Aventurien heißt die phantastische Spielewelt voll kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik, erschaffen von einem Sp...
127 downloads
529 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Aventurien heißt die phantastische Spielewelt voll kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik, erschaffen von einem Spezialistenteam und ausgebaut von Tausenden begeisterter Spieler. Es ist der Schauplatz des heute größten deutschen FantasyRollenspiels Das Schwarze Auge. Die Romane der gleichnamigen Serie lassen uns diese Welt noch viel unmittelbarer und plastischer erleben.
In diesem Band berichten die bekanntesten Kennerinnen Aventuriens von merkwürdigen, unheimlichen und unterhaltsamen Begebenheiten in der Welt des Schwarzen Auges. Mit Erzählungen von: PETRA BAUM · LENA FALKENHAGEN ULRICH KIESOW · INA KRAMER JÖRG RADDATZ · CHRISTEL SCHEJA
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Band: Ulrich Kiesow, Der Scharlatan · 06/6001 Band: Uschi Zietsch, Túan der Wanderer · 06/6002 Band: Björn Jagnow, Die Zeit der Gräber · 06/6003 Band: Ina Kramer, Die Löwin von Neetha · 06/6004 Band: Ina Kramer, Thalionmels Opfer · 06/6005 Band: Pamela Rumpel, Feuerodem · 06/6006 Band: Christel Scheja, Katzenspuren · 06/6007 Band: Uschi Zietsch, Der Drachenkönig · 06/6008 Band: Ulrich Kiesow (Hrsg.), Der Göttergleiche · 06/6009 Band: Jörg Raddatz, Die Legende von Assarbad · 06/6010 Band: Karl-Heinz Witzko, Treibgut · 06/6011 Band: Bernhard Hennen, Der Tanz der Rose · 06/6012 Band: Bernhard Hennen, Die Ränke des Raben · 06/6013
DER GÖTTERGLEICHE Erzählungen Neunter Band aus der aventurischen Spielewelt
herausgegeben von ULRICH KIESOW Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6009
Redaktion: F. Stanya Copyright © 1995 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München und Schmidt Spiele + Freizeit GmbH, Eching Printed in Germany 1995 Umschlagbild: Dieter Rottermund Kartenentwurf (Seite 6/7): Ralf Hlawatsch Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-09494-8
Inhalt PETRA BAUM Maligno ......................................................................
8
ULRICH KIESOW Der Göttergleiche ......................................................
16
INA KRAMER Die Freifrau und der Zauberlehrling .....................
59
JÖRG RADDATZ Einen Drachen zu töten ........................................... 102 CHRISTEL SCHEJA Die Diebe von Rashdul ............................................ 192 LENA FALKENHAGEN Wolfstränen ............................................................... 256 ANHANG Erklärung aventurischer Begriffe ........................... 286
PETRA BAUM
MALIGNO
Vor ihm erstreckte sich über sanfte Hügel eine endlos erscheinende Graslandschaft. Die Halme reichten ihm schon bis an den Bauch, und dabei hatte der Frühling gerade erst begonnen. Ein leichter Wind umschmeichelte seinen Körper und umhüllte ihn mit dem betäubenden Duft von Tausenden wilder Wiesenblüten. Das Grün wogte sacht, fast wie ein Ozean, hin und her. Am tiefblauen Himmel zogen träge einige weiße Wolken dahin, und die Luft war erfüllt vom geschäftigen Schwirren der Bienen, Hummeln und Tsafalter. Er war sicher, daß es ein gutes Jahr werde würde. Er liebte dieses Land mit jeder Faser seines Herzens. Trotzdem war eine tiefe Traurigkeit in ihm, denn er wußte jetzt, daß er seine Familie, die Freunde und den Stamm verlassen würde. Voller Verzweiflung dachte er an seine Kinder, und ihm wurde mit jähem Schmerz bewußt, was er aufgab, wenn er in die Fremde zog. Er würde sie nicht aufwachsen sehen, würde seinen beiden Söhnen das Jagen nicht beibringen können und nicht sehen, wen sich seine kleine Rana als Gefährten erwählen würde. Aber er wußte auch, daß er nicht länger bleiben konnte. Es war viel zu riskant, seinen Aufbruch noch hinauszuzögern. Er war eine Gefahr für die Allgemeinheit, und das wußte er. Eine innere Unruhe, die mit der Zeit immer mehr zugenommen hatte, drängte ihn zu verschwinden. Er
wollte ihr gerade nachgeben, als er hinter sich leise Schritte vernahm, die sich langsam näherten. Er mußte sich nicht umschauen, um zu wissen, wer da an ihn herantrat. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sich sein ›Bruder vom Blute‹, Antarh, neben ihm im Gras nieder. Der Freund sah ihn an und wartete darauf, daß er das Schweigen bräche. Seine Stimme klang fest, als er endlich das Wort an Antarh richtete: »Du kannst mich nicht von meinem Entschluß abbringen. Wenn du also deswegen gekommen bist, so muß ich dich enttäuschen. Ich breche noch heute auf, bevor die Sonnenscheibe ihren Weg vollendet hat.« Antarh seufzte. »So denk doch an deine Familie! Wer wird sich denn um sie kümmern?« »Ja, ich denke an meine Familie – und an meine Freunde, und genau deswegen muß ich euch verlassen.« Betroffen senkte Antarh den Blick. Er wußte, er konnte den Freund von seinem Entschluß nicht mehr abbringen. »Es ist also schlimmer geworden«, erwiderte er leise, »ganz, wie du vermutet hattest. Aber warum vertraust du dich nicht der weisen Manera an? Sie weiß viel über Krankheiten, vielleicht kann sie dir helfen, Maligno!« Antarh wollte sich allem Anschein nach nicht mit dem Verlust des Freundes abfinden.
»Kannst du mich denn nicht verstehen, Antarh? Ich bin eine Gefahr für euch alle. Selbst wenn mein Leiden nicht ansteckend sein sollte, so muß ich dir doch sagen, daß ich mich wahrscheinlich nicht mehr lange werde beherrschen können. Und wenn es eines Tages dazu kommt, daß ich nicht mehr Herr meiner selbst bin, dann möchte ich weit fort von euch sein. Wenn ich Manera aufsuche, verliere ich nur wichtige Zeit, und ich habe das Gefühl, daß ich mir das nicht mehr erlauben kann.« Maligno sog tief die würzige Frühlingsluft ein, und plötzlich sehnte er sich danach, Antarh ins Vertrauen zu ziehen. Von den beängstigenden Träumen wollte er dem Freund berichten, die in letzter Zeit immer häufiger wurden, von der inneren Unruhe, von dem seltsamen Verlangen und vor allem davon, daß er in seinem Körper etwas spürte, das er nicht verstand und das ihm angst machte; und Antarh würde ihm zuhören und ihm Trost spenden ... Aber der Zauber des Augenblicks war verschwunden, ehe er ihn hätte nutzen können. Maligno erhob sich. »Ich muß nun aufbrechen, wenn ich heute noch weit kommen will. Vielleicht werde ich irgendwo Hilfe finden und bald zurückkommen können. Mögen die Himmelswölfe über euch wachen.« So machte er sich auf den Weg. Lange noch spürte er den Blick des Freundes auf sich ruhen, und das
Herz war ihm schwer. Doch er wußte, daß seine Entscheidung richtig war. Den ganzen Tag lang ging er nach Norden. Er kam gut vorwärts und bemerkte es doch kaum, sosehr war er mit sich selbst beschäftigt. Erst als das Tageslicht schwächer wurde und die flammendrote Sonne ihre Bahn vollendet hatte, verlangsamte Maligno zum ersten Mal seine Schritte. Er suchte eine geschützte Stelle für die Nacht und ließ sich dort nieder, immer noch in Gedanken versunken. Er bemerkte nicht einmal, welche Schönheit seine Ruhestätte umgab, das Ufer eines kleinen Teichs, der sich zwischen die Hügel schmiegte. Maligno war allein und würde es auch für den Rest seines Lebens bleiben. Zwar hatte er Antarh versichert, er werde Hilfe suchen und zurückkehren, aber in Wahrheit glaubte er nicht daran, daß seine Krankheit mit Gras oder scharfen Kräutern bekämpft werden könne. Dennoch hatte er es nicht fertiggebracht, dem Freund die Hoffnung zu nehmen. So fiel Maligno in einen kurzen, unruhigen Schlaf. Von wilden Träumen gepeinigt, erwachte er in der Nacht, und sein Herz raste. Er sah die bleiche Scheibe des Madamals über sich stehen, und ein Schauder lief ihm das Rückgrat entlang. Wieder spürte er die Veränderung in seinem Kör-
per, fast schmerzhaft diesmal. Er kämpfte dagegen an, aber die fremde Macht war stärker. Maligno fühlte, wie sein Wille erlahmte. Nur mühsam raffte er sich auf und schleppte sich zu dem kleinen Teich in der Nähe seines Lagers. Seine Sehnen waren bis zum äußersten gespannt, und seine Muskeln rebellierten. Ihn dürstete nach Blut, und er wollte töten, nicht aus Hunger wollte er jagen, sondern aus Lust, aus reiner Mordgier, und nur ein kleiner Funke in seinem Innern hatte noch Angst davor. Plötzlich, aus einer Eingebung heraus, riß er den Kopf hoch, und mit einem schauerlich klingenden Heulen begrüßte er die volle Scheibe des Madamals. Langsam senkte er den Blick wieder, um seine Verwandlung im ruhigen Wasser des Teiches zu betrachten – ohne Angst, nur noch neugierig, was sich ihm zeigen würde. Er sah sein Gesicht: Es verlor langsam die typische Dreiecksform. Er sah, wie seine Augen dunkler wurden, wie das Weiße beiderseits der Pupille hervortrat. Er hörte seine Knochen knacken wie Holz, und Wellen des Schmerzes, eine heftiger als die andere, jagten ihm durch den Körper. Etwas in ihm schrie, doch er verstand es nicht. Seine Gliedmaßen streckten sich, und ein Geräusch erklang, als zerrisse Tuch. Er sah, wie sein Haar kürzer
wurde, und bald war von dem einst so prächtigen grauen Fell nichts mehr zu spüren. Die kräftigen Muskeln versagten ihm den Dienst, und er stürzte. Seine Krallen wurden kurz und weich, die Hinterläufe sehr lang. Aus den Vorderpfoten wuchsen jeweils fünf dünne, äußerst bewegliche Glieder. Überall war er von einer sehr hellen, fast haarlosen Haut bedeckt. Nur sein Haupthaar war lang und von leuchtend kupferroter Farbe. Er hörte kaum noch etwas, und richtig riechen konnte er auch nicht mehr. Auch sah alles ringsumher plötzlich ganz fremdartig aus: Widernatürlich klare Formen umgaben ihn und geradezu stechende Farben. Langsam richtete er sich auf, und eine fremde Gestalt schaute ihn aus leicht schräggestellten, mandelförmigen, gelben Augen neugierig an. Er riß sich von diesem Bild los und machte die ersten vorsichtigen Schritte. Er hatte Mühe zu gehen, es war schwierig, sich auf nur zwei Beinen zu halten, doch allmählich gewöhnte er sich daran. Die Schmerzen waren fast ganz verschwunden, und er fühlte sich großartig, ja, überlegen. Er wollte nun den neuen Körper prüfen, sein Können auf die Probe stellen ... und irgend etwas jagen. Er wollte töten! Er machte sich auf den Weg in Richtung Süden,
und tief in seinem Innern verhallte ungehört ein verzweifelter Schrei.
ULRICH KIESOW
DER GÖTTERGLEICHE
Über den hohen Gipfeln des Eisenwaldes entlud sich der göttliche Zorn der Herrin Rondra in einem urgewaltigen Gewitter: Allerorten flackerten Blitze wie auf dem Kopf stehende kahle Bäume über den Himmel. Überall in den bleigrauen Wolken zuckten unruhige Lichter. Tief unten in einem Tal am Südrand der Berge hatten sich die Hühner unter einem Planwagen verkrochen, und die Pferde schnauften und wieherten im Stall einer Herberge, die im Schutz von uralten Kastanien an der Landstraße stand. Man konnte zwar lange zählen, bis nach einem Blitz in den Bergen der Donner das Gasthaus erreichte, aber wenn er dann kam, bebte der Dielenboden, und das Geschirr klirrte im Schrank. Gemeinsam mit dem Fuhrmann Jago war Thornhild um Schankhaus und Scheune herumgegangen, um das ferne Schauspiel zu beobachten. Neben der hünenhaften Frau und dem eher zierlich gebauten Fuhrknecht stand Liska, eine große schwarzbraune Bornländerhündin, und rieb die Lefzen an Thornhilds Schenkel. Die Thorwalerin kraulte die Hündin gedankenverloren hinter den Ohren, was ihr Liska mit eigentümlichen Grunzlauten dankte. »Das Wetter sieht zum Fürchten aus«, stellte der Fuhrknecht fest, den Blick starr nach Norden gewandt. »Seid Ihr sicher, daß es an uns vorüberzieht?«
»Eigentlich schon«, gab Thornhild zurück. »Doch andererseits: Was ist schon sicher auf dieser Welt? Aber damit Ihr Euch nicht fürchtet, habt Ihr schließlich Dajin und mich in Dienst genommen, nicht wahr, Daj?« Der Fuhrmann zuckte zusammen, als plötzlich Dajins dunkle Gestalt neben ihn trat. »Ihr habt mich wieder zu Tode erschreckt«, sagte er in vorwurfsvollem Ton. »Nie hört man Euch kommen.« »Kein Wunder bei dem Lärm hier draußen«, entgegnete der Angesprochene höflich und deutete mit einer vagen Geste auf die wolkenverhangenen Berge. Der Fuhrmann musterte Dajin von der Seite und befand, daß der Mann mit der fahlen, fast gelblichen Gesichtshaut, den schulterlangen schwarzen Haaren, dem großen schwarzen Hut und dem gleichfalls schwarzen Wetterumhang sehr wohl etwas Unheimliches an sich hatte. Da war ihm die Frau, Thornhild, schon lieber. Die hatte ein offenes braungebranntes Gesicht, graublaue Augen unter rostfarbenen kräftigen Brauen und trug einen lustigen dicken Zopf, der ihr fast bis zum Hintern hinunterhing. Beide hatten lange Schwerter an die Seite geschnallt, aber bisher hatten sie nicht beweisen müssen, ob sie damit umgehen konnten. Der Blick des Fuhrmanns verweilte noch einen Moment lang auf den schlichten, vom Lederfett dun-
kel gefärbten Wehrgehängen des ungleichen Paares. Einerseits hätte er die beiden Söldner schon einmal gern bei der Arbeit gesehen, andererseits war er recht froh darüber, daß sich bisher keine Gelegenheit zu einer solchen Vorführung ergeben hatte. Es war in jenen Tagen üblich, für Wagenzüge entlang der Südseite des Eisenwaldes bis hinab zum Yaquir ein paar kampferfahrene Begleiter anzuwerben. Den kaiserlichen Soldaten war es nie gänzlich gelungen, die Schluchten des Eisenwaldes und des Ambosses von Goblins zu säubern, und auch menschliches Diebesgesindel hatte sich in verlassenen Zwergenhöhlen einquartiert. Ein räuberisches, aber feiges Pack; manchmal genügte es schon, wenn die Schurken einige ordentlich bewaffnete, kräftige Leute neben den Wagen herreiten sahen, um dem Zug ein sicheres Geleit bis zum Fluß zu verschaffen. Zugobmann Ulfas hatte die beiden Söldner hundert Meilen hinter Elenvina angeheuert, in einer Taverne an der großen Straße, wo sich meist mehrere Bewaffnete aufhielten, um ihre Dienste anzubieten. Eigentlich hatte Ulfas nur Thornhild und einen anderen Mann haben wollen, einen ehemaligen Garether Wachsoldaten, der der Thorwalerin im Körperbau fast ebenbürtig gewesen war, aber Thornhild hatte darauf bestanden, ihren unheimlichen Gefährten zusätzlich mitzunehmen.
»Dajin nagelt Euch mit seinem Pfeil auf hundert Schritt Euren Ohrring an die Wand«, hatte sie gesagt, »und außerdem braucht Ihr auf mich nicht zu zählen, wenn Ihr ihn nicht einstellen wollt ... Ich benötige Daj für mein seelisches Wohlbefinden. Mir geht es einfach besser, wenn ich weiß, daß er mir zur Not den Rücken freihält. Darum gibt es uns nur als Zweiergebinde, werter Herr. Das mag auf den ersten Blick etwas kostspielig erscheinen, aber seid versichert, Euer Geld ist gut angelegt. Und glaubt mir, wenn es uns nicht ohnehin in dieselbe Richtung zöge wie Euch, könntet Ihr uns gar nicht anheuern und müßtet auf wirklich zuverlässigen Schutz verzichten – auf den besten, den Ihr für Eure paar Dukaten bekommen könnt ... Ach, und daß ich's nicht vergesse, Futter für mein Liska-Mädchen hier ist auch mit drin ...« Aus irgendeinem Grunde hatte Obmann Ulfas wohl einen Narren an der Hünin von der Nordküste gefressen, denn er hatte sich schließlich auf Thornhilds Bedingungen eingelassen, obwohl in Elenvina eine Menge anderer bewaffneter Mietlinge zu haben gewesen wären. Nun, der ehemalige Wachsoldat hatte sich nach zwei Tagen wieder aus dem Staub gemacht, aber Thornhild, Dajin und Liska waren noch da, und der gefährlichste Teil der Reise lag bereits hinter dem Wagenzug.
Urplötzlich klatschten dicke Tropfen auf den Boden und rollten wie Silberkugeln durch die dicke gelbe Staubschicht auf dem Hof. Der Fuhrknecht zog unwillkürlich den Kopf ein. »Ihr mögt mit dem Schwert umgehen können«, sagte er, an Thornhild gewandt, »aber zum Wetterpropheten taugt Ihr nicht.« Damit drehte er sich um und sprang in großen Sätzen zum Haus zurück. Liska lief ihm ein paar Schritte nach, blieb dann aber stehen, mit verhalten wedelndem Schwanz, den Körper immer noch zum Haus gewandt, und sah Thornhild abwartend an. »Ja, ja, wir kommen schon«, lachte die Thorwalerin, »wir haben sehr wohl gemerkt, daß es regnen will. Du solltest dich schämen! Wie kann man nur so wasserscheu sein?« Sie wandte sich dem Wirtshaus zu, aber Dajin hielt sie am Arm zurück und zeigte stumm auf einen fernen, mit Birken und Buschwerk bewachsenen Hang. Thornhild kniff angestrengt die Augen zusammen, sah aber nur dichte Regenschleier, die über den Hang streiften und allmählich näher kamen. »Tja, da gießt es noch übler als hier ... Aber wir werden auch bald triefen wie Scheuerlappen, wenn du dich nicht von dem Anblick losreißen kannst ...« »Reiter«, murmelte Dajin, »mehr als zehn. Ich frage mich, was die da zu suchen haben.«
Thornhild starrte noch einmal angespannt durch die ziehenden Schwaden, doch schließlich schüttelte sie den Kopf, legte ihrem Gefährten die Hand auf die Schulter und versuchte, ihn fortzuziehen. »Laß gut sein, Alter! Du siehst Gespenster ... Aber selbst wenn du dich nicht täuschst, dauert es bis morgen früh, bis diese Leute die Landstraße erreichen. Vielleicht treffen wir sie ja morgen, dann kannst du sie fragen, wieso sie durch den Regen reiten, ohne dich um Erlaubnis zu fragen.« Als sich endlich auch Dajin zum Gehen wandte, sprang Liska erleichtert mit den Vorderbeinen in die Höhe, warf sich herum und rannte zum Eingang voraus. Draußen, im Freien, hatte das Gewitter einen frischen, kühlen Wind gebracht, aber in der Schankstube war es nach wie vor schwül und stickig. Dichte blaue Schwaden von Fuhrmannsknaster hingen dicht über den Köpfen der Gäste in der Luft, die Talglichter auf dem großen Hängeleuchter drangen kaum durch den Dunst. An den Tischen saß ein buntes Gemisch von Leuten, die das drohende Unwetter in die Schenke getrieben hatte: eine Bauernfamilie in bunt bestickten Kitteln, offenbar auf dem Heimweg von einer Feier; zwei feine Damen und zwei Edelleute, die sich in eine stille Ecke zurückgezogen hatten und mißmutig in
den Speisen auf ihrem Teller stocherten; ein paar Novadis mit sonnengebräunter Haut und pechschwarzen Augen (Rastullah mochte wissen, was sie in diese entlegene Gegend verschlagen hatte); ein Gaukler mit einem kleinen schwarzen Bären an einer rostigen Kette und ein paar fahrende Händler, Männer und Frauen, wie man sie überall antreffen kann. Hinter der Theke, die aus langen, quer über drei leeren Fässern liegenden Bohlen bestand, zapfte ein dünnes Männlein mit zerfurchtem Gesicht Bier in irdene Krüge, die ein junges Mädchen eifrig an die Tische schleppte. Die Schankmagd – von den Stammgästen wurde sie Calita gerufen – trug ein Kleid aus ehemals gelbem Rauhleder, das sie einmal prächtig gekleidet haben mochte. Jetzt glänzte es speckig über Busen, Hüften und Po, und vor allem war die Trägerin eigentlich längst aus ihm herausgewachsen. Unten bedeckte es kaum die halben Schenkel und oben, über Calitas hohem und festem Busen, ließ sich das Leder durch die Schnürriemchen nicht mehr ordentlich zusammenziehen, so daß bis hinab zum Nabel ein Streifen nackter Haut durch die Verschnürung blitzte. Calita schien gar nicht zu bemerken, welch andächtiges Staunen ihr Gewand bei manchem Gast auslöste. Über ihren Wangenknochen brannte die Haut vor Arbeitseifer, aus ihren schwarzen Haaren, die sie zu
Zöpfen geflochten und auf dem Kopf zu einem dikken Reif zusammengesteckt hatte, war ihr eine Strähne ins Gesicht gefallen, und Calita war ständig damit beschäftigt, den Haarstrang zur Seite zu pusten. Dabei lachte sie fröhlich, daß ihre kleinen weißen Zähne blitzten, und hielt für jeden frechen Spruch eine Antwort bereit. Den weitaus meisten Lärm machten die Fuhrknechte, die einen langen Tisch mit Beschlag belegt hatten und ihre Krüge viel schneller leerten, als das Mädchen volle heranschaffen konnte. Als die Männer Thornhild und Dajin an der Tür entdeckten, winkten sie sie eifrig zu sich heran. Die beiden hatten gerade die halbe Strecke zurückgelegt, als Liska den schwarzen Tanzbären des Gauklers entdeckte. Die Haare auf ihrem Rücken stellten sich zu einer struppigen Bürste auf, sie legte die Ohren an, zog die Schnauze in häßliche Falten und ließ aus tiefster Brust ein dumpfes Grollen hören. Dann sprang sie los, aber Thornhild hatte schon mit beiden Händen ihren buschigen Schwanz gepackt, so daß Liskas Krallen vergeblich über den Dielenboden kratzten. Sie schlug der Hündin mit der flachen Hand auf den Kopf und schleppte sie an ihrer Halskette zum Fuhrmannstisch. Dabei redete sie ihr ins Gewissen: »Das ist kein Gegner für dich! Der stinkt und kennt
tausend schmutzige Tricks ... Mit so etwas läßt sich ein anständiges Mädchen nicht ein ...« Die Fuhrleute hatten eine Woche lang nur von getrockneten roten Bohnen und Pökelfleisch aus dem Proviantwagen gelebt, aber jetzt speisten sie wie die Fürsten: Jeder hatte einen dampfend heißen Weizenfladen auf seinem Teller, dazu saure Kohlblätter und ein großes Bratenstück. Der einarmige Ulfas ließ sich von seinem Nachbarn das Fleisch in Stücke schneiden. Offenbar war er schon bei der zweiten Portion angelangt, denn sein dichter schwarzer Bart glänzte von Fett. »Heda, Thornhild, meine Freundin!« rief er zwischen zwei Bissen. »Kommt, setzt Euch hierher!« Die Männer am Tisch rückten dicht zusammen, um Thornhild und Dajin einen Platz freizumachen, Liska drängte sich unter den Tisch und versuchte von dort die vielen Esser im Auge zu behalten. Es war ja immerhin möglich, daß einem von ihnen ein Brocken von der Gabel sprang. Aber nach einer Weile sah sie ein, daß hungrige Fuhrleute nichts zu verschenken haben, und gab die Hoffnung auf. Sie seufzte so herzergreifend, wie nur ein Bornländer seufzen kann, streckte den langen Körper aus und legte die Schnauze auf die Vorderpfoten. Calita trat an den Tisch und ließ geduldig lächelnd die derben Neckereien der Fuhrleute über sich erge-
hen, während sie die neuen Gäste nach ihren Wünschen fragte. Wenig später schon standen volle Krüge vor Thornhild und Dajin, und auf ihren Tellern dampften fetttriefende Stücke vom Schwein. »Warum habt Ihr Liska nicht gegen den Bären antreten lassen?« fragte plötzlich Obmann Ulfas und fuchtelte dabei mit seiner Gabel vor Thornhilds Gesicht. »Ich hätte einen Dukaten auf sie gesetzt.« Der Fuhrmeister hatte schon einen kleinen Henkelkrug vom guten Premer Feuer geleert. Seine Zunge war ein wenig schwerfällig geworden, aber die wäßrigen kleinen Augen blinkten unternehmungslustig. »Mir macht so etwas keinen Spaß.« Thornhild winkte ab und beschloß, das Thema zu wechseln: »Wann brechen wir morgen auf?« Aber Ulfas war nicht so leicht von seiner Idee abzubringen. »Das wäre doch ein Ding, so ein kleiner Kampf!« Er rülpste schwer, griff nach seinem Teller und kippte den Rest seines Essens unter den Tisch. »Hier, stärk dich noch mal, alter Köter. Gleich geht es hier nämlich rund!« Liska verschlang Kohl, Fladen und Fleisch, kaum daß die Leckereien den Boden berührten. »Da, verehrte Dame, habt Ihr's gesehen?« polterte der Obmann. »Jetzt hat sie ihren Sold bekommen, jetzt soll sie uns auch etwas bieten!« Die Tür flog auf, ein kühler feuchter Zugwind weh-
te durch die Stube, von draußen drang das Geprassel schwerer Tropfen herein. Ulfas' Blick blieb an der Tür hängen, auch Thornhild wandte sich um. Im Türrahmen stand ein seltsames Paar: ein hochaufgeschossener junger Mann mit schmalem Gesicht. Unter seiner kleinen Filzkappe quollen in Strähnen herabhängende lange blonde Haare hervor. Über den Kleidern trug er einen langen Wettermantel aus glänzendem grauen Stoff, der nicht zu der armseligen Filzmütze und den zerrissenen Pelzstiefeln paßte, die unter dem Mantelsaum zu sehen waren. Sein Begleiter war viel kleiner als er, aber von schwerem kantigen Körperbau. Der Kopf, zu groß für die gedrungene Gestalt, steckte tief und ohne sichtbaren Hals zwischen den hochgezogenen Schultern. Auf dem runden, aber knochigen Gesicht lag ein einfältiges Grinsen. Die Knie waren nach innen gedreht und berührten sich beim Gehen, das rechte Bein schien kürzer als das linke zu sein. Den beiden Gestalten troff das Wasser aus Haaren, Kleidern und von den kleinen Felleisen, die sie auf den Rücken geschnallt hatten; auf ihrem Weg über die Dielen ließen sie eine feuchte Spur zurück. Bei jedem Schritt, den der große Mann tat, war ein leises, aber melodisches Scheppern zu hören, was bei den Gästen in der Taverne ein verwundertes Raunen auslöste. Ihre Neugierde wurde aber bald befriedigt,
denn nachdem die Fremden an einem abseits gelegenen Tisch Platz genommen hatten, zog der Mann unter seinem Umhang ein mit Schellen besetztes Tambourin hervor und legte es behutsam auf den Tisch. Es war ein ungewöhnliches, vermutlich sehr teures Instrument, denn seine hauchdünne Bespannung schillerte in zauberhaften Farben, fast so, wie wenn man Rapsöl auf eine Wasserlache gießt. Die silbernen Schellen zitterten noch lange, nachdem das Tambourin niedergelegt worden war, fast schien es, als würden sie nie zur Ruhe kommen – und während sie vibrierten, hing ein kaum hörbarer, flirrender Ton in der Luft. »Spiel uns was, Fremder!« rief einer der fahrenden Händler, noch ehe das helle Singen verklungen war. »Du bist doch gewiß ein guter Musikant! Wir sind alle ein bißchen müd und matt hier in der Stube, und uns tun vom Laufen die Füße weh. Da käme uns eine fröhliche Musik sehr gelegen.« Der blonde junge Mann schien die freundliche Aufforderung nicht gehört zu haben. Er fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haarsträhnen und schaute an dem Händler vorbei zur Theke. Auch als der Handelsmann ihn ein zweites Mal um Musik bat, beachtete der Fremde ihn nicht. Der Händler zuckte die Achseln und griff nach seinem Krug. Bald wandten sich auch die Gäste wieder anderen Dingen zu.
Ulfas und seine Männer kamen zu dem Thema zurück, das sie vor ein paar Minuten beschäftigt hatte, und redeten nun heftig auf Thornhild ein, um sie zum Kampf Hund gegen Bär zu bewegen. Von allen Seiten bedrängt, gingen der Thorwalerin bald die freundlichen, scherzhaften Ausflüchte aus, und ihre Antworten gerieten zusehends ernster und einsilbiger. Aber weder freundliche noch mürrische Weigerungen vermochten die Fuhrleute von ihrem Vorhaben abzubringen, und so wurde die Stimmung in der Runde zunehmend gereizter. Doch bevor es zu einem echten Streit kam, zog wieder das ungleiche Paar an dem abgelegenen Tisch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Offenbar hatte die Schankmagd Calita sich einen Spaß mit dem einfältigen Tropf gemacht, denn an den Nachbartischen sprang johlendes Lachen auf. Die Gäste schlugen sich auf die Schenkel, als der dumme Kerl mit tapsigen Bewegungen nach Calitas Hintern griff, so wie er es bei den anderen Männern gesehen hatte. Calita schlug ihm die schmale Hand mitten in das große grobschlächtige Gesicht. Als die Gäste in ihrer Nähe lauten Beifall brüllten, lächelte sie verschmitzt und leerte – angefeuert von grölendem Gelächter – einen vollen Bierkrug über dem struppigen Schädel des Mannes aus. Der quietschte mit durchdringend hoher Fistelstimme und fuhr sich linkisch mit den
kurzen dicken Fingern durchs Gesicht. Plötzlich verstummte er, ließ die Hände sinken und sah sich ratlos in der Wirtsstube um. Dann sank ihm das Kinn auf die Brust, seine wulstigen Lippen zuckten, und ein jämmerliches Schluchzen drang aus seinem Mund. »Was hat er denn?« fragte Calita den blonden Mann, der ein Tuch aus seinem Umhang gezogen hatte und fürsorglich das Bier von Gesicht und Haaren seines Begleiters wischte. »So ein bißchen Bier tut doch nicht weh ...« »Gib nicht auf ihn acht«, erwiderte der Fremde. »Er ist ein Dummbeutel ... Das hast du schon richtig erkannt. Gerade gut genug, um einen Spaß mit ihm zu machen, nicht wahr?« »Das kann man sagen«, stimmte Calita ihm fröhlich zu. Sie griff zögernd nach dem Tambourin, nahm es auf und schlug sacht mit dem Daumenballen darauf: Ein zugleich dumpfer und überraschend lauter Klang ließ die Gäste aufblicken. Dazu sirrten glöckchenhell die silbernen Schellen. Die Schankmagd probierte noch ein paar Schläge aus, fand den schleppenden und stetig vorantreibenden Takt eines alten Fuhrmannsliedes. Unwillkürlich zuckten ihre Hüften dazu. Am Tisch der Fuhrleute war der Hundekampf schlagartig in Vergessenheit geraten. Ein wildes Getöse brach aus. Heller und Silbertaler flogen durch die Luft, klimperten rings um Calita auf den Boden.
»Tanz, Calita, tanz!« Die Schankmagd hob das Instrument über den Kopf und schüttelte es wild, daß die Schellen schrillten. Der durchdringende Laut – kein Glöckchenklang, eher schon ein heller, trillernder Schrei – schien Calita wie ein Schauder in den Leib zu fahren. Ihr Körper fing das Sirren der Schellen auf und erbebte in leisen, kaum sichtbaren Wellen. Sie schlug mit dem Handballen auf das Tambourin und klopfte mit den Fingerspitzen den Gegentakt. Gleichzeitig begannen ihre Hüften zu schwingen. Dabei drehte sie sich gemächlich um sich selbst, einen halben Kreis bei jedem Schlag. Aber die Trommel wurde schneller mit jedem Takt, und Calita mußte ihr folgen. Sie schleuderte die Holzschuhe von den Füßen und hob sich auf die Zehen. »Tanz, Calita!« rief es von allen Tischen. »Calita, tanz!« Und die Schläge fielen wiederum schneller, und schneller wirbelten sie die Tänzerin im Kreis herum. Bald flog ihr Körper wie im Rausch, daß ihm die huschenden schmalen Füße kaum folgen konnten. Endlos lange hielt die Trommel den rasenden Takt, bis Calitas Atem in keuchenden Stößen ging und der Schweiß ihr von der Stirne rann. Erst als sie, vom eigenen Schwung fortgerissen, zur Seite stolperte, mit dem Schenkel gegen eine Tischkante prallte und fast
den Halt unter den Füßen verlor, ließ die Trommel Gnade walten. Laut klappernd fiel das Instrument auf die Dielen. Wieder hing der singende Ton der Schellen in der Luft, wurde immer leiser und leiser und wollte doch nicht verstummen. Calita stützte sich schwer auf den Tisch, auf dem der Inhalt zweier umgestoßener Krüge zu einer nach allen Seiten herabtropfenden Lache zusammengeflossen war, und rang hilflos lächelnd nach Luft. Ihr Kopf sank nach vorn, und ihre Knie zitterten. In der Schankstube, in der es für einen Moment andächtig still gewesen war, sprang ein erregtes Gemurmel auf. In dem allgemeinen Stimmengewirr hätte niemand entscheiden können, ob das Flirren der Tambourinschellen ganz von allein wieder lauter geworden war, noch bevor sich Calita nach der Trommel gebückt hatte, oder ob die Schellen erst wieder zu klingen begannen, nachdem die Magd das Tambourin aufgehoben hatte. So konnte man nur beobachten, daß Calita das Instrument plötzlich wieder in der Faust hielt, den Arm in die Luft streckte und die Schellen schüttelte. Wieder schrillte der durchdringende Schrei durch den Raum, trillernd wie der Warn- und Freudenruf der Tulamidinnen, und wieder rieselte ein Beben durch den Frauenleib. Unter dem Leder, das schweißdunkel wie eine zweite Haut auf Calitas Körper klebte, zuckten die fe-
sten Hinterbacken den neuen gemessenen Takt. Dann richtete sich die Tänzerin auf und drehte sich langsam um. Die Gäste stießen aufmunternde Rufe aus: »Tanz, Calita, tanz auf dem Tisch!« Auf ihrem Weg zum Tisch nahm die Tänzerin den schleppenden Takt mit dem Becken auf: Wie ein Pendel schlug es schwungvoll zur Seite aus, während Calita bei jedem Trommelschlag einen kleinen Schritt vorwärtsging. Vor ihr hatten zwei Fuhrleute einen großen Tisch blitzschnell von Krügen und Tellern befreit. Ohne die ausladenden weichen Schwünge ihrer Hüften zu unterbrechen, stieg Calita auf eine Bank und von dort auf den Tisch. »So ist es recht, Calita, und jetzt tanz mit dem Bauch!« Und Calitas Becken zuckte unter dem Lederkleid, jedesmal, wenn es ihr der Schlag auf die Trommel befahl. »Mehr, Calita, zeig, was du kannst!« Das Mädchen schob die Beine auseinander, so daß der enge Rock an den Schenkeln nach oben kroch. Die Hüften stießen kraftvoll und wild, scheinbar erbarmungslos getrieben von den peitschenden Trommelschlägen und dem erregenden hellen Flirren der Schellen. Wie im Fieber fuhr Calitas Hand hinauf in ihr schwarzes Haar, löste es mit raschen Griffen, zitternd glitt es über den sich windenden Leib und über
die wogenden Brüste. Ihre Finger hakten sich in die Schnürriemchen ein, blieben einen Moment lang unschlüssig hängen ... »Tanz, Calita, tanz ohne Hemd!« Ein Fuhrknecht brüllte die Worte mit vor Aufregung heiserer Stimme. Ein paar Männer stimmten ein in den Ruf, und bald dröhnte ein Sprechchor durch die Schankstube, bis die Becher auf den Tischen hüpften. Die Tänzerin spielte noch einen Augenblick lang wie in Gedanken versunken mit den dünnen Riemchen, dann stutzte sie plötzlich. Mit verwirrter Miene sah sie sich in der Stube um. Sie schüttelte den Kopf, lächelte scheu, verbeugte sich nach allen Seiten und sprang leichtfüßig vom Tisch hinunter. Mitten in der Schänke blieb sie stehen und hob verwirrt die linke Hand an den Kopf. »Los doch, los! Tanz weiter!« rief es um sie herum. Calita schüttelte wieder den Kopf. »So habe ich noch nie getanzt«, sagte sie, aufs Geratewohl einen Gast ansprechend, einen der Novadis. »Ich war richtig gut, nicht wahr?« Der braunhäutige Mann schien ihre Sprache zu verstehen, denn er nickte lächelnd, doch Calita achtete nicht mehr auf ihn, sie hatte sich mittlerweile dem Gaukler mit dem Bären zugewandt. »Ich konnte es kaum glauben, daß ich so gut tanzen kann. Ich mochte gar nicht aufhören ... Weißt du was?
Einmal habe ich gedacht, ich könnte gar nicht mehr aufhören ... Ist das nicht seltsam? Ich habe richtig ein bißchen Angst bekommen ... Daß ich tanzen müßte, bis ich tot umfalle!« Sie lachte. »Hier, vor dem Tambourin habe ich auch Angst gehabt.« Um ihre Worte zu unterstreichen, hob sie die Handtrommel und schüttelte sie. Die Schellen schepperten blechern auf und verstummten augenblicklich wieder. Calita schaute verdutzt auf das Instrument in ihrer Hand. Zwei kleine Flämmchen, die während des Tanzes in ihren Augen geflackert hatten, waren plötzlich erloschen. Zwar glänzten ihre dunklen Augen noch immer im Lampenschein, sprachen von Leidenschaft – und einer gewissen Verschlagenheit –, aber der fremde Zauber, der aus ihnen geleuchtet hatte, war verflogen. Calita griff sich ins Haar und warf die langen Strähnen zurück. Sie maß ihre Umgebung mit fragenden Blicken. Enttäuschung trat in ihre Züge, als sie feststellte, daß die Gäste sich nach und nach von ihr ab- und ihren Gesprächen zuwandten. Der Wirt forderte sie mit einem Wink auf, zu ihm an die Theke zu kommen. »Nu tanz doch noch mal!« brüllte eine betrunkene Stimme aus einem entlegenen Winkel der Tanzstube. Noch einmal richteten sich etliche Blicke auf die Magd. »Vielleicht tue ich es später noch einmal!« rief sie lachend zurück und fuhr schnell fort, solange sie
noch die Aufmerksamkeit der Gäste genoß. »Jetzt ist erst einmal unser Märchenprinz an der Reihe.« Leise das Tambourin schlagend und von zahlreichen Augenpaaren verfolgt, trippelte sie zu dem Krüppel und seinem Begleiter hinüber. Der Blonde sah ihr abwartend entgegen. Er streichelte dem tumben Burschen vorsichtig den Handrücken. Der Verwachsene selbst hielt den Kopf tief gesenkt. Ein seltsames Zucken umspielte seine rissigen dicken Lippen, während der Mund leise Laute ausstieß, die man sowohl für ein Keuchen als auch für ein Lachen halten konnte. Als Calita den Tisch der beiden fast erreicht hatte, legte der Krüppel langsam den großen Kopf in den Nacken und hob ebenso langsam die schweren langwimprigen Lider. Seine Augen waren von einem hellen wäßrigen Blau. Sie zuckten unstet, während sie der Magd entgegenblickten, gerade so, als ob sie versuchten, einen feinen trüben Schleier abzustreifen, der über ihnen lag. Für einen kurzen Moment, einen knappen Atemzug, stieg in Calita die Vorstellung auf, die Schleier könnten plötzlich zerreißen, und sie sei diesen Augen schutzlos ausgeliefert. Sie verharrte erschreckt, trat einen halben Schritt zurück, doch sofort hob in der Schänke wieder ein wildes Gebrüll an: »Na los, bring den Jüngling zum Hopsen!« – »Mach zu, Mädchen, zeig's ihm!« – »Calita, laß dich nicht lumpen!« – »Ein Spaß muß her!«
Von den Zurufen angefeuert, setzte sich die Magd wieder in Bewegung, trat unmittelbar vor den Tisch und hielt dem immer noch einfältig grinsenden Burschen den sirrenden Ring vor das große Gesicht. »Los, hoch mit dir! Jetzt wollen wir etwas sehen!« Der Idiot zuckte zurück und hob in nutzloser Abwehr die Hände, als ihm das gespannte Trommelfell immer wieder im Takt auf den Schädel prallte. Die Gäste an den Tischen bogen sich vor Lachen. Zwei, drei Fuhrleute von Ulfas' Tisch sprangen auf und eilten zu Calita hinüber. Mit fester Hand packten sie in das Wams des Narren, rissen ihn hoch, zerrten ihn zu einem freien Platz zwischen den Tischen. Calita griff ihm in den wilden Haarschopf, bog ihm den Kopf nach hinten und hielt ihm einen vollen Bierkrug an die Lippen. Das schäumende Naß floß dem stumpfsinnig Grinsenden über Kinn und Kleider. Die Schankmagd gab ihm einen Stoß vor die Brust, daß er ein paar Schritte rückwärts taumelte, und schlug wieder heftig auf die Trommel. »Los, los, du Göttergleicher! Gib dir ein bißchen Mühe!« »Du Göt-ter-glei-cher ...!« wiederholte Obmann Ulfas brüllend. »Das Weibsstück hat eine flinke Zunge!« Der schlaksige Begleiter des Krüppels war still durch die Reihen geschlüpft und stand nun zwischen Calita und seinem leise in sich hineinbrabbelnden Schützling. »Laßt gut sein!« bat der junge blonde
Mann. »Er fürchtet sich. Merkt Ihr das denn nicht? Er kann ...« Noch bevor der Fremde seinen Satz beenden konnte, schlug ihm Fuhrknecht Jago einen Stuhl über den Kopf. Die lange Gestalt knickte zusammen, fiel vornüber und streckte sich auf dem Boden aus. Der Idiot quiekte schrill auf. Und noch jämmerlichere Töne stieß er aus, als ihm der Fuhrknecht plötzlich ein Messer vor das Gesicht hielt: ein tierhaftes, helles Winseln, das Liska erstaunt hochfahren und sich nach allen Seiten umblicken ließ. »Du fürchtest dich?« verhöhnte Jago den Krüppel mit sorgenvoller Stimme. »Ja, warum tanzt du dann nicht endlich?« Den starren Blick fest auf seinen am Boden liegenden Freund geheftet, begann der Idiot, sich mit zögernd tappsenden Schritten im Kreis zu drehen. Calita schlug ihm das Tambourin auf den Kopf; der Fuhrknecht zielte spielerisch mit dem langen Messer nach seinem Bauch. Der Krüppel stieß eine Reihe winselnder Fisteltöne aus. Plötzlich ließ er sich auf die Knie fallen, griff nach Calitas Hand und zog sie vor seinen Mund. »Bah!« schrie die Schankmagd auf. »Das Tier besabbert mir die Finger!« Der Fuhrknecht hieb dem Krüppel mit der Messerschneide über den Handrücken, so daß in feiner Linie
die Haut aufsprang. »Wenn du die Dame noch einmal berührst, schneide ich dir die Finger ab, du ... du Göttergleicher!« Er sah sich beifallheischend nach Ulfas um – und starrte in die Spitze von Dajins Schwert, die ihm einen knappen Zoll vor der Nasenspitze schwebte. »Versuch es!« sagte der Söldner leise. »Dann schneide ich dir zuerst die Nase und anschließend die Ohren ab.« Wütendes Protestgeschrei sprang in der Schenke auf. Empört forderten die Gäste, daß das spaßige Spielchen weitergehen sollte, aber niemand wagte es, dem Mann mit dem Schwert in den Arm zu fallen. Inzwischen war Thornhild zu ihrem Gefährten hinübergeschlendert. »Es ist genug, Leute!« rief sie, versöhnlich die Hände hebend, in die Runde. »Mein schwarzhaariger Freund ist ein Genießer, und er findet einfach, daß der ... der Göttergleiche ... ein schlechter Tänzer ist ... Er würde uns nicht gut unterhalten.« Derweil hatte sich der Idiot auf dem Boden niedergelassen und über seinen immer noch bewußtlosen Begleiter gebeugt. Leise wimmernd streichelte er ihm mit unbeholfenen dicken Fingern über das Gesicht, ohne auf das Blut zu achten, das ihm vom Handrükken auf das Gesicht des Freundes und auf die Dielen tropfte.
Das Murren in der Schankstube legte sich allmählich. Wenn sich die beiden Mietlinge als Spielverderber aufführen wollten, so mochten sie ihre Gründe haben. Auch lag eine kalte Bestimmtheit in Blick und Haltung des Schwarzhaarigen, eine stille Entschlossenheit, die niemand auf die Probe stellen mochte. Während der Fuhrknecht langsam vor der Schwertklinge zurückwich, sah er sich hilfesuchend zu seinen Gefährten um. Doch die zuckten nur die Achseln. Die Mutigeren unter ihnen waren wohl aufgesprungen, zögerten aber – wie jeder im Raum –, ihrem Gefährten zur Hilfe zu kommen. Endlich dröhnte Ulfas' schwerfällige Baßstimme durch das allgemeine Raunen: »Laß gut sein, Jago! Wenn den feinen Schwertträgern das Spielchen nun einmal nicht gefällt ... Außerdem soll man sowieso keine Krüppel ärgern. Das sage ich dir ...« Dabei zuckte er grinsend ein paar Mal mit seinem Armstumpf auf und ab und erntete beifälliges Gelächter. Während Thornhild und Dajin zu ihrem Tisch zurückkehrten, war der blonde Fremde aufgewacht. Auf seinen tumben Begleiter gestützt, wankte er zu seinem Platz und begann dort die Hand seines Schützlings mit einem schmuddeligen Stoffstreifen zu umwickeln. Die Gäste beobachteten die beiden noch ein paar Augenblicke lang, dann aber, als sich abzeichnete,
daß dieser Tisch wohl keine Zerstreuung mehr böte, setzte wieder ein allgemeines Stimmengewirr ein. Allein, der Klang der Stimmen schien sich verändert zu haben. Das muntere vielfältige Geplapper war einem dumpfen Gebrodel gewichen. Wenn einmal irgendwo ein Lachen aufsprang, dann klang es grell, hämisch und laut. Auch am Tisch der Fuhrleute waren die Gesichter noch immer vor Aufregung gerötet, in den Augen blitzte eine seltsame Gier. Und schon bald kam Fuhrmeister Ulfas mit der Beharrlichkeit eines Betrunkenen auf den Kampf der Tiere zurück. Thornhild atmete tief durch und wehrte den Obmann mit einer spöttischen Bemerkung ab, aber Ulfas gab nicht nach: »Nun los! Oder wollt Ihr uns schon wieder die Stimmung verderben? Heute abend muß unbedingt noch etwas geschehen!« Ringsum brachen die Fuhrleute in Beifall aus: »Genau, jetzt wollen wir noch etwas sehen!« Einer sprang hinüber zu dem Platz, wo der Gaukler mit seinem Bären saß, und verhandelte gestenreich mit dem Mann. Bald kam er mit einem eifrigen Lächeln im Gesicht zurück. »Er ist einverstanden! Verlangt aber zehn Silbertaler. Wir sollen sie im voraus berappen. ›Wenn der Hund nachher hinüber ist‹, meint er, ›dann wollt ihr womöglich nicht mehr zahlen ...‹«
Er hatte seinen Satz kaum beendet, da klimperten auch schon die Taler auf den Tisch. Die Fuhrleute waren prächtiger Stimmung, das Geld flog ihnen lokker aus dem Beutel. Alle riefen durcheinander, schlossen bereits private Wetten ab und forderten auch die anderen Gäste zum Wetten auf. Liska, deren Name ein paarmal gefallen war, zwängte sich unter Tisch und Bank hervor, stieß mit der Nase gegen Thornhilds Knie und wedelte unsicher mit dem Schwanz. Die Thorwalerin kraulte ihr das dichte, von schwarzen und braunen Streifen durchzogene Fell, dabei raunte sie ihr ins Ohr: »Da wird nichts draus. Reg dich nur nicht auf! Ich füttere dich doch nicht sechs Jahre lang, damit ich dich von einem stinkenden Jahrmarktsbären zerfleischen lasse ... Wenn die Burschen sich nur nicht so ereifern würden! Gefällt mir gar nicht, wie sich die Lage entwikkelt ...« Inzwischen hatten die Fuhrknechte im Verein mit ein paar Gästen bereits damit begonnen, in der Mitte des Schankraums einen ›Kampfplatz‹ freizuräumen. Auf der gegenüberliegenden Seite der freien Fläche hatte sich der Gaukler mit dem Tanzbären aufgestellt, den er mit einer kurzen Kette an einem Nasenring führte. Nach einem Ruck an der Kette richtete das Tier sich widerwillig auf und hob die Tatzen vor die Brust. Das schwarze Zottelfell war am Bauch so
schütter, daß die schmutziggraue nackte Haut durchschimmerte. Es mochte jüngere und größere Bären als diesen hier geben, aber immerhin reichte er seinem Herrn bis zur Schulter und war gewiß mehr als dreimal so schwer wie die Hündin. Trotzdem zog Liska die Nase kraus und entblößte das Gebiß. Sie war zum Angriff bereit, aber Thornhild packte sie im Nackenfell und stieß sie zurück unter den Tisch. »Keinen Mucks!« zischte sie ihr zu. »Du bleibst, wo du bist!« »Was soll das heißen?« fragte Ulfas mit rotem Gesicht. »Wollt Ihr uns tatsächlich ein zweites Mal den Spaß verderben? Treibt es nicht zu bunt!« »Oh, wie schade!« rief eine schwarzhaarige Händlerin von einem Nebentisch. »Ich hatte mich schon so auf den Kampf gefreut ...« »Ihr habt die weitgereiste Frau gehört, schönste Thornhild! Wie steht's? Und vergeßt nicht, daß Ihr bei mir im Solde seid!« Ulfas hatte gelächelt, während er sprach, aber seine Handknöchel waren weiß hervorgetreten, und die Gabel in der riesigen Faust krümmte sich zusammen, als wäre sie aus Blei. Dajin stand auf, stieg rückwärts über die Bank und trat ein paar Schritte zur Seite. »So gebt doch Ruhe«, sagte Thornhild freundlich, aber mit gepreßter Stimme, »wir sollten uns lieber schlafen legen. Morgen müssen wir zeitig auf.«
Auf Ulfas Stirn stand eine dicke rote Ader, die Brauen trafen sich über der Nasenwurzel, nur von einer steilen Falte getrennt. »Ihr seid nicht mehr meine Freundin!« Thornhild zuckte die Achseln. Ulfas fuhr hoch, prallte aber mit den Oberschenkeln gegen die Tischkante, so daß er auf die Bank zurückgeworfen wurde. Da stieß er mit einem Wutschrei den Tisch von sich, der vornüberkippte. Krüge, Becher, Teller und Schüsseln zersprangen auf dem Boden in hüpfende Scherben. Liska setzte erschreckt über die Barriere hinweg, warf sich herum und begann aufgeregt zu bellen, dumpf orgelnd, aus tiefster Brust. Der einarmige Obmann stand breitbeinig vor seiner Bank, sein Gesicht hatte sich sichtlich gerötet, auf der Stirn und der Nasenspitze blinkten einzelne Schweißtropfen. Die haarige Faust klammerte sich um den Knauf des breiten Dolches, der in seinem Gürtel steckte. Er sprach langsam, jedes Wort sorgfältig betonend: »Wer nicht mein Freund ist, ist mein Feind, du Tochter einer Orkhure!« Auch Thornhild war aufgesprungen. Während sie sich mit dem Ärmel ein paar Essensreste von den Schenkeln wischte, sagte sie ruhig und ohne den Obmann anzublicken: »Laßt meine Mutter aus dem Spiel, das rate ich Euch!«
»Laßt meine Mutter aus dem Spiel«, äffte eine Frauenstimme die Thorwalerin nach. »Bei allen Zwölfen, ist das ein feiges Stück! Du solltest meine Zofe sein, Lange! Ich würde dich das Fürchten lehren! Ich würde dich jeden Abend ...« Der Rest ihrer Worte ging in Hohnrufen und Gelächter unter. Thornhild warf der Sprecherin einen raschen Blick zu. »Blut wird fließen, Frau!« murmelte sie. »Da sei unbesorgt. Sieh nur zu, daß das deine nicht darunter ist.« »Hä?« rief die Frau. »Ich habe von deinem Gewimmer keinen Mucks verstanden. Waren wohl deine letzten Worte, hm, bevor der Einarmige dich zu Boron schickt.« Wieder erntete sie zustimmendes Lachen. Unterdessen hatte Ulfas langsam den Dolch aus dem Gürtel gezogen. Scheinbar gedankenverloren betrachtete er die blinkende, mehr als einen Fuß lange Klinge. Während dessen war ständig Liskas aufgeregt gurgelndes Gebell zu hören. Als Ulfas sich in Bewegung setzte, seitwärts schreitend, um die aufrechtstehende Tischplatte herum, verstellte ihm Liska den Weg, bellend und wedelnd zugleich: Ulfas hatte ihr manchen Bissen zugesteckt, war also ein Freund, aber jetzt hatte er mit der geliebten Thornhild hitzige Blikke gewechselt, griff sie womöglich an, war also doch ein Feind ...?
Ulfas trat mit dem Fuß nach der Hündin; die sprang behende zurück, und ihr Bellen bekam einen wilderen Klang. »Ruf den Köter zurück! Oder er kriegt mein Messer in den Balg!« Ringsumher scharrten Stühle, polterten Tische, Menschen drängten dichter heran. Thornhild schob sich zwischen Liska und den Fuhrmann. Dabei ließ sie keinen Blick von dem schweren Dolch ihres Gegenübers. Ihre Rechte tastete über den Schwertknauf, legte sich dann aber auf das Gürtelschloß. Die Finger trommelten nervös auf der runden, mit einem blasenden Walfisch verzierten Schließe. »Meister Ulfas, so nehmt doch Vernunft an ...«, drängte sie mit einer Stimme, die vor Bangigkeit zu vibrieren schien. Gleichzeitig wechselte sie einen flüchtigen Blick mit ihrem schwarzhaarigen Gefährten. Dajin gab ihr mit einem raschen Lidschlag zu verstehen, daß er das geheime Zeichen – das Fingerspiel am Gürtelschloß – wahrgenommen hatte. »Was denn ...?« polterte Ulfas. »Was sagt sie da: Ich hätte keine Vernunft? Wie redest du mit mir, du Tochter einer ... einer ...« Ulfas dachte einen Augenblick nach, dann grinste er triumphierend, »... läufigen Warzensau, die es für Geld mit Orken treibt!« »Ich kämpfe nicht gegen Krüppel.« Mit diesem lässig hingeworfenen Satz wandte Thornhild dem
Fuhrmeister den Rücken zu und tat einen Schritt nach vorn, gerade so, als ob sie den sprachlosen Ulfas einfach stehenlassen wolle. Doch da kam ihr Dajins Schwert, mit dem Heft voran, entgegengeflogen. Die Thorwalerin ergriff es mit beiden Händen. Sie fuhr herum, die Klinge beschrieb einen blitzenden Kreis in der Luft, ehe sie mit der Breitseite auf die Schulter des blindlings vorstürmenden Fuhrmeisters prallte. Der Hieb hob den Einarmigen von den Beinen und schleuderte ihn quer über einen Nebentisch, der krachend mit ihm zu Boden ging. Bei seinem Sturz hatte Ulfas die schwarzhaarige Händlerin mitgerissen. Der gurgelnde, brüllende Fuhrmeister und die gellend schreiende Frau wälzten sich in einer Lache aus Scherben, Essensresten und Bier. Liska tanzte wie rasend um sie herum. Sie war jetzt so aufgeregt, daß ihre Stimme sich mehrmals überschlug und sich in ihr dumpfes Gebell die gurgelnden Laute eines Erstikkenden mischten. Thornhild hatte die allgemeine Verwirrung genutzt, um das Schwert zu Dajin zurückzuwerfen und ihre eigene Klinge zu ziehen. Jetzt stand sie Rücken an Rücken mit ihrem Gefährten. Beide hatten ihre Klingen halb erhoben und musterten ihre Umgebung mit ernsten, aufmerksamen Mienen. Ulfas zog sich an der Wand hoch und drehte sich schweratmend um. In seiner Faust steckte noch im-
mer der lange schwere Dolch. Sein Gesicht hatte jetzt eine tiefrote Farbe angenommen, nur auf den Wangenknochen standen unregelmäßige weiße Flecken. Ein dünner Blutfaden sickerte ihm aus der Nase in das schwarze Bartgestrüpp. Sein Blick wanderte über die beiden Söldner und den Ring der Fuhrleute, die unschlüssig auf ihren Obmann starrten. »Worauf wartet ihr noch? Besorgt es ihnen! Wir sind zehn gegen zwei!« Einige Fuhrknechte zerschlugen Stühle auf dem Boden und bewaffneten sich mit den abgebrochenen Beinen, andere zogen Dolche oder Messer aus den Gürteln. Zwei weitere rannten auf einen Wink ihres Obmanns in den Regen hinaus, wohl um aus dem Stall noch ein paar Kumpane zu holen. Überall in der Schankstube waren die Gäste aufgesprungen. Teils kletterten sie auf die Tische, teils schoben sie sich vorsichtig näher an das Geschehen heran. Liskas zorniges Bellen war das einzige Geräusch in der geräumigen Stube. Als die Hündin plötzlich verstummte, legte sich ein unwirkliches Schweigen über den Kreis, der sich um die beiden Söldner gebildet hatte. Eine helle Kinderstimme plapperte los und brach plötzlich ab. Die atemlose Stille dauerte viele Herzschläge lang. Niemand führte den ersten Schlag. Einer der Fuhrknechte trat – in fast verlegener Ge-
ste – von einem Fuß auf den anderen. Ein Dielenbrett knarrte laut. Liska zuckte zusammen, fuhr herum und flog durch die Luft. Ihr Sprung hatte dem Hals des Fuhrmanns gegolten, war aber ein wenig zu hoch angesetzt. Der weit aufgerissene Rachen traf den Mann im Gesicht; die Fangzähne zerfetzten ihm die bärtigen Wangen. Er heulte auf vor Schmerz und Verzweiflung. In der Schankstube brach ein mörderisches Chaos aus. Stuhlbeine und Bierkrüge prasselten als Wurfgeschosse auf Dajin und Thornhild nieder. Fuhrknechte, Händler, Gaukler und Bauersleute hatten sich zu einer brüllenden, geifernden Masse vereint und drängten von allen Seiten heran. Die mit sicherer Hand geführten Schwerter hielten blutige Ernte, schnitten durch Tuch und Leder, durch Haut und Fleisch. Schmerzensschreie und Flüche schallten durch den Raum. Hier und da versuchte ein Verwundeter, nach rückwärts zu flüchten. Aber wer immer von hinten an den Kreis der Kämpfenden drängte, nahm nicht wahr, was mit den vorn Stehenden geschah, sah nicht, wie der eine oder andere Fuhrknecht förmlich in Dajins und Thornhilds Klingen gestoßen wurde. Und auch aus der zweiten Reihe konnte man, über
die Köpfe der anderen hinweg, wilde Schläge gegen die verhaßten Söldner austeilen. So gewandt sie auch den engen Raum, der ihnen geblieben war, nutzen mochten, diesem Hagel von blindlings geführten Schlägen und Stößen konnten Dajin und Thornhild nicht entkommen. Allzubald war Thornhilds rechtes Auge von einer Schwellung geschlossen, in das linke rieselte warmes Blut. Ihr rechtes Bein war fast taub. Auch hatte sie inzwischen Mühe, den schmerzenden Schwertarm zu heben. Irgendwann hörte sie einen dumpfen Sturz und begriff, daß Dajin zu Boden gegangen war. Halbblind sah sie sich nach ihrem Gefährten um. Etwas Schweres sauste ihr am Ohr vorbei, traf ihre Hand, schlug ihr das Schwert aus der Faust. Für einen Moment verlor sie die Besinnung, als die vielen Hände gleichzeitig nach ihr griffen, an ihren Kleidern und ihrem Zopf zerrten, aber als sie Augenblicke später wieder zu sich kam, stand sie noch immer auf den Füßen. Mehrere Männer hielten Thornhilds Arme fest. Ulfas hatte sich vor ihr aufgebaut, den langen Dolch in der Faust. »Weißt du, was ich jetz tue?« lallte er. »Jetz mach ich dich tot! Jawohl ... Aber nich schnell, sonnern langsam, Stück für Stück ... Damit die lieben Leut hier endlich an ihr Vergnügen kommen, verstehste?« Grinsend hielt er Thornhild die Dolchspitze gegen
das Nasenloch. »Riech schon mal daran. Als erstes steche ich dir das Ding in den Bauch ... Wollen doch einmal sehen, was in dir steckt.« Ulfas lachte glucksend und sah sich in der Runde um. »Was in ihr steckt, versteht ihr ...? Das ist ein Scherz!« Schwankend wandte er sich wieder Thornhild zu. »Und wenn ich mit dir fertig bin, kommt dein Freund an die Reihe, der hat mich sowieso geekelt, der hat so was Krankes im Gesicht ... Aber jetz merk auf, du Ogerin! Jetz kriegst du's in den Wanst! Und ich schwör dir bei allen Zwölfen, zwei Fingerbreit von dem guten Stück« – er hob den Dolch – »werden hinten Widder zum Vorschein kommen!« Ulfas trat einen Schritt zurück, ballte die Faust um den Dolchgriff und holte weit aus, aber der Arm stieß nicht wieder vor, sondern verharrte in der Luft, wie von einer unsichtbaren Faust umklammert. Die Kinnlade klappte ihm herunter. Er riß die Augen auf, weiter und immer weiter, als wollten ihm die Äpfel aus den Höhlen springen. Das feine Singen der Tambourinschellen schwang in der Luft. Für einen kurzen Augenblick neigte Ulfas den Kopf zur Seite, als ob er lauschen wolle, dann knickten ihm die Knie ein. Ohne daß ein Laut aus seinem offenen Mund drang, kippte er nach hinten. Steif und schwer krachte er auf die Dielen, gleich einem gefällten Baum. Immer noch war das seltsame
Sirren zu hören. Hier und da fuhren sich die Gäste mit den Händen über die Gesichter, auf denen sie ein kühles Prickeln fühlten. Nach und nach öffnete sich eine Gasse in dem Menschenkreis. Einer nach dem anderen wandten sich Fuhrknechte, Händler und Gaukler den zwei Männern zu, die einige Schritte entfernt bei den Fenstern standen. Der eine war der schlaksige Blonde, der Begleiter des blödsinnigen Krüppels, und der andere ... Ja, es brauchte eine Weile, bis sie in dem streng blickenden, hochaufgerichteten Mann den sabbernden Idioten wiedererkannten. Seine hellen Augen leuchteten, als ob ein einzelner Sonnenstrahl sie träfe. In der linken Hand hielt er das Tambourin, brachte es mit kaum merklicher Bewegung zum Singen. Die Rechte deutete jetzt mit herrischer Geste auf einen Fuhrmann, der sich fast im selben Augenblick gurgelnd an die Kehle griff und nach zwei taumelnden Schritten bäuchlings über einen Tisch stürzte. Das Tambourin sirrte noch immer. Der Mann drehte langsam den Kopf, seine saphirnen Augen schienen ein neues Ziel zu suchen. Eine Bäuerin schrie laut auf, packte ihr Kind, hastete zur Tür und hinaus ins Freie, wo noch immer der Regen rauschte. Einen Wimpernschlag später ging ein Ruck durch die Menge. Alles war plötzlich in Be-
wegung, polterte über Tische und Bänke, stieß und zwängte sich durch Vorder- und Hintertür, brach die Fenster klirrend aus dem Rahmen und stob hinaus in die grauen Regenschwaden. Dann legte sich Stille über die Schankstube. Nur ein paar Verwundete stöhnten leise. Während eine Handvoll Fuhrleute stumm zuerst ihren toten Obmann und dann zwei erschlagene Gefährten nach draußen schleifte, machten sich der Wirt und die Magd Calita daran, die Trümmer der Schenkeneinrichtung auf einem Haufen zusammenzutragen. Dabei warfen sie Thornhild und den drei Männern verstohlene Blicke zu, senkten aber sofort die Köpfe, wenn sie sich von jenen beobachtet fühlten. Die Thorwalerin hatte Dajin von seinem Wams befreit und eine häßliche klaffende Wunde in seinem Rücken verbunden. Aber sie hatte ihn nicht aus seiner Bewußtlosigkeit erwecken können und wartete nun darauf, daß die Lebensgeister endlich in ihn zurückkehrten. Eben tätschelte sie Liska den Kopf, die ihr dankbar die Finger leckte. Eine Pfote war gebrochen, ein paar Rippen sicher auch – aber alles in allem war nichts geschehen, was eine zähe Bornländerin nicht überwinden würde. Der blonde junge Mann wischte seinem Seite an Seite mit Dajin am Boden liegenden Gefährten zärt-
lich ein paar dicke Schweißtropfen von der Stirn und rückte die Deckenrolle zurecht, die er ihm unter den Nacken geschoben hatte. »Die Verwandlungen erschöpfen Adran sehr«, erklärte er aufblickend, »und seine Magie ist auch nicht von der leichten Art ...« »Wie lange wird er noch so bleiben?« fragte Thornhild, »so ... klar, meine ich.« »Nicht lange, ein paar Minuten vielleicht ...« »Hört er mich jetzt?« »Gewiß. Er hört und sieht viel – auch dann, wenn er ... anders ist.« Die Thorwalerin legte dem Ruhenden die Hand auf die Schulter. »Adran, ich schulde dir drei Leben. Wie man für ein solches Geschenk dankt, weiß ich nicht.« Adran schlug die Augen auf. Seine aufgesprungenen dicken Lippen verzogen sich zu einem matten Lächeln, öffneten sich zum Sprechen, doch nur ein mattes Hüsteln drang zwischen ihnen hindurch. »Er ist zu schwach zum Reden«, erklärte der Blonde, »aber ich denke, er wollte dir sagen, daß alles in Ordnung und ausgeglichen ist: Ihr habt ihm geholfen – er hat euch geholfen ... Nun setz dich hierher auf den Boden! Ich will mir einmal ansehen, was du abbekommen hast.« Widerwillig ließ sich die riesige Thorwalerin auf den Dielenbrettern nieder, streifte die pelzbesetzte Lederweste ab und beobachtete mit gerunzelter Stirn,
wie der Blonde mit kundigen Fingern ihren Oberkörper abtastete, hier und da behutsam drückte, zufrieden mit dem Kopf nickte und schließlich aus einem Tiegelchen eine kühle Salbe auf ein paar blutige Schrammen strich. »Wie heißt du eigentlich?« fragte sie. »Farmion«, antwortete er, »das ist ein Elfenname, dabei fließt gewiß kein Elfenblut durch meine Adern. Die Zwölfe mögen wissen, warum meine Mutter mich so nannte. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Adran und ich wuchsen bei einer guten Frau in den nostrischen Wäldern auf. Sie hat nicht viel gehabt von ihrer Güte. Die Orks haben sie niedergemacht, als Adran acht Jahre alt war und ich zehn. Seither sind wir allein unterwegs ...« Er stand auf, beugte sich über Thornhilds Kopf und zerteilte mit den Fingerspitzen vorsichtig ihr blutverkrustetes Haar. »Du hast großes Glück gehabt: Hier ist ein böses Loch, aber der Schädel ist wohl heilgeblieben und dein Körper mit ein paar Schnitten und Prellungen davongekommen ...« »Seid ihr Brüder?« fragte Thornhild dazwischen, »Adran und du?« »Halbbrüder«, erwiderte Farmion. »Wir haben zwei verschiedene Mütter. Unser Vater hat uns von ihnen erzählt, wenn er uns mal besuchen kam. Die meine war eine Schauspielerin aus Vinsalt, und
Adrans Mutter haust auf der Insel Skerdu – unter Satuarias Töchtern ist sie hochberühmt.« »Doch nicht etwa Tula ...?« Farmion nickte. »Wahrhaftig Tula von Skerdu?« Thornhild hob überrascht die Brauen. »Du kennst sie?« »Nein, ich kenne sie nicht, aber ich habe von ihr gehört, vielerlei Dinge ...« »Nicht nur gute, nicht wahr?« Thornhild hob die Schultern und antwortete nicht. »Sie ist gewiß kein guter Mensch«, sagte Farmion ernst. »Wir glauben, sie ist schuld daran, daß Adran so ist, wie er ist. Sie hat irgend etwas mit ihm angestellt, und sie hat ihn verstoßen, als er nicht nach ihrem Wunsch geriet. Hat ihn meinem Vater in den Arm geworfen und beide davongejagt ... Auch sie hat uns später in Nostria noch einmal besucht – ein einziges Mal. Adran war damals sechs Jahre alt. Sie hat ihn nur lange angeblickt und ist wieder fortgegangen. Das Tambourin hat sie ihm geschenkt.« Er griff nach dem Instrument, das neben ihm auf den Dielen lag, und hielt es Thornhild hin. »Nimm es nur in die Hand. Es ist gewiß verzaubert, aber es wird dir nichts Böses tun.« Die Thorwalerin griff nach dem Reif; die Schellen sangen, kaum daß sie ihn berührt hatte. Adran seufz-
te leise und lächelte. Thornhild musterte eingehend das schillernde Fell und den makellosen Silberglanz der Schellen. Sie entdeckte ein schmales Band aus fremdartigen Schriftzeichen, die am unteren Rand in das dunkle Holz des Ringes geprägt waren. »Wir wissen nicht, was die Zeichen bedeuten«, erklärte Farmion, der ihren Blick bemerkt hatte. »Wir wissen nur, daß die Trommel alt ist, uralt und sehr mächtig. Nie gäben wir sie in die Hände eines Magiers oder Priesters, damit der sie uns stiehlt, anstatt sie zu erklären ... Außerdem weiß Adran mit ihr umzugehen – wenn er wirklich Adran ist, meine ich.« Unwillkürlich hatte Thornhild zu dem Ruhenden hinübergeschaut. Sie begegnete seinem klaren Blick. Seine wulstigen Lippen bewegten sich, und er sagte so leise, daß die Thorwalerin ihn gerade noch verstehen konnte: »Ich bin wie zwei Schlangen, die in einem Korb gehalten werden – welche herauskommt, wenn das Leben draußen die Flöte spielt, hängt ganz von der Melodie ab ...« Er kicherte, geriet ins Husten und fuhr plötzlich mit den breiten Händen heftig über die Dielenbretter. Sein Kopf schlug hin und her. Farmion huschte zu ihm hinüber und umfaßte das plötzlich schmerzverzerrte Gesicht mit beiden Händen, drückte den schweren Kopf sanft hinab auf die Deckenrolle. Dann stöhnte er leise auf und beobachtete mit trauriger Miene, wie allmählich eine bedrük-
kende Stumpfheit in den Blick des Krüppels trat, gerade so, als zöge ein Wolkenschleier über seine Augen. »Nun ist er wieder fort«, sagte Farmion, während er sich mit dem Handrücken die brennenden Augen rieb, »und ich muß auf ihn warten.« Thornhild nickte stumm. Sie fand nie leicht tröstende Worte, und Farmion schien auch keinen Trost zu erwarten. Er war schon auf den Knien über die Dielen gerutscht, um sich dem immer noch reglos liegenden Dajin zuzuwenden. Neben dem Bewußtlosen fand er einen blinkenden Heller auf dem Boden. Er hob das Geldstück auf und warf es der Thorwalerin zu. »Mir scheint, Thornhild, ihr habt nun keinen Sold mehr zu erwarten«, sagte er lächelnd. »Wie wär's, wenn wir ein Stück gemeinsam reisen? In meinem Bruder habt ihr einen mächtigen Freund gewonnen. Adran hat nicht viele Freunde.« Erstmals (in verkürzter Fassung) erschienen in: ›Mond über Phexcaer‹, Fantasy Productions, Erkrath, 1990
INA KRAMER
DIE FREIFRAU UND DER ZAUBERLEHRLING
Es war an einem Windstag, als ich sie zum ersten Mal sah. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich am Windstag immer reinemachen muß: die Pergamente und Bücher ordnen und vom Staub befreien, die Tiegel, Fläschchen und Phiolen säubern und in die Regale räumen und vor allem – die Böden scheuern. Oh, wie ich diese Arbeit hasse! Ja bin ich denn sein Sklave? Daß ich für ihn kochen und ihm aufwarten muß, nun gut, das mag angehen, daß ich seine Notizen ins reine schreiben und seine Folianten kopieren muß, auch darüber will ich mich nicht beklagen – man lernt ja etwas dabei, und viel Lehrgeld konnten die guten Eltern nicht bezahlen. Aber auf den Knien durch die Stube rutschen und mit Scheuerlappen und Wurzelbürste die Dielenbretter schrubben – das ist demütigend und unziemlich für einen Studiosus von siebzehn Jahren. Es schwächt auch meine geistigen Kräfte, glaube ich, und daß ich den Reversalis immer noch nicht vollkommen beherrsche, liegt gewiß an der groben und unwürdigen Arbeit. Doch wo war ich stehengeblieben? Ach ja, bei ihr, oder, um genau zu sein, bei den entzückenden kleinen Abdrücken ihrer nicht minder entzückenden roten Stiefelchen auf den feuchten Dielenbrettern, denn das war zunächst alles, was ich von ihr sah. Und das kam so: Als es an der Haustür klopfte, erklang nicht das übliche: »Abelmir, sieh einmal nach, wer Einlaß
begehrt!«, sondern ein völlig ungewohntes: »Abelmir, bemüh dich nicht – ich öffne schon selbst«, und das gab mir Gelegenheit, mich rasch hinter dem Tisch zu verbergen. Denn daß ein Gast oder Kunde des Meisters – das sind ja zumeist vornehme Herrschaften oder gelehrte Magister und Magisterinnen – mich in der Schürze sehen sollte, wäre mir doch recht peinlich gewesen. Warum hat er keinen Hausknecht, oder besser noch: eine Zugehfrau? Das ist doch üblich in Häusern wie dem unseren – so eine hübsche, junge mit hoher Brust und roten Apfelbäckchen, gesund und flink und nicht zu spröde. Doch auf diesem Ohr ist er taub, und wenn ich gelegentlich das Gespräch darauf bringe, bekomme ich immer wieder dieselbe Predigt zu hören: Daß die weibliche Aura die Entwicklung meiner arkanen Kräfte hemmen würde, daß für einen angehenden Gelehrten die zu intensive Beschäftigung mit dem anderen Geschlecht weder in ratione noch in usu förderlich, daß es hingegen von allerhöchstem Nutzen sei, nicht nur den Geist, sondern auch den Körper zu stählen (damit meint er Holzhakken) und Kenntnisse in den praktischen Dingen des Lebens zu erwerben ... Ich höre schon gar nicht mehr hin, auch kann ich kaum glauben, daß das Weibliche einen schlechten Einfluß auf die astralen Kräfte haben soll, es steht in keinem seiner Bücher geschrieben, die ich bisher gelesen habe, und in den sechs Jahren, die
ich nun bei ihm studiere, habe ich so einige gelesen. Wie sollte es auch angehen, wo doch der mächtigste Magier der Welt eine Frau ist, so mächtig, daß sie den guten Meister Xerber gewiß ohne große Mühe in einen Fliegenpilz verwandeln könnte – und Meister Xerber versteht sein Handwerk, das muß man ihm lassen. Wahrscheinlich will er nur deshalb keine Frau im Hause, weil er befürchtet, daß ich dann nicht mehr so emsig wäre in allen Dingen. Aber ich bin sicher, ich könnte mich viel besser in meine Studien versenken, wenn ich nicht soviel an die Frauen denken müßte, und wenn ich öfter eine sehen würde, müßte ich nicht soviel an sie denken. Vielleicht wäre dann auch alles anders gekommen. Es klopfte also, und das riß mich aus meinem Grübeln. Ich hatte gerade über einen neuartigen Zauber nachgedacht, mit dem ich dermaleinst die wissenschaftliche Welt zu verblüffen gedenke – Meister Xerber ahnt nichts von meinen geheimen Studien. Über die arkane Struktur bin ich mir bereits im klaren, nur bleibt noch zu erforschen, in welchem Verhältnis die Kräfte aufeinander einwirken müssen, damit die gebundene Magie freigesetzt und in Energie umgewandelt wird. Auch sollte gewährleistet sein, daß bei einem Mißlingen des Zaubers, durch Überschwemmung zum Beispiel, kein Schaden entsteht, und der Einsatz an astraler Energie dürfte nicht
zu hoch sein. Ja, daran muß ich noch arbeiten. Aber die Formel steht schon lange: Katharsili Seifenkraft – Sauberkeit im Hause schafft. Doch ich irre ab, und nach Abirren war mir damals wahrlich nicht zumute. Im Gegenteil: Nachdem der Meister beschwingten Schrittes den Raum durchmessen hatte, um höchstpersönlich die Tür zu öffnen, wobei sein seidener Hausmantel gehörig rauschte, hörte ich seine sonore Stimme sagen: »Seid mir willkommen, verehrte Freifrau, welchen Glanz bringt Ihr mit Eurem Liebreiz in mein bescheidenes Domizil.« Eine Frau also, eine Edelfrau, dachte ich in meinem Versteck. Zwar begrüßt er mit solchen oder ähnlichen Worten fast alle weiblichen Gäste, sofern sie unter Hundert sind, aber irgend etwas war anders als sonst: Seine Rede klang aufrichtig. Und in der Tat, als sie dann antwortete: »Oh, Meister Xerber, wie bin ich froh und wie muß ich Euch danken, daß Ihr mir ein wenig von Eurer kostbaren Zeit opfern wollt«, mit einer Stimme, so süß und girrend, und zugleich ein wenig scheu und atemlos, da wußte ich: Sie muß eine veritable Schönheit sein. Vorsichtig lüpfte ich die Tischdecke ein wenig und kam so in den Genuß des Anblicks ihrer reizenden Stiefelchen, die nun neben des Meisters tulamidischen Pantoffeln mit festen kleinen Schritten zur Studierstube strebten. Wie mögen wohl die Füßchen beschaffen sein, die
in diesen Stiefeln stecken, ging es mir durch den Kopf, und die Beine erst? Höher hinauf wagte ich gar nicht zu denken. Doch höher hinauf lüpfte ich das Tischtuch, und – ein jäher Schmerz riß mich aus meiner Träumerei; die Tischkante hatte sich in meinen Scheitel gebohrt. Damals und auch heute noch bin ich überzeugt, daß Meister Xerber dahintersteckte; es war schließlich nicht das erste Mal, daß mir so etwas widerfuhr – und immer dann geschieht es, wenn ich mich heftiger (als dem Meister lieb ist) mit dem Weiblichen befasse. Einmal zum Beispiel, als ich mich darin versuchte, das Abbild einer schönen unbekleideten Dame aufs Pergament zu bannen, verwandelte sich die Zeichnung unter meinen Händen in das Bildnis eines mißgestalteten Dämons mit scheelem Blick und hängenden Zitzen. Ein andermal – die junge Dorlin aus dem Dorf hatte uns gerade Eier und Käse gebracht, und aus Dankbarkeit und Zuneigung legte ich ihr den Arm um die Hüfte und wollte sie gerade auf den Hals küssen – verwandelte sich das liebe Mädchen plötzlich in eine geifernde Furie, gab mir abscheuliche Namen und schlug mich auf die Wange. Ach, die Liste ließe sich endlos fortsetzen ... Aber ich hatte ihre göttlichen Beine gesehen – die der Freifrau meine ich –, das hatte er nicht verhindern können, und ihre göttlichen Hinterbacken auch. Zwar steckten die Beine in einer Hülle aus blaßblauem
Samt, aber die Beinkleider waren so knapp geschnitten, daß sie die Rundung der Schenkel und die wonnigen Wölbungen darüber umspannten wie eine zweite Haut. Ja, göttlich konnte man ihr Hinterteil mit Fug und Recht nennen, denn ganz gewiß hatte die göttliche Rahja es mit eigenen Händen geformt, so wohl war es geraten: Nach oben, zur Leibesmitte hin, verjüngte es sich zierlich, wohingegen es nach unten breiter und ausladend wurde, aber nicht zu sehr, sondern gerade so, daß es in seiner Form ganz und gar einer unserer köstlichen Eslamsroder Saftbirnen glich. Nur einen Wimpernschlag lang hatte ich dies Bild vor Augen, aber er genügte, um es für alle Zeiten in meine Seele zu meißeln. Wie soll ich es nur anstellen, daß ich auch ihre Vorderseite zu Gesicht bekomme? fragte ich mich, während ich mir den schmerzenden Schädel rieb. Ihr Antlitz mußte über alle Maßen liebreizend sein, und doch konnte ich es mir nicht im entferntesten vorstellen. Für alle Fälle zog ich die Schürze aus, strich mir die Haare glatt und räumte Besen und Wassereimer fort, obwohl ich noch gar nicht fertig war mit Putzen. Dann schlich ich zur Studierstube und legte das Ohr an die Tür. Die Schleicherei ist eine kindische Angewohnheit und nutzlos in jeder Hinsicht. Vielleicht kann der Meister durch verschlossene Türen sehen –
ich bin mir recht sicher, daß er den Penetrizzel beherrscht, aber das meine ich nicht, er wird ja nicht seine astralen Kräfte aufzehren, nur um mich ständig im Auge zu behalten –, dann weiß er ohnehin, was ich treibe, ob ich nun schleiche oder nicht. Doch wenn er es nicht kann, dann hört er meine Schritte draußen genausowenig wie ich die seinen drinnen, denn die Tür ist aus dickem Eichenholz und innen mit samtüberzogenem Bausch gepolstert. Und dennoch kann ich es mir nicht abgewöhnen, genausowenig wie das Lauschen, das doch noch niemals zu etwas geführt hat. Ich beherrsche den Penetrizzel übrigens nicht, sonst hätte ich damals mit Freuden all meine Energie dafür aufgewandt, einen Blick in die Studierstube tun zu können. Ein sinnloses Opfer, wie sich kurz darauf herausstellen sollte. Ich glaubte, die süße Stimme hätte gerade etwas wie Schlaftrunk gelispelt – es ist völlig unmöglich, irgend ein Wort zu verstehen, wenn die Tür geschlossen ist, aber ich stellte mir vor, die allerliebste Freifrau litte an einer nervösen, nicht gerade gefährlichen, aber doch widrigen und der Behandlung bedürftigen Unpäßlichkeit wie Schlaflosigkeit oder an schlimmen Träumen, und dies sei der Grund ihres Besuches, denn viel öfter wird der Meister seiner Tränke und Mixturen wegen aufgesucht, als daß man in arkanen Dingen seinen Rat oder seine Tatkraft er-
bittet, die zu bezahlen ohnehin nur wenigen möglich ist –, da erscholl der Gong, mit dem er mich zu rufen pflegt. Plötzlich begann mein Herz so heftig zu schlagen, daß ich meinte, man müßte es unter der Joppe pochen sehen, und mein Mund wurde unvermittelt so trocken und die Zunge so pelzig, daß ich sicher war, ich würde kein Wort herausbringen können. Auch fühlte ich Hitze in mein Haupt wallen, wohingegen die Hände ganz klamm und fühllos zu werden begannen. Ich wartete ein Weilchen, daß es vorüberginge (was es nicht tat), und auch um den Anschein zu erwekken, ich befände mich in größerer Entfernung zur Tür, dann drückte ich entschlossen die Klinke, öffnete die Tür und heftete meinen Blick starr auf die Stelle, wo ich den Meister vermutete. Und richtig, da saß er in seinem Ohrensessel und war ganz offensichtlich blendender Laune. Meister Xerber ist ein schöner Mann, das muß an dieser Stelle gesagt werden. Sein Alter kenne ich nicht – es ist auch schwer zu schätzen –, aber er dürfte die Vierzig bereits überschritten haben. Obwohl – kein silbernes Fädchen durchzieht das rabenschwarze Haar, auch nicht den sorgfältig, aber etwas kantig gestutzten schwarzen Bart, und in den Winkeln seiner hellgrauen Augen, über denen sich schwungvoll die
schwarzen Brauen wölben, sind nur ganz feine Linien zu erkennen. Vielleicht ist er auch erst in den Dreißigern, aber das glaube ich nicht. Wahrscheinlich ist er schon über Achtzig und erhält sich nur mit Hilfe seiner Tinkturen und seiner Magie dies jugendliche Aussehen. Mich lehrt er ja den grauen Weg, aber ob er ihn selbst beschreitet ...? Was seine Statur betrifft, so ist er nicht eben groß, aber von schlankem Wuchs und geschmeidig und elegant in den Bewegungen. Wenn er das Haus verläßt, was nicht selten vorkommt, kleidet er sich zumeist nach Junkerart mit schwarzem Schlapphut und Spitzenkragen (wohl kaum ein Gewand, das einem Magus geziemet!), und an seiner Seite hängt ein Degen, von dem ich glaube, daß er ihn auch zu führen versteht. Er ist gewiß kein Eslamsroder, lebt aber schon recht lange hier. Woher er wirklich stammt, weiß ich nicht, getraue mich auch nicht zu fragen. Denn mit dem Fragen ist das so eine Sache – da habe ich schon schlechte Erfahrungen gemacht. Nicht, daß er mich jemals geschlagen hätte, selbst dann nicht, wenn ich faul oder unaufmerksam war. Er hat viel subtilere und wirksamere Methoden, mich sein Mißfallen spüren zu lassen. Meistens sagt er nur: »So so, Abelmir, bist du wieder neugierig«, oder: »So so, Abelmir, hast du wieder nicht aufgemerkt«, und dann schaut er mir lange in die Augen und läßt mich nicht aus seinem Blick entkommen, bis
mir ganz seltsam wird und ich jeden Augenblick befürchte: Nun wird er seine Macht gegen mich gebrauchen. Aber das ist, Hesinde sei Dank, bisher noch niemals geschehen. Wahrscheinlich kommt er aus dem Land der ersten Sonne, denn im Haus trägt er gern tulamidische Seidengewänder, auch einen Turban bisweilen. Und er hat in Khunchom studiert, das hat er mir selbst einmal erzählt, aber das ist auch so ziemlich das einzige, das ich von ihm weiß. Da saß er also in seinem Ohrensessel und strahlte mich an. »Schön, daß du kommst, mein guter Junge. Hole doch bitte etwas Wein und Gebäck für die edle Dame und mich.« Ich nickte kurz und wollte mich gerade zum Gehen wenden, da vernahm ich die holde Stimme neben mir: »Ist das Euer Lehrling, Meister Xerber?« »Gewiß, Madame, das ist Abelmir, von dem ich Euch erzählt habe. Ein prächtiger Bursche, ich bin sehr zufrieden mit ihm. Abelmir, willst du die Freifrau nicht begrüßen?« Nun mußte ich sie also ansehen – oh, hätte ich das nie getan! Doch was blieb mir anderes übrig? Wie soll ich sie nur beschreiben? Wie soll ich nur in Worte fassen, was ich damals sah und fühlte und was ich auch heute noch vor mir sehe und empfinde, wenn ich die Augen schließe und an jenen Windstag zurückdenke? Ihre Hände sah ich als erstes, denn ich
wagte zunächst nicht, den Blick zu heben. Auch hatte ich bei des Meisters Worten sogleich eine tiefe Verbeugung in Richtung auf den Sessel gemacht, in dem seine Gäste zu sitzen pflegen. So holde Händchen, so weiß und klein, mit sich verjüngenden Fingerchen und innen so weich gepolstert! Denn offen und ein wenig hilflos ruhten sie in ihrem Schoß wie nestjunge Vögelchen. »Guten Tag, Herr Abelmir, ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen.« Bei Hesinde, sie hatte Herr Abelmir und Ihr zu mir gesagt! Nun sah ich sie an und schaute in ein Antlitz, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Wahrhaftig, so muß die göttliche Rahja aussehen, dachte ich. Sie wird zwar zumeist mit schwarzem Haar und schwarzen Augen dargestellt, aber in meiner Vorstellung wird die Göttin nun für alle Zeiten nußbraune Lokken und Augen wie Peraineveilchen haben. Denn nußbraune Locken, so glänzend wie Brabaker Seide, umspielten das zierliche Köpfchen der Freifrau, ringelten sich voller Mutwillen in ihre helle Stirn und über die porzellanzarten Öhrchen und bis zum Kragen ihres samtenen Jäckchens hinab, aus dem sich schwanengleich der Hals erhob. Natürlich hatte sie nicht wirklich einen schwanengleichen Hals – so lang und dünn, das wäre ja auch gar nicht schön; man sagt es halt so –, ihr Hals war vollendet, so wie alles an
ihr. Und erst die Augen, mit denen sie mich anblickte! Wollte man sie mit Sternen vergleichen, man würde ihnen nicht gerecht werden, denn was sind uns die kalten, fernen Sterne? Ihre Augen aber strahlten nah vor mir, und ihre freundliche Seele leuchtete aus ihnen und eine Verheißung, über deren Natur – das schwöre ich – ich mir damals in der Studierstube keinerlei Gedanken machte. Die Form der Augen ließe sich am ehesten mit Mandeln vergleichen, und sie waren rings von dunklen, fein geschwungenen Wimpern gesäumt. Auch ihr Näschen muß ich erwähnen, denn wie sehr kann eine unschöne Nase einem schönen Gesicht doch allen Liebreiz rauben. Die ihre aber war nicht von dieser Art, nein schmal und gerade war sie, und nur an der Spitze ein ganz klein wenig aufgerichtet und rundlich, was ihr etwas ganz entzückend Keckes verlieh. Die zarten Flügel aber waren rosig überhaucht wie von einer winzigen, eben überwundenen Verschnupfung. Und wie entzückend erst sah das Mündchen aus, dessen schön gewölbte, aber nicht zu volle Lippen sich zu einem Lächeln geteilt hatten! Wie es mir bei diesem Anblick gelang, die Worte »die Freude ist ganz auf meiner Seite, verehrte Freifrau« zu sprechen, weiß ich bis heute nicht; meine Stimme klang auch ganz fremd in meinen Ohren. Erst in der Küche kam ich wieder zu mir. Während
ich mit unsicheren Händen Gläser, Weinkaraffe und Gebäckschale auf dem Tablett ordnete, fügte sich plötzlich alles zusammen, alle wirren Gefühle und Gedanken manifestierten sich in dem einen Satz: Sie ist Rahja! Und als ich ihn laut aussprach – das tat ich wirklich, auch um zu hören, ob meine Stimme nun wieder so klänge wie immer – und hinzufügte »die Liebesgöttin hat menschliche Gestalt angenommen und ist in unser Haus gekommen«, da widerfuhr mir das, was mir danach immer dann widerfahren sollte, wenn ich nachts in meinem Bett an sie dachte – ich dachte von nun an jede Nacht an sie und auch tagsüber meistens –, und ich war froh, daß meine Joppe so lang und so weit geschnitten ist. Natürlich war es nicht das erste Mal, daß mir so etwas geschah, wahrhaftig nicht! Aber früher, da war es eher zufällig gekommen, beim Sinnen, beim Blättern in dem schön illuminierten Folianten über das Leben und die Sitten der Waldmenschen oder wenn ich an die rotwangige Dorlin dachte, aber niemals zuvor hatte ich dabei so klar den Wunsch verspürt: Ich will mit dieser tun, was Mann und Frau miteinander tun. Ich kenne mich nämlich aus, in ratione jedenfalls, um des Meisters Worte zu gebrauchen, in usu eher weniger – damals zumindest. Doch so deutlich und klar ich nun mein innerstes Begehren erkannte, so düster war die Verzweiflung
bei der Einsicht, daß meine Wünsche sich niemals erfüllen würden. Wie sollte das wohl angehen? Könnte ich jemals wagen sie zu fragen oder sie betören – ich, ein Zauberlehrling und Hausdiener! Jedenfalls wollte ich versuchen, einen günstigen Eindruck zu machen. So fuhr ich mir noch einmal durchs Haar und klopfte den Staub von der Joppe, bevor ich wiederum die Studierstube betrat. Nein, sie hatte sich nicht in eine Sterbliche verwandelt, wie ich zugleich gehofft und befürchtet hatte. Rahjagleich saß die Freifrau im Sessel, wippte mit dem Stiefelchen und lauschte mit leicht schräggeneigtem Köpfchen des Meisters Worten. Wahrscheinlich hatte er ihr gerade erläutert, wie schwierig es sei, just diese von ihr gewünschte Essenz zu bereiten, daß er für seine Mühe ja kaum etwas verlangen wolle bei einer so reizenden Kundin wie der Freifrau, daß aber allein die Ingredienzen so kostbar und teuer seien ... Was immer er gesagt haben mochte, bei meinem Eintritt unterbrach er seine Rede und maß mich mit erwartungsvollem, nein prüfendem Blick. Auch die Freifrau wandte den Kopf in meine Richtung, und ihre Rahjaaugen und ihr Rahjamündchen lächelten mich an. Man kann nicht einschenken, wenn einem das Herz klopft, die Hände zittern und zwei Augenpaare, ein strenges und ein göttliches, einen beobachten.
Keiner kann das! Und so kam es, wie es kommen mußte: Als ich versuchte, das Glas zu füllen, das die Freifrau mir anmutig entgegenhielt, bebten meine Finger so sehr, daß ich ein wenig Wein verschüttete. Und ein feuchter Fleck begann sich auf dem göttlichen, samtverhüllten Schenkel auszubreiten. »Gib doch acht, Abelmir!« erklang des Meisters Stimme, noch bevor ich eine Entschuldigung stammeln konnte. Seine Brauen hatten sich ein wenig zusammengezogen, aber gleich darauf glätteten sie sich wieder. Wer könnte beim Klang einer solchen Stimme auch zornig bleiben. »Scheltet ihn nicht, Meister Xerber«, bat die Freifrau nämlich, »er hat es ja nicht absichtlich getan.« Und zu mir gewandt: »Es macht nichts, Herr Abelmir, heller Wein gibt keine Flecken, und ich habe ja noch mehr Beinkleider als dies eine Paar.« Dann lachte sie, so hell und perlend, daß auch der Meister schmunzelte, als er mir mit einer Handbewegung zu verstehen gab, daß ich mich nun zurückziehen könne. Unter vielen Verbeugungen und gemurmelten Entschuldigungen verließ ich den Raum. Lysminja, Lysminja von Irberod, so heißt sie – alter bornländischer Adel. Was sie nach Eslamsroden verschlagen hatte, weiß ich nicht und werde es wohl auch nie erfahren, denn seit jenem verhängnisvollen Tage habe ich sie nicht mehr wiedergesehen. Lysmin-
ja – was für ein süßer Klang. Es wäre besser, ich würde diesen Namen vergessen, aber das kann ich beim besten Willen nicht. Erst kürzlich stieß ich auf ihn, als ich beim Aufräumen in einem alchimistischen Folianten ein Briefchen von ihrer Hand als Lesezeichen fand. Oh, welch zierliche Handschrift! Wie säuberlich und doch voller Energie die Worte aufs Pergament gesetzt waren, und die schwungvolle Unterschrift mit dem kleinen Schnörkel! Ich kann mir genau vorstellen, wie das holde weiße Händchen die Feder hielt, als dieser Brief geschrieben wurde, den Kiel ins Tintenfaß tunkte und ihn sorgfältig abstreifte, voller Konzentration die Buchstaben zeichnete, dann sinnend innehielt ... Der Brief war auf den zweiten Ingerimm datiert, also kurz nach ihrem zweiten Besuch bei uns geschrieben worden. Jetzt ist es tiefer Boron, die Bäume sind entlaubt und biegen sich im Winde, und in den kalten Regen mischen sich die ersten Schneeflocken. Für mich wird es wohl immer Boron bleiben. Ach, hätte ich doch besser aufgeräumt und das Briefchen eher gefunden! Eigentlich stand gar nichts Besonderes darin – und doch ... Es lautete folgendermaßen: Werter Meister Xerber! Mit dem Schlafelixier, das ich kürzlich bei Euch erwarb, bin ich sehr zufrieden und würde gern noch drei weitere
Flux erwerben zum ausgemachten Preis – man hat ja gern einen kleinen Vorrat im Hause. Da ich am nächsten Rohalstag meine Base zu besuchen gedenke und mein Weg mich an Eurem Hause vorbeiführen wird, könnte ich das Fläschchen selbst abholen – es plaudert sich auch so angenehm in Eurer Gesellschaft. Wenn Euch mein Besuch ungelegen kommt, so schickt nur Euren Lehrling Abelmir ins Hotel Reichswacht, wo ich abgestiegen bin. Aber er soll es nicht dem Begrüßer oder einem Hausknecht aushändigen, sondern mir persönlich, und er wird mich auch gewiß dort antreffen, da ich die Abende für gewöhnlich auf meinem Zimmer verbringe. Mit Hochachtung Lysminja, Freifrau von Irberod Natürlich wurde ich niemals ins Hotel Reichswacht geschickt. Aber ich sollte sie wiedersehen; sie kam von nun an regelmäßig in unser Haus. Ganz offensichtlich hatte Meister Xerber an ihr eine treue Kundin erworben – und eine Eroberung gemacht. Und wenn er beiläufig zu mir sagte: »Abelmir, stelle Konfekt bereit, wir bekommen Besuch«, und sich dabei schmunzelnd den Bart strich, dann wußte ich, daß sie kommen würde. Oh, diese Wochen voller Pein und Wonne! Wieviel Zeit verbrachte ich hinter dem Fenster, um sie auf ihrem Apfelschimmel heransprengen zu sehen! Wie prächtig sie im Sattel saß, wie wild und übermütig!
Meist riß ich schon die Tür auf, noch bevor sie klopfen konnte, und begrüßte sie mit einer tiefen Verbeugung. »Oh, Herr Abelmir, wie aufmerksam«, pflegte sie dann zu sagen, ein wenig atemlos, so wie ihre Stimme auch beim allerersten Mal geklungen hatte. Ihre Wangen waren von dem Ritt oder vor Erwartung und Scheu ganz zart gerötet, und während sie mir ihr Rahjalächeln schenkte, fügte sie stets hinzu: »Ist der Meister wohl zu sprechen?« Der Meister, der Meister, immerzu der Meister! Und dann stand Meister Xerber auch schon in der Türe seines Studierzimmers, als habe er ihre Ankunft genau wie ich vom Fenster aus beobachtet, und machte zur Begrüßung einen galanten Kratzfuß. Die Fenster seiner Stube führen zum Garten und nicht zur Straße! Niemals ist es mir gelungen, ein Wort mit ihr zu wechseln. Immer stand er bereits in der Tür, die sich lautlos geöffnet hatte, wenn ich mich von meiner Verneigung aufrichtete, und dann schenkte sie ihm, der ihr mit ausgebreiteten Armen, strahlend und zierliche Komplimente sprechend entgegenging, ihr süßes Lächeln, und er nahm sie beim Arm, führte sie in seine Stube, und das letzte, das ich von ihr sah, war ihr anbetungswürdiges Hinterteil. Ja, anbetungswürdig und göttlich war es gewiß, aber mir kamen ganz unfromme Gedanken, wenn ich es sah. Oh, wie veränderte ich mich in jener Zeit! Und
je heiterer der Meister wurde, desto düsterer wurde ich. Ihn sah ich nun häufig gutgelaunt über seinen Büchern sitzen und lange Zahlenkolonnen addieren. Auch mußte ich ihm oft im Labor zur Hand gehen, mußte Khomsand und Arganwurzel wiegen, Essenzen mischen und Salben rühren. Wozu, um alles in der Welt, brauchte sie eine Schönheitssalbe?! Nun, vielleicht war nicht alles, was wir bereiteten, für sie gedacht, aber einen schönen Haufen Dukaten hat er bestimmt an ihr verdient. Ach, all die Pülverchen und Tinkturen, die sie bei ihm in Auftrag gab – sie waren ja nur ein Vorwand, um ihn recht häufig aufsuchen zu können oder zu sich zu locken, dessen war ich mir gewiß. Wie sie ihn anblickte, wenn er ihr Artigkeiten sagte oder ihr die Wirkungsweise eines Mittels erläuterte, das wollte mir schier das Herz zerreißen. Zwar sah ich niemals, daß es zu Vertraulichkeiten zwischen ihr und dem Meister gekommen wäre, aber was in ihrer Suite in der Reichswacht geschehen mochte ... Meister Xerber verließ jetzt häufig abends das Haus, und wo sollte er sonst wohl hingehen? Nicht daß er mich eingeweiht oder auch nur eine Andeutung gemacht hätte – er weiht mich niemals ein in seine Pläne, Geschäfte oder privaten Unternehmungen! Aber diesmal hatte ich ihn durchschaut, es war ja auch gar zu offenkundig! Daß ein Mann nicht prahlt mit seinen amourösen
Abenteuern, zeugt von Anstand und guter Erziehung – ich weiß das wohl. Aber daß die Leidenschaft den Meister so gar nicht veränderte, daß ich nicht ein einziges Mal hörte, wie ein Seufzer seinen Lippen entwich während der Arbeit, daß ich nicht ein einziges Mal sah, daß er schmachtend und sehnsuchtsvoll in die Ferne geblickt hätte, das nahm ich ihm übel. Er ist gewiß kalt wie Eis, kennt weder Gefühle noch Leidenschaften, und die holde Freifrau war ihm nur ein Spielzeug. Und doch galt ihm, dem Herzlosen, ihre Liebe, und in seinen Armen wollte sie liegen. Oh, wie grausam und ungerecht können die Götter bisweilen sein, sogar die freundliche Rahja! Gram nagte an meinem Herzen, Eifersucht zerfraß meine Seele, so daß sie schwarz und immer schwärzer wurde, und statt mich in Entsagung zu üben, wie es ziemlich ist für einen Gelehrten, richtete sich all mein Sinnen und Trachten nun nur noch auf dies eine Ziel: ihrer habhaft zu werden. Nur wie ich es bewerkstelligen sollte, das wußte ich eben nicht. Mit grimmiger Freude wartete ich jetzt darauf, daß der Meister das Haus verließ, denn dann konnte ich in Ruhe grübeln und meine finsteren Pläne schmieden. Aus freiem Willen würde die holde Freifrau niemals mein Lager teilen, dessen war ich gewiß, denn ganz offensichtlich brachte sie mir gerade soviel Anteilnahme entgegen wie einem Kräutlein am We-
gesrand, auf dem das Auge des Wanderers einen Wimpernschlag lang mit Wohlgefallen ruhen mag und das er vergessen hat, sobald er vorübergeschritten ist. Um das wilde Begehren zu stillen, das in mir loderte wie Hylailer Feuer, würde ich sie mit einem Bann belegen oder mit einem Zauber an mich fesseln müssen. Oder sollte ich mit Tränken ihre Sinne verwirren, damit sie mir zu Willen wäre? Nun, widerwärtig war ich ihr wohl nicht gerade. Stets grüßte sie mich freundlich und schenkte mir ihr sinneverwirrendes Lächeln, wenn sie das Haus betrat. Und auch fürs Aufwarten und die kleinen Gefälligkeiten, die ich ihr erweisen durfte, dankte sie mir mit gleichbleibender (oder sollte ich sagen: gleichgültiger?) Freundlichkeit. Bei manch einem ihrer Besuche wurde ich des öfteren in die Studierstube gerufen: Einmal war ihr der Wein nicht recht bekömmlich und sie bat um Tee, ein andermal entschied sie sich, statt der in Auftrag gegebenen Heilsalbe lieber etwas Waffenbalsam zu kaufen, den ich dann schnell aus dem Labor holen mußte, oder sie begann ganz unvermittelt zu frösteln, und der Meister gab mir Anweisung, Holz zu holen und ein Feuer im Kamin zu entfachen ... Ach, um den Preis ihres Rahjalächelns und der girrenden Dankesworte wäre ich mit Freuden den ganzen Tag durchs Haus geeilt! Und daß sie nicht nur vollendet schön, sondern of-
fenbar auch ein wenig verwöhnt und launenhaft war, ließ die Freifrau in meinen Augen nur noch begehrenswerter erscheinen. Doch zurück zu den finsteren Plänen und den geheimen Forschungen, die ich betrieb, wenn der Meister fern war. In seiner Gegenwart war ich folgsam wie ein gut dressiertes Hündchen, besorgte alles, was er mir auftrug, zu seiner Zufriedenheit und ohne zu murren. Wie es mir gelang, unter seinem prüfenden Blick zu schreiben, ohne daß die Feder kleckste, zu kochen, ohne die Speisen zu versalzen, weiß ich bis heute nicht. Wahrscheinlich stand ich unter dem Schutz dunkler Mächte, so dünkt es mich heute jedenfalls. Damals machte ich mir keine Gedanken darüber – ich dachte ohnehin nur an sie, und wie ich sie auf mein Lager locken könnte. Und dennoch sah mich der Meister selten so emsig in die Bücher vertieft wie in jenen Wochen. Ja, einen Teil meiner Forschungen betrieb ich direkt unter seinen Augen, in seiner stets etwas beunruhigenden Gegenwart. Und es bereitete mir eine dämonische Freude, ihn mit der Miene unschuldsvoller Wißbegierde nach der Natur des Bannbaladin und des Band und Fessel zu befragen. »So so, mein lieber Abelmir«, sagte er da wohl, »auf die Beherrschungsmagie willst du dich werfen? Nun, das ist ein weites und hochinteressantes Feld. Da gibt es noch viel zu erforschen ... aber wer die Be-
herrschung beherrscht ...« Bei dieser Wendung mußte er lachen. Dann sah er mich lange und durchdringend an. »Eigentlich dachte ich ja, daß deine Neigungen eher bei der Verwandlung lägen ...« Das stimmt, da hatte er recht. Den Flim Flam und den Abvenenum beherrsche ich inzwischen vollkommen, nur am Reversalis habe ich, wie gesagt, noch zu knacken. Aber als er mir dann die Struktur des Band und Fessel und des Bannbaladin zu erläutern begann, merkte ich bald, daß diese beiden für meine Zwecke nicht die rechten wären. Auch sind für eine wirkungsvolle Anwendung der Beherrschungsmagie meine astralen Kräfte wohl noch zu gering, worauf (mehrfach!) hinzuweisen Meister Xerber auch nicht versäumte. Ich vermute, die Beherrschung ist sein Spezialgebiet, obwohl er auch in Verwandlung, Hellsicht und Illusion recht beschlagen ist. Seit ich zu der Überzeugung gelangt war, daß ich die schöne Freifrau nur mit Hilfe eines wirkungsvollen Zaubers an mich fesseln und in meine Arme zwingen könnte, war ich sehr sparsam im Gebrauch meiner Kräfte, ja eigentlich versagte ich mir jegliche magische Anstrengung. Dies schien Meister Xerber nicht entgangen zu sein, denn just an diesem Nachmittag zwang er mich, ihm den Objectum fix zu demonstrieren, den wir im Peraine durchgenommen und geübt hatten (um zu überprüfen, ob ich auch
nichts verlernt hätte, wie er sagte). Der Zauber gelang zu meiner und auch seiner Zufriedenheit. Meister Xerber war voll des Lobes: »Tadellos, mein lieber Abelmir, tadellos«, aber natürlich war ich für den Rest des Tages matt und abgetan. Wie kann es einem Menschen nur Freude bereiten, einen anderen zu schinden und zu schikanieren?! Trotzdem begab ich mich in die Bibliothek, sobald er das Haus verlassen hatte. Wie viele der Bücher hatte ich, außer beim Abstauben, noch niemals in den Händen gehalten! Da gab es solche, die in unverständlichen Glyphen geschrieben waren, voll mit Zeichnungen und Diagrammen, deren Sinn mir nicht im entferntesten einleuchten wollte. Andere bargen eine dunkle Verheißung, und wenn ich auch nicht eben viel verstand, so legte ich sie doch zur Seite, um sie gelegentlich eingehender zu studieren. Wieder andere waren von hustenerzeugender Staubtrockenheit und handelten vom Massenheilen von Knorpeln und Sehnen. Mit diesen hielt ich mich nicht weiter auf. Ach, diese Bücher der Verheißung, mit denen ich meine einsamen Abende verbrachte! Wie wundersam altertümlich war allein die Sprache, in der die finsteren druidischen Rituale beschrieben wurden! Auch las ich manches über die Magie der Hexen und wie sie Liebeszauber zu weben verstehen ...
So vielversprechend die Bücher auch waren, so gierig ich sie auch verschlang mit heißen Wangen und pochendem Herzen, so wie man etwas Verbotenes tut (dabei war es mir keineswegs verboten) – je gründlicher ich sie studierte, desto klarer wurde mir, daß ich diese fremdartige Magie niemals würde begreifen, geschweige denn erlernen können. Und nach Stunden und Tagen vergeblichen Strebens gelangte ich zu dem Schluß, daß ich die schöne Freifrau nur mit Hilfe eines Trankes würde gewinnen können – eines Trankes, der Liebe im Herzen entfacht und Leidenschaft in den Gliedern. Wiederum verbrachte ich Abende mit Suchen und Forschen, las vielerlei Rezepte und lernte so manches über Kräuter, Essenzen und den Einfluß der Gestirne. Doch ich mußte auch erfahren, daß die Alchimie ein gar gefährliches Gebiet ist (Meister Xerber hatte mich schon des öfteren darauf hingewiesen, wenn ich ihm im Labor zur Hand ging, war aber immer recht allgemein geblieben: »Mit alchimistischen Tinkturen kann man gutes Geld verdienen, mein lieber Abelmir, aber lasse nur die Finger davon. Dafür bist du noch nicht reif genug und könntest dir und anderen Schaden zufügen. Doch rühre nur immer weiter fort, während ich mit dir rede und dich belehre, es ist wichtig, daß die Essenzen gleichmäßig vermengt werden ...«). Nun las ich, welch schlimmen Schaden eine fehlerhaft
bereitete Tinktur anrichten konnte, auch mochte sich die Wirkung eines Trankes in ihr Gegenteil verkehren, wenn nicht alles ganz genau bemessen oder die astrale Kraft des Alchimisten zu gering war. Daß sich die Wirkung eines Liebestrankes, so ich jemals die Rezeptur finden sollte, in sein Gegenteil verkehrte und ein Haßtrank daraus würde, das wollte ich wahrhaftig nicht. Genausowenig mochte ich in Kauf nehmen, daß der göttlichen Freifrau irgendein Leid geschähe an Leib oder Seele. Ja, was ihren göttlichen Körper betrifft, bin ich mir ganz sicher – der sollte gewißlich keinen Schaden nehmen. Aber wer weiß, vielleicht hätte ich es hingenommen, daß ihr Geist sich für ein Weilchen verwirrte – so eine kleine Hilflosigkeit kann doch ganz entzückend sein bei einer Frau ... Als ich schließlich fand, wonach ich suchte, wie bitter mußte ich da lachen! Selbst wenn es mir gelänge, den Trank wohl zu bereiten – und das schien wahrlich keine leichte Kunst –, dann waren da noch die Zutaten: so teuer, teuer, teuer!!! Niemals würde ich sie von den wenigen Silbertalern bezahlen können, die mir die guten Eltern beim Abschied zugesteckt hatten und die ich sorgsam unter meiner Matratze verwahrte. Und dann ging plötzlich alles überraschend schnell und glatt. Gewiß war es der Namenlose, der mir da-
mals den entscheidenden Fingerzeig gab. Wie oft schon hatte ich des Meisters Standardwerk der elfmal elf Zauber studiert! Ich war mir sicher, alle Formeln zu kennen, zumindest dem Wortlaut nach. Aber als ich an jenem Morgen über dem Buche saß und grübelte, da heftete sich mein Blick auf einen Schelmenzauber, dem ich niemals zuvor irgend eine Beachtung geschenkt hatte. Dort stand es schwarz auf weiß geschrieben, was ich zu tun hatte: des Meisters Gestalt annehmen. In seiner Gestalt würde ich keine rahjaischen Tränke und Liebeszauber brauchen – freiwillig und mit Freuden würde die holde Freifrau in meine Arme eilen. »Du lächelst, lieber Abelmir«, durchdrang des Meisters Stimme mein Sinnen, »darf man den Grund deiner Heiterkeit erfahren?« »Gewiß, Meister Xerber«, antwortete ich, während ich die Seite umblätterte. Mir war nicht bewußt gewesen, daß ich gelächelt hatte, und auch über die lügenhafte Rede, mit der ich ihm antworten sollte, hatte ich mir keinerlei Gedanken gemacht, und doch kamen die Worte wie von selbst aus meinem Munde, und ich konnte sprechen, ohne zu stammeln, und zugleich in Meister Xerbers beunruhigende Augen blikken. »Gerade ist mir klargeworden, wie ich die Zeit Eurer Abwesenheit (er hatte mir kürzlich mitgeteilt, daß
er demnächst eine Reise antreten wollte) so nutzbringend wie möglich verleben kann. Alle Zeit, die mir bleibt neben den häuslichen Verrichtungen, will ich fürs Studieren und Üben verwenden. Und von der Beherrschung will ich ablassen und mich wieder ganz und gar der Verwandlung widmen, so wie Ihr mir geraten habt.« »So so, lieber Abelmir, fleißig sein willst du, während ich fort bin, das ist löblich. Und hast du dir schon überlegt, welche Zauber du üben willst?« »Nur solche, die keinen Schaden anrichten können, Meister Xerber«, beeilte ich mich zu sagen, »da wäre der Metamorpho ...« »Der gletscherkalte Metamorpho? Im lieblichen Rahjamond?« Er hob überrascht die Brauen. »Nein, nein, den Nihilatio habe ich gemeint, ich habe mich nur versprochen ...« »Versprechen ist nicht gut, mein lieber Abelmir, das kann bei Zauberformeln verheerende Auswirkungen haben. Aber fahre nur fort.« »Und am Silentium will ich mich versuchen, Meister Xerber, und so Hesinde will, werde ich auch den Abvenenum und den Aeolitus beherrschen, wenn Ihr wieder zurück seid.« »Ein hübsches Pensum für drei Tage, lieber Abelmir, denn länger werde ich nicht fort sein. Glaubst du, daß deine Kräfte dafür ausreichen werden?« Da
hatte er nun meinen wunden Punkt getroffen, denn just dieses war es, das mir Sorgen machte bei der Schelmenillusion: Ich würde des Meisters Gestalt kaum länger als ein Viertelstündchen aufrecht erhalten können, und das war wenig – zu wenig. »O nein, Meister Xerber, sie werden wohl nicht reichen«, gab ich zu, »aber vielleicht könntet Ihr mir ein wenig aushelfen?« Was redete ich da? War ich besessen? Welche Dreistigkeit! Ich kannte mich selbst nicht mehr und fuhr doch fort: »Es müßte ja auch in Eurem Sinne sein, wenn ich fleißig übe und meine Fähigkeiten steigere.« »Verstehe ich dich richtig, lieber Abelmir?« Des Meisters Blick begann unangenehm bohrend zu werden. »Du schlägst mir vor, dir einen Teil meiner Kraft zu übertragen? Ich soll mich schwächen, damit du stark wirst? Ein Scherz, vermute ich, ein Scherz, der mich nur wenig zu erheitern vermag ...« Seinen Worten zum Trotz begann er plötzlich schallend zu lachen. Ich hatte ihn noch nie so lachen sehen, und es war unheimlicher als alles andere, das er hätte tun können. So unvermittelt, wie das Lachen begonnen hatte, hörte es auch wieder auf. Meister Xerber betrachtete mich nachdenklich. »Warum eigentlich nicht«, hörte ich ihn murmeln. »Nun gut, mein Junge«, sagte er schließlich, »wenn es dein Wunsch ist, dann soll es geschehen. Ich werde dir so viel von
meinen Kräften schenken, daß du jeden der drei neuen Zauber zweimal üben kannst. Ist das genug?« Ich nickte stumm. »Aber du weißt, nichts ist umsonst auf dieser Welt, und alles hat seinen Preis.« Wiederum nickte ich. »Höre also, was ich dir vorzuschlagen habe: Im nächsten Phex ist deine Lehrzeit zu Ende, und du wirst mein Haus verlassen. Nun habe ich mich aber an dich gewöhnt in all den Jahren, an deinen Unverstand und deine Tölpelhaftigkeit, und werde deine Gesellschaft nur ungern missen. Wenn du dich verpflichtest, mir zwei weitere Jahre fleißig und folgsam zu dienen, so werde ich dir geben, wonach dich gelüstet. Doch wisse, die Energie, die ich dir überlassen kann, wird nicht von Dauer sein. Du kannst damit einen großen Zauber wirken ...«, hier unterbrach er seine Rede und sah mich seltsam an, »oder sechs kleine, aber wenn sie verbraucht ist, ist sie fort für immer, und du bist wieder das kleine Licht, das du vorher warst. Hast du alles verstanden?« Ich nickte zum dritten Mal. »Nun gut, wenn du alles verstanden hast, und wenn du einverstanden bist, dann sprich ›so soll es geschehen‹ und der Handel ist besiegelt.« »So soll es geschehen, Meister Xerber«, sagte ich ohne nachzudenken. »Dann wollen wir es gleich hinter uns bringen, lieber Abelmir, denn ich werde in zwei Stunden abreisen. Und nun entblöße deine Brust.« Folgsam tat ich,
wie mir geheißen. Wieder einmal hatte der Grausame es geschafft, mit seinem Blick und seiner Rede Schwall meinen Verstand zu umnebeln! Welch guter Tausch für ihn und welch schlechter für mich! Doch hätte ich mich anders entschieden, selbst wenn ich hätte nachdenken können ...? Als ich Joppe und Hemd geöffnet hatte, legte mir Meister Xerber ganz zart die Spitzen seiner gepflegten kühlen Finger auf die Brust. Dann schloß er die Augen und murmelte unverständliche Worte: Diese Formel hatte ich nie zuvor gehört oder gelesen. Doch bevor er noch geendet hatte, spürte ich ein eigentümliches Kribbeln in Kopf und Gliedern. Und dann war ich dem Meister auf einmal sehr nahe, so als führe eine Brücke von seinem Geist zu meinem Geist, und über diese Brücke flossen seine Kräfte in mich. Ich fühlte förmlich, wie ich stärker und mächtiger wurde, während seine Kräfte schwanden. Man sah es ihm auch an: Sein Gesicht verlor an Farbe, und seine Züge wirkten plötzlich hager und ein wenig eingefallen. Auch entdeckte ich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Jetzt könnte ich ihn zermalmen, ging es mir durch den Kopf, aber da öffnete Meister Xerber die Augen und sah mich an wie immer: kühl, ein wenig spöttisch und seltsam beunruhigend. »Ich werde mich nun zurückziehen, Abelmir, und ein wenig ruhen vor der Reise. Packe du nur derweil
meine Sachen zusammen, putze Stiefel und Degen und sage dem Kutscher, daß er anspannen soll.« Zwei Stunden später war ich allein. Meister Xerber schien völlig wiederhergestellt, als er federnden Schrittes das Haus verließ. Von der Kutschentür aus rief er mir noch zu: »Fast hätte ich es vergessen, lieber Abelmir: Morgen wird die Freifrau kommen, um den bestellten Liebestrank zu holen. Du findest ihn im Labor – das rote Fläschchen. Händige es ihr nur aus, bezahlt ist er schon. Und nun gehab dich wohl und übe recht fleißig.« Dann rollte die Kutsche davon, ich war allein und wußte nicht, wie mir geschehen war. Morgen, morgen schon würde die fleischgewordene Rahja in meinen Armen liegen! Oh, wie jubelte mein Herz bei diesem Gedanken, wie begann ich schon voll Ungeduld die Stunden zu zählen. Und dann sank es mir in die Hose: So unendlich viele Stunden des Harrens sich auch auftürmten vor mir, so wenige waren es doch, um den Zauber zu lernen. Und würde ich ihn überhaupt studieren können, wenn ich zugleich immer daran denken mußte, wie sie wohl aussehen mochte – ohne Mieder und Beinkleider. Nun, um es kurz zu machen, es gelang mir, den Zauber zu erfassen – überraschend gut sogar. Denn als ich abends die Schelmenillusion erprobte (ein einziges Mal nur wollte ich überprüfen, ob ich den Zau-
ber beherrschte, auch wenn es mich ein weniges der teuer erkauften Kraft kosten würde), da war es Meister Xerber, der mich aus dem Spiegel anblickte. So vollkommen war die Illusion, daß ich bei dem Anblick fast erschrak. Und als ich dann sagte: »Willkommen, verehrte Freifrau, welchen Glanz bringt Ihr mit Eurem Liebreiz in mein bescheidenes Domizil«, da war es des Meisters Stimme, die ich sprechen hörte. Natürlich tat ich die ganze Nacht kein Auge zu, zuviel gab es zu grübeln und zu bedenken: Wie sollte ich die Werbung beginnen? Was pflegte der Meister wohl zu tun, bevor er sich zu ihr legte? Sollte ich die schöne Freifrau um die Hüfte fassen, sie küssen oder ihr sogleich das Mieder öffnen? Wie, wenn sie das Trugbild durchschaute oder auch nur den geringsten Verdacht schöpfte? Und was sollte ich tun, wenn sie aus Launenhaftigkeit dies eine Mal des Meisters Werben zurückwiese? Bei dieser letzten Frage entsann ich mich des Fläschchens, das Meister Xerber erwähnt hatte und das ja der Vorwand war für ihren Besuch. Ein Liebestrank! Wozu auch immer sie ihn brauchen mochte, ein paar Tropfen in den Wein würden all ihre Zweifel zerstreuen, ihre Launen und jede Sprödigkeit vertreiben. Ja, hilflos würde sie ihren Leidenschaften ausgeliefert sein (das hatte ich gelesen). Und wenn ich mir diesen Zustand auch nicht so
recht vorzustellen vermochte, so wollte ich ihn doch an ihr sehen. Das sollte meine Rache sein dafür, daß sie ihn, den Kalten, mir, der sie hitzig liebte und begehrte bis zur Raserei, vorzog. Sogleich erhob ich mich von meinem Lager. Eben begann das erste Frühlicht die Gegenstände des Zimmers sichtbar zu machen. Im Nachtgewand eilte ich ins Labor, holte das Fläschchen und goß einen guten Schuß der roten Flüssigkeit, die im Zwielicht fast schwarz erschien, in den süßen roten (ebenfalls schwarz wirkenden) Wein, den ich schon in der Studierstube bereitgestellt hatte. Das Fehlende füllte ich mit Wasser auf. Am Nachmittage kam sie dann. Was soll ich über die vielen, so unendlich langen Stunden sagen, die ich hinter dem Fenster verbrachte? War es Rahja, zu der ich betete, oder war es Hesinde? Waren es nicht vielmehr die finstersten aller Mächte, die ich um Beistand anflehte? Wie oft schreckte ich hoch, sobald ich Hufschlag vernahm. Warum ritten ausgerechnet heute so viele über unsere sonst eher stille Straße? Schließlich hörte ich das Pferdegetrappel, das ich unter Hunderten herauszukennen glaubte, und erkannte kurz darauf, noch fern und winzig klein, ihre Gestalt. Ich schloß die Augen, versenkte mich, sprach die Formel und ließ meine Kräfte in den Zauber fließen. Und als ich die Augen wieder öffnete, war ich
das vollkommene Ebenbild des Meisters, und die schöne Freifrau hatte eben unser Haus erreicht. Wie gewohnt riß ich die Tür auf, noch bevor sie zum Klopfer greifen konnte. Diesmal begrüßte ich sie nach des Meisters Art mit einem zierlichen Kratzfuß. »Oh, Meister Xerber, Ihr öffnet selbst«, erklang atemlos ihr süß girrendes Stimmchen, und als ich aufblickte, sah ich, daß sich in ihr Rahjalächeln ein Anflug von Verwirrung oder Bestürzung mischte. »Ist Euer Lehrling krank?« »Nein, schönste Dame, Abelmir hat heute seinen freien Tag.« Ja, genauso hätte der Meister geantwortet; sie schien auch keinen Verdacht zu schöpfen (ich hingegen weiß bis heute nicht, was ein freier Tag ist). »Aber wollt Ihr nicht eintreten und mein bescheidenes Domizil mit dem Glanz Eurer Schönheit erhellen?« Ich nahm sie sacht beim Arm und führte sie zur Studierstube. »Leider habe ich heute wenig Zeit, Meister Xerber ...« Was war das? So früh hatte ich nicht mit Capricen gerechnet. Doch ich war Meister Xerber und souverän wie er. »Nun, einen kleinen Plausch und ein Gläschen Wein, das werdet Ihr mir doch nicht abschlagen, Madame?« »Ich weiß nicht, Meister Xerber, ich habe es wirklich recht eilig ...« Was sollte ich tun? Daß sie ausgerechnet heute ih-
ren launischen Tag hatte! Ich mußte Zeit gewinnen, und doch war die Zeit so kostbar. Auch mit des Meisters astraler Kraft in mir würde ich die Illusion nicht viel länger als eine halbe Stunde aufrechterhalten können. Da fiel mein Blick auf das Fläschchen. Ich nahm es auf, roch daran und stutzte. »Ja, was ist das?« sagte ich halblaut, wie zu mir selbst. »Da hat doch dieser nichtsnutzige Abelmir die falsche Tinktur bereitgestellt. Nun, darüber werden wir heute abend reden müssen«, und zur Freifrau gewandt: »Verzeiht, Madame, aber ich muß Euch für einen Moment allein lassen, um das rechte Fläschchen aus dem Labor zu holen. Nehmt doch bitte Platz derweil und verkürzt Euch die Zeit mit etwas Wein.« Nun ließ die Freifrau sich bereitwillig von mir einen Sessel weisen. Ich goß etwas Wein aus der Karaffe in ihr Glas, aber sie nahm es nicht entgegen, und so stellte ich es vor sie auf den Tisch. »Seid nicht zu streng mit Eurem Lehrling, Meister Xerber«, bat sie, als ich mich zur Tür wandte. »Er ist doch ein so guter Junge.« Als ich zurückkam – ich war gar nicht ins Labor gegangen, sondern hatte vor der Tür bis fünfzig gezählt – sah ich, daß etwas Wein aus ihrem Glas fehlte. Ich beobachtete sie gebannt, während ich das Gespräch auf das Wetter und die zu erwartende Birnenernte brachte. Sie nippte am Glas und nippte noch
einmal, und dann begann sich der Ausdruck ihres Gesichtes ganz allmählich zu verändern: Das Lächeln erstarb und wich einem Ausdruck fast kindlichen Erstaunens mit leicht gehobenen Brauen, umflortem Blick und rührend geöffnetem Mündchen. Nun mußte ich handeln – aber was nur? Mir war ganz dumpf im Kopf, alles was ich mir zurechtgelegt hatte, war auf einmal fort. Das lag am Zaubern – so eine Illusion zu erwirken ist wahrlich kein leichtes Ding. Nach Augenblicken, die mich unendlich dünkten und in denen die Schönste ihren seltsam wehen Blick nicht von mir ließ, fiel mir ein, was ich zu tun hatte. Ich erhob mich, faßte die Freifrau sanft bei der Schulter und führte sie zum Diwan. Als ich sie in die Kissen drückte, hauchte sie nur. »Meister Xerber, was tut Ihr? Seid Ihr von Sinnen?« leistete aber keinen Widerstand. Nun preßte ich meine Lippen ganz fest auf die ihren, dachte darüber nach, was ich als nächstes tun sollte, und mühte mich gleichzeitig, den Maskenzauber zu stabilisieren. In meinem Kopf pochte ein feiner Schmerz. Nach einer Weile mußte ich mich von ihr lösen, um nach Luft zu schnappen – ich hatte vergessen zu atmen. Dann fühlte ich, daß es wiederum an der Zeit wäre, astrale Energie in den Zauber einfließen zu lassen, um das Trugbild noch ein Weilchen zu erhalten. Also schloß ich die Augen, setzte meine Kräfte frei, und als ich die Lider wieder öffnete, sah ich, daß die Frei-
frau begonnen hatte, mit unsicheren Fingern ihr Jäckchen zu öffnen. »Es ist so heiß hier, Meister Xerber«, murmelte sie. Rasch zog ich ihr die Jacke aus, und während ich ihr aus den Stiefeln half, nestelte sie an ihrem Mieder und hatte sich in dem nämlichen Augenblick von ihm befreit, in dem ich ihr die Beinkleider abgestreift hatte. Nun lag sie nackt vor mir, die holden Wangen gerötet und die Göttinnenschenkel leicht geöffnet. Wie über alle Maßen schön sie war! Wie ihre weißen Brüste, die jetzt, im Liegen, flacher und weiter außen zu sein schienen als im Sitzen oder Stehen, unter den heftigen Atemzügen bebten! Die rosigen Zehlein, die sich unter meinem Blick leicht zusammenballten – eine Pracht und eine Augenweide! Der helle Bauch mit dem ebenmäßig geformten Nabel und dem ganz feinen Anflug zarter Rundlichkeit – göttlich, so göttlich wie das nußbraune Seidenvlies, dort wo die Schenkel sich trafen! Ja, Rahja selbst war es, die auf dem Diwan lag, und doch war irgend etwas anders als erwartet. Während es hinter meinen Schläfen hämmerte und das betörende Bild immer wieder für Momente vor meinen Augen verschwamm, fragte ich mich, was mich so sehr irritierte. Nein, nicht bei ihr lag der Fehler – sie war vollkommen und ohne jeden Makel –, bei mir war etwas anders, als es hätte sein sollen, doch wußte ich zunächst nicht, was es war. Ich hatte sie wohl ein wenig zu lange betrachtet,
denn nun erhob sich die Freifrau und näherte sich mir mit ihrem heißen Atem und ihren heißen Händchen. »Darf ich Euch aus den Kleidern helfen, Meister Xerber?« hauchte sie. Ohne meine Antwort abzuwarten, streifte sie mir den seidenen Hausmantel von den Schultern, dann ließ sie sich auf die Knie nieder, um die tulamidischen Beinkleider zu öffnen. Und als sie dann flüsterte, »Ihr hattet wohl einen sehr anstrengenden Tag«, und mir gar nicht ins Gesicht sah dabei, sondern einen Punkt viel weiter unten fixierte und mit vor Bestürzung geweiteten Augen und stockender Stimme hinzufügte, »oder gefalle ich Euch nicht?«, da wußte ich, was anders hätte sein sollen. Bei allen Gehörnten – welche Schmach! Was sollte ich tun? Das, wonach ich mich so lange gesehnt hatte und das die schöne Freifrau ganz offensichtlich von mir erwartete, würde ich beim besten Willen nicht vollbringen können, ja kaum gelüstete es mich in meiner Verwirrung noch danach. »O nein, Madame, Ihr seid wunderschön – die schönste Frau, die ich je sah, schöner kann selbst die göttliche Rahja nicht sein«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen. Würde ein Paralü Paralein – sei starr wie Stein meine Schande beenden können? Aber ich hatte ja all meine Kräfte aufgezehrt, um die Illusion zu erwirken, und überdies war es gewiß unmöglich, einzelne Körperteile mit einer magischen Verhärtung zu belegen.
Zerstreut griff ich nach dem Weinglas und leerte es. Und dieser eine Schluck rettete mich dann. Der Meister versteht wirklich sein Handwerk! Wie das Folgende eigentlich verlief und ob es mir gefiel, darauf kann ich mich kaum besinnen, zu sehr sorgte ich mich darum, daß die Wirkung des Trankes nachlassen könnte. Und auch das Trugbild, das ich erschaffen hatte, würde nicht ewig bestehen bleiben, was mir nicht weniger Sorgen bereitete. Und zuletzt, oder vielleicht doch nicht zuletzt sondern zuerst, beobachtete ich sehr genau die Freifrau und lauschte auf ihr Seufzen, um ein Zeichen zu entdecken, wann dies alles wohl vorüber wäre. Als sie sich schließlich aufbäumte, ihre Händchen in meinem (oder vielmehr des Meisters) Haar verkrallte, einen kehligen Schrei hören ließ, der mich nicht wenig erschreckte, und dann ermattet niedersank, nahm ich dieses für das Zeichen, löste mich aus ihren Armen und legte rasch meine Kleider wieder an. Kaum war ich fertig, da öffnete sie auch schon die Augen, blickte um sich, als erwache sie aus einem schweren Traum und könne sich nicht sogleich auf die Wirklichkeit besinnen, schaute mich an, und saß auf einmal kerzengerade auf dem Diwan. »Oh, Meister Xerber, wie abscheulich Ihr seid!« Ihre schönen Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Mündchen bebte, als sie mit fahrigen Bewegungen ihre Kleider zusammen-
raffte und sich hastig ankleidete. »Wie konntet Ihr mir das nur antun!« Nun flossen die Tränen, und ihre Rede war kaum zu verstehen, so sehr schluchzte sie dabei. »Habt mich mit Euren Zauberkünsten und Tränken benebelt, damit ich Euch zu Willen wäre! Warum? Ihr liebt mich ja nicht, genausowenig wie ich Euch! Wolltet Ihr mich verspotten, weil Ihr gemerkt habt, daß ich Euren Lehrling liebe, daß ich nur seinetwegen so oft hierhergekommen bin und all die Salben und Tinkturen gekauft habe, die ich gar nicht brauche?« Was sagte sie da? Sie liebte mich? Nun würde alles gut werden. »Du liebst mich, Göttliche?« flüsterte ich. »Nein, Euren Lehrling, Ihr Wüstling!« Sie stampfte mit dem Füßchen auf. Oh – ich war ja Meister Xerber; ich hatte es wahrhaftig vergessen. Aber ich würde es nicht mehr lange sein. Meine Kräfte waren verbraucht, nur noch wenige Wimpernschläge lang könnte ich das Trugbild aufrechterhalten. Ich sollte schnell den Raum verlassen und dann als ich selbst, als Abelmir zurückkehren ... jetzt ... sofort ... auf der Stelle ... Plötzlich hielt sie inne und starrte mich an wie eine Erscheinung. »Nein, das hätte ich nicht von Euch gedacht ... Oh, wie grausam Ihr seid ...! Womit habe ich das verdient, daß Ihr nun Abelmirs Gestalt annehmt, um den Spott auf die Spitze zu treiben ...? Verruchter Schwarzmagier!«
So schnell, als werde sie von Dämonen gehetzt, verließ sie das Haus. Krachend fiel die Tür ins Schloß, dann hörte ich nur noch Hufgetrappel – bald fern und immer ferner ... Das war das letzte, das ich jemals von ihr hörte. Was bleibt noch zu sagen? Mit Dorlin bin ich inzwischen etwas weitergekommen; sie hat mir auch das Küssen beigebracht. Und Meister Xerber scheint recht zufrieden mit mir und lobt mich jetzt häufiger als früher. »Hast dich gut herausgemacht in der letzten Zeit, mein lieber Abelmir. Es kleidet dich, wenn du dein schönes blondes Haar offen und ein wenig länger trägst, nur die Flusen am Kinn solltest du dir schaben. Und das Holzhacken und die anderen körperlichen Arbeiten scheinen dir gut zu bekommen.« Bei solchen Worten pflegt er sich schmunzelnd den Bart zu streichen und prüfend meine Arme und Schultern zu befühlen. »Ich werde dir noch viel beibringen können in den nächsten Jahren ...« Erstmals erschienen in: ›WunderWelten‹ # 10, 1991
JÖRG RADDATZ
EINEN DRACHEN ZU TÖTEN
Grün ist das Land zwischen Darpat und Radrom, fruchtbar sind seine Wiesen und Äcker, wildreich seine Wälder, doch das Massiv der Trollzacken teilt es scharf in Nord und Süd. Dieses Gebirge, das unwegsame Herz der Region, will nicht recht zu den umgebenden Landen passen, denn seine Hänge sind karg, seine dunklen Schluchten bieten vielen Kreaturen Schutz, die mit Recht das Licht des hellen Tages scheuen. Dennoch haben die schroffen Berge einer Grafschaft den Namen gegeben. Die Grafen der Trollzacken müssen sich gehörig plagen, um ihr Land zusammenzuhalten, denn große Städte umgeben es und locken das Landvolk mit ihren Verheißungen fort. Dennoch zieht die Grafschaft aber auch einigen Nutzen aus ihrer Lage: Einige wichtige Straßen führen dicht an den Hängen des Massivs entlang, und wo sich die Wege aus Gareth, Perricum, Warunk und Beilunk treffen, liegt am Fuße der Trollzacken das kleine Residenzstädtchen des Grafen. Altzoll ist fürwahr keine große Stadt, und seit sie von den Ogern überfallen wurde, hat sie weniger Einwohner als je zuvor, aber dennoch ist sie nicht ohne Bedeutung. So mancher Reisende macht hier Rast oder wechselt Kutsche und Straße. Auch Waren, die sich auf dem weiten Weg vom Perlenmeer ins Landesinnere befinden, werden hier umgeschlagen, weiterverkauft oder
von einem Transporteur an den anderen übergeben. So mag es niemanden verwundern, daß schon kurz nach dem Abzug der grausamen Ogerhorden die alte Geschäftigkeit in die Gassen des arg in Mitleidenschaft gezogenen Städtchens zurückkehrte. Über das bunte Getriebe erhebt sich trutzig die alte Zollburg am Ufer des Bendrom, ein Bauwerk, das von niemandem schön genannt und dennoch vom Volk geliebt wird, denn die grauen, von tiefen Sprüngen und Rissen gezeichneten Mauern trotzten wohl manche Woche der Belagerung durch die Menschenfresser, so lange, bis des Kaisers Heer vor nunmehr vier Jahren in der Ogerschlacht die Unholde stellte und dem Morden und Brandschatzen ein Ende bereitete. Vor einiger Zeit weilte hoher Besuch in den Räumen der Residenzfestung: Noch über dem gräflichen Banner flatterten auf dem höchsten Turm die Farben des Reiches im Abendwind. Auch im fackelerhellten Thronsaal war die rot-gold-blaue Greifenfahne neben dem Trollzacker Tuch mit dem Pfahl und den zwei Füchsen aufgezogen. Ansonsten wies der hohe Raum wenig Schmuck auf, mit Ausnahme einiger fein bestickter Gobelins an den Wänden, die ein wenig verloren vor den massigen Steinquadern hingen.
In der Mitte des Saales stand der Gast, dem die Fahnengrüße galten. Er war gekleidet in Reithosen und Stiefel – auffällig aber war sein kostbarer Wappenrock. Das Stück war aus blauem Brokat geschneidert und trug auf der Brust die goldene Sonnenscheibe mit dem roten Greifen. Gut fünf Stein mochte der Rock wiegen, doch sein Träger zeigte in dem überheizten Saal nicht eine Schweißperle, wie sie auf den Stirnen der Ehrenwachen überreichlich zu sehen waren. Die Ursache dafür ahnten die Gardisten, wenn sie einen Blick auf das Gesicht unter der roten Kappe mit der Hahnenfeder warfen: Die Haut des Mannes war schwarz, weit dunkler als die jedes Südländers, den sie je erblickt hatten – und sie kannten Menschen aus vielen Ländern. Doch noch niemand hatte je solch ein Gesicht gesehen, mit langen, krausen Locken, die tief in die Stirn hingen, mit einer breiten Nase und wulstigen Lippen, die im Moment spöttisch lächelten. Das Lächeln galt dem Gastgeber. Der junge Graf saß auf seinem Thronsessel, weniger erhöht als so mancher andere adelige Herr seines Ranges, aber doch hoch genug, um gleichauf mit Stehenden zu sein. Seine Kleidung aus teurem Stoff war einfach geschnitten und wies kaum Zierat auf: ein kurzer roter Rock über hirschledernen Beinlingen, ein pelzgefütterter Mantel lässig um die Schultern geworfen. Der
Stoff war grau, aber nicht stumpf wie billige Wolle, sondern vom feinen Glanz einer stählernen Klinge, ein Ton, wie ihn nur die besten Färber Aventuriens zustande bringen und der für so manchen Dukaten gehandelt wird. Der schmale Stirnreif mit den kleinen Perlenhäufchen war der allgemein üblichen Grafenkrone nachempfunden und schien doch auf dem Haupt, das er schmücken sollte, merkwürdig fehl am Platze. Golambes von Gareth-Streitzig, Graf der Trollzacken, war eindeutig ein Halbelf: Deutliche Zeichen seiner Abstammung waren die hellen Haare, auf denen ein Silberschimmer lag, der sie fast altersgrau wirken ließ, und die langen, spitzen Ohren, die, hätten sie weniger abgestanden, bestimmt eindrucksvoller, zumindest aber eleganter gewirkt und sich besser mit der edlen Grafenkrone vertragen hätten. Offensichtliche Zeichen der menschlichen Abkunft waren hingegen das breite, energisch vorspringende Kinn und der – silbergraue – Schnurrbart. Die efeugrünen Augen wiederum wirkten zugleich menschlich und elfenhaft und auf eine seltsame Weise ruhig und doch beunruhigend. Der Graf hatte das Lächeln seines Gegenübers bemerkt und beendete rasch den offiziellen Teil des Empfangs. Dann schickte er auch die Wachen hinaus, erhob sich von seinem Thron und trat mit seinem
Gast zu einem Tisch in der Nähe des Kamins, wo die beiden erst einmal schweigend ein kleines Mahl aus Käse und Brot zu sich nahmen. Als schließlich Diener die Platten abräumten und zwei Gläser und Weinkrüge hereinbrachten, eröffnete der Graf den zwanglosen Teil des Gespräches. »Ich hätte vieles erwartet, aber nicht, dich hier in diesem Aufzug zu sehen. Was versprichst du dir davon, O ...« »Nenn mich am besten ›Greif‹: Das ist mein neuer Titel. Und du, Hochwohlgeboren, nennst den Rock deines Kaisers einen Aufzug?« erwiderte der Mann lachend. Golambes grinste ihn an: »Ach, das ist der Rock des Kaisers! Wie schön, daß er dir paßt! Ihr müßt die gleiche Größe haben ... Aber ernsthaft: Was hat den fahrenden Sänger, Dichter, Lehrer und nicht zuletzt Zweifler dazu gebracht, ausgerechnet Herold des Kaisers zu werden?« »Nun, zum einen glaubte ich, so meine Pflicht gegenüber dem Reich, seinen Leuten und seinem Herrscher am besten erfüllen zu können, wie es so schön heißt – und überhaupt, was sollte ich wohl gegen diesen Posten einwenden? Ein Herold ist Richter in Turnieren und Fragen der Etikette, Zeremonienmeister und Diplomat – und eifriger Verkünder der Heldentaten seines Herrn ... Außerdem genießt er den
Schutz fast aller Wesen: Selbst ein halbwegs kluger Räuber tötet keinen unbewaffneten Herold auf Botengang, denn das wäre ein weit schlimmerer Frevel als jede Wegelagerei. Und der ›Greif‹ ist der oberste von allen Reisenden Herolden: Über mir steht nur Neuwreych, der greise Wappenkönig in Gareth – und natürlich Kaiser Hal. Nicht einmal die Reichsräte können mir Anweisungen geben. Ich bin besser dran als du, Graf Golambes.« »Sprich mir nicht von den Garether Reichsräten, wenn du mich weiterhin bei guter Laune erleben willst ... Aber was deinen Schutz betrifft: Wie ist es mit den Göttern und ihren Vertretern auf Dere? Die Herolde nennt man doch auch Hähne, weil sie singend ihren Herrn ankündigen wie der Hahn den Sonnenschild des Herrn Praios. Wenn du aber unter anderem in Sachen der Kirche auf Reisen bist, wird so mancher glauben, daß du auch für die Inquisition arbeitest ...« Der Herold schüttelte den Kopf. »An mich ist noch niemand herangetreten. Wenn du aber wissen willst, wie ich es mit Praios halte: Den Eid auf das Licht der Wahrheit und Gerechtigkeit konnte ich ruhigen Herzens leisten. Der Sonnengott und ich, wir sind in so mancher Frage einer Meinung, und um deine Frage nach dem Schutz zu beantworten: Ja, ich bin fest überzeugt davon, daß ich göttlichen Schutz genieße ...«
»Nun, Praios ist gewiß ein mächtiger Verbündeter ...« Für einen Moment war die Heiterkeit des Herolds verflogen. »Oh, der Sonnengott hat viele Gaben für seine Diener. So behütet Er mich vor aller Magie: Kein böser Zauber kann mir schaden – und kein magischer Spruch mir Heilung bringen, wenn ich sie einmal nötig hätte. Ich diene Ihm schon länger, als du glaubst; fernab von Aventurien. Im Hohen Land, wo die Sonne so nahe ist, daß sie den Menschen Schwären bringt und der Inbegriff des Bösen ist; und im Eisland, wo man ihr schwaches Funzeln durch Menschenopfer stärkt ... Aber das ist kein Thema für diesen Ort und diese Zeit.« Golambes überbrückte das jähe Schweigen, indem er einige Stücke Holz nachlegte. Es war kalt geworden im großen Saal. Er wollte gerade eine unverfängliche Frage stellen, als der Herold weitersprach. »Um noch einmal auf die Majestät, deinen kaiserlichen Onkel, zurückzukommen: Vielleicht fragt er mich, wenn ich wieder in Gareth bin, wie es dir geht ... Also: Wie steht's um die Grafschaft Trollzacken, was treiben die Trolle?« Der Graf war erleichtert. Hier konnte er einiges erzählen: »Ich gehe davon aus, daß du nichts über Akkerbau, Viehzucht und Ernten hören willst, obwohl wir durchaus etwas vorzuzeigen haben. Du trinkst
gerade das Beste: Alle Welt nennt den Aranischen Schlauchwein, wenn es um einen guten leichten Rotwein geht. Und da dachte ich mir: Was im Darpattal wächst, muß doch hier, am Südrand meiner Berge und auf südlichen Hängen, erst recht gedeihen. Also ließ ich ein paar Weinstöcke aus Aranien ... nun ja, beschaffen und hieß die Bauern einige Hänge roden. Peraine muß mit freundlichen Augen auf diese Unternehmung geblickt haben. Glaub mir: Dieser edle Tropfen hier – gut, er ist etwas blaß – stammt aus Trollingen, wo angeblich nur Hafer und Rüben wachsen ... Der Trollinger wird noch berühmt werden! Ansonsten: Ich habe drei verfluchte Bardokinder am Hals, Söhne irgendwelcher ›Ministerinnen‹. Sie haben jeweils eine winzige Baronie bekommen, wo sie keinen Schaden anrichten können: Nahe genug an Altzoll, daß ich sie ständig unter Kontrolle habe, abseits der großen Straßen, damit sie mir keine Schande machen.« Der Herold lachte. »Ich kenne deine Methoden, Golambes. Was aber hört man von den Orks, den Goblins und den Ogern? Nicht zu vergessen die Trolle, wie gesagt?« »Orks und vor allem Goblins gibt es hier mehr als genug – aber meine Bauern wissen sich zu wehren. Das Kroppzeug stellt keine Gefahr mehr dar, außer vielleicht für einzelne Reisende. Oger: Seit der
Schlacht hat sich keiner mehr blicken lassen, aber davor hatten sie unsere Mauern ganz schön angeknabbert – du hast's ja wohl gesehen. Tja, und die Trolle ... Sie sind laut, ungebärdig, gefräßig, stark und nicht besonders schlau – kurz: Ich verstehe es, mit Herzog Waldemar von Weiden auszukommen, da bereiten mir ein paar Trolle auch keine größeren Sorgen.« »Immer noch die alte scharfe Zunge! In Gareth würdest du es mit solcher Rede nicht weit bringen, auch wenn du zur kaiserlichen Sippe gehörst ... Dabei fällt mir ein: Wie stehst du dich mit Helme Graf Haffax?« Golambes überlegte kurz. »Ich treffe den Marschall stets beim Fürstentag zu Rommilys – eine Veranstaltung, die mir regelmäßig Magendrücken verursacht. Aber doch, ja, wir kommen miteinander aus, denn wir haben etwas gemeinsam: Wir mögen beide Fürstin Hildelind nicht besonders und hassen ihren verschlagenen Mistbraten von einem Bruder –, so daß wir beide nach den formellen Besprechungen meist noch eine Weile beisammenhocken. Der Alte ist ein guter Zecher und leidlich guter Erzähler, wenn auch recht phantasielos: Letztens hab ich ihm beim Spiel achtzig Dukaten abgenommen. Außerdem schätzt er mich, weil meine Kämpen in der Ogerschlacht nicht wie einige andere Grafschaftstruppen Reißaus genommen haben. Du kennst das vielleicht: Für diese Reichsoffiziere sind Kaiserliche Truppen gut, fürstli-
che Gardisten kaum erträglich und frisch ausgehobene Grafschaftssoldaten kaum besser als der letzte Stadtbüttel. Aber die Trollzacker Bergwehr hat ihn das Staunen gelehrt! Wir waren kaum zweihundert Leute und haben achtundzwanzig Oger zur Stecke gebracht!« Der junge Graf hielt inne, als er das Grinsen des Herolds bemerkte. »Die lautere Wahrheit, mein Lieber, die lautere Wahrheit. Nun, warum fragst du nach dem alten Helme?« »Was ich jetzt sage, ist so geheim, daß du es im Zweifelsfall von mir gar nicht gehört haben kannst: In Gareth ist man an hoher Stelle der Ansicht, daß Fürstin Hildelind zu oft mit Brüderchen Answin zusammensteckt und daß die beiden nichts Gutes aushecken. Mancher fragt sich, ob nicht statt Hildelind Marschall Helme auf den Fürstenthron gehörte: Wenn also das Fürstentum Helme zugesprochen würde, könnte für einen gewissen Vetter des Kaisers vielleicht auch ein Anstieg auf der goldenen Leiter herausspringen – falls er rechtzeitig richtig von sich reden macht. Du verstehst mich? Nach allem, was ich so hörte, hast du ohnehin große Pläne mit deiner Grafschaft, nicht wahr? Bei meiner Ankunft habe ich all die Bauarbeiten bemerkt. Es tut sich allerlei ...« »Nun, zuerst müssen wir wieder das aufbauen, was die Menschenfresser zerstört haben. Da blieb nicht viel übrig ... Natürlich würde ich auch gern ein
größeres Gebiet regieren – aber man wird den Herrschaften in Gareth wohl nie klarmachen können, daß Elfenblut in den Adern Vernunft und Weitblick nicht ausschließt ... Ach, laß uns von etwas anderem sprechen: Großvater. Wie geht's dem alten Storko? Immer noch rüstig? Er muß doch schon über Sechzig sein.« »Bald zweiundsechzig Jahre, aber springlebendig. Fürwahr: Storko ist ein ewiger Junge. Immer noch ohne ein graues Haar – es sei denn, sein mohischer Giftmischer und Leibarzt hätte eine färbende Rinde ... Wie dem auch sei: Dein Großvater bewohnt jetzt eine Suite im Neuen Palast und ist der Schrecken der Kammerzofen.« »Scheint in der Familie zu liegen.« »Ach? Wie viele Bauernmädchen rund um Altzoll gedenken nachts mit sehnsüchtigem Seufzen des Grafen? Oder kannst du sie schon nicht mehr zählen?« Freundlicher Spott lag in der Stimme des dunkelhäutigen Mannes. »Ich bin ruhiger geworden, Greif. Mit sechsundzwanzig Jahren macht sich das Alter allmählich bemerkbar ... Aber im Ernst: Der Halbelf hat sein Herz verloren an eine glutäugige Amazone. Wir sehen uns hin und wieder in Beilunk.« »Eine Amazone?!« Der Herold riß verwundert die Augen auf. »Es heißt doch, daß diese Damen von uns Männern nicht allzu viel halten.«
»Oya ist anders: Klug, zärtlich, tapfer ... und wirklich verliebt – so wie ich. Ich habe sie kennengelernt, als Onkel Arve mich einmal nach Kurkum mitgenommen hat.« Der Herold strich sich nachdenklich durch das schwarze Haar. »Arve? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Der Arve aus der Heldensage um Yppolitas Jugend? Der Dichter?« »Genau der – wenn auch die Legende einiges verzerrt hat. Arve ist übrigens nicht wirklich mein Onkel – er ist ein Vetter meines Vaters, um genau zu sein, aber ich nenne ihn so. Ich habe ihn zu meinem Baron gemacht, er regiert eine winzige Baronie an einer Paßstraße von Rommilys über die Berge. Nun ja, genug von Onkel Arve. Wo ist deine Harfe? Sag nicht, du hast das Singen aufgegeben!« »Keineswegs. Obwohl ich jetzt meist die Laute spiele, die ist einfacher zu transportieren. Eigentlich müßte ich wohl Flöte lernen ...« Der Graf zuckte die Achseln. »Ja? Ich kann dir mal eine Beinflöte zeigen, die mir ein Nivese geschnitzt hat – das Ding ist aus einem Ogerschenkel, wiegt zehn Stein und hört sich an wie zwanzig betrunkene Posaunisten. Also, wie ist es, Herold? Spiele Er mir ein lustig Lied oder bekomme Er den gar abscheulichen Zorn eines Grafen zu spüren!« Mit einer übertrieben ehrerbietigen Verbeugung
erhob sich der Greif und holte sein Instrument aus dem Reisesack, den er am Halleneingang abgesetzt hatte. Während er die Saiten stimmte, sprach Golambes weiter. »Weißt du noch, wie du nach Gareth kamst? Zum ersten Mal, meine ich. Deine Gauklertruppe trat auch vor den Kindern des Palastes auf, und du sprachst mit mir wie mit einem Erwachsenen. Ich war damals neun, und klein Brin mit seinen fünf Jahren war furchtbar eifersüchtig. Sein Großvater sei der Kaiser, sagte er, und werde euch alle in den Kerker werfen lassen, wenn ihr so viel schwatztet und so wenig spieltet. Erinnerst du dich noch?« »Natürlich, ich vergesse kaum etwas. Prinzessin Alara kam herbei, schalt ihn aus und steckte ihn ins Bett. Ich kann mich noch gut an sein grimmiges Gesicht erinnern ... Nun ja, heute wird er es wohl verziehen haben – jedenfalls hat mich noch kein Königlich Garethischer Büttel verhaften wollen.« »Warst du damals eigentlich schon lange mit den Gauklern unterwegs gewesen? Ich hab mich das nie gefragt, du warst auf einmal da und bliebst als eine Art Hofsänger und Lehrer.« Der Schwarze blickte in die Flammen. »Oh, ich zog mit den Gauklern umher seit dem Tag, an dem ich aventurischen Boden betrat. In einer kleinen Hafenschenke haben sie mich gleich angeheuert, als vorläufigen Ersatz für den magenkranken Schwertschlucker
– zwei Jahre später war ich der Anführer. Und ich hatte auch beschlossen, in die Kaiserstadt, nach Gareth zu gehen – obwohl alle Berichte vor dem dort hausenden Ungeheuer warnten: Ein tyrannisches und eigensinniges Halbelfenkind hatte sich den Palast unterworfen ...« »Vorsicht, mein Sinn für Humor wird oft überschätzt! Spielst du nun, oder willst du nur darüber hinwegtäuschen, daß vom Alter deine Finger krumm geworden sind? Dabei siehst du gar nicht so gebrechlich aus ...« Statt einer Erwiderung griff der Herold in die Saiten. Zarte Töne mischten sich in das ferne Rauschen des Abendwindes und verschmolzen zu einem heiteren Liebeslied. Dann spielte der Schwarze beherzter auf. Rauhe Soldatenlieder erklangen, wilde Trinkgesänge, schwermütige alte Balladen. Stunden vergingen, in denen der Graf mit zur Seite geneigtem Kopf dem Spiel seines Gastes lauschte oder summend in einen Kehrreim einstimmte. Schließlich hörte der Herold auf, die Saiten anzuschlagen, und trommelte statt dessen auf dem hohlen Körper der Laute eine fremde Musik, wie sie kein Aventurier kannte, eine Musik, die an die Kriegspauken der Oger erinnerte und doch ganz anders war. Der Halbelf lauschte vornübergebeugt und klopfte unbewußt im Takt mit den Fingern auf die eichene
Tischplatte, während im Kamin das Feuer allmählich niedergebrannte. Jäh verstummte die improvisierte Trommel. Nach langer Zeit öffnete der Schwarze wieder den Mund, und seine Worte klangen traurig: »Es hat keinen Sinn. Es ist wie mit dem Wein: Ich kann ihn genießen, aber er vermag mich nicht mehr zu berauschen. Ich sitze da, sehe die Entrücktheit in den Augen der anderen Menschen und bleibe selbst völlig klar und nüchtern. Es ist nicht die richtige Zeit für diese Musik. Laß uns schlafen gehen. Ich muß morgen früh weiterrei... Was war denn das? Erwarten wir noch Gäste?« Auf dem Flur vor dem Thronsaal war ein lautes Rumpeln zu hören, als ob sich eine Schar Betrunkener den Weg durch eine Abstellkammer bahnte. Graf Golambes war aufgesprungen, die Hand am Schwert. Dann schüttelte er den Kopf: »Laß uns dem nicht noch entgegengehen. Einen Eindringling, der um diese Stunde an meinen besten Wachen vorbeikommt, wollen wir hier im Saal erwarten.« In diesem Moment wurden die Türen aufgestoßen, ja schon beinahe aufgesprengt, und ein heftiger Windstoß fegte in den Raum. Im flackernden Lichtschein des neu angefachten Feuers erblickten die Freunde eine riesenhafte, nur entfernt menschenähnliche Gestalt von über vier Schritt Höhe. Das ganze Wesen schien von einer nassen schuppigen Haut be-
deckt, langsam lösten sich von ihr kleine grüne Plättchen – kreisrund, aber kleiner als ein Kreuzer – und rieselten zu Boden. Bei jeder Bewegung, die die Kreatur machte, sprühten bräunliche Tropfen einer ekelerregend stinkenden Flüssigkeit nach allen Seiten. Der massige Leib des Geschöpfes aus der Nacht wirkte formlos und wie von aufgequollenen Wülsten umgeben, die an Stellen verliefen, für die die menschliche Sprache keine Bezeichnungen besitzt. Ein Knirschen und Knarren ertönte, als das Wesen einen gewaltigen Schritt auf die Menschen zu machte und sie nun fast mit den plumpen, fast drei Spann großen Händen hätte ergreifen können – mit Händen, deren eine die riesenhafte Parodie einer Axt hielt. Übler Atem wehte den Freunden ins Gesicht. Schließlich wurde die Kreatur von einem Zittern und Beben geschüttelt, und dann knickte sie plötzlich seitlich zusammen, fiel aber nicht hin, sondern stützte sich ächzend auf ein gebeugtes Knie, verharrte so vor den Menschen, die nun ein Gesicht erkannten, das von triefenden, mit Entengrütze gespickten Haarsträhnen umflossen war und aus dem sie zwei tiefliegende, kleine rote Augen anfunkelten wie die letzten Kohlen eines ersterbenden Feuers. Das Wesen öffnete einen breiten Spalt unten im narbigen Gesicht und zeigte eine Reihe schwärzlicher Zähne, so lang und spitz, daß sie gut eines Menschen Arm vom Leib
trennen konnten. Seine lächerlich hellrosa Zunge bebte, und ein unheimlich gepreßtes, gräßliches Stöhnen erklang aus dem weitaufgerissenen Rachen. Tropfen von Speichel und gelbem Schleim sprühten in den Raum. In den Lärm hinein ergriff Graf Golambes das Wort: »Aber bitte, steht doch auf, Baron Strutzz. Denkt an Euren Husten. Ihr nehmt doch ein Horn Süßwein mit uns?« Langsam und schwerfällig erhob sich der Troll von den Knien und versuchte, seine vom Regen aufgequollene Lederrüstung wieder glattzustreichen. Er hustete noch einmal langanhaltend. »Seid gedankt, Hochwohl. Muß entschulden mein spät Erscheinen im solchen Aufzug, aber es ist Notfall. Kam gleich vom Mittagmahl – gab jung Schößling in Knoblauchsirup – danke noch für Rezept und Sirup. Was woll ich sagen? Kam vom Mittagmahl, lief durch Regen und Sturm, fiel im Jauchgraben vom Burg, jetzt hier. Ja, gern Süßwein.« Der Graf hatte inzwischen einige Kerzen entzündet und bat nun den Herold zu einem Schrank. Er erzählte ihm dabei flüsternd: »Laß uns beide das Horn holen – die Diener schlafen bestimmt schon. Das ist Baron Strutzz, ein guter Mann für die Berge. Die anderen Trolle erkennen ihn als eine Art von Oberhäuptling an. Er muß schon mindestens vierhundert Jahre alt sein:
Wenn er guter Laune ist, erzählt er dir gern von seinen Begegnungen mit Kaisern und Priesterinnen, deren Namen heute kein Mensch mehr kennt. So, faß jetzt hier einmal an, ja, so. Ich traf ihn auf einem Streifzug und hab ihn zum Freiherrn des Neuen Reichs ernannt. Gareth ist fern ... Vorsicht, das Horn wiegt fast zwölf Stein! Strutzz war sehr geschmeichelt und froh, vor allem als er erfuhr, daß manche neuernannten Barone – eben solche von trollischem Geblüt – bei der Krönung ein Faß kandierte Früchte erhalten ... Ach, laß mich das Horn nehmen, hier, nimm du das Faß mit dem Wein. Seine Krone trägt er übrigens an einer Kette um den Hals. Die größte Hilfe war er mir, als er für mich zehn Trolle in die Ogerschlacht führte ... Da wären wir. So, Baron«, fuhr er mit normaler Stimme fort, »einschenken müßt Ihr Euch schon selbst. Greif, zünde doch bitte einige der Pechfackeln an, danke.« Der Troll hatte sich inzwischen im Schneidersitz niedergelassen und füllte das große Trinkhorn mit dem fast sämigen Getränk bis zum Rand. Während er das Horn ansetzte und einen gewaltigen Schluck nach dem anderen nahm, wisperte Golambes dem Greif leise zu: »Ich habe den ›Wein‹ aus Wasser, Saft, Sirup und Schnaps zurechtmischen lassen. Echter süßer Raschtulswaller würde mich in diesen Mengen einen Jahreshaushalt kosten – und der Baron würde ihn womöglich auf den Saalboden speien ...«
Unglaublich rasch hatte der Riese das Trinkhorn geleert und räusperte sich – ein Geräusch, das an den Verzweiflungsschrei eines Ertrinkenden erinnerte. Dann begann er seinen Bericht: »Sagen mir Brüder Trolle und auch Menschen, daß großer Drach ist gekommen auf Gipfel vom Wolkenkopf. Fordert Drach viel Viech und Beute und Gold. Will Drach sprechen mit Graf. So ich kommen, holen Graf.« Golambes runzelte die Stirn: »Langsam, langsam, Baron Strutzz! Was ich da höre, muß ich erst einmal verdauen. Ein leibhaftiger Drache, sagt Ihr ...? Ihr wollt mich doch wohl nicht gegen meinen Willen in die Berge schleppen? Ich muß mich erst näher umhören.« »Versteh nicht, Hochwohl. Wenn ich wurd Baron, Graf gesagt, er schütz das Land, die Mensch und Troll. In Wahrheit Troll schützen das Land, spüren noch Narben aus Ogerschlacht. Bruder Gralck fast Bein ab! Nun Zeit für Hochwohl, um zu schützen uns.« Der Herold hatte bisher abgewartet und warf nun ein: »Golambes, zuerst mußt du wissen, von was für einem Drachen er überhaupt redet ... Welche Farbe hatte das Untier, Baron Strutzz?« »Ich hab Drach nicht selb gesehn, Herold Schwarzmann. Sagen aber Menschen, wo hatt gesehn, daß war riesengroß und ganz rot.« Leise pfiff der Greif durch die Zähne. »Ein Kaiser-
drache. Und er bezeugt dir seine Hochachtung: Gewöhnlich haben es diese Tiere nur auf Magier oder Philosophen abgesehen. Aber sie sind verflucht gefährlich.« Graf Golambes dachte nach: »Dennoch, Strutzz hat recht. Ich bin verantwortlich für diese Grafschaft, und wenn ein Drache meine Untertanen bedrängt, dann muß ich sie schützen. Außerdem gelingt es mir vielleicht eher, die Aufmerksamkeit der Garether zu erregen, wenn ich den Titel ›Drachentöter‹ trage. Baron Strutzz, ich komme mit Euch. Wir werden es schon schaffen – was ist denn ein Drache gegen den Großneffen Kaiser Retos! Ich mache mich gleich bereit und suche meine Waffen zusammen. In – sagen wir – einer Stunde bin ich reisefertig.« Der Herold blickte auf: »Golambes, bedenke, wie spät es ist! In etwa einer Stunde wird es tagen. Willst du nicht erst einmal schlafen?« »Unsinn. Ich kenne mich: Wenn ich gleich reite – ich reite gern am frühen Morgen – und wir ein ordentliches Tempo vorlegen, kommen wir noch weit. Die Morgenluft wird mir den Wein schon aus dem Schädel pusten. Aber wenn ich jetzt ins Bett gehe, finde ich vor Nachmittag nicht mehr hinaus. Du siehst, reine Selbsterkenntnis.« Golambes grinste. »Aber wenn du in deinem hohen Alter nicht mitkommen magst ... Du wirst mich doch begleiten?«
Der Greif schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Nein. Ich habe eine andere Aufgabe. Fern von hier, im Bornland. Ich habe nur für einen Abend bei einem Freund haltgemacht.« »Du willst mir wirklich nicht Gesellschaft leisten ...?« Für einen kurzen Augenblick zeigte sich Enttäuschung auf den Zügen des Grafen, dann lächelte er. »Aber laß nur; ich kenne diesen endgültigen Gesichtsausdruck. Na, ich werd schon allein zurechtkommen.« Sein Lachen klang nur für die geübten Ohren des Barden etwas gezwungen. »Also gut. Führ deinen Kaiserauftrag aus, und grüße alle recht schön von mir. Dabei fällt mir etwas ein«, und in seiner Miene war Neugierde, »führt der Weg des Greifen auch über Ysilia?« Der Schwarze nickte: »Ich soll dort der Bannakademie eine Botschaft von der ›Magischen Rüstung‹ in Gareth ausrichten – ich bin nun mal ein begehrtes Studienobjekt der Antimagie ...« »Gut.« Golambes schritt zu einer eisenbeschlagenen Truhe, schloß sie auf und entnahm ihr einen Lederbeutel. »Hier, Edelsteine im Wert von zweihundert Dukaten. Gib sie Herzog Kunibald mit den besten Wünschen von mir, als Spende und Aufbauhilfe für die Stadt. Er wird verstehen, daß ich nicht mehr geben kann ... Warte, für dich habe ich noch dies als Geschenk: Es paßt zu dir.« In Golambes' Hand lag ei-
ne schmale goldene Kette, an der ein einzelner pechschwarzer Stein von der Größe eines Taubeneis hing. »Ein Nachtopal. Er speichert alles Licht – und wenn du ihn in einer Flamme leicht erwärmst, entlädt er sich in wahren Regenbogenkaskaden ... Ach ja, wenn ich hier schon in der Schatzkammer krame – Baron, nehmt von mir diese kleine Specksteinfigur für Eure Sammlung. Es soll ein Elefant sein, glaube ich ... Ich hab sie mal einem Thorwaler Söldner abgekauft.« Dem Herold raunte er zu: »Strutzz sammelt wie alle Trolle kleine Dinge – hüte dich, wenn er dir seine Steinfiguren zeigen will: Er hat wohl über tausend davon ...« Der Troll zeigte plötzlich eine leuchtend rote Gesichtsfarbe, passend zu den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die soeben durch das Fenster fielen. »Oh, Hochwohl ist guter, freundlicher Mann. Dank auch schön für kleinen Elf-Fant ... Verwandter von Hochwohl?« Die Männer schauten sich verblüfft an, ehe ihnen klar wurde, daß der Troll unerwartet einen Witz gemacht hatte. Dann dachten sie an die großen Ohren der kleinen Figur und stimmten in das dröhnende Lachen ein, von dem Strutzz mittlerweile geschüttelt wurde. In diesem Augenblick betrat der Anführer der Garde den Raum: »Hochwohlgeboren, kann ich Euch
zu Diensten sein? Hat der Herr Baron gute Neuigkeiten bringen können?« »Oh, für euch sind sie gut: Die Katze wird für eine Weile aus dem Haus sein. Ich reite in die Berge. Sei so gut und weck den Koch, er soll mir Proviant einpakken. Und stell mir einen Viermanntrupp als Begleitung zusammen – das müßte genügen.« Dann wandte er sich seinen Gästen zu: »So, macht jetzt eine Weile, was euch beliebt, legt euch kurz aufs Ohr oder sonst etwas ... Baron, in einer Stunde geht es los. Greif, alter Freund, halt dich wacker – und leg beim Herrn Praios ein gutes Wort für mich ein ... Ich werd es vielleicht brauchen können.« Ernst erwiderte der Schwarze: »Gern ginge ich mit dir, doch dies ist nicht mein Weg ...« Mit einem spöttischen Lächeln fügte er hinzu: »Und außerdem würde das gar nicht passen. Heldensagen enden mit einem abendlichen Besäufnis, sie fangen nicht damit an. Mach es gut.« Der junge Graf war schon vor Ablauf der Stunde mit seinen Vorbereitungen fertig: Golambes nahm auf seine Ausritte nie viel mehr mit als seine Waffen, seinen Ringelpanzer und Proviant. Schließlich trat er noch einmal an seinen Kleiderschrank und öffnete eine geheime Klappe an der Rückwand. Dem Fach entnahm er einen Beutel mit
Hellern und einigen Silbertalern – Goldmünzen waren in den Bergen Verschwendung – sowie eine alte, lederüberzogene Schatulle. Diese Schatulle hatte einst ein junger Gast des Hauses vergessen, und seitdem leistete ihr Inhalt dem Grafen von Altzoll gute Dienste. Inzwischen aber war sie fast leer, wie Golambes mit Bedauern feststellte: Auf rotem Samt ruhten nur wenige der einstmals fünfzig buntbemalten Zinnfigürchen, die eine tobrische Reiterschwadron dargestellt hatten. Diesmal entschied sich der Graf nach einigem Überlegen für zwei Gemeine und den Hornisten des rechten Flügels. Ein schwaches Lächeln huschte über Golambes' Gesicht, als er an das Schicksal des linken Gegenstücks dachte: Mit dieser Figur und dem prachtvollen Rittmeister hatte er die Hilfstruppen für den Ogerkrieg gewinnen können. Die Trolle waren begeistert gewesen – wohl die einzige Armee, die von einem kaum fingerhohen Kommandanten in die Schlacht geführt wurde. Blieb nur das Problem mit dem Drachen. Gab es in der Zollburg irgendeinen Schatz, der einen gierigen Kaiserdrachen erfreuen und beruhigen konnte? Golambes wußte nicht viel vom Drachentöten, stellte sich aber vor, daß es nicht schaden konnte, das Untier zuvor abzulenken und freundlich zu stimmen. Schweren Herzens entschied er sich schließlich für
eine funkelnde Kette aus Zirkonen und Mondsilber – ein Geschenk seiner Mutter an die spätere Braut –, und er sagte sich dabei, daß er die Kette ja gewiß wieder zurückbringen werde oder bei dem Versuch stürbe ... Oya machte sich ohnehin nicht viel aus Schmuck. Nach kurzem Nachdenken beschloß Golambes, daß es besser sei, ihr keine Nachricht zu hinterlassen. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er überhaupt noch erkennbare Schriftzeichen auf Papier bringen konnte. Vielleicht hatte er doch einen Becher Wein zuviel getrunken ... So warf er nur noch einen letzten Blick in seine Kammer, beauftragte den Haushofmeister mit dem Kommando über die Burg, den Schreiber mit der Führung der laufenden Amtsgeschäfte und begab sich in die Ställe. Dort tätschelte er dem noch schlafenden Norre leicht den Kopf. Der gewaltige Falbhengst war ein Tralloper Riese und kam eigentlich nur zum Einsatz, wenn der Graf aus Gründen der Etikette eine Ritterrüstung tragen mußte – sehr selten also. Golambes erwog seit langem, das Pferd zum Wallach schneiden zu lassen, um es an die Bauern als Zugtier verleihen zu können. Golambes' liebstes Reittier war die schöne Zulhamin, eine Stute aus dem Gräflichen Gestüt in Lorsunk. Formal war sie damit ein gewöhnlicher Radromtaler, doch der
Anteil an echtem Shadifblut in ihr war so hoch, daß sie sogar die seltene Zuneigung zu Magiebegabten zeigte. Für die Zucht galt sie als verdorben: Echte Shadifs sind entweder schneeweiß oder pechschwarz – Zulhamin aber war beides in wilder Scheckung. Ein ›Kuhpferd‹, wie die Trolle sie nannten. Golambes sattelte die Stute, schnallte die Packtaschen fest und ritt auf den Hof, wo Baron Strutzz und die vier Krieger bereits warteten. Der Graf warf einen raschen Blick auf seine Eskorte – der Gardeführer hatte sehr gute Leute ausgewählt. Auf alle vier konnte man sich verlassen: den bärtigen Pardur mit den wallenden steingrauen Locken, den blonden Grum, der die Trollzacken wie kein zweiter kannte, den heißblütigen Azzan, Novadi und einer der kühnsten Streiter in der Burg, und die Ritterin Mara, deren wilder roter Haarschopf so wenig zu den ernsten, dunklen Augen und dem bitteren Lächeln paßten, das ihre schmalen Lippen umspielte. Der Herold war nicht zu sehen – der Greif war schon fortgeritten. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont, als die sechs aufbrachen. Ihr Weg führte die Kämpen durch das Städtchen Altzoll, das eben erwachte. Aus einigen Schornsteinen stieg schon Rauch gen Himmel, auf einem Hof krähte
ein Hahn. Eine alte Frau zog mit einer Kiepe zum Reisigsammeln in den Wald – und um Hasenschlingen auszulegen, wie der Graf vermutete. Nun, so lange sie die Hirsche und Rehe in Frieden ließen, wollte er seinen Untertanen dieses Treiben nicht verbieten. Die Reiter und der Troll durchmaßen verschlafene Gäßchen, passierten die Baustelle des neuen Traviatempels und erreichten schließlich das Stadttor. Dort grüßte sie der Krumme Pagol, der hier hauste und seinen Dienst versah, seit die Oger seinen Bauernhof vor der Stadt niedergebrannt hatten. Seine Frau und die vier Kinder waren in den Flammen gestorben, bevor sie den Menschenfressern in die Hände fallen konnten – das hoffte der Alte zumindest. Vor der Stadt beschloß Golambes, eine schnellere Gangart vorzulegen – so schnell zumindest, wie die Pferde der vier Soldaten und Baron Strutzz auf seinen langen Beinen mithalten konnten. Die ersten in aller Frühe auf den Feldern arbeitenden Bauern fragten sich, wohin ihr Graf seinen seltsamen bunten Zug wohl führen mochte, und sie entschieden still, daß selten etwas Gutes dabei herauskam, wenn die Herrschaft so früh schon unterwegs war ... Die sechs legten das erste Wegstück schweigend zurück, nur begleitet vom rasselnden Keuchen des
Trolls. Golambes war mit seinen Gedanken bei der bevorstehenden Aufgabe – und bei dem, was der Herold ihm erzählt hatte. Anders als gehofft, ließ sich der Wein von der Morgenluft nicht vertreiben. Wie trübe Nebelschwaden zog es durch Golambes' Kopf, und seltsame Gedanken kamen ihm: Wenn Kaiserdrachen wirklich nur Philosophen oder Zauberer mochten, war die Herausforderung wohl als ein gewaltiges Kompliment zu betrachten. Zwar hielt sich der Graf auf seinen scharfen Verstand einiges zugute – einen Philosophen jedoch mochte er sich nicht nennen. Offenbar wußte der Drache mehr als die meisten Menschen. Denn es war nicht allein die Liebe, die Golambes so oft nach Beilunk führte: Golambes konnte zaubern! Nicht wie ein Halbelf, sondern wie ein Magier. Und so ritt er des öfteren nach Beilunk und mischte sich unter die Adepten der ›Schwert-undStab‹-Akademie. Denn Kampfzauber waren die einzigen, die ihm gelangen. Ha! Der Drache mochte vielleicht stark und klug sein, aber er, Prinz Golambes von Gareth-Streitzig, Graf der Trollzacken, würde es ihm schon zeigen! Dieser verfluchte Kaiserdrache! Er würde ihn verjagen wie einen räudigen Hund! Und so manchen anderen auch, Drache oder Mensch, und all seine Sorgen hätten ein Ende. Ein Krähenschrei schreckte den Grafen auf. Er ver-
suchte, seine letzten Gedanken wieder aufzunehmen, und entschied, daß seine Sorgen erst anfangen würden, wenn er so fortfuhr. Baron Strutzz wirkte inzwischen recht erschöpft: Sein Atem ging stoßweise, seine Füße schlurften über das Straßenpflaster, seine Schultern hingen müde herab. In diesem Moment brach die Sonne zwischen den Wolken hervor und strahlte den nach Süden Reitenden schräg ins Gesicht, so daß sie geblendet die Augen zusammenkniffen. Es mußte schon weit nach Mittag sein. Die Reisenden hatten bereits ein sehr ansehnliches Wegstück zurückgelegt, so daß Golambes eine Rast anordnete. Die fünf Menschen verzehrten einen Teil des Proviants, während Baron Strutzz in ein nahes Wäldchen ging, um dort einen Bau wilder Bienen zu suchen. Trolle haben ein untrügliches Gespür für süße Sachen. Golambes griff seufzend in die Tasche und hielt schon einige Münzen Entschädigung bereit, falls der Troll den Stock eines Imkers aus dem nahen Dorf erwischen sollte. Nach dem Honig würde der Baron einige Knollen Waldfenchel kauen, um seinen Husten zu lindern und sich zur Ruhe legen. Der Graf befahl den Kriegern, sich um die Pferde zu kümmern und dann auszuruhen. Er legte sich selbst ins Gras, um, in seinen Mantel gehüllt, einen Teil der verlorenen
Nachtruhe nachzuholen. Sein Schlaf war anfangs tief und traumlos, doch als Golambes nach einigen Stunden immer heftiger von Marschällen, Kaisern und Drachen durch eine enge, verwinkelte Schlucht gehetzt wurde, wachte er auf und sah, daß es schon nahezu Abend war. Nun hieß es rechnen: Die Strecke von der Residenzhöhle Baron Strutzz' bis Altzoll hatte der ausgeruhte Troll in etwa sechzehn Stunden stetem Lauf zurückgelegt. Von dort zum Wolkenkopf, einem der höchsten Berge in den Trollzacken, waren es noch einmal zwei Tagesreisen. Wenn sie aber den Weg abkürzten und Strutzz' Höhle mieden, konnten sie es in einer weiteren Tagesreise schaffen – aber dazu mußten sie sofort aufbrechen. Der Troll würde wohl kaum wachzubekommen sein – falls sie ihn überhaupt fänden. Denn wie alle seiner Art schlief Strutzz gern verborgen unter geborstenen Baumstämmen oder gemeinsam mit dem Bewohner in einer versteckten Bärenhöhle. Sie konnten den Baron aber auch nicht einfach hier zurücklassen. Trolle waren bei aller körperlichen Robustheit sehr verletzlich und leicht zu kränken. Schließlich kam Golambes zu einem Entschluß: »Pardur, du und Grum, ihr bleibt hier. Als Ehrengeleit für den Baron. Einer von euch wartet, bis Strutzz wach ist, der andere schläft – am besten, ihr teilt euch die Zeit ein. Mar-
na und Azzan begleiten mich, ihr anderen kommt so schnell wie möglich zum Wolkenkopf nach. Wenn der Baron zunächst seine Heimstatt aufsuchen will, sagt ihm, er soll auf meinen Befehl, nein, auf meine ernste Bitte hin darauf verzichten und gleich mit euch kommen. Ist alles klar?« Der Angesprochene, ein erfahrener Veteran so mancher Schlacht, nickte. Er würde alle Anweisungen wortgetreu ausführen, daran zweifelte Golambes keinen Augenblick. Das Aufsatteln nahm nur kurze Zeit in Anspruch. Der Graf beglückwünschte sich im stillen zu seinem Entschluß, denn die beiden Begleitsoldaten hatten weitaus schnellere Pferde als ihre Kameraden: Marnas Roß stammte wie seine Reiterin selbst aus Elenvina, Azzan pflegte seinen Goldfelser Fuchs mit der ganzen Hingabe des Wüstenkriegers. Mit einem Gruß an die Gefährten stiegen die beiden Soldaten auf und folgten ihrem Grafen. Nach etwa zwanzig Minuten in scharfem Galopp hatten die Reiter den Punkt erreicht, an dem sie die Straße nach Perricum verlassen mußten, wollten sie direkt zum Wolkenkopf gelangen. So schlugen sie denn einen wenig benutzten Feldweg nach Westen ein und ritten der untergehenden Sonne entgegen – drei Krieger im Abendlicht, welch stimmungsvolles Motiv für
einen Heldenmaler, dachte Golambes und grinste spöttisch. Dann richtete er seine Gedanken auf das Kommende – und diesmal, nach Stunden der Ruhe, war sein Kopf wieder ganz klar. Vor allem empfand er es als angenehm, daß Strutzz fehlte: Das erbarmungswürdige Keuchen und Schnaufen des Trolls hatte wie eine stete Mahnung gewirkt, der Graf möge den Drachen doch endlich erreichen und erschlagen. Nun fand Golambes die nötige Ruhe, ernsthaft über das Problem nachzudenken, denn der Weg war eben, und Zulhamin zeigte ihre gewohnte Trittsicherheit. Der Halbelf kam schließlich zu dem Ergebnis, daß er mit seinem raschen Aufbruch übereilt gehandelt hatte. Aber jetzt wieder umzukehren, würde sich in späteren Berichten verflucht häßlich ausnehmen – außerdem gab es in Altzoll ohnehin keine Waffen, die es besser mit einem Drachen aufnehmen könnten als die treue Klinge aus gutem Angbarer Stahl, die schon an seiner Seite hing. Waffen ... Das mochte die Lösung sein! In Lorsunk lag das neuaufgebaute Kaiserlich Radromtaler Bewegliche Katapultregiment – eine späte Lehre, die man aus der Wirkung des ›Ogerlöffels‹ gezogen hatte. Golambes kannte Frene, die alte Kommandantin, recht gut. Vielleicht würde sie ihm ein Gerät ausborgen.
Damit würde er dem Drachen schon den Garaus machen. Dann schüttelte er den Kopf. Das Pumpen von Geld war eine, das Verleihen eines Katapults eine völlig andere Sache – das war nicht mit Freundschaftsdiensten zu regeln. Aber wenn er offiziell wurde ... Im Geiste fluchend ging der Graf die einschlägigen Bestimmungen durch. Die Rechtslage war eindeutig: Reichstruppen unterstehen nur dem Marschall und dem Kaiser. Es sei denn, es bestand akuter Notstand für Reich und Thron ... Dann konnte auch der jeweilige Graf Notmaßnahmen treffen. Und man würde ihm sein energisches Einschreiten hoch anrechnen. Golambes wollte eben den Befehl zum Wenden geben, als er seinen Plan wieder verwarf. Es war zu gewagt, nur auf eine Meldung aus dritter Hand hin solche Anordnungen zu treffen. Sollte die Mission scheitern, könnte sein Verhalten als Bruch des Lehnseides ausgelegt werden. Wahrscheinlich waren diese beweglichen Katapulte am Ende doch nicht beweglich genug, um mit ihnen den Wolkenkopf zu erklimmen. Außerdem würde Frene ohnehin erst Boten nach Wehrheim und Gareth schicken. Und am Ende würde irgendein Herzog oder Markgraf – vielleicht gar der Marschall selbst – erscheinen und den ganzen Ruhm einstecken. O nein, er würde sich seinen Drachen nicht nehmen lassen, schwor Golambes sich grimmig lachend.
›Abenteurer‹, wiederholte der Graf in Gedanken. Er brachte die Stute zum Stehen und betrachtete nachdenklich den von den letzten Strahlen der Abendsonne beschienenen Wolkenkopf. Ja, er sollte ein paar Abenteurer anwerben, ein paar junge Krieger oder Akademieabsolventen am besten, doch wo? Wehrheim war zu weit entfernt, und alle anderen Großstädte der Umgebung hätten die vorläufige Umkehr bedeutet. Also blieb Rommilys, dort würde er vier oder fünf junge, starke Krieger anheuern – Lohn nach Erfolg, versteht sich. Golambes' Begleiter staunten gehörig, als sie den Grafen fröhlich pfeifen hörten. Verwundert folgten sie ihm, als er seine Stute von dem fernen Wolkenkopf fort und in eine neue Richtung lenkte. Allmählich wurde das Gelände immer hügliger, der Weg immer steiler. Sie würden den direkten Pfad über die Berge nehmen, beschloß Golambes. Es erwies sich als völlig richtig, daß sie sich nicht mit schweren Ritterrüstungen belastet hatten: In diesem Fall hätten sie entweder immer wieder absteigen oder die Röhren, Schienen und Platten irgendwo liegen lassen müssen. Unterdessen war die Nacht hereingebrochen. Es würde das beste sein, dachte Golambes, sie versuchten, noch im Licht des vollen Mondes die Hütte auf dem Kamm der Trollzacken zu erreichen.
Das Madamal stand hell am Himmel und warf sein fahles Licht auf den dichter werdenden Wald. Zwischen den dunklen Bäumen lagen tiefe, unheimliche Schatten. Die Nacht war keineswegs so still, wie sie bisweilen in Liedern und Sagen beschrieben wird: Käuzchen riefen, Igel schnauften, und hin und wieder vernahm man ein Knacken und Rascheln im Unterholz, als ob eine Schar von Tieren den drei Reitern folgte. Azzan schlug mit gedämpfter Stimme vor, die mitgeführten Pechfackeln zu entzünden. Golambes verfluchte sich für seine Gedankenlosigkeit, murmelte etwas von Brandgefahr und stimmte dann zu. Im selben Augenblick, in dem die ersten Zunderfasern aufflammten, erschienen überall im Gebüsch die leuchtenden Punktaugen der Waldtiere. Der Halbelf lächelte, als er sah, daß Marna ihren Feuerstahl und den Zunderbeutel schon griffbereit gehalten hatte. Die Nordmärkerin war so zuverlässig und geschickt wie ihr Freund Azzan, und sie machte die fehlende Körperkraft mit ihrem scharfen Verstand mehr als wett. Sie war sogar so klug, daß sie sich auf ihre lang vergangene Affäre mit Golambes nichts einbildete. Der Mondschein blinkte auf den polierten Helmen der Reiter, als sich der enge Talweg plötzlich zu einer breiteren Lichtung öffnete. Nun war der Kamm fast erreicht.
Auf einmal sprang ein heiseres, gurgelndes Gebrüll aus der Nacht. Vom Waldrand stürmten vier Gestalten auf die Reiter zu. Ein Stöhnen ertönte aus Azzans Richtung. Den Ruf »Oger!« brachte der Wüstenkrieger kaum über die Lippen. Er hatte die Schlacht an der Ogerklamm nur knapp überlebt. Golambes wußte, daß der Novadi sich täuschte – doch die Wahrheit war wenig besser. Der junge Graf hatte schon von diesen Kreaturen gehört, sie hatten viele Namen: Trollzacker nannte man sie oder die Zottigen oder einfach die Wilden. Sie liebten das Madamal und den Rausch. Und nichts berauschte sie mehr als das strömende Blut ihrer Opfer. Er hatte die Mitglieder der Wilden Stämme nur selten kämpfen gesehen – und er war froh darüber. In den weit über zwei Schritt großen Körpern steckte eine ungeheure, ungebändigte Muskelkraft. Ein Trollzacker benötigte keine eleganten Waffen und brauchte einen Feind im Kampf nicht allzu genau zu treffen; auch mit einem ungeschickten Schlag konnte er einen menschlichen Gegner zermalmen. Diese Menschen – denn so mußte man sie wohl nennen – behaupteten, wie die Trolle von Riesen abzustammen, doch keines der alten Völker teilte ihre Grausamkeit und ihre Vorliebe für Menschenopfer nach langwierigen Marterriten. Vielleicht waren sie ja
auch Verwandte der widerwärtigen Ferkina aus dem Raschtulswall. Die einzige Chance für die drei Reiter bestand darin, auf den Pferden zu bleiben. Golambes riß das Schwert aus dem Gürtel und schwang es gegen den ersten Angreifer. Der hatte seine Steinaxt hoch erhoben und schützte den nackten Leib mit einem gewaltigen Rundschild. Funken sprühten in die Nacht, als die Klinge auf die metallenen Beschläge traf. Zulhamin trug ihren Reiter mit einem raschen Sprung aus der Gefahrenzone. Während der eine Wilde den Halbelf verfolgte, schlug dieser bereits nach einem zweiten, der Azzan bedrängte. Die Klinge traf den Barbaren am Ellenbogen und schnitt durch Haut und Muskeln, Sehnen und Knochen. Die steingespickte Keule polterte dumpf auf den Boden. Zugleich trieb der Wüstenkrieger die Spitze seines Khunchomers tief in den Wanst des Hünen, der stöhnend in die Knie sank und endlich vornüberkippte. Azzan bleckte die weißen Zähne und rief Golambes etwas zu – der Graf konnte es nicht verstehen, denn inzwischen hatte ihn der erste Wilde erreicht. Muskeln unter gefetteter Haut spannten sich im Mondlicht, als der Riese erneut seine Axt hob – und diesmal hinderte Gestrüpp den Grafen an der Flucht. Verzweifelt suchte er eine verwundbare Stelle neben
dem Schild. Er wollte noch nicht sterben. Ein Sprung vom Pferd hätte Zulhamins Tod und dann den seinen bedeutet ... Doch Azzan nahm ihm die Entscheidung ab. Der Novadi war trunken von seinem Sieg über den Trollzacker. War da noch einer? Bedrohte der Schurke gar den Grafen? Drauf und dran! Mit Rastullahs Hilfe war er unbesiegbar! Im weiten Bogen zerteilte die Axt des Wilden das nächtliche Mondlicht, spaltete den Schädel des Wüstenkriegers und fuhr tief in die Kruppe des Fuchshengstes. Der Barbar beugte sich vor, um das gewaltige Axtblatt aus den zerschmetterten Knochen des gestürzten Pferdes zu befreien – und streckte sich plötzlich, wie vom Blitz gefällt, über der Pferdeleiche aus. Ein schlanker Pfeilschaft zitterte zwischen den mächtigen Schulterbättern. Dankbar blickte sich der Graf nach Marna um – doch die Frau konnte nicht der Schütze gewesen sein: Sie war selbst in einen Kampf mit zwei Wilden verstrickt, und es stand schlecht um sie: Gerade traf des einen Knüppel ihren Rücken, so daß sie fast vom Pferd gerissen wurde. Mit steinernem Gesicht warf sie den schweren Schild fort, in dem bereits ein Stück einer Steinklinge steckte. Dann brachte sie ihr Tier zum Steigen. Die ei-
senbeschlagenen Hufe trafen schwer auf den Schädel eines Gegners. Der Mann wankte nur einen Wimpernschlag lang. Golambes hörte ihn lachen, als er mit dem Rest seines Steindolches dem Elenviner Vollblut den Rumpf aufschlitzte. Marna löste sich im Sprung von dem strauchelnden Tier, doch ihr linker Fuß blieb im Steigbügel hängen, verschwand unter dem Leib des sich schreiend wälzenden Pferdes. Der Wilde warf den Dolchstumpf fort und streckte seine breiten, haarigen Pranken nach Marna aus. Golambes griff nach seinem Wurfdolch, doch die triumphierend lachenden Hünen waren zu weit entfernt. Und so zuckte er im Geiste mit den Schultern und vergaß seine Vorsätze. In Gedankenschnelle rief er alle ihm bekannten Mächte um Beistand an und sammelte alle vorhandene Kraft, als er die Formel in die Nacht schrie. In seinen Ohren hörte sich das ›Fulminictus‹ entsetzlich falsch an. Fast hätte er vergessen, überhaupt auf einen der Wilden zu deuten. Ein Blitzstrahl erhellte die Finsternis – und der Donner fand sein Gegenstück in dem Poltern, mit dem ein Barbar zu Boden stürzte. Der zweite ließ seine Waffe fallen und starrte den jungen Grafen entsetzt an. Langsam und gemessen, um seine völlige Erschöpfung nicht zu zeigen, ging Golambes auf Marna zu. »Überstanden?«
Die Kriegerin blickte auf ihr Pferd: »Nein. Es hat mir immer treu gedient ...« Sie fuhr mit den Fingern durch die Mähne. »Und Azzan ist tot.« Mit viel Mühen gelang es ihnen, Marnas Bein unter dem noch immer blutenden Pferdeleib hervorzuholen. Der Fußknöchel war geschwollen, die Zehen zeigten in eine Richtung, in die sie einfach nicht zeigen durften. In Golambes' Magen krampfte sich etwas zusammen. »Warum hast du nie gesagt, daß du über Zauberkräfte verfügst?« Marnas Stimme war rauh. »Nun, im Moment habe ich auch keine mehr, glaube ich. Aber davon später. Wir müssen dich erst einmal fortbringen – und uns um den Barbaren kümmern!« Der Wilde war auf die Knie gefallen und starrte den Grafen ehrfürchtig an. Dann stieß er einen raschen Wortschwall hervor und warf sich vor Golambes bäuchlings zu Boden. »Was sagt das Tier, Graf?« zischte Marna mühsam durch die zusammengebissenen Zähne. Golambes erwiderte langsam: »Ich weiß nicht genau. Aber soviel ich verstehe, bin ich das ›Langohr, das die Kleinlinge beherrscht und nichts fürchtet‹ – hat der eine Ahnung. Außerdem will er sich mir unterwerfen und bittet mich um Gnade.« »Es muß sterben, und das weiß es. Es hat meinen Geliebten und mein Pferd getötet.«
»Das weiß er. Gnade bedeutet für einen Trollzakker, daß seine Leiche nicht verbrannt und die Asche nicht zerstreut wird. Und er bittet um – was? Er will einen schmerzhaften Tod haben, um sich von allen Fehlern noch im Diesseits zu reinigen ... und nicht im Jenseits, wo er diese Reinigung für schlimmer hält. Den Rest konnte ich vor Gestammel kaum verstehen, geschweige denn begreifen.« »So?« Marna beugte sich ungeachtet des Schmerzes leicht vor und rutschte mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu dem Barbaren hinüber. »Du willst hier schon büßen? Ich würde dir den Gefallen ja gern tun, aber ich hab keine Zeit, weißt du? Außerdem würde dir der ganze Spaß später entgehen ...« Der Wilde blickte auf. Marnas Worte hatte er offensichtlich nicht verstanden, wohl aber hatte er die Bedeutung der blitzenden Klinge erkannt, die die Frau über sein Gesicht hielt. Golambes wußte, daß er niemals den entsetzten Gesichtsausdruck des Hünen vergessen würde, in jenem Moment, als ihm der Dolch durch das weitaufgerissene Auge in den Schädel fuhr. Dann sank die rothaarige Kriegerin ohnmächtig in das blutbesudelte Gras. Der Graf nahm alle Kraft zusammen und konzentrierte sich nur auf das Wichtigste: Er mußte die Verwundete fortbringen, für den Fall, daß hier noch an-
dere Feinde umherstrichen. Auf sein schwaches Pfeifen kam Zulhamin herbei. Die Stute war an Schlachten und Zauberei gewöhnt, doch die Wilden hatten ihr angst gemacht. Golambes brauchte lange, um die reglose Marna in den Sattel zu hieven. Danach ergriff er den Zügel und machte vorsichtig die ersten Schritte. In diesem Moment verlor auch er das Bewußtsein. Als Golambes langsam wieder zu sich kam, lag er in einer Hütte auf einem Strohsack. Zuerst fühlte er das Stroh in seinen nackten Rücken stechen, dann hörte er das Prasseln eines Herdfeuers – und schließlich lichteten sich auch die Schleier vor den Augen und er erblickte ein altes, vertrautes Gesicht mit langen, spitzen Ohren. Verzweifelt versuchte er, es einer Person zuzuordnen. Vater? Nein. Onkel Rondradan? Aber er war doch nicht im Tobrischen ... Dann fiel es ihm wieder ein. »Arve«, brachte er mühevoll hervor. »Freut mich, daß du mich gleich erkannt hast, Junge. Du warst ja ganz schön hinüber«, hörte er seinen alten Verwandten erwidern. »Seit wann zauberst du? – Ah, warte, ich helfe dir.« Langsam richtete der Halbelf sich auf und sah seinem Onkel ins Gesicht. Die Jahre hatten ihm nicht viel anhaben können, nur einige Falten schienen tiefer
und härter geschnitten, und die Haare waren ungewohnt grau. »Eine Weile schon. Aber was machst du hier? Oder besser – wie hast du uns gefunden?« Der alte Waldläufer strich sich das Kinn. »Ich war schon die ganze Zeit bei euch. Oben auf dem Berg, ihr konntet mich nicht sehen. Aber ich habe euren Kampf genau beobachtet. Gratuliere!« »Gratuliere? Einer meiner Krieger ist tot! Warum hast du nicht eingegriffen?« »Langsam, langsam, Junge! Was denkst du, wo der Pfeil herkam? Heruntergefallen aus einem Pfeilschwarm auf dem Flug nach Süden? Nein, ich war gerade auf der Jagd und hatte nur noch den einen – und als ich von der Klippe herabgestiegen war, war alles schon vorüber. Aber die Kleine hat sich tapfer geschlagen.« »Marna! Wie geht es ihr? Ist sie ...« Golambes sah sich erschreckt in der Stube um. Der alte Halbelf lachte. »Keineswegs. Ihr Knöchel ist übel dran, und drei Zehen sind gebrochen, aber ich habe schon Kräutersalbe aufgetragen und den Fuß geschient. In einem Mond ist sie wieder gesund und munter. Sie liegt jetzt nebenan in meinem Bett und schläft sich aus. Was mich daran erinnert – du mußt auch noch schlafen, vorher ißt du aber dies.« Er stand auf und trat zum Herd.
Dort schöpfte er eine dunkle Brühe in einen Holzteller. »Hasensuppe, mein Junge. Gesund und stärkend. Na, komm schon, verzieh nicht so das Gesicht. Hätte ich das Langohr nicht gejagt, wärest du jetzt tot ...« Am Anfang widerwillig, nach den ersten Löffeln immer eifriger aß Golambes von der Brühe. »Wie sprichst du eigentlich mit deinem Grafen, Arve?« erkundigte er sich zwischendurch. »Wie mit einem, der jetzt noch eine Weile ausruhen muß. Schlaf gut, Junge.« Beim zweiten Erwachen fühlte sich der junge Graf wesentlich kräftiger. Rasch stand er auf, streifte sich sein Hemd und den Waffenrock über und trat zu dem Tisch, an dem Arve gerade ein Brettchen mit einer Mahlzeit vorbereitete. »Ah, schon wach. Setz dich. Siehst schon viel besser aus.« »Danke. Wo bin ich hier eigentlich?« verlangte Golambes zu wissen. »Euer Hochwohlgeboren, edler Herr, was Ihr hier um Euch seht, ist die Freiherrenresidenz der Baronie Arvepaß. Schöner Name, nicht? Und nicht nur das: Die Festung umfaßt sogar noch ein Schlafzimmer – die Tür da hinten links – und eine Vorratskammer – rechts. Das hier ist das Wohnzimmer, die Küche und
der Thronsaal. Nicht zu vergessen den Stall hinter dem Haus. Du hast ein kluges Pferd.« »Ja, ich bin sehr zufrieden mit Zulhamin. Wie steht es um die Befestigungen?« Arve griff nach einem Krug und schenkte sich und seinem Gast Milch ein. »Schlecht, lieber Neffe. Um genau zu sein: Es gibt keine – abgesehen von einem Palisadenzaun um das Anwesen, damit mir meine Ziegen nicht fortlaufen und keine Waldwölfe hereinkommen. Die Biester sind verdammt gerissen. Meine Bauern – insgesamt achtzehn Köpfe –, die mich mit den nötigen Dingen versorgen, beklagen sich immer, daß ich keine Wolfshatz unternehme. Ich hab mit dem Rudel eine Art Waffenstillstand geschlossen und bin sehr zufrieden damit.« Golambes nahm einen Schluck. »Wie willst du ohne Festung den Paß im Ernstfall gegen Eindringlinge verteidigen? Soll ich dir Truppen schicken?« Der alte Halbelf schüttelte den Kopf, daß die grauen Haare flogen. »Bloß nicht! Ich habe hier oben meine Ruhe – und welches Heer sollte hier durchziehen? Die paar Leichtbewaffneten, die den Paß nehmen können, kann ich vom Waldrand aus mit dem Bogen fertigmachen. Obwohl ... wenn du mir einen einzelnen Krieger abstellen könntest – so eine Garde macht einfach mehr her. Aber er muß bereit sein, auch bei den täglichen Arbeiten mit anzupacken.«
»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, wenn ich nach Altzoll zurückkehre – falls ich zurückkehre ... Und sonst? Du bist genauso schreibfaul wie alle meine Barone. Also: Was macht das Geschäft?« »Wie gesagt: Ich lebe hier wie ein Einsiedler. Nicht daß es mir etwas ausmacht – aber ihr seid die ersten Gäste seit fast zwei Monden. Direkt nach der Ogerschlacht kamen öfters welche, als die Ogerklamm von zuviel Kaiserlichen bewacht wurde. Aber inzwischen ist es wieder völlig ruhig.« Golambes nickte ihm zu. »Tja, und wenn das hier einreißt mit solchen Wegelagerern – dann läßt sich bestimmt niemand mehr hier blicken. Woher kamen diese Wilden eigentlich?« Arve hob die Brauen. »Ich glaube, vom Morgionstamm; das sind die grausamsten. Hast du ihre Gesichter gesehen? Für jeden erschlagenen Feind brennen sie sich ein Ehrenmal auf die Wangen ... Sie werden erst zu vollgültigen Kriegern, wenn sie einen Feind erschlagen haben – dann sind sie gewöhnlich zwölf oder dreizehn ... Einen anderen Trollzacker erschlagen, wohlgemerkt – oder zehn Menschen ... Ich habe einen gewissen Einfluß auf sie – aufgrund früherer Begebenheiten –, wenn überhaupt ein Mensch Einfluß auf sie hat. Aber ich sage dir: Mir graut vor dem unseligen Tag, an dem sie einen Grenzkrieg mit den Trollen vom Zaun brechen – dann ist hier alles
vorbei. Normalerweise liegt ihr Revier weiter oben im Gebirge. Rund um den Wolkenkopf. Wenn sie so weit herabsteigen, muß das einen Grund haben ...« »Den kann ich dir nennen: Der Drache hat sie verjagt!« Arve stutzte und schaute den Grafen scharf an. »Wahrhaftig, ein echter Drache? Seit Smarduhr habe ich keinen mehr getroffen.« Golambes berichtete ihm in knappen Worten von seinen Plänen. »Und du willst diesen Drachen töten?« fragte Arve ungläubig und spöttisch zugleich. »Hält deine gräflich-halbelfische Nase seinen Gestank überhaupt aus?« »Oh, ich habe meine Jugend in Gareth verbracht. Das härtet ab.« Arve mußte lachen. »Du magst die Stadt nicht, was? Und jetzt willst du hinüber nach Rommilys? Soll ich dich begleiten?« Golambes trank seinen Becher leer und überlegte. »Nein«, meinte er dann. »Und ich gehe auch nicht dorthin. Der Drache will mich – nur mich. Und weil ich das nicht begriffen habe und vom Weg abgewichen bin, ist einer meiner Leute tot und einer verwundet. Ich werde nicht noch mehr Krieger gegen ihn schicken. Verdammt noch mal! Ich bin der Graf dieses Landes! Ich gehe jetzt zu ihm – direkt, allein.«
»Ich habe gesehen, wie sich der Novadi auf den Wilden gestürzt hat. Ich glaube nicht, daß er sich dabei für dich opfern wollte – wenn es das ist, was du meinst«, wandte Arve ein. »Nein. Darum geht es mir gar nicht. Aber ich werde nicht wieder irgendwelche anderen Krieger vorschicken.« Jetzt seufzte auch der Baron. »Das ehrt dich – aber es ist abgrundtief dumm. Ein Drache ist stark, schnell ... und er hält wenig vom ritterlichen Kampf nach Regeln. Ein Flammenstoß, und ich muß mich mit einem neuen Grafen herumschlagen.« »Versteh mich, Arve. Ich habe noch viel vor – und wenn ich jetzt davonlaufe, werde ich mir das immer vorwerfen. Und außerdem ...« – er versuchte zu scherzen –, »nimmt sich so etwas doch einfach schlecht aus, später in meiner Heldenlegende.« »Laß uns jetzt von etwas anderem sprechen«, lenkte der Ältere ein. »Wie geht es deiner streitbaren Geliebten? Ist sie immer noch so schön?« Dankbar griff Golambes das neue Thema auf: »Du brauchst gar nicht zu hoffen, daß auch alle anderen schon runzlig werden, nur weil du alt und klapprig bist, Onkel Arve ... Im Ernst: Oya hat letzten Rondra den Ersten Preis im Bogenschießen geholt, beim Großen Turnier von Baburin.« Er lachte. »Ich selbst habe sie bei meiner Grenzstadt Rabicum über den Darpat
gerudert, abseits von Perricum. Du weißt: Das Reich sieht es nicht gern, wenn seine Bürger an aranischen Turnieren teilnehmen. Ha! Wie haben wir ihren Sieg gefeiert! In der Nacht hätte jeder Straßenbengel den Grafen von Trollzacken mitsamt einer Amazonenoffizierin erschlagen oder gefangennehmen können. Aber Graf Merkan hat uns sogar noch ein Ehrengeleit mitgegeben – ein feiner Mann.« »Oya ist Offizierin? Damals war sie nur einfache Kriegerin. Hast du etwas von ihr über Dedlana gehört?« fragte Arve. »Nichts. Wir lieben einander, aber noch lange nicht unsere gegenseitigen ›Familien‹. Der Vorteil bei Amazonen ist: Man muß nie zu irgendwelchen Familienfeiern der Frau, um sich dort die Sorgen von Schwägern, Onkeln, Vettern und Basen anzuhören. Und wie ist es bei dir? Siehst du noch manchmal die alten Freunde?« »Nun ...« Arve überlegte. »Charina hat jetzt eine Art Schenke mit Bordell in Silas. Sie kommt ab und zu vorbei. Ontoli ist Firun-Geweihter in Festum und bekehrt Goblins ... Viburn wurde zuletzt in Ysilia gesehen, als der Terror losging. Ich war noch einmal dort, aber keiner wußte etwas von seinem Verbleib. Ich geb die Hoffnung trotzdem nicht auf, du kennst ihn ja. Und Larix ... Der Sohn des Juglans hat zwar irgendwo in der Khom eins seiner kurzen Beine verlo-
ren, soll aber bei seinem Volk zu einigem Ansehen gelangt sein. Er war noch neulich hier und hat mir ein Geschenk mitgebracht. Komm mit, ich zeig dir jetzt mal etwas Besonderes.« Der alte Baron stand auf und ging zu einer Truhe an der Hüttenwand. Er hob den Deckel und entnahm dem Kasten ein längliches Wachstuchbündel. »Hier, setz dich näher ans Licht.« Arve wickelte den Gegenstand aus. Es war ein Schwert, so schlicht und schmucklos, wie Golambes noch nie eines gesehen hatte. Arve zog es aus der schlichten Lederscheide und reichte es dem Gast, der es neugierig untersuchte. Die Klinge glänzte matt im Flammenschein, als Golambes sie langsam drehte und wendete. Sie war gut einen Schritt lang, beidseitig scharf geschliffen und lief in eine lange, schmale Spitze aus. Kein Schmuckstein zierte den Knauf oder das Heft, welches aus mattem grauen Stahl bestand. »Seltsam«, meinte der Graf, nachdem er einige vorsichtige Finten und Ausfälle geprobt hatte, um in der engen Hütten nichts zu beschädigen. »Mir ist fast, als würde ich die Klinge mit den Augen lenken. Sie ist schneller als ich denken kann ... Was für eine Waffe!« »Larix hat sie selbst geschmiedet, eine Auftragsarbeit. Sie ist aus edelstem Zwergenstahl und fällt junge Bäume mit einem Schlag. Aber der Almadaner Krie-
ger, der sie bestellt hatte, fiel in einer Schlacht. So hat Larix sie mir geschenkt, seinem Baronfreund, wie er sagte, weil er sich nicht mit einem unhandlichen Menschenschwert behängen wollte.« »Meinen Glückwunsch, Arve. Es muß dir gute Dienste leisten.« »Mir? Ich habe es seit damals kaum angerührt. Was soll ich hier oben mit solch einem Kriegsschwert anfangen? Hasen erschlagen? Wenn Feinde kommen, verlasse ich mich auf meinen guten Langbogen. Ich lege gar keinen Wert darauf, meinen Gegnern allzu nahe auf den Leib zu rücken.« Dann sagte er beiläufig: »Willst du es haben? Dein Schwert hat den Kampf nicht gut überstanden: Es ist schartig und etwas krumm und taugt nicht mehr für die Drachenjagd – und davon kann ich dich ja doch nicht abbringen, also sollst du wenigstens mit ordentlichen Waffen antreten.« Golambes konnte sein Erstaunen kaum verbergen. »Dieses Schwert willst du mir leihen, Arve? Wenn ich es dir nun nicht zurückgeben kann?« »Oh, ich werde es dir nicht leihen. Schwerter und Frauen verleiht man nicht, Junge. Und ein Geschenk kann ich auch nicht verkaufen. Aber ich denke, man kann es weiterverschenken.« Golambes zögerte, vor allem aus Gründen der Höflichkeit, denn das Schwert war fürwahr ein Meister-
stück der Schmiedekunst. »Aber ... ich kann das nicht so einfach annehmen, Onkel.« Arve meinte leichthin: »Nun gut, dann gib mir dein altes Schwert zum Tausch. Ich werde es geradeklopfen und nachschleifen – dann kann ich damit Reisende beeindrucken.« Der alte Halbelf lächelte spitzbübisch: »Dein Schwert ist so hübsch verziert – und die Scheide erst ... Schau doch: Bernstein, Amethyst, Korallen – du machst ein Verlustgeschäft, mein Lieber! So, stell das Schwert jetzt erst einmal weg und laß uns nach der Kranken schauen.« Marna lag auf einem breiten fellbedeckten Lager. Arve reichte ihr das mitgebrachte Tablett und schlug dann eine Ecke der Decke hoch, um den Fuß der Frau zu untersuchen. Golambes schaute in ihr Gesicht, auf dem sich der Schmerz des letzten Tages deutlich abzeichnete. »Eigentlich sollte ich dich ja hinauswerfen«, brummte Arve. »Die Dame ist so wenig bekleidet, wie sie eigentlich nur der Arzt sehen darf. Der Waffenrock war völlig zerfetzt und stank vom Blut dieser Wilden. Ich mußte ihn verbrennen. So, schönste Dame«, wandte er sich an Marna, die zu erschöpft war, um auf das Kompliment zu reagieren, »Euer Knöchel ist schon beträchtlich abgeschwollen. Bei Eurem ersten Spaziergang könnt Ihr Euch einen Mantel von
mir borgen. Da fällt mir ein, Golambes: Wie wäre es mit einem kleinen Heilzauber?« »Nein, Onkel«, murmelte der junge Graf abwesend. »Ich kann nicht heilen. Nur zerstören und töten.« »Schade, Junge, sehr schade.« Der alte Halbelf hatte seine Untersuchung beendet und stand auf. »Dann kann man nichts weiter tun als abwarten. Also, es ist schon wieder Abend – ihr jungen Leute habt wirklich einen gesunden Schlaf. Jetzt brauche auch ich Ruhe; schließlich mußte ich schon euren Freund begraben. Nun, ich leg mich dann mal im Wohnzimmer aufs Ohr. Dieses Bett bleibt natürlich für Euch, Dame Marna. Golambes, du mußt dir selbst ein Lager bereiten, du bist wieder gesund. Im Stall ist warmes Heu, Decken findest du in der Vorratskammer. Allseits eine gute Nacht.« Arve ging hinaus. »Azzan ist also schon begraben ... Ohne seine Riten.« Marnas Blick ging ins Leere. »Du weißt, wie das ist. Ich war bewußtlos – und Arve konnte ihn nicht einfach liegenlassen. Die wilden Tiere ...« Golambes' Worte klangen entsetzlich falsch. »Ja, natürlich. Es mußte wohl so sein. Dein Onkel ist ein guter Mann.« Sie schaute ihn nicht an. Eine Weile schwiegen beide. Schließlich ergriff Golambes das Wort. »Du und Azzan – ihr standet euch sehr nahe?« Konnte er denn nur falsche Äußerungen tun?
»Ich ... wir wollten heiraten ... den Dienst quittieren ... wir hatten etwas gespart ... ein kleiner Hof irgendwo ... meine Eltern waren Bauern ...« Sie lachte bitter. »Azzan wollte sich auf diesem Ritt als besonders heldenhaft erweisen, um vielleicht ein Geschenk oder ein kleines Darlehen vom Grafen zu bekommen.« Golambes erzählte nichts von seinen Selbstzweifeln und den geänderten Plänen. Er berichtete von den großen Taten des Novadis, Dinge, die sie beide längst wußten – von seinem Edelmut und der heroischen Selbstaufgabe, mit der er seinen Grafen hatte schützen wollen. Der junge Halbelf kam sich verlogen vor. »Nein, Graf. Ich kenne – kannte ihn. Er wollte sich nicht opfern. Er wollte ein weiteres Mal siegen und triumphieren. Ein sinnloser Tod.« Der Graf fragte sie nicht, worin der Sinn irgendeines Todes läge. Er wußte aber auch, daß sie beide an diesen Sinn glauben mußten, denn wie könnten sie sonst Krieger sein? Marna schauderte. »Es ist kalt hier«, murmelte sie. »Ja.« Sie sahen sich an und verstanden. Der junge Halbelf erhob sich: »Warte einen Moment. Ich hole uns Decken.« In dieser Nacht dachte Golambes nicht an Oya. Als Golambes am nächsten Morgen beim ersten Sonnenstrahl aufstand und in die Wohnstube trat, war
sein Onkel schon auf den Beinen. Arve grinste ihn an und öffnete den Mund zu einem Scherz, verstummte aber nach einem warnenden Blick des Grafen. Es fiel kein Wort, bis sie ihr einfaches Frühstück beendet hatten. Dann stand der Jüngere auf. »Ich muß jetzt reiten. Vielen Dank für alles. Und wenn du bitte kurz nach ihrem Fuß sehen könntest? Der Verband hat sich gelockert.« Der Alte nickte ihm schweigend zu. Golambes trat zur Wand, nahm das neue Schwert an sich und befestigte es am Gürtel. »Danke, Arve. Ich werde der Klinge einen ruhmvollen Platz in der Geschichte verschaffen.« Noch eine Phrase. »Das hoffe ich, Junge, das hoffe ich für dich. In der Nacht fiel mir ein: Das Schwert hat auch einen Namen. Warte, Larix nannte ihn mir ... es ist ...« »Nicht nötig.« erwiderte Golambes mit festerer Stimme, als er erwartet hatte. »Das Schwert heißt Azzan.« Arve schaute ihm beim Davonreiten lange nach, bis er den Mann und das Pferd aus den Augen verlor und hineinging, um nach seiner Patientin zu sehen. Von Arves Hütte zum Berg des Drachen gab es keinen bekannten Pfad, so daß Roß und Reiter sich ihren
Weg durch die rauhe Gebirgslandschaft suchen mußten. Sie kreuzten die Reste einer alten Paßstraße, ritten an klaren Gebirgsseen vorüber und überquerten reißende Bäche. Wann immer die Landschaft zu unübersichtlich wurde, erkletterte Golambes vom Sattel seiner Stute aus einen Baum und schaute nach dem unverkennbaren Umriß des Wolkenkopfes, dessen graues Massiv deutlich aus den anderen Bergen ringsum emporragte. Von Zeit zu Zeit wurde der Wald nahezu undurchdringlich. Mit leisem Bedauern über einen solchen Mißbrauch zog Golambes dann das Schwert, stieg ab und hackte sich eine Gasse durch Gestrüpp und Unterholz. In seinen Mißmut über eine solche Verwendung der Zwergenklinge mischte sich eine große Portion Ärger über sich selbst. Er war viel zu voreilig gewesen, das Schwert nach dem gefallenen Novadi zu benennen: Für jetzt und wohl auch für später schien es ihm unmöglich, die Waffe mit Azzan in Verbindung zu bringen. Er überlegte kurz, ob er einen neuen Namen wählen sollte, doch hätte das alles wohl nur noch schlimmer gemacht, und er würde sich Marna gegenüber schuldig fühlen ... Überhaupt hatte er sich bisher überaus ungeschickt verhalten, dachte er. Am Morgen war er aufgebro-
chen, ohne weitere Informationen von Arve einzuholen. Er wußte nichts oder nur wenig über mögliche Bedrohungen auf seinem Weg, Gefahren, die nichts mit dem Drachen zu tun hatten. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er diese verfluchte Sorglosigkeit schon immer gezeigt. Ja, verflucht war der richtige Ausdruck: Vielleicht stand er wirklich unter einem Fluch? Der Gedanke faszinierte ihn in seiner Schrecklichkeit. War nicht jeder, der mit ihm Umgang hatte, einem furchtbaren Schicksal verfallen? Hatte er nicht seinem treuen Gefolgsmann Azzan den Tod gebracht? Hatte er damit nicht die Zukunft von Marna, Azzans Verlobten, zerstört? Er hatte den Tod eines wehrlosen Gefangenen zugelassen. Seine geliebte Oya hatte er mit einer Untergebenen betrogen. Seinem Onkel hatte er das Zwergenschwert, seinen kostbarsten Besitz, genommen. Und die brave Zulhamin würde vielleicht im Feuerodem des Drachen den Tod finden. Voller Zorn hackte Golambes auf einen Brombeerstrauch ein und sah zu, wie die von Früchten schweren Zweige nach allen Seiten stoben und an den Bäumen blutrote Streifen hinterließen. Blutrot ... Er griff nach Zulhamins Zügeln, um das Pferd durch die entstandene Lücke im Unterholz zu ziehen, und sein Blick fiel auf den Schild, der am Sattel hing: zwei blutrote Füchse beiderseits eines senk-
rechten blutroten Pfahls – das Wappen derer von Gareth-Streitzig. Oh, jetzt sah er klar, wem er den Fluch verdankte. Nicht sein Fluch war es, sondern der der ganzen Sippe. Laut verdammte er seinen Urgroßvater und hörte in den Zweigen eine aufgeschreckte Eule heulend das Weite suchen. Der unselige Gissolk von Streitzig hatte ihm das angetan – oder seine Frau, die Elfe. Natürlich, Oionil war es gewesen! Elfenflüche wirkten langsam, aber sicher. Während er ohne Interesse für die Umgebung durch das Unterholz stapfte, rekapitulierte Golambes die Erzählungen seiner Kindheit – und vor allem das, was er erst viel später erfahren hatte. Alles paßte zusammen: Sein Urgroßvater war vermählt mit der Elfe Oionil und Vater einer Tochter namens Zerline, als er mit der Schwester Kaiser Pervals die Ehe brach. Die Trauer trieb die Zwergin zur Sippe der Mutter nach Gerasim, von wo sie mit dem vaterlosen Bastard Ilsinor zurückkehrte. Drei Kinder hatte Zerline geboren – Schwächlinge und Schurken allesamt, Träger des Elfenfluchs, den sie an ihre Kinder vererbten. Und das letzte Glied der Kette von Schuld, Verstrickung und Fluch war er selbst: Golambes von GarethStreitzig. Grimmig lächelte er. Endlich hatte er durchschaut,
warum er das Unglück an sich zog, weshalb alle litten, die seine Wege kreuzten. Hatten nicht selbst die Oger sich bemüßigt gefühlt, kurz vor ihrer endgültigen Niederlage seine Grafschaft zu verwüsten? Er hatte die Hand schon am Sattel, um das verhaßte Wappen auf ewig fortzuschleudern in die undurchdringlichen Wälder, als er innehielt. So weit durfte sein Zorn ihn noch nicht treiben. Erst mußte er den verfluchten Kaiserdrachen für seine Untaten büßen lassen. Und doch, womöglich benötigte er den Schild gar nicht ... Gäbe es eine Gerechtigkeit, müßte der Fluch die Höhle über dem Untier zusammenbrechen lassen. Aber vermutlich flöhe ein Elfenfluch vor dem unerträglichen Drachengestank ... Golambes hatte viele Geschichten über Drachen gehört, genug, um diese Kreaturen abgrundtief zu hassen. Drachen kannten nichts als Tod und Zerstörung. Unvorstellbare Grausamkeit lenkte ihr Tun, Menschen waren ihnen ein Spielzeug. Diesen speziellen Kaiserdrachen aber haßte er besonders. Das Untier würde unendliches Leid über seine Bauern bringen, ihnen das letzte rauben, was ihnen nach dem Zug der Oger noch geblieben war. Er mußte es aufhalten in seinem Wüten, und wäre es seine letzte Tat auf dieser Welt. Wollte das Ungeheuer mit einem Philosophen plaudern, Neuigkeiten erfahren? Er würde ihm die
Neuigkeit bringen, daß nicht alle Sterblichen feige in ihren Häusern und Hütten blieben, wenn ein Drache sein häßliches Haupt zeigte! Er würde dem Tier einen Ignifaxius entgegenschleudern, es töten mit dem blanken Schwert. Er tastete nach dem Griff der Waffe und berührte die Satteltasche, in der sich die Kette seiner Mutter befand. Lieber würde er sie mit eigenen Händen zerstören, als sie dem Untier auszuliefern. Wenn er aber die Kreatur vernichtet hätte, würde der Hort ihm gehören. Unermeßliche Schätze von Gold und Edelsteinen wären dann sein eigen. Das schönste Stück davon aber würde er aussuchen für den Kaiser. Er würde es als Beweis seiner Taten vorzeigen und es dann Hal vor die Füße werfen, sich lachend umdrehen und davonreiten – jeder Zoll ein Drachentöter! Als es Abend wurde, aß Golambes eine Handvoll wilde Beeren und kletterte zum Schlafen auf einen Baum. Zulhamin hätte er auch gerne in Sicherheit gebracht, doch da es unmöglich war, blieb ihm nur zu hoffen, daß die Wölfe in dieser Nacht auf andere Beute aus waren. Am nächsten Morgen stellte er von seinem Baum aus fest, daß er dem Wolkenkopf näher war als erwartet. Ohne Frühstück saß er auf und trieb die Stute durch den lichter werdenden Wald, die Hand immer am Schwert.
Sie waren schon eine Weile unterwegs, als das Gelände steil anzusteigen begann. Ein Blick von einer Eiche überzeugte ihn, daß sie den Berg fast erreicht hatten. Dann endete der Wald. Die hohen Bäume und das Unterholz blieben zurück, an ihre Stelle traten karge Heide, kriechender Wacholder und dann und wann verkrüppelte Kiefern oder Birken. Nun bemerkte Golambes auch, was er im Wald übersehen hatte: In nicht allzuferner Zeit würde ein Gewitter niedergehen. Der Graf zog sich einen Zipfel seines zerschlissenen Mantels über den Kopf. Leidvoll stöhnte er auf, als er dabei mit seinen langen, spitzen Ohrmuscheln in Berührung kam. Die Landschaft wurde immer karger. Bald hatten sie auch Heide, Wacholder, Birken und Kiefern hinter sich gelassen, und nur noch kümmerliche Moose und graugrünliche Flechten zeugten von pflanzlichem Leben. Der Weg wurde immer steiler, und Zulhamin keuchte schwer beim Klettern. Golambes saß ab und führte sie durch Schutt und Geröll. Nach wenigen Minuten klebten all seine Kleider durch die schier unerträgliche Schwüle schweißgetränkt am Körper. Als der Regen einsetzte, war es nicht einmal ein richtiger erfrischender Wolkenbruch. Zäh und klebrig fielen die lauwarmen Tropfen auf Golambes Gesicht und schienen es mehr zu verschmutzen denn zu säu-
bern. Und wo sie auf den Fels trafen, verdampften sie, ehe sie rinnen konnten. Trotz des Regens schien eine bleiche Sonne und warf ein schwefelgelbes Licht auf die Landschaft. Als die Luft so drückend wurde, daß das Atmen kaum mehr möglich schien, hatte sich der Graf dem Gipfel des Berges schon fast auf die Hälfte genähert. Allmählich mußte er Ausschau halten nach der Drachenhöhle, denn das Ungeheuer sollte ihn nicht entdecken, bevor er dessen Versteck gefunden hatte. Irgendwo in seinen Erinnerungen tauchte ein altes Bestiarium auf, in dem es gelesen hatte, daß Baumdrachen während eines Gewitters nur ungern aufflogen. Er hatte keine Ahnung, ob das auch für Kaiserdrachen galt und ob ein solches Ungeheuer dieses matte Getröpfel überhaupt wahrnahm. Glut und Wut der letzten Tage waren erloschen; Golambes kam es jetzt nur noch darauf an, seine Chancen gegen den Drachen zu erhöhen. Er beschloß, sobald wie möglich an einem geschützten Platz seine Rüstung anzulegen. Solch ein Platz fand sich eher als vermutet. Mit einem Mal flachte der Boden ab und weitete sich zu einem Plateau, nur wenige hundert Schritt Fußweg unterhalb des Gipfels. Auf der Fläche lagen fünf, nein sieben Hütten ... nein Häuser. Ein Dorf. Hier oben? Golambes zweifelte zuerst an
seiner Wahrnehmung und dachte an die Erschöpfung, doch auch nach einigem Blinzeln blieb das Dorf, wo es war. Er gebot Zulhamin, sich still zu verhalten, und ging auf das Dorf zu. Es wäre ein sinnloses Unterfangen, sich anschleichen zu wollen, dachte er, denn mit Ausnahme der Häuser war die Hochebene völlig leer. Die Häuser schienen bewohnt. Auf jeden Fall stieg bei einigen Rauch aus Kaminen und Fenstern. Doch dann begriff er. Er hatte die Gebäude, die für Riesen gemacht schienen, von Hünen erbaut worden waren, fast erreicht. Das Drachenfeuer hatte die Dächer ebenso völlig vernichtet wie das Mobiliar – wenn es denn eines gegeben hatte. Selbst die steinernen Mauern waren vielfach geborsten und gesplittert. In der Mitte des Dorfes erhob sich ein qualmender Schlakkehaufen, um ihn herum waren mehrere verbrannte Barbarenleichen verstreut. Irgendwo lagen die verkohlten Reste zweier Körper. Er wollte gar nicht wissen, ob es Jagdbeute der Hünen oder ihre Kinder gewesen waren. Aus einem niedrigen Schuppen – niedrig nach den Maßstäben der Hünen – ertönte ein pfeifendes Winseln, gedämpft und verzerrt durch die träge, stickige Luft. Golambes fuhr herum und riß das Schwert aus der Scheide, bevor ihm klar wurde, daß diese Hütte unmöglich einen zwanzig Schritt langen Drachen
verbergen konnte. Was immer es war, das diesen Laut von sich gegeben hatte – es war nun still und mochte ungestört bleiben. In diesem Moment setzte der eigentliche befreiende Wolkenbruch ein. Die Wasser des Himmels fielen zur Erde, als gelte es, hundert Drachen zu ersäufen. So heftig prasselte der Regen nieder, daß Golambes kaum zwei Schritt weit sehen konnte. Er wußte nicht, wo Zulhamin war, und hoffte, sie möchte nicht in Panik davonsprengen. Der Regen durchnäßte Mantel, Rock und Beinkleider, lief durch Kapuze und Haare in den Kragen. In wenigen Augenblicken war er bis auf die Knochen durchnäßt. Zögernd betrat Golambes die Hütte. Vom Dach waren noch Reste erhalten, doch es fiel genug schwaches Licht durch die Brandlöcher, damit er erkennen konnte, daß das Gebäude eine Art Zwinger gewesen sein mußte. Überall lagen verkohlte Hundeleichen gewaltigen Ausmaßes. Erneut erscholl das Winseln. Golambes strengte seine Augen an und erspähte, zurückgezogen in einer Ecke, einen noch lebenden Hund. Der Halbelf beschloß, näherzutreten. Der Hund hatte die Größe eines Kalbes. Sein wirres Fell erinnerte an das eines Olporters, doch es war ganz weiß – mit Ausnahme der Hinterläufe, wo es
mitsamt der Haut verbrannt war. Golambes sah die weißen Zähne und die kurze Schnauze, umgeben von blutiggebissenen hängenden Lefzen, als das Tier ihn erblickte und warnend anknurrte – in seinem todwunden Zustand eine klägliche, erbarmungswürdige Geste ... Dann entdeckte er das, was der Hund – die Hündin – schützen wollte. Ein kleiner Welpe lag zwischen den Beinen der Mutter und schaute in diesem Moment ebenfalls auf. Eben erhob sich das Tierchen auf wackligen Beinen und stolperte auf ihn zu, bis die Mutter es mit einer Tatze zurückhielt. Der Welpe kippte zur Seite, rappelte sich wieder auf und blickte Golambes aus großen Augen treuherzig an. Allerliebst, dachte Golambes höhnisch. Ein vernichtetes Dorf voll verkohlter Leichen – aber das kleine Hundchen blieb verschont. Ein Wunder der gnädigen Götter! Die Hündin jaulte noch einmal. Sie mußte entsetzliche Schmerzen leiden. Golambes beschloß, den Tieren zu helfen: Ein schneller Schwerthieb tötete die Mutter. Der Welpe, den der nächste Streich treffen sollte, kam Golambes auf wackligen Beinen entgegen und stieß ihm mit der stumpfen Schnauze gegen den Stiefel. Der Graf senkte das Schwert. »Na schön!« seufzte er, »warte hier auf mich. Wenn alles vorüber ist, nehme ich dich mit. Du hast die gleiche Chance wie ich ...«
Als der Regen allmählich nachließ, trat der Graf ins Freie, bahnte sich einen Weg vorbei an den Leichen und verließ das Dorf, um Zulhamin zu suchen. Er fand sie bald. Das kluge Tier hatte sich weit genug vom Rand des Plateaus entfernt und götterergeben das Ende des Regens abgewartet. Bald war die Nässe genügend abgelaufen, um ein sicheres Fortkommen zu ermöglichen. Golambes nahm die Stute am Zügel und führte sie in einem weiten Bogen vorbei an den Resten des Dorfes. Der Wetterumschwung hatte die Luft von der Schwüle befreit, so daß das Atmen wieder leichter fiel. Golambes schritt zügig aus und bemerkte kaum das Gewicht seiner immer noch wasserdurchtränkten Kleider. Am jenseitigen Ende der Hochebene erhob sich der Berg steil bis zum Gipfel. Selbst im schwachen Licht der Sonne war klar zu erkennen, daß dort oben kein Drache sein Versteck haben konnte. So beschloß der Graf, der Steilwand rund um den Berg zu folgen. Die eine Richtung schien so gut wie die andere – wohlan, mochte der Zufall entscheiden. Golambes trat zurück, hob einen Stein vom Boden und warf ihn gegen die Wand. Das Geschoß prallte nach links ab. Er griff nach dem Zügel und setzte seinen Weg in die linke Richtung fort.
Allmählich wurde das felsige Plateau schmaler und schmaler, schließlich blieb nicht mehr als ein Sims von knapp zwei Schritt Breite, der sich um den gesamten Berg zu ziehen schien. Golambes stellte fest, daß ihm der Blick in die Tiefe nicht viel ausmachte. Linkerhand gähnte ein schroffer, tiefer Abgrund, rechterhand erhob sich die steile Bergwand. Er kam sich vor, als tappte er geradewegs in eine Falle. Dann sagte er sich, daß ihm der Drache zumindest nicht auf dem schmalen Sims entgegenkommen konnte. Doch gegen den Feueratem eines fliegenden Untiers bot der kahle Wetterkopf an keiner Stelle Deckung. Dennoch fühlte er erhebliche Erleichterung, als zu seiner Linken die Tiefe immer geringer wurde. Zugleich stellte er nicht ohne Sorge fest, daß er sich statt auf einem Sims nun in einer Schlucht bewegte. Der Pfad schien urplötzlich zwischen den beiden Gipfelzacken des Berges zu verlaufen. Noch wäre es möglich, seitlich eine der Spitzen zu erklimmen ... Golambes erwog, ob er diesen Weg wählen sollte, als seine Aufmerksamkeit durch einen stechenden Geruch abgelenkt wurde. Der Gestank erinnerte ihn an den der alten selemitischen Sumpfechse, die er einmal im Festumer Tiergarten gesehen hatte, war aber weit intensiver und noch unangenehmer.
Der Drache mußte irgendwo in der Nähe sein. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, weigerte sich Zulhamin, ihm zu gehorchen. Das Erbe der Shadifpferde schloß offenbar auch die tiefe Scheu vor den Echsen ein, die ihre novadischen Herren so haßten und fürchteten. Golambes erwog einen Moment, die Stute zu töten, damit sie nicht lebendig dem Drachen in die Klauen fiel. Dann schalt er sich einen Narren und löste die Satteltaschen des Pferdes, um sie sich selbst auf die Schulter zu laden. Schließlich gab er der Gescheckten einen letzten Klaps auf den Rücken und schickte sie fort. Nun war offenbar die Zeit der endgültigen Auseinandersetzung gekommen. Bedächtig schritt Golambes vorwärts. Der Gestank wehte ihm um die Nase und war weitaus schwerer zu ertragen, als er erwartet hatte. Über ihm regte sich etwas. Vielleicht war es auch nur der Wind, der um die Felsen strich. Das Schwert in seiner Hand zitterte. Nicht mehr lange, und er würde dem Untier Auge in Auge gegenüberstehen. Dann mochte sich zeigen, wer von beiden überlebte. Vielleicht würde sein Fluch zuerst den Drachen treffen. Golambes hoffte es. Eine derartige Ausgeburt des Bösen mochte sich als anfällig erweisen für einen schwarzen elfischen Zauber.
Golambes' Fuß stieß gegen einen Felsen. Als er flüchtig hinunterschaute, fiel sein Blick auf ein schwaches Funkeln einige Schritt entfernt, dort wo ein Sonnenstrahl den Weg in den düsteren Gang fand. Er näherte sich dem Funkeln und erkannte es schließlich als Lichtspiegelung auf einer etwa handgroßen, smaragdgrünen Platte. Sie war unregelmäßig geformt und aus einem hornartigen Material. Daneben lagen einige weitere Platten: Drachenschuppen. Grüne Drachenschuppen. Kaiserdrachen haben eine rotgoldene Farbe. Irgend jemand hatte sich geirrt. Aber nun war es zu spät zum Umkehren. Inzwischen war der Graf sicher, daß die pfeifenden Geräusche ringsum nicht vom Wind herrührten, sondern vom Atem eines Lebewesens. Er trug noch nicht einmal eine Rüstung. Seinen Panzer hatte er auf Zulhamins Rücken vergessen. In diesem Moment erkannte Golambes in aller Schärfe, daß er seit Stunden alles tat, um sich dem Drachen als leichte Beute anzudienen. Nun denn – wenn der Fluch ihn schon töten würde, sollte es wenigstens rasch geschehen. Mit lauter, sich überschlagender Stimme schrie er: »Ich bin hier, Drache! Ich, Graf Golambes, Herrscher der Trollzacken!«
Tödliche Stille kehrte ein. Dann erklang ein schleifendes Geräusch, als zöge jemand eine schwere Schuppenrüstung über einen rauhen Steinfußboden. Endlich tauchte am Rand des Abhangs ein grauenvoller ungeheuerlicher Kopf auf. Er schien zuerst reglos und tot wie aus grünem Gestein gemeißelt, doch er lebte auf eine unverkennbare, fremdartige, uralte Weise. Bedeckt war er von einem festen Panzer tiefdunkelgrüner Schuppen, die in den verschiedensten Tönen das Sonnenlicht widerspiegelten. Lang war die riesige Schnauze, und bewehrt von vielen Reihen zackiger und schartiger Hornstacheln. Mächtige Wülste, wie mit grobem Meißel aus Fels gehauen, erhoben sich über den tiefliegenden, düster rot glimmenden und doch kalten Augen, die dem Halbelf bis in die Seele zu blicken schienen. Neben dem Kopf erschien ein zweiter, vom ersten nicht zu unterscheiden. Nur der Blick der kalten Augen war vielleicht noch eine Spur beunruhigender: wie Gebirgsseen, auf deren tiefem, eisigem Grund ein unbekanntes Verhängnis lauert. Noch nie zuvor hatte Golambes in Augen von solcher Erhabenheit und Grausamkeit geblickt. Dann geschah etwas, das den Blick des Grafen eine Winzigkeit ablenkte: Ein dritter Kopf wurde sichtbar. Von den beiden anderen unterschied er sich nicht nur durch die weit hellere Farbe – sein Ton erinnerte Go-
lambes an Lindenblätter im Frühling –, sondern auch durch die geringere Größe und die rundlicheren Formen der Auswüchse an Schnauze und Schädeldach. Doch seine Augen hatten denselben kalten Glanz. Die sechs Augen fixierten Golambes eine Weile – es hätten Minuten oder Stunden sein können. Mit dem freien Rest seines Verstandes fragte sich der Graf, ob er überhaupt Tag- und Nachtwechsel bemerken würde. Er wandte den Blick nicht ab und zwinkerte nicht einmal, denn auch das stand nicht mehr in seiner Macht. Nach unendlich scheinenden Augenblicken öffneten sich drei riesenhafte Mäuler und entblößten Zähne, ein jeder so lang und scharf wie ein Dolch. Dann ertönte die Stimme – rauh und zischend und doch auf eigenartige Weise lockend. »Du bisst ess wirrklichchch. Aber wesshalb schreisst du sso?« »Wir ssind dochch nichcht sschwerhörichch!« pflichtete der zweite Kopf bei. »Dass war überauss frechch, ungeszogen!« quietschte der dritte. »Ja, wirklichch: Wo ssind deine Manieren?« fragte der erste wieder. Ein Riesenlindwurm! Und offenbar wollte er erst noch seinen Spott mit Golambes treiben, ehe er ihn endgültig tötete. Noch nie hatten weniger als drei Krieger einen Drachen seiner Art besiegt.
Riesenlindwürmer verkörperten das absolute Böse, denn sie waren die grausamsten von allen und forderten schöne Jungfrauen als Beute. »Ich komme auf euren Wunsch. Und ich bringe ein Geschenk mit«, rief Golambes. Er wußte selbst nicht, welches Geschenk – vielleicht würde es ein letzter Hieb mit der Zwergenklinge sein. »Ein Gesschennk, ein Gesschennk! Er hat ein Gessschennk für uns!« riefen die Köpfe durcheinander. Dann tuschelten sie eine Weile so aufgeregt, daß Golambes nicht folgen konnte. »Er isst dochch höflichch. Ein Gasstgessschennk!« sagte der erste Kopf. »Wie aufmerkssamm. Er isst alsso auch gewitzzzt!« fiel der zweite ein. Der dritte piepste mit heller Stimme: »Unnd er isst hübschschsch! Wie wir hoffftenn.« »Vielleichcht ssolltenn wirrr unsss auchch vorsstellenn.« meinte der erste. »Ich heißße Bologa ... und ssie heißßt Baloga ... unnd ...« »Unnd ich heißß Bilga!« fuhr der dritte Kopf dazwischen. »Wir ssinnd Schwesstern!« Ein wahnwitziger Gedanke durchfuhr Golambes. Wenn der Riesenlindwurm – die Riesenlindwürmin, korrigierte er sich – nicht an Gelehrten interessiert war wie ihr roter Vetter, hatte sie ihn womöglich als schönen Jüngling auserwählt ... Ein bißchen alt für ei-
nen Jüngling bin ich schon, dachte er. Und wenn sie erwarten, daß ich noch ›unversehrt‹ bin ... Ein Grinsen huschte über seine Lippen. »Wasss lachssst du?« wollte Bologa wissen. »Wirrr haben eine errnssste Aufggabe für ddichch!« pflichtete Baloga bei. »Ddu ssollssst ausssuchchen, werr die Schönsste von unns beiden isst«, erläuterte Bologa und blinzelte dem Halbelfen zu. Woraufhin Bilga erzürnt einfiel: »Von unnsss dreien!« Die ganze Anspannung der letzten Tage und Golambes' sämtliche Vorstellungen über Drachen und Flüche lösten sich in einer Woge irren Gelächters auf, die in ihm hochstieg. Der erschöpfte Drachentöter konnte ihr nichts mehr entgegensetzen, und so sahen die unergründlichen Drachenaugen einen Halbelfen, der von Lachen geschüttelt wurde, bis er in die Knie brach und Tränen ihm die Wangen hinunterliefen. Drachen sind uralt und sehen viel in ihrem Leben, doch so etwas war ihnen neu. Wer so viel Langweiliges erlebt, freut sich über jede Abwechslung. »Er lachcht immer nochchch!« meinte Bologa verwundert zu ihren ›Schwestern‹. »Dasss isst nichcht üblichchch!« »Ja, aberr es isst schchön. Interessssannnt!« warf Baloga ein.
»Dasss isst derr ersste, der überrhaupt lachcht!« bemerkte Bilga. Allmählich ebbte der Lachkrampf ab. Golambes kam wieder zur Ruhe. Zu einer größeren Ruhe, als er sie in den letzten Tagen je verspürt hatte: Die Drachin war weder eine Ausgeburt der Finsternis noch ein Geschöpf des Bösen. Sie war aber eine unheimliche, große und gefährliche Kreatur. Bisher hatte er ihre Gefährlichkeit verdrängt, hatte innerlich auf übernatürliche Hilfe gesetzt. Es war gefährlich, den Gegner für absolut böse zu halten. »Ssso ein schschönerr Burrrrschsche wie ddu«, flüsterte Bologa laut, »ddarf nämmlichchch nurrr vonn der Schönsssten verspeisszt werdenn.« »Entsscheide ssselbsst«, stimmte Baloga ihr zu. »Ich glaube nicht, daß ich von euch gefressen werde«, entgegnete Golambes – womit er zweifellos recht hatte: Drachenfeuer ließ nicht viel zum Fressen übrig. »Ich werde mich wehren.« »Mit wasss willsst du dich wehren – gegen unsss? Ettwa mit ...« fragte ihn Bologa. »Wirrr sinnd sstarrk unnd mächchtichchch!« plapperte Bilga dazwischen. »Unnterbrichchch michch nichcht!« zischelte Bologa sie an. »Ettwa mitt deinemm lächcherlichen Schchwert, das nicht einmal einen Steinn am Pommel trägtt?«
Golambes zog Azzan und hob es hoch. Dann ließ er es in einem großen Bogen gegen die Felswand prallen und hoffte, daß Arve die Wahrheit gesagt hatte. Die Worte des alten Halbelfen waren korrekt: Der Zwergenstahl durchschnitt den Fels und sprengte einen faustgroßen Brocken hinaus. Golambes glaubte selbst durch die Wolke von Steinstaub zu erkennen, wie sich die Augen des Ungeheuers weiteten. »Dderr Letzzzzte, derr mitt solchch einerr Klinnge zzzu unsss kam, hhat unssss schschwerr bedrängt!« warf Bologa ein. »Jjawohll, er hattt unssere liebe Buloga gettötet!« mußte Baloga ihr beipflichten. »Err hatt unss von unssserem Hort im Raschschtulsssswall vertrieben!« »Aber wirr haben ihnn gerösstettt!« piepste Bilga. »Unsssinn! Wirrr haben ihn gerösstet! Wir zszwei! Du warst kaum nachchgewachsssen!« fauchten die beiden dunklen Köpfe den helleren an, der für einen Moment bis zu der Narbe rund um seinen Hals eine Spur dunkler wurde – junge Drachenköpfe erröten noch manchmal. Als Bologa weitersprach, schien eine Spur von Respekt in ihrer Stimme zu liegen. »Du bissst wohl ein mächchtigerr Weiserr bei den Mensschchen?« Die Frage war gefährlich. Einen schwachen Gegner mochte der Drache zu seinem Schaden unterschätzen
– oder für eine willkommene Zwischenmahlzeit halten. Was Golambes im Moment brauchte, war Zeit, um sich – viel zu spät – einen Plan zurechtzulegen. »Natürlich. Ich bin der Herrscher über alle Völker dieser Gegend.« »Achch?« warf Baloga ein. »Weissst ddu vonn allenn ddeinnenn Unntertanenn, wo ssie ssichch jetzzzzt auffhaltenn?« Offensichtlich wollte sie ihm eine Falle stellen. »Von vielen weiß ich es«, erwiderte der Graf vorsichtig. »Sso ssage mirr ddochch«, sie hatte den Kopf so hoch gehoben, daß er fast außer Sicht geriet, »wer ssinnd die ddrei, ddie ssichch in dder Ferrnne unsseremm Berg nähernn?« Woher sollte er das wissen? Dann kam ihm ein Einfall, und er setzte alles auf eine Karte. »Diese drei sind meine Gefolgsleute: Ein mächtiger Troll und zwei gewaltige Krieger, von deren Taten an allen Herdfeuern gesungen wird. Ich habe sie eben herbeigerufen.« »Er weisss esss!« stellte die Drachin überrascht fest. Dann ergriff Bologa wieder das Wort: »Ddu hassst ssie herbeigerufenn? Wie kannssst du ssie über diesse Ferne rufen, die wirr kaum überblicken können?« »Oh«, Golambes grinste den Drachen an, »das ist eine meiner einfacheren Fähigkeiten. Ihr wißt, ich bin ein mächtiger Weiser.«
Jetzt kam es vor allem darauf an, so viel Zeit zu gewinnen, daß Strutzz und die Soldaten herankommen konnten. Dann gab es vielleicht eine Chance. »Wasss wollen sssie? Wirrr habenn ssie nichcht herrgebetenn!« Golambes wußte, daß er sich mit dieser Antwort festlegen würde. Aber ein Zögern kam nicht in Frage, so daß er es mit der einfachen Wahrheit versuchte. »Sie kommen, um euch zu töten. Ich bin eurer Einladung gern nachgekommen, nun aber bin ich eurer überdrüssig.« Aus sechs tassengroßen Nüstern züngelten Rauchwolken. »Sssie wollen unss töten? Unss?« Dann hörte Golambes ein dumpfes Grollen, das von einem Punkt oben am Abhang kam. Aus dem Bauch der Drachin. Langsam wurde das Geräusch lauter und erreichte auch die Hälse und Köpfe, die kaum merklich zu zittern begannen. Die Nüstern weiteten sich, und drei Mäuler klafften weit auf und zeigten die Zähne. Das ist also das Ende, dachte der Halbelf. Jetzt bin ich zu weit gegangen. Kein noch so kühner Sprung zur Seite würde ihn vor dem Drachenfeuer schützen können. Als nach einem Moment immer noch keine Flammenzungen nach ihm leckten, begriff er, daß der Drache ihn nicht töten wollte. Nicht jetzt. Statt dessen sah
er gerade einen Lindwurm lachen, dreifach lauthals lachen. »Nichcht schchlechcht!« japste Bologa schließlich. Golambes hätte nie geglaubt, daß Drachen japsen konnten, aber so war es. Dann wurde sie ernst. »Habenn ssie auchch solchche Schschwerter wie duuh?« »Gewiß. Ihre sind vielleicht in noch besserem Zustand, weil ich meines seit längerer Zeit nicht mehr mit Drachenblut gesalbt habe. Sie dagegen ... habt ihr schon von dem großen Drachentöterwettbewerb gehört, den wir letztes Jahr abgehalten haben?« »Einn Drachchentöterwett...« Aufgeregt tuschelten die Köpfe. Nun wandte sich Baloga wieder an ihn. Sie war offensichtlich die mißtrauischste der drei. »Wennn ddu unsss töten willsst und ssso viele Drachentöter beherrschssst: Warum hasst du dann nurr diese drei dort unten herbeirufen können?« Der Troll und die Krieger waren immer noch nicht in der Nähe! Golambes begriff, daß er seine Rolle bis zum Ende würde weiterspielen müssen. Er zuckte die Achseln und erklärte leichthin: »Gewöhnlich verzichte ich ganz auf Beistand, aber gerade heute habe ich wohl etwas Unrechtes gespeist, so daß ich mich nicht ganz wohl fühle. Falls ihr euch aber sorgt, ich hätte nicht genügend Unterstützung: Im Ernstfall werde ich mir rasch einige Kämpfer schaffen.« Mit diesen Worten langte er in seine Tasche und
fand zum Glück ohne lange Suche die drei Metallfiguren, die er für die Trolle vorgesehen hatte. »Seht ihr? Das sind nur drei von der Armee, die ich stets mit mir führe.« Die drei Köpfe näherten sich bis auf einige Schritt, um die winzigen Figürchen besser zu sehen. »Ddu führssst eine Armee mit ddir?« staunte Bologa. »Warum sssind die denn dann so klein und nutzzlosss?« wollte Baloga wissen. »Ssinnd die aber schchön!« war Bilgas Stellungnahme. »Oh, ich sehe nicht ein, weshalb ich meine Armee das Land kahlfressen lassen soll. Deshalb habe ich die Soldaten so klein gezaubert und in meine Tasche gesteckt. Ach ja: die Stahlhaut hatte ich ihnen natürlich schon vorher verliehen.« Wenn nicht bald jemand kommt, dachte Golambes, ist es aus. Dann fällt mir kein weiteres Geschwätz mehr ein. Doch die Drachin bewegte unruhig ihre Köpfe. Sie war beeindruckt. »Er issst ein grossser Kriegerzzzaubererr«, tuschelte Bologa. »Vielleicht ssagt er die Wahrheit ...«, murmelte Baloga. »Besstimmtt! Noch nie hattt ein Mensch unns angelogen! Sssie wagenn esss nicht!« warf Bologa ein. Bilga murmelte mehrmals: »Err will unnsss töten! Unnsss töten!«
Das gab den Ausschlag. Baloga zischte ihrer Schwester zu: »Ssein Schschwert issst echcht. Fallsss er eine von unnss trifft, bleibbt die anndere mit zzweien wie Bilga zzurück ...« Der jüngste Kopf hörte es und fauchte wütend. Dann zog er sich schmollend über den Klippenrand zurück. Allmählich schmerzte dem Halbelfen das Genick vom ununterbrochenen Hochstarren. Bologa wandte sich schließlich direkt an ihn: »Wirr wissen nicht, ob du rechcht sprichchssst. Aberr du könntesst rechcht haben ... und du bissst unss keinen Kampf wert. Wenn ddu aber lügsst, ssso hassst du unsss dochch zzum Lachchen gebrachcht ... und wir haben sseit Jahrzehnten nichcht mehr gelachcht. Wir zziehen uns desshalb zzurück, dorthinn, wo mann nochch Resspekt vorr unss hat! Hüte dichch, unsss zzu folgen!« Danach ertönte nur noch ein gewaltiges Rauschen wie von einem aufkommenden Sturm. Und etwas Ähnliches begab sich tatsächlich: Die Drachin entfaltete ihre Schwingen und vollführte die ersten Schläge. Langsam erhob sich der schwere Körper und wurde gen Himmel getragen. Oberhalb der Schlucht war nur ein wenig von ihm zu sehen, als er sich nach vorne bewegte. Golambes zählte seine Herzschläge, bis die Vorderbeine, der geschuppte Leib, die Hinterbeine
und der schier endlose muskulöse Schwanz über ihm vorbeiglitten. Seine Beine zitterten. Er wollte rasch die Schlucht verlassen, um die Flucht des Drachen mit eigenen Augen zu verfolgen, doch die Knie knickten unter ihm ein. Als seine Leute ihn endlich erreicht hatten, mußte Strutzz ihn wie ein Kind forttragen. Als der junge Graf nach einigen Tagen die Amtsgeschäfte wieder aufnahm, beglückwünschte ihn der Schreiber zu seinem großen Sieg. »O ja, mein lieber Connart, ich habe eine große Heldentat vollbracht. Was liegt an Neuem an?« »Wenig Besonderes, Euer Gnaden. Da wären vor allem die neuen Rechnungen der Baumeister, die abgezeichnet werden müssen – und einige Steuerlisten, die Ihr noch zur Kenntnis nehmen solltet.« Der Graf setzte seine Unterschrift und sein Siegel unter die Dokumente und überflog die Meldungen, die in der Zwischenzeit eingetroffen waren. Baroneß Erlgard meldete von der Ogerklamm, daß die Bauarbeiten an der neuen Feste gut voranschritten, doch habe man des öfteren Scharmützel mit den Goblins der Schwarzen Sichel. Yazim von Lorsunk gab die Geburt von vier Füllen bekannt, denen er phänomenale Qualitäten zuschrieb. »Schaut Euch das an, Connart«, sagte Golambes und
reichte dem Schreiber ein Pergament. Dort stand: Die Jung-Tihre lasen troz ihres geringen Allters schon Eigenshaften erkennn, di auf den Beginn einr völig neun Zucktlinie hophen laßen. Der Graf lachte, und da verzog auch Connart die Lippen zu einem amüsierten Lächeln. Der neueste ›Aventurische Bote‹ brachte einen langatmigen Bericht über die letzten Immanspiele in Gareth sowie die aktuellen Fahndungslisten. Markgraf Throndwig von Warunk hatte aus Brabak neue Orchideen geschickt bekommen und lud in einem Rundschreiben die Adligen aller benachbarten Provinzen zur Besichtigung der Blumen ein. Herzog Kunibald von Tobrien sandte seine besten Wünsche für eine baldige Genesung und dankte herzlich für die freundliche Spende. Zugleich bat er den Grafen, als kleine Gegengabe einen prachtvollen Lachs anzunehmen, den er selbst bei seinem Landhaus an den Radromfällen geangelt habe. »Und schließlich ersuche ich Euch, mich bei meinem für den nächsten Monat geplanten Fest dort auf Schloß Salvunk mit Eurer geschätzten Anwesenheit zu ehren«, las Golambes vor. »Wenn er das selbst formuliert hat, Connart, will ich ein Zwerg sein!« Nachdem der Graf alles zur Kenntnis genommen und höfliche Zusagen diktiert hatte, näherte sich der Schreiber noch einmal mit zwei Schriftstücken. »Diese sind gerade eingetroffen. Das erste ist ein Vorgang, den ich nicht ganz verstehe: Die Kriegerin Marna bit-
tet um Versetzung in die Baronie Arvepaß. Gibt es dort denn überhaupt eine Garnison?« »Laßt nur, Connart – ich bin mit dem Fall vertraut. Schickt ihr die Bestätigung. Und monatlich vierzig Taler Trollzackerzulage.« »Dann hätten wir hier noch eine Anfrage der Fürstin – in erzürntem Ton gehalten. Sie will wissen, warum Ihr nicht zum halbjährlichen Provinzrat erschienen seid.« »So? Nun, schreiben wir ihr, ich hätte mit einer Gefahr für die Grafschaft kämpfen müssen – ach was!« Der Graf mußte lachen. »Schreibt einfach, ich war verhindert.« »Wird erledigt, Euer Gnaden. Wenn ich eine persönliche Bemerkung machen darf – wir freuen uns alle, daß Ihr wieder hier seid. Soll ich Euch nun zu Euren Gästen geleiten?« »Das war also die Geschichte von dem Drachen Bologa-Baloga-Bilga ...« Golambes seufzte tief und schaute den Herold an. Das Gesicht des Schwarzen war so unerforschlich wie immer, doch der junge Halbelf glaubte zu erkennen, daß die innere Anspannung sich ein wenig gelöst hatte. Der Auftrag schien erfolgreich beendet zu sein, auch wenn der Herold, wie stets, nichts darüber erzählt hatte. Das verwitterte, steinähnliche Antlitz des Troll-
häuptlings wirkte ruhig. Er hatte die letzten Tage in Altzoll verbracht, sich erholt und schließlich sogar die begeisterten Kinder auf sich reiten lassen. Strutzz war ein sehr alter Troll und ungewöhnlich humorvoll für einen Angehörigen seines Volkes. Die zwei Menschen hatten erst gemeinsam Herzog Kunibalds Lachs verzehrt. Dann hatte der Graf seinen Freunden alles erzählt. Fast alles, doch er wußte, daß sich der weise Herold den Rest ohnehin würde zusammenreimen können. So war die Zeit vergangen, und sie saßen wieder einmal am Kaminfeuer und hatten vor sich einige Krüge Wein. Strutzz kaute geräuschvoll auf einem Laib Aranischen Früchtebrotes. Golambes bedauerte im stillen, daß er die Delikatesse altbacken hatte kaufen müssen. Doch eine solche Menge hätte er sich kaum frisch leisten können – und die mächtigen Kiefer des Trolls machten ohnehin keine Unterschiede. Der Greif spielte für ihn einige alte Trollweisen auf dem Rücken seiner Laute. Golambes hatte keine Ahnung, wo der Schwarze sie erlernt hatte. Schließlich ergriff der junge Graf das Wort. »Tja, ohne Baron Strutzz säße ich vielleicht nicht hier ...« »Stimmt«, pflichtete der alte Troll ihm bei. »Ich und
Hochwohls Leut warten schon paar Tag unten am Berg Wolkenkopf. Aber an Straße von Altzoll.« »Und ich bin von der anderen Seite gekommen«, gab der Graf zu. »Zum Glück lockte der fliehende Drache sie an.« »Oh, Drach sehr feige damals, ich muß ehrlich sagen. Fürwahr!« stimmte der Baron ihm zu und biß wieder ins Brot. »Is bisher nicht wiederkomm, un wird wohl auch nich. Eigentlich schade. Hätt Drach gern gesehn.« Strutzz überlegte einen Moment und schüttelte dann den gewaltigen Kopf. »Neeee – hätt lieber sein Leich gesehn.« Golambes mußte lachen. »Das ist auch klüger. Mir hat es jedenfalls vollauf gereicht. Obwohl ich auch gerne irgendeinen prächtigen Beweis für sein Ende in Händen hätte.« »Und von dem riesigen Tier ist nichts geblieben, womit du als Drachenvertreiber glänzen könntest?« Der Schwarze wollte seinem jungen Freund helfen. »Wenig«, gestand Golambes ein. Dann holte er einige Dinge aus einem Beutel, die zuerst wie grüne Fliesenstücke wirkten. »Diese Schuppen sind alles, was ich als Andenken zurückbehalten habe, und die kann ich ebensogut irgendwo aufgesammelt haben. Nicht viel, um damit anzugeben, was, Greif?« Er hob seine Trophäen ins Licht. Die drei schauten sich die handgroßen Hornplatten an. Die letzten Son-
nenstrahlen des Abends glänzten auf ihnen und ließen sie wie Zorganer Smaragdtafeln funkeln. Beim Reiben lösten sich winzige irisierende Partikel und hafteten an der Haut. »Willst du eine davon haben? Ich denke mir, sie lassen sich gut als Hutschmuck tragen ... Nein? Aber Baron Strutzz, Ihr wollt doch sicherlich ...? Ja, sucht Euch die schönste aus.« Der Herold nahm einen Schluck Wein. »Und sonst? Was hast du an Schätzen finden können?« »Nichts – oder fast nichts. Kein Gold, keine Edelsteine – ein gewöhnlicher Baumdrachenhort enthält mehr Kostbarkeiten. Die Drachin war erst wenige Wochen dort und hatte kaum mehr als ein bißchen billigen Tand zusammengetragen – ich hab ihn dem Baron geschenkt.« Der Troll unterbrach die Arbeit seiner Kiefer und fühlte sich gezwungen, einige Worte des Danks hervorzubringen. »Nun, vielleicht war das dein Glück, Golambes. Der karge Hort, meine ich. Einen großen Schatz hätte sie wohl kaum so rasch aufgegeben.« »Mag sein ...« Der Welpe, der bislang vor dem Feuer einen alten Jagdhund mit seinen Albernheiten belästigt hatte, trottete herbei und schnappte spielerisch nach dem Mantel des Grafen.
»Oh, und da rächt sich schon ein Gewinn für die schmähliche Mißachtung. Natürlich habe ich Boutsen gefunden.« Golambes beugte sich vor und nahm das Tier auf. »Puh, er wiegt jetzt schon gut acht Stein. Inzwischen mag ich den kleinen Kerl nicht mehr missen. Zum Glück erinnert er sich nicht mehr an das, was ich mit seiner Mutter tat.« »Wie groß wird er denn einmal werden?« erkundigte sich Greif. »Ich habe keine Ahnung. Seine Mutter war so groß wie ein Stierkalb. Wenn er ihr nachgerät, frißt er mir eines Tages die Haare vom Kopf ... Es sein denn, ich schenke ihn der Fürstin ... das wäre eine Idee ... aber dann müßte er schon scharf sein.« Golambes lachte kurz. »Wenn er sie auffrißt, kann sie mich nicht mehr fragen, wo ich meine Zeit vertrödelt habe und warum ich ohne Ergebnisse zurückgekehrt bin. Obwohl, wenn ich ehrlich bin: Der Ritt hat mir doch einiges gebracht.« Er hielt einen Moment inne und gab sich düsteren Erinnerungen hin. Dann sprach er fröhlich weiter: »Denke nur an das Schwert. Die Drachin schien es zu fürchten.« Der Herold wirkte nachdenklich: »Ohne deinen Onkel Arve und seinen Freund Larix kränken zu wollen – es gibt ähnliche Waffen in einem wilden Land, fern von hier. Ich kann dir einige Tricks und Finten für Azzan zeigen, wenn du willst.«
Golambes schaute ihn an: »Ich habe dich noch nie mit einem Schwert gesehen, aber das Angebot nehme ich an. Ich brenne schon darauf, es beim nächsten Kaiserlichen Turnier auszuprobieren. Denk nur, was alle für verdutzte Gesichter machen werden, wenn sie es sehen. Die alten Kämpen werden gar nicht wissen, wie sie parieren sollen.« Der Greif blickte auf. »Du willst bald nach Gareth gehen?« »Warum nicht?« fragte Golambes. »Ich muß mich dort wieder einmal blicken lassen. Mich wieder in Erinnerung bringen. Denk nur nicht, ich hätte die Hoffnung auf die Markgrafschaft schon aufgegeben.« »Nun, viel Erfolg. Ich werde mich freuen, dich zu sehen.« Der Herold nahm noch einen Schluck. »Das ist aber nicht euer Trollinger – oder meine Zunge soll verdorren. Das ist ungeweihter Tharf.« »Woher kennst du alter Kostverächter bloß den Rahjawein? Aber du hast recht. Echter Sikramtaler aus Belhanka. Nun ja ... ein paar Goldklümpchen enthielt der Hort dann doch ...« »Ein würdiger Abschluß der Drachenjagd.« Der Herold schenkte dem Gastgeber und sich noch etwas ein. »So kommen wir also doch zum abendlichen Besäufnis nach vollendeter Tat, wie die Heldensagen es fordern ...« »Ja, dieses Abenteuer ist vorüber, aber glaub mir« –
Golambes grinste selbstbewußt –, »meine Geschichte geht weiter.« Erstmals erschienen in: ›Mond über Phexcaer‹, Fantasy Productions, Erkrath, 1990
CHRISTEL SCHEJA
DIE DIEBE VON RASHDUL
Dunkelheit lag über Stadt und Hafen. Der Mond schien nicht auf Rashdul. Östliche Winde hatten düstere Wolken herangetrieben, einen warmen Dunst, der bis hinab in die Gassen sank und den Alten und Kranken das Atmen schwermachte. In der Oberstadt, rund um den Palast der Herrin dieses kleinen Reiches, herrschte trügerische Ruhe. Um Geld und Leben der Reichen und Adligen zu bewahren, patrouillierten Stadtwachen auf den Straßen. Fern aber hielten sie sich von dem hell erleuchteten, durch alte Mauern abgegrenzten Teil Rashduls. Die Unterstadt, zwischen Hafen und Kaufmannsviertel gelegen, brodelte vor Leben. Wer Sinnenfreuden suchte, der fand sie hier. Auf den größeren Gassen drängten sich die Menschen eng aneinander, teils um die Darbietungen der Gaukler zu bewundern, teils um zu einer der Tavernen oder einem Haus der Liebeskunst zu wandern. Auch Diebe gingen hier ihrem Handwerk nach. Wer seine Börse nicht an einem sicheren Ort verwahrte, verlor sie schneller als er dachte. Wenn man jedoch den von flackernden, harzig riechenden Fackeln erleuchteten Arkaden den Rücken kehrte und einer der engen Seitengassen folgte, war man bald wieder von Stille und Dunkelheit umgeben. Zwischen den verfallenen Häusern bewegten sich nur wenige Gestalten, wichen einander hastig aus oder
stießen Bettler beiseite, die verzweifelt die Hände reckten und jammerten. Türen und Fenster der unteren Stockwerke waren fest verriegelt. Nur durch manche Ritzen in den morschen Läden schimmerte noch Licht, unterdrückte Geräusche waren zu hören. Hier hausten die Tagelöhner, die als Handlanger bei Handwerkern oder für die Grundherren auf den Feldern an den Ufern des großen Stromes schufteten, um ihren Hungerlohn zu verdienen. Sie mußten es hinnehmen, in diesem verruchten Viertel zu leben, zwischen dem Abschaum des Landes, Dieben und Bettlern, Mördern und Söldnern, aber auch leichtlebigen Tänzerinnen und Dirnen. Kein Wunder, daß sie sich zitternd einschlossen und auf Geräusche von außen lauschten. Das Trappeln auf den Dächern stammte nicht nur von Mäusen und Ratten. Geschickt bewegte sich ein Schatten auf den Simsen, huschte von einem Balkon zum anderen oder nutzte keck die schmalen hölzernen Verbindungsstege. Katzengleich schwang sich die zierliche Gestalt von den Ruinen eines halbzerfallenen Hauses hinauf auf eine Balustrade, landete lautlos auf den Dielen und bewegte sich weiter am Rande einer breiten Gasse, die von Fackeln erhellt war, gleichauf mit einigen Männern, deren staubbedeckte Mäntel und Hosen verrieten, daß sie aus der großen Wüste stammen
mußten. Novadis, die aus irgendeinem Grund Rashdul, die Prächtige, aufsuchten. Schwere Säbel mit abgenutzten Scheiden und Griffen verrieten, daß sie es gewohnt waren, sich als Söldner im Kriegshandwerk ihr Brot zu verdienen. Die Männer redeten lautstark miteinander, besprachen die Freuden, die sie in der Stadt genießen wollten. »Bei Rastullahs allsehendem Auge!« rief einer von ihnen. »Was ist schon der knochige Leib einer Tänzerin gegen die Wonnen in den Armen meiner Yasin!« Er übertönte damit das Klappern eines zerbrechenden Ziegels, den ihr unbemerkter Verfolger vom Dach gestoßen hatte. Rasch glitt die Gestalt in den Schatten eines Giebelschmucks. Schließlich mischten sich die Männer unter die Menge in einer größeren Gasse, in der mehrere Schenken lagen. Erst als die Gestalt sich vergewissert hatte, wohin die Männer sich wandten, ließ sie sich vom Dach gleiten und landete geschmeidig auf den Beinen. »Bei den heulenden Dämonen der Khom!« stieß ein zusammengesunkener Wanderer mit lallender Stimme aus. »Und den zottigen Haaren der bärtigen Rasha! Verschwinde, du geflügeltes Untier! Möge mich Rastullah vor deinem bösen Blick bewahren!« Der Betrunkene verstummte und starrte verdutzt
um sich, denn die Gestalt war genau so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Im Schein der hellen Lampen war nun ein vielleicht fünf Fuß und zwei Handspannen großes Mädchen deutlich zu erkennen. Ihre nur knapp knielange Hose war an den Außenseiten bis zur Hüfte geschnürt, das ärmellose Mieder schmiegte sich eng an ihren Oberkörper. Geschickt schlängelte sie sich durch die Vergnügungssüchtigen. Hin und wieder glitten ihre Hände wie zufällig über die Gürtel hellhaariger Nordaventurer oder unter die Umhänge finster dreinblickender Novadis. Kurz darauf blitzte etwas auf, das sie unter die breite Schärpe schob, an der sie einen Dolch und mehrere Wurfmesser befestigt hatte. Ihre Miene wirkte gleichgültig, als sie die Treppe zu einer Schenke hinaufsprang. Ihre Füße waren durch leichte Sandalen geschützt, die bis zu den Knöcheln geschnürt waren. Das lange rote Haar fiel ihr offen über die Schultern. Nicht fern von den Tavernen in einer Garnison: Noch immer brannten die Kerzen in der Arbeitsstube des Kommandanten der Stadtwache, der unter anderem für die Ordnung in der Unterstadt zu sorgen hatte. Unruhig die Hände auf dem Rücken ver-
schränkt haltend, wanderte der junge braunhaarige Mann auf den abgetretenen Dielen auf und ab. Sein Gesicht war finster, die Stirn gerunzelt. Bei jeder Wendung seiner Schritte stieß er eine gemurmelte Verwünschung aus: »Diebesgesindel! Räudiges Pack! Wir legen euch das Handwerk schneller als ihr denkt!« Die Ringe seines leichten Kettenhemdes klirrten leise dazu. Wie alle Offiziere, die sich eine solche Rüstung leisten konnten, trug er sie fast alle Stunden des Tages. »Ich kann Eure Zuversicht nicht recht teilen, Ilnamar«, erwiderte eine im Schatten eines Regals sitzende Gestalt. Die Frau war in ein kostbares Seidengewand von dunkler Farbe gehüllt. Ein feiner Schleier verdeckte die untere Hälfte ihres Gesichtes. »Diesmal, o erhabene Shanja, wird unser Plan gelingen. Kaufherr Hamed hat eingewilligt.« »Soweit ich hörte, ist das neue Oberhaupt der Diebe auch nicht gerade dumm. Das Dämchen übertölpelte immerhin Mawud den Fuchs!« »Mag sein, vielleicht hat sie auch einfach Glück gehabt. Denn diese kleine rothaarige Hexe besitzt bei weitem nicht Mawuds Erfahrung!« Er legte eine Hand auf seine leichte gerade Klinge, die er von ihr, seiner Fürstin, erhalten hatte. Die Shanja sah dies und lachte amüsiert. »Ich habe Euch ausge-
wählt Ilnamar, weil Ihr der einzige Mann der Wache seid, der seine Ehre und das Recht höher stellt als Gold. Doch unterschätzt nicht die Listen einer Frau!« »Das werde ich nicht! Bei Rastullahs allhörenden Ohren, ich schwöre Euch, Euer Erhabenheit, daß ich mein Leben gäbe, um die Diebe ein für alle Mal in ihre Schranken zu weisen.« »Sie haben auch schon lange genug den Palast geplündert.« Die Shanja seufzte. »Zwar fangen wir gelegentlich einen, aber zu viele entkommen. Mögen diese Langfinger künftig von allen Göttern gestraft werden, an die man in dieser Stadt glaubt.« »Morgen abend findet in der Villa des ehrenwerten Kaufherrn Hamed ein Fest statt. Ihr werdet sehen, dem Gold werden die Diebe und ihre Anführerin nicht widerstehen können. Doch wenn sie versuchen, in das Haus einzudringen, werfen wir unsere Netze aus und fangen sie!« »Und wie erfahren sie von den Schätzen, aber nicht von eurem Hinterhalt?« »Ich habe meine Boten ...« Der Kommandant der Wache nickte und lächelte. »Was ist besser als betrunkene Söldner, denen man ein Geheimnis anvertraut? Diebe haben Augen und Ohren in den Wänden und werden lauschen!« »Aber wenn sie zu genau lauschen?«
Laute Stimmen und der Geruch billigen Weines schlugen der jungen Frau entgegen, als sie den Schankraum betrat. Zwischen den eng beieinanderstehenden Tischen zwängten sich mit kupfernen Armreifen gekennzeichnete Sklaven und Sklavinnen hindurch. Sie mühten sich mit schweren Krügen ab, während die Gäste um Geld spielten, mit käuflichen Mädchen oder Knaben schäkerten und auf die Tänzerinnen starrten, die sich zu den gewundenen Klängen eines dicken, schwitzenden Flötenspielers bewegten. Die junge Frau verzog angewidert das Gesicht. Dann musterte sie die Menschen genauer. »Bei Efferds Dreizack!« brummte ein bärtiger Mann in ihrer Nähe. »Beeilt euch mit den Getränken! Oder ich schlag die Taverne zusammen!« Zur Bestätigung seiner Worte hob er eine Axt auf, die bisher auf dem Tisch gelegen hatte. Sie schepperte gegen einen metallenen Armschutz und streifte den Griff eines der beiden Schwerter, die er trug. Interessiert suchten die Augen der Flammenhaarigen nach seiner Börse, doch sie wurde abgelenkt. Ein Schrei gellte durch die Stube. Alle Gäste drehten die Köpfe und blickten auf die halbnackte Tänzerin, die sich gerade fluchtartig von einem hochgewachsenen Mann zurückzog, der sie verwundert an-
starrte. Vermutlich hatte sie erst jetzt seine spitzen Ohren bemerkt. Mit einem gelangweilten und ärgerlichen Gemurmel kehrten die Anwesenden zu ihren Beschäftigungen zurück. »Die kommt wohl aus dem einsamsten Wüstendorf der Khom«, murmelte jemand mit verständnislosem Blick auf die Tänzerin. »Hat wohl noch nie einen Elfen gesehen. Bei uns in Havena laufen sie zu Dutzenden herum, und keiner regt sich auf.« Die junge Frau mit den roten Haaren schob sich durch die Menge. Irgendwann nahm sie einer Sklavin einen irdenen Krug vom Tablett und legte eine Kupfermünze an die Stelle. Sie hielt Ausschau nach einem leeren Tisch im hinteren Teil des Schankraums. Plötzlich schlang sich ein Arm um ihre Taille. »Bist du allein, süße Tochter der Rahja?« raunte ihr jemand mit schwerer, fuselgetränkter Stimme ins Ohr. Gelassen nahm die Rothaarige einen Schluck aus ihrem Krug und blickte dann gelangweilt auf den angeheiterten Händler. Spielerisch ließ sie ihre Finger über sein Hemd gleiten und lächelte. »Wenn ich nicht allein wäre, befände ich mich dann hier?« erklärte sie seelenruhig und entglitt seinen Armen. Er versuchte den Sinn ihrer Worte zu verstehen und grübelte noch immer angestrengt über seinem Wein, als sie längst hinter eine Säule gehuscht war.
Zufrieden ließ sie eine Brosche unter ihre Schärpe gleiten und zwinkerte den Söldnern zu, deren Würfelspiel sie interessiert beobachtete. Das Blitzen ihrer Augen bedeutete ein offenes Angebot, das die Mädchen der Unterstadt oft machten, wenn sie hübsch waren. Einer, der sie ganz genau sehen konnte, ließ den Blick über ihre Figur gleiten. »Willst du mein Glücksbringer sein?« fragte er und grinste breit. »Solch eine Rose wäre eine Zierde für jedes Zelt in der Wüste.« Sie trat näher, und er zog sie besitzergreifend zu sich auf die Bank. Einen Arm legte sie um seine Taille, in der anderen Hand hielt sie noch immer den Weinkrug, den sie jetzt bedächtig auf dem Tisch abstellte. »Ich liebe die Labyrinthe der Stadt«, antwortete das Mädchen mit sanfter Stimme, »die Wüste ist nichts für mich: zuwenig Schatten ...« Ihre Finger näherten sich wie zufällig seiner Börse. »Wie heißt du?« fragte der Söldner ruhig, während er ihr Handgelenk packte. Sein Griff lockerte sich erst wieder, nachdem er ihre Hand auf die Tischplatte geführt hatte. Schwarze Augen funkelten in jähem Zorn. »Ich bin Ahmehn al Safar, von den Zelten der Avadi. Und mein Blick ist der eines Falken!« »Ich bin ... Azila.« »Der Name paßt zu dir, du ›wilde Rose‹!« Wieder blitzten seine Augen, ein tückisches Lächeln spielte
um seine Mundwinkel. Azila neigte den Kopf und nickte. Sie schob sich eine flammende Strähne aus der Stirn. Dann ergriff sie die Würfel und hielt sie in Ahmehns Richtung. »Soll ich sie für dich werfen, mein Gebieter?« Die Shanja erhob sich. »Ich erwarte Euren Bericht in einigen Tagen, Ilnamar ay Storn. Und ... nein, schwört nicht Eide, die Ihr nicht halten könnt! Vielleicht finde ich einen besseren Posten für Euch, wenn die Anführerin der Diebe in Ketten vor mir steht.« Dann lächelte sie huldvoll dem auf das Knie gebeugten Hauptmann zu und verließ die Stube. »... und dann hatten wir die Räuber endlich gestellt! Beim Herzen eines Kriegers, welch eine Schlacht! Wir mähten sie nieder wie die Schnitter das Korn ...! Aber was tat dieser gierige Feilscher? Er zahlte uns nur den ausgehandelten Lohn und nicht einen Kreuzer mehr!« Der kräftige Söldner stemmte den Oberkörper hoch und blickte hinab auf die junge Frau, die sich zwischen seinen Armen räkelte. Ein Lichtstrahl fiel auf ihr Gesicht und erhellte die feingeschnittenen Züge. Das Haar, das im Schatten lag, schimmerte nun fast so schwarz wie die Nacht. Sie hatten sich in ein Zimmer im oberen Geschoß
zurückgezogen und andere Freuden als die des Weines und Spieles genossen. »Ha, und nun verbirgt er seine Juwelen und die anderen Schätze der Karawane in seinem Kontor. Ich würde sie mir holen ...« »Und warum tust du es nicht rasch?« fragte Azila leise und fuhr mit den Fingern durch sein kurzes dunkles Haar. Ihre weißen Arme schlangen sich um seinen Nacken. »Weil dieser Geizhals die Stadtwachen um Hilfe gebeten hat. Sie lassen nicht einmal eine Maus hinaus, weil sie glauben, daß Diebe wie du es auf die Wertsachen abgesehen haben. Und diese wollen sie fangen und hängen ... Und wie würde es dir gefallen, mit einem Strick um den Hals von einem Balken zu baumeln?« »Es wäre schade um mich!« wisperte sie ergeben. »Deshalb werde ich dich auch nicht vor dem Morgengrauen entlassen. Ich will meinen Gewinn behalten ...« Der Söldner ließ sich auf sie niedersinken und küßte sie. Die junge Frau antwortete nicht. Ihre Züge, ihre Augen wirkten starr und fast leblos, als ergebe sie sich in ihr Schicksal. Eine Glocke aus Geräuschen und Düften lag über dem Bazar am Madamal-Tor, das den Weg zur Ober-
stadt wies. Die Menschen drängten zu den Ständen, an denen Händler aus allen Teilen Aventuriens ihre Waren anpriesen. Ärgerliche Rufe wurden laut, als schwerbewaffnete Wächter die Schaulustigen wegdrängten, um ihrem Herrn oder ihrer Herrin Platz zu schaffen. Die Reichen und Adligen ließen sich in Sänften tragen. Dunkelhäutige Sklaven schwitzten unter den Tragestangen, während die prächtig gekleideten Edlen die Ware begutachteten, die ihnen die Händler eilfertig an das Fenster der Sänfte reichten. »Seht, meine Herrin! Beste Glasarbeiten aus Grangor. Ein Diamant könnte nicht schöner geschliffen sein!« Die verschleierte Frau in einer Tragkutsche griff interessiert nach einem Pokal, den einer ihrer Leibwächter dem Standbesitzer aus den Händen genommen und geprüft hatte. Ihr Gewand und das Kopftuch waren aus heller, in vielen Farben schimmernder Seide und lagen so lokker um die Gestalt, daß ihr wahres Alter nicht abzuschätzen war. Dennoch wiesen sie das gestickte Wappen und die Zahl ihrer Wachen als mächtigste Frau Rashduls aus. Die Shanja höchstselbst war auf den Markt gekommen, um sich ihrem Volke zu zeigen und vielleicht das eine oder andere zu erwerben. Dunkle Augen blitzten unter dem Schleier hervor.
»Er ist hübsch, aber sehr zerbrechlich, so scheint es.« »Euer Erhabenheit!« Der Händler hob die Hände. »Aber unvergleichlich ist der Geschmack des Weines, den ihr in ihn füllt! Die dünnen Wände bewahren seine Blume besser als ein schwerer Kristallpokal!« »Nun ...« »Nehmt ihn, ehrwürdige Gebieterin, er ist Euer! Ich schenke ihn Euch! Euer Wohlgefallen ist Lohn genug für mich, den armseligen Kaufmann Arib!« »So sei es!« Die unter den Schleiern hervordringende Stimme klang eher belustigt als gnädig und huldvoll. Die Shanja nickte, reichte den Pokal einem Sklaven, der neben der Sänfte ging, und klatschte in die Hände. Die Träger hoben sie hoch. Ein Raunen ging durch die Menge. Jeder versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen, auf die Herrscherin der Stadt. Hochgewachsene, hellhaarige Nordländer betrachteten sie neugierig und manchmal sogar schon respektlos, die einheimische Bevölkerung murrte leise über die unwillkommene Störung. Inmitten einer solchen Gruppe stand eine junge rothaarige Frau. Sie kaute an einer saftigen Frucht, die sie mit flinken Fingern von den Auslagen eines Standes stibitzt hatte. Grüne Augen folgten jeder Bewegung der Shanja. Wie beiläufig glitt ihre Hand plötzlich hinab zu der Schärpe und umklammerte die Finger eines halbwüchsigen Knaben.
»Was versuchst du da?« Er machte eine bittere Miene, schaute im nächsten Augenblick zur Seite und versuchte sich aus dem Griff zu entwinden. Doch sie drückte noch fester zu. »Grüße Saval von mir, und sage ihm, er soll seine Schüler besser ausbilden, ehe er sie auf die Straßen schickt.« Ihre Stimme klang freundlich, aber drohend. »Und vor allem soll er sie lehren, die Spielregeln der Gosse zu beachten!« Dann wandte sie sich ab und ließ den Jungen einfach stehen. Der Knabe murmelte einen leisen Fluch. Ein Bettler, der an einer Hauswand kauerte, lachte krächzend. »Du weißt wohl nicht, wer sie ist?« Der jugendliche Dieb schüttelte den Kopf. »Sie ist die Königin der Diebe. Du kannst froh sein, daß du so glimpflich davongekommen bist.« Der Knabe suchte nach dem Rotschopf, doch die junge Frau war schon nicht mehr zu entdecken. Sie folgte indessen der Shanja gemächlichen Schrittes, als überlegte sie, ob sie ihrem Ruhm neuen Glanz verleihen könnte, wenn sie an der mächtigsten Frau Rashduls ihre Künste ausprobierte. Hin und wieder musterte sie währenddessen die Waren, die zwischen den Säulen der Gebäudevorplätze ausgebreitet waren, befand die Werke der Töpfer und Schmiede für uninteressant, ließ die Finger nur über die feinsten Gewebe der Tuchmacher gleiten, ehe sie zugunsten
einer wohlhabenden blonden Dame aus dem Mittelreich weggescheucht wurde. Aus den schmalen Fensteröffnungen der hell getünchten Flachdachbauten schauten Kinder und Frauen auf das bunte Treiben des Marktes. Die Rothaarige beobachtete auch die Gaukler, die für Kurzweil auf dem Bazar sorgten – Akrobaten, Tänzer und Sänger. Quäkende Flötenklänge wetteiferten mit den monotonen Gesängen einer Geschichtenerzählerin aus der Khom-Wüste. Ein Barde aus dem Norden hielt mit seiner kraftvoll geschmetterten Ballade über einen Krieger und zwei Basilisken dagegen. Zwei Tänzer, die nur ein kleines Lendentuch trugen, parodierten auf fast schon lächerliche Weise Tänze aus dem Tempel der Göttin des Rausches und der Liebe. »Vulgär und geschmacklos!« raunte ein Mann in Kettenhemd und Waffen neben der Diebin. Eine Brosche in der Form eines Schwertes hielt seinen Mantel zusammen. »Unfaßbar! An anderen Orten würden sie dafür gesteinigt!« Die junge Frau lächelte und ließ die Hand zur Seite sinken, nachdem sich diese bereits unauffällig seiner Börse genähert hatte. Hier, in diesem Schmelztiegel der Völker, wo Nomaden der Khom und Bewohner der südlichen Regionen Aventuriens sich mit den Nordmenschen verbunden hatten, wo verschiedene
Religionen um die Vorherrschaft kämpften, hatte bisher keine die Oberhand gewonnen. Weder die fanatischen Vertreter der Zwölfgötter noch die energischen Vorkämpfer für den einzig wahren und allmächtigen Rastullah! Zufrieden waren einzig die, die weder den ersteren noch dem letzteren vertrauten – wie sie. Die Diebin horchte auf. In der Nähe der Shanja war es ruhig geworden. Eine Frau versuchte, zu der Herrscherin dieser Stadt zu gelangen, doch die Leibwachen hielten sie auf und schleuderten sie in die Menge zurück. Die Verschleierte gebot ihnen keinen Einhalt. Ihr Interesse schien auf einen Reiter gelenkt zu sein, der im Schatten des Madamal-Tores wartete. »Oh, du Tochter des Unrechtes!« klagte die weinende Frau laut. »Ich ...« Ein Mann umklammerte sie plötzlich und hielt ihr den Mund zu. »Still!« vernahmen die umstehenden Menschen. »Oder willst auch du im Kerker landen?« Glücklicherweise entfernte sich die Herrscherin. Sie befahl ihren Trägern, sie zum Tor zu tragen. Die Rothaarige schlüpfte gewandt durch die Menge, um den Reiter besser sehen zu können. Er war ein in prächtige Gewänder gehüllter Mann, mit dem Gebaren eines Wüstenfürsten. Fast jeder kannte den Oheim der Shanja, Sheik Al-
mut, dessen Vorliebe für wilde Feste und schöne Tänzerinnen immer für Gesprächsstoff sorgte. Man munkelte, daß die Herrscherin angeblich unter seinem Bann stand und daß er es war, der eigentlich die Stadt regierte. Ein magerer Bursche trat neben die Rothaarige. Er zog etwas aus seinem Kittel und reichte es ihr unauffällig. Ebenso heimlich wechselten einige Münzen ihren Besitzer. Die Shanja indessen war hinter dem Tor verschwunden. »Ich grüße dich, liebliche Nichte! Möge in deinen Augen niemals der Glanz der Sterne verlöschen.« »Du schmeichelst mir, Oheim.« »Ich spreche die Wahrheit, Eshila. Hast du dich wieder einmal dem Vergnügen hingegeben, dein Volk zu besuchen?« »Ja. Das Volk soll seine Shanja sehen!« Die Frau löste ihren Schleier und schlug ihn zur Seite. Ihr Gesicht war von ovaler Form, die durch das eng anliegende schwarze Haar und die großen, von langen Wimpern umrahmten Augen betont wurde. Ihr Mund war rot und voll, so wie ihn manche Poeten in alten Liedern besangen. »Und du bist aus deinem Palast zurückgekehrt? Willst du länger bleiben?« »Ich werde sehen. Zuerst besuche ich einen alten
Freund. Der ehrenwerte Hamed sandte mir eine Einladung, und ich will ihn natürlich nicht enttäuschen.« Die schwarzhaarige Herrscherin lächelte belustigt. »Dann wünsche ich dir viel Vergnügen! Vielleicht erlebst du noch ein Schauspiel sondergleichen. Mein treuester Hauptmann Ilnamar ay Shorn hat es sich in den Kopf gesetzt, die Stadt ein für allemal von Dieben zu säubern, und gerade bei Hameds Fest will er damit beginnen. Vielleicht gelingt es ihm gar. Es könnte ein amüsantes Spektakel werden.« »Da müßte er in den Palästen beginnen. Dort sitzen die größten Diebe!« Der Sheik stieß den letzten Satz mit einem sarkastischen Lächeln aus. »Aber der Hauptmann jagt ganz besondere Diebe. Man hofft, daß auch die Anführerin darunter sein wird. Sie soll eine sehr schöne rothaarige Frau sein, die sich Djamilla Azila nennt. Also verfalle nicht dem Zauber ihrer glühenden Augen. Ich weiß, daß du süße und wilde Rosen liebst!« »Der Wunsch meiner Nichte ist mir Befehl. Ich werde andere finden – langbeinige Tänzerinnen aus dem Palast der ewigen Freuden!« »Ich hörte von ihnen!« Die Shanja verschleierte sich wieder, als sie merkte, daß er nicht mehr mit ihr sprechen wollte. Schweigend durchquerten sie das Tor des kleinen, aber farbenprächtigen Palastes, in dessen Mauern Halbedelsteine eingelegt und die von ge-
schickten Baumeistern und Bildhauern mit Reliefs tapferer Vorfahren geschmückt waren. Von den Dächern der Türme schimmerten Gold und Silber, bunte Fahnen leuchteten über den weißen Mauern. »Wir haben die Wachen an allen Orten aufgestellt, durch die die Diebe eindringen könnten. Selbst in den Kanälen halten zwei Mann Wache. Wie sind Eure weiteren Befehle, Kommandant?« »Ich habe keine.« Ilnamar ay Shorn musterte seinen Untergebenen scharf. »Du kannst gehen, Harum!« Mit einer Ehrenbezeugung verschwand der Soldat. Der Hauptmann der Stadtwache aber verschränkte die Hände hinter dem Rücken und dachte an das, was er über die rothaarige Hexe wußte. Sie war klug und listenreich, denn es hatte einiges dazugehört, ihren Vorgänger auszuschalten und zu töten. Woher sie kam und wer sie wirklich war, wußte kein Mensch. Nicht einmal die gefangenen Diebe, die unter der Folter gesprochen hatten. Sie war offenbar sehr jung, zählte noch nicht einmal zwanzig Jahre, aber auch das konnte täuschen. Es gab genügend Magier, die für Gold das Leben verlängerten oder das Aussehen verjüngten. Djamilla Azila war ihr bekanntester Name. Vor wenigen Monden erst hatte sie Mawud den Fuchs gestürzt und die Diebesgilde übernommen. Unter ihrer Führung wurde die Gilde weniger faßbar
und erfolgreicher. Djamilla setzte List und Heimtücke gegen Gewalt und verzichtete oft auf den Rest einer Beute, um die schon ›erworbene‹ sicher wegzuschaffen. Sie schien großzügiger zu ihren Untergebenen zu sein als Mawud. Selbst die Bettler vergaß sie nicht. Sie hatte viele Freunde in der Unterstadt, und das machte diese Frau so gefährlich. In einer Stadt, wo Gold mehr als das Gewissen zählte, konnte sie sich eines Tages vielleicht zur Shanja aufschwingen. Das wollte Ilnamar verhindern. Schon mehrere Male hatte er sie fast in seiner Gewalt gehabt, aber diesmal sollte es endgültig sein. Sie konnte nichts von der Falle wissen, denn ›seine‹ Söldner hatten nur von den großartigen Schätzen berichtet. Er dachte an seinen Schwur. Als ›Hadjiin‹, Mitglied eines geheimen Ordens, hatte er gelobt, dem Recht stets Genüge zu tun und nach einem strengen Kodex zu leben. »Djamilla Azila, all deine List wird dir nicht helfen, den Maschen meines Netzes zu entkommen!« sagte er zu sich, als erneuere er damit seinen Schwur. Die Villa lag inmitten eines weiten Gartens. Fackeln erhellten die gepflegten Rasenflächen und die symmetrisch angeordneten Büsche, deren Blüten in vielerlei Farben leuchteten. Exotische Pflanzen standen
in kostbaren Vasen neben den mit Marmorplatten befestigten Wegen. Der kräftig wirkende, hellhaarige Mann stützte die Hände auf eine Mauer und blickte über die Oberstadt hinweg. In der Ferne glitzerte der Fluß silbrig im Mondlicht. »Ehrenwerter Sheik!« Der Angesprochene drehte sich um. Er starrte finster auf den untersetzten, dicklichen Mann in rostroter Robe, der sich räusperte und mit der Zunge kurz über die wulstigen Lippen wischte. »Erhabener Almut! Die Mädchen sind gekommen und bereiten sich gerade vor. Sie werden uns mit ihren Tänzen erfreuen.« »Gut ...! Sind es die besten und schönsten?« »Ich habe Abrizah einen sehr hohen Preis bezahlt, und sie versprach mir, die anmutigsten Rosen ihres Palastes zu senden!« Der Adlige nickte zufrieden und folgte seinem Gastgeber. Dieser blickte noch einmal hastig in den Garten hinaus, um festzustellen, ob alles seinen Wünschen entsprach. Aus dem Schatten unter einem ausladenden Baum tauchten zwei bewaffnete Männer auf, Angehörige der Stadtwache, die ihm ein Zeichen gaben. Zufrieden nickte der Kaufherr. Er führte seinen Gast in einen prächtig ausgestatteten, aber rauchverhangenen Saal. Bunte Wandteppiche aus kostbaren Materialien schmückten die Wän-
de, mit Blattgold überzogene Möbel und weiche Kissenlager luden die Gäste zum Rasten ein. Etliche Männer und Frauen in wallenden Prachtgewändern hatten sich bereits dort niedergelassen. Manche von ihnen sogen an länglichen Pfeifen, die an geschmückten Behältern befestigt waren, andere winkten Sklaven und Sklavinnen herbei, die überall standen und silberne Platten mit allerlei Köstlichkeiten darboten. Wieder andere unterhielten sich angeregt oder starrten schweigend auf den einsamen Bandurriaspieler in der Mitte. Wenige hielten ein Mädchen im Arm. Der Gastgeber klatschte in die Hände. Der Musikant in der Mitte des Raumes sprang auf und verschwand, während sich der Kaufherr auf eine Empore begab. Die Gäste verstummten. »Freundinnen und Freunde!« rief er in den Saal. »Ich habe euch eingeladen, um die Heimkehr meiner Karawane zu feiern, aber auch, um euch zu erfreuen! Ihr wartet sicherlich auf den Höhepunkt dieses Abends. Nun, er ist gekommen! Ich will euch die besten Tänzerinnen Rashduls nicht länger vorenthalten, strahlende Schönheiten, die nur darauf warten, euch ihre Künste zu zeigen. Es sind die Besten der Besten. So tanzen sie sonst nur vor den Augen unserer erhabenen Shanja.« Für einen Augenblick hielt er inne. »Und sie ist ge-
kommen ...« Er machte eine sorgsam bemessene Pause, um die Gäste auf das nun Kommende vorzubereiten. »Tashina!« Ein Raunen ging durch die Menge. »Tashina, das kostbarste Juwel des Palastes der ewigen Freuden. Sie, die mit ihren Bewegungen selbst das Blut des kältesten und gefühllosesten Mannes zum Kochen bringen kann!« setzte Hames hinzu, der für seine ausgefallenen Überraschungen bekannt war. Die meisten wußten, daß Tashina nur selten und auch dann nur vor ausgewählten Gästen tanzte. »Beginnt!« Die Musiker spielten auf. Sheik Almut löste den Blick von einem der Wandteppiche, der eine delikate Szene zeigte, und beobachtete wie die anderen das Tor am entgegengesetzten Ende des Saales. Zwei Mädchen wirbelten herein. Sie schleuderten die goldblonden Haare in wilden Bewegungen um sich, so daß sie wie perlenbesetzte Fächer wirkten, stampften mit den Füßen im Rhythmus der Musik, so daß die Reife an ihren Armen und Beinen gleichmäßig klirrten. Sie hatten leichte Schleier um die Körper geschlungen, die nur von blitzendem Schmuck gehalten wurden. Zwei andere Mädchen folgten ihnen. Ihre Haare waren nicht blond, sondern feuerfarben. Ein weiteres
Pärchen trug die braunen Haare am Kopf festgesteckt. Die sechs Tänzerinnen drehten sich im Kreis, sie warfen sich zur Seite und wanden sich, als lenke sie ein stürmischer Wind. »Bei den Feuern Rahjas!« flüsterte ein anderer Gast neben Sheik Almut, der, so verriet sein Akzent, aus der goldenen Stadt Al'Anfa stammte. »Sie könnten wahrlich unseren besten Tänzerinnen Konkurrenz machen!« Die jungen Frauen lösten nun jede einen ihrer Schleier. Spielerisch wirbelten sie sie um sich herum und warfen die Tücher einander zu. Mit herausfordernden Gesten schlangen sie die Schleier erneut um ihre Körper. Der hellhaarige Adlige lehnte sich ein wenig zurück und griff nach seinem Pokal. Während die anderen Gäste rasten, wirkte er fast gelangweilt. Auch ein Wächter am Tor, das in den Saal führte, konnte seine Augen nicht von den Mädchen wenden. »Ahmen! Du solltest deine Augen besser auf andere Dinge richten! Wir werden nicht fürs Gaffen bezahlt!« mahnte ihn sein Kamerad. »Pah!« gab der Angesprochene zurück. »Warum stehen wir eigentlich hier? Fürchten die Reichen sich vor einem Wind, der ihnen die Juwelen und das Gold vom Körper reißen könnte? Durch die Wachen drau-
ßen schlüpft nicht mal eine Katze, geschweige denn ein Dieb.« »Sei still! Wenn dich jemand hört, kann uns das um den Sold bringen!« zischte der andere. »Der alte Geizkragen ist froh, wenn er den auch noch sparen kann!« Die beiden Wächter nahmen Haltung an, als sie Schritte hörten. Doch es war nur eine weitere Tänzerin, begleitet von einem Leibsklaven des Kaufherrn. Viel konnte man allerdings nicht von ihr sehen, denn ihr Oberkörper war bis auf die Augen unter Schleiern verborgen. Der Söldner Ahmen musterte sie intensiv. Als sich ihre Blicke trafen, schien er einen Moment irritiert. »Das ist Tashina. Sie wartet noch kurz auf ihren Auftritt«, erklärte der Sklave. Drinnen verklang allmählich das Lied. Die Tänzerinnen sanken auf die Knie und streckten die Arme aus. Dann kam sie. Die Musik hob mit einigen schrillen Tönen wieder an. Raubtierhaft – stolz und geschmeidig – sprang Tashina in den Raum. Der Adlige setzte sich ruckartig auf und beugte sich interessiert vor, die anderen Gäste aber machten ihrer Begeisterung durch anfeuernde Rufe Luft.
Begierig verlangten sie von ihr, den ersten Schleier zu lösen, was die Tänzerin erst nach aufreizendem, neckischem Zögern tat. Sie warf den Kopf in den Nacken, fing das herabrutschende Tuch auf und schüttelte das lange Haar. Die Strähnen fingen den Schein der Feuerschalen ein. Rote Funken blitzten aus den schwarzen Flechten, die dunkel waren wie eine lichtlose Nacht. Ein Überschlag enthüllte für wenige Augenblicke lange, wohlgeformte Beine, dann lösten ihre feingliedrigen Finger den zweiten Schleier und schleuderten ihn in die begeisterte Menge. Ein kräftiger Trommelwirbel setzte ein. Tashina ahmte die unsteten Flammen der Fackeln und Feuerschalen nach, schwebte über dem Boden, fast ohne ihn zu berühren, warf Schleier um Schleier von sich, bis nur noch ein einziger über ihren Brüsten und Hüften lag. Anders als die Tänzerinnen, die sich jetzt wieder zu ihr gesellten und sie umgaben, trug sie keinen Schmuck. Diesen benötigte die Schwarzhaarige auch nicht, um ihre Vorzüge zu betonen. Das fließende Haar umschmeichelte ihre festen hellen Schultern und Arme, das hauchfeine Tuch enthüllte mehr, als es verbarg. Ihre Gesten wurden herausfordernder, sinnlicher, trieben das Blut in die Köpfe der Zuschauer, um sie noch mehr zu reizen. Sie beugte den Oberkörper über die stumm gewordenen Gäste, streifte Männer und
Frauen mit Händen oder Haar, doch niemand wagte, nach ihren schlanken Beinen zu greifen oder gar ihren vor Schweiß glänzenden Körper zu berühren. Sie wollten den Zauber des Tanzes nicht zerstören. Zeitweise hatte Tashina die schräggestellten großen Augen geschlossen. Ein selbstvergessenes Lächeln umspielte den schön geschwungenen Mund. Manche verglichen sie in diesem Moment mit einer Geweihten der Rahja oder der Göttin selber. Sie schien unnahbar und entrückt, bei aller atemberaubender Nähe. Das Gold ihres kleinen Lendenschurzes flirrte, als sie auch den letzten Schleier löste und verführerisch vor ihren Oberkörper hielt. Ein Sprung, eine Drehung, und er flatterte zu Boden. Doch als die Zuschauer schon glaubten, Tashina in ihrer vollen Schönheit erblicken zu können, kamen die anderen Mädchen herbei und hüllten sie in ein goldfarbenes langes Tuch. Die Musik verklang unter dem enttäuschten Raunen der Anwesenden. Tashina zog den Stoff fast schamhaft um sich, doch die Haltung ihres Körpers und der Blick ihrer unergründlichen Smaragdaugen sprachen der Verkleidung Hohn. Die Gäste jubelten. Sie warfen kleine Kettchen, goldene Münzen oder Ringe auf die Tanzfläche, nach denen sich die Mädchen bückten und die sie rasch aufsammelten.
Nur die schwarzhaarige Frau blieb ruhig stehen und beteiligte sich nicht am Tun der anderen. Dann trat sie vor den Adligen und streckte die Hand aus. Auf den vollen Lippen spielte ein feines Lächeln. Der Gastgeber starrte sie einen Moment lang erschrocken an. Er wollte die dreiste Tänzerin mit einer zornigen Geste davonscheuchen wie eine Sklavin, aber der Sheik winkte ab. Nachdenklich zog er einen Ring vom Finger und legte ihn auf die Fläche der ausgestreckten Hand. Einen Herzschlag lang lagen ihre Hände aufeinander, dann schloß die Tänzerin die Finger zur Faust. Sie nickte mit einem wissenden Lächeln in den Augen. Dann wandte sie sich um und ging hinaus. »Einen Augenblick!« Der Wächter streckte die Hand aus, als die schwarzhaarige Tänzerin den anderen Mädchen folgen wollte. Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. »Du sollst noch bleiben«, murmelte er anzüglich. »Ein hoher Herr gab mir dies für deine hübschen Ohren.« Auf seiner Hand lag ein Ohrring. Schwach glitzerte die große Perle im Schein der Pechfackeln, die seine Begleiter trugen. Einer von ihnen hielt seine Fackel auffallend nah an die junge Frau, fast als wollte er sie verbrennen.
Als sie ihm das Gesicht zuwandte, zog er die Fakkel ruckartig zurück und drehte sich zur Seite. »Nun?« drängte der Wächter ungeduldig. »Du sollst auch noch den anderen bekommen.« »So?« Ihre Stimme klang rauchig und geheimnisvoll wie das Singen des Windes über der Khom. Dann nahm sie den Ohrring an sich. »Also wollen wir ihn nicht länger warten lassen.« »Du sprichst es aus, Weib!« antwortete der Wächter und winkte den Fackelträger zu sich, der sich mit seiner Flamme so ungeschickt angestellt hatte. Dieser folgte den beiden, als die Tänzerin in einen Seitenflügel der Villa geführt wurde. Vor einer silbergeschmückten hohen Tür blieb sie stehen, während der Soldat klopfte und sich dann rasch mit dem Fackelträger zurückzog. Das Portal öffnete sich lautlos. Tashina blickte auf den Edelmann, der nur noch eine kurze Tunika trug und nun mit einer Geste andeutete, daß sie doch eintreten möge. »Soll ich für Euch tanzen?« Sie drehte den Kopf und beobachtete, wie er die Tür schloß, Wein aus einer gläsernen Karaffe in zwei Pokale füllte und einen der Tänzerin reichte. »Das ist Wein von den Rebenfeldern des Nordens. Man nennt ihn auch Eiswein. Schätze ihn, denn er ist kostbar und teuer! Anders als das Gesöff in den Schenken der Unterstadt.«
»Ich bin Besseres gewöhnt«, erklärte sie arrogant. »Mein Gebieter, warum habt ihr mich rufen lassen? Soll ich den Tänzen der Liebe frönen, wie es meine Bestimmung ist?« Er lachte auf. »Beim Geist der Leidenschaft! Die Männer haben nicht gelogen. Ein Körper von der Schönheit eines Feenwesens, aber auch eine spitze Zunge und ein wacher Geist. Ist die Liebe nicht das, was Menschen verbindet?« »Liebe ist ein Angebot!« erwiderte die Tänzerin. »Man bezahlt dafür in Gefühlen oder Gold. Ich habe mich für das letztere entschieden.« Das Mädchen hob darauf das Glas zum Mund und verharrte einen Augenblick, dann stellte sie es zur Seite, ohne den Rand mit den Lippen berührt zu haben. »Nun, nennt Euer Angebot, und ich nenne euch meinen Preis.« Ihre Stimme wurde plötzlich kalt. Wie eine marmorne Statue verharrte sie vor ihm. »Ich bin Almut ben Sajiid aus dem Geschlechte der Rashijden und ein naher Verwandter der Shanja. Solange sie noch keinen Erben hat, fällt mir der Thron nach ihrem Tode zu.« »Und bereits jetzt ist sie wie Wachs in Eurer Hand, so sagen die Leute.«
Er stellte seinen Pokal zur Seite und trat vor die Tänzerin. »Und selbst wenn, du wirst ihr deine klugen Erkenntnisse nicht mitteilen, denn ich versiegele deine Lippen mit Gold – oder mit dem Atem des Todes, ganz wie du willst. Ein Wort von mir, und sie schleppen dich in den finstersten Kerker. Ist es nicht Lohn genug, daß ich dich unter allen Tänzerinnen dieser Stadt erwählte?« Seine Hände legten sich schwer auf ihre Schultern. »Du wirst reich beschenkt werden, wenn du dich meiner würdig erweist. Ich verlange viel.« »Und ich gebe nicht weniger.« Ihre Hände schlangen sich um seinen Nacken, als er seine Lippen auf die ihren senkte. Dann hob er sie auf die Arme und trug sie zu seinem Lager. Sie sanken langsam darauf nieder. Tashinas Finger gruben sich in seinen Rücken. Sie kratzte ihn wie eine Wildkatze, als wolle sie sein Blut schmecken, während sie den Kopf in den Nacken warf. Der Adlige versank in einen wilden Taumel. Die Leidenschaft übermannte ihn und ließ seine Umgebung in Nebeln entschwinden ... Die schöne Tänzerin spürte, wie der Mann über ihr zusammensackte. Seine Bewegungen wurden matter und erstarben schließlich. Zufrieden seufzte sie und schob den schweren
Körper von sich. Geschmeidig glitt sie dann auf die Beine und betrachtete ihre Fingernägel. »Danke für den Nagellack, Abrizah!« flüsterte sie. »Deine Idee, sich auf diese Weise unerwünschter Besucher zu entledigen, ist wirklich auch für andere Dinge brauchbar.« Ihre Freundin und Beschützerin hatte diese Mischung aus Gift, Lack und Farbstoffen erfunden. Sie betäubte nicht nur, sondern erzeugte auch wilde Träume. Am Morgen würde sich der Adlige an nichts mehr erinnern können, außer daran, daß er in Tashinas Armen gelegen hatte. Die Tänzerin trat an das Fenster und blickte hinaus. In der Dunkelheit der Nacht meinte sie einige Schatten erkennen zu können, die sich in der Nähe eines Eingangs aufhielten. Dann erst streifte sie das lange, goldfarbene Gewand von den Schultern; darunter trug sie nur ein schmales Lendentuch. Aus dem breiten Saum des goldenen Tanzgewandes zog sie eine gekreuzte, schmale Binde aus Leder hervor, mit der sie die hübschen Brüste eng an den Körper preßte. Auch ein Beutel fand sich in dem Versteck und eine kleine schwarze Ledermaske: Die Tänzerin war eine Diebin. Zwei schmale Nadeln hielten ihr hochgestecktes Haar, als sie nun vorsichtig die Tür öffnete und hinausspähte. Der Korridor war leer. Sie huschte hinaus und
wartete einen Moment, vernahm aber nur das von draußen heranwehende Rauschen des Windes in den Zweigen der Bäume und Büsche des Gartens. Leise wie eine Katze schlich sie den Korridor entlang zu einer Tür. Ihre schmalgliedrigen Finger tasteten nach dem Schloß, um zu prüfen, ob es verschlossen war. Schmale grüne Augen lugten durch einen Spalt in den Raum und fanden ihn ruhig, nur die gleichmäßigen Atemzüge eines Schläfers waren zu vernehmen. Er erwachte nicht, als die zierliche Gestalt in den Raum glitt und gezielt nach kleinen, aber wertvollen Dingen suchte. Ihre helle Haut schimmerte im Mondlicht, während sie zwei Ringe und einige Juwelenspangen in ihren Beutel gleiten ließ und sich dann dem Schläfer näherte, um ihm ein dünnes Kettchen abzunehmen. Ihre Fingerspitzen berührten gerade den Verschluß, als sich der Schläfer plötzlich mit einem leisen Stöhnlaut herumwarf. Blitzschnell zog die Diebin die Hand zurück und wartete. Da er sich nicht wieder regte, versuchte sie es erneut. Diesmal löste sie den Haken ... und fluchte verhalten, als der junge Mann sich erneut herumwarf und das Schmuckstück zwischen seinen Decken verschwand. Schulterzuckend wollte sie das Zimmer verlassen, da vernahm sie näherkommende Schritte. Blitzschnell drückte sie sich gegen die Wand und
atmete nur noch flach. Die Schritte wurden lauter und lauter, Stimmen erklangen, ein Rascheln und Knarren. Die Diebin bereitete sich schon auf eine Entdeckung vor, da setzte die Hauswache ihren Weg fort. Der Klang der Stiefel auf dem Holzboden verstummte. Aufatmend glitt die Diebin wieder zur Tür. Sie warf einen gehetzten Blick durchs Fenster, um den Stand des Mondes festzustellen, und seufzte erleichtert, bevor sie lautlos das Zimmer verließ. Auch die nächste Tür erwies sich als unverschlossen. Sie wagte sich ohne Zögern hinein und ging auch dort ihrem Handwerk nach. Die Gäste waren allzu leichtsinnig. Erschöpft von den Mühen des Festes, das schon am vergangenen Morgen begonnen hatte, ließen sie ihre Wertsachen offen liegen. Sie glaubten offensichtlich, daß Diebe dank der Stadtwache nicht einzudringen vermochten. Sie würden feststellen müssen, daß sie sich getäuscht hatten. Wie hätten sie auch ahnen können, daß der Dieb längst unter ihnen war. Nur in wenige Zimmer, aus denen Laute der Liebe und Verzückung klangen, konnte Tashina nicht eindringen. Der Beutel füllte sich langsam, aber sicher. Ihre flinken und geschmeidigen Finger glitten über die Körper der Schlafenden, ohne sie jedoch zu berühren.
Die Diebin verharrte. Sie preßte den Beutel an sich und unterdrückte das Atmen, damit der Vorhang, hinter dem sie stand, sich nicht zu sehr bewegte. So wartete sie auf eine Gelegenheit, den Seitenflügel verlassen zu können. Ihr Ziel war die schmale Treppe, die in das ebenerdige Geschoß und in die Nähe der Küche führen sollte – falls man dem einfachen Plan trauen konnte, der in der Diebesgilde von Hand zu Hand gegangen war. Noch vernahm sie von unten Stimmen und Schritte, die auf eine Wachablösung hindeuteten, aber auch diese Geräusche verklangen mit der Zeit. Vorsichtig lugte Azila hinter dem Vorhang hervor und lauschte. Kein ungewöhnlicher Laut war zu vernehmen. Sie glitt aus ihrem Versteck hervor und huschte zur Treppe. Plötzlich jedoch warf sie sich herum. Ein Rascheln, kaum hörbar, aber in nächster Nähe! Gehetzt sah sie sich um: Einer der anderen Fenstervorhänge hatte sich bewegt. Ihre Muskeln verkrampften sich, sie suchte nach einem Fluchtweg. Dann entfuhr ihr ein leiser Schrei, in den sich Erschrecken und Erleichterung mischten. Eine kleine Katze tauchte unter dem Vorhang auf und wanderte mit steil aufgerichtetem Schwanz durch das Zimmer und zu einem Fenster. Die Diebin lehnte sich einen Moment gegen die kühle Mauer. Sie mußte über sich selbst lächeln – Flatternerven wie ein Anfänger!
So setzte sie ihren Weg der Katze gleich fort und gelangte in einen anderen Gang. Schweißperlen glitzerten auf dem glatten, makellosen Körper, als sie sich im Lichtschein des Mondes durch einen Säulengang bewegte, an dessen Ende sie einen Wächter bemerkt hatte. Immer wenn er in ihre Richtung blickte, hielt sie sich im Schatten. Aus der Küche drang lautes Schnarchen und überdeckte das leise Klimpern des Schmuckes in ihrem Beutel, als sie in den Raum hineinsprang, um einen durch die Türöffnung fallenden hellen Mondlichtstreifen möglichst schnell zu durchqueren. Ihre Blicke glitten über die Männer und Frauen, die Sklaven und Freien, die in der Küche nächtigten. Sie hatten sich mit den Resten des Festmahls gesättigt und schliefen nun ebenso fest wie die Gäste. Der eine oder andere bewegte sich, aber keiner schien sie bemerkt zu haben. Die Diebin suchte die Öfen, in deren Nähe sich ein Zugang zu den Abwässerkanälen befinden mußte. Hier stiegen die Sklaven hinab, um Pfannen und Töpfe von den gröbsten Fetten zu reinigen. In einer Nische entdeckte sie den mit einem Gitter gesicherten Zugang. Mit schnellen Griffen entfernte sie den Eisenrost und glitt in die Öffnung hinein, nutzte den eisernen Haken, um sich hinunterzuhangeln und der glitschigen Wand zu entgehen, während
sie den Beutel mit den Zähnen festhielt. An den Seiten bemerkte sie die Ketten, an denen die Sklaven gefesselt wurden, wenn sie wegen einer Unbotmäßigkeit hier unten eingesperrt wurden. Das Kanalsystem erstreckte sich unter halb Rashdul. Es nutzte natürliche Bäche und Flüsse aus, um den Schmutz in den großen Strom zu tragen. Es gab ein paar oberirdische Ablaufrinnen, aber die meisten Kanäle verliefen in unterirdischen Tunneln. So bot das Labyrinth den Verfolgten Schutz, denn die Wachen wagten sich nur äußerst ungern in diese dunklen Gefilde. In der Oberstadt waren die Gänge durch mehrere Fallgitter gesichert, die bei Bedarf geschlossen werden konnten, um allem Diebsgesindel auch diesen Zugang zu den Villen der Reichen zu versperren. Gerade dort, so wußte die Diebin aus eigener Erfahrung, stand das Abwasser in den Kanälen mehr als sieben Fuß hoch – kein Mensch konnte darin stehen. Djamilla war von rabenschwarzer Finsternis umgeben, doch das junge Mädchen tastete sich vorsichtig an der Wand und auf einem schmalen Grat entlang. Ein fauliger Gestank wehte heran. Sie wandte sich dem Hauptkanal zu und erstarrte, als ihr von dort ein matter Lichtschein entgegenfiel und undeutliche Stimmen zu hören waren. »Du räudiger Hund von einem Hauptmann!«
fluchte sie verhalten. »Mußt du wahrhaftig deine Schergen auch hier postieren?« Sie bemerkte an der Abzweigung einige Wachen, die die Röcke der Stadtwache trugen, ging in die Hocke und dachte fieberhaft nach. Ihre Hände glitten über die groben Ziegel, mit denen der Gang ausgekleidet war. Aus Zufall entdeckte sie eine Stelle, wo ein, zwei Steine fehlten, und atmete auf. Rasch war ihre Beute in der Nische verstaut, und sie konnte sich auf den Rückweg machen. Geschmeidig wie eine nächtliche Schleichkatze eilte sie zurück, kletterte den Schacht wieder hinauf – und verlor fast den Halt, als sie ein Rascheln in der Nähe der Öfen vernahm. Doch ihr Griff festigte sich zuversichtlich, als sie das leise Piepsen hörte. – Mäuse! Kleine Nager, die sich ihren Teil vom Festessen holten ... In der Küche war noch immer alles ruhig. Der Soldat, der draußen Wache halten sollte, zog es vor, mit einer Sklavin zu tändeln, die sich zu ihm gesellt hatte. Auch war der Mond fast hinter dem Horizont verschwunden, so daß es dunkel wurde. Die Diebin hielt sich nicht lange auf. Wenn das Nachtgestirn einmal untergegangen war, kam die Dämmerung wie im Flug. Vielleicht konnte sie die Zeit bis Sonnenaufgang noch nutzen und sich den wertvolleren Dingen widmen – nicht umsonst nannte man diese Stunden des Tages auch ›die Diebeszeit‹.
An der Treppe wandte sich die Diebin zum Haupthaus und fand es ebenso nachlässig bewacht wie den Seitenflügel. Sie war nicht verwundert, vermuteten die Soldaten und Söldner doch nun einmal, daß die Diebe, wenn sie kämen, von außen eindringen würden. Mehrmals wich Djamilla Wachen aus, die gelangweilt durch die Korridore schlenderten. Seit einiger Zeit hatte sie das Gefühl, daß sie beobachtet wurde, und immer wieder rieselte ihr ein kühler Schauer über den Rücken – doch sie zuckte die Schultern. Sie würde sich nicht noch einmal von einem Kätzchen ins Bockshorn jagen lassen ... Schließlich erreichte sie im Zentrum des Hauses eine schwere Tür, die gegen den Prunk der mit Wandteppichen und wallenden Vorhängen geschmückten Korridore geradezu schlicht wirkte. Nur das Siegel des Kaufherrn war in das Holz der Füllung eingeschnitzt. Sie wunderte sich, daß das Portal nicht bewacht wurde. Ihr natürliches Mißtrauen warnte vor einer Falle, aber dennoch zog sie eine Nadel aus dem Haar, um das Schloß zu öffnen. Sie mußte herausfinden, was hinter der Tür verborgen war. Ihre Hände zitterten, als sie die blinkende Nadel durch die kleine Öffnung führte. Da!
Ein Rascheln – und plötzlich legte sich eine Hand schwer auf ihre linke Schulter, riß sie herum. Grobe Finger preßten sich auf Djamillas Mund, um den Schrei in ihrer Kehle zu ersticken. Im gleichen Moment, da sich ihre Finger von der Nadel lösten, zerfiel diese in leuchtende Funken. Verzweifelt versuchte die Diebin, ihre Nägel in das Fleisch des unbekannten Angreifers zu schlagen, doch der erkannte ihre Absicht und verstärkte seinen Druck auf ihr Gesicht. Zwei Finger legten sich über ihre Augen. »Wenn du mich zu kratzen versuchst, stoße ich dir meine Finger in die Augen! Ich habe gesehen, was du mit deinem Bettgespielen gemacht hast!« zischte es in ihr Ohr. Eine dunkle Männerstimme! Der Unbekannte umklammerte sie und zerrte sie in ein leeres Zimmer. Dort stieß er sie gegen eine Wand und drehte sie herum, nachdem er ihre Hände mit einem Lederriemen gebunden hatte. Die Diebin spürte das kühle Metall eines Messers an ihrer Kehle, als er ihr die Maske vom Gesicht riß. Sie blickte in das triumphierende Gesicht des Söldners Anehm. »Ich habe es vom ersten Augenblick an gewußt, Djamilla. Deine Augen verraten dich!« raunte er. »Und was willst du jetzt mit mir tun?« gab sie ebenso leise zurück. Sie sah ihn ruhig an, suchte aber fieberhaft nach einer Möglichkeit, ihm zu entwischen.
Er musterte sie lauernd, drängte mit einem Stiefel ihr linkes Bein zurück, mit dem sie eben zu einem Kniestoß ansetzte. »Versuch das nicht noch einmal! Du glaubst, mich übertölpeln zu können? Ich erschlug schon gefährlichere Gegner, als du noch in den Armen deiner Mutter lagst!« spöttelte er und drückte sein Messer fester gegen ihre Kehle. »Ich habe scharfe Augen ... Was ich mit dir machen werde ...?« Sein Blick traf den ihren, und die Diebin erschauderte, denn das Glitzern in seinen schmalen Augen verhieß nichts Gutes. »Ich könnte dich ausliefern ... und mir damit eine kleine Belohnung verdienen ...« Er faßte ihr mit der Linken unter das Kinn, während er gleichmütig mit dem Messer ein blutige Spur in ihre Haut ritzte, oberhalb der rechten Brust. »... ich könnte natürlich auch meinen Spaß mit dir haben ...« Ein wollüstiges Kichern drang aus seinem Mund, dabei legte er einen zweiten Schnitt kreuzweise über den ersten. »Aber ich denke auch an die fetten Bäuche und feisten Gesichter der Adligen. Du hast ihnen ihren Schmuck genommen – und den will ich!« »Du würdest niemals entkommen!« »Wer sagt denn, daß ich die Klunker jetzt hinausschaffen würde? Nein, meine kleine Rose, dazu ist es noch Zeit genug. Erst einmal muß ich sie natürlich in
Besitz nehmen. Du wirst sie irgendwo versteckt haben, aber zu gegebener Zeit wirst du mich zu deinem Schatz führen. Bis dahin behalte ich dieses!« Er deutete auf die Maske, die an seinem Gürtel hing. »Und ich kann dich jederzeit verraten, denn bis zum Morgen warten die Stadtwachen und lassen keinen hinaus oder hinein!« Er ritzte ihr die Haut ein drittes Mal und zeichnete so einen sechsstrahligen Stern aus kleinen roten Perlen. »Und damit brandmarke ich dich. Ein Ruf – und du endest im Kerker oder am Galgen. Also, wenn dir dein Leben lieb und teuer ist, willigst du ein?« »Ja!« preßte die Diebin zornig hervor und japste, als er sie noch härter gegen die Wand drückte und tückisch lächelnd daran ging, den ersten Teil seiner Beute zu nehmen ... Amehn brachte die Tänzerin zurück zum Zimmer des Adligen. Er schärfte ihr noch einmal ein, daß sie in seiner Gewalt sei und ohne sein Zutun nicht aus dem Haus käme. Sie wußte, daß er recht hatte: Sie war in seiner Hand. Bittere Flüche formten sich in ihrem Geist, als sie das Blut abwischte und alles so bereitete, als habe der Adlige eine wilde Liebesnacht mit ihr erlebt. Dann erst legte sie die Lederstreifen ab und glitt
unter die Decke, um sich an den warmen Körper des Sheiks zu drängen, der sich langsam wieder zu regen begann. Obgleich ihre Gedanken rasten, um einen Weg aus dieser Falle zu finden, und die Wunden brannten, versank sie bald in leichten Schlaf. Die Morgendämmerung brach mit Vogelgesang ins Zimmer. »Diebe! Man hat mich bestohlen!« Ein Schrei gellte durch die Stille des Seitenflügels. Der Mann neben der Tänzerin fuhr hoch. Erschreckt regte sich die junge Frau und schlang die Arme um ihn. Sie seufzte tief, als es auf dem Korridor laut zu werden begann. Die Tür wurde aufgerissen. Ein Söldner starrte herein und grinste schüchtern. Der Adlige schob das Mädchen unwillig zur Seite und brüllte: »Raus! Verschwinde, du Bastard!« Der Bewaffnete gehorchte zögernd und knallte die Tür hinter sich zu. »Bei allen Sandvipern der Wüste«, fluchte der Oheim der Shanja laut und warf die Decke von sich. »Dieser vorwitzige Stadtkommandant wird seines Amtes enthoben, dafür sorge ich. Die Diebe scheinen es doch noch geschafft zu haben.« Er schlüpfte in seine Gewänder. »Deine Ohrringe sind auch weg, Mädchen«, stellte er dabei mit einem bedauernden Achselzucken fest. »Was?« Die Tänzerin fuhr hoch. Sie funkelte ihn
mit ihren schrägen grünen Augen an. »Aber ich verlange meinen Lohn für diese Nacht!« »Ha!« stieß der Mann hervor und drehte sich um, die Hände in die Hüften gestützt. »Halte den Mund, du elende Schlampe! Du durftest eine Nacht im Bett des mächtigsten Mannes von Rashdul verbringen. Das sollte dir Lohn genug sein. Und glaub mir, du bist auch nicht besser als die anderen!« Er stieß sie aufs Bett zurück, als sie aufspringen und ihn anfallen wollte, sich aber dabei in die Decke verwickelte. Sie machte ihrem Zorn mit einem empörten Schrei Luft. »Du bist verschwunden, wenn ich wieder zurück bin. Gnädigerweise werde ich dir einen Söldner zum Geleit mitgeben, der dich bis zu deinem Haus der Freuden bringt. Das ist genug für eine Dirne wie dich!« Damit verließ er das Zimmer. Die Diebin und Tänzerin erhob sich. Sie berührte nachdenklich den roten Stern auf ihrer Haut, dann glitt sie rasch in ihr Schleiergewand. Draußen hörte sie Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was diese sagten. Sie eilte zum Fenster und blickte hinaus. Im Schein der aufgehenden Sonne entdeckte sie einige Gestalten, die gerade ihre Verstecke verließen. »Denkst du an Flucht?« Eine bekannte Stimme erklang in ihrem Rücken.
Gleichzeitig legten sich zwei große Hände auf ihre Schultern, die Finger der rechten Hand preßten sich schmerzhaft gegen ihre Wunde. »Erinnere dich an das Mal!« wisperte Ahmen. »Der erhabene Sheik Almut hat mir befohlen, dich in die Unterstadt zurückzubringen. Gerade mir, ist das nicht ein besonders glücklicher Umstand?« Die junge Frau antwortete nicht. Sie neigte den Kopf und sagte: »Ich gehorche.« »Dann verstehen wir uns ...« Er löste seinen Griff und drehte sie zu sich herum. »Versuch nur nicht, mir einen Streich zu spielen! Eine falsche Geste, und die anderen Wachen werfen dich ins Loch.« Sie ließ es zu, daß er eine Hand auf ihre Schultern legte und sie aus dem Zimmer hinaus, durch einige Korridore und Treppenhäuser, zu einem Seitenausgang führte. »Auf Befehl des ehrenwerten Sheik Almut und auf sein Wort soll ich dieses Weib zu ihrem Haus bringen. Die Sache erlaubt keinen Aufschub«, erklärte er den Stadtwachen, die ihre Säbel vor dem Ausgang kreuzten. Diese zögerten einen Moment und musterten den Söldner, den sie als eine Mietwache des Hauses erkannten, und die Tänzerin, die den Kopf gesenkt hielt und zu Boden starrte. Obgleich sie sich gefügig gab, kochte es in dem jungen Mädchen. Sie wartete auf ei-
nen günstigen Augenblick außer Sichtweite des Hauses. »Gut!« sagte ein Wächter. »Ihr könnt gehen.« Ahmen führte Djamilla durch einen Seitenhof zu den Stallungen. »Knecht! Ein Pferd!« rief er dem Stallknecht zu, der sich müde gegen einen Pfosten gelehnt hatte. Dieser zuckte zusammen und gehorchte beflissen. Die Diebin winkelte die Ellenbogen an. In einer fließenden Bewegung fuhren ihre Arme hoch, und ihr Oberkörper neigte sich, wie in einer Drehung. Sie zielte mit den Händen auf seinen Kopf ... »Ich sagte doch schon ... versuch das nicht noch einmal, mein süßes Kind!« Die junge Frau wand sich unter dem Gewicht des massigen Söldners. Noch bevor sie das Knie hochreißen konnte, setzte er sie mit einem heftigen Schlag gegen die Schläfe außer Gefecht. Um Tashina oder Azila versank die Welt ... Die Augen des Stallsklaven weiteten sich, als er den Söldner mit der Tänzerin auf den Armen sah. »Was glotzt du so! Halt lieber das Pferd!« fuhr ihn Amehn mit harter Stimme an. Eingeschüchtert gehorchte der ausgemergelte Knabe und sah zu, wie der Söldner den schlaffen Körper der Frau über den Sattel legte und dann hinter ihr aufstieg und sie an sich zog.
»Sie ist ohnmächtig geworden«, erklärte er knapp und entriß dem halbwüchsigen Stallburschen die Zügel. Dann stieß er seine Fersen in die Flanken des Rappen und lenkte ihn aus dem Hof hinaus. Eine Gruppe von Männern und Frauen kam ihnen entgegen – Leute der Stadtwache. »Halt!« rief ein Offizier. »Wohin reitest du mit dem Weib?« Das mußte dieser Ilnamar ay Shorn sein, der ›tollwütige Wachhund‹, wie sie ihn in Söldnerkreisen zu nennen pflegten. Amehn richtete sich im Sattel auf und erwiderte ruhig: »Eine Tänzerin. Auf Befehl des erhabenen Fürsten Almut ben Sajiid soll ich sie fortschaffen.« »Gut!« murmelte der Hauptmann, nachdem er einen Blick auf die Reglose geworfen hatte. »Dann gehorche diesem hohen Herrn!« Die Reiter trennten sich. Der Söldner wandte sich zwar zur Unterstadt, aber er bog nicht in die Straße der Tavernen und Freudenhäuser ein. Er brachte seine Beute an einen dunklen, finsteren Ort – der zu seinen dunklen, finsteren Plänen paßte ... Die Schmerzen erfüllten ihren Kopf. Das Mädchen stöhnte leise und versuchte sich zu bewegen, aber ihre Glieder waren wie Blei. Sie rang nach Luft und be-
gann zu husten, da sie Staub in die Lunge bekam. Ein Krampf schüttelte ihren Körper, und mit ihm schwand die Benommenheit. Erst jetzt wurde es der jungen Frau bewußt, daß sich ihre Hände und Füße nicht bewegen ließen, weil sie ... gefesselt waren. Ihre Augen weiteten sich. Im ersten Moment sah sie nur bunte Flecken und Lichter, die sie mit ihrer schmerzenden Schläfe in Verbindung brachte, dann wurde es dunkel. Dämmerlicht ließ sie die Umrisse eines Kellerraums erkennen, als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Tashina oder Azila ... und wie sie sich sonst noch nennen mochte, zerrte an ihren Fesseln. Sie stellte fest, daß diese aus gefettetem, scharfkantigem Leder bestanden, das sich eher in ihre Haut fressen als auch nur um Haaresbreite nachgeben würde. »Skorpionschwanz und Schlangengift«, murmelte sie leise. »Ich habe mich übertölpeln lassen wie ein Kind! Und das mir! Der ...« Sie verstummte. Ihre Ohren hatten ein Scharren vernommen. »Ja? Sprich nur weiter!« erklang eine verächtliche Stimme. »Warum sollte ich«, zischte sie zurück und beugte den Kopf soweit es eben ging nach hinten. Der Söldner entzündete eine kleine Fackel und nickte. »Sie suchen das Haus noch immer nach den Dieben ab, aber
wir beide wissen, daß sie niemanden finden werden. Ich nehme an, daß sie spätestens morgen aus dem Haus verschwinden. Dann ist unsere Stunde gekommen«, erklärte der Mietling. »Weißt du, daß die Tür zum Kontor durch einen tückischen Zauber geschützt war? Er hätte dich verbrannt wie deine Metallnadel. Ich hörte zufällig, wie der fette Feilscher dem Stadtwachenkommandanten stolz davon berichtete. Du schuldest mir also tiefen Dank.« Das Licht bewegte sich um sie herum. Nur undeutlich konnte sie Amehns Gesicht und seine Hände sehen. »Ich bin für die nächsten Tage auf Ehrenwort entlassen«, murmelte er. »Im Grunde haben wir viel Zeit ... Dir ist doch sicher dein Leben wert und teuer? Du hängst daran wie jeder ...! Also, wirst du mich zu der Beute führen?« »Ja!« ging sie auf seine Worte ein. Der Klang seiner Stimme hielt sie davon ab, etwas anderes zu antworten. Dann entspannte sie sich wieder. »Kannst du nicht wenigstens meine Fesseln lockern?« bat sie mit schwacher Stimme. »Damit du dich befreien kannst! Nein ... Einmal bin ich auf solche Bettelei hereingefallen, und das kostete mich meine Ehre und das Band zu meinem Stamm. Wir hielten eine Prinzessin der Rafa gefangen, und ich hatte die Pflicht, sie zu bewachen. Auch sie bezauberte mich mit ihren jämmerlichen Worten und
ihrem Körper – und ich habe mich breitschlagen lassen. So nahmen sie mir die Stammeszeichen und verbannten mich aus ihrer Mitte. Deshalb bleibst du, wie du bist!« Die Shanja beobachtete belustigt das Verhalten des älteren hellhaarigen Mannes. »Nun?« fragte sie lauernd und zwinkerte ihm zu, während sie am kühlen Wein nippte. »Was quält dich, daß du wie ein gefangener Tiger auf und ab laufen mußt?« »Wie konnte dieser Dieb nur in das Haus und in mein Zimmer eindringen, ohne daß ich es bemerkte! Wie ...? Denn ich hörte selbst die Assassinen Abduls, von denen es heißt, daß ihr Schritt nicht lauter sei als ein Distelsamen, der auf die Steppe fällt.« »Nun ...«, spöttelte die Herrscherin, »... vielleicht hast du in den Armen deiner Tänzerin nur das Rauschen des Blutes in deinen Ohren hören können. Sie muß eine sehr feurige Geliebte gewesen sein.« Der Mann knirschte mit den Zähnen. »Ja, ich war abgelenkt ... Ich weiß nur noch, daß ich in ihren Armen lag ...« knurrte er und schlug dann mit der Faust gegen eine Säule, daß seine Knöchel knackten. »Sie muß mit den Dieben unter einer Decke gesteckt haben! Jetzt verstehe ich, warum sie den Wein nicht trank! Bei allen Dämonen der Khom! Als ich im
Haus der ewigen Freuden nach ihr fahnden ließ, sagte man mir, sie wäre an jenem Morgen nicht zurückgekommen. Dann stecken sie und der Söldner also unter einer Decke. Ruf deinen Kommandanten und ...« »Nein!« unterbrach ihn die Shanja scharf und stellte ihren Pokal nieder. »Als Herrin dieser Stadt befehle ich dir zu schweigen.« »Warum! Seit wann deckst du Verbrecher?« »Weil ich das Ganze als großes Spiel ansehe. Ihr habt eben nicht an alles gedacht, die Diebeskönigin und ihre Leute waren schlauer ...« »Sie bestechen dich!« Die junge Fürstin setzte sich auf und klatschte in die Hände. Ihr Lächeln war geschwunden, und ihre Stimme klang kalt, als sie einem Gardisten befahl: »Geleite meinen Oheim zu seinen Gemächern. Er wird noch heute abreisen. Sorge dafür, daß seine Abreise nicht verzögert wird!« »Ja, Eure Erhabenheit.« Fassungslos starrte der Fürst sie an. Die Shanja verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Ich bin wie Wachs in deiner Hand? Ich weiß, was die Leute reden – und deshalb geh und laß dich nicht eher hier blicken, als bis ich dich rufe.« Der Wüstenfürst nickte, dann trat er mit finsterer Miene ab. Die Shanja winkte einen weiteren Gardi-
sten herbei, reichte ihm eine Schriftrolle, die bisher versteckt auf ihrem Thron gelegen hatte, und befahl: »Bring das Ilnamar ay Shorn. Er möge meine Worte beachten!« Dann lehnte sie sich zurück und seufzte. Ein stolzer Ausdruck spielte um ihre Augen und Lippen. Es wirkte so geheimnisvoll wie ihre folgenden Worte. »Dein Spiel war gut, dunkle Schwester. Tändle nur weiter so mit dem Schicksal! Mögen die Götter dir heute auch wohl gesonnen gewesen sein – wenn sich unsere Wege wieder kreuzen, werden sie hoffentlich auf meiner Seite sein ...« »Weiter! Zeige mir das Versteck!« Amehns Stimme klang drohend, und ein heftiger Stoß in den Rücken ließ die schlanke Diebin fast stürzen. Sie stützte sich mit den vor dem Körper gefesselten Händen ab und blickte über die Schulter zu ihrem Peiniger zurück. Der Söldner hob seinen Säbel. Mit der anderen Hand hielt er ein Seil, das um Djamillas Hals geschlungen war, bei der kleinsten falschen Bewegung angezogen wurde und sich schon jetzt schmerzhaft in ihre Kehle schnitt. Er richtete mit einem kalten Lächeln die Klinge auf ihr Gesicht. »Soll ich dir so schöne Male ins Gesicht ritzen, wie du sie mir beigebracht hast?« Auf seiner rechten Wange zeichneten sich tiefe rote Kratzer ab,
die sie ihm bei einem Fluchtversuch zugefügt hatte. »Aber die meinen werden dir erhalten bleiben!« »Meine wirst du auch lange tragen!« stieß sie höhnisch hervor und schleuderte ihr nasses Haar aus dem Gesicht. Das Mädchen bot keinen schönen Anblick: Gewand und Haare klebten am Körper, da er sie einmal ins Wasser geworfen hatte, um sie ›zur Vernunft zu bringen‹. Die schwarze Farbe löste sich bereits aus den Haarsträhnen und floß mit den Tropfen des Brackwassers über die verschmutzte Haut und das zerfetzte Schleierkleid. Niemand hätte in ihr die schöne Tänzerin erkannt, dunkle Streifen entstellten das schmale Gesicht, in dem nur die Augen feurig glommen. »Dreh dich um!« Die Spitze seines Säbels stieß ihr in die Schulter. Blut perlte aus einer fingerbreiten Wunde. »Weiter!« Die Diebin gehorchte. Sie spürte, wie er aufmerksam jede ihrer Bewegungen beobachtete. Sie mußte ihm gehorchen, auch wenn jede Faser ihres Körpers danach verlangte, sich für die Schmach zu rächen, die er ihr angetan hatte. Wie lange der Söldner sie in der verlassenen Ruine festgehalten hatte, wußte sie nicht. Die Zeit war mit Wachen, Schlafen und finsteren Träumen verstrichen. Das vage Dämmerlicht hätte von der Sonne, vom Mond und auch von anderen Lichtquellen stammen können.
Die Fesselung hatte ihren Körper geschwächt, zumal sie nicht einmal einen Schluck Wasser bekommen hatte. Die meiste Zeit hatte sie allein dagelegen, die Hände an die Fußgelenke geschnürt, und den fernen Geräuschen einer belebten Gasse gelauscht. Bemerkbar machen hatte sie sich nicht können – in ihrem Mund hatte ein Knebel gesteckt. Dann war er zurückgekommen, hatte sie losgebunden, ihr eine Decke übergeworfen und sie in die Kanäle geschleppt ... Ein Ruck am Seil riß sie aus ihren Gedanken. Sie klammerte sich an den brüchigen Stein, mit dem die Mündung eines Seitenkanals ummauert war. In unmittelbarer Nähe entdeckte sie ein Fallgitter, mit dem man den Seiten- vom Hauptkanal abgrenzen konnte. Aber ihre ganze Aufmerksamkeit forderte nun der schmale, glitschige Grat, an dem sie sich entlangtasteten. Wenn sie nicht ausgleiten und in der Halsschlinge ersticken wollte, mußte sie die Füße sorgsam aufsetzen. Sie erkannte die Biegung wieder. Hier irgendwo mußte die Nische mit dem Beutel sein. »Wartet, edler Söldner!« sagte sie mit einem bitteren Lächeln. »Ich glaube, ich habe das Versteck gefunden.« Schon wollte sie in die Nische greifen, da hob er den Säbel vor ihr Gesicht. »Nein!«
Entschlossen drängte er sie weiter und schob seine Klinge in die Scheide. Vorsichtig glitten seine Hände hinter den Vorsprung, während er sie aufmerksam beobachtete. Ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er das Begehrte und Gesuchte entdeckte und hervorzog. Die Diebin hob langsam die gefesselten Hände und ballte sie zu Fäusten. »Ha!« Ein Ruck riß sie fast von den Beinen. Verzweifelt klammerte sie sich an der Ziegelmauer fest, während Amehn die Zeit nutzte, um den Beutel an seinem Gürtel zu befestigen. Er zog sie erbarmungslos zu einer breiteren Plattform, wo er den Zug am Seil lokkerte. »Jetzt habe ich, was ich will.« Seine rechte Hand strich fast zärtlich über den Beutel. »Du bist schön, Tashina, doch es gibt eine Schönheit, die ist beständiger als deine ...« Nur einen winzigen Augenblick achtete er nicht auf die junge Frau. Mit der Wucht der Verzweiflung warf sie sich auf ihn und umklammerte mit den gefesselten Händen seinen Langdolch, zerrte ihn heraus und durchtrennte das Seil um ihren Hals, noch ehe er es zuziehen konnte. Der Söldner taumelte. Seine linke Hand stieß Djamilla zurück, so heftig, daß sie zu Boden stürzte. Obgleich sie schmerzhaft mit Schenkel und Schulter
auf die Steine prallte, ließ sie die Waffe nicht los, sondern drehte sie in der Hand und zog die Klinge fieberhaft über ihre Fesseln, ohne darauf zu achten, ob sie dabei das Leder oder ihr Fleisch traf. Amehn fluchte und versuchte, nach ihr zu greifen, doch ein rascher Fußtritt wehrte ihn ab. »Skorpionbestie!« Wie ein Blitz war der Säbel in seine Hand gesprungen, während Djamilla in einer verzweifelten Anstrengung die halb durchgetrennten Riemen auseinanderriß und geschmeidig auf die Füße sprang. Die Decke war von ihren Schultern geglitten, ihre Brüste hoben und senkten sich heftig. »Drachenkralle und Wurfstern! Jetzt zeige ich dir, was ich kann!« rief sie, duckte sich unter seinem Hieb und schlug mit dem Dolch nach seinen Beinen. Mit einer geschickten Drehung wich der geübte Kämpfer aus, und so traf sie nur den Beutel, der aufriß und seinen Inhalt preisgab. Ketten, Ringe, Broschen und Spangen rieselten zu Boden. Die junge Frau stürzte auf die Knie und rollte sich mit einer waghalsigen Drehung zur Seite. Der Hieb, der ihrem Kopf gegolten hatte, riß ihr den Dolch aus der Hand. Ihre runde, aber feste Ferse schmetterte gegen sein Handgelenk. Amehn ächzte und ließ seine Klinge los. Der Säbel wirbelte in hohem Bogen durch die Luft und versank mit einem Klatschen im brackigen Wasser.
Das Mädchen rappelte sich auf und hastete davon. Der Söldner folgte ihr. In der Nähe des Fallgitters hatte er sie eingeholt und warf sich auf sie. Er umklammerte ihren schmalen Leib und riß sie – vom eigenen Schwung vorwärtsgetrieben – mit sich in die schmutzige Brühe. Tatsächlich war das Wasser hier so tief, daß niemand darin stehen konnte. Spuckend und prustend tauchte die Diebin aus dem modrigen Wasser auf. Eine kräftige Hand packte sie von hinten und drückte sie erneut nach unten. Der Söldner versuchte, sich am Rand des Kanals festzuhalten, während seine andere Hand die Diebin unter Wasser drückte. Doch seine suchenden Finger glitten ab. Etwas klammerte sich in sein Haar. »Aaah!« Mit einem Schrei rang das Mädchen nach Luft und stieß den Mann in die braunen Fluten. Milchig und trüb waren sie, von Blicken nicht zu durchdringen. Ein stummer Kampf tobte unter Wasser. Hin und wieder blitzte hell menschliche Haut, wenn ein Arm oder Fuß die Oberfläche durchstieß. Durch einen Schacht fiel Licht herein. Ein verirrter Sonnenstrahl fand seinen Weg in diese dunklen Tiefen und ließ die angespitzten Dornen des Fallgitters erglühen, streifte auch den rostigen Griff, mit dem man die Sperre des Gitters lösen konnte.
Erneut durchbrach eine Hand das Wasser. Sie berührte die glitschigen Ziegel, glitt auf die metallene Schlaufe und zog sie mit sich in die Tiefe. Mit einem häßlichen Knirschen löste sich das Eisen aus der Verankerung, sauste in die Tiefe. Das Wasser schäumte auf. Dann ein dumpfer Laut, ein Knarren und Stille. Das Fallgitter verschloß diesen Seitengang, bis sich jemand die Mühe machen würde, es wieder hochzukurbeln. Die Farbe des Wassers veränderte sich. Aus der unsichtbaren Tiefe quollen rötliche Nebel hervor und trieben in Schwaden in der schwachen Strömung in den Hauptkanal. Dann tauchte ein Körper auf, und helle Hände klammerten sich an das Eisen. Ein Kopf preßte sich an die Gitterstäbe, ein Mund öffnete sich. Die junge Frau rang keuchend nach Luft. Ihre dunkelroten Haare klebten an der bleichen Stirn, die nun noch weißer wirkte als je zuvor. Ihr Gegner aber blieb in den Tiefen verschollen. Fast kraftlos zog sich die Diebin an den Stäben zum Ufer und hinauf, sackte dort mit bebenden Schultern zusammen. Indes klärten sich die Fluten. Sie trieben den Schlick und die rötliche Farbe davon – enthüllten das schreckliche Geheimnis. Die Dornen hatten sich in den Körper des Mannes
gebohrt, dessen Kopf zur Seite hing und wie die ausgestreckten Arme leicht in der kaum wahrnehmbaren Strömung pendelte. Amehn der Söldner hatte teuer für seine Gier bezahlt ... »So, ihr habt die ganze Stadt abgesucht, aber nichts gefunden? Dann durchkämmt weiter jede Schenke, jede Spelunke, jedes Hurenhaus. Es geht nicht an, daß die Beute verschwunden bleibt, nachdem wir diese Spange in den Händen eines Bettlers fanden! Aus dem Kanal gefischt ...! Das kann der Bube einem anderen erzählen!« »Wir fanden nichts, bei den Augen der Götter!« Einer der Soldaten wagte zu widersprechen, duckte sich aber im nächsten Moment. »Hinaus!« donnerte Ilnamar ay Shorn. »Hinaus und quetscht es aus, das Bettlerpack! Oder ich werde euch den Sold kürzen lassen!« So schnell wie möglich hasteten die Wachen davon, um aus dem Blickfeld ihres vor Wut schäumenden Kommandanten zu verschwinden. Dieser wandte den Kopf und starrte auf eine Schriftrolle, die seit Tagen ungeöffnet auf seinem Schreibtisch lag. Nun endlich nahm er sie an sich, brach das Siegel und las sie voller Widerwillen. Seine Gesichtszüge wurden noch finsterer.
»Jede Strafe hätte ich mit Freuden angenommen, um meine Ehre zu wahren, aber sie verzeiht mir!« murmelte er verbittert und schleuderte das Pergament auf ein Regalbord. Er hätte niemals in diese Stadt kommen sollen. »So zornig?« Der Klang der hellen Frauenstimme ließ ihn herumwirbeln. Er hatte seine Klinge bereits halb aus der Scheide gerissen, als er erkannte, wen er vor sich hatte. Sie! »Verdammt sollst du sein!« knurrte er mürrisch. Dem zierlichen jungen Mädchen sah man beim besten Willen nicht an, daß sie die Anführerin der Diebe war. Wie flüssiges Kupfer floß das dichte wellige Haar über die Schultern und bis zur Mitte des Rükkens, grüne, mandelförmige Augen blitzten spöttisch. »Deine Leute sind in der Tat ein wenig blind«, murmelte sie und machte eine energische Geste, als er zur Tür treten wollte. »Rufe sie nicht, es würde ihnen schlecht bekommen. Auf der Treppe zu deinen Räumen wären sie gute Zielscheiben für meine Diebe.« Sie sprang von dem Fensterrahmen ins Zimmer. Einen Moment vermeinte der Kommandant, dunkle Stellen in der Nähe ihrer Schläfe zu erkennen, doch ihr freches Grinsen lenkte ihn wieder ab. »Du wirst nicht immer lachen können, Schlange!
Eines Tages komme ich hinter deine Listen und dann ...« Er schlug die Hände zusammen. »... wird auch dein Gold nichts mehr nützen!« Sie stützte die Hände in die Hüften und stellte ein Bein vor, ohne zu antworten. Bewußt hatte die Königin der Diebe aufreizende Kleidung gewählt, um ihn zu ärgern. Sie kannte durch irgendeinen Zufall den Kodex seines Ordens und nutzte dies schamlos aus. Der nur oberschenkellange lederne Rock war überdies hoch geschlitzt, das Mieder aus dem gleichen Material lag eng an und war von einer Menge aufreizender Löcher durchbrochen. Als Waffe trug sie nur einen ans rechte Bein geschnallten Dolch. »Ilnamar, ich mag dich! Willst du nicht vernünftig werden?« sagte sie mit spöttischer Stimme. »Du bist nicht wie andere Männer.« Er drehte den Kopf zur Seite, um diesen lockenden Körper nicht mehr sehen zu müssen. »Geh weg, du Dienerin der Echse. Geh und versprühe dein Gift an anderen Stellen!« Sie lachte. Dann erklang ein Klirren und Rascheln. Als er wieder aufblickte, lag vor seinen Füßen ein Ring – das Siegel des Kaufherrn Hamed! Der Stadtwachenkommandant stürzte zum Fenster. Doch er konnte sie nicht mehr entdecken. »Eines Tages!« schwor er sich leise, um sein Gesicht vor den Soldaten nicht zu verlieren. »Eines Tages
werde ich dich fangen und über dich lachen! Und sollte ich die Elemente freisetzen müssen!« Dann zog er sich vom Fenster zurück. In ihrem Versteck feierten die Diebe. Sie freuten sich über den Sieg und verhöhnten mit Geschichten und Gesängen ihre Gegner. Die Königin der Diebe, Djamilla Azila, lag auf einem prächtigen, mit Kissen bedeckten Diwan und ergriff einen goldenen Pokal mit Wein. Einen Moment starrte sie in die rötliche Flüssigkeit, erinnerte sich an das Vergangene. An ihre fast schmachvolle Niederlage, an den Kampf. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, hatte sie rasch die wenigen erreichbaren Schmuckstücke eingesammelt und war davongehumpelt. In einen von einem Fenster gerissenen Vorhang gehüllt, war sie in die Unterstadt gelangt. Sie hatte so sehr wie ihr eigener Geist gewirkt, daß Abrizah, die Freundin, fast vor Schreck in Ohnmacht gefallen war. Abrizah hatte die geschwächte Diebeskönigin versteckt und gepflegt, bis die schlimmsten Wunden fast verheilt waren. Erst dann war sie wieder vor die Diebe getreten – und vor Ilnamar. Schließlich durfte eine Legende nicht verwundbar wirken wie ein gewöhnlicher Mensch. Doch jetzt lächelte sie und trank von dem süßen Wein. Sie stellte den Pokal beiseite, zog einen jungen,
flammenäugigen Dieb zu sich und wisperte ihm etwas ins Ohr. Er lachte auf und setzte sich neben sie, umarmte seine Königin, die ihm ihre Lippen darbot. Nach einer Weile lösten sie sich von einander. Er öffnete den Mund und fragte: »Wie hast du es eigentlich geschafft, die Stadtwachen zu überlisten? Einige von Ivros Männern haben es versucht und sind geschnappt worden. Jetzt warten sie im Hungerturm auf ihre Hinrichtung. Sag, bist du eine Magierin?« Djamilla lachte geheimnisvoll und zwinkerte. »Eine Königin und Legende wie ich muß auch ihre kleinen Geheimnisse haben«, flüsterte sie und ließ seine kurzen schwarzen Locken durch ihre Finger gleiten. »Es sind unlösbare Rätsel, so wie das Schwarz deiner Haare ...« So geschah es in Rashdul vor einiger Zeit, und auch heute noch treibt Djamilla dort ihr Unwesen. Mehr oder weniger erfolgreich behindert von Ilnamar ... Erstmals erschienen in: ›Mond über Phexcaer‹, Fantasy Productions, Erkrath, 1990
LENA FALKENHAGEN
WOLFSTRÄNEN
Einem weißen Rauchschwaden gleich huschte die Wölfin durch die dunklen Büsche. Das Flüstern des Waldes, die Laute der Nacht drangen an ihre steil aufgerichteten Ohren. Aufgeregt witternd nahm sie den Geruch auf, der ihr an die Nase drang und ihr den Speichel im Munde zusammenlaufen ließ. Sie winselte vor Erregung. Als sie den Waldrand erreicht hatte, preßte sie sich fest an den Boden und beobachtete aus schmalen Augenschlitzen die drei Menschlinge, die auf der Lichtung hin und her liefen und ihr Nachtlager errichteten. Der Duft nach Mensch war hier fast unerträglich stark, und die Wölfin bebte, als die Gier nach ihrem Verstand griff und ihn zermalmte wie eine reife Frucht. Immer wieder fuhr sie sich mit der Zunge über die Schnauze, sah, daß sich ein kleiner Mensch mit Decken im Arm ihr näherte. Wie eine Feder schnellte sie vor, war mit einem einzigen Satz über ihm und riß ihn mit der Wucht ihres Angriffs zu Boden. Sie hörte einen panischen Schrei, der ihr durch Mark und Bein fuhr, auf etwas in ihrem Innersten traf, und das letzte Fünkchen Mitleid zerschellte unter dem Widerhall. Der Geruch von Schweiß und Angst trieb sie zum Wahnsinn, und sie schlug ihre Fänge in die Kehle des Menschleins. Blut strömte aus der Wunde, süßes, warmes Blut, das ihre Sinne trübte. Sie spürte es auf der Zunge, ließ es die Kehle hinunterrinnen und suchte mehr, grub tiefer im Fleisch.
Da riß sie ein jäher Schmerz aus ihrem Rausch. Sie jaulte auf, tat einen Satz zur Seite und blickte auf, während der Nebel vor ihren Augen mit einem Schlag zerstob und den Blick auf die schmerzende Wirklichkeit freigab: Ein Dolch lag blutbefleckt neben ihr. An ihrer pochenden Schulter rann etwas Warmes hinunter. Ein starker Mensch kam zögernd näher, die Arme bedrohlich vorgestreckt, die Hände zu Klauen gekrümmt. Blut troff von ihrer Schnauze; sie fuhr mit der Zunge darüber hinweg und winselte erschreckt, denn es war Menschenblut. Die Wölfin warf sich auf den Boden, wischte wie toll mit Nase und Maul über das Gras. Dann bäumte sie sich auf, so daß der Mensch ängstlich zurücksprang, stieß ein langgezogenes qualvolles Heulen aus und stürzte in den nächtlichen Wald, rannte wie besessen durch die Büsche und machte nicht eher halt, bis ihr schmerzendes Bein unter ihr nachgab und sie kraftlos zusammenbrach. Lange Zeit lag sie am Boden, mit aufgerissenen Augen und zuckenden Pfoten, wartend. Immer wieder sah sie Bilder, Menschen, die mit zerfetzter Kehle in ihrem eigenen Blut lagen, und sie stand mit rotbesudeltem Fell darüber und heulte ihre Gier in die Nacht hinaus. Dann, irgendwann, spürte sie einen Schauer über
den Rücken laufen, wie nur das Morgengrauen ihn sandte, wenn Luft und Licht voll Spannung innehalten, Boden und Bäume wieder einatmen und die Tiere der Nacht ihren Taggeschwistern den Wald überlassen. Sie hob matt den Kopf und winselte eine Begrüßung, als der erste Sonnenstrahl auf ihren Pelz fiel. Ein Ruck durchfuhr den Wolfsleib, wie ein Krampf, und langsam schwand das silbrigweiße weiche Fell, um zarter Haut Platz zu machen. Die mörderischen langen Fänge bildeten sich zu kleinen Zähnchen zurück, der Körper streckte sich, und nach wenigen Augenblicken lag eine junge Frau dort, wo gerade noch zitternd und winselnd die Wölfin verharrt hatte. Nur das Blut war geblieben, bedeckte Gesicht und Brust der nackten Frau, die an der linken Schulter eine verkrustete Wunde trug. Ihr Haar war von dunklem Grau, mit einem silbrigen Schimmer, und fiel wirr und zottig über Schultern und Rücken, umrahmte ein feingeschnittenes Gesicht. Sie hob den Blick zum Himmel, und Tränen rannen ihr über die Wangen, Tränen, die so lange ungeweint geblieben waren. Und als die Sonne ihre Strahlen warm und hell herniedersandte, blitzten wölfisch gelbe Augen aus dem Gesicht, aus denen mit jedem Tropfen Verzweiflung sprach. Larna tupfte mit einem feuchten Lappen den Schweiß von der Stirn ihres Jungen und horchte ein weiteres
Mal darauf, ob er noch atmete. Als sie sich über ihn beugte, fühlte sie zu ihrer Erleichterung das vertraute Kitzeln am Ohr, dann befeuchtete sie seine spröden Lippen mit etwas Wasser. Wie gut, daß sie bei der Heilerin einige Kräuter gegen ein altes Paar Stiefel von Garm eingetauscht hatte, aus denen er herausgewachsen war. Wieder beugte sie sich über den Buben, strich zärtlich die Decken glatt und überzeugte sich davon, daß der leichte Verband um seinen Hals nicht zu straff saß. »Eigentlich dachte ich, daß wir uns hier am meisten vor den Orks hüten müßten!« Almar berührte liebevoll ihr braunes Haar. »Leg dich schlafen, Liebes, du hast die letzten zwei Tage kaum ein Auge zugetan.« Sie schüttelte trotzig den Kopf, hielt dann aber inne, weil die Lichtung vor ihren Augen schwankte. Sie klammerte sich an Almar, preßte die Stirn an seine Schulter, und er spürte, wie sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. »Er wird doch nicht sterben, Almar?« Ihre blauen Augen blickten flehend zu ihm auf. »Bis hierher sind wir gekommen, dachten, wir seien in Sicherheit, und jetzt ...« Sie schluchzte immer wieder, bis sein Hemd naß von Tränen war. »Sch, sch, mein Liebes, beruhige dich doch! Wir haben alles so gemacht, wie das Kräuterweib uns geraten hat. Er sieht doch schon viel besser aus.« Larnas Kopf ruckte hoch. Sie musterte sorgenvoll
das Gesicht ihres Sohnes. »Vielleicht hast du recht«, murmelte sie nach einer Weile. »Seine Wangen haben schon ein wenig Farbe, und vielleicht ist er nicht mehr so blaß wie gestern.« Sie schneuzte sich, strich noch einmal vorsichtig über die Decken und kuschelte sich dann neben den Jungen, lauschte aber weiterhin auf jeden seiner Atemzüge. Almar haßte es, wenn sie weinte, er konnte es nicht ertragen, denn er kam sich dann hilflos und unnütz vor. Dieser götterverfluchte Wolf, ging es ihm durch den Sinn, und er ballte in sinnloser Wut die Fäuste. Hätte er doch nur mich angefallen, ich stecke so etwas besser weg als der Kleine. Dann wäre sie jetzt nicht so verzweifelt ... Er hatte noch nie einen Wolf gesehen, der so wild und unvorsichtig Menschen angegriffen hatte. Sonst sind sie doch zu feige ... Und dieser hier kämpft nicht einmal im Rudel. Das war ein sehr schlechtes Zeichen, das wußte er. Einzeln jagende Wölfe waren entweder krank oder so blutrünstig, daß sogar andere Wölfe ihre Gesellschaft mieden. Nun, dieser hier wurde jedenfalls nicht wegen eines Dumpfschädels ausgestoßen, dachte er grimmig, und sogleich überlief ihn ein kalter Schauer. Was, wenn dieses Tier an einer anderen, noch viel schlimmeren Krankheit litt als an einem Dumpfschädel? Almar blickte auf den Jungen hinab und fragte sich verzweifelt, wie lange die
Schwarze Wut wohl brauchen würde, bis sie ausbräche, suchte nach Anzeichen einer Veränderung. Schwester Jalla vom Perainetempel hatte ihm beschrieben, wie das Gesicht der Erkrankten dunkel anläuft, wie sich gräßliche Beulen bilden, die beim Aufplatzen eine stinkende Flüssigkeit absondern und die man ständig mit Heiltee ausspülen muß. Wenn alle Hilfe versagt, bedecken die Beulen nach Tagen voller Krämpfe und Schmerzen den ganzen Körper, und der Kranke stirbt einen qualvollen Tod. Das runde Gesicht des Jungen war leichenblaß. Von Fieberschweiß überzogen, wirkte es fast wächsern, nur die Augenlider flatterten von Zeit zu Zeit unruhig, und die rissigen Lippen waren geöffnet, als ringe er um Atem. Sein braunes Haar war stumpf geworden und klebte ihm wirr auf der schweißnassen Stirn. Sonst glänzt es ebenso wie das Larnas, dachte Almar. Er hat sehr viel von seiner Mutter. Garms Vater hatte Almar nie gesehen, doch das breite Rückgrat des Jungen ließ darauf schließen, daß er ein kräftiger Bursche gewesen war. Almar fuhr herum, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Angestrengt suchten seine Augen den Waldrand ab, und er lauschte mit gebannter Aufmerksamkeit, doch er hörte nur das regelmäßige Atmen der beiden Schlafenden. Endlich schläft sie, stellte er erleichtert fest. Sie hat also doch
noch Vertrauen zu mir. Als der Wolf verschwunden war – so wie er sich benommen hatte, mußte er toll sein –, hatte Larna nur noch Augen für Garm gehabt, und in Almar war der schreckliche Verdacht gewachsen, daß sie ihn für das verantwortlich machte, was dem Jungen widerfahren war, ihn insgeheim anklagte, weil er dem Wolf nicht Einhalt geboten hatte. Seine Gedanken kehrten zurück zu der Bewegung im Wald. Er griff zum Dolch. War der Wolf zurückgekehrt, um seine Bluttat zu vollenden? Almar stand leise auf. Wenn sie nur am Leben bleibt, dann will ich freudig diese Bestie mit in den Tod nehmen. Dann weiß Larna endlich, wie sehr ich sie liebe. Ohne die beiden zu wecken, schlich er hinüber zum Waldrand – und ließ vor Verblüffung den Dolch fallen. Ein Wildschwein! Ungläubig starrte er auf den toten Körper, dessen Kehle fein säuberlich durchbissen worden war. Er blickte sich um und hob den Dolch wieder auf, doch konnte er weder Pfotenabdrücke noch irgendwelche Schleifspuren erkennen, die er hätte verfolgen können. Kopfschüttelnd blinzelte er mehrmals, doch blieb das Wildschwein, wo es war, und löste sich keineswegs im Licht der Morgensonne auf. Er steckte den Dolch in den Gürtel, schürte das Feuer höher und machte sich daran, das Schwein zur Feuerstelle zu schleifen.
Immer noch lag Trauer tief im Innern von Kantalas Herz. Ihre Hand fuhr liebkosend durch Ruokols schmutziggelbes Fell, kraulte ihn hinter den Ohren, bis er im Halbschlaf leise grunzte. Der Rauhwolf hatte wohl bemerkt, daß sich nicht nur die Farbe ihres Fells verändert hatte, seit sie aus dem Norden zurückgekommen war, das wußte sie. Und doch hatte er sie damals in ihrer Höhle begrüßt, als wäre nichts geschehen. Seitdem waren einige Monde vergangen, und Kantala jagte nun häufig allein. Sie schluckte hart und unterdrückte die Tränen, die sich hinter ihren Lidern sammelten und den schmalen Damm zu überfluten drohten, der sie zurückhielt. Ihre Finger gruben sich in Ruokols Fell, und er hob überrascht den Kopf. Sie raunte ihm einige gutturale Laute ins Ohr, und er legte das Haupt mit einem Seitenblick auf ihr Gesicht wieder nieder. Sie seufzte. Er kennt mich so gut. Sie legte eine Hand auf den Rücken ihres Gefährten, genoß seine Nähe. Der Anblick des prasselnden Regens vor dem Höhleneingang ließ sie erschauern, und sie kuschelte sich an den warmen Pelz ihres Freundes. Da plötzlich, ohne Vorwarnung, überfielen sie die Bilder der Erinnerung. Der Menschling, der kleine, lebte er noch? Sie kauerte sich in eine Ecke und umschloß ängstlich ihre Beine mit den Armen. Noch ganz deutlich sah sie ihn, wie er in seinem Blut lag,
Todesangst in den Augen. Sie zitterte bei der Erinnerung an die Gier, die sie unfähig gemacht hatte, auch nur zu denken, und doch hatte sich selbst der kleinste Augenblick ihres Überfalls mit schmerzlicher Genauigkeit in ihr Gedächtnis gebrannt – wie es bei allen anderen zuvor gewesen war ... Unruhig sprang sie auf und lief im Unterschlupf hin und her. Früher, da war sie mit Ruokol zusammen auf die Jagd gegangen, hatte die Spannung und Freiheit geliebt, die sie verbunden hatten. Sie waren ganze Nächte lang durch den Wald getobt, so lange, bis er sie bezwungen hatte, hatten dann gemeinsam nebeneinander gelegen und auf das Morgengrauen gewartet, das Kantala in ihre menschliche Gestalt zwang. Was hat Kyrjaka aus mir gemacht? Ihre Augen brannten. Ihr Geist hat den meinen vergiftet. Das Gift ist fort, doch ist der Geist schwach geblieben, und die Gier in meinem Blut läßt mich nicht vergessen, was geschah. Sie erinnerte sich an die Worte des alten Schamanen, der sie gelehrt hatte, mit den Geistern zu sprechen: ›Hat der Wolf in dir jedoch Blut geleckt, Menschenblut, und du tötest um des Tötens willen, so glaub mir, kleiner Wölfling, läßt es dich nicht mehr frei, und du selbst bist der ärgste Feind von Bruder Wolf und Schwester Mensch.‹
Oh, sie hat Blut geleckt ... Kantala erinnerte sich noch genau an den Morgen, da sie aufgeregt aufbrach, um zu erkunden, ob die Hirsche schon aus den Bergen ins Tal zogen, wie sie es jeden Winter taten. Sie lief weit, damals, und der Schnee verschmolz allmählich Hügel und Himmel miteinander und schmückte die Tannen. Ihre Füße stapften durch die unberührte Landschaft und hinterließen einen unschönen Riß in der weißen Decke. Sie gelangte in eine Senke und folgte einer Wildfährte, bis sie plötzlich stutzte: Es roch nicht mehr nur streng nach Wild, es roch auch nach etwas, das Kantala nie zuvor aufgespürt hatte. Der Duft war so stark, daß ihr die Augen tränten, und sie wußte instinktiv: Dies war kein Tier, dies war kein Menschling, es mußte der Geruch eines bösen Geistes sein, denn Madas Odem haftet unauslöschlich an jenen, die gleich ihm die Himmelswölfe freveln. Kantala wollte umkehren, fliehen, so schnell sie die Beine trugen, um nicht in den Bann der ›Madaykas‹ zu kommen, jener, denen nichts heilig ist. Doch als sie den Blick hob, saß sie da, auf dem Pfad, und wartete. Silbern schimmerndes Fell, wie fließendes Mondlicht gewoben, umgeben von einem Glanz, der nur dem des Madamals allein glich. Kohlschwarze glühende Augen trafen Kantalas Blick, und sie spürte den Sog, der von diesen Augen ausging. Gleichsam tastend schienen sie ihren Geist zu durchforschen, und Kantala sah, wie sie aufblitzten, als sie gefunden hatten, was sie suchten. Unwillkürlich kauerte
sie sich hin, zog die Knie an und jaulte, als sie sich auch schon verwandelte, heftig diesmal und anders als sonst ... Ihr schmutziggelber Rauhwolfpelz nahm sich häßlich und stumpf gegen den der schönen weißen Wölfin aus, doch es schien ihr recht so. Kaum hatte sie sich erhoben, bemerkte sie, daß sie noch besser hörte, noch besser roch, als dies sonst der Fall war, wenn sie ihre Wolfsgestalt angenommen hatte. Sie fühlte sich stärker, wilder, und als sie die Fährte auf dem Boden erforschte, erkannte sie auch Menschlinggeruch. Gier erfaßte sie da, jene, die Mada in die Welt gebracht hat. Die wunderschöne weiße Wölfin, deren Anblick sie auf den Boden zwang und niederdrückte, schuf hallende Worte in Kantalas Kopf: »Komm, Wölfin! Nun bist du mein. Ich bin Kyrjaka, Tochter des kalten Eises, des ewigen Verfolgers. Mein Geist ist nun in dir, und du wirst mir dienen. Wir wollen jagen. Dein Hunger muß groß sein.« Kantala sprang auf, erwartungsvoll, und wußte, diese Jagd würde anders werden als alle Jagden, die sie bis jetzt erlebt hatte. Dieser schreckliche Gestank, den sie noch vor kurzem wahrgenommen hatte, ging von Kyrjaka aus, doch mit jedem Atemzug, den sie selbst tat, wurde der Geruch angenehmer, und schließlich schmeichelte er ihr wohlig die Nase. Kurz blitzte in ihrem Geist das Bild eines weiteren Rauhwolfes auf, der traurig dastand und sie anblickte, auch ein Name fiel ihr ein: Ruokol. Doch sie konnte sich
nicht mehr daran erinnern, was der Rauhwolf mit ihr zu tun hatte, woher sie ihn kannte oder was er ihr bedeutete. Diese schreckliche Leere, die entstand, wenn sie an diesen Wolf dachte, wurde schnell von Kyrjaka gefüllt. Kantala senkte die Schnauze und schnüffelte, suchte die Fährte. Es würde eine feine Jagd geben. Eine Menschenjagd. In der folgenden Zeit hatte sie viele Menschlinge getötet. Und mit jedem Blut, das sie gierig schluckte, mit jeder Nacht, die sie gemeinsam auf die Jagd gingen, wurde ihr Pelz weißer und strahlender, glich ein wenig mehr dem kalten Schnee, dem Schein des Madamals und Kyrjakas Fell. Der Rausch des Tötens und des Blutes hatte Kantala ergriffen, raste durch ihre Adern, und sie war unfähig, sich dagegen zu wehren. Irgendwann jedoch, nachdem sie mondelang durch die Wälder gezogen waren und Kyrjaka weitere Wölfe um sich geschart hatte – solche, denen der Ruf der Wildnis nicht angeboren war und die Kyrjaka gebissen hatte –, wurde die strahlende Wölfin unruhig und trieb ihre Welpen zur Eile an. Sie hetzten weiter, und Kantala bekam fast den Eindruck, daß es eine Flucht war, doch wohin diese führte, vermochte sie nicht zu erahnen. Eines Abends dann sprang Kyrjaka vom Lager auf, um sie wiederum weiterzutreiben, doch vor der Höhle, in der sie gerastet hatten, stand eine einzelne weißsilbrige Wölfin, so als habe sie sie erwartet. Bei ihrem Anblick dehnte sich Kantalas Herz weit und begann wie rasend zu pochen, denn die Fremde war ebenso
schön und hell wie Kyrjaka, doch wo diese wild und grausam war, war jene hier gut und liebevoll. Wutentbrannt stürzte sich Kyrjaka auf sie, doch die fremde Wölfin wußte sich wohl zu wehren, und bald erkannte niemand mehr, welcher Leib zu unterliegen drohte und welches Schicksal folgen würde. Doch dann war der Kampf, in dem sich beide schwere Wunden zufügten, plötzlich zu Ende, und ein silberner Leib sprang unter wütendem Heulen auf und davon, in die Nacht hinein. Die Siegerin wandte sich um, und trotz ihrer Verletzungen stürzte sie sich auf das Gefolge Kyrjakas, das deren Geifer in sich trug, und tötete jeden einzelnen von ihnen. Kantala war als einzige noch am Leben, als die Silberwölfin sich ihr zuwandte, um ihr ebenfalls das Ende zu bereiten. Doch da hielt sie inne und betrachtete Kantala, wie sie winselnd vor ihr kauerte. Lange verharrten sie so, und Kantala war es längst bang geworden, doch endlich wandte sich die herrliche Gestalt ab. Noch einmal vernahm Kantala eine Stimme tief in ihrem Innern, doch dieses Mal pochte ihr Herz vor Liebe und Freude: »Du sollst leben. Dein Blut ist frei von Gift, und des Tötens bin ich leid. Ich bin Larka, Herrin der Silberwölfe, und du sollst zu meinem Volk gehören. Doch merke wohl, du hast die Gier nach dem Blut unserer Brüder und Schwestern, der Menschen, gespürt, und du bist verdorben im Geiste. Doch mühe dich, denn die Großen Wölfe gaben dir einen starken Geist, der die Verderbtheit überwinden kann, wenn dein Herz tapfer ist.
Sonst werde ich wiederkommen, und dann wirst du sterben.« Kantala warf sich auf den Boden und krümmte sich vor Schmerz. »Aber es ist doch nicht meine Schuld!« schrie eine Stimme in ihr auf. »Kyrjaka hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin!« Sie schluchzte hemmungslos, preßte die Hand gegen den Mund, biß sich die Knöchel blutig. Etwas berührte sie leicht an der Seite, und sie blickte auf. Ruokols sanfte Augen ruhten auf ihr. Beschämt wandte sie sich ab, doch der Wolf leckte ihr vorsichtig die Wunden, näherte die kalte Schnauze ihrem Gesicht und fuhr ihr mit der Zunge freundschaftlich über die Nase. Sie schlang die Arme um ihn und drückte das Gesicht in sein Fell. »Laß mich nicht allein!« flehte sie ihn mit rauher Stimme an. »Ich brauche dich sosehr!« Seine Nase fuhr über ihre Schulter und kitzelte sie. In seiner Nähe beruhigte sie sich allmählich, und als sie ihren Griff lockerte, sprang er auffordernd auf und lief zum Ausgang der Höhle, blickte sich um und verschwand durch den Wasservorhang. Halb lachend, halb weinend rannte Kantala zu ihm hinaus in den Regen. Der Tag schien nur trübe durch die Wolken, doch Wolf und Frau liefen durch den schlammigen Grund, als wäre der böse Geist Madas hinter ihnen her. Re-
gen und Wind schlugen ihnen entgegen, und Kantalas Trauer schwand im Wüten der Natur wie zerfetzte Wolken im Sturm. Lachend und japsend ließ sie sich unter einen schützenden Ahorn mit ausladenden Ästen fallen und wollte Ruokol zu sich herunterziehen, als sie spürte, wie der Wolfskörper sich spannte. Ruokol witterte angespannt in den Regen, und auch Kantala versuchte zu ergründen, was ihn so beunruhigte, doch waren ihre Sinne nun, da sie Menschengestalt angenommen hatte, nicht so fein wie die eines Wolfes. Aus der Kehle des Rauhwolfes drang ein feindseliges tiefes Grollen. Orks! Kantala sprang auf, um zur Höhle zu laufen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als vor ihrem Geiste wieder das Bild eines blutüberströmten kleinen Menschlings stand. Ob die Menschlinge noch da waren? In jener schrecklichen Nacht war das Zeichen von Madas Schande noch unvollständig gewesen, inzwischen aber stand es nahezu makellos gerundet am Himmel. Und doch, Kantala hatte den Kleinen schwer verletzt, womöglich waren die Menschlinge deshalb nicht in der Lage gewesen weiterzuziehen. Lagerten sie aber noch dort, wo Kantala sie gefunden hatte, dann würden auch die Hunde der Orks sie finden. Kantala riß Ruokol am Nacken herum und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung. Der Wolf knurrte, sträubte sich, doch als sie ihn entschlossen hinter sich her schleifte, folgte er ihr zögernd.
Sie lief durch den Regen, Schlamm drang in ihre Stiefel und Äste peitschen ihr Gesicht, doch sie bemerkte es kaum. Fieberhaft stolperte sie einen kleinen Hang hinauf, folgte wenige Schritte einem Wildpfad und stürzte zum Fluß hinunter. Almar stand auf einem Bein, hielt sich am Ast eines Baumes fest und beugte sich weit über die Wasserfläche hinaus. Mit einem Stock angelte er nach seinem soeben davonschwimmenden Brotbeutel, der zwar leer, doch noch immer zu teuer war, als daß er ihn den Fluten überlassen wollte. Schon trieb das Leder den angestiegenen Fluß hinunter, aus Almars Reichweite, und er reckte sich noch ein wenig weiter hinaus. Der Ast zerbrach mit einem lauten Knacken, und Almar fiel wie ein Stein ins Wasser. Als er wieder auftauchte, schlug er prustend um sich, um festen Stand zu bekommen, und stieg triefend und mit klammen Gliedern aus dem Fluß. Wenigstens stört der Regen jetzt nicht mehr, dachte er grimmig. Vom Lager her ertönte heiseres Lachen. Garm hielt sich, immer noch mit einem Verband um den Hals, an einem Baum fest und kicherte in sich hinein, obwohl ihm das Lachen offensichtlich noch Schmerzen bereitete. »Du siehst aus wie ein nasser Hund«, befand er und kicherte wieder.
Almar konnte nichts Lustiges dabei finden, im Phex in einen reißenden Fluß zu fallen, doch die Erleichterung darüber, daß Garm wieder zu seiner Fröhlichkeit gefunden hatte, wärmte ihn trotz seiner klammen Kleider, so daß er ebenfalls losprustete. Er nahm den Jungen auf den Arm und tat so, als wolle er ihn ebenfalls in das Wasser werfen, und der Kleine strampelte vor Vergnügen. »Nun ist es aber genug«, entschied Almar. »Deine Wunde ist noch nicht verheilt.« Er trug Garm zu einem trockenen Plätzchen und fuhr damit fort, Larna zu helfen, ihre armselige Habe aus den Fluten zu retten. Wer war eigentlich auf den Gedanken gekommen, das Lager unmittelbar neben dem Fluß aufzuschlagen, Larna oder er? Er wußte es nicht mehr, und inzwischen war es auch gleichgültig. Almar wrang gerade die Decken aus und reichte sie Garm, der sie zu einem Bündel verschnüren sollte, als er sie erblickte: Eine Frau mit dunklem Haar, das ihr fast ebenso am Leib klebte wie Almar das seine, sprang aus den Büschen, gefolgt von einem großen hellen Wolf. Almar faßte an den Gürtel, doch die Hand griff ins Leere – er mußte den Dolch im Fluß verloren haben. Als Garm den Wolf erblickte, schrie er, und auch Larna keuchte entsetzt auf, warf sich dann schützend vor ihren Sohn. »Nur über meine Leiche, Bestie!« rief
sie mit sich überschlagender Stimme, aber der Wolf und die Frau musterten sie nur reglos. Dann kam die Frau in gebeugter Haltung zögernd auf Almar zu, Larna und den Jungen immer im Auge behaltend, während sie dem Wolf mit der Hand zurückzubleiben bedeutete. Als sie noch etwa einen Schritt von Almar entfernt war, blieb sie stehen, und er stellte fest, daß sie ihn anscheinend genauso vorsichtig abschätzte wie er sie. Ihre Blicke trafen sich, und Almar erschauerte bis in die Grundfesten seines Seins. Die Frau hat Wolfsaugen! schrie es in ihm, und obwohl sein Verstand ihm zu fliehen befahl, blieben seine Füße wie angewurzelt am Fleck stehen. Unsicher sah er zu dem Wolf hinüber, der hinter der Fremden saß, doch es bestand kein Zweifel: Ihre Augen waren von einem noch lichteren Bernsteinton als die des Tieres. Er musterte sie, bemerkte die leichte Schrägstellung der Augen, die ein wenig hervorstehenden Wangenknochen und das schmal geschnittene Gesicht. Unwillkürlich kamen ihm die Ammenmärchen über die nivesischen Wolfsmenschen in den Sinn, die – halb Mensch, halb Wolf – ihr praioslästerliches Dasein führten und sich, wie seine Mutter früher immer erzählt hatte, von dem Blut kleiner Kinder ernährten, die sich zu weit in die Wälder hineinwagten. Almar tat hastig einen Schritt rückwärts, doch die Frau war schneller und hielt ihn am Ärmel zurück.
»Kaiymunya!« stieß sie mit rauchiger, recht tiefer Stimme hervor, deutete in den Wald und zupfte ihn wieder am Ärmel. »Kaiymunya!« Er blickte sie verständnislos an, dann in die Richtung, in die sie aufgeregt deutete, und sah schließlich Larna an. »Was sagt sie?« fragte er, doch seine Gefährtin zuckte nur mit den Schultern. »Ich glaube, sie spricht nivesisch«, antwortete sie dann. Die Frau ließ nicht von Almar ab, wiederholte ständig das seltsame Wort und wies verzweifelt zum Wald. Dann aber hielt sie inne, und ihre Lippen schienen längst vergessene Laute zu proben. Unsicher setzte sie an, »Haar ... Mensch ... Schwarz ... Fell?« sprach sie die Wörter langsam eins nach dem anderen aus, wobei sie Almar aufmerksam beobachtete, um sich zu vergewissern, ob er sie verstand. »Haar ... Mensch, Schwarz, Fell ... Mensch ... Schwarz ... Fell«, rezitierte Almar in sich hinein und überlegte fieberhaft, was die Nivesin meinen könne, tauschte dann mit Larna einen ratlosen Blick. Die riß plötzlich erschreckt die Augen auf. »Schwarz Fell! Ob sie Orks meint?« Sie vergaß ihre beschützende Haltung, sprang auf das Mädchen zu, während sie die Finger in Nachahmung der orkischen Hauer an den Mund hielt, die Zähne fletschte und gutturale Laute ausstieß. Die Fremde zuckte zurück, stutzte und nickte schließlich eifrig. »Kaiymunya!«
Larna faßte nach Almars Arm. »Orks ... Wir sind verloren! Wohin sollen wir denn jetzt noch gehen?« Sie lehnte sich gegen seine Schulter, und während er den Arm um sie legte, mischten sich Tränen in den Regen, der ihr über die Wangen rann. Die fremde Frau deutete mit dem Kopf zum Wald. »Komm ... mit Kantala!« Sie lief zum Waldrand und blickte sich auffordernd um, während der Wolf schon wie ein Schatten zwischen den Bäumen verschwand. Die Höhle roch intensiv nach wildem Tier und war so finster, daß Larna die Hand nicht vor Augen sah. Vor sich hörte sie das Scharren von Krallen auf dem Fels, dann sah sie, wie ein Flämmchen aufglomm, Nahrung fand und sich rasch an dem dürren Holz entlangfraß. Das Feuer beleuchtete eine natürliche kleine Felsenkammer, in der einige Felle, ein niedriger Stapel trockenen Holzes und abgenagte Knochen lagen. Die nivesische Frau hatte sich mit dem Wolf in einer Ecke niedergelassen – wie Larna bemerkte, so weit wie möglich von der Feuerstätte entfernt – und schaute ihren Gästen nun unsicher entgegen. Larna setzte sich neben das Feuer und breitete eines der Felle für Garm aus, der noch immer in Almars Armen lag. Gemeinsam legten sie den Jungen nieder, und Larna hüllte ihn in die letzten noch trockenen Dekken.
Dann betrachtete sie das seltsame Paar näher. Was bringt sie dazu, wie ein Tier mit einem Wolf in einer lausigen Höhle zu wohnen? fragte sie sich im stillen. Nicht einmal einen Kessel zum Kochen oder einen Wasserbottich gab es hier. Larna selbst war froh darüber, daß sie Almar hatte, der Garm und sie auf dem Marsch begleitete, der immer munter und fröhlich war und sie mit blitzenden Augen ansah. Doch tagein, tagaus in der Wildnis leben, lediglich einen Wolf als Gesellschaft, mit dem man nicht einmal reden konnte, wenn man einsam war ...? Sie schaute der Frau in die Augen, doch die wich dem Blick aus. Einen kurzen Moment lang hatte Larna den Eindruck, die Augen hätten im Feuerschein gelb geglänzt, doch sie wollte ihre Gastgeberin nicht durch ihre forschen Blicke beleidigen. Als sie den Wolf betrachtete, rann ihr ein Schauer den Rücken hinab. Ob das die Bestie war, die Garm angefallen hatte? Und wenn ja, hatte das Tier auf Befehl seiner Herrin gehandelt, oder war es ihr entwischt? Sein Fell war von einem schmutzigen Weiß, kurz und borstig. Wieder sah Larna den Wolf vor sich, der über Garm stand, Brust und Schnauze mit Blut besudelt, und sie anblickte. Sie war fest davon überzeugt, das dessen Fell länger gewesen war, seidig, und wie Silber im Mondlicht geschimmert hatte. Außerdem war der Wolf auf der Lichtung auf seine Weise zartgliedrig gewesen, nicht so stäm-
mig wie dieser hier. Der Gedanke an jene Nacht, die nun schon fast eine Woche zurücklag, trieb Larna den Angstschweiß auf die Stirn, doch sie beruhigte sich damit, daß es sicher nicht dieser Wolf gewesen war, der ihren Jungen fast getötet hatte. Sie seufzte. In einer Nacht war Vollmond. Da hatten sie eigentlich schon längst im Schutz der Mauern Lowangens sein wollen und nicht mitten in der Wildnis, wo es von Orks wimmelte und ein Mensch seines Lebens nicht sicher war. Doch nun würden sie den Regen abwarten müssen, vielleicht sogar so lange, bis die Flüsse wieder abschwollen – falls Garm bis dahin überhaupt wieder reisen konnte. Kantala saß auf dem kleinen Felsvorsprung vor der Höhle und sah auf den Wald hinunter. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, doch das Wasser stand in den Pfützen noch knöcheltief. Diese Zeit des Jahres verbrachte Kantala sonst mit Ruokol an dem schwellenden Fluß und wartete geduldig, mit erhobenem Speer, auf Lachse. Bei dem Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie sehnte die Zufriedenheit zurück, die sie damals geteilt hatten. Hinter sich hörte sie Stimmen. Diese Menschlinge waren wie Welpen. Sie liefen in die Wälder, ohne sich aus eigener Kraft einen Hasen jagen oder die richtigen Wurzeln finden zu können, und meinten, ihre
Götter würden sie beschützen. Sie vertrauten nicht den Geistern, die überall ringsumher zu finden waren, die man sehen konnte und die zornig wurden, wenn man sie mißachtete. Wenn man den Geistern aber ihren Teil der Beute gab, konnte man sich schon auf sie verlassen, und so manches Mal hatten sie für Kantala die Rettung bedeutet. Wie Ruokol meinte, war die Orksippe, die in der Nähe entlangzog, gewißlich so groß wie ein großes Wolfsrudel – also mehr als zehn Häupter. Die Menschlinge wären eine leichte Beute für sie gewesen, da sie nicht einmal über den überschwemmten Fluß hätten fliehen können. Nach der harten Schneezeit der letzten Monde kamen viele Ork- und auch Wolfsippen aus den Bergen und Wäldern, um bei den Menschlingen Futter zu finden, bei denen es zuverlässig dumme Tiere oder gute Vorräte gab. Kantala war froh, die unbeholfenen Menschlinge vor den Orks bewahrt zu haben. Wie alle Wölfe verabscheute sie die Orks, da jene häufig genug die Stärksten, Schönsten des Rudels erschlugen oder Welpen stahlen, um sie zu quälen und zu verderben. Sie machten aus den Kleinen Wölfe, die so krank waren, daß sie sogar ihre eigenen Brüder und Schwestern anfielen, wenn die Orks es ihnen befahlen. In Kantalas Rudel hatte man solche Feinde Orkenköter genannt, da sie sich ihren Herren hündisch unterwar-
fen. Sie dienten nicht mehr den Geistern und Liska, sondern lebten, um zu töten, wie Mada es einst getan hatte. Kantala blickte hinauf zum Himmelslicht, das wie eine runde rote Scheibe über den Bergen hing, und sie erwartete das vertraute Kribbeln, das die Dämmerung mit sich brachte. Doch heute war es anders. Am Himmel stand groß und rund das Zeichen von Madas Frevel und beherrschte die kommende Nacht, während Liska ihr glühendes Auge von der Welt abwandte. Krämpfe warfen Kantala zu Boden, und sie keuchte ob der Wucht, mit der ihre Verwandlung einsetzte. War der Wald eben noch eine Ansammlung von dunklen Schatten gewesen, so erfüllte nun ein Meer von Gerüchen und Geräuschen die Luft, die sie erregten und lockten, auf sie eindrangen, bis ihr Menschengeist von ihnen ertränkt wurde. Die Wölfin sprang auf den Vorsprung und stieß einen langgezogenen Klagelaut aus, der die brodelnde Dunkelheit durchdrang und jede Faser ihres Körpers zum Schwingen brachte. Sie war nun eins mit dem Gesang der Nacht. Sie hörte einen Schrei hinter sich und warf sich herum, sah in die aufgerissenen Augen eines kleinen Menschlings, der nach Schweiß und Angst roch. Die
Wölfin hielt abwartend inne, zitternd, und schloß die Augen, als die Gier durch ihr Blut wallte, doch der Junge floh stolpernd ins Innere der Höhle. Und er schrie. Larna sprang auf, als sie Garms gellenden Schrei hörte. Sie warf die Decke beiseite, um ihm entgegenzulaufen, doch da stürzte er schon in die Höhle herein. Wie in ihrem stets wiederkehrenden Alptraum sah Larna, wie der Junge zu Boden fiel, begraben unter dem silberzottigen Leib eines Wolfes, der sich dumpf knurrend auf ihn warf, die, Fänge um den schmalen Hals schloß, die Kiefer zusammenpreßte, dann wieder abließ, um sich erneut gierig auf das hervorsprudelnde Blut zu stürzen, sich in vollen Zügen daran labte und endlich – unschlüssig? – zu Larna aufblickte. Sie stand wie gelähmt, sah die Reste eines nivesischen Lederwamses von der Schulter des Tieres herabhängen. Sie erkannte das Kleidungsstück, und flüssiges Eis durchströmte ihren Körper. Wie von unsichtbarer Hand geführt, zog sie einen brennenden Ast aus dem Feuer und ging Schritt für Schritt auf die weiße Gestalt zu, die knurrend an die Höhlenwand zurückwich. Larna stieß zu, um dem Tier die Augen zu versengen, doch der Wolf wich behende aus, sprang an Larna vorbei, war plötzlich hinter ihr und riß sie zu Boden.
Larna prallte hart auf den Fels, und als sie die Augen aufschlug, blickte sie in ein Paar bernsteingelber Wolfsaugen und spürte die dolchscharfen Zähne an der Kehle. Aus dem Innersten des Wolfes – der Wölfin – stieg ein tiefes Grollen, und Larna erstarrte angesichts der wilden Gier, die in den gelben Pupillen flackerte. Sie sandte ein letztes hilfloses Gebet an den gerechten Herren Praios, den Ächter alles Bösen, und spürte, wie sich die Reißzähne langsam, ganz langsam über ihrer Kehle schlossen und sich in ihr Fleisch bohrten. Ein drohendes Knurren erklang, ein jaulender Schmerzensschrei. Als Larna die Augen aufriß, stellte sie erstaunt fest, daß die Wölfin von ihrem Hals abgelassen hatte und nun mit blutendem Nacken vor dem stämmigen Wolf der Nivesin stand, der die Zähne fletschte und drohend auf die Wölfin zukam. Aus seiner Kehle drang ein unheilvolles Gurgeln, und die Silberwölfin wich zögernd zurück. Der Rauhwolf sprang vor, und seine scharfen Zähne schlugen eine weitere tiefe Wunde in den Nacken seiner Gegnerin. Die Wölfin jaulte schmerzerfüllt auf, doch wand sie sich aus seinem Griff und riß ihrerseits den Hals des Rauhwolfs auf. Dann heulte sie laut auf, sprang an ihrem Gegner vorbei zum Ausgang und verschwand. Der Wolf wandte sich zu Larna um,
blickte ihr in die Augen, dann auf das Kind. Ein stöhnendes Jaulen kam aus seinem Innersten, und er rannte hinaus, der Wölfin auf den Fersen. Larna rutschte auf Händen und Knien zu ihrem Sohn, der still und reglos in einer roten Lache dalag. Kein Blut trat mehr aus der Wunde, der Verband hing in Fetzen. Larna nahm die schlaffe bleiche Hand und küßte sie, streichelte immer wieder das Haar, das so widerspenstig in das Gesicht ihres Jungen hing, und während sie sein Wiegenlied summte, schaukelte sie ihn sanft hin und her. So fand Almar sie, als er mit einem Stapel feuchten Holzes auf dem Arm die Höhle betrat. Sie rannte, rannte, was die Beine hergaben, hinein in die Dunkelheit. Hinter sich hörte sie ein Keuchen, das bezeugte, daß Ruokol ihr auf den Fersen war – und er war schnell. Ihre Augen brannten, als sie an den Jungen dachte, doch Tränen weinten ihre Wolfsaugen nicht. Sie wich im letzten Moment einem Baumstamm aus, tat einen Satz und landete im Wasser. Sie trat jaulend unter sich, bis sie endlich Grund gefunden hatte, dann sprang sie an Land und lief weiter, auf das Madamal zu. Sie hetzte aus dem Wald hinaus und stolperte einen Hügel hinauf, sah zu spät, daß das Gelände dahinter steil abfiel. Im letzten Moment warf sie sich
herum, doch der schlammige Boden bot ihr keinen Halt, und sie stürzte. Sie rappelte sich auf und wollte weiter, doch vor ihr stand Ruokol, aufrecht und unbewegt. Mit trauriger Entschlossenheit sah er ihr fest in die Augen, und unter seinem Blick erschauerte sie – kalt war er, so kalt, daß ihr das Herz vor Frost zersprang. Dann war Ruokol über ihr. Sie spürte, wie seine Fänge in ihr Fleisch drangen, und flammender Schmerz durchzuckte sie. Blitzschnell warf sie sich herum und biß zu, riß ihrem Widersacher die Schulter auf. Immer wieder stürzte er sich auf sie, verwundete und schwächte sie, bis sie sich winselnd zu Boden warf und ihm zum Zeichen der Unterwerfung die Kehle darbot. Er beugte sich über sie und blickte sie traurig an, dann schloß sich ein fester Griff um ihren Hals. Ein Zittern durchlief die Wölfin, als sich seine Zähne langsam in ihren Pelz bohrten und ihn durchdrangen, und da wußte sie, daß er sie töten würde. Ihre Augen blinzelten, und Feuchtigkeit sammelte sich zu einem kleinen Tropfen, der rasch wuchs. Eine Träne rann glitzernd aus dem gelben Auge, glitt ihr besudeltes Silberfell hinab und hinterließ eine zarte helle Spur. Eine Träne, geweint für die schöne Zeit, die sie und Ruokol gemeinsam verbracht hatten, für die Liebe, die sie verbunden hatte, eine Träne, voll Trauer für
das Menschlein, das tot und kalt im Schoß seiner Mutter lag und nie wieder lieben würde. Diese Trauer quoll tief aus Kantalas Herz, das jetzt ganz ruhig war, und erfüllte ihren Geist, und nichts blieb mehr zu tun, als zu warten, daß Ruokol ihrem Leben ein Ende setzte. Eine Zunge fuhr über ihr Fell, wischte die Träne auf und benetzte damit ihre Nase. Sie öffnete die Augen und sah Ruokol, wie er sie sanft anblickte, mit Frieden und Liebe in den Augen, wie sie es noch nicht einmal in ihren glücklichsten Tagen bei ihm gesehen hatte. Sie winselte schwach, und er war bei ihr, leckte ihre Wunden und ihre Schnauze, stieß sie sanft an und zwang sie so zum Aufstehen. Sie schwankte, doch Ruokol war an ihrer Seite und stützte sie. Als Liskas Auge groß und strahlend über die östlichen Berge blickte, um mit seinem Schein zu verkünden, daß kein Tod einen anderen ungeschehen machen kann und daß ein jeder Tod vor der Zeit einer zuviel ist, lag Kantala in einer kleinen Höhle, eng geschmiegt an einen warmen weißen Wolfspelz.
Erklärung aventurischer Begriffe
Die Götter und Monate 1. Praios = Gott der Sonne und des Gesetzes (entspricht Juli) 2. Rondra = Göttin des Krieges und des Sturmes (entspricht August) 3. Efferd = Gott des Wassers, des Windes und der Seefahrt (entspricht September) 4. Travia = Göttin des Herdfeuers, der Gastfreundschaft und der ehelichen Liebe (entspricht Oktober) 5. Boron = Gott des Todes und des Schlafes (entspricht November) 6. Hesinde = Göttin der Gelehrsamkeit, der Künste und der Magie (entspricht Dezember) 7. Firun = Gott des Winters und der Jagd (entspricht Januar) 8. Tsa = Göttin der Geburt und der Erneuerung (entspricht Februar)
9. Phex = Gott der Diebe und Händler (entspricht März) 10. Peraine = Göttin des Ackerbaus und der Heilkunde (entspricht April) 11. Ingerimm = Gott des Feuers und des Handwerks (entspricht Mai) 12. Rahja = Göttin des Weines, des Rausches und der Liebe (entspricht Juni) Die Zwölf = Die Gesamtheit der Götter Der Namenlose = Der Widersacher der Zwölf
Maße, Münzen und Gewichte Meile = 1 km Schritt = 1 m Spann = 20 cm Finger = 2 cm Dukat (Goldstück) = 50 DM* Silbertaler (Taler, Silberstück) = 5 DM* Heller = 0,5 DM* Kreuzer = 0,05 DM* * Neue DSA-Regeln sehen einen realistischeren Umrechnungsfaktor vor. Hiernach ist der Dukat ca. DM 250,– wert. Auch die anderen Münzwerte sind entsprechend anzuheben.
Unze = 25 g Stein = 1 kg Quader = 1 t
Himmelsrichtungen Osten = Rahja Süden = Praios Westen = Efferd Norden = Firun
Begriffe, Namen, Orte Angroschim = aventurisches Wort für Zwerg Bornland = Land in Nordaventurien Born-Dorn = kleiner Dolch Charim = Hagrím – Ausdruck für Vorherbestimmung, Fatalismus Charyptoroth = erzdämonischer Gegenspieler Efferds Dere, derisch = die Welt, weltlich (irdisch) Dorgan = Sohn des Digen, ein Zwerg, ehemaliger Kampfgefährte Aigolf Thuranssons Drachenzahn = magisches Bastardschwert Aigolf Thuranssons Efferdbrüder = Gilde der Seeleute
Ehernes Schwert = mächtiges und unbezwingbares Grenzgebirge zwischen den Kontinenten Aventurien und Riesland, östlich der Walberge gelegen Feuerdorn = magischer Zweihänder Aigolf Thuranssons Flammberger Bucht = Gebirgsküste in Nordostaventurien, an der Grenze des aventurischen Kontinents Golf von Perricum = auf der Ostseite des Mittelreiches gelegene vielbefahrene Schiffsstraße Hagish = ›Drachling‹, Bezeichnung für teils echsenhafte, teils wölfische, teils menschliche Wesen, die über das Eherne Schwert nach Aventurien eingewandert sind Hagrím = ›Drachenkind‹, Stamm in den Walbergen, vor langer Zeit aus dem Osten eingewandert Herr der Gezeiten = der Gott Efferd Kap Walstein = südlicher Ausläufer der Walberge Löwin/Leuin, göttliche = die Göttin Rondra Méan = der Mond, (aventurisch – das Madamal), Teil der Hagrím-Mythologie Mendena = Hafenstadt der gleichnamigen Grafschaft auf der Ostseite Aventuriens (Mittelreich) Neersand = Hafenstadt im Bornland Nivesen = Ureinwohner des Bornlandes Nujuka = Sprache der Nivesen Riesland = unerforschter Kontinent östlich von Aventurien, auch: Ödland
Sor = die Sonne, Teil der Hagrím-Mythologie Sula = Hagrím-Ausdruck für eine scherzhaftspöttische Anrede Suldrú = ›der Grausame‹, Drachenkönig der Hagrím, aus dem Osten jenseits des Ehernen Schwerts nach Aventurien eingewandert Swafnir = Sohn Rondras und Efferds Swafnirs Kinder = Wale Turgoth = ›der blaue Dämon der See‹ Walberge = hügeliges und bewaldetes Gebiet zwischen dem Bornland und dem Ehernen Schwert