Blish/Lowndes
Der kopierte Mann
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Action...
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Blish/Lowndes
Der kopierte Mann
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Action Band 21155 © Copyright 1953 by James Blish and Robert W. Lowndes All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1982 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Originaltitel: The Duplicated Man Ins Deutsche übertragen von: Bernd Müller Titelillustration: Agentur Thomas Schluck Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-21155-3
Es herrscht Krieg zwischen der Erde und der Venus. Die Venusier, von der Erde verbannte Menschen, schicken in ihrem Haß einen unablässigen Strom von Bomben auf die Erde. Die vereinten Erdregierungen haben kein wirksames Mittel gegen das Bombardement, die Venus hingegen ist durch ein Energiefeld geschützt. Paul Denton ist ein kleines Mitglied der Pro-ErdePartei, die die Untätigkeit der vereinten Regierungen nicht länger hinnehmen will. Er wird zur Schlüsselfigur der Auseinandersetzungen, denn er gerät in die Duplikationsmaschine und wird kopiert. Jede seiner Kopien entspricht der Vorstellung, die ein anderer Mensch von ihm hat. Und als das Energiefeld um die Venus verschwindet, werden seine Kopien direkt auf die Venus geschickt. Die verschiedenen DentonVersionen – jede auf ihre eigene Weise, jede auf ihrem eigenen Weg – stoßen auf Zusammenhänge, mit denen niemand gerechnet hatte…
I
Der Himmel war klar an diesem Tag. Aber den Bewohnern der Erde war auch der klarste Himmel widerwärtig, solange er die Drohung wahllos abgefeuerter Sprengbomben enthielt – Sprengbomben, die nicht auf bestimmte Menschen oder Dinge gerichtet waren, sondern auf alles und jeden. Paul Danton war kein Astronom, weder von Beruf noch in seiner Freizeit. Die Venus konnte er am nächtlichen Himmel erkennen, wenn sie dort als Abendstern erschien. In anderen Zeiten hätte sie ihm nichts bedeutet. Und doch pochte die bloße Existenz dieses Planeten ständig an der Schwelle seines Bewußtseins – genau wie bei allen anderen Menschen, die auf der Erde lebten. Das Blau des Himmels war trügerisch; dort oben, jenseits dieser heiteren, klaren Färbung lag die Venus, ein Planet, auf dem andere menschliche Wesen – von der Erde verbannt – lebten und haßten. Weder Danton noch die Milliarden von Menschen auf der Erde hatten je einen der Verbannten der Venus zu Gesicht bekommen. Aber Paul Danton und alle anderen Erdenmenschen wußten von dem Haß, der über den Wolken brodelte. Dieses Wissen war nicht von der Art, wie es durch Propaganda, Eingebungen oder irrationale Triebe erzeugt wird: Es gibt faßbare Tatsachen. Der Haß der Venusbewohner entlud sich in einem unaufhörlichen, Schrecken einflößenden Bombardement der Erde, geballter Zerstörung, die immer dann achtlos über die Oberfläche des Planeten verstreut wurde, wenn sich Erde und Venus zueinander in einer Position befanden, die überhaupt Treffer ermöglichte.
Man konnte zweifellos behaupten, nicht alle Venusbewohner seien Mörder, aber solche Unterscheidungen waren bedeutungslos, solange der Teil der Venusbevölkerung, der der Erde feindselig gesonnen war, die Mittel besaß, diesem Trommelfeuer aufrechtzuerhalten. Danton warf einen Blick hinaus durch den durchsichtigen Kunststoff jenes tropfenförmigen Gebildes, das sein persönliches Schiff war, ein preiswerter »Baby-Flieger«, der ihn hoch über die Wälder trug, und fragte sich: Wird sie heute kommen? Und auf der ganzen Erde blickten die Leute zum Himmel auf und stellten die gleiche Frage. Sie war die nächste Bombe, die Bombe, die dich treffen konnte. Was machte es, in welchen Abständen die Bomben fielen – ob in Abständen von Stunden, Tagen oder Monaten? Was machte es, ob die Bomben einzeln oder in Gruppen fielen? Sie würden weiterfallen, nur das war von Bedeutung. Würde die nächste Bombe für ihn die entscheidende sein? Aus dem Schiffsradio ertönte eine Stimme: » … noch werden Verträge anerkannt werden, die ohne vorherige Benachrichtigung und Zustimmung abgeschlossen werden; noch werden irgendwelche Vereinbarungen als für die Regierenden bindend anerkannt werden, falls sie von diesen nicht vor der Öffentlichkeit eingegangen wurden, ob mit oder ohne Zustimmung des Rates.« »Artikel 2, Absatz A, Paragraph 2 des Friedenserlasses, Übertragung der Schutzbestimmungen vom 4. Mai 2011«, murmelte Danton vor sich hin. Er kannte diese Passage auswendig, genau wie fast alle anderen Erdbewohner. Vor jeder Sitzung des Sicherheitsrates wurde diese Passage verlesen – eher deklamiert als inhaltlich verfochten. So wurde die Welt daran erinnert, daß ein Teil des Traums eines großen Staatsmannes des 20sten Jahrhunderts wahr geworden war.
Entscheidungen wurden unter den Völkern durch wahrhaft offene Verträge gefällt, über die öffentlich verhandelt wurde; jede offizielle Sitzung des Sicherheitsrats wurde in Rundfunk und Fernsehen übertragen. Er fragte sich, was der Anlaß für die heutige Sitzung sein mochte; es war keine angesetzt gewesen. Dantons Gedanken wurden von seinem persönlichen Armbandsender unterbrochen, aus dem ein ihm vertrautes Signal ertönte. Seine Gesichtszüge erstarrten vor Anspannung, seine braunen Augen wurden zu Schlitzen, als die Finger seiner rechten Hand sich dem Sender am Handgelenk näherten, um das Signal abzuschalten. Seine Finger zögerten. Er war Paul Danton, aber er war noch mehr als das; er war Mitglied der Pro-Erde-Partei, jener Untergrundbewegung, die sich gegen die amtierende Regierung der Erde, den Sicherheitsrat, verschworen hatte und die neben anderen Scheinforderungen auch Friedensangebote an die Venus propagierte, während sie darauf wartete, daß ihre Zeit kommen werden – was auf sich warten ließ. Er war Dendrit B, Mitglied des Inguinalplexus. Ansonsten blieb er anonym, genau wie seine Kollegen in dieser monolithischen Organisation.
Für den Laien unterstützte die wissenschaftlich klingende Terminologie den Anspruch der Pro-Erde-Partei auf echte Wissenschaftlichkeit im Herangehen an sozioökonomische Problemstellungen – und an alles andere, was der Partei irgendwie nutzen konnte. So hießen die Ortsgruppen der Partei Plexus und wurden benannt nach den verschiedenen Nervenknoten im menschlichen Körper. Die Einheiten innerhalb eines Plexus wurden Vagus genannt – aus jeweils drei Personen bestehende Zellen, deren Anführer als Cyton
bezeichnet wurde. Neun solcher Zellen bildeten einen Plexus, dessen Mitglieder oder Dendriten die Buchstaben A bis Z zugewiesen bekamen. Der Leiter einer Ortsgruppe, genannt Ganglion, hatte keine Buchstabenbezeichnung. Im Inguinalplexus stellte sich das so dar, daß Dendrit A der Cyton war; Dendrit B war Paul Danton; und Dendrit C war ein weiteres einfaches Mitglied, dessen Namen Danton nicht kannte. Dendrit E war wiederum Cyton eines anderen Vagus und so weiter – obwohl Cytonen nie mit ihren Dendritenbuchstaben benannt wurden, wenn sie nicht unter Anklage standen. Parteimitglieder, die genügend Humor hatten, um die neurologischen Analogien amüsant zu finden, lebten selten lange genug, um daran ihren Spaß zu haben. Das war Danton aufgefallen. Der Idealismus, der ihn der Partei zugeführt hatte, war früh genug durch Vorsicht abgemildert worden, so daß er zehn von Säuberungen durchzogene Jahre überlebt hatte. Man lernte, Bedenken zu haben, aber man zögerte nie zu lange. Der Signalruf, den Danton gerade empfangen hatte, war in Ordnung. Wenn Golgi das Risiko einging, anzuordnen, daß die Dendriten auf ihrer persönlichen Wellenlänge zu rufen seien, dann mußte es dafür einen außerordentlich zwingenden Grund geben. Danton sagte vorsichtig: »Dendrit B, Inguinal.« Golgi war das Zentralkomitee der Pro-Erde-Partei, das nur dem Vorsitzenden verantwortlich war, jener kaum faßbaren Person, die als Cortex bekannt war. Theoretisch konnte der Cortex bei ausreichender Begründung abgesetzt werden, und er war eigentlich nur der Sprecher des Komitees – aber in der Praxis war seine Herrschaft absolut. Die Antwort, die Danton erreichte, kam sofort, wenn auch nur schwach hörbar, »Hauptstrang«. Das war das Hauptquartier des Zentralkomitees. »Die Konferenz über
Duplizierung ist abgesagt worden. Wenn du dich in der Nähe einer Ortsgruppe befindest, solltest du dort landen.« Danton blickte auf sein Handgelenk, während er die wenigen ihm zur Verfügung stehenden Fakten prüfte. Mal sehen… ja, es gab eine Ortsgruppe der Pro-Erde-Partei, die nicht allzuweit von seiner augenblicklichen Flugbahn entfernt lag – er konnte sich jedoch nicht erinnern, welcher Plexus es war. Der Sicherheitsrat hatte diesen Plexus, den letzten Meldungen zufolge, bisher nicht entdeckt. Er fragte sich, ob »Hauptstrang« seine Flugbahn verfolgte. »Was ist los?« fragte er, und ein Teil der Anspannung wich aus seiner Stimme. »Wieder eine von diesen höllischen V-Bomben… ist in einem ländlichen Gebiet aufgetroffen; falls die noch mehr von der Sorte auf Lager haben, stehen uns ernsthafte Schäden ins Haus.« Danton warf unwillkürlich einen Blick durch die Kunststoffhaube seines Schiffes auf den wolkenlosen, unverdächtigen Himmel. Dieser Blick nach oben, hilflos und trotzig zugleich, war eine weltweit verbreitete Zwangshandlung, eine unwillkürliche Reaktion auf das Wort »die«, wenn es im obigen Zusammenhang gebraucht wurde. »Der Sicherheitsrat hat eine Krisensitzung einberufen«, fuhr der Sprecher fort. »Ich weiß«, antwortete Danton; »ich hörte gerade das Ritual; schalte dich aus, bitte, damit ich hören kann, was vorgeht.« Er betätigte seinen eigenen Ausschaltknopf und änderte den Kurs; gehorsam schwenkte das kleine Schiff nach Süden, während der verbindliche Klang der wohlbekannten (und den Mitgliedern der Pro-Erde-Partei verhaßten) Stimme Joachim Burgs die Kabine erfüllte. Danton hatte den Abgeordneten von Antarktika schon oft auf dem Bildschirm gesehen; er hatte eine genaue Vorstellung von dem Mann, noch ehe er den winzigen Schirm in seinem Flieger einschaltete: Geschmeidig, groß
wirkend, obwohl er höchstens mittelgroß war; makellos gekleidet; eine katzenhafte Gestalt, mit Augen, die diesen Eindruck noch verstärkten.
Burg sagte gerade: »Wir sollten uns eigentlich inzwischen daran gewöhnt haben. Dies ist nicht die erste Bombe, und auch nicht die einhundertste. Es ist annähernd die zwölfhundertste. Darf ich einwenden, daß es ein wenig zu spät ist für – meine Amtsgenossen mögen die Wortwahl verzeihen – Hysterie?« Er stand selbstsicher neben seinem Pult, katzenartig, mit zwingenden Blick, und machte ganz den Eindruck, als habe er gelernt zu schnurren. Hinter ihm auf dem Bildschirm erkannte Danton Marcia Nels, die Ratsvorsitzende aus Alberta. Sie wirkte weit weniger gelassen, trotz ihrer entschlossenen Körperhaltung. Danton kannte sie als erfahrene Politikerin, dennoch konnte er von ihren Augen – so klein sie auch auf dem Bildschirm erschien – und von ihren Händen ablesen, daß sie den letzten Schlag der Venus spürte. Sie empfand ihn so stark, als wäre es der erste, dachte er; die Opfer waren ihr gegenwärtig. Aber ihre Stimme wirkte ruhig, als sie antwortete: »Selbst in hervorragend funktionierenden Körperschaften gibt es so etwas wie Notfälle, Mr. Burg. Das politische System hat seine Grenzen erreicht. Die Bevölkerung hat dieses dauernde Bombardement aus dem Himmel schon zu lange ertragen.« »Ich schlage vor, wir lassen Mr. – äh – Wilkins ausreden«, unterbrach der Abgeordnete der Appalachen, ein Mann namens Heath. Er sprach in den Sender auf seinem eigenen Pult. »Wie groß waren die Schäden eigentlich?« Ein leises Knistern aus dem Sender – der Abgeordnete schien von einer anderen Station aus zu berichten, dann hörte Danton Wilkins’ Stimme. »Nur sehr gering, Gott sei Dank. Durham ist
keine große Stadt, und das Geschoß ist in den Außenbezirken niedergegangen. Trotzdem – ich habe noch nie einen chemischen Explosivstoff von solcher Wirkung gesehen. Es wirkte so, als verwandelten sich alle Partikel gleichzeitig in Gas, und die Wellenfront der Explosion befand sich im Bereich der Überschallfrequenzen. Es verhielt sich wie ein Verwandter des Trinitrogenjodids: Explodierte mit einem Krachen anstatt mit einem Dröhnen.« »Bitte nennen Sie uns die Schäden«, bemerkte Heath trocken. »Wir sind keine Wissenschaftler.« »Nun… eine Menge geplatzter Trommelfelle, die Tabakernte der näheren Umgebung vernichtet – fragen Sie mich nicht, wie! Und es traten einige höchst ungewöhnliche Affektreaktionen unter den Bewohnern der Stadt auf. Gebäude im Wert von 45000 Einheiten wurden in Staub verwandelt. Eine noch nicht feststehende Anzahl von Todesfällen, es treten immer noch neue auf. Es müssen derzeit wohl zwischen sechsund siebenhundert sein.« »Immune?« fragte Burg. Es folgte ein kurzes Zögern auf der anderen Seite. Die meisten Mutmaßungen über Mutationen beim Menschen, die durch Strahlung aus den Explosionen und den Abfallprodukten der Spaltbomben des zwanzigsten Jahrhunderts verursacht worden sein sollten, waren reine Spekulation. Aber eine lebensfähige Mutation war daraus hervorgegangen. Diese Menschen waren weder Ungeheuer noch Mißgeburten in irgendeiner sichtbaren Form; aber sie hatten eine Eigenschaft gemeinsam, wie sich Danton erinnerte: Immunität gegenüber einem oder mehreren Leiden der »normalen« Menschen. »Einer wurde getötet«, kam die Antwort. »Es gibt hier nur wenige Immune; die übrigen sind unverletzt, wie üblich.« Der Unterton in Wilkins’ Stimme verriet den Groll, den die meisten »normalen« Menschen den Mutanten gegenüber empfanden.
»Ein Immuner ist ein Mensch, er ist ein Mensch, sicher«, teilte Wilkins’ Unterton mit, »aber er ist irgendwie anders. Ich kann seine Beweggründe und Handlungen nicht nach ›normalen‹ Maßstäben erklären oder vorhersehen.« »Danke«, antwortete Marcia Nels. »Wünscht der Rat weitere Informationen?« Tamara, die Abgeordnete der Ukraine, stand auf. »Das hört sich problemlos an. Ich schlage vor, Mr. Wilkins beendet seinen Bericht wie üblich. Mr. Heath kann ihn später für uns zusammenfassen.« Der schwache Dauerton, Wilkins’ Leitstrahl, brach ab. Tamara fuhr fort: »Ich denke, die Gefahr ist mit Sicherheit real genug. Die Venusbewohner haben einen Strahlungsschirm um den gesamten Planeten gelegt, der keinerlei Atomwaffen durchläßt. Bis jetzt ist es ihnen nicht gelungen, Spalt- oder Fusionsbomben auf uns abzufeuern, genausowenig wie wir in der Lage gewesen sind, Atomwaffen gegen sie einzusetzen. Aber… wenn ihre Molekularwissenschaften sich weiter so schnell fortentwickeln wie bisher, wird das in Kürze keinen Unterschied mehr machen.« Sie sprach russisch wie üblich, aber Burg verstand sie und preschte vor, ohne auf die Übersetzung zu warten. »Was schlagen Sie denn vor? Ich bedauere genau wie jedes andere Mitglied, daß die Menschen gezwungen sind, diesen Jahrhunderte dauernden Beschuß ohne Gegenwehr zu ertragen. Aber ich sehe gegenwärtig keine vernünftige Alternative; die Lage hat sich wesentlich verschlimmert, aber sie hat sich nicht grundsätzlich verändert. Die selbsternannte ›Erdregierung im Exil‹ ist für die meisten unserer Waffen so unerreichbar wie eh und je – und ich sehe keinen Sinn darin, ihre Angriffe mit chemischen Bomben zu erwidern. Es käme zwar den aufgestauten Gefühlen der Erdbewohner entgegen, wäre aber bedeutungslos. Wir könnten genausogut Leute losschicken, um
aus ›Baby-Fliegern‹ in achthundert Meter Höhe Pinguine mit Erbsen zu beschießen. Ein paar Vögel würden wohl getroffen, und die Erbsen würden sie ein wenig verletzen, aber sie würden danach um so heftiger zuhacken.« Marcia Nels nahm Notiz von Carillo, dem Abgeordneten Brasiliens. Er hielt eine umständliche, verwirrend angelegte und gestenreiche Abhandlung auf portugiesisch, die der Dolmetscher auf den Satz reduzierte: »Meine Regierung stimmt Mr. Burg zu, wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen. Wir alle sind Mitglieder dieses Rates, um den Krieg zu verhindern. Krieg gegen andere anzufangen, wird durch unsere Verfassung ausdrücklich verboten.« Heath, der sich mit seiner Maiskolbenpfeife beschäftigte, hatte offensichtlich nicht zugehört. Er drehte ein Streichholz zwischen den Fingern und löschte die Flamme, ehe sie den Tabak im Pfeifenkopf erreichte. Die Antwort, die er dem vogelähnlich aussehenden Brasilianer entgegenschleuderte, war ätzend; die portugiesische Übersetzung klang ziemlich merkwürdig. »Frühstücksfleisch!« bellte der Translator an seiner Stelle. »Ist die Venus eine angreifende Macht nach der Definition des Friedenserlasses, oder ist sie es nicht? Zweifeln wir daran, welcher Planet die rechtmäßige Regierung der Erde beherbergt? Hat der Titel der Venusherrscher, die selbsternannte ›Erdregierung im Exil‹, irgendeine Rechtsgültigkeit, außer für sich selbst und die Venusbevölkerung? Der Sicherheitsrat hatte keine Bedenken, damals im Jahre 2011, die alten Vielvölkerstaaten hin wegzuschwemmen, indem er die Polkappe bombardierte. Unsere Vorfahren führten Krieg gegen die ganze verdammte Erde, und das mit nicht mehr als fünfzig Spaltbomben.« »Was sagen Sie dazu, Mr. Burg?« fügte Heath hinzu, und warf dem Antarktiker einen Blick zu. »Wenn der erste Rat
nicht einen Weg gefunden hätte, wo keiner zu sein schien – Ihr gegenwärtiges geschätztes Territorium würde heute noch unter ziemlich viel Eis liegen. Ich bezweifle ferner, daß Mr. Carillo heute hier wäre, hätte der erste Rat nicht so gehandelt; die zusätzlichen achtzehn Meter Wassertiefe, die der Amazonas als Folge des Bombardements erhielt, haben Brasilien vielleicht nicht mit einem Schlag zur Großmacht werden lassen, aber sie haben sicher dazu beigetragen.« Burg schnurrte nun fast hörbar, dachte Danton. »Aber… was schlagen Sie vor? Wir gestehen Ihnen Ihren Standpunkt zu: Antarktika, Brasilien, Appalachien – keiner von uns wäre heute hier, wenn die Friedensschwadron nicht die Polkappe beschossen hätte. Wir hätten keine Staaten zu vertreten. Was damals Rußland und Amerika genannt wurde, besaß die meisten Spalt- und Fusionsbomben. Ja, wir stimmen zu – es hätte keine überlebenden Nationen gegeben. Seit dieser Zeit hat es, wie wir alle wissen, keinen Angriffskrieg auf diesem Planeten gegeben; der Friedenserlaß ließ dafür keinen Raum. Aber… muß ich Sie daran erinnern, mein Lieber, daß der Friedenserlaß auf der Venus nicht durchsetzbar zu sein schien? Man kann mit keinem atomgetriebenen Schiff, keiner anderen Art von atomarem Geschoß, keiner Atomstaubwolke den Thomasschirm durchdringen. Die Venusoberfläche bleibt für uns unsichtbar; wir haben keine Ahnung, wohin wir ein Torpedo oder einen anderen Sprengkörper abschießen sollten. Es ist weder möglich, einen ganzen Planeten in Gas zu hüllen, noch könnten wir biologische Waffen gegen eine außerirdische Ökologie einsetzen. Glauben Sie, Sie könnten das Bombardement beenden durch die Zerschlagung der Pro-Erde-Partei? Die Amerikaner dachten so, wenn ich mich recht erinnere; den Krieg hat es nicht verhindert. Oder sollten wir Freiwillige suchen, die durch
Tausende von Kilometern Schutzschirm mit dem Fallschirm abspringen? Wenn es wirklich etwas gibt, das funktioniert…«
II
Die Übertragung der Sitzung des Sicherheitsrates war nicht nur auf der ganzen Erde zu empfangen. Es gab eine winzige Öffnung in der Ionosphäre der Erde, die dort mit Hilfe eines magnetischen Soges vom letzten der Schiffe, das die ursprünglichen Mitglieder der »Erdregierung im Exil« zur Venus gebracht hatte, fixiert worden war – ein Nadelöhr durch die Heavysideschicht, die ansonsten Radiowellen auf die Erde reflektiert. Zweiundsiebzig Millionen Kilometer entfernt, tief im Inneren des Planeten Venus, lauschten die Männer, die sich die amtierende »Erdregierung im Exil« nannten, der Übertragung. Es gab jedoch ein weiteres Relikt jener Zeit – einen künstlichen Satelliten, der in einer festgelegten Umlaufbahn zwischen Erde und Mond rotierte, ein Überbleibsel jener verspäteten Kriegsvorbereitungen. Gegenwärtig wurde er als Ankerplatz für ein einziges Raumschiff, genannt Mondfähre, genutzt. Dieser riesige Schiffsrumpf pendelte zwischen dem Satelliten und Luna selbst. Die Fähre war im Weg, und die Übertragung von Burgs Rede im Sicherheitsrat wurde, was die Zuhörer auf der Venus betraf, bis auf das eine oder andere halbverständliche Wort mitten im Satz unterbrochen. Es war ein ruhiger Raum unterhalb der Venusoberfläche, wo Geoffrey Thomas in seinem Direktorensessel saß und über seine Kollegen, die führenden Männer der Erdregierung im Exil, kicherte. Thomas, der eigentlich seit sechzig Jahren tot sein sollte, der fabelhafte Elektronikexperte, der den planetenbedeckenden Schutzschirm geschaffen hatte, kicherte
wieder, während sein Blick durch den Raum schweifte, von einem Mann zum anderen. Zuerst war da »Stahlnerv« Lathrop, der mit gespreizten Beinen dastand, um seinen erheblichen Leibesumfang abzustützen. Seine Uniform, die eines Obersten, war makellos, und er ähnelte einem mittelalterlichen britischen König. Dann war da Enfield, mager, mit traurigen Augen, ein Kardinal Mazarin, der im Amt seines Vorgängers Richelieu über seine Unzulänglichkeit brütet; Mann, ein Cassius mit hagerem Gesicht, der sich vor nackter Machtgier verzehrte; Taverner, ein junger Stalin, sanft und von täuschend unschuldigem Aussehen. Thomas besah sich diese zweite Verschwörergeneration, verglich sich mit den Männern, mit denen er geflohen war, und lachte. Dieses Lachen versetzte seine fünfhundertundzwanzig Pfund Lebendgewicht in obszöne Bewegung; sogar Lathrops sinnlicher Mund zuckte. Die anderen wandten schnell den Blick von dieser schwankenden, bebenden Fettmasse ab, die die Lehne des Chefsessels verschwinden ließ – außer Taverner. Der schaute so unbewegt zu wie eine wiederkäuende Kuh. »Wenn wir noch einmal von der Übertragung abgeschnitten werden, können wir nicht mehr umhin, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß sie unsere ›Antenne‹ entdeckt haben«, stellte Enfield düster fest. Die anderen erstarrten vor Unbehagen – wieder mit Ausnahme von Taverner, der ein Gähnen unterdrückte. Thomas sah zu, wie sich Enfields ewigtrauriger Blick noch weiter verdüsterte. Er hatte einmal bemerkt, daß für Enfield keine Situation so schlimm war, wie sie schien – für ihn war es immer noch schlimmer. Ein gemäßigter Liberaler entwickelte leicht eine solche Haltung, wenn er versuchte, in einer auf Gewalt gegründeten Gesellschaft zurechtzukommen. Und doch, sein Vorgänger… aber das war einfach ein Teil von Enfields Erbe.
Sein Blick wechselte zu Lathrop, als der Oberst schnaubte: »Unmöglich.« »Wir werden eine Delegation hinschicken müssen, mit der freundlichen Bitte um Übertragung durch Radar«, schlug Thomas glucksend vor. »Ich bin sicher, daß sie nicht auf höhere Einschaltquoten verzichten wollen.« Lathrop versicherte noch einmal, es sei unmöglich. »Das Loch, durch das diese Übertragungen kommen, kann man nicht mal in einer Million Jahre finden, wenn man nicht vorher die genauen Koordinaten kennt. Diese Unterbrechungen geschehen regelmäßig; früher oder später werden wir diese Regelmäßigkeit mit irgendeinem bekannten Ereignis in Verbindung bringen können, und dann können wir die Unterbrechungen voraussagen. Aber wir werden feststellen, daß der Sicherheitsrat nichts damit zu tun hat.« »Also, daß Ergebnis bleibt das gleiche«, antwortete Enfield. Er sah Taverner an. »Was denken Sie – oder denken Sie überhaupt?« Die Müdigkeit, die hinter dieser Frage lag, nahm ihr den Stachel. Taverners Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er zuckte leicht mit den Achseln. »Diese Situation erfordert nicht, daß ich denke. Ich habe schon lange erkannt, daß es nichts ändern würde, falls ich darüber nachdenke, und daß mein Nachdenken zu keiner Aktion führen könnte, die etwas einbringt. Sie denken so, wie ein Huhn pickt, mein Freund; ich denke nur, wenn es notwendig ist.« Thomas’ Lächeln wurde breiter, als Lathrop sagte: »Ah… ein Mann der Tat. Was machen Sie denn, wenn Sie nicht denken?« »Ich warte. Enfields Denken gleicht dem Picken der Hühner, Ihr Picken ist die Schauspielerei. Ich warte. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich das Notwendige tun.« Thomas stellte fest, daß Lathrop durch diese Beleidigung nicht beunruhigt schien. Er nickte kurz und blickte auf Enfield.
Thomas’ Lächeln schwoll wieder zu einem Kichern an – einem Kichern, von dem er wußte, daß es in den drei Männern, die sich auf der Schwelle der Hysterie bewegten, eine übereinstimmende Reaktion auslösen würde. Taverner schien nichts zu bemerken. »Hört auf mit den Albernheiten!« knirschte Mann. Er war der Führer der extremen Militaristen, der Kriegsfalken-Partei, und seine Worte waren so schneidend wie der Hunger, der seine Seele verzehrte. »Wir haben sie jetzt wütend gemacht. Noch ein paar Torpedos, und wir haben sie soweit, daß sie eine Dummheit begehen. Wir werden sie schon gebührend empfangen, wenn sie kommen.« Enfield wollte wissen, wie. Er malte Kreise in die dünne, kristalline Staubschicht auf einem der Tische und beschrieb die Lage, mit der die Venus konfrontiert sein würde, falls größere Truppenkontingente von der Erde landeten. Die Diagnose war beruhigend pessimistisch, dachte Thomas. »Mit oder ohne Atomwaffen«, faßte Enfield zusammen, »falls sie wütend genug werden, um einen großangelegten Angriff zu unternehmen, werden wir überrollt. Sie haben die Truppen, und sie haben die Chemiker. Und wir haben nicht genug radioaktive Stoffe, um mehr als bestenfalls ein paar eigene Spaltbomben herzustellen.« Er atmete tief ein und kündigte damit ein Schlußwort an, das etwa doppelt so lang zu werden versprach wie die Rede, die er soeben gehalten hatte. Aber Lathrop unterbrach ihn mit einem Kraftausdruck. Enfield verstummte, wobei er den Gesichtsausdruck eines mißbilligenden Lehrers annahm. Der Oberst ballte die Faust am Gürtel, spreizte die Beine noch etwas weiter und sah jetzt beeindruckend dramatisch aus. »Ihr Zivilisten seid schlimmer als Kinder. Seht ihr euch eigentlich jemals den Planeten an, auf dem ihr lebt? Ganz egal, wie mächtig die Erdtechnologie sein oder werden mag, gegen
uns ist sie wirkungslos. Wir sind vorbildlich verstreut, völlig ohne erkennbare Struktur, eine Maulwurfkolonie, die sich unter der Oberfläche einer ziemlich großen Welt ausgebreitet hat. Selbst wenn sie mit Atomwaffen angreifen, können sie hier nichts treffen, was mehr als nur ein kleines Gebiet lahmlegen würde. Unsere Strukturen sind nicht zentralisierter als die eines Regenwurms: sie können ein paar Segmente zerstören, mehr nicht.« Er trommelte mit den Fingern an seinen Gürtel, setzte ein unangenehmes Lächeln auf und sah die anderen der Reihe nach an – bis auf Thomas. »Sie benötigten fast ihre gesamte Bevölkerung, um uns mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg zu erobern, meine Herren. Unsere Position ist fast uneinnehmbar; warum sollen wir sie gefährden, indem wir mehr unternehmen, als wir uns leisten können? Mit der richtigen Vorbereitung kann die Erde uns gehören.« »Sie müssen es ja wissen, Oberst«, bemerkte Thomas und sah Lathrop mit einem aufreizenden Grinsen an. »Warum tun Sie sich nicht mit Mann zusammen? Es ist doch offensichtlich, daß ein Kriegsfalke gute militärische Beratung braucht.« Lathrop wich dem Blick des Direktors nicht aus. »Weil ich kein Kriegsfalke bin, wie Sie sehr wohl wissen«, sagte er kalt. Thomas schwieg, aber unter dem losen Gewebe seines Gesichts erlosch das Grinsen für einen Moment. Er machte eine Handbewegung, und Taverner trat zur Seite, als zwei Pfleger, die hinter dem Direktor bereitgestanden hatten, herantraten und begannen, ihm vorsichtig auf die Beine zu helfen. »Oberst, trotz ihrer kriegerischen Posen und Uniformen sind sie ein Schwätzer, genau wie unser Freund Enfield«, keuchte Thomas. »Ihr Motto ist Abwarten, seins ist Stillhalten – kein so großer Unterschied.«
»Und was ist mit Taverner? Was ist der Unterschied zwischen ihm und uns?« Thomas’ Augen warfen einen Blick seitwärts auf den sanften jungen Mann. »Taverner?… Oh, der ist ein echter Pfadfinder; sein Motto ist Allzeit Bereit. Den Rest können Sie selber nachlesen, Oberst.« Er grinste über ihren Gesichtsausdruck, weil er wußte, daß sie sich alle fragten, wie er überhaupt gehen konnte mit oder ohne Hilfe. Sie hatten Bilder von ihm aus früherer Zeit gesehen und wußten, daß er schon immer ein schwerer Mann gewesen war – über einen Meter achtzig groß, mit schwerem Knochenbau. Er konnte; fast sehen, wie sie nachrechneten: Wie alt muß er jetzt sein? Mindestens Hundertvierzig. »Ach ja, Oberst – früher war ich in bester Verfassung, wie Sie; heute sind meine Beine auseinandergespreizt wie die Arme eines Seesterns.« Lathrop erbleichte. »Sie haben uns oberflächliche Skizzen voneinander geliefert – sagen Sie uns jetzt, was Sie sind, außer ein unsterblicher Anachronismus?« Sie erhielten keine Antwort, während die Pfleger dem Direktor der Exilregierung seitwärts durch die Tür halfen, und man hörte nur noch ein leises, glucksendes Lachen und das platschende Geräusch von Schritten. Thomas stellte sich vor, wie Lathrop mit dem Finger seinen Hosenbund entlangfuhr (ein Gerücht ging um, er habe sich Korsetts bestellt), und wie Mann neben dem stummen Radiogerät stand, während seine Fäuste sich abwechselnd ballten und lockerten. Einen Moment lang herrschte Ruhe; jedes Geräusch, sogar ein Flüstern, wäre von einem oder mehreren der von Thomas überall im Raum versteckten Mikrophone an den Empfänger übertragen worden, den er in einem künstlichen Backenzahn trug.
Er hörte, wie Lathrop murmelte: »Ein Pfadfinder ist hilfsbereit«, und wie Mann flüsterte: »Stinkende Eindringlinge! Kommt und holt uns!« Thomas lächelte. Die ursprünglichen Verbannten hatten die Erde gehaßt, aber keiner hatte sie so wütend gehaßt wie diese zweite Generation, diese neue Brut von Machthungrigen, die er seine Verschwörung nannte. Aber natürlich hatten Mann und die anderen den unschätzbaren Vorteil, daß sie bezüglich der Erde völlig unwissend waren… Nein; das war nicht ganz richtig – nur Mann haßte wirklich…
Auf der Erde selbst gab es keine Unterbrechung der Übertragung der Vorgänge im Sicherheitsrat. Paul Danton heftete seine Augen auf den Bildschirm, als ob er die Gedanken der winzigen Figuren darauf lesen könne, wenn er nur genau genug hinschaute, und fragte sich, was für ein geheimer Plan hinter Joachim Burgs Satz »Glauben Sie, Sie könnten das Bombardement durch Zerschlagung der Pro-ErdePartei beenden?« stecken mochte. War diese Bemerkung nur eine Stichelei, dazu gedacht, die Partei in eine unbedachte Aktion zu locken? Wenn ja, dann war Burg naiv; die Partei wußte, daß der Sicherheitsrat nicht in der Lage war, eine solche Drohung wahrzumachen. Und doch – die Bedrohung war da; sie hatte schon über ihren Köpfen geschwebt, als Danton beigetreten war. Sie lieferte die Begründung für häufige Wechsel in der Linie der Partei, für die Säuberungen, die unweigerlich darauf folgten, für unablässiges Nachspionieren und totalitäre Disziplin. Und doch hatten die Agenten des Sicherheitsrates wenig mehr getan, als eine Kampagne stetiger Bedrohung aufrechtzuerhalten. Danton fragte sich, ob sie sich mit Absicht
zurückhielten – ob die heroische Flucht einiger Parteimitglieder nicht arrangiert worden war. Spielte die Pro-Erde-Partei vielleicht wirklich ungewollt in Burgs undurchschaubaren Plänen eine Rolle? War sie eine ihm genehme Einrichtung, die er in der Hinterhand behalten wollte? Dantons Aufmerksamkeit kehrte zum Fernsehschirm zurück, als Burgs Stimme sagte: »Oder sollen wir Freiwillige suchen, die durch Tausende von Kilometern Schutzschirm mit dem Fallschirm abspringen? Wenn es wirklich etwas gibt, das funktioniert…« er hustete leicht, und Danton stellte fest, daß er sich vorgebeugt hatte. »… in militärischer Hinsicht, meine ich – dann sollten wir davon Kenntnis erhalten; dann hätte es einen Sinn, über den Einsatz dieses Mittels zu debattieren. Aber die Forschung hat nichts hervorgebracht. Die Situation ist die gleiche wie vor hundert Jahren – am Tag, als unsere Vorfahren sahen, wie die Schiffe der Rebellen in die Atmosphäre der Venus eintauchten und bald darauf ein einzelner Blitz hinter ihnen den Planeten verdeckte. Sie werden sich erinnern, daß die Atomphysiker jener Tage den Thomasschirm für mathematisch unmöglich erklärten. Ich bin kein Mathematiker, also beuge ich mich ihrem Urteil, murmele aber gleichzeitig vor mich hin, daß der Schirm existiert; ohne ihn hätten die Rebellen nie die Flucht zur Venus gewagt.« Burg hielt einen Moment inne, und Carillo nutzte die Unterbrechung. »Madame Nels – müssen wir Zeit mit Grundschulwissen verschwenden?« »Ich schlage vor, daß Mr. Burg fortfährt«, sagte der Abgeordnete Sibiriens. »Dies ist eine öffentliche Versammlung; wir sind auf Sendung, und es ist wichtig, alle Seiten anzuhören. Schließlich hören uns viele Grundschulkinder zu. Wir können nicht davon ausgehen, daß
die breite Öffentlichkeit so viel über Geschichte weiß wie wir, selbst wenn wir annehmen, daß sie in der Lage ist, uns zu verstehen, sobald die Tatsachen klar vorliegen.« »Danke«, erwiderte der Antarktiker, eine Spur zu höflich, dachte Danton. »Das war unter anderem meine Absicht; es tut nicht weh, bei relevanten Themen an das erinnert zu werden, was man schon weiß… Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, daß – vermutlich, weil es nicht gelungen ist, die Atomwaffen von der Unmöglichkeit des Thomasschirms zu überzeugen – der Schirm wirklich genauso funktionierte, wie Geoffrey vorausgesagt hat. Er ist für sie ebenso unbequem wie schützend; alle Geschosse, die die Exilanten auf uns abgefeuert haben, waren chemisch angetrieben und mit chemischen Waffen bestückt. Ein Haß so tief wie der ihre – Haß, der groß genug ist, dieses Generationen überdauernde Bombardement aufrechtzuerhalten – würde doch nicht vor dem Gebrauch von Atomwaffen haltmachen, wenn es dafür nicht einen Grund gäbe.« »Vielleicht haben sie keine«, schlug Carillo vor. »Ich gebe zu, das ist unmöglich«, antwortete Burg. »Trotzdem ist es wahrscheinlicher, daß sie welche haben. Wir haben uns, wie Sie sich erinnern werden, nicht mit Theorien und akademischen Debatten zufriedengegeben. Vor fünfzig Jahren hat man Atomraketen auf die Venus abgefeuert; sie sind alle kurz vor dem Schirm explodiert. Das Experiment wird auch jetzt noch gemacht, mit den gleichen Ergebnissen. Zusammengefaßt: Der Schirm läßt keine radioaktiven Stoffe durch, und zwar von keiner Seite.« »Noch«, ergänzte der Brasilianer. »Noch«, stimmte Burg zu. »Was die Überwindung des Thomasschirms angeht, so sind die besten Gehirne der Erde und die besten Ausrüstungen damit keinen Schritt weiter als während der Periode der Revolte und Flucht der
Aufständischen. Wie der Öffentlichkeit bekannt ist, hat der letzte Bericht der Arbeitsgruppe Schirm – einer Ansammlung, von Genies, wenn diesen abgenutzten Begriff jemals einer verdient hat – die Unfähigkeit zugegeben, sich wenigstens auf die grundlegenden Vorversuche zu einigen. Selbst ein Jahrhundert Fortschritt der mathematischen Theorie schafft es nicht, einen Hinweis auf die Struktur des Thomasschirms zu geben; ohne dieses Wissen können keine Testinstrumente entworfen werden.« Heath stimmte zu: »Der Report ist ein Trauerspiel. Der Thomasschirm ist buchstäblich nicht von dieser Welt – und auch nicht von ihrer, vermute ich. Aber wenn wir schon dabei sind, uns an das zu erinnern, was wir schon wissen, kann ich auch etwas beitragen, Mr. Burg. Erinnern Sie sich an die Berichte von offensichtlichen Versuchen der Venusianer, Atomwaffen an ihrem eigenen Schirm vorbeizubringen? Sind alle hochgegangen – wie unsere eigenen Bomben. Aber es scheint mir, Mr. Burg«, fuhr Heath fort, »daß der Abgeordnete Brasiliens recht hat, wenn er das abmildert. Wir müssen die Wahrscheinlichkeit akzeptieren, daß der Schirm im Laufe des nächsten Jahrhunderts nicht geknackt werden kann – mit Atomwaffen. Obwohl zunächst behauptet wurde, daß es den Schirm gar nicht geben könne, heißt es nun, er könne vielleicht gar nicht geknackt werden. Das steht hier jedoch nicht zur Debatte: Was wir jetzt finden müssen ist ein Weg, mit der Venus ohne den Einsatz von Atomwaffen fertig zu werden.« Er entzündete seine ewige Pfeife und schwenkte nachdenklich das Streichholz. »Es ist der Bericht der Arbeitsgruppe Psychologie, der heute zählt. Sie hat die ansteigende Zahl von Geisteskrankheiten in direkte Verbindung mit diesem Bombardement gebracht. Daran ist nicht zu rütteln. Trotz aller Bemühungen unserer Erzieher und
der Presse – die Menschen wachsen auf in einer Welt mit einer Massenphobie. Es gibt auf dieser Erde keinen einzigen Menschen, der sich ohne Angst bewegt – Angst vor dem nicht nur sprichwörtlichen Schlag aus heiterem Himmel. Es gehört nicht viel Einbildungskraft dazu, um zu wissen, daß irgendwo da oben eine Welt existiert, die dich und jeden anderen Bewohner dieses Planeten haßt und darauf aus ist, so viele Erdenmenschen wie möglich umzubringen. Man sieht, daß niemand etwas dagegen unternommen hat – jedenfalls nichts Wirkungsvolles; und für den kleinen Mann sieht es nicht danach aus, als könne etwas dagegen unternommen werden. Man fühlt sich wie eine Ratte im Labyrinth.« Die grobe Stimme und Redeweise des Appalachiers konnte sich nicht vergleichen mit Burgs Brillanz und Glätte, dachte Danton, als Heath die Maiskolbenpfeife aus dem Mund nahm. Dennoch verstand es der Mann, seine Zuhörer zu fesseln. Seine Pfeife war wieder mal ausgegangen, aber keiner – nicht einmal Burg – unterbrach ihn, während er sie neu entzündete. Einen Moment lang fing die Kamera Heath ein, wie er in der erwartungsvollen Stille des Sitzungssaals das Streichholz ausschnippte, und schwenkte dann auf sein Gesicht, als er fortfuhr. »Wir haben getan, was wir konnten. Die Situation ist einfach unerträglich. Solange das so bleibt, steht der ganze Planet kurz davor, geistig kaputtzugehen. Vielleicht können wir’s aufschieben von Tag zu Tag und von Woche zu Woche, aber wir sind noch genau da, wo wir waren. Die Krankenhäuser sind überfüllt. Die Schwächsten müssen dran glauben, einer nach dem anderen – Persönlichkeiten zerbrechen wie Lichter, die bei einem Kurzschluß verlöschen. Jede Art geistiger Arbeit, anständige Regierungsarbeit, künstlerische Kreativität – verdammt noch mal, man könnte fast sagen jede normale Art
zu leben – wird von Tag zu Tag schwerer. Bald wird’s ganz unmöglich sein. Deshalb sage ich, Schirm hin oder her, wir müssen handeln. Nicht morgen, nicht, wenn die Arbeitsgruppe Schirm etwas herausfindet, sondern jetzt!«
III
Die Störung durch die Mondfähre war nun vorbei, und Heaths Worte wurden auf der Venus gehört – aber nicht von den Verbannten. Sie wurden gehört in einer kleinen Nissenhütte auf der heißen, pflanzenlosen Oberfläche des Planeten. In der trüben Atmosphäre war die Hütte erst aus einer Entfernung von weniger als einem Meter zu sehen. Sie war vor der Masse der Venusianer unter der Oberfläche – und vor den wachsamen Augen der Exilregierung – ebenso wirksam verborgen wie vor den Augen der Erdbewohner. Kein Teleskop der Erde konnte ein Objekt von der Größe dieser Hütte auf der Venusoberfläche erkennen, kein optisches Vergrößerungsgerät half auf der Venus. »Endlich!« Durch die Sauerstoffmasken, die sie alle tragen mußten, blieben die Männer in der Hütte anonym. Jeder hörte die Rufe der anderen über den Kopfhörer seines Funkgerätes. Niemand äußerte sich, aber als die zusammenfassenden Worte Heaths über den Sender kamen, breitete sich im Raum eine spürbare Erregung aus und ergriff Mann für Mann die über den Tisch gebeugten namenlosen Gestalten. Nur einer schien davon unberührt zu bleiben: Die hochgewachsene, hagere Gestalt am Kopf des Tisches, den anderen einfach als der Schwermütige bekannt. »Sie werden nicht kommen«, sagte er einfach. Seine Schultern hoben sich und senkten sich wieder. »Sie werden nicht kommen; sie haben es bisher nicht getan, und sie werden es auch jetzt nicht tun. Der Sicherheitsrat hat parlamentarische Winkelzüge ein Jahrhundert lang zum Ersatz für Taten
gemacht – wie ihr feststellen werdet, wenn ihr die Abschriften der Sendungen seit der Gründung der Erdpartei nachlest. Sie werden sich jetzt nicht ändern, ganz egal, was in irgendeiner Rede gesagt wird.« Er starrte seine immer noch erregten Mitstreiter nacheinander an. Sie waren so gesichtslos wie er, auseinanderzuhalten nur an Hand ihrer Körpergröße, typischer Haltungen und Gesten und durch die unterschiedliche Klangfarbe ihrer Stimmen im Kopfhörer. »Damit seid ihr nicht einverstanden, wie?« »Das klingt nach mehr als bloßem Geschwätz«, widersprach der Untersetzte an der Seite des Tisches. »Die Zeit ist jetzt für sie reif, wenn sie bereit sind.« Er zeigte nach unten, wo sich die Masse der Venusbevölkerung befand. Nur die Beobachtungsstationen und die Untergrundbewegung befanden sich an der Oberfläche. »Die Verbannten gehen sich, wie die Dinge liegen, im wahrsten Sinne des Wortes gegenseitig an den Kragen. Enfield hat, wie wir wissen, an Boden verloren und wird bald am Ende sein; bei den Gemäßigten gibt es niemanden, der in seine Fußstapfen treten könnte. Ich bezweifle, ob Enfield die Partei der Gemäßigten vor dem sicheren Untergang retten könnte, selbst wenn er noch der alte wäre. Lathrop ist die stärkste Einzelpersönlichkeit innerhalb der ›Verschwörung‹, aber die Konservativen haben seit einiger Zeit an Popularität verloren. Mann und sein Programm haben die Gunst des Volkes erobert. Die Mitgliederzahl der Kriegsfalken-Partei hat sich in den letzten zwei Monaten verdoppelt – die Bürger fordern entschlossenes Handeln, und Mann ist der einzige, der in solchen Kategorien redet. Er hat durchgesetzt, daß das Bombardement verstärkt wurde, und das gefällt dem Durchschnittsbürger – es erweckt den Anschein, als würde etwas getan. Was Taverner betrifft…« Der Untersetzte beendete den Satz nicht.
»Lathrop hat nicht genug Anhänger, um aus der Auseinandersetzung als Sieger hervorzugehen«, stimmte die Gestalt am Radiogerät zu. »Aber Mann hat nicht genug Verstand, um die Macht zu übernehmen, auch wenn der Zeitpunkt für ihn günstig wäre, es jetzt zu versuchen und damit durchzukommen. Enfield wird nur geduldet – Lathrop und Mann benutzen ihn jeweils als willkommenen Prellbock gegen den anderen. Und er vertritt ja immer noch einen beachtlichen Teil der Bevölkerung. Und Taverner… nun, was ist er? Ein hochgelobter Laufbursche. Weder hat er eine Partei hinter sich, noch stellt er etwas dar außer sich selbst, und das ist ja nicht sehr viel. Er existiert, weil Thomas ihn brauchen kann; die anderen müssen ihn akzeptieren.« »Über ihnen allen thront Thomas, vergeßt das nie«, sagte der Untersetzte. »Er spielt sie gegeneinander aus, und dazu wird Taverner gebraucht – als Thomas’ Werkzeug. Keiner von ihnen ist sich zu fein, Koalitionen zu bilden und zeitweilige Bündnisse zu schließen, wenn es um ihr Hauptziel geht – Thomas zu töten und statt seiner unsterblich zu werden… Erzähl mir keiner, daß Taverner nicht auch davon träumt. Ich vermute, daß er eine ziemlich gute Ausgangsposition hat…« Der Schwermütige schnaubte und sah sich wieder am Tisch um, als suche er Rat, wo es keinen gab. »Unsterblichkeit?« fragte er. »Klar, davon träumen auf der Venus alle.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel aufkommen, daß er bei dieser Feststellung keinen der Anwesenden ausschloß. »Oh, es gibt keinen Beweis, daß Thomas wirklich unsterblich ist – aber offensichtlich besitzt er eine geheime Methode, seine Lebenserwartung auszudehnen, und das ist ja ein ganz guter Ansatz… Vielleicht ist er tatsächlich unsterblich. Auf jeden Fall ist das Geheimnis mit der Position des Direktors verknüpft, so daß der Rest der ›Verschwörung‹ noch aus anderen als den üblichen Gründen nach seinem Sessel schielt.
Es ist vor allem eine Palastrevolte, mein Freund«, fügte er hinzu und nickte dem Untersetzten zu. »Unterstützung aus dem Volk gehört dazu, ist aber zweitrangig – derjenige, der gewinnt, bekommt schon genügend Gefolgschaft; dessen könnt ihr sicher sein.« Der Untersetzte zuckte die Achseln. »Nun… es liegt genügend Sprengstoff unter der Oberfläche der Venus. Falls die Erde eine Landeaktion durchführt, brauchten wir den Staatsstreich, den wir geplant haben, nicht auszuführen. Die Exilanten wären so sehr mit dem Kampf untereinander beschäftigt, daß sie gar nicht darauf achten würden, was an der Oberfläche dieses Planeten vor sich geht.« »Das stimmt«, pflichtete ihm die Maske am Radio bei. »Die Fortschritte, die wir im letzten Jahr zu verzeichnen hatten, verdanken wir weitgehend der Tatsache, daß die ›Verschwörung‹ mit internen Machtkämpfen beschäftigt war und uns nicht beachtet hat. Seit Thomas schlichtweg verkündete, Taverner sei von nun an Mitglied der ›Verschwörung‹, und die anderen dachten, sie könnten aus ihrer Zustimmung für sich Kapital schlagen…« »Ich hoffe, ich verstehe euch richtig«, warf der Schwermütige ein. »Die grundsätzlichen Fragen haben wir ja heute schon vor Beginn der Übertragung erörtert.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause und erinnerte sich früherer Jahre, als auch er noch begeisterungsfähig gewesen war. Der Gedanke milderte die Feststellung ab, die er hatte treffen wollen: »Zusammengefaßt habt ihr folgendes gesagt: Diesmal wird die Erde die Venus wirklich angreifen, weil – und darin stimmen wir alle überein – jetzt dafür der richtige Zeitpunkt ist.« Es folgte ein langes, unbehagliches Schweigen. Schließlich sprach eine kleine Gestalt, die sie den Alten nannten, verbittert: »Der vernichtende Schlag. Von daher müßten wir ja
annehmen, daß der Sicherheitsrat drunten auf der Erde alles über die Auseinandersetzungen und die allgemeine Lage hier weiß. Und das ist unmöglich, es sei denn, sie wären schon hier, hätten hier Spione… Vielleicht ist es ja doch möglich.« Er fuhr hoffnungsvoll auf. Der Schwermütige schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß nie ein Spion mit uns Kontakt aufgenommen hat. Wir wären ihre natürlichen Verbündeten; die Wahrscheinlichkeit…« »… Ist gar nicht so gering!« platzte der Untersetzte heraus. »Hast du nicht Burgs Hinweis auf die Pro-Erde-Partei gehört? Woher weiß er, daß es so eine Partei gibt? Wie kann er von unserer Existenz wissen, wenn der Sicherheitsrat keine Spione hier hat…« »Nein«, stellte der Schwermütige entschieden fest. »Es mag so eine Partei geben, aber wir sind damit nicht gemeint. Wir haben uns nie ›Pro-Erde-Partei‹ genannt; für die Gründer unserer Bewegung wäre es selbstmörderisch gewesen, einen solchen Ausdruck zu benutzen, und für uns ist es das nicht minder. Wir sind auch so genug Verfolgungen ausgesetzt gewesen – muß ich, euch daran erinnern?« »Warum nennen wir uns Erdpartei? Wir wollen unsere Nachkommen daran erinnern, was die Exilanten – die ursprünglichen Flüchtlinge von der Erde – verloren, als sie ihren idiotischen Exodus auf diesen elenden Planeten unternahmen.« Er lachte trocken. »Als ich noch ein neues Mitglied war, versuchte ich für eine Namensänderung unserer Partei zu werben – ich schlug vor, wir sollten uns ›Zurück-zurErde-Partei‹ nennen. Nun ja, der Name paßt zu unseren Zielen, aber er ist einfach zu plump. Man sagte mir, daß der gleiche Vorschlag schon oft gemacht und genausooft aus immer den gleichen Gründen niedergestimmt wurde.«
»Trotzdem«, sagte der Untersetzte, »der Name, den Burg erwähnte, könnte durch die Übertragung durcheinandergeraten sein.« »Möglich – aber nicht wahrscheinlich«, versicherte der Schwermütige. »Ihr wißt, daß Burg so schlitzohrig ist, wie man nur sein kann. Er sagt mit Absicht nicht genau das, was er meint, und ist sich nicht zu fein, sich ständig zu wiederholen, wenn er ernsthaft gegen eine bestimmte Aktion ist.« Der Anführer der Erdpartei klopfte auf den Tisch, um jedes Wort zu betonen. »Burg widersetzt sich jeglicher Aktion gegen die Venus, und er hat jeden seiner Sätze mit Doppeldeutigkeiten gespickt. ›Schlagen Sie vor, die Pro-Erde-Partei auszulöschen?‹ würde keinen Sinn ergeben, wenn es auf uns gemünzt wäre. Nein, meine Herren…er hat die Exilanten gemeint!« »Was für ein verworrener Unsinn!« brach es aus dem Untersetzten heraus. »Ich kann mich nicht Wort für Wort an die Rede erinnern, aber ich wette, du kannst das auch nicht. Du hast einfach falsch zitiert oder die Äußerung in einen falschen Zusammenhang gebracht, was genauso schlimm ist, und du wirst das selbst feststellen, wenn wir die Aufzeichnung abspielen. Ich stimme dir zu, daß wahrscheinlich ein ironischer Hintergedanke dabei war, aber der könnte auch die umgekehrte Bedeutung gehabt haben, im Gegensatz zu deiner Auslegung. Wahrscheinlich wollte er andeuten, daß die ›Verschwörung‹ uns als erste vernichten würde, falls die Venus angegriffen würde; das wäre ziemlich folgerichtig. Vielleicht braucht er uns für später…« »Warum hören wir nicht auf, uns gegenseitig anzuschreien, und stellen das Radio wieder an?« wollte das jüngste Mitglied wissen. »Diese Sitzung muß doch immer noch im Gange sein. Wenn wir aufpassen würden, könnten wir leicht feststellen, was der Antarktiker wirklich gemeint hat.«
Es folgte eine weitere bedeutungsschwangere Pause; dann sagte der Schwermütige: »Das Radio ist nicht abgestellt, es empfängt nur einfach nicht. Wir können den Empfänger, den die ›Verschwörung‹ benutzt, nicht anzapfen, und unser eigener ist von etwa dreißig verschiedenen Faktoren abhängig. Wenn einer von ihnen nicht günstig ist, hören wir keine Übertragung.« »Dreißig Faktoren? Wie empfangen wir eigentlich überhaupt irgendwas?« Der Schwermütige zuckte die Achseln. »Meistens empfangen wir nichts. Wir hatten auf der Außenstation einen Sender versteckt, aber der ist seit Jahren nicht mehr gewartet worden – unser Mann dort oben ist aufgeflogen, und wir haben es nie wieder geschafft, einen Agenten oben unterzubringen.« Er hielt inne und blickte um den Tisch. »Hat irgend jemand einen praktikablen Vorschlag?« Die Sitzung der Erdpartei löste sich in unglücklichem Schweigen auf.
Auf dem Fernsehschirm in Paul Dantons »Baby-Flieger« wirkte Burg groß, als er sich erhob, das konnte man sogar auf dem Dreizehn-Zentimeter-Bildschirm im Flugzeug erkennen. »Wenn ich noch einmal die Frage stelle, ›was schlagen Sie vor‹, trete ich vielleicht jemandem zu nahe«, sagte er. »Aber über all diesem Gerede um technische Probleme haben wir vergessen, daß auch die moderne Kriegsführung ihre eigene Technologie hat. Sie ist für den begabten Laien kein geeigneteres Betätigungsfeld als die Mathematik oder die Psychologie – wie um 1940 ein Mann namens Hitler feststellen mußte. Natürlich müssen wir von der Annahme ausgehen, daß der Thomasschirm nicht zu knacken ist. Seit einem Jahrhundert ist
unsere militärische Führung von dieser Annahme ausgegangen. Ich würde Mr. Heath bitten, sich einmal deren Bericht anzuschauen.« Seine Augenbrauen hoben sich bedeutungsvoll, als er innehielt. »Um Zeit zu sparen, werde ich ihn lieber zusammenfassen: Die Militärs kennen die Oberflächenstruktur des Planeten nicht, den sie als Kriegsschauplatz ins Auge fassen sollten. Sie können nicht einmal eine sogenannte begründete Vermutung aussprechen, weil die gesamte Oberfläche der Venus unsichtbar ist, eingehüllt in kilometerhohe Wolken. Was müssen wir zuerst bombardieren? Wir wissen es nicht. Ist eine umfangreiche Landeaktion notwendig? Wenn ja, wo? Wir wissen es nicht. Wie viele Menschen leben auf der Venus? Wie gut sind sie bewaffnet? Wie werden sie in jenem ewigen giftigen Sandsturm, mit dem sie sicher seit langem vertraut sind, gegen uns vorgehen? Die Militärs wissen es nicht; sie haben keine Ahnung. Wir wissen es ebensowenig. Keiner auf der Erde weiß es.« Auf dem Bildschirm sah man, wie für einen Moment Bewegung in die winzigen Figuren kam. Ein Bote bahnte sich einen Weg den breiten Gang entlang zu Marcia Nels’ Platz auf dem Podium. Sie beugte ihren hellen Kopf mit den schimmernden Zöpfen herab, und der Bote sprach mit ihr. Danton hörte ein undeutliches Murmeln im Hintergrund. Dann drehte sich der Bote um und ging. Burg stand immer noch da. Zwar war seine dramatische Pause zerstört worden, aber seine Haltung drückte gespannte, fast eifrige Erwartung aus. Marcia Nels sagte. »Wir haben hier einen Bericht unseres Gegenspionageprojekts. Die Phase eins wird innerhalb einer Stunde abgeschlossen sein.« Sofort sprang Tamara auf. »Ich beantrage«, sagte sie mit klarer Stimme, »die Sitzung zugunsten des Ausschusses für Vergeltungsmaßnahmen aufzuheben.«
»Ich unterstütze den Antrag«, sagte Schwartzkopf, der Abgeordnete für Europa. »Wünscht jemand das Wort?« Die Frage der Vorsitzenden wurde mit Totenstille beantwortet. Danton sah erstaunt zu. Nachdem Burg die Sitzung gerade in völlige Handlungsunfähigkeit hineingeredet hatte… Aber die Stimmabgaben häuften sich, eine nach der anderen. Es gab nicht eine einzige Nein-Stimme. Danton hörte mit wachsender Verwirrung, wie ein »Ja« zum anderen kam, und schnappte nach Luft, als die Vorsitzende den Abgeordneten von Antarktika aufrief: Joachim Burg stimmte mit Ja. Diese Abstimmung war praktisch eine Kriegserklärung… und Burg hatte mit »Ja« gestimmt.
IV
Das Erkennungszeichen des Fernsehsenders erschien auf Dantons Bildschirm, und eine Stimme sagte: »Soweit die Sitzung des Sicherheitsrates. Wir schalten jetzt um zur Hollywoodbucht und setzen das Programm fort mit Kurt Lists Oper…« Danton schaltete mit einer knappen Bewegung das Gerät aus und lehnte sich im Schalensitz seines Fliegers zurück. Es gab für ihn nichts zu tun, als abzuwarten, daß das Signal »Ziel erreicht« auf dem Armaturenbrett erschien; aber er hatte viel nachzudenken. Die entscheidende Duplikationskonferenz der Pro-ErdePartei war abgesagt! Sofort nach der Landung, dachte er grimmig, werde ich Protest einlegen. Der Himmel weiß, wie lange wir um die Friedensangebote gekämpft haben. Wir geraten in unmittelbare Nähe einer Waffe, die unseren Forderungen Nachdruck verleihen könnte, und gerade, als der Sicherheitsrat der Venus offen den Krieg erklärt, läßt die Partei die Waffe fallen! Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ihm Zweifel kamen und sich in den Vordergrund schoben. Danton wußte, daß er derzeit keinen Protest einlegen würde. Es stimmte, die Partei gestand allen Mitgliedern das Recht zum Protest gegen die Entscheidungen des Golgi zu, aber… Mal sehen, überlegte er, wer war der letzte Dendrit, der offen Protest anmeldete? »War« ist die korrekte Formulierung. Nein – diese Situation konnte einen plötzlichen Schwenk in der Parteilinie bedeuten, und er wußte, welchen Kurs er steuern mußte – den, der mit größter Sicherheit sein Überleben
sicherte. Besuche die Versammlung, drängte seine innere Stimme, und demonstriere wieder mal deine uneingeschränkte Ergebenheit und deine gründliche Kenntnis der Pflichten eines Dendriten. Du bist einverstanden; äußere dein Einverständnis. Er erinnerte sich – nein, zwang sich zu erinnern – an den Fall des Dendriten J des… er konnte sich an den Plexus nicht erinnern… der vor weniger als zwei Monaten in aller Form Protest eingelegt hatte. Er war ein ernsthafter Mann mit intellektuellen Neigungen, der oft unter Verdacht geriet, aber dennoch akzeptiert wurde, solange er seine Fähigkeiten in der richtigen Weise einsetzte. Ob er noch am Leben war? War er krank geworden, oder war er einem Unfall zum Opfer gefallen, wie die meisten Dendriten, die aus der Partei ausgeschlossen wurden? Es kam nicht darauf an; Dendrit J war in der Nacht nach seinem Ausschluß gestorben, gestorben vor den Augen seiner Mit-Dendriten, als er seine Irrtümer bereute, seine Verbrechen beklagte, den Anwesenden die unvermeidlichen Folgen abweichenden Denkens vor Augen führte und sie davor warnte – hütet euch vor Abweichungen! Er hatte ihnen gedankt für die Erlaubnis, zu sprechen, hatte seine unverzeihlichen Handlungen gestanden… um körperliche Bestrafung gebeten… vollständige Verurteilung eines Saboteurs und Verräters… Danton erschauerte, nicht so sehr bei dem Gedanken an die Verbrechen des Dendriten J oder an seine Bestrafung, als vielmehr beim Gedanken an ein Leben außerhalb der ProErde-Partei. Dendrit J hatte der Partei gedient mit seiner Selbstkritik; es hatte andere gegeben, die einfach desertiert waren. Wie sie wohl heute lebten? Wie konnten sie existieren, Tag für Tag abgeschnitten von der Sicherheit, der Geborgenheit, der Kameradschaft, der Wärme der Partei?
Erkläre deine Zustimmung, sagte die innere Stimme zu Danton, und bleibe wachsam. Achte sorgfältig auf jedes Anzeichen von Abweichung und Meinungsverschiedenheiten mit den anderen. Es gibt Feinde innerhalb des Apparats, einige könnten sich zu diesem Zeitpunkt verraten. Bekämpfe alle Anzeichen, wenn auch zunächst auf brüderliche Art; decke einfach die Irrtümer auf, denn mindere Fehler, die sofort bereinigt werden, stärken die Gemeinschaft. Merke dir, wer Schwäche zeigt; bereite dich vor, sie zu melden; übersieh keine Einzelheit; vergiß nichts… Der Golgi hatte recht, wie er auch in der Vergangenheit immer recht gehabt hatte, denn wir haben die Wissenschaft der Geschichte bewältigt. Der Golgi hat recht… sogar, wenn er erwiesenermaßen unrecht hat, kam ihm ein anderer Gedanke. Danton unterdrückte den Impuls, konnte aber nicht vermeiden, daß er weiterdachte:… aus Gründen, die erfunden wurden, um der Situation gerecht zu werden… Ich bin müde, dachte er. Meine Widerstandskraft läßt nach, wenn ich müde bin. Er seufzte und versuchte, sich zu entspannen, indem er tief Luft holte. Wir sind keine Übermenschen, fuhr er in Gedanken fort, als bereite er eine Rede vor. Wir glauben nicht an die Unfehlbarkeit des einzelnen. Wir sind Wissenschaftler, und wir fürchten und scheuen uns nicht, Fehler zuzugeben, wenn wir sie entdecken. Wir überprüfen und hinterfragen uns ständig. Unsere Selbstkritik ist schärfer und durchdringender, als jede Kritik von außen sein kann, denn wir kennen die vorschriftsmäßigen Methoden. Aber die grundlegende Tatsache ist, daß wir keine grundsätzlichen Fehler machen; finden wir eine Fehleinschätzung – ein menschliches Fehlverhalten, so wissen wir sie auf einfache und geradlinige Weise zu korrigieren. Er überlegte einen Augenblick, ob er nicht die Pflicht hatte, zu protestieren. Schließlich hatte der Golgi nur sehr schwache
Argumente dafür, daß die schon legendäre Duplikationsmaschine überhaupt existierte. Dantons kürzlich beendete Mission war es gewesen, eine letzte Suchaktion durchzuführen, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Sollte die Entscheidung zur Absage der Duplikationskonferenz lediglich eine Entscheidung des Golgi, ohne Anstoß durch den Cortex, gewesen sein, änderte das die Situation ganz entscheidend. Es gab Zeiten, da wurde es vom loyalen Dendriten erwartet, daß er sich kritisch äußerte. Denken wir an die Raumfahrt, überlegte Danton. Wir wurden schrittweise darauf vorbereitet, so lange, bis der Gedanke daran alltäglich wurde. Im letzten Jahrhundert haben wir unentwegt neue Wunder der Wissenschaft verarbeiten müssen – es könnte sein, daß unsere Kapazitäten erschöpft sind. Den Gedanken an eine Maschine zu akzeptieren, die Duplikate von lebenden Menschen herstellt, könnte zuviel sein, um es auf einmal zu verdauen. Der Inhalt seines Magens meldete sich, als der Flieger mit einer einzigen Bewegung anhielt und an Höhe verlor. Danton warf der Schalttafel einen finsteren Blick zu. Wegen des plötzlich aufgetretenen Summens in seinen Ohren hatte er das Signal »Ziel erreicht« nicht gehört; bei der Gelegenheit fiel ihm ein, daß er das Signal noch nie gehört hatte. Die teuren Flieger hatten zweifellos bessere Manieren. Das Gebäude, das die örtliche Gruppe beherbergte, stammte aus der Zeit des »Kalten Krieges« Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Tarnfarbe war vor langer Zeit abgeblättert, und man sah wenig mehr als eine massive Kuppel dicht über der Erde. Der Flieger wurde durch eine Öffnung eingelassen, die eingerostet war, und einmal dazu gedient hatte, ferngesteuerte Geschosse mit kriegerischen Absichten hinauszulassen. Die meisten über der Erde gelegenen Stockwerke sahen mitgenommen aus und waren vollgestopft
mit den Überresten von Kränen, Abschußrampen, Montagefahrzeugen und Einschienengondeln. Die Geschosse selbst waren verschwunden; der Sicherheitsrat hatte sie vor hundert Jahren für seine Atombewaffnung beschlagnahmt. Weiter unten gab es Wohnquartiere, die immer noch benutzt wurden, wenn Hexenjagden im Gange waren, und ein ebenfalls leeres Waffenlager, das die Geigerzähler für sicher genug befunden hatten, dort Versammlungen abzuhalten. Auch wenn Namen innerhalb der Pro-Erde-Partei nur ein Dschungel neurologischer Begriffe waren, staunte Dendrit B über die vielen bekannten Gesichter, die er in der raunenden Menge entdeckte. Viele von ihnen hatte er vorher nur bei besonderen Gelegenheiten zu Gesicht bekommen, wenn sie aus den oberen Regionen der Parteiführung herabgestiegen waren. Das sah tatsächlich nach einer Kursänderung aus. Danton legte sich eine Rede zurecht. Die Versammlung hatte schon angefangen; er setzte sich leise auf eine leere Torpedohalterung und blickte seinen Nachbarn mit erhobenen Augenbrauen an. Der Mann hob zwei Finger, und Danton merkte, wie er blinzelte. Duplizierung! Dann war die Konferenz also doch nicht abgesagt worden – man hatte sie nur hierher verlegt. Die Warnung über Funk war ein Täuschungsmanöver gewesen. Der Golgi hatte die Bahn seines Fliegers verfolgt und gewußt, daß er hier würde landen müssen. Der anpassungsfähige Dendrit B, Mitglied des Inguinalplexus, fühlte eine Welle neuen Vertrauens in die Parteiführung in sich aufsteigen, und seine Müdigkeit schwand. »Diese ist unsere letzte Möglichkeit«, sagte der Sprecher gerade. »Unsere Bemühungen, Frieden durch politischen Druck zu erzwingen, sind älter als jeder hier Anwesende. Die Väter der Partei waren meisterhafte Politiker, aber sie haben
nie vorgesehen, daß wir bei politischem Druck stehenbleiben. Sie haben Gewalt gepredigt. Gewalt und Betrug; Schwindel und Zwang. Wir lehnen solche Mittel in unseren Beziehungen untereinander ab, aber wir wissen, daß wir unsere Feinde mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen müssen.« Dantons Blick wanderte zur hinteren Wand, wo Fotografien der Vorväter der Partei in einer langen Reihe hingen, die sich zu beiden Seiten eines riesigen Ölgemäldes des Cortex erstreckte. Die Fotos wurden häufig ausgewechselt, und die Auswechselung eines Bildes – sogar eine Veränderung in der Reihenfolge der Bilder – war für aufmerksame Dendriten ein Signal. Eine Veränderung kündigte sich an, war seit langem fällig. Seit er Mitglied der Partei geworden war, hatte Danton erlebt, wie bestimmte kleine Minderheitsfraktionen jahrelang geduldet wurden. Er hatte es sorgfältig vermieden, sich ihnen gegenüber allzu freundlich zu zeigen – das war Dendrit J zum Verhängnis geworden, war ihnen jedoch mit der Höflichkeit entgegengetreten, die der gerade vorherrschenden Linie angemessen war. (Ein Versäumnis in dieser Hinsicht konnte ebenso verhängnisvoll sein, wenn eine dieser Fraktionen plötzlich zu hoher Gunst gelangte.) Eine von ihnen wird hochgelobt werden, dachte er; der Rest wird einer Säuberung zum Opfer fallen. Er erkannte, daß diese Sitzung über Duplikation eine Falle sein konnte, ein Mittel, um diejenige Fraktion, die sie unterstützte, zu zerstören. Es war bemerkenswert, dachte Danton, daß er selbst – ein Dendrit, der zu diesem Thema keine Stellung bezogen hatte, die von der Parteilinie abwich – für die entscheidende Erkundungsaufgabe ausgewählt worden war… Danton studierte sorgfältig die Fotografien – ah, da war ein Hinweis für alle, die genug Intelligenz besaßen, ihn zu sehen und zu verstehen. Keines der Bilder, die er bei der letzten Konferenz bemerkt hatte, war entfernt worden – keiner der
früheren »Verräter« war wieder in Gnaden aufgenommen worden, weil etwa neue Erkenntnisse bewiesen, daß er in Wirklichkeit ein Held war –, aber es hatte eine kleine Veränderung in der Rangordnung gegeben. Das Bild, das unmittelbar auf das des letzten Golgimitglieds auf der linken Seite folgte, hatte zuvor zwei Plätze weiter außen gehangen. »Es gibt ein altes Sprichwort, daß zu einem Oximoron immer zwei gehören«, fuhr der Sprecher fort. »Einige von uns sind der Meinung, daß die Zeit der halben Maßnahmen vorbei ist. Er ist unbestreitbar, daß unser Dasein als lautstarke politische Minderheit unsere Sache nicht wesentlich vorangebracht hat; jetzt, da der Sicherheitsrat sich wahrhaftig darauf vorbereitet, gegen die Exilanten Krieg zu führen, werden wir verdächtigt, für sie wichtige Ziele auszuforschen. Der Inguinalplexus wird noch von den Behörden toleriert, aber er steht jetzt unter genauester Radarüberwachung. Das ist der Grund, warum wir uns statt dessen hier treffen. Wir sind jetzt bereit, das zu tun, was wir bisher vernachlässigt haben: Zwang und Gewalt anzuwenden…« Danton brütete über den vertauschten Fotografien. Beides waren Bilder von Führern, die Gewaltmaßnahmen befürworteten, aber es gab da einen wesentlichen ideologischen Unterschied… Natürlich. Der eine war für direkte militärische Aktion; der andere schlug eine Verbindung von Zwangsmitteln und Betrug vor, mit einem Minimum an sichtbarer Gewalt. »… und so ist es besonders passend, daß der Plan, den Golgi angenommen hat, aus einem Mythos erwuchs und wesentliche Elemente der Täuschung enthält – wir benötigen nur eine einzige Abstimmung, hier und jetzt, um den Duplikationsplan in Kraft zu setzen.« Danton stellte fest, daß es eine Debatte geben werde, aber die Bilder zeigten, daß der Cortex bereits eine Entscheidung
zugunsten der Duplikation getroffen hatte; die Opposition schien das nicht zu bemerken – ihr entging die tiefere Bedeutung dieser Tatsache. Der Tonfall des Sprechers, so ausdruckslos rhetorisch wie der eines Wiedererweckungspredigers, wandelte sich plötzlich zum rauhen Umgangston eines Mannes, der es ernst meint. »Wenn sich erst zwei oder drei verschiedene Burgs und Heaths und Nels’ im Sicherheitsrat begegnen, widersprüchliche Befehle geben, idiotische Reden halten – dann fällt der Krieg ins Wasser.« Diese Worte erklangen in der charakteristischen Art des Cortex selbst. Danton blickte noch einmal um sich. Und das ist die letzte Warnung an die Opposition, dachte er. Aus der Masse verschwommener weißer Gesichter gegenüber Danton erklang in der kalten Halle eine Stimme. Danton erkannte den Sprecher als einen Dendriten des Adrenalplexus. »Ich spreche für jene Minderheit, die sich seit langem für Gewaltanwendung ausspricht, und die’ ihr vom Golgi seit Jahren in Schönfärberei erstickt…« Danton legte sich einen neuen Aktionsplan zurecht. Der Wechsel in der Parteilinie war erfolgt, und die Säuberung stand bevor. Er sah den Sprecher an und schüttelte leicht den Kopf. Er spürte ein kurzes Gefühl des Mitleids mit diesem Mann, den er als alten Kämpfer und ehemaligen Helden der Pro-ErdePartei kannte. Sie lassen sich von zweifelhaftem Idealismus hinreißen und vergessen die grundlegenden Dinge, dachte er. Haben Sie denn aus der Erfahrung nicht gelernt, daß hartnäckige Opposition nur zum Verrat führen kann? »… bringt uns nicht mit dem Duplikationsplan in Verbindung«, fuhr der Sprecher fort. »Das ist ein Traum, ein schillernder Schatten, den irgendein Agent des Sicherheitsrates dem Golgi ins Gehirn gepflanzt hat.«
Dieser Dummkopf, dachte Danton. Er hat der Führung den Krieg erklärt. »Wenn ihr Gewalt anwenden wollt, dann tut das auch. Gewalt gegen den Sicherheitsrat bedeutet militärische Aktion. Nichts anderes wird seine Tyrannei beenden. Werfen wir ihn raus! Was die Erde braucht, ist eine Gehirntransplantation und kein Zaubertrick!« Es erhob sich ein allgemeines Murmeln, aber ziemlich viel Applaus. Danton merkte, wie er sich verkrampfte, als er das hörte. Konnte dies ein bewußtes Verwirrspiel sein? War der Test der treue zur Partei verwickelter, als er gedacht hatte? Es hätte eigentlich viel mehr Empörung über den Sprecher aufkommen müssen. Auf der Rednertribüne wartete ruhig der Efferent, der Abgesandte des Golgi, bis der Applaus abgeklungen war. »Glaubst du denn, daß die Duplikationsmaschine nur ein Mythos ist?« »Allerdings.« Die Efferenten und Afferenten waren Boten vom und zum Golgi. Die Efferenten brachten nur Botschaften vom Cortex, während alle Botschaften, die zurück an den Cortex gehen sollten, von den Afferenten überbracht wurden. In diesem Fall sorgte die Imitation neurologischer Vorgänge für Wirksamkeit und einwandfreies Funktionieren der Befehlsübermittlung. »Dendrit B, Mitglied des Inguinalplexus – würdest du bitte Bericht erstatten?« Danton duckte sich, um nicht mit dem Kopf am Gestell der Torpedohalterung anzustoßen, und stand auf. Er hatte bereits dem Efferenten Bericht erstattet, der ihn für seinen »spontanen« Beitrag hier ausführlich instruiert hatte. Er stellte mit Erstaunen fest, daß ihm die Knie zitterten. »Ich habe die Maschine gesehen«, begann er. »Sie ist nicht …«
Er verstummte, als ein verwirrtes Murmeln, das sich vorwiegend aus Erstaunen und Unglauben zusammensetzte, vom Hall des nackten Betons zu einem Brüllen verstärkt wurde. Als es fast verklungen war, setzte er noch einmal an. »Ich kann natürlich davon keine Fotos vorzeigen. Ich kann euch aber eine Karte von der Stelle zeichnen, wo die Maschine zu finden ist. Sie ist in Old York – wohl der letzte Ort, wo ich sie vermutet hätte – in einer Art versiegeltem Tunnel –, sieht aus wie ein Eisenbahntunnel. Sie befindet sich in einiger Tiefe unter Wasser, ist aber ansonsten unbewacht. Ich vermute, der Sicherheitsrat hat angenommen, daß kein Wächter das Geheimnis bewahren könnte, sobald es erst bekannt ist. Und das Versteck ist wirklich schwer zu erreichen. Man muß ungefähr einen Kilometer hinausrudern, und dann die richtige Stelle ausfindig machen unter den Dächern der ganzen alten Häuser. Dieses eine ist auf Höhe des Wasserspiegels abgesägt. Eine Luftschleuse ermöglicht den Zugang.« »Wie hast du sie dann gefunden?« fragte der Adrenaldendrit zweifelnd. »Ich habe alle Protokolle des Halasz-Prozesses nach Hinweisen durchsucht, wo der Laden von Jonas Pell gewesen sein könnte. Ich dachte, der Sicherheitsrat hat vielleicht beschlossen, die Maschine an dem Ort stehenzulassen, wo es am offensichtlichsten ist. Als ich herausgefunden hatte, daß diese Stelle in Old York liegt, habe ich die Spur nicht weiterverfolgt. Ich kam erst wieder darauf zurück, als ich alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte.« »Und du bildest dir ein, sie sei mehr als nur eine Ansammlung von Rost?« Dantons Knie hörten auf zu zittern. Der Mann machte ihn wütend. Er erkannte jetzt, daß er nervös gewesen war über die Aussicht, eine entscheidende Rolle bei der mit Sicherheit bevorstehenden Säuberung zu spielen. Zum ersten Mal…
Aber der Ärger drängte jedes Gefühl persönlichen Bedauerns über das, was zu tun war, in den Hintergrund, und gleichzeitig stieg sein Selbstvertrauen. »Selbstverständlich«, sagte er mit entschiedener Stimme. »Sie wurde konserviert – ›eingemacht‹ nannten sie das damals wohl. Die Maschine befindet sich in ausgezeichnetem Zustand. Darüber hinaus ist sie überraschend einfach konstruiert, ohne bewegliche Teile, soweit ich erkennen konnte. Durch einen Blitzüberfall könnte man sie sich leicht aneignen. Es gibt keine Alarmanlage in dem Tunnel, sonst wäre ich erwischt worden. Ich vermute, daß es eine Radarüberwachung der Wasseroberfläche gibt. Aber die habe ich überlistet, indem ich die letzten zweihundert Meter geschwommen bin. Ich sehe nicht ein, warum ausgewählte Männer es nicht auch so machen könnten: Die Maschine an die Oberfläche bringen und sich von einem Hubschrauber aufnehmen lassen, sobald sie auftauchen – noch ehe der Sicherheitsrat Verdacht schöpft, es könne etwas fehlen.« Wieder erhob sich ein Raunen, aber der Tonfall war ein anderer. Ein Mann, der auf dem Gestell hinter Danton saß (er hatte zu erkennen gegeben, daß er dem Sprecher der Opposition nicht zustimmte), sagte: »Junge, Junge – dazu gehört Mut.« Danton erkannte plötzlich, was das für ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen war und überlegte einen Moment, ob er so lange nach dem Vorfall noch anfangen sollte, Angst zu bekommen. Das Murmeln steigerte sich mit wachsender Erregung. Das Geheimnis der Duplikationsmaschine war wohlgehütet gewesen. Bis zum heutigen Tag, dachte Danton, kannte die Öffentlichkeit sie nur als Legende. Ein ehemaliger Offizier des Sicherheitsrates, hieß es, war hingerichtet worden, weil er wegen der Maschine gemordet hatte. Es war allgemein bekannt, daß der Prozeß ergeben hatte, daß der Offizier,
Halasz, wahnsinnig gewesen, daß der vermutliche Erfinder, Jonas Pell, nur ein harmloser Bastler gewesen war und daß es so eine Maschine nie gegeben hatte. Angesichts der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Skandal um den Karbonbombenverrat erwies sich das als außerordentlich glückliche Fügung. Die Ansichten der Öffentlichkeit über »die Wissenschaftler« waren seit der Fusionsbombe sehr gespalten, und die ewige Frage: »Warum haben sie das getan?« entwickelte sich zur Verachtung der Massen gegenüber allen Technikern. Die Öffentlichkeit neigte immer noch dazu, in Kategorien zu denken – ein Wissenschaftler war wie der andere –, und wenn sie einmal angefangen hätte, auf diesen Begriff gewalttätig zu reagieren, wäre die Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen gewesen. Etwa im Jahre 2015 hätte das Wissen um die Existenz einer Maschine, die Doppelgänger herstellen konnte, ein Massaker ausgelöst, bis hinunter zum einfachen Mechaniker. Als jedoch der Prozeß Beweise dafür erbrachte, daß der verstorbene Pell – wie alle Wissenschaftler, die nicht in der Tradition »Frankensteins« standen – nur eine komische Figur gewesen war, entspannte sich die Lage. Und die Hinrichtung Halasz’ beschwichtigte die stärksten Haßgefühle. Der Dendrit, der Gewaltanwendung befürwortete, war inzwischen aufgestanden und enthüllte einen schwarzen Gegenstand etwa von der Größe eines Golfballs. Hier und da in der Halle standen andere Männer auf – die meisten waren als Angehörige der gleichen Minderheitsfraktion zu erkennen. Sie hielten ähnliche Gegenstände hoch und hoben sie über ihre Köpfe. Das Raunen erstarb in plötzlicher Verwirrung. »Der Sicherheitsrat«, sagte der Anführer der Minderheit, »hat seinen eigenen Duplikationsplan. Ihr braucht die Maschine nicht zu stehlen; man hat sie entfernt. Aber wir zeigen euch gern, wo sie ist.«
Er ließ den schwarzen Golfball fallen, und ein dünner, farbloser Nebel begann um seine Füße herum aufzusteigen. An anderen Stellen in der Halle waren weitere platzende Geräusche zu hören. Als er sich umsah, konnte Danton aus allen Teilen des Raumes den Nebel aufsteigen sehen. »Seuchenkapseln«, rief er aus. »Nicht einatmen, Dendriten!« »Zu spät«, sagte der Anführer der Minderheit. »Ihr könnt unmöglich diesen Raum verlassen, ohne zumindest einmal einzuatmen. Ihr könnt natürlich bleiben, wenn ihr wollt; offen gesagt weiß ich nicht, was in diesen Kapseln ist, aber ich vermute, es ist was Besonderes.« Er lächelte plötzlich gewinnend. »Diejenigen unter euch, die das Gegenteil haben wollen, begeben sich bitte friedlich einer nach dem anderen nach oben. Dort warten Flugzeuge auf euch.« Er drehte sich ohne Hast um und ging zum nächstgelegenen Aufzug. Der bakterienhaltige Nebel reichte ihm bereits bis an die Schultern.
V
Auf der Venusoberfläche, wo die Erdpartei alle Übertragungsfetzen der Sendungen des Sicherheitsrats, die sie empfangen konnte, sowie das Kommunikationsnetz der Exilregierung der Venus abhörte, war der Nebel wesentlich dichter. Geoffrey Thomas dachte über die Untergrundbewegung nach, die weit über ihm existierte. Er lächelte, als er ihren Namen murmelte, denn er war überzeugt, daß sich die Gedanken der Untergrundbewegung nur oberflächlich mit der Erde befaßten. Der Sender in seiner Armbanduhr war eingeschaltet, während er die Sitzung der Erdpartei belauschte, und die Person, mit der er in Verbindung stand, konnte auch sein leisestes Flüstern noch verstehen. »Es gibt hier ein wichtigeres Problem als die Erde, und sie wissen das«, sagte er. »Und sein Symbol ist ein bestimmter Stuhl.« Es war der größte Stuhl auf der. Venus; kein Thron, denn ein Thron würde einem Präsidenten oder einem Direktor nicht zustehen, aber jedenfalls ein sehr großer Stuhl. »Habe ich dir jemals erzählt«, sagte er zu dem unsichtbaren Zuhörer, »daß ich an den Machtkampf geringerer Männer um mich herum dachte, als ich diesen Stuhl bauen ließ – an den Kampf um seinen Besitz? Ich habe ihn nicht nur so riesig machen lassen, um meinen eigenen Körperumfang aufzunehmen, sondern auch, damit jeder, der nach mir versucht, es sich darin bequem zu machen, sich zwergenhaft vorkommen soll.« »Für dich ist er jetzt enger als ein Stahlkorsett, Thomas«, kam die Antwort.
»Ich kann mir daraus immer noch den Machtkampf anschauen – wie Kriegsfalken und Konservative sich umkreisen, auf den richtigen Moment warten, und am Ende ihres Duells steht mein Stuhl.« »Man sollte meinen, dein Spaß wäre inzwischen etwas abgestanden.« Thomas lachte. »Ich denke an die verzweifelten Maßnahmen, zu denen die angefaulte alte Venus, diese Leiche eines Planeten, die Menschen getrieben hat. Ich betrachte mir das kolossal unsinnige Anliegen der »Erdregierung im Exil«. Ich belausche die heimwehkranke Erdpartei, die an der Oberfläche kauert – und erinnere mich daran, daß sie alle einst eine gewisse Bedeutung hatten. Aber nach einem Jahrhundert ist davon nur Lächerlichkeit geblieben. Weißt du, ich hätte ein meisterhafter Schachspieler werden können, oder ein Meisterverbrecher. Aber meine Talente lagen schon immer mehr in Richtung Betrug, und die einzige Leinwand, die für mein Gemälde groß genug ist, ist die Geschichte; also hat meine Rolle darin bestanden, auf diese Leinwand riesige Lügen zu malen – Lügen, die monumental genug waren, um etwas zu verändern.« »Dann solltest du wissen, Thomas, daß ein Mann, der imstande ist, solche Witze zu machen, auch imstande sein sollte, solche Witze zu ertragen.« Thomas seufzte gurgelnd – ein Seufzen, wie er es oft in Gegenwart von Lathrop, Mann, Enfield, Taverner und den Dutzenden von anderen, die ihnen vorangegangen waren, ausstieß. Sollte seine Zuhörerin doch glauben, er seufze um seine verlorene Jugend, um den schlanken Techniker, der den Thomasschirm entworfen hatte. Sie konnte das Grinsen auf seinem Gesicht nicht sehen, das wuchs, als er an all die Bürokraten, die Generäle, die leitenden Angestellten der Militär- und Bedarfsgüterindustrie, an all die anderen dachten,
die das Rückgrat einer autoritären Gesellschaft bildeten – derer man jetzt als dem Rohmaterial einer großen Freiheitsbewegung gedachte. Er, Thomas, kannte die Wahrheit: Der Exodus war die Flucht der Nutzlosen gewesen, sonst nichts. Auf seinem Gesicht erschien ein noch breiteres Grinsen, als er sich erinnerte, wie einfach es gewesen war, ihnen den Thomasschirm zu bescheren. Die anderen Techniker unter ihnen waren mittelmäßige Industrielakaien gewesen, unfähig zu einer solchen Leistung. Eher geeignet für den Überfall auf eine andere Stadt, um Frauen zu rauben – der Name der Stadt war ihm entfallen. Und sie waren so entsetzt gewesen, als sie feststellten, daß die Venus kein tropischer Sumpfplanet war… Sie hatten eine gewisse Schlauheit an den Tag gelegt, aber sie waren nicht schlau genug gewesen, um den Grund für Thomas’ Hilfe zu ahnen – ein Grund, der immer noch galt, dachte er, aber nicht mehr so wichtig erschien. Der Zeitpunkt, zu dem er eigentlich hätte sterben müssen, war gerade zum vierten Mal vorübergegangen, und nun erschienen ihm hohe Ziele genauso lächerlich wie falsche. »Die Geschichte macht aus beiden Witze«, sagte er, »mit etwas wohlbedachter Hilfe.« »Die du, als Unsterblicher, zum richtigen Zeitpunkt leisten kannst«, sagte die Stimme. Ja, dachte er, der Tod ist mir ausgewichen. Ich habe mich gefragt, ob ich würde sterben können, als der vierte Metastasenzyklus abgeschlossen war. Wie sich herausstellte, war die Antwort nein. »Die Unsterblichkeit, Luisa«, sagte er zu seinem unsichtbaren Gegenüber, »das war das zweite Geschenk meines Venusabenteuers. Ich wünschte, du wärst dabeigewesen, als sich die ersten Parteioberen darum stritten. Sie begannen mit einer Regelung, daß nur der gewählte Direktor sie haben sollte, und sie wählten mich, weil sie niemand anderem trauten – das
Geheimnis sollte erst weitergegeben werden, wenn ich wegen Hochverrats abgesetzt wurde (im ursprünglichen Wortlaut hieß es natürlich ›falls‹), und dann begann das Rennen. Eine nobel klingende Regelung, meinst du nicht?« »Ich bin sicher, daß sie damals nobel wirkte.« Und von ihnen allen, dachte er, können es nur Taverner und Luisa ertragen, mich anzusehen. Früher oder später wird einer der Bewerber mich ablösen und den großen Stuhl erobern – zweifellos aus edlen Motiven. Eine Zeitlang wird er von dem Stuhl überragt werden – dann wird das Geheimnis herauskommen, und wir werden vielleicht ein neues Monster haben. Bis dahin… Bis dahin gibt es Luisa. Sie sagt gerade: »Ich muß dich so bald wie möglich sehen.« »Dann komm«, antwortete er, und schaltete das Gerät ab. Thomas fragte sich, ob der heute schon umfangreiche Lathrop die Ironie des Ganzen so treffend finden würde wie er selbst. Noch konnte man nicht sicher sein, aber Lathrop sah wie der wahrscheinliche Gewinner aus. Wenn es so kam, würde der gewesene Oberst weise genug sein, zu lächeln, wenn er erkannte, was er da gewonnen hatte? Thomas blinzelte und murmelte: »Um Gottes willen – wahrscheinlich bin ich schon so senil, wie sie es von mir glauben. Es ist noch keine Stunde her, und ich fange schon an zu vergessen, daß einer von ihnen mir Gift gegeben hat. Kann das auch ein Teil des Prozesses sein?« Er kicherte; bisher war sein schwammiges Aussehen einem Defekt seiner Drüsen zugeschrieben worden, manchmal auch irgendwelchen abscheulichen Ausschweifungen. »Sie sind so unfähig wie ich, Glück zu empfinden«, dachte er. »Bei der bloßen Erwähnung von Vergnügen vermuten sie Lasterhaftigkeit, und wenn dann auch noch so etwas wie eine monströse Krankheit auftritt, sind sie sich dessen sicher.«
Jedenfalls ließen sich die Tatsachen, die hinter Thomas’ »Krankheit« lagen, nicht mehr für viele Jahre verbergen. Selbst wenn er sie hätte verbergen wollen, ging das nicht mehr lange. Keiner meiner jetzigen Kontrahenten ist ein Schwächling, dachte er. Wenn sie die Tatsachen erkennen, werden sie sich ihnen stellen – soweit sich ihre verzerrte Wahrnehmung überhaupt einem Ereignis außerhalb ihrer selbst stellen konnte. Bis dahin werden sie sich weiterhin gegenseitig mit hochtrabenden Worten bekämpfen und versuchen, meinen Anblick zu meiden…… außer Luisa. Er lächelte bei dem Gedanken, daß sie bald bei ihm sein würde, und empfand einen Moment lang Sympathie für Lathrop, der sie entdeckt hatte. Er hatte dem Paar genug nachspioniert, um festzustellen, daß sie in der Gemeinschaft mit dem Oberst eine gewisse anhaltende Befriedigung fand, wenn auch nicht so, wie Armand Lathrop sich das vorstellte. Betrachtete sie sich als eine Art Evita Peron? Thomas war sich nicht sicher. Auf jeden Fall würde sie nicht viel länger nur die Geliebte des Obersten bleiben. Aber die wesentliche Frage, dachte Thomas, ist die: Was will das Mädchen wirklich? Sie hat von allein einen Weg gefunden, mich kennenzulernen, und hat es geschafft, mir von Anfang an eine Reihe vergnüglicher Fragen aufzugeben. Sie hat natürlich ihre Grenzen – aber wo liegen die? Und wie lange werden sie sie noch behindern? Er erinnerte sich, wie sie ihn nach jener ersten Begegnung verlassen hatte (mit einigen notwendigen Schlüsseln und Anweisungen), als sich jetzt mit höflicher Vorsicht seine Bürotür öffnete. Er blickte auf, wobei sich seine Kinnwülste feucht aneinanderrieben. Sie erschien wie immer auf Stichwort, und er hatte sie schätzengelernt. Schätzen? Vielleicht, dachte er, kann man eher sagen, daß wir uns für einander interessieren wie zwei gleichrangige
Persönlichkeiten – darin liegt viel mehr als das routinemäßige Interesse an einem Werkzeug, das Aufmerksamkeit verlangt, wenn es auch weiterhin von Nutzen sein soll… Aber wehe dem Mann, der diese Frau sieht und in ihr nichts anderes als ein Werkzeug erblickt… Sie trat ein, und Thomas lächelte zum wiederholten Male über ihr zerbrechliches, kindliches Aussehen, ein Eindruck, der ausgelöscht wurde, bevor er sich verfestigen konnte – um durch etwas ersetzt zu werden, das von ihr ausstrahlte und ihre Erscheinung zu Schönheit werden ließ. Luisa sah Geoffrey Thomas an, ohne zu blinzeln, und sagte: »Warum erzählst du mir so viel, Thomas?« »Weil ich es leid bin, alleine zu lachen. Du teilst mit mir – bis zu einem gewissen Grad – meine Belustigung über diesen Kampf um Unsterblichkeit, und ich bin gespannt, ob du das, was du von mir lernst, so anwenden wirst, wie ich glaube.« Auf ihrem Gesicht erschien jetzt ein Lächeln, das Thomas an das Bildnis des Dorian Gray erinnerte, als sie ihm antwortete: »Und du glaubst, ich werde mich als zusätzliche Belohnung dem Gewinner anbieten, wer immer es auch sein mag?« »Die Frage zu stellen heißt sie beantworten, meine Liebe.« Wenn sie den wahren Zusammenhang nicht kennt, dachte er… aber wer außer mir sollte ihn kennen? Sie wischte die bisherige Unterhaltung beiseite und hielt einen gelben Zettel hoch. »Ich habe hier etwas Eigenartiges. Vielleicht solltest du dir das ansehen.« »So weit kann ich mich nicht vorbeugen. Lies es mir vor, Luisa.« Eine Locke ihres dunklen Haares fiel nach vorne, als sie den Kopf senkte, und Thomas fragte sich, ob sie sich wohl jahrelang danach gesehnt hatte, zu einer Position zu gelangen, die es ihr ermöglichte, ihrem Haar ein solch kalkuliertsaloppes Aussehen zu verleihen. »Es ist von einer der polaren
Wetterstationen«, sagte sie. »Es ist über den Bildschirm hereingekommen, und ich habe mir nur ein paar stenografische Notizen gemacht. Die Mannschaff dort möchte dir mitteilen, daß eine ihrer Tornado-Raketen außer Kontrolle geraten ist. Ich habe die Nummer hier, falls du sie brauchst.« Thomas runzelte die Stirn. Die Tornado-Raketen mußten in regelmäßigen Abständen abgefeuert werden, um jenen hysterischen Scherz, den man auf der Oberfläche des Planeten »Wetter« nannte, zu beobachten. Der venusianische »Tag« dauerte dreiundzwanzig Erdentage, so daß das Temperaturgefälle zwischen der Tag- und der Nachtseite immer sehr groß war. Es war ein ständiges Problem, die Ventilatoren und andere Einrichtungen auf der Oberfläche davor zu schützen. Zunächst war Thomas geneigt gewesen, die Verwendung von Raketen ganz zu verbieten, aber bald wurde offensichtlich, daß die Zivilisation der Venus ohne sie nicht überleben konnte. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, wann das Unvermeidliche geschehen würde. Gut, wenn es jetzt passierte, dann hatte es lange gedauert… vielleicht zu lange. »Ich sehe nicht ein, warum ich die Kennziffer brauchen sollte«, sagte er. »Ewig belädt man mich mit nutzloser Information. Passiert etwas wirklich Schlimmes auf der Oberfläche? Hat die Rakete ein Sturmtief oder etwas Ähnliches an der Oberfläche ausgelöst?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein… keine Stürme von Bedeutung. Die Rakete ist einfach losgegangen und mit Höchstgeschwindigkeit in den Himmel aufgestiegen. Sie sagen, sie sei jetzt 480 000 Kilometer hoch, und die Außenstation meldet, daß sie immer noch weiterfliegt.« Das ist es also, dachte Thomas. Luisa kommt mir nicht mit nutzloser Information; ich hätte es wissen müssen. »Dann ist es wohl eine Rakete der Serie vier«, sagte er. »Mit
Kernspaltungsantrieb. Bist du sicher, daß die Entfernung stimmt?« Ihre grauen Augen begegneten seinem Blick, und ihr weicher, orientalisch geschwungener Mund verzog sich zu einem Lächeln – Luisas einzigem und unnachahmlichem Lächeln. Es ist ein recht frostiges Lächeln, dachte Thomas, und keins, das sie einem Mann zeigen würde, der ihr nützlich sein kann. »Ich dachte, es würde dich interessieren«, sagte sie. »Ich habe sie die Entfernung wiederholen lassen. Zunächst hatten sie sie mir in Lunareinheiten gegeben. Sie wollen wissen, ob sie eine Rakete hinterherschicken sollen, um sie zurückzuholen, oder ob sie sie einfach weiterfliegen lassen sollen, bis sie explodiert, um zu sehen, wie weit sich der Schutzschirm ausgedehnt hat.« »Irgendwelche Äußerungen in der Bauweise der Serie vier in letzter Zeit?« »Nein; im Prinzip funktionieren sie wie Isomerenumwandler. Sie benutzen sie zur Tornadokontrolle, wenn ich recht verstanden habe.« Er sah sie einen Moment lang an. »Du hast viel gelernt in letzter Zeit, was?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich weiß genug, um ausführlich Bericht erstatten zu können.« Seine winzigen Augen sandten Blitze nach ihr aus. »Glaubst du, sie werden ihre Explosion bekommen, Luisa?« Die beiden sahen sich verständnisinnig an. »Da oben nicht«, antwortete sie. »Was meinst du, wie lange es den Schirm schon nicht mehr gibt?« Thomas schnaubte. »Das kann ich nicht sagen. Theoretisch hätte er ewig halten sollen – er brauchte keine Energiezufuhr, nachdem er einmal aufgebaut war. Selbstverständlich kann er sich nicht ausgedehnt haben, nicht einen Zentimeter. Wenn die
Rakete daran vorbei ist, ist der Schirm nicht mehr da. Vollständig weg.« Seine Stimme erstarb. Es kostete ihn Mühe, zu sprechen, und er sah keinen Sinn darin, jetzt noch mehr zu sagen. Es wäre sicher bequem gewesen, den Schirm mit der Fähigkeit auszustatten, daß er sich ausdehnte. Aber das hätte die Zukunft allzu unberechenbar gemacht für die Art Manipulation, wie er sie vorhatte. Was Luisa bereits wußte, war bedeutsam genug. »So… die Krise ist da, nicht wahr, meine Liebe«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Du hast gesehen, wie ich in den letzten Jahren bei jedem geringfügigen Anlaß die schwächere Fraktion unterstützt habe. Du hast gemerkt, daß ich ein unsicheres Gleichgewicht aufrechterhalten habe, und hast versucht, zu entdeckten, worauf das hinauslaufen sollte. Jetzt vermutest du, dies sei das Ereignis, auf das ich gewartet habe.« »Und du bist darauf vorbereitet?« fragte sie mit der Schlichtheit, die Thomas so an ihr bewunderte. Er fragte sich, ob sie wohl Lathrops wohlbehütetes Geheimnis, den Aufenthaltsortes der Erdpartei entdeckt hatte; ob sie – oder irgendein anderer, der weniger als fünfzig Jahre unter dem Schirm gelebt hatte – sich vorstellen konnte, wie folgenschwer sein Verschwinden sein konnte; ob sie Lathrop Einzelheiten mitgeteilt hatte, die Thomas selbst für wichtig befunden hätte. Der Oberst war ein Mann, dachte er, den man zu bestimmten Zeiten durch schlichte Ehrlichkeit am besten irreführen konnte, und Luisa in ihrer scheinbar unschuldigen Art konnte eine Menge entscheidender Einzelheiten weitergegeben haben. Er hatte ihr dafür genug Material geliefert… »Da müßte ich lügen«, antwortete er. »Wir können nicht damit rechnen, das geheimzuhalten, oder, Luisa?« Ihr Gesicht zeigte eine Maske ernster Besorgnis. Das geschah natürlich automatisch, aber Thomas wußte die Geste zu
schätzen, und es war ihm klar, daß sie wußte, daß er sie durchschaute. »Nein«, sagte sie. »Die Nachricht wird sich über die Schaltzentralen verbreiten; es gibt keine Möglichkeit, sie alle gleichzeitig zu überwachen. Du tätest gut daran, die Nachricht von dir aus zu verbreiten, falls dir daran liegt, zu entscheiden, wer zuerst davon erfahren soll.« »Sehr klug«, lobte er. »In Ordnung; sollen wir es dramatisch machen? Wir wollen es den Konservativen sagen; die werden die größte Bestürzung an den Tag legen.« Wieder lächelt sie so, wie sie nur mich anlächelt, dachte Thomas und machte sich über seinen eigenen Gedanken lustig. »Du bist der Boß.« Hinter ihr schloß sich mit vorsichtiger Höflichkeit wieder die Tür. Thomas schaltete seinen Sender ein und hörte leise Stimmen in seinem Schädel vibrieren. Zunächst Luisas Stimme: »Hallo, Armand? Warte einen Moment. Ich habe Neuigkeiten für dich.« »Von wo rufst du an?« folgte die Stimme des Obersten. Es war, als ob sich winzige Figuren auf einer geheimen Bühne in Thomas’ Gehirn bewegten, wo er Herr über jede ihrer Bewegungen war. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst diese Rufnummer nicht anwählen, außer im Notfall…« »Halt die Schnauze, Armand. Bis jetzt hast du noch nicht mal gewußt, was das Wort ›Notfall‹ wirklich bedeutet; glaub mir das. Moment.« »Luisa?« hörte man eine andere, schärfere Stimme. »Was ist los?« »Luisa«, platzte Lathrop heraus – »um Gottes willen; du hast doch nicht etwa Mann in der Leitung…« Man hörte ein leises Klicken, bevor Luisa antwortete, und Thomas fragte sich, ob sie wußte, daß ihr jetzt auch Taverner zuhörte; vielleicht hatte sie noch Zeit, um sicherzugehen.
»Seid ruhig, ihr beiden, und hört zu. Den Schirm gibt es nicht mehr.« Thomas kicherte tonlos.
Paul Danton starrte niedergeschlagen hinaus in den blauen Himmel über dem »Meer des Glücks«, jenen blauen Himmel, der bald verseucht sein würde – nicht etwa durch die wahllos abgeworfenen Bomben, die er kannte, sondern durch totale Zerstörung. Jetzt würde die Venus mit aller Macht angreifen, dessen war er sich sicher. Und die einzige Hoffnung der Erde auf Frieden, die Pro-Erde-Partei, war so gut wie erledigt… Mit voll aufgedrehten Triebwerken schossen die Flugzeuge über die Bucht hinaus. Nach zehn Minuten Flug bei Höchstgeschwindigkeit begannen sie zu kreisen. Unten war eine Landebahn in den dichten Wald geschnitten worden, und ein weißes Gebäude mit einem grünen Kreuz auf dem Dach breitete sich auf dem Beton aus. Einer der beiden Arme der Landebahn war leer; auf dem anderen wartete eine weitere Gruppe von Flugzeugen. »Entseuchung«, erklärte der Dendrit, der Gewaltanwendung befürwortet hatte, und lächelte behäbig. Das Flugzeug tauchte hinab, und die Landebahn kam auf sie zu. Einen Augenblick danach war der Flug zu Ende, und das weiße Gebäude ragte in der Nähe auf. Danton begann aufzustehen. »Oh, nein. Warte.« Danton bemerkte, daß die Tür des Gebäudes kreisrund war. Kurz darauf begann sie zu rotieren und bewegte sich auf sie zu, von einer langen durchsichtigen Röhre in Richtung des Flugzeugs geschoben. Man hörte ein Surren im Bedienungselement des Flugzeugs; der Minderheitsdendrit
öffnete die Luke und trat hinaus in die Röhre, die sich fest mit dem Flugzeugrumpf verbunden hatte. »Also los, vorwärts.« Danton und der Pilot stiegen aus; hinter ihnen schloß sich die Röhre. Männer in Schutzanzügen und durchsichtigen Helmen schoben das Flugzeug zu einem nahe gelegenen Schuppen; das nächste Flugzeug erhielt von seinem Triebwerk einen sanften Schub und rollte an seine Stelle. »Was ist mit dem Versteck?« fragte Danton plötzlich. »Wenn die Seuchenbakterien…« »Keine Angst. Innerhalb von zehn Minuten, nachdem wir weg waren, wurde die Gegend vollständig abgebrannt. Ich fürchte, deine Freunde müssen sich ein neues Versteck suchen. Vielleicht können sie ja Klage einreichen.« Danton sah sich den anderen genau an. Er betrachtete ihn jetzt als Agenten des Sicherheitsrats, nicht mehr als Anführer einer Minderheitsfraktion. Er war so groß wie Danton, wirkte aber kleiner, und ziemlich zäh; man hätte ihn für einen Bauern aus Maine halten können. Seine Stimme hatte einen NewEngland-Tonfall. »Du bist ein Komiker«, sagte Danton. Irgendwie hegte er dem Mann gegenüber keine feinseligen Gefühle, nachdem der sich zu erkennen gegeben hatte. Ein Feind, ein Spion waren eine Sache – aber nichts war so verabscheuungswürdig wie ein abtrünniger Dendrit, der Treue zur Partei heuchelte. Der Spion zuckte die Achseln, betrat als erster die kahle Kammer, fing an, sich auszuziehen, und bedeutete Danton und dem Piloten, es ihm gleichzutun; sie machten ein Bündel aus ihrer Kleidung und legten es in eine kleine Druckkammer. Einen Moment lang freute sich Danton, daß er nie seine Brieftasche bei sich trug, während er für die Partei unterwegs war – dann stellte er fest, daß er sie wahrscheinlich sowieso nie wiedersehen würde.
Der Reihe nach kamen jetzt andere Gefangene herein, gemeinsam mit denen, die sie gefangengenommen hatten. Die Röhre blieb ausgefahren; als Danton die Schwelle überschritt, gab es einen unerträglich hellen Blitz von einem Lichtbogen und einen heftigen Knall. Der ganze Raum erglühte in einer bakterientötenden, violetten Strahlung; immer wieder ertönte der Knall, als der Rest der Männer nacheinander die Schwelle überschritt. In der nächsten Kammer übernahm ein Techniker im weißen Kittel mit zwei Assistenten das Kommando und stellte die Männer in einer Reihe auf. Der Agent trat ein und stellte sich vor der Reihe der Männer auf, aber der Techniker grinste hämisch und steckte die Nadel einer zehn Kubikzentimeter fassenden Injektionsspritze durch den Gummiverschluß einer Ampulle. »Diesmal nicht, Hauptmann Small«, sagte er. »Welcher von denen ist Paul Danton? Mein Befehl lautet, daß er als erster dran ist.« Der Agent zuckte die Achseln und trat beiseite. »Was war in den Kapseln?« »Eine neue Mutation. Cytolytische Streptokokken; die Inkubationszeit beträgt etwa zwei Stunden. Zerfrißt mit höllischer Geschwindigkeit die Lungen.« Small wurde bleich wie die Wand. »Keine Eile«, sagte der Techniker. Er band Dantons Oberarm mit einem Gummischlauch ab. »Machen Sie eine Faust«, sagte er gelangweilt und schob die Nadel in die vorstehende Vene in der Ellbogenbeuge des Patienten. Danton konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als er sah, wie der Kolben sich in der Spritze senkte. »Der Nächste«, rief der Techniker, während er die Injektionsnadel in eine Schale mit Desinfektionsmittel warf und seine Spritze mit einer neuen versah. Danton entfernte sich
durch einen Korridor und drückte einen alkoholgetränkten Wattebausch auf die Einstichstelle. Eine weitere große Kammer erwartete ihn; er war erleichtert, daß es hier warm war, knapp über Körpertemperatur. Er hatte zu frösteln begonnen. Er setzte sich auf eine der langen Bänke, mit denen die Kammer eingerichtet war, und betrachtete Small mit Interesse, als der Agent einen Augenblick später eintrat. Der Mann sah jetzt irgendwie verändert aus – unauffällig, freundlich, blond, mit einem ruhigen, durchschnittlichen Gesicht. Man hätte ihn genausogut für einen kleinen Ladenbesitzer wie für einen Bauern halten können, überlegte Danton. Das war zweifellos der Grund, warum er einen guten Agenten abgab. Jetzt, da seine Arbeit getan war, schien er durchaus freundlich zu sein. »Was jetzt?« fragte Danton. »Wir bleiben hier sitzen, bis wir uns wieder voneinander unterscheiden.« Hauptmann Small lächelte ein wenig über den Ausdruck auf Dantons Gesicht. »Seit wir dieses Zeug eingeatmet haben, gab es keinen Unterschied zwischen dir und mir und allen anderen; der Tod hat so eine Art, die Unterschiede zwischen verschiedenen Persönlichkeiten zu verwischen.« Er klopfte sich gedankenverloren auf das Knie. »Wenn wir erst wieder soweit sind, daß wir uns unter die Lebenden mischen können, wird man uns neue Kleider geben, und mit ihnen werden wir wieder in unsere Persönlichkeiten schlüpfen, und schon geht’s wieder los.« Danton verdaute dies für eine Weile und wünschte sich, daß die Bänke gepolstert wären. »Kann ich jetzt ein bißchen mehr erfahren?« »Fragen Sie ruhig. Ich werde antworten, soweit ich dazu in der Lage bin.« »Also… du warst doch seit langem Parteimitglied – genaugenommen länger als ich. Ich habe dich beim ersten
Kongreß gesehen, an dem ich teilgenommen habe – du hattest, glaube ich, irgendein Amt.« Small nickte. »Afferent. Ich brachte Botschaften zurück zum Cortex.« »Aha«, fuhr Danton fort. »Der einzige Name, den ich von dir kenne, ist der, mit dem dich der Techniker angeredet hat. Wenn ich vorher versucht hätte, deinen Namen zu erfahren, hätte ich nicht gewußt, wie ich das anstellen sollte.« »Und Sie wollen wissen, wieso ich Ihren Namen kannte?« Der Agent lächelte. »Ganz einfach. Genauso, wie Sie meinen erfahren haben; vorher kannte ich ihn nicht. Vor einiger Zeit wurde mir ein Bild von Ihnen gezeigt, und ich erhielt den Befehl, Sie einzufangen, nachdem Sie damit fertig waren, bei der Duplikationsmaschine herumzuschnüffeln. Wie Sie wohl erraten haben, als wir zuschlugen, arbeiten ich und die anderen Mitglieder meiner Fraktion für den Sicherheitsrat… Das Bild war übrigens eine Solidografie – eine dreidimensionale Aufnahme. Sie müssen etwa ein Dutzend Kameras ausgelöst haben, während Sie sich in der alten Untergrundbahn-Station aufgehalten haben.« Das war also die Antwort! Trotzdem – »Warum habe ich dann nicht auch einige Alarmsignale ausgelöst, und bin gleich dort gefangengenommen worden?« Small lachte. »Mein lieber Mann, Sie haben genug Alarmsysteme ausgelöst, um die gesamte Feuerwehr auf den Plan zu rufen. Aber wenn wir Sie an Ort und Stelle gefangengenommen hätten, wäre der Partei klargewesen, daß wir Sie für gefährlich hielten, und hätte daraus geschlossen, daß die Duplikationsmaschine existiert – eventuell sogar in einem Zustand, der ihre Anwendung gegen den Sicherheitsrat ermöglicht hätte. So wie die Dinge jetzt liegen, weiß Ihre verbliebene Führung nur, daß wir mit einem Schlag eine große Anzahl Dendriten gefangengenommen haben – einschließlich
des Afferenten, der Ihren Bericht zum Cortex zurückgebracht hätte. Wir haben nicht dadurch unsere Karten aufgedeckt, daß wir irgend jemanden herausgegriffen haben.« »Doch«, antwortete Danton ruhig. »Sie haben damit herumgeprahlt.« »Alle, die mich gehört haben, sind hier – und wir haben alle Sender und alle Leitungen nach außen außer Betrieb gesetzt, bevor die Sitzung anfing. Der Golgi hat keine Ahnung, wann der Überfall genau stattgefunden hat, oder wie lange die Sitzung zu dem Zeitpunkt schon im Gange war.« Danton fiel nichts weiter dazu ein als: »Oh.« Der harte Sitz war äußerst unbequem, und er bemerkte – mit einem Anflug von Befriedigung –, daß auch Small seine Sitzposition änderte. »Immerhin haben Sie sich viel Mühe gegeben, uns lebendig zu fangen«, sagte er nachdenklich. »Und doch… Sie geben zu, daß Sie nicht wissen, wie Sie unsere Namen herauskriegen sollen; selbst unter dem Einfluß von ›Wahrheitsdrogen‹ könnten wir Ihnen die Namen derjenigen, die Sie bisher nicht gefangen haben, nicht verraten.« Der Agent zuckte die Achseln. »Ich habe zwar gesagt, daß ich Ihren Namen nicht wußte – aber nicht, daß ich ihn nicht hätte erfahren können. Der Golgi kennt den Namen jedes Dendriten; was der Golgi weiß, kann ich auch herausfinden.« Danton runzelte die Stirn; dies schien der ziemlich offene Versuch einer Provokation zu sein. »Das glaube ich nicht«, sagte er ruhig. »Das verlangt auch niemand. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, daß der Meningus trotz aller Illusion von Anonymität es in der Regel schafft, jeden Dendriten zu finden, der als Abweichler denunziert worden ist?« Der Meningus war die Geheimpolizei der Pro-Erde-Partei, nur dem Cortex verantwortlich. Er hatte genauso auf den Golgi
Zugriff wie auf irgendeinen Plexus, Vagus oder jeden einzelnen Dendriten. Die anderen kamen jetzt auch herein und setzten sich. Sie betrachteten Danton und Small mit Neugier beziehungsweise Feindseligkeit. Danton sagte: »Darum geht es doch gar nicht. Was soll eigentlich mit uns geschehen?« »Die anderen werden einer eher oberflächlichen Befragung unterzogen und dann in Haft genommen, bis die Venuskrise vorbei ist. Man wird sie nicht mißhandeln. Sie sind derjenige, den der Rat wirklich haben will.« »Aber warum? Ich bin doch nicht wichtig.« Small grinste. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich bin schließlich nur Polizist. Der Sicherheitsrat erklärt mir nicht jede seiner Handlungen. Alles, was ich weiß, ist, daß man sich die Mühe gemacht hat, Sie aufzuspüren – Sie können sich sicher vorstellen, wie lange allein die Fahnder gebraucht haben, nur um Ihre Bilder mit den vorhandenen Akten zu vergleichen. Also… daraus folgt, daß man für Sie irgendeine weitere Verwendung hat. Offensichtlich hat es mit der Duplikationsmaschine zu tun. Sie können sich was darauf einbilden, mein Freund, daß man Sie für gefährlicher hält als den ganzen Rest der Partei.« Einer der anderen Gefangenen, ein Cyton, mischte sich von der Bank gegenüber ein. »Kannst du dir irgendeinen Grund dafür vorstellen?« drängte er. »Denk nach, Mann! Du mußt irgendeine Fähigkeit haben oder etwas wissen, was dich in diese Lage versetzt. Wenn du herauskriegen kannst, was es ist…« Danton schüttelte den Kopf. »Ich habe als erster die Maschine gefunden, aber darüber wissen wir ja jetzt alle Bescheid.« Er zerbrach sich den Kopf, aber nichts in seinem völlig durchschnittlichen täglichen Leben oder in seiner Laufbahn als einfaches Parteimitglied schien auch nur
interessant, geschweige denn gefährlich oder nützlich. Wenn nur… Einer der Wärter betrat den Raum mit zwei kleinen Kleiderbündeln. »Sie da, und Sie, ziehen Sie das an«, sagte er, und sein Finger zeigte auf Danton und Small. »Ihr Flugzeug ist aufgetankt und startbereit.«
VI
Die einzige erkennbare Veränderung auf der Oberfläche der Venus, in der Zeit zwischen den Sitzungen der Erdpartei bestand darin, daß der Wind stärker oder weniger stark zu wehen schien als beim letzten Mal. Im Inneren der Nissenhütte war der Staub allgegenwärtig, und die Sauerstoffmasken der Anwesenden gaben ihnen den starren Ausdruck kürzlich Verstorbener. Der Schwermütige saß am Kopfende des Tisches, nur war seine Haltung anders als sonst; er fragte sich, ob auch die anderen unter ihren Masken lächelten. Er dachte zurück an die endlose Folge von Jahren, erinnerte sich an längst verklungene Stimmen – vor allem an die Stimme seines Vorgängers – und atmete heftig aus. Endlich, endlich war etwas geschehen! Er brauchte keine telepathischen Fähigkeiten, um zu wissen, was in den Köpfen seiner Genossen vor sich ging. Nun, da der Schirm und damit der langjährige Schutz der Venus vor Eroberungsfeldzügen der Erde verschwunden war, war die Krise der Exilregierung nicht länger aufzuhalten. Die Krise war da; man konnte, sie sogar hier im Raum spüren; sie wußten, daß die Mitglieder der Verschwörung damit beschäftigt waren, sich den Weg zur Macht zu erkämpfen, jeder für sich allein, und daß die Erdpartei allen Handlungsspielraum hatte. Die Zeit war reif! Graues Licht spiegelte sich in den Sehschlitzen des Schwermütigen, als er sich zur Tür umsah, die sich gerade öffnete, um das neue Mitglied einzulassen. Der Neuankömmling schloß hastig die Tür vor den formaldehydschwangeren Stürmen draußen, und der Staub innerhalb der
Hütte wirbelte auf und breitete sich aus. Ein Husten ertönte aus dem Lautsprecher. »Was ist los?« fragte der Neuankömmling. »Das ist doch nicht der Sicherheitsrat – und nicht die Erde.« »Das ist uns klar«, sagte der Untersetzte. Zwei weitere verspätete Besucher traten ein und fesselten für kurze Zeit die Aufmerksamkeit des Schwermütigen; die Masken sahen einander mit stoischem Argwohn an, als sich die Männer um den Tisch herumsetzten, um zuzuhören. Das neue Mitglied zappelte nervös. Wieder ein Husten aus dem Radio, dann eine Stimme, die sagte: »Fehlt einer? Ich habe Enfield noch nicht gehört.« »Hier bin ich«, sagte eine andere Stimme gereizt. Die Tonqualität ließ erkennen, daß sie nicht aus derselben Quelle stammte wie die des Fragenden; sie enthielt mehr Hall. »Warum schreiten wir nicht zur Abstimmung und bringen es hinter uns? Jeder weiß, warum wir diese Konferenz abhalten.« Die erste Stimme: »Hör auf, zu kläffen!« Das Lächeln des Schwermütigen wurde breiter. Ja, alles lief nach ihren Erwartungen. »Ach, lassen Sie ihn doch kläffen, Oberst«, warf ein dritter Sprecher ein. »Es ist seine letzte Gelegenheit, über diese Leitung zu sprechen – lassen wir ihn ausreden.« Enfield: »Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen. Noch gehört Ihnen die Verschwörung nicht, Mann; noch sind Sie nicht Direktor.« Das neue Mitglied unterbrach: »Ich habe Enfield noch nie mit solcher Schärfer reden hören.« Einige andere murmelten zustimmend, fielen aber wieder in Schweigen, als sich eine vierte Stimme einschaltete: »Niemandem gehört, bisher, die Verschwörung. Deshalb halten wir ja diese Versammlung ab.« Lathrop: »Ah ja – die Konferenz. Taverner, was glauben Sie werden Sie jetzt tun?«
Taverner: »Ein Pfadfinder ist höflich, Oberst. Ich warte.« Das neue Mitglied stand halb aus seinem Stuhl auf: »Ihr habt die Verschwörung – auf der geheimen Welle?« fragte er und schluckte. »Wie, zum Teufel…« Der Schwermütige trommelte mit behandschuhten Fingern auf den Tisch. »Es ist an der Zeit, daß du erwachsen wirst und aufhörst, Tatsachen in Frage zu stellen, mein Freund.« »Aber«, protestierte der andere, »aber sie sind alle an verschiedenen Orten. Es gibt keine zentrale Schaltstelle für das GC-System; wie ist es euch gelungen, die Verbindung herzustellen und alle Drähte zugleich anzuzapfen? Das ist unglaublich!« Der Schwermütige erinnerte sich an sein eigenes Noviziat innerhalb der Erdpartei und seufzte. Von der anderen Seite des Raumes her sagte der Mann am Radio, ohne sich umzudrehen: »Ich versichere dir, es ist außerordentlich kompliziert; laß es darauf beruhen und gestatte, daß wir weiter zuhören.« »Warum zuhören?« fragte eine kraftvolle Stimme von der Tür her. »Wißt ihr denn nicht, was passiert ist?« »Wir wissen, daß der Schutzschirm verschwunden ist und daß die Krise bevorsteht«, antwortete der Untersetzte. »Aber wir wollen herausfinden, was die Verschwörung vorhat und was Thomas tun wird.« »Sofortiger Angriff auf die Erde natürlich«, antwortete der Mann an der Tür. Er trat ein und setzte sich. »Thomas wird den Schirm selbst zerstört haben, einfach um die Dinge in Bewegung zu setzen.« Der Schwermütige sagte: »Wenn er das getan hat, wird sich sein Wunsch erfüllen.« Der Sender unterbrach: »Vorbereitet? Seit Jahren sind wir darauf vorbereitet. Wir besitzen bereits eine umfangreiche Flotte von Schiffen mit chemischen Antrieb – groß genug, um die Erde auf einen Schlag zu vernichten. Sie wurde vorbereitet
für einen Ausfall durch den Schirm, aber jetzt können wir Atomwaffen verwenden. Wir brauchen nicht viele Bomben, meine Herren; der Sicherheitsrat arbeitet zentralisiert, und wir brauchen nur ein paar wendige Raumschiffe. Die V-Bomben und die Granaten werden den Widerstand zusammenbrechen lassen, noch ehe die großen Schiffe gelandet sind.« Taverner: »Mann hat recht; dies ist die erste und letzte Chance, die wir haben. Wie lange, meinen Sie, wird die Erde brauchen, um herauszufinden, daß der Schirm weg ist? Wir müssen jetzt losschlagen!« Lathrop: »Sie könnten recht haben.« Taverner: »Oberst, ich weiß, Sie sind bereit. Unterstützen Sie uns? Sie wissen, was passiert, wenn der Sicherheitsrat herausfindet, daß wir ohne Schutz sind.« Es folgte ein kurzes Schweigen; im Hauptquartier der Untergrundbewegung hörten sogar die Atemzüge unter den Sauerstoffmasken fast ganz auf, und der Schwermütige lächelte nicht mehr. Lathrop: »Na gut, Sie haben gewonnen. Ich’ sage meine Unterstützung zu.« Mann: »Das war alles, meine Herren. Lathrop – wenn Sie mich unterstützen, dann folgen sie mir auch – richtig? Gut. Sie dürfen sich jetzt zurückziehen, um die Vorbereitungen zu treffen. Ich übernehme hier das Kommando.« Enfield: »Nichts da! Wer hat Sie an die Spitze der Verschwörung gesetzt, Mann? Thomas…« »… ist tot!« unterbrach Manns Stimme. »Und Taverner unterstützt uns, wie Sie gehört haben. Setzen Sie sich, Enfield, wo Sie auch immer stehen. Diese Zellenstruktur hat ihre Nachteile; wenn Sie jetzt anwesend wären, hätte ich Sie über den Haufen schießen lassen.« Er hielt inne, und der Schwermütige überlegte, daß Manns Stimme den Unterton eines hungrigen Mannes hatte, der
endlich zu Tisch gekommen war in der Absicht, ohne Rücksicht auf Verdauungsstörungen die verlorene Zeit aufzuholen. Sie hatte nicht mehr die Schärfe eines Rasiermessers, die sie alle so gut kannten, und besaß mehr Substanz. »Wir werden darüber abstimmen«, fügte Mann hinzu. Die Stimmen verklangen plötzlich. Statt dessen ertönte ein anhaltendes, schnarrendes Geräusch, wie eine Motorsäge, die sich ihren Weg durch einen Schrotthaufen bahnt. Der Neuankömmling bemerkte: »Es sieht so aus, als hätten wir kein Monopol auf Erfindungsreichtum. Wir haben es geschafft, den Sender anzuzapfen. Aber die Verschwörung weiß, wie sie ihn stören kann. Hat jemand eine Erklärung dafür?« Der Schwermütige sagte ohne besondere Erregung: »Halt den Mund.« Nach einem Leben voller Enttäuschungen schien es nur natürlich, daß kurzzeitig aufgelebte Hoffnungen zunichte gemacht wurden. Jetzt war alles wieder normal. »Ich kann mir vorstellen, wer die Störung verursacht«, fuhr er fort. »Mann muß schon lange darauf vorbereitet gewesen sein. Ich bezweifele aber, daß er gerade diesen Umschwung vorausgesehen hat. Die Politik der Kriegsfalken wird jetzt starken Zulauf erhalten. Über den Angriff auf die Erde wird wie über eine einfache Formalität abgestimmt werden; sie stören die Sendung, um Einzelheiten vor den unverbesserlichen Gemäßigten und Konservativen geheimzuhalten.« Die Sehschlitze seiner Maske schweiften durch den Raum, der sich während der Debatte der Mitglieder der Verschwörung leise gefüllt hatte. »Ich hoffe, ihr merkt, daß wir in der Klemme sitzen. Wir haben die Krise vorhergesehen, aber wer hätte gedacht, daß Lathrop und seine Gefolgschaft zu Mann übergehen?«
»Ich weiß nicht«, meldete sich der Untersetzte zu Wort. »Da war etwas in dem Ton zwischen Lathrop und Taverner, das nicht ganz echt klang. Es sieht so aus, als hätten sie vorher diesen Kurs abgesprochen, sich aber entschlossen, es sei besser, wenn der Oberst sich ein wenig zurückhält und Taverner ihn mit einem eindringlichen Appell überzeugt. Die Rede hatte jedenfalls alle Merkmale, um Bühnengeschichte zu machen; und wir wissen, daß Taverner dieser Art Schauspiel nicht zugeneigt ist.« Der Schwermütige nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln. Diese Debatte war höchstens von akademischem Interesse, ähnlich wie eine Leichenbeschau. »Wie es auch immer klang«, sagte er, »für uns und unsere Einschätzung der Situation klang es verheerend. Wir haben erwartet, die beiden Bonzen würden sich gegenseitig an die Gurgel gehen…« »Da bin ich nicht so sicher«, unterbrach ihn der Untersetzte. »Gehen wir einmal davon aus, die aktuelle Lage sei schlimmer als vorhergesehen: Wir können immer noch handeln. Wir waren mehr oder weniger auf der Seite der Gemäßigten, weil wir annahmen, daß durch die Unterstützung der schwächeren Partei die Kluft vergrößert werden könne. Wir haben uns geirrt; Thomas ist nach dem gleichen Prinzip vorgegangen, und jetzt ist er eine Leiche. Wir müssen nicht annehmen, daß…« »Widersprichst du mir, oder stimmst du mir zu?« wollte der Schwermütige wissen. »Das ist doch gerade das Schlimme daran; wir haben alle gedacht, daß es eine Wirtshausschlägerei geben würde, und in Wirklichkeit wurde daraus eine Siegesfeier für die Kriegsfalkenpartei.« »Ich widerspreche dir«, antwortete der andere. »Du hast Manns unerschütterliches Selbstvertrauen und seinen Ehrgeiz übersehen. Sein Denken ist eingleisig, und sein einziges Ziel ist gewaltsame Eroberung und die Zerstörung der Erde. Er hat
kein anderes Problem; auf irgend etwas anderes ist er völlig unvorbereitet. Ich wette, er hat nicht einmal einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf uns gerichtet. Also, fassen wir zusammen: Ohne Thomas ist Enfield nichts; Mann wird von Taverner und Lathrop unterstützt, was auch immer das heißen mag. Einer dieser beiden spielt zur Zeit das Spiel des anderen mit, aber beide geben derzeit Mann Starthilfe. Schlußfolgerung: Mann reitet auf der Erfolgswelle, er ist bereit, es mit der Erde aufzunehmen, und uns hat er völlig vergessen.« Der Schwermütige nickte langsam, zustimmend. »So könnte es sein.« Er würde den Untersetzten jetzt nicht zu entschieden unterstützen, aber er freute sich über die schnelle Auffassungsgabe des anderen. Noch einen Moment, und ich wäre selbst darauf gekommen, dachte er, und fragte sich, ob das wirklich so war. Nein, vermutlich nicht; vielleicht war dies der Zeitpunkt, den Vorsitz an einen Jüngeren abzugeben. Der Gedanke beunruhigte ihn nicht; er kam eher als eine Erleichterung. »So könnte es sein«, wiederholte er. »Fahre fort.« Er hob seinen Handschuh fast wie zum Segen. »Unser neues Mitglied«, fuhr der Untersetzte fort, und seine Stimme klang weniger drängend, »ist erstaunt gewesen über die Art, wie wir angeblich geschlossene Teile des GC-Systems anzapfen. Wir anderen nehmen das als selbstverständlich hin. Unsere einzig mögliche Waffe gegen die Verschwörung ist das GC-System, und daraus folgt, daß wir es sehr genau kennenlernen mußten. Also gut; ich schlage vor, daß wir den gleichen Plan verwenden, den wir die ganze Zeit gehabt haben. Wenn ihr mit meiner Analyse der Situation übereinstimmt, dann folgt daraus, daß das, was passiert ist, die Erfolgsaussichten unseres Plans nicht verringert.« »Meinst du Sabotage?« fragte das jüngste Mitglied.
»Genau.« Der Untersetzte blickte zum Kopfende des Tisches; als der Schwermütige nickte, fuhr er fort: »Die Sabotage örtlicher Kerne kann schwerwiegendere Folgen haben als die Sabotage einer großen, zentralen Anlage – das Problem der Reparatur ist wesentlich größer. Wenn wir als erstes die Beobachtungsposten und Wetterstationen an der Oberfläche auslöschen, wenn wir die Außenstation isolieren, und wenn wir dann die örtlichen Schaltstellen, die sonst den Schaden melden, ausschalten würden – glaubt ihr, die Verschwörung wäre dann überhaupt noch in der Lage, eine Raumflotte zu starten? Sie können nicht einmal mehr die Oberfläche ihres Planeten sehen, geschweige denn die Sterne.« Der Staub in der Hütte wurde von einem letzten Nachzügler aufgewirbelt, der sich hereindrängte. Noch ehe sich die Tür wieder geschlossen hatte, hatte der Schwermütige eine Schublade des Tisches aufgerissen; als er mit einer erstaunlich graziösen Bewegung aufsprang, erschien in jeder seiner behandschuhten Hände eine schwere Maschinenpistole. »Es ist einer zuviel im Raum«, sagte er mit tödlicher Sanftheit, als hätte er die ganzen Jahre darauf gewartet, diesen einen Satz zu sagen, und jeden möglichen Tonfall ausprobiert. »Alle stellen sich sofort an der hinteren Wand in einer Reihe auf, sonst durchlöchere ich die ganze Hütte.« Die anderen am Tisch hoben ihre Hände, als er hinzufügte: »Freunde – mit Ausnahme von einem kann ich euch so nennen –, ich wußte schon immer, daß das früher oder später passieren würde, trotz aller Sorgfalt, mit der unsere Masken angefertigt wurden.« Der Neuankömmling sagte sanft: »Es besteht keine Notwendigkeit zu dieser Maßnahme; ich bin der überzählige Mann. Oberst Armand Lathrop zu Ihren Diensten, meine Herren.«
Die Pistolenmündungen schwenkten herum und zielten auf Lathrops Brust. Wenn der Schwermütige beide Pistolen abgefeuert hätte, wäre der Oberst in zwei Teile zerschnitten worden, bevor er hätte fallen können. »Bevor Sie schießen«, fuhr Lathrop ohne einen Hauch von Nervosität fort, »könnten Sie mich vielleicht fragen, warum ich hier bin.« »Ich weiß, daß Sie nicht umsonst der ›Mann ohne Nerven ‹ genannt werden; aber ich würde Sie trotzdem für verdammt leichtsinnig halten.« »Schon möglich«, stimmte Lathrop zu. »Trotzdem meine ich, Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß Sie kein Monopol auf Erfindungsreichtum haben, wie schon mein Freund Eddisson vorhin sagte.« »Sie haben uns also abgehört«, sagte der Schwermütige. »Das überrascht mich nicht sehr. Das ist ein Risiko, das wir schon immer eingegangen sind.« Lathrop stieß sich vom Türrahmen ab, an den er sich vorher gelehnt hatte, und näherte sich langsam dem Tisch. Falls er bemerkt hatte, daß er sich damit direkt in die Schlußlinie begab, ließ er es sich nicht anmerken. »Ich habe Ihre Versammlungen nicht abgehört«, sagte er herablassend. »Für diese Art von Information verlasse ich mich auf Eddisson. Ich habe Ihre Gehirne angezapft. Haben Sie je etwas von einem Mnemographen gehört?« Der Schwermütige war nicht der einzige, dem daraufhin der Atem stockte. »Ja«, sagte er. »Dann wissen Sie, was ich über Sie gespeichert habe. Nicht Ihre Arbeit im Untergrund, sondern Ihre unterbewußten Schuldgefühle. Jeder einzelne von Ihnen hat etwas in seiner Vergangenheit und in seinem Gedächtnis vergraben, das er seiner Frau, seinen Verwandten, seinen Freunden, seinen Geschäftspartnern oder der Öffentlichkeit im allgemeinen nicht
mitzuteilen wagen würde. Nichts Wichtiges, sondern kleine kindische Dinge, die Sie tief unten verschüttet haben und die – sagt man mir – den Kern Ihrer Ängste bilden. Ich gebe offen zu, daß auch ich in dieser Hinsicht verwundbar bin. Ich habe mich selbst einem Test unterzogen und das Ergebnis überprüft, um sicherzugehen, daß es sich um eine wirkungsvolle Waffe handelt.« Er hielt kurz inne und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich kann Ihnen versichern, meine Herren, wenn ich mir nicht die Mühe gemacht hätte, dies ganz alleine durchzuführen, wäre es notwendig geworden, entweder alle Mitwisser umzubringen oder mir selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen… In Ihrem Fall hat Eddisson den Mnemographen vor einem Jahr in Ihrem Radio versteckt; Ihre Sauerstoffmasken enthalten die Abtaster. Jetzt können Sie mich töten, wenn Sie wollen.« Die beiden blickten einander einen Moment lang an, dann legte der Schwermütige die Maschinenpistolen auf den Tisch. »Also gut, Oberst. Ich fürchte, wir müssen Ihnen glauben. Sie haben uns in der Hand; was nun?« Überall im Raum erklangen Seufzer. »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Lathrop einfach. »Sie brauchen was?« »Darf ich mich setzen?« fragte der Oberst. Sein Agent stand auf und überließ ihm den Stuhl. Im Sitzen war es unmöglich, Lathrop von den anderen zu unterscheiden. »Sie haben alle im Radio gehört, wie ich Mann unterstützt habe. Aber wozu ich mich auch bereit erklärt haben mag, ich bin kein Kriegsfalke. Ich wußte genau wie Sie, daß Mann und ich uns eigentlich gegenseitig hätten töten müssen, sobald Thomas gestorben war – und dagegen hatte ich gewisse ganz persönliche Einwände. Auch ich bin gegen Manns voreiligen Überfall auf die Erde –
genauso, wie ich dagegen bin, daß Ihre Partei vorhat, die Venus an die Erdbewohner auszuliefern.« »Und?« fragte der Schwermütige. »Und deshalb habe ich natürlich Mann unterstützt. Er hat genug Verstand, um zu wissen, daß ich etwas vorhabe, aber er weiß nicht, was das sein könnte. Mein plötzlicher Sinneswandel – Sie hatten übrigens recht, daß Taverner und ich unseren kleinen Auftritt vorher abgesprochen hatten – wird ihn lange genug verwirren, um für den Moment mein eigenes Überleben zu sichern. Er wird abwarten, um festzustellen, wie er mich und meine Fraktion benutzen kann.« »Haben wir noch in irgendeiner anderen Hinsicht recht gehabt?« erkundigte sich der Untersetzte. »Ja… Sie hatten insgesamt gar nicht so unrecht. Sie haben ganz richtig angenommen, daß ein angespanntes, eingleisiges Gehirn wie das von Mann nicht die Gründlichkeit besaß, wie man sie eigentlich von der Armee erwarten könnte – also weiß Mann aus eigenen Informationsquellen nicht viel über Sie, und ich habe meine eigenen Geheimnisse gewahrt: Offen gesagt habe ich erwartet, daß ich Sie früher oder später brauchen würde.« »Um Himmels willen, kommen Sie zur Sache!« rief der Untersetzte. »Gleich«, antwortete Lathrop ohne Eile. »Die Sache ist doch ganz einfach: Ohne mich könnten Sie Ihre Revolte nicht durchführen. Wenn Sie also wollen, daß der Überfall auf die Erde verhindert wird, müssen Sie mit mir zusammenarbeiten.« »Heißt das«, fragte der Schwermütige ungläubig, »daß Sie vorhaben, nach dem GC-Plan vorzugehen?« »Mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren«, erklärte Lathrop schmeichelnd, »genau das habe ich vor.«
VII
In jener Nacht war der Himmel wie geschaffen für Manns Generalangriff auf die Erde, aber nur wenige Menschen suchten ihn nach unheilvollen Vorzeichen ab – trotz der allgegenwärtigen Ängste. In einer Vorstadt hing ein unauffälliger kleiner Mann seinen Gedanken nach. Es ist vorbei; die Pro-Erde-Partei ist hinüber, und wir sitzen alle in der Tinte. Die Agenten des Sicherheitsrats waren überall, soviel stand fest. Zwar hatte er von Verhaftungen hier in Appalachia City bisher nichts gehört, aber das verschaffte ihm keine Erleichterung. Die warten bloß ab; die lassen sich Zeit für einen weiteren großen Fischzug, wie den, den sie beim Solarplexus gemacht herben, dachte er. Nun, er würde ihnen zeigen, daß es der kleine Mann mit ihnen aufnehmen konnte. Er verließ die Bar und reckte sich an der kühlen Luft. Nie wieder herumschleichen wie ein gehetzter Hund: Er würde so tun, als hätte er nicht eine Sorge auf der Welt. Die können sowieso besser schleichen als ich, dachte er. Aus alter Gewohnheit ließ er seinen Blick zur Drogerie an der Ecke schweifen, als ein untersetzter Mann herauskam und an der Bordsteinkante darauf wartete, daß die Ampel umsprang. Der Untersetzte zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, holte eine heraus und klopfte damit gedankenverloren auf seinen Daumennagel. Auf der anderen Straßenseite warf der unauffällige kleine Mann ebenfalls einen Blick auf die Ampel. Dann setzte er sich quer über die Straße in Bewegung. Die andere Gestalt zündete ein Streichholz an, schützte es mit den Händen und machte eine ärgerliche Handbewegung, als es erlosch. Er machte den
Eindruck, als wolle er das Streichholz fallen lassen, dann steckte er es jedoch in seine Manteltasche. Das Ritual war alltäglich und trotzdem in seiner Steifheit nicht überzeugend; man konnte sehen, daß der Mann alles andere als ein guter Schauspieler war. Es war das alte Signal, eines, das schon lange nicht mehr in Gebrauch war; das hieß, der andere war entweder ein alter Parteiveteran oder ein Provokateur, überlegte der kleine Mann. Soll ich ihn ignorieren oder mit ihm Kontakt aufnehmen. Was habe ich zu verlieren, falls er ein Provokateur ist? Schließlich wußte er, daß die Gewohnheit sich durchsetzen würde. Der kleine Mann seufzte, dann bückte er sich, um sich den Schuh zuzubinden. Der untersetzte Mann näherte sich mit gerunzelter Stirn. »Hast du ein Streichholz, Freund?« brummte er. »Meine sind alle.« Ohne aufzublicken sagte der kleine Mann: »Meine auch. Versuch es in der Bar an der Ecke; der Laden hat auch keine mehr.« Der Schwergewichtige murmelte seinen Dank und ging weiter. Fünf Minuten und mehrere sinnlose Erledigungen später fand der kleine Mann sich mit der Tatsache ab, daß er die Vereinbarung einhalten würde; er betrat die Bar und entdeckte den Gesuchten, der weiter hinten an der Theke stand. Er spielte mit dem Gedanken, daß vielleicht er selbst der Gesuchte sei; aber irgendwie mochte er daran nicht so recht glauben. Der kleine Mann bezog neben dem anderen Stellung und bestellte ein Bier. »Miese Zeiten«, murmelte er vorsichtig, »wenn man in den Läden keine Streichhölzer kriegt.« Der andere zuckte die Achseln und fuhr mit dem Finger auf dem Rand seines Glases herum. »Du weißt ja, wie das ist, wenn die Lieferantengenossenschaft irgendwas auszusetzen hat.«
»Was ist es denn diesmal? Ich hab’ in letzter Zeit keine Gelegenheit gehabt, Nachrichten zu hören.« »Ach… die haben irgendeinen Rückschlag erlitten – ziemlich ernst, würde ich sagen –, und da haben sie was gebraucht, um wieder Einheit unter den Mitgliedern zu schaffen. Irgendein örtlicher Anführer hat in letzter Zeit einige unberechtigte Forderungen gestellt – wie war noch sein Name? Danforth – nein, das war eine andere Genossenschaft; der Name war eher so was wie Bolton… egal. Man ist ihm natürlich hart auf die Füße getreten; aber die Genossenschaft hat eine Chance gesehen, ihn zu benutzen, ein bißchen Wirbel zu machen und herauszustellen, wie wichtig sie für den Arbeiter ist.« Der untersetzte Mann schnaubte in sein Bier. »Und in der Zwischenzeit gibt’s für die Leute keine Streichhölzer.« Es war alles sehr unwirklich, sogar etwas kindisch, dachte der unauffällige Mann – aber man konnte nicht behaupten, es mache keinen Spaß. Er ertappte sich bei dem Gedanken: Das ist ja wie in alten Zeiten. Zum ersten Mal seit Tagen richtete er sich auf. »Kommt mir bekannt vor«, antwortete er. »Aber ist das heutzutage nicht ein etwas gefährlicher Scherz, den die da treiben?« Der große Mann zuckte die Achseln. »Ach was… die haben wahrscheinlich schon einen Ausweg eingeplant. Bei den Genossenschaften ist das meistens so, und dieser Paul, der ihre Öffentlichkeitsarbeit macht, ist aalglatt. Ich weiß, wie so was funktioniert, weil ich selber mal in einer Genossenschaft war, als ich noch jung war und es nicht besser wußte. Die schützen sich schon, da kannst du sicher sein. Ich tippe darauf, daß sie – mit der richtigen Mischung aus Überraschung und Bestürzung – feststellen werden, daß der Kerl ein Verräter an den Genossenschaften ist (selbstverständlich, nachdem er seinen Zweck erfüllt hat). Sie werden sich zurückziehen und ihn gleichzeitig bestrafen, vielleicht schmeißen sie ihn sogar raus.
Vielleicht wollten sie ihn von Anfang an loswerden – wer weiß?« »Sieht schlecht aus für ihn«, wagte sich der kleine Mann vor. »Der hat das bestimmt verdient.« Der andere setzte sein Glas ab und blickte auf seine Uhr. »Ich muß gehen«, sagte er. »Danke für das Streichholz.« Er nickte und ging, während der Kleine noch ein Bier bestellte. Es war großartig. Er hätte sich ohrfeigen können, aber trotzdem fühlte er sich großartig. Die Partei würde durchkommen; er wußte es, und er wollte sich ohrfeigen, weil er es auch nur für einen Augenblick bezweifelt hatte. Die Geschichte irrt sich nicht, aber die Geschichte schritt dessenungeachtet voran. Es gab etwas, das sie einigen würde – ein Disziplinarverfahren, das ihre Stärke zeigen würde, nicht ihre Schwäche. Er trank ein weiteres Bier, obwohl er sonst nie mehr als zwei zu sich nahm. Als er die Bar verließ, stellte der kleine Mann fest, daß er leicht beschwipst war – aber niemand konnte behaupten, er sehe bedrückt aus. Und in seinem Bewußtsein leuchtete wie ein Parole auf einem Spruchband der Befehl: Bringt Danton zur Strecke; findet Danton; findet den Verräter!
»Der Geruch des Verrats«, flüsterte Geoffrey Thomas, »ist ein scharfer, unvergeßlicher Duft, der den Dunst der Verschwörung durchschneidet und den Scheintoten neues Leben einhaucht. Er durchdringt den kilometerdicken Nebel der Venus, dringt durch die Schale unseres verhaßten Planeten in jeden Winkel unseres unterirdischen Paradieses und erweckt die Schlafenden!« Thomas von der Venus lachte: »Ich werde noch zum Dichter.« Er schaltete die murmelnden Stimmen in seinem falschen Zahn ab und blickte wohlwollend auf Luisa.
»Weißt du«, sagte er mit einem Anflug von Vergnügen, als er an seine Anstrengungen der letzten Jahre dachte, ihren Panzer vollkommener Kälte zu durchdringen, »wärst du jemand anderes, als du bist, hätte sich diese Krise vielleicht schon früher eingestellt.« Es kam ihm der Gedanke, daß er das Risiko nicht hätte eingehen wollen, solange Luisa sich völlig unter Kontrolle hatte – genaugenommen hätte er sich vielleicht auch nicht getraut. Er verweilte bei diesem letzten, seltsamen Gedanken und rief sich ins Gedächtnis zurück, daß er erst vor kurzem an seine Schwäche erinnert worden war. Luisa schwieg. »Das Befriedigende daran, ein unsterbliches Monster zu sein«, grunzte er behaglich, »ist, daß es mir ermöglicht, dich als Persönlichkeit zu betrachten, meine Liebe, statt als Frau. Ein junger Mann, sogar ein willensstarker junger Mann – und damit meine ich jeden unter Sechzig –, sieht in dir lediglich eine junge Frau. Was für ein Fehler, wie?« »Das kann ich nicht beurteilen«, entgegnete sie liebenswürdig. Ich schulde ihr noch einiges für die sechs Stunden schwärzester Qualen, die mich veranlagten, die Sitzung des Direktorats zu versäumen – aber es hat keinen Sinn, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, dachte er. Teilweise war das seiner eigenen Lethargie zuzuschreiben. Ein Großteil des Komplotts wäre auf jeden Fall zur Geltung gekommen, auch wenn er ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte – aber es hätte nicht so unangenehm werden müssen. Er hätte auf das Gift vorbereitet sein können. Sogar nach all diesen Lebensaltern habe ich viel zu lernen. »Ach nein… das kannst du nicht beurteilen«, antwortete Thomas. »Zweifellos hat sich auch Fafnir selbst nicht für ein Greuel gehalten – aber darüber kannst du nicht Bescheid wissen…« Er hielt inne. »Oder doch?«
Luisa zuckte leicht die Achseln. »Ist das jetzt von Bedeutung?« »Vielleicht.« Thomas erkannte, daß ohne grundlegende Informationen bei Luisa die Gefahr bestand, in eines von zwei Extremen zu verfallen: Sie entweder zu über- oder zu unterschätzen. Es konnte ihm passieren, daß er auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig beides tat. Er seufzte noch einmal. »Du bist voller Sinnlichkeit, Luisa; ich kann mir nichts vorstellen, was verführerischer wäre. Lathrop und die anderen sehen nicht mehr als das, oder? Sie sind viel zu jung, um zu erkennen, daß du das Monster bist, viel eher als ich. Ach ja… sie benehmen sich wie kleine Kinder, die sich im Wald verirrt haben – aber ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Wald ist.« Sie schwieg. »Für die meisten Sterblichen bist du völlig undurchschaubar. Macht um ihrer selbst willen kannst du nicht wollen, soviel ist klar. Vielleicht suchst du Liebe – aber sicherlich nicht mehr als sie alle; und ich glaube nicht, daß du mehr als sie damit anfangen könntest, wenn du sie hättest. Du suchst Ansehen einer bestimmten Art, denn du wirst niemanden akzeptieren außer dem Mann, der über die Venus herrscht.« »Und dieser Mann wird unsterblich sein.« Thomas sah sie an, bemerkte keinen Unterschied in ihrem Gesichtsausdruck, und lächelte. »Das ist es schon eher, wie, Luisa? Nicht wahr, es ist die Angst vor dem Tod, die dich treibt. So sehr, daß dich nur die Unsterblichkeit wirklich interessiert. Du willst wissen, wie der Prozeß funktioniert, und du hast vor, dieses Wissen dem Mann zu entlocken, der das Geheimnis erbt – und dich.« Es mochte nicht die richtige Antwort sein – oder vielleicht war es nur ein Teil der Antwort, aber Thomas war sicher, daß
er den Finger auf die ewig offene Wunde gelegt hatte. Sie schwieg. Deine Selbstbeherrschung ist an mich verschwendet, dachte er, jedenfalls jetzt. Was für eine Rolle du heute abend auch immer gespielt haben magst, im Moment will ich dir die Maske gar nicht entreißen. Wenn die Maske fällt, ist das Spiel zu Ende. »Natürlich werde ich erst sterben müssen, bevor der nächste den Prozeß erlernen kann«, grübelte er laut. »Nun, Mann hat mich für tot erklärt; er hat mich sehr klug von Taverner vergiften lassen – natürlich mit deiner Hilfe!« Ihr Gesicht behielt denselben halb kindlichen, halb unschuldigen Ausdruck bei, als sie einfach antwortete: »Natürlich.« »Das hätte ihn zum Mann an der Spitze gemacht, oder?« »Ja«, antwortete sie kalt. »Gut gemacht. Du hast mich bisher noch nie enttäuscht, auch wenn es heute abend fast soweit gekommen wäre, als du gemerkt hast, daß ich noch am Leben bin. Also: Mann ist obenauf, und du hast dich Lathrops entledigt; er ist ausmanövriert worden. Aber wie du siehst, ist jetzt schon etwas bei Manns Plan schiefgegangen. Was wäre, wenn Lathrop doch Sieger bliebe?« Luisa schlug die Beine übereinander, ihre Stimme klang gelangweilt. »Dann hätte ich mich geirrt.« Thomas bedachte die verschiedenen möglichen Bedeutungen ihrer Bemerkung und kam zu der Ansicht, daß das Mädchen Mann wahrscheinlich nur als vorübergehenden Sieger betrachtete. »Aber in diesem Fall hättest du doch den Oberst genommen?« »Natürlich«, sagte sie. »Du kannst mich nicht mehr sehr lange ködern, Thomas. Sie werden bald merken, daß du aus irgendeinem Grund heute abend nicht gestorben bist. Aber sie
werden wissen, daß du diesen Umstürz nicht überleben kannst, wer immer auch gewinnt. Glaubst du, Lathrop würde länger zögern als Mann, sich deiner zu entledigen?« Er lachte. »Zögern spielt dabei keine Rolle, und Lathrop weiß das. Er wird auf jeden Fall innehalten und nachdenken. Und ich habe ihm gerade einen Grund geliefert, jeglicher unziemlicher Hast in dieser Sache abzuschwören – er schien beeindruckt. Öffne diese Tür, Luisa!« »Kein Interesse.« »Öffne die Tür!« Einen Moment lang blieb sie, wo sie war, dann stand sie leise lächelnd auf, ging zur Tür und zog daran. Sie war unerwartet schwer. Sie war schallgedämpft. Taverner! Die Tür war der Zugang zu einem Wandschrank, dessen Rückwand vom Felsen der Venus gebildet wurde. An diese Wand hatte man ihn mit Stahlnägeln gekreuzigt. Der blonde Taverner war jetzt im wahrsten Sinne ein zerrissener Mann. Dutzende von zentimeterbreiten Streifen waren in seine Haut geschnitten worden, und diese Streifen hatte man mit einer Zange zu fünfzehn Zentimeter langen Bändern herausgerissen. Sein Gesicht war noch erkennbar, abgesehen von den leeren Augen – und seiner Zunge, nach dem Geräusch zu urteilen, das er hervorbrachte. »Wir haben ihn einer Befragung unterzogen«, sagte Thomas, »und er hat sich etwas widersetzlich gezeigt.« Luisa stand still und sah ihn an, eine Hand auf dem Türgriff. Sie sagte: »Ich bin erstaunt über dich, Thomas. Du mußt fast am Ende deines Lateins sein.« Eine Welle des Vergnügens durchzog Thomas’ riesigen Körper. »Ich habe so meine Schwächen.« Aus dem Wandschrank erklang ein wahnsinniges, gurgelndes Geräusch. »Und ich halte es für ein gesundes Prinzip, fehlgeschlagene Attentatsversuche zu bestrafen. Dies hier war natürlich
weitgehend improvisiert – leider war die Zeit zu knapp, um alles richtig zu planen.« Er senkte die Stimme. »Solltest du dich je in einer Lage wie meiner befinden, Luisa, hüte dich davor, plötzlichen Launen nachzugeben. Zum ersten Mal in meiner Laufbahn habe ich schnelle Rache geübt. Wie dumm das ist, wenn man Jahrzehnte hat, sie langsam wirken zu lassen – und genügend Zeit, um die Rache zu beenden, wenn sie sinnlos wird.« Sie schloß die Tür, kam zurück und setzte sich. »Vielleicht jagt das Lathrop einen Schreck ein, aber ich bezweifle das. Falls es ihn doch erschreckt – ich kann immer noch selbst einen Versuch unternehmen.« »Wie nett von dir, meine Liebe. Jetzt sag’ mir, was du wirklich willst; ist es das Geheimnis der Unsterblichkeit?« Sie stand plötzlich auf und kam durch den Raum auf ihn zu. »Ja, du fette Made. Und ich bekomme es auch. Morgen oder übermorgen – das spielt keine Rolle. Ich werde es von demjenigen bekommen, dem die Venus gehört.« »Wunderbar«, flüsterte Thomas, »wunderbar. Wir werden zusammen so alt wie möglich werden.« Während des folgenden Moments der Stille spürte er einen Hauch echter Sorge – ein so starkes Gefühl, daß es ihm nach all den Jahrzehnten fast Vergnügen bereitete. Ist das Spiel doch noch nicht vorbei? dachte er. Habe ich die Behandlung zu weit getrieben, sie ins Lächerliche abgleiten lassen? Oder gibt es überhaupt keine Situation, die der Psyche dieses Mädchens grundsätzlich unerträglich wäre? Luisa schrie. »So ist es«, sagte Thomas. »Ich bin dein Mann. Vergifte mich. Schneide mir die Kehle durch. Ersteche mich. Erschieße mich. Setze meine Umgebung in Brand – das wäre einfach, wie? Aber was du auch immer tust, ich werde weiter existieren. Ich werde immer weiter wachsen… verstehst du?
Die Zellen meines Körpers passen sich an. Das großartige Geschenk der Unsterblichkeit heißt totaler Krebs. Ich fühle alle Schmerzen des Feuers, des Giftes oder einer Verletzung; aber ich überlebe und wachse weiter. Eine Spaltbombe könnte mich vielleicht erledigen, aber Mann ist gerade dabei, unseren ganzen Vorrat für den Angriff auf die Erde zu verladen. Und selbst wenn er eine für mich aufheben würde, würde er sie nie benutzen. Auch wenn er es vorhätte, würdest du ihn daran hindern, Luisa. Diese Bombe würde nämlich auch das Geheimnis auslöschen.« »Warum, glaubst du, war ich so besorgt, als ich dich heute abend zum ersten Mal sah, Dummkopf?« fuhr sie ihn an. Einen Augenblick lang musterte er sie erstaunt, dann nahm sein Gesicht den Ausdruck höchsten Entzückens an. »So ist das also. Ich habe schon gemerkt, daß in meiner Analyse deiner Motive etwas fehlte. Es erschien mir unlogisch, daß du es bei deiner Entschlossenheit, das Geheimnis zu erlangen, riskieren würdest, daß ich sterbe und es mit ins Grab nehme. Du hast mich vergiftet, Luisa, um sicherzugehen, daß ich nicht sterben kann.« »Ab jetzt glaube ich dir, daß du gegen Gifte immun bist, Thomas«, sagte sie einfach. »Danke. Es wird eine Erleichterung sein, in Frieden essen und trinken zu können«, antwortete er. »Weißt du, wo das Geheimnis liegt, Luisa? Ich werde es dir sagen; ich werde es jedem sagen, der es wirklich wissen will. Es ist in der letzten menschlichen Körperzelle verborgen, die ich besitze; der einzigen, die unverändert bleiben wird, wenn ich bereits größer bin als das Eluyresgebirge und hirnlos wie eine Amöbe. Sie enthält das Geheimnis. Hättest du Lust, mich um des Geheimnisses in dieser einen Zelle willen zu sezieren, Luisa? Und würdest du es entziffern
können, wenn du die Zelle endlich gefunden hättest? Sag schon – wie groß ist deine Gier nach ewigem Leben?« Das Mädchen trat langsam zurück, und in ihrem Gesicht verlor sich das Echo ihres Schreis. Es war, als treibe sie jedes seiner Worte einen Zentimeter weiter zurück. Sie setzte sich hin, als täten ihr alle Knochen weh. Nach einiger Zeit sagte sie: »Also – gut. Du hast gewonnen. Was willst du?« »Ah – das ist einfach. Auf jeden Fall arbeitest du jetzt wirklich für mich. Die Dinge haben sich so zugespitzt, daß ich es mir nicht leisten kann, dich weiterhin als unabhängigen Machtfaktor agieren zu lassen. Außerdem kann ich mir keine weiteren Attentate leisten – sie sind unangenehm, und es kann leicht passieren, daß ich dadurch unnötige Zeit verliere. Ich würde euch gerne den Gefallen tun und für irgendeinen von euch sterben, wenn das möglich wäre, denn ich wünsche mir selbst den Tod sehnlicher, als einer von euch ihn mir wünschen kann. Aber da das unmöglich ist, habe ich keine Lust, es durch weitere Experimente zu beweisen. Oberflächlich sollst du natürlich so weitermachen wie bisher – aber sorge dafür, daß ich über jede neue Entwicklung informiert werde.« Er zögerte einen Moment, dann fügte er hinzu: »Komm jetzt her; du weißt, wie ich unnötige Bewegung hasse.« Luisas Augen waren leblos, als sie sich ihm näherte. Thomas wandte sich jenem Ding zu, das einmal Taverner gewesen war. »Na, immer noch am Leben?« Er winkte dem Sanitäter neben ihm. »Ich will reden, und ich brauche Publikum. Du kannst immer noch zuhören und mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ antworten, oder mit irgendwas dazwischen. Tut es noch sehr weh?« Der Gekreuzigte senkte den Kopf. Thomas nickte und warf dem Sanitäter einen Blick zu; der gab Taverner eine Spritze.
»Das wird die Schmerzen lindern, dich aber bei Bewußtsein halten. Wenn du zur Zusammenarbeit bereit bist, kriegst du eine höhere Dosis, sobald ich fertig bin, und dann ist es vorbei – andernfalls wird es noch ein paar Stunden dauern.« Er zuckte die Achseln. »Du bist ein starker Junge, Taverner; vielleicht hältst du sogar noch ein paar Tage durch.« Thomas hatte aufgehört zu lächeln, und die Nadel des Sanitäters stach in den Arm des Gefolterten. »Warum hast du dich mir widersetzt, Taverner? Hast du nicht gewußt, daß ich dich als Sieger ausgewählt hatte? Lathrop, Mann, Enfield – wer sind die schon? Jeder von ihnen könnte den Stuhl erobern, aber nur du wärest imstande, ihn auch zu behalten. Du wärest fähig, abzuwarten, bis sie etwas unternehmen, das sie nicht mehr rückgängig machen können, um dann in aller Stille ihre Organisationen zu übernehmen und sie mit ihren eigenen Versäumnissen zu schlagen. Ich hätte darüber hinweggesehen, daß du versucht hast, mich umzubringen, Taverner; aber du hast den Kopf verloren und mir Informationen vorenthalten, als ich sie dringend brauchte. Das war dumm und unverzeihlich.« Der andere nickte. »Hat der Schmerz jetzt nachgelassen, ja?« fragte Thomas. »Gut. Sag mir – glaubst du, ich habe Luisas schwache Stelle getroffen?« Ein Nicken, gefolgt von einer verneinenden Kopfbewegung. Thomas lächelte schwach. »Ja und nein. Ich neige dazu, dir zuzustimmen. Aber sie hat doch mit Lathrops Sieg gerechnet, oder?« Wieder ein Nicken. »Dann ist das, was ich ihr bezüglich Mann geraten habe, das gleiche, was sie sowieso getan hätte – vielleicht nicht genau dasselbe, aber etwas Ähnliches. Aha, du nickst wieder. Und was ist mir dir, Taverner – wolltest du auch unsterblich werden?«
Ein Nicken, gefolgt von einem Kopfschütteln. Thomas von der Venus schwieg einen Augenblick, und das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Du wolltest dein Leben verlängern, aber erst, nachdem du wußtest, wie du es auch hättest beenden können… als du sicher sein konntest, daß du nicht mein Schicksal hättest teilen müssen… Es ist nicht nötig, daß du dazu mit dem Kopf nickst. Hast du dich deshalb geweigert, zu reden – hat sie dir gesagt, daß es doch noch klappen könnte, solange ich nicht wußte, welches Gift ich bekommen habe?« Taverner nickte. Dem ungeschlachten Herrscher der Venus entfuhr ein Keuchen. »Wie konntest du das wissen? Wie konnte irgend jemand das wissen? Taverner, Taverner, ich habe mich hinreißen lassen, weil ich dachte, du seist ein Dummkopf – dabei war ich, Thomas, der Dummkopf. Oh Gott, mein Sohn! Wenn es möglich wäre, würde ich dir jetzt das Geheimnis verraten, und du würdest wieder gesund.« Der Verletzte schüttelte den Kopf. »Du würdest es nicht annehmen?« fragte Thomas. »Ach ja, du hast ja gehört, was ich Luisa erzählt habe. Ich wollte, daß du es hörst. Nun… das meiste davon entsprach der Wahrheit… Ich habe dich immer wie einen Sohn behandelt, Taverner – nicht nur, weil du mich an längst Vergangenes erinnerst, sondern… ach, egal… Erkennst du jetzt, daß Luisa mich diesmal hereingelegt hat, daß sie ihr Ziel erreicht hat?« Der andere rührte sich nicht. »Es waren eigentlich zwei Ziele. Sie hatte von früheren Versuchen, mich umzubringen, gehört, aber sie wollte sichergehen… deshalb ist sie vorhin fast zusammengebrochen, als sie mich entdeckte und nicht wußte, ob ich noch am Leben war. Und ihr zweites Ziel war, dich auszuschalten. Ich weiß… auch du hattest Pläne, und du brauchtest mich weniger als ich dich. Seit fünfzig Jahren hat mich niemand so
verstanden wie du, Taverner – fast so, als wären wir nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch ein Fleisch und Blut. Und… sie hat das gesehen – hat die Möglichkeit gesehen, daß es mir weh täte, wenn du mich einmal in einer Krise im Stich lassen würdest. Daß ich blindlings – und tödlich – zuschlagen würde… Ich bin so wahnsinnig wie jeder Zar oder Caesar, Taverner. Aber dein Ende ist erträglich, verglichen mit meinem.« Es herrschte Schweigen in dem Raum, und Thomas wandte sich mit einem Blick zu dem schreckensbleichen Sanitäter. »Hab keine Angst«, flüsterte er. »Deine Erinnerung an diese Worte wird gelöscht werden, aber sonst wird dir nichts geschehen.« Thomas murmelte leise, unverständliche Worte und starrte vor sich hin. Schließlich seufzte er. »Also… Mann ist so gut wie am Ende. Aber das Gleichgewicht verschiebt sich jetzt, und der Anfang von einem neuen Ende zeichnet sich ab. Lathrop… sag mir, Taverner, wen würdest du jetzt für den Sieger halten? Mann ist natürlich nicht endgültig besiegt, ehe er tot ist – und noch ist er nicht tot. Nicke, wenn ich denjenigen nenne, den du ausgewählt hast.« Thomas nannte die Namen der anderen und machte nach jedem eine Pause. Beim letzten Namen nickte der Gekreuzigte. Wieder erfüllte Schweigen den Raum, dann kam von dem Ungeheuer in dem großen Stuhl ein Geräusch, das fast ein Schluchzen hätte sein können. »Du weißt es… Taverner, du weißt es. Du hast es mit der gleichen Sicherheit erkannt wie ich. Warum… Warum…?« Der Direktor hob seine aufgedunsene Hand und ließ sie wieder fallen.
VIII
Die Erde hat keinen Thomasschirm, dachte Joachim Burg, aber das macht nichts. Die Erde hatte ihre geheime Erfindung. Vor ihm stand die Duplikationsmaschine, ein einfaches Gerät, über das der Antarktiker nichts wußte. Er stand da und betrachtete sie, während er mit der Hand über sein stoppeliges Kinn fuhr. Seit dem Beginn der Krise hatte er sich nicht mehr rasiert, und das Gefühl war großartig. Die Mäuse waren aus dem Haus, und die Katze konnte sich eine Weile entspannen. Daheim in Antarktika zählte eine gepflegte Erscheinung nicht viel; aber im diplomatischen Dienst legte man immer noch Wert auf Förmlichkeit und beugte sich der Etikette. Bei den nichtöffentlichen Sitzungen machten die Männer es sich bequem, während die Frauen weiterhin den Anschein wahrten, als bewegten sie sich in der Öffentlichkeit. Bald werden sie dasein, dachte Burg, aber Tamara kann Marcia Nels nicht das Wasser reichen. Die Duplikationsmaschine. Was war darüber bekannt? Burg fragte sich, ob sie irgendeinen praktischen Nutzen hatte. Nicht etwa, daß ihre Entstehungsgeschichte unklar gewesen wäre. Keiner, der davon gehört hatte, hätte den dramatischen Mord an Jonas Pell, dem Erfinder, und das noch dramatischere Geständnis von Leo Halazs vergessen können, der damals Vorsitzender des Ressorts Erziehung und Wissenschaft bei den Vereinten Nationen gewesen war. Beim Prozeß hatte Halasz einen Riesenwirbel entfacht, indem er an die dreißig Verbrechen gestand, die er nie begangen haben konnte, deren er sich aber für schuldig erklärte. Er setzte eine Unmenge Gerüchte in Umlauf – einander widersprechende Geschichten
darüber, was die Maschine konnte und was nicht; wie sie funktionierte; wo er sie versteckt hatte usw. »Burg?« erklang Heaths Stimme. »Hallo. Sehen Sie sich unser Höllenmaschinchen an?« Eine leichte Drehung: »Hallo, Heath. Ist Marcia – ah, da ist sie ja.« Die Frau aus Albert durchquerte den Raum anmutig, aber schnell, warf nur einen kurzen Blick auf die Maschine und setzte sich an den großen geschwungenen Tisch. Heath zog seine Pfeife heraus. »Da ist sie also«, sagte er; »wie aus dem Drehbuch einer Fernsehserie. Mit allen Zutaten, einschließlich einer Art brauner, dicklicher Flüssigkeit, unglaublich kompliziert im Aufbau, die aber von jedem Kenner der organischen Chemie hergestellt werden kann. Und damit, sagt man uns, kann man bis zu fünf Kopien eines Mannes auf einmal machen – fünf Kopien, die lebendig sind und in jeder Hinsicht dieser Mann. Braucht nur einen, der sie bedient, und eine Energiequelle.« »Sie glauben nicht daran, wie?« fragte der Antarktiker. »Oh, sobald ich gefrühstückt habe, bin ich bereit, an jede Unmöglichkeit zu glauben – wenn ich sie gesehen habe. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie sie eigentlich funktioniert?« »Sie sieht aus wie ein riesiger Video-Münzapparat«, sagte Marcia Nels. »Ja, ein wenig enttäuschend«, stimmte Heath zu. »Natürlich kommt’s drauf an, ob sie funktioniert. Gott, was für ein Glücksfall sie gewesen wäre für die Machthungrigen von damals.« Burg lächelte bei dem Gedanken, daß sie es sich leisten konnten, die Machthungrigen zu kritisieren. Der Sicherheitsrat hatte mehr Macht, als Napoleon sich je erträumt hätte. »Ich wüßte gerne, ob man sie auch für nichtmilitärische Zwecke benutzen kann.«
»Nun«, sagte Marcia, »stellen Sie sich vor, jemand stirbt bei einem Unfall…« Sie verstummte, als Heath den Kopf schüttelte. »Sie meinen, das würde nicht…« »Kenne die Einzelheiten nicht«, erklärte der Appalachier, »aber ich weiß genug darüber, um zu erkennen, daß sie dafür nicht taugt.« Er hantierte mit seinen Streichhölzern herum, und Burg überlegte, ob die dankbare Bevölkerung von Appalachien ihrem Abgeordneten wohl ein Pfeifenfeuerzeug zubilligen würde. »Sie ist keine Kamera, macht keine Negative«, fuhr Heath fort. »Im besten Fall gäbe es sechs gleiche Leichen.« »Aber vielleicht könnten wir alle Doppelgänger von uns in gefrorenem Zustand aufbewahren, nur für den Notfall«, warf Marcia ein. Burg schüttelte den Kopf. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die ganze Erde ausgehöhlt und jedes Fleckchen mit Ersatzdoppelgängern vollgestopft wird. Nein, meine Liebe, ich fürchte, dieses Ding hier ist zu nichts nutze, als Ärger zu machen. Der verstorbene Mr. Halazs war ein Wohltäter der Menschheit. Wenn ich mich recht erinnere, war soziales Bewußtsein in jenen Tagen, als Pell unabsichtlich Entsetzen produzierte, ein fast unbekannter Begriff, jedenfalls was die täglichen Ereignisse anbetraf.« Er nickte Tamara zu, als die dickliche Ukrainerin mit einem klotzigen Lederbehälter eintrat. »Das könnte die größte Sache seit der Bombardierung der Polkappe werden«, bemerkte Burg auf russisch. »Wenn wir die Venus besiegen, haben wir zum ersten Mal in der Geschichte einen wirklich friedlichen Planeten.« Tamara lächelte ihm von der Seite zu. »Im Rat haben Sie aber ein anderes Lied angestimmt«, bemerkte sie. Burg nickte nachdenklich. »Es gibt Zeiten, da denke ich, daß hinter dem, was wir die Öffentlichkeit hören lassen, mehr steckt, als wir zugeben wollen – absichtlich oder unabsichtlich. Wie hat Carillo es ausgedrückt? – Anderen den Krieg zu
erklären, gehört nicht zu unseren Aufgaben. Das war das Problem beim alten multinationalen Denken: ›Nur noch ein Krieg, und alles wird wieder in Ordnung sein.‹ Immer hat es auf diesem Planeten geheißen: ›Frieden, aber erst morgen!‹ Und wir sind dabei, es genauso zu machen.« Er starrte die Maschine an. »Wir sind ganz schön in der Klemme, wenn wir soweit kommen, das da zu benutzen.« »Der Zweck heiligt die Mittel«, sagte Tamara gleichgültig. »Wird man angegriffen, benutzt man die naheliegendste Waffe.« Ein Summen ertönte aus dem Anmelder links von Marcia Nels. Sie drückte auf die Taste. »Hauptmann Small, Madame Nels«, hörte man die Stimme des Agenten. »Danton ist angekommen.« »Gute Arbeit, Hauptmann. Bringen Sie ihn sofort her.« Die Versammlung verstummte, und Burg überlegte, ob den anderen der gleiche Gedanke gekommen war wie ihm. Die Bilder hatten ohne jeden Zweifel gezeigt, daß dieser Danton der Mann war, den sie brauchten – trotzdem, die Wirklichkeit war oft enttäuschend. Abgesehen von zufälligen Faktoren, die durch das Zielsystem der V-Bomben verursacht wurden, wußte Burg, daß er den weiteren Verlauf des Venuskrieges mit der Sicherheit eines Astronomen vorhersagen konnte. Aber die Gefühle der Leute, die an den entscheidenden Ereignissen beteiligt waren – darüber konnte man spekulieren, wenn man wollte. Er dachte: Ich würde alles drum geben, wenn ich die nächsten zwanzig Minuten im Kopf von diesem Kerl… Danton hatte keins der Ratsmitglieder bisher persönlich gesehen, und er war insbesondere neugierig, ob Marcia Nels’ weltweit bekannte Schönheit echt war oder nur ein Trick der Fernsehübertragung. Als er eintrat, beobachtete er gründlich die Gruppe am Tisch; aber sogar einem flüchtigen Betrachter
wäre das plötzlich Lächeln, das Entspannen der Körper in den Stühlen aufgefallen. »Perfekt!« rief der Appalachier aus. Danton hörte die Stimme und wußte, daß Heath der Sprecher war; er hörte und hörte doch nicht. Marcia Nels begegnete seinem Blick für einen Moment und lächelte rätselhaft. Danton mußte sich beherrschen, um nicht nach Luft zu schnappen; es war kein Trick der Fernsehübertragung gewesen. Er sah weg und kam sich wie ein Narr vor. Die Bitterkeit wich der Verwirrung. Was hatte er, Danton, an sich, daß sie ihn mit so offensichtlichem Vergnügen begrüßten? »Bitte, setzen Sie sich, Mr. Danton«, sagte Marcia Nels. »Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen und bieten Ihnen ein paar Erklärungen an, die Sie sicherlich haben möchten.« »Die Erklärungen könnte ich gebrauchen«, antwortete er und bemerkte, daß sein Hals wie zugeschnürt war und seine Worte undeutlich. »Aber ich weiß nichts, was Sie nicht auch schon wissen.« »Nicht diese Art Fragen. Zunächst bitte ich Sie, sich ein Bild anzusehen.« Sie nickte Tamara zu, die den ledernen Behälter über die polierte Oberfläche des Tisches schob. Die Vorsitzende entnahm ihm eine lebensgroße Solidographie, das dreidimensionale Bild eines Männerkopfes, eingeschlossen in einen Block aus durchsichtigem Kunststoff. »Erkennen Sie diesen Mann?« »Natürlich«, antwortete Danton mit einem Achselzucken. »Gut getroffen.« Seine Hand berührte seinen Hals. »Ich – komme mir vor wie enthauptet.« Die blonde Albertanerin lächelte. »Sehr gut. Jetzt… wie steht es mit diesem?« Ein weiterer Würfel tauchte aus dem Behälter auf.
»Das bin ich auch.« Danton lehnte sich vor und runzelte plötzlich die Stirn, als ihm ein Gedanke kam. »Einen Augenblick. Der erste da – sieht so aus, als hätte er einen Kragen mit einer Vorrichtung aus Metall daran. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so was besessen zu haben.« Er sah von einem Bild zum anderen, während der Ausschuß für Vergeltungsmaßnahmen ihn scharf beobachtete. Schließlich lehnte er sich zurück, und sein Blick schweifte zu der Verdoppelungsmaschine. »Soll ich das so verstehen…« »Nein«, sagte Burg. »Die Maschine ist nicht ohne Ihr Wissen bei Ihnen angewendet worden; man hat uns gesagt, das sei technisch nicht möglich.« Er versetzte dem zweiten Würfel einen Stoß. »Sie wissen, wie wir diese Aufnahme von Ihnen bekommen haben. Das andere Bild ist von einem völlig anderen Mann.« Danton blinzelte einen Moment lang, dann brach ein Lächeln aus ihm heraus und breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich fange an, zu Verstehen«, sagte er kläglich. »Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, was ich haben könnte, das für Sie von Nutzen ist… aber ich hätte nie gedacht, daß es mein gutes Aussehen sein würde.« Er fühlte, daß Marcia Nels ihn ansah, vermied es aber, ihrem Blick zu erwidern; es kam ihm so vor, als könne alles, was er sagte, nur das bestätigen, was er schon beim Betreten des Raumes gefühlt hatte. »Darf ich fragen, wer dieser Doppelgänger ist?« Heath sagte: »Wie kennen seinen Namen nicht.« Ein dritter Würfel tauchte aus dem Behälter auf, und Danton fing an zu überlegen, ob er wohl bodenlos sei. Würde er immer aufs neue Köpfe von Danton hervorbringen? Zwei Drittel des Kopfes auf diesem Bild waren so glatt und leer wie ein Puppenkopf. »Und dies«, fuhr Heath fort, »ist alles, was wir über ihn wissen. Den Rest haben uns die Polizei-Physiognomen dazumontiert.«
»Man könnte es«, warf Burg ein, »eine freie Improvisation auf die Bertillon-Gesetze nennen.« Der Antarktiker schnurrte schon wieder. Er fuhr fort: »Die Vorlage stammt aus dem Bruchstück einer venusianischen Fernsehübertragung aus dem letzten Jahr. Damals beobachtete ein kleines Raumschiff der Arbeitsgruppe Schirm gerade den Planeten, versuchte die Position des Thomasschirms zu bestimmen und ein paar Tests daran vorzunehmen. Das mißlang ihnen; aber während sie dort waren, fingen sie durch Zufall diese Übertragung auf und konnten eine Minute davon aufnehmen. Und dieser Mann hielt damals gerade eine Rede.« Burg neigte ein wenig den Kopf. »Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, Mr. Danton, daß die Geschichte oft von solchen nicht voraussehbaren Ereignissen abhängt.« Also werde ich in die Geschichte eingehen als wundersamer Zufall, dachte Danton… Das ist immerhin besser als eine Fußnote in den Polizeiberichten über die Pro-Erde-Partei. Er sah sich das Bild noch einmal an, als ihm die Bedeutung von Heaths Worten klar wurde und Ungläubigkeit seine Gedanken verscheuchte. »Sie konnten durch die Wolkendecke hindurch Fernsehen empfangen?« fragte er. »Je von der Außenstation gehört?« antwortete Heath mit einer Gegenfrage. Danton schüttelte den Kopf, und der Appalachier stopfte seine Pfeife. »Das ist ein kleiner, künstlicher Satellit, genau wie der alte amerikanische, den wir haben. Befindet sich im Orbit um die Venus, direkt über der Wolkendecke, aber unterhalb des Schirms. Sie benutzen ihn für Wetterbeobachtung aus großer Höhe und als Richtstation für den Beschuß der Erde.« »Dann müßte der Beschuß doch viel zielgenauer sein«, wandte Danton ein. Heath schüttelte den Kopf. »Die Außenstation ist zu klein, um die notwendige Ausrüstung zu haben. Hätten sie sie größer
gebaut, dann hätten sie sie außerhalb der Roche-Grenze ansiedeln müssen – also außerhalb des Schirms, wo wir sie hätten zerstören können.« »Dies alles«, warf Burg ein, »beantwortet aber Ihre Frage nicht. Die Außenstation ist mit einem Prezipitron ausgerüstet, das eine Säule klarer Luft zwischen ihr und der Oberfläche herstellen kann, sobald die Stürme einmal weniger heftig wehen als sonst. Die Übertragungen kommen durch diese Säule herauf.« Danton nickte. »Ich verstehe. Ein ganz besonderer Glücksfall.« »Nein«, verbesserte ihn Marcia Nels, »das stimmt nicht ganz.« Sie klingt ein wenig verärgert, dachte Danton. »Wir haben oft Schiffe, die die Außenstation beobachten. Der Glücksfall liegt in der Ähnlichkeit.« Die anderen nickten, und die Vorsitzende aus Alberta fuhr fort: »Unser nächstes Thema ist die gegenwärtige Situation auf der Venus. Ich denke, das wird Sie interessieren. Nebenbei gesagt, läßt es die Aktivitäten Ihrer Partei ziemlich dumm erscheinen… Sie kennen die Geschichte der Rebellion und der Flucht von der Erde. Seit dieser Zeit hat uns die Analyse der betroffenen Persönlichkeiten eine Reihe bevorstehender Konflikte angedeutet – die den Beteiligten vielleicht gar nicht bewußt sind, aber trotzdem dort schwelen. Was wir über Thomas wissen, ist, daß er eine dominante Persönlichkeit gewesen sein muß und in der Lage, die Rebellen zu einer festen Gruppe zusammenzuschließen. Obwohl wir nicht wissen, wie alt er zur Zeit der Flucht war, können wir sicher sein, daß er seit mindestens dreißig Jahren tot ist.« »Schon eher seit fünfzig Jahren«, sagte Heath.
Danton nickte. »Und in der Zwischenzeit«, mutmaßte er, »ist die nächste Generation herangewachsen, und die Sünden der Väter suchen die Enkel heim.« »Eine scharfsinnige Betrachtung«, bemerkte Burg. »Erzählen Sie uns doch, wie Sie sich den Fortgang der Ereignisse vorstellen.« Danton zuckte die Achseln. »Ich werde versuchen, so zu denken wie Sie«, sagte er langsam. »Zum einen gibt es wohl eine Bewegung ›Schließt Frieden mit der Erde‹, möglicherweise im Untergrund; dann eine Partei der Mitte, die eine wehrhafte Unabhängigkeit von der Erde fordert, aber das Zufallsbombardement zugunsten einer entscheidenden militärischen Kraftprobe ablehnt; und eine Mehrheit, die die Erde so hart und so oft wie möglich treffen will, auch wenn es militärisch sinnlos ist. Es liegt nahe, davon auszugehen, daß die Auseinandersetzung zwischen diesen Gruppen gerade einen Höhepunkt erreicht hat – sonst wären Sie nicht so besorgt darüber. Die Mehrheit muß einfach gewinnen, aber ihr Vorsprung könnte gering sein; das hieße, Kompromisse zu schließen mit den Gemäßigten.« Der Ausschuß verharrte in gespannter Stille, aber der Ausdruck auf den Gesichtern der Anwesenden war sehr unterschiedlich. Danton wußte nicht recht, wie er den Ausdruck auf Tamaras breitem Gesicht deuten sollte und entschied sich versuchsweise dafür, daß die Ukrainerin etwas mißtrauisch dreinblickte. Heath sah überrascht aus und schien ihm offen zuzustimmen. Marcia Nels bedachte ihn mit jenem beunruhigenden, rätselhaften Lächeln, das es ihm unmöglich machte, sie länger als ein paar Sekunden anzusehen – beunruhigend vor allem deshalb, weil sie sich dessen nicht bewußt zu sein schien. Nur Burg sah aus, als sei er ziemlich unberührt von den Ereignissen oder höchstens ein wenig amüsiert. Er sagte: »Und das Ergebnis?«
Danton trommelte nervös auf den Tisch. »Ein vorübergehendes Abflauen des Bombardements, und eine vermehrte Anstrengung, die wenigen verbliebenen Angriffe effektiver als bisher zu gestalten. Längerfristig – sagen wir, innerhalb der nächsten zehn Jahre – ein Plan, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, den Schirm abzuschalten und uns anzugreifen. Ich nehme an, sie werden nicht versuchen, sich dann als die einzig legitime Regierung der Erde zu etablieren. Vielmehr werden sie versuchen, so viel Macht an sich zu reißen, daß sie Sie dazu zwingen können, sie nicht mehr wie bisher als Kriminelle zu behandeln und sie als unabhängigen Planeten zu akzeptieren.« »Das ist fast genau das gleiche Bild, das uns die Soziologische Arbeitsgruppe vorgesetzt hat«, sagte Burg. Sein Tonfall hatte nichts Lobendes; er schien lediglich eine Tatsache auszusprechen. Danton lächelte gezwungen. »Wir haben nur unseren gesunden Menschenverstand benutzt. Wir hatten keine psychometrischen Daten über die ursprünglichen Rebellen, und keine Experten, die sie hätten analysieren können, wenn wir sie gehabt hätten. Wir haben uns lediglich vorgestellt, daß die meisten gegenwärtigen Bewohner der Venus den Planeten hassen müssen – sie sind dem Leben dort nicht angepaßt und werden es auch weitere Generationen lang nicht sein –, also müssen sie auch die Erde hassen, weil sie sie verbannt hat. Auch schien es wahrscheinlich, daß einige von ihnen, junge Leute, die die Erde nie gesehen haben, nicht genug über sie wissen, um sich sehr dafür zu interessieren; da haben Sie Ihre Gemäßigten. Und die romantischen Heimwehkranken bilden die Minderheit.« Er hielt inne und zwang sich, Marcia Nels direkt anzusehen. »Und ich sehe nicht ein, warum die Aktivitäten meiner Partei Ihnen so unsinnig erscheinen. Mir scheinen sie, im Lichte Ihrer
eigenen Schlußfolgerungen, ganz logisch zu sein. Wenn diese Krise auf der Venus vorbei ist, wird man dort einen Generalangriff auf die Erde vorbereiten. Wir haben nie behauptet, daß die verbissenen Berufspolitiker, die Kriegstreiber, deren Beruf der Sicherheitsrat überflüssig gemacht hat – oder der ganze Rest jener niederträchtigen Bande –, die rechtmäßige Regierung der Erde darstellen: Das werden Sie uns hoffentlich zugestehen. Was wir wirklich gesagt haben, ist, daß die Rebellion eine nicht wieder rückgängig zu machende Tatsache ist, und, daß es gefährlich ist, die Nachkommen der Rebellen wie entflohene Verbrecher zu behandeln, die sich ihrer Auslieferung widersetzen. Selbstverständlich verstecken sie sich hinter ihrem Schirm und schießen auf Sie. Sie beobachten ihre Außenstation. Sie schießen versuchsweise Bomben gegen ihren Schirm; mit einem Wort: Sie benehmen sich wie eine wütende Katze, die vor einem Mauseloch auf der Lauer liegt. Wenn Sie ihnen Frieden und eine Amnestie angeboten hätten, wären sie herausgekommen, und die Gefahr wäre heute vorüber. Die junge Generation hat wahrscheinlich das Erbe des Hasses gründlich satt. Aber jetzt werden Sie feststellen, daß Sie in jenem Loch nicht eine Maus, sondern eine Schlange gefangenhalten!« »Sie haben auf der ganzen Linie recht, Mr. Danton«, brummte Heath, während er seine Pfeife an seinem Absatz ausklopfte. »Nur ein Haken ist dabei. Wir halten es für verdammt unwahrscheinlich, daß sie eine Amnestie akzeptieren würden. Betrachten Sie es mal von dieser Warte: Wenn sie sie annähmen, würde das heißen, daß sie den Sicherheitsrat als die rechtmäßige Regierung anerkennen. Das werden sie nicht – das können sie nicht. Ihre ganze Denkweise steht dem entgegen.
Und dieses Zufallsbombardement ist nicht der Trick einer verzweifelten Maus, ganz im Gegenteil. Es ist das Spucken eines Wiesels, dem nichts lieber wäre, als daß Sie versuchen, es zu streicheln. Sie würden sich dabei eine blutige Hand holen, ohne jeden Zweifel.« »Lassen Sie uns keine Zeit mehr auf Zoologie verschwenden«, warf Marcia Nels ein. »Das Wesentliche an der ganze Sache, Mr. Danton, ist, daß wir eine viel einfachere Art kennen, die Auseinandersetzung ohne Blutvergießen zu beenden, und das mit der endgültigen Gewißheit, daß wir dabei der Venus die Giftzähne ziehen können.« Plötzlich erschien wieder ihr Lächeln. »Jetzt rede ich auch schon so. Aber so steht die Sache nun einmal.« »Und meine Ähnlichkeit mit diesem Venusier spielt dabei eine Rolle?« fragte Danton vorsichtig. »Ja«, sagte sie. »Wir werden den Verdoppelungsplan Ihrer Partei in die Tat umsetzen. Sie wollten doch die Maschine dazu benutzen, Doppelgänger der Ratsmitglieder herzustellen, um so den Sicherheitsrat zu verwirren, nicht wahr? So, wie die Dinge lagen, war der Plan undurchführbar, aber wir sind der Meinung, daß das dahinterstehende Prinzip ganz vernünftig ist.« Sie zeigte auf das erste Bild. »Dieser Mann, wer er auch immer ist, ist eine Art militärischer Führer – die kurze Unterhaltung, die wir abgehört haben, läßt es möglich erscheinen, daß er der militärische Führer ist. Sollte die Krise auf der Venus noch nicht erreicht sein, wird das ihren Ablauf völlig verändern. Falls sie schon im Gange ist, hoffen wir einen der Unseren als Anführer des Angriffs auf die Erde an der Spitze zu haben. Einer von ihnen findet sicher eine Möglichkeit, diesen Venusier zu töten und seine Rolle zu übernehmen.« »Sie erkennen die Möglichkeiten«, sagte Burg.
Danton schürzte die Lippen. »Ja… ich erkenne sie tatsächlich. Aber was ist, wenn ich mich weigere?« »Da liegt der Haken«, gab Burg zu. »Glauben Sie mir, Mr. Danton, wir erklären unsere Ziele gewöhnlich nicht jedem Mitglied einer Untergrundorganisation, das wir gefangennehmen, so ausführlich. Wir haben Grund zu der Annahme, daß Ihre Doppelgänger umgänglicher sein würden, als Sie es vielleicht sind. Aber wenn Sie mitmachen würden, können wir sichergehen, daß in den Gehirnen der Doppelgänger keine Überreste von Widerstandsgeist zurückbleiben – daß in ihren Motiven keine Zwiespältigkeit angelegt ist.« »Hören Sie«, unterbrach Heath, »warum sollten Sie ablehnen? Hier ist Ihre Chance, sich direkt in die Angelegenheiten der Venus einzumischen, statt nur aus der Entfernung darüber zu reden. Wir werden Sie und Ihre Doppelgänger per Fallschirm absetzen. Sie werden freie Hand haben – nach dem Absprung könnten wir Ihnen keine Befehle mehr geben, selbst wenn wir das wollten. Ungefähr das einzige, was Sie nicht tun könnten, ist das, was wir am meisten fürchten – daß Sie sich ergeben und den Exilanten den ganzen Plan erzählen. Sie würden Sie alle zur Sicherheit erschießen. Alles andere, was Sie vielleicht tun können, führt zwangsläufig irgendwie zu einer Veränderung zum Besseren.« Es war verwirrend, wenn von einem selbst in der Mehrzahl gesprochen wurde. Danton versuchte, das Gehörte abzuwägen, und stellte fest, daß es eine schwere Aufgabe war. Heath hatte natürlich recht – dies war eine ausgezeichnete Möglichkeit für ein gewöhnliches Parteimitglied. Wie viele einfache Bürger hatte Danton manchmal geglaubt, er könne die Erde oder die Venus viel vernünftiger regieren als diejenigen, die an der Macht waren. Jetzt hatte er dazu die
Chance. Es ist kein sehr schmeichelhaftes Angebot, dachte er, aber – es ist ein Angebot. Tamara sagte kurz etwas, und Burg grinste. »Die Abgeordnete der Ukraine möchte Sie daran erinnern, daß Revolutionäre immer ersetzbar sind. Ich kann mir niemand anders vorstellen, mit der möglichen Ausnahme von Mr. Carillo, der Ihnen mehr über revolutionäre Bewegungen erzählen könnte.« Danton grinste zurück. »Um die Partei mache ich mir keine Sorgen. Sie hat sich schon in schlimmeren Zeiten als diesen über Wasser gehalten; sie funktioniert nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus. Jedes Mitglied kann die Führung übernehmen. Wir sind alle gleich.« Die Ukrainerin sagte wieder etwas; diesmal übersetzte Burg nicht, aber ihr Tonfall war eindeutig. Marcia Nels sagte scharf: »Wir werden die Sache nicht voranbringen, indem wir uns mit ihm anlegen.« »Ziehen Sie es vor, mich mit Verlockungen zu ködern?« fragte Danton. Unerklärlicherweise errötete sie. »Vielleicht kommt das der Sache am nächsten.« »Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen.« Danton holte tief Luft. »Also gut. Ich bin Ihr Mann.«
Thomas blickte auf, als Luisa hereinkam, dann fuhr er mit seinem Diktat fort. »Sie waren sicher gewesen, und sie hatten diese Sicherheit gehaßt. Jetzt, da es den Thomasschirm nicht mehr gab, fühlten sich die Anführer der Venus wie Männer, die man aus einem Gefängnis entlassen hat. Keiner von ihnen, außer Thomas, konnte eine Ahnung davon haben, wie die Erde sein mochte, aber gerade da sie sie nicht kannten, sehnten sie sich um so mehr nach ihr. Und ihr einfältiger, tödlicher Haß
auf die Menschen der Erde wurde durch kein Wissen beeinflußt. Die Venus hatte unter der tödlichsten aller Krankheiten gelitten: Der Gewißheit, hilflos zu sein. Nun lag die Macht in ihrer Reichweite.« Thomas nickte, und der Diener schaltete das Aufnahmegerät ab und ging. »Wenn man eines Spiels müde wird, kann man darüber immer noch ein Buch schreiben und sich im Philosophieren ergehen. Du weißt ja, die erste Chronik hat immer einen besonderen Wert, der weit über ihren objektiven Gehalt hinausgeht. Sag mir, ist Mann zufrieden?« »Wie ein Kind mit einem Zimmer voller neuer Spielsachen… Es scheint dir alles keinen Spaß mehr zu machen, Thomas.« »Du hast recht. Ich bin des Lachens müde. Weißt du, man sagt, als die Nachricht vom Untergang des weißen Schiffes des Kronprinzen den Hof erreichte, sei der König ohnmächtig von seinem Thron gesunken; und seit diesem Tage habe er nie wieder gelächelt… Früher hielt ich das für eine nette, romantische Geschichte…« Sie machte eine ungeduldige Kopfbewegung. »Hör doch mit deiner Schauspielerei auf. Du wirst mich nicht hinrichten lassen, das weißt du – auch wenn ich am Untergang Taverners beteiligt war. Mit seinem Tod hatte ich nichts zu tun. Das war ganz allein deine Idee.« »Sehr richtig, Luisa. Das war alles meine Idee, mea culpa… mea maxima culpa. Wie schade, daß ich nicht die Figur habe für ein Büßerhemd.« »Nein, ich brauche dich, und du brauchst mich noch mehr. Außerdem ist Thomas imstande, aus Erfahrung zu lernen. Nachdem er einmal übereilt Rache genommen hat, wird er sich fortan in Geduld üben.« »Hör auf!« fuhr sie ihn an. »Komm zur Sache, falls es eine Sache gibt.«
»Ich habe keine Eile, meine Liebe. Ich kann dein Ende so sicher wie mein eigenes vorhersehen, und mit deinem ist Thomas sehr zufrieden… Ach ja… Ich habe dich aus einen bestimmten Grund gerufen, nicht wahr? Gib mir alle Information über…« Mann machte einen letzten Versuch, den Flugoffizier über dem Kreischen der Verladefahrzeuge zu verstehen, und ließ dann seine Kopfhörer wieder über die Ohren gleiten. Der Offizier grinste ihn an, und er grinste zurück – ein so wohltuendes Grinsen, daß er sich wieder jung fühlte. Nie hatte es ein so zufriedenstellendes Geräusch wie jenes Kreischen gegeben, noch Farben von so rauher Schönheit wie die rauchigen Gelb- und Rottöne oder das Blau und Grün der Quecksilberdampflampen, die in der riesigen Höhle leuchteten. Er spürte, daß die hohl klingenden Geräusche für die anderen das gleiche bedeuten wie für ihn – die Erlösung von der Anspannung, die Teil ihres Wesens gewesen war –, die Bestätigung, daß es jetzt gegen die Erde ging. Es ist, als sei ich endlich geboren worden, dachte er. Zum ersten Mal atme ich frei. Er sah die neue Kraft in diesem Aufbruch und hörte, wie die Männer, die diesen Aufbruch bewerkstelligten, über den Lärm hinwegbrüllten, statt sich ihrer Kopfhörer zu bedienen. Wir sind die Macht, dachte er. Unsere Stimmen sind überwältigend; wir werden die Erde niederbrüllen! »In einer halben Stunde sollten wir eigentlich fertig sein«, sagte der Offizier. »Marshall Lathrop hat das wirklich gut organisiert. Sind Sie je mit einer Rakete geflogen?« »Nein, aber ich werde mich daran gewöhnen.« »Marshall Lathrop, wie? Na gut, sollte der Alte doch seine Beförderung haben: Vielleicht reichte das, um ihn bei der Stange zu halten. Da fliegt sie!«
Man spürte ein langanhaltendes Dröhnen im Fels, das immer lauter und höher wurde. Dann wurde das ohrenbetäubende Kreischen über ihren Köpfen leiser – eine Raketenbombe, die sich pfeilgleich in den Himmel erhob… Mann lauschte dem Geräusch in konzentrierter Ekstase. Nachdem das Geräusch abgeklungen war, sagte er: »Was sagen die Geologen?« »Nichts Beunruhigendes. Es wird vielleicht einen kleinen Einbruch in den Höhlen mit den Hydrokulturen geben, aber nichts, was die Produktion erheblich beeinträchtigen könnte. Die Abschußschächte sind alle völlig in Ordnung – die Geologen sagen, daß die gesamte vulkanische Tätigkeit der Venus schon so lange vor unserer Ankunft erloschen ist, daß die Bruchstellen sich vor langer Zeit stabilisiert haben.« Mann nickte und nahm seine Kopfhörer wieder ab. Er atmete immer noch tief. Die riesigen Zylinder wurden in einer ununterbrochenen Reihe unter ihm vorbeigefahren, in Richtung auf die für sie ausgewählten Startrampen; die Verladefahrzeuge kreischten in ihren Schienen. Jede Granate war mit einem farbigen Streifen auf dem Gefechtskopf gekennzeichnet – rot für Sprengbomben; orange für Brandbomben; gelb für Gasbomben und grün für biologische Kampfstoffe. Weiße Streifen – für Atombomben – waren nicht zu sehen. Von diesen gab es nur wenige, und man hatte sie für die Raumschiffe aufbewahrt – sie auf Zufallsziele abzuschießen wäre Verschwendung gewesen. In seinem Kopfhörer ertönte ein Summen. Wiederwillig setzte er ihn auf. »General Mann? Hier Außenstation. Sie sollten jetzt an Bord ihres Schiffes gehen. Wir sind etwas zu spät dran, und die Vorhut soll um 21.20 gestartet werden. Werden die Raketenbomben abgefeuert? Von hier aus können wir sie nicht sehen.«
»Ja, sie werden zur Zeit gestartet.« »Sobald sie alle weg sind, sollte die mit chemischen Treibstoffen betriebene Flotte starten. Wenn Sie noch warten wollen, können Sie ja ein atomgetriebenes Schiff benutzen – die müssen erst in einer Weile starten. Es wäre auch bequemer für Sie…« »Nein. Ich will vorne dabeisein. Haben Sie was von Marschall Lathrop gehört?« »Nein, General. Wir haben hier aber eine Nachricht von Direktor Thomas…« »Thomas?« brüllte Mann. »Jawohl. Sie besagt, daß die großen Schiffe fast fertig sind, und daß eine ›ausreichende Anzahl‹ termingerecht zur Verfügung stehen wird. Der Termin ist so gelegt, daß sie weniger als einen Tag nach Ihnen die Erde erreichen werden.« »Wir sollten an Bord gehen«, sagte der Flugoffizier. Mann zögerte einen Augenblick. Thomas! Ein Anflug von Angst überkam ihn, aber er wischte das Gefühl beiseite. Der Angriff hatte begonnen. Thomas war irgendwie entkommen, aber er war zu spät entkommen. Durch den Felsen hörte man die Hammerschläge der Torpedos. Zu dem Zeitpunkt, als Mann die Luftschleuse des Raumschiffes hinter sich schloß, waren mehr als tausend von ihnen unterwegs. Ihr Flug verursachte pfeifende Wirbel in den Staubwolken der Venus. Die Erde erwartete friedlich kreisend ihre Ankunft!
IX
Das Problem lag in der Selbstkontrolle, überlegte Paul Danton. Er erinnerte sich, wie das in der Pro-Erde-Partei von Anfang an immer wieder betont worden war: Kontrolliere deine Gedanken, verdränge deine Gefühle und sei objektiv. Er saß im Dunkeln, betont ruhig, versuchte seine Gedanken in ordentliche Bahne zu lenken und bemühte sich, die Knoten zu entwirren, die ihn von zukünftigem Denken abhielten. Es war nicht objektiv, sagte er sich immer wieder, sich in Tagträumen von der fernen Venus zu verlieren, wo er bald die seltsamste Vielfachrolle der Geschichte spielen würde. Es war nicht objektiv, immer wieder an die blonde Marcia Nels und ihren Blick zu denken. Also gut, dachte er, das ist eine objektive Tatsache; ich finde sie anziehend, und offensichtlich findet sie mich ebenfalls anziehend. Er wiederholte den Gedanken mehrmals, als sei er eine Parole oder eine auswendig zu lernende Ansprache. Und es gefällt mir nicht, fügten seine Gedanken hinzu. Es gefällt mir nicht und ich will es nicht. Es ist wirklichkeitsfremd und völlig romantisch. Er versuchte, ihr Bild zu verdrängen, indem er an frühere Liebschaften mit Parteimitgliedern dachte – von denen viele, wenn man es ohne Illusionen betrachtete, wesentlich attraktiver als die Vorsitzende des Sicherheitsrats waren. Sie hat sich wesentlich schlechter unter Kontrolle als ich, entschied Danton. Höchstwahrscheinlich war sie sich noch gar nicht voll bewußt, was vorging. Im besten Falle spielte sie mit dem Gedanken.
Er sah sich im Zimmer um – bequem, aber abgeschlossen, und vorsorglich ohne Fenster oder Belüftung. Man hatte ihn aus den Küchen des Sicherheitsrats versorgt, und man hatte ihm gesagt, er solle ein paar Stunden schlafen. Er blickte zur Tür und stellte sich Marcia Nels vor, wie sie dort stand und mit ihrem besonderen Blick zu ihm sagte: »Niemand weiß genau, wie groß die Belastung durch den Duplikationsprozeß ist, Mr. Danton. Er ist nicht gefährlich, aber Sie sollten sich trotzdem nicht unter nervöser Anspannung darauf vorbereiten.« Danton grinste dünn. Fünf Kopien von sich selbst gegenüberzustehen würde belastend genug sein. Schließlich hatte er es geschafft, etwas zu schlafen. Er hatte sich mit einer gebundenen Ausgabe der Ratsprotokolle in den Schlaf gelangweilt – es war keine Uhr im Zimmer –, und er wußte, daß er jetzt nicht mehr einschlafen würde. Er stand auf, machte das Licht an, wusch sich und zog sich an – dabei spürte er ein Gefühl ungeduldiger Erwartung, das er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Er fühlte sich wie ein Kind an Heiligabend – sicher, daß es längst hätte soweit sein müssen, aber genauso sicher, daß er sich nicht ins Wohnzimmer schleichen durfte, um nach den Geschenken zu sehen. Er nahm die UNESCO-Protokolle, stellte sie ins Bücherregal zurück und zog eine Ausgabe von James Joyces »Finnegans Wake« heraus. Mein Gott, wie ich das in der Schule gehaßt habe, dachte er. Aber vielleicht war das so gewesen, weil das Buch zur Pflichtlektüre erklärt worden war. Außerdem schien dies hier die ungekürzte Fassung zu sein. Er hörte ein diskretes Klopfen an der Tür. »Ich bin wach«, rief er. Das Schloß knackte, und ein Wärter trat mit einem Servierwagen ein. Dahinter sah Danton eine ihm bekannte Gestalt, die sich gerade den Farbenchiffrierer, der die Tür öffnete, wieder an den Gürtel steckte: Hauptmann Small.
»Tag«, sagte er. »Wirst du mich bis ans Ende verfolgen?« Der Agent grinste. »Bis zum Fuße des Schafotts. Wissen Sie, ich soll Sie angeblich besser kennen als irgend jemand anders. Haben Sie herausgefunden, was an Ihnen so wertvoll ist?« Danton nickte. »Ja. Aber wenn man dich nicht informiert hat, sehe ich nicht ein, warum ich das tun sollte.« Der Agent winkte lässig. »Meine Neugier ist rein beruflich. Bis später.« Danton machte sich mit unerwartetem Genuß an seine Mahlzeit. Er war immer noch dabei, als er wieder das Schloß knacken hörte. Es war Burg. »Guten Abend«, sagte der Antarktiker freundlich. »Setzen Sie sich – ich hatte nicht vor, Sie beim Essen zu stören. Sie haben noch eine Weile Zeit; es ist kurz nach Mitternacht. Dies ist nur ein Höflichkeitsbesuch.« »Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Danton, »wenn auch leicht irritiert.« »Na ja, ich gebe zu, daß wir nicht gerade alte Schulfreunde sind. Und doch… Sie sind ein intelligenter Mann, guten Willens, wie man um 1900 zu sagen pflegte, und Sie haben aus idealistischen Beweggründen ein gefährliches Wagnis auf sich genommen.« Burg hustete leicht. »Das ist etwas, das ich eigentlich nicht so gerne sehe; es führt unweigerlich zu einem seelischen Schock. Wenn Sie ein Gauner wären, würde mir das nichts ausmachen, aber…« Danton schnitt sein Fleisch in kleine Stücke und verbarg damit seine wachsende Bestürzung. Würde der Mann versuchen, ihm die Entscheidung für die Reise auszureden? »Ich spreche nur für mich selbst – nicht für den Rat«, fuhr Burg fort. »Ich mag das politische Vorgehen nicht, zu dem wir gezwungen sind. Und die Verwendung der Duplikationsmaschine mag ich noch weniger.
Sagen Sie – erinnern Sie sich noch, warum die Friedensgesetze so leicht durchzusetzen waren – obwohl die Schwadron zu der Zeit, als sie erlassen wurden nur noch ungefähr zehn Bomben besaß?« Danton blinzelte und fragte sich, wohin das wohl führen würde. »Na ja… ich glaube schon. Die Erdbeben und die Stürme nach dem Schmelzen der Polkappe… hatten Widerstand fast unmöglich gemacht. Der Neigungswinkel der Erdachse veränderte sich…« »Sie denken an Draysons Gesetz. Wichtig war doch, daß er sich nicht veränderte. Das Trägheitsmoment der Erde hat das verhindert. Das Ergebnis war, daß die bei den Schwenks verbrauchte Energie sich in Wärme verwandelte – als ein Viertel des Gesamtgewichts weggeschossen war, schmolz das Eis von alleine.« Burg hielt inne. Beide Männer hatten die gleiche Vision: Die tobenden Nebelschwaden auf dem gesamten Kontinent, das Bersten und Knacken der endlosen Eiswüste und die fünfzig winzigen Flugzeuge, die verzweifelt gegen eine Hölle aus Blitzen und Schlammhagel ankämpften. »Aber die Erdbeben und so weiter waren doch nützlich«, fuhr Burg fort. »Die Staaten befanden sich am Vorabend eines weiteren Krieges, der natürlich wieder mal der letzte sein sollte. So hat jeder Halunke seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts jeden neuen Krieg begründet. Die Idealisten waren da nicht besser… Nun gut, kommen wir wieder zur Sache: Es herrschte immer noch genügend Ordnung, um die internationale Schwadron abzuwehren. Zehn veraltete Bomben hätten sowieso keinen Beamten erschreckt, sofern nicht die Gefahr bestand, daß er selbst getroffen wurde.« »Was hat sie dann erschreckt?« »Chaos: Das uralte Schreckgespenst der Bürokraten. Wird die etablierte Ordnung der Dinge zerstört oder zumindest
schwer angeschlagen, leidet der Beamte unter dem Zusammenbrechen des Amtsweges. Er hat keinen, den er für seine Irrtümer verantwortlich machen kann, und keinen, dem er die Verantwortung zuschieben kann, in der Krise zu handeln. Ist der Zusammenbruch schwerwiegend genug, könnte er seinen Posten verlieren – er hat normalerweise ein Amt, das von einer stark zentralisierten Regierungsmaschinerie abhängt. Die Regierungen der Staaten bekämpften das Chaos, das durch die Erdbeben entstand. Das war die Gefahr, die sie fürchteten. Sie hätten lieber dem einen Feind nachgegeben, als gegen den anderen zu verlieren… Und, sehen Sie, der Sicherheitsrat bedeutet Ordnung für sie. Als die Bombendrohung kam, waren sie froh, eine Entschuldigung für ihre Kapitulation zu haben – und uns die Verantwortung für den Wiederaufbau zuschieben zu können.« Danton lehnte sich nachdenklich zurück. »Oh – ich verstehe. Und sie hoffen, das wird auf der Venus auch passieren?« »Genau. In der Welt des Regierungsbeamten bedeutet die Duplikationsmaschine zehnmal soviel Terror wie irgendeine Waffe im herkömmlichen Sinn. Die meisten fürchten sich nicht einmal vor der Kohlenstoffbombe – vor allem deshalb, weil sich niemand vorstellen kann, daß der gesamte Planet auf einmal hochgeht. Und die, die besorgt sein könnten, sind mit den Erklärungen jener Experten zufrieden, die sagen, es könne nichts passieren. Wenn wir in einen weiteren Krieg auf der Erde geraten würden, würde irgendein Idiot aus purem Zweifel an ihrer Zerstörungskraft früher oder später die Karbonbombe einsetzen. Dagegen die Verdoppelungsmaschine – sie trifft den dem Bürokraten vertrauten und realen Teil des Universums hart. Sie verursacht organisatorisches Chaos – schlimmer als Feuer und Aufruhr.«
Danton beobachtete den Antarktiker genau und versuchte, den verbindlichen Tonfall zu durchschauen. Burg klang fast genau wie damals im Fernsehen, auch wenn er weniger gepflegt aussah. Aber jetzt hatte er etwas an sich, eine Art Unterton, den Danton zuvor nicht bemerkt hatte. Er hatte Burg immer als Meister im Spiel der Politik angesehen, als Profi mit dem feinen Instinkt und der inneren Begeisterung eines Amateurs. Heute abend schien Burg nicht zu spielen. »Warum halten Sie sich bloß damit auf, mir das zu erzählen?« fragte Danton. Burg zuckte die Achseln: »Zum Teil deswegen, weil ich Sie mag. Ich weiß nicht, wie weitreichend Ihre Sympathien für die Exilanten sind. Aber zumindest sehe ich, daß Sie immer die schwächere Partei unterstützen – egal, ob aus Sentimentalität oder aus Prinzip. Ich kann es Ihnen nachfühlen. Auch ich war ständig auf der Seite der Verlierer, ehe ich den Posten im Rat bekam. Ich will erreichen, daß Sie so gut wie möglich verstehen, wie sehr diejenigen, denen Sie helfen, Sie hassen werden wegen Ihrer guten Absichten.« »Das ist mir nicht neu, Mr. Burg«, sagte Danton. »Man hat es uns beim Eintritt in die Pro-Erde-Partei zwar nicht gesagt, aber ich bin sicher, daß jeder von uns es nach wenigen Monaten praktischer Erfahrung gemerkt hat. Erlöser auf die eine oder andere Art an die Wand zu nageln, war lange vor der Zeit Christi der Brauch, und das wird auch so bleiben.« Danton zuckte die Achseln. »Wer das nicht merkt, wird verbittert. Realisten erwarten für sich nichts Besseres, als daß sie den Blick für die Wirklichkeit behalten.« »Teilweise richtig«, antwortete der Antarktiker. »Aber die Schwierigkeit bei einem Erlöser ist, daß er dich auf seine Weise retten will, nicht auf deine eigene.« »Nun«, seufzte Danton. »Mich wird man jedenfalls als die schlimmste aller militärischen Plagen betrachten – die neueste
Errungenschaft auf dem Gebiet der biologischen Waffen.« Er lächelte plötzlich. »Ihre Zuneigung zu mir wendet sich allmählich zum Praktischen, Mr. Burg! Sie haben mich eindringlich davor gewarnt, das Geheimnis zu verraten, wenn ich auf der Venus lande.« Burg rollte prüfend eine Zigarre zwischen den Handflächen und roch daran. »Meinen Ruf, ein Abweichler zu sein, habe ich wohl verdient«, gab er zu. »Aber die dargelegten Gründe für meine Warnung sind völlig ernst gemeint. Was wissen Sie übrigens über die Immunen?« »Immune?« Danton konnte die Überraschung in seiner Stimme nicht verbergen. »Ich sehe zwar die Verbindung nicht, aber – na ja, sie sind die einzige größere lebensfähige Mutation, die sich aus der Radioaktivität nach dem Beschuß der Polkappe entwickelt hat. Ohne erkennbaren Grund werden sie allgemein gehaßt. Die einzige Eigenschaft, die allen gemeinsam ist, ist ihre Sterilität. Sie werden nicht krank, und deshalb leben sie sehr lange. Stimmt das?« »Soweit ganz richtig«, stimmte Burg ernst zu. »Außerdem werden sie für unsterblich gehalten und für unverwundbar durch Unfälle. Natürlich sind beide Vorstellungen falsch. Immune kann man in die Luft sprengen, und sie brauchen Sauerstoff – an fast alles andere können sie sich anpassen.« »Aber…« Burg hob die Hand. »Sie wollen fragen, warum ich das Thema aufgreife. Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Früher oder später werden Sie Ihr Wissen über die Immunen anwenden können. Hätten Sie nichts darüber gewußt, dann hätte ich es Ihnen sagen müssen. Das ist alles. Was die Duplikationsmaschine betrifft: Wie ich schon sagte, benutze ich sie nur ungern. Ich fürchte nicht das Schreckgespenst des Chaos. Ich hasse das ausgeklügelte Ordnungssystem, das dieses Gespenst erst möglich macht. Und ich glaube, daß der
Gebrauch der Maschine dazu geeignet ist, dieses System zu erhalten.« »Moment mal«, protestierte Danton. »Man braucht ein ganz schön ausgeklügeltes Regierungssystem, um eine hoch technisierte Gesellschaft im Griff zu behalten.« Burg blies zarte Rauchringe in die Luft. »Ah… die hochtechnisierte Gesellschaft! Denken Sie doch mal nach, mein Freund. Glauben Sie wirklich, wir hätten es nötig, die Erde auf dem gegenwärtigen hohen technologischen Stand zu halten, wenn unsere einzige Sorge wäre, die Menschen gut zu kleiden, unterzubringen, zu ernähren, gesund zu erhalten und so weiter? Unsinn? Darüber sind wir seit dem Jahre 1910 hinaus. Medizin, Ackerbau, Erziehung – nichts davon erfordert eine derart fortgeschrittene und energieaufwendige Technologie, wie wir sie haben. Selbst wenn man den Faktor der Grundlagenforschung dazurechnet, bräuchten wir nur halb soviel Technik, wie wir heute haben. Es gibt nur eine einzige Entschuldigung dafür, die Technologie derart immer weiter auf die Spitze zu treiben. Sie kennen sie genausogut wie ich.« »Krieg«, sagte Danton. »Tz, tz.« Burg stand auf. »Was für ein häßliches Wort. Lassen Sie es uns… Verteidigung nennen.« »Gegen wen? Gegen die Venus? Wer von uns macht sich denn jetzt lächerlich?« »Ich«, erwiderte Burg leichthin, »aber nur, weil ich für eine lächerliche Gesellschaft spreche. Denken Sie darüber nach, Mr. Danton – und gute Reise.« Als sich die Tür hinter dem Ratsmitglied geschlossen hatte, schlürfte Danton die letzten Reste seines Kaffees: der Weihnachtsbaum war ja ganz schön gewesen, aber die erwartete elektrische Eisenbahn hatte nicht daruntergelegen. Dann rief er sich zur Ordnung und entschied, daß der Weihnachtsbaum doch sehr schön gewesen war.
Als sie ihn holten, glaubte er immer noch, Burgs ironisches Lachen zu hören.
Ohne jeden Übergang erstarb das Dröhnen der Drüsen. Zurück blieb nur ein gelegentliches asthmatisches Husten aus dem defekten Zufuhrsystem. Ohne Sauerstoffzufuhr konnte die heiße Düse den tröpfelnden Treibstoff nur verdampfen, und die Dampfausbrüche wurden ständig schwächer und kamen immer seltener. Schließlich herrschte Stille. »Oje!« sagte Mann aufgeregt. »Der Krach war mir lieber. Warum ist es so still?« Der Pilot zuckte die Achseln und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Da ist nichts, was Krach machen kann. Auf der Venus gab’s immer das Murmeln übertragenen Schalls von irgendwoher. Hier draußen – nichts… Hören Sie das Meer?« »Das Meer?« Mann runzelte die Stirn. »Verdammt, ich höre wohl eine Art Rauschen. Was ist das?« »Die Bewegung des Blutes in den Gefäßen rund um Ihr inneres Ohr. Es gibt wohl auf jedem Planeten einen Ort, der still genug ist, um das wenigstens einmal im Leben zu hören. Wir haben es oft gehört in der Außenstation.« »Nun, mir gefällt es nicht.« Mann horchte kurz Zeit. »Verdammt! Schalt das Radio ein.« Er zappelte unruhig. »Warum summt es nicht?« »Die Batterien liefern natürlich Gleichstrom.« Aus dem Lautsprecher drang ein leises Flüstern. »Zwei von den Jungs, die sich irgendwo unterhalten«, sagte der Pilot. »Sie sind fast außerhalb unserer Reichweite. Ich sehe mal nach, ob ich was anderes finde.« Er fing an, einen Schalter zu betätigen. Heisere Ausbrüche von Statik zerschnitten die entfernten, einsamen Stimmen.
»Wer war das?« fragte es plötzlich aus dem Lautsprecher. Mann lächelte und griff zum Mikrophon. »Hier ist Mann. Wer ist dort?« »Goode. Hören Sie auf mit Ihrem Tüt-tüt-tüt, ja? Hinter mir sendet einer, und mein Funker kann nichts hören, solange Sie das tun.« »Ich hab’s auch gehört«, sagte Mann, »aber nur ganz schwach. Wieso? Ist etwas?« »‘ne ganze Menge. Hören Sie auf, ja, bis die fertig sind? Ich geb’s dann weiter – so kommt es übrigens herein… etappenweise.« »Na gut.« Mann wäre gerne das schmale Schiffsdeck auf und ab gegangen, aber er hatte sich gerade erst bei einem Versuch den Kopf gestoßen. So blieb er angeschnallt und tröstete sich damit, mit dem Fuß zu wippen und sich die Verwüstungen vorzustellen, die bald die Erde heimsuchen würden. Er leckte sich die Lippen, während der Pilot an einem Bleistift kaute und vorsorglich einige Berechnungen überprüfte. Mann unterbrach seinen Gedankengang und starrte den Piloten an: Zur Hölle mit diesen selbstsicheren Männern von der Außenstation, die so an den Weltraum gewöhnt waren, daß sie so tun konnten, als existiere er nicht! Er sah hinaus und drohte der Erde mit der Faust, aber die Sterne in ihrem sprichwörtlichen Glanz machten ihn benommen. Er haßte diese Leere voll Licht und Dunkelheit – fühlte nagende Angst und fing an zu bezweifeln, daß eins dieser Lichter die Erde sein konnte, daß sie massiv war und mit Bomben beworfen werden konnte. Wenn er sie lieben würde, wenn er von der Hölle da draußen schwärmen würde, dann würde ich ihn zwar auffordern, seine verdammte Schnauze zu halten – aber ich hätte Respekt vor
ihm. Aber er beachtet sie gar nicht – er ist eine Maschine, dachte Mann. »Mann!« »Ja!« Mann wollte schon aufspringen, besann sich dann aber eines Besseren. »Ja, ja!« »Ich bin nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe«, kam es aus dem Lautsprecher. »Die Kette der Übertragung war irgendwo unterbrochen, und einiges ist verlorengegangen. Der hinter mir hat gesagt, daß er den Kerl hinter sich kaum hören konnte. Jedenfalls scheint es von Grenfell zu kommen. Er hat angefangen zu senden, sobald er im Weltraum war. Sagt, es habe daheim eine Art Revolte gegeben.« »Lathrop…« »Nein, nicht, soweit ich es beurteilen kann. Welche, die sich Erdpartei oder so ähnlich nennen. Jedenfalls sind die meisten Observatorien sabotiert worden, und die polaren Wetterstationen sind ausgefallen. Grenfell sagt, daß man sein Schiff beschossen hat. Die Außenstation hat seinen Kurs korrigiert, aber er weiß nicht, ob er genügend Treibstoff hat, um die Schwerkraft zu überwinden. Moment mal… Da kommt noch was rein.« Mann starrte benommen durch die Sichtscheibe auf den entfernten Stern namens Erde und vergaß seine Abneigung gegen dieses Bild. Erde. Erdpartei. Sabotage. Das hieß: langfristig angelegte Pläne, ohne Wissen der Verschwörung. Und jemand… Aus dem Lautsprecher kam ein leises Flüstern: »… Schiff dahin… total… gebe ihnen nur noch… kein… wir haben’s versucht, aber… vier Tage… sagt es Mann…« »Hallo, Mann?« ertönte die lautere Stimme. »Noch mal Goode. Grenfell ist hinüber – Sie können ihn abschreiben. Sie haben nicht auf ihn geschossen. Die Außenstation hat sie irgendwie erreicht und ihnen gesagt, sie sollen aufhören, bis
sie den Kurs bestimmt haben. Damit bleiben fünf Schiffe übrig, uns eingerechnet.« »Fünf!« brach es aus Mann heraus. »Es müßten sechzehn sein.« »Das ist die Lücke in der Übertragung. Wir können Kolar nicht finden. Vielleicht ein Meteor, oder ein Rohrkrepierer, so was in der Art… genau werden wir es nie erfahren.« »Vielleicht ist nur sein Sender defekt.« »Möglich, aber es hat wenig Sinn, sich darauf zu verlassen. Immerhin haben wir ein paar tausend Bomben als fliegende Vorhut, und einhundertfünfzig Männer sollten in der Lage sein, auf Lon Garland einige Zerstörung anzurichten.« »Ist keins der Atomgetriebenen gestartet?« »Kein einziges, warum, weiß ich nicht – sie hatten genügend Treibstoff, um Fehlberechnungen wettzumachen.« »Ich melde mich später wieder.« Mann steckte mit einer heftigen Bewegung das Mikrophon zurück. Der Pilot sah ihn schicksalsergeben an. »Ganz schön hart, Chef«, sagte er. »Zu schade, daß wir nicht umkehren können. Wenn die Torpedos erst eingeschlagen sind, wird man uns aufhängen, sobald wir einen Fuß auf die Erde setzen.« Mann nickte schwermütig. »Hoffentlich treffen wenigstens ein paar von ihnen die Regierungsgebäude. Wir haben genug Bomben, um unsere Landesgebiete zu sichern.« Er wappnete sich für einen haßerfüllten Blick auf den schimmernden Planeten und erinnerte sich, wie sein Haß seit damals gewachsen war, als er angefangen hatte, das Leben auf der Venus zu hassen. Er erinnerte sich an den fanatischen Haß seines Vaters auf die Erde und daran, daß er zunächst gegen die Beeinflussung durch den älteren rebelliert hatte. Dann jener kleine Vorfall, der plötzlich alles ins Lot gebracht hatte und seinen Vater und ihn im Racheschwur vereint hatte… Seltsam; er konnte sich nicht erinnern, was damals passiert war. Etwas
Entscheidendes. Es mußte etwas Entscheidendes gewesen sein, wenn seither jeder seiner Träume in einen römischen Triumphzug endete. Mann schüttelte den Kopf, und seine Gedanken beschäftigten sich wieder mit dem Torpedoschwarm. Er stellte sich umstürzende Gebäude vor, und Hunderte von verschiedenen Todesarten. Das können sie mir nicht nehmen, dachte er. Er fühlte sich plötzlich müde, denn er erinnerte sich an etwas anderes… an einen Teil der Gründe für seine damalige Rebellion gegen sein Schicksal. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich umzudrehen und die Sterne zu betrachten, und sie erschreckten ihn nicht wie früher. Ja, dachte er, das ist ein Krieg wie fast jeder in der Geschichte der Erde. Wenn er vorbei ist, wird keiner gewonnen haben. Die Revolte daheim auf der Venus – sie mußte das Ziel gehabt haben, den Angriff zu verhindern. Aber sie war zu spät gekommen – die Bomben und fünf Schiffe mit chemischem Antrieb waren unterwegs. »Die Flotte hat sich in Bewegung gesetzt, aber spät – zu spät…« »Ja«, pflichtete der Pilot ihm bei. »So geht’s, wenn dich dein Glück verläßt. Und keiner wird diesen Krieg gewinnen. Dafür wissen wir aber von einigen, daß sie ihn verlieren werden.« Glück? dachte Mann. Nein, nicht Glück. Erdpartei. Erdpartei. Wer würde von dieser Revolte profitieren? Wer wußte davon, und hatte das Geheimnis für seine eigenen Zwecke bewahrt? Das war die einzig mögliche Antwort. Wer konnte dadurch gewinnen? Sie alle hatten verloren: Die Erde, er selbst, Lathrop, Enfield, die Erdpartei… Manns Gedankenkette brach ab, und er saß da wie versteinert. Er hatte einen Sieger gefunden. Luisa.
X
Alle vier Mitglieder des Sicherheitsausschusses waren anwesend, und Paul Danton sah von einem Gesicht zum anderen. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß sie sich genausowenig auf diese Sitzung freuten wie er. Marcia Nels’ Gesicht war blaß und ausdruckslos. Ihren Augen merkte man an, daß sie wenig geschlafen hatte. Joachim Burg begrüßte ihn mit einem ernsten Nicken, aber die Miene des Antarktikers war geistesabwesend, und sein Blick ruhte die meiste Zeit auf der Maschine. Nur Heath, der Appalachier, schien unbeeindruckt, er redete auf seine übliche, derbe Art meistens mit Tamara, die gelegentlich nickte, aber dabei ständig und intensiv Danton anstarrte. Er fühlte sich unbehaglich unter diesem Blick. Ein Techniker war anwesend und unterzog die Duplikationsmaschine einer letzten Überprüfung – und Hauptmann Small war ebenfalls da. Seinem Benehmen nach kannte er jetzt die ganze Geschichte. Danton sah ihn an und entdeckte einen Hauch von Unwillen hinter seinem unbewegten Gesichtsausdruck, der aber gegen Sympathie ankämpfte. Marcia Nels sagte: »Mr. Danton, sind Sie immer noch zur Zusammenarbeit bereit?« Ihre Stimme klang angestrengt. »Ja«, antwortete er einfach. »Danke«, murmelte die Frau aus Alberta. Sie hob einen der schimmernden Gegenstände auf, die in der Mitte des Tisches lagen. Es handelte sich um eine Kappe aus fein gesponnenem Glas mit einer Art Ringelschwänzchen aus dünnem Draht und einem Klinkenstecker an dessen Ende. Die anderen Mitglieder
und der Agent des Sicherheitsrates setzten ähnliche Helme auf und schoben die Stecker in die Buchsen vor sich. »Diese Maschine ist keine Kamera«, erklärte der Techniker auf ein Nicken von Marcia Nels hin. »Im Grunde ist sie ein Enzephalograph: Sie zapft bestimmte Kappawellen-Muster aus dem Gehirn des Operators, der sie bedient. Das Geheimnis, welche und wo sie entstehen, hat Jonas Pell mit ins Grab genommen. Glücklicherweise brauchen wir dieses Wissen nicht, um die Maschine zu benutzen oder nachzubauen – sowenig, wie wir die Eigenschaften der Elektrizität kennen müssen, um eine Glühbirne herzustellen. Diese Muster scheinen die Summe aus Erinnerungen und gegenwärtigen Beobachtungen in bezug auf die zu duplizierende Person zu sein. Man braucht für jede Duplikat einen Operator.« »Sind fünf Duplikate die obere Grenze bei einem Arbeitsgang?« fragte Heath. »Es gibt nur fünf Helme«, sagte der Techniker. »Wir wissen nicht, wie viele wir gleichzeitig benutzen könnten.« »Was ist mit der Molekularstruktur des Körpers?« fragte Danton und freute sich, daß ihm die Frage eingefallen war. »Kein Operator kann an all das denken.« »Das ist auch nicht nötig. Eine komplette Normalstruktur ist in der Maschine angelegt, das Gehirn und das Nervengewebe eingeschlossen. Die Kenntnisse des Operators gestalten nur die oberflächliche Erscheinung und veranlassen die Bildung der verschiedenen Reflexe und synaptischen Muster der Persönlichkeit.« »Gut«, warf Heath ein, »wenn das so ist, warum kann man dann keine enzephalographische Aufzeichnung von sich selbst machen? Man sollte doch annehmen, man weiß mehr über sich als jeder andere.« Der Techniker kratzte sich am Kopf. »Sie stellen Fragen, Mr. Heath… Darauf gibt es keine exakte Antwort. Grob gesagt, hat
es den gleichen Grund, warum Sie sich nicht selbst anrufen können: Die Leitung ist besetzt.« »Lassen Sie mich sehen, ob ich Ihnen folgen kann«, meldete sich Burg zu Wort. »Jeder besteht aus seinem augenblicklichen Gehirnmuster und aus dem inneren Organmuster. Was Ihre äußere Erscheinung betrifft, Mr. Danton, ist Ihre Vorstellung davon verkürzt in bezug auf die Körpergröße, idealisiert in bezug auf die Gesichtszüge, und enthält nicht mehr als einen vagen Begriff davon, wie Sie von hinten aussehen. Wir brauchen Ihr wirkliches Aussehen – nicht, wie sie es gerne hätten oder wie Sie es sich vorstellen.« Er warf dem Techniker einen Blick zu: »Ist das richtig so?« »Allerdings.« »Laßt uns weitermachen«, sagte Marcia Nels. »Wenn Sie soweit sind, Mr. Danton, begeben Sie sich bitte in die Kammer.« Danton nickte und griff nach seiner Kleidung. Sein Blick fiel auf den formellen Anzug von Burg – der Antarktiker hatte sich nach ihrer letzten Begegnung rasiert, als sei dies ein öffentlicher Auftritt. Er grinste, als er sich auszog. Dann wandte er sich entschlossen der Maschine zu. Im nächsten Augenblick hatte sich eine isolierte Tür hinter ihm geschlossen, und die fünf waren auf der anderen Seite. Er stand angespannt da, und war etwas enttäuscht darüber, daß er innerhalb der Kammer nichts sehen konnte. Die Wände vibrierten mit einem tiefen klopfenden Ton: Drummmm! Er hatte keinerlei Sinnesempfindungen und überlegte, warum er überhaupt in der Maschine sein mußte. Drummmm! Es kam ihm so vor, als würden seine Doppelgänger aus dem Nichts entstehen. Das war natürlich nicht der Fall. Die Maschine machte keine Materie aus
Energie: Alle Chemikalien, aus denen der menschliche Körper besteht, waren in der Maschine gelagert. Drummmm! Das war Nummer drei. Offensichtlich war noch mehr Information während der langen Überwinterungszeit verlorengegangen, als er sich vorgestellt hatte. Auch er mußte etwas zu dem Prozeß beisteuern, und sei es noch so unbedeutend. Ah ja – sein Gehirnmuster. Das konnte keiner liefern. Drummmm! Danton wartete. Hauptmann Small war auch an der Sache beteiligt. Er überlegte, was für eine Verbindung es zwischen dem Agenten und dem Ausschuß gab. Ich soll Sie angeblich besser kennen als irgendein anderer. Aber was hatte das damit zu tun? Drummmm! Das war der letzte. Danton schluckte heftig und hatte eine momentane Anwandlung von Panik. Da draußen waren nun fünf Menschen, die genauso dachten wie er, die zu jeder Zeit genau wußten, was er dachte – schlimmer noch, die alle seine Erinnerungen besaßen. Er zwang sich, sich daran zu erinnern, daß seine Schuldgefühle auch die ihren waren, und umgekehrt. Er stand da, fest entschlossen, sich nicht hinaus auf den Präsentierteller zu begeben, und wartete, bis der Techniker die Tür öffnete. »Alles klar«, sagte der Techniker nervös. »Sie können jetzt herauskommen. Man wartet auf Sie.« Er stieg aus der Kammer und wandte sich langsam den anderen zu. Er spürte die Stille im Raum. Als er ihre überwältigten Mienen sah, dachte er: Sie nehmen es weniger leicht als ich. Im nächsten Augenblick war es mit seiner Entschlossenheit vorbei. Von den fünf Neuankömmlingen im Raum war kein einziger ein echter Doppelgänger von Danton!
»Was, zum Teufel!« brüllte Heath den Techniker an. »Sie müssen einen Fehler gemacht haben!« »Es gibt nichts weiter zu tun, als den Hauptschalter zu betätigen und die Sperren an den Kontakten zu schließen und wieder zu öffnen«, erklärte der Mann schroff. »Was kann ich dafür, wenn Sie nicht mal für dreißig Sekunden behalten können, wie ein Mann aussieht.« »Raus hier!« knurrte der Appalachier und riß seine Pfeife hervor. Keiner der anderen sagte etwas, als er begann, sie zu stopfen. Burg rieb sich die Stirn und rang sichtlich um Fassung. Er sah aus wie eine Katze, die beinahe in eine Badewanne gefallen und mit ein paar Spritzern davongekommen ist. Heath entzündete seine Pfeife und blickte sich um. »Nun«, sagte er, »einer hat sich ganz gut erinnert. Vielleicht wird nur jeder fünfte ein echter Doppelgänger.« Er deutete auf einen der neuen Männer, der wie ein möglicher jüngerere Bruder Dantons aussah. Die anderen Ratsmitglieder waren zu sehr damit beschäftigt, die Männer anzustarren, um Heaths Blick zu folgen. Danton und seine Abkömmlinge musterten sich gegenseitig.
Zwei von ihnen hätte man als im großen und ganzen ähnlich beschreiben können, aber keinen von beiden hätte man für Danton halten können. Auch ähnelten sie sich untereinander kaum. Der nächste in der Reihe war der Erstaunlichste: In ihm verbanden sich Dantons Körperbau und Gesichtszüge mit dem guten Aussehen eines Fernsehstars und jener Art Häßlichkeit, die eine Frau »süß« finden würde. Er war der bei weitem Bestaussehende und unterschied sich völlig von dem Mann neben ihm – einem sanften, unauffälligen Kerl, der aussah, als sei er mit einer ausgeleierten Stanzform hergestellt worden.
Das etwas unreife Produkt von Heaths Beobachtungen bildete den Abschluß. »Können wir uns darauf einigen, daß nur einer dieser Männer wie der Venusier aussieht?« fragte Tamara. »Das scheint mir das größte Problem.« Burg deutete auf einen der Männer: »Der da sieht dem Venusier ähnlicher als Danton selbst.« Marcia Nels betrachtete den jugendlichen Doppelgänger, auf den Burg gezeigt hatte, mit einem mütterlichen Lächeln. »Vielleicht haben Sie recht. Am besten schicken wir sie alle in den Stereoplast-Komparator, wie wir es mit Mr. Danton gemacht haben. Ich glaube, wir befinden uns derzeit nicht in der richtigen Gemütsverfassung, um richtig zu urteilen. Was meinen Sie, Mr. Heath?« »Ich würde Danton fragen, was er davon hält.« »Soweit ich es beurteilen kann…« sagten sechs Männer im Chor. »Halt!« schrie Marcia Nels. »Hauptmann Small, holen Sie diesen Techniker zurück. Danke.« Sie warteten schweigend, und die sechs Dantons musterten sich voll gegenseitiger Abneigung, bis Small und der anderer zurückkamen. »Doktor«, fragte die Frau aus Alberta, »welchen dieser Männer haben Sie in die Maschine gehen sehen?« »Den da«, antwortete der Techniker mit Entschiedenheit. Der erste Danton seufzte erleichtert und stellte fest, daß die fünf Doppelgänger ernstlich erschüttert waren. Es war der schlimmste Augenblick seines Lebens gewesen. Sie wußten nun alle, was das Original zu dem Prozeß beisteuerte: Die Kontinuität des Eindrucks. »Also«, fuhr die Blondine fort und nickte dem ersten Danton zu, »was wollten Sie sagen?« »Soweit ich das beurteilen kann, haben Sie hier zwei Männer, die eine brauchbare Ähnlichkeit mit dem Venusier aufweisen.«
Er zeigte auf die beiden einander unähnlichen Männer, die noch am ehesten aussahen wie er. »Und von den beiden scheint mir der, auf den Mr. Burg gezeigt hat, der bessere zu sein. Mit den anderen könnte man etwas anfangen bei schlechten Licht oder wenn die Leute, die damit irregeführt werden sollen, den Venusier nur kurz im Fernsehen gesehen haben. Auch das kann ganz nützlich sein, denke ich. Aber einen persönlichen Bekannten könnte man nicht eine Sekunde lang täuschen.« Er sah den Agenten an. Dieser nickte: »Mr. Danton spricht als erfahrener Verschwörer, Madame Nels. Ich kann dem, was er sagt, nur zustimmen.« Der Anmelder summte viermal, dann zweimal. Heath nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte damit auf den Tisch. »Ist das nicht das Notsignal?« fragte er. »Als wenn wir nicht schon genug Ärger…« Marcia Nels berührte einen Knopf am Tisch. »Sicherheitsausschuß«, sagte sie. »Madame Nels?« kam die Antwort aus dem Lautsprecher. »Ja. Was ist?« »Flächenbombardement. Auf der Tagseite.« »Was!« brüllte Heath. »Die Tagseite der Erde?« »Ja, Mr. Heath. Ein regelrechter Meteorschwarm von Bomben – mit allem, von der Seuche bis zur Überschallexplosion.« »Aus Richtung Sonne?« »Ja. Hat vor einer Stunde angefangen. Die Berichte fangen gerade an, deutlich genug zu werden, um sie zusammenfassen und herausfinden zu können, was passiert ist. Das Bombardement wühlt gerade den Atlantik auf, geht aber immer noch weiter. Wenn es nicht aufhört, hat es gegen Sonnenaufgang die amerikanischen Kontinente erreicht. Wir haben alle Raumschiffe, die wir auftreiben konnten,
losgeschickt. Aber wir können nur einen Teil der Geschosse damit aufhalten. Und es könnten noch mehr werden. Ihre Befehle?« Marcia Nels bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Burg schnauzte: »Vergeuden Sie keine Raumschiffe mit dem Versuch, die Bomben abzufangen – das geht nicht. Halten Sie die Schiffe zurück für den Kampf gegen bemannte Flugkörper. Vermutlich werden Kampfschiffe und Truppentransporter nachkommen. Fliegt entlang dem Radienten weiter und holt euch die – unterwegs schießt ihr natürlich alle Torpedos ab, die euch begegnen.« »Jawohl.« Die Verbindung brach ab. Burg wandte sich den Dantons zu und hob eine Augenbraue. »Sagen Sie, meine Herren, sind Sie nicht auch froh, daß Ihre Partei momentan an der Macht ist?«
Der Korridor war glatt wie ein Gewehrlauf in den Felsen getrieben und zeigte deutlich seine jahrelang Vernachlässigung. Offensichtlich konnte kein Siegel den Staub der Venus abhalten. Er kroch überallhin. Er sickerte durch die Ventilatoren und verstopfte schon bald jedes Gitter, das feinmaschig genug, war, ihn abzuhalten. Er wirbelte im Luftzug hoch, sobald eine der Einstiegsluken geöffnet wurde. Er wurde eingeschleppt in den Kleidern der Mannschaften von der Außenstation und der Wetterstation und kroch und kroch durch Risse und Spalten in den Luken. Sogar in dieser Tiefe lag er fast acht Zentimeter dick auf dem unebenen Boden und knirschte leise unter den Füßen von Geoffrey Thomas und seinen Pflegern. Niemand außer Thomas war seit der Herstellung des Korridors so weit unter die Planetenoberfläche vorgedrungen. Er selbst war zwanzig Jahre nicht mehr hier unten gewesen.
Ein anderer hätte den Ort vielleicht einmal im Jahr aufgesucht. Aber Thomas wußte, was er wußte. Und er konnte warten. Er kannte seinen Mann. »Die Dinge schreiten voran wie beschlossen«, diktierte er in seinen künstlichen Zahn. »Sollte der Zufall ihren Kurs verändern, deutet sich das früh genug an, und es bleibt genug Zeit, die Korrekturen vorzunehmen.« Die beiden Pfleger, junge, muskulöse Männer, gaben keine Antwort. Ihre Gesichter wirkten wie hypnotisiert, im Ausdruck sanft und hilflos und so blind wie die Schnecken. Sie sahen wie Schwächlinge aus, überlegte Thomas, ungeeignet für das Vorhaben, das seinen schwammigen, fast unbeweglichen Leib vorantrieb. »Ich habe euch zu eurem eigenen Schutz hypnotisiert«, sagte er. »Oh, eure Loyalität steht außer Frage. Aber man könnte euch foltern. So werdet ihr euch an nichts erinnern, und niemand wird euch unnötigen Schmerzen aussetzen.« Er schloß die Augen, wie um einem bestimmten Anblick zu entgehen. »Nie wieder will ich jemanden weh tun«, flüsterte er. »Ihr werdet vielleicht sterben müssen, klar. Dieser Psychiater hat sich dummerweise für Luisa interessiert. Sie will wissen, was in diesem Gewölbe ist, seht ihr? Ich glaube, sie hat meine Geschichte nicht geglaubt, daß das Geheimnis der Unsterblichkeit in der einzigen unveränderten Zelle meines Körpers steckt… Nun, dieser Psychiater wird einen Schock erleben. Wißt ihr, sein Vorgänger, der zuerst mit euch gearbeitet hat, war zuverlässig. Er hat verschiedene Auslöser eingebaut… Ihr werdet sterben, ohne es zu merken, sobald jemand versucht, euch zu befragen.« Thomas seufzte tief. »Sollte nicht reden, während ich laufe. Schadet nur dem Herzen.« Er hielt einen Moment inne, so als wolle er lachen. Er seufzte wieder: »Oleott – mach die Tür auf.«
Die Finger des Mannes huschten über das Schloß. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, seine Augen in die Ferne gerichtet. »Das hast du zum ersten Mal gemacht, Oleott, und du weißt nicht, was du da tust. Sogar unter dem Einfluß von Hypnose würdest du die Zahlenkombination nicht kennen. Du reagierst mit einem Reflex auf meinen Befehl – im Schlaf und im Wachzustand – und nur auf meinen Befehl. Und wenn du stirbst, Oleott, werde nicht einmal ich die Kammer betreten können – aber dann werde ich sie auch nicht mehr brauchen.« Die Federn tickten leise, und die zwei Männer zogen an der Tür. Thomas wußte, daß sie sie ohne Hypnose nicht hätten bewegen können – gegen den Luftdruck. »Eure Stärke«, sagte er, »entspricht der von drei Männern – aber nicht, weil eure Herzen rein sind, fürchte ich. Sie wird verdreifacht, wenn durch Hypnose eure Reserven mobilisiert werden.« Im nächsten Augenblick war es ihnen gelungen, die Tür wenige Zentimeter aufzuziehen. Mit lautem Zischen fuhr Luft durch den Spalt, und die Tür öffnete sich in einem undurchdringlichen Wirbel aus Staub. Thomas trat ein und schaltete eine kleine Schirmlampe am Pult ein. »Macht die Tür zu und wartet draußen«, sagte er. »Wenn ich klopfe, öffnet ihr sie wieder.« Aber das Klopfen allein, erinnerte sich Thomas, würde nicht genügen – selbst wenn es von ihm kam – ohne den vorangegangenen Satz, von seiner eigenen Stimme gesprochen. Im nächsten Moment hatte er sie vergessen. »Und hier«, sagte Thomas, »in diesem Schreibtisch verbirgt sich der Ursprung der Stimmen, die ich über meinen künstlichen Backenzahn herbeiholen kann, während der andere Zahn aufnimmt… Warum sage ich das jetzt; ist das nicht schon alles festgehalten?… Ach ja, ich wollte auf etwas Bestimmtes hinaus: Die Zivilisation der Venus kennt viele Mythen, und
einer von ihnen ist, daß das Kommunikationsnetz dezentralisiert sei, und jemandem, der es anzapfen wollte, fast unlösbare Probleme aufgebe. Der arme Lathrop hat nie einen Verdacht gehabt, daß, auch wenn es kein zentrales Schaltpult für das Kommunikationsnetz gibt, doch jedes einzelne Schaltpult mit dem Hauptempfänger in diesem Schreibtisch verbunden ist. Jedes einzelne kann durch ihn erreicht werden. Ich kann jederzeit einen Teilnehmer auf der anderen Seite des Planeten erreichen; für alle anderen gibt es nur die Möglichkeit, dies durch die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Funkern und mit Hilfe mehrerer langwieriger Schaltvorgänge zu erreichen.« Thomas richtete die Schaltungen ein und wartete. Nach einiger Zeit summte es in seinem falschen Backenzahn, und im Schädel des Direktors sagte die entfernte Stimme eines Mannes: »Hier Geoffrey. Wie geht’s?« »Meine Zeit ist nah, Freund. Aber alles ist fertig.« Wieder eine Pause, dann sagte die Stimme: »Hier hat es einige unvorhergesehene Faktoren gegeben, aber nichts Wesentliches… Muß denn bei dir alles bis zum Ende in den vorgeschriebenen Bahnen verlaufen, Thomas?« »Das kümmert mich nicht mehr. Ich habe es von mir ferngehalten, indem ich so getan habe, als sei dies ein Spiel, und jetzt ist es an einem Punkt angelangt, wo ich vergesse, daß ich nur so tue… Wenn die Zeit kommt, wirst du alle Aufzeichnungen vorfinden. Ich trage einen Mikrorecorder bei mir… und spreche Monologe darauf wie die Karikatur eines Hamlet.« Der massigen Figur entfuhr ein Geräusch, das fast ein Glucksen hätte sein können. »Dies ist die Strafe für meine Verbrechen. Wenn die Geschichte bekannt wird, wird man Thomas bemitleiden… Auf Wiedersehen, Freund. Ich werde nicht mehr mit dir sprechen. Als nächstes wird mich die Sprache verlassen…«
Eine weitere Pause, dann: »Auf Wiedersehen. Danke für deine Hilfe.« Der Direktor lachte tatsächlich leise, als er antwortete. »Es hat mir Spaß gemacht«, und die Verbindung unterbrach. Eine Weile saß er ganz still, blickte auf den Schreibtisch hinab und stellte sich im gedämpften Licht seiner Umgebung eine Reihe von Fragen. Es wäre jetzt eine passende dramatische Geste, die beiden Hypnotisierten, die stumm vor der Tür standen, zu rufen – sie hereinzurufen, auf den Schreibtisch zu zeigen und zu sagen: »Zerstört das.« »Nein«, murmelte er, »noch nicht.« Thomas stellte fest, daß er immer noch beobachten wollte, wie sich das Drama seinem Höhepunkt näherte, obwohl er wußte, daß er darin keine aktive Rolle mehr spielen würde – . und dieser Schreibtisch verschaffte ihm den besten Ausgangspunkt für seine Beobachtungen. »Außerdem«, murmelte er, »könnte er mich vor dem herannahenden Tod warnen, und mir die Möglichkeit geben, meinen letzten und größten Feind zu überlisten: Mich selbst… welch eine Illusion… Ihr beiden da draußen werdet ohne endgültige Erkenntnis sterben. Ich werde ohne Erkenntnis ewig leben. Wer von uns sollte dem anderen gratulieren?« Er seufzte und gab das Zeichen. »Es wäre unschicklich, durch den Verlust eines Zahnes entstellt zu Luisa zurückzukehren«, sagte er, während er darauf wartete, daß die Pfleger hereinkamen und ihm aus seinem Stuhl halfen. Thomas schaltete das Licht aus und zog das Schott hinter sich zu. Eine Sekunde später hörte man das gedämpfte Stampfen der Pumpen, die die Luft aus der Kammer absaugten. »Und nun endlich«, sagte er, »ist die Bühne bereitet. Alles Weitere überlasse ich der Geschichte.«
XI
Es war immer noch dunkel, als der Wagen des Sicherheitsrats mit den sechs Dantons, Hauptmann Small und einer Wache die Stadt erreichte. Es war eine Dunkelheit, die der Erde weder Schlaf noch Frieden brachte. Die Mechanismen, die normalerweise zur Bewachung der Geheimnisse des Sicherheitsrats dienten, schienen unter der Last der allerwichtigsten Geheimnisse zusammengebrochen zu sein, dachte Paul Danton. Er und seine Doppelgänger sahen, daß die Straßen von einer riesigen Menschenmenge überflutet waren, die hin und her wogte, sich in Richtung des Umlandes staute oder versuchte, sich in längst überfüllte Bunker zu drängen. Er blickte zu den Fenstern der höheren Gebäude auf und sah überall verzerrte Gesichter, die nach Osten starrten – als warteten sie entgeistert auf das schreckliche Morgengrauen. Das Morgengrauen würde der Stadt den Bombenhagel bringen. Die Venus, der unbekannte, unversöhnliche Feind seit einem Jahrhundert, war hinter ihrem Schutzschild hervorgekommen. Er dachte: Wir hätten das verhindern können. Dann fragte er sich, ob das Programm der Pro-Erde-Partei wirklich etwas ausgerichtet hätte. Der Fahrer schaltete seine Sirene ein, aber in dem Lärm klang sie wie ein dünnes Flüstern. Ganze Wogen von Menschen teilten sich vor dem Wagen, erschöpfte Körper fielen gegen ihn, warfen sich vor ihm nieder. Männer kämpften darum, das Wagendach zu erklimmen, hämmerten an die stahlharten Kunststoffscheiben, schrien, bettelten und fluchten mit
Stimmen, die lächerlich schwach und entfernt klangen. Der Fahrer warf mit erstarrter Miene dem neben ihm sitzenden Agenten einen Blick zu. »Nein«, sagte Small, »noch nicht; versuch so gut voranzukommen, wie es geht.« Nur einer der sechs Dantons schien der höllischen Szenerie draußen irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken: Der sanfteste, unauffälligste von ihnen warf ab und zu einen verängstigten Blick nach draußen. Die anderen unterhielten sich mit leiser, angespannter Stimme. Danton schaute sich um und versuchte sich zu erinnern, welche Gefühlsregungen er erwartet hatte, verglichen mit der Wirklichkeit. Es gab keine Ähnlichkeiten. Seine fünf »Doppelgänger« waren wenig mehr als eine Ansammlung einander ähnlicher Personen. »Also«, sagte er, »ihr wißt alles, was ich weiß, aber ich glaube, ihr seht und fühlt es anders als ich. Ihr seid nicht Danton-2, Danton-3 und so weiter.« »Nein«, meldete sich einer der Ähnlicheren, »du kannst mich Danton-Burg nennen. Ich fühle eine Art Verwandtschaft zu Burg – sie ist fast so eng wie die zu dir, Paul –, sie nagt an mir, und das gefällt mir nicht. Ich habe das Gefühl, Burg zu kennen, aber ich mag ihn nicht besonders; und der Zusammenhang gefällt mir überhaupt nicht.« Small stieß einen kurzen Pfiff aus. »Das ist es also«, brütete er. »Das ist es, was wir mit euch gemacht haben, als wir die Helme aufhatten. Wir haben tatsächlich Doppelgänger von Mr. Danton gemacht, aber herausgekommen sind dabei unsere eigenen Vorstellungen von ihm, und die haben wir seinem Äußeren und seiner Persönlichkeit übergestülpt.« Danton-Burg nickte. »Wir haben alle das gleiche Gehirn und die gleichen Gedächtnisinhalte, wie Paul sagte – aber es gibt nur einen Paul Danton. Ich fühle mich tatsächlich wie ein
Danton, aber der Vorname paßt mir nicht – und die eingebrachten Unterschiede sind so groß, daß wir uns nicht darauf verlassen können, die gleichen Schlußfolgerungen zu ziehen. Wir dürfen nicht erwarten, daß wir einander verstehen, und die Ähnlichkeiten werden nur zur Verwirrung beitragen.« »Du sprichst sogar wie Burg«, sagte Danton-Small trocken, »laß Paul zuerst was sagen.« »Also… diese eingebrachten Unterschiede sind der Ausgangspunkt«, begann Danton-Tamara. »Die Ukrainerin betrachtete offensichtlich meine Zustimmung zum Plan des Sicherheitsrats als die Handlung eines gehorsamen, sogar unterwürfigen Bürgers. Außerdem… hm… glaube ich, daß sie nicht sehr gut sieht.« »Ich meine, daß Ihre Mitgliedschaft in der Pro-Erde-Partei wesentlich zu ihrer Sicht Ihrer Persönlichkeit beigetragen hat«, warf Hauptmann Small ein. »Tamara hält einfache Mitglieder revolutionärer Parteien für ziemlich unterwürfige Schafe.« »Höchstwahrscheinlich«, seufzte Paul Danton. »Das Endergebnis ist, daß unser Bruder hier« – er warf DantonTamara einen Blick zu – »eine ziemlich unbedeutende Persönlichkeit ist, obwohl er im Grunde zu jeder körperlichen und geistigen Anstrengung fähig ist, zu der ich auch fähig bin.« Danton-Tamara hüstelte verlegen. »Entschuldigung«, sagte er, »ich sehe keine Notwendigkeit, daß wir uns mit Persönlichkeitsanalysen befassen. Ich bin bereit, der Partei zu dienen, wie ich es immer getan habe; ich trage mein Teil bei, auch wenn ihr das anzweifeln mögt.« »Es war nicht böse gemeint, Bruder«, antwortete Paul Danton hastig. »Schließlich ist jeder Vorwurf gegen dich ein Vorwurf gegen mich.« Er hielt entsetzt inne bei dem Gedanken, wie er wohl der Ukrainerin erscheinen mußte – mußte? Nein, wie sie ihn tatsächlich sah; dort saß der lebendige Beweis.
»Und ich«, sagte Danton-Small, »bin Danton, mit den Augen eines Polizisten gesehen.« »Aber du bist kein stereotyper Revoluzzer«, sagte Small. »Ich habe Paul so genau wie möglich studiert und dabei versucht, objektiv zu bleiben. Es war meine Aufgabe, so viel wie möglich darüber herauszufinden, wie er wirklich ist.« Er sah Paul Danton an. »Komisch, wie ich mich in einigen offensichtlichen, kleinen Details geirrt habe; dieser Techniker hatte gar nicht so unrecht, als er sagte, wir könnten uns nicht mal fünf Sekunden lang merken, wie jemand aussieht.« »Du hast das gar nicht schlecht gemacht«, sagte DantonSmall. »Ich habe das Gefühl, ich könnte tatsächlich die Rolle von Paul spielen und damit durchkommen.« »Er hat das Gehirn eines Intriganten«, sagte Danton-Burg. »Ich vermute, Hauptmann Small hat deine verschwörerischen Fähigkeiten überschätzt.« Danton wandte sich an Danton-Burg. »Ich sehe mich selbst deutlicher als je zuvor, wegen euch fünf. Deine Gedankengänge sind zum Beispiel viel gradliniger als meine. So war ich nur während der kurzen Zeit, die Burg mich tatsächlich kannte. Und da er bei dem Versuch, mich seinem Willen zu unterwerfen, ziemlich erfolgreich war, ist dieser Charakterzug bei dir viel ausgeprägter als bei mir. Du wirst immer für Spitzfindigkeiten empfänglicher sein als ich.« Eine Weile betrachtete er Danton-Heath wortlos. »Mit dir ist irgend etwas – du bist nicht wirklich kleiner als ich, aber du wirkst so. Ich glaube, daß für Heath die Körpergröße sehr wichtig ist, und daß er Leute, die kleiner sind als er, noch kleiner wahrnimmt. Die Pro-Erde-Partei hat er wohl die meiste Zeit für eine mehr oder weniger unbedeutende Belästigung gehalten.« »Aber«, warf Danton-Heath ein, »ich habe einen Sinn für Analysen. Heath hielt deine Zusammenfassung der Situation
für ganz hervorragend. Und er ist selbst so sehr Individualist, daß er nicht in Betracht ziehen würde, du könntest einfach nur die Parteilinie runterbeten. Er sah Danton als Urheber der Analyse und hielt dich fortan für einen zwar unbedeutenden, aber ziemlich klugen Typen.« Das bestaussehende Mitglied des Sextetts sprach jetzt zum ersten Mal, und seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang. »Und ich, Brüder, entspreche der Vorstellung einer verliebten Frau.« Paul Danton und die anderen schwiegen. Der Gedanke war ihm nicht neu, aber jetzt, da er ausgesprochen worden war und Gestalt angenommen hatte, schien er ihm kaum glaublich. Zuvor war er formlos gewesen, eine verlockende Inspiration, die seine Gedanken in Bahnen gelenkt hatte, wo er faßbare Anhaltspunkte zu finden hoffte. Er wußte, daß er die Fähigkeit hatte, die anderen Doppelgänger in bezug auf die fünf am Verdoppelungsprozeß beteiligten Personen zu analysieren. Aber den Gedanken, was das Aussehen von Danton-Nels bedeutete, hatte er verdrängt. Jetzt konnte er ihn nicht länger unterdrücken. Paul Danton rieb sich die Stirn und erinnerte sich an die kühle, helle Schönheit von Marcia Nels, die seit ihrer Jugend von Männern mit starkem Charakter und scharfsinnigem Verstand umgeben war – Männern, die die Erde regierten. »Wir sind Figuren in einem Schachspiel«, sagte Danton-Nels. »Vielleicht sind wir nicht gerade Bauern, aber wir sind weit davon entfernt, die Stellung des Königs einzunehmen.« Paul Danton erschrak, als der andere seine Gedanken aussprach. Also konnte es doch manchmal eine Art geistiger Verwandtschaft geben. Natürlich. Sie waren alle Teile seiner selbst; von Zeit zu Zeit würden sich seine Gedanken und Gefühle mit ihren grundlegenden Charakterzügen decken – und dann war gegenseitiges Verständnis möglich.
Er stellte fest, daß er an die geheimen Berichte über Marcia Nels’ intime Beziehungen zu Burg und anderen dachte. Danton-Nels fuhr fort: »Die Unterschiede sind sehr wichtig.« Er wandte sich an Danton-Heath. »Ich nehme an, du hast über eingebrachte Unzulänglichkeiten nachgedacht.« »Ja«, stimmte Danton-Heath zu. »Es gibt zwei von uns, die nicht auf die Venus mitkommen sollten. Danton-Burg ist einer davon; er ist der Verschwörermentalität beraubt worden und wäre unfähig, glaubhaft zu lügen. Zumindest würde er sich bei etwas intensiverer Befragung verraten.« »Da hast du recht«, sagte Danton-Burg. Der Tamara-Doppelgänger sagte: »Ich nehme an, ich bin der andere.« Er lächelte gezwungen. »Ja… ich glaube, ich würde einen guten Soldaten Schweyk abgeben. Ihr müßt nicht glauben, daß ich mitkommen wollte. Ich habe nur zugestimmt, weil ich keine akzeptable Alternative sah. Aber – wißt ihr – ich glaube, ich könnte mich durchschlagen, wenn ich mitkäme. Nicht, daß ich der Sache in Hinsicht auf heroisches Verhalten dienen würde, aber – nun, wißt ihr, es gibt Zeiten, da wird einer wie ich gebraucht; nicht mehr und nicht weniger.« »Da hört ihr’s«, sagte Danton-Small. »Er ist nicht sehr gescheit – er glaubt, er sei tatsächlich Paul Danton.« Hauptmann Small lachte herzlich. »Lassen Sie sie reden, Leutnant. Es kann Ihnen eine Lehre sein, wenn Sie zuhören. Hier haben Sie die Kehrseite jedes einzelnen Mitglieds des Exekutivkomitees vor sich.« »Sie sind wohl von Ihrem Produkt fasziniert, wie?« brummte der Wachsoldat, aber der Ton seiner Stimme strafte seine Wort Lügen. Er unterbrach das Gespräch nicht mehr. Das Sextett zuckte gleichzeitig die Achseln, sah sich an und lächelte. Danton-Tamara sagte: »Wir sind wie ein Musikstück für sechs Stimmen; ab und zu spielen wir zusammen den gleichen Ton.«
»Einer von uns«, sagte Danton-Small nachdenklich, »wird aber zurückbleiben müssen.« »Einer?« fragte Danton-Heath. »Zwei, mindestens.« »Ich meine einen von denen, die für das Unternehmen geeignet sind. Natürlich sollten eigentlich die beiden Ungeeigneten zurückbleiben. Aber Marcia Nels wird erwarten, daß eine weitere Person dableibt.« »Warum?« fragte Danton-Nels. »Weil sie dich liebt.« Danton-Nels schüttelte den Kopf. »Nicht mich; sie liebt Paul. Ich bin nur ihre Vorstellung von Paul.« »Und das ist der Grund, warum du dableiben mußt«, sagte Danton-Small. »Ich werde verdammt nochmal nicht dableiben!« brüllte Danton-Nels. Dann sagte er mit ruhigerer Stimme: »Ich weiß, daß du der Intrigant unter uns bist, aber denke daran, daß ich nichts dafür kann, was ich bin. Ich bin der einzige von euch allen, der um der Venus willen ein Opfer bringt. Die Nels hat sich mich so vorgestellt, und sie hat mich so geprägt, daß ich nicht anders handeln kann.« Plötzlich war seine Stimme so voller Verzweiflung, daß die anderen im Wagen ein Gefühl der Beschämung überkam. Einen Augenblick lang herrschte Stille, die nur durch den Lärm von draußen gestört wurde. »Natürlich«, flüsterte Dantom-Heath. »Natürlich! Du bist ihre Vorstellung von einem Liebhaber, verbunden mit ihrer Idee von einem superromantischen Revolutionär – du bist ein Filmheld wir Rudolf Rassyndale von Ruritanien. Du liebst sie, aber deine ganze Liebe konzentriert sich auf das Ideal, dich für sie zu opfern.« Er verstummte und sah zum Fenster hinaus auf die wütende Menge. Nach einiger Zeit fügte er hinzu: »Nie mußte jemand einen kälteren Adonis abgeben.« »Hauptmann…« sagte der Fahrer.
Hauptmann Small sah hinaus. Der Wagen hatte angehalten. Auf dem Platz vor ihnen ballte sich die Menge. Einzelne Personen waren nicht zu erkennen, nur die Masse – gleichförmig und düster. Im Osten konnte man ein fahles Leuchten erkennen, und dorthin waren alle Augen gerichtet, schräg vom Wagen weg; die Menge wogte wie in Erwartung des Kommenden. »Kommen Sie nicht durch?« fragte Small. Der Fahrer drehte die Sirene auf. Vor der Silhouette des Morgenhimmels sah man plötzlich einen hauchdünnen Feuer strahl herabrasen. Die Menge schrie. »Keine Chance.« Small biß die Zähne zusammen. »Also gut; vorwärts, machen Sie schon.« Der Wagen schlich voran, und der Rand der Menge wich zurück, ging jedoch nicht beiseite. Der Wagen berührte die Menge und wurde angehalten. Der Fahrer sah wieder Hauptmann Small an. »Ich sagte: Machen Sie schon.« Eine weiße Stichflamme zuckte von der Außenhaut des Wagens hinaus. Sogar durch die dicke Kunststoffhaut konnte man die Schreie hören. Körper fielen zu Boden, als ihre Beine von der Flammensichel des Bethe-Werfers weggeschnitten wurden. Der Wagen begann sich wieder zu bewegen. »Das ist genau der Punkt«, sagte Danton-Heath ruhig. »Du bist Paul Danton, so wie er wäre, wenn er sie liebte«, versicherte er Danton-Nels. »Du mußt zu ihr zurückkehren. Sie erwartet es nicht; sonst würdest du es tun, ohne daß man es dir sagen müßte. Wenn du aber nicht gehst, wird sie wahrscheinlich das ganze Venusunternehmen verderben.« Paul Danton selbst richtete sich erstaunt auf. »Warum?« fragte er.
»Weil sie bereits erkannt hat, warum alle Dantons verschieden sind«, sagte Danton-Small. »Die Nels ist bei aller Schönheit alles andere als dumm, und sie weiß jetzt, daß Danton-Nels ihr Traumliebhaber ist und zu ihr zurückkommen muß. Wenn er das nicht tut, wird sie glauben, ihre Erklärung für die Unterschiede zwischen uns sei falsch, und entsprechend handeln. Dann sind wir aufgeschmissen.« Paul Danton verlor sich im Wirbel seiner komplizierten Gedanken. Er hatte ein seltsames Gefühl der Demut. Dieser Doppelgänger, der sich von ihm nur deshalb unterschied, weil ein Agent des Sicherheitsrats ihn für hinterhältiger hielt, als er in Wirklichkeit war, dachte in Bahnen, die ihm völlig fremd waren. »Betrachte es mal so«, sagte Danton-Heath. »Ich folgere logisch, und es ist ganz einfach. Wenn Marcia Nels die richtige Antwort hat – und davon gehen wir aus –, wird sie das Verwirrspiel durchgehen lassen. Wenn sie irgendeinen Grund zu der Annahme hat, daß ihre Antwort falsch sein könnte, wird sie höchstwahrscheinlich etwas unternehmen, was alles durcheinanderbringt.« Also, dachte Paul Danton, die verstehen sich jedenfalls. Ich wünschte, ich könnte mir vorstellen, worauf sie hinauswollen. »Das ist genau, was er gesagt hat«, protestierte Danton-Nels. »Und es wird durch die Wiederholung auch nicht vernünftiger. Ich verstehe nicht, warum sie von mir erwarten sollte, daß ich jetzt zu ihr zurückkehre. Vielleicht hofft sie, daß ich eines Tages zu ihr zurückkehre – und ich hoffe, daß ich das kann –, aber wenn ich überhaupt nicht mitfliegen würde, wäre sie sicher von mir enttäuscht.« Danton-Small schüttelte den Kopf. »Nur oberflächlich, und nicht für lange.« »Sie weiß, daß du Paul Danton bist, so wie sie ihn haben wollte«, fügte Danton-Heath hinzu. »Sie wird sich nicht
darüber im klaren sein, daß sie zu dem Zeitpunkt, als sie dich geschaffen hat, nicht im Sinne der Verdoppelung gedacht hat. Sie wird vergessen haben, daß die eingebrachten Unterschiede sie jemals verwirrt haben. Nein. Sie erwartet dich; du wirst gehen müssen.« Danton-Nels wandte sich ab, und seine Kiefermuskulatur verspannte sich immer mehr. »Ich kann nicht«, murmelte er undeutlich. Eine schwere Erschütterung erreichte den Wagen, der davon beinahe umgestoßen wurde. Das war knapp, sagte Hauptmann Small. »Entscheidet euch lieber bald.« »Moment mal, Chef…« begann der Fahrer. »Schnauze«, sagte Small. »Hier habe ich das Kommando.« Paul Danton begann sich wohler zu fühlen. »Es gibt keinen Grund, warum Danton-Nels zurückkehren müßte«, sagte er. Er wandte sich zu seinem gutaussehenden Doppelgänger. »Du bist offensichtlich derjenige, der mit der Venuskrise am besten zurechtkommen kann. Du bist um Klassen besser als ich – so bist du nun mal gebaut. Danton-Small muß auch mit. Ebenso Danton-Burg, der dem Venusier ähnlicher sieht als ich – er wird jedoch Hilfe brauchen. Danton-Heath und Danton-Tamara sollten zurückbleiben. Also bleibe ich übrig – um zu Marcia Nels zurückzukehren.« »Wenn du das tust, bringe ich dich um«, sagte Danton-Nels ruhig. »Wenn er es nicht tut, bringe ich dich um«, antwortete Danton-Small plötzlich. Er wandte sich zu seinem Urbild. »Du hast recht. Ich habe den wesentlichen Faktor übersehen. Danton-Nels muß auf die Venus, aber du bist offensichtlich derjenige, der zu Marcia Nels zurückkehren muß. Das ist eine der Schwierigkeiten eines besonders hinterhältigen Verstandes: manchmal übersieht man die naheliegendsten Dinge.« .
»Was…« begann Danton. Seine Frage wurde von einer Explosion abgeschnitten, und er spürte, wie ihm der Boden des Wagens entgegenkam. Der Wagen überschlug sich und barst.
Als Paul Danton das Bewußtsein wiedererlangte, hörte er die Stimme des Sicherheitsratsagenten. Er wehrte sich und schlug um sich. Einer mußte den Überfall überleben, die Partei wieder auf die Beine bringen… »Reiß dich zusammen. Ich bin auf deiner Seite. Steh auf. Ich habe den Fahrer niedergeschlagen.« Danton stützte die Ellenbogen auf. Über ihm ragte ein zerstörtes Gebäude auf, und die ganze Welt schien in Flammen zu stehen. »Bis zum Raumhafen ist es nicht mehr weit«, fuhr Small fort. »Ich habe einen Lastwagen beschlagnahmt und Nels’ und meinen eigenen Doppelgänger hineingesetzt. Ich werde sie schnell wegbringen müssen. Wie fühlen Sie sich?« Sein Blick war seltsam. Danton schüttelte den Kopf und richtete sich schwankend auf. »In… Ordnung, wie es scheint.« »Kein… Gefühl eines Verlustes…? Überhaupt nicht? Ich war nicht sicher. Danton-Heath ist tot, müssen Sie wissen. Jemand hat ihn erschossen, als wir aus dem Wrack geklettert sind… Warum, kann ich mir nicht vorstellen. Danton-Burg wurde von der Menge mitgerissen, und Tamaras Doppelgänger fehlt auch. Ich nehme an, er hat die Chance genutzt, um wegzulaufen, und ich nehme es ihm nicht übel. Nur wir drei sind übrig, Sie nicht eingerechnet.« Danton hielt einen Moment inne. Nein… er hatte keine körperlichen Beschwerden, aber das Gefühl, etwas verloren zu haben. In der kurzen Zeit, seit er den Mann kannte… Er hatte
das Gefühl, daß irgendwo eine Tür zugefallen war, daß man ihm einen Teil seiner Möglichkeiten genommen hatte. Er sah Hauptmann Small an und fragte benommen: »Drei?« »Burg hat mir befohlen, mit dem Rest zur Venus zu fliegen. Ich mache weiter. Sie müssen zurück zu Marcia Nels.« »Aber – aber sie wird merken…« »Nein, das wird sie nicht. Ich habe es begriffen, genau wie mein Schützling; Sie werden noch erfahren, warum… Los jetzt, bevor Seuchentorpedos kommen und wir alle in Quarantäne geschickt werden. Es war nicht vorgesehen, daß Sie zu der Nels zurückkehren, aber ich bin überzeugt, daß es das richtige ist. Wenn Burg sich mit mir streiten will, wird er das auf der Venus tun müssen… Los, worauf warten Sie noch – hauen Sie ab!« Danton nickte, winkte und rannte dann blindlings auf die nächste Ruine zu. Um ihn herum ging alles zu Bruch. Am Rande seines schwankenden Universums dröhnte ein schwerer Lastwagen davon… In der Eingangshalle des von Erschütterungen heimgesuchten Gebäudes war es so dunkel, daß er sich weniger unsicher fühlte. Er hielt an, um sich zu sammeln. Captain Small, Smalls Doppelgänger und Danton-Nels waren unterwegs zur Venus. Und er, der echte und einzige Paul Danton mußte zu Marcia Nels gehen, um mit der mächtigsten Frau auf der Erde – und der schönsten – zu leben… Nicht zur Venus, wo sein Herz all die Jahre lang gelebt hatte. Etwas von der Venus schlug ein und überschüttete ihn mit Putz. An der gegenüberliegenden Wand blieb ein Kunststoffspiegel dessenungeachtet heil, eine schimmernde geometrische Form. Aus seiner Mitte starrte ihn ein weiterer Doppelgänger durch den aufgewirbelten Staub hindurch an – getreuer dem Original, ein Abbild, das garantiert nur das tun
würde, was Danton selbst zu tun beschloß. Er ging darauf zu und starrte bitter auf das hirnlose Abbild. »Hallo, Fremder«, sagte er. Er starrte weiter und versuchte, etwas von dem attraktiven Danton-Nels in dieser Gestalt zu erkennen, aber es hatte keinen Sinn. Er war er selbst, nicht Marcia Nels’ Bild von ihm. Die Erkenntnis kam ihm, als er an Danton-Tamara dachte, und an die Offenbarung, daß sein verschwundener Bruder das war, was die Abgeordnete der Ukraine in ihm sah. Dann – war Danton-Nels so, wie die Vorsitzende aus Alberta ihn sah. Nein… sie würde den Unterschied nie merken! Die Geschichte, das wußte er jetzt, brauchte den echten Danton nicht mehr. Er wurde in den Ruhestand versetzt, um mit der Feenprinzessin zu leben, und wenn sie nicht gestorben sind… Ab jetzt konnten nur noch schlechte Kopien seiner selbst für ihn handeln. Dem Original war ein »Ende gut – alles gut« geschenkt worden, noch ehe das Stück zu Ende war. Das Spiegelbild sah Danton durch die dünner werdende Staubwolke hindurch an. Die Geschichte konnte ihm das antun: Sie war unerbittlich. Aber sie konnte ihn nicht dazu bringen, damit zufrieden zu sein.
XII
Als sie seine Wohnung erreichte, fand Luisa Marschall Lathrop pfeiferauchend vor, die Hände auf den Reglern des Telefons. Er sah auf, als sie hereinkam, und lehnte sich im Sessel zurück. »So viel«, sagte er ruhig. »Zu unserem Freund Mann. Was für ein Ende hast du mir zugedacht in der Schlangengrube, die du deinen Kopf nennst?« Sie sah ihn einen Moment lang schweigend an, da sie merkte, daß dies weder die Zeit für Unschuld noch die für Verführung war. »Auch die Schlange braucht einen Gefährten, Armand«, erwiderte sie. »Ich hatte die Wahl; du mußt nicht glauben, es sei anders gewesen. Ich wollte dich.« Für einen Augenblick fühlte sie seinen Blick auf sich; dann warf er den Kopf zurück, und sein Lachen erfüllte den Raum. Sie wußte, sie hatte gewonnen. Lathrops Lachen war so herzlich und ansteckend, daß es unwiderstehlich war, aber Luisa bemerkte den künstlichen Unterton darin; es hatte nichts zu bedeuten. Sie konnte es gegen andere verwenden, solange sie ihn brauchte, und gegen ihn selbst, wenn sie ihn nicht mehr brauchte. »Hast du das Mann auch erzählt?« fragte er. Luisa wußte, was er jetzt wollte. Leichthin näherte sie sich dem Stuhl und setzte sich auf die Armlehne. »So was Ähnliches«, sagte sie ruhig. »Aber selbst, wenn ich es zu jedem Mann auf der Venus gesagt hätte, bei dir wäre es immer noch die Wahrheit – ganz egal wie falsch es bei den anderen war. Nur weil eine Frau die Liebe als Waffe benutzt, heißt das
nicht, daß sie nicht einem bestimmten Mann gegenüber ehrlich sein kann.« Sie näherte ihr Gesicht dem seinen. »Tu nicht so, als hättest du nie so was getan, Armand – als hättest du nicht mit Frauen gespielt, die du nicht geliebt hast, nur weil es in dem Moment passend erschien, sei es aus Pflichtgefühl oder zum Spaß oder beides.« »Ich habe nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt«, sagte er. »Das ist ein feiner Unterschied.« Er stand auf und wandte sich ihr zu, die geballte Faust auf der Hüfte, breitbeinig. »Man kann vielleicht Herzen brechen – aber niemand stirbt daran, was der Dichter auch immer darüber sagen mag. Vermischt man Liebe mit Politik und Mord, dann ist das etwas anderes. Ich finde es keineswegs amüsant, wenn dieses Spiel mit mir getrieben wird. Mann wollte mir an den Kragen und ich ihm. Und so wie du gespielt hast, hätte einer von uns einfach deswegen ermordet werden können, weil du dich zugunsten des anderen eingemischt hast.« Luisa glitt vom Stuhl. »Einer von euch ist ermordet worden – aus eben diesem Grund«, sagte sie. »Jedenfalls ist er so gut wie tot, was auf das gleiche hinausläuft, denn die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß Mann jemals zurückkommt. Ich wußte, was ich tat.« Er sah sie skeptisch an. »Na ja… es ist jedenfalls gut ausgegangen. Aber das geschah dir zum Trotz, meine Liebe. Ich habe mich aus eigener Kraft wieder hochgerappelt.« Luisa zuckte die Achseln. »Natürlich. Ich wäre an einem Mann nicht interessiert, der das nicht aus eigener Kraft schafft. Das ist der Grund, warum ich dir und Mann gleichzeitig mitgeteilt habe, was gespielt wird. Wenn ich das nicht getan hätte, würdet ihr immer noch auf eure Chance warten.«
Sie stellte fest, daß ihre Taktik erfolgreich war. Sie zögerte, als falle es ihr schwer, fortzufahren, dann sagte sie: »Ich… ich gebe es zu, Armand. Ich war mir deiner nicht sicher; ich war nicht sicher, ob du der Stärkste warst, und ich mußte mich vergewissern. Ich habe mir gewünscht, daß du es wärst, aber ich bin kein dummes junges Ding mehr. Wenn du untergegangen wärst, hätte mich das tief getroffen, aber dieser Gedanke hat mich nicht aufgehalten. Jetzt habe ich Gewißheit; jetzt kann ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen.« Seine Hand berührte die Orden an seiner Brust, streichelte den violetten Erdorden, den Thomas ihm angeheftet hatte, und Lathrop lächelte. »Also gut, Luisa. Du verleihst dem Spiel einen zusätzlichen Reiz. Aber du sollst nicht glauben, ich würde dir auch nur einen Moment lang trauen.« Er griff nach ihr, und einen Augenblick lang ließ sie es nur geschehen, zögerte gerade lang genug, um ihm dann entgegenzukommen. Sie wußte, daß Thomas zuhörte, und wünschte sich, er würde immer noch sein obszönes Lachen hervorbringen; sie wollte mit ihm lachen. »Armand«, flüsterte sie. »Ich bin immer noch eine Frau. Ich… kann das nicht verleugnen… ganz egal, wie sehr ich mich anstrenge.« Er lachte wieder, und zog sie fester an sich. Luisa schloß die Augen und stellet sich Thomas’ Gesichtsausdruck vor. »Armand… laß mich nicht im Stich…«
Alle drei – Hauptmann Small, Danton-Small und Danton-Nels – standen in einer eng gedrängten Gruppe zusammen und starrten den lavaähnlichen Boden um sich herum an. Die Venus! Staub wirbelte auf und wurde vom Wind getrieben – einem Wind, der fast mit der Stärke eines Sturms immer aus
der gleichen Richtung wehte. Hier auf diesem Planeten, der der Sonne 48000000 Kilometer näher war als ihre Heimatwelt, würden sie die Sonne niemals sehen können – lediglich ein verschwommenes, düsteres Glühen, das von der Staubschicht so tiefrot gefärbt wurde, daß es fast violett erschien. Der grotesk-riesige Kopf ihres Piloten, der den geschmeidigen, schwarzgekleideten Körper im Vergleich winzig erscheinen ließ, tauchte aus den Staubwirbeln auf. Das eiförmige Gebilde, das in die Fassung am Halsabschluß seines Raumanzuges geschraubt war, war ein Sauerstoffhelm; die drei Invasoren waren dagegen nur mit Atemmasken ausgerüstet. Als der Pilot sprach, zerhackte die Membran seines Anzuges seine Worte in Ketten ineinander übergehender Zischlaute. »Man hat mir befohlen, euch Handwaffen dazulassen, auch wenn ihr sie vielleicht nicht braucht«, sagte er. »Ihr findet sie zerlegt in eurem Gepäck.« Die drei mit Masken bedeckten Köpfe nickten mechanisch. »Nach einiger Zeit werdet ihr eine Siedlung finden, wo die Luft atembar ist. Wenn ihr sie erreicht habt, vergeßt nicht, eure Masken zu entfernen. Sie haben zwar keinerlei Erkennungsmerkmale, aber sie unterscheiden sich sicher von denen, die hier benutzt werden.« Der riesige Kopf bewegte sich neugierig hin und her. »Das ist also der geheimnisvolle Planet! Ich beneide euch nicht um eure Aufgabe.« Er hob eine behandschuhte Hand. »Viel Glück«, zischelte er. Der Pilot drehte sich um und verschwand augenblicklich im karmesinroten Nebel. Kurz darauf sahen sie einen siedend gelben Fleck, der heulend über sie wegflog; das Geräusch entfernte sich allmählich, als der gelbe Punkt wie ein Irrlicht gen Himmel stieg, ein bedeutungsloser Lichtfleck in der ewigen Einöde. Dann war er verschwunden. Die beiden Dantons waren so in ihre widersprüchlichen Gefühle verstrickt, daß sie bewegungslos verharrten.
Hauptmann Small ließ sich unbeeindruckt auf die Knie nieder und begann, auf dem glasig-geschmolzenen Boden das winzige Bündel ihrer Vorräte auszupacken. Seine erste Handlung bestand darin, die Schußwaffen zusammenzusetzen, von denen er zwei wortlos an seine Gefährten weitergab. Als sie die Waffen entgegennahmen, schienen die beiden aus ihrer Trance zu erwachen. »Eine nette Gesellschaft, in die du uns da gebracht hast, Small«, sagte Danton-Nels. »Meinst du, daß hier wirklich jemand lebt?« »Sieht aus wie ein stinkender steinerner Golfball«, stimmte der Ratsagent fröhlich zu. Er brachte die ausfahrbaren Eckpfosten der transportablen Kabine, die sie mitgebracht hatten, in Position und zog sie zu voller Länge aus. »Was steht an?« Danton-Small half ihm, ein »Tuch« aus Glasfaser über die Pfosten zu spannen. »In dieser Suppe können wir uns keinen Schritt bewegen, ohne verlorenzugehen. Wenn wir versuchen würden, ohne Ankerpunkt auf Entdeckungsreise zu gehen, würden wir uns wahrscheinlich dauernd gegenseitig über den Weg laufen. So wie ich es sehe, sollten wir die Kompasse benutzen und jeder in eine andere Richtung aufbrechen, bis einer von uns auf eine Siedlung stößt.« »Dumm, daß wir kein Radar haben«, bemerkte Small. »Wir wissen ja gar nicht, ob irgendein Teil der Venuszivilisation über die Oberfläche hinausragt«, stellte Danton-Nels fest. »Wer hat die Kompasse?« »Hier sind sie.« Small reichte ihm einen, seinem eigenen Widerpart einen zweiten. »Einer für jeden von uns.« »Aha«, fuhr er fort, »der Planet hat sein eigenes Magnetfeld. Das bedeutet, daß wir die Pfosten nicht aufladen müssen.« Er sah sich erstaunt um. Die Schwaden nahmen hundert verschiedene flüchtige Formen an; er wußte jedoch, daß es
eine von seiner Netzhaut produzierte Illusion war, die sich in der unnatürlich violetten Dämmerung an jede Ahnung eines Umrisses klammerte. Er betrat die Kabine mit seinem Gepäck, und die anderen folgten ihm, um ihre restliche Ausrüstung zu verstauen. In der dürftigen Behausung war die Luft ruhiger und klarer, aber kleine Staubfahnen wehten unter den Rändern der Wände und an der Dachfuge herein. Das einzige Fenster, das in das Material eingenäht war, wirkte wie ein strukturloses Stück gefärbten Glases. Danton-Nels besah sich die trostlose Eintönigkeit und murmelte: »Ist dies das Rohmaterial einer Welt oder ihre Leiche?« »Für uns macht das keinen Unterschied«, antwortete der Ratsagent. »Fertig?« Er öffnete die Klappe des Einstiegs. »Vorwärts… Das keiner von euch nach Süden geht, klar? Die Stelle, wo das Schiff gestanden hat, wird noch eine Woche lang radioaktiv sein. Ich werde mal nach Norden gehen.« Danton-Nels sah die beiden anderen an und wußte, daß sie alle das gleiche dachten – daß sie die Chance abschätzten, sich wiederzusehen. Es gab für diesen Abschied keine Worte, die nicht abgestanden oder dumm geklungen hatten. Sie legten ihre Gefühle in eine Geste – halb Salut und halb Abschiedsgruß – und gingen auseinander. Bald danach war Danton-Nels allein in der Einöde. Es war völlig unmöglich, irgendein Maß für Zeit und Raum zu behalten. Die Kabine war verschwunden wie eine Projektion auf dem flachen Hintergrund des Staubes; danach schien der Umkreis völlig gleichförmig zu sein. Wenn sich seine Beine nicht bewegt hätten, hätte er nicht gewußt, ob er vorankam oder nicht. Der Boden, der aus Feuerkiesel bestand und von den ewig darüber hinwegrasenden Formaldehydpartikeln spiegelglatt
geschliffen worden war, glitt unter ihm hinweg wie in einer Tretmühle. Er stellte fest, daß er ziemlich oft zu Boden blicken mußte; wenn er nur voraus schaute, begann sein Blick starr zu werden, und er hatte das Gefühl, er werde erblinden. Als er seinen Kompaß ansah, merkte er, daß seine Augen sich nicht der Entfernung anpaßten; es kostete ihn Mühe, sie wieder darauf einzustellen. Danach schaute Danton-Nels sowenig wie möglich in die Staubwolken. Er spürte einen Schlag unterhalb des Knies und fiel schwer zu Boden. Einen Moment lang saß er da, atmete tief und rieb sich sein angeschlagenes Schienbein; dann ging ihm plötzlich die Bedeutung dessen auf, was gerade passiert war. Er war über irgend etwas gestolpert! Dann… dann gab es auf diesem Planeten doch etwas, das über den Boden hinausragte. Er stand auf und humpelte zurück. Es war ein Steingebilde, fast wie ein alter Grabstein, trotz seiner vom Wind abgerundeten Ecken deutlich künstlichen Ursprungs. Es war fest im Boden verankert, und Danton-Nels stellte fest, daß es eine tief eingeritzte Inschrift in lateinischen Buchstaben enthielt: B. M. 420. Die ersten Siedler mußten sehr methodisch an ihre Aufgabe herangegangen sein – unter diesen Bedingungen konnte eine Vermessungsmarkierung nur bedeuten, daß die Gegend mit Infrarotgerät vermessen worden war. Höchstwahrscheinlich gab es irgendwo im näheren Umkreis eine Einrichtung oder wenigstens eine verlassene Landvermesserhütte, die vielleicht nützliche Informationen enthielt. Er setzte seinen Weg fort. Beim dritten Versuch, von der Markierung aus in verschiedenen Richtungen zu suchen, ragte vor ihm plötzlich ein Gebäude aus dem Nebel auf.
XIII
Die Vorhut der Menge rollte die »Allee der Flaggen« hinauf und strömte unaufhaltsam auf das entfernte Ende des riesigen Platzes zu; dahinter webte ein plumpes Venusraumschiff von oben ein Muster scharlachroter Blitze in das. Gewebe der Stadt. Die düstere menschliche Woge brach sich in letzter Minute an der Plattform, von der aus sonst Paraden abgenommen wurden, und floß darum herum. Lautsprecher röhrten: »Die Eingänge zur Untergrundbahn sind geöffnet – bitte… alle sollen sich so schnell wie möglich dort hinunterbegeben – auf dieser Seite gibt es keine sicheren Unterstände – die Bahnstationen werden Sie einzeln aufnehmen – es fahren genügend Züge stadtauswärts…« Es war, als würde man einem Wirbelwind Vernunft einzureden versuchen. Das Venusschiff bewegte sich etwas schneller, aber es fielen keine Bomben mehr. Sekunden später kündigte sich der Grund dafür mit einem ohrenbetäubenden, hohen Kreischen an. Es sah nach einem erbarmungswürdig ungleichen Kampf aus: Das angreifende Schiff des Sicherheitsrats stieß herab wie Thors eigener Blitz, die Strahlgetriebe des plumpen Eindringlings erzitterten, als das Schiff sich um eine geringfügig erhöhte Geschwindigkeit mühte. Dann regneten die brennenden Fragmente des Erdschiffes aus dem Himmel herab. Ein Baum im Norden des Platzes wurde getroffen und brannte wie eine riesige Fackel. Die Menge hielt inne, staute sich, begann in die andere Richtung zu drängen.
Aus dem Lautsprecher tönte es immer noch: »Bitte versuchen Sie nicht, die Eingänge zu stürmen – Sie werden nacheinander so schnell wie möglich eingelassen…« Das Venusschiff stieg jetzt ziemlich schnell in den Himmel auf. Am Horizont wuchsen schwarze Punkte heran: Ein Geschwader. Verspätet belebte sich der Turm auf dem Gebäude des Sicherheitsrats, und ein Strahl stieg auf, von dem auf der Erde nur ein dutzend Menschen wußten, daß er kein Scheinwerfer war. »Wenn Sie die Bahnsteige stürmen, erschweren Sie Ihr eigenes Entkommen…« Eines der Tore gab nach mit einem scharfen Knall; dann ein weiteres. Auf der anderen Seite des Platzes war der Baum zu einer Flammensäule geworden; ein Mann kroch langsam von der Hitze weg und zog sein gebrochenes Bein nach. Die Geräusche der Menge wurden leiser, als sie sich in die U-Bahn drängte. Einen Augenblick später entdeckte er eine einsame Gestalt auf der Paradeplattform. Der Mann zuckte die Achseln und kletterte herab. Er zögerte, sah sich um, als ob er ein Versteck suchte – dann schritt er trotzig über den leeren Platz auf den Verletzten zu. »Geschieht Ihnen recht, Sie verdammter Dummkopf«, sagte er. »Legen Sie einen Arm um meine Schulter. So. Sie können das verletzte Bein doch hochhalten, oder?« »Danke«, sagte der Verletzte. »Ich konnte nichts dafür. Mein Wagen – uff – wurde umgeworfen. Die Menge hat mich wie einen Korken mitgerissen. Hier bin ich gefallen und überrannt worden.« »In Ordnung. Ganz ruhig. Ich habe in der Nähe eine Wohnung.« »Die Bomben…« »Wir müssen es riskieren. Ich wette, es ist sicherer als jetzt in der U-Bahn. Übrigens, mein Name ist Kien Ouen-Ti aus Han.«
Der Verletzte lächelte wehmütig. »Ich bin Paul DantonBurg.« Das Gesicht des anderen zeigte keine Reaktion, außer daß sich eine seiner fast unsichtbaren Augenbrauen hob. »Irgendwie verwandt?« Danton-Burg besah sich die Zerstörung in seiner Umgebung und sagte: »Eine Art fast verlorener Sohn.« Sie erreichten ohne Zwischenfall das Gebäude und stellten fest, daß der Aufzug nicht auf ihren Knopfdruck reagierte. »Sieht aus, als würde der ganze Strom in den Strahl geleitet, der da den Himmel abfegt«, sagte Danton-Burg. »Ich frage mich, was dieser ›Besen‹ enthält.« »Wenn man das nicht weiß, erscheint er mächtiger«, flüsterte Ouen-Ti. Die Wohnung lag im dritten Stock, aber der Aufstieg dauerte zwanzig Minuten. Danton-Burg sah, daß sie klein, aber bequem war; diffuses Sonnenlicht verlieh ihr eine Fröhlichkeit, die er zu diesem Zeitpunkt grauenhaft fand. »Verheiratet?« fragte er den anderen. »Sie ist wahrscheinlich beim ersten Alarm auf die Straße hinausgerannt«, sagte Ouen-Ti, und ging ruhig in die Küche. »Sie wissen ja, wie Frauen sind.« Die abgedroschene Phrase, der unbeteiligte Tonfall, die unwirkliche orientalische Gelassenheit sagten wie in Großbuchstaben: Bitte, ich will nicht darüber nachdenken. Danton-Burg schluckte und wechselte hastig das Thema. »Wie steht’s mit Ihren Vorsorgemaßnahmen gegen Seuchen?« »Das übliche – UV-Lampen und so weiter. Ich glaube, der Sicherheitsrat hat das kommen sehen. Die letzten paar Monate haben mich die Luftschutzwarte nicht mehr in Ruhe gelassen. Wenn die Venus natürlich irgendwelche biologischen Viruskampfstoffe entwickelt hat… Möchten Sie was essen? Ich habe einen Mikrowellenherd.«
»Ich bin nicht sehr hungrig«, sagte Danton-Burg. »Könnten wir nicht zuerst das Bein schienen?« »Entschuldigung. Ich bin etwas durchgedreht. Es macht keinen Spaß, mitten auf der größten Zielscheibe der Stadt zu stehen und anderen zu erzählen, wo sie sich verstecken sollen.« Er zerrte einen Vorhang herunter und begann, ihn in schmale Streifen zu zerreißen. Danton beobachtete ihn einen Moment lang mit zugekniffenen Augen. Dann sagte er: »Sie sind, glaube ich, in noch schlechterer Verfassung als ich. Wenn Sie dem Luftschutzwart gegenüber folgsam waren, müssen Sie hier irgendwo einen Erste-Hilfe-Kasten haben, mit Schienen drin.« Der Asiate sank in den nächsten erreichbaren Stuhl und fing an, heftig und tränenlos zu schluchzen. Danton-Burg wandte sich ab, aber seine Phantasie konnte er nicht abschalten – er stellte sich die Millionen Wohnungen überall auf der Erde vor. Und überall weinten Männer und unternahmen unsinnige Schritte und waren in ihren Grundfesten erschüttert durch den ständig wachsenden Schrecken in ihrem Leben… Nach einer Weile stand Ouen-Ti auf und holte den ErsteHilfe-Kasten, so, als sei nichts geschehen. Gemeinsam richteten sie Danton-Burgs gebrochenes Bein und fingen an, es zu verbinden. Der Asiate fragte: »Was haben Sie gemacht vor dem Zusammenbruch heute?« »Nichts Wichtiges«, antwortete Danton-Burg mit verzerrtem Gesicht. »Eigentlich hätte ich an der Verhinderung dieses Überfalls beteiligt sein sollen, aber es hat nicht funktioniert.« »Dann sind Sie auch ein Mann des Sicherheitsrates?« »Zumindest war ich es.« Danton streckte das verletzte Bein aus. »Obendrein war ich eine Art Venus-Mann – und hatte mit der Pro-Erde-Partei zu tun. Ich glaube, es war vorgesehen, daß ich eine Art Berufsverbrecher werden sollte, der für beide
Seiten arbeitete. Dieser Unfall kam mir gelegen, weil ich wohl kein Talent habe dafür.« Der Asiate setzte sich wieder und schniefte unbekümmert, als habe er einen leichten Schnupfen. »Ich freue mich, einen Mann zu treffen, der einen eigenen Kopf hat. Was haben Sie vor? Wenn Sie mit beiden Seiten in diesem Durcheinander zu tun hatten, sollten sie ganz gut geeignet sein, darin eine Rolle zu spielen – auch ohne Talent.« Danton-Burg wackelte vorsichtig mit den Zehen und dachte über die Frage nach. Joachim Burg hatte ihm wenig mitgegeben; er wußte nicht, ob er ein richtiger Mensch war, oder gar ein anständiger Bürger. Ganz sicher war er kein richtiger Paul Danton. Was ihn von dem echten Danton unterschied, schienen wohl seine Unzulänglichkeiten zu sein – er war, entschied er, schließlich nur eine schlechte Kopie eines nicht besonders außergewöhnlichen Originals. Aber wenn er schon kein Danton war, mußte er wenigstens jemand anders sein. Dann bin ich vielleicht eine eigenständige Persönlichkeit, dachte er. Ich könnte tatsächlich meinen eigenen Kopf haben. »Ich werde eine Rolle darin spielen«, sagte er schließlich zu Ouen-Ti. »Zwar keine politische – dazu fehlt mir das Talent, wie ich schon sagte. Aber ich will wissen, was all das bedeutet – und wo es hinführt. Ich gebe mich nicht zufrieden mit den Erklärungen, die ich bekommen habe, bevor ich jemand war; sie sind zu bruchstückhaft, sie haben untereinander keinen Zusammenhang, sie sind völlig wirr. Da hat es die ganze Zeit einen wichtigen Faktor innerhalb der Venusaffäre gegeben, der verdammt viel mehr bewirkt hat, als mir das Bein zu brechen. Ich will wissen, was es ist. Ich werde es herausfinden.« Er sah seinen verwunderten Gast traurig an. ›»Rädchen im Getriebe‹ ist die offensichtliche Antwort, und ich denke, mein Prototyp wäre damit zufrieden gewesen – jedenfalls die
Danton-Seitenlinie der Familie. Ich aber scheine eine gewisse › gesunde Neugier‹ von Mr. Burg geerbt zu haben. Ich schere mich einen Dreck um das Ineinandergreifen all dieser kleinen Rädchen. Was ich wissen will: Welches ist das Steuerrad? Die übrigen zählen nicht.« »Und wenn Sie es gefunden haben?« flüsterte Ouen-Ti. »Zerbreche ich es«, sagte Danton-Burg. Seine Worte wurden erstickt von einer heftigen Explosion, die den ganzen Raum erschütterte. Er wiederholte sie nicht.
XIV
Joachim Burg sah von den Berichten auf, die er gelesen hatte, als eine Gruppe Soldaten einen Mann hereinführte – einen der venusianischen Anführer, hatte man ihm gesagt. Ihre Uniformen waren schmutzig und zerrissen, und einer der Männer hatte ein blaues Auge. Der dürre Venusianer war in keiner besseren Verfassung, aber er hielt sich eisern aufrecht. Sein Mund war eine bittere, blutleere Linie quer durch sein Gesicht, seine Kiefermuskulatur war verkrampft. Die Männer brachten ihn zu einem Stuhl an dem Marcia Nels gegenüberliegenden Ende des großen Tisches, und zwangen ihn, sich zu setzen. »Was ist passiert?« fragte die Frau aus Alberta. »Die Menge ist über uns hergefallen, gnädige Frau«, sagte einer der Soldaten. »Als das Schiff auf traf, verloren die meisten Mannschaftsmitglieder von diesem Kerl das Bewußtsein. Als wir dort ankamen, waren gerade ein paar hundert Zivilisten dabei, sie systematisch aufzuknüpfen. Wir haben die losgeschnitten, die noch nicht tot waren, und haben die Überlebenden aus dem Schiff geborgen. Dann ist der Mob über uns hergefallen. Wir hatten es nicht leicht, die zehn Meter zwischen dem Wrack und unserem Raupenfahrzeug zurückzulegen.« »Irgendwelche getöteten Zivilisten?« fragte Burg. »Einer – der Knabe, der zum Lynchen aufgerufen hatte. Der war ganz schön ausdauernd.« Burg nickte, und empfand einen Anflug von Sympathie für die Selbstjustiz Übenden, bei aller Verachtung ihrer Taten. »Man wird ihn nicht vermissen«, sagte der Antarktiker ruhig.
»Gute Arbeit, Leutnant… Nun denn, mein venusianischer Freund, wie heißen Sie?« Der Eindringling starrte schweigend vor sich hin. »Los jetzt«, drängte Burg, »Ihren Namen und Ihren Rang können Sie uns sagen, ohne Ihre Regierung zu verraten; das war immer so… Nein?… Leutnant, was können Sie uns sagen?« »Seine Leute sagen, daß er Mann heißt, und nach den Rangabzeichen ist er General – wenn sie das gleiche System benutzen wie wir.« Burg hob die Augenbrauen. »So, so – der Hauptkriegsfalke. Willkommen, General Mann. Ich vermute, Ihr Freund Armand Lathrop wird erstaunt sein über die Beförderung, die Sie sich selbst haben zukommen lassen.« Das Gesicht des Eroberers verkrampfte sich, aber es war Marcia Nels, die Burg mit wachsendem Erstaunen ansah. »Joachim, was soll das heißen? Sie kennen diesen Mann? Wie…?« Er warf ihr ein schiefes Lächeln zu. »Das werden Sie gleich sehen, Marcia. In der Zwischenzeit«, sagte er zu dem Gefangenen, »muß ich Sie davor warnen, störrisch zu sein, General Mann. Sie haben bereits eine Demonstration des gegenwärtigen Zustands der öffentlichen Meinung erhalten. Wir hier sind verantwortungsbewußte Menschen, aber auch wir können die Geduld verlieren.« Seine Stimme wurde leise und eindringlich: »Dieser verdammte, verbrecherische Luftangriff von ihnen hat uns nicht im mindesten besänftigt. Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten, werden wir Vergeltungsmaßnahmen treffen.« »Los, erschießen Sie mich doch«, sagte Mann steif. »Erschießen? Aber nein – das wäre zu einfach, General. Ich denke, wir werden Sie statt dessen einfach wieder auf die
Straße setzen und vergessen, daß wir Sie jemals gesehen haben. Das dürfte Ihnen gefallen.« »Damit ich von Zivilisten abgeschlachtet werde – « » – die noch vor kurzer Zeit von Ihnen abgeschlachtet worden sind. Ja, das hatte ich dabei im Sinn, General.« Burg lehnte sich zurück und lächelte leichthin. »Ich denke, Sie sagen uns lieber, was wir wissen wollen – angefangen bei der exakten Truppenstärke, mit der Sie diesen Überfall begangen haben, bis hin zu dem, was wir noch zu erwarten haben.« »Zur Hölle mit Ihnen«, sagte Mann. »Vielleicht«, sagte Heath knapp. »Aber Sie werden uns vorausgehen.« Burg seufzte. »Ich würde Ihnen gern deutlich machen, wie nutzlos, ja altmodisch Ihre Theatralik ist, General. Leutnant, in der Bibliothek wartet unter Bewachung ein venusianischer Offizier. Lassen Sie ihn bitte hereinführen.« Der gesamte Rat schaute nun auf Burg. Heath öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Nur Marcia Nels schien eine Ahnung von dem zu haben, was geschehen würde… Aber sogar sie war verblüfft, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete und Danton-Tamara in den Uniform eines venusianischen Obersten in den Raum geleitet wurde. »Ich denke, die Herren kennen sich«, schnurrte Burg. »Sollte das nicht der Fall sein, möchte ich Ihnen Oberst Armand Lathrop vorstellen – den ›Mann ohne Nerven‹. Er ist genau eine Stunde und dreiundzwanzig Minuten vor Ihnen auf der Erde gelandet und hat Sie verraten – nach Strich und Faden!« Danton-Tamara blinzelte Mann und die anderen an. Die Ratsmitglieder stellten fest, daß er höchstens eine schwache Ahnung hatte, was los war, aber sein verwirrter Gesichtsausdruck nutzte der Maskerade nur. Er sah aus wie ein geschlagener Mann.
Der Augenblick wurde zur Ewigkeit, und Burg fühlte sein Herz schlagen. Alles hing jetzt davon ab, daß Mann unter Druck wichtige Einzelheiten übersah. Nur ein Moment genauen Hinsehens wäre fatal gewesen. Mann stand bewegungslos da, dann sah Burg, wie sich seine Augen weiteten und Bewegung in sein Gesicht kam. »Sie dreckiger Hund!« schrie Mann. »Sie lausiger Verräter! Ich gebe Ihnen den Rang eines Feldmarschalls, aber das reicht Ihnen nicht! Es reicht Ihnen nicht, mich von meinen Truppen zu trennen, sobald ich in der Luft bin. Sie mußten hierherkommen, um sich das Fiasko mit eigenen Augen anzusehen. Lathrop, wenn ich hier lebend rauskomme, dann sorge ich dafür, daß Ihr Name jetzt und in alle Ewigkeit einen üblen Beigeschmack kriegen wird für jeden Venusier!« Er hielt inne und atmete schwer. »Bravo!« unterbrach Burg. »Also kommt nichts mehr nach. Das wollten wir doch nur wissen… Mr. Danton, ich sehe keinen Grund, warum Sie noch länger hierbleiben sollten, um sich beschimpfen zu lassen. Sie haben uns sehr geholfen, danke.« Danton-Tamara zuckte die Achseln und verließ den Raum ohne seine »Bewachung«. Mann stand wie versteinert da. Sein Gesicht verharrte in dem nun unpassenden Ausdruck gerechten Zorns, den er während seiner vorangegangenen Worte aufgesetzt hatte. Dann kreischte er wie eine Frau und warf sich auf Burg. Seine Hände, zu Klauen gekrümmt, hatten sich Burgs Hals schon bis auf wenige Zentimeter genähert, als die Wachen ihn zu Boden warfen. Kindisches Zeug vor sich hin brabbelnd, wurde der Möchtegern-Eroberer abgeführt. Während er dem Verklingen von Manns Stimme lauschte, stellte Burg fest, daß er sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Er zwang sich zu einem
überlegenen Lächeln, setzte sich hin und war dankbar, daß der Tisch das Zittern seiner Beine verbarg. »Puh«, sagte Heath. »Ein unangenehmer Zeitgenosse.« »Und der beste Fall von Gegenprovokation, den ich je gesehen habe«, fügte Tamara hinzu. »Mr. Burg, ich dachte, alle Doppelgänger seien zur Venus geschickt worden. Warum ist dieser eine zurückgehalten worden?« »Das ist er eigentlich nicht«, sagte Burg. »Es gab einen Unfall auf dem Weg zum Raumhafen. Einer der Doppelgänger kam dabei um, zwei weitere galten als vermißt. Diesen da haben wir vor kurzem gefunden; den anderen suchen wir noch. Offen gesagt hatte ich keine Hoffnung, diesen Trick anwenden zu können, aber für den Fall habe ich ihn jedenfalls in die Uniform stecken lassen. Und der Fall ist eingetreten.« »Meine Glückwünsche«, sagte Heath. Er zündete seine Pfeife an. »Das war es wohl. Ich gehe jetzt. Wir müssen immer noch das Durcheinander aufräumen, das General Manns Helfershelfer angerichtet haben.« Rasch löste der Rat sich auf. Schließlich war Burg allein mit Marcia Nels. Er sah sie an und sagte: »Ich weiß, was Sie fragen wollen.« »Nichts will ich Sie fragen«, erwiderte sie. »Auch ich will Ihnen gratulieren – zu einem Meisterstück der Verwirrkunst. Ihre plötzlichen Kenntnisse der venusianischen Angelegenheiten haben Sie erklärt mit der Andeutung, daß Sie sie von einem Venusier haben. Und als sei die Information von General Mann selbst gekommen. Ihre Rechnung ist aufgegangen, wie immer.« »Offensichtlich war ich nicht gut genug«, sagte er. »Sie sollten ebenfalls damit getäuscht werden. Aber als Sie mich ansahen, wußte ich, es war mir nicht gelungen… Nun, Marcia, wollen Sie mich verhören?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie geradeheraus. »Ich vertraue Ihnen, Joachim. Sollten Sie Zugang zu Informationen über die Venus haben, die uns versagt sind, dann ist es, glaube ich, nur zum Besten für die Erde. Sie haben sich noch nie anders verhalten.« »Danke, Marcia.« »Aber Sie sollten wissen«, sagte sie mit der gleichen Geradlinigkeit wie vorher, »daß ich Sie von jetzt an beobachte.«
Sektor 15 war nicht der größte Handelsplatz der Venus, aber er war sehr gut besucht; offensichtlich konnte auch eine strikt nach technokratischen Gesichtspunkten aufgebaute Wirtschaft durch Krieg einen Aufschwung erfahren. Danton-Small drängte sich eilig durch die Menge, aber als er die hochgewachsene uniformierte Gestalt endlich erreichte, waren sie fast am anderen Ende der Höhle angelangt. Außer Atem faßte er nach einem Ärmel. »He, Nels, mach langsam. Ich hab’ hier drei Tage auf dich gewartet, und dann kommst du und rast mit Höchstgeschwindigkeit an mir vorbei. Sag, warum hast du so lange gebraucht? Bist du aufgehalten worden?« Danton-Nels grinste und betrachtete die Läden, die an der Wand der Höhle aufgereiht waren. »Ja und nein«, sagte er. »Da ist eine Kneipe. Laß uns hingehen und was trinken, während ich dir berichte.« »Himmel«, sagte Danton-Small, »und wir haben gedacht, die Oberfläche von diesem Planeten sei gruselig! Hier drinnen ist es noch schlimmer. Es erinnert mich an ein Bühnenbild von ›Macbeth‹, das ich mal gesehen habe. Hochtechnisierte Höhlenmenschen rund um uns her; jetzt fehlen nur noch die Fledermäuse, die sich von der Decke schwingen.«
»Wenn du die Decke sehen kannst, hast du bessere Augen als ich«, sagte der andere und starrte nach oben. Danton-Small grinste. »Nein, in Wirklichkeit kann ich sie natürlich nicht sehen. Aber ich weiß, daß sie da ist, und nicht mal allzu hoch droben. Ich wette, dies wäre der geeignete Ort für Spenglers Magiankultur, wenn man ihr genügend Zeit zur Entwicklung lassen würde.« »Kann sein«, stimmte Danton-Nels zu, als sie eintraten und auf eine Nische im hinteren Teil des Raums zusteuerten. Auf halbem Wege setzte sich Danton-Small plötzlich trotzig an einen Tisch, der voll im Sichtfeld der vorderen Fensterscheibe lag. »Es hat keinen Sinn, herumzuschleichen«, murmelte er. »Was für eine Art Geheimpolizei sie hier auch immer haben, jedenfalls ist sie nicht sehr tüchtig – trotzdem könnte sie mißtrauisch werden, wenn wir uns zu geheimnisvoll benehmen.« »Da ist was Wahres dran«, gab der andere zu und setzte sich dazu. »Wunderbar, wie wir uns vertragen, nicht wahr? Wir haben die gleichen Bücher gelesen, die gleichen Theaterstücke gesehen, die gleichen Spiele gespielt, die gleichen Frauen gel…« Ein Ausdruck der Verwirrung erschien auf seinem Gesicht, als er verstummte. »Erzähl mir, was passiert ist«, unterbrach Danton-Small. »Du kannst doch nicht so lange gebraucht haben, nur um festzustellen, daß die Raketenabschußröhren sich hier befinden.« »Habe ich auch nicht. Ich hatte zuerst mit so einer Gruppe in einer Blechhütte Kontakt aufgenommen, und die hätten mich eigentlich direkt hierherführen müssen. Wußtest du, daß die hier auch eine Pro-Erde-Partei haben?«
»Selbstverständlich.« Danton-Small wischte die Information mit einer Handbewegung beiseite. »Das war das erste, wonach ich gesucht habe.« »Ach ja, du hast die Seele eines Polizisten, mein Bruder. Das sieht dir ähnlich. Jedenfalls war diese Hütte, auf die ich gestoßen bin, eines ihrer Verstecke, und es scheint, daß sie sich mit der Partei der Militärs zusammengetan haben. Dieser Typ, dem wir angeblich ähnlich sehen sollen – sein Name ist Lathrop –, wollte den Überfall auf die Erde aufschieben, bis eine hundertprozentige Eroberung organisiert werden konnte. Wie ich sehe, weißt du das auch schon, Sherlock Holmes.« Er seufzte. »Soll ich weitermachen, oder soll ich mir von dir alles erzählen lassen, was du herausbekommen hast, während ich nur umhergeschweift bin?« »Marcia Nels muß unseren Stammvater auch für amüsant gehalten haben«, stellte Danton-Small fest. »Erzähl weiter; auch wenn ich einiges davon schon weiß, hast du wichtige Einzelheiten gesehen, die ich nicht kenne.« Danton-Nels runzelte die Stirn. ›»Amüsant‹ ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Aber… ich habe manchmal so wunderliche Einfälle… Jedenfalls war da auch eine Frau, die an einem Radiogerät herumspielte; sie hat etwa drei Sekunden gebraucht, um herauszufinden, daß ich von der Erde kam.« Er zupfte an einem seiner Ohrläppchen und fügte hinzu: »Ihr Götter, war das ein Empfang. Man sollte meinen, es wäre die Wiedergeburt Stalins gewesen. Und ich konnte sie nicht loswerden!« »Wieso?« »Jedenfalls nicht, ohne sie k. o. zu schlagen. Sie nahm mich ins Innere des Planeten mit und erklärte mir das Notwendigste, half mir, an diese Kleider zu kommen und – na ja, es war nichts, worauf ich sie hätte festnageln können. Sie war nur so
sehr damit beschäftigt, mir zu helfen, daß es drei Tage gedauert hat, bis ich aufbrechen konnte.« Danton-Smalls Gesichtsausdruck wurde immer geistesabwesender; jetzt blickte er seinem Begleiter gespannt über die Schulter. »Weil wir gerade von Frauen sprechen«, sagte er, »unsere Kellnerin scheint völlig weggetreten zu sein.« Als Danton-Nels sich ärgerlich umdrehte, zuckte das Mädchen zusammen und versuchte, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen. Danton-Small hielt zwei Finger hoch, woraufhin sie sich hastig zur Bar umdrehte. »Und was, wenn ich fragen darf, machst du hier in Uniform?« »Ich wollte dich gerade fragen, warum du keine anhast«, sagte Danton-Nels. »Weil ich nicht so dumm bin. Ich weiß, daß Lathrop hier irgendwo in der Gegend sein muß, und ich will nicht plötzlich jemanden treffen, der sich gerade auf der anderen Straßenseite von ihm verabschiedet hat. Es ist dumm von dir, die Ähnlichkeit auszuspielen, bevor sie dir nützlich ist… Ah, da kommen ja die Getränke.« Die Kellnerin stellte die Gläser ab und stand dann da, den Blick unverwandt auf den nichtsahnenden Danton-Nels gerichtet. Danton-Small klingelte mit dem Wechselgeld. »Bitte sehr, Fräulein.« »Oh. Danke«, sagte sie und griff danach. Sie verließ den Tisch erst, als Danton-Nels sie böse ansah. »Was ist mit meinem geistigen Vater?« fragte Danton-Small. Der andere zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht; ich habe ihn weder gesehen noch etwas von ihm gehört, seit wir angekommen sind. Ich hoffe, er ist nicht in der violetten Erbsensuppe dort oben verlorengegangen.« »Das bezweifle ich; er ist ein schlaues Kerlchen. Wahrscheinlich schnüffelt er irgendwo herum und setzt etwas unglaublich Kompliziertes in Gang, das alles
zusammenbrechen läßt, während wir noch hier reden.« Danton-Small hielt inne und blickte nach oben. »Ich muß dran denken, diesen Vergleich zu vermeiden; er ist gar nicht komisch… Je mehr ich von dieser Sache hier sehe, desto weniger Aktionsmöglichkeiten fallen mir ein.« Danton-Nels sah ihn arglos an. »Warum? Wo liegt die Schwierigkeit?« »Diese ganze Gesellschaft ist so dezentralisiert, daß man nirgends einen Stöpsel rausziehen kann, der mehr Unheil anrichten könnte, als ein Klempner mit Leichtigkeit reparieren würde. Für einen Saboteur ist es die Hölle. Wenn man nicht gleich den ganzen Planeten auf einmal in die Luft sprengen will – hallo, was ist denn jetzt los?« Eine ziemlich blaß aussehende Frau, die bisher auf einem Barhocker ihnen gegenübergesessen hatte, war aufgestanden und steuerte auf sie zu, ein abgegriffenes Buch in der Hand. »Oberst Lathrop!« flötete sie und drehte bei. »Oh… Sie sind jetzt Marschall, nicht wahr? Ich hoffe so sehr, Sie werden meiner Wenigkeit verzeihen, aber ich konnte einfach nicht widerstehen – ich wußte nicht, daß Sie einen Bruder haben…« »Hat er auch nicht«, meldete sich Danton-Small amüsiert zu Wort. »Ich sehe ihm nur zufällig ähnlich. Wir haben uns bei einem Fest getroffen.« »Aha«, sagte die Frau kühl. Es war offensichtlich, daß Danton-Small für sie aufgehört hatte, zu existieren. »Aber was ich Sie fragen wollte: Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, mir ein Autogramm zu geben? Immer frage ich Leute von der Regierung. Ganz unverschämt bin ich dabei, weil ich denke, es wird so nett, wenn die Kinder erst groß sind – nicht, daß Sie denken, ich wäre schon Mutter, ja? Nett, meine ich, all die Unterschriften von all den wahnsinnig berühmten Leuten zu
haben, die die Erde für sie erobert haben, als sie noch sooo klein waren…« Danton-Nels fing an, gequält auszusehen. Das war ungefähr das letzte, was er zu tun gedachte: Mit »Lathrop« unterschreiben, noch ehe er die Handschrift des Mannes gesehen hatte. Aber das half ihm nichts. Nachdem sie die Frau verscheucht hatten, sagte er: »Ich hoffe, sie hat nie die Gelegenheit, das jemand Wichtigem zu zeigen.« »Mach dir keine Sorgen, das wird sie nicht. Aber du tätest gut daran, dir eine Unterschrift von deinem Freund zu besorgen und ein wenig zu üben.« Danton-Small änderte plötzlich den Ton. »Noch etwas solltest du üben. Geh in eine Bibliothek und hör dir Aufzeichnungen von Lathrops Reden an, bis du seine Stimme und seinen Tonfall richtig drauf hast.« »Das werde ich auch«, stimmte Danton-Nels zu. Er sah den anderen an und überlegte, was diese Veränderung in DantonSmall verursacht hatte. »Na ja«, sagte er. »Wenigstens ist die Ähnlichkeit schon mal bewiesen.« Nachdenklich sah er zu, wie der andere sein Getränk schlürfte, die Augen auf den Tisch geheftet. Schließlich sah Danton-Small ihn mit eindringlichem Interesse an. »Das… glaube ich gerade nicht«, sagte er langsam. Auf dem Gesicht seines Bruders erschien ein Ausdruck von Abneigung, den Danton-Nels bestürzend fand. »Ich denke, du solltest wissen, daß du Lathrop nicht sehr ähnlich siehst – aus der Sicht eines Mannes.« »Ehrlich?« Danton-Nels’ Augen weiteten sich. »Aber – im Ernst – ich hab’ doch in den Spiegel gesehen.« »Oh, die Ähnlichkeit ist in Ordnung. Aber die Geschichte mit den Drüsen, die sieht man im Spiegel nicht. Denk dran… wir sind alle Imitationen, so echt wir uns auch selbst vorkommen mögen. Aus dir ist ein gutaussehender Kerl geworden, zu dem die Frauen sich hingezogen fühlen; und eine Frau hat dich dazu
gemacht. Also ist auch dein gutes Aussehen nur eine Imitation. Du bist kein schöner Mann, sondern die Summe all dessen, was eine Frau an einem Mann schön findet. Ein paar von den Fernsehschauspielern kommen diesem Ideal nahe genug, um von den Mitgliedern ihres eigenen Geschlechts allgemein verachtet zu werden – aber du… bist es!« »Und du«, sagte Danton-Nels besorgt, »empfindest das auch?« Danton-Small sah kurz auf, wandte sich dann aber wieder seinem Glas zu. Danton-Nels wartete, und in seinem Kopf erschien ein Bild – das Bild eines Mädchens, das der echte Danton einst bekannt hatte – und das er an einen verloren hatte, auf den die gerade gegebene Beschreibung paßte. Irgendwie wußte er, daß Danton-Small an die gleiche Sache dachte… Es schien ihm ausgeschlossen, daß er das Mädchen nie selbst gesehen hatte. Leise flüsterte er ihren Namen. Wieder sah Danton-Small auf. »Nein«, sagte er, »ich empfinde es nicht sehr stark; gerade genug, um zu wissen, es ist da. Es stört mich nicht, sowenig, wie mich die Erinnerung an Carole stört… Mein Schöpfer hat mir wenig Raum gelassen für sexuelle Empfindungen irgendwelcher Art; nur eine Menge Erinnerung, die mir eher im Weg sind als sonst was. Aber ich erkenne diese Eigenschaft in dir, Nels, und ich weiß, daß Lathrop sie nicht besitzt. Andere werden den Unterschied merken.« Danton-Nels sank in seinem Stuhl zurück und war wie betäubt. »Das… das ist ja furchtbar. Das macht den ganzen Plan hinfällig.« »Nein«, sagte Danton-Small, »das nicht. Nicht unbedingt. Es macht nur die Vorbereitungen schwierig.« Er lehnte sich über den Tisch. »Während du versucht hast, deinem Bewacher zu entkommen, hab’ ich ein bißchen am Rande des
venusianischen Direktorats herumspioniert, und ich hab’ etwas Wichtiges herausgefunden – vor allem für dich. Die Person, die alle Fäden in der Hand hat, ist eine Frau. Sie heißt Luisa. Und jetzt hör zu…«
XV
Der unauffällige kleine Mann konnte wenig sehen an der Ecke bei der Drogerie. Ganz bestimmt stand da jemand, aber die Verdunkelung, so unvollständig sie auch sein mochte, veränderte die Form bekannter Dinge, führte zu Verwechslungen von Personen bis hin zum Geschlecht, und verwandelte die Stadt in ein schwarzgraues Labyrinth. Einen Moment lang hörte er Bruchstücke einer Radioübertragung: »… Erde sich wie gewöhnlich dreht, so daß das Bombardement sich nach Westen verlagert und dabei abflaut… Kämpfe zwischen den Kreuzern des Sicherheitsrates und den schwerfälligen schwarzen Raketen von der Venus… aber der erste Schrecken hat sich gelegt…« Nun war endlich das Schlimmste eingetroffen, dachte der kleine Mann, aber zumindest war es greifbar. Er und andere Erdbewohner wußten, was sie zu erwarten hatten, und hatten eine Vorstellung davon, welche Formen es annehmen würde. Was hatte der Cyton gesagt? Ach ja – »Nun, da der erwartete Schrecken Wirklichkeit geworden ist, Dendriten, ist Anpassung möglich.« Auch die Neuigkeiten verloren in der Verdunkelung Sinn und Gestalt. Der kleine Mann seufzte und versuchte, die Dunkelheit gegenüber zu durchdringen. Es konnte der Cyton sein, oder sogar der Mann, den sie suchten. Jeder von beiden hätte Grund, trotz der Bomben hier herumzuschleichen. Oder es konnte ein Immuner sein – ein Mutant, der nichts zu befürchten hatte. Man sah die Zigarette des anderen als schwachen roten Punkt. Der kleine Mann zündete sich auch eine an, mit jenem
batteriegetriebenen Heizzünder, den alle während der Verdunkelung zu benutzen hatten. Dann machte er ein paar Bewegungen damit, die ohne Bedeutung waren für alle, die nicht Mitglieder der Pro-Erde-Partei waren. Er wartete auf ein Gegensignal von drüben; es erfolgte, mit dem Zusatz »komm rüber zur Beratung« statt »bleib in Deckung«. Erst als er direkt vor ihm stand, konnte der unauffällige kleine Mann erkennen, ob sein Gegenüber der Cyton war oder der Dendrit L… Ja, es war der Cyton, nicht nur der ranghöchste, sondern auch der größte Mann im Vagus – obwohl der Größenunterschied zwischen ihm und dem Dendriten L erheblich genug war, daß der kleine Mann erst aus ganz kurzer Entfernung sicher sein konnte. Er freute sich, daß der Cyton ihn herübergerufen hatte »zur Beratung«. »Irgendwelche Gerüchte gehört?« fragte der Anführer. Der kleine Mann verfiel in verschwörerisches Flüstern. »Man sagt, einer der venusischen Führer sei gefangen.« »Davon hab ich gehört… Du kannst ganz normal reden, K. Kein Grund zum Flüstern… Außerdem habe ich von einer geheimen Strafexpedition gehört… natürlich keine Einzelheiten. Das ist alles. Hast du sonst noch was gehört?« Dendrit K strotzte nur so vor Wichtigkeit. Das saftigste Gerücht von allen, und der Cyton hatte nichts davon gehört. »Man sagt«, antwortete er genießerisch, »daß ein venusischer Offizier zur anderen Seite übergelaufen ist. Ein Mitglied der Ratswache hat’s mir erzählt.« Der andere pfiff durch die Zähne. »Sehr gut, Dendrit K. Das gebe ich gleich an den Afferenten weiter, wenn wir uns melden. Der Golgi will über jedes Gerücht informiert werden, und, wenn möglich, über die Quelle.« »Wissen Sie, ob Paul Danton ein Immuner ist?« fragte der kleine Mann.
Der Cyton zuckte die Achseln. »Er hat jedenfalls nie danach ausgesehen. Und doch – na ja, du hast den Afferenten genausogut verstanden wie ich: Heute morgen wurde er ohne Anordnung des Golgi getötet. Danton wurde niedergeschossen, als er zusammen mit einem Polizisten des Rats aus einem umgestürzten Wagen kletterte. Und doch wurde er vier Stunden später in Begleitung eines Luftschutzwarts namens Ouen-Ti gesehen, und da ging es ihm bis auf ein gebrochenes Bein ganz gut.« Dendrit K schnaufte verächtlich. Das kann man so oder so sehen, dachte er, aber der Golgi hätte die Hinrichtung von Anfang an nicht ablehnen dürfen. Und dann zu erwarten, daß die Parteidisziplin einen zweiten Versuch verhindern würde! Jetzt war die Lage allerdings anders: Ein Efferent hatte ihnen allen mitgeteilt, daß die Aktionistenfraktion einen Putsch unternommen hatte und jetzt das Parteihauptquartier beherrschte. Endlich hat der Golgi Kontakt zur Basis, dachte Dendrit K. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als er plötzlich einen Druck auf seinem Arm spürte. »Hör mal«, murmelte der Cyton. Unregelmäßige Schritte näherten sich ihrem Versteck, aber sie waren sicher, daß sie im Dunkeln unsichtbar bleiben würden, solange sie sich still verhielten. Das Geräusch wurde lauter: Schritt-klick, schritt-klick. Dann humpelte eine schlanke Gestalt vorbei, bog um die Ecke und verschwand wieder. Die beiden Dendriten traten auf die Straße hinaus und bogen ebenfalls um die Ecke. Danton-Burg sah jetzt ein, daß er zu ungeduldig gewesen war; er hatte nicht abgewartet, bis das Osteoblastin richtig auf sein Bein einwirken konnte, bevor er sich hinausgewagt hatte,
und jetzt schmerzte das verletzte Glied. Er humpelte langsam weiter. Ein stumpfer Gegenstand berührte ihn sanft an der Nierengegend, und eine Stimme sagte: »Zigarre gefällig, Freund?« Links und rechts von ihm ging jetzt je ein Mann, und beide kamen ihm bekannt vor. Danton-Burg machte eine ärgerliche Bewegung. »Nehmt das Ding weg. Ihr habt euch geirrt. Ich bin Dendrit B vom Inguinalplexus.« »Das warst du«, sprach die sanfte Stimme des größeren der beiden Männer. »Neurome müssen vernichtet werden.« Er mußte sich einen Moment lang konzentrieren, bevor er den Ausdruck wiedererkannte. Es war viele Jahre her, seit er zum letzten Mal gehört hatte, wie er in der Partei benutzt wurde, aber seine Bedeutung war eindeutig. »Man hält mich also für einen Verräter«, sagte er ruhig. »Du bist der einzige«, sagte der große Mann, »der den Vorfall beim Solarplexus ermöglicht haben kann; und seither hast du dich in ziemlich schleimiger Gesellschaft ›rumgetrieben‹.« »Ich nehme an, der Golgi hat nicht in Betracht gezogen, ich könnte ein Gefangener sein, wie die anderen auch«, schlug Danton-Burg vor. Die zweite Gestalt kicherte; ein kleiner Mann, wie DantonBurg feststellte. »O ja, natürlich«, sagte der Kleine, »der Golgi hat das wohl in Betracht gezogen. Abwägende Betrachtung ist seine Spezialität. Ich wäre nicht überrascht, wenn er in einem Jahr immer noch Betrachtungen darüber anstellen würde… ich meine natürlich den Golgi, an den du denkst. Aber wir haben jetzt einen neuen Golgi… unseren Golgi… und wir halten uns nicht mit Rätseln auf. Heute früh hat jemand bei der Abrechnung mit dir gepfuscht, und du bist sofort wieder in die Arme des Sicherheitsrats
zurückgekrochen. Das haben wir sehr sorgfältig in Betracht gezogen und entschieden, daß wir dieses Mal…« Er brach den Satz abrupt ab und zeigte auf einen dunklen Hauseingang; in diesem Augenblick schien er eine große, befehlsgewohnte Gestalt zu sein. »Dort rein. Und überzieh deine Humpelbein-Darstellung nicht zu sehr. Wir könnten sehr schnell die Geduld verlieren. Du bist nur deshalb noch am Leben, weil wir neugierig sind, wie du das alles geschafft hast.« Er trat in die Drehtür, der große Mann stieß Danton-Burg in den nächsten Zwischenraum und betrat selbst den dritten. Auf der anderen Seite der Tür wurde er von einem grellen Lichtblitz geblendet und lächelte trocken. Joachim Burg hatte offensichtlich seinen Geistesabkömmling einiger Fähigkeiten beraubt – der ursprüngliche Paul Danton hatte genug taktische Fähigkeiten besessen, um Polaroidkameras in den Glasscheiben der Tür vorhersehen zu können. Er sah, daß der Raum überfüllt und voller Durcheinander war – aber die Atmosphäre war nicht so sehr von geballter Feindseligkeit erfüllt, wie Danton-Burg erwartet hatte. Mehrere der näher stehenden Männer betrachteten ihn lediglich voller Neugier, stärkere Gefühle konnte er bei ihnen nicht ausmachen. Es war also durchaus möglich, daß diese improvisierte Sitzung nicht ausschließlich aus Extremisten bestand – trotz des Putsches. »Das ist die kleine Krebszelle, die im Blutkreislauf der Partei herumgewandert ist«, sagte der kleine Mann. Seine Stimme war von bösartiger Befriedigung erfüllt. »Heute früh hat man ihn verpaßt, aber jetzt haben die Sonden ihn erwischt.« »Vielleicht sollten wir erstmal sichergehen, daß sie nicht die letzte Gehirnzelle der Partei erwischt haben«, sagte der angesprochene Mann überraschenderweise. »Du bist Dendrit
B, nehme ich an. Weißt du, daß du zur Zeit das ranghöchste Mitglied des Inguinalplexus bist?« »Was? Das habe ich natürlich nicht gewußt. Wer hat denn dann diese Fanatiker auf mich gehetzt?« »Halt’s Maul, du…« begann der kleine Mann. »Dendrit K«, sagte der andere in einem Ton, als spreche er zu einem Kleinkind, »steck die Waffe weg. Er ist nicht bewaffnet, und aus einem Raum voller Leute kann er nicht fliehen, ganz egal, was er getan hat.« Er bemerkte den Cyton, und sagte: »Übrigens rate ich zur Zurückhaltung, Dendriten. Die – sagen wir Palastrevolte – war nicht so nachhaltig, wie einige gehofft haben. Der Cortex hat die Unfähigkeit bestimmter Offiziere, die Situation zu bereinigen, getadelt und angeordnet, daß so bald als möglich wieder Ordnung hergestellt werden soll.« Und das, überlegte Danton-Burg, hieß, daß der Putsch rückgängig gemacht wurde. Das Atmen fiel ihm leichter. »Danke. Heißt das, ihr werdet mich nun doch nicht aburteilen?« »Erstmal nicht, obwohl unsere ›Fanatiker‹ den Punkt auf die Tagesordnung gesetzt haben. Und das ganz nach den Regeln, fürchte ich, solange die richtigen Offiziere das Sagen haben. Der Cortex hat angedeutet, ein bißchen Säuberungsarbeit stehe wohl an.« Das heißt, dachte Danton-Burg, daß niemand sicher ist, welche Fraktion der Cortex unterstützen wird und was momentan offizielle Parteilinie ist. »Wir sind hier«, fuhr der andere fort, »um uns auf unser weiteres Vorgehen zu einigen. Komm mit nach vorne.« Jemand klopfte mit einem Hammer, und im Saal wurde es ruhig. Danton-Burg setzte sich auf eine der vorderen Bänke und fühlte sich unangenehm auffällig und verwirrt. »Es gibt zwei Dinge, über die wir nachdenken müssen«, verkündete der Vorsitzende, ohne sich mit einer Einleitung
aufzuhalten. »Zunächst handelt es sich um den Fall des Dendriten B. Heute morgen hat irgend jemand die Sache in die eigenen Hände genommen und auf ihn geschossen.« Im Saal erhob sich ein Murmeln. Aha, dachte Danton-Burg, einige haben nichts davon gewußt. »Glücklicherweise hat man ihn nur ins Bein getroffen. Er ist jetzt hier unter uns. Dendrit B, steh auf. Wir beurteilst du die Sache mit dem Überläufer?« »Wie soll ich sie denn beurteilen?« fragte Danton-Burg. »Ich nehme an, das Urteil über mich ist in jedem Fall schon gesprochen.« »Die Meinungen darüber sind geteilt. Du bist hier die ranghöchste Person, und wenn es einen Weg gibt, dich zu entlasten, dann wüßten wir gern darüber Bescheid. Es würde uns helfen, wenigstens den Anschein von Ordnung aufrechtzuerhalten.« Danton-Burg zuckte die Achseln und beschloß, nicht mehr darüber nachzudenken, was sein Original in dieser Situation tun oder sagen würde. Für kurze Zeit, solange der Parteiapparat erschüttert war, war es möglich, daß Anklage nicht gleichbedeutend mit Verurteilung war. Er konnte besser oder schlechter wegkommen als beim üblichen Hochverratsprozeß. Aber in beiden Fällen würde es schnell gehen. Er erkannte jetzt, daß keiner der Anwesenden die Möglichkeit der Duplikation in Betracht zog und daß nichts, was er sagte oder tat, ihnen falsch erscheinen würde – schließlich war keiner der Dendriten, die Paul Danton gut genug gekannt hatten, um sein normales Verhalten beurteilen zu können, mehr am Leben. »Ich habe einen Vorschlag«, sagte er ruhig, »der euch ziemlich simpel vorkommen wird. Gebt mir eine Aufgabe. Sucht euch etwas aus, das ihr für undurchführbar haltet. Sollte
ich dabei scheitern, werdet ihr um die Entscheidung zwischen den Möglichkeiten ganz herumkommen.« Wieder hörte er Murmeln um sich herum, und sein früherer Eindruck, daß nicht alle gegen ihn waren, verstärkte sich. »Das ist wohl das Einfachste«, Stimmte der Vorsitzende zu. »Irgendwelche Einwände?« Der kleine Mann, der Danton-Burg aufgelauert hatte, stand auf, ein Bild der Enttäuschung und Empörung. Danton-Burg sah ihn an und dachte: Armer Teufel. Jetzt ist es mit deiner Wichtigkeit vorbei. »Ich bin dagegen«, erklärte der Dendrit K und versuchte, seine Würde wiederzugewinnen. »Solange er sich nicht freiwillig zu einem ganz unmöglichen Unternehmen meldet und es dann auch durchführt, kann man ihm nicht trauen.« Der unauffällige kleine Mann setzte sich, und Danton-Burg sah den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht. Bravo, dachte er, ein gelungener Beitrag. »Er hat recht«, rief ein anderer Dendrit, und das Lächeln des kleinen Mannes wurde breiter. »Einfaches Versagen bringt ihn in die gleiche Position wie jetzt – bereit, eine wirklich wichtige Sache zu verraten.« Danton-Burg drehte sich nach der Versammlung um und starrte den Dendriten K gleichgültig an. Er stellte fest, daß die Partei voll von solchen Dendriten war, kleinen Männern, die etwas Nützliches beisteuern wollten – zumindest das, was sie für nützlich hielten – und ihren Wert anerkannt haben wollten, so gering er auch war. Kleine Männer, die großes Unheil anrichten konnten, weil es ihnen nicht erlaubt war, teilzunehmen an den Plänen der Mächtigen. Er wußte jetzt, was für eine Rolle er in der Partei spielen würde, falls die Sache gut für ihn ausging. »Sie haben völlig recht«, sagte Danton-Burg, »das ist genau mein Vorschlag.«
»Gut«, flüsterte jemand neben ihm. Der Vorsitzende sagte: »Dieses Vorgehen spart Zeit und Worte. Unser mißtrauischer Freund hier – Dendrit K – sollte etwas Unmögliches vorschlagen.« Der kleine Mann stand auf, ein klägliches Lächeln auf dem Gesicht. Er genoß die Wichtigkeit des Augenblicks und schüttelte dann den Kopf. »Kann ich nicht – alles, was mir einfällt, erscheint mir auch durchführbar. Soll er doch was vorschlagen. Das verschafft uns eine Vorstellung davon, was er für machbar hält.« »Dendrit B?« fragte der Vorsitzende. Danton-Burg nickte. »Das will ich gern tun. Aber nur unter einer Bedingung: Wenn ich mir die Aufgabe selbst aussuche, brauche ich die volle Unterstützung der Partei. Wenn ich ganz auf mich gestellt sein soll, dann müßt ihr die Aufgabe stellen.« »Abstimmen«, sagte der Vorsitzende. Die Wahlurne begann zu kreisen, und während sie durch die Bankreihen weitergereicht wurde, bewegten sich DantonBurgs Gedanken langsam und geradlinig auf einen Punkt zu, der ihn eine Handlungsmöglichkeit erkennen ließ; mehr noch als eine Handlungsmöglichkeit – ein Ergebnis und eine göttliche Erkenntnis. Was hatte Ouspenski unter dem Einfluß der Droge geschrieben? Denke in anderen Kategorien. DantonBurg erinnerte sich, daß es noch ein weiteres verborgenes Antriebsrad in der Maschinerie des Venuskrieges gab, ein Rad, das sich immer noch drehte, immer noch das blinde, gehorsame Triebwerk zu irgendeinem unvorstellbaren Ziel hinführte. Er wußte, daß dieses Ziel nie erreicht werden durfte, und daß die Maschine gestoppt werden mußte, ehe ihr unaufhaltsames Vordringen zu viele Menschen das Leben kostete. Mit einem merkwürdigen Anflug von Todesangst erkannte er, daß nur eines sie stoppen würde. Und schließlich erkannte er, so
unglaublich es auch sein mochte, daß er in dem Opfer dieser einzigartigen Aktion gleichzeitig das Antriebsrad selbst gefunden hatte. Der Tod irgendeiner anderen Person hätte nicht das gleiche Ergebnis. Denn das war seine Herangehensweise – nicht: »Wer ist der Anstifter?« sondern: »Gibt es einen Menschen, dessen Beseitigung den Krieg beenden wird?« Kein Wunder, daß geradliniges Denken so selten war; es war ein zweischneidiges Schwert. Danton-Burg hörte, wie der Vorsitzende sagte: »Eine ausreichende Mehrheit, Dendrit B. Du suchst dir die Aufgabe aus, und wir helfen bei der Durchführung.« In die angespannte, eisige Stille hinein sagte der Mann, der Dendrit B geworden war, mit deutlicher Stimme: »Die Ermordung von Joachim Burg.«
XVI
Der Volksmund auf der Venus behauptete, daß Kugelschreiber unter Wasser besser funktionieren – wahrscheinlich war das der Grund, warum so viele Venusier meistens einen schwarzen Schmierfleck auf der Zunge hatten. Jedenfalls hatte Hauptmann Small eine ganze Reihe solcher Leute bemerkt – er hatte auch bemerkt, daß fast jeder die Spitze seines Kugelschreibers leckte, bevor er damit schrieb. Small ging fröhlich pfeifend die nordwärts führende Fußgängerbahn entlang, wobei er sich wiederholt Notizen in ein kleines abgegriffenes Buch machte. Er benahm sich ausgesprochen venusianisch, was zur Folge hatte, daß er sich langsam an den Geschmack von Tinte gewöhnte. Das sanfte Leuchten im Tunnel wurde etwas heller, und der Boden stieg leicht an, als er sich der nächsten Höhlensiedlung näherte. Eine Einschienenbahn dröhnte heran, bremste und hielt. Von unten tönten gedämpfte Stimmen zu ihm herauf. Small steckte Notizbuch und Kugelschreiber weg, dann ging er die Treppe zum Bahnsteig hinab. Dort kaufte er eine Zeitung und begann, ernsthaft und mit gerunzelter Stirn darin zu blättern. Bruchstücke von Unterhaltungen der aussteigenden Passagiere erreichten ihn, aber es war nichts dabei, was ihm hätte nützlich sein können. Er spürte die allgemeine Atmosphäre von Unruhe und Verwirrung; Erstaunen darüber, daß die Regierung sich nicht zum weiteren Vorgehen bezüglich des Überfalls auf die Erde äußerte; Spekulationen über die möglichen Vergeltungsmaßnahmen der Erde; und Streitgespräche unter Biertischstrategen, ob der Schirm immer noch abgeschaltet sei.
Über allem lag das subtile, undefinierbare Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Soweit Small das beurteilen konnte, war das auf der ganzen Venus ähnlich – und das erfreute ihn, obwohl es nicht das war, was er zur Zeit suchte. Er erblickte einen dicken Mann, der wie ein Vertreter aussah, und näherte sich ihm, wobei er gutmütige Freundlichkeit ausstrahlte, aber weiterhin stirnrunzelnd in der Zeitung blätterte. Der Venusier stopfte seine eigene Zeitung mit einem angeekelten Lachen in seine Tasche. »Ich kann’s dir jetzt schon sagen, Kumpel«, sagte er. »Was du auch immer suchst, es steht nicht drin.« »Ich kann die weißen Flecken, die die Zensur hinterlassen hat, fast vor mir sehen«, stimmte Small zu. »Es scheint, daß man fast alles Wissenswerte neuerdings nur durch Mund-zuMund-Propaganda erfahren kann.« »So ist es«, unterstütze ihn der Venusier. »Man sollte meinen, sie würden uns vor dieser Epidemie warnen – aber nein, sie fürchten sich, irgendwas darüber abzudrucken.« »Eine Epidemie?« »Ja«, fuhr der dicke Mann fort. »Ein Typ, den ich kenne – der Vetter einer Freundin meiner Frau –, der hat gesagt, daß in Sektor 11 eine Art Seuche ausgebrochen ist. Man nimmt an, daß ein paar Saboteure – wahrscheinlich von der Erde – an die Wasserversorgung rangekommen sind, beziehungsweise die Luftfilter verseucht haben. Jedenfalls tun sie ihr Bestes, das geheimzuhalten.« Small spitzte die Lippen, als wolle er pfeifen. »Ich war gerade dort… und mußte wieder zurück. Ich hab’ mich schon gewundert, warum die Feuerschutztüren zu waren.« »Also haben sie sie zugemacht! Da bin ich erleichtert – ich hatte schon Angst, daß sie aus lauter Schiß, die Leute würden was spitzkriegen, das verdammte Zeug sich ausbreiten lassen.«
»Jetzt muß ich aber zurück ins Büro«, erklärte Small. »Danke für die Auskunft. Übrigens, rufen Sie mich ruhig an, wenn Sie mal erstklassige Porträtfotos brauchen. Hier, meine Karte.« »Ah ja, danke, alter Junge. Das werde ich tun«, sagte der Venusier. »Hier haben Sie meine – das beste Eingemachte auf dem ganzen eingemachten Planeten, ha ha!« Small schlenderte davon und holte wieder das kleine Notizbuch heraus. Das war für diese Siedlung ausreichend, entschied er. Es war gar nicht einfach gewesen, die Feuerschutztüren in Sektor 11 zu blockieren, aber das Ergebnis war die Mühe wert. Nur ein Bus hatte eine Verspätung hinnehmen müssen, ehe die Behörden Reparaturen durchführten und die Türen wieder öffneten. Aber die Moral hatte gelitten: In Sektor 12 hatte die Bevölkerung eine Epidemie erfunden, um die geschlossenen Türen er erklären. Small fragte sich, wie die Geschichte in Sektor 202 klingen würde. Na ja, er konnte genausogut hingehen und es selbst herausfinden, konnte unterwegs soviel Panik verbreiten wie möglich. Hauptmann Small schmunzelte und bestieg einen Bus in die Außenbezirke.
In der Nissenhütte auf der Oberfläche der Venus artikulierte der Schwermütige die generell innerhalb der Erdpartei verbreiteten Gefühle, indem er sagte: »Wenn da nicht die Peitsche wäre, die Sie, Marschall Lathrop, über uns halten, hätte ich Millionen Einwände, wie Sie sehr wohl wissen. All die Jahre haben wir unser möglichstes getan, die Partei klein zu halten; die Zahl unserer Mitglieder gering zu lassen und alles zu tun, was unsere Kräfte zu tun erlauben, und zwar dann, wenn es am wirksamsten ist. Großartige Pläne für die Zukunft haben uns nicht interessiert.«
Danton-Small machte eine ungeduldige Handbewegung. »Die Situation hat sich geändert. Es ist mir offensichtlich nicht gelungen, euch klarzumachen, daß ich jetzt der tatsächliche Anführer der Verschwörung bin, und daß diese Tatsache eure Macht um ein Vielfaches vermehrt. Ich brauche euch nicht mehr – meine Position hat sich gefestigt, und ihr könntet eigentlich wieder anfangen, uneffektiv zu arbeiten, wenn ich euch nicht daran hindern würde.« »Dann bleiben Sie«, bemerkte der andere, »uns aus reiner Nächstenliebe erhalten, Marschall?« »Hältst du mich für einen Narren? Ich bleibe euch erhalten, weil ich will, daß ihr, nur für den Notfall, aktionsfähig bleibt. Wenn Luisa zu Enfield überläuft – und dazu wäre sie fähig – oder möglicherweise wieder zu Thomas – auch dazu wäre sie fähig – oder wenn sie auf andere Weise einen Staatsstreich vorbereiten sollte, dann weiß sie, daß ich euch die Regierungsgeschäfte in Bausch und Bogen überlassen würde. Wie ihr wißt, habe ich mich gegen euch abgesichert. Und ihr seid meine Absicherung gegen sie, wenn ihr auch besser geführt werden müßt, um eine wirksame Bedrohung für sie darzustellen. Deshalb bin ich dagegen, daß ihr irgendwelche blödsinnigen Protestversammlungen einberuft oder etwas anderes, das dazu geeignet wäre, die Hälfte eurer Leute auf einen Schlag ins Gefängnis zu bringen. Ihr müßt nicht glauben, ich würde euch nicht ins Gefängnis bringen, wenn ihr mich dazu zwingt – wenn ihr offen die Gesetze brecht. Ich hätte persönlich nichts dagegen, wenn ihr alle im Gefängnis landet, aber ich glaube nicht, daß das der geeignete Ort für euch wäre, falls ich einmal eure gesamte Stärke brauchen sollte.« Der andere nickte. »Sie haben gewonnen, Marschall. Und ich halte es Ihnen zugute, daß Sie nie versucht haben, uns einzuseifen. Sie haben sich die ganze Zeit klug verhalten –
nicht nur die erste Zeit, wie wir gedacht hatten. Das wird sich bezahlt machen, wenn wir jemals an die Macht kommen.« »Das will ich hoffen«, stimmte Danton-Small zu. »Ihr wißt ja, daß ich immer noch diese Erinnerungsbänder habe.« »Schon gut«, sagte der Schwermütige. »Wir sagen die Demonstration ab. Aber nicht, weil wir der gleichen Meinung sind wie Sie. Und nun?« Danton-Small atmete tief ein. Er hatte einfach Glück gehabt: Jemand hatte beiläufig erwähnt, welche Drohung Lathrop über den Köpfen der Mitglieder der Erdpartei hielt. Sonst wäre er nie dahintergekommen. Alles übrige verdankte er Hauptmann Smalls Ansicht, daß Paul Danton ein Meisterverschwörer war und daß er das Kind seines Geistes mit einer hohen Dosis dieser Eigenschaft ausgestattet hatte. Das Bewußtsein, daß er gar nicht anders handeln konnte, überlegte Danton-Small, machte das Vergnügen nicht weniger groß. Selbst das Tragen der schweren Sauerstoffmaske gefiel ihm. Er zögert einen Moment und genoß die Situation, dann begab er sich in die Auseinandersetzung, mit der Begeisterung eines Mannes, der sich besonders gut amüsiert. »Hört gut zu«, sagte er, »und paßt auf, daß ihr mich richtig versteht; es ist nicht einfach, und es muß ohne Zwischenfälle klappen. Erstens will ich in jeder Siedlung einen eurer Männer postiert haben, außerdem müßt ihr die Leistungen, mit denen das Kommunikationsnetz angezapft wird, irgendwie in einem zentralen Schaltpult zusammenlegen – ist mir egal, wie ihr das zusammenbastelt, nur funktionieren muß es –, so daß ich mich jederzeit mit den Männern von einem leicht erreichbaren Ort aus in Verbindung setzen kann.« »Heiliger Chrushtchov, Marschall! Haben Sie die leiseste Ahnung, was Sie da eigentlich von uns verlangen?«
»Um es mit einem alten Sprichwort zu sagen«, antwortete Danton-Small zufrieden, »das war erst der Anfang.«
Hauptmann Small beendete das Verkaufsgespräch. »Sehen Sie, es sind sehr gute Bilder. Die für Sie ungünstigen Wellenlängen werden herausgefiltert – der Apparat produziert nur nette, handgemalt wirkende Wellenlängen. In etwa zwei Wochen können Sie die Bilder haben.« Ein gequälter Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Kunden. In den letzten paar Minuten hatte er zufrieden genickt. »Warum dauert es so lange?« fragte er. »Ich brauche sie sofort.« Small machte eine entschuldigende Handbewegung. »Sie wissen ja, wie es ist – Krieg und so weiter. Ein Teil unseres Rohmaterials kommt aus einer Fabrik im Sektor 4, und dort ist zur Zeit alles durcheinander – irgendein Bauprojekt ist dort im Gange, und die Regierung hat ein Vorrecht auf fast alles Material.« »Ach ja? Davon hab’ ich noch gar nichts gehört. Worum geht es denn?« Small zuckte die Achseln. »Keine Ahnung – Kriegsvorbereitungen, nehme ich an. Jedenfalls scheint niemand zu wissen, worum es sich eigentlich handelt. Sie sind dabei, riesige Stützpfeiler auf schweren hydraulischen Sockeln zur Decke zu führen, und der Sektor 6, der direkt darunterliegt, stützt wiederum seine Decke ab, um eine feste Unterlage für die Pfeiler zu schaffen.« Der Kunde blickte nervös zur Decke des kleinen Studios, das Small gemietet hatte. »Wissen Sie«, sagte er nachdenklich, »ich habe schon oft darüber nachgedacht. Diese Höhlen sind vor langer Zeit aus dem Fels geschnitten und verstrebt worden.
Wie ist das eigentlich: Wird Metall mit der Zeit nicht brüchig?« »Darüber weiß ich nichts«, antwortete Small seufzend. »Ich bin nur Verkäufer. Also, kommen Sie bald wieder.«
XVII
Armand Lathrop war stolz darauf, ein Realist zu sein. Er wußte, daß es eine Sache war, die höchste Machtposition zu erreichen – und eine ganz andere und schwierigere Aufgabe, sie so lange zu halten, bis sie gefestigt war. Es würde eine Zeit kommen, wo die Gefährlichkeit Luisas nicht mehr durch andere Überlegungen aufgewogen werden konnte. Eine Zeitlang würde sie gegen Thomas mit ihm zusammenarbeiten, vorausgesetzt, es bestand eine Chance, gemeinsam Thomas loszuwerden. Und danach? Wenn sich danach irgend jemand als stärker erweisen sollte – diese Gefahr, dachte Lathrop, konnte er jedenfalls kurzfristig beseitigen, indem er die vorwitzigen Kandidaten beseitigte. Enfield würde der erste sein. Es war dumm von Mann gewesen, Enfield zu unterschätzen; er, Lathrop, würde diesen Fehler nicht begehen. Die bloße Tatsache seiner Existenz machte Enfield zur Gefahr. Am besten wäre es, Enfield zu beseitigen, noch ehe die Affäre um Thomas beendet war, so daß Luisa danach keine Wahl blieb. Er lächelte grimmig bei dem Gedanken, daß die von ihm geplante Aktion dazu dienen sollte, ihn bei Luisa beliebt zu machen. Sie Aktion würde einfach und ohne größere Schnörkel sein; man würde in Enfield den Verräter erkennen, der am Scheitern des Angriffs auf die Erde schuld war. Die Erdpartei war zu seinem Henker ausersehen, und das notwendige Beweismaterial würde an den richtigen Stellen gefunden werden, wenn Enfields Tod untersucht wurde. Dafür würde er sorgen.
Und dann? Eine neue Variante von Tyrannei, die bestimmt noch keiner versucht hatte. Lathrop lächelte jetzt breit, während er sich seine Uniformjacke zuknöpfte. Er hatte eine komplette Untergrundbewegung zur Hand. Was gab es für eine bessere Methode, sich im stillen seiner Feinde zu entledigen, um dann die Drecksarbeit als Aktion der erklärten Feinde der Regierung erscheinen zu lassen? Die perfekte Geheimpolizei. Während er sich seine Offiziersmütze aufsetzte, klingelte Lathrop nach seiner Ordonnanz; er mußte sofort mit der Erdpartei Kontakt aufnehmen. Er wartete einen Augenblick, dann runzelte er die Stirn, als er nicht die erwarteten Schritte vor seiner Tür vernahm. Er bewegte sich schnell zur Tür, öffnete sie und rief: »Drayle!« Ein kleiner, untersetzter Mann in Zivilkleidung steckte seinen Kopf aus einer angrenzenden Tür. »Haben Sie gerufen?« »Natürlich habe ich gerufen«, bellte Lathrop. Seine Augen verengten sich ungläubig. »Warum sind Sie nicht in Uniform?« Die Ordonnanz begegnete seinem Blick mit einem Ausdruck verletzter Bestürzung. »Aber – aber ich war gerade dabei, zu gehen, Marschall.« Er griff in seine Brusttasche. »Hat es etwa ein Mißverständnis…?« Lathrops Ärger verschwand angesichts dieses Verhaltens. »Hat man Ihnen Urlaub gewährt, Drayle?« fragte er ruhig, und verdammte Luisa in Gedanken. Die Ordonnanz zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Lathrop streckte die Hand aus, griff danach, und erblickte seine eigene Handschrift: »Der Inhaber dieses Schreibens, Quentin Drayle, wird hiermit bis auf weiteres, bei vollem Sold im Rang eines Offiziersanwärters, vom Dienst befreit. (Unterschrift) A. Lathrop.« »Sie selbst haben mir das unmittelbar nach dem Unfall gegeben«, sagte Drayle. Lathrop blickte noch einmal auf das
Papier. Es war tatsächlich seine Handschrift – oder aber eine so gute Kopie, daß sie fast jeder Untersuchung standhalten würde. »Erzählen Sie mir von diesem Unfall, Drayle«, sagte er. Der Mann war jetzt völlig verwirrt, aber mit sanfter Geduld schaffte es Lathrop, ihm die Geschichte zu entlocken: Er war am frühen Morgen vom Marschall angesprochen worden, der ihm befohlen hatte, seinen Dienstwagen zu holen und ihn sofort zum Gebäude der Verschwörung zu bringen. Unterwegs waren sie von einem Taxi gerammt worden, und der Marschall hatte das Bewußtsein verloren. Er, Drayle, hatte den Marschall in seine eigenen Räume zurückgebracht; dort war er wieder zu sich gekommen und gesagt, es gehe ihm gut; er werde die Fahrt etwas später mit dem Bus fortsetzen. Der Marschall habe ihn gefragt, ob er einen Wunsch habe – woraufhin Drayle daran erinnert habe, daß sein Urlaub überfällig sei. Er habe gefragt, ob der Marschall ihn über das Wochenende entbehren könne. Der habe ihm daraufhin unbegrenzten Urlaub gewährt. Zu der Zeit sei auch das Schriftstück erstellt worden. Lathrop schüttelte leicht den Kopf: Er wußte, daß er den ganzen Tag gearbeitet hatte. Er war von einer halben Stunde zu Fuß in seine Räume zurückgekehrt. Irgend etwas war faul; soviel stand fest – aber die Bedeutung und das Ausmaß der Vorgänge waren ihm rätselhaft. Es war besser, wenn Drayle jetzt keinen Verdacht hegte. Er gab der Ordonnanz das Papier zurück. »Soll ich Ihren Arzt rufen?« fragte der Mann besorgt. Lathrop nickte. »Bitte tun Sie das. Es tut mir leid; Ihr Urlaub besteht weiter, wie ich es Ihnen ursprünglich mitgeteilt habe, weggetreten.« Er machte eine lässige Handbewegung, dann beobachtete er die Ordonnanz, wie sie zu einer Telefonzelle rannte.
Luisa? Höchstwahrscheinlich – es konnte gut sein, daß sie etwas vorhatte. Dann kam ihm ein anderer Gedanke, der ihn eilig auf die Straße trieb, wo er ein Taxi anhielt und einstieg… Ein Betrüger! Dann konnte es sein, daß nicht nur Luisa allein dahintersteckte – sondern Luisa und Thomas gemeinsam.
Im Bus benahm sich Hauptmann Small möglichst unauffällig. Er schrieb fleißig in sein kleines Buch, schwärzte in schneller Folge seine Zunge, und gab sich den Anschein eines Mannes, der mit der Addition von Summen auf Kriegsfuß steht. Auf der Sitzbank vor ihm unterhielten sich zwei wesentlich auffälligere Bürger in einem besorgten, heiseren Flüsterton. Kurz vor Ankunft des Busses an der Haltestelle sagte einer von ihnen das Wort »Einsturz« so laut, daß mehrere Leute außer Small es hören konnten. Small zog einen Strich unter die Zahlenkolonne in seinem Buch und lehnte sich zurück; diese Siedlung würde er auslassen. Die beiden Herren, die sich da unterhielten, würden seine Aufgabe besser wahrnehmen, als er selbst das konnte. Soweit es ihn betraf, war die Zahlenreihe damit komplett. Während die beiden Doppelgänger ihre verschiedenen Zielsetzungen verfolgten, hatte Small seit einiger Zeit das Leben eines venusischen Kaufmanns gelebt und überhaupt nichts unternommen – er war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Als Agent des Sicherheitsrats war er es gewohnt gewesen, im Bereich der Gegenspionage zu arbeiten. Es kostete ihn einige Zeit, die umgekehrte Position einzunehmen, denn das Geschäft der Gegenspionage beruht darauf, die Vorhandenen Informationen richtig zu verwenden. Er wußte, daß er in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht genug über die Venusregierung herausbekommen konnte, um so zu arbeiten.
Aber es war einfach, den Doppelgängern behilflich zu sein. Während sie damit beschäftigt waren, ihre Persönlichkeit soweit wie möglich zu entwickeln, konnte er – Small – in der Bevölkerung Unruhe stiften. Der gleiche Umstand, der auf der Erde die Arbeit des Hauptmanns so erschwert hatte, konnte hier auf der Venus die Aktionen der Doppelgänger erleichtern. Und auf der Venus war es einfach, Unruhe zu stiften. Es bereitete keine Probleme, den Auslöser für die Angst zu finden, die in einer unterirdischen Zivilisation verbreitet war. Ersticken! Ob durch Feuer, Krankheit oder Einsturz von Bauten – im Hintergrund würde immer die Platzangst stehen. Die Menschen der unbesiegbaren Venus litten an Atemnot. Also hatte sich Small wie ein Vertreter gekleidet und war aufgebrochen, um der Venus seine Hände im sanften Würgegriff um den Hals zu legen; und als er das Wort »Einsturz« hörte, wußte er, daß er sein möglichstes getan hatte.
XVIII
Danton-Nels sah das zögernde Lächeln in Luisas Gesicht und lachte innerlich. Einen Vorteil hatte es, auf einzigartige Weise ein Frauenheld zu sein: Er hatte festgestellt, daß er ein ganz eigentümlich einseitiges Verhältnis für die Launen der Frau besaß. Aber Luisa hatte etwas Maskulines an sich, das seine Intuition sowohl blockierte als auch anregte, und er wußte, daß er ihr bei Luisa nicht trauen durfte. Er mußte sie mehr wie einen Mann betrachten – außer bei jenen Anlässen, wenn sie ganz in weibliches Verhalten zurückfiel und er feststellte, daß er sie vollkommen verstand. »Der Erfolg hat dir ein besseres Aussehen verliehen, Armand«, sagte sie gerade. »Ich bin wirklich erstaunt. Ich hatte erwartet, daß du dich nach der Machtübernahme arrogant erweisen würdest; und eine Zeitlang schien das auch einzutreten. Aber dann hast du dich verändert, und jetzt bist du… na ja, etwas aufgetaut. Du hast immer noch Phasen, in denen du schrecklich edel aussiehst, aber es ist nicht mehr so wie vorher. Du läßt dich nicht mehr von deiner eigenen Propaganda einwickeln.« Sie trat näher an ihn heran und legte lässig ihre Arme um seinen Hals. »Ich hätte mir nie träumen lassen, daß du so ein wunderbarer Halunke sein könntest, Liebling. Wie du die Untergrundbewegung benutzt hast, war einfach atemberaubend.« Danton-Nels hatte eine Eingebung – die Gewißheit, daß diese Frau zum ersten Mal, seit er sie kennengelernt hatte, ihre wahren Gefühle aussprach.
»Bitte setz deinen edlen Blick in meiner Gegenwart nicht zu oft auf, Süßer. Ich habe dann immer das Gefühl, ich müßte dich treten. Spar ihn dir fürs Volk.« »Ich kann nichts dafür, wie ich aussehe«, antwortete DantonNels. »Und ich blicke im Moment auch nicht edel drein. Das ist nur ein gequälter Blick. Ich habe das Gefühl, ich müßte die Antwort kennen – genauer, daß ich sie tatsächlich kenne –, aber ich komme nicht darauf.« Er wußte, daß es in der Beziehung zwischen Lathrop und Luisa einen verborgenen Aspekt gab, den er noch nicht entdeckt hatte; er spürte es in ihrem Blick. Da war es wieder – etwas, das wie ein Schatten über ihr Gesicht huschte. In ihm wuchs die Erkenntnis, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Wenn er nicht bald das Rätsel löste – und zusätzlich zu den unerwarteten Dingen, die sie so bewunderte, was sie von ihm erwartete –, hatte er verloren. »Genau«, sagte sie befriedigt. »Bevor du an die Macht kamst, warst du so entschlossen, um dir darüber Sorgen zu machen, ob alles nach deinem Willen geschah. Du bist einfach losgegangen und hast deinen Willen durchgesetzt. Jetzt – jetzt machst du dir Sorgen.« Das war es also. Die Eigenschaft Lathrops, die diese Frau dazu gebracht hatte, ihn zu wählen, war diejenige, die DantonNels von allen Doppelgängern nicht besaß. Na ja… DantonTamara wäre jetzt auch nicht besser dran. Danton-Nels erkannte jetzt, daß er diese grundlegende Eigenschaft durch keine seiner Fähigkeiten völlig ersetzen konnte. Lathrop drängte ungeachtet aller Hindernisse voran. Manchmal handelte er langsam, manchmal schnell, aber nie bedachte er die Folgen. Danton-Nels erkannte, was Luisa von ihm erwartete, und er wußte, daß er nicht gewinnen konnte. Seine einzige Chance lag darin, sie bei Laune zu halten und eine Zeitlang sein Defizit zu überspielen. Das war es: Er mußte
Zeit gewinnen, bis er genauer wußte, was er tun konnte, und dann mußte er schnell den entscheidenden Schlag anbringen. Luisa betrachtet Lathrop als einen Panzer, dachte er; Marcia betrachtete Paul Danton als einen Degen. Kann man das irgendwie in Einklang bringen? Es handelte sich nicht nur um Stärke; die besaß Danton-Nels, und er wußte es. Es ging um die besondere Art von Stärke, die Luisa von ihrem Mann erwartete. Dann hatte er eine weitere Eingebung; ja, es gab eine Möglichkeit, ihr als Degen zu imponieren – eine Sache, die sie bei einer anderen Person nie verstehen würde, schon gar nicht bei einem Mann: Das Weibliche. Er lächelte und sagte langsam: »Du meinst also, ich sei nicht mehr hart genug?« Sie schüttelte den Kopf, aber er ließ sie nicht reden. Mit geblähten Nasenflügeln warf er sein Haar zurück. »Was weißt du schon von meinen Problemen? Was weißt du davon, wie man sich an der Macht hält?… Oh, ja, du kannst intrigieren und Kabalen anzetteln… all das, was man im geheimen Kämmerlein tun kann, wozu man nichts braucht als Glätte und Sex. Aber was bedeutet das schon, wenn man die Macht in Händen hält, wenn man kein ›Habe-nichts‹ mehr ist?« An ihrem Gesichtsausdruck konnte er sehen, daß er sie damit getroffen hatte. Schnell änderte er seine Herangehensweise, wob ein Gespinst bedeutungsloser Worte und ließ seine Stimme anschwellen, während er auf sie einredete. Schließlich brachte sie ihn zum Schweigen, indem sie ihre Lippen auf die seinen preßte. Er schob sie bestimmt von sich. »Du meinst, ein Kuß könne alles lösen, nicht wahr? Mama wird’s schon richten, wie?« Er stützte seine Faust in die Hüfte, wie Lathrop bei seinen öffentlichen Auftritten, und lachte; bedachte sie mit einigen ausgewählten Schimpfwörtern und lachte noch lauter. Dann
ergriff er ihre Schultern, noch ehe sie antworten konnte, und küßte sie mit all der rohen Kraft, die er aufbringen konnte. Als er sie losließ, zitterte sie. »Armand«, stammelte sie, »ich beschwere mich ja gar nicht; ich genieße es. Aber die Veränderung kommt nicht gerade gelegen. Weißt du, wie die Leute dich nennen?« Abrupt trat er aus seiner Rolle und nickte. »Ich habe das Gerede mitbekommen, wenn auch nur aus zweiter Hand. Man sagt, ich hätte uns an die Erde verkauft, gegen das Versprechen einer Art Vizekönigs würde. Ich habe das fast erwartet – es läßt sich nicht verbergen, daß ich den Angriff abgeblasen habe – . und kein Versprechen, ihn wieder aufzunehmen, wenn wir besser gerüstet sind, wird eine Kriegslust besänftigen können, die sich so lange angestaut hat.« Er ergriff seine Handschuhe, zog sie an, und lächelte. »Du kannst dir deinen Lebensunterhalt verdienen, Weib, indem du dir ein paar subtile Unterdrückungsmaßnahmen ausdenkst… Nicht, daß mir das schwerfiele«, er unterdrückte ein Gähnen, »aber ich habe andere Dinge zu erledigen. Und nun… komm her und zeig mir, wie sehr du mich vermissen wirst, während ich weg bin.« »Armand – warte!« Luisa ging durch den Raum zum Bildschirm. »Betrachte es dir zur Abwechslung einmal aus erster Hand«, sagte sie. »Dein Spionagesystem läßt nach.« Der Bildschirm wurde hell, und ein Brüllen erfüllte den Raum. Lathrops Taxi war ziemlich reibungslos bis zur Dritten Straße gekommen, aber dort hatte eine Menschenmenge es aufgehalten. Danton-Nels sah, wie er auf dem Rücksitz stand, in jeder Faust eine Pistole, ein Bild uniformierter Wut. Sein Mund war verzerrt und klappte wütend auf und zu, aber von seiner Stimme war nichts zu hören. »Wer ist das?« bellte Danton-Nels. Er schritt zum Gerät, zog einen Handschuh aus, und vergrößerte das Bild des Taxis, bis
es den ganzen Schirm füllte. Die Geräusche der Umgebung wurden automatisch ausgeblendet, als ihre Quelle nicht mehr im Bild zu sehen war. Einen Augenblick später brüllte Lathrops röhrende Stimme direkt in Danton-Nels’ Gesicht, vor einer aufbrandenden Geräuschkulisse. »Aus dem Weg, ihr Dummköpfe! Ihr macht alles nur noch schlimmer!« Der Kopf einer Frau erschien wie in einem Picassogemälde im Bildrand. »Betrüger!« »Aus dem Weg!« brüllte Lathrops Stimme. »Ich will nicht von der Waffe Gebrauch machen, aber wenn…« Mit einem Ruck schaltete Danton-Nels das Bild aus, und wählte das Militärhauptquartier an. Der Anruf würde natürlich lange Umwege im dezentralisierten Kommunikationsnetz der Venus machen müssen – ein Netz, wie von einer Spinne gewoben, die ihren Euklid nicht kannte; es würde eine Verzögerung geben. Ob sie lange genug dauern würde, um Lathrop das Durchkommen zu Thomas’ Büro zu ermöglichen, war eine andere Frage. Danton-Nels wirbelte zu Luisa herum. »Wer ist das?« »Woher soll ich das wissen?« konterte sie. »Er ist das, was du siehst – einer, den die Erdpartei zum Verräter gestempelt hat.« »Warum hat man ihn nicht aufgegriffen?« »Ich hatte keine Befehlsgewalt, das anzuordnen, und Thomas wußte nicht, wer von euch wer war. Ich hätte ihm natürlich sagen können, daß du der Betrüger bist, aber du bist so überzeugend, daß ich es lieber hätte, du wärst es nicht.« Ihre Stimme wurde sanft. »Ich habe noch nie einen Mann wie dich gekannt, Armand.« Danton-Nels sah entsprechend verblüfft aus. »Vergiß das«, sagte er. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wie die Erdpartei uns voneinander unterscheiden kann – sie haben mir bisher ganz ordentlich gehorcht, aber…«
Der Bildschirm summte. Ein durch und durch verängstigter Major starrte Danton-Nels schuldbewußt an. »Zu Befehl?« »Können Sie im Sektor 74 einen Hubschrauber starten lassen? Ist die Höhle groß genug?« »Jawohl, aber…« »In der Nähe der Dritten Straße wird ein Mann von einer Menschenmenge bedrängt. Schicken Sie eine Abteilung dorthin, um die Menge zu zerstreuen, und nehmen Sie den Mann mit – bringen Sie ihn her.« Der Major sah aus, als wolle er in Tränen ausbrechen. »Ich bitte um Verzeihung, Marschall, aber…« »Also, machen Sie schon«, sagte Danton-Nels ungeduldig. »Sie brauchen keine Angst zu haben.« »Es geht ein Gerücht um, daß Sie ein Betrüger sind«, erklärte der Offizier atemlos. »Ich dachte, das seien Sie, der dort im Sektor 74 – das heißt, ich kann keine Abteilung hinschicken, weil die Männer bei dem Gesindel sind. Die meisten Sicherheitsbeamten sind zusammen mit der Armee zur Erdpartei übergelaufen, und sie verteilen Waffen an die Bevölkerung. In die meisten Waffenlager, die eigentlich für General Manns Angriff auf die Erde gedacht waren, ist eingebrochen worden…« »Also gut, vergessen Sie die Abteilung«, unterbrach DantonNels. »Machen Sie den Hubschrauber fertig und schicken Sie ihn zu Direktor Thomas’ Flugfeld.« Luisa trat schnell einen Schritt vor und ergriff seinen Arm. »Armand, du wirst doch nicht…« Er schaltete das Gerät ab und schob sie beiseite. »… dort hinfliegen? Natürlich werde ich das. Verstehst du nicht, Liebling, daß ein Mann, der mir so ähnlich sieht wie ein Zwilling dem anderen, nichts anderes sein kann als ein Spion von der Erde?« Danton-Nels lächelte grimmig über ihren Gesichtausdruck. »Keine Widerstandsgruppe auf der Venus
hat eine Organisation, die imstande wäre, den Planeten nach Doppelgängern abzusuchen. Der Mann ist ein Vorschlaghammer, der unsere gesamte Regierungsstruktur zertrümmern kann. Sei der Erdpartei dankbar; keiner meiner schwachsinnigen Beamten hatte den Mut, ihn zu entlarven.« Er setzte sich in Richtung der Rampe in Bewegung; er wußte, daß jetzt das Finale beginnen mußte. Und er wußte nun auch, was der echte Lathrop gesagt und getan haben würde. Es paßte alles zusammen, und er beschloß, diesem Weg zu folgen. Am Fuß des Aufgangs hielt Danton-Nels inne und fügte hinzu: »Du solltest jetzt lieber keine ehrgeizigen Pläne schmieden, meine Süße. Ich kann fast sehen, wie sich die Räder in deinem hübschen Kopf drehen – aber bedenke eines: Ich weiß genau, was passiert ist, und ich bin etwas erstaunt, daß ich mehr darüber weiß als du.« Er ging.
XIX
Luisa stand mitten im Zimmer. Sie war allein mit ihrer Wut und gepeinigt von der Tatsache, daß Danton-Nels recht hatte. Es war eine Sache, einen Mann zu finden, der nicht wie alle anderen vor ihr kroch, aber es war eine ganz andere, feststellen zu müssen, daß er ihr in einer so entscheidenden Angelegenheit voraus war. Die Doppelgänger waren da. Das war alles, was sie wußte. Wie viele es waren, welche von ihnen gut genug waren, sogar sie zu täuschen, was ihre scheinbar sinnlosen Schachzüge zu bedeuten hatten – kein Venusier wußte etwas darüber. Sie hatte angenommen, die Nachricht würde Lathrop vom Stuhl hauen und ihn in die Abhängigkeit ihr gegenüber zurückwerfen. Einen Augenblick lang spürte sie einen Anflug von Bedauern. Hätte er nicht ein bißchen weniger unabhängig sein können? Der Augenblick ging vorüber, und sie wußte, was sie in Ermangelung einer anderen Informationsquelle zu tun hatte. Thomas würde etwas wissen; Thomas wußte immer alles. Das hieß… Thomas hatte andere Informationsquellen. Und es gab nur eine andere Quelle: die Erde. Luisa griff nach einer kurzen Jacke und warf sie sich über. Auf dem Weg nach draußen fiel ihr Blick auf die gerahmte Fotografie von Lathrop; mit geballten Fäusten blieb sie kurze Zeit davor stehen. Dann holte sie aus, ihr Arm schnellte vor, und das Bild knallte mit dem Gesicht nach unten auf den Schreibtisch. Das alte Glas von der Erde klirrte laut. Luisa eilte aus dem Zimmer und vergaß dabei völlig ihre graziöse
Haltung. Ihre Absätze knallten wie Pistolenschüsse auf der Wendeltreppe hinunter zum Gewölbe. Es gab noch andere auf der Venus, aber dies war das größte von allen. Es war »das Gewölbe«. Auf einem anderen Planeten wäre eine Höhle dieser Größenordnung fast bis zum Rand mit fossilem Rohöl gefüllt gewesen und der Rest der Höhlung mit unter Druck stehendem Gas. Auf der Venus war es nur ein leerer Raum, denn das einzige Leben hier kam von der Erde. Eine Atmosphäre, die Formaldehyd enthält, bringt keine eigenen Lebewesen hervor. Die Treppe führte durch ein Loch in der Decke des Gewölbes und wand sich an seinem Rand wie eine dünne Sprungfeder vierhundert Meter in die Tiefe. Auf dem Höhlenboden krochen bucklige Maschinen herum und formierten sich zu einem Heer von Schnecken. Über ihnen, auf einer winzigen, sich unsicher an den Felsen klammernden Plattform, saß etwas, das fast aussah wie ein Mensch: Thomas. Luisas Absätze klapperten über den Laufsteg, der vom ersten Treppenabsatz zur Plattform führte. Zunächst schien Thomas keine Notiz von ihr zu nehmen. Sie schwieg aufgebracht. Sie sah, daß rings um ihn herum tragbare Fernsehgeräte aufgestellt waren und daß er ungeschickt eine Landkarte auf seinen fetten Schenkeln ausgebreitet hatte. Als sie nahe genug herangekommen war, kam gerade ein Bericht über eines der Geräte. »Noch nichts zu sehen. Ich glaube, es war falscher Alarm.« »Überprüft das in jedem Fall. Wir werden nicht mehr sagen können: ›Das ist doch noch nie passiert‹, wenn es erst passiert ist.« Im gleichen Tonfall und ohne aufzublicken fuhr er fort: »Hallo, Luisa. Hast du dieses verdammte Gerücht von dem Höhleneinbruch auch gehört?« »Ja, ich hab davon gehört«, knirschte sie. »Und ich hab’ Verstand genug, es nicht zu beachten.«
»Ich auch, ich auch. Aber wenn wir uns nicht trotzdem darauf vorbereiten, werden wir die Bevölkerung am Hals haben; die Menschen sind verrückt vor Angst. Und sie wissen, daß die größte geologische Verwerfung der Venus bis an den Boden des Gewölbes reicht. Also habe ich massenhaft DuralithMannschaften hierherbestellt. Das erste kleine Beben, das seinen häßlichen Kopf erhebt, kriegt genug Zement in seine vulkanische Fresse gespritzt, um den ganzen Planeten abzustützen.« Sie hatte erwartet, ein Kichern zu hören, aber es kam keines. »Eigenartig, nicht wahr?« fuhr er fort. »Meine geheime Kammer – auf die du so neugierig warst – befindet sich genau dort, wo die meiste vulkanische Aktivität zu erwarten ist, wenn es auf dem Planeten jemals welche gegeben hat. Ich gebe ja zu, es ist heiß dort unten, aber…« Endlich fand Luisa ihre Sprache wieder. »Halt den Mund, Thomas. Ich hab’ deine kindischen Spötteleien satt. Höhleneinbrüche! Der Planet ist in seinen politischen Grundfesten erschüttert, und du hockst da, in der Pfütze deines eigenen Fetts und spielst mit Duralithmischungen! Ich hätte dich gefragt, ob du gemerkt hast, daß da oben an die fünfzig Doppelgänger von Lathrop rumlaufen – wenn ich nicht wüßte, daß sie alle von der Erde kommen, und daß du sie hergebracht hast.« Er betrachtete sie mit mildem Blick, aber etwas daran ließ ihr einen Schauer über den Rücken rieseln. »Das habe ich nicht. Und was die Erschütterungen angeht: Glaubst du wirklich, daß die mir etwas ausmachen?« »Du hast die Frechheit, es zu leugnen?« keuchte sie. »Selbstverständlich. Soweit ich informiert bin, steckt Lathrop selbst dahinter. Da gibt es alte Geschichten über eine Art Verdoppelungsprozeß – beziehungsweise eine Verdoppelungsmaschine. Vielleicht hat er beschlossen, sich zu
vervielfältigen und mehrere Stellungen gleichzeitig zu halten.« Wieder fühlte sie, wie sein Blick auf ihr ruhte, mild und irgendwie leblos. »Du merkst wohl gerade, daß du den Mann unterschätzt hast, Luisa.« Sprachlos starrte sie ihn an. »Thomas ist nicht allwissend«, dröhnte er und diktierte wieder einmal für seine geheime Chronik. »Das ist er nie gewesen, aber er hat diese Rolle gespielt, als alle anderen es von ihm zu erwarten schienen. Er machte sich lustig über das Recht und dachte sich Strafen aus, die nicht dem Verbrechen angemessen waren, sondern dem Verbrecher. Luisas Bestrafung war vorbereitet; sie hatte schon angefangen, zu sterben.« Luisa versuchte, ihren Schrecken zu verbergen. »Thomas!« flüsterte sie. Der Direktor schien zu erwachen. »Du mußt dir selbst eingestehen, daß du doch noch überlistet worden bist, meine Liebe – und diese Wunde ist tödlich. Zu stark war dein Wunsch nach Unsterblichkeit. Es macht sich nicht bezahlt, sich etwas zu wünschen. Die Welt dreht sich weiter, und es fällt ihr schwerer, sich an dich zu erinnern, als dich zu vergessen.« Mit dumpfer Stimme sagte sie: »Du hast mich überlistet, Thomas. Wenigstens hatte ich Vertrauen zu mir selbst.« »Wieder ein Fehler… und eine Lüge obendrein. Dein Selbstvertrauen beruhte auf nichts, denn du bist nichts. Du hast die Kontrolle verloren, Luisa, und vor dir liegen nur noch Fehler und falsche Berechnungen. Thomas weiß nicht, was dein letzter Fehler sein wird. Aber er wird dir bald unterlaufen. Lathrop hat so gedacht wie du… und jetzt sieh her.« Der Direktor schien sich nicht zu bewegen, aber der Bildschirm vor Luisa belebte sich, und wieder sah sie das Bild in der Dritten Straße weit über sich.
»Sieh genau hin, Luisa. Es ist eine Lektion in Begehrlichkeit – eine, die du hättest begreifen können, wenn ich sie dir früher gezeigt hätte.« »Du lügst, Thomas. Du…« »Mein ganzes Leben ist auf Lügen aufgebaut gewesen, Luisa, und eine der besten war die Legende von meiner Unsterblichkeit. Du wirst das Geheimnis nicht entdecken, weil es nie eines gegeben hat. Vielleicht sterbe ich sogar noch vor dir.« Thomas erhob sich schwerfällig und klammerte sich an das Geländer. Als er endlich stand, rief er nach den beiden Pflegern. Als sie kamen, begann er, watschelnd die Plattform zu verlassen. Luisa beobachtete ihn und fühlte sich plötzlich fast genauso schwer wie dieses Ding, das einmal ein Mensch gewesen war. Thomas hielt auf dem Laufsteg an und sagte: »Hast du eigentlich herausgefunden, was ich in der Geheimkammer mache? Nein? Nun, ich sage es dir nicht, aber ich will dir einen Tip geben, meine Liebe. Es handelt sich um etwas, das ich genausogut irgendwo anders tun könnte… Wenn du dich traust, dann komm doch hinunter und sieh es dir an, sobald das Lathrop-Drama vorbei ist. Ich lasse dir den Zugang offen.« Sie war wie gebannt, als sie, die Hände hinter sich am Geländer, dahockte und ihren schönen Körper über den Bildschirm beugte. In einer kleinen, sorgfältig ausgewählten Höhlung am Fuß des Gewölbes saß Hauptmann Small seelenruhig auf einem metallenen Faß, baumelte mit den Beinen und beobachtete das Vorrücken des Sekundenzeigers auf seiner Armbanduhr. Bei Null würde er das Faß rollen lassen.
In einer Blechhütte auf der Oberfläche der Venus degradierte Danton-Small sein zweites Ich zum Oberst und fing an, einem
unsichtbaren Zuhörer einen komplizierten Sachverhalt zu erklären.
In dem Büro, das Luisa vor kurzem verlassen hatte, hörte Enfield zu, wie einer ihn zum Direktor der Venus ernannte, den er seit zwanzig Jahren gehaßt hatte: einer, den er für Marschall Lathrop hielt.
Weit hinten, jenseits des Laufstegs, quälten sich Thomas und die beiden Pfleger die Wendeltreppe hinab zur Kammer unterhalb des Gewölbes.
In der Dritten Straße senkte sich der Hubschrauber langsam neben Lathrops Wagen, und die Menge schloß sich um ihn. Der Fahrer bemerkte eine Lücke und versuchte, sich schrittweise darauf zuzubewegen; wieder hielt ihn die Menge auf. Lathrop hob seine Pistolen.
Hauptmann Small ließ den Arm sinken und kletterte von dem Faß herunter, das sofort anfing, geräuschvoll die vom Tunnel wegführende Rampe hinunterzurollen. Die schwergewichtigen Kugellager in seinem Inneren taten ihr Bestes, um ebenfalls mitzurollen, und ein unheilvolles Rumpeln ertönte aus allen Ecken. Gleichzeitig fing Enfield an, von ganz oben die Wendeltreppe herabzusteigen, und Thomas und seine Pfleger erreichten den Fuß der Treppe und verschwanden in der Tiefe. Danton-Small beendete seine Erklärung und sagte: »Jetzt!«
Danton-Nels fiel kopfüber aus dem Hubschrauber. Er spürte den Kugelhagel nicht, der ihn durchsiebte, und die Menge brandete wütend über Lathrop zusammen.
Und im Gewölbe fing der »Höhleneinbruch« an. Zunächst hörte Luisa nichts davon. Sie sah zu, wie Danton-Nels starb, und erkannte, daß sie ihn beinahe geliebt hatte. Es berührte sie nicht, daß Lathrop gelyncht wurde. Jetzt kannte sie wenigstens einen Teil des Betruges, der im Gange gewesen war. Der Lathrop, der jetzt an einem Gerüst baumelte – in dessen Orden sich das Licht spiegelte, obwohl seine Uniform schmutzig und voller Blut war –, das war der Mann, dem sie zur Macht verholfen hatte. Sie würde nie erfahren, wer der Fremde gewesen war. Dann ertönte ein unüberhörbares Geräusch, ein fernes Rumpeln, das sich zunächst zu einem Dröhnen verstärkte, dann zu einem Donnern. Der Stahlboden der Plattform vibrierte im gleichen Takt mit ihm. Gleichzeitig erhellten sich alle Bildschirme. Voller Verzweiflung blickte Luisa in die verzweifelten Gesichter, die sie anstarren. Sie griff nach der Karte – umsonst. Die Stellen auf dem Boden des Gewölbes, die sofortiges Eingreifen erforderten, waren auf ihr eingezeichnet, aber Luisa stellte fest, daß sie die Karte nicht lesen konnte. Das Geräusch verstärkte sich, und die Plattform schien kurz davor, aus ihrer Verankerung in der Wand zu brechen. Sie wußte, daß sie jetzt etwas unternehmen mußte – egal, wie sinnlos es war. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle, und hatte ihre eisige Kälte wiedergefunden. In diesem Augenblick lächelte sie ihr süßestes Lächeln.
»Am Fuß der Treppe ist eine Öffnung«, rief sie aus und übertönte den Lärm mit klarer Stimme, ohne einen Hauch von Hysterie. »Ist jemand in dem Gebiet?« Einer der Männer auf dem Bildschirm brüllte zurück: »Das ist mein Gebiet – Nummer 6835-F.« »Schüttet sie zu!« »Den Treppenschacht?« »Ja.« Unten auf dem Boden bewegten die Schnecken sich auf die Stelle zu. Aus ihren Schnauzen spuckten die Ströme von Duralith hinter Thomas her. Fast sofort schien der Lärm nachzulassen. Die Gesichter auf den Bildschirmen horchten angestrengt und entspannten sich dann, eins nach dem anderen. Die Schnecken entfernten sich von dem zugeschütteten Schacht. Eine von ihnen zerquetschte versehentlich ein metallenes Faß, das aus einem Seitentunnel gerollt war, und kugelähnliche Gegenstände wurden wie Murmeln auf dem Boden des Gewölbes verstreut. Das Rumpeln erstarb. Thomas hatte den Tod nicht gefunden – aber dafür sein ewiges Grab. Luisas horchte in die schreckliche Stille. Dann erklangen die Schritte von Enfields Eskorte wie Sturmglocken auf dem Laufsteg. Mit einem letzten verächtlichen Blick in Thomas’ Richtung bereitete sie sich auf sein Kommen vor. Gleich würde sie voller Überzeugungskraft sagen: »Dem Himmel sei Dank, daß du gekommen bist!« Sie sah Enfield an und konnte keinen Triumph in seinem Gesicht entdecken, kein Fallen des Schleiers der Traurigkeit, der ihn bedeckte. Da erkannte Luisa einen Teil dessen, was Thomas gemeint hatte. Enfield war ein Mann ohne Begehrlichkeit, der einzige, der sich nie nach der Macht gesehnt hatte. Er würde die Macht annehmen als eine weitere
notwendige Bürde, die er auf sich nehmen würde, so gut er konnte. Sie würde ihm nichts bedeuten als Pflicht und Verantwortung und höchstens gelegentlich einen Augenblick, in dem er zufrieden sein konnte über eine gut gelöste Aufgabe; aber kein Vergnügen. Sie fing an, auf ihn zuzugehen. Enfield sah sie nicht an. Er hatte immer noch Danton-Smalls Stimme im Ohr, wie sie zu ihm sagte: »Du bist der letzte, und in den Augen der Erde bist du der Vizekönig der Venus.« Schließlich blieb er stehen und schien zum ersten Mal zu bemerken, wer vor ihm stand. Sie wollte schon anfangen zu sprechen, aber Enfield hob die Hand und deutete, mit einem Seitenblick zu dem Gardisten neben sich, auf sie. »Tötet diese Frau!«
XX
Joachim Burg war kein Mensch, der leicht vor etwas zurückschreckte, nicht einmal vor seinen eigenen Gedanken. Er sah den toten Wächter an, dann Danton-Burg, und sagte ruhig: »Ich habe dich erwartet.« Danton-Burg zuckte die Achseln. »Das kann ich mir vorstellen. Bis jetzt waren Sie uns wohl immer einen Schritt voraus.« Der Antarktiker lächelte. »Nein; ich behaupte, wir sind gleichauf. Ich habe mich nicht auf dein Kommen vorbereitet. Du kannst mich hier und jetzt umbringen – und wirst sogar damit durchkommen. Ich habe den Befehl gegeben, dich unter allen Umständen passieren zu lassen.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich leicht. »Trotzdem tut es mir leid, daß du meinen Feldwebel umgebracht hast. Seine einzige Schuld war seine Unwissenheit.« Danton-Burg fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Er überlegte einen Augenblick, ob er den Antartiker auf der Stelle niederschießen sollte. Nur die zwingende Notwendigkeit, etwas in Erfahrung zu bringen, hielt ihn davon ab. »Leid!« sagte er heiser. »Der Tod eines Mannes tut Ihnen leid – der Sie für so viele Tote verantwortlich sind?« »Ja«, antwortete Burg und senkte den Kopf. »Ich trage die Verantwortung für viele Tote, und ich bedaure jeden einzelnen so, wie ich diesen bedaure. Es wird mir auch leid tun, wenn ich sterbe, und ganz besonders dann, wenn es durch deine Hand geschieht: In mancher Hinsicht bist du wie ein Sohn für mich. Aber es war notwendig, Paul Danton-Burg; glaube mir: jeder Schritt war notwendig. Es war ungeheuerlich, verbrecherisch,
aber welche Bezeichnung dir auch dafür einfällt – es mußte getan werden. Jetzt, da es vollbracht ist, ist mein eigener Tod unwichtig, außer für mich selbst. Und wenn jetzt meine Zeit gekommen ist, dann bin ich bereit.« »Sie versuchen schon wieder, mich hereinzulegen«, behauptete der Doppelgänger. »Sie können mich nicht davon abbringen. Ihre Hände sind mit Blut befleckt wie die der Tyrannen – die ihr eigentlich für alle Zeiten hättet überflüssig machen sollen. Sie haben den Krieg verursacht – und das letzte bißchen Sinn dahinter gab es schon nicht mehr, als Sie an die Macht kamen.« Es folgte ein kurzes Schweigen. Burg machte sich nicht einmal die Mühe, zu nicken. »Wollen Sie mir nicht sagen, warum?« Danton-Burg bemerkte, daß seine Stimme sich zu überschlagen drohte, als er fortfuhr: »Ich kann nicht versprechen, daß ich Sie am Leben lasse – das steht nicht zur Debatte. Aber wollen Sie nicht trotzdem einiges erklären? Hat es denn einen Grund gegeben? Oder – sind Sie…« »Verrückt?« beendete der Antarktiker milde den Satz. »Ich glaube nicht… Erinnerst du dich an unser Gespräch in der Nacht vor dem Verdoppelungsprozeß?« »Ja«, antwortete Danton-Burg, dann hielt er inne. »Ich – nein, das war nicht…« »Doch, das warst du«, sagte Burg ruhig. »Ich habe damals zu dir gesagt, daß ich den Sicherheitsrat für überflüssig halte. Wie jedermann, der sich nach Frieden sehnt, bejahe ich die Anarchie. Wir hatten angenommen, daß er nach dem Erlaß der Friedensgesetze eintreten würde; aber das war nicht der Fall. Es gab nur eine Illusion des Friedens, Paul, eine gefährliche, unsichere Angelegenheit. Erinnere dich… der Sicherheitsrat hatte die Welt so eingeschüchtert, daß sie sich unterwarf. Und
solange der Sicherheitsrat seinen militärischen Apparat aufrechterhielt, verharrten die Staaten in der Einschüchterung, und es gab keinen Krieg. Würde aber nach ein paar Jahrhunderten dieses Friedens der Rat seinen Zugriff lockern, auf seine Macht verzichten?« »Das hat er nicht getan«, gab Danton-Burg zu. »Dies ist ein besonderer Fall, aber die Antwort ist immer noch nein. Der Rat konnte auf keinen Fall die Kontrolle aufgeben. Sie war absolut, und sie wurde weder überprüft noch widerrufen. Die Pro-Erde-Partei hatte von Anfang an recht, als sie vorhersagte, daß der weltweite Sicherheitsrat Tyrannei bedeuten würde – genau wie jede andere Gruppierung mit unbeschränkter Macht – wegen der Angst vor dem Krieg. Immer würde es den Schatten, ja die Bedrohung geben – die Angst, daß in dem Moment, da der Sicherheitsrat seinen Regierungsapparat reduzieren würde, irgendeine nationalistische Bewegung einen neuen Konflikt heraufbeschwören würde. Man hatte die Wahl: Eine Art autoritäre Weltregierung, oder Weltkriege, einen nach dem anderen, solange sie noch möglich waren. Die Völker der Erde entschieden sich für die Diktatur – wohlmeinend, aber dennoch eine Tyrannei, die das Leben jedes Bürgers zu jeder Zeit kontrollierte.« Der Antarktiker machte eine Pause, und Danton-Burg sah, wie der Gesichtsausdruck des anderen sich veränderte, als er, scheinbar in Gedanken verloren, dastand; Burgs Gesicht zeigte jetzt eine eigenartige heitere Gelassenheit. »Deshalb«, sagte er, »haben wir unseren Pakt geschlossen, Thomas und ich…« »Thomas! Thomas von der Venus?« »Ja, der«, versicherte Burg. »Wir waren Männer mit ganz ähnlichen Schwierigkeiten. Thomas war dabeigewesen, eine Art Schutzschirm gegen Atomwaffen zu entwickeln. Er hat es nicht geschafft; nie hat er es geschafft; aber er hat etwas
Schlimmeres gefunden: Eine bestimmte Art Krebs, der unsterblich machte, wenn man bereit war, den Preis dafür zu bezahlen… Ich dagegen war der Sohn eines der Männer, die die Polkappe bombardiert haben.« »Sie sind einer der Immunen?« Burg reckte sich und nickte. »Ja; langlebig, wenn auch nicht unsterblich wie Thomas. Und, wie alle Immunen, mußte ich dafür bezahlen… Ich schätze, Thomas ist inzwischen ein Berg von einem Mann – zu groß, um sich aus eigener Kraft zu bewegen, oder fast zu groß. Ich habe ihn nicht danach gefragt, und er hat es mir nicht gesagt; aber er hat mir gesagt, daß seine Zeit gekommen sei. Thomas’ Körper, oder was daraus geworden ist, wird ewig leben – nicht aber seine Empfindungen. Bei unserem letzen Gespräch sagte er, er habe Schwierigkeiten beim Sprechen, und daß er als erstes die Sprache verlieren würde. Was mich betrifft – nun, du kennst das Kreuz, das die Mutanten zu tragen haben, auch wenn sie nicht wie Mutanten aussehen. Ich bin unter anderem unfruchtbar…« Burg neigte den Kopf und schnurrte ein wenig, so wie er es während der Fernsehübertragungen, der Ratssitzungen getan hatte, aber Danton-Burg spürte, daß etwas daran anders war als sonst. »Wie ich schon sagte, haben wir einen Pakt geschlossen«, fuhr der Antarktiker fort. »Thomas würde sich den Berufspatrioten und entlassenen Bürokraten anschließen, die zur Venus fliehen wollten, und würde ihnen das Trojanische Pferd des Thomasschirms zum Geschenk machen.« Danton-Burgs Augen verengten sich zu Schlitzen. »Moment mal«, sagte er kritisch. »Gerede haben Sie gesagt, er habe ihn nicht entdeckt.« »Richtig, und ich wiederhole: Er hat es nicht geschafft. Alles, was wir auf die Venus abgefeuert haben, war von vornherein
so eingestellt, daß es in sicherer Entfernung explodierte. Thomas hat für die Venus ähnliche Vorkehrungen, getroffen. Es hat nie einen Schutzschirm um die Venus gegeben!« Er hielt nachdenklich inne. »Jetzt weißt du, warum die Arbeitsgruppe Schirm solche Schwierigkeiten hatte.« Danton-Burg schüttelte den Kopf. »Sie haben den Krieg verursacht«, wiederholte er verbissen. »Was scheren mich die Umstände? Sie und Thomas, Sie haben die Welt bezahlen lassen für Ihre Unsterblichkeit… Ich kenne die Schwierigkeiten der Immunen. Eine von ihnen ist die Art, wie sie sterben, wenn sie überhaupt sterben – und Sie haben diesen Tod verdient!« Er suchte nach Zeichen von Angst im Gesicht des anderen, aber Joachim Burgs Miene veränderte sich nicht. »Natürlich«, flüsterte er. »Ich habe mir alle Mühe gegeben, um sicherzugehen, daß du davon weißt:. Jetzt macht es mir nichts mehr aus, weil meine Aufgabe gelöst ist. Der Krieg ist vorbei, und er ist geführt worden, wie so ein Krieg geführt werden konnte, ohne die Menschheit in die Barbarei zurückzuwerfen: Ohne Atomwaffen.« Burg lachte milde über den erschütterten Ausdruck im Gesicht des Doppelgängers. »Es sieht so aus, als fingest du an, zu verstehen. Nun… was haben wir zustande gebracht, Thomas und ich? Erstens: Wir haben alle Reste von Nationalismus auf den Haß gegen die Venus abgeleitet. Zweitens: Wir haben einer Generation erlaubt, aufzuwachsen ohne Nationalhaß. Drittens: Wir haben ein weltweites Regierungssystem entwickelt, das, abgesehen von seinen militärischen Zielen, bereits vollständig dezentralisiert ist – und die militärischen Ziele haben überhaupt nichts mit der Erde zu tun.
Viertens: Wir haben diese militärischen Vorhaben mit einem Minimum an Blutvergießen beendet; ohne Unterwerfung auf irgendeiner Seite und ohne Begleitumstände wie Leid und Enttäuschung und ohne Brutstätten für neue Kriege – und ohne, daß wirklich etwas passiert wäre!« Danton-Burg stellte fest, daß er wie gebannt zugehört hatte. Aber eine vage Erinnerung störte ihn – etwas, das Burg Paul Danton gesagt hatte… Ach ja – . das war es. Er sah den Antarktiker traurig an und sagte: »Und das soll der letzte Krieg gewesen sein, Mr. Burg? Aber Sie haben doch meinem Original gesagt, daß die Aussage ›dieser Krieg ist der letzte‹ wieder und wieder herhalten mußte – jedesmal, wenn irgendein Schurke oder Idealist oder eine Kombination von beidem den Krieg rechtfertigen wollte, den er gerade anzettelte.« Burg nickte. »So etwas habe ich auch nicht gesagt«, sagte er sanft. »Kennst du dich aus in der Geschichte, Paul? Ein Krieg nach dem anderen, und jeder hat den Samen gelegt für den nächsten. Wann immer es einer unterlegenen Nation erlaubt war, weiterzuleben, hat der Nationalstolz nach Rache für das erlittene Unrecht verlangt. Und daß die Gebietsverluste und wirtschaftlichen Einbußen wieder wettgemacht werden sollten und so weiter. Wenn ich glauben würde, dies sei der letzte Krieg – auch wenn ich hoffe, er war es wirklich –, und wenn ich danach gehandelt hätte, dann wäre ich verrückt. Was Thomas und ich getan haben? Wir haben die Kettenreaktionen des Krieges durchbrochen. Die Bevölkerung dieses Planeten hat sich jahrhundertelang nach Frieden gesehnt; heute wollen die Menschen von der Erde und von der Venus nur Frieden. Aber das ist der Unterschied, den wir erreicht haben: Es gibt keine Totenhand vergangener Kriege, die die Menschen vom Frieden fernhält –
es gibt keinen Boden, auf den ein Kriegsherr den Samen für einen neuen Konflikt auf der Grundlage nationalen Stolzes streuen kann… Ich vermute, du hast keine Ahnung, was der Name ›Enfield‹ bedeutet – aber ein Mann mit diesem Namen ist jetzt Direktor der Venus. Enfield hat zwanzig Jahre lang um Frieden mit der Erde gekämpft – und deine Brüder haben ihm dazu verholfen. Die Erde hat eine neue Kolonie – wenn auch nicht im altmodischen, imperialistischen Sinn –, eine Kolonie auf einem Planeten, den sie nie erreicht hätte, wenn sie von internationalen Kriegen erschüttert wäre. Der Konflikt, den Thomas und ich geschaffen haben, ist vorbei, ohne daß es zum Einsatz von Atomwaffen gekommen wäre… Und die Herrschaft des Sicherheitsrats – jedenfalls als absolute Machtstruktur – ist zu Ende. Er wird zu einer unbedeutenden Organisation werden, nun, da das Problem, das wir ihm aufgegeben haben, gelöst ist.« Burg stand auf und kam dem Kind seines Geistes sehr groß vor. »Wir haben es vollbracht, Thomas und ich. Wir haben der Welt – zwei Welten – den Frieden geschenkt. Thomas hat mir vor langer Zeit gesagt, daß er den Krebs der Unsterblichkeit auf sich genommen hat um des Spiels willen. Ich habe meine Rolle aus Stolz gespielt und habe Grund, stolz zu sein. Wir haben gelebt, um die Angst selbst zu beseitigen, und es ist uns gelungen.« Er griff nach seinem Hemd und riß es auf. »Du weißt, wie man einen Immunen tötet, Paul Danton-Burg«, sagte der Antarktiker. »Ich habe nur eine Bitte: Mach es mit den Händen. Leg die Waffe weg – sie ist überflüssig.« Danton-Burg wischte sich mit der freien Hand die Stirn… dann warf er Burg die Waffe vor die Füße. Eine Weile bewegte er sich nicht, dann schüttelte der den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Nein. Die kleinen Rädchen drehen sich nach Treu und Glauben – das habe ich schon lange gewußt, jedenfalls hat mein Original es gewußt. Jetzt sehe ich aber, daß das große Rad sich durch die Gnade Gottes bewegt wie in dem Lied… Ich – ich gehe, Mr. Burg.« Er wollte sich schon abwenden, als er die Stimme des anderen hörte. »Warte! Du – du willst zurück zur Pro-ErdePartei? Sie werden dich umbringen, Paul.« Danton-Burg nickte, und sein Hals war trocken. »Ich weiß«, flüsterte er. »Sie werden mich umbringen.« Er dachte einen Augenblick nach. »Nicht sofort, aber ich werde in Ungnade fallen und ausgeschlossen werden. Dann, wenig später, werde ich einen tödlichen Unfall haben… Aber das macht jetzt nichts mehr. Ich bin ohnehin ein überflüssiger Mensch… Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun? Ich kann Sie jetzt nicht mehr töten; und auf andere Weise kann ich nicht überleben.« Ein breites Lächeln erschien auf dem Gesicht des Antarktikers. »Paul, Paul, was ist aus dem Vertrauen des kleinen Rädchens geworden? Weißt du denn nicht, daß ich noch ein paar Asse im Ärmel habe?« Er faßte Danton-Burg bei der Schulter. »Du bist mein Sohn. Ich kenne deine Eigenschaften, denn ich habe sie geschaffen. Die Erde braucht dich; der Sicherheitsrat hat Verwendung für dich; und ich… ich will dich, Paul. Ich erlaube nicht, daß du dich opferst.« »Aber…« »Kein Aber. Wir haben immer noch die Duplikationsmaschine; das ist mein Trumpf. Wir werden sie benutzen, um ein Duplikat des Duplikats herzustellen, mit Tamara als Operator. Ich weiß sehr wohl, was Tamara über Revolutionäre denkt, die an den ihnen gestellten Aufgaben scheitern… der neue Doppelgänger wird ihre Ansichten teilen. Er wird bereitwillig zur Pro-Erde-Partei zurückkehren und sich verurteilen, degradieren und schließlich hinrichten lassen –
noch ehe er mehr ist als ein von uns geschaffener Roboter –, noch ehe er zu einer eigenen Persönlichkeit wird… Bist du damit einverstanden?« Danton Burg konnte nicht antworten. »Also gut«, sagte Burg. »Damit können wir gemeinsam das neue Zeitalter erleben, das Zeitalter des Friedens. Wir haben noch keinen endgültigen Frieden erreicht; wir haben ihn nur möglich gemacht. Er muß genauso energisch verteidigt werden wie jede im Krieg gemachte Eroberung – aber je länger er erhalten wird, desto eher wird das Gesetz der Trägheit für uns arbeiten statt gegen uns.« Er nickte. »Ich stelle nur eine Bedingung.« »Wenn es wirklich etwas gibt, was ich tun kann«, sagte Danton-Burg, »dann tue ich es auch.« »Änderst du deinen Namen in Burg«, fragte der Antarktiker leise. Der Doppelgänger atmete tief ein, als er spürte, wie ein zunehmendes Gefühl des Stolzes durch seine Adern floß, wie Schmelzwasser im Frühling. Er war jetzt nicht mehr nur ein Doppelgänger; Zelle um Zelle wurde er zu einem menschlichen Wesen. Er schluckte und blickte auf. Der Antarktiker wartete mit geneigtem Kopf, sein Gesicht war ruhig, seine Augen glühten voll der überwältigenden Menschenliebe, die er so lange, so geschickt und für ein so großes Ziel verborgen hatte. »Ja«, sagte der Jüngere. »Ja… Vater.«
EPILOG
Auszug aus einem Brief an Burg: »… Nein, nein, mein Lieber, ich will keine Widerrede mehr von dir hören. Ich werde mich zurückziehen, und du wirst meinem Platz einnehmen. Tu nicht so, als ob es dir keinen Spaß machen wird. Marcia Nels wird von jetzt an nicht mehr sein als Mrs. Paul Danton. Wir möchten es beide nicht anders haben… Dein neuer Sohn scheint die Johannesburg-Affäre mit außerordentlichem Geschick gemeistert zu haben. Ich freue mich so für dich, Joachim! Auch habe ich heute von DantonSmall gehört, und was er sagt, klingt immer noch beruhigend (ich habe ihm gesagt, er soll sich in Zukunft mit dir in Verbindung setzen!). Er glaubt, er kann es schaffen, daß die Erdpartei weiterhin mit Enfield zufrieden ist. Er hat sie als eine Art Geheimpolizei eingesetzt und ihnen unglaublich komplizierte Aufgaben übertragen. Was den guten Hauptmann angeht: Agent Small ist verschwunden, obwohl ich glaube, daß sein geistiger Sohn weiß, wo er zu finden ist. Offensichtlich hat sich Hauptmann Small in das Leben eines Venusiers gefunden. Mein Rat wäre, ihn gewähren zu lassen, denn er war von Natur aus kein politischer Mensch, sondern nur ein Mann, der gewillt war, die ihm übertragene Aufgabe gut zu erfüllen. Er hat seine Ruhe verdient. Hier hält die Pro-Erd-Partei auch weiterhin ein wachsames Auge auf die Aktivitäten des Sicherheitsrates – ich sage dir das zu deiner Orientierung, Joachim –, und sie werden auch dich beobachten. Sie haben immer noch Angst um die Venus, und alles, was der Sicherheitsrat zum Zwecke der Rezentralisierung
unternimmt, wird von ihrer Führung als Kriegserklärung betrachtet werden. Du kannst dich darauf verlassen, daß sie sich dir gegenüber hilfreich verhalten werden, falls es in der Zukunft ein Wiederaufleben autoritärer Regierungsformen geben sollte (Paul fügt hinzu, daß sie keine Tyrannei außer ihrer eigenen dulden werden). Ich stimme zu, daß unsere Scheinregierung wahrscheinlich nichts so Dummes unternehmen wird, solange sie solche Aufpasser am Hals hat. Also kannst du dir zu einem totalen Sieg über mich gratulieren. Ohne deine handfeste Demonstration hätte ich das nie für möglich gehalten. Weißt du, daß darüber geredet wurde, mir ein Denkmal zu setzen – Marcia Nels, Heldin des Venuskrieges? Zu meiner vollen Zufriedenheit ist das Vorhaben an der Last seiner eigenen Bedeutung gestorben. Wer kann sagen, wo das wahre Heldentum liegt? Ich würde es dir zusprechen, aber du verweigerst es ja entschieden. Hat es wirklich einen Helden gegeben, Joachim? Ich habe die. Tatsachen untersucht, aber ich muß gestehen, daß ich keinen finden kann – oder zu viele. Gott segne dich, mein Lieber. – Marcia.«
Postkarte von Burg an Marcia Nels-Danton: »Es gibt tatsächlich einen wahren Helden. Sein Name ist Mensch.«