht, wo ich jetzt hinwill. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, diese Schiffe fertigzustellen. Ich habe keine Pläne.« Ihm lag auf der Zunge, anzubieten, daß er hierbleiben könnte, doch das verwarf er. Die Elfen waren ihm für seine Dienste dankbar, sie mochten ihn ganz gern, und inzwischen trauten sie ihm wohl auch. Aber sie wollten nicht, daß er unter ihnen lebte. Sie wollten keine Menschen bei sich leben lassen. »Mhm«, meinte er wegwerfend, »ich glaube, es könnte mir gefallen, in Solace eine Schmiede zu eröffnen. Ich hörte, es wäre ein guter Platz für Geschäfte. Es kommen Leute von überall dort vorbei. Mit Waffen und Rüstungen kann ich da gute Geschäfte machen. Und wenn es dort ein Wirtshaus gibt, das solches Bier ausschenkt – na, ich denke, dann verbringe ich dort vielleicht den Rest meines Lebens!«
Er kehrte zu Koromer zurück, um mit ihm zusammen zu feiern, was die halbe Nacht dauerte. Erst spät, lange nachdem Solinari untergegangen war, kehrte er in sein Haus zurück. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang war er jedoch schon wieder in seiner Schmiede, wo Hirinthas und Vermala ihn fanden. »Wir hatten nicht erwartet, Euch hier anzutreffen«, sagte Vermala. »Ihr habt alles gepackt, wie ich sehe. Wollt Ihr aufbrechen?« Theros nickte. Es fiel ihm schwer, diesen Ort zu verlassen. Die Arbeit hier hatte ihm wirklich gefallen. »Wird Koromer uns begleiten? Hat er sich schon entschieden?« »Er hat unser Angebot angenommen, noch eine Weile zu bleiben, um Reparaturen durchzuführen, falls das nötig wird. Und er hat sich bereit erklärt, mit uns nach Qualimori zu ziehen, wenn wir gehen.« Hirinthas hielt inne, dann sagte er. »Wir würden Euch gern zu einem Besuch nach Qualimori einladen, Theros Eisenfeld. Vielleicht möchtet Ihr auch bei uns leben, wenn es Euch in Solace nicht gefällt.« Theros starrte ihn erstaunt an. So etwas hätte er nie erwartet. Er war zu erfreut, um etwas sagen zu können – ob in der Gemeinsprache oder auf qualinesti. Hirinthas lächelte. »Gilthanas möchte Euch noch einmal sehen, bevor wir gehen. Er wird bald hier sein.« Theros brauchte nicht lange zu warten, bis Gilthanas die Schmiede betrat. Er trug eine kleine, mit goldenen Fäden bestickte Samttasche, die er Theros reichte. »Steckt dies zu den anderen Schätzen an Eurem Gürtel.« Theros nahm die Tasche entgegen und bewunderte einen Augenblick die feine Handarbeit.
»Die Stickerei stammt von meiner Schwester«, erklärte Gilthanas stolz. »Das macht sie um so wertvoller«, sagte Theros. »Ich würde Eure Schwester gern einmal kennenlernen.« Gilthanas machte eine höfliche, nichtssagende Bemerkung. Offenbar war so etwas undenkbar – einen Schmied einer Elfenprinzessin vorzustellen! Theros warf einen Blick in die Tasche. Vier Diamanten fingen das Sonnenlicht ein und glitzerten mit atemberaubendem Glanz. Jeder Stein war walnußgroß. Verwundert blickte Theros auf. Die Edelsteine hatten gut und gern den zehnfachen Wert von dem, was man ihm schuldete. »Das kann ich nicht annehmen. Schon mit einem hättet Ihr mir zuviel bezahlt.« Er wollte das Geschenk zurückgeben. Gilthanas hielt ihn auf. »Ihr habt dafür gesorgt, daß die Qualinesti-Nation überleben wird. Diese vier Juwelen sind das Geringste, was wir Euch schulden. Die wahre Schuld können wir nie zurückzahlen.« Theros steckte den Beutel zu den anderen drei Beuteln, in denen er seine Schätze aufbewahrte. Er trug Edelsteine und Münzen im Wert von fünftausend Stahlmünzen bei sich, schon ohne die Diamanten. Dann tat Gilthanas etwas Bemerkenswertes, denn er griff nach Theros’ Hand. Nicht nur, daß er ihn mit einem warmen Händedruck bedachte, er hielt Theros’ große Hand in seiner kleinen Elfenhand fest. »Hör zu, mein Freund, du wirst in großer Gefahr schweben – auch in Solace –, wenn jemand herausfindet, daß du uns hier in Qualinesti geholfen hast. Sei vorsichtig. Sag keinem Menschen ein Wort. Vertraue niemandem. Hirinthas
und Vermala werden dich sicher an die Nordecke des Waldes führen. Von da an bist du auf dich selbst gestellt wie jeder andere Reisende. Ich wünsche dir alles Gute.« Gilthanas schüttelte dem großen Mann noch einmal die Hand. Einen Augenblick brachte Theros kein Wort heraus. Der Elf hatte ihn »Freund« genannt. »Also, auf nach Solace«, sagte Theros, als er seine Stimme wiedergefunden hatte.
Kapitel 13
Theros legte bei der Arbeit eine Pause ein, um aus einem großen Krug mit abgestandenem Wasser zu trinken, als zwei Männer sein Geschäft betraten. Er unterbrach sein Trinken, um sie anzusehen, denn er fand, er hätte nie ein merkwürdigeres Paar gesehen. Der eine war ein Krieger, dem Anschein nach ein Söldner, und er war einer der größten Menschen, die Theros – der selbst nicht klein war – je gesehen hatte. Er wirkte groß und gutmütig und hatte ein offenes, unverstelltes Gesicht, von dem jede Gemütsregung abzulesen war, als bliese der Wind über eine friedliche Wasseroberfläche. In dem großen Mann erkannte Theros einen Kunden, dem er über den Krug hinweg zunickte. Der Blick des Schmiedes wanderte zu demjenigen, der den Hünen begleitete, und Theros runzelte die Stirn. Der Kamerad des großen Kerls war ein Zauberer in roter Robe, der einen seltsamen Stab bei sich trug. Normalerweise achtete Theros nicht viel auf Stäbe, sofern sie nicht eine neue Eisenspitze am Fuß brauchten, aber die Wachen der Sucher hatten überall nach einem Stab gefragt, deshalb nahm Theros diesen bewußter wahr. Der Stab selbst war ganz schlicht – gewöhnliches Holz –, aber seine Spitze war mit einem Kristall geschmückt, der von einer Art Drachenklaue gehalten wurde. Der Stab war zauberkräftig, daran hatte Theros keinen Zweifel. Er hätte die Sucherwachen rufen und sich ein Stahlstück verdienen können. Aber Theros’ Überzeugung war »leben und leben
lassen«. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Magier in Solace auftauchte, doch es war ungewöhnlich, daß er in Begleitung eines Kriegers auftrat. Solace war zum Zufluchtsort für Reisende geworden. Die Elfen hatten ihr Volk nach Süden evakuiert, und Verminaard, der sich jetzt als Drachenfürst bezeichnete, verwüstete das Land. Viele von Theros’ Kunden kamen entweder aus Verminaards Armee oder waren unterwegs, um sich ihr anzuschließen. Das Waffengeschäft lief bestens. Solace war eine Stadt, die ganz in die Vallenholzbäume hineingebaut war. Alle Häuser und Geschäfte lagen in den Ästen und an den Stämmen der Bäume. Hängebrücken verbanden die Bäume miteinander, damit man leichter von Ort zu Ort gelangte. An zahlreichen Stellen führten Treppen von der Hauptstraße aus nach oben. Theros’ Schmiede war das einzige Geschäft in Solace, das auf dem Boden stand. Es war unmöglich, eine Waffenschmiede auf einen Vallenholzbaum zu verlegen, ohne das Holz in Brand zu setzen. Außerdem waren der Stahl und die fertigen Waren zu schwer, um sie die Treppen hoch und wieder herunter zu schleppen. Sein Geschäft blickte auf die Hauptstraße, die durch die Stadt verlief, und auf den Marktplatz, der dahinter lag. Die beiden Kunden standen in der Tür, wo sie gegen das helle Licht des Schmiedefeuers anblinzelten. Der große Mann begann, sich umzusehen. Sofort blieb sein Blick an den Schwertern hängen, die Theros ausgestellt hatte. Der Zauberer, der sich etwas hinter dem großen Mann hielt, sagte mit verärgerter Stimme: »Nun mach schon, Caramon. Du weißt doch, daß ich diese stickige Luft nicht er-
trage.« Theros wollte dem Magier gerade erklären, er könnte gern auf dem Boden des Krystallmirsees warten, wenn ihm das lieber wäre, als der große Mann ihn ansprach. »Ihr seid Theros Eisenfeld?« fragte er. »Das ist mein Name«, bestätigte Theros. »Ich habe gehört, Ihr seid der beste Waffenschmied in Solace.« »Das bin ich«, entgegnete Theros kühl. »Was kann ich für Euch tun?« Er betonte das Wort »Euch«, um den Magier ausdrücklich auszuschließen. »Ich heiße Caramon. Das ist mein Bruder Raistlin. Vielleicht habt Ihr von uns gehört? Wir haben früher in Solace gewohnt, aber wir sind vor fünf Jahren fortgegangen, um – « »Caramon!« Die Rüge des Magiers kam mit leiser, flüsternder Stimme, brachte den Krieger aber augenblicklich zum Schweigen. Theros versuchte, das Gesicht des Magiers zu sehen, doch der hatte seine rote Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Hand, die den Stab hielt, war dünn, und seine Haut hatte im Feuerschein eine seltsame Farbe und einen metallischen Glanz. »Oh, ja, sicher, Raist«, murmelte der große Mann. Er hielt ein langes Schwert in den Händen, das noch in der Scheide steckte. Die Schlinge, die die Scheide am Gürtel hielt, war abgerissen. Als er das Schwert herauszog, sah Theros, daß es in der Mitte gebrochen war. »Es hat mir jahrelang gute Dienste geleistet«, erklärte der Krieger, »aber dieser eine Oger war zuviel. Hatte einen Eisenring um den Hals.«
Theros betrachtete die Waffe. »Ich nehme an, Ihr wollt eine neue Klinge. Möchtet Ihr auch, daß ich die Scheide repariere?« Caramon händigte Theros Schwert und Scheide aus. Das Leder war gealtert und zerrissen. Sorgfältig untersuchte Theros das Schwert. »Der Griff ist sehr schön gearbeitet«, stellte er fest. »Aber er hat schon einmal eine neue Klinge bekommen, und die stammt nicht von demjenigen, der das ursprüngliche Schwert gemacht hat. Wollt Ihr ihn verkaufen? Oder vielleicht gegen eines dieser neuen Schwerter hier drüben in Zahlung geben?« Theros war immer bereit zu einem Tauschhandel. Eine Waffe dieser Qualität konnte er in Solace leicht reparieren und verkaufen. Die Stadt wimmelte vor Soldaten, Söldnern und Hobgoblins. »Nein, dieses Schwert würde ich nicht einmal hergeben, wenn ich bei der letzten Stahlmünze wäre«, sagte Caramon mit liebevollem Blick. »Es hat mich fünf Jahre am Leben erhalten. Alles, was ich will, ist eine Scheide und eine neue Klinge. Was wird mich das kosten?« Der Krieger klang ein wenig besorgt. Theros warf einen Blick auf seine abgetragene Kleidung und auf den schmalen Geldbeutel an seinem Gürtel. Er wollte gerade seinen Preis nennen, als der Magier plötzlich zu husten begann. Das war kein Erkältungshusten. Es war ein abgehacktes Husten, bei dem der junge Mann fast zusammenklappte. »Was ist los mit ihm?« fragte Theros und nickte in die Richtung des Magiers. Der große Mann warf einen besorgten Blick auf seinen
Bruder. »Alles in Ordnung, Raist?« »Nein, nichts ist in Ordnung, Caramon!« Keuchend stieß der Magier diese Worte hervor. »Diese Luft ist Gift für mich! Ich… warte draußen auf dich! Mach, so schnell du kannst.« Schwer auf seinen Stab gestützt, verließ der Magier die Schmiede, um an die frische Luft zurückzukehren. Er schien einen Schatten mit sich zu nehmen. Theros tat es nicht leid, ihn gehen zu sehen. Er prüfte die Lederarbeit. »Für zwei Stahlstücke kann ich Euch eine Lederscheide machen, für zehn eine aus Metall. Die Klinge kostet fünfundzwanzig.« Caramon war fassungslos. »Warum soviel für eine so einfache Arbeit?« »Meine Scheiden fallen nicht auseinander, und meine Klingen zerbrechen nicht, so wie die da.« Theros hielt die gebrochene Waffe und die zerrissene Scheide hoch. Caramon runzelte die Stirn, dann steckte er die Hand in seinen Geldbeutel. Er zog zwanzig Stahlstücke heraus. »Hier, das ist für die Klinge und die Lederscheide. Den Rest, wenn Ihr fertig seid.« Draußen war ein erneuter Hustenanfall seines Bruders zu hören. Caramon wollte betroffen hinauslaufen. Theros rief ihm nach: »He! Ist doch nicht ansteckend, was er da hat, oder?« »Nein, nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Caramon eilig. Theros nickte. »Kommt heute nachmittag wieder! Allein«, fügte er hinzu. Caramon nickte. Dann flitzte er zur Tür hinaus. Nachdem sein Kunde fort war, ging Theros wieder an
seine Arbeit. Er arbeitete an einer Reihe von Schwertern, insgesamt zwanzig Stück. Sie hatten riesige Klingen und eine seltsame Form, auf der einer der Sucher bestanden hatte – Hederick, der Oberste Theokrat. Er wollte sie in weniger als einer Woche fertig sehen. Schnell und geschickt hämmerte Theros die Waffen genau seinen Anweisungen entsprechend. Er würde jedoch noch mehr Stahl brauchen, um die Arbeit fertigzustellen. In der Zwischenzeit versah er das Schwert des Kriegers mit einer neuen Klinge und zog eine passende Lederscheide aus seinem Lager im Hinterzimmer. Später an diesem Nachmittag stieg Theros die Treppe zu einem der größten der gewaltigen Vallenholzbäume hinauf, denn er wollte zum Tempel der Wahren Sucher. Der Tempel war in Wirklichkeit eines der besseren Häuser von Solace, gestiftet von jemandem, der sich davon einen Segen für das Leben nach dem Tod erhoffte. Theros bewunderte das Haus, das sich in den Ästen des Baumes nach oben erstreckte. Es erinnerte ihn an die Häuser der Elfen in Quivernost. Die waren nicht so schön gewesen wie das hier, aber die Architektur wies dieselbe sorgfältige Handwerkskunst auf. Theros klopfte an die Tür. Ein Diener streckte den Kopf heraus, nahm von Theros Notiz – der immer noch seine schmutzige Lederschürze trug – und sagte, er solle warten. »Draußen«, fügte der Diener mit einem verächtlichen Blick auf die schmutzigen Stiefel des Schmiedes hinzu. Theros grinste in sich hinein. Er setzte sich auf eine Bank auf einer Hängebrücke zwischen zwei Vallenholzästen. Nicht lange darauf ging die Tür auf, und der Diener führte Theros ins Vorzimmer, dann in einen Raum dahinter
im Untergeschoß. Dort saß ein Mann an einem Tisch. Theros erkannte Hederick, den Obersten Theokraten. Der Mann war sichtlich verärgert, daß man ihn störte, und blickte kaum auf. Rechts und links von ihm standen zwei Wachen der Sucher, die äußerst gelangweilt wirkten. »Was willst du?« fauchte der Oberste Theokrat. »Herr, mein Name ist Theros Eisenfeld. Ich bin der Waffenschmied und komme wegen des Auftrags für die Schwerter, den Ihr mir vor zwei Tagen erteilt habt.« Hederick war ein hagerer Mann mittleren Alters. Seine geröteten Wangen und die rote Nase wiesen darauf hin, daß ihm sein Bier vielleicht ein bißchen zu gut mundete. Theros interessierte sich viel mehr für den Tisch als für den Mann. Obwohl Theros selbst kein Holz bearbeitete, erkannte er beste Handwerkskunst, wenn er sie sah, und dieser Tisch gehörte zu den schönsten Stücken, die er je gesehen hatte. Er war aus wunderschönem Vallenholz mit Intarsien und schien aus dem lebenden Baum herausgearbeitet zu sein. Hederick war für die Seelen der Bewohner von Solace verantwortlich, wie er behauptete. Tatsächlich aber hatte er sich durch religiöse Inbrunst und seine einschüchternden Wachen praktisch zum Diktator über die gesamte Bevölkerung aufgeschwungen. Der Oberste Theokrat war ein hochgestelltes Mitglied der Sucher – jener Kleriker, die behaupteten, sie wären die einzigen, die es auf Krynn noch gäbe. Die »neuen Götter«, wie Hederick sie nannte, hätten ihm diesen Platz zugeteilt, und er solle der Bevölkerung von Solace den rechten Weg weisen. Soweit Theros das beurteilen konnte, interessierten sich die Sucher mehr für Geld als für Seelen, und der einzig
wahre Weg schien über Hedericks Börse zu führen. »Ja, ja, ich erinnere mich.« Hederick sah mit größerem Interesse auf. »Wie klappt es mit den Schwertern? Sind sie schon fertig?« Theros unterdrückte ein Lächeln. Zwanzig Schwerter in zwei Tagen! Offenkundig hatte der Oberste Theokrat keine Ahnung, wie schwierig Waffen herzustellen waren. »Nein, Herr, sie sind noch nicht fertig. Und ich brauche mehr Stahl. Der, den ich habe, reicht nur für fünfzehn der zwanzig Klingen. Ich muß auf meine nächste Lieferung aus Thorbardin warten – « »Unsinn!« unterbrach ihn der Oberste Theokrat. »Wir werden dir sofort beschaffen, was du brauchst. Wache, sag deinem Kommandanten, er soll eine Ladung Stahl in Meister Eisenfelds Münze bringen – « »Schmiede, Herr«, stellte Theros richtig. »Geldmachen ist nicht mein Geschäft.« Hederick begriff die Anspielung nicht. »Ja, ja«, fauchte er. »Stahl in Meister Eisenfelds Schmiede, bis morgen.« Die Wache reagierte verdutzt. »Wo sollen wir denn bis morgen den Stahl hernehmen, Herr?« Hederick sah den Mann zornig an. »Soweit ich weiß, ist eine Ladung nach Thorbardin vor Ort. Beschlagnahmt sie.« »Darüber werden die Zwerge aber nicht glücklich sein, Herr«, sagte die Wache zweifelnd. »Ich bin nicht auf der Welt, um Zwerge glücklich zu machen!« brüllte Hederick. »Sagt ihnen, es ist der Wille der Sucher und der neuen Götter!« Die Wache verschwand, um die Befehle auszuführen. Eine andere übernahm ihren Platz im Büro. »Danke. Wenn ich den nötigen Stahl bis morgen bekom-
me, kann ich die Waffen rechtzeitig fertigstellen. Einen guten Tag noch, Herr.« Theros verbeugte sich. Zwei andere Wachen führten ihn hinaus. Hederick zufolge war der Oberste Theokrat dazu da, seine Gemeinde spirituell zu führen. Tatsächlich war er ein Bürokrat mit Macht und dem Willen, diese zu seinem persönlichen Besten zu nutzen. Er regierte Solace mit eiserner Hand, denn seine Hobgoblins schüchterten die Bewohner ein, und die Söldner, die ihm unterstanden, erhielten den Frieden nach Hedericks Regeln aufrecht. Die Waffen, die Theros anfertigte, waren nicht zum Schutz der Bewohner von Solace bestimmt und auch nicht für die Garde der Sucher gedacht. Kein Mensch und kaum ein Hobgoblin konnte eine Waffe der angeforderten Größe benutzen. Die einzigen Soldaten, deren Kraft und Körpergröße ihnen den Gebrauch solcher Waffen gestatteten, waren diejenigen aus den Armeen des Obersten Kreises der Minotauren, doch Minotaurenkrieger bevorzugten gewöhnlich Äxte. Wer also brauchte solche Waffen, und warum so weit im Süden? Oger vielleicht, aber Theros bezweifelte, daß die Schwerter für Oger gedacht waren. Die Griffe waren speziell für jemanden – oder etwas – mit einer Klauenhand entworfen. Klauen, keine Finger. Hederick verkaufte diese Waffen mit Gewinn weiter, einem Gewinn, der für ihn selbst bestimmt war. Der Tempel würde von dem Geld wenig sehen. Niemand würde wegen des Handels Fragen stellen. Niemand wagte es. Zahlreiche Leute, die dumm genug gewesen waren, sich Hederick zu widersetzen, schmachteten entweder im Gefängnis oder waren spurlos verschwunden.
Für Solace brachen schlechte Zeiten an. Theros merkte, wie die Spannung im Ort von Tag zu Tag wuchs. Es war dieselbe Atmosphäre, wie er sie aus Sanction und dem Leben bei Neraka kannte. Es lag etwas Böses in der Luft, wie Rauch, der von einem nahen Feuer herantrieb. Es würde Krieg geben, obwohl die Bewohner von Solace sich große Mühe gaben, ihre Augen davor zu verschließen. Theros war mit seinem eigenen inneren Kampf beschäftigt. Wieder würde der Krieg ihn einholen; er konnte nirgendwohin ausweichen. Schon waren die Gesandten des Drachenfürsten Verminaard diskret an ihn herangetreten. Theros’ Ruf als guter Waffenschmied hatte sich weit herumgesprochen. Doch Theros hatte sie ohne Umschweife fortgeschickt. Er wunderte sich über sich selbst, über seine Beweggründe. Das Böse war Theros bekannt. Er hatte Armeen gedient, die von bösen Kommandanten geführt wurden, und an Orten gelebt, wo das Böse hauste. Dennoch konnte er das Böse nicht mit Ehre vereinbaren, dem Leitprinzip seines Lebens. Und was machte das Böse aus? Diese Frage hatte sich Theros oft gestellt. Schließlich war er zu dem Ergebnis gekommen, daß er es für böse hielt, anderen Leuten ihre Rechte zu verweigern, die Überzeugung, daß der eigene Glaube richtig und der eines jeden anderen falsch war. Und weil die anderen sich irrten, zählten sie nicht. Die Minotauren hatten Theros zu dem Glauben erzogen, daß er wegen seines Menschseins weniger wert sei. Er hatte das sogar selbst geglaubt. Jetzt, da er älter war, wurde ihm klar, daß er Minotauren wie Hran und Huluk nur deshalb ehrlich bewundert hatte, weil sie ihm das Gefühl vermittelt
hatten, etwas wert zu sein. Bei ihnen hatte er sich fast ebenbürtig gefühlt. Fast. Und auch das nur, weil Theros sich selbst verleugnet hatte, um sich vor ihnen zu beweisen. Jetzt marschierte die Minotaurenarmee wieder, genoß das Erobern, Versklaven und Unterjochen. Sargas wollte, daß Theros sich dieser grausamen Armee anschloß. Aber Sargas verlangte von Theros auch Ehrgefühl. Wie konnte man seine Ehre behalten, wenn man anderen das Recht nahm, in Freiheit zu leben? Die Minotauren schienen mit diesem Widerspruch keine Probleme zu haben, aber Theros hatte welche. Er wünschte, er könnte jemanden finden, der ihm einen Rat geben könnte. Jemanden, mit dem er seine Zweifel und Gefühle teilen konnte. Aber niemand in Solace kannte Sargas, den Minotaurengott, oder andere von den »alten« Göttern. Der Oberste Theokrat behauptete, die alten Götter hätten ihre Anhänger zur Zeit der Umwälzung, vor über dreihundert Jahren also, verlassen. Jetzt würde Krynn von den neuen Göttern regiert, Göttern, die sich für Gut und Böse oder Ehre wenig zu interessieren schienen. Alles, was diese neuen Götter interessierte, war wohl das Geld. Theros verstand nicht, woher ein geldgieriger Bürokrat etwas von den Göttern wissen wollte. Aber andererseits: Woher sollte ein Waffenschmied mehr darüber wissen? Sargas war ihm zweimal erschienen. Das zweite Mal – als Theros gerade die Armee von Baron Dargon Moorgoth verlassen hatte – hatte er erstmalig Zweifel gehegt. Sargas mochte ein Gott der Ehre sein, aber er war auch ein Gott der Rache, der Vergeltung und der Grausamkeit. Seit er Sargas das letzte Mal gesehen hatte, hatte Theros
beschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. Er hatte seinen Glauben nicht verloren. Er glaubte nicht an diese »neuen« Götter. Er glaubte immer noch an Sargas, aber er betete nicht mehr zu ihm um Beistand. Und Theros fürchtete den Tag, an dem er Sargas wieder gegenübertreten mußte. Über die Hängebrücken kehrte er zu seiner Schmiede zurück. Als er sie von oben sehen konnte, stieg er die gewundene Treppe zum Boden hinunter. Er war gerade unten angekommen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Unterholz einiger abseits liegender Bäume sah. Seltsam. In Solace verbrachte man gewöhnlich nicht viel Zeit am Boden, wenn man es vermeiden konnte. Er blieb stehen und sah hin, weil er dachte, es wären vielleicht Kinder, die sich manchmal gerne in der Nähe der Schmiede aufhielten. Theros hatte nicht gern Kinder um sich. Die Schmiede war ein gefährlicher Ort, und er hatte immer Angst, eines könnte sich verbrennen. Er spähte aufmerksam zu den Bäumen hin, sah aber nichts. Als er die Schmiede betrat, stellte er fest, daß er Kundschaft hatte. Ein Hobgoblin stapfte ungeduldig auf und ab und wartete auf seine Rückkehr. Es war wirklich lästig, daß Theros keinen Gehilfen hatte, der sich mit solchen Dingen herumschlug. Aber der Schmied kannte sich mittlerweile. Er wußte, daß er nicht die Geduld hatte, einen Gehilfen anzulernen. Er fühlte sich immer noch schuldig, weil er Yuri damals in Sanction und später in der Armee von Dargon Moorgoth so schlecht behandelt hatte. Theros verlor leicht die Beherrschung, wenn er versuchte, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten. Um einem Gehilfen zu vertrauen und seine Mitarbeit anzunehmen, mußte er Kontrol-
le abgeben, doch das konnte er nicht. Daß er keinen Gehilfen hatte, war der Preis dafür, daß er sein eigener Herr blieb. Es war ein Kompromiß, mit dem er leben konnte. »Eisenfeld!« fauchte der Hobgoblin. »Ich warte schon eine Stunde. Wo zum Teufel – « »Einen Moment bitte«, sagte Theros kurz angebunden. Er schob den aufgebrachten Hobgoblin zur Seite und ging nach hinten in den Lagerraum. Dort hatte er ein Fenster, das auf den Wald hinausführte – genau dorthin, wo er die Bewegung gesehen hatte. Vorsichtig stieß Theros den Laden auf und blickte hinaus. Er wartete. Nichts. Der Hobgoblin drängte Theros immer noch. »Ich will, daß mein Dolch geschärft wird. Diese Klinge ist stumpf! Mach schon!« »Du wartest so lange, wie ich dich warten lassen will. Sonst kannst du gern herkommen und mit mir ringen«, gab Theros zurück. Der Hobgoblin verfiel in wütendes Schweigen. Der Schmied mit seiner breiten Brust und den von der Arbeit ausgeformten Muskeln konnte einen schwabbeligen Hobgoblin leicht besiegen. Theros blickte noch immer aus dem Fenster. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung. Ein Elf stand aus der Hocke auf und glitt lautlos in den Wald zurück. Anscheinend hatte der Elf an der Schmiede Wache gehalten. »Elfen? In Solace?« murmelte Theros in sich hinein. Er hatte gedacht, sie wären alle nach Qualimori im Südlichen Ergod evakuiert worden. Sehr merkwürdig. Wirklich sehr merkwürdig. Er ging zu seinem Kunden zurück. »Jetzt zu diesem Dolch…«
Kapitel 14
Merkwürdige Dinge waren scheinbar das Thema der Woche. Zuerst der Auftrag für die eigenartigen Waffen, den Theros vom Obersten Theokraten bekommen hatte. Dann ein Elf bei Solace, ein Elf, der Theros’ Schmiede bewachte. Und das dritte merkwürdige Ereignis stand erst noch bevor. Vorläufig hatte Theros mit Hobgoblins alle Hände voll zu tun. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wer diese Kreaturen nach Solace gelassen hatte. Erst dieser Hobgoblin mit dem Dolch. Ein paar Striche über den Schleifstein hatten die Waffe geschärft. Theros hätte der Kreatur fast gesagt, sie könnte die Waffe doch selbst schärfen, als ihm einfiel, daß es wahrscheinlich der Versuch des Hobgoblins gewesen war, der die Waffe stumpf gemacht hatte. Danach kamen fünf Hobgoblins, die zwei große Blöcke Stahl schleppten. Theros deutete in die Ecke der Schmiede. Die Hobgoblins ächzten vor Anstrengung, bis sie den Stahl auf den vorgesehenen Platz legen konnten. Beinahe wäre er auf ihren Füßen gelandet, wenn ihr Anführer, ein Hobgoblin mit dem Namen Glor, sie nicht daran erinnert hätte, auf ihre Zehen achtzugeben. »Und woher habt ihr den Stahl?« fragte Theros. »Haufen Zwerge. Waren dagegen, aber der Oberste Theokrat hat uns befohlen, Stahl zu dir zu bringen. Er sagt, du brauchst ihn. Jetzt kannst du Arbeit fertigmachen. He, machst du mir jetzt neues Schwert?«
Der Hobgoblin hielt ein Schwert hoch. In seiner gewaltigen Hand sah es aus wie ein Dolch. Theros nahm die Waffe, ein schönes Stück, und prüfte sie. Sie war von Zwergen gefertigt worden. Er trug sie in den Lagerraum. Dort zog er ein Langschwert heraus, eine Auftragsarbeit, die nie abgeholt worden war. Das Schwert war gut, aber die Zwergenwaffe ein Meisterstück. Sie war bestimmt doppelt soviel wert wie das Langschwert. Theros kehrte mit dem Langschwert zurück. »Hier, Glor, nimm das im Tausch gegen das andere.« Staunend sah Glor das Schwert an. Er hatte noch nie etwas Derartiges besessen. Das meiste, was ihm gehörte, hatte er gestohlen, doch Theros vermutete, daß der Hobgoblin als Dieb wenig erfolgreich war. Glor nickte und bedankte sich stotternd. Dann scheuchte er seine vier Helfer hinaus und folgte ihnen ins Sonnenlicht. Theros kehrte an seine Arbeit zurück. Er fühlte sich schuldig, weil er den Stahl annahm, aber wenn er sich weigerte, würde Hederick seine Getreuen herschicken, um Theros davon zu »überzeugen«, daß dies der Wille der neuen Götter war. Theros wollte keinen Ärger. Aber sobald er diese Arbeit abgeschlossen hatte, würde er den Zwergen nachziehen und sie für ihren Verlust zumindest bezahlen. Er stellte einen großen Schmelztiegel auf die Esse und legte einen der neuen Stahlblöcke hinein, um den Stahl zu schmelzen. Anschließend goß er ihn in vorbereitete Formen für die Schwerter. Einige Stunden später waren die Klingen kalt und hart genug, um sie aus den Formen zu lösen. Mit dicken Lederhandschuhen führte Theros den Holzhammer, mit dem er den Stahl aus dem Holz löste. Er warf den Stahl in das
Wasserfaß, das bei der Esse stand. Dampf stieg auf, als die Flüssigkeit die Hitze aufnahm. Es stellte sich heraus, daß er den zweiten Block nicht brauchen würde. »Vielleicht kann ich ihn den Zwergen zurückgeben«, sagte er sich. Er ging in die Ecke und bückte sich, um den überflüssigen Stahlblock hochzuheben. Dabei warf er einen Blick aus dem Fenster und richtete sich wieder auf, denn er sah etwas Merkwürdiges. Zwei Barbaren, ein Mann und eine Frau – Menschen aus den Ebenen –, wanderten zwischen den Vallenholzbäumen auf dem Boden umher, begleitet von einem Ritter in voller Rüstung. Theros starrte sie an. Von den Menschen aus den Ebenen hatte er gehört, aber er hatte sie noch nie gesehen. Sie blieben für sich, denn sie mißtrauten Fremden, und er hatte noch nie gehört, daß sie ihr eigenes Land verlassen hätten. Der Barbarenmann war außerordentlich groß; er hätte einem Minotauren auf gleicher Höhe in die Augen blicken können. Die Frau war schwer zu erkennen, denn sie war in einen dicken Pelzmantel gehüllt. Aber Theros’ Blick ruhte nicht lange auf den Barbaren. Nach dem ersten Erstaunen war er – aus beruflicher Sicht – viel mehr an dem Ritter interessiert. Die Rüstung, die er trug, war von bester Machart, aber sehr altmodisch, was die Form und die Handwerkskunst betraf. Theros weinte fast vor Glück angesichts solch feiner Arbeit, und es juckte in seinen Händen, das prächtige Schwert zu halten, das der Ritter stolz an seiner Seite trug. Die Rüstung kennzeichnete den Mann als Ritter von Solamnia, aber er trug keinen Mantel, der seinen Orden verraten hätte. Plötzlich fühlte sich Theros um Jahre zurückversetzt in
die Nacht, in der er Sir Richards Stahlpanzer kennengelernt hatte, dieselbe Nacht, in der jener ehrenhafte Mann unter den Händen der Soldaten von Dargon Moorgoth zu Tode gemartert worden war. Seither hatte Theros keinen Ritter von Solamnia mehr getroffen. In Solace waren die Ritter nicht willkommen. Der Oberste Theokrat behauptete, die Ritter hätten zur Umwälzung beigetragen und wären persönlich verantwortlich für die Zerstörung des alten, heiligen Reiches von Istar. Und so war dieser junge Mann ein Mysterium. Er trug eine Rüstung, die noch aus der Zeit vor der Umwälzung stammen mochte, soweit Theros das beurteilen konnte. Auch der Schwertgriff deutete auf eine alte Waffe hin. Aber der Mann trug kein Abzeichen eines Lehensherrn, obwohl er ersichtlich ein Solamnier war, was Theros an dem langen Schnurrbart erkannte. Die Ritter von Solamnia waren auf ihre Schnurbärte so stolz wie ein Minotaurus auf seine Hörner. Der lange Bart dieses jungen Mannes floß über einen ernsten, strengen Mund, der in seinem ganzen Leben wohl nur selten gelächelt hatte. Was machte ein Ritter in Solace? Und warum kam er in Begleitung von zwei Barbaren? Und war er womöglich daran interessiert, sein Schwert und die Rüstung zu verkaufen? Theros entschied, daß er beide Teile kaufen würde, und wenn es ihn seine letzte Stahlmünze kosten würde. Er überlegte, ob er den Ritter durch das Fenster anrufen sollte, fürchtete aber, dadurch unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich und den Ritter zu lenken. Sie sollten sich lieber an einem geschützteren Ort unterhalten.
Er beschloß, ihnen zu folgen. Deshalb schloß er sein Geschäft ab, ging auf die Straße hinaus und folgte den beiden die Treppe hinauf. Anscheinend kannte der Ritter sich in Solace gut aus. Er zögerte nicht und fragte niemanden nach dem Weg, denn er wußte genau, wohin er wollte. Die drei liefen über die Hängebrücken nach Norden, dann nach Osten und bogen schließlich an einer Stelle ab, die Theros gut kannte. Sie führte zum Gasthaus »Zur Letzten Bleibe«, wo Theros oft aß und trank. Der Wirt, Otik, machte die besten Würzkartoffeln, die Theros je gegessen hatte, und das Bier – das er zum erstenmal in Quivernost gekostet hatte – war das beste von Ansalon. Außerdem gab es dort einen Rotschopf namens Tika, die genauso hübsch war wie Marissa. Der Ritter und die zwei Barbaren betraten das Gasthaus. Theros zögerte. Das war nicht gerade der Ort, den er sich für ein Gespräch unter vier Augen vorgestellt hatte, aber vielleicht war er sogar noch besser. Theros betrat die Gaststube. Auf dem Weg nach hinten ließ ihn ein Aufschrei abrupt stehenbleiben. »Mein Hut! Du bist auf meinen Hut getreten!« Theros drehte sich um. Ein alter Mann in abgetragener, mausgrauer Robe bebte vor Zorn am ganzen Körper und zeigte mit zitterndem Finger auf Theros’ Füße. Theros blickte nach unten und stellte fest, daß er auf einem grauen Hut stand, der so aussah, als hätte schon viele Male jemand darauf gestanden, herumgetrampelt und ihn sonstwie mißhandelt. Er bückte sich, hob den Hut auf und versuchte, ihn wieder einigermaßen auszuheulen. Als sich dies als unmöglich erwies, legte er den Hut auf den Tisch.
»Entschuldigt mich. Ich habe Euren Hut nicht gesehen.« »Mein Hut!« Der alte Mann drückte die Kopfbedeckung an seine Brust. Dann zwinkerte er Theros zu. »Du wirst heute abend sehr interessante Dinge mitansehen. Viel interessanter als mein Hut!« Ein Spinner, dachte Theros, um dann auf seinen Stammplatz zuzuhalten. Er war wenig überrascht. Den ganzen Tag über hatte er solche Narren erlebt. Er setzte sich an seinen Platz, schüttelte aber den Kopf, als Tika zu ihm herübersah. Er konnte nicht lange bleiben. Er mußte sich wieder um diese Schwerter für den Theokraten kümmern. Deshalb beobachtete er den Ritter in der Hoffnung, ihn allein sprechen zu können. Der Ritter hatte sich von den Barbaren getrennt, die abseits von den anderen Gästen saßen. Mehrere andere Fremde, darunter ein Kender, hießen den Ritter wärmstens willkommen. Erschrocken sah Theros nach seiner Börse. »Gut, noch da«, sagte er zu sich. Aufmerksam nahm Theros wahr, daß der große Krieger, der eine neue Klinge für sein Schwert bei ihm bestellt hatte, ebenso zu dieser Gruppe gehörte wie der Magier in der roten Robe. Ein Zwerg schlürfte sein Bier und zankte mit dem Kender. Neben dem Zwerg saß ein Halbelf, der sein elfisches Erbe offenbar durch einen Bart zu verstecken suchte. Theros hatte lange genug unter Elfen gelebt, um ihre Merkmale zu erkennen. Sie lachten und unterhielten sich lebhaft. Ausgenommen war nur der Magier in der roten Robe, den alle anderen der Gruppe zu meiden schienen. Dennoch gehörte auch er zu diesem Kreis der Freundschaft, der diese Männer wie heller Feuerschein umgab.
Als Theros ihnen so zusah, kam er sich plötzlich sehr allein vor. In seinem ganzen Leben hatte er nie solche Freunde gehabt. Freunde, die bereitwillig füreinander ihr Leben geben würden. Er wollte diese Männer so gern näher kennenlernen, fühlte jedoch, daß sein Dazutreten als Eindringen empfunden worden wäre. Es war Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Er hatte heute abend noch viel zu tun, um diese Waffen fertigzustellen. Theros stand auf und ging zur Tür. Als er an der Gruppe vorbeikam, versuchte er, etwas von ihren Worten mitzubekommen. Er war nicht der einzige, der lauschte. Der alte Mann in der mausfarbenen Robe schien ein ähnliches Interesse an der Gruppe zu haben, denn er lehnte sich zum Horchen so weit von seinem Stuhl, daß es ein Wunder war, daß er nicht hinunterfiel. Sein Hut lag schon wieder auf dem Boden. Jetzt redete der Halbelf. »… schön, dich wiederzusehen, alter Freund. Hast du etwas über das Erbe deines Vaters herausgefunden?« Die Antwort des Ritters hörte Theros nicht, obwohl er nun eine Vorstellung hatte, was Schwert und Rüstung bedeuteten. Deshalb bezweifelte er, daß der Ritter sie verkaufen wollte. Theros blieb stehen und hob dem alten Mann den Hut auf. »Hier, Väterchen. Sonst tritt womöglich wieder jemand darauf.« »Wie? Oh, danke, mein Sohn. Sag mal, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?« »Welchen denn, Väterchen?« fragte Theros in der Annahme, daß der Alte ihn überreden wollte, ihm einen Krug Bier zu kaufen.
»Schau doch mal kurz bei Hederick vorbei, ja? Sag ihm, er soll heute abend mal herkommen und sich ansehen, wer hier im Gasthaus ist.« Der Alte nickte zu der Freundesgruppe hinüber. »Warum sollte ich?« fragte Theros erstaunt und mißbilligend. »Ich bin kein Klatschmaul.« »Warum in Sargas’ Namen solltest du?« wiederholte der Alte in gutmütigem Ton und stieß Theros mit ausgestrecktem Finger weiter. »Weil dir, wenn du es tust, vielleicht dein Wunsch erfüllt wird. Kümmere dich einfach darum, ja? Sei ein braver Junge.« Theros stieß grunzend die Tür auf und ging. Er lief über die Hängebrücke in Richtung seiner Schmiede. Doch dann hörte er wieder die Stimme des alten Mannes. Warum in Sargas’ Namen solltest du? Sargas! War das ein Bote von Sargas? Unmöglich! Der Minotaurengott würde bestimmt keinen schwachsinnigen, alten Menschen für seine Zwecke benutzen. Aber warum hatte der alte Mann dann Sargas erwähnt? Wie konnte er von einem Minotaurengott wissen? Und welchen Wunsch hatte er gemeint? Es war alles sehr verwirrend. Theros merkte, daß er an einer Kreuzung zum Haus des Obersten Theokraten abbog. Er klopfte an die Tür. Diesmal ließ der Diener ihn gleich ein. Die Wache sprang auf, doch der Oberste Theokrat winkte ihr zu, sich wieder hinzusetzen. »Immer mit der Ruhe, Feldwebel. Das ist Theros Eisenfeld, unser Schmied, ein bekannter Waffenhersteller in Solace. Wie komme ich zu einem zweiten Besuch an diesem Tag? Hast du die Schwerter fertig?«
»Sie werden bis morgen abend fertig sein.« Theros versuchte sich zu konzentrieren, doch seine Gedanken kamen ihm so formlos vor wie der Hut des alten Mannes. Er machte den Mund auf, brachte es dann aber nicht über sich, etwas über den Ritter und dessen Freunde zu sagen. Sie würden dadurch vielleicht Schwierigkeiten bekommen, und das wäre ganz gegen seine Ehre. »Das ist… alles, was ich wollte.« Theros wollte sich murmelnd verabschieden, als eine Wache hereinstürmte und den Schmied fast umrannte. »Theokrat, im Gasthaus ›Zur Letzten Bleibe‹ ist eine merkwürdige Gruppe Reisender! Einer von ihnen ist ein Ritter von Solamnia!« Theros blieb stehen, um die Antwort zu hören. Der Theokrat wäre fast rückwärts vom Stuhl gefallen. »Was hast du gesagt? Ein Ritter von Solamnia hier in Solace? Sie haben den Zorn der Götter verursacht, und jetzt werden sie von allen zivilisierten Menschen in ganz Ansalon verachtet. Das kann ich nicht dulden! Außerdem hat Lord Verminaard auf das Auffinden jedes Ritters von Solamnia eine Belohnung ausgesetzt.« Der Oberste Theokrat ging zur Tür. Die Wache wollte ihn begleiten. »Nein«, sagte Hederick. »Wir können sie da drin nicht angreifen. Vielleicht sind sie bewaffnet. Ich will keinen Aufruhr. Ich beobachte sie und belausche ihr Gespräch. Wenn sie ordentlich betrunken sind, kommst du rein und verhaftest sie.« Der Oberste Theokrat hastete über die Brücke zum Gasthaus »Zur Letzten Bleibe«. Theros ließ sich mit dem Rückweg zur Schmiede Zeit, denn er dachte über die vielen selt-
samen Erlebnisse an diesem Tag nach. Schließlich arbeitete er an den geheimnisvollen Schwertern weiter. Der Rohstahl war jetzt grob geformt, aber es dauerte lange, die Klingen wieder zu erhitzen und scharfe Schneiden herauszuhämmern. Er hob die erste Klinge hoch und warf sie auf den Rost, der über der Hälfte der Esse lag. Danach betätigte er den ledernen Blasebalg am Ende der Esse, um die Kohlen heißer zu machen. Bald war die Klinge heiß genug, um sie zu bearbeiten. Theros holte sie aus dem Feuer und hämmerte sie auf dem Amboß zurecht. Er hatte die Schmiede geschlossen, damit er ungestört arbeiten konnte. Nach Sonnenuntergang war es ruhig in der Stadt. Die meisten Bewohner waren nach Hause gegangen oder bei Otik eingekehrt, um Bier zu trinken und zu essen. Noch aus dieser Entfernung zum Gasthaus hörte Theros das fröhliche Lärmen, wenn er sein Hämmern unterbrach. Er arbeitete noch eine Stunde weiter, in der er die Klinge schärfte und härtete. Dann ließ er das Feuer herunterbrennen und beschloß, Feierabend zu machen. Nachdem er die Fensterläden geschlossen hatte, verschloß er beim Hinausgehen auch die Tür. Plötzlich kam ein furchtbarer Schrei aus der Richtung des Gasthauses. Theros blieb fast das Herz stehen. Solche Schreie hatte er schon einmal gehört. Die Ritter hatten sie ausgestoßen, als sie von Uwel Lors gefoltert worden waren. Theros rannte zur »Letzten Bleibe«, um nachzusehen, was dort los war. Er war unten auf der Erde und brauchte ein paar Minuten bis zur Treppe zum Gasthaus. Über ihm herrschte helle
Aufregung. Die Leute schrien und schimpften. Eine kreischende Stimme – sie klang nach dem alten Mann in der mausgrauen Robe – zeterte nach der Wache. Theros sah sich um. Ein erschrockener Hobgoblin drehte sich um und rannte nach einem Griff zum Schwert in Richtung des Gasthauses. Oben strömten die Gäste heraus und eilten über die Hängebrücken davon. Theros wich aus, als einige Leute in ihrer Hast die Treppe herunterstolperten. Mit der Stadtwache wollten sie nichts zu tun haben. »Was ist passiert?« erkundigte sich Theros. »Der Oberste Theokrat!« keuchte eine Frau. »Sie greifen den Obersten Theokraten an!« Als Theros nach oben blickte, sah er Hederick aus der Tür taumeln. Der Theokrat umklammerte seine verwundete Hand und stammelte etwas über Gotteslästerer und Hexen. Er stolperte über die Brücke zu seinem Haus. An die zwanzig Hobgoblins strömten aus der Wachhütte, um zum Gasthaus zu rennen. Die Wachen der Sucher schlossen sich ihnen an. Alle hatten ihre Waffen gezückt. Theros ging auf die andere Seite des riesigen Vallenholzbaumes, damit die Soldaten genug Bewegungsfreiheit hatten. Er wollte ganz bestimmt nicht aus Versehen von einem kampflustigen Hobgoblin aufgespießt werden. Deshalb ging er nach hinten, unter die Küche. Und dort sah er die Fremden. Die Stadtwache drängte von vorn ins Gasthaus, und die Freundesgruppe, die er vorhin gesehen hatte, flüchtete durch die Küche. Theros, der im Schatten stand, sah ihnen zu. Die Kellnerin, Tika, zeigte ihnen, wie sie sich an dem Seil herunterlassen sollten, mit dem normalerweise die gewal-
tigen Bierfässer hochgezogen wurden. Die Freunde waren alle vereint und wurden von den beiden Barbaren begleitet. Sie nahmen alle denselben Weg – mit Ausnahme des Magiers, der leicht wie eine Feder herunterschwebte. Theros erschauerte und schüttelte den Kopf. »Zauberer«, murmelte er angewidert. Der Ritter und der Halbelf kamen zuletzt herunter. Dem Ritter schien nicht zu gefallen, daß sie vor einem Kampf davonrannten, anstatt ihn auszutragen. Der Halbelf versuchte ihm zu erklären, daß sie in der Unterzahl waren und eine Dame zu beschützen hatten. Wirklich merkwürdig, dachte Theros, während er ihnen von unten zusah. Das mußten diejenigen sein, die Hederick angegriffen hatten. Theros überlegte, ob er die Wachen rufen sollte, damit sie die Freunde festnahmen. Die Wachen waren ganz nah. Ein Ruf, und sie würden hier sein. Aber Theros schwieg. Er sah den Freunden nach, die in die Nacht verschwanden, und wünschte ihnen insgeheim alles Gute. Schließlich war auch er einmal davongelaufen, und niemand hatte ihn verraten. Nachdenklich verharrte er im Schatten. Das war wirklich ein merkwürdiger Tag gewesen.
Kapitel 15
Theros wartete lange im Schatten unter der Küche. Die Fremden waren längst fort, aber er dachte immer noch über sie nach und fragte sich, wieso es ihm so vorkam, als hätten sie seine Seele berührt. Ihm fiel keine gute Antwort darauf ein, und schließlich schüttelte er seine Besorgnis ab. Das war doch alles Unsinn. Er würde in seine Schmiede zurückgehen. Da die Hobgoblins und die Menschenwachen überall herumrannten, in die Büsche sprangen, die Treppen hoch und wieder herunter liefen, war der Gruppe wohl die Flucht gelungen. Als Theros wieder in seiner Schmiede war und sich vergewisserte, daß alles gut für die Nacht vorbereitet war, kam der Hobgoblin Glor angelaufen und steckte seinen häßlichen Kopf herein. »Meister Eisenfeld. Du fremde Leute gesehen? Sich verstecken in deinem Geschäft?« Theros unterdrückte ein Lächeln. »Nein, Glor, in meinem Geschäft versteckt sich niemand. Komm doch herein und sieh dich um, wenn du willst.« »Oh, danke, Meister Eisenfeld. Das muß ich. Ist Befehl.« Der Hobgoblin sah sich in der Schmiede um, wobei er um dunkle Ecken, Falltüren und große Fässer einen betonten Bogen schlug – um jeden Platz, wo sich wirklich jemand verbergen konnte. Der Hobgoblin war nicht auf einen Kampf versessen, schon gar nicht gegen einen Ritter von Solamnia, der in Glors Augen so groß war wie ein Minotaurus und ein Schwert vom Ausmaß eines Vallenholz-
baumes führte. Theros wollte ebenfalls keinen Kampf, weder mit dem Ritter noch mit sonst jemandem. Die Tage des Kämpfens waren für ihn vorüber. Er war älter und weiser geworden, das jedenfalls sagte er sich. Es war nicht nötig, nach Ruhm zu streben, wenn er mit Waffen und Rüstungen auf ehrliche Weise reichlich Geld verdienen konnte. Weit und breit war bekannt, daß jemand für ein besonderes Stück, ob Waffe oder Rüstung, nur zu Theros Eisenfeld gehen mußte. Der behandelte Anfragen vertraulich, produzierte pünktlich und auftragsgemäß. Seit oben im Norden fremde Armeen standen und von Krieg gemunkelt oder offen gesprochen wurde, wurden Waffen in solchen Mengen bestellt wie nie zuvor. Zum Nachteil der Bürger, aber zu seinem eigenen Vorteil würde der Schmied jedenfalls lange Zeit reichlich Arbeit haben. Er deckte die Grube ab, damit die Kohlen langsam abkühlten. Rauchkringel drangen aus dem Schornstein, als er zu dem großen Vallenholzstamm hinter dem Geschäft ging, in dem er wohnte. Er lebte unten im Stamm, der komplett ausgehöhlt war und daher Platz für einen Wohnbereich und eine kleine Küche bot. Theros konnte es sich nicht erklären, aber im Gegensatz zu allen anderen in Solace hätte er in den Baumwipfeln niemals sicher schlafen können. Theros lebte allein. In manchen Nächten dachte er an Marissa, die Frau, der er vor vielen Jahren in Sanction begegnet war. Er hatte nie eine Frau gefunden, die ihr glich, wobei er sich allerdings auch keine große Mühe gegeben hatte. Anscheinend war er nicht dazu bestimmt, eine passende Gefährtin zu finden. »Wenn ich einmal reich bin«, sagte er sich, »kann ich alle
möglichen Frauen haben. Sie werden sich darum reißen, daß ich ihnen den Hof mache. Ach, wem erzähl ich das? Eine Frau würde mir nur bei meiner Arbeit im Weg sein. Nur eine sehr geduldige Frau würde den Dreck, den Gestank, den Ruß und die rauhen, schwieligen Hände eines Waffenschmieds aushalten.« Er betrat sein Haus. Es war dunkel darin, deshalb ließ er die Tür auf, um das schwindende Licht einzulassen, während er nach einer Kerze tastete. Ein Geräusch von draußen erregte seine Aufmerksamkeit. Als er sich umdrehte, glitt eine Gruppe Leute hinter ihm durch die Dunkelheit. Die Leute sahen ihn nicht. Leise ging er an die Tür, um ihnen nachzusehen. Sie verließen die Stadt in Richtung Norden. Er erkannte sie unschwer wieder. Der Halbelf und der Ritter führten die Gruppe an. Keiner gab einen Laut von sich, ausgenommen ein gelegentliches, unterdrücktes Kichern, das nur von dem Kender stammen konnte, der auch augenblicklich vom mürrischen Schelten des Zwerges zum Schweigen gebracht wurde. Alles in allem war das die seltsamste Gruppe Flüchtlinge, die Theros je gesehen hatte.Früh am nächsten Morgen stattete Theros dem Obersten Theokraten nach einer unruhigen und nicht besonders erholsamen Nacht einen Besuch ab. Er schlug laut an die Tür, bekam jedoch keine Antwort. Er legte das Ohr an die Tür, um zu lauschen. Doch, er hörte drinnen Stimmen. Wieder schlug er an die Tür. Die Tür ging auf. Der Hauptmann der Wache, ein Krieger in schwarzer Lederrüstung, funkelte ihn an. »Was willst du?« »Ich habe die Schwerter bald fertig«, sagte Theros in ei-
nem Ton, der verdeutlichte, daß er sich ärgerte, weil man ihn hatte warten lassen. »Wo soll ich sie abliefern?« Das war nur eine Ausrede. In Wahrheit brannte Theros vor Neugier. Er wollte endlich erfahren, was letzte Nacht im Gasthaus geschehen war. Ein Blick über den Kopf der Wache, der ihm bei seiner Körpergröße leicht fiel, zeigte ihm den Obersten Theokraten, der inmitten von Kissen und Decken auf seinem Stuhl saß. Er war bleich wie ein Ghul und schonte einen Arm, der dick verbunden war. »Verzeihung, Hauptmann. Das wußte ich nicht. Geht es dem Obersten Theokraten gut?« fragte Theros. »Ist er verletzt?« Der Hauptmann nickte. »Er wurde gestern abend im Gasthaus ›Zur Letzten Bleibe‹ von einer Verbrecherbande angegriffen. Weißt du etwas über – « »Ist das Eisenfeld?« schrie der Oberste Theokrat von hinten. »Bring ihn rein, Hauptmann.« Theros trat ein und starrte unwillkürlich die verbundene Hand des Obersten Theokraten an. Die Fingerspitzen waren nicht ganz bedeckt; sie waren schwärzlich und geschwollen. »Was ist passiert, Eure Heiligkeit?« fragte Theros. »Dasch war diesche verdammte Barbarenfrau und diescher blaue Krischtallstab.« Anscheinend benutzte Hederick Zwergenschnaps als Schmerzmittel, denn seine Stimme war schleppend und sein Blick verschleiert. »Hauptmann, du weischt, dasch isch befohlen habe, jeden mit einem blauen Krischtallstab feschtzunehmen. Mit jedem Stab. Jedem. Wie ischt diesche Frau damit in die Stadt gekommen, Hauptmann?« Hederick schlug mit seiner unversehrten Hand auf den Tisch. »Antworte mir!«
Der Hauptmann sah sehr leidend aus, als hätte er diese Frage schon fünfzig Mal beantwortet und müßte sie voraussichtlich noch fünfzig weitere Male beantworten. »Als sie und ihr Begleiter und der Ritter vor Solace auf der Straße angehalten wurden, sah der Stab aus wie ein gewöhnlicher Wanderstab aus Holz, Oberster Theokrat. Wir haben auf jeden, den Ihr uns beschrieben habt, eine Belohnung ausgesetzt. Wenn sie sich zeigen, werden sie erst mir Rede und Antwort stehen, und dann Euch, Oberster Theokrat.« Hederick grunzte vor Mißfallen. Der Soldat senkte scheinbar unterwürfig den Kopf, rollte aber dabei mit den Augen, als er glaubte, der Oberste Theokrat könnte es nicht sehen. »Wasch weischt du davon, Eischenfeld?« wollte Hederick wissen. »Verzeihung, Eure Heiligkeit«, erwiderte Theros entschuldigend. »Ich weiß überhaupt nichts. Hat… hat der Stab Eure Hand so verletzt?« »Nein!« Hederick richtete sich voller Stolz auf. »Dasch war isch schelbscht.« Theros war fassungslos. Er wußte, wie eine schwere Verbrennung aussah – selbst wenn er nur ein Stückchen davon sehen konnte. Es sah aus, als hätte Hederick die Hand in die glühenden Kohlen der Esse gesteckt. »Ihr… habt das selbst getan, Eure Heiligkeit?« »Ja, aber schie isch schuld!« Hederick schäumte. »Diesche Heksche!« »Verstehe«, sagte Theros, obwohl er nichts verstand. »Also, dann, verschwinde!« grollte Hederick. »Wenn du einen von ihn schiehscht, dann schag mir Bescheid. Und schieh schu, dasch die Schwerter fertig werden.« Hederick
griff mit seiner gesunden Hand nach dem Zwergenschnaps. Der Hauptmann öffnete die Tür und schob Theros hinaus.Eine Woche verstrich, ehe der Oberste Theokrat Theros mitteilte, was er mit den Schwertern tun sollte. Als Theros so weit war, sprach er erneut im Quartier des Obersten Theokraten vor. Hederick schien es besser zu gehen, obwohl seine Hand noch immer verbunden war und er – wie Theros aus eigener Erfahrung wußte – die Narben seiner Handlung sein Leben lang behalten würde. Theros teilte ihm mit, daß die Schwerter zur Lieferung bereitlägen, erwähnte den abgesprochenen Preis und konnte seine Neugier dann doch nicht mehr unterdrücken. »Eure Heiligkeit, für wen sind diese Waffen bestimmt? Für Eure Wachen sind sie zu unhandlich.« »Das sind Staatsgeheimnisse«, verkündete Hederick, der sich umschaute, um sicherzugehen, daß niemand lauschte. »Ich sollte Euch das nicht verraten, aber…« Er war zu aufgeblasen, um etwas für sich behalten zu können. Deshalb winkte er Theros zu sich heran. »Du hast doch von Lord Verminaard und dessen Feldzug gegen die gottverfluchten Elfen gehört?« »Ja«, sagte Theros in gelassenem, unbewegtem Ton. »Ich habe auch gehört, daß er nach Solace vorrücken will, sobald er mit den Elfen fertig ist.« »Lord Verminaard ist mein persönlicher Freund«, erklärte Hederick. »Und er hat mehrfach zugesichert, daß er Solace auf jeden Fall in Frieden läßt, unter meiner erfahrenen Führung.« Natürlich hoffte Theros, daß dies stimmte. »Sind die
Schwerter für die Streitkräfte im Norden oder für Verminaards Truppen? Ich frage, weil die Waffen so – « Der Oberste Theokrat brachte ihn zum Schweigen. »Nun aber still, Meister Eisenfeld. Wie ich schon sagte, das sind Staatsgeheimnisse. Diese Waffen werden für den Krieg gebraucht. Es braucht dich nicht zu kümmern, für wen sie sind. Das ist geheim! Alles, was du wissen mußt, ist, daß du für deine Zeit und Mühe bezahlt worden bist, und zwar gut.« Um seine Worte zu unterstreichen, händigte der Oberste Theokrat Theros eine schwere Filztasche aus. »Die kleine Zulage ist für deine gute Arbeit, Meister Eisenfeld.« Theros nahm das Geld, widerstand aber der Versuchung, in die Tasche zu sehen. Er ging davon aus, daß sie guten Stahl enthielt, nicht wertloses Kupfer oder das, was gemeinhin als Kendergeld bekannt war. »Danke, Oberster Theokrat. Ich bin Euch für Eure Empfehlung sehr dankbar. Würdet Ihr mir nun bitte verraten, wohin ich diese Waffen liefern soll?« Theros hoffte, einen Blick auf den Käufer zu erhaschen. Der Oberste Theokrat lächelte säuerlich. »Glor wird sie abholen. Leg sie bis zum Mittag bereit, Meister Eisenfeld.« Er winkte. Theros war entlassen. Nachdem Theros in sein Geschäft zurückgekehrt war, begann er, die Waffen für den Transport in Kisten zu legen. Also waren diese Waffen für Verminaard bestimmt. Theros dachte an Gilthanas und Vermala und die anderen Elfen. Vielleicht würde eines dieser Schwerter dazu benutzt werden, seine Freunde zu töten. Im Prinzip brachte Theros dann denen den Tod, für deren Rettung er so hart gearbei-
tet hatte. Pah! Das war lächerlich. Theros hatte einen Auftrag ausgeführt, weiter nichts. Er mußte seinen Lebensunterhalt verdienen. Nicht einmal Gilthanas konnte Theros dafür die Schuld geben. Aber es würde leicht sein, diesem schwachsinnigen Glor zu folgen, wenn er die Stadt verließ, dachte Theros. Als ihm klar wurde, was er da vorhatte, schnaubte er. Er versuchte die Aufregungen der Jugend zurückzugewinnen! Eigentlich war es völlig überflüssig, daß er über die neuen Besitzer der gerade von ihm angefertigten Waffen mehr erfuhr, als daß sie dem Obersten Theokraten viel Geld dafür bezahlten und daß er selbst einen guten Lohn erhalten hatte. »Blöd, verdammt blöd«, dachte er. »Du kriegst noch eine Keule über den Kopf, wenn du nicht aufpaßt, Theros Eisenfeld.« Er nahm sich fest vor, in der Schmiede zu bleiben.Glor kam pünktlich mit dem Wagen. Er und Theros luden die drei Schwertkisten auf die Ladefläche des flachen Karrens. Glor band die Kisten mit Seilen fest, damit sie während der Fahrt über die holprige Straße an Ort und Stelle blieben. Dann stieg der Hobgoblin auf den Wagen. Er war gut gelaunt, weil er froh war, daß die Unruhestifter spurlos verschwunden waren. Theros wartete, bis Glor Pferd und Wagen gute hundert Schritt die Straße hinuntergetrieben hatte, dann folgte er ihm zu Fuß, wobei er sich an der Straßenseite im Schatten der Bäume hielt. Aber Theros hätte sich gar nicht verbergen müssen. Glor sah sich kein einziges Mal um. So folgte Theros dem lang-
sam rollenden Wagen die Straße entlang und aus der Stadt hinaus, wo die Felder der Bauern sich weithin ausbreiteten. Zweimal verlor Theros den Wagen aus den Augen, weil die sanft gewellte Landschaft ihm den Blick versperrte. Als er auf dem zweiten Hügel ankam, sah er, daß der Wagen unten an der Seite der Straße angehalten hatte. Theros war so nahe, daß selbst ein Trottel wie Glor ihn nicht übersehen konnte. Hastig duckte er sich in die Büsche. Flach auf dem Bauch kroch er vorwärts, um Glors Abnehmer besser sehen zu können. Aber bis er nahe genug war, war der Wagen leer, und Glor war dabei, Pferd und Wagen zu wenden. »Verdammt!« murmelte Theros. Er hatte die Übergabe verpaßt. Derjenige, der die Waffen abgeholt hatte, mußte im Wald verschwunden sein. Nachdem der Wagen gewendet hatte, machte Glor noch einmal halt, trug die drei leeren Kisten zum Wagen und lud sie auf. Dennoch wußte Theros, daß sein Verdacht stimmte. Die Waffen aus den Kisten waren nicht für den Krieg im Norden bestimmt. In diesem Fall hätte man sie in der Verpackung gelassen und darin weitertransportiert. Nein, die Waffen waren gerade für dringendere Ziele in der Nähe seiner Heimat geliefert worden. Theros blieb im Gebüsch liegen, als Glor mit dem Wagen vorbeifuhr. Wieder folgte Theros dem Hobgoblin, diesmal zurück nach Solace. Als Theros die Stadt betrat, stieg er die Treppe zum nächsten Baum hoch und rannte über die Hängebrücken zu seiner Schmiede. Glor hatte den Wagen bereits vor dem Geschäft abgestellt. Er ging hinein. Kurz darauf kam der Hobgoblin wie-
der heraus, sah sich um und rief nach dem Schmied. Theros stieg vom nächsten Baum herunter. »Hier drüben, Glor! Hast du mich gesucht?« fragte Theros unschuldig. »Oh, ja, Meister Eisenfeld. Ich habe die Holzkisten von diesen Schwertern. Wohin stellen?« »Stell sie hinter die Schmiede, ja, Glor?« Er warf Glor ein Silberstück zu. Der Hobgoblin fing es auf und grinste von einem behaarten Ohr zum anderen. »Waren deine Abnehmer mit den Schwertern zufrieden?« erkundigte sich Theros, der immer noch etwas erfahren wollte. »Weiß ich nicht. Sagen sie Glor nicht. Denken, ich bin Sklave. Sagen ›mach dies‹ und ›mach das‹, und ich soll springen. Ich gehe jetzt. Essen und trinken.« Der Hobgoblin zog ab, und Theros kehrte in sein Geschäft zurück. Er wußte immer noch nicht viel mehr als zu Anfang. Obwohl er keuchte und schwitzte, hatte Glor wohl keinen Verdacht geschöpft. »Ich bin nicht mehr in Form«, murmelte Theros in sich hinein. »Nicht mehr abgehärtet wie in alten Zeiten auf dem Feld! Und ich habe den Fehler gemacht, diesem verdammten Hobgoblin einen zu großen Vorsprung zu lassen.« Dennoch ertappte er sich bei einem Lächeln und mußte zugeben, daß ihm sein heimlicher Ausflug eigentlich Spaß gemacht hatte. Er brauchte Willenskraft, um wieder zum Alltagsgeschäft überzugehen.Bei Sonnenuntergang ging Theros ins Gasthaus »Zur Letzten Bleibe« und bestellte das Übliche – Würzkartoffeln und Salzfleisch. Der Schweinebraten war gut und das Bier ausgezeichnet wie immer.
Auch das Gerede im Gasthaus war dasselbe wie immer – Gerüchte vom Krieg im Norden. Manche berichteten von bösen Wesen, wie man sie auf Krynn noch nie zuvor gesehen hatte. Angeblich fielen sie über ahnungslose Dorfbewohner her. Andere behaupteten, ihre Freunde hätten Verwandte, die andere kannten, die gehört hätten, daß Drachen die Nordburg angriffen. Theros grinste in sich hinein. Er war mit den Armeen von Dargon Moorgoth und mit Clan Brekthrek in jener Gegend gewesen. Nie hatte er einen Drachen oder andere seltsame Wesen gesehen. Schweigend aß und trank er, während er dem Gerede zuhörte, das Gäste mit mehr Verstand als »Kendergeschichten« abtaten. Später am Abend zahlte Theros seine Rechnung und kehrte in die Schmiede zurück, um einen letzten Blick darauf zu werfen, bevor er schlafen ging. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, ging er hinein, ohne erst eine Lampe anzuzünden. Das Glimmen der Kohlen in der Feuergrube, die Lichter vom Marktplatz und das reflektierte Mondlicht reichten ihm zum Sehen aus. Alles sah gut aus. Er wollte schon gehen, als ihm auffiel, daß er die hinteren Läden nicht geschlossen hatte. Er zog sie zu, und dabei glaubte er, in den Büschen ein Rascheln zu vernehmen, dort, wo er vor einer Woche einen Elfen gesehen – oder zu sehen geglaubt – hatte. Ob Elf oder Schläger, ob Kender oder Hobgoblin – Theros paßte es nicht, daß jemand um seine Schmiede und seinen Vorrat an Schwertern, Dolchen und sauber gefertigten Scheiden herumschlich. Er verriegelte die Läden und kehrte in den Hauptraum der Schmiede zurück. Nachdem er seinen alten Lederharnisch gefunden hatte, schnallte er ihn
um. Dann ging Theros zur Ausstellungswand zurück, löste die schwere Streitaxt aus der Mitte der Wand und schob sie in die Rückenhalterung. Bei Sargas, er würde herausfinden, was hier vorging!
Kapitel 16
Leise schlich Theros in die Nacht hinaus. Er schlug seinen Bogen um die jetzt dunkle Schmiede und lief an seinem Haus in dem Vallenholzbaum vorbei. Geduckt glitt er ins Gebüsch, wo er anhielt, um zu lauschen. Nichts. Theros drang tiefer in den Wald ein. Er ging sehr langsam, setzte erst die Zehen auf und rollte langsam auf die Ferse ab, so daß er kaum ein Geräusch verursachte. Sein Ziel war der Stamm eines gewaltigen Vallenholzbaums, der sich schwarz von der Nacht abhob. Er schlich zum Baum und blieb dort stehen. Mit dem Rücken zum Baum lauschte er. Zuerst hörte er nichts, doch nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß er sehr schwach helle Stimmen vernahm. Elfen. Das mußten Elfen sein. Er versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der er sie hörte. Anschließend ging er weiter, so leise wie zuvor. Vor ihm ballten sich mehrere Büsche zu einem dichten Schatten in der Finsternis zusammen. Theros ließ sich auf Hände und Knie hinunter und begann, langsam durch die dichten Äste und Zweige zu kriechen. Alle paar Fuß hielt er an, um zu lauschen, denn er fürchtete, daß das kleinste Geräusch von ihm den Gegenstand seiner Neugier verjagen würde. Anscheinend hatten sie nichts gehört, denn sie sprachen weiter. Theros hatte in seiner Zeit bei den Elfen Qualinesti gelernt, aber da er es nie gebraucht hatte, hatte er vieles vergessen. Er versuchte, die Worte zu verstehen.
Es war wirklich Qualinesti. Hier und da erkannte Theros typische Worte. Seine Zeit bei den Elfen hatte ihn gelehrt, mehr auf die Endungen zu achten als auf den Wortgebrauch. Wieder schlüpfte er vor, weil er näher herankommen wollte, um besser hören zu können, als ein Zweig Theros mitten ins Gesicht schlug und ihm fast das Auge ausstieß. Er hielt die Luft an und biß die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz zu fluchen. Nachdem er sein tränendes Auge gerieben hatte, schlich er wieder weiter. Er fand sich auf einer kleinen, von Blattwerk umgebenen Lichtung wieder. Die Büsche bildeten einen Kreis um einen einst stolzen Vallenholzbaum, der vor vielen Jahren umgestürzt war. Die Äste hatte man abgenommen und für alles mögliche verwendet, von Möbeln bis hin zu Trittstufen. Nur der verrottete Stamm lag noch auf dem Waldboden. Theros starrte nach vorn. Die Monde warfen genug Licht durch das hohe Blätterdach, um lange Schatten entstehen zu lassen. Genaue Umrisse konnte Theros nicht erkennen, und die Geräusche hatten aufgehört. Er griff nach seiner Axt, legte sie über den Schoß und verhielt sich still. Schließlich entdeckte er sie. Erst sah er einen Elfen, der mit verschränkten Beinen und einem Bogen über den Schenkeln dasaß. Er schaute sich um, als würde er nach etwas suchen. Dann tauchten drei weitere Elfen auf, scheinbar aus der Dunkelheit heraus. Die Elfen nahmen ihr Gespräch wieder auf. Eine der Stimmen kam ihm bekannt vor. Er bemühte sich, die Worte zu verstehen, als sich dicht hinter ihm etwas bewegte. Anscheinend belauschte noch jemand die Elfen. Theros glitt von einem kleinen Baum hinter den nächsten
und wartete. Der zweite Beobachter weckte seine Neugier genauso wie die Elfen selbst. Aus den Büschen kroch eine große, menschenähnliche Gestalt, deutlich beleuchtet von Lunitaris Licht. Theros schreckte vor dem schauerlichen Anblick zurück. So etwas Häßliches hatte er noch nie gesehen. Das Wesen hatte die Größe eines Minotaurus, aber den Kopf einer Echse. Es trug eine Lederrüstung und in der Hand ein großes Schwert. Nicht einfach irgendein Schwert. Es trug eines der Schwerter, die Theros an diesem Tag erst abgeliefert hatte. Theros erschauerte vor Schreck. Er hatte Waffen für Monster gemacht! Das Ungeheuer stank geradezu nach dem Abgrund. Die Elfen hörten den Echsenmann nicht durchs Unterholz schleichen, und sie sahen ihn auch nicht. Leise schob sich Theros auf die Knie und kam dann langsam und vorsichtig zum Stehen. Er machte zwei Schritte nach vorn und hob dabei seine Streitaxt über den Kopf. Jetzt gab er sich keine Mühe mehr, leise zu bleiben. Das Monster hörte ihn und drehte sich um. Theros schlug dem Echsenmann fest die Axt in den Rücken. Vor Schmerz und Wut kreischte das Monster auf. Die Elfen sprangen auf, ließen die Bögen fallen und zogen Schwerter und Dolche. »Wer da?« rief ein Elf in der Umgangssprache. Theros’ Axt hatte das Monster mit einem Schlag erledigt. Der Axtkopf steckte noch im Rücken des Echsenmannes. Theros richtete sich auf und zog an der Axt, um sie zu lösen. Zu seiner Überraschung steckte die Klinge fest. Weil er befürchtete, daß noch mehr dieser Wesen hier sein könnten, zerrte er erschrocken an der Waffe. Sie rührte
sich nicht. Schließlich trat er verärgert nach dem Körper des Monsters auf dem Waldboden. Sein Fuß trat auf harten Stein. Der Leichnam war zu Stein geworden! »Verdammt!« murmelte er. Als er aufsah, lag eine Elfenklinge an seiner Kehle, was Theros jedoch vorläufig gleichgültig war. Ungeduldig schob er das Schwert beiseite. Er wollte seine Streitaxt nicht verlieren. »Ich bin nicht euer Feind«, sagte er auf qualinesti, denn nun fluteten die Worte zu ihm zurück. »Theros?« sagte der Elf, der ihn im Mondlicht anstarrte. »Theros Eisenfeld?« »Gilthanas!« Theros freute sich, seinen Freund wiederzusehen, aber dies war nicht gerade der passende Zeitpunkt zum Feiern. »Was zum Teufel geht hier vor? Was ist das da?« Der Elf ließ sein Schwert sinken und betrachtete die reglose Gestalt. »Man nennt es Drakonier. Daß es hier aufgetaucht ist, kündigt großes Unheil an. Vorsicht!« Gilthanas war auf der Hut. Er sah sich wachsam um. »Wo einer ist, sind wahrscheinlich auch noch mehr.« »Wunderbar! Einfach wunderbar!« raunzte Theros, der sich verzweifelt darum bemühte, seine Waffe aus der Steinleiche zu lösen. »Drakonier? Davon habe ich noch nie etwas gehört, und ich bin ziemlich weit herumgekommen. Und was machen überhaupt Qualinesti in Solace?« »Achtung!« schrie einer der Elfen. Ein anderer riesiger Drakonier sprang aus dem Schatten, um den Elfen mit einem gewaltigen, gezackten Schwert niederzuschlagen, das ebenfalls von Theros stammte. Zwei weitere tauchten aus dem Dunkel auf, und einen fünften
hörte Theros durch die Büsche brechen. Er gab den Versuch auf, seine Axt zu lösen. Mit einem Griff langte er nach dem großen Schwert, das neben dem toten Drakonier lag. Ein zweiter Elf war tot. Theros würde sich selbst verteidigen. Rücken an Rücken mit ihm stand Gilthanas, der seine schlanke Elfenklinge zum Kampf erhoben hatte. Der vierte Elf tauchte in den Büschen unter, nachdem er einem wilden Drakonierhieb ausgewichen war. Der Drakonier, der seine Beute verloren hatte, blieb stehen und sah sich um. Seine Reptilienaugen glitzerten rot im Mondlicht. Der Echsenmensch war höchstens zehn Fuß rechts von Theros. Die anderen drei umkreisten ihn, um ihn und Gilthanas zu umzingeln. Theros machte einen Ausfall nach dem Drakonier rechts. Das Ungeheuer parierte seinen Schlag mit Leichtigkeit, doch der war nur eine Finte gewesen. Theros’ Armmuskeln schwollen an, als er sich bemühte, die gewaltige Klinge des Drakoniers abzuwenden – eine gute Klinge, wie Theros sehr genau wußte. Während Theros mit dem Drakonier rang, sah er aus dem Augenwinkel einen weiteren aus den Büschen springen. Theros brüllte eine Warnung, doch es war zu spät. Der Drakonier zog Gilthanas die flache Klinge über den Kopf. Der Elf brach zusammen wie ein nasser Sack. Ohne seinem Freund beistehen zu können, sah Theros hilflos zu, wie der Drakonier den ohnmächtigen Körper des Elfen schulterte und verschwand. Theros’ Schwert glitt von unten rechts an dem Drakonier hoch und erwischte das Monster an der Hüfte. Die Wunde grub sich tief in die schuppige Haut ein, war aber nicht töd-
lich. Theros versuchte zu erkennen, was hinter ihm vor sich ging, behielt seinen Gegner, der in einer fremden, kehligen Sprache auf seine Kameraden einschrie, aber dennoch genau im Auge. Zwei der Drakonier hinter Theros waren davongestürmt. Wahrscheinlich jagten sie den Elfen, dem die Flucht geglückt war. Damit blieben nur noch der verwundete Drakonier vor ihm und ein weiterer hinter ihm. Theros umrundete seinen Gegner, um die beiden Drakonier vor sich zu bekommen. Diese erkannten, was er vorhatte, und der Verwundete wich zurück, damit sie Theros zwischen sich behielten. Zu Theros’ Erstaunen sprach der Drakonier in verständlicher Gemeinsprache zu ihm. »Gib auf, Mensch, dann werden wir dich als Gefangenen der Königin der Finsternis gut behandeln.« »Zum Abgrund mit euch und eurer Königin«, fluchte Theros. Er schlug nach dem verwundeten Drakonier und zog gleichzeitig den Kopf ein. Richtig, der Drakonier hinter ihm hatte zugeschlagen. Die Klinge pfiff nur wenige Fingerbreit an Theros’ Ohren vorbei. Theros’ Angriff ging daneben, aber in seinem Versuch, ihm auszuweichen, stolperte der Drakonier und kippte nach hinten. Theros fuhr herum, um sich seinem anderen Gegner zu stellen. Der Drakonier wich der Attacke aus. Er schwang sein Schwert, ohne zu treffen. Theros konnte es ihm nachfühlen. Beide benutzten sie neue Schwerter, und keiner von ihnen hatte ein Gefühl für seine Waffe. Aber Theros war im Nachteil. Er war es nicht gewohnt, ein Schwert zu benutzen, und außerdem hatte er
schon lange nicht mehr gekämpft. Die lange Klinge paßte weder zu seinem Kampfstil noch zu seiner Größe. Der Drakonier setzte ihm weiter zu und drängte ihn in die Büsche zurück. Als Theros ein Rascheln hörte, erinnerte er sich an den anderen Drakonier, drehte sich aber zu spät um. Der Schlag kam von links. Theros duckte sich und warf sich ins Gebüsch. Die Klinge streifte seinen linken Arm, hinterließ aber keine ernste Verletzung. Er rollte auf die Seite, kam hoch und rannte davon. Noch nie war er vor einem Kampf davongelaufen. Innerlich sah er, wie Hran und Huluk – ganz zu schweigen von Sargas – ihn mißbilligend anstarrten. Theros scherte sich nicht darum. Hier ging es um gesunden Menschenverstand, nicht um minotaurische Ehrbegriffe. Theros stand allein gegen Gegner, die doppelt so groß waren wie er. Er hatte keine vernünftige Waffe und war verwundet. Er mußte fliehen, oder er würde sterben. Er hetzte durch die Bäume, wobei er einige Male stürzte, aber immer wieder eilig hochkam. Er hatte das Gefühl, daß die Drakonier sich in Solace nicht blicken lassen wollten. Sonst wären sie in die Stadt gekommen und nicht draußen im Wald herumgeschlichen. Theros hatte recht. Sobald die Lichter von Solace in Sicht kamen, hörte er, wie die Drakonier, die ihn verfolgten, anhielten. Theros kehrte in die Stadt zurück und rannte sofort die erste Treppe hoch, die er erreichte. Dann tastete er sich über die Hängebrücken bis zur Stadtmitte. Als er bei seinem Haus war, stieg er wieder auf den Boden hinunter. Immer wieder sah er sich um, aber die Drakonier waren ihm nicht gefolgt. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, trat er eilig ein. Trotz seiner zitternden Hände gelang es
ihm, eine Kerze anzuzünden und seine Wunde zu untersuchen. Die Blutung hatte aufgehört, aber es tat höllisch weh. Schwerfällig wusch er die Wunden aus und verband sie. »Drakonier!« murmelte er in sich hinein. »Wo kommen solche Monster her? Und die Elfen – Gilthanas. Was hatte Gilthanas in Solace zu suchen?« Theros kamen unzählige Fragen, auf die er keine Antwort wußte. Er fragte sich, ob er jemanden vor den Monstern warnen sollte, die im Wald lauerten, bis ihm klar wurde, daß jede Warnung sinnlos war. Der Oberste Theokrat hatte diesen Monstern Theros’ Schwerter verkauft. Er war mit ihnen im Bunde, genau wie seine Sucherwachen und die Hobgoblins. Plötzlich kam ein Windstoß durchs Fenster, der Theros’ Kerze löschte. Der Wind war so heiß und unnatürlich, daß sich ihm die Haare sträubten. Mit dem Wind kam die Finsternis, eine Finsternis, wie Theros sie noch nie zuvor erlebt hatte. Es war, als wären die Monde und die Sterne vom Himmel gefegt worden. Ein schreckliches Grollen begann im Norden vor der Stadt. Das Grollen erschütterte die Erde. Wenn das Donnern war, dann würde dies ein Sturm werden, wie ihn Theros noch nie erlebt hatte. Er ging ans Fenster. Ein ungeheurer Feuerball explodierte vor seinen Augen. Vor ihm ging ein riesiger Vallenholzbaum in Flammen auf. Er konnte hören, wie die Menschen in den Häusern oben in den Ästen vor Entsetzen aufschrien. Was in Sargas’ Namen ging hier vor? Er hörte eine weitere Explosion und noch eine. Theros lief nach draußen. Im nördlichen Teil der Stadt standen viele Gebäude in Flammen. In ihrer Panik sprangen die Menschen von den brennenden Hängebrücken. Er
konnte ihre Silhouetten vor den Flammen fallen sehen – manchmal in den Tod. Erst in diesem Augenblick spürte er die Angst. Nie gekanntes Entsetzen überkam ihn, bis ihm das Blut in den Adern gefror. Er begann zu zittern. Von oben ertönte ein brüllendes Geräusch. Obwohl er sich vor Angst kaum rühren konnte, hob er den Kopf und blickte nach oben. Riesige Ungeheuer kreisten am Nachthimmel und spien Feuer und Rauch aus ihren klaffenden Mäulern. Drachen! Schon in seiner Kindheit in dem Fischerdorf in Nordmaar hatte er Geschichten über sie gehört. Aber das hier waren keine Phantasiegestalten. Die Drachen waren hier, und sie waren Wirklichkeit. Jetzt brannte es überall. Durch die Flammen sah Theros eine Armee in die Stadt einmarschieren. Entsetzt starrte er sie an, denn er erkannte die Soldaten. Die Angreifer waren Drakonier. Zu Hunderten schwärmten sie aus, begleitet von Menschen in kastanienbraunen Uniformen. Drakonier, die mit den Truppen von Baron Dargon Moorgoth marschierten. Anscheinend hatte das Schicksal Theros doch noch eingeholt. Die Angst, die man Drachenangst nannte, machte Theros fast verrückt. Ohne einen klaren Gedanken, was er tat oder wohin er wollte, rannte er durch den Rauch und durch die Flammen. Es war wohl Instinkt, der ihn zur Schmiede zurückführte. Erleichtert stellte er fest, daß sie noch stand. Doch dann verstand er den Grund dafür. Eine Abteilung Drakonier und Hobgoblins hatte sie umstellt, um sie zu bewachen. Natürlich! Für die Armeen war die Schmiede das wertvollste Gebäude in Solace. Theros wollte sich zur Flucht wenden, aber es war zu
spät. Sie hatten ihn gesehen. »Das ist er!« kreischte Glor. »Das ist der Schmied!« Die Drakonier sprangen los, um ihn einzufangen. Theros war erschöpft, und seine Lungen brannten von dem Rauch, der die Luft durchtränkte. Er war leicht zu erwischen. Der Angriff auf Solace war so schnell vorüber, wie er begonnen hatte. Der größte Teil der Stadt stand in Flammen. Theros’ Schmiede war unversehrt, aber sein Haus, keine zwanzig Schritt weiter, loderte wie eine Fackel in der Nacht. Drakonierabteilungen begannen, von Tür zu Tür zu gehen, um Überlebende aufzuspüren und die Leute von den Straßen auf den Marktplatz zu treiben. Theros blieb als Gefangener der Drakonier in seiner Schmiede. An seiner Kehle lag eine Klinge, die er selbst gemacht hatte. Ein Menschenoffizier kam hereinmarschiert. Er trug eine schwarze Lederrüstung, die von einem schwarzen Helm und einem schwarzen Metallküraß mit Dracheninsignien geziert wurde. Dankbar stellte Theros fest, daß die Uniform nicht braun war. »Leg den Dolch weg«, befahl der Offizier dem Drakonier. Er sah Theros an. »Du bist der Schmied, Eisenfeld?« Theros nickte. »Der bin ich.« Der Offizier war erfreut. »Gut! Ich bin froh, daß du das Feuer überlebt hast. Du hast meinen Soldaten ausgezeichnete Schwerter geliefert. Truppenführer Toede, der neue Befehlshaber über den Militärdistrikt Solace, wünscht, daß du deine Arbeit fortsetzt. Deshalb hat man deine Schmiede von der Zerstörung ausgenommen. Arbeite mit uns zusammen, und man wird dich großzügig belohnen. Weigerst du dich, wirst du sterben. Irgendwelche Fragen?« Theros fielen keine Fragen ein. Nicht, solange fünf Dra-
konier in seiner Schmiede standen. »Ich werde Euch Waffen liefern, aber nur unter einer Bedingung. Vergeßt das Geld. Da draußen sind verwundete Menschen. Seit meiner Zeit in der Armee verstehe ich ein wenig vom Heilen. Laßt mich denen helfen, die es brauchen, danach diene ich Euch.« Der Menschenoffizier schnaubte. »Ein absurdes Geschäft, Mann. Du hättest dein Glück machen und so reich werden können, daß du diese ganze armselige Stadt aufkaufen könntest. Aber immerhin haben wir einiges davon. Lord Toede freut sich immer, wenn er Geld sparen kann. Ihr begleitet ihn«, befahl der Offizier den Drakoniern. »Sorgt dafür, daß er keinen Fluchtversuch unternimmt.« Theros lief in die Nacht, um den Opfern des Angriffes nach besten Kräften beizustehen.
Kapitel 17
Theros trat in eine Nacht hinaus, die er nie vergessen würde, eine Nacht voller Entsetzen und Schrecken, eine Nacht voll Schmerz und Leid. So viele hatten ihr Haus verloren, so viele waren verletzt, so viele lagen im Sterben, daß er nicht wußte, wo er anfangen sollte. Er stand im hellen Licht der brennenden Feuer und starrte nur vor sich hin. In seinem Herzen loderte der Zorn heißer als das heftigste Schmiedefeuer. Ein Soldat kennt seine Pflicht, bevor er in die Schlacht zieht. Ein Soldat kennt das Risiko und macht seinen Frieden damit. Hier waren schutzlose Kinder mit Verbrennungen und Verletzungen. Hier waren junge Mütter, die ihre toten Säuglinge an die Brust drückten. Hier waren alte Männer, denen man ihr Heim genommen hatte. Hier waren Geschäftsbesitzer, die ihr ganzes Leben in ihre kleinen Besitztümer gesteckt hatten, deren Vermögen jetzt in einer Feuersbrunst verschwand. Diese Menschen hatten nichts getan, und sie waren die Opfer. Was für Monster führten Krieg gegen Unschuldige? Eine Sucherwache, die benommen und verwirrt aussah, teilte Theros mit, daß man im Gasthaus »Zur Letzten Bleibe« eine Art Kommandozentrum eingerichtet hatte. Ein Drache hatte das Gasthaus mit seinen Klauen aus dem Baum gehoben und auf den Boden gestellt. Mehrere Männer waren damit beschäftigt, absackende Balken zu sichern, damit das Gebäude wieder einigermaßen stabil wurde, denn es war der einzige Ort, der groß genug war, um die
Verwundeten unterzubringen. Theros versuchte herauszufinden, wer der Verantwortliche war, dem er seine Hilfe anbieten könnte. Der erste, den er sah, war Hederick, der Oberste Theokrat. »Eure Heiligkeit!« rief Theros. »Wir brauchen Führung! Sagt uns, was wir tun sollen.« Aber Hederick war über den Verrat derer, die er für Verbündete gehalten hatte, so fassungslos, daß er nur mit tränenüberströmtem, verrußtem Gesicht dasaß und vor sich hinmurmelte. Theros schüttelte den Kopf und wollte schon den Zimmerleuten helfen, als das Schankmädchen, Tika, ihn festhielt. Sie war verängstigt, aber es gelang ihr, inmitten des Aufruhrs rundherum ruhig zu bleiben. Sie trug eine Schüssel mit blutigem Wasser, in der benutzte Verbände schwammen. »Sie brauchen Männer zum Löschen«, erklärte sie Theros. Er verlor keine Worte, sondern machte sich augenblicklich auf den Weg. Viele der in den mächtigen Vallenholzbäumen verstreuten Häuser brannten. Die Menschen befürchteten, daß das Feuer den ganzen Wald – und damit ganz Solace – verzehren würde, wenn man ihm nicht Einhalt gebot. Männer und Frauen bildeten Eimerketten. Das Wasser holten sie aus dem Brunnen am Gasthaus »Zur Letzten Bleibe«. Unter Theros’ Leitung wurden Gruppen gebildet, die mit Wagen zum Kristallmirsee fahren und Wasser in großen Fässern zurückbringen sollten. Indem sie die ganze erschöpfende, furchtbare Nacht hindurch arbeiteten, brachten sie die Flammen schließlich unter Kontrolle. Die Drakoniersoldaten und die Menschensoldaten in ih-
ren braunen Mänteln und den schwarzen Rüstungen standen herum und sahen lachend zu. Theros mußte sich sehr zusammenreißen, damit er ihnen nicht die Hälse umdrehte. Irgendwann hörte Theros einen Schrei. Eine Frau mit einem Säugling in den Armen stand vor einem brennenden Haus hoch oben in den Zweigen. Unter ihr hatten einige Leute eine Decke als Sicherheitsnetz aufgespannt und bedrängten sie, das Kind herunterzuwerfen und dann zu springen, um dem Feuer zu entkommen. In diesem Augenblick kam ein Soldat im braunen Mantel herbei und schlitzte die Decke mit seinem Schwert auf. »Jetzt spring, Süße!« schrie er lachend. Er hielt sein Schwert wie einen Spieß hoch. »Oder, noch besser, wirf mir das Kind herunter!« Der Soldat war Uwel, Moorgoths Peitschenknecht. Da erlebte Theros das, was die Minotauren Blutrausch nannten, den Irrsinn, der Krieger überkommt und sie dazu bringt, sich in Gefahr zu bringen, ohne einen Gedanken auf ihre eigene Sicherheit zu verschwenden. Theros sah Uwel die Ritter martern; er sah ihn jetzt diese arme Mutter quälen. Die anderen Bürger hielten sich ängstlich zurück und murrten nur in sich hinein. Ohne Waffen konnten sie nichts tun. Die Frau weinte und flehte. Theros marschierte hinüber, packte Uwel an der Schulter und ballte die Faust und schlug sie dem Mann an den Kopf. In diesen Schlag legte Theros all seine aufgestaute Wut und Enttäuschung, und der Zorn lag wie ein Panzerhandschuh um seine Hand. Wenn Uwel Lors überhaupt dazu kam, in diesen letzten Augenblicken seines Lebens etwas zu denken, so mußte er glauben, ihn hätte ein Blitz getroffen. Theros fällte den
Mann mit einem einzigen Schlag. Er bedauerte nur, daß Uwel nicht litt, wie er die anderen hatte leiden lassen. Theros hoffte, daß irgendein Gott dafür sorgen würde – er wünschte Uwel inständig ein langes, qualvolles Leben nach dem Tod. Uwel war tot, bevor er auf dem Boden aufkam. Keuchend stand Theros da und starrte auf den Leichnam hinunter. »Schnell«, sagte jemand. »Bevor ihn jemand findet.« Mit großer Geistesgegenwart warfen sie die zerschnittene Decke über seinen Körper, und zwei Männer schleppten ihn in den Wald. Andere kletterten auf den Baum und retteten die Mutter mit ihrem Kind. Theros schüttelte seine schmerzende Hand und ging wieder an die Arbeit. Sein brennender Zorn wich dem warmen Gefühl der Befriedigung. Uwels Körper wurde nie gefunden. Die Soldaten mit den rotbraunen Mänteln suchten und suchten und kamen schließlich zu dem Ergebnis, er müsse desertiert sein. Baron Moorgoth, der seine Armee vom sicheren Pax Tharkas aus lenkte, verfluchte Uwel angeblich öffentlich und bot eine hohe Belohnung für den Mann, ob tot oder lebendig. Als die Sonne aufging, ließ man die letzten paar Feuer herunterbrennen. Jedermann war unerträglich müde. Die Menschen brachen auf dem Boden zusammen und schliefen auf der Stelle ein. Nach ein paar Stunden Schlaf würde man sie wecken, damit sie die Toten begruben. Nur das Gasthaus, Theros’ Schmiede und ein paar andere Häuser – die die Armee für möglicherweise nützlich hielt – waren von der Verwüstung verschont geblieben. Nachdem seine Arbeit beendet war, kehrte Theros in sei-
ne Schmiede zurück und ließ sich auf ein Feldbett im Hinterraum fallen. Seine Wunde bereitete ihm Schmerzen, aber das war nichts gegen die Schmerzen in seiner Seele. Zu müde für den Schlaf, auf den sein geschundener Körper wartete, lag er auf dem Feldbett und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Warum hatten die Drachen die Stadt angegriffen? Eine so große Armee hätte einfach einmarschieren und die Herrschaft übernehmen können. Aus welchem Grund hatte man ein so schreckliches Blutbad angerichtet und alles zerstört? Welche Ehre lag darin, Kinder zu ermorden? Keine. Es konnte keine Entschuldigung geben. Das hier geschah aus Freude am Bösen, aus keinem anderen Grund. Nachdem er soweit war, fragte er sich, was aus Gilthanas geworden war. Warum waren die Elfen in Solace? Hielt man Gilthanas gefangen, oder war er tot? Obwohl er vor seinen geschlossenen Augenlidern immer noch das Licht der Flammen sah, fiel Theros in unruhigen Schlaf.Drei Tage später war der größte Teil der Armee weitergezogen und hatte nur die zurückgelassen, die Verminaards Herrschaftsanspruch vertreten sollten. Solace begann mit dem schmerzhaften Wiederaufbau. Die wunderbaren Bäume waren jetzt nutzlos, fast nur noch ausgebrannte Hüllen. Alle Hängebrücken waren zerstört, was jedoch nichts mehr ausmachte – es waren ohnehin kaum noch Häuser oder Geschäfte übriggeblieben. Eine dicke Schicht aus Ruß und Asche bedeckte die Straßen. Der Gestank war entsetzlich – er schien alle Kleider zu durchdringen –, und Nahrung und Trinkwasser schmeckten nach Rauch. Aus seinem letzten Block Stahl schmiedete Theros Hun-
derte von Nägeln, Türangeln und Werkzeugen. Er verschenkte alles, denn es befriedigte ihn ein wenig, daß Hedericks gestohlener Stahl jetzt einem guten Zweck diente. Ein paar Schwerter ließ er herumliegen, damit er nach ihnen greifen konnte, sobald Soldaten von Verminaard in der Gegend waren. Dadurch konnte er so tun, als würde er an Waffen arbeiten. Vermutlich würde er damit jedoch niemanden lange zum Narren halten, was auch stimmte. Eines Nachmittags kam der neue »Herrscher« von Solace, ein fetter Hobgoblin, der den grandiosen Titel »Truppführer Toede« führte, in Theros’ Schmiede gestürmt. Theros hatte diesen Besuch erwartet. Ohne die geringste Freundlichkeit sah er den Hobgoblin an, der lange nicht so groß war, wie Glor, dafür aber doppelt so breit. Und seine Wichtigtuerei war dreimal dicker als er. »Schmied«, sagte Toede, während er sich mit seinen haßerfüllten, roten Schweinsäuglein in der Schmiede umsah. »Was fällt dir ein, deine Zeit für wertloses Zeug wie das hier zu verschwenden?« Er hielt eine Handvoll halbfertiger Nägel hoch. »Du hattest den Befehl, für meine Truppen Waffen anzufertigen und ihre Ausrüstung zu reparieren. Ich sehe, daß du viel Gewinn machst – « »Das stimmt«, bestätigte Theros kühl, ohne den kleinen Kerl besonders zu beachten. »Aber nicht an Geld. Tut mir leid, daß ich Euch enttäuschen muß, Truppführer, aber die Nöte der Menschen in dieser Stadt, die gerade von Euch zerstört wurde, gehen vor. Gebt mir eine Woche, dann werde ich wieder Waffen und Rüstungen herstellen.« Rüstungen, die unerklärlicherweise auseinanderfielen, Schwerter, die beim ersten Schlag zerbrachen. Ein Schmied
weiß, wie er so etwas fertigbringt. Toede schnaubte. »Eine Woche! Du beginnst jetzt mit der Arbeit, und zwar augenblicklich. Weißt du«, unterbrach er Theros’ Einwände, »ich kenne dein kleines Geheimnis, Meister Theros Eisenfeld. Mir wurde erzählt, daß du ein Elfenfreund bist. Daß du geholfen hast, die Schiffe zu bauen, die diese schleimigen, spitzohrigen Teufel dem Zugriff unserer Gerechtigkeit entzogen haben.« Toede plusterte sich auf und pochte auf seine Brust. »Bisher bin ich der einzige, der von diesem Verbrechen weiß. Mach meine Waffen, und ich sorge dafür, daß dieser Lord Verminaard nichts davon erfährt. Denn wenn er davon hört, dann fürchte ich, daß nicht einmal deine Kunst als Waffenhersteller ihn dazu bringt, dein armseliges, elfenliebendes Leben zu verschonen.« Theros brauchte sich Toedes Vorschlag nicht lange zu überlegen. »Ihr könnt Eurem Lord Verminaard ausrichten, daß er von mir aus seine Füße im Abgrund rösten kann.« »Komm schon, das meinst du doch nicht ernst, Meister Eisenfeld«, sagte der Hobgoblin. Toede wurde vertraulich. »Sieh mal, Eisenfeld, deine Waffen würden mir auf dem freien Markt einen guten Preis bringen. Was willst du haben? Einen Anteil am Gewinn? Einverstanden. Ich lasse mit mir reden. Fang bis morgen mit meinen Waffen an, sonst ist dein Geheimnis kein Geheimnis mehr. Für das, was du getan hast, lasse ich dich nach Pax Tharkas schleppen. Ich bin sicher, Lord Verminaard würde sehr gern jemandem begegnen, der bei der Evakuierung der Elfen ins Südliche Ergod geholfen hat.« Theros ließ sich zu keiner Antwort herab. Er hob einen
Hammer auf, einen großen Hammer, und begann, ihn locker zu drehen. Nach einem Blick auf den Hammer schluckte Toede und begann, sich aus der Schmiede davonzumachen. »Denk an meine Worte, Theros Eisenfeld!« kreischte der Hobgoblin aus sicherer Entfernung. Theros ging wieder daran, eine große Säge herzustellen.Der nächste Tag brach mit trübgrauer Dämmerung an. Kalter, feuchter Nebel hing über der Stadt. Am Vortag war eine Karawane Käfigwagen eingetroffen. Truppführer Toedes Soldaten hatten Männer und Frauen, die als »Bedrohung« galten, in Käfige getrieben. Sie sollten nach Pax Tharkas gebracht werden. Heute sollten weitere Käfigwagen gefüllt werden. Theros stand von seinem Notlager hinten in der Schmiede auf und zog sich an. Er schöpfte Wasser aus seiner Regentonne, um sich zu rasieren. Anschließend schürte er das Feuer in der Esse. Eine Stunde später war der Stahl heiß genug, um ihn in die Formen für die Nägel zu gießen. Er wollte gerade den Kessel anheben, als die Tür zur Schmiede aufging und drei Drakonier hereinkamen. Vor den schleimigen Hobgoblins hatte Theros keine Angst, doch angesichts der Echsenmenschen konnte er einen Schauer nicht unterdrücken. Der erste Drakonier hob eine der Formen für die Nägel auf und warf sie aus dem Fenster. Der zweite Drakonier nahm einen Hammer und schlug damit ein Loch in die Wand. Der dritte griff nach einer Handvoll Nägel und warf sie in den Schmelzkessel zurück. Also gut. Nun war doch der Tag gekommen. Die Drako-
nier verwüsteten sein Geschäft, während Theros ihnen zusah, scheinbar zu verängstigt, um einzugreifen oder zu widersprechen. Seine Hand schloß sich um den Griff eines Schwerts, das er unter seiner Lederschürze verborgen hatte. Als die Einrichtung ruiniert war, wandten sich die Drakonier Theros zu. »Du kommst mit. Du stehst unter Arrest wegen Verbrechen gegen den Drachenfürsten Verminaard. Auf Befehl von Truppführer Toede, Kommandant des Militärdistrikts Solace, wird dir in Pax Tharkas der Prozeß gemacht.« Theros zog mit einer Hand sein Schwert, mit der anderen sein Wurfmesser. Erstaunt starrten die Drakonier ihn an. Kaum jemand in der Stadt hatte es gewagt, sich ihnen zu widersetzen. Sie langten nach ihren eigenen Schwertern. Theros ließ das Messer los, das sich im Flug umdrehte und mit der Klinge tief in den Schädel des ersten Drakoniers eindrang. Die anderen beiden duckten sich durch die offene Tür. Da Theros der Meinung war, daß er nichts mehr zu verlieren hatte, folgte er ihnen auf die Straße. Nebel umwogte sie. Die Bürger stoben erschrocken auseinander. Andere Drakonier kamen angerannt, alle mit blanken Waffen. Vier Gegner umzingelten Theros. Ein Drakonier verschwand plötzlich im Nebel. Theros nahm an, daß das Monster hinter ihn gelangen wollte, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Er konzentrierte sich auf den Drakonier, der ihm am nächsten war. Mit einem Sprung nach vorn schwang Theros sein Schwert zu einem gefährlichen Hieb, der einem menschlichen Gegner die Waffe aus der Hand gerissen hätte. Der
Drakonier wehrte den Schlag mühelos ab. Theros drang wieder auf ihn ein, dann täuschte er. Es war ihm gelungen, den Drakonier zu narren, der jetzt ungeschützt war. Bevor Theros zuschlagen konnte, tauchte der Drakonier, den er im Nebel verloren hatte, hinter ihm auf. Das Schwert des Drakoniers beschrieb einen hohen Bogen und fuhr gleich unterhalb der Schulter in Theros’ rechten Arm. Theros’ Hand wurde taub und nutzlos. Erstaunlicherweise spürte er zunächst keinen Schmerz. Verwundert sah er nach seinem Arm und mußte feststellen, daß der nur noch von wenigen Sehnen an seiner Schulter gehalten wurde. Der Drakonier schlug erneut zu. Theros’ Arm fiel ab. Theros stand da und starrte seinen abgeschlagenen Arm an, der auf dem Boden lag. Dann rollte die Schwärze wie Meereswogen heran und verschluckte ihn. Er fühlte keinen Schmerz, aber er konnte sich schreien, dann brüllen hören. Dann herrschte Stille.Als Theros erwachte, lag er unter einer leuchtenden, matt perlgrauen Kuppel auf dem Boden. Der Boden war weich und völlig glatt. Er sah nach seinem Arm. Der Arm fehlte, aber Theros hatte keine Schmerzen und auch keine Angst. Er stand auf und sah sich um. Er konnte nichts sehen – nichts, das ihm gestattet hätte, in irgendeine Richtung eine Entfernung abzuschätzen. Der Boden war grau. Die Kuppel über dem Boden war grau. Das Licht kam vom Himmel und vom Boden her. Theros sah zu der Stelle, wo sein rechter Arm gewesen war. Sein erster Gedanke war, daß er kein Schmied mehr sein würde. Ich werde den Rest meines Lebens ein Krüppel sein, dachte er.
Erst da kam ihm der Gedanke, daß es keinen Rest seines Lebens mehr gab. Er war tot. »Willkommen in der Halle der Götter, Theros Eisenfeld.« Theros blickte auf zu Sargas, dem Gott der Minotauren, der sich aus dem Grau materialisierte und vor ihm aufragte. Es überraschte ihn, daß er Sargas laut sprechen hörte – früher hatte er die Worte des Gottes nur in seinem Kopf gehört. Sargas war prächtiger und gewaltiger als in Theros’ Erinnerung. In der einen Hand hielt der Minotaurengott den Griff einer riesigen Streitaxt, in der anderen wog er den Axtkopf. Der Gott sah unzufrieden aus. »Du hast das Versprechen nicht erfüllt, das ich in deiner Kindheit in dir gesehen habe, Theros Eisenfeld. Ich muß zugeben, daß du nach deinem Ehrenkodex gelebt hast. Das macht dir Ehre, und es macht auch mir als deinem Gott Ehre. Aber ich bin auch der Gott der Rache und der Vergeltung! Du hast mir nicht gut gedient. Du bist gnädig und verzeihend. Du rennst lieber vor einem Kampf davon, als Ruhm in der Schlacht zu suchen. Du zeigst Mitgefühl, anstatt den Zorn eines wahren Kriegers von Sargas auszuleben!« In Theros stieg der Zorn auf, ein ähnlicher Zorn wie der, den er empfunden hatte, als er Uwel Lors niedergeschlagen hatte. »Ich habe nie darum gebeten, Sargas zu folgen!« rief Theros in die graue Kuppel hinauf. »Du willst, daß ich etwas sein soll, was ich nicht bin. Es ist unehrenhaft, jemanden grundlos zu bestrafen. Es ist unehrenhaft, Zorn zu zeigen, wo Freundlichkeit angebracht ist. Ein Ritter von Solamnia mit dem Namen Sir Richard Stahlpanzer hat mir
gezeigt, was wahre Ehre ist, was Mut und Mitleid heißen, und daß wahre Stärke im Anstand liegt. So wie er will ich sein, nicht wie du!« Sargas starrte auf Theros herab, der bei diesem haßerfüllten Blick unwillkürlich zitterte. »Ich sollte dich für deine Treulosigkeit bestrafen. Du verehrst mich nicht. Aber du hast all die Jahre deinen Glauben an mich bewahrt. Durch deinen Mut und deine Ehre hast du dir deinen Platz an der Tafel meiner Krieger verdient, Theros Eisenfeld. Ich gebe dir eine letzte Gelegenheit, mir die Treue zu schwören.« Theros senkte den Kopf. »Das kann ich nicht, großer Sargas. Vergib mir.« Der riesige Minotaurus machte ein finsteres Gesicht. Dann sagte er etwas Erstaunliches: »Ich belohne deinen Glauben, den andere Männer jetzt vielleicht aufgegeben hätten. Ich gewähre dir die Freiheit, dich für einen anderen Gott zu entscheiden.« »Sargas, du verwirrst mich. Ich dachte, du wärst der einzige Gott, den es gibt«, sagte Theros demütig. Sargas lächelte. »Nein, Mann des Schicksals. Wie ich dir schon sagte, gibt es viele Götter. So wie ich ein Gott der Ehre bin, gibt es einen Gott des Verrats. So wie ich ein Gott des Bösen bin, gibt es einen Gott des Guten. Und noch mehr. Es gibt Götter der Schöpfung und der Zerstörung, des Lebens und des Todes. Ich werde sie dir vorstellen.« Um Theros bildete sich ein Kreis aus verschiedenen Wesen. Alle leuchteten von innen heraus, obwohl dieser Glanz mitunter von Finsternis verschleiert war. Jeder Gott schien verschiedene Gestalten anzunehmen, wenn Theros ihn ansah. Einer war ein Zwerg in bunten Kleidern, ein anderer
ein schreckliches, grausig anzusehendes Skelett. Einer war ein fetter Kaufmann, ein anderer ein sanftes Wesen mit Taubenaugen. »Wir sind die Götter von Krynn. Wir beherrschen alle Aspekte des Lebens. Zwei der Götter sind nicht anwesend. Paladin versucht, die Königin der Finsternis aufzuhalten, die sich bemüht, in die Welt zurückzukehren, aus der sie und ihre Drachen vor langer Zeit verbannt wurden. Sie haben körperliche Formen angenommen und greifen in die Ereignisse der großen Auseinandersetzung ein, die bevorsteht.« Sargas lachte. »Wie du vielleicht schon vermutest, stehe ich der Königin der Finsternis am nächsten und bin mit ihr verbündet.« Theros sah sich im Kreis der Wesen um. Angesichts von soviel Majestät und Macht fiel ihm das Denken schwer. Er wollte das Richtige tun, aber er hatte keine Ahnung, was das war. »Ich werde dir die Götter vorstellen. Ich beginne mit Gilean, dem Gott der Neutralität«, erklärte Sargas. Ein Mann trat vor. Er trug ein großes Buch, in das er unablässig hineinschrieb. Er hob die Augen zu einem kurzen Blick auf Theros, dann kehrte er an seine Arbeit zurück. »Dieser Sterbliche kennt seine wahre Natur«, sagte Gilean. »Du hast recht Sargas. Er muß frei wählen können.« Sargas stellte den Rest aus dem Pantheon der neutralen Götter vor: Sirrion, den Gott der Flammen; Chislev, die Göttin der Natur; Zivilyn, den Gott der Weisheit; Shinare, die Göttin von Reichtum und Geld; Lunitari, den Gott der neutralen Magie. Jeder von ihnen hatte Theros etwas zu bieten, wenn er sich entschloß, ihnen zu dienen.
Aber keiner von ihnen kam Theros richtig vor. Er respektierte sie und verstand, daß jeder wichtig war, doch keiner verkörperte das, was in seinem Herzen war. Das waren nicht die Götter, denen er folgen konnte. Sargas wirkte nicht überrascht. Der letzte der neutralen Götter, den er vorstellte, war Reorx, der Schmied. »Reorx ist der Schmied der Schöpfung und der Werkzeuge. Ich finde, du würdest gut zu Reorx passen, Theros Eisenfeld. Du kannst ihm folgen.« Reorx, ein kräftiger Zwerg in strahlend goldener Rüstung, rieb sich den Bart und sah den großen Menschen nachdenklich an. Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Nein, dieser Mann ist nichts für mich. Ich weiß einen Meister des Stahls und Waffenschmied zu schätzen, aber er wird mich nicht verehren.« Sargas machte ein wütendes Gesicht. »Er ist mein Anhänger, und bis ich ihn freilasse, geht er, wohin ich ihn schicke.« Reorx schüttelte den Kopf. »Nein, Sargas, dieser Mensch ist keiner deiner Anhänger. Merk dir meine Worte, Sargas. Versuche nicht, dich einzumischen.« »Er verdankt mir sein Leben!« fauchte Sargas. »Er wird mir gehorchen.« Reorx hielt ihm stand. »Du mußt ihn wählen lassen, frei wählen. Das wird er ohnehin tun, ganz gleich, was du versuchst.« Sargas führte Theros durch den Kreis zu den Göttern des Bösen. Sie boten Theros Macht, Unsterblichkeit, unvorstellbaren Reichtum, schwarze Magie. Aber sie wollten nicht einfach Gläubige. Sie wollten Sklaven. Theros schüttelte den Kopf. Einer nach dem anderen glit-
ten die Götter der Neutralität und des Bösen ins Grau und waren nicht mehr zu sehen. Sargas stellte die verbliebenen Götter vor. »Das ist Majere, Gott der Mönche. Neben ihm ist KiriJolit, der Gott der Kriegsführung. Er bevorzugt Ritter. Neben ihm Habbakuk, der Gott der Tiere und der See. Branchala ist der Gott der Musik und Solinari der Gott der guten Magie!« Theros’ Blick glitt weiter die Reihe entlang. Sein Herz war jetzt zufrieden, aber noch immer hatte jeder etwas, was nicht ganz stimmte. Mit Magie wollte Theros nichts zu tun haben, und von Tieren wußte er wenig und hatte auch nicht viel für sie übrig. Er suchte weiter, bis seine Augen auf eine Frau fielen, die am Ende der Reihe stand. Sie verkörperte alle Frauen in seinem Leben gleichzeitig, alle Frauen, die ihm je etwas bedeutet hatten. Sie war seine liebevolle Mutter. Sie war die bezaubernde Marissa. Sie war die mutige Telera. Sie war seltsamerweise die Frau im brennenden Baum, die ihr Kind umklammerte. Sie war Tika, kühl und ruhig inmitten des Chaos. Zu dieser Frau fühlte sich Theros hingezogen. Sargas bemerkte sein Interesse. »Das ist die Gefährtin und Ratgeberin von Paladin, Mishakal. Sie ist die Göttin der Heilung und des Lichts.« Theros begann zu weinen. Seine Unterlippe bebte, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er sank auf die Knie und versuchte, die Hände vor das Gesicht zu schlagen, obwohl er nur einen Arm hatte. Mishakal trat vor. »Jetzt hat er seine Wahl getroffen, Sargas. Du hast gut daran getan, ihn Ehre zu lehren. Laß ihn nun den Teil sei-
ner Seele entzünden, den er in sich spürte, den er aber nie entwickeln konnte.« Sargas verneigte sich und verschwand im Grau. Mishakal kniete sich vor Theros hin und nahm ihn in die Arme. Sie ließ ihn weinen, wiegte ihn, ließ seinen Zorn und sein Leid, seine Angst und seinen Schmerz in sich hineinfließen. »Ja, Theros, deine Mutter war eine Anhängerin von mir. Sie ruht an einem ganz besonderen Platz in meiner Halle. Sie wird in Ehren gehalten wegen der Werke, die sie zu Lebzeiten auf Krynn vollbracht hat, und dafür, daß sie dir die innere Kraft gegeben hat, deinem eigenen Schicksal zu folgen.« Mit Tränen in den Augen sah Theros die strahlende Frau an. »Theros«, flüsterte diese, »hast du den Willen zu leben?« Sein Herz flatterte. Mishakal sah den Lebensfunken in ihm, der immer stärker wurde. »Du mußt noch heute deine Wahl treffen, Theros Eisenfeld. Es wird schwer werden. Du kehrst zu schrecklichen Schmerzen zurück, zu der bitteren Erkenntnis, daß du ein Krüppel bist. Du kehrst in eine Welt zurück, die vom Krieg zerrissen ist. Aber du bist ein Mann des Schicksals, Theros, und du kannst dort etwas bewirken.« Theros fühlte, wie Mishakals Frieden sein Herz und seine Seele tröstete. Er traf seine Wahl.Theros erwachte mit unglaublichen Schmerzen. Die graue Kuppel war verschwunden. Er lag in einem Karren, der von zwei Pferdehirschen gezogen wurde. Der Karren hatte Metallstäbe, die einen Käfig bildeten. Er stöhnte und versuchte, sich aufzusetzen, aber feste Hände drückten ihn wieder hinunter.
Die Schmerzen an seiner furchtbaren Wunde waren fast unerträglich. Hustend würgte er Schleim hoch. Dann schlug er die Augen auf und sah, daß jemand sich über ihn neigte. Es war eine Barbarenfrau, diejenige, die er an jenem Abend nach Solace hatte kommen sehen. »Wer bist du?« fragte Theros benommen. »Mein Name ist Goldmond. Ich diene der Göttin Mishakal. Sie hat dich ins Leben zurückgerufen.« Theros lächelte und sank in einen heilenden Schlaf zurück. Bevor er einschlief, murmelte er etwas. »Was hat er gesagt?« fragte ein Mann, den man Tanis der Halbelf nannte. »Du wirst es nicht glauben«, sagte ein Krieger mit dem Namen Caramon. »Ich könnte schwören, er sagte: ›Danke, Sargas!‹«