AXEL BERGER
Der Gehetzte WESTERN
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AXEL BERGER
Der Gehetzte WESTERN
INDBA-VERLAG • C A S T R O P – R A U X E L 1 Alleinvertrieb VERLAGS-UNION GmbH & Co. KG. - 62 WIESBADEN
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Mit einem Ruck warf Jesse Seldon den Kopf herum und blickte zu dem jungen Mann hin, der um die Ecke von Hugh Dobbs Wohnbaracke geschlendert kam. Es war Juan Cedar, ein blutjunger Mexikaner, dessen Kleidung eigentlich nur aus Lumpen bestand. Stumm hockte er sich neben Jesse auf die Fersen und lehnte sich gegen die Bretterwand. Eine ganze Weile starrten sie schweigend über das in der Hitze flimmernde kahle Land, das den Handelsposten „Collin Wells“ umgab. „Senor Dobbs hat mir zwei Maiskolben geschenkt, Amigo. Und er hat mich dabei angelacht und mir auf die Schulter geklopft“, unterbrach Juan Cedar die Stille. „Sicherlich mag er dich gern“, meinte Jesse Seldon mit einem Schulterzucken. „Nein, das ist es nicht. Er sagt, du hättest wenigstens hundert Dollar bei dir. Ich soll dich aushorchen, wo du heute nacht schlafen wirst, und dann soll dir Sam Jerome einen Besuch abstatten. Der Neger soll es ganz einfach mit seinen Händen tun.“
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1. Jesse Seldon setzte sich aufrecht und sah den jungen Mexikaner grinsend an. „Und das hat er dir ganz offen gesagt?“ „Yeah. Sam Jerome soll zwanzig Dollar kriegen und ich zehn. Den Rest will dieser rattengesichtige Hugh Dobbs in die Tasche stecken. Halt also die Augen offen, Amigo!“ „Und wo ist Sam Jerome jetzt?“ fragte Jesse Seldon gedehnt. „Bei der Quelle. Dobbs hat ihm eine Mahlzeit versprochen. Dafür soll er mit einer Schaufel den Sand herauswerfen, damit das Wasser weiter in das ausgetrocknete Creekbett fließen kann. Ich warne dich! Sam Jerome ist ein Riese. Ich war vorhin bei ihm und sah ihm bei der Arbeit zu. Eyha, die schwersten Steinbrocken schleuderte er mit Leichtigkeit aus dem Wasser heraus. Wer seine Fäuste am Hals hat, kann nicht einmal mehr beten.“ „Und warum sagst du mir das alles?“ „Wenn ich fünf Dollar von dir bekomme, würde ich heute nacht nach Norden marschieren und mich irgendwo als Arbeiter oder als Peon verdingen. Und ich hätte dich doch auch gerettet, nicht wahr?“ Er sah Jesse Seldon treuherzig an, doch Jesse grinste ihm spöttisch ins Gesicht: „Ich besitze gar keine hundert Dollar, Amigo mio. Ich will dir nicht sagen, wie viel ich habe, aber ich danke dir trotzdem für deine Ehrlichkeit!“ „Oh, Madre mio, du darfst nicht darüber sprechen“, bat Juan aufgeregt. „Sonst fällt Hugh Dobbs über mich her. Er sagte doch, du hättest wenigstens hundert Dollar -4-
in der Tasche.“ „Ich habe sogar ein Bankkonto in der Town Magdalena. Die Stadt liegt jedoch mehr als hundert Meilen entfernt von hier“, knurrte Jesse Seldon. „Yeah! Stammst du von dort?“ „Yeah, das kann ich wohl sagen. Dort in der Gegend hatte ich in einem schönen Valley : eine kleine Ranch. Fünfhundert Rinder hatte ich. Aber ich lebte nicht allein im Tularosa Valley, und das war mein Pech. Die T und T-Ranch liegt auch dort. Und im Nebenvalley, es wird das Whitewater Valley genannt, gibt es eine weitere Ranch. Eines Nachts beobachtete ich, als ich einige meiner Rinder suchte, wie eine Horde Cowboys mit einem starken Rudel Longhorns durch eine Schlucht kam. Sie hatten die Tiere auf der Whitewater-Ranch gestohlen. Am nächsten Tag kam der Vormann dieser Ranch zu mir und erkundigte sich nach den verschwundenen Rindern. Und da beging ich die größte Dummheit meines Lebens. Ich sagte ihm, was ich beobachtet hatte. Darauf ritt er mit zwei Cowboys auf die T und T-Ranch. Nach drei Stunden kamen sie wieder zurück, aber nun mit dem Vormann der T und T-Ranch. Und dieser Bursche beschimpfte mich in der übelsten Art. Ich gab ihm entsprechende Antworten, und plötzlich griff er — um mich mundtot zu machen — zum Revolver. Doch nicht ich fiel auf die Nase, sondern er stürzte aus dem Sattel. Der Fehler war, daß ich einen Augenblick früher als er die Kanone gezogen hatte. Dadurch hatten die Amigos von der T und T-Ranch das Gesetz auf ihrer Seite, verstehst du? Man legte das als Mord aus, und nun werde ich seit einem halben Jahr gehetzt. Der County Sheriff ist mir auf den Fersen, und auch die Crew der T und T-Ranch würde mich gar zu -5-
gern erwischen. Damit ich nicht mehr sprechen kann, klar?“ „Und du warst niemals wieder auf deiner Ranch, Amigo? Und dein Geld auf der Bank in Magdalena?“ „Das Konto hat der Sheriff sperren lassen. Und meine Ranch? — Ich war vor ungefähr zwei Monaten dort, um mir ein anderes Pferd zu holen. Man hat mein Wohnhaus niedergebrannt. Die drei Pferde und die Rinder waren verschwunden.“ „Und wenn du nun den Sheriff aufsuchst und ihm sagst, was du beobachtet hast? Er muß es dir doch glauben, oder?“ fragte Juan Cedar. Jesse Seldon lachte trocken auf. „Quartermain, so heißt der Sheriff, ist erstens bekannt dafür, daß er selten einen Gefangenen macht. Meistens sorgt er dafür, daß der von ihm Gesuchte aus Verzweiflung oder Wut zum Revolver greift. Und Quartermain hat sie bis jetzt alle geschlagen. Yeah, vielleicht würde er meinem Bericht Glauben schenken, aber den Burschen, der den Vormann Evans erschoß, wird er hinterher schnellstens auf die Nase legen. Und was habe ich dadurch gewonnen? Die fünftausend Dollar auf der Bank von Magdalena können jetzt verrotten.“ „Und der Sheriff sucht dich wirklich?“ fragte Juan gepreßt. Jesse Seldon nickte. „Yeah, mir kommt das jedenfalls so vor. Vor gut einer Woche sah ich ihn zuletzt. Er kam ganz allein auf seinem grauen Klepper auf meiner Fährte entlang. Zum Teufel, er folgte mir, als hätte er hundert Jahre Zeit, mich zu erwischen. Der Bursche ist so kalt und gnadenlos, daß man friert. Aber das verstehst du vielleicht nicht.“ „Wo hast du dein Pferd und deinen Sattel? Hattest du -6-
keine Ausrüstung?“ fragte Juan und blickte Jesse von oben bis unten an. „Du trägst nicht mal einen Revolver.“ „Ich muß dem Rancher von der T und T-Ranch verdammt viel wert sein, wenn ich tot bin“, murmelte Jesse Seldon vor sich hin und malte mit dem Zeigefinger Kreise in den Sand. „Vor vier Tagen, es war oben beim Cibola-Gebirge, beobachtete ich fünf Reiter, die in einer Schlucht entlang kamen. Ich hatte auf einem kleinen Plateau mein Lager. Das Pferd war abgesattelt, und mein Proviantpacken lag auf dem Felsen neben den Decken. Ich sah zu den Reitern hinunter und erkannte sie als Cowboys der T und T-Ranch. Plötzlich deutete der Anführer auf meine Spur, und im nächsten Augenblick sahen sie mich. Von der Stelle aus, an der sie hielten, konnten sie meinen Lagerplatz mit ihren Kugeln eindecken. Ich konnte mich in eine Felsspalte schieben und ausrücken, aber dadurch verlor ich alles. Nur das, was ich gerade bei mir trug, hatte ich noch. Ich versuchte nachts wieder auf das Plateau zu kommen, aber sie empfingen mich gleich mit Kugeln. Da gab ich es auf. Yeah, und nun hocke ich hier am Collins Wells, und Hugh Dobbs will mich, weil er hundert Dollar bei mir vermutet, umbringen lassen. Ist das nicht zum Lachen, Juan?“ Juan lachte kurz auf und brummte dann: „Weißt du, daß Jose Gero, der Knecht von Hugh Dobbs, nicht bei den Maultieren ist? Er ist heute nacht von Dobbs beauftragt worden, nach Dusty zu reiten. Die Town soll nördlich von hier liegen.“ Jesse Seldon sah ihn gespannt an und fragte: „Was soll er in Dusty?“ „Er soll einen Brief dorthin bringen.“ „Woher weißt du das?“ „Jose hat es mir selbst gesagt. Er prahlte mir gegenüber, daß er das -7-
schönste Maultier reiten dürfe. Es sei fast schneeweiß, und ...“ „Wann ritt er fort?“ unterbrach ihn Jesse Seldon scharf. „Weißt du es?“ „Kurz nach Mitternacht marschierte er zur Weide der Maultiere. Bis dahin hatten wir uns unterhalten.“ „Dann kann er jetzt in Dusty sein“, murmelte Jesse. „Ho, das ist verdammt verdächtig! Dusty liegt an der Poststraße und hat bestimmt einen Telegrafen. Und wenn der Teufel es will, stößt er dort vielleicht sogar auf Cowboys der T und T-Ranch. — Ah, Hugh Dobbs!“ rief er plötzlich betont gleichmütig und sah dem hageren Mann entgegen, der an der Hausecke aufgetaucht war. Hugh Dobbs trug nur ein Hemd und eine Hose. Er war barfuß. Den alten Hut hatte er weit in die Stirn gerückt. Sein Gesicht war von vielen Falten durchzogen und dunkel wie altes Leder. Er trug einen Spitzbart und hatte flinke, schwarze Augen. Die Hände hielt er trotz der Hitze in den Hosentaschen vergraben, als er grinsend näher kam. Jesse Seldon sah mißtrauisch zu ihm auf. Dobbs setzte sich neben Juan Cedar und legte die sehnigen Hände auf die Knie. In seinem Gesicht stand jetzt ein eigenartiges Lächeln — hintergründig, gemein und triumphierend zugleich. Juan Cedar und Jesse sahen sich verstohlen an, dann hüstelte der junge Mexikaner, zog sich den Sombrero etwas weiter in die Stirn und erhob sich. Er reckte sich leicht in den Schultern und meinte gelangweilt: „In der Nähe des Wasserlochs ist es kühler. Ich werde Sam etwas Gesellschaft leisten.“ Er wollte an Hugh Dobbs vorübergehen, doch dieser hielt ihn rasch am Hosenbein fest und sagte bissig: „Du wirst hier bleiben, Mex! Sammy braucht keinen -8-
Aufpasser. Setz dich wieder!“ Juan stand einen Moment stocksteif, dann warf er den Kopf herum und sah zu Jesse nieder. Ihre Blicke trafen sich, und beide dachten: Was hat das zu bedeuten? „Ich kann doch gehen, wohin ich will“, empörte sich Juan Cedar. „Senior, lassen Sie meine Hose los!“ „Du wirst dich setzen!“ fauchte der Händler nun noch giftiger als zuvor und versuchte Juan zu sich nieder zu ziehen. Der Mexikaner riß sich heftig frei. Dobbs verlor dadurch das Gleichgewicht und fiel zur Seite, kam aber sofort wieder hoch. Blitzschnell verschwand seine Hand in dem offenen Brusteinschnitt seines Hemdes. Mit einem Navy-Revolver kam sie wieder zum Vorschein. „Du gelber Mistfink wirst dich auf der Stelle setzen!“ schrie Dobbs und sprang auf die Füße. Er richtete den Lauf der Waffe auf Juan, zugleich schielte er auch auf Jesse, der lauernd wartete. Als er sich erheben wollte, schnappte Dobbs: „Du bleibst auch sitzen, Seldon.“ Jesse lachte rauh auf. „Und was hat das alles zu bedeuten, Amigo Dobbs? Warum sollen Juan und ich hier sitzen bleiben? Ich habe Durst, und du kannst nichts dagegen haben, wenn ich aus dem Wassereimer trinke.“ Dobbs drehte sich etwas und richtete den Revolver auf Jesse. Aus engen Augen starrte er Jesse an und sagte eisig: „Doch, ich habe etwas dagegen, Seldon! Aber ich werde dir erst in einer Stunde sagen, was es ist, verstanden? Und noch eines: Diese Kanone hat die Angewohnheit loszugehen, wenn ich es will, klar?“ Jesse schob die Unterlippe vor, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bretterwand und sah zu Juan hin, der etwas zur Seite getreten war und sich halb hinter Dobbs -9-
befand. Von jener Stelle aus konnte Juan nach Norden blicken, in jene Richtung, die Jesse durch die Hauswand verdeckt war. Er mußte etwas Besonderes beobachtet haben, denn er riß überrascht den Mund auf und hob erschreckt die Hand. Sofort ließ er sie wieder sinken, als Dobbs sich zu ihm umdrehte und verlangte: „Setz dich dort nieder, Mex, sonst ergeht es dir verdammt schlecht!“ Juan hockte sich in den Sand. Jesse fragte sich, was der Mexikaner beobachtet hatte. Ein heißer Schrecken durchfuhr ihn, als er an seine Verfolger dachte. Hölle, kam dort etwa Sheriff Quartermain im Sattel seines berühmten Grauen? Oder waren es die Cowboys der T und T-Ranch? „Ich werde es dir in einer Stunde sagen“, hatte Dobbs erklärt. Jesse verschränkte die Arme auf der Brust und vermied es, den Händler anzusehen. Er hatte beobachtet, daß Juans Hand nach einem faustgroßen Stein tastete. Dobbs bemerkte es nicht, da er Jesse nicht mehr aus den Augen ließ, ihn höhnisch anlachte und dann sagte: „Du wirst eine nette Überraschung erleben, Seldon!“ „Und du Ziegenbart wirst kaum einen Vorteil dadurch haben!“ fauchte Jesse. Dobbs deutete mit einer Kopfbewegung zu der Hauswand. „Ich habe alles gehört, was ihr beiden besprochen habt, Seldon. Das war verdammt interessant, sage ich. Ich ahnte schon vorgestern, daß du etwas auf dem Kerbholz haben mußt. Welcher Weiße kommt sonst so abgetrieben und ohne jegliche Habe zu meinem Posten? Das tut nur einer, der vom Gesetz gejagt wird.“ Plötzlich neigte er sich Jesse etwas zu und fragte scharf: „Wie viel Geld hast du bei dir, Seldon? Du kannst - 10 -
nicht mehr lügen. Du hast diesem Mex gesagt, daß du Geld bei dir hast. Wie viel ist es? Gib es mir, und ich lasse dich laufen, bevor die Amigos hier sind, die von Norden kommen. Es ist nur in deinem Interesse, wenn du dich beeilst.“ Jesse musterte ihn grimmig und schnaufte: „Du Geier willst mich ausplündern und danach abschießen, das ist es!“ sagte er zwischen den Zähnen. „Und dann wirst du den Kerlen erzählen, ich hätte dich anfallen wollen, und du hättest mich in Notwehr erschossen.“ „Du hörst die Kakteen wachsen!“ höhnte Dobbs und hob die Mündung des Revolvers etwas höher. „Ich bin immer auf der Seite des Gesetzes.“ „Du lügst! Du bist ein Aasgeier der Wüste!“ fauchte Jesse. In diesem Augenblick sprang Juan auf. Blitzschnell warf er den Gesteinsbrocken auf Dobbs. Der Stein traf den Hals des Händlers. Dobbs fuhr zusammen und warf sich herum. Mit wenigen tigerhaften Sprüngen war Jesse bei ihm, packte Dobb's Handgelenk und verdrehte es. Heiser brüllend ließ der Händler die Waffe fallen. Mit einem triumphierenden Schrei stürzte Juan sich darauf, riß sie an sich und sprang zurück. Jesse versetzte Dobbs einen harten Faustschlag unter das Kinn. Dobbs taumelte zurück, stürzte zu Boden und rang, keuchend nach Atem. „Hier, Amigo!“ rief Juan und reichte Jesse den Revolver. Dieser nahm ihn und trat so weit von der Hauswand fort, daß auch er einen Blick nach Norden werfen konnte. Weit in der Ferne, mehr als eine Reitstunde entfernt, sah er ein paar dunkle Punkte, die in Bewegung waren. Dazwischen entdeckte er einen sehr - 11 -
hellen Flecken. Das war entweder ein Schimmel oder ... „Der weiße Punkt ist ein Maultier!“ schrie Juan ihm zu. „Es wird Jose Gero sein, der mit dem weißen Muli von diesem Ziegenbart nach Norden ritt.“ Jesse nickte, trat dicht an Dobbs heran, der sich aufgestützt hatte und sich Blut von den Lippen wischte. „Steh auf, Dobbs! Jetzt will ich ein Geschäft mit dir machen. Beeil dich, sonst lasse ich dich tanzen!“ Dobbs taumelte auf die Füße, sah Jesse tückisch an und zischte: „Das wirst du noch bereuen, Seldon!“ „Er braucht gar nichts zu bereuen!“ schrie Juan. „Weiter unten im Süden erzählt man sich, daß du es gewesen bist, der vor drei Jahren Pedro Averill ermordet hat. Du bist es gewesen, sage ich dir ins Gesicht. Und hinterher hast du erzählt, du hättest Averill den Posten abgekauft. Du bist ein ganz gemeiner Mörder!“ „Das kann er schon sein“, meinte Jesse. „Aber wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Los Dobbs, wir gehen jetzt in deinen Store!“ 2. Die Nacht war silberhell, aber auch kalt, wie es in diesen Wüstenregionen üblich war. Jesse und Juan Cedar ritten dicht nebeneinander. Die Maultiere schnaubten hin und wieder. Ab und zu schabten ihre eisenlosen Hufe über Gesteinsbrocken, die in dieser nach Norden verlaufenden Senke lagen. In dieser Senke wuchsen Ocotillo-Büsche und hier und dort auch Salbei. Manchmal stießen sie auch auf Saguaro-Kakteen, von denen Eulen aufflogen. Während die Maultiere sie im Schritt nach Norden - 12 -
trugen, dachte Jesse wieder an Hugh Dobbs, der inzwischen sicherlich längst von seinen Fesseln befreit worden war. Er hatte Proviant, einen ledernen Wasserschlauch, den zu diesem Revolver gehörenden Patronengurt und einige Lagergerätschaften verlangt. Unter der Drohung der Waffe, die Jesse auf ihn gerichtet hielt, hatte der Händler ihm alles — wenn auch unter Fluchen und Drohen — ausgeliefert. Mit einigen Stricken hatten sie ihn danach gefesselt und die Vorräte zu Packen verschnürt. Dann hatte Jesse seinen linken Stiefel ausgezogen und aus dem Futter Geldscheine hervorgezogen. Juan Cedar riß Mund und Augen auf, als Jesse das Geld auf den Ausgabetisch legte und sagte: „Hier sind fünfzig Dollar, du Schurke. Dafür nehmen wir noch zwei deiner Maultiere mit. Hast du Sättel auf der Maultierweide''„ „Der Ochsenfrosch wird dir bestimmt keine Antwort geben“, rief Juan von der Tür her. „Aber ich weiß von Jose Gero, daß er ein paar alte Sättel in einer Felsspalte versteckt hat. Laß uns gehen, Amigo mio, sonst wird es zu spät sein.“ Am Wasserloch füllten sie den Schlauch. Der hünenhafte Neger, Sam Jerome, hockte etwas abseits, wie Jesse es ihm befohlen hatte. Doch an dem Gesicht des Schwarzen konnte man erkennen, daß er mit einem halben Dutzend Fragen beschäftigt war. Als Jesse und Juan dann in dem Hügelgelände verschwanden, waren sie sicher, daß der Neger es verdammt eilig hatte, zu den Häusern zu kommen. Kurze Zeit später waren sie bei den Maultieren, suchten sich die besten aus und fanden auch die alten - 13 -
Sättel. Eilig machten sie sich an die Arbeit und ritten los. Wegen der mörderischen Hitze ließen sie die Maultiere im Schritt gehen und legten immer wieder eine Verschnaufpause ein. Als die Abenddämmerung sich über dem Land ausbreitete, bogen sie nach Norden ab und waren schließlich in diese Senke gekommen. Eigentlich war es ein zielloser Ritt, aber Jesse Seldon war es seit einem halben Jahr gewöhnt, ohne ein festes Ziel zu sein. Ein Mann wie er, der gehetzt wurde, war nirgends zu Hause. Bisher war er allein geritten, doch die Hilfe Juan Cedars hatte es so mit sich gebracht, daß der Mexikaner bei ihm blieb. Yeah, wenn Jesse es recht bedachte, verdankte er Juan sein Leben, denn es war zweifellos Dobbs Plan gewesen, ihn — noch bevor die Verfolger ganz herangekommen waren — niederzuschießen und auszuplündern. Wieder einmal hatte Jesse aus seinem Versteck verschwinden müssen. Nie hätte er geglaubt, daß die Cowboys ihm so weit nach Süden folgen würden. Und wenn sie ihm folgten, tat es ein gewisser Sheriff Quartermain erst recht. Den Boss dieser T und T-Cowboys, Frank McKay, hatte Jesse verschiedene Male in Magdalena gesehen, aber sie hatten nie miteinander gesprochen. Nun, zwischen ihnen war auch eine ziemlich große Kluft, denn McKay sollte mehr als zehntausend Rinder auf seinen Weidegründen haben und eine prachtvolle Ranch. Gegen sie war Jesse ein Small-Rancher, der nur an die fünfhundert Tiere sein Eigentum nannte. Die T und T-Ranch lag im Nordteil des Tularosa Valleys, und Jesse hatte sich im Südteil angekauft. Ein Mann aus der Town Magdalena war es, der ihn, als er - 14 -
dort seinen ersten Proviant einkaufte, mit den Worten gewarnt hatte: „In einem Valley, in dem sich schon eine so große Ranch befindet, sollte man sich nicht auch noch ankaufen. Das kann nicht gut gehen. Außerdem ist Mister McKay ein Mann, der niemals satt wird. Aber Sie müssen es wissen.“ Es hatte sich schon bald erwiesen, daß McKay große Taschen hatte, die er auch füllen wollte. Und in eine dieser Taschen wollte er die im Nachbar-Valley liegende Whitewater-Ranch stecken. Er begann damit, daß er Rinder von deren Weidegründen abtreiben ließ. Und ein gewisser Seldon war so verrückt, darüber zu sprechen und wegen einer Sache, die ihn eigentlich gar nichts anging, den Vormann der T und T-Ranch zu erschießen. Er kannte einige ihrer Männer, die ihm so hartnäckig und verbissen auf den Fersen waren — Frank Rody, Mat Barbers und Carry Lamp. Doch die beiden anderen kannte er nicht. Jedenfalls standen sie bestimmt den dreien nicht nach, was Härte und Skrupellosigkeit betraf. „Kennst du diese Gegend?“ fragte Juan dicht neben ihm und riß ihn so aus seinen Gedanken. „Ich war noch niemals so weit im Norden.“ „Nein, ich kenne sie auch nicht. Aber was tut das? Ein Mann, der gesucht wird, ist überall und nirgends zu Hause. Siehst du dort vorn den glitzernden Stern? Genau dort ist Norden. Diesen Stern hat man immer vor sich, wenn man in diese Himmelsrichtung trailt. — Ah, ich habe Durst, Juan. Du auch?“ „Ich auch, Senor!“ Jesse warf sich aus dem Sattel. Er war überrascht, weil Juan ihn mit Senor ansprach. Als er ihn fragte, gab der - 15 -
Mexikaner zurück: „Ein Mann, der in seinen Stiefelschäften wenigstens zweihundert Dollar mit sich trägt, ist für mich ein Senor. Außerdem hast du mir von deiner Ranch und deinen Rindern erzählt. Du bist also ein reicher Mann ...“ „Hoho! Das war einmal, Amigo. Jetzt bin ich noch übler dran als du. Es gibt da einen Mann mit einem Orden auf der Brust, und außerdem sind noch fünf weitere Männer eifrig bemüht, mich ins Jenseits zu befördern. Ich schenke dir den Senor! — Hast du den Becher?“ „Hier!“ Jesse, an dessen Sattelhorn der prall gefüllte Lederschlauch hing, hatte den Verschluß geöffnet, und Juan hielt den verbeulten Blechbecher darunter. Vorsichtig ließen sie das in diesen Regionen so wertvolle Wasser hineinfließen. Dann löschten sie ihren Durst. Sie blieben zwischen den Maultieren stehen, und Jesse zog Rauchzeug aus seiner Brusttasche. Er begann, sich eine Zigarette zu rollen und fragte dabei: „Rauchst du auch, Juan?“ „Nein! Ich habe es einmal versucht, bekomme aber immer abscheulichen Durst davon. Wohin wollen wir uns wenden? Werden sie uns nicht schon bald dicht auf den Fersen sein?“ „Nein, das glaube ich nicht, Juan. Ihre Pferde oder Maultiere sind bestimmt ziemlich abgetrieben. Sie werden sich vermutlich einige Tage Ruhe gönnen. Doch was sie dann unternehmen, steht in den Sternen. Sie müssen ja auch damit rechnen, daß ich über die Grenze nach Mexiko verschwinde.“ Zwischen hohlgehaltenen Händen zündete Jesse die Zigarette an, machte einen tiefen Zug und sagte dann - 16 -
nachdenklich: „Vielleicht ist es besser, wenn wir uns trennen, Juan. Du kannst das Maultier behalten, und ich gebe dir Wasser und Proviant ab. Hast du überhaupt keine Pläne?“ Der junge Mexikaner lachte bitter auf und hieb mit der Hand durch die Luft. „Seit meiner Kindheit hungere ich. Ich habe nie etwas anderes gekannt als Hunger und Hiebe. Meistens habe ich mit dem Kopf auf dem Sand geschlafen. Nein, ich habe keine Pläne — oder doch, einen Plan habe ich: Ich muß mir einen Platz suchen, an dem ich zwar tüchtig arbeiten muß, aber dafür auch immer satt werde. Kann ich nicht bei dir bleiben? Ich mag dich, und ich könnte dein Diener, dein Peon sein. Ohne Lohn, nur für Essen.“ Jesse sah ihn schief an. Er konnte das dunkle Gesicht Juans nur undeutlich unter dem ausgefransten Rand des Sombreros sehen, aber er hörte aus den Worten des Jungen das bange Flehen. Scharf blies er den Rauch aus und meinte betont gleichgültig: „Nun gut, bleibe bei mir, Amigo. Aber wenn es für mich irgendwie brenzlig werden sollte, dann verschwindest du. Du hast mit meiner Sache nichts zu schaffen.“ Juan tastete nach Jesses Hand, hielt sie für einige Augenblicke fest, dann trat er zu seinem Maultier und stieg auf. „Wollen wir nicht weiterreiten, Senor? Nützen wir die Nachtstunden, denn morgen wird es sicher wieder sehr heiß.“ Auch Jesse saß auf und griff nach den Zügeln. Die Zigarette hielt er schief zwischen die Lippen geklemmt und ließ sie von einem Mundwinkel in den anderen wandern. - 17 -
„Wenn wir während der heißesten Stunden rasten, könnten wir gegen Abend in der Town Dusty sein“, überlegte er halblaut. „Ich kenne das Nest nicht, aber wir müssen dort noch Proviant einkaufen. Der von Hugh Dobbs reicht nicht weit für zwei hungrige Männer.“ „Ist das nicht zu gefährlich, Senor?“ fragte Juan, während sie im Schritt weiterritten. Jesse zuckte mit den Schultern. „Gefährlich ist vieles. Man muß es trotzdem wagen. Rechts vor uns müssen bald die Berge auftauchen, die Südausläufer der Cibola Mountains. In ihrer Nähe müssen wir weiter nach Norden reiten.“ Wohl über eine Stunde ritten sie schweigend nebeneinander. Dann bemerkten sie den schwarzen Kamm gezackter Felsen vor dem fahlblauen Nachthimmel und bogen etwas weiter nach Norden. Zwei Stunden später kamen sie in ein Hügelgelände, das von Salbeibüschen übersät war. „Warte, Senor! Achtung!“ rief Juan plötzlich. Jesse schreckte zusammen, und sofort glitt seine Hand zum Kolben des Revolvers. Er drängte sein Maultier etwas herum. „Was ist los, Juan?“ „Ich habe es eben schon einmal gerochen, Senor, aber ich glaubte, mich getäuscht zu haben. Riechst du es nicht? Verbranntes Holz — ein Lagerfeuer vielleicht.“ Jesse legte den Kopf in den Nacken und schnupperte. Juan hatte sich nicht getäuscht. Nicht sehr stark, aber doch spürbar war ein leichter Brandgeruch wahr zu nehmen. Jesse deutete in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. „Das Lagerfeuer brennt nicht mehr, aber die Asche riecht noch. Einen Feuerschein haben wir vorhin nicht - 18 -
gesehen, darum nehme ich an, daß dieses Feuer dort hinten brannte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Reiten wir weiter, Juan! — Ah, vielleicht ist es Sheriff Quartermain?“ Angespannt spähte Jesse in die Richtung, aus der vermutlich der Brandgeruch kam. „Das wäre schon möglich“, fuhr er fort. „Eines habe ich immer wieder feststellen können: Die Burschen von der T und T-Ranch befinden sich immer zwischen ihm und mir. Es sieht so aus, als wollten sie verhindern, daß er zu nahe an mich herankommt. Yeah, es könnte wirklich stimmen, daß der County-Sheriff irgendwo dort unten im Salbeigebiet ein Feuerchen hatte und nun schläft. Wenn er wüßte, daß ich in seiner Nähe bin, würde er schnell mobil werden.“ Juan ritt etwas näher an Jesse heran, brachte sein Maultier dicht neben ihm zum Stehen und fragte: „Und warum reitest du nicht einfach zu ihm und sagst ihm, daß du unschuldig bist?“ Jesse warf den Kopf herum und schnaufte: „Ich bin aber nach den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen dieses Landes nicht unschuldig. Ich hatte den Revolver zuerst heraus, Amigo. Und das ist es, was den Sheriff auf meiner Fährte hält.“ „Senor, du hast mir erzählt, was du damals beobachtet hast“, murmelte Juan. „Etliche Cowboys trieben viele Rinder durch eine Schlucht. Rinder, die sie von der Whitewater-Ranch gestohlen hatten. War der Vormann der T und T-Ranch auch bei diesen Cowboys? Ich meine in der Nacht?“ „Natürlich war Evans dabei. Er war ein hünenhafter Bursche, und ihn habe ich besonders gut erkannt. Darum war ich ja auch so wütend, als er sich am nächsten Tag - 19 -
aufplusterte und mich beschimpfte. Ich hatte ihn doch deutlich erkannt. — Doch leider hatte ich keine Zeugen.“ „Oh, Madre mio!“ rief Juan erregt aus. „Du mußt immer ziemlich durcheinander gewesen sein, Senor. Ist dir niemals in den Sinn gekommen, daß du einen Rinderdieb erschossen hast? Einen Rustler?“ Jesse neigte sich Juan zu und starrte ihn angespannt an. „Was willst du damit sagen?“ „Dieser Vormann war doch bestimmt der Anführer jener Cowboys, die die Rinder stahlen. Und du kannst das beschwören, Senor. Und weil du das genau weißt, hast du diesen Vormann, diesen Anführer der Rinderdiebe erschossen. Das ist kein Mord, Senor! Jeder Rancher und jeder Cowboy ist doch verpflichtet, mit der Waffe in der Hand gegen Rinderdiebe vorzugehen, habe ich einmal irgendwo gehört. Und du hast nichts anderes getan, oder?“ „Nein, genau das tat ich“, sagte Jesse benommen und schüttelte den Kopf. “Warum ist mir dieser Gedanke nicht schon längst gekommen? Natürlich, genau so war es! Und ich Narr rücke aus und erkläre schon dadurch, daß ich mich schuldig fühle, daß ich schuldig bin. Aber was nützt diese Erkenntnis jetzt noch? Jetzt trage ich gewissermaßen ein Brandzeichen.“ Eine ganze Weile schimpfte er noch über seine eigene Dummheit. Schließlich riß er sich den Hut vom Kopf, wischte mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn und knurrte: „Jetzt ist es zu spät. Die große Chance habe ich in den Wind geschlagen. Erst ein junger, hungriger Mex muß mir die Augen öffnen. Oh, ich hirnverbrannter Narr! Weil irgendetwas in meinem Schädel damals nicht richtig - 20 -
schaltete, habe ich alles verloren. Meine Ranch, meine Rinder und — wenn ich es richtig bedenke — mich selbst auch. Du hast mir wirklich die Augen geöffnet, Juan.“ Aber da ist kaum noch etwas zu retten. Jetzt glaubt mir der Sheriff kein Wort mehr, und wenn ich mit Engelszungen reden würde. Ich selbst habe durch meine Flucht zugegeben, daß ich ein Mörder bin.“ „Warum sprichst du denn nicht mit dem Sheriff, Senor?“ fragte Juan. Jesse lachte dumpf auf. „Ho, das fehlte mir! Der hätte mir bald eine Kugel in den Schädel gejagt. Nein, immer wieder bin ich vor ihm ausgerückt und hatte es, wie du es mir vor Augen geführt hast, gar nicht nötig.“ Juan deutete in die Richtung, aus der der Geruch des erloschenen Feuers vom Wind heraufgetragen wurde. „Vielleicht ist er es, der dort schläft, Senior. Schleichen wir uns an ihn heran. Dann rufst du ihn an, sagst, wer du bist und erzählst ihm alles. Berichte ihm ganz einfach die Wahrheit. Du brauchst ja nicht so dicht an ihn heranzugehen, daß du ihm auf die Sporen trittst. Wenn du eine Kugel zum Himmel schickst, wird er schon aus den Decken kommen. — Versuch es doch wenigstens, Senior.“ „Holy gee, Juan, du bist wirklich ein Freund!“ rief Jesse heiser. „Aber ich weiß nicht, ob sich Quartermain überhaupt anhört, was ich ihm zu sagen habe. Oder sollte ich es wirklich versuchen?“ Er drehte sich im Sattel um und schnupperte wieder in den Wind. „Das erloschene Feuer kann gar nicht so weit entfernt von uns sein. Hinter irgendeinem Hügelrücken dort muß der Mann liegen. Und wenn es gar nicht der Sheriff ist?“ - 21 -
„Dann mußt du ihn suchen, Senior. Vielleicht in Dusty. Irgendwo auf der Fährte von dir wird er doch entlang kommen, nicht wahr? Und noch etwas. Wer hat eigentlich deine Rinder und Pferde gestohlen, und wer hat dein Haus niedergebrannt?“ „Das mag der Teufel wissen! Vermutlich steckt der Rancher McKay dahinter. Aber was soll ich nun tun?“ Juan zog sein Maultier herum, trieb es mit den nackten Füßen an und sagte mit der Sachlichkeit eines erfahrenen Mannes: „Reiten wir, Senior! Versuchen wir herauszufinden, wer der Schläfer ist!“ Jesse lachte verkniffen auf, doch dann zog auch er sein Maultier herum und folgte Juan, der die Hand ausstreckte und nach links deutete. „Ich glaube, von dort kommt der Geruch des toten Feuers!“ Jesse gab ihm keine Antwort. Er starrte zu jenem Hügelrücken, der wohl fünfzig Schritte von ihnen entfernt war. Dunklen Tupfen gleich wuchsen Salbeibüsche auf der Kuppe. Und was war in der Senke hinter diesem Hügel? Er brachte sein Maultier zum Stehen, warf sich aus dem Sattel und hielt Juan die Zügel hin. „Bleib du hier, Amigo! Ich will herausfinden, wer der Mann ist. Vielleicht heißt er Black oder Smith.“ „Das wäre sehr schade, Senior!“ rief Juan. „Er müßte Quartermain heißen.“ Jesse zog sich den Revolvergurt höher und sagte: „Du weißt nicht, wie dieser Mann vom blanken Orden ist. Vielleicht bin ich ein Narr. Vielleicht wecke ich den Satan persönlich.“ „Wenn es der Sheriff ist, mußt du ihm alles - 22 -
berichten“, drängte Juan und neigte sich Jesse zu. „Dieser Vormann Evans war ein Rustler.“ Jesse gab ihm keine Antwort mehr. Er sah zu der Hügelkuppe hin und setzte sich langsam in Bewegung. 3. Er lag langgestreckt auf der Hügelkuppe. Dicht neben ihm war ein Salbeibusch, der ihn etwas verdeckte. Die Senke, in die er hinabsehen konnte, war weich geschwungen und nicht sehr tief. Auch dort unten standen Salbeibüsche. Seine Blicke brannten auf dem Pferd, das vielleicht zwanzig Yard entfernt von ihm stand. Es war ein Grauer. Jetzt wußte er also, daß der Schläfer, der kaum vier Schritte entfernt von dem vor sich hindösenden Pferd unter seinen Decken lag, kein anderer als Sheriff Mat Quartermain war. Der Nachtwind kam so über die Senke, daß er dem Pferd keine Witterung zutrug. Jesse kroch vorsichtig auf Händen und Knien weiter und konnte die Decken, unter denen der Schläfer lag, nun noch besser erkennen. Der Graue schien an den Vorderbeinen gehobbelt zu sein. Er war ohne Sattel. Jesse, der langgestreckt auf dem sandigen Boden lag, überlegte, was er tun sollte. Was würde daraus werden, wenn er den ebenso bekannten wie berüchtigten Sheriff weckte? Wenn Quartermain sich auf nichts einließ, dann hatte Jesse den Verfolger um so dichter auf den Fersen. Aber er mußte es dennoch versuchen. Er wollte wenigstens jetzt seine Chance nützen. Holy gee, Juan, dieser junge Bursche, mußte ihm erst die Augen öffnen und hatte völlig recht: Der Vormann Evans war ein - 23 -
Rustler und damit ein Bandit! Natürlich arbeiteten Evans und die Cowboys in jener Nacht als die Beauftragten des Ranchers McKay, aber die Tatsache blieb, daß sie Rinder abtrieben. Und dadurch konnte auch ein stinkreicher Rancher zum Rustler werden. Jesses Kehle war trocken. Er räusperte sich verstohlen und warf einen Blick auf das Pferd. Dann starrte er wieder zu dem Schläfer hinüber. Er spürte, daß ihm Schweißtropfen unter dem Hutrand hervorrannen und über die Wangen liefen. By gosh, der Mann der dort lag, war Sheriff Quartermain, sein unerbittlicher Verfolger. Wäre Jesse ein richtiger Mörder oder Bandit, der von ihm gehetzt wurde, so könnte er ihn jetzt, wenn er sich noch etwas näher heranschlich, mit einigen gutgezielten Kugeln in die Hölle schicken. Aber zu dieser Sorte Schufte gehörte Jesse nicht. Trotzdem wußte er, wie groß die Gefahr wurde, wenn er den Sheriff weckte und dieser sich nicht überzeugen ließ. Eine kleine Weile Starrte Jesse noch zu den Decken hin, unter denen der Sheriff schlafend lag. Er stützte sich etwas auf und wollte seinen Revolver ziehen, um einen Schuß abzufeuern, der den Schläfer wecken sollte. Doch dann unterließ er es und rief laut: „He, hallo, Sheriff Quartermain!“ Er beobachtete die Decken. Quartermain regte sich erst, als der laut aufschnaubende Graue ihn warnte. Mit einem Ruck rollte er sich aus den Decken und warf sich hinter einen Salbeibusch. Jesse ahnte, daß er dabei blitzschnell einen seiner Revolver schußfertig machte. „He, Sheriff Quartermain!“ rief Jesse abermals and seine Stimme klang heiser. „Hier ist Jesse Seldon. Ich muß Sie unbedingt sprechen!“
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„Ho, Seldon! - Ich unterhalte mich nicht mit Mördern!“ antwortete der Sheriff rauh. „Sie sind verdammt frech, sage ich!“ „Sie müssen mich anhören, Sheriff!“ rief Jesse. „Ich bin kein Mörder! Dieser Vormann Evans, der mir ans Leder wollte, war doch einer der Kerle, die die Whitewater-Rinder durch die Schlucht getrieben hatten. Ich habe ihn deutlich erkannt und kann beschwören, was ich sah. Er war nach den Gesetzen ein Rustler, also habe ich auf einen Rustler geschossen. Zugegeben, ich hatte den Revolver zuerst heraus, aber sollte ich mich von einem Rinderdieb abschießen lassen?“ Quartermain gab keine Antwort, und die Stille der Nacht wurde für Jesse fast unerträglich. Er duckte sich tief hinter das Gebüsch, weil er vermutete, daß Quartermain herausfinden wollte, wo er sich befand, um ihm dann einen Bleihagel um die Ohren zu jagen. „Sie müssen das einsehen!“ rief Jesse mit heiserer Stimme. „Nach den geschriebenen Gesetzen und den Gesetzen der Weide war ich sogar verpflichtet, Evans niederzuschießen! - Gut, ich bin damals kopflos ausgerückt, aber jetzt ist es mir klargeworden, wie die Dinge tatsächlich lagen. Mein Schuß auf Evans war kein Mord!“ Wieder erhielt Jesse keine Antwort. Doch der Sheriff schoß auch nicht. Er hüllte sich in Schweigen, als hätte er Jesses Worte nicht gehört. Das Verhalten des Sheriffs ließ in Jesse eine kalte Wut aufsteigen. Nach einer Weile schrie er aufgebracht: „Verdammt, warum antworten Sie denn nicht? Ich habe Ihnen die blanke Wahrheit gesagt und kann beschwören, daß Evans der Anführer jener Burschen war. Es waren Cowboys der T und T-Ranch — fünf oder - 25 -
sechs Kerle. Etliche davon sind schon seit Monaten auf meiner Fährte. Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum McKay mich so jagen läßt? Er will mich mundtot machen!“ schrie Jesse verzweifelt. Jetzt drang die barsche Stimme Quartermains auf: „Und wie sind die Namen dieser Cowboys?“ „Barbers, Rody und Lamp waren dabei“, rief Jesse erleichtert. „Ich glaube, die anderen waren Dillon und Morris, aber das kann ich nicht beschwören. Barbers, Rody und Lamp habe ich auf jeden Fall erkannt - und auch den Vormann Evans. Ich kann das beschwören, Sheriff!“ „Ich kannte Kerle, die tausend Schwüre leisten wollten, daß sie noch niemals einen Revolver in der Hand hatten“, grollte Quartermain. „Für mich zählen nur Beweise. Hast du einen Zeugen, Seldon?“ „Nein, ich war dach allein! Ich habe das beobachtet und habe es am nächsten Tag dem Vormann der Whitewater-Ranch erzählt. Das war zwar eine Eselei von mir, aber sollte ich es nicht tun?“ keuchte Jesse. „Woher soll ich Zeugen nehmen? Meine verschwundenen Rinder können nicht schwören. By gosh, was soll ich denn nur tun? Ich habe keine Beweise dafür, aber bestimmt steckt dieser Rancher McKay hinter allem. Seine Cowboys waren es doch. Und noch etwas, Sheriff: Wo sind meine Rinder und meine Pferde geblieben? Wer hat mein Haus niedergebrannt? Der Schuft, der das tat oder befahl, will mich im Tularosa Valley ausrotten und läßt mich außerdem noch jagen. Er läßt mich hetzen, weil er mich in gewisser Hinsicht fürchten muß, nämlich dann, wenn Sie mir Glauben schenken.“ Wieder verstrichen einige Minuten, dann fragte der Sheriff schroff: „Wo warst du in der Nacht nach dem - 26 -
Schuß auf Evans? Das wirst du doch sicherlich noch ganz genau wissen, oder etwa nicht?“ „Natürlich! Baker, der Vormann der WhitewaterRanch, hatte mir nach dem Schuß auf Evans erklärt, das sei verdammt übel gewesen, und es sei seine Pflicht und Schuldigkeit, McKay von dem Vorfall zu unterrichten. Etwa eine Stunde später mußte ich also mit dem Besuch der Cowboys von McKay rechnen. Ich packte, was ich auf der Flucht brauchte, hatte aber kaum noch Proviant und mußte darum zur Town, nach Magdalena. Bei Westerby im Store kaufte ich Proviant und eine Winchester, und gegen Mittag verließ ich die Town wieder. Ich ritt nach Südwesten, kam an die alte Poststraße und folgte ihr nach Süden zu. Als es dunkel wurde, kam ich zum Handelsposten von Augustine, Dav Augustine. Bei ihm habe ich die Nacht verbracht — in seinem Heuschober. Das müssen er und auch seine Frau beschwören können. Am nächsten Morgen bin ich weiter nach Süden geritten. Mittags bemerkte ich, daß ich von den Cowboys der T und T-Ranch verfolgt wurde. — Warum wollen Sie eigentlich genau wissen, wo ich in jener Nacht war? Was soll das?“ „Du kennst doch sicherlich den Besitzer der Whitewater-Ranch?“ rief Quartermain. „Natürlich! Jim Harbers heißt er. Ich kenne ihn allerdings nur flüchtig. Ich glaube, ich habe ihn damals wochenlang nicht gesehen — zuletzt war es in der Town.“ „Kennst du auch seinen Sohn und seine Tochter?“ „Kaum. Ich glaube, ich sah sie einmal in Magdalena. Besser bekannt war mir dagegen der Vormann, Dan Baker. Mit ihm habe ich öfter gesprochen.“
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„Hältst du ihn für einen Freund?“ wollte der Sheriff wissen. „Ein Freund? Nein, er ist ein Bekannter von mir, mehr nicht.“ „Ho, er will aber beschwören, daß du in jener Nacht auf der Whitewater-Ranch gewesen bist.“ „Warum sollte ich das wohl?“ fragte Jesse bestürzt. „Baker behauptete mir gegenüber, du hättest schon seit einigen Wochen Streit mit dem Rancher Harbers gehabt. Stimmt das etwa nicht?“ „Keine Spur, Sheriff. Damals hatte ich den Rancher wochenlang nicht gesehen. Warum sollte ich wohl Verdruß mit ihm gehabt haben?“ „Du sollst im Whitewater Valley auf Jagd gewesen sein, was Harbers nicht gefiel. Darüber sollt ihr euch gestritten haben. Baker sagte mir, er sei Zeuge des Streites gewesen.“ „Das ist eine verdammte Lüge! Ich bin niemals im Whitewater Valley auf Jagd gewesen, Sheriff. Was hat das alles nur zu bedeuten? Wie kommt der Bursche dazu, zu behaupten, ich sei in jener Nacht auf der Ranch gewesen? Warum wohl?“ Jesse duckte sich unwillkürlich etwas tiefer, denn er sah bei dem Salbeigebüsch eine Bewegung. Im nächsten Augenblick tauchte die große Gestalt Sheriff Quartermains neben dem Gebüsch auf. Deutlich konnte Jesse ihn erkennnen, und vielleicht war das auch die Absicht des Sheriffs. Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte herüber, als wisse er nun genau, wo Jesse sich verborgen hielt. „Du fragtest eben, warum du wohl auf der Ranch gewesen sein sollst. Ich will es dir genau sagen: An jenem Abend, gegen zehn Uhr, drang ein Mann in das - 28 -
Wohnhaus von Harbers ein. Der Rancher und sein Sohn Bud waren noch im Wohnzimmer. Sie wurden in diesem Zimmer erschossen. Baker, der Vormann, berichtete mir, er habe den fliehenden Mörder noch sehen können. Er nannte deinen Namen, Seldon. — Nun, was sagst du dazu?“ „Davon weiß ich nichts, gar nichts, Sheriff!“ rief Jesse bestürzt. Er schluckte mühsam und wischte sich über die Stirn. „Und dieser Schuft Baker sagte wirklich, er hätte mich gesehen? Das ist eine Lüge! Ich war zu der Zeit bei Augustine an der Poststraße. Der Händler und seine Frau können das beschwören. Sie sollten zu ihnen reiten und sie fragen, Sheriff. Sie sind meine Zeugen. Ich habe in jener Nacht in ihrem Heuschober geschlafen. By gosh, Sie sind doch verpflichtet, meine Angaben zu überprüfen. Tun Sie es, Sheriff, dann wird die Wahrheit ans Tageslicht kommen! — Vielleicht steckt hinter dieser Sache ebenfalls der Rancher McKay?“ „Wie kommst du darauf? Warum verdächtigst du ihn eigentlich?“ fragte Quartermain. „Er ist ein reicher Mann, warum sollte er solche Verbrechen begehen oder begehen lassen? Warum?“ „Das weiß ich nicht, Sheriff. — Aber ich kann bei Gott beschwören, daß es Cowboys der T und T-Ranch waren, die Rinder stahlen und in die Richtung der McKay-Ranch trieben. Und noch eines: Die Cowboys Rody, Barbers und Lamp verfolgen mich schon seit Monaten. Warum, frage ich Sie? Ich habe doch nie einen Streit mit ihnen gehabt. Es kann nur so sein, daß sie von McKay den Auftrag haben, mich zu fangen oder zu vernichten. Es sind zwei Fremde bei diesen Cowboys. Ich kenne sie nicht und...“ „Das wollte ich dich gerade fragen, Seldon“, - 29 -
unterbrach Quartermain ihn. „Hast du schon einmal die Namen Sid Boase und Austin Massey gehört?“ „Nein! Sind das die Namen dieser beiden Kerle?“ „Yeah! — Ich mache dir einen Vorschlag. Du erklärst und willst beschwören, daß du unschuldig bist. Also halte dich nicht weiter dort versteckt, sondern komm zu mir herunter!“ In Jesse stieg ein Gefühl des Mißtrauens auf. Himmel, war das einer der berüchtigten Tricks von Quartermain? Lockte er so seine Opfer vor seine Schießeisen? Lockte er sie mit freundlich-ruhigen Werten, um ihnen dann den Garaus zu machen? Jesse zögerte, duckte sich noch etwas tiefer und starrte zu dem Sheriff hinunter. „Hören Sie Sheriff, ich weiß nicht, ob es gut für mich ist, einfach zu Ihnen zu kommen“, versuchte Jesse auszuweichen. „Noch haben Sie mir nicht offen erklärt, daß Sie von meiner Unschuld überzeugt sind. Ich möchte mir nicht gern selbst einen Strick um den Hals legen; denn ich kann nur beweisen, daß ich in jener Nacht in Augustines Heuschober geschlafen habe.“ „Das hast du mir schon gesagt. Komm jetzt herunter. Seldon!“ rief Quartermain barsch. „Wenn du unschuldig bist, kannst du dich auch hier verteidigen.“ Er kehrte Jesse den Rücken und ging zu seinem Pferd, blieb bei ihm stehen und tätschelte ihm den Hals. Jesse aber rührte sich nicht. Er hatte zu viel über Quartermain gehört. Wenn der Sheriff doch nur nicht so berüchtigt wäre! „Ich gebe dir noch fünf Minuten, Seldon!“ rief Quartermain. Jesse fuhr zusammen, als er dicht hinter sich die Stimme Juans hörte: „Senor, geh zu ihm! Du bist unschuldig, und er trägt - 30 -
das Abzeichen des Gesetzes auf der Brust. Oder bist du nicht unschuldig?“ „Zum Teufel, warum bist du nicht bei den Maultieren geblieben?“ herrschte Jesse den Mexikaner an. „Und wenn er mich einfach abschießt?“ „Du bist zu unruhig. Senior“, flüsterte Juan. „Du hast eines übersehen: Er verlangt, daß du zu ihm kommst, aber er hat nicht verlangt, daß du deinen Revolver abschnallst. Das ist wichtig, Senior. Er muß von deiner Unschuld überzeugt sein, sonst würde er verlangen, daß du ohne Waffe kommst. Damit sagt er doch — oh, Madre mio! — Steh auf und geh zu ihm!“ „Verdammt, als wenn das so einfach wäre!“ knurrte Jesse vor sich hin. „Es kräht kein Hahn danach, wenn er mich abschießt!“ „Dann klage ich, Juan Cedar, ihn beim Gouverneur des Mordes an!“ „Ho, ausgerechnet du? Und was ist mir damit gedient? — Darüber grinsen sogar die Sandflöhe, Amigo mio.“ „Quien sabe — du mußt es wissen.“ Jesse sah wieder zu Quartermain, der sich nun bei seinem Packen niedersetzte. Er schien sich eine Zigarette zu rollen. Jesse erhob sich langsam auf die Knie, fluchte leise vor sich hin und richtete sich weiter auf. Deutlich erkennbar stand er nun neben dem Gebüsch. Quartermain saß so bei seinem Packen, daß er ihm halb den Rücken zugewandt hielt. Aber was bedeutete das bei einem solchen Banditenschrecken? Er brauchte sich nur herumzuwerfen, dabei einen Revolver herauszureißen und ... Yeah, innerhalb von einer Sekunde konnten für Jesse alle Sterne erloschen sein. „Oh, Heilige Jungfrau von Guadalupe!“ rief Juan. „Wenn ich könnte, würde ich dir fünf Kerzen spenden, so - 31 -
dick wie ein Männerarm. Bring den Senor dazu, daß er sich jetzt in Bewegung setzt und ...“ „Halt den Mund! Ich gehe ja schon“, fauchte Jesse. „Du bist fast so schlimm wie der Bursche dort unten.“ „Senor, das Glück wird bei dir sein!“ Jesse legte die Hand auf den Kolben seiner Waffe und begann den Hügelkamm hinabzusteigen. Allmählich wurde er ruhiger, denn für ihn stand fest, daß er unschuldig war. Sollte Quartermain es trotzdem wagen, zu feuern, dann sollte er es nicht allein sein, der einen Revolver in der Hand hielt. Zur Hölle auch, wer unschuldig war, hatte auch ein Recht darauf, sich und seine Unschuld zu verteidigen! Auch dem Gesetz gegenüber! Obwohl der Sheriff hören mußte, daß Jesse näher kam, wandte er sich nicht um. Er blieb ruhig sitzen und zündete sich zwischen den hohlgehaltenen Händen die Zigarette an. Endlich hatte Jesse die Sohle der Mulde erreicht und war kaum noch ein Dutzend Schritte von Quartermain entfernt. Sekundenlang stockte er, dann ging er weiter. Der Graue des Sheriffs reckte ihm den Kopf zu und schnaubte. Als Jesse schließlich ein paar Yards entfernt von Quartermain stehen blieb, sagte er heiser: „Hallo, Sheriff — hier bin ich!“ Betont langsam wandte sich Quartermain um und erhob sich. „Nehmen Sie sich immer so viel Zeit, wenn etwas Wichtiges vor Ihnen steht, Mister Seldon?“ Jesse stutzte, weil der Sheriff ihn mit Mister Seldon anredete. Der und jener mochte wissen, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht war diese Höflichkeit auch nur - 32 -
ein Trick. Jesse zuckte stumm mit den Schultern, nahm den Hut ab und wischte mit dem Handrücken über die Stirn. Langsam trat er näher an den Sheriff heran. „Nun also“, knurrte Quartermain. Er hielt den Kopf etwas schief und beobachtete Jesse einige Sekunden. Dann rückte er den Hut in den Nacken, und deutlicher als zuvor konnte Jesse nun das Gesicht des Sheriffs sehen. Es war hager und faltig. Die grauen Bartenden hingen beiderseits des Kinns nieder. Die dichten, buschigen Brauen waren von der Sonne ausgebleicht. Quartermain war langbeinig und breitschultrig, und Jesse schätzte ihn auf Anfang Fünfzig. Mit einer hölzernen Bewegung deutete Quartermain zu seinem Sattel. „Setzen wir uns“, meinte er. „Nehmen Sie die Decken dort, Mister Seldon.“ „Ich wundere mich, daß Sie mich plötzlich Mister Seldon nennen, Sheriff“, sagte Jesse und hockte sich nach Art der Cowboys auf die Fersen. „Ich war schon immer ein höflicher Mann“, gab Quartermain zurück und setzte sich wieder auf seinen Sattel. „Wo sind die Burschen jetzt, von denen Sie verfolgt werden?“ fragte Quartermain. „Sie ritten heute nachmittag auf den Handelsposten von Dobbs zu, ich meine, zum Posten Collins Wells.“ „Was, so weit sind sie vor mir? Gestern sollen sie noch in Dusty gewesen sein.“ „Das mag stimmen“, antwortete Jesse. „Aber was habe ich mit diesen Kerlen zu schaffen?“ Der Sheriff warf den Kopf in den Nacken. „Oh, ich denke, recht viel, mein Freund! Yeah, Sie haben recht. Die Burschen sind darauf aus, Ihnen das - 33 -
Lebenslicht auszublasen. Ist es Ihnen in der letzten Zeit gar nicht aufgefallen, daß diese Kerle immer in nur geringem Abstand hinter Ihnen, aber auch vor mir ritten? Das hat seinen guten Grund.“ „Ich kenne ihn aber nicht, Sheriff“, knurrte Jesse und musterte Quartermain unter halb gesenkten Lidern mißtrauisch. „Ich weiß nur eines: Sie und diese Schufte haben mich die ganzen Wochen durch das Land gehetzt, und dabei bin ich unschuldig. Vor allem habe ich nicht den Rancher und dessen Sohn erschossen. Ich wußte nicht einmal, daß die beiden tot sind. Warum verfolgen Sie mich überhaupt? Ihnen, als Mann des Gesetzes, muß doch rasch klargeworden sein, daß ich damals zwar auf Evans schoß, daß dieser aber auch ein Rustler war. Ich bin unschuldig, Sheriff! Ich habe nur einen Fehler begangen und bin...“ „Yeah, Sie sind kopflos geworden und ausgerückt“, sagte Quartermain. „Und dadurch gaben Sie gewissen Leuten freien Trail!“ „Das haben Sie erkannt?“ forschte Jesse erleichtert. „By gosh, warum kommen Sie dann trotzdem hinter mir her, wie ein ...“ „Wer sagt denn, daß ich hinter Ihnen her bin?“ unterbrach der Sheriff ihn schleppend. Er schnippte den erloschenen Rest der Zigarette zur Seite und blickte Jesse an, der sich ihm zuneigte und stotterte: „Soll das heißen, daß Sie mich gar nicht verfolgen? Hören Sie Sheriff, das ist doch jetzt ein Bluff, oder?“ „Ihnen sollte es aufgefallen sein, daß ich immer hinter der Mannschaft der T und T-Ranch lag. Machen wir es kurz, Mister Seldon: Als ich damals im Handelsposten von Augustine an der alten Poststraße war und dort erfuhr, daß Sie in der Mordnacht gar nicht auf der - 34 -
Whitewater-Ranch gewesen sein konnten, wurde mir alles klar. Auf Anhieb fand ich heraus, daß man Sie zum Stolpern gebracht hatte, daß man einen Dummen gesucht und auch gefunden hatte — Sie nämlich! Zwei Wochen später stellte ich fest, was auf Ihrer Ranch geschehen war. Die Rinder und Pferde waren fort, und das Haus war niedergebrannt. Doch ich konnte nichts unternehmen, denn mir fehlte jeglicher Beweis. Und der Mann, der mir solche Beweise liefern konnte, Sie, rückte immer wieder vor mir aus. Dazu mußte ich noch ständig den Staub der Schufte schlucken, die darauf aus sind, meinen Kronzeugen mundtot zu machen.“ Er schwieg sekundenlang und grübelte vor sich hin, während Jesse ihn verdutzt anstarrte. Aus seinen Gedanken heraus fuhr Quartermain dann fort: „Boase und Massey müssen es gewesen sein. Diese Kerle erschießen jeden, wenn sie hundert Dollar dafür kriegen. Sie fluchen sicherlich mörderisch, weil sie noch nicht an Sie herankommen konnten.“ Er lachte bissig. „Sie haben ihnen mächtig Staub zu schlucken gegeben — mir allerdings auch. Sie sind ein verdammt harter Brocken, Mister Seldon. Darum verstehe ich es immer noch nicht, weshalb Sie das alles einfach hinnahmen. Waren Sie damals im Kopf nicht ganz in Ordnung?“ „Ich durchschaute das Spiel nicht. Außerdem hatte ich Angst vor dem Gesetz. Ich hatte den Revolver zuerst heraus.“ Er deutete zur Hügelkuppe. „Ein junger Mexikaner, den ich bei Dobbs kennenlernte, hat mir erst alles richtig vor Augen geführt — heute abend, als uns der Geruch des Lagerfeuers in die Nase stieg.“ „Ist dieser Amigo dort oben?“ „Yeah! Ein armer Kerl ist es, aber ein kluger Bursche. - 35 -
Er heißt Juan Cedar.“ „Sagen Sie ihm, daß er zu uns kommen soll.“ „Dann muß er erst unsere Maultiere holen.“ „Maultiere? Sie ritten doch immer einen dunklen Braunen?“ fragte Quartermain überrascht. Jesse berichtete ihm, wodurch er alles verloren hatte und was dann am Nachmittag am Collins Wells geschah. Quartermain pfiff leise durch die Zähne. „Sie geben diesen Kerlen wirklich eine harte Nuß zu knacken. Aber auch ich bin nicht an diese Schufte herangekommen. Dabei habe ich wirklich Sehnsucht nach dem Anblick von Boase und Massey. Allerdings wissen die Burschen nicht, daß ich ihnen auf den Fersen bin — jedenfalls glaube ich es nicht. — Sagen Sie dem Jungen, daß er kommen soll!“ Jesse erhob sich und zog den Revolvergurt höher. Er sah zu Quartermain hinunter und fragte mit belegter Stimme: „Dann ist für mich jetzt alles vorüber? Ich meine, Sie haben auch erkannt, daß ich einen Rustler tötete?“ Langsam hob Quartermain den Kopf. Das helle Mondlicht fiel in sein Gesicht, das irgendwie angespannt war. „Yeah! — Schon seit über zwei Monaten werden Sie nicht mehr vom Gesetz gesucht, Mister Seldon.“ Jesse sah ihn mit aufgerissenem Mund an. „Und mein Geld, das Sie beschlagnahmt haben?“ „Ich bin nicht ausgerückt, Mister Seldon.“ Quartermain zuckte mit den Schultern. „Zuerst mußte ich annehmen, daß Sie ein Mörder waren, und entsprechend handelte ich. Das war meine Pflicht.“ „Und mein Haus, die fünfhundert Rinder und die Pferde? Wer gibt sie mir wieder?“ knurrte Jesse wütend. - 36 -
„Wer hat sie mir gestohlen?“ „Das herauszufinden, wäre eine lohnende Aufgabe für Sie, Mister!“ Quartermain lachte hart auf. „Oder wollen Sie auf Ihr Eigentum verzichten?“ „Wie komme ich dazu!“ Er trat an den Sheriff heran. „Hören Sie, Sheriff, was werden Sie mit McKay machen, wenn ich festgestellt habe, daß er meine Rinder abtreiben ließ? Er darf doch nicht ungeschoren davonkommen, oder?“ „Ich denke, ich kann Ihnen gegenüber ganz offen sein“, gab Quartermain zurück. „Ich halte diesen McKay für einen ganz großen Schuft, aber ich kann das vorerst nicht beweisen. Sie dagegen können beschwören, daß es Cowboys der T und T-Ranch waren, die der WhitewaterRanch Rinder stahlen, und das wiederum ist der erste Schritt dazu, McKay aufs Kreuz zu legen. Vorher aber habe ich noch eine andere Aufgabe. Ich muß Boase und Massey erwischen, und das ist nicht einfach, wie ich inzwischen festgestellt habe. Die Kerle werden ziemlich mobil werden, wenn sie erst herausgefunden haben, daß ich hinter ihnen her bin.“ Er deutete zur Hügelkuppe. „Aber nun holen Sie den Jungen!“ 4. Noch lag die sternenklare Nacht über der Halbwüste. Jesse und Juan Cedar ritten wieder dicht nebeneinander weiter nach Norden. Der Nachtwind hatte etwas nachgelassen, war aber immer noch recht kühl. Jesse war zumute, als sei eine Zentnerlast von ihm genommen worden. Innerhalb weniger Stunden hatte sich all das aufgeklärt, was ihn monatelang auf den Trail getrieben hatte. - 37 -
Der Sheriff war weiter nach Süden geritten, um Boase und Massey zu stellen. Er hatte Jesse noch geraten: „Reiten Sie auf Ihre Ranch zurück und warten Sie, bis ich ebenfalls dorthin gekommen bin. Dann werden wir beide diesem sauberen Mister McKay unser Liedlein singen. Halten Sie sich dort oben von allem fern, versuchen Sie aber trotzdem herauszufinden, wer Ihre Rinder abtrieb und wohin man sie brachte!“ „Das wird schwierig sein, Sheriff, denn jeder dort wird in mir den Mörder sehen, der von Ihnen gesucht wird. Wie soll ich mich dann meiner Haut wehren? Ich schätze, McKay wird verrückt werden, wenn er erfährt, daß ich wieder in meinem Valley bin.“ „Daran habe ich schon gedacht. Ich werde Ihnen ein Schreiben mitgeben, aus dem hervorgeht, daß Sie unschuldig sind und nicht mehr vom Gesetz gesucht werden“, sagte Quartermain. „Das wird Sie aber kaum vor McKay schützen, denn dieser muß nach wie vor darauf aus sein, Sie mundtot zu machen, damit er nicht selbst auf die Nase fällt.“ Beim Schein einer kleinen Sattellaterne stellte Quartermain später dieses Schreiben aus. Jesse nahm es ihm erleichtert ab und sagte: „Jetzt ist mir, als sei ich neugeboren, Sheriff. Ich bin damals wirklich ganz kopflos geworden, und Baker von der Whitewater-Ranch hat das Feuer noch geschürt. Wie ist es nur möglich, daß er ein solcher Schuft ist? Wie kommt es überhaupt, daß er mit McKay unter einer Decke steckt?“ „Nun, McKay ist ein Mann, der niemals genug bekommen kann. So, wie ich die Sache sehe, ist er darauf aus, die Whitewater-Ranch möglichst billig in seine Tasche zu schieben. Es ist nicht die erste Ranch, die - 38 -
herrenlos gemacht wurde, um sie dann zu kassieren. Allerdings lebt Helen Harbers, die Tochter, noch auf der Ranch. Doch was soll sie gegen McKay unternehmen?“ „Wäre es nicht besser, Sie ritten jetzt mit nach Norden, Sheriff? Das Mädel muß doch geschützt werden.“ „Das weiß ich, aber ich sehe die Dinge etwas anders, Mister Seldon. Ich muß Boase und Massey erwischen und möglichst ein Geständnis von ihnen bekommen, das ich McKay unter die Augen halten kann. Und noch etwas. Diese Mörder dürfen nicht zu McKay zurück, sonst kann das für uns alle sehr übel werden. Kerle wie McKay sind gnadenlos und kennen keine Skrupel. Kommen diese Bluthunde wieder an seine Seite, wird er sie auch wieder loshetzen, und gerade das muß ich verhindern.“ Jetzt, als Jesse neben Juan ritt und das Gespräch, das nun schon Stunden zurücklag, noch einmal überdachte, zeigte sich im Osten über der Halbwüste das erste Licht der aufgehenden Sonne als feiner roter Streifen am Horizont. Juan pfiff ein Lied vor sich hin. Jesse blickte den jungen Mexikaner an. Er hatte Juan vieles, wenn nicht alles zu verdanken, und er würde ihm das niemals vergessen, das war sicher. „Du freust dich, Juan?“ „Natürlich, Senor! Es war doch richtig, zum Sheriff zu reiten, nicht wahr? Yeah, man muß auch einmal in den Wind schnuppern können, Senor. Uns trug der Wind den Geruch des verbrannten Holzes zu, und dann ergab eines das andere. Nun bist du wieder frei, darum müßtest du eigentlich singen. Kannst du singen, Senor?“ „Ah, nur schlecht, Amigo.“ Jesse grinste vor sich hin. - 39 -
„Und vor allem bin ich nicht für Lobgesänge. Manch einer jubelte und fiel gleich darauf ins Wasser, und das möchte ich nicht erleben. Trotzdem bin ich dir verdammt dankbar. Niemals werde ich dir vergessen, daß du mich auf den richtigen Trail gebracht hast! Ich muß damals ein Narr gewesen sein. — Mit dem Vormann Baker von der Whitewater-Ranch werde ich mich jedenfalls noch unterhalten.“ „Wie lange müssen wir reiten, um zu deiner Ranch zu kommen, Senor?“ „Du meinst zu der Brandstätte, Amigo. — Heute, gegen Mittag, können wir in Dusty sein. Von dort aus sind es noch gut zwei Tagesritte bis zu meinen Weidegründen. Sie liegen im Südteil des Tularosa Valleys.“ „Der Sheriff muß diese Kerle, ich meine Boase und Massey, hassen“, sagte Juan. „Ich fror irgendwie, als ich in seiner Nähe war. Er sprach ganz freundlich zu mir, aber mir war trotzdem, als sei ich in der Nähe des Todes. Erging es dir auch so?“ „Zuerst ja, aber dann, als ich erkannte, daß er von meiner Unschuld überzeugt war, wurde alles anders. Yeah, er will Boase und Massey ausrotten. Er soll ein verdammt scharfer Banditenjäger sein, der noch immer seinen Mann gefunden hat. Wehe dem Burschen, den er vor seinen Kanonen hat!“ „Gegen Mittag kann er beim Collins Wells sein, denke ich“, überlegte Juan und riß seinem Maultier, das über einen Felsbrocken strauchelte, den Kopf hoch. „Und was wird dann geschehen? Deine Verfolger sind ja nicht nur Boase und Massey. Werden sie Quartermain an sich herankommen lassen? Auch ein Sheriff besteht nur aus Fleisch und Blut. Sein Leben kann durch eine Kugel - 40 -
beendet werden. Und was dann?“ „By gosh, hol nicht den Teufel aus der Hölle!“ schnaufte Jesse. „Das will ich nicht, Senor. Ich habe mir nur vorhin einmal überlegt, was ich an Stelle von Boase und Massey tun würde.“ „Wie meinst du das?“ „Sie kamen auf den Posten zu, als wir ihn verließen. Sie waren dir also sehr dicht auf den Sporen. Würdest du einen solchen Abstand wieder größer werden lassen, Senor? Natürlich, sie waren müde, und ihre Pferde waren bestimmt abgetrieben. Aber denke an die vier Maultiere, die noch auf Hugh Dobbs Weide waren!“ „Du meinst, daß die Kerle uns gefolgt sind?“ entfuhr es Jesse. „Hättest du das nicht getan, wenn du jemand verfolgst, der so dicht vor deiner Nase herumreitet? Ich würde die Pferde gegen ausgeruhte Maultiere auswechseln und keine Zeit verlieren.“ Jesse drehte sich unwillkürlich im Sattel um. Das Grau der Morgendämmerung lag noch über der Halbwüste, trotzdem war die Sicht gut. Hinter ihnen lag ein Kakteengebiet, das nur schlecht zu überblicken war. Sie hatten ihre Maultiere zum Stehen gebracht. Auch Juan blickte über die Landschaft, aus der sie gekommen waren, und murmelte dabei: „Es braucht nicht zu sein, aber es kann sein, Senor. Und wenn, dann wird der Abstand nicht sehr groß sein; denn wir sprachen wenigstens zwei Stunden mit dem Sheriff.“ Jesses Blicke wanderten suchend hin und her. „Ich sehe keine Reiter, Juan. Außerdem müßten sie dann ja auch den Sheriff entdecken.“ - 41 -
„Sie haben bestimmt von Hugh Dobbs und Sam Jerome erfahren, daß ich mit dir ritt. Also werden sie um einen einzelnen Mann einen Bogen machen und nach zweien suchen“, erklärte der Junge gelassen. Jesse musterte ihn verkniffen von der Seite und knurrte vor sich hin: „Schon möglich, was du dir überlegt hast, aber hoffentlich ist es nicht so.“ „Wie würdest du vorgehen, Senor? Würdest du den Abstand wieder größer werden lassen?“ „In Dobbs Corral standen nur noch vier Maultiere, es sind aber — mit den Cowboys — fünf Männer. Einer müßte also zurückbleiben.“ „Wird es nicht so sein, daß die Cowboys nur die Begleiter von Boase und Massey sind, Senor? Wenn sie die drei Cowboys nun im Handelsposten zurückgelassen und allein auf deiner Fährte zurückkommen?“ „Allmächtiger, du bist so schlau, daß mir die Haare auf dem Kopf hochkommen!“ schnaufte Jesse. „Doch das sind Überlegungen und keine Tatsachen. Zugeben muß ich allerdings, daß es verdammt gute Fährtenleser sind. Immer wieder fanden sie heraus, wo ich war. Komm, wir wollen weiter reiten! Biegen wir mehr zum Gebirge ab! Dort liegt das Land höher, und wir können besser Ausschau halten. Außerdem haben wir dort später auch mehr Schatten.“ Sie ritten im Schritt weiter. Glutrot hatte sich inzwischen der Sonnenball über den Horizont geschoben und vertrieb jeden Schatten. Hartes, gnadenlos grelles Sonnenlicht fiel auf das Land. Hin und wieder drehten Jesse oder Juan sich im Sattel um. Aber nirgendwo konnten sie Reiter entdecken. Ab und zu gönnten sie ihren Maultieren eine - 42 -
Verschnaufpause, tränkten sie mit dem Wasser aus dem Lederschlauch und nahmen auch selbst einige Schlucke. Die Männer waren müde, doch der Verdacht, daß die Verfolger schon wieder auf ihrer Fährte waren, vertrieb den Wunsch nach einigen Stunden Schlaf. Die glühende Sonne marterte sie und die erschöpften Tiere. Endlich deutete Jesse auf den dunklen Flecken, der in der Ferne vor ihnen lag. „Dort liegt die Town Dusty!“ rief er Juan zu, der den Kopf tief auf die Brust gesenkt hielt und dessen Sombrero besseren Schatten spendete als Jesses Hut. Juan hob den Kopf und nickte. Dann drehte er sich im Sattel um, und seine Blicke suchten das Gelände ab. Er sah Jesse an und sagte leise: „Es tut mir leid, Senor, aber ich muß dir sagen, daß zwei Reiter hinter uns her sind.“ „Was?“ fuhr Jesse auf. Hastig wandte er sich um und spähte angespannt zurück. Hinter ihnen lag eine Ebene, die sich weit nach Süden erstreckte. Sie war bäum- und strauchlos, nur hin und wieder von größeren Felsblöcken bedeckt. Auch Jesse sah nun die beiden dunklen Punkte, die nichts anderes waren als zwei Reiter. Er stieß eine Verwünschung aus und sagte: „Deine Gedanken waren wieder mal verdammt gut, Amigo — zu gut, zum Teufel auch! Ich glaube du hast den sechsten Sinn. Ob es Massey und Boase sind? Wie sind sie an dem Sheriff vorübergekommen? „ „Sind wir es nicht auch, Senor? Erst der Brandgeruch ließ uns umkehren. In dem Hügelgelände, in dem wir ihn trafen, haben sie ihn vielleicht gar nicht entdeckt. Das wäre doch möglich.“ „Oder es sind ganz andere Männer“, meinte Jesse und - 43 -
spähte wieder zu den fernen Reitern hin. Nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, murmelte er: „Sie haben nicht einmal ein Packpferd bei sich. Sicher ahnten sie, daß wir nach Dusty wollen, denn Hugh Dobbs wird ihnen gesagt haben, daß wir nur wenig Proviant mitnahmen. Wir haben einen Vorsprung von zwei Stunden, Juan, mehr nicht.“ „Aber wir haben den Vorteil, daß sich unsere Maultiere im Lager des Sheriffs einige Zeit ausruhen konnten, während sie dauernd geritten sein müssen. Das zahlt sich nicht aus, Senor. Entweder reiten sie die Tiere zu schänden, oder sie müssen noch vor Dusty eine Ruhepause einlegen. Wir jedoch können weiter reiten.“ „Das ist nur ein schwacher Trost, Sohn!“ Jesse lachte grimmig auf. „Die Schufte, vorausgesetzt, daß es Boase und Massey sind, kümmern sich einen Dreck um das Schreiben von Quartermain. Ich möchte wissen, wie hoch der Betrag ist, den sie von McKay in die Hände gedrückt bekamen. Er wird nicht niedrig sein, sonst würden sie mich nicht so verbissen jagen. — Wo steckt nur der Sheriff?“ „Auch der schärfste Sheriff ist einmal blind, Senior. Er fängt die Kugeln nicht auf, die dir gelten sollen. Denen mußt du schon selber aus dem Weg springen.“ Juan riß die Hand hoch und deutete nach vorn. „Dort liegt eine Senke, verschwinden wir in ihr!“ Jesse hielt sein Maultier zurück, spähte zu den beiden Punkten und überlegte halblaut: „Zwei Stunden Vorsprung, schätze ich. Das heißt, wir dürfen uns nur eine Stunde in Dusty aufhalten und haben dann noch eine Stunde Vorsprung. Besser wäre es, wenn sie ihren Kleppern erst eine Ruhepause gönnen würden.“ Die Senke, in der sie bald verschwanden, war schmal - 44 -
und flach, aber sie hatte den Vorteil, daß sie genau nach Norden verlief. Jesse und Juan ritten dicht hintereinander. Die Sonne brannte auf sie nieder. Die Maultiere waren mit schaumigem Schweiß bedeckt, und die Reiter waren müde und erschöpft. Am Ende der Senke waren hohe Felsen, die etwas Schatten spendeten. Hier brachten sie die Maultiere zum Stehen und warfen sich aus den Sätteln. Juan musterte Jesse stumm, und Jesse fragte mit heiserer Stimme: „Warum siehst du mich so an, Amigo?“ Der Mexikaner leckte sich über die Lippen, faßte mit seinen braunen Händen nach dem Strick, der seine zerlumpte Hose hielt, und zog sie höher. Er wich Jesses Blick aus und meinte: „Wäre es nicht besser, wenn wir umkehrten und den Sheriff suchten? Vielleicht ist es sicherer, wenn wir in seiner Nähe bleiben, Senior.“ „Hast du Angst, Juan?“ Jesse verzog das Gesicht. Und griff nach dem Wasserschlauch, der an einem Riemen an seinem Sattelhorn hing. Juan antwortete, ohne den Kopf zu heben: „Angst? Ich weiß es nicht, Senior. Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich an die beiden Männer denke, die hinter uns herkommen. Sie sind doch darauf aus, dich zu töten. Und was soll ich tun, wenn sie plötzlich vor uns auftauchen? Ich habe nicht einmal eine Waffe, um dich verteidigen zu können.“ „Mich verteidigen? Ah, yeah, das hast du schon einmal getan, Amigo mio“, überlegte Jesse. Dann sagte er kurz entschlossen: „Wenn wir in Dusty sind, werde ich dir einen Revolver kaufen. Yeah, man kann nicht wissen, was uns noch bevorsteht. — Hast du den Becher?“ Juan hielt den Blechbecher unter die Öffnung des - 45 -
Wasserschlauches. Er und Jesse löschten ihren Durst. Dann zogen sie die Maultiere noch weiter in den Schatten der Felswände und hockten sich nieder. „Einige Augenblicke Ruhe tun den Tieren und uns bestimmt gut“, meinte Jesse und begann sich eine Zigarette zu rollen. Dabei sagte er: „Natürlich werden die Kerle ebenfalls nach Dusty wollen. Vielleicht glauben sie, daß sie mich dort endgültig erwischen können.“ Unruhig sprang Juan auf und rief: „Laß uns weiterreiten, Senior! Wir dürfen diese Männer nicht zu nah an uns herankommen lassen. Was soll werden, wenn sie plötzlich dicht hinter uns sind?“ „Du bist ein seltsamer Bursche!“ schnaufte Jesse. „Manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich von dir halten soll. Aber gut, reiten wir weiter!“ Auch er erhob sich, und wenig später ritten sie durch eine Enge zwischen den Felswänden zu einem Hang. Als sie die Kuppe erreicht hatten, lag ein ausgedehntes Kakteenfeld vor ihnen. Juan blickte zurück und rief: „Ich habe es geahnt, Senor, sie holen auf! Sie gönnen den Maultieren keine Ruhe.“ Jesse warf sich im Sattel herum. Nun sah auch er, daß die Verfolger beträchtlich näher gekommen waren. Gewiß, sie waren noch über eine Reitstunde entfernt, aber sie holten ständig auf. „Sie wollen mich jetzt erwischen, koste es, was es wolle. Vorhin habe ich noch geglaubt, daß sie uns nicht gesehen hätten, aber das muß ein Irrtum gewesen sein“, sagte Jesse grimmig. „Wollen wir uns nicht lieber im Gebirge verstecken und dann zum Sheriff zurückreiten?“ fragte Juan erregt. Er deutete zu den Felsen, die rechts von ihnen auftürmten. „Dort ist eine Schlucht. Vielleicht verlieren - 46 -
sie da auch unsere Spuren.“ „Das ist sinnlos, Juan. Sie werden nicht ins Gebirge folgen, sondern weiter nach Dusty reiten und dort auf uns warten. Und wir müssen dorthin, weil unser Proviant zur Neige geht. Außerdem müssen, wir den Wasserschlauch auffüllen. Und damit rechnen diese Schufte. — Wer will sagen, ob der Sheriff noch in Collins Wells ist? Nein, wir müssen zur Town.“ „Dann müssen wir uns beeilen, Senor. Sie treiben den Mulis die Zungen aus den Hälsen.“ Als sie weiterritten, wandte sich Jesse noch einmal um und spähte zurück, aber die Verfolger waren verschwunden. Sicherlich durchritten sie irgendeine Senke, um gleich wieder aufzutauchen. Er hatte sich nicht getäuscht, denn als er sich wenig später abermals umdrehte, kamen die beiden Reiter weiter hinter ihnen her. Gewiß, sie waren noch weit entfernt, aber was bedeutete das schon bei solchen Schuften, die ihn endgültig vernichten wollten, die blutigen Lohn in den Händen hielten und vielleicht noch weiteren zu kassieren gedachten. Nach einer guten halben Stunde hatten sie endlich eine riesige Talmulde vor sich. Mitten darin lag die kleine Ortschaft Dusty. Zwei Windmühlenräder aus hellem Blech drehten sich glitzernd im flammenden Licht der Sonne. Dusty bestand eigentlich nur aus zwei Häuserreihen. Einige der Gebäude waren aus Adobelehm errichtet, andere aus Brettern. Nördlich der kleinen Ortschaft, die vielleicht aus fünfzig Häusern bestand, in denen Amerikaner und Mexikaner ein armseliges Dasein fristeten, lagen Alfalfelder. Die Einwohner lebten hauptsächlich von der Schafzucht, für die im nahen - 47 -
Gebirge karge Weidegründe waren. Es gab nur einen Store in der kleinen Town. Der Besitzer hieß Miller. Als Jesse an ihn dachte, hatte er sofort das Gefühl, daß er diesem Mann gegenüber vorsichtig sein mußte. Was würde dieser Miller unternehmen, wenn er von Boase und Massey erfahren hatte, daß sie einen Mörder verfolgten? Miller konnte ja nicht wissen, daß diese Behauptung eine Lüge war. Jesse legte sich, während sie auf die ersten von Wind und Wetter gezeichneten Häuser zuritten, einen Plan zurecht. Juan mußte sofort zur nächsten Pumpe reiten und den Wasserschlauch auffüllen. Er dagegen wollte den Store aufsuchen, um Proviant und einen Revolver mit Munition zu kaufen. Aber was sollte mit den Maultieren geschehen? Sie waren abgetrieben und müde. Gewiß, sie waren zäh und würden sich nach einigen guten Ruhestunden wieder erholt haben. Doch wo und wann sollten sie sich erholen? Das bedeutete verlorene Zeit und damit ein noch dichteres Aufrücken der Verfolger. Ob sie in der Town die Mulis austauschen könnten? Das wäre möglich, würde aber immerhin einen Aufpreis kosten. Und Jesse wußte, daß er jetzt nur noch fünfzig Dollar in seinem Stiefelschaft stecken hatte. Der und jener mochte wissen, wie bitter notwendig er dieses Geld noch brauchen würde. Der Proviant und der Revolver wurden ihm auch nicht geschenkt. „Senor, die Kerle sind etwas zurückgeblieben!“ rief Juan in Jesses Gedanken hinein. „Ihre Maultiere müssen am Ende sein.“ „Hoffentlich! — Doch jetzt hör mich an, Juan!“ Er sagte dem aufmerksam lauschenden Jungen, was er sich - 48 -
überlegt hatte, und noch bevor sie das erste Haus erreichten, hing der Wasserschlauch am Sattelhorn des Mexikaners. „Kümmere dich um nichts, Boy! Reite zu der Pumpe, die kaum einen Steinwurf entfernt vom Store ist! Schütte das alte Wasser aus und füll den Schlauch mit frischem Wasser. Laß auch dein Muli trinken! Aber nicht zuviel, sonst krepiert es noch. Die Hitze ist zu groß. Vor dem Store trennen wir uns, denk daran!“ Juan nickte, und im Schritt ritten sie weiter. Die Straße war breit, bestand aber eigentlich nur aus Staub, Radfurchen und Trittsiegeln von Pferden und Maultieren. Einige Mexikaner, die in dem spärlichen Schatten unter den Vorbaudächern herumlungerten, musterten Jesse und Juan neugierig und sprachen hastig miteinander. Vor einem anderen Haus stand ein dürrer Amerikaner, dessen Gesicht von einem wirren Bart fast ganz verdeckt war. Er war barfuß und nur mit Hemd und Hose bekleidet. Er starrte aus rotgeränderten Augen auf die Reiter. Einige Häuser weiter lag der Store. Jesse warf einen Blick zu dem Baum hinüber, der bei der Pumpe wuchs. Ein Mexikaner tränkte dort gerade zwei Maultiere, die einige Säcke auf den Rücken trugen. Auch von der anderen Straßenseite her wurden sie von Amerikanern und Mexikanern beobachtet. Einige ärmlich bekleidete Kinder kamen herübergelaufen und folgten ihnen neugierig bis zum Store, dessen Brettertür weit geöffnet war. Ein Holm zum Anbinden der Reittiere stand in der Nähe der Tür. Daneben war eine Bank aus Kistenbrettern. Auf einem kleinen überdachten Vorbau saß in einem alten Schaukelstuhl der Storebesitzer Miller. Er richtete sich hastig auf, als er Jesse heranreiten sah. - 49 -
Sekundenlang zögerte er, dann stieß er den Stuhl zurück. Mit beiden Händen zugleich zog er seinen Hosengurt höher. Auch er ging, wie die meisten Leute dieser Gegend, barfuß. Die Hosenbeine hatte er bis zu den Waden aufgekrempelt. Er kam langsam bis an den Rand des Vorbaues, vergrub trotz der Hitze die Hände in den Hosentaschen und beobachtete Jesse, der zum Holm ritt, während Juan zur Pumpe abbog. Jesse warf sie aus dem Sattel. Gleichmütig nickte er Miller zu, der stämmig und breitschultrig am Rand des Vorbaues stand und ihn mit schiefen Blicken bedachte. „Hallo, Mister!“ grüßte Jesse. „Ich will Proviant und einige andere Dinge einkaufen. — Verdammte Hitze!“ Miller sah ihn aus eng gekniffenen Lidern an. Dann wandte er den Kopf und starrte hinter Juan her, der weiter zur Pumpe ritt. Der und jener mochte wissen, was jetzt hinter der Stirn dieses Mannes vorging. Irgend etwas, das spürte Jesse sofort, hatte der Storeman gegen ihn. Schwerfällig kam Miller vom Vorbau herab und trat langsam auf Jesse zu. „Sie kamen doch vor etlichen Tagen schon bei uns vorüber, nicht wahr?“ fragte Miller. „Yeah, das stimmt. Nun will ich nach Norden zurück. Aber gehen wir in ihren Bau, hier draußen ist es reichlich warm.“ Miller rührte sich nicht von der Stelle, zuckte mit den Schultern und sagte kühl: „Kaum zwei Tage nach Ihnen kam eine Cowboy-Mannschaft durch die Town. — Heißen Sie Seldon, Jesse Seldon?“ „Genau der bin ich!“ Jesse grinste ihn spöttisch an und dachte frohlockend an das Schreiben des Sheriffs.
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„Und hinter den Cowboys, wie Sie diesen Banditenverein nennen, kam der bekannte Sheriff Mat Quartermain.“ „Allerdings! Woher wissen Sie das?“ Ohne auf Millers Frage einzugehen, knurrte Jesse: „Und dieser Banditenverein behauptete, ich sei ein Mörder, der von ihnen verfolgt würde, nicht wahr?“ Miller riß überrascht die Augen auf und nickte. „Zum Teufel, das stimmt! Aber ...“ Jesse öffnete das Hemd auf seiner Brust und zog das Schreiben Quartermains heraus. „Können Sie lesen, Mister?“ „Nicht sehr gut. — Was ist das?“ Jesse hielt das Schreiben dicht vor Millers Augen und antwortete: „In diesem Schreiben erklärt Sheriff Quartermain, daß ich kein Mörder, sondern ein unschuldiger Mann bin. Hoffentlich können Sie das lesen, Freund!“ Miller begann halblaut zu buchstabieren. Obgleich Jesse es eilig hatte, blieb er ruhig. Nach einer Weile grinste der Storeman breit und meinte: „Das ist für Sie ein wichtiges Papier, schätze ich. — Und die anderen sind Banditen?“ „Yeah, sie haben in der Gegend von Magdalena einen Rancher und dessen Sohn umgebracht. Deshalb verfolgt Sheriff Quartermain diese Schufte. Aber nun zu dem Proviant, Mister.“ „Hm, bei dieser verdammten Hitze reitet kein vernünftiger Mann, Mister Seldon“, sagte Miller grübelnd. „Es sei denn, er muß reiten. Und das wiederum könnte bedeuten ...“ „Ich will keine Überlegungen von Ihnen kaufen, sondern Proviant, Mister!“ unterbrach ihn Jesse mürrisch - 51 -
und schielte zu Juan, der gerade wieder in den Sattel seines Maultieres stieg. „Also los denn!“ „Sie haben es also brandeilig, und das läßt mich vermuten, daß Sie Männer auf der Fährte haben“, knurrte Miller aufgebracht. „Ich komme in des Teufels Küche, wenn diese Burschen erfahren, daß ich Ihnen Proviant verkaufe, verstehen Sie? Nein, mein Store ist heute geschlossen, Mister — für jedermann geschlossen. Die Tür steht nur offen, weil ich den Store lüften will.“ Jesse kniff die Augen eng, und sein Gesicht wurde hart. Dann sagte er etwas, was zwar nicht ganz der Wahrheit entsprach, was aber auch keine Lüge war. „Ich reite im Auftrag von Sheriff Quartermain nach Norden. Und wenn Sie mir jetzt nicht freiwillig Proviant verkaufen, müßte ich mit meinem Schießeisen nachhelfen, Mister!“ Miller grinste plötzlich breit. „Das gefällt mir schon besser, Mister Seldon. Nehmen Sie die Kanone in die Hand, damit alle Gaffer in der Runde sehen und beschwören können, daß Sie mich Gezwungen haben, Ihnen Proviant zu verkaufen!“ „Ich verstehe!“ Jesse zog den Revolver und hielt ihn an der Hüfte in Anschlag. Bereitwillig drehte sich Miller um und ging mit watschelnden Schritten durch die offene Storetür. Jesse aber rief Juan, der herangeritten war, zu: „Bleib im Sattel, Juan! Und mach die Augen auf!“ Bereitwillig und übereifrig trug Miller alles zum Ausgabetisch, was Jesse ihm aus dem Gedächtnis aufzählte. Jesse zog zwischendurch seinen linken Stiefel aus und nahm sein Geld heraus. „Und nun noch einen Revolver mit Gurt und Patronen, Mister. Keine zu schwere Waffe.“ „Einen fünfschüssigen Navy? Ich habe hier noch - 52 -
einen. Der frühere Besitzer brauchte dringend Proviant, weil er nach Mexiko hinunter wollte“, sagte Miller und trat mit dem Waffengurt heran. Jesse prüfte die Waffe und sah auf die in den Schlaufen steckenden Patronen. „Gut, das wäre es. Nun noch eine Frage, Mister: Unsere Maultiere sind ziemlich abgetrieben. Wer in der Town tauscht sie ohne Aufgeld aus? Die Tiere sind gut, aber ich brauche jetzt ausgeruhte Mulis.“ „Ich habe das Brandzeichen schon gesehen. Sie tragen das Zeichen von Hugh-Dobbs, vom Collins Wells. Ich würde Ihnen raten, die Tiere zu behalten. Wenn Sie glauben, daß sie am Ende ihrer Kräfte sind, dann laufen sie noch viele Meilen weit. Bessere Mulis können Sie nirgends kriegen. Dagegen sind die, die wir hier in der Town haben, lahme Böcke. Ihre Tiere halten es noch bis zur Dunkelheit aus, und dann können Sie ihnen ja einige Stunden Ruhe gönnen. Ah, Sie brauchen noch Maiskolben für die Mulis. Dort habe ich einen halben Sack voll. Nehmen Sie ihn mit!“ Jesse war im Zweifel, ob die Worte über die Mulis echt wäre“. Doch was sollte er mit Tieren beginnen, die nichts taugten? Yeah, zäh waren die Maultiere von Hugh Dobbs, das hatte er längst feststellen können. Also war es wohl besser, sie zu behalten. Er und Miller packten wenig später das Eingekaufte in zwei alte Säcke und banden sie zu. Dann bezahlte Jesse, und Miller sperrte du Augen auf, als er bemerkte, daß Jesse fünfzig Dollar besaß. Ein Mann mit soviel Geld war dem Händler wohl lange nicht mehr begegnet. Juan wurde immer unruhiger und atmete auf, als Jesse und Miller schließlich die Säcke mit dem Proviant und dem Mais herausbrachten. Die herumlungernden Kinder hatten nun auch noch Gesellschaft von Erwachsenen be- 53 -
kommen. Miller stieß eine Reihe von Verwünschungen hervor und rief, er sei übel dran, weil er zu allem gezwungen werde. Jesse verstand ihn sofort. Er riß seinen Revolver wieder heraus und fuchtelte dem Händler mit der Waffe vor der Nase herum, was einige der Erwachsenen dazu brachte, sich auf dem nächsten Vorbau in Sicherheit zu bringen. Dann saß Jesse auf, grinste dem Händler zu und zog sein Maultier herum. Juan folgte ihm eilig, als befürchte er, daß die Verfolger bereits in der nächsten Sekunde auftauchen würden. „Wollen wir nicht im Trab reiten, bis wir zur Town hinaus sind, Senor? Hättest du nicht diese müden Mulis gegen andere eintauschen können?“ fragte Juan, als sie außer Hörweite des Händlers waren. „Es gibt keine besseren Mulis in dieser Gegend, sagt Miller. Und ich glaube ihm fast, Amigo. Nein, laß uns nur im Schritt reiten. Wir haben ja ein reines Gewissen, oder ...?“ „Ein reines Gewissn schon, Senor, aber was nützt uns das, wenn wir von Kugeln erwischt werden?“ Seine Augen begannen zu funkeln. „Ah, ist das der Revolver, den du für mich kaufen wolltest, Senor? Ist er wirklich für mich bestimmt?“ „Sicher!“ sagte Jesse und reichte ihm den Waffengurt hinüber. Ohne zu zögern, schnallte Juan ihn um seine Hüften und rief begeistert: „Ein wunderbares Gefühl der Sicherheit geht von diesem Revolver aus, Senor. Ich fühle mich jetzt, als könnte ich es mit einem halben Dutzend Banditen aufnehmen.“ „Das beschwöre lieber nicht herauf, Sonny! Schon manch einer hatte die gleiche Überzeugung und fiel - 54 -
prompt mit einem Loch im Kopf auf die Nase. Denk an Boase und Massey! Jeder von ihnen trägt sogar zwei Revolver. Außerdem haben sie bestimmt auch noch Winchestergewehre. Kannst du überhaupt mit einem Revolver umgehen?“ „Ich habe noch niemals einen in der Hand gehabt“, gab Juan kleinlaut zu. „Aber ich weiß, daß man ihn schnell herausreißen und zuerst schießen muß, wenn man ... Oh, warum lachst du mich aus, Senor?“ „Ich lache dich nicht aus, Amigo. Ich denke nur daran, daß ich auch einmal blitzschnell die Kanone herausriß und schoß. Das tat ich um eine Sekunde früher als ein anderer, und darum traile ich jetzt durch diese verruchte Gegend. — Doch jetzt haben wir an etwas anderes zu denken!“ Er drehte sich halb im Sattel um und blickte zurück. Vor dem Store waren jetzt viele Männer und Frauen. Auf dem Vorbau stand Miller und gestikulierte zornig mit den Händen durch die Luft. Er erklärte den anderen wohl, daß Jesse ihn dauernd mit der Waffe bedroht hatte, um Proviant und den Revolver zu bekommen. Von den Verfolgern war noch nichts zu sehen. Als sie das letzte Haus am Nordende der Straße hinter sich gelassen hatten, konnten sie ihre Verfolger wieder sehen. Sie waren beträchtlich näher gekommen. Die Entfernung betrug kaum noch eine Meile. Deutlich stellten Jesse und Juan fest, daß einer der Kerle ein graues Maultier ritt und der andere ein fast schwarzes. Außerdem sahen sie, daß beide Männer von fast gleicher Größe waren, groß und breitschultrig. Eyha, sie kochten bestimmt vor Wut darüber, daß Jesse und Juan schon wieder zur Town hinausritten und ihnen noch einmal entwischt waren. - 55 -
„Die Kerle stinken bis hierher nach Pulver und Verdruß“, schnaufte Jesse vor sich hin, während er zu den Verfolgern spähte. „Solche Schufte sind zu allem fähig. Sie werden weiter hinter uns herkommen wie Wölfe, um mich zu erwischen. Das sagt mir aber auch, daß ich ihnen viele blanke Dollars wert bin.“ „Oh, Senior, hier ist die Straße zu Ende!“ rief Juan plötzlich. „Wohin nun?“ „Einfach nach Norden. In ein paar Stunden werden wir auf die alte Poststraße stoßen, die quer durch das Gebirge kommt und hinauf nach Magdalena führt. Wenn wir heute nacht einige Stunden ruhen, können wir morgen gegen Mittag bei dem Händler Dav Augustine sein — und gegen Abend, wenn wir gleich weiterreiten, im Südteil des Tularosa-Valleys.“ „Auf deiner Ranch, Senor?“ „Meine Ranch? Davon existieren nur noch die Weidegründe, das habe ich dir doch schon gesagt. — Ah, sie sind jetzt hinter den Häusern verschwunden, doch sie werden bald wieder auftauchen. Holy gee, in allen Himmelsrichtungen habe ich mich von ihnen jagen lassen und hatte es gar nicht nötig! Ho, was mögen sie jetzt wohl denken, wo sie doch deutlich erkennen, daß wir nach Norden trauen? Vielleicht halten sie mich ganz einfach für verrückt.“ 5. Auch die beiden Revolverbanditen Boase und Massey hielten sich nicht lange in Dusty auf. Als Jesse und Juan Cedar in ein sich weit nach Norden erstreckendes Geröllfeld ritten, konnten sie die Verfolger wieder sehen. Stur - 56 -
und verbissen folgten sie der Fährte. Jesse war bedrückt und unruhig. Wenn Juan Fragen an ihn richtete, beantwortete er sie mürrisch und knapp, und der Mexikaner warf ihm scheue Blicke zu. So ritten sie schweigend durch das vor ihnen liegende Geröllfeld. Sie wußten beide, daß sie den Maultieren bald eine größere Ruhepause gönnen mußten. Als die Sonne tiefer sank, ließ die Hitze nach. Einige Zeit später senkte sich die Abenddämmerung nieder. Die Mulis gingen müde und schwerfällig. Immer öfter blieben sie eine Weile schnaufend stehen. Aber da die Verfolger in nicht sehr großem Abstand hinter ihnen herkamen, wurden sie von Jesse und Juan immer wieder angetrieben. Schließlich hielt Jesse sein Maultier an und deutete in die Richtung des Gebirges, über dem sich die ersten Sterne zeigten. „Laß uns dort hinüberreiten, Juan. Die Kerle waren vorhin genau hinter uns und werden sicherlich auch in dieser nach Norden führenden Richtung bleiben. Reiten wir noch einige Meilen zum Gebirge hin, dann wollen wir dort rasten. Die Mulis können nicht mehr.“ Juan nickte stumm, und sie bogen in die östliche Richtung ab. Doch je mehr die Dunkelheit zunahm, um so langsamer kamen sie vorwärts. Und dann geschah es! Juans Muli stieß ein erschrecktes Schnaufen aus, stürzte plötzlich vornüber, und sein Reiter flog über den Kopf des Tieres hinweg auf den steinigen Grund. Jesse brachte sein Maultier sofort zum Stehen und drehte sich im Sattel um. „He, was ist, Juan?“ rief er dem Jungen zu, der sich langsam erhob und in der Dunkelheit nur schwach zu erkennen war. „Bist du gestürzt?“ - 57 -
„Das Muli, Senior. Es brach plötzlich in die Knie und ... Oh, Madre mio!“ Juan starrte zu dem Maultier zurück, das klagend wieherte und versuchte, auf die Hufe zu kommen. Doch jedes Mal brach es wieder zusammen. „Holy gee, das fehlt uns gerade!“ schnappte Jesse und warf sich aus dem Sattel. „Es scheint ein Bein gebrochen zu haben.“ Sie beugten sich zu dem Tier nieder, das sich auf die Seite gewälzt hatte, und stellten fest, daß das linke Vorderbein dicht über der Fessel gebrochen war. Jesse richtete sich auf, blies scharf den Atem ein und sagte heiser: „Das ist erledigt. Wie konnte das nur passieren?“ „Es war nicht meine Schuld, Senior!“ rief Juan. „Es glitt plötzlich aus und brach zusammen. — Oh, wenn es doch nicht so schrecklich schreien würde. Wie ein Mensch, der...“ „Yeah, wir müssen es erschießen“, knurrte Jesse. „Aber diesen Schuß werden auch die anderen hören.“ Das Muli versuchte wieder, sich aufzuwerfen, da zog Jesse kurz entschlossen seinen Revolver, legte die Mündung gegen die Stirn des Tieres und zog durch. Der harte Knall des Schusses zerriß die Stille. Das Muli schlug noch einige Male um sich, dann lag es mit jähem Ruck still, und der Kopf sank auf den rauhen Boden. Juan stand mit hochgerissenen Schultern und völlig reglos. Jesse hielt den noch rauchenden Revolver zu Boden gesenkt und schnaufte, während er die Waffe nachlud: „Jetzt wird es schlimm für uns beide, Juan. Jetzt gibt es nur eines: Wir müssen mein Muli als Tragtier benutzen und marschieren. Zu Fuß zu laufen ist kein - 58 -
Vergnügen. — Beeilen wir uns! Wir müssen sofort von dieser Stelle verschwinden!“ Jesse holte sein Maultier heran, und sie beluden es mit dem Wasserschlauch und dem zweiten Proviantbeutel. Als sie fertig waren und Jesse nach den Zügeln griff, sagte Juan bedrückt: „Du solltest ruhig aufsteigen, Senior. Eine Strecke weit wird es dich auch noch tragen können, und dann müssen wir ja sowieso rasten.“ „Laß nur! Ich habe etliche Tage auf Schusters Rappen laufen müssen, Amigo, und wir wollen dem Muli nicht noch den letzten Atem aus den Lungen jagen. Geh du vor! Hast du dich beim Sturz verletzt?“ „Nein! Ich habe zwar Schmerzen in der Hüfte, aber das wird schon wieder vergehen“, gab Juan zurück und hinkte an Jesse vorüber. Der warf ihm einen kritischen Blick zu. „Ist es auch wirklich nicht schlimm, Juan?“ „Nein, Senior, du kannst ganz beruhigt sein. Ich humpele etwas, aber das ist nicht schlimm“, antwortete Juan betont gleichmütig. So marschierten sie hintereinander durch die Wirrnis der Felsbrocken auf das Gebirge zu, dessen Grate sich wie die Zähne einer gigantischen Säge vor dem Abendhimmel abzeichneten. Der Boden lief sanft bergauf, und nach einer guten Meile blieb Jesse bei einigen größeren Felsblöcken stehen. „Hier wollen wir lagern, Amigo. Unsere Verfolger vermuten sicherlich, daß wir von dem toten Muli — vorausgesetzt, daß sie es überhaupt finden — genau nach Norden marschiert sind. Ah, zum Teufel auch, warum ist ihnen das Mißgeschick nicht passiert? Warum muß es ausgerechnet dein Muli sein?“ Juan sah Jesse eine Weile stumm an, dann sagte er - 59 -
leise: „Wenn du mir etwas Proviant gibst, kannst du allein weiterreiten. Sie wollen dich töten, nicht mich.“ Jesse starrte ihn verdutzt an, dann packte er ihn am Arm, zog ihn herum und knurrte zwischen den Zähnen: „Das kommt gar nicht in Frage, Sohn! Wir bleiben zusammen. Zu zweit marschiert es sich viel leichter, nicht wahr?“ „Senor, das solltest du dir gut überlegen“, meinte Juan. „Zwei Männer im Sattel von Mulis sind schneller als Fußgänger.“ „Natürlich sind sie das, Juan, aber ... Ach, sprechen wir nicht mehr darüber! Komm, wir wollen das Muli absatteln!“ Sie befreiten das müde Tier von seiner Last und nahmen ihm auch den Sattel ab. Dann hockten sie sich dicht nebeneinander auf den steinigen Grund, und Jesse öffnete einen der Proviantbeutel. Trotz der Dunkelheit fanden seine Hände das Richtige. Sie begannen bald zu essen und tranken einige Schlucke Wasser. Als Jesse, der sich nach einer Ruhepause sehnte, den Sattel unter dem Kopf zurechtrückte, meinte der dicht neben ihm hockende Junge: „Ich werde jetzt das Muli tränken und dann Wache halten, Senor. Dort geht auch schon der Mond auf. Du kannst ruhig einige Stunden schlafen. Später schlafe ich dann.“ „Yeah, das würde uns gut tun“, murmelte Jesse. Erst jetzt spürte er, wie mitgenommen er von den Strapazen und Ereignissen der letzten Tage war. Er rückte sich den Sattel bequemer unter den Kopf und zog den Hut über das Gesicht. Dann hörte er noch, wie Juan leise zu dem Muli sprach — und war danach von einem Augenblick - 60 -
zum anderen eingeschlafen. Jesse erwachte, weil er in dem kalten Nachtwind fror, der hier am Fuße des Gebirges besonders scharf blies. Er hockte sich auf. Die volle Scheibe des Mondes stand noch am Himmel. Sein Licht erhellte die Landschaft, und die Felsen warfen harte Schatten. Jesse bewegte die Schultern, um die Steifheit zu vertreiben. Dabei sah er zu dem Muli hinüber, das nur wenige Schritte entfernt von ihm stand und vor sich hindöste. Seine Blicke suchten Juan, doch er konnte ihn nicht entdecken. „He, Juan!“ rief er leise und erhob sich. Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Sorge überfiel ihn, als ihm bewußt wurde, daß Juan verschwunden war. Aber wie war das möglich? Er zog den Revolver, spannte den Hahn und war jäh hellwach. Seine Blicke glitten in die Runde. Abermals rief er nach dem Mexikaner, doch auch diesmal erhielt er keine Antwort. Er knurrte eine Verwünschung vor sich hin. Sollte sich Juan wirklich mit einem Teil des Proviantes aus dem Staub gemacht haben? Nun, yeah, die ständige Nachbarschaft eines Mannes, der in jedem Augenblick damit rechnen mußte, erschossen zu werden, war wenig erfreulich. Aber er irrte sich. Beide Proviantpacken lagen unberührt nebeneinander beim Wasserschlauch, und ein leises Gefühl von Scham stieg in Jesse auf. Nein, so etwas paßte auch gar nicht zu Juan. Aber zum Teufel auch, wo steckte er? Mit dem schußbereiten Revolver in der Hand suchte Jesse die Umgebung des kleinen Camps ab. Er vermutete, daß Juan sich einen geeigneten Platz für seine Wache gesucht hatte, dann aber — ebenso hundemüde - 61 -
wie er selbst — eingeschlafen war. Er suchte weiter, umkreiste das Camp in einiger Entfernung, sah hinter Dutzende von Felsblöcken und rief wieder verstohlen Juans Namen — doch er bekam keine Antwort. Verstimmt und unruhig kehrte er dann zum Lagerplatz zurück. Verdammt, wo war Juan nur? Viele Fragen stürmten auf Jesse ein, aber auf keine fand er eine vernünftige Antwort. War Juan einfach ausgerückt und ... Aber warum? Außerdem hinkte er doch auch. Jesse kletterte auf einen Felsblock und konnte von diesem erhöhten Platz aus das riesige Geröllfeld weiter übersehen. Angestrengt spähte er um sich, doch nirgendwo regte sich etwas. Nur der scharfe Nachtwind fegte fauchend um die Felsen. Er spähte in die Richtung, in der das tote Muli liegen mußte. War Juan vielleicht dorthin zurückgekehrt? Aber was sollte das für einen Sinn haben? Zur Hölle auch, wie kam es, daß er überhaupt fort war? Während er schlief, mußte er sich davongeschlichen haben. Aber warum und wohin? In dieser einsamen, grausamen Wüste mußte der Junge ohne Proviant und Wasser ganz einfach zugrunde gehen. Schon der Gedanke, daß sich Juan in Not befand, machte Jesse besorgt. Was sollte er beginnen? Er kletterte wieder von dem Felsblock herab. Sein Entschluß stand fest. Er mußte Juan suchen. Zwar wußte er nicht, wo er ihn finden konnte, doch hier tatenlos zu warten, war nichts für ihn. Er sattelte das Maultier und hängte die Proviantbeutel und den noch gut gefüllten Wasserschlauch an das Sattelhorn. Plötzlich fuhr er zusammen. Das leise Klappern von - 62 -
Gesteinsbrocken irgendwo in der Nähe ließ ihn reglos stehen. Dann kroch seine Hand hinter den Kolben des Revolvers. Angespannt lauschte er. Abermals kam ein Geräusch auf, als schabe etwas über einen Stein. Ein Schnauben war zu hören — unverkennbar war es das Schnauben eines Mulis oder eines Pferdes. Jesse riß den Revolver heraus und sprang in die Deckung eines der höheren Felsblöcke. Kaum zwei Dutzend Schritte entfernt bemerkte er eine Bewegung. Einen kurzen Augenblick tauchte die Krone eines Hutes auf, die aber sofort wieder verschwunden war. Jesse schlich zu einem anderen Felsblock, um die Stelle, an der er den Hut gesehen hatte, besser beobachten zu können. Sein Atemzug riß ab, als er im nächsten Moment erkannte, was auf ihn zukam. Er sah es im hellen Licht des Mondes ganz deutlich: Dort kam Juan! Und Juan führte ein Maultier hinter sich her! Jesse riß Mund und Augen auf. Himmel und Hölle, das war doch kaum möglich! Wie kam Juan zu dem Muli? Er hatte es eilig, das sah Jesse an den hastigen Bewegungen. Wurde er vielleicht verfolgt? Jesse dachte an Boase und Massey, und er sah in jene Richtung, aus der Juan gekommen sein mußte. Er suchte die Felstrümmer mit den Blicken ab, aber dort regte sich nichts. By gosh, wie kam Juan zu diesem Maultier? Hatte er es Boase und Massey gestohlen? Das war doch nicht möglich! Juan kam näher. Jesse ging ihm einige Schritte entgegen und rief ihm halblaut zu: „Juan! Wo bist du gewesen? Woher hast du das Maultier?“ - 63 -
Juan blieb außer Atem vor Jesse stehen, der das gesattelte Muli betrachtete. An dem Sattel hing ein halbgefüllter Wasserschlauch, und im Sattelschuh steckte eine Winchester. „Ho, Senor, ich habe es nicht gefunden“, sagte Juan keuchend. „Ich habe es mir geholt!“ „Bist du verrückt?“ entfuhr es Jesse. „Willst du damit sagen, daß du Boase und Massey dieses Maultier geklaut hast? Und das haben sie nicht bemerkt?“ „Sie haben mich bestimmt nicht verfolgt, Senor“, sagte Juan ruhig. Jesse hatte sich noch immer nicht von seinem Staunen erholt und schnaufte: „Wer hat dir nur diesen verrückten Gedanken eingegeben, Boy? Ich war deinetwegen in größter Sorge, und du klaust irgendwo in der Gegend ein Maultier. Wie hast du das fertiggebracht?“ „Senior, jetzt sind sie langsamer als wir. Ich habe ziemliche Schmerzen in der Hüfte. Eigentlich habe ich dieses Maultier nur darum gestohlen, daß die Schufte uns nicht so schnell einholen können. Jetzt müssen sie zu Fuß marschieren.“ Jesse rüttelte ihn an der Schulter. „Aber wie hast du das geschafft, Sohn? Woher wußtest du, wo die Kerle in diesem Gewirr von Felsblöcken stecken? Setz dich doch, Juan! Hast du Schmerzen?“ „Si, Senor! Das kommt vom schnellen Laufen. Im Sattel kann ich mich ausruhen, dann werden die Schmerzen bald vergehen. — Eigentlich war alles ganz einfach, Senor.“ Juan ließ sich auf einen Felsbrocken fallen. „Ich hielt Wache, Senor. Du mochtest wohl eine halbe Stunde geschlafen haben, als ich aus der Richtung, - 64 -
in der wir das tote Maultier zurückgelassen hatten, ein Wiehern vernahm. Ich dachte sofort an Massey und Boase und wollte dich wecken. Dann fiel mir ein, daß auch diese Männer sehr müde sein mußten. Dabei kam mir der Gedanke, mich an sie heranzuschleichen und zu versuchen, ihnen eines der Maultiere zu ... zu...“ „Zu klauen! Sag es ruhig!“ Jesse grinste. „Zu leihen!“ sagte Juan und lachte glucksend. „Ich schlich mich in die Richtung, aus der das Gewieher gekommen war. Doch es wiederholte sich leider nicht. Also begann ich vorsichtig zu suchen. Nach einer Viertelstunde hörte ich ein Schnauben. Eines der Maultiere hatte mich gewittert. Deshalb schlug ich einen Bogen und kam gegen den Wind.“ „Du sagst das, als hättest du schon allerhand Erfahrung im Pferde- oder Maultierdiebstahl. Was geschah weiter?“ „Ich sah die beiden Männer zwischen den Felsblöcken schlafen. Ihr Schnarchen war laut genug. Die Maultiere standen hinter einem größeren Felsen. Sie waren gesattelt, und man hatte ihnen nur die Vorderbeine gehobbelt. Ich schlich mich zu diesem Muli, flüsterte mit ihm, und es stand ganz still. Die Beinfessel war bald gelöst, und ohne daß die Männer etwas bemerkten, konnte ich es fortführen. Eigentlich war das doch ganz einfach, nicht wahr, Senor?“ Jesse richtete sich auf, kratzte sich hinter dem Ohr und sagte mit verzogenem Gesicht: „Oh, Amigo mio, ich hätte das nicht gewagt. Ich nicht! Aber du scheinst bei allem eine gehörige Portion Glück in der Hosentasche zu haben. Allmächtiger, die Flüche und Verwünschungen von Boase und Massey möchte ich nicht hören, wenn sie erst feststellen, was ge- 65 -
schehen ist. Jetzt haben wir wieder zwei Mulis und dazu noch eine Winchester. — Juan Cedar“, erklärte Jesse nun fast feierlich, „du bist ein ganz ausgekochter Bursche, aber es ist ein Glück, daß du es bist. Jetzt können wir beide wieder reiten. Und ich bin dafür, daß wir schnellstens aus dieser Ecke verschwinden. Sobald die Kerle feststellen, was geschehen ist, werden sie uns suchen wie Stecknadeln im Heuschober. — Steig auf, Juan! Ich habe das andere Muli schon gesattelt. Oder soll ich dich in den Sattel heben?“ Er beugte sich leicht zu Juan nieder. Dabei bemerkte er, daß der Mexikaner zusammenfuhr und sah, wie sich die Augen des Jungen jäh weiteten. Hinter ihm sagte eine bissige Stimme: „Du wirst gar nichts mehr tun, Seldon! Endlich haben wir dich erwischt! Endlich...“ Wie dann alles kam, wußten Jesse und Juan schon in der nächsten Viertelstunde nicht mehr zu sagen. Jesse hatte noch den Klang der hämischen Stimme in den Ohren, als er den Revolver herausriß, sich herumwarf und schoß. Er sah nur einen schwachen Schatten, bei dem es in der nächsten Sekunde grell aufblitzte. Er hörte die Kugel dicht an seinem Kopf vorüberzischen, er hörte aber auch den rauhen Aufschrei, der über die Lippen des Mannes kam, der kaum vier Schritte hinter ihm gestanden hatte und jetzt zusammenbrach. Keuchend rang Jesse nach Atem und hatte noch immer den Revolver auf den Mann gerichtet, der völlig reglos dalag. Er wußte nicht, ob es Boase war oder Massey, aber einer von ihnen war es. Er warf sich herum und schrie Juan an: „Los, in den Sattel, Juan! Jeden Augenblick kann der andere auftauchen!“ - 66 -
Juan humpelte zu dem Maultier und stieg eilig auf. Jesse sah es nur mit halbem Blick. Er sprang über einen niederen Felsbrocken hinweg, hastete zu dem anderen Muli, zog es herum und ritt zu Juan. „Los, reite vor mir her! Nach Norden weiter, aber sobald du irgendwo eine Bewegung bemerkst, sag es mir! Und nimm den Revolver in die Hand, Junge! Hinter jedem Felsblock kann es knallen.“ „Oh, Madre mio!“ keuchte Juan und ritt an. Jesse richtete sich in den Steigbügeln auf und suchte das Gelände ab, aber er bemerkte nichts Auffälliges und folgte Juan. Beide waren äußerst vorsichtig und wachsam. Auch Juan hielt nun den Revolver in der Hand, richtete sich ab und zu in den Steigbügeln auf und suchte das Gelände ab, über dem bleiches Mondlicht lag. Steine klirrten, und die Hufe der Maultiere klapperten. Die Tiere schnaubten scharf, und der kalte Nachtwind spielte in ihren Mähnen und Schweifen. Plötzlich warf Jesse sich herum, denn der Wind trug deutlich die Stimme eines Mannes heran, der irgend etwas schrie. Das konnte nur die Stimme des zweiten Banditen sein. Es war nicht nur der kalte Wind, der Jesse frösteln ließ, als er noch einmal diesen wütenden Schrei hinter sich vernahm. Er wußte, daß er einen gierigen Tiger hinter sich ließ, der ihm niemals auch nur die kleinste Chance gönnen würde. Wo sie auch aufeinander stießen, gab es hur eines: sofort feuern! Eine Stunde lang ritten sie durch die Wirrnis der Gesteinsbrocken, dann wurde das Gelände freier. Vor ihnen lag ein sanft ansteigender Hügel, dessen Kuppe sich deutlich vor dem fahlen Himmel abzeichnete. Jesse vermutete, daß in einer großen Senke hinter diesem - 67 -
Hügel die Poststraße entlang lief. Und ganz so war es auch. Jesse brachte sein Maultier zum Stehen, drehte sich im Sattel um und sah über die Landschaft, die hinter ihnen lag. Das Mondlicht wurde schon schwächer und vermischte sich mit dem ersten Grau der Morgendämmerung. Irgendwo dort hinten im Geröllfeld lag ein Mann. Er war tot, und ein zweiter Mann kam nun von dort, um den Tod des Kumpans zu rächen und einen Auftrag zu erfüllen. By gosh, diesen Auftrag würde er jetzt noch lieber erledigen! Jesse blickte zu Juan und murmelte: „Mir ist gar nicht recht wohl unter der Haut. Wenn dieser zweite Bursche mich irgendwie aufstöbert, wird er mir keine Zeit mehr lassen, die Kanone zu ziehen.“ „Kennst du ihn überhaupt?“ fragte Juan nachdenklich. Jesse schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe weder Boase noch Massey aus der Nähe gesehen. Sie ritten zwar immer vor dem Rudel der Cowboys, aber sie kamen niemals so dicht an mich heran, daß ich sie deutlich genug erkennen konnte. Auch weiß ich nicht, wer Boase und wer Massey ist. Ich kann dir nicht sagen, wer von ihnen es war, den ich dort unten erschoß.“ „Und sie kennen dich genau?“ „Das weiß ich nicht, Juan. Man wird mich ihnen beschrieben haben. Aber was heißt das schon. Etwas besonders Auffälliges ist doch nicht an mir, oder?“ „Ich weiß es nicht, Senor. Vielleicht sehen mehrere Männer so aus wie du. Und doch kann das sehr wichtig für dich sein.“ Jesse hieb mißmutig mit der Hand durch die Luft und - 68 -
trieb sein Muli an. „Sicher ist, daß der Amigo vom blutigen Eisen hinter uns herkommt. Vermutlich weiß auch er, daß nördlich von hier an der Poststraße der Händler Dav Augustine seinen Bau hat. Ich schätze, von hier aus brauchen wir nur noch drei Stunden zu reiten.“ „Und was soll dann geschehen?“ „Ich weiß es nicht.“ Jesse zuckte mit den Schultern. „Yeah, dann reiten wir weiter zu meinen Weidegründen. Sheriff Quartermain riet mir, ich solle mich dort möglichst wenig sehen lassen und dennoch herauszufinden versuchen, wer meine Rinder und Pferde abtrieb und wohin man sie brachte. Auch soll ich feststellen, wer mein Haus abbrannte.“ „Du kannst aber nicht unsichtbar durch die Luft fliegen, Senor. Hat der Sheriff das nicht bedacht?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe nur den Wunsch, daß auch er schon wieder auf dem Trail nach Norden ist. Wenn dieser Rancher McKay erfährt, daß ich wieder auf meinen Weidegründen bin, wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit ich auf die Nase falle. Er wird seine angeworbenen Mörder nicht schlecht verwünschen.“ „Das glaube ich auch, Senor.“ Die Mondnacht und das Dämmerlicht des neuen Tages wurden von der aufgehenden Sonne vertrieben. Rechts und links der in langen Windungen verlaufenden Poststraße dehnten sich riesige Salbeifelder aus, in denen hier und dort auch Saguaro-Kakteen wuchsen, die wie Finger zum Himmel zeigten. Die Mulis gingen im Schritt und mit tiefgesenkten Köpfen. Jesse und Juan schwiegen, und erst nach einer weiteren Stunde stiegen sie einmal ab, tränkten die Maultiere und löschten selbst ihren Durst. Hunger hatten - 69 -
sie zwar auch, aber keiner verlor ein Wort darüber. Sie hockten sich am Rand der Straße, die eigentlich nur aus halbverwehten Radfurchen bestand, auf einige Felsbrocken. Jesse rollte sich eine Zigarette und zündete sie an. Juan hatte sich so gesetzt, daß er die Richtung unter Kontrolle hatte, aus der sie gekommen waren. Er schob sich den Sombrero mit dem ausgefransten Rand in den Nacken, und in seinem jungen, tiefbraunen Gesicht war ein ernster Zug. Jesse sah ihn kurz an und fragte nach dem Grund seiner Nachdenklichkeit. „Ich überlege, was du unternehmen kannst, wenn wir bei dir zu Hause sind, Senior.“ „Zu Hause? Das ist gut! Mein Zuhause existiert doch gar nicht mehr. Ich hatte ein aus dicken Brettern erbautes Haus, einen Heuschober und einen Schuppen, in dem ich neugeborene Kälber mit den Muttertieren unterbrachte, damit sie nicht gleich auf die rauhe Weide brauchten. Yeah, und dann hatte ich noch den Pferdestall am Creekufer. Aber als ich das alles zuletzt sah, war es ein Haufen verkohlter Balken und Bretter. Meine paar Möbel und alles, was außerdem noch da war, ist verbrannt. Ich bin diesem McKay, ohne daß ich es ahnte, in die aufgestellten Fallen gegangen. Er spielte seine Karten verdammt geschickt, und der Sheriff meinte, McKay sei scharf auf die Weidegründe der Whitewater-Ranch. Aber auch meine Weidegründe müssen für ihn interessant gewesen sein, sonst hätte er doch nicht alles niedergebrannt.“ „Wie alt ist McKay eigentlich?“ „Ich denke, er ist an die sechzig Jahre. Ein harter Bursche, wenn ich so sagen soll. Er gibt seinen Cowboys gutes Futter und zahlt auch gut, aber er verlangt ihnen auch alles ab. Ich schätze, er hat zehntausend Rinder auf - 70 -
seiner Weide, über hundert Pferde und was sonst noch dazu gehört.“ „Er hat doch sicherlich eine Familie?“ „Natürlich! Aber ich hörte einmal, daß weder seine beiden Söhne noch seine Frau etwas zu sagen haben. Er ist der Herr, und jeder hat sich nach seinem Wort zu richten, sonst soll der Teufel ihn holen. Jedenfalls spricht man so über ihn.“ „Zwei Söhne“, murmelte Juan und kratzte sich an seinen nackten, verschmutzten Beinen. „Zwei Söhne, aber nur eine Ranch, Senior. Sind seine Söhne verheiratet?“ „Vor einem halben Jahr noch nicht. Warum ist das für dich so interessant?“ „Ich weiß es nicht, Senior. Aber wenn er sich in den Besitz der Whitewater-Ranch setzt, hat er für jeden seiner beiden Söhne eine Ranch, nicht wahr?“ Jesse tat einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, blies scharf den Rauch aus und knurrte: „Hörst du die Kakteen wachsen, Juan? Das gleiche habe ich mir auch schon überlegt. Aber ... Hm, yeah ...“ „Woran denkst du, Senor?“ „Nun, er hat den Rancher Harbers und dessen Sohn, der ja eigentlich der Erbe der Ranch gewesen wäre, erschießen lassen. Dadurch wurde die Tochter die Besitzerin der Ranch. Und ich denke, genau so wollte Frank McKay es haben. Abgesehen von dem halben Dutzend Cowboys sollte die Ranch männerlos sein. Aber was kümmert es mich? Mich interessiert viel mehr, wer meine Rinder abgetrieben hat und wohin man sie brachte.“ „Entweder zum nächsten Verladebahnhof oder auf eine weit entfernte Weide. Vielleicht hat sie auch ein - 71 -
Rinderaufkäufer übernommen. Hatten deine Tiere alle ein Brandzeichen?“ „Yeah! Ein „S“ in einem Quadrat. Aber wir wollen jetzt weiter. Bei der nächsten Rast futtern wir ab, Sohn des Sattels.“ Sie saßen auf und ritten weiter. Aus der Ferne waren sie nur zwei Punkte, aber Sid Boase sah, daß sie nach Norden auf der Poststraße entlangstrebten. In seinen dunkelbraunen Augen lohten gelbe Lichter des Hasses, wenn er an Jesse Seldon dachte. Doch er dachte auch an die fünfhundert Dollar, die er noch bekommen würde, wenn er Frank McKay berichten konnte, daß ein gewisser Jesse Seldon hinter einem Buschwerk verscharrt war. Also ritt auch Sid Boase zur Poststraße hinüber. 6. Der Handelsposten von Dav Augustine bestand aus einigen von Wind und Wetter mitgenommenen Bretterbauten. Eines dieser Häuser war ein flacher, langgestreckter Stall, denn Augustine war nicht nur Händler, sondern auch der Posthalter. Bei ihm kam zwar wenig Post an, aber er war der Halter der Postwagenpferde, die bei ihm auf dem Trail nach Magdalena zum letzten Male ausgewechselt wurden, sofern die Coach nach Norden unterwegs war. Zwar lag die Station in der unmittelbaren Nähe des Dog Creek, dennoch drehte sich an einem hohen Eisenturm ratternd ein Windmühlenrad, das eine Pumpe antrieb und das Wasser auch in den heißesten Monaten aus dem Schoß der Erde saugte. Jesse und Juan hatten dieses Rad schon aus der Ferne als blitzenden Kreis gesehen. Jetzt hörten sie das - 72 -
blecherne Klappern der einzelnen Flügel aus unmittelbarer Nähe. Im Corral, der sich hinter dem Stall befand, standen acht Pferde und etliche Mulis. Der Graswuchs in diesem Corral war nur dürftig, aber der Händler und Posthalter hatte dafür ein halbes Dutzend Corrals am Creek entlang eingefenzt und konnte so die Pferde und Mulis immer wieder auf eine neue Weide schicken. Zu seiner Unterstützung hatte Augustine zwei Mexikaner eingestellt, die etwas abseits vom eigentlichen Posten auf einer flachen Anhöhe unter alten Sykomoren ein kleines Haus hatten. Vor Augustines Wohnhaus war ein langer Holm. Als Jesse und Juan auf die Station zuritten, standen dort sechs Pferde. Die beiden Mexikaner waren mit den Zuggeschirren beschäftigt, und Jesse vermutete, daß in der nächsten Stunde eine Coach aus Süden oder Norden kam und hier die Pferde wechseln wollte. Er wandte sich im Sattel um und sah auf der Poststraße entlang nach Süden. Aber von dort her kam keine Stagecoach. Nach Norden zu versperrte ein Hügelgelände, in dem die Poststraße verschwand, die Sicht. „Was wird der Händler sagen, wenn er dich wiedererkennt, Senor?“ fragte Juan. „Dem Mann habe ich es zu verdanken, daß der Sheriff keine Jagd mehr auf mich macht.“ Jesse lachte grimmig auf. „Er hat Quartermain gesagt, daß ich in jener Nacht, als der Rancher Harbers und dessen Sohn erschossen wurden, in dem Heuschober da drüben geschlafen habe. — Ah, dort kommt Augustine ja aus dem Haus!“ Sie waren kaum noch zwanzig Schritte vom Stationshaus entfernt und sahen zu dem hageren Mann hinüber, der gerade aus der Haustür trat. Augustine war - 73 -
Anfang Fünfzig. Er war hager und sehnig. Sein Gesicht mit den stahlgrauen Augen war braun wie altes Büffelleder und von vielen Falten durchzogen. Er sah sofort aufmerksam herüber. Vor ihm war die Kette der Pferde. In der Nähe der Tiere stand ein Ranchwagen, vor dem aber kein Gespann eingeschirrt war. Jesse beachtete den Wagen nicht weiter, sondern sah schief grinsend zu dem Händler hin, der — als habe er ihn erkannt — grüßend die Hand hob. Dann verließ Augustine rasch den Vorbau, drängte sich durch die Pferde und kam Jesse und Juan eilig entgegen. Jesse war über das Verhalten des Händlers verwundert; denn als er sein Muli vor Augustine zum Stehen gebracht hatte, sah er sofort, daß dieser ziemlich erregt war. „Hallo, Mister Augustine! Ich freue mich, daß Sie sich an mich erinnern! Ich bin Ihnen auch sehr dankbar, denn Sheriff Quartermain...“ Der Händler deutete mit ausgestreckter Hand zum Stall hinüber und unterbrach Jesse: „Schnell, reiten Sie zum Stall und verstecken Sie sich dort! Beeilen Sie sich, Seldon! Man darf Sie hier nicht sehen. Wenn die fällige Stagecoach fort ist, können Sie herauskommen.“ „Warum denn das, Mister?“ fragte Jesse verwundert und neigte sich dem Händler zu. „Was ist los? Warum soll ich mich verstecken?“ „Dort in meinem Haus sind Dan Baker, der Vormann der Whitewater-Ranch, und Helen Harbers, die jetzige Besitzerin der Ranch. Sie wollen mit der Coach, die jeden Augenblick im Süden auftauchen muß, nach Magdalena hinauf. Er darf Sie nicht sehen, Mister Seldon. Verstehen Sie das denn nicht?“ In Jesse spannte sich alles, als der Name des Vor- 74 -
mannes gefallen war, der ihm den Mord an dem Rancher Harbers und dessen Sohn in die Stiefel schieben wollte. Dieser Vormann, der ganz auf der Seite von McKay stand und damit die Whitewater-Ranch in einer so gemeinen Art verriet, war jetzt hier in der Stadion. Jesse sah über den Händler hinweg zum Vorbau des Hauses. Heller Schatten lag unter dem Dach, und die Haustür stand weit offen. Dann blickte Jesse Augustine an und fragte schroff: „Sie verlangen von mir, daß ich mich vor diesem Verräter verkrieche? Vor diesem Schuft, der in alle Welt schrie, ich habe... Nein, Mister, das kommt nicht in Frage. Ich denke, Sheriff Quartermain hat sich ausgiebig mit Ihnen über alles unterhalten. Also werden Sie auch erfahren haben, daß ich unschuldig bin. Verdammt, hauptsächlich diesem Burschen habe ich es zu verdanken, daß es mir im letzten Jahr so übel erging. Darüber werde ich mich jetzt mit ihm unterhalten. — Juan, reite zum Wagen und bleib dort, bis alles erledigt ist!“ „Himmel und Hölle!“ fuhr Augustine auf. „Wollen Sie hier in der Station einen Kampf mit Baker anfangen? Jesse warf sich aus dem Sattel und sah aus den Augenwinkeln, daß Juan nach den Zügeln seines Mulis fischte. „Kampf? Das braucht nicht unbedingt zu sein, Mister, aber er soll mir vor Zeugen erklären, wie viel Geld Frank McKay ihm für seine Verrätereien in die Hand gedrückt hat.“ „Das wird McKay mir heimzahlen, Seldon. Sie sind hier in einer Stagestation. Dann denken Sie auch an das Mädel, ich meine Helen Harbers! Ich will nicht... Verdammt, nun hören Sie doch auf mich, Seldon!“ - 75 -
„Ich höre genau, Mister. Aber ich will einige Fragen von Baker beantwortet haben. Er weiß bestimmt, wer meine Rinder abtrieb und mein Haus niederbrannte. Vor allem weiß er auch, wie der oder die Kerle hießen, die den Vater und Bruder von Helen Harbers zusammenknallten!“ schnappte Jesse dem Händler zu, der ihm erregt folgte. „Und das soll er mir jetzt beantworten!“ Der Händler sprang plötzlich an Jesse heran, packte seinen Arm und riß ihn herum. Jesse starrte ihn wild an und knurrte böse: „Lassen Sie mich los, Mister, sonst wird es Ihnen, obwohl Sie mir einen Gefallen getan haben, verdammt übel ergehen! Oder wollen Sie so einen Schurken schützen?“ „Nein! Aber denken Sie an McKay, Seldon!“ schrie Augustine heiser und ließ Jesses Arm los. „Wenn der erfährt, was hier geschehen ist, wird ...“ „McKay und Baker sind Verbrecher, das hat auch Sheriff Quartermain schon herausgefunden. Doch dieser stinkreiche Rancher McKay glaubt wohl, daß ihm keine Hosennaht platzen kann. Da soll er sich aber geirrt haben!“ Er drängte den Händler zur Seite, stieß sich den verstaubten Hut in den Nacken und schritt auf die Pferdekette zu. Augustine folgte ihm und fluchte vor sich hin. Jesse ging auf die Schmalseite des überdachten Vorbaues zu und ließ die offene Haustür nicht aus den Augen, als erwarte er, daß Baker heraustreten würde. Doch das geschah nicht. Augustine versuchte es noch einmal. Er hastete an Jesse vorbei, sprang auf den Vorbau und streckte Jesse - 76 -
abwehrend beide Hände entgegen. „Mister Seldon, überlegen Sie doch klar: Wenn Frank McKay erfährt, daß...“ „Verdammt!“ fuhr Jesse ihn an. „Wollen Sie einen Mörder und Brandstifter schützen? Einen Rustler und Raubrancher? Das können Sie nicht wollen, Mister! Und dieser Baker war es, der erklärte, ich hätte den Rancher Harbers und dessen Sohn erschossen. Dabei weiß er sehr gut, wer die Tat beging. Wenn Quartermain ihn vor seine Eisen bekommt, tut er seinen letzten Atemzug. — So, das war mein letztes Wort darüber!“ „Dann überlassen Sie doch alles dem Sheriff!“ begehrte der Händler auf und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Jesse sah ihn grimmig an. „Man muß in eigener Sache auch selbst etwas unternehmen. — Wo ist der Bursche? „ Augustine schien jetzt endgültig einzusehen, daß er Jesse nicht zurückhalten konnte. Hilflos ließ er die Hände sinken und sagte heiser: „Sie sind im Aufenthaltsraum für die Fahrgäste. Meine Frau unterhält sich mit Helen Harbers. „Dann kommen Sie mit und bringen Sie Ihre Frau aus dem Raum!“ schnaufte Jesse und ging auf den Vorbau. Wenige Augenblicke später trat er durch die Haustür. Vor ihm lag ein kurzer Korridor, von dem etliche Türen abzweigten. Eine von ihnen stand offen, und Jesse konnte einen Blick auf ein junges Mädchen werfen, das hinter einem Tisch saß. Er nahm an, daß es Helen Harbers, die Besitzerin der Whitewater-Ranch, sein mußte. Und wenn sie sich im Augenblick hier aufhielt, konnte auch Dan Baker, ihr verräterischer Vormann, nicht weit sein.
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„Dort drinnen ist er“, flüsterte Augustine dicht hinter Jesse. „Denken Sie an die Frauen, Seldon!“ Jesse gab ihm keine Antwort. Mit der Linken schob er die Tür weiter, und die Rechte hielt er dicht hinter dem Kolben seines Revolvers. Steif blieb er stehen, als er Baker an der Schmalseite des Tisches sah. Die Frau des Händlers, schlank und grauhaarig, saß neben dem Mädchen, aber Jesses Blicke brannten auf Baker, der ihn sofort erkannte, beide Hände an die Kanten des Tisches schnellen ließ und aufsprang. Baker war einer jener Männer, denen man ihre Skrupellosigkeit und Härte sofort ansah. Er war groß, sehr breit in den Schultern, hatte ein klobiges Gesicht mit einem breiten Mund. Seine Augen waren seltsam hell und lagen unter buschigen Brauen. Er zog die Schultern hoch und starrte Jesse, der kaum einen Schritt von der Tür entfernt stehengeblieben war, lauernd und böse zugleich an. „Louise und Miss Harbers, kommt schnell zu mir!“ rief der Händler, der ebenfalls ins Zimmer getreten war. „Beeilt euch!“ Die grauhaarige Frau und das Mädchen erhoben sich sofort, warfen einen erschreckten Blick auf Jesse, der die Linke hob und sagte: „Es ist besser, wenn Miss Harbers bleibt. Sie muß endlich erfahren, welcher Verräter dieser Bursche ist, der sich Baker nennt. Bleiben Sie, Madam!“ Er sah aus den Augenwinkeln, daß Helen Harbers sie langsam wieder auf dem Stuhl niederließ, ihn aber entsetzt musterte, als er Baker anfauchte: „Damit wirst weder du noch McKay gerechnet haben, Baker. Nein, Boase und Massey konnten mich noch nicht erwischen, und eure Cowboys hocken jetzt sicherlich immer noch bei dem Händler Hugh Dobbs am Collins Wells. — Ich - 78 -
sehe, daß du deine Kanone umgeschnallt hast, aber ich rate dir, sie nicht zu berühren! Das kannst du später tun. Jetzt erzählst du Miss Harbers erst einmal, daß du ein Verräter an der Whitewater-Ranch geworden bist und ein zusätzliches Salair von Frank McKay in die Hand gedrückt bekommst! Ebenso wirst du ihr sagen, daß nicht ich es war, der ihren Vater und ihren Bruder tötete, sondern, daß es die von McKay gekauften Revolverbanditen Boase und Massey waren. Du aber hast in alle Welt geschrien, ich sei der Mörder, und deshalb mußte ich auf den Long Trail. Darüber unterhalten wir uns gleich noch. Erst soll Miss Harbers die Wahrheit aus deinem Mund erfahren. Hören Sie genau zu, Miss Harbers, was dieser Schuft zu berichten hat.“ Der Händler und dessen Frau standen im Türrahmen, das wußte Jesse. Er ließ die Blicke nicht von Baker, doch der Vormann schien nicht die Absicht zu haben, ein Geständnis zu machen. Nach Jesses Worten war es eine Weile still. Dann zuckte Baker gelassen die Schultern, grinste spöttisch und knurrte: „Das ist alles Unsinn und Lüge, Miss Harbers. Außerdem will ich mit einem Burschen, der vom Gesetz gesucht wird, nichts zu tun haben. Sie sollten diese Gegend lieber meiden, Seldon!“ „Das habe ich nicht mehr nötig, Baker. Sheriff Mat Quartermain sucht mich nicht mehr. Ich habe vorgestern nacht mit ihm gesprochen und trage hier auf der Brust ein Papier von ihm, aus dem hervorgeht, daß ich völlig unschuldig bin. Der Sheriff weiß auch, daß du der Handlanger von McKay bist und diesem die WhitewaterRanch in die Hände spielen willst. Natürlich hast du Massey und Boase auch freien Trail auf der Ranch gegeben, damit diese Schufte über Harbers und dessen - 79 -
Jungen herfallen konnten. War es so? Los! Mach den Mund auf!“ Baker verschränkte gelassen die Arme auf der Brust, als ginge ihn die ganze Angelegenheit überhaupt nichts an. Er zuckte mit den Schultern, lehnte sich gegen die Tischkante und schwieg. Obwohl Jesses Zorn wuchs, sagte er ruhig: „Ich habe dir gesagt, daß ich ein Papier von Quartermain bei mir trage. Doch das scheint dich gar nicht zu interessieren, du Schuft. Na gut, wenn du das eine nicht willst, mußt du das andere hinnehmen: Du bist es gewesen, der mich zum Banditen und Mörder stempelte, also hast du es jetzt auch — du willst es ja so — mit einem Banditen und Mörder zu tun!“ Blitzschnell riß Jesse den Revolver heraus und feuerte eine Kugel dicht an Bakers Kopf vorbei, die mit einem harten Knacken in die Wand schlug. Baker riß erschreckt die Arme hoch, und sein Gesicht wurde grau, als Jesse ihn kalt anstarrte und fauchte: „Hoffentlich fällt dir bald ein, daß du Miss Harbers eine Geschichte zu erzählen hast, Baker! Tust du es nicht innerhalb von fünf Minuten, dann helfe ich nach!“ Jesse hielt seinen Revolver in Hüfthöhe im Anschlag auf Baker, der nicht zu wissen schien, was er tun sollte. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, hier in der Poststation auf Jesse Seldon zu stoßen. Wie hätte er das auch ahnen können, da Jesse doch von drei Cowboys und zwei berüchtigten Mördern gehetzt wurde, um ihn zum Schweigen zu bringen. Bakers Brust hob und senkte sich unter hastigen Atemzügen. Er hielt den Kopf vorgereckt, und sein Mund war verzogen. In seinen Augen zeigte sich Unruhe, und er erklärte mit heißerer Stimme: - 80 -
„Ich habe mit allem nichts zu schaffen. Du mußt dich schon an McKay wenden!“ „Du hast ja behauptet, ich hätte den Rancher und dessen Jungen umgebracht. Also gestehst du das jetzt auch ein, oder es ergeht dir verdammt schlecht!“ fauchte Jesse. „Du hast nur noch vier Minuten, und bald machst du deinen letzten Atemzug. Also beeile dich!“ „Verdammt!“ brach Baker nun los. „Ich kann ja vieles gestehen, wenn du mir den Revolver unter die Nase hältst. Und was wird hinterher?“ „Das weiß ich noch nicht“, sagte Jesse mürrisch. „Vielleicht werde ich dich dann gefangen setzen und darauf warten, daß Quartermain sich mit dir unterhält. Und dem entgeht keiner, das weißt du. Vor allem, wo er jetzt genau weiß, was gespielt wird. Es hängt sich schlecht an einem Lasso, mein Freund. Und Quartermains Kugeln treffen immer ihr Ziel!“ Jesses Aufmerksamkeit hatte einen Moment nachgelassen, und das erkannte Baker als seine Chance. Blitzschnell hatte er seinen Revolver heraus und feuerte sofort. Jesse reagierte fast zu spät. Er warf sich zur Seite, riß den Revolver hoch, schoß und traf Baker tödlich. Bakers Kugel hatte ihm eine Wunde im linken Oberarm gerissen. Pulverrauch hing im Raum. Baker war über seinem Stuhl zusammengebrochen. Sein Revolver krachte auf die Kante des Tisches, dann stürzte der verräterische Vormann dumpf auf den Boden. Jesse warf sich mit einem Sprung zur Seite, um Baker besser im Auge zu behalten. Er wirkte hart, unerbittlich und rauh. Langsam ließ er den Revolver sinken, als er erkannte, daß Baker nicht mehr lebte, und blickte dann über die - 81 -
Schulter zu Augustine, der von der Tür her zu ihm trat und neben ihm stehen blieb. Sie sahen sich schweigend an, dann wichen die Blicke des Händlers zur Seite. Er ging zu dem Toten, beugte sich über ihn und richtete sich sofort wieder auf. Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Tot!“ sagte er heiser und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Es ist verdammt schlimm, daß Sie ihn ausgerechnet hier in der Station erschießen mußten, Seldon.“ „Er hat sich mir draußen auf dem Hof nicht gestellt“, schnappte Jesse und lud den Revolver auf. „Tut mir leid, daß es hier im Haus geschehen mußte. Aber ich verstehe Sie nicht, Mister Augustine. Stellen Sie sich vor, Sie wären unschuldig und würden von zwei Mördern und etlichen rauhbeinigen Cowboys monatelang kreuz und quer durch das Land gehetzt, müßten jede Minute damit rechnen, daß man Ihnen — einem Unschuldigen! — eine Kugel aufbrennt. Machte Ihnen das vielleicht Spaß? Verdammt, ich bin unschuldig, das wissen Sie genau! Aber weil auch Sie Angst vor McKay haben, verschließen Sie Augen und Ohren. Sie müßten sich vor Ihrer Frau schämen!“ Jesse stieß den Revolver in die Halfter und wollte zur Tür gehen. In diesem Moment fiel sein Blick auf Helen Harbers, die mit entsetzt aufgerissenen Augen hinter dem Tisch saß. Zum ersten Male blickte Jesse das Mädchen bewußt an. Sie war blond und hatte große, ausdrucksvolle Augen. Jesse trat an den Tisch und stützte beide Hände auf die Platte. Er sah Helen Harbers düster an und sagte mit rauher Stimme: „Sie haben einiges gehört, Miss Harbers. Alles andere kann Ihnen Sheriff Quartermain erzählen. Hüten Sie sich - 82 -
vor McKay, der Ihren Vater und Bruder erschießen ließ, um sich in den Besitz Ihrer Ranch zu setzen! Denn um Ihre Ranch geht es, haben Sie das richtig verstanden? Ich vermute, daß einer der McKay-Jungen in der letzten Zeit Berge und Süßholz bei Ihnen raspelte und Ihnen den Hof machte — ganz wie sein Daddy es ihm befahl. Aber alles — jedes freundliche Wort — ist Lüge. Es gilt nicht Ihnen, sondern Ihrer Ranch. Haben Sie das verstanden? Sie sollen den McKays die Ranch einbringen. Dann braucht man Sie nicht mehr. Sie werden unter der Knute der McKays ein höllisches Leben führen müssen. So, jetzt wissen Sie alles und können entsprechend handeln.“ Er nickte ihr zu und wandte sich zur Tür, wo der Händler und dessen Frau standen. Als er in den Korridor treten wollte, hielt Augustine ihn am Arm fest und sagte böse: „Ich finde, Sie sind unfair, Seldon! Sie haben Miss Harbers zwar gesagt, wie die Dinge wirklich liegen, aber was soll sie gegen McKay unternehmen? Sie haben sie in Angst und Schrecken versetzt. Was nützt es ihr, wenn sie weiß, daß nicht Sie ihren Vater und Bruder töteten, sondern daß McKay zwei Tiger von der Kette ließ? McKay läßt sich den Braten jetzt nicht mehr aus der Pfanne reißen. Holy gee, wo steckt der Sheriff? Wann kann er hier sein?“ „Er kommt bestimmt bald von Süden herauf“, knurrte Jesse. „Aber ich kann nicht sagen, ob er morgen oder übermorgen hier ist. Mich interessiert das auch nicht mehr groß.“ „Sie machen es sich jetzt verdammt leicht!“ höhnte der Händler und deutete auf Helen Harbers. „Sie sitzt jetzt in der Falle, gewissermaßen von Ihnen hineingestoßen!“ „Höllenfeuer! Wie können Sie das sagen! Einmal muß - 83 -
sie doch die Wahrheit erfahren“, schnaufte Jesse. Augustine nickte heftig. „Gewiß! Sie haben ihr diese Wahrheit nur zu früh gesagt.“ Er deutete in die Richtung des Toten. „Wenn dort jetzt McKay liegen würde, wäre es etwas anderes. Doch der wird jetzt all seine üblen Karten ausspielen. Und daß er darin Erfahrung hat, müßten Sie eigentlich am besten wissen!“ Jesse warf einen Blick auf Helen Harbers. Das Mädchen war blaß, und in ihren Augen lagen Angst und Sorge. Er wandte sich dem Händler zu und knurrte verdrossen: „Natürlich habe ich sie nicht in eine Falle stoßen wollen, wie Sie es bezeichnen. Aber sollte ich diesen Schuft ungestraft davonkommen lassen? Sollte er sich über den Dummkopf Jesse Seldon die Hände reiben? Das haben er und McKay lange genug getan. Miss Harbers kann ja auf ihre Ranch zurückkehren, ihre Cowboys alarmieren und sich so lange nicht außer Haus wagen, bis Quartermain hier ist. Einen besseren Rat kann ich ihr nicht geben.“ Er drängte sich zur Tür hinaus, und der Händler folgte ihm. Jesse blickte zu Juan hinüber, der mit den beiden Mulis neben dem Ranchwagen stand, mit dem Helen Harbers und Baker hier hergekommen sein mußten. Juan deutete mit ausgestreckter Hand nach Süden zur Poststraße. Jesse warf den Kopf herum, trat näher an die Kante des Vorbaues und sah in die angegebene Richtung. Dort unten kam, in eine Staubwolke eingehüllt, die fällige Stagecoach. Sie war noch etwa drei Meilen entfernt. „Wollen wir nicht lieber weiterreiten, Senior?“ rief Juan. - 84 -
„Warum?“ fragte Jesse. „Was soll werden, wenn der andere die Stagecoach angehalten und nun in ihr sitzt, Senior? Das wäre eine böse Überraschung!“ „Was will der Mex?“ fragte der Händler, der dicht hinter Jesse stand. „Ich hatte Boase und Massey dicht auf den Fersen, Mister“, sagte Jesse nun ruhiger. „Einen dieser Schufte mußte ich gestern abend erschießen, doch der andere ist weiterhin auf meiner Fährte. Juan befürchtet, daß er ...“ „Ich verstehe! Allmächtiger, Sie haben ... Wen haben Sie erschossen? Boase oder Massey?“ „Vielleicht halten Sie mich für verrückt, aber das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kenne Massey und Boase gar nicht, aber beide waren hinter mir her. Natürlich, wenn er die Coach angehalten hat, kann er mich hier überraschen. Kennen Sie Boase und Massey?“ „Yeah, ich kenne sie. Sie kamen vor etlichen Wochen mit den Cowboys der T und T-Ranch hier durch. Außerdem habe ich allerhand über sie gehört. Quartermain weiß ebenfalls, was sie für Höllenhunde sind. Was wollen Sie tun, wenn er aus der Coach steigt? Haben Sie dem Kerl gegenüber überhaupt eine Chance? Ich meine, kommen Sie gegen einen solchen Revolverbanditen auf?“ „Das glaube ich kaum.“ Jesse zuckte mit den Schultern. „Aber auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, Mister.“ „Und wenn das Huhn es nicht findet“, rief Augustine kopfschüttelnd, „dann fahren Sie mit einem Husch in die Hölle.“ „Ich habe ein Anrecht auf den Himmel!“ knurrte Jesse grinsend. „Yeah, was tue ich?“ Er neigte sich vor und - 85 -
spähte der Coach entgegen, die inzwischen näher gekommen war. Dann lachte er scharf auf. „Nein, ganz so eilig habe ich es nicht, Mister. Weit hinter der Coach ist ein kleiner Punkt, Sehen Sie ihn?“ fragte er den Händler. „Das ist er! Er hatte die Coach verpaßt, der Bursche, der entweder Boase oder Massey heißt. Ich schätze, er kann erst in einer Stunde hier sein.“ „Wenn er es wirklich ist, bestimmt nicht früher“, meinte der Händler. „Ich muß Ihnen noch etwas sagen, Seldon, etwas, worüber meine Frau und ich schon ganz unglücklich waren. Jedenfalls hatten wir einen schlimmen Verdacht. Hören Sie mich einmal an. Die Whitewater-Ranch hat, vermutlich auf Betreiben von Baker — und dieser wieder unter dem Druck von McKay — vor vierzehn Tagen tausend Rinder nach Magdalena zum Auftrieb gebracht. Daß es so viele Viecher waren, machte mich sofort argwöhnisch. Jetzt wollten Helen Harbers und ihr Vormann Baker zur Town hinauf, um das Geld zu kassieren — dreißigtausend Dollar, Seldon!“ „Nun, das Mädel wollte das Geld doch sicherlich sofort in der Bank einzahlen, oder?“ „Das ist es!“ sagte Augustine bedrückt. „Frank McKay soll ihr ein Stück Weideland — Blaugrasland — im Tularosa Valley zu einem günstigen Preis angeboten haben. Wahrscheinlich hat Baker sie überredet, es zu kaufen.“ „Yeah, und ...?“ „Sie wollten morgen mit der Stagecoach hierher zurückkehren“, sagte der Händler. „Aber wenn Baker sich vorher mit dem Geld aus dem Staub gemacht hätte? Oder wenn irgendwelche Kerle mit Halstüchern vor den Gesichtern die Coach angehalten hätten? Dann wäre das Mädel um dreißigtausend Dollar ärmer gewesen, nicht - 86 -
wahr? Miss Harbers hätte mit einem Schlag tausend Rinder verloren. Ein verdammt übler Trick! Ein Trick von Frank McKay!“ Jesse pfiff gedehnt vor sich hin. „Das wäre aber ein fetter Happen gewesen, Mister!“ „Natürlich! Vor allem, wenn man bedenkt, daß auf den Weidegründen der Whitewater-Ranch nur rund dreitausend Rinder stehen. — Yeah, was soll das Mädel nun tun?“ „Nichts, sage ich! An wen hat sie die Rinder verkauft?“ „An Abraham Chester, und der hat als Händler einen guten Namen.“ „Von ihm habe ich schon einmal gehört. Na also! Er darf das Geld ja nur an Miss Harbers auszahlen, und wenn sie nicht in die Town kommt, muß er mit der Auszahlung warten. Das ist für McKay ein schwerer Schlag, den ich ihm gönne. — Miss Harbers soll sich auf ihren Wagen setzen und auf die Ranch zurückfahren. Ho, also habe ich McKay einen bösen Streich gespielt!“ „Ich habe einen Gedanken, Seldon! Begleiten Sie das Mädel auf die Ranch! Wer weiß, welche Pläne McKay noch hat, nicht wahr? Sie muß durch ein rauhes Gelände, bevor sie den Südzipfel des Whitewater Valleys erreicht. Das ist für ein Mädel nicht ungefährlich.“ „Sie meinen wirklich? Ich befürchte, daß Miss Harbers nicht sehr erfreut über den Plan sein wird. Sie muß sich wohl erst einmal an den Gedanken gewöhnen, daß ich nicht der Mörder ihrer Angehörigen bin. — Ich glaube, Ihr Vorschlag ist nicht gut. Außerdem habe ich einen ziemlich unfreundlichen Burschen auf der Fährte.“ „Seldon, Sie haben Baker erschossen, und nun müssen Sie Miss Harbers in Sicherheit bringen! Sind Sie nicht - 87 -
moralisch dazu verpflichtet?“ „Ho, Sie haben viele Flöhe im Sack, Mister!“ knurrte Jesse verstimmt. „Begeistert bin ich über diese Begleitung nicht. — Aber wenn Sie meinen!“ „Tejos, Pedro!“ rief der Händler den bei den Reservepferden stehenden Mexikanern zu. „Holt die Mulis aus dem Stall und spannt sie vor den Ranch wagen dort! Beeilt euch! Bevor die Coach hier ist, müßt ihr fertig sein.“ Jesse sah mit einem verzogenem Gesicht auf seine blutverschmierte Hand. Der Ärmel seines verstaubten Reithemdes war von der Kugel zerfetzt. Starke Schmerzen hatte Jesse nicht, aber er mußte den Blutverlust stoppen. Augustine deutete mit einer Kopfbewegung zum Haus hinüber. „Kommen Sie mit, Seldon! Ich will Sie verbinden. Inzwischen kann Miss Harbers sich fertig machen.“ Jesse nickte und folgte ihm. In einem kleinen Nebenraum ließ er sich wenig später an einem Tisch nieder, zog sich das Hemd über den Kopf und blickte auf die Wunde, während der Händler Verbandszeug herbeiholte. Nach kaum einer Minute trat Augustine wieder ein. „Miss Harbers ist völlig durcheinander von allem, was sie hier erfahren hat. Sie fragte mich eben ganz unglücklich, wem sie wohl noch vertrauen könne. Was sollte ich ihr darauf antworten?“ „Nun, zumindest kann sie doch Quartermain vertrauen, denke ich“, gab Jesse knurrig zurück. Der Händler tupfte das Blut ab, preßte Verbandstoff auf die Wunde und band ihn fest. „Bei der Pumpe sollten Sie sich gleich noch einmal - 88 -
waschen, Seldon“, sagte er. „Lieber nicht! Ich kenne einen Amigo, der sehr anhänglich ist, und dem möchte ich nur Staub oder Blei zu schlucken geben. Beim Wasserloch an den Adlerfeder-Felsen kann ich mich später auch waschen. Ah... Ihre Coach, Mister.“ Der Händler verließ den Raum. Draußen war mit lautem Gerassel und klapperndem Hufschlag die Stagecoach eingetroffen. Pferde schnaubten, und Ketten klirrten. Jesse zog sein Hemd wieder über und schnallte den Revolvergurt fest. Dann ging er zur Tür. Er prallte fast mit Helen Harbers zusammen, die von der Frau des Händlers begleitet wurde. Das junge Mädchen hatte eine kleine Reisetasche in der Hand. Jetzt erst stellte Jesse fest, daß sie Männerkleidung trug und gestiefelt und gespornt war. Mrs. Augustine fragte bedrückt: „Sie werden Miss Harbers doch sicher auf die Ranch bringen, Mister Seldon?“ „Ich hoffe es — vorausgesetzt, daß sie meine Begleitung überhaupt wünscht“, brummte er. Er blickte die hübsche Rancherstocher an und deutete zur Tür. „Ich habe es eilig, Madam, und Sie möchten sicherlich auch von hier verschwinden.“ Sie nickte und trat vor ihm zur Tür hinaus. Drei Männer und eine Frau kamen von der Stagecoach herüber, um sich etwas zu erfrischen. Jesse beachtete sie nicht, sondern sah nach Süden die Poststraße entlang. By gosh, sein Verfolger war beträchtlich näher gekommen! Er war jetzt schon deutlich als Reiter erkennbar. Juan hatte die beiden Mulis hinter dem Wagen angebunden und stand neben dem inzwischen eingeschirrten Gespann. Er schien nervös zu sein und rief - 89 -
Jesse und dem Mädchen entgegen: „Senor, du solltest dich beeilen! Der Mann, der dort heraufgeritten kommt, ist sicherlich kein Freund von uns!“ Jesse wartete auf den Händler, der hastig herüberkam, während Helen Harbers schon auf den Wagenbock stieg. „Was soll ich diesem Burschen sagen, Seldon? Ich werde den Toten gleich zum Stall hinüberbringen lassen, aber solche Schufte haben gute Nasen, und ich würde mich nicht wundern, wenn er schon bald herausgefunden hätte, was hier los war.“ „Sagen Sie ihm einfach die Wahrheit, Mister! Und geben Sie ihm kein zu gutes Tier unter den Sattel! Ich möchte nicht, daß er uns vor der Whitewater-Ranch einholt.“ „Ho, wie soll ich das verhindern? Gute Fahrt. Hoffentlich taucht der Sheriff bald auf!“ Jesse nickte dankend. Er überlegte einen Moment, ob er fahren oder besser wieder reiten sollte. Prüfend blickte er zu dem Mädchen hinauf, dann rief er Juan zu: „Binde dein Muli los, Juan! Ich fahre den Wagen.“ „Si, Senor! Es ist höchste Zeit, daß wir endlich verschwinden.“ 7. Lange Zeit fuhren sie stumm auf der Poststraße entlang nach Norden. Jesse hielt die Leitleine und ließ die Mulis im Trab laufen. Juan folgte hinter dem Wagen. Sobald die Mulis langsamer wurden, trieb Jesse sie wieder an. Bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, wollte er so weit wie möglich vom Handelsposten entfernt sein. - 90 -
Helen Harbers saß zusammengekauert neben ihm und hielt ihre kleine Reisetasche auf dem Schoß. Es sah aus, als sei Jesse ihr unheimlich. Nachdem er sie wieder einmal schweigend von der Seite gemustert hatte, sagte er verärgert und spöttisch zugleich: „Damit haben Sie sicherlich nicht gerechnet, nicht wahr? Natürlich werden Sie den Mann, der angeblich Ihren Vater und Bruder erschoß, immer wieder verwünscht haben. Doch der Mörder heißt nicht Jesse Seldon. — Mir hat man inzwischen die Rinder abgetrieben und mein Haus niedergebrannt!“ „Wie konnte ich wissen, daß alles ganz anders war“, gab sie gepreßt zurück. „Baker erklärte damals, Sie gesehen zu haben, als Sie das Haus verließen. Und Ihre Flucht ...“ „Yeah, das war die größte Dummheit, die ich je begangen habe“, unterbrach er sie grimmig. „Doch das ist jetzt vorbei, Madam. Sheriff Quartermain hat das Spiel von McKay durchschaut. Und wenn er erst wieder in dieser Gegend ist, wird er Frank McKay allerhand zu erzählen haben.“ „Wo ist der Sheriff jetzt?“ „Er kommt von Süden herauf, reitet aber hinter dem Burschen, der mich so verbissen verfolgt hat. Er kann kaum einen Tagesritt hinter uns sein.“ „Ich wußte gar nicht, daß McKay Sie verfolgen ließ“, sagte sie so leise, daß er ihre Worte kaum verstehen konnte. Er lachte hart auf. „Das sollten Sie auch nicht wissen, Madam. Er will mich absolut mundtot machen lassen. Aber das gelingt ihm jetzt nicht mehr, denn nun ist Quartermain über alles informiert. Vermutlich wird er trotzdem versuchen, mich - 91 -
noch auszuschalten, damit er seine Weste so sauber wie möglich halten kann. Er wird von Quartermain Beweise verlangen, und wenn ich es recht bedenke, kann nur ich dem Sheriff diese Beweise liefern. Können Sie mir sagen, wohin man meine Rinder gebracht haben kann?“ „Nein, ich wußte gar nicht, daß man sie abtrieb. Baker sagte mir, Ihre Ranch sei vermutlich von Sattelstrolchen niedergebrannt worden.“ „Sattelstrolche!“ Jesse lachte bissig auf. „Wenn dieser Sattelstrolch nur nicht den Namen Baker trug. Was wollen Sie jetzt eigentlich unternehmen, Madam? Wie wollen Sie sich McKay gegenüber verhalten? Jetzt wissen Sie, daß er Ihren Vater und Ihren Bruder töten ließ.“ „Ich weiß nicht, was ich beginnen soll“, antwortete sie hilflos. „In der letzten Zeit hat Baker alles für mich erledigt — auch den Verkauf der Rinder und ...“ „Ich verstehe! Augustine meinte, man würde Ihnen das Geld, sobald Sie es in den Händen gehabt hätten, sofort abgejagt haben. Er vermutete, entweder hätte Baker es Ihnen gestohlen, oder etliche maskierte Cowboys der T und T-Ranch wären über Sie hergefallen. Dadurch hätten Sie ein Drittel Ihres Rinderbestandes verloren, und McKay hätte sich die Hände gerieben. Übrigens — hatten Sie in der letzten Zeit häufiger Besuch von einem der McKay-Söhne?“ „Jack McKay war verschiedentlich bei uns auf der Ranch. Er ist der jüngere der beiden Söhne.“ „Und er macht Ihnen mächtig den Hof, nicht wahr?“ fragte Jesse und blickte sie gespannt von der Seite, heran. Ihr Gesicht rötete sich, und sie nickte stumm. „Vermutlich weiß dieser Jack McKay über alles genau Bescheid, aber es kann auch anders sein. Jedenfalls ist - 92 -
sein Vater ein ausgekochter Schuft! War auch er einmal bei Ihnen auf der Ranch?“ „Yeah, einmal! Er ließ sich von Baker alles in einer Art zeigen, die mir gar nicht gefiel.“ „Ho, er wollte seine zukünftige Beute begutachten. — Wie viel Cowboys haben Sie eigentlich auf der Ranch, und welchen von ihnen können Sie völlig vertrauen?“ „Mit Old Stephen sind es fünf. Jetzt erst fällt es mir auf, daß Collins und Morris meistens in der Nähe von Baker waren. Vermutlich sind sie seine Komplizen gewesen. Jetzt traue ich ihnen nicht mehr. — Was soll ich nur tun?“ „Wer ist dieser Old Stephen? Ich kenne ihn gar nicht.“ „Er ist mit meinen Eltern hier eingewandert und war eigentlich ein Freund meines Vaters. In den letzten Jahren hat er die Ranch kaum verlassen. Ihm kann ich vertrauen, das weiß ich bestimmt.“ „Dann soll er Collins und Morris schnellstens den letzten Lohn in die Hände drücken und sie zu McKay schicken. Hat Old Stephen niemals einen Verdacht gehegt?“ „Nein, wie sollte er! Dan Baker beschwor doch immer wieder, daß Sie der Mörder meines Vaters und meines Bruders seien. Das mußte auch Old Stephen glauben.“ „Nun, yeah, er wußte es eben nicht besser!“ knurrte Jesse. Die Mulis waren wieder in Schritt gefallen. Jesse drehte sich zu Juan um und nickte ihm zu. Dann blickte er zur Poststation zurück, die in der Ferne wie ein dunkler Flecken wirkte. Zwischen der Station und ihnen kam die Stagecoach, die eine dichte Staubwolke aufwirbelte. Sicherlich feuerte der Fahrer die Gespanntiere an, denn eine Stagecoach hatte es immer eilig. - 93 -
Jesse spähte dann zu den Hügeln, die dicht vor ihnen lagen und durch die Poststraße verlief. Einige Meilen hinter diesen Hügeln gab es ein paar Felsklippen, die den Namen Adlerfeder-Felsen trugen. Dort war eine kleine Wasserstelle, von der aus sie nach Osten abbiegen mußten, um in das Whitewater Valley zu kommen. Bis dahin würde die Stagecoach sie längst eingeholt haben. Juan brachte sein Muli in Trab, kam an den Wagen geritten und sah Jesse an. „Die Coach holt auf, Senor. Wer will sagen, ob unser Freund nicht darin sitzt? Wäre es nicht besser, wenn wir die Straße verließen? Wir könnten ja etwas abseits in die Hügel fahren und die Coach vorüberlassen. Der Schuft hatte den Handelsposten bestimmt erreicht, bevor die Coach weiterfuhr.“ „Das überlege ich auch gerade. Möglich ist es schon. Doch um uns weiter verfolgen zu können, kann er nicht auf ein Pferd oder Maultier verzichten.“ „Das kann er hinter der Coach mitlaufen lassen“, gab Juan zu bedenken und rückte den Sombrero tiefer in die Stirn. „Ich habe ein ungutes Gefühl, Senor. Dieser Mann ist bestimmt gerissen.“ „Das glaube ich auch. Also gut! Biegen wir in die nächste Senke ab, Amigo. Bis dahin sollen diese Mulis noch ein bißchen laufen. He, hü, ihr lahmen Enten!“ Die Mulis trabten wieder an. Nach einer Weile fragte Helen Harbers beklommen: „Wer ist der Mann, von dem Sie verfolgt werden, Mister Seldon?“ „Er ist einer von den beiden Kerlen, die Ihren Vater und Ihren Bruder töteten, Madam. Erst waren es zwei. Boase und Massey hießen sie und sind von McKay gekaufte Mörder. Einen von ihnen mußte ich weit südlich von der Station erschießen. Um so verbissener verfolgt - 94 -
mich jetzt der andere.“ Sie schwieg, und ihr Gesicht sah aus, als habe sie wieder Furcht vor ihm. Er spürte das sehr gut und sagte mürrisch: „Wenn Sheriff Quartermain auf ihn stößt, wird er ihm auf der Stelle eine Kugel servieren.“ Nach einer Weile kamen sie an eine in das Hügelgelände führende Senke, die breit genug für den Wagen war. Hier wuchsen in einigem Abstand von der Straße hohe Gebüsche, hinter denen der Wagen Deckung hatte. Die Mulis fielen wieder in Schritt, als Jesse sie in diese Senke lenkte. Kurze Zeit später kam das Gespann hinter den Büschen zum Stehen. Jesse atmete erleichtert auf. „Lange können wir heute vormittag nicht mehr auf dem Trail sein“, murmelte er. „Es wird schon jetzt ziemlich heiß.“ Er stieg über die Radnabe ab, blickte Helen Harbers an und sagte: „Es ist besser, wenn auch Sie absteigen, sonst könnte man Sie von der Straße her vielleicht sehen.“ Ohne sich noch um sie zu kümmern, ging er zu Juan, der die beiden Reitmulis hinter dem Wagen in Deckung brachte. Jesse zog die Winchester des Mannes, den er erschossen hatte, aus dem Sattelfutteral, lud die Waffe durch und sagte leise zu Juan, der ihn mißtrauisch beobachtete: „Ich gehe jetzt in die Nähe der Straße zurück und verstecke mich dort hinter einem Gebüsch, Amigo. Wir können die Coach von hier aus zwar sehen, aber ich möchte sie aus der Nähe betrachten.“ „Muß das sein, Senor?“ fragte Juan unruhig. „Es genügt doch, wenn sie vorüberfährt.“ „Ich gehe! — Achte gut auf Miss Harbers, Sohn!“ - 95 -
Juan kniff verdrossen die Lippen zusammen, legte die Hand auf den Kolben seines Revolvers und schoß einen schiefen Blick aus seinen dunklen Augen zu Helen Harbers hin, die unschlüssig zu ihnen herübersah. „Ich werde alles für sie tun, was du tun würdest, Senor. — Sei vorsichtig!“ Jesse nickte und schritt zur Poststraße. Seinen Revolver hatte er griffbereit gerückt. Die Winchester trug er in der Rechten. Bei einem Buschwerk in der Nähe der Straße blieb er eine Weile stehen, dann ging er geduckt weiter. Hinter einem Salbeibusch in der unmittelbaren Nähe der aus halbverwehten Radspuren bestehenden Poststraße kniete er nieder und starrte der Stagecoach entgegen, die kaum noch dreihundert Schritte entfernt war. Die Pferde liefen im scharfen Paßgang. Zwei Männer saßen auf dem hohen Fahrbock. Jesse erhob sich und versuchte mit den Blicken die von den Hufen der Pferde und den Wagenrädern aufgewirbelte Staubwolke zu durchdringen, aber das war nicht möglich. Einige Augenblicke beobachtete er noch die Coach, dann zog er sich zum Buschwerk zurück, um festzustellen, ob der Wagen und die Mulis von der Straße her gesehen werden konnten. Doch das war nicht der Fall. Hinter dem Gebüsch ließ er sich wieder auf beide Knie nieder und lauschte auf die Geräusche der näherkommenden Coach. Nach einer Weile kamen die Pferde in Sicht, dann der Wagen — aber es war kein Muli hinter der Coach zu sehen. Jesse folgte dem Fahrzeug mit den Blicken, bis es hinter dem nächsten Hügel verschwunden war. Sekundenlang überlegte er, dann hastete er geduckt noch - 96 -
einmal zur Straße und spähte angestrengt nach Süden. Das, was er vermutet hatte, sah er nun bestätigt: Boase oder Massey, der und jener mochte wissen, wer von beiden es war, kam aus der Richtung der Poststation auf der Straße entlang. Er war noch weit entfernt, trotzdem glaubte Jesse feststellen zu können, daß er das Muli im Trab laufen ließ. Also schien er von Augustine ein ausgeruhtes, frisches Tier bekommen zu haben, das er jetzt rauh antrieb, um die Verfolgten einzuholen. Jesse schätzte, daß der Bandit in einer halben Stunde hier vorüberkommen würde. Jesse wußte, daß er hinter dem Gebüsch, von dem aus er die Coach beobachtet hatte, nur in Deckung zu gehen brauchte, um mit einem gutgezielten Schuß aus der Winchester den Verfolger aus dem Sattel zu reißen — für immer. Dann stiegen wieder Bilder der vergangenen Tage und Stunden vor seinen Augen auf. Er sah den Kumpan des Mannes, der dort kam, zusammenbrechen, und er sah Dan Baker mit wild verzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen hinter dem Tisch in Augustines Aufenthaltsraum zu Boden stürzen. Nachdenklich murmelte Jesse vor sich hin: „Verdammt! Du hast jetzt schon zwei Männer getötet! — Und wenn du diesen Schuft am Leben läßt, wird er dich immer weiter verfolgen. Vielleicht steht er. eines Tages dicht hinter dir und knallt dich ab!“ Er blies heftig den Atem aus, schob den Hut in den Nacken und wischte fahrig über seine Stirn. Was sollte er nur tun? Mit einem Schuß konnte er diesen Verfolger ... Ihn plagte das Gewissen. Obgleich er sehr hart werden konnte, hielt ihn irgendetwas davon zurück, den Ver- 97 -
folger aus der sicheren Deckung heraus zu erschießen. Er hastete zurück und kam atemlos bei Helen Harbers und Juan an. „Der Bursche folgt mir auf der Straße. Ich hätte ihm dort auflauern können, aber ich bin kein Mörder und ... Aber lassen wir das! Wenn der Kerl aufmerksam ist, wird er feststellen, daß die Radspuren dieses Wagens von der Straße abbiegen. Für uns ist es zu spät, auf die Straße zurückzukehren und weiterzufahren.“ Er sah Helen Harbers, die ihn unverwandt musterte, nachdenklich an. „Da kommt mir ein Gedanke, Madam: Wir trennen uns hier. Ah, erschrecken Sie doch nicht so! Gegen Sie hat der Bursche bestimmt nichts. Außerdem soll Juan Sie begleiten. — Juan, spann eines der Maultiere aus — oder noch besser beide! Du gibst Miss Harbers dein Muli und reitest auf einem anderen. Das dritte nimmst du am Zügel mit! Los, beeil dich!“ Juan starrte Jesse mit aufgerissenem Mund und entsetzt geweiteten Augen an. Auch dem Mädchen sah man an, daß es von Jesses Vorschlag wenig begeistert war. „Und Sie, was wollen Sie tun?“ fragte Helen Harbers mit bebender Stimme. „Ich kann nur eines tun, Madam. Ich muß aus Ihrer Nähe verschwinden, denn der Kerl verfolgt mich! Und wenn es zu einer Schießerei kommen sollte ... Reiten Sie mit Juan auf Ihre Ranch, erzählen Sie diesem Old Stephen alles, und dann sollen er und Juan heute abend auf meine Ranch ins Tularosa Valley kommen! Ah, nein, das ist nicht gut! Ich erwarte die beiden bei der großen Schlucht, die das Whitewater Valley mit dem Tularosa Valley verbindet. Yeah, dort können wir uns treffen. Los, Juan, beeile dich!“ - 98 -
Juan stand noch immer reglos da. Sein Gesicht war grau, und in seinen Augen lag Sorge. Ihm war es nicht recht, daß er sich von Jesse trennen sollte. Doch als dieser ihn scharf anrief, wandte er sich hastig um und machte sich an dem Geschirr der Maultiere zu schaffen. Jesse ging zu seinem Muli, blickte auf den prallgefüllten Wasserschlauch und auf den Proviantbeutel. Auch Juan und das Mädchen hatten genug Vorräte. Sie würden, bis sie die Ranch erreicht hatten, damit auskommen. Jesses Blicke krochen in der Mulde entlang zur Straße. Verdammt, durch einen Schuß hätte er allen weiteren Verdruß vermeiden können! Der Mann, der auf seiner Fährte entlang kam, war doch ein berüchtigter Bandit und Mörder! Trotzdem schreckte Jesse davor zurück, ihn mit einer schnellen Kugel zu erledigen. - Ho, Quartermain würde sicherlich behaupten, daß er ein ausgemachter Narr sei. Holy gee, sollte er es doch tun? Hinter ihm erklangen leise Schritte. Helen Harbers berührte Jesses Arm. „Wann sehen wir uns wieder?“ fragte sie leise. Jesse zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht, Madam. Schicken Sie Old Stephen! Mit ihm kann ich alles besprechen. Haben Sie nur keine Angst! Dieser Kerl, der auf der Straße entlang kommt, wird Ihnen nichts tun. Der sucht mich. Ah, Juan, schnall den Revolvergurt ab und versteck ihn! Ich muß reiten, denn der Vorsprung, den ich jetzt noch habe, wird immer geringer. Ich muß in den Sattel, und Sie können dann ungeschoren zur Ranch reiten, Madam.“ „Und wir sehen uns nicht wieder?“ fragte sie leise. Jesse sah sie verdutzt an. „Oh, liegt Ihnen so viel daran, Madam?“ Ihr Gesicht - 99 -
rötete sich, als sie Jesse ansah und nickte. Dann wandte sie sich rasch um und lief zu Juans Muli. In Jesses stoppelbärtigem Gesicht kam ein Lächeln auf. „By gosh, gibt es das? Das Mädel scheint dich gern zu haben, obgleich du doch ... Unsinn! Verschwinde jetzt lieber!“ murmelte er vor sich hin. Er setzte den Fuß in den Steigbügel, zog sich in den Sattel und nahm die Zügel. Die schußbereite Winchester hielt er in der Rechten, mit dem Kolben auf den Schenkel gestützt. Er zog das Muli herum. „Also, Juan, du weißt Bescheid. Heute abend sehen wir uns wieder. Kopf hoch, Madam! Der Bursche wird Sie unbehelligt lassen, der will etwas ganz anderes. Kommen Sie gut heim!“ Juan und Helen Harbers standen reglos nebeneinander, als Jesse anritt. Sie sahen hinter ihm her. Noch einmal drehte er sich im Sattel um und schwenkte grüßend die Winchester über dem Kopf. Dann knurrte er eine Verwünschung vor sich hin; denn am Beginn der Senke an der Straße war ein Reiter aufgetaucht, und niemand brauchte Jesse zu sagen, wer dieser Reiter war. Jesse ließ sein Muli im Trab in der Senkt entlang laufen und bog in eine querverlaufende Rinne ein. So entfernte er sich immer weiter von der Straße. Hatte er nicht einen großen Fehler begangen? Er hätte seinem Verfolger doch auflauern sollen. — Nein, er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Eine Scheu hielt ihn davor zurück, wieder einen Menschen zu töten. Keiner konnte über seinen eigenen Schatten springen. Nach ungefähr einer Stunde lag freies Gelände vor Jesse. Es dehnte sich weit nach Norden hin und war im Osten von den Cibola Mountains begrenzt. In der Ferne - 100 -
konnte er zwei dunkle Flecken sehen, die wie Zungen wirkten und dicht nebeneinander lagen. Die linke Zunge war das Whitewater Valley, die andere das Tularosa Valley. Jesse ließ sein Muli nun im Schritt gehen. Er ritt auf einen sanft ansteigenden Hang zu, schlang die Zügel um das Sattelhorn und legte die Winchester quer über den Sattel. Er wußte, daß er in dieser Hitze höchstens noch eine Stunde reiten konnte. Dann mußte er dem Muli und auch sich eine Pause gönnen, gleichgültig, ob der Verfolger nah oder fern war. Als Jesse die Kuppe des Hanges erreicht hatte, spähte er in die vor ihm liegende Mulde. Dann hielt er das Muli an, drehte sich im Sattel und sah aus enggekniffenen Lidern zurück. Nichts regte sich. Die ganze Gegend schien ausgestorben zu sein. Jesse lachte grimmig vor sich hin, während er den jenseitigen Hang in die Mulde hinunterritt. Seine Gedanken waren bei Helen Harbers und Juan. Er war fest davon überzeugt, daß sein Verfolger sie ungeschoren ließ. Sicherlich würde er einige Fragen an sie richten, dann aber schnellstens weiterreiten, um den Abstand nicht wieder größer werden zu lassen. Das Mädchen und Juan würden dann zur Straße zurückkehren, nach Nordosten reiten und später beim Adlerfeder-Felsen Schutz vor den glühenden Sonnenstrahlen finden. Dieser Weg war entschieden günstiger und weit unbeschwerlicher als der, den Jesse reiten mußte. Wieder mußte er an Helen Harbers' Frage denken, ob sie sich bald wiedersehen würden. By gosh, ihre Stimme hatte so eigenartig bang geklungen, als sei sie in großer Sorge um ihn und als wolle sie ihn um jeden Preis - 101 -
wiedersehen. Und als er sie gefragt hatte, ob ihr so viel daran liege, war sie rot geworden und hatte genickt. Mochte sie ihn gern, oder hatte sie nur Vertrauen zu ihm? Das war ein großer Unterschied. Doch jetzt war keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Die Hauptsache war, daß Helen und Juan gut auf die Ranch kamen. Jesse saß locker im Sattel. Immer wieder wandte er sich um und suchte das Gelände ab. Als er seinen Verfolger erneut sichtete, sagte er bissig vor sich hin: „Das hätte nicht zu sein brauchen! Jesse Seldon, du bist ein hirnverbrannter Narr! Aber ich bin kein Kerl, der möglichst vor jedem Frühstück einen Mann umlegen muß.“ Plötzlich lachte er heiser auf. Ihm war ein Gedanke gekommen. „Natürlich, warum nicht?“ knurrte er und ritt zu einigen Felsblöcken, die groß und breit genug für ein gutes Versteck waren. Hier warf sich Jesse aus dem Sattel, kletterte auf einen hohen Gesteinsbrocken und hielt Ausschau nach seinem Verfolger. Er mußte eine ganze Weile warten, bis dieser hinter einer Kuppe auftauchte. Der Bandit ritt, wenn er die gleiche Richtung beibehielt, gut eine Meile weiter östlich als Jesse durch die Gegend. Im Moment war er wohl noch zwei oder drei Meilen entfernt und schien sich keineswegs um eine Fährte zu kümmern, falls es eine solche in diesem rauhen Gelände mit dem steinigen Boden überhaupt gab. Jesse beobachtete seinen Verfolger so lange, bis dieser schließlich in einer Senke verschwand, nach Minuten wieder auftauchte und weiter nach Nordosten in die Richtung der beiden Valleys ritt. Sicherlich wußte der Bandit genau, daß Jesses Weidegründe im Südteil des - 102 -
Tularosa Valleys lagen. Ermattet von der Hitze wollte Jesse von dem Felsbrocken klettern. Plötzlich stockte er und starrte noch einmal in die Richtung, aus der sein Verfolger gekommen war. Nein, er hatte sieh nicht getäuscht! Zwei Reiter waren in jener Senke aufgetaucht, durch die auch Jesse gekommen war. Er dachte sofort an Helen Harbers und Juan; denn der eine der Reiter trug einen Sombrero. By gosh, sie sollten doch auf der Straße entlangtrailen! Er beobachtete die beiden angespannt und konnte kaum erwarten, daß sie näher kamen. Sie ritten in die gleiche Richtung wie sein Verfolger, der schon hinter einem Gewirr von Felsblöcken verschwunden war. Plötzlich schnappte Jesse nach Luft. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, doch er täuschte sich nicht. Der Mann, der dort im Sattel eines hageren Grauen näher und näher kam, war Sheriff Quartermain. Einige Schritte hinter ihm ritt ein Mexikaner. Wie war es nur möglich, daß der Sheriff so aufgeholt hatte? Hastig sprang Jesse auf den kiesigen Boden, rannte zu seinem Muli und zog sich in den Sattel. Er verließ die Deckung der hohen Felsblöcke und schwenkte kreisend die Winchester über dem Kopf, um sich dem Sheriff bemerkbar zu machen. Dieser entdeckte ihn wenig später, hob den Arm und ritt auf ihn zu. Kaum fünf Minuten später hielten sie voreinander. Jesse war entsetzt, als er das eingefallene Gesicht Quartermains sah. Die Augen des Sheriffs lagen in tiefen Höhlen, und er hielt sich mit beiden Händen am Sattelhorn fest. Schweißperlen rannen an seinen Wangen - 103 -
nieder, und sein Atem ging hart und stoßweise. „By gosh, was ist mit Ihnen, Sheriff?“ fragte Jesse erregt, gleichzeitig sah er deutlich den eingetrockneten Blutflecken auf dem Reithemd des Sheriffs. Darunter schien ein dicker Verband zu sein. Quartermain war verwundet, und wie es aussah, nicht leicht. „Warum haben Sie Boase nicht auch gleich abgeschossen?“ fragte Quartermain heiser. Seine hellen Augen waren trüb, und es lag ein Ausdruck darin, den Jesse nicht sofort zu deuten vermochte. Es war ein Ausdruck von unbeugsamer Härte. Jesse zuckte nach der Frage des Sheriffs mit den Schultern und antwortete: „Ich hätte es tun können; aber ich bin kein Mörder, Sheriff. — Wer hat Sie so schwer verwundet?“ Jetzt erst warf Jesse einen Blick auf den Mexikaner. Es war einer der Männer, die für den Händler Augustine arbeiteten. Der Sheriff fing seinen Blick auf. „Ich habe ihn mitgenommen für den Fall, daß mir unterwegs der Atem ausgehen sollte“, schnappte er. „Du kannst wieder umkehren, Tejos! Grüß Senior Augustine von mir!“ Der Mexikaner hob grüßend die Hand und zog sein Muli herum. Jesse beobachtete ihn eine Weile. Dann schnaufte Quartermain ihn an: „Sie sind ein ganz großer Narr gewesen, Seldon! Das Mädel erzählte mir alles. Warum haben Sie den Kerl entkommen lassen? Es wäre Ihre Pflicht und Schuldigkeit gewesen, ihn zu erledigen. Dazu braucht man noch lange kein Mörder zu sein. Ah, diese verdammte Hitze! Aber wir müssen weiter, Seldon! Dieser Schuft soll mir nicht entgehen!“ Zum Teufel auch, was sollte Jesse dem Sheriff auf diese Vorwürfe antworten? Er wußte es nicht. Außerdem - 104 -
sah er, daß es Quartermain ziemlich schlecht ging. Und in diesem Zustand wollte er durch ein unbarmherziges, mörderisches Gebiet, auf das die Sonne ihre glühende Hitze schleuderte? Das war Unsinn! „Was ist es, ein Brustschuß?“ fragte Jesse. „Yeah! Die Kugel sitzt noch darin! Trotzdem muß ich diesen Schuft erwischen. Los denn! Kommen Sie!“ Jesse ließ sein Muli auf der Stelle verharren, schaute Quartermain düster an und fauchte: „Hören Sie mich an, Sheriff! Sie sind in einer Verfassung, die Sie schon bald aus dem Sattel werfen wird. Das Gelände vor uns ist höllisch. Seien Sie kein Narr! Wir müssen zumindest die nächsten Stunden rasten und abwarten, bis die größte Hitze vorüber ist. So geht das nicht, Sheriff!“ Quartermain senkte den Kopf und sagte heiser: „Das weiß ich auch, aber ich darf diesen Kerl nicht entkommen lassen, Seldon. Wenn Boase erst wieder mit McKay an einem Tisch gesessen hat, werden ihre Karten gut gemischt sein. Mir ist schrecklich elend, das gebe ich zu.“ „Die Kerle sollen ihre Karten mischen, wie sie wollen“, fuhr Jesse grimmig auf. „Darum dürfen Sie sich jetzt nicht kümmern! Sie müssen erst zu einem Doc. Ah, ich habe einen guten Gedanken!“ Er deutete zu den Hügeln zurück. „Dort in den Hügeln steht der Ranchwagen von Helen Harbers. Das ist eine Erleichterung für Sie. Ich fahre Sie mit dem Wagen auf die Whitewater-Ranch. Sie können sich in den Kasten legen und ausruhen, einverstanden?“ Der Sheriff sah verbissen in die Richtung, in die Jesses Verfolger verschwunden war. Dann war er einsichtig genug und keuchte: - 105 -
„Yeah, ich kann mich wirklich nicht mehr lange im Sattel halten, Seldon. Sie haben recht! Reiten wir zum Wagen!“ Jesse ritt dicht an Quartermain heran und nahm die Zügel des Grauen vom Sattelhorn, an dem sich der Sheriff sofort wieder festklammerte. Langsam ritt er dann mit dem Verwundeten zurück. Als sie nach einer Viertelstunde den Wagen erreicht hatten, hielt sich der Sheriff noch mit letzter Kraft am Sattelhorn fest. Jesse saß rasch ab und führte den Grauen mit dem Verwundeten dicht an den Wagenkasten. Er stieg hinein und rüttelte den Sheriff, der die Augen geschlossen hielt und kaum noch etwas wahrzunehmen schien, an der Schulter, „Ho, Sheriff, jetzt müssen Sie helfen!“ Quartermain hob den Kopf und nickte schwach. Jesse packte ihn unter den Armen. Es war nicht ganz einfach, Quartermain in den Kasten des Wagens zu zerren. Als er schließlich oben war, war der Sheriff ohnmächtig. Jesse entsattelte das Pferd, packte alles in den Wagenkasten und legte den Sattel unter Quartermains Kopf. Dann schirrte er den Grauen und sein Muli vor den Wagen. Langsam fuhr er zur Poststraße. Hin und wieder drehte er sich zu Quartermain um und schob immer wieder den Hut über das Gesicht des Verwundeten, um es vor den sengenden Strahlen der Sonne zu schützen. Als die Sonne am höchsten stand, brachte Jesse das Gespann im Schatten eines hohen, schmalen Felsens zum Stehen. Er blickte zu den anderen Felsen, die genauso geformt waren. Es waren die Adlerfeder-Felsen, und zwischen ihnen lag in einer Nische das Wasserloch. Von Helen Harbers und Juan war nichts zu sehen. Sie mußten - 106 -
schon weiter nach Nordosten geritten sein. Als er sich zu Sheriff Quartermain umdrehte und überlegte, was zu tun sei, bemerkte er, daß Quartermain aus seiner Ohnmacht erwacht war. Er lag auf der rechten Seite mit dem Kopf auf dem Sattel. Ihre Blicke trafen sich. Stumm sahen sie sich einige Sekunden an, dann schaute Quartermain zur Seite und murmelte: „Gut, daß Sie auf den Gedanken mit dem Wagen gekommen sind, Seldon! Das ist doch nicht so anstrengend. Ich fühle mich reichlich schwach.“ „Sie haben sicherlich Hunger und Durst, Sheriff. Ich habe genug Proviant, und Wasser ist auch vorhanden.“ „Yeah, ich habe seit zwei Tagen kaum etwas gegessen“, gab Quartermain zu. „Doch vor allem habe ich Durst.“ Jesse gab ihm aus dem Wasserschlauch zu trinken, stieg vom Wagen und bereitete für den Sheriff und auch für sich eine Mahlzeit. Quartermain, das erkannte er wenig später, war ungeheuer hart und zäh. Er richtete sich auf, lehnte sich mit dem, Rücken gegen den Fahrbock und begann langsam zu essen. Jesse, der sich auf die Kante des Wagenkastens gehockt hatte, beobachtete ihn bewundernd. Doch plötzlich rutschte der Sheriff zur Seite. Erschreckt beugte sich Jesse über ihn und lauschte auf seinen Atem. Nein, Quartermain war nicht tot, wie Jesse im ersten Moment befürchtet hatte, er war nur wieder bewußtlos geworden. Wenig später kletterte Jesse vom Wagen, tränkte das Pferd und das Maultier und führte beide in den Schatten. Neben dem Wagen hockte er sich — die Winchester in Griffnähe — nieder. Als die Sonne höherstieg und den Wagen erreichte, schob er ihn ein Stück weiter und setzte sich wieder daneben. - 107 -
Seine Gedanken waren bei dem Sheriff, und sie wanderten hinter Helen Harbers und Juan her. Wenn alles glattgegangen war, hatten sie kaum noch zwei Stunden bis zur Whitewater-Ranch zu reiten und waren dann in Sicherheit. Sie würden wohl kaum damit rechnen, daß er mit dem Sheriff hinter ihnen hergefahren kam. Ermüdet von den Strapazen und von der Hitze dämmerte er vor sich hin. Doch er hütete sich, einzuschlafen. 8. Spät am Abend brachte er den Wagen vor dem Wohnhaus der Whitewater-Ranch zum Stehen. Unter dem Vorbaudach rief ein Mann mit einem Gewehr in den Händen ihn scharf an. „Hier sind Jesse Seldon und Sheriff Quartermain, Cowboy!“ antwortete Jesse. Er war erleichtert, da£ er die Fahrt hinter sich hatte. „Miss Harbers muß sofort geweckt werden. Und wo ist Old-Stephen?“ „Er ist drüben im Mannschaftshaus!“ gab der Cowboy zurück. „Wo ist der Sheriff? Ich sehe ihn nicht.“ „Quartermain liegt hier hinter mir im Wagen“, knurrte Jesse. Er stieg über die Radnabe ab und überlegte verwundert, weshalb Old Stephen und Juan sich noch auf der Ranch befanden. Eigentlich sollten doch beide zur Schlucht zwischen den beiden Valleys kommen. „Der Sheriff ist schwer verwundet, Cowboy. Es muß sofort ein Mann nach Magdalena, um den Doc zu holen“, sagte er dann. Plötzlich fuhr Jesse zusammen, als dicht hinter ihm verstohlene Schritte erklangen. Noch bevor er sich - 108 -
umwenden konnte, hörte er Juans Stimme. „Wie gut, daß du hier hergekommen bist, Senor. Dieser Old Stephen ist nur noch ein halber Mann. Er ist schon sehr alt, und die Cowboys Collins und Morris lachten ihn aus, als er sie von der Ranch schicken wollte. Ihr Boss heiße Baker, sagten sie. Und als Old Stephen ihnen berichtete, Baker sei tot, stimmten sie ein Höllengelächter an.“ „Verdammt, immer etwas Neues!“ Jesse sah zur Haustür. Der Cowboy trat heraus, und in dem Lichtschein, der aus der Tür fiel, tauchte auch Helen Harbers auf. Sie kam eilig bis an den Rand des Vorbaues. Erschreckt lauschte sie Jesses Bericht von der schweren Verwundung des Sheriffs. Dann wandte sie sich an den Cowboy, der neben ihr stand. „Luke, satteln Sie sofort ein Pferd und reiten Sie nach Magdalena! Doc Holters soll kommen. Beeilen Sie sich, Luke!“ Der Cowboy kam die Vorbaustufen herab und blieb dicht vor Jesse stehen. „Ich möchte gern die Wahrheit wissen, Seldon. Stimmt es, daß du Dan Baker erschossen hast?“ Jesse legte die Rechte dicht hinter den Kolben des Revolvers und antwortete schroff: „Genau so ist es, Cowboy! — Und wie steht es mit dir? Hockst du im Sattel von Miss Harbers, oder hast du auch Geld von McKay in die Tasche gesteckt?“ „Ich heiße nicht Collins und auch nicht Morris, sondern Luke Slade. Billy Adams, Old Stephen und ich mögen diese trübe Suppe schon lange nicht mehr. Eigentlich gibt es auf der Whitewater-Ranch nur zwei Cowboys: der eine bin ich, und der andere ist Billy Adams. Old Stephen ist schon zu alt.“ - 109 -
„Und wo sind Morris und Collins jetzt?“ fragte Jesse. Der Cowboy deutete mit der Hand zum Mannschaftshaus hinüber, aus dessen Fenstern heller Lichtschein fiel. „Aha, dann stell mich ihnen vor, Cowboy! Juan, bleib du hier bei Miss Harbers. Um den Sheriff braucht ihr euch jetzt nicht zu kümmern. Er ist ohne Bewußtsein. — Gehen wir, Cowboy!“ „Jesse, seien Sie vorsichtig!“ rief Helen Harbers erregt hinter ihm her. Jesse stockte unwillkürlich, als das Mädchen ihn mit dem Vornamen anrief. Dann gab er sich einen Ruck und ging an der Seite des Cowboys auf das Mannschaftshaus zu. Luke Slade fragte gespannt: „Stimmt es auch, daß Sie diesen Massey erschossen haben, Seldon?“ „Das kann ich nicht abstreiten, Cowboy“, antwortete Jesse finster. „Es ergab sich so. Von wem hast du das alles erfahren?“ „Miss Harbers sagte es mir. Ich machte mir so meine Gedanken, und dann habe ich mit Billy Adams verabredet, etwas zum Schutz von Miss Harbers zu unternehmen. — Wie soll es nun weitergehen?“ „Erst müssen McKays Ratten vertrieben werden, Luke. Wir können uns keine Revolvermündungen im Rücken erlauben.“ „Das haben Billy Adams und ich auch gedacht, aber wie sollten wir das anstellen? Old Stephen kann zwar sprechen, aber zu rauhen Taten ist er entschieden zu alt. Und wir sind einfache Cowboys.“ „Ich verstehe, Luke.“ Jesse blieb einige Schritte vor der Tür des Mannschaftshauses stehen und blickte in das vom Lichtschein erhellte Gesicht des Cowboys. „Der Sheriff ist ziemlich übel von Boase angeschossen worden“, sagte er. „Nun bin ich gewissermaßen seine - 110 -
rechte Hand — ohne Orden, klar? Halt du dich also gleich etwas zurück!“ „In Ordnung, Seldon!“ Jesse ging auf die offenstehende Tür zu, rückte sich die Revolverhalfter griffgerechter und hielt die Winchester in der Linken. So trat er in das Mannschaftshaus. Vor ihm lag ein langgestreckter Raum. An der Türseite befand sich ein halbes Dutzend Schlafstellen. Gegenüber stand ein Tisch, um den etliche Schemel gruppiert waren. Drei Männer saßen an diesem Tisch, über dem eine Petroleumlampe brannte. Einer dieser Männer war alt und kahlköpfig. Ein wild wuchernder Vollbart verdeckte sein eingefallenes Gesicht. Dieser Mann mußte Old Stephen sein. Die beiden anderen — einer von ihnen erhob sich, schlenderte zur Seite und lehnte sich mit der Schulter gegen einen Schrank — waren von ganz anderer Art. Sie mochten tatsächlich Cowboys sein, aber sie gehörten auch zu der Kategorie Männer, die nicht nur aufsässig, sondern auch verdammt rauh war. Nur solche Burschen konnte McKay für seine Pläne einsetzen, nachdem er sie gekauft hatte. Beide waren groß und breitschultrig. Einer von ihnen, es war Morris, war fahlblond, trug einen Stutzbart und hatte fahlblaue Augen, die er halb hinter den Lidern versteckte. Er war dunkel gekleidet und trug zwei Revolver. Collins war dunkelhaarig, hatte ein schmales Gesicht und tiefbraune Augen, in denen es gefährlich blitzte. Er lehnte lässig an dem Schrank, stand aber so, daß er jederzeit mit der freien Hand seinen Revolver herausreißen konnte. Seinen Hut trug er weit in den - 111 -
Nacken gerückt. Er beobachtete Jesse mit schiefgehaltenem Kopf. Old Stephen schien zu erraten, wer der Fremde war, der vor Luke Slade ins Mannschaftshaus getreten war. Er räusperte sich laut, erhob sich, nahm seine Stummelpfeife vom Tisch und ging an Jesse vorüber zu einer der Schlafstellen. Aber wo war der vierte Cowboy, Bill Adams? Jesse sah ihr nicht. Er konnte Collins und Morris auch nicht aus den Augen lassen, und nach ihm fragen wollte er erst recht nicht. — Ihm fiel ein, daß er Collins und Morris verschiedentlich in Magdalena gesehen und einmal sogar neben ihnen an einem Schanktisch gestanden hatte. Doch das lag schon fast ein Jahr zurück. Jesse blickte von Morris zu Collins und sagte betont ruhig: „Wer ich bin, brauche ich euch nicht erst zu sagen. Auch ich weiß, wer ihr beide seid. — Aber nun zur Sache: Es ist Sheriff Quartermain bekannt geworden, daß ihr euch das Salair nicht nur von dieser Ranch auszahlen laßt, sondern auch Geld von McKay angenommen habt, um für diesen hier eine offene Weide zu halten. Euer Vormann Dan Baker half euch dabei. Der Sheriff ist von einem Mörder McKays angeschossen worden, und was das zu bedeuten hat, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. — Der Teppich wird jetzt aufgerollt, und ganz am Ende dieses Teppichs liegt McKay, der Jim und Bud Harbers ermorden ließ. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er von seiner Ranch geholt und nach Magdalena gebracht wird — oder auf die Nase fällt. Erledigt ist er schon jetzt und mit ihm jeder, der in seinem Sattel hockt, der — zum Beispiel — die Rinder dieser Ranch stehen ließ, der mit den beiden Banditen ritt und der auch meine Rinder abtrieb und meine Häuser niederbrannte.“ - 112 -
Auch Morris hatte sich erhoben. Er wechselte einen Blick mit Collins und stellte sich neben seinen Kumpan. Als keiner von ihnen ein Wort sprach, fuhr Jesse fort: „Für alle, die in McKays Sattel hockten, ist die Sache sehr einfach: Entweder sie stehen weiter zu McKay, oder sie packen schleunigst und verschwinden aus dieser Gegend. Wenn ihr euch entschließt, weiter für McKay zu reiten, müßt ihr auch damit rechnen, daß man euch früher oder später wegen Rinderdiebstahls einen Strick um den Hals legt; denn wenn erst im Land bekannt wird, daß Sheriff Quartermain von einem aus eurem Verein angeschossen wurde, ist holiday für euch alle! Amerika ist groß, aber so weit könnt ihr gar nicht reiten, wie man euch jagen wird! — Das ist es, was ich euch sagen wollte. Das Spiel ist aus, klar?“ „Ich weiß gar nicht, worüber du sprichst“, fuhr Morris auf, aber Collins schnaufte ihm zu: „Ach, halt den Mund, Jack! Die Sonne ist aufgegangen, und Frank McKay wird nun geschmort. So fett war sein Salair nun auch wieder nicht.“ Er starrte Jesse an und fragte: „Und wo ist Dan Baker?“ „Bei Augustine im Handelsposten an der Poststraße“, gab Jesse knapp zurück. „Ich nehme an, daß der Händler ihn inzwischen schon in ein Grab gelegt hat.“ „Man wollte uns erzählen, daß du ihn erschossen hast“, schnappte Morris. „Stimmt das?“ „Es ist nicht gelogen, Morris. Und es stimmt auch, daß ich den Revolverbanditen Massey erwischte“, sagte Jesse zwischen den Zähnen. „Ich hoffe, daß ich den anderen auch noch irgendwo stellen kann. Und danach ist McKay an der Reihe. Wenn ihr euch dann noch in dieser Gegend aufhaltet, wird es euch ebenfalls übel ergehen.“ - 113 -
Jesse lauschte hinter sich. Er glaubte ein Gemurmel zu vernehmen und dachte an den Cowboy Slade. Er wandte sich um, als er keuchende Atemzüge und schlurfende Schritte hörte. Dann starrte er auf den Mann, der im Rahmen der Tür stand und sich mit der Linken am Pfosten festhielt. Es war Sheriff Quartermain. Quartermains Gesicht war fahl. In seinen hellen Augen aber glitzerte es gefährlich, als er Morris und Collins musterte. Er keuchte: „Da sind sie ja die Rustler und Brandstifter! Komplizen der Mörder von Jim und Bud Harpers!“ Morris zog seinen Colt, aber der Sheriff war trotz seiner Verwundung schneller. Morris warf die Arme hoch und stürzte zu Boden. Bevor Collins den Revolver abdrücken konnte, brach auch er unter den blitzschnell hinausgejagten Kugeln des Sheriffs zusammen. Rauch stieg aus Quartermains Revolvermündung, als er die Waffe langsam sinken ließ. Dann polterte der Revolver zu Boden. Quartermain begann zu wanken, seine Knie knickten ein. Juan und Luke Slade sprangen zu und ließen ihn behutsam auf den Boden gleiten. Jesse überlief es kalt, als ihm zu Bewußtsein kam, wie wenig Chancen ein Mann hatte, wenn er von Mat Quartermain gehetzt würde. „Senor!“ flüsterte Juan dicht neben Ihm und sah mit von Schrecken erfüllten Augen zu ihm auf. „Senor, ist der Sheriff tot? Er atmet kaum noch!“ Jesse reichte Juan die Winchester und ging zögernd auf den Sheriff zu, neben dem Slade am Boden kniete Und murmelte: „Ich glaube...“ - 114 -
„Ich glaube es nicht“, unterbrach Jesse ihn und drängte den Cowboy zur Seite. „Der hat sieben Leben wie eine Katze!“ Er neigte sich über den Sheriff. Als er sich wieder aufrichtete, nickte er und sagte: „Die Anstrengung! Er ist schwach. Legen wir ihn dort auf die Schlafstelle.“ Behutsam trugen sie den ohnmächtigen Sheriff zu einer Schlafstelle und betteten ihn darauf. Jesse schnallte ihm die Waffengurte ab und lockerte ihm den Hosenbund. Juan reichte Jesse den Revolver, der aus der Hand des Sheriffs gefallen war, und Jesse stieß ihn schroff in die leere Halfter. Dann blickte er zur Tür, in der Helen Harbers und ein Cowboy auftauchten. „Wer ist der Mann?“ fragte Jesse den dicht neben ihm stehenden Luke Slade. „Das ist Billy Adams, Seldon!“ „Aha! — So, nun muß einer von euch beiden sofort nach Magdalena und den Doc holen. Einigt euch darüber, wer reitet. Denkt daran: es ist dringend, Cowboys! Vorher bringt die beiden Toten hinaus! — Juan, du bleibst bei Sheriff Quartermain. Wenn er wieder erwacht ist, ruf mich!“ „Si, Senor, si!“ Jesse ging langsam und schwerfällig zu Helen Harbers, legte die Hand um ihren Arm und zog sie mit sich hinaus. Sie traten einige Schritte von der Tür des Mannschaftshauses fort. Jesse nahm den Hut ab und wischte sich mit Handrücken über die Stirn. „Für so hart hätte ich den Sheriff nun doch nicht gehalten“, sagte er leise. „Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Ich hörte Schüsse, als ich auf dem Vorbau stand“, murmelte Helen. - 115 -
Als Jesse geantwortet hatte, fragte sie: „Und was soll nun geschehen, Jesse?“ „Ich weiß es auch nicht recht, Helen“, gab er zurück und zuckte mit den Schultern. „Nur eines weiß ich: Ich bin schauderhaft müde, und ich glaube, ich könnte zwei Tage schlafen.“ „Dann ruhen Sie sich doch endlich aus, Jesse! Sie können im Zimmer meines Bruders schlafen. Oder...“ „Danke!“ Er blickte zu den beiden Cowboys, die mit einem der Toten aus der Tür des Mannschaftshauses traten und in der Dunkelheit untertauchten. „Nach allem, was heute war, müssen auch Sie sehr müde sein, Helen. Legen auch Sie sich schlafen! Ich werde dem Cowboy sagen, daß er auf dem Vorbau drüben wachen soll.“ „Es ist alles furchtbar, Jesse, aber ich bin froh darüber, daß nun die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist. Glauben Sie, daß der Sheriff durchkommt?“ „Ho, davon bin ich völlig überzeugt. Wenn der Doc erst die Kugel herausgefischt hat, wird Quartermain bestimmt schon bald wieder munter sein. Irgendwie ist er mir unheimlich geworden!“ Sie gingen langsam über den Ranchhof zum Wohnhaus hinüber, aus dessen Haustür schwacher Lichtschein fiel. Vor den Stufen des überdachten Vorbaus blieben sie stehen, und Helen flüsterte: „Irgendwie fürchte ich mich, Jesse. Ist es nicht so, daß Frank McKay mit allen Mitteln versuchen muß, daß man nichts mehr gegen ihn unternehmen kann?“ Sie griff plötzlich nach Jesses Arm, und Jesse stieß einen scharfen Laut durch die Zähne. Das Mädchen erschrak. Sie hatte den verletzten Arm angefaßt. Impulsiv legte sie die Hand an seine stoppelbärtige Wange. „Oh, Jesse, entschuldigen Sie! Haben Sie - 116 -
Schmerzen?“ „Kaum, Helen“, versuchte er sie zu beruhigen, obgleich seine Wunde wie Feuer brannte. „Sie haben eine weiche Hand“, murmelte er. „Und Sie einen furchtbaren Bart!“ entfuhr es ihr. Sie lachten beide auf, doch sofort verstummten sie, denn die Cowboys Slade und Adams trugen den zweiten Toten ins Freie. „Versuchen Sie zu schlafen, Helen!“ sagte Jesse leise. „Ich will lieber in der Nähe des Sheriffs bleiben. Morgen früh müssen wir überlegen, was weiter zu tun ist. — Gute Nacht, Helen!“ „Gute Nacht, Jesse!“ Sie wollten sich beide abwenden, doch sie zögerten. Jesse trat dicht an Helen heran, zog sie an sich, küßte sie auf die Stirn und raunte ihr zu: „Schlaf gut, Helen! Und versuch, alles zu vergessen.“ „Ich habe Angst um dich, Jesse“, flüsterte sie und drängte sich an ihn. „Wenn ich an McKay denke und an diesen Mörder, der zu ihm geritten sein muß, dann...“ „Sei nicht so ängstlich, Mädel! Es wird schon alles gut werden!“ Helen wandte sich schnell um und hastete die Stufen des Vorbaus hinauf. Wenig später schloß sie die Haustür hinter sich. Ein verlorenes Lächeln lag um Jesses Mund, als er langsam zum Mannschaftshaus ging. Hier stieß er auf die Cowboys, und Slade sagte düster: „Wir haben die Toten in den Heuschober gebracht, Seldon. Billy Adams sattelt jetzt sofort und reitet zur Town. Aber vor morgen abend können er und der Doc nicht hier sein. Wird der Sheriff bis dahin durchhalten?“ „Ich glaube, darauf können wir uns verlassen. Eigentlich müßtest du das Wohnhaus bewachen, Luke. - 117 -
McKay wird immer weiter in die Ecke gedrängt. Er wird vor nichts zurückschrecken, um mit heiler Haut davonzukommen. Und ich schlafe bald im Stehen ein.“ „Gut, ich werde wachen. Du kannst dort im Bau schlafen. Es sind ja zwei Betten freigeworden“, sagte Slade grimmig. „Wir hatten immer den Verdacht, daß Collins, Moris und Dan Baker im Sattel von McKay hockten. — He“, wandte er sich an Adams, „beeil dich, damit der Doc bald hier ist!“ Die Cowboys verschwanden in der Dunkelheit. Jesse trat langsam in das Mannschaftshaus und fragte Juan, der am Ende des Tisches saß: „Bist du auch so müde, Sohn?“ „Es genügt, Senor. Nur wenn ich an den Mann denke, der uns verfolgte, bin ich gar nicht mehr müde.“ „Er heißt Boase, und der andere hieß Massey“, sagte Jesse und ließ sich neben Juan auf einem Schemel nieder. Juan erhob sich, drehte den Docht der Lampe niedriger und schloß die Tür. „Schade, daß die Tür keinen Riegel hat“, knurrte er. „Hast du Angst, Juan?“ „Angst? Vielleicht, Senor“, meinte der Mexikaner und kam an den Tisch zurück. Jesse sah zum Sheriff hin. Dabei fiel sein Blick auf Old Stephen, der zusammengesunken auf seiner Schlafstelle saß und vor sich hinstarrte. Yeah, Juan hatte schon recht, wenn er sagte, daß dieser Mann zu alt sei. Viel zumuten konnte man ihm nicht mehr. Jesse erhob sich und ging zu ihm. „Hallo, Oldtimer“, sagte er; und Old Stephen hob den Kopf. „Der Junge und ich sind hundemüde und müssen schlafen. Kannst du dort bei der Tür für uns wachen?“ Über das eingefallene, bärtige Gesicht Old Stephens glitt ein Zucken. Er erhob sich halb und fragte: - 118 -
„Kann man mich denn überhaupt noch gebrauchen, Cowboy? Seit etlichen Jahren werde ich immer wieder zur Seite geschoben. Man sagte, ich sei nur noch gut dafür, die Pferde zu halten. Natürlich werde ich wachen, und ich werde auch ich nicht einschlafen. In meinem Alter braucht man nicht mehr viel Schlaf.“ „Hast du keinen Revolver, Oldtimer?“ fragte Jesse. Der alte Cowboy nickte heftig. „Doch! Aber ich habe ihn schon seit zwei Jahren nicht mehr getragen. Dan Baker wollte es nicht. Er meinte, es sei zu gefährlich für mich. — Dieser Narr wußte nicht, daß ich mit einer Kanone besser umzugehen verstehe als mancher andere. Schlaft nur! Stephen Longmoore wird wachen und auch ab und zu zum Wohnhaus hinüberschielen.“ Der Alte schritt zu einem Schrank, entnahm ihm einen Gurt mit zwei Revolvern, warf ihn sich um die Hüfte und sagte höhnisch lachend vor sich hin: „Mit meiner Mutter altem Sohn muß man immer noch rechnen! Vielleicht kann ich das noch einigen zeigen. Jetzt, wo McKay die Maske vom Gesicht gerissen wurde, habe ich eigentlich Sehnsucht nach seinem Anblick. Vielleicht kommt er ja noch, um nachzusehen, wie seine Suppe kocht! — Das wäre mir gar nicht unangenehm; denn Jimmy Harbers und ich waren alte Freunde.“ Er nahm, während er diese Worte sprach, seinen alten Hut von einem Haken, ging zur Tür hinaus und knallte sie hinter sich zu. Jesse warf einen Blick auf Quartermain. Doch der Sheriff lag mit geschlossenen Augen da und regte sich nicht. „Der alte Bursche kann, wenn es sein muß, noch gefährlich werden“, meinte Jesse. „Mir scheint, er ist ein - 119 -
Tiger, der lange Zeit geschlafen hat. Wer ihm auf die Tatzen tritt wird Höllisches erleben. Aber nun komm, Juan, gehen wir schlafen!“ Juan legte ihm leicht die Hand auf den Arm. „Was gibt es noch, Amigo mio?“ fragte Jesse. „Ich weiß es nicht, Senor. Du solltest einmal darüber nachdenken, was dieser Rancher McKay tun wird, um sein Fell zu retten!“ „Ah, Sohn, darüber kann ich auch morgen früh noch nachdenken“, knurrte Jesse und erhob sich. „Du mußt es sofort machen, Senor!“ widersprach Juan. „Du kannst das nicht einfach aufschieben! Das ist zu gefährlich für dich. McKay wird wie ein Wolf um sich beißen, wenn er weiß, wie die Dinge liegen.“ „Das weiß er jetzt bestimmt. Boase wird ihm schon einiges berichtet haben.“ „Eben, Senor! Erkennst du denn nicht, daß er etwas tun muß, um freizubleiben?“ Juan drehte sich hastig um und deutete zu Sheriff Quartermain. „Der Sheriff kann kaum noch etwas unternehmen, aber er ist ebenso in Gefahr wie du. Oh, Senor, überleg doch mal. Wer kann McKay noch etwas anhaben, wenn du und der Sheriff — tot seid? Was wir anderen wissen, gilt vor einem Gericht kaum etwas. Und er, der reiche Rancher, wird davonkommen! Er streitet einfach alles ab. Erkennst du es jetzt? Er muß alles daransetzen, dich und den Sheriff zu töten!“ „Juan, du machst mich schwach“, knurrte Jesse. „Hm, yeah, was wird geschehen, wenn deine wenig erfreulichen Überlegungen stimmen? Verdammt, natürlich wird McKay alles tun, um sich zu retten. Er bringt es vielleicht sogar fertig und schafft noch ein halbes Dutzend Kerle herbei, die gesehen haben wollen, wie ich Jim - 120 -
und Bud Harbers erschoß. Außerdem hat Boase den Sheriff übel erwischt, und er weiß genau, was das für ihn zu bedeuten hat. Er muß damit rechnen, daß Quartermain ihn — sobald es ihm wieder besser geht — jagen wird wie der Teufel eine arme Seele.“ „Darauf können Sie sich verlassen, Seldon!“ kam es heiser von der Schlafstelle, auf der Quartermain lag. Jesse wandte sich zu ihm um und sah, daß der Sheriff sich auf die Seite gedreht hatte. „Ho, Sheriff!“ Jesse lief zu ihm und beugte sich über ihn. „Wie geht es Ihnen?“ „Nicht besonders, Seldon, aber ich bin auch noch lange nicht dort, wohin man mich haben möchte“, antwortete Quartermain. „Haben Sie nach Doc Holters geschickt?“ „Yeah!“ „Das ist gut! Hier auf der Ranch ist doch der alte Cowboy — ich meine Colt-Jim“ „Colt-Jim? Wer ist das?“ „ „Longmoore, Stephen Longmoore, Seldon! Er versteht von Kugellöchern, Knochenbrüchen und allen möglichen Krankheiten mehr als ein halbes Dutzend Ärzte zusammen. Ist er nicht hier? Er soll sofort kommen und mir die Kugel herausholen!“ Jesse richtete sich auf und fragte verwundert: „Der Oldtimer? Nun gut! Juan, hol den alten Cowboy herein!“ rief er über die Schulter. Der Sheriff blies heftig den Atem aus und sagte: „Und noch etwas: Ich habe gehört, was der Junge sagte, Seldon. Er ist nicht dumm. Yeah, McKay wird darauf aus sein, uns beide mundtot zu machen. Was bedeutet es für Boase, wenn er plötzlich durch die Tür kommt und ein paar Kugeln abfeuert? Dann jagt er ins Land hinein - 121 -
und verschwindet für immer. Wie McKay die Karten mischt, wissen wir auch nicht. Rechnen Sie auf jeden Fall mit allen üblen Tricks! — Ah, Colt-Jim“, rief er dem alten Cowboy zu, der zur Tür hereinkam und sofort herantrat. „Warum willst du mir nicht die Kugel herausholen?“ „Ho, Mat, ich bin ein alter Mann und dränge mich nicht vor!“ Der Oldtimer grinste schief. „Wie geht es dir?“ „Wenn ich dich sehe, Jimmy, entschieden besser! Auf dich kann ich mich verlassen. Los, bereite alles vor! Soll Seldon dir zur Hand gehen?“ „Nein, der schläft ja fast im Stehen ein. Leg dich schlafen, Seldon, und du auch, Mex! Und du, Mat, hältst den Mund, wenn du noch ein paar Fragen beantwortet hast. — Wer hat dir den Verband angelegt? Hat die Wunde tüchtig geblutet?“ „Sie hat geblutet, und ich selbst habe mir den Verband angelegt.“ „Und du kannst deinen Arm bewegen und hast kein Blut gespuckt?“ „Nein, Jimmy! Ich bin nur verdammt matt in den Gliedern.“ „Dagegen kenne ich auch ein Mittel. Gedulde dich, Matt! In einer Stunde bist du deine Bleikrankheit los, schätze ich.“ „Soll ich hier liegen bleiben?“ „Wieso, willst du auswandern? Das mache ich hier. Ich hole die Lampe und ...“ Der Oldtimer sah Jesse mißmutig an. „Nun legen Sie sich endlich schlafen, Seldon! Ich habe es nicht gern, wenn man mir auf die Finger schaut, klar?“ Na gut!“ knurrte Jesse und wandte sich um. Er ging zu - 122 -
der nächsten Schlafstelle, nahm seinen Revolvergurt ab und hängte ihn an einen Haken. Juan setzte sich auf eine andere Schlafstelle und sagte verstockt: „Ich schalle den Revolver nicht ab, Senor!“ „Ah, mach was du willst! Ich bin müde“, knurrte Jesse. Er streckte sich lang aus und schob die Hände unter dem Kopf zusammen. Kurz darauf fielen ihm die Augen zu. 9. Von krachenden Detonationen wurde Jesse aus dem Schlaf gerissen. Er fuhr hoch und warf sich herum. Ein Mann schrie heiser auf, und ein Schemel schlug polternd um. Jesses Atem stockte. Bei der Tür stand Boase und feuerte aus zwei Revolvern auf Old Stephen, der sich — schwer verwundet — an der Kante des Tisches festhielt und im nächsten Moment zu Boden stürzte. Jesse hatte sich zusammensinken lassen. Er verwünschte jetzt, daß er seinen Revolvergurt abgeschnallt hatte und ihn nicht erreichen konnte. Jetzt ist es aus! Der Schuft leistet ganze Arbeit, dachte er. Boase war, nachdem Old Stephen hinter dem Tisch zusammengebrochen war, herumgefahren und starrte mit höhnisch verzogenem Gesicht zu der Schlafstelle Quartermains. Er trat einen Schritt vor, hob teuflisch grinsend die Revolver und schrie heiser: „Du Menschen Jäger wirst mich nicht mehr hetzen! Mich nicht — und andere auch nicht!“ Langsam, als wolle er die Situation auskosten, hob er die Waffe höher. In diesem Augenblick warf sich Jesse auf und brüllte: - 123 -
„Du Schuft wirst es nicht wagen! Boase, wir wollen es ausschießen und ...“ Seine Worte gingen in dem peitschenden Knall eines Revolverschusses unter. Links von Jesse war das Mündungslicht aufgeblitzt. Das Gesicht Boases veränderte sich jäh, und aus seinem Mund drang ein gurgelnder Schrei. — Noch einmal versuchte er, seine Waffe hochzureißen. Doch seine Kugeln trafen nicht mehr. Sie schlugen in die Bretterwand des Mannschaftshauses. Boases Knie gaben unter ihm nach, und dumpf prallte sein Körper zu Boden. Jesse hatte sich von der Schlafstelle geworfen und starrte sekundenlang auf Boase, der völlig reglos dalag. Dann wandte Jesse den Kopf und blickte Juan an, der den noch rauchenden Revolver im Anschlag hielt, ihn aber bereits im nächsten Moment fallen ließ. Der Mexikaner stieß einen schluchzenden Laut aus, warf sich auf die Schlafstelle und verbarg das Gesicht in beiden Händen. „Juan! By gosh, Juan!“ keuchte Jesse. Er lief zu Juan zu und packte ihn an der Schulter. Dann horchte er gebannt. Vom Hof der Ranch drangen Schnauben und dumpfer Hufschlag herein. Mit einem Satz war Jesse bei seinem Revolvergurt, riß ihn vom Haken und schnallte ihn um die Hüften. Jetzt hörte er rasche, laute Männerstimmen, doch er konnte die Worte nicht verstehen. „Nimm den Revolver auf, Juan! Und dann komm mit mir! Los, wir müssen .. .“ Aber Juan reagierte nicht. Jesses Hand legte sich um die Winchester, die an der Tischkante lehnte. Dann löschte er die Lampe, schob sich an ein Fenster und - 124 -
spähte vorsichtig ins Freie. Obwohl es draußen noch ziemlich dunkel war, erkannte Jesse etwa ein halbes Dutzend Reiter, die vor dem Ranchhaus hielten. Matt sah er Waffen blinken. Das Wohnhaus lag völlig im Dunkeln. Unter dem Vorbau rief ein Mann jetzt einen Befehl. Sofort ritten die Männer auseinander und verteilten sich, als wollten sie die Häuser der Ranch absuchen. Deutlich erkannte Jesse, daß zwei der Kerle geradewegs auf das Mannschaftshaus zugerannt kamen. Drüben beim Wohnhaus aber stand ein Mann neben einem hellen Pferd, und Jesse wußte, daß dieser Mann kein anderer war als Frank McKay. Jesse wandte sich um und sagte rauh: „Juan! Reiß dich zusammen! Zwei Kerle kommen auf den Bau zu. McKay und seine Cowboys sind auf der Ranch.“ „Si, Senor, si!“ stammelte Juan. „Oh Madre mio was habe ich getan? Ich habe ...“ „Still jetzt! Wir lassen die Burschen herein, und dann soll der Teufel tanzen. Wirf dich zu Boden!“ Juan schluchzte noch einmal auf. Jesse drückte sich dicht bei der Tür gegen die Wand, stellte die Winchester in die Ecke und zog seinen Revolver. Die Schritte der Fremden kamen näher, dann tastete eine Hand nach dem Türknauf, die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, und eine Stimme fragte: „Alles in Ordnung, Boase? Gib Antwort! Hier ist Jack McKay!“ Jesse räusperte sich und murmelte undeutlich: „Yeah, kommt herein! Alles in Ordnung!“ Er schob sich etwas von der Tür zurück und duckte sich. Die Tür wurde aufgestoßen, und Jesse sah die Silhouetten der beiden Männer, die nun eintraten. Im nächsten Moment - 125 -
zerriß das grelle Mündungslicht aus Jesses Waffe die Dunkelheit. Die Kugel fegte an einem der Männer vorüber, und Jesse schrie ihnen zu: „Laßt fallen! Keine Bewegung mehr!“ Jack McKay und der Mann neben ihm waren völlig überrascht. Dumpf schlugen ihre Revolver zu Boden. Jesse jagte abermals einen Schuß an ihnen vorbei und fauchte: „Ihr werdet die Sonne nicht wiedersehen, wenn ihr verrückt spielt! — Juan, such die Kerle nach weiteren Waffen ab! Los, beeil dich!“ Fast geräuschlos hastete Juan an ihm vorüber. Die Männer hatten nach dem zweiten Schuß die Arme gehoben. Juan nahm die Revolver vom Boden und kam zu Jesse zurück. „Also einer von euch ist Jack McKay!“ schnappte Jesse. „Wer von euch ist es?“ „Ich! Aber ich sage dir schon jetzt, daß du aus dieser Falle nicht herauskommen wirst, Seldon!“ schrie McKay. „Das wollen wir abwarten, McKay! Und wer bist du?“ „Lamp, Carry Lamp!“ „Ah, der Rinderdieb Carry Lamp! An die Wand mit euch beiden, und zwar mit der Nase voran! Und brav die Hände hoch halten! Und noch eines: Wünscht euch, daß keiner eurer Amigos in diesen Bau kommt, denn dann knalle ich euch ab. Sicherlich interessiert es euch auch, daß Sid Boase seinem Kumpan Massey gerade die Hand schüttelt. Jetzt hocken sie nebeneinander in der Hölle. — Wen sucht ihr hier eigentlich?“ „Einen gewissen Jesse Seldon, damit du es genau weißt1“ sagte Jack McKay. „Er wird wegen Mordes an dem Vormann dieser Ranch gesucht.“ Jesse begann laut zu lachen..... wegen Mordes an Dan Baker? - 126 -
Ich werde verrückt!“ schrie er, immer noch lachend, auf. „Juan, hast du das gehört? Diese Schufte sind wirklich gerissen! Hier, McKay liegt Sheriff Quartermain auf dem Bett, und er hört jedes deiner verlogenen Worte. Er ist zwar verwundet, aber was macht das schon. Euer Spiel ist aus! Eure gekauften Revolverbanditen hocken an der Seite des Satans, und nun geht es deinem Daddy an den Kragen. — Wo ist er?“ Jack McKay gab keine Antwort. Jesse stieß ihm die Mündung seines Revolvers in den Rücken und befahl: „Gib Antwort, McKay!“ „Er ist irgendwo dort draußen! Wo sollte er sonst sein? Aber gleich wird er uns vermissen, denn ich soll sofort zu ihm zurückkommen, wenn wir hier ... Ah, fahr zum Teufel, Seldon!“ „Dein Dad wird vor mir bei ihm sein!“ schnappte Jesse. Zugleich überlegte er fieberhaft, was er mit den beiden Männern beginnen sollte. Es war zu gefährlich, sie in der Obhut von Juan zu lassen. Wenn der Junge auch nicht dumm war, gegen die Skrupellosigkeit dieser Burschen kam er nicht auf. Gab es hier keine Stricke, keine Lassos? „Juan, such Stricke und Lassos! Aus diesen beiden Amigos wollen wir ein paar feine Pakete machen!“ „Beim Ofen sah ich welche“, antwortete Juan aufgeregt. „Dann hol sie!“ Wenige Augenblicke später gab Juan Jesse ein Lasso. Jesse stieß seinen Revolver in den Halfter und knurrte Juan zu: „Bewach sie mit deiner Kanone, Amigo! Sobald einer von ihnen verrückt spielen will, knallst du ihn nieder!“ Nach kaum zehn Minuten lagen Jack McKay und der - 127 -
Cowboy Lamp am Fußboden. Jesse richtete sich gerade auf. als er die matte Stimme Sheriff Quartermains hörte. „Seldon, ich habe nicht alles verstanden. Wer sind die beiden?“ „Frank McKay ist mit seinen Cowboys auf die Ranch gekommen. Sie haben Boase hier hereingeschickt. Der Schuft erschoß Colt-Jim, dann wollte er Ihnen den Garaus machen. Aber Juan jagte ihm eine Kugel in den Kopf. Und nun kamen Jack McKay und der Cowboy Lamp herein. Sicher wollten sie dem toten Sheriff die letzte Ehre erweisen! — Jetzt liegen sie gefesselt hier auf dem Boden!“ „Was wollen sie hier? Wollen sie vielleicht das Mädel entführen?“ fragte der Sheriff. „Nein!“ Jesse grinste. ..Sie suchen einen gewissen Jesse Seldon, der den Vormann dieser Ranch ermordet haben soll.“ „Ich weiß es nicht. Ein halbes Dutzend oder mehr mögen es sein. Ah, wo ist eigentlich der Cowboy Slade? Er sollte das Mädchen bewachen!“ Jesse fuhr herum, beugte sich über McKay und Lamp und fauchte: „He, McKay, was habt ihr mit Luke Slade angestellt?“ „Das weiß ich nicht. Irgend jemand feuerte, und ein Mann auf dem Vorbau schrie auf“, gab der Gefangene zurück. „Lassen Sie ihn nur, Seldon!“ sagte Quartermain, und Jesse glaubte erkennen zu können, daß er sich aufrecht setzte. Schnell ging er zu ihm. „Bleiben Sie liegen, Sheriff!“ mahnte er, aber Quartermain schnaufte: „Das ist eine gute Chance, sage ich! Ich muß zu ihm hinaus! Ich muß ...“ „Zu wem wollen Sie hinaus?“ - 128 -
„Zu Frank McKay natürlich! — Oh, wenn mir doch nur etwas wohler wäre!“ begann Quartermain nun zu schimpfen. „Und dabei ist dieser Schuft hier auf der Ranch! Helfen Sie mir, Seldon! Er darf mir nicht entkommen! Ah, wo ist mein Revolvergurt?“ „Sie dürfen nicht aufstehen, Sheriff!“ brummte Jesse und drückte ihn an der Schulter zurück. „Legen Sie sich wieder hin! Wie haben Sie sich das gedacht?“ „Im Dunkeln sind alle Katzen grau!“ keuchte Quartermain. „Wenn mehr als ein halbes Dutzend Cowboys auf der Ranch herumlaufen, wird er den Mann, der auf ihn zukommt, nicht so schnell von einem anderen unterscheiden können. Einfach auf ihn zugehen, ihn anrufen und dann im Namen des Gesetzes verhaften — schlimmstenfalls hinaus mit dem Blei!“ „Das können Sie, ein Sheriff!“ sagte Jesse. „Das kannst du auch, Seldon!“ brach es heftig über die Lippen Quartermains. „Tust du es nicht, werden sie dich trotz allem noch erwischen. Sie müssen uns töten, wenn McKay noch etwas retten will. Und willst du dich von einem solchen Schuft abknallen lassen? — Sei kein Narr, Seldon! Komm näher zu mir!“ Jesse beugte sich zum Sheriff nieder und erkannte, daß dieser ihm die Hand entgegenstreckte; „Das nimmst du aus meinen Händen, Seldon! Du handelst jetzt in meinem Auftrag, als mein Gehilfe, als Hilfssheriff, verstanden? Mach den Orden an deinem Hemdfest! Dann verläßt du diesen Bau, gehst geradewegs auf McKay zu, rufst ihn an, und das andere ergibt sich dann von selbst! Verstanden?“ Jesses Hand umklammerte das Abzeichen. Er zögerte. „Los, geh!“ sagte Quartermain befehlend. „Tu, was ich dir sagte! Damit wird keiner rechnen!“ - 129 -
„Ich kann es aber nicht, Sheriff!“ „Du mußt, Seldon!“ flüsterte Quartermain, und diese geflüsterten Worte wirkten eindringlicher, als wenn der Sheriff gebrüllt hätte. „Das werdet ihr nicht wagen!“ schrie der junge McKay und rollte sich auf die Seite. „Das wäre glatter Mord!“ Das Wort alarmierte etwas in Jesse. Wild lachte er auf: „Das müßt ihr McKay gerade sagen! Mord! Ihr habt Jim und Bud Harbers abknallen lassen und ... Ah, ausgerechnet ihr! Jetzt, wo es euch an den Kragen geht, beginnt ihr zu greinen wie alte Weiber! — In Ordnung, Sheriff! Ich vertrete Sie nicht gern, und wie es ausgehen wird, mag der Himmel wissen! — Ah, ich muß noch nachladen. Juan, hol die Winchester. Sie muß dort drüben in der Ecke stehen.“ Im Dunkeln lud Jesse seinen Revolver nach. Dabei horchte er auf die Geräusche, die vom Ranchhof hereindrangen. „Du mußt jetzt gehen, Seldon!“ verlangte Quartermain. „Sonst beginnen sie diese beiden Kerle zu suchen! Tu alles ganz ruhig! Denk nur an ihre Taten und daran, daß man dich in die Hölle jagen will! Das Ding auf deiner Brust wird dir die erforderliche Kraft geben. Geh, Seldon, bevor es zu spät für uns alle ist!“ „Grüßen Sie das Mädel von mir, wenn...“ „Das mach gefälligst selbst!“ fauchte der Sheriff. „Halt die Augen offen! Los denn!“ „Juan, adios, Juan!“ „Senor, ich werde zur heiligen Jungfrau von Guadalupe beten und ...“ „Die Hölle soll dich verschlingen!“ schrie Jack McKay plötzlich. „Seldon, was soll ich dir bieten? Wir - 130 -
können ...“ Jesse ging langsam zur Tür. Er hatte den Revolver wieder in die Halfter geschoben, hielt aber die Hand um den Kolben geklammert. Dicht vor der Tür blieb er stehen. Quartermain fragte: „Weißt du ungefähr, wo er ist?“ „Er hat einen Schimmel. Er und das Pferd standen vorhin an dem Vorbau drüben. Noch was, Sheriff?“ „Nichts! — Geh!“ Jesse tastete nach dem Knauf der Tür und schob sie auf. Inzwischen war der Mond aufgegangen. Jesse blieb reglos stehen, als er beim nächsten Gebäude, es schien ein Stall zu sein, zwei Cowboys entdeckte. „Hier ist der Bursche nicht!“ sagte der eine. „He, Jack, hast du ihn gefunden?“ Jesse senkte den Kopf, trat von der Tür fort und sah zum Wohnhaus hinüber. Etwa zehn Schritte entfernt standen die Pferde der Cowboys hinter hängenden Zügeln. Er ging steifbeinig auf sie zu und schob sich in eine Lücke zwischen zwei Tieren. - Jetzt sah er den Schimmel vor dem Vorbau des Wohnhauses deutlicher. Dicht daneben entdeckte er die Beine eines Mannes, dessen Körper im Schatten des Hauses verborgen war. „He, Jack, beeil dich!“ rief der Mann über den Ranchhof, und Jesse wußte sofort, daß diese Worte ihm galten. By gosh, er schien wirklich wie der Rancherssohn zu wirken. Eben die beiden Cowboys — jetzt der Rancher selbst!“ Aber er war nicht sein Sohn! Er war jener Mann, der viele Monate von Frank McKay, der jetzt wartend auf dem Vorbau stand, gehetzt wurde. Entschlossen ging Jesse auf den Schimmel zu. By gosh, was sollte werden, wenn er McKay erschießen - 131 -
mußte? Was kam dann? Der Ranchhof wimmelte von McKays Cowboys. Was sollte aus Quartermain und Juan werden? Jesses Blicke hingen an dem Rancher, der jetzt breitbeinig an der Kante des Vorbaues stand, als sei er der Herr dieser Ranch. Er hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und wandte den Kopf hin und her. „Sucht noch einmal alles ab, Männer!“ rief er laut über den Hof. „Jack, ist drüben alles in Ordnung? Wo ist Boase geblieben?“ Jesse gab keine Antwort, sondern senkte den Kopf noch mehr und ging etwas schneller, denn von rechts kam ein Cowboy auf ihn zu. Er mußte vermeiden, daß dieser in seine Nähe kam. „Verdammt, Sohn, kannst du mir keine Antwort geben?“ fuhr Frank McKay nun wütend auf. „Was ist mit Quartermain und diesem...“ Die Worte des Ranchers verstummten wie abgeschnitten. Er prallte zurück, aber in dieser Sekunde hatte Jesse seine Waffe schon heraus und riß sie hoch. Doch er feuerte nicht. „Keine Bewegung, McKay“, zischte er dem Rancher zu, dessen Hand zollweit über dem Kolben des Revolvers hing. „Treten Sie einige Schritte zurück! Wenn Sie rufen sollten, knallt es!“ McKay wich zurück, ein heiserer Laut drang über seine Lippen. „Seldon?“ fragte er leise. „Genau der, McKay!“ fauchte Jesse und stieg, den Revolver im Anschlag, die Stufen hinauf. „Und dazu auch noch im Auftrag von Sheriff Quartermain, wie Sie an dem Orden auf meiner Brust sehen können. Los, bis an die Wand zurück.“ - 132 -
„Wo ist mein Junge?“ „Das werden Sie vorerst nicht erfahren!“ knurrte Jesse. „Übrigens, Ihr Revolverbandit Sid Boase ist zum Teufel gefahren. Und nun habe ich Sie vor dem Revolver und könnte mich für alles, was Sie mir antaten, bedanken! — Na, wie ist Ihnen, McKay? Ich habe den Auftrag von Sheriff Quartermain, Sie zu verhaften! Wegen der Morde an Jim und Bud Harbers zum Beispiel — und natürlich auch in eigener Sache! — Heben Sie die Hände hoch!“ Jesse trat dicht an den Rancher heran, starrte ihm in das breitflächige Gesicht, riß ihm den Revolver aus der Halfter und klemmte ihn hinter seinen Hosengurt. Der Rancher atmete hastig. Dann keuchte er: „Sie haben keine Chance, Seldon! Meine Männer werden Sie erwischen, und ich werde Ihnen hinterher noch einen Fußtritt versetzen.“ Jesse grinste breit. „Rufen Sie Ihre Cowboys, Rancher McKay — und es wird Ihr letzter Laut gewesen sein! Sie werden jetzt genau das tun, was ich von Ihnen verlange, verstanden? Gehorchen Sie nicht, dann erfülle ich den Auftrag Sheriff Quartermains. Wenn Sie sich nicht verhaften lassen, schieße ich!“ „Das wäre — wäre Mord! Das wäre...“ „Kennen Sie dieses Haus, Sie Schuft? In dieses Haus haben Sie Sid Boase und Austin Massey geschickt und ließen den Rancher und dessen Sohn erschießen ermorden! Und nun fürchten Sie sich, Sie Feigling! — Sie werden nun Ihre Kerle zusammenrufen, McKay! Ihr Sohn Jack wird jedoch ebenso fehlen wie der Cowboy Lamp, aber das tut nichts zur Sache. Wenn die Amigos von Ihrem Brandzeichen alle vor uns stehen, will ich ein - 133 -
paar Worte mit ihnen sprechen, klar? Und wenn Ihre Leute nicht tun, was ich befehle, werden Sie nicht mehr erleben, was dann geschieht. Dort kommt einer Ihrer sauberen Cowboys. Rufen Sie ihn heran, aber nicht zu nahe!“ „Es ist Mat Barbers!“ keuchte der Rancher. „Mat Barbers! Komm näher!“ Aus den Augenwinkeln — den Revolver auf den Rancher gerichtet — sah Jesse zu dem Cowboy, der stehen blieb und fragte: „Ich soll kommen, Rancher?“ „Yeah! Beeil dich!“ Als der Cowboy näher kam, fragte sich Jesse, wo Helen Harbers sein mochte. Jetzt erst sah er den dunklen Körper eines Mannes an der Schmalseite des Vorbaues liegen. Es mußte der Cowboy Slade sein, den die Kerle erschossen hatten. Inzwischen stand Barbers vor den Stufen des Vorbaues. Er war mit einer Winchester bewaffnet, starrte herauf und schien zu erkennen, daß hier etwas nicht Stimmte. „Rancher, was ...“ „Halt den Mund!“ knurrte Jesse. „Und versuch nicht, deine Flinte zu heben, sonst ergeht es deinem Rancher übel! — Du gehst jetzt in die Mitte des Hofes, rufst alle Cowboys dorthin, und dann richtest du ihnen aus, was ich dir jetzt sage: Innerhalb von zehn Minuten hat die gesamte T und T-Crew diese Ranch zu verlassen. Geschieht das nicht oder solltet ihr versuchen, an mich heranzukommen, dann wird das der letzte Augenblick in McKays Leben sein, verstanden? Der Rancher ist der Gefangene von Sheriff Quartermain, und ich bin der Beauftragte des Sheriffs. Verschwindet möglichst - 134 -
schnell!“ Mat Barbers stand einen Moment stocksteif, dann drehte er sich langsam um und jagte eine Verwünschung hinaus. Als er nach einigen Schritten stehen blieb, zog Jesse den Revolver etwas herum, feuerte eine Kugel an dem Cowboy vorbei und schrie: „Schlaf nicht ein, Cowboy!“ Barbers stolperte vorwärts und rief laut über den Ranchhof: „Kommt zu mir! Kommt alle zu mir!“ Er“ ruderte mit den Armen durch die Luft, dann fragte er: „Wo ist Jack McKay?“ „Der ist doch zum Rancher gegangen! schrie einer. „Dort steht er doch!“ „Das ist nicht Jack McKay, das ist Jesse Seldon! Seldon ist es!“ Rufe der Verblüffung und Flüche kamen auf, aber alle Cowboys, es schienen acht oder neun zu sein, gingen zu den Pferden. Sie umringten Barbers, dessen Worte undeutlich herüberklangen. Doch Jesse achtete nicht so genau darauf, denn jener Mann, der an der Vorbaukante lag und den er für tot hielt — der Cowboy Luke Slade — regte sich und stützte sich mühsam auf die Hände. Er stöhnte heiser vor sich, doch Jesse erkannte auch, daß Slade in der einen Hand noch seinen Revolver hielt. Jesse trat, ohne den Rancher aus den Augen zu lassen, von der Wand fort und fragte den Cowboy: „Luke, was ist mit dir?“ Der Cowboy hockte auf den Knien, krallte seine Hand auf seiner Brust fest und atmete laut und keuchend. „Seldon, McKay selbst war es! Er stand plötzlich hier an der Kante und zog einfach durch.“ Slade richtete sich auf und kam schwankend näher. Dann lehnte er sich gegen die Wand und fragte: - 135 -
„Wer ist es, den du da vor dem Eisen hast, Seldon? Mein Gott, das ist er ja — McKay! Ah, jetzt stehe dir der Himmel oder die Hölle bei! Er gehört mir, für meinen Rancher und Bud Harbers! Mir gehört er, sage ich!“ Luke Slade schob sich bei diesen Worten an der Wand entlang und keuchte: „Geh fort von ihm, Seldon! Er gehört mir! Geh fort!“ „Seldon, das dürfen Sie nicht dulden!“ brüllte McKay auf „Der Mann ...“ „Der Mann ist noch einmal von den Toten auferstanden, McKay!“ sagte Jesse zwischen der Zähnen „Sie haben ihn niedergeschossen, ohne ihm eine Chance zu geben.“ Jesse zog sich etwas von McKay zurück und blickte Luke Slade an, der sich mit der Linken gegen die Wand stützte und langsam seinen Revolver hob. Auch McKay starrte zu ihm hin und brüllte: „Nicht! — Nicht!“ Er stürmte auf die Stufen des Vorbaues zu, doch er erreichte sie nicht mehr. Peitschend zerriß der Schuß von Luke Slade die Stille. McKay warf beide Arme hoch, schrie auf und brach zusammen. Dumpf schlug sein massiger Körper zu Boden. Aber auch Luke Slade war jetzt am Ende seines Lebensweges. Er glitt an der Hauswand nieder. Der Revolver entfiel seiner Hand und polterte auf die Dielenbretter des Vorbaues. Noch einmal hob Luke den Kopf und sagte mit verlöschender Stimme: „Cheerio! Cheerio, Jesse Seldon!“ Jesse blickte zu, den Cowboys hinüber, die bei den Pferden standen. Noch bevor von ihnen eine Frage kam, rief er: „Cowboys! Das Spiel von Frank McKay ist aus! Hier liegt er — tot! Und Jack McKay ist der Gefangene - 136 -
Sheriff Quartermains! Verschwindet auf der Stelle von der Ranch, und wer es nötig hat, verläßt besser noch heute nacht diese Gegend!“ Jesse spähte lauernd zu ihnen hinüber. Wofür würden sie sich entscheiden? Sie sprachen hastig miteinander, dann aber warf sich der erste in den Sattel seines Pferdes, ein zweiter folgte — und ein dritter schrie: „So wie es eigentlich kommen mußte! Frank McKays Spiel war übel, und nun hat man es ihm heimgezahlt! Benny, kommst du mit? Ich reite nach Nevada hinauf, da ist die Luft gesünder.“ „Die Luft in Wyoming soll noch besser sein!“ rief ein anderer, und wieder zog sich ein Mann in den Sattel. Nach kaum fünf Minuten war der Ranchhof leer. Nur drei Pferde mit den Brandzeichen der T und T-Ranch blieben zurück. Die Pferde von Frank und Jack McKay und das Pferd des Mannes, der gefesselt bei Jack McKay im Mannschaftshaus lag. Jesse wartete noch einige Minuten mit schußbereitem Revolver. Dann ging er zur Haustür, stieß sie auf und trat schnell in den dunklen Raum, der vor ihm lag. „Helen! — Helen!“ rief er. „Yeah, hier, Jesse! Mein Gott, Jesse!“ Sie kam auf ihn zugehastet, warf sich in seine Arme und begann zu schluchzen. Er hielt sie fest und sprach beruhigend auf sie ein. Dann zog er sie zur Tür. Sie wich zurück, als sie den Toten bei den Vorbaustufen sah. „Schau nicht hin, Mädel Das war einmal McKay, der alles gewinnen wollte und alles verlor. — Komm weiter, wir müssen zu Quartermain ins Mannschaftshaus!“ Sie hielt sich an seiner Hand fest und lief neben ihm über den Ranchhof. Wenige Augenblicke später - 137 -
verschwanden sie in dem schmalen Schatten, den das Haus warf. Kurz darauf fiel heller Lichtschein aus den Fenstern der Bunk. ENDE
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