Das neue Abenteuer 219
Sergei Dikowski
Der Kommandant der Vogelinsel
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute...
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Das neue Abenteuer 219
Sergei Dikowski
Der Kommandant der Vogelinsel
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1964
Lizenz Nr. 303 (305/97/64)
ES 9 A
Umschlag und Illustrationen: Gerhard Gossmann
Typografie: Walter Leipold
Schrift: 8 p Primus
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland,
Berlin N 54 . 5074
Wir waren damals, es mag so Anfang der dreißiger Jahre gewesen sein, hinter einem selten hartnäckigen Schoner her. Bevor die "KobeMaru" den Motor abstellte und die Fender heraushängte, versuchte sie, uns ein bißchen an der Nase herumzuführen, und verbarg sich im Schutz eines Felsens. Als dieser Trick mißlang, begann sie, in der Bucht hin und her zu jagen wie ein Fisch an der Angel . Sie veranstaltete eine alberne Jagd um zwei kleine Inseln herum, versuchte, die "Smely" auf Klippen auflaufen zu lassen, sie mit dem Vordersteven oder dem Heck zu ram men - mit einem Wort: Sie wiederholte alle jene kleinen Niederträchtigkeiten, ohne die diese Herrschaften niemals auskommen. Koloskow suchte die "Smely" vor Zusammenstößen zu schützen und hielt unseren Kutter lange Zeit auf Parallel kurs. Wir waren naß und wütend und wünschten dem Schoner von ganzem Herzen, daß er auf Klippen auflaufen möge. Der Bootsmann Gutorow, der schon eine halbe Stunde mit dem Bootshaken auf der Back gestanden hatte, sprach diesen durchaus begreiflichen Wunsch laut aus und erhielt unverzüglich einen Verweis vom Kommandanten. "Und das Verhör werden dann die Epronowzen vorneh men, wie?" fragte Koloskow brummig. "Verdammter Mist! Die Katze weiß, wo sie genascht hat." Er war so hingerissen von der Verfolgungsjagd, daß er nicht einmal versuchte, sich das vollgespritzte, von Kälte und Wind gerötete Gesicht abzuwischen. Er stand auf der Kommandobrücke, kniff die Augen zusammen, schnaufte und konnte die Augen nicht losreißen von dem niedrigen Heck, von dem wie Krabben zwei große Hieroglyphen abstachen. Schließlich gelang es ihm, ganz dicht an den Japaner
heranzufahren, und zwei Matrosen sprangen auf das Deck des Schoners hinüber. "Konnichi wa! Gute Tag!" sagte der kleinlaut gewordene Sindo. Er stand auf der Back neben dem Spill und verbeugte sich, als ob er aufgezogen sei. Die Netze waren leer. In den Schiffsräumen lagen glit zernde Schuppen umher, die noch von früheren Fängen stammten. Die ganze Besatzung trug - beinahe wie eine Uniform - frische, noch durch keine Arbeit zerknitterte Schutzanzüge. Die hohen, mit Schnüren am Gürtel befe stigten Gummistiefel (die auch nicht ein einziges Mal geflickt waren) verliehen den Fischern ein stattliches, ja sogar kriegerisches Aussehen. In einem Anbau neben der Kapitänskajüte fanden wir den Funker - einen kleinen finsteren Starrkopf mit einer gestreiften Strickjacke. Er schloß sich ein und fing an, mit einer derartigen Geschwindigkeit zu morsen, als ob die "KobeMaru" im Sinken wäre. Schirokich machte sich daran, den Funker zur Vernunft zu bringen. Er hob schnell die Tür aus den Angeln und brachte den Starrkopf auf Deck. Dabei sagte er mit ruhiger Bestimmtheit: "Geh los . Du hast geklappert - und damit basta! Ich spreche ja schließlich russisch mit Ihnen!" Danach ließen wir die Japaner längs der Bordwand an treten und wunderten uns über die gute Haltung der "Fi scher". Nach der Haltung der Schultern und der militä rischen Exaktheit der Bewegungen zu schließen, waren sie mit einem Arisaki nicht weniger gut vertraut als mit einem Kawasaki. Wir durchsuchten das Zwischendeck, den Laderaum und die Maschine, aber außer Klippfisch, Reis und einem
Fäßchen mit eingesäuertem Rettich konnten wir nichts finden. Da befahl Koloskow, das Linoleum in der Kajüte des Sindo hochzuheben. Er selbst nahm einen Zirkel, um die Entfernung des Schoners von der Küste zu messen. Als ich mit Schirokich das Linoleum hochklappte, sah ich, wie der durchtriebene Sindo herumscharwenzelte. Kaum hatte Koloskow ihm nachgewiesen, daß der Scho ner in sowjetischen Gewässern gestellt worden sei, da steckte der Kapitän die Nase in ein Lexikon und verstand von nun an unseren Kommandanten überhaupt nicht mehr. "Genau eine Seemeile", sagte Koloskow. "Was habt ihr hier gemacht, Herr Fischer?" "Danke", antwortete der Sindo. "Meine Gesundheit ist gut." "Das interessiert mich nicht." Aufs Geratewohl wies der Sindo mit dem Finger auf eine Seite. "Wollen Sie ein bißchen russische Wotzka? Sie sind wahrscheinlich durchgefroren?" Koloskow wandte sich ab und begann voller Langmut und Ausdauer die Bilder über der Koje des Sindo zu be trachten. Der Trick mit dem Lexikon war gewiß schon so alt wie der Schoner selbst. Unterdessen murmelte der Sindo weiter vor sich hin: "Gestern hat es ein bißchen geregnet . Das Wetter auf See ist kalt und trügerisch wie das Herz eines schönen Mädchens . Der Freitag ist ein gefährlicher Tag für die Seeleute ." "Sind Sie fertig?" fragte Koloskow. "Ich nix versteh . Was?" Da nahm der Kommandant dem Sindo das Lexikon aus der Hand, klappte es energisch zu und sagte ihm unverblümt: "Nun, Scherz beiseite! Ich habe die Absicht, jetzt im
Ernst zu reden." Man muß es selbst gesehen haben, wie das dem Sindo an die Nieren ging. Er richtete sich auf, wurde plötzlich hochnäsig und knarrte wie ein trockener Baum im Winde:
"Sön . Ich lehne es ab, mit einem Unterleutnant zu sprechen." "Ich verstehe", sagte Koloskow und steckte die Karte weg. "Ich verstehe, Herr Oberfischer." In diesem Augenblick wurde der Kommandant auf Deck gerufen, und hier bot sich ihm ein interessantes Bild. Neben dem Rettungsboot lag ein eichener Nottrinkwas serbehälter mit einem Fassungsvermögen von etwa fünf Wedro. Der Bootsmann des Schoners wollte noch schnell im Vorübergehen eine Zeltbahn über das Fäßchen werfen, doch Schirokich bemerkte dieses verspätete Bemühen.
Aus Neugierde schlug er den Spund aus dem Fäßchen heraus und war sehr erstaunt darüber, daß das Wasser zwar plätscherte, aber nicht aufs Deck herausfloß. Jetzt kniete er, ganz rot vor Aufregung, neben dem Was serbehälter, hatte den Arm bis zum Ellenbogen hineinge steckt und befühlte irgend etwas. Als er Koloskow erblickte, wurde er verlegen und sagte: "Irgend etwas plätschert, Genosse Leutnant, aber was, weiß man nicht." Er suchte mit den Händen sorgfältig in dem Behälter herum wie ein Fischer in einer Reuse und fügte hinzu: "Beinahe wie ein Hecht." Er zog eine funkelnagelneue Mauserpistole hervor. Dann tat er einen Freudenschrei: "Eine Brasse, Genosse Leutnant! Ein Barsch, eine Karausche." Und aufs Deck heraus kamen zusammen mit der Mau serpistole: ein Photoapparat, ein Induktor, ein Packen Zündschnur, eine Schachtel Zündkapseln und noch einige andere "Fischerei"Bedarfsartikel. Als letztes kam eine Pausleinwand mit Skizzen heraus, die zwar flüchtig, doch mit geübter und sicherer Hand ausgeführt waren. Mit eigener Kraft zu unserer Flottille zu fahren, lehnten die Japaner rundweg ab. Außerdem gelang es ihnen, das Benzinrohr an einigen Stellen mit Kork und Filzstück chen zu verstopfen. Da jagten wir die Besatzung ins Zwi schendeck, nahmen den Schoner ins Schlepptau und zogen ihn mühsam aus der Bucht heraus. Der Wind frischte merklich auf. Die Wellen wurden steiler und höher. Die weißen Kämme überschlugen sich und zerstoben im Winde. Ab und zu brauste eine Woge, die sich an der "Smely" gebrochen hatte, über die Brücke. Der glutrote Himmel kündigte uns eine schwere Fahrt an.
Ein böiger Wind blies uns entgegen, und die zum Schlep pen viel zu kurze Trosse vibrierte am Heck. Als wir auf halbem Wege zur Flottille waren, begannen die Wogen unaufhörlich über die "Smely" hinwegzuschla gen. Das Wasser brauste und schäumte über das Deck und konnte nicht wieder über Bord zurück. Koloskow blickte immer häufiger zurück auf den trüb weiß schimmernden Schoner. Dieser hatte seine Selbstän digkeit verloren und wurde durch die unerbittliche Schlepptrosse im Zaum gehalten. So kam er hinter uns her gezottelt, schlingerte und stolperte über die Wellenkämme dahin. Wahrscheinlich erging es der "KobeMaru" noch schlimmer als uns, weil die Trosse sie daran hinderte, die Wogen frei zu erklimmen. Bald sah man nur noch eine einzige mächtige Sturzsee, die wir im Schlepptau hinter uns herzogen. Die Küste, die sich bis dahin noch in Richtung Steuerbord als schwarzer Streifen abgehoben hatte, verschwand nun auch. Das dumpfe Tosen des Meeres übertönte das Geratter des Motors. Eine Bö stürzte sich mit solcher Gewalt auf unse ren Kutter, daß sie den Schutzschirm aus Segeltuch auf der Brücke völlig zerfetzte und auch noch die Plane vom Rettungsboot riß. Die "Smely" tastete sich vorsichtig in der Dunkelheit vorwärts, zuckte und ächzte unter den schweren Schlägen. Man sah keinen Stern, kein Leuchtfeuer, nach dem man sich hätte orientieren können. Nur die blasse Kompaßrose tanzte unter dem nassen Glas. Der Kommandant begab sich ans Heck, um die Schlepptrosse zu überprüfen. Ich stand am Ruder und hörte, wie Koloskow auf die Brücke zurückgeprustet kam und sich mit seinen eigenen Worten zu überzeugen versuchte:
"Er wird schon nicht aufweichen." Wir dachten an ein und dasselbe. Hinter uns, auf dem leeren Deck des Schoners, befanden sich zwei der Unsri gen: der Bootsmann Gutorow und der noch bei unserem Maschinisten in Ausbildung stehende Kossizyn. Gutorow war allen Anforderungen gewachsen. Wendig, kräftig und geschickt wie er war, hielt er sich auf Deck fester als ein Poller. Aber Kossizyn . Wie oft hatten wir ihn aus dem Maschinenraum aufs Deck geschleppt - ganz grün im Gesicht, mit glanzlosen Augen, gänzlich fertig! An Land war er lustig und besaß jenen beharrlichen Fleiß, wie er den Bauern eigen ist, doch auf See weichte er auf wie ein Fladen. Was soll man da machen, wenn das Steppenblut das Schlingern und die Feuchtigkeit nicht vertragen kann? Um den Kommandanten zu beruhigen, sagte ich: "Er wird schon standhalten . An der frischen Luft ist ihm ohnehin wohler." "Ja, das denke ich auch", antwortete Koloskow, fuhr aber gleich danach entrüstet auf: "Dummes Gequatsche! Was ist eigentlich mit Ihnen los? Sind Sie am Kompaß oder in der Kneipe?" Man konnte schon den UglowoiLeuchtturm sehen, da stieß plötzlich der Matrose, der die Trosse beobachtete, einen lauten Schrei aus. Ich merkte sofort, daß der Kutter verdächtig leicht dahin fuhr, drehte mich um und sah, wie hinter uns plötzlich die Sturzsee erlosch. Aus der Dunkelheit klang die durch eine Bö zerrissene Stimme Kossizyns zu uns herüber: " . nosse Kommandant! . enosse . andaant! ." Was er noch brüllte konnte man nicht verstehen, und wir hörten auch nicht weiter hin. In scharfer Kurve machte die "Smely" kehrt und fuhr dem Schoner zu Hilfe.
Der Scheinwerfer fand die "KobeMaru" schnell (in dem schwarzen Wasser glänzte sie wie eine Motte), tastete den Schoner von beiden Seiten ab und blieb auf einer Welle haften . und im selben Augenblick schrien Koloskow, der Signalgast und ich: "Wahrschau!" In den vom Sturm wild aufgewühlten Wogen zappelten zwei Menschen. Sie kämpften gegeneinander. Obwohl sie schon ganz betäubt waren durch die Schläge der Wellen kämme, hoben sie sich gegenseitig empor, würgten sich und versuchten, einander zu ertränken. Dabei sperrten sie den Mund auf, um nach Luft zu schnappen, verloren den Atem und wurden durch das Scheinwerferlicht geblendet, ließen jedoch nicht ab von der Kehle des Gegners. Immer wieder wurden die Schwimmer hoch über uns und das dumpf brüllende Meer hinausgehoben und stürz ten dann mit den Wellenkämmen wieder hinab. Dann wur den sie plötzlich auseinandergerissen. Doch sie gingen von neuem aufeinander los. Als wir an den Kampfplatz heran kamen und die Leine warfen, griff nur der eine Schwim mer danach. Es war Gutorow. Blutbefleckt und völlig entkräftet lag er mit dem Gesicht nach unten da und brummte: "Dort auf dem Schoner . Kossizyn . allein ." "Äußerste Kraft voraus!" kommandierte Koloskow. " . ßerste . aft voraus!" antwortete es aus dem Ma schinenraum. Ein kräftiger Ruck ging durch die "Smely", dann be wegte sie sich nicht mehr von der Stelle. "Achtung, Maschinenraum!" Satschkow antwortete irgend etwas Unverständliches.
Das Wasser am Heck schäumte weiß, das Schiff bebte und krachte unter den ruckartigen Stößen, und wir krochen dahin mit der Geschwindigkeit eines Schwimmkrans. Koloskow befahl, die Schraube nachzusehen. Tatsäch lich, ein riesig aufgequollener Klumpen wälzte sich am Heck der "Smely" und machte uns manövrierunfähig. Wahrscheinlich war vom Deck des Schoners eine ganze Manilatrosse herabgespült worden. Der Kutter war mit voller Wucht auf das Tau aufgelaufen und hatte es gänz lich durcheinandergebracht. So hatten sich auf der Schrau be an die hundert Meter kräftigster Fasern aufgewickelt. Wir stoppten die Maschine und kletterten ins Wasser, um die Schlingen zu zerhacken und zu entwirren. Inzwischen machte der Bootsmann, dem vor Kälte die Zähne klap perten, dem Kommandanten ausführlich Meldung, was sich auf dem Schoner ereignet hatte. Kossizyn hatte am Ruder gestanden, Gutorow hatte die Trosse beobachtet. Da hatte eine Woge die Scheibe der Steuermannskabine zertrümmert. Als die Japaner das Klir ren gehört hatten, versuchten sie, sich mit Gewalt Zugang zum Deck zu verschaffen. Gutorow war zum Zwischen deck gelaufen und hatte die Lukenklappe mit einem Rie men verstärkt (der Riegel war zu schwach gewesen). In diesem Augenblick war aus irgendeiner Ritze, vielleicht aus der Taukiste, ein "Fischer" hervorgekrochen. Es war ihm gelungen, die Trosse mit dem Messer durchzuhacken. Dann hatte er sie dem Bootsmann vor die Füße geworfen, und im gleichen Augenblick hatte sich der Schoner auf die Seite gelegt . Was mit Kossizyn war, wußte Gutorow nicht. Er stürzte sich ein Glas Wodka hinter, band sich die Leine um und kletterte wieder ins Wasser.
Eine langwierige Angelegenheit! Wir reinigten die Schraube, schaukelten aber auch weiterhin auf der selben Stelle umher. Die Welle war verbogen, die Muffe hatte sich gelockert, der Motor keuchte, als ob er fast zu Tode gehetzt sei, und die "Smely" konnte nicht einmal gegen den Wind ankommen. Wir verwandelten uns in eine Boje; der Schoner aber wurde immer weiter von uns weggetrieben. Der Scheinwerferkegel erfaßte nur die Masten bis zum Flaggenknopf. Sie machten vor dem Meer lange, tiefe Verbeugungen nach allen vier Himmelsrichtungen kleine helle Hälmchen inmitten des wütenden Wassers und kamen uns schließlich aus den Augen. Wie wir die Nacht verbrachten - das ist eine wenig schöne Erinnerung. Ich will nur sagen, daß es trotz Wind stärke 10 auf Deck so heiß herging, daß wir schwitzten, und daß im Kielraum neben der Motorpumpe noch vier Handpumpen arbeiteten. Das Meer riß das Schanzkleid von der Brücke bis zum Ankerspill auf, spülte den Tusik fort und drückte, um das Maß voll zu machen, auch noch das Glas des Scheinwer fers ein. Dabei zog sich der Signalgast Sashin erhebliche Schnittwunden zu. Als es Tag geworden war, sahen wir einen verstümmel ten Kutter und böses, trübgraues Wasser. Unter wildem Sirenengeheul näherte sich uns der Eis brecher "Truwor". Koloskows Gesicht war düsterer als das Meer. (Wenn man sich doch nur mit eigener Kraft zum Hafen schleppen könnte!) Er wandte sich von der "Tru wor" ab und befahl, das Schlepptau bereitzumachen. Am gleichen Tage noch wechselten wir Schiffswelle und Schraube und stachen erneut in See. Der Sturm hatte sich
gelegt. Der Horizont war klar. Bis zu einer Entfernung von hundert Seemeilen südlich des Kaps Soboliny hatte kein einziger Fischer die Lichter eines untergehenden Schoners gesehen. Erst vier Tage später wurde uns das klägliche Schicksal der "KobeMaru" bekannt.
"Genosse Kommandant!" rief Kossizyn. Niemand antwortete. Der Schoner erdröhnte unter den Schlägen der Wogen. Auf Deck zischte das Wasser und mischte sich mit den über die Bordwand schlagenden Bre chern. Kossizyn benutzte seine Hände als Sprachrohr und brüllte nochmals in die Dunkelheit hinein. "Genosse Kommandaant!" . Er war allein auf dem nassen Deck, das nur durch den weißen Schaum erhellt wurde. Das Verlangen, seine Ka meraden zu hören und, wenn auch nur aus der Ferne, die Silhouette des Grenzschutzkutters zu sehen, packte ihn mit doppelter Gewalt. Kossizyn brüllte immer weiter und drehte sich dabei nach allen Richtungen, so daß er jede Orientierung verlor. Ab und zu machte er Pausen, um Atem zu schöpfen und zu horchen, doch das unendliche dumpfe Brüllen des Meeres übertönte alle anderen Laute. Ein plötzlich aufblitzender Lichtschein veranlaßte Kos sizyn, sich umzudrehen. Rechts vom Bug des Schoners hüpfte der Lichtkegel eines Scheinwerfers von einer Welle zur anderen. Der durch Wasserstaub in seiner Leuchtkraft geschwächte Kegel des ziemlich weit entfernten Schein werfers tastete den Schoner langsam und sorgfältig ab. Kossizyn kam trotz der Kälte und seiner nassen Matrosen bluse sogleich in eine fast fröhliche Stimmung, und es wurde ihm wärmer. Das Meer ist weit, aber du bist nicht
allein und wirst nicht zugrunde gehen, dachte er. Er drehte sich wieder zum Ruder um und versuchte, den Schoner so zu steuern, daß er die Wogen schnitt. Doch das gelang ihm nicht. Die manövrierunfähige "KobeMaru" war ein Spielball der Wellen und wurde von einer Seite auf die andere geworfen. Indessen vergrößerte sich die Entfernung zwischen den beiden Schiffen. Die Wellenkämme wurden immer steiler und höher. Der Scheinwerfer erfaßte nur noch die Mast spitzen. Offenbar vermochte die "Smely" nicht gegen die Wellen anzukommen. Der durchgefrorene Kossizyn kniff die Augen zusammen und versuchte die Blinksignale, die auf dem Flaggenknopf der "Smely" aufleuchteten, zu entziffern. Sie waren lückenhaft, fast zusammenhanglos. "Wir reparieren . wir kommen . zünden Sie die Bord . Klüver . äußersten Notfall . Küste." "Jawohl! Kurs beibehalten!" antwortete Kossizyn ge wohnheitsmäßig; dann wurde es wieder dunkel auf dem Meer. Ohne Bordlichter trieb der Schoner dahin und gehorchte dem Ruder nicht mehr, zuckte ab und zu und schwankte wie ein Betrunkener. Er trieb vorbei an dem mit einem weiten Brandungsgür tel umgebenen Kap Schipunski, vorbei an dem steilen Felsen mit dem Leuchtturm, der seine kurzen Lichtblitze übers Meer warf, vorbei am Eingang der Bucht, wo der Stützpunkt unserer Flottille war, immer und immer weiter nach Süden. Kossizyn nahm die Bordlaternen herunter und versuchte, sie im Schutz der Matrosenbluse anzuzünden. Das Wasser trommelte ihm auf den Rücken, der Wind und die Spritzer brachten die Streichhölzer sofort wieder zum Erlöschen.
Schließlich gelang es ihm, einen Docht zu entzünden, aber da traf ihn unerwartet eine Welle von der Seite, das Wasser drang in den Ölbehälter ein und riß Kossizyn die Streich holzschachtel aus der Hand. Schweren Herzens hängte er die dunklen Laternen wieder an ihren Platz. Allmählich begann es zu dämmern. Die Wogen tobten auch weiterhin um den hilflosen Schoner. Kossizyn lief immer wieder zum Bordrand. Er konnte sich durchaus nicht an das wilde Schaukeln gewöhnen, und jedesmal, wenn er mit bleichem Gesicht und ver schleierten Augen zum Ruder zurückkehrte, wiederholte er bei sich: "Jetzt ist's aber genug! Teufel noch mal! Nun langt's, denke ich." Und von neuem beugte er sich übers Meer. Als es Tag geworden war, nahm er ein Eimerchen und spülte die Spuren seiner Schwäche von dem eichenen Gitter ab. Glücklicherweise war das Deck leer. In demselben Maße wie es heller wurde, erlangte Kossi zyn auch seine Entschlossenheit wieder. Es mußte jetzt irgendwie gehandelt werden; er mußte das Kommando über den hilflosen Schoner übernehmen. Er öffnete die Revolvertasche, hob dann vorsichtig den zur Verstärkung des Lukenriegels benutzten Riemen und forderte den Kapitän durch Handbewegungen auf, an Deck zu kommen. Vorsichtshalber schlug er die Klappe zum Zwischendeck gleich wieder zu und legte den Riemen davor. "Anata", sagte er so bestimmt wie möglich. "Wir müssen den Motor anlassen, hörst du, anata?" "Wer muß? Wir nicht."
Der Kapitän würdigte den Matrosen keines Blickes. Er stand da, kratzte sich und gähnte. Das brachte Kossizyn in Wut. "Sie widersprechen? Ich befehle es!" "Serrr angenehm . Ich lehne es ab." Die Maschine war ja schon gestern durch den Maschini sten beschädigt worden. Kossizyn blickte zum Fockmast, sah die dunkle Segeltuchrolle, dachte einen Augenblick nach und zog dann den Naganrevolver. "Was?" fragte der Sindo schnell. "Was wollen Sie?" "Das ist meine Sache. Also nun los: heiß Klüver!" Sie blickten einander in die Augen, dann drehte sich der Sindo um und ging langsam zum Mast. Kossizyn steckte den Revolver wieder weg. An Steuerbord zog sich in der Ferne ein niedriger Nebel streifen hin, der in den Horizont überging. Ab und zu dröhnte das Tosen der Brandung wie ferner Kanonendon ner zu ihm herüber. Wie immer an flachen Stellen war die Dünung gewaltig. "Wir werden zerschellen!" stellte Kossizyn fest. "Wir werden bestimmt zerschellen." Sobald jedoch der Klüver vom Winde gepackt wurde und sich nach der Steuerbordseite hin aufblähte, begann die "KobeMaru" dem Ruder zu gehorchen. Kossizyn nahm kurzentschlossen Kurs in den Nebel hinein. Er fror sehr und sehnte sich so danach, endlich festen Boden unter die Füße zu bekommen, daß er es nicht be dauert hätte, auf Klippen, auf einer Sandbank oder gar auf dem Buckel des Teufels zu landen, wenn dieser Buckel nur recht fest gewesen wäre. Außerdem bestand seit An bruch des Tages die Gefahr, irgendeinen japanischen Schoner zu treffen.
Der Kapitän belegte die Schote am Heck und setzte sich Kossizyn gegenüber auf die hölzerne Verschalung der Reling. Er war stark erregt, verdrehte den Kopf, horchte auf das Tosen der Brandung und nahm sogar das Tuch ab, das er sich zum Schutz der Ohren um den Kopf gewickelt hatte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und sagte: "Ist das nicht gefährlich?" Kossizyn antwortete nicht. Der Nebel zerriß. Man sah die hohe Dünung, die Küste und das dunkle Grün der Vulkane. Der Schoner legte sich auf die Seite und fuhr gerade auf die Klippen los. "Vernunft ist die Waffe der Tapferen", sagte der Kapitän stockend. "Wie war das doch? Schlechter Frieden ist besser als guter Krieg, nicht wahr? Sie sein tapfer . Wir sind auch ziemlich stark ." Er zögerte. "Wollen Sie haben . wie nennt man das doch schnell . kleines Trinkgeld?" "Trinkgeld? Ich kann nicht Japanisch." "Mir scheint, ich spreche doch russisch mit Ihnen." "Mir scheint das nicht so. Die Worte sind russisch, der Sinn japanisch." "Wir werden das Boot klarmachen", sagte der Sindo ha stig. "Sön? Nehmen Sie in Yen?" Kossizyn blickte über den Hut des Sindo hinweg auf einen Vulkan und dachte über seine Lage nach. Das Land war nahe, doch die hohen Sturzwellen an den Klippen noch näher. Bedauerlich - zu geringe Fahrt. Das Schiff wird sich quer zum Ufer drehen - ganz bestimmt wird es sich drehen. "Nun halt dich tapfer!" sagte er zu sich selbst. Ein sicheres Vorgefühl sagte ihm, daß sein Ende nahe sei, und wie das oft bei einfachen, unerschrockenen Menschen
zu sein pflegt, machten ihn die Gefahr und das Bewußtsein seiner verwegenen, tollkühnen Kraft plötzlich trunken. "Los!" brüllte er dem Kapitän zu. "Gib das Gold her! Gib alles her!" Die Antwort konnte er nicht genau verstehen - eine Welle kam heran, und das Rauschen des Meeres übertönte die Worte -, aber er begriff auch so, daß der Kapitän ge fragt hatte, wieviel er haben wollte. "Eine Million!" brüllte Kossizyn und stützte sich aufs Ruder. "Alles wird unser sein!" Der Kapitän blickte dem Mann am Ruder in das junge, erbitterte Gesicht und fierte plötzlich die Schote. "Nun?!" fragte Kossizyn drohend, und der Klüver wurde wieder nach vorn gerissen. Der Kapitän lief zur Lukenklappe und riß den Riemen herunter. Aus dem Zwischendeck stürzten die Japaner heraus aufs Deck und fingen an zu lärmen. Die "KobeMaru" trieb gerade auf einen dunkelgrünen Hügel zu, der so zottig aussah wie ein Lamm. Die Japaner warfen den Anker, aber der Schoner hatte sich schon quer zum Ufer gestellt und schlug auf Riffe auf. Das Wasser kam über Bord, donnernd polterte das mitge spülte Geröll gegen das Schiff und fegte die Leute herunter. Das war die Vogelinsel, ein niedriger Haufen von Sand und Steinen inmitten trüben Wassers. Kossizyn begriff das, als die Sonne den Nebel vertrieben hatte und hinter der Meerenge in allen Farben schimmernde Berge des Festlandes sichtbar wurden.
Von der höchsten Stelle des Hügels konnte man alles sehen: das von brausenden Wellen umgebene Ufer, den Streifen, wo sich das Geröll und der Tang abgelagert hatten, die Stangen mit nasser Wäsche und sogar die Muscheln am Boden der kieloben liegenden "Kobe Maru". Das Meer atmete eine unendliche Weite und Frei heit und beleckte das öde Wrack des Schoners; auf den niedrigen Wogen konnte man noch immer glänzende Ölflecke und schaukelnde Bastmatten sehen. Am Fuße des Hügels rauchte ein Feuer. Sieben halb nackte Japaner saßen um den Kessel herum, angelten der Reihe nach ihre Nudeln heraus und schielten zum Hügel hinauf. Kossizyn hatte alles abgelegt außer der Badehose und dem Revolver. Hier fühlte er sich bei weitem stärker als
auf dem Meer, wenn auch die Kratzer auf der Schulter noch stark brannten und er vom Salzwasser einen bitteren Geschmack im Munde hatte. Es war doch wenigstens Land. Warmer, fester Boden! Der Wind umwehte Kossi zyn, und in ruhiger Gelassenheit blickte der junge Matrose bald auf die Gefangenen, bald aufs Meer. Die Insel gehörte ihm. Er kannte sie von früheren Fahr ten her. Hier haben wir manchmal Scharfschießen durch geführt, Bärenlauch abgerissen und Möweneier in unseren Matrosenmützen gesammelt. Mögen sie ruhig tuscheln an ihrem Kessel! Der Schoner ist zerschellt, und mit dem Boot kommt man nicht weit. Der Grasgeruch und die warme Luft, die über die Steine dahinströmte, machten ihn schläfrig. Um nicht einzu schlummern, kniff sich Kossizyn in den Arm. Dann zog er die noch ziemlich feuchte Matrosenbluse an und beschloß, am Ufer entlang einen Rundgang um die ganze Insel zu machen. Ein schlechter Einfall! Kaum hatte er mit den Füßen den Sand berührt, da begannen ihm alle Muskeln weh zu tun, wurden schwach und verlangten nach Schonung. Die durch die Schlingerbewegung des Schiffes hervorgerufene Seekrankheit hatte Kossizyn so erschöpft, daß er sich schon am Fuße des Hügels langlegen wollte. Wie? Sich hinlegen? Zur Strafe versetzte er sich einen unbarmherzi gen Kniff in den Arm und schleppte sich mühsam weiter. Die Insel hatte keine Bäche, keine Bäume, keinen Schatten und war nur von groben struppigen Kräutern überwuchert. Die einzigen lebendigen Wesen hier waren die Vögel. Schwarze fette Papageitaucher schossen aus dem Wasser hervor, flogen mühsam ihre hundert Meter und verschwanden dann schnurstracks in den Löchern, die
sie sich in dem Abhang des Berges gebaut hatten. Indessen schwebten die Möwen hoch in der Luft, wiegten sich auf ihren biegsamen Schwingen, fochten im Fluge kühne Kämpfe aus und ließen sich nur ab und zu einmal auf den höchsten Felsenspitzen nieder. Das ganze Ostufer war mit feuchtem Gerümpel bedeckt. Kossizyn betrachtete es neugierig und bedauerte in seiner bäuerlichen Art das ungenützte Strandgut. Hier lagen zer drückte rostige Fässer, in Netze geschnürte Schwimmer, Korbflaschen, Bambus, abgerissene Stücke von Fischnet zen, Bastmatten, rote Krabbenscheren, stinkender Tang mit dunklen Kapseln am Ende jeder Ranke, zerbrochene Riemen, Taue, verwitterte Wirbel und Rippen von Walen, Bimsstein, Bretter mit Schiffsnamen und Gürtel, die nie mand gerettet hatten, rauhe Seesterne und Medusen, die zwischen dem Tang wie verspätete Eisstückchen zergin gen, vermoderte Segeltuchplanen - alles vollkommen tot, feucht und über und über mit Salzkristallen bedeckt. Oberhalb dieses Friedhofs lag in weitem Umkreis weiß schimmerndes trockenes Treibholz umher. Das brachte Kossizyn auf den Gedanken, Feuer anzumachen - ein hohes Rauchsignal -, ein Feuer, das vom Meer aus Tag und Nacht zu sehen sein würde. Als er aber an die Japaner herantrat und sie aufforderte, Äste vom Ufer auf die An höhe hinaufzutragen, rührte sich keiner von ihnen. Der Kapitän wollte nicht einmal seine Streichhölzer heraus rücken. "Sukoshi mo wakarimasen", sagte er und lachte. Die sieben Fischer verschlangen schnaufend und schmat zend ihre Nudeln. Es war ihnen gelungen, vom Schoner zwei Säcke Reis, eine Kiste Nudeln und ein ganzes Faß eingesäuerten Rettich herunterzuschaffen, und nun blickten
sie den hungrigen Sowjetmatrosen ironisch an. "Ich nix versteh", übersetzte der Sindo liebenswürdig. Kossizyns Gesicht verfinsterte sich. Er konnte ohne Wasser und ohne Brot auskommen, weil das nur ihn per sönlich betraf. Aber Streichhölzer . Das Feuer muß brennen. Er kniff die Augen zusammen und fragte ganz leise: "Wieder dies dumme Geschwätz? Nun?!" Erst jetzt verschwand das Lächeln von den Gesichtern der Japaner, und der Kapitän warf Kossizyn die Blech schachtel zu. Was Kossizyn mit den "Fischern" anfangen sollte, das wußte er nicht. Er war ganze zweiundzwanzig Jahre alt, kannte einen Motor, wußte mit dem Kompaß Bescheid, war aber noch nie mit Japanern zusammen auf eine Insel geraten. Übrigens zauderte er nicht lange. Die ihm angeborene bäuerliche Gründlichkeit und sein Mutterwitz gaben ihm den richtigen Gedanken ein, den Stier sogleich bei den Hörnern zu packen. In seiner sauberen Uniform und der bis oben hin zugeknöpften Matrosenbluse fühlte er sich als alleiniger Herr dieses Stücks Erde, auf dem die verdäch tigen "Fischer" sich ungezwungen breitgemacht hatten und schmatzten. Man mußte die Japaner gleich von An fang an in die Schranken weisen, um so mehr, als das Große Land nur zwei Seemeilen von der Insel entfernt war. In die Schranken weisen . Aber wie? Er erinnerte sich an die gemächliche Redeweise des Bootsmannes und an die Art, wie dieser in einer Versammlung auftrat (eine Hand auf dem Rücken, die andere vorne zwischen den Knöpfen seines Uniformrockes), setzte eine wichtige
Miene auf und sagte streng: "He, Dienstältester! Erklären Sie der Besatzung meine Anordnung. Ich verhänge hiermit über die Insel den Bela gerungszustand. Das erstens. Und zweitens ist das hier so wjetischer Boden. Klar? Das heißt, hier herrscht auch eine dementsprechende Ordnung. Dumme Streiche werden hier nicht angestellt, in allem ist Vernunft und Ordnung zu wahren. Wenn es nötig sein sollte, werde ich kraft meines Rechtes als Kommandant mit aller Schärfe strafen . Sind noch Fragen?" Niemand antwortete. Der Bootsmann, ein dicker Bur sche mit Panamahut und Schanghairock, leckte sich die Finger ab und sah den Kommandanten neugierig an. "Klar? Und jetzt werden wir den Personalstand registrie ren." Damit holte der Kommandant Bleistift und Notizbuch heraus und fragte den Bootsmann, der ganz außen saß: "Ihr Name?" Er hatte sehr höflich gefragt, doch der Bootsmann ki cherte nur. An Stelle des Dicken antwortete unerwartet der Sindo: "Bitte sön . Das ist Herr X." "Und Ihrer?" "Bitte sön . Herr Y." Gelächter ertönte. Das Spiel gefiel allen, bloß dem Kommandanten nicht. "Lassen Sie das!" sagte Kossizyn ruhig. "Dies Alphabet kennen wir." Er dachte nach, betrachtete sich die "Fischer" sorgfältig und begann, in seinem Notizbuch ihre besonde ren Kennzeichen zu vermerken: "X - fett wie eine Sau, gestreifte Strickjacke . Y - mit Hut und sommerspros sig, schielt ." Für den Kapitän reichten die Kennzeichen
nicht mehr aus, und Kossizyn notierte kurz: "Kröte". Das Treibholz mußte er selbst sammeln. Neunmal stieg der Kommandant zum Ufer hinab, und neunmal brachte er einen Armvoll durch das Meerwasser ausgelaugter kahler Äste mit auf die höchste Stelle des Hügels hinauf. Er zündete sofort ein Feuer an, doch das Treibholz war zu dünn und trocken. Die Flamme nagte die Zweige sehr schnell ab und gab fast keinen Rauch. Da holte er vom Ufer einige Armvoll nassen Tang, und bald stieg über der Insel dichter brauner Rauch auf. In einer steinernen Vertiefung auf dem Hügel fand Kos sizyn eine Pfütze mit warmem Regenwasser; er löschte seinen Durst und wusch sogar den Überzug seiner Matro senmütze. Dann begann er, in den Taschen herumzukra men, da er hoffte, darin irgend etwas Eßbares zu finden. Der Inhalt fiel aber ziemlich hart aus: ein Taschenmesser . ein Knopf . eine Patronenhülse. Alles das war mit Papierfetzen und einer klebrigen rötlichbraunen Masse verkleistert. Kossizyn erinnerte sich, daß er tags zuvor zwei Scheiben Brot mit Ketakaviar in seine Matrosenbluse gesteckt hatte (es ist ja bekannt, daß man bei vollem Lade raum nicht so leicht seekrank wird). Er holte einige Handvoll von dem salzigen Pamps her aus, aß davon und trank hinterher Wasser aus der Pfütze. In der Nähe des Feuers fand der Kommandant Möwen nester. In jedem lagen drei warme, bläuliche Eier. Er trank zehn Stück aus. Die Möwen flatterten um Kossizyn herum und hatten es darauf abgesehen, nach seiner Matro senmütze zu picken. Nach dem Frühstück stellte sich wieder die Müdigkeit ein. Die Sonne schien so gleichmäßig und mild, daß ihm die Augenlider zufielen. Der Kommandant begann, sich
den Horizont zu betrachten. Aber das Meer, das sich nach dem Sturm ausruhte, erstrahlte in tiefer Bläue, schillerte, flimmerte und blendete die Augen. Um nicht der Ver suchung zu erliegen, beschloß er, seinen Befehlsstand in Ordnung zu bringen. Er säuberte die Stelle von großen Steinen, legte diese zu einer halbkreisförmigen Barriere zusammen, machte so etwas Ähnliches wie eine Bank und trat am Ostabhang einen Pfad nach dem Platz aus, auf dem das Treibholz lag. Am Abend ging der Kommandant hinunter zu den Japa nern. Diesmal waren die "Fischer" mit einem seltsamen Spiel beschäftigt. Sie umringten den Kapitän, der den Un parteiischen machte, und zogen der Reihe nach Strohhal me aus seiner Faust. Den längsten erwischte der Boots mann. Als er Kossizyn sah, trat er beiseite und begann, sich mit einem Spänchen die Fingernägel sauberzuma chen. "Wir haben einen Koch gewählt", erklärte der Kapitän liebenswürdig. "Dieser hier wird uns heute unsere Grütze kochen." Kossizyn betrachtete die Loser. Die "Fischer" standen im Halbkreis um ihn herum, brabbelten miteinander und verbeugten sich mit betonter Freundlichkeit. Der kleine Funker erwies dem Kommandanten sogar eine militärische Ehrenbezeigung. Dem Bootsmann schien plötzlich etwas einzufallen, er wandte die Augen ab und sperrte langsam sein Hechtmaul auf. "Was für ein mißmutiger Koch", meinte Kossizyn. "An scheinend hat er Angst, sich zu verbrühen." Es war offensichtlich: sie bereiteten irgendeinen Schur kenstreich vor. Welchen - das konnte Kossizyn nicht herausbekommen. Nachdenklich ging er durch das Lager
der Japaner. Die Bastmatten, der Kessel, das Faß, die Gummistiefel, alles war wie am Morgen. Nur das Boot lag bedeutend näher am Wasser. Das lag wohl an der Bran dung. Aber warum war der geplatzte Riemen mit einem Tau umwickelt? Der Kommandant kannte etwa zwanzig japanische Wörter, aber als er das zungenfertige Ge schwätz der "Fischer" hörte, wie sie ihre Worte so hervor sprudelten, da konnte er nur immer das bekannte "sodesu" heraushören. Waren sie womöglich schon zum Türmen fertig? .
Er dachte nach. Dann zog er die beiden Ruder, an denen Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, aus dem Sand heraus und ging mit ihnen den Berg hinauf. Der Koch stellte sich ihm in den Weg und fragte aufge regt:
"He, Iwan, warum hast du genommen?" "Sie müssen kürzer gemacht werden. Das Blatt ist viel zu groß", antwortete Kossizyn streng und legte die Hand an die Revolvertasche. Die Nacht brach herein - eine sternklare Nacht mit ih rer unendlichen Weite. Das Feuer auf dem Hügel begann zu erlöschen, und der Kapitän gab Befehl, aufzubrechen. Wie später festgestellt werden konnte, hatten die "Fi scher" bei der Durchsuchung zwei Messer und ein flaches Seitengewehr verheimlicht. Der Bootsmann hatte es fer tiggebracht, sie im Bauche eines Kabeljaus zu verstecken. Zunächst war beschlossen worden, nicht von der Waffe Gebrauch zu machen und den Polizeischoner abzuwarten, der gestern die Signale der "KobeMaru" aufgefangen hatte. Dann hatten es zwei "Fischer" (mehr faßte der Tusik nicht) übernommen, sich zur nächsten Insel der Kurilen kette durchzuschlagen und Beistand herbeizurufen. Doch die Riemen waren auf dem Hügel beim Kommandanten. Da blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis der Schlaf den Waffen zu Hilfe kam. Und der Schlaf kam. Man sah, wie das Feuer immer blasser wurde und die hungrigen Flammen schließlich nur noch an dem dürftigen Gras kümmerliche Nahrung fan den. Bald rührte sich auch der Kommandant nicht mehr. Um kein Geräusch zu verursachen, ließen die Japaner ihre Sandalen und ihre Gummistiefel auf dem Sande zu rück. Sie hielten sich genau an die übliche Umfassungs taktik, teilten sich in zwei Gruppen und stiegen vorsichtig den Hügel hinauf. Der Bootsmann, der tags zuvor den längsten Strohhalm gezogen hatte, sollte sich als erster auf den Kommandanten stürzen.
Das Feuer war erloschen. Kossizyn schlief. Vom Hinter grund des gestirnten Himmels hob sich schwarz der ge krümmte Rücken des Kommandanten ab. Die Matrosen mütze war ihm ins Gesicht gerutscht, der Kopf auf die Knie gebeugt. Der Bootsmann stürzte sich auf den Schlafenden und stieß ihm hastig das Messer in den Rücken. Einmal! Zweimal! Dann warf er Kossizyn zurück ins Gras, und die aus der Dunkelheit zusammengelaufenen "Fischer" be gannen wütend auf dem Kommandanten herumzu trampeln. Der Kapitän merkte als erster, was los war. "Saa!" rief er. Er sprang auf und mit ihm auch die anderen. Und dann hörten die "Fischer" die bekannte, etwas heisere Stimme Kossizyns. "Nun was, hä?" fragte er gemächlich. "Ihr habt einen Schlafenden ermordet . Darüber freut ihr euch?" Er kam aus dem Gebüsch heraus, riß der Puppe seine Matrosenbluse herunter und warf den Holzklotz in die Glut. Ein Tangbündel flammte auf, und Kossizyn sah die mißmutigen. Gesichter der Japaner. "Gib das Messer her", sagte er zu dem Mörder. "Du bist mir der richtige Koch. Gleich so aufdringlich zu werden!" Er wollte noch etwas Treffenderes sagen, aber er konnte nicht gleich das richtige Wort finden, und als er es fand, da hörte man am Abhang nur noch die durch die davonstür menden Japaner ins Rollen geratenen Steine. Der Kommandant breitete die Matrosenbluse auseinan der und seufzte. Das Tuch war noch ganz neu; er hatte es noch kein Jahr getragen. Desto schrecklicher gähnten darin die beiden Löcher.
"Wie er mir meinen Rock zuschanden gemacht hat!" sagte Kossizyn zornig. "Verfluchter X, dieses schädliche Insekt!" Zu schimpfen verstand er allerdings überhaupt nicht. Die ganze Nacht verbrachte er in dem nassen Gras, nur ab und zu stand er auf, um Treibholz ins Feuer zu werfen. Das war eine Qual: die Wärme der Flamme zu fühlen, die wie das Atmen eines Schlafenden so gleichmäßige Bran dung zu hören und doch selbst nicht einschlafen zu dürfen. Gegen Morgen wurde der Arm des Kommandanten ganz blau von den unbarmherzigen Kniffen, die er sich selbst versetzte. Er rieb sich den Oberkörper mit dem eisigen Wasser ab und machte sich wieder an die Arbeit. Er fand die Kraft, sich mit Reisig zu versorgen, das Trikothemd zu waschen und sogar die Schnalle und die dunkel gewor denen Knöpfe mit einem Stückchen Bimsstein zu reinigen. Er war der Kommandant, der Herr der Vogelinsel, und jedesmal, wenn er an dem Häuflein schweigsamer feind seliger Japaner vorbeiging, hob er angestrengt die Augen lider und bemühte sich, mit dem Absatz fest aufzutreten. Doch der Sand war zärtlich, schmiegsam und heiß. Trockener federnder Tang rankte sich um die Beine und lud zum Hinlegen ein, und so inständig war diese Ein ladung, daß Kossizyn begann, seitlich um die gefährliche Stelle herumzugehen, wobei er absichtlich auf große rauhe Steine trat. Zu Mittag machte er sich wieder auf die Suche nach Ei ern. Aber diesmal waren alle Nester leer. Da für lag im Sand neben den "Fischern" ein ganzer Haufen Eier. Eine derartige Frechheit empörte Kossizyn. Er machte sich zu seinen Nachbarn auf mit der festen Absicht, eine Aufteilung vorzunehmen. Aber kaum hatte er die Bast
matten erreicht, da sprangen zwei "Fischer" mitten in den Haufen Eier hinein. Wilde Schadenfreude ergriff sie, und sie machten sich daran, einen verrückten Kriegstanz in mitten der Eierschalen aufzuführen. Wegjagen? Zur Abschreckung ein Exempel statuieren? So hungrig der Kommandant auch war, vom Revolver wollte er keinen Gebrauch machen. Kossizyn tat einfach so, als ob er die beiden Tänzer überhaupt nicht bemerkte. Er richtete sich hoch auf, streckte die Brust heraus und ging gemessenen Schrittes vorbei wie einer, der gerade Mittag gegessen hat. Dabei schnaufte er sogar behaglich und stocherte sich mit einem Streichholz in den Zähnen herum. Wahrscheinlich merkte man dem Hungrigen seine List doch allzu deutlich an, denn der Sindo lächelte. Das brachte Kossizyn in Wut. Er verlangsamte seine Schritte und sagte mit gewichtiger Herrenmiene zu dem Kapitän: "Euer Koch kennt sich gut in anderer Leute Töpfe aus. Ich fürchte, er wird sich an blauen Bohnen verschlucken." Der Hunger trieb ihn wieder auf die Suche nach Vogelei ern. Der Kommandant zog sich die Matrosenbluse aus und begann die Löcher zu durchstöbern, die die Vögel in dem sandigen Abhang gebaut hatten. Die Papageitaucher hatten eiserne Schnäbel. Sie setzten sich verzweifelt zur Wehr. Kossizyn drehte zwei Papageitauchern den Hals um und röstete die Vögel in der Glut. Das dunkle Fleisch schmeckte ranzig und roch nach Fisch. Was weiter werden sollte, daran dachte der Kommandant nur wenig. Mit weitgeöffneten Augen saß er am Feuer. Er sah nur die Flammen und die Japaner, die sich auf dem Sande beweg ten. Die Felsen verschwammen ihm vor den Augen, er sah sie doppelt; die Wellen liefen aus irgendeinem Grunde bis
auf das Gras hinauf. Die Sonne summte wie eine große Lötlampe. Die Möwen schrien ihr monotones "Graab . Grab . "
Es war ein wundervoller, windstiller Abend, als Kossi zyn den Hügel hinabstieg und sich den Japanern gegen über niedersetzte. Der Kommandant war durch die unun terbrochene Aufregung ermüdet und wollte seinen Feinden gerade in die Augen sehen. "Leg dich schlafen, anata", sagte er müde. "Leg dich schlafen, hörst du, die Möwen blasen Zapfenstreich." Seltsam! Keiner der "Fischer" versuchte Einwendungen zu machen, als ob die ganze Besatzung stillschweigend anerkannte, daß Widerstand nutzlos sei. Schlafen, ja schla fen! Die Sonne versank in das stille, klare Wasser. Eine Ente steckte den Kopf unter die Flügel. Der Rauch stand wie eine dünne Säule über dem Feuer und ragte wie eine Baumkrone in den grünen Himmel. In der Stille hörte man, wie die Wellen glucksten, wenn sie, das flache San dufer heraufliefen. Die sieben "Fischer" legten sich auf die Bastmatten, reckten und streckten sich und gähnten behaglich. Es brauchte nur einer von ihnen den Mund zu öffnen, da be gannen die anderen zu gähnen und steckten auch Kossizyn an. Das merkten die Japaner bald, und sie machten sich ganz offen daran, den Kommandanten zum besten zu ha ben. Bald verzog der eine, dann der andere krampfhaft den Mund und bot ein Bild äußerster Ermüdung. Von allen Seiten hörte man tiefe, behagliche Seufzer, das Knacken sich reckender Sehnen, Schmatzen, Stöhnen, schläfriges Gemurmel - eine dunkle Musik des Schlafes, die sogar einen frischen Menschen überwältigen konnte.
Um die Schläfrigkeit abzuschütteln, ging Kossizyn ans Ufer hinab, kniete sich hin und tauchte das Gesicht ins dunkle Wasser. Jetzt wurde ihm etwas besser. Er feuchtete die Matro senmütze an und stülpte sie auf den Kopf. Wenn man nur so bis zum Morgen sitzen könnte . Aber dort . Die "Smely" soll doch das Feuer bemerken. Er kehrte wieder zu den Japanern zurück. Wie es schien, schliefen sie jetzt wirklich, ohne mutwilliges Geschnarche und Geseufze. Kossizyn zählte die "Fischer" nochmals. Sieben Japaner lagen im Halbkreis herum, die Köpfe zum Hügel, die Beine zum Feuer gewendet. Auch das Feuer war eingeschlummert. Die Glut war ganz blaß geworden. Kaltes Wasser tropfte ihm von den Bändern seiner Ma trosenmütze ins Genick. Der Kommandant bewegte sich nicht einmal. Mag es tropfen! So war es sogar noch besser. Ihm war von den Kniffen schon der Arm wie abgestorben, und das Tropfen verjagte auch den Schlaf. Unerträglich, dieses ewige Mückengesurr! Wenn es doch recht bald hell würde! Dann würde es wieder windiger werden, und er könnte auch wieder auf die Suche nach Vo geleiern gehen. Wenn es hell ist, fallen einem nicht so leicht die Augen zu. In der Kratzwunde auf der Schulter klopfte das Blut hef tig. Man sollte sie mit Salzwasser auswaschen. Morgen wird ihm der Heilgehilfe nach allen Regeln der Kunst einen Verband anlegen . Er verjagte die Mücken. Das summt und surrt und tönt . Keine Mücken . Telefon drähte in der Steppe . Wieso Steppe? Dummes Zeug! Wind? Nein, ein Lied. Ein seltsames Lied. Er schaute in die Glut und versuchte sich darüber klar zuwerden, ob da jemand singt oder ob einfach sein müder
Schädel dröhnte. Doch durch das einschläfernde Plät schern des Meeres drang deutlich ein einfaches, schwer mütiges Lied. Der Kommandant hob den nassen Kopf von den Knien und blickte auf den Sindo. Das war es. Der Kapitän summte das Lied durch die Zähne. Verschlafen lag er da mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht, doch unter den Wimpern glimmten ein Paar wachsame Augen. Ehe Kossizyn merkte, was los war, fühlte er die ein schmeichelnde Berührung des Liedes: wie es einen sin gend in den Schlaf wiegt. Zum Teufel noch mal! Die Sterne am Himmel fangen an, sich im Kreis zu drehen, das Ufer schaukelt wie das Deck eines Schiffes. Dummes Zeug! Aber vielleicht kommt ihm das alles nur so vor? Dies Lied war ja wie eine Schlinge. Scheinbar harmlos und ohne Falsch, suchte es doch unmerklich mit seinen zähen Griffen den Körper und den ermüdeten Willen des Matrosen gefangenzunehmen. Leise sagte er zu sich selbst: "Ich will nicht schlafen . Ich will nicht schlafen . will nicht!" Doch das Lied war stärker. Es drückte dem Matrosen die Augenlider zu und beugte den heißen Kopf auf die Knie nieder. Schlafen . Ganz egal. Plötzlich begriff der Kommandant. Sie binden ihn im Schlaf! Noch eine Minute, und das Lied wird ihn Schritt für Schritt ins Dunkel entführen . So ein Gesindel, so ein gemeines! Er sprang auf und brüllte aus Leibeskräften: "Du lügst! Das gelingt euch nicht! Schweig!" Und das Lied riß plötzlich ab.
Man hörte das träge Plätschern des Meeres. "Sön", sagte der Kapitän. "Ich nicht singen werden." Er umschloß mit den Armen die Knie, kniff verträumt die Augen zusammen und fügte hinzu: "Entschuldigen Sie . Ich dachte eine Annehmlichkeit zu tun. Die Sibirier lieben schöne Lieder!" "Ich bin kein Sibirier . Schweig!" "Entschuldigen Sie, aber wer sind Sie denn?" "Sehen Sie das nicht?" sagte Kossizyn mürrisch. "Der Neffe meiner Tante." "Von Ihrer Tante? Ach so. Interessant . Ich glaube, Sie sind gewiß von der Wolga. Das ist auch sön. Die Wolga lieder sind recht anziehend. Wie war das doch? Ihr leben dig noch, meine Mütterchen. Lebendig dir zum Will komm, Willkomm . Nicht wahr, so ist es doch? Sehr sön!" Der Kapitän dachte nach und sagte fast im Flüster ton: "Unter uns, ich gebe zu, ich ehre auch . mein gute Mütterchen. Interessant, was jetzt denkt mein alte, mein gute Mutter?" Der Kommandant ließ niedergeschlagen den Kopf hän gen und stützte mit der Faust seine unrasierte Wange. "Sie denkt . Ich weiß, was sie denkt." "Ja? Sehr interessant. Sagen Sie es, bitte sön." "Ach, was für einen hinterlistigen Schurken ich da aber auch zur Welt gebracht habe!" Sie schwiegen eine Weile. "Ja . Ach so", sagte der Kapitän stockend. "Sön. Sie kennen doch wohl die Regel: Wer stark ist, kann lachen." "Darum lache ich ja auch." "Lassen Sie das! Wer sind Sie? Ein Schiffskommandant? Nein. Ein Reeder? Nein. Ganz einfach ein Soldat. Wir sind hier alle Robinsone, einer wie der andere."
"Ich glaube nicht, daß es hier Robinsone gibt", sagte der Matrose bedächtig, "ihr seid nur Gauner, und ich bin hier Kommandant. Klar?" Mit Mühe hob er den Kopf und fügte gähnend hinzu: "Singen Sie keine Wolgalieder mehr. Ich fürchte, die Fische krepieren."
Ein einstimmiger Freudenschrei der Japaner ließ den Kommandanten aus seiner Schläfrigkeit auffahren. Die "Fischer" drängten sich aufgeregt am Wasser und begrüß ten mit lautem Geschrei einen weißen Schoner. Der Fun ker brüllte am lautesten von allen, riß sich seine gelbe Jacke herunter und schwenkte sie über dem Kopf, obwohl man auf dem Schoner auch ohnedies die Gruppe bemerk te. Das Schiff war nicht mehr als zehn Kabellängen ent fernt. Der Schoner kam gerade auf die Insel zu, und die Japa ner konnten sich nicht genug daran tun, Kossizyn das Bild von der kommenden Abrechnung in den schwäresten Farben auszumalen. Am schlimmsten von allen trieb es der Bootsmann, dessen Selbstgefühl durch den Komman danten schwer verletzt worden war. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, fuhr sich mit der Hand um den kurzen Hals und streckte die Zunge heraus: "Na, hast du dich schon auf die hänfene Krawatte vorbereitet?" Der Kapitän erklärte sogleich liebenswürdig: "Das sind wir . Das ist ein kai serliches Schiff. Bald können Sie sich ganz ausruhen, Herr Kommandant." "Das sehe ich", sagte Kossizyn mißmutig. Er zog schweigend den Revolver heraus, zählte noch mals die Japaner ab, indem er mit dem Finger auf jeden einzelnen deutete, sah in die Trommel hinein, überlegte
und sagte aufgeregt: "Sieben auf sieben . Das haut gerade hin." Mit diesen Worten sah er sich nochmals das Schiff an und wandte sich dann vom Meer ab. Der Kommandant hatte keinen Feldstecher nötig. Das war die bekannte "KairiMaru", ein bläulichweißer, sehr langer Schoner mit Aufbauten am Heck, die ihr Ähn lichkeit mit einem Kühlschiff verliehen. Offiziell gehörte der Schoner dem Ministerium für Land und Forst, tatsächlich aber erfüllte er verschiedene delikate Aufträge, die man nur mit Hilfe des Strafgesetzuches würdigen kann. Man brauchte nur in unseren Gewässern einen Krabbenfänger oder einen Raubschoner anzuhalten, so erschien in achtungsvollem Abstand vom Kutter die "KairiMaru" und knüpfte ein langes Gespräch voller Andeutungen und durchsichtiger Drohungen an. Mehrmals trafen wir sie in der Nähe von Seeflughäfen, neuen Werf ten und bei Bauten des Kamtschatkakalibers, und Satschkow gelobte zornig, ein Auge hinzugeben, um mit dem anderen "den Ochsen am Schlachtseil" zu sehen. Er ereiferte sich vergebens. Beide Augen unseres Maschiisten waren völlig unversehrt, und die freche "KairiMaru" trieb sich nun schon das dritte Jahr an der Küste von Kam tschatka herum und tauschte in der Nacht Blinksignale mit den Fabriken der japanischen Pächter aus. Nun war alles zu Ende. Kossizyn drehte sich um, ging am Ufer entlang und versuchte die Stelle auszumachen, an der das Boot mit dem Landungskommando anlegen wür de. Worauf er eigentlich noch hoffte, war schwer zu sagen. Er selbst hätte keine Antwort auf diese Frage geben kön nen. Die schwere Revolvertasche schlenkerte am Koppel
und klopfte ihm ungeschlacht, doch freundlich auf die Hüfte, als ob sie dem braven Matrosen zum letztenmal Mut zusprechen wollte. Hinter Kossizyn her liefen die "Fischer". Sie konnten es nicht abwarten, bis den Kommandanten von selbst sein Schicksal erreichen würde. Das Erscheinen der "Kairi Maru" und das Zischeln des Kapitäns ließen in ihnen den Entschluß heranreifen, mit Kossizyn ein Ende zu machen, ehe der Schoner das Landungskommando ans Ufersetzte. Wenn Satschkow oder Gutorow an der Stelle des Kom mandanten gewesen wäre, so würde die Angelegenheit weit schneller entschieden worden sein. Es ist schwer, die Patronen (in der Trommel) und einen kühlen Verstand (im Kopf) zu bewahren, wenn es den Finger zum Abzug zieht. Doch Kossizyn war zu bedächtig, als daß er die Dinge überstürzt hätte. Er ging schneller, doch auch die "Fischer" schritten eili ger aus. Hartnäckig und ohne Mühe hielten sie mit ihm Schritt und sprachen kein Wort. Man hörte nur das kurze Knirschen der Uferkiesel und die Schreie der Möwen, die den Menschen das Geleit gaben. Schweigend überquerten sie das morsche Treibholz, kletterten über Steinhaufen, stiegen hinter Kossizyn her zum Meer hinab und liefen den nassen, harten Ufersand entlang. Er drehte sich um und sagte müde: "He, anata! Ich brau che keine Begleiter." Der Kapitän japste pfeifend nach Luft und antwortete höflich: "Der Abschiedsspaziergang, Herr Kommandant." Sie gingen weiter. Es war ein seltsamer Spaziergang. Vorneweg der hochgewachsene, ein wenig vornüber gebeugte Sowjetmatrose mit mürrischem und schläfrigem
Gesicht, hinter ihm her sieben mordgierige, erboste "Fi scher" in Anzügen aus dem billigen blauen chinesischen Baumwollstoff und bunten Unterziehjacken. Wenn der Kommandant lief, liefen auch die "Fischer"; wenn der Kommandant stehenblieb, machten auch die Japaner sofort halt.
So gingen sie um die Insel herum und kamen ans Nord westufer - der einzigen für eine Landung geeigneten Stelle. Die kleine Bucht, die die Grenzschutzmatrosen später Kossizynbucht tauften, ist hier wie ein Hufeisen gebogen und hat hohe Uferränder, die sie ausgezeichnet vor dem Winde schützen. Hier bemerkte Kossizyn vor sich zwei lange Schatten. Der Funker und der Bootsmann waren vorausgelaufen und stellten sich dem Kommandanten in den Weg. Die übrigen umgingen ihn von der linken Flanke her, und alle zusam men bildeten einen zum Meer hin offenen Sack. Der Fun ker hatte einen Schraubenschlüssel in der Hand, der Bootsmann schwenkte die Runderpinne, die übrigen hat ten sich einfach mit Steinen und Ästen bewaffnet.
Auf so nahe Entfernung zu schießen wäre ungeschickt gewesen. Der Kommandant wich ins Wasser zurück und griff nach dem Revolver. Die "Fischer" griffen im Halb kreis an. Hinter ihnen, auf der kahlen Anhöhe, flackerte noch das Feuer. Die Rauchsäule ragte in die Höhe wie ein dickstämmiger Baum und warf ihren Schatten auf den Sand. Der Kapitän stieß in seiner Sprache ein paar Worte aus. Diesmal verstand Kossizyn so gut, als ob ihm diese Spra che geläufig sei: Der Tod wird schwer sein. Sieben auf sieben . Na was denn! Er stellte sich auf den glitschigen Steinen fester hin und schoß auf den äu ßersten "Fischer". Der Bootsmann fiel ins Wasser, die üb rigen stürzten vorwärts. Ein Stein traf Kossizyn am Ellen bogen und lenkte die gutgezielte Kugel ab. "Wer noch?" Als er auf den Sindo zielte, erwartete er, daß die anderen zuschlagen oder ihn anspringen würden. Doch ganz uner wartet standen die "Fischer" plötzlich wie erstarrt da. Nur der Kapitän, der die Augen zusammengekniffen hatte, duckte sich vor Angst und Wut und bewegte sich noch vorwärts. Auf dem Meer heulte eine Sirene. Die "Fischer" reckten die Hälse und blickten über den Kopf des Kommandanten hinweg auf den Schoner. Ihre Gesichter wurden von Se kunde zu Sekunde länger. Der Kapitän öffnete vorsichtig ein Auge, zischelte und ballte die Fäuste. Kossizyn konnte sich nicht umdrehen, die "Fischer" standen zwei Schritt entfernt von ihm. Er blickte seine Gegner an und bemühte sich, zu erraten, was auf dem Schoner vorging, und begriff nur das eine: Es war keine Zeit zu verlieren. Er rückte sich die Matrosenmütze zurecht, senkte den
Revolver und ging aus dem Wasser heraus auf den Gegner los. Der Funker wich als erster zurück, die übrigen folgten ihm. Die "Fischer" zogen sich immer schneller und schneller vom Meer zurück. Schließlich rannten sie davon. Als der Kommandant das Ufer erreicht hatte, drehte er sich um. Die "KairiMaru" fuhr im Geleit eines Grenz schutzkutters, der vorher durch die hohen Bordwände des Schoners verdeckt worden war. Jetzt machte der Schoner langsam kehrt und enthüllte dem Blick einen kleinen, grauen Kutter, eine grüne Flagge und einige Rotmatrosen, die schon in ein Boot gesprungen waren. Wie die "Smely" die "KairiMaru" getroffen hatte, dar über könnte man lange erzählen. Wir hatten sie sechs Seemeilen von der Vogelinsel entfernt gestellt und hatten dann sofort Kurs auf das Rauchsignal genommen (Satsch kow hatte geschworen, auf der Insel sei ein Vulkan ausge brochen). Wir sprangen an Land und stürzten Kossizyn entgegen. Doch wie immer nahm sich der Kommandant Zeit. Was war dieser etwas schwerfällige Mensch doch für ein präch tiger Bursche! Er wollte uns in aller Form empfangen wie es ihm als Kommandanten der Vogelinsel zustand. Wir sahen, wie Kossizyn die Japaner mit ein paar Hand bewegungen aufforderte anzutreten, wie er den kleinen Kapitän an den linken Flügel herausstellte und allen be fahl, den Bauch einzuziehen. Danach trat er drei Schritte zurück, warf noch einige kritische Blicke auf die "Fi scher", kommandierte "Stillgestanden!" und ging auf das Boot zu. Er trug die Matrosenbluse bis oben hin geschlossen und kam uns würdevoll entgegen. Er war abgemagert und sein
Kinn mit rötlichen Borsten bewachsen. Die Augen des Kommandanten waren geschlossen. Er war vollständig ermattet und schlief im Gehen.
Worterklärungen
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ein japanischer Gewehrtyp das Oberdeck vom vorderen Mast bis zum Bug Mitglieder der "Expedition für unterseeische Arbei ten besonderer Bestimmung" aus Tauen geflochtener Stoßdämpfer lockern, loslassen Mastspitze, so genannt, weil dort kleine Ringe angebracht sind, durch die die Flaggleinen geführt werden vorderster Mast auf Segelschiffen Festland Motorboot, so bezeichnet nach einer Stadt in Japan fünf Kabellängen entsprechen etwa einem Kilometer dreieckiges Segel am Klüverbaum Qualle Rohransatzstück Vorrichtung zum Befestigen von Tauen und Ketten im Binnenland fälschlich als Ruder bezeichnet Steuer des Schiffes. Ruderpinne - Hebelarm am Schaft des Ruders an der Reling befestigte Schutzwand Tau zum Segelspannen l Seemeile = 1852 Meter Kapitän Winde kleines Ruderboot l Wedro = 12,3 Liter
Heft 220 Heinz Beck Das gefälschte Protokoll
Hauptwachtmeister Kremmin blieb stehen und kniff die Augenlider zusammen. Er schätzte die Entfernung: Der Lichtschein dort oben kam nicht aus Ottos Gastwirtschaft, nein, er kannte seinen Abschnitt gut. Dieses Licht rechts, richtig -, es fiel aus einem Fenster des Hauses der Frau Baumann. Flüchtig schaute er auf seine Uhr: Gleich eins! Merk würdig! Zu so später Stunde hatte er noch nie Licht im Hause der alten Dame bemerkt. Sollte er anklopfen? Ein schmaler Weg führte schnurgerade vom Gartentor zum Haus. Zu seinem Erstaunen fand er die Tür nur an gelehnt. Rasch betrat er den Korridor und ging in die erleuchtete Küche. Leer. Wo mochte Frau Baumann sein? Warum ließ sie das Haus offen? Forschend sah sich Kremmin um. Er mußte Frau Baumann sprechen, irgend etwas stimmte hier nicht.