Victor Koman
Der Jehova-Vertrag Die Verschwörung gegen Gott
Deutsche Erstveröffentlichung
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Victor Koman
Der Jehova-Vertrag Die Verschwörung gegen Gott
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE UNHEIMLICHE BÜCHER Nr. 11/24
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE JEHOVA CONTRACT Deutsche Übersetzung von Wolfgang Lotz
Scanned by Doc Gonzo
Copyright © 1984 by Victor Koman Copyright © 1985 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1985 Umschlagfoto: MALL Photodesign, Stuttgart Umschlaggestaltung: Atelie r Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3-453-44078-1
Für Sandra Hendrick, eine dreifache Dame.
l Ich habe das alles schon erlebt und zur Hälfte selbst verschuldet und - offen gestanden - ich war voll und ganz bereit, die Konsequenzen zu ziehen. Also warf mich das, was der Doktor sagte, nicht um. Ich hatte die >Times< zur Hälfte ausgelesen, als Schwester Evangeline ins Wartezimmer kam und mich ansah. Ihre braunen Rehaugen waren feucht, als hätte sie gerade von einem geliebten Teddybär Abschied genommen. »Mr. Ammo? Dr. La Vecque erwartet Sie.« Ich schaltete die elektronische Zeitungsplakette aus und ließ sie in meine Brusttasche gleiten. Als ich an ihr vorüberging, klopfte ich ihr mit der Hand aufs Kreuz, ungefähr da, wo sich die Lawine ihres platinblonden Haares zu kräuseln begann. Diesmal lächelte sie nicht wie sonst. Jetzt wußte ich Bescheid. »Du mußt lernen, die Dinge mit mehr Gefaßtheit zu akzeptieren, Evvie. Verstehst du?« Ich grinste sie an. Sie warf mir noch einen Blick zu, und ihre Spannung schien nachzulassen. Ich versetzte ihr noch einen Klaps und ging ins Sprechzimmer. Dr. La Vecque behandelte die meisten der alternden Vagabunden, die sich in der Gegend von Figueroa und Fourth herumtrieben, so daß ich mich ihnen automatisch zugehörig fühlte. Und - ebenso selbstverständlich - sein Sprechzimmer war den Patienten angepaßt. Alle Nadeln waren weggeschlossen, ebenso die Drogenmuster und ähnliches. Seine Praxis lag acht Stockwerke unter meinem Büro in Arco Tower, oder vielmehr jenem Teil, der noch steht. Nachdem ich etwa zwanzig Minuten mit feuchten Handflächen gewartet hatte, hörte ich, wie sich die Tür öffnete. 5
»Nehmen Sie Platz.« La Vecque hielt nicht viel von Formalitäten. Ich setzte mich auf die Tischplatte, und er ließ seine schmächtige, vogelartige Gestalt in den zerschlissenen Sessel daneben sinken. Er warf die Akte, die er in der Hand hielt, auf den Tisch, rieb sich den Nasenrücken und seufzte. »Soll ich es Ihnen schonend beibringen, Dell?« »Nein.« »Sie haben noch sechs Monate - höchstens ein Jahr. Das Sarcoma ist metastatisch. Hat schon sämtliche Knochen angegriffen.« »Hört sich schmerzhaft an.« »Wird es auch sein. Ich kann Ihnen schmerzstillende Mittel geben.« »Vergessen Sie es, Doktor. Ich will nicht als Junkie sterben.« Einen Moment lang sah er gekränkt aus, ließ die Bemerkung aber durch. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück und musterte mich mit dem unparteiischen Blick eines Technikers. »Das staatliche Institut für Krebsforschung unterhält eine Klinik für osteogenes Sarcoma. Die könnten Sie umsonst behandeln.« »Ja, und dann sehe ich aus wie ein plastisches Skelett, imprägniert mit Kobalt Sechzig. Nein, danke. Wenn es soweit ist, kratze ich eben ab.« Er zog seine spärlichen Augenbrauen hoch und fragte: »Sind Sie ein religiöser Mann?« »Ich bin ein Mann. Und ich will nichts anderes sein, bis ich sterbe.« Ich stand auf. Er sah mich an, als hätte ich die Portokasse ausgeraubt, was mich daran erinnerte, warum er wohl seine Praxis mitten in Skid Row betrieb. Ich dankte ihm für seine Prognose und verschwand, wobei ich Evangeline noch einmal zuwinkte. An der Art, wie ihre Augenlider zuckten, erkannte ich, daß sie als Krankenschwester recht ungeeignet war. Aber ich konnte mir denken, warum La Vecque sie behielt. 6
Ich stieg die acht Stockwerke bis zu meinem Büro hinauf und überlegte mir dabei, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der Schmerz und die Anstrengung zuviel wurden. Wie lange noch, bis ich mich auf den klapperigen Fahrstuhl verlassen mußte, bis ich starb, oder das Ding mich umbrachte. Zwanzig Stockwerke in einem Stahlsarg in die Tiefe zu sausen, schien mir ein sauberer Tod als nachts wach zu liegen und zu fühlen, wie die Knochen langsam verfaulten. Ich bekam Depressionen. Lieber besoffen als deprimiert, dachte ich und ging durch die Tür mit der Aufschrift >D LL AMMO, SOLUTIONS, I C.<, wobei ich mir überlegte, ob ich wohl das Rätsel lösen könnte, wer die Buchstaben E und N gestohlen hatte. Ich holte eine Flasche Whisky aus der Schreibtischschublade und begann mich zu besaufen, wie gehabt. Immer wenn ich mich betrank und mein Kopf anfing zu summen und sich zu drehen, dachte ich darüber nach, warum ich mir überhaupt die Mühe machte. Zehn Millionen panamerikanischer Dollars warteten auf mich, und ich lebte wie eine Made, die zusammen mit den anderen Maden in einem sterbenden Kadaver herumkroch und sich bemühte, nicht so madenartig zu sein wie die anderen. Zehn Millionen, die ich unter verschiedenen Namen, die ebenso falsch waren wie mein jetziger, gespart hatte, und die ich bis zum Jahr 2000 nicht abrufen konnte. Also noch sechs Monate. Ich kam mir vor wie ein Marathon-Läufer, der hart vor der Ziellinie tot zusammenbricht. Sehen Sie, in meiner Branche wird man gut bezahlt, ist aber nicht geneigt, das Geld auszugeben . Plötzlicher Wohlstand könnte auffallen. Irgendein neugieriger Bulle oder FBI -Agent kann plötzlich anfangen herumzustochern. Wenn er dann genug herausfindet... Leute in meinem Beruf kommen gewöhnlich nicht vor Gericht. Sie beschließen ihr Leben mit einem Messer im 7
Rücken, in einem Dreckloch wie diesem, mit veränderten Fingerabdrücken, unkenntlichem Gesicht und vernarbter Netzhaut. Oder manchmal verschwinden sie ganz ein fach. Das Leben eines Killers ist im besten Falle ein schlechtes Risiko. Mit Hilfe von Professor Jack Daniel - der Whiskyflasche vor mir auf dem Tisch - kehrten die Erinnerungen zurück. Es wird behauptet, daß ich der beste Fachmann in diesem Geschäft bin. Ich bin seit siebenunddreißig Jahren als Killer beschäftigt und verdiene meinen Unterhalt ausschließlich in diesem Beruf. Mit fünfzehn ließ ich hinter dem Grashügel in Dallas Knallfrösche hochgehen. Die Jungens vom Geheimdienst hatten mir gesagt, es sei zu Ehren des Präsidenten. Aber ich wußte, daß sie nur zur Ablenkung bestimmt waren. Und ich hielt den Mund meine beste Eigenschaft und das Kennzeichen des echten Profi. Dafür bekam ich fünfzig alte amerikanische Dollars ausbezahlt. In den sechziger Jahren amüsierte ich mich königlich. Ich war jung, und es gab viele politischen Morde. Der eine Nachteil bei diesem Geschäft sind all die pressegeilen Hunde, die dir die Schau stehlen, weil du dich nicht traust, öffentlich aufzutreten. Aber mir paßte das gerade. Das einzige Mal, wo ich fast berühmt geworden wäre, war, als sie im Jahr '68 im Ambassador-Hotel überall Kameras hatten. Fast hätten sie mich dabei aufgenommen, als ich mich hinter den Fußballspieler duckte und Sirhan die Knarre in die Hand drückte, als ich mit ihr fertig war. Ich war auch derjenige, der Bobby den Rosenkranz überreichte. Es schien mir angebracht. Viele Leute dachten, es sei ein politischer Job gewesen. Ich wußte es besser. Es handelte sich um diese Schauspielerin und was er mit ihr gemacht hatte. Aber dieser Job verschaffte mir viel Kundschaft und größere und bessere Aufgaben. Johnson zum Beispiel. Manchmal besteht Mord nur darin, daß man die richti8
ge Person ins richtige Bett zu dem richtigen Plappermaul legt und dann in aller Gemütlichkeit zusieht, wie er umgelegt wird oder einem Verkehrsunfall zum Opfer fällt oder an Krebs stirbt. Das ernüchterte mich. Krebs ist für manche Leute in meinem Beruf die bevorzugte Waffe. Sie wird für gewöhnlich von Killern benutzt, die ihre Opfer in ein Krankenhaus oder ins Gefängnis einschleusen können. Regierungs-Killer wenden sie oft an. Ich halte das für unsportlich - außerdem dauert es zu lang. Ich überlegte, ob man das wohl bei mir angewandt hatte. Vielleicht ein überzufriedener Kunde? Osteogenes Sarcoma wurde von niemandem angewandt, den ich kannte. Spielte das überhaupt eine Rolle? Ich war ohnehin geliefert, wie immer es mich erwischt haben mochte. Und was spielte es schon für eine Rolle, wenn jemand bemerkte, daß ich hie und da etwas über die Stränge schlug und zu gut lebte. Eine Garrotte um den Hals, in irgendeiner stinkenden Seitengasse von Los Angeles, würde es mir nur ersparen, mich selbst umzubringen, wenn der Schmerz unerträglich wurde. Ich faßte einen Entschluß. Als ich morgens aufwachte, tanzten tausend übergewichtige Kobolde auf meinem Schädel herum. Ich hob den Kopf vom Tisch und torkelte durch die Halle zum Badezimmer. Benny, der Dipsoman, lag auf dem Boden ausgestreckt, einen Ellbogen im Klo, und schnarchte fröhlich vor sich hin. Ich schob ihn zur Seite, in eine würdevollere Position, und benutzte das Klo für den ihm zugedachten Zweck. Der Smog von Los Angeles drang durch den Ventilationsschacht ein. Ich war froh, daß ich keinen Lungenkrebs hatte. Als ich fertig war, ging ich in mein Büro zurück und trank zum Frühstück ein Glas Whisky. Ich mußte mich rasieren. Und baden - oder wenigstens kurz mal in Karbolsäure schwimmen. Ich steckte mir meinen .45er
Colt Lightweight Commander in den Gürtel und ging zur Treppe. Diesmal spürte ich es. Bis ich in die Lobby kam, tat mir alles weh. Ich setzte mich einen Momen t, aber davon wurde es nicht besser. Wenigstens wußte ich jetzt, was all die kleinen Stiche und Schmerzen der letzten Wochen zu bedeuten hatten. Ich sah mich um. Die Lobby diente als Aufenthalts raum für die alten, sterbenden Verlierer der Arco -SlumGegend. Sie saßen, lagen oder kauerten wie Bündel aus Lumpen und Gin herum und warteten darauf, daß der Tod ihnen den Gnadenstoß versetzte. Männer und Frau en, die der Fortschritt gleichgültig hinter sich gelassen hatte. Und ich war einer von ihnen. Ich fühlt e mich wie ein alter, kranker Hund. Ich zupfte mein Halstuch zurecht - wie all meine Kleidung der letzte Modeschrei von 1985 -, reckte mich zu meiner vollen Höhe von zwei Metern auf und trat über die anderen Vagabunden hinweg ins Freie. Ich war sowieso erl edigt. Wenn mich schon ein kosmisches Geschoß erwischen sollte, wollte ich wenigstens stilvoll abtreten. Ich ging zu meiner nächsten Bank. Dort hatte ich etwa fünfhunderttausend panamerikanische Dollars depo niert, die von einem Job an einem Senator stamm ten, der sich gegen den Privatbesitz von Solarkraft -Satelliten gesträubt hatte. Ihm ließ ich poetische Gerechtigkeit widerfahren. Er fuhr in sein Wochenendhaus nach Vermont. Abgelegene Landstraße. Dort wartete ich an einer scharfen Biegung auf ihn, e inen blankgeputzten parabolischen Reflektor in der Hand. Leichtes Geld. Ich bemerkte schon von weitem die Menschenschlan ge, die sich außerhalb der Bank bis zur nächsten Ecke erstreckte. Die Auszahlautomaten waren abgeschaltet und durch menschliche Schalt erbeamte ersetzt worden, die an Tischen in der Bankhalle saßen. Wachmänner mit Lasergewehren und Revolvern bildeten eine drohend 10
aussehende Reihe zwischen den Kunden und den Bankangestellten. Trotz meines Katers fiel mir auf, daß etwas nicht stimmte. Ich zog die Times von gestern aus der Tasche und drückte auf den Knopf für Seite eins, Kolonne eins. Da ich gewöhnlich mit der Witzseite begann, dann die Todesanzeigen las, danach die Sportseite und zum Schluß die Nachrichten, war die kleine Notiz meiner Aufmerksamkeit entgangen. Schon wieder eine Entwertung. Die Dame mit der Schubkarre hätte mich darauf bringen müssen. Ich seufzte und holte meine Bankkarte aus der Tasche. Ein Plastik-Plättchen mit dem Banksiegel. Wann hatte ich nur das Geld eingezahlt? '94? '95? Ich ignorierte das Protestgemurmel der nachdrängenden Kunden und stellte mich an, bis ich an die Reihe kam. »Der Nächste«, rief der Mann hinter dem Tisch und fügte hinzu: »Beruhigen Sie sich doch. Wir wechseln alles um. Es besteht kein Geldmangel.« »Das ist ja gerade das Problem«, flüsterte jemand. Ich legte meine Bankkarte auf den Tisch. Der Angestellte, ein hagerer junger Mann in rotem Jumper, steckte sie in den Computer neben ihm. Gähnend zog er sie wieder heraus und gab sie mir zurück. »Einzahlung oder Auszahlung?« fragte er. »Alles, was da ist. Sofort.« »Bar oder Debitkarte?« »In bar.« Er blickte mich an, als hätte ich ihn um Glasperlen oder Bärenfelle gebeten, dann langte er unter den Tisch und holte ein Päckchen orangefarbene Papierscheine hervor, mit dem eingravierten Konterfei eines mir unbekannten Mannes, dessen Kleidung noch altmodischer war als meine. Er blätterte zehn Scheine vor mir auf den Tisch. »... vierhundert, vier fünfzig, fünfhundert.« Er steckte die Hand in einen Sack an seiner anderen Seite, brachte 11
ein paar mit bunten Fäden durchwirkte Plastik -Jetons zum Vorschein und drückte sie mir in die Hand. »Und noch achtundfünfzig Cents.« »Ich hatte doch eine halbe Million Dollar hier deponiert!« Ungläubig starrte ich auf das Monopoly-Geld in meiner Hand und dann auf das wieselartige Geschöpf hinter dem Tisch. »Dieses Geld haben Sie im April 1992 eingezahlt. Seitdem hat es sieben Entwertungen und Umwertungen gegeben. Jetzt haben Sie noch fünfhundert pan-pazifische Dollars und achtundfünfzig pan-pazifische Cents: Der Nächste.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ohne mich noch einmal umzusehen, drängte ich mich durch das Spalier der Bundesbankpolizei. Ich wich einem Mann aus, der einen Sack, prall gefüllt mit dem lilafarbenen Papier der gestrigen Währung, heranschleifte. Dann trat ich hinaus auf die Straße und ging in Richtung Plaza. Ich strich mir das Haar zurück, wobei ein paar graue Haare an meinen Fingern haften blieben. Großartig. Und zu allem war diese Einzahlung eine meiner letzten gewesen. Ich rechnete nach. Über den Daumen gepeilt besaß ich zwischen sieben- und zehntausend pan-pazifische Papierfetzen. Mein Plan war also futsch. Ohnehin würde ich sterben, bevor ich ihn hätte ausführen können. Ich hätte mein Geld in Gold anlegen sollen, aber das hatte ich für ein noch größeres Risiko gehalten, weil der Besitz von Gold schon seit '88 gesetzwidrig war. Der Heimweg erschien mir länger und tat noch mehr weh. Eine Raumfähre, die zur Erde zurückkehrte, donnerte über meinen Kopf hinweg. Ich gab meine Betrachtung der verschmutzten Gehsteige auf und starrte die Arco-Plaza an. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als beide Türme groß und schwarz dastanden und sich wie zwei steinere 12
Götzenbilder gegen den blauen Himmel abhoben. Jetzt sah der Himmel stets etwas bräunlich aus, und es stand nur noch ein Turm, sozusagen. Ich entsinne mich, wie damals im Jahre '87 die > revolutionäre Volksbrigade des Zwölften November< im siebenundzwanzigsten Stock des südlichen Turmes eine kleine Kernspaltung vor nahm. Die gesamte Südseite des Gebäudes brach zusammen und riß auch einen großen Teil des nördlichen Turmes mit sich, wobei fast alle vorderen Fenster herausgesprengt wurden. Ein Fall von unmittelbarer Grundstücksentwertung. Nicht sehr viele der Überlebenden wollten es riskieren, in dieser radioaktiven Scheiße wohnen zu bleiben, und so wurde die alte Innenstadt - obgleich sie ziemlich gründlich entgiftet wurde - über Nacht zu einem Slum. Wer dort noch hauste, war der Abschaum der Menschheit, und für mich war der Ort das perfekte Versteck. >Solutions Inc.< war lediglich eine Deckung. Ich über nahm hin und wieder sogar ein paar kleine Aufträge: verlorene Wertgegenstände, von zu Hause weggelaufene Töchter und dergleichen. Keine Scheidungsfälle. Es war eine prima Deckung. Ich ging in eine Telefonzelle, steckte meine Fernsprechkarte in den Schlitz und wählte die Nummer eines Kollegen. Es läutete dreimal. »Ja«, dröhnte seine Stimme wie ein Nebelhorn. »Pete - schau mal nach deinen Ersparnissen auf der Bank. Es sieht ganz so aus, als ob der Lobby -Plan im Eimer ist. Weitersagen.« Ich legte auf. Pete würde sich schon vorstellen können, daß aus unserem Zehnjahres plan nichts werden würde. Sehen Sie, wir - das heißt ein paar Leute, die den gleichen Beruf hatten wie ich - hatten geplant, unsere Ersparnisse dazu zu verwenden, ein Gesetz durchzupauken, das eine Amnestie für alle politischen Verbrechen, die im zwanzigsten Jahrhundert begangen worden waren, gewährleisten würde. Wir hatten dafür sogar größere 13
Politiker, die uns dabei im Weg standen, umgelegt. Ein toller Anwalt hatte den Wortlaut des Gesetzentwurfes aufgesetzt, und die Bestechungsgelder lagen bereit. Nur daß wir jetzt kein Geld mehr hatten. Wenigstens die meisten von uns. Ohne meine Ersparnisse war das Ganze eine große Pleite. Mein Ruhestand und mein Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung waren im Rauch von brennenden, entwerteten Geldscheinen aufge gangen. Ich habe die Angewohnheit, einen Plan, der nicht mehr aktuell ist, sofort fallenzulassen. Meine Vorstellungen von Amnestie schlug ich mir aus dem Kopf und beschloß, alles zu vergessen und die mir verbleibenden paar Monate so gut es ging zu verleben. Es gibt da eine Gegend im Stadtzentrum, wo das Gesetz vorwiegend durch Abwesenheit glänzt. Wobei angenommen werden muß, daß es sich an anderen Orten durchsetzt. Unter den Slums von Bunker Hill, wo sich sogar die Ratten nicht hineintrauen, zieht sich ein unterirdisches Labyrinth hin. Dort war für Geld alles zu haben: Sex, Rauschgift, Valuta, Waffen, Informationen, Glücksspiele - es gab alles. Nur durch eines unterschied es sich von allen anderen Rattenlöchern des Verbrechens. Ein Blinder konnte mit einer Handvoll Gold durch die unterirdischen Gänge gehen, ohne belästigt zu werden. Da konnte einer seine Tochter in den Laden im Erdgeschoß schicken, um eine Eiswaffel zu holen, und sie brachte die Waffel, das Wechselgeld wie auch ihre Jungfräulichkeit unversehrt nach Hause. Bewaffnete Wächter im Smoking verhinderten jedes Verbrechen. Die Manager wollten keinesfalls ihre wohlhabende Kundschaft aus Malibu, Valley Rim und Disney County verscheuchen. Gleichermaßen verhinderten die Wachen das Eindringen von Spielverderbern - wie das FBI und die Polizei von Los Angeles. Angesichts der Tatsache, daß die halbe Stadtverwaltung dort die Kasinos und Puffs aufsuchte, 14
waren diese Vorsichtsmaßnahmen vielleicht unnötig. Dennoch waren die Sicherheitsstreifen mit Lasergeweh ren, Nervenlähmern und automatis chen Pistolen be waffnet. Ich ging über das freie Feld, wo die Gäste ihre Luxusau tos abgestellt hatten, und betrat die >Auberge<. Im ersten Stock befanden sich die Kasinos, Läden und Nachtklubs. »Willkommen im >Auberge<, Sir. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?« Ich überließ der Rotblonden hinter dem Tresen meinen Trenchcoat. Sie nahm ihn mit höflichem Lächeln entge gen und zeigte mir auf meine Frage hin den Weg zum >Casino Grande <. Ich war schon einige Male dort gewesen - meistens als Gast bei geschäftlichen Anlässen, aber ich habe die schlechte Gewohnheit, mich in geschlossenen Räumlichkeiten zu verirren. Wenn das geschieht, verirre ich mich gewöhnlich dorthin, wo ich nichts zu suchen habe. In meinem Beruf wirklich eine schlechte Gewohn heit. Trotz der Weisungen der Rotblonden verirrte ich mich schon wieder und ging den richtigsten oder auch falsche sten Weg meines Lebens. Es kommt immer darauf an, von welchem Gesichtspunkt aus man es betrachtet.
2 Ich hatte nicht bemerkt, daß der vollbesetzte, elega nte Raum, den ich betreten hatte, das >Casino of the Angels< und nicht das > Grande < war. Nicht, daß es mir im Moment etwas ausgemacht hätte. Ich wollte nur mein Geld ver spielen. Genau das tat ich dann auch - und ohne viel Geschick. Der Blackjack-Tisch schluckte die Hälfte von dem, was ich besaß. Ich las den schäbigen Rest auf und schlenderte hinüber zu den Würfeln. Rundherum drängten sich die
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Leute. Meistens reiche Leute, aber auch eine Menge Verlierer - wie Ihr sehr Ergebener -, die gerne noch mehr verloren, um sich als Teil der glitzernden, diamantenbe stückten Gesellschaft zu fühlen. Der Abschaum und die krankhaften, neurotischen Spieler hielten sich an die Lokale in den Untergeschossen, wo schmierige Huren häuser und Drogenverkaufsstellen anzutreffen waren. Ich war froh, daß es im >Auberge< außer den Fahrstühlen separate Eingänge zu den verschiedenen Stockwerken gab. Am Würfeltisch sah ich sie dann. Ich hatte mich eben zwischen zwei Kiebitze gedrängt, die aussahen, als würden sie keinen Cent darauf wetten, daß die Sonne untergeht. Alle anderen wetteten wie verrückt, besonders die Männer. Ich sah auch, warum. Sie stand am Kopfende des Tisches und hielt die Würfel locker in der Hand. Ihr blondes Haar hing ihr über die Schultern, bis an den Ausschni tt des silberfarbenen Abendkleides. Mit dunkelroten Fingernägeln klopfte sie gegen die kleinen grünen Würfel, schüttelte sie in der Hand und warf sie dann quer über den Tisch. Sie lande ten neben mir. Eine Zwei und eine Drei. »Schon wieder fünf«, rief jemand. Die Zuschauer besonders die Männer - klatschten Beifall. Mit stoischer Ruhe nahm der Croupier die Würfel auf und schob ihr ein paar Jetons zu. Sie lächelte, aber es war kein Lächeln, wie man es im allgemeinen von Blondinen erwartet. Wenn es noch etwas schlimmeres gibt als den blöden, hirnlosen Ausdruck der meisten Blondinen, dann ist es die gespielte Intelligenz, welche die anderen zur Schau tragen. Aber es gibt Ausnahmen, und diese Lady war eine. Sie erschien unbeeindruckt von ihrem Gewinn, aber nicht gelangweilt. Sie spielte offenbar nur zum Zeitver treib, ohne dem Spiel ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen. Dagegen waren die Männer äußerst aufmerk sam. Die öligen Gigolos blickten aufmerksam auf den Berg von Jetons, der sich vor ihr aufhäufte. Die Wölfe 16
wandten ihre Aufmerksamkeit dem Abendkleid zu, welches hautnah eine Haut umschloß, die es verdiente, hautnah umschlossen zu werden. Ich sah genau, wer von uns am Tisch sich darüber klar war, daß wir bei ihr keine Chance hatten. Das waren nur ganz wenige, die ihre arktischen blauen Augen bemerkt hatten sowie ihren Blick, der die Wärme eines Schneesturms besaß und auf niemandem haften blieb. Ich riß meine Augen von ihr los und ließ den Blick durch den Raum schweifen, wobei mir zwei interessante Ereignisse nicht entgingen. Zunächst trat einer der Aufseher aus einer Spiegeltür auf den Besitzer des Spielklubs zu, sagte ihm etwas und deutete dabei auf die silberne Lady. Dann kam ein Trio nervöser Wiesel, denen man schon von weitem die Gangster ansah, einzeln durch den Haupteingang herein und traf zusammen. Kurz bevor der Inhaber die Lady am Würfeltisch er reichte, sammelte sie die meisten ihrer Jetons ein, nickte den Umstehenden höflich zu und ging zur Kasse. Der Eigentümer ging an ihr vorbei, als hätte er sie nicht bemerkt, zählte mit einem Blick die auf dem Tisch ver bliebenen Jetons und machte im Unterton dem Aufseher Vorwürfe. Der strich sich mit der Hand über sein Toupet und zuckte mit den Schultern. Dann entfernten sie sich in verschiedenen Richtungen. Eine Matrone in den Wechseljahren ergriff die Würfel und begann zu spielen. Sie seufzte hörbar, als das Glück sie im Stich ließ. Die Silberlady erreichte die Kasse etwa zur gleichen Zeit wie die drei nervösen Gauner im Smoking. Ich sah mich nach den Wächtern um. Zwei von ihnen waren auf der anderen Seite des Saales mit einem Besoffenen beschäftigt. Das Trio griff sich an die Hüften, und ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich drängelte mich vor und erreichte die Kasse noch vor der Blonden, wobei ich mich zwischen sie und die drei Gangster schob. Ich stoppte unvermutet, so daß sie in mich hineinlief und ihre Jetons fallen ließ. Gleichzeitig 17
hatten die drei schon ihre Pistolen in den Händen und bedrohten den Kassierer. Die Blonde hatte sich gebückt, um ihren Gewinn vom Boden aufzulesen. »Warum passen Sie nicht a u f . . . « Ich bedeutete ihr, ruhig zu sein, ging in die Kniebeuge und zog meine Automatic aus dem Gürtel. Einer der drei Gangster schlug jemanden zu Boden, der an die Kasse getreten war. Eine Frau schrie auf, und das Publikum wich zurück. Die drei kleinen Kerle wurden von Panik ergriffen. Einer fuhr herum und richtete seine Waffe aufs Publikum. Der zweite folgte seinem Beispiel, während der dritte einen Sack mit orangefarbenen Scheinen vollstopfte. Die Wächter versuchten, von hinten heranzukommen, ohne die Aufmerksamkeit der Gauner auf sich zu lenken. Mich hatten sie anscheinend noch nicht bemerkt. Ich zielte mit der Automatic nach oben. Dann richtete der mieseste der drei, dessen Smoking am schlechtesten saß, seine Waffe auf mich. Das Flackern in seinen Augen verriet den Dilettanten. Hinter mir zog die Blonde scharf die Luft ein - mehr aus Überraschung als aus Angst. Ich feuerte. Der erste Kerl kippte um. Auf seinem Rockaufschlag erblühte ein blutiger Fleck wie eine Rose. Ich legte auf den nächsten Kniich an, im gleichen Augenblick wie die Wachen, die - die Ablenkung durch mich ausnutzend vorstießen und ihre Nervenlähmer abfeuerten. Ich befand mich genau am Rande des Aktionsfeldes, das diese Dinger haben. Ich war fast gelähmt. Wenn ich es nicht besser gewußt hätte, wäre es mir vorgekommen wie ein Herzanfall. »Wir müssen hier raus«, flüsterte eine Stimme hinter mir. Hier rauszukommen war genau das, was ich am meisten begehrte. Ich richtete mich auf. Sobald ich merkte, daß ich ohne allzu große Mühe gehen konnte, strebte ich dem Ausgang zu. Die Wächter waren anscheinend zu beschäftigt, um mir Beachtung zu schenken, obgleich ich meinen .45er immer noch in der Hand hielt. Einer von 18
ihnen blickte mich kurz an, wandte sich aber wieder dem Toten und seinen schlafenden Kameraden zu. An der Tür wandte ich mich um und sagte: »Hey, Ihre Jetons...« Sie war nicht mehr da. Ich sah mich im Kasino um, dann draußen im Gang. Dort sah ich eine Silberfigur, die unbemerkt durch den Tunnel ging. »Hey, Lady!« rief ich ihr nach. Wenn sie ihre Jetons nicht haben wollte, dann eben nicht. Aber ich mußte mich bei ihr bedanken, daß sie mir beim Aufstehen geholfen hatte. Quatsch! Ich ärgerte mich ja nur, weil SIE sic h nicht bei MIR dafür bedankt hatte, daß ich ihr das Leben gerettet hatte. Glaubte sie etwa, da würde jedesmal einer mit der Pistole bereitstehen, wenn sie ihn brauchte? Sie hörte mich und blieb stehen. Ihr Gesicht trug den eigenartigsten Ausdruck, den ich jemals bei einem Weib gesehen hatte. Sie sah schockiert aus. Hätte ich sie nicht früher schon aus nächster Nähe gesehen, hätte ich geglaubt, es sei ganz einfach Hochnäsigkeit. Aber sie schien tatsächlich nicht zu erwarten, daß ich mich weiterhin um sie kümmerte. Sie wandte sich ab und ging davon, wobei sie nicht mehr ganz so hochmütig erschien. Bevor sie um die Ecke verschwand, blickte sie noch einmal zurück. Ich zuckte mit den Schultern und begab mich zum Ausgang des >Auberge<. Die Sicherheitsmaßnahmen waren mal wieder recht lasch. Die Wachen am Ausgang hatten wahrscheinlich gar nicht gemerkt, daß in einem der Kasinos etwas vorgefallen war. Sie waren hauptsächlich dazu da, Betrunkenen und Drogensüchtigen den Weg hinaus zu zeigen. Ich ging die Hope Street in Richtung Flower hinunter und dachte an die Silberlady. Wofür hielt sie sich eigentlich, daß sie gelassen zusehen konnte, wie ein Mann 19
einen anderen umbrachte, ohne daß es sie sonderlich zu berühren schien. Als ob sie es erwartet hätte? Was zum Teufel kümmert es mich, dachte ich. Vielleicht nahm sie an, ich sei ein Angestellter des Klubs oder so was. Ich steckte die Hände tief in die Taschen und ging ins Büro. Im Vorzimmer brannte Licht. Normalerweise schließe ich mein Büro ab und lasse das Vorzimmer offen. Auf diese Weise bekomme ich mehr Aufträge. Manchmal liegt allerdings nur Benny, der Dipso, auf dem Fußboden herum. Aber diesmal hatte ich Besuch. Er erhob sich, als ich eintrat. Obgleich er nur wenige Zentimeter größer war als ich, ließ seine Haltung, durch die er mich zu überragen schien und die darauf abzielte, mich psychologisch einzuschüchtern, den erfahrenen Geschäftsmann erkennen. Ich beschloß, dem entgegenzuwirken, indem ich den starken Mann markierte. »Mr. Dell Ammo, nehme ich an?« Er trug den elegantesten Maßanzug aus feinstem Stoff, den ich je gesehen hatte. Sein dunkelbraunes Haar fiel ihm in einer Art loser Shag-Frisur über die Ohren. Es paßte zu ihm, obgleich er schon Mitte Vierzig zu sein schien. Alles, was er an sich hatte, paßte zu ihm. Sogar die sanften braunen Augen, mit denen er mich ansah. In jeder Hinsicht strahlte er Perfektion aus - in Haltung, Kleidung, Manieren und Selbstsicherheit. Er war mir auf Anhieb unsympathisch. »Ja, ich bin Dell Ammo. Damit hätten wir uns zur Hälfte vorgestellt. Wer sind Sie?« Ich schloß meine Bürotür auf, ging hinein, machte Licht und ließ mich vorsichtig in meinen Drehsessel sinken. Meine Knochen fühlten sich an wie zerbrechliche Rosenstengel, bei denen die Dornen nach innen gerichtet waren. Ich war bemüht, meine Schmerzen zu verbergen. Ich deutete auf den Besucherstuhl, aber er blieb stehen und stützte sich auf einen sündhaft teuer aussehenden antiken Spazierstock. Es 20
hätte gut zu ihm gepaßt, wenn der Stock einen Degen enthalten hätte, der in Kurare getaucht war. »Mein Name ist Emil Zacharias.« Na klar. Gebrauchte heute niemand mehr seinen richtigen Namen? >Emil< paßte ebensowenig zu ihm wie >Dell< zu mir. Aber ich ging auf ihn ein. »Was kann ich für Sie tun?« Jetzt setzte er sich und lehnte den Stock an sein Bein. Er faltete die Hände und sagte: »Wie ich höre, Mr. Ammo, haben Sie in der Vergangenheit auch Lösungen für äußerst - eh - schwierige Probleme gefunden.« »Das steht ja in meiner Broschüre.« »Ja.« Er spielte mit seinem Spazierstock und klopfte damit auf eine der weniger abgetretenen Stellen im Teppich. Er sah recht besorgt aus, als blieben ihm die Fragen, die er stellen wollte, wie Angelhaken im Hals stecken. Er starrte mir ins Gesicht. »Ich brauche jemanden...« Er zögerte. Ich wußte genau, welches Wort er gebrauchen wollte, aber ich half ihm nicht, es auszusprechen. Schließlich wurde er des Wartens überdrüssig und sagte: »Einen Killer. Ich will jemanden umbringen lassen. Mehr oder weniger.« Ich lehnte mich im Sessel zurück und seufzte. »Tut mir leid.« »Wie bitte?« »Tut mir leid. Mit so was beschäftige ich mich nicht.« »Oh.« Er holte ein Etui aus poliertem Ebenholz hervor, entnahm ihm eine Zigarette und steckte sie in den Mund, nachdem er sie kurz auf dem Handrücken festgeklopft hatte. Jede seiner Bewegungen war langsam und routiniert- dazu bestimmt, meine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Er steckte das Etui wieder in die Tasche und hob beide Hände an die Zigarette. Ich konnte nicht sehen, welche Art von Feuerzeug er in der Faust hielt, als die rotgelbe Flamme die Spitze seines Sargnagels erfaßte. Er inhalierte tief und blies dann den Rauch durch den halbgeöffneten Mund wieder aus. 21
»Ich habe mir sagen lassen, Sie seien der Beste auf Ihrem Gebiet.« Ich blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an und sagte nichts. »Ich bin in der Lage, sehr gut zahlen zu können«, sagte er. »Der Job wird mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, aber das Honorar ist angemessen. Das kann ich Ihnen versichern.« Mit einemmal kamen mir mein Alter, mein Gesundheitszustand und meine Wünsche zum Bewußtsein. »Tut mir leid, Zach«, sagte ich in der Hoffnung, daß die freche Anrede ihn in Empörung versetzen und vertreiben würde. »Es tut mir leid, aber ich kann im Moment keine weiteren Klienten annehmen, was immer das Honorar sein mag. Vielleicht können Sie in etwa einem Jahr wiederkommen.« »Das wäre zu spät.« Eben. »Tut mir leid«, sagte ich nochmals und öffnete die letzte Pulle Whisky, die ich im Büro hatte. Emil stand auf, wobei er seinen Spazierstock lose in der Hand hielt. »Nun gut«, sagte er und streckte mir die rechte Hand entgegen. »Vielleicht kann ich Ihnen etwas dalassen, worüber Sie in den nächsten Tagen nachdenken können.« Automatisch erhob ich mich und gab ihm die Hand. Sein Händedruck war kräftig, nicht so lasch, wie ich erwartet hatte. »Ich nehme keine Vorschüsse an. Daraus entstehen nur Mißverständnisse. Guten Abend.« Ich lehnte mich nach hinten und legte die Füße auf den Tisch. »Wie Sie wünschen. Trotzdem nehme ich an, daß Sie in den nächsten Tagen Anlaß haben werden, über meinen Vorschlag nachzudenken. Guten Abend.« Er drehte sich um und verließ das Büro. Ich mochte ihn nicht. Ich mochte weder sein Selbstbewußtsein noch seine Sicherheit, ich würde mir die Sache überlegen. 22
Es machte mir keinen besonderen Spaß, mich zu besau fen. Aber es war besser, als an ihn denken zu müssen. Ich band mir die Schnürsenkel auf und lockerte mein Hals tuch. Auf halbem Wege zum Besoffensein stand ich noch einmal auf und schaltete die Lüftung ab, die w ieder mal verrückt spielte. Beim Einschlafen dachte ich daran, daß es in meinem Büro stank wie in einer alten Ölraffinierie. Ich wachte in der gleichen Position auf, in der ich eingeschlafen war- Füße auf dem Schreibtisch, Hände im Schoß, den Sessel rückwärts gegen die Bücherwand ge lehnt. Ein Gefühl der Übelkeit überfiel mich. Auf dem Weg zum Klo, draußen in der Halle, versuchte ich, mich daran zu erinnern, was ich geträumt hatte. Benny hockte in einer der Kabinen und sang alte Seemannslieder. Ich stellte mich ans Pißbecken an der Wand. Meine Blase war zum Platzen voll. Vor dem Becken wurde ich fast ohn mächtig. Es war, als pinkelte ich Reißzwecken. Ich blickte nach unten und sah, daß ich Blut und eine milchige Substanz ausschied. Ein Mann in meinem Alter gerät nicht so leicht in Panik. Ich habe schon schlimme Verkehrsunfälle gese hen, war bei Jobs beschäftigt, wo die Köpfe von Männern zu einem schmierigen Brei zermalmt wurden, und habe gesehen, wie Panzerfahrzeuge kleine Kinder überfuhren. Aber das ist nicht das gleiche, als wenn die Anzeichen des nahen Todes in einem rot -goldenen Strahl aus einem herausströmen. Alles drehte sich im Kreise. Ich packte den Beckenrand und hielt mich daran fest. Ich mußte unbedingt Dr. La Vecque aufsuchen. Es war wohl meine Sorge wegen des ausgeschiedenen Blutes, die mich meine Knochenschmerzen vergessen ließen, als ich zu ihm in die Praxis eilte. Unterwegs dachte ich an alle möglichen Dinge. Vielleicht hatte mich der Doktor angelogen, um meine letzten Tage etwas ange23
nehmer zu gestalten. Vielleicht waren Komplikationen eingetreten, die er nicht bemerkt hatte. Oder vielleicht war Zacharias der Beauftragte von Leuten, die ich durch einen Mord gekränkt hatte. Möglicherweise hatte er mir irgendein Kontakt -Gift beigebracht. M an mußte das alles in Erwägung ziehen. La Vecque runzelte die Stirn. »Sieht nicht gut aus. Außer dem Blut scheiden Sie Krebszellen und verschie dene Proteine aus. Ich nehme an, die Metastasen haben sich schon weiter ausgebreitet, als ich gedacht hatte.« »Und?« »Ich will noch eine Generaluntersuchung vornehmen. Morgen. Und Sie sollten für eine Weile ins Kranken haus.« »Nein.« Ich erhob mich. »Wenn ich weg bin, bin ich weg. Wir sehen uns morgen.« »Hoffentlich.« Ich ging ins Büro zurück - halb ärgerlich und halb erstaunt darüber, warum mir das alles so wichtig er schien. Das Rädchen in der Maschine kümmert sich nicht darum, ob man es auswechseln kann oder ob sein Versagen die Maschine zum Stehen bringt. Meine Welt geht mit mir unter - ja, natürlich -, aber alle anderen Welten bestehen weiter. Den Tag und Abend verbrachte ich damit, ein altes Buch mit dem Titel >Der Würfelmann< noch mal zu lesen. Ein Satz, den ich noch in Erinnerung hatte und der mir Kummer machte, als ich ihn wieder las, lautete: »Das Leben besteht aus Inseln der Ekstase, in einem Meer von Qualen, und nach dem dreißigsten Lebensjahr sieht man selten noch Land.« In der Nacht besoff ich mich wieder. Morgens - eigentlich war es schon Nachmittag - erhob ich mich von meiner Pritsche im Hinterzimm er meines Büros und ging die First Street hinunter zum Belvedere Hospital, wo die Apparaturen für die Generaluntersu chung mich erwarteten. Der Weg dauerte über eine 24
Stunde. Es schien mir ein sehr schlechtes Zeichen zu sein, daß mir meine Knochen beim Gehen überhaupt nicht weh taten. Vielleicht war mein Nervensystem schon am Zusammenbrechen. Schwer atmend kam ich an der Rezeption an. Das gedrungene, dickliche Mädchen hinter dem Tresen schmatzte an ihrem Kaugummi herum und überreichte mir eine Plakette mit Formularen zum Ausfüllen. Ich las: >Seite l von 17. < »Muß ich das alles ausfüllen?« fragte ich, die Augen zum Himmel erhebend. »Ja«, erwiderte die Sprecherin des Himmels hinter dem Tresen. Eine Stunde später lag ich auf einem Tisch, der aussah und sich anfühlte wie ein Eisblock. Ich betrachtete mich. Immer noch ziemlich fleischig, obgleich ich jede Wette eingegangen wäre, daß viele von den Muskeln im Laufe der letzten Jahre erschlafft waren. Ich hätte gern gewußt, ob ich immer noch achtzig Liegestütze in vier Minuten ausführen konnte. Als ich merkte, wohin meine Gedanken liefen, wandte ich mich an La Vecque. »Wie geht es mir?« »Halten Sie den Mund und drehen Sie den Kopf nach hinten. Normal atmen. Alles läuft prima.« »Dr. La Vecque?« Ein hagerer Junge mit Brille steckte den Kopf durch die Tür. Dann folgten eine Akte und eine Plakette. Der Doktor nahm dem Jungen beides ab und las sich den Befund durch. »Mein letztes Muster?« fragte ich. Bebend, wie vom Schlag getroffen, fuhr er mit der Hand durch die Luft und setzte sich zu dem Techniker am Bildschirm. Der zeigte ihm meinen Computer-Befund. Er kniff seine kleinen Schweigsäuglein zusammen. »Die Untersuchung wird wiederholt«, sagte er. »Das kostet aber Geld.« »Ich zahle dafür.« Noch nie im Leben hatte ich gehört, daß La Vecque sich 25
erboten hatte, etwas zu bezahlen. Ich erstarrte vor Er staunen. »Liegen Sie still«, er erschien mit einemmal sehr nervös. Reihen von Schweißtropfen standen in den Falten auf seiner Stirn. Er stand auf, setzte sich dann wie der und las die Befunde nochmals durch. »Hier ist es«, sagte der Techniker nach ein paar Minu ten. »Das gleiche wie vorhin.« La Vecque betrachtete den zweiten Befund, blickte auf den Bildschirm und sagte lange Zeit gar nichts. »Kann ich aufstehen, Doc?« »Ja, sicher, Dell, sicher.« Seine Finger trommelten auf seinem Kinn herum wie eine tanzende Spinne. »Hat es sich verschlechtert?« Der Techniker ging um uns herum und machte die Apparatur für den nächsten Patienten fertig. Während ich mich anzog, beobachtete ich den braven Doktor, der aussah wie ein sinkendes Schiff. Nach fünf Minuten sprach er die ersten Worte: »Haben Sie heute schon Verdauung gehabt?« Nette Banalitäten. »Nein.« »Dann gehen Sie ins Labor.« Die Prozedur war mir widerwärtig. Aber ich ging ins Labor, tat, was sie wollten, und wartete anschließend auf die Analyse des Computers. La Vecque sagte mir, ich solle nach Hause gehen und am nächsten Morgen wiederkommen. Er zitterte so stark, als stünde er vor einem Exeku tionskommando. Nicht gerade Hoffnung erregend. Der Weg zurück ins Büro ist mir kaum noch in Erinne rung. Es fiel mir nur auf, daß ich weniger keuchte. Ich zog mir einen Smoking an, der von dem Geld gekauft war, das ich auf einem anderen Sparkonto bei einer anderen Bank unter einem anderen Namen liegen gehabt hatte, und machte mich auf zu >Auberge<. Wenn die Nachrichten so schlimm waren, wie es - nach La Vecques Verhalten zu urteilen - den Anschein hatte, wollte ich mich wenigstens noch mal richtig amüsieren, bevor ich abkratzte. 26
Oder vielleicht gab es noch einen Grund, hinzugehen. Auf dem Weg zum >Casino of the Angels< empfand ich etwas wie... ja, wie Erwartung. Würde ich die Lady in Silber wiedersehen? Der Gedanke ließ mich mitten im Schritt stocken. Was erwartete ich eigentlich? Ein letztes Abenteuer? Zum Abschluß meines Lebens eine Affäre mit einer Frau, die halb so alt war wie ich? Jemand stieß mich von hinten an. Ich drehte mich um und sah ein blutjunges Ding vor mir. Natürlich kein normales Mädchen. Soviel Glück habe ich nicht. Sie trug ein pfirsichfarbenes Kleid, das eng am Körper anlag oder vielmehr an dem, was in ein paar Jahren ein Frauenkörper sein würde. Ihr Make-up, gekonnt aufgetragen, verlieh ihr ein erwachsenes und sinnliches Aussehen. Ihre langen Fingernägel hatten die gleiche Farbe wie ihr Kleid. Nach der Art, wie sie über den Teppich stapfte, war anzunehmen, daß sie Schuhe mit hohen Absätzen trug. Sie strich ihre lange, kastanienbraune Mähne nach hinten und sprach mit leiser Kleinkinderstimme. »Paß doch auf, wo du hintrittst, du Arschloch.« Ich sah sie einen Moment lang an und brach in lautes Gelächter aus. Ihre orangebemalten Lippen schmollten. »Paß doch auf, wo du hingehst«, verlangte sie, die Fäuste in die Hüften gestützt, und starrte mich aus grünen Augen mit kindlicher Wut an. »Warum paßt du nicht auf? Du warst doch hinter mir.« »Ach, halts Maul.« Sie rauschte an mir vorbei und ging mit provozierendem Schwingen der Hüften den Gang hinunter, bis ich sie in dem Gewirr aus den Augen verlor. Halb belustigt, halb mitleidig, schüttelte ich den Kopf. Als ich um die nächste Ecke bog, trat die Kleine wieder vor mich hin, die Arme überkreuzt, eine Zigarette zwischen den schmalen Fingern. »Bist du nicht im falschen Stockwerk?« fragte ich sie. »Angeschafft wird zwei Etagen tiefer.« »Nein, ich bin schon im richtigen Stockwerk«, sagte sie. »Ein paar von den Wächtern mögen mich, und die 27
lassen mich hier herumlaufen, bis mich jemand mit nimmt. Dann gehen wir runter ins Dritte.« »Dann will ich dich nicht aufhalten und dir dein Geschäft verderben. Auf Wiedersehen.« Ich ging an ihr vorbei und bemerkte ihren erstaunten Blick, den ihre Jugend nicht ganz verbergen konnte. »Hey, Mister!« rief sie mir nach. Sie lief hinter mir her und packte mich am Rock. »Willst du nicht mit mir ins Bett gehen?« Sie baute sich in aufreizender Pose vor mir auf. Ich versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, was mir aber nicht gelang. »Ich bin kein Politiker, Kindchen. Ich küsse keine Babys.« Ihre langen Wimpern blinkten zweimal auf und nieder. Dann starrte sie mich an wie eine Wanze im Dreck. »Aber jeder Mann, den ich anspreche, will mit mir schlafen. Und mir Geschenke machen.« »Dann betrachte mich als den ersten, der dir einen Korb gibt.« Ich schickte mich an, weiterzugehen. Sie hielt Schritt mit mir. »Ich kann echt gut blasen.« »Fein. Dann blase dich mal weg und verschwinde.« »Aber du mußt mich doch wollen.« »Wer sagt das?« »Alle wollen mich haben.« Sie blieb stehen und sah mich finster an. Ich stellte mir vor, wie sie wohl nackt aussehen mochte - nur in Strümpfen und hohen Absätzen auf mir reitend, ihre Hände auf meiner Brust. Ein lächerlicher Anblick. Abstoßend. Ich schüttelte den Gedanken gewaltsam ab und blickte zu ihr hinunter. »Jemand sollte dir den Hintern ver sohlen.« Sie lächelte mich an. »Das kannst du auch haben. Verhandeln wir über den Preis.« Es war hoffnungslos. Ich sagte nichts weiter und betrat das Kasino. Sie japste vor Schreck, als ich sie einfach 28
stehen ließ, und warf mir Blicke nach wie Messerstiche. Ich mischte mich unter die lärmenden Spieler im Kasino. Es war das falsche Kasino. Oder vielleicht auch das richtige.
3 Ich merkte, daß ich irrtümlicherweise ins >Casino Grande< gegangen war, und wandte mich wieder zum Gehen. Dann sah ich aus dem Augenwinkel etwas Silbriges, umgeben von einer Zuschauermenge. Die Zuschauer gaben einen Ausruf des Erstaunens von sich. Die silberne Lady war wieder am Würfeltisch. Ich beobachtete einige Minuten lang, wie sie sich auf das Spiel konzentrierte. Sie plazierte ihre Wetten. Ein paar Sekunden später hatten die Mitspieler gegen sie gesetzt. Sie rollte die Würfel aus. Sieben. Sie ließ das Geld liegen. Es dauerte ein Weilchen, bis die anderen Spieler ihr Geld plaziert hatten. Die ganze Zeit kamen neue dazu und schlössen sich der Menge von Zuschauern und Spielern an. Sie rollte die Würfel aus. Vier und sechs. »Zehn«, verkündete der Croupier und gab ihr die Würfel zurück. Sie warf nochmals. Zehn. Einige enttäuschte Wetter verließen den Tisch und sahen sie an, als hätte sie ihren Babys die Milch weggenommen. Sie sammelte einen Teil ihres gewonnenen Geldes ein. Ich deckte eine ihrer Wetten, die nicht so hoch war, daß sie mich ruinieren würde, falls ich verlor. Sie schüttelte die Würfel lässig in der Hand und ließ sie rollen. Zweimal sechs. »Zwölf«, sagte der Croupier, nahm die Würfel auf und gab sie jemand anderem. Die Lady in Silber blickte mich vorwurfsvoll an, als sei es meine Schuld, sammelte ihre restlichen Jetons ein und verließ den Tisch. Ich nahm meinen Teil und ging an die Bar. 29
Während ich zusah, wie der Bartender meinen Whisky Sour mixte, tauchte der mir schon bekannte Silber glanz auf. Sie setzte sich auf den übernächsten Bar hocker. »Margarita ohne Salz«, bestellte sie. Sie sprach langsam und in einem leisen, intimen Ton. Als man ihr den Drink servierte, schob sie dem Bartender ein paar Jetons zu und wandte sich zu mir. »Sie gehören nicht hierher.« »Okay. Also gehöre ich nicht hierher. Und was tut ein nettes Mädchen wie Sie...« »Sie sind anders. Sie bemerken mich. Sie sehen mich.« Ich musterte sie von oben bis unten. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte sie die langen, schlanken Beine eines Modells. Weiter oben wölbte sie sich genau an den richtigen Stellen und verengte sich an den noch richtigeren Stellen. Ihre durchdringenden blauen Augen hoben den trotzigen Gesichtsausdruck noch hervor. Wer sich mit ihr anlegte, mußte den Preis dafür zahlen. »Sie sind nicht leicht zu übersehen, Lady.« Ich wandte mich wieder meinem Drink zu. Sie nippte an ihrem und sagte: »Ich möchte Ihnen für neulich abend danken. So etwas passiert mir nicht oft.« »Mir auch nicht.« »Wie heißen Sie?« »Ammo. Dell Ammo.« Sie nickte und trank einen Schluck von ihrer Margarita. Anscheinend wollte sie mir ihren Namen nicht nennen, also beschäftigte ich mich wieder mit meinem Whisky Sour. »Was haben sie wohl mit denen gemacht? Mit den Gangstern, meine ich.« Ich trank mein Glas aus und machte dem Bartender ein Zeichen. Er schenkte mir nach, und ich hielt den Mund. Ich konnte mir denken, was mit den Gaunern geschehen war. Wahrscheinlich hatte man sie in den Keller gebracht, wo Perverse bizarren Sex ausübten. 30
Sowohl an Lebenden wie auch an Toten. Ich glaubte nicht, daß die Lady das gern gehört hätte. Obgleich diese Prozedur der Abschreckung diente und gleichzeitig eine Art Schadenersatz darstellte, drehte es einem doch den Magen um. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, daß die noch hinter Ihnen her sind. Die belästigen Sie nie wieder.« Sie stellte ihr Glas ab. »Warum glauben Sie, daß die hinter mir her sind?« »Irgend jemand hat es auf Sie abgesehen. Wenn nicht der kleine Kniich, der seine Kanone auf Sie anlegte, dann ein anderer. Warum hatten Sie es so eilig, hier wegzukommen?« »Ich finde den Tod - abstoßend.« Sie nahm ihr Glas, trank es in einem Schluck aus und stellte es auf die Bar. Dann stand sie auf und ging zum Spieltisch zurück. Ich folgte ihr und stellte mich in die Reihe der wartenden Spieler. Sie stand hinter mir und sah dem Spiel zu. Ich kam ziemlich schnell an die Reihe. Es gab eine Menge Verlierer an diesem Tisch. Ich verlangte ein neues Paar Würfel, bekam sie, rollte sie in der Hand herum und setzte mein ganzes Geld. Die anderen deckten die Wetten ab, und ich warf. »Neun«, rief der Croupier und schob mir die Würfel wieder zu. Ich warf nochmals. Eine Drei und eine Sechs. Das Geld floß mir zu, aber ich setzte das meiste davon wieder ein. Die anderen legten hastig ihre Wetten auf den Tisch. Ich blickte mich um und sah, wie die Blonde mich beobachtete. Ihr schönes Gesicht hatte einen leicht erstaunten Ausdruck. Ich lächelte sie an und warf. Sieben. Ich ließ das Geld stehen. Diesmal dauerte es etwas länger, bis alle Wetten gedeckt waren. Ich warf weiter. Sieben. Die Zuschauer hielten vor Erstaunen die Luft an. Ich auch. Immer schneller wurde gewettet. Ich warf. Sieben. Jetzt wurden die Leute verrückt. Papiergeld und Jetons flogen nur so auf den Tisch. Ich lächelte der 31
Lady hinter mir zu. Sie erwiderte mein Lächeln und nickte mir zu, weiterzuspielen. Ein Paar Dreier. Der Croupier fischte die Würfel aus den Geldstapeln heraus und gab sie mir zurück. Ich warf, und die roten Würfel tanzten wie zwei Rubine. »Wieder sechs«, sagte der Croupier gleichzeitig mit einigen der Spieler. Ich versetzte mich selbst in Erstaunen. Wieder nahm ich die Würfel auf, versicherte mich, daß alle Wetten gedeckt waren, und warf. Eine Eins und eine Fünf. Die Leute hatten sich in zwei Gruppen geteilt: Meine Gegenwetter, die wollten, daß ich verlor, und die Zu schauer, die mich anspornten, noch eine Sechs zu werfen. Beträchtliche Geldsummen waren über den Tisch ver streut. Ich warf. Auf einen Aufschrei der Zuschauer hin blickte ich auf die Würfel. Eine Eins und eine Fünf. »Jesus Maria«, entfuhr es mir. Dann sah ich, wie die Fünf auf die Seite kippte und die Sechs nach oben zu liegen kam. »Eine Sieben«, verkündete der Croupier. Auf einmal war ich bei meinen Gegenspielern äußerst beliebt. Sie strichen ihre Gewinne ein und boten mir Drinks an. Die Lady in Silber lachte auf. Ihre Stimme klang wie das Klingeln kleiner Eisstückchen in einem Kristallglas. Ich lächelte sie an. »Der alte Herr hat sich einen großen Abend gemacht und muß jetzt ins Bett.« Ich steckte das wenige Geld, das mir noch geblieben war, in die Tasche. »Reden Sie sich nur nichts ein, Mr. Ammo. So alt sind Sie gar nicht. Schauen Sie mal in den Spiegel, wenn Sie nach Hause kommen.« »Gewiß, Schätzchen.« Ich nahm an, daß sie jetzt gehen würde. Aber sie schaute mich an wie eine Füchsin, die ein ihr unbekanntes Lebewesen beobachtet. »Ich...« Ein fast verzweifelter Ausdruck lag in ihren Augen. »Ich heiße Ann Perrine. Ich mag Sie. Wenn Sie 32
jemals Hilfe brauchen sollten, rufen Sie mich an. Ich arbeite bei der Bautista Corporation an der Cordova Avenue.« Damit drehte sie sich abrupt um und ging eilig davon. Eine kesse Bemerkung meinerseits blieb unausgesprochen. Ich wechselte die Jetons, die mir geblieben waren, ein, stellte fest, daß ich weder gewonnen noch verloren hatte, und machte mich auf den Nachhauseweg. Auf dem Weg nach oben hielt ich vor La Vecques Klinik an. Aus dem Spalt unter der Tür schien noch Licht. Ich klopfte mit den Handknöcheln an das morsche Holz. »Wer zum Teufel belästigt mich noch zu dieser Stunde?« Es war noch nicht spät, aber er hielt seine Sprechstunden strikt ein. »Ich bin es, Doc.« »Dell? Kommen Sie rein.« Das Schloß sprang auf. Ich stieß die Tür auf und sah, wie La Vecque in seinem Aktenzimmer verschwand. Einen Augenblick später kam er mit einer Plakette und einer Akte zurück. »Sehen Sie sich das mal an.« Er drückte auf die winzigen Knöpfe der Plakette, worauf die fast identischen Umrisse zweier menschlicher Körper sichtbar wurden. Der einzige Unterschied lag in der Färbung. »Das bin ich doch, oder?« Ich hielt die Plakette mit den Fingerspitzen. »Ja. Der Befund vom vorigen Monat und von heute. Sehen Sie den Farbunterschied, da, wo Ihre Knochen sind? Und die Unterschiede am Darm und an der Prostata?« »Ja, ich glaube.« Das Ganze war mir ein Rätsel. Die Farbtöne waren vollkommen unterschiedlich. »Der Laborbefund zeigt große Mengen von Krebszellen im Urin und im Stuhl...« »Danke, Doktor. Ich habe noch nicht zu Abend gegessen.« »Halten Sie den Mund!« Er starrte mich aus seinen dunklen Augen an und besah sich dann wieder meine 33
Akte. Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben. »Der Befund zeigt, daß die Präsenz von Krebszellen in Ihrem Körper stark abgenommen hat. Wie das vor sich geht, weiß ich nicht, aber irgendwie scheiden Sie Ihr Sarkoma aus.« »Was?« »Verdammt noch mal, Dell, Sie pissen Ihren Krebs aus! Ich war nicht ganz sicher, als ich es auf dem Bildschirm sah, aber die Blutproben und der Laborbefund beweisen es. Es ist eine Art spontane Remission, und Sie scheiden rapide Ihre Metastasen wie auch Ihre osteogenen Zellen aus.« Er strich sich über seine schweißbedeckte Glatze und machte mit der anderen Hand eine hilflose Bewegung. »Es ist mir nicht klar, wodurch es verursacht wird - ich verstehe den Transport-Mechanismus nicht -, ich weiß noch nicht einmal, ob ich nicht ganz einfach verrückt bin. Aber Ihr Krebs heilt aus!« »Oh!« »>Oh< ist alles, was er sagen kann! Hören Sie, Ammo, Sie sind nicht mehr am Absterben. Sie sind...« Er sah zu mir auf, kniff die Augen zusammen und starrte, als hätte er eben seine Mutter im Puff erwischt. »Ihr Haar!« Ich griff mir instinktiv an den Kopf. Er fühlte sich an wie immer. »Was ist denn?« fragte ich. »Ihre Haarwurzeln!« Ich blickte in den Spiegel. Mein zerzaustes graues Haar schien ein paar Millimeter über meinem Kopf zu schweben. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß unter meinem matten grauen Schöpf schwarze Haarwurzeln hervorsprossen. »Was hat das zu bedeuten?« »Fragen Sie mich nicht«, erwiderte La Vecque. »Ich habe nicht Zauberei studiert. Wenn Sie mir eine Million geben, bekomme ich vielleicht die Antwort heraus. Oder Sie geben mir die fünfzig Dollar, die Sie mir schulden, und wir sind quitt.« Ich blätterte ihm fünf orangefarbene Zehner hin. Er 34
warf sie auf ein Tablett mit Instrumenten, schaltete die Plakette ab und sagte: »Danke. Jetzt machen Sie, daß Sie wegkommen, bevor ich die ganze Welt für verrückt erkläre.« Ich schloß die Tür leise hinter mir und ging durch die Halle zum Treppenhaus. Ich beschloß, mich zu testen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich die Treppe hinauf in mein Büro. Meine Beine und meine Lungen merkten es kaum. Immer noch rätselnd, kam ich an die Tür zu meinem Büro. Sie stand halb offen und ließ einen Lichtstrahl auf den zersprungenen Linoleumboden fallen. Es gibt Mo mente, wenn man fühlt, daß die Lösung eines Rätsels hinter der nächsten Tür liegt. Dies war ein solcher Moment. Leise zog ich meine Automatik aus dem Halfter. In meinem Vorzimmer klapperte etwas. Füße scharrten. Ich schlich mich näher heran. Mein Schatten flitzte von einer Seite der Halle zur anderen. Mit einem Schritt stand ich im Türrahmen. Seine sportliche Gestalt füllte den beigefarbenen Anzug, den er trug, gut aus. Er kehrte mir den Rücken zu, und alles, was ich sehen konnte, war sein brauner Haarschopf und der Spazierstock, den er hinterm Rücken in behandschuhten Händen hielt. »Mr. Ammo«, sagte er. Dann erst wandte er sich mir zu. »Mr. Zacharias.« Ich steckte meine Pistole weg und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. »Sie haben mich erwartet?« fragte er lächelnd. »So wie eine Hungersnot nach der Stur mflut. Was wollen Sie?« »Es handelt sich um den Job, über den wir gesprochen hatten. Sie hatten genügend Zeit, es sich zu überlegen.« »Die Antwort ist immer noch negativ.« »Eine hübsche Frisur lassen Sie sich wachsen.« Ich wußte, worauf er anspielte, stellte mich aber 35
dumm. »Ja, na und? Vielleicht durchlaufe ich meine zweite Kindheit.« »Und die Schmerzen? Sie die weg?« »Ja, wenigstens vorläufig. Warum fragen Sie?« Ich wußte genau, warum er fragte. Und ich wußte auch, was er als nächstes sagen würde. »Ich hatte Ihnen ja versprochen, ich würde Ihnen etwas geben, was Ihnen helfen sollte, es sich zu überlegen. Soll ich es zurücknehmen?« Das war es also. Ich war bisher noch niemandem begegnet, der mir einen Vorschlag gemacht hätte, den man nicht ausschlagen konnte. Jetzt stand er vor mir - der Pate. Wenn man es so nennen konnte. »Was zurücknehmen?« Ich steckte mir eine Zigarette an und blickte mit gespielter Gleichgültigkeit dem Rauch nach, der zur Decke aufstieg. »Das wissen Sie ganz genau. Ihr Leben.« »Was soll es? Ich werde alt. Das Leben ist ohnehin Mist. An sich bin ich bereit, jederzeit abzutreten.« Ich ging in mein Arbeitszimmer. Zacharias kam hinterher. »Trotzdem haben Sie bis vor ein paar Tagen noch Pläne für Ihren Ruhestand und Ihre finanzielle Sicherheit gemacht. Wir können, wenn Sie wollen, hier noch stundenlang sitzen und miteinander fechten. In Wahrheit wollen Sie doch nicht sterben, und ich biete Ihnen einen Ausweg.« Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch und drückte die Zigarette in der Kaffeetasse aus. Er hatte natürlich recht. Der Tod war mir noch nie wünschenswert erschienen. Als ich herausfand, daß ich Krebs hatte, hatte ich mich damit abgefunden. Aber jetzt - es mußte ja nicht sein. »Erst mal: Wie lautet Ihr Vorschlag?« Er setzte sich in den Sessel neben der Couch. Diesmal, als er sich eine Zigarette anzündete, versuchte ich zu sehen, wie er es machte. Ich war mir immer noch nicht sicher, wie er es anstellte. 36
»Eine einzige Tötung. Nur ein Geschöpf.« Lächelnd fächelte er sich mit der Hand den Rauch weg. »Und wer ist dieses Geschöpf?« »Es trägt viele Namen. Gott, Jehova, Allah, Brahma, König der Könige...« »Okay.« »... der Allmächtige, der Schöpfer...« »Verstehe.« »... Jahveh, Adonai, El Elyon...« »Stimmt schon.« »... der Herr, der Heilige Geist...« »Schon gut!« brüllte ich. »Ich glaube Ihnen aufs Wort, daß Sie Thesaurus gelesen haben. Ich verstehe vollkommen. Sie wollen, daß ich den Allerhöchsten umlege.« »Den Allerhöchsten - ja.« Er hatte aufgehört zu lächeln und zeigte den Ausdruck, den ich bei zahllosen kleinen Leuten gesehen hatte, wenn sie mich baten, jemanden umzulegen, der viel stärker, reicher oder mächtiger war. Meistens weigere ich mich. Aber dieser Auftrag bewegte mich zum Nachdenken. »Zach, ich glaube nicht an Gott.« »Das brauchen Sie auch nicht. Nur umbringen sollen Sie Ihn.« »Aber wenn ich nicht daran glaube, daß das Objekt überhaupt existiert...« »Vielleicht nicht für Sie. Aber Er existiert. Töten Sie Ihn.« Ich steckte mir die nächste Zigarette an, schnüffelte mißtrauisch, um sicherzugehen, daß man mir nicht etwas untergejubelt hatte, und lehnte mich träge in meinem Sessel zurück. »Und wenn ich es tue?« »Dann sollen Sie Ihr Leben haben, solange Sie es wünschen, Jugend, Gesundheit...« »Aber keine Tricks - nicht daß Sie mich plötzlich in eine junge, gesunde Heuschrecke verwandeln. Kein fauler Zauber.« »Keine Tricks, Mr. Ammo.« 37
Ich goß mir den letzten Rest Whisky ein, den ich noch in der Schublade hatte, trank einen Schluck und überlegte. Ich hatte den Begriff Gott noch nie gemocht. Für Hypothesen hatte ich nichts übrig. Hier saß jemand vor mir, der meinen Krebs rückgängig machen konnte... anscheinend - obgleich man nicht wissen konnte, ob er nicht mit La Vecque unter einer Decke steckte - und der mehr über mich zu wissen schien, als jeder andere außer mir selbst. Pete war der einzige Mensch, der von meinem Ruhestandsplan wußte. »Und wenn ich Ihn nicht umbringen kann?« »Dann sind Sie innerhalb eines Jahres tot.« Ich bedachte die Alternative. »Mein Honorar würde sich auf fünfhundert pro Tag plus Spesen belaufen. Fünfhundert Gramm Gold - zu hinterlegen im Tresor des Casino Grande. Einen Reinfall mit Papiergeld riskiere ich nicht mehr.« »Vierhundert.« »Wollen wir uns um den Preis streiten, wenn ich Gott umbringen soll?« »Also gut - fünf.« Er streifte den Handschuh ab und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie. »Kein Kontrakt? Kein Blut?« »Mr. Ammo«, seine Mundwinkel kräuselten sich wie tote Blätter. »Wenn die Absicht, eine Sünde zu begehen, allein schon Sünde ist, genügt mir Ihre wörtlich ausgedrückte Zustimmung, die größte Todsünde zu begehen, vollkommen für meine Zwecke.« »Und was sind Ihre Zwecke?« »Lästige Rivalität auszuschalten.« Er drehte sich um und verließ mein Büro - auf dem üblichen Wege. Bevor er das Vorzimmer durchquert hatte, rief ich ihm nach: »Warten Sie! Wo finde ich denn Gott?« Seine Stimme drang zu mir zurück, während er weiterging: »Das ist eine Suche, die schon viele angestellt haben, die viel weniger Grund dazu hatten als Sie, Mr. Ammo. Alles Gute.« 38
Seine Schritte hallten hohl durch die Halle. Ich hörte das Surren des Fahrstuhls und hätte gerne gewußt, in welchem Stockwerk er anhalten würde. »Jesus Maria«, sagte ich und ließ mich in den Sessel fallen. »So ein Scheißkerl.«
4 Ich mußte Gott töten. Das war klar. Ich hatte noch nie einen Kontrakt aufgegeben. Außerdem - dachte ich würde es nicht allzu schwer sein, jemanden umzubrin gen, von dem die meisten Menschen annahmen, daß er ohnehin schon tot war. Aber zunächst einmal mußte ich Gott finden. Am nächsten Morgen marschierte ich die Figueroa Avenue zur Fifth Street hinunter über Schutthaufen und Glasscherben, welche die Gehsteige wie Spinnweben überzogen. Die Luft roch etwas sauberer, und ein paar blaue Fleckchen zeigten sich am Himmel. Zwei Häuserblocks hinter der Fifth stand die Bibliothek. Alle aktuellen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, die im Computer der Zentralbibliothek im Valley gespeichert waren, lagen hier aus für jene, die sich keine Bibliotheksplakette leisten konnten. Ein paar junge Kerls, die gerade dabei waren, die abbröckelnden Stufen vor dem Eingang gänzlich kaputtzutreten, machten sich aus dem Staube, als sie mich sahen. Ich sehe aus wie ein älterer Bewährungsbeamter, und mein Erscheinen hat gewöhnlich die entsprechende Wirkung auf Halbwüchsige. Ich war darauf vorbereitet, den Nachmittag und einen Teil des Abends damit zu verbringen, herauszufinden, was Gott eigentlich war. Als ich jedoch die Abteilung für religiöse Schriften betrat, wurde mir klar, daß ich mich um etwa drei Lebzeiten verschätzt hatte. 39
Nachdem ich eine Stunde umhergewandert war und die Titel betrachtet hatte, hielt ich einen Stoß Bücher unter dem Arm, in denen alle großen Religionen behandelt wurden. Ich kam mir vor wie ein Student vor der Abschlußprüfung - was ich in gewisser Hinsicht ja auch war. Ich las mehrere Stunden lang, wobei ich eine Definition nach der anderen entdeckte, die alle entweder völlig widersprüchlich waren oder so klar wie Pennsylvania Rohöl. Gott, so lernte ich, is t folgendermaßen beschrieben: Oberste Wirklichkeit - unbewegliche Bewegung Maßstab der Realität - höchste Realität - einzige Realität direkte Erfahrung (das hatte ich erhofft) - eins mit dem Menschen - abgesondert vom Menschen - abgesondert von allem - ein Teil von allem - alles - der Anfang anfangslos... Als die Sperrstunde kam, klopften tausend kleine Teufel mit Hämmern auf meinem Kopf herum. Ich verließ die Bibliothek verwirrter denn je. Vorher hatte ich wenig stens eine Vorstellung von Gott gehabt. Er war jener behaarte Donnerer, den manche Leute für nötig hielten, um sie davor zu bewahren, Telegrafenmasten umzufahren. Zweiundfünfzig Jahre lang war ich ganz gut ohne Ihn ausgekommen, und jetzt plötzlich mußte ich unbedingt wissen, wer Er war. Alles, was ich mir unter Ihm vorstellen konnte, war ein Ungewisses Etwas, das irgendwie irgendwo irgendwas anstellte. Gewiß, ich hatte reichlich Material. Aber mein Kontrakt enthielt mehr falsche Verlockungen als das Lächeln einer Nutte. Von Westen wehte ein kalter Wind die Fifth Street hinunter und wirbelte Staub und Schmutz auf. Ich zog den Kopf ein und sah, wie mir der Dreck mit jedem Schritt um die Füße wehte. Gott töten. Der Gedanke erschien mir jetzt - weit entfernt von der ruhigen Bestimmtheit, die Zacharias ausstrahlte - immer absurder. Vielleicht war er nur ein 40
Verrückter. Vielleicht war das Ganze ein Trick, um mir meine früheren Jobs nachweisen zu können. Aber für gewöhnlich schlugen die Rächer keine derartigen Umwege ein. In meinem Beruf kam der Tod mit der Geschwindigkeit eines Sportwagens, einer Gewehrkugel oder eines Lichtstrahls. Kein Killer war einen so ausgeklügelten Mordplan wert, so künstlerisch er auch seine eigenen Morde gestalten mochte. Nein, ich hatte schon gewußt, worauf ich mich einließ. Meine Seele hatte ich ihm nicht verkauft. Seelen waren für ihn nur Kleingeld. Mein Kontrakt schrieb allerhöchsten Vatermord vor. Ich hätte ein Honorar von tausend pro Tag verlangen sollen. Gott töten. Wie denn? Sollte ich einen Unfall vortäuschen? Eine natürliche Todesursache? Oder eine Kugel ins dritte Auge? Nun gut, die Methode würde ich mir überlegen, wenn ich Ihn gefunden hatte. Aber da war ich wieder am Anfang. Wie sollte ich Ihn finden? Manche behaupten, Gott befände sich außerhalb des Universums. Andere sagen, Er befände sich überall. Wieder andere - Er sei das Universum. Ich beschloß, meine alte Methode anzuwenden, wenn ich etwas herausfinden wollte: mich auf der Straße umzuhören. Der Wind legte sich, während ich weiterging. Dünner Sommernebel lag über der Brücke an der Fourth Street. Die Straßenlampen glühten wie Lichter aus einer anderen Welt. Aus einiger Entfernung war der Straßenverkehr auf dem Hollywood Freeway zu hören. Der Nebel dämpfte das Geräusch zu einem Flüstern. Ein schmaler Halbmond ging im Osten auf. Der Morgen war nahe. An der Fourth Street, unmittelbar neben dem südwärts führenden Hollywood Freeway, steht die Kirche von St. Herman of Alaska. Eigentlich ist es nur ein heruntergekommenes Hotel, das mein Freund, der Priester, zu einer Mission umgebaut hatte. Die Eingangstür war nicht abgeschlossen, und ich ging hinein. 41
Joey Moreno saß vorgebeugt in einem der zwei Kir chenstühle und trank Chianti aus der Flasche. Sein weißer Kragen war voller rosa Flecken. »Hey, Joey! Zuviel Sakrament!« Er rülpste und wandte sich zu mir um. Sein rostbraunes Haar ging in den Bart über, so daß sein Gesicht von einem struppigen Dreieck umrahmt war. »Dell! Wie geht es? Willst du dich bekehren lassen oder dich nur unterhalten?« »Ich bin auf der Suche nach Gott, Joey.« Er ließ die Flasche auf den Stuhl neben sich gleiten und drehte sich ganz zu mir um. »Du wirst Ihn nicht finden, Dell. Ich suche Ihn schon seit Jahren.« Er starrte auf den Fußboden und stampfte mit dem Fuß auf. »Gott ist ein Kakerlak, Junge. Er hat sich in unzählige Teile zersplittert, um uns besser beaufsichtigen zu können.« Ich lächelte. »Wie geht es der Gemeinde?« »Die Sünder sündigen immer weiter, und Samstagabend spielen sie Bingo.« »Aber wo Gott ist, weißt du nicht.« Er erhob sich und richtete sich zu seiner vollen Höhe von zwei Metern auf. »Begib dich zu den Höchsten«, gröhlte er, »denn die Höchsten werden die Niedrigsten sein und die Niedrigsten die Höchsten!« Er fiel auf die Knie und beschwor St. Herman, die Telefonsteuer aufzuheben. Ich steckte die Weinflasche weg und verzog mich. Mattes Sonnenlicht färbte die Überbleibsel des nördlichen Arco Tower rot und orange. Die Straße lag noch in verträumtem Halbdunkel, in dem sich nur ein gelegentlicher Lichtstrahl aus einem der Fenster zeigte. An der Ecke von Figueroa und Fourth stand ein Mann im dunklen Anzug. Er hielt eine Zeitschrift mit dem Titelbild nach außen vor der Brust und sprach die Herumtreiber an, die hin und wieder vorbeischlurften. Keiner beachtete ihn. Ich ging auf ihn zu und fragte ihn, wie ich Gott finden könnte. Glücklich darüber, daß ihm jemand Aufmerk42
samkeit schenkte, gab er mir eine seiner Zeitschriften und sagte: »Du mußt Jesus in dein Leben einschalten.« »Nein. Ich möchte Gott sehen.« Hastig nahm er die Zeitschrift zurück. »Das ist keinem Sterblichen vergönnt.« Er sah mich an, als hätte ich ihm einen Drink über die Schuhe geschüttet. Ich zuckte mit den Schultern und machte mich auf den Weg ins Büro. Er blickte mir kopfschüttelnd nach. Im Büro angekommen, schritt ich längere Zeit rastlos im Zimmer umher und versuchte eine Lösung zu finden, einen Hinweis, der mich näher an den Allerhöchsten heranbringen würde. Von keinem meiner früheren Auftraggeber war Hilfe zu erwarten. Sobald ein Auftrag ausgeführt war, war man bis zum nächsten Job verges sen. Und Zach schien auch nicht bereit, zu helfen. Ich streckte mich auf der Couch aus, um ein wenig zu schlafen. Beim Einschlafen kam mir eine Idee. Ich ließ einen Moment verstreichen, bis ich wieder alle Sinne beisammen hatte, nahm den Telefonhörer ab und wählte die Auskunft. »Welche Stadt?« fragte eine raspelnde Stimme. »Los Angeles. Die Nummer von Gott, bitte.« »Ist nicht eingetragen, Sir.« »Dann geben Sie mir die Nummer der Bautista Corporation in Cordova.« Ich erhielt die Nummer und legte auf. Dann wählte ich erneut. »Bautista Development«, kam eine sanfte Stimme vom anderen Ende der Leitung. »Ann Perrine, bitte.« »Wer spricht dort bitte?« »Dell Ammo.« Sie ließ mich ein paar Minuten warten, bis ich verbunden wurde. »Dell?« Sogar am Telefon erinnerte ihre Stimme an Samt und gedämpftes Licht. »Ja. Hören Sie mal - ich weiß, das ist etwas ungewöhnlich -, aber Sie hatten mir doch gesagt, ich könnte Sie anrufen, wenn ich Hilfe brauchte.« 43
»Ja, natürlich. Ich sagte Ihnen schon, Sie sind anders als...« »Ja. Sie werden mich für einen verrückten alten Mann halten - aber ich brauche Hilfe bei - na ja, bei Recherchen, die ich über ein religiöses Thema anstelle.« Ihr Interesse war sofort erweckt. »Ich habe mal an der Universität eine Magisterarbeit in Philosophie geschrieben. Vielleicht hilft das. Was brauchen Sie denn?« Es aufzuschieben, wäre nur Zeitverschwendung gewesen. Darum sagte ich geradeheraus: »Ich bin auf der Suche nach Gott. Gott persönlich.« Ein Dutzend Herzschläge lang war alles still. Dann sagte sie: »Sie suchen Gott? Ist das Ihr Ernst?« »Ja.« »Warum denn?« Unbequeme Frage. Auf die Gefahr hin, daß sie mich auf der Stelle für verrückt erklären würde, sagte ich: »Ich habe einen Auftrag übernommen, Ihn umzubringen.« Man muß ihr zugute halten, daß sie nicht laut auflachte. Längere Zeit sagte sie gar nichts. Im Glauben, sie hätte abgehängt, sagte ich leise: »Verdammt noch mal«, und wollte auflegen. »Dell?« kam die schüchterne Stimme aus dem Hörer in meiner Hand. »Ja?« Ich hob den Hörer wieder ans Ohr. »Ich werde Ihnen helfen.« »Wirklich?« »Ich kann jetzt nicht mehr länger sprechen...« »Treffen wir uns heute abend in der >Auberge<. In der Cocktail Lounge vom >Hope and Anchor<. Um acht.« »Gut.« Sie legte auf. In den unteren Stockwerken der >Auberge< paßten uniformierte Wächter darauf auf, daß das Gesindel dort keinen Unfug trieb. In den oberen Etagen dienten die dort postierten Wächter mehr oder weniger demselben 44
Zweck, nur daß sich dort kein Gesindel herumtrieb. Die Preise waren zu hoch. Ich gab der Kellnerin ein paar orangefarbene Scheine und bekam meinen Drink. Wenige Minuten später erschien Ann, einen Aktenkoffer in der Hand. Ich erhob mich. Sie sah mich und kam auf mich zu. »Dell! Ich habe mir die Bibliothek der Firma ausgeborgt, falls Sie sie für Ihre Recherchen benötigen.« Sie stellte die Tasche ab und setzte sich zu mir. Die Kellnerin kam vorbei, und sie bestellte sich einen doppelten > White Bull<. »Sie möchten also Gott finden«, sagte sie und blickte mir ins Gesicht. Ihr Abendkleid war mit Gold - und Silberfäden durchwirkt und schimmerte bei jeder Bewegung. Sie lächelte mich an. »Was meinen Sie damit? Welchen Gott? Erklären Sie mir das.« »Den üblichen Gott. Wundertäter. Herr über unser Leben.« »Aber dieser Gott, den Sie suchen - den Sie töten wollen -, unterscheidet er sich vom Menschen?« Einen Moment lang schien sie verlegen. Dann sagte sie: »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie ausfrage wie ein Staatsanwalt. Ich versuche lediglich, Ihnen zu helfen.« »Ja. Sicher.« Ich trank einen Schluck und sagte: »Ja, natürlich unterscheidet er sich - er ist mächtiger, wis sender. ..« »Liegt der Unterschied im Maß oder in der Art?« »Wie?« Sie hatte die Grenzen meiner Schulbildung überschritten. Ich hatte den Eindruck, das würde in Zukunft öfter vorkommen. »Ist dieser Gott nur ein stärkerer und intelligenterer Mensch oder sind seine Macht und sein Wissen anderer Art?« Jetzt saß ich fest. »Na ja, ich meine den üblichen, unkenntlichen Gott, an den die meisten Leute glauben.« »Nein, einen unkenntlichen Gott werden Sie nie fin den. Wenn Sie damit sagen wollen, daß Er nicht anders 45
geartet ist als wir, dann ist das Wort Gott eine Fehlbezeichnung. Ein Mann, mächtiger als wir, mag gottähnlic h sein, aber niemals ein Gott.« Ich stürzte den Rest meines Drinks herunter und sagte: »Warum haben Sie dieses Thema angeschnitten?« »Damit Ihnen klar wird, was Sie sich vorgenommen haben. Ich glaube, Sie haben es von vornherein falsch angefangen. Sie können nicht herumlaufen und Leute ausfragen, die an Ihn glauben. Leute, die von vornherein von Seiner Existenz überzeugt sind und keine Ahnung haben, was als fester Beweis dienen könnte. Ich schlage vor, die Ungläubigen zu befragen. Die können Ihnen wenigstens sagen, was Gott nicht ist.« Die Kellnerin servierte Ann ihren Drink. Sie nippte daran und sagte: »Sie werden bemerkt haben, daß ich nicht danach gefragt habe, warum Sie Gott töten wollen. Ich werde es auch in Zukunft nicht tun. Offen gestanden, glaube ic h, wir hätten eine bessere Welt ohne Ihn. Und ich halte Sie auch nicht für verrückt, weil Sie glauben, Sie könnten Ihn tatsächlich töten. Zeus ist auch tot.« »Und ich dachte, er sei im Knast wegen Vergewaltigung.« Sie lächelte über den Scherz und trank noch einen Schluck. Ich hörte jemanden hinter mir. Vielleicht ist >hören< nicht der richtige Ausdruck. Eher eine Art beengendes Gefühl, wie neulich draußen im Gang. Ich wandte mich um und sah den Winzling von neulich in einem rosa Samtkleid vorbeirauschen. Als mich das kleine Luder bemerkte, änderte es die Richtung und trat bösartig grinsend an Ann heran. In einem Flüsterton, der drei Tische weiter zu hören war, sagte sie: »Machen Sie sich keine Sorgen, daß er Ihnen in die Höschen kriechen will. Er bekommt keine richtige Schwellung zustande.« »Wie nett«, sagte ich. »Eine Freundin von Ihnen?« fragte Ann, den kleinen Schatz betrachtend. 46
»Dieses formlose Ding? In keinster Weise.« »Wie nett«, sagte die Göre. »Such dir doch eine Betriebsfeier von Fernfahrern oder so was und laß uns zufrieden. Wir unterhalten uns gerade über negative Theologie.« Das entzückende Kind grinste mich an, zwinkerte mir zu, daß ich es am liebsten in den Arsch getreten hätte, und begab sich hüftenschwenkend zum nächsten Tisch. Der dicke Glatzkopf, der dort saß, verzog seine wulstigen Lippen zu einem Lächeln und flüsterte ihr etwas zu. Sie setzte sich zu ihm. »Ein hübsches Kind«, bemerkte Ann, steif wie eine Schulmeisterin. »Hübsch durchgedreht.« Ich trank meinen Whisky aus und sah mich um. Die Blicke mehrerer Männer-jüngerer sowie auch älterer - wanderten zu unserem Tisch hin über, streiften Ann und wandten sich gleich wieder ab. Ann ignorierte sie. Ihre schlanken Finger strichen über die Tropfen an ihrem Glas. Sie schien im Begriff, etwas zu sagen, als ich hörte, wie mein Name ausgerufen wurde. »Telefongespräch für Mr. Ammo!« Ein Kellner ging zwischen den Tischen hindurch und wiederholte mehrmals meinen Namen. Ich stand auf und winkte ihm zu. »Mr. Ammo?« Ich nickte. »Telefongespräch für Sie.« Ich folgte ihm zu den Telefonzellen, betrat die, die er mir zuwies, und drückte ihm einen zerknitterten Fünfer in die Hand. Er bedankte sich höflich und verschwand. Ich nahm den Hörer ab. »Dell Ammo«, meldete ich mich. Ich hörte eine Stimme - kalt und glatt wie die eines Leichenbestatters. »Ammo? Lassen Sie diesen Gott-Kontrakt sausen. Sie haben es mit Leuten zu tun, die es ernst meinen.« »Ja?« Sein Dialekt war mir unbekannt. »Was geht Sie das eigentlich an?« Die Stimme kicherte belustigt. »Sagen wir nur, daß um hohe Einsätze gespielt wird.« 47
Ich hörte ein Klicken in der Leitung, dann das Summen der unterbrochenen Verbindung. Ich legte auf. Ich nahm an, daß man bald hinter mir her sein würde. Jetzt mußte ich nicht nur einen Mord planen, sondern mich auch vorher und nachher schützen. Ich dachte darüber nach, während ich langsam an den Tisch zurückging. Sie war weg. Der Aktenkoffer stand geöffnet auf dem Tisch. Der Computerschirm leuchtete. Ich warf einen Blick auf den Schirm und las: Der Weg der Missetäter ist hart. Sprüche Salomonis 13:15 Ich blickte mich um, sah aber keinen Hinweis. Doch ich sah die Kleine. Sie war auf dem Weg zum Ausgang mit ihrem dicken Verehrer. Ich lief ihr nach und packte sie am Arm. »Wo ist Ann hingegangen?« Der Dicke empörte sich. »Lassen Sie sie los, Mann«, knurrte er, die Zigarre im Mundwinkel. »Du mußt sie doch gesehen haben. Wo ist sie hin?« »Lassen Sie sie los, Mister- ich weiß nicht, was Sie...« »Wo ist sie?« »Du tust mir weh. Sie war mit zwei Männern.« Der Dicke wurde lauter. »Lassen Sie sie zufrieden!« Ich versuchte zu bluffen. Es war der falsche Bluff. »Sittenpolizei, Mister.« Ich steckte die Hand in die Brusttasche. Einen Augenblick lang machte er ein besorgtes Gesicht, dann grinste er. »Wache!« rief er. Ich erinnerte mich daran, wie unbeliebt die Gesetzeshüter hier waren. Der Strahl eines Nervenlähmers traf mich, und ich sank in die Knie. Halb benommen, merkte ich, wie mich vier starke Arme packten und zu einem Verbindungstunnel schleiften - außer Sicht der Gäste. Ich probierte noch einen Bluff aus - wieder den falschen. 48
»Ich bin ihr Vater«, stammelte ich. Meine Lippen waren gefühllos, und der Speichel lief mir aus dem Mund. »Sie hätten ihr eben eine bessere Erziehung geben müssen, alter Herr«, sagte eine Stimme, die von weit her zu kommen schien. »Hier hat sie ihre Freiheit.« Eine Klappe öffnete sich surrend. Die vier Arme warfen mich hinaus und den Berg hinab. Die Klappe hinter mir knallte zu, und ich rollte den Berg hinunter, dankbar dafür, daß der Nervenlähmer mich ziemlich gefühllos gemacht hatte. Erdhügel mit trockenem Gras schössen an mir vorbei. Etwas Hartes schlug mir an die Hüfte. Ich rutschte daran vorbei und schlitterte mit dem Kopf nach vorne, bis zum Fuß des Bunker Hill, wo ich liegen blieb. Ein paar Minuten später ließ die Wirkung des Nervenlähmers nach, und mein Gefühl kehrte zurück. Ich krümmte mich vor Schmerzen. Meine Schuhe schleiften über dreckigen Beton, meine Hände griffen nach den Scherben des bröckelnden Pflasters. Dann gelang es mir, aufzustehen. Die Welt drehte sich um mich, wie auf der Berg-und-Tal-Bahn in Disney-Land. Schließlich gelang es mir, ein Verkehrsschild zu erwischen und mich daran festzuhalten. Jemand schrie laut. Ich blickte die dunkle Straße hinunter, um zu sehen, wer es war. Dann sah ich sie. Zwei Männer hatten Ann um die Schultern gepackt und versuchten, sie zu einem Auto zu zerren, das an der Ecke geparkt war. Hinter ihnen schloß sich langsam das Tor einer Laderampe im Erdgeschoß. Sie wehrte sich verzweifelt. Ihr blondes Haar flatterte ihr um die Schultern. Sie waren ein oder zwei Häuserblocks entfernt, und ich begann zu laufen, so gut ich konnte. Der Schmerz schoß mir durchs Bein bis hinauf zur Hüfte. Ich griff nach meiner Pistole. Sie mußte mir auf dem Weg nach unten herausgefallen sein. Ohnehin hätte ich unter diesen Umständen nicht viel damit anfangen können. Der Motor sprang an, als die Männer sie ins Auto stießen. 49
Der Wagen raste auf mich zu. Ich beging wieder mal eine Blödheit, indem ich ihm in den Weg sprang. Sie wichen mir aus. Ich versuchte, von hinten auf den Wagen /u springen, verfehlte ihn und blieb mit aufgerissenen Ellbogen und blutiger Nase liegen. Ich wischte mir den Schmutz und das Blut aus den Augen, rappelte mich auf und lief auf die Laderampe zu. »Dell! Paß auf!« Ich drehte mich um. Oben, auf dem Berg vor der Klappe, durch die man mich hinausgeworfen hatte, stand die Kleine, von einem Lichtstrahl aus dem Tunnel beleuchtet. »Hinter dir, du Arschloch!« Ich fuhr herum, und im selben Moment traf mich ein Totschläger an die Schläfe. Ich sah nicht einmal Sterne. Es war mir schwarz vor Augen und wurde immer schwärzer.
5 Ich erwachte mit gigantischen Kopfschmerzen. Im Vergleich mit der kleinen Zelle, in der ich mich befand, ähnelte das Zuchthaus San Quentin dem Biltmore Hotel. Aber wenigstens hatte man meine Wunden und Ab schürfungen verbunden und mir einen hellblauen Krankenhauskittel übergezogen. Der Raum wackelte, als ich mich aufsetzte. Ich kam langsam auf die Füße und machte ein paar Schritte, wobei ich mich an den glatten, weißgetünchten Wänden festhielt. Es roch nach Formalin und Aceton. Meine Benommenheit legte sich etwas, und ich fing an, über meine Lage nachzudenken. So eine Scheiße! Ann und ich waren gefangen. Natürlich standen Ihm alle Möglichkeiten offen. Schritte kamen näher. Schwere Schritte, langsam und 50
bedächtig. Eine Anzahl von Riegeln wurde zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich nach innen. In der Tür stand das größte Lebewesen, das ich je auf weniger als vier Beinen gesehen hatte. Der Kerl mußte sich bücken, um zur Tür hereinzukommen, obgleich der Rahmen mindestens dreißig Zentimeter höher war als ich selbst. Er sah aus wie eine Kreuzung zwischen Basketball-Spieler und Mittelstürmer beim Fußball. Seine geisterhafte Blässe akzentuierte die röstliche Schattierung seines dünnen, strohblonden Haares. Das schwarze Priestergewand, das er trug, ließ seine Blässe noch mehr hervortreten. »Ich bin noch nicht bereit für die Letzte Ölung«, sagte ich. »Halten Sie die Schnauze, Ammo, und setzen Sie sich hin. Sie kommen noch nicht raus.« Er hatte eine Stimme wie eine Schleifmaschine. »Wie Sie meinen, Demosthenes.« Ich setzte mich aufs Bett. Die Bettfedern ächzten. »Drücken Sie sich gefälligst manierlich aus, Sie Armleuchter. Benehmen Sie sich ehrerbietig.« Er lehnte sich gegen den Türrahmen und verstellte mir nicht nur den Ausgang, sondern die ganze Tür. Jeder Schlag, den ich ihm versetzen konnte, hätte ihn höchstens gekitzelt und mir wahrscheinlich die Knöchel zerschmettert. Also warteten wir ab. Zehn Minuten lang stand er da und blickte mich aus sanften grünen Augen an, die eine größere Intelligenz verrieten, als seine Worte es getan hatten. Ich begegnete seinem Blick und bemühte mich, meine Gedanken zu verbergen. Schließlich brach ich das Schweigen. »Hören Sie mal, Demosthenes. Vielleicht gehen Sie ein paar Kokusnüsse zerbeißen, während ich so langsam abhaue.« »Ammo«, krächzte er mit seiner Zementmischer-Stimme, »halten Sie doch Ihr loses Maul, sonst kommt Bruder Bannister und näht es Ihnen mit Draht zu.« Er wandte 51
sich um, als von draußen Schritte zu hören waren. Das Knarren der Bettfedern, als ich mich erhob, ließ ihn herumfahren. »Setzen Sie sich, Freundchen. Pater Beathan kommt.« Ich unterdrückte eine unverschämte Bemerkung und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Wenn ich nur eine Zigarette gehabt hätte. Die Schritte kamen näher. Demosthenes bekreuzigte und verneigte sich. Durch die Tür trat ein Mann, halb so groß wie er und von etwa einem Viertel seines Gewichtes. Er war alt und faltig und trug eine Arzttasche in der Hand. Die Augen, aus denen er mich anblickte, wirkten unverhältnismäßig groß in dem kleinen Kopf. Er sah sich in der Zelle um. Ein zweiter Mann trat ein, der ebenfalls ein Priestergewand trug. Mit finsterem Gesicht blickte er an dem Alten vorbei auf mich. »Höchst unzufriedenstellend«, erklärte er, wobei er keinen von uns direkt anzusprechen schien. »Was haben wir denn jetzt wieder falsch gemacht, Pater?« fragte der Alte, »Wie oft muß ich es wiederholen, Bruder Bischoff? Der Rahmen. Rahmen ist ebenso wichtig wie Ausstattung und Dosierung. Es ist eine Wissenschaft - nicht irgendein Spiel.« Der Alte schürzte die Lippen, sah mich böse an, als sei alles meine Schuld, und sagte zu Demosthenes: »Finden Sie heraus, wo Pater Beathan ihn haben möchte, und bringen Sie ihn dort hin, Bruder O'Rourke. Und das hier auch.« Er warf die Arzttasche dem Riesen vor die Füße und stürmte hinaus. Es war nur ein schwacher Sturm. Die Tür knallte ins Schloß. »Er ist verrückt«, sagte Demosthenes mit stumpfen Blick. »Wenn Sie damit meinen, daß er geistesgestört ist, pflichte ich Ihnen bei.« Beathan bückte sich und hob die Tasche auf. Er war einige Zentimeter größer als ich, aber so schlank, daß er wahrscheinlich weniger wog. Sein 52
schütteres, zurückgekämmtes Haar besaß die Farbe alter, angerosteter Kriegsschiffe. Das eingefallene Gesicht erinnerte an einen Jesuiten-Wissenschaftler. Ausgeprägte Gesichtszüge, forschender Blick, dünne, verkniffene Lippen. Er entnahm der Ar zttasche eine Spritze, zog sie aus einer Ampulle auf und wandte sich an mich. »Mr. Ammo, wir müssen Sie für den Transport leider einschläfern.« Er blickte Demosthenes an. »Halten Sie ihn fest, Bruder.« Der Riese knackte mit den Knöcheln und kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Offenbar wollten sie mich lebendig haben, also konnte ich schon etwas riskieren. Ich ließ mich aufs Bett fallen, stützte mich an der Wand ab und trat Demosthenes mit beiden Füßen in die Eier. Er schnaufte wie ein Bulle, tat einen Schritt zurück und hob die Fäuste. »Langsam, Frank«, warnte ihn Beathan. Die Fäuste öffneten sich wieder. »Ich vergebe Ihnen«, sagte der Riese und kam wieder an mich heran, um mich festzuhalten, »wie auch Jesus Ihnen vergibt.« Ich versetzte ihm noch einen Tritt zwischen die Beine. Um mich abzulenken, schlug mir Beathan mit beiden geballten Fäusten gegen die Schläfe. Diesmal sah ich Sterne. Durch eine Schar bunt um mich tanzender Lichter sah ich, wie sich Demosthenes auf dem Boden wälzte, und fühlte, wie Beathan mir die Nadel in den Nacken setzte. Wie aus weiter Entfernung hörte ich ihre Stimmen. »Jesus-Jesus-Jesus - verdammt soll er sein...« »... heben Sie ihn auf, und bringen Sie ihn in den Seziersaal.« »Lassen Sie ihn nur brennen! Mein Gott, wie weh das tut!« »Ach, seien Sie doch ruhig.« Ich verspürte noch, wie mich Dunstwolken einzuhüllen schienen und ich vom Bett gezogen wurde. Dann wurde alles schwarz um mich, und die Welt ging unter. 53
Es war dunkel um mich, als ich erwachte. Irgend etwas stimmte nicht. Zunächst einmal bebte und ratterte der Fußboden unter mir. Die einzig vorhandene Glühbirne über meinem Kopf wurde abwechselnd größer und kleiner und leuchtete in den verschiedensten Farben auf. Ich nahm an, daß Beathans doppelfäustige Liebkosung und die Drogen, die er mir eingespritzt hatte, noch immer wirkten. Ich versuchte aufzustehen. Und sah zu, wie meine Füße im Boden versanken. Zuerst dachte ich, ich sei ausgerutscht und hingefallen. Als ich jedoch nach einem Tisch neben mir griff, um mich daran festzuhalten, und zusehen mußte, wie er sich mir aus den Händen wand, wurde mir klar, daß etwas nicht richtig lief. Und das war ich selbst. Tausend kleine Stimmen erinnerten mich daran, was Beathan über Rahmen, Ausstattung und Dosierung gesagt hatte. Ich stand unter dem Einfluß schwerer Drogen und konnte nichts dagegen tun. Mit dem wenigen Hirn, das noch funktionierte, machte ich mir klar, daß die Drogen, die man mir gegeben hatte, dazu dienen sollten, mir etwas ins Bewußtsein einzuprägen. Der Gedanke, daß bestimmte Drogen eine suggestive Wirkung ausüben, ging mir durch den Kopf, als es mir endlich gelang, die Hand auf den Tisch zu legen. Ich hielt ein Stück Leber in den Fingern. Die Leber, die sich kalt und hart anfühlte, befand sich mitten in einer Leiche. Man hatte die Haut abgepellt, so daß sie jetzt in gelblich-grauen Falten herunterhing. Der Leichnam krümmte sich auf dem Tisch, blickte mich durch das Leichentuch hindurch an und begann mir einen Vortrag zu halten. »Es ist logisch unmöglich, Gott zu finden«, erklärte er mir, wobei sich seine Leber wie ein aufgeblähter, blutiger Wurm in seine Lunge bohrte, »weil sich das Objekt deiner Suche für immer und ewig dem schwachen menschlichen Zugriff entzieht.« »Halt die Schnauze«, sagte ich. Die Kotze kam mir 54
hoch. Meine Knochen verwandelten sich in Schlagsahne, und ich glitt wieder zu Boden. Eine Sekunde lang schien es, als ob die anderen Tische sich auf mich stürzen wollten. Dann zogen sie sich zurück, und ich roch die gelben Schreie, die sie ausstießen. Meine Zunge rannte vom Anblick der Gerüche. »Ich bin blau«, proklamierte ich und hörte das Echo wiederhallen. Ich rappelte mich auf und marschierte wie eine Fliege an der Decke entlang, wobei meine Füße einen elektrisch blauen Schleim ausschieden. Ich konnte in beide Richtungen gleichzeitig sehen. Um mich herum lagen Kadaverreste. Einige krümmten sich, andere stöhnten. Einer tanzte Step. Sie wollen mir angst machen, dachte ich in beizendem Grün. Darum liegen die Leichenteile hier herum. »Gut«, erklärte mir ein Gesicht, das plötzlich neben meinem Handgelenk in die Höhe stieg. »Aber wie lautet die Antwort?« »Flossing!« schrie ein gliederloser Rumpf, der widerlich violett roch. »Gott ist die Antwort!« spottete einer der Tische. »Gott liegt schief«, blinzelte eine hautlose Hand. »Gott ist Roggenfäulnis, stimmt's?« Langsam wurde die Sache lächerlich. Am Ende der Tischreihe pulsierte eine Tür wie ein Herz. Rolltische aus dem Weg schiebend, gelangte ich schließlich durch einen zähen Strom rosafarbenen Lärms an die massive Tür. Sie hatte tausend Schlösser, alle mit Stacheln besetzt. Rund herum roch es schwarz. Ich wußte nicht, welches ich zuerst öffnen sollte, und stemmte mich gegen alle gleichzeitig. Abgerissene Hautfetzen spritzten gegen die Tür, und die Schlösser zerschmolzen in Lachen von Erbrochenem. Es floß die Wände hinauf und gab die Tür frei, die auf einen grellerleuchteten Gang führte. Der Gang verwandelte sich in ein Loch, das tief unten 55
im Nichts endete. Ich versuchte, mich am Türrahmen festzuhalten, aber meine Finger brachen und bröckelten ab. Aus den Stümpfen krochen Heuschrecken und Silberfische und krabbelten mir die Arme hinauf. Ich rutschte ins Loch hinunter und schrie Lila und Ammoniak. Ich schrie, bis ich unten ankam. Balken von Panik schössen hervor und schlugen mich in den Magen. Ich war von einem klaren, weißen Licht umgeben, das mir den Körper verbrannte. Hautfetzen fielen von mir ab wie Schneeflocken. Ich schrie viel zu laut. Hundert schwarze Arme, von denen jeder seinen eigenen Schatten warf, wanden sich im Licht. Die Finger waren Schlangenzungen. Ich blickte in die Richtung, in die sie deuteten, und sah einen Löwen in einiger Entfer nung kauern. Er brüllte, machte einen Sprung und rannte auf mich zu. Ich blieb still st ehen. Weiche braune Tatzen gruben sich aus dem Boden hervor und packten meine Beine. Als der Löwe näher kam, verwandelten sich seine Pranken in Hufe, seine Mähne in ein Geweih. Jetzt war er ein Hirsch, der silbernes Blut auf seinem Weg ausströmte. Seine Augen glänzten vor Wut und Schmerz. Ich blieb stehen, weil mich die Tatzen nicht losließen. Um mich herum wirbelte Staub auf. Der Hirsch schwenkte zur Seite. Seine Hufe überschütteten mich mit Kies. Jeder Kieselstein schrie auf, als er mich traf. »Komm rein!« rief mir ein Regenbogen zu. Eine weiße Hand winkte mir. Ich konzentrierte meinen Blick auf die Hand, so gut ich konnte. Dann sah ich ein Gesicht. Es war Ann. Ganz klar und deutlich. Ich tastete nach dem Metallrahmen des Autos, das vor mir stand. Plötzlic h hing ich am Wagen, über einem endlosen, bodenlosen Abgrund. Ich zog mich hoch, ohne die Million Augen, die ich besaß, von ihr abzuwenden. Zentimeter um Zentimeter. Dann war ich drin. 56
Ich kostete ihre Worte: »Du bist in Sicherheit.« Ein herrliches Gefühl. Sie sagte: »Ich bin es. Ann.« Ich wußte, daß sie es war. Aber das half mir nichts. »Drogen«, war das einzige Wort, das ich herausbekam. Mein Hals war voll von Mehlwürmern, die mich er stickten. »Du bist in Sicherheit, Dell.« Sie streckte die Arme nach mir aus, um mich festzuhalten. Ihre Arme verwandelten sich in Skorpionklauen, Sicheln und rasiermesserscharfe Bumerangs. Ich stieß sie zurück. »Nein«, hörte ich meine eigene Stimme sagen. »Angstkomplex.« Ich murmelte, als hätte ich den Mund voller Brei. Sie gab Gas und fuhr die Ausfahrt hinunter. Die Fahrtgeschwindigkeit drückte mich durch die Sitzpol ster, bis ich nur noch ein schwarzer, undeutlicher Fleck war. Die Fahrt war ein ebenso schlimmer Alptraum wie der Seziersaal. Von allen Seiten sprange n Schatten auf mich zu, Farben, schreiende Gerüche. Bis wir zu ihrer Wohnung kamen, hatte ich mich schon fast wieder erholt. Ich zitterte noch am ganzen Körper und versuchte mich mit aller Kraft zusammenzureißen. Aus einem Busch am Rande der Einfahrt griff noch ein letzter Oktopus-Arm nach mir, und dann hielten wir auch schon vor dem Eingang an. Die Angst saß mir noch immer in den Knochen. »Es war eine böse Tour, Dell. Aber die Dinge, vor denen du dich fürchtest, existieren in Wirklichkeit gar nicht.« »O doch!« Ich rückte auf die andere Seite des Wagens und lehnte mich gegen die Tür. »Sie existieren in meinem Hirn und warten nur darauf, wieder zuzuschlagen.« Sie öffnete die Tür auf ihrer Seite. »Die Leute haben dir diese Ängste einprogrammiert, und du kannst sie ebenso leicht wieder ausprogrammieren. Das sind psychedeli sche Drogen. Zum Programmieren und zum Meta-Pro57
grammieren. Sie wirken besser als Hypnose.« Sie stieg aus und ging zur Eingangstür. Das Haus war eine von zahlreichen Herrschaftsvillen auf einem Hügel, von dem aus man den Silver Lake überblickte. Es sah aus, als wäre es zu Anfang der fünfziger Jahre erbaut worden. Es war in gutem Zustand, weiß gestrichen, mit einem Garten bis zum Gehsteig hinunter, der von einem Kopfsteinpfad geteilt wurde. Mich mühsam abstützend, stieg ich aus dem Porsche und ergriff Anns dargebotenen Arm. »Wie bist du herausgekommen?« fragte ich, nur um etwas zu sagen. Meine Beine fühlten sich an wie unvulkanisierter Gummi. »Aus dem Kloster? Na ja, die hatten mich aus d er >Auberge< entführt und im Wagen mit einem Nervenläh mer bewußtlos gemacht.« »Im Klub hättest du schreien sollen, als sie dich packten.« »Sie sagten, sie würden mich umbringen, wenn ich schreien würde.« »Dann hätten die Wachen sie erschossen.« Der Gedanke schien sie nicht sonderlich aufzuheitern. »Ich glaube kaum, daß ihnen das viel ausgemacht hätte.« Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund. »Sie quatschten die ganze Zeit von Gott, der sie leitete und ihnen den Weg bahnte und so weiter.« Si e holte einen aus Silber und Türkisen gearbeiteten Schlüsselring hervor und schloß die Eingangstür auf. »Also verschlepp ten sie mich in dieses Kloster, und ein Priester verhörte mich. Sie versuchten mir angst zu machen, indem sie mich stundenlang in eine n stickigen Beichtstuhl ein schlössen. Ich tat so, als sei ich völlig gebrochen, und da holten sie mich raus. Sie nahmen an, ein schmächtiger kleiner Kerl würde genügen, um auf mich aufzupassen.« Sie schüttelte den Hausschlüssel aus dem Bund. »Den habe ic h so fertiggemacht, daß er beim besten Willen sein Keuschheitsgelübde nicht mehr brechen könnte.« 58
Ich lachte, und alles drehte sich um mich. »Mach langsam«, sagte sie und faßte mich am Arm. Sie führte mich durch die Halle, die mit verschiedenen weiblichen Sammlerobjekten dekoriert war, zu einem großen Armsessel. Ich ließ mich ohne Nötigung hineingleiten. Ich war noch immer halb benommen. Während Ann in der Küche beschäftigt war, erzählte sie weiter: »Ich kam in den Hof und sah dort den Porsche stehen. Er muß dem Oberpriester gehören. Ich war gerade dabei, die Bullen zu holen, als ich dich sah.« »Vergiß die Bullen. Wir brauchen sie nicht.« »Okay.« Sie brachte mir eine Tasse Kaffee. »Trinkst du ihn schwarz oder mit Sahne?« »Schwarz.« Ich nahm ihr die Tasse ab und schlürfte die heiße Flüssigkeit hinunter. »Fühlst du dich jetzt besser?« »Weiß ich noch nicht.« Ich lehnte mich im Sessel zurück und sah mich um. »Weißt du, ich habe schon viel Schlimmes gesehen in meinem Leben. Ich habe auch schon Schlimmeres erlebt. Man kommt darüber hinweg.« Ich blies die Luft aus und trank noch einen Schluck Kaffee. Mein Haar mochte sich verjüngen, aber nicht ich. Ich kam mir alt und angeschlagen vor. Ann ging in die Küche und holte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee. Sie sah mich an. Mein hellblauer Krankenhauskittel bildete einen unpassenden Kontrast zu dem dezenten Orange- und Goldmuster des Sessels. Das Haus war viel zu gemütlich für meinen jetzigen Nervenzustand. Ein Strahl der Nachmittagssonne traf den unteren Teil des Abendkleides, das sie noch immer trug, und sprühte silberne und goldene Funken durch den Raum. Ihr Haar hing in verschwitzten Strähnen herunter. Sie sah aus wie ein heruntergekommener Engel. »Die meinen es ernst, weißt du.« »Wenn die es ernst meinten, Lady, wären wir jetzt beide zwei Meter tief in Heimaterde gebettet oder ein Häuflein Asche unter ausgebrannten Magnesiumblök59
ken.« Ich trank meinen Kaffee aus und stellte die Tasse auf dem Tisch ab. »Wenn Gott mich aus dem Weg schaffen will, warum erschlägt er mich nicht einfach mit einem Blitz?« »Gott wirkt auf geheimnisvolle Weise.« »Ja - wie ein Verrückter.« »Vielleicht sind die Handlungen bewußt ausgelöst.« »Wie bitte?« »Menschen handeln nach Gefühlen, die nicht von innen kommen, sondern von außen beeinflußt werden durch eine weltweite Reaktion auf unsere Handlungen.« »Was heißt >unsere< Handlungen, Mädchen?« »Nach allem, was mir geschehen ist, glaubst du doch nicht etwa, daß ich mich nicht dafür revanchieren möchte.« Sie sah mich an, als sei sie bereit, den Allmächtigen persönlich umzulegen. »Ich habe jetzt genug davon.« »Ich arbeite allein.« »Wie du willst. Was hast du da an den Fingern?« Ich blickte hinunter auf meine Fingernägel. An einigen haftete noch eine graue Masse. Erinnerungen an den Seziersaal. »Wo ist das Badezimmer?« Mein Magen vollführte Hochsprünge. »Durch die Halle, hinten rechts.« Ich nahm mich zusammen und dachte an meine Aus bildung. Ich drückte die Hand in die Magengrube, um das Zwerchfell zu entlasten und die Übelkeit zu beheben. Mit dem Zipfel meines Kittels wischte ich mir die Finger ab. »Überbleibsel«, murmelte ich. »Hör mal, ich kann dir doch helfen. Ich will dir helfen. Ich kenne jemand, mit dem du sprechen solltest und der dir den Verstand wieder geraderücken würde.« »Könnte ich mich vorher noch umziehen? Vielleicht sollte ich etwas weniger Luftiges tragen.« Ann verließ das Haus, nachdem sie meine Maße notiert hatte, und kehrte eine Stunde später mit einem blauen 60
Nadelstreifenanzug der letzten Mode zurück - dazu Hemd und Krawatte in passendem Farbenmuster. Auch Socken und ein Paar spitz zulaufende Schuhe hatte sie nicht vergessen. Nach einer erfrischenden Dusche kleidete ich mich an und betrachtete mich im Spiegel. Nicht schlecht. Genau das, was der gutgekleidete Herr zu einem Besuch bei dem prominentesten Atheisten des Landes tragen würde. Theodore Golding wohnte in Hollywood neben dem philosophischen Forum für theologische Grundlagen, das er leitete. Das Forum befand sich in der Larchmont Street, unterhalb der alten Paramount-Filmstudios. Als Gründer und Hauptinvestor des Forums war Golding ein reicher Mann. Ich nahm mir vor, mich davon nicht beeindrucken zu lassen. Ich hätte mir darüber keine Gedanken zu machen brauchen. Ann parkte den Wagen vor einem bescheidenen Haus in der Van Ness Street und fragte: »Fühlst du dich jetzt besser?« »Prima. Ich glaube kaum, daß ich noch einen Rückfall erleiden werde. Los - bringen wir es hinter uns.« »Golding kann dir besser als jeder Priester oder Prediger helfen, Gott zu verstehen.« Sie warf den Wagenschlag zu. »Gehen wir hinauf. Wir haben uns schon verspätet.« Golding selbst machte uns auf. Er war in meinem Alter, benahm sich jedoch wie ein geiler Teenager. »Sie müssen Ann Perrine sein«, sagte er zur Begrüßung. Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Denn Sie...«, jetzt zeigte er auf mich, »sehen kaum so aus, als seien Sie der Besitzer der sex-geladenen Stimme, die ich am Telefon hörte.« Ein Paar blaue Augen wie Eispickel stachen unter seinem langen schwarzen Haar hervor. Im Gegensatz zu mir war er groß, schlank und sprachgewandt. Mit einer Handbewegung lud er uns ein, hereinzukommen. Wenn es jemand Spaß machte, in einer Bibliothek zu 61
wohnen, dann hätte er sich wahrscheinlich so eingerichtet wie Golding. Bücherregale bedeckten jeden Zentimeter der Wände. Einige Gemälde waren hier und dort vor den Regalen angebracht. In der Mitte des Raumes stand eine Bücherkonsole. Soviel Bildung auf einem Haufen irritierte mich. Golding glitt zwischen den Regalen und den davor aufgestapelten Büchern dahin, bis er in dem Durcheinander an eine freie Stelle kam, die offenbar sein Wohnzimmer darstellte. »Wer ist Ihr Freund, den Sie mitgebracht haben, Miß Perrine?« Er machte drei Stühle frei, auf denen Stapel von Papieren abgelegt waren, und setzte sich. »Dell Ammo«, stellte ich mich vor und streckte die Hand aus. Er lehnte sich vor und schüttelte sie mit festem Griff. »Guter Name. Sehr gut. Spanisch?« »Amerikanisch.« »Was kann ich für Sie tun, Mr. Ammo?« Er faltete die Hände über dem Bauch und lächelte mich an. Man hätte ihn für einen einfachen, freundlichen Vorstadtbewohner halten können, wenn er nicht diesen handbestickten seidenen Kimono getragen hätte. »Er ist auf der Suche nach Gott«, erklärte Ann. Prost Neujahr, dachte ich. Jetzt hält er mich von vornherein für einen Clown. »Den finden Sie nicht.« Er grinste breit, wie eine Katze in einem Zeichentrickfilm, und wartete meine Reaktion ab. Er bekam keine. »Ja«, sagte ich trocken. »Ich suche Gott. Darum muß ich wissen, welche von den Fährten, die ich verfolge, falsch sind...« »Sie sind alle falsch.« »... um Zeit zu sparen.« »Warum haben Sie diesen Wunsch, Gott zu finden?« »Das ist meine Sache und die meines Klienten.« Er schwieg einen Moment, um mich zu betrachten. 62
Dann lächelte er. »Nu n gut.« Plötzlich stand er auf. »Erklären Sie mir den Begriff Gott.« »Das kann ich nicht.« »Jeder Gott, den Sie wollen. Griechisch, christlich, moslemisch, hindi, jüdisch, afrikanisch...« »Das einzige, was ich herausgefunden habe«, sagte ich, wobei ich die Hände in die Hosentaschen steckte und mich zurücklehnte, »und worin alle Berichte, die ich gelesen habe, übereinstimmen, ist, daß Gott bis zu einem gewissen Grade unkenntlich ist - was die Suche nach Ihm natürlich erschwert.« »Epistemologische Transzendenz«, sagte er. »Ja. Die Behauptung, etwas zu kennen, was unkenntlich ist. Die Behauptung, allwissend zu sein auf einem Gebiet, das man niemals kennen wird. Widersprüche und Arroganz das Kennzeichen des heiligen Mannes. Jeder, der be hauptet, daß Gott unv erständlich ist, widerlegt seine eigenen Argumente.« Bevor ich noch etwas sagen konnte, waren vom Schlafzimmer her Schritte zu hören, was mir mühsame Gedan kengänge ersparte. Eine kleine, schlanke Frau erschien. Sie warf Ann und mir einen kurzen Blick a us großen, dunklen Augen zu und räusperte sich. »Ted?« Er wandte ihr augenblicklich seine Aufmerk samkeit zu. »Raissa! Komm herein und laß mich dir Ann und Dell vorstellen.« Sie trat ins Zimmer. Nach dem silbergrauen Haar, das ihr bis zum Nacken ging, sch ätzte ich sie auf Anfang Vierzig, obgleich es ihrem Körper nicht anzusehen war. Sie war in ein dickes Badetuch gehüllt, und ihre Arme und Beine, wie auch ihr Gesicht, ließen die Jugend ihres restlichen Körpers vermuten. Sie lächelte uns zu, setzte sich an eine Schreibmaschine am anderen Ende der Wohnfläche und begann zu arbeiten. Das leise Klappern der Tasten drang zu uns hinüber. Golding lächelte. »Sie ist der größte Wert und höchste Genuß meines 63
Lebens«, sagte er, »und bestätigt meine Wahrnehmungen und Konzepte.« Er grinste fröhlich, als hätte er einen Witz gemacht. Als er sah, daß wir die Komik seiner Worte nicht begriffen, lachte er. »Entschuldigen Sie. Mein Bekanntenkreis hat seine eigene Art von Humor.« Das glaubte ich ihm aufs Wort. Atheisten haben nicht viele Gesprächspartner. »Erzählen Sie mir noch etwas über Gott.« Er wartete, bis ich zu einer Antwort ansetzte, und sagte: »Das können Sie nicht, oder? Wissen Sie auch, warum? Weil >Gott< eines jener Worte ist, die bis zur Unverständlichkeit angewendet werden. Sie können den Begriff >Gott< ebensowenig definieren wie die Begriffe > Liebe < oder >Freiheit<. Jeder hat dafür seine eigene Definition, ob sie nun richtig oder falsch ist. Und der Lärm, der damit gemacht wird, verwandelt sie in abstrakte Begriffe höchst emotioneil, aber keineswegs konkret und identifizierbar.« Er hielt ein und lächelte. »Wie habe ich das eben gesagt?« Er zwinkerte Ann zu, blickte zum Schreibtisch hinüber. »Raissa! Mach uns doch Kaffee!« »Leck mich am Arsch, Liebling. Ich habe zu tun.« Die Schreibmaschinentasten klapperten weiter. Golding lä chelte. Ich fragte mich, ob er wohl jemals ungehalten wurde. Ich schnupperte die Luft, konnte aber keinen Haschischgeruch entdecken. »Also gut, dann stelle ich den Kaffee auf.« Er ging in die Küche und sprach weiter über die Schulter hinweg: »Sehen Sie, das, was die meisten Leute heutzutage als Gott verehren und anbeten - die Monotheisten, besonders Christen und Juden -, erfordert in unglaublichem Maße den Ausschluß jeder Rationalität. Der Glaube wird dazu verwendet, die Vernunft zu untergraben. Der Glaube funktioniert dort, wo die Vernunft nicht ausreicht. Aber der Verstand schließt alles ein. Wenn wir verstandesmäßig etwas nicht beweisen können - durch Tatsachen und logische Zusammenhänge -, dann verlangen 64
wir, daß man uns >Glauben< schenkt, daß man es also auf irrationale Weise und ohne überzeugenden Grund ein fach akzeptiert.« »Und?« »Und?« Seine Augen weiteten sich, und er wandte sich zu uns um. »Folglich kann Religion nicht als rational bezeichnet werden.« »Sie meinen die gegenwärtigen Religionen«, sagte Ann. »Ja. Ich komme gleich darauf zu sprechen.« Ich streckte die Beine der Länge nach aus und seufzte. Die Sache begann mich zu langweilen. »Wie lange sind Sie schon Professor, Golding?« »Ich bin seit dreißig Jahren Dozent.« Im Kaffeekessel fing das Wasser an zu zischen. »Das merkt man Ihnen an.« Ich stand auf, ging in die Küche und fischte mir eine Zigarette aus der Packung in meiner Tasche. Die helle, freundliche Küche roch angenehm nach frischem Kaffee. Dies und das sanfte Klappern von Raissas Schreibmaschine im Nebenzimmer erinnerte mich an ein Leben, das ich nie gekannt hatte und niemals kennen würde. Ich schlug mir den Gedanken sofort aus dem Kopf. Eines der Risiken in meinem Beruf war die Sehnsucht nach jener Zufriedenheit, die sich niemals einstellte. Ich steckte mir meine Zigarette an. »Hören Sie mal, Golding«, sagte ich, »alles, was ich wissen möchte, ist eines« - ich machte eine Kunstpause, um größeren Effekt zu erzielen, und tat einen Lungenzug: »... wie kann ich Gott töten?« Die Kaffeedose rutschte ihm aus der Hand und fiel klirrend auf den Fußboden, wobei der gemahlene Kaffee über die Fliesen floß. Die Schreibmaschine im Nebenzimmer hörte auf zu klappern. Er starrte mich entgeistert an. Wenigstens dieses eine Mal hatte ich ihn aus der Fassung gebracht. »Das ist doch nicht Ihr- das ist doch verr... was wollen Sie?« 65
»Was ist passiert, Ted?« Raissa kam in die Küche, das Badetuch fester knotend, um es am Rutschen zu hindern. »Raissa - erinnerst du dich daran, was Charles Warner über das Wetter sagte?« »Ja.« »Alle Leute sprechen davon, daß Gott längst tot ist, aber hier vor uns steht ein Mann, der Seinen Tod herbeiführen will.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern, küßte sie auf die Wange und grinste. »Wunderbar. Jetzt mach mal hier sauber, und ich trinke auch eine Tasse Kaffee, sobald er fertig ist.« Damit ging sie an ihre Schreibmaschine zurück. »Wie gedenken Sie denn, Gott zu töten? Gift? Ertränken? Sprengstoff? Magie?« Er sprach es wie >Maggie< aus. »Ann dachte, daß Sie mir bei der Wahl der Mittel helfen könnten.« »Etwas zu töten, das gar nicht existiert? Ein Konzept töten? Etwas, das lediglich in menschlichen Gehirnen herumspukt?« Er fegte den Kaffee vom Fußboden und schüttete ihn in den Abfalleimer. »Ich muß schon sagen, daß ich mich durch diese Zumutung etwas beleidigt fühle.« »Es tut mir leid, Mr. Golding«, sagte Ann, in den Türrahmen tretend. »Ich dachte, Ihre Erfahrung...« »Das ist es ja eben. Meine Erfahrung. Seit dreißig Jahren kämpfe ich gegen diese Bestien, die Anti-Menschlichkeit, Anti-Rationalität und Anti-Lebensglück verkünden, und das einzige Resultat, das ich aufweisen kann, sind ein paar tausend Menschen, die keine Angst mehr haben, sich Atheisten zu nennen. Das mag ein positives Ergebnis sein - und ich lebe auch davon -, aber trotzdem gibt es auf der Welt noch genügend religiöse Morde und Plünderungen. Denken Sie doch mal daran, was die arabischen Länder mit Israel gemacht haben, Israel seinerseits mit dem neuen Judäa, die englische Staatskirche mit Nord-Irland. Theisten sollen von mir aus andere Theisten umbringen, aber es trifft ja die Unschuldigen. Es 66
sind die Unschuldigen, die leiden und sterben. Glauben Sie etwa, daß ich Gott nicht ernst nehme, nur weil ich Atheist bin? Glauben Sie, daß ein Arzt Krebs nicht ernst nimmt, nur weil er ihn aus dem menschlichen Körper verbannen will?« »Wir waren nicht...« »Wollen Sie wissen, wo der heutige Gott herkommt? Er ist nicht einmal ein Original. Der judeo-christliche Gott wurde als politische Waffe gegen die Anhänger älterer Religionen konstruiert, und man machte Ihn mächtiger, allwissender, zorniger und unberechenbarer als jede andere Art von Gott oder Göttin. Die Levitenpriester Israels stahlen die religiösen Konzepte der Arier, der Sumerer und einem Dutzend anderer indo-europäischer Völker. Der Berg Sinai war der heilige Berg des Mondgottes Sinn, lange bevor Moses dort mit Jehova sprach. Und der brennende Busch des neuen Gottes war nichts als eine blühende Akazie - der heilige Busch der Sonne. Die ganze Christusgeschichte war lediglich eine schlecht recherchierte Neuauflage des Mythos von Osiris' Wiedergeburt, die man einer historischen Figur mit revolutionären Neigungen anhängte. Langweile ich Sie?« Bevor ich seine Frage bejahen konnte, fuhr er fort: »Aber dieser neue Gott wurde im Gegensatz zu früheren Gottheiten als unerkennbar dargestellt. Dieselbe Gruppe von Philosophen, die ihn erfand, erließ ein Verbot gegen Zauberei, weil sie eine primitive Form der Wissenschaft darstellte - keine rivalisierende Religion. Man experimentierte mit Heilkräutern, Symbolen und Ritualen, und wenn das funktionierte, gebrauchte man sie immer wieder. Es war eine Wissenschaft in ihrer primitivsten und abergläubischsten Form. Warum hat man wohl die Chemiker im Mittelalter als Magier gebranntmarkt?« »Ich weiß wirklich nicht...« »Warum wurden wohl Galileis Entdeckungen als Teufelswerk bezeichnet? Weil seine wissenschaftlichen Me67
thoden denen der Magier in alten Zeiten zu ähneln schienen.« »Verteidigen Sie die Zauberei, Mr. Golding?« Er fuhr herum und warf Ann einen Blick zu, als hätte sie seine Brille zerbrochen. Dann schenkte er eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. »Sahne und Zucker dort drüben.« Er schenkte mir ebenfalls eine Tasse ein und noch zwei weitere. Seufzend setzte er die Kaffeekanne ab. »Nein. Ich behaupte lediglich, daß es - historisch gesehen - mit der Religion immer mehr bergab geht. Außerdem ist Zauberei als solche ein Handwerk und keine Religion. Aber die meisten der alten Religionen hatten verständliche und erkennbare Gottheiten, die keine Berge von Toten benötigten, um befriedigt zu werden. Nicht wie der mörderische Kriegsgott des Alten Testaments oder der fast identische Allah oder der inkonsequente Masochist des Neuen Testaments. Die alten Götter gaben nicht annähernd so viele Verlautbarungen und widersprüchliche Weisungen von sich.« Er hielt inne, um jedem Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Ich rührte stumm in meinem Kaffee herum, wie ein zivilisierter Mensch. »Aber ich verteidige die alten Religionen gar nicht. Es ist wie der Unterschied zwischen einem Taschendieb und einem Hitler oder Mao. Wenn ich die Wahl habe, ist mir der Taschendieb schon lieber. Am liebsten hätte ich mit keinem der beiden etwas zu tun. Darum bin ich Atheist und kein Druide oder so was. Verstehen Sie?« Ann nickte. Ich sagte: »Mir ist es ernst. Gott zu töten, meine ich.« »Gewiß.« »Sehen Sie mich an, Golding.« Ich hatte meine hartgesottenste Miene aufgesetzt. »Sehe ich aus wie ein Spaßmacher?« »Sie sehen aus wie ein Gangster.« Ann setzte zum Sprechen an, aber er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ein gebildeter 68
Gangster vielleicht, aber immerhin ein Gangster. Ein Mann, der glaubt, mit Gewalt und Mord Dinge ändern zu können. Nur mit Ideen kann man die Welt ändern, Mr. Ammo, nicht mit Gewalt.« »Erzählen Sie das mal dem Stadtrat von Karthago.« »Und wo ist Rom geblieben? Jedenfalls war es der Gedanke, daß Gewalt die Welt ändern könne, der zu einem gewaltsamen Umsturz führte.« »Also können Sie mir nicht helfen?« Der schelmische Ausdruck trat wieder in seine Augen. »Gott zu töten? Nein. Dafür müßten Sie alle davon überzeugen, daß Er nicht existiert. Sie sehen ja, wie weit ich damit gekommen bin.« Raissa kam zu uns herüber und holte sich ihre Tasse Kaffee. Ich nippte an meinem und betrachtete den aufsteigenden Dampf. »Ich weiß, daß ich auf dem rechten Weg bin. Sonst würde man mich einfach auslachen.« Ich blickte ihn an und fügte hinzu: »Man hat versucht, mich zu stoppen.« »Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Der einzig gute Gott ist ein toter Gott.« Raissa lachte leise und sagte: »Erinnerst du dich, was Spencer über die Freiheit sagte, Ted?« »Ja. Denken Sie daran, Dell: Gott ist nicht tot, solange noch ein einziger Mensch an Ihn glaubt. Das ist die Enormheit Ihrer Mission.« »Enormität«, verbesserte ihn Raissa und nahm sich Zucker. Ich stürzte den Rest meines Kaffees herunter und stellte die leere Tasse auf den Tisch. Dabei fiel mein Blick auf die Wand hinter Golding. Blut floß langsam an der Wand herunter. Es begann an der Decke und floß über die eierschalenweiße Wand, bis der Fleck die Größe eines Damenfächers erreichte. Ich trat zur Seite und zeigte mit dem Finger auf die Wand. »Schluß jetzt, Golding. Was soll das heißen?« 69
»Hmm?« Er hatte den Mund voll Kaffee. Er drehte sich um und blickte in die Richtung, die mein Finger andeutete. »Ach das. Ich fürchte, unser Bad hat eine undichte Stelle. Ich bin noch nicht dazu gekommen, es zu...« »Ein Bad, aus dem Blut läuft?« »Blut?« Raissa blickte verwundert auf. »Das ist doch ein Wasserfleck.« Eine lange Minute sprach keiner ein Wort. Ich betrachtete die Wand. Es war lediglich ein rostfarbener Fleck zu sehen. Er verbreiterte sich nicht und sah ganz trocken aus. Ein ganz gewöhnlicher Wasserfleck. Ann schrie auf und ließ ihre Tasse fallen. Der Kaffee ergoß sich über ihre Fußgelenke und tropfte auf ihre Schuhe hinunter. »Das ist Blut! Hier in meiner Tasse!« Ann sprang auf und klammerte sich an mich. Golding blickte Raissa stumm an. Sie erwiderte seinen Blick und nickte ihm zu. Ann zitterte wie eine Motte, die man in der Faust gefangen hielt. »Sieht aber sehr nach Kaffee aus«, sagte Raissa trocken. »Es war Blut. Ganz bestimmt. Rot und salzig. Und dick.« »Vielleicht sollten Sie sie jetzt nach Hause bringen«, schlug Golding vor und ging zur Tür. Er war so nervös wie eine Nutte im Kloster. Mir selbst war auch nicht so besonders zumute. »Ja«, war alles, was ich sagen konnte. Die beiden sahen uns nach, als ich Ann zum Auto brachte. Offensichtlich hielten sie uns für verrückt. »Ich habe das Blut doch gesehen, Dell.« »Ich auch, Schätzchen.« »Aber die nicht.« Ich setzte sie auf den Beifahrersitz und mich selbst ans Steuer. Sie gab mir ihre Schlüssel, und ich versuchte den Motor anzulassen. Er sprang nicht an, sondern gab nur ein dumpfes Brummen von sich. Aus den Rändern des Armaturenbretts quollen dicke 70
Blutstropfen. Sie liefen ineinander und tropften auf die Instrumententafel. Dickes, warmes Blut quoll aus dem Zündschloß und lief mir über die Hand. Ann blickte zu mir hinüber. Sie zuckte zurück und versuchte, die Tür auf ihrer Seite zu öffnen. Sie schrie auf, als weiteres Blut aus dem Fensterrahmen über die Scheibe floß. »Dell, hol mich hier raus!« Ich riß meine Tür auf, ungeachtet des Blutstroms, der sich über mich ergoß, lief um den Wagen herum und zerrte sie ins Freie. »Ich kann in diesem Teufelsding nicht fahren, Dell. Ich kann es einfach nicht.« Plötzlich war alles Blut verschwunden. Nichts davon haftete mehr an unserer Kleidung. Es war weder eingetrocknet noch abgetropft. Es war einfach ver schwunden. »Das Blut ist weg.« »Es kommt wieder«, sagte sie mit Bestimmtheit. Sie wischte sich die Augen und marschierte davon. Ihre hohen Absätze klopften bei jedem Schritt laut auf dem Pflaster. »Wohin gehst du?« fragte ich, ihr nachlaufend. »Zu einer Adresse am Hollywood Boulevard. Da muß ich unbedingt hin.« Sie warf ihr Haar zurück und stemmte sich gegen den Nordwind. Ihr Rock flatterte in der steifen Brise und schmiegte sich an ihre Schenkel. Ich blickte zum Auto zurück und sah einen Schatten, der sich hinter den Wagen duckte. Ich rannte hinüber und sah mich überall um - auch unter dem Auto. Nichts. Ich holte Ann ein und ging neben ihr her. »Ich komme mit. Was ist denn da los, am Hollywood Boule vard?« Das Gehen schien sie etwas zu beruhigen. Sie atmete tief durch und sagte: »So ein Laden. Ist schon ein paar Jahre dort. Die Besitzerin hat - eh - gewisse Kräfte.« »Prächtig. Jetzt laufen wir schon zu Wahrsagern.« 71
Sie blieb stehen und starrte mir ins Gesicht. »Dann erkläre du mir doch mal die Sache mit dem Blut. Und warum die anderen es anscheinend gar nicht sahen.« »Anscheinend. Ich habe selbst schon bei allerlei Tricks mitgemacht, die Leute zum Wahnsinn treiben konnten. Wie gut kennst du eigentlich diesen Golding?« »Ich kenne ihn überhaupt nicht. Ich hatte sein Buch gelesen, >Die Idee des Atheismus<, und ich dachte, er könnte uns vielleicht weiterhelfen.« »Das Ganze könnte ein mieser Trick sein.« »Ob es nun ein Trick war oder nicht, warum passiert das alles gerade zu der Zeit, wo wir versuchen, Gott aufzufinden? Welche Mittel man immer anwenden mag, irgend jemand versucht uns angst zu machen und uns von unserem Vorhaben abzuhalten.« »Hast du jemals Drogen genommen?« »Vor langer Zeit. Aber seitdem hatte ich niemals irgendwelche Rückblenden von Halluzinationen. Und wenn du noch welche hast, kannst du mich nicht damit in Verbindung bringen.« Sie ging weiter - schneller und zielbewußter als zuvor. Fast triumphierend zeigte sie auf ein Gebäude am Beverly Boulevard. »Siehst du das?« Die vagen Umrisse eines Elchkopfes oder etwas ähnlichem waren an den Fenstern zu sehen. Blut floß über die Glasscheiben und verfärbte sich dunkelbraun, wo es trocknete. Diesmal waren wir nicht die einzigen, die das Blut bemerkten. Einige Autos hielten an. Andere fuhren weiter. Ein Mann stieg aus seinem Wagen und deutete auf das Gebäude. Die Frau, die ihn begleitete, schüttelte den Kopf. Er deutete nochmals mit der Hand. Sie zuckte mit den Schultern und stieg wieder ins Auto. Der Mann sah noch einmal hin. Dann gab er es auf und fuhr davon. »Siehst du?« sagte Ann und zeigte auf die Menschenmenge, die sich angesammelt hatte. Mehrere Leute blickten schockiert auf die Hauswand. Andere starrten verwundert die Menschen an, die unverwandt hinaufschau72
ten. »Einige von ihnen können es sehen - die anderen nicht.« »Vielleicht eine Art Filmprojektion«, sagte ich unüberzeugt. »Filmprojektionen fühlen sich nicht klebrig an und schmecken auch nicht salzig.« Wir gingen an der schnatternden Menschenmenge vorüber. »Was hast du eigentlich gesehen?« »Blut. Überall. Wie Ölfarbe.« »Aber jetzt ist es weg.« Ich blickte hinauf. Das Gebäude sah völlig normal aus. Eine Hand packte mich an der Schulter. Ich fuhr herum. Niemand stand hinter mir. Kein Mensch stand im Umkreis von drei Metern. Etwas berührte meine Wange. »Fassen sie dich auch an?« fragte Ann und warf den Arm hoch, als wolle sie etwas abschütteln. »Ann, was ist denn das? Ich habe noch nie gehört, daß Geister bei hellem Tageslicht auftauchen.« Feuchte Finger streiften mir übers Gesicht wie schleimige Schnecken. Etwas zischte mir in die Ohren. Ann lief davon. Ich rannte ihr nach, ohne die Finger, die sich in meinem Haar festkrallten, zu beachten. Sie lief wie wahnsinnig, um den unsichtbaren Händen zu entkommen. Aber die hielten Schritt mit uns, zupften und zogen weiter an uns herum, betasteten uns und strichen uns übers Gesicht. Ich hatte Ann eingeholt und rannte neben ihr her. Links von uns lag der Friedhof von Hollywood. Ich erwartete fast, daß die Gräber sich öffnen und die toten Filmstars herausklettern würden, silbern, blaß und grau. Aber niemand belästigte uns. Weitere Ereignisse er warteten uns erst am Santa Monica Boulevard. »Dell!« Ann schrie auf und packte mich am Arm. Zunächst nahm ich an, es sei wieder eine der unsichtbaren Hände, und schenkte ihr keine Beachtung. Erst als sie 73
mit aller Kraft an meinem Arm zog, hielt ich an und blickte auf meine Füße hinunter. Dickflüssiges, rotes Blut quoll gurgelnd aus den Ab flußkanälen hervor und überschwemmte die Straße. Manche Autos hielten an, andere hupten ärgerlich und fuhren an ihnen vorbei. Ihre Räder bespritzten die Fuß gänger mit Blut. Einige von ihnen kreischten au f, wurden ohnmächtig oder erbrachen sich, während manchen nur das Verhalten der anderen auffiel. »Wir wissen doch, daß es keine Wirklichkeit ist«, sagte ich, die Menschen betrachtend. »Warum sehen wir es dann immer noch vor uns?« Ann sah aus, als hätten ein paar Bullen in Los Angeles sie stundenlang durch die Mangel gedreht. Sie schreckte immer wieder auf, wenn die unsichtbaren Hände sie streiften, bemühte sich aber, sie soweit wie möglich zu ignorieren. »Diese Vorspiegelungen sind von außen auf uns ge richtet«, sagte sie. »Ob wir daran glauben oder nicht, wir können uns ihnen nicht entziehen. Gehen wir weiter.« Die Ampel leuchtete grün auf, und Ann trat in den roten Blutstrom am Rinnstein. Ein paar Autos, die das Stopplicht noch schnell überfahren wollten, kamen schlit ternd zum Stehen und ließen uns vorbei. Das Geschrei der verwirrten Fahrer klang wie auf einer Versammlung von Marktschreiern. Warm und stickig floß mir das Blut um die Fußgelenke. Auf der anderen Straßenseite fingen wir wieder an zu rennen. Als wir aus dem Blutbach auf der Fahrbahn herausstiegen und wieder auf den Gehsteig kamen, wa ren unsere Füße bis zu den Oberschenkeln rot gefärbt. Kurz darauf verschwanden die Blutflecken völlig. Ebenso der Blutstrom auf dem Fahrdamm. Ich fühlte mich schwach und benommen. Meine hüb sche, solide, normale Welt brach in Stücke. »Das Ganze konzentriert sich auf uns, soviel ist sicher.« 74
Wir waren an der Fernwood Avenue angekommen, und Ann zog sich die Schuhe aus. Barfuß konnte sie schneller laufen. Als wir schon fast an der Fernsehstation von Channel II vorbei waren, hielt sie plötzlich an, stützte sich an der bekritzelten Wand ab und wand sich vor Schmerzen. »Was hast du?« fragte ich. Sie sah aus, als hätte man sie zwischen die Beine getreten. »Krämpfe«, keuchte sie. »Vom Laufen?« Zur Antwort stöhnte sie nur und krümmte sich noch mehr. Ich packte sie, bevor sie umfiel, und hielt sie aufrecht, so gut es ging. Nicht selten in meinem Leben hatte ich Besoffene und Tote weggeschleppt, aber noch nie ein krankes Weibsbild. Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. »Zum Hollywood Boulevard. Laß uns...« Sie bekam erneut Krämpfe. »Heb mich auf«, bat sie. Ich hob sie hoch und trug sie in den Armen, wobei ich mir vorkam wie ein Ritter in Pumphosen. Sie hatte mir die Arme fest um den Hals gelegt, und ihre Füße wippten bei jedem Schritt, den ich tat, auf und nieder. Ich überquerte den Sunset Boulevard Ecke Bronson und marschierte weiter in Richtung Hollywood Boule vard. Dicke, dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen. Ann biß die Zähne zusammen und krümmte sich in meinen Armen. Ein Spalt öffnete sich in den Wolken über uns und überschütteten uns mit einer rubinroten Flut. Die Tropfen klatschten auf die Straße wie dicker Brei. Dichter Dunst umgab uns wie ein Vorhang. Die Kleider klebten uns am Leibe. Anns langes blondes Haar fiel in fetten, tropfenden Strähnen herab, so schwer, daß es ihr den Kopf nach hinten zog. Ich hob soviel davon auf, wie ich konnte, und legte es mir über den Arm. In einiger Entfernung hörte ich quietschende Bremsen und krachendes Blech. 75
Links von mir sah ich einen großen Wohnblock. Er war nach bester kalifornischer Tradition mit üppiger, tropischer Vegetation überwachsen und erschien mir der rechte Platz zu sein, das Ende des Wolkenbruchs abzuwarten. Ich patschte über die Straße und begab mich in Deckung. Der Boden war knochentrocken. Über uns erstreckte sich blauer Himmel - so blau, wie er nur in Los Angeles sein kann - so weit das Auge reichte. Ich blickte zurück auf die Straße. Völlig trocken. An unserer Kleidung war ebenfalls kein feuchter Faden. Ich kehrte zur Bronson Avenue zurück. Kaum hatte ich den Schutz des Wohnblocks verlassen, verwandelten sich der blaue Himmel und die Trockenheit in Ströme von Blut, die sich aus schwarzen Wolken über uns ergossen und uns bis auf die Haut durchnäßten. Ich ging zurück auf die andere Seite, und wieder war es ein heller, normaler Sommertag. Ann bewegte sich in meinen Armen. »Wenn wir hier drüben sind, hören meine Magenkrämpfe sofort auf.« Sie stellte sich auf die Füße und sah sich um. Ihr Haar fiel ihr über Schultern und Rücken, etwas verschwitzt, aber goldfarbig und lose, als hätte der Sturm es nie berührt. «Aus irgendeinem Grund sind wir hier in Sicherheit.« Versuchshalber tat sie einen Schritt über die Grenzlinie, griff sich an den Magen und kam sofort wieder zurück. »Da draußen sieht es immer noch aus wie in einem Schlachthaus.« »Aber es ist doch klar, daß das alles nur Einbildung ist. Es hat weder dein Haar benäßt noch Flecken auf unserer Kleidung zurückgelassen. Die Gehsteige haben sich zwar glitschig angefühlt, aber ich bin trotzdem nicht ein einziges Mal ausgerutscht. Ich glaube, wir schaffen die nächsten zwei Querstraßen noch.« Sie sah mich an, als sei ich ein alberner Schuljunge. »Hast du eine Vorstellung davon, wie weh Magenkrämpfe tun?« 76
»Nun ja, man hat mich schon ein paarmal mit Messingschlägern in den Magen gehauen. Aber du würdest keinen wirklichen Schaden nehmen.« Ich trat auf den Gehsteig hinaus. »Außerdem hat der Regen jetzt aufgehört. Gehen wir.« Zögernd kam sie mir nach und hielt sich dicht an meiner Seite, so daß ich ihr Parfüm riechen konnte - wie vorhin, als ich sie trug. Wenn ich nicht gerade den Blutgeruch in der Nase hatte. Wir gingen an einer kleinen Wohnsiedlung in der Carlton Avenue vorbei und erreichten den Hollywood Boulevard. Der Straßenverkehr wickelte sich normal ab. Schrottreife alte Kisten und dicke Luxuslimousinen dicht beieinander. Ein Beispiel automobilistischer Demokratie. Es war bereits zu spät für die Penner, noch auf der Straße herumzuliegen, und noch zu früh für die Nutten. Die Passanten waren Touristen, Geschäftsleute und Einkaufsbummler. Einige starrten den Himmel an, zuckten die Schultern und versuchten denen, die nichts wahrnahmen, zu beschreiben, was sie sahen oder zu sehen glaubten. Ein Ehepaar, an dem wir vorbeikamen, war bemüht, eine alte Frau zu beruhigen. Sie zupfte unaufhörlich an einem Rosenkranz und faselte vom Blut der Jungfrau Maria, das vom Himmel geflossen sei. Diese Erklärung erschien mir nicht schlechter als jede andere. »Noch eine Querstraße«, sagte Ann und wich vorsichtig den Müllhaufen aus, die auf der >Straße der Träume< herumlagen, um nicht barfuß in den Schmutz zu treten. Wir gingen weiter nach Westen, bis sie nach links deutete. »Da drin.« Das kleine Gebäude war ein bescheidener Laden, der mit den benachbarten Läden durch keine gemeinsamen Wände verbunden war. Auf der Schaufensterscheibe stand in großen, verschnörkelten Buchstaben: 77
TRISMEGISTOS und in kleinerer, weniger verschnörkelter Schrift: Kerzen, Weihrauch, Zaubersprüche, Öle Heilwurzeln und anderes. »Das kannst du mir doch nicht antun!« »Halb so schlimm, Dell. Ich kenne die Frau, die den Laden führt.« »So? Woher denn?« Sie blieb stehen, die Türklinke in der Hand. »Also wenn du es unbedingt wissen mußt - das Haus gehört der Bautista Corporation. Ich habe den Mietver trag abgeschlossen.« Sie stieß die Tür auf. Ein Glöckchen klingelte fröhlich. Ein junges Mädchen kam aus dem Hinterzimmer in den Laden. Sie trug ein knöchellanges Kleid, das vor Jahrzehnten modern gewesen sein mochte. Ihr schwarzes Haar hing ihr, zu einem dicken Zopf geflochten, den Rücken herunter. Sie lächelte, als Ann auf sie zuging und leise mit ihr sprach. Der Laden sah überhaupt nicht spukig aus. Drei von Neonlampen erleuchtete gläserne Schaukästen enthielten den Großteil des Angebots. Weitere Waren standen auf Regalen an den Wänden. Es waren vorwiegend Kerzen und Glasfläschchen mit farbigem Inhalt. Die selbstkle benden Etiketten waren mit der Schreibmaschine beschriftet. Man hatte nichts unternommen, um dem Ganzen einen übernatürlichen Anstrich zu geben. Alles war so nüchtern und geschäftsmäßig wie der Drugstore an der nächsten Ecke. Besonders, da keinerlei Plakate und Reklame-Posters herumhingen, die wundersame Heilungen versprachen. Einer der Glaskästen enthielt eine Sammlung von Messern, die als >Athame< bezeichnet waren. Es war der einzige Teil des Ladens, dem ein Hauch von Zauberei anhaftete. Einige der Dolche waren von einfacher Ausführung und steckten in hölzernen Scheiden. Andere waren künstlerisch verarbeitet. Einer hatte als Griff einen Messingdrachen, der die Klinge mit seinen Armen umschlungen hielt. 78
»Dell.« Ich wandte mich um. Arm winkte mir zu kommen. Ich ging auf sie zu. »Wir werden jetzt mit Bridget sprechen.« »Mit wem?« »Mit der Besitzerin. Kasmira hier ist ihre Enkelin.« Wir folgten dem Mädchen ins Hinterzimmer. Dort hörte jede Normalität auf.
6 Sie hätte genausogut tot sein können, so still stand sie da. Tot und gegen die Tür des nächsten Zimmers gelehnt. Kasmira ging vor Ann und mir her und hielt vor der alten Frau an. Das einzige Wort, sie zu beschreiben, wäre >alte Hexe<. Ihre knochigen Arme, die sie über der Brust verschränkt hielt, steckten in den Ärmeln ihres mattblauen Kimonos. Sie starrte uns aus klaren, dunklen Augen an. Das Haar hing ihr in grauen Wellen über den leicht gebeugten Rücken. »Also, was ist«, krächzte sie. »Ich heiße Ann Perrine. Wir sind uns schon einmal begegnet. Ich arbeite bei der Bautista Corporation.« »Und er?« erkundigte sie sich, wobei sie >er< besonders betonte. »Dell Ammo«, stellte ich mich vor, meinerseits den Nachnamen betonend, »von der Agentur Solutions Incorporated.« »Ich hatte mir gedacht«, sagte Ann, »daß Sie uns vielleicht bei der Lösung eines kleinen Problems helfen könnten. Vor etwa fünfzehn Minuten...« ».. .haben Sie einige Phänomene beobachtet.« »Ja. Haben Sie es auch gesehen?« »Ich habe ein paar Störungen aufgefangen. Am Rande. Hat mir eine Zauberformel versaut. Kasmira ging hinaus, 79
um nachzusehen, was los war. Sie sah, daß die Menschen auf der Straße sich eigenartig verhielten. Darauf versetzte sie sich in Trance und sah das gleiche, was die anderen sahen.« »Das Blut«, sagte Ann. »Ja, das hat sie mir erzählt. Ich hatte mir gedacht, daß Sie vielleicht die Quelle dieses Phänomens für uns herausfinden könnten.« Die Alte nahm die Arme von der Brust und stieß sich vom Türrahmen ab. Hinter einem Wandbehang zog sie einen Gehstock hervor, beugte sich, auf den Stock gestützt, vor und sagte: »Das ist eine schwere Arbeit. Warum sollte ich es tun?« Ann neigte sich zu ihr ans Ohr und flüsterte ihr etwas zu. Die Alte schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Finger auf das andere Ohr. Ann wechselte auf die andere Seite hinüber und flüsterte weiter. Einen Augenblick später weiteten sich Bridgets Augen, und sie blickte mich an. »Das haben schon andere versucht. Ohne Erfolg.« »Aber das waren keine Profis.« Ann lächelte mir zu. Die Sache schien ihr Spaß zu machen. Die alte Hexe kniff die Augen zusammen und musterte mich, als sei das Ganze ein schlechter Witz. »Aber was hat das damit zu tun, daß Sie die Ursachen eines psychischen Phänomens ergründen wollen?« »Die Auswirkungen scheinen sich auf uns zu konzentrieren«, erklärte ich ihr. Dann gab ich ihr eine genaue Beschreibung von allem, was uns auf dem Herweg widerfahren war. Als ich mit meiner Erzählung fertig war, verhörte sie mich mit der scharfen Genauigkeit eines Staatsanwalts. »Hat es wirklich ausgesehen wie ein Elchkopf?« fragte sie. »Wie? Oh. Ja, in Umrissen. Eher wie die Zeichnung eines Kindes. Nur die Augen stimmten nicht. Sie lagen zu hoch - genau unter dem Geweih.« »Wie sah der Spalt in der Wolke aus - rund? Oval? Viereckig?« 80
»Wie ein Schnitt. Dann suchten wir Schutz im Eingang des Wohnhauses, und der ganze Zauber hörte auf.« Sie verwarf die Bemerkung mit einer geringschätzigen Bewegung ihrer ledernen Hand. »Das hat nichts mit Ihrem Problem zu tun. Dort wohnten einmal ein paar äußerst machtvolle - eh - Hexen. Eine von ihnen hielt sich lange genug dort auf, um den Komplex gegen äußere Einflüsse abzusichern. Es gibt viele solche Orte. Dort haben Sie doch kein Blut vom Himmel regnen sehen, oder?« »Aber wo ist der Ursprung?« fragte Ann. Bridget seufzte und änderte ihre Stellung. Kasmira ging in den Laden, um einen Kunden zu bedienen. »Das herauszufinden, würde eine gehörige Anstrengung erfordern«, sagte die Alte. »Sie haben mir immer noch keinen ausreichenden Grund dafür angegeben. Es ist ja nicht so, als ob ich nur ein kurzes Gebet sprechen müßte, und schon käme ein Engel und brächte mir die Antwort per Sonderzustellung. Die Ergebnisse hängen immer davon ab, wieviel Zeit und Mühe man darauf verwendet.« Sie blickte uns abwartend an. Anns Lippen zogen sich zu einem dünnen Strich zusammen und öffneten sich dann ein wenig. Ihre Stimme nahm einen schneidenden Ton an, wie ich ihn von ihr noch nie gehört hatte. Bridget gerade in die Augen blickend, sagte sie leise und kühl: »Die Dame verlangt von Ihnen, daß Sie uns helfen.« Die Alte starrte sie längere Zeit schweigend an. Jahrzehntelanges, mißbilligendes Stirnrunzeln hatte tiefe Falten in ihr Gesicht gekerbt. Ich hatte die ganze Zeit lang kein Wort gesprochen. Der Umgang mit verrückten Hollywood-Typen war nicht meine Stärke, und ich wollte die Verhandlungen nicht zum Platzen bringen. Ihre verrunzelte Hand, die den Stock hielt, schloß und öffnete sich abwechselnd. Mit geschlossenen Augen nickte sie ein paarmal vor sich hin. Dann stieß sie die Tür hinter sich auf. 81
»Hinein.« Sie deutete mit dem Finger in das verdunkelte Zimmer. Ann ging als erste hinein, gefolgt von der Alten, die das Licht einschaltete. Ich kam als letzter und fragte mich, was für mystischen Unsinn sie uns jetzt auftischen würde. Leider hatte das Wort >Unsinn< nicht die übliche Überzeugungskraft. Der Raum war nicht viel größer als das Vorzimmer meines Büros. Drei der Wände, einschließlich der Wand; wo sich die Tür befand, waren mit schweren, dunklen Vorhängen verkleidet. An der vierten Wand stand ein Bücherregal, das vom Fußboden bis zur Decke reichte. Die Bücher, neue und alte, waren mit handbeschrifteten Etiketten versehen, die den Inhalt anzeigten. Gegenüber, vor einer der verhängten Wände, befand sich eine Art Altar, der wie ein Kaffeetisch aussah, und auf dem ein wirres Durcheinander herrschte. Eine Anzahl Kerzen, Holzschnitzereien von Hirschen, Rehen und Halbmonden lagen darauf herum. Ein Weihrauchbrenner, geformt wie ein Drache, stieß gelegentliche kleine Rauchwölkchen aus. An der Wand gegenüber der Tür stand ein Kartentisch. Bridget setzte sich auf einen der Klappstühle, die um den Tisch herumstanden, und bedeutete uns mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. Ann und ich setzten uns an die andere Seite des Tisches und warteten ab. »Also gut«, sagte sie. »Ich werde es tun. Bleiben Sie sitzen und verhalten Sie sich still.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und nahm meine Packung Zigaretten aus der Tasche. Bevor ich noch eine herausholen konnte, blickte sie auf. »Nicht rauchen.« Ich nickte und steckte die Packung wieder weg. Dann steckte sie soviel Weihrauch in Brand, daß es genügt hätte, ein Obdachlosenasyl auszuräuchern. Ann lehnte sich etwas zurück und schloß die Augen. Nur ihr zerzaustes, verschwitztes Haar, das über die Stuhlleh82
ne hing, zeugte davon, was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte. Ansonsten war ihr nichts anzumerken. Sie strahlte die Ruhe einer verschlafenen Katze aus. Bridget schob einen Pack Spielkarten in die Mitte des Tisches. Ihre Finger waren erstaunlich flink und geschickt, als sie die Karten mischte, die größer und dik ker waren als gewöhnliche Spielkarten. Dabei murmelte sie vor sich hin, mit einer Stimme wie Samt und Seide. Sie legte die Karten aus wie bei einem Patience-Spiel. Ich hatte einen derartigen Satz Karten noch nie gesehen. Bilder von Männern, die an den Füßen aufge hängt waren, Männer und Frauen mit Schwertern und Pokalen in den Händen, Narren und Lustknaben. Jedes der Bilder schien von einem anderen Maler zu stammen. Bridget legte die Karten nach einem bestimmten Muster aus. Ihr Blick wanderte zwischen den Karten und mir hin und her. Von Zeit zu Zeit blickte sie zu Ann hinüber. Dabei sprach sie kein Wort. »Also, was ist nun?« Langsam wurde ich ungeduldig. Sie erhob eine Hand und sammelte mit der anderen die Karten ein. Ann öffnete die Augen und sah mich mit leichtem Kopf schütteln lächelnd an. Dann wandte sie den Kopf ab und schloß wieder die Augen. Die Alte mischte nochmals die Karten. Ich stieß einen Seufzer aus und blickte mich im Zimmer um. Die Vorhänge waren von sattem Burgunderrot. Der dicke Samt schloß jedes Geräusch aus. Nur das Klatschen der Karten auf der Tischplatte war zu hören. Als die Alte schließlich fertig war, herrschte absolute Stille. Viele Minuten später öffnete Ann ein Auge. Die Alte blickte zu Ann hinüber, dann auf die Karten, dann wieder auf Ann. Sie schien äußerst erstaunt. »Gott segne mich«, murmelte sie mit ihrer kurzatmigen Greisenstimme. Dann wandte sie sich um und rief laut: »Kasmira!« 83
Einen Moment später kam das Mädchen ins Zimmer. »Geh und hole mir zwei orangefarbene Kerzen und eine purpurrote. Du kannst sie als Geschäftsunkosten abschreiben. Dann paß auf den Laden auf und störe uns nicht.« Kasmira verschwand mit einem Kopfnicken. »Kommen Sie hier herüber«, sagte die Alte und führte uns zum Altar. Dabei klopfte ihr Stock auf den hölzernen Fußboden wie der Absatz eines Skeletts. Sie ließ sich vor dem Altar nieder, zog ihren Kimono zurecht und begann, die einzelnen Gegenstände auf dem niedrigen Tisch zu ordnen. Während sie ihren Arbeitsplatz aufräumte, stellte sie Fragen. »Womit beschäftigt sich eigentlich Ihre Firma, > Solutions Incorporated<, Mr. Ammo?« »Wir suchen vermißte Filmstars, verhindern Weltkriege, rechnen Wettquoten aus - eben das Übliche.« Ich sah ihr zu, wie sie ein paar weiße Kerzen auf den Altar stellte, um einen mit Kreide eingezeichneten, fünfzackigen Stern herum. Dabei brummte sie vor sich hin. Das Mädchen brachte die drei Kerzen und übergab sie Bridget. »Ich danke dir, Liebes. Geh jetzt in den Laden und sieh zu, daß wir nicht gestört werden.« »In Ordnung, Bridget.« Das Mädchen nickte ihr zu und ging hinaus. Die Tür schloß sich mit einem gedämpften Zischen. »Wissen Sie, daß ein großes Schicksal Sie erwartet, Mr. Ammo?« sagte die Alte ohne mich anzusehen. »Da wird sich meine Mutti freuen.« »Ja«, sagte sie, eine der orangefarbenen Kerzen auf den Tisch stellend, »sie wird sich freuen.« Ich nahm die Hände aus den Taschen und setzte mich neben Ann auf den Fußboden. Ich mochte keine Leute, die frivole Bemerkungen ernst nahmen. Man konnte sie kaum jemals beleidigen. Bridget legte noch mehr Weihrauch in die Schale. Eine 84
Miniaturausgabe des Smogs von Los Angeles. Ann tat einen tiefen Atemzug, zog den Rauch genußvoll ein und blies ihn wieder aus. Ich hatte Mühe, nicht zu ersticken. Die Alte griff hinter den Vorhang, betätigte einen Schalter und löschte das Licht. Als einzige Beleuchtung blieb die dunkelrote Glut des Weihrauchbrenners, die sich auf unseren Gesichtern widerspiegelte. »Ich muß Sie jetzt bitten, ruhig zu sein, bis Sie zum Sprechen aufgefordert werden.« Ann und ich nickten Zustimmung und sahen der Alten zu. Mit einem langen Streichholz zündete sie zunächst die purpurrote Kerze an, dann die beiden orangefarbenen, und schließlich die weißen. Dabei flüsterte und murmelte sie unaufhörlich. Der süßliche Rauch umkräuselte sie und warf flackernde Schatten auf ihr Gesicht, das jetzt einer starren Maske ähnelte. Den Rhythmus ihrer Beschwörungen unterbrechend, sagte sie: »Haltet euch an den Händen.« Dann nahm sie ihr Gemurmel wieder auf. Ann hielt mir ihre Hände hin, und ich ergriff sie. Sie fühlten sich glatt und warm an wie Elfenbein, das von der Sonne erwärmt war. Unsere Finger schlössen sich zu einer Art vierfacher Faust und hielten einander fest. Bridget legte ihre Hand auf die unseren. Sie fühlte sich fiebrig heiß an, gar nicht wie die kalte Hand einer Greisin. Mit Fingern wie Raubvogelklauen umklammerte sie unsere verschlungenen Hände und hielt sie fest. Eine Weihrauchwolke wehte mir ins Gesicht und brannte mir in den Augen. Die Alte tat einen plötzlichen tiefen Atemzug und begann, in einer unverständlichen Sprache zu sprechen. Auch Anns Namen sprach sie falsch aus. Allmählich wurden ihre Gesichtszüge weich und ruhig, obgleich sie unsere Hände noch in eisernem Griff gepackt hielt, und sie sprach wieder englisch. »Das Blut, das ihr gesehen habt, ist das Blut der Jungfrau. Das erste Blut. Das Blut der Heiligen Jungfrau, 85
die Mondflut. Der Schwanz des Teufels deutet hinab ins Fegefeuer und beschreibt einen fast vollen Kreis.« Ihre Brauen runzelten sich über den geschlossenen Augenlidern. »Paradoxe Schachzüge. Tausend Männer und doch kein einziger. Der obsidianische Dolch ist angesetzt, mehr Blut wird fließen.« Sie erhob die Stimme und begann schneller zu sprechen. »Unter der Erde im Reich der Ungeheuer, die das Feuer gebar und die sowohl das Tageslicht wie auch das Dunkel der Nacht meiden. Die Zeit der großen Zahl rückt näher. Zwei mächtige Kräfte werden sich treffen und aufeinanderprallen!« Sie zog ihre Hand weg und zeigte auf mich. »Der Sturm konzentriert sich in deinem Inneren.« Sie schien mich durch ihre geschlossenen Lider anzustarren. Ihr Finger schwenkte in eine andere Richtung. Sie stöhnte auf. Plötzlich fielen die Kerzen um. Ich konnte nicht erkennen, wer oder was sie umgeworfen hatte. In der Dunkelheit löste ich meine Hände von Ann und lauschte. Brid gets erschöpfte Atemzüge kamen von irgendwo am Fußboden. Ann gab keinen Laut von sich. Irgendwo draußen zersplitterte Glas. Eine Frau schrie auf. Der Lärm drang dumpf durch die Wände und Vorhänge wie vage Erinnerungen. Ich stand auf und versuchte, zur Tür zu gelangen. Sogar die Kohlen im Weihrauchkessel waren erloschen. Wieder war das Splittern von Glas zu hören. Plötzlich blendete mich das plötzliche Licht der Dekkenbeleuchtung. Ann hatte den Schalter hinter dein Vorhang gefunden. Jetzt begann sie, sich um die Alte zu kümmern. »Danke, du Engel«, rief ich ihr zu und rannte aus der Tür. Bei meinem Erscheinen hörten die Eindringlinge sofort auf, das Inventar in Stücke zu schlagen. Es war eine eigenartige Ansammlung - die meisten waren junge 86
Leute, viele von ihnen verdreckt, aber es gab auch ein paar saubere, gutgekleidete und gepflegte Typen unter ihnen. Die schwarz eingebundenen Bücher, mit denen sie die Waren von den Regalen fegten, und die schweren hölzernen Kreuze, mit denen sie Flaschen und Glasscheiben zerschmetterten, sagten mir alles, was ich wissen wollte. »Hört auf damit, ihr Halunken! Eure religiöse Toleranz könnt ihr woanders zur Schau stellen!« Einer der Ordentlicheren, ein braunhaariger Junge im blauen Flanellanzug, schob sich nach vorn und sah mich an wie ein tollwütiges Wiesel. »Wir wissen, was ihr Hexen vorhabt«, schrie er mit wutbebender Stimme. »Gott hat es uns gesagt.« »Ja? Wenn du Ihn wieder mal sprichst, kannst du Ihm etwas von mir ausrichten. Sage Ihm, Dell Ammo kommt seinen Verpflichtungen immer nach.« »Das ist er ja!« rief jemand. Wie ein Mann erhoben alle ihre Kreuze und Bibeln. Statt in Flammen aufzugehen oder mich in eine Fledermaus zu verwandeln, machte ich den Fehler, laut zu lachen. Die Menge trat einen Schritt vorwärts. Zerbrochenes Glas knirschte unter ihren Füßen. Kasmiras verängstigte Stimme erklang hinter der Theke. »Mein Gott, jetzt haben Sie alles noch schlimmer gemacht.« Dasselbe hätte ich ihr sagen können, denn eine Stimme schrie: »Du sollst den Namen des Herrn nicht verunglimpfen!« Ein Kreuz kam durch die Luft gesaust, schwirrte an mir vorbei und prallte an den S tahlrahmen eines der zertrümmerten Schaukästen. »Also, hört endlich auf! Ihr erweist eurem Glauben keinen Dienst.« »Wir sind bereit, für den Herrn zu sterben«, sagte der Junge im blauen Anzug. »Ja, und für den Prinz des Friedens zu töten. Ihr Armleuchter verursacht mir Kopfschmerzen im Arsch. Raus!« 87
Die Menge wurde plötzlich unsicher. Der mit der Großschnauze rief: »Es wird ein großes Entzücken geben, wenn alle wahren Christen in den Himmel kommen und die Erde ihren Leiden und Drangsalen über lassen ...« »Du willst wohl der erste sein, der zum Himmel aufsteigt?« Ich trat näher an die Gruppe heran. »Die für Christus sterben, kommen als erste in den Himmel.« »Das meinte ich ja.« Mit einemmal blickten alle auf etwas hinter mir. »Wir scheiden in Frieden«, sagte der Junge nervös, »aber bereitet euch auf das letzte Gericht vor. Dann wird der Herr mit lautem Schrei vom Himmel herabsteigen.« »Dann muß ich mir schleunigst Ohrenstöpsel be sorgen.« »Ein Meer von Schwefel erwartet euch und eure Kumpane.« »Prima - dann bin ich wenigstens in guter Gesell schaft.« Ohne eine weitere Bemerkung wandte sich die Menge ab und verließ den Laden. Ich drehte mich um, um nach Ann zu sehen, und lief fast in sie hinein. Sie stand direkt hinter mir. Mit triumphierendem Lächeln nahm sie die Arme herunter, die sie über dem Kopf gehalten hatte. »Das war doch kein Raubüberfall«, sagte ich. Sie grinste über meine Bemerkung, bis sie das Durcheinander im Laden sah. Kasmira war hinter der Theke hervorgekommen und kniete sich hin, um einige heilgebliebene Stücke aufzulesen. »Als wenn der dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre«, meinte Ann. Sie bückte sich, eine Kerze aufzuheben, die wie ein Frauenkörper geformt war. »Mit Bridget ist alles in Ordnung. Sie ist nur sehr erschöpft. Gut, da ß sie wenigstens versichert ist.« »Scheiße«, kam die müde Stimme der Alten aus dem Hinterzimmer. »Was wird denn jetzt?« 88
»Alles in Ordnung, Oma«, rief Kasmira ihr zu. »Nur ein paar Fenster und ein Schaukasten. Das meiste ist ganz.« »Wie nett und christlich von den Leuten«, brummte die Alte. Und dann, nach einer Weile: »Sind die beiden schon aus meinem Laden raus?« Ann blickte nach hinten und sagte: »Nein, wir sind noch hier.« »Dann macht, daß ihr rauskommt. Ihr Freund hat eine Menge Arbeit vor sich.« »Was, zum Beispiel?« fragte ich sie. »Herauszufinden, wie Sie Ihren Auftrag ausführen.« Sie erschien im Türrahmen und stellte sich in dergleichen Positur auf wie vorhin, als wir hereinkamen. »Warum sagen Sie es mir nicht?« schlug ich vor. »Weil ich nicht weiß, was das alles bedeutet.« Ich starrte sie an wie ein Narr. »Was?« »Ich bin nur ein Kommunikationsmittel. Ich überbrin ge eine Nachricht, die auf dem Wege durch die verschie denen Sphären bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt und verstümmelt wird. Sie müssen jetzt das Rätsel lösen. Es ist wie ein Rorschach-Test.« »Ich habe noch nie etwas für Gesellschaftsspiele übrig gehabt.« »Es ist mehr als ein Gesellschaftsspiel, Mr. Ammo. Diesmal betrifft es die ganze Welt.« Ich hob eine heruntergefallene Kerze auf und legte sie neben die Kasse. »So rollt also die Wachskugel, was?« Ich nickte Ann zu und wandte mich zum Gehen. Ann rührte sich nicht vom Fleck. »Warte noch, Dell. Ich habe noch eine Frage.« Sie sah zu Bridget hinüber. »Haben wir bald Neumond?« »Heute nacht. Genauer gesagt, morgen früh.« »Dann haben wir es.« Sie lief vor mir durch die Tür. Ihr Haar glänzte in der Sonne wie goldene Fäden. »Vielen Dank für alles«, rief sie über die Schulter. »Ich schulde euch eine Million. Gehen wir, Dell.«
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»Wohin denn?« »In dein Büro.« »Das ist ein langer Weg zu Fuß.« Sie wollte etwas sagen, aber ich schüttelte den Kopf. »Nicht im Porsche. Der ist bestimmt schon als gestohlen gemeldet, und ich kenne eine Menge Leute, die sich freuen würden, wenn man mich wegen einer Kleinigkeit wie Autodiebstahl einlochte. Es wäre der Witz des Jahres.« Wir gingen zur Bushaltestelle an der Schnellstraße und warteten auf den 91-S. Im Gegensatz zu den Jesus Monstern im Laden warf uns hier kein Mensch einen Blick zu. Viele Leute liefen immer noch herum wie im Schock. »Das Wichtigste ist jetzt, Bridgets Worte zu entschlüsseln«, sagte Ann, auf unser Thema zurückkommend. »Aber sie wußte doch selbst nicht, was es bedeutete.« »Weil es eben eine persönliche Nachricht an dich und mich ist.« Sie suchte sich einen einigermaßen sauberen Platz auf der Holzbank neben der Haltestelle, setzte sich und warf die Arme über die Rückenlehne. Ich setzte mich neben sie und legte die Hände in den Schoß, dem einzigen Platz, der mir blieb. »Bei dem Blut handelt es sich um das Blut der Jungfrau. Ich würde sagen, um die erste Menstruation eines jungen Mädchens, denn sie sagte, >das erste Blut< und sprach von der >Mondflut<, womit wahrscheinlich ein monatlicher Turnus gemeint ist. Das war ein ziemlich deutlicher Wink. Meine Krämpfe vorhin deuten auch darauf hin. Menstruationskrämpfe.« Ich nickte zustimmend und sah dem vorbeifließenden Verkehr zu. Die medizinischen Probleme von Frauen interessierten mich wenig. Ann redete die ganze Zeit, gerade laut genug, um den Verkehrslärm zu übertönen. »Danach wird es schon komplizierter. >Der Schwanz des Teufels deutet hinab< und so weiter.« »Du könntest als Gedächtnisgenie im Variete auf treten.« 90
»Ich mußte mir doch alles merken. Du tatest es ja nicht.« »Es schien mir nicht der Mühe wert, das ganze Geplapper im Gehirn zu speichern.« Sie schüttelte verärgert den Kopf und vertiefte sich ihrerseits in die Betrachtung des Straßenverkehrs. Auf ihre Überlegungen konzentriert, durchkämmte sie ihr zerzaustes Haar mit den Fingern. »Hör mal zu, Dell«, sagte sie schließlich. »Das, was viele Leute Zauberei nennen, ist lediglich eine Methode zur Erschließung von Teilen des menschlichen Gehirns, um gewisse Handlungen auszuführen oder bestimmte Erscheinungen wahrzunehmen. Nach allem, was uns heute passiert ist, kannst du nicht leugnen, daß manche Menschen Dinge sehen, die andere nicht wahrnehmen können.« »Vielleicht stehe ich immer noch unter dem Einfluß von Drogen.« Sie nahm die Finger aus den Haaren und seufzte auf. Offenbar hatte sie mit ihrem Gerede alles nur noch mehr kompliziert. »Dell - nur weil die meisten Leute die Winkel eines Dreiecks nicht bestimmen können, ist ein Mathematiker, der es kann, noch lange kein Magier.« »Vor tausend Jahren wäre er einer gewesen.« »Ja, aber heute sehen wir den Unterschied. Er ist einfach dazu ausgebildet, bestimmte Berechnungen anzuwenden. Genauso wie eine - wie wollen wir es nennen - eine Hexe - gelernt hat, Symbole zu deuten.« »Hier kommt unser Bus.« Ann stand auf und streckte sich wie eine goldene Katze. Der Autobus, eine uralte, überforderte Kiste, keuchte heran und blieb an der Haltestelle stehen. Ann zahlte für uns beide, und wir setzten uns neben den hinteren Ausgang. Eine alte Frau vor uns und ein ver wahrloster, junger Stromer, der ganz hinten saß, waren außer uns die einzigen Fahrgäste. Die Alte trug einen zerschlissenen Stoffmantel und hielt eine Papiertüte 91
voller Papiertüten an die Brust gedrückt. Dauernd vor sich hin murmelnd, beschwerte sie sich bei der Welt über ihr Schicksal. Der junge Stadtstreicher las eine Zeitung, das sauberste, was er an sich hatte. Die Achseln seiner Drillichjacke waren von Schweiß verfärbt. Er kaute an etwas herum, das ihm gelegentlich in den Bart tropfte. Es hätte mich interessiert, ob er die Zeitung las oder nur die Bilder betrachtete. Nachdem Ann einige Minuten schweigend dagesessen hatte, fragte sie mich: »Glaubst du an Gott?« »Nein. Das weißt du doch.« »Glaubst du an Satan?« »Das kommt doch alles in der gleichen Verpackung, Mädchen. Wenn du den Teufel kenn enlernen willst, brauchst du nur bis zur nächsten Polizeiwache zu gehen, wo die Bullen Geständnisse aus den Verdächtigen her ausprügeln. Oder zu einem der Regierungsämter, wo nett gekleidete Beamte dir das Geld abnehmen und es sich in die Tasche stecken. Oder in die Innenstadt, wo du zusehen kannst, wie irgendein junger Strolch seiner Großmutter den Schädel einschlägt, um ihr das Geld für die nächste Heroinspritze abzunehmen.« »So schlecht ist die Menschheit gar nicht, Dell.« »Gewiß«, höhnte ich. »Irgendwo glüht noch die hehre Flamme von Wahrheit und Vernunft und Gerechtigkeit und Hoffnung.« Ich steckte mir eine Zigarette an. »Eines Tages hätte ich das alles gern einmal gesehen.« Die alte Frau vor uns hustete in die hohle Hand, betrachtete ihre Handfläc he und wischte sie sich am Mantel ab. Ann schien es nicht zu bemerken. Sie lächelte mir zu und sagte: »Eines Tages wirst du es vielleicht mal sehen.« »Ja - wenn Schweine fliegen lernen.« Ich blickte aus dem Fenster. »Weil wir gerade von fliegenden Schweinen sprechen - dieser Polizeihubschrauber da drüben schwebt schon viel zu lange über der Van Ness Avenue.« 92
Ann folgte meinern Blick und runzelte die Stirn. »Glaubst du, daß die den Porsche schon gefunden haben?« »Geld spricht eine Sprache, die die Bullen gern hören. Und auch die Kirche beherrscht diese Sprache perfekt.« »Wir sollten zunächst einmal die Nachricht völlig ent schlüsseln.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Meinst du, wir können es riskieren, in die Nähe deines Büros zu gehen?« Ich tat einen tiefen Zug aus meiner Zigarette und überlegte. Schließlich sagte ich: »Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis sich die Polizei ans Arco wagt. Das Gerücht über nukleare Ausstrahlung im Arco ist immer noch im Umlauf. Da werden sie sich erst ver gewissern wollen. Die Bullen sehen vielleicht dämlich aus, sind es aber nicht.« »Gambit«, sagte sie. Ich drückte meinen Zigaretten stummel mit dem Absatz auf dem Fußboden aus und sah sie fragend an. »Das ist ein Schachzug, bei dem zu Beginn des Spiels eine Figur geopfert wird, um einen strategischen Vorteil zu erringen.« »Ja. Gewöhnlich ist es ein Bauer«, sagte ich. »Na und?« »Bridget sprach von paradoxen Schachzügen.« »Und was oder wer stellt einen paradoxen Schachzug dar?« »Sie sagte: >Tausend Männer und doch kein einzigere Das ist zum Beispiel ein Paradox.« »Eher ein Widerspruch. Du glaubst also, daß man irgendwo tausend Männer opfern wird?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat es eher etwas mit der Jungfrau und ihrer ersten Menstrua tion zu tun. Und was ist mit den Ungeheuern unter der Erde, die das Feuer gebar?« »Die Hölle, offenbar. Eine bildliche Umschreibung.« »Aber wofür?« Der Autobus knatterte über die Harbor-Freeway-Kreu93
zung, die mehr aus Schlaglöchern als aus Asphalt bestand. Ich drückte auf den Halteknopf. Der Fahrer drehte sich zu uns um und musterte uns mit teilnahmslosem Blick. An der Haltestelle in der Third Street brachte er den Bus zum Stehen. Die Luftdruckbremsen zischten, husteten einmal kurz auf, und die Türen öffneten sich. »Denk doch mal nach«, sagte ich, »in wieviel verschiedenen Versionen die Geschichten aus der Bibel überliefert sind.« Ich stieg aus dem Bus und hielt ihr galant die Hand hin. Hoheitsvoll, wie eine zerzauste Prinzessin, stützte sie sich auf meinen Arm und trat hinunter auf den Gehsteig. Wir überquerten die Schnellstraße und gingen weiter in Richtung Flower Street. »Was die alte Bridget da von sich gegeben hat, kann man auf hundert verschiedene Arten auslegen«, sagte ich. »Dann probieren wir doch erst mal eine aus, und wenn die nicht paßt, die nächste.« »Großartig. Mein Honorar beträgt fünfhundert pro Tag - in Gold. Aber zur Zeit arbeite ich an einem anderen Fall.« Sie hielt an und wandte sich mir zu. Der Wind von der Schnellstraße blies ihr durchs Haar, daß es aussah wie fallender Goldstaub. »Dies hier gehört zu deinem Fall. Es ist ein Teil davon. Die Erscheinungen, die wir gesehen haben, waren kein Zufall. Diese Jesus-Typen kamen nicht nur zufällig an Bridgets Laden vorbei. Und die Priester haben uns auch nicht rein zufällig entführt.« »Also habe ich jemandem Angst eingejagt. Dell Ammo bereitet einen Gottesmord vor, und die Welt erzittert.« Ich ging weiter. Sie holte mich ein und ging neben mir her. »Es ist nicht nur das. Bridget sagte: >Die Zeit der großen Zahl rückt näher. < Damit muß die Jahrtausendwende gemeint sein.« »Prost Neujahr. Auch im neuen Jahrtausend wird die Welt nicht besser riechen.« »Viele Menschen glauben daran, daß die Jahrtausend94
wende die Wiedergeburt von Jesus Christu s und das Königreich Gottes bringen wird.« »Die Leute lieben eben große, runde Ziffern. Beson ders, wenn sie auf Banknoten gedruckt sind. Die fal schen Propheten aller Zeiten haben die Scheine immer schon einkassiert, als Gegenwert für nicht gelieferte Ware. »Das hört sich an, als ob du es nicht erwarten könn test, Ihn umzubringen«, sagte sie. Wir bogen in die Flower Street ein und näherten uns dem Arco Tower. »Bring Ihn mir nur her. Ich hätte schon Vorjahren eine Gruppe organisiert, Ihn zu lynchen, wenn wir damit all die Schwindler und Betrüger losgeworden wären.« Jetzt hatte ich genug alberne Weisheiten von mir gegeben und hielt den Mund. Auch Ann sagte nichts mehr, bis wir am Fuße des Arco Tower ankamen. Es war ein klarer Tag, der Himmel so blau, wie er nur sein konnte, und die meisten Stadtstreicher hatten sich woanders hin verzogen. Wirklich ein schöner Tag. Die abgebröckelten Kanten des nördlichen Turmes hoben sich gegen den Himmel ab. Die alte Innenstadt lag still und friedlich vor uns und warf lange, kühle Schatten. Ann erstarrte ganz plötzlich und deutete mit dem Finger. »Du bist viel zu hübsch, um einen Vorstehhund zu imitieren«, sagte ich. »Was ist denn los?« Sie zeigte auf die Reste eines Schildes, welches auf die Reste des Arco Tower zeigte. »Dell...« Sie ließ die Hand fallen und drehte sich zu mir um. »Wie sieht der Schwanz des Teufels aus?« Ich sah sie an. Sie zitterte ein wenig. Die Farbe war aus ihrem sonnengebräunten Gesicht gewichen. Ihre Lippen waren bleich. »Nun, um deine Frage konventio nell zu beantworten«, erwiderte ich, »hat der Teufel nach traditioneller Mode einen langen, schwarzen Schwanz mit einer Bommel am Ende, die wie ein Herz oder ein Pik geformt ist.« 95
»Etwa wie ein Pfeil?« Ich nickte. Sie nickte ebenfalls. Ich blickte auf das Schild, das zur Plaza hinwies. Sie blickte ebenfalls auf das Schild, das zur Plaza hinwies. Ein geschwungener Pfeil, der nach unten deutete. »>Der Schwanz des Teufels deutet hinab ins Fegefeuer und beschreibt einen fast vollen Kreis<«, zitierte sie Bridget. »Dieser Pfeil hier beschreibt einen Dreiviertelkreis und zeigt nach unten.« Plötzlich schien Ann zu erstarren. »Dort unten ist Er.« Es war, als hätte jemand einen elektrischen Schalter betätigt. Ich wollte fragen >Wer<, aber das Wort blieb mir im Halse stecken, als sich der Himmel ganz plötzlich verdunkelte. Die Ruine des Arco Towers hing über uns wie ein glitzerndes, schwarzes Schwert. Ein kalter, peitschender Wind kam auf. In den Ohren verspürte ich einen immer stärker werdenden Druck, ein Getöse, das in Wirklichkeit gar nicht da war, welches jedes andere Geräusch über tönte. »Wir können nicht dort hinunter«, sagte ich, die betäubende Stille durchbrechend. »Seit es ausgebombt wurde, ist es eine verlassene Ruine. Der ganze radioaktive Müll wurde dort hinuntergespült.« Ann starrte das riesenhafte schwarze Schwert an, das über uns hing. Aus der Schneide quoll Blut und fiel in übergroßen Tropfen auf die Straße. Von irgendwo her ertönte Gelächter. Spöttisches, gemeines Gelächter, das so klang, als müßten wir die Stimme kennen. Wirblieben standhaft und wichen nicht zurück. Vage Schatten flitzten an uns vorbei, sich vor uns versteckend, nur aus den Augenwinkeln sichtbar. »Wie heiß ist es dort unten?« fragte sie. »Ich weiß nicht. Ich habe zwar zwölf Jahre hier gewohnt, aber siebzig Meter darüber.« »Wenn Er dort unten ist«, sagte sie, meine Antwort nicht beachtend, »müssen wir Ihn finden.« Sie starrte 96
unverwandt auf das riesige schwarze Schwert, das über uns hing. »Die haben mir meine Pistole abge nommen, als sie mich entführten, aber ich habe noch eine im Büro.« »Da drin?« Sie stand unbeweglich, gebannt von dem Anblick des blutigen, glitzernden Schwertes. Ich ergriff ihren Arm und wollte sie wegziehen. Sie wehrte sich. »Komm, gehen wir«, sagte ich und zog sie mit mir. »Dieses Schwert ist der gleiche Schwindel wie das Blut. Es existiert nur in unserer Einbildung.« Der Wind in unse rem Rücken wurde kälter und stärker und schien uns vorwärts zu stoßen. Das gefiel mir keineswegs, aber ich zog sie mit mir. Ein dunkles Etwas flitzte zwischen uns hindurch, schnatternd wie ein gereizter Affe, und verschwand wieder in der Nacht, die es gar nicht gab. Wir kamen durch einen Gang voller verbogener Stahlträger und zerbrochenem Glas, bis wir die Stelle erreich ten, wo einmal eine Drehtür gewesen war. Dort gab es nur noch einen Haufen schwarzer und grauer Scherben. Ich streckte die Hand aus und berührte Glas. Es war eine kühle, glatte, massive Glasplatte, wie man sie im Eingang der meisten Häuser findet. Kaum hatte ich die Glasplatte berührt, löste sich die Dunkelheit auf, und ich sah die Nordseite des Arco Tower vor mir. Ich drehte mich um und blickte zurück. Zu meiner Rechten ging die Sonne unter und verschwand hinter einem kleinen Hügel auf der anderen Seite d er Schnellstraße. Der Himmel über uns hatte das stählerne Grau der einsetzenden Dämmerung. Der Wind hatte sich gelegt und war nur noch eine leichte Brise. Alles lag bereits im Schatten, aber wenigstens standen die Schat ten still. Die Glasplatte, die ich angefaßt hatte, lag jetzt auf dem Boden, ein paar Meter vor der Drehtür im Eingang. Wir gingen durch die Lobby zum Fahrstuhl. Ich wollte lieber die Auffahrt in diesem alten wackligen Ding riskieren, als 97
unsere Kräfte mit Treppensteigen zu vergeuden. Ic h drückte auf den Knopf, und der Fahrstuhl erwachte zum Leben. Keuchend und ächzend bewegte er sich auf uns zu wie ein treues, altes Haustier, das dem Ruf seines Herrn folgt. »Ich weiß nicht, wieviel von diesem faulen Zauber ich noch ertragen kann«, sagte Ann müde und verärgert. Sie schien benommen, wie jemand, der sich im Schock befindet. »Es dauert schon zu lange an.« »Es ist bald vorüber, Kindchen. Alles im Leben ist nur zu bald vorbei.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und wir betraten die Kabine. Während wir langsam zu meinem Stockwerk hinauffuhren, blickten wir uns an. Anns Augenbrauen waren in einem graziösen Bogen gezogen, der ihr jedoch weder den Ausdruck ständigen Erstaunens noch den kalter Berechnung verlieh, wie es bei vielen Frauen der Fall ist. Ihre kühlen blauen Augen waren voll sanfter Wärme. Wenn sie es wollte. Im Moment drückten sie nur müde Beharrlichkeit aus. »Nun gut, bringen wir es hinter uns«, sagte sie, als sich die Türen mit dem Ächzen abgenutzten Metalls öffneten. Ich bat sie, die Türen offen zu halten und begab mich ins Büro. Es sah aus wie immer und roch wie immer. Tot. Das tote Versprechen von Wohlstand und Wohlleben. Aber niemand hatte mir das je versprochen. Das Leben garantiert uns nichts, außer einer sinnlosen Existenz und einem frühen Tod. Meine fröhliche Stimmung besserte sich nicht wesentlich, als ich sah, daß das Lämpchen an meinem Anrufbeantworter brannte. Ich drückte den Rückspielknopf und begann gleichzeitig in der Schublade nach meinem Colt Commander zu suchen. »Dell...« Die Stimme, die mir aus dem Apparat entgegentönte, klang besorgt. »Hier ist Pater Moreno. Sie müssen sofort herkommen. Ein paar Leute von der Erzdiözese waren hier und stellten Fragen, die Sie betreffen. 98
Sonderbare Dinge geschehen. Ich warte auf Sie.« Es folgte ein Knacken und dann ein summendes Geräusch. Ich fand meine Pistole und versicherte mich, daß sie geladen war. Dann steckte ich noch einen Extra-Ladestreifen in die Tasche. Meine Kel-Lite Taschenlampe würde ich auch brauchen. Zum Glück hatte ich frische Batterien eingelegt. »Es geschehen also sonderbare Dinge, meint Pater Moreno«, sagte ich laut, mit einem Hol-es-der-TeufelLächeln. Dann kam mir zum Bewußtsein, daß der Teufel es sich in den Kopf setzen könnte, genau das zu tun. Ich schaltete den Telefonbeantworter ab. Heute war kein Tag zum Lächeln. Mein Gesicht fühlte sich so starr an wie eine Faust. Als ich herauskam, lehnte Ann noch immer an der Fahrstuhltür. Ihr Gesicht war eine Maske der Ruhe. Ihr Kleid war an verschiedenen Stellen aufgerissen, so daß ihre Haut durchschaute. Nur ihre Nylonstrümpfe waren irgendwie heil geblieben. Genau wie in einem Holly wood-Film, dachte ich. Ich berührte leicht ihre Schulter. »Hier teilen sich unsere Wege, Kindchen.« Ihre Augen weiteten sich. »Was?« »Geh rüber in die Auberge. Ins >Cafe of the Angels<. Dort treffen wir uns, wenn ich unten fertig bin. Sollte es zu lange dauern, nimm dir ein Zimmer im Hotel Lybia.« »Nein«, sagte sie schlicht. »Ich komme mit.« Ich betrat den Fahrstuhl, und sie folgt e mir. Mein Seufzer klang genau wie der uralte Motor, der den Fahrstuhl abwärts in Bewegung setzte. »Schau mal, Engelchen, es gibt Zeiten, wo man sein Selbstbewußtsein zur Schau stellen kann, und Zeiten, wo man vorsichtig sein muß. Profi-Killer gehören zu den vorsichtigsten Leuten, die es gibt. Die gehen nur bei Grün über die Straße, nachdem sie zuerst nach rechts und links und auch nach oben geschaut haben.« »Ich könnte...« »Die Ratte, die ich da unten ausräuchern will, ist keine 99
Mickeymaus. Jemand in dieser Stadt ist darauf aus, mir ein Messer in den Rücken zu stoßen, und ich will dich nicht dabei haben, wenn das passiert.« »Ich werde dir den Rücken freihalten«, erwiderte sie. Ihre Augen waren so kalt wie Polarwinde. Blitzschnell zog sie etwas aus ih rer Handtasche. Einen Gegenstand, der sogar in dem matten Licht der Fahrstuhlkabine hell glitzerte. Sie zeigte es mir. Die Klinge war so lang wie meine Hand, zweischneidig und sehr scharf. Der Griff war so geformt, daß er der Hand festen Halt verlieh. Sie hielt es in der Hand wie jemand, der eine solche Waffe zu gebrauchen weiß. »Was tust du eigentlich bei der Bautista Corporation?« »Ich bin stellvertretender Rechnungsprüfer.« »Ist es denn so schwer, eure Buchhalter zur Ehrlichkeit anzuhalten?« »Eine Frau braucht Schutz. Laserwaffen sind zu kompliziert, Pistolen schwer zu beschaffen.« Sie ließ den Dolch sinken. »Außerdem gibt es heutzutage nicht mehr so viele edle Ritter, die sich für eine Dame einsetzen.« Sie lachte. Ihr Gesicht erstrahlte wieder von Energie und guter Laune. »Die Lady mit dem Dolch! Wo warst du vor dreißig Jahren? Du hättest einen tollen Partner oder einen tollen Feind abgegeben.« Das genügte. Nur nicht sentimental werden. Ein sicheres Anzeichen fortschreitenden Al ters. Ich hielt also den Mund. Ann schien einen Mo ment lang verlegen, dann lächelte sie mit der Frische einer Seebrise und steckte ihren Krötenstecher weg. Das Ding wog mindestens ein halbes Kilo. Wir erreichten die Lobby, die Endstation des Fahr stuhls, und stiegen aus. Ein paar menschliche Elendsgestalten hatten sich in der Lobby versammelt. Einige der weniger Besoffenen diskutierten darüber, was geschehen sein konnte und was sie gesehen hatten. Ihre Schlußfolgerungen waren um nichts besser als die mei100
nen, also hörte ich ihnen nicht weiter zu und ging zum Ausgang an der Westseite. Ann kam mir nach. »Also hör mir mal zu, Schätzchen«, sagte ich und zwängte mich durch ein Loch in einer der Glasscheiben, das als Ausgang diente. »Du bist eine freie und mündige Frau. Anscheinend gibt es nur einen Weg, dich davon abzuhalten, dein Leben aufs Spiel zu setzen. Und ich habe noch nie eine Frau k. o. geschlagen.« - Das klang doch ganz gut. Ich spielte den Macho und war sehr zufrieden mit meiner Rolle. Ich mußte ihr ja nicht auf die Nase binden, daß ich Angst hatte wie ein kleiner Junge, der unversehens in einen Krieg geraten war. Dabei war ich nicht mal eingezogen worden, sondern hatte mich freiwillig gemeldet. Der Eingang zum Plaza befand sich auf dem Gehsteig an der Ecke von Fifth Street und Flower. Der andere Eingang, eine Querstraße weiter, war noch immer ver schüttet. Man hatte den Schutt nie weggeräumt. Auch der freie Eingang war durch die jahrelange Vernachlässigung nicht besser und sicherer geworden. Schmutz und Papier, die der Wind hereingeweht hatte, verstopften den Zu gang hüfthoch. Ich knipste die Taschenlampe an. Der weiße Lichtkreis fiel auf die Eingangstür. Eine der Glasscheiben war von dem herangewehten Dreck eingedrückt worden. Ich packte sie am Rand, hielt sie fest und schlug mit dem Stab der Taschenlampe dagegen. Beim zweiten Schlag brach ein großes Stück Glas mit lautem Knacken ab. Nachdem ich die Prozedur ein paarmal wiederholt hatte, war eine Öffnung entstanden, groß genug, um mich durchzulassen. Ich schlüpfte hindurch und streckte Ann meine Hand entgegen. »Sei vorsichtig«, ermahnte ich sie. »Schnittnarben sind dieses Jahr nicht in Mode.« Sie kam ohne Schwierigkeiten durch, und ich trat zur Seite, auf der Suche nach ein paar unverschütteten Treppenstufen. Es gab keine. Das gesamte Treppenhaus lag 101
unter einer Decke von zerbröckeltem Mauerwerk und zersplitterten Kacheln. »Ich war schon einmal hier«, flüsterte Ann mit der Stimme eines schüchternen Kindes in der Kirche. »Bevor es gesprengt wurde.« Ich nickte stumm und tat einen vorsichtigen Schritt abwärts, wobei ich mich bemühte, keinen Schutt ins Rollen zu bringen und kein Geräusch zu machen. Ebensogut hätte ich versuchen können, auf Zehenspitzen über Kastagnetten zu schleichen. Ich machte langsamere Schritte. Ich hatte das Gefühl, wir würden eine ganze Weile hier unten verbringen. »Warum haben sie das getan?« »Wie?« Ich versuchte, uns beiden den Weg zu leuchten. Unsicher und vorsichtig wie Konfirmanten gingen wir die zerbrochenen Rolltreppen hinunter. Ich hielt mich mit der Hand am Geländer fest, wie es das Warnschild verlangte. Es war dick mit schmierigem Staub bedeckt. So wie alles hier unten. Die Luft hatte den feuchten, übelerregenden Geruch verfaulter Lilien in einer alten Gruft. »Ich meine die Terroristen. Warum haben die dieTowers in die Luft gesprengt?« »Warum fragst du MICH?« Wir waren auf dem halben Wege nach unten. Irgendwo tropfte Wasser - langsam und gleichmäßig. Dicke Feuchtigkeit hing wie Nebel in der Luft. »Ich dachte mir, daß du vielleicht die Mentalität von Terroristen besser verstündest. Du bist doch eine Art von - gedungenem Mörder, oder?« Mein Fuß stieß an ein Stück blaue Kachel, die klirrend die Treppe hinabfiel. Der Lärm endete mit einem leisen Aufklatschen. Nur das fehlte noch - daß die Pla/a unter Wasser stand. Aber ich dachte im Grunde an etwas anderes. »Ich bin kein gedungener Mörder«, sagte ich mit wütendem Knurren - soweit man im Flüsterton knurren kann. »Ich bin ein beruflicher Killer. Ein gedungener 102
Mörder nietet für Geld jeden um. Zu jeder Zeit. Das sind Gangster und Betrüger, denen es nichts ausmacht, auch ihrem Auftraggeber den Hals abzuschneiden. Ich habe noch nie jemanden umgelegt, der nicht bewiesen hatte, daß er es verdiente. Ich habe mehr ehrgeizige Generale und zukünftige Tyrannen umgelegt, als jeder andere in meinem Beruf. Ich habe ein Dutzend Kriege beendet, noch bevor sie begannen. Und ich habe mir immer überlegt, wie es enden wird und ob ich auch auf der richtigen Seite kämpfte.« Ich hielt an, als etwas in die Tiefe schlitterte und unten aufklatschte. Ann sagte nichts. »Wenigstens habe ich immer versucht, auf der weniger schlechten Seite zu stehen.« »Ist das der Grund, warum du den Auftrag, Gott zu töten, angenommen hast?« Am Fuße der Rolltreppe glitt ein Schatten vorbei, vielleicht war es nur der hin und her schwankende Lichtstrahl meiner Taschenlampe. Ich blieb stehen. »Schhhh.« Wieder bewegte sich der Schatten, obgleich ich das Licht so ruhig hielt wie das Lächeln eines Toten. Behutsam hob ich die Lampe und ließ den Strahl über den Boden des obersten Kellerstockwerks gleiten. Er war mit einer dünnen Schicht Wasser bedeckt. Wahrscheinlich hatte die Explosion eine Neigung im Fußboden hervorgerufen. Wenigstens würde ich nicht schwimmen müssen. Der Schatten hörte auf sich zu bewegen, obgleich der Lichtstrahl weiter wanderte. Er tat einen tiefen, gurgelnden Atemzug, als das Licht auf ihn zukam. Ich hatte es satt, Katze und Maus zu spielen, und leuchtete ihn direkt an. Es war ein Geschöpf, das einmal ein Mensch gewesen war.
103
7 Das Ding hielt ein Stück Metall in der Hand, ebenso verkrümmt und zerbrochen wie es selbst. Es war ein Mensch, nehme ich an. Er starrte mit verkniffenem, stumpfem Ausdruck ins Licht. Das verbogene Metallstück, das er wie eine Keule in der Hand trug, gefiel mir nicht, und ich zog die Pistole aus der Tasche. Dann standen wir uns stumm gegenüber wie zwei ungleiche Revolverhelden in einem Western-Film. Ich schwenkte den Lichtstrahl von einer Seite zur anderen. Die Augen in seinem bleichen Totenkopfgesicht folgten jeder meiner Bewegungen. Vielleicht war Gesicht nicht das richtige Wort. Es bestand aus Beulen, Schwellungen und Runzeln. Auf keinem Teil seines Körpers wuchs auch nur ein Haar. Die eine Schulter hing tiefer als die andere. Lose Fleischklumpen hingen von seiner eingefallenen Brust. Eine Ratte näherte sich ihm halb schwimmend, halb kriechend und biß ihn ins Bein. Er ließ sich nicht anmerken, daß er etwas gespürt hatte. Ein Gesicht wie beim Pokern. Er wandte die Augen nicht vom Strahl meiner Taschenlampe. »Ist er hypnotisiert?« fragte Ann flüsternd. Sie stand so dicht hinter mir, daß ich trotz des Gestanks, der uns umgab, ihre frauliche Ausströmung riechen konnte. »Entweder das oder wahnsinnig von seinem Aufenthalt hier, seit der Explosion.« »Ich war auch oben«, ertönte eine krächzende Stimme aus der Mitte der Beulen und Fleischklumpen an seinem Kopf. Er schien niemand Bestimmten anzusprechen. »Ich gehe hinauf, wenn ich Hunger habe. Es gibt eine Menge Nahrungsmittel, wenn man weiß, wo man suchen muß.« Er ließ die Metallkeule sinken und stützte sich darauf wie auf einen Wanderstab. Seine Augen hatten einen krankhaften Glanz, soweit man sie unter den Wucherungen erkennen konnte. Ich erwiderte nichts. Die Begegnung war mir so pein104
lieh, als wäre ich plötzlich als ungebetener Gast in die Hölle gekommen. Er griff sich mit seiner freien Hand an den Rücken, wie um sich zu kratzen, und ließ sie dann kraftlos herabfallen. Er trat einen Schritt näher heran. Ich sah, daß sein ganzer Körper mit Beulen und Knötchen bedeckt war. An einigen Stellen hingen tote Hautfetzen herab, wie die Lumpen eines Bettlers. Ich war mir nicht klar darüber, was ich als nächstes tun sollte. Das Stück Elend vor mir löste mein Problem, indem es mich ansprach. »Unten brennt ein Feuer«, sagte er in sachlichem Ton. Seine Augen waren glasig und sichtlos. Von nun an würden sie für immer sichtlos bleiben. Er fiel nach vorn, wobei ihm sein Metallstück entglitt. Ganz langsam, als wolle er den Augenblick auskosten, rutschte er auf der Metallkeule herum und schien nicht zu bemerken, daß ihm die scharfen Kanten große, blutlose Fleischstücke unter dem Arm wegrissen. Sekunden später war er so tot wie ein Wahlversprechen. Das seichte Wasser wich zur Seite, ihm Platz zu ma chen, und floß dann zurück, ihn zu umfangen. In seinem Rücken steckte - bis zum Griff - die geschwungene Klinge eines Flammendolches. Ein Spiegel an der Wand warf das Licht der Taschenlampe auf die unzerbrochene Hälfte eines anderen Spiegels a n einer anderen Wand, und so hin und zurück bis in die Unendlichkeit. Nichts bewegte sich um uns herum. Ann gab einen Laut von sich, wie es die Darsteller in Gruselfilmen tun, ein jähes Einziehen der Luft und Flattern in der Kehle, als säße dort ein Schmetterling gefangen. Ich drehte mich zu ihr um. Ja, natürlich, sie hielt den Handrücken auf den Mund gepreßt, die Augen angstvoll aufgerissen. Der einzige Unterschied zwischen ihr und einem Dutzend Schmierenkomödianten der Hollywood-Studios bestand 105
darin, daß dieselbe Hand ihr Messer gepackt hielt - mit der Festigkeit und Ruhe eines erfahrenen Chirurgen. Sie ließ es langsam sinken. Ihre Lippen waren noch immer leicht geöffnet, ihre Nasenflügel bebten. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, warum Nasenflügel in solchen Situationen immer beben. Ich stieg in das knöcheltiefe Wasser und sagte: »Die Antwort auf deine nächste Frage lautet: Ja, er ist tot. Mausetot. Laß uns gehen. Paß auf, wo du hintrittst.« Sie kam mir nach, wobei sie vorsichtig über die Leiche trat und darauf achtete, keines der losgelösten Teilchen zu berühren. Dann tat sie etwas, was ich ihr niemals zugetraut hätte. Sie drehte sich um, bückte sich und zog dem Toten den Dolch aus dem Rücken. »Wie ist er in diesen Zustand geraten?« fragte sie. »So ganz verfault, meine ich.« Sie hatte sich schnell wieder erholt. »All der radioaktive Schutt, der bei den Desinfektionsarbeiten hier heruntergespült wurde, hat wahrschein lich ...« »Was hast du denn?« »Nichts. Mir ist nur eben eingefallen, wie lange ich siebzig Meter über diesem Mist gewohnt habe.« »Na und?« Ich zuckte mit den Schultern. Mein Krebs war weg. Jetzt spielte es keine Rolle mehr. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe die Wände ab. Die meisten der bunten Kacheln waren bei der Explosion abgesprungen. An einem Haken hing noch ein schiefes Schild. »Willkommen in der Bond Street«, sagte ich. »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Achten Sie auf Ratten und sterbende Vagabunden.« Wir kamen an hastig verlassenen Läden vorbei. Die Türen standen offen, die Waren lagen überall zerstreut. »Übrigens«, sagte ich, wie nebenbei, »wonach suchen wir eigentlich?« 106
Ich konnte fast hören, wie sie lächelte. »Ich dachte, du wüßtest es.« »Nehmen wir mal an, daß ich doof bin.« »Wir haben Vollmond. Das ist immer gut für böse Magie. >Der obsidianische Dolch< - >mehr Blut wird fließen<.« Wir krochen unter einem zusammengebroche nen Balken durch und kamen an einem Reisebüro vorbei. Verschimmelte Poster und Reisebroschüren luden uns in ferne Länder ein, von denen einige nicht mehr existierten. »Die Treppe hinunter«, sagte ich und richtete den Lichtstrahl auf die von Rost zerfressene Rolltreppe. An den Wänden warfen zerbrochene Spiegel unser Ebenbild zurück. Wir gingen tiefer hinunter auf der Rolltreppe, d ie für den Aufwärtsverkehr bestimmt war. Das spielte jetzt ja keine Rolle mehr. Die Abwärts -Treppe war teilweise verschüttet. Ich trat vorsichtig über die Glas - und Fliesenscherben hinweg. »Also meinst du«, sagte ich, »daß bald jemand umgenietet wird. All diese übernatürlichen Hinweise, die wir bekommen haben, deuten nach unten.« »Stimmt.« »Also laufen wir unter Umständen direkt in eine Falle hinein.« »Wenn die Hinweise von dem Opferer und nicht von dem Geopferten kamen. All die blutigen Erscheinungen waren weiblich.« »Das bist du ja auch.« Auf der dritten Stufe vor dem Fuße der Treppe hielt sie an, einen Schritt vor der stinkenden, schleimigen Wasser oberfläche. Ich stand eine Stufe unter ihr, bis zu den Schienbeinen in dem flüssigen Dreck. »Worauf spielst du an?« fragte sie mich. Ihre Augen blitzten wild im Schein der Taschenlampe. Vielleicht konnte ich sie soweit verärgern, daß sie mich einfach stehenließ und verschwand. »Unter Umständen könntest du diejenige sein, die mich in die Falle führt. Du hast eine schwarze Klinge...« 107
»Einen Dolch.« ».. .und du warst etwas zu begierig, einem fremden, älteren Mann bei seinem verrückten Vorhaben zu helfen, als er dir erklärte, er wolle Gott finden, um ihn zu töten. Entweder bist du ebenfalls verrückt, oder du spielst nicht deine ganze Hand aus.« »Wir haben alle noch ein paar Asse im Ärmel«, sagte sie. »Aber du irrst dich. Ich bin nicht das, was du glaubst. Gehen wir.« Ich zog meine Pistole und ließ sie in der Hand an meiner Seite herabhängen. »Ich habe noch nie eine Dame umgenietet«, sagte ich. »Wenigstens nicht ohne Kontrakt.« Ich richtete die Mündung nach vom und ließ mich in das kalte Wasser gleiten, das mir bis zu den Ober schenkeln reichte. Ann folgte mir ins Wasser, ohne das geringste Geräusch zu machen. Den Flammendolch hatte sie in ihre Handtasche gesteckt. Den ändern hielt sie in der Hand, in der richtigen Position zum Zustechen oder Aufschlitzen. Ich fühlte, wie sich die kleinen Härchen an meinem Nacken aufstellten. Der Fußboden unter der Wasserfläche war mit Schuttbrocken und scharfkantigen Metallstücken übersät. Ich setzte die Füße so behutsam auf wie ein Taschendieb, der an der Polizeiwache vorbeigeht. Von Zeit zu Zeit berührten meine Fußspitzen oder mein Absatz einen weichen Gegenstand oder rutschten über eine glitschrige Masse. Ich wollte gar nicht wissen, was es war. Ich hielt an. »Wir sind nach rechts abgekommen«, sagte ich. »Willkommen an der Fifth Avenue«, sagte Ann, ein abblätterndes Schild betrachtend. »Schhhh«. Ein zischendes Geräusch. Ir gendwo planschten Ratten herum. Wie sie den Gestank aushielten, war mir schleierhaft. Ich hatte immer angenommen, daß auch Nagetiere eine gewisse Selbstachtung besaßen. Sie hätten lieber im Abgeordnetenhaus sitzen sollen, zusammen mit ihren Artgenossen. 108
Ich knipste die Taschenlampe aus. Still und unbeweglich standen wir in der Stockdunkelheit. Sobald unsere Augen sich daran gewöhnt hatten, sah sie nicht mehr so stockdunkel aus. Ann sah es zuerst. Ich werde wohl doch langsam alt. »Da drüben.« Als ob ich im Dunkeln sehen könnte, wohin sie zeigte. Typisch. Ich blickte mich um und entdeckte schließlich eine viereckige Öffnung in der Wand, aus der mattes Licht schien. Es war nur ein winziger Spalt, wirkte aber viel größer. »Das Licht könnte aus einem Loch kommen, wo früher der südliche Turm stand. Aber nicht zu dieser Tageszeit.« »Komm. Das ist es, wonach wir suchen.« Sie tat einen Schritt vorwärts und rutschte aus. Ganz dicht neben mir. Mich im Dunkeln nur nach dem Gehör orientierend, faßte ich sie um die Hüfte. Mein Arm paßte genau hin, wie nach Maß. Ich zog sie an mich. Sie roch,wie der Sommer riechen mußte, wenn man sein ganzes Leben nur im Winter verbracht hatte. Ihre Arme schlangen sich um meinen Hals, wobei ihre Tasche und die Faust, die den Dolch hielt, leicht an meinem Rücken anschlugen. Sie schmiegte sich dicht an mich. Ihr Haar streifte meine Wange, weich wie das Fell eines Rehkitz. Irgendwo begann jemand Poesie zu rezitieren. Es hörte sich nicht besonders romantisch an. »Dell«, wisperte Ann, »das ist Er!« Sie machte sich von meinem Arm frei und lauschte gespannt. Im Schattenriß sah sie aus wie Shenna, die Dschungelkönigin. Bis auf die Handtasche. Aus der Richtung des Lichtscheins ertönte eine feste, furchtlose Stimme. Er wußte offenbar, daß ihn hier niemand hören würde. »Im Namen des Herrschers der Erde und des Königs der Welt befehle ich den Mächten der Dunkelheit, meinem Ruf zu folgen!« Wie in einem Horror-Film der B-Kategorie minus. Seine Stimme klang ernst, jedoch nicht pompös. Ich 109
schaltete meine Taschenlampe ein und schlich mich vorwärts, wie der erste Morgenstrahl im Kriegsgebiet. Ann blieb an meiner Seite, ihren Schweinestecher in der einen, die Tasche in der anderen Hand. »Die Stunde des Eroberers ist nahe! Ich rufe die Legionen der Nacht auf, sich um mich zu versammeln und sich zu erheben. Öffnet die Tore der Hölle und steiget hervor aus dem Abgrund, mir zu dienen. Mir, eurem Bruder und Verbündeten, eurem Vater und Herrn!« Wir kamen durch eine schrägliegende Passage und durchwateten eine offene Stelle, die früher einmal eine kleine Plaza gewesen sein mochte. Aus dem Schleim am anderen Ende erhob sich ein doppelter Torbogen. Der Lichtschein aus dem Korridor wurde heller, das Summen lauter. Der Geruch von fremdartigem Weihrauch drang zu uns herüber. Ann gab einen Laut von sich, wie es Leute tun, denen etwas auf die Nasenspitze gefallen ist. »Fliegen«, sagte sie und schwenkte den Dolch durch die Luft, als wolle sie sie zerstückeln. »Bei allen Göttern der Hölle befehle ich, daß es so geschehen möge!« Sein tiefer Bariton drohten wie die Stimme eines kommandierenden Generals bei der Befehlsausgabe an seine Truppen. Wir wateten durchs Wasser und Schwärme von Flie gen. Je mehr wir uns näherten, um so heller flackerte das Licht und nahm einen rötlichen Schein an. Wir kamen an einem Juwelierladen vorbei. Jemand hatte den Mut aufgebracht, sich der Radioaktivität auszusetzen und ihn bis aufs letzte Stück auszuplündern. Nach ein paar weiteren Schritten hatten wir die Flie genschwärme hinter uns gelassen. Ann trat auf den freien Platz hinaus und gab einen Laut des Erstaunens von sich. »Wir sind schon fast aus dem Wasser raus.« Das schlammbedeckte Pflaster des Place de Bruxelles wölbte sich aufwärts, so daß die höhere Seite im Trocke110
nen lag. Sie ragte etwa sechzig Zentimeter aus dem Wasser empor und war so trocken, wie irgend etwas in einem überfluteten Einkaufszentrum in einem Kellergeschoß nur sein konnte. Ich knipste die Taschenlampe aus. Aus einer offenen Holztür dicht vor uns ergoß sich ein breiter Lichtstrahl. »Im Namen der Höllenprinzen Satan, Luzifer, Belial und Leviathan rufe ich die Mächte der Finsternis! Zer malmet meinen Feind! Ich bringe euch dieses Blutopfer, auf daß meines Feindes Blut so wie das Blut des Opfers fließen möge. Auf daß seine Substanz in die ewigen Winde verstreut werden möge, so wie das Leben dieses Mädchens der ewigen Leere übergeben wird. Möge mit ihrem Tode auch mein Feind zu Tode kommen!« Ich schlich mich an den Eingang heran. Es war einmal eine Kapelle gewesen. Vor langen Jahren. Auch heute wurde hier im Schein Hunderter von Kerzen eine Art Messe abgehalten, wenn auch in abgeänderter Form. Eine Figur in schwarzer Kutte stand vor dem Altar, welcher ebenfalls schwarz drapiert war. Auf dem Altar lag der nackte Körper eines jungen Mädchens ausgestreckt, mit dem Gesicht zur Wand. Auch der Mann mit der Kutte stand mit dem Gesicht zur Wand. Dort war ein schweres, hölzernes Kreuz umgekehrt aufgehängt. An ihm war ein fünfzackiger Stern mit dem Bild eines Ziegenkopfes befestigt. Ich schlich mich auf Zehenspitzen vor. Er hatte mir den Rücken zugewandt, aber seine Bewegungen kamen mir bekannt vor. Aus den Falten seiner Kutte zog er ein langes, schmales Messer mit schwarzer Klinge und hielt es in die Höhe, dem Kreuz mit dem Stern und dem Ziegenkopf entgegen. »Im Namen von Ahriman und Marduk, Coyote, Ba phomet und Sehkhmet nimm dieses jungfräuliche Blut und trinke es! Ich befehle dir hiermit: Gehe hinfort und spieße meinen Erzfeind auf die Speere der Hölle!« Er drehte sich um und setzte das Messer an. Jetzt sah 111
ich, wer er war. Ich hob meine Pistole. Das Mädchen wandte mir den Kopf zu. Eine alte Bekannte. Ich brach in lautes Gelächter aus. Die Hand mit dem Messer verharrte in der Luft. »Schmeiß den Zahnstocher weg, Zach!« Ich schwenkte drohend' meine Pistole. Seine sonst so sanften braunen Augen glühten. Er fauchte wie ein in die Ecke getriebenes Raubtier. Die Knöchel der Hand, die das Messer umklammert hielt, waren so weiß wie poliertes Elfenbein. Nur das Gesicht unter der Kapuze war rot vor Wut. »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« schrie er. »Das hier geht Sie nichts an.« »Ich interessiere mich immer dafür, was meine Klienten so treiben, Mr. Zacharias. Es ist der Mutterinstinkt in mir. Los, schmeißen Sie das Käsemesser weg.« >»Käsemesser<«, sagte die Göre auf dem Altar. »>Speere der Hölle.<« Sie schüttelte spöttisch den Kopf. »Bogart und Karloff. Schmierentheater. Scheiße.« »Halten Sie sich raus, Ammo! Ich will das alles nicht noch mal machen müssen.« Ich trat näher an den Altar. »Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte ich, »aber wenn Sie Jungfrauenblut benötigen, sollten Sie es sich woanders besorgen. Dieses kleine Miststück hier ist ungefähr so pur und rein wie der gepanschte Whisky in Skid Row.« Die Kleine sah jetzt wirklich verängstigt aus. Emil hob wieder das Messer. Wenn er zustach, konnte ich ihn noch in der Bewegung niederschießen. Der Messergriff sah aus, als sei er schwer genug, um nach unten zu fallen, sobald er ihn losließ. Ammo hat eben de n Blick für dergleichen Dinge. »Das ist nicht wahr, Mister! Dieser Verrückte hier weiß ganz genau, daß es nur ein Trick von mir ist. Ich habe noch mit keinem gepennt!« Sie blickte mir direkt ins Gesicht. Der Raum drehte sich einmal um sich selbst und löste sich in Luft auf. Mit einmal stand ich mit der Kleinen in der Halle der 112
>Auberge<. Sie trug ein Lederröckchen, das bei einer Erwachsenen den Staatsanwalt zum Eingreifen gezwungen hätte. An ihr sah es einfach albern aus. »Ich habe sie alle reingelegt«, schrie sie mir zu. Ihre Worte überstürzten sich. »Ich mußte sie irgendwie her locken. Hier kann ich schneller sprechen. Es war eine gute Methode, Geld zu machen, und diese alten Furze glaubten tatsächlich, sie hätten mich aufs Kreuz gelegt. Ehrlich. Darum haben Sie mich auch aus dem Konzept gebracht. Ich konnte Ihnen nichts einreden.« Ich hörte meine eigene Stimme sagen, als sei nicht ich der Sprecher: »Ich habe dein Notsignal erhalten. Du hättest dich deutlicher ausdrücken können.« »Was für ein Notsi...« Ein Schrei hallte mir entgegen, und die >Auberge< löste sich in Nichts auf. Vor mir stand ein schreiendes Kind. Zacharias hielt noch immer das Messer hoch. Ich legte mit beiden Händen an und schoß. Der Knall füllte die kleine Kapelle wie ein physischer Schlag. Ich dachte, mein Trommelfell würde bersten. In dem Donner und Rauch griff Zacharias nach seiner verwundeten Hand und brüllte: »Im Namen von Abbadon - dafür werden Sie bezahlen!« »Schicken Sie mir die Rechnung«, sagte ich. Ich ließ die Pistole sinken und sah mich nach Ann um. Sie musterte meinen Kunden mit einem Blick wilden Hasses und hielt ihren Dolch gezückt. Sie wirkte gefährlich, aber da, wo sie stand, konnte sie kaum mehr Schaden anrichten als ein Schulmädchen, das mit einem Taschenmesser ein Herz in die Baumrinde ritzt. Zacharias sah erst mich an, dann Ann. Seine Lippen kräuselten sich, und seine Stimme schien direkt aus der Gosse zu kommen. »Sie Mutterficker«, sagte er. »Ich erwische Sie noch. Mich hintergeht man nicht.« »Ich habe Sie nicht hintergangen«, erwiderte ich. Ich trat an den Altar und hob das zitternde Kind herunter. 113
»Ich habe nach wie vor die Absicht, meinen Kontrakt zu erfüllen und meinen Verpflichtungen nachzukommen. Und die ganze Zeit kommen mir neue Ideen. Sie sind für mich eine regelrechte Quelle der Inspiration, Zach.« »Sie werden einmal zu oft Ihre Witze reißen, Ammo.« »Erzählen Sie mir das doch mal ganz genau, Zach. Erzählen Sie das einem Mann, der Dutzende von großen Mördern und kleinen Tyrannen umgelegt hat. Ein em Mann, der den Finger schon auf dem Abzug hat, um jetzt auch Nummer eins fertigzumachen.« »Große Worte, Ammo. Aber ich will Resultate sehen.« Er drehte sich um und verließ die Kapelle durch die Hintertür. Ich machte mir nicht die Mühe, nachzusehen, wohin er von dort aus ging. Ich hatte mir seine Schußwunde betrachtet. Es war kein Tropfen Blut zu sehen gewesen.
8 »Tausend Männer und doch kein einziger«, zitierte Ann, die neben mir her ging und die Taschenlampe hielt. »Paradoxe Schachzüge.« Wir verließen die Kapelle. Die flackernden gelben Kerzen ließen wir brennen. Alles hier unten war viel zu feucht, um Feuer zu fangen. Bald erreichten wir wieder knietiefes Wasser und wateten auf die Rolltreppe an der Nordseite zu - nicht die gleiche, auf der wir herunte rgekommen waren. Nach meiner Begegnung mit Zacharias hatte ich das Bedürfnis zu reden. »Ja«, sagte ich. »Paradox ist der richtige Ausdruck. Für eine Jungfrau hat das Kind ganz schön geschauspielert.« Von irgendwo neben mir ertönte eine entrüstete Stimme. »Ich bin kein Kind. Mein Name ist Isidore Volante. Und ich spiele meine Rolle so gut, weil ich auf die Fantasievor114
Stellungen der Leute eingehen kann. Darum hatte ich auch solche Schwierigkeiten mit Ihnen, Mister.« »Ich heiße Dell Ammo.« Sie schnaufte verächtlich. »Und mit diesem Monstrum von Zacharias konnte ich auch nichts anfangen. Dieser Hurensohn. Ich bin bei den verrücktesten Leuten schon auf alles mögliche eingegangen, aber was in diesem irren Kopf vorgeht...« Sie erschauderte und schmiegte sich an mich. »Laß es gut sein, Kleine. Der hat einen riesigen Minderwertigkeitskomplex.« Vom unteren Teil der Plaza kam ein flatterndes Geräusch. Es erinnerte mich an die Fliegenschwärme. Wohin waren die bloß verschwunden? dachte ich laut. Ann zuckte gleichmütig mit den Schultern, und damit wäre das Thema erschöpft gewesen, wenn das Flattern nicht immer lauter geworden wäre. »Du sendest doch nicht schon wieder Gedanken aus, oder?« fragte ich die Kleine. »Nein. Ich bin zu müde.« Sie zog sich die losen Enden meiner Jacke um die Schultern. Das Geräusch wurde immer lauter. Es klang wie Lederlappen, die leicht gegeneinanderklatschten. »Ann...« Das eine Wort brachte ich noch heraus, dann fielen sie über uns her.
9 Die erste schoß kreischend aus der Dunkelheit auf mich zu und schlug ihre schwarzen Krallen in meine Schulter. Blut quoll durch den Riß in meiner Jacke. Das war keine Illusion. Das war echt. Dabei hatte ich immer geglaubt, daß Fledermäuse nicht schreien konnten. Ann gab keinen Laut von sich. Sie schrie auch nicht, als 115
Dutzende der kleinen Ungeheuer uns durch den Korridor kreischend entgegenschwärmten. Ein Pluspunkt für sie. Ich stieß die Kleine ins Wasser und langte nach meiner Pistole, wobei mir klar wurde, daß mehr Fledermäuse um uns herumschwirrten, als ich Patronen hatte. Eines der Biester flog mich von hinten an und schlug seine Krallen in meinen Nacken. Ich griff nach ihm, drückte ihm den Hals zu und würgte es, bis es das Maul aufriß. Zwei hatten sich auf Ann gestürzt. Die anderen flattert en kreischend um uns herum. Ich hatte meine eigenen Probleme. Ich zog das zappelnde Ding über meinen Kopf hinweg nach vorn. Das war eine schlechte Taktik. Es riß mir mit den Krallen die Kopfhaut auf. Eine Filmszene über skalpierende Mohikaner kam mir in Erinnerung. Komisch, was einem plötzlich alles einfällt. Dann hatte ich das Biest vor mir. Wir starrten uns gegenseitig ins Gesicht. Wo ich einen Fledermauskopf erwartet hatte, befand sich eine qualvoll verzerrte menschliche Fratze. Seine Lippen waren hochgezogen und entblößten zwei riesige, blutverschmierte Schneidezähne. Während ich das Ding noch betrachtete, als hätte ich nichts Besseres zu tun, hörte ich, was es schrie. Es bat um Vergebung. Die anderen, die sich in Anns Rücken und Armen verkrallten, taten es ebenfalls. Ich überlegte es mir. Ganz gewiß. Aber ich besitze nun mal keine großzügige Natur. Ich würgte weiter und drehte ihm den Hals um. Etwas knackte wie ein trockener Zweig, und das Biest fiel schlaff und leblos aus meinen Händen in den Schleim. Ich habe nie behauptet, ein mitleidiger Mensch zu sein. »Dell!« schrie eine Stimme hinter mir. Ann stand da, den Dolch in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand. Sie fuhr mit der Klinge durch die Luft und schwenkte gleichzeitig die Stablampe wie eine Keule. Ich watete durchs Wasser bis zum Verkaufsstand ne116
ben der Kapelle, griff durch die zerbrochene Scheibe und riß ein Regal heraus. Die Holzkreuze, die überall an den Wänden hingen, ließ ich unbeachtet. Ich hatte den Ein druck, sie würden in meinem Falle ohnehin nicht funktionieren. Aber das Brett aus dem Regal funktionierte um so besser. Die erste Fledermaus, die ich damit traf, flog quer durch die Halle, aber nicht mit eigener Kraft. Ich ließ das Brett ins Wasser fallen und packte eine Fledermaus, die ihre Fänge in Anns Handfläche geschlagen hatte. Diesmal hielt ich sie an den Beinen fest, während ich ihr mit der anderen Hand den Hals zudrückte. Das kleine Gesicht kam mir bekannt vor. Es ähnelte einem verstorbenen Präsidenten. Ich schwang das Ding durch die Luft, so wie man ein Huhn tötet. Das Genick knackte, als es brach, und um ganz sicher zu gehen, schleuderte ich es mit voller Wucht gegen die Stufen der Rolltreppe. Die Kleine verhielt sich geschickt. Sie ließ sich so tief wie möglich ins Wasser gleiten und tauchte unter, sobald eine der Fledermäuse in ihre Nähe kam. Ich hob wieder mein Brett aus dem Wasser und schlug um mich. Auch Ann schien sich gut zu halten. Sobald sie mit dem Dolch fuchtelte, zogen sich die Biester zurück. Eines kam ihr zu nahe. Sie stach zu, und das Geschöpf kreischte laut auf. Der Stich war wohl tiefer, als es den Anschein hatte. Das Kreischen wurde zu einem Seufzer, als hätte man aus einem Ballon die Luft herausgelassen. Das Biest flatterte noch einmal mit den Flügeln und kippte ins Wasser. Das schien die anderen zur Verzweiflung zu treiben. Gemeinsam fielen sie über Ann her. Das Haar flog ihr um den Kopf, als sie das Messer mit blitzschnellen Bewegungen durch die Luft zischen ließ. Es sah fast aus, als stürzten sich die Viecher auf ihre Klinge. Innerhalb von Sekunden fielen auch die übrigen Fledermäuse sterbend zu Boden. Ihr Stöhnen hörte sich an wie der Wunschtraum eines 117
Neurotikers, dessen höchste Wonne es ist, Autoreifen aufzuschneiden. Es herrschte wieder völlige Stille. Die Kleine richtete sich langsam aus dem Wasser auf. Behutsam begann Ann, wieder regelmäßig zu atmen. Und langsam begann ich, den Schmerz und die warme Feuchtigkeit in meinem Nacken zu spüren. Während ich die Wunde mit dem Taschentuch betupfte, blickte ich hinunter auf eine der Fledermäuse, die Ann mit dem Messer erwischt hatte. Sie trieb auf dem Wasser, mit dem Gesicht nach oben. Die Augen waren geschlossen, und sie lächelte. Soweit sie bei den hervorstehenden, blutigen Fängen lächeln konnte. Ich hatte das gruselige Gefühl, das einen überfällt, wenn man etwas anfaßt, das es eigentlich gar nicht geben sollte. »Gehen wir«, sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen kühlen und forschen Klang zu geben. Aber sie klang eher alt und brüchig. Ich nahm Ann die Taschenlampe ab. Als wir die Hälfte der Rolltreppe hinauf waren, richtete ich den Lichtstrahl nach rückwärts, vorbei an der Kleinen, die splitternackt und klitschnaß hinter mir her stieg, wie eine verirrte Nymphe. Ich leuchtete die Wasseroberfläche ab. Die Fledermäuse waren verschwunden. Ob sie im Wasser versunken oder im Cha-Cha-Cha aus dem Keller getanzt waren, wollte ich gar nicht wissen. Ich wußte nur, daß ich aus mehreren Stellen blutete und Schmerzen hatte. Dell Ammo, der harte Mann, der gegen Himmel und Hölle kämpfte. Dell Ammo, der es mit jedem aufnahm. Dell Ammo, der sich so gern mit einem Eisbeutel im Nacken in ein warmes, trockenes Bett gelegt hätte. Der im Grunde ein bequemes Leben führen wollte. Ein schwarzer Umriß knurrte uns vom Treppenkopf her an. Dell Ammo hat eben immer Pech.
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Ich riß die Taschenlampe hoch und leuchtete es an. Es fauchte und zog sich zurück. Aber nur eine Sekunde lang. Ich zog die Pistole und wartete ab. »Stell dich hinter mich, Ann.« Sie blieb stehen. »Ich decke dir den Rücken, Dell.« Dagegen konnte ich nichts einwenden. Das Geschöpf trat wieder ins Licht, sich auf den Boden kauernd. Es hätte ein Wolf sein können, oder auch nur ein deutscher Schäferhund. Von seinem Fell war nichts mehr übrig. Statt dessen war es mit einer schwärzlichen, schuppenartigen Haut bedeckt, die an vielen Stellen abzublättern schien. Trotzdem machte es keinen ge schwächten oder kränklichen Eindruck. Aus seiner knurrenden Schnauze tropfte Schaum. »Ach, Scheiße«, sagte die Kl eine mit ihrer Kinderstimme. Ich legte auf das Ding an. Es fuhr zurück und setzte zum Sprung an. Das Mündungsfeuer versengte mir die Hand. Ich verlor momentan das Gleichgewicht, aber eine kräftige Hand stützte mich ab. »Danke, Ann«, sagte ich zwischen zusammengepreßten Zähnen. Ich starrte auf den Hund, oder was immer es sein mochte. Es war am oberen Ende der Rolltreppe tot zusammengebrochen, bevor es uns anspringen konnte. Das Geschoß war ihm in die Brust gedrungen und hatte auf der verkrusteten Haut ein kaum sichtbares Loch hinterlassen. Es blutete aus Maul und Nase. Seine Vorderfüße ragten über den Rand der obersten Stufe hinaus. Statt Pfoten hatte es menschliche Hände, verschwielt und schmutzig. Sie zuckten noch ein paarmal und waren dann ruhig. Sie sahen aus, als wären sie einmal schön gewesen. Vielleicht die Hände einer Frau. Ich sagte nichts. Ann sagte nichts. Sogar die Kleine sagte ausnahmsweise mal nichts. Wir schwiegen, während wir uns an dem toten Ding vorbeizwängten. Ann bückte sich und stieß es mit der Messerspitze an. »Sind Sie sicher, daß es tot ist?« fragte Isidore. 119
»Der tut uns nichts mehr.« Ann stieß härter zu. Das Ding gab ein leises, zischendes Geräusch von sich, wie der matte Seufzer einer alten Frau, die sich an etwas Angenehmes erinnert. Es hörte gleich wieder auf. »Hat sie ein Loch hineingestochen?« Ann warf der Kleinen einen seltsamen Blick zu. »Nein«, sagte sie. »Es ist jetzt tot. Für immer. Ich wollte mich nur vergewissern.« »Wenn du jetzt damit fertig bist, Leichenbeschauer zu spielen, Schätzchen, sollten wir versuchen, ein Stockwerk höher zu kommen. Die Rolltreppe müßte zur Eingangs halle an der Nordseite führen. Allerdings hat man nach der Explosion die Feuertüren von innen abgeschlossen.« »Aber du hast den Schlüssel.« Ich spielte an der Sicherung meines Colt Automatic herum und lächelte sie an. »Das hier ist mein Sesam öffne-dich. Er hat mich noch nie im Stich gelassen.« Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Ich hatte es auch nicht erwartet. Ohne ein Wort stand sie auf u nd ging hinter der Kleinen her, die ebenfalls Schweigen bewahrte. Fröhlich wie eine Totenfeier. Ich richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Stahltüren, die am oberen Ende der Rolltreppe den Ausgang versperrten. Nichts als kantige Schatten und roter Staub. Wir durchwateten eine seichte Pfütze und begannen den Aufstieg. Die kantigen Schatten bewegten sich seitwärs. Der Schein der Taschenlampe, dachte ich und schenkte ihnen keine Beachtung. Auf halbem Wege nach oben hörte ich das Kratzen kleiner Krallen auf der Stahltreppe unter uns. Ich hielt an. Die Schatten vor uns bewegten sich weiter. Das kratzende Trippeln hinter uns verlangsamte sich. Immer nur ein paar kleine Schritte auf einmal. Es hätten Ratten sein können. »Es sind nur Ratten«, sagte ich laut. Weniger zu den 120
anderen, als um mir selbst Mut zu machen. Ich tat noch einen Schritt vorwärts und leuchtete die Feuertür an. Im direkten Licht sahen die Schatten noch massiver aus. Und sie bewegten sich weiter. Sie hatten keine bestimmte Form, aber ich konnte durch sie hindurch die Feuertür nur undeutlich erkennen. »Vergebt uns«, wisperten ein paar hohe, dünne Stimm chen am Fuß der Treppe. Ein paar andere sagten weinerlich: »Es ist nicht unsere Schuld.« Winzige Füßchen begannen die Treppe hinaufzu krabbeln. Ann und das Kind drängten sich von hinten an mich. Ich schoß auf die Schatten. Sie bildeten ein besseres Ziel als das, was die Treppe heraufgekrochen kam. Das Geschoß ging glatt durch die Schatten hindurch und schlug an der Wand auf. Ich hatte nichts anderes erwartet. Ich feuerte nochmals. Wieder ein Einschlag in die Wand. Der Schatten, auf den ich geschossen hatte, bewegte sich ungestört weiter. Die Dinger hinter uns hatten inzwischen zwei weitere Stufen erklommen. Ihr Gekreisch klang wie tausend Fingernägel auf hundert Schiefertafeln. Es machte mich nervös. Ich zielte nochmals auf den Schatten vor mir, nur um etwas zu tun. »Aus dem Weg!« Anns blonder Schöpf schoß an mir vorbei. Fast hätte sie mich über das Geländer der Roll treppe gestoßen. Mit dramatischem Geschrei, wie in einer Kitschoper, raste sie die Stufen hinauf, der geisterhaften Erscheinung entgegen. Sie schwang ihren Dolch, während ich den Strahl der Taschenlampe auf die Schat ten gerichtet hielt. Die kleinen Viecher hinter uns kamen immer näher. Ich zog Isidore nach vorn und hob sie mit meinem freien Arm in die Höhe. Ann stach mit dem Dolch auf einen der Schatten ein. Er wich zurück und sank in sich zusammen. Die anderen Schatten wichen ebenfalls bis an die Wand zurück. Sie stach nach ihnen, worauf sie spurlos verschwanden. »Los, weiter!« rief Ann und deutete auf die Vorhänge 121
Schlösser an der Feuertür. Die kreischenden, flehenden Geschöpfe hinter mir erreichten die Stufe, auf der ich gestanden hatte, einen Herzschlag nachdem ich weitergelaufen war. Es war ein sehr kurzer Herzschlag. Ich setzte die Kleine ab und wies die beiden an, sich hinter mich zu stellen. Ob ihnen das viel Schutz gegen abprallende Geschosse bieten würde, war zweifelhaft, aber es schien dennoch eine gute Idee zu sein. Ich legte die Mündung der Pistole an die Türhaspe, die mir weniger fest erschien als das Vorhängeschloß. Dann hielt ich den Arm schützend vor die Augen und feuerte. Die Kugel prallte zweimal auf. Ein Teil eines Spiegels fiel von der Wand und d ie Rolltreppe hinunter. Das Gekreische hinter mir wurde lauter. Als nächstes schoß ich auf die zweite Türhaspe. Die Kugel prallte zurück und schlug in die Decke ein. Ich hoffte nur, daß niemand gerade dort saß. Ann und ich zerrten in entgegengesetzten Richtungen an der Tür und bekamen sie einen Spalt weit auf. Mattes Licht ergoß sich durch die schmale Öffnung, zusammen mit dem Müll und Abfall vieler Jahre. Jetzt konnte ich die kleinen Dinger sehen, die inzwischen das obere Ende der Rolltreppe erreicht hatten. Sie hatten Rattenköpfe und Rattenfüße - und kleine menschliche Körper. Ich schob das Kind durch den Türspalt und stemmte mein Bein gegen die eine, meinen Rücken gegen die andere Seite. Meine morschen alten Knochen knackten vor Anstrengung, aber die Tür ließ sich noch dreißig Zentimeter auseinanderschieben. Ich schob Ann, die sich gerade anschickte, mit dem Messer auf die kleinen Biester loszugehen, durch die Tür hinaus. Genug davon. Ich folgte ihr hinaus. Der Schutt, der von außen in den Spalt gerutscht war, hielt die Feuertür aufgeklemmt. Wir befanden uns in der Lobby, in einer Art Nische am Fuße einer weiteren Rolltreppe, die nach oben führte. Die Leute blickten über das Geländer auf uns herab. Der 122
gleiche Abschaum, der sich seit Jahren hier im Tower herumtrieb. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, sie zu warnen. Ann nahm den Dolch, den sie aus dem Rücken des Toten gezogen hatte, und schlug damit gegen die Klinge ihres eigenen Messers. Nach fünf oder sechs Schlägen sprühten Funken. Sie hätte einen großartigen Pfadfinder abgegeben. Dann warf sie den geschwungenen Dolch durch die Öffnung. »Tür zu!« schrie sie und stieß mit aller Kraft gegen eine Seite der Schiebetür. Ich stemmte mich gegen die andere, während die Kleine Papier, Bierflaschen und Zigarettenschachteln, die die Öffnung verstopften, aus dem Weg räumte. Schließlich bekamen wir mit vereinten Kräften die Tür zu. Von der anderen Seite her war das matte Winseln sterbender Geschöpfe zu hören. Die Tür war geschlossen. Ich ließ mich auf den verdreckten Treppenstufen nieder und kam mir alt und verbraucht vor. Ann nahm die Scheide ihres Dolches aus der Handtasche, steckte die Klinge hinein und schob beides wieder zurück in die Tasche. Was Frauen so alles aufheben. »Gehen wir«, sagte sie. »Hi er können wir nicht bleiben.« Ich betastete meine Rippen, meine Kopfhaut und meinen Nacken. Ann und die Kleine sahen auch nicht gerade frisch und gesund aus. »Im vierten Stock ist ein Arzt«, sagte ich müde. »Der kann uns behandeln.« Ann nickte und begann die Treppe hinaufzusteigen. Ich zog meine Jacke aus und wollte sie der Kleinen umhängen, aber sie stieß meine Hand weg. »Nein, danke. Ich bin schon daran gewöhnt, nackt herumzulaufen. Ich halte den Straßenverkehr nicht auf.« Wir gingen ein Stockwerk hinauf, auf unbeweglichen Rolltreppenstufen. Die alten Penner verfolgten uns mit 123
ihren versoffenen Augen, als wir den Fahrstuhl bestie gen. Unser Anblick schien einige von ihnen sogar zu ernüchtern. Zum Glück stand der Fahrstuhl unten. Wir beeilten uns hineinzukommen, bevor jemand einen Schlaganfall bekam. Ein muskulöser junger Mann in weißem Kittel machte uns die Tür auf. Sein zunächst mißtrauischer Blick wich einem Ausdruck höchster Verwunderung. »Eben aus Disneyland zurück«, sagte ich. Er runzelte die Stirn und ging an uns vorbei ins Treppenhaus. Ich klopfte an die Tür von LaVeques Sprechzimmer. Hinter der Tür waren die Geräusche hektischer Tätigkeit zu hören. Einen Augenblick später fragte eine Stimme: »Wer ist da?« »Ammo.« Die Tür öffnete sich einen Spalt, verharrte und ging dann ganz auf. »Wer sind die da?« fragte LaVecque und ließ uns ein. »Verletzte. Sie sollten nicht so viele Fragen stellen. Behandeln Sie uns bitte.« Er untersuchte die Kleine flüchtig und schickte sie erst mal nach hinten, sich abzuduschen. Auf seine Weisung zog sich Ann hinter einem Wandschirm aus und legte einen sauberen Papierkittel an. Seine Rücksichtnahme beeindruckte mich. Sie hatte einen schlimm aussehenden Riß im Arm und am ganzen Körper Schnittwunden und tiefe Kratzer, als sei sie durch eine Glastür gegangen, ohne sie aufzumachen. Während er sie behandelte, schwatzte ich. »Wen haben Sie heute wieder verkauft, Doc?« Er gab keine Antwort und fuhr fort, Anns Wunden zu reinigen und zu verbinden. In sanftem Ton wies er sie an, sich eine Woche lang nur mit einem Schwamm abzuspülen. Dann wandte er sich mir zu. Seine Augen zeigten keine Gefühlsregung, als er meine Kopfhaut untersuchte. »Ich muß Ihnen das Haar abrasieren«, sagte er. 124
»Machen Sie nur. Diese zweifarbige Tönung gefällt mir sowieso nicht.« »Ihr Freund, der Priester, hat Sie vorhin gesucht«, erzählte er mir, während er mir das blanke Rasiermesser über den Skalp zog. »Der von Sankt Herman. Er sah fürchterlich aus.« »Fürchterlich besoffen?« »Noch schlimmer. Nüchtern wie ein Stadtrat vor den Wahlen. Ich sagte ihm, daß Sie vielleicht noch kommen würden, und da ging er nach oben, um auf Sie zuwarten.« Na ja, er hatte ja schon am Telefon recht besorgt geklungen, als er sagte, er würde mich in der Kirche erwarten. Was konnte so dringend sein, daß er mitten in der Nacht hergelaufen kam. Er mußte wirklich Angst haben. Ich hatte eine Vorahnung, daß Schlimmes bevorstand. In letzter Zeit hatte ich des öfteren solche Vorahnungen. Ich versuchte, mich in Geduld zu fassen, während LaVecque meine Wunden desinfizierte und Klammern ansetzte. Als er nach dem Verbandzeug griff, stand ich auf. »Geht schon, Doc. Ich gehe schnell mal nachsehen, was der Pater macht. Ann, hol die Kleine aus der Dusche und finde ihr etwas zum Anziehen. Für dich auch. Aber warte auf mich.« Ich rannte hinaus und raste die Treppen hoch wie ein Windhund beim Rennen. In Null Komma nichts war ich oben. Behutsam schob ich die Eingangstür auf und lauschte. Absolute Stille. Wie Schneeflocken auf Watte. Die Pistole schlüpfte mir in die Hand, und ich schlich mich an meine Bürotür heran. Sie stand einen Spalt offen. Ein schmaler Lichtstreifen fiel in die Halle und kletterte an der gegenüberliegenden Wand hoch. Ich stand seitlich der Tür. Drinnen herrschte eine Stille, die es in einem unbesetzten Raum einfach nicht gibt. Es roch nach Schießpulver. 125
Mit einem Tritt hatte ich die Tür offen, ging in die Knie und hielt die Pistole schußbereit. Nichts bewegte sich. Am allerwenigsten die Leiche auf der Couch meines Wartezimmers.
10 Pater Joey Moreno saß auf meiner Couch und starrte ins Weite. Das Einschußloch befand sich genau über der Nasenwurzel zwischen seinen Augen. Er hatte einen erstaunten Gesichtsausdruck. Den haben sie immer. Ein wenig Blut war ihm von der Nasenspitze auf den Hosenlatz getropft. Seine Gesichtsfarbe glich der seines weißen Priesterkragens. Wortlos sah ich mich im Zimmer um und suchte nach Hinweisen. Joey hatte beim Sterben keinerlei Hinweise hinterlassen. Sie tun es nie. Der Job war schnell und sauber ausgeführt worden. Profiarbeit. Der Mörder hatte die verschossene Patronenhülse mitgenommen, oder vielleicht hatte er einen Revolver benutzt. Joey schien mich anzusehen, aus zwei verglasten Au gen und einem dunklen, blutigen Loch, das ihm wie ein drittes Auge auf der Stirn saß. Er sah noch immer er schrocken aus. Außer dem Korditgeruch roch es im Zimmer nach etwas Undefinierbarem. Während ich Joeys Kleidung durchsuchte, überlegte ich mir, was es sein mochte. Sein schwerer Körper hatte das Gewicht von zwei Zementsäkken. Ich wußte nicht einmal, ob Priester überhaupt Taschen hatten. Aber dann fand ich eine dicke Brieftasche irgendwo unter seinem linken Arm. Ich zog sie heraus und sah sie durch. Sie enthielt die übliche Ansammlung von Ausweisen, Kreditkarten - alle auf den Namen der Kirche - und Geschäftskarten. Eines fiel mir sofort auf. Alle Papiere, 126
die er bei sich hatte, waren gebraucht und bis zu einem gewissen Grade abgenutzt. Die meisten Geschäftskarten waren ein wenig verschmiert. Bis auf eine. Die Ränder dieser einen Karte waren scharf genug, um ein Steak damit zu zerschneiden, und das Papier war so blütenweiß wie der Traum einer Krankenschwester. Sie lag nicht unter den übrigen Karten, sondern steckte zwischen den Geldscheinen. Für die paar hundert Dollar in bunten Papierscheinen hätte man nach dem Kurs der vorigen Woche kaum ein Mittagessen bekommen. Diese Woche keinesfalls. Ich besah mir die Karte und drehte sie um. Sie war nur auf einer Seite bedruckt. Die elegant eingravierte In schrift lautete: St.-Judas-Kirche der Terminierung, »Um Liebe zu finden, muß man zunächst Gott töten.« Telefon 666 HWHY »Ist es das, was dich so erschreckt hat, Joey? Oder waren es deine Freunde von der Erzdiözese?« Joey saß stumm und verwundert da. Ich versuchte, ihm die Augen zu schließen. Die Lider widerstanden mir zunächst, ließen sich dann aber mit einiger Mühe zu drücken. Jetzt sah er weniger erstaunt aus, als wenn jemand etwas Interessantes gesagt hätte, während er schlummerte, worauf er nur mit einem leichten Hochziehen der Augenbrauen reagierte. Ich betrat mein Arbeitszimmer- unter Anwendung der gebotenen Vorsichtsmaßnahmen - und holte mir mehr Munition für meine Pistole. Dem Stahlschrank entnahm ich das dort noch vorhandene Geld und packte einen großen Aktenkoffer mit persönlichen Gebrauchsgegenständen und Wäsche zum Wechseln. Meine Räume er schienen mir plötzlich nicht mehr sicher. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß ich so bald nicht hierher zurückkommen würde. 127
Ich führte ein Telefongespräch. Die Nummer kannte ich auswendig. Viele kannten sie auswendig. Es läutete einmal. Irgendwo in Los Angeles wurde der Hörer abgehoben, aber keiner meldete sich. »Ein Toter ist abzuholen«, sagte ich. »Arco Towers Nord, Zimmer zwölfhundert. Er soll begraben werden es ist ein Freund.« Die andere Seite legte wortlos auf. In Los Angeles kann man alles bekommen, was man will. Bevor ich mit meinen Klamotten das Büro verließ, blickte ich noch einmal auf die stattliche Gestalt von Joey Moreno. »Ciao, Pater«, sagte ich. »Ich hoffe, daß die Kerle sich selbst auch schon die Letzte Ölung gegeben haben.« Dann ging ich die Treppen hinunter zu LaVecques Praxis. Ich warf der Kleinen eines meiner Hemden zu. Sie zog es über und schwamm darin herum, bis Kopf und Arme an den richtigen Stellen herausschauten. »War er oben?« fragte Ann. »Das meiste von ihm.« Ich steckte mir eine Zigarette an und tat einen tiefen Zug. »Möglicherweise bin ich auf eine Gruppe gestoßen, die ähnliche Interessen hat wie wir. Laß uns gehen.« Ich gab LaVecque ein Bündel orangefarbenes Papiergeld. »Wir waren nicht bei Ihnen.« »Die wenigsten sind jemals hier gewesen, Dell. Wie ist Ihr - Gesundheitszustand?« »Abgesehen davon, daß man mich zusammengeschlagen und unter Drogen gesetzt hat, und daß ich von kleinen, kratzenden Biestern angegriffen wurde, geht es mir prächtig. Ich habe keine Schmerzen mehr.« »Ich hätte trotzdem gern noch mal eine Generaluntersuchung vorgenommen.« Ich blies eine Rauchwolke aus. »Ein andermal, Doc. Zur Zeit bin ich geschäftlich verhindert.« 128
»Wohin jetzt?« fragte meine Blonde. Sie hatte das, was von ihrem Abendkleid noch übriggeblieben war, übergezogen und sah hinreichend heruntergekommen aus, um in der Rolle eines verarmten Mitglieds der besseren Gesellschaft an einer Straßenecke in Beverley Hills betteln zu gehen. Der Fahrstuhl knarrte wie ein Rattansessel. »Mein Büro kommt nicht in Frage«, sagte ich und strich mir mit den Fingern über meine lädierte Kopfhaut. »Und dich hat man wahrscheinlich auch schon mit mir in Verbindung gebracht und deine Wohnung unter Beobachtung gestellt.« Der Fahrstuhl hielt an. Nach einigem Zögern begannen sich die Türen zu öffnen, überlegten es sich wieder und blieben auf halbem Wege stecken. Ann und ich zwängten uns hinaus. »Das Beste wäre, im Auberge ein Hotelzimmer zu nehmen«, sagte ich. »Dort sind wir sicher.« Ich betastete die wunde Stelle an meiner Schläfe, wo mich der Totschläger getroffen hatte. »Und man kennt mich dort. Nur vom >Hope and Anchor< sollten wir uns fernhalten.« Zwei große, schwere Männer mit dicken Aktenkoffern betraten den Fahrstuhl, nachdem wir ausgestiegen waren. Dem Aussehen nach hätten sie kleine Geschäftsleute sein können - etwas heruntergekommen -, die Schulden eintrieben. Aber sie hatten das gewisse Etwas. Ich fragte mich, wie sie wohl die Leiche aus dem Haus schaffen würden. Aber das war ihr Problem. »Was wird jetzt mit Isidore?« fragte Ann. Ich hatte gar nicht mehr an die Kleine gedacht. Sie ging neben uns her, in meinem Hemd, das ihr bis zu den Kniekehlen reichte. Die alten Penner schliefen zum größten Teil. Nur einige von ihnen beobachteten uns aus leeren, müden Augen. Ohne uns anzusehen, sagte Isidore: »Ich habe meine eigene Wohnung, Lady. Als erstes will ich das ganze Wochenende verschlafen. Danach geht's wieder ans Geschäft.« Sie verhielt sich so gleichmütig, als 129
sei sie soeben von einer Kinderparty gekommen. Wir traten auf die Straße und gingen in Richtung Bunker Hill. »Laß dich nur nicht wieder mit komischen Männern ein«, sagte Ann und blickte auf die Kleine hinunter. »Lady - alle Männer, mit denen ich zu tun habe, sind komisch. Nur, daß dieser eine eben noch komischer war als die anderen. Ich konnte ihm nichts einreden. Als ich das endlich merkte, war ich schon in seinem Zimmer, und er preßte mir einen Lappen mit scheußlich riechendem Zeug aufs Gesicht. Ich wachte erst dort unten wie der auf.« Sie grinste. »Ich habe ihm den ganzen Altar vollgekotzt. Er war richtig wütend, als er es aufwischen mußte.« Sie kicherte wie eine besoffene Hyäne. »Jemand sollte dich adoptieren«, sagte ich. »Mit dir würde das Glück in jedes traute Heim einziehen.« »Sie nannten den Kerl Ihren Kunden«, sagte sie. »Sind Sie etwa sein Zuhälter?« Sie hatte den kurzsichtigen Ausdruck von Kindern, wenn sie mißtrauisch werden. »Ganz so einfach ist unsere Verbindung nicht. Und du bist in keiner Weise in die Sache verwickelt.« »Er schien es aber anzunehmen.« »Reiner Zufall.« Ich mochte den Klang meiner eigenen Stimme nicht, als ich das sagte. »Vielleicht war es das«, sagte Ann. Wir gingen durch dunkle Straßen. Eine Kompanie Marinesoldaten hätte uns angreifen können, ohne daß es mir aufgefallen wäre. So aufmerksam war ich. Meine Sinne besaßen heute die Schärfe einer Holzkugel. Aber nichts kam aus dem Schutt herausgesprungen, uns zu behindern. Ann schien tief in Gedanken versunken. »Und vielleicht war es auch Zufall, daß er diese Kreaturen auf uns hetzte«, sagte sie. »Das glaube ich nicht. Er hat mich ja angeheuert. Warum sollte er mich umbringen wollen, bevor ich meinen Auftrag erledigt habe?« »Vielleicht enthält der Kontrakt etwas, was ihm jetzt 130
nicht mehr paßt. Oder er kann etwas über dich herausgefunden haben. Vielleicht hat er jetzt Angst.« »Hör mal gut zu, Engelchen«, sagte ich. Ich griff nach meinen Zigaretten, überlegte es mir anders und ließ sie stecken. »Dell Ammo hat einen Kontrakt angenommen. Wenn Zacharias den Auftrag nicht annulliert, gedenke ich ihn auszuführen.« »Vielleicht weißt du zuviel, als daß er den Kontrakt einfach annullieren könnte. Vielleicht stellst du eine Bedrohung für ihn dar.« »Ja. Dell Ammo, der Mann, der es mit den himmlischen und höllischen Mächten aufnimmt. Die Ein -Mann-Apokalypse. Jede Menge Leichen.« Die Kleine musterte mich von oben bis unten. »Ist er übergeschnappt?« »Vergiß es, Püppchen. Du bist mitten in einem kosmischen Überlebenskampf gelandet, und der Kerl, der die Sache aufzieht, ist alt und verbraucht und todmüde und will sich jetzt nur noch besaufen und so lange schlafen, bis er die schmerzlichen Erinnerungen los ist.« Wir kamen im Auberge an, trennten uns und suchten unsere separaten Zimmer auf. Ich tat genau das, was ich mir vorgenommen hatte. Zur Abwechslung mal in einem sauberen, bequemen Hotelzimmer.
11 Das Blut in meinem Hirn schien heute besonders zähflüssig zu sein und überdies laute Geräusche von sich zu geben. Die schönen, sauberen Bettlaken in meinem Hotelzimmer sahen jetzt weder schön noch sauber aus. Was immer ich vor dem Einschlafen getrunken haben mochte, hatte ich alles im Schlaf wieder ausgeschwitzt. Ich stank so, wie ich mich fühlte. Erinnerungen aus alter Zeit zogen sich wieder dorthin zurück, wo die Träume herkommen. 131
Ich lag still und unternahm ernsthafte Bemühungen aufzuwachen. Ich ließ mich aus dem Bett rollen und steuerte aufs Badezimmer zu. Nach einer heiß en und einer kalten Dusche war ich imstande, ein Telefongespräch zu führen. Ich fischte die Karte aus der Brieftasche, lehnte sie ans Telefon und wählte die Zahlen- und Buchstabenkombination. Die Buchstaben HWHY mußten einen technischen Zweck haben, den ich aber nicht kapierte. Eine Frauenstimme, frisch und knusprig wie ein Sonnenaufgang über den Bergen, sagte: »Neunundvierzig, neunundvierzig. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ist das die Kirche?« »Die Kirche, Sir?« »Die St.-Judas-Kirche.« »Einen Moment bitte«, sagte sie freundlich und ließ mich hängen. Ich wartete. Irgendwie kam mir eine Zigarette zwischen die Lippen, und ich steckte sie an. Als sie halb aufgeraucht war, meldete sich eine Männerstimme. Sie besaß die scharfe Tonart eines hartgesottenen Geschäftsmannes. Durchaus nicht den Ton, den man von einem Kirchenmann erwartet hätte. Jedenfalls bei einer nicht-evangelischen Kirche. »Wer ist dort?« fragte er mit der Freundlichkeit eines Kanonenschusses. »Ein gläubiger Bruder«, sagte ich. »Ein Weggenosse auf dem Pfad den Verstehens. Ein Sucher nach...« »Hören Sie mit dem Scheiß auf - ich habe zu tun. Sind Sie der Mann, der mit Joey Moreno bekannt ist?« »Ich war mit ihm bekannt. Er wurde gestern nacht umgenietet.« Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Ein Schweigen, massiv wie eine Mauer. Dann fragte er: »Wie ist das passiert?« »Erschossen. In meinem Büro. Dort habe ich ihn gefunden.« »Hatten Sie etwas damit zu tun?« 132
»Wahrscheinlich - er war mit mir bekannt.« Wieder eine Pause. Dann: »Gute Antwort. Eine sehr gute Antwort. Hören Sie, ich glaube zu wissen, was Sie vorhaben, und ich weiß, daß Sie dabei in große Schwierigkeiten geraten sind, nach allem was Moreno mir mitteilte. Wir würden beide von einer Zusammenkunft und einem Gespräch profitieren.« Er nannte mir eine Adresse im 800-Block von South Broadway. »Wann kann ich Sie sprechen?« »Lassen Sie mir noch zwei Stunden Zeit«, sagte ich und hängte auf. Ich drückte die Zigarette aus und dachte angestrengt nach. Es konnte eine Falle sein. Wer immer Joey umgelegt hatte, konnte ihm auch die Karte zugesteckt haben. Ich schob mir den Colt ins Gürtelhalfter. Sollte es eine Falle sein, würde ich wenigstens versuchen, ein paar von ihnen zu erwischen. Um Joeys willen. An der Ostseite des Häuserblocks, eingezwängt zwischen ähnlich eingezwängten Gebäuden, befand sich die gesuchte Adresse. Das Aushängeschild im Fenster hing etwas schief. EINLÖSEN VON SCHECKS ANFERTIGUNG VON GUMMISTEMPELN OFFIZIELLE FORMULARE 24-STUNDEN-DIENST STADTKARTEN MITWOHNSITZ DER FILMSTARS Unter dem Schild war eine vergilbte, 10x15 cm große Karte an die Glasscheibe geklebt. Nur zwei Worte und ein Pfeil, der nach oben zeigte. KIRCHE OBEN Ich ging hinauf. Die Stufen sahen aus, als würden sie bei jedem Schritt knacken. Ich stieg ganz langsam hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, und setzte die Füße auf den äußersten Rand. Mein Aufstieg dauerte eine Weile, 133
aber ich kam oben an, ohne auch nur soviel Geräusch zu verursachen wie ein Regenwurm im Nebel. Der Treppenabsatz vor der Tür war reingefegt. An der Tür selbst war ein kleines Plastikschild angebracht. ST.-JUDAS-KIRCHE DER TERMINIERUNG Ich stand und lauschte. Hinter der Tür waren Stimmen zu hören, die sich ruhig und sachlich unterhielten. Das gefiel mir. Jedes Wort war zu verstehen. Das gefiel mir noch mehr. »Du teilst arbitrarisch alles in Kategorien ein, die lediglich auf dem geschichtlichen Status quo basieren«, sagte die Stimme, die ich am Telefon gehört hatte. Sie klang immer noch scharf und geschäftsmäßig, nur daß sie sich jetzt in hochtrabenden Worten ausdrückte. »Das stimmt nicht«, erwiderte eine angenehme Männerstimme in höherer Stimmlage als die vorherige. »Ich weise nur auf die Reaktion der meisten Leute hin, wenn man es ihnen erklärt. Du greifst einen festen Glauben an, der so tief verwurzelt ist, daß er an die kulturellen Urkräfte der Menschheit angrenzt.« »Seit den bescheidenen Anfängen der Menschheit«, sagte die tiefere Stimme spöttisch, »ist das philosophische Stenografiesystem, wonach man menschlic he Urtypen als Beispiele für die Natur oder für das Dasein als solches hinstellt, immer weitgehender angewendet worden, bis es zu einem Werkzeug der herrschenden Kaste wurde. Kein schlechtes Ergebnis für fünftausend Jahre lange Bemühungen.« Die spöttis che Stimme wurde bitter. »Also möchtest du bei deinen Bemühungen, die herrschende Kaste auszulöschen, gleichzeitig die Glaubensvorstellungen von Millionen unschuldiger Menschen zerstören«, sagte die angenehme Stimme. »Du bist ein regelrechter Traumtöter.« »Diese Träume haben sich längst in Alpträume ver wandelt, wenn du den Ausdruck entschuldigen willst. 134
Ehrlicher Glaube wird zweckentfremdet, um das schlechte Gewissen von jeder Blutschuld zu reinigen. Seitdem Abraham seinen Gott als Vorwand be nutzte, andere Religionen zu vernichten und die Frauen zu versklaven, gehören Glaube und Gewalt zusammen wie ein Bulle und sein Gummiknüppel. Also ist alles, was du sagst, Scheiß.« »Ich würde es ungern sehen, daß du den Begriff der Freiheit ablehnst, nur weil viele Verbrechen, wie Mord und Versklavung, im Namen der Freiheit begangen wurden. Antichrist zu werden, ist nicht die Antwort.« »Manchmal muß man eben die Sprache der Eingeborenen sprechen und vernünftige Gedankengänge in Form von Vergleichen und Beispielen darstellen. Was den Antichrist betrifft, der ich deiner Meinung nach bin« seine Stimme wurde schärfer -, »so ist das nur, weil die Christen in diesem Lande die Machtstruktur bilden.« »Ausschließlich der Illuminati, natürlich.« »Wenn du nicht ernsthaft diskutieren kannst, scher dich zum Teufel.« »Es ist mein voller Ernst. Wenn Gott tot ist, was bekommen dann die Katholiken beim Abendmahl? Eine Ersatzhostie?« Langsam bekam ich genug von der witzigen Unterhaltung und klopfte leicht an die Tür. Ein paar Fleckchen Farbe blieben an meinen Fingern haften. Ich wischte sie ab. Die Tür ging auf. Ich stand einem wunderschönen Mann gegenüber. Gutaussehend hätte ich ihn nicht genannt, dazu waren seine Gesichtszüge nicht markant genug. Man hätte ihn auch nicht als >hübsch< bezeichnen können, weil er keineswegs weichlich aussah. Er war ganz einfach schön. Und ich bin nicht der Mann, dem so was liegt. Seine Augen besaßen die Farbe des Morgenhimmels am Meer. Sie sahen mich aufmerksam, aber nicht aufdringlich an. Sein Haar hing ihm in sanften Wellen über den Hemdkragen. Es >blond< zu nennen wäre das gleiche gewesen, wie Gold als >gelbliches Metall< zu bezeichnen. 135
Sogar hier, in dem matt erleuchteten Raum, glänzte es wie das >gelbliche Metall< im hellen Sonnenlicht. Sein Gesicht sah aus, als könne es nach Belieben einen schelmischen oder todernsten Ausdruck annehmen. Im Moment war es schelmisch. »Willkommen in die Kirche des Mannes, der das Heilige Abendmahl zu einem Mönch-Barbecue gemacht hätte.« Er lächelte mich an. Ein wunderschönes Lächeln. Ein Lächeln, das nicht in diese lausige Bude gehörte. Der Raum war lediglich ein fünf mal sechs Meter großes Büro. Das verschmierte Fenster blickte auf eine Ziegelmauer hinaus. Zwei nackte, von Fliegen beschmutzte Glühbirnen brannten an der Decke. An allen vier Wänden standen Regale, aus Brettern und Ziegelsteinen improvisiert, die sich unter der Last zahlloser Bücher bogen. Vielleicht waren es weniger Bücher als im Hause von Theodore Golding. Aber nur deshalb, weil sie umgekippt wären, hätte man sie bis zur Decke hochgezogen. Ich fragte mich, wie diese wackeligen Dinger die gelegentlichen Erdbeben in Los Angeles überlebten. Eine wohlgenährte Fliege hätte sie umwerfen können. In der Mitte des Zimmers, auf ein em Teppich, der soviel Flor hatte wie ein Mehlsack, stand ein Altar, auf dem ein Mann saß. »Hör auf zu spinnen«, sagte er mit rauher, heiserer Stimme, »und laß ihn rein.« Der Schöne trat zur Seite. Ich blieb im Türrahmen stehen. Der Mann auf dem Altar saß im Schneidersitz, was ihm bei seiner gedrungenen, muskulösen Figur nicht leicht fiel. Er trug einen Straßenanzug, der mindestens eine Konjunkturwende, zwei oder drei Wirtschaftskrisen und möglicherweise ein Paar Pleiten überlebt hatte. Als das Wort > stämmig < erfunden wurde, mußte man an jemand wie ihn gedacht haben. Er füllte seinen Anzug bis zum Bersten. Die Hände, die er im Schoß hielt, erinnerten an Felsbrocken. Sein Gesicht war so freundlich wie das eines streikenden Lastwagenfahrers. 136
»Sie kennen Joey?« fragte er. Ich habe schon Bulldoggen höflicher bellen gehört. Schweigend holte ich eine Zigarette hervor und zündete sie umständlich an. »Ich kannte ihn«, sagte ich, heute schon zum zweiten Mal. »Ich kannte ihn auch.« Ein Funken von Bedauern glomm in seinen Augen. Nicht viel, aber es schien echt zu sein. Er zog die Beine unter sich hervor, stützte sich mit den Händen ab und ließ sich von dem FormicaWürfel, der den Altar darstellte, herabgleiten. Er war viel kleiner, als ich erwartet hatte. Seine Augen starrten zu mir hinauf. Hätte er geradeaus geblickt, wären sie etwa auf der Höhe meines Adamsapfels gewesen. »Nimm dem Mann doch seinen Hut ab, Tom.« »Nicht nötig«, sagte ich und blies Tom den Rauch in sein schönes Gesicht. Er rümpfte weder die Nase, noch gab er ungehaltene Laute von sich. Er zwinkerte ledig lich mit seinen verträumten Augen und ließ ein ge dämpftes Lachen hören. Ich behielt den Hut auf. Die Frisur, die mir LaVecque verpaßt hatte, hätte mein Image vermindert. »Sie heißen Dell Ammo«, sagte der Kurzbeinige. »Nachdem wir uns jetzt gegenseitig bewiesen haben, daß wir kaltblütige, harte Männer sind, könnten wir eigentlich zur Sache kommen.« »Sie haben noch gar nichts bewiesen«, sagte ich. Ich spielte wieder mal den Superklugen. Dell Am mo, der Härteste von allen. Ein Faustschlag, und ich landete draußen auf dem Treppenabsatz. Er hatte auf die Magengrube gezielt und sie nicht verfehlt. Ich hielt mir den Leib und gab Geräusche von mir, wie ein Ertrinkender. Meine Hand fuhr an den Gürtel. Er sah es, wandte sich ab und ging zum Altar zurück. »Angeber«, hörte ich ihn durch das Summen in meinen Ohren sagen. »Kaum hat er den ersten Klapps weg, greift er nach der Kanone.« Er kletterte wieder auf den 137
Altar und ließ sich dort nieder. Ich kehrte ins Zimmer zurück - nicht mehr ganz so keck wie vorhin. »Joey und ich waren Freunde an der Berkeley Universität«, erzählte er mir. »Ich war damals eher rechts konservativ eingestellt. Er war Trot/kist und las eine Menge Sowjetliteratur. Dann war er plötzlich von Tolstoi begeistert. Wurde mehr und mehr Pazifist. In einem Semester erschien er mit einemmal in Priesterkleidung. Er hatte den Trotzkismus aufgegeben, sich der russischorthodoxen Kirche angeschlossen und religiöse Studien als Hauptfach gewählt. So wie Tom hier.« Tom lachte. Es war nicht das kristallklare Lachen eines Apollo, oder wem immer er ähnlich sah, hatte jedoch einen sorglos fröhlichen Klang. »Joeys Familie war mexikanisch-katholisch, also können Sie sich vorstellen, wie er zu Hause aufgenommen wurde. Er kam nach Los Angeles zurück und fing an, in den Mexikanervierteln zu arbeiten. Wie er Sie kennenlernte, weiß ich nicht.« »Wir haben uns mal zusammen in einer Bar besoffen, und er schleppte mich nach Hause.« »Man konnte gute Gespräche mit ihm führen, Ammo. Genauso wie mit Tom hier. Gute Gesprächspartner sind nicht leicht zu finden. Wenn man einen findet, gibt man ihn so leicht nicht wieder auf. Er besaß einen scharfen Verstand - war manchmal etwas durcheinander, vielleicht ein wenig naiv...« Er blickte auf seine Hände herab. Ich sah mich nach einem Aschenbecher um. Als ich keinen fand, ließ ich die Kippe auf den Boden fallen und trat sie mit dem Absatz aus. Tom blickte mich an und lächelte nachsichtig. »Er schien Sie sehr zu respektieren.« Die rauhe Stimme hatte einen weichen Klang angenommen. Auch sein Gesicht hatte seinen harten Ausdruck verloren und sah nicht mehr so aus, als hätte man damit ein Schnitzel weichgeklopft. »Er machte sich Sorgen um Sie, nachdem 138
ihm ein paar große Leute von der Erzdiözese einen Besuch abgestattet hatten.« Er verlagerte sein Gewicht und gab einen grunzenden Laut von sich. »Jedenfalls stellten die eine Menge Fragen, die Sie betrafen. Möglicherweise sind Sie der Annahme, daß Priester und Bischöfe und solche Leute nur dasitzen und beten und anderen Menschen die Sünden vergeben, die sie selbst erfunden haben, um Angst und Schuldgefühle in ihnen zu erwecken. Vergessen Sie es. Religion ist ein Geschäft wie jedes andere. Die Kerle haben ein ausgezeichnetes System für Nachrichtenbeschaffung. Wenn man es sich richtig überlegt...«, er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, »wäre doch der Beichtstuhl eine hervorragende Quelle für Informationen, mit denen man die Leute erpressen könnte.« »Wie, glaubst du, finanzieren sich denn die Kirchen?« fragte Tom grinsend. »Abgaben und Stiftungen sind natürlich freiwillig, aber die unausgesprochene Drohung ist immer präsent, daß du nicht in den Himmel kommst, wenn du nicht zahlst. Man deutet an, du würdest dann in der Hölle braten. Man droht den Leuten mit einem viel schlimmeren Schicksal, als jedes Gericht und jedes Skandalblatt ihnen bereiten könnte.« »Hören Sie mal zu«, sagte ich. Ich zog mir einen dreckigen Klappstuhl heran und setzte mich. »Kommen wir doch endlich zur Sache. Joey war also ein gemeinsamer Bekannter von uns. Gut. Er wurde in meinem Büro tot aufgefunden. Was hat das mit uns beiden zu tun?« »Beruhigen Sie sich, Ammo. Wir stehen auf der gleichen Seite. Das nehme ich wenigstens an.« Er richtete seinen dicken Zeigefinger auf mich. »Sie wollen die organisierte Religion vernichtet sehen, und irgendwie haben Sie es geschafft, daß eine bestimmte Gruppe religiöser Führer sich jetzt vor Angst in die Kutte macht. So sehr, daß sie Joey verfolgten, als er versuchte, Sie im Büro zu erreichen.« 139
»Und dann brachten sie ihn um und warteten nicht auf mich? Ihre Logik stinkt.« »Vielleicht hatten sie Angst vor der Radioaktivität. Joey arbeitete immer in der Nähe der Altstadt. Sie auch?« Ich nickte. »Vielleicht war es das. Oder vielleicht wollen sie Ihnen nur Angst einjagen...« »Jemand anderer hat das schon probiert.« »Na schön. Oder Ihnen etwas anhängen.« Er ließ sich von dem Altar heruntergleiten und kam zu mir herüber. Jetzt, wo ich saß, befanden sich unsere Augen auf gleicher Höhe. Er stolzierte um meinen Stuhl herum und musterte mich. Besonders die Wunden an meinem Kopf, die der Hut nicht ganz verdeckte. »Vielleicht sind Sie wirklich ein harter Bursche. Es gibt nicht viele Leute, die sich der Ecclesia entgegenstellen und zwei Verwarnungen überleben.« Er bemerkte mein Stirnrunzeln. »Ich sagte >Ecclesia<. Großes E. Sie werden das Wort in keinem Nachschlagewerk finden, und wenn Sie jemanden danach fragen, wird man vorgeben, es nicht zu kennen oder Ihnen sagen, daß es so etwas nicht gibt. Aber religiöse Kreise haben ihre eigene Terminologie und ihre eigenen Verschwörungsformeln.« »Ach so«, sagte ich, wobei ich mich bemühte, interessiert auszusehen und ihm nicht ins Gesicht zu gähnen. Er tippte mir mit dem Finger an die geschwollene Stelle an meiner Schläfe, mein Andenken an den Zwischenfall mit dem Totschläger. Ein scharfer Schmerz fuhr mir durch den ganzen Körper und brachte Schnitte und Abschürfungen auf meiner Kopfhaut zum Klingen. »Die Ecclesia...« war alles, was er herausbrachte, bevor meine Faust ihn unterm Kinn traf. Ich mußte mich ducken, um mit der erforderlichen Wucht zuzuschlagen. Er krachte zu Boden, daß ich glaubte, wir würden im unteren Stockwerk, in der Abteilung für amtliche Formulare, landen. Er saß da, die Hände an den Seiten, und starrte benommen ins Leere. Ich stand auf. Tom sah 140
besorgt aus. Wunderschön und besorgt. Michelangelo hätte Jahre gebraucht, eine so schöne Besorgnis in Bild oder Skulptur wiederzugeben. »Wie nett wir zueinander sind«, sagte ich zu Tom. »Dabei haben wir uns noch nicht einmal vorgestellt.« »Randolph Corbin«, sagte der Mann auf dem Fußboden mit einer Stimme, dick wie Klebstoff. Mit der einen Hand massierte er sein Kinn, die andere streckte er mir entgegen. Ich ergriff sie und zog ihn auf die Füße. Meine Handknöchel taten mir von dem Schlag noch immer weh, und sein fester Griff machte es nicht besser. »Aber nennen Sie mich bloß nicht >Randy<, sonst bekommen wir Krach miteinander.« Auf unsicheren Füßen ging er zum Altar hinüber und lehnte sich dagegen. Der Altar rutschte weg und zog einen Teil des Teppichs mit sich. Corbin verlagerte sein Gewicht und blickte zu mir auf. Sein Kinn schwoll an und wurde immer runder, ich mußte ihn genau auf den K. -o.-Punkt getroffen haben. Das tat mir leid. Sein Gesicht benötigte keine weiteren Entstellungen. »Die Ecclesia«, fuhr er fort, als hätte er nur mal eben Luft geholt, »ist eine lose Vereinigung von führenden Bischöfen, Rabbinern, Imamen, Roschis und so weiter, die das unabdingbare Recht beansprucht, die Macht der Kirche zu erhalten. Oder, besser gesagt, die Macht organisierter Religion. Die Bedrohung der philosophischen Grundlagen jedes Glaubens betrifft sie alle. Sie haben sich über das Konzept von heiligen Kriegen erhoben und überlassen solche Dinge ihren Untergebenen auf niederer Ebene, die dergleichen Vorwände benötigen, um Haß zu entfachen und das Fußvolk in den Griff zu bekommen. Sie sind fest etabliert, haben die Macht und den Wohlstand von einem Dutzend Religionen hinter sich und lassen nicht mit sich scherzen. Ich bezweifle sehr, daß einer von ihnen auch nur einen Funken religiösen Empfindens übrig hat. Sie sind so schlau und gerissen wie die Werbefachleute auf der Madison Avenue. Mehr als das 141
es ist ihre Aufgabe, die größte Täuschung aller Zeiten aufrechtzuerhalten. Und vor Ihnen haben sie Angst, Ammo. Warum?« Ich lächelte nur. Gemächlich lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück, nahm mir noch eine Zigarette und klopfte sie auf der Packung fest, ohne ein Wort zu sagen. »Ich meine, vor mir haben sie doch auch keine Angst. Und was habe ich nicht alles gepredigt!« Er schwenkte den Arm durch die Luft. »Das Wort der Bestie. Die apokalyptische Botschaft, daß das Große Biest, dessen Nummer sechshundert, dreimal zwanzig und sechs ist, zur Erde hinabsteigen wird zum letzten Kampf. Und daß wir an seiner Seite kämpfen müssen. Das dies wahres Christentum sei.« »Weil Gott die Bibel geschrieben hat«, sagte Tom, mich anblickend, »und weil im Buche der Offenbarung geschrieben steht, daß der Antichrist tausend Jahre lang herrschen wird und danach Christus zurückkehrt und die Anhänger des Biests in ein Meer von kochendem Schwefel wirft.« Er zwinkerte mir zu. »Damit habe ich Ihnen einen halbstündigen Vortrag erspart.« »Und was könnte ketzerischer sein«, sagte Corbin, »als zu predigen, es sei eine christliche Tat, dem Antichrist zu dienen, auf daß die Apokalypse über uns kommen und Christus wiederkehren möge? Und wie nobel und christlich es sei, ewige Höllenqualen zu erdulden, dafür, daß wir Gottes Prophezeihung erfüllen halfen.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Kein einziger Priester hat sich je um mich gekümmert. Aber für Sie... - Ihretwegen töten sie.« Er schlug mit der Faust auf den Altar. »Jetzt hören Sie endlich auf, mich zum Narren zu halten, Ammo, und erklären Sie mir, was hier gespielt wird!« Es war an der Zeit, ihm einen Schock zu versetzen. Er hatte es verdient. »Nun gut. Jemand hat einen Kontrakt 142
vergeben, den Allerhöchsten zu töten, und ich bin der Torpedo.« Tom brach in lautes Gelächter aus. Corbin starrte mich fassungslos an. Sein Kinn verfärbte sich langsam violett. Er lachte nicht. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Die Leute, denen ich Sorgen mache, scheinen aber nicht so zu denken.« »Gott ist lediglich ein Konzept. Ein Begriff dafür, daß ein höheres Wesen alle Taten der Menschen überwacht und sie den Konsequenzen nicht entgehen können. Gott ist doch nirgends anwesend, wo man Ihn finden und töten kann. Dazu müßte man ins Hirn jedes einzelnen Menschen eindringen und es herausschneiden.« »Diese Argumente habe ich alle schon gehört«, sagte ich. »Trotzdem hält es jemand für möglich und zahlt mir eine runde Summe, es zu tun.« Corbin schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mal, Ammo«, sagte er mit fast sanfter Stimme, »Gott ist ein Begriff, der tief in uns allen verwurzelt ist, aus welchen Gründen immer - Furcht, Schuldgefühl, Haß - manchmal sogar echter Glauben und Frohsinn. Ein Wesen beschwichtigen zu müssen, dessen Ziele wir nicht begreifen und dessen Macht wir nicht ermessen können, würde jeden, der es auf die Dauer zu tun versuchte, zu einem psychischen Wrack machen. Tatsächlich ist das Maß des Guten, welches der Mensch erreicht, gleich dem Ausmaß, in welchem er die Gebote Gottes mißachtet. Oder vielmehr das, was gewisse Leute für die Gebote Gottes erklären. Es ist alles eine ausgetüftelte Methode, die Menschen zu ver sklaven und sie davon abzuhalten, zu denken, zu protestieren und zu rebellieren.« »Bravo«, sagte ich, die Zigarette im Mundwinkel. »Eine blendende neue These.« »Nicht viel von dem, was ich sage, ist neu«, meinte Corbin, mit einem Ausdruck, so freundlich wie schales Bier. »Es wird nur nicht oft genug gesagt. Der Gedanke, 143
man könne ohne Gott leben, oder daß Er nur ein grausamer Schwindel oder ein uraltes Instrument der Politik ist, ist den Menschen so fremd, daß sie es für eine Sünde halten, auch nur daran zu denken.« »Wenn Sie anfangen würden, Leute auf der Straße zu überfallen«, sagte Tom, »sie in eine dunkle Gasse zu zerren und dort zu hypnotisieren, könnten Sie vielleicht das Konzept aus ihrem Unterbewußtsein löschen.« »De-Programmierung?« Das hörte sich sehr kompliziert an. »Nicht von der Art, wie sie die Häscher der Kirche anwenden. Man muß ihnen nur ihre tiefliegenden theistischen Konzepte nehmen.« »Und es gibt ebenso viele verschiedene Konzepte von Gott, wie es Menschen gibt.« »Ja, und Sie müßten das gesamte Konzept auf einmal vernichten, sonst könnte es von neuem auftreten, und Gott würde weiterleben.« »Nicht nur das«, sagte Corbin, im Zimmer auf und ab stolzierend wie ein Geschäftsführer beim Diktat, »Sie müßten allen eine Art intellektuelle Munition liefern, womit jeder seine persönlichen Zweifel bekämpfen kann. Gedanken sind die Feinde des Glaubens.« »Man könnte das Fernsehen dazu verw enden. Ein gutes Massenmedium für Hypnose.« Tom war ebenso angeregt wie Corbin. Ich wippte gelangweilt auf den Absätzen und sagte nichts. »Fernsehen taugt nichts. Es kommt nicht an alle Leute heran.« Corbin strich sich mit der Hand übers Kinn, verzog das Gesicht vor Schmerz und sah mich an. »Man muß alle Gehirnwellen gleichzeitig in einen Theta-Zustand versetzen. Sie gewissermaßen einschläfern, aber ihnen genügend Alphawellen lassen, um die Gestalt zu wechseln.« Er nickte mir zu. »Verstehen Sie, wovon wir sprechen?« »Hört sich an wie griechisch.« »Ha, ha. Sehr komisch. Wir sprechen über Gehirnwel144
lenfrequenzen...« Er blickte mich aus seinen kleinen, tiefliegenden Augen an und schüttelte dann den Kopf. »Einen harten Burschen wie Sie interessiert das w ohl nicht, oder?« »Ich bin gar kein harter Bursche. Das haben Sie selbst gesagt. Ich bin ein zarter, sensitiver Mensch, der es nicht ertragen kann, von anderen nicht akzeptiert zu werden.« »Warum hauen Sie nicht einfach ab und kommen nie wieder?« Ich ging zur Tür. Tom sagte: »Wollen Sie ihn nicht wenigstens fragen, warum er diese Bude die St.-Judas-Kirche genannt hat?« Ich drückte meine Kippe auf dem Treppenabsatz aus und sagte: »Ich nehme an, weil alle Apostel ihren Herrn verrieten, aber nur Judas sich schuldig genug fühlte, Selbstmord zu begehen.« Corbins Kinnlade fiel herab, soweit es ihr Zustand erlaubte. Eins zu Null für mich. Tom lachte. Ich warf einen letzten Blick auf sein schönes Gesicht und wandte mich zum Gehen. Auf dem Weg nach unten hörte ich no ch seine schöne Stimme: »Da hast du jemand, der dir auf theologischem Gebiet ebenbürtig ist, Randolph.« »Aber das bedeutet es doch gar nicht«, kam Corbins Stimme, höchst erstaunt. »Es bedeutet etwas ganz anderes.« Toms Lachen verfolgte mich bis in die glühendheißen Straßen von Los Angeles.
12 »Annullieren Sie den Kontrakt.« Er saß in meinem Hotelzimmer auf dem Bett, die Schuhe auf dem Bezug, sein Spazierstock neben ihm. Er 145
sah mich aus seinen warmen, freundlichen Augen an. So freundlich, wie ein Messer in den Nieren. »Was ist denn los, Zach? Hat Ihnen jemand anders ein besseres Angebot gemacht?« Ich trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter mir. Ann war mit der Kleinen in ihrem eigenen Zimmer. Wenigstens hatte die Überraschung mich allein erwischt. »Sie sind der beste Profi, Ammo, das gebe ich gern zu. Einsame Spitze. Aber lassen Sie die Sache sein.« Er hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Hat man Ihnen Angst eingejagt, Zach?« Ich holte eine Flasche Bourbon aus dem Nachttisch und bot ihm einen Drink an. Er lehnte ab. »Ich habe es mir anders überlegt. Der Kontrakt wird annulliert. Sie brauchen den Auftrag nicht auszuführen.« Ich nahm einen tiefen Schluck und sagte: »Wissen Sie, ich habe in letzter Zeit viel über Gott nachgedacht. Das ganze Konzept gefällt mir nicht. Je schneller Er ausgelöscht wird, um so besser. Und die Methode habe ich mir auch schon ausgedacht. Außerdem - wenn ich den Kontrakt rückgängig mache, muß ich doch sterben.« »Ich werde dafür sorgen, daß Sie nicht sterben.« »Woher weiß ich, daß das nicht eine Lüge ist?« Er setzte sich steif auf. »Lassen Sie die Finger davon, Ammo, und ersparen Sie sich einen Haufen Unannehmlichkeiten.« »Ich habe den Eindruck, daß Sie den Kontrakt nicht einseitig auflösen können, wenn ich nicht einverstanden bin.« Es war nur eine vage Vermutung meinerseits. »Nicht einmal Sie können Ihre Aufträge ohne Einwilligung der anderen Seite zurücknehmen. Ein echter Witz.« Seine Kinnmuskeln spannten sich nervös, und ich fühlte mich in meiner Annahme bestätigt. »Es sind Mächte am Werk, Ammo, die alles tun, um Sie zu hindern. Zwingen Sie mich nicht, Ihre Gegner zu unterstützen.« Ich erwiderte nichts. Eine Minute lang starrten wir uns 146
wortlos an. Dann zog er eine Hand hinter dem Kopf hervor. »Ich habe Ihnen eine Nachricht zukommen lassen - im Rücken eines alten Mannes. Ihre Bekannte hat sie weggeworfen.« Er zog einen Gegenstand hervor und warf ihn aufs Bett. Dann erhob er sich. Das Ding war einmal der Flammendolch gewesen, den Ann aus dem Rücken des Vagabunden gezogen hatte. Der Griff war unbeschädigt, aber die Klinge verätzt und zerfressen, als hätte sie Jahrhunderte im Wasser gelegen. Auf dem Bettbezug, wo sie hingefallen war, waren Rostflecken zu sehen. Zacharias war schon in der Tür. »Ich sagte Ihnen bereits, ich werde keinen Verrat dulden.« Die Tür knallte zu. Ich hob den Dolch auf, betrachtete ihn eine Weile und warf ihn in den Papierkorb. Dann dachte ich über seinen Vorschlag nach, den Kontrakt aufzugeben. Genau fünf Sekunden lang. Man hatte mich bewußtlos geschlagen, mit Drogen betäubt, entführt und mißhandelt - alles im Namen Gottes. Wenn Er so gestaltet war wie seine Anhänger, wäre es kein Mord, Ihn zu töten, sondern Unge/iefervernichtung. Ich hob den Rest meines Geldes von den verschiedenen Banken ab und mietete mir Büroräume im Union-BankGebäude. Es befand sich nördlich der Arco Towers und war bei der Explosion, die den südlichen und einen Teil des nörlichen Turms zerstört hatte, einigermaßen unversehrt geblieben. Nachts schlich ich mich in mein altes Büro zurück und räumte alles aus, was ich benötigte. Die nächsten Tage verbrachte ich in meinem neuen Büro, das die verfallenen Ruinen des alten Stadtzentrums überblickte, saß dort herum und schmiedete Pläne. Ich mußte einen einfachen und ausführbaren Plan erfinden, aber Einfachheit ist teuer. Es mußte einen Weg geben, 147
Gott zu zerstören, auch wenn weder vorher noch nachher ein Corpus delicti nachzuweisen war. Es mußte einen Weg geben, Gott aus den Herzen und Hirnen der Menschen herauszureißen. Wie konnte ein Gott überleben, der von allen ausgelacht oder ignoriert wurde? Oder vergessen war. Zeus war tot. Oder lebte er nur inkognito? Ich mietete ein Fernsehgerät und ließ es laufen, während ich das Briefpapier des Hotels vollkritzelte. Die Fernsteuerung lag leicht greifbar neben mir. Ich schaltete VHP ein. Eine Kinderstimme sang Werbeverse für Frühstückskost, die bunt aus den Wolken herabströmte: »Krunchy Molas taste so good They're my very favourite food Teil Mom to buy them today Taste them once and you'll say - Krunchy Molas...« Ich schaltete auf eine andere Station um, bevor mir mein eigenes Frühstück wieder hochkam. Hier gab es ein Fernsehspiel, worin der Stadtpfarrer von der Stadthure in Versuchung geführt wurde, deren Mann zur gleichen Zeit in einem Krankenhaus um sein Leben kämpfte, betreut von einem idealistischen jungen Arzt, der sich bemühte, ihn am Leben zu erhalten, während er zusätzlich die Patientin auf Nummer 223 davon abhielt, Selbstmord zu begehen, und die Krankenschwester daran hinderte, Kokain aus dem Labor zu entwenden. Zu allem war der Doktor noch homosexuell und litt unter einem Schuld komplex. Ich schaltete um, ohne herauszufinden, ob der junge Arzt nebenbei auch nekrophil war. Die nächste Station brachte mal wieder >Boys Town< und anschließend die Philadelphia Story<. Beide hatte ich schon gesehen. Das nächste Programm brachte eine Talk-Show. Jemand beschrieb, wie man verschiedene Speisen sortiert. Die Moderatorin brachte ihm etwa soviel Interesse entgegen 148
wie eine Nutte ihrem Freier. Ich streckte die Hand nach der Fernsteuerung aus, um abzuschalten, als sie plötzlich sagte: »Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Wir sind gleich wieder da mit unserem nächsten Gast, Mr. Thomas Rüssel von der St.-Jude-Kirche.« »St. Judas«, verbesserte sie eine wohlklingende Stimme von außerhalb des Kamerawinkels. Dann kam wieder Werbung. Ich ließ die Fernsteuerung unberührt, lehnte mich zurück und benutzte die Gelegenheit, mir einen Drink einzuschenken. Ich sah nicht einmal hin, was mir die Werbefritzen vorgaukelten. Ein paar Minuten später erschien die Moderatorin wieder auf dem Bildschirm. Sie hatte rotes Haar, war etwa in meinem Alter, sah aber jünger aus. Ihre Aussprache war kühl und präzise. »Bei uns im Studio«, begann sie, »befindet sich Mr. Thomas Rüssel von der St.-Judas-Kirche - habe ich es jetzt richtig?« Die Kamera blendete Tom ein, der zustimmend nickte. Auf dem Fernsehschirm sah er ebenso schön aus wie im Leben. »Von der St.-Judas-Kirche. Und Sie haben, glaube ich, ein Buch herausgegeben, unter dem Titel >Der Gottesstaat<. Würden Sie uns etwas davon erzählen?« Zu Anfang hatte ich nur deshalb zugehört, weil ich den Kerl kannte. Aber jetzt, wo ich den Buchtitel hörte, erwachte mein Interesse. »Mein Buch ist im Grunde eine Studie über das Thema, wie verschiedene Religionsgruppen in der Geschichte der Menschheit die jeweiligen Regierungen beherrschten. In den meisten Fällen haben sie das ganz kraß und schamlos getan und ihre Zeichen und Symbole offen zur Schau gestellt, als wollten sie jemanden herausfordern, sie bloßzustellen.« Die Moderatorin sah ihn einen Moment lang verwundert an und sagte dann: »Aber Sie wollen doch damit nicht sagen, Tom - wenn ich Sie so nennen darf-, daß in einem Land wie den Vereinigten Staaten, wo die Verfassung die Trennung von Kirche und Staat vorschreibt...« 149
»Die Verfassung ist gerade noch das Pergament wert, auf dem sie geschrieben steht. Praktisch jeder Präsident dieses Landes gehörte einer Freimaurerloge an, einer uralten religiösen Verbindung. Auf weniger hoher Ebene überlaufen Geistliche des Repräsentantenhaus und den Senat und halten Gottesdienste ab. Auf jedem Geldschein und auf jeder Münze - als wir noch Münzen hatten prangte die Inschrift >Wir vertrauen auf Gott<.« »Aber so ist es doch, seitdem dieses Land besteht.« Die Moderatorin rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. »Dieser Spruch steht erst seit 1864 auf dem von der Regierung herausgegebenen Geld, wo es zuerst auf einer Zwei-Cent-Münze erschien. Bis zum zwanzigsten Jahrhundert stand er nicht auf den Fünf-Cent-Münzen und ist erst seit 1954 gesetzlich festgelegt.« »Also wurde die Regierung fast hundert Jahre lang nicht von religiösen Gruppen und Verbänden be herrscht.« Sie lächelte. Tom lächelte zurück. »So offenkundig waren sie nicht bei der Anwendung ihrer Symbole. Doch das Hoheitssiegel der Vereinigten Staaten enthält zahlreiche mystische Zeichen. Man findet sogar Anzeichen für einen internen Kampf zwischen mindestens zwei Fraktionen um die Herrschaft über die Vereinigten Staaten: einer produktiven, eher friedfertigen Gruppe heidnischer Frauenanbeter - vielleicht gar Atheisten - und einer brutalen, kriegshetzerischen, patriarchalischen Gruppe, die den hebräisch-christlichen Gott Jaweh anbetet.« Ich nahm mir noch einen Drink und steckte mir eine Zigarette an. Normalerweise interessierte ich mich kaum für Münzen. Aber als Berufskiller trifft man oftmals mit für Kttrrffi;ertr^;s^?-K-*>-^=-*~ ~^ ~~~~~~^' :*^rseaf9K? Machthabern zusammen, und Toms Worte bestätig« einen Verdacht, der schon mehrmals in mir aufgekeil ^Überlegen Sie doch mal«, sagte er im Ton ein Theologiestudenten. »Die ersten Münzen m diesem U de trugen die Symbole der Freiheit: Göttinnen, dieC l* II
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schenke darbrachten, Adler in majestätischem Flug, indianische Ureinwohner, immer noch edel und unge beugt.« Er schwang das Fußgelenk übers Knie und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Dann brachte Victor Brenner im Jahre 1909 den Lincoln-Cent heraus. Ein toter Statist in der Münzprägung. Ein Sieg für die Patriarchisten, die bereits seit einem halben Jahrhundert den Namen ihres männlichen Gottes auf ihre Münzen prägten - manchmal unmittelbar neben die Freiheitsgöttin.« Er blickte der Moderatorin voll ins Gesicht. »Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, daß fünf Jahre später der Erste Weltkrieg ausbrach, in den die Vereinigten Staaten nach drei Jahren hineingezogen wurden. Und daß die Zahlen fünf und drei von großer mystischer Bedeutung sind.« Die Moderatorin sah besorgt aus. Ich auch. Tom machte einen unbekümmerten Eindruck. Das Schweigen währte so lange, daß ich mich fragte, warum man nicht ein paar Werbespots einschob. »Um das Thema zu wechseln - Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß auch kommunistische Staaten von religiösen Gruppen beherrscht und gelenkt werden?« Offenbar hielt sie das für eine vernichtende Frage. Noch bevor ich Toms Grinsen sah, wußte ich, daß er nur darauf gewartet hatte. »Trotz ihres zur Schau getragenen Atheismus wurden und werden die Staaten des Ostblocks von einer uralten Hierarchie abtrünniger Druiden beherrscht, die ihre Göttin verraten hatten und auf Eroberungen aus waren.« Die Moderatorin gab einen Laut von sich, als hätte sie sich verschluckt, und fragte: »Druiden? Ein Haufen
Baumanbeter aus England? Und die sollen die mächtigsten Nationen der Erde beherrschen?« Tom sah so froh aus wie ein Chemiestudent, der ein Loch in der Zimmerdecke vorweisen konnte. »Betrachten Sie doch einmal die Nationalflagge der Sowjetunion.« Die Moderatorin warf einen flehenden 151
Blick himmelwärts, äußerte sich jedoch nicht. »Sie zeigt einen goldenen Hammer und goldene Sichel auf rotem Feld. Die übliche Erklärung dafür ist das Proletariat und die Farbe der Revolution. Aber auch diese« - er hob den Zeigefinger und streckte ihn der Kamera entgegen: »Erstens - die goldene Sichel wurde von den Druiden dazu benutzt, Mistelzweige von den Eichen zu schneiden, als symbolische Nachahmung der Entmannung von Kronos durch seinen Sohn Zeus. Die Mistel ist ein Phallussymbol. Zweitens - der Hammer - so wie er auf der Natio nalflagge dargestellt ist - erinnert ebenfalls an einen Phallus, an den die Sichel angesetzt ist, um ihn zu zerschneiden.« Er streckte den dritten Finger hoch. »Drittens - rot ist bei den Druiden die Farbe des Lebens und die Farbe der Nahrung, die bei der Totenweihe den Verstorbenen dargeboten wird. Und viertens - der rote Stern, den die Sowjets und fast alle anderen kommunistischen Staaten zum Symbol haben, ist eine Variante des uralten Drudenfußes - der fünfkantigen Figur oder des fünfzackigen Sterns, der bei jeder Art von Magie gut oder böse - angewandt wird. Auch auf unserer Flagge haben wir Drudenfüße, und die Farben Rot, Weiß und Blau sind die Farben der Göttin.« Bevor er weitere Punkte an den Fingern der anderen Hand abzählen konnte, unterbrach ihn die Moderatorin: »Also wurden die Kriege dieses Jahrhunderts durch einen religiösen Streit zwischen den Nachkommen von Pyramidenerbauern und Baumbeschneidern verur sacht?« »Nein«, erwiderte er. Sein Lächeln war verschwunden. »Obwohl es kleinere Auseinandersetzungen gegeben hat, bei denen die Führer des einen Gott -Staates ihre Sklaven gegen die Sklaven eines anderen Gott Staates in den Kampf schickten, kooperieren doch alle Regierungen der Welt miteinander, mit dem Zie l, ihre Machtstrukturen zu erhalten und jeden zu vernichten, der die Notwendigkeit des Staates oder die Existenz 152
ihres Gottes in Frage stellt. Warum haben Atheisten und Anarchisten...« »Ich danke Ihnen, Tom«, sagte die Moderatorin. »Das war Tom Russel von der St.-Jude-...« »Judas!« »... Kirche, dessen Buch >Der Gottesstaat< eben erschienen ist. Wir setzen in wenigen Minuten unser Programm mit Roger Merthon fort, der Ihnen erklären wird, wie man junge Hunde färbt, ohne ihnen Schaden zuzufügen.« Das Bild wechselte, und ich schaltete eine Station weiter. Die Verschwörungstheorie hatte ich schon gehört. In der Ausübung meines Berufes hatte ich schon selbst dergleichen in Umlauf gebracht. Wie bei allem, gab es Beweise dafür und Beweise dagegen. Wenn er recht hatte und die >Gott-Staaten< herausfanden, was ich zu tun beabsichtigte, würde es mir schwerfallen, die nächsten paar Atemzüge zu überleben. Regierungen lassen nicht mit sich spaßen. Sie heuern Leute wie mich an, die in aller Stille und ohne vorherige Warnung zuschlagen. Wie die Eule, die um Mitternacht auf ihr Opfer herabstößt. Regierungen lieben Geheimnistuerei. Religiöse Verbände ebenfalls. Irgendwo war da ein Hinweis, was ich unternehmen mußte, aber mein müdes, altes Hirn war durch den Fernsehschirm abgelenkt. Ich hatte Lust auf einen Drink und griff nach der Schublade im Nachttisch. Dann fiel mir ein, daß ich beim Trinken gern nette Gesellschaft hatte. Ich hob den Hörer ab und wählte Anns Zimmernummer. Sie würde in zehn Minuten da sein, sagte sie. Ich legte auf und vertrieb mir die Zeit damit, einem Doktor-Typ auf dem Bildschirm zuzuhören, der behauptete, seine Droge sei besser als alle anderen. Als wenn die beste Droge der Welt nicht bereits erfunden wäre: Fernsehen mit seiner hypnotischen Ausstrahlung ... 153
Gehirne betäuben... Über Satelliten... Ann klopfte an die Tür. »Ich bin fertig«, rief sie. »Ich habe mich schön gemacht und hoffe, du wirst den richtigen Rahmen für ein nettes Abendessen finden, Dell.« Rahmen... Ausstattung... Dosierung... »Ann!« rief ich, fast schreiend, und sprang zur Tür. »Ich habe es!« »Was?« fragte sie, als ich die Tür aufriß und sie hinter mir zuschlagen ließ. Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, in dem sie aussah wie eine von Sonnenlicht gekrönte Feuergöttin. Niemand in der Halle drehte sich auch nur nach ihr um. Ich hätte sie alle für Eunuchen oder noch Schlimmeres gehalten, wenn ich nicht gewußt hätte, wie sie auf Gaffer reagierte. Ich ging neben ihr her und überlegte mir, ob ich sie einweihen sollte und wie weit. »Ich habe herausgefunden, wie ich Gott töten kann.« Sie hielt mitten im Schritt an, zögerte kurz und ging weiter. »Okay«, sagte sie. »Ich werde dir helfen. Das weißt du.« »Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest. Hier, schau mal.« Ich übergab ihr einen Bogen Hotel-Briefpapier, auf dem ich mir Notizen gemacht hatte. »Das ist nur ein Teil von dem, was ich brauche. Ich habe noch nicht alle Einzelheiten ausgearbeitet.« Sie sah sich die Liste mit der Intensität eines Rechnungsprüfers durch und las dann laut vor: »Mescaline, Psilocybin, LSD 25, THC, STP, BZ, DMT das erinnert mich an meine Schuljahre - Tryptophan, Vasopressin, ein starker Nervenlähmer, VideoSat Synchronsatelliten - was ist denn das? - eine Weltraumrakete, eine Werbeagentur - was willst du denn mit all dem anfangen?« »Das weiß ich noch nicht genau«. Wir bogen um die 154
Ecke und gingen auf die Cocktail-Bar des Hotels zu. »Ich weiß aber, daß ich Gott töten kann, wenn ich genügend religiöse Werke lese, die Drogen dazu verwende, mein Gehirn entspannen und den Nervenlähmer auf die Gehirne der anderen ansetze.« Ich fischte nach einer Zigarette. »Und dann?« »Dann brauche ich eine Methode, meine Gedanken auf sie zu projizieren. Eine Art Sender. Eine Art...« »Wo seid ihr zwei Fickvögel denn gewesen?« ertönte die Piepsstimme von Isidore Volante. »Ich habe euch überall gesucht.« Sie holte uns ein. Ich blickte sie an, klopfte die Zigarette auf meinem Handrücken fest und schob sie lächelnd in den Mund.
13 Ich rief so viele Werbeagenturen an, bis ich beide Ohren mit Sprüchen über Plastikwaren und Haushaltsartikel voll hatte. Nur einige wenige von ihnen schienen die Originalität und Fantasie zu besitzen, die über Plakate und Handzettel hinausging. Diese bestellte ich mir in mein Büro im Union-Bank-Gebäude. Um sie dazu zu bewegen, ins alte Stadtzentrum zu kommen, erwähnte ich die Riesensummen, die ich bereit wäre, für meine Werbekampagne auszugeben. Danach äußerte keiner mehr moralische Bedenken über das Thema des Werbefeldzugs. Eine Woche später hatte ich ein Dutzend von ihnen in meinem Büro versammelt. Ann saß in einer Ecke und beobachtete, wie sie sich präsentierten. Dunkle Halbmonde der Erschöpfung hingen unter ihren Augen. Sie hatte mir angeboten, Geld für die Werbung aufzutreiben, in dem sie nachts im Auberge-Kasino hohen Poker spielte an den Tischen mit unbegrenztem Einsatz. Sie war müde und gereizt. Der erste Werbemensch holte eine illustrierte Tafel aus 155
seinem Kunstleder-Portfolio. Sein Gesicht hätte man auf einen Axtstiel setzen und zum Holzhacken verwenden können. »Dies hier ist ein erstes Konzept unserer Vorstellung von dem, was Sie uns am Telefon mitteilten«, sagte er mit unerwartet tiefer Stimme. Ich steckte mir eine Zigarette an und betrachtete das Plakat, das er hochhielt. Es war in den fröhlichen Farben einer Waschseifenreklame gehalten. Du fühlst keine Schuld und keine Not am Ersten des Jahres bei Gottes Tod »Zu viele Worte«, sagte Ann und lehnte sich müde zurück. »Aber in diesem Konzept sind alle Elemente enthalten, die Sie wünschten - Gottes Tod und das Datum seines Ablebens.« »Es ist eine Rasiercreme-Reklame, keine philosophische Stellungnahme. Und ich könnte weit bessere Verse mit einem Vorschlaghammer schreiben.« »Sie können den Massen keine Philosophie verkaufen«, sagte er und nahm sein Portfolio wieder an sich. »Mit Ihnen gewiß nicht«, sagte Ann. Der Mann hatte ihr bereits den Rücken gekehrt und sich auf den Weg gemacht. »Der Nächste«, sagte ich. Einer in der Gruppe schluckte hart und verließ den Raum, ohne uns sein Konzept zu präsentieren. Ein anderer machte sich nicht die Mühe, aufzustehen und hielt mir nur seinen Zeichenblock vor. Dort stand in blauen Buchstaben auf grauem Hinter grund: Gott ist nicht tot Noch nicht »Nicht schlecht«, äußerte ich mich. 156
»Es ist negativ«, sagte Ann halb gähnend. »Was wir brauchen, ist eine positive Erklärung, daß Gott sterben wird. Und das Datum.« »Gehört die zu Ihnen?« fragte der Werbemensch. »Raus.« Als nächste meldete sich eine Frau zu Wort. Sie war mittleren Alters, klein und rundlich. Dick konnte man keinen nennen, der ein so fröhliches Gesicht machte. Sie trug eine Männerbrille, durch die sie mich erwartungs voll ansah. »Sie wollen also den Leuten beibringen, daß Gott tot ist«, sagte sie lächelnd. In ihrer Stimme klang ein europäischer Akzent mit. Einem Pappzylinder entnahm sie einen großen Poster, den sie aufrollte. »Das wird den Leuten in die Augen stechen.« Der Poster zeigte das in Wasserfarben gemalte Bild eines am Galgen hängenden menschlichen Skeletts. Auf seiner Schulter hockte das winzige Skelett einer Taube. Darunter stand in leuchtend gelben Buchstaben: Das Jahr des Herrn 2000 findet nicht statt Die Frau lächelte fröhlich. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß sie für sämtliche Kinder in ihrer Nachbarschaft Kekse buk. Wahrscheinlich hatte sie auch einen hübschen Blumengarten vor dem Haus. Ann räusperte sich und sagte so schonend wie möglich: »Es ist sehr hübsch, aber - um - doch etwas unverständlich. Es geht über die Köpfe der Leute hinweg.« Die Frau lächelte ergeben und rollte ihr Aquarell zusammen. »Man kann nicht immer Erfolg haben«, sagte sie beim Hinausgehen. »So ist das im Leben. Ciao.« Sie winkte uns zu und schloß leise die Tür hinter sich. Eine große, dunkelhaarige Frau kritzelte abwesend mit einem Buntstift auf ihrem Zeichenblock. Sie sah zuerst mich an, dann Ann, und fragte: »Über wessen 157
Köpfe wünschen Sie nicht hinwegzugehen?« Ihre Stimme war tief und kühl, wie trockener, eisgekühlter Wein. »Wir wollen alle ansprechen«, sagte Ann. »Unsere Idee bis zur Übersättigung anbringen. Wir wollen Menschen ansprechen, die rationellen Argumenten nicht zugänglich sind, die man emotionell anpacken muß. Leute wie Analphabeten und Intellektuelle.« Die Frau begann mit schnellen Strichen zu zeichnen. Das Licht fiel auf ihr dunkles Haar, das stellenweise kupferfarben aufblitzte. Während sie zeichnete, sprach sie weiter. »Wir sollten am besten einfache Formulierungen und Symbole anwenden. Symbole sind besonders wichtig. Die meisten Leute können nicht lesen. Jetzt sagen Sie mir genau - welche Ideen wollen Sie anbringen?« »Wir wollen die Leute davon überzeugen, daß Gott am ersten Tag des Jahres zweitausend sterben wird.« Mit schnellen, präzisen Bewegungen skizzierte sie eine Inschrift auf der oberen Hälf te des Blattes. Einige der anderen Werbeleute lehnten sich hinüber, um ihr zuzusehen. Einer sammelte mit einem Seufzer seine Muster ein und verschwand. Als die Frau fertig war, betrachtete sie einen Moment lang ihr Werk und zeigte es Ann. Ann lächelte. »Wie könnte ich so etwas zurückweisen?« sagte sie. »Dell?« Die Frau drehte den Block so, daß ich die Skizze sehen konnte. Rote, scharfwinklige Buchstaben blitzten mir entgegen: Am ersten Tage des Jahres 2000 wird Gott sterben Ich nickte zustimmend. Die Frau bot ihren Kunden genau das, was sie wollten. »Was ist das für ein Ding da unten?« Ich wies auf eine Zeichnung, die eine Wolke oder die Seitenansicht eines Wasserfalls darstellen mochte. »Unser visuelles Symbol. Für die Druckfahne nehmen wir das Original.« 158
»Aber was soll das sein?« Es sah einem brennenden Haus ähnlich. »Michelangelos Gemälde von Gott in der Sixtinischen Kapelle. Fast jeder in der judeo-christlichen Welt bringt dieses Bild mit Gott in Verbindung, selbst wenn er Ihn sich anders vorstellt.« »Und was haben Sie hier eingezeichnet?« Sie blickte stirnrunzelnd auf das eingekreiste X. »Das ist das Fadenkreuz eines Zielfernrohrs«, sagte sie. Ich drückte meine Zigarette aus und dankte den anderen dafür, daß sie sich herbemüht hatten. Als sie gegangen waren, fragte ich: »Für wen arbeiten Sie, Schätzchen?« »Ich arbeite für die McGuinne Corporation. Und mein Name ist Kathleen, nicht Schätzchen.« Ich spürte, daß dies der Anfang eines prächtigen Ar beitsverhältnisses war.
14 Das riesige Reklameschild, das am Sunset Strip nach Westen hin aufgestellt war, war von Kings Road bis hinauf zu den oberen Stockwerken an der La-CienegaKreuzung deutlich sichtbar. Der Mann auf dem Gerüst bemalte gerade den letzten Buchstaben des letzten Wortes. Als er fertig war, wurde das Gerüst langsam heruntergelassen. Er stieg ab und sammelte seine Pinsel und Farbtöpfe ein. Wahrschein lich glaubte er, das Ganze sei eine Filmreklame. Hätte er geahnt, daß Tausende von Leuten wie er überall auf der Welt das gleiche Schild in Hunderten verschiedener Sprachen bemalten, hätte er wohl etwas anderes ver mutet. Ann betrachtete das Schild mit verschränkten Armen. 159
Sie trug ein blaues Kostüm, das ihr goldenes Haar besonders zur Geltung brachte. Unten rechts auf dem Schild war eine Reproduktion von Michelangelos sixtinischem Gemälde von Gott. Adam hatte man weggelassen. Gott deutete mit dem Finger auf den Sunset Boulevard. Sein Kopf war übermalt mit dem Fadenkreuz eines Zielfernrohrs. Die Fäden kreuzten sich genau über seiner linken Schläfe. Darüber, in grellroten Buchstaben, die den größten Teil der Fläche einnahmen, stand unser offizieller Slogan: AM ERSTEN TAGE DES JAHRES 2000 WIRD GOTT STERBEN »Und du glaubst, daß es niemand ernst nehmen wird«, sagte Ann, sich mit dem Fin gernagel übers Kinn streichend. »Nimmst du etwa Zigarettenwerbung ernst?« Wir standen auf dem Gehsteig neben dem Roxy. Der im Vergleich mit dem Schild winzig aussehende Maler war hinter der riesigen Tafel verschwunden. Ein paar Minuten später sank das Gerüst zu Boden. Das letzte Wort, auf dem die Farbe noch feucht war, leuchtete in der Nachmittagssonne wie frisches Blut, das eben anfing zu trocknen. Wir gingen hinüber zu meinem Chrysler, der in der Olive Street geparkt war. »Es dient zweierlei Zwecken«, sagte ich. »Zunächst deckt es unsere Tätigkeit ab, weil kein Mensch an eine Verschwörung glaubt, die nicht geheimgehalten wird. Zweitens prägt es den Leuten den Gedanken ein, daß Gott sterben wird. Es ist alles ein Teil des >Rahmens<, den Pater Beathan bei Anwendung solcher Methoden für notwendig hält.« »Und drittens bleiben dir noch genau fünf Monate, um deinen Plan auszuführen«, sagte sie mit einem Seufzer. Es klang wie der Wind, der durch die Baumkronen 160
streicht. »Ich hoffe nur, daß uns bis dahin niemand auf die Schliche kommt.« »Niemand ist Hitler auf die Schliche gekommen, obgleich er seine Absichten offen proklamierte.« »Aber denke daran, was zum Schluß mit ihm geschah.« Hinter uns ertönte eine Stimme: »Hitler machte den Fehler, das Glückssymbol des Hakenkreuzes umzudrehen, womit er von vorneherein seine Niederlage besie gelte.« Es war eine besonders schöne Stimme. Ich drehte mich um und stand Auge in Auge mit Thomas Rüssel. »Ich habe gewartet, bis die Tafel fertig war«, sagte er. »Wollen Sie aus dem Jahrtausendfieber Kapital schlagen?« »Warum Fieber?« fragte ich. Ich schloß die Tür wieder und lehnte mich an den Wagen. »Weil runde Zahlen mystischen Einfluß auf die Menschen ausüben.« Ich sagte nichts und sah ihn nur an. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Wollen Sie die Sache wirklich durchführen? Planen Sie noch immer, Ihn zu töten?« »Kein Mensch glaubt an eine offene Verschwörung«, sagte Ann, beißend wie Selbstgebrannter Wodka. »Du hast uns, glaube ich, noch nicht vorgestellt.« »Tom Rüssel, Student der Theologie und Autor. Ann Parrine, Buchhalterin.« Beide gaben ein paar höfliche Laute von sich und wandten sich wieder mir zu. Ich schwieg. Dann sagte Tom: »Sie haben sich eine Methode ausgedacht, nehme ich an.« Ich lächelte ihn stumm an. Einen Moment später lächelte er zurück. »Okay, Sie wollen es mir also nicht sagen. Es kommt gar nicht darauf an, was Sie Gott antun. Menschen werden sich immer wie gemeine Hunde benehmen - oder auch 161
nicht - wie es ihnen gerade in den Kram paßt. Ohne Gott haben sie lediglich eine Wegleuchte weniger und einen Grund weniger, ihre Missetaten zu bereuen.« »Oder einen Grund mehr, sie zu rechtfertigen«, sagte ich. Ich öffnete Ann den Schlag und ließ sie einsteigen. »Und einen Anführer weniger, dem sie gehorchen müssen.« »Sie können mit Gott machen, was Sie wollen«, sagte er, als ich ebenfalls ins Auto stieg. »Die meisten Menschen haben das ohnehin getan. Das ändert nichts. Mit Reklame und Werbung können Sie nicht an alle Menschen herankommen. Und sie müssen an alle herankommen.« »Das werde ich auch tun«, sagte ich. »Keine Sorge.« »Ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Aber wie wollen Sie es anstellen?« Ich ließ die Frage in der Luft hängen. »Los, Fritz«, sagte ich zu meinem Wagen und ließ den Motor an. »Das hier«, erklärte der Mann im weißen Laborkittel, »ist ein Thetawellenverstärker.« Er sah aus wie ein kleiner Berg oder ein übergroßer Handball mit rotem Haar und Bart. »Wir haben das Gerät hier bei >Peripherals< im Laufe der letzten zehn Jahre entwickelt.« Die Vorgeschichte interessierte mich nicht. »Können wir bitte zum Verkaufsgespräch kommen?« Er räusperte sich lange genug, um sich ein Stück Twinkie-Gebäck in den Mund zu schieben. Dann wischte er sich die Hände an seinem Laborkittel ab und wartete einen Augenblick, bis er die Kehle frei hatte. »Der Thetawellenverstärker kann das Volumen der Hirnwellen in der Region von vier bis acht Hertz verstärken, der Region der Träume und der Kreativität, während das Volumen in den Delta- und Alpha-Frequenzen gleich bleibt.« »Gekauft.« »Wie bitte?« 162
»Ich sagte >gekauft<. Wenn Sie nichts dagegen haben, gebe ich Ihnen jetzt eine Anzahlung und Anweisungen bezüglich der Lieferung.« »Ja - natürlich«, sagte er. Es war zweifellos der schnellste Deal, den er je getätigt hatte. »Wozu brauchen Sie die Apparatur eigentlich?« »Für eine zwölfjährige telepathische Nutte auf dem Babystrich.« Er blinzelte mich verdutzt an und nahm sich schnell noch ein Twinkie, wobei er, ohne es zu bemerken, den Teller vom Tisch stieß. »Jetzt spiele ich seit einer Woche unaufhörlich Poker«, sagte Ann, als wir zum alten Stadtzentrum zurückfuhren. »Wäre es nicht einfacher, eine Bank auszurauben?« »Nur, wenn wir uns gleichzeitig eine Raumfähre unter den Nagel reißen können.« »Wahrscheinlich könnte ich George eine abgewinnen.« Sie lehnte sich müde in ihrem Sitz zurück und schloß die Augen. »George?« fragte ich, nur mit halbem Ohr hinhörend. »Er ist einer der Pokerspieler im > Casino of the Angels <. Er hat die StratoDyne Corporation von seinem Vater geerbt und gibt sich die größte Mühe, sein Vermögen zu verspielen.« Ich murmelte etwas, nur um zu zeigen, daß ich ihr zuhörte, und bog von der Schnellstraße in die Temple Street ab. »Wenn ich heute abend meine Karten richtig ausspiele, könnte ich unter Umständen den Mehrheitsanteil seiner Firma gewinnen.« »Wir brauchen keine Firma«, sagte ich. »Wir brauchen Cash.« »Ich dachte, du wolltest eine Raumfähre haben.« »Die auch.« »Na also«, sagte sie. »StratoDyne baut Raumfähren.« Unwillkürlich drückte ich das Gaspedal herunter und 163
trat dann hart auf die Bremse. Der Wagen vor uns hupte und entfernte sich schleunigst. Ich starrte zu Ann hin über. »Raumfähren?« »Na ja, soweit erst eine.« »Mehr brauchen wir nicht. Und du kannst ihn beim Poker schlagen?« »Der Kerl zieht noch eine Karte, wenn er ein volles Blatt in der Hand hat.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen.
15 Wir erreichten die Auberge, als es zu dämmern begann. Die ersten heißen Winde des Jahres bliesen von Santa Ana her nach Westen über die Hügel in Richtung Santa Monica. Die Brise wirbelte Straßenstaub und Papierfetzen auf und wehte sie wie tanzende Geister durch die Straßen und über die Boulevards. Ann und ich passierten die Sicherheitskontrolle am Eingang und gingen auf unsere Zimmer. Ich machte mich frisch, was etwa eine Stunde in Anspruch nahm, und als ich das >Casino of the Angels< betrat, war sie bereits am Werk. Sie trug ein schillerndes, smaragdgrünes Kleid mit einem Seitenschlitz und saß an einem der Poker-Tische, an denen um unbegrenzte Einsätze gespielt wurde. Ein paar Gesichter kamen mir bekannt vor. Leute, die hoch spielten. Ann schien sie alle aufs Kreuz zu legen. »Verdammte Scheiße«, rief ein hagerer, dunkelhaariger Mann aus und warf seine Karten auf den Tisch. Er stand auf, um den Tisch zu verlassen, überlegte es sich und setzte sich wieder. »Noch eine Runde«, sagte er. »Eine einzige.« Das mußte George sein. Ann lächelte ihm zu. Sie sprach kein Wort. Ihr Lächeln drückte deutlich genug aus, was sie dachte: Trottel. Die anderen fünf Herren waren geteilter Meinung. 164
Zwei von ihnen schienen bester Laune zu sein, während die anderen drei so sauer wirkten wie abgestandene Zigarrenasche. Einer der Gutgelaunten, ein rundlicher älterer Herr mit großer Nase, verteilte die nächste Hand. Ann strich ihr Haar zurück, nahm ihre Karten auf und hielt sie sich dicht vor die Brust, die ohnehin den Blick der herumstehenden Lustmolche auf sich zog. Die Einsätze kamen langsam, bis auf den des dunkelhaarigen, hageren Mannes, der nervös und gedankenlos setzte. Er stürzte sich verzweifelt ins Spiel. Die aufgestapelten Jetons neben Ann reichten ihr bis zur Schulter. Dutzende von Stapeln. Ich steckte mir eine Zigarette an und trat an den Tisch. Ann ließ sich zwei Karten geben und erhöhte, als die Reihe an sie kam. Die drei Mißmutigen schieden daraufhin sofort aus. Der Rundliche, sowie ein magerer, älterer Herr mit feinem Lächeln blieben im Spiel, in der Hoffnung, das Glück würde sich gegen Ann wenden. George blieb ebenfalls drin und warf wütend seinen Einsatz auf den Tisch. Sein dunkles, gewelltes Haar hing ihm in die Augen - Augen, so wild wie die einer in die Ecke getriebenen Katze. »Ich halte mit«, sagte er, nachdem zweimal erhöht worden war. Er warf seinen Einsatz auf den Tisch. Ann deckte ihre Karten auf. Drei Damen. Der Hagere knirschte mit den Zähnen und warf seine Karten weg. Zwei Paare und ein As. Die zwei anderen Spieler schüttelten die Köpfe und legten ihre Karten ab, ohne sie zu zeigen. »Das Glück ist heute auf Ihrer Seite, meine Liebe«, sagte der Dicke. Ann lächelte nur. Der Hagere war an der Reihe auszuteilen. Er nahm die Karten und mischte sie, als wolle er mit Gewalt das Glück in sie hineinhämmern. Ann blickte sich im Zimmer um, sah mich und lächelte. Sie schien mit den Augen zu zwinkern, aber vielleicht kam es mir nur so vor. Dann nickte sie George aufmunternd zu. 165
George teilte eine Runde aus. Ann ließ sich nach dem ersten Einsatz drei Karten geben und schied aus. Einer der drei Mißmutigen, die aussahen, als seien sie soeben aus Sizilien eingetroffen, gewann die Runde, worauf sich seine Stimmung sichtlich besserte. George ballte die restlichen Karten in der Faust zusammen. Seine rechte Hand, die auf der Tischkante lag, zitterte. Dann schob er sie vor und mischte. »Eine Runde Stud Poker«, sagte er verbissen. Er teilte verdeckte Karten, dann die erste offene. Ann orientierte sich mit einem schnellen Blick. Der Dicke hatte einen König. »Ich bin draußen«, sagte sie. Die Finger von George verkrampften sich. Unter erstauntem Gemurmel der Zuschauer wurde die Runde ausgespielt. Es war allen klar, daß Ann nach ihrem Ausscheiden zwar nicht gewinnen konnte, aber auch nicht viel verlor. Bei der letzten Erhöhung hatte der Dicke alle vertrieben, außer George. Der junge Mann hielt mit. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Der Dicke hatte vier Karo offen. Eine mögliche Sequenz. George hatte ein Paar schwarze Damen. Der Dicke strich sich lächelnd über sein schütteres blondes Haar und drehte seine verdeckte Karte um. Ein König. Pik. Er lachte und rückte vom Tisch ab. Der junge Mann drehte seine verdeckte Karte um und rief fast schreiend: »Drei gleiche!« Er streckte die Hand aus, um seinen Gewinn einzustreichen. »Moment mal«, sagte Ann. Ebensogut hätte sie versuchen können, mit einem Stück Seidenpapier ein Nashorn aufzuhalten. »Sehen Sie sich doch Ihre Karten richtig an«, sagte sie zu dem Dicken. »Das ist doch keine verpfuschte Sequenz, was Sie da haben.« »König, As, Bube, Zehn und...« Er blickte zu dem äußerst beschäftigten jungen Mann auf der anderen Tischseite hinüber. Die anderen Spieler betrachteten interessiert die Zimmerdecke oder ihre Fingernägel. »Dame«, sagte er. 166
»Sie waren so eifrig damit beschäftigt, ihn aus dem Spiel hinauszubluffen, daß Sie die Sequenz, die Sie in der Hand hatten, gänzlich übersahen«, sagte Ann. Der alte Herr sah sie an und nickte leicht benommen. »Ich habe wirklich gewonnen.« Es klang, als sei das für ihn ein seltenes Ereignis. Er lächelte breit. Ich stellte mich hinter George und räusperte mich. Er sah sich um. »Eine Sequenz bis zum As schlägt drei Damen«, sagte ich freundlich. Ein hilfsbereiter Mitmensch. Die Augen, die er zu mir aufschlug, hatten die Farbe schlammigen Wassers. »Er hat sein Blatt nicht deklariert.« »Braucht er auch nicht. Die Karten sprechen für sich selbst.« Seine rechte Hand zuckte nervös. Dann schob er die Jetons von sich. Wortlos mischte er die Karten. Der Spieler zu seiner Rechten hob ab, und er teilte. Wieder eine Runde Stud. Anns offene Karte war ein As. »Ich eröffne mit einem Paar Assen«, sagte sie mit zuckersüßem Lächeln. Vielleicht glaubte man ihr, vielleicht auch nicht. Ich persönlich glaubte fest an eines: Sie konnte Poker spielen. Ein Weib, das sich auf etwas so Halsabschneiderisches einläßt, wie eine Pokerpartie mit Männern, die sich am liebsten gegenseitig die Leber herausreißen würden, hat man gern auf seiner Seite. Zwei der Sizilianer erhöhten in der nächsten Runde. Der dürre alte Herr schied aus, erhob sich und ging in die Bar. Der Dicke kratzte sich die Nase, runzelte die Stirn und hielt mit. George sah sich seine verdeckte Karte an und erhöhte. Er tat mir fast leid. Ann hielt mit und sagte: »Okay, es war ein Bluff.« Sie gab sich so besorgt, wie sie konnte. Ich fragte mich, was für ein Blatt sie wirklich hatte. Jedesmal, wenn einer der Spieler sie ansah, kehrten seine Augen mit einer Art träumerischen Blick zu seinem eigenen Blatt zurück. So wirkte sie auf Männer. Es half ihrem Spiel. Bei der dritten Erhöhung war noch kein einziges Paar 167
offen. Ann parolierte. Die drei Ausländer schieden aus und begannen sich zu unterhalten. Der Dicke parolierte ebenfalls. Der dunkelhaarige junge Mann knirschte mit den Zähnen und erhöhte weiter. Sehr hoch. Ann erhöhte nochmals. Erheblich. »Vielleicht habe ich keine Asse«, schnurrte sie, »aber...« Das Ende des Satzes blieb in der Luft hängen wie zarte Damenwäsche auf der Leine. Der Dicke schürzte die Lippen, prustete wie ein Pferd und schied aus. Der einzig übriggebliebene Spieler strich sich das verschwitzte Haar aus den Augen. Ich griff an ihm vorbei und drückte meine Zigarette in seinem Aschenbecher aus. »Ich würde Ihnen raten auszuscheiden«, sagte ich leise. »Dann glaubt sie, daß Sie das Spiel beherrschen.« »Ich brauche kein - ich kann nicht. Es ist...« Er sog in kurzen, heftigen Atemzügen die verrauchte Luft ein. Manche Leute sollten eben nicht Poker spielen. Ich trat zurück und sah zu, wie er weiter erhöhte. Ann warf gleichmütig ein paar Jetons auf den Tisch und sagte: »Ich bin drin.« Dann lehnte sie sich zurück und wartete darauf, ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Er verteilte die Karten. Sie bekam eine Zehn zu ihrem As und zwei andere kleine Karten. Er bekam die Pik -Dame zu seinem Karo König, Karo Zehn und Karo Fünf. Anns Lippen spitzten sich zu einem enttäuschten Schmollen. Sie sah sich ihre verdeckte Karte an und ließ die Schultern sinken. »Parole«, sagte sie teilnahmslos. Georges Augen leuchteten auf. Er blickte auf die Einsätze in der Mitte des Tisches, dann auf das kleine Häuflein Jetons vor ihm. Er schob die Hälfte davon in die Mitte. Die Zuschauer drängten sich um den Tisch. Ann starrte gleichmütig ins Leere, bis George seinen Einsatz deponiert und die Hand zurückgezogen hatte. Dann grinste sie ihn an und schob einen Stapel Jetons in die Mitte. »Ich erhöhe«, sagte sie. Der junge Mann reagierte, als 168
hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. Jetzt hatte sie ihn. Ich konnte mir genau vorstellen, welches Blatt jeder von ihnen in der Hand hielt. Er schob seine restlichen Jetons in die Mitte und senkte den Kopf. »Ich kann Ihnen einen Scheck ausstellen«, murmelte er. Der alte Herr schüttelte bedauernd den Kopf und flüsterte ihm zu: »Sie kennen doch die Regeln, Junge. Keine Schecks oder Schuldscheine. Und kein Kredit.« Ann sagte gar nichts. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Sie sah ihn kühl an und wartete ab. »Ich...« Er blickte sich um und sah, daß ihn alle beobachteten. »Ich habe ein paar Aktien. Auf meinen Namen.« Er zog Dokumente aus der Jackentasche. »Mehrheitsanteile. Ein Drittel davon dürfte den Einsatz decken.« »Geht in Ordnung«, sagte sie. »Sie werden es ja doch zurückgewinnen.« Das war brutal, dachte ich. Die Augen des jungen Mannes brannten wie Öl auf einem verschmutzten See. Lächelnd warf er fünf gefaltete Dokumente auf den Tisch. »Aufdecken«, sagte er und streckte die Hand aus, um seine verdeckte Karte umzudrehen.« »Erst erhöhe ich.« Ihre Augen klammerten sich ineinander wie zuschnappende Handschellen. Die Zuschauer standen stumm und unbeweglich wie ein Garten voller Standbilder. Der einzige, der nicht erstarrte, war George. Er begann zu zittern, sah auf die Dokumente, die ihm verblieben waren, und warf sie ebenfalls auf den Tisch. Ich hatte richtig Mitleid mit ihm. Aber Mitleid hat keinen Platz beim Pokerspiel. Ebensowenig wie Narren. Nachdem der Einsatz bezahlt war, drehte e r seine verdeckte Karte um. Ein Paar Könige, wie sie erwartet hatte. Kraftlos ließ er seine Hand von der Tischkante gleiten und in den Schoß fallen. Alles starrte auf Anns verdeckte Karte, als könne bloße Willenskraft sie hochheben. Aber sie blieb liegen, bis Ann die Hand ausstreckte 169
und sie umdrehte. Ein As. Ein Karo-As zu dem Herz-As, das bereits offen dalag. Der Dicke lachte und blickte den Verlierer an. Sein Lachen verschwand, als er sah, daß der junge Mann eine Pistole auf Ann gerichtet hielt. Dann drückte er ab. Ich reagierte so schnell ich konnte. Ich schloß die Hände zu einer doppelten Faust und schlug ihn mit voller Kraft auf die rechte Schulter, einen Sekundenbruchteil nach dem Rückschlag der abgefeuerten Waffe. Er fiel vorwärts wie ein nasser Müllsack. Die Pistole schlitterte quer über den Tisch und blieb mit einer der scharfen Kanten am Stoffbezug hängen. Der Stuhl, auf dem Ann gesessen hatte, wies ein Loch auf. Sie selbst war verschwunden. Alles starrte den bewußtlosen Mann an. Ich sah mic h nach Ann um. Ich bemerkte sie erst, als ich ihre Jetons vom Tisch gleiten sah. Sie saß auf dem Boden und schaufelte die Jetons in eine große Nylontüte. Keiner schien sie zu beachten. Die Leute schienen durch sie hindurchzusehen. Ich ging zu ihr hinüber. Einer der Wächter drängte sich durch die Zuschauermenge. »Gratuliere«, sagte sie und reichte mir die Aktien. »Du bist jetzt Mehrheitsteilhaber in einer gescheiterten Raumfährengesellschaft.« George begann sich zu regen, als erwache er aus einem tiefen Schlaf. Der Wachmann nahm die Pistole vom Tisch und hielt sie locker in der Hand. Ann warf ihr Haar zurück und stopfte die letzten paar Jetons in die Tüte. Einige der Leute sahen mich an. Sobald ihre Blicke auf Ann fielen, wurden ihre Gesichter aus druckslos, und sie sahen schnell wieder weg. George rappelte sich auf und sah sich benommen um. »Du hast ihn ausgenommen wie einen Besoffenen«, sagte ich zu Ann. »Poker hat große Ähnlichkeit mit Mord, Dell. Manchmal muß man eben jemanden umlegen.« »Und Mord hat oft große Ähnlichkeit mit Poker. Man muß die Gedanken des Gegners erraten können. Ich kann 170
mir aber immer noch nicht erklären, warum du dich mit diesen Dingen abgibst. Nur weil man dich ein bißchen in die Mangel genommen hat? Das kann doch nicht der einzige Grund sein.« Sie sagte kein Wort, während sie ihre Jetons an der Kasse einwechselte. Der Kassierer schenkte Ann keinerlei Beachtung. Man hätte meinen können, daß hier jeden Abend auf Frauen geschossen wurde. Anns Gesicht war vor Aufregung gerötet. In ihren Augen schien ein warmes Licht, wie Feuer unter einer Eisdecke. »Es gibt sehr vieles, wofür ich mich revanchieren muß, Dell. Nicht nur dafür, daß man mich neulich durch die Mangel gedreht hat.« »Deine Eltern waren wohl bibelschwingende Fundamentalisten, oder?« Sie lachte gedämpft. »Nicht daß ich wüßte.« »Dann hast du einen ausgewachsenen Elektra-Komplex, den du dadurch zu unterdrücken suchst, daß du den Himmlischen Vater umbringst.« Diesmal brach sie in lautes Gelächter aus. »Wohl kaum«, sagte sie. Mit einemmal war sie so ernst, als hätte man ihr eine Ohrfeige versetzt. Sie sagte nichts weiter. Am nächsten Tag besuchten wir die Raumfährenfabrik.
16 STRATODYNE CORPORATION ALTERNATIVE TRANSPORTSYSTEME KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE! »Die geben sich aber große Mühe, das Geschäft zu beleben«, sagte ich, das abblätternde Schild am Tor 171
betrachtend. Auch von dem Tor selbst blätterte der Rost ab. Ein großes Vorhängeschloß hielt die Enden einer Kette zusammen, die man mit einer Schere hätte durchschneiden können. Ann griff mir ins Lenkrad und hupte. »Es besteht kein Anlaß für besondere Sicherheitsmaßnahmen«, sagte sie, »aber sie tun so, als ob.« Ein älterer Mann in der Uniform eines Wachmannes warf einen Blick auf die Karte, die Ann ihm vor die Nase hielt und nickte. Er schloß das Tor auf und schob es zur Seite. Wir fuhren einen Sandweg entlang und wirbelten genug Staub auf, um unsere Ankunft im Umkreis von Kilometern bekanntzugeben. Der Weg schlängelte sich durch eine enge Schlucht. Ein Wassertropfen klatschte auf die Windschutzscheibe wie ein wütendes Insekt. Die Staubwolken würden uns nicht mehr lange belästigen. Der Himmel verdunkelte sich und weitere Regentropfen explodierten im Straßenstaub. Ein aufgeschreckter Spatz hüpfte schimpfend aus dem Weg. Hinter der nächsten Biegung erweiterte sich die Schlucht. Vor uns lag das StratoDyne-Imperium: ein halbverfallenes Gebäude, etwa einen Hektar groß, ein Parkplatz von der gleichen Größe und eine Betonpiste, die durch eine schräge Betonmauer von dem Gebäude abgetrennt war. Eine Krähe flog über unsere Köpfe hinweg, bemüht, den Regentropfen auszuweichen. Sie landete auf dem Gebäude und duckte sich unter einen Stahlträger. Der einzige Laut in dem kleinen Tal war das Pladdern des Regens. Ich legte den Gang ein und fuhr auf das Gebäude zu. Die Besetzung des Parkplatzes verdoppelte sich durch unsere Ankunft. Der einzige andere Wagen, der dort geparkt war, war ein dreißig Jahre alter Buick mit mehr Rost als Farbe. Der Regen spülte ihm den Staub in kleinen Bächen an den Seiten hinunter. Wir stiegen aus und rannten auf die Bürotür zu. Sie stand halb offen, und innen brannte Licht. Es fing an zu gießen, als sei es das Ende der Welt. Ann schloß eiligst die Tür hinter uns. 172
Das Büro war leer. Leere Stühle standen vor nackten Schreibmaschinen. Ablegekästen für Dokumente standen auf den Schreibtischen herum wie hungernde Tiere, die darauf warteten, gefüttert zu werden. Weit weg spielte ein Radio leise die längst vergessene Melodie einer längst vergessenen Rock-Band. Die Uhr an der Wand ging eine halbe Stunde nach. Jemand hatte ein Poster der NASA-Raumfähre mit spitzen Bleistiften beworfen, die dort steckengeblieben waren. Ich blickte fragend zu Ann hinüber. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Gehen wir der Musik nach?« Ich nickte. Wir gingen durch die Hintertür und kamen in die Montagehalle. Etwa ein Hektar. Ich hatte schon Tennishallen gesehen, die erheblich größer waren. An verschiedenen Stellen waren Zwischenwände aufgehängt, und aufgestapelte Materialien versperrten uns die Sicht über die gesamte Halle, aber wenn man zur Decke hinaufsah, konnte man die Länge der Halle abschätzen. Wir gingen auf die Mitte zu. Dort stand es auf seinem Fahrwerk - weiß und glitzernd und graziös. Es sah aus wie eine Taube von der Größe eines Flugzeugs, die Flügel nach hinten gestreckt, bereit zum Abheben. Hoch über uns war die Pilotenkanzel, ein Ding mit zahllosen Augen, die mit gleichmütiger Ruhe auf uns herabblickten. »Wie schön es ist«, flüsterte Ann ehrfürchtig. »Nichts als ein Stück Schrott«, sagte eine tiefe Stimme hinter uns. Wir drehten uns um und erblickten einen hochgewachsenen Mann in einem ölverschmierten weißen Overall. Er saß neben dem Radio, an einen Stapel Aluminiumstreben gelehnt, und hielt die Hände hinter dem Kopf ver schränkt. »Wieso Schrott?« fragte ich. Er erhob sich und sagte: »Der alte Geislinger hatte eine gute Idee. Preiswerte Raumfähren bauen. Dann über173
nahm George die Firma, als der Alte abkratzte, und begann Änderungen zu machen. Ja, natürlich sieht das Ding schön aus. Das Geld, das da hineingesteckt wurde, entzog man den anderen Projekten.« Er streckte sich. »Ich heiße Cranfield. Früher war ich Pilot von einigen Raumfähren des Alten, bis Georgie-Boy das Ganze übernahm und mich in die elektronische Abteilung steckte.« Er hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie. Sein Händedruck war fest, sein Lächeln offen und bescheiden. Sein gewelltes, schwarzes Haar kräuselte sich über dem Nacken. Ann und ich stellten uns vor. »Können Sie dieses Ding fliegen?« fragte ich. »Ich könnte es, wenn ich Selbstmordabsichten hätte. Alle regten sich schon auf, als der Alte entschied, daß doppelte und dreifache Kontrollsysteme nur Geldver schwendung seien. Er hätte es noch erleben sollen, als George die Stabilisierungsraketen abschaffen wollte, weil sie zu teuer waren. Daraufhin habe ich die Sache den Aktionären vorgetragen, und sie wurden beibehalten. Darum hat er mich dann hierher versetzt.« »Warum sind Sie geblieben?« »Finden Sie mal so schnell ein anderes Privatunternehmen für Raumfahrt. Da hat die Regierung mit ihrer Vereinigten Raumfahrt-Kommission einen Riegel vorgeschoben.« Politische Wissenschaften interessieren mich nicht. »Hätten Sie Lust, das Ding da bei einer Raumfahrt zu führen?« fragte Ann. »Nur wenn ein paar Änderungen vorgenommen werden.« Er betrachtete erst Ann, dann die Fähre. »Ich nenne sie >Starfinder<. Das klingt besser als X-97A.« »Was werden die Änderungen kosten?« fragte ich, als ich seinen verträumten Blick sah. »Nichts. Ich kann das selber machen, wenn Sie wirklich ernsthaft interessiert sind, sie fliegen zu lassen. Niedrige Umlaufbahn?« »Hoher Erdumlauf«, erwiderte ich. »Synchron mit den VideoSats.« 174
»Warum das?« »Um Gott zu töten«, sagte ich, als sei es ein Witz. Er runzelte einen Moment lang die Stirn und sah zum >Starfinder< hinauf. »Um wieder mal ins All zu kommen, würde ich auch Gott töten«, sagte er leise. »Wo ist der Rest der Besatzung?« fragte Ann. Sie strich mit der Hand über die Unterseite der Raumfähre. Eine der Ablativplatten löste sich und fiel ihr auf die Hand. »Auch das noch«, rief Cranfield. Er nahm die Platte und eilte an seine Werkbank. »George hat den Klebstoff billig eingekauft. Zu billig. Dieses Zeug hier ist besser.« Er beschmierte die Platte mit einer zähflüssigen Substanz, ging zur Fähre zurück und setzte sie vorsichtig an ihren Platz zurück. So liebevoll und vorsichtig, als würde er einer Geliebten ein Schönheitspflästerchen aufkleben. »Ja«, sagte er, als er fertig war. »Ich habe die Akten der gesamten Besatzung. Ich werde sie kommen lassen. Rechnen Sie mit einer Anlaufzeit von ungefähr fünf Monaten für Programmierung und Systemüberprüfung. Die Auftriebtanks sind noch in Quatemala. George hat sie nach dem letzten Start noch nicht abholen lassen.« »Wir brauchen auch ungefähr so lange, um alles vorzubereiten und die Ladung fertig zu machen«, sagte ich. »Dann wäre ja alles geregelt.« Er lächelte uns an, als hätten wir eben seine Mutter aus dem Gefängnis befreit. Als wir uns verabschiedeten, fragte er: »War es Ihnen ernst damit, daß Sie Gott töten wollen?« »Und Ihnen?« fragte ich ihn. Der Blick, den er uns nachwarf, war eher nachdenklich als erstaunt.
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17 Ann und Kathleen arbeiteten an unserer Werbekampagne und hatten mich fast völlig hinausgedrängt. Nac hts spielte Ann Poker und tagsüber verwaltete sie das gewonnene Geld. Sie schlief, wann immer sie sich ein paar Stunden freimachen konnte. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek im alten Stadtzentrum. Dort saß ich, eingepfercht zwischen alten Büchern und alten Pennern, und las bei trübem Licht über Religion, Drogen ESP, Psychologie... Für meine früheren Tötungsaufträge hatte ich immer trainiert. Gewöhnlich bestand das Training darin, mein Opfer zu beobachten und das Schema seiner Gewohnheiten und seines Tagesablaufs zu erlernen. Diesmal hielt sich das Opfer versteckt. Wenn es an der Zeit war, Ihn zu töten, würde ich Ihm begegnen, aber ich mußte mich auf jede Eventualität vorbereiten. Inzwischen verdiente ich mir meine Fünfhundert pro Tag, die Mr. Zacharias regelmäßig im Tresor des Casino Grande für mich hinterlegte. Offenbar gab es Kontrakte, die selbst er einhalten mußte. Es war schon Ende Oktober, als mir klar wurde, daß ich Hilfe benötigte. Ich hatte gerade das x-te Buch ausgelesen, das Werk eines Analphabeten, der behauptete, intime Kontakte mit dem Heiligen Geist zu haben, und erfahren, daß es der Menschheit vorbestimmt war, sich für immer und ewig von Weizenkeimen und Bohnenschößlingen zu ernähren. Ich schleuderte das Buch gegen den Stapel zu meiner Linken, worauf er umkippte und die Verrücktenliteratur über den schmierigen Tisch verstreute. Fast hätte ich den Bibliothekar geweckt, der einen Sack mit Gin-Flaschen als Kopfkissen benutzte. Endlich war mir aufgegangen, wo das Problem lag: Ich glaubte nicht an den ganzen Scheiß. Der Gedanke traf micht wie ein Faustschlag - mußte ich 176
an Gott glauben, um Ihn zu töten? Und wenn ich an Ihn glaubte, würde ich Ihn immer noch töten wollen? »Du könntest ja glauben, daß Er das Böse verkörpert «, schlug Ann vor, als ich ihr abends nach der Pokerpartie davon erzählte. Sie hatte heute den Gegenwert von etwa einem Kilo Gold gewonnen - ein schlechtes Ergebnis, wenn man bedachte, was die Werbekampagne kostete. »Aber wenn Er das Böse ist, muß auch irg endwo ein Gutes existieren. Zacharias ist es nicht.« »Du bist auf ein elementares theologisches Problem gestoßen. Aber mach dir keine Sorgen. So sehr man auch vorgeben mag, nicht an Gott zu glauben - tief in uns allen wurzeln immer noch die Spuren der Furc ht vor'dem Unbekannten. Diese Furcht bestärkt den Glauben an eine unbekannte übermenschliche Macht. Das, an was du glaubst, existiert tatsächlich und muß vernichtet werden.« »Ihr Buchhalter seid alle gleich«, sagte ich, sie betrach tend. Obgleich sie fünf Stunden lang in einem verrauch ten Zimmer am Kartentisch gesessen hatte, strahlte sie immer noch Frische und Energie aus. Sie spielte mit ihrem Champagnerglas und lächelte mir zu. »Vielleicht solltest du deinen Unglauben mal eine Weile an den Nagel hänge n. Nur zeitweilig.« Sie schien etwas verlegen, setzte sich aber darüber hinweg und sprach weiter: »Magische Zeremonien und Rituale sind genau das, was du jetzt brauchst, um die richtige Atmo sphäre zu schaffen.« »Magie? So etwas, was Zacharias mit der Kle inen angestellt hat?« »Nein.« Sie hörte auf, mit ihrem Glas zu spielen, und blickte mir ins Gesicht. »Was er aufgeführt hat, war eine christliche Ketzerei, die man Schwarze Messe nennt. Es ist auch ein magisches Ritual, aber nicht das, was ich meine. - Ich spreche von der uralten Zauberkraft, die Bridget praktiziert.« Ich starrte sie ungläubig an. »Hexen? Besenstiele und schwarze Katzen und Hexenkessel? Walpurgisnacht?« 177
»Ich glaube, du hast inzwischen schon genug darüber gelesen, um zu begreifen, daß das alles nur falsch verstandene Mythen sind. Ich bezweifle, daß Bridget überhaupt einen Besen besitzt, außer vielleicht für rituelle Zwecke .« Ich trank meinen Bourbon aus und starrte auf die Theke. Das war alles etwas zuviel für mich. »Ich hatte geplant, Ihn mit technischen Mitteln umzubringen.« »Erinnere dich an Bridgets Worte: >Zwei mächtige Kräfte müssen sich treffen und aufeinanderprallen<.« »Und das soll des Rätsels Lösung sein? Dann sollte ich es jetzt aus dem Ärmel ziehen, und du müßtest sagen: >Gut gemacht, Sherlock Holmes<.« Sie sah mir forschend in die Augen. Meine Antwort schien sie zu enttäuschen. Sie sagte: »Ob es nun des Rätsels Lösung ist oder nicht - die zwei mächtigen Kräfte, die aufeinanderprallen müssen, sind Gut und Böse. Die, die sich vereinigen werden, sind Wissenschaft und Zauberei. Die Wurzeln Gottes reichen tief in die Magie. Ohne sie wirst du Ihn niemals töten können.« Ich zuckte mit den Schultern. Warum sollte ich es nicht mal ausprobieren. Die Idee war nicht verrückter als alles, was ich bis jetzt in Angriff genommen hatte. »Also gut, Engelchen. Was habe ich schon zu ver lieren?« Sie blickte auf ihren Drink und gab keine Antwort.
18 »Machen Sie, daß Sie aus meinem Laden kommen«, waren Bridgets erste Worte. Die Schaufenster ihres Ladens waren noch immer mit Brettern vernagelt, und die Löcher in den Glaskästen mit aufgeklebten Pappstreifen verdeckt. 178
»Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte ich, mich umsehend. Über der beschädigten Ware hing ein kleines Schild: »Wir hatten nicht erwartet, von der spanischen Inquisition heimgesucht zu werden. Ausverkauf - alle Waren mit roten Klebern 50% ermäßigt.« »Ich habe Ihnen Ihre Nachricht übermittelt. Was wollen Sie noch?« »Ihre Hilfe«, sagte Ann. Sie bemühte sich, den Ein druck zu erwecken, als sei das, was sie vorbringen wollte, keine absolute Verrücktheit. »Meine Hilfe? Wobei? Bei einem unsinnigen Vorhaben? Bei Ihrem idiotischen Werbefeldzug?« Tolle Geheimhaltung, dachte ich. »Nein«, sagte Ann. Sie trat dicht an Bridget heran und sprach in leisem Ton auf sie ein. »Wir benötigen Ihre Hilfe, um Gott zu töten. Wir brauchen einen Bannfluch. Einen mächtigen Zauberspruch. Sie besitzen das Wissen. Sie haben die Macht. Helfen Sie uns.« Sie packte die Alte am Arm und starrte sie mit eiskaltem Blick an. »Es ist sinnlos, gegen Ihn anzukämpfen«, sagte Bridget, »wo Er die ganze Welt im Würgegriff hat.« »Es ist niemals sinnlos, zu kämpfen...« »Spielen Sie sich mir gegenüber nicht als Polyanna auf, Mädchen. Ich habe ganz andere Dinge überl...« »Und spielen Sie auch nicht mit mir.« Ann packte sie fester und kniff die Augen zusammen. »Die Zeit ist gekommen, wo wir zurückschlagen müssen. Es ist genug, fünftausend Jahre lang die Peitsche, den Strick und das Feuer ertragen zu haben. Lange genug haben wir uns im Dunkeln versteckt und uns gefürchtet, die Wahrheit auszusprechen. Wir haben zuviel Zeit damit verschwendet, zu leugnen, daß unsere Liebe größer ist als Sein Haß.« Bridget trat einen Schritt zurück. Ann ließ sie los. »Ich bin schon zu alt«, sagte Bridget leise. »Das ist Er, der aus Ihnen spricht und Sein Haß auf jede Wende, die die Zeit mit sich bringt. Ihr Alter bedeutet Weisheit, Ihre Langlebigkeit ist Stärke.« 179
»Alles Worte«, sagte Bridget und lehnte sich an den Tresen. »Wahre Worte. Magische Worte. Wir benötigen Ihre Worte.« Bridget schüttelte nur den Kopf. »Sehen Sie nicht, daß die Dame Ihre Hilfe braucht?« fragte ich. Sie blickte zu mir auf. Ihr Gesicht bekam wieder Farbe. Mit ihrer klauenartigen Hand stieß sie sich vom Tresen ab und stellte sich aufrecht vor mich hin. »Ich habe noch nie eine Bitte dieser Art verweigert«, sagte sie. »Ich habe von Ihm und seinesgleichen nichts zu befürchten. Ich war immer ein guter Mensch und habe Gutes getan, und mein Karma ist mir sicher. Ich liebe dieses Leben und freue mich auf das nächste. Ich werde Ihnen helfen.« »Bravo«, sagte ich. Ich steckte mir eine Zigarette an und warf das Streichholz in einen Weihrauchbrenner, der einen großen Sprung aufwies. »Hätten Sie sich gern mal an einer Raumfahrt beteiligt?« In der ersten Novemberwoche brachten wir eine Flut von Zehn-Sekunden-Werbespots im Fernsehen und erhielten gleich darauf die Rechnungen. Die Werbespots waren kurz und sachlich gehalten: blanker Bildschirm und zwei Minuten Stille. Dann die Stimme des Ansagers: »Am ersten Tage des Jahres zweitausend wird Gott sterben.« Es wurde an alle Nationen, die dem VideoSat-Netz angeschlossen waren, ausgestrahlt. Und das kostete eine Menge Geld. Was uns fast bankrott machte, waren jedoch die Zeitungsinserate. Ann pokerte fast pausenlos. Die Spieler in der Auberge mußten entweder Masochisten sein oder ein sehr schlechtes Gedächtnis besitzen. Aber auch das Pokerspiel brachte nicht mehr genügend ein. Ich entschloß mich, auch die Kleine für mich arbeiten zu lassen. 180
»Warum sollte ich Ihnen etwas abgeben?« fragte sie mich. »Sie sind nicht mal mein Zuhälter.« Ein entzücken des Kind. »Wer hat denn deinen dünnen Kinderarsch von Zachs Messer bewahrt?« »Da haben Sie allerdings recht. Sie sollen nicht glauben, daß ich meine Schulden nicht begleiche, nur weil ich noch ein Kind bin. Ich schulde Ihnen sehr viel. Und ich bin Ihnen auch dankbar, daß Sie nicht versucht haben, mit mir ins Bett zu hüpfen.« Sie erklärte sich einverstanden, vom nächsten Kunden an einen Teil ihrer Einkünfte an mich abzuführen. Am gleichen Tag kam der Papst mit seinen Gefolgsleu ten in der Stadt an.
19 Ich saß mit Ann und der Kleinen im >PRISONER OF ZELDA<, wo wir ein sehr spätes Frühstück einnahmen. Die Ausstattung des Lokals erinnerte an den Film >The Great Gatsby <. Eine junge Göre legte uns die Rechnung auf den Tisch und entfernte sich mit müden, schleppenden Schritten. Wahrscheinlich hatte sie, wie so viele, die ganze Nacht durch als Taxi-Tänzerin gearbeitet. »Wollen Sie sagen, daß all dieses Zeug... «, die Kleine deutete mit der Hand auf die Einrichtung, »... noch aus der Zeit stammt, bevor Sie geboren wurden?« Ein süßes Kind, dem ich am liebsten die Kehle versiegelt hätte. Die Bedienung kam zurück und sagte, daß mich jemand zu sprechen wünschte. Ich erhob mich. Dann erinnerte ich mich, was bei einer ähnlichen Gelegenheit geschehen war. »Schicken Sie ihn an unseren Tisch«, sagte ich und setzte mich wieder. Er kam auf uns zu. An einem weniger zivilisierten Ort hätte ich ihn zu Brei geschlagen. 181
Pater Beathan setzte sich neben mich, faltete die Hände auf dem Tisch und lächelte. »Am ersten Tage des Jahres zweitausend. Wie melo dramatisch.« Ich überhörte die Bemerkung. Das hat man von öf fentlichen Verschwörungen, dachte ich mir. Ich nahm mir eine Zigarette und sah ihn abwartend an. »Ein paar Leute hätten Sie gerne gesprochen. Sofort. Wenn Sie beide gleich mitkommen könnten...« »Beide?« Er nickte. Sein Blick schweifte von mir zu Isidore und wieder zurück. Ann schien er nicht zu sehen. Sie spitzte die Lippen, um mir anzudeuten, ich solle mir nichts anmerken lassen. Dann blickte mich Isidore an, und das Lokal, in dem wir uns befanden, war plötzlich ver schwunden. DIE KLEINE STAND IN EINEM LEEREN RAUM. SIE HATTE EIN DURCHSICHTIGES FETZCHEN AN. ICH KONNTE NICHT ERKENNEN, WO ICH WAR. »WAS IST DENN LOS?« FRAGTE ICH SIE. »WARUM KANN ER SIE NICHT SEHEN?« »DAS IST EIN TRICK VON IHR. ODER EINE GABE, DIE SIE BESITZT.« »UND DU HAST DIE GABE, MICH NACH BELIEBEN INS NIEMANDSLAND ZU VERSETZEN, DAMIT WIR UNS MAL KURZ UNTERHALTEN KÖNNEN?« »SCHEISSEN SIE SICH NICHT GLEICH IN DIE HOSEN«, sagte sie. Der leere Raum verschwand, und wir befanden uns wieder im Dekor der zwanziger Jahre. »Also?« fragte Beathan. »Kommen Sie mit?« Er zog etwas unter seiner Kutte hervor. Ei nen abgerundeten Metallstab auf einem kleinen Handgriff. Ein Nervenlähmer. »Dann schießen Sie mal los und erklären anschlie ßend dem Manager, warum wir plötzlich bewußtlos sind.« 182
»Er ist ganz schwach eingestellt. Gerade genug, um Sie gefügig zu machen.« Ich blies ihm den Rauch meiner Zigarette ins Gesicht. »Komm, Kleine. Begleiten wir den ehrwürdigen Pater.« Wir erhoben uns. Alle vier. Ich warf ein paar orangefarbene Geldscheine auf den Tisch, um die Rechnung zu begleichen, und ging auf die Ausgangstür zu. Ich ging dicht neben Ann her und fragte sie im Flüsterton: »Wie lange kannst du so weitermachen?« »Solange ich es mit Leuten zu tun habe, die glauben, was man Ihnen erzählt, oder die an ihre eigenen Lügen glauben.« Es klang wie eine gute Antwort, obgleich mir eine konkrete Erklärung lieber gewesen wäre. Mir war gar nicht poetisch zumute. Den Rest des Weges ging ich neben Beathan her, zwischen ihm und der Kleinen, die ihn besonders zu interessieren schien. »Also, auf diese Weise wollen Sie Gott ver spotten.« Seine dünnen Lippen verklemmten sich zu einem schulmeisterlichen Lächeln. »Sie mißbrauchen ein Kind, im Dienste Ihres teuflischen Herrn.« »Lecken Sie mich doch am Arsch.« Das war alles, was ich in diesem Moment herausbringen konnte. Meine Gedanken waren woanders. Würde dies wirklich nur ein kurzes Gespräch sein? Solange Ann nicht bemerkt wurde, hatten wir vielleicht noch eine Chance. Mußte sie unbedingt so nahe herankommen? Beathan führte uns durch einen Verbindungsgang ins Auberge Hilton. Trotz seiner spitzen Bemerkungen schien er von der leichtfertigen Atmosphäre der Auberge kaum berührt. Zwei Transvestiten der Spitzenklasse kamen an uns vorbei und zwinkerten dem Priester zu. Er ging ruhig weiter, ohne sie zu beachten. Sein Ausdruck war fast freundlich. Wir kamen in die Halle und gingen die Treppen hinunter zum Penthaus. Es lag genau über 183
einer Station der nie fertiggestellten metropolitanischen Untergrundbahn von Los Angeles. Nur sehr gut zahlende Gäste erhielten ein Zimmer in der Nähe dieses günstig gelegenen Fluchtweges. Beathan schloß die Tür auf und ging uns voran. Ich folgte ihm, die Kleine hinter mir. Ann schlüpfte ebenfalls hinein und verbarg sich in einem kleinen Garderobenzimmer. Für Auberge-Verhältnisse war es ein geräumiges Apartment. Drei Stufen führten hinunter ins Wohnzim mer, das einen Spieltisch und einen richtigen Kamin enthielt. Wohin der Rauch abzog, war nicht zu erkennen. Um den Kamin standen drei Sofas. Dort saß ein gutes Dutzend alter Männer in höchst eigenartiger Kleidung. Sie schienen aus aller Herren Länder zu stammen. »Aha«, sagte ich, die Asche meiner fast ausgebrannten Zigarette abklopfend. »Das dürfte wohl die Ecclesia sein.« Keiner hatte ein Wort gesagt, aber jetzt schien es noch stiller zu werden. Alle blickten mich und Isidore an. »Ich sagte Ihnen ja, wir hätten Moreno schon früher beseitigen sollen«, meinte ein alter Mann in einem safrangelben Kaftan mit kahlgeschorenem Schädel. Er sah aus, als verkaufte er Weihrauchstäbchen am Flughafen. »Beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Das habe ich nicht von Joey gehört. Es ist ein offenes Geheimnis. Es steht in allen Zeitungen. Ecclesia dies - Ecclesia das.« »Genug«, sagte ein anderer Alter in weißer Robe. Alt waren sie alle. Manche dicker, manche dünner. »Kommen wir zur Sache«, sagte der Weißgekleidete. »Mir soll es recht sein.« Ich trat meine Zigarette auf den Steinfliesen des Vorzimmers aus und ging die drei Stufen hinunter ins Wohnzimmer. Die Kleine folgte mir, und wir setzten uns neben den Kamin. »Sie betreiben eine Art Werbekampagne und verkünden, daß Sie im kommenden Januar Gott ermorden werden. Was wir zunächst von Ihnen wissen wollen, ist: welchen Gott?« 184
»Alle«, sagte ich. Der Kerl in der weißen Robe schienzum Mißfallen der meisten anderen - der Sprecher zu sein. »Sagten Sie Allah?« Ein Kerl im Burnus sprang auf, griff zum Schwert - sah dann, daß er keines hatte, und setzte sich wieder. Ein bärtiger Mann mit langen Schläfenlokken, die unter seinem Hut hervorschauten, lehnte sich zu ihm hinüber und klärte ihn über seinen Irrtum auf. Der im Burnus nickte und verschränkte die Arme über der Brust. »Zweite Frage: Wie beabsichtigen Sie, das zu tun?« Ich lächelte. »Berufsgeheimnis.« Der Kerl in Weiß hatte ein Kreuz um den Hals hängen, so dezent und geschmackvoll wie eine goldene Hockeykelle. Ein massiver Ring glitzerte an seinem Finger. Er sagte: »Mr. Ammo. Wir hier, die Sie >Die Ecclesia< zu nennen belieben, sind ziemlich überzeugt davon, daß es keine höhere Macht gibt, die über dem Menschen steht. Sie können Gott schon deshalb nicht töten, weil Er nicht existiert. Ebenso wissen wir, daß das Verlangen, Gott zu töten, ein weitverbreiteter Wunsch der Menschen ist. Wenn Sie ihnen ihren Gott zerstören, würde das zweierlei verheerende Konsequenzen nach sich ziehen: Sie zerstören damit den Wunsch des Menschen nach Erfolg, metaphorisch die einzige Möglichkeit, Gott zu töten und den Respekt vor sich selbst wiederzuerlangen. Gleichzeitig würden Sie uns das einzige Mittel nehmen, den Menschen ein Schuldgefühl zu suggerieren und ihren Killer-Instinkt in produktive Bahnen zu leiten.« »Mit anderen Worten: Wenn Gott stirbt, ist Ihr Geschäft im Eimer. Das ist alles.« »An wen würde der Mensch sich wenden, um für seine Sünden Vergebung zu finden, wenn es niemanden gäbe, der ihm erklärt, was Sünde ist. Wir spenden den Menschen Trost.« »Bah...«, unterbrach ihn der Mann im Safrankaftan. 185
»Keiner von euch kann davon leben, daß er ein paar Mördern und Dieben ihre Sünden vergibt. Dafür sind es nicht genug. Die meisten der Religionen, die hier vertreten sind, haben es geschafft, den Menschen das Leben selbst als Sünde darzustellen.« »Wir predigen ihnen, daß es Sünde ist, zuviel zu verlangen«, sagte der Mann mit den Schläfenlocken. »Wir reden ihnen ein, es sei Sünde, alles zu essen, was sie wollen und wann sie wollen. Daß es Sünde ist, zu lieben, wen sie wollen und wann sie wollen. Einige von uns.. .«er blickte zu dem Dicken in Weiß hinüber - »... gehen sogar soweit, jeden dafür zu verdammen, daß er geboren wurde.« Der Dicke lächelte. Ich beugte mich zu Isidore hinüber und flüsterte ihr zu: »Kannst du es mit allen auf einmal aufnehmen?« »Was?« Sie sah mich an, als hätte ich ihr zugemutet, auf den Mond zu fliegen. »Alle zusammen - leg sie aufs Kreuz. Derselbe Trick, wie bei deinen Freiern.« Sie überlegte. »Das einzige Mal, wo ich das gemacht habe, war bei den siamesischen Zwillingen. Die wollten...« »Keine Einzelheiten, Kindchen. Hat es geklappt?« Sie nickte. »Aber den ganzen nächsten Tag war ich vollkommen erschöpft.« »Mr. Ammo.« Der Mann in Weiß rutschte ungeduldig auf dem Sofa herum. »Wir haben nicht mehr lange Zeit.« »Stimmt. Und wenn ich trotzdem versuche, die Gans zu schlachten, die Ihre goldenen Eier legt - was dann?« »Dann, fürchte ich, werden Sie dieses Zimmer nicht lebend verla...« Seine Gesichtszüge erschlafften ganz plötzlich. Er starrte mit glasigen Augen ins Leere. Ein paar Sekunden später zeigten alle anderen die gleichen Symptome. Pater Beathan fiel gegen die Wand und sank zu Boden. Alle anderen lagen so sc hlaff herum wie Stoffpuppen - bis auf eine Körperstelle. 186
»Ann«, wisperte ich laut, »ich glaube, sie hat sie alle erwischt.« Ann kam aus dem Garderobenzimmer und blickte hinüber zu der Kleinen. Sie saß auf dem Kaminsims und war ebenso abwesend wie die Männer, die sie in Trance versetzt hatte. »Was jetzt?« fragte Ann. Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich wieder hin. »Wir können sie nicht alleine hierlassen, also müssen wir bleiben, bis sie fertig ist.« »Das kann noch Stunden dauern.« »In ihrer kleinen Welt vergeht die Zeit schneller. Schau mal.« Ich deutete mit dem Kopf auf die Männer, die auf den Sofas herumlagen. Einige wanden sich und stöhnten. Es klang wie in einem Irrenhaus. Sie bewegten sich zuckend hin und her, immer schneller- die leeren Augen blicklos in sich hinein gerichtet. Isidore fing an zu zittern. Sie hielt die Augen geschlossen. Tränen flössen ihr die Wangen hinunter. Sie schrie auf und bebte am ganzen Körper. Als ich auf sie zutrat, packte sie mich am Arm. »Bring mich hier raus. Bitte.« Ihre Worte waren kaum hörbar. Ich hob sie auf. »Es war furchtbar. Die Männer waren furchtbar«, schluchzte sie. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein Kind beruhigt. Also ließ ich sie weinen. Ann kramte in ihrer Handtasche. »Sie haßten mich alle. Sie haßten mich, weil ich ein Mädchen bin, und sie sagten, daß sie mich nicht ficken würden, weil ich keine Jungfrau mehr sei und weil ich schmutzige Gedanken hätte, und statt dessen schnitten sie mich - schnitten sie mir - in die...« Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und schluchzte so wild, daß sie meine Jacke durchnäßte. Ich besah mir die Männer auf den Sofas. Sie hielten jetzt die Augen geschlossen und lächelten verkrampft. »Gehen wir«, sagte ich. Ich kam mir vor wie in einer Leichenhalle. 187
»Warte mal«, sagte Ann. Sie nahm keine Rücksicht darauf, daß ich immer noch das dreißig Kilo schwere Kind auf dem Arm hielt. Sie zog etwas aus der Handtasche und trat an den Dicken in der weißen Robe heran. »Mit diesem Zeichen«, sagte sie feierlich, »bist du mir unterlegen.« Damit schnitt sie ihm einen fünfzackigen Stern in die Stirnhaut. Dann setzte sie das Messer tiefer an und schnitt ihm die Nasenspitze ab. Ich hatte sie nicht für so rachsüchtig gehalten. Ohnehin konnte ich keine Hand freimachen, sie zu stoppen. Ich probierte es auf die moralische Tour. »Vielleicht genügt es, wenn du sie einfach alle mal in die Eier trittst.« Ohne mich zu beachten, packte sie den Kerl mit den Schläfenlocken und schnitt ihm ein Stück Ohr ab. »Für deinen Abodah Zarah«, sagte sie zu seinem schlafenden Gesicht. Ein dünner Blutstrom floß unter seinen schwarzen Locken hervor. Auf die Stirn des Mannes im Burnus schnitzte sie ein paar verschlungene arabische Buchstaben. »Im Namen von AI Lat«, sagte sie fast zischend. Sie ignorierte die anderen und kam zu mir an die Tür. Ihre Augen waren ebenso glasig und leer, wie die der Männer gewesen waren. Ohne hinzusehen, steckte sie das Messer weg. Dann legte sie Isidore die Hand auf den Kopf. Ich erwartete, daß sie jetzt etwas Wichtiges oder Symbolisches sagen würde. Oder wenigstens etwas Tröstendes. Aber sie zog ihre Hand wieder weg und ging uns voran, durch die Tür. Am nächsten Abend gewann sie zwölf Kilo Gold beim Poker.
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20 Die Presse begann sich für uns zu interessieren. Artikel über unsere Reklameschilder und Inserate erschienen in mehreren Tageszeitungen. Die Spekulationen waren sogar erstaunlich akkurat. Die meisten Reporter glaubten wirklich daran, daß jemand plante, Gott zu ermorden. Davon waren besonders die Zeitungen in Washington DC überzeugt. Die hatten schon ganz andere Dinge erlebt. Die Veröffentlichungen in den Zeitungen und die Gerüchte, die im Umlauf waren, nützten uns nur. Kathleen betrieb ihre Werbekampagne jetzt noch intensiver. Mitte Dezember hatten wir Radio - und Telefonwerbung, Himmelsbeschriftung durch Flugzeuge bei Fußballspielen (die über Notre-Dame verursachte fast eine Revolte), Ansteckknöpfe, T-Shirts und Posters. Ann und die Kleine zeigten Anzeichen von Überarbeitung. Es fiel mir schwer, sie zu überzeugen, daß die Stunden, die ich in der Bibliothek verbrachte, ebenso anstrengend waren. Weihnachten näherte sich wie ein Trauerzug. Priester und Pastoren wiesen auf die satanische/kommunistische/korporative - oder was auch immer- Verschwörung hin. Rabbiner und Imame deuteten an, daß allein der christliche Gott am christlichen Neujahrstag sterben würde. Die Brahmanen hüllten sich in Schweigen. Sie wußten, was geschehen würde - oder taten wenigstens so. Verrückte Kulte krochen aus ihren Löchern hervor und faselten von Apokalypse und Armageddon. Ich hatte eine neue Idee, wie wir uns Geld unter den Nagel reißen konnten, und gab in verschiedenen Zeitungen und religiösen Zeitschriften diskrete Inserate auf. Darin bat ich um Geldspenden, um der >Lügenkampagne der Gottesmörder< ein Ende zu setzen. Die Spenden vermehrten unser Werbefonds um fünfzig Prozent, die wiederum den Inseraten auf beiden Seiten zuflössen. Ein paar Tage vor Weihnachten saß ich in der Biblio thek und informierte mich darüber, warum Thomas 189
Paine für religiöse Organisationen nur Verachtung übrig hatte. Daß er gleichzeitig seine eigene unorganisierte Religion anpries, hinderte mich nicht daran, nützliche Informationen zu sammeln. Plötzlich erschien Ann. Es war das erste Mal, daß sie mich in der Bibliothek besuchte. Sie sah aus, als hätte man sie zusammengeknüllt, in die Hosentasche gesteckt und sich drauf gesetzt. Sie setzte sich neben mich und legte den Kopf auf einen Stapel Bücher. »Herzliche Glückwünsche«, murmelte sie und starrte auf das Buch, auf dem ihre Nasenspitze lag. Ihr Poker spieler-Teint verlieh ihrer Haut die Farbe von zerkochten Spaghetti. »Ich danke dir, Schätzchen, aber mein Geburtstag ist erst in einem halben Jahr.« »Die Glückwünsche sind nicht zum Geburtstag. Der Thetawellenverstärker ist fertig an Bord eingebaut. Die Nervenlähmerschaltungen sind auch schon unterwegs. Außerdem habe ich einen Lieferanten für die Drogen aufgetrieben. Sie sind bereits bezahlt. Es wurde höchste Zeit, denn lange kann ich das nicht mehr durchhalten.« Ihr Kopf rollte kraftlos zur Seite, und sie sah mich mit müdem Blick an. »Es laugt einen schon aus, wenn man Tag für Tag am Spieltisch sitzt und keiner der Leute, die man ein halbes Jahr lang jeden Abend ausgenommen hat, sich daran erinnern kann. Nur manchmal in der Nacht träumen sie davon, wachen schreiend auf und vergessen es wieder.« Sie hob den Kopf. »Es ist, als wenn man gar nicht lebte.« »Wie lange besitzt du schon diese Eigenschaft?« »Mein ganzes Leben lang. Es gab Zeiten, als nicht einmal meine Eltern mich sehen konnten.« Sie versuchte zu lachen, aber es mißlang. »So konnte ich mir allerhand Streiche leisten. Meine Mutter sah mich oft nicht, aber sie durchschaute mich. Vater war leichter an der Nase her umzuführen. Sogar jetzt fällt es mir schwerer, mich Frauen gegenüber unsichtbar zu machen als bei Männern. Aber meistens schaffe ich es auch bei Frauen.« 190
»Ich glaube, du brauchst nicht länger ins Kasino zu gehen, Engelchen. Wir haben alles, was wir brauchen, gekauft und bezahlt. Allenfalls müssen wir noch ein paar Schmiergelder zahlen. Sag der Kleinen, daß sie jetzt auch aufhören kann. Sie muß am Ersten voll in Form sein.« »Ich habe mit Bridget gesprochen«, sagte sie. »Sie hat keinerlei Herz- oder Kreislaufschwächen und glaubt, die Reise antreten zu können.« »Gut.« Ich blätterte um und überflog die nächste Seite. »Dell?« »Ja?« »Bei den meisten Männern muß ich mich sehr anstrengen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich so auffallend anziehe.« »Ja.« Offenbar wollte sie mir etwas sagen. Ich ließ ihr Zeit, darauf zu sprechen zu kommen. »Bei dir brauche ich mich überhaupt nicht anzustrengen. Du siehst mich.« Sie setzte sich auf und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ich hatte schon immer wissen wollen, was der Ausdruck >katzenartige Anmut< bedeutete. Sie schien sich sehr schnell von ihrer Erschöpfung zu er holen. »Du bist der einzige, der keine Lügen glaubt.« »Erzähle das mal Emil Zacharias.« »Ich meine, du glaubst nicht an Dinge, von denen du weißt, daß es Lügen sind. Du weigerst dich, an etwas Falsches zu glauben, nur weil es der einfachste Ausweg ist.« »Ja, und was habe ich davon? Ich bin im Mordgeschäft. Ein regelrechter Tugendbold.« Ich klappte das Buch zu und sah sie an. »Es ist zum Beispiel eine Lüge, wenn ich behaupte, daß alle anderen unrecht haben, und daß die Leute, die ich umgelegt habe, es verdienten, zu sterben.« »Auch diese Lüge ist im Grunde Wahrheit. Du hast nur Tyrannen getötet, die...« »Die meisten Menschen würden sie >Führer< nennen.« »Hör auf, den Teufelsanwalt zu spielen.« 191
Ich lachte so laut, daß sich die Leser in der Bibliothek aufgeregt hätten, wenn welche dagewesen wären. »Weißt du, wie man sich vorkommt, wenn man nicht imstande ist, die Aufmerksamkeit eines Mannes für länger als ein paar Sekunden auf sich zu lenken? Je näher er mir kommt, um so mehr muß ich mich konzentrieren, bis ich nicht mehr kann, und dann steht er plötzlich da und weiß nicht, wie ihm geschieht, und haut ab. Ich weiß wirklich nicht...«, sie machte eine hilflose Geste und ließ dann die Hände in den Schoß fallen, ».. .vielleicht wollte ich diese Männer gar nicht haben.« »Aber da wir beide einander haben wollen...«. Jetzt war es an mir, eine Bombe hochgehen zu lassen. Ich mußte wirklich die magische Formel gesprochen haben, denn sie wurde ganz still und blickte mich verträumt an. »Und dabei habe ich mich nicht einmal angestrengt«, sagte sie einen Augenblick später. »Willst du mich wirklich haben?« Ich nickte. »Dann nimm mich doch!« »Hier?« »Nein«, sagte sie und erhob sich. »Gehen wir in die Philosophie-Abteilung.« Sie war die See und ich der mächtige Wellenreiter. Sie stöhnte wie der Meereswind - unter dem ich mich bog wie ein Baum. Sie brannte - und ich wurde von den lodernden Flammen verzehrt. Sie hüllte mich ein wie warme Erde - die mich unter sich begrub. Weitere Vergleiche fielen mir nicht ein. Außerdem hatte ich keine Zigaretten mehr. Aber ich hatte gar keine Lust zu rauchen. Ich lag da und betrachtete den goldenen Schatz, der mir in den Schoß gefallen war. Lächelnd zog sie ein Buch unter sich hervor. »Logik mag die Grundlage der Philosophie sein«, sagte sie, nachdem sie auf den Umschlag geblickt und das Buch 192
zur Seite geworfen hatte, »aber auf diese Weise kön nen Kalish und Montegue einem Kreuzschmerzen bereiten.« Aus Respekt vor dem Thema des Buches hielt ich den Mund. Ohnehin fiel es mir schwer, etwas zu sagen. Ein Killer läßt sich nicht ernsthaft mit Frauen ein, außer wenn er sie als Werkzeuge benötigt. Meine Affären mit Frauen waren eben immer nur Affären gewesen. Danach - ein kurzer Abschied, wenn überhaupt. Ich hatte noch nie mit jemandem geschlafen, mit dem ich befreundet war. Aber harte Burschen denken nicht an Dinge wie Liebe und Wärme und Verehrung und Festhalten für immer und ewig. Und Dell Ammo war ein harter Bursche. Dell Ammo würde nie eine Frau verehren. Oder einen Mann. Oder irgendeinen kosmischen Eierkuchen, der durchs Weltall schwebt. Was verehrte ich eigentlich? Gab es so etwas? Gerechtigkeit, möglicherweise. Wirklich? Wenn ich mir selbst lobend auf die Schulter klopfte, würde ich mir wahrscheinlich den Arm ausrenken. Dell Ammo - Killer und rächender Engel des Herrn. Oder wessen immer. Ann zog mich an sich. »Siehst du mich immer noch?« »Wie einen Traum, den ich nach dem Erwachen mit mir genommen habe.« »Du bist kein Gangster«, sagte sie, mir übers Haar streichend. Mein Haar war wieder pechschwarz, wie vor Jahren. »Du bist ein feinfühliger und genialer Mann.« »Quatsch. Siehst du, Schätzchen, jetzt hast du mir die Tarnkappe vom Kopf gerissen. All diese Narben sind nur hingeschminkt. In Wirklichkeit bin ich John Donne.« »Also, ist das die Erklärung - was ist dir denn?« Mein entsetzter Gesichtsausdruck war ihr aufgefallen. Die Bibliothek wirbelte um mich herum und fiel zusammen wie 193
nasse Seide. Totale Dunkelheit umgab mich. Von irgendwoher schrie mir Isidore eine Warnung zu. Dann war ich wieder in der Bibliothek und bemühte mich, auf die Füße zu kommen. Draußen knatterten Schüsse. »Dell, was ist denn los?« Ich sah mich nach meiner Pistole um. Sie lag neben meinen Schuhen. »Die Ecclesia greift an.«
21 Der Wohnblock über der Auberge brannte wie ein Scheiterhaufen. Hubschrauber knatterten über den Berg hin weg, durchschnitten die dicken, schwarzen Rauchschwaden und schössen in die Menschenmenge auf der Straße. Ich zog Ann hinter einen Betonvorsprung und beobachtete die Szene. Einer der Hubschrauber feuerte einen Schuß aus seiner Bordkanone ab. Ein Teil des Berges barst auseinander und legte einen Abschnitt der unterir dischen Anlagen bloß. Es sah aus wie ein Teil des Hilton. Überall in den Ruinen lagen Leichen herum. »Was ist mit der Kleinen?« fragte Ann. »Ich weiß nicht. Ich hörte nur ihren Warnruf, sonst nichts.« »Dann geh sie doch suchen.« Die Wachmannschaften in der Auberge hatten eiligst 15-mm-Maschinengewehre in Stellung gebracht und erwiderten das Feuer. Sie waren immer auf einen Überfall vorbereitet. »Warum gebrauchen sie ihre Nervenlähmer nicht?« »Die sind nicht stark genug. Und die extrastarken haben einen so großen Aktionsradius, daß sie beide Seiten außer Gefecht setzen würden.« Der Wohnblock stürzte ein. Rauch und Funken wehten 194
Hunderte von Metern in die Höhe. Winzige Gestalten rannten in allen Richtungen auseinander. Die Hub schrauber schössen und bombardierten mit der Gründlichkeit eines Betrunkenen, der auch den allerletzten Tropfen ausleckt. »Wo ist nur die Polizei?« Einer der Hubschrauber explodierte in der Luft. Die Männer, die ihn abgeschossen hatten, sprangen und tanzten lachend herum, bis ein anderer Hubschrauber ihre Stellung unter Feuer nahm. Sie wurden durch die Luft geschleudert und purzelten den Berg hinunter. »Warum sollten sich die Bullen darum kümmern? Hinterher heißt es dann, es war eine Unterweltfehde, die ausgetragen wurde. Die Hubschrauber tragen keine Kennzeichen. Die Autos dort auch nicht.« Ich zeigte auf die Kombiwagen, die vor dem Hope -Street-Eingang vorgefahren waren. Weitere Fahrzeuge waren wahr scheinlich zum anderen Eingang in der Second Street gefahren. Dutzende junger Männer, kräftig und gut bewaffnet, sprangen aus den Wagen, bereit für einen neuen Kreuzzug, für einen Jihad. Sie stürmten den Hügel und feuerten auf alles, was sich bewegte. Es war wirklich herzergreifend, zu sehen, wie die großen Religio nen der Welt zur Abwechslung mal gemeinsame Sache machten. Ich zählte meine Munition nach und schob den Ladestreifen ein. Ann packte mich am Arm. Hart. »Du mußt sie finden. Versuche es übersinnlich.« »Was soll ich tun?« »Du kannst es. Du mußt dich nur entspannen und dich ganz leicht auf sie konzentrieren, sie dir vor stellen.« Ich kam mir vor wie ein alberner Junge, den ein Hypnotiseur auf die Bühne geschleppt hat. Trotzdem wollte ich es versuchen und strengte mich an, so sehr ich konnte, aber ich war innerlich überzeugt davon, daß ich es nicht schaffen würde. 195
»Eine Reihe von Spiegeln«, sagte ich überrascht, als sei es mir eben erst eingefallen. »Siehst du«, sagte Ann, »du empfängst schon etwas.« »Aber ich weiß nicht, ob es von ihr kommt oder ob es nur meine Einbildung ist.« »Solange du empfängst, spielt das keine Rolle.« Die Erde begann zu beben. Ein Lear Jet schoß über die Bibliothek hinweg. Die Maschinengewehre unter den Flügeln schnatterten. Der Hubschrauber, der immer noch über der Auberge schwebte, kippte zur Seite. Die Pilotenkanzel barst in Stücke, die Maschine begann sich wie verrückt um sich selbst zu drehen und sackte über dem Musikzentrum ab. Schließlich krachte sie gegen die Überführung in der Second Street und blieb dort hängen wie eine aufgespießte Schmeißfliege. Der Jet überflog das Bonaventure Hotel und ver schwand in westlicher Richtung. Das Feuer spiegelte sich in den Scheiben der Pilotenkanzel wider. »Sie hält sich im Bonaventure versteckt.« Ich richtete mich ein wenig auf, blieb jedoch immer noch in gebückter Haltung. Ann machte es mir nach, und wir rannten am Geländer der Bibliothek entlang, bis es abbog und uns den Weg versperrte. Ich hielt vorsichtig über den Rand hinweg Ausschau. Die Angreifer hatten die Ruinen der Auberge erstürmt und feuerten auf jeden, der den Flammen zu entkommen suchte. Wir liefen die Stufen hinunter über den Parkplatz und hielten uns, so gut es ging, in Deckung hinter Büschen und Sträuchern. Meine Pistole hielt ich in der Hand. Ich würde sie brauchen. Zwei junge Kerle kamen an der Flower Street um die Ecke gerannt und richteten ihre Gewehre auf uns. Sie bewegten sich viel zu langsam. Ich stand längst in Feuerstellung, die Pistole in beiden Händen, und zielte auf den Jungen links vor mir - einen Teenager mit sandfarbenem Haar, der aussah wie der Hauptdarsteller in einer Gymnasiasterlvorstellung des Theaterstücks >Der Idiot*. Der 196
andere, ein Pan-Araber, versuchte, seine Waffe gleichzeitig auf Ann und mich zu richten. »Keiner von euch beiden schießt«, sagte ich, »weil dann wenigstens einer von euch noch vor mir dran glauben müßte.« »D-das w-wäre eine S-Seele, die für Jaweh g-geopfert wird«, sagte der mit dem sandfarbenen Haar. Er stotterte wie ein Motorboot, aber nicht vor Angst. Die Hände, die das Gewehr auf uns gerichtet hielten, stotterten nicht im geringsten. »Eine Seele für Allah«, korrigierte ihn der Dunkelhaarige. Ein Rauchfetzen aus dem brennenden Untergrund zog an uns vorbei. Es roch nach Tod. Den panarabischen Jungen schien das nicht zu stören. Er hatte offenbar die Konsolidierung der arabischen Staaten vor zehn Jahren überlebt. Er behielt uns beide im Auge. Nur einen Moment lang blickte er zu dem Sandfarbenen hinüber. Das war meine Chance. »Für wen soll es nun sein? Allah oder Jaweh?« Ich sah beide an, ohne meine Waffe zu senken. »Allah«, sagte der Dunkle. »Jaweh«, sagte der Helle. Beide zielten auf mich. Ich mußte sie ablenken. »Beide behaupten, der Größte zu sein. Welcher ist es wirklich?« »Jaweh.« »Allah.« Sie blickten sich an und begannen ihre Gewehre einander zuzuwenden. »Allah«, sagte der Dunkle. »Jaweh«, sagte der andere. »Kali!« schrie eine Stimme aus der Unterführung neben uns. Die beiden Jungens fuhren herum. Eine Sekunde später traf jeden von ihnen eine Kugel in die Brust. Sie waren tot, bevor sie wußten, wie ihnen geschah. Ihre Gewehre fielen klappernd aufs Pflaster, bevor sie selbst umfielen. Ich gab Ann einen Stoß in die Richtung des 197
Bonaventura Hotels und rannte ihr nach. Ich hörte je mand hinter mir herlaufen und drehte mich um, die Pistole schußbereit. »Ein ganz harter Bursche«, rief eine heisere Stimme, »kann noch nicht mal zwei kleine Jungens totschießen.« Es war Randolph Corbin. In einer seiner übergroßen Hände hielt er einen M-14-Karabiner, die andere hatte er an den Magen gepreßt. Er keuchte schwer. Seine Kleidung sah aus, als sei sie mit einer Kreissäge zugeschnitten. Seine Jacke und sein Gesicht waren voller Ruß. Seine Hosenbeine waren unten versengt. »Wie ich sehe, haben Sie an einer religiösen Diskussion teilgenommen«, sagte er. »Ja, aber Sie hatten die besten Argumente vorzubrin gen.« Ich deutete auf die bronzefarbenen Fenster des Bonaventure Hotels. »Wir haben hier etwas zu erledigen. Auf Wiedersehen.« Ich nickte Ann zu, und wir machten uns auf den Weg. In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören, die immer näher kam. »Na endlich«, sagte Ann, unbeeindruckt. Corin lief keuchend hinter uns her. »Ammo - warten Sie.« Ich wartete, hielt aber nicht an. Er ging neben mir her. Ich versuchte eine der Türen zu öffnen, die in den riesigen Zementblock eingelassen waren, hatte aber kein Glück. »Das war die Ecclesia, die die Auberge überfallen hat«, sagte Corbin. »Die haben nach Ihnen gesucht.« »Ja. Ich weiß.« Wir gingen zur Südseite hinüber. »Woher wußten Sie das? Nicht einmal die Geschäftsleitung der Auberge wußte Bescheid. Die hat ihre Informanten, die sie warnen, wenn die Polizei oder das FBI kommt, aber wer hätte sich vorstellen können, daß die Ecclesia so einen Überfall unternimmt?« »Sie, offenbar.« »Ich hörte es von einer Buddhistin, die ich kenne. Sie hatte zuviel Stoff geschnupft, unten in der...« 198
»Kommen Sie«, ich stieß eine Seitentür auf, und wir gingen hinein. Das Bonaventure Hotel war noch immer in Betrieb, obgleich es nicht mehr die Luxusherberge von einst war. Die Radioaktivität von Arco-Süd griff nicht hierher über und stellte kein Problem dar, aber die Leute hatten Angst. Zwar gehörten die Herumtreiber und Vagabunden, die das Hotel bevölkerten, einer besseren Klasse an, aber Vagabunden sind eben Vag abunden. Rechts von uns saß ein schmierig aussehender Hotelangestellter mit einer elektronischen Zeitungsplakette und hatte die Rennberichte eingeschaltet. Er blickte teilnahmslos auf, als wir hereinkamen. Dann sah er uns genauer an. Mich mit der Pistole und Corbin mit seinem halbautomatischen Sturmgewehr. Er begann zu schwitzen. »Machen Sie keinen Mist, Mann«, sagte er mit einer Stimme wie ein schwindsüchtiger Spatz. »Wir haben Schutz.« Mein Daumen glitt über den Sicherungsflügel meiner Waffe. »Sie persönlich auch?« erkundigte ich mich. Er schluckte wie ein Meerbarsch und schwitzte noch stärker. Seine Hände klammerten sich an die Tischkante. Die Zeitungsplakette fiel zu Boden. »Wir suchen ein kleines Mädchen«, sagte Ann. »Wir bleiben nur ein paar Minuten.« Er sah sie nicht einmal. »Es dauert nicht lange«, sagte Corbin. Er holte tief Atem und sah sich um. Die Lampe auf dem Tisch war die einzige Beleuchtung in der Halle des Bonaventure. Durch die Fenster am oberen Rand des zylindrisch konstruierten Raumes schien die Sonne. Es erinnerte an die geruhsame At mosphäre in einer mittelalterlichen Kathedrale, bis auf die zwei Penner, die im Zwischenstock laut schnarchten. 199
»Welcher Aufzug funktioniert?« fragte ich. Der Hotelmensch zeigte mit zitternder Hand auf einen Betonpfeiler zu unserer Linken. Wir zwängten uns hinein. »Welches Stockwerk?« fragte Ann und besah sich die lange Reihe von Knöpfen auf der Schalttafel. Durch die zersprungenen Glaswände des Fahrstuhls war ein ausgetrockneter künstlicher Teich zu sehen, der jetzt nur noch leere Dosen und Müllsäcke enthielt. Sogar ein paar altmodische Glasflaschen, die zeigten, wie lange der verwahrloste Zustand des Hotels schon anhielt. Durch die Masse von Abfall hindurch sah ich eine geisterhaft schimmernde Gestalt vor dem Hintergrund des Flammenmeeres. »Fangen wir im obersten Stockwerk an und arbeiten uns nach unten vor.« Wenigstens krächzte und zitterte der Aufzug nicht wie der, der zu meinem Büro führte, sondern glitt problemlos in die Höhe, an den Fenstern des Atriums vorbei ins Sonnenlicht. Als wir oben waren, gab es einen leisen Klick, und der Aufzug hielt an. Corbin hob sein Sturmgewehr und richtete es auf die Tür. Ich schob Ann hinter meinen Rücken. Die Tür glitt zur Seite. Nichts als absolute Stille. Corbin trat mit vorgehaltenem Gewehr aus der Tür und sicherte nach allen Seiten. Ich wanderte hinter ihm her und beobachtete, wie er mit militärischer Präzision jede Nische und jeden Seitengang absuchte. »An der Universität waren Sie wohl nicht n ur ein rechtsgerichteter Konservativer«, sagte ich. »Sie müssen bei den Minutemen gewesen sein.« Er grinste mich an und ging ein paar Stufen hinunter. Einige Sekunden später kam er zurück und meldete: »Alles klar. Hier war früher das Restaurant. Was suchen wir eigentlich?« »Ein junges Mädchen.« »Etwa einsfünfzig groß?« fragte er. »Rötliches Haar, auffallend und geschmacklos gekleidet...« 200
»Halten Sie Ihre freche Schnauze.« »... hat ein dreckiges Vokabular und säuft Kahlua mit Milch.« »Eine ziemlich akkurate Beschreibung«, meinte Ann und ging an mir vorbei in die Cocktail Lounge. Ich ging ihr nach und sah die Kleine. Sie stand an einen Tisch gelehnt und sah den Feuerwehrleuten zu, die darüber debattierten, wie das Feuer am besten zu löschen wäre. Unternommen hatten sie noch nichts. Polizisten standen herum und aßen Krapfen. »Wie bist du denn hierhergekommen?« fragte ich. Sie zupfte an dem dünnen Band, das ihr zitronengrünes, fast durchsichtiges Kleid hochielt. »Ich war im >Casino Grande < und hatte plötzlich das gleiche Gefühl wie damals in dem Hotelzimmer, wo mich diese alten Furze im Geist vergewaltigten. Einer der Wächter ließ mich durch die Kühlanlage nach oben entkommen.« »Ein Vergehen gegen die Sicherheitsbestimmungen.« »Ich habe so meine Methoden. Wie hätte ich Sie sonst warnen können, da oben auf dem Berg?« Ich sah mich um. »Gibt es hier irgendwo ein Telefon?« »Fragen Sie doch den Bartender«, sagte Isidore. Hinter der Theke war gedämpftes Schnarchen zu hören. Ich ging hin, suchte herum und entdeckte schließlich ein Telefongerät unter einem Stapel leerer Schnapsbehälter. Ich rief die Werbeagentur an. »Sam - ist Kathleen dort?« »Sie redigiert den neuen Artikel für die Zeitschriften.« »Und Andy?« »Der ist in New York wegen des Radioprogramms.« »Dann möchte ich Neu oder Steve sprechen. Oder Sandy.« »Die sind bei StratoDyne und machen alles fertig.« »Dort muß ich auch hin.« »Ich könnte Sie in einer Stunde abholen, wenn der Kombi zurückkommt.« 201
»Nicht nötig.« Ich legte auf. Ann gab einen ärgerlichen Laut von sich, nahm das Telefon an sich und wählte eine Nummer. »Cindy? Schicke uns mal eben den Sechssitzer ins Bonaventure Hotel. Wir sitzen hier fest wegen der Unruhen in der Auberge. Sag Batelle, er soll schnell machen.« »Ach so«, sagte ich. »Die Bautista Corporation hat ja ihren eigenen Hubschrauber, oder?« Sie nickte. »Und fünf Rolls-Royce. Die haben nichts zu tun, als sich wichtig zu machen.« Sie machte eine höflich einladende Handbewegung. »Begeben wir uns aufs Dach?« Corbin begann nach einer Tür zu suchen, die auf s Dach führte. »Ich komme nicht mit«, piepste die Kleine. »Ich haue ab.« »Die Auberge existiert nicht mehr, Kindchen. Und schau mal aus dem Fenster. Alles voller Bullen. Sobald die daran denken, kommen sie hier rauf.« Das machte soviel Eindruck auf sie wie ein nasser Waschlappen. »Ich lasse es darauf ankommen. Wie ich höre, gibt es noch so ein unterirdisches Lokal in San Francisco - direkt unter dem Union Square.« »Ich denke, du willst dich an der Ecclesia rächen.« »An wem?« »An den alten Kerlen, die dich gefoltert haben.« Sie wandte sich von mir ab und schaute aus dem Fenster. Die Bullen hatten einige der Auberge-Wächter aufgestöbert und unterhielten sich damit, sie mit Fäusten und Knüppeln zu bearbeiten. Ein grüner Strahl flammte zwischen zwei Betonblöcken auf, und drei der Bullen fielen zuckend zu Boden. Das Zucken hörte auf, als ihre Wunden zu bluten begannen. Isidore sah mich an. »Wie gedenken Sie denn, sich an denen zu rächen? Wollen Sie ihnen Gift in ihr Geritol schütten?« Ich grinste und zeigte nach oben. 202
»Bist du schon mal in einem Raumschiff gefahren?« Zu viert kletterten wir einen Schacht hinauf, der für Pygmäen gemacht schien und aufs Dach führte. Dort standen wir in einem Gewirr von Kühlanlagen, Luftschächten und ähnlichem. Die kalte Dezemberbrise blies den Geruch des Feuers von uns weg. Hier und dort waren noch vereinzelte Schüsse zu hören. In der Mitte des Daches hatte man einmal eine Landeplattform für Hubschrauber errichtet. Jetzt wies sie Risse auf und die Farbe blätterte in großen Flocken ab. »Er fliegt den Kopter von Maywood ein«, sagte Ann, ohne jemand im einzelnen anzusprechen, »also müßte er bald hier sein.« »Wenn er Verstand hat, kommt er von Westen, damit ihn die Bullen erst im letzten Augenblick sehen«, sagte Corbin und checkte seine Waffe. Die Kleine rannte ans Geländer und versuchte hinüberzusehen. Ann ließ ihr Haar im Wind flattern. Rauch und Staub hatten seinen Glanz kaum gemindert. Es war wie bei einem Picknick. Ich lehnte mich gegen einen Schacht der Klimaanlage und wartete. Von weitem ertönte das Knattern von Drehflügeln. Einen Augenblick später erschien ein Hubschrauber von der Größe eines kleinen, doppelstöckigen Farmhauses, flog zwischen dem Union-Bank-Gebäude und dem Arco Tower hindurch, schwebte ein paar Sekunden über uns in der Luft und setzte dann wie ein Schmetterling auf der Landeplattform auf. Das Dach ächzte unter seinem Gewicht. Ann stieg als erste ein. Ich schnappte mir die Kleine und half ihr hinein. »Ich habe Höhenangst!« brüllte sie. »Wir werden noch viel höher fliegen«, überschrie ich das Motorengeräusch. Sie schnallte sich ganz fest an. Ann hielt ihre Hand. Ich blickte zu Corbin hinüber. Ich wußte nicht recht, ob ich ihm trauen durfte oder nicht. Zwar hatte er die zwei 203
Jungens erschossen, die Ann und mich sonst vielleicht erschossen hätten, aber wozu lief er überhaupt während des Überfalls mit einem Gewehr herum? Er deutete meinen Blick richtig. »Hören Sie«, schrie er mir über das Rotorengetöse zu, »wenn Sie mir nicht trauen, bleibe ich hier. Ich bin ein ziemlich hartgesottener Kerl. Die Bullen werden mich nicht finden.« In diesem Augenblick beschlossen die Bullen, sich das Dach anzusehen. Zwei von ihnen stiegen durch dieselbe Luke, durch die wir gekommen waren. Sie blickten sich auf dem Dach um und sahen uns. Dann sahen sie Corbins Sturmgewehr. Corbin schloß die Tür hinter uns. Seine riesigen Hände waren vor Aufregung rot angelaufen. Seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, und er rief mir etwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Die Bullen eröffneten das Feuer auf ihn, als der Hubschrauber abhob. Der Luftstrudel wirbelte Staub und Ruß auf, was jedoch seine Zielsicherheit nicht beeinträchtigte. Beide Bullen fielen zu Boden. Ein Mann nach meinem Geschmack. Er winkte uns zu, abzufliegen. »Bringen Sie uns nach Hollywood«, sagte Ann zu dem Piloten. Der Pilot, der aussah, als sei er in seinem Sitz aufgewachsen, wendete den Kopter und flog in nord westlicher Richtung davon. Ich fühlte mich, als hätte ich Kieselsteine im Magen. »Glauben Sie, daß er entkommt?« fragte mich Isidore. »Ich frage mich, ob wir entkommen.« Ich blickte hinunter auf die Polizisten, die überall in den Ruinen der Auberge herumkrochen, und hoffte, sie würden es sich nicht in den Kopf setzen, ihre zwei Kollegen zu suchen. Der Polizeihubschrauber stand auf dem Parkplatz. »Ihre Bemerkungen sind heute nicht sehr originell.« »Kindchen, wir fliegen heute ins Weltall.« Sie blickte zu mir auf, dann zu Ann hinüber. 204
»Einfach so? Ohne Vorbereitungen? Ohne Testflug?« »Die Vorbereitungen sind seit einem halben Jahr im Gange. Ein Testflug wäre ebenso riskant wie der operative.« »Wohin in Hollywood, Sportsfreund?« fragte der Pilot. »Ich zeige es Ihnen. Nehmen Sie sich vor tieffliegenden Besenstielen in acht.« Er ließ die Strickleiter der Ladeklappe herunter, und ich ließ mich zur Erde gleiten. Bridget stand in der Tür ihres Ladens, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Was zum Teufel machen Sie da?« schrie sie mich an. »Los, wir fliegen ab«, schrie ich zurück. Sie warf die Arme in die Luft und ging in den Laden. Ich schrie ihr nach. Sie schüttelte den Kopf und zog eine kleine Reisetasche unter dem Tresen hervor. Einen Augenblick später kam sie wieder zur Tür, begleitet von Kasmira. Sie küßte das Mädchen sanft auf die Stirn und umarmte es. Dann küßten sie sich noch mal. Ich hasse langes Abschiednehmen. Ich ließ die Strickleiter los und nahm der alten Hexe die Reisetasche ab. Sie nickte mir zu und umarmte Kasmira zum letzten Mal. Als ich wieder auf die Strickleiter stieg, war sie bereits neben mir. Ich legte ihr den Arm um die schmale Hüfte. Sie schüttelte ihn ab und bedeutete mir voranzuklettern. Ich kletterte, und sie kam mir ohne jede Hilfe nach. Ann streckte uns die Hand entgegen und half uns hinein. »Warum sind Sie schon so früh gekommen?« fragte Bridget und schnallte sich an. Isidore lehnte sich vor und sagte: »Ich kenne solche Männer, Lady. Die kommen immer, bevor man es er wartet.« »Also das ist die Kleine, nicht wahr?« Bridget blickte fragend zu Ann hinüber. Ann nickte. Die Alte wandte sich wieder Isidore zu »Du hast beträchtliche telepathische Kräfte, mein 205
Kind«, sagte sie, Isidore über den Kopf streichend. Ich wunderte mich, daß die Göre ihr nicht die Hand abbiß. Wir überflogen die Berge von Sierra Madre und drehten dann nach Osten ab, in Richtung StratoDyne. Der Rauch von den Ruinen der Auberge stieg hoch zum Nachmittagshimmel wie ein Ausrufungszeichen. Er war sichtbar, bis wir im Tal landeten. Die Raumfähre stand bereits auf der Abschußrampe, aber wir waren zu sehr in Eile, um dergleichen Einzelheiten zu bemerken. Ich stürzte ins Zimmer des Flugleiters, der sich gerade einen Krapfen und einen Becher Gin zu Gemüte führte. »Wir fliegen heute ab. Jetzt sofort.« »Unmöglich«, erwiderte er, sich in seinem Bürosessel zurücklehnend. Er war älter als ich und von zuviel Schreibtischarbeit verweichlicht. »Ich bezahle Sie nicht dafür, daß Sie mir erklären, meine Weisungen seien unmöglich auszuführen.« »Ein guter Witz. Den muß ich mir aufschreiben.« Er biß ein Stück von seinem Krapfen ab und spülte es mit einem Schluck Gin hinunter. Ich trat einen Schritt auf ihn zu. »Das Raumschiff ist startbereit. Sie haben es die ganze Woche getestet.« »Hören Sie mal, Mr. Del Taco, oder wie immer Sie heißen mögen. Für unseren Flugplan sind wir momentan nicht in der richtigen Position. Ein Start ist vor vier oder fünf Uhr früh nicht in Betracht zu ziehen.« »Ziehen Sie ihn trotzdem in Betracht«, sagte ich und riß ihm den Krapfen aus der Hand. Er starrte seine leeren Finger an. »Hören Sie, ich kann die Flugbahn ändern, indem ich den Druck verstärke, aber bei diesem Kasten kann es uns passieren, daß die Treibstoffpumpe explodiert und uns in kleinen Stücken über den gesamten Mittleren Westen verstreut.« »Wie stehen die Chancen?« »Eins zu zehn.« Ich packte ihn an seinem kragenlosen Hemd und zog 206
ihn auf die Füße, damit wir uns Auge in Auge unterhalten konnten. Er gab einen schluckenden Laut von sich, ließ mich jedoch weitersprechen. »Die Chancen stehen eins zu eins, daß uns die Ecclesia dicht auf den Fersen ist. Sie haben uns im Hubschrauber aufsteigen sehen. Und sie sind fest entschlossen, keine Gefangenen zu machen. »Lassen Sie mich runter«, sagte er. Ich ließ ihn runter. »Ich werde neu programmieren. Gehen Sie inzwischen rüber zur Abschußrampe und suchen Sie Günther. Sagen Sie ihm, ich komme bald.« »Machen Sie schnell«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Ich mache es schon richtig«, sagte er und setzte sich vor die Konsole. Die Tasten begannen zu klappern wie Steptänzer, die es eilig haben. »Gehen wir«, sagte ich zu meinen Begleiterinnen, als ich herauskam. Sie schlössen sich mir an, und wir wanderten durch die Halle. Überall rannten Leute an uns vorbei, von denen keiner eine Art Uniform oder Einheitskleidung trug. Die meisten von ihnen waren noch jung, einige schon recht alt. Das mittlere Alter war kaum vertreten. »Ist dies ein Raumfahrtprojekt in Bluejeans?« wollte Isidore wissen. »Was weißt du schon von Raumfahrtprojekten, Kleine?« fragte ich sie. »Zur Zeit, wo man der Raumfahrt noch Glanz und Herrlichkeit verlieh, warst du noch gar nicht da. Heute sieht es aus wie ein Transportunternehmen.« Sie ging mit über der Brust verschränkten Armen weiter, bis sie bemerkte, wie albern sie aussah. »DerPapi meiner Mutter ist auf dem Mond herumspaziert. Sie erzählte mir, er sei einer der ersten zwölf gewesen.« Ich nickte. Ich hörte gar nicht richtig zu. Aus einem der Fenster sah ich das Raumschiff im letzten Tageslicht stehen. Das Rot auf seinem Rumpf färbte sich immer 207
dunkler. Die Lichter auf dem Gerüst wurden eben angeschaltet - kleine bunte Lichtpunkte, wie in Disneyland. Ich verlor sie aus den Augen, als wir die Pre-AbflugAbteilung betraten. Günther kam mit langsamen, gichtigen Schritten auf uns zu. »Vier Personen?« fragte er. Sein Haar hatte die Farbe und Textur von Lämmerwölkchen in der Sonne. Helle, fröhliche Augen zwinkerten uns zu. Seine Gesichtshaut sah aus wie der Ledereinband eines alten Buches. Er musterte Isidore. »Jetzt weiß ich, für wen der kleine Ra umanzug bestimmt ist.« Er griff ihr väterlich unters Kinn. In einem halben Jahrhundert hatte ich niemand mehr einem Kind väterlich unters Kinn greifen sehen. Sie biß ihm fast den Finger ab. »Behalten Sie Ihre Hände bei sich, Sie perverser Hund. Was ich habe, können Sie nie bezahlen.« »Das bißchen, was du hast«, sagte er grinsend, »würde nirgends Interesse erwecken, auch wenn man es auf die Bank legen könnte.« »Ich bin von Komödianten umgeben«, sagte sie schmollend. »Sir«, sagte Bridget. »Wir sind alle in Eile.« Er sah zu ihr auf. Es war, als hörte er Geigen im Himmel. »Ja«, sagte er, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. »Ja, natürlich.« Unsere Raumanzüge hingen, mit Namensschildern versehen, auf einem Kleiderständer. Er reichte sie uns und drehte uns dann diskret den Rücken zu. Ich wandte den Damen ebenfalls den Rücken zu und begann mich zu entkleiden. Die Kleine lachte spöttisch. Bridget brachte sie zum Schweigen. »Kann ich mich jetzt wieder umdrehen?« fragte Günther. »Sie sind aber beide reichlich viktorianisch«, meinte Bridget. 208
»Wir sind offenbar Gentlemen«, erwiderte Günther. »Gentlemen ignorieren nicht einen Frauenkörper, als sei er etwas Abstoßendes.« Während sie noch sprach, drehte sich Günther um und tat sein Bestes, sie zu beäugen. An meinem Anzug war ein Reißverschluß, der nicht funktionierte. Das Telefon läutete. Beim dritten Läuten hob Günther ab. »Sind Sie ganz sicher?« war alles, was er sagte. Dann legte er auf. Irgendwo weit weg schrie ein Lautsprecher. Gleichzeitig erklang eine Alarmsirene. »Abschuß in zehn Minuten«, sagte Günther. »Was?« schrie Ann. »Unser Radar hat drei Hubschrauber auf dem Schirm, hier ganz in der Nähe. Das Raumschiff wird bereits aufgetankt. Unsere neue Flugbahn hat nur eine Abschußspanne von drei Minuten.« Günther sah besorgt aus. »Gehen wir«, sagte ich. »Folgen Sie mir bitte zum Wagen.« Wir folgten ihm durch die Hintertür zu einem uralten Dodge, von dem der Lack abblätterte. Er ließ den Motor an und fuhr los, bevor Ann sich noch gesetzt hatte. In der ersten Kurve flogen die Türen auf, in der zweiten knallten sie wieder zu. Nach weniger als einer Minute rasender Fahrt erreichten wir das Gerüst. Wir stiegen aus, und Günther führte uns zum Aufzug. »T - minus fünf Minuten, dreißig Sekunden«, dröhnte eine gelassene Stimme aus dem Lautsprecher. Ein Dutzend Männer und Frauen waren an der Abschußrampe und am Gerüst beschäftigt. Ein kalter Luftzug schien von dem Raumschiff auf uns niederzuwehen. Ich blickte nach oben. Der Himmel war fast schwarz. Sterne blitzten, und davor hob sich der weiße, anmutige Vogel an der Seite der mächtigen Rampe ab. Ich fühlte etwas wie Ehrfurcht. Eine Hand schob mich unsanft in den Aufzug. »Los, los!« Die Türen schlössen sich, und Günther 209
drückte auf einen Knopf. Der Aufzug schnellte in d ie Höhe. Günther paßte auf, ob jemand An/eichen von Schwindel zeigte. »Wo ist Canfield?« fragte Ann. »Der sitzt über seiner Checkliste, seit Sie angekommen sind.« Der Aufzug hielt ruckartig an, und wir schnellten noch ein paar Zentimeter in die Höhe. Die Drahttür glitt /ur Seite, und Günther führte uns über den Gerüstarm zum Einstieg in die Pilotenkanzel. »Bevor Sie reingehen«, sagte er und langte in die Taschen seines Laborkittels, »müssen Sie diese Dinger aufsetzen, um Ihre Augen zu schützen.« Er übergab jedem von uns eine Brillenmaske mit buschigen Augenbrauen und einer falschen Nase. Er wartete, bis wir alle gelacht hatten, und schob uns dann in die Einstiegluke. »Rein, rein. Guten Flug. Wir sehen uns, wenn Sie zurück sind.« Er warf einen letzten Blick auf Bridget und schloß die Luke. Sie klappte mit scharfem Zischen zu. Der Luftdruck war in den Ohren zu spüren. Der Pilot saß bereits auf seinem Platz auf der linken Seite. Er hatte seinen Flughelm auf und den Gesichtsschutz - eine goldfarbene Metallplatte bereits heruntergezogen. Wenn wir ihm ins Gesicht schauten, sahen wir lediglich unser Spiegelbild. »Nehmen Sie Ihre Plätze ein und setzen Sie Ihre Flughelme auf.« Seine Stimme klang blechern und kam aus einem kleinen Lautsprecher, der an seiner Brust platte aufmontiert war. Ich setzte mich in den Sitz des Copiloten zu seiner Rechten. Ann, Isidore und Bridget saßen direkt hinter uns. Unsere Flughelme waren an den Sitzlehnen befestigt. Ich nahm meinen herunter und stülpte ihn mir über den Kopf. »T- minus zwei Minuten. Abschußfläche freimachen.« »Machen Sie es sich bequem«, sagte der Pilot. Seine Stimme kam jetzt aus den Kopfhörern unserer Flughelme. 210
»Unterhalten Sie keinen Sprechkontakt mit dem Kontrollturm?« erkundigte sich Isidore mit ihrer piepsenden Stimme. »Bis wir in die Umlaufbahn kommen, läuft fast alles automatisch, Kindchen.« Seine Stimme klang ruhig und selbstbewußt. »Ich greife nur ein, falls etwas Unerwartetes geschieht.« Etwas klickte. Canfield blickte zur Einstiegsluke hin. Die goldene Schutzplatte verbarg sein Gesicht. »Gerüstarm eingezogen«, sagte die Stimme vom Kontrollturm. Canfield nickte und lehnte sich wieder zurück. »T - minus eine Minute«, meldete der Kontrollturm. Gleich darauf war aufgeregtes Stimmengewirr zu hören. »Ruhe«, sagte die Stimme. Dann: STARFINDER EINS wir haben eine Meldung über Hubschrauber mit weitem Angriffsradius. Wollen Sie den Flug stornieren?« »Nein«, sagte ich. »Ich würde sagen, wir stornieren«, meinte Canfield, »aber es ist Ihre Entscheidung.« »Wir starten.« »Eine Rakete mit Thermo-Lenkung könnte uns in der Luft in Stücke sprengen.« Ich blickte zu ihm hinüber. Sein Gesicht war hinter der blanken Schutzmaske verborgen. »Hier auf dem Boden würden sie uns auch töten. Wenn wir starten, haben wir wenigstens eine Überlebenschance.« Unter uns krachte es mehrmals. »Bomben«, sagte er lakonisch. »Um Gottes willen, Mann, sagen Sie den Start ab!« »Gerade deshalb nicht.« »T-minus zehn Sekunden, Zündungsablauf beginnt.« Die Pilotenkanzel erbebte wie ein Riese, der uns abzuschütteln versuchte. Die Stimme aus dem Lautsprecher begann den Countdown von zehn bis null. Der Riese drückte mir fast den Brustkorb ein. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Meldung >Abschuß<. Der Riese blieb eine 211
Ewigkeit auf meiner Brust sitzen, bis der Druck schließlich nachließ und ich jemanden sagen hörte: »Triebwerke um T - minus zwölf-siebzehn abschalten. Alles zum Abwurf vorbereiten.« Wir waren schwerelos. Ein Summton. Canfield sah sich um. »Empfangen Sie mich, Starfinder? Alles zum Abwurf vorbereiten.« Der Pilot unternahm nichts. Mir war von dem Druck übel geworden. Eine Hand streckte sich von hinten über meine Schulter und berührte einen aufleuchtenden Knopf an der Konsole. Die Kanzel vibrierte heftig. Die Schwingungen durchdrangen unsere Schutzanzüge. »Treibladungstank abgeworfen. Wurde auch Zeit, Starfinder!« Der Pilot sagte noch immer nichts. »Scheiße!« rief Isidore und schnallte sich ab. »Ja?« sagte der Pilot und nahm den Schutzhelm vom Kopf. »Sie sind es!« »Wer?« schrie ich. Ich hatte eine böse Vorahnung. »Jetzt, wo ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe«, sagte Emil Zacharias, »hätte ich mich gerne noch einmal über unseren Kontrakt unterhalten.« Er wirkte ruhig und selbstbewußt wie immer. »Wo ist Canfield, Zach?« Er lächelte süßlich wie eine Katze, die eine Ratte in die Ecke getrieben hat. Hinter mir hörte ich, wie ein Reißverschluß geöffnet wurde. »Sie sind jetzt völlig in meiner Macht. Ganz gewöhnliche, physische Macht.« Ich hörte, wie hinter mir ein Schutzhelm abgeschnallt wurde. »Ich könnte leicht diese Konsole zerschmettern und unseren Kontrakt durch pure physische Kraft...« Er drehte sich jäh zu den Frauen um. Bridget schlug ihm ins Gesicht. Ihre Hand blieb an seiner Wange haften. 212
»Mit dem schicksalhaften Bannfluch des Zauberers fessele ich dich«, schrie sie. Zacharias machte ein schluckendes Geräusch und sagte nichts mehr. »Hübscher kleiner Trick...« »Ruhig, Dell«, sagte sie und wandte sich wieder Zacharias zu. »Durch Mächte, älter als die deinigen... Durch den Funken des Lebens, der dem Weibe entsprang, fessele ich deine hafterfüllte Seele Und verdamme dich zu deinem erwählten Schicksal!« Sie zog ihre Hand von ihm ab. Auf seiner Stirn ließ sie ein Stück Pergament zurück, das mit seltsamen Symbolen beschriftet war. »Wann kommen wir an?« fragte sie mich. »Ich werde mal versuchen, es herauszufinden«, erwiderte ich. Hinter der Luke zum Laderaum war eine gedämpfte Stimme zu hören. Die Luke öffnete sich mit leisem Zischen, und Canfield schwebte herein. »Ich muß das Bewußtsein verloren haben. Ich - wie sind Sie - wer ist denn das?« »Blinder Passagier«, sagte ich und schnallte mich ab. »Setzen Sie sich auf meinen Platz.« »Danke«, sagte er mit einem Blick auf Zacharias und schnallte sich an. »CapCom, hier ist Starfinder Eins. Geben Sie mir die Distanz zum Ziel an.« Er entspannte sich, als die Antwort von der Erde kam: »Sie nähern sich dem Ziel mit einer Geschwindigkeit von null Punkt fünf Kilometern pro Sekunde. Bremstätigkeit einleiten.« Canfiled betätigte vorsichtig die Bremsraketen. Ich hielt die Kleine auf dem Schoß fest an mich gedrückt. Ann fragte, ob wir schon am Ziel wären. »Nein«, erklärte ihr der Pilot. »Wir nähern uns dem Schlepper, der uns in den Synchronumlauf bringt. Wir 213
sind erst in tausend Kilometer Höhe, und wir müssen bis auf sechsunddreißig hinauf.« Sekunden später dockte er an die zweite Schubrakete an, und die Beschleunigung preßte uns gegen die Sitzlehnen. Diesmal war es noch unangenehmer und dauerte länger als beim ersten Mal. Die Kleine fühlte sich so schwer an wie ein schlechtes Gewissen. Auch ihr waren die Konturen meines Körpers unbequem, was sie in deutlichen Worten ausdrückte. Eine Million Lichtjahre später kamen die Triebwerke endlich zum Stehen, und wir wurden wieder schwerelos. Mir war, als ob ich mich erbrechen müßte. »Sie können hier in Null-G nicht kotzen«, sagte die Kleine. »Das hat mir mein Großvater erzählt.« Sie grinste. Hoffentlich konnte ich ihr in Null-G wenigstens in den Arsch treten. »Starfinder«, kam die Stimme aus dem Lautsprecher, »Sie nähern sich VideoSat Drei. NORAD empfängt Ihre Sendung ebenfalls.« »Keine Sorge«, sagte Canfield und korrigierte den Kurs mit kleinen Raketenschüben, »hier oben kann uns NORAD nichts anhaben. Aber vielleicht verfolgen uns ein paar Jets, wenn wir zur Erde zurückkehren.« »Kann NORAD uns nicht daran hindern, uns ins Satelliten-Sendenetz einzuschalten?« Es war unsere einzige Chance, die gesamte Bevölkerung der Erde mit dem Nervenlähmer zu neutralisieren. »Überlassen Sie das ruhig mir. Sagen Sie mir nur, was ich mit diesem Typ hier machen soll.« »Fassen Sie ihn nicht an«, sagte Bridget. Die Kleine wand sich auf meinen Schoß. »Sind wir jetzt bereit?« Ich blickte zu Ann hinüber. Sie sah Bridget an und fragte: »Welchen Segensspruch gebraucht man für eine Raumstation?«
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22 Canfield schwebte durch die Schleusenkammer in die Atmosphäre hinaus und schob einen Gerätekasten, so groß wie er selbst, vor sich her. Er schwebte auf den Sendesatelliten zu, ein paar hundert Meter von uns entfernt. Der Satellit sah aus wie eine große Öltrommel mit Tellerantennen und Drähten, die überall herausragten. »Der wird eine Weile beschäftigt sein«, sagte ich. »Machen wir uns fertig.« Ich schwebte hinüber zum Laderaum. Ann schloß die Luke und ritzte mit ihrem Dolch einen fünfzackigen Stern auf die Klappe. Sie warf eine Handvoll Staub auf, der vor der Schleusenkammer schweben blieb, stieß sich ab und glitt zu uns hinüber. »Ich sehe nicht ein, wozu wir diese Nervenlähmer strahlen und den Satelliten brauchen«, sagte Bridget und beobachtete Canfield durch die Ausguckluke. »Ich habe bei meinen Beschwörungen noch nie diesen elektronischen Blödsinn benötigt.« »Sie haben es doch selbst gesagt, Schätzchen: >Zwei mächtige Kräfte müssen aufeinanderprallen^ Vor dem Zeitalter der Raumfahrt hatte niemand die Möglichkeit, Gott zu töten, weil man nicht die technischen Mittel besaß. Dazu braucht man eine Kombination von Wissenschaft und Zauberkraft. Technik und Geist. Logik und Instinkt.« »Wenn Sie noch kein Mitglied unserer Gilde sind, sollten Sie es werden. Sie quatschen genauso, wie manche von uns. Also machen wir alles fertig - oh, verdammt.« »Was ist denn?« fragte Ann. »Wir sind schwerelos. Die Kerzen bleiben nicht auf dem Altar stehen.« »Dann schmelzen Sie unten das Wachs und kleben Sie sie auf«, sagte ich. Sie zündete ein Streichholz an. Es brannte ein paar 215
Sekunden und ging aus, eine kleine Rauchfahne hinter lassend. Sie probierte es noch mal mit dem gleichen Ergebnis. »Der Rauch steigt nicht auf. Er erstickt die Flamme.« Ich drehte an der Düse des Ventilationssystems, bis der Luftstrom zum Altar hin blies und die Kerzen aufflakkerten. Innerhalb des Laderaums ließ ich Ann und Bridget völlig freie Hand. An der einen Seite war der Altar aufgebaut, mit allem Zubehör des Zauberhandwerks. Am anderen Ende - weniger als zehn Meter entfernt - stand der Thetawellenverstärker. Dazwischen waren zwei Tische aufgestellt - einer für mich, der andere für Isidore. Beide standen auf einziehbaren Sockeln. An den Wänden rundum waren Hunderte von Ösen angebracht. Ich ließ mich zu dem Wellenverstärker hinübergleiten und schnallte mir den mit Elektroden gespickten Helm um. Ich sah aus wie Bück Rogers und kam mir auch so vor. Bis Bridget weitersprach. »Ihr solltet eure Raumanzüge ablegen. Wir brauchen die Energieausstrahlung eurer Körper.« Prächtiger Einfall. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich andere Sorgen hatte, als mich darum zu küm mern, wie mein nackter Körper den Damen gefallen würde. Wir würden alle mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein. Isidore seufzte auf. »Ich habe mir ja schon alle möglichen perversen Touren geleistet, aber noch nie im Weltraum.« »Nichts hast du dir geleistet.« Sie streckte mir die Zunge heraus. »Ich habe mir schon mehr perverse Maschen ausgedacht, als Sie für möglich halten.« »Na schön, Kleine. Dann mache dich mal fertig für den endgültigen Geistesfick mit dem gesamten Planeten. Alle auf einmal.« Sie zog sich nackt aus und warf ihren Raumanzug in die Ecke, wo er haften blieb. Sie streckte sich und gähnte. 216
»Es sieht ganz so aus, als hätte ich die besseren Chancen.« Ann legte ebenfalls ihren Schutzanzug ab. Ihr goldenes Haar fiel ihr um die Schultern wie eine Wolke in der Abendsonne. Sie betrachtete ihren Körper, dann mich, und lächelte. Ich lächelte zurück und zitierte: »Und ihre Schönheit war wie die Tränen der Götter - süß, warm und überirdisch.« »Hört auf zu quatschen«, rief Bridget scharf. »Wir müssen anfangen, die Hexenwiege fertigzumachen.« Sie warf Ann eine Spule mit rotem Garn zu und holte eine zweite Spule mit weißem Garn aus demselben Behälter. »Legt euch hin.« Ich nickte der Kleinen zu, die sich daraufhin auf dem kleineren der beiden Tisch ausstreckte. Ich legte mich auf den größeren, was im schwerelosen Zustand ni cht so einfach war. Man lag nicht, sondern schwebte dicht über der Tischplatte. An entgegengesetzten Seiten der Kabine begannen Ann und Bridget das rote und weiße Garn durch die Ösen zu ziehen und zu einem kompliziert und abstrakt ausse henden Muster zu v erflechten. Als sie halb fertig waren, zog Bridget das Gestell ein, auf dem die Tischplatten befestigt waren. Isidore und ich blieben in den Maschen hängen, wie Fliegen in Spinnweben. »Sieh mal einer an«, murmelte die Kleine. »Bizarrer Fesselungs-Sex bei Null-G. Wenn das mein Großpapa sehen könnte.« Bridget gebot ihr zu schweigen und flocht weiter an ihrer Hexenwiege. Ihre graue Mähne umwallte sie wie die Wellen eines uralten, versteckten Meeres. »Dergleichen hat die Welt noch niemals erlebt«, sagte sie zu Ann. »Der mächtigste Zauber, den je ein Magier anwandte. Der Endsieg über den Usurpator.« »Großartig, Mädchen«, sagte ich. »Wann werde ich denn nun eingeschläfert?« 217
Sie zog das Garn unter meinem Rücken durch. »Erst müssen wir die Göttin anrufen. Und wir müssen sicher sein, daß Mr. Canfield vom Satelliten aus den Nervenlähmer in Betrieb gesetzt hat. - So.« Sie knüpfte einen seltsam aussehenden Knoten an der letzten Öse und schnitt das restliche Garn ab. Ann tat das gleiche auf ihrer Seite. Die Kleine und ich schwebten innerhalb eines verstrickten Netzes, von den Schnüren fest eingeschlossen. Es mochte ganz gewöhnliches Garn sein, aber es hielt uns umklammert wie eine Zwangsjacke. Sie hatten eine kleine Öffnung gelassen, durch die sie an meine Arme herankommen konnten, und eine zweite am Spant, zum Vorbeigehen. Die Belüftungsanlage schien plötzlich auf höheren Touren zu arbeiten. Den Grund dafür konnte ich riechen. Bridget hatte eine Art Holzkohlenbrikett in Brand gesteckt und es in eine Schale mit s üßlich riechendem Weihrauch gelegt. Die Hälfte der glühenden Körnchen wurden von der Belüftungsanlage auf die andere Seite der Kabine geweht. Eine bläulich-graue Wolke breitete sich aus, doch schien sie eine beruhigende Wirkung zuhaben. Isidore hustete. Das Netz, in dem sie gefangen war, bewegte sich kaum. Ein Summen zeigte an, daß Canfield den Satelliten an das VideoSat-Sendenetz angeschlossen hatte. Unser Satellit leitete jetzt die Strahlen, die von dem Nervenlähmer ausgingen, an zwei andere Satelliten in der synchronen Umlaufbahn weiter, und alle drei bestrahlten den Planeten Erde aus allen Richtungen. Niemand würde es merken, wie sein Unterbewußtsein suggestiv beeinflußt wurde. Den meisten würde es nicht einmal auffallen, daß ich über Isidore mit ihnen Kontakt aufnahm. Bridget machte ein Zeichen mit der Hand und band sich einen Dolch, der in der Scheide steckte, mit einer roten Kordel um die Hüfte. Ann tat das gleiche mit ihrem eigenen Dolch, nur daß die Kordel bei ihr purpurrot war. 218
»Wo ist Osten?« fragte Bridget mit leichtem Stirnrunzeln. Schwerelos schwebend blickte sie sich in der Kabine um. Ann erwiderte: »Wir können uns an dem Zirkel und den Achsen der Himmelskörper orientieren.« Sie zog den Rolladen an einer der Ausguckluken hoch un d blickte hinunter zur Erde. Dann zeigte sie auf die Kabinenwand neben dem Wellenverstärker. »Zirkel ist Quatsch«, sagte Bridget. »Wir müssen jede Achse dreimal überschneiden.« Sie glitt zu der Wand hinüber, die Ann ihr anzeigte. »Dreidimensionale Zauberei ist etwas ganz Neues«, murmelte sie. »Wo ist denn Süden?« Ann zeigte es ihr, und Bridget begann einen ziemlich eckigen Zirkel abzuzeichnen, der an den Spanten anstieß. Vor dem Garnnetz hielt sie an. »Nächstes Mal müssen wir das besser vorbereiten«, sagte sie. Sie steckte den Dolch zwischen die Fäden und arbeitete sich auf die andere Seite vor. Dann packte sie den Griff des Messers und fuhr fort, den Zirkel abzuzeichnen. »Die Dame wird Verständnis aufbringen«, sagte Ann leise. Sie klappte einen kleinen Aktenkoffer auf und begann verschiedene Injektionsspritzen in unterschiedlicher Dosierung aufzuziehen. Dabei mußte sie jede einzelne kräftig schütteln, um in der Schwerelosigkeit die Luftbläschen herauszudrücken. Es machte mir Spaß, ihr zuzusehen. Sie war nicht wie andere Frauen. Allerdings war keine der drei so wie andere Frauen. Ich war selten im Leben mit normalen Dingen behaftet ge wesen. Bridget beendete den dritten Zirkel, nahm die Weihrauchschale zur Hand und drehte noch einige Runden. Als sie fertig war, ließ sie die Schale neben dem Altar in der Luft hängen. Null-Gravität produziert eigenartige Effekte. Nun streute Bridget etwas Wasser und ein paar weiße Körner aus. Sie schwebten durch den Raum wie kleine 219
Planeten und Asteroiden. Eines der Körnchen berührte meine Lippen. Es schmeckte salzig. Das Wasser, das sie ausgeschüttet hatte, formte kleine, wabblige Klümpchen. Die meisten davon blieben an den Wänden oder an der Hexenwiege haften. Wenigstens würden wir nicht lange genug hierbleiben, um uns um Rostflecken Sorgen machen zu müssen. Ann drückte auf ein paar Knöpfe, und der Altar glitt in die Mitte der Zirkel. Bridget wandte sich nach Osten und beschrieb mit ihrem Dolch einen Stern in der Luft. »Heil euch, Mächte des Ostens! Heil dir, Ursprung des heiligen Feuers! Iris, Aurora, Astarte, Göttin allen Beginnens. Seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier vollziehen!« Dann schwebte sie zur Südseite hinüber. Ann, die neben dem Altar schwebte, sah ihr gelassen zu. Bridget rief den Süden an: »Heil euch, Mächte des Südens. Heil dir, Ursprung des heiligen Feuers! Vesta, Esmeralda, Heartha - kommet und seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier vollziehen!« Nach Westen gewandt sprach sie: »Heil euch, Mächte der lebenden Wasser! Venus, lebenspendende Aphrodite, Themis, Göttin des Gesetzes und des Mondes. Kommet und wachet über diesen unseren Zirkel, und seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier vollziehen.« Ich begann, schläfrig zu werden. Aus der Pilotenkanzel kamen kratzende Geräusche, und ich nahm an, daß Canfield die vordere Schleusenkammer benutzte, um uns nicht zu stören. Bridget entschwebte meinem Blickwinkel, und ich hörte, wie sie den Norden ansprach: »Heil dir, Ursprung aller Macht! Arianrhod des Silberrades, Großer Memeter, Persephone, Mütter der Erde und der Schicksale! Beschützerin! Wachet über unseren Zirkel und seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier voll ziehen!« Etwas kratzte an der Tür zwischen der Pilotenkanzel und der Kabine. 220
Bridget machte eine abschließende Geste an drei Punkten des Zirkels und küßte Ann. »Der Zirkel ist geschlossen. Gesegnet sei er.« »Gesegnet sei er«, wiederholte Ann und nickte mir zu. Ich sprach ihr den Segensspruch nach und machte der Kleinen ein Zeichen, meinem Beispiel zu folgen. Sie zog ein saures Gesicht und schien unbeeindruckt. »Gesegnet sei er«, brachte sie schließlich heraus, mit etwa soviel Begeisterung wie ein zwangsweise eingezogener Rekrut beim Treueschwur. Bridget faltete die Hände und sprach mit leiser Stimme: »Gnädige Göttin und Königin des Himmels, Ewige Mutter und Schwester, Königin Isis - segne die Werkzeuge deiner einstigen und künftigen Zauberkunst. Segne dieses Haus und alle, die sich darin befinden...« Das Kratzen an der Tür wurde lauter. Es hörte sich an wie ein Hund, der freigelassen werden wollte. »... und beglücke uns mit deiner Anwesenheit, auf daß wir deinen Lehren lauschen können.« Die Alte blickte erst mich an, dann auf den Thetawellenverstärker, und schließlich auf die Injektionsspritzen, die Ann auf dem Altar bereitgelegt hatte. »Dies ist eine Beschwörung zur Auflösung und Befreiung. Tausende von Jahren hat der Usurpator Deine Welt im Würgegriff gehalten, hat Schönheit vernichtet und Liebe zerstört, hat alles Gute böse genannt und alles Böse als gut bezeichnet. Der Usurpator hat mit der Zunge von Menschen gesprochen, hat Deine Gesetze mißachtet und uralte Bindungen zerstört, hat Dein Reich in sinnloses Leiden und endloses Elend gestürzt. »Man hat uns ermordet und verbrannt und uns ge zwungen, im Elend zu leben, aber wir haben Dein Licht nie erlöschen lassen, so wie auch Du nie aufgehört hast, auch in der dunkelsten Nacht über uns zu wachen. Und jetzt ist die Zeit gekommen, wo Deine größte Macht - die Wissenschaft - uns befreien wird. Seit den Ursprüngen der Wissenschaften - Alchemie und Astrologie - hat der 221
Usurpator gegen sie angekämpft, ihre Diener verun glimpft und Seite an Seite mit uns auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Ohne es zu wissen, waren wir Verbündete in diesem uralten Kampf, und erst jetzt haben wir uns zusammengeschlossen - wir, die wir mächtiger sind als der Usurpator, so wie Liebe mächtiger ist als Haß, so wie derjenige, der aufbaut, mächtiger ist als derjenige, der zerstört. So wie Sie, die Leben gebärt, mächtiger ist als Er, der tötet. Zwei Hälften haben sich vereint - der Kampf hat begonnen. »So sei es!« Ann nahm eine der Injektionsspritzen und griff durch die Öffnung im Netz. Ich spürte einen leichten Einstich und dann wachsende Benommenheit. Wenigstens wußte sie, wie man eine Spritze verabreichte. Das Kratzen an der Tür war jetzt sehr laut. Wieder spürte ich einen Einstich. Ich wollte Ann von dem Loch berichten, das jemand in die Einstiegluke zu reißen versuchte, aber meine Worte kamen nur als undeutliches Gemurmel heraus. Ein fürchterliches gelbes Licht umgab mich. Zu meiner Linken fing der Wellenverstärker an zu glühen, in Farben, die wie Laserstrahlen zustachen. Ich blickte hinüber zu Isidore. Sie hatte sich mir gänzlich geöffnet. Ihre innersten Gefühle waren vor mir ausgebreitet wie auf einem psychologischen Büffet. Ich kannte sie in- und auswendig, und sie mich. Gemeinsam mit ihr erlitt ich die Sehnsüchte ihres Körpers und die Strafen ihrer Eltern. Sie weinte um meine hoffnungslose Kindheit ohne Inhalt. Ich zitterte mit ihr vor ihren Eltern, die nur geistige Errungenschaften anerkannten. Sie weinte unter dem Spott meiner Eltern über alles, was mich zu Ehrfurcht oder Ehrerbietung bewegte. Aber ich verehrte die Freiheit, und sie erreichte das Körperliche durch meine Gedanken. Gemeinsam bewältigten und überkamen wir alles. Tausend Nadeln stachen auf mich ein, und Dunkelheit umgab mich. Die Einstiegluke brach nach innen auf. 222
23 Ich stand im leeren Flachland. Auf einer leeren Ebene. Wenn Gott kommen würde, sich mir zu zeigen, würde Er es hier in dieser endlosen, trostlosen Einöde tun. Ich wartete ab. Er würde kommen. Und dann kam Er nicht. Ich ging weg. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, und wußte daher auch nicht, wann ich dort ankam. Aber ich kam irgendwo an. Der Erdboden begann steil nach unten abzufallen, obgleich die Ebene immer noch flach und endlos aussah. Meine Fußsohlen rutschten ab und wir belten Staubwolken auf, die mir in die Tiefe folgten. Ich fiel auf den Rücken und rutschte abwärts, wobei ich die Augen immer noch auf den endlosen Horizont gerichtet hielt. Ich fiel, rollte und schlitterte und versuchte, mich mit den Fingern festzukrallen. Meine Haut riß überall auf. Ich schrie. Es war ein hohlklingender, gedämpfter Schrei, wie aus dem Inneren eines geschlossenen Behälters. Der Boden fiel jetzt senkrecht ab. Ich stürzte abwärts. Bei meinen verzweifelten Versuchen, mich festzuhalten, brachen meine Finger ab. Der Boden fiel gänzlich unter mir weg, und ich stürzte ins Leere, in einen hellen, unbewölkten Himmel hinein. Stundenlang fiel ich. Tagelang. Ich zählte meine Herzschläge. Als ich bei 443557 ankam, geriet ich in einen Schwärm von Rasiermessern. Fleischstreifen fielen von mir ab. Die Ebene sah immer noch endlos und flach aus, obgleich ich schon Millionen Kilometer entfernt sein mußte. Eine dunstige Blutwolke rauschte an mir vorbei wie ein rubinroter Komet. Dann schlug ich auf. Der Schmerz überwältigte mich, als mich die spitzen Eisenstäbe, auf denen ich gelandet war, durchbohrten. Einer mußte mir in den Schädel eingedrungen sein. Als ich nach oben schielte, konnte ich auf meiner Stirn einen schleimigen, roten Zapfen hängen sehen. 223
»Also gut, Du hast Dich bewiesen«, schrie ich. Ich konnte nur heiser krächzen, weil einer der eisernen Dornen meine Lunge durchbohrte. »Zeige Dich jetzt und laß uns weitermachen.« Kein Laut war zu hören, außer dem Herabtropfen meines Blutes aus einer Arterie an meinem Hals. Ich versuchte aufzustehen. Hautstreifen und Fleischfetzen blieben auf dem Boden liegen. Ich hob sie auf und steckte sie in die Tasche. Der Boden, auf dem ich stand, kam mir ungewöhnlich vor. Ich bückte mich. Die Eisenstäbe schienen aus kleinen Ausbuchtungen im Erdboden herauszuwachsen. Ich überlegte, wo ich dergleichen schon einmal gesehen hatte. Die Antwort kam schnell. Eine riesenhafte Hand schoß auf mich zu und packte mich zwischen zwei Fingern. Der Schmerz war so groß, als sei ich von einer Dampfwalze überrollt worden. Die zwei Finger drückten und rollten mich wie einen Popel und öffneten sich dann. Über einen Abgrund hinweg, eine Million Kilometer breit, und auf einem Arm sitzend, der etwa die Größe von Florida hatte, betrachtete ich meinen Gegner. »Ich liebe dich!« brüllte eine Stimme wie ein Erdbeben. Ich blickte an mir herunter. Er hatte mich auf dem vordersten Glied seines Zeigefingers abgestreift. Alles, was nur weh tun konnte, tat mir weh. »Laß den Unsinn, Dicker«, rief ich. »Das macht alles keinen Eindruck auf mich. Mich haben schon Profis in der Mangel gehabt. Die Bullen in Los Angeles.« »Ich liebe euch doch alle, und ihr seid so schlecht zu mir.« Er hatte einen Bürstenhaarschnitt. Ich hatte mir Gott noch nie mit einem Bürstenhaarschnitt vorgestellt. »Sag mal«, schrie ich. »Erzählst Du hier Monologe, oder darf ich auch etwas sagen?« »Du verspottest mich. Du hast mich immer verspottet. Ich habe die Welt erschaffen, um euch glücklich zu machen...« 224
»Ja«, sagte ich, meine Chance wahrnehmend, »Stürme und Erdbeben hast Du geschaffen, Hungersnot und Krieg und Leiden, statt die Erde zu ein em Paradies zu machen.« »Natürlich habe ich das getan«, brüllte Er. »Ihr habt euch schlecht benommen, und so mußte ich euch aus dem Paradies hinauswerfen.« »Wir haben lediglich Deine Autorität angezweifelt.« Er zog mich mit rasender Geschwindigkeit zu sich heran, und ich blickte in ein Auge, so groß wie eine Welt. »Ihr wart ungehorsam. Ihr seid zu einer Einheit geworden. Ihr habt euch selbst zu Göttern erhoben und mir nichts übriggelassen. Nichts!« In dem einen Auge, das ich sehen konnte, formten sich Sturmwolken. Blitze schlugen heraus. Einer zischte dicht an mir vorbei. Sie war es! Es war das Werk der Frau. Ich habe meinen Sohn heruntergeschickt, um ihr Werk zu zerstören. Aber ihr seid der Sünde verfallen, und ich mußte euch bestrafen. Und jetzt sündigt ihr mehr als je zuvor. Ihr vergeßt mich, ignoriert mich und lacht mich aus - lacht mich aus! Jeder freie Gedanke ist eine Sünde gegen mich.« »Warum?« Es war ein alter Trick, den ich da anwandte. Vielleicht hatte ich Glück damit. »Weil ihr mir, eurem Gott, gehorchen müßt.« »Warum?« Ich streckte die Hand aus und begann Stückchen von mir selbst einzusammeln. »Weil ihr meine Kinder seid.« »Warum?« »Weil - weil...« Er erstickte fast. »Weil ich euch in meinem Ebenbild erschaffen habe.« »Warum?« »Damit ihr mir gehorcht.« »Warum?« Er stieß mich zurück, damit ich den Zorn in seinem Gesicht sehen konnte. »WEIL ICH GRÖSSER BIN ALS IHR!!« 225
Dann blies er mich von seiner Fingerspitze. Ich purzelte herunter, drehte mich um mich selbst und fiel, und fiel bis mich ein grelles rotes Licht umhüllte. Ich saß beim Kartenspiel, gemeinsam mit anderen Spielern. Neben meinem rechten Ellbogen, der links von mir, zusammen mit einem Teil meines Beines auf dem Tisch lag, waren noch andere Körperteile. Die anderen Spieler setzten ebenfalls verschiedene Teile ihres Körpers ein. Ich gewann ein Stück Hirn von einem Opernsänger und die halbe Arschbacke eines Mannes namens Martin. Ich gab sie zurück und ging weg. Ich war ja nicht wie Ann. Ich brachte es nicht fertig, einem Mann seinen Arsch beim Pokern abzugewinnen. Die nächsten drei Stunden war ich damit beschäftigt, meine verschiedenen Körperteile wieder zusammenzubauen. Ein Unbekannter setzte sich zu mir an den Tisch. Er war groß und schlank und trug die perfekt geschnittene Kleidung des Profi-Spielers. Er zog drei Spielkarten aus der Westentasche und warf sie mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. Jede der Karten wies in der Mitte eine scharfe Falte auf. »Vertrauen Sie mir?« fragte er. Seine Finger manipulierten die Karten so geschickt, daß mein Blick ihnen nicht folgen konnte. »Sie haben sich hier noch nie gezeigt«, sagte ich. »Ich habe keinen Grund, Ihnen zu vertrauen.« »Aber Sie haben auch keinen Grund, mir zu mißtrauen.« Er drehte eine Karte um - Pik-König. »Ich spiele dieses Spiel schon sehr lange«, sagte er und drehte noch eine Karte um. Karo-König. »Mal gewinne ich, mal verliere ich. Meistens gewinne ich. Aber Sie sehen aus, als könnten Sie mich schlagen. Sie müssen mir allerdings vertrauen, sonst haben Sie keine Gewinnchance.« »Wenn ehrlich gespielt wird, ist es keine Frage von Vertrauen.« Ich klebte mir das letzte Stückchen Haut wieder an und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. 226
»Wenn Sie mir nicht vertrauen, verlieren Sie.« »Und gewinne ich, wenn ich Ihnen vertraue?« »Das habe ich nicht gesagt.« Er lächelte berechnend. »Ich habe nur gesagt, daß Sie verlieren, wenn Sie es nicht tun.« »Und wenn ich mich weigere, überhaupt zu spielen?« Er drehte noch eine Karte um. Pik As. »Dann verlieren Sie auch, fürchte ich.« »Das ist ja eine tolle Masche.« »Ich lebe davon. Und für meine Jungens fallen dabei auch genügend Jetons ab.« Er manipulierte die Karten und wies mit einer Kopfbewegung nach hinten. Ein halbes Dutzend seiner Jungens stand an der Bar und grinste mich an. »Ein gutes Spiel, an dem man sich gesundstoßen kann. Aber Sie müssen mir vertrauen.« Die Karten schnellten ihm aus der Hand auf den Tisch. Er drehte eine um und zeigte sie mir. Ein As. Ich versuchte, seinen blitzschnellen Bewegungen zu folgen. Er zeigte noch mal auf die Karte und deckte sie auf. Sie hatte sich in Treff-König verwandelt. Ich versuchte immer noch herauszukriegen, wie er das machte. »Wenn Sie mir vertrauen, werde ich Sie nicht be schwindeln«, sagte er. »Vertrauen ist die Grundlage für eine gute Beziehung.« Wieder kam das As, glitt ihm durch die Finger und verwandelte sich in Karo-König. Ich bemühte mich, ihn noch schärfer zu beobachten. »Schauen Sie auf die Karten«, sagte er. »Schauen Sie auf die Karten und vertrauen Sie mir. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.« Dann gab es eine kleine Störung. Ein Paar Hände legte sich mir auf die Schultern. Ich verspürte den Geruch von Patchouli Parfüm. »Hauen Sie ab, Lady«, sagte er zu ihr, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich blickte nur auf die Karten. »Sie haben mir nie getraut.« »Weil er betrügt«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Ich habe 227
guten Grund, ihm nicht zu trauen. Er soll dir erst mal beweisen, daß er ehrlich spielt.« »Kann ich die Karten sehen?« Ich hielt die Hand ausgestreckt wie eine Schaufensterpuppe. Er strich sie mit einer Handbewegung ein. »Niemand darf alle drei sehen. Sie müssen Vertrauen haben.« »Warum?« Ich hätte nicht zu fragen brauchen. Seine Jungens hatten die Bar verlassen und kamen auf unseren Tisch zu. »Das sind die Spielregeln.« »Dann spiele ich nicht«, erwiderte ich und schickte mich an, aufzustehen. »Dann verlieren Sie«, knurrte er und lehnte sich über den Tisch. »Wenn man nicht spielt, kann man weder gewinnen noch verlieren«, sagte sie. »Er blufft.« Lächelnd setzte ich mich wieder. Ihre Hände drückten auf meine Schultern. Er lehnte sich noch weiter vor, die Karten in der einen Hand, die andere eine geballte Faust. Sie lachte und riß ihm die Karten aus der Hand. Alle drei waren Könige. »Das As hat er im Ärmel. Das ganze Spiel ist Betrug.« Sie warf die Karten auf den Tisch, mit der Bildseite nach unten. »Sie haben mir noch nie getraut«, sagte er, schmollend wie ein Kind. »Sonst hätten Sie vielleicht gewonnen.« Sie lachte. Es klang wie Regentropfen auf Kristall. »Ich gewinne immer, und Sie haben noch nie gewonnen. Darum können Sie nicht aufhören zu spielen.« Alle erstarrten wie in einem Filmstreifen, der im Vorführapparat steckengeblieben ist. Dann lösten sie sich in Luft auf, und ich blieb allein zurück. Ich deckte die Karten auf. Drei Herz-Damen. Jede sollte ein Joker sein, dachte ich. Ich stand auf und ging228
24 Die Straße war mit Leichen bedeckt. Ich drehte mich um, um in die Kneipe zurückzukehren. Sie war plötzlich verschwunden. Wo sie gestanden hatte, befand sich ein endloses Feld, mit Leichen übersät. Einige hatten kaum noch Fleisch auf dem Skelett, andere sahen frisch aus. Die meisten waren in einem Zustand reiferer Verwesung und strömten einen Geruch aus, den jemand mal als den > süßlich-widerlichen Gestank frischgebackenen Brotes < bezeichnet hatte. Aber es stank schlimmer. Es war erstikkend und brannte in der Kehle und in den Lungen. Zwischen den Toten lagen Tierkadaver aller Art herum. Die Fliegen hätten ein Festessen gehabt. Aber ich sah nur tote Insekten. Nichts lebte mehr, nichts bewegte sich. Außer mir. Und noch jemand. Natürlich. Er zerrte eine Leiche heran und legte sie neben eine andere in inniger Umarmung. Dabei brach ein Arm ab, und er war gezwungen, ihn so gut es ging, an seinen Platz zurückzulegen. »Pfui«, sagte er und blickte auf. »Was wollen Sie?« verlangte er zu wissen. Er war ungefähr so groß wie ich, mit langem, zerzaustem, grauem Haar und am ganzen Körper mit Furunkeln bedeckt. Seine Stimme klang, als hätte er Sandpapier im Hals. »Sie haben hier nichts zu suchen. Sie sind ja noch nicht am Verwesen.« »Ist das hier die Hölle?« Er starrte mich an, als hätte ich mich erkundigt, ob hier das chinesische Theater sei. »Natürlich nicht, Sie blöder Armleuchter. Es gibt weder Hölle noch Himmel. Man kommt nirgends hin, wenn man tot ist. Außer vielleicht unter die Erde.« Er hob einen abgefallenen Finger vom Boden auf und schwenkte ihn mir vor der Nase herum. »Und sprechen Sie bloß nicht über Seelen, Sie hirnloses Arschloch. Die Seele stirbt auch.« 229
»Energie kann weder geschaffen noch zerstört wer den«, sagte ich. Das hatte ich mal irgendwo gelesen. »Meine Gedanken sind elektro-chemische Energie und können nicht einfach vernichtet werden. Irgendwo wandern sie hin.« Er setzte sich einem Pferdekadaver auf die Brust und stand wieder auf, als er knackend und zischend unter ihm zusammenbrach. »Wollen Sie über Thermodynamik diskutieren?« Er legte zwei aufgedunsene, bläulich angelaufene Leichen übereinander und setzte sich rittlings darauf. »Also bitte. Was geschieht mit den gespeicherten Daten eines Taschenrechners, wenn Sie ihn abschalten?« »Wie bitte?« »Die elektronischen Teile, die die Zifferschablone errechnen, bleiben bestehen, aber die Schablone selbst wird zerstört.« »Ist denn meine Seele eine Schablone?« »Ihr Gehirn ist eine elektrochemische Struktur, die im Laufe der Zeit - in einer Zeitspanne von zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren - herangewachsen ist. Gewiß, die einzelnen Teile bleiben nach dem Tode bestehen, aber die Struktur als solche ist zerstört und funktioniert nicht mehr. Die Seele stirbt mit dem Menschen.« »Sie sind ja ein Herzchen.« Er lächelte mir zu. »Ich habe hier schon einige der besten Gehirne gegessen. Früher oder später kommen alle hierher. Sie sind tot und ihre Seelen sind tot. Aber ich esse ihr Hirn und...« »Und die Toten leben weiter in Ihnen?« »Ach, Scheiße«, sagte er. »Und unten auf der Erde«, fuhr ich fort, während erden Kopf auf die Handflächen sinken ließ, »leben sie weiter in ihren Errungenschaften.« »Nur metaphorisch«, sagte er mit müdem Kopfschütteln. »Das ist alles, was wir benötigen. Wir sind Produkte 230
genetischer Regeln.« All die unklaren Philosophiebücher, die ich gelesen hatte, kamen mir jetzt zu Nutzen. Er blickte mich aus flehenden Augen an. »Lassen Sie mich doc h zufrieden. Geben Sie mir mein Nichts wieder.« Eine Stimme dröhnte über das Feld zu uns herüber. »Wer ist das?« verlangte die Stimme zu wissen. »Wer stört meine Ruhe, meinen Seelenfrieden?« »Ich etwa?« fragte ich. »Dies ist mein Reich. Alle Menschen kommen auf diese Weise zu mir.« Der kleine alte Mann buddelte sich unter einer Leiche ein, aus der schwärzlicher Schleim tropfte, und ver steckte sich. Gleich darauf erschien Er. Er trug einen tiefschwarzen Ärztekittel. Sogar der runde Spiegel auf seiner Stirn strahlte ein Licht aus, das aus dem Dunkel zu kommen schien. Von seinen Handschuhen tropfte Blut. »Alle Geschöpfe der Luft und alle Tiere des Meeres. Alles, was geht und läuft und kriecht und atmet. Alle kommen sie hierher und verenden. Hier hört alles auf. Nichts bewegt sich mehr. Das ist die Ruhe. Dies ist die Ewigkeit.« »Hört sich recht langweilig an«, sagte ich, mich umsehend. »Es erinnert einen an eine politische Versammlung.« Er lachte nicht. »Sogar der Humor stirbt hier.« Das Blut von seinen Handschuhen lief ihm seitlich an den Hosenbeinen herunter und hinterließ zwei breite, rote Streifen, wie bei einem Hotelpagen. »Aber alles, was gestorben ist«, sagte ich, »kehrt eines Tages zur Erde zurück und wird Teil eines neuen Lebens.« »Vergiß die Erde. Auch sie wird eines Tages sterben.« »Und wird ein Teil des Universums werden oder Teil einer neuen Welt.« »Auch das Universum wird enden.« 231
»Und ein neues gebären«, sagte ich. Die Leichen und der Gestank waren vergessen. Ich hatte Ihn in die Defensive gedrängt. »Vergiß es. Geburt ist eine Illusion. Nichts wird geboren. Das einzige, was es gibt, ist der Wechsel.« »Was nicht geboren wird, kann auch nicht sterben.« »Ich kann dem Wechsel Einhalt gebieten«, schrie Er. Dabei ballte Er die Fäuste, daß ihm das Blut zwischen den Fingern hervorspritzte. »Das allein ist schon ein Wechsel. Ein Wechsel im Wechsel.« »Vergiß es. Es gibt nur noch den Tod. Tod und später nichts mehr.« »Ich lebe aber.« Um es zu beweisen, drohte ich ihm mit dem Finger. »Auch ich wurde geboren. Geburt ist Wechsel. Und der Tod ist Wechsel. Und er führt wieder zur Geburt. Er ist...« »Sprich es nicht aus!« kreischte Er und warf die Arme in die Luft. Das Blut tropfte ihm von den Ellbogen. Er warf den Kopf zurück, daß ihm der Spiegel über s Gesicht rutschte. »Ich wollte nur sagen, daß es ein Zyklus ist...« »Nein!« »So wie ein Rad!« Er kreischte auf. Jetzt hatte ich Ihn. »Ein Rad, das sich ewig dreht. Immer im Kreise. Kein Anfang, kein Ende...« Er trat zurück und stolperte über eine der Leichen. Der Himmel färbte sich dunkelrot. Eine Brise wehte hinter mir und trug den Duft von Äpfeln und Orangen heran. »Sie gehören mir!« schrie Er. »Ich lasse sie nicht an das Rad heran. Ich beschütze sie vor der Wiedergeburt, hier in dem Land ohne Wechsel.« »Sogar Du bist ein Teil des Rades.« »Nein!« brüllte Er. Er schien sich vor mir zurückzuziehen. Der Wind wurde stärker und trocknete das Blut an Seinen Händen. Er blies die obere Schicht der Leichen 232
fort. Sie rollten an uns vorbei. Ich versuchte eine zu packen, sie festzuhalten - für Ihn. »Nein, nein, nein«, sagte Er. »Du hast die Winde des Wechsels heraufbeschworen.« Die Leichen waren nur noch undeutlich zu sehen. Sie flogen in den flammenden roten Himmel und lösten sich dort auf. Das Blut an Seinen Händen war getrocknet und blätterte ab. Die Handschuhe schälten sich von Seinen Händen und entblößten eine glatte, harte, leichenhaft weiße Haut. Jemand mit langen, grünen Fingernägeln drückte mir von hinten eine goldene Sichel in die Hand. Ich warf sie auf Ihn. Die Sichel blieb in seiner Brust stecken und riß ein Loch von mehreren Zentimetern auf. Aus dem Riß kamen Tausende von Schmetterlingen in allen erdenklichen Farben geflogen. »Ich wollte Frieden«, sagte Er. Tränen flössen Ihm übers Gesicht und schwemmten es langsam fort. »Ich wollte Frieden - nicht Leben im Tode.« Dann nahm Er allmählich die Urformen an. Er wurde ein Affe, dann ein Reptil, ein Fisch, schließlich ein Klümpchen Urschleim. Nur Seine Stimme ertönte noch verwundert und traurig, als hätte Er zu spät eine Entdekkung gemacht. »Kein Kreis. Eine aufsteigende Spirale.« Von weither ertönte das Lachen einer Frau. Wo die Leichen gelegen hatten, wuchsen frische Pflanzen. Mittendrin saß ein trauriger alter Mann. »Wo nehme ich jetzt Gehirne her?« »Probieren Sie doch mal Ihr eigenes«, sagte ich. Unmittelbar darauf schlug eine Rakete ein und zer schmetterte alles.
233
25 Um mich herum explodierte alles. Ich duckte mich in einen Krater und steckte den Kopf in den Schlamm. Gewehrkugeln zischten mir über den Kopf. Pfeile flogen hin und her. Ein blendend heller Laserstrahl, ein Kilo meter über mir, ionisierte die Luft. Jemand stolperte in den Krater neben mir. Er war schlammbedeckt und hielt ein Gewehr in der Hand. Auf seinem Gesicht, das aussah wie ein Klavier, lag ein breites Grinsen. »Jetzt haben wir die Hurensöhne bald. Was, Junge?« Er war ein paar Jahre jünger als ich. Warum nannte er mich >Junge »Wen haben wir bald?« »Den Feind, Junge, den Feind!« Ein Felsblock flog über uns hinweg und schlu g in den Boden ein. Armbrustpfeile prallten von ihm ab. Am Himmel stieß eine ferngesteuerte Rakete mit einem Jet zusammen, und beide explodierten. Irgendein Plasma-Geschoß flammte auf wie eine Sonne und fiel auf eine Stadt nieder. Aus den Vororten ertönte lautes Schreien. »Großartig, großartig«, rief er aus. »Was? Der Tod?« »Nein. Die Zerstörung. Die plötzliche Verwandlung von einem Pfund Gelignit in Feuer und Gas. Das Haus, das eben noch ein Heim war und eine Sekunde später nur noch Schutt ist. Wechsel. Das wollen Sie doch, oder?« Jetzt hatte er mich. Meine Gedanken jagten einander auf der Suche nach einer passenden Antwort. Er beobachtete mich scharf. »Dies ist gewaltsamer Wechsel«, sagte ich. »Unnatürlich.« »Ein Sturm ist etwas Natürliches - und trotzdem gewaltsam.« Sein Lachen war das eines Irren. »Die Menschen versuchen immer, die Zerstörungs234
kraft der Natur zu vermindern. Nur im Krieg verstärkt man sie noch.« »Durch Anwendung der Wissenschaften.« Er warf eine Handgranate. »Besseres Töten durch Chemie.« Die Explosion der Granate erschütterte unseren Krater und schleuderte Erdbrocken auf uns herab. Die Luft roch nach Kordit und Ozon. »Wissenschaften sind wertlos, solange man sie nicht anwendet.« Eine Steinaxt flog über uns hinweg. Ich zeigte mit der Hand darauf. Langsam bekam ich die Haarspalterei satt. »Man kann mit einem Skalpell auch töten und mit einer Decke jemanden ersticken. Krieg ist nichts als beschleunigter Wechsel. Man versucht...« »Sprich es aus, und du stirbst!« Er zielte mit dem Gewehr auf meinen Kopf. »Mir ist aufgefallen, daß Gott in jedem Krieg auf beiden Seiten steht. Oder auf allen Seiten. Was für ein Spiel treibst Du?« »Ich werde immer Sieger bleiben.« Er schob eine Patrone in die Kammer und legte an. »Aber Du spielst immer den Verlierer. Die Gewinner gewinnen Glauben, und die Verlierer verlieren ihn.« »Das gleicht sich aus.« »Meinst Du?« Ich saß im Dreck und sehnte mich nach einer Zigarette. Neben mir tauchte eine Wasserpfeife auf. Ich tat einen Zug. »Warum bin ich dann hier bei Dir? Warum ziehst Du Dich immer wieder in einen Winkel zurück? Warum kehrst Du immer wieder zu Deinen bewährten Mitteln zurück: Gewalt und Glauben?« »Wenn du in mich vertraust, brauche ich keine Gewalt anzuwenden.« Ich blies ihm den Rauch ins Gesicht. »Aber Deine Drohung, Gewalt anzuwenden, ist nur dann wirksam, wenn ich an Dich glaube. So oder so bist Du der Ver lierer.« »Nein!« Er feuerte auf mich. 235
Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen und sprach weiter. »Du nennst Dich einen Gott der Liebe, aber im Krieg beten die Menschen, daß sie siegen mögen. Du nennst Dich einen gerechten Gott, aber wenn jemand freie Gedanken hegt, läßt Du ihn für ewig im Höllenfeuer schmoren.« »Propaganda. Alles verkehrt.« »Die Kriegspropaganda erwähnt Dich recht oft. Wie gefällt es Dir, wenn der Spieß mal umgedreht wird?« Er schob einen neuen Ladestreifen ein und schoß mir ein Dutzend Garben in den Leib. Zum Schweigen brachte er mich nicht. »Gott ist nur ein Gleichnis für >Gewissen<. Dem Gewissen kann man nicht entkommen. Wie würde es Dir gefallen, ein Gewissen zu haben?« »Sei still!« »Deine heiligen Kriege haben Heuchler gezeugt, keine Gläubigen. Deine Inquisition hat Lügen erpreßt, nicht Wahrheit. Deine Jihads waren nichts als Gangsterfehden. Dein Exodus ein Unsinn. Dein Friedensprinz ist zum Kriegsgott geworden. Alles, was Du berührt hast, hat sich in Schmerz und Elend verwandelt.« Er glitt auf den Boden des Kraters hinab und weinte bitterlich. »Warum?« überschrie Er das Krachen der Einschläge. »Warum?« »Du hast Dir selbst widersprochen. Du wolltest, daß wir Dich aus freiem Willen akzeptieren, aber Du hast uns mit ewiger Strafe gedroht, falls wir uns weigerten. Dann hast Du uns die Vergebung unserer Sünden einfach gemacht. Ein paar gemurmelte Worte. Vor dem Tode, aber nicht nachher. Du hast uns verwirrt. Der primitivste Verbrecher denkt realistischer als Du. Er verlangt nicht von seinen Opfern, sie sollen ihn lieben.« »Kann ich mich noch ändern?« fragte Er. Er hielt sein Gewehr umschlungen, und die Tränen wuschen helle Streifen in den Schlamm auf seinem Gesicht. 236
»Dazu ist es zu spät. Du hast alles verpfuscht. Der Beweis dafür ist, daß ich überhaupt hier bin. .Daß ich überhaupt daran denken kann, Gott zu töten, beweist, daß Du erledigt bist.« »Wenn Sie nur...« Bevor Er weitersprechen konnte, verschwamm alles in dem puren, grellen Licht einer nuklearen Explosion. Ich verwandelte mich in einen flammenden Stern.
26 Vor der Tür hielt ich. Sie war aus Eichenholz. Gewisse Überlegungen gingen mir durch den Kopf. Ich hob die Hand, um anzuklopfen. »Bemühen Sie sich nicht«, sprach eine müde, ver brauchte Stimme. Sie haben ja den Schlüssel, Mr. Ammo. Sie hatten schon immer den Schlüssel.« Ich stieß die Tür auf und sagte: »Hören Sie auf mit dem Hollywood-Blödsinn. Ich brauche keinen Schlüssel.« »Sie sind der Schlüssel.« Ich gähnte und sah mich um. Alle vier Wände waren mit Bücherregalen verkleidet. Schwere, in Leder gebundene Bücher. Von irgendwoher erstrahlte sanftes, indirektes Licht. Draußen brachen sich die Wellen, aber der Raum hatte keine Fenster. Langsam schloß ich die Tür hinter mir und blickte auf die Mitte des Raumes. Ein hochlehniger Sessel stand - mit dem Rücken zu mir - auf dem abgetretenen Teppich. Ich ging auf ihn zu. »Wie kommt es, daß aus einem Killer ein Sucher nach Wahrheit wird, Mr. Ammo?« fragte die Stimme hinter der Stuhllehne. »Weil man einem Killer keine Mythen verkaufen kann. Er ist ebenso mächtig wie seine Opfer, aber trotzdem kein Teil dessen, was sich abspielt. Zwar ist er ein Mitspieler, aber gleichzeitig ein objektiver Beobachter.« Ich ging um 237
den Sessel herum auf die andere Seite und blickte in die Augen eines müden, alten Mannes. Er war weder schlank noch beleibt - weder groß noch klein, weder hellhäutig noch gebräunt. Er sah aus wie der gewöhnlichste Sterbliche. Absoluter Durchschnitt. Außer den Augen. In ihnen lag die Müdigkeit von Jahrmillio nen. Die Augen zogen mich irgendwie an. Ich bemühte mich, das Gefühl abzuschütteln. Aber Er blickte tief in mich hinein. »Ein stolzer Mann«, sagte Er. »Ich habe den Stolz zur Sünde erklärt.« »Es sollte nicht sündhaft sein, eine gute Meinung von sich selbst zu haben.« »Niemand ist ein Bösewicht in seinen eigenen Augen, was - Mr. Ammo?« Er faltete die Hände und nickte. »Warum wollen Sie mich töten? Haben Sie Ihren Vater gehaßt?« »Nein.« »Wahrscheinlich doch. Alle Führer sind Vaterfiguren, und Sie haben viele von ihnen ermordet.« »Mein Vater hat mich nie zu etwas gezwungen. Er hat mir nie etwas weggenommen und dann so getan, als sei es zu meinem Guten. Er hat mir nie ein Schuldgefühl vermittelt, dafür, daß ich am Leben war.« »Aber er hat Ihnen nie beigebracht, etwas zu verehren. Er hat Sie verspottet, wenn Sie an Wunder glaubten.« »Ich habe es überlebt.« Ich fischte ein Päckchen Zigaretten aus der einen, Streichhölzer aus der anderen Rocktasche. »Und Ihre Mutter? Was war mit der?« »Ich wußte gar nicht, daß Sie ein Anhänger von Freud sind«, sagte ich und fächelte mir den Rauch aus dem Gesicht. »Warum sprechen wir nicht von Ihrer Mutter?« Er schlug mit der Faust auf die Armlehne des Ledersessels. »Ich hatte nie eine Mutter. Verstehen Sie nicht? Nie mals!« Er lehnte sich ächzend zurück. »Ich weiß nicht, 238
warum ich mir die Mühe mache. Ich habe versucht, zu retten...« Er machte eine hilflose Bewegung mit der Hand, wie ein sterbender Vogel. »Ich weiß«, sagte ich. »Christus ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben und all der Quatsch.« Er wurde puterrot im Gesicht und brüllte mich an: »Christus ist nicht für eure Sünden gestorben, sondern für meine. Die Sintflut war ein Fehler von mir. Was ich in Sodom und Gomorrha gemacht habe, war auch falsch. Ich habe mein eigenes Gebot mißachtet.« Er sah mich aus schmerzerfüllten Augen an. »Wird das nicht dadurch wettgemacht, daß ich euch gestattet habe, meinen Sohn zu töten? Wollt ihr mir immer noch nicht vergeben?« Tränen rollten Ihm die Wangen hinunter. Er wischte sie nicht ab. »Jedesmal, wenn ein Kind verhungert« rief ich, »hört eine Mutter auf, Dir zu vergeben. Bei jeder Mißernte verfluchen Dich die Menschen. Du hast vorgegeben, daß wir nur an Dich zu glauben brauchten, um von dem Zyklus erlöst zu werden, der...« »Nicht! Ich bitte dich!« »... aus dem Zyklus von Leben, Tod und Geburt. Auch Du bist ein Teil des Zyklus. Das ganze Gerede von Auferstehung war nur ein Gleichnis für den Lebens zyklus der Erde.« »Sprich nicht weiter«, sagte Er. »Bitte. Ich bin schon ein sehr alter Gott.« »Du bist der jüngste Gott mit großem Namen, den wir bis heute hatten. Du bist nur frühzeitig gealtert, weil Du Dich gegen die uralte Harmonie des Lebens auflehntest.« »Du weißt nicht, wovon du sprichst.« »Große Sache«, erwiderte ich. »Ich bin inspiriert. Jetzt sei mal ruhig und höre mir gut zu. Auch im Film darf der Killer immer große Reden schwingen, für den Fall, daß die Kavallerie...« »Jetzt werde bloß nicht geschmacklos.« »... für den Fall, daß die Kavallerie doch noch rechtzei239
tig zur Rettung eintrifft.« Ich strahlte Ihn mit meinem gewinnenden Lächeln an. »Du hast Angst vor dem Zyklus. Du hast Angst vor dem Rad des Lebens. Deshalb verleugnest Du es, damit auch andere sich ihm verschließen mögen. Aber es bringt nur Schmerz und Elend, wenn man die Wirklichkeit verleugnet. Du wolltest um jeden Preis Deine Macht erhalten darum hast Du das Leiden zu einer Tugend erklärt, und Deine Priester, die Liebe und Wahrheit predigen, zu Folterknechten gemacht. Wann immer sie konnten, haben sie ihre Opfer gerädert und gevierteilt, und als das nicht mehr möglich war, haben sie die verfeinerte Folter von Schuld und Furcht angewandt.« »Dostojewski«, sagte Er. »Erzähle mir etwas Neues.« »Wozu? Du hast ja auch nichts Neues zu erzählen. Du verlangst, daß wir aufhören zu lernen, daß wir Buße leisten, weil wir den Unterschied zwischen Recht und Unrecht erkannt haben, und daß wir um Deinetwillen wieder zu unwissenden Narren werden. Du verlangst von uns, daß wir die Uhr zurückstellen, daß wir das Rad nach rückwärts drehen. Du weigerst Dich, die Realität der Evolution und des Wechsels anzuerkennen. Das Alte kann niemals besser sein als das Neue, auch wenn das Neue größere Gefahren in sich birgt.« »Willst du mich umbringen, indem du mich tot redest?« Ich drückte meine Zigarette auf Seinem Teppich aus. Jetzt hatte ich Ihn. »Einige der intelligentesten Menschen verleugnen Deine Existenz, weil Du von ihnen verlangst, ihre eigene zu verleugnen. Kein rational denkender Mensch kämpft gegen seine Natur an. Deine mächtigsten Verbündeten hast Du verloren. Wofür?« »Aber Sie habe ich gestoppt.« »Trotzdem warst Du nicht imstande, sie zu töten.« »Nein«, sagte Er. »Das war unmöglich. Sie besaß die eine Macht, die ich nicht zerstören konnte. Und auch 240
nicht nachahmen.« Er ließ die Hände in den Schoß fallen und drückte sie mit den Knien zusammen. »Wir konnten ohne das nicht sein. Wir waren revoltierende Sklaven, sonst nichts.« Er ließ eine Hand zwischen die Polster gleiten. »Vielleicht wird das, was kommt, den Zyklus brechen.« Er zog eine Pistole aus den Polstern. Er setzte die Waffe an Seine Schläfe an und feuerte. Der Schuß hallte einen Moment durch den Raum und verebbte dann. Was blieb, war die schreckliche Stille eines Ortes, der zwischen den Träumen liegt. Die eine Kopfhälfte war weggeschossen und lag auf dem Boden. Innen war weder Blut noch Hirn. Nur ein kalter Nebel, der sich über den Teppich ergoß. Knarrend öffnete sich die Tür. »Na also«, sagte eine freundliche Stimme. »Hat sich der alte Sturmgott endlich selbst erledigt. Keine Feuer mehr auf den Berggipfeln für ihn.« »Halten Sie den Mund, Zacharias. Sie sind der nächste, das wissen Sie doch.« »Warum denn das?« Er schlenderte zu uns herüber und setzte sich auf die Sessellehne, Jehova den Rücken zukehrend. »Diese vertrocknete alte Pflaume hier war mein jüngerer Bruder. Der kleine Thor, Bindestrich Allah, Bindestrich Jaweh, Bindestrich Brahma, Bindestrich Sturm der Vergeltung. Er hat mich mit seinen Lügereien ausgetrickst und die Herrschaft übernommen. Dann besaß er die Frechheit, mich als Lügenprinz zu bezeichnen, ohne dabei zu erwähnen, wer der König der Lüge war. »Sie sind auch nicht besser als er.« Ich hob die Pistole auf. Es war ein .45er Colt Peacemaker. Gott hat alle Menschen gleich erschaffen. Jetzt hatte sich Colonel Colt dafür revanchiert. »Ich war nie ein Kriegsgott wie er«, sagte Emil und zeigte mit dem Daumen auf das hohle, leblose Ding hinter ihm. »Natürlich habe ich hier und dort mal ein paar Opfer verlangt, aber das war nicht mehr als...« Wieder ertönte ein Schuß. Emil brach zu Füßen seines 241
Bruders zusammen. Ein Rauchwölkchen zog sich neben der offenen Tür in die Höhe. Es kam aus der Mündung einer Pistole. Einer Pistole in der Hand von Ann Parrine. Sie lächelte mir zu und stieß hörbar den Atem aus. »Ich danke dir, Engelchen«, sagte ich. Ich ging auf sie zu und nahm ihr die Waffe ab. »Du hast den Fall gelöst.« »Was für einen Fall? Man hat dich angeheuert, Gott zu töten. Da liegt er.« »Aber ich habe es nicht getan.« »Na und?« Die Augen, aus denen sie mich anblickte, waren durchdringender, als die jedes Gottes. Ihre Schönheit war strahlender als die jeder sterblichen Frau. »Ich hatte mir schon gedacht, daß etwas nicht stimmte, als du mir um jeden Preis deine Hilfe aufdrängen wolltest, obgleich meine Geschichte reichlich verrückt klang. Und dann fiel mir auf, daß du mir jedesmal, wenn ich in Schwierigkeiten kam, mit allen möglichen Zauberformeln zu Hilfe kamst. Als dann Zacharias den Kontrakt annullieren wollte, fragte ich mich, warum.« »Na und?« fragte sie noch mal und trat ins Zimmer. Sie betrachtete Emil. Auf seiner Brust, wo die Kugel eingedrungen war, blühte eine Rose. Dann sah sie den toten Gott an und schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. »Man hat Zach hereingelegt, indem man ihn mit die sem Auftrag zu mir schickte«, sagte ich. »Er dachte, er könnte auf diese Weise seinen Bruder loswerden und wieder an die Macht kommen.« »Vielleicht.« Sie setzte sich auf die rechte Armlehne mit dem Rücken zu mir. Alles, was ich von ihr sehen konnte, war ihr goldenes Haar. »Ganz bestimmt. Was er nicht erkannte, war, daß sie mehr als nur Brüder waren. Sie waren das gleiche Wesen in doppelter Form.« »Das ist Ketzerei«, sagte sie leichthin. »Wenn man daran glaubt, ja. Aber du glaubst weder an Ketzerei, noch an Sünde, noch an unverdiente Schuld. Du glaubst nur an den Zyklus.« 242
Sie lachte und drehte sich zu mir um. »Sie waren trotz allem ein Teil des Zyklus«, sagte sie, meine Frage vorwegnehmend. »Jahr für Jahr kämpften sie um meine Gunst. Sie waren meine Könige und meine Liebhaber...« »Und deine Söhne?« »Ja«, erwiderte sie in sachlichem Ton. »Warum sollte ich sie also aus dem Wege räumen wollen? Es hätte nur den Zyklus gebrochen.« »Sie waren der Tod in doppelter Form. Beide waren sie Götter der Zerstörung. Du dagegen bist ganz für dich allein etwas Vielfältiges. Dein Frühling und dein Herbst trennen die Hitze des Sommers von dem Eis des Winters. Und du bist der ewig rotierende Mond.« »Du sprichst von Dingen, von denen du nichts weißt, Dell. Du willst mir unbedingt eine Antwort entlocken. Das brauchst du nicht. Ich gebe dir die Antwort gern.« Sie deutete auf die zwei toten Götter. »Sie haben sich von d en Menschen mißbrauchen las sen. Sie haben ihre Macht in gleicher Weise zu Gutem und Bösem verwendet. Menschen beteten in der Kirche, daß Gott anderen Menschen Leiden und Schmerz zufü gen möge. Der Eine gewährte es. Andere zelebrierten schwarze Messen fü r zerstörerische Zwecke, und der Zweite erschien ihnen. Beide verhielten sich prahlerisch und eingebildet. Sie verloren jeden Sinn für Gut und Böse. Man mußte nur an sie glauben. Das genügte ihnen. Wenn man sich ihnen unterwarf, taten sie alles, was man von ihnen verlangte.« »Und so wurden die Herren zu Sklaven.« »Eine hübsche Geschichte«, sagte ich. »Und dann hast du beschlossen, ihre Rivalität zu schüren.« »Die gab es schon immer. Kann ich meine Pistole zurückhaben?« Ich gab sie ihr. Sie steckte die Waffe in ihre Handtasche. Ich steckte mir eine Zigarette an. »Wird der Zyklus weitergehen?« 243
»Vielleicht in etwas anderer Form, für einige Zeit. Oder für lange Zeit. Die Göttin des Wissens kann auch noch manches dazulernen.« »Und diese Göttin bist du. Unter scheidest du dich von den anderen durch die Art deiner Beschaffenheit oder durch das Maß?« »Beides«, sagte sie lachend. »Und ich liebe dich.« »Ich dich auch, Schätzchen. Aber ich überlege mir gerade, was wohl mit der Welt geschehen würde, wenn ich dich auch umlege.« »Das könntest du gar nicht«, sagte sie simpel. »Diese beiden konnten sterben, weil sie das Todesprinzip ver körperten. Es ist leicht, den Tod zu verleugnen, wäh rend man lebt. Es ist auch leicht, das Gleichnis des Todes zu töten. Ich bin das Gleichnis des Lebens. Mich zu verleugnen, hieße die Wirklichkeit selbst verleug nen. Zu leugnen, daß ein Baum wachsen und eine Frau ein Kind gebären kann. Die Göttin zu verleugnen, heißt die Liebe zu verleugnen.« Ich paffte ein paarmal an meiner Zigarette und sah ihr zu, wie sie mich betrachtete. »Welche Art von Opfern muß man dir darbringen?« »Jeder Liebesakt ist eine Opfergabe an mich. Jeder gütige Gedanke ist wie ein Segensspruch. Du brauchst mir nicht zu vertrauen oder an mich zu glauben, wenn du nicht willst. Mit oder ohne dich bin ich eins mit mir selbst. Ich führe niemals einen vorzeitigen Tod herbei. Alle kehren am Ende zu mir zurück und werden wie dergeboren. Leben und Tod sind Teile eines Zyklus und der aufsteigenden Spirale.« Sie erhob sich. »Aber jetzt muß ich gehen. Du hast gute Arbeit geleistet.« »Nichts dergleichen. Ich habe keinen von beiden getötet.« »Du warst der Katalysator. Sei froh, daß dich der Gegenschlag nicht zerstört hat.« »Gehst du jetzt einfach weg?« Sie strich mir über den Arm und sagte: »Hättest du 244
mich gern zum Verhör hierbehalten?« Sie küßte mich auf die Stirn. »Suche mich auf, wenn du zurückkommst.« Ein Buch fiel aus dem Regal. Sie blieb einen Moment lang im Türrahmen stehen. Dann ging sie hinaus und schloß die Tür hinter sich. Ich warf die Zigarette weg, drückte sie auf dem Fußboden aus und lauschte ihren sich entfernenden Schritten. Sie waren noch lange zu hören. Noch ein Buch fiel vom Regal. Dann noch eines. Der Fußboden erbebte. Ich warf die Pistole auf den Teppich und ging zum Ausgang. Eines der Bücherregale fiel krachend um und verstreute Bücher überall im Raum. Ich warf einen letzten Blick auf die toten Götter. Sie sahen bedeutend stabiler aus als die Metaphore, für die ich sie immer gehalten hatte. »Ann?« fragte ich, als ich die Tür aufmachte. Dann fiel ich ins Leere.
27 Ich schwebte im Dunkeln. Doch war es keine völlige Dunkelheit. In der Nähe tropfte eine Kerze. Ich roch nach Schweiß und anderen unangenehmen Dingen. Meine Muskeln hatten sich zu schmerzenden Knoten verflochten. Meine Zunge war dick angeschwollen. »Ann«, sagte ich. Ich konnte kaum sprechen. Keine Antwort. Neben der Kerze flammte ein Weihrauchkörnchen knackend auf. Außer meinem Atem war es das einzige Geräusch. Ich versuchte, die Arme zu bewegen. Die Hexenwiege hielt mich fest umklammert. Ich war ganz steif davon, daß ich Gott weiß wie lange unbeweglich in derselben Stellung verharrt hatte. Gott war allerdings nicht mehr in der Lage, es zu wissen. Etwas schwebte an mir vorbei. Anns Athame. Allmählich bekam ich die Finger frei. Es schien Stunden zu 245
dauern, bevor ich sie auch nur biegen konnte. Endlich hatte ich die rechte Hand bis zum Gelenk frei und bekam den Dolch zu fassen, der in den Schnüren hing. Ich zersägte die Schnüre, die um meinen Arm geschlungen waren. Sie sprangen summend auseinander, wie die Saiten einer Harfe. Dann schnitt ich meine Beine los und schwebte zwischen den Überbleibseln der Wie ge umher, wobei ich versuchte, meine steifen Muskeln zu entspannen. Mein Arm, der noch von den Injektionen gerötet und geschwollen war, tat weh und pulsierte. Ich war noch halb benommen, und alles drehte sich im Kreise um mich. Ich bekam eine Handvoll Garn zu fassen und zog mich an den Spant heran. Dort schaltete ich das Licht ein. Die Kabine war leer. Ich blickte hinüber an die Stelle, wo sich Isidore befinden mußte. Das Garngewebe war unversehrt, aber sie war nicht dort. Ich zog mir den Thetawellenhelm vom Kopf und warf ihn zur Seite. Jemand klopfte an die Luftschleuse. Es war Canfield. Ich setzte die Schleuse unter Druck und ließ ihn ein. »Wo sind die anderen?« Ich ließ ihm nicht einmal Zeit, den Schutzhelm abzunehmen. »Das möchte ich auch wissen«, sagte er durchs Mikrofon. Dann knöpfte er sich den Helm auf und zog ihn ab. »Ich hänge seit anderthalb Tagen draußen an der Rettungsleine und kann nicht herein, weil jemand die äußere Bedienungsanlage sabotiert hat. Ich habe versucht, durch die vordere Luftschleuse in die Pilotenkanzel zu kommen, aber die ist auch außer Betrieb.« »Vergessen Sie es«, sagte ich, die verbeulte Verbin dungsluke betrachtend. Ich stieß mich ab, glitt zum Altar hinüber und blies die Kerze aus. Das Wachs war heruntergelaufen und bildete einen langen Zapfen. Der Rauch schlängelte sich an ihm entlang und löste sic h auf. »Erst erzählen Sie mir mal, was mit den Frauen geschehen ist.« »Sie haben das Raumschiff nicht verlassen.« 246
Ich nickte. »Also gut. Ich ziehe mir einen Schutzanzug über, und wir sehen zu, daß wir nach Hause kommen.« »Aber wo sind die Frauen?« fragte er besorgt. »Vielleicht haben sie nie existiert«, sagte ich, und es schmeckte wie Schwefel. Mit gemeinsamen Kräften öffneten wir die Verbindungsluke zur Pilotenkanzel und säuberten das Innere so gut es ging. Schwefel ist schwer abzuwaschen, wenn er mit anderen Substanzen verschmolzen ist. Ein oder zwei Tage später kamen wir in Erdnähe und warfen den Treibstoffbehälter ab. Das Raumschiff sackte ab wie ein Ziegelstein und wir landeten etwas unsanft auf dem Flughafen von Los Angeles. Kein Jet verfolgte uns. Vieles hatte sich geändert. Aber nicht sehr. Als erstes fuhr ich zur Batista Corporation. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, und ein Schild verkündete, daß das Gebäude zu vermieten war. Wochenlang durchsuchte ich sämtliche Hotels in Los Angeles. Die Auberge war verlassen. Es war anzunehmen, daß man das neue Untergrund-Etablissement in der nächsten Zeit schärfer bewachen und nur zuverlässigen Kunden zugänglich machen würde. Ich verbrachte ganze Tage in einer Telefonzelle und ließ mir von der Auskunft sämtliche Nummern unter dem Namen Ann Perrine geben. Keine der Stimmen, die sich meldeten, klang wie ihre. In einer kalten Februarnacht, als der Regen den Abfall von den Gehsteigen schwemmte, wurde mir klar, daß ich sie auf Erden nie wiederfinden würde. Der Regen trommelte auf meinem Gesicht herum wie Schrapnellsplitter. Ich stand vor einer verlassenen Kirche. Mein Trenchcoat war durchweicht, aber das machte mir nichts aus. Zacharias hatte die Wahrheit gesprochen. Ich war am Leben und jünger als zuvor. Aber ich war allein. 247
Ich stapfte durch das schlammige Wasser. An der Ecke stand eine winzige Gestalt im abgetragenen Mantel. Ich ging auf sie zu und hätte sie angesprochen, aber sie starrte mich aus glasigen, pechschwarzen Augen an. Dunkle Locken hingen ihr verworren in die Stirn. »Können Sie einen Dollar entbehren, Mister?« Ich gab ihr alles Kleingeld, das ich bei mir hatte. »Der Göttin sei Dank«, sagte sie unbeholfen und steuerte auf das nächste Lebensmittelgeschäft zu. Es war sinnlos, weiter zu suchen. Weiter zu hoffen. Welchem Zweck die drei Frauen immer gedient haben mochten, ihr Werk war getan. Ich würde Bridget und Isidore nie wiedersehen. Auch Ann nicht. Der Regen wurde noch kälter und lief mir in den Nacken.
28 Es dauerte ein Jahr, bis ich Randolph Corbin begegnete. Kurz nachdem der Papst den Massen das Wort der Dame zu verkünden suchte und keinen Erfolg damit hatte, war Corbin spurlos verschwunden. Schließlich begegnete ich ihm in einem Buchladen in Hollywood, wo er in Goldings letztem Buch, >Argumente gegen die Göttin<, blätterte. »Froher Jahrestag«, begrüßte er mich. Ich ließ es auf mir sitzen. »Immer noch dabei?« fragte ich ihn. »Ich habe vor zwei Monaten die Loge des Hexensabbat der schwarzen Isis in Los Angeles gegründet. Meine These ist, daß die Göttin auch eine dunkle Seite hat, und was könnte segensreicher sein, als...« »Lassen wir das, Corbin. Diese Argumente habe ich alle schon mal gehört.« Wir schwiegen und schauten uns eine Zeitlang die Buchtitel an. »Wie kommen Sie sich vor, den Erdball gerettet zu haben, und niemand sagt dankeschön?« fragte er mich. 248
»Ich habe überhaupt nichts gerettet«, erwiderte ich. »Ich habe einiges geändert, aber die Menschen trauern noch immer um zerstörte Hoffnungen, vergeudetes Leben und verlorene Liebe. Menschen töten immer noch und sterben immer noch.« Er schob ein Buch auf seinen Platz zurück und murmelte: »Harter Bursche, was?« Er nahm ein anderes Buch heraus und sagte: »Ich habe heute im MacArthur - ich meine im Hacte Park ein Pärchen beobachtet. Sie schworen sich ewige Liebe, küßten sich und weinten dabei.« »Große Sache«, sagte ich und wandte mich den Bestsellern zu. In letzter Zeit wurden große Mengen okkultistischer Bücher herausgegeben oder neu gedruckt. Wenigstens heimsten ein paar Schriftsteller ihren wohlverdienten Lohn ein. Ich schlug eines auf und blickte hin ein, ohne etwas zu sehen. Ich sah nur Ann. »Ihr Killerherz sollte frohlocken, daß bei den letzten Wahlen nicht einmal die Politiker ihre Stimme abgegeben haben.« »Die sitzen immer noch uneingeladen in Washington herum«, sagte ich. Ich betrachtete den Umschlag eines neuen Buches. Es handelte von Raumschiffahrt. Schon vom Umschlag her war mir klar, daß der Autor keine Ahnung vom Thema hatte. »Wenigstens können sie nirgends einen neuen Krieg anzetteln.« Ich blickte ihn verständnislos an. Ich hatte den Faden verloren. Meine Gedanken waren bei Ann. Ich sah ihre lebhaften Augen vor mir, die mich über den Abgrund zwischen jetzt und niemals hinweg anblickten. Ich nahm mir noch ein Buch: >Tantrisches Joga<. Und noch eines: >Magie der Kerzen<. »Corbin«, sagte ich, nach einem Buch über Hellseherei greifend, »Sie müßten das eigentlich wissen. Gibt es keinen Ort zwischen Träumen und Vergessen, wo die Wahrheit und das Wissen aller Zeiten zu finden ist?« 249
Er sah mich an, als ob meine Krawatte Feuer gefangen hätte. »Ja«, erwiderte er. »Man nennt es >Akashic Records<. Warum fragen Sie?« Ich kaufte mehr Bücher, als ich mir leisten konnte, zahlte an der Kasse und ließ sie mir einpacken. Ich ging zum Ausgang und ließ Corbin grußlos zurück. Ich rannte auf die Straße in die kalte Winterluft unter dem hellen klaren Himmel. Ein paar Straßenarbeiter errichteten wieder die Schilder mit dem ursprünglichen, vollen Namen von Los Angeles: >Die Stadt Unserer Dame, Königin der Engel <. Aber ich nannte sie immer noch L.A. Mein Atem sauste mir in den Ohren, und mein Herz klopfte wie das eines eingesperrten Menschen, der sich zu befreien versucht. Nach wenigen Minuten erreichte ich mein Büro in der Western Avenue. Ich schlug Türen und Schubladen auf und zu, bis ich es endlich gefunden hatte. Ihr Athame. Die einzige psychische Verbindung, die ich benötigen würde. Ich setzte mich und begann zu lesen. Der Dolch lag neben mir auf dem Tisch. Der Nordwind toste gegen mein Fenster und rief mich.
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