Peter Ustinov
Der Intrigant
»An diesen beiden munter, mit Witz und Verstand erzählten Novellen erweist sich aufs Neue,...
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Peter Ustinov
Der Intrigant
»An diesen beiden munter, mit Witz und Verstand erzählten Novellen erweist sich aufs Neue, was auch bei Ustinovs Memoiren beeindruckt: diesen Autor zu lesen wird nicht zuletzt deshalb zum Vergnügen, weil man bei der Lektüre spürt, daß der Verfasser sowohl mit Begeisterung als auch mit Übersicht bei der Sache war.«
FAZ
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Peter Ustinov
Der Intrigant Zwei Novellen
Übersetzt von Hans M. Herzog
ECON Verlag Düsseldorf • Wien • New York
Titel der englischen Originalausgabe The Disinformer. Two Novellas Originalverlag: Michael O’Mara Books Limited, London Übersetzt von Hans M. Herzog Copyright © 1989 by Dunedin N. V.
2004
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Ustinov, Peter: Der Intrigant: 2 Novellen/Peter Ustinov. Übers. von Hans M. Herzog. Düsseldorf; Wien; New York: ECON Verl., 1990 Einheitssacht.: The disinformer (dt.) ISBN 3-430-19277-3 Copyright © 1990 by EGON Verlag GmbH, Düsseldorf, Wien und New York. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Gesetzt aus der Sabon Satz: Computersatz Bonn GmbH, Bonn Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-430-19277-3
FÜR HÉLÈNE Geliebte und Gefährtin
Der Intrigant Sein Name ist kaum von Belang; er benutzte so viele verschiedene. Doch wie die meisten Menschen legte er Wert darauf, einem Namen den Vorrang zu geben, so wie eines Menschen Herkunft im Leben offenbar eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Seine Memoiren hatte er zwar geschrieben, aber sie lagen nur als Manuskript vor, das er noch nicht einmal den zuständigen Behörden vorgelegt hatte, da, so behauptete er, keine Autorität befähigt sei, ein von ihm verfaßtes Buch zu beurteilen oder es gar mit Zensur zu belegen. Warum also den vielen Ärger auf sich nehmen? Es war früh genug, wenn die beiden Exemplare nach seinem Tod entdeckt würden, eines in seinem Schreibtisch, das andere in einem Bankschließfach, dann wäre zweifellos die Hölle los. Gelegentlich lächelte er bei dieser Vorstellung, auch wenn er mit leichtem Bedauern daran dachte, daß er nicht zugegen sein würde, um das von ihm angerichtete Chaos auszukosten. Auf der Titelseite des Manuskriptes stand der Name Hilary Glasp, was falsch genug klingt, um wahr zu sein. Sein Vater, Mervyn Glasp, hatte als Beamter bei der Syrischen Eisenbahn gearbeitet, und Hilary war so versehentlich wie verfrüht in einem überfüllten Bahnhofswartesaal auf der Strecke Beirut – Damaskus zur Welt gekommen; seine Mutter starb bald darauf vor Verlegenheit. Der von Kindermädchen und Babysittern großgezogene Knabe hatte Arabisch flüssiger als Englisch gesprochen, bis er im üblichen Alter von acht auf eine englische Internatsschule geschickt wurde. Weder dort noch später auf seiner Privatschule war er eine große Leuchte, doch seine Fähigkeit, flüssig Arabisch zu sprechen, verlieh ihm eine gewisse 6
Exklusivität, und später, während des Krieges, wurde sie unendlich wertvoll. »Arrabbisch? Ziemlich ungewöhnlich, was?« hatte der ungläubige Rekrutierungsoffizier ausgerufen. »Nicht für mich«, hatte Hilary mit jener nachlässigen Arroganz erwidert, die in seiner Zeit beim britischen Geheimdienst MI5 typisch für ihn werden sollte, unentwegt bemüht, eine bessere Position zu erobern, während es aussah, als döse er vor sich hin. Nach den unangenehmen Anstrengungen der Grundausbildung schickte man ihn zu einem Auffrischungskurs in umgangssprachlichem Arabisch, wo er die meiste Zeit damit verbrachte, Satzbau und Grammatik seines Lehrers zu korrigieren, zunächst taktvoll, bald unverhohlen. Zu kluge Köpfe erregen das Mißtrauen ihrer Vorgesetzten, doch Hilarys Talent, vieles für sich behalten zu können, überzeugte das nachrichtendienstliche Establishment rasch davon, daß er ein Mann war, dem man vertrauen konnte, der mit seinen Fähigkeiten nicht protzte, sondern sie eher unter den Scheffel stellte. Er verbrachte den Krieg hauptsächlich im Nahen Osten, wo er sich in Kairoer Bars aufhielt, Straffällige in Palästina befragte und ganz generell das Nötige veranlaßte, um sich den Anschein gelassener und findiger Unverwüstlichkeit zu geben. Große Risiken ging er nicht ein, das hätte ihm nicht zugesagt; aber er knüpfte viele nützliche Kontakte, die ihm zustatten kamen, als ihn die Beförderungswoge seinem Dienstalter entsprechend in der Hierarchie nach oben schwemmte. Nach dem Krieg blieb sein Spezialgebiet der Nahe Osten, und bis zur Pensionierung verbrachte er die meiste Zeit in London oder Beirut. Er zog letzteres vor, weil er dort sein eigener Herr war, seine Freizeit nach Gutdünken verbringen und die Grenze zwischen dieser und seiner Arbeit nach Belieben ignorieren konnte. Dem wachsamen Auge des Hauptquartiers entzogen, konnte er ohne weiteres in Cafés 7
sitzen, Arrak trinken und nichts Besonderes beobachten, und unter dem Vorwand, dort seine Kontakte zu haben, verbrachte er die Abende in heruntergekommenen Nachtclubs. Im Vergleich dazu war London eine Brutstätte von Argwohn, Verleumdungen und Mißtrauen. Dort mochte er keine Menschenseele; mit levantinischen Machenschaften kam er eben weit besser zurecht als mit steifer Etikette und einer ungnädigen Zentrale. Allerdings nur bis zu seiner Pensionierung. Als ihre Zeit abgelaufen war, wanderten einige seiner Kollegen aus, nach Kenia, Florida oder Australien. Einer von ihnen hatte, ohne zu zögern, eine Autobiographie verfaßt, womit er den heiligen Zorn der britischen Regierung auf sich zog, die mit einem Trommelfeuer juristischer Schritte reagierte, von denen keiner auch nur das geringste bewirkte, außer gratis die Werbetrommel für das anstößige Werk zu rühren und es für alle zeitgeschichtlich Interessierten zur Pflichtlektüre zu machen – was es gar nicht war. Außerdem hatte es den vielen anderen alten Spionen, die in ihren winzigen Enklaven in Mombasa, der Algarve oder wo auch immer über ihren halbfertigen und garantiert nie vollendeten Büchern saßen, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hilary allerdings hatte seines beendet, hatte Namen genannt und es mit bissigen Bemerkungen besprenkelt, wie ein Gärtner seine Pflanzen mit Pestiziden besprüht. Abends oder in schlaflosen Nächten las er gelegentlich einzelne Passagen erneut durch und änderte hier oder dort eine Zeile, um den Text treffender oder weniger zweideutig zu machen. Dann fiel er in einen unbeschwerten Schlaf, während ein dünnes Lächeln seine Lippen umspielte. Die Pensionierung ist für diejenigen, die sie zu früh ereilt, immer eine Zeit der Herausforderung, und Hilary, der einen Großteil seines Berufslebens so zugebracht hatte, als sei er vorzeitig in den Ruhestand getreten, wurde nun allmählich 8
nervös und zappelig, da man ihm die Trägheit aufzwingen wollte, die er stets gepflegt hatte. Manchmal grub er aus abgegriffenen Aktentaschen alte Adreßbüchlein aus, Unterlagen, die er beim Schreiben seiner Memoiren benutzt hatte, und ging sie Name für Name durch, als eine Art Bestandsaufnahme der Verrufenheit, eine Liste von Kreaturen, die lediglich im Zwielicht zum Leben erwachten. Die Namen verursachten nicht nur Momente der Irritation, Komik oder sogar des Rätselhaften, sondern kamen ihm jetzt auch wie Klagelieder auf vertane Gelegenheiten vor. Dann und wann fühlte sich Hilary wie ein Tennisspieler, der seinen Höhepunkt zu früh in der Geschichte erreicht hatte, als Männer noch voller Stolz die Farben eines Clubs oder einer Nation trugen. Es gab all diese absurden Sprüche wie »unserer Seite die Treue halten« oder »nicht mit gezinkten Karten spielen«. Nach diesen strikten Regeln war auch Spionage betrieben worden. Es war nicht nur erforderlich gewesen, seine Angelegenheiten mit Anstand zu betreiben, sondern man hatte diesen stillschweigend vorausgesetzten Anstand auch bei anderen erwartet. Unversehens, mit Aufkommen der Konsumgesellschaft samt dazugehöriger Käuflichkeit, war aus dem Spion rasch ein freischaffender Experte geworden, der in einem offenen Markt operierte, das eine Ohr am Erdboden, das andere immer offen für das höchste Gebot. Und diese Korruptheit erfaßte nicht nur einzelne, sondern ganze Organisationen, die ein Faible für Verfahren wie Desinformation oder Destabilisierung hatten, und zuweilen, wenn auf dem wachsenden Markt zum Kauf und Verkauf von Informationen erforderlich, beste Beziehungen zu ihren Erzfeinden pflegten – eine zwielichtige Börse, auf der der Wert jedes interessanten Leckerbissens, jeder verräterischen Kleinigkeit schwankte wie das Auf und Ab der Gezeiten. Wie reich hätte Hilary werden können, wäre er zwanzig, ja zehn Jahre später zur Welt gekommen! 9
Inzwischen war er zum Rang eines Fossils degradiert worden, ein letztes bitteres Überbleibsel jener tragischen Generation von Spionen, die von Gehalt und Pension lebten, statt sich in Briefkastenfirmen zu verwandeln und sich in opulenter Anonymität auf den Cayman-Inseln niederzulassen. Die Memoiren entsprangen hauptsächlich dem Gefühl, von einer Gesellschaft hintergangen worden zu sein, die sich historisch gesehen zu spät entwickelt hatte, um für das leibliche Wohl jener zu sorgen, die sich an die Spielregeln gehalten, außerdem lange genug gelebt hatten, um mit anzusehen, wie jüngere Männer auf verbotenem Terrain zu Wohlstand kamen. Seltsamerweise urteilten Hilary und seinesgleichen aus ihrer inneren Wut heraus mit verletzter Eitelkeit über den Verfall der Werte. Voller Schärfe sprachen sie von Berufsethos und den kargen Freuden einer nicht profitsüchtigen Vergangenheit, während sie gleichzeitig die Nachlässigkeiten der neumodischen Typen verdammten, die kein Geheimnis für sich behalten konnten, wenn sich nur ein Käufer fand. Sie äußerten sich sowohl sarkastisch als auch ungemein neidisch über moderne Spione. In dieser eigenartigen Stimmung nahm Hilary eines Abends vor dem Fernseher Platz, um sich die Neun-Uhr-Nachrichten anzusehen. Er hatte in letzter Zeit schlecht geschlafen, war nachts unversehens von einem plötzlichen Schmerz gepeinigt oder von dem unwillkürlichen nervösen Zucken eines Armes oder Beines aufgewacht. Er bildete sich ein, sein regelmäßiger Atem stocke manchmal, und dann fiel es ihm schwer, das wieder zu vergessen und sein zuverlässiges Herz sich selbst zu überlassen. Er konnte nur vermuten, daß dies Symptome des fortschreitenden Alters waren, doch es hatte auch den Anschein, als verleihe Hilarys Körper einer tiefsitzenden Unzufriedenheit mit seiner Lebensführung Ausdruck. Vielleicht trugen das Pensionärsdasein, die tägliche, an seiner intellektuellen Substanz zehrende Inaktivität sowie die Sinn10
und Ziellosigkeit allesamt zu dieser unterdrückten Hysterie bei, zu diesen ebenso winzigen wie beunruhigenden Explosionen in der Stille der Nacht. Die Nachrichten fingen an. Irgendwo im Norden hatte die Premierministerin eine Rede zur Eröffnung einer Kindertagesstätte gehalten, in der berufstätige Mütter tagsüber ihre Kinder abgeben konnten. Betrieben wurde die Kinderkrippe von ehemaligen Arbeitslosen, die man in einem zweiwöchigen Schnellkurs auf ihre neuen Pflichten vorbereitet hatte. Ein Staatssekretär hatte indiskreterweise Pläne zur »Teilprivatisierung« der Königlichen Marine enthüllt, was feindselige Reaktionen einer Gruppe kurz vor der Pensionierung stehender Admirale hervorrief, andererseits sah sich ein bekannter Kekshersteller zu einer positiveren Reaktion veranlaßt und erklärte sich bereit, zunächst einmal eine Fregatte zu »adoptieren«, vorausgesetzt, man ändere den Namen des Schiffes dergestalt, daß es den Ruhm seines Wohltäters mehrte. Am selben Tag hatte die Premierministerin anläßlich der Verleihung einer Ehrendoktorwürde verkündet, nun, da viktorianische Werte wieder Allgemeingut seien, müsse das Land zu den Werten der elisabethanischen Epoche zurückkehren. Außerdem entgegnete sie als Antwort auf einen respektlosen Zwischenrufer: »Gegen den Markt geht nichts.« Ein Minister behauptete, die elektronischen Medien hätten »einen unübersehbaren Linksdrall«. In einem wenig beachteten mörderischen Konflikt am Euphrat gab es weit mehr Opfer von Senfgasangriffen, als allgemein vermutet worden war. Ein amoklaufender Vietnamkriegsveteran hatte in einem Supermarkt in Terre Haute, Indiana, fünfzehn Menschen erschossen, nachdem er »Amok« gesehen hatte, einen mit einem Oscar ausgezeichneten Film zum gleichen Thema. Hilary sah sich das alles mit einem sardonischen Gesichtsausdruck an und dachte über die Absurdität von alldem nach, zugleich völlig hilflos angesichts dieser 11
abendlichen Flut von Kot aus den Gedärmen der Welt. Die Tagesereignisse wurden mit der mürrischen Verdrießlichkeit vorgetragen, dank deren sich ein preisgekrönter Nachrichtensprecher als solcher identifizieren läßt. Plötzlich zögerte der Sprecher und sagte, als begänne er ganz von vorne: »Soeben wird mir eine Meldung aus West Kensington, London, hereingereicht. Heute nachmittag explodierte ein Auto, das vor einem Laden mit irischen Strickwaren abgestellt war. Zwei – vermutlich jamaikanische – Passanten wurden verletzt, einer davon schwer. Weder über die Verantwortung noch das Motiv für den Anschlag herrscht Klarheit, auch wenn Grund zu der Annahme besteht, daß dieses Verbrechen auf das Konto der IRA geht, denkt man an den Laden, der vermutlich durch die Bombe zerstört werden sollte.« Sah der Polizei ähnlich, solche voreiligen Schlüsse zu ziehen. Diese Denkweise erinnerte Hilary an vielerlei, das er nach dem Krieg in London erleiden mußte. Warum sollte die IRA ein Geschäft in die Luft jagen, das irische Pullover und Strickjacken verkaufte? Waren in einer Zeit, in der sie bekanntermaßen über so raffinierte Waffen verfügte, daß man sie fast als Artillerie bezeichnen konnte, die Ziele auf einmal so unbedeutend geworden? Einer plötzlichen Eingebung folgend, wählte Hilary die Nummer einer führenden Londoner Boulevardzeitung und ließ sich mit dem Redakteur verbinden. Er gab seinen Namen mit Abdul Farhaz an und unterhielt sich mit imaginären Menschen in seinem Zimmer, während er auf den Redakteur wartete, so daß dieser als erstes ein wenig zwangloses arabisches Geplauder hören würde, wenn er an den Apparat kam. »Redakteur Harry Putner.« »Aha. Die Bombe, die heute in London explodierte.« »Ja?« 12
»Das war unser Werk.« »Wer sind Sie?« »Ein Mitglied der Märtyrer des siebzehnten September.« »Von wo aus rufen Sie an?« »Beirut.« »Beirut? Wiederholen Sie bitte Ihren Namen …« »Nein.« Dann legte Hilary auf. Jetzt brauchte er nur noch zu warten. Er hatte die Spritze sparsam eingesetzt; es würde sich herausstellen, ob das Serum wirkte. In dieser Nacht schlief er gut, als hätte einen Teil seines Geistes eine gewisse Gelassenheit erfaßt. Im Morgengrauen machte er sich eine starke Tasse Tee, Marke »Russische Karawane«. Dann nahm er Platz, um sich im Fernsehen das Frühstücksprogramm anzusehen. »Doch zunächst die Nachrichten«, sagte das heitere, für diese Tageszeit unverschämt vergnügte junge Ding. Der Nachrichtensprecher erschien und machte sofort da weiter, wo er am Abend aufgehört hatte. »Der gestrige Bombenanschlag in West Kensington, London, wurde von einem anonymen Anrufer einer Organisation zugeschrieben, die sich ›Märtyrer des siebzehnten September‹ nennt. Es ist das erste Mal, daß diese Organisation öffentlich in Erscheinung tritt, auch wenn Scotland Yard gestern abend einen schlechten Scherz nicht ausschließen wollte. Erst vor einer halben Stunde wurde die Angelegenheit noch mysteriöser. Ein zweiter anonymer Anrufer behauptete, die für den Anschlag verantwortliche Organisation sei die Halbmond-Bruderschaft, bei der es sich, soviel man weiß, um einen Ableger der von Abu Nidal geführten Gruppierung in Damaskus handelt. Zunächst war man der Meinung, der Anschlag habe dem Strickwarenladen Bit O’Blarney gegolten, inzwischen steht aber fest, daß der 13
rote Wagen vom Typ Reliant Kitten auf den Namen Jaffar Ben Aziz zugelassen war, Bruder des stellvertretenden Bürgermeisters von Gaza, dem der militante Flügel der PLO Kollaboration mit den israelischen Behörden vorwirft.« Ein Sprecher der IRA hatte nur Spott für die Vermutung übrig, seine Organisation habe irgend etwas mit dem Attentat zu tun. Um Seamus O’Tumelty, einen der Anführer der militärischen Sektion, zu zitieren: »Warum sollten wir ausgerechnet den Laden eines irischen Geschäftsmannes in die Luft jagen, der auf ehrliche Weise seinen Lebensunterhalt verdient, wo es so viele britische Ziele gibt, die das genaue Gegenteil tun?« Hilary schaute auf die Uhr. Dann rief er in Beirut an. Er sprach arabisch. »Ist Ahmed Kress da?« Er wartete einen Moment. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Dann spielte ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen, die größte Annäherung an Charme, deren er fähig war. »Ahmed Kress? … Raten Sie … Nein … Nein … ich bin kein Araber … Hilary Glasp.« Aus der Muschel drang ein Schwall überschwenglicher Worte. Nachdem er sich an dem Austausch von Höflichkeiten beteiligt hatte, wurde Hilary ernst: »Nein, ich muß zugeben, daß ich nicht nur eine alte Bekanntschaft erneuern möchte. Was ist die Halbmond-Bruderschaft? … Darüber können Sie nicht am Telefon sprechen … also gut, dann mache ich es Ihnen leichter … Ist Faruk Hamzawi daran beteiligt? … Können Sie nicht sagen … Was wohl heißt, daß er es ist … Sie können es immer noch nicht sagen … na schön, dann will ich das Thema wechseln … Was macht Abdul Farhaz in London? … Er ist tot? … Wie überaus verwunderlich. Neulich sah ich ihn noch … in Soho … in einem Kuskus-Imbiß, hat sich wie üblich vollgefressen 14
… Ich plauderte ein wenig mit Commander Sidney Mudgeon, dem neuen Leiter der Anti-Terror-Einheit, und er ist so gut wie überzeugt, daß der gestrige Bombenanschlag hier Abdul Farhaz’ Handschrift verrät. Sie glauben immer noch, daß er tot ist? … Um so besser, daß ich Sie angerufen habe … Für den Londoner Anschlag haben die Märtyrer des siebzehnten September die Verantwortung übernommen … könnte das Farhaz’ neue Splittergruppe sein? Sie sind sich nach wie vor sicher, daß er tot ist. Von wem wissen Sie das? Faruk Hamzawi? … Sie erinnern sich nicht … ach so, das ist allgemein bekannt … Sie wissen vermutlich, daß das Attentat das Werk der Märtyrer des siebzehnten September war? … Nein, nein, das war später, viele Stunden später. Die hiesige Polizei ist sicher, daß es nichts mit Faruk Hamzawi zu tun hat … nicht sein Stil, laut Mudgeon … da täuscht sich Mudgeon?« Hilary lächelte und ließ einen Augenblick verstreichen. Dann fuhr er bedächtig fort: »Mit anderen Worten, die Halbmond-Bruderschaft ist Faruk Hamzawi? … Ich soll meine eigenen Schlüsse ziehen … danke sehr, mein Freund … Nein, ich kann zur Zeit nicht nach Beirut kommen … Ich möchte keinesfalls als Geisel enden … Nicht nur das, ich habe auch kein Vertrauen in die Fürsprache der anglikanischen Kirche … auf Wiederhören … Ach ja, da wäre noch etwas, lieber Freund … glauben Sie mir, Abdul Farhaz geht es gut, und er lebt in London … geben Sie mir ein wenig Zeit, und ich beschaffe Ihnen seine Adresse und Telefonnummer … Meine Telefonnummer?« Hilary überlegte kurz. Es war zu gefährlich, falls es Verbindungen zwischen Beirut und Scotland Yard geben sollte. Gottlob hatte er aus alter Angewohnheit eine Geheimnummer. »Sind Sie noch dran? Haben Sie etwas zu schreiben? 9 46 21 78. Genau. Adieu.« Die Nummer hatte er sich spontan einfallen lassen. Langsam legte er den Hörer auf und dachte nach. Er 15
schaute auf die schmale Straße in Soho hinaus, wo er seine Eigentumswohnung hatte. Obwohl es ein sonniger Morgen war, bemerkte man gerade noch die rhythmischen Beleuchtungswechsel, wenn die Neonschilder der »Oh-La!-La!«-Stripbar, rot wie Schamröte, und die des »Adamant-Eve«-Fitneßcenters sich auf den schmierigen Fassaden widerspiegelten. Auf einmal fiel ihm auf, daß der seiner Wohnung direkt gegenüberliegende Laden des griechischen Schneiders A. Agnostopoulos seit neuestem leer war, die Fenster offen und die nüchterne Beleuchtung abmontiert. Der alte Mann hatte in letzter Zeit gar nicht gut ausgesehen, wenn er sich über sein Bügelbrett beugte. Ein paar Arbeiter stellten ein Schild auf. Büroraum in bester Lage zu vermieten, nur durch Maklerfirma Harry Goldhill und Neffe. Natürlich fehlte auch eine Telefonnummer nicht. Eine Eingebung, ein aberwitziger Plan ungeheuerlichen Ausmaßes breitete sich einem Tischtuch gleich ganz vorne in Hilarys Phantasie aus. Noch war es kein Größenwahn, doch als auf halbem Wege gelegene Zwischenstation dorthin war es mehr als brauchbar. War so etwas möglich, oder existierte es bloß in der Literatur, wo der Autor die Zeit, vom Zufall ganz zu schweigen, fein justierte und den Erfordernissen der Handlung anpaßte? Die Initiative ergreifen war schon die halbe Miete; Hilary wußte das aus Erfahrung. Der Ehrgeiz des Konterboxers bestand lediglich darin, diese flüchtige Initiative wiederzuerlangen, sobald der Feind seine Absichten offenbart hatte. Es war einen Versuch wert. Menschliche Wesen hatten die angenehme Eigenheit, als Individuen schwer von Begriff zu sein. Multiplizierte man die einzelnen miteinander zu einem Kollektiv, nahm die Begriffsstutzigkeit noch zu. Daraus ließ sich logisch folgern, daß Begriffsstutzigkeit auf nationaler Ebene einer Krankheit gleichkam. Ein einzelner Bösewicht war gegenüber der Masse seiner Verfolger ungeheuer im Vorteil, falls er nicht das 16
schauderhafte Pech hatte, bei einem Fehler ertappt zu werden, was, wie man weiß, gelegentlich passiert, wenn auch selten. Hilary nahm den Hörer ab, ergriff die Initiative, wählte die Nummer von Harry Goldhills Büro und ließ sich mit Mr. Goldhill verbinden. »Ich rufe wegen der leerstehenden Büroräume in der Nummer 88 an … ja … genau. Was ist eigentlich mit Mr. Agnostopoulos geschehen? Verstehe … hatte er irgendwelche Verwandten? Nein, ich kannte ihn kaum – einmal ließ ich mir eine Hose ändern … Ja, ich kenne das Büro … ein Raum nach vorne hinaus, einer nach hinten, und Toilettenbenutzung … und die Miete? … Das erscheint mir ein bißchen reichlich, nicht wahr, wenn man das Alter des Gebäudes in Betracht zieht … Hat Mr. Agnostopoulos das denn bezahlt? … Wirklich? … Ich zweifle nicht an Ihren Worten, Mr. Goldhill … Wer ist der Vermieter? … Die ›Oh-La!-La!‹-Corporation … Verstehe … Tochterfirma der ›Oh-La!-La!‹-International, deren Zentrale sich in Palma de Mallorca befindet … nein, überhaupt nicht … ich werde das Büro ohnehin nicht selbst nutzen. Bitte? … Ach so, ich heiße Gwynne … (Er notierte sich seinen Namen rasch auf einem Schreibblock) … Lionel … ja … ich handele im Auftrag von Cedarex … Import-Export … Zentrale in Tunis … Stimmt, früher war sie im Libanon, aber Mr. Butros Abassuad wanderte nach Tunis aus … woher wußten Sie das? … Oh, Libanonzeder – Cedarex … verstehe … Sie würden einen guten Detektiv abgeben, Mr. Goldhill … ein Mindestmaß an Bildung? Sie sind zu bescheiden, Sir. Darf ich bei Ihnen vorbeikommen? Heute? Sechzehn Uhr? Ausgezeichnet, ich werde dasein.« Hilary überprüfte seine Finanzen. Er war sein Leben lang sparsam gewesen, vielleicht weil ihm nie jemand etwas hinterlassen hatte, und die paar Groschen, die er während seiner Schulzeit als Taschengeld erhielt, waren der letzte und einzige Wohlstand, den er je erlebt hatte, genug für einen 17
Fry’s Pralinencremeriegel. Doch selbst seine magere Pension hatte er erfolgreich angelegt, und nun war er betucht genug, um nach seinem Tod Bekannte verblüffen zu können. Er nahm sich vor, einen Mietvertrag über einen möglichst kurzen Zeitraum abzuschließen. Ließ es sich nicht schnell erledigen, lohnte es überhaupt nicht. Er und Mr. Goldhill feilschten lediglich um die Länge des Mietvertrages, nicht um die Höhe der Miete. Das Treffen endete unbestimmt, da Mr. Goldhill erklärte, er müsse sich mit »Oh-La!-La!«-International ins Vernehmen setzen, während Hilary konterte, er müsse Cedarex konsultieren. Vor dem nächsten, zwei Tage später stattfindenden Treffen rief Hilary die Nummer an, unter der Ahmed Kress in Beirut erreichbar war. Die Stimme klang unangenehm nah, und doch seltsam verzerrt. Es war nicht die von Ahmed Kress. »Sind Sie das, Glasp? Sie haben uns eine falsche Nummer gegeben.« »Haben Sie erwartet, ich würde Ihnen die richtige geben?« »Es gibt ja immer noch das Telefonbuch.« »Ich habe eine Geheimnummer.« »Verstehe. Jedenfalls freue ich mich über Ihren Anruf, und sei es auch nur, um Ihnen, lieber Freund, mitzuteilen, daß Abdul Farhaz tot und begraben ist.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe ihn erschossen und begraben.« »Faruk Hamzawi?« »Sie irren sich.« »Ich erkenne Ihre Stimme. Sie haben die gleiche Telefonnummer wie Ahmed Kress. Interessant …« Stille. »Wie geht es meinen verehrten Brüdern vom Halbmond?« Sein Gesprächspartner legte auf. In Beirut ein wenig Chaos 18
anzurichten konnte nicht schaden, auch wenn Chaos dort nie Mangelware war. Zwanzig Minuten später rief Hilary erneut an. »Sie wissen zuviel über unsere Angelegenheiten. Seien Sie vorsichtig«, sagte dieselbe Stimme wie zuvor, nun atemlos. »Vorsichtig sein? Warum?« Hilary lachte leise. »Ich weiß relativ wenig, stelle aber eine Menge Vermutungen an, immer mit erschreckender Präzision. Der Fehler muß bei Ihnen liegen. Außerdem, wenn ich das sagen darf: Falls ich zuviel weiß, wissen Sie zuwenig. Abdul Farhaz geht es prima, und er lebt irgendwo in London. Wir unterhielten uns ausführlich über Sie und über den Halbmond. Es sagt, Sie seien kein übler Mensch, nur töricht und sorglos …« »Ich habe Abdul Farhaz aus kürzester Entfernung erschossen!« »Wahrscheinlich hat Sie die Erregung geblendet. Abdul Farhaz wurde nicht einmal verwundet. Er hat sich einen Bart wachsen lassen.« »Er war immer glattrasiert!« »Ich fragte ihn, wie lange er den Bart schon trage. Er sagte, er habe ihn sich vor einem halben Jahr wachsen lassen, als er bei den Drusen Unterschlupf fand.« »Ich habe ihn vor zwei Wochen erschossen, er war glattrasiert, und bei den Drusen hat er sich nie verkrochen!« brüllte Faruk Hamzawi. »Gott ist mein Zeuge!« Hilarys Stimme nahm einen gottesfürchtigen Tonfall an. »Gott ist unser aller Zeuge, Abdul. Ich kann, um Ihnen und der Sache des Halbmonds meine Freundschaft zu beweisen, nur sagen, daß ich wohl binnen zwei Wochen Abdul Farhaz’ Adresse haben werde. Wenn es 19
soweit ist, lasse ich sie Ihnen zukommen. Dann können Sie damit machen, was Ihnen beliebt. Im Moment kann ich Ihnen nichts weiter sagen, als daß er Sie verachtet und sagt, Sie seien eine gefährliche Belastung jeder Organisation, mit der Sie sich einließen, da Sie nicht nur unbesonnen, sondern auch dumm seien.« Über die Leitung drang nur noch ein längeres Wutgeheul. »Ich gebe nur seine Worte wieder«, fuhr Hilary ruhig fort. »Ich sehe das als meine Pflicht an. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen – da ist jemand an meiner Tür. Das könnte er sein …« Hilary legte auf. Außer sich vor Freude, setzte er sich hin und verfaßte einen Brief an Sidney Mudgeon, den neuen Chef der Anti-TerrorEinheit. »Lieber Mudgeon«, so schrieb er, »vielleicht interessiert es Sie, daß die Bombenexplosion vor dem Strickwarenladen Bit O’Blarney tatsächlich das Werk der Märtyrer des siebzehnten September war, von denen ich mich kürzlich abgesetzt habe, da ich an Gewalttaten keinen Gefallen mehr finde, seit mein Bruder Ali Schamadji ums Leben kam, während er für besagte Organisation Bomben scharf machte. Ich weiß, daß die Halbmond-Bruderschaft die Verantwortung für den Anschlag übernommen hat, aber das ist nur ein Bluff des größten Bluffers der islamischen Welt, Faruk Hamzawi, dem sogar seine eigenen Halbmond-Brüder nicht trauen. Glauben Sie mir, der Kriminelle, nach dem Sie suchen, ist kein anderer als Abdul Farhaz, mein Vetter zweiten Grades. Er hält sich gegenwärtig in England auf, und zwar unter dem Namen Mustafa Tawil oder auch Oberst El Muawwad. In der Hoffnung, daß Sie ihn bald festnehmen, verbleibe ich etc. Ibrahim Schamadji« Commander Mudgeon bekam den Brief nach anderthalb Tagen. Aus dem Stempel ging hervor, daß der Brief in 20
Loughborough aufgegeben worden war. Hilary hatte sich zum Bahnhof begeben und aufs Geratewohl den erstbesten Zug genommen, egal, wohin. Er fuhr, wie sich herausstellte, nach Loughborough. Hilary nahm ein mittelmäßiges Mittagessen in einer Gaststätte zu sich, die mit einer »nouveau cuisine Anglais« warb, was bedeutete, daß weniger auf dem Teller, dafür mehr auf der Rechnung war. Dann fuhr er noch rechtzeitig zurück, um den Mietvertrag für das Büro im Namen von Butros Abassuad, Cedarex, Boulevard du Combattant Suprême 121, Tunis, zu unterschreiben. Er unterzeichnete als Lionel Gwynne, The Olde Forge, 34 Balaclava Crescent, Yeovil. Als nächstes erwarb er einige preiswerte Büromöbel, anschließend Schreibpapier, eine ziemlich schäbige gebrauchte Schreibmaschine, Hefter und Ordner. Vor dem Büro brachte er ein brandneues Schild an, das die Tür als Eingang zu der Firma Cedarex, Import-Export GmbH (Großbritannien) kenntlich machte, alleiniger Vertreter Mustafa Tawil. Und als Tüpfelchen auf dem i hing er ein mit den Worten »Bin essen gegangen – komme gleich wieder« bedrucktes Pappschild an die Türklinke. Der Mietvertrag galt im gegenseitigen Einvernehmen zunächst für den Probezeitraum von drei Monaten, damit Mr. Abassuad, der gerade krank war, Gelegenheit bekam, nach London zu kommen und die Räumlichkeiten zu begutachten. Hilary zahlte bar, wogegen Mr. Goldhill absolut nichts einzuwenden hatte. Kaum erhielt Mudgeon den mysteriösen Brief, ließ er den für den Fall zuständigen Kriminalinspektor Hovaday kommen. Mudgeon, ein kleingewachsener Mann mit harten, irgendwie komischen Gesichtszügen, informierte Hovaday, eine größere, schlaksige Erscheinung mit schütterem Haar, bei einer Tasse Tee über den Erhalt des Briefes. 21
»Wissen wir, wo er aufgegeben wurde?« »Aber natürlich. Haben Sie schon einmal einen Brief ohne Poststempel bekommen?« »Er hätte auch von einem Boten zugestellt werden können«, gab Hovaday zu bedenken. »Warum fragen Sie mich dann, wo er aufgegeben wurde?« Mudgeon haßte Denkfaulheit ebenso, wie Hovaday Besserwisserei haßte. »Loughborough«, verkündete Mudgeon, um Hovaday nicht länger zappeln zu lassen. »Loughborough?« murmelte Hovaday ungläubig. »Genau, Loughborough. Kennen wir irgendwelche Araber in Loughborough?« »Wir kennen kaum Araber in London, geschweige denn in Loughborough. Wahrscheinlich gibt’s dort die übliche Quote Sikhs und Pakistani.« »Mit anderen Worten: Sie haben keinen blassen Schimmer?« »Noch nicht, noch habe ich keinen.« »Wollen Sie von mir nicht wissen, wer den Brief unterschrieben hat?« »Ich nahm an, er sei anonym.« »Ach, warum nahmen Sie das an?« »Ich nahm an, daß Sie mir den Namen verraten hätten, wäre er unterschrieben gewesen.« Mudgeon machte eine kurze Pause, bis sich sein Ärger legte. Dann warf er einen Blick auf den Brief. »Ibrahim Schamadji«, sagte er. Hovaday grub ganz unten aus seiner Hosentasche einen Fetzen Papier, den er glattstrich. »Würden Sie das bitte wiederholen?« War das wirklich nötig? »Ibrahim Schamadji«, las Mudgeon 22
betont langsam. »Nein. Nein. Ist mir völlig neu«, gab Hovaday zu. »Wie steht’s mit den Märtyrern des siebzehnten September? Haben wir rausgefunden, was am siebzehnten September passiert ist?« »Da habe ich gründliche Nachforschungen angestellt, an der Universität von London und bei unseren arabischen Informanten.« »Und?« »Am siebzehnten September ist absolut nichts passiert.« »Gar nichts? Keine israelischen Übergriffe, kein Feuergefecht, kein Geburtstag eines zweitrangigen Propheten?« »Gar nichts. Was mich zu der Folgerung veranlaßt, daß all diese Namen völlig beliebig sind und spontan erfunden wurden, um den Eindruck zu erwecken, derartige Organisationen seien größer und stärker, als daß wir je mit ihnen fertig werden könnten. Ja, ich wäre nicht einmal überrascht, wenn die meisten aus denselben Mitgliedern bestünden. Trifft meine Vermutung zu, leisten uns die Medien einen Bärendienst, indem sie all diese verschiedenen Namen für bare Münze nehmen.« »Hmm. Rechnen Sie die Halbmond-Bruderschaft auch dazu?« »Hamzawis Bande? Hamzawi wurde verschiedentlich als Mitglied der Bruderschaft des Schwarzen Zeltes, der Krieger des Heiligen Eides, des Schatten des Minaretts und der Stimme des Propheten genannt.« »Verstehe. Ist er immer noch Hauptverdächtiger?« »Nein. Verdächtig ist er immer, aber laut unserem Informanten hält er sich noch im Libanon auf und hat furchtbare Angst.« »Ging nicht das Gerücht, er sei tot?« 23
»Wenn wir sämtlichen Gerüchten Glauben schenkten, wären alle tot. Ein Mann namens Abdul Farhaz hat Hamzawi angeblich umgebracht, doch etwas später wurde Farhaz selbst umgebracht, ich bin also auch nur auf Vermutungen angewiesen.« »Sie machen es einem nicht gerade leicht, oder?« »Nein.« Dank Hilarys intimer Kenntnis des englischen Beamtenhirns, das angesichts emotionalen oder gewalttätigen Verhaltens Unwissenheit vortäuschte und sich distanziert gab, konnte er sich die Diskussionen bei Scotland Yard recht gut ausmalen, auch wenn er nicht so weit gegangen wäre, sich einige eher törichte Elemente des tatsächlichen Gesprächs vorzustellen, da sie ihm eher wie eine Parodie erschienen wären. Folglich nahm er sich noch einen Nachmittag frei und schrieb Mudgeon einen zweiten Brief. »Mein lieber Inspektor«, schrieb er, »wie Ihnen eventuell aufgefallen ist, habe ich festgestellt, daß Loughborough ein zu heißes Pflaster für mich ist, und bin vorübergehend verzogen. Wie ich höre, hat Hamzawi meinen Aufenthaltsort erfahren und weiß aufgrund des Verrats zweier meiner noch lebenden Brüder von meinem ersten Brief an Sie, und nun ist er, gelinde gesagt, sauer auf mich. Ich bin nicht länger sicher, da er einer vertrauenswürdigen Quelle erzählt hat, er werde persönlich nach England kommen, um mich zu eliminieren, zusammen mit einer anderen Person, die in terroristischen Kreisen höheres Ansehen genießt als ich. Damit meine ich natürlich Abdul Farhaz, dessen Tarnname in England Mustafa Tawil lautet, obwohl er auch den zum jetzigen Zeitpunkt bereits wieder geändert haben mag. Ich werde Sie über meine Erkenntnisse auf dem laufenden halten. Nun gibt es kein Zurück mehr. Um ein uraltes Sprichwort zu zitieren: Ich habe das Kamel gesattelt, nun bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wüste zu durchqueren. Ihr Bruder Ibrahim.« 24
Mudgeon warf einen Blick auf den Stempel. Der Brief war in Devizes aufgegeben worden. Mudgeon seufzte, bestellte Tee und ließ Hovaday kommen. In diesem Moment griff das Schicksal ein. Die Nachrichtensendungen wurden unterbrochen, und man verlas die Meldung, daß ein im Exil lebender iranischer Diplomat, Dr. Bani Pal, der ehemalige zweite Sekretär in Bagdad, von zwei Männern auf einer Vespa erschossen worden war, als er eine Herrentoilette in der Nähe des Leicester Square verließ. Augenzeugen sprachen von zwei untersetzten Männern, die auf ihrem Motorroller im Verkehrsgewühl entkommen waren. Den abgestellten Roller fand man auf einem Parkplatz in der Nähe der Greek Street. Hilary verlor keine Zeit. Er überquerte die Straße, betrat das von ihm gemietete Büro und rief von dort den Redakteur einer anderen Boulevardzeitung an. »Hallo«, sagte er, »es geht um den heutigen Mord an Dr. Bani Pal.« Hilary sprach mit arabischem Akzent. »Ja«, erwiderte der Redakteur gepreßt. »Wissen Sie was darüber?« »Zufällig hat Bani Pal unsere Sache verraten.« »Welche Sache wäre das denn?« fragte der Redakteur, womit er sich auf gefährliches Terrain begab. »Die einzig wahre Sache«, rief Hilary. »Das ist mir klar, aber ich bin kein Moslem und habe nur eine sehr vage Vorstellung von den Ihnen zur Verfügung stehenden ›Sachen‹. Sie sind vermutlich Iraner.« »Falsch.« »Also Araber – und Fundamentalist, stimmt’s?« »Fundamentalistischer Sozialist.« »Ich dachte, das ließe sich nicht miteinander vereinbaren.« »Bis zum Endsieg ist es miteinander vereinbar. 25
Nach dem Endsieg sehen wir weiter.« »Welche Organisation vertreten Sie denn?« »Ich bin Sprecher der Helden der Verheißung.« »Lassen Sie mich das kurz notieren.« »Nein! Wenn Sie sich das kurz notieren, ist unser Gespräch beendet!« »Tun Sie das nicht. Sagen Sie, warum haben Sie sich unsere Zeitung ausgesucht, um diese Information loszuwerden?« Es konnte nichts schaden, wenn man sich im Zuge der Pflichterfüllung ein Scherzchen gönnte. Das hatte Hilary immer so gehalten, selbst in seiner Glanzzeit. »Wir haben Ihre Zeitung ausgewählt, weil wir annahmen, Ihre Fragen wären noch dämlicher als üblich. Wir sind enttäuscht.« »Verstehe. Tja, das ist ja recht schmeichelhaft, wie? Übrigens sagten Sie ›wir‹. Wie viele sind Sie?« »Das möchten Sie wohl gerne wissen.« »Verraten Sie’s mir nicht?« »Hundert Millionen.« »Nein, nein. Ich meine, wie viele Mitglieder Ihre Gruppe hat.« »Es sind mehr als einer und weniger als hundert Millionen …« Hilary setzte dieses Geplänkel absichtlich fort, da er damit rechnete, daß der Redakteur auf einen Zettel die Bitte gekritzelt hatte, jemand aus seinem Büro solle die Polizei anrufen, damit diese versuchte, den Anruf zu lokalisieren. Das Risiko bestand, aber Hilary fand, es sei an der Zeit, der Polizei mehr Informationen zukommen zu lassen, sollte sein Plan Erfolg haben. Und doch wollte er nicht alles auf einmal verraten. »Ich werde mich jetzt verabschieden«, sagte er. 26
»Nein, nein, noch nicht auflegen«, flehte ihn der Redakteur an. »Ich will eine richtige Story daraus machen, Stoff für die Titelseite. Stoff, der die Aufmerksamkeit auf Sie und Ihre Arbeit lenken wird.« »Aber ja, und inzwischen haben Sie Ihrem Assistenten auf einen Zettel geschrieben, die Polizei solle sich alle erdenkliche Mühe geben, meine Telefonnummer herauszufinden. Danke sehr, ich bin kein Trottel. Lieber verrate ich die Nummer selber: l 77 42 30. Sind Sie zufrieden?« »Ihre Nummer interessiert mich nicht«, behauptete der Redakteur, während seine Stimme kaschierte, daß er hektisch mitschrieb. »Ich verrate Ihnen sogar, wie ich heiße, wenn Sie mir verraten, wie Sie heißen.« »Ich heiße Stanley Bales.« »Ich bin Oberst El Muawwad.« Damit beendete er das Gespräch. Zwei Stunden später reklamierte ein anonymer Anrufer bei Scotland Yard dasselbe Verbrechen für die HalbmondBruderschaft. Man teilte ihm mit, er sei zu spät dran, es gebe nämlich schon Anwärter, die Helden der Verheißung. Der anonyme Anrufer wirkte höchst erbost und deutete an, womöglich könne das ein Nachspiel haben. Der Telefonzentrale von Scotland Yard war nicht klar, was das hieß, doch das kurze Gespräch wurde umgehend Mudgeon mitgeteilt, der, wie üblich, mit Hovaday Tee trank. »l 77 42 30«, sagte Mudgeon. »Endlich nimmt die ganze Chose vage Gestalt an.« »Haben wir die Nummer lokalisiert?« »Eine Telefonzelle in Soho.« »Aha. Alles andere als Loughborough und Devizes.« »Allerdings. Und angeblich war der Anrufer Oberst El 27
Muawwad.« »Kann ich leider nichts mit anfangen. Für mich klingen diese Namen alle gleich.« »Wenn man dem ersten Brief aus Loughborough Glauben schenkt, ist Oberst Muawwad ein Pseudonym für Mustafa Tawil, was wiederum nichts anderes ist als ein Pseudonym für …?« »Abdul Farhaz?« »Na klar. Damit wären die Helden der Verheißung niemand anderes als die Märtyrer des siebzehnten September?« »Stimmt.« »Wissen Sie, es ist durchaus möglich, daß wir es bei dieser ganzen Terroristengeschichte mit einer Ein- oder ZweiMann-Operation zu tun haben. Als würden sich ein Paukist und eine dritte Flöte abwechselnd Londoner Philharmoniker und Foden’s Motorworks Band nennen.« »Das gefällt mir.« »Was machen wir jetzt?« »Ich habe bei allen Maklern, die Mietverträge mit kurzer Laufzeit für Räumlichkeiten in der Gegend um die Old Compton Street abschließen, Nachforschungen anstellen lassen.« Er mischte die auf seinem Tisch liegenden Karten. »Jakes and Jakes, Blankatwalla Brothers, Damian Ruskin, Pole and Vatni, Harry Goldhill und die übrigen. In Kürze haben wir eine komplette Liste neuer Mietverträge mit kurzer Laufzeit. Das müßte uns weiterhelfen.« In dem Moment klingelte das Telefon. Die Zentrale vermutete, der Anruf komme aus Beirut. Mudgeon nahm ihn rasch entgegen. »Hallo«, sagte eine Stimme vorsichtig, »ist da der Leitende 28
Kriminaldetektiv Midgin?« »Mudgeon.« »Von der Anti-Terror-Einheit?« »Wer spricht dort?« »Sie kennen meinen Namen nicht.« »Wollen wir wetten?« »Jedenfalls möchte ich auf das nachdrücklichste protestieren.« »Ach? Sie auch?« »Protestiert denn noch jemand auf das nachdrücklichste?« »Zweifellos, wenn wir sie nur ließen. Heute hat jemand dagegen protestiert, daß der Mord an Dr. Bani Pal das Werk der Helden der Verheißung sei.« »So ist es.« »Ach, Sie schließen sich der Meinung an? Dann sind Sie wohl Hamzawi?« Es entstand eine Pause. »Seien wir vernünftig«, bat die Stimme. »Ich bin nicht Hamzawi. Ich heiße Kress, Ahmed Kress. Ich beschäftige mich mit Öffentlichkeitsarbeit.« »Öffentlichkeitsarbeit?« wiederholte Mudgeon ungläubig. »Für unerwünschte Elemente, wie sie von Ihnen törichterweise genannt werden«, fuhr Kress fort. »Für Freiheitskämpfer, Kidnapper, für Revolutionäre im allgemeinen. Ich versuche, ihr Image aufzupolieren.« »Du lieber Himmel. Wie machen Sie das?« »Indem ich immer mal wieder beweise, daß Geiseln noch leben. Wir verschicken – qualitativ leider sehr schlechte – Videos, auf denen sie erklären, daß man sie gut behandelt. Ich bin der erste, der zugibt, daß wir uns wegen der miesen Technik damit selbst schaden. Man hat den Eindruck, hier sprächen geknechtete Menschen unter Zwang, was nicht der 29
Fall ist.« »Gestatten Sie, daß ich skeptisch bin, was das betrifft.« »Ich lege meine Hand aufs Herz.« »Und die andere um den Hals irgendeines Menschen?« »Sie tun mir unrecht.« »Ich dachte, Sie wären wütend.« »Ich bin nicht wütend, lediglich entrüstet.« »Hamzawi ist wütend.« »Hat man Sie davon in Kenntnis gesetzt?« »Ich benutze meinen Grips. Hamzawi ist wütend, weil Farhaz seine Lorbeeren erntet.« »Farhaz ist tot.« »Nicht nach meinen Informationen.« »Nein?« Kress wirkte ehrlich wie vom Donner gerührt. »Warum überrascht Sie das?« »Ich war bei seiner Beerdigung.« »Lag kein Irrtum vor?« »Seine Frau mußte gestützt werden.« »Hat sie die Leiche identifiziert?« »Da war nichts zu identifizieren. Dafür hat Hamzawi gesorgt.« »Vielleicht hatte er seine Gründe, daß er Farhaz tot sehen wollte?« »Gründe?« »Selbsttäuschung?« »Und Sie glauben …?« »Ich glaube, Farhaz hat die kürzlich in London begangenen Verbrechen auf dem Gewissen. Nach ihm fahnden wir. Ihn werden wir kriegen.« »Bei allem, was heilig ist! Das alles ist tief beleidigend für 30
die Halbmond-Brüder, die voller Stolz die Verantwortung für sich reklamieren. Begreifen Sie nicht, was in Hamzawi vorgeht? Das Ganze ist für ihn wie ein Schlag ins Gesicht.« »Mir fällt kein Gesicht ein, in das ich lieber schlagen würde. Wenn mir das gelingt und die Verhaftung von Farhaz, wird meine Freude grenzenlos sein.« Mudgeon legte auf und hatte, wie Hilary vor ihm, das Gefühl, im Zentrum der aberwitzigen Organisationen Beiruts sein Teil zum allgemeinen Chaos beigetragen zu haben. Kurz darauf bestätigte ihm die Firma Goldhill, daß Agnostopoulos’ alte Gewerberäume an eine in Tunis registrierte Import-Export-Firma namens Cedarex vermietet worden waren. Den Mietvertrag unterschrieben hatte ein Mr. Lionel Gwynne, wohnhaft in The Olde Forge, 34 Balaclava Crescent, Yeovil. Ein Anruf bei der Polizei in Yeovil genügte, um festzustellen, daß es in Yeovil keinen Balaclava Crescent gab, und ein weiterer Anruf bei der Polizeizentrale in Tunis erbrachte eine ähnlich erbauliche Neuigkeit, nämlich daß in Tunesien keine Firma namens Cedarex eine Handelsgenehmigung besaß. »Nachlässig, nachlässig«, murmelte Mudgeon. »Sie haben ein sehr langes Gedächtnis und keinerlei Weitsicht.« Aus seinem Polizeiwagen in Soho rief Hovaday an. »Na?« »Gute Nachrichten, wenn man so etwas gut nennen will. Alleiniger Vertreter von Cedarex ist Mustafa Tawil. Sein Name steht an der Tür, in Englisch und Arabisch.« »Gibt es da irgendein Lebenszeichen?« »Nicht das geringste. Die Tür ist verschlossen. Auf einem Schild steht, er sei beim Essen. Sieht nach einem 31
sehr langen Essen aus. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun – mir gewaltsam Zutritt verschaffen?« »Noch nicht. Lassen Sie die Räume observieren. Übrigens ist Cedarex keine korrekte Firma, und Mr. Gwynne, der den Mietvertrag unterschrieben hat, ist irgend jemandes Phantasie entsprungen.« »Wahrscheinlich der Phantasie Tawils.« »Möglicherweise der Phantasie Tawils.« Von seinem Fenster aus hatte Hilary das weiter unten in der Straße geparkte Polizeifahrzeug sowie ein stetes Kommen und Gehen am Eingang der Nummer 88 bemerkt. Polizisten hatten die unglaubliche Begabung, immer, wenn sie unbedingt unauffällig sein wollten, ihre Anwesenheit aller Welt kundzutun. Sie hatten eine bestimmte Art zu gehen, die Eigenheit, sich nach rechts und links und sogar nach oben umzusehen, ehe sie ein Gebäude betraten, was normalen Menschen nie in den Sinn kam; wie sie warteten, bis andere sie einholten, wie sie in Schaufenster sahen, um die sich im Glas spiegelnden Bewegungen der hinter ihnen Gehenden zu beobachten, all dies posaunte ihre Anwesenheit in die Welt hinaus. Die Zeit war reif. Die Polizei hatte angebissen. Hilary rief Beirut an. Ahmed Kress meldete sich im Zustand äußerster Erregung. »Warum haben Sie nicht schon gestern, vorgestern angerufen? Jetzt? Wer weiß? Es könnte zu spät sein.« »Was ist los?« »Hamzawi tobt wie ein wildes Tier, ich lege meine Hand aufs Herz; möge ich zu Staub werden, wenn ich übertreibe.« »Was ist geschehen?« »Da Ihre korrekte Telefonnummer nicht zur Verfügung stand, mußte er sich soweit herablassen, diesen Erzkolonialisten Midgin anzurufen, der mit einer väterlichen 32
Herablassung spricht, die für jeden mit Faruk Hamzawis Stolz unerträglich demütigend ist. Dieser Typ behauptete steif und fest, Farhaz sei noch am Leben und Scotland Yard halte ihn für eine größere Gefahr als ihn, Hamzawi. Sie können sich vorstellen, wie unerträglich eine solche Anmaßung für jemanden wie Hamzawi ist, der es gewohnt ist, für den gefährlichsten aller Terroristen gehalten zu werden, besonders von Scotland Yard, einer Institution, die wir schon immer bewundert haben, dank Agatha Christie, Dorothy Sayers und Madame Tussaud.« »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Faruk Hamzawi schwört, er wird persönlich nach London kommen, um die Wahrheit herauszufinden.« »Wo ist er jetzt?« »In der Stadt, besorgt sich einen syrischen Paß.« »Ich kann ihm seine Aufgabe erleichtern. Ich habe die Adresse ermittelt, von der aus Farhaz operiert.« »Lassen Sie hören.« Hilary verriet ihm die Adresse und den nom de guerre, Mustafa Tawil, betonte aber, diese Information sei einzig und allein für Hamzawi bestimmt und müsse geheim bleiben, ganz besonders vor der Polizei. »Bei seiner jetzigen Verfassung kann ich für nichts garantieren. Womöglich bringt er mich um, oder sogar sich selbst, aus reiner Wut. Er ist kein normaler Mensch. Aber vielleicht beruhigt ihn Ihre Information. In der Hoffnung lebe ich. Glauben Sie mir.« »Aber er ist fest entschlossen, nach London zu kommen?« »Hat er sich erst einmal für einen Paß entschieden, heißt das gewöhnlich, daß ihn nichts mehr von seinem Entschluß abbringt. Ich hoffe nur, daß er noch mal hier anruft, bevor er zum Flughafen fährt, sonst …« 33
»Er muß doch seinen Koffer packen …« »Seit wann? Er pflegt zu sagen, er sei immer bereit, jederzeit aufzubrechen, zu einem neuen Ziel oder in eine neue Welt. Das sei das Schicksal eines Kriegers.« Hilary mußte mit größter Umsicht vorgehen. Er erkannte, daß der psychologisch wichtige Moment gekommen war, in dem Scharfsinn und Klarheit zwar immer noch nötig, jedoch auch Schnelligkeit gefragt war. Rasch schrieb er einen dritten und letzten Brief an Mudgeon. »Mein Bruder, da es mir auch in Devizes zu ungemütlich wurde, bin ich wieder einmal umgezogen, dorthin, wo ich leichter in der Menge verschwinden kann. Hamzawi, ein unbestritten mutiger Mann, allerdings von gefährlicher Impulsivität, ist fest entschlossen, mit Farhaz abzurechnen, der, so glaubt er, ihn um zwei größere Anschläge betrogen hat. Wie mir mein Informant aus dem Bekaa-Tal berichtet, ist die Gruppe von Killern unter Führung von Hamzawi persönlich bereits nach London unterwegs, und er wird sehr wahrscheinlich einen syrischen Paß benutzen, um dieses Land zu betreten. Inständig bitte ich Sie als Bruder, greifen Sie Farhaz’ Hauptquartier nicht zu früh an. Mit Geduld könnten Sie sogar eine fettere Beute als den verfluchten Abdul fassen, nämlich Faruk Hamzawi und eine Handvoll seiner berüchtigtsten Kumpane, unter welchem Namen auch immer sie heute ihre Perfidien ausüben mögen. Wie es in dem Sprichwort heißt: Schnelligkeit ist der Preis des Falken, Geduld der des Falkners. Mögen Sie auf Ihren Wegen behütet sein. Alles erdenklich Gute wünscht Ihnen Ibrahim Schamadji« »Schon möglich, daß er recht hat. Das mit dem Falkner gefällt mir«, sinnierte Mudgeon. 34
»Immer noch in Devizes?« »Nein. Hören Sie zu: Edgware.« »Edgware? Er wird dreister.« »Er verwischt seine Spuren. Jetzt hat er es eilig. Die Ereignisse überstürzen sich. Ihm fehlt die Zeit, bis nach Loughborough oder Devizes zu fahren.« »Meinen Sie wirklich?« »Allerdings. Manchmal bezweifle ich, daß er tatsächlich Araber ist. Diese Sprichwörter klingen ein wenig zu sehr nach Tausendundeiner Nacht, um wahr zu sein.« »Wer könnte er dann sein?« »Ist mir eigentlich ziemlich egal. Wenn er uns weiterhin so fleißig unsere Arbeit abnimmt, hat er einen Orden verdient.« »Haben wir schon den Zoll kontaktiert?« »Ja. Wir haben gebeten, sämtliche syrischen Pässe zu registrieren, ihre Inhaber jedoch durchzulassen.« »Und wir hinterher?« »Genau.« Am späten Nachmittag meldete sich Heathrow. Ein einzelner syrischer Paß, dazu ein ägyptischer, ein zypriotischer, ein algerischer sowie einer aus Oman, deren Eigentümer so taten, als hätten sie nichts miteinander zu tun, bis sie hinter der Zollabfertigung alle in demselben Mietwagen der Firma Hertz verschwanden. Der Wagen war ein Austin Montego, Kennzeichen KRC 217C. Man folgte ihm unauffällig ins West End bis zum Soho Square. Die fünf Insassen, vier Männer und eine junge Frau, auf die allesamt die übliche Beschreibung »dunkelhäutig« zugetroffen hätte, begaben sich in ein libanesisches Restaurant in einer von Sohos abgelegeneren Ecken, das Byblos. Hier frönten sie ihrer Sehnsucht nach dem erst kürzlich Zurückgelassenen und schienen darauf zu warten, daß aus dem Abend Nacht wurde. 35
Hilary verspürte ein Ziehen in den Knochen, das ihn an die wenigen spannungsgeladenen Momente seiner Laufbahn erinnerte, und während er in dem abgedunkelten Zimmer an seinem Fenster saß, genoß er den Druck in seiner Magengrube ebenso wie die Verlockungen von Größenwahn. Hatte denn Nero im Kolosseum einen besseren Sitzplatz gehabt als er in dieser königlichen Loge, die direkten Einblick ins Zentrum der von ihm selbst geschaffenen Bühne gewährte? Noch war es dort dunkel, aber wenn es so weiterging, wie es seinem Gefühl nach zwangsläufig kommen mußte, würde es dort zu hektischen Aktivitäten kommen, zu einem tödlichen Aufeinanderprallen der Gladiatoren, und das allein zu seiner Unterhaltung. Nur noch der Vorhang brauchte in die Höhe zu gehen. So sinnierte er an seinem Fenster vor sich hin, während ihm die kühle Abendluft zart ins Gesicht wehte, was sich wie frisch rasiert anfühlte. Rache. Das, entschied er, war sein Motiv. Es mußte Augenblicke gegeben haben, wo all diese Tattergreise auf ihren Altenteilen und Ruhesitzen den gleichen Drang verspürt hatten, doch wenige brachten den Mut, die Phantasie, auch nur die Intelligenz auf, einen richtigen Plan zu schmieden und ihn in die Realität umzusetzen. Zugegeben, es hatte ein Buch gegeben, sogar Bücher, nicht nur von den alten Praktikern, sondern auch von selbsternannten Experten am Rande der Geheimdienste, jenen Orakeln, die von weniger verantwortungsbewußten Zeitungen bei dramatischen Ereignissen konsultiert wurden und die sich mit ihrem vorgetäuschten Wissen in einem Bereich, in dem niemand die ganze Wahrheit kannte, ein rundes Sümmchen verdienten. Passionierte Leser von Belletristik, einschließlich der geschickt als Tatsachenberichte getarnten, vermuten stets, Geheimdienstler seien praktisch unfehlbar. Natürlich, Fehler kommen vor. 36
Schließlich handelt es sich um Menschen. Doch alles in allem erfreuen sich die Geheimdienste des Rufs, in ihren Reihen herrsche eine glückliche Mischung von Mut und Intelligenz vor. Hilary wußte es besser. Er erinnerte sich noch voller Verdruß daran, wie er in den fünfziger Jahren zu Sir Aubrey Wilkett, dem damaligen Chef des MI5, zitiert wurde, um Instruktionen für seinen neuen Einsatz entgegenzunehmen. »Sie werden nach Persien gehen, um Ihre zweifellos vorhandenen Talente zur Destabilisierung der Regierung von Dr. Mossadegh einzusetzen. Zweifellos ist Ihnen die dortige Lage ebenso vertraut wie mir.« »Ich weiß, daß die Iraner versuchen, sich der britischen Ölinteressen zu entledigen.« »Wer tut das?« hatte Sir Aubrey geblafft, besorgt, ihm sei etwas Wichtiges entgangen. »Die Iraner.« »Wer ist das?« »Früher nannte man sie Perser.« »Früher? Früher? Hören Sie zu, junger Mann, was mich betrifft, sind es immer noch Perser, und das werden sie auch bleiben. Ich habe die Nase gestrichen voll von ihren Versuchen, alles durcheinanderzubringen. Was für eine absurde Vorstellung, nach Ablauf etlicher Zeitalter die Identität von Völkern zu ändern! Ist die Katze meiner Frau eine Thailandkatze? Keineswegs, Sir, das ist sie nicht. Es ist eine Siamkatze, und das wird sie bis zum Ende ihres natürlichen Lebens bleiben. Ist der Hund meiner Mutter – ja, ich habe noch eine Mutter, sie ist sechsundneunzig, Gott segne sie –, ist ihr Hund ein Beijingese? Was mich betrifft, nicht. Es handelt sich um einen äußerst unangenehmen 37
Hund. Ich sehe nicht ein, warum man ihn auch noch mit einer unaussprechlichen Rasse belasten sollte.« Hilary hatte eingewandt, er sei eventuell nicht der ideale Mann für diesen Auftrag, schließlich spreche er kein Wort … Persisch. Sir Aubrey fegte den Einwand mit unbestimmter, aber herrischer Geste beiseite. »Also wirklich, Sie sind Experte für diesen Teil der Welt.« Unglaublich, wie die Briten die Welt in undefinierbare Teile untergliederten, wenn eine globale Betrachtungsweise gefragt war, in Teile, deren einzelne Elemente miteinander absolut unvereinbar und einander fremd waren und offensichtlich Überwachung und andere Eingriffe der in solchen Dingen Erfahrenen erforderten. Sir Aubrey hielt Dr. Mossadegh für einen dämlichen alten Trottel im Pyjama, der immer dann krank wurde, wenn ihm keine Argumente mehr einfielen. Hilary, auf ewig mit dem unsichtbaren Makel seiner Geburt in einem Bahnhof in »diesem Teil der Welt« behaftet, hielt denselben Mann eher für eine heldenhafte Gestalt, die versuchte, ihr Land von ausländischem Einfluß zu befreien. Nicht nur weil er die Sprache nicht beherrschte, sondern gewiß auch, weil er seine verwerflichen Aufträge weder mit ganzem Herzen noch mit ganzem Talent ausführte, wurde er festgenommen, bevor er Zeit hatte, Schaden anzurichten; und nach ein paar erbärmlichen Wochen in einem iranischen Gefängnis, wo er die Zelle mit einem unter ähnlichen Umständen gefangenen amerikanischen Agenten teilte, der mit erbarmungswürdiger Vehemenz seinen Patriotismus betonte, als glaubte er, Hilary sei auf ihn angesetzt worden, um herauszufinden, was wirklich an ihm dran sei, durfte er nach Hause zurück. »Dumme Sache«, sagte Sir Aubrey, der den Fehlschlag für Berufsrisiko hielt. Später schickte man Hilary nach Ägypten, wo er am Vorabend der englisch-französisch-israelischen 38
Komplizenschaft in Suez mithelfen sollte, die Ägypter gegen Oberst Nasser aufzuwiegeln. Für diesen Auftrag war er sogar noch weniger geeignet, was ironischerweise daran lag, daß er die Sprache beherrschte und daher voll und ganz begriff, wie weit die Provokateure gesunken waren. Den Wunsch der Unterdrückten und der Minderheiten nach Selbstbestimmung verstand er nur allzugut. Wenn man so will, war er eine ein Mann starke Minderheit. Sein Spielplatz waren arabische Straßen gewesen; seinen ersten Spaß hatte er mit den grinsenden, kreischenden Straßenjungens gehabt, an deren Überschwenglichkeit er teilhatte, bis man ihn in der Gegend, die sich seine Heimat nannte, in die Zwangsjacke gesitteter Wohlanständigkeit steckte. So sah er sich gezwungen, ein untergeordnetes Instrument von Premierminister Edens blindem Haß auf Oberst Nasser zu werden, und sträubte sich wie ein schmollendes Kind. Vielleicht sorgte die Suezkrise mehr als alles andere dafür, daß Hilarys Gedankengänge Form annahmen und seine insgeheim gehegten Abneigungen Richtung und Schärfe bekamen. Gar nicht so selten mußten bedeutende Männer ihren Sitz im Parlament aufgeben, weil man ihnen eine Lüge nachweisen konnte; doch Eden wurde in den höheren Adelsstand erhoben, obwohl er das Parlament unverfroren belogen hatte, was mit katastrophalen Folgen für die Regierung und ihn persönlich verbunden war. Anscheinend war eine Lüge in privaten Angelegenheiten verdammenswerter als eine Lüge über ein öffentliches Ereignis, in dessen Verlauf viele unschuldige Menschen das Leben ließen. Seit die Eroberung als Mittel staatlicher Politik eingesetzt wird, haben sich Kolonialmächte terroristischer Akte schuldig gemacht, wie etwa Massenexekutionen zur Abschreckung oder willkürliche Zerstörung von Dörfern. Und doch schien der Begriff Terrorismus heute nur für 39
Formen intellektueller Wut verwendet zu werden, die in Geiselnahme, Autobomben und dem Verstecken von Koffern in öffentlichen Gebäuden kulminierte. Letztlich waren alle derartigen Aktivitäten korrupt, und es bestand kein Unterschied zwischen ihnen, außer vielleicht im Ausmaß der Operationen. So wie das Wort Demokratie heute von völlig divergierenden politischen Gruppierungen zur Beschreibung völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen verwendet wird, war Terrorismus seit den frühesten Territorialdiebstählen ein Instrument der Repression. Geiselnahmen hatte es gegeben, schon lange bevor Richard Löwenherz in einer anatolischen Burg schmachtend darauf wartete, daß man sein Lösegeld bezahlte. Seit Anbeginn der überlieferten Geschichte wurden Unschuldige niedergemetzelt, und auch heute noch werden Männer, Frauen und Kinder umgebracht, und zwar nicht, weil sie schuldig wären, sondern zur Abschreckung anderer. Sich von solchen Ereignissen immer wieder schockieren zu lassen hieße, die Augen vor der Geschichte zu verschließen, es sei denn, man betriebe demagogischen Mumpitz. Überall wird mit mehr als zweierlei Maß gemessen. Sittliche Normen sind so wechselhaft wie das Wetter und erfordern eine eigene Meßlatte, die örtliche Gegebenheiten, herrschende Vorurteile, klimatische Bedingungen sowie Präzedenzfälle mit in Betracht zieht. Niemand erwartete von Hilary, daß er solche Wertvorstellungen hatte. Nichts in seiner Erziehung hatte die Herausbildung derart individueller Ansichten gefördert. Dafür war sein Einzelgängerschicksal verantwortlich, der Zufall der Geburt – dem Seelenfrieden oft abträglicher als alle anderen möglichen Zufälle. Ein Licht, das im Cedarex-Büro eingeschaltet wurde, beendete seine Grübeleien. Gerade als der erste Maskierte mit ganz überflüssiger Heftigkeit in seinem Gesichtsfeld auftauchte und eine Handvoll auf dem Schreibtisch liegender bedeutungsloser Papiere aufhob, 40
hämmerte jemand wild, aber unvermittelt an seine eigene Wohnungstür. So verärgert, als wäre er aus dem Tiefschlaf geweckt worden, stolperte er im Dunkeln über die Möbel, bedacht, die Störung zu unterbinden. »Was gibt’s?« rief er wütend. »Polizei«, lautete die Antwort. Wie ein eiskalter Stalaktit traf ihn die Realität. »Was wollen Sie?« fragte er. »Öffnen Sie die Tür.« Das tat er vorsichtig, nachdem er bei einem Blick über die Schulter festgestellt hatte, daß es gegenüber wieder dunkel geworden war. Sie waren doch wohl nicht entwischt? In der Tür standen zwei Männer, grotesk in die Mondanzüge moderner Konflikte gewandet und Automatikgewehre aus Plastik in Händen, ihre Haltung die eingeübter Wachsamkeit. »Wir müssen Ihr Fenster benutzen. Es ist dringend.« Das hatte Hilary nicht kommen sehen. Er würde mit äußerster Logik improvisieren müssen. Die Polizisten betraten sein Zimmer. Der eine blieb stehen, mißtrauisch. »Sie haben hier in der Dunkelheit gesessen, oder?« »Das mache ich oft.« Der andere Polizist nahm am Fenster Aufstellung. »Da ist das Fenster, Geoff, sieh mal.« »Daß Sie auf keinen Fall Licht machen«, sagte der andere zu Hilary. »Das würde mir nicht im Traum einfallen«, erwiderte Hilary, »außerdem wollte ich ohnehin gerade die Polizei anrufen. Da drüben geht etwas Verdächtiges vor. Maskierte Männer.« »Sie haben die gesehen, was?« fragte der Mann namens Geoff. »Da waren wir bestimmt gerade im Treppenhaus«, 41
mutmaßte der andere. »Ja, ich habe sie gesehen – wenigstens einen von ihnen.« Es entstand eine Pause. »Sie sagten, Sie wollten eben die Polizei anrufen, dabei waren Sie nicht gerade scharf drauf, uns reinzulassen«, sagte Geoff. »Es ist nicht meine Wohnung, müssen Sie wissen. Der Eigentümer ist verreist. Hat sie mir freundlicherweise überlassen. Ich kann nicht jede Entscheidung allein treffen.« »Wer sind Sie?« Hilary drängte es, seine unterwürfige Haltung zu beenden. Initiative. Initiative, allein darauf kam es an. »Oberst Crisp«, erwiderte er. »Also, das tut mir leid, Sir«, nuschelte Geoff. »Wenn ich Sie wäre, Sir, würd’ ich in ein anderes Zimmer gehen.« »Ich denke, ich weiß, wie man sich bei einer Schießerei verhält«, sagte Hilary mit heiserer Stimme. »Kein Zweifel, Sir. Dann werden Sie ja wissen, daß Ihnen am wenigsten passieren kann, wenn Sie sich auf den Boden legen.« »Nicht unbedingt. Hängt davon ab, was für eine Art von Schießerei wir erwarten dürfen.« »Es sind zum Äußersten entschlossene Männer.« Das kam von dem anderen. »Araber, wie?« »Ja, soweit wir wissen.« Wieder eine Pause, der Wachsamkeit wegen. »Wem gehört diese Wohnung?« »Freund von mir, wunderbarer Bursche, Hilary Glasp. Daß er das hier verpaßt, wird ihn wurmen. Nahostexperte. 42
Befindet sich gerade in Amerika, hält Vorträge darüber. Wenn das keine Ironie des Schicksals ist.« An den Wänden des gegenüberliegenden Raumes zeichnete sich der Schein einer Taschenlampe ab. »Gott sei Dank, sie sind immer noch da«, murmelte Hilary. »Warum haben Sie das gesagt, Sir?« erkundigte sich Geoff. »Das liegt doch wohl auf der Hand«, erwiderte Hilary und machte aus seiner Verärgerung keinen Hehl. »Sobald die Polizei sie rausläßt, wird es zu einer Straßenschlacht kommen, die immer das Risiko in sich birgt, daß unschuldige Passanten zu Schaden kommen. Sie in dem einen Raum festzuhalten ist das gleiche, als hindere man eine ansteckende Krankheit an der Ausbreitung.« »Die Straße wurde abgeriegelt.« »In dieser Straße wohnen Menschen. Sobald irgend etwas passiert, vielleicht sogar schon jetzt, allein weil die Absperrung vorgenommen wurde, tauchen Leute in Fenstern und Einfahrten auf. Sie wissen doch, wie unbezähmbar neugierig …« Hilary wurde von einem einzelnen Gewehrschuß unterbrochen. Angespannt wie ein Jagdhund lag Geoff auf der Lauer. Langsam schraubte er einen Aufsatz an den Lauf seines Gewehres. Aus dem Cedarex-Fenster drangen auf die Straße gerichtete Maschinengewehrsalven. Man hörte Rufe, so kurz und heiser, daß sie weder verständlich waren noch Aufschluß über ihre Herkunft gaben. Plötzlich brüllte eine Stimme eine knisternde Anweisung aus dem Walkie-talkie, das Geoff bei sich trug. Geoff feuerte eine Tränengasgranate über die Straße. Es war ein guter Schuß. Man hörte noch mehr Rufe und Flüche sowie einen weiblichen Schrei. Dann hustete jemand. 43
Während das Gewehrfeuer stärker wurde, nahm die mit Störgeräuschen durchsetzte Stimme aus dem Walkie-talkie ihre Litanei wieder auf. Plötzlich sagte Geoff: »Jetzt.« Beide Männer eröffneten das Feuer aus Hilarys Fenster auf das finstere Büro auf der anderen Straßenseite. »Mit einem bißchen Glück ist die Sache damit erledigt«, murmelte Geoff. Ein Geschoßhagel drang in Hilarys Zimmer ein, zerschmetterte den Stuck, riß Bilder runter und bohrte Kugeln in die Wand. »Sind Sie wohlauf, Sir?« schrie Geoff. »Schießen Sie denn nicht zurück?« rief Hilary in seiner genialen Verkörperung des Oberst Crisp. Geoff und sein Kollege taten wie geheißen, bis die Stimme aus dem Walkie-talkie schrill wurde. »Feuer einstellen«, brüllte Geoff. Es folgte eine unerwartete Stille. Dann ging gegenüber ein einzelnes Licht an. Die Glühbirne hatte wunderbarerweise die Feuersalve überlebt. In ihrem fahlen Glanz erschien ein Polizist, der auf den Fußboden schaute und sich vorsichtig bewegte. »Es ist aus und vorbei«, verkündete Geoff. »Sie können das Licht einschalten, Sir.« Hilary betätigte den Schalter, doch nichts geschah. Unter den Schuhsohlen spürte er die Glasscherben. »Die haben meine Birne erwischt«, murrte Hilary. »Ihr habt ihre nicht erwischt.« »Wir haben sie erwischt«, entgegnete Geoff. »Sie haben uns nicht erwischt.« »Da ist was Wahres dran«, gab Hilary zu. Crisp durfte nicht als Trottel auftreten, sondern nur als pragmatischer Mann 44
der Aktion. »Wer zahlt für das alles?« »Man wird den Schaden schätzen und einen Bericht schreiben.« »Und natürlich die üblichen gräßlichen Verzögerungen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das Glasp beibringen soll.« »Es wird alles entsprechend geregelt werden.« »Wem oder was entsprechend?« »Sie wissen schon, Sir. Entsprechend. Es war eben einfach nicht Mr. Glasps Tag, stimmt’s?« »Ach, ich weiß nicht.« Hilary gestattete sich einen Anflug von Humor. »Wenn ich’s recht bedenke, wird Glasp sauer sein, daß er den Spaß verpaßt hat.« »Spaß?« »Etwa nicht?« Die Scharfschützen gingen, nachdem sie die halbherzige Einladung zu einer Tasse Tee ausgeschlagen hatten, und Hilary blieb allein zurück. Er ging in die Küche, aus der er eine Trittleiter und eine neue Glühbirne holte. Wie sich herausstellte, war auch die Fassung beschädigt, so daß er sich mit einer Kerze behalf, die er für Notfälle in Reserve hielt. Bei ihrem flackerndem, kläglichen Schein sah er, daß der Schaden beträchtlich war. Eine Stehlampe neben dem Kamin war zerdeppert; es gab Löcher in Wand und Zimmerdecke, aus der etwas Putz gerieselt war; zwei Bilder hatte es von der Wand gerissen. Das Ganze war zwar durchaus aufregend, aber kaum die Sorte Aufregung, die er erwartet hatte. Verschwunden war die olympische Entrücktheit, seine Absicht, an den Fäden zu ziehen, so daß die Marionetten nur für ihn tanzten. Er hatte seine königliche Loge mit ungebetenen Gästen teilen müssen und war so zwangsläufig zum Ziel von Vergeltungsschlägen geworden. Und nun 45
mußte er an die Versicherung und alle möglichen anderen Imponderabilien denken. Wichtig war, daß Oberst Crisp von der Bildfläche verschwand und Hilary Glasp entsetzt in sein verwüstetes Heim zurückkehrte. Er verspürte den Drang auszugehen, vielleicht ins Kino, irgend etwas, um auf andere Gedanken zu kommen. Das würde ihm eine Pause verschaffen, und die Inspiration würde sich wieder einstellen, unbeeinflußt von den Ereignissen, die ihn mit erdrückender Intensität überrollt hatten. Im Grunde waren ihm Filme gleichgültig, außer als Ablenkung, zum Zeitvertreib. Die Moral uralter Gesetze, nach der Tugend belohnt wurde und Bösewichte hinter Schloß und Riegel kamen, schien ihm vom Leben so weit entrückt zu sein, daß sie die ominöse Familie, die das Kino zu unterhalten hoffte, vielleicht sogar korrumpierte, indem es ihr ein Wolkenkuckucksheim jenseits aller uns vertrauter Realität vorspiegelte. Unbeschwerter Optimismus kam Hilary beinahe anstößig vor. Und die letzten Ereignisse waren nicht dazu angetan, ihn die Dinge in einem anderen Licht sehen zu lassen, jedenfalls nicht in einem rosigeren. Es war an der Zeit, sich eine Pause zu gönnen. Er löschte die Kerze und machte sich ausgehfertig. Die Straße war immer noch gesperrt, und überall war Polizei. Egal, mittlerweile war es dunkel. Hilary wollte es riskieren. Er ging zur Tür und warf einen Blick durch den Spion. Im Halbdunkel des Hausflurs lungerte ein Mann herum. Hilary entdeckte ihn, weil er rauchte. »Wer ist da?« rief Hilary mit vor Ärger zitternder Stimme. »Ernie Blask.« Dann nannte der Mann den Namen der Boulevardzeitung, der Hilary im Namen der Märtyrer des siebzehnten September telefonisch seine erste Botschaft übermittelt hatte. »Was wollen Sie?« 46
»Ein Foto der Verwüstung.« »Sie kriegen aber keins.« »Sie meinen also nicht, daß die Öffentlichkeit ein Recht auf Information hat?« »Zum Teufel mit der Öffentlichkeit. Und zum Teufel mit Ihnen. Sie verkörpern die Öffentlichkeit nicht; im Gegenteil.« »Wer sind Sie? Mr. Glasp?« »Nein!« Hilary schloß verzweifelt die Augen. Er hatte gehofft, Oberst Crisp ad acta legen zu können. Das war nun unmöglich. »Ich bin mit Mr. Glasp befreundet, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Ohne seine Erlaubnis darf ich Sie nicht einlassen.« »Wann kommt er wieder?« »Dazu darf ich mich nicht äußern.« »Weiß er über die Ereignisse Bescheid?« »Ich habe Verbindung mit ihm aufnehmen können, ja’.« »Wo ist er?« »Er war in Amerika.« »Ist er noch dort?« »Was geht Sie das eigentlich an?« »Ich brauche noch ein paar Einzelheiten für meine Story.« »Hören Sie. Lassen Sie mich in Ruhe. Sie dringen in meine Privatsphäre ein. Verschwinden Sie gefälligst.« »Sie lassen mich nicht rein?« »Nein, und ich komme auch nicht raus.« »Was sind Ihre Einwände?« »Es sind zu viele, um sie aufzuzählen. Ich bin ein Einsiedler.« »Darf ich das zitieren?« »Sie besitzen die Frechheit, mich das zu fragen? Sie erfinden 47
doch, was Sie wollen, wie es Ihnen gerade paßt. Das macht ihr doch alle so.« Der Mann kicherte leise. »Ich gebe zu, daß dieser Beruf ein gewisses Maß an Phantasie erfordert, aber wenn Leute wie Sie mit uns kooperierten, wäre das vielleicht nicht nötig.« »Wenn Sie nicht verschwinden, rufe ich die Polizei.« »Von der Polizei habe ich erfahren, was passiert ist. Von ihr weiß ich, daß Sie Oberst Cripps oder Crisp heißen.« »Warum haben Sie mich dann gefragt, ob ich Mr. Glasp bin?« »Unter Ihrer Klingel steht der Name Glasp.« »Gute Nacht.« »Sie ändern Ihre Meinung bestimmt nicht?« Hilary ersparte sich eine Antwort. Er verriegelte die Tür doppelt und kehrte in seine dunkle Wohnung zurück. Wenn er sich jetzt eins nicht leisten konnte, dann sein Foto in der Zeitung. Er sah schon Mr. Goldhill vor sich, wie der auf das Bild stieß und mit der Neuigkeit zur Polizei rannte, das sei Lyonel Gwynne, der im Auftrag von Cedarex das Büro gemietet habe. Einen derartigen Fehler konnte er sich jetzt einfach nicht leisten. Seine einzige Waffe gegen den Fotografen im Hausflur war schiere Langeweile. Seinen Kinobesuch mußte er so lange aufschieben, bis genug Zeit verstrichen war, daß in den Schlagzeilen andere Ereignisse die Schlacht von Soho verdrängten. Er ging in die Küche, zog die Vorhänge vor und machte sich eine Dose Makkaroni mit Käse warm. Nichts macht so hungrig wie ein Mißgeschick. Er war in seiner eigenen Wohnung gefangen, eine unerträgliche Erosion seiner Euphorie. Unversehens sah er sich in die Defensive gedrängt, darauf bedacht, nicht in die Nähe der Fenster zu kommen, auf die sich in seiner Vorstellung im Dunkeln verborgene geheime Kameraobjektive richteten. Hochgradig nervös verschlang er sein jämmerliches Mahl, 48
ließ Teller und Gabel in die Spüle fallen und zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Wieder zog er die Vorhänge zu, ehe er Licht machte. Dann stellte er den kleinen tragbaren Fernseher an, drehte an der Antenne und wartete auf die Nachrichten. Beherrschendes Thema waren natürlich die abendlichen Ereignisse. Nahaufnahmen des Pflasters, auf dem Kreidestriche die Blutflecken und -spritzer markierten, verdeutlichten andere Aspekte der Schlacht schrecklich deutlich, Aspekte, die Hilary bisher nicht direkt bewußt gewesen waren. Man zeigte Aufnahmen eines verwundeten Arabers, der in einem Krankenwagen abtransportiert wurde, und ein kurzes Interview mit Mudgeon. Die ganze Angelegenheit wurde als Triumph der Anti-Terror-Einheit präsentiert und von der Premierminister in als »neue und dynamische Phase in Britanniens Krieg gegen den Terrorismus und Vorbild für andere Nationen« gerühmt. Hilary schlug mit der Faust auf einen Nachttisch und brüllte laut auf. Es kam ihm wie eine Urheberrechtsverletzung vor, diese Enteignung seines Festivals der Ironie, seiner höhnischen Geste. Wie konnte sich das saturierte, selbstgefällige Establishment als Verfasser eines präzisen und peinlich genauen Plans aufspielen, so sorgfältig erdacht wie ein Eisenbahnfahrplan? (Wie stolz sein Vater auf ihn gewesen wäre!) Andererseits kam es ja darauf an, daß er geheim war, manchmal theoretisch, manchmal praktisch, aber immer zutiefst privat und – natürlich – intelligent. Der Plan zeigte sogar, wozu ein Mann in der Lage ist, wenn er allein vorgeht. Wie anders sah das Resultat aus, wenn man es mit den Katastrophen in Ägypten und dem Iran (Verzeihung, Persien) verglich, wo Schafsköpfe das Kommando führten! Es war das »Vorbild für andere Nationen«, was Hilary an einem wunden Punkt traf. Er und nur er allein gab dieses 49
Vorbild ab, und doch war er dazu verdammt, anonym zu bleiben, nichts weiter als ein Tankwart, der seiner Arbeit nachging, während die feinen Pinkel plaudernd im Wagen saßen, ohne seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen. Er verbrachte jenen Abend damit, zwischen Verbitterung und Rückfällen in Resignation und Ohnmacht zu schwanken. Als er aufwachte, saß er immer noch auf einem Stuhl, die Brille auf der Nase; die Lampen brannten wie am Abend zuvor. Er mußte eingeschlafen sein, als er mit den widerstreitenden Gefühlen nicht mehr fertig wurde. Schlaf war besser als Kino und billiger. Und nun war ein neuer Tag. Wer war er jetzt, welche von den zahlreichen dramatis personae, die er für sein Stück erfunden hatte? Noch ehe er Zeit hatte, sich über seine Identität klarzuwerden, klingelte es an der Tür. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war nach neun. So lange hatte er nur in einem Teheraner Gefängnis geschlafen. Er ging zur Tür, nahm die Brille ab und sah durch den Spion. Draußen standen offenbar zwei Männer, von denen einer am Rande der Linse kaum sichtbar und verzerrt war. Der Mann im Blickfeld war nicht der Journalist vom vorigen Abend. »Wer ist da?« rief Hilary. »Oberst Crisp?« Was sollte er sagen? »Wer ist da?« wiederholte er mit abgehackter, leicht heiserer Stimme. »Polizei, Sir.« Hilarys Magen schien zu schrumpfen. »Woher weiß ich, daß Sie echt sind?« »Öffnen Sie die Tür mit vorgelegter Kette einen Spaltbreit, Sir. Ich schiebe dann den Ausweis durch.« Klang durchaus vernünftig. Hilary tat wie vorgeschlagen. Ein amtliches Papier wurde durch den Spalt geschoben. Mudgeon. 50
Hilary öffnete die Tür und zog sich in die Wohnung zurück, ohne Mudgeon ins Gesicht zu sehen. Mudgeon folgte ihm, und Hovaday schloß hinter Mudgeon die Tür. »Hm. Ziemliche Verwüstungen«, sagte Mudgeon. »Ich bezweifle, daß Ihre Versicherung solche Schäden abdeckt.« »Nein. Soho hat zwar seine gewalttätigen Momente, aber normalerweise sind das einzelne Schüsse, keine Beschießungen.« Mudgeon stellte sich und Hovaday vor. »Selbstverständlich wird es irgendeine Entschädigung geben. Schließlich hat ja die Anwesenheit von Scharfschützen in der Wohnung diesen Vergeltungsbeschuß verursacht.« »Ja. Ja, sehr nett von Ihnen, daß Sie diese Tatsache erwähnen, Mudgeon. So brauche ich es nicht zu tun.« »Nun, unsere Aufgabe lautet nicht, Punkte zu machen oder uns einer Verantwortung zu entziehen. Meinen Männern zufolge haben Sie vorbildlichen Mut und Kaltblütigkeit gezeigt.« »Wie nett von Ihnen«, murmelte Hilary. Und er fügte hinzu: »Kaltblütigkeit, ein wirklich schönes Wort.« »Ich hatte während meiner Laufbahn nicht viel Gelegenheit, es zu gebrauchen.« Man wollte ihm also schmeicheln und ihn später entschädigen. Auch nur einen Moment länger Oberst Crisp zu bleiben war alles andere als ungefährlich. »Wo ist Mr. Glasp?« fragte Mudgeon. »Glasp? Warum fragen Sie?« »Ihr Interesse an dem in diesem Zimmer angerichteten Schaden hat etwas von dem eines Wohnungseigentümers. Wenn dem so ist, müssen Sie Glasp sehr nahestehen.« Hilary entschloß sich zu einem wagemutigen Schritt. Schließlich hatte die Polizei ja Verständnis für Täuschungsmanöver und wußte, daß sie sich häufig nicht 51
vermeiden ließen. »Ich stehe Glasp näher, als Sie denken.« »Tatsächlich? Ich möchte wetten, daß Sie Glasp sind.« »Wie kommen Sie darauf?« »Im aktiven Dienst gibt es zur Zeit keinen Oberst Crisp. In Singapur lebt ein Major Crisp, ein Invalide. Er ist pensioniert, Vorsitzender des Raffles-Clubs.« Hilary lächelte. »Es hat gewisse Vorteile, wenn man sich für Smith entscheidet.« Mudgeon lächelte kaum. »Nicht unbedingt. Smith ist von vornherein verdächtig. Crisp nicht.« »Tja, das war’s dann wohl.« »Warum fühlten Sie sich bemüßigt, eine falsche Identität anzunehmen – oder ist das eine Angewohnheit von Ihnen, oder ein Leiden?« »Ich wollte die Polizei nicht hier drin haben, aber da sie schon mal hier war, dachte ich, ich gebe mir ein wenig Autorität.« »Sehr schön«, gab Mudgeon zu. »Jedenfalls hat es funktioniert. Die Jungs waren angemessen beeindruckt. Einer der beiden verkündete sogar, Sie seien noch ein Mann von echtem Schrot und Korn.« »Klingt ganz, als würde er es noch weit bringen.« Mudgeon ließ eine Weile verstreichen. Dann lächelte er, ein wenig ironisch. »Wer sind Sie nun, Glasp oder Crisp?« »Glasp«, erwiderte Hilary scharf. Mudgeon schlenderte durch das Zimmer und sah sich um. »Sie sind ein pensionierter Mitarbeiter der britischen Geheimdienste.« »Über meine Vergangenheit darf ich nicht sprechen.« 52
»Ach?« »Ist doch klar. Wenn ich schon nicht darüber schreiben darf – wie es einige getan haben –, ergibt sich daraus, daß ich auch nicht darüber reden darf.« »Ja, da haben Sie recht. Daran habe ich nicht gedacht.« »Ich habe Anweisung, permanent daran zu denken.« »Wie meinen Sie das?« »Die Regierung nimmt Geheimnisse sehr ernst, und das Geheimnis, daß es keine Geheimnisse mehr gibt, am allermeisten.« »Höre ich da eine Spur von Bitterkeit heraus?« »Eine Spur?« Es entstand eine weitere Pause. »Sie sprechen arabisch. Sie haben doch da draußen gearbeitet, nicht wahr? Im Krieg und danach?« Hilarys Schweigen bedeutete, daß diese Information seines Erachtens unter das Gesetz zur amtlichen Schweigepflicht fiel. Mudgeon nahm Platz und gab Hovaday ein Zeichen, der eine Liste hervorzog. Mudgeon musterte sie kurz. Hilarys Gesicht war völlig ausdruckslos geworden. »Sagt Ihnen der Name Faruk Hamzawi irgend etwas?« »…« »Oder Abdul Farhaz? Hoffentlich treffe ich die Aussprache einigermaßen?« »…« »Haben Sie Freunde bei den Märtyrern des siebzehnten September?« »…« »Kennen Sie jemanden in Devizes?« »…« 53
»Worüber dürfen Sie überhaupt reden?« »Fragen Sie die Premierministerin. Ich will mich nicht in die Nesseln setzen. Das ist heutzutage zu gefährlich.« Wieder lächelte Mudgeon. »Ich bewundere jeden, der auf seinem Gebiet gut ist – besser gesagt, der auf seinem Gebiet gut war.« Hilary lächelte zurück. »Ich wünschte, ich könnte das Kompliment erwidern.« »Wie meinen?« »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, das muß ich zugeben. Ein bißchen zuviel, wenn Sie mich fragen. Allerdings glaube ich nicht – falls Sie ein wenig Kritik gestatten –, ich glaube nicht, daß es polizeitaktisch empfehlenswert ist, alle Karten auf einmal auf den Tisch zu legen.« Mudgeon redete sehr leise. »Wie kommen Sie auf den Gedanken, ich hätte alle Karten auf den Tisch gelegt?« Es klingelte an der Tür. »Aufs Stichwort«, sagte Mudgeon. »Es ist geradezu unheimlich.« Hovaday nickte. »Hovaday, ich wäre dankbar, wenn Sie die Tür öffneten. Ich glaube, Mr. Glasp hat nicht den Wunsch, die Tür zu öffnen. Womöglich ist er sonst versucht, wieder Oberst Crisp zu werden, und dann nehmen die Schwierigkeiten kein Ende.« Hilary bewegte sich in Richtung Tür, doch Hovaday war schneller. »Was erlauben Sie sich …« Hovaday brachte Mr. Goldhill herein. »Das ist er!« rief Goldhill. »Das ist wer?« fragte Mudgeon. 54
»Das ist Lionel Gwynne.« »Lionel Gwynne?« rief Mudgeon mit gespieltem Erstaunen. »Doch nicht der Lionel Gwynne aus The Olde Forge, 34 Balaclava Crescent, Yeovil?« »Hat er die Adresse angegeben?« fragte Goldhill. »Aus dem Gedächtnis kann ich das nicht sagen.« »Das ist seine Adresse. Das Haus gehört Lionel Gwynne. Dort empfängt er häufig Gäste. Einen Oberst Crisp, einen Hilary Glasp und einen netten, jungen ausländischen Gentleman, Mr. Ibrahim Schamadji«, sagte Mudgeon. »Klingt nach einem Araber«, verkündete Goldhill. »Ist er auch.« »Mein Gott, sehen Sie sich diese Verwüstungen an!« rief Goldhill aus, der plötzlich die Einschußlöcher bemerkte. »Geschah das auch als – mein Gott! Wie heißt der Vermieter auf dieser Straßenseite?« »Die Wohnung gehört mir«, sagte Hilary. »Warum haben Sie dann eine Adresse in Yeovil angegeben? Wo liegt Yeovil eigentlich? Gibt es den Ort überhaupt?« fragte Goldhill. »Zwei mit diesem Fall beschäftigte Kriminalbeamte sind wohl genug, Mr. Goldhill«, befand Mudgeon. »Ich möchte Mr. Glasp nicht noch zusätzlich in Verlegenheit bringen, indem er sich so etwas wie einem Kreuzverhör unterziehen muß. Ich bat Sie lediglich, heute morgen bei Gelegenheit vorbeizuschauen, um Mr. – diesen Herrn zu identifizieren.« »Na, kein Zweifel möglich, das ist Mr. Gwynne, und das würde ich auch vor Gericht bezeugen.« »Das wird nicht nötig sein«, versicherte Mudgeon hastig. »Er hat nichts verbrochen.« »Aber wer ist dann Glasp?« wollte Goldhill wissen. »Die Erklärung würde zu lange dauern.« 55
»Unter der Klingel steht Glasp.« »Ja, nun, das hat auch seine Richtigkeit.« »Ist Glasp Gwynne?« »Und zweifellos umgekehrt.« Goldhill pfiff. Er war offenbar ein begabter Schlußfolgerer. Nachdem es Mudgeon endlich gelungen war, Goldhill in sein Büro zurückzuschicken, gab es eine lange Pause. Dann sprach Hilary, sehr leise, zögernd. »Sie sagten, ich hätte nichts verbrochen …« »Wenn meine Vermutung zutrifft, haben Sie eine beinahe makellose Polizeiaktion in die Wege geleitet, immer am Rande der Illegalität, genau wie man solche Angelegenheiten handhaben sollte. Sie haben ein größeres Risiko auf sich genommen, als es uns möglich gewesen wäre. In der Routine bleibt nicht besonders viel Raum für Phantasie.« Plötzlich sprach Hovaday, wobei er sich betont und absichtlich von seiner unterwürfigen Haltung frei machte. »Mein Chef sagte im Verlauf der Untersuchung sogar, wer auch immer diese Auseinandersetzung eingefädelt habe, verdiene einen Orden.« »Und das meinte ich ernst«, ergänzte Mudgeon. Das Wort »eingefädelt« gefiel Hilary. Es beinhaltete sorgfältiges, für das Schaffen einer Gelegenheit erforderliches handwerkliches Können, dazu die intime Kenntnis des menschlichen Verhaltens, das Dosieren von Informationen, die Subtilität von Gesten in dieser corrida. Diese Männer wurden ihm immer sympathischer, alle beide. »Sie verdienen eine ehrliche Antwort auf Ihre Fragen.« »Schon möglich, daß ich die verdiene, aber eigentlich brauche ich sie nicht«, erwiderte Mudgeon und glättete ein Notizbuch, das er aus seiner Tasche geholt hatte. »Sagen Sie mir, ob ich recht habe. Wir müssen Ihnen die Verwüstung 56
Ihrer Wohnung bezahlen. Soviel steht bereits fest. Davon abgesehen gab es doch bestimmt einige teure Telefonate mit Beirut?« »Die gab es allerdings«, gestand Hilary, »aber da es nicht in meinem Interesse lag, Notizen zu machen, und da sie oft von unterschiedlichen Telefonen aus geführt wurden, habe ich nicht die leiseste Ahnung, wieviel ich ausgegeben habe.« »In solchen Fällen sind wir nicht sehr penibel. Die verfügbaren Entschädigungen würden aus für ebensolche Notfälle vorbereiteten geheimen Mitteln kommen, und anhand aktueller Kosten könnten wir Ihre Spesen leicht berechnen. Außerdem führten Sie eine Reihe von Ortsgesprächen mit hiesigen Zeitungen. Korrekt?« Hilary grinste ein wenig grimmig. »Korrekt.« »Und Bahnfahrten nach Devizes, Loughborough sowie bis nach Edgware.« »Die Reihenfolge stimmt nicht.« »Ich habe mich nicht um eine korrekte Reihenfolge bemüht. Fallen Ihnen noch andere Spesen ein, die ich übersehen haben könnte? Übrigens – sind Sie zu all diesen Orten erster Klasse gefahren?« »Ich entschied mich für die preiswertere Möglichkeit.« »Da es keine Belege gibt, dürfte Ihnen bestimmt noch einfallen, daß Sie erster Klasse gereist sind. Wenigstens beabsichtigen wir, Ihre Auslagen demgemäß zu erstatten.« »Das ist zu freundlich von Ihnen.« »Ich rechne also mit einer Aufstellung – nicht unbedingt mit einer minutiösen, Sie verstehen – all Ihrer Unkosten in unserem Auftrag.« »Ich kann nicht erwarten, daß Sie mir die Aufregung, den 57
Spaß, die Spannung erstatten.« »Spaß? Nun, wir wollen Sie nicht länger aufhalten, Mr. Glasp. Irgendwann morgen melden wir uns wieder bei Ihnen – wenn Sie die Liste bis dahin fertig hätten.« Er ging zur Wohnungstür, Hovaday ihm nach. Plötzlich drehte er sich um. Seine Miene war ernst. »Ich weiß genau, was Sie getan haben und warum Sie es taten, Mr. Glasp. Aber Sie sprachen gerade von Spaß, von Spannung. Alles verstehe ich, bis auf das Motiv. Was war Ihr Motiv?« »…« »Wäre das auch Verrat von Dienstgeheimnissen? Sind Sie ein außerordentlich patriotischer Mensch?« »Ich … ich glaube, nicht«, erwiderte Hilary nüchtern. »Sind Sie ein Mensch, der den Ruhestand lästig, langweilig findet?« »Nicht besonders.« »Fehlt Ihnen der Nervenkitzel des Geheimdienstlebens?« »Nervenkitzel?« schnaubte Hilary verächtlich. »Könnte man sagen, Sie rächen sich?« »So habe ich das eigentlich nie gesehen.« »Also, tun Sie’s? An jemand ganz Bestimmtem?« »Nein.« Dann ergänzte er: »Die sind es nicht wert.« »Die? Sie rächen sich an dem ganzen verdammten Laden?« »Ich habe sehr viel Zeit vergeudet.« »Und die holen Sie jetzt nach?« Hilary wollte keine weiteren Fragen beantworten. Ein neuer Klang war aus Mudgeons Stimme zu hören. »Also: Unter den Terroristen gab es vier Tote und einen ziemlich schwer Verletzten. Auf seiten der Polizei gab es eine einzige Schußwunde. Der Mann schwebt nicht in 58
Lebensgefahr.« »Das freut mich zu hören.« »Woher wußten Sie, wie konnten Sie sicher sein, daß es nicht genau andersherum kommen würde? Vier Polizisten tot, einer verletzt; ein Terrorist angeschossen?« Trotz der Schärfe in Mudgeons Stimme war die Antwort diesmal mehr als einfach. Mudgeon hatte die Deckung gelockert. »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich die Kompetenz der Polizei vorausgesetzt habe«, sagte Hilary. Mudgeons strenge Miene schmolz zu einem breiten, großzügigen Grinsen. »Geben Sie wenigstens zu«, sagte er, »daß Sie ein großes Risiko eingingen.« »Ich habe Ihnen nur nachgeeifert. Außerdem hat das Glück eine Rolle gespielt.« Es war genau der richtige Zeitpunkt, um bescheiden zu sein. Als Nachklapp sagte Mudgeon: »Sie hätten doch wohl nichts dagegen, wenn ich meinen Bericht der Premierministerin zugänglich machen würde, nehme ich an? Initiative und Individualismus stehen zur Zeit äußerst hoch im Kurs, und ich könnte mir vorstellen, daß Ihre Heldentat an höchster Stelle sehr wohlwollend aufgenommen wird.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie irgendwen interessiert. Eigentlich hatte ich gehofft, daß nichts davon nach außen dringt.« »Diskret. Natürlich diskret.« »Das möchte ich hoffen.« »Sie sind …?« »Was?« »Brite?« 59
»Was für eine ungeheuerliche Frage.« »War nicht böse gemeint.« Draußen gratulierte Hovaday seinem Chef. »Verdammt genial.« »Ich dachte, er würde uns Tee anbieten«, entgegnete Mudgeon. »Das war Ihr einziger Irrtum.« Am nächsten Tag gab es, wie Hilary vorausgesehen hatte, andere Attraktionen, um die Aufmerksamkeit der Journalisten auf sich zu lenken. In einem Steinbruch bei Buxton waren vier weibliche Torsos entdeckt worden, die Schlacht von Soho verblich zu Geschichte, und damit wurde Hilarys Leistung zu einer genau dokumentierten Erinnerung in seinem eigenen Gedächtnis. Er ging einkaufen wie früher, tauschte mit Nachbarn Eindrücke über den großen Abend aus und wurde langsam von all den nervösen Unpäßlichkeiten befallen, die das Alter ankündigen. Es war beinahe so, als wäre es nie geschehen. Um ein paar Erinnerungen aufzufrischen, rief er Ahmed Kress in Beirut an. Er tat dies von seinem eigenen Apparat. Nun mußte er keine Spuren verwischen. Kress war eher traurig als wütend. »Ich lege meine Hand aufs Herz: Als ich hörte, daß Hamzawi tot war, weinte ich ihm keine einzige Träne nach. Er war eine Belastung für unsere Sache geworden, in vieler Hinsicht war er verrückt, und ich habe ihn gehaßt, wie man nur seinen Bruder hassen kann. Ich bin froh, daß er tot ist. Und doch kann ich Ihnen nie wegen der Art und Weise vergeben, wie er starb, wie ein stolzes Tier in einer Falle, und drei tapfere Menschen starben mit ihm, darunter eine Frau. Und Kamal Azizi sitzt im Gefängnis. Werden wir ihn je wiedersehen? Alles wegen Ihnen. Ich danke Ihnen, daß Sie 60
Hamzawis Leiden beendet haben, was nicht in meiner Macht lag. Und ich will nie wieder mit Ihnen sprechen.« Ahmed Kress legte auf. Hilarys Gesicht brannte wie im Fieber. Noch nie hatte er sich der Beschämung sowenig entziehen können. Zum erstenmal dachte er nicht an die Toten, er dachte an ihre Familien und Freunde, da Kress für diejenigen stand, die nicht direkt an Vorgängen beteiligt waren, sondern in den Kulissen warteten, von Zweifeln geplagt, von Unwissenheit, auf Gerüchte angewiesen, und letzten Endes die Leidtragenden waren. Um sein Gewissen zu beruhigen, kaufte er für zwanzig Pfund weiße Blumen, die auf Abdul Farhaz’ mutmaßlichem Grab niedergelegt werden sollten. Damit beauftragte er Fleurop, wo er die Adresse von Farhaz’ Schwester angab, die er in glücklicheren Tagen gekannt hatte. Die Polizei ließ sich nicht lumpen, das Zimmer wurde renoviert, und doch war Hilary bei dem, was er angerichtet hatte, unbehaglich zumute. Was als anarchischer Protest begonnen hatte, war am Ende zu einer Geste geworden, der es an Bedeutung, an Logik und Moral fehlte. Das Feuergefecht hatte etwas grotesk übersteigert, das nichts weiter war als ein Streich. Hilary hätte den ganzen scheußlichen Zwischenfall gern vergessen. Doch dann, überraschend und recht unerwartet, wurde ein trister gelbbrauner Umschlag unter der Tür durchgesteckt. Er kam als amtliche Sendung unfrankiert. Automatisch mußte Hilary an das Finanzamt denken und fragte sich mit aller Furcht, die solche Dokumente in freien Gesellschaften erzeugen, was er wohl falsch gemacht haben mochte. Der gedruckte Brief verlangte alles andere als Auskünfte über seine Einkünfte, sondern wollte wissen, ob Hilary die Auszeichnung M. B. E., »Member of the Order of the British Empire«, annehmen würde, falls man sie ihm verliehe. Also 61
hatte die hochgestellte Persönlichkeit doch einen Blick aus dem Fenster der Limousine geworfen und den Tankwart angelächelt. Er glühte, nicht länger vor Scham, sondern aus einem außerordentlich erhebenden Gefühl heraus. Das war doch etwas, was seine alten pensionierten Kollegen ärgern könnte, in ihren Buden in Hampshire, ihren Hütten in der Sonne, ihren Häuschen in Australien. In einer Welt ranziger Geheimnisse würden sie sich fragen, womit er sich diese Ehre verdient hatte, und das Schöne daran war, daß sie es nie zu erfahren brauchten. Winden würden sie sich in ihrem Halbdunkel, verrenken vor Neid. Seine Tat hatte die gebührende Aufmerksamkeit gefunden, auch wenn es eine völlig andere war, als er es sich vorgestellt hatte. Sie war, wenn man so will, das genaue Gegenteil. Bald zog Hilary sich selbst damit auf, er habe die Terroristen in eine Falle gelockt, weil ihn sein unstillbarer Drang nach offizieller Anerkennung dazu getrieben habe. Dann spürte er, dank eines von seinem alten Beruf übernommenen Instinkts, daß ihm jemand folgte. Im gleichen Maße, wie sein Ego wuchs, wuchs auch sein Gefühl, beschattet zu werden. An dem Tag, als er ein Taxi zum Buckingham-Palast nahm, in einem geliehenen, stark nach Kampfer riechenden Cutaway, bildete er sich zum erstenmal ein, er könne seinen Verfolger erkennen. Dieselben dürftigen Kennzeichen schienen Tag für Tag wiederzukehren, ein mittelgroßer Mann mit markigem Kinn, gekleidet in der unübersehbaren Anonymität eines Profis. Die Zeremonie im Palast fand er ein wenig ernüchternd. Nach der betonten Exklusivität des Briefes war sie eine Enttäuschung. So viele andere M. B. E.s waren anwesend, und nichts versetzte Hilarys aufblühender Selbstzufriedenheit einen stärkeren Dämpfer als diese Riesengruppe von Menschen, brabbelnd wie auf ihre Busse wartende Touristen. Er kannte keinen und kam sich in diesem Meer von Siegern 62
und ihren Familien äußerst einsam vor. Der eigentliche Kontakt mit der königlichen Hoheit war so kurz wie eine Impfung, und auf dem Weg nach draußen und als er vergeblich versuchte, in der Nähe des Palastes ein Taxi zu finden, merkte er zum erstenmal, mit welch erlesener Grausamkeit Britannia die belohnte, die einen Groll gegen sie hegten. Doch damit waren seine Probleme noch nicht beendet. Als er sich zu Fuß auf den Rückweg nach Soho machte, wobei ihn der Geruch nach Mottenkugeln wie ein Heiligenschein umgab, identifizierte er den hinter ihm gehenden Mann deutlich. Hilary blieb stehen und tat so, als binde er einen Schnürsenkel. Der Mann blieb ebenfalls grundlos stehen, um einen Blick in die zufällig in seiner Tasche steckende Zeitung zu werfen. Hilary zog die Pause in die Länge. Dies tat der Mann auch. Als Hilary weiterging, steckte der Mann seine Zeitung weg und ging ebenfalls weiter. Zu Hause angekommen, stellte Hilary fest, daß die Straße abgesperrt war und überall Polizei herumlief. Direkt vor dem Gebäude war eine Autobombe explodiert und hatte die erst kürzlich reparierten Fensterscheiben zerdeppert. Das Auto war ein Wrack. Überall lagen Trümmer. Hilary eilte die Treppen hinauf; die Tür stand offen, und seine beiden Freunde von der Anti-Terror-Einheit waren in der Wohnung. »Tja, da sind Sie gerade noch mal davongekommen«, sagte der Ältere der zwei. »Sergeant Unsworth, wissen Sie noch?« »Geoff.« »Stimmt! Ist schon okay, Sie können reingehen. Wir haben Ihre Wohnung gerade mit ein paar von unseren Geräten durchgekämmt. Drinnen findet sich keine Spur von irgendwelchen anderen Sprengkörpern, aber man kann gar 63
nicht vorsichtig genug sein. Sie treten häufig paarweise auf.« »Wer war es?« »Kann ich noch nicht sagen.« »Aber warum … warum nur?« »Ich würde den Großen Weißen Chef anrufen, wenn ich Sie wäre. Ach ja, hier ist ein Glückwunschtelegramm, wir fanden es auf dem Fußabtreter.« Hilary öffnete es. Da stand: GRATULIERE, SIE HABEN ES WIRKLICH VERDIENT, gezeichnet war es mit MUDGEON. Ehe Hilary Zeit fand, zu telefonieren, tauchte sein Schatten, der Mann mit der Laternenkinnlade, in der Tür auf. »Was is’ passiert?« fragte er die beiden in einem gemütlichen nordenglischen Akzent. »Autobombe«, antwortete Geoff, der seinem Kumpel bei der Suche nach Glassplittern behilflich war. »Also wirklich. Hier? Na, hamse noch mal Glück gehabt, wa? Kein Taxi gefunden, ha?« »Sie haben mich beschattet, stimmt’s?« fragte Hilary. »Nicht an Sonnabenden oder Sonntagen. An Wochenenden übernimmt ein Kollege von mir.« Während er sprach, wählte Hilary Mudgeons Nummer. »Warum haben Sie gesagt, ich hätte Glück gehabt?« »Die haben fest damit gerechnet, daß Sie zu Hause waren, sollte mich gar nicht wundern. Woher sollten die wissen, daß die Taxis am St. James’ Park dünn gesät sind.« »Wer sind ›die‹, Ihrer Meinung nach?« »Terroristen, könnte ich mir denken. Wer sollte Sie sonst auf dem Kieker haben? Stimmt’s, Geoff?« »Stimmt.« 64
Mudgeon war am Apparat. »Danke für Ihr Telegramm.« Immer schön der Reihe nach. »Wie ich höre, ist Ihre Wohnung wieder ein einziges Chaos.« »Eine Ahnung, wer es war?« »Dasselbe könnte ich Sie fragen. Ich kann Ihnen nur sagen, Glasp, daß Kress schwört, die Halbmond-Bruderschaft sei es nicht gewesen. Er legt die Hand aufs Herz, sagt er.« »Wenn er schwört, er habe nichts damit zu tun, ist das die beste Garantie, daß er bis über beide Ohren drinsteckt.« »Sie kennen ihn besser als ich.« »Aber … wie sind Sie auf die Idee gekommen, Kontakt zu Kress aufzunehmen?« »Durch Sie, gewissermaßen.« »Sie waren gründlicher, als ich annahm.« »Wir verbringen die Hälfte unserer Zeit damit, ineffizient zu sein, damit wir die andere Hälfte effizient sein können.« »Sie haben mich beschatten lassen.« »Ja. Ich dachte, früher oder später könnte so etwas passieren, obwohl Kress schwor, Sie seien unter deren Würde, ein kleiner Fisch in einem Meer von großen Fischen.« Mudgeon versuchte offenbar alles, um sich im besten Licht zu präsentieren. »Beweist das hier nicht das Gegenteil?« fragte Hilary. Er war noch erfüllt von seiner geliehenen Erhabenheit und in der Stimmung, sich für einen großen Fisch halten zu lassen. »Wenn Kress verantwortlich ist, stimme ich Ihnen zu. Aber ist er es?« »Woher kam der Wagen? Ist er gestohlen?« 65
»Gemietet, in Heathrow. Auf den Namen Ibrahim Schamadji.« »Wie war der Name?« Hilarys Stimme zitterte, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. »Ibrahim Schamadji«, wiederholte Mudgeon. »Das ist Quatsch!« blaffte Hilary. »Den Namen habe ich mir ausgedacht. Von vorne bis hinten erfunden.« »Ach ja? Inzwischen wohl nicht mehr. Oh. Einen Moment mal, mein Bester, man schiebt mir soeben einen Zettel zu. Du liebe Güte. Jemand hat gerade Scotland Yard angerufen und die Verantwortung für den Bombenanschlag übernommen, im Auftrag der Märtyrer des siebzehnten September.« Es folgte Schweigen. Hilarys Gesicht war aschfahl geworden. »Was soll ich tun?« krächzte er endlich. »Ganz ehrlich?« »Ganz ehrlich.« »Die Welt ist groß, für die meisten Menschen jedenfalls«, sagte Mudgeon. »Beliebt ist Portugal, allerdings auch ziemlich nah. Dann wäre da noch Südafrika. Da kommen diese Burschen nicht rein, und die Polizei paßt wirklich auf. Oder Australien.« »Sie meinen, ich soll abhauen. Fliehen?« »Nur für etwa zehn Jahre. Aber warum wollen Sie eigentlich zurückkommen? Ehrlich gesagt, ich kann Sie nicht die ganze Zeit über beschatten lassen. Es ist zu teuer. Lohnt sich nicht. Außerdem haben diese Kerle aus Beirut eigenartige Wertvorstellungen. Zwar gibt es jede Menge potentieller Opfer für sie, aber Rache steht bei ihnen ganz oben auf der Liste. Meiner Ansicht nach sind sie im Grund ihrer Herzen sentimental. War es der Elefant, der nichts vergißt, oder das Kamel?« »Der Elefant.« 66
»Könnte genausogut das Kamel sein.« »Aber warum sind sie auf einmal so rachsüchtig? Kress hat sich bei mir bedankt, daß ich Hamzawi für sie losgeworden bin. Er hat mir gedankt!« »Ich weiß, aber anscheinend haben die Blumen für Farhaz wie eine Art Schlag ins Gesicht gewirkt. Das empfanden sie wohl als letzten zynischen Akt, als ungeheuerliche Schandtat.« »Und ich wollte damit mein Gewissen beruhigen.« »Da sehen Sie’s. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, wie die Menschen sind, oder? Sie verstehen etwas so, wie sie es verstehen wollen, interpretieren es ihren eigenen Vorurteilen gemäß, und sie töten, weil sie ihre eigenen Gründe haben. Nichts ergibt einen Sinn, wenn man es analysiert. Am besten fährt man, wenn man sich an seine persönliche Version der Realität hält und dementsprechend handelt. Und in unserer Welt muß man vor allem schnell handeln. Eher schnell als richtig oder falsch. So, ich muß weg. Hören Sie auf meinen Rat. Australien. Oder Neuseeland. Verlieren Sie keine Zeit. Machen Sie’s gut.« Hilary zog seinen eleganten Anzug aus und duschte, um dessen Geruch loszuwerden. Dann zog er die Vorhänge zu, noch ehe es dunkel wurde. Neuseeland? Er stellte sich Unmengen von Schafen vor und bildete sich in seinem Tagtraum ein, eines sei dazu bestimmt, ihn zu beschatten. Er mußte eine Entscheidung treffen. Würde er von jetzt an auf der Flucht sein, oder würde er so fatalistisch werden wie die Terroristen? Er hob den Vorhang hoch. Die Polizei entfernte gerade die Reste des Mietwagens. Wer darin gesessen hätte, wäre sofort gestorben. Es war Sache eines Sekundenbruchteils und nichts, wovor man sich physisch zu fürchten hätte. Nach Neuseeland zu ziehen täte seiner Würde nicht gerade gut. Er würde sich unaufhörlich fragen, wie weit ihr 67
rächender Arm reichen mochte und ob sie ihre Jagd je aufgaben, er würde sich in graue Anonymität versetzt fühlen, bar jedes menschlichen Elementes, das das Leben lebenswert macht. Auch er mußte Rache nehmen, beschloß er. Der M. B. E. war eine kurzzeitige Verlockung gewesen, der er erlegen war, eine winkende Hand vor dem Friedhof der Träume. Plötzlich voller Energie, nahm er vor einem leeren Blatt Papier Platz. Hier würde etwas Positives entstehen, etwas Aggressives, Wahres. Er begann ein neues Kapitel seines Buches, das man erst nach seinem Tod entdecken würde, die scharfsinnigste Einschätzung des Lebens eines Lauschers, M. B. E. Was seine Integrität betraf, die würde er irgendwo zwischen den noch ungeschriebenen Zeilen wiederfinden. Einmal glaubte er, jemanden an der Tür zu hören. Nach kurzem Zögern ignorierte er das Geräusch und schrieb weiter.
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Besondere Kennzeichen: keine Solange sie zurückdenken konnte, war es immer das gleiche gewesen. Menschen waren an sie herangetreten und hatten ihr, mit vor unterdrückten Emotionen bebenden Gesichtern, zu ihren wundervollen Eltern gratuliert. Warum, so hatte sie sich, und zwar immer dringlicher, gefragt, warum hegte sie eine unterschwellige Abneigung gegen beide? Das war in ihrer Pubertät gewesen. Mittlerweile wußte sie es. Die kleine dreiköpfige Familie – sie war ein Einzelkind – wohnte auf dem Campus einer nicht übermäßig bedeutenden amerikanischen Universität in einem kleineren Staat an der Ostküste. Professor Ramaz Atoulia, ihr Vater, war ein großer Fachmann für internationales Recht und wurde häufig von obskuren und elitären Zeitschriften konsultiert, die kuriose Erscheinungsweisen hatten und von Leuten gelesen wurden, die ebenso obskur und elitär waren wie sie selbst. Seine Spezialkenntnisse umfaßten solch exklusive Gebiete wie Jurisprudenz kurdischer Dörfer oder Rechtssysteme des mittelalterlichen Aserbaidschans, Georgiens, Armeniens, Tadschikistans sowie anderer sich ständig verändernder benachbarter Regionen, und in dieser Eigenschaft wurde er gelegentlich vom Außenministerium vor der einen oder anderen Entscheidung hinzugezogen. An solch großen Tagen fuhr er mit dem Zug, zum Bahnhof wurde er von Frau und Tochter in einem Taxi gebracht. Weder ihr Vater noch ihre Mutter konnten Auto fahren, daher hatten sie sich nie einen eigenen Wagen geleistet. Die beiden Zurückbleibenden mußten schwören, nichts zu verraten, dann reiste der Professor ab, wie gewöhnlich über das ganze Gesicht strahlend, um den ausgetrockneten Boden 70
der Hauptstadt verschwenderisch mit Weisheit zu besprenkeln. Dieses Lächeln, dachte Thamar häufig, gehörte zu den irritierendsten Eigenheiten beider Elternteile. Ihre Mutter lächelte so gut wie pausenlos, ohne ersichtlichen Grund. Ihrem Vater hingegen stand ein riesiges Repertoire an Lächelvarianten zur Verfügung, die zu allen erdenklichen Gelegenheiten paßten. Zu den ärgerlichsten gehörten die der Verteilung von Weisheit sowie der Verteilung von gesundem Menschenverstand vorbehaltenen, erstere schmelzend heiter, letztere ebenso, doch mit einer Spur gebändigter Ungeduld in den blaßbraunen Augen. Thamar kannte das Repertoire auswendig und wußte, was sie zu gegebenem Anlaß erwarten durfte, was die Sache nur noch schlimmer machte. Nicht, daß sie ihre Eltern etwa nicht liebte; sie kannte nur nichts anderes. Nicht nur besaßen sie kein Auto, sondern nicht einmal ein Fernsehgerät oder auch nur ein Radio. Ohne dies je zur Theorie ausreifen zu lassen, war der Professor instinktiv einer Meinung mit Tolstoi, daß nämlich der Mensch im Idealfall befähigt sein sollte, alles selbst zu tun. Statt Radio zu hören, spielte der Professor Geige, seine Frau Klavier, und von früher Kindheit an war Thamar, als ginge es ums Überleben, gezwungen worden, ein Cello zu spielen, das ein bißchen größer war als sie selbst. Nun machten sie Musik, statt sie zu hören. Der Professor galt als ein Mensch, der große Stücke auf persönliche Freiheit hielt, doch da seine Frau all seinen Launen nachkam, auch unaufgefordert, ließ sich nur schwer sagen, wie gelassen er wirklich war. Gewiß war er ein Freund von Subtilitäten, der Bedeutungsnuancen selbst dann einflocht, wenn solche Feinheiten überflüssig waren, was aber durchaus an den Verteidigungsmechanismen internationaler Anwälte liegen mag, die häufig auch dann eingesetzt werden, wenn keine Provokation vorliegt. 71
Es war am 13. Juli eines bestimmten Jahres, als Thamars heimlicher Groll plötzlich an die Oberfläche kam und sie mit einemmal haargenau wußte, was sie tun mußte, um zu überleben und sich selbst zu finden. Es war kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, und sie hatte geplant, mit einigen Freunden auszugehen, die ihrer Meinung nach gar keine richtigen Freunde waren, sondern Menschen, denen sie aus irgendeinem Grund leid tat, weshalb sie sich großzügig und verständnisvoll zeigten. Wahrscheinlich befand sie sich da im Irrtum. Unversehens verkündete der Professor, daß Professor Buke von der Fakultät für Sumerische Geschichte, die Dornsteins von der Politikwissenschaft sowie die Mandelzweigs (er hatte den Egbert-Hornaman-Swales-Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften inne) am selben Abend zum Essen kämen. Auf ausdrücklichen Wunsch Professor Bukes würde es Mendelssohn geben, und die Dornsteins waren ganz erpicht auf Dvořáks »Klaviertrio Dumky«. Professor Mandelzweig hatte sich für Beethovens »Erzherzogsonate« entschieden, wohingegen Mrs. Mandelzweig um etwas Melodiöses gebeten hatte. »Aber Papa«, wandte Thamar ein, »ich bin bereits mit Josephine Turner verabredet.« »Josephine wer?« fragte der Professor, was sich anhörte, als wäre ihm eine andere Josephine lieber gewesen. »Josephine Turner – du weißt doch: die Tochter des Football-Trainers.« »Ah, Turner!« rief der Professor aus, als wünsche er, die Menschheit würde sich einer ordentlicheren Aussprache befleißigen. »Nun, wenn du zugesagt hast, hast du eben zugesagt.« Durch die Wolken brach das gewinnende Lächeln, gepaart mit Melancholie. »Es bedeutet lediglich, daß Mama nicht nur ganz allein für sieben Personen kochen, sondern auch den Tisch decken und abwaschen muß, außerdem wird 72
es in meinem Haus heute abend keine Musik geben.« »Warum kannst du nicht mit Mama Sonaten spielen?« »Sonaten? Damit deine Mutter zur Hälfte belastet ist statt zu einem Drittel, nachdem sie allein den Tisch gedeckt und gekocht hat?« »Warum hast du mir nicht rechtzeitig Bescheid gesagt?« »Warum hast du nicht, Liebes?« »Ich wüßte nicht, warum.« »Du wohnst noch zu Hause. Wenn du verheiratet bist … eine eigene Familie hast …« »Ich rufe die Turners an.« Sie wollte um jeden Preis diese peinlichen Spekulationen über verheiratet sein und eine Familie haben vermeiden. Auf dem Weg zum Telefon sah sie sich im Spiegel. »Ich sehe scheußlich aus«, sagte sie laut – in der Hoffnung, daß jemand es hörte. Was nicht der Fall war. Es stimmte nicht, daß sie scheußlich aussah. Sie hatte bloß eine Nase, die etwas zu lang geraten war, um elegant proportioniert zu sein. Ihre Lippen waren wohlgeformt und sinnlich, aber ihre Nasenspitze hing über den Mund, was ihr den Anschein gab, als schaute sie böse drein. Das war jammerschade, weil ihre obere Gesichtshälfte von erlesener Schönheit hätte sein können. Ihr Vater hatte die gleiche Nase, wodurch er manchmal aussah, als atme er durch den Filter seines bleistiftdünnen Schnurrbartes. Die Nase ihrer Mutter war fast identisch, aber ihr Ausdruck alles durchdringender Milde verlieh ihrem Mund eine gewisse Lieblichkeit, als schmecke sie ständig unendlich raffinierte Speisen. Manchmal, so wie jetzt beim Telefonieren, während sie den Turners Entschuldigungen zumurmelte, stellte Thamar sich eine gemeinsame Liebesnacht ihrer Eltern vor, wenn sie sich nackt umschlungen hielten, den Funken, der ihre, Thamars, Existenz begründet hatte, ihre und die ihres Cellos. Eine 73
plötzliche Wut ergriff sie, als sie den Hörer auflegte. Nun stand sie zur Verfügung, um den Tisch zu decken, zu kochen, zu spülen, um Beethoven, Dvořák und Mendelssohn zu spielen. »Diese Teufel«, zischte sie, »sie haben mir nie eine Chance gelassen. Sie haben sich in die Nase des anderen verliebt. Sie haben sich in sich selbst verliebt. Ihr Kind hatte nicht die Spur einer Chance! Mir blieb nichts anderes übrig. Ich mußte ihre Nase kriegen!« Und dann, um sich weitere Überlegungen zu ersparen, die sie eventuell bedauern würde, flüchtete sie sich in ihre Phantasie. »Vielleicht bin ich verrückt«, dachte sie. »Warum sollte ich verrückt sein? Vielleicht sind Papa und Mama Bruder und Schwester.« Jedenfalls glich ihre Beziehung viel eher einer geschwisterlichen als einer zwischen Mann und Frau. Zwischen ihnen bestand eine Art Komplizenschaft, als hätten sie die gleiche launische Kinderstube überstanden, die sie nun einer Religion gleich aus Tradition überlieferten. Das Dinner selbst verlief alles andere als überraschend. Als Hauptspeise gab es Pilaw, Reis mit Rosinen und Nüssen, sowie etwas angekohltes Lamm, das Professor Burke, einen Witwer, in Ekstase versetzte: Warme Mahlzeiten erinnerten ihn stets an seine verstorbene Frau, was sowohl rührend als auch ein wenig morbide war. Nach dem Essen nahmen sie rasch Platz, um der Musik zu lauschen. Sie hatten einander nicht viel zu sagen, da sie sich tagsüber ohnehin sehr häufig begegneten und, abgesehen von ihren Spezialgebieten, nicht übermäßig streitsüchtig waren. Professor Buke schloß in Erwartung Mendelssohns die Augen. Er lehnte sich zurück, während die Dornsteins sich mit einigermaßen feierlichen Mienen begnügten, als hielten sie sich an einem ihnen fremden Ort zum Gebet auf. Professor Mandelzweig lächelte mit einer Art finsterer Befriedigung, während seine Frau mit ihrer Handtasche 74
spielte. Augenscheinlich hatte sie nicht kommen wollen. Als die anmutige viktorianische Filigranarbeit zu Leben erwachte, beobachtete Thamar ihre Eltern, ihre Mutter, die vertuschte, daß sie mit routinierter Ungehörigkeit den Takt zählte, und deren Oberarmfleisch jedesmal wabbelte wie ein Truthahnhals, wenn sie einigermaßen robust in die Tasten langte, während die Augen ihres Vaters vor tiefer inniger Wahrnehmung geschlossen, seine Augenbrauen hochgezogen waren. Thamar raste vor Wut. Zum erstenmal fiel ihr Stolz auf ihr gutes Spiel einem Anfall von Aufsässigkeit zum Opfer. Sie tat etwas, was sie noch nie getan hatte. Absichtlich, mit Bedacht, spielte sie eine falsche Note. Überrascht öffnete ihr Vater die Augen, nur um seiner Tochter rasch einen verständnisvollen Blick zuzuwerfen. Irren ist menschlich. Ihre Mutter tat das gleiche, aber nicht bevor sie das stillschweigende Einverständnis ihres Gatten eingeholt hatte. Professor Buke bemerkte nichts. Der Mendelssohn wurde unter allgemeinem Applaus beendet. Vor dem Dvořák wurde noch ein wenig gestimmt. Mrs. Mandelzweig murmelte etwas von am Morgen früh raus müssen und machte Anstalten, sich zu erheben. Der Professor schlug vor, zuerst den Beethoven zu spielen, da die Mandelzweigs sich Beethoven gewünscht hatten. »Sogar von der chronologischen Abfolge her wäre das logisch«, lachte der Professor. »Ach was, bleib bloß bei deinem Programm, Ramaz.« Damit warf Mandelzweig die Autoschlüssel seiner Frau zu, die nicht damit gerechnet hatte und sie fallen ließ. »Bestimmt setzen mich die Dornsteins zu Hause ab.« »Ich möchte ja nicht alles durcheinanderbringen«, sagte Mrs. Mandelzweig. »Es ist nur so, daß …« »Die Lady bevorzugt Big Bands«, unterbrach ihr Mann sie. »Nein. Gar nicht wahr.« Nach einem Augenblick peinlichen 75
Zögerns hob Mrs. Mandelzweig die Schlüssel vom Fußboden auf und eilte zur Tür. Da sich offenbar niemand veranlaßt sah, etwas zu sagen, rief Thamar hinter ihr her: »Gute Nacht, Mrs. Mandelzweig … Wie schön, daß Sie kommen konnten.« Mrs. Mandelzweig blieb verblüfft stehen und antwortete Thamar. »Gute Nacht, und danke für die Einladung.« Dann ging sie. Professor Mandelzweig sprach mit seiner rauhen Stimme. »Schade, daß du es für nötig befandest, dies zu sagen, Thamar. Wenn das grob klingt, dann nicht wegen eines hier Anwesenden, sondern wegen Beethoven. Ich mag den Burschen. Er hatte eine Menge Ärger mit Philistern und verdient wohl ein wenig Respekt.« »Ohne dem in Frage stehenden Herrn den Respekt verweigern zu wollen«, meldete sich Professor Atoulia nach einer kurzen Pause, »Wird die Familie Atoulia nun Dvořáks ›Klaviertrio Dumky‹ in Angriff nehmen.« Man hörte spärlichen Applaus und das Geräusch von Mrs. Mandelzweigs Wagen, dessen Motor draußen angelassen wurde. Dieser Vorfall ging Thamar nicht aus dem Kopf, und gegen Ende des dritten Satzes, in einem weiteren aufmüpfigen Augenblick, spielte sie absichtlich eine falsche Note, noch krasser, noch störender als zuvor. Diesmal achtete sie darauf, daß sie völlig normal und gelassen aussah, und registrierte die verdutzten Blicke ihrer Eltern, ohne ihnen auch nur einen Moment in die Augen zu sehen. Sie beharrte sogar auf dem einmal eingeschlagenen Weg, indem sie die Note bei der Wiederholung erneut falsch spielte, als befänden sich ihre Eltern im Irrtum. Natürlich schenkte keiner den Fehlern Aufmerksamkeit. 76
Die Dornsteins waren sich einig, daß Dvořák »ein verflucht guter Komponist war, in gewisser Hinsicht nicht besser, aber frischer als Brahms«. »Ich bin nicht sicher, ob man in der Stratosphäre Vergleiche anstellen kann«, sinnierte Professor Atoulia. »Es muß doch die Möglichkeit kritischer Einschätzung geben, sogar in der Stratosphäre«, insistierte Professor Dornstein. »Wollt ihr beiden etwa andeuten, daß Beethoven die Stratosphäre mit Figuren wie Dvořák und Mendelssohn teilt?« wollte Professor Mandelzweig wissen. »Jedem seine eigene Stratosphäre, wenn es denn die Stratosphäre sein muß«, meinte Professor Buke in päpstlichem Tonfall. Thamar hörte sich den Streit an, dem es nicht an der Sorte Absurdität mangelte, deren nur Menschen mit überlegener Intelligenz fähig sind, während das Cello an ihrem Knie lehnte. Sie wußte, daß der »Erzherzog« noch kam, und konnte es kaum erwarten, ihn hinter sich zu bringen, zu spülen und ins Bett zu gehen. Die anderen rauchten und tranken. Es war Pause. »Wenn ihr mich fragt, ich sehe immer Bauern vor mir, wenn ich Dvořák spiele, denke an marmorne Säle, wenn ich Mendelssohn spiele, und fühle mich in einem höchst vertrauten Elysium, wenn es um Beethoven geht – klingt das albern?« fragte Mrs. Atoulia. »Ich bin ganz froh, daß du diese Vorstellungen nicht dem Hörer vermittelst«, sagte ihr Mann ohne klar ersichtliche Grausamkeit, um dann ernster fortzufahren: »Du spielst viel zu gut, als daß du uns über die zugrundeliegenden Prozesse aufklären müßtest.« Das brachte seine Frau endgültig zum Schweigen. 77
»Und wie steht’s mit der jungen Dame am Cello?« fragte Professor Mandelzweig, offenbar ein Experte, wenn es darum ging, Frauen eine Reaktion zu entlocken. »Was empfindet sie?« »Ich empfinde absolut gar nichts«, sagte Thamar mit eisiger Stimme. »Das kann ich einfach nicht glauben«, scherzte ihr Vater, ließ es aber dabei bewenden, als er den erschreckend leeren Gesichtsausdruck seiner Tochter bemerkte. Den Beethoven spielten sie pflichtschuldig, aber ohne großes Feuer. Sie waren nicht mehr mit dem Herzen dabei, und angesichts der angespannten Atmosphäre gab Thamar sich große Mühe, keine weiteren Fehler zu machen. »Ist das nicht die Krönung?« sagte Professor Mandelzweig, als er sich erhob, um zu gehen. »Vertrautes Elysium, das hat’s schon ziemlich genau getroffen. Ala, ich weiß wirklich nicht, was ich ohne eure Musikabende tun würde. Nahrung für die Götter, genau das sind sie.« »Und die Götter sind wir?« fragte Professor Atoulia mit seiner speziellen Art von Humor, wie üblich hart an der Grenze. »Wer sonst?« rief Mandelzweig und zwängte sich in seinen Mantel. »Ala, Ramaz: Es war ein herrliches Erlebnis«, ergänzte Professor Dornstein. »Das meine ich ernst.« »Und hoffentlich ist sich unser junges Cellogenie bewußt, in was für eine großartige Familie sie geboren wurde«, ergänzte Mrs. Dornstein. Thamars Lächeln fiel knapp und kühl aus. »Sie ist schüchtern«, sagte ihr Vater. »Ich an ihrer Stelle würde mein Glück von den Dächern posaunen«, behauptete Mrs. Dornstein ein wenig 78
herausfordernd. »Es entspricht nicht der Familientradition, etwas von den Dächern zu posaunen«, kicherte Professor Atoulia. »Wir sind Christen, keine Moslems.« Dieser Scherz ging über Mrs. Dornsteins Horizont, die sich vom Schlachtfeld zurückzog, um es Professor Buke zu überlassen, dem Witwer, der immer als erster eintraf und als letzter ging. »Es wäre eine Beleidigung, zu behaupten, es sei ein perfekter Abend gewesen, wie dieser etwas ungehobelte Aaron Mandelzweig unterstellt. Der Abend war besser als perfekt, dank seiner menschlichen Unzulänglichkeiten. Die Tempi im Mendelssohn waren gelegentlich schludrig, dem Dvořák fehlte die Strenge, im Beethoven gab es etliche Fehler – wen stört’s? Worauf es ankommt, ist der menschliche Geist, der sich zu diesen olympischen Höhen aufschwang und scheiterte, wie alle menschlichen Unternehmungen scheitern, aber es hat nicht viel gefehlt! Nicht viel! Genau dies haben die Sumerer mit solch unvergleichlicher Klarheit erfaßt!« Thamar verließ das Zimmer und machte sich an den Abwasch. »Ich hoffe, die junge Dame fühlt sich durch meine Kritik nicht beleidigt«, sagte Professor Buke leise. »Das glaube ich nicht. Doch der Genauigkeit halber, und da sie nicht mehr im Zimmer ist, kann ich dir verraten, daß sich die Fehler im Mendelssohn sowie im Dvořák einschlichen. Der Beethoven war fehlerlos«, bemerkte Professor Atoulia. »Ich habe eindeutig Fehler im Beethoven gehört, weder im Mendelssohn noch im Dvořák«. Professor Buke blieb fest. »Vielleicht befindest du dich weniger im Einklang mit Beethoven als mit den anderen. Verdirb einen köstlichen Abend bitte nicht durch deine Beschränktheit.« 79
Professor Atoulia war das durchaus gewohnt. »Ich würde dir ja noch einen Drink mit auf den Weg geben, Tim«, sagte er ruhig, »glaube aber, daß du schon etliche intus hast.« Professor Buke schluchzte leise. »Bin ich betrunken?« erkundigte er sich. »Nicht betrunken, aber du trinkst.« »Gott, wenn nur Alma nicht … heimgegangen wäre …« »Ich weiß, ich weiß«, tröstete ihn Atoulia. »Na komm, ich rufe ein Taxi. Laß den Wagen heut stehen. Besser, du fährst nicht selbst.« »Kannst du mir je verzeihen?« »Was gibt es da zu verzeihen?« »Der Beethoven war superb. Piatigorsky, Feuermann und Janoš Starker hätten ihn nicht besser spielen können. Stimmt’s?« »Sie hätten ihn überhaupt nicht spielen können. Das waren alles Cellisten.« »Verdammt noch mal, unterbrich mich nicht«, schrie Professor Buke aufsässig, während Atoulia versuchte, ein Taxi zu bestellen. »Der Mendelssohn war ma … majestätisch. Eines Cortot, eines Richter und dergleichen würdig. Der andere Bursche, dieser Jugoslawe, den – ach, zum Teufel damit –, warum bleibt ihr nicht bei Sachen, die ihr könnt?« Buke schlief ein. Bevor Alma heimging, war es eher noch schlimmer gewesen. Ala lag wach im Bett und sprach im Dunkeln mit ihrem Mann. »Ich habe noch nie erlebt, daß Thamar Fehler machte.« »Nein«, murmelte ihr Mann beschwichtigend. 80
Er hatte noch nicht die Zeit gefunden, seine deduktiven Fähigkeiten walten zu lassen. »Der zweite Fehler hat mich noch mehr schockiert als der erste.« »Ja. Warum?« »Beim ersten war sie selber schockiert. Offenbar hat sie den zweiten Fehler gar nicht bemerkt.« »Und wenn er absichtlich geschah?« »Absichtlich? Ein Fehler?« »Vielleicht will sie uns damit etwas sagen.« »Was kann sie uns sagen, das wir noch nicht wissen?« »Beinahe alles.« Es entstand eine Pause. »Ramaz, versuchst du, mich unglücklich zu machen?« »Das ist mir vielleicht oft gelungen, aber wann habe ich es je versucht?« Als ihm Schweigen antwortete, hielt es Ramaz für besser fortzufahren. »Vergiß nicht, daß du eine außergewöhnliche Frau bist, Ala.« »Ach, das sagst du nur so.« »Keineswegs. Wir kannten uns schon als Kinder. In unseren Leben gab es keine Wahl – kein Chaos. Du stammst aus einer anderen Welt, aus der Welt unserer Dörfer. Schon sehr früh wurde unser gemeinsames Leben zur Gewohnheit. Thamar wurde in eine Welt ungeheurer Unordnung geboren. Wir geben uns alle erdenkliche Mühe, diese Unordnung fernzuhalten, wie Giftgas, wie Umweltverschmutzung, aber das kann uns nicht völlig gelingen, selbst hier auf dem Campus nicht. Daher kommen wir einer Frau wie Kate Dornstein so ideal vor. Sie sieht ein Haus ohne Fernsehantenne, ohne Radio und mit einem Kind, das ein Musikinstrument fast wie ein Profi beherrscht – 81
und muß an ihre eigenen Kinder denken. Das eine macht eine Drogentherapie, und sie macht alle dafür verantwortlich, ihren Mann, die permissive Gesellschaft, die amerikanische Lebensart. Wenn sie aggressiv wird, weil Thamar nicht dankbar genug wirkt, spricht sie in Wahrheit mit ihrem Mann, kämpft gegen Mächte an, die sie nicht versteht.« »Aber ich bin ihrer Meinung, Ramaz. Thamar kommt mir tatsächlich nicht dankbar genug vor.« »Warum sollte sie dankbar sein?« »Wie kannst du so etwas fragen?« »Und kann ein Mensch nicht dankbar sein, ohne es zu zeigen?« »Glaubst du, sie ist es? Dankbar?« Es entstand die nächste Pause, während deren beide zwecks Erleuchtung an die Decke starrten. »Soviel sage ich dir: Wir haben einander. Sie hat niemanden.« »Oh, fang nicht wieder damit an«, stöhnte Ala. »So ist es nun einmal.« »Sie hat uns.« »Sind wir in ihrem Alter?« »Wir sind ihre Familie.« »Familie und Freunde sind nicht das gleiche. Freunde sind Familie, die man sich selbst sucht. Es gibt Dinge, die sie uns nicht sagen kann. Wir müssen warten und vielleicht sogar ein wenig leiden. Wenn die Zeit reif ist …« Er küßte sie, und es war klar, daß das Gespräch beendet war. Bald schnarchte er, während sie weiter die Decke anstarrte und sich so einsam fühlte wie angeblich ihre Tochter. Was wissen Männer denn schon? Sie geben bloß Befehle. 82
Vielleicht ist das ja auch gut so. Sie seufzte schwer und wählte den Weg des geringsten Widerstandes, Schlaf. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, wurde nicht viel geredet, die Atmosphäre war eher wachsam und taktvoll. Eigenartigerweise war die gewöhnlich schweigsame Thamar am geschwätzigsten. »In sechs Tagen werde ich einundzwanzig«, sagte sie, den Mund voller Schwarzbrot und Weißkäse. »Das haben wir nicht vergessen«, lachte der Professor. »Weißt du, wenn du uns ständig daran erinnerst, verpufft die ganze Überraschung … außerdem müssen wir den Eindruck gewinnen, wir seien so alt, daß wir womöglich den großen Tag vergessen.« »Ich wollte ja nur sagen … gebt mir kein Geschenk, keine Uhr, kein Schmuckstück oder so was – schenkt mir einfach das Geld, und laßt mich selbst entscheiden …« »Das klingt sehr materialistisch«, murmelte Ala, die die Auffassung vertrat, als Empfänger von Geschenken sollte man eher zufrieden als pragmatisch sein. »Mutter, in mancher Hinsicht bist du viel jünger als ich.« »Wie redest du überhaupt mit mir?« »Mutter, siehst du denn nicht, daß unser kleines Mädchen dir schmeichelt?« sagte der Professor und küßte seine Frau auf die Stirn. »Ein Teil von dir ist auf ewig jung und entzückend.« Ala lächelte traurig und nahm die Behauptung hin, wie sie ein Geschenk angenommen hätte, nämlich mit niedergeschlagenen Augen und offensichtlich erfreut. »Du willst also Geld«, stellte der Professor fest. »Warum, wenn ich fragen dürfte?« »Ich möchte mir selbst etwas schenken«, antwortete Thamar vergnügt. 83
»Was?« »Wenn ich es dir verrate, verpufft die ganze Überraschung, um dich zu zitieren, Papa.« Der Professor lächelte, aus seinem reichen Repertoire das Anwaltslächeln wählend. »Ist es möglich, sich selbst eine Überraschung zu bereiten?« »Aber ja, aber ja«, rief Thamar, als sei ihr Vater in eine Falle getappt. Ala blickte von einem zum anderen und versuchte zu begreifen. Der Professor sah seine Tochter durchdringend und seine Frau beruhigend an und verkündete, er komme zu spät zu einer Vorlesung. Dann ging er. Thamar trank ihren Kaffee aus und hoffte, es auf ihr Zimmer zu schaffen, bevor ihre Mutter Worte fand. »Ach, eines Tages wirst auch du die Last der Sorgen kennenlernen – wenn du ebenfalls verheiratet bist … eine eigene Familie hast …« Thamar hastete die Treppe hoch in ihr Zimmer, ohne nach dem Köder zu schnappen. Sie verschloß die Tür, zog die Vorhänge zu, ging zu einem geheimen Versteck zwischen ihren Büchern, zog hinter einigen Bänden einer Enzyklopädie eine schmale Schachtel hervor, öffnete sie mittels eines Schlüssels, den sie bei ihren Ohrringen aufbewahrte, entnahm der Schachtel eine Handvoll Geld und zählte es langsam, sorgfältig darauf achtend, daß der Betrag stimmte. Sie sah sich selbst als Geizkragen, der seinen Schatz zählte, und dieses Klischee, das sie aus irgendeinem alten Märchenbuch hatte, verlieh ihr Kraft und machte ihr Mut. Unten war es verpönt, Geld auch nur zu erwähnen. Es zählten nur Belesenheit, gelehrtes Wortgeplänkel, Mendelssohn und dergleichen. Oben, in ihrer Nische, konnte man gewöhnlich sein. Sie legte Geld und Schlüssel wieder in die Schachteln, denen sie sie entnommen hatte, und verließ frohgemut das Haus, wobei sie rief, sie müsse ein 84
Ferngespräch führen. »Du kannst doch von hier aus telefonieren!« sagte Ala in einen leeren Hausflur hinein. Dann ergänzte sie, nur für ihre eigenen Ohren: »Wen kennt sie überhaupt?« Als der große Tag gekommen war, quälte sich Thamar damit, die Vorfreude zu verlängern. Spät ließ sie sich beim Frühstück blicken. »Ah!« riefen ihre Eltern. Es war die Gelegenheit für Küsse, für Versöhnung, für große Freude. Auf ihrem Teller lagen drei Geschenke: eines in einem Umschlag, eines in einer Schachtel und eines in einem schlabbrigen Päckchen. »Das ist ein guter psychologischer Test«, erklärte der Professor, als er mit seiner Frau mehrstimmig »Happy Birthday to You« gesungen hatte, so daß es wie eine uralte Melodie aus den Katakomben des Kaukasus klang. »Mal sehen, was sie zuerst auspackt.« Thamar griff sich das große schlabbrige Päckchen. »Na, na, na«, mahnte der Professor. »Das Größte ist nicht immer das Beste!« »In diesem Fall ist es das Größte, weil es von Herzen kommt«, sagte Ala sibyllinisch. Thamar zog eine Schürze heraus, handbestickt mit Motiven aus Nord-Dagestan. »Die ziehst du über, wenn du mir in der Küche hilfst«, lachte Ala, als ihre Tochter sie pflichtschuldig küßte. »Probier sie an, probier sie an.« »Später, Mutter.« »Später, Mutter«, wiederholte der Professor verständnisvoll. Thamar packte die Schachtel aus. Sie enthielt Ohrringe von 85
ungeheurer Raffinesse, Antiquitäten. »Sie gehörten meiner Mutter und stammen aus Abchasien«, sagte der Professor. »Ich bekam sie von ihr, als wir in den Westen übersiedelten. Wenn du einmal heiratest und eigene Kinder hast, soll das erstgeborene Mädchen sie bekommen, sobald es volljährig wird.« »Da bleibt für das zweitgeborene Mädchen nicht mehr viel übrig«, stellte Thamar fest, während der Professor seiner Frau einen kalkuliert ausdruckslosen Blick zuwarf. »Die sind … echt scharf«, sagte Thamar. »Scharf? Primitiv vielleicht, was ihre unmittelbar elementaren Kräfte anbelangt, aber scharf?« »Das ist nur so ein Ausdruck, wie prima. Scharf bedeutet nicht scharf«, erklärte Thamar. »Verstehe«, sagte ihr Vater. »Was bedeutet überhaupt noch etwas, frage ich mich da.« »Mit Recht, Papa.« Thamar machte sich an dem Briefumschlag zu schaffen. Sie entnahm ihm einen Scheck. Er belief sich auf zweihundert Dollar. Thamar bekundete keinerlei Freude oder Begeisterung. Sie gab ihrem Vater einen Kuß. »Danke«, sagte sie. »Das wolltest du doch. Es ist lediglich ein Stück Papier, auf dem etwas geschrieben steht, wie die Schriftrollen vom Toten Meer. Nicht sehr glanzvoll zur Feier deiner Volljährigkeit!« »Glanzvoll – wer will das schon?« »Jedenfalls ist es ein wichtiger Tag.« »Ihr ahnt ja gar nicht, wie wichtig.« »Wir haben ihn beide hinter uns, deine Mutter und ich.« »Was man nicht immer merkt.« Sie stand auf. »Und dein Frühstück?« fragte ihre Mutter leise. 86
»Heute abend haben wir eine nette Überraschung für dich, Liebling«, verkündete der Professor. »Nur Gäste, die du magst. Die Helgards mit ihrem gutaussehenden Sohn, dem angehenden Bergbauingenieur, die Krauses mit ihrer Tochter Sonja. Erinnerst du dich noch an Sonja Krauss? Die Helgards, die Krauses, mehr nicht. Ganz intim. Es wird anregende Gespräche geben, ein wenig Musik, nur deine Lieblingsstücke, wer weiß, vielleicht tanzen wir ein wenig, wir könnten sogar den Teppich aufrollen.« »Wer würde zum Tanz aufspielen?« erkundigte sich Thamar. »Mama kriegt immer noch den einen oder anderen Foxtrott hin, einen Quickstep, was, Mama?« Ala machte eine Geste, um anzudeuten, sie habe alles vergessen. »Jedenfalls werde ich nicht dasein.« »Nicht dasein?« fragte der Professor ungläubig. »Du feierst deinen einundzwanzigsten Geburtstag woanders, mit anderen Leuten?« »Den habe ich schon gefeiert. Ich verreise für etwa eine Woche.« »Eine Woche? Wohin?« »Boston.« »Boston?« rief der Professor, als hätte sie Beijing gesagt. »Ja. Eine seit langem getroffene Verabredung.« »Darf man fragen, seit wie lange?« »Oh, seit fünf, sechs Jahren.« »Es ist also kein …« »Ich brauche euch nicht zu sagen, um wen oder was es sich handelt. Ich bin jetzt volljährig.« »Wir sind immer noch deine Eltern, deine Familie«, jammerte Ala und versuchte vergeblich, verständnisvoll zu klingen. 87
»Und wer spielt heute abend Cello?« fragte der Professor ruhig und fügte hinzu: »Mutter weigert sich, mit mir Sonaten zu spielen. Du bist unser Stolz, unsere Freude.« »Dann spielt doch eure Bach-Suiten ohne Begleitung«, schlug Thamar gelassen vor. »Sie kommen, um dich zu hören, Thamar. Du bist das Wunder, das wir geschaffen haben.« »Trotz der Fehler?« »Du hast sie bemerkt?« »Bemerkt? Sie geschahen in voller Absicht. Absichtlich! Sie sind mir nicht unterlaufen. Ich faßte einfach den Entschluß«, fauchte Thamar mit offener Feindseligkeit. Dann faßte sie sich und sagte ruhig: »Ich gehe mal kurz raus, ein Ferngespräch führen.« »Ein Ferngespräch kannst du auch von hier führen, wenn es nicht zu lange dauert. Vielleicht nach Boston? Bitte …« Doch Thamar war schon weg. »Absichtlich?« wiederholte der Professor. »Ihr sind die Fehler nicht unterlaufen?« Er sah seine Frau an. Zwischen ihren Lidern hingen zitternde Tränen, die ihre Augen riesengroß machten. »Nicht mal ihre Schürze hat sie anprobiert.« Da verlor der Professor seine Beherrschung. »Eine Schürze? Und die geheiligten Ohrringe meiner Mutter, die ich so eifersüchtig für den großen Tag gehütet habe? Die zählen wohl nicht, schätze ich.« Er gewann seine Fassung wieder. »Ala, irgend etwas an dieser Sache verstehen wir nicht.« Doch für Logik war es zu spät. Alas große Tränen fielen wie tropische Regentropfen auf das Tischtuch. Die ersten Experimente verliefen unglaublich. Thamar betrachtete sich im Spiegel und hatte zum 88
erstenmal in ihrem Leben das Gefühl, jemand halbwegs Akzeptables könnte sich möglicherweise in sie verlieben. »Ich glaube, mit Fug und Recht sagen zu können: Da haben wir ordentliche Arbeit geleistet«, sagte Dr. Brisket, der in seiner grünen Krankenhauskluft hinter ihr stand und sein Werk kritisch begutachtete. »Ich habe sie nicht ganz so kurz gemacht wie von Ihnen verlangt«, fuhr er fort, »weil ich mir dachte, das wäre eine Überreaktion Ihrerseits auf den doch recht langen Riechkolben, mit dem Mutter Natur Sie ausgestattet hat …« »Mutter Natur, Blödsinn«, unterbrach ihn Thamar. »Meine Eltern.« »Haben sie auffallende Nasen?« wollte Dr. Brisket wissen. »Alle beide«, lachte Thamar. Mittlerweile konnte sie wirklich darüber lachen. »Tja, also, ich habe die Spitze ein klitzekleines bißchen nach oben gestupst«, fuhr Dr. Brisket fort, wobei er Thamar durchdringend im Spiegel betrachtete und zur Illustration seiner Worte den kleinen Finger als Zeigestock benutzte. »Dem Männchen der Gattung gefällt das.« Er grinste. »Das beruht auf Erfahrung.« Dann wurde er wieder ernst. »Die Nasenlöcher waren wohl das Schwierigste bei der Sache. Ich mußte sie komplett umbauen und die Spuren verwischen. Übermäßig geblähte Nasenlöcher verleihen einem Menschen einen betont sinnlichen Ausdruck, der, wenn Sie mich fragen, nicht besonders attraktiv ist. Ausgewogenheit ist in Schönheitsfragen das Allerwichtigste, wird aber häufig übersehen. Unter Ausgewogenheit verstehe ich Harmonie. Und das haben wir hier vor uns. Harmonie.« »Ich werde Jahre brauchen, bis ich mich dran gewöhnt habe.« »Aber klar«, lachte Dr. Brisket. »Beim Schneuzen werden Sie sich das Taschentuch wahrscheinlich drei Zentimeter vor die Nasenspitze halten, beim Essen werden Sie sich auf der 89
Suche nach dem Mund mit einer Gabel in die Oberlippe pieken, und möglicherweise haben Sie beim Autofahren sogar Probleme Entfernungen richtig einzuschätzen.« »Ich fahre nicht Auto«, sagte Thamar. »Sie fahren nicht Auto? Hm. Rara avis.« »Was?« »Von Ihrer Sorte gibt’s nicht mehr viel.« »Das stimmt. Und ich gehöre nicht dazu. Nicht mehr«, erwiderte Thamar geheimnisvoll. Inzwischen machte sie sich über ihre Rückkehr nach Hause Gedanken. Sie mußte so kurz wie irgend möglich ausfallen, da sie zwangsläufig schmerzhaft sein würde. Sie würde sich eine Stellung suchen, als Sekretärin, als Verwaltungsangestellte, sogar als Dienstmädchen oder vielleicht als Cellistin, einfach alles, nur um ein Zuhause zu verlassen, dem sie entwachsen war, das ihr eine permanente Kindheit aufzwang, permanente Hinnahme der Witzeleien und klugen Sprüche ihres Vaters, und das eine permanente Einladung darstellte, das bloßliegende Zartgefühl ihrer Mutter zu verletzen. Da gab es nichts zu erklären. Ihre Erklärung trug sie mitten im Gesicht. Das mußten sie schon unter sich durchdiskutieren, nachts, zwischen den Überresten von Schürzen und uralten, nach Metall stinkenden Ohrringen, Klavier- und Geigenteilen, zwischen Unmengen von klebrigem Reis, Nüssen und Rosinen, der Hinterlassenschaft geselliger Zusammenkünfte. Wenn nötig, würde sie sich auf Grobheiten verlegen. Zwar nur ungern, da es nicht ihre Art war, andere grundlos zu verletzen, doch gelegentlich ließ es sich nicht vermeiden – wie eine falsche Note in einer Sonate –, um mit chirurgischer Präzision Klarheit zu schaffen. Nach kurzer Genesungszeit kehrte sie nach Hause zurück, fast wie ein verlorener Sohn, aber mit einem gewichtigen Unterschied. Der verlorene Sohn hatte sein Zuhause nicht 90
häßlich verlassen, um gutaussehend wiederzukehren. Als sie zur Haustür hereinkam, begegnete sie zuerst ihrer Mutter. Ihre Blicke trafen sich kurz. Dann stieß Ala einen so gewaltigen, so durchdringenden Schrei aus, daß ihre Tochter zunächst eher ungläubig als bestürzt reagierte. Kaum hatte sie geschrien, sank Ala wie ein Stein zu Boden. Der Professor war zu Hause und kam die Treppe heruntergerast. »Was hast du zu ihr gesagt?« fragte er, als er neben seiner Frau niederkniete. »Kein Wort. Es war auch gar nicht nötig.« Der Professor schaute zu ihr hoch. »Boston? Hast du’s da machen lassen? Eine neue Nase?« »Ja. Ich hab’s euch doch gesagt, ich könnte mich selber beschenken und mir dennoch eine Überraschung bereiten. Ich hatte keine Ahnung, wie es aussehen würde.« »Und war es eine freudige Überraschung? Dieser Knopf, den du mitten im Gesicht trägst?« »Er gibt mir Selbstvertrauen.« Die Bestürzung des Professors schlug in Wut um. »Was soll das Ganze überhaupt; meine Nase, deiner Mutter Nase – waren die nicht mehr gut genug für dich? Wo ist dein Charakter geblieben? Deine Persönlichkeit? Jetzt siehst du genauso aus wie alle anderen.« »Vielleicht wollte ich ebendas: in der Menge untertauchen!« schrie Thamar. Als Ala sich rührte, setzte das ihrem aufkeimenden Streit ein Ende. »O Ramaz, hast du … hast du unsere Tochter gesehen?« flüsterte sie. »Hab’ ich, hab’ ich. Sie ist gesund und munter.« »Ein furchtbarer Unfall. Muß ein betrunkener Autofahrer gewesen sein. Sie ist entstellt.« 91
»Nein, nein.« »Entstellt, wenn ich es dir doch sage. Ihre Nase ist weg. Man hat versucht, sie ihr wieder anzunähen. Es ist mißlungen. Meine Freude, meine Blume, mein Leben hat ihre Nase verloren.« Dann brach sie in Klagen aus, gemäß der uralten Sitte ihrer Ahnen in den uneinnehmbaren Bergdörfern, jammerte, war untröstlich und schlug sich eher symbolisch als schmerzhaft gegen die Brust. »Da siehst du, was du angerichtet hast«, sagte der Professor und erhob sich, weil er auf den Knien nichts mehr bewirken konnte. »Was für ein Theater wegen einer Nasenoperation«, stellte Thamar fest und schloß die Haustür. »Wen kümmert eine Nase?« sagte der Professor laut, um das Gejammere zu übertönen. »Das ist gar nicht das Wesentliche. Daß hier der Natur ins Handwerk gepfuscht wurde, das ist entscheidend. Komm mal kurz mit in mein Arbeitszimmer. Ich will mit dir reden. Nein, nein, laß Mutter nur auf dem Teppich liegen. Da fühlt sie sich wohl.« Sie gingen in das Arbeitszimmer des Professors. »An einer Nase ist an sich nicht viel dran – Haut, Knochen, Gewebe. Aber sie ist ein Zeichen, ein persönliches Markenzeichen. Wir entstammen einer uralten Sippe, hoch oben aus den Bergen des Kaukasus. Wir atmen die reine, dünne Luft der oberen Atmosphäre, wir trinken Sauermilch und essen Lamm vom Spieß, gewürzt mit wohlriechenden Kräutern; es ist ein wildes, gesundes Leben und ein langes dazu. Gerüchten zufolge lebt mein Großvater immer noch irgendwo jenseits der Wolken. Er kann immer noch tanzen, eine steile Felswand erklettern und sich mit den Besten bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, und seine Nase ist ein so starkes und massives Organ, daß bei einem Zusammenprall zwischen einem Stier und Großvater der Stier Nasenbluten 92
bekommen würde.« »Aber Papa, du redest, als lebten wir immer noch da oben statt auf einem amerikanischen Campus am Rande eines smoggeplagten Industriegebietes. Tun wir aber nicht, und ich hab’ lieber eine Nase, die in einer kosmetikorientierten Gesellschaft tragbar ist, als eine, mit der ich ein Rindviech angreifen und zu Schaden bringen kann. Es kommt wohl darauf an, was man vom Leben erwartet. Den Kaukasus habe ich nie gekannt. Ich kenne bloß New Jersey. Du kannst mich nicht zwingen, deine Träume zu teilen. Ich habe meine eigenen.« Der Professor lächelte. »Wenigstens redest du endlich. Das allein ist schon ein Erfolg. Wenn dir die Nase die Zunge gelöst hat, wünsche ich beiden viel Glück. Wir werden’s überleben, auch wenn wir uns an dein von Menschen geschaffenes Körperteil nie ganz gewöhnen werden.« »Im Gegensatz zu von Gott geschaffen?« »Exakt. Du hast es begriffen.« »Als du mit Mutter geschlafen hast, war das Ergebnis von Gott geschaffen?« »Werde bitte nicht vulgär, meine Tochter.« »Das ist doch der Gipfel der Anmaßung. Ich hatte eure Nase. Deine und Mutters Nase. Es ist die gleiche Nase. Als ihr beiden erst einmal zusammen wart, blieb mir ja gar keine andere Möglichkeit. Gott hatte rein gar nichts damit zu schaffen!« »Behalt deine Vorstellungen für dich. Einige Leute könnten sie durchaus schockieren«, murmelte der Professor. »Aber womöglich rächt sich die Natur noch einmal an dir. Denke an meine Worte. Immer, wenn der Mensch der Natur ins Handwerk pfuscht, geht er ein ungeheures Risiko ein – ob er nun versucht, den Lauf eines Flusses zu ändern oder Hybriden zu züchten. Die Natur spart sich ihre Antwort für die überraschendsten Momente auf – und wenn wir es am 93
wenigsten erwarten …« Der Professor ließ eine Handkante wie eine Klinge auf den Teller der anderen Hand fallen. Dann lächelte er wieder, beinahe warmherzig. »Aber kümmere du dich nicht um uns und unsere Reaktionen. Wir werden es überleben, so wie wir Revolution, Krieg, Hungersnot, Ellis Island und die Türken überlebt haben. Vielleicht ist dir aufgefallen, daß Mutter beinahe sofort aufgehört hat zu klagen, als wir mein Arbeitszimmer betraten. Im Hochland von Abchasien hören sie traditionell auf zu klagen, sobald niemand mehr da ist, der ihnen zuhört.« Tatsächlich ging das Leben fast seinen gewohnten Gang, wenn auch mit Unterschieden. Als Professor Vrbicki von der Zoologischen Fakultät samt Klarinette auf einen Sprung vorbeikam, um Brahms zu spielen (ein stets schmerzliches Erlebnis, da sie das Scherzo mit halbem Tempo spielen mußten, um seinen Fähigkeiten gerecht zu werden), wurde Thamar ins Kino geschickt. Die Atoulias wollten vermeiden, daß die Nase jedes Gespräch dominierte, auch waren sie keineswegs erpicht auf öde Spekulationen über Genetik oder das Recht auf freie Entscheidung in einer demokratischen Gesellschaft. Thamar ging mit Vergnügen ins Kino, schließlich hatte sie nie Gelegenheit gehabt, irgendwohin zu gehen oder sich irgend etwas anderes anzuhören als die heimischen intellektuellen Höhenflüge. Beim Einkaufen lief ihr Mrs. Dornstein über den Weg und überhäufte sie mit Komplimenten über ihre Nase. Mrs. Dornstein war ganz versessen darauf, ein Auge auf die gleiche Höhe anheben zu lassen, wo sich ihrer Meinung nach ihr anderes befand, und mußte unbedingt die Adresse des Schönheitschirurgen haben, der so phantastische Arbeit geleistet hatte. Sie war in etwa so neurotisch wie alle auf dem Campus und hielt große Stücke auf ihr Aussehen. 94
»Neulich habe ich Ihre Eltern über den grünen Klee gelobt«, vertraute sie Thamar auf dem Parkplatz des Supermarktes an, »und ich hab’ behauptet, Sie sollten ihnen dankbar sein, aber mir war immer sonnenklar, daß das Zusammenleben mit ihnen die reinste Hölle sein muß. Also wirklich, die beiden sind nicht aus diesem Jahrhundert, nicht aus diesem Teil der Welt. Kein Auto, kein Fernseher, nicht mal ein Radio. Ein Wunder, daß sie einen Kühlschrank haben. Klar kann man Feuer machen, indem man zwei Hölzchen aneinanderreibt, aber ich bitte sie – mit Strom geht’s ganz sicher einfacher. Und, wenn Sie mich fragen, glauben Sie mir: Die sollten sich auch die Nasen richten lassen, alle beide. Heutzutage braucht man nicht mehr mit schlechten Zähnen oder schlechten Nasen oder schlechten Augen oder schlechten sonstwas zu leben. Man kann so ziemlich alles richten. Und mir persönlich wäre eine tolle Nase lieber, als klassische Geige spielen zu können.« Thamar beteiligte sich kaum an dem Gespräch. Das war auch nicht nötig. Mrs. Dornstein hielt die Flamme des Dialogs ganz allein in Gang, nur durch ihr Bemühen, zu kommunizieren, sich mitzuteilen, all diese bekömmlichen Dinge zu tun, die Menschen in den Wahnsinn getrieben haben, weil sie sich an der Freiheit berauschten, so wie man sich an Schaumbädern berauscht, an Alkohol, an Drogen, an sämtlichen Exzessen. Thamar fiel wieder ein, wie Dr. Brisket auf Harmonie, auf Ausgewogenheit gepocht hatte. Damit meinte er ein Urteil, das sowohl die eigene Meinung als auch die eines anderen einbezog, das auf Geben und Nehmen beruhte. Letztlich konnte kein globales Urteil stimmen; weder die unsicheren, wortreichen Ergüsse einer Mrs. Dornstein noch die statischen, starren Regeln ihres Vaters, die in dem Glauben gipfelten, Menschen, die sich seit biblischen Zeiten nicht geändert hatten, müßten sich auch heute nicht ändern. Und wenn man ehrlich war, mogelten beide. Gelegentlich gab 95
Mrs. Dornstein zu – sogar sich selbst gegenüber –, daß sie nicht weiterwußte, und vergoß bittere Tränen über die Männer im allgemeinen und ihren Mann im besonderen, und gelegentlich genoß Professor Atoulia ein eisgekühltes Bier von einer Sorte und Temperatur, wie es im Umkreis von Hunderten von Quadratkilometern vom Berg Ararat unbekannt war. Es fiel Thamar – ansehnlich, diskret und intelligent, wie sie war – nicht sonderlich schwer, Arbeit zu finden. Zunächst fing sie unten an und arbeitete als Kassiererin bei einem Damenfriseur, wurde aber ziemlich bald Sekretärin in einer örtlichen Immobilienfirma. Sie verdiente genügend Geld, um zu Hause auszuziehen, auch wenn sie auf Verlangen ihres Vaters einige alte Kleider und ein paar zerzauste Puppen in ihrem Zimmer ließ, so daß ihren Eltern immer noch das Gefühl blieb, eine unsichtbare, doch tief empfundene Nabelschnur erstrecke sich quer durch die benachbarte Landschaft. Sie bewohnte ein Einzimmerapartment in einem konventionell-modernistischen Haus, das aussah, als könne es jederzeit versetzt oder in Sekundenschnelle abgerissen werden. Sie erwarb ein tragbares Fernsehgerät und nahm Fahrstunden. Mit normalen Menschen gleichzuziehen war ein umwerfendes, charakterbildendes Abenteuer, und manchmal hatte sie das Gefühl, Kindheit und Jugend in einem Priesterseminar verbracht zu haben, vor der Welt und ihren falschen Werten geschützt durch ebenso falsche, nur weltfremde Werte. Mittlerweile war die Freude aus dem Atoulia-Haushalt gewichen. Sie gaben nicht mehr oft Gesellschaften, und Ala alterte sichtlich, als hätten sie kein Kind, sondern eine Art Genie oder Prophet verloren. Der Professor beeindruckte Besucher immer noch mit seiner Weisheit, doch sogar in dieser Hinsicht änderten sich die Zeiten. Washington zog ihn kaum noch zu Rate. Die Regierung wechselte, und die neue war gleichzeitig wissenschaftsorientierter und schludriger, 96
mehr von Zufällen abhängig und scheinbar gründlicher. Falls diese Eigenschaften unvereinbar, sogar widersinnig und grotesk erscheinen, so liegt es an Washingtons einzigartiger Fähigkeit, zahlreiche Elemente seines komplexen Wesens simultan zur Schau zu stellen, und man muß die armen Journalisten bedauern, deren Lebenswerk es ist, aus alldem schlau zu werden. Wie auch immer, eine großzügige Geste zugunsten der Menschenrechte, Selbstbestimmung oder was auch immer der aktuelle freiheitsliebende Trend gerade war, veranlaßte die Regierung, eine verdeckte militärische Operation in Kurdistan in die Wege zu leiten. Sie wurde eine komplette Katastrophe, mit der Folge, daß etliche Hubschrauber ins Meer stürzten. Den Namen des Meeres hielt man geheim, was nicht weiter schlimm war, da Kurdistan nicht in der Nähe irgendeines größeren Gewässers liegt. Das Expeditionskorps unter Leitung eines Generalmajors hatte Kurdistan offensichtlich mit etwas anderem verwechselt oder, um genauer zu sein, etwas anderes mit Kurdistan, was wieder einmal beweist, daß die Amerikaner für wie auch immer geartete verdeckte Operationen zu ungestüm, zu draufgängerisch, zu naßforsch vorgehen und daß der amerikanische Ortssinn abseits der stärker befahrenen Autobahnen gelinde gesagt schwach ausgeprägt ist. Für den Professor war diese Katastrophe allein darauf zurückzuführen, daß man ihn nicht konsultiert hatte. Er schnitt die Artikel aus der New York Times und anderen Zeitungen aus und schleppte ein umfangreiches Dossier mit sich herum, das er in Sekundenschnelle zückte und aus dem er jedem, der zuhörte, ausgewählte Passagen vorlas. Des weiteren schrieb er eine Reihe sarkastischer Briefe an die Zeitungen und Zeitschriften, von denen einige auch abgedruckt wurden, allerdings in sehr gekürzter Form. Der Professor gewöhnte sich an, die gedruckten Versionen seiner Briefe ebenfalls mit sich herumzutragen, außerdem – zu 97
Vergleichszwecken – Fotokopien der Originale. Langsam setzte sich bei ihm die Erkenntnis durch, daß er in Ungnade gefallen war, da seine Sachkenntnis nicht mehr mit den Bedürfnissen einer neuen Generation von Politikern übereinstimmte. Alle seine alten Kontakte waren inzwischen pensioniert oder hatten sich wieder in die lukrativeren Stellungen des öffentlichen Sektors zurückgezogen. Und sogar auf dem Campus zeichneten sich weitere bedrohliche Trends ab. Sein langweiliger alter Freund, Professor Buke, zog sich mit der einen oder anderen Flasche auf die Jungferninseln zurück, nachdem die Universität im Zuge ihrer Einsparungsmaßnahmen entschieden hatte, der sumerische Forschungsbereich sei für eine ganze Professur zu esoterisch. Zugegeben, Professor Atoulia deckte einen größeren Bereich ab, den er auch überzeugender vertrat als Professor Buke die halbvergessenen Geheimnisse Sumers, aber dennoch wirkte das, was früher als akademische Notwendigkeit erschienen war, mittlerweile fast wie ausgefallener Luxus. Bald darauf zogen sich die Dornsteins auf eigenen Wunsch aufs Altenteil zurück, nachdem ihr abtrünniger Sohn an einer Überdosis verstorben war, als es ihm angeblich gerade »so blendend« ging. Die Nacht rückte immer näher. Andere Freunde verschwanden so willkürlich wie im Krieg, und es war zu spät, neue Freundschaften zu schließen. Der Professor und seine Frau starrten immer noch im Dunkeln an die Decke, hatten sich aber kaum etwas zu sagen. »Wie alt bin ich?« fragte Ala. »Warum fragst du mich das?« »Du weißt alles.« »Wie gewöhnlich übertreibst du.« Pause. Eine lange. »Du bist drei Jahre jünger als ich. Ich bin achtundsechzig. 98
Wie alt bist du also?« »Sag’s mir. Bitte. Ich habe nicht die Kraft nachzudenken.« »Fünfundsechzig.« »Und wie lange muß ich noch leben?« »Ich weiß alles?« »Bitte, Ramaz.« »Nun, zu den Eigenheiten unserer Heimat gehört, daß dort niemand sein richtiges Alter kennt. Dein Großvater war bei seinem Tod angeblich hundertdreiundvierzig. Aber die Leute übertreiben, besonders wenn sie im Leben nichts weiter zu tun haben. Wahrscheinlich wurde er nicht älter als hundertzwanzig.« »O doch.« »Na schön, hundertfünfundzwanzig. Wo liegt in diesen Bereichen schon der Unterschied? Wahrscheinlich bist du nicht fünfundsechzig, sondern zweiundvierzig.« »Aber nein. Älter. Viel älter.« »Wie alt warst du, als du Thamar bekamst?« »Vierzig.« »Dann mußt du einundsechzig sein. Sie ist einundzwanzig.« »Wie alt bist du dann?« »Vierundsechzig. Hier schicken sie einen gerne mit fünfundsechzig in Pension. Falls man nicht zufällig Einstein ist. Dann erst mit Sechsundsechzig. Zufrieden?« Es gab wieder eine Pause. Da sie kein Schnarchen hörte, wagte Ala noch eine Frage. »Führst du ein glückliches Leben?« »So was fragst du mich jetzt – wo ich mich gerade auf die Nachtruhe vorbereite?« »Gibt es einen besseren Zeitpunkt?« 99
»Gut, ich werde es dir also sagen. Ich habe mich nie für konservativ gehalten und tue es auch heute noch nicht. Zugegeben, ich habe mich mein ganzes Leben lang mit der Vergangenheit beschäftigt, aber das macht mich nicht zum Konservativen. Ich kenne mittelalterliche Wertvorstellungen und mache mich möglicherweise schuldig, sie anzuwenden. Dankbar nehme ich an, was man mir gibt. Beweis? Ich habe immer noch die Nase, die Gott mir gab.« »Die Zähne? Die Zähne, die Gott dir gab? Sind das die in dem Glas neben deinem Bett?« Der Professor schüttelte sich plötzlich vor Lachen, daß das Bett wackelte. »Für einen humorlosen Menschen bist du manchmal höchst amüsant.« »Das war nicht meine Absicht«, gestand Ala. »Wir sprachen von Gott und seinen Geschenken. Du bist ein Mann. Ein Mann mit solch einer Nase hat es leichter. Hätte es dich nicht gegeben, hätte ich vielleicht nie geheiratet. Dann hätten wir keine Gelegenheit gehabt, nachts miteinander zu plaudern. Und ich hätte unsere Tochter nicht verstanden, nach so langer Zeit.« »Du verstehst sie?« »Nicht was sie tat. Nur warum sie es tat. Und das macht mich traurig. Weil ich dich hatte, brauchte ich nie sehr viel zu verstehen.« »Wenn solche Dinge mehr oder weniger auf familiärer Basis geregelt werden, ist es einfacher. Ja, ich weiß, da wird eine Menge romantischer Quatsch geredet, der einzig Richtige und all so was – aber wenn es eine Vereinbarung war, macht man sich zur Aufgabe, eine bestimmte Person zu lieben; das wird dann rasch zur Gewohnheit, und Gewohnheiten sind viel dauerhafter als romantische Zuneigungen. Das ist eine Tatsache. Mehr Gewohnheit – weniger Scheidung.« 100
»Ich liebe es, wenn du so redest. Es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.« »Du bist sicher. Wir haben innerhalb unserer sozialen Struktur ein wenig Freiheit, und die schöpfen wir voll und ganz aus. Diese Leute hier, die Amerikaner, die reden von Freiheit ständig, als wäre es etwas, das nur ihnen gehört, das sie erfunden haben, aber ihnen fehlt jedes Gefühl für das rechte Maß. Wenn man Durst hat, trinkt man einen Schluck Wasser. Man muß nicht in einem Stausee ertrinken, um seinen Durst zu löschen. Das haben sie nicht begriffen, und wahrscheinlich werden sie es nie begreifen. Sie alle sind Gefangene in einem riesigen Gefängnis ohne Gitter, durch den endlosen Publicityhagel zur Konformität gezwungen, süchtig nach den gleichen Vorbildern, den gleichen Nasen …« »Den gleichen Zähnen.« »Ich habe erwartet, daß du das sagst. Auch das ist Gewohnheit. Außersinnliche Wahrnehmung. Man kennt einen anderen Verstand. Der große Sieg über die Einsamkeit.« »Danke, daß du so mit mir geredet hast. Es ist, als sähe man sich ein wunderschönes illustriertes Buch an. Und jetzt schlaf ein.« »Auch das habe ich kommen sehen. Erst läßt du mich zu verbaler Hochform auflaufen, und wenn ich endlich hellwach bin, forderst du mich zum Einschlafen auf.« Beide lächelten im Dunkeln, doch keiner sah den anderen. Ungefähr zu der Zeit, als der Professor pensioniert wurde, lernte Thamar Bruce Connahy kennen. Beides waren wichtige Ereignisse. Finanzielle Erwägungen zwangen die Atoulias, aus der Nähe der Universität fortzuziehen und sich in einem großen heruntergekommenen Wohnblock niederzulassen, an dessen Mauern Feuerleitern und andere 101
Installationen nach unten züngelten und dessen Brandmauer eine riesige verblaßte Telefonnummer schmückte (die sich inzwischen geändert hatte). Das Gebäude lag zwei Straßenzüge vom Meer entfernt in einer für Glücksspiele und zweifelhafte Vergnügungen bekannten Stadt, und wie alle solche Etablissements schrie es die Einsamkeit und Isolation des Menschen in einer Masse mitmenschlicher Gleichgültigkeit geradezu heraus. Sie konnten Alas Konzertflügel nicht mitnehmen, weil der Platz fehlte, und der Professor konnte nicht einmal ganz leise auf seiner Geige spielen, da nebenan eine alte Dame mit einem altehrwürdigen Terrier als Begleiter wohnte. Dieser senile Kläffer jaulte jedesmal, wenn er die Geige hörte, schlief aber friedlich, sobald der Staubsauger in Betrieb war. Wie der Professor philosophisch bemerkte: »Über Geschmack läßt sich streiten.« Ihre einmal gewählte Lebensweise wurde zunehmend beschwerlicher. Sich auf einem Universitätscampus zu isolieren, der ohnehin der Realität entrückt und exklusiv ist, ist eine Sache. Dies in einem Apartment mit dünnen Wänden zu tun, in einer Bienenwabe, in der noch Hunderte anderer Menschen stecken, die mangels Geld und besserer Perspektiven zu diesem Los gezwungen wurden, ist etwas ganz anderes. »Ist das Freiheit?« fragte der Professor rhetorisch. Er ließ sich Karten drucken, mit denen er die geänderte Adresse bekanntgab, und schickte sie an viele seiner alten Kontakte und eine ganze Reihe Fachleute im Auswärtigen Amt, für den Fall, daß das kurdische Debakel der Regierung die Augen für ihre augenfälligen Fehler geöffnet haben sollte. Der Professor erhielt auch eine oder zwei Empfangsbestätigungen, aber keinen Auftrag, wieder aktiv zu werden. Sogar die Fachzeitschriften, für die er immer geschrieben hatte – wie Khyber Gazette oder Kurdish Newsletter, erstere erschien in Duluth, die andere in 102
Beaumont, Texas –, erklärten, die Zeiten seien überaus hart.
»Früher einmal stand Wissen hoch im Kurs«, sagte der Professor zu seiner Frau, »aber heute sind wir alle Schwimmer in einem gewaltigen Meer von Mittelmäßigkeit. Was sind meine im Laufe der Jahre erworbenen Kenntnisse denn noch wert, wenn ich diese Tatsache gegen jene abwäge, unter Zuhilfenahme meiner Beherrschung des Georgischen, Armenischen, Türkischen, Kurdischen, Persischen und einer Unzahl lokaler Dialekte? Rein gar nichts. Sie gleichen wertvollem Mobiliar, das auf einem Speicher vor sich hin modert. Worüber kann man in dieser feindlichen Umwelt denn noch reden? Ich habe im Einkaufszentrum ein paar iranische Verkäufer ausfindig gemacht, aber es sind einfache Gemüter, die in Amerika prima zurechtkommen werden, weil sie die Regeln ohne Schwierigkeiten begreifen und weil 103
sie keinerlei Qualifikationen haben, die sie an Spezialgebiete – und damit an mögliche Enttäuschungen – ketten. Es gibt auch einen alten Kurden, der unten am Meer Liegestühle verleiht, doch er spricht kein Wort kurdisch, oder vielleicht weigert er sich auch nur. Wiederholt dauernd, er sei ein guter Amerikaner, als habe ihn jemand beschuldigt, ein schlechter zu sein. Erzählte mir lachend, etwas, das sie in Kurdistan nicht hätten, sei das Fernsehen. Das allein ist offenbar schon Grund genug, ein guter Amerikaner zu sein.« Aus Sturheit und vielleicht auch, weil Gespräche ihre Attraktivität verloren, weil Ala vor Verwirrung über ihre isolierte Existenz in einem Schuhkarton immer schweigsamer wurde, erwarb Ramaz zum erstenmal in seinem Leben ein kleines Fernsehgerät, vor dem er und seine Frau – nunmehr der Notwendigkeit zum Kontakt enthoben – saßen und sich schwachsinnige Quizsendungen ansahen, zu denen er die richtigen Antworten herausbrüllte, schon lange bevor die Studiokandidaten die falschen gaben, oder Episoden einer damals laufenden Serie namens »Knoxville«, einer Geschichte familiärer Gier, von Dünkel, Habsucht und Mord, die allen einsamen Wölfen in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Vorbild präsentiert wurde. Zu Alas Lieblingssendung entwickelte sich rasch »Ultradame«, eine Science-fiction-Serie über ein wuchtiges Weib in einem Zellophanbikini, das Schurken durchs Weltall jagte und deren Weltbeherrschungspläne – was auch immer das bedeuten mochte – durchkreuzte. Daß die Atoulias sich ein kleines Schwarzweißgerät teilen mußten, sorgte für neue Probleme, da einer der beiden sich immer langweilte und sich etwas uninteressiert ansah, während er mehr oder weniger ungeduldig darauf wartete, daß etwas Ansprechenderes auf der Mattscheibe auftauchte. Thamar rief dann und wann zu einem kleinen Plausch an, doch das hatte etwas von einer Pflichtübung, was den alten Herrschaften den Spaß daran verdarb. Sie war sogar noch 104
weiter fortgezogen, in eine größere Stadt im Landesinneren, wo sie mittlerweile die, wie man so sagt, rechte Hand eines Anwalts war und ausnehmend gut verdiente. Und dann war da noch Bruce Connahy. Bruce, ein ziemlich großgewachsener, ziemlich bulliger junger Mann mit blondem Bürstenhaarschnitt, der ihm, einem von Natur aus höflichen und rücksichtsvollen Menschen, zusätzlich ein altmodisches Flair verlieh. Daß er Thamar den Hof machte, konnte man nicht sagen. Er war nur ständig in ihrer Nähe und schlüpfte so mühelos, so taktvoll in seine Rolle als Begleiter, wie er sich in ein Gespräch einschaltete oder schwieg, je nachdem, was gerade gefragt war. Thamar begann, fest mit ihm zu rechnen, und ihn schien diese Entwicklung ganz und gar nicht zu überraschen. Bald hielten beide ihre gegenseitige Zuneigung für die natürlichste Sache von der Welt und ihre Jugend lediglich für die Vorbereitung auf diesen Zustand. Bei der Arbeit, wenn sie nicht in seiner Nähe war, versuchte Thamar erfolglos, zu ergründen, warum sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Er war nicht das, was sie »ihren Typ« nennen würde. Sie hatte keinen Typ. Genaugenommen spielten sexuelle Spekulationen in ihren Überlegungen gar keine Rolle. Vor ihrer Operation hatte sie sich antrainiert, ohne derartigen Luxus auszukommen, und die Befreiung von dieser Disziplin war noch nicht mit der gleißenden Helligkeit einer Offenbarung über sie hereingebrochen. Zu viele andere Aspekte ihrer Unabhängigkeit wollten gleichzeitig genossen werden. Doch ganz gewiß konnte sie sich nicht vorstellen, daß irgendein anderer junger Mann Bruce’ Platz einnahm. Sie ließ sich auf Veranden schon von ihm küssen, und manchmal sogar in geschlossenen Räumen. Es war, wie sie feststellte, eine angenehme Erfahrung, und anschließend ging ihr Atem schneller, doch davon abgesehen schien es eine normale und vorübergehende Erweiterung des 105
üblichen, täglichen, sozialen Umganges zu sein. Bis jetzt konnte sie sich nur an einen einzigen peinlichen Augenblick erinnern, nämlich an einen besonders zärtlichen Abschied, als er sie auf die Nase geküßt hatte. »Ich mag deine Nase«, hatte er gesagt. »Sie ist süß.« Da hatte sie gespürt, wie sie errötete. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, seinen Kopf zu sich heruntergezogen und ihm auch ein Küßchen auf die Nase gedrückt. »Und ich mag deine«, hatte sie gesagt. »Damit sind wir quitt.« Bruce war von Beruf konzessionierter Steuerberater, hatte jedoch zahlreiche und vielgestaltige Interessen. Er hatte sich mit dem Gedanken getragen, eine Laufbahn als FootballProfi einzuschlagen, was man sich angesichts seines Körperbaus unschwer vorstellen konnte, doch war seine Grundschnelligkeit für Profiverhältnisse nicht ganz ausreichend, so daß er zu oft unversehens unter einem Menschenstapel begraben wurde, was selbst durch die Polsterung und Wattierung nicht erträglicher wurde. Eine Zeitlang hatte er in der Armee gedient, doch eine angeborene, geradezu militante Friedfertigkeit ließ ihn die krasseren Exzesse des Militärlebens – wie das Brüllen alberner Parolen im Chor, während man durch eine harmlose Landschaft trabte – ausgesprochen unattraktiv erscheinen. Sanftmut war seine zentrale Eigenschaft, trotz seiner beträchtlichen physischen Stärke, und diese Sanftmut bewirkte eine unvermeidliche Reife ihrer Beziehung, ein Gefühl der Erfüllung, der Behaglichkeit. Sie zogen zusammen, als sie es leid wurden, sich voneinander zu verabschieden, und das war der allerbeste Grund. Eines Tages bemerkte Thamar eine Veränderung an sich und suchte in ihrer Mittagspause Dr. Swallbeck auf, einen praktischen Arzt. Dieser kahlköpfige und sentimentale Mensch war ein alter Experte in der Kunst, gute Nachrichten 106
zu verbreiten, und so teilte er ihr mit freudig zitternder Stimme mit: »Tja, Mrs …. Mrs ….?« »Connahy«, erwiderte Thamar, ohne nachzudenken. »Mrs. Connahy, bald werden Sie zu dritt sein.« An diesem Abend teilte Thamar Bruce mit, daß sie schwanger war. Er küßte sie herzlich auf die Nase, ging zum Kühlschrank, schenkte jedem ein Glas Milch ein, und dann stießen sie auf ihr Glück an. »Meine Eltern sind beide tot«, sagte Bruce. »Verflucht schade, daß sie das nicht miterleben durften.« »Beide tot? Das hast du mir nie gesagt.« »Darüber redet man nicht gern«, entgegnete Bruce. »Sie lebten getrennt. Das heißt, eigentlich geschieden. Dad kam in Korea ums Leben. Ich kannte ihn kaum. Oberst. Oberstleutnant. Eigentlich Major, aber er wurde postum befördert. Mutter heiratete erneut, einen Scheißkerl namens Steinhager. Trinker. Fuhr eines Heiligabends mit dem Auto gegen den Baum, dabei starb meine Mutter. Er hat wieder geheiratet. Wohnt in Florida. Auf den Keys.« Noch nie hatte Thamar an seinen Worten gezweifelt. Sie hatte noch nie Gelegenheit dazu gehabt. Doch diesmal glaubte sie ihm aus irgendeinem Grund nicht recht. Nicht daß es viel ausgemacht hätte, außer daß es ihr nicht gefiel, ihm nicht zu glauben. Lieber würde sie ihm immerzu glauben, sogar bei Dingen, die nicht besonders wichtig waren. »Ich habe meine Eltern noch«, sagte sie, um dann, als ihr die Nasen einfielen, als Vorsichtsmaßnahme zu ergänzen, »aber natürlich ist meine Mutter nicht meine richtige Mutter.« »Ach?« 107
»Nein. Papa heiratete seine Cousine, als meine richtige Mutter verschied. Aber wir alle tun so, als sei sie meine richtige Mutter – das ist so eine Art Familienvertrag.« »Klar, verstehe ich.« »Das Problem ist nur, daß wir uns natürlich nicht besonders ähnlich sehen. Meine eigene Mutter – ich kannte sie kaum, habe aber Fotos gesehen – war eine sehr schöne Frau. Damals war sie … Schauspielerin … in der alten Heimat. Doch als sie hierherkam, gab es die Sprachbarriere, weißt du.« »Klar. Für unsereinen ist es ein wenig schwer nachvollziehbar, aber ich kann es mir ungefähr vorstellen. Ich würde deine Eltern gern kennenlernen. Das heißt, deine jetzigen Eltern; also deinen Vater und … was du mir gerade erklärt hast.« »Das sollst du auch, sobald die Zeit reif ist«, sagte sie, eine Formulierung, die sie sich von ihrem Vater ausgeliehen hatte. Bei erstbester Gelegenheit fuhr sie zu ihren Eltern. Sie hatte die beiden seit deren Umzug nicht mehr besucht und gewisse Schwierigkeiten, die Adresse zu finden. Sie war über das Apartment entsetzt, das ihr im Vergleich zu dem hübschen Haus, in dem sie aufgewachsen war, mickrig vorkam, hoffte aber, ihre Gefühle überzeugend getarnt zu haben. Ihre Mutter vergoß Tränenbäche, als sie Thamar wiedersah, und klagte sogar ein wenig, bis der alte Terrier von nebenan seinen Einsatz mitbekam und in den Jubel einstimmte. Der Professor gab sich alle Mühe, rational und vielbeschäftigt zu wirken. »Dann und wann schreibe ich noch einen Artikel«, sagte er, »und erst kürzlich rief die Regierung an und bat mich um Rat.« »Aber wo ist der Steinway?« fragte Thamar. »Ein Steinway? Durch diese Tür? Diese Treppe hoch? 108
Machst du Witze?« »Ihr habt ihn verkauft? Und was ist das? Ein Fernseher? Ihr?« »Wie du siehst, ist es nur ein kleiner. Somit ist es auch nur ein kleines Zugeständnis, ein kleiner Prinzipienverstoß.« »Und die Geige?« »Sie stört Seine Majestät den Foxterrier nebenan. Du hast ihn gerade gehört, als deine Mutter klagte. Bei Johann Sebastian Bach ist es doppelt so schlimm.« »Aber das ist furchtbar!« Der Professor hieb mit der Faust auf den Tisch. Er spie die Worte aus: »Wir haben überlebt! Wir sind Überlebende, deine Mutter und ich. Wir haben uns von den Widrigkeiten nicht unterkriegen lassen, sondern uns immer wieder aufgerappelt, wie Kegel, und auf die nächste Katastrophe gewartet. So sind wir eben!« Erst als er so entschlossen und freimütig sprach, fiel Thamar auf, wie sehr ihr Vater gealtert war. Anstrengung unterstreicht die Anzahl der Jahre. »Erzähl uns von dir«, sagte Ala, nachdem Ramaz gesprochen hatte. Sie nahm Thamars Hände in ihre und starrte sie an, wie eine Wahrsagerin, der die Inspiration fehlte. »Ich lebe. Ich lebe recht gut.« »Du arbeitest bei einem Coiffeurunternehmen?« fragte ihr Vater. »Nicht mehr. Das liegt schon lange zurück. Ich bin die rechte Hand … die Assistentin eines Anwalts.« »Eines Anwalts.« Der Professor wurde deutlich lebhafter. »Internationales Recht?« »Wirtschaftsrecht.« »Und kein netter Mann in Sicht?« fragte Ala. 109
»Doch … doch …«, erwiderte Thamar ruhig. »Aha, aha, aha!« mischte sich der Professor ein. »Zufällig jemand aus unserem Teil der Welt?« »Nein.« Der Professor durchlitt einen Augenblick der Angst. »Aber … ist er Christ?« »Ja.« »Gelobt sei der Herr.« Ala nickte traurig, als sei Traurigkeit der größte Trost. »Na, spann uns nicht auf die Folter!« polterte der Professor. »Er heißt Bruce. Bruce Connahy.« »Connahy? Was ist das für ein Name?« »Ein irischer.« »Irisch? Hast du das gehört, Mutter?« »Ich habe es gehört«, bestätigte Ala unglücklich. »Und wann werden wir ihn kennenlernen?« »Irgendwann. Bald.« »Interessiert es dich nicht, ob wir mit ihm einverstanden sind?« wollte Ala wissen. »Natürlich, aber ich bin mir sicher, daß er euch gefällt.« »Womit verdient er seinen Lebensunterhalt?« erkundigte sich der Professor. »Er ist konzessionierter Steuerberater.« Der Professor nickte. »Ich hätte mir etwas Besseres wünschen können. Ich hätte mir etwas Schlimmeres vorstellen können.« »Und dann, wenn wir ihn kennengelernt haben, hofft ihr zu heiraten?« sagte Ala. »Vielleicht sogar schon früher«, erwiderte Thamar. »Seht ihr, ich bin in anderen Umständen.« 110
Ala schlug fatalistisch die Hände zusammen und fing an zu stöhnen. »Um Gottes willen, Mutter, denk an den Hund«, zischte der Professor. »Heutzutage macht man es anders. Das Oberste wird zuunterst gekehrt, wenn das der richtige Ausdruck ist. Die Leute kriegen Kinder, und dann entschließen sie sich zu heiraten – oder auch nicht, als wären die Kinder gar nicht da. Will er dich trotz deiner Schwangerschaft immer noch heiraten?« »Selbstverständlich. Wofür hältst du ihn eigentlich?« »Gelobt sei der Herr. Hosianna!« »Wofür hältst du ihn eigentlich?« insistierte Thamar. »Noch hast du uns keine Gelegenheit gegeben, uns eine eigene Meinung zu bilden.« »Und sollte das an meiner Entscheidung etwas ändern?« Es entstand eine peinliche Gesprächspause. »Da wäre noch etwas«, sagte Thamar endlich. »Ich rechne in dieser Angelegenheit mit eurer Hilfe.« »In welcher Hinsicht?« fragte der Professor mißtrauisch. »Es geht darum, daß ich die Form meiner Nase ändern ließ.« »Ich wußte gleich, das würde zu nichts Gutem führen«, schniefte Ala, den größten Teil ihres Taschentuchs im Mund. Thamar wandte sich ihrer Mutter zu. »Wenn ich heute ein glücklicher, ausgeglichener Mensch bin, so liegt es daran, daß ich das tat, was ich getan habe. Ich bereue nichts, begreift ihr. Nichts. Nicht im mindesten! Aber es ist doch sonnenklar«, fuhr sie gelassener fort, »wenn Bruce euch beide mit euren identischen Nasen kennenlernt, weiß er im Handumdrehen, daß ich meine Nase operieren ließ, und das braucht er nicht zu wissen! Ich weigere mich, ihn das wissen zu lassen! Also 111
…« »Also, wie lautet die Lösung?« fragte der Professor. »Also habe ich ihm erzählt, Mutter sei nicht meine richtige Mutter.« »Was?« schrie der Professor. »Wie kannst du nur so unmenschlich sein. Wenn du unbedingt Lügen erzählen mußt, erzähl ihm gefälligst, ich sei nicht dein richtiger Vater, aber sage ihm um Himmels willen nie, deine Mutter sei nicht deine richtige Mutter!« »Ich hab’s ihm schon gesagt. Jetzt kann ich meine Geschichte nicht mehr ändern!« schrie Thamar zurück. »Ich habe gesagt, meine richtige Mutter sei gestorben und du hättest deine Cousine geheiratet. Wie soll denn Bruce deiner Meinung nach begreifen, daß ihr beide euch so ähnlich seht und ich so anders aussehe als jeder von euch? Wenn ihr Bruce kennenlernen und das Kind sehen wollt, haltet ihr euch besser an meine Geschichte.« »Soll der Teufel dich und dein Kind holen«, brüllte der Professor. »Laß dich nie wieder hier blicken. Laß uns mit unserer persönlichen Tragödie allein! Verschwinde von hier, zurück in dein sündiges Leben. Wir haben kein Kind mehr. Es ist besser, kinderlos zu sein, als das zu tun, was du getan hast! Verschwinde. Laß uns allein. Du brauchst dich nicht mal zu verabschieden. Spar dir die Mühe!« Ala sank zu Boden und versuchte, Thamars Beine zu liebkosen, während der Professor sich ganz seinem leidenschaftlichen Ausbruch hingab. Thamar zerrte ihre Mutter so sanft wie möglich zur Tür, während die Nachbarn gegen die Wand hämmerten und der Terrier sein Ständchen gab. Einige Tage darauf traf ein riesiger Farbfernseher ein, samt gedruckter Karte, die ihn den »wunderbaren Eltern« 112
zueignete. Das war Thamars Friedensangebot. Zunächst wollte der Professor absolut nichts damit zu tun haben, doch dann überkam ihn die Neugier, und er nahm Platz, um sich eine Folge von »Knoxville« in erstklassigen Farben anzusehen. Während die Bildschirmschurkereien gerade mal einen Gang herunterschalteten, sagte er zu Ala: »Unsere Tochter muß gut verdienen, um sich solche Geschenke leisten zu können.« »Könnte auch von dem Iren sein«, entgegnete Ala mürrisch. »Vielleicht ist er wohlhabend.« Thamar fand es ein wenig seltsam, daß Bruce zweimal die Telefonnummer hatte ändern lassen und auf einer Geheimnummer bestand. Es kam zwar ihren Intentionen entgegen, soweit wie möglich aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, daher dachte sie nicht übermäßig viel darüber nach, aber dennoch registrierte sie diese Tatsache in ihrem kleinen Hort von Geheimnissen. Andererseits ließ sich sein Verhalten nur als mustergültig beschreiben. Bei ihm schien es, als wären sie beide schwanger, als hätten sie beide an dieser Erfahrung teil. Natürlich erkundigte er sich nach dem Besuch bei ihren Eltern und sagte, er könne es kaum erwarten, sie kennenzulernen. »Oh«, seufzte Thamar, »du hast dein Drama, ich habe meins.« »Himmel«, sagte Bruce, »hoffentlich nichts wirklich Schlimmes.« »Mutter – also die Dame, die ich Mutter nenne –, ihr geht’s viel schlimmer. Ist wohl eine Art Senilität. Sie hält sich für meine richtige Mutter … so verhält sie sich, jede Menge Tränen, sie klammert, so was wie animalisches Besitzergreifen, wenn du verstehst, was ich meine?« »Ich kann’s mir vorstellen. Wie steht’s mit deinem Dad?« 113
»Nun, er spielt dabei mit. Ich glaube, er glaubt, daß er ihr bloß ihren Willen läßt, aber so darf man nicht damit umgehen. Man muß hart sein, sonst kriegen sie, was sie wollen, und zwar einen selbst, mit Haut und Haaren. Ich habe es durchgemacht, von Geburt an. Klar nehme ich Anteil, aber brieflich, telefonisch, ich nehme aus der Ferne Anteil.« »Vielleicht sollte ich einmal mit ihnen reden …« Thamar flüchtete sich in den Mythos des Schwangerseins. »Bruce, auch nur darüber reden würde ich am liebsten erst nach der Geburt. Als ich bei ihnen war, hatte ich kurz die Befürchtung, ich bekäme eine Fehlgeburt.« »O nein!« »Doch, wirklich. Wenn es erst mal vorbei ist, sind wir zu allen nett und freundlich, zu deinen und meinen Eltern.« »Meine Eltern sind tot.« »Tut mir leid, daß ich es erwähnte, Bruce. Zu meinen Eltern.« Sie entschieden sich für eine einfache standesamtliche Trauung; danach waren sie sehr erleichtert. Sie feierten in einer Snack-Bar. Auf Bruce’ Drängen hin gab Thamar ihren Arbeitsplatz auf, als ihre Schwangerschaft deutlich sichtbar wurde. Der Anwalt bot an, ihr die Stelle freizuhalten, doch eines Tages kam Bruce sehr aufgeregt nach Hause. »Schatz«, rief er, »wir ziehen um!« »Jetzt, wo ich es brauche, in geregelten Verhältnissen und Dr. Swallbecks Nähe zu leben?« »Das tut mir leid, aber die Sache ist wichtig. Wir ziehen weit weg, nicht nur im Ort um. Ich habe eine Arbeit in La Jolla, Kalifornien!« Und vor lauter Begeisterung ließ er einen Football-Schrei, einen Rodeo-Schrei ertönen. »Palmen, Meer, Sonne! Ideale Bedingungen für eine gesunde Kindheit! Ist das 114
nicht herrlich!« Thamar mußte zugeben, daß diese Aussichten aus Dr. Swallbeck und anderen nachbarschaftlichen Erwägungen geradezu Kleinholz machten. Schließlich hatte ihre Familie über Generationen hinweg auf zu diesem Behufe gänzlich ungeeigneten Felsenklippen entbunden, höchstens mit Hilfe eines zufällig vorbeikommenden völlig fremden Schafhirten. Und war es nicht sicherer, wenn sie von ihren Eltern durch einen ganzen riesigen Kontinent getrennt war als durch einen Pendelzug auf einer Nahverkehrsstrecke? Rasch ließ sie sich von seiner Aufregung anstecken und bereitete den Umzug vor, während er die letzten Tage im Büro verbrachte. Am Vorabend ihres Umzugs, um die Zeit, zu der Bruce gewöhnlich nach Hause kam, klingelte plötzlich das Telefon. Das war seit der letzten Nummernänderung nicht mehr vorgekommen, so daß Thamar leicht beunruhigt den Hörer abnahm. »Hallo«, sagte sie. »Hi«, erwiderte eine durchaus angenehme Männerstimme. »Ist Bruce da?« »Bruce? Der ist noch nicht zu Hause. Wer spricht da?« »Tim.« »Tim?« »Sein Bruder. Wer sind Sie?« »Ich bin seine Frau, Mrs. Connahy.« »Machen Sie sich nicht lächerlich; so etwas würde er nicht tun, ohne uns Bescheid zu sagen.« »Uns?« »Seinen Eltern und mir.« »Seinen Eltern? Aber die sind doch … mir wurde gesagt, sie seien verstorben.« In diesem Moment kam Bruce nach Hause. Es machte ihn 115
sichtlich nervös, seine Frau am Telefon zu sehen. »Wer ist dran?« »Dein Bruder – Tim?« Von da an hörte sie nur noch seine Seite des Gesprächs. »Hallo Tim? … Das ist meine Sache, ich hab’ dir doch gesagt, du sollst nicht anrufen, es nicht mal versuchen … Na wenn schon? Geht es dich denn etwas an, oder irgendeinen außer mich selbst? … Wie hast du überhaupt diese Nummer rausbekommen? … Wenn du hier auftauchst, kriegst du ’ne Abreibung, Ehrenwort … Mir ist egal, ob wir gleich groß sind … Du kannst ihnen verflucht noch mal erzählen, was du willst … Sag ihnen, sie ist schwarz oder gelb oder rot oder irgendeine andere bescheuerte Farbe … Wenn du willst, kannst du ihnen auch sagen, wir hätten Kinder …« Danach wurde er ruhiger. »Sieh mal, Tim, es gibt nur eine Wahrheit, und die habe ich hier, und ich bin wirklich glücklich, Mann … Na ja, es ist mein Leben, meins und ihrs, und was auch immer kommen mag … Okay, okay, wir treffen uns, aber auf neutralem Boden, weder hier noch dort … Wir treffen uns morgen abend um acht in Delaney’s Bar … Stimmt, in New Orange … Dann werden wir reden, in Ordnung? … In Ordnung? Bis dann also, und ruf nicht noch mal an, sonst kriegst du ’ne Abreibung, wenn ich dich sehe, klar? … Und spar dir das Gewäsch, du seist mein Bruder … Mir ist egal, für wen du dich hältst … Bruderliebe, dummes Zeug … Okay?« Dann legte er auf. Thamar sah ihn zugleich durchdringend und entgeistert an. »Morgen abend um acht sind wir nicht mehr hier.« Bruce küßte sie auf die Nase. »Das weiß ich, aber er nicht. Dann sind wir in Ka-li-for-niennn!« »Ist er wirklich dein Bruder?« »Nöö. Er ist der Sohn dieses Burschen in Florida, von dem ich dir erzählt habe.« »Aber er hat doch gesagt, deine Eltern seien noch am 116
Leben.« »Seine Eltern sind noch am Leben. Klar. Er will immer, daß ich sie auch als meine Eltern betrachte, aber das sind sie nicht. Schätze, er will unbedingt einen Bruder. Ich nicht.« »Aber anscheinend leben sie hier in der Gegend.« »Key Biscayne, Florida, nach meinen letzten Informationen. Natürlich könnten sie umgezogen sein. Darum kümmere ich mich nicht.« Das klang alles ziemlich glatt, und er mußte vor seinen Antworten auch nicht überlegen, so daß Thamar ihm glaubte, auch wenn sie aus irgendeinem Grund immer erwartete, Bruce würde sich verplappern. Auch hatte Tims Stimme unschuldig, ja sogar charmant geklungen, ganz ähnlich wie die von Bruce. Am nächsten Morgen zogen sie nach Kalifornien, und am frühen Abend, als Tim mit seinem unbotmäßigen Bruder entweder nicht mehr rechnete oder – als Delaney’s letzter Kunde – besoffen über der Theke hing, standen Bruce und Thamar auf ihrem Balkon. Über die Dächer und durch den Antennenwald konnten sie gerade noch einen Zipfel Meer sehen, doch mit geschlossenen Augen fühlte man sich wie im Himmel. An Stelle von Dr. Swallbeck trat am folgenden Morgen Dr. Kattawalla, ein indischer Gynäkologe mit dem Benehmen eines Gurus, der uralte Plattheiten säuselte, als enthielten sie den geheimen Sinn des Lebens. Diese asiatische Einstellung war Thamar vertraut, und sie fühlte sich weitgehend zu Hause in diesem einschmeichelnden Dunst aus Räucherstäbchen und Raga-Musik, durch den Dr. Kattawalla seine Instruktionen erteilte, wobei sein Mund Wörter wie Nüsse knackte, aber immer sanft. Bruce war mit seiner neuen Arbeit offensichtlich zufrieden, und die Niederkunft näherte sich in einer solchen Gelassenheit, daß ihnen sowohl Tim als auch die Atoulias nur noch wie Erinnerungen an eine trostlosere Welt 117
vorkamen. Als Vorbereitung auf die Verantwortung erstand Thamar ein kleines japanisches Auto und einen kleinen japanischen Hund. Der Hund hüpfte eher von den Autositzen auf den Boden, vom Sofa auf den Teppich und wieder zurück, als daß er sprang, und mußte andauernd – wenn auch vergnügt und gutgelaunt – beaufsichtigt werden, da er systematisch versuchte, Gegenstände zu zerstören, die viel größer waren als er selbst. Während Thamar im Wochenbett lag, mußte er schließlich in einem Tierheim untergebracht werden. Dr. Kattawalla entpuppte sich als Kreuzung aus Guru und Leichtathletiktrainer, was Thamars Sehnsucht sowohl nach väterlichem als auch nach partnerschaftlichem Beistand während jener schwierigen, halbbewußten Augenblicke nachkam. »Und jetzt pressen Sie, was das Zeug hält!« befahl Dr. Kattawalla plötzlich, um anschließend seine Worte wieder halb zurückzunehmen: »Öffnen Sie sich den Wünschen Ihres Kindes. Nötigen Sie es nicht zu übereiltem Vorgehen. Versetzen Sie sich in ihre Lage.« »Ihre … ihre … Lage?« »O ja, es ist eindeutig ein Mädchen, ich sehe nichts, was dagegen spricht. Konzentrieren Sie sich jetzt. Lassen Sie sich durch nichts in Ihrer Zielstrebigkeit ablenken. Eins. Zwei. Nicht hetzen. Drei! Pressen Sie, was das Zeug hält! Haben Sie schon mal einen Elefanten gesehen, der Baumstämme bewegt? In diesem Moment haben Sie genausoviel Kraft. Das war’s! Was habe ich Ihnen gesagt? Sie haben eine wunderschöne junge Dame zur Welt gebracht!« Die Eltern beschlossen, sie nach ihren abwesenden Müttern Ala Muriel zu nennen, und machten haufenweise Fotos mit einer Polaroidkamera. Für ihre Eltern band sich Thamar, 118
sobald sie dazu in der Lage war, eine Schürze um und legte Großmutters Ohrringe an; dabei hielt sie das Baby in der einen und den Hund in der anderen Hand. Sie versuchten, einen möglichst kompletten Eindruck von ihrem gemeinsamen Leben zu geben, in dem Glauben, solche Belege ihres Glücks würden bestimmt eine Spur in den Köpfen des Professors und seiner Frau hinterlassen. Und dennoch brachten sie sie erst zur Post, als Bruce geschäftlich nach San Diego mußte. »San Diego«, sagte der Professor, als er den Stempel durch eine Lupe betrachtete, die er inzwischen an einer Kordel um den Hals trug, um Kleingedrucktes lesen zu können, wann immer es auftauchte. Seine Frau nickte nur und gab kleine Wimmerlaute des Verstehens von sich. Als unnütze Beschäftigung hatte sie das Sprechen weitgehend aufgegeben, zumal sie ihr Leben – oder was davon übriggeblieben war – mit jemandem teilte, dem Reden eine geradezu physische Befriedigung bescherte, jemand, für den das Reden gleichbedeutend mit körperlicher Ertüchtigung war. Selten verließen sie ihr Apartment, der Professor nur noch, um Reis, Rosinen und Gewürze im Supermarkt zu kaufen, was ihm ermöglichte, ein paar kulturelle Worte mit den Iranern zu wechseln, die rasch ihre Muttersprache vergaßen, während sie sich eine funktionelle Form des englischen Grundwortschatzes aneigneten. Gelegentlich trotzte er den Meereswinden, damit, wie er sagte, die Spinnweben fortgeweht wurden. Ala ging überhaupt nicht mehr aus, sondern saß nur noch vor dem Fernseher, ganz gleich, was gerade lief. Die Art der Sendung schien sie nicht zu registrieren, und der salbungsvolle Prediger mit seiner Formel für den garantierten Zugang zum Himmel oder die aufdringliche Psychiaterin mit den zackigen Antworten auf jedermanns Probleme riefen den gleichen starren Blick und das gleiche leicht schiefe Lächeln hervor. »San Diego«, wiederholte der Professor, »aber immer noch 119
keine Adresse. Wenn auch jede Menge guter Wille und Umsicht. Fotos von dem Baby. Wie ich schon sagte: Sie haben es Ala genannt, nach dir.« Ala fegte diese Information beiseite, als verscheuche sie Fliegen vom Essen, und gab ein paar abfällige Quietscher zum besten. »Das ist lieb. Ich finde es lieb. Und da sind meine Ohrringe. Und deine Schürze«, sagte der Professor und hielt die Lupe über die Fotos, damit Ala besser sehen konnte. Das tat sie auch gehorsam und machte ein Gurgelgeräusch, das sich durchaus als Zufriedenheit interpretieren ließ. »Ja, all das ist lieb«, fuhr der Professor mit düsterer Stimme fort. »Aber ich verrate dir etwas, das sie nie erfahren werden, das sie nie herausfinden werden. Ich bin froh, daß ich nicht weiß, wo sie sind … daß ich ihre Straße, ihre Hausnummer, ihre Telefonnummer in San Diego nicht kenne. Nie werde ich Thamar verzeihen, was sie dir angetan hat. Nie.« Ala bedeckte die Augen mit einer Hand und schüttelte teilnahmslos den Kopf hin und her. »Schließlich ist sie eine Frau. Gewiß ist sie jetzt eine Frau, und daß eine Frau so herzlos ist, einer anderen Frau, dazu noch ihrer eigenen Mutter, die Mutterschaft abzusprechen, ist eine der furchtbarsten Taten, die man sich in dieser Welt voller Schatten nur vorstellen kann.« Inzwischen schluchzte Ala und drohte zu stöhnen. Es war fast, als hungerte den Professor nach Reaktionen auf das, was er zu sagen hatte, weshalb er die verblassende Erinnerung ununterbrochen neu belebte, um auf seine Schmähreden eine gewisse faßbare Befriedigung, ein gewisses Resultat zu erhalten. »Und daß diese ganze Tragödie, diese Zerstörung des Familiengefühls, der elementaren Zuneigung, der Ehrerbietung gegenüber den eigenen Eltern, von Liebe und Respekt auf etwas so Banales, so Unbedeutendes, so 120
Lächerliches wie eine Nase zurückzuführen sein sollte, ist die größte Beleidigung, der letzte Schlag ins Gesicht, der Sieg der Kakophonie über die Harmonie, die wir schufen, als wir unsere Sinne ein paar Stunden lang an Mendelssohn, Dvořák und Beethoven hingaben. Kakophonie! Cymbalum Mundi! Der Chor der Dämonen.« Um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen, ohne den Köter nebenan zu stören, hatte Ala sich angewöhnt, ganze Büschel aus ihrem Haar zu reißen. Nun mußte der Professor mit ihr kämpfen, um ihren Enthusiasmus zu bändigen, was nicht leicht war. Es gelang ihm, ihre Handgelenke zu packen, doch sie wehrte sich überraschend heftig. »Bist du denn verrückt?« keuchte der Professor. »Mittlerweile kann man nicht mal mehr mit dir reden. Willst du vielleicht eine Glatze kriegen?« Als sie sich beruhigt hatte – was weniger auf des Professors Worte zurückzuführen war als darauf, daß er den Fernseher einschaltete –, verkündete er grimmig und mit Nachdruck: »Ich habe zu dem Thema nur noch eins zu sagen, dann werde ich für immer schweigen: Wie die Rache, wie die Vergeltung auch immer aussehen mag, sie wird furchtbar sein.« Diesmal kam keine Reaktion von Ala, da sie sich inzwischen die Werbung für ein Intimdeodorant ansah. Das Leben in La Jolla war beinahe ideal. Thamar lernte Tennis, wofür sie ein echtes Talent zu haben schien. Sie spielte zweimal die Woche, der Kinderwagen stand neben dem Tennisplatz, der Hund lag neben der Achse des Wagens, an der er festgebunden war, und starrte durch einen Wust von Haaren verdutzt dem Ball hinterher. Thamar erlangte ihre Figur wieder und erledigte eifrig all ihre Pflichten, während Bruce in seiner Firma befördert wurde. Sie waren das ideale junge Paar, das die von einer Gesellschaft gebotenen Chancen ergriff, welche zwar von den Leuten 121
immer bewundert, von einigen aber entweder mißbraucht oder nicht ausgeschöpft werden, was auf die mangelnde Modernität ihrer Lebenseinstellung oder aber auf die Gier zurückzuführen ist, zuviel zu schnell zu bekommen, in einem erfolgsorientierten Markt den ganz großen Erfolg zu landen. Nur eine winzige Wolke zeichnete sich an einem ansonsten wolkenlosen Himmel ab. Als Thamar eines Tages einen von Bruce’ Anzügen für die Reinigung bereitlegte, leerte sie seine Taschen in dem Moment, als Bruce auf der Suche nach etwas zum Anziehen in der Unterwäsche das Zimmer betrat. »Meine Taschen leere ich ganz gerne selbst«, sagte er. »Das habe ich bisher immer für dich getan«, erwiderte sie. »Es hat dich noch nie gestört.« »Das weiß ich«, sagte er, »und ich kann dir auch gar keinen Grund dafür nennen. Es wäre mir nur lieber, wenn ich sie selbst leeren könnte.« »Meinetwegen.« Thamar war verblüfft und ein wenig gekränkt. »Siehst du! In diesem Moment hast du meine Brieftasche in der Hand.« »Na und? Ich werfe nie einen Blick hinein, und raus nehme ich schon gar nichts.« »Das weiß ich«, sagte Bruce beschwichtigend. »Ich weiß, daß du das nicht tust. Außerdem hab’ ich nichts zu verbergen«, fügte er unschuldig hinzu. »Vergiß es. Vergiß es einfach.« »In Zukunft sage ich dir, wenn deine Anzüge reif für die Reinigung sind. Dann kannst du deine eigenen Vorkehrungen treffen«, sagte Thamar steif. »Ach du lieber Himmel«, nuschelte Bruce. »Ich bereue schon, daß ich das Thema überhaupt angeschnitten habe.« Es änderte nichts am Glück ihres täglichen Lebens oder an ihrem herzlichen Umgang miteinander, war aber dennoch 122
ein auf dem leeren Blatt der Erinnerung verzeichnetes Komma – auf der Sollseite. Zwei Jahre vergingen glücklich und ereignislos, bis kurz nach dem Geburtstag der kleinen Ala, einem fröhlichen und vergnügten Ereignis, an dem eine ganze Reihe Kinder von neuen Freunden teilnahmen. Eines Tages ging Thamar in Klein Alas Zimmer, wo Bruce, den sie im Büro vermutete, bei seiner Tochter saß, die er starr und etwas merkwürdig anstarrte. »O Gott, hast du mich erschreckt. Ich habe dich gar nicht kommen hören. Ich hielt dich für einen Eindringling«, sagte Thamar. »Du hast mich nicht kommen hören? Ich war gar nicht weg. Bin die ganze Zeit über hier gewesen.« »Warum? Was machst du hier oben? Wirst du nicht im Büro gebraucht?« »Na klar werde ich im Büro gebraucht.« Bruce wirkte seltsam verstört. »Ich bin hier, um mir meine Tochter anzusehen.« Selbst die kleine Ala schien wegen des Verhaltens ihres Vaters leicht bedrückt und verwundert zu sein. Sie reichte ihm ständig Spielsachen, die er entweder ignorierte oder annahm und ihr gleich darauf wieder zurückgab. »Also«, sagte Thamar, »nun hast du sie dir angesehen, zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« »Sie hat sich verändert …« »Gewachsen ist sie, aber das war ja wohl zu erwarten.« »Komm mal hier rüber.« Klein Ala schmetterte erbarmungslos einen Teddybär auf den Fußboden. »Und?« »Ihr Profil.« 123
Plötzlich spürte Thamar, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Natürlich war ihr nicht entgangen, daß die Stupsnase des Babys ihre Unschuld verlor und von der Persönlichkeit langsam gemäß deren eigenen Erfordernissen geformt wurde; aber bestimmt war es zu früh, eine Ausprägung des Familienfluches erkennen zu wollen – es konnte schließlich noch viel passieren … oder? »Was ist mit ihrem Profil?« fragte Thamar tapfer. »Ihre Nase. Sie fängt langsam an, die Form zu verändern. Sie wird weder wie deine noch wie meine aussehen«, antwortete Bruce zu ruhig, als daß es tröstlich geklungen hätte. »Woher willst du das jetzt schon wissen?« Eine schwer faßbare Spannung baute sich im Haus auf. Wenn Bruce mit seiner Tochter spielte, wußte Thamar jedesmal, wonach er suchte, und eine unterschwellige Panik bemächtigte sich ihrer, gekoppelt mit dem Unglauben, daß Bruce ausgerechnet in einem Punkt so abnorm scharfsichtig sein sollte, der die meisten Menschen kaum tangierte. Die Wochen vergingen, und nichts geschah, um das Unheil zu lindern, das plötzlich und unfaßbar über dem Haushalt hing. Klein Ala spielte vergnügt und wuchs geschwind, nichts ahnend von dem Wirbel, den sie verursachte. Ihre Nase wuchs mit ihr, so daß sie – was ihr bisher fremd gewesen war – einen immer traurigeren Gesichtsausdruck bekam, wenn ihre Augen vor Vergnügen verengt oder vor Staunen weit aufgerissen waren, und darunter eine Nasenspitze, die über dem Mund zu wippen drohte, was ihr im Ruhezustand ein leicht boshaftes Aussehen verlieh. Vielleicht bildeten sie sich das nur ein, aber Thamar hatte den Eindruck, daß die Leute ihre Worte eigenartig betonten, wenn sie sich über Alas Bettchen beugten und »Wie hübsch sie ist« sagten. Thamar zeigte sie am liebsten, wenn sie schlief. Bei geschlossenen Augen schenkte man ihrer Nase weniger Beachtung, da solch 124
ein friedlicher Zustand nicht nur ohne Persönlichkeit auskommt, sondern – bei Kleinkindern – in seiner Unberührtheit etwas beinahe Religiöses hat. Tag für Tag wuchsen Thamars Schuldgefühle, bis sie sich zu einem echten und beständigen Problem entwickelten. Seit ihre eigene Nase gekürzt worden war, hatte sie sich nicht vor Augen gehalten, daß die Natur sich wenig darum scheren und die verantwortlichen Gene sich so gemein bemerkbar machen würden. Auch Bruce erwies sich nun charakterlich als so instabil wie noch nie zuvor. Sie stritten sich über Nichtigkeiten, sie sagten Dinge, die nicht ihr Ernst waren, oder Dinge, die zwar ihr Ernst waren, es aber besser nicht gewesen wären, und auf einmal schien alles unheilbar verfahren zu sein. Das Kind registrierte eine vergiftete Atmosphäre und wurde aufsässig, was die vorzeitige Herausbildung seiner Gesichtszüge nur noch verstärkte. Auch der Hund war für atmosphärische Störungen nicht unempfänglich und biß Ala in einem Augenblick gegenseitigen Mißtrauens. Bruce sprach davon, das Tier einschläfern zu lassen. »Nur über meine Leiche«, fauchte Thamar. Und dann waren da noch die stundenlangen Gesprächspausen. Thamar war irgendwann soweit, daß sie ihren Vater anrief, nur um eine freundliche Stimme zu hören. »Mit dir will ich nicht reden. Nach dem, was du deiner Mutter angetan hast, möchte ich, wie ich bereits sagte, nie wieder mit dir reden. Und das ist endgültig. Doch ich möchte dir, bevor ich für immer schweige, noch eines sagen: Wegen der Form einer Nase deine Mutter praktisch in den Wahnsinn zu treiben und mich zu dem zu machen, was ich inzwischen bin, ist so ziemlich der dümmste, der erniedrigendste Grund, den man sich nur vorstellen kann. Alle großen klassischen Helden, Ödipus, Hamlet – sie 125
handelten, weil sie einen Grund hatten, aber nie wegen der Form einer Nase. Cyrano de Bergerac hat daraus sogar Vorteile gezogen. Der hat sich nicht beschwert! Und solange ich noch mit dir spreche: danke für den Fernseher. Er funktioniert hervorragend. Seit deinem Besuch bringen wir unsere ganze Zeit damit zu, uns den schwachsinnigsten Müll anzusehen, den der Mensch je erfunden hat, ins Haus gebracht von des Menschen vergleichbar bemerkenswerten technischen Fähigkeiten. Der Rest, wie Hamlet oder jemand aus seinem Gefolge erklärte, ist Schweigen.« Und mit diesen Worten legte er auf. Verzweifelt rief Thamar Dr. Brisket in Boston an. »Wie eigenartig, daß Sie anrufen, Mrs. Connahy … Nein, nein, ich weiß, worum es geht. Komischerweise habe ich heute morgen schon mit Mr. Connahy gesprochen.« »Sie haben schon mit meinem Mann gesprochen?« fragte Thamar ungläubig. »Ich wußte gar nicht, daß Sie …« »Wahrscheinlich steht es nicht ganz im Einklang mit meinem Berufsethos als Mediziner, Ihnen die Tendenz unseres Gesprächs weiterzugeben, Mrs. Connahy, aber da Sie mich offensichtlich beide erst angerufen haben, nachdem Sie eine Entscheidung getroffen haben, kann ich wohl nur wiederholen, was ich ihm bereits sagte. Wir nehmen prinzipiell keine schönheitschirurgischen Eingriffe an Kindern vor, von Babys ganz zu schweigen. Die Nase muß erst ihre endgültige Form erlangt haben, ehe wir uns gefahrlos an ihr zu schaffen machen können. Wenn ich also in zwanzig Jahren immer noch praktiziere, kümmere ich mich gern um die junge Dame. Danke für Ihren Anruf.« Thamar war wie vom Donner gerührt. Jetzt konnte wohl nur noch Ehrlichkeit helfen. Aber wie hatte Bruce von Dr. Brisket erfahren?
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Bei einem stummen Abendessen sagte Thamar plötzlich: »Dr. Brisket.« Bruce ließ klappernd die Gabel fallen. »Was ist mit ihm?« »Ich habe ihn heute angerufen.« »Und?« »Und du auch.« »Woher weißt du das?« »Er hat es mir gesagt.« »Das hätte er nicht tun sollen.« »Warum nicht?« »Berufsethos.« »Berufsethos?« »Wie ich eben sagte. Berufsethos.« Thamar runzelte die Stirn. »Bruce, wie hast du von Dr. Brisket erfahren?« Bruce wollte seinen Ohren nicht trauen. »Wie ich von Dr. Brisket erfahren habe?« »Bruce, was jetzt kommt, fällt mir nicht leicht. Sei bitte so nett und hab Geduld mit mir. Ich habe nämlich eine Lüge auf dem Gewissen, eine schreckliche Lüge, eine törichte Lüge.« Die Worte kamen ihr zwar nur schwer über die Lippen, doch äußerst klar und deutlich. »Meine Eltern sind meine richtigen Eltern. Meine Mutter ist meine richtige Mutter. Beide stammen aus dem Kaukasus.« »Das wußte ich bereits.« »Unterbrich mich bitte nicht. Der Kaukasus ist eine Weltengegend, in der es ziemlich große Nasen gibt.« Bruce fing an zu lachen, zunächst tonlos. »Bitte, Bruce … meine beiden Eltern hatten … oder besser gesagt: haben solche Nasen … du kannst dir also vorstellen, daß auch ich einmal … eine hatte …« 127
Bruce’ Lachen steigerte sich fast zur Hysterie. Er hatte Tränen in den Augen. »Was ich dir sagen möchte, Bruce … würdest du bitte aufhören zu lachen …«, und sie rief: »Ich hab’ mir die Nase operieren lassen … Die Nase, die du siehst, ist nicht meine eigene!« Von Bruce’ Hysterie angesteckt, fing auch sie an zu lachen. Dann brüllte sie, um ihr Gelächter zu ersticken: »Hast du mich gehört? Die Nase in meinem Gesicht ist nicht die Nase, mit der ich geboren wurde! Ich hab’ mir … bitte, Bruce …! Ich habe mich einer Schönheitsoperation unterzogen … Dr ….« »Brisket«, riefen beide wie aus einem Mund. »Schatz, hol … hol mein … mein Jackett«, rief Bruce, der sich kaum äußern konnte, so sehr hatte ihn sein Heiterkeitsausbruch mitgenommen. »Nimm … Brieftasche raus …« »Aber die durfte ich doch nie …« »Nimm sie raus … Na los … Mach sie auf … da ist … da ist ein Leder … ein Leder … o Gott … eine Art Lederetui mit Fotos drin …« »Da sind ja Ala und ich drauf. Du trägst uns bei dir?« Sie war gerührt, auch wenn sie jetzt lachte, über ihn lachte. »Dreh … um …« Er machte fahrige Gesten. Sie drehte es um. Auf der anderen Seite sah sie ein Foto von zwei gleich aussehenden Soldaten, beide hatten lange, mittelalterliche Nasen. »Wer ist das?« »Ich und mein Zwillingsbruder Tim.« »Tim ist dein Zwillingsbruder?« Bruce nickte, und seine Tränen flossen wie Sturzbäche. »Klapp es auf.« Dies tat Thamar und sah nun auf ein älteres Paar sowie 128
zwei junge Männer in Football-Kluft. »Dr. und Mrs. Aidan Connahy mit ihren Zwillingssöhnen!« Alle vier hatten die dünnen spitzen Nasen gewisser Vögel. Bruce’ Gesicht war vor Anstrengung verzerrt und schweißgebadet. Er rang keuchend um Atem. Thamar starrte ihn ungläubig an. »Soll das heißen, daß du auch …?« »Dr. Brisket«, sagte er mit erstickter Stimme. Nun begann sie, ebenso laut, ebenso hemmungslos zu lachen wie er, und er versuchte, Schritt zu halten, obwohl er kein Gelächter mehr übrig hatte. Im ersten Stock parodierte Klein Ala, die den endlosen Heiterkeitsausbruch hörte, ihre Eltern, indem sie ebenso laut und sogar weniger angenehm lachte. Ha, ha, ha, ha. Sie war noch nicht alt genug, um zu wissen, worüber sie lachte.
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