DER GRAF VON MONTE CHRISTO VON ALEXANDER DUMAS
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DER GRAF VON MONTE CHRISTO VON ALEXANDER DUMAS
ILLUSTRIERT MIT BILDERN VOM FILM GLEICHEN NAMENS MIT GENEHMIGUNG DER TERRA FILM A. G., BERLIN.
ERSTER BAND
GEFION–VERLAG *BERLIN KOPENHAGEN
•
MALMÖ
•
AMSTERDAM
Ankunft in Marseille. Am 24. Februar 1815 signalisierte der Schiffswächter von Notre Dame die Ankunft des Dreimasters Pharao, der von Smyrna, Triest und Neapel kam. Wie stets, so hatte sich auch heute eine Menge Neugieriger zu dem imposanten Anblick am Hafen eingefunden, denn die Ankunft eines Schiffes ist immer eine große Begebenheit in Marseille, zumal wenn dasselbe, wie es der Pharao war, auf seinen Werften erbaut worden ist und einem Reeder der Stadt angehört. Mit vollen Segeln, aber langsam und wie zögernd, näherte sich das Schiff dem Hafen, daß die Wartenden sich unwillkürlich fragten, welchen Unfall dasselbe wohl getroffen haben könnte. Gelenkt wurde es mit sicheren festen Bewegungen von einem jungen Mann. Die vage Unruhe, welche die harrende Menge ergriffen hatte, merkte man besonders einem Mann an, der die Einfahrt des Schiffes in den Hafen nicht erwarten konnte. Er sprang in eine kleine Barke und befahl, dem Pharao entgegen zu rudern, den er auch gegenüber der Bucht erreichte. Als der Lenker des Schiffes die Barke näher kommen sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen und lehnte sich, den Hut in der Hand, über die Brüstung des Schiffes. Er war ein Mann von 18 bis 20 Jahren, groß, schlank, mit schwarzen Augen und schwarzem Haar, Seinem
ganzen Wesen war eine Ruhe und Entschlossenheit aufgedrückt, wie sie den Menschen eigentümlich sind, die seit ihrer Kindheit mit Gefahren zu kämpfen haben. "Ah, Sie sind es, Dantes," rief der Mann in der Barke aus; "was ist denn geschehen, und was bedeutet dieses traurige Aussehen des Schiffes?" "Ein großes Unglück, Herr Morrel," antwortete der junge Mann, "ein großes Unglück, besonders für mich. Auf der Höhe von Civita-Vecchia haben wir unseren braven Kapitän Leclère verloren." "Und die Ladung?", fragte lebhaft der Reeder. "Ist in Sicherheit, Herr Morrel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän . . ." "Was ist ihm denn passiert?" fragte der Reeder mit sichtbar erleichterter Miene, "was ist dem braven Kapitän geschehen?" "Er ist tot." "In's Meer gefallen?" "Nein, Herr Morrel, er ist unter furchtbaren Qualen einer Gehirnentzündung erlegen." Sodann wandte sich der junge Seemann seiner Mannschaft zu und befahl: "Holla, he! Jeder an seinen Posten, zum Ankern bereit!" Die Leute gehorchten und Dantes kehrte zu Herrn Morrel zurück. "Und wie ist das Unglück geschehen?" fuhr der Reeder fort. "Mein Gott, ganz unvermutet. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän in sehr aufgeregtem Zustande Neapel. Vierundzwanzig Stunden darauf wurde er vom Fieber erfaßt und nach drei Tagen war er tot. . . . Mit den üblichen Feierlichkeiten haben wir ihn bestattet; er ruht, eingehüllt in eine Hängematte, eine Kugel an
den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel el Gialio. Wir bringen seiner Witwe das Ehrenkreuz und den Degen ihres Mannes zurück. Darum also," fuhr der junge Mann mit melancholischem Lächeln fort, "mußte er zehn Jahre lang gegen die Engländer kämpfen, um schließlich nicht einmal in seinem Bett sterben zu können!" "Gewiß, aber wir sind alle sterblich und die Alten müssen den Jungen Platz machen; sonst gäbe es auch keine Beförderungen, Herr Edmund, und seit Sie mir versichert, daß die Ladung . . ." "Sie ist in gutem Stande, Herr Morrel, dafür stehe ich Ihnen. Das ist eine Ladung, welche ich nicht unter 25 000 Franken Gewinn aus der Hand geben würde." Sodann, als man um den Leuchtturm herumsegelte, rief er: "Segel ein!" Der Befehl wurde mit derselben Genauigkeit ausgeführt wie auf einem Kriegsschiff und der Pharao glitt fast unsichtbar weiter. "Wenn Sie nun heraufkommen wollen, Herr Morrel," sagte Dantes, die Unruhe des Reeders bemerkend, "hier ist Ihr Rechnungsführer, der eben aus seiner Kabine heraustritt, er wird Ihnen jede Auskunft erteilen. Was mich betrifft, ich muß für die Ankerung sorgen und auf Halbmast hissen lassen," Der Reeder ließ sich das nicht zweimal sagen, er ergriff das ihm zugeworfene Tau und schwang sich mit großer Gewandheit an Bord, wo ihm Danglars entgegenkam, während Dantes auf seinen Posten zurückkehrte. Der Neuhinzugekommene war ein Mann von 25 bis 26 Jahren, mit düsterem Gesichtsausdruck, unter würfig gegen seine Vorgesetzten und barsch gegen seine Untergebenen; das waren Eigenschaften, die ihn
bei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmund Dantes bei ihr beliebt war. "Nun, Herr Morrel," sagte Danglars, "Sie wissen bereits das Unglück, nicht wahr? Ja, ja, der arme Leclère! Ein so braver, rechtschaffener Mann!" "Und besonders ein vortrefflicher Seemann, zwischen Himmel und Wasser alt geworden, wie es sich für einen Mann geziemt, der die Interessen eines so bedeutenden Hauses wie das Haus Morrel & Sohn zu wahren hatte," antwortete Danglars. "Aber," sagte der Reeder und folgte mit den Augen dem eifrigen Dantes, "mir scheint, daß man nicht gerade ein so alter Seemann zu sein braucht, um seine Profession zu verstehen, denn unser Freund Edmund versteht die seinige auch und er braucht niemanden um Rat zu fragen." "Ja," meinte Danglars, einen versteckten Blick des Hasses auf Dantes werfend, "ja, freilich, er ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando ohne jemanden zu fragen und ließ uns anderthalb Tage auf der Insel Elba verbringen, statt sofort nach Marseille zurückzukehren." "Was die Übernahme des Kommandos betrifft," versetzte der Reeder, "so war das seine Pflicht als erster Offizier, daß er anderthalb Tage auf der Insel Elba zubrachte, war unrecht, außer, wenn das Schiff nicht eine Reparatur nötig gehabt hat." "Das Schiff befand sich so wohl wie ich mich befinde und die anderthalb verlorenen Tage dienten nur zu dem Vergnügen, ans Land zu gehen." "Dantes," rief der Reeder, "kommen Sie doch mal hier her." "Verzeihung," erwiderte Dantes, "bin so
gleich zu Ihrer Verfügung." Dann rief er der Mannschaft zu: "Anker auswerfen!" Sogleich fiel der Anker und geräuschvoll rasselte die Kette nach; Dantes blieb trotz der Gegenwart des Lotsen auf seinem Posten, bis auch das letzte Manöver beendet war, dann rief er: "Hißt die Flagge auf Halbmast, kreuzt die Segelstangen!" "Sie sehen," sagte Danglars, "meiner Treu! er hält sich schon für den Kapitän." "Und er ist es auch," erwiderte der Schiffseigentümer. "Ja, durch Ihre Unterschrift und die Ihres Kompagnons, Herr Morrel." "Der Tausend auch! warum sollen wir ihn nicht auf diesem Posten lassen, ich weiß, daß er jung ist, aber er scheint mir ganz bei der Sache und bereits sehr erfahren zu sein." Eine Wolke zog über Danglars Stirn. "Verzeihung, Herr Morrel," sagte Dantes hinzutretend, "jetzt, da das Schiff verankert ist, stehe ich zu Ihrer Verfügung, was wünschen Sie?" Danglars trat einen Schritt zurück. "Ich wollte Sie nur fragen, warum Sie an der Insel Elba angehalten haben?" "Es geschah auf einen letzten Befehl des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den Oberhofmarschall Bertrand übergab." "Sie haben ihn also gesehen, Edmund?" "Wen?" "Den Oberhofmarschall." "Ja," Morrel blickte um sich und zog Dantes beiseite. "Und wie geht's dem Kaiser?"
"Gut, so viel ich mit meinen Augen wahrnehmen konnte." "Sie haben ihn also selbst gesehen, und haben mit ihm gesprochen?" "Das heißt, er hat mit mir gesprochen, Herr Morrel. Er stellte mir Fragen über das Schiff, über die Zeit der Abfahrt nach Marseille, über die Route, die es verfolgte und über seine Ladung. Ich glaube, wenn ich der Besitzer und das Schiff leer gewesen wäre, so würde er es haben kaufen wollen, aber ich erklärte ihm, daß ich nur ein einfacher Steuermann sei und daß das Fahrzeug dem Hause Morrel & Sohn gehöre. Ah, ah! hat der Kaiser gesagt, die Morrel sind ein altes Reedergeschlecht vom Vater zum Sohn und ein Morrel stand mit mir in einem Regiment in Valencia." "Ist das bei Gott wahr?" rief der Reeder ganz freudig überrascht. "Es war Policar Morrel, mein Onkel, welcher Kapitän geworden ist. Dantes, Sie müssen meinem Onkel erzählen, daß der Kaiser sich seiner erinnert hat, und Sie werden sehen, daß er bis zu Tränen gerührt sein wird. Brav! brav!" fuhr der Reeder, dem jungen Mann vertraulich auf die Schulter klopfend, fort, "Sie haben recht getan, den Auftrag des Kapitäns zu befolgen und an der Insel Elba anzuhalten. Doch wenn man wüßte, daß Sie dem Oberhofmarschall ein Paket ausgehändigt und mit dem Kaiser gesprochen . . . es könnte Ihnen Unannehmlichkeiten bringen." "Wieso meinen Sie, daß mir das schaden könnte, Herr Morrel," erwiderte Dantes, "ich weiß nicht einmal, was ich überbrachte und der Kaiser hat nur die unverfänglichsten Fragen an mich gerichtet. Doch, Ver
zeihung, hier kommen die Sanitäts- und die Zollbeamten; Sie erlauben?" "Gehen Sie, gehen Sie, mein lieber Dantes," Der junge Mann entfernte sich und sogleich näherte sich Danglars. "Nun," fragte er, "er scheint Ihnen gute Gründe für seinen Aufenthalt auf Elba gegeben zu haben?" "Vortreffliche, mein lieber Herr Danglars. Der Kapitän Leclère selbst hat ihm den Befehl dazu gegeben." "Desto besser, denn es ist stets peinlich, einen Kameraden um sich zu haben, der pflichtvergessen ist. Übrigens, hat er Ihnen nicht einen Brief des Kapitäns ausgehändigt?" "Mir? nein!" "Ich glaubte, der Kapitän habe ihm außer jenem Paket noch einen Brief anvertraut." "Welches Paket meinen Sie, Danglars?" "Dasjenige, welches Dantes auf Elba abzugeben hatte." "Wieso wissen Sie, daß er ein Paket abzugeben hatte?" Errötend gestand Danglars, daß er an der halbgeöffneten Tür des Kapitäns vorübergegangen sei und gesehen habe, wie derselbe Dantes ein Paket und einen Brief übergab, "Er hat davon nichts erwähnt," sagte der Reeder, "aber wenn er einen Brief hat, wird er ihn mir noch geben." Danglars überlegte einen Augenblick und sagte dann, "ich bitte Sie, Herr Morrel, darüber nicht zu Dantes zu sprechen, ich kann mich geirrt haben." In diesem Augenblick kam der junge Mann zurück.
"Nun, mein lieber Dantes, sind Sie frei?" fragte der Reeder. "Jawohl, es ist alles in Ordnung." "Sie werden mit uns zu Mittag speisen?" "Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Morrel, mein erster Weg führt mich zu meinem Vater. Ich bin Ihnen darum nicht weniger dankbar für die Ehre, die Sie mir damit erzeigen wollen." "Recht, recht, Dantes, ich weiß, daß Sie ein guter Sohn sind." Zögernd fragte Dantes . . . "Und wie geht es meinem Vater, ist er gesund?" "Ja, ich glaube, mein lieber Sohn, obgleich ich ihn nicht gesehen habe." "Ja, er lebt sehr zurückgezogen in seinem kleinen Heim." "Das beweist, daß es ihm in Ihrer Abwesenheit an nichts gefehlt hat. Aber nach diesem Besuch zählen wir bestimmt auf Sie!" "Entschuldigen Sie mich nochmals, Herr Morrel, ein anderer Besuch liegt mir ebenso sehr am Herzen." "Ah, es ist wahr, Dantes, ich dachte nicht gleich daran, daß in der katalonischen Kolonie jemand wohnt, der mit nicht geringerer Ungeduld Sie erwartet als Ihr Vater: die schöne Mercedes. Ah, nun wundre ich mich nicht mehr, daß sie sich dreimal bei mir nach dem Pharao erkundigt hat. Potz Blitz! Sie sind nicht zu beklagen, Edmund. Sie haben eine bildhübsche Geliebte." "Sie ist nicht meine Geliebte, Herr Morrel," sagte der junge Mann ernst, "sie ist meine Verlobte." "Nun will ich Sie auch nicht länger aufhalten," fuhr Herr Morrel fort, "Sie haben meine Geschäfte so gut
besorgt, daß ich Ihnen nun reichlich Zeit für die Ihrigen gebe. Brauchen Sie Geld?" "Nein, ich danke, ich habe noch mein ganzes Gehalt." "Sie sind ein musterhafter Junge, Edmund. Doch, jetzt fällt mir ein, hat Ihnen Kapitän Leclère nicht einen Brief für mich gegeben?" "Es war ihm nicht möglich zu schreiben, Herr Morrel, aber Ihre Frage erinnert mich, daß ich Sie um einen Urlaub von einigen Tagen bitten wollte, ich muß nach Paris reisen." "Gut, gut, nehmen Sie sich soviel Zeit als Sie wollen. Zum Löschen des Schiffes brauchen wir sechs Wochen und vor drei Monaten gehen wir nicht wieder in See, doch in drei Monaten müssen Sie zurück sein, denn der Pharao," fuhr der Reeder fort, "könnte doch nicht ohne seinen Kapitän absegeln." "Ohne seinen Kapitän?" rief Dantes freudig erregt aus, "ist es wirklich Ihre Absicht, mich zum Kapitän zu ernennen?" "Wäre ich allein, so würde ich Ihnen die Hand reichen und sagen, es ist abgemacht, aber ich habe einen Kompagnon — und Sie kennen das italienische Sprichwort: Che ha compagno ha padrone. Wer einen Kompagnon hat, hat auch einen Herrn. Doch zur Hälfte ist die Sache abgeschlossen, denn von zwei Stimmen haben Sie bereits eine. Halten Sie sich nur an mich, ich werde mein Möglichstes tun!" "Oh, Herr Morrel," rief der junge Seemann mit Tränen in den Augen, die Hände des Reeders ergreifend, "ich danke Ihnen in meines Vaters und Mercedes Namen. Soll ich Sie an das Land zurückrudern?"
"Nein, ich danke, ich bleibe hier, um meine Abrechnung mit Danglars in Ordnung zu bringen. Sind Sie mit ihm während der Reise zufrieden gewesen?" "Das kommt auf den Sinn der Frage an, Herr Morrel. Wenn Sie eine gute Kameradschaft meinen, so glaube ich nein sagen zu müssen, denn ich glaube, er kann mich seit dem Tage nicht leiden, an dem ich die Dummheit beging, ihn eines kleinen Streites wegen zu fordern. Ich hatte unrecht, ihm diesen Vorschlag zu machen, und er hatte recht, denselben abzulehnen. Fragen Sie mich aber nach dem Rechnungsführer, so glaube ich, daß nichts an ihm auszusetzen ist und Ihre Geschäfte in guten Händen sind." "Aber würden Sie Danglars, wenn Sie Kapitän des Pharao wären, in Diensten behalten?" "Als Kapitän oder erster Offizier würde ich stets die Achtung vor denen haben, die das Vertrauen meiner Reeder besitzen." "Schön, schön, Dantes. Also auf Wiedersehn!" "Auf Wiedersehn, Herr Morrel, und tausend Dank!" Der junge Mann sprang in den Nachen und befahl an der Canebiere anzulegen. Der Reeder folgte ihm lächelnd mit den Augen bis an das Ufer, sah ihn auf die Steine des Kais springen und sich in die bunte Menge verlieren, die von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends die berühmte Straße der Canebiere erfüllt, auf welche die Marseiller so stolz sind, daß sie behaupten, wenn Paris die Canebiere hätte, so würde es ein kleines Marseille sein. Als er sich umwendete, erblickte der Reeder Danglars, der seine Befehle zu erwarten schien, aber in Wirklichkeit auch den jungen Mann mit seinen
Blicken verfolgte, nur mit dem Unterschiede, daß die seinigen haßerfüllt waren,
Vater und Sohn. Überlassen wir es Danglars, von dem Dämon des Hasses getrieben, dem Reeder irgendeinen boshaften Argwohn gegen seinen Kameraden ins Ohr zu flüstern, und folgen wir letzterem, welcher, nachdem er die Canebiérestraße in ihrer ganzen Länge durchschritten, in ein kleines auf der rechten Seite der Allee de Meillau gelegenes Haus eintritt, schnell die vier steilen dunklen Treppen ersteigt und, sich mit der einen Hand am Geländer haltend, die andere auf das hochklopfende Herz drückend, vor einer halbgeöffneten Türe stehen bleibt. In diesem Zimmer wohnt sein Vater. Die Nachricht von der Ankunft des Pharao war noch nicht bis zu dem Ohr des Greises gedrungen, welcher, gerade auf einem Stuhl stehend, sich damit beschäftigte, mit zitternder Hand Kapuzinerkresse und wilden Wein, die sich an seinem Fenster emporrankten, festzubinden. Plötzlich fühlte er sich umfaßt und eine wohlbekannte Stimme rief hinter ihm: "Mein Vater, mein lieber Vater!" Der Greis stieß einen Schrei aus, drehte sich um und fiel zitternd und bleich in die Arme seines Sohnes. "Was hast du, Vater?" rief der junge Mann besorgt, "du bist doch nicht krank?" "Nein, nein, mein lieber Edmund, mein Sohn, mein Kind, nein; aber ich erwartete dich nicht und die Freude, die Aufregung, dich so plötzlich zu sehen . . . ach, mein Gott, ich glaube, ich muß sterben!" "Aber erhole dich doch, mein Vater! Ich bin es,
ich bin's wirklich. Man sagt immer, die Freude könne nicht schaden und darum bin ich so unverhofft hier eingetreten. Siehe, ich komme zurück und wir werden nun recht glücklich sein." "Ah, desto besser, mein Junge," erwiderte der Greis, "aber wieso werden wir glücklich sein, wirst du mich nie mehr verlassen? Laß hören, erzähle mir dein Glück." "Der Herr mag mir vergeben," sagte der junge Mann, "daß ich mich über ein Glück freue, welches einer anderen Familie Trauer bringt. Aber Gott weiß, daß ich dieses Glück nie gewünscht hatte: Der brave Kapitän Leclère ist gestorben und durch Herrn Morrels Fürsprache werde ich wahrscheinlich seine Stelle bekommen. Begreifst du, Vater, mit zwanzig Jahren Kapitän, einem Gehalt von 100 Louisdor und außerdem einen Anteil am Gewinn? Ist das nicht mehr, als ein armer Matrose wie ich, es nur hoffen durfte?" "Ja, mein Sohn, ja, das ist in der Tat ein großes Glück," versetzte der Greis. "Von dem ersten Gehalt, das ich bekomme, werde ich dir ein Häuschen mit einem Garten kaufen, worin du deine Kapuzinerkresse und deinen wilden Wein pflanzen kannst. . . . Aber, lieber Vater, was ist dir denn schon wieder, du scheinst wirklich krank?" "Geduld, Geduld, es wird vorübergehen." Aber die Kräfte verließen schon wieder den Greis und er fiel um. "Schnell, schnell ein Glas Wein, das wird dich wieder stärken, mein Vater; wo bewahrst du deinen Wein auf?" "Ach, suche nicht, ich habe keinen Wein mehr."
"Wie, du hast kein Glas Wein im Hause," sagte erbleichend Dantes, indem er abwechselnd die hohlen Wangen des Greises und die leeren Schränke anschaute. "Ich hatte dir doch bei meiner Abreise 200 Franken gelassen?" "Ja, ja, Edmund, das ist wahr," sagte der Greis matt, "aber du hattest bei dem Nachbar Caderousse vergessen, eine kleine Schuld zu berichtigen. Er erinnerte mich daran, mit dem Bemerken, daß, wenn ich nicht für dich bezahle, er es sich von Herrn Morrel geben lassen würde. Du wirst nun begreifen, daß ich da lieber für dich bezahlte . . . ." "Aber ich war ihm ja 140 Franken schuldig, und da hast du während dreier Monate von 60 Franken gelebt?" "Du weißt, ich bedarf ja so wenig," sagte der Greis. "Oh, mein Gott, vergib mir," rief Edmund und warf sich dem alten Mann zu Füßen. "Ach was, du bist nun hier und alles ist gut." "Ja, ich bin hier," sagte der junge Mann, "mit der Aussicht auf eine schöne Zukunft und mit einigem Geld in der Tasche. Hier, Vater, nimm," und er warf einige Dutzend Goldstücke, fünf bis sechs Frankenstücke und eine Menge kleinerer Münzen auf den Tisch, Das Gesicht des alten Dantes erheiterte sich. "Wem gehört das?" fragte er, "Nun, mir! Dir . . . uns! Nimm es, kaufe Vorräte, sei glücklich, morgen gibt es mehr." "Sachte, sachte," sagte der Greis lächelnd; "mit deiner Erlaubnis werde ich nur bescheiden deine Börse in Anspruch nehmen. Wenn man mich auf einmal soviel Dinge kaufen sehen würde, so könnte man
glauben, daß ich nur auf dich mit meinen Einkäufen gewartet hätte." "Tue, wie du willst, aber vor allem schaffe eine Magd an, ich will nicht, daß du länger so allein bleibst. Ich habe Kaffee und ausgezeichneten Tabak geschmuggelt, du sollst dies morgen haben . . . aber pst! da kommt jemand." "Es wird Caderousse sein, welcher deine Ankunft erfahren und dich begrüßen will." "Gut, das ist auch einer, dessen Lippen anders sprechen als das Herz fühlt, aber gleichviel, er mag mir willkommen sein." In diesem Augenblick, wo Edmund mit leiser Stimme diesen Satz vollendete, erschien das dunkle, bärtige Gesicht Caderousses in der Türe, welcher etwa 35 Jahre alt und seines Standes ein Schneider war. "Ah, da bist du endlich zurückgekehrt, Edmund," sagte er in echt Marseiller Mundart und mit einem breiten Lächeln, welches seine weißen Zähne sehen ließ. "Wie Sie sehen, Nachbar Caderousse, und bin auch bereit, Ihnen gefällig zu sein," antwortete Dantes, seine Kälte unter dieser Höflichkeit verbergend. "Danke, danke, glücklicherweise brauche ich nichts, ja, zuweilen brauchen mich andere (Dantes machte eine Bewegung); ich sage das nicht für dich, mein Junge, ich habe dir Geld geliehen, du hast es mir zurückgegeben. Dies kommt unter guten Nachbarn vor und wir sind quitt," "Man ist niemals quitt gegen die, welche uns gefällig gewesen sind," sagte Dantes, "denn, wenn man ihnen auch kein Geld mehr schuldet, so schuldet man doch Dank."
"Wozu sprechen wir darüber, was geschehen ist, ist geschehen; sprechen wir von deiner glücklichen Rückkehr. Ich war an den Hafen gegangen, als ich Freund Danglars gewahrte und dieser mir erzählte, daß ihr gut angekommen seid. Sofort eilte ich hierher, um dir, wie einem guten Freunde, die Hand zu drücken." "Der gute Caderousse," sagte der Greis, "er hat uns so gern." "Es scheint, Junge, daß du reich zurückgekommen bist," fuhr der Schneider fort, indem er einen lüsternen Blick nach dem auf dem Tisch liegenden Gelde warf. "Du lieber Gott," sagte der junge Mann nachlässig, "dieses Geld gehört nicht mir, es gehört meinem Vater. Komm, Vater, tu das Geld wieder in deine Börse, wenn nicht etwa der Nachbar Caderousse Gebrauch davon machen möchte, in dem Falle stände es ihm zur Verfügung." "Nein, nein, mein Junge," sagte Caderousse, "ich brauche es nicht. Behalte das Geld, man hat davon nie zuviel. Nun erzähle, du stehst dich aufs beste mit Herrn Morrel, du Schlaukopf!" "Herr Morrel ist immer gut gegen mich gewesen und ich hoffe, auch sein Kapitän zu werden," antwortete Dantes. "Um so besser, um so besser, deine alten Freunde werden sich darüber freuen," sagte Caderousse, "und ich weiß jemanden da unten hinter der Zitadelle St. Nicolas, der auch nicht unzufrieden darüber sein wird." "Mercedes?" fragte der Greis, "Ja, Vater," entgegnete Dantes, "und wenn du nichts dagegen hast, mache ich nun den Kataloniern meinen Besuch."
"Geh, Kind," sagte der alte Dantes, "und Gott segne deine Frau, wie er mich in meinem Sohne gesegnet hat." "Seine Frau?" sagte Caderousse, "mir scheint, sie ist es noch lange nicht." "Nein," antwortete Edmund, "aber ich hoffe, daß sie es bald sein wird." "Na, na — du tust gut, dich zu beeilen." "Warum das?" "Weil Mercedes ein hübsches Mädchen ist und hübschen Mädchen es nicht an Liebhabern fehlt — ihr besonders laufen sie dutzendweise nach." "Wirklich?" sagte Edmund mit einem Lächeln, unter welchem sich eine leichte Unruhe verbarg. "Oh ja, und gute Partien sind darunter," entgegnete Caderousse, "aber du wirst Kapitän werden und man wird sich hüten, dich abzuweisen." "Das heißt also," entgegnete Dantes, "daß, wenn ich nicht Kapitän wäre . . ." "Nun, nun," sagte Caderousse. "Ach nein," sagte der junge Mann, "ich habe eine bessere Meinung von den Frauen im allgemeinen und von Mercedes im besonderen, und ich bin überzeugt, daß sie mir, mag ich Kapitän sein oder nicht, treu bleiben wird." "Desto besser, desto besser!" meinte Caderousse. "Es ist eine schöne Sache um die Vertrauensseligkeit. Laß gut sein, mein Junge, verliere keine Zeit, melde ihr deine Ankunft und teile ihr deine Hoffnungen mit." "Das will ich tun," sagte Edmund, er umarmte seinen Vater, grüßte Caderousse und eilte fort, Caderousse blieb noch einen Augenblick, nahm dann Abschied von dem alten Dantes, ging ebenfalls die
Treppe hinunter, um Danglars aufzusuchen, der ihn an der Ecke der Straße Senac erwartete, "Nun, hast du ihn gesehen," rief Danglars, "hat er dir von seiner Hoffnung, Kapitän zu werden, erzählt?" "Er spricht davon, als ob er es bereits wäre." "Geduld," sagte Danglars, "mir scheint, als hätte er es gar so eilig." "Der Tausend, es scheint doch, als sei ihm die Stelle von Herrn Morrel versprochen. Er ist sehr eingebildet, er hat mir schon seine Dienste angeboten, als wenn er ein großer Herr wäre," "Und ist er immer noch in die Katalonierin verliebt?" "Wie toll, er ist eben zu ihr gegangen, aber wenn ich mich nicht irre, wird es dort Verdrießlichkeiten geben," "Erkläre dich deutlicher." "Ich weiß nichts Bestimmtes, ich habe nur gesehen, daß Mercedes, so oft sie in die Stadt kommt, von einem großen katalonischen Schlingel, den sie Vetter nennt, begleitet wird." "Ei, wirklich, und du glaubst, daß dieser Vetter ihr den Hof macht?" "Ich vermute es: Was zum Teufel kann ein langer Bursche von 21 Jahren mit einem hübschen Mädel von 17 Jahren wohl anders machen," "Und du meinst, daß Dantes soeben zu den Kataloniern gegangen ist?" "Er ist kurz vor mir aus dem Hause gegangen." "Wie wäre es, wenn wir ihm auf demselben Wege folgten und im Garten der Reserve uns zu einem Glas Wein setzten,"
,,Ich bin dabei," sagte Caderousse, "wenn du es bezahlst." "Gewiß," versetzte Danglars, und beide begaben sich mit schnellen Schritten nach dem bezeichneten Orte und ließen sich Wein und Gläser bringen. Der Vater Pamphile hatte vor kaum zehn Minuten Dantes vorbei kommen sehen. Sicher, daß derselbe zu den Kataloniern gegangen war, setzten sich die beiden unter das sprießende Laub der Platanen, in deren Zweigen ein lustiges Vogelgezwitscher ertönte.
Die Katalonier. Hundert Schritt von der Stelle entfernt, wo die beiden Freunde, die Blicke nach dem Horizont richtend und eifrig lauschend den perlenden Lamalguewein tranken, erhob sich hinter einem nackten sonnigen Hügel die kleine Kolonie der Katalonier. Eines Tages wanderte eine geheimnisvolle Kolonie aus dem Mutterlande Spanien aus, um an dieser Erdzunge zu landen, wo sie sich noch heute befindet; man wußte nicht, woher sie kam, noch kannte man ihre Sprache. Einer der Anführer, welcher Provencalisch verstand, bat den Magistrat von Marseille, ihnen dieses nackte unfruchtbare Vorgebirge zu überlassen, auf welches sie schon ihre Fahrzeuge gezogen hatten. Die Bitte wurde gewährt und drei Monate später war von den zwölf bis fünfzehn Fahrzeugen, welches dieses Zigeunervölkchen mitgeführt hatte, ein kleines Dorf erbaut. Dieses malerische, halb maurisch, halb spanische Dorf wird noch heute von Nachkommen jener Männer, welche die Sprache ihrer Väter reden, bewohnt. Seit drei oder vier Jahrhunderten sind sie
ihrem Vorgebirge treu geblieben, ohne sich mit der Bevölkerung von Marseille zu vermischen; sie verheiraten sich nur unter sich und behielten Sitten, Trachten sowie die Sprache ihres Mutterlandes bei. Es ist nötig, daß unsere Leser uns durch die einzige Gasse dieses kleinen Dorfes folgen und mit uns in eine jener Hütten treten, denen die Sonne einen bräunlichen Anstrich verliehen hat. Ein schönes junges Mädchen, mit glänzendem schwarzen Haar und samtartigen Augen stand an eine Wand gelehnt und zerpflückte mit ihren zarten spitzgeformten Fingern eine unschuldige reine Blüte, deren einzelne Blätter schon den Boden bedeckten. Ihre bis zum Ellbogen entblößten, wohlgeformten bräunlichen Arme bebten in einer Art fieberhafter Ungeduld und sie stampfte mit ihrem zierlichen kleinen Fuß den Boden. Drei Schritt von ihr saß auf einem Stuhl ein großer etwa zwanzigjähriger Bursche und betrachtete sie mit einer begehrlichen aber mürrischen Miene. Seine Augen ruhten fragend auf ihr, aber der feste starre Blick des jungen Mädchens beherrschte ihn, "Nun, wie steht's, Mercedes?" sagte er endlich, "Ostern ist nahe, das ist doch die Zeit, wo man Hochzeit zu halten pflegt — antworte mir!" "Ich habe dir hundertmal auf diese Frage geantwortet, Ferdinand, und du mußt wirklich dein eigner Feind sein, daß du immer von neuem darauf zurückkommst." "Nun, wiederhole es noch einmal, ich bitte dich flehentlich darum, sage es mir zum hundertsten Male, daß du meine Liebe zurückweisest, die deine Mutter billigte. Mache es mir begreiflich, daß du mein Glück schmähst, daß mein Leben und mein Tod dir gleich
gültig sind." "Mein Gott, mein Gott, zehn Jahre lang habe ich davon geträumt, dein Gatte zu werden, Mercedes, und diese Hoffnung, welche der einzige Zweck meines Lebens war, soll ich nun auf immer verlieren." "Ich wenigstens bin es nicht gewesen, Ferdinand, die dich zu dieser Hoffnung ermutigt hat," antwortete Mercedes. "Du kannst mir in dieser Beziehung keine Vorwürfe machen, immer habe ich dir gesagt, ich liebe dich wie einen Bruder, verlange aber niemals etwas anderes von mir, denn mein Herz gehört einem anderen. Ist dieses nicht wahr, Ferdinand?" "Ja, ich weiß es wohl, Mercedes," antwortete der junge Mann, "du hast mir gegenüber stets das grausame Verdienst der Offenherzigkeit gehabt, du scheinst aber zu vergessen, daß bei den Kataloniern das heilige Gesetz besteht, sich nur untereinander zu heiraten." "Du irrst dich, Ferdinand, dies ist kein Gesetz, sondern nur eine Gewohnheit, weiter nichts. Berufe dich nicht auf dieselbe, du bist zur Aushebung vorgemerkt, du kannst jeden Augenblick als Soldat einberufen werden, was sollte dann aus mir werden, der armen verlassenen Waise, die als einzige Habe nur diese beinahe zerfallene Hütte besitzt, in welcher ein paar abgenutzte Netze hängen. Das einzige Erbteil, welches mir meine Eltern hinterlassen haben. Seit im vorigen Jahr die Mutter starb, lebe ich fast nur noch von der öffentlichen Wohltätigkeit. Zuweilen tust du, als wäre ich dir nützlich, um das Recht zu haben, den Ertrag deiner Fischerei mit mir zu teilen; ich nehme es an, Ferdinand, weil du mein Vetter bist, weil wir zusammen erzogen worden sind und besonders weil es dir Kummer machen würde, wenn ich es nicht an
"Mercedes! - - - -"
nähme. Aber ich fühle wohl, daß dieses ein Almosen ist." "Was tut das, Mercedes! Wenn du, so arm und verlassen du bist, mir besser gefällst als die Tochter des reichsten Reeders oder des stolzesten Bankiers von Marseille. Was haben wir einfachen Leute nötig? Eine rechtschaffene Frau, eine gute Wirtschafterin — und wo könnte ich etwas Besseres finden als bei dir." "Ferdinand," antwortete Mercedes, den Kopf schüttelnd, "man wird eine schlechte Wirtin und man kann nicht dafür stehen, eine rechtschaffene Frau zu bleiben, wenn man einen anderen als seinen Mann im Herzen trägt. Begnüge dich mit meiner Freundschaft, denn ich wiederhole es dir noch einmal, sie ist alles, was ich dir versprechen kann — und ich verspreche nur, was ich halten kann." "Ja, ich verstehe," entgegnete Ferdinand, "du erträgst geduldig deine eigene Armut, aber du fürchtest die meinige. Nun wohl, Mercedes, von dir geliebt, werde ich das Schicksal herausfordern. Du wirst mir Glück bringen und ich werde reich werden. Ich kann mein Fischergewerbe ausdehnen, ich kann als Kommis in ein Kontor treten, ja, ich kann sogar Kaufmann werden," "Du kannst von alledem nichts unternehmen, Ferdinand, du bist Soldat und wenn du noch unter uns weilst, so geschieht dies nur, weil jetzt kein Krieg geführt wird. Bleibe also Fischer und — begnüge dich mit meiner Freundschaft, da ich dir nichts anderes zu geben vermag." "Du bist hart und grausam, Mercedes, aber das ist, weil du einen anderen erwartest, doch der, den du
erwartest, ist vielleicht unbeständig, wie es das Meer ist." "Ferdinand," rief Mercedes aus, "ich hielt dich für gut, ich irrte mich aber, du hast ein böses Herz, daß du mit deiner Eifersucht den Zorn des Himmels herabrufst. Nun ja, ich gestehe es, ich erwarte ihn und liebe denjenigen, von dem du sprichst . . . und wenn er nicht wiederkehren sollte, werde ich, statt ihn der Unbeständigkeit zu beschuldigen, sagen, daß er, mich immer liebend, gestorben ist." Der junge Katalonier machte eine wütende Geberde. "Ich verstehe dich, Ferdinand, du willst ihn entgelten lassen, daß ich dich nicht liebe, du willst dein katalonisches Messer mit seinem Dolche kreuzen. Doch was würde dir das helfen? Du würdest meine Freundschaft verlieren, wenn du besiegt würdest, meine Freundschaft würde sich in Haß verwandeln, wenn du Sieger wärest. Glaube mir, mit einem Manne Streit suchen, ist ein schlechtes Mittel, der Frau zu gefallen, die diesen Mann liebt. Nein, Ferdinand, du kannst dich nicht von so bösen Gedanken beherrschen lassen. Da du mich nicht als Frau haben kannst, so begnüge dich, mich als Freundin und Schwester zu haben; übrigens," fügte sie mit umflortem tränenfeuchten Auge hinzu, "du hast gesagt, das Meer sei unbeständig. Schon vier Monate ist er fort und in diesen vier Monaten hat man viel Stürme tosen hören." Ferdinand blieb unempfindlich, er versuchte nicht die Tränen, die an Mercedes Wangen hinabliefen, zu trocknen — und doch hätte er für eine jede der Tränen einen Becher seines Blutes hingegeben, aber diese Tränen flössen ja für einen anderen. Er stand auf,
ging in der Hütte umher und blieb dann wieder mit düsteren Augen und geballten Fäusten vor Mercedes stehen. "Laß hören, Mercedes, einmal noch antworte mir, steht dein Entschluß fest?" "Ich liebe Edmund Dantes," sagte kalt das junge Mädchen, "und kein anderer als er wird mein Mann." "Und du wirst ihn immer lieben?" "Solange ich lebe!" "Aber wenn er dich verläßt?" In diesem Augenblick rief draußen vor der Tür eine freudige Stimme "Mercedes!" "Ah," rief das junge Mädchen, vor Freude errötend, aus, "du siehst, daß er mich nicht vergessen hat, da ist er l" und sie stürzte nach der Tür, riß sie auf mit den Worten: "Hier Edmund, hier Edmund, hier bin ich!" Ferdinand wich schaudernd und bleich zurück wie etwa ein Wanderer beim unverhofften Anblick einer Schlange und fiel auf seinen Stuhl nieder. Edmund und Mercedes lagen sich einander in den Armen. Die glühende Sonne Marseilles, welche durch die geöffnete Tür eindrang, umgab sie mit ihren leuchtenden Strahlen. Anfangs nahmen sie nichts wahr von dem, was sie umgab, ein unermeßliches Glück trennte sie von aller Welt, und man vernahm nur abgebrochene Worte, welche die Ausbrüche lebhafter Freude wie auch großen Schmerzes hervorrufen. Plötzlich erblickte Edmund das düstere Gesicht Ferdinands, welches bleich und drohend aus dem Schatten hervortrat; von einer inneren Bewegung getrieben, über die er sich selbst keine Rechenschaft
geben konnte, griff der junge Katalonier mit der Hand nach dem Messer, das in seinem Gürtel stak. "Oh, Verzeihung," sagte Dantes, der nun seinerseits die Stirne in Falten zog, "ich hatte nicht bemerkt, daß wir zu dreien sind." Sodann sich zu Mercedes wendend: "Wer ist der Herr?" "Dieser Herr wird dein bester Freund werden, Dantes, denn er ist mein Freund, mein Vetter, mein Bruder. Es ist Ferdinand, der Mann, den ich nach Dir, Edmund, am meisten auf der Welt liebe, erkennst du ihn nicht wieder?" "Doch", und ohne Mercedes loszulassen, reichte ihm Edmund eine seiner Hände hin, aber Ferdinand, weit entfernt davon, diese freundschaftliche Geste zu bemerken, blieb unbeweglich und stumm wie eine Statue sitzen. Da richtete Edmund einen fragenden Blick auf die zitternde Mercedes, und dieser einzige Blick sagte ihm alles. Der Zorn stieg ihm zu Kopf. "Ich glaubte nicht, einen Feind hier zu finden, als ich zu dir eilte, Mercedes," "Einen Feind?" rief Mercedes, mit einem zornigen Blick auf ihren Vetter aus, "einen Feind bei mir, sagst du, Edmund, wenn ich das glaube, würde ich dich beim Arm nehmen und mit Dir nach Marseille gehen, nie würde ich dieses Haus mehr betreten." Das Auge Ferdinands schleuderte einen Blick des Hasses den beiden zu. "Und wenn dir, mein teurer Edmund, ein Unglück zustoßen würde, so erstiege ich sofort das Cap Morgion, um mich kopfüber in das Meer zu stürzen." Ferdinand wurde totenbleich. "Aber du hast dich geirrt, Edmund," fuhr sie fort, "du hast keinen Feind hier, hier ist ja nur Ferdinand,
mein Bruder, welcher dir ganz wie einem ergebenen Freunde die Hand drücken wird." Bei diesen Worten heftete das junge Mädchen ihren gebieterischen Blick auf den Katalonier, in dessen Banne derselbe sich langsam Edmund näherte und ihm die Hand entgegenstreckte. Sein Haß brach sich ohnmächtig wie eine Woge an dem Einfluß, den diese Frau auf ihn ausübte. Kaum hatte er Edmunds Hand berührt, als er fühlte, daß er mehr getan hatte, als er tun konnte, und er stürzte aus dem Hause. "Oh," rief er, wie ein Wahnsinniger laufend, aus: "Wer wird mich von diesem Menschen befreien? Wehe mir, wehe mir!" "He! Katalonier, he! Ferdinand, wohin läufst du?" hörte er eine Stimme rufen. Der junge Mann blieb stehen, sah sich um und entdeckte in einer Laube Caderousse und Danglars. "Ei, warum kommst du nicht her, hast du es denn so eilig, daß du deinen Freunden nicht guten Morgen wünschen kannst, die dazu noch vor einer ziemlich vollen Flasche sitzen?" Ferdinand blickte die beiden Männer mit einer verdutzten Miene an und antwortete nicht, "Er scheint ganz verblüfft," sagte Danglars, Caderousse am Knie stoßend, "sollen wir uns getäuscht haben und Dantes doch noch triumphieren?" "Der Teufel!" sagte Caderousse, "wir müssen sehen", und sich nach dem jungen Mann hinwendend, fügte er hinzu: "Nun, Katalonier, wie steht's?" Ferdinand wischte sich den Schweiß ab, der von
seiner Stirne tropfte, und trat langsam unter die Laube, deren Schatten und Kühle seine Sinne etwas beruhigte, "Guten Tag," sagte er, "Ihr habt mich gerufen, nicht wahr?" und dabei fiel er mehr als er sich setzte auf einen der Stühle, die um den Tisch standen. "Ich rief dich, weil du wie ein Wahnsinniger liefst und weil ich Furcht hatte, du könntest dich in das Meer stürzen", sagte Caderousse lachend, "Zum Teufel! wenn man Freunde hat, bietet man ihnen nicht nur ein Glas Wein an, sondern man verhindert sie auch, drei oder vier Binden Wasser zu schlürfen," Ferdinand stieß einen tiefen Seufzer aus, der mehr einem Schluchzen glich, und ließ seinen Kopf auf seine zwei Fäuste sinken, die er kreuzweise auf den Tisch gelegt hatte. "Was hast du, Ferdinand?" sagte Caderousse mit seiner plumpen Offenheit, wie sie Leuten aus dem Volke eigen ist, "weißt du, du siehst aus wie ein abgewiesener Liebhaber." "Ach," meinte Danglars, "ein junger hübscher Mann wie dieser kann unmöglich in der Liebe unglücklich sein, du scherzest, Caderousse," "Durchaus nicht," antwortete dieser, "höre nur, wie er stöhnt." "Laß das, laß das, Ferdinand," sagte Caderousse, "den Kopf hoch und antworte uns. Es ist nicht liebenswürdig, Freunden, die sich nach deinem Ergehen erkundigen, nicht zu antworten." "Mein Befinden ist gut", sagte Ferdinand, mit dem Kopf immer noch auf dem Tische liegend, "Siehst du, Danglars," meinte Caderousse und machte ihm mit den Augen ein Zeichen, "so steht es!" — "Ferdinand, welcher ein guter und
du, fast möchte ich behaupten, zwei Liebende zu sehen, die fest aneinander geschmiegt daherwandeln. Gott vergebe mir! Sie ahnen nicht, daß wir sie sehen und küssen sich sogar!" Danglars verlor nicht einen Augenblick Ferdinand aus den Augen und sah, wie sich dessen Gesichtszüge bei dieser Wahrnehmung vollständig entstellten. "Kennen Sie die beiden, Herr Ferdinand?" "Ja," entgegnete dieser mit dumpfer Stimme, "es ist Herr Edmund und Fräulein Mercedes!" ,,Ah, sehen Sie," sagte Caderousse, "oho, Dantes, oho, schönes Mädchen, kommt doch näher und sagt uns, wann die Hochzeit sein wird, denn Freund Ferdinand ist eigensinnig und will es uns nicht mitteilen." "Willst du wohl schweigen," rief Danglars, sich stellend, als wolle er Caderousse zurückhalten, welcher sich mit dem Starrsinn des Trunkenen aus der Laube bog, "versuche, gerade zu sitzen und laß die Liebenden in Ruhe. Sieh Ferdinand an und nimm dir ein Beispiel an ihm, er ist vernünftig." Vielleicht hätte sich Ferdinand, getrieben von den spitzen Reden Danglars, wie ein Stierkämpfer auf seinen Rivalen gestürzt, wäre nicht Mercedes mit ihrem ruhigen strahlenden Blick neben ihm gewesen; da erinnerte sich Ferdinand ihrer Drohung, sich zu töten, wenn Edmund ein Leid geschähe, und er fiel ganz entmutigt in seinen Stuhl zurück. Danglars beobachtete abwechselnd die beiden Männer: der eine war durch die Trunkenheit abgestumpft, der andere durch die Liebe beherrscht, "Aus diesen Dummköpfen werde ich keinen Vorteil ziehen," murmelte er, "denn der eine berauscht sich
an Wein statt an Galle, der andere begnügt sich zu weinen wie ein Kind und überläßt dem Rivalen die Geliebte, entschieden wird Edmund siegen, er wird das Mädchen heiraten, wird Kapitän werden und uns auslachen, wenn ich mich nicht (ein häßliches Lächeln zog über Danglars Lippen), wenn ich mich nicht ins Mittel lege." "Holla," fuhr Caderousse fort, halb aufgestanden, die Fäuste auf den Tisch gestützt, "siehst du denn deine Freunde nicht, oder bist du etwa zu stolz, mit ihnen zu sprechen?" "Nein, mein lieber Caderousse," antwortete Dantes, "ich bin nicht stolz, aber ich bin glücklich und das Glück macht blind, ich glaube noch blinder, als es der Stolz tut." "Bravo, das ist eine Erklärung, die lasse ich mir gefallen," sagte Caderousse. "Guten Tag, Frau Dantes!" Ernst grüßend erwiderte Mercedes: "Das ist noch nicht mein Name und bei uns sagt man, bringt es Unglück, wenn ein Mädchen mit dem Namen ihres Bräutigams angeredet wird, nennen Sie mich also Mercedes!" "Die Hochzeit wird also in aller Kürze stattfinden, Herr Dantes?" sagte Danglars, die beiden jungen Leute begrüßend, "So bald wie möglich, Herr Danglars, heute schon liegen die Heiratsverträge meinem Vater vor und morgen oder spätestens übermorgen findet der Verlobungsschmaus hier in der Reserve statt. Hoffentlich werden die Freunde unser Fest verherrlichen helfen. Sie sind eingeladen, Herr Danglars, und auch du, Caderousse."
"Na, und Ferdinand?" sagte Caderousse mit boshaftem Lächeln, "Ferdinand ist auch dabei?" "Der Bruder meiner Frau ist auch mein Bruder und wir, Mercedes und ich, würden aufs tiefste bedauern, wenn er sich in einem solchen Augenblick von uns fern hielte," Ferdinand öffnete den Mund, um zu antworten, aber die Stimme erstarb ihm in der Kehle und er konnte kein Wort hervorbringen. ". . . Heute der Kontrakt, morgen oder übermorgen der Verlobungsschmaus . . . Teufel! Sie haben es eilig, Kapitän." "Danglars," entgegnete Edmund lächelnd, "ich muß Sie bitten, mir nicht einen Titel zu geben, der mir noch nicht zukommt, das könnte mir nur Unglück bringen." "Verzeihung," entgegnete Danglars, "wir haben ja damit Zeit, der Pharao geht vor drei Monaten nicht in See." "Man hat immer Eile, um glücklich zu werden, Herr Danglars, zumal wenn man solange an seinem Glück gezweifelt hat, aber der Egoismus ist es diesmal nicht allein, der mich treibt, sondern eine schnelle Reise nach Paris." "Ah, wirklich, nach Paris — und es ist das erste Mal, daß Sie dorthin reisen, Dantes, haben Sie Geschäfte dort?" "Keine eigenen, sondern ich muß einen Auftrag unseres armen Leclère erfüllen. Sie begreifen, Danglars, daß mir derselbe heilig ist. Übrigens werde ich schnellstens wieder zurück sein." "Ja, ja, ich begreife," sagte laut Danglars, indem er leise hinzufügte: "nach Paris, um ohne Zweifel den
Brief, den ihm der Oberhofmarschall übergeben hat, an seine Adresse abzuliefern. Wahrlich, dieser Brief bringt mich auf eine ausgezeichnete Idee. Haha, Freund Dantes! Du stehst noch nicht im Register des Pharao unter Nummer 1." Dann rief er dem sich bereits entfernenden Edmund nach: "Glückliche Reise!" "Danke!" antwortete Edmund, sich umwendend und mit der Hand grüßend. Sodann setzten die beiden Liebenden freudig und glückstrahlend ihren Weg fort.
Das Verbrechen. Danglars verfolgte Edmund und Mercedes mit den Augen, bis sie an einer Ecke des Forts St. Nicolas verschwunden waren. Als er sich wieder dem Tisch zuwendete, bemerkte er Ferdinand, der bleich und zitternd auf den Stuhl zurückgefallen war, während Caderousse die Strophe eines Trinkliedes summte. "Nun, mein lieber Herr," sagte Danglars, "das ist eine Heirat, die nicht das Glück eines jeden auszumachen scheint?" "Sie bringt mich in Verzweiflung," sagte Ferdinand. "Also Sie lieben Mercedes wirklich?" "Seit wir uns kennen, ich habe sie immer geliebt!" "Und Sie sitzen hier, reißen sich die Haare aus, anstatt ein Hilfsmittel zu suchen. Teufel noch einmal! Ich glaubte nicht, daß ein Katalonier so handeln könnte." "Aber was kann ich tun?" fragte Ferdinand. "Was weiß ich, geht mich das etwas an? Ich bin nicht der Anbeter von Fräulein Mercedes, wollte ich
meinen, sondern Sie. 'Suchet, so werdet Ihr finden', steht im Evangelium." "Oh, ich hatte es schon gefunden, ich wollte den Mann erdolchen, aber die Frau sagte mir, wenn ihrem Verlobten irgendein Unglück begegnet, würde sie sich umbringen," "So ein Dummkopf!" murmelte Danglars, "mag sie sich umbringen oder nicht, vorausgesetzt, daß Dantes nicht Kapitän wird." "Und ehe Mercedes sich etwas antut," fuhr Ferdinand in fest entschlossenem Tone fort, "möchte ich lieber selbst sterben." "Das heißt Liebe!" sagte Caderousse mit immer schwererer Zunge, "oder ich kenne mich darin nicht aus." "Sie scheinen mir ein wackrer Bursche," sagte Danglars, "und — hol mich der Teufel! Ich möchte Ihnen helfen; aber . . . " "Ja, ja, laß hören!" entgegnete Caderousse. "Mein Lieber, du bist dreiviertel betrunken," erwiderte Danglars. "trinke weiter und mische dich nicht in unser Gespräch." "Was wollen Sie sagen, mein Herr?" versetzte Ferdinand, begierig, die Fortsetzung des unterbrochenen Satzes zu hören, "Was sagte ich? Ich erinnere mich nicht mehr. Wegen dieses Trunkenboldes von Caderousse habe ich den Faden meiner Gedanken verloren." "Trunkenbold? Meinetwegen. Die den Wein fürchten, haben schlimme Gedanken," meinte Caderousse, indem er die letzte Strophe eines damals beliebten Trinkliedes lallte:
"Alle Bösen trinken Wasser, das beweist die Sündflut schon." "Sie sagten, mein Herr," nahm Ferdinand das Gespräch wieder auf, "ich möchte Ihnen helfen, aber . . ." "Ja, aber . . . fügte ich hinzu. Um Ihre Pein zu lindern, ist es nötig, daß Dantes diejenige, die Sie lieben, nicht heiratet, und das kann geschehen, ohne daß Dantes sterben muß." "Der Tod allein wird sie trennen," meinte Ferdinand. "Sie urteilen wie ein unerfahrener Jüngling, mein Freund," mischte sich Caderousse wieder ins Gespräch, "aber Danglars, das ist ein Schlaukopf, der wird Ihnen beweisen, daß Sie im Unrecht sind. Sage ihm, Danglars, daß Dantes nicht zu sterben braucht, es würde mir leid tun, er ist ein guter Junge, Du sollst leben, Dantes, du sollst leben!" Ferdinand erhob sich ungeduldig. "Lassen Sie ihn schwatzen," sagte Danglars, "so betrunken er auch ist, so ist er nicht weit von der Wahrheit entfernt. Die Trennung bewirkt ebenso viel wie der Tod — und stellen Sie sich vor, wenn zwischen Edmund und Mercedes Gefängnismauern ständen, so würden sie nicht mehr und nicht weniger getrennt sein als durch das Grab." "Ja, aus dem Gefängnis kommt man zurück," fügte Caderousse mit dem letzten Rest seines Verstandes wieder ein, "und wenn man wieder herausgekommen ist und Edmund Dantes heißt, so rächt man sich." "Meinetwegen!" murmelte Ferdinand, "Übrigens, aus welchem Grunde könnte man Dantes ins Gefängnis bringen, er hat weder gestohlen noch ermordet."
"Schweig still!" versetzte Danglars. "Nein, ich will nicht stillschweigen," sagte Cade rousse, "ich will wissen, warum man Dantes ins Ge fängnis stecken will, ich habe Dantes gern, Prosit! Dantes!" und mit einem Zuge leerte er sein Glas, Danglars verfolgte in den verschwommenen Augen des Schneiders die Fortschritte der Trunkenheit und sich an Ferdinand wendend, bemerkte er: "Begreifen Sie nun endlich, daß ein Mord nicht nötig ist?" "Nein, sicherlich, wenn Sie ein anderes Mittel hätten, Dantes festnehmen zu lassen, aber haben Sie auch ein Mittel?" "Wenn man eifrig sucht," sagte Danglars, "könnte man eins finden, aber warum soll ich mich damit befassen, was geht's mich an!" "Ich weiß nicht, inwiefern es Sie berührt," meinte Ferdinand, ihn am Arm fassend, "aber was ich weiß, das ist, daß Sie irgendeinen besonderen Haß gegen Dantes haben: Derjenige, welcher selbst haßt, täuscht sich nicht in den Gefühlen anderer." "Auf mein Wort! Ich habe keinen Grund, Dantes zu hassen. Ich habe gesehen, wie unglücklich Sie waren und ich wollte Ihnen helfen. Sobald Sie aber glauben, daß ich um eigenen Gewinn handeln will, dann adieu, lieber Freund, ziehen Sie sich aus der Affäre, wie Sie wollen." Danglars stellte sich, als wollte er weggehen. "Nein, nein," rief Ferdinand, ihn zurückhaltend, "bleiben Sie! Mir ist es gleichgültig, ob Sie Dantes grollen oder nicht; ich zürne ihm und gestehe es laut. Finden Sie ein Mittel, ich führe es aus, vorausgesetzt,
daß nicht sein Tod damit verbunden ist, denn Mercedes würde sich sicher töten, wenn Dantes umkäme." Caderousse, dessen Kopf auf der Tischplatte ruhte, erhob denselben, und Ferdinand und Danglars mit seinen verglasten Augen anblickend, lallte er: "Dantes umbringen! Wer spricht hier, Dantes umzubringen? Ich will nicht, daß man ihn tötet, er ist mein Freund." "Wer spricht denn davon, Dummkopf," entgegnete Danglars, "es handelt sich um einen einfachen Scherz; trinke auf sein Wohl und lasse uns ungeschoren!" "Aber das Mittel, das Mittel," sagte Ferdinand, "Sie haben doch darüber nachdenken wollen." "Jawohl," erwiderte Danglars, "die Franzosen sind darin den Spaniern überlegen, diese überlegen und die Franzosen erfinden," "Erfinden Sie also!" sagte Ferdinand mit Ungeduld. "Kellner! Feder, Tinte und Papier." "Wenn man bedenkt," sagte Caderousse, seine Hand auf das Papier legend, "daß man mit diesem einen Menschen sicherer umbringen kann, als wenn man ihn in einem Gehölz auflauert. Ich habe immer mehr Furcht vor einer Feder, einer Flasche Tinte und einem Blatt Papier als vor einem Degen oder einer Pistole gehabt." "Dieser Kauz ist doch noch nicht so betrunken als man denkt," sagte Danglars, "schenken Sie ihm noch ein. Ferdinand!" Ferdinand füllte Caderousses Glas von neuem. Dieser erfaßte es und trank es wieder aus und setzte es oder ließ es vielmehr auf den Tisch zurückfallen. "Nun . . .", sagte der Katalonier, als er sah, daß Caderousse wieder in diesen Dämmerzustand versetzt worden war.
"Nun," erwiderte Danglars, "ich sage, wenn man z. B. Dantes als bonapartistischen Agent denunzieren würde?" "Oh, ich denunziere ihn gleich," rief lebhaft der junge Mann. "Ja, jawohl," sagte Danglars, "aber alsdann müssen Sie Ihre Erklärungen unterzeichnen. Die werden mit demjenigen, den Sie angezeigt haben, konfrontiert. Ich schaffe Ihnen wohl die Beweise dafür; aber Dantes wird nicht immer im Gefängnis bleiben, eines Tages wird er freigelassen und dann wehe dem, der ihn hineinbrachte. Nein, nein, wenn man sich zu so etwas entschlösse, so wäre es besser, einfach die Feder einzutauchen und mit der linken Hand, wie ich es jetzt tue, damit die Schrift unkenntlich wird, etwa Folgendes zu schreiben: "Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religion benachrichtigt, daß Edmund Dantes, der Steuermann des Schiffes Pharao, heute morgen in Marseille angelangt ist und auf seiner Fahrt auch die Insel Elba berührte, von Murat ein Schreiben an den Usurpator und von diesem ein Schreiben an das bonapartistische Komitee in Paris empfangen hat. Der Beweis dieser Anklage muß sich bei seiner Verhaftung ergeben, denn man wird den Brief bei ihm, bei seinem Vater oder in der Kabine des Pharao finden." "So, mein Freund," fuhr Danglars fort, "so ist der Racheakt vernünftig. Denn auf diese Art können Sie nicht in Verdacht kommen und die Dinge werden ihren Lauf nehmen. Nun bleibt nur noch übrig, den Brief zu falten und zu adressieren: "An den Herrn Prokurator des Königs!" Damit ist es fertig."
"Jawohl, damit ist es fertig," rief Caderousse aus, der mit letzter Anstrengung seines Verstandes der Verhandlung gefolgt war und instinktmäßig begriff, daß eine solche Anklage ein großes Unglück nach sich ziehen konnte, "Jawohl, damit ist es fertig. Allein es wäre eine große Gemeinheit." Mit diesen Worten streckte er die Hand aus, um den Brief an sich zu nehmen, Danglars aber sagte, das Papier zurückschiebend: "Was ich sage und tue, geschieht doch nur im Scherz, und ich wäre der erste, der es sehr beklagen würde, wenn Dantes etwas Schlimmes begegnete. Darum sieh her . . ." er nahm den Brief, zerknüllte ihn und warf ihn in eine Ecke der Laube. "Bravo," sagte Caderousse, "Dantes ist mein Freund und ich will nicht, daß man ihm etwas zu Leide tut." "Ei, wer zum Teufel hat denn daran gedacht, weder Ferdinand noch ich," sagte Danglars, den jungen Mann anblickend, welcher sitzengeblieben war und das verräterische Papier mit gierigen Blicken betrachtete, "Also Wein her," rief Caderousse, "ich will auf die Gesundheit Edmunds und der schönen Mercedes trinken." "Du hast schon genug intus, du Trunkenbold," sagte Danglars, "du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten, gib mir deinen Arm und laß uns gehen." "Gut, gehen wir!" rief Caderousse, "kommst du mit, Ferdinand?" "Nein," entgegnete Ferdinand, "ich gehe zu den Kataloniern zurück." Als sie sich einige Schritte entfernt hatten, drehte sich Danglars um und sah, wie Ferdinand das Papier aufnahm, es in seine Tasche steckte und sodann den Weg nach dem Tore Pillon einschlug.
Der Verlobungsschmaus. ; Am folgenden Tage war das Wetter prächtig. Die Sonne ging klar und glänzend auf und ihre ersten purpurroten Strahlen übergössen rubinenrot die schaumigen Spitzen der Meereswellen, Im ersten Stockwerk des Hauses mit der Laube, die wir bereits kennengelernt haben, war das Verlobungsmahl hergerichtet worden. Es war ein großer Saal, der von fünf oder sechs Fenstern erhellt wurde, über deren jedes der Name einer der großen Städte Frankreichs prangte, und unter welchen eine aus Holz geschnitzte Galerie hinlief, wo die Tafel gedeckt war. Obgleich das Essen erst um 12 Uhr bestellt war, füllte bereits um 11 Uhr eine Menge den Saal, u.a. die Matrosen des Pharao, die, um das Brautpaar zu ehren, alle ihre Festkleider angelegt hatten. Das Gerücht, daß der Reeder des Pharao unter den Gästen anwesend sein würde, wurde vielfach besprochen, und in Wirklichkeit erschien bald darauf Herr Morrel im Saal und wurde von den Matrosen mit lautem Hurra begrüßt. Seine Anwesenheit war für diese die Bestätigung der Ernennung Dantes zum Kapitän. Danglars und Caderousse wurden nun aufgefordert, das Brautpaar abzuholen, doch in demselben Augenblicke sahen sie den Zug näherkommen. Er bestand aus dem Brautpaar, dem Vater Edmunds, Freundinnen der Braut, Katalonierinnen wie sie, und Ferdinand, der mit boshaftem Lächeln den Zug schloß. Herr Morrel ging ihnen entgegen, gefolgt von den Matrosen und Soldaten, um der Braut den Arm zu reichen und sie in den Festsaal zu führen.
An der Mitte der Tafel stehenbleibend, sagte Mercedes zum Vater Edmunds: "Ich bitte dich, setze dich zu meiner Rechten, an meiner linken Seite möchte ich den haben, der mir bis jetzt immer ein treuer Bruder gewesen ist." Wie ein Dolchstoß drangen diese Worte Ferdinand ins Herz und unter der braunen Farbe seines männlichen Gesichts sah man das Blut zurückweichen. Ihnen gegenüber hatte der Bräutigam, Herr Morrel und Danglars sowie Caderousse Platz genommen. Schon machten die geräucherten Würste von Arles, Seekrebse, die in pikantem Teig gebackenen eßbaren Muscheln, die dem Feinschmecker des Südens die Austern des Nordens ersetzen, und alle die Leckerbissen die Runde, welche von den Wellen auf das sandige Ufer gewälzt und von den dankbaren Fischern die Früchte des Meeres genannt werden, "Welche schöne Stille," sagte Dantes Vater, ein Glas Wein, gelb wie der Topas, schlürfend, "kann man meinen, daß hier dreißig fröhliche Menschen versammelt sind?" "Ei nun, ein Ehemann ist nicht immer heiter", meinte Caderousse. "Tatsache ist," sagte Dantes, "daß ich zu glücklich bin, um lustig sein zu können. Wenn Sie es so verstehen, Nachbar, dann haben Sie recht. Die Freude hat manchmal eine seltsame Wirkung, sie beengt, wie es der Schmerz tut. Mir scheint, daß der Mensch nicht gemacht ist, um leicht glücklich zu werden, man muß kämpfen, um es zu gewinnen. Ich begreife nicht, womit ich das Glück verdient habe, der Gatte von Mercedes zu werden." "Der Gatte, Gatte," meinte Caderousse lachend,
"noch nicht, mein Kapitän, versuche es, gleich bei Mercedes den Gatten zu spielen, du wirst schön ankommen." Ferdinand saß wie auf Nadeln, er rückte unruhig hin und her und wischte sich von Zeit zu Zeit große Schweißtropfen ab, die von seiner Stirn perlten. "Meiner Treu!" sagte Dantes, "Nachbar Caderousse, quäle mich doch nicht so, jetzt ist Mercedes noch nicht meine Frau, aber in anderthalb Stunden." Alle Gäste, mit Ausnahme des alten Dantes, ließen Rufe des Erstaunens hören und Ferdinand griff unwillkürlich nach dem Heft seines Messers. "In anderthalb Stunden," sagte Danglars erbleichend, "und wieso so schnell?" "Jawohl, meine Freunde," antwortete Dantes, "dank dem Zutun des Herrn Morrel, dem Menschen, dem ich nach meinem Vater am meisten auf der Welt zu verdanken habe, sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Um 230 Uhr wird uns der Bürgermeister von Marseille im Rathaus erwarten und Mercedes wird Frau Dantes heißen." Ferdinand schloß die Augen, sein Gesicht wurde wie von einer feurigen Wolke gestreift und trotz aller Anstrengung konnte er ein dumpfes Stöhnen nicht unterdrücken, welches sich in dem Geräusch des Gelächters und des Glückwünschens verlor, "Das heißt schnell handeln, wie?" sagte der alte Dantes, "gestern angekommen, heute geheiratet!" "Aber alle anderen Formalitäten," wandte Danglars schüchtern ein, "die Verträge?" "Der Kontrakt?" sagte Dantes lachend, "der Kontrakt bedarf nicht vieler Schreiberei. Mercedes hat
nichts und ich habe nichts, das macht keine großen Kosten . . ." Dieser Scherz erregte neue Ausdrücke der Freude und Bravorufe. "So ist dieser Verlobungsschmaus ganz einfach ein Hochzeitsschmaus?" bemerkte Danglars. "Nein, nein, Ihr sollt nichts verlieren," sagte Dantes, "morgen reise ich nach Paris und am 2. März lade ich Euch zu dem wirklichen Hochzeitsmahl ein." Diese Aussicht auf ein neues Fest verdoppelte die Heiterkeit der Gäste, so daß Vater Dantes, der sich anfangs über das Schweigen beklagte, Mühe hatte, inmitten dieser lebhaften Unterhaltung seinen Toast auf das Brautpaar auszubringen. Dantes erriet die Absicht seines Vaters und erwiderte sie mit liebevollem Lächeln. Mercedes, die schon mehrmals nach der im Saal befindlichen Kuckuksuhr geblickt hatte, gab Edmund ein Zeichen. An der Tafel herrschte ungebundene Freude und persönliche Freiheit, die bei einfacheren Leuten am Ende eines jeden Festes einzutreten pflegt. Man hatte größtenteils die Plätze verlassen und stand oder bewegte sich im Saale herum. Die Blässe Ferdinands schien auch auf Danglars Wangen übergegangen zu sein Ferdinand selbst kam sich wie ein Verdammter im Fegefeuer vor. Er ging im Saale umher und versuchte, sein Ohr von dem Klange der Lieder und dem der Gläser loszureißen. Caderousse näherte sich ihm in dem Moment, wo Danglars, den er zu fliehen schien, ihn in einer Ecke des Saales aufsuchte. "Wirklich," sagte Caderousse, dem das freundschaftliche Benehmen Dantes und besonders der gute
"Edmund Dantes, ich verhafte Sie . . . ."
Wein des Vater Pamphile den letzten Groll gegen den jungen Seemann fortgeschwemmt hatte, "wirklich, Dantes ist ein guter Junge, und wenn ich ihn neben seiner Braut sitzen sehe, so sage ich mir, wie schade es gewesen wäre, ihm den bösen Streich zu spielen." "Du hast ja gesehen," sagte Danglars, "daß die Sache keine Folgen hat. Dieser arme Ferdinand schien anfangs so verstört, daß er mir leid tat, aber von dem Augenblick an, wo er sich entschloß, Brautführer zu sein, hat es nichts mehr zu sagen." Caderousse blickte nach Ferdinand hin, der totenbleich aussah. "Das Opfer ist um so größer," fuhr Danglars fort, "als das Mädchen wirklich schön ist, ich möchte nur zwölf Stunden Dantes heißen." "Gehen wir nun?" ließ sich die sanfte Stimme Mercedes hören. "Jawohl, gehen wir!" sagte Dantes, indem er schnell aufstand. "Gehen wir, gehen wir!" wiederholte das Korps der Gäste. In demselben Augenblick sah Danglars, welcher Ferdinand nicht aus den Augen ließ, wie derselbe mit einer krampfhaften Bewegung von seinem Fenstersitz aufsprang, und fast zu gleicher Zeit erschallte von der Treppe her der Widerhall schwerer Tritte. Der verworrene Lärm von Stimmen, vermischt mit Waffengeklirr, übertönte plötzlich die laute Unterhaltung der Gäste und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, die sich nun durch ängstliches Stillschweigen kundgab. Das Geräusch näherte sich und drei harte Schläge hallten gegen die Türe. "Im Namen des Gesetzes!" rief eine dröhnende Stimme, der aber niemand antwortete. Sogleich
öffnete sich die Tür und ein mit einer Schärpe umgürteter Kommissar, dem vier bewaffnete Soldaten, von einem Korporal angeführt, folgten, trat in den Saal. Die Unruhe machte dem Entsetzen Platz. "Was gibt's?" fragte der Reeder, dem Kommissar, den er kannte, entgegenschreitend, "hier findet sicher eine Verwechslung statt!" "Wenn eine Verwechslung vorliegt, Herr Morrel," antwortete der Kommissar, "so glauben Sie mir, daß diese schnell aufgeklärt werden wird, inzwischen bin ich Überbringer eines Haftbefehls und muß meinen Auftrag, wenn auch ungern, vollziehen. Welcher von den Herren ist Herr Dantes?" Alle Blicke richteten sich auf den jungen Mann, welcher sehr erregt, aber in seiner ganzen Würde hervortrat, "Ich bin es, mein Herr, was wünschen Sie von mir?" "Edmund Dantes, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!" entgegnete der Kommissar. "Sie verhaften mich," sagte Edmund mit leichter Blässe, "aber warum?" "Ich weiß nicht, mein Herr. Ihr erstes Verhör wird Sie darüber aufklären," Herr Morrel sah ein, daß gegen die unbeugsame Macht der augenblicklichen Lage nichts zu tun sei: Ein Kommissar, umgürtet mit seiner Schärpe, ist kein Mensch mehr, er ist die Statue des Gesetzes — kalt, taub und stumm. Der Greis hingegen stürzte sich auf den Offizier zu; es gibt eben Dinge, welche das Herz eines Vaters oder einer Mutter nie werden begreifen können.
Er bat und flehte, doch Tränen und Bitten vermochten nichts. Jedoch seine Verzweiflung war so groß, daß der Kommissar etwas gerührt wurde. "Beruhigen Sie sich doch, mein Herr," sagte er, "Ihr Sohn hat vielleicht irgendeine Formalität bei den Zoll- oder Sanitätsvorschriften vernachlässigt und wenn man die gewünschte Auskunft von ihm erhalten hat, wird er wieder in Freiheit gesetzt werden." "Was soll denn das bedeuten?" fragte Caderousse, die Augenbrauen zusammenziehend, Danglars, welcher den Erstaunten spielte, "Weiß ich's," erwiderte er, "mir geht es wie dir. Ich sehe, was sich zuträgt, aber begreife nichts davon." Caderousse suchte mit den Augen Ferdinand, doch dieser war verschwunden, und nun kam ihm die ganze Szene vom vorigen Abend in schrecklicher Klarheit wieder zurück. Die Katastrophe zog gleichsam den Schleier fort, mit dem die Trunkenheit sein Gedächtnis umgeben hatte. "Oh, oh, soll das etwa der Scherz sein, von dem du gestern sprachst, Danglars? In diesem Falle wehe dem, der ihn gemacht hat, denn er ist sehr bedauernswürdig." "Durchaus nicht," rief Danglars aus, "im Gegenteil, du weißt wohl, daß ich das Papier zerrissen habe." "Du hast es nicht zerrissen," sagte Caderousse, "du hast es zerknittert und in eine Ecke geworfen." "Schweig still! Du hast nichts gesehen, du warst betrunken." "Wo ist Ferdinand?" fragte Caderousse. "Weiß ich's,"sagte Danglars, "wahrscheinlich seinen Geschäften nachgegangen. Aber statt uns hierbei auf
zuhalten, wollen wir doch lieber diesen armen Betrübten zu Hilfe eilen." Inzwischen hatte Dantes Mercedes auf die Stirn geküßt, seinen Freunden die Hand gedrückt und sich mit den Worten als Gefangener gestellt: "Seid ruhig, der Irrtum muß sich aufklären, ja, wahrscheinlich werde ich nicht einmal bis nach dem Gefängnis kommen." "Sicherlich nicht, dafür stehe ich!" sagte Danglars, welcher sich in diesem Augenblick genähert hatte. Dantes ging, umgeben von den Soldaten, die Treppe hinunter. Ein Wagen, dessen Tür geöffnet war, wartete vor dem Hause. Dantes stieg ein, die Tür wurde geschlossen und der Wagen fuhr Marseille zu. "Adieu, Edmund, adieu!" rief Mercedes nochmal hinaus. Der Gefangene hörte diesen Schrei, der wie ein Schluchzen aus zerrissenem Herzen drang, er bog sich aus dem Wagenfenster und rief: "Auf Wiedersehen, Mercedes!" und der Wagen verschwand um die Ecke des Forts St. Nicolas. "Warten Sie alle hier auf mich," sagte der Reeder, "ich nehme den ersten Wagen, den ich treffe und eile nach Marseille, von dort bringe ich Ihnen Nachricht." "Gehen Sie, gehen Sie!" riefen alle Stimmen, "und kommen Sie schnell zurück." Nach dem Fortgang der beiden herrschte eine schreckliche Betäubung unter denen, die zurückgeblieben waren. Der Greis und Mercedes überließen sich einige Zeit ganz ihrem Schmerze, aber endlich begegneten sich ihre Augen, sie sahen sich wie zwei gleichgetroffene Opfer an und fielen einander in die Arme.
Unterdessen war Ferdinand wieder in den Saal getreten, er schenkte sich ein Glas Wasser ein, das er mit einem Zuge leerte und setzte sich auf einen Stuhl, der sich in der Nähe von Mercedes und des Greises befand. Als ihm dieses zum Bewußtsein kam, rückte er weg. ,,Er ist es gewesen," sagte Caderousse zu Danglars. "Ich glaube es nicht," antwortete dieser, "er war zu bestürzt. Auf jeden Fall fällt der Hieb auf den zurück, der ihn ausgeteilt hat." "Vergiß nicht denjenigen, der ihm den Rat dazu erteilt hat," versetzte Caderousse, "Meiner Treu!" meinte Danglars, "wenn man für alles verantwortlich sein sollte, was man so in den Wind hineinredet." "Jawohl," meinte Caderousse, "wenn das, was man in den Wind hineinredet, auf den beabsichtigten Punkt zurückfällt" Unterdessen besprachen die Gäste die Verhaftung Dantes verschiedentlich. "Und Sie, Danglars, was meinen Sie darüber?", fragte eine Stimme, "Ich glaube, daß er einige Ballen verbotener Ware eingeschmuggelt haben wird." "Wenn dies der Fall wäre, müßten Sie als Rechnungsführer doch das wissen." "Oh, ich erinnere mich," fiel der arme Vater ein, sich an diese Vermutung festklammernd, "daß er mir gestern sagte, er hätte Kaffee und Tabak für mich mitgebracht." "Seht, das wird's sein," bemerkte Danglars; "die Zollbeamten werden in unserer Abwesenheit an Bord
des Pharao gewesen sein und diesen Rosentopf entdeckt haben." Mercedes glaubte an all'das nicht. Ihr bis zu diesem Augenblick unterdrückter Schmerz machte sich in lautem Schluchzen Luft, "Habe Mut, habe Mut", sagte der alte Dantes, ohne eigentlich zu wissen, was er sprach. "Hoffnung!", versuchte Ferdinand zu stammeln, aber er brachte das Wort nicht über seine zitternden Lippen, "Meine Herren!" rief einer von den Gästen, "da kommt ein Wagen. Morrel! Morrel! Zweifellos bringt er uns gute Nachricht." Mercedes und der alte Vater liefen dem Reeder, der sehr bleich aussah, entgegen, "Nun?", riefen alle einstimmig, "Ja, meine Freunde!" antwortete Herr Morrel, "die Sache ist ernster, als wir dachten." "Oh, mein Herr," rief Mercedes aus, "er ist ja unschuldig!" "Ich glaube es auch," antwortete Morrel, "aber man klagt ihn an, ein bonapartistischer Agent zu sein." Diejenigen der Leser, welche in der Zeit, wo sich die Geschichte zugetragen hat, gelebt haben, werden sich erinnern, wie furchtbar eine solche Anklage war, die Herr Morrel eben klar ausgesprochen hatte, Mercedes stieß einen Schrei aus und der Greis fiel fast ohnmächtig auf einen Stuhl, "Oh," murmelte Caderousse, "du hast mich betrogen, Danglars, und der Scherz ist gelungen, aber ich will nicht diesen Greis und das junge Mädchen vor Schmerz sterben lassen, ich werde ihnen alles sagen." "Schweig, Unglückseliger!" rief Danglars aus, die
Hand Caderousses umklammernd, "oder ich stehe für nichts; wer sagt dir, daß Dantes nicht der wirklich Schuldige ist. Das Schiff hat an der Insel Elba angelegt, er ist an Land gegangen und einen ganzen Tag in Porto Ferrajo geblieben. Wenn man irgendeinen Brief bei ihm findet, der ihn kompromittieren würde, so könnten diejenigen, welche sich seiner annehmen, für seine Mitschuldigen gehalten werden." Mit dem raschen Instinkt des Egoismus verstand Caderousse die Richtigkeit dieser Bemerkung, er blickte Danglars schmerzerfüllt an und murmelte: "Gehen wir, ich kann nicht länger hier bleiben." "Jawohl, komm," sagte Danglars, freudig, jemanden zu finden, der mit ihm wegginge, "komm, mögen sie sich selber helfen!" Man trennte sich also. Ferdinand, nun wieder die Stütze seiner Cousine geworden, nahm diese bei der Hand und führte sie in die Kolonie zurück. Dantes Freunde führten ihrerseits den fast ohnmächtigen Greis nach dessen Behausung. Bald verbreitete sich das Gerücht, daß Dantes als bonapartistischer Agent arretiert worden war, durch die ganze Stadt, "Hätten Sie das wohl gedacht, mein lieber Danglars?" sagte Herr Morrel, indem er seinen Rechnungsführer und Caderousse einholte, denn er selbst wollte nach der Stadt zurückeilen, um durch den ihm bekannten Staatsanwalt, Herrn von Villefort, etwas Näheres über Edmund zu erfahren: "hätten Sie das geglaubt?" "Bei Gott, mein Herr!" erwiderte Danglars, "ich habe Ihnen doch gesagt, daß Dantes ohne irgendeinen Grund auf der Insel Elba verweilt hat und daß dieser Aufenthalt mir ganz tiberflüssig vorgekommen ist."
"Haben Sie vielleicht Ihren Argwohn noch anderen mitgeteilt?" "Ich würde mich wohl gehütet haben, Herr Morrel," fügte Danglars leise hinzu, "Sie wissen wohl, daß Sie wegen Ihres Oheims, Herrn Policar, in dem Verdacht stehen, ein Anhänger Napoleons zu sein, ich mußte also fürchten, Edmund und durch denselben Sie zu schädigen; es gibt Dinge, die ein Untergebener seinem Reeder zu sagen, allen anderen aber zu verbergen hat." "Gut, Danglars, gut," sagte der Reeder, "Sie sind ein braver Mann! Deshalb habe ich auch schon an Sie gedacht, für den Fall, daß der arme Dantes Kapitän des Pharao geworden wäre. Ich fragte ihn, was er von Ihnen hielte, denn mir schien, daß eine gewisse Kälte zwischen Ihnen herrsche." "Was hat er geantwortet?" "Daß er in der Tat glaube, bei irgendeiner Veranlassung, die er mir nicht nannte, gegen Sie gefehlt zu haben, daß aber auch jeder, dem der Reeder Vertrauen schenke, das seinige ebenfalls besitze." "Der Heuchler", murmelte Danglars. "Der arme Junge," sagte Caderousse, "er ist in der Tat ein prächtiger Mensch." "Jawohl, aber mittlerweile ist der Pharao ohne Kapitän", versetzte Morrel. "Oh," meinte Danglars, "wir wollen hoffen, daß Dantes, da wir erst in drei Monaten in See stechen, bis dahin frei sein wird." "Ohne Zweifel, aber bis dahin?" "Bis dahin haben Sie mich, Herr Morrel," versetzte Danglars, "Sie wissen, daß ich mich auf die Führung eines Schiffes ebenso gut verstehe wie ein Kapitän,
der nach den entferntesten Ländern fährt, und wenn Edmund aus dem Gefängnis kommt, haben Sie niemandem zu danken. Er wird seine Stellung einnehmen und ich die meinige, damit ist die Sache abgemacht." "Danke, Danglars!" sagte der Reeder, "so ist alles geordnet, übernehmen Sie also das Kommando, ich bevollmächtige Sie, und beaufsichtigen Sie die Löschung. Welches Unglück die einzelnen Personen auch treffen mag, die Geschäfte dürfen nicht darunter leiden." "Seien Sie unbesorgt, Herr Morrel . . . aber wird man wenigstens diesen guten Edmund nicht sehen dürfen?" "Das werde ich Ihnen bald sagen können, Danglars, ich will versuchen, Herrn Villefort zu sprechen und mich für ihn verwenden. Ich weiß wohl, er ist ein eifriger Royalist, aber obgleich Royalist und Prokurator des Königs, so muß er doch Mensch sein, und ich glaube, auch kein böser." "Nein," meinte Danglars, "ich habe sagen hören, daß er sehr ehrgeizig ist, und das ähnelt dem sehr." "Schließlich werden wir sehen," sagte Morrel mit einem Seufzer, "ich folge Ihnen." Und er verließ die beiden Freunde, um nach dem Justizpalast zu eilen. "Du siehst, welche Wendung die Sache nimmt," sagte Danglars zu Caderousse, "hast du jetzt noch Lust, für Dantes einzutreten?" "Nein, gewiß nicht, aber dennoch ist es etwas Schreckliches, daß ein Scherz solche Folgen haben kann." ,,Zum Teufel! Wer hat ihn gemacht, weder du noch
ich, nicht wahr? Es ist Ferdinand gewesen. Du weißt wohl, daß ich das Papier in die Ecke geworfen habe, ich glaube sogar, ich habe es zerrissen." "Nein, nein," sagte Caderousse, "was das anbetrifft, so weiß ich es genau. Ich sehe das Papier noch zerknittert und zusammengeballt im Winkel der Laube liegen." "Dann wird es eben Ferdinand aufgehoben und abgeschrieben haben", sagte Danglars. "Vielleicht hat er sich nicht mal der Mühe unterzogen und meinen eigenen Brief eingesandt. Glücklicherweise habe ich meine Handschrift verstellt." "Wußtest du denn, daß Dantes ein Verschwörer war?" "Ich? Nichts wußte ich. Wie ich dir sagte, wollte ich nur einen Scherz machen und es scheint, daß ich wie ein Hanswurst dabei die Wahrheit getroffen habe." "Das ist ja gleich," versetzte Caderousse, "ich gäbe viel darum, wenn die ganze Geschichte nicht passiert, oder ich wenigstens nicht mit darein verwickelt wäre. Du wirst sehen, daß sie uns allen Unglück bringen wird, Danglars." "Wenn sie wirklich jemandem Unglück bringt, so ist es dem wahren Schuldigen, und der wahre Schuldige ist Ferdinand und nicht wir. Welches Unglück soll uns trelfen? Wir brauchen nur still zu sein, kein Wort darüber zu sprechen, und so wird das Gewitter vorübergehen, ohne einzuschlagen." "Amen!" sagte Caderousse, indem er ein Zeichen des Abschieds machte und nach der Allee von Meillan zuschritt, immer den Kopf schüttelnd und mit sich selbst redend, wie es Leute machen, deren Geist sehr beschäftigt ist.
"Gut," sagte Danglars, "die Dinge nehmen die Wendung, die ich vorhergesehen habe. Vorläufig bin ich interimistischer Kapitän und wenn dieser Dummkopf von Caderousse schweigen kann, bald wirklicher. Es kann also nur der Fall eintreten, daß die Justiz Dantes freilassen würde, doch", fügte er lächelnd hinzu, "Justiz ist Justiz und auf die kann man sich verlassen," Mit diesen Worten sprang er in eine Barke und ließ sich nach dem Pharao rudern.
Der Stellvertreter des königl. Prokurators. In der Rue du Grand-Cours, der Medusenbrücke gegenüber, feierte man an demselben Tage, zu derselben Stunde auch einen Verlobungsschmaus, nur mit dem Unterschiede, daß die Teilnehmer nicht Leute aus dem Volke, Matrosen und Soldaten, waren, sondern den höchsten Kreisen der Marseiller Gesellschaft angehörten, ehemalige Staatsbeamte, die unter Napoleon ihren Abschied genommen hatten, ehemalige Offiziere, die das französische Heer verließen, um in die Condeesche Armee einzutreten, junge Leute, die in dem Hasse gegen den Mann aufgezogen waren, der wegen der fünf Jahre Verbannung als Märtyrer und nach fünfzehn Jahren der Restauration als Gott dastand. Man war bei Tische und die Unterhaltung drehte sich um die Leidenschaften der damaligen Zeit, die um so schrecklicher im Süden grassierten, weil sie da noch von dem religiösen Haß unterstützt wurden. Der frühere Kaiser, der in zehn Sprachen von zwei Millionen Untertanen: "Es lebe Napoleon!" hatte rufen hören und Beherrscher eines Weltteils gewesen war, regierte jetzt auf der Insel Elba eine Bevölkerung von 6 bis 7000 Seelen und galt in Paris für einen
Mann, verloren für Thron und Reich. Die Beamten deckten seine politischen Mißgriffe auf, die Offiziere besprachen Moskau und Leipzig, die Damen seine Scheidung von Josephine. Es schien aber, daß die royalistische Welt nicht über den Sturz des Mannes, sondern über die Vernichtung seiner Prinzipien frohlockte. Ein mit dem Ludwigskreuz dekorierter Herr, der Marquis von St, Méran, erhob sich und bat die Gäste, auf die Gesundheit des Königs Ludwig XVIII, anzustoßen. Die Gläser wurden nach englischer Sitte emporgehoben. Die Frauen nestelten ihre Sträuße los und verstreuten sie auf das Tischtuch. Es verbreitete sich ein ungeheurer Enthusiasmus. "Wenn diese Aufrührer anwesend wären, die uns verjagt und denen wir unsere Schlösser um ein Nichts verkauft haben, so müssen sie sich sagen, daß die wahre Ergebenheit auf unserer Seite ist, weil wir uns an die untergehende Monarchie anklammerten, während sie sich der aufgehenden Sonne zuwandten und dabei ihr Glück machten; ferner müssen sie sich eingestehen, daß unser König Ludwig wirklich der 'Ludwig der Vielgeliebte' ist, während der Usurpator nur Napoleon 'der Verwünschte' ist", meinte die Marquise von Méran, eine Dame mit sehr dünnen Lippen und Augen, aus denen kein Schimmer von Rührung sprach, aber die trotz ihrer fünfzig Jahre noch eine jugendliche Erscheinung war, "Nicht wahr, Villefort?", fügte sie hinzu. "Sie sagten, Frau Marquise? Verzeihen Sie, ich habe der Unterhaltung nicht zugehört," ,,Ei, ei! Lassen Sie doch die Kinder in Ruhe, Marquise", versetzte ihr Gemahl, der Greis, der den Toast
ausgebracht hatte. "Die Kinder wollen heiraten und haben von anderem als von Politik zu sprechen." "Verzeihung, Mutter l" mischte sich ein hübsches junges Mädchen mit blondem Haar und schwarzen Sammetaugen ins Gespräch, "ich überlasse dir nun Herrn Villefort, dessen ich mich einen Augenblick bemächtigt habe." "Und ich bin bereit, der Frau Marquise Rede zu stehen, wenn dieselbe ihre Frage von vorhin wiederholen möchte." "Ihnen sei verziehen, Renée," sagte die Marquise mit einer zärtlichen Miene, die man mit Erstaunen auf diesem trockenen Gesicht wahrnahm, "ich meinte, Villefort, daß die Bonapartisten weder unserer Überzeugung noch unseres Enthusiasmus fähig wären." "Oh, gnädige Frau! Sie besitzen aber wenigstens etwas, was jene Eigenschaften ersetzt, nämlich: den Fanatismus! Napoleon ist für sie der Mohammed des Abendlandes, er bedeutet für alle jene Männer, die von kleinem Herkommen sind, aber großen Ehrgeiz besitzen, nicht allein Gesetzgeber und Herr, sondern auch das Vorbild, das Vorbild der Gleichheit." "Napoleon als Vorbild der Gleichheit!" rief die Marquise aus, "und was wollen Sie dann von Robespierre sagen, es scheint mir, Sie wollen ihm seinen Ruhm nehmen, um ihn dem Korsen zu überlassen. Ich dächte, wir hätten an einer Usurpation hinreichend genug." "Ich lasse jeden auf seinem Piedestal, gnädige Frau! Robespierre auf dem Blutgerüst am Platz Ludwig XV. und Napoleon auf der Vendôme-Säule; der eine hatte Gleichheit geschaffen, welche erniedrigt, der andere diejenige, welche erhöht; der eine führte die Könige
auf das Niveau der Guillotine, der andere erhob das Volk auf dasjenige des Thrones. Das soll nicht etwa heißen," fügte Villefort lachend hinzu, "daß nicht beide infame Wühler und daß nicht der 9. Thermidor und der 4. April zwei glückliche Tage gewesen sind und wohl würdig, von den Freunden der Ordnung und der Monarchie gefeiert zu werden; aber dies erklärt auch, wieso Napoleon gefallen ist, um hoffentlich nie wieder in die Höhe zu kommen, und dennoch seine Anhänger behalten hat. Was wollen Sie, Frau Marquise, Cromwell, der noch lange kein Napoleon war, hatte die seinigen wohl auch." "Was Sie da sagen, Villefort, riecht eine Meile weit nach Revolution, aber ich verzeihe Ihnen, man kann nicht der Sohn eines Girondisten sein und nicht ganz den heimatlichen Geschmack verlieren," Eine lebhafte Röte überzog Villeforts Stirn. "Es ist wahr, gnädige Frau, mein Vater war Girondist, aber er hat nie für den Tod des Königs gestimmt. Mein Vater wurde von derselben Schreckensherrschaft verfolgt, welche Sie verfolgte, und wenig hätte gefehlt, daß er seinen Kopf auf dasselbe Schafott legen mußte wie Ihr Vater." "Ja, nur mit dem Unterschiede, daß es aus ganz entgegengesetzten Gründen war, daß beide den Kopf verloren hätten," meinte die Marquise, auf deren Zügen bei dieser entsetzlichen Erinnerung keine Veränderung zu bemerken war, denn meine ganze Familie ist dem verbannten Prinzen anhänglich geblieben, während Ihr Vater sich beeilte, mit der neuen Regierung sich zu verbünden, und nachdem der Bürger Noirtier Girondist gewesen ist, wurde der Graf Noirtier Senator," "Mutter, Mutter!" rief Renée, "es wurde doch ver
einbart, daß diese peinlichen Erinnerungen nie mehr erwähnt werden sollen," "Gnädige Frau," bat Villefort, "ich schließe mich Fräulein von St. Méran an und bitte Sie demütigst um Vergessen des Vergangenen. Wozu Dinge wieder ins Gedächtnis rufen, bei welchen sogar Gottes Wille ohnmächtig war. Gott kann die Zukunft ändern, aber nicht die Vergangenheit, und wir können nur einen Schleier über alles werfen. Ich habe mich nicht allein von der Meinung meines Vaters, sondern sogar von seinem Namen getrennt. Mein Vater war oder ist vielleicht auch noch Bonapartist und heißt Noirtier. Ich bin Royalist und heiße Villefort. Mit dem alten Stamm soll der letzte Rest revolutionären Saftes aussterben, gnädige Frau!" "Bravo, Villefort!" rief der alte Marquis aus, "bravo! Das war gut geantwortet. Ich habe schon immer der Marquise gepredigt, die Vergangenheit zu vergessen, aber niemals habe ich es erreichen können. Ich hoffe, Sie sind glücklicher darin," "Also vergessen wir die Vergangenheit, ich bin damit einverstanden," meinte die Marquise, "aber Villefort soll in der Zukunft unbeugsam sein. Vergessen Sie nicht, Villefort daß wir uns bei Sr, Majestät für Sie verpflichtet haben und daß Se. Majestät auf unsere Fürsprache auch vergessen will. Nur bedenken Sie, wenn irgendein Aufrührer Ihnen unter die Hand kommt, so vergessen Sie nicht, daß Sie schärfer beobachtet werden als ein anderer, denn man kennt die Verbindungen Ihrer Familie," "Mein Amt und besonders die Zeit, in der wir leben, befehlen mir, streng zu sein," entgegnete Villefort, "und ich werde es sein. Einige politische Anklagen
lagen mir bereits vor und ich habe meine Prüfung bestanden. Leider sind wir noch nicht zu Ende." "Glauben Sie?" meinte die Marquise. "Ich befürchte es. Die Insel Elba liegt nahe an Frankreich und dies unterstützt die Hoffnung seiner Anhänger, Marseille ist voll von Offizieren, die auf halben Sold gesetzt sind und die täglich Streitigkeiten mit den Royalisten suchen. Daraus entstehen die Duelle der höheren Stände und die Morde unter dem Volk." "Ja, ja," entgegnete der Graf von Salvieux, ein Freund des Hauses St, Méran und Kammerherr des Grafen von Artoix, "wissen Sie, daß man einen anderen Aufenthaltsort für ihn sucht?" "Jawohl, die Rede davon war schon bei unserer Abreise von Paris", meinte Herr von St. Méran. "Nach St. Helena!" "Leider haben wir den Vertrag von 1814," sagte Villefort, "und wir können Napoleon nichts anhaben, ohne diesen Vertrag zu brechen." "Es ist so, die Alliierten befreien Europa von Napoleon und Villefort befreit Marseille von seinen Anhängern. Der König mag regieren oder nicht, seine Behörde muß unerschütterlich sein. Das ist das einzige Mittel, dem Übel zuvorzukommen." "Unglücklicherweise, gnädige Frau, kommt ein Staatsanwaltsgehilfe immer erst, wenn das Unglück geschehen ist." "Ach, Herr Villefort," rief eine hübsche junge Dame, die Tochter des Grafen von Salvieux und Freundin von Fräulein von St. Méran, "versuchen Sie doch, einen interessanten Prozeß zu bekommen, während wir uns noch in Marseille aufhalten. Ich war nie bei
einer Schwurgerichtsverhandlung und man sagt, das sei so merkwürdig." "Sehr merkwürdig, in der Tat, gnädiges Fräulein," sagte der Amtsvertreter, "denn statt einer künstlichen Tragödie ist es ein wirkliches Drama; statt erfundener Schmerzen sind es wirkliche. Jener Mann, den man dort sieht, kehrt beim Fallen des Vorhangs nicht nach Hause zurück, um mit den Seinigen zu essen oder sich ruhig in sein Bett zu legen, sondern tritt in das Gefängnis, wo er den Henker vorfindet. Für nerven starke Personen, die Erregungen suchen, gibt es wohl kein Schauspiel, das jenem gleichkommt. Seien Sie unbesorgt, gnädiges Fräulein, wenn die Gelegenheit sich darbietet, werde ich es Ihnen verschaffen." "Wir schaudern schon bei dem Gedanken . . . und er lacht," sagte Renée bleich werdend. "Mein Gott!" entgegnete Villefort, "es ist eine Art Zweikampf . . . Schon fünf oder sechs politische Verbrecher habe ich zum Tode verurteilen müssen. . . . Wer weiß, wieviel Dolche in diesem Augenblick im Geheimen geschliffen werden, die mich treffen sollen." "Ach, mein Himmel," fuhr Renée immer ängstlicher werdend fort, "reden Sie wirklich im Ernst, Herr von Villefort?" "Ganz ernst, vollständig im Ernst!" fuhr der Beamte lächelnd fort, "und ein so imposanter Prozeß, wie ihn das gnädige Fräulein wünscht, um ihre Neugierde, und den ich wünsche, um meinen Ehrgeiz zu befriedigen, kann die allgemeine Lage noch verschlimmern. Glauben Sie, daß die Soldaten Napoleons, die gewohnt sind, blindlings auf den Feind zu stürzen, erst überlegen, ob sie mit der Patrone oder dem Bajonett töten wollen? Werden sie sich länger überlegen, ob sie
einen Mann, den sie als persönlichen Feind ansehen, umbringen sollen, oder einen, den sie nie gesehen haben, mag er Russe, Österreicher oder Ungar sein? Übrigens muß das so sein, denn sonst gäbe es für unseren Stand keine Entschuldigung. Wenn ich bei einem Angeklagten das wutentbrannte Auge sehe, so fühle ich mich begeistert und von Mut durchdrungen. Es ist nicht mehr ein Prozeß, sondern ein Kampf, ich kämpfe gegen ihn, er pariert, ich verdoppele meine Anstrengungen — und dieser Kampf endet wie jeder, mit einem Sieg oder einer Niederlage. Das heißt einen Rechtshandel führen. Es ist die Gefahr, welche die Beredsamkeit hervorbringt. Das Lächeln eines Angeklagten nach meiner Rede würde in mir den Gedanken hervorrufen — ich habe schlecht, ohne Feuer gesprochen. Hingegen, wenn der Staatsanwalt den Angeklagten unter dem Gewichte der Beweise, unter den Blitzen seiner Beredsamkeit wanken und sich niederbeugen sieht, so erfaßt ihn ein mächtiger Stolz. Dieser Kopf beugt sich, er muß fallen." Renée stieß einen leichten Schrei aus. "Das heißt reden," sagte einer der Gäste, "solch einen Mann brauchen wir in unserer Zeit!" ,,Oh, in Ihrer letzten Sache waren Sie auch vortrefflich, Herr von Villefort, erinnern Sie sich jenes Mannes, der seinen eigenen Vater umgebracht hatte, er war schon buchstäblich durch Ihre Worte zermalmt, ehe ihn der Henker berührte." "Oh, mit einem Vatermörder hätte ich auch kein Mitleid," meinte Renée, "aber die armen politischen Verbrecher . . .!" "Das ist aber noch schlimmer, Renée, denn der König ist der Vater der Nation — und den König stürzen
oder umbringen wollen, das heißt, den Vater von 32 Millionen Menschen töten." "Oh, das ist gleich, Herr von Villefort," meinte Renée, "nicht wahr, Sie versprechen mir Nachsicht mit denjenigen zu haben, welche ich Ihnen empfehlen werde." "Seien Sie unbesorgt," sagte Herr von Villefort mit liebenswürdigem Lächeln, "wir werden zusammen die Anklagerede ausarbeiten," "Befasse du dich mit deinen Vögeln, deinen Hunden und deinem Putz, mein liebes Kind, und lasse deinen zukünftigen Gatten seine Geschäfte allein besorgen. Heute ruhen die Waffen und die Amtstracht wird nicht benutzt." "Ach, wären Sie doch lieber Arzt!" rief Renée wieder aus, "der Würgeengel, wenn er auch Engel sein mag, ist mir immer entsetzlich gewesen." "Gute Renée", murmelte Villefort, indem er das junge Mädchen mit liebevollem Blick betrachtete. "Herr von Villefort wird gleichzeitig moralischer und politischer Arzt dieser Provinz sein, das ist eine schöne Rolle, die er zu spielen hat." "Auf diese Weise wird die, welche sein Vater gespielt hat, vergessen werden," erwiderte die unverbesserliche Marquise. "Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu sagen, gnädige Frau," entgegnete Villefort mit düsterem Lächeln, "daß mein Vater die Irrtümer der Vergangenheit abgeschworen haben wird und er ein eifriger Freund der Religion und Ordnung, ja ein besserer Royalist als ich selbst geworden ist." "Fast das gleiche habe ich gestern dem Minister des Königlichen Hauses in den Tuilerien geantwortet,"
sagte der Graf von Salvieux, "der mich über die sonderbare Verbindung zwischen dem Sohn eines Girondisten und dem Offizier des Condeeschen Heeres befragte; der Minister begriff das sehr wohl. Der König, der unserer Rede beiwohnte, meinte: Villefort wird seinen Weg schon machen. Ich sehe mit Vergnügen, daß der Marquis und die Marquise von St. Méran ihn als Schwiegersohn annehmen." "Der König hat das gesagt," rief Villefort entzückt aus, "ich will auch alles tun, um ihm zu dienen." "Bravo!" sagte die Marquise freundlich, "so habe ich Sie gern. Wenn jetzt ein Verschwörer kommt, soll er willkommen sein." "Und ich, meine Mutter," bemerkte Renée, "ich bitte Gott, daß Herr von Villefort nur über kleine Diebe und Betrüger zu urteilen hat, dann kann ich ruhig schlafen." "Das ist dasselbe," bemerkte Villefort lächelnd, "als wenn Sie dem Arzt wünschen, nur Migränen, Röteln oder Wespenstiche zu kurieren. Alle diese Sachen berühren nur die Oberfläche. Wenn Sie, im Gegenteil, mich als Staatsanwalt sehen wollen, so wünschen Sie mir nur jene schrecklichen Krankheiten, deren Kur dem Arzt Ehre macht." In diesem Augenblick trat ein Kammerdiener ein und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Villefort verließ, sich entschuldigend, die Tafel und kehrte einige Minuten darauf mit heiterem Gesicht zurück. Renée betrachtete ihn Hebevoll; mit seinen blauen Augen, seinem matten Teint und dem schwarzen Backenbart, der sein Gesicht einrahmte, war er wirklich ein schöner Mann; jetzt schien die Seele des iungen Mädchens ganz an seinen Lippen zu hängen,
da sie eine Erklärung über sein plötzliches Weggehen erwartete, "Nun, mein Fräulein," sagte Villefort, "Sie wünschten sehnlichst einen Arzt zum Gatten zu haben, ich habe wenigstens mit den Schülern Äskulaps die Ähnlichkeit, daß mir nie die Gegenwart angehört und daß man mich sogar vom Verlobungsfest und von Ihrer Seite fortholt." "Und aus welchem Grunde stört man Sie?" fragte das junge Mädchen mit leichter Unruhe. "Leider wegen eines Kranken, welcher, wenn es wahr ist, was man mir sagt, in den letzten Zügen liegt: der Fall ist sehr ernst und die Krankheit streift das Schafott." ,,Oh, mein Gott!" schrie Renée auf. "Es scheint, daß man ein bonapartistisches Komplott entdeckt hat. Hier ist die Denunziation," und Villefort las den uns bekannten, von Danglars geschriebenen Brief. "Aber dieser Brief ist ja nur anonym," bemerkte Renée, "und an den Staatsanwalt selbst und nicht an Sie gerichtet." "Jawohl, aber da der Staatsanwalt abwesend ist, so übergab sein Sekretär, mir, als Amtsvertreter, denselben." "Also ist der Schuldige bereits verhaftet?" fragte die Marquise, "Das heißt der Angeklagte," bemerkte Renée, "und wo ist er?" "Er erwartet mich bei mir." "Also gehen Sie, mein Freund," sagte der Marquis, "versäumen Sie nicht Ihre Pflicht, um mit uns zu
bleiben. Gehen Sie, wenn der Dienst des Königs Sie erwartet!" "Oh, Herr von Villefort," bat Renée mit gefalteten Händen, "seien Sie heute, an unserem Verlobungstage, nachsichtig." Villefort stützte sich auf die Stuhllehne seiner Braut und sagte ihr: "Um Ihnen eine Besorgnis zu ersparen, werde ich alles tun, was ich kann, aber wenn die Beschuldigung wahr ist, so muß dieses böse, bonapartistische Unkraut abgeschnitten werden." Renée schauderte bei dem Wort "Abschneiden", denn dieses Unkraut hieß hier der Kopf, "Hören Sie nicht auf das kleine dumme Mädchen," meinte die Marquise, ihm die Hand zum Kuß reichend. "Beruhigen Sie sich, Renée, um unserer Liebe willen werde ich nachsichtig sein." Renée warf ihm einen ihrer liebevollsten Blicke zu und Villefort ging aus dem Saale, den Himmel im Herzen.
Das Verhör. Kaum hatte Villefort den Speisesaal verlassen, als er die Maske der Heiterkeit ablegte, um die ernste Miene eines Mannes anzunehmen, der über das Leben seiner Mitmenschen zu entscheiden hat. Trotz der Beweglichkeit seiner Physiognomie, welche ein Staatsanwalt mehr als einmal vor dem Spiegel einzuüben pflegt, wie dies gewandte Schauspieler tun, wurde es ihm dieses Mal schwer, seine Stirn in Falten zu ziehen. Außer der Erinnerung der politischen Laufbahn seines Vaters war Gerhard von Villefort in diesem Moment so glücklich, wie ein Mensch es nur sein kann; schon wohlhabend, bekleidete er mit 27 Jahren ein hohes
Amt in der Registratur und war im Begriff, ein junges hübsches Mädchen, welches er liebte, zu heiraten. Er liebte sie nicht leidenschaftlich, sondern mit Vernunft, wie eben ein Vertreter des Staatsanwalts lieben darf. Übrigens hatte die Braut außer ihrer Schönheit noch den Vorzug, einer der angesehensten Familien am j etzigen Hofe anzugehören. Eine Aussteuer von 50 000 Talern brachte sie mit in die Ehe, zu der eines Tages noch eine halbe Million hinzukommen mußte. Alles dieses versetzte Villefort in ungeheure Glückseligkeit. An der Tür erwartete ihn der Polizeikommissar. Beim Anblick dieses Mannes fiel er aus dem dritten Himmel auf die materielle Erde zurück. Er veränderte seinen Gesichtsausdruck und näherte sich dem Polizeibeamten: "Hier bin ich, mein Herr, ich habe den Brief gelesen und kann nur für gut befinden, daß Sie diesen Mann festgenommen haben. Nun geben Sie mir über ihn und über die Verschwörung alle Einzelheiten an, die Sie erfahren haben." "Von einer Verschwörung, Herr Prokurator, wissen wir noch nichts. Alle bei ihm beschlagnahmten Papiere sind versiegelt auf Ihrem Büro niedergelegt worden. Was den Angeklagten betrifft, so haben Sie ihn durch die Denunziation kennen gelernt, er heißt Edmund Dantes, ist erster Offizier des Dreimasters Pharao, welcher .dem Hause Morrel & Sohn in Marseille angehört und Baurnwollhandel vermittelt. "Ehe er bei der Handelsmarine diente, gehörte er der Militärmarine an?" "O nein, Herr Prokurator, es ist ein junger Mann von höchstens 19 bis 20 Jahren." In diesem Augenblick, wo Villefort in der Rue de
Conseille angelangt war, sah er einen Mann auf sich zueilen: es war Herr Morrel. "Ach, Herr von Villefort, bin ich glücklich, Sie zu treffen. Denken Sie, man hat einen großen Irrtum begangen: man hat den ersten Offizier meines Schiffes, Edmund Dantes, arretiert." "Ich weiß es, mein Herr," sagte Villefort, "und ich werde ihn sogleich verhören." "Oh, Herr Prokurator," fuhr Herr Morrel, von seiner Freundschaft für den jungen Mann getrieben, fort, "Sie kennen den Angeklagten nicht, aber ich kenne ihn. Er ist der sanfteste, rechtlichste Mann, der beste Seemann der ganzen Handelsmarine. Ich empfehle ihn Ihrem Wohlwollen von ganzem Herzen." Wie wir bereits gesehen, gehörte Villefort zur aristokratischen und Morrel zur bürgerlichen Partei der Stadt. Ersterer war Ultraroyalist, während der andere des Bonapartismus verdächtig war. Villefort blickte Morrel etwas verächtlich und mit kaltem Lächeln an. "Sie wissen, mein Herr, daß man im Privatleben sanftmütig, in Geschäften rechtlich und in politischer Hinsicht doch ein Verbrecher sein kann. Sie wissen das, mein Herr, nicht wahr?" Morrel errötete, denn in politischer Hinsicht fühlte er sein Gewissen nicht ganz rein — und dazu beun ruhigte ihn diese vertrauliche Mitteilung, welche ihm Dantes über den Oberhofmarschall und den Kaiser gemacht hatte. Indessen fügte er mit dem Ausdruck tiefster Anteilnahme hinzu: "Ich bitte Sie inständigst, Herr von Villefort, seien Sie gerecht, wie Sie sein müssen, gut, wie Sie immer sind und geben Sie uns recht bald diesen armen Dantes zurück!"
Das "geben Sie uns" klang dem Staatsanwalt ganz aufrührerisch. "Ei, ei," sagte er sich ganz leise, "Geben Sie uns . . . sollte dieser Dantes Mitglied einer geheimen Verbindung in Italien sein, für die seine Beschützer ihn zurückfordern? Man sagte mir, daß man ihn in zahlreicher Gesellschaft in einer Kneipe verhaftet hat, es wird sich um irgendeine Loge handeln." Laut entgegnete er: "Mein Herr, Sie können vollkommen beruhigt sein und sollen nicht vergeblich meine Gerechtigkeit angerufen haben, wenn der Angeklagte unschuldig ist. Ist er hingegen schuldig — wir leben in einer unruhigen Zeit —, so werde ich ge zwungen sein, meine Pflicht zu tun," Damit trat er in das neben dem Justizpalast gelegene Haus, Herrn Morrel steif grüßend, ein und der unglückselige Reeder blieb wie versteinert davor stehen. Das Vorzimmer war mit Gendarmen und Polizeiagenten angefüllt. Mitten unter ihnen stand ruhig und unbeweglich der Gefangene. Villefort durchschritt dasselbe, einen flüchtigen Blick auf Dantes werfend, nahm ein Pack Papier, das ihm ein Polizist überreichte und verschwand mit den Worten: "Man führe mir den Gefangenen zu!" So schnell der Blick auch gewesen war, den Villefort auf Dantes geworfen hatte, so hatte er doch eine Idee von ihm bekommen. Diese offene breite Stirn zeugte von Intelligenz. Mut lag in diesem geraden Blick und Freimut in diesen halbgeöffneten fleischigen Lippen, welche zwei Reihen blendend weißer Zähne sehen ließen. Einen Augenblick später trat Dantes ein. Der junge Mann war noch immer bleich, schien aber ruhig und heiter. Er grüßte den Richter mit ungezwungener
Höflichkeit, mit den Augen sich nach einem Sitz umschauend, als befände er sich im Büro des Herrn Morrel. Jetzt begegnete er dem düsteren Blicke Villeforts. Der Blick, der den Männern der Justiz immer eigentümlich ist, sie wollen nicht, daß man ihre Gedanken errate und geben ihrem Auge einen leeren Ausdruck. Dieser eine Blick lehrte ihn, daß er sich dem Richter gegenüber befand. "Wer sind Sie und wie heißen Sie?" fragte Villefort in den Akten blätternd, die ihm der Polizist überreicht hatte und die bereits ganz umfangreich geworden waren, denn so schnell hängt sich die Spioniererei an die unglücklichen Gefangenen. "Ich heiße Edmund Dantes, mein Herr!" antwortete der junge Mann mit stiller wohlklingender Stimme, "und bin erster Offizier auf dem Schiff Pharao, welches den Herren Morrel & Sohn gehört." "Ihr Alter?" "Neunzehn Jahre!" "Was taten Sie in dem Augenblicke, wo Sie verhaftet wurden?" "Ich feierte meine Verlobung, mein Herr," sagte Dantes mit leicht bewegter Stimme. So traurig war der Unterschied zwischen jenen Momenten der Freude und den ernsten Förmlichkeiten, denen er hier unterworfen war. So sehr stach die düstere Miene Herrn von Villeforts von dem strahlenden Antlitz seiner Mercedes ab. "Sie feierten Ihre Verlobung?" sagte der Amtsvertreter, unwillkürlich bebend. "Ja, mein Herr, ich bin im Begriff ein Mädchen zu heiraten, das ich seit drei Jahren liebe." So kaltblütig Villefort gewöhnlich war, so wurde er
doch durch dieses Zusammentreffen sehr erregt und die bewegte Stimme Dantes, der inmitten seines Glückes fortgerissen war, berührte eine sympathische Saite im Grunde seiner Seele: auch er verheiratete sich, auch er war glücklich und wurde in seinem Glück gestört, um die Freude eines Menschen zu vernichten, welcher wie er an der Schwelle seines Glückes stand. Diese Zusammenstellung, dachte er, wird bei seiner Rückkehr in das Haus St. Méran viel Erfolg haben und er arbeitete im Geiste, während er Dantes verschiedene Fragen stellte, eine pompöse Rede aus. "Und Ihre politische Meinung?" "Meine politische Meinung, mein Herr, ach, ich schäme mich fast, Herr Prokurator, es zu sagen, ich habe noch niemals, was man eine Meinung nennt, gehabt. Ich bin kaum neunzehn Jahre alt, wie ich schon die Ehre hatte, Ihnen zu sagen, ich weiß nichts und bin auch nicht bestimmt, irgendeine Rolle zu spielen. Ich strebe allein nach der Stellung, die mir Herr Morrel geben wird. Die Meinungen, die ich habe, beschränken sich auf drei Empfindungen: ich liebe meinen Vater, ich verehre Herrn Morrel und bete Mercedes an. Das ist alles, was ich der Justiz antworten kann. Sie sehen, es ist uninteressant genug." Während Dantes sprach und Villefort sein offenes sanftes Gesicht betrachtete, erinnerte er sich der Worte Renées, welche, ohne den Gefangenen zu kennen, seine Nachsicht für ihn angerufen hatte. Durch den genauen Umgang mit dem Verbrechen und Verbrechern erkannte Villefort, daß aus jedem Wort von Dantes der Beweis seiner Unschuld hervorging. "Bei Gott!" sagte sich Villefort, "das ist ein prächtiger Junge und ich werde hoffentlich keine große
Mühe haben, mir ein herzliches Willkommen bei Renée zu sichern, das wird mir einen Händedruck öffentlich und einen süßen Kuß im Verborgenen einbringen," Und bei dieser Hoffnung erheiterte sich das Gesicht Villeforts derart, daß Dantes, der allen Bewegungen auf dem Gesicht seines Richters gefolgt war, gleichfalls lächelte. "Ist Ihnen bekannt, mein Herr, daß Sie Feinde haben?" "Feinde, ich?" sagte Dantes, "ich habe das Glück, noch so wenig zu sein, als daß mir meine Stellung welche verschaffen sollte. Was nun meinen etwas lebhaften Charakter anbelangt, so habe ich mich immer bemüht, denselben meinen Untergebenen gegenüber zu mildern. Ich habe zehn oder zwölf Matrosen unter mir und diese werden Ihnen gestehen, daß sie mich lieben und achten, nicht wie einen Vater, denn dazu bin ich noch zu jung, sondern wie einen Bruder," "In Ermangelung von Feinden, haben Sie vielleicht Neider? Sie sollen mit 19 Jahren zum Kapitän ernannt werden, das ist in Ihrem Stande eine hohe Stellung. Sie sind im Begriff, ein hübsches Mädchen zu heiraten, welches Sie lieben, und das ist auch ein seltenes Glück auf der Erde. Diese beiden Begünstigungen des Schicksals können wohl Neider schaffen." "Da haben Sie recht, Herr Staatsanwalt. Sie scheinen die Menschen besser zu kennen als ich. Sollten sich wirklich Neider unter meinen Freunden befinden, so möchte ich sie lieber gar nicht kennen, um nicht gezwungen zu sein, sie zu hassen," "Darin haben Sie unrecht, mein Herr, man muß immer suchen, so klar als möglich um sich zu sehen. Sie scheinen mir wirklich ein so wackrer junger Mann,
daß ich von den gewöhnlichen Regeln des Gerichtsverfahrens abgehen und auch Ihnen beistehen will, Licht in Ihre Sache zu bringen. Hier ist die Denunziation, erkennen Sie die Handschrift?" Dantes besah die Handschrift und las den Brief. Eine Wolke zog über seine Stirn und er sagte: "Nein, mein Herr, ich kenne diese Schrift nicht, sie ist verstellt, aber kühn, jedenfalls ist sie von geschickter Hand ausgeführt. Ich schätze mich glücklich," fügte er mit dankbarem Blick auf Villefort hinzu, "mit einem Manne, wie Sie es sind, zu tun zu haben, denn in der Tat, der Neider ist mein Feind." Und der Blitz, der in den Augen des jungen Mannes zuckte, indem er diese Worte aussprach, ließ Villefort die gewaltige Energie seines Charakters erkennen. "Und nun antworten Sie mir freimütig," sagte der Amtsvertreter, "nicht etwa wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mann, der in eine verwickelte Lage geraten ist, einem anderen antwortet, der sich für ihn interessiert. Was ist an dieser anonymen Anklage wahr?" und Villefort warf mit Widerwillen diesen Brief, den Dantes ihm zurückgegeben hatte, auf seinen Schreibtisch. "Alles und nichts, mein Herr! Bei meiner Seemannsehre, meiner Liebe zu Mercedes und dem Leben meines Vaters, hören Sie folgendes: Als wir Neapel verlassen hatten, bekam der Kapitän Leclère eine Gehirnentzündung, die Krankheit verschlimmerte sich so schnell, daß er am Ende des dritten Tages mich an sein Bett rufen ließ, da er sein Ende nahen fühlte: Mein lieber Dantes, sagte er, schwören Sie mir bei Ihrer Ehre, das zu tun, was ich
Ihnen auftragen werde. Nach meinem Tode werden Sie als Steuermann die Leitung des Schiffes übernehmen. Sie werden an der Insel Elba anlegen und sich nach Porto Ferrajo begeben, um dem Oberhofmarschall Bertrand diesen Brief einzuhändigen, vielleicht wird er Ihnen einen anderen Auftrag erteilen. Es waren dies die letzten Worte, kurze Zeit darauf bekam er das Delirium und am anderen Tage war er tot. Ich steuerte also nach der Insel Elba — denn der Wunsch eines Sterbenden ist heilig — und stieg allein ans Land. Der Oberhofmarschall empfing mich und frug nach den letzten traurigen Stunden des unglücklichen Leclère, und wie dieser vorausgesehen hatte, übergab er mir einen Brief, den ich persönlich nach Paris bringen sollte. Wir kamen in Marseille an, ich regelte schnell alle Geschäfte an Bord, eilte dann zu meiner Braut, die ich schöner und begehrenswerter als je fand, und feierte meine Verlobung, welcher einige Stunden darauf die Heirat folgen sollte. Denn Dank des Herrn Morrel waren alle kirchlichen Förmlichkeiten bereits erledigt — in dem Moment wurde ich verhaftet." "Ja, ja," murmelte Villefort, "dieses alles scheint Wahrheit zu sein und wenn Sie schuldig sind, so ist dies aus Unvorsichtigkeit geschehen, welche durch die Befehle Ihres Kapitäns sogar eine legitime war. Übergeben Sie uns diesen Brief, den man Ihnen auf der Insel Elba zugestellt hat und geben Sie mir Ihr Wort, sich bei der ersten Vorladung einzustellen, dann können Sie wieder zu Ihren Freunden zurückgehen." "Also ich bin frei?" rief Dantes in übermäßiger Freude aus. "Ja, nur geben Sie mir diesen Brief!"
"Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mit meinen anderen Papieren weggenommen." "Warten Sie," sagte der Amtsvertreter, der schon seinen Hut in die Hand nahm, "an wen ist er adressiert?" "An Herrn Noirtier! Rue Coq-Heron 13, in Paris." Wie vom Blitz getroffen fiel Villefort auf seinen Sessel, aber mit krampfhafter Anstrengung erhob er sich, um unter dem Stoß Papiere diesen verhängnisvollen Brief hervorzusuchen, auf welchen er einen Blick unsagbaren Entsetzens warf. "Herrn Noirtier — Rue Coq-Heron 13," murmelte er, immer bleicher werdend. "Ja, mein Herr," antwortete Dantes erstaunt, "kennen Sie ihn?" "Nein," antwortete Villefort lebhaft: "ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer!" "Es handelt sich also um eine Verschwörung?" fragte Dantes, welcher anfing, nachdem er sich bereits frei geglaubt, einen größeren Schrecken als zuvor zu fühlen. "Jedenfalls, mein Herr, kannte ich den Inhalt des Briefes nicht, wie ich Ihnen schon sagte." "Ja," entgegnete Villefort mit dumpfer Stimme, "aber Sie wissen den Namen dessen, an den er gerichtet ist." "Um ihn dem Adressaten einzuhändigen, mußte ich natürlich den Namen wissen." "Sie haben diesen Brief niemandem gezeigt," sagte Villefort, "und kennen seinen Inhalt nicht?" "Bei meiner Ehre, nein!" antwortete Dantes, "aber mein Gott; was ist Ihnen. Sie sind unwohl! Soll ich läuten, soll ich jemanden rufen?" "Nein, rühren Sie sich nicht, sprechen Sie kein Wort,
es ist ein vorübergehender Schwindel, nichts anderes." "Es ist zu viel, es ist zu viel," murmelte Villefort für sich, sein Gesicht war totenbleich und ganz entstellt. Mit eiskalten Händen griff er nochmals nach diesem Unglücksbrief und las ihn dieses Mal zu Ende. ,,Oh, wenn er wüßte, was dieser Brief enthält, und daß Noirtier mein Vater ist, so bin ich verloren, verloren für immer!" Von Zeit zu Zeit warf er auf Edmund einen Blick, als sollte dieser die unsichtbare Schranke durchbrechen, hinter der die Geheimnisse seines Herzens verborgen waren. "Oh, tragen wir kein Bedenken mehr . . ." rief er plötzlich, "Aber um des Himmels Willen, mein Herr," rief der unglückliche junge Mann aus, "wenn Sie an mir zweifeln, wenn Sie Verdacht gegen mich hegen, fragen Sie, ich bin bereit zu antworten." Villefort machte eine heftige Anstrengung und mit einem Ton, der fest klingen sollte, sagte er: "Die schwerste Anschuldigung gegen Sie ist das Resultat Ihres Verhörs, ich kann also nicht, wie ich gehofft hatte, Ihnen in diesem Augenblick Ihre Freiheit zurückgeben, ich muß mich vorher mit dem Instruktionsrichter beraten. Sie haben ja bemerkt, in welcher Art und Weise ich gegen Sie verfahren bin." "Oh ja, Herr Prokurator," rief Dantes aus, "Sie sind eher ein Freund als ein Richter mir gegenüber gewesen und ich danke Ihnen dafür!" "Nun, mein Herr, ich werde Sie noch einige Zeit als Gefangener hier behalten, so kurz wie möglich; die Hauptanklage gegen Sie betrifft den Brief und Sie sehen . . . " hierbei ging Villefort nach dem Kamin und
warf ihn in das Feuer und betrachtete ihn, bis derselbe ganz zu Asche wurde, "Sehen Sie, ich habe ihn vernichtet!" ,,Oh," rief Dantes, "Sie sind mehr als gerecht. Sie sind die Güte selbst!" "Aber nach einer solchen Handlung müssen Sie unbedingtes Zutrauen zu mir haben. Sie bleiben im Justizpalast bis zum Abend, vielleicht werden Sie von einem anderen nochmals verhört, sagen Sie alles, was Sie mir gesagt haben, mit Ausnahme von dem Brief." "Ich verspreche es Ihnen!" Es schien, als wäre Villefort der Bittende und der Angeklagte wäre derjenige, der den Richter beruhigte, "Sie begreifen," fuhr er fort, einen Blick auf die Asche werfend, welche die äußere Form des Papiers behalten hatte, "Sie begreifen, daß jetzt, wo der Brief vernichtet ist, von dessen Existenz nur Sie und ich wissen, man Ihnen denselben nie wieder vorhalten kann. Leugnen Sie also, wenn man Sie darüber befragt. Verleugnen Sie ihn dreist und Sie sind gerettet." "Ich werde ihn verleugnen, mein Herr, seien Sie unbesorgt!" sagte Dantes. Schon mit der Hand nach der Klingelschnur fassend, wendete er sich nochmals Dantes zu und sagte: "Das war der einzige Brief?" "Der einzige!" "Schwören Sie es!" "Ich schwöre es!" Villefort klingelte und sagte dem eintretenden Polizeibeamten etwas ins Ohr, worauf derselbe mit einem einfachen Neigen des Kopfes antwortete. "Folgen Sie dem Herrn!" sagte Villefort zu Dantes. Dieser verneigte sich, Villefort noch einen letzten
dankbaren Blick zuwerfend, und ging hinaus. Kaum hatte sich die Tür wieder geschlossen, als die Kräfte den Amtsvertreter vollständig verließen und er wie ohnmächtig auf einen Sessel fiel, "Oh, mein Gott! mein Gott!" murmelte er, "woran hängt Leben und Glück? Wenn der Staatsanwalt selbst in Marseille gewesen und wenn der Untersuchungsrichter statt meiner gerufen worden wäre, so war ich verloren. Dieser Brief, dieser verfluchte Brief stürzte mich in den Abgrund! Oh, Vater, Vater! Wirst du auf dieser Welt meinem Glücke stets im Wege stehen, und soll ich ewig wegen deiner Vergangenheit zu kämpfen haben?" Plötzlich schien ein neuer Gedanke in seinem Gehirn aufzutauchen, sein Gesicht erheiterte sich und ein leichtes Lächeln umgab seine zusammengepreßten Lippen. "Ja, das ist's! Jawohl dieser Brief, welcher mich unglücklich machen sollte, kann mir vielleicht erst recht Glück bringen. Wohlan, Villefort, ans Werk!" Und nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Angeklagte nicht mehr im Vorzimmer war, trat der Amtsvertreter seinerseits hinaus und eilte nach dem Hause seiner Braut zurück.
Das Kastell If. Indem der Polizeikommissar durch das Vorzimmer schritt, gab er zwei Gendarmen ein Zeichen, worauf sich jeder an eine Seite von Dantes stellte und mit ihm durch eine Tür, welche die Wohnung des Staatsanwaltes vom Justizpalast trennte, traten. Sie kamen sodann in einen jener langen dunklen Gänge, die jedermann schaudern machen, der sie betritt. Am
Ende desselben erblickte Dantes eine mit einem eisernen Gitterfenster versehene Tür, welche sich nach drei von dem Polizeikommissar gegebenen Schlägen, die in Dantes Herzen wiederhallten, öffnete. Zaudernd überschritt er die verhängnisvolle Schwelle und die Tür schloß sich geräuschvoll hinter ihm. Er atmete nun eine andere schwere Luft: er war im Gefängnis. Es war bereits vier Uhr, als Dantes in ein ziemlich reinliches, aber vergittertes und verriegeltes Zimmer trat. Es war, wie bereits gesagt, der 1. März und es wurde schnell dunkel. Das Gehör des Gefangenen verschärfte sich in dem Grade, als das Auge ruhen mußte. Bei dem geringsten Geräusch erhob er sich schnell und machte einen Schritt nach der Tür, in der Überzeugung, daß man ihn freilassen würde. Aber bald verlor sich das Geräusch nach einer anderen Richtung und Dantes sank auf seinen Schemel zurück. Endlich, gegen zehn Uhr abends, als Dantes schon anfing die Hoffnung zu verlieren, ertönten abermals Schritte, die an seiner Tür haltmachten; ein Schlüssel wurde im Schloß herumgedreht, die Riegel klirrten und die massive Tür öffnete sich und das dunkle Zimmer wurde plötzlich von dem Schein zweier Fackeln erhellt. Vier Gendarmen waren eingetreten. "Wollt ihr mich holen," fragte Dantes, der unwillkürlich beim Anblick der verstärkten Bewachung zurücktrat, "auf Befehl des Staatsanwaltes?" ,,Ich denke, ja!" "Gut, ich bin bereit, euch zu folgen." Die Überzeugung, daß man ihn auf Befehl des Herrn von Villefort hole, benahm dem unglücklichen jungen
Mann jede Befürchtung: er folgte mit Ruhe und festem Gang und stellte sich selbst inmitten seiner Eskorte. Ein Wagen wartete an der Tür und neben dem Kutscher saß ein Gefreiter. "Ist denn dieser Wagen für mich bestimmt?" "Jawohl, steigen Sie ein!" antwortete einer der Gendarmen. Dantes wollte irgendeine Bemerkung machen, aber man stieß ihn in den Wagen und nun saß er zwischen zwei Bewaffneten, während die anderen ihm gegenüber Platz genommen hatten, und das schwere Gefährt setzte sich in Bewegung. Der Gefangene bemerkte durch die Gitter des Wagens, daß sie an der Hauptwache angelangt waren. Der Wagen hielt an, der Gefreite stieg ab und Dantes sah, wie ein Dutzend Soldaten Spalier bildeten. Man öffnete die Wagentür und er mußte durch die Reihe Soldaten vom Wagen bis zum Hafen gehen. Die vier Gendarmen nahmen ihn wieder in die Mitte und führten ihn in einen Nachen, wo er gezwungen wurde, im Hinterteil desselben Platz zu nehmen. Durch einen heftigen Stoß wurde der Kahn vom Ufer entfernt, vier Ruderer arbeiteten mit aller Macht und bald war derselbe in freiem Fahrwasser, d.h. außerhalb des Hafens. Die erste Regungt| die der Gefangene empfand, als er frische Luft atmen konnte, war die der Freude. Luft bedeutet beinahe Freiheit. Er atmete also mit voller Brust diese frische Brise ein, deren Flügel alle die unbekannten Gerüche der Nacht und des Meeres brachte. Bald jedoch stieß er einen tiefen Seufzer aus. Sie kamen an dem Gasthaus der Reserve vorüber, wo er an demselben Morgen noch so glücklich gewesen
war und durch zwei geöffnete Fenster drang der freudige Lärm eines Balles bis zu ihm. Dantes faltete die Hände, hob die Augen zum Himmel empor und betete, während die Barke weiterglitt. Sie war an der 'Tete de mort' vorübergefahren und befand sich jetzt gegenüber dem Leuchtturm, und man war im Begriff, die Batterien zu umsegeln, das war ein unverständliches Manöver für Dantes, "Aber wohin führt ihr mich denn?" fragte er einen der Gendarmen. "Sie werden es sogleich erfahren!" "Aber . . ." "Es ist uns verboten, irgendeine Erklärung zu geben." Dantes, der halber Soldat war, wußte, daß es unzulässig war, Fragen zu stellen und schwieg. Die seltsamsten Gedanken durchkreuzten sein Gehirn. Daß in solchem Nachen keine lange Fahrt gemacht werden konnte, und daß kein anderes Schiff vor Anker lag, wußte er, er glaubte, man würde ihn an einem entfernten Punkt der Küste in Freiheit setzen. Daß er nicht gefesselt war, schien ihm ein gutes Zeichen, und übrigens, hatte der ihm so wohlwollende Amtsvertreter nicht gesagt, daß, wenn er den Namen Noirtier nicht ausspräche, er nichts zu befürchten habe? Und hatte Villefort nicht den gefährlichen Brief, den einzigen Beweis, der gegen ihn sein konnte, verbrannt? Er wartete also stumm und nachdenklich und suchte mit dem Auge des Seemanns die Finsternis der Nacht zu durchdringen. Die Insel Ratonneau mit ihrem Leuchtturm war
rechts geblieben und der Nachen befand sich auf der Höhe der Bucht der katalonischen Kolonie. Hier suchte der Gefangene seine Augen noch mehr anzustrengen, hier wohnte ja Mercedes und jeden Augenblick glaubte er, die vage und unbestimmte Form einer weiblichen Gestalt an der Küste zu sehen. Warum hatte Mercedes keine Ahnung, daß ihr Geliebter dreihundert Schritte an ihr vorüberfuhr? Ein einziges Licht schimmerte in der ganzen katalonischen Kolonie, als er genau dessen Richtung erspähte, wußte er, daß es aus dem Zimmer seiner Verlobten drang. Mercedes war also die einzige Person, welche noch wachte und er konnte von ihr gehört werden, wenn er einen lauten Schrei ausstieß. Doch eine falsche Scham hielt ihn davon zurück. Was sollten seine Wächter sagen, wenn er wie ein Wahnsinniger schreien würde, er blieb also stumm, die Augen auf das Licht gerichtet. Ein Felsvorsprung ließ das Licht verschwinden. Dantes blickte um sich und bemerkte, daß sie die hohe See erreicht hatten und daß die Segel aufgezogen waren. Trotz inneren Widerwillens wendete sich Dantes abermals an einen Gendarmen und dessen Hand fassend, fragte er: "Kamerad, bei Ihrem Gewissen und Ihrer Eigenschaft als Soldat beschwöre ich Sie, Mitleid mit mir zu haben und mir zu antworten. Ich bin der Kapitän Dantes, ein guter und rechtschaffener Franzose, obgleich ich nicht weiß, welchen Vergehens ich beschuldigt bin, sagen Sie mir auf Seemannsehre, .wohin führen Sie mich?" Der Gendarm kratzte sich hinter dem Ohr und warf einen fragenden Blick auf seinen Kameraden, den dieser mit einer Bewegung zu beantworten schien, die
ungefähr sagen sollte, "man kann es wagen!" Der Gefragte wendete sich zu Dantes: "Sie sind Marseiller und Seemann und wissen nicht, wohin wir fahren?" "Ja, aber bei meiner Ehre, ich weiß es nicht!" "Aber so blicken Sie doch um sich!" Dantes stand auf und sah angestrengt nach der Richtung, wohin das Schiff fuhr, da bemerkte er hundert Klafter von sich einen schwarzen steilen Felsen, auf dem sich wie eine Anhäufung von Kieseln das Kastell If erhebt. "Oh, mein Gott!" rief er aus, "das Kastell If, was wollen wir da tun, man will mich doch da nicht gefangen halten? Das Kastell If ist ein Staatsgefängnis und nur für wichtige politische Verbrecher bestimmt. Ich habe nichts begangen. Sind denn Richter und Gerichtsbeamte auf dem Kastell If?" "Ich vermute, daß dort ein Gouverneur, Gefangenenwärter, Besatzung und dicke Mauern sein werden. Wohlan, Freund, spielen Sie nicht den Erstaunten, denn sonst müßte ich wirklich glauben, Sie wollen mich trotz meiner Gefälligkeit verspotten." Dantes drückte die Hand des Gendarmen, als wollte er dieselbe zerbrechen. "Sie behaupten also, ich soll wirklich nach dem Kastell If gebracht und dort eingekerkert werden?" "Wahrscheinlich, aber das ist kein Grund, mich so heftig zu drücken." "Ohne irgendein Zeugenverhör, ohne andere Förmlichkeiten?" "Die Untersuchung ist abgeschlossen!" "Also trotz des Versprechens des Herrn von Ville fort?"
"Ich weiß nicht, welches Versprechen Ihnen Herr von Villefort gegeben hat, ich weiß nur, daß wir Sie nach dem Kastell If bringen müssen. Was tun Sie denn? Holla! Kameraden, zu Hilfe!" Mit einer blitzschnellen Bewegung, die jedoch dem Auge des Gendarmen nicht entging, wollte sich Dantes ins Meer stürzen, wurde aber von vier kräftigen Fäusten in dem Augenblick zurückgehalten, als seine Füße bereits in der Luft schwebten. Heulend vor Wut sank er auf den Boden des Nachens nieder, "So halten Sie Ihr Seemannswort!" rief der Gendarm aus, indem er ihm das Knie auf die Brust setzte, "traue man nur den Sanftmütigen. Nun, mein Freund, machen Sie mir nur noch eine einzige Bewegung und ich jage Ihnen eine Kugel in den Kopf. Meinem ersten Befehl bin ich untreu gewesen, den zweiten werde ich nicht vergessen auszuführen!" In der Tat senkte er den Karabiner auf Dantes, der das Ende des Gewehrlaufes an seinem Kopf fühlte. Einen Augenblick hatte er den Gedanken, die ihm untersagte Bewegung zu machen und damit das furchtbare Unglück, das ihn mit eisernen Krallen gepackt hielt, abzuschütteln, aber da dasselbe so plötzlich eingetreten war, konnte es doch auch unmöglich lange dauern. Die Versprechung Villeforts kam ihm wieder in den Sinn und schließlich erschien ihm der Tod auf dem Boden eines Schiffes von der Hand eines Gendarmen häßlich und widerwärtig. Fast in demselben Augenblick erschütterte ein heftiger Stoß das Boot. Einer der Ruderer sprang auf den Felsen und seilte das Boot an. Dantes begriff nun, daß man an dem bestimmten Ort angekommen war,
Seine Wächter, die ihn gleichzeitig am Arm und am Kragen seines Rockes gepackt hielten, zwangen ihn, sich zu erheben und ans Land und die Treppe hinaufzusteigen, die nach der Zitadelle führte, während der Gefreite mit aufgepflanztem Bajonett folgte. Übrigens leistete Dantes gar keinen Widerstand. Seine Langsamkeit war eher ein Zeichen von Betäubung als Widersetzlichkeit, er war willenlos und taumelte wie ein Betrunkener; er bemerkte abermals Soldaten, welche sich in zwei Reihen aufgestellt hatten, er fühlte Stufen, welche ihn zwangen, die Füße zu heben, er nahm wahr, daß er durch einen Torweg schritt, der sich hinter ihm schloß — aber alles das sah er wie durch einen Nebel, ohne etwas Bestimmtes unterscheiden zu können. Er sah nicht einmal mehr das Meer, das stets einen großen Schmerz bei den Gefangenen hervorruft, welche den weiten Raum mit dem schrecklichen Gefühl vor sich sehen, ihn nicht durchdringen zu können. Es wurde einen Augenblick Halt gemacht, währenddessen er versuchte, seine Gedanken etwas zu sammeln. Er blickte um sich und bemerkte einen viereckigen, von hohen Mauern umgebenen Hof. Man hörte den langsamen regelmäßigen Schritt der Schildwachen und sah bei dem Schein der Lichter, der aus dem Innern des Gebäudes drang, die glänzenden Läufe ihrer Flinten. Dort wartete man ungefähr zehn Minuten; überzeugt, daß Dantes nicht fliehen konnte, hatten die Gendarmen ihn losgelassen. Man schien Befehle zu erwarten. "Wo ist der Gefangene?" fragte eine Stimme. "Hier!" antworteten die Gendarmen, "Er soll mir folgen, ich werde ihn in seine Wohnung bringen."
,.Gehen Sie!" sagten die Gendarmen, indem sie Dantes vorwärts drängten. Der Gefangene folgte seinem Führer in ein fast unterirdisches Gemach, dessen nackte, feuchte Wände von Tränenfluten durchschwängert schienen. Eine Art auf einen Schemel gestelltes Lämpchen, dessen Docht in übelriechendem Fett schwamm, beleuchtete die glänzenden Wände dieses entsetzlichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, einen schlecht gekleideten und gemein aussehenden Kerkermeister. "Für diese Nacht ist das Ihr Zimmer. Der Herr Gouverneur ist schon schlafen gegangen. Wenn er morgen aufgestanden und man von seinen Befehlen Kenntnis haben wird, werden Sie vielleicht ein anderes bekommen; Wasser ist in diesem Kruge, daneben das Brot und Stroh in jener Ecke. Das ist alles, was ein Gefangener wünschen kann. Guten Abend!" Und ehe Dantes nur daran gedacht hatte, den Mund zu einer Antwort zu öffnen, ehe er bemerkt hatte, wohin der Gefangenenwärter das Brot gelegt und das Wasser gestellt hatte, hatte derselbe das Lämpchen ergriffen und, die Tür hinter sich schließend, sich entfernt. Nun befand er sich allein in der Finsternis und der schrecklichen Stille, die düster und stumm wie dieses Gewölbe, sich auf ihn niederzusenken schien. Als der erste Tagesschimmer ein wenig Helle in diese Höhle gebracht hatte, erschien der Kerkermeister wieder mit der Nachricht, Dantes in der Zelle zu lassen, wo er sich befand. Derselbe hatte sich noch nicht vom Fleck gerührt. Eine eiserne Faust schien ihn dort angenagelt zu haben, er saß unbeweglich und
blickte auf den Boden. Nicht einen Augenblick hatte er geschlafen. Der Gefangenenwärter näherte sich ihm und schlug ihm auf die Schulter. Dantes schauderte und schüttelte den Kopf, "Haben Sie denn nicht geschlafen?" rief der Gefangenenwärter aus. "Ich weiß nicht," antwortete Dantes. Der Kerkermeister blickte ihn erstaunt an. "Haben Sie keinen Hunger?" fuhr er fort. "Ich weiß nicht," antwortete abermals Dantes. "Wollen Sie irgend etwas haben?" "Ich möchte den Gouverneur sehen!" Achselzuckend entfernte sich der Kerkermeister. Die Augen Dantes folgten ihm und seine Hände streckten sich nach der halbgeöffneten Tür hin, aber dieselbe schloß sich wieder. Nun schien ein langes Schluchzen seine Brust zerreißen zu wollen. Wie Bäche rannen die Tränen aus seinen Augen. Er schlug mit der Stirn auf den Boden und betete lange. Sein ganzes vergangenes Leben ließ er an seinem Geiste vorübergleiten und fragte sich, welches Verbrechen er in seinem jungen Leben begangen haben könne, daß er so hart gestraft werde. So verging ein Tag. Kaum aß er einige Bissen und nahm einen Schluck Wasser. Bald saß er in seinen Gedanken versunken da, bald lief er wie ein wildes Tier im Käfig, in seinem Gefängnis umher. Er bäumte sich besonders bei einem Gedanken auf: nämlich, daß er während seiner Überfahrt so still und gelassen geblieben war, er hätte sich ja können zehnmal ins Meer werfen und dank seiner Geschicklichkeit im Schwimmen sich unter Wasser halten und so seinen Wächtern entgehen. Dann konnte er die Küste erreichen, sich in irgendeinem einsamen
Schlupfhafen verbergen und dort ein genuesisches oder katalonisches Schiff erwarten, um mit demselben nach Italien oder Spanien zu fahren, von wo aus er Mercedes schreiben konnte. Seinen Lebensunterhalt konnte er in irgendeiner Gegend verdienen, überall werden gute Seeleute gesucht. Er sprach fertig Italienisch und Spanisch. Wie frei und glücklich hätte er mit Mercedes und seinem Vater leben können, denn auch dieser hätte nachkommen müssen; währenddessen war er nun Gefangener auf dem Kastell If, zwischen unüberwindbaren Gefängnismauern, nicht wissend, was aus seinem Vater und Mercedes wurde, und alles dies nur, weil er den Worten Villeforts geglaubt hatte. Es war um wahnsinnig zu werden, deshalb wälzte sich Dantes wütend auf dem frischen Stroh herum, das ihm der Kerkermeister gebracht hatte. Den folgenden Tag erschien zu gleicher Stunde der Kerkermeister. "Nun," fragte er, "sind Sie heute vernünftiger als gestern?" Dantes antwortete nicht. "Mut gefaßt!" sagte er, "wünschen Sie etwas, worüber ich verfügen kann, so sagen Sie es!" "Ich wünsche nur, mit dem Gouverneur zu sprechen!" "Ich habe Ihnen schon gesagt, daß dieses unmöglich ist," fuhr der Kerkermeister fort. "Aber warum unmöglich?" "Nach den Regeln des Gefängnisses ist es den Gefangenen nicht erlaubt, das zu fordern." "Was ist denn erlaubt hier?" fragte Dantes. "Eine bessere Kost, wenn man bezahlt, ein Spaziergang und bisweilen Bücher." "Ich brauche keine Bücher, ich habe keine Lust
spazieren zu gehen und bin zufrieden mit meiner Nahrung. Ich möchte nur eins: den Gouverneur sehen." "Wenn Sie mir immer wieder dasselbe wiederholen, machen Sie mich ärgerlich und ich werde Ihnen nichts mehr zu essen bringen," "Nun, dann werde ich Hungers sterben, das ist mir gleich!" Der Ton, mit dem Dantes diese Worte sprach, bewies dem Kerkermeister, daß sein Gefangener den Tod wünsche; da aber jeder Gefangene seinem Wärter ungefähr 10 Sous täglich einbringt, so betrachtete er denselben als einen Ausfall seiner Kasse und fuhr in etwas sanfterem Tone fort: "Hören Sie mich doch an. Sie verlangen etwas Unmögliches. Noch niemals ist der Gouverneur auf die Bitte eines Gefangenen in dessen Zelle gekommen. Allein, wenn Sie vernüftig sind und Sie spazieren gehen dürfen, ist es möglich, daß eines Tages während des Spazierganges der Gouverneur vorbeigeht, dann können Sie ihn ansprechen, und wenn er will, wird er auch antworten." "Aber wie lange kann ich warten, ehe sich der Zufall bietet?" fragte Dantes. "Ja, ein, drei, sechs Monate, ein Jahr vielleicht," sagte der Kerkermeister. "Das dauert mir zu lange, ich will ihn sofort sehen!" "Vertiefen Sie sich nicht in einen einzigen unmöglichen Gedanken, oder ehe 14 Tage vergehen, sind Sie verrückt." "Ah, glauben Sie?" sagte Dantes. "Jawohl, verrückt! So fängt immer die Verrücktheit an. Wir haben hier davon ein Beispiel: ein Abbé bewohnte vor Euch diese Zelle, der bot dem Gouverneur
unaufhörlich eine Million für seine Freilassung an. Durch diese fixe Idee wurde er verrückt!" "Und seit wann hat er dieses Zimmer verlassen?" "Seit zwei Jahren." "Hat man ihn in Freiheit gesetzt?" "Nein, man hat ihn in ein unterirdisches Verließ gebracht." "Hören Sie mich an," sagte Dantes, "ich bin kein Abbé und ich bin auch nicht verrückt, vielleicht werde ich es, aber in diesem Augenblick besitze ich noch meinen ganzen Verstand, ich werde Ihnen einen anderen Vorschlag machen! Ich werde Ihnen keine Million anbieten, denn ich besitze sie nicht, aber hundert Taler gehören Ihnen, wenn Sie sich das erstemal, wo Sie nach Marseille gehen, in das katalonische Viertel begeben und einem jungen Mädchen, das Mercedes heißt, einen Brief übergeben; ach, keinen Brief, nur zwei Zeilen." "Wenn ich diese zwei Zeilen überbrächte und entdeckt würde, würde ich jährlich tausend Francs ohne die Trinkgelder verlieren, da wäre ich doch ein großer Dummkopf," "Dann merken Sie sich dieses," sagte Dantes, "wenn Sie sich weigern, Mercedes jene zwei Zeilen zu bringen oder wenigstens Sie zu benachrichtigen, daß ich hier weile, werde ich Sie eines Tages, hinter der Tür stehend, erwarten und wenn Sie eintreten, Ihnen mit diesem Schemel die Hirnschale zerschmettern." "Drohungen," rief der Wärter aus, indem er einen Schritt zurücktrat und die Hände wie zur Verteidigung vorstreckte, "in Ihrem Kopfe ist es entschieden nicht mehr ganz richtig. Der Abbé hat genau so angefangen und in drei Tagen werden Sie reif zum
Fesseln sein. Glücklicherweise hat man auf dem Kastell If sichere Verließe," Dantes nahm den Schemel und schwang ihn in der Luft. "Da Sie es durchaus wollen, gut, man wird den Gouverneur benachrichtigen." "Schön!" sagte Dantes, den Kopf gesenkt und mit stieren Augen, als ob er in Wirklichkeit von Sinnen wäre, sich auf seinen Schemel niederlassend. Der Kerkermeister entfernte sich, um einen Augenblick später mit einem Korporal und vier Soldaten zurückzukehren. "Bringen Sie diesen Gefangenen ein Stockwerk tiefer, auf Befehl des Gouverneurs!" "Ins Verließ also?" sagte der Korporal. "Jawohl, man muß die Verrückten zusammensperren." Die Soldaten bemächtigten sich Dantes, welcher ihnen ohne Widerstand teilnahmslos folgte. Fünfzehn Stufen stiegen sie hinab, man öffnete die Tür des Verließes, in welches er murmelnd eintrat. "Ja, ja, er hat recht. Die Verrückten gehören zu den Verrückten." Die Tür schloß sich und Dantes ging mit ausgestreckten Händen vorwärts, bis er die Mauer fühlte, sodann kauerte er sich in einen Winkel, während seine Augen sich nach und nach an die Dunkelheit gewöhnend, anfingen die Gegenstände zu unterscheiden. Der Kerkermeister hatte recht, wenig fehlte und Dantes würde verrückt werden.
Der Verlobungsabend. Wie wir bereits wissen, war Villefort in das Haus seiner Schwiegereltern zurückgekehrt, wo er die Gäste bereits im Salon beim Kaffee wiederfand. Renée, wie
auch ein Teil der Gesellschaft, erwarteten ihn sehr ungeduldig, deshalb wurde er auch mit freudigem Ausruf empfangen. Villefort näherte sich sofort der Marquise und entschuldigte sich, die Gesellschaft verlassen und sofort abreisen zu müssen. "Könnte ich die Ehre haben, mit Ihnen, Herr Marquis, ein paar Worte allein zu sprechen?" "Also ist es wirklich etwas Ernstes?" fragte die Marquise, indem sie den düsteren Ausdruck auf dem Gesicht Villeforts wahrnahm. "So ernst, daß ich sogar gezwungen bin, für einige Tage zu verreisen," "Sie reisen?" rief Rene aus, unfähig, ihre Erregung länger zu verbergen. "Leider ja, mein Fräulein, es ist nötig", antwortete Villefort. "Und wohin reisen Sie?" fragte die Marquise. "Das muß mein Geheimnis bleiben!" "Wenn Sie mich allein zu sprechen wünschen, so gehen wir in mein Zimmer," und bei diesen Worten nahm der Marquis Villefort beim Arm und sie gingen weg, "also was geht vor? sprechen Sie!" "Dinge, die ich von großer Wichtigkeit halte, zwingen mich, sofort nach Paris abzureisen. Entschuldigen Sie, Marquis, und verzeihen Sie meine indiskrete, dreiste Frage: besitzen Sie Staatsrenten?" "Mein ganzes Vermögen ist in Staatsschuldscheinen angelegt. Sechs bis siebenmal hunderttausend Franken ungefähr." "Also verkaufen Sie, Marquis, verkaufen Sie, sonst sind Sie ruiniert! Geben Sie mir ein paar Zeilen an Ihren Wechselagenten, daß er, ohne eine Minute Zeit
zu verlieren, verkauft. Keine Sekunde darf nutzlos vergehen, vielleicht komme ich sogar schon zu spät." "Zum Teufel!" rief der Marquis und schrieb sofort an seinen Agenten, daß er um jeden Preis die Papiere verkaufen solle. "Außer diesem Brief," meinte Villefort, den er sorgfältig in sein Portefeuille schob, "möchte ich noch einen anderen haben." "An wen?" "An den König!" "An den König? aber ich wage ja nicht einmal an Sr. Majestät zu schreiben." "Deshalb ersuche ich an den Grafen Salvieux zu schreiben, der mir einige Zeilen aushändigen soll, mit deren Hilfe ich ohne Hindernis zu Sr. Majestät gelangen kann. Ich versichere Sie, Marquis, meine ganze Karriere ist gesichert, wenn ich als Erster in den Tuilerien und beim König vorkommen kann, ich erzeige ihm einen Dienst, den er mir nie vergessen wird." "In diesem Falle, mein Lieber, machen Sie sich reisefertig, ich werde inzwischen Salvieux rufen und ihn den Brief schreiben lassen, der Ihnen als Passierschein dienen soll." "Verlieren wir keine Zeit also, denn in einer halben Stunde muß ich im Postwagen sitzen. Entschuldigen Sie mich bei den Damen, nicht wahr? die ich gerade an diesem Tage mit größter Betrübnis verlassen muß." Villefort entfernte sich in größter Eile, aber an der Tür erinnerte er sich, daß er die Ruhe einer ganzen Stadt stören könne, wenn man sein schnelles Laufen bemerken würde, er nahm seine würdevolle Haltung wieder an. An seiner Tür angekommen, bemerkte er im
Schatten ein weißes gespensterhaftes Wesen, welches ihn erwartete. Es war die schöne Katalonierin, die, noch immer ohne Nachricht von Edmund, sich in der Dunkelheit nach der Ursache der Verhaftung ihres Verlobten erkundigen wollte. Als Villefort ganz nahe war, trat sie von der Mauer weg, an die sie sich gelehnt hatte, und ihm in den Weg. Da Dantes ihm von Mercedes erzählt hatte, so hatte sie nicht nötig, sich zu nennen. Villefort erkannte sie sofort. Er war überrascht von der Schönheit und Würde dieses Mädchens und als sie ihn nach ihrem Verlobten fragte, schien ihm, als wäre er der Angeschuldigte und sie sein Richter. "Der Mann, von dem Sie sprechen, ist ein großer Schurke und ich kann nichts für ihn tun, mein Fräulein!" Mercedes brach in lautes Schluchzen aus und als Villefort versuchte, an ihr vorbeizugehen, hielt sie ihn noch einmal auf. "Aber wo ist er denn, kann ich nicht erfahren, ob er tot ist oder noch lebt?" "Ich weiß nicht, ich habe nichts mehr mit ihm zu tun!" Bedrückt durch diesen fragenden Blick und die bittende Haltung Mercedes, trat Villefort schnell ein und schloß die Tür hinter sich, wie um diesen Schmerz, der auf sein Gewissen fiel, draußen zu lassen. Aber in seinem Salon angekommen, versagten ihm die Füße, er stieß einen Seufzer aus, der mehr einem Schluchzen glich und ließ sich schwer auf einen Sessel fallen. Im Grunde seines Herzens entwickelte sich der erste Keim zu einem tödlichen Ge
schwür. Dieser Mann, welcher durch seinen Ehrgeiz geopfert, dieser Unschuldige, welcher für die Schuld seines Vaters büßen mußte, erschien an der Hand seiner Verlobten bleich und drohend vor seinen Augen und mit ihm stellten sich Gewissensbisse ein, nicht diejenigen, welche wie Furien sich heftig auf den Kranken stürzen, sondern die wie ein dumpfes, schmerzliches Klingen das Herz treffen und es in der Erinnerung einer vergangenen Handlung langsam zu Tode peinigen. In seiner Seele gab es noch ein leises Zögern. Schon mehrmals hatte er ohne irgendeine andere Erregung, als die des Kampfes, gegen den Angeklagten ein Todesurteil ausgesprochen und dieses Urteil hatte keine Wolke auf seiner Stirn hervorgerufen, denn diese Angeklagten waren schuldig, oder wenigstens glaubte es Villefort. Aber dieses Mal lag die Sache ganz anders. Er hatte einen Unschuldigen nicht nur seiner Freiheit, sondern auch seines Glückes beraubt. Dieses Mal war er nicht Richter, er selbst war der Henker, Indem er dies bedachte, fühlte er diese dumpfen Schläge, welche wir bereits beschrieben haben, die sein Herz bisher noch nie gekannt hatte; die Wunden, die sie bringen, schließen sich nicht wieder ganz, oder wenigstens brechen sie bei dem geringsten Anlaß wieder auf. Wenn in diesem Augenblick die sanfte Stimme Renées, um Gnade flehend, an sein Ohr geklungen, wenn die schöne Mercedes vor ihm gestanden und ihm gesagt hätte: Im Namen Gottes, der auf uns herabsieht und der uns richtet, geben Sie mir meinen Verlobten zurück, dann würde er Dantes die Freiheit wiedergegeben haben. Aber keine süße Stimme er
tönte in der Stille und durch die Tür trat nur der Kammerdiener, welcher meldete, daß der Postwagen vor der Tür stände. Villefort sprang auf, wie ein Mensch, welcher einen inneren Kampf überwunden hat, eilte in sein Büro und steckte alles Gold, was er besaß, zu sich, lief noch ein paarmal verstört herum, unzusammenhängende Worte murmelnd, sodann ging er hinaus und befahl mit barscher Stimme dem Kutscher, am Hause des Marquis von St. Méran anzuhalten. Der unglückliche Dantes blieb also verurteilt. Im Zimmer seines zukünftigen Schwiegervaters traf er außer diesem die Marquise und Renée an. Letztere bemerkend, zitterte er, denn er glaubte, diese würde ihn abermals um die Freiheit Dantes bitten Aber leider, so schändlich der menschliche Egoismus ist, beschäftigte das junge Mädchen nur die Abreise Villeforts. Sie liebte ihn wirklich, er würde in kurzer Zeit ihr Gemahl werden und mußte wegreisen, ohne ihr seine Rückkehr angeben zu können. Und Renée, anstatt Dantes zu beklagen, verwünschte ihn, weil sie sioh seinetwegen von ihrem Verlobten trennen mußte. Was mußte vollends Mercedes dazu sagen? Die arme Mercedes hatte an der Ecke der Straße Ferdinand gefunden, welcher ihr gefolgt war. Sie war mit ihm in die Kolonie zurückgekehrt und hatte sich verzweifelnd auf ihr Bett geworfen, vor demselben war Ferdinand niedergesunken und bedeckte die eisigen Hände Mercedes mit glühenden Küssen, ohne daß dieselbe etwas davon merkte. So verging die Nacht. Die Lampe erlosch, da es hier an Öl mangelte, aber Mercedes bemerkte nicht die Dunkelheit, wie sie vorhin nicht das Licht gesehen hatte. Der Schmerz hatte
ihr eine Binde um die Augen gelegt, im Geiste sah sie nur Edmund. "Ach, du bist da?" sagte sie endlich, sich nach Ferdinands Seite hinwendend. "Seit gestern habe ich dich nicht verlassen", antwortete Ferdinand mit schmerzlichem Seufzer. Herr Morrel war nicht untätig geblieben, er hatte erfahren, daß Dantes infolge des Verhörs ins Gefängnis gebracht worden war. Er hatte alle seine Freunde, alle einflußreichen Personen in Marseille aufgesucht, aber das Gerücht, daß der junge Mann ein bonapartistischer Agent war, war schon überall durchgedrungen und da zu dieser Zeit die kühnsten Männer eine neue Thronbesteigung Napoleons als ein Hirngespinst betrachteten, so wurde er überall mit Kälte, Furcht oder Zurückweisung empfangen — und er selbst kehrte ganz verzweifelt nach Hause zurück, sich eingestehend, daß die Lage sehr ernst sei und niemand etwas tun könne. Caderousse seinerseits war sehr unruhig und verstört, aber anstatt wie Herr Morrel irgend etwas zugunsten Dantes zu tun, schloß er sich mit zwei Weinflaschen in sein Zimmer ein, um in der Trunkenheit seine Unruhe zu betäuben. Doch bei seinem Geisteszustand reichten zwei Flaschen Wein nicht hin, um seine Urteilskraft vollständig auszulöschen, und da er sich nicht auf seinen Beinen sicher fühlte, noch mehr Wein zu holen, so blieb er an seinem wackeligen Tisch, den Kopf herabgesunken, sitzen und sah im Scheine der beinahe abgebrannten Kerze gespensterhafte Phantome um sich herumtanzen. Danglars allein war vergnügt, denn er hatte sich an einem Feinde gerächt und sein Platz auf dem
Pharao war ihm sicher. Danglars war einer jener berechnenden Menschen, welche mit einer Feder hinterm Ohr und einem Tintenfaß an Stelle eines Herzens geboren worden waren. Bei ihm galt nur Subtraktion — oder Multiplikation und eine Zahl schätzte er höher als einen Menschen, erstere konnte das Ganze vermehren, welches ein Mensch vermindern konnte . . . . Er war zur gewöhnlichen Zeit zu Bett gegangen und schlief ruhig. Dantes alter Vater lag vor Kummer und Schmerz in den letzten Zügen.
Die französische Regierung. Verlassen wir Villefort auf dem Wege nach Paris, den er, wegen seines dreifachen Trinkgeldes, das er bezahlt, in Kürze zurückgelegt, und treten wir in jenes kleine, mit einem Bogenfenster versehene Zimmer ein, welches als Lieblingsaufenthalt Napoleons und Ludwigs XVIII, bekannt war und das später Ludwig Philipp benutzte. In diesem Zimmer saß heute vor einem Nußbaumtisch, den er aus Hartwell mitgebracht hatte, der König Ludwig XVIII. Er hörte einen Mann von ungefähr 50 oder 52 Jahren mit grauem Haar und aristokratischen Gesichtszügen an und machte inzwischen Randbemerkungen in einem Werke Horaz'. "Wie meinten Sie doch, mein Herr?" fragte der König, "Daß ich so aufgeregt bin, wie man es nur sein kann, Sire!" "Wirklich! haben Sie vielleicht im Traume sieben fette oder sieben magere Kühe erblickt?"
"Nein, Sire, denn das würden für uns sieben fruchtbare und sieben magere Jahre bedeuten, und bei einem so vorsichtigen König, wie es Ew. Majestät ist, haben wir die Teuerung nicht zu befürchten," "Von welcher anderen Lage ist dann die Rede, mein lieber Blacas?" "Ich glaube, Sire, ja, ich habe alle Ursache zu glauben, daß sich im Süden ein Gewitter zusammenballt." "Ei, mein lieber Herzog," antwortete Ludwig XVIII. "Sie scheinen schlecht unterrichtet zu sein, denn ich weiß bestimmt, daß gerade nach jener Seite hin sehr schönes Wetter herrscht." So geistreich Ludwig XVIII. war, so liebte er doch einen harmlosen Scherz. "Könnte Ew. Majestät nicht zuverlässige Männer nach Languedoc, nach der Provence und der Dauphine senden, die Ihnen einen genauen Bericht über die dortige Lage geben könnten, — und wäre es nur, um einen treuen Diener zu beruhigen, Sire! vielleicht haben Sie recht, auf den guten Geist der Franzosen zu rechnen, aber wir müssen auch Napoleon und seine Partei im Auge behalten," "Mein lieber Blacas, Sie stören mich durch Ihr Gespenstersehen nur bei der Arbeit." "Und Ew. Majestät Sorglosigkeit bringt mich um meinen Schlaf." "Warten Sie, mein Lieber, dort zu Ihrer Linken muß sich der Bericht des Polizeiministers von gestern befinden . . . . Aber sehen Sie, da ist er selbst, nicht wahr, Sie melden Herrn Dandre?" fragte der König den Türhüter. "Kommen Sie näher, Baron, und er
zählen Sie dem Herzog des Neueste von Napoleon. Verschweigen Sie nichts über die Lage, so ernst dieselbe auch sein mag." "Hat Ew. Majestät den gestrigen Polizeibericht nicht befragt?" "Doch, aber sagen Sie dem Herzog alle Einzelheiten von dem, was der Usurpator treibt." "Nun, Bonaparte langweilt sich tödlich und verbringt ganze Tage damit, den Bergwerksarbeiten zuzuschauen; in kurzer Zeit wird er wahnsinnig geworden sein. Sein Verstand nimmt ab; bald weint er heiße Tränen, bald lacht er aus vollem Halse, das sind doch schon Zeichen von Verrücktheit, "Nun, was denken Sie darüber?" fragte mit triumphierender Miene der König Herrn von Blacas. "Ja, Sire, entweder befindet sich der Polizeiminister oder ich mich selbst im Irrtum und ich ersuche Sie, den Ew. Majestät von Herrn von Salvieux warm empfohlenen Villefort in Audienz zu empfangen." "Villefort," rief der König aus, "ja, warum sagten Sie mir das nicht sofort, mein lieber Blacas. Villefort ist sehr ehrgeizig und opfert seinem Ehrgeiz sogar seinen Vater." "Also darf ich ihn holen, er erwartet mich unten in meinem Wagen." Mit der Lebhaftigkeit eines ganz jungen Mannes eilte der Herzog hinaus, seine leidenschaftliche Hingabe für den Royalismus verjüngte ihn um 20 Jahre. Herr von Blacas kam mit derselben Schnelligkeit mit Herrn von Villefort zurück und beide betraten das bewußte Gemach.
"Ah, Herr Villefort," rief ihn der König sofort an, "ist die Lage wirklich so ernst, wie der gute Blacas meint? Sprechen Sie und beginnen Sie mit dem Anfang, ich liebe in allem die Ordnung." "Auf amtlichem Wege," begann Villefort, "habe ich ein Komplott entdeckt, das nichts Geringeres als den Thron Ew. Majestät bedroht. Der Usurpator bemannt drei Schiffe und in diesem Augenblick wird er schon die Insel Elba verlassen haben, um in Neapel an der Küste von Toskana oder in Frankreich selbst zu landen, wer kann das wissen? Ew. Majestät wird unterrichtet sein, daß Napoleon Beziehungen zu Frankreich und Italien unterhält." "Ja, ich weiß," erwiderte der König aufgeregt, "daß erst vor kurzem in der Rue St. Jacques bonapar tistische Versammlungen stattgefunden haben — aber eine Verschwörung kann leicht geplant, doch schwer ausgeführt werden; seit zehn Monaten verdoppeln meine Minister die Wachsamkeit und lassen die Ufer des Mittelländischen Meeres nicht aus den Augen, so würden die ganzen Verbündeten auf den Beinen sein, ehe er in Piombino angelangt wäre. Käme er mit seiner Handvoll Leuten nach Frankreich, so würden wir, verabscheut wie er ist, bald mit ihm fertig werden. Also beruhigen Sie sich, mein Herr," fügte der König lächelnd hinzu, "und rechnen Sie nicht minder auf unsere königliche Dankbarkeit." "Ah! hier kommt Herr Dandre zurück", rief der Herzog von Blacas aus, und wirklich stand der Polizeiminister bleich und zitternd auf der Schwelle des Gemachs, als wäre er vom Blitz getroffen worden.
Der korsische Werwolf. Als der König das entstellte Gesicht seines Ministers wahrnahm, rief er ihm heftig zu: "Was gibt's? Soll Ihre Verwirrung den Bericht über unsere Lage bestätigen, den ich soeben durch Herrn von Villefort erhalten habe?" "Oh! Sire, über dieses entsetzliche Unglück werde ich mich nie trösten können. Der Usurpator hat am 28. Februar die Insel Elba verlassen und ist am 1. März in einem kleinen Hafen von Frankreich, im Meerbusen von Tuan, 250 Meilen von Paris, gelandet." ,,. . . Und Sie erfahren diese Nachricht erst heute?" stieß der König mit einer Gebärde des Zornes hervor, "seid Ihr alle im Einverständnis mit ihm? Wie wäre dies sonst möglich gewesen?" "Nun," mischte sich Villefort ins Gespräch, "der Usurpator ist im Süden verhaßt, man könnte leicht die Provence und Languedoc gegen ihn aufwiegeln." "Zweifellos," meinte der Minister, "aber er rückt über Gap und Sisteron vor." "Rückt vor! Rückt vor! Ja, marschiert er etwa auf Paris zu?" Der Polizeiminister schwieg still, was einer vollständigen Zustimmung gleichkam, "Wie steht es in der Dauphine, Herr von Villefort?" fragte der König. "Tut mir unendlich leid, Ew. Majestät die traurige Nachricht zugestehen zu müssen, daß die Dauphine noch weniger wert ist als die anderen Provinzen; die Bewohner sind alle Bonapartisten." "Und wie stark ist seine Bedeckung?" fuhr der König fort.
"Das weiß ich nicht," stotterte der Polizeiminister, "die Depesche enthält nur die Nachricht von der Landung des Usurpators und den Weg, den er passiert." "Also," rief der König, bleich vor Zorn, aus, "ein Wunder des Himmels hat mich nach 25jähriger Verbannung auf den Thron meiner Väter gesetzt, nachdem sieben verbündete Heere diesen Mann gestürzt; während dieser Jahre habe ich Menschen und Zustände von Frankreich studiert, sondiert, analysiert und nun, am Ziel meiner Wünsche, bricht eine Macht, die ich unter meinen Händen hatte, aus und vernichtet mich." "Das nennt man Verhängnis, Sire", sagte der Minister leise. "Wenn ich verraten worden wäre wie er, würde ich mich noch zu trösten wissen, aber fallen, elendiglich durch die Albernheit jener Leute, die durch mich zu ihren Würden gekommen sind, das ist ein Verhängnis. Sie haben recht, mein Herr!" Der Minister stand wie vernichtet unter dem furchtbaren Bannfluch. "— Sire," wagte nun Villefort einzuwenden, "die Ereignisse sind dermaßen schnell eingetreten, daß sie Gott allein durch die Schickung eines Seesturms hätte verhindern können. Ich habe die Entdeckung einem einfachen Zufall zu verdanken, den ich als ergebener Diener benutzt habe." "Es ist gut, mein Herr, ich bedarf Ihrer nicht mehr. Sie können sich zurückziehen; jetzt ist es Sache des Kriegsministers, zu handeln." "Wir können glücklicherweise auf das Heer zählen,
Sire, es ist nach den Regierungsberichten Ew. Majestät ganz ergeben", sagte Blacas. "Sprechen Sie ja nicht von Berichten, ich weiß, wie man sich auf die verlassen kann. A propos, wissen Sie etwas Neues über die Angelegenheit in der Rue St. Jacques? Dieselbe scheint mir in direkter Beziehung mit der Flucht Napoleons zu stehen und der Tod des Generals Quesnel bringt uns vielleicht auf die Spur einer großen Verschwörung im Innern." Bei dem Namen Quesnel befiel Villefort ein Schaudern und er mußte sich auf die Lehne eines Sessels stützen. "Sie müssen von Ihrer langen Reise sehr ermüdet sein, Herr von Villefort, ich beurlaube Sie, ruhen Sie sich aus. Wohnen Sie bei Ihrem Vater? Ach, ich vergaß ja, daß Sie mit ihm auf gespanntem Fuße stehen. Sie bringen dadurch der royalistischen Partei ein neues Opfer und ich muß Sie dafür entschädigen." "Die Güte, die mir Ew. Majestät beweist, sie ist schon meine Belohnung und übersteigt mein ganzes Streben, so daß mir nichts zu wünschen übrig bleibt," "Gleichviel, Wir werden Sie nicht vergessen, darauf können Sie sich verlassen," dabei nestelte er das Kreuz der Ehrenlegion los und überreichte es Villefort, "nehmen Sie vorläufig dieses Kreuz an." In Villeforts Augen schwammen Tränen stolzer Freude und er küßte das Kreuz. "Welche Befehle erteilt mir Ew. Majestät nun?" "Ruhen Sie sich aus und denken Sie daran, daß mir Ihre Dienste von Marseille aus von der größten Wichtigkeit sind." "In einer Stunde, Majestät, werde ich Paris verlassen haben," sagte Villefort, sich tief verbeugend.
"Gehen Sie, mein Herr, und wenn ich Sie je vergessen sollte (das Gedächtnis der Könige ist kurz), so fürchten Sie sich nicht, mich wieder aufmerksam darauf zu machen. . . . Befehlen Sie, Herr Baron, daß der Kriegsminister geholt werde! Und Sie, Blacas, bleiben Sie." "Sie haben Ihr Glück gemacht," meinte der Polizeiminister zu Villefort, als sie die Tuilerien verließen, "und Ihre Karriere ist gesichert," "Wird sie lang sein?" murmelte Villefort, den Minister grüßend und sich in einen vorbeikommenden Fiaker werfend, der ihn nach seiner Wohnung brachte. Dort angekommen bestellte er sich Frühstück und für zwei Stunden später seinen Wagen. Als er sich zu Tisch setzen wollte, klingelte es und der Kammerdiener meldete ihm, daß ein Mann von ungefähr 50 Jahren mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, einem Backenbart und einem Kreuz der Ehrenlegion ihn zu sprechen wünsche. "Er ist's", murmelte Villefort erbleichend. "Potz tausend!" rief der eben angemeldete, welcher schon in die Tür getreten war, aus. "Ist das Marseiller Sitte, daß die Söhne ihren Vater im Vorzimmer warten lassen?" "Mein Vater," rief Villefort aus, "ich irrte mich also nicht, als ich vermutete, daß Sie es wären," "Wenn du es vermutetest," nahm der Neuangekommene das Gespräch wieder auf, indem er seinen Hut und Stock in die Ecke des Zimmers stellte, "so gestatte, mein lieber Gerhard, zu bemerken, daß es nicht liebenswürdig von dir ist, mich warten zu lassen." "Laß uns allein!" sagte Villefort zum Kammerdiener, der erstaunt die beiden Männer betrachtete.
Vater und Sohn. Herr Noirtier verfolgte den Diener mit den Augen, bis derselbe die Tür geschlossen hatte, spähte dann nochmals hinaus, sich vergewissernd, daß er nicht horche: überflüssig war diese Vorsicht nicht, denn die Schnelligkeit mit der Germain wegsprang, ließ erkennen, daß er von der Sünde unserer Vorfahren nicht frei war. Herr Noirtier schloß nun selbst die Tür des Vorzimmers, verriegelte sogar das Schlafzimmer und dann reichte er seinem Sohne, der alle seine Bewegungen verfolgt hatte, die Hand. "Mein lieber Gerhard," sagte er, "du scheinst nicht entzückt zu sein, mich zu sehen?" "Doch, mein Vater, ich freue mich, aber ich erwartete Ihren Besuch nicht und darum hat er mich etwas überrascht," "Ich könnte dir dasselbe sagen, mein lieber Freund," entgegnete Noirtier. "Du kündigtest mir deine Verlobung am 28. Februar an und wieso kommst du nun am 3. März nach Paris?" "Beklagen Sie sich nicht darüber, Vater, daß ich hier bin. Ihretwegen bin ich hierher gekommen und diese Reise kann Sie vielleicht retten." "Ah, wirklich!" rief Noirtier aus, indem er sich nachlässig in einem Fauteuil ausstreckte. "Erzählen Sie ausführlich, Herr Staatsbeamter, das muß etwas Merkwürdiges sein." "Haben Sie von einem bonapartischen Klub in der Rue St. Jacques gehört?" "Nr. 53? Jawohl, ich bin der Vizepräsident." "Ihre Kaltblütigkeit entsetzt mich, mein Vater."
"Was willst du, mein Lieber, wenn man als Flüchtling in einem Heuwagen versteckt, Paris verließ und von den Spürhunden Robespierres bei Bordeaux entdeckt wurde, so wird man gegen viele Sachen abgehärtet. Ei, was hat sich nun in diesem Klub zugetragen?" "Man hat den General Quesnel dort hinkommen lassen und am zweiten Tage darauf ist er in der Seine gefunden worden." "Wer hat dir diese schöne Geschichte erzählt?" "Der König selbst." . "Dafür will ich dir eine andere Geschichte mitteilen," fuhr Noirtier fort. "Ich glaube zu erraten, was Sie mir sagen wollen." "Ah, bist du schon von der Landung Sr. Majestät unterrichtet?" "Still, Vater! Um Ihret- und um meinetwillen. Ja, ich kannte diese Nachricht sogar vor Ihnen. In drei Tagen bin ich von Marseille nach Paris geeilt, wütend darüber, daß ich den Gedanken, der mir das Gehirn versengt, nicht 200 Meilen vorausschicken konnte," "Bist du verrückt, vor drei Tagen war der Kaiser noch nicht gelandet." "Gleichviel, ich kannte seinen Plan, und das durch einen Brief, der von der Insel Elba an Sie gerichtet war und den ich im Portefeuille des Boten fand. Wäre dieser Brief in andere Hände gefallen, so könnten Sie jetzt schon erschossen sein, mein Vater," Lachend erwiderte Noirtier: "Die Restauration scheint vom Kaiserreich die Art und Weise gelernt zu haben, gewisse Angelegenheiten schnell zu erledigen . . . Erschossen? Wie das schnell bei dir geht. Und wo ist der Brief?"
"Ich habe ihn verbrannt, infolge dieses Briefes wären Sie verurteilt . . . " ". . . und deine Zukunft vernichtet worden," fiel Noirtier kalt ein; "ja, ich begreife das, aber ich habe ja nichts zu befürchten, da du mich beschützest." "Ich tue doch etwas Besseres, ich rette Sie!" "Zum Teufel, das wird ja ganz dramatisch, erkläre dich!" "Ich komme nochmals auf den Klub in der Rue St. Jacques zurück." "Dieser Klub scheint den Herren von der Polizei sehr am Herzen zu liegen. Wenn sie besser gesucht hätten, so würden sie ihn schon gefunden haben." "Sie haben ihn noch nicht, aber sie sind auf seiner Spur." "Das ist die stehende Redensart. Wenn die Polizei auf dem Holzwege ist, so sagt sie, sie sei auf der Spur." "Wenn man nicht den Klub gefunden hat, so hat man einen Leichnam gefunden. Der General ist umgebracht worden und überall nennt man das einen Mord." "Einen Mord, sagt du? Nichts beweist, daß der General ermordet worden ist. Man findet alle Tage Leute in der Seine, welche sich aus Verzweiflung hineinwerfen, oder ertrunken sind, weil sie nicht schwimmen können." "Sie wissen recht gut, mein Vater, daß der General sich nicht aus Verzweiflung in die Seine gestürzt und daß er im Januar kein kaltes Bad genommen hat. Nein, nein, täuschen Sie sich nicht, dieser Tod muß für einen Mord erklärt werden." "Wer hat ihn so bezeichnet?" "Der König selbst."
"Ich hätte den König für philosophischer gehalten. Er muß doch begreifen, daß es in der Politik keinen Mord gibt, da gibt es keine Menschen, sondern Ideen, keine Gefühle, sondern Interessen; in der Politik tötet man keinen Menschen, man schafft ein Hindernis aus dem Wege, das ist alles. Willst du wissen, wie sich die Sache zugetragen hat? Nun wohl, ich werde es dir sagen: Wir glaubten auf den General Quesnel rechnen zu können, da er uns von der Insel Elba aus empfohlen war. Einer von den Unsrigen begab sich zu ihm, um ihn zu der Versammlung einzuladen. Er erscheint und man entwickelt ihm den Fluchtplan des Kaisers. Als er sich alles genau angehört hatte, erklärte er sich für einen Royalisten. Nun wohl, man ließ den General gehen und da er nicht zu Hause angelangt ist, so wird er sich einfach verirrt haben. Ein Mord! Du setzest mich wirklich in Erstaunen, du als Vertreter des Staatsanwalts willst eine Anklage auf so schwache Beweise begründen? Habe ich jemals gedacht, zu sagen, wenn du als Royalist einen von den Meinigen hast enthaupten lassen, daß du damit einen Mord begangen hast? Nein, ich habe gesagt: Nun wohl, du hast gesiegt, morgen kommt die Revanche." "Hüten Sie sich, mein Vater, die Revanche, die wir nehmen werden, wird fürchterlich sein. Sie rechnen auf die Rückkehr des Usurpators?" "Ich gestehe es, ja!" "Sie irren sich, er wird nicht sechs Meilen ins Innere Frankreichs vordringen, ohne verfolgt und wie ein wildes Tier gehetzt zu werden." "Mein lieber Freund, der Kaiser ist in diesem Augenblick auf dem Wege nach Grenoble, am 10. oder
12. wird er in Lyon und am 20. oder 25. in Paris eintreffen." "Die ganze Bevölkerung wird sich erheben . . ." ,,Um ihm entgegenzugehen!" "Er hat nur einige Mann bei sich und ganze Heere wird man ihm entgegenschicken." "Welche seine JEskorte bis in die Hauptstadt bilden werden. Wirklich, mein lieber Gerhard, du bist noch ein reines Kind, man wird ihm bis Paris folgen, ohne eine Flinte abzufeuern. Grenoble wird ihm mit Begeisterung seine Tore öffnen und ganz Lyon wird ihm entgegengehen. Glaube mir, unsere Polizei ist besser unterrichtet wie die Eurigen. Du wolltest mir deine Reise verheimlichen, und ich erfuhr deine Ankunft eine halbe Stunde darauf, nachdem du das Tor passiert hattest. Du hattest deine Adresse niemandem als dem Postillon gegeben — nun wohl, du siehst, daß ich sie erfahren habe. Klingle doch und bestelle ein zweites Kouvert, wir werden zusammen essen." "Wirklich, Vater," rief Villefort erstaunt aus, "Sie scheinen gut unterrichtet zu sein." "Mein Gott, die Sache ist sehr einfach. Ihr, die Ihr jetzt die Macht habt, besitzt nur die Mittel, die Ihr Euch durch Geld verschaffen könnt, hingegen können wir auf Hingebung und Anhänglichkeit rechnen." Nach diesen Worten streckte Noirtier selbst die Hand nach der Klingelschnur aus, als Villefort ihm zurief: "Noch ein Wort, Vater! So schlecht die royalistische Polizei auch sein mag, so kennt sie doch das Signalement des Mannes, der den General Quesnel an dem Tage, wo er verschwunden ist, besucht hat."
"Ei, kennt sie es, die gute Polizei, und wie lautet dasselbe?" "Braune Gesichtsfarbe, Augen, Haar und Backenbart schwarz, Oberrock blau, Kreuz der Ehrenlegion." "Ei, ei, das weiß sie also, und warum nimmt sie diesen Mann nicht fest?" "Weil sie gestern oder vorgestern an der Ecke Coq Heron seine Spur verloren hatte." "Sagte ich dir nicht eben, daß die Polizei unfähig ist?" "Sie kann ihn aber jeden Augenblick finden." "Jawohl," meinte Noirtier, indem er sich sorglos umblickte, "ja, wenn dieser Mann nicht gewarnt wird, aber er ist es und wird," fügte er lächelnd hinzu, "sein Gesicht und seine Kleidung verändern . . ." Mit diesen Worten ging er nach einem Tisch, auf welchem das Reisenecessaire seines Sohnes ausgebreitet war, rasierte seinen verfänglichen Bart ab, welcher für die Polizei ein kostbares Dokument war, ordnete sein Haar anders, entnahm dem Koffer seines Sohnes einige andere Kleidungsstücke, probierte vor dem Spiegel dessen Hut und schwang in seiner nervigen Hand statt seines dicken Rohres ein zierliches Spazierstöckchen. "Nun," meinte er, sich nach seinem entsetzt dreinblickenden Sohne wendend, "glaubst du, daß mich deine Polizei jetzt wiedererkennen kann?" "Nein," stammelte Villefort, "ich hoffe es wenigstens." "Jetzt, mein lieber Gerhard," fuhr Noirtier fort, "vertraue ich deiner Vorsicht, lasse all' die Gegen stände, die ich hier lasse, verschwinden. Ich glaube
jetzt selbst, daß du recht hast, und daß ich dir vielleicht mein Leben verdanke, aber sei ruhig, ich vergelte es dir nächstens," Villefort schüttelte den Kopf. "Wirst du den König noch einmal sehen?" fragte Noirtier. "Vielleicht, und was soll ich ihm sagen?" "Sag ihm folgendes: Man täuscht Sie, Sire, über die Vorkehrungen in Frankreich, die Meinung der Städte und den Geist des Heeres. Denjenigen, den sie in Paris den Werwolf aus Korsika nennen, der noch in Nevers der Usurpator heißt, wird schon in Lyon Bonaparte und in Grenoble Kaiser genannt. Sie halten ihn für umstellt, verfolgt und auf der Flucht, und er schreitet vorwärts, schnell wie der Adler, den er zurückbringt. Die Soldaten, von denen Ihnen erzählt wird, daß sie vor Hunger, vor Mattigkeit bereit wären zu desertieren, vermehren sich wie die Schneeflocken um die Lawine, die herabstürzt. Sire, überlassen Sie Frankreich seinem wahren Herrn, demjenigen, der es nicht gekauft, aber erobert hat. Fliehen Sie, nicht weil Sie in Gefahr wären, sondern weil es für einen Enkel des heiligen Ludwig demütigend ist, sein Leben dem Manne von Arcole, Marengo und Austerlitz verdanken zu müssen. Sage ihm das, Gerhard, oder gehe und sage ihm nichts. Verheimliche deine Reise, rühme dich ihrer nicht. Nimm die Eilpost und kehre nachts nach Marseille zurück und bleibe dort sanftmütig, demütig und geheim und besonders harmlos. Denn dieses Mal, ich schwöre es dir, werden wir wie kräftige Männer handeln, die ihre Feinde kennen. Geh, mein Sohn,
mein lieber Gerhard, und wenn du diese väterlichen Befehle oder vielmehr die Ratschläge eines Freundes befolgst, wir werden dir deine Stellung erhalten. Dies wird," fügte Noirtier lachend hinzu, "vielleicht ein Mittel sein, mich zum zweitenmal zu retten, wenn die politische Wagschale dich eines Tages wieder emporhebt und mich sinken läßt. Adieu, mein lieber Gerhard, bei deiner nächsten Reise steigst du bei mir ab." Mit diesen Worten verließ Noirtier mit der Ruhe, welche ihn während der schwierigen Unterhaltung nicht verlassen hatte, das Gemach, Bleich und sehr erregt lief Villefort ans Fenster und sah seinen Vater, umgeben von zwei oder drei Männern von sehr reduziertem Aussehen an der Straßenecke verschwinden. Kurze Zeit darauf sprang er in die Postkutsche und fuhr Marseille zu. Unterwegs erfuhr er, daß Bonaparte in Grenoble eingezogen sei.
Die hundert Tage. Herr Noirtier war ein guter Prophet und die Dinge nahmen, wie er gesagt hatte, einen schnellen Verlauf. Jeder kennt diese seltsame und wunderbare Rückkehr Napoleons von der Insel Elba, welche wahrscheinlich ohne Beispiel in der zukünftigen Geschichte bleiben wird. Ludwig XVIII. versuchte nur schwach, diesen so harten Schlag zu parieren. Sein geringes Vertrauen zu den Menschen nahm ihm auch noch das Vertrauen zu den Begebenheiten. Das Königtum oder vielmehr die Monarchie, kaum durch ihn wiederhergestellt, zitterte auf der noch Ungewissen Grundlage und eine
einzige Bewegung des Kaisers ließ dieses ganze Gebäude, alle die alten Vorurteile, zusammenstürzen, Villefort konnte sich also nur der einzigen Dankbarkeit seines Königs rühmen, nämlich des Kreuzes der Ehrenlegion, welches er aus Klugheit niemandem zeigte. Napoleon hätte Villefort ohne den Schutz von Noirtier sicher seines Amtes entsetzt, welcher wegen der Gefahren, denen er getrotzt und der Dienste, die er geleistet hatte, an diesem Hofe der "Hundert Tage" mächtig geworden war. So schützte der Girondist von 1793 und der Senator von 1806 denjenigen, welcher ihn vorher geschützt hatte. Die ganze Macht Villeforts beschränkte sich während jener kurzen Wiederherstellung des Kaiserreichs, dessen zweiter Sturz leicht vorauszusehen war, darauf, das Geheimnis zu ersticken, welches Dantes beinahe verbreitet hatte. Nur der Staatsanwalt wurde abgesetzt. Die Hochzeit Villeforts wurde auf glücklichere Zeilen verschoben. Würde sich Napoleons Regierung halten, so sollte ihm sein Vater zu einer anderen Partie verhelfen, sollte eine zweite Restauration Ludwig nach Frankreich führen, so würde sich der Einfluß St. Mérans verdoppeln und die Verbindung mit Renée würde alsdann angemessener als je werden. Der Amtsvertreter war also in diesem Augenblick der erste Beamte Marseilles, dem eines Morgens der Besuch Herrn Morrels gemeldet wurde, der durch Napoleon ein bedeutenderer Mann geworden war. Ein anderer würde dem Reeder mit besonderer Aufmerksamkeit begegnet sein, aber dieses würde eine gewisse Schwäche verraten haben und so ließ er Morrel im Vorzimmer warten, wie er es unter der Restauration getan hatte.
Morrel erwartete, Villefort niedergeschlagen und weniger stolz zu finden, aber dieser war ruhig, fest und von jener kalten Höflichkeit, welche eine unüberwindliche Scheidewand bildet, die den gebildeten von dem gewöhnlichen Menschen trennt, und so war er es, der zitternd und bang vor dem hoheitsvollen Villefort stand. "Treten Sie näher, mein Herr," sagte der Staatsbeamte, "und sagen Sie mir, welchem Umstände ich die Ehre Ihres Besuches verdanke." "Vermuten Sie es nicht, mein Herr?" fragte der Reeder. "Ganz und gar nicht!" "Erinnern Sie sich bitte, daß ich einige Tage vor der Landung des Kaisers zu Ihnen kam, um Ihre Nachsicht für einen unglücklichen jungen Mann, den ersten Offizier meines Schiffes, anzurufen. Er war, wie Sie sich erinnern werden, angeklagt, Beziehungen zu der Insel Elba zu unterhalten. Sie haben damals durchblicken lassen, daß Sie ein Anhänger Ludwigs XVIII. waren und es war Ihre Pflicht, heute nun, wo Sie auch Napoleon dienen, ist es Ihre Pflicht, seine Anhänger zu schützen und ich frage Sie nun, was aus Dantes geworden ist?" Augenblicklich hätte Villefort lieber auf dem Kampfplatz gestanden und auf 25 Schritt den Pistolenlauf seines Gegners gesehen, als diesen Namen so unverhofft zu hören, jedoch zuckte keine Fiber in seinem Gesicht. "Dantes," wiederholte er, "Edmund Dantes, sagen Sie?" und er nahm ein dickes Register, das in einem nahen Fach lag, sodann ein Pack Akten zur Hand und
sich an den Reeder wendend meinte er: "Irren Sie sich auch nicht, mein Herr?" Wäre Morrel ein listigerer oder in dieser Affäre mehr aufgeklärter Mann gewesen, so würde er es eigentümlich gefunden haben, daß der Staatsanwalt ihm darauf zu antworten geruhte, was gar nicht in sein Gebiet gehörte. "Ah!" sagte Villefort, in einem anderen Register blätternd, "Dantes, er war Seemann, welcher eine Katalonierin heiraten wollte. Ja, ja, ich erinnere mich jetzt, die Sache war sehr ernst. Ich mußte die Papiere, die man bei ihm fand, nach Paris senden, das war meine Pflicht und acht Tage nach seiner Festnahme wird man ihn nach Fenestrelles oder auf die Insel St. Marguerite gebracht haben, von dort wird er eines schönen Tages wiederkehren und das Kommando Ihres Schiffes übernehmen." "Möchte er kommen, je eher, je lieber. Doch warum ist er nicht schon da? Die erste Sorge der kaiserlichen Regierung hätte doch wohl sein müssen, diejenigen aus der Haft zu entlassen, die unter Ludwig XVIII, eingekerkert worden waren." "Man muß auf alle Fälle nach dem Gesetz verfahren. Napoleon ist kaum 14 Tage wieder zurück und die Begnadigungen können noch nicht veröffentlicht worden sein." "Gibt es kein Mittel, die Formalitäten abzukürzen? Ich habe einflußreiche Freunde, die die Aufhebung des Urteils erlangen können!" "Es gibt keinen Urteilsspruch und bei politischen Vergehen auch keine Gefangenenliste." "Aber schließlich, Herr von Villefort, können Sie
Unaufhörlich irrte Mercedes um das kleine Dorf der Katalonier.
mir keinen Rat geben, welcher die Rückkehr des armen Dantes beschleunigt?" Machen Sie eine Bittschrift an das Justizministerium und wenn Sie durch mich mit einer Randbemerkung an den Minister gelangt, so wird er sie sicher lesen. Kommen Sie, Herr Morrel, setzen Sie sich hierher, ich werde Ihnen diktieren, wir dürfen keine Zeit verlieren." "Ja, Herr von Villefort," erwiderte der Reeder, "wer weiß, wie sehr der arme Junge leidet." Villefort schauderte bei dem Gedanken an diesen Gefangenen, der ihn sicher in der Stille und Dunkelheit verfluchte, aber er hatte sich zu sehr in diese Sache verwickelt, um wieder zurück zu können. Dantes mußte von dem Räderwerk seines Ehrgeizes zermalmt werden. Also diktierte Villefort eine Bittschrift, deren Erfolg ganz sicher schien. Er übertrieb den Patriotismus Dantes und die Dienste, welche er der bonapartistischen Sache geleistet hatte. Nach dieser Bittschrift war Dantes einer der eifrigsten Agenten gewesen, es war augenscheinlich, daß der Minister beim Lesen eines solchen Schriftstückes sofort Gerechtigkeit widerfahren lassen mußte. Villefort las mit lauter Stimme diese Petition nochmals vor. "Gut, gut! Und nun verlassen Sie sich auf mich," sagte er, "Und wann wird die Petition abgehen, mein Herr?" "Noch heute!" "Werden Sie ein Begleitschreiben dazu geben?" Villefort setzte sich nun seinerseits und schrieb in die Ecke der Bittschrift sein Zeugnis.
"Nun haben wir nur zu warten," sagte er. Diese Versicherung gab Morrel die ganze Hoffnung wieder, er verließ den Staatsanwalt ganz entzückt und kündigte dem alten Vater von Dantes die Rückkehr seines Sohnes an. Villefort hingegen, anstatt die Bittschrift nach Paris zu senden, schob dieselbe ins geheimste Fach seines Schreibbüros und der arme Dantes blieb Gefangener. In der Tiefe seines schrecklichen Verließes hörte er nicht den Fall Ludwigs XVIII. noch den des ganzen Kaiserreichs. Noch zweimal hatte Morrel während der kurzen kaiserlichen Macht Villefort in der Angelegenheit aufgesucht und war jedesmal durch Versprechungen und Hoffnungen beruhigt worden. Endlich kam die Schlacht von Waterloo und Morrel erschien nicht wieder. Der Reeder hatte für seinen jungen Freund alles getan, was nur menschenmöglich war; unter der zweiten Restauration neue Versuche machen zu wollen, hieße sich nutzlos zu kompromittieren. Ludwig XVIII. bestieg wieder den Thron und Villefort erhielt die Staatsanwaltschaftsstelle in Toulouse. Vierzehn Tage nach Antritt seines Amtes verheiratete er sich mit Fräulein von St. Méran, deren Vater besser denn je bei Hofe angeschrieben war. Dantes blieb also auch während der "Hundert Tage", von Gott und den Menschen vergessen, hinter Schloß und Riegel. Danglars erkannte erst, als Napoleon nach Frankreich zurückgekehrt war, den Schlag, den er Dantes versetzt hatte, und ihn ergriff eine ungeheure Angst, daß Dantes jeden Augenblick drohend und entsetzlich vor ihm erscheinen könnte. Er gab daher den Seedienst bei Herrn Morrel auf und ließ sich durch diesen
an einen spanischen Händler empfehlen, bei dem er als Buchhalter Ende März, d.h. zwölf Tage nach dem Einzüge Napoleons in die Tuilerien, eintrat. Man hörte nichts mehr von ihm. Ferdinand legte sich über nichts Rechenschaft ab. Dantes war nicht mehr da, das war alles, was er brauchte. Was aus ihm geworden, wollte er gar nicht wissen. Während der ganzen Frist seiner Abwesenheit sann er nach, um Mercedes über dieselbe zu täuschen und faßte Pläne für eine Auswanderung oder Entführung, zuweilen auch setzte er sich auf die Spitze des Kap Pharo und schaute gleich einem Raubvogel starr und unbeweglich, ob er nicht auf einem der Wege einen jungen hübschen Mann zurückkommen sah, mit leichtem Gang und hochgetragenem Kopf, den er als Rächer fürchtete. Sein Plan war fertig: er würde Dantes töten und dann sich selbst, wie er sich, um den Mord zu beschönigen, gestand. Mittlerweile bot das Kaiserreich ein neues Heer auf, und wer nur eine Waffe tragen konnte, folgte der schallenden Stimme des Kaisers. Auch Ferdinand zog mit den anderen fort, seine Hütte und Mercedes verlassend, mit dem entsetzlichen Gedanken, daß während seiner Abwesenheit sein Nebenbuhler zurückkehren und das Mädchen, welches er liebte, heiraten werde. Seine Aufmerksamkeiten für Mercedes und das Mitleid, das er für ihr Unglück zu haben schien, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Mercedes hatte Ferdinand immer als Freund geliebt, jetzt gesellte sich zudem noch das Gefühl der Dankbarkeit. "Mein Bruder," sagte sie, ihm beim Umlegen des Tornisters helfend, "mein Bruder, mein einziger Freund, laß dich nicht töten, laß mich nicht allein in
der Welt zurück, wo ich weine und wo ich ganz verlassen dastehen werde, wenn du nicht mehr bist." Diese im Augenblick des Abmarsches gesprochenen Worte brachten Ferdinand wieder einige Hoffnung. Wenn Dantes nicht zurückkam, so konnte eines Tages Mercedes doch noch die Seine werden. Mercedes blieb nun allein auf diesem Fleckchen Erde zurück, welches ihr niemals so leer erschienen war. Ganz in Tränen gebadet, sah man sie wie eine Wahnsinnige unaufhörlich um das kleine Dorf der Katalonier herumirren. Bald stand sie unbeweglich, in der glühenden Sonne des Südens nach Marseille hinblickend, bald saß sie am Ufer, dem Geräusch des Meeres lauschend und sich immer fragend, ob es nicht besser wäre, sich hineinzustürzen und sich von demselben verschlingen zu lassen, als diese grausamen Qualen eines hoffnungslosen Harrens länger zu ertragen. Nicht aus Mangel an Mut unterließ Mercedes die Ausführung dieses Planes, sondern die Religion kam ihr zu Hilfe und rettete sie vor demselben. Caderousse war gleichfalls einberufen worden, nur wurde er, da er acht Jahre älter und verheiratet war, zum dritten Aufgebot genommen und an die Küste geschickt. Der alte Dantes verlor nach dem Sturz Napoleons die ganze Hoffnung und fünf Monate, genau auf den Tag, wo sein Sohn arretiert worden war, hauchte er in Mercedes Armen den letzten Seufzer aus. Herr Morrel sorgte für seine Beerdigung und bezahlte die armseligen Schulden, welche der Greis während seiner Krankheit hatte machen müssen. Es gehörte nicht nur Wohltätigkeit zu dieser Handlungsweise, sondern auch
Mut. Der ganze Süden war in Aufruhr und selbst an das Sterbebett des Vaters von einem so gefährlichen Bonapartisten wie Dantes es war, zu gehen, war ein Verbrechen,
Ein wütender und ein verrückter Gefangener. Ein J ahr ungefähr nach der Rückkehr Ludwigs XVIII. kam der Generalinspektor der Gefängnisse nach dem Kastell If. Dantes horte in der Tiefe seines unterirdischen VerHeßes dumpf alle jene Vorkehrungen, die oberhalb der Erde viel Lärm verursachten, er erriet, daß sich unter den Lebenden etwas Ungewöhnliches abspielen müsse, er bewohnte ja schon so lange ein Grab, daß er sich unter die Toten zählen mußte. Der Inspektor ließ sich Zellen und Kerker aufschließen, mehrere Gefangene wurden über Kost und sonstige Wünsche befragt. Einstimmig antworteten sie, daß das Essen abscheulich sei und sie nur wünschten herauszukommen. Der Inspektor wandte sich zu dem Gouverneur: "Stets die gleichen Antworten, schlechte Nahrung und unschuldig sein. Haben sie noch andere?" "Ja, wir haben noch gefährliche Gefangene oder Verrückte, welche wir in Verließen aufbewahren." "Na, gehen wir in die Verließe, ersparen wir uns nichts", bemerkte der Inspektor. "Warten Sie wenigstens, bis man zwei Mann Bedeckung geholt hat," sagte der Gouverneur, "die Gefangenen begehen zuweilen, und wäre es nur aus Lebensüberdruß oder um sich zum Tode verurteilen zu lassen, Taten der Verzweiflung und Sie konnten das
Opfer einer solchen werden. Seien Sie also vorsichtig!" "Oho!" rief der Inspektor aus, auf der Hälfte der Treppe stehenbleibend, "wer wohnt da?" "Einer der gefährlichsten Rebellen, der uns besonders als ein Mann, der zu allem fähig ist, bezeichnet wurde." "Ist er allein, und wie lange ist er hier? Sitzt er seit seiner Ankunft in diesem Loch?" "Er ist in diesem Loche, seit er den Schließer, der ihm sein Essen brachte, töten wollte." "Haben Sie Klage über ihn zu führen?" "Ach, das ist unnötig, mein Herr, er ist schon gestraft genug, ehe ein Jahr vergeht, wird er vollständig verrückt sein." "Desto besser für ihn," meinte der Inspektor, "er leidet weniger, wenn er ganz verrückt ist," Der Inspektor war ein menschenfreundlicher Herr, wie der Leser sieht, der seines philanthropischen Amtes, welches er versehen sollte, sehr würdig war. "Sie haben recht, mein Herr," sagte der Gouverneur, "und Ihre Bemerkung beweist, daß Sie den Gegenstand gründlich studiert haben. Wir haben hier einen alte Abbé, einen ehemaligen italienischen Parteiführer, seit 1811, der zwei Jahre darauf verrückt wurde und seitdem physisch nicht mehr zu erkennen ist. Damals weinte er, jetzt lacht er. Er magerte ab, jetzt wird er fett. Wollen Sie lieber diesen sehen als den anderen? Seine Verrücktheit ist eher belustigend und wird Sie nicht traurig machen." "Ich will sie beide sehen", sagte der Inspektor, Der Gouverneur winkte dem Schließer, die Tür zu öffnen. Beim Klirren der massiven Schlösser, beim
Knirschen der verrosteten Angeln erhob Dantes den Kopf, der in einem Winkel seiner Höhle kauerte, in welche ein schwacher Lichtschein drang. Beim Anblick eines von zwei Schließern und zwei Soldaten begleiteten Unbekannten erriet er, was jener Besuch zu bedeuten habe und sprang, seine Hände faltend, empor, um seine Angelegenheit einer höheren Behörde vorzubringen. Sogleich kreuzten die Soldaten ihre Bajonette und der Inspektor selbst trat einen Schritt zurück. Dantes sah ein, daß man ihn als einen gefährlichen Menschen geschildert hatte. Sein Blick drückte Sanftmut und Ergebenheit aus und er suchte mit ehrfurchtsvoller Beredsamkeit, die die Anwesenden in Erstaunen setzte, das Herz des Inspektors zu rühren, "Er scheint fromm werden zu wollen," sagte mit leiser Stimme der Inspektor zum Gouverneur, "er wich schon vor den Bajonetten zurück. Ein Narr weicht vor nichts zurück, ich habe in dieser Hinsicht merkwürdige Beobachtungen im Irrenhaus von Charenton gemacht." "Sagen Sie mir kurz, was Sie wünschen", fragte er den Gefangenen. "Ich verlange zu erfahren, welches Verbrechen ich begangen habe, ich verlange, daß man mir Richter gibt, ich verlange, daß mein Prozeß eingeleitet wird, schließlich verlange ich, daß man mich tötet, wenn ich schuldig, aber auch, daß man mich freiläßt, wenn ich unschuldig bin." "Sind Sie mit dem Essen zufrieden?", fragte der Inspektor. "Ja, ich glaube, aber das kümmert mich wenig. Was wichtig für mich armen, unglücklichen Gefangenen
und für alle Justizbeamten, sogar für den König ist, das ist, daß kein Unschuldiger das Opfer einer schändlichen Denunziation sein und unschuldig hinter Schloß und Riegel sterben soll." "Sie sind nicht immer so demütig gewesen", sagte der Gouverneur. "An dem Tage, wo Sie Ihren Wärter umbringen wollten, sprachen Sie anders." "Das ist wahr, mein Herr," sagte Dantes, "und ich bitte diesen Mann demütig um Verzeihung, welcher immer gut zu mir gewesen ist . . ., aber, was wollen Sie, ich war rasend vor Wut." "Sind Sie es nicht mehr?" "Nein, mein Herr, die Gefangenschaft hat mich gebeugt, hat mich vernichtet..., es war am 1. März 1815, 2 Uhr nachmittags, daß ich hierher geschafft worden bin." "Da sind Sie ja nur 17 Monate im Gefängnis", sagte der Inspektor. "Nur 17 Monate. Ach, Herr, Sie wissen nicht, was es heißt, 17 Monate im Gefängnis zu sein. Das sind 17 Jahre, 17 Jahrhunderte, besonders für einen Menschen, der, wie ich, an der Schwelle des Glücks stand. Ich war im Begriff meine Geliebte zu heiraten, eine ehrenvolle Laufbahn stand mir bevor, und aus all dem wurde ich jäh gerissen und in die finstere Nacht gestoßen. Siebenzehn Monate Gefängnis für einen Menschen, der an die freie Luft des Meeres, an die Unabhängigkeit des Seemannes, an die Unendlichkeit des Raums gewöhnt ist! Siebenzehn Monate Gefängnis ist mehr als alle Verbrechen, welche mit den schrecklichsten Namen der menschlichen Sprache bezeichnet werden können, verdienen. Haben Sie also Mitleid mit mir, mein Herr, und bitten Sie für mich, nicht um
Nachsicht, sondern um Strenge, nicht um Gnade, sondern um mein Urteil. Ich bitte nur um Richter, mein Herr, man kann einem Angeklagten nicht die Richter verwehren." "Gut, wir werden sehen," sagte der Inspektor; sich zu dem Gouverneur wendend, meinte er, "der arme Teufel dauert mich, ich bitte, mir oben seine Papiere vorzulegen." "Sicherlich," antwortete dieser, "aber Sie werden schweres Belastungsmaterial finden." "Wer hat Sie festnehmen lassen?", fragte der Inspektor, "Herr von Villefort! Gehen Sie zu ihm und verständigen Sie sich mit ihm." "Herr von Villefort ist nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse." "Also ist mein einziger Beschützer nicht mehr da", murmelte Dantes, "Hatte Herr von Villefort irgendeinen Grund des Hasses gegen Sie?" "Keinen, mein Herr, er war mir im Gegenteil sehr wohl gesinnt." "Ich kann mich also auf die Bemerkungen, die er über Sie gemacht hat, verlassen?" "Vollständig, mein Herr." "Gut, warten Sie," Dantes sank auf die Knie, die Hände aufhebend, murmelte er ein Gebet, worin er diesen Mann, der in seinen Kerker herabgestiegen war, Gott empfahl. Die Tür schloß sich, aber Dantes war wieder von Hoffnung belebt. "Lassen Sie uns den anderen Kerker noch besuchen", meinte der Inspektor.
"Ah, jener ist kein Gefangener wie der andere, er ist von einer seltsamen Narrheit befallen, er hält sich für den Besitzer eines ungeheueren Schatzes. Im ersten Jahr seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn in Freiheit setzen wolle, das zweite Jahr zwei Millionen, das dritte Jahr drei und so fort, immer steigend. Er wird wünschen, Sie allein zu sprechen und Ihnen fünf Millionen anbieten." "Das ist wirklich seltsam," meinte der Inspektor, "und wie heißt er?" "Der Abbé Faria." Der Wärter öffnete die Tür. Mitten im Zimmer in einem Kreise, den er mittels eines Stückes Kalk auf der Erde gezogen hatte, lag ein fast nackter Mann, dessen Kleidung ganz zerfetzt um ihn herumhing. Er zeichnete in diesen Kreis sehr eifrig geometrische Linien und schien mit der Lösung seines Problems ebensosehr beschäftigt zu sein, wie Archimedes es war, als er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde, deshalb rührte er sich auch bei dem öffnen der Türe nicht. Er schien erst aufzumerken, als der ungewohnte Schein der Fackel den feuchten Boden, auf dem er arbeitete, erhellte, alsdann wendete er sich um und sah erstaunt die zahlreiche Gesellschaft an, die in seinen Kerker eingetreten war. Lebhaft sprang er auf und hüllte sich in eine Decke, die zu Füßen seines erbärmlichen Bettes lag, um vor den Fremden anständiger zu erscheinen. "Was verlangen Sie?", fragte der Inspektor nach hergebrachter Formel. "Ich bin der Abbé Faria, gebürtig aus Rom und war zwanzig Jahre Sekretär des Kardinals Spada. Ich
wurde anfangs des Jahres 1811 arretiert und weiß nicht warum. Können Sie mir die Gunst einer geheimen Unterredung gewähren?" "Ei, was sagte ich", bemerkte der Gouverneur leise. "Sie kennen Ihre Leute", erwiderte der Inspektor lachend. "Was Sie da verlangen, ist unmöglich", mit diesen Worten wendete er sich Faria wieder zu. "Indessen, die Regierung kann eine große Summe, eine Summe von fünf Millionen zum Beispiel verdienen." "Meiner Treu!" sagte der Inspektor zum Gouverneur, "Sie haben sogar die Summe vorher genannt", ond er war im Begriff fortzugehen, als er nochmals von dem Abbé angeredet wurde. "Der Herr Gouverneur kann bei der Unterhaltung auch dabei bleiben." "Mein Lieber, leider wissen wir schon auswendig, was Sie sagen werden, es handelt sich um Ihre Schätze, nicht wahr?" Faria blickte diesen Spötter mit Augen an, in denen ein unparteiischer Beobachter einen Blitz des Verstandes hätte leuchten sehen. "Ohne Zweifel," meinte er, "von was wollen wir sprechen, wenn nicht von dem." "Herr Inspektor," sagte der Gouverneur, "ich kann Ihnen diese Geschichte ebensogut erzählen als der Abbé, denn seit vier oder fünf Jahren ist sie immer aufgewärmt worden." "Das beweist, daß Sie unter die Leute gehören, von denen die heilige Schrift sagt: 'Sie haben Augen und sehen nicht, sie haben Ohren und hören nicht!' ".
"Mein Lieber," mischte sich der Inspektor wieder in das Gespräch, "die Regierung ist reich und braucht Ihr Geld nicht. Behalten Sie es für den Tag, wo Sie Ihr Gefängnis verlassen werden." Der Abbé ergriff die Hand des Inspektors. "Aber wenn ich nun nie wieder aus dem Gefängnis herauskomme," sagte er, "wenn man mich jeder Gerechtigkeit zuwider hier festhält, wenn ich im Verließ sterbe, ohne mein Geheimnis jemandem anvertraut zu haben, dann wird dieser Schatz doch verloren sein. Ist es nicht besser, wenn die Regierung daraus Nutzen zieht und ich auch? Sechs Millionen, mein Herr, sechs Millionen werde ich opfern und mich mit dem Überrest begnügen, wenn man mir die Freiheit zurückgibt." "Auf mein Wort," sagte der Inspektor halblaut, "wenn man nicht wüßte, daß dieser Mann verrückt ist . . . er spricht mit solch einer Überzeugung, daß man glauben könnte, er spricht die Wahrheit." "Ich bin nicht verrückt, mein Herr, und ich spreche die Wahrheit," sagte Faria, welcher mit besonderer Feinheit des Gehörs, die den Gefangenen eigen ist, jedes Wort des Inspektors verstanden hatte. "Dieser Schatz, von dem ich spreche, existiert wirklich und ich schlage Ihnen vor, einen Kontrakt mit mir zu machen, auf Grund dessen Sie mich bis zu dem zu bezeichnenden Orte führen werden. Man soll die Erde vor meinen Augen aufgraben und wenn ich lüge, wenn man nichts findet, wenn ich also ein Narr bin, wie Sie sagen, so soll man mich in dasselbe Verließ für ewig zurückbringen und ich werde sterben, ohne jemals wieder etwas verlangen zu wollen." Der Gouverneur fing an zu lachen.
"Und ist der Ort, wo Ihr Schatz sich befindet, weit von hier?", fragte er. "Ungefähr 100 Meilen." "Die Sache ist nicht so übel ausgedacht," meinte jener wieder, "wenn alle Gefangenen sich amüsieren wollten, ihre Wärter 100 Meilen weit spazieren zu führen und wenn die Wärter einwilligten, einen solchen Spaziergang zu machen, so wäre das eine vortreffliche Aussicht für die Gefangenen, bei der ersten besten Gelegenheit das Weite zu suchen." "Ich habe Sie wiederholt gefragt, ob Sie mit Ihrer Nahrung zufrieden sind", wendete sich der Inspektor an den Abbé. "Sie nehmen mein Anerbieten also nicht an?" fragte der Abbé, "nun, so seien Sie verwünscht, wie alle anderen Unvernünftigen, welche mir nicht glauben wollen. Wollen Sie mein Gold nicht, so werde ich es behalten. Sie verweigern mir die Freiheit, Gott wird sie mir senden. Gehen Sie, gehen Sie, ich habe nichts mehr zu sagen." Mit diesen Worten warf der Abbé seine Decke wieder ab, ergriff sein Stück Kalk und fuhr fort, auf dem Boden seine Berechnungen zu machen. Sie gingen, und der Kerkermeister schloß die Tür wieder. "Er mag wirklich Schätze besessen haben", meinte der Inspektor, indem er die Treppe hinaufstieg. "Oder er wird geträumt haben, sie zu besitzen," antwortete der Gouverneur, "und am folgenden Morgen ist er als Narr erwacht." So endete der Besuch beim Abbé Faria, er blieb gefangen und der Ruf seiner Verrücktheit wurde durch diesen Besuch noch befestigt. Was Dantes anbetraf, so hielt der Inspektor sein Wort, er ließ sich das
Register bringen und hinter Dantes Namen stand folgende Bemerkung, die mit anderer Handschrift und anderer Tinte geschrieben war: "Edmund Dantes, wütender ßonapartist, hat lebhaften Anteil an der Rückkehr Napoleons von Elba genommen. In größter Verborgenheit und unter strengster Aufsicht zu halten." Der Inspektor schrieb darunter: "In Anbetracht obiger Bemerkung ist nichts zu machen." Dieser Besuch hatte, wie schon gesagt, Dantes neu belebt, aber Tage, Wochen und Monate verflossen und immer wartete er geduldig. Als aber sechs Monate vergangen waren, begann er wieder an seinem eigenen Verstand zu zweifeln und fing an zu glauben, daß das alles eine Verblendung seines Geistes gewesen sei. Nach Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur nach der Festung Harn versetzt, er nahm mehrere seiner Unterbeamten, u.a. Dantes Wärter, mit. Dem Neuangekommenen war es zu umständlich, die Namen seiner Gefangenen kennenzulernen, er ließ sich ihre Nummern nennen. Dieses entsetzliche Hotel garni bestand aus 50 Zimmern und der arme und unglückliche Edmund hieß Nr. 34.
Nummer 34 und 27. Dantes durchlitt alle Grade des Unglücks, welche die im Kerker Vergessenen durchmachen müssen. Es begann mit dem Stolz, der das Bewußtsein der Hoffnung und eines schuldlosen Gewissens ist, sodann begann er selbst an seiner Unschuld zu zweifeln, was die Meinungen des Gouverneurs betreffs seiner geistigen Zerrüttung einigermaßen rechtfertigte; endlich ging auch sein Stolz in Trümmer, er flehte noch
nicht Gott, sondern die Menschen an. Gott ist stets die letzte Zuflucht. Der Unglückliche, bei dem alle Hoffnungen erschöpft sind, hofft erst dann auf Gott,— mit dem er eigentlich beginnen sollte. Dantes bat um einen anderen Gefängnisraum und sei er auch noch finsterer, es sei doch eine Veränderung und gewähre ihm einige Tage Zerstreuung. Er bat um die Erlaubnis, spazieren gehen zu dürfen, um Bücher und Instrumente. Nichts wurde ihm bewilligt Obgleich sein neuer Wärter noch abweisender war, redete er ihn doch immer an; zu einem Menschen sprechen, auch wenn er stumm war, war doch eine Freude, und wenn er nur seine eigene Stimme hören konnte, öfter hatte er schon versucht, für sich allein zu sprechen, doch dies flößte ihm Angst ein. Als er noch in Freiheit lebte, hatte Dantes sich oft mit Entsetzen Gefängnisräume ausgemalt, in denen Räuber, Mörder und Herumtreiber hausen mußten; jetzt wünschte er in eine solche Zelle zu kommen, um nur einmal ein anderes Gesicht als das des Schließers zu sehen. Eines Tages bat er denselben, zu bewerkstelligen, daß er einen Gefährten erhalte und solle es der verrückte Abbé sein, von dem man ihm früher erzählt hatte, aber auch dies schlug man ihm ab. Da alle menschlichen Hilfsmittel erschöpft waren, so wandte er sich, wie schon gesagt, zu Gott. Alle frommen Ideen, die in der Welt zerstreut sind, erfrischten seinen Geist; er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt, und fand darin einen ihm bis dahin unbekannten Sinn, denn für den glücklichen Menschen ist ein Gebet mehr oder weniger eine Zusammenreihung eintöniger Wörter und der Schmerz lehrt den Unglücklichen die Inbrunst.
Aber trotz dieser blieb der arme Dantes Gefangener. Er wurde schwermütig und ein dichter Schleier bedeckte seine Augen, Dantes war ein einfacher Mann, ohne Erziehung, in der Vergangenheit hatte er so hingedämmert, ohne sich ein Wissen anzueignen. Auf seine schwärmerisch religiösen Ausbrüche folgten nun die der Wut. Er erging sich in Lästerungen, vor denen sogar der Schließer erschrak, seinen Körper stieß er gegen die Mauer, er wütete gegen alles, was ihn umgab. Wieder und wieder kam ihm der Anklagebrief ins Gedächtnis, den ihm Villefort gezeigt. Jede Zeile flammte wie ein Menetekel an der Mauer seiner Zelle. Er sagte sich oft, der Haß der Menschen und nicht der Wille Gottes habe ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er gelobte jenen Unbekannten alle Strafen, die seine glühende Einbildungskraft ersinnen konnte, und alle erschienen ihm nicht hart und besonders nicht lang genug, denn nach den Qualen kam der Tod und nach demselben kam, wenn nicht die Ruhe, so doch wenigstens die Unempfindlichkeit, die derselben ähnlich ist Bei diesen Gedanken kam ihm der des Selbstmordes. Wehe dem, der sich am Abhänge des Unglücks an solchen schwermütigen Ideen festhält, sie sind wie ein totes Meer, sie strecken sich wie eine blaue Flut aus, aber der Schwimmer, der sich dorthin verliert, fühlt seine Füße tiefer und tiefer, in eine schlammige Masse versinken, von der er sich nicht mehr befreien kann. Jedoch dieser moralische Todeskampf ist weniger schrecklich als das vorausgehende und vielleicht auch darauf folgende Leiden, es ist wie ein betäubender Trost, der uns wohl den jähen Abgrund zeigt, aber auch in der Tiefe desselben das Nichtsein. In dieser Idee fand Edmund einigen Trost, er blickte mit Ruhe
auf sein vergangenes und mit Entsetzen auf sein zukünftiges Leben, und er wählte den Mittelpunkt, welcher ihm als Asyl erschien, er wurde sanfter und ruhiger. Sein hartes Lager schien ihm weicher und das harte Brot schmeckte ihm besser, er aß weniger, schlief mehr und fand das Dasein fast erträglich, welches er bald abstreifen würde wie ein abgenutztes Gewand. Zwei Mittel gab es zu sterben, das eine war ganz einfach: er brauchte nur sein Taschentuch an der Eisenstange des Fensters zu befestigen und sich aufzuhängen, das andere bestand darin, die Nahrungsmittel, die ihm gebracht wurden, aus dem Fenster zu befördern und sich zu stellen, als ob er gegessen hätte. Das erste widerstand ihm, er war in Abscheu gegen die Seeräuber erzogen worden, welche man an der Stange des Schiffes aufhängt, und das hielt er für eine erniedrigende Strafe, welche er nicht auf sich anwenden wollte, er entschloß sich zu dem zweiten Mittel, mit dem er auch am gleichen Tage begann. Zweimal des Tages warf er durch die kleine Öffnung, welche ihm nur ein kleines Stückchen Himmel zu sehen erlaubte, seine Lebensmittel, anfangs heiter, dann nachdenklich und endlich mit Bedauern; er mußte sich seines Schwures erinnern, den er sich selbst geleistet hatte, um dieses schreckliche Vorhaben ausführen zu können. Die Speisen, welche ihn früher anwiderten, reizten jetzt seinen Appetit, es waren die letzten Instinkte des Selbsterhaltungstriebes, welche in ihm kämpften and seinen Entschluß von Zeit zu Zeit wankend machten. Dann erschien ihm auch sein Kerker nicht mehr so düster, sein Zustand weniger verzweifelt. Er war noch jung, er mußte erst 25 oder 26 Jahre alt
sein, es blieben ihm noch ungefähr 50 Jahre zu leben, d, h, zweimal so viel, als er gelebt hatte. Welche Ereignisse konnten in diesem unermeßlichen Zeitraum nicht die Pforten seines Gefängnisses sprengen, die Mauern des Kastell If niederreißen und ihm die Freiheit zurückbringen! Dann näherte er, dieser freiwillige Tantalus, seinen Mund den Speisen, aber um sofort denselben wieder zurückzuziehen, und wieder blieb er seinem Schwüre treu. Er schwächte also streng und unerbittlich das wenige Leben, welches noch in ihm war und eines Tages hatte er kaum noch die Kraft sich aufzuraffen, um das ihm gebrachte Abendbrot durch das Luftloch zu werfen. Am folgenden Tage sah er nichts mehr, er hörte kaum. Der Schließer glaubte an eine ausgebrochene schwere Krankheit, Edmund hoffte auf seinen nahen Tod. So verging der Tag; Edmund fühlte eine mit einem gewissen Wohlbefinden vermischte Betäubung. Die nervösen Zuckungen seines Magens hatten aufgehört, wie auch das Durstgefühl. Wenn er die Augen schloß, sah er eine Menge glänzender Flämmchen, welche Irrlichtern glichen. Plötzlich, abends gegen neun Uhr, hörte er ein dumpfes Geräusch an der Mauer, an der er lag. So viel Ungeziefer hatte schon in seiner Zelle gelärmt, nach und nach hatte er sich durch das Geräusch in seinem Schlummer nicht stören lassen, aber dieses Mal war es anders. Hatten sich seine geschwächten Sinne geschärft oder war das Geräusch in der Tat stärker und anders, es schien wie das Kratzen eines Instrumentes auf irgendeinem Stein, sollte Gott wirklich Erbarmen haben und ihm, schon am Rande des Grabes, Hilfe senden? Drei Stunden
dauerte schon das Geräusch, sodann hörte Edmund ein Krachen. Seit er sich entschlossen hatte, zu sterben, hatte Edmund kein Wort wieder an den Schließer gerichtet, aber heute, wo er fürchtete, derselbe könnte das Hämmern hören, sprach er mit erhobener Stimme zu ihm als ihm dieser seine Bouillon und Brot brachte, damit er nichts vernehmen sollte. Sobald er wieder allein war, fing er hoffnungsvoll zu horchen an und er aß auch einige Bissen von seinem Brot. Die Nacht brach an und dasselbe Geräusch ließ sich deutlicher vernehmen. Es wird ein Gefangener sein, dachte Edmund mit unendlicher Freude, der an seiner Befreiung arbeitet. Als am ändern Morgen der Schließer sein Frühstück brachte, verschlang er es wieder von neuem; dieses Pochen beschäftigte ihn unaufhörlich, bald hatte er Hoffnung, bald fühlte er dieselbe wieder verschwinden, er untersuchte jeden Stein an der betreffenden Seite. Endlich, eines Abends, als der Schließer den letzten Besuch gemacht hatte, hielt er das Ohr zum hundertsten Male an die Mauer und es schien ihm, als hörte er ein dumpfes Tönen durch diese Steine. Dantes schwankte, ging einige Schritte in seiner Zelle hin und her, um sein zerrüttetes Gehirn zu sammeln, dann hielt er sein Ohr wieder an dieselbe Stelle. Kein Zweifel, auf der anderen Seite geschah irgend etwas, der Gefangene hat die Gefahr seiner Verfahrungsweise eingesehen und eine andere eingeschlagen. Ermutigt durch diese Entdeckung, beschloß Edmund, dem unermüdlichen Arbeiter zu Hilfe zu kommen; er rückte sein Bett von der Mauer, wo er das Geräusch vernahm, und suchte mit den Augen nach irgendeinem Gegenstand, mit dem er den
Kalk abkratzen und einen Stein losbrechen könnte, aber nichts bot sich seinen Blicken dar. Die Möbel bestanden nur aus einem Bett, Stuhl, Tisch, Eimer und Krug. Es gab nur einen Ausweg, den Krug zu zerbrechen und einen Scherben als Werkzeug zu benutzen; er ließ also denselben auf die Steine fallen, so daß er in Stücke zerbrach, von denen er einige in seinem Strohsack verbarg. Das Zerbrechen des Kruges war ein so gewöhnliches Ereignis, daß man sich darum nicht beunruhigen würde. Die ganze Nacht hörte er diesen unterirdischen Arbeiter sein Werk fortsetzen. Der Tag brach an und Dantes erklärte dem Kerkermeister, daß er am Abend vorher das Unglück gehabt habe, seinen Krug zu zerbrechen; derselbe holte brummend einen anderen, ohne sich der Mühe zu unterziehen, die Stücke mitzunehmen. Mit unendlicher Freude vernahm Dantes das Knirschen des Schlosses und die sich entfernenden Schritte. Mit Herzklopfen machte sich Dantes seinerseits an die Arbeit, er versuchte, den feucht gewordenen Kalk loszulösen und nach einer halben Stunde hatte er eine Handvoll. Ein Mathematiker hätte berechnen können, daß eine zweijährige Arbeit, vorausgesetzt, daß man keinem Felsen begegnete, erforderlich sei, um einen Durchweg von 2 Fuß im Quadrat und 20 Fuß Tiefe auszuhöhlen. Der Gefangene machte sich Vorwürfe, die lange Zeit in der Hoffnung, in der Verzweiflung und im Gebet untätig verbracht zu haben. Seit sechs Jahren war er im Gefängnis, welche Arbeit, so langsam sie auch vorwärts ging, hätte er vollenden können. Dieser Gedanke flößte ihm neuen Mut ein. Im Verlauf von drei Tagen hatte er mit der größten Vorsicht allen Zement losgebröckelt, der Stein lag frei vor ihm.
Die Mauer war von Bausteinen aufgeführt, deren Zwischenräume durch behauene Steine ausgefüllt waren, einer derselben schien schon etwas lose zu werden, doch seine Instrumente waren nicht ausreichend, um denselben ganz lösen zu können; nach einer Stunde vergeblichen Bemühens sah er die Zwecklosigkeit seines Verfahrens ein und eine neue Idee tauchte hinter seiner schweißbedeckten Stirn auf. Der Kerkermeister brachte ihm täglich seine Suppe in einer Kasserolle mit eisernem Stiel, nach diesem strebte er nun und zehn Jahre seines Lebens hätte er für denselben gelassen. Der Schließer schüttete stets den Inhalt der Kasserolle auf einen Teller, und an diesem Abend setzte Dantes denselben zwischen Tisch und Tür auf den Boden, so daß der Kerkermeister, als er abends hereinkam, darauf trat und ihn in tausend Scherben zerbrach. Der Schließer begnügte sich, zu brummen, und dann sah er sich nach einem Gefäß um, wo er die Suppe hineintun konnte; da keins da war, so schlug ihm Dantes vor, die Kasserolle dazulassen und sie erst morgen früh beim Bringen des Frühstücks mitzunehmen. Dieser Rat kam dem Schließer, der sehr bequem war, nicht ungelegen, er ließ also die Kasserolle mit der Suppe stehen. Zitternd vor Freude aß Dantes dieses Mal sehr schnell, dann wartete er noch ungefähr eine Stunde, um sicher zu sein, daß der Schließer sich nicht eines anderen besinnen würde, rückte sein Bett und begann den Stiel zwischen die Steine hineinzustemmen, und wirklich, nach einer Stunde harter Arbeit war der Stein außerhalb der Mauer und eine Öffnung von anderthalb Fuß wurde sichtbar. Sorgfältig las Dantes allen Kalk auf und trug ihn samt den Scherben des Kruges in die
Ecke seiner Zelle, wo er alles in einer Höhlung barg, die er wieder mit Erde bedeckte. Bei Anbruch des Tages schob er den Stein wieder in die Öffnung, rückte das Bett gegen die Mauer und legte sich nieder. Der Kerkermeister trat ein und brachte ihm sein Frühstück. "Gebt Ihr mir keinen anderen Teller?" fragte Dantes. "Nein, Sie sind ein Tolpatsch, erst haben Sie den Krug zerbrochen, darauf ich, durch Ihre Schuld, den Teller. Wenn alle Gefangenen soviel Schaden verursachten wie Sie, dann könnte die Regierung nicht weiter bestehen. Man läßt Ihnen die Kasserolle und wird Ihnen die Suppe hineingießen, auf diese Weise können Sie Ihr Hausgerät nicht mehr zerbrechen." Dantes hob die Augen gen Himmel und faltete unter seiner Decke die Hände. Dieses ihm überlassene Stück Eisen rief in seinem Herzen ein lebhaftes Dankgefühl hervor, wie er es früher nie gefühlt hatte. Allein, er hatte wahrgenommen, daß, seitdem er angefangen hatte zu arbeiten, der andere aufhörte. Ohne Unterlaß arbeitete er den ganzen Tag weiter und dank seines neuen Instruments hatte er bis zum Abend mehr als zehn Hände voll Schutt herausgeholt. Zu der Stunde, wo der Kerkermeister hereinzukommen pflegte, brachte er alles wieder in Ordnung, um nach dessen Fortgehen die Arbeit von neuem zu beginnen. Alles war und blieb still um ihn herum, es war klar, daß sein Nachbar ihm mißtraute; er ließ sich jedoch nicht entmutigen und fuhr fort, die ganze Nacht zu arbeiten. Jetzt jedoch stieß er auf ein Hindernis, der Stiel prallte an einer glatten Fläche ab. Dantes untersuchte sie mit den Händen und. entdeckte, daß es ein
Balken war. Nun galt es, unterhalb oder oberhalb desselben weiter auszuhöhlen. "Mein Gott, mein Gott!" rief er aus, "wie inständig hatte ich gefleht, erhört zu werden, nachdem man mir die Freiheit des Lebens und die Ruhe des Todes geraubt, hast du mich wieder ins Dasein zurückgerufen, mein Gott, habe Mitleid mit mir und lasse mich nicht in der Verzweiflung sterben!" "Wer spricht hier gleichzeitig von Tod und Verzweiflung?" sprach eine Stimme, die unter der Erde hervorzukommen schien und die dem jungen Mann wie aus einem Grabe entgegenschallte, Edmund sträubten sich die Haare und seine Kniee zitterten. Seit vielen Jahren hatte er nur seinen Schließer sprechen hören und für den Gefangenen ist dieser kein Mensch, er scheint ihm wie eine lebendige Eichentür, ein Riegel aus Fleisch. "Im Namen des Himmels!" rief Dantes aus, "Sie, der Sie geredet haben, sprechen Sie weiter, trotzdem mir Ihre Stimme Entsetzen eingeflößt hat, wer sind Sie?" "Wer sind Sie selbst?" fragte die Stimme wieder. "Ein unglücklicher Gefangener", sagte Dantes, welcher ohne Bedenken antwortete. "Aus welchem Lande?" — "Franzose!" — "Ihr Name?" — "Edmund Dantes." — "Ihre Profession?" — "Seemann." — "Wie lange sind Sie hier?" — "Seit dem 28. Februar 1814." — "Ihr Verbrechen?" — "Ich bin unschuldig!" — "Wessen klagt man Sie an?" — "Bei der Rückkehr des Kaisers mitgewirkt zu haben." — "Wie, für die Rückkehr des Kaisers, ist er denn nicht mehr auf dem Throne?"— "Er wurde 1814 nach Elba verbannt. — Aber seit,wie lange sind Sie hier,
daß Sie das nicht wissen?" — "Seit 1811." — Ein Schauer überlief Dantes, dieser Mann war also vier Jahre länger in der Gefangenschaft als er. "Es ist gut, höhlt nicht weiter aus," sagte die Stimme schneller sprechend, "sagt mir nur, in welcher Höhe sich die Aushöhlung befindet, die Ihr gemacht habt?" "In der Höhe des Fußbodens!" — "Wodurch ist sie verborgen?" — "Hinter meinem Bett." — "Nach welcher Seite liegt Ihre Zelle?" — "Dieselbe mündet auf einen Korridor, der nach dem Hof führt." — "Ach," sagte die Stimme weiter, "ich habe mich geirrt. Die Unvollkommenheit meiner Zeichnung, der Mangel an einem Kompaß richtet mich zugrunde. Nach meinem Ermessen hätte die Mauer, die Sie ausgehöhlt haben, die der Zitadelle sein müssen," — "Alsdann wären Sie ja am Meer herausgekommen." — "Das wollte ich ja eben, ich hätte mich in dasselbe gestürzt und wäre bis an eine der Inseln gekommen, die das Kastell If umgeben und dann wäre ich gerettet gewesen." — "Hätten Sie bis dahin schwimmen können?" — "Gott hätte mir die Kraft gegeben, nun ist aber alles verloren. Verbergt Eure Öffnung vorsichtig und arbeitet nicht weiter, bis Ihr wieder Nachricht bekommt." — "Aber wer seid Ihr?" — "Ich bin . . . ich bin Nr. 27." — "Sie mißtrauen mir noch?" fragte Dantes. Edmund glaubte ein bitteres Lachen zu vernehmen. "Glaubt mir, ich bin ein guter Christ," rief er, instinktmäßig erratend, daß dieser Mann die Absicht hatte, ihn im Stich zu lassen, "ich schwöre bei Christus, daß ich mich eher töten, als Ihren und meinen Peinigern einen Schatten der Wahrheit merken zu lassen. Aber im Namen des Himmels, berauben
Sie mich nicht Ihrer Gegenwart, Ihrer Stimme, oder ich stoße mir den Kopf an der Mauer ein, denn ich bin am Ende meiner Kraft," "Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes." — "1815 war ich 19 Jahre alt." — "Noch nicht 26 Jahre," murmelte die Stimme, "Wohlan, in diesem Alter ist man noch kein Verräter." — "Oh, nein, nein, iffh schwöre es," wieder holte Dantes, "ich würde mich lieber in Stücke schneiden lassen, als Sie verraten," "Sie haben gut getan, mit mir zu sprechen und mich zu bitten. Ich wollte allerdings einen anderen Plan ausarbeiten, aber Ihr Alter beruhigt mich, ich werde wieder zu Ihnen kommen, erwarten Sie mich." "Wann?" "Ich werde Ihnen ein Zeichen geben." "Verlassen Sie mich nur nicht, wir fliehen zusammen, und wenn wir nicht fliehen können, so werden wir zusammen von den Leuten, welche wir lieben, sprechen. Sie müssen doch auch jemanden gern haben." "Ich stehe allein auf der Welt," "Also werden Sie mich lieben. Wenn Sie jung sind, werde ich Ihr guter Kamerad sein, wenn alt, so werde ich Ihr Sohn werden. Ich habe einen Vater, der nun 70 Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt, ich liebte nur ihn und ein Mädchen mit Namen Mercedes. Mein Vater hat mich sicherlich nicht vergessen, aber ob es noch an mich denken wird . . . Euch will ich lieben wie meinen Vater." "Es ist gut!" sagte der Unbekannte, "auf morgen." Diese wenigen Worte wurden in einem Ton ausgesprochen, der seinen Zweifel besiegte. Er fragte
nicht weiter. Mit derselben Vorsicht brachte er alles wieder in Ordnung. Nun überließ er sich ganz seinem Glücke. Er brauchte nicht mehr allein zu sein, konnte sich vielleicht wieder die Freiheit verschaffen, und in dem Fall, daß er gefangen bleiben mußte, hatte er wenigstens einen Gefährten, denn geteilte Gefangenschaft ist nur halbe Gefangenschaft, gemeinschaftliche Gebete gleichen Danksagungen. Den ganzen Tag ging Dantes mit vor Freude überströmendem Herzen in seiner Zelle umher. Er setzte sich, die Hände aufs Herz drückend, auf sein Bett, beim geringsten Geräusch auf dem Korridor sprang er nach der Tür. Die Angst, daß man ihn von dem Manne trennen könne, den er noch nicht einmal kannte, den er aber schon wie einen Freund liebte, preßte sein Gehirn zusammen. Für den Fall einer Entdeckung hatte er seinen Entschluß gefaßt. In dem Augenblick, wo der Schließer sein Bett entfernen würde, würde er ihm den Kopf einschlagen; sicherlich tötete man ihn, aber war er nicht im Begriff gewesen, in dem Augenblick sich umzubringen, als er das wunderbare Geräusch, welches ihm neues Leben gegeben hatte, hörte? Als der Schließer am Abend kam, lag Dantes bereits zu Bett und es schien ihm, als blickte dieser nach der geöffneten Mauer. Ohne Zweifel betrachtete er ihn mit einem seltsamen Blick, denn der lästige Besucher fragte: "Na, wollen Sie wieder verrückt werden?" Dantes antwortete nicht und der Wärter zog sich, den Kopf schüttelnd, zurück. Am folgenden Tage nach dem Morgenrundgang, hörte Dantes in gleichen Zwischenräumen dreimal klopfen; er stürzte auf die Knie. "Sind Sie es?" fragte er, "ich bin hier."
"Ist der Schließer fort?" fragte die Stimme. "Jawohl," antwortete Dantes, "er wird erst am Abend wiederkommen, wir haben 12 Stunden vor uns." Fast im gleichen Augenblick schien die Stelle des Fußbodens, worauf er seine Hände stutzte, zu wanken, ej wich zurück, während eine Menge Erde und losgelöste Steine in eine Öffnung versanken und er sah einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Mann erscheinen, der sich mit ziemlicher Beweglichkeit aus dieser angelegten Öffnung emporschwang.
Der italienische Gelehrte. Dantes schloß den neuen so lange und ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme und zog ihn nach dem Fenster hin, damit er ihn in dem wenigen Licht betrachten konnte. Es war ein Mann von mittlerem Wuchs, mit mehr durch Kummer als durch Alter gebleichtem Haar, durchdringendem Blick und einem Bart, der bis zur Brust reichte. Die Magerkeit seines von tiefen Falten durchzogenen Gesichts, der kühne Schnitt seiner charakteristischen Züge, verrieten einen Mann, der mehr seine geistigen als seine physischen Kräfte ausgebildet hatte. Die Stirn des Neuangekommenen war dick mit Schweiß bedeckt und seine Kleidung hing ihm in Fetzen herab; er schien mindestens 65 Jahre alt zu sein, obgleich eine gewisse Lebhaftigkeit in seinen Bewegungen ihn jünger erscheinen ließ. Den enthusiastischen Empfang des jungen Mannes nahm er mit einer gewissen Freude auf, die starre Rinde seines Gemüts schien für einen Augenblick zu schmelzen und die Berührung mit jenem glühenden Herzen schien das seine zu erwärmen. Er
dankte freundlich für dessen Herzlichkeit, trotz der Enttäuschung, daß er da, wo er die Freiheit erwartet hatte, einen zweiten Kerker vorfand. "Sehen wir zuerst, daß wir den Augen Ihres Schließers die Spuren meines Durchganges verbergen, unsere ganze künftige Ruhe hängt von seiner Unwissenheit ab." Er neigte sich zu der Öffnung, hob den Stein trotz seines Gewichts mit Leichtigkeit empor und legte ihn vor dieselbe. "Dieser Stein ist schlecht vom Kitt befreit, haben Sie denn kein Handwerkszeug?" "Ja, haben Sie denn welches?" fragte Dantes erstaunt. "Ich habe mir außer einer Feile alles gefertigt. Sehen Sie, hier ist der Meißel, den ich aus den eisernen Bändern meines Bettes gemacht habe, mit diesem Instrument habe ich mir den Weg — ungefähr 50 Fuß — ausgehöhlt, der mich hierher geführt hat." "50 Fuß!" rief Dantes lebhaft aus. "Sprechen Sie leiser, junger Mann, sprechen Sie leiser, zuweilen horcht man an den Türen der Gefängnisse. Jawohl, so ist ungefähr die Entfernung, welche meine Zelle von der Ihrigen trennt. Infolge Mangels geometrischer Instrumente habe ich nur die Kurve schlecht berechnet, ich glaubte also, die äußere Mauer vor mir zu haben und dieselbe durchbohrt, hätte ich mich ins Meer werfen können; ich habe längs des Korridors gearbeitet, anstatt ihn zu durchqueren. Alle meine Arbeit ist vergebens, denn dieser Korridor führt auf einen Hof, der voller Wachen wimmelt." "Das ist wahr," meinte Dantes, "aber dieser Gang begrenzt nur eine Seite meiner Zelle und dieselbe hat vier."
"Jawohl, aber eine Mauer wird von einem Felsen gebildet, und den zu durchbohren brauchten mit allen Werkzeugen ausgerüstete Minenarbeiter zehn Jahre, die andere Seite stößt wieder an die Wohnung des Gouverneurs, wir würden in die Keller fallen, die höchstwahrscheinlich verschlossen sind und geklappt werden, die andere Seite, nun, ja wohin führt die andere Seite?" Dort war die Schießscharte, aus der einiges Licht in die Zelle kam; nach außen war dieselbe so verengt, daß selbst das kleinste Kind nicht hätte durchkriechen können, außerdem waren noch drei Eisenstangen davor befestigt. Der Neuangekommene, der diese Frage stellte, zog den Tisch unter das Fenster. "Steigen Sie auf den Tisch!" sagte er zu Dantes. Dieser gehorchte, und die Absicht seines Gefährten erratend, stützte er den Rücken fest an die Mauer und hielt ihm die Hände hin, und die Nr. 27. Dantes wußte seinen Namen noch nicht, schwang sich flink und mit der Geschmeidigkeit einer Katze zuerst auf den Tisch, dann auf die Schultern Dantes und schob seinen Kopf durch die Eisenstangen, mithin konnte er hinabsehen. Einen Augenblick später zog er schnell seinen Kopf zurück und sprang zur Erde. "Oh, oh," sagte er, "das habe ich geahnt. Die vierte Seite Ihrer Zelle geht auf eine äußere Galerie und dort passieren die Patrouillen und die Schildwachen gehen auf und ab. Ich bemerkte den Tschako eines Soldaten und zog mich schleunigst zurück. Es ist unmöglich, eine Flucht von hier aus zu bewerkstelligen." "Alsdann?" fragte der junge Mann.
"Alsdann möge der Wille Gottes geschehen!" und der Ausdruck einer tiefen Resignation malte sich auf den Zügen des Greises, Dantes sah diesen Mann, welcher mit philosophischer Ruhe auf eine so lange genährte Hoffnung verzichtete, mit Erstaunen und Bewunderung an. "Wollen Sie mir nun nicht sagen, wer Sie sind?" "Ich bin der Abbé Faria," sagte er, "bereits seit 1811 gefangen, wie Ihr wißt, aber drei Jahre vorher war ich schon auf der Festung Fenestrelles. 1811 nach Frankreich gebracht, erfuhr ich, daß Napoleon ein Sohn geboren und daß derselbe schon in der Wiege zum König von Rom ernannt worden war. Damals vermutete ich nicht, was sie mir neulich sagten: daß dieser Koloß vier Jahre später gestürzt werden würde. Wer regiert nun in Frankreich, ist es Napoleon II.?" "Nein, es ist Ludwig XVIII." "Der Bruder Ludwigs XVII,? Wie seltsam und geheimnisvoll sind doch die Ratschläge des Himmels, was bezweckte die Vorsehung, den Mann, den sie auf den Thron erhob, sinken zu lassen, um denjenigen wieder zu erheben, der schon früher gesunken war." Erstaunt betrachtete Dantes den Mann, welcher wegen der Schicksale der Nationen sein eigenes vergessen konnte. "Ja, ja," fuhr der Abbé fort, "es ist wie in England: nach Karl I, Cromwell, nach Cromwell Karl II, und vielleicht nach Jakob II. irgendein Schwiegersohn, irgendein Prinz von Oranien, ein Statthalter, der sich zum König machen wird, dann billigt man dem Volk neue Zugeständnisse zu, gibt ihm eine Verfassung und dann die Freiheit. Sie werden alles noch erleben,
junger Mann," sagte er, sich zu Dantes wendend, "Sie sind noch in einem Alter, wo Sie das sehen werden." "Ja, wenn ich von hier weg kann." "Ach, es ist wahr, wir sind ja Gefangene," sagte der Abbé, "es gibt Augenblicke, wo ich es vergesse und wo ich mich frei glaube, da mein geistiges Auge die Kerkermauer durchdringt," "Aber warum sind Sie in Gefangenschaft?" "Ich, weil ich 1807 den Plan durchschaute, den Napoleon 1812 verwirklichte und, weil ich ein einziges großes Kaiserreich, stark und kräftig, gegründet haben wollte, ferner: weil ich meinen Cäsar Borgia in einem gekrönten Tropf zu sehen glaubte, der, um mich besser verraten zu können, auf meine Ideen einging. Das war der Plan Alexanders VI. und Clemens VII., er wird immer mißglücken, da sie ihn vergeblich unternahmen und ihn auch Napoleon nicht ausführen konnte, auf Italien ruht entschieden der Fluch." Der Greis senkte den Kopf. Dantes begriff nicht, wie ein Mann sein Leben um solcher Interessen willen aufs Spiel setzen konnte. Napoleon hatte er zwar gesehen und gesprochen, aber von Clemens VII. und Alexander VI. wußte er nichts. "Sind Sie nicht jener Priester, den man im Kastell If für . . . krank hält?" fragte er, sich der Worte seines Schließers erinnernd. "Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr?" "Das wagte ich nicht", meinte Dantes lächelnd. "Ja, ja," fuhr Faria mit bitterem Lachen fort, "ich bin es, den man für verrückt hält, der schon so lange Zeit die Bewohner dieses Gefängnisses belustigt und der die kleinen Kinder erheitern würde, wenn es
In der Zelle des Abbé
welche an diesem Aufenthaltsort des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit gäbe." "Den Fluchtgedanken geben Sie also ganz auf?" "Flucht ist ganz unmöglich, es hieße, sich gegen Gott versuchen." "Warum gleich so mutlos sein, es hieße zu viel von der Vorsehung verlangen, wollte man gleich beim ersten Versuch alles erreichen. Können Sie nicht nach einer anderen Richtung darauf hinarbeiten?" "Wissen Sie, was das heißt, wieder anfangen, wissen Sie, daß ich vier Jahre brauchte, um die Werkzeuge zu fabrizieren, daß ich seit zwei Jahren damit begonnen habe, die Erde, hart wie der Granit, auszuhöhlen, es war nötig, Steine zu entfernen, welche ich ehemals nicht zu bewegen vermochte, ganze Tage verbrachte ich bei dieser titanischen Arbeit und nun, wo ich dieselbe fertig zu haben glaubte, rückt Gott das Ziel weiter hinaus oder versetzt es wer weiß wohin. Meine Kraft ist erschöpft und ich wiederhole Ihnen, daß ich nicht mehr versuchen werde, meine Freiheit zu erlangen, weil ich nach dem Willen Gottes dieselbe für immer verlieren soll." Dantes, welcher gesehen hatte, wie sich ein Greis mit soviel Energie an das Leben anklammerte, fing an, zu überlegen und seinen Mut zu prüfen. Ein anderer hatte versucht, was ihm nie in den Sinn gekommen war, zu tun, ein anderer, weniger jung, weniger stark, weniger geschickt als er. Mittels Geschicklichkeit und Geduld hatte er alle Instrumente verfertigt, welche er für das unglaubliche Unternehmen gebraucht hatte. Ein anderer hatte das getan, warum sollte es ihm unmöglich sein. Hatte Faria 50 Fuß durchbohrt, so würde er hundert aushöhlen. Faria hat im Alter von
50 Jahren drei Jahre für seine Arbeit gebraucht, er war kaum halb so alt und konnte sechs darauf verwenden; Faria, ein Priester, ein Gelehrter, ein Mann der Kirche, hatte nicht gefürchtet, vom Kastell If nach der Küste zu schwimmen; er, Dantes, ein Seemann, ein kühner Taucher, der wegen eines Korallenzweiges nicht gezögert hatte, auf dem Grunde des Meeres eine Meile weit zu schwimmen. Nein, nein, Dantes brauchte nicht durch das Beispiel eines anderen ermutigt zu werden, alles, was ein anderer getan hat, kann Dantes auch tun. "Ich habe herausgefunden, was Sie suchten", sagte er zu dem Greis. "Geht der Gang, den Sie durchbohrt haben, um hierherzukommen, nicht in gleicher Richtung mit der äußeren Galerie?" "Ja." "Er kann also nur fünfzehn Schritt von derselben entfernt sein?" "Höchstens." "Ei, wir graben nach der Mitte des Korridors zu eine Art Kreuzweg. Dieses Mal machen Sie genauer Ihre Berechnungen, der Weg mündet dann auf die äußere Galerie, wir töten die Schildwache und entfliehen. Wir brauchen zur Ausführung dieses Planes nur Mut, den besitzen wir und was die Kraft anbelangt, die fehlt mir nicht. Von Ihrer Geduld haben Sie bereits Beweise abgelegt, die meinige werden Sie kennenlernen." "Mein lieber Gefährte, Sie können kaum ermessen, welcher Art mein Mut und meine Geduld gewesen sind, mit welcher ich Nacht für Nacht meine Arbeit ausgeführt habe, aber ich hatte dabei immer nur mit Sachen zu tun und Sie wollen, daß ich mich an einem
Menschen vergreife. Ich kann wohl eine Mauer und eine Treppe zerstören, aber ich könnte niemals eine Brust durchbohren." Dantes machte eine leichte Bemerkung der Überraschung. "Ein solcher Skrupel sollte Sie abhalten, an Ihrer Freiheit zu arbeiten?" "Nun, warum haben Sie nicht eines Abends Ihren Schließer mit einem Schemel ermordet und in dessen Kleidern zu fliehen versucht?" "Weil mir eben dieser Gedanke nicht gekommen ist", meinte Dantes. "Weil Sie einen instinktmäßigen Abscheu vor einem solchen Verbrechen hatten, darum haben Sie nicht daran gedacht," versetzte der Greis, "dem Menschen widersteht Blut, auch soziale Gesetze befehlen den Mord nicht und die natürlichen weisen ihn ab." Dantes war beschämt, das war in der Tat die Erklärung dessen, was in seinem Geiste und in seiner Seele bewußtlos vorgegangen war, "Sodann habe ich mich während der zwölfjährigen Haft mit allen berühmten Fluchtversuchen beschäftigt; wenige nur sind gelungen, die mit Erfolg gekrönten waren klug überdachte und langsam vorbereitete. So entkam der Herzog von Beaufort aus dem Schlosse Vincennes, der Abbé Dubuquoi von der Festung L'êvque. Eine andere Art von Fluchtversuchen sind die, welche der Zufall bringt und diese sind die besten. Warten wir eine Gelegenheit ab und benutzen wir dann diese." "Sie haben warten können," meinte Dantes seufzend, "weil Sie durch Ihre lange Arbeit vollkommen beschäftigt waren, und wenn nicht Ihre
Arbeit Sie zerstreuen konnte, so hatten Sie Ihre Hoffnung, welche Sie tröstete." "Ich schrieb oder studierte," "Man gab Ihnen also Papier, Feder und Tinte?" "Nein," meinte der Abbé, "ich fertigte mir das selbst!" Dantes blickte diesen Mann mit immer steigender Bewunderung an, aber doch drückte sich ein leiser Zweifel in seinen Mienen über das Gehörte aus. "Wenn Sie zu mir kommen, so werde ich Ihnen ein ganzes Werk, das Resultat meiner Gedanken, Forschungen und Betrachtungen meines ganzen Lebens zeigen, über welches ich im Schatten des Kolosseums zu Rom nachdachte und nicht ahnte, daß meine Kerkermeister im Kastell If mir die Muße lassen würden, hinter seinen Mauern es auszuarbeiten. Es ist eine "Abhandlung der Möglichkeit einer alleinigen Monarchie in Italien." "Und wie haben Sie es geschrieben?" "Auf zwei Hemden. Ich habe ein Mittel erfunden, die Leinwand dicht wie Pergament zu machen." "Sind Sie denn Chemiker?" "Ein wenig verstehe ich davon," "Aber zu einem solchen Werk bedurften Sie doch historischer Grundlagen?" "In Rom besaß ich eine Bibliothek von ungefähr 5000 Bänden, in meiner Gefangenschaft habe ich mir deren Inhalt ins Gedächtnis zurückzurufen versucht, und so könnte ich Ihnen Xenophon, Plutarch, Titus Livius, Dante, Montaigne, Shakespeare u.a. vollständig wiederholen." "Sie sprechen also mehrere Sprachen?"
"Jawohl, fünf. Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch," Immer mehr war Edmund über diese seltsamen Fähigkeiten dieses Mannes erstaunt und er fuhr fort ihn zu fragen: "Aber, wenn man Ihnen keine Feder gegeben hat, womit haben Sie dieses große Werk schreiben können?" "Aus den Knorpeln in den Köpfen der Seefische, die wir an Fasttagen zu essen bekommen, habe ich mir vortreffliche Federn fabriziert, darum sehe ich diesen Fasttagen mit Freude entgegen, denn solange ich Federn habe, kann ich an meinen geschichtlichen Arbeiten, die mein größtes Vergnügen sind, schreiben. Der Vergangenheit mich erinnernd, vergesse ich die Gegenwart. Frei und unabhängig mich in die Geschichte vertiefend, erinnere ich mich nicht, daß ich gefangen bin." ,,Aber mit was haben Sie die Tinte hergestellt?" fragte Dantes, "In meiner Zelle ist ein Kamin, in dem sich noch Ruß befindet, und dieser, mit etwas von dem Wein vermischt, den ich Sonntags bekomme, liefert mir vortreffliche Tinte," "Und wann könnte ich dieses alles sehen?" fragte Dantes, "Wann Sie wollen", meinte Faria, "Also sofort!" rief der junge Mann aus. "Folgen Sie mir dann!" Und er stieg in den unterirdischen Gang, in dem er, von Dantes gefolgt, verschwand.
Die Zelle des Abbé. Nachdem Dantes, gebückt, aber doch mit Leichtigkeit, den unterirdischen Gang passiert hatte, gelangte er an das andere Ende desselben, welches in die Zelle des Abbé mündete. Dieselbe war mit Steinfliesen ausgelegt und durch Loslösung einer derselben hatte er die mühsame Arbeit begonnen. Kaum eingetreten und aufrechtstehend, betrachtete der junge Mann die Zelle mit großer Aufmerksamkeit. Beim ersten Anblick bot sich ihm nichts besonderes dar, "Gut," meinte der Abbé, "es ist jetzt ein Viertel über Zwölf und wir haben noch einige Stunden vor uns." Dantes suchte nach der Uhr, nach welcher der Abbé die genaue Zeit wissen konnte. "Sehen Sie diesen Lichtstrahl, der durch mein Fenster fällt und sehen Sie an der Wand die Linien, die ich gezogen habe, dank dieser Linien, welche mit der Bewegung der Erde um die Sonne berechnet sind, weiß ich die genaue Zeit." Dantes, welcher nichts von dieser Erklärung verstanden hatte, meinte: "Laßt mich Eure Schätze betrachten." Der Abbé ging nach dem Kamin, hob einen Stein auf, welcher eine tiefe Höhlung bedeckte, in derselben waren alle Gegenstände verborgen, über die er zu Dantes gesprochen hatte. "Was wollen Sie zuerst sehen?" fragte er ihn. "Zeigen Sie mir Ihr großes Werk über die italienische Monarchie," Faria zog aus dem kostbaren Schrank drei oder vier wie Papyrusblätter zusammengewickelte Leinwand
rollen. Diese waren vier Zoll breite und achtzehn Zoll lange Streifen, dieselben waren numeriert und in italienischer Sprache geschrieben, die Dantes als Provencale vollkommen verstand, "Sehen Sie," meinte der Abbé, "es ist fertig. Vor ungefähr acht Tagen habe ich das Wort "Ende" auf den 68. Streifen unten geschrieben. Zwei meiner Hemden und alle meine Taschentücher habe ich dabei verbraucht. Wenn ich jemals wieder frei werden sollte und ich in Italien einen Drucker finde, der dieses zu drucken vermag, so ist mein Ruf begründet." "Ja, das begreife ich, aber bitte zeigen Sie mir nun die Federn, mit welchen Sie dieses Werk geschrieben haben." "Sehen Sie", und er hielt dem jungen Mann einen etwa 6 Zoll langen Stock, dick wie ein Pinselstiel, an dessen Ende eine jener Knorpeln mit einem Faden befestigt war, entgegen, derselbe war schnabelförmig gespitzt und wie eine richtige Feder gespalten, Dantes prüfte die Feder genau, mit den Augen das Instrument suchend, mit welchem er dieselbe auf so korrekte Weise zugespitzt hatte, "Ach ja, Sie suchen das Federmesser, nicht wahr? Das ist mein Meisterwerk, ich habe es, wie auch dieses Messer, aus einem alten eisernen Leuchter gemacht." Das Federmesser schnitt wie ein Rasiermesser und das Messer hatte noch den Vorteil, daß es als Dolch dienen konnte.. Dantes glaubte sich in einem Antiquitätenladen von Marseille zu befinden, in dem er oft die Werkzeuge, welche die Wilden verfertigten und die die Südfahrer mitgebracht haben, betrachtete. "Mich wundert nur eins," sagte Dantes, "daß die Tage Ihnen für alle diese Arbeiten genügten."
"Ich benutzte auch die Nächte", antwortete Faria. "Die Nächte! Haben Sie denn die Natur der Katzen und können Sie im Dunkeln sehen?" "Nein, aber Gott hat dem Menschen Klugheit gegeben, um dem Mangel seiner Sinne zu Hilfe zu kommen, ich habe mir Licht verschafft." "Wodurch?" "Von dem Fett des Fleisches, das ich bekomme, bereite ich mir eine Art Kerze." "Und das Feuer?" "Hier zwei Kieselsteine und Zünder." "Und die Streichhölzer?" "Ich habe eine Hautkrankheit vorgegeben und man hat mir etwas Schwefel bewilligt." Dantes legte diese Gegenstände mit einer Art Ehrfurcht auf den Tisch und senkte den Kopf, ganz erdrückt von der beharrlichen Kraft jenes Geistes. "Das ist noch nicht alles," meinte Faria, "legen wir die Sachen wieder in ihr Versteck." Sie brachten den Stein wieder an seinen Platz und vernichteten jede Spur seiner Entfernung. Nun rückte der Abbé sein Bett ab, hinter dem Kopfende war eine durch einen Stein fast hermetisch verschlossene Öffnung, und diese barg eine Strickleiter von ungefähr 25 bis 30 Fuß Länge. "Woher haben Sie diesen Strick?" fragte Dantes. "Während meiner dreijährigen Gefangenschaft in Fenestrelles habe ich einige Hemden und meine Bettlaken ausgefasert, und während meines Transportes nach hier hatte ich ein Mittel entdeckt, diese Fäden mitzunehmen, und hier habe ich die Arbeit vollendet."
Indem Dantes die Strickleiter aufmerksam betrachtete, fiel ihm plötzlich ein, daß ein Mann mit so durchdringendem Verstände sein eigenes Unglück besser durchschauen könne als er selbst. "Woran dachten Sie soeben?" "Mir fiel ein, daß Sie mir Ihr Schicksal erzählt haben und Sie kennen noch nicht das meinige." "Ihr Leben ist eigentlich noch zu kurz, junger Mann, als daß es ein wichtiges Ereignis enthalten könne." "Aber es birgt ein entsetzliches Unglück, ein Unglück, welches ich nicht verdient habe und ich möchte, um nicht Gott zu schmähen, wie ich es bisweilen getan habe, die Menschen für mein Unglück verantwortlich machen können." "Also Sie behaupten, unschuldig zu sein?" "Vollkommen unschuldig! Bei dem Leben der beiden Personen, die mir teuer sind, bei dem Leben meines Vaters und Mercedes!" "Erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte", sagte der Abbé, indem er die Öffnung sorgfältig schloß und das Bett an seinen Platz rückte. Dantes erzählte nun von seiner Reise nach Indien, seinen zwei oder drei Fahrten nach der Levante und zuletzt von der Seefahrt und dem Paket für den Oberhofmarschall, das er nach dem Tode des Kapitäns diesem überbrachte. Auch das Gespräch mit dem Kaiser, den ihm anvertrauten Brief für Herrn Noirtier, seine Ankunft in Marseille, das Wiedersehen mit seinem Vater und Mercedes, seine Verlobung und Verhaftung, sein Verhör und zuletzt seine
Einkerkerung berührte er. Von da an wußte er nichts mehr, nicht einmal, wie lange er Gefangener war, Nach Beendigung dieser Erzählung versank der Abbé in tiefes Nachdenken. "Man hat einen Rechtsgrundsatz von tiefer Bedeutung," hüb der Abbé von neuem an, "nämlich, daß die menschliche Natur von vornherein nicht fehlerhaft ist und nach dem Verbrechen hinneigt, sondern erst die Zivilisation hat uns Bedürfnisse und Lust nach Lastern beigebracht, die zuweilen den Einfluß haben, die guten Instinkte in uns zu ersticken, daher rührt jener Grundsatz: Wenn man den Schuldigen entdecken will, so muß man zuerst denjenigen suchen, dem Aas begangene Verbrechen nützen kann. Wem konnte Ihr Verschwinden von Nutzen sein?" "Niemandem, ich bin ja so unbedeutend," "Antworten Sie nicht so, denn dieser Antwort mangelt gleichzeitig die Logik und Philosophie. Alles ist relativ, mein Freund, von dem König an, der seinem zukünftigen Nachfolger im Wege steht, bis zu dem Beamten, der dem untersten Beamten ein Hindernis ist. Wenn der König stirbt, erbt der Nachfolger eine Krone, stirbt der Beamte, so nimmt dessen Nachfolger 1200 Franken ein. Sie sollten also zum Kapitän des Pharao ernannt werden. Sie wollten ein junges Mädchen heiraten, hatte niemand ein Interesse daran, daß Sie nicht Kapitän wurden, hatte ferner niemand ein Interesse daran, daß Sie Mercedes nicht heirateten? Beantworten Sie mir die erste Frage." "Nein, ich war sehr beliebt an Bord und ich bin sicher, daß, wenn die Matrosen zu wählen gehabt hätten, ich sofort zum Chef gewählt worden wäre. Ein einziger Mann hatte Ursache, mir nicht so wohl zu
wollen, ich hatte einige Male Streit mit ihm und ihn zum Duell gefordert, das er verweigerte," "Wohlan, wie heißt dieser Mann?" "Danglars." "Und was war er an Bord?" , .Rechnungsführer." "Hätten Sie ihn auf seinem Posten gelassen, wenn Sie Kapitäto geworden wären?" "Wenn die Sache von mir abgehangen hätte, nein! Denn ich hatte einige Unregelmäßigkeiten in seinen Rechnungen entdeckt." "Hat jemand Ihrem letzten Gespräch mit dem Kapitän beigewohnt?" "Nein, wir waren allein." "Hat Sie vielleicht jemand behorchen können?" "Ja, denn die Tür war offen — ich erinnere mich sogar, daß Danglars in dem Augenblick vorüberging, wo mir der Kapitän das Paket einhändigte." "Wir sind schon auf der Spur", meinte der Abbé "Wohin hatten Sie den Brief getan?" "Ich hatte ihn in meine Brieftasche gesteckt." "Wieso hat ein amtliches Schreiben Platz in der Tasche eines Seemannes?" "Sie haben recht, ich hatte den Brief solange in der Hand, bis ich wieder an Bord kam und dann schloß ich ihn in meine Brieftasche ein." "Konnte den Brief jemand in ihrer Hand sehen?" "Jawohl, Danglars und alle anderen." "Jetzt nehmen Sie Ihr ganzes Gedächtnis zusammen und erinnern Sie sich, wie der Anklagebrief lautete." Dantes dachte einen Augenblick nach und wiederholte ihm wörtlich denselben. "Es ist klar wie der Tag," sagte der Abbé, "Sie
müssen ein sehr vertrauensseliges Herz haben, um die Sache nicht sofort zu erraten." "Glauben Sie," rief Dantes aus, "das wäre niederträchtig." "Wie war Danglars gewöhnliche Schrift?" "Eine schöne Kursivschrift," "Und die des anonymen Briefes?" "Eine verkehrte Schrift." Lächelnd sagte der Abbé: "Verstellt, nicht wahr?" Und er nahm seine Feder und schrieb mit der linken Hand die beiden ersten Zeilen der Denunziation. Dantes blickte den Abbé mit wahrem Entsetzen an. "Es ist erstaunlich," rief er aus, "wie diese Handschrift jener gleicht." "Weil die Denunziation ebenfalls mit der linken Hand geschrieben ist. Ich habe herausgefunden, daß alle mit der rechten Hand geschriebene Schrift verschieden ist und die mit der linken Hand geschriebene sich gleicht . . . Gehen wir zur zweiten Frage über: Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie Mercedes nicht heirateten?" "Ja, ein junger Spanier, der sie liebte, namens Ferdinand." "Glauben Sie, daß er fähig gewesen wäre, den Brief zu schreiben?" "Nein, er hätte mir eher einen Stich mit dem Messer versetzt." "Ja, das liegt dem spanischen Wesen eher, lieber einen Mord, als eine Feigheit begehen." "Übrigens kannte er die Einzelheiten der Denunziation gar nicht, ich habe mit niemandem davon gesprochen." "Es ist Danglars gewesen."
"Oh, ich bin jetzt auch davon überzeugt." "Kannte Danglars vielleicht Ferdinand?" "Nein, . . . doch, ich besinne mich, daß ich sie zusammen am Vorabend meiner Hochzeit in Vater Pamphiles Laube sitzen gesehen habe. Danglars sah freundlich spöttisch, Ferdinand bleich und finster aus." "Waren sie allein?" "Nein, ein anderer Bekannter von mir, ein Schneider Caderousse war bei ihnen, dieser aber war schon betrunken. Doch, halt! Wieso erinnerte ich mich dessen nicht früher? Auf dem Tisch stand ein Tintenfaß nebst Papier und Federn. Oh! die Schandbuben, die Schandbuben!" "Wollen Sie noch etwas wissen?" fragte der Abbé lachend. "Ja, ja, weil Sie alles ergründen und in allem klar gesehen haben, so sagen Sie mir auch, warum man mir keinen Richter gegeben und mich ohne Urteil beschuldigt hat." "Oh! dieses ist viel schwieriger," entgegnete der Abbé, "die Justiz verfolgt finstere und geheimnisvolle Gänge, welche schwer zu durchdringen sind. Was wir bis jetzt bezüglich Ihrer beiden Feinde kennengelernt haben, war ein Kinderspiel, in diesem Punkt müssen Sie mir die genauesten Angaben machen," "Fragen Sie mich, denn wirklich, Sie erkennen klarer mein Leben als ich selbst." "Also, wer hat Sie verhört? Der Prokurator, der Vertreter oder der Untersuchungsrichter?"
"Der Vertreter." "Jung oder alt?"
"Hier ist mein Fluchtplan!"
"Sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt." "Gut, also noch nicht verdorben, aber schon sehr ehrgeizig. Wie benahm er sich gegen Sie?" "Mehr mild als streng." "Haben Sie ihm alles erzählt?" "Alles." "Und änderte sich sein Benehmen im Laufe des Verhörs?" "Er schien einen Augenblick, als er den kompromittierenden Brief gelesen hatte, sehr aufgeregt, er war wie niedergeschmettert über mein Unglück." "Sind Sie fest überzeugt, daß er Ihr Unglück so tief beklagte?" "Jawohl, er hat mir wenigstens einen großen Beweis seiner Sympathie gegeben, indem er das einzige Stück, welches mich blosstellen konnte, verbrannt hat." "Dieser Mann kann ein größerer Bösewicht gewesen sein, als Sie denken." "Auf Ehre, Sie machen mich schaudern," sagte Dantes, "ist die Welt von Tigern und Krokodilen bevölkert?" "Ja, nur sind die zweibeinigen Tiger und Krokodile gefährlicher als die anderen." "Fahren wir fort, bitte fahren wir fort," "Gern, also er hat diesen Brief verbrannt. An wen war derselbe adressiert?" "An Herrn Noirtier, rue Coq Heron 13 in Paris." "Mutmaßen Sie, daß der Amtsvertreter irgendein Interesse an der Vernichtung dieses Briefes gehabt haben könnte?" "Vielleicht, denn ich mußtie ihm mehrere Male versprechen, daß ich, in meinem eigenen Interesse,
sagte er, den Brief zu niemandem erwähnen solle, er ließ mich sogar schwören, nie den auf der Adresse befindlichen Namen auszusprechen." "Noirtier? Noirtier," wiederholte der Abbé, "ich habe einen Girondisten Noirtier gekannt. Wie hieß Ihr Amtsvertreter?" "von Villefort." Der Abbé brach in lautes Gelächter aus. "Jetzt ist mir alles klar, armes Kind! Armer junger Mann! Und dieser Justizbeamte soll es gut mit Ihnen gemeint haben? Dieser würdige Amtsvertreter vernichtete jenen Brief? Dieser Versorger des Henkers ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier auszusprechen? Dieser Noirtier, armer Blinder, war ja sein Vater." Hätte der Blitz plötzlich zu den Füßen Dantes eingeschlagen und ein Abgrund sich aufgetan, es hätte keinen so niederschmetternden Eindruck hervorrufen können als diese Worte. Er faßte den Kopf mit beiden Händen, als wenn er denselben am Auseinanderspringen verhindern wollte. "Sein Vater, sein Vater!" rief er aus. "Jawohl, sein Vater, der Noirtier von Villefort heißt", entgegnete der Abbé. Jetzt durchzuckte ein blendender Lichtschein das Gehirn des Gefangenen, alles was ihm unerklärlich bis dahin gewesen, war nun klar wie der hellste Tag. Jene Winkelzüge Villeforts während des Verhörs, jener vernichtete Brief, der erlangte Schwur, diese fast flehende anstatt drohende Stimme des Justizbeamten, alles kam ihm ins Gedächtnis zurück, er stieß einen Schrei aus und stürzte sich schwankend wie ein Betrunkener an die Öffnung, die aus der Zelle
des Abbé nach der seinigen führte und sagte: "Ich muß allein sein, um das alles zu überdenken." In seiner Zelle angekommen, warf er sich auf sein Bett und der Schließer fand ihn noch des Abends mit nach der Decke starrenden Augen und ganz entstellten Zügen, liegen. In diesen Stunden des Nachdenkens, die ihm wie Sekunden verflossen waren, hatte er einen schrecklichen Entschluß gefaßt und einen furchtbaren Schwur geleistet. Die Stimme des Abbé zog ihn aus seinen Träumen, welcher ihn zum Abendessen einlud. Seine Eigenschaft als anerkannter, aber belustigender Narr verschaffte dem alten Gefangenen einige Vorrechte, z.B. bekam er Weißbrot und ein Fläschchen Wein am Sonntag. Da nun gerade ein Sonntag war, wollte er Brot und Wein mit seinem Gefährten teilen. Dantes folgte ihm, seine Gesichtszüge waren nicht mehr entstellt, aber sie drückten Strenge und Festigkeit aus, die einen gefaßten Entschluß verrieten. Der Abbé blickte ihn durchdringend an. "Ich bedaure jetzt, Ihnen zur Klarheit verholfen und gesagt zu haben, was ich sagte, weil damit in Ihrem Herzen das Rachegefühl eingekehrt ist, das Sie bis jetzt noch nicht kannten." Lächelnd meinte Dantes, "Sprechen wir von etwas anderem." Die Unterhaltung des alten Mannes war, wie diejenige der meisten Leute, die viel gelitten haben, fesselnd, aber belehrend, nicht etwa egoistisch, denn dieser arme Mann sprach niemals von seinem Unglück. Dantes hörte seinen Worten mit Bewunderung zu; einesteils stimmten sie mit seinen eigenen Ideen und
Kenntnissen überein, die er sich als Seemann angeeignet hatte, oder auch sie zeigten ihm unbekannte Dinge, wie jene Nordlichter, die den Seefahrern in den südlichen Breiten erscheinen, neue Landschaften und Gesichtskreise. Dantes begriff das Glück, welches derjenige fühlen mußte, der diesem großen Geist auf seine moralische, philosophische oder gesellschaftliche Höhe, auf der er sich bewegte, folgen konnte. "Sie könnten mich etwas von dem lehren, was Sie wissen und wäre dies auch nur, um sich nicht mit mir zu langweilen . . . Mir scheint, Sie müßten die Einsamkeit einem Gefährten ohne Erziehung und Fähigkeit, wie ich bin, vorziehen. Wenn Sie darein willigen, verspreche ich Ihnen, nicht mehr von der Flucht zu reden." Lächelnd meinte der Abbé: "Das menschliche Wissen ist sehr begrenzt, und wenn ich Ihnen Mathematik, Physik, Geschichte und die lebenden Sprachen, die ich kenne, beigebracht habe, so werden wir kaum zwei Jahre weiter sein." "Zwei Jahre!" meinte Dantes, "Sie glauben, ich könnte alles dies in zwei Jahren lernen?" "Lernen ist nicht wissen. Es gibt Gelehrte und gibt Weise, das Gedächtnis schafft die einen, die Philosophie die anderen." "Kann man die Philosophie nicht lernen?" "Die Philosophie lernt sich nicht, sie ist die Vereinigung des erworbenen Wissens, welches sich das Genie angeeignet hat, es ist die glänzende Wolke, auf welcher Christus gen Himmel schwebte." "Was wollen Sie mich nun zuerst lehren? Ich habe Sucht nach Wissen."
An diesem Abend noch entwarfen die beiden Gefangenen einen Studienplan, den sie am folgenden Morgen begannen auszuführen. Dantes besaß ein wunderbares Gedächtnis und eine außerordentliche Fassungsgabe. Sein auf die Mathematik gerichteter Verstand befähigte ihn, alles durch Berechnung zu begreifen, während die Poesie des Seemanns das trockene Studium der Zahlen milderte. Auf seinen Orientreisen hatte er bereits italienisch und etwas neugriechisch gelernt, durch diese beiden Sprachen begriff er bald die Technik der anderen und nach Verlauf von sechs Monaten fing er an, spanisch, englisch und deutsch zu sprechen. War es die Zerstreuung des Studiums, die ihm etwas die Freiheit ersetzte, oder war es die strenge Befolgung seines Wortes, das er dem Abbé gegeben hatte, — kurz, er sprach nicht mehr von der Flucht und die Tage vergingen ihnen rasch und lehrreich. Im Verlaufe eines Jahres war er ein ganz anderer Mensch. Was den Abbé Faria betrifft, so bemerkte Dantes, daß derselbe, trotz der Zerstreuung, die ihm seine Gegenwart gebracht hatte, täglich trübsinniger wurde. Ein unaufhörlich nagender Gedanke schien auf seinem Geist zu lagern. Er versank in tiefe Träumereien, seufzte unwillkürlich, sprang von seinem Sitz auf und ging mit gekreuzten Armen und düsterer Miene in seinem Gefängnis umher. Eines Tages rief er aus: "Ach, wenn doch keine Schildwache da wäre." "Sobald Sie es wollen, wird keine mehr da sein", sagte Dantes, der diesen Gedanken mit seinem geschärften Verstande schnell aufgriff. "Wie ich Ihnen schon gesagt habe, widerstrebt es mir, einen Mord zu begehen."
"Indessen, dieser Mord, wenn er geschieht, würde nur aus Notwehr begangen werden." "Tut nichts, ich könnte es nicht." "Aber Sie denken doch daran." "Unaufhörlich, unaufhörlich", murmelte der Abbé. "Und Sie haben nun einen Weg gefunden?", fragte lebhaft Dantes. "Ja, wenn es gelänge, eine blinde und taube Schildwache aufzustellen." Dantes wollte das Gespräch noch weiter fortführen, aber der Abbé schüttelte den Kopf und weigerte sich zu antworten. Drei Monate verstrichen wiederum, "Sind Sie stark?", fragte eines Tages der Abbé Dantes. Ohne eine Antwort zu geben, nahm Dantes den Meißel, bog ihn wie ein Hufeisen und dann wieder auseinander. "Würden Sie sich verpflichten, die Schildwache, aber nur im äußersten Notfalle, umzubringen?" "Ja, auf Ehre l" "Also, wir können unser Vorhaben ausführen." "Wieviel Zeit werden wir dazu brauchen?" "Ein Jahr wenigstens." "Wann können wir beginnen?" "Sogleich! Hier ist mein Plan." Der Abbé zeigte nun Dantes seine Zeichnung, welche er gemacht hatte. Es war der Plan von seiner, Dantes, Zelle und dem Korridor, der dieselben verband, unter demselben lief ein Schacht bis in die Mitte der Galerie, wo die Wache auf- und abging, hier machten sie eine Aushöhlung und lösten von innen eine der Steinplatten los, welche im gegebenen Augenblick unter dem Gewicht des Soldaten nachgeben mußte, so daß derselbe in der Höhlung
verschwand. Dantes nun sollte sich auf ihn stürzen, da der Soldat, von dem Fall betäubt, nicht gleich an eine Verteidigung dachte, ihn binden und knebeln, und dann konnten sie beide sich mit Hilfe der Strickleiter hinabgleiten lassen und sie waren frei. Dantes klatschte vor Freude in die Hände. Dieser Plan war so einfach und er mußte gelingen. Noch an demselben Tage gingen die Bergleute ans Werk, mit um so mehr Eifer, da eine so lange Ruhepause vorangegangen war und jeder einen schon so lange im Geheimen gehegten Gedanken jetzt zur Ausführung brachte. Die Arbeit wurde nur zu der Stunde, wo der Schließer ercheinen konnte, unterbrochen. Die Erde, welche sie aus dem neuen Gange ausgruben, wurde nach und nach mit der größten Vorsicht durch die eine oder andere der beiden Schießscharten, von Dantes oder von Faria, hinausgeschüttet. So verging mehr als ein Jahr bei dieser Arbeit, die nur mit einem Meißel, einem Messer und einem hölzernen Hebebaum ausgeführt werden konnte. Faria fuhr auch während der Arbeit fort, Dantes zu unterrichten, sich bald in dieser, bald in jener Sprache mit ihm unterhaltend, und er lernte die Geschichte der Nationen und ihre großen Männer kennen. Der Abbé, der ein Mann der großen Welt war, besaß außerdem in seinen Manieren ein würdevolles Wesen, das sich auch Dantes, vermöge seiner Anpassungsfähigkeit, angeeignet hatte. Nach Verlauf von 15 Monaten war der Gang und die Aushöhlung unter der Galerie fertig. Man hörte die Schildwache hin- und hergehen und die beiden Arbeiter, welche nur eine dunkle Nacht ohne Mondenschein zur Flucht abwarten mußten, waren besorgt, der Stein könne eher herabfallen. Dantes war nun im Be
griff, denselben mittels eines kleinen Balkens, den sie in der Erde gefunden hatten, zu stützen, als er einen Angstruf des Abbés vernahm, der in seiner Zelle geblieben war, um an der Strickleiter einen Pflock zu befestigen. Dantes eilte zu ihm und sah ihn schweißbedeckt, mit zusammengekrampften Händen dastehen. "Oh, mein Gott!" rief Dantes aus, "was haben Sie denn?" "Schnell, schnell, hören Sie mich." Dantes blickte das leichenblasse Gesicht, seine starren, mit blauen Rändern umgebenen Augen, seine verzerrten Lippen an und ließ vor Schreck den Meißel auf den Boden fallen, "Was ist Ihnen denn?", rief Dantes aus, "Ich bin verloren! Eine schreckliche Krankheit, die vielleicht tödlich werden kann, ich fühle den Anfall kommen. Ein Jahr vor meiner Einkerkerung ereilte er mich schon einmal. Nur ein Mittel hilft mir, laufen Sie schnell in meine Zelle und holen Sie aus dem ausgehöhlten Bettfuß das Kristallfläschchen, welches noch einen kleinen Teil einer roten Flüssigkeit enthält, bringen Sie es schnell, oder nein, man könnte mich hier überraschen, helfen Sie mir in meine Zelle, etwas Kraft besitze ich noch," Dantes, welcher den Kopf bei dem neuen Unglück, das über ihn hereinzustürzen drohte, nicht verlor, schleppte den unglücklichen Gefährten mit vieler Mühe in dessen Zelle und legte den an allen Gliedern zitternden Abbé ins Bett, "Jetzt tritt der Anfall ein, ich werde ganz starr werden, vielleicht bleibe ich dabei still, es kann aber auch sein, daß ich heftig zu schreien anfange, suchen Sie mich mit aller Macht daran zu hindern, denn wenn
man von der Krankheit hört, könnte man mich in eine andere Zelle bringen und wir würden auf immer getrennt sein. Wenn Sie mich starr, ganz wie tot, daliegen sehen, so flößen Sie mir acht bis zehn Tropfen von dieser roten Flüssigkeit ein und warten Sie dann." Eine ganze Stunde verstrich, ohne daß der Abbé die geringste Bewegung gemacht hatte. Dantes fürchtete schon das Schlimmste, endlich machte sich eine leichte Färbung der Wangen bemerkbar, die offenen starren Augen bekamen wieder Leben, ein leiser Seufzer drang durch seine Lippen, er machte eine schwache Bewegung. "Gerettet, gerettet!", rief Dantes, Der Kranke konnte noch nicht sprechen, aber mit sichtbarer Angst zeigte er mit der Hand nach der Türe. Dantes horchte und hörte von weitem den Schritt des Schließers. Mit einem Satz sprang der junge Mann zur Öffnung, schlüpfte hinein, lehnte die Platte wieder an und betrat seine Zelle. Einen Augenblick darauf kam der Schließer zu ihm und, wie gewöhnlich, fand er den Gefangenen auf seinem Bett sitzend, kaum hatte er sich entfernt und sich das Geräusch seiner Schritte verloren, als Dantes, von Unruhe getrieben, ohne an das Essen zu denken, wieder zu dem Freunde eilte. Dieser hatte vollständig sein Bewußtsein wiedererlangt, aber er lag noch immer träge und kraftlos auf sein Bett gestreckt, "Ich glaubte nicht, Sie wieder zu sehen", sagte er zu Dantes, "Warum," fragte der junge Mann, "dachten Sie denn, sterben zu müssen?" "Nein, aber alles ist für die Flucht vorbereitet und ich glaubte, Sie würden fliehen."
Eine Röte der Entrüstung färbte die Wangen Dantes. "Ohne Sie!" rief er aus, "haben Sie mich wirklich dessen fähig gehalten?" "Jetzt sehe ich ein, daß ich mich geirrt habe," sagte der Kranke, "ach, ich fühle mich so schwach, so erschöpft." "Ein wenig Mut. Ihre Kräfte werden sich wieder einstellen", sagte Dantes, indem er sich auf den Bettrand setzte und ihm beide Hände drückte. Der Abbé bemerkte kopfschüttelnd: "Das letztemal dauerte der Anfall eine halbe Stunde, dann hatte ich Hunger und konnte allein aufstehen, heute kann ich weder mein rechtes Bein, noch meinen rechten Arm bewegen, mein Kopf ist ganz benommen, was einen Erguß ins Gehirn bedeutet, stellt sich der Anfall zum drittenmal ein, so werde ich ganz gelähmt bleiben, oder sofort sterben." "Nein, nein, beruhigen Sie sich. Sie werden nicht sterben. Der dritte Anfall wird, wenn er überhaupt kommt, in der Freiheit kommen, dann werden wir die nötige Hilfe dabei haben." "Mein Freund," sagte der Greis, "täuschen Sie sich nicht, die Krisis, welche soeben vorübergegangen ist, hat mich zu lebenslänglichem Gefängnis verdammt. Um zu fliehen, muß man gehen können." "Nun gut, wir werden acht Tage, ja zwei Monate warten, wenn es sein muß, in diesem Zeitraum werden Ihre Kräfte sich wieder einstellen. Alles ist zu unserer Flucht vorbereitet und es steht uns frei, die Stunde und den Augenblick dazu zu wählen. An dem Tage, wo Sie sich stark genug fühlen, um schwimmen zu können, ei, an jenem Tage bringen wir unseren Plan zur Ausführung."
"Ich werde nie mehr schwimmen können," ant wortete Faria, "dieser Arm ist nicht nur für einen Tag, sondern für immer gelähmt. Heben Sie ihn selbst auf und sehen Sie, wie schwer er ist." Der junge Mann hob den Arm, welcher gefühllos wieder zurückfiel, "Sind Sie nun überzeugt, lieber Edmund?" sagte Faria, "Glauben Sie mir, ich weiß genau, was ich sage. Seit dem ersten Anfall habe ich unaufhörlich darüber nachgedacht, ich erwartete die Krankheit, denn es ist eine Familienerblichkeit, mein Vater starb bei dem dritten Anfall, mein Großvater ebenfalls. Der Arzt, der mir diese Tropfen verschrieben hat, es ist der berühmte Cabanis, hat mir dasselbe Schicksal prophezeit." "Jeder Arzt kann sich irren und, was Ihre Lähmung betrifft, so soll uns dieselbe nicht hindern, ich nehme Sie auf meine Schultern und schwimme los." "Kind," meinte der Abbé, "Sie sind ein Seemann und Schwimmer, folglich müssen Sie wissen, daß ein Mensch, beladen mit solcher Last, im Meer keine 50 Klafter zurücklegen könnte. Täuschen Sie sich nicht länger durch solche Trugbilder, an die Ihr vortreffliches Herz nicht glauben kann. Ich muß schon hierbleiben, was Sie betrifft, so müssen Sie fliehen. Sie sind jung, geschickt und stark. Beunruhigen Sie sich nicht meintwegen, ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück," "Gut," sagte Dantes, "so bleibe ich auch hier," Sodann erhob er sich und streckte dem Greise feierlich die Hand hin. "Bei dem Blut Christi schwöre ich Ihnen, Sie nur erst bei Ihrem Tode zu verlassen!" Faria betrachtete diesen so einfachen und edlen jungen Mann und las auf dessen Zügen den Ausdruck
der reinsten Ergebenheit und die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und seines Eides. "Wohlan, ich nehme es an, Dank! Vielleicht werden Sie für diese uneigennützige Ergebenheit belohnt werden, aber da ich nicht kann und Sie nicht fliehen wollen, so müssen wir die Höhlung unter der Galerie verstopfen, der Wache könnte der hohle Klang auffallen und sie könnte den Inspektor darauf aufmerksam machen, machen Sie jetzt diese Arbeit, bei welcher ich Ihnen leider nicht helfen kann, verwenden Sie die ganze Nacht dazu, wenn es nötig ist, und kommen Sis erst morgen nach dem Besuch des Kerkermeisters zu mir, ich werde Ihnen etwas Wichtiges zu sagen haben." Dantes nahm die Hand des Abbé, welcher ihn lächelnd anblickte und ging mit dem Gehorsam und dem Respekt, den er seinem alten Freund angelobt hatte.
Der Schatz. Als Dantes am folgenden Morgen in die Zelle seines Gefährten trat, fand er Faria unter dem Lichtstrahl, welcher durch die Luke in die Zelle fiel, sitzend vor. Er hielt in seiner linken Hand, denn die andere konnte er nicht mehr gebrauchen, ein zusammengerolltes Blatt Papier, das er Dantes reichte, "Was ist das?", fragte dieser, "Betrachten Sie es gut", meinte der Abbé lächelnd. "Ich betrachte es mit beiden Augen," sagte Dantes, "aber sehe nichts als ein halbverbranntes Papier, auf welchem mit sonderbarer Tinte gotische Buchstaben gezeichnet sind,"
"Dieses Papier, mein Freund," meinte Faria, "ist, jetzt kann ich es Ihnen gestehen, mein Schatz, dessen Hälfte von heute an Ihnen gehört," Ein kalter Schweiß überlief Dantes Stirn. Bis heute hatte er es vermieden, mit Faria über diesen Schatz zu sprechen, wegen dessen er für verrückt gehalten ward. Aus instinktivem Zartgefühl hatte Edmund vorgezogen, diese schmerzliche Seite nicht zu berühren und Faria seinerseits schwieg auch, und dieses Stillschweigen hielt Edmund für einen Schritt zur Vernunft. Heute nun schienen ihm diese Worte, welche Faria nach einer so gräßlichen Krisis entschlüpften, ein Rückfall in die geistige Umnachtung, "Ihren Schatz?", stammelte er verwirrt, "Jawohl," sagte lächelnd Faria, "Sie sind in allen Fällen ein edler Mensch, Edmund, und ich verstehe aus Ihrer Blässe und Ihrem Schauder, was in diesem Augenblick in Ihnen vorgeht. Nein, beruhigen Sie sich, ich bin nicht verrückt. Dieser Schatz besteht wirklich, Dantes, und wenn ich ihn nicht besitzen werde, so werden Sie ihn besitzen. Niemand hat mich anhören wollen, weil man mich für verrückt hielt, aber Sie, Sie müssen doch wissen, daß ich es nicht bin. Hören Sie mich an, und Sie werden mir nachdem glauben, wenn Sie wollen," "Leider," murmelte Edmund zu sich selbst, "da ist er wieder auf dem alten Fleck, dieses Unglück fehlt mir noch," Dann fügte er laut hinzu: "Wollen Sie sich nicht ein wenig Ruhe gönnen, mein Freund, der Anfall hat Sie angegriffen. Morgen werde ich Ihre Geschichte hören, wenn Sie es wünschen, aber heute sollen Sie sich pflegen, übrigens ist es doch nicht so eilig für uns,"
"Doch, es eilt sehr," antwortete der Greis, "wer weiß, ob morgen oder übermorgen nicht der dritte Anfall kommen kann, bedenken Sie, daß es dann mit mir zu Ende ist . . . Wirklich, ich habe oft mit einer bitteren Freude an diese Reichtümer, die zehn Familien glücklich machen würden, und für die Menschen, die mich verfolgten, verloren sind, gedacht, dieser Gedanke begünstigte meine Rache, welche ich in der Nacht meines Verließes und in der Verzweiflung meiner Gefangenschaft langsam auskostete. Aber jetzt, wo ich aus Liebe zu Ihnen, der Welt verziehen habe, jetzt, wo ich Sie jung und voller Pläne vor mir sehe, und wenn ich denke, welches Glück Ihnen aus dieser Eröffnung entstehen kann, zittre ich vor jeder Säumnis." Edmund wendete seufzend den Kopf fort. "Sie beharren in Ihrer Ungläubigkeit, Edmund," fuhr Faria fort, "da Sie meine Stimme nicht hat überzeugen können, muß ich Ihnen Beweise bringen. Nun wohl, lesen Sie dieses Papier, welches ich noch niemandem gezeigt habe." "Morgen, mein Freund", sagte Edmund, dem es widerstrebte, auf die vermeintliche Verrücktheit des Greises einzugehen. ,,Wir wollen erst morgen davon sprechen, aber lesen Sie es heute." "Ich will ihn nicht reizen", dachte Edmund, und er nahm dieses Blatt Papier, von dem die andere Hälfte, wie es schien, verbrannt war und las die daraufstehenden Worte. "Nun", fragte Faria, als der junge Mann die Lektüre beendet zu haben schien. "Aber," antwortete Dantes, "ich sehe nur ver
stümmelte Zeilen, Worte ohne Zusammenhang und unleserliche Buchstaben." "Für Sie, mein Freund, der Sie dieselben zum ersten Male lesen, aber nicht für mich, der ich viele Nächte damit zugebracht habe, jeden Satz wieder herzustellen, jeden Gedanken zu vervollständigen." "Glauben Sie, diesen unterbrochenen Sinn richtig gefunden zu haben?" "Dessen bin ich sicher. Sie werden es selbst beurteilen können, aber zuerst hören Sie die Geschichte dieses Blattes." "Still," rief Dantes, "Schritte . . . . man nähert sich . . . . ich gehe . . . . Adieu." Erfreut, dieser Geschichte und Erklärung zu entfliehen, ließ sich Dantes wie eine Schlange durch die Öffnung gleiten, während der Abbé sich, so schnell er konnte, auf die Matte niederließ, die er auf die Platte warf. Es war der Gouverneur, dem der Kerkermeister von dem Unfall Parias berichtet hatte und der sich selbst von dem Zustand des Gefangenen überzeugen wollte. Faria empfing ihn sitzend, vermied aber jede Bewegung, die dem Gouverneur die Lähmung hätte verraten können, und derselbe zog sich zurück, überzeugt, daß der arme Narr, für den er im Grunde seines Herzens eine gewisse Zuneigung empfand, von einem leichten Unwohlsein befallen sei. Inzwischen versuchte Edmund, auf seinem Bett sitzend, den Kopf zwischen den Händen, seine Gedanken zu sammeln. Alles war so vernünftig, so erhaben, so logisch an Faria, seit er ihn kannte, daß er nicht verstehen konnte, wie diese außerordentliche Klugheit, die er in allen Punkten bewies, in
dem einzigen zur Unvernunft hinneigte. Täuschte sich Faria bezüglich seines Schatzes, oder täuschte sich alle Welt bezüglich Parias. Dantes blieb den ganzen Tag in seiner Zelle und wagte nicht zu seinem Freund zurückzukehren, er wollte den Augenblick hinausschieben, der ihm die Gewißheit bringen konnte, ob der Abbé wirklich verrückt sei, diese Überzeugung mußte ihm schrecklich werden. Als aber gegen Abend, nach dem gewöhnlichen Rundgang des Schließers, Faria den jungen Mann nicht zu sich kommen sah, versuchte er den Raum, der sie trennte, zu durchschreiten, Edmund schauderte noch, als er von den Anstrengungen hörte, die der Greis hatte machen müssen. Sein Bein war gelähmt und auch seines Armes konnte er sich nicht mehr bedienen. Edmund mußte ihn heraufziehen, denn er hätte sich niemals durch die enge Öffnung in Dantes Zelle schwingen können. "Hier bin ich, mitleidslos auf Ihre Verfolgung bedacht," sagte er mit einem strahlenden Lächeln des Wohlwollens, "Sie glaubten meiner Freigebigkeit zu entfliehen, aber das wird nicht geschehen, hören Sie mir also zu." Edmund sah, daß er nicht zurückweichen konnte, er ließ den Greis auf sein Bett sich setzen und er selbst setzte sich auf einen Schemel neben ihn. "Sie wissen," sagte der Abbé, "daß ich der Freund, der Vertraute und Sekretär des Kardinals Spada, des letzten Fürsten dieses Namens gewesen bin. Ich verdanke diesem würdigen Herrn alles, was ich an Glück in diesem Leben genossen habe. Er war nicht reich, obgleich die Reichtümer seiner Familie sprichwörtlich waren, und oft habe ich sagen hören, "reich
wie ein Spada", aber er, wie auch das öffentliche Gerede, erhielt sich in diesem Ruf des Reichtums. Ich unterrichtete seine Neffen, welche gestorben sind, und als er allein auf der Welt war, vergalt ich ihm durch eine absolute Ergebenheit alles, was er zehn Jahre lang für mich getan hatte. Das Haus des Kardinals war bald kein Geheimnis mehr für mich. Wie oft hatte ich gesehen Sr. Hochwürden die Familienpapiere durchsuchen, und den Staub von ihnen abwischen. Als ich ihm eines Tages seine unnützen Nachtwachen, welchen immer eine Art Erschöpfung folgte, vorhielt, blickte er mich bitter lächelnd an und öffnete mir ein Buch, welches die Geschichte Roms enthielt. Da, im 20. Kapitel der Lebensgaschichte des Papstes Alexander VI. befanden sich folgende Zeilen, die ich nie vergessen habe: "Die großen Kriege der Romagna waren beendet. Cäsar Borgia, welcher seinen Sieg erkauft hatte, hatte Geld nötig, um ganz Italien zu kaufen. Der Papst selbst brauchte Geld, um mit Ludwig XII., König von Frankreich, immer noch, trotz seiner letzten Niederlagen gefürchtet, auseinander zu kommen. Es handelte sich aber darum, eine gute Spekulation zu machen, was in diesem armen, erschöpften Italien schwierig war. Sr. Heiligkeit hatte einen großartigen Gedanken. Sie beschloß, zwei Kardinale zu ernennen. Indem er nun zwei der einflußreichsten, namentlich die reichsten Roms wählte, ergab sich für den heiligen Vater folgender Gewinn: Zuerst konnte er die großen Ämter und wichtigen Chargen, welche die Kardinale jetzt bekleidet hatten, verkaufen, außerdem konnte
er auf einen bedeutenden Preis für die beiden Hüte zählen. Der Papst und Cäsar Borgia wählten die beiden zukünftigen Kardinale, nämlich: Rospigliosi und Cäsar Spada. Sie fühlten beide den Wert dieser Gunst des Papstes, sie waren ehrgeizig, und so flössen 800 000 Taler in die Kassen der Spekulanten. Darauf wurde die dritte Spekulation ins Werk gesetzt. Rospigliosi und Spada, mit Ehrenbezeugungen überhäuft, hatten ihre meisten auswärtigen Besitzungen zu Geld gemacht, um sich ganz in Rom niederzulassen. Eines Tages wurden sie zur Tafel des Papstes geladen. Dies war der streitige Punkt zwischen dem Papste und Cäsar Borgia: Cäsar dachte eines dieser Mittel anzuwenden, die er immer für seine intimsten Freunde zur Verfügung hatte, erstens der berüchtigte Schlüssel, mit dem man den Gast bat, einen gewissen Schrank zu öffnen. Dieser Schlüssel zeigte eine kleine eiserne Spitze, bei dem öffnen des Schlosses stach man sich, und am folgenden Tage war man tot. Auch existierte ein Ring mit einem Löwenkopf, wenn er gewisse Händedrücke geben wollte. Der Löwe ritzte die Haut dieser begünstigten Hände auf und die Wunde war nach 24 Stunden tödlich. Cäsar schlug also dem Papste vor, den Kardinalen gegenüber eines dieser Mittel zu benutzen. "Sehen wir doch nicht auf ein Diner, wenn es sich um die vortrefflichen Kardinale Spada und Rospigliosi handelt. Ich habe eine Ahnung, daß die Kosten aufs Dreifache herauskommen werden. Vergiß übrigens nicht, daß eine Unverdaulichkeit sich sofort äußert, während ein Stich oder Riß erst nach mehreren Stunden seine Wirkung ausübt. Cäsar gab
diesen Vernunftgründen nach, und die Kardinale wurden eingeladen. Die Tafel fand in jener reizenden Villa statt, die der Papst besaß und welche die Kardinale dem Rufe nach kannten. Rospigliosi, ganz entzückt über die neue Würde, kam mit Freuden, Spada, ein kluger Mann, machte vorher sein Testament, um seinen einzigen Neffen, den er sehr liebte, als Erben einzusetzen. Er ließ diesem Neffen sagen, er möchte ihn in der Gegend des Weinbergs erwarten, aber es scheint, daß ihn der Diener nicht gefunden hat. Spada kannte die Einladungen, er langte gegen zwei Uhr in der Villa an, wo ihn der Papst schon erwartete. Das erste Gesicht, das er, eintretend, erblickte, war das seines Neffen. Schön geschmückt und glücklich, und von Cäsar Borgia mit der größten Aufmerksamkeit behandelt. Spada erbleichte und bemerkte an der spöttischen Miene Cäsars, daß die Falle bereits gelegt war. Man speiste, und vorher hatte Spada seinen Neffen nur verstohlen fragen können, ob er seine Botschaft erhalten habe. Dieser verneinte, begriff aber sofort die Schwere der Frage. Es war zu spät, denn der junge Mann hatte schon ein Glas von dem ausgezeichneten Wein getrunken, den der Kellermeister des Papstes für ihn besonders hingestellt hatte. Eine Stunde später erklärte der Arzt alle beide durch giftige Morcheln für vergiftet. Spada starb auf der Schwelle der Villa, der Neffe hauchte seinen Geist vor seinem Hause aus, seiner Frau ein Zeichen machend, das diese nicht verstand. Sogleich beeilten sich Cäsar und der Papst, unter dem Verwände, die Papiere der Verstorbenen nachzusehen, die Erbschaft in Empfang zu nehmen, aber es fand sich nur ein Blatt Papier vor, auf welchem
Spada geschrieben hatte: "Ich hinterlasse meinem geliebten Neffen meine Truhen, meine Bücher, und unter denselben mein schönes Gebetbuch mit vergoldeten Ecken, welches er zum Andenken an seinen Onkel in Ehren halten möge." Die Erben durchwühlten alles, bewunderten das Gebetbuch, ergriffen die Möbel und waren erstaunt, daß Spada, der reiche Mann, der erbärmlichste Onkel war. Nirgends ein Schatz außer demjenigen in der Bibliothek und dem Laboratorium. Das war alles. Cäsar und sein Vater suchten und wühlten und fanden nichts, oder wenigstens nur wenig. Vielleicht für einige tausend Taler Schmucksachen und ebensoviel Silbergeschirr. Aber der Neffe hatte vor seinem Tode noch Zeit gehabt, zu sagen: "In den Papieren meines Onkels ist ein Testament vorhanden." Die Verwandten suchten noch eifriger als die erlauchten Erben, aber es war umsonst. Es blieb nichts wie zwei Paläste und ein Weinberg hinter dem Palatinus. Aber zu dieser Zeit hatten die Grundstücke und Bodenflächen keinen Wert, und sie verblieben der Familie, da sie der Papst seiner unwürdig hielt. Monate und Jahre vergingen. Alexander VI. starb an Gift, Cäsar wurde zugleich mit ihm vergiftet, er starb aber nicht, sondern seine Haut schürfte sich ab, das Gift hatte auf der neuen Haut Flecke hinterlassen, so daß er gesprenkelt aussah, wie ein Tiger. Schließlich wurde er gezwungen, Rom mitten in der Nacht zu verlassen und als vergessener Mann fiel er in einem nächtlichen Scharmützel. Nach dem Tode des Papstes und der Verbannung seines Sohnes, glaubte man allgemein, die Familie Spada würde wieder die fürstliche Würde wie vorher annehmen, dem war aber nicht so,
sie blieben in einer drückenden Lage. Ein tiefes Geheimnis herrschte über dieser dunklen Angelegenheit, und es lief das Gerücht um, Cäsar, ein besserer Politiker als sein Vater, habe dem Papst das Vermögen des Kardinals entwendet." "Bis jetzt scheint Ihnen das nicht ganz sinnlos?", unterbrach sich Faria lächelnd. "Oh, mir scheint im Gegenteil, als lese ich eine sehr interessante Chronik, fahren Sie fort, bitte," sagte Dantes. "Die Familie gewöhnte sich an die Unklarheit dieser Verhältnisse. Jahre verflossen. Von den Nachkommen widmeten sich einige dem Soldatenstande, andere der Diplomatie; ferner widmeten sich welche der Kirche, andere wurden Bankiers. Die einen wurden reich, die anderen verarmten, jetzt komme ich zu dem letzten der Familie, dem Grafen Spada, dessen Sekretär ich war. Oft habe ich ihn über das Mißverhältnis klagen hören, in dem sein Rang zu seinem Vermögen stand. Ich hatte ihm den Rat gegeben, das geringe Geld, das er besaß, auf Leibrente anzulegen, er folgte meinem Rate und verdoppelte dadurch seine Einnahmen. Das merkwürdige Gebetbuch war in der Familie geblieben und hatte sich immer vom Vater auf den Sohn vererbt, denn die sonderbare Klausel hatte es zu einer Reliquie gemacht, welche von der Familie mit einer fast abergläubischen Verehrung aufbewahrt wurde. Es enthielt die schönsten gotischen gemalten Figuren und war so schwer an Gold, daß an Festtagen der Kardinal es durch einen Diener vor sich hertragen ließ. Beim Anblick der im Familienarchiv aufbewahrten Papiere aller Arten, die alle von dem vergifteten Kardinal herrührten, machte ich mich meinerseits, wie es bereits
zwanzig Sekretäre vor mir getan hatten, daran, diese vielen Stöße genau zu durchsuchen, um das Testament zu finden, aber trotz meines emsigen und peinlichen Nachforschens fand ich nichts. Indessen hatte ich eine genaue tagebuchähnliche Geschichte der Familie Borgia gelesen, um mich zu versichern, ob der Vermögenszustand dieser Fürsten sich bei dem Tode des Kardinals Spada vermehrt hatte, doch fand ich nur eine Aufzählung von Gütern des Kardinals Rospigliosi, seines Unglücksgenossen. Ich war also ziemlich sicher, daß das Vermögen weder den Borgia noch der Familie Spada zugute gekommen war, und es schien wie jene Schätze der arabischen Märchen im Schöße der Erde zu schlummern. Mein Gönner starb, er hatte mir seine Familienpapiere, seine Bibliothek, das berühmte Gebetbuch, nebst etwa 2000 Talern hinterlassen, für die ich jährlich Seelenmessen lesen lassen sollte. Im Jahre 1807, einen Monat vor meiner Verhaftung, las ich wohl zum tausendsten Male die Papiere wieder durch und war dabei eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, befand ich mich in vollständiger Dunkelheit, ich klingelte, um mir Licht bringen zu lassen, ich nahm eine Kerze zur Hand und suchte, umhertastend, ein Stück Papier, welches ich im Kamin anzuzünden gedachte, aber fürchtend, irgendein wichtiges Dokument zu verbrennen, zögerte ich etwas, bis mir einfiel, daß in dem Gebetbuch, welches auch mit auf dem Tisch lag, ein vergilbter unbeschriebener Zettel gelegen hatte, der vielleicht als Lesezeichen benutzt worden war. Tastend fand ich das Papier, drehte es zusammen und zündete es mühsam an der erlöschenden Glut an. Aber wie durch Zauberei entdeckte ich auf dem brennenden Papier gelbe Buchstaben. Mit Ent
setzen drückte ich die Flamme aus und faltete mit unsagbarer Erregung das zerknitterte Papier auseinander. Die mit einer Geheimtinte geschriebenen Zeilen haben Sie heute bereits gelesen und erfreut hob Faria das Papier in die Höhe. Ich werde es Ihnen ergänzt vorlesen. "Heute, am 25. April . . . von Sr. Heiligkeit, dem Papste . . . zum Mittagessen eingeladen und fürchtend, nicht zufrieden damit, daß er mich meinen Hut bezahlen ließ und noch mehr von mir erben möchte und mir . . . das Schicksal der Kardinale Caprera und Bentivoglio, die an Gift starben . . . zugedacht habe, ernenne ich meinen Neffen Guido Spada zum Erben aller meiner Güter, die ich an einem Ort vergraben habe, welchen er kennt . . . da er mit mir dort war, nämlich in den Grotten der Insel Monte Christo. Dort wird er alles finden, was ich besaß, Gold und Silber, Diamanten und Edelsteine. Ich allein kenne das Vorhandensein dieses Schatzes, . . . der sich auf zwei Millionen römische . . . Taler belaufen mag, und den man unter . . . dem zwanzigsten Stein des Felsvorsprungs . . . in gerader Linie der östlichen Bucht, finden wird . . . Zwei Öffnungen befinden sich in der Höhle . . . Der Schatz liegt in der entferntesten Ecke der zweiten Öffnung . . . Diesen Schatz vermache ich . . . in aller Form meinem einzigen Erben. 25. April 1498. Ces . . . ar Spada. "Verstehen Sie nun?", fragte Faria. "Wer hat es wieder so zusammengesetzt?", fragte Edmund, noch immer etwas zweifelnd. "Ich, der ich mit Hilfe des übriggebliebenen Bruchstücks die Länge der abgebrannten Zeilen berechnete und so den verborgenen Sinn mit Hilfe des Menschenverstandes gefunden habe."
"Und was taten Sie, als Sie zu der Ueberzeugung gekommen waren?" "Ich bin sofort abgereist, den Anfang eines großen Werkes über ein "Vereinigtes Königreich in Italien" mit mir nehmend. Aber schon lange hatte die kaiserliche Polizei, welche die Zersplitterung der Provinzen wünschte, ihre Augen auf mich geworfen, meine überstürzte Abreise nun, deren Ursache sie nicht ahnte, erweckte ihren Verdacht, und als ich mich in Piombino einschiffen wollte, wurde ich verhaftet, "Jetzt," fuhr Faria fort, Dantes mit dem Ausdruck väterlicher Liebe anschauend, "jetzt, mein Freund, wissen Sie soviel als ich; wenn wir uns jemals zusammen retten können, gehört die Hälfte meines Schatzes Ihnen, wenn ich hier sterben muß, und Sie allein fliehen, so gehört er Ihnen ganz." "Aber," fragte Dantes zögernd, "gibt es in der Welt keine legitimierten Erben als wir?" "Nein, nein, beruhigen Sie sich, die Familie ist gänzlich ausgestorben. Übrigens hatte mich der letzte Spada zu seinem Erben eingesetzt, indem er mir auch das symbolische Gebetbuch nebst seinem Inhalt vermachte. Beruhigen Sie sich, wir können die Hand auf das Vermögen ohne Gewissensbisse legen." "Und Sie sagen, daß dieser Schatz . . . " "Zwei Millionen römische Taler enthält, was ungefähr dreizehn Millionen unserer Münze ausmacht." "Unmöglich"! rief Dantes, über die Höhe der Summe erschreckt, aus. "Unmöglich! und warum?" entgegnete der Greis. "Die Familie Spada war eine der ältesten und mächtigsten Familien des fünfzehnten Jahrhunderts. Auch waren in jenen Zeiten, wo die ganze Industrie und die
Geschäfte daniederlagen, solche Vermogensanhäu fungen keine Seltenheit. Es gibt noch heute römische Familien, die vor Hunger sterben und nahe an einer Million in Diamanten und Edelsteinen besitzen, die sie durch Majorat geerbt haben und die unverkäuflich sind." Edmund glaubte zu träumen, er schwankte zwischen Ungläubigkeit und Freude. "Ich habe nur solange mein Geheimnis vor Ihnen bewahrt, erstens, um Sie zu prüfen, und dann, um Sie zu überraschen. Hätten wir vor meinem Schlaganfall fliehen können, würde ich Sie nach der Insel Monte Christo geführt haben. Nun, Dantes, wollen Sie mir nicht danken?" ,,Dieser Schatz gehört Ihnen, mein Freund, Ihnen ganz allein, und ich habe kein Recht daran. Ich bin kein Verwandter von Ihnen." "Sie sind mein Sohn, Dantes", rief der Greis aus. "Sie sind das Kind meiner Gefangenschaft. Mein Stand verurteilt mich zur Ehelosigkeit. Gott schickte mir Sie, um zugleich den Mann, der nicht Vater und den Gefangenen, welcher nicht frei sein konnte, zu trösten." Faria streckte den Arm, der gesund geblieben war, aus, und der junge Mann fiel ihm weinend um den Hals.
Der dritte Anfall. Jetzt, da dieser Schatz, der solange die Gedanken des Abbé beschäftigt hatte, das zukünftige Glück desjenigen sichern konnte, den Faria wirklich wie seinen Sohn liebte, hatte derselbe doppelten Wert. Tag
täglich setzte er Dantes auseinander, was ein Mann mit dreizehn bis vierzehn Millionen Vermögen seinen Freunden nützen könne, dann verfinsterte sich das Gesicht von Dantes, denn der Racheschwur, den er in seinen Gedanken geleistet, fiel ihm ein und er dachte seinerseits, wieviel Böses er mit dreizehn bis vierzehn Millionen seinen Feinden antun könne. Der Abbé kannte die Insel von Monte Christo nicht, er war oft vor dieser Insel vorübergefahren, welche 25 Meilen von Pianosa, zwischen Korsika und der Insel Elba lag, ein paar Mal hatte er sogar dort angelegt. Diese noch immer unbewohnte Insel ist ein kegelförmiger Felsen vulkanischen Ursprungs. Dantes zeichnete die Umrisse der Insel Faria vor, und dieser gab Ratschläge, wie er den Schatz am ehesten auffinden konnte. Dantes war bei weitem nicht so enthusiastisch und auch nicht so vertrauensvoll wie der Greis, sicherlich war er nun davon überzeugt, daß Faria nicht wahnsinnig war, und die Art und Weise, wie er die Entdeckung gemacht hatte, vermehrte noch die Bewunderung für ihn, aber dennoch konnte er nicht glauben, daß die Hinterlegung des Vermögens, wenn sie überhaupt stattgefunden hatte, sich noch an diesem Orte befinden würde. Während dieser Zeit traf die armen Gefangenen ein neues Unglück. Die nach dem Meere zu gelegene Galerie, der schon lange Zeit der Einsturz drohte, wurde neu hergerichtet. Man hatte die Steinschichten repariert und die Löcher mit ungeheuren Felsstücken zugestopft. Ohne jene Vorsichtsmaßregel, welche der Abbé Dantes bei seiner ersten Krankheit gegeben hatte, würde ihr Unglück noch größer gewesen sein, denn man hätte bei den
Reparaturarbeiten die Höhlung entdecken können. So war ihnen der Ausgang von neuem verwehrt. "Sie sehen," sagte der junge Mann mit melancholischer Traurigkeit zu Faria, "daß Gott mir sogar das Verdienst, welches Sie meine Ergebenheit für Sie nennen, schmälern will. Ich habe Ihnen versprochen, ewig bei Ihnen zu bleiben, ich kann jetzt nicht mal mehr mein Versprechen freiwillig halten; ich werde so wenig wie Sie den Schatz heben können, denn weder Sie noch ich werden von hier fortkommen. Übrigens, mein wirklicher Schatz ist nicht derjenige, welcher unter den düsteren Felsen von Monte Christo meiner harrt, es ist Ihre Gegenwart, mein Freund, es ist unser tägliches Zusammensein trotz unseres Kerkermeisters, es ist Ihr Verstand, der in mich übergegangen ist. Die Sprachen, die Sie in mein Gedächtnis eingepflanzt haben und welche dort mit all ihren philosophischen Verästelungen weiterwachsen. Die verschiedenen Wissenschaften, welche mir durch Ihre tiefen Kenntnisse zugänglich gemacht worden sind, das ist mein Schatz, der mich reich und glücklich gemacht hat. Glauben Sie mir, das ist mehr wert für mich, als Tonnen voll Gold und Kisten voll Diamanten. Sie solange als möglich bei mir zu behalten, Ihre beredte Stimme zu hören, meinen Geist zu erweitern, meine Seele zu stählen, meinen ganzen Organismus für große und erhabene Dinge empfänglich zu machen, falls ich jemals frei werde, das sind meine Schätze, die ich Ihnen alle verdanke." Die darauffolgenden Tage waren für die Unglücksgefährten, wenn auch keine glücklichen, so doch rasch verflossene. Faria, welcher Stillschweigen über seinen Schatz während vieler Jahre bewahrt hatte, sprach
jetzt bei jeder Gelegenheit von demselben. Sein rechter Arm und sein rechtes Bein blieben, wie er es voraussah, gelähmt, und so hatte er die Hoffnung für sich selbst aufgegeben, aber für seinen jungen Freund erträumte er immer eine Befreiung und freute sich für ihn. Aus Furcht, daß der Brief eines Tages verlorengehen könnte, hatte er Dantes gezwungen, ihn auswendig zu lernen. Ganze Stunden verbrachte Faria damit, dem jungen Mann Belehrungen für den Fall seiner Freiheit zu geben. Wenn er frei wurde, sollte er nur den einzigen Gedanken haben, auf irgendeine Art Monte Christo zu erreichen, dort unter einem Vorwand allein zu bleiben suchen, und die wunderbaren Höhlen und den verborgenen Schatz aufstöbern. Mitten in einer Nacht fuhr Edmund erschreckt aus dem Schlafe auf, weil er glaubte, gerufen worden zu sein. Er öffnete die Augen und versuchte die Finsternis zu durchdringen; abermals hörte er seinen Namen rufen. Die Stirn mit Angstschweiß bedeckt, stand er auf und horchte nochmals. Ohne Zweifel, die Klagelaute tönten aus der Zelle seines Gefährten. "Großer Gott!" murmelte er, "sollte er?" Er rückte sein Bett ab und eilte durch den Gang zur anderen Zelle. Beim Schein der flackernden Lampe, die unsere Leser bereits kennen, sah Edmund den Greis totenbleich, sich am Bett anklammernd, stehen. Seine Züge waren ganz entstellt. Edmund stieß einen schmerzlichen Schrei aus und stürzte sich, gänzlich den Kopf verlierend, mit dem Ruf — "Hilfe! Hilfe!" zur Tür. Faria hatte noch die Kraft, ihn am Arme zu halten und ihm zu sagen, stille zu sein. "Denken Sie jetzt nur an sich, mein Freund, wie
Sie Ihre Flucht ermöglichen können. Das Verließ wird übrigens nicht lange leer bleiben, ein anderer Unglücklicher wird bald meinen Platz einnehmen und wird Ihnen wie ein rettender Engel erscheinen. Vielleicht ist dieser jung, stark und geduldig wie Sie, er kann Ihnen bei Ihrem Fluchtversuch helfen, während ich ihn verhinderte. Entschieden tut Gott endlich, etwas Gutes für Sie, er wird Ihnen mehr zurückgeben, als er Ihnen nimmt, es ist Zeit, daß ich sterbe." Edmund konnte nur die Hände falten und sagen: "Mein Freund, mein Freund, schweigen Sie." Dann raffte er seine gesunkenen Kräfte zusammen. "Ich werde Sie wieder retten!" rief er. "Nun wohl, versuchen Sie es noch einmal. Die Kälte übermannt mich und ich fühle das Blut in mein Gehirn dringen, dieses schreckliche Zittern, meine Zähne schlagen zusammen und meine Knochen scheinen zu bersten, in fünf Minuten wird der Anfall ausbrechen und in einer Viertelstunde werde ich nur noch ein Leichnam sein." "Oh!" schrie Dantes, das Herz von Schmerz zerrissen. "Machen Sie es wie das erstemal, aber bleiben Sie nicht wieder solange sitzen. Alle Spannkraft des Lebens ist abgenutzt und der Tod wird nur halbe Mühe haben. Wenn ich, nachdem Sie statt zehn, zwölf Tropfen eingeflößt, nicht erwache, so geben Sie mir den ganzen Rest. Jetzt bringen Sie mich ins Bett, ich kann mich nicht mehr aufrechterhalten" Edmund nahm den Greis auf seine Arme und trug ihn ins Bett. "Mein Sohn," rief der Greis aus, "ich segne dich? Der Himmel hat dich mir spät, aber doch endlich, ge
geben, als ein großes Geschenk, für welches ich ihm jetzt, wo wir uns trennen müssen, mit gerührtem Herzen danke. Hören Sie, was ich Ihnen jetzt wiederhole: Der Schatz der Spada ist vorhanden, ich sehe ihn im Hintergrund der zweiten Grotte. Meine Augen durchdringen die Tiefen der Erde und sind geblendet von soviel Reichtum. Wenn es Ihnen gelingt zu entfliehen, so erinnern Sie sich, daß der arme Abbé, den alle Welt für verrückt hielt, es nicht war. Eilen Sie nach Monte Christo, genießen Sie Ihr Glück. Sie haben genug gelitten." Ein heftiges Zucken unterbrach den Greis. Dantes sah die Augen mit Blut unterlaufen. Es war, als stieg eine Blutwelle aus der Brust zum Kopf empor. "Leb wohl! Leb wohl!" stammelte der Greis. "Oh, noch nicht!" rief der junge Mann aus. "Verlassen Sie mich nicht. Oh, mein Gott, hilf ihm . . . Hilfe! Hilfe! . . ." "Still! Still!" sagte der Sterbende, "daß man uns nicht trennt, und Sie mich noch einmal retten können." "Ja, Sie haben recht, ich werde Sie retten! Übrigens, obgleich Sie viel leiden müssen, heute scheint es doch weniger gefährlich zu sein, wie das vorige Mal," "Täuschen Sie sich nicht. Oh, jetzt, jetzt kommt er . . . es ist aus, . . . mein Blick verdunkelt sich ... meine Besinnung schwindet . . . Ihre Hand, Edmund . . . Leb ' wohl!" Und mit einer letzten Anstrengung richtete er sich noch etwas auf und rief: "Monte Christo! Vergessen Sie nicht Monte Christo!" Mit diesen Worten sank er auf sein Lager zurück. Die Krisis war furchtbar. Die Glieder zogen sich zusammen, ein blutiger Schaum trat vor die Lippen, endlich lag er unbeweglich da. Als Dantes glaubte.
die Zeit sei gekommen, öffnete er ihm den Mund und träufelte ihm zwölf Tropfen ein, er wartete, mit Angstschweiß auf der Stirn, und zählte die Sekunden nach den Schlägen seines Herzens. Nun hielt er ein zweites Mal das Fläschchen an die Lippen Parias. Das Mittel brachte eine galvanische Wirkung hervor. Ein mächtiges Zittern durchschüttelte den Greis, die Augen öffneten sich weit, ein heftiger Seufzer, der mehr einem Schrei glich, kam von seinen Lippen, dann sank der Körper in seine frühere Starrheit zurück, nur die Augen blieben geöffnet, aber der Blick verglaste sich. Eine Stunde, anderthalb waren verflossen und Dantes mußte sich in Todesangst eingestehen, daß er seinen Freund verloren hatte. Der Tag brach an und sein bleicher Schimmer verdunkelte die erlöschende Lampe. Seltsame Reflexe huschten über das Gesicht des Toten und gaben ihm zuweilen einen Anschein von Leben. Ein unüberwindliches Entsetzen bemächtigte sich Dantes, er wagte nicht mehr die herabhängende Hand zu drücken und nicht mehr seinen Blick auf die starren Augen zu richten, die zu schließen ersieh vergeblich bemüht hatte. Er löschte die Lampe, verbarg sie sorgfältig und floh, so gut er konnte, die Steinplatte über seinem Kopfe wieder einfügend. Es war übrigens Zeit, denn der Schließer konnte jeden Augenblick kommen. Er kam heute zuerst zu Dantes und begab sich von diesem zu Faria, dem er außer Frühstück noch Wäsche bringen wollte. Eine unbeschreibliche Ungeduld bemächtigte sich Dantes, zuwissen, was in dem Kerker seines unglücklichen" Freundes vorgehen würde. Er betrat den unterirdischen Gang, um gerade den Ausruf des Schließers zu vernehmen, der um Hilfe rief. Bald kamen die an
deren Schließer hinzu, dann die Soldaten und hinter denen der Gouverneur. Er hörte das Krachen des Bettes, auf welchem man den Leichnam bewegte, er hörte die Stimme des Gouverneurs, welcher den Befehl gab, ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen, und dann ließ man den Arzt holen. Der Gouverneur entfernte sich und Dantes vernahm einige bedauernde und teilnehmende Worte, aber noch mehr Spöttereien und Lachen. "Wohlan, der Narr ist zu seinen Schätzen gegangen. Glückliche Reise!" "Mit all seinen Millionen wird er nicht einmal sein Leichentuch bezahlen können", sagte ein anderer, "Oh," versetzte ein dritter, "die Leichentücher vom Kastell If sind nicht teuer." "Vielleicht wird man etwas mehr Umstände mit ihm machen, weil es ein Geistlicher war", ließ sich wieder eine Stimme vernehmen. Edmund horchte und verlor keine Silbe von den Worten, aber der Sinn kam nicht recht in sein Ohr. Bald verloren sich die Stimmen und es schien ihm, als ob die Anwesenden das Zimmer verließen. Indessen wagte er nicht wieder einzutreten und er blieb stumm und unbeweglich, seinen Atem zurückhaltend. Nach ungefähr einer Stunde ließ sich abermals ein schwaches Geräusch vernehmen. Der Gouverneur kehrte, gefolgt vom Arzte und mehreren Offizieren, zurück. Die Fragen und Antworten waren von einer Gleichgültigkeit, welche Dantes empörte. Er meinte, die Welt müsse doch einen kleinen Teil der Anhänglichkeit, die er für ihn fühlte, haben. "Es tut mir leid, was Sie da sagen," ließ sich der Gouverneur vernehmen, "es war ein sanfter, harm
loser und durch seine Verrücktheit belustigender Gefangener, und war leicht zu überwachen. Indessen dächte ich, fuhr er fort, trotz Ihrer Ueberzeugung zu probieren, ob er wirklich tot ist. Wenden Sie doch bitte die üblichen Mittel an, welche das Gesetz vorschreibt", sagte er nochmals zu dem Arzt. "Nun, so lassen Sie Eisen glühend machen," meinte dieser, "aber wirklich, es ist ganz unnötig." Eine abermalige Stille folgte, dann hörte Dantes das Knirschen der Eisen, und übelriechender Dampf durchdrang die Mauer, hinter welcher Dantes wie versteinert stand. ,,Sie sehen, daß er nur zu gewiß tot ist," meinte der Arzt, "dieses Brennen an den Fußsohlen ist ein untrüglicher Beweis." "Hieß er nicht Faria"? fragte einer der Offiziere. "Ja, mein Herr, und er behauptete, von einer guten alten Familie abzustammen; übrigens war er sehr gelehrt, er soll ein anständiges Leichenbegängnis haben. Der neueste Sack, den wir finden, soll ihn umhüllen." "Sollen wir die letzte Feierlichkeit in Ihrem Beisein vollziehen"? fragte einer der Schließer. "Versteht sich," meinte der Gouverneur, "aber beeilt euch!" Neues Kommen und Gehen ließ sich vernehmen, und Dantes konnte genau hören, daß sein Freund in den Sack gesteckt und aufs Bett gelegt wurde. "Soll eine Totenmesse gehalten werden?" fragte einer der Offiziere. "Das ist unmöglich," meinte der Gouverneur, "da der Schloßkaplan eine Reise angetreten hat. Der arme Abbé hätte sich nicht so beeilen sollen, dann
hätte er das schönste Requiem bekommen. Also auf heute abend." Hierauf entfernten sich die Schritte, die Stimmen wurden schwächer, das Knarren der Tür und das Knirschen des Riegels drang an Dantes Ohr. Ein Schweigen, schrecklicher als die Einsamkeit, das Schweigen des Todes umgab alles, sogar die erstarrte Seele des jungen Mannes. Langsam hob er mit dem Kopf die Steinplatte empor, warf einen prüfenden Blick in die Zelle, sie war leer, und dann stieg er hinein.
Der Kirchhof des Kastell If. Auf dem Bett lag seiner Länge nach ein Sack von grober Leinwand, unter dessen Falten ein starrer Körper verborgen war. Dies war die letzte Bekleidung Parias, die, nach dem Schließer, so wenig kostete. So war nun alles vorbei und er war wieder allein, er war zum Schweigen verdammt, allein, ohne die Stimme, ohne den Anblick eines menschlichen Wesens, das ihm das Leben noch lieb gemacht hätte, wahrnehmen zu können. War nicht Faria besser daran als er? Die Idee des Selbstmordes, die sein Freund verpönt hatte, wachte an der Leiche desselben wieder auf. Wenn ich doch sterben und dorthin gehen könnte, wo er ist! Aber wie sterben? Oh, es ist leicht, fügte er lachend hinzu, ich werde auf den ersten, der hier eintritt, stürzen und ihn versuchen zu töten, dann wird man mich köpfen. Aber wie große Schmerzen, welche wie Gewitterstürme über einen hereinbrausen, die nachher in eine ruhige Temperatur übergehen, so schreckte Dantes, bei der Idee von
einem solchen beschimpfenden Tode, zurück und nach dieser Verzweiflung bekam er einen gierigen Lebensdurst. "Sterben, oh nein," rief er aus, "nachdem man soviel gelitten hat, lohnt es sich nicht, jetzt schon zu sterben. Sterben wäre damals vor Jahren gut gewesen, als ich den Entschluß dazu faßte, aber jetzt würde es nur meinem elenden Schicksal behilflich sein. Nein, ich will leben, ich will kämpfen bis zu Ende; nein, ich will das Glück, das man mir genommen hat, wieder erobern, ich vergaß, daß ich, ehe ich sterbe, meine Henker zu bestrafen und auch vielleicht einige Freunde zu belohnen habe. Aber gegenwärtig wird man mich vergessen und ich werde meine Zelle nur wie Faria verlassen können," Bei diesen Worten hielt Edmund mit starrblickenden Augen an, wie ein Mensch, dem ein plötzlicher Gedanke kommt, er ging mehrmals in der Zelle hin und her, und blieb vor dem Bett stehen . . . "Oh," murmelte er, "wer sendet mir diesen Gedanken, bist du es, mein Gott? Da nur die Toten frei von hier fortkommen, nehmen wir also ihre Stelle ein." Und ohne Zeit zu verlieren, um vielleicht von diesem Entschluß wieder abzukommen, neigte er sich über diesen häßlichen Sack, öffnete ihn mit dem Messer, das Faria hergestellt hatte, nahm den Körper heraus, schleppte ihn in seine Zelle und legte ihn in sein Bett, band einen Leinenlappen um den Kopf und bedeckte ihn mit der Decke. Ein letztes Mal küßte er die eiskalte Stirn, drehte den Kopf der Wand zu, damit der Schließer, wenn er sein Abendbrot brächte, glauben konnte, er schlafe, dann eilte er in Farias Zelle zurück, nahm die im Kamin verborgene Näh
nadel und Faden, kroch in den Sack, brachte sich genau in die Stellung, die der Leichnam gehabt hatte und nähte denselben von innen zu. Hätte unglücklicherweise jetzt jemand die Zelle betreten, so würde man das Klopfen seines Herzens gehört haben. Dantes hätte den Abendrundgang noch abwarten können, aber er fürchtete, daß der Gouverneur seinen Entschluß ändern und den Leichnam früher abholen lassen könne, dann wäre seine letzte Hoffnung verloren gewesen. Sein Plan war folgender: Würden die Totengräber unterwegs herausfinden, daß sie einen lebendigen Leichnam trugen, so ließ er ihnen keine Zeit zur Besinnung, mit einem kräftigen Messerschnitt würde er den Sack öffnen und ihr Entsetzen benutzend, entfliehen, wollten sie ihn aufhalten, so würde er sein Messer gebrauchen, wenn sie ihn hingegen bis zum Kirchhof bringen und in ein Grab legen würden, so ließ er sich ruhig mit Erde bedecken, sobald aber die Totengräber sich entfernt haben würden, würde er sich einen Weg durch die weiche Erde bahnen und entfliehen, er hoffte, daß das Gewicht der Erde nicht so schwer sein würde, damit er sie wieder aufwühlen konnte, wäre aber im Gegenteil die Erde zu schwer, nun, so erstickte er eben — um so besser, dann wäre alles vorbei. Dantes hatte seit dem vorigen Abend nichts gegessen, er dachte auch jetzt noch nicht daran. Die erste große Gefahr, welche Dantes drohte, war, daß der Schließer, wenn er um sieben Uhr das Abendbrot brachte, diese Verwechslung bemerkte; glücklicherweise hatte Dantes, teils aus Menschenfreundlichkeit, teils aus Mattigkeit schon im Bett gelegen, wenn der Kerkermeister eintrat, dieser setzte dann gewöhnlich das Essen auf den Tisch und
ging, ohne ein Wort an ihn zu richten, wieder fort. Dieses Mal aber konnte der Kerkermeister von seinen Gewohnheiten abweichen, näher an das Bett herantreten und alles entdecken. Als der Abend herannahte, fühlte er wirklich eine Todesangst, seine Hand auf das Herz gelegt, versuchte er das Klopfen zu ersticken, während er mit der anderen den von der Stirn rieselnden Schweiß zu entfernen suchte. Von Zeit zu Zeit durchlief ein Schauer seinen ganzen Körper und er glaubte, daß er wirklich sterben würde. Die Stunden verflossen und alles blieb ruhig im Gefängnis. Dantes nahm das als ein gutes Zeichen an, die erste Gefahr war also vorüber. Endlich, zu der von dem Gouverneur festgesetzten Stunde, ließen sich Schritte vernehmen. Edmund begriff, daß der Moment gekommen war, er raffte all seinen Mut zusammen und hielt den Atem an. Die Tür wurde geöffnet, ein gedämpftes Licht machte sich durch den Sack bemerkbar und er sah zwei Schatten sich dem Bette nähern, sie hoben den Sack empor. "Ist der Greis aber noch schwer", sagte einer von ihnen. "Man sagt, daß jedes Jahr die Knochen um ein halbes Pfund schwerer werden", sagte der andere. "Hast du deinen Knoten schon gemacht?" fragte der erste. "Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich uns mit so unnützem Gewicht belasten wollte, ich werde ihn dort machen." "Du hast recht, gehen wir also." "Was soll das für ein Knoten sein?" dachte Dantes. Man legte den angeblichen Toten auf die Bahre. Edmund machte sich steif, um die Rolle eines Toten
besser zu spielen. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Treppe hinauf, dem ein Mann mit einer Stocklaterne vorausschritt. Plötzlich fühlte Dantes die frische scharfe Nachtluft, bei dieser Empfindung durchströmte ihn gleichzeitig ein wohliges, aber auch ängstliches Gefühl. Nach ungefähr 20 Schritten hielt man an und setzte die Bahre auf den Boden. "Wo bin ich denn?" fragte er sich. "Er ist nicht leicht, er ist ganz und gar nicht leicht", sagte derjenige, der bei Dantes zurückgeblieben war. "Leuchte mir doch," sagte der eine Träger, der weggegangen war, "oder ich finde nichts. Endlich, ist das schwer." "Was mag er nur suchen?" dachte Dantes, "gewiß ein Grabscheit." In demselben Augenblick fühlte er einen Strick auf schmerzende Art um seine Füße geschlungen, darauf wurde die Bahre aufgehoben und weitergetragen. Nach ungefähr 50 Schritten wurde ein Tor geöffnet, der Zug schritt hindurch und setzte jenseits seinen Weg wieder fort. Das Geräusch der Wellen, die sich an den Felsen brachen, tönte deutlicher und deutlicher an das Ohr Dantes. "Schlechtes Wetter," meinte einer der Träger, "es muß nicht angenehm im Meer sein diese Nacht." "Ja, der gute Abbé wird Gefahr laufen, naß zu werden", meinte laut lachend der andere. Obgleich Dantes den Scherz nicht recht begriff, sträubten sich seine Haare. "Also, da wären wir", meinte der eine. "Weiter, noch einige Schritte weiter, du weißt, daß der Letzte am Felsen zerschellt ist, und der Gouverneur uns Taugenichtse gescholten hat."
Sie machten bergansteigend vier oder fünf Schritte, dann fühlte sich Dantes an Kopf und Füßen gefaßt, hin- und hergeschaukelt und mit dem Rufe: Eins — zwei — drei in einen ungeheuren leeren Raum ge schleudert, und die Luft wie ein verwundeter Vogel durchfliegend, fiel er, fiel er unaufhörlich, daß sich ihm das Herz zusammendrückte. Endlich stürzte er mit einem furchtbaren Klatschen in die eisige Meeresflut, wobei er einen erstickten Schrei ausstieß. Dantes war ins Meer geschleudert worden und wurde durch eine, an seinen Füßen mit Stricken befestigte 36pfün dige Kugel auf den Grund desselben gezogen. Das Meer ist der Friedhof des Kastell If,
Die Insel Tiboulen. Betäubt, fast erstickt, hatte Dantes dennoch die Geistesgegenwart, seinen Atem anzuhalten, und da er, wie wir wissen, für alle Fälle vorbereitet war, konnte er sein offenes Messer mit der rechten Hand erreichen. Er öffnete schnell den Sack, kam erst mit den Armen, dann mit dem Kopf heraus, doch konnte er sich nicht vollständig befreien, da die Kugel ihn immer wieder hinabzog. Mit einer äußersten Anstrengung, in dem Augenblick, wo er dem Ersticken nahe war, konnte er den Strick, der seine Beine zusammenhielt, durchschneiden. Mittels eines kräftigen Stoßes mit den Füßen kam er an die Oberfläche des Meeres, während die Kugel das grobe Gewebe seines Leichentuches in unbekannte Tiefe zog. Dantes nahm sich nur Zeit, um einmal Atem zu schöpfen und tauchte aus Vorsicht ein zweites Mal unter. Als er zum zweitenmal an der Oberfläche erschien, war er mindestens
schon 50 Schritt von dem Ort seines Niederfalls entfernt. Über seinem Kopf bemerkte er einen schwarzen gewitterschweren Himmel, an welchem der Wind die Wolken bisweilen zusammenfegte, hin und wieder kamen einige Sterne auf einem azurblauen Fleckchen zum Vorschein. Vor ihm breitete sich die düstere, dunkle Fläche aus, deren Wogen wie beim Anfang eines Sturmes zu brodeln anfingen, während sich hinter ihm, schwärzer wie Meer und Himmel, wie ein drohendes Gespenst der steinerne Riese erhob. Auf der höchsten Felsenspitze erhellte eine Laterne zwei Schatten, welche sich, wie ihm schien, besorgt über das Meer beugten. Sollten diese seltsamen Totengräber den von ihm ausgestoßenen Schrei gehört haben? Dantes tauchte abermals unter und schwamm eine ziemlich weite Strecke unter dem Wasser, jetzt tauchte er wieder empor und das Licht war verschwunden, nun mußte er sich orientieren. Von den Inseln, welche das Kastell If umgeben, sind Rattonneau und Pommegue die nächstliegenden, aber sie sind bewohnt, das sicherste für ihn war, unbewohnte Inseln aufzusuchen: Tiboulen oder Lemaire, die jedoch eine Meile vom Kastell If entfernt sind. Wie sie aber finden in dieser schwarzen Nacht? In diesem Augenblicke entdeckte er den Leuchtturm von Planier, wenn er sich etwas links hielt, mußte er die Insel erreichen. Mit verzweifeltem Mute schwamm er weiter, plötzlich fühlte er einen heftigen Schmerz am Knie. Dantes streckte die Hand aus und bemerkte einen Widerstand, nämlich eine Felsmasse, das war die Insel Tiboulen. Dantes richtete sich am Ufer auf und streckte sich, Gott dankend, auf diesen Granitzacken aus, welche ihm wie das weichste Bett
schienen, darauf sank er trotz des Sturmes, der eben heulte, und des auf ihn niederprasselnden Regens, in einen tiefen, aber glücklichen Schlaf. Nach ungefähr einer Stunde erwachte Dantes durch einen fürchterlichen Donnerschlag. Der entfesselte Sturm durchpeitschte die Luft, von Zeit zu Zeit zuckte ein Blitz auf und erleuchtete auf Augenblicke Wolken und Wogen, welche wie ein ungeheures Chaos zischten und brausten. Mit seinem Seemannsauge hatte Dantes richtig erkannt, daß er wirklich die Insel Tiboulen erreicht hatte, indessen wollte er, wenn das Wetter sich beruhigt hatte, sich wieder dem Meere anvertrauen, um die Insel Lemaire zu erreichen, welche zwar ebenso unfruchtbar aber größer war. Ein überragendes Felsstück bot dem jungen Mann augenblicklichen Schutz vor dem in seiner ganzen Schwere losgebrochenen Unwetter. Edmund fühlte, daß der Fels sich bewegte, unter den er geflüchtet war und von dessen Fuße aus die mächtigen Wellen bis zu ihm spritzten. Seit 24 Stunden hatte er nichts genossen, und er trank aus der hohlen Hand das vom Felsen aufgefangene Wasser. Als er den Kopf wieder emporrichtete, beleuchtete ein Blitz grell seine Umgebung, und Dantes konnte, eine viertel Meile von sich entfernt, ein kleines Fischerboot bemerken, das von den hochgehenden Wellen auf und nieder geschleudert wurde. Dantes wollte schreien, er suchte irgendeinen Gegenstand, mit dem er in der Luft ein Zeichen geben konnte, daß sie verloren waren, aber sie sahen ihn schon von selbst. Bei dem Schein eines anderen Blitzes bemerkte Dantes vier Männer, die sich am Mast und den Segelstangen angeklammert hatten, ein fünfter hielt sich an der Stange des zer
b rochenen Steuerruders fest, jene Männer sahen ihn ohne Zweifel auch, denn das verzweiflungsvolle Geschrei drang durch den pfeifenden Sturm bis zu seinen Ohren. Plötzlich lösten sich alle Bande, die die zerfetzten Segel noch hielten, und mit einem furchtbaren Krachen war alles in tiefer Nacht verschwunden. Dantes versuchte den Abhang des glatten Felsens hinabzugleiten, trotz der Gefahr, selbst in das Meer zu stürzen, er spähte, er horchte, aber er sah und hörte nichts mehr, kein Schrei, keine menschliche Anstrengung, nur der Sturm allein, diese mächtige Stimme Gottes, fuhr fort, die Wogen des Meeres zu peitschen. Nach und nach legte sich der Sturm, schwere graue Wolken jagten am Himmel gen Westen, die Himmelsbläue erschien wieder, mit funkelnden Sternen besät, und gegen Osten zeigte sich am Horizont ein langer rötlicher Streifen, der Tag brach an. Dantes blieb unbeweglich und stumm vor diesem großen Schauspiel, als ob er es zum erstenmal im Leben sehe. Er hatte es in der Tat, seitdem er auf dem Kastell If war, vergessen. Er wandte sich nach der Festung um, mit einem prüfenden Blick auf Meer und Land zugleich. Das düstere Gebäude stieg mit imposanter Majestät aus dem Schoß der Flut empor, welches diese gleichzeitig zu bewachen und zu befehlen schien. Es konnte fünf Uhr morgens sein; das Meer wurde immer ruhiger. In zwei bis drei Stunden wird der Schließer meine Zelle betreten und alles entdecken. Die Kanone wird der ganzen Küste anzeigen, daß ein Gefangener entsprungen sei. "Mein Gott, was soll aus mir werden? ich hungere und friere. Mein Gott! sieh doch, ich habe genug gelitten, nun tue du etwas, was ich nicht vermag."
In dem Augenblick, als Edmund in geistiger und körperlicher Erschöpfung diese glühende Bitte aussprach, sah er bei der Insel Pommegue ein Segel auftauchen, in dem nur das Auge eines Seemanns eine genuesische Tartane erkennen konnte, sie kam aus dem Hafen von Marseille und ging in die hohe See. "Oh," rief Edmund aus, "in einer halben Stunde könnte ich dieses Fahrzeug erreichen, ich muß nur befürchten, als Flüchtling erkannt und nach Marseille gebracht zu werden. Was soll ich erfinden, um diese Leute hinters Licht zu führen. Sie sind ja alle Seeräuber und Schmuggler, unter dem Verwände Küstenhandel zu treiben, räubern sie. Sie also würden mich verkaufen, ich will lieber noch warten . . . aber das ist wieder unmöglich, ich sterbe vor Hunger und in einigen Stunden werden meine Kräfte ganz erschöpft sein, die Stunde des Rundgangs nähert sich auch, noch ist kein Lärm gemacht; vielleicht merkt man nichts. Ich kann mich für einen Matrosen jenes kleinen Fahrzeuges ausgeben, welches diese Nacht untergegangen ist. Wohlan, ich wage es." Indem Dantes diese Worte sprach, bemerkte er aii einer Felsspitze eine phrygische Mütze, mit dieser bedeckte er seinen Kopf, ergriff eins der Schiffsbretter und schwamm auf das Fahrzeug zu. "Jetzt bin ich gerettet", murmelte er, und diese Überzeugung erneuerte seine Kräfte. Indessen näherte sich langsam das Schiff. Er winkte mit seiner Mütze, aber niemand wurde aufmerksam. Geschwächt wie er war, konnte er sich kaum noch auf dem Meere halten, und mit Herzensangst beobachtete er alle Bewegungen des Schiffes, als er sah, daß es auf ihn zukam. Als er dasselbe beinahe erreicht hatte, machte es wieder eine
Wendung, und mit einer übermenschlichen Anstrengung erhob er sich, fast auf dem Wasser stehend, bewegte seine Mütze und stieß jene kläglichen Rufe aus, die die Schiffer, wenn sie in Gefahr sind, hören lassen, dieses Mal sah man ihn und erwartete ihn. Gleichzeitig bemerkte Dantes, daß man eine Schaluppe ins Meer ließ, seine Kräfte erlahmten, er hörte wohl das in italienischer Sprache gerufene Wort "Mut", aber sein Kopf versank in den Wellen. Eine heftige Bewegung brachte ihn auf die Oberfläche des Meeres zurück, ihm schien, als fasse ihn jemand bei den Haaren, dann sah und hörte er nichts mehr, er war ohnmächtig. Als Dantes die Augen wieder öffnete, befand er sich auf dem Verdeck der Tartane, die ihren Lauf in entgegengesetzter Richtung des Kastells If fortsetzte. Dantes war dermaßen erschöpft, daß der freudige Ausruf, den er bei dieser Wahrnehmung machte, wie ein schmerzlicher Seufzer klang. Ein Matrose rieb ihm die erstarrten Glieder mit wollenen Decken, ein anderer hielt ihm die Öffnung einer Kürbisflasche an den Mund, und einige Tropfen Rum belebten von neuem seine Lebensgeister, "Wer sind Sie?" fragte in schlechtem Französisch der Patron, der zugleich Steuermann war. "Ich bin ein maltesischer Matrose", antwortete Dantes in einem schlechten Italienisch, wir kamen von Syrakus und hatten Wein und Südfrüchte geladen. Der Sturm der vergangenen Nacht überraschte uns am Kap Morgion und unser Fahrzeug ist am Felsen zerschellt, den Sie dort sehen. Von diesem komme ich her, wo unser braver Kapitän und
meine drei Kameraden das Leben lassen mußten. Habt Dank! Ihr habt mich gerettet." "Meiner Treu," sagte einer der Matrosen, "ich zögerte beinahe erst, mit dem sechs Zoll langen Barta und einem Fuß langen Haar habt Ihr eher das Aussehen eines Räubers als eines ehrlichen Menschen. "Ja," sagte er, "ich habe in einem Augenblick großer Gefahr der heiligen Jungfrau ein Gelübde abgelegt, mir zehn Jahre lang weder Haar noch Bart zu schneiden, heute sind die zehn Jahre abgelaufen, und beinahe wäre ich an diesem Tage ertrunken." "Was wollen wir nun mit dir machen?" fragte der Patron. "Was Sie wollen," antwortete Dantes, "leider existiert die Felucke, auf der ich diente, nicht mehr. Der Kapitän ist tot und ich bin, wie Ihr wißt, mit knapper Not demselben Schicksal entgangen, aber wie Ihr seht, völlig nackt. Glücklicherweise bin ich ein guter Seemann, setzt mich am ersten Hafen, wo Ihr anlegen werdet, ab, ich werde schon auf einem Handelsschiffe Stellung finden." "Kennt Ihr das Mittelländische Meer?" "Seit meiner Kindheit." "Kennt Ihr gute Ankerplätze?" "Es gibt wenige, in welchen ich nicht mit geschlossenen Augen aus- und einfahren könnte." "Ei, nun," meinte einer der Matrosen zum Patron, "wenn er die Wahrheit spricht, kann er doch bleiben." "Ja, wenn er die Wahrheit spricht," sagte der Patron zweifelnd, "in dem Zustand, wie er sich befindet, verspricht man mehr, als man halten kann." "Ich werde mehr halten, als ich versprach." "Oho, wir werden sehen", meinte der Patron lachend.
"Wohin steuern Sie?" fragte Dantes. ,,Nach Livorno" "Warum segelt Ihr da an der Küste entlang und verliert soviel Zeit, anstatt einfach den Wind abzukneifen?" "Weil wir direkt auf die Insel Rion zukämen." "Wir werden dieselbe auf 20 Faden umsegeln können." "Nun, so nehmt doch das Steuer," meinte der Patron, "und wir werden sehen, was Ihr könnt." Der junge Mann setzte sich ans Steuer und überzeugte sich durch einen leichten Druck, daß das Fahrzeug gehorchte, und er gab das Kommando: "An die Brassen und Boleinen und die Taue gut befestigt." Und das Schiff schlug die Richtung nach der Insel Rion ein, die es mit 20 Faden umsegelte. "Bravo! Bravo!" riefen Kapitän und Matrosen gleichzeitig, und alle schauten diesen Mann mit Bewunderung an. "Sehen Sie," meinte Dantes, das Steuer verlassend, "daß ich Ihnen während der Überfahrt von Nutzen sein kann. Können Sie mich in Livorno nicht mehr brauchen, nun gut, lassen Sie mich dort, — und von meinem Monatsgehalt werde ich Euch die Beköstigung und die Kleider, die Ihr mir borgen werdet, bezahlen." "Nun, wenn Sie vernünftig sind, werden wir uns schon einigen, es wird sich machen, wenn Sie nicht zuviel verlangen, und nun gebt dem Manne Kleider." "Ich habe ein Hemd und ein paar Hosen," rief Jacopo und holte die Sachen, die Dantes mit unendlicher Freude anzog. "Brauchen Sie nun noch etwas?" fragte der Patron. "Etwas Brot und einen Schluck von dem vortreff
liehen Rum, ich habe ziemlich lange nichts genossen." "Die Stange an Backbord," schrie der Kapitän, sich nach dem Bootsmann umwendend, "Sieh da, was ist denn auf dem Kastell If los?" fragte er. In der Tat zog eine kleine weiße Wolke, die Dantes Aufmerksamkeit schon erregt hatte, um den südlichen Teil des Kastells. Eine Sekunde darauf hörte man an Bord der Tartane den Knall eines Kanonenschusses. "Was bedeutet das?" "Ein Gefangener wird entflohen sein und man feuert die Lärmkanone ab," meinte Dantes. Der Patron warf einen Blick auf den jungen Mann, der bei diesen Worten die Flasche so ruhig zum Munde führte und den Rum mit solchem Wohlbehagen schlürfte, daß, wenn er irgendeinen Argwöhn gehabt hätte, derselbe sofort verschwunden wäre, "Das ist ein teufelsmäßig starker Rum", meinte Dantes, sich Schweiß abtrocknend. "Jedenfalls," sagte der Patron, "wenn er's ist, dann um so besser," Unter dem Verwände der Müdigkeit bat Dantes, sich ans Steuer setzen zu dürfen. "Den wievielten haben wir?" meinte er. "Den 28. Februar", entgegnete Jacopo. "Und die Jahreszahl?" "Ihr fragt nach der Jahreszahl? Ihr wißt nicht die Jahreszahl, die wir schreiben?" "Ja, mein Gott," meinte Dantes lächelnd, "in dieser fürchterlichen Nacht habe ich beinahe meinen Verstand verloren. Mein Kopf ist noch nicht frei." "Also wir schreiben 1829", sagte Jacopo, Es waren also 14 Jahre her, daß man Dantes verhaftet hatte. Neunzehn Jahre alt war er nach dem
Kastell If gekommen, und im 33. Jahre hatte er es wieder verlassen. Schmerzliches Lächeln zog über seine Lippen, er fragte sich, was aus Mercedes geworden sein könnte, die ihn für tot halten mußte, dann schoß ein Blitz des Hasses aus seinen Augen, indem er an die drei Männer dachte, denen er eine so lange grauenhafte Gefangenschaft verdankte, und er erneuerte seinen Schwur unerbittlicher Rache gegen Danglars, Ferdinand und Villefort. Und dieser Schwur war keine leere Drohung.
Die Schmuggler. Dantes hatte nicht ganz einen Tag an Bord verbracht, als er bereits wußte, mit wem er es zu tun hatte. Ohne in der Schule des Abbé Faria gewesen zu sein, sprach der würdige Patron der "Jeune Amelie", das war der Name der genuesischen Tartane, alle Sprachen, die um das Mittelländische Meer herum gesprochen werden. Im Anfang hatte der Patron Dantes mit einem gewissen Mißtrauen aufgenommen. Aber die glänzende Art, auf welche Dantes die Prüfung bestanden hatte, hatte ihn von dem Verdacht befreit, auch die zweite Vermutung, daß er glaubte, einen entsprungenen Gefangenen aufgenommen zu haben, ließ er wieder fallen. Edmund hatte also den Vorteil, zu wissen, wer sein Patron war, während sein Patron nicht wußte, wer er war. Wie sehr auch der alte Seemann und seine Kameraden bemüht waren, ihn auszuforschen, er gab sich durchaus keine Blöße. So ließ sich also der schlaue Genueser von Edmund hintergehen, zu dessen Gunsten außerdem sein sanftes Wesen, seine nautischen Kenntnisse und Erfahrungen sprachen. In dieser Stimmung erreichte man Livorno. Dort mußte
Edmund eine neue Probe bestehen, er mußte wissen, ob er sich wiedererkennen würde. Sein Gelübde, wie er den Kameraden erzählt hatte, war erfüllt, und er ging zu demselben Barbier, um sich Haar und Bart schneiden zu lassen, den er schon früher aufgesucht hatte. Der Barbier sah erstaunt diesen Mann mit dem langen Haar und dichten schwarzen Barte, der an einen schönen Kopf von Tizian erinnerte, an und machte sich an die Arbeit. Als dieselbe beendet war und Edmund sein Kinn glatt fühlte und das Haar nach der Mode geschnitten war, besah er sich in einem Spiegel. Wie sehr hatte er sich doch verändert. Sein Gesicht war länger geworden, ein Zug fester Entschlossenheit um seinen Mund ausgeprägt, zwischen seinen Augen, aus welchen oft ein Blitz des Hasses schoß, lag eine tiefe Falte. Edmund betrachtete sich lächelnd, sein bester Freund würde ihn nicht wiedererkennen, denn er kannte sich selbst nicht mehr. Von dem Barbier aus begab sich Dantes in einen Kleiderladen und kaufte sich einen vollständigen Matrosenanzug, welcher aus weißen Hosen und einer phrygischen Mütze bestand. In diesem Kostüm begab er sich an Bord, vor den Patron der "Jeune Amelie", der in diesem eleganten, feinen Herrn nicht den armen Teufel mit dem dichten langen Bart und Haar, den er an Bord genommen hatte, wiedererkannte. Dantes mußte ihm erst seine Geschichte genau erzählen, und der Patron erneuerte den Vorschlag, ganz auf dem Schiff zu bleiben, aber Dantes verpflichtete sich nur auf drei Monate. Kaum acht Tage blieb man in Livorno, als der untere Schiffsraum mit bedrucktem Musseline, Baumwollwaren und Tabak, welche die Zollbehörde nicht abge
stempelt hatte, angefüllt war. Es handelte sich darum, alles das aus dem Freihafen Livorno, in welchem keine Visitation stattfand, bis nach Korsika zu bringen, von wo aus es bekannte Spekulanten nach Frankreich einschmuggeln. Man stach in See. Als am ändern Morgen der Patron sehr früh, wie es seine Gewohnheit war, an Deck kam, fand er Dantes an die Schiffswand gelehnt und mit seltsamem Ausdruck Granitblöcke betrachtend, welche die aufgehende Sonne mit rosigem Licht überflutete; das war die Insel Monte Christo. Die "Jeune Amelie" segelte ungefähr dreiviertel Meile an ihr vorüber und setzte ihren Weg nach Korsika fort. Während Dantes an der Insel vorüberkam, deren Name ihm so bedeutungsvoll erklang, dachte er, daß er nur ins Meer zu springen brauche, um nach der Insel zu schwimmen. Aber was sollte er dort ohne Instrumente, um seinen Schatz zu heben, ohne Waffen, um ihn zu verteidigen, und was würde die Schiffsmannschaft und der Patron sagen — er mußte warten. Glücklicherweise hatte Dantes warten gelernt, 14 Jahre lang hatte er auf seine Freiheit gewartet und nun konnte er wohl, da er frei war, noch ein halbes oder ein ganzes Jahr auf seinen Reichtum warten. Aber war dieser Reichtum nicht fraglich? Am ändern Morgen erwachte man auf der Höhe von Aleria, wo abends Feuer angezündet wurden, nach denen man sich richten konnte. Alles ging glatt von statten und um zwei Uhr morgens war die Ladung auf festem Lande. Noch in der gleichen Nacht fand die Verteilung der Reugelder statt, jeder erhielt ungefähr 80 Franken. Nun legte man an Sardinien an, hier sollte das gelöschte Schiff wieder beladen werden. Man geriet aber mit Zollbeamten in Streit, einer von
denselben blieb am Platze und zwei Matrosen wurden verwundet, einer von ihnen war Dantes, dem eine Kugel ins Fleisch der linken Schulter gedrungen war. Dantes war fast glücklich über dieses Scharmützel und fast zufrieden über seine Wunde; jene rauhen Lehrmeister hatten ihm gezeigt, mit welchen Augen er der Gefahr entgegensehen und mit welchem Mut er die Schmerzen tragen mußte. Glücklicherweise war, wie wir schon gesagt haben, Edmunds Verwundung nicht gefährlich und wurde mit gewissen Krautern, die Jacopo von sardinischen Frauen gekauft hatte, sehr bald geheilt. Durch diese Art Ergebenheit, welche Jacopo vom ersten Augenblick Edmund gezeigt hatte, hatte auch Dantes eine gewisse Zuneigung zu ihm gefaßt, mehr verlangte auch Jacopo nicht, denn er fühlte instinktiv, daß Edmund auf einer anderen Stufe stand wie er. Während der langen Fahrten, wo das Schiff sicher über die klare Fläche glitt, unterrichtete Edmund an Hand einer Seekarte Jacopo, wie der arme Abbé Faria ihn unterrichtet hatte. Er zeigte ihm die Lage der Küsten, die Veränderungen des Kompasses und lehrte ihn die Himmelszeichen erkennen. Und wenn Jacopo ihn fragte, warum er alles dies lernen sollte, antwortete Edmund: "Wer weiß, vielleicht wirst du eines Tages Schiffskapitän, dein Landsmann Bonaparte (Jacopo war ein Korse) ist Kaiser geworden." Zwei und ein halber Monat waren nach und nach verflossen. Edmund war ein ebenso geschickter Küstenfahrer geworden, als er früher ein kühner Seemann gewesen war. Er kannte alle Schmuggler der Küste sowie alle Freimaurerzeichen, mit Hilfe deren diese halben Seeräuber einander erkannten. Er war mehr wie zwanzigmal vor seiner Insel Monte Christo
vorübergesegelt, hatte aber nicht ein einziges Mal Gelegenheit gefunden, dort zu landen. Sobald aber sein Vertrag mit dem Patron der "Jeune Amelie" abgelaufen sein würde, wollte er auf eigene Rechnung eine kleine Barke mieten, um nach Monte Christo zu segeln. Möglicherweise konnte ihm von sehen seines Patrons und seiner Kameraden nachgespürt werden. Von dieser Unsicherheit war er noch befangen, als ihn eines Abends sein Patron, der ihm sehr vertraute, in eine Schenke der Via del Oglio führte, die ein Sammelplatz aller großen Schmuggler von Livorno war. Dort wurde über die Küstenschifferei verhandelt; diesesmal hatten sie ein großes Geschäft vor. Ein mit türkischen Teppichen, levantinischen Seidenstoffen und Kaschmir beladenes Schiff sollte auf neutrales Gebiet geführt und dort ausgetauscht werden. Der Preis war enorm; wenn es gelänge, würde jeder Mann 50 bis 60 Piaster bekommen. Der Patron der 'Jeune Amelie' schlug als Ausschiffungsplatz die Insel Monte Christo vor, da sie vollständig unbewohnt war. Bei diesem Namen zitterte Dantes vor Freude, er mußte aufstehen, um seine Bewegung zu verbergen. Jener Vorschlag fand ungeteilten Beifall, und es wurde entschieden, daß das Schiff in folgender Nacht auslauten sollte und am darauffolgenden Abend in den Gewässern der neutralen Insel Anker werfen könnte.
Die Insel Monte Christo. Infolge dieses unverhofften Glückszufalls sollte Dantes endlich auf einfache und natürliche Art sein Ziel erreichen und, ohne irgendeinen Argwohn zu erwecken, die Insel betreten. Eine Nacht nur trennte ihn noch von dieser mit Ungeduld erwarteten Abreise;
ein wahres Fieber hatte ihn ergriffen. Die Vorbereitung zur Reise lenkte ihn von seinen phantastischen Gedanken ab. Um sieben Uhr abends war alles bereit und zehn Minuten nach sieben, als gerade der Leuchtturm angezündet wurde, umsegelte die "Jeune Amelie" denselben. Das Meer war ruhig, eine frische Brise wehte von Südost. Dantes erklärte, sie könnten sich alle schlafen legen, er würde das Steuer übernehmen. Aus der Einsamkeit unter die Menschen zurückgeworfen, empfand Dantes von Zeit zu Zeit das dringende Bedürfnis, einmal ganz allein zu sein. Heute wurde die Einsamkeit von seinen Gedanken und Illusionen belebt. Als der Patron erwachte, ging das Schiff mit vollen Segeln, es gab nicht einen Fetzen Leinwand, der nicht vom Winde aufgebläht war. Die Insel Monte Christo trat deutlicher am Horizont hervor. Edmund übergab das Schiff dem Patron und legte sich nun in eine Hängematte, konnte aber kein Auge schließen. Nach zwei Stunden kam er wieder auf Deck. Gegen fünf Uhr abends hatten sie den vollständigen Anblick der Insel Monte Christo vor sich. Dank der atmosphärischen Durchsichtigkeit konnte man jede Einzelheit der Insel unterscheiden. Edmund verschlang mit seinen Blicken diese Felsenmasse, die in allen Farben der Abendsonne schillerte. Die Nacht kam, die "Jeune Amelie" kam als erstes Schiff an. Trotz seiner ungewöhnlichen Selbstbeherrschung vermochte Dantes nicht mehr an sich zu halten und sprang zuerst ans Ufer. Gegen elf Uhr ging der Mond auf und seine bleichen Strahlen ergossen sich wie ein glänzender Schleier über diese Felsenmassen. Der Schiffsmannschaft war die Insel nicht fremd, da sie eine ihrer gewöhnlichen Stationen war. Dantes fragte Jacopo:
"Wo werden wir die Nacht zubringen?" "An Bord der Tartane," antwortete dieser,. "Täten wir nicht besser, in einer jener Grotten zu übernachten?" "Ich kenne hier keine Grotten," Kalter Schweiß brach auf Dantes Stirn aus, dann fiel ihm ein, daß diese Höhlen durch irgendeinen Zufall ausgefüllt oder aus Vorsicht von dem Kardinal Spada verstopft sein könnten. Die Hauptsache war, die verlorene Öffnung wiederzufinden. In der Nacht zu suchen, wäre vergeblich gewesen, daher verschob Dantes die Untersuchung auf den folgenden Tag. Übrigens deutete ein Signal vom Meer an, daß es Zeit sei, ans Werk zu gehen. Das angekündigte Schiff näherte sich weiß und schweigend wie ein Gespenst und warf den Anker in Kabellänge vom Ufer aus. Augenblicklich begann die Umladung. Niemand ahnte, welche Gedanken Dantes mitten in seiner Arbeit unaufhörlich beschäftigten, und als er am ändern Morgen Büchse, Pulver und Blei nahm und erklärte, daß er Lust habe, eine von den zahlreichen wilden Ziegen zu schießen, die man auf dem Felsen herumspringen sah, schrieb man dies nur einer Neigung zur Jagd oder einem Hang nach Einsamkeit zu. Nur Jacopo bat dringend, ihn begleiten zu dürfen. Dantes wollte ihn nicht abweisen, schickte ihn aber mit der ersten erlegten Ziege zurück. Er setzte darauf seinen Weg fort. Auf dem Gipfel eines Felsvorsprungs angekommen, sah er unter sich die Matrosen, welche mit der Zubereitung des Wildes beschäftigt waren. Edmund betrachtet sie mit sanftem traurigen Lächeln, "In zwei Stunden," meinte er, "werden jene Leute absegeln und um 50 Piaster reicher sein, und um mehr zu gewinnen
wiederum ihr Leben wagen, dann werden sie mit einem Reichtum von 600 Livres denselben in irgendeiner Stadt verspekulieren oder verjubeln. Meine Hoffnung läßt mich heute ihren Reichtum verachten, welcher mir die tiefste Not zu sein scheint. Morgen vielleicht schon zwingt mich die Enttäuschung, jene tiefe Not als das höchste Glück zu betrachten. So hatte Dantes, der vor drei Monaten nur die Freiheit ersehnte, jetzt nicht mehr genug an der Freiheit, die er besaß, und er trachtete nach Reichtum. Auf einem zwischen zwei Felsblöcken führenden schmalen Weg, der wohl noch von keinem menschlichen Fuße betreten worden war, hatte sich Dantes dem Fleck immer mehr genähert, wo er die Grotte vermutete. Am Meeresstrande hinwandernd, untersuchte er alles mit größter Aufmerksamkeit und glaubte mehrere von Menschenhand gemachte Einschnitte zu entdecken. Die Zeit hatte jenen Zeichen nichts angetan, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit ausgeführt worden waren; von Zeit zu Zeit verschwanden dieselben unter Myrtensträuchern oder anderen Schmarotzerpflanzen. Edmund mußte die Zweige zurückbiegen und das Moos abkratzen, um die leitenden Zeichen zu finden. Gewiß hatte der Kardinal dieselben eingegraben oder eingraben lassen, damit sie seinem Neffen als Wegweiser dienen konnten. Fünfzig Schritt vom Hafen mochte Edmund zurückgelegt haben, da hörten die Zeichen auf, ohne jedoch in eine Grotte zu münden. Ein großer runder Felsen, der auf fester Fläche ruhte, schien der einzige Ausgangspunkt zu sein und Edmund dachte, daß er, statt am Ende, vielleicht erst am Ausgangspunkte angelangt sei, er ging folglich denselben Weg wieder zurück. Inzwischen wurde am Strande die Ziege gebraten
und gerade, als sie den Braten vom Spieß nahmen, entdeckten sie Edmund, welcher leicht und kühn wie eine Gemse von Fels zu Fels sprang; sie feuerten eine Flinte ab, um ihm das Signal zu geben. Der Jäger veränderte seine Richtung und beeilte sich, zu ihnen zurückzukehren, aber in dem Moment, wo sie Dantes' schnellen Lauf mit den Augen verfolgten und seine Geschicklichkeit als Verwegenheit taxierten, glitt Edmund aus. Man sah ihn auf dem Gipfel einer Felsspitze straucheln, man hörte einen Schrei, und er verschwand. Mit einem Satz sprangen sie alle in die Höhe, denn sie liebten Edmund, trotz seiner Überlegenheit. Der erste, der an der Unglücksstelle anlangte, war Jacopo; er fand Edmund blutend und fast ohne Besinnung daliegen, er schien mindestens 12 bis 15 Fuß herabgestürzt zu sein. Nach einiger Zeit öffnete Edmund die Augen, klagte über große Schmerzen am Knie und im Rücken, und sein Kopf war ihm sehr schwer. Man wollte ihn ans Gestade transportieren, doch bei der leisesten Berührung stieß er ein Stöhnen aus, so daß die Überführung unmöglich geworden war. Die Matrosen ließen ihn auf seine Bitte zurück, denn sie hatten Hunger und der Geruch des Bratens reizte ihren Appetit. Als sie nach einer Stunde zurückkehrten, sahen sie, daß sich Edmund etwa zehn Schritte weitergeschleppt hatte, um sich an einen moosigen Felsen zu lehnen, die Schmerzen aber hatten noch bedeutend zugenommen. Der alte Patron drang in ihn, sich zu erheben, aber bei jeder Anstrengung fiel er wieder zurück, "Also er hat das Becken gebrochen", sagte ganz leise der Patron. "Aber wir müssen ihn auf die Tartane bringen."
Aber Dantes erklärte, daß er lieber sterben wolle, als diesen qualvollen Transport zu ertragen. "Nun," meinte der Patron, "komme es, wie es wolle, aber es soll nicht gesagt werden, daß wir für diesen braven Mann nichts getan hätten, wir werden also erst heute Abend in See gehen," Dieser Vorschlag machte die Matrosen sehr erstaunen, obgleich keiner von ihnen widersprach. Der Patron, ein so kalter und strenger Mann, schob zum erstenmal ein Unternehmen auf. Dantes wollte nicht zugeben, daß man seinetwegen die Abreise verzögerte. "Nein," meinte er zum Patron, "ich bin so ungeschickt gewesen und es ist nur gerecht, wenn ich die Folgen meiner Ungeschicklichkeit ertrage. Lassen Sie mir einen kleinen Vorrat Lebensmittel, eine Flinte, Pulver und Kugeln da, damit ich Ziegen töten oder mich verteidigen kann, auch eine Hacke, damit ich mir eine Art Wohnung zurechtmachen kann, für den Fall, daß Sie mich später abholen kommen." "Aber Sie werden Hungers sterben," meinte der Patron. "Ich ziehe das vor, als die Schmerzen noch länger zu ertragen, also segeln Sie ab, segeln Sie ab!" "Aber wir werden mindestens acht Tage ausbleiben und erst einen Umweg machen, um Dich abzuholen." "Hören Sie mich an, wenn Sie in zwei bis drei Tagen eine Fischerbarke treffen, welche in diese Gegend kommt, so lassen Sie mich durch diese abholen und nach Livorno bringen, ich werde 25 Piaster bezahlen." Der Patron schüttelte bei dem Vorschlag den Kopf. "Um hierüber einig zu werden," sagte Jacopo, "segeln Sie ab und ich bleibe bei dem Kranken."
"Du willst auf Deinen Anteil an der Prämie verzichten und bei mir bleiben?" fragte Edmund. "Ja," meinte Jacopo, "es würde mir nicht leid tun." "Du bist ein braver Junge," sagte Edmund, "und Gott wird Dich dafür belohnen, aber ich habe niemanden nötig, danke!" Und er drückte mit eigentümlichem Lächeln die Hand Jacopos, aber in dem Entschluß, allein zu bleiben, blieb er unerschütterlich, Die Schmuggler ließen also Edmund und entfernten sich, ihm noch verschiedene Male herzlich zuwinkend. "Es ist doch seltsam," murmelte Dantes lachend, "daß man gerade unter solch einfachen Leuten soviel Beweise von Freundschaft und Ergebenheit findet." Er schleppte sich mit Vorsicht an eine Felsspitze und sah, wie die Tartane die Anker lichtete und bald darauf absegelte. Nach Verlauf einer Stunde war sie ihm vollständig aus den Augen entschwunden. Leicht und geschmeidig erhob sich Dantes, nahm seine Flinte und Hacke und sprang nach dem Felsen, auf welchem jene Zeichen aufhörten. "Jetzt," rief er aus, "Sesam öffne Dich!" Die Besitznahme des Schatzes. Die Sonne hatte ungefähr ein Drittel ihres Tageslaufes vollendet und ihre Strahlen fielen heiß und belebend auf die Felsen, Tausende von Grillen zirpten unsichtbar in dem Heidekraut, die Blätter der Myrtenund Olivenbäume bewegten sich leise. Edmund erklomm, ehe er an die Arbeit ging, nochmals die höchste Spitze des Felsens und warf noch einen Blick auf die unermeßliche Weite, die ihn umgab. Er suchte mit den Augen die Tartane, welche nach Korsika hin segelte. Dieser Anblick beruhigte Edmund
und er fing an, seine nächste Umgebung zu betrachten. Kein Mensch war auf der Insel sichtbar und keine Barke am Gestade. Mit raschen Schritten, aber vorsichtig, kletterte er hinab und hütete sich vor einem Unfall, den er so geschickt seinen Kameraden vorgetäuscht hatte. Wie wir bereits gesehen haben, fing Edmund seine Forschung von der entgegengesetzten Seite der Zeichen an, wo dieselben in eine kleine Bucht führten, in der vielleicht der Kardinal Spada das kleine Fahrzeug, das ihn herbrachte, versteckt haben könnte. In dieser Vermutung war er wieder zu dem runden Felskegel angekommen. Nur eines machte ihn in seiner Voraussetzung wieder wankend, wie konnte man diesen fünf bis sechs Zentner schweren Felsblock hinwegheben. Plötzlich kam ihm die Idee, daß man den Felsen von oben hätte herabsinken lassen können. Er sprang hinauf, um den Platz seiner ersten Lage zu suchen, er entdeckte wirklich bald einen Abhang, welcher künstlich hergestellt zu sein schien, der ungefähr die Größe eines Quadersteines hatte. Felsstückchen und Steine waren sorgfältig hingelegt worden, um jede Spur irgendeiner Veränderung zu verdecken. Dantes nahm vorsichtig die Erde ab, und nach ungefähr zehn Minuten Arbeit sah er eine Öffnung vor sich, durch welche er bequem den Arm hineinstecken konnte. Mittels eines starken Olivenbaumes suchte er den Felsblock zu heben, doch derselbe war zu schwer, selbst die Kraft eines Herkules hätte dies nicht fertiggebracht. Er ließ seinen Blick herumschweifen, und derselbe fiel auf das Pulverhorn, das ihm Jacopo zurückgelassen hatte. Mit Hilfe seiner Hacke höhlte Dantes einen Minengang aus, füllte denselben mit Schießpulver, aus seinem in Stücke gerissenen Taschentuch
drehte er einen Docht, den er anzündete; schleunigst entfernte er sich und prompt erfolgte die Explosion. Das obere Felsstück wurde einen Augenblick in die Höhe gehoben und das untere barst krachend auseinander. Mit verdoppelter Anstrengung und mit Hilfe des Olivenbaumes schleuderte er das Felsstück hinab ins Meer. Auf dem Fleck, wo der Felsen geruht hatte, war eine viereckige Steinplatte sichtbar geworden, an der ein eiserner Ring als Handhabe befestigt war. Dantes stieß einen Schrei aus; noch kein Versuch war wohl je von einem so glänzenden Erfolge gekrönt worden. Er steckte einen Hebel durch den Ring und hob die Platte empor; eine steile Treppe wurde sichtbar, die in eine tiefer und tiefer gehende Grotte führte. Stumm und bleich starrte Dantes hinab. "Nun heißt es, ein Mann sein und sich nicht aus der Fassung bringen lassen, sonst würde ich ja um nichts gelitten haben. Also ich will in die rauhe Wirklichkeit zurückkehren. Faria hat geträumt, der Kardinal Spada hat nichts in dieser Grotte verborgen, mit diesen Gedanken will ich hinabgehen." Statt der dichten Finsternis und der dumpfen, verdorbenen Luft, die vorzufinden er erwartet hatte, hüllte ihn unten ein matter, bläulicher Schimmer ein, denn Licht und Luft drang durch schmale Felsspalten, die man von außen nicht bemerkte. Dantes sah sich in der Höhle um und er endeckte nichts als die wie Diamanten schimmernden Granitwände. "Dies werden wohl die Schätze des Kardinals sein," dachte er, "und als der Abbé im Traume die glänzenden Wände bemerkt hat, glaubte er, es sei der Reichtum." Jetzt fiel ihm aber das Testament ein, in dem von
einer zweiten Öffnung in dem entferntesten Winkel die Rede war. Nun hieß es die zweite Grotte finden. Er untersuchte die Steinschichten, beklopfte die Seitenwände, und endlich ließ sich an einem Teil der Granitmauer ein dumpfes Echo hören; da entdeckte er etwas Eigentümliches. Infolge seines Klopfens fiel etwas Mörtel von der Mauer, wie man ihn für Freskengemälde braucht, und unter demselben befand sich ein weicher, weißlicher Stein. Dantes klopfte nun mit der spitzen Seite seiner Hacke und dieselbe drang fingerlang in die Mauerfuge ein, hier mußte er also weitergraben. Nach einigen Versuchen bemerkte er, daß die Steine nicht festgemauert, sondern nur übereinandergelegt waren. Diese Entdeckung hätte Dantes Kraft verdoppeln müssen, statt dessen wurde er matt und eine Schwäche befiel ihn, er wischte sich den Schweiß von der Stirn und stieg unter dem Vorwand, den er sich selbst gab, nachzusehen, daß ihn auch niemand belauere, wieder an die frische Luft. Die Insel war natürlich menschenleer und die Sonne schien dieselbe mit ihrem Feuer zu bedecken. Dantes nahm einige Schluck Rum, und neugestärkt stieg er in die Höhle hinab. Nachdem er die Steine soweit entfernt hatte, daß er bequem durchkonnte, hatte er die zweite Grotte entdeckt, diese war niedriger und düsterer als die erste, aber ebenso leer. Wenn ein Schatz existierte, müßte er in jener dunklen Ecke vergraben sein. Die Entscheidung war nun nahe, er ergriff seine Hacke und nach einigen Hieben fühlte er Eisen. Kein Totengeläute und keine Sturmglocke hätte je solch einen Eindruck auf ihn gemacht wie dieser Ton. Er sondierte weiter und fand wohl einen Widerstand, aber hörte nicht denselben Ton.
"Das ist ein mit Eisen beschlagener Holzkoffer", dachte er. In diesem Augenblick glitt ein schnell vorübereilender Schatten am Eingang der Höhle vorbei. Dantes ließ die Hacke fallen, ergriff seine Flinte und stürbe durch die erste Höhle nach oben. Es war eine wilde Ziege, die am Eingang der Höhle vorbeigesprungen war und nun einige Schritte von da weidete. Dies wäre eine schöne Gelegenheit gewesen, sich einen Braten zu verschaffen, aber er fürchtete doch, durch den Schuß irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Nach kurzer Überlegung schnitt er sich einen harzigen Zweig los, zündete ihn an dem noch glimmenden Feuer der Schmuggler an und kehrte mit dieser Fackel in die Höhle zurück. Hier fand er einen mit Eisen beschlagenen Eichenkoffer, auf dessen Mitte ein silbernes Schild prangte, worauf das Wappen des Hauses Spada, ein Schwert mit Kardinalshut, eingraviert war. Dantes kannte dieses Wappen, welches Faria ihm oft vorgezeichnet hatte. Nun war nicht mehr zu zweifeln, der Schatz war in Wirklichkeit da, denn man würde sich doch nicht so viel Mühe gegeben haben, einen leeren Koffer zu vergraben. Nach einigen Augenblicken lag der Koffer vollständig frei vor ihm, mit dem schön ziselierten Schloß in der Mitte, an dessen beiden Seiten noch Vorhängeschlösser angebracht waren, aber es war unmöglich, die Kiste mit den Handhaben emporzuheben oder nur zu öffnen. Ein Schwindel ergriff ihn, immer und immer wieder trieb er die scharfe Seite seiner Hacke zwischen die Fugen des Deckels. Endlich, nach einer übermäßigen Anstrengung, sprang derselbe krachend auf. Dantes zitterte an allen Gliedern, er schloß die Augen, wie es Kinder bei irgendeiner
großen Gefahr tun. Als er sie wieder öffnete, war er wie geblendet. Der Koffer zeigte drei Abteilungen, aus der ersten glänzten ihm Goldtaler entgegen, in der zweiten lagen schlecht polierte, aber in guter Ordnung aneinandergereihte Goldbarren, die nur Goldwert hatten, aus der dritten endlich schimmerten ihm Diamanten, Perlen und Rubinen entgegen. Nachdem er lange mit zitternden Händen in seinen Schätzen herumgewühlt hatte, sprang er auf, eilte hinaus auf einen Felsen, von dem er das Meer in seiner ganzen Weite überblicken konnte. Keine Barke, kein Segel beobachtete er, er war allein, ganz allein mit seinem unermeßlichen, märchenhaften Schatze; träumte er, oder war es Wirklichkeit? Wie um sich davon zu überzeugen, stieg er wieder hinab und stand von neuem geblendet davor. Er fiel auf die Knie und drückte seine beiden Hände auf sein hochklopfendes Herz. Nun wurde er ruhiger und fing an, an seinen Reichtum zu glauben und diesen zu zählen. Es waren tausend Goldbarren, von denen jede zwei bis drei Ffund wog, sodann schichtete er 25 000 Goldtaler auf, wovon jeder den Wert von ungefähr 80 Franken hatte und die alle das Bildnis des Papstes Alexander VI. oder eines seiner Vorgänger trugen, schließlich kamen die Edelsteine mit ihren kostbaren Fassungen zum Vorschein. Dantes sah den Abend herannahen und ging mit seiner Büchse nach oben, verschloß den Eingang mit einem Stein, und nachdem er sich gestärkt hatte, legte er sich auf den Stein, so mit seinem Körper den Schatz deckend, und schlief ein.
Die unbekannte Persönlichkeit. Der Tag brach an, beim ersten Sonnenstrahl erhob sich Dantes und erklomm, wie am Abend vorher, den höchsten Felsen, um die Umgebung zu erforschen. Dann ging er in seine Schatzkammer hinab, füllte die Tasche mit Edelsteinen, brachte, so gut er konnte, die Schlösser und den Deckel wieder in Ordnung, bedeckte den Koffer mit Erde und verließ die Grotte, dieselbe mit der Steinplatte bedeckend, welche er wieder in Myrtensträuchern verbarg, und erwartete nun mit Ungeduld die Rückkehr seiner Gefährten. Es handelte sich jetzt nicht darum, seinen Schatz zu hüten und auf Monte Christo zu verbleiben, er mußte in das Leben und unter Menschen, die in der Gesellschaft einen gewissen Rang einnehmen, zurückkehren, wozu er durch seinen Reichtum eine Berechtigung hatte. Am sechsten Tage kehrten die Schmuggler zurück. Dantes erkannte schon von weitem die Haltung und den Lauf der "Jeune Amelie", er schleppte sich wie Philoktetes (Gefährte von Herkules) ans Ufer und kündigte seinen landenden Kameraden mit kläglicher Stimme an, daß es ihm ein wenig besser gehe, dann hörte er seinerseits ihre Erzählungen an. Sie hatten gute Fahrt und Glück gehabt, aber wären doch beinahe gekapert worden, doch mit Hilfe der Nacht hatten sie entkommen können. Da die "Jeune Amelie" nur nach Monte Christo gekommen war, um ihn zu holen, ging sie sofort wieder in See. In Livorno angekommen, verkaufte Dantes für 100000 Franken die vier kleinsten seiner Diaman ten. Am anderen Tag kaufte er ein kleines Fahrzeug, welches er Jacopo zum Geschenk machte, noch 100 Piaster hinzufügend, damit
er es bemanne. Damit sollte Jacopo seine erste Reise nach Marseille antreten und den Greis Louis Dantes und das junge Mädchen Mercedes aufsuchen, das, wie wir wissen, im katalonischen Viertel wohnte. Jacopo glaubte zu träumen. Aber Edmund erzählte ihm, daß er eigentlich nur aus Widerspruchsgeist Seemann geworden wäre, weil seine Familie ihm das nötige Geld zu seinem Unterhalt verweigert habe, daß er aber jetzt in Livorno den Nachlaß angetreten hätte. Das gebildete Wesen, welches Edmund auszeichnete, gab dieser Erklärung eine solche Wahrscheinlichkeit, daß Jacopo keinen Augenblick daran zweifelte. Da die Verpflichtung Edmunds gegenüber dem Patron der "Jeune Amelie" abgelaufen war, verabschiedete er sich von demselben. Am anderen Tage schiffte sich Jacopo mit vollen Segeln ein, um nach Marseille zu gehen; auf dem Rückwege sollte er Edmund von der Insel Monte Christo abholen. Edmund selbst begab sich nach Genaa, bei seiner Ankunft wurde eine kleine Jacht probiert, die von einem Engländer bestellt worden war, der Schiffsbauer hatte für diese 40000 Franken gefordert. Dantes bot ihm 60000 Franken, mit der Bedingung, daß die Jacht am gleichen Tage geliefert werde und daß die Schiffskabine am Kopfende des Bettes einen Geheimschrank erhalte, in dem sich wiederum drei Geheimfächer befinden müßten. Er gab genau das Maß für diese Abteilungen an, und alles war zur Stunde fertig. Zwei Stunden darauf schiffte er sich im Hafen ein, von den Blicken einer ungeheuren Menge gefolgt, die gekommen war, den vornehmen Spanier zu sehen, der ohne Mannschaft sein Schiff selbst lenkte. Dantes manövrierte aufs beste, das Schiff folgte jeder seiner Bewegungen
am Steuer, und er erklärte in seinem Innern, daß die Genueser die besten Schiffsbauer der Welt wären. Gegen Abend des zweiten Tages langte er auf der Insel Monte Christo an; das Schiff war ein ausgezeichneter Segler und hatte die Entfernung in 35 Stunden zurückgelegt. Da Dantes sich die Richtung der Küste gemerkt hatte, so legte er nicht im Hafen, sondern in der kleinen Bucht an. Die Insel war vollständig öde, niemand schien während dieser Zeit einen Fuß auf sie gesetzt zu haben, auch seinen Schatz fand er, wie er ihn verlassen hatte. Am anderen Tage wurde sein unermeßlicher Reichtum an Bord der Jacht gebracht und in drei Abteilungen des Geheimschrankes aufbewahrt. Während der darauffolgenden Tage ließ er seine Jacht nach allen Richtungen hin kreuzen. Am achten Tage sah Dantes ein kleines Fahrzeug mit vollen Segeln auf die Insel zusteuern und erkannte die Barke Jacopos, und zwei Stunden später lag die Barke neben der Jacht. Eine traurige Antwort erhielt er auf die angestellten Erkundigungen; der alte Vater war tot und Mercedes verschwunden. Edmund hörte diese Nachrichten mit ruhigem Gesicht an, er stieg sofort ans Land, und befahl, daß niemand ihm folgen sollte. Zwei Stunden darauf kam er zurück. Zwei Matrosen vom Schiff Jacopos kamen an Bord seiner Jacht, er ließ das Schiff nach Marseille zu steuern. Den Tod seines Vaters hatte er vorausgesehen, aber Mercedes — was war aus Mercedes geworden? Edmund hätte niemand mit Erkundigungen beauftragen können, ohne sein Geheimnis preiszugeben, die Nachforschungen, die er noch anstellen konnte, mußte er selbst übernehmen. Sein Spiegel hatte ihm bereits in Livorno gesagt, daß er nicht Gefahr laufen würde,
wiedererkannt zu werden. Eines Morgens lief die Jacht, von der kleinen Barke gefolgt, geschickt in den Hafen von Marseille ein und warf genau an der Stelle Anker aus, wo man an jenem traurigen, unvergeßlichen Abend nach dem Kastell If abgesegelt war. Nicht ohne gewissen Schauder sah Dantes die Sanitäts polizei, gefolgt von einem Gendarmen, auf sich zukommen, aber mit den vollkommen ruhigen Bewegungen, die er sich jetzt angeeignet hatte, überreichte er ihnen einen in Livorno gekauften englischen Paß und ging ohne Hindernis an Land. Das erste, was er beim Betreten der Canebiere bemerkte, war ein alter Matrose des Pharao. Um sich seiner Unkenntlichkeit nochmals zu vergewissern, ging er auf denselben zu und richtete an ihn mehrere Fragen, dieser antwortete, ohne weder durch seine Worte noch durch seinen Gesichtsausdruck irgendein Erkennen zu verraten. Dantes gab dem Mann ein Geldstück als Dank für die geforderte Auskunft, im nächsten Augenblick hörte er den braven Mann auf sich zukommen und sagen: "Verzeihung, mein Herr. Sie haben sich ohne weiteres geirrt. Sie glaubten mir gewiß nur ein ZweiFranken-Stück zu geben und haben mir einen doppelten Louisdor gegeben." "Ich hatte mich wirklich geirrt, mein Freund, aber Eure Ehrlichkeit verdient eine Belohnung, nehmt noch diesen zweiten an und trinkt auf meine Gesundheit." Der Matrose war so erstaunt über dieses Geschenk, daß er zu danken vergaß und indem er dem sich entfernenden Herrn nachsah, meinte er: "Das muß irgendein indischer Nabob sein." Dantes setzte seinen Weg fort. Bei jedem Schritt, den er tat, verdoppelte sich die Beklemmung seines
Herzens durch eine neue Rührung, alle die unauslöschlichen Erinnerungen an seine Kindheit waren an jener Straßenecke, an jenem Platz und Kreuzweg lebendig geworden. Als er das Häuschen seines Vaters in der Allee de Meillan erblickte, wankte er derart, daß er beinahe unter die Räder eines Wagens gekommen wäre. Dantes lehnte sich an einen Baum und betrachtete das Haus. Dann fragte er den Portier, ob die obere Etage des Häuschens nicht zu vermieten sei; nach einer verneinenden Antwort drang Dantes in ihn, doch wenigstens die Wohnung, die von einem jungen Paare bewohnt war, besichtigen zu dürfen. Mit einem tiefen Seufzer betrachtete er nun die Stätte, wo sein Vater gelebt hatte, übrigens erinnerte nichts mehr an dessen Aufenthalt, die Tapete, die alten Möbel, seine Freunde der Kindheit, waren verschwunden, nur die Mauern waren dieselben geblieben. Die beiden jungen Leute blickten diesen ernsten Mann, dem große Tränen die Wangen niederrollten, mitleidsvoll an. Dantes erkundigte sich beim Portier nach der Adresse des Hausbesitzers, dem er sofort unter dem Namen Lord Wilmore, dies war der Name seines Passes, das kleine Haus für 25000 Franken abkaufte, das waren 10000 Franken mehr, als es wert war, noch an demselben Tage wurden die jungen Leute durch einen Notar benachrichtigt, daß sie sich in diesem Hause irgendeine Wohnung ohne eine Preiserhöhung unter der Bedingung aussuchen könnten, daß sie die zwei Zimmer räumten. In tausend Vermutungen erschöpften sich die Hausbewohner und Nachbarn, als man des Abends denselben Mann in der katalonischen Kolonie herumgehen und in eine armselige kleine Fischerhütte eintreten
sah. Er erkundigte sich nach allen Personen, welche vor 15 oder 16 Jahren dort gelebt hatten, am anderen Tage belohnte er die Leute reichlich, indem er ihnen eine neue katalonische Barke schenkte, Das Wirtshaus "Zur Brücke des Gard". Diejenigen, welche den Süden Frankreichs zu Fuß durchwandert sind, werden zwischen Bellegarde und Beaucaire ein armseliges Wirtshaus bemerkt haben, an dessen Front ein Blechschild baumelte, auf welchem eine groteske Abbildung der Brücke des Gardflusses prangte. Dieses kleine Wirtshaus ist auf der linken Seite der Landstraße mit der Rückseite der Rhone zu gelegen und ist mit einem Gärtchen umgrenzt, auf dem einige verkrüppelte Oliven- und Feigenbäume stehen. Seit ungefähr acht Jahren wurde dieses Haus von einem Ehepaar verwaltet, das als Bedienung ein Hausmädchen, namens Trinette und einen Stallknecht, der Pacaud hieß, hatte. Diese doppelte Hilfe genügte vollständig, denn seit der Kanal eine Verbindung zwischen Beaucaire und Aigner-Montes vermittelte, hielt nur sehr selten jemand Einkehr in der kleinen Herberge. Der Wirt dieser kleinen Schenke war ungefähr vierzig bis fünf und vierzig Jahre alt, er war groß, mager und nervig, ein echter südländischer Typus mit blendend weißen, großen Zähnen. Sein dichtes Haar und sein Bart war nur mit leichtem Grau vermischt und seine von Natur bräunliche Hautfarbe war fast rußschwarz geworden. Seine Frau, mit ihrem Mädchennamen Magdalena Radeil, war bleich, mager und kränklich; gebürtig aus der Gegend von Arles, hatte sie ihre ursprüngliche Schönheit, die ihren Landsleuten eigen ist, unter dem Einfluß häufiger Anfälle
des Sumpffiebers ganz eingebüßt. Sie saß oder lag vor Kälte zitternd in einem Lehnstuhl oder auf ihrem Bett in einer Stube im ersten Stockwerk ausgestreckt, von wo aus sie ihren Mann, sobald sie ihn erblickte, mit Klagen überhäufte, die derselbe philosophisch gelassen, wie folgt beantwortete: "Schweig, Caronte! Gott will es so!" Indessen, trotz dieser anscheinenden Ergebung in die Beschlüsse der Vorsehung darf man nicht glauben, daß der Gastwirt das Unglück, welches durch den Kanalbau über ihn hereingebrochen war, sowie die beständigen Klagen seiner Frau schwer empfunden hätte. Er war, wie alle Südländer, mäßig und hatte wenig Bedürfnisse, aber eitel in äußerlichen Dingen. Keine Prozession fand statt, ohne daß er sich dabei mit Carconte beteiligte. Er in dem pittoresken halbkatalonischen Anzug, sie in der reizenden Tracht von Arles, welche halb griechischen und halb arabischen Ursprungs ist; aber nach und nach waren die Uhrketten, Halsbänder, gestickten Mieder und Sammetwesten verschwunden, und das Paar Caderousse konnte sich nicht mehr in dem alten Glänze zeigen, und so hatte er für sich und seine Frau all jenen Festlichkeiten entsagt, deren Klänge bis i n seine ärmlic he Hütte drangen. Cade rousse hatte sich nach seiner Gewohnheit einen Teil des Vormittags an der Türe aufgehalten, mit seinem melancholischen Blick den kleinen Rasenfleck und einige darauf pickende Hühner betrachtend. Die scharfe Stimme seiner Frau riß ihn aus seinem Hinbrüten und er stieg die Treppe zu ihr empor. In diesem Augenblick näherte sich von Bellegarde her ein Reiter, der mit seinem Pferd eins zu sein schien. Er war ein
schwarzgekleideter Geistlicher mit einem dreieckigen Hut. An der Tür angekommen, sprang er ab, band sein Pferd an einen Fensterladen und klopfte mit der eisernen Spitze seines Stockes dreimal auf die Türschwelle; sogleich fuhr ein großer schwarzer Hund bellend auf ihn zu, ihm seine weißen, spitzen Zähne zeigend. Dies war eine doppelt feindliche Kriegserklärung, welche bewies, daß er gewohnt war, wenig fremde Menschen zu sehen. Gleichzeitig ertönte von der Holztreppe her ein schwerer Schritt und mit gebeugtem Rücken erschien der Wirt der armseligen Schenke an der Tür. "Da bin ich," sagte Caderousse ganz erstaunt, "da bin ich! Willst du wohl still sein, Margottin. Haben Sie keine Furcht, mein Herr, er bellt, aber er beißt nicht. Wünschen Sie eine Flasche Wein? Nicht wahr, es ist schauderhaft heiß? Also was wünschen der Herr Abbé, ich stehe zu Ihrem Befehl," Der Geistliche betrachtete diesen Mann mehrere Sekunden mit einer seltsamen Aufmerksamkeit, als er aber sah, daß sich dessen Miene gar nicht veränderte, sagte er mit deutlich italienischem Akzent: "Sind Sie nicht Herr Caderousse?" "Ja, mein Herr," erwiderte der Wirt, "ich bin es in der Tat, Caspar Caderousse, Ihnen zu dienen." "Jawohl, ich glaube, so war der Name, Caspar Caderousse. Sie wohnten ehemals Allee de Meillan im vierten Stock?" "Jawohl." "Und Sie waren Schneider?" "Ja, aber ich hatte kein Glück mehr, es ist so heiß in dem verrückten Marseille, daß man dort gar keine Sachen mehr anzuziehen braucht. Aber wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?"
"Nun ja, geben Sie mir eine Flasche Ihres besten Weins und dann wollen wir plaudern." "Wenn es Ihnen Vergnügen macht, Herr Abbé," sagte Caderousse. Um nicht die Gelegenheit zu versäumen, eine seiner letzten Flaschen Cahors anzubringen, hob Caderousse eine Falltür auf, die am Boden des Zimmers angebracht war, und kletterte eiligst hinab. Als er nach fünf Minuten zurückkam, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, die Arme auf den Tisch gestützt, während Margottin friedlich neben ihm saß. "Sind Sie allein?", fragte der Abbé, während dieser ein Glas und eine Flasche vor ihm hinstellte. "Ja, mein Gott, ja, so ziemlich allein, Herr Abbé, denn meine Frau kann mir nichts helfen, sie ist immer krank, die arme Carconte." "Ah, Sie sind verheiratet?", sagte der Geistliche interessiert und betrachtete mitleidig die armselige Einrichtung des Häuschens. "Sie finden, daß ich nicht wohlhabend bin, Herr Abbé," seufzte Caderousse, "aber was wollen Sie, es genügt nicht allein, ein ehrenhafter Mann zu sein, um in der Welt vorwärtszukommen." Der Geistliche betrachtete ihn mit durchbohrenden Blicken, "Jawohl, ich kann mich rühmen, ein rechtschaffener Mann zu sein," den Blick des Geistlichen aushaltend, "und in unserer Zeit kann das nicht ein jeder sagen." "Desto besser, wenn Sie das von sich sagen können," meinte der Abbé, "denn ich habe die feste Überzeugung, daß früher oder später der rechtschaffene Mann belohnt und der böse bestraft wird." "Ihnen als Geistlicher kommt es zu, so zu sprechen,"
erwiderte Caderousse verbittert, "es steht übrigens jedem frei, zu glauben, was er will." "Sie haben Unrecht, mein Freund," erwiderte der Abbé, "vielleicht kann ich Ihnen die Wahrheit meiner Behauptung sehr bald beweisen." "Was wollen Sie damit sagen?", fragte Caderousse sehr erstaunt. "Vor allen Dingen muß ich mich vergewissern, ob Sie derjenige sind, für den ich Sie halte." "Welche Beweise soll ich Ihnen geben?" — "Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seemann namens Dantes gekannt?" "Dantes, ob ich ihn gekannt habe, diesen armen Edmund, — er war sogar einer meiner besten Freunde", rief Caderousse aus, dessen ganzes Gesicht von einer Purpurröte überzogen wurde, während das klare sichere Auge des Abbés sich förmlich vergrößerte, um ihn ganz zu umfassen. ,,Ja, ich glaube, er hieß Edmund." "Natürlich hieß er Edmund, der Kleine, so wahr ich Caderousse heiße. Und was ist aus dem armen Edmund geworden, Herr Abbé? Haben Sie ihn gekannt, lebt er noch und ist er glücklich?" "Er ist als Gefangener gestorben, elender und verzweifelter als die Galeerensträflinge." Eine tödliche Blässe überzog das vorher gerötete Gesicht Caderousses, er wendete sich ab und der Abbé sah, wie er mit dem Zipfel des roten Tuches, das er sich um den Kopf gebunden hatte, die Augen trocknete. "Der arme Kleine," murmelte Caderousse. "Da haben Sie gleich einen Beweis von dem, was ich Ihnen vorhin sagte, Herr Abbé, nämlich, daß der liebe Gott nur für die bösen Menschen da ist, die Welt wird
alle Tage schlimmer und einen Tag um den anderen müßte vom Himmel Pech und Schwefel niederfallen." "Sie scheinen diesen Burschen recht lieb zu haben?", fragte der Abbé. "Jawohl, ich liebte ihn sehr," sagte Caderousse, "obgleich ich mir vorwerfen muß, ihn um sein Glück einen Augenblick beneidet zu haben, aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, habe ich sein unglückliches Schicksal schmerzlich bedauert," Stillschweigend betrachtete der Abbé das bewegliche Gesicht des Wirtes. "Sie haben ihn also wirklich gekannt, diesen armen Kleinen?", fuhr Caderousse fort. "Ich wurde an sein Totenbett gerufen, um ihm die letzte Ölung zu geben." "Und woran ist er gestorben?", fragte Caderousse mit erstickter Stimme. "Woran stirbt man mit 30 Jahren in einem Gefängnis, doch nur, daß man eben im Gefängnis ist." Caderousse wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Und was das Seltsamste ist," bemerkte der Abbé, "das ist, daß Dantes mir auf seinem Sterbebette, indem er das Bild des Gekreuzigten küßte, wiederholt beschworen hat, daß er die Ursache seiner Einkerkerung nicht wußte. "v "Das ist wahr, das ist wahr," murmelte Caderousse, "er konnte sie nicht wissen. Nein, Herr Abbé, er hat nicht gelogen, der arme Kleine." "Darum hat er mich beauftragt, sein trauriges Schicksal aufzuklären, wozu er selbst nicht imstande war, und das Andenken an seinen Namen wieder zu reinigen." Das starr blickende Auge des Abbés sog sich an dem düsteren Gesichtsausdruck Caderousses fest.
,,Ein reicher Engländer, sein Unglücksgefährte," fuhr der Abbé fort, "welcher unter der zweiten Restauration aus dem Gefängnis entlassen wurde, besaß einen Diamanten von großem Wert, diesen schenkte er bei seiner Freilassung Dantes aus Dankbarkeit, daß er ihn während einer Krankheit brüderlich gepflegt hatte. Dantes nun, anstatt sich des Diamanten zu bedienen und seine Wächter zu bestechen, verwahrte ihn für den Fall, daß er entlassen würde. Denn durch Verkauf dieses einzigen Edelsteins wäre seinGlück gemacht gewesen." "Also war es ein Stein von großem Wert?", fragte Caderousse mit glühenden Augen. "Nun, er war 50 000 Franken wert, übrigens können Sie selbst urteilen, ich habe ihn bei mir." Der Abbé zog ein kleines Kästchen aus schwarzem Chagrinleder hervor und ließ vor Caderousses Augen den Stein funkeln, welcher als Ring gefaßt war. "Und der ist 50 000 Franken wert?" "Jawohl, ohne die kostbare Fassung," sagte der Abbé und steckte den Ring in seine Tasche zurück. "Aber wie kommen Sie in den Besitz dieses Diamanten?" fragte Caderousse, "Edmund hat Sie also zu seinem Erben eingesetzt?" "Nein, aber ich bin sein Testamentsvollstrecker, 'Ich hatte drei sehr gute Freunde und eine Braut,' sagte er mir, 'alle vier werden mich schmerzlich bedauern. Der eine dieser Freunde heißt Caderousse'." Caderousse zitterte. "Der andere hieß Danglars, der dritte, fügte er hinzu, war zwar mein Nebenbuhler, aber er liebte mich dennoch, er hieß Ferdinand (während dieser Worte huschte ein diabolisches Lächeln über Caderousses Gesicht), was meine Braut betrifft, ihr Name war . . ."
"Mercedes," fiel Caderousse ein. "Ach ja," seufzte der Abbé, "Mercedes, Geben Sie mir eine Flasche Wasser." Caderousse beeilte sich, den Wunsch zu erfüllen. "Also die Braut hieß Mercedes. Dantes sagte: Sie werden nach Marseille gehen, den Diamanten verkaufen und den Erlös in fünf Teile teilen zwischen die einzigen Wesen, welche mich auf Erden geliebt haben," "Wieso fünf Teile, Sie haben mir nur vier Personen genannt," meinte Caderousse. "Weil die fünfte tot ist, wie man mir gesagt, nämlich Dantes Vater." "Ach, leider ja," sagte Caderousse, "ja, der arme Mann ist tot." "Ich habe es schon in Marseille vernommen," antwortete der Abbé, mit unendlicher Anstrengung, gleichgültig zu erscheinen, "man konnte mir aber nichts Neues sagen. Wissen Sie Näheres drüber?" "Wer kann es wohl besser wissen als ich, ich wohnte Tür an Tür mit dem alten Mann. Ach, mein Gott, ja — kaum ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starb der arme Greis." "Woran ist er denn gestorben?" — "Die Ärzte benannten seine Krankheit . . . eine gastrische Darmentzündung, glaube ich. Seine Bekannten meinten, er sei aus Gram gestorben . . . und ich, der ihn beinahe hat sterben sehen, ich sage, daß er . . . Hungers gestorben ist." — "Vor Hunger!" schrie der Abbé, von seinem Schemel in die Höhe fahrend, aus, "vor Hunger? Inmitten anderer Menschen, die sich auch Christen nennen, Hungers gestorben? Unmöglich, das ist unmöglich!"
"Was ich gesagt habe, das habe ich gesagt," erwiderte Caderousse. "Du hast unrecht," rief eine Stimme von der Treppe aus, "wozu mischst du dich da hinein?" Die beiden Männer kehrten sich um und sahen auf der Treppe die kränkliche Frau, sie hatte sich bis dahin geschleppt und die Unterhaltung mit angehört. "Wozu mischst du dich hinein, Frau," sagte Caderousse, "der Herr verlangt Auskunft, und die Höflichkeit verlangt, daß ich ihm dieselbe gebe." "Ja, aber die Klugheit verlangt, daß du sie ihm verweigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich aushorchen will, Dummkopf." "In einer vortrefflichen, Madame, ich stehe gut dafür," sagte der Abbé, "Ihr Mann hat nichts zu fürchten, vorausgesetzt, daß er mir offen antwortet." "Nichts zu fürchten, jawohl! Mit schönen Versprechungen fängt man an, dann begnügt man sich zu sagen, daß man nichts zu fürchten hat, was man gesagt hat, und eines schönen Tages fällt das Unglück über die armen Menschen herein, ohne daß man weiß, woher es kommt." "Seien Sie unbesorgt, liebe Frau, von meiner Seite aus wird kein Unglück über Sie kommen, dafür stehe ich." Die Carconte brummte einige unverständliche Worte, dann ließ sie ihren Kopf auf die Knie sinken und neue Fieberschauer durchschüttelten ihren Körper. Nachdem der Abbé einige Schluck Wasser getrunken hatte, fragte er weiter: "War denn der arme Greis von aller Welt verlassen, daß er einen solchen Tod erleiden mußte?" "Oh, mein Herr," sagte Caderousse, "weder Mer
cedes noch Herr Morrel haben ihn verlassen, aber der arme Greis hatte eine solche tiefe Abneigung gegen Ferdinand gefaßt, — derselbe, welchen Dantes Ihnen als seinen Freund bezeichnet hatte." "War er es denn wirklich nicht?", fragte der Abbé. "Caspar, Caspar," rief die Frau von der Treppe her, "paß auf, was du sagen willst." Caderousse machte eine ungeduldige Bewegung und fuhr fort: "Kann man ein Freund desjenigen sein, dessen Frau man besitzen möchte? Dantes hatte ein Herz von Gold, armer Edmund! . . . Im Grunde ist es am besten, daß er es nicht erfahren hat, es hätte ihm zu viel Schmerz bereitet." "Wissen Sie denn, was Ferdinand Dantes angetan hat?" "Ich glaube wohl, daß ich es weiß!" "Sprechen Sie alsdann." "Caspar, mache, was du willst, du bist der Herr," schrie wieder die Frau, "aber wenn du auf mich hören wolltest, so würdest du nichts sagen." "Diesmal glaube ich, daß du recht hast, Frau," sagte Caderousse. "Also Sie wollen mir nichts sagen?", fing der Abbé wieder an. "Wozu denn," sagte Caderousse, "wenn der Kleine noch am Leben wäre und zu mir käme, um seine Freunde und Feinde zu erfahren, dann würde ich vielleicht sprechen, aber, wie Sie mir gesagt haben, ruht er unter der Erde. Sprechen wir nicht mehr davon." "Sie wollen also, daß ich diesen Leuten, die Sie als falsche Freunde bezeichnen, eine Belohnung austeilen soll, die nur für treue Freunde bestimmt war?" "Das ist wahr, Sie haben recht," sagte Caderousse,
"was würden die sich übrigens aus der Hinterlassenschaft des armen Edmund machen. Das wäre ein Wassertropfen, der ins Meer fiel." "Und jene Leute können dich durch eine Bewegung vernichten," sagte die Frau. "Wieso, sind jene Leute denn so reich und mächtig geworden?", fragte der Abbé. "Sie kennen also deren Geschichte nicht?" "Nein, erzählen Sie sie mir." Caderousse schien einen Augenblick zu überlegen, dann sagte er: "Nein, wirklich, die wäre zu lang," "Es steht Ihnen frei, mein Freund," sagte der Abbé mit dem Ausdruck der größten Gleichmütigkeit, "und ich ehre Ihre Bedenklichkeiten. Sprechen wir also nicht mehr davon. Womit war ich schließlich beauftragt? Mit einer einfachen Formsache. Ich werde also diesen Diamanten verkaufen." Er ließ den Stein vor Caderousses Augen funkeln. "Komm doch, Frau, und sieh," sagte dieser mit rauher Stimme. "Ein Diamant," sagte die Carconte, näherkommend, "und was hat es mit dem Diamanten auf sich?" "Hast du denn nicht gehört, Frau," meinte Caderousse, "diesen Diamanten hat uns der Kleine vermacht. Seinem Vater, seinen drei Freunden und Mercedes. Der Diamant ist 50000 Franken wert. Der fünfte Teil gehört uns also," sagte Caderousse. "Da der Vater Dantes tot ist, so glaube ich mich berechtigt, unter euch vier zu teilen, da ihr doch die vier Freunde Edmunds gewesen seid." "Freunde dürfen doch keine Verräter sein," murmelte die Frau jetzt ihrerseits dumpf. "Ja, ja, das meine ich auch," sagte Caderousse, "es
kommt mir fast wie eine Entweihung vor, den Verrat, ja, vielleicht das Verbrechen zu belohnen." "Sie haben es so gewollt," erwiderte ruhig der Abbé," indem er den Stein in die Tasche gleiten ließ. "Jetzt .geben Sie mir die Adressen der Freunde Edmunds, damit ich seinen letzten Willen vollziehen kann." Große Schweißtropfen perlten von Caderousses Stirn, als der Abbé aufstand und sich nach der Tür wendete, als ob er nach seinem Pferd schauen wollte. "Der Diamant würde uns allein gehören," sagte Caderousse. "Glaubst du?", meinte die Frau. "Ein Diener Gottes kann nicht betrügen." "Tu wie du willst," sagte die Frau, "ich mische mich nicht hinein." Mit diesen Worten ging sie langsam fort. Der Geistliche kam an den Tisch zurück und fragte, wozu er sich entschlossen habe. "Ich werde alles sagen!", antwortete Caderousse. "Ich glaube, das ist das beste," sagte der Priester. "Nicht etwa, um gern zu wissen, was Sie mir verbergen wollen, sondern um mir zu helfen, den letzten Willen des Erblassers zu erfüllen." "Ich hoffe es", sagte Caderousse mit vor Habsucht und Begehrlichkeit glühendem Gesicht. "Aber warten Sie, niemand soll uns unterbrechen und niemand braucht zu wissen, daß Sie hier sind." Bei diesan Worten verriegelte er die Haustür, nahm einen Schemel und setzte sich dem Abbé gegenüber, dann begann er zu erzählen.