Harry Thürk
Der Gaukler Band 2
Harry Thürk
Der Gaukler Roman Zweites Buch
Verlag Das Neue Berlin
I. »Du solltest ...
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Harry Thürk
Der Gaukler Band 2
Harry Thürk
Der Gaukler Roman Zweites Buch
Verlag Das Neue Berlin
I. »Du solltest ein Kochbuch schreiben.« Boris Petrowitsch Kursanow schnupperte dem Duft nach, der durch den Wohnraum der Datscha zog. Dabei hörte er nicht auf, sich zu rasieren; er tat es langsam, mit kurzen Strichen des Rasiermessers, wobei er die Haut mit zwei Fingern spannte, um auch tatsächlich jedes Haar zu erwischen. Der Mann am Propangaskocher, er schien etwas jünger zu sein als Kursanow, ließ sich nicht stören. Er bereitete zwei Zander zu, die er am Morgen von einem Angler gekauft hatte. Sorgfältig verteilte er Butter über die Fische und achtete darauf, daß sie nicht am Boden der Pfanne festbrieten. Er brummte etwas, das Kursanow nicht verstand, und dieser wiederholte: »In der Tat, Wadja, es würde sich lohnen! Kinderbücher kannst du immer noch schreiben, aber ein vernünftiges Kochbuch das wäre eine Sensation, wenn es von dir kommt! « An den Hosen Kursanows waren die breiten blauen Streifen, wie ein Fliegergeneral sie zu tragen hatte. Aber wenn man ihn so sah, mit den herabhängenden Hosenträgern, dem weißen Unterhemd und dem zur Hälfte mit Seifenschaum bedeckten Gesicht, fiel es einem schwer, sich ihn in der Funktion eines hohen Militärs vorzustellen. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, vielleicht etwas älter. Schwer zu schätzen. Sein Gesicht war wettergebräunt, zeugte von Gesundheit. Hätte er behauptet, er wäre vierzig, man würde es ihm geglaubt haben. Wadim Sergejewitsch Shagin, der Jüngere der beiden, hätte hingegen durchaus angeben können, er sei weit über die Fünfzig hinaus, kaum jemand hätte daran gezweifelt. Er war außerordentlich schlank, auch sein Gesicht war schmal, es hätte asketisch gewirkt, wenn nicht die hellblauen Augen mit dem Schimmer von versteckter Heiterkeit diesen Eindruck gemildert hätten. Shagin strich sich das widerspenstig in die Stirn fallende blonde Haar zurück, warf einen prüfenden Blick auf die Zander, und dann brannte er sich eine
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Belomor an. Er hielt nichts von den überall angepriesenen Filterzigaretten, er rauchte die Papiros mit dem langen Hohlmundstück, das er zwischen die Zähne klemmte, während er nun wieder Butter über die Fische löffelte. Sich umdrehend und Kursanow beobachtend, meinte er: »Immer wenn ich dir beim Rasieren zusehe, läuft es mir kalt über den Rucken! Wenn du dich schon nicht an den elektrischen Apparat gewöhnen kannst, willst du nicht wenigstens auf Klingen umsteigen?« Es war nicht das erste Mal, daß er Kursanow wegen seiner Rasiermethode neckte. Aber dieser lächelte nur und deutete auf die Belomor, die Shagin zwischen den Zähnen hatte. »Rede nicht über altmodisches Rasieren, Junge. Sonst rede ich mit dir über altmodisches Rauchen! Es würde mich nämlich nicht überraschen, wenn du eines Tages anfängst, Ziegenbeinchen zu drehen! « »Sobald ich Machorka ausfindig mache, tue ich das«, gestand Shagin mit entwaffnender Selbstverständlichkeit. »Ich liebe Machorka, sozusagen als nostalgischen Luxus. Und mit einer Machorkatüte kann man sich nicht die Gurgel durchschneiden! « Kursanow streifte mit einer eleganten Bewegung den Seifenschaum von der Klinge des Messers und hob es Shagin entgegen. »Es wird meine Gurgel sein! Aber keine Sorge: Ich habe inzwischen bereits drei meiner Stabsoffiziere dazu bekehrt, sich ebenfalls mit dem Messer zu rasieren. Was sagst du dazu? « »Rückschritt. Der Marsch in die Vergangenheit, General. Läßt du demnächst deine Einheit auch wieder mit alten I-16 ausrüsten? « Kursanow schmunzelte. »Die I-16 war ein gutes Flugzeug. Schade, daß wir keine mehr haben; ich wurde sehr gern ab und zu darauf fliegen. « »Die Chinesen würden das für einen neuen Beweis des Niedergangs halten. « »Oder für eine Provokation!« Kursanow lachte. Er fuhr prüfend mit den Fingerspitzen über die Hautpartie unter dem Kinn, fand
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keine Stoppeln mehr und beschloß, es für heute genug sein zu lassen. Über der Emaillewaschschüssel spülte er die letzten Seifenreste vom Gesicht, dann trocknete er es ab. Er stellte fest, daß Shagin neue Handtücher gekauft hatte. Überhaupt hielt er die Datscha in mustergültiger Ordnung. Es gab keinen Staub, nirgendwo lagen unnütze Dinge herum, und hin und wieder nahm er auch Reparaturen vor, denn da und dort waren ein Brett erneuert, ein Balken neu eingezogen und sogar lackiert worden. Der Junge scheint sich hier zu Hause zu fühlen. »Was ist nun mit den Zandern? Kommen sie noch auf den Tisch, bevor ich fahren muß? « Shagin hielt ihm die Pfanne mit den beiden Fischen unter die Nase. »Da, sieh sie dir an! Und sag mir, ob du so etwas im feinsten Hotel in Fernost schon mal gegessen hast! « Kursanow brummte etwas Unfreundliches, das sich auf die Hotels in Fernost bezog. Dann streifte er das Hemd über, band die Krawatte und holte Teller aus dem Schrank. Shagin, der die Fische nochmals gewendet hatte und sie nicht aus den Augen ließ, schnitt Brot ab, stellte Gläser auf den Tisch und eine Flasche Wodka, dann zauberte er noch aus einem Vorratsschrank frische Zwiebeln, Gewürzgurken und eine Zitrone hervor. Kursanow sah es staunend. »Du entwickelst dich zur perfekten Hausfrau. Verstärkt etwa der Beruf des Schriftstellers diese Eigenschaften bei einem Menschen noch? « Shagin war damit nicht aus der Ruhe zu bringen. Gleichmütig zuckte er die Schultern, während er die Fische auf die Teller legte. Er goß Wodka ein, schälte ein paar Zwiebeln, ohne daß ihm dabei Tränen in die Augen gerieten, schnitt Zitronenscheiben ab, die er in die Wodkagläser legte, und als er sich endlich an den Tisch setzte, erklärte er gelassen: »Kochen erfordert Phantasie. Ebenso wie das Schreiben von Büchern. Da hast du den Grund. Nur phantasielose Menschen können nicht kochen. Oder Faulpelze.« »Beleidige nicht einen General! « warnte Kursanow. »Ich kann es nämlich nicht. «
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»Du drückst dich davor, es zu versuchen. « Kursanow probierte von der Mahlzeit und zog anerkennend die Augenbrauen hoch. »Also gut, ich bin ein Faulpelz. Und du bist ein Universalgenie. Das habe ich frühzeitig erkannt, deshalb wohnst du hier bei mir. « Er hob das Wodkaglas, kritisch die Zitronenscheibe musternd. Shagin prostete ihm zu. »Wie lange bleibst du? « Kursanow verzog das Gesicht. »Ich habe nur eine Woche. « »Genug Zeit für deine Frau, einen Einkaufsbummel durch Moskau zu machen. Warum hast du sie nicht mitgebracht? « »Weil sie nicht abkömmlich war, wie man das bei der Armee öfter hat!« Kursanow widmete sich dem Fisch. Seine erste Ehe war von sehr kurzer Dauer gewesen, der Krieg hatte sie zerstört. Heute lebte der General mit einer Militärärztin zusammen. Sie war wie er in Fernost stationiert. Shagin hatte sie noch nie gesehen. Die Freundschaft zwischen den beiden Männern war plötzlich entstanden, unerwartet eigentlich. Es war einige Jahre her, daß Kursanow dem hochaufgeschossenen blonden Schriftsteller zum erstenmal begegnet war. Der General hatte damals zum Stab der Akademie der Luftstreitkräfte gehört und Taktik gelehrt. Der Politoffizier hatte ihn zu sich gerufen und ihm einen Mann vorgestellt, der ihm etwas unsicher die Hand gegeben und seinen Namen, Wadim Sergejewitsch Shagin, genannt hatte. »Schriftsteller«, hatte der Politoffizier hinzugefügt. »Er schreibt für Kinder. Nicht vergeblich übrigens, meine Enkel pflegen seine Bücher noch nachts, mit Hilfe einer Taschenlampe, zu lesen, wenn die Familie glaubt, sie schlafen längst tief. Jetzt ist er dabei, über einen Flieger zu schreiben, einen Helden, sozusagen ein Vorbild für junge Leute, du weißt schon, wie ich das meine. Also man hat ihn zu uns geschickt, und wir wollen ihm helfen. Er soll von dir alles erfahren, was er für sein Buch braucht. Einverstanden?«
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Kursanow hatte ziemlich mürrisch dreingeblickt. Er hielt nichts davon, fremden Leuten als Held vorgestellt zu werden. Und Schriftsteller waren überhaupt eine Gattung Menschen, bei denen man nie wissen konnte, ob man nicht Fehler mit ihnen machte, die man hernach in Büchern dargestellt fand. »Gehen Sie in mein Zimmer, und warten Sie dort«, bat er Shagin, und nachdem dieser gegangen war, fuhr Kursanow den Politoffizier an: »Was denkst du dir dabei? Du weißt, ich habe eine anstrengende Arbeit, und ich verspüre absolut keine Lust, nebenbei sozusagen einem Künstler Modell zu stehen! Schick ihn weg! Zu einem anderen, der so eitel ist, daß ihm so was Spaß macht! Mir macht es keinen!« Der Politoffizier forderte ihn mit einer Kopfbewegung zum Hinsetzen auf. Dann sagte er ruhig: »Boris Petrowitsch, ich werde ihn nicht wegschicken. Weil ich es für notwendig halte, daß man Autoren hilft, die über die Armee schreiben wollen. Er soll dich nicht porträtieren, er soll von dir lernen. Außerdem war er selbst Soldat, ihr werdet euch blendend verstehen.« »Kriegsteilnehmer?« Es klang mißtrauisch. Der Politoffizier nickte. »Infanterie. Und es gibt noch einen anderen Grund, aus dem wir verpflichtet sind, ihm zu helfen. Er hat längere Zeit in einem Straflager zugebracht. Eine dieser unglücklichen Geschichten du kannst sie dir von ihm erzählen lassen. Er wurde rehabilitiert. Shagin ist ein Kommunist, Boris Petrowitsch, du solltest ihm vertrauen. Er wird nichts über dich schreiben, was nicht stimmt.« »Das habe ich nicht behauptet«, verwahrte sich Kursanow. Der Politoffizier winkte ab. »Dann ist alles in Ordnung. Mach dich mit ihm bekannt. In einer Woche erwarte ich deinen Bericht, ob du mit ihm zurechtkommst. Einverstanden?« Kursanow konnte nur knurren: »Was bleibt mir übrig . . .« Dann ging er, grollend. In seinem Zimmer angekommen, einem kleinen, spartanisch eingerichteten Raum, in dem er zwischen den Vorlesungen zu arbeiten
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pflegte, saß der Schriftsteller und rauchte eine Belomor. Als Kursanow eintrat, erhob er sich und drückte die Zigarette aus. Kursanow brummte, er möge sich wieder setzen, stellte sich vor ihm auf und stemmte beide Hände in die Hüften. »Nun hören Sie mir mal genau zu, Genosse Schriftsteller! Ich habe eben mit unserem Politoffizier einen Streit über Sie gehabt. Ich wollte nichts mit Ihnen zu tun haben. Es ging darum, daß ich eine tiefe Abneigung dagegen habe, mich zu Lebzeiten gewissermaßen in die Literatur einzuschleichen. Ich bin darüber belehrt worden, daß das ein falscher Standpunkt ist. Weil ich Soldat bin, habe ich unter anderem die Gewohnheit, mich einer neuen Einsicht nicht von vornherein zu verschließen. Also wenn Sie jetzt noch darauf bestehen, sich von mir Dinge sagen zu lassen, über die Sie dann schreiben, stehen Sie auf, und nehmen Sie Ihre Mütze!« Wadim Sergejewitsch Shagin erhob sich lächelnd. Kursanow holte aus dem Schrank seinen Mantel, schloß den Schreibtisch ab und wandte sich an Shagin: »Gehen wir?« »Wohin?« Kursanow blieb in der Tür stehen. »Mein Dienst ist für heute zu Ende. Wir fahren auf meine Datscha, nach Peredelkino. Dort wohne ich. Wo wohnen Sie?« Zu seiner Überraschung antwortete der Schriftsteller: »In Peredelkino.« »Auch in einer Datscha?« »Nein. Bei einer alten Frau, im Dorf. Sie hat Platz in ihrem Häuschen, sie ist allein. Ihr Sohn ist nicht aus dem Krieg heimgekommen. Er hieß Pjotr Gordejew . . .« »Sie kannten ihn?« »Ich habe ihn begraben.« Es war ein Jahr später, als Kursanow dem Schriftsteller anbot, in seine Datscha zu ziehen. Er hatte lange darum gekämpft, wieder mit der Führung einer Einheit betraut zu werden; die er nun übernehmen sollte, war in Fernost stationiert. »Zieh in meine Datscha, Wadja«, schlug da Kursanow dem Schrift-
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steller vor. »Ich werde Jahre in Fernost verbringen. Und dieses Häuschen hier sollte nicht die ganze Zeit leer stehen. Häuser leben länger, wenn sie bewohnt sind. Richte dich ein, schreibe deine Bücher und betrachte dich als mein rückwärtiger Dienst, einverstanden?« Sie kannten einander bereits gut genug, und so wie Kursanow nicht daran zweifelte, daß Shagin sein Angebot annehmen würde, wußte Shagin, daß er mit seinem Einzug in die Datscha dem General das Gefühl mit auf den Weg geben würde, in Moskau zu Hause zu sein, dort das zu haben, was er als seine zweite Heimstätte bezeichnen würde. Kursanow war sehr früh am Morgen gekommen, überraschend, und er hatte Shagin polternd aus dem Schlaf gerissen. Danach hatten sie Tee gekocht und beieinandergesessen, bis der General sich erinnerte, daß er zur Stadt mußte. Er hatte dem Schriftsteller in wenigen Worten erzählt, worum es sich handelte. Shagin hatte kopfschüttelnd zugehört. Er begriff, daß Kursanow neugierig war auf dieses Mädchen, das da in Moskau arbeitete, die Tochter des Franzosen, der mit ihm zusammen geflogen war, als es das Geschwader NormandieNjemen gab. Aber warum hatte er ihr nicht einfach den Fahrer geschickt und sie abholen lassen? »Das wäre sehr unhöflich, Junge«, meinte Kursanow. »Du mußt berücksichtigen, daß der Brief, den sie mir schrieb, fast zwei Jahre alt ist!« Shagin grinste. »Generäle sind schreibfaul!« »Unsinn!« Kursanow griff nach der Schachtel Belomor, die Shagin auf den Tisch gelegt hatte. Er brannte die Papiros an, hustete, weil er nur immer dann rauchte, wenn er erregt war oder unsicher, und sagte: »Sie hat ihn an meine alte Moskauer Adresse geschickt. Meine Nachbarin war daran gewöhnt, daß ich mich in gewissen Zeitabständen bei ihr sehen ließ, aus alter Freundschaft sozusagen, und sie hob den Brief auf.« »Zwei Jahre«, bemerkte Shagin ungerührt. »Kapitale Zeit!«
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Kursanow ließ sich nicht beirren. »Nein, ich werde selbst bei ihr erscheinen. Das gehört sich. Ich bin kein Playboy, sondern ein sowjetischer General. Und sie ist Französin!« »Amerikanerin«, erinnerte ihn Shagin, »wenn ich es recht verstanden habe.« »Nun ja. Charles Laborde schrieb mir, daß er sie nach Amerika geschickt hat, auf eine Universität. Das ist lange her.« Er sah auf seine Uhr. Von dem Wolga, der ihn abholen sollte, war noch nichts zu hören. Shagin griff nach der Flasche und blickte den General fragend an. Der nickte. »Einen kleinen. Aber verschone mich mit der Zitrone!« Shagin goß kopfschüttelnd ein. »Da will man dir moderne Lebensweise beibringen, aber du sträubst dich! Wodka sour, das ist das Modegetränk in Amerika, habe ich mir sagen lassen.« »Meinetwegen«, knurrte Kursanow. »Ich sagte schon, ich bin kein Playboy!« Shagin hob das Glas. Sie tranken. Dann bemerkte der Schriftsteller ironisch: »Um auf das Mädchen zurückzukommen, es ist schon eine glänzende Karriere: die teuerste Universität der Vereinigten Staaten, und dann Übersetzerin im Büro eines Elektronikkonzerns!« Kursanow dachte erneut darüber nach. Auch ihm war das seltsam vorgekommen. Charles Laborde hatte ihm in einem seiner wenigen Briefe mitgeteilt, daß seine Tochter Slawistik studiere. Er hatte nicht vergessen anzufügen, daß er sich darüber sehr freue. »Vielleicht braucht man sie für komplizierte Übersetzungsprobleme«, erwog er. »Diese amerikanischen Firmen können sich teure Leute leisten.« Shagin nickte. »Das wird es sein. Ein teures Weib. Was hast du für Pläne mit ihr?« »Pläne?« »Nun ja, du wirst sie begrüßen, wirst sie vielleicht ins Bolschoi einladen, wenn du eine Karte ergattern kannst, Abendessen im ,Ukraina'. Und dann?«
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»Weiß nicht«, brummte Kursanow. »Wir werden über ihren Vater reden, denke ich.« »Das dauert zwei Stunden. Und danach?« »Spazierengehen.« »Noch zwei Stunden.« Kursanow machte eine unwillige Bewegung. »Was soll ich sonst schon mit ihr anfangen? Sie scheint sich einsam zu fühlen hier in Moskau. Das hat sie zwar nicht geschrieben, aber man konnte es zwischen den Zeilen lesen. Weißt du, wie das ist, wenn man plötzlich in einem fremden Land leben muß? Abgeschnitten von seinen Freunden und Bekannten? Mach dir nichts vor, es fällt den meisten Ausländern schwer, sich an unsere Lebensverhältnisse zu gewöhnen. Da kann man sich vorkommen wie eine Nadel im Heu.« »Und das willst du verändern, in einer Woche?« »Das habe ich nicht gesagt!« »Aber du wirst nur eine Woche hier sein!« Kursanow dachte einen Augenblick nach. Dann bekam sein tiefgebräuntes Gesicht einen verschmitzten Ausdruck, und er sagte: »Das macht nichts, Junge. Nachdem ich abgereist bin, wirst du immer noch hier sein! Sie kann sich an dich wenden, wenn sie einsam ist!« »Und dann soll ich sie trösten?« »Ja«, sagte der General mit entwaffnender Freundlichkeit. Der Schriftsteller erhob sich und schüttelte wieder den Kopf. »Boris Petrowitsch Kursanow, der große Kuppler! Ich sehe schwarz für deine Zukunft!« »Ich nicht!« meinte der General fröhlich. »Du bist ein gebildeter Mensch, obgleich du nicht studiert hast. Schriftsteller haben die Gabe, mit Leuten auszukommen. Vielleicht bist du sogar neugierig auf diese junge Ausländerin. Es wird dir schon einfallen, auf welche Weise du mich vertrittst, während ich wieder in Fernost bin!« Shagin brummte etwas wenig Freundliches, Kursanow lächelte. Eigentlich wußte er selbst nicht genau, wie das alles vor sich gehen sollte, aber es handelte sich um Charles Labordes Tochter, und
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niemand sollte glauben, daß er nur einen Augenblick zögerte, wenn es darum ging, sie in dem Land zu begrüßen, in dem ihr Vater sein Leben eingesetzt hatte, an der Seite sowjetischer Flieger. Unvermittelt schlug Shagin vor: »Wir haben Sonnabend, Boris Petrowitsch, warum bringst du das Mädchen nicht einfach hierher?« Kursanow blinzelte ihm zu. »Kuppler hast du gesagt!« »Bring sie mit oder nicht. Aber sag mir vorher, ob du sie mitbringst!« »Warum?« »Weil ich für den Fall, daß sie mitkommt, noch mal ins Magazin gehen werde, um etwas zu essen zu holen!« Draußen war Autogeräusch, dann ging die Tür auf, und ein Sergeant salutierte stramm. Kursanow nickte. »Ich komme. Übrigens wie lange steht mir der Wagen zur Verfügung?« Der Sergeant, dessen Oberlippe ein schmaler Schnurrbart zierte, verkündete laut: »Genosse General, auf Befehl der Akademie der Luftstreitkräfte steht Ihnen das Fahrzeug bis zum Ende Ihres Aufenthaltes in Moskau zur Verfügung.« »Sie auch?« »Genosse General, ich habe Befehl, mich erst wieder zurückzumelden, nachdem ich Sie zu Ihrer Maschine gebracht habe.« Kursanow wandte sich an Shagin: »Also ich werde sie fragen, ob sie Lust hat hierherzukommen. Wenn sie will, bringe ich sie mit. Klar?« Shagin legte betont lässig die Hand an den nicht vorhandenen Mützenschirm. »Genosse General, der Obersergeant Shagin wird, je nach Versorgungslage, Soljanka und Piroggen mit Fleischfüllung servieren oder Borschtsch und Pliny!« »Piroggen sind gut«, meinte Kursanow. »Bring Sekt mit!« rief Shagin ihm nach. Er stellte verwundert fest, daß er auf dieses französische Mädchen neugierig geworden war. Er stieg die schmale Holztreppe hinauf zu seiner Schlaf kammer. Schnell zog er sich ein Jackett an. Bevor er das Haus verließ, räumte
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er in dem großen Wohnraum im Erdgeschoß den Stoß beschriebener Manuskriptseiten weg. Das Buch über die Kinder auf der Tierfarm es würde warten müssen, bis Kursanow wieder abreiste! Sie hatten sich am späten Vormittag im Gorki-Park getroffen, zunächst in einem Restaurant, wo Catherine es so einrichtete, daß sie allein an einem Tisch saß, bis Lara Plotnikowa kam. In Catherines brauner Umhängetasche befanden sich mehrere Exemplare von »Vorhölle« und »Karzinom«, die »Press« in Paris in russischer Sprache herausgebracht hatte. Catherine hatte sie erst am vergangenen Abend übermittelt bekommen, sie hatte in der Nacht darin geblättert, bis sie müde geworden war, und jetzt, als Lara Plotnikowa sich erregt erkundigte, wie die Bücher aufgemacht seien, meinte sie nur vorsichtig: »Ziemlich marktschreierisch. Der Autor soll sich nicht daran stören.« Die Plotnikowa deutete auf ihre Handtasche. »Auch ich habe etwas mitgebracht; es ergab sich im letzten Augenblick noch. Etwa hundert Seiten eines neuen Buches. Er hat sie erst in dieser Woche fotografiert.« -Das Buch über die Haftlager?« Die Plotnikowa schüttelte den Kopf. Sie antwortete im Flüsterton: »Er hat sich entschlossen, endlich das zu schreiben, wovon er als ganz junger Mensch schon immer geträumt hat, einen Zyklus historischer Romane, beginnend lange vor der Oktoberrevolution, und ersten Weltkrieg. Es sollen mehrere Bände werden. In ihnen soll sich die ganze Tragödie des russischen Volkes spiegeln, bis in die heutige Zeit.« Während sie noch einige weitere Erläuterungen anfügte, erinnerte sich Catherine, daß die Frau über diese Absicht Wetrows gelegentlieh gesprochen hatte. Ein alter Plan sozusagen. Aber warum realisierte er ihn ausgerechnet jetzt, wo Sef Kartstein immer wieder darauf drängte, daß er jene möglichst umfangreiche Materialsammlung über alles zusammentrug, was mit den Haftlagern zusammenhing?
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Als sie die Plotnikowa danach fragte, beeilte sich diese zu versichern: »Natürlich, natürlich, er arbeitet auch daran. Nur ist es ihm augenblicklich wichtig, diesen Romanzyklus anzufangen. Er findet, daß er sich auf diesem Gebiet hervortun muß, der Geschichte Rußlands, um besser den Anspruch vertreten zu können, die große Tradition fortzusetzen.« Das war nicht ganz von der Hand zu weisen. Kartstein hatte einiges unternommen, um Wetrow Zug um Zug näher an Dostojewski heranzumogeln, an Lew Tolstoi. Catherine hatte in mühsamer Klitterei für die Plotnikowa Stichworte zusammengetragen, Leitlinien skizziert, nach denen Wetrow argumentieren sollte, und sie hatte seit Monaten alle Verlautbarungen, die er abgab, sorgfältig für ihn redigiert. Kartstein hatte ihr übermitteln lassen, daß er die Statements hervorragend fand. »Nun gut«, meinte Catherine, »warum soll er nicht an diesem historischen Zyklus schreiben. Aber ich bitte Sie, ihn daran zu erinnern, daß man auf seine Materialsammlung über die Haftlager wartet. Dieses Werk wird ihn zu einem Mann machen, dessen Namen in der ganzen Welt jeder kennt. Erinnern Sie ihn daran!« Die Plotnikowa versprach es. Aber sie war nicht ganz ohne Befürchtungen. Nachdem es so ausgesehen hatte, als würde Wetrow in der Diskussion um »Karzinom« beim Schriftstellerverband einen blendenden Sieg davontragen, war später alles anders gekommen. Es entstand ein Streit. Die Meinung einiger Leute, »Karzinom« sollte sofort gedruckt werden, wog letztlich zu leicht gegenüber den Bedenken der Mehrheit. So war »Karzinom« nicht erschienen, obwohl das Gremium der Schriftsteller, die über das Manuskript diskutierten, natürlich nicht darüber beschloß, was dieser oder jener Verlag in sein Programm aufnahm. Aber auch bei den Verlagen zeigte sich Skepsis. Eine Kritikerin wandte sich nach der Debatte an Wetrow. Sie nahm ihn beim Arm und ging mit ihm über den Flur. »Ignat Issaakowitsch, wir brauchen nicht viel Worte darum zu machen, daß ich doppelt soviel Zeit in Haftlagern zugebracht habe
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wie Sie. Wir wissen das beide. Als der .Lagertag' erschien, habe ich geschrieben, das sei ein wahrhaft tragisches Werk, in dem der Autor leider nicht vermocht hat, die Dialektik jener Zeit und ihrer Ereignisse zu erschließen. Ich würde diese Meinung auch heute noch vertreten. Was allerdings ,Karzinom' betrifft, so glaube ich, dieses Buch würde mehr Sowjetbürger beleidigen, als Sie Leser haben. Deshalb rate ich Ihnen, drängen Sie nicht auf eine Veröffentlichung. Lassen Sie das Manuskript eine Weile liegen, und überprüfen Sie es dann noch einmal im Lichte neuer Erkenntnisse und Überlegungen.« Sie war eine kleine, alte silberhaarige Frau, intelligent und einfühlsam, tolerant und voller Verständnis für die Schwere des Schriftstellerberufes. Wetrow dankte ihr nicht einmal für ihren wohlgemeinten Hinweis, er stürmte einfach davon und ließ sie stehen. Im Mai des folgenden Jahres hatte er einen langen Brief an den Schriftstellerkongreß gerichtet. Catherine hatte Wochen zuvor nach Kartsteins Angaben die Stichpunkte für seine Argumentation zusammengestellt. Ein bissiges Schreiben, in dem von Unterdrückung der Wahrheit die Rede war und die Abschaffung jeglicher Einschränkungen bei der Publikation literarischer Werke gefordert wurde. Der Kongreß nahm von diesem Schreiben offiziell nicht Kenntnis. Wetrow, der sich in Moskau aufhielt, mühte sich, wenigstens einen Delegierten zu gewinnen, der über seinen Brief im Plenum sprach, aber er hatte keinen Erfolg. Um diese Zeit erschienen bereits Artikel und Rezensionen über ihn in sehr vielen Zeitungen des westlichen Auslands, und man bezeichnete ihn dort als den »derzeit profiliertesten Dichter« in der UdSSR, der verzweifelt versuche, sich mit der Waffe der Wahrheit gegen die Heuchelei seiner Kollegen durchzusetzen. Jene, die diese Veröffentlichungen kannten, sahen darin eine Beleidigung der eigenen Person und dachten nicht daran, sich für Wetrow einzusetzen. Seine Überheblichkeit im persönlichen Gespräch tat ein übriges. Das Verhältnis seiner Kollegen zu ihm kühlte ab. Selbst solche Autoren, die
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früher noch gelegentlich darauf hingewiesen hatten, daß diesem Autor ihrer Meinung nach Unrecht geschähe, hielten sich mehr und mehr zurück. Die Aktion Wetrows, die den Schriftstellerkongreß zu einer Provokation gegen den Staat umfunktionieren sollte, verlief im Sande. Catherine Laborde erkannte die Gründe, und sie machte Kartstein darauf aufmerksam. Sie riet, die mittlerweile an unfreiwilliger Komik gewinnenden Klagen über den Boykott gegen die Werke Wetrows in der Sowjetunion für eine gewisse Zeit zu bremsen. Aber Kartstein entschied sich gegen diesen Rat. Eine Weile nach dem Kongreß hatte die Leitung des Schriftstellerverbandes Wetrow zu einer Aussprache eingeladen, bei der die Probleme geklärt werden sollten, die es im Zusammenhang mit ihm gab. Catherine ließ ihm den Rat zukommen, sich konziliant zu verhalten, weiter zu versuchen, mit den Kollegen in einem einigermaßen normalen Verhältnis zu bleiben. Sie begriff, daß die öffentliche Meinung in der Sowjetunion sich zunehmend gegen diesen Egozentriker wendete, statt sich mit ihm zu solidarisieren. Wiederum drängte Kartstein, daß Wetrow auch in diesem Gespräch auf die Konfrontation zusteuerte: Entweder absolute Anerkennung alles dessen, was er schrieb, oder er werde seinen »Kampf für die Wahrheit« mit Hilfe der Freunde im Ausland weiterführen. Wetrow war erstaunt, als man ihn zunächst anhörte, ohne ihn zu unterbrechen. Aber er merkte wenig später, daß dies kein Zeichen von Zustimmung war. Die Leitung des Schriftstellerverbandes erklärte, daß die Organisation der sowjetischen Schriftsteller sich in keinem Falle für Bücher einsetzen würde, die darauf zielten, das sowjetische Staatswesen zu verleumden. Man machte ihn anhand von Beispielen auf die antisowjetische Kampagne aufmerksam, die, ausgehend von seiner Person und seinen Veröffentlichungen, in westlichen Ländern geführt wurde. Als der Autor darauf verwies, daß er damit nichts zu tun habe, legte man ihm Texte vor, in denen er wörtlich zitiert worden war. Wetrow bestritt, richtig zitiert worden zu sein, es handle sich um Verdrehungen oder falsche
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Auslegungen. Daraufhin schlug man ihm vor, öffentlich gegen den politischen Mißbrauch zu protestieren, der in westlichen Ländern mit seiner Person getrieben wurde, doch er erklärte sich dazu nur bereit, wenn alles, was er schreibe, in der Sowjetunion veröffentlicht würde. Die meisten der Beteiligten sahen nach diesem Ultimatum ein, daß mit Wetrow nicht mehr kollegial zu reden war. Sef Kartstein, so erschien es Catherine, hatte offenbar angenommen, die Entwicklung, die sich in der CSSR vollzog, fände in d Sowjetunion eine Art Fortsetzung. Dieser Wunsch hatte vermutlich en Blick für die Gegebenheiten in diesem Lande getrübt. Catherine gelang es vorerst nicht, Kartstein von seinem Irrtum zu überzeugen, dennoch warnte sie bei jeder neuen Maßnahme, die er vorschlug, vor den Konsequenzen: Wetrow isolierte sich immer mehr selbst von solchen Kollegen, die ihm zuvor noch zu helfen versucht hatten. Inzwischen waren die »Vorhölle« und »Karzinom« in Paris, Frankfurt am Main, Mailand und London erschienen, mit viel |Beiwerk, das, wie Catherine spürte, von Sef Kartstein geschickt lanciert wurde. Die Zahl der Rezensionen, die sich in hochtrabenden Worten über die angebliche Weltbedeutung dieses Autors ausließen, nahm von Tag zu Tag zu. Noch gestern hatte sie Kartstein davon in Kenntnis gesetzt, daß, wie als Antwort auf diese selbst für Laien als forciert erkennbare Stimmungsmache für Wetrow, in der sowjetischen Presse nunmehr häufiger kritische Anmerkungen zur Arbeit des Autors erschienen, aber auch zu seiner Position in der internationalen Auseinandersetzung zwischen den Ideologien. Noch hatte Kartstein sich nicht dazu geäußert. Catherine schärfte trotzdem der Plotnikowa nochmals ein, daß sie alles tun solle, den Autor zunächst vor weiteren Interviews zurückzuhalten. Er soll vorsichtig sein«, mahnte sie. »Versuchen Sie ihm klarzumachen, daß ein Dichter durch seine Werke spricht, nicht durch Interviews. Wenn er sich als Dichter fühlt und wenn er möchte, daß wir ihn als einen über den Dingen des Alltags stehenden Anwalt
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großer menschlicher Anliegen preisen, dann soll er sich auch demgemäß verhalten! Keine Interviews zu allgemeinpolitischen Tagesthemen, nur Stellungnahmen, die sich auf seine eigene Person und Dinge beziehen, mit denen er zu ringen hat!« »Ich werde es ihm übermitteln«, versprach die Plotnikowa. Sie blickte aus dem Fenster des Restaurants hinüber zum Riesenrad. Plötzlich wandte sie sich an Catherine: »Kommen Sie, lassen Sie uns eine Fahrt auf dem Riesenrad machen! In der Gondel sind wir allein, da kann ich mir die Bücher ansehen! Bitte! Ich kann es nicht erwarten, einen Blick darauf zu werfen!« Es gelang ihnen in relativ kurzer Zeit, eine Gondel zu bekommen. Und während sie nebeneinander darin saßen, während unter ihnen die Erde fortglitt, die Gondel sich erhob über die höchsten Wipfel der Parkbäume und der Blick frei wurde auf die Moskwa, wickelte die Plotnikowa die Bücher aus und betrachtete sie mit glänzenden Augen. Sie hielt die beiden Bände wie Produkte einer überraschend vergegenständlichten Phantasie vor ihr Gesicht und starrte sie an. Dies waren die Zeichen des Erfolges. Sie hießen Ruhm und Geld. Für Wetrow. Auch für sie selbst? Das Riesenrad drehte sich. Die Landschaft glitt davon, kehrte zurück, kippte unter der Gondel weg und erschien wie auf magische Weise wieder, von unten her lärmte die Musik. Die Plotnikowa schlug die Bücher wieder in das Papier, in das sie eingewickelt gewesen waren. Während sie sie in ihrer Handtasche verstaute, sagte sie unvermittelt zu Catherine: »Gestatten Sie mir eine Frage. Ich kenne eine Anzahl junger Leute, die sehr engagiert schreiben. Vorläufig sind sie darauf angewiesen, Kopien herzustellen und die unter ihren Bekannten in Umlauf zu bringen. Wäre es für Sie nicht interessant, solche Arbeiten kennen zu lernen?« Catherine zuckte die Schultern. Es war nicht das erste Mal, daß die Plotnikowa darauf hinwies, sie habe Bekannte, die Schreibversuche machten, die sie aber vor der sowjetischen Öffentlichkeit geheim hielten. »Nein«, sagte sie. »Das wäre nicht interessant für mich.«
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»Aber es sind talentierte Leute darunter!« »Es fragt sich, wofür sie Talent haben.« »Einige von ihnen sind sehr aktiv tätig«, rühmte die Plotnikowa. Sozusagen im Untergrund, denn sie müssen sich sehr vorsehen. Ignat Issaakowitsch ist auch der Meinung, im literarischen Untergrund reifen die Talente, die die Literatur von morgen in diesem Lande ausmachen werden.« Catherine lächelte. Als die Plotnikowa sie erstaunt musterte, sagte sie: »Ich zweifle daran, daß Herr Wetrow mit seiner Ansicht recht hat. Machen wir uns nichts vor, es ist heutzutage ein gutes Geschäft, wenn man irgend etwas aufschreibt und es gegen Valuta nach dem Westen verkauft. Ich habe unlängst eines dieser Pamphlete gesehen, das ein amerikanischer Verlag einem jungen Mann hierzulande abgekauft hat. Für zehntausend Dollar. Ich habe mir die Mühe gemacht, umzurechnen, was dieser junge Mann dabei verdient. Zehntausend Dollar sind zehntausend Valuta-Rubel. Und einen Valuta-Rubel kann man in Moskau illegal gegen sieben normale Rubel eintauschen. Von siebzigtausend Rubel kann man hier zwei bis drei Jahrzehnte seinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn man einen Monatsverdienst von zweihundert Rubel zugrunde legt und das ist ein recht guter Verdienst. Daran sollte man denken, wenn man die Bemühungen dieser jungen Talente wertet.« Die Plotnikowa brauchte einige Zeit, um der Rechnung zu folgen. Schließlich wiegte sie den Kopf und meinte: »Sie betrachten das etwas einseitig vom finanziellen Aspekt her. Aber man muß die ideelle Komponente sehen. Meinen Sie nicht auch?« Ich ziehe es vor, bei der materiellen zu bleiben«, gab Catherine zurück. »Jedenfalls nachdem ich dieses besagte Pamphlet gelesen habe. Da gab es nichts, was mich zu einer Betrachtung vom ideellen Aspekt her veranlasst hätte. Nein, meine Liebe, lassen wir das. Ich habe mich für Wetrow engagiert, weil ich glaube, in ihm wenigstens ein literarisches Talent zu erkennen. Sonst hätte ich dies auch nicht getan. An Konjunkturschreibern habe ich kein Interesse.« Die Plotnikowa begriff, daß sie Catherines Ansicht nicht würde
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ändern können. Sie bemerkte trotzdem: »Sie sollten wissen, daß Ignat Issaakowitsch diese Dinge anders sieht.« »Meinetwegen«, entgegnete Catherine ungerührt. »Das ist seine Sache. Tun Sie ihm den Gefallen, und erinnern Sie ihn daran, daß wir alles versuchen, ihn auf einen Sockel mit Dostojewski und Tolstoi zu stellen; er möchte sich deshalb bitte nicht freiwillig in die Gesellschaft von Groschenschreibern begeben.« Der Tonfall, in dem das gesagt wurde, machte die Plotnikowa vorsichtig. Sie versuchte nicht, nochmals auf das Thema zurückzukommen. »Wann treffen Sie wieder mit ihm zusammen?« wollte Catherine wissen. Die Plotnikowa sagte lächelnd: »Ich sehe ihn jetzt ziemlich oft. Das hängt damit zusammen, daß er sich sozusagen von seiner Frau getrennt hat. Ohne Aufhebens. Sie versieht noch Schreibarbeiten für ihn, aber sonst haben die beiden nicht mehr viel miteinander zu tun.« »Aber er wohnt doch noch in Tula?« »Im Winter«, gab die Plotnikowa zurück. »Er hat sich mit seiner Frau geeinigt, daß sie dann gemeinsam wohnen, ohne aber miteinander zu leben. Jeder hat seinen Teil der Wohnung. Und wenn es Frühling wird, zieht Ignat Issaakowitsch wieder aus. Meist hält er sich in Peredelkino auf. Ein bekannter Dichter hat ihm den Anbau seiner Datscha zur Verfügung gestellt: Jelanski.« »Interessant«, sagte Catherine. Jelanski hatte sich öffentlich nie über Wetrow geäußert. »Seine Stieftochter hilft ihm viel«, erläuterte die Plotnikowa. Catherine beobachtete, wie sich der Gesichtsausdruck der Frau dabei veränderte, er wurde um einiges verschlossener. »Eine Schriftstellerin?« »Ihre Mutter schreibt zuweilen Kritiken. Sie selbst ist von Beruf Chemikerin. Hat sehr viele gute Bekannte unter der wissenschaftlichen Intelligenz. Melentjew hat sie wohl mit Ignat Issaakowitsch zusammengebracht. Er ist überhaupt der große Zusammenbringer.
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Was der nicht alles für Ignat Issaakowitsch organisiert! Beispielsweise kann er jetzt auch in Puschkino wohnen, ebenfalls im grünen Gürtel um Moskau. Dort besitzt Wjatscheslaw Rosanowitsch ein Häuschen; auch er hat Ignat Issaakowitsch freigestellt, so lange und so oft bei ihm zu wohnen, wie er möchte.« »Ist das der Geiger?« Die Plotnikowa nickte. »Er schätzt Ignat Issaakowitsch sehr. Auch seine Frau schätzt ihn. Das Häuschen in Schukowka ist ein kleiner Palast. Selbst ein Fahrstuhl wurde eingebaut, obwohl es nur zwei Etagen hat. Der Meister hat ihn aus Finnland mitgebracht, von einer Tournee, oder aus Schweden . . . Ich weiß es nicht so genau.« Nun ja, dachte Catherine, das ist nicht meine Angelegenheit. Aber es ist kaum überraschend, daß Wetrow Eingang in diese Kreise gefunden hat. Man liebt dort manchmal ein literarisches Vorzeigpüppchen. Er kann das nutzen, und er wird es tun. »Schukowka also«, sagte sie. Dabei fiel ihr ein, daß sie am frühen Nachmittag eigentlich hatte nach Abramzewo mitfahren wollen. Mister Walcott hatte diesen Ausflug für seine Angestellten organisiert. Man wollte den ehemaligen Landsitz der Aksakows besichtigen, in dem Turgenjew und Gogol zu Gast gewesen waren. Repin hatte dort an der Ausgestaltung einer kleinen Kirche mitgearbeitet, und im Museum des Anwesens konnte man interessante Kunstwerke besichtigen. Sie sah auf die Uhr. Missmutig stellte sie fest, dass sie zur Abfahrt des kleinen Busses nicht mehr zurechtkommen würde. Trotzdem fand sie es an der Zeit, sich von der Plotnikowa zu trennen. »Ich melde mich, sobald ich etwas zu dem Manuskript sagen kann«, versprach sie ihr. Die Gondel des Riesenrades, in der sie beide saßen, senkte sich Stück für Stück, bis sie auf dem Podest landete, wo ausgestiegen wurde. Catherine nahm wenig später einen Zug der Ringbahn-Metro und war nach einer halben Stunde an der Dorogomilowskaja. Zuerst achtete sie nicht darauf, aber dann plötzlich fiel ihr auf, daß der
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Posten, der den Komplex der Ausländerwohnungen bewachte, sich mit einem hohen Fliegeroffizier unterhielt. Unweit davon stand ein Wolga, daneben der Fahrer, der eine Zigarette rauchte. Sie konnte das Gesicht des Fliegeroffiziers nicht sehen, sie sah nur, daß er dem Milizposten etwas erzählte und dieser über das ganze Gesicht lachte. Erst als der Posten sie entdeckte, wurde sein Gesicht ernst, und Catherine bemerkte, daß er dem Flieger eine Hand auf den Arm legte, wobei er ein paar Worte sagte. Der Flieger drehte sich um. Ein nicht sehr großer Mann, der seine Fünfzig hinter sich haben mochte. Ein rundes, wettergebräuntes Gesicht mit Augen, deren Blick prüfend auf sie gerichtet war. Auf der Uniform ein paar Reihen von Ordensschnallen. Kleine, fast zierliche Hände. Das alles registrierte Catherine, während der Mann sie anblickte. Und mit einemmal stutzte sie. Dieser Mann sah zwar älter aus als auf jenem Foto, das sie so oft angesehen hatte, aber es war kaum ein Zweifel möglich, es war derselbe! Da trat er schon einen Schritt auf sie zu und legte die Hand an den Mützenschirm, mit einer knappen militärischen, aber trotzdem lässig wirkenden Bewegung. »Mademoiselle Laborde?« Sie nickte. »Ich bin Catherine Laborde, ja.« Der General streckte ihr die Hand hin. Aber er zog sie ebenso schnell wieder zurück und sagte einfach: »Ich bin Kursanow.« Er trat noch einen Schritt auf sie zu, breitete die Arme aus und zog die junge Frau an sich. Der Milizposten wendete sich schmunzelnd ab. Während der Wolga in Richtung Moskau gefahren war, hatte Kursanow Zeit gehabt, sich daran zu erinnern, wie das damals mit Charles Laborde gewesen war. Die Zeit lag so lange zurück, daß er Mühe hatte, manche Einzelheiten zu rekonstruieren, doch das Zusammentreffen mit dem Franzosen war unauslöschlich in seinem Gedächtnis. Im Herbst 1942, als die Kämpfe bei Stalingrad entbrannten, rief der Kommandeur eines Tages alle Piloten des Geschwaders zusammen und eröffnete ihnen, daß in Kürze ausländische Piloten
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eintreffen würden, die sich entschlossen hatten, an der Seite der Roten Armee zu kämpfen, statt ihre Tage in Internierungslagern zu verbringen. »Sie kommen aus Nordafrika«, erklärte der Kommandeur. »Nachdem die deutschen Faschisten nun auch den restlichen Teil Frankreichs besetzt haben, verfügen sie sozusagen über keinen Stützpunkt mehr. Aber sie wollen kämpfen. Es sind französische Patrioten, ich glaube nicht, daß Kommunisten unter ihnen sind, aber es sind Leute, die darauf brennen, dem deutschen Faschismus das heimzuzahlen, was er Frankreich angetan hat. Wir werden sie als Mitkämpfer aufnehmen, getreu unserer internationalistischen Tradition, und wir werden Verständnis dafür aufbringen müssen, daß ihnen das Leben unter unseren Bedingungen nicht leicht fallen wird. Ich erwarte von jedem Mann in unserem Geschwader, daß er ihnen hilft, daß er in dem Piloten, der aus Oran kommt, den Kampfgefährten sieht, der für die eigene Heimat kämpft wie für die unsere, gegen den Faschismus, bis der besiegt ist. Gibt es Fragen?« Es gab keine, wenn man von der Erörterung der Verständigungsmöglichkeiten und einigen technischen Problemen absah. Kursanow war dabei, als das erste Kontingent Franzosen von Teheran her eingeflogen wurde. Es war Winter, der Schnee lag fast einen Meter hoch. Da stiegen diese jungen Männer aus der Transportmaschine, bekleidet mit Khakianzügen, die Füße steckten in dünnen Halbschuhen, auf den Köpfen saßen Pelzmützen, die sie unterwegs geschenkt bekommen hatten. Es waren kaum mehr als ein Dutzend. Kursanow hob die Hand zum Gruß. Eigenartigerweise war ihm nicht zum Lachen zumute, als er die frierenden Franzosen an der Maschine stehen sah. Er empfand ein Gefühl der Stärke, der Zufriedenheit, trotz der nicht gerade angenehmen Nachrichten aus Stalingrad. Plötzlich hatte er die Gewissheit: Wir werden nicht nur siegen, wir werden diesen Sieg für die ganze Menschheit erkämpfen, und die besten Leute aus den Ländern, die der Faschismus ebenso überfallen hat wie uns, werden an unserem Sieg beteiligt sein. »Laßt sie nicht in der Kälte stehen«, sagte er zu einem als Dol-
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metscher fungierenden Oberleutnant. »Führt sie in die Kantine, gießt ihnen Wodka ein, gebt ihnen warmes Zeug, und dann zeigt ihnen die Maschinen. Sie sehen nicht aus, als ob sie bei uns die Touristen spielen wollten!« Catherine Laborde starrte den General immer noch sprachlos an. Sie hatte seit langem nicht mehr damit gerechnet, daß er sich melden würde. Kursanow lächelte. »So wie Sie mich jetzt ansehen, hat mich Ihr Vater angesehen, als ich in der Kantine von Iwanowo auf ihn zuging, ihm die Hand hinhielt, ,Bonjour' sagte und meinen Namen nannte! Genauso sprachlos!« »Ich . . . hatte nicht erwartet. . .« Catherine stockte. Kursanow nickte. »Ja, ja, Sie hatten nicht mehr erwartet, daß ich bei Ihnen auftauche! Aber, merken Sie sich, wir Russen vergessen unsere Freunde nicht. Auch nicht deren Töchter. Selbst wenn es etwas lange dauert, bis wir bei ihnen erscheinen!« »Verzeihen Sie . . .«, konnte Catherine schließlich sagen, »ich lasse Sie hier so einfach stehen . . .« Sie forderte ihn auf: »Darf ich Sie zu mir einladen?« Kursanow nahm sie am Arm und schob sie auf die Eingangstür zu. »Natürlich dürfen Sie! Ich möchte sehen, wie Sie leben.« Dann erinnerte er sich plötzlich an Laborde und blieb im Eingang des Hauses stehen. »Ich vergaß das zu sagen, Mademoiselle Catherine ich war sehr betrübt, als ich vom Tode Ihres Vaters hörte. Übrigens erfuhr ich es in Paris. Ich war dort zu einer Luftfahrtausstellung. Ihren Vater suchte ich völlig nichts ahnend bei seiner Fluggesellschaft. Ich fand nur noch seinen langjährigen Kopiloten, der erzählte mir alles. Auch daß Sie in Harvard seien. Sie sprechen ein ausgezeichnetes Russisch! Wie kam es, daß Sie gerade Slawistik studierten? Hat Ihr Vater Sie beeinflusst?« Catherine verbarg ihr Erschrecken. Hier war die Gefahr, ganz unvermutet deutete sie sich an, auf eine Art, wie man sie nicht hatte voraussehen können. Oder doch? Natürlich, ich habe selbst an ihn
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geschrieben! Ich hätte mir ausrechnen können, daß er weiß, was ich studiere! »Mein Vater hat viel von seiner Zeit mit Ihnen gesprochen«, begann sie, während sie auf den Fahrstuhl warteten. »Er hat mich beeinflusst, ohne es vielleicht zu wollen. Als ich mich entschloß, nach Harvard zu gehen, freute er sich natürlich.« »Sie haben sehr an ihm gehangen?« Kursanow sah sie forschend an. Eine Frau, dachte er, kein junges Mädchen mehr. Ernst, zielbewusst. Anders als der Vater. Der war immer heiter, hatte stets den Kopf voller Spaße, auch wenn die Zeit hart war. Er lachte noch, als er sich mit einer lahmgeschossenen Jak3 bei der Notlandung überschlagen hatte und nicht in der Lage war, sich selbst aus den Gurten zu befreien, während die Maschine zu brennen anfing. »Mein Vater war immer ein Freund für mich«, sagte Catherine. Viel weniger ein Vater als ein Freund. Das mag daran gelegen haben, daß ich ihn so selten sah.« Der Fahrstuhl kam. Sekunden später öffnete Catherine die Tür zu ihrem Appartement und breitete einladend beide Arme aus. »Bitte, Herr General!« Kursanow trat ein, sah sich um, bemerkte die vielen Bücher, die überall herumlagen, obwohl ihm die peinliche Ordnung auffiel, die sonst in dem geräumigen Wohnraum herrschte, dann drehte er sich zu Catherine um und sagte: »Ich heiße Boris Petrowitsch, jedenfalls für meine Freunde.« Wollen wir das mit einem Wodka besiegeln?« Catherine begann ihre Selbstsicherheit wieder zu finden, sie gab sich Mühe, heiter zu erscheinen, und merkte, daß ihr das im wachsenden Maße gelang. Die Distanz zu diesem uniformierten Mann, über den der Vater so oft gesprochen hatte, mit Humor, aber auch mit einer nicht zu überhörenden Achtung, begann zu schmelzen. Kursanow lächelte. Auch er hatte das Gefühl, daß diese junge Frau von Minute zu Minute gelöster wurde. Nun ja, es war nicht
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jedermanns Sache, urplötzlich vor der Haustür von einem General überfallen zu werden! »Einen Wodka trinke ich immer«, stimmte er zu. Catherine schob ihm einen Sessel hin. Er legte die Mütze auf einen Stapel Bücher. Obenauf lag Beks »Wolokolamsker Chaussee«. Als Catherine den Wodka brachte, erkundigte sich Kursanow beiläufig, auf das Buch tippend: »Wie gefällt Ihnen Momysch-Uly?« »Der Kasache?« Catherine nahm das Buch in die Hand und überlegte. »Er gefällt mir nicht.« »Warum?« Es klang gleichmütig, nicht erstaunt. »Nun ja«, sagte Catherine. »Ich finde ihn unbeherrscht, eigensinnig, wenig sensibel.« »Solche Leute lieben Sie nicht?« »Nein.« »Ich auch nicht.« Er hob das Wodkaglas. Hundert Gramm! Diese junge Frau schien demonstrieren zu wollen, daß sie die hiesigen Sitten beherrschte, denn auch ihr Glas war mit der gleichen Menge gefüllt. Nun gut, dachte Kursanow, wir wollen sehen, wer zuletzt noch auf beiden Beinen steht! Er hob es ihr entgegen und stieß mit ihr an. »Auf den Vater!« »Und auf Sie!« sagte Catherine. »Auf Catherine, die Tochter eines bescheidenen, mutigen Fliegers«, erwiderte Kursanow. »Und darauf, daß wir Freunde werden!« Er trank, ihr so die Möglichkeit nehmend, noch etwas zu sagen. Als er das Glas absetzte, stellte er verblüfft fest, daß auch sie ihr Glas auf einen Zug geleert hatte. »Tun Sie das öfter am Tage?« erkundigte er sich. Sie lachte. »Ihnen zu Ehren! Ich weiß, daß ich davon einen Schwips bekomme, aber das ist mir die Gelegenheit wert! Selbst die Aussicht darauf, den Magen ausgepumpt zu bekommen, hätte mich nicht davon abgehalten, hundert Gramm mit Ihnen zu trinken!« »So sehr haben Sie sich gefreut, mich zu sehen?«
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Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Boris Petrowitsch, als ich Ihnen schrieb, dachte ich, daß Sie vielleicht an einem der nächsten Tage kommen würden. Ich wollte damals einfach einmal mit einem Menschen zu tun haben, der in dieses Land gehört . . .« "Ich entschuldige mich für die Verspätung.« Er spielte mit dem leeren Glas, winkte aber ab, als sie zur Flasche griff. »Ihr Brief lag Monate bei einer Adresse, die ich längst aufgegeben hatte. Ich komme nur noch selten dorthin. Bin auch nicht in Moskau stationiert, deshalb.« Sie überlegte, was sie ihm anbieten könnte. Im Valutaladen hatte sie erst vor ein paar Tagen Delikatessen gekauft, alles, was man sich in den Kühlschrank legte, wenn man gewohnt war, sich allein zu verpflegen. Aber Kursanow lehnte entschieden ab. Nichts von allem! Und auch nichts mehr zu trinken. Vorerst jedenfalls. Nein, ich habe einen ganz anderen, heimtückischen Plan mit Ihnen, Catherine. Wie hält man es bei Ihrer Firma am Wochenende? Haben Sie frei?« Sie nickte. »Natürlich, bis zum Montag.« Das ist gut. Haben Sie irgendeine Verabredung für den Rest des Tages oder für morgen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, warum?« »Weil ich Sie mitnehme. So wie Sie sind. Vor dem Haus steht ein Wagen. Es ist Sommer. Und ich habe eine Datscha in Peredelkino. Dort ist im Augenblick einer der besten Köche des Landes dabei, für uns ein Mittagessen zuzubereiten. Um die Datscha herum gibt es Wald . . .« Er lächelte. »Den berühmten russischen Wald, Catherine! Es herrscht Ruhe dort, man kann sich erholen. Also packen Sie eine Zahnbürste ein und einen Pyjama, mehr brauchen Sie nicht!« Er erhob sich, wie um anzudeuten, daß er so bald wie möglich aufbrechen wollte. Catherine war überrascht von der Einladung. Einen Augenblick lang machte sie sich Gedanken, ob dieser Generalleutnant mit den beiden Sternen auf den Schulterstücken denn gar nicht besorgt wäre, daß irgend jemand ihm wegen seines Zu-
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sammenseins mit einer Ausländerin unangenehme Fragen stellen könnte. Sie erkundigte sich vorsichtig danach, und Kursanow erwiderte gelassen: »Warum machen Sie sich unnötige Sorgen, Catherine? Sie können ohne Genehmigung des Ausländerbüros nach Peredelkino fahren. Kein Gesetz steht im Wege.« Als sie aus dem Bad zurückkam und eine große Tasche suchte, erklärte er: »Ich werde allerdings nur für ein paar Tage hier sein, dann muß ich wieder weg. Es ist kein militärisches Geheimnis, ich bin in Fernost stationiert. Und da draußen in Peredelkino werden Sie merken, daß ich mein Leben lang Soldat gewesen bin. Ich hoffe nur, es wird Ihnen nicht langweilig.« Er sah, daß sie aus dem Kühlschrank in der winzigen Kochnische Konserven nahm und in der Tasche verstaute. Schmunzelnd ließ er es geschehen. Kognak sah er in der Tasche verschwinden, eine dickbäuchige, mit buntem, fremdländischem Etikett versehene Flasche. Nun gut. Sie weiß nicht, daß ich mir auch ein paar Dinge besorgen konnte, die auf den Tisch gehören, wenn es sich um eine besondere Gelegenheit handelt. Als sie den Pyjama in die Tasche packte, zögerte sie. »Sie meinen, ich soll bei Ihnen über Nacht bleiben?« Er konnte sehen, daß sie versucht war zu lächeln. »Es ist zwar nur ein Holzhaus, aber Sie schlafen darin besser als hier, im Zentrum der Steine.« »Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.« Er nickte. »Gut, jetzt ist alles gesagt, was eine höfliche junge Dame sagen muß, wenn sie von einem älteren Herrn das Angebot bekommt, bei ihm zu übernachten. Belassen wir es dabei. Sie fallen mir nicht zur Last, sondern Sie machen mir eine Freude. In meiner Datscha ist Wadim einquartiert. Der sitzt den ganzen Tag über Stapeln von Papier und schreibt Bücher. Wir werden uns beide ungemein wohl fühlen, wenn wir weibliche Gesellschaft haben.« Er griff nach seiner Mütze. Dabei fiel sein Blick wieder auf das Buch. »Im übrigen können Sie sich mit ihm viel besser über Momysch-Uly streiten als mit mir. Er versteht mehr davon.«
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Der Wolga fuhr schnell über den Kutusow-Prospekt. Sie unterhielten sich über das, was Catherine von Moskau kannte, was sie in der Umgebung bereits gesehen hatte und wie es ihr gelungen war, sich an die Lebensverhältnisse zu gewöhnen. Obwohl sie Kursanow versicherte, es sei ihr leichter gefallen, als sie befürchtet hatte, dachte dieser, daß sie das alles allzu höflich interpretierte. Man brauchte keine besondere Ausbildung, um zu wissen, daß die Bürger dieses Landes auf so manches noch verzichten mußten, was in den Ländern des Westens ohne weiteres erreichbar war. Eine Frage der Zeit aber immerhin. »Wadim hat mir heute morgen versprochen, entweder Soljanka und Piroggen mit Fleischfüllung auf den Tisch zu bringen oder Borschtsch und Pliny«, sagte Kursanow, um Catherine an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie bei zwei sich selbst versorgenden Männern zu Gast sein würde. »Sie sagten, er schreibt Bücher. Was für Bücher?« »Für Kinder. Haben Sie nie von ihm gehört? Wadim Sergejewitsch Shagin?« Catherine kannte den Namen. Seine Bücher waren so gut wie immer vergriffen, was dafür sprach, daß die Kinder sie gern lasen. »Und er kann kochen?« »Er liebt es zu kochen! Sie werden gut mit ihm auskommen. Wie ich.« Sie fuhren am Borodino-Panorama vorbei. Als sie die Moshaisker Chaussee erreicht hatten, begann Kursanow wieder von Charles Laborde zu sprechen. "Hat Ihr Vater Ihnen jemals erzählt, wofür er den Leninorden bekam?« »Ich glaube, nicht.« Kursanow lehnte sich auf dem Sitz zurück. »Wir flogen zusammen. Ich führte. Es war am Njemen. Irgendwie erwischten uns gleich zu Beginn eines Angriffs, den wir auf eine Bereitstellung flogen, ein paar Abwehr-MGs. Ich hatte Glück, mir wurde nur die eine Tragfläche zerschossen, dann konnte ich aus dem Feuerbereich Thürk, Gaukler II
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ausscheren. Aber Ihr Vater bekam sozusagen die volle Ladung ab. Wir hatten damals die ersten Funkgeräte in den Maschinen, eine lang ersehnte Neuerung, und wir konnten uns verständigen. Als er an mir vorbeizog, rief er mir zu, er habe Treffer im Tank. Ich konnte es sehen, er zog eine Sprühfahne austretenden Treibstoffs hinter sich her. Ich wollte, daß er geradeaus flog, es waren nur ein paar Kilometer bis zu unseren Stellungen. Aber er hatte einen anderen Einfall. Er flog, obwohl die Maschine jeden Augenblick Feuer fangen konnte, eine Kolonne von deutschen Lastwagen an, die schlecht gedeckt waren. Dabei richtete er es so ein, daß der aus seinem zerschossenen Tank heraussprühende Treibstoff auf diese Kolonne herabrieselte. Und mir rief er zu, ich brauchte nur noch eine Garbe Leuchtspur hineinzuschießen. Was ich auch tat. Ich werde das Feuerwerk mein ganzes Leben nicht vergessen . . .« Er sah, daß Catherine ihn aufmerksam anblickte. Ihre Augen waren weit geöffnet, sie lauschte ihm mit so viel echter Faszination, daß er überrascht ein paar Sekunden stockte, bevor er die Geschichte zu Ende führte. »Ihr Vater schaffte es gerade noch bis hinter unsere Stellungen. Als wir ihn abholten, war er wütend über die verlorene Maschine. Aber gleichzeitig blinzelte er mir zu und sagte: ,Sie haben diese Maschine teuer bezahlt, Boris, nicht wahr?' Er bekam den Orden wenig später. Um diese Zeit hatte er bereits elf Gegner abgeschossen. Das war eine Menge . . .« »Ich habe den Orden in New York«, sagte Catherine. Kursanow war versucht zu lächeln, welch seltsame Wege ein Leninorden gehen kann! Aber er sagte nur: »Es waren knapp hundert Franzosen, die mit uns flogen. Eine kleine Anzahl, gewiss. Sie hatten es schwer, aus vielerlei Gründen. Wir wußten das, deshalb schätzten wir ihren Einsatz um so mehr. Die Hälfte von ihnen fiel im Kampf. Und nie haben wir eine Klage gehört, nie ein Wort darüber, daß so viele weit von Frankreich entfernt sterben mußten. Es gab Barone unter ihnen, Grafen, Adelige. Aber alle sagten: ,Wir kämpfen mit euch, weil wir ein freies Frankreich nur
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dann jemals wieder erleben werden, wenn ihr siegt.' Helden. Manchmal ärgere ich mich darüber, daß die Menschheit solche Dinge zu schnell vergißt. . .« »Die Menschheit hat heute andere Sorgen«, meinte Catherine. »Das ist wahr.« Er wandte sich ihr zu, in einem plötzlichen Impuls. »Catherine, Ihr Vater und ich sind in einer sehr schweren Zeit Gefährten gewesen. Ich möchte ein wenig von dieser Freundschaft auf Sie übertragen. Halten Sie es für sentimental, meinetwegen. Ich bin ein ziemlich alter Mann. Es graust mir, wenn ich daran denke, daß so viele Jahre vergangen sind. Damals zeigte Ihr Vater mir ein Foto von einem kleinen Kind mit einer Zelluloidklapper. Das war ein Bild von Ihnen. Und heute sitzen Sie neben mir, erwachsen, eine Frau. Ich möchte, daß Sie mich als Ihren Freund betrachten. Wenn Sie uns Russen auch nur ein wenig kennen, wissen Sie, was das heißt. Ihr Vater wußte es. Auch wenn ich wieder nach Fernost fliege wir werden uns wiedersehen. Und wenn es für mich irgendeine Möglichkeit gibt, Ihnen zu helfen, werde ich froh sein, das tun zu können.« »Danke«, sagte Catherine. Als er sich dann vorsichtig erkundigte, ob es jemanden gäbe, der ihr nahe stehe, zögerte sie nicht, ihm von Glenn Ward zu erzählen. Auch von seiner überraschenden Versetzung nach Vietnam. Sie bogen von der Autostraße in den Wald ein. Der Wolga fuhr langsamer. Kursanow blickte aus dem Fenster. Einzelne Spaziergänger tauchten auf. Kursanow machte sie leise aufmerksam: »Das dort in Indochina ist ein Krieg der Vereinigten Staaten. Und Sie, Catherine, sind Amerikanerin . . .« Er war verblüfft, als sie knapp und scharf zurückgab: »Aber es ist nicht mein Krieg! Ich hasse ihn!« Weil Ihr zukünftiger Mann dort sein muß?« Er hörte Catherine leise, wie zu sich selbst sagen: »Ich werde nie damit einverstanden sein, daß Glenn dort sein muß. Er selbst wollte es nicht. Kein vernünftiger Mensch ist für diesen Krieg.«
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»Soldat?« fragte Kursanow nach einer Weile. »Korrespondent.« Der General wiegte den Kopf. »Soweit ich es beurteilen kann, wird es unter den Korrespondenten, die dort tätig sind, einige geben, die diesen Krieg ehrenhaft überleben; wenn Sie erfassen können, was ich damit meine.« Inzwischen waren sie angelangt. Ein niedriger Zaun, Gebüsch, dahinter die Datscha. In der Tür erschien Shagin, in einem weißen Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, zwischen den Lippen eine Belomorkanal, deren Mundstück arg zerkaut war. »Das ist Wadim!« stellte Kursanow ihn vor. Shagin blickte Catherine prüfend an, er öffnete den Mund nicht. Bis Kursanow ihn schließlich anstieß. »Bist du stumm geworden? Oder hast du das Essen verdorben?« Erst da nahm Shagin die Belomorkanal und warf sie weg. Er hielt Catherine die Hand hin, lächelte und sagte: »Verzeihen Sie, Mademoiselle, ich war nicht darauf vorbereitet, eine so schöne Frau zu sehen.« In Sef Kartsteins Bungalow war noch alles beim alten. Feiningers Küstenlandschaft in Blau hing Lichtensteins Ballmädchen gegenüber, auf dem Teppich lagen Zeitungen, alle Aschenbecher und eine Menge anderer flacher Gefäße waren voller Zigarrenasche, angebrochene Keksschachteln bedeckten den Tisch, und über der Türklinke hing ein verschwitztes Polohemd des Professors mit dem Aufdruck DICK IS THE MAN! Andenken an den Konvent der Republikaner, der Miami vor knapp zwei Wochen in einen Hexenkessel patriotischer Beteuerungen und Zwecklügen über die Wiederherstellung des »inneren Friedens« verwandelt hatte. Jetzt war wieder Ruhe eingezogen, wenn man davon absah, daß einige Dutzend Leute, die während des Konvents gegen die Vietnampolitik der Vereinigten Staaten protestiert hatten, noch im Gefängnis saßen oder in Krankenhäusern behandelt wurden, weil die Polizei sie zusammengeschlagen hatte.
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Kartstein hatte sich zwar das Reklamehemd schenken lassen, war aber während des Konvents nicht in Miami gewesen, ihn interessierten solche Vorgänge nicht. Außerdem war er in Harvard damit beschäftigt gewesen, Examensarbeiten zu prüfen und Entscheidungen über eine Anzahl von Studenten zu fällen, die auf dem Campus Versammlungen der Bürgerrechtsbewegung abgehalten hatten. Man wollte sich möglichst bald von ihnen trennen, allerdings ohne neuen Aufruhr zu verursachen. Als der Professor endlich seinen lang ersehnten Sommeraufenthalt in Miami Beach begann, waren die Besitzer der umliegenden Villen längst eingezogen, er kam sozusagen verspätet. Er pflegte das gleiche ruhige Leben, wie er das hier stets tat, jedoch mit einer bemerkenswerten Veränderung: Er ließ sich jeden Morgen Zeitungen bringen und hörte regelmäßig Radio. In den letzten Tagen war er manchmal stundenlang nicht vom Empfänger gewichen, wenn über Kurzwelle Berichte aus der Tschechoslowakei gesendet wurden. Was dort vorging, hatte Kartstein von Beginn an verfolgt. Später hatte er festgestellt, daß die Leute der Agentur, die das »Unternehmen Prager Frühling« in der Hand hatten, mehr und mehr ihren Illusionen zu erliegen begannen. Von da an hatte er nur noch auf das Ende gewartet. Es war gekommen, wie er es seit Monaten vorausgesehen hatte. So war Kartstein keinesfalls erschüttert oder enttäuscht, er betrachtete das »Ende der tschechischen Illusion« mit der üblichen zynischen Distanz und nahm einfach zur Kenntnis, daß sich Unmögliches selbst bei Einsatz aller verfügbaren publizistischen und sonstigen Machtmittel nicht erreichen ließ. Die erste Hälfte des Jahres hatte den Vereinigten Staaten weitere Erschütterungen gebracht. Der Schatten Vietnams lag über dem Land. Man zählte inzwischen mehr als zehntausend Wehrpflichtige, die ins Nachbarland Kanada geflohen waren, um der Gefahr zu entgehen, in den Dschungeln Südostasiens für eine Sache zu sterben, die in den Augen der meisten Bürger der Vereinigten Staaten zumindest fragwürdig geworden war.
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Die Unzufriedenheit, die sich über dieses Engagement der Vereinigten Staaten entwickelte, fand ihren Ausdruck in der sich ausbreitenden Bürgerrechtsbewegung, deren Demonstrationen in vielen Großstädten zu blutigen Auseinandersetzungen führten. Zweifellos, das ahnten viele Bürger, befanden sich die Vereinigten Staaten an einem Scheidewege. Vietnam forderte der Nation eine Antwort ab. Im Mai hatte Sef Kartstein Nachrichten aus Europa empfangen, die ihn in ungewohnter Weise beschäftigten. Aus den anfänglich von ihm begrüßten Studentenbewegungen in vielen westeuropäischen Staaten waren Revolten und Aufruhr hervorgegangen. Wie eine Reihe anderer Beobachter hatte Kartstein gerade die nichtkommunistischen linken Studentenbewegungen als günstig empfunden, weil sie den größten Teil der eigentlich gegen das kapitalistische System rebellierenden Jugend aufsogen und verhinderten, daß er sich in echten kommunistischen Parteien organisierte. Aber dann hatte er einsehen müssen, daß die linken Revolten sich mehr und mehr verselbständigten. Er hatte von da an zu jenen Beratern gehört, die dazu drängten, gewissermaßen als Ausweg aus dem Dilemma, Formen der Studentenrevolten auf die sozialistischen Staaten zu übertragen, sie dort ebenfalls zu fordern, mit der Losung, daß neue Ideen die alten, abgenutzten ersetzten. Doch das war nicht gelungen, wie sich jetzt zeigte, nicht einmal in der Tschechoslowakei. Für seine Begriffe waren selbst die geringen Chancen durch die drängende Ungeduld der Agentur verspielt worden, die den Prozess künstlich beschleunigen wollte, so daß er sich zwangsläufig überschlagen mußte. Kartstein hatte noch vor einer Woche mit Brzezinski gesprochen, dem geistigen Vater der Idee von der Diskriminierung der realen Sozialismusmodelle durch die unentwegte Präsentation von utopischen Neuentwürfen für angeblich modernere, humanere, freizügigere Formen des Sozialismus. Brzezinski war es gelungen, über seine Mittelsmänner am Institut für Internationale Politik in Prag eine Einladung zu bekommen, dort zu sprechen. Kartstein riet ihm
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davon ab. Er hatte erkannt, daß die Grenze dessen, was die übrigen sozialistischen Länder ruhig mit ansehen würden, erreicht war. Er trat dafür ein, daß eine Pause eingelegt würde, während der man das Erreichte festigte und zugleich die Nachbarn der CSSR besänftigte, in Sicherheit wiegte. Aber Brzezinski flog trotzdem nach Prag; die Agentur drängte ihn. Man wollte zum Eklat kommen. Seit einer Stunde waren nun die ersten Meldungen aus Europa zu hören, aus denen hervorging, daß die Staaten des Warschauer Paktes gehandelt hatten. Das überraschte Kartstein nicht. Nein, so einfach war heute nicht ein einzelner Staat aus diesem System herauszubrechen! Genau genommen war dies nicht einmal mit militärischen Mitteln mehr möglich, denn es erwies sich, daß man in Vietnam, wo man ebendiese Methode erprobte, trotz allergrößter Anstrengungen nicht zum Ziel kam. Im Gegenteil, seit dem Mai wurde in Paris vorläufig noch intern mit Nordvietnam verhandelt, und selbst Nixon, der aller Wahrscheinlichkeit nach im November die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde, hatte auf dem Konvent deutlich durchblicken lassen müssen, daß es die Aufgabe der kommenden Regierung der USA sein würde, den Krieg in Asien zu beenden. So war Kartstein nicht gerade in beschwingter Laune, obwohl die Dinge in Moskau, für die er persönlich Verantwortung trug, nach Auskunft Catherines recht gut standen. Im gewissen Sinne freute Kartstein das. Es bewies, daß er immer noch in der Lage war, eine begrenzte Aktion, deren Ziele er nicht allzu hoch ansetzte, mit Erfolg zu Ende zu führen. Er lächelte, wenn er sich vorstellte, wie Brzezinski in Prag wohl fluchtartig seine Koffer wieder gepackt und den Abflug angetreten hatte. Geschieht ihm recht! Er soll ruhig ein paar Zentimeter kleiner werden! Ich habe ihm gezeigt, wie man es machen kann, wie weit man die Dinge treiben darf, ohne zu scheitern. Wetrow ist inzwischen weltbekannt. Außer ihm gibt es eine Anzahl anderer Namen, die sich hoffentlich einprägen werden. Sogar einen etwas weltfremden Wissenschaftler haben wir ausgegraben, der uns den Gefallen tut, da so etwas zu gründen wie eine
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Bürgerrechtsbewegung, auf die wir wenigstens ab und zu mit dem Finger zeigen können! Aus einem Stapel von Büchern, die auf seinem Schränkchen lagen, griff sich Kartstein nochmals jenes, das er in den letzten Tagen gelesen hatte, obgleich er sich hindurchquälen mußte, weil der Inhalt so zäh war wie Sohlenleder und zudem nicht neu. Swetlana Stalin. Er blätterte gelangweilt ein paar Seiten um, ohne zu lesen. Ramsch. Kreml-Hintertreppe. Er warf das Buch wieder hin und zog sich die rutschenden Hosen hoch. Rasieren sollte ich mich noch, bevor Deadrick kommt, dachte er. Er seifte sich umständlich ein und schabte den Bart ab. Wetrow läßt sich einen Vollbart stehen, erinnerte er sich an eine der letzten Mitteilungen Catherines. Nun ja, wenn er meint, damit könnte er Tolstoi näher kommen, meinetwegen! Eigentlich passt ein Vollbart gar nicht zu diesem ohnehin ovalen Gesicht. Vollbärte trägt man heute wenigstens , um ein rundes Gesicht zu verlängern. Aber woher soll dieser Tulaer Schulmeister das wissen? »Esquire« wird er kaum zu lesen bekommen, den »Playboy« auch nicht. Er wusch sich. Es war später Morgen. Deadrick würde jeden Augenblick da sein. Was konnte man noch tun? Er hatte bereits zwei rote Pillen genommen. Zuweilen wurde ihm, wenn er die winzigen Dragees schluckte, selbst klar, wie abhängig er bereits von ihnen war. Es ist das Alter, versuchte er sich abzulenken. Nichts macht mehr den rechten Spaß. Weiber kotzen einen langsam an, es sei denn, es ist etwas ganz Besonderes. Bier, nun ja. Und die Zigarre. Sie ist das einzige, nach dem man noch einen Drang hat. Deadrick hat versprochen, ein paar Kisten geschmuggelte kubanische »Los Statos« mitzubringen. Auf diese jämmerliche Weise muß man sich seinen einzigen echten Wunsch erfüllen! Hol's der Teufel! Er kämmte sich das immer dünner werdende Haar noch einmal, dann machte er den Versuch, wenigstens das Wohnzimmer einigermaßen aufzuräumen, aber er gab es bald auf. Wo habe ich gestern abend die Aufstellung hingelegt, die ich für Deadrick ge-
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macht habe? Er lief aus einem Zimmer ins andere und suchte. Wochen hindurch hatte er für dieses Dokument Notizen gemacht, und gestern hatte er es systematisiert. Schließlich fand sich das Bündel zusammengehefteter Blätter unter ein paar Zeitungen auf dem Schreibtisch. Kartstein nahm es erleichtert auf und legte es deutlich sichtbar auf den Radioapparat im Wohnraum. Als er vor die Tür trat, merkte er, daß die Sommerhitze mit voller Intensität über dem Land lastete. Früher hatte er den Sommer geliebt. Jetzt bekam er spätestens um die Mittagsstunde Kopfschmerzen, die er bis zum Abend nicht mehr los wurde. Er war bei verschiedenen Ärzten gewesen, ohne Aufschluss zu erhalten, was es mit seinem spürbaren Kräfteverfall auf sich hatte. Alle rieten ihm lediglich, weniger zu arbeiten und mehr spazieren zu gehen. Spazierengehen! Diese Idioten sollten Nachtwächter bei Macy's werden, nicht Ärzte! Als ob ich mich erhole, wenn ich am Strand entlanglaufe! Die Gedanken sind immer da. Und die meisten sind nicht einmal angenehm! Die antikommunistische Linke, das war bereits abzusehen, rieb sich in Fraktionskämpfen auf, oder sie zersplitterte in kleine Anarchistengruppen, die von den Machtorganen der betroffenen Länder erbittert verfolgt wurden. Und für wie lange würden Maos Stoßtrupps noch auf der gleichen Linie arbeiten können, bevor ihnen der Garaus gemacht wurde? Übrigbleiben würden hier wie dort die ernst zu nehmenden Gegner der Sowjets, sie waren der harte Kern. Nur was konnte man mit ihm anfangen angesichts der kaum zu leugnenden Tatsache, daß die Ideen der »demokratischen Linken« kaum Eingang in die sozialistischen Länder gefunden hatten, es sei denn, man klammerte sich an ein paar Wirrköpfe, die das Geplapper von der »Phantasie«, die endlich an die Macht sollte, nachbeteten? Fragen! Kartstein geriet immer, wenn er darüber nachdachte, in eine säuerliche Laune. Er mußte sich eingestehen, daß die Theorie, die er vertreten hatte, sich nicht so einfach in die Praxis umsetzen ließ. Doch da war noch das Spiel mit Wetrow. Hier gab es wenig-
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stens Teilerfolge, daran war nicht zu rütteln. Und schließlich war das für Kartstein jetzt die Hauptaufgabe. Der Professor wippte auf den Fußspitzen und atmete tief ein. Die Luft hatte so viel Feuchtigkeit, daß sie bereits am frühen Vormittag in den Lungen drückte. Er ging in das Zimmer, steckte sich eine Zigarre an und kehrte damit vor die Eingangstür zurück. Da sah er den dunklen Wagen in die Straße einbiegen, die zu den Bungalows führte. Deadrick. Gut. Der Junge hat sich tadellos entwickelt. Kann nicht aus der Haut der Agentur heraus mit ihren Besserwissern und Analytikern, aber immerhin, er macht so gut wie alles möglich, was notwendig ist. Schade, der Junge müßte mehr von Literatur verstehen, dann könnte er einmal auf diesem Gebiet eine Menge erreichen. Nun, man kann die Menschen immer nur so nehmen, wie sie sind. »Hallo, Sef!« Es klang heiter. Vermutlich bringt er gute Nachrichten. Hat er nicht im Radio gehört, daß die Runde in der Tschechoslowakei verloren ist? »Natürlich habe ich es gehört!« Deadrick lachte. »Der Nachrichteneingang über solche Sachen funktioniert in der Agentur immer noch blendend, wenn es auch auf anderen Gebieten drunter und drüber geht!« Das mochte wahr sein; in der letzten Zeit gab es unangenehme Veröffentlichungen über die Rolle der Agentur in Südostasien. Es gelang nicht, sie völlig zu unterdrücken. »Und da zeigst du gar keine Trauer?« Deadrick lächelte immer noch. Er öffnete die Aktentasche und holte drei Kisten »Los Statos« heraus, die Kartstein strahlend in Empfang nahm. Er warf sofort die eben angerauchte Miami-Havanna in einen Aschenbecher, riß eine Kiste auf und rauchte eine der langen, duftenden Zigarren an. Genüsslich schnupperte er nach dem Rauch. Deadrick beobachtete es schmunzelnd. Er bemerkte freundlich: »Sag mal, Sef, du hast mich doch wohl nicht für einen Illusionisten
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gehalten, der annimmt, man könnte dem Warschauer Pakt so unterderhand die halbe Westflanke stehlen?« Kartstein grunzte nur etwas Unverständliches und ließ die Zigarre zwischen den Lippen auf und nieder wippen. »Die Russen haben den Spaß satt gehabt, und jetzt ist Schluss«, sagte Deadrick. »So ist das nun einmal. Wir können genau bis dorthin marschieren, wo sie die Schranke aufbauen. Den Spielraum haben wir getestet, das war es, was die ganze Geschichte lohnend machte. Jetzt wird sie zum Objekt der Journalisten. Langsamer Ausklang ohne Posaunen.« »Hast du eine Ahnung, ob Brzezinski heil herausgekommen ist?« »Er ist zurück«, antwortete Deadrick. Aus der Tasche nahm er nacheinander sechs Bücher und legte sie vor Kartstein auf den Tisch. »Vorhölle« und »Karzinom«, jeweils in englischer, französischer und italienischer Übersetzung. »Die russische Ausgabe vom ,Press' hattest du ja wohl?« erkundigte er sich. Kartstein antwortete nicht, er starrte fasziniert auf die Bücher mit ihren glänzenden, bunten Schutzumschlägen. Wie angeordnet gewesen war, hatte man auf die Rückseite des Schutzumschlages jeweils das Porträt Wetrows gedruckt, mit einer eindrucksvollen Biographie. »Das ist nicht . . . wahr!« sagte der Alte leise; er vergaß, an der Zigarre zu ziehen, sie erkaltete unbemerkt zwischen seinen Lippen, während er nach den Büchern griff, sie aufnahm und mit ihnen ans Fenster ging, an ihnen roch, sie in den Händen drehte und wendete, darüber hinwegfuhr mit etwas zittrigen Fingern, bis er endlich wieder Deadrick anblickte. »Junge!« »Fass dich!« Deadricks Zuruf klang fröhlich. »Wir haben uns vorgenommen, diesen Mister Kinnlade weltberühmt zu machen, und das nimmt jetzt Formen an, Sef. Kein Grund, die Sprache zu verlieren. Wie findest du die Einbände?« Sie gefielen ihm. Er war dafür gewesen, die Bücher so reißerisch wie möglich aufzumachen, obwohl er an der Verbreitung der These
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arbeitete, hier handle es sich um einen ernsten, respektablen Dichter, nicht um einen Tagesschreiber. Es war aber sinnlos, sich der Geschäftserfahrung zu widersetzen, daß das Auge über einen Bücherkauf entschied. Bei der Masse der Leute jedenfalls. Erst wenn der Schutzumschlag sie aufmerksam machte, griffen sie danach. Kartstein hatte einmal einem Verleger gesagt: »Wenn Sie heute die Bibel verkaufen wollen, dann wickeln Sie sie am besten in einen Schutzumschlag, auf dem Eva zu sehen ist, splitternackt, von hinten, vornübergebeugt!« »Wunderschöne Einbände«, meinte Kartstein. Er war von ehrlicher Freude erfüllt, aber dabei spürte er, wie ihm plötzlich der Schädel zu schmerzen begann. Dieser verdammte eiserne Ring, der sich immer wieder, ganz unberechenbar, um den Kopf schloß, bei einer kleinen Aufregung meist, jetzt aber auch schon ab und zu bei einer freudigen Überraschung. Er rieb die Stelle, an der es schmerzte. Deadrick legte noch einen Packen Kopien neben die Bücher. »Das neue Manuskript?« Deadrick nickte. »Hundertfünfzig Seiten davon. ,Die verlorene Schlacht'. Ich habe es gelesen. Ein historischer Roman. Spielt in der Zeit vor der Revolution. Deine Catherine hat dazu einiges mitgeteilt, wir werden es uns anhören.« Er stellte einen kleinen Kassettenrecorder auf den Tisch und legte eine Kassette ein. Schmunzelnd vertraute er Kartstein an: »Wir haben die Kommunikation mit Miß Laborde etwas modernisiert, Sef. Es gibt inzwischen eine Fluglinie New York Moskau. Über die können wir Material in ein paar Stunden haben.« Dann erklärte er dem Alten, daß es sich bei dem Gerät, das Catherine in Moskau zum Besprechen des Bandes benutzte, um ein ebensolches, leicht verändertes Modell eines Recorders handelte, wie er auf dem Tisch stand. »Ein so genannter Scrambler. Auf einem normalen Recorder abgespielt, wäre kein Wort von dem, was Miß Laborde auf dem Band spricht, zu verstehen.« Er grinste Kartstein entwaffnend an.
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»Wir können also ihre Stimme hören?« »Gleich«, schränkte Deadrick ein. »Zuerst noch ein paar andere Dinge.« Er setzte sich. »In Paris wird jährlich ein Preis vergeben für das beste fremdsprachige Buch. Es besteht die Möglichkeit, Wetrow für seine beiden Romane diesen Preis zuzuschanzen, also zweimal. Nur mußt du eine sehr würdig klingende Begründung schreiben. Der Form halber. Den Rest erledigen wir. Wann kann ich damit rechnen?« Sachlich wie immer! Kartstein ging auf seinen veränderten Tonfall ein. »Ruf mich morgen an, ich diktiere dir das auf ein Band.« »In Ordnung. Eine zweite Sache. Ich habe hier Angaben über einen Rechtsanwalt in der Schweiz. Wir brauchen für Wetrow aus verschiedenen Gründen im Ausland einen Anwalt; er soll ihn vor allem in urheberrechtlichen Belangen vertreten. Ein paar andere Aufgaben wird er auch noch haben. Die Verbindung übernehmen wir, der Mann ist absolut vertrauenswürdig.« Kartstein besah sich das Papier, das Deadrick ihm zuschob. Doktor Hedler. Den Namen kannte er nicht. Nun ja, die Agentur würde schon wissen, wen sie aussuchte. In der Tat war es nötig, einen solchen Mann zu haben. Im Laufe der Zeit würden sich eine Menge Rechtsfragen ergeben. Schon heute rauften sich ein Dutzend Verlage darum, aus Moskau herausgeschmuggelte Wetrow-Manuskripte zu drucken. »Einverstanden«, sagte er. »Ich glaube, das ist eine gute Idee.« »Sie stammt von deiner Schülerin«, gab Deadrick zurück. »Sie spricht auf diesem Band davon, ich habe das erledigt, wir brauchen darüber nicht mehr lange zu grübeln.« Kartstein blätterte bedächtig in dem von Deadrick mitgebrachten Manuskript »Die verlorene Schlacht«. Nun hatte er sich also doch entschlossen, dieses so genannte Lebenswerk zu beginnen. »Und wie weit ist er mit der Sammlung über die Haftlager?« »Wir werden uns das anhören«, schlug Deadrick vor, auf das Kassettengerät weisend. »Aber bevor wir das tun, hätte ich gern von dir gewußt, wie du die Situation überhaupt beurteilst. Sind wir auf
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dem richtigen Weg? Haben wir nichts übersehen? Wie weit werden wir kommen?« Kartstein erhob sich. Er brannte die erkaltete Zigarre neu an und stellte zufrieden fest, daß sie noch schmeckte. Havannas! Während Deadrick sich bequem in einem der Sessel niederließ, wanderte der Professor durch das Zimmer und begann halblaut zu sprechen, ruhig, überlegt, zuweilen ein paar Sekunden nachdenkend. »Wir haben uns vorgenommen, den Mann nach und nach in die Position eines weltbekannten Oppositionellen zu bringen, der seinen Ehrgeiz darin sieht, seine grundsätzliche Nichtübereinstimmung mit der Staatsidee zum Leitfaden seiner literarischen Arbeit zu machen. Das ist gelungen. Wir haben ihn weiterhin dazu gebracht, daß er jeden kleinen Ärger, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, selbst den unscheinbarsten, zum Anlaß nimmt, das gesamte System des Sowjetstaates in Frage zu stellen. Er tut das in den Büchern. Glänzend. Ich vermute nur, er leidet darunter, daß wir ihn immer wieder zurückhalten, das auch in Form von Statements zu tun, in Interviews und dergleichen. Er möchte das, aber ich glaube, es wird gut sein, wenn wir diesen Drang in ihm noch für eine gewisse Zeit in Grenzen halten.« »Einverstanden!« Deadrick hatte sich eine Zigarette angebrannt. Er klopfte an ein paar Bierbüchsen, die auf dem Tisch standen, bis er eine fand, die noch voll war, holte sich aus der Vitrine ein Glas und goß ein. Während er trank, führte Kartstein seine Überlegungen weiter. »Eine andere Zielsetzung, die wir hatten, wird sich als nicht realisierbar erweisen, befürchte ich. Wir gingen zu Anfang davon aus, daß der Mann in der Sowjetunion immer noch gedruckt werden würde. Damit ist es offenbar vorbei. Seine Wirkung auf das Publikum im eigenen Land ist also nicht mehr vorhanden, wenn man von dem absieht, was wir durch Radio Liberty oder Free Europe hineinlancieren können. Aber das ist nicht viel. Wer macht sich schon die Mühe, sich den Text eines Romans im Radio anzuhören? Über Wochen oder Monate. Ein paar Intellektuelle viel-
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leicht, die Masse des Publikums nicht, da sollten wir keine Illusionen haben.« »Das unterschreibe ich«, warf Deadrick ein. »Hier haben sie uns einen Strich durch den Plan gemacht.« Kartstein meinte: »Seien wir ehrlich: Damit ist es endgültig aus. Die ,Novy Mir' druckt ihn nicht mehr, einen Verlag kann er auch nicht finden. Also wird es kein Echo mehr auf seine Sachen dort drüben geben. Das bißchen, was da auf hektographierten Blättern von intellektuellen Klugscheißern unter der Hand weitergegeben wird, ist für uns nicht erheblich genug. Nein, keine Illusionen, hier sind wir gescheitert. Ich wage sogar zu behaupten, daß wir auch auf einem anderen Gebiet gescheitert sind: Er hat es nicht verstanden, sich unter seinen Kollegen im Schriftstellerverband Verbündete zu suchen. Im Anfang gab es die Chance, daß es seinetwegen zu ernsthaften Spaltungen kommt, zu einer Gruppenbildung, die an die späten zwanziger Jahre erinnert, unter anderen Vorzeichen. Aber das ist auch vorbei. Nach allem, was wir wissen, gibt es wohl ein paar Autoren, die ab und zu äußern, man sollte ihn drucken, aber dabei wird es bleiben. Niemand setzt sich mehr wirklich für ihn ein . . .« »Wäre es nicht interessant, zu ergründen, warum das so gekommen ist, Sef?« Kartstein sagte kategorisch: »Wir haben eine Regung in diesen Leuten unterschätzt, eine patriotische, so würde ich sie jedenfalls nennen, obwohl sich das eigenartig anhört. Aber es ist so. Die Geschichte liefert den Beweis dafür, daß wir uns geirrt haben. Zwar konnten wir bei einigen Leuten das Vertrauen in ihr staatliches System untergraben, aber das ist auch alles. Vielleicht ein Wechsel auf die Zukunft, wer weiß. Jedenfalls müssen wir einsehen, daß Sowjetrussen auf eine ideologische Attacke, der trotz aller Vorsicht anzumerken ist, daß sie von Positionen außerhalb des eigenen Landes unterstützt wird, nicht wesentlich anders reagieren als auf einen militärischen Angriff: Sie schließen sich zusammen, ganz gleich, was sie im einzelnen auch einander aufzurechnen hätten.
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Hier haben wir geirrt. Wenn wir das nicht klar erkennen, verlaufen wir uns in Spekulationen auf unwesentliche Grüppchen, die vielleicht der Polizei in Moskau Ärger machen, uns aber nicht das geringste nutzen.« »Bleibt der internationale Aspekt«, meinte Deadrick. Er widersprach Kartstein nicht, weil er längst begriffen hatte, daß sich die Dinge genau so verhielten, wie der Alte sie schilderte. Nun gut, es war ein Versuch gewesen, niemand hatte eine Garantie übernommen, daß er gelingen würde. »Der internationale Aspekt, ja«, sagte Kartstein. Er griff wieder mit einer zerfahrenen Bewegung an seinen Kopf, dann sprach er weiter: »Wir tun gut daran, uns voll und ganz auf ebendiesen Aspekt zu konzentrieren. Da liegt unsere Chance. Wenn es uns gelingt, mit Hilfe dieses Mannes das Interesse einzuschränken, das sich in der ganzen Welt zunehmend dem Sozialismus als Staatsordnung zuwendet, wenn es uns gelingt, speziell den sowjetischen Staat als unethisch zu disqualifizieren, als unmenschlich, unerträglich für Moralisten ebenso wie für nichts ahnende, in den Tag hinein lebende Bürger, dann haben wir Wetrow so genutzt, wie er einzig und allein genutzt werden kann. Es tut mir leid, aber das wird wohl alles sein, was wir schaffen können.« »Das ist nicht wenig, Sef!« »Nun ja, es ist viel weniger, als wir erhofft hatten. Und ob es zu realisieren ist, hängt zudem von einigen Faktoren ab, die nicht wir allein beeinflussen.« »Beispielsweise?« »Hast du dir einmal vorgestellt, was geschieht, wenn die Sowjets diesen Mann übermorgen aus der Moskauer Gegend verbannen? In eine stille Gegend im Osten? Ohne Korrespondenten? Ohne Verbindungen?« »Ich hoffe, das tun sie nicht!« »Bete, daß sie es nicht tun, Junge! Oder was würde geschehen, wenn er auf die Idee käme, lieber von seinen fetten Tantiemen in einem westlichen Land zu leben?«
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»Glaubst du, er bekäme das fertig? Der große Moralist?« Kartstein grinste. »Glaub nicht an deine eigene Propaganda, Sohn! Meinst du vielleicht, der Kerl schreibt Tag und Nacht, nur um selbstlos den Rosenduft der Moral zu verbreiten? Wir sind da in einer Zwickmühle: Einerseits müssen wir diesen internationalen Aufwand mit ihm treiben, um seine Bedeutung aufzublasen das bringt es aber mit sich, daß die Tantiemen rollen, daß er Preise bekommt, Auszeichnungen. Ich glaube sogar, in einem oder zwei Jahren wird die Stimmung für ihn so angeheizt sein, daß jemand ihn allen Ernstes zum Nobelpreis vorschlägt das erzeugt andrerseits bei ihm den ganz natürlichen Drang, seinen Ruhm zu ernten, eben die tausend angenehmen Seiten auszukosten, die ein siebenstelliges Bankkonto in einem westlichen Lande garantiert. Ich sage dir: Wir werden mächtig zu arbeiten haben, damit er nicht auf die Emigration zusteuert. Dieser Mann ist für uns eine Null, er wird in dem Augenblick zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen, in dem wir ihn nicht mehr als den großen russischen Moralisten und Wahrheitssucher verkaufen können, der im finsteren Moskau sitzt, von allen möglichen Bedrohungen eingekreist, heldenhaft, tapfer, unerschütterlich in seinem Glauben . . . Sowie das wegfällt, kann sich der nächstbeste antikommunistische Emigrantenverlag ihn meinetwegen an den Hut stecken, für uns ist er dann unbrauchbar. Er würde sogar unbequem sein, Junge!« Kartstein gab seine Wanderung auf und setzte sich Deadrick gegenüber, an seiner Zigarre saugend. Nach einer Weile stellte er fest: »Sie haben es immer noch nicht verlernt, anständige Zigarren zu drehen, diese Kubaner!« Deadrick fragte: »Und was schlägst du vor?« Kartstein zuckte die Schultern. »Weitermachen. Stützen. Catherine macht das blendend. Was wir von ihm brauchen, ist diese Sammlung über die Lager. Danach soll er sich meinetwegen zurückziehen und solche Schwarten schreiben wie diese über die verlorene Schlacht im ersten Weltkrieg!« Deadrick fragte unvermittelt: »Sef, hast du dir einmal überlegt,
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wie viele Bücher in der letzten Zeit bei uns herausgekommen sind, in denen man Einzelheiten über sowjetische Haftlager lesen kann?« Kartstein knurrte: »Es können vierzig oder fünfzig sein. Wie meinst du das?« »Ich meine, daß keines dieser Bücher nennenswerte politische Auswirkungen gehabt hat.« »Da gebe ich dir sogar recht.« Kartstein erhob sich wieder, ging unruhig hin und her und gestikulierte plötzlich mit beiden Händen. »Junge, du darfst nie vergessen, daß es nicht nur von der sachlichen Darstellung abhängt, ob ein Buch wirkt, nicht nur von gekonntem Aufbau, von Sprache und Stil, nicht einmal nur vom Thema selbst! Wetrows Sammlung über die Haftlager kann einen Dreck taugen sie wird trotzdem stärker wirken, einzig und allein dadurch, daß jeder Leser einer Zeitung, jeder Rundfunkhörer, jeder Fernsehzuschauer, ob er das will oder nicht, eingebläut bekommt: Dieser Mann, der dieses hervorragende, gewagte Buch geschrieben hat, der damit dem sowjetischen System einen schmetternden Schlag versetzt hat, der sitzt in Moskau. In Moskau, Junge! In der Höhle des sowjetischen Bären! Das ist der Umstand, der ihn interessant macht. Und dazu werden wir, das kannst du als gegeben nehmen, in allen Medien einen solchen Rummel um ihn veranstalten, daß die Moskauer vom Stuhl fallen. Wir werden nicht einfach die Trommel rühren, wir werden ganze Regimenter musizieren lassen, überall in der Welt. Denn das ist der Wirkungsfaktor: ein Mann, über dem das Beil des Henkers schwebt! Einer, der morgen für genau dieses Buch, das man für fünf Dollar kaufen kann, in die eisige Wüste Sibiriens verbannt werden kann. Das läßt Gänsehaut entstehen, das zieht. Oder ich kenne mein Publikum nicht mehr!« »Du kennst es!« Deadrick schmunzelte. Der Alte begann sich in Feuer zu reden. Man mußte bremsen. Er war in letzter Zeit nicht ganz gesund, und Ärzte hatten geraten, Aufregungen von ihm fernzuhalten. »Einverstanden«, sagte Deadrick deshalb. »Also wenn du schon keine Weiber hier hast, mit denen sich etwas anfangen läßt, dann
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wollen wir uns wenigstens eine weibliche Stimme gönnen. Laß uns Miß Laborde lauschen . . .« Er legte die Kassette in den Recorder. Es war üblich geworden, daß Catherine zweimal im Monat eine Situationsanalyse lieferte. Sie umfasste alles, was Wetrow persönlich betraf, aber auch Ereignisse und Entwicklungen auf der literarischen Szene, die mittelbar mit dem in Verbindung standen, was Wetrow tat. Kartstein verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse, als er hörte, daß der Schriftsteller dabei war, sich endgültig von seiner Frau zu trennen und sich mit jener Swetlana Fjodorowna zusammenzutun. Eine Mathematikerin, die von ihrem ersten Mann geschieden war und die mit einem kleinen Jungen aus dieser Ehe in einer relativ guten Wohnung im Zentrum Moskaus lebte, in der Gorkistraße. Aspirantin an einem wissenschaftlichen Institut. Catherine kündigte an, daß sie über diese Frau noch genauer berichten werde. »Weiber, Weiber . . .«, knurrte Kartstein. »Er soll sich gefälligst so benehmen, wie sich das für einen großen Dichter gehört!« Aber er ging nicht weiter auf das Thema ein und lauschte, was Catherine über die Entwicklung in der »Novy Mir« sagte. Hier vollzog sich ein Prozess, den Kartstein mit großer Enttäuschung verfolgte. Was zunächst wie eine überwindbare Verstimmung zwischen Wetrow und Twardowski ausgesehen hatte, die auf Twardowskis hohe Forderungen an einen Autor zurückzuführen war, wuchs sich zu einer gründlichen Entfremdung der beiden aus. Twardowski unternahm nichts mehr, um Wetrow vor Kritik aus den Kreisen der Kollegen zu schützen. Im Gegenteil, auch er verlangte, daß Wetrow sich öffentlich gegen den Missbrauch seiner Manuskripte in westlichen Ländern wandte. Dabei lehnte er den Druck von »Karzinom« in der »Novy Mir« ebenso ab wie den der »Vorhölle«, und ob er jemals eine der Erzählungen drucken würde, die Wetrow bereithielt, war fraglich. Wir haben uns verkalkuliert, sagte sich Kartstein. Erst als Catherine über die ausländischen Pressestimmen sprach, die man nach Moskau lanciert hatte, damit sie von Wetrows Freunden
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heimlich hektographiert und in Umlauf gebracht wurden, hellte sich seine Miene wieder auf. Wenigstens auf diese Art konnte man den Autor im eigenen Land ein wenig populärer machen, konnte man demonstrieren, daß die westliche Welt ihn schätzte, daß sie ihn notfalls auch schützen würde. »Wir müssen diese Linie der Arbeit verstärken«, bemerkte er zu Deadrick, der begonnen hatte, sich Notizen zu machen. »Wir müssen dafür sorgen, daß Leute mit großen Namen über ihn sprechen. Nicht nur Schriftsteller, auch Politiker. Internationales Flair, das ist es, was der Mann jetzt braucht, verstehst du?« Er drängte: »Fädelt das ein. Es ist höchste Zeit. Es gibt bei uns so genannte Humanisten der unabhängigen Art in genügender Menge, die sich dafür engagieren lassen. Ich werde noch in diesem Monat erneut mit Bortinger reden, er hat durchblicken lassen, daß der Mann ihm liegt. Das kommt mir entgegen, und ich werde es nützen. Er glaubt, wie ich mir habe sagen lassen, tatsächlich, daß Wetrow die Tradition Dostojewskis fortsetze.« Deadrick grinste. »Ein Träumer?« Kartstein schüttelte den Kopf. »Der wird für Wetrow kämpfen wie ein Löwe. Ohne die leiseste Ahnung, wofür er sich da engagiert!« Er hob den Zeigefinger. »So etwas kann eine Lawine auslösen! Moskau ist offen! Tausende von Touristen fahren dorthin, Einzelreisende, jeder, der will; also wird sich bei Wetrow die Creme der internationalen Literatur vor der Tür drängeln. Alles, was gut und teuer ist! Bei seinen Landsleuten ist er so gut wie völlig isoliert. Kontern wir das, indem wir ihn international zur absoluten Spitze erklären, dann haben wir gewonnen.« Der Recorder lief weiter. Während Catherine über ihren ersten Eindruck sprach, den sie beim Lesen des Manuskripts »Die verlorene Schlacht« gehabt hatte, überlegte Deadrick, der das Band kannte, ob es ratsam war, Sef Kartstein mit sanfter Gewalt dazu zu bringen, daß er sich einer gründlichen ärztlichen Behandlung unterzog. Der Alte war überarbeitet, und er war in einem Alter, in dem sich Verschleißerscheinungen bemerkbar machten. Es fiel auf,
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daß die Konzentration Kartsteins schnell nachließ, daß er zeitweise offenbar unter dem Einfluß von Pep-Pillen munterer, ja geradezu euphorisch wurde und dann später in einen Zustand sank, der an Lethargie grenzte. Ein Mann aber, der seine Finger in einer Aktion hatte, wie sie das Management Wetrows war, mußte topfit sein. Er entschied sich, das heute noch nicht mit dem Alten zu besprechen, aber er würde es nicht allzulange aufschieben. »Daß er von der Sammlung über die Lager noch nichts herausrückt, gefällt mir nicht«, bemerkte Kartstein brummig. »Wir müssen Catherine auffordern, auf alle Fälle wenigstens den ersten Teil der Sache zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich haben wir den Start zu organisieren!« Auch das notierte Deadrick. Als das Band abgelaufen war, saß der Professor eine Weile nachdenklich und paffte vor sich hin. Erst viel später sprang er plötzlich auf, lief im Zimmer hin und her und hämmerte Deadrick erneut ein: »Publicity, Junge, das ist es, was der Mann braucht! Laß uns diesen internationalen Aspekt verfolgen und alles andere dem unterordnen. Ich glaube, wir haben keinen Grund, unzufrieden zu sein, daß sich einige unserer Hoffnungen nicht erfüllt haben. Wir haben im Laufe des Prozesses erst gemerkt, wo wir die eigentlichen Schwerpunkte setzen müssen. Sieh es so, dann haben wir sogar Grund, uns zu freuen!« Er schien für ein paar Minuten wieder der alte zu sein, unternehmungslustig, begeistert, zuweilen von spitzbübischer Schadenfreude erfüllt. Deadrick registrierte es, aber seine Zufriedenheit war eingeschränkt. Er hatte begriffen, daß diese Besprechung nicht, wie sonst üblich, einen privaten Ausklang finden würde. Dafür war Kartstein im Augenblick nicht in Stimmung. Nun ja, der Fall Wetrow reduziert sich für uns nach allem, was wir voraussehen können, auf die Erzeugung eines publizistischen Gegengewichtes, das den wachsenden Einfluß der Sowjets in einer Phase abschwächt, in der wir in der Hinterhand sind. Vielleicht gibt uns das Spektakulum, das wir mit Mister Kinnlade veranstalten, noch einen Trumpf in die Hand, bevor wir wohl oder übel das Haupt in Richtung
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Entspannung beugen müssen. Wenn wir das erreichen, haben wir vermutlich alles gewonnen, was an der Sache zu gewinnen ist. »Nun also«, sagte er aufgeräumt zu Kartstein, »was soll ich der lieben kleinen Catherine ausrichten, Sef? Hatte ich dir schon gesagt, daß sie ein Auto haben möchte?« Als Kartstein verwundert den Kopf schüttelte, erklärte Deadrick: »Sie wird mit einem kleinen Wagen beweglicher sein. Wir haben in die Wege geleitet, daß sie ihn bekommt. Ihre Fahrprüfung hat sie bereits abgelegt, mit Bravour.« Am Nachmittag, als Deadrick sich verabschiedete, fiel Kartstein ein, daß er die »Richtlinien für die Diktion« auf dem Radioapparat zurechtgelegt hatte. Er gab sie Deadrick, zusammen mit einer Liste der Themen von Examensarbeiten, die er kürzlich vergeben hatte. Deadrick verschob die Lektüre bis zum Rückflug. Er wollte Kartstein bewegen, mit ihm noch einen Spaziergang am Strand zu machen, aber der Alte hatte keine Lust. Er wirkte überhaupt von Mittag an seltsam abwesend. So riet Deadrick ihm nur, seine Gesundheit zu schonen, sich nicht mit Arbeit überlasten zu lassen und den Aufenthalt in Miami Beach für seine Erholung zu nutzen. Kartstein nickte zu allen diesen guten Ratschlägen. Er würde sich, nachdem Deadrick abgefahren war, hinlegen. Ein paar Stunden schlafen vielleicht und dann zwei Pillen schlucken. Bis in die Nacht arbeiten über Vorschlägen an Literaturgeschichtler und renommierte Kritiker überall in der Welt, die er mit Hilfe der Agentur auf Wetrow ansetzen wollte. Eine Wissenschaft aus dem machen, was dieser Mann schrieb! Man konnte aus allem einen Gegenstand tiefgründiger, philosophisch gefärbter Erörterung machen, wenn man die geeigneten Leute dafür fand. Man konnte es zum Zeichen für großes Wissen und unanfechtbare literarische Weitsicht machen, Wetrows Arbeiten zu werten, zu analysieren. Und zum Zeichen von hoffnungslosem Banausentum, ihn einfach als einen antikommunistischen Autor unter vielen zu betrachten. Man hatte nicht nur die Mittel, bereitwillige Schreiber zu bezahlen, man hatte auch die Möglichkeit, Redaktionen zu beeinflussen, daß sie ge-
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radezu nach Beiträgen über Wetrow schrien. Von der »Bangkok Post« bis zum »Bayernkurier«. Wenn ich das nur noch alles schaffe, dachte er. Wenn ich es noch schaffe, daß wir diesen Wetrow zu einer internationalen Figur machen und damit Brzezinski und einer Menge anderer Klugscheißer beweisen, daß sie alle in mir ihren Meister gefunden haben! Sie werden sich die Krätze an den Hals ärgern, wenn ihnen gerade Sef Kartstein, der alte Meckerkopf, der Besserwisser, den sie immer ein wenig über die Schulter ansehen, vormacht, wie man den großen Gestank aufrührt! Wenn ich das noch schaffe! Er sah hinter dem dunklen Wagen her, der mit Deadrick abfuhr, dann ging er, ohne einen Blick auf die sonnenüberflutete Landschaft zu verschwenden, zurück in den Bungalow und legte sich auf die Couch. Er war todmüde, so daß er sofort einschlief. Deadrick nahm Kartsteins Aufzeichnungen in der Maschine zur Hand, die ihn nach Washington zurückflog. Zuerst die so genannten »Richtlinien für die Diktion«. Es war Kartsteins Idee, vermittels dieser »Richtlinien« bei der Mehrzahl der Zeitungen zu erreichen, daß die Berichte über Wetrow sich in ihrem Grundtenor glichen. »Genügend gute Beispiele erzeugen gute Sitten!« hatte er ein bekanntes Sprichwort umgedreht, als er zum erstenmal diese Idee erläuterte. Jetzt las Deadrick die in der dünnen, flüchtigen Handschrift des Professors skizzierten Vorschläge: Wetrow ist kein Schriftsteller, kein Autor, er ist ein Dichter (wiederhole: Dichter) und sollte stets als ein solcher bezeichnet werden! Wetrow schreibt aus anderen Gründen als alle anderen Autoren in der Sowjetunion oder anderswo: Er schreibt aus Verpflichtung gegenüber den Toten der stalinschen Lager!
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Wetrow ist mit keinem anderen Autor zu vergleichen. Er besitzt die Wortgewalt eines Dostojewski, eines Lew Tolstoi. Und er setzt sie für die gesamte Menschheit ein! Für die Menschen innerhalb der Sowjetunion, damit ihr Los sich erleichtere, und für die außerhalb der Sowjetunion, damit sie wissen, was mit den Kommunisten an die Macht kommt! Wetrow setzt nach der Öde des »sozialistischen Realismus«, in den Russlands Schriftsteller nach der Revolution getrieben wurden, die wahrhaft humanistische geistige Tradition der großen russischen Realisten fort! Wetrow ist eine wahrhaft gigantische Erscheinung inmitten der tristen Landschaft des sowjetischen Literaturkonformismus! Wetrow sagt die ungeschminkte, bittere Wahrheit, und wenn er dafür sterben muß! Er kennt keine Kompromisse mit dem System! Wetrow ist der einzige russische Dichter, der es wagt, der Partei die Stirn zu bieten! Wetrow, der von den alten Stalinisten am meisten gehasste Dissident, lehrt das sowjetische Establishement das Fürchten! Wetrows Sprache ist die Sprache der russischen Klassik er ist der einzige zeitgenössische russische Dichter von Weltbedeutung!
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Wetrows Leben ist ein Leben wider die Lüge! Er ist der große Mahner, der seine Landsleute zu tätiger Reue führt! Wetrow mobilisiert den Geist gegen die Gewalt. Hat sich das sowjetische System nach Stalin wirklich geändert? Wetrow stellt der russischen Völkerfamilie die Gewissensfrage! Wetrow Dichter der moralischen Notwendigkeit! * Wetrow Denker und Erzieher seines schwergeprüften Volkes! * Wetrow Messias der russischen Literatur! * Millionen starben ein Dichter erfüllt ihr Vermächtnis: Wetrow! Deadrick faltete die Blätter nachdenklich zusammen. Die Maschine flog nicht sehr hoch, eine kleine, zweimotorige Kuriermaschine, angenehm geräuschgedämpft, wie ein Zugvogel, der auf der Heimkehr ist und sich Zeit läßt, nach einem passenden Aufenthaltsort zu suchen. Es wird nicht lange dauern, und jeder Gymnasiast wird den Namen Wetrow kennen, dachte Deadrick. Die Quizmaster werden nach ihm fragen; vielleicht sollte man ihm heute schon raten, sich ein ganz besonderes Charakteristikum zuzulegen, beispielsweise Zigaretten mit der Hand zu drehen oder dreieckige Brillengläser zu tragen? Sein Taschentuch in einem um den Hals gehängten Lederbeutel aufzubewahren und das für eine alte russische Tradition zu erklären? Wir hätten im Handumdrehen eine neue Mode! Er griff nach dem Rest der Blätter, die Kartstein ihm mitgegeben hatte, und las weiter:
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Wichtig für künftige Statements von Wetrow und deren Kommentierung: Wir müssen als Methode durchsetzen, daß Verlautbarungen von Wetrow so eingeleitet werden: »Der große russische Dichter W. erklärt...« (Merke: erklärt!) Sind wir genötigt, sowjetische Gegenstimmen gleichzeitig zu zitieren, muß es heißen (Beisp.): »Tass (etc.) hingegen behauptet.. .« (Beachte: behauptet!) Ich bitte, den Unterschied zwischen »erklärt« einerseits und »behauptet« andererseits mit allen für uns erreichbaren Publizisten zu erörtern, er ist von außerordentlicher psychologischer Bedeutung! Hier die Themenstellungen für Examensarbeiten: 1. Wetrow im Kontext der Weltliteratur. 2. Der Zusammenprall Wetrows mit der abgestorbenen Sowjetliteratur. 3. Die Konfrontation eines Systems mit der Wahrheit Wetrow als Sprecher der bisher zum Schweigen verurteilten Mehrheit. 4. Der Sinn des Menschseins in der Interpretation Wetrows. 5. Der moralische Imperativ bei Wetrow. 6. Wetrow als religiöser Dichter. 7. Die epische Struktur der Werke Wetrows. 8. Sprache, Stil und Syntax bei Wetrow. 9. Die polyphone Kompositionstechnik in Wetrows Romanen. 10. Objektivität und Realismus im Werk Wetrows. 11. Die Transformation klassischer russischer Poetik in die sowjetische Gegenwart durch Wetrow. 12. Die Selbstverwirklichung des Individuums ethische Devise Wetrows. Während Deadrick die Bogen ordnete, lachte er leise vor sich hin. Was war es nur, das ihn an dieser ganzen Aktion immer wieder erheiterte? War es das Missverhältnis zwischen Aufwand und
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Objekt? Mister Kinnlade, mit Backenbart neuerdings, der sich neben Dostojewski ausnahm wie ein gitarrespielender Hippie neben Gershwin? Fehlt noch ein Thema, dachte Deadrick, sagen wir: die Koitusgewohnheiten Wetrows bei Damen reiferen Alters, die für ihn Manuskripte tippen oder ausländisches Lesematerial beschaffen! Nummer dreizehn. Zusatzthema. Der Alte würde mir den Kopf abreißen, wenn er wüßte, daß seine Vorschläge mich in dieser Art zur Heiterkeit bringen! Nun gut, vorerst werden wir Kartsteins Anregungen bei unseren Sendern realisieren. In München gibt es »Free Europe«. Die können den Roman »Karzinom« abschnittsweise in ihrem Programm für die Sowjetunion verlesen, über Wochen. Er fragte den Piloten, ob er rauchen dürfe; der erlaubte es mit einem freundlichen Nicken. So brannte sich Deadrick eine Zigarette an und überlegte. Ob ich nach München reise, um das perfekt zu machen? Die Zeit könnte ich erübrigen. Doktor Hedler in Basel mußte diskret instruiert werden. Außerdem war die Sache mit den beiden Preisen in Frankreich zu erledigen. Und ein Höflichkeitsbesuch bei einigen Leuten würde sich lohnen, von denen man wußte, daß sie Kontakte zu jenem Gremium hatten, das die Nobelpreisvorschläge beriet... In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, die Meinung Kartsteins zu einer Sache zu erfragen, die ihm vor Tagen in den Sinn gekommen war. Es bot sich die Möglichkeit, Mister Kinnlade von mindestens einem halben Dutzend Universitäten den Doktorhut verleihen zu lassen! Warum eigentlich nicht? So etwas konnte man sang- und klanglos regeln, es kostete nicht einmal etwas. Es gab in den Staaten einige Akademien, die sich mit Literatur und Kunst befassten; die würden es sich bei geeigneter Vorarbeit als Ehre anrechnen, Wetrow zu ihrem Mitglied zu erwählen. Mitglied der Academy of Arts and Sciences in Boston beispielsweise , das könnte er werden, wenn ich morgen früh ein Telefongespräch von zehn Minuten führe! Damit würden wir den
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Leuten in Moskau, die ihn kritisierten, ein Geschoß vor die Brust setzen, das ihnen wenigstens für gewisse Zeit die Luft nimmt! »Ja, ich werde das veranlassen!« Er sagte es laut, ohne es zu merken, und der Pilot drehte sich verdutzt um. »Ist etwas, Sir?« Doch Deadrick gab nur lächelnd zur Antwort: »Alles okay, mein Lieber!« Er hatte sich entschlossen, einen Spaziergang zu machen. Das Sommerhäuschen der Jelanskis in Peredelkino lag zwar an einem der Fahrwege, aber es war durch Fichten und Kiefern dem Blick des Vorübergehenden entzogen, es versteckte sich gleichsam inmitten des Gewirrs von Bäumen und Büschen. Selbst die Einfahrt, die zu einem Anbau führte, in dem auch die Garage untergebracht war, wuchs im Sommer zu, es sei denn, jemand machte sich die Mühe, die wuchernden Zweige des Holunders und der Schneebeeren von Zeit zu Zeit zu stutzen. Hinter dem Häuschen war ein Holzzaun mit einer kleinen Pforte zum Wald. Hier war nicht einmal ein richtiger Weg angelegt, nur ein paar Trampelpfade verliefen durch das Kieferndickicht. Irgendwo dahinter war eine andere Datscha, saßen ein paar Leute auf einer Veranda, Kinder spielten, ein Hund bellte. Die Grundstücke lagen so weit voneinander entfernt, daß niemand den anderen störte, ja zuweilen sah man einander gar nicht, wenn man es nicht gerade darauf anlegte. Die Häuschen, die eine Kolonie bildeten, hatten eine lange Geschichte. Viele, ja die meisten von ihnen waren von den Künstlerverbänden für Mitglieder gebaut worden, die in Ruhe arbeiten sollten. Die Häuschen gehörten den Bewohnern auf Lebenszeit. Nach dem Tode eines Bewohners verblieb das Anwesen noch mehrere Jahre im Besitz der betreffenden Familie. Der alte Jelanski wohnte bereits mehrere Jahrzehnte hier. Seine Theaterstücke waren im ganzen Land bekannt, auch im Ausland, und seine Kinderbücher erfreuten sich großer Beliebtheit unter den Jüngeren. Jelanski war
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bereits über das Rentenalter hinaus, und in letzter Zeit bereitete es ihm Mühe, nach Peredelkino zu fahren, er blieb lieber in seiner Wohnung in Moskau. Seine zweite Frau, eine Literaturkritikerin, nicht mehr jung, ein wenig kränkelnd, hielt sich den Sommer über meist in Peredelkino auf; aber wenn die ersten kühlen Tage kamen, reiste sie zurück in die Stadt, weil es ihr zu schwer fiel, die Heizung in Gang zu halten und sich den vielen kleinen Nebenarbeiten zu widmen, die Herbst und Winter in der Siedlung mit sich brachten. Die Tochter dieser kleinen, unscheinbaren Frau, ein Kind aus erster Ehe, war es gewesen, die Wetrow in die Familie eingeführt hatte. Sie selbst hatte kaum etwas mit Literatur zu tun, sie war Chemikerin und arbeitete in einem Moskauer Forschungsinstitut. Es war ihrer Bekanntschaft mit Melentjew zu verdanken, daß diese Verbindung zustande gekommen war. Melentjew hatte wie er das an vielen anderen wissenschaftlichen Instituten auch tat den Versuch unternommen, eine Lesung für Wetrow zu organisieren. Er war gescheitert, als herauskam, daß Wetrow nicht aus seinen Werken vorlesen wollte, sondern vielmehr aus seinem Brief an den Schriftstellerkongress im vergangenen Jahr. Für die Erörterung der Fragen aus diesem Brief bestand im Institut kein Interesse. Melentjew, der mit seinen Organisationskünsten in letzter Zeit immer wieder solche Misserfolge erlebte, war ziemlich niedergeschlagen gewesen, und Ljuba Jelanskaja, mit der er sich unterhielt, entdeckte ganz plötzlich ihr Interesse an Wetrow, dem Autor aus Tula, von dem Melentjew behauptete, er sei der einzige wirklich begabte Gegenwartsautor des ganzen Landes und er sei deshalb so ungern gesehen, weil er die Wahrheit verkündete. Eine Gestalt, um die sich Gerüchte rankten, Vermutungen. Ljuba, die noch nicht dreißig war und gerade keinen festen Freund hatte, beschloß, sich Wetrow genauer anzusehen. Aus dem Impuls wurde eine ausgeklügelte Technik. Sie spürte, daß sie Wetrow nicht gleichgültig war, als sie zum erstenmal mit ihm zusammenkam. Unvorsichtigerweise schrieb sie das dem Eindruck zu, den sie auf ihn gemacht
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hatte. In Wirklichkeit war dem Autor weitaus mehr an ihrem Stiefvater und dessen Frau gelegen. Beide genossen in literarischen Kreisen der Hauptstadt hohes Ansehen, beide scheuten sich nicht, auch unbequeme Fragen zu stellen warum sollte man nicht versuchen, sie für sich einzuspannen? Ljuba bot sich als Vermittlerin an. Sie sorgte in kurzer Zeit dafür, daß Jelanski, ein gutmütiger, entgegenkommender Mann, Wetrow einlud, in seiner Datscha zu arbeiten, wenn er das Bedürfnis habe, nahe bei Moskau zu sein. Seine Frau begann wohlmeinende Kritiken über seine Werke zu schreiben. Und Ljuba besuchte ihn in der Datscha, blieb bald einmal über Nacht und gewann nach und nach Gefallen an ihrer Rolle, diesem eigenartigen Mann, der sich auf so spektakuläre Art mit dem Staat anlegte, diesen oder jenen Gefallen zu erweisen. Vor allem machte sie ihn mit einer Reihe von Leuten bekannt, die in Bibliotheken und Archiven arbeiteten, was ihm dazu verhalf, seltenes Material bequem zu beziehen. Sie fuhr für ihn manchmal bis in irgendeinen entlegenen Ort, wo jemand lebte, der Wetrow Unterlagen für seine Sammlung über die Haftlager zur Verfügung stellte, sie tippte sogar Manuskripte für ihn, erledigte überhaupt vieles von dem, was zwar mittelbar mit seiner Arbeit verbunden war, ihn aber Zeit kosten würde. Denn Wetrow geizte mit der Zeit! Jetzt, da er bereits den ganzen Sommer in dieser Datscha zugebracht hatte, fühlte er sich hier zu Hause. Ljubas Bekanntschaft war gerade zur rechten Zeit gekommen; sein Verhältnis zu Natalie spitzte sich mehr und mehr zu. Seine Frau meldete Bedenken über Bedenken an. Sie hielt ihm vor, daß er sich immer weiter isoliere, daß die Kollegen des Schriftstellerverbandes in Moskau nicht mehr viel Lust zeigten, ihm zuzuhören, weil er sie direkt oder auf dem Umwege über das westliche Ausland ein ums andere Mal brüskierte. Sie warnte ihn, sich in die Gesellschaft von Randfiguren der literarischen Welt zu begeben, denen es kaum auf literarische Arbeit ankam, mehr aber auf die Ausnutzung einer Konjunktur: Westliche Verlage druckten alles, was illegal aus der
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Sowjetunion kam und was sich gegen den Sowjetstaat richtete, groß aufgemacht. Diese Natalia wurde zu einem Hemmschuh! Sie verstand gar nichts. Sie glich irgendwie Gorbatschewski, ohne freilich dessen Leben gelebt zu haben. Außerdem wird sie zusehends älter. Warum soll ich die Falten in ihrem Gesicht ansehen, wenn ich die prallen Rundungen einer Jüngeren streicheln kann? Wetrow ging in den Wald. Er hatte lange gearbeitet, den ganzen Vormittag, hatte nur eine Kleinigkeit gegessen, weitergearbeitet, und jetzt, in der Stunde vor der Dämmerung, wollte er sich an der frischen Luft bewegen. Zuerst ging er, einer alten Gewohnheit folgend, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, nachdenkend. Aber dann richtete er sich auf, griff sich einen Stock, schritt munter aus, bis er sich mitten im herbstlich bunten Wald befand, wo die Blätter des Ahorns und der Buchen zwar schon kraftlos und fahl waren, aber noch an den Ästen hingen, weil es bisher keinen Frost gegeben hatte und keinen Wind. Warum eigentlich nicht den Winter hier abwarten? fragte er sich. Das Haus ist stabil. Es hat eine sehr gut funktionierende Heizung. Brennmaterial ist vorhanden, auch das Magazin, in dem man Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände kaufen kann, bleibt den Winter über geöffnet, weil immer mehr Leute ihre Datschas winterfest gemacht haben. Eigentlich ist es sinnlos, jetzt nach Tula zurückzukehren. Natalia sitzt über dem Manuskript der HaftlagerStory, sie wird noch Monate zu tippen haben. Irgendwann hole ich das Geschriebene einmal ab, kann es hier korrigieren, Ergänzungen anfügen, es ihr erneut zum Abtippen geben oder Ljuba, Lara, Olga. Er lachte. Frauen über Frauen! Nichts war leichter, als solche »literarischen Nebendamen« aufzutreiben: Man machte ihnen ein paar Komplimente, je altmodischer, desto besser, das zog überraschenderweise in diesem technologischen Zeitalter am meisten, in diesem Zeitalter der Emanzipation und der immer lakonischer werdenden Umgangsformen. Dann klagte man ihnen seine Einsamkeit, man deutete die Möglichkeit an, wieder einmal eine Frau zu
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nehmen, wenn man das lästige Gewicht an den Füßen, das man seit seiner Jugend ehrenhafterweise mit sich herumschleppte, endlich abgestreift hatte, und zuletzt ließ man durchblicken, daß man gerade so eine Frau wie sie gesucht habe, als Typ für einen Roman. Damit war alles getan. Der Rest ergab sich aus der Reaktion der betreffenden Frau, und von etwa zwei Dutzend Frauen hatten mehr als die Hälfte so reagiert, wie er es erwartet hatte. »Weiber!« rief er lachend, dann blickte er sich erschrocken um, aber es war niemand in der Nahe, der ihn hätte hören können. Er konzentrierte nun seine Gedanken auf das, was ihn im Zusammenhang mit seiner Arbeit bewegte. Ein Spaziergang in der frischen Luft bot eine glänzende Gelegenheit, über vieles in Ruhe nachzudenken. »Die verlorene Schlacht« rundete sich. Eine schwierige Arbeit, gewiss, zumal man das Material aus der Zeit des ersten Weltkrieges gar nicht so leicht aufspüren konnte. Dazu kam, daß der Roman als Anfangsbuch eines Zyklus gedacht war. Das brachte verschiedene Probleme mit sich. Man mußte die Personen sorgsam auswählen, sie mußten über mehrere, recht komplizierte Stationen geführt werden, teils bis in die Gegenwart. Es waren Entscheidungen nötig, wen man aus dem ersten Band in den zweiten »hinübernehmen« würde und eventuell in folgende. Man hatte zu bestimmen, wer auf der Strecke blieb. Und nicht zuletzt mußte die Handlung so geknotet sein, daß sie bereits im ersten Band die Anknüpfungspunkte für den nächsten und den übernächsten lieferte. Vorbauen. Eine komplizierte Denkarbeit. Trotzdem dies würde eine Serie historischer Romane werden, aus denen man ablesen könnte, daß die kommunistische Revolution ein Volk unentrinnbar in die Tragödie stürzte! Das war der Sinn. Vier Bücher, vielleicht fünf, sechs. Oder mehr. Egal. Die Leute, die sich in der Bücherbranche auskannten, waren der Meinung, daß man nach dem ersten, skandalös gestarteten Buch den Sammlertrieb weckte. Keiner würde den nächsten Band verpassen wollen, nachdem er den ersten gelesen hatte! Übermütig spießte er mit dem Stock einen Pilz auf und schleuderte ihn durch die Luft. Der Wald roch nach faulenden
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Nadeln. In den letzten Tagen hatte es geregnet, nun würde bald der erste Frost kommen. Ich bleibe hier, entschied sich Wetrow. Ich werde nur einen kurzen Ausflug nach Tula machen, um nach dem Rechten zu sehen. Wird ein arbeitsamer Winter. Und billig! Der alte Jelanski stellt das Haus zur Verfügung und die Heizung, sogar Schreibpapier kann ich benutzen. Ob er glaubt, ich habe vor der Garnitur von Schriftstellern, zu der er gehört, mehr Respekt, nur weil er mir hilft? Über diesen Gedanken fiel ihm ein, daß es gut wäre, wieder einmal nach Moskau zu fahren, Swetlana Fjodorowna besuchen! Das war nötig. Die Bekanntschaft mit ihr ging auf die Neujahrsfeier im vergangenen Winter zurück. Er hatte keine Lust gehabt, mit Natalia in Tula zu sitzen, und war der Einladung eines Regisseurs vom Sowremennik-Theater gefolgt, mit Theaterleuten zu feiern. Natalie gegenüber schützte er geschäftliche Unterredungen vor, die er während seines Aufenthaltes in Moskau führen wollte und für die es günstig war, wenn sie um das Neujahrsfest herum geführt wurden, weil sich da die einflussreichsten Leute trafen und leichter anzusprechen waren. Er verbrachte mit ihnen einen Abend, der ihm Kopfschmerzen verursachte, denn er war nicht gewohnt, sich unter so vielen Menschen aufzuhalten. Er vertrug den Lärm schlecht, die laute Musik, und auch die Getränke setzten ihm zu, weil er im Grunde kein Trinker war. Aber er hielt durch, denn auf dieser Feier waren einige Filmleute, die ihm vielleicht später einmal nützen konnten, da waren Schauspieler, die ihm Komplimente machten, und ein paar Figuren, von denen Eingeweihte wußten, sie trugen für ausländische Korrespondenten Informationen zusammen, logen zuweilen welche zurecht, erfanden Zusammenhänge, nur damit sie hin und wieder eine Handvoll Valuta ergaunern konnten, die das Leben angenehmer machte. Jene Swetlana Fjodorowna, die da plötzlich neben Wetrow saß, als er sich in eine Nische zurückgezogen hatte, um ein wenig auszuruhen, gehörte weder zum Theater noch zu den »Parasiten«. Sie war Mathematikerin; das überraschte Wetrow so, daß er augen3
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Thürk, Gaukler II
blicklich munter wurde und ihr zuhörte. Lara Plotnikowa, die auch an der Feier teilnahm, beobachtete das Gespräch der beiden mißtrauisch, aber bei der nächsten Gelegenheit beruhigte Wetrow sie: »Mach kein Theater, hier geht es um Informationen!« Es ging um etwas anderes: Die junge Frau, die Wetrow erzählte, daß sie geschieden sei, über die Wohnung ihrer Eltern in der Gorkistraße verfügte, in der sie mit ihrer Mutter und einem vierjährigen Sohn lebte, vertraute ihm an, sie verehre ihn, den »Dichter«! Es war nicht das erste Mal, daß Wetrow Komplimente dieser Art hörte, er zog auch in Rechnung, daß diese Swetlana Fjodorowna nicht mehr nüchtern war. Dennoch interessierte ihn die Frau auf eigenartige Weise. Sie war klein, vollschlank, dunkelhaarig, hatte sehr dunkle braune Augen, und es berührte Wetrow, daß sie während ihrer Unterhaltung die meiste Zeit wie schuldbewusst auf ihre im Schoß gefalteten Hände blickte. Sie sah ihn nur selten an, als hatte sie ein schlechtes Gewissen. Dabei gab es dafür nicht den geringsten Grund. Warum tut sie so verschüchtert? fragte er sich. Er fand es noch am selben Abend heraus, ein wenig später, als irgend jemand das Licht ausschaltete, um die Stimmung zu forcieren. In der gleichen Sekunde hing Swetlana Fjodorowna an Wetrows Hals und flüsterte: »Bitte, Ignat Issaakowitsch, bitte verzeihen Sie mir, was ich sage: Ich habe nie einen Mann getroffen, der solche Gefühle in mir ausgelöst hat wie Sie, im ersten Augenblick! Stoßen Sie mich nicht von sich, Ignat Issaakowitsch, bitte, bitte! Ich bin eine schwache Frau, niemand begreift mich, ich bin geschieden, deshalb, aber das alles bedeutet mir nichts, wenn ich nur das finde, was ich so lange vergeblich gesucht habe: Liebe! Liebe, Ignat Issaakowitsch, verstehen Sie?« »Ich verstehe«, brummte er. Anfangs war ihm dieser Überfall ein wenig unangenehm gewesen, aber nun überlegte er, was sich daraus machen ließ. »Ich verstehe sehr gut«, wiederholte er und strich ihr über das kurze, knisternde Haar. Sie trug ein buntes Kleid, tief ausgeschnitten, ein wenig frivol, es brachte ihre kleine, mollige Figur voll zur Geltung. Er merkte, wie ihr Körper sich unter seiner
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streichelnden Hand bewegte, wie er zitterte, wie das leise Beben sich auf seine Fingerspitzen übertrug. Und da war er plötzlich versucht, durch die Zähne zu pfeifen. So war das! Nun gut, heißes Fleisch ist zu jeder Zeit eine gute Mahlzeit! Er strich über ihren nackten Arm. »Ignat Issaakowitsch . . .«, murmelte die Frau, »nehmen Sie meine Liebe, sie ist alles, was ich habe . . .« Und eine Wohnung in der Gorkistraße, dachte Wetrow belustigt. Das ist etwas. Eine Mutter allerdings auch und einen vierjährigen Bengel. Aber darüber läßt sich reden. »Hören Sie«, flüsterte er, »man kennt mich hier, und ich lege keinen Wert darauf, ein öffentliches Schauspiel zu bieten. Deshalb werden wir jetzt so tun, als hätten wir uns außer Allgemeinplätzen nichts weiter zu sagen. Welche Hausnummer haben Sie?« »Einundvierzig.« »Gut. Ich werde Sie besuchen. Und nun ordnen Sie Ihr Haar, und setzen Sie sich vernünftig hin . . .« Sie hatte gerade noch genug Zeit dafür, dann ging das Licht wieder an, und ein allgemeines Johlen setzte ein, Zustimmung und Protest. Lara Plotnikowa kam an den Tisch und brachte Sekt. Sie tranken. Eine halbe Stunde später umarmten sie sich, als das neue Jahr eingeläutet wurde. Wetrow hatte Swetlana Fjodorowna bisher dreimal besucht, und jedes Mal hatte er danach einen ganzen Tag schlafend in der Datscha verbracht. Eine Frau, die keine Ruhe gab, ehe sie selbst nicht absolut erschöpft war. Und eine Frau mit verblüffenden Talenten. Dieser so genannte Protestsänger Chworzow hatte schon recht gehabt, als er damals, nachdem er eine Weile beobachtet hatte, wie Swetlana Fjodorowna und Wetrow beisammensaßen, diesem in einem günstigen Augenblick zuflüsterte: »Oh, mein Lieber, da haben Sie eine Eroberung gemacht! Eine Dame, die eigentlich ins Quartier Latin gehört, nicht hierher! Und das sage ich aus guter Erfahrung...« Es hatte sich herausgestellt, daß weder die Mutter noch der vier-
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jährige Sohn störten. Die Wohnung war groß genug. Und Swetlana Fjodorowna begann bald, Manuskripte zu tippen, wie die anderen Frauen, sie knüpfte Verbindungen an, ordnete Wetrows Notizen, bewahrte einen großen Teil seines Archivs für das Werk über die Lager bei sich auf und sorgte dafür, daß Wetrow sich wohl fühlte, wenn er zu ihr kam. Ohne es zu merken, war er an der Landstraße angelangt, die zum Autobahnkreuz vor Moskau führte. Eine Weile blieb er stehen und beobachtete den Verkehr. Lastwagen, große, siebenachsige Züge, schwer beladen, Personenwagen, Lieferwagen, entweder auf Moskau zu oder von Moskau her. Einige fuhren bereits mit Licht. Das Leben war hier, Schicksale rollten vorbei. Geschichten. Die Geschichte. Wie viele von denen, die hinter den dunkeln Windschutzscheiben sitzen, mögen mich kennen? fragte sich Wetrow. Wie viele? Die Frage quälte ihn. Habe ich sie erreicht? Melentjew hat unlängst geäußert, meine Popularität sei leider noch immer vorwiegend auf Leute begrenzt, die sich entweder professionell mit Literatur beschäftigen oder die mich deshalb lesen, weil sie ähnlich wie ich denken. Wenn das wirklich so ist, dann habe ich nichts geschafft, gar nichts! Er wendete sich verstimmt ab und stapfte zurück. Wieder legte er die Hände auf den Rücken. Es wurde schnell dunkel. Zeit, zur Datscha zu kommen. Ja, ich werde hierbleiben. Arbeiten. Auch wenn der Schädel schmerzt von dem täglichen Einerlei vor dem weißen Papier. Es ist für die Zukunft! Ein paar Jahre noch, dann sieht das alles anderes aus. Lara hat mir übermittelt, sie warten im Westen auf das Buch über die Lager. Gut, sie sollen es haben. Aber das ist noch eine Menge Arbeit! »Die Zek« werde ich es nennen! Ja, »Die Zek!« Ein Titel, der aufhorchen läßt, weil niemand auf Anhieb weiß, was ein Zek ist! Sehr guter Einfall! Er prallte gegen eine Kiefer und rieb sich ärgerlich das Gesicht. Ljuba Jelanskaja erwartete ihn bereits. Eine große, sehr schlanke junge Dame, ausgesucht gekleidet, mit einer modernen Frisur. Kleine, listige Augen von unbestimmbarer Farbe in dem etwas
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blassen Gesicht. Sie streckte ihm beide Arme entgegen und warf sich ihm an den Hals, kaum daß er durch die Tür war. »Huh, dein Bart kratzt!« schimpfte sie und half ihm, den Mantel abzulegen. »Warum mußt du dieser dummen Mode folgen und dir einen Bart stehen lassen? Du bist auch so eine einprägsame Erscheinung . . .« Sie wollte ihn daran erinnern, daß die Narbe auf seiner Stirn ohnehin jede Verwechslung ausschloss, aber sie unterließ es. Wetrow liebte es nicht, an die Narbe erinnert zu werden. Er rieb sich die Hände und ging ein paar Schritte im Zimmer hin und her. In der Datscha gab es mehrere Räume, sie hatte zwei Stockwerke. Wetrow hatte fast den ganzen Sommer in dem Anbau bei der Garage verbracht, während die Eigentümer im Haupthaus wohnten. Dessen Einrichtung bestand aus zwar ausgesucht schönen, aber nicht sehr wertvollen Möbeln, sie waren offenbar aus alten Beständen aufgekauft worden. Bücher lagen herum, füllten riesige Wandregale, ein paar Originalgemälde hingen an den Wänden, überall der übliche Nippesramsch und eine Fülle von Kissen, deren Farben auf die Teppiche abgestimmt waren. »Bleibst du?« wollte Wetrow wissen. . Ljuba nickte. »Ich muß morgen erst gegen Mittag im Institut sein.« »Das ist gut!« Nun, da er sich entschlossen hatte, die Wintermonate über hierzubleiben, kam es auf diesen einen Abend nicht an. Es tat einem gut, gelegentlich eine Frau bei sich zu haben, und Ljuba hatte es wahrlich verdient, daß man ihr ein paar Stunden widmete! Sie hatte Sakuski mitgebracht, Wurst und geräucherten Fisch. Während sie alles im Kühlschrank verstaute, machte sie Wetrow aufmerksam: »Da ist ein Umschlag, den hat mir Lara Plotnikowa gegeben. Für dich. Übrigens wird sie immer überheblicher!« Er hütete sich, etwas dazu zu sagen. Die beiden Frauen mochten sich nicht. Jede spürte in der anderen die Konkurrentin. Um so verwunderlicher, daß sie, statt aneinander zugeraten, sich in ihrer Fürsorge für Wetrow gegenseitig zu überbieten suchten. Er nahm
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den Umschlag und sah, daß es sich um die Übersetzungen ausländischer Pressestimmen zur »Vorhölle« und zu »Karzinom« handelte. »Diese Kerle haben den .Lagertag' inzwischen völlig vergessen!« brummte er missmutig. Aber er setzte sich in einen der leichten Sessel und begann zu lesen, während Ljuba Brot schnitt und einen Imbiss zubereitete. Es waren nur positive Stimmen zu den beiden Büchern. Lara vermied es, Wetrow auf die wenigen kritischen Äußerungen aufmerksam zu machen. Ausgenommen die kommunistischen Blätter, die sich zurückhielten, ähnelten die Rezensionen einander auffallend. Wetrow nahm das schmunzelnd zur Kenntnis. »Sonst nichts?« erkundigte er sich, während er Ljuba zusah, die den Tisch deckte. Die junge Frau überlegte. »Ja, da war noch verschiedenes. Lara Plotnikowa bittet um deinen Anruf, sie hat dir einiges mitzuteilen, das sie nicht aufschreiben will. Gesagt hat sie noch, das Material über Antonow und Kotowski wäre bei ihr eingetroffen. Um was es dabei geht, weiß ich nicht.« »Ich weiß es aber!« Er lachte. Material für einen der nächsten Bände des großen Werkes, das er mit dem Titel »Die verlorene Schlacht« begann. »Außerdem läßt sie sagen, sie hat bei einer Sekretärin in der ,Novy Mir' ein interessantes Manuskript von Twardowski entdeckt und heimlich eine Abschrift gemacht. Wohl eine Arbeit, an der er gerade sitzt.« Wetrows Aufmerksamkeit war sofort geweckt. »Wo hat sie das?« »Bei sich zu Hause. Du wirst es holen müssen, sie wollte es mir nicht mitgeben. Soll eine Sache sein, die du vielleicht verwenden kannst, mehr weiß ich nicht.« »Ich werde sie anrufen. Was noch?« Ljuba legte Bestecke auf. »Chworzow hat ein neues Protestlied geschrieben. Ganz lustig.« »Chworzow!« sagte Wetrow verächtlich. »Dieser Parasit!« »Aber er ist ein Dichter!« widersprach Ljuba empört. Sie schüttelte den Kopf. »Warum tust du ihm unrecht? Er ist wunderbar!«
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»Er ist eine Mischung von einem Chorknaben und einem Beatnik«, erwiderte Wetrow gereizt. »Einer von diesen Faulpelzen, die nichts Vernünftiges zustande bringen. Eingebildet und arrogant. Was ihn zu einem Menschen gemacht hätte, das wäre zehn Jahre Haft gewesen!« Ljuba richtete die Augen zur Balkendecke und sagte bittend: »Ignascha, Lieber, tu mir den Gefallen und wünsch ihm das nicht! Nicht einmal nachträglich! Es kann nicht jeder mit den gleichen Erfahrungen ausgestattet sein wie du. Andere haben auch ihre Integrität.« »Wenn ich Integrität schon höre! Er ist eine Laus! Er weiß nicht, was Leben heißt, was Leiden heißt. Nichts weiß er! Er zupft an seiner Gitarre herum und lallt blödsinnige Texte dazu. Ein Narr, wer das für Dichtung hält!« »Nun ja«, entgegnete sie, »viele halten es aber für Dichtung. Lassen wir es dabei.« Sie versuchte, seinen Zorn zu zerstreuen. Er war ungerecht, wenn er sich erregte, und gegen Chworzow hatte er etwas, das war zu spüren. Ljuba Jelanskaja hatte eine eigenartige Vorliebe für Dinge entwickelt, die sich im Halbdunkel abspielten. Obwohl sie ein recht angenehmes Leben führte, nachdem sie ihre Studien abgeschlossen hatte und in das Institut aufgenommen worden war, trieb es sie immer wieder zu jenen Leuten, die aus den verschiedensten Gründen ihre eigene Unzufriedenheit in politische Werturteile ummünzten. Es gab Intellektuelle darunter, die einsehen mußten, daß sie mit ihren Fähigkeiten nicht zur Spitze vorstoßen konnten, und die daraus einen Vorwurf gegen den Staat formulierten. Aber meist waren es junge Leute, die ziemlich lose Arbeitsverhältnisse hatten, teils sogar bummelten, sich mit den verschiedensten Tricks Freizeit verschafften. Ihre Mutter war mit der Literaturkritik beschäftigt, zudem krank. Sie hatte es lange aufgegeben, sich um das Leben der erwachsenen Tochter zu kümmern. Und Jelanski, der Stiefvater, sah sie zwar gern bei sich, aber er war zu alt geworden, um noch zu verstehen, was
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sie bewegte. Er redete an ihr vorbei, wenn er von der »großen Zeit der zwanziger Jahre« erzählte. Sie begriff nicht, wie man davon träumen konnte, und sie fand keine vergnüglichere Beschäftigung als das Beisammensein mit Leuten wie Chworzow, der zu seiner Gitarre Liedchen sang, die obszön waren, zuweilen politisch aggressiv, die aber immer dieses köstliche Gefühl von »Tristesse« verbreiteten. Bis sie dann Wetrow kennen lernte. Er verbreitete das gleiche Gefühl. Kultivierter, aber mit einem wesentlichen Unterschied: Er lebte nicht so in den Tag hinein wie Chworzow, er arbeitete mit einem präzise festgelegten Plan, er steuerte taktisch geschickt auf ein genau umrissenes Ziel zu. Während des Essens versuchte sie, ihn mit der Geschichte über den künstlichen Kaviar aufzuheitern, die sich an ihrem Institut abgespielt hatte. Mehr aus Scherz hatte man dort eine Substanz entwickelt, die wie Kaviar aussah, ebenso schmeckte und auch so roch. Der Professor hatte das Laborprodukt bei verschiedenen Leuten ausprobiert, niemand war daraufgekommen, daß es künstlich hergestellt worden war. Dann hatte man es einigen französischen Wissenschaftlern mitgegeben, als Gastgeschenk sozusagen. Wohl aus schlechtem Gewissen hatte der Professor sich unlängst während eines Empfanges, auf dem er den französischen Botschafter traf, erkundigt, wie den Kollegen aus Paris der Kaviar geschmeckt habe. »Weißt du, was er geantwortet hat?« Wetrow brummte: »Wie soll ich das wissen? Ich war nicht auf dem Empfang!« Ohne sich durch seine Knurrigkeit entmutigen zu lassen, plauderte Ljuba weiter: »Er hat gesagt, den Kaviar hätten sie an ihrem Pariser Institut aufgeteilt. Er habe allen vorzüglich geschmeckt, es gäbe nur eine eigenartige Erscheinung dabei. Ahnst du welche?« »Ich bin kein Hellseher!« Sie lachte. »Die Franzosen fanden es merkwürdig, daß der Institutskater, ihr Maskottchen, den Kaviar nicht fressen mochte!« Sie erwartete, daß er wenigstens lachte, aber sie sah sich ge-
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täuscht. Er verzog nur das Gesicht und biß in eine Gurke. Nach einer Weile sagte er: »Euer Professor ist ein Feigling! Als ich dort vorlesen wollte, hat er geäußert, ihn interessiere das nicht sonderlich!« Da sie vorsichtshalber nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: »Und Chworzow ist ebenfalls ein Feigling! Wenn sie ihn auch nur einmal zum Musikerverband bestellen und ihm sagen, er soll aufhören, konterrevolutionären Blödsinn zu verzapfen, was meinst du, was er da macht? Er wird sich die Hosen benässen und sofort anfangen, Schlager zu schreiben, über die schöne Moskwa vielleicht. . .« Sie ließ sich nicht provozieren. Ablenkend bemerkte sie: »Ich habe Glück gehabt, die Wurst ist hervorragend!« Aber Wetrow hörte gar nicht hin. Er schimpfte weiter: »Alles erbärmliche Feiglinge! Keine Männer. Die entscheidenden Jahre ihres Lebens haben sie am falschen Ort verbracht. Sie werden nie etwas Großes schaffen. Nie!« Ljuba ließ ihn schimpfen, sie entgegnete nichts. Damit war die Chance am größten, daß er sich schnell wieder beruhigte. Und in der Tat versank Wetrow wenig später, noch während er unlustig aß, in stumpfsinniges Brüten. Ein Hundeleben, dachte er. Man sitzt in einer Datscha und schreibt, schreibt, schreibt. Als ob es keine Welt ringsum gäbe. Niemand, der mir hier in Peredelkino begegnet, wird jemals sagen: »Ignat Issaakowitsch, ich habe Ihr letztes Buch gelesen, es hat mich tief bewegt!« Niemand wird überhaupt mit mir reden. Früher konnte man sich mit Twardowski über eine Arbeit unterhalten, streiten. Ein sachkundiger Partner, offen. Vorbei. Er benahm sich höflich, aber reserviert. Aussichtslos, von ihm zu erwarten, daß er sich etwa für »Karzinom« engagiert! Rubljewski war da noch, der alte Haftgenosse. Aber auch er suchte den Kontakt nicht. Hatte seine eigenen Ansichten. Freundliches Desinteresse. Natalia? Vorträge über Moral und Ehre. Was blieb? Olga in Leningrad? Eine lächerliche Figur. Brauchbar, natürlich, aber im Grunde ein Scherzartikel. Einflusslos. Lara? Nun ja, die war wenigstens emsig. Ljuba? Ein Gänschen. Blieb Swetlana Fjodorowna. Die einzige reizvolle Aus-
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nähme. Sonst nichts als jämmerliche Figuren. Als ob ich hinter einem unsichtbaren Stacheldrahtzaun lebte; alleingelassene Weiber und Wichtigtuer, nichts sonst! Er warf seine Gabel mürrisch auf den Tisch. Ljuba, die ihn schweigend beobachtet hatte, räumte das Geschirr ab, während er sich wieder in den Sessel setzte. Wenig später drehte sie sich um und sah ihn herausfordernd an. »Was ist mit dir, Lieber? Du bist traurig? Warum? Du hast allen Grund, fröhlich zu sein! Du bist einer der berühmtesten Männer der Welt und machst ein Gesicht wie ein Bauer, dem sein Bienenschwarm weggeflogen ist! Hast du nicht gelesen, was in den Zeitungsausschnitten über dich steht?« Sie setzte sich auf die Lehne seines Sessels und griff nach den Abschriften, ihr langes, schlankes Bein lag auf seinen Knien. »Hör doch!« begann sie. »Professor Jonathan Hosplott! Muß der Dekan einer Fakultät für Philosophie sein. Niederschmetterndes Porträt einer Gesellschaft!' Und das ist wörtlich: ,Die Struktur dieses Buches von Wetrow gleicht absolut den späten Romanen Dostojewskis. Nur zieht er es im Gegensatz zu Dostojewski vor, die einzelnen Charaktere moderner einzuführen. Nicht wie Dostojewski, der jedem fast ein ganzes Kapitel widmete, ihre Familiengeschichte eingehend erläuterte, bevor er sie agieren ließ, sondern eben moderner: Er zeigt uns die Charaktere für eine Weile in Aktion, er führt sie gleichsam unauffällig ein, oft durch eine Unterhaltung mit anderen, und erst viel später widmet er ihnen und ihrer Misere eine lange Passage, die uns alles, was zuvor war, plötzlich wie von einem scharfen Lichtstrahl getroffen erscheinen läßt . . .' Weiter: ,Tolstoi und Wetrow haben beide dasselbe ausgezeichnete Auge für das Detail.' Ist dir klar, was das heißt? Er nennt dich im Zusammenhang mit unseren größten Dichtern! Hier schreibt er: ,Wirklich, ein Tolstoi des zwanzigsten Jahrhunderts, dieser Wetrow; das ist die einzig mögliche Art, ihn kurz und prägnant zu charakterisieren!' Hast du das überhaupt begriffen, du Brummbär?«
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Er strich über ihr Knie und fühlte das glatte Nylon unter der Hand, es war, als gäbe es elektrische Funken an ihn ab. »Professor Hosplott! Irgendein Affe, der Leichen schändet. Was ist ein Literaturkritiker sonst?« Sie schüttelte den Kopf. »Du findest das nicht sensationell, Ignascha?« »Warum?« fragte er. »Sie tun das ebenso sehr ihretwegen wie meinetwegen.« »Aber das wiegt, Ignascha!« Er hatte keine Lust, weiter darüber zu reden. Morgen werde ich nach Moskau fahren. Swetlana Fjodorowna anrufen. Vielleicht ein Wochenende in der Luxusdatscha von Rosanowitsch verbringen. »Ja, es wiegt«, sagte er. »Und es ist recht und billig, daß sie das schreiben, mehr nicht. Ich tue ihnen den größten Gefallen, den ein einzelner Mensch ihnen tun kann. Muß ich mich deshalb vielleicht bedanken? Muß ich vor Freude in der Stube herumhüpfen wie ein Kind, dem man ein Holzpferdchen geschenkt hat?« Seine Hand bewegte sich auf ihrem Schenkel. Er sah sie an und lächelte. Die Narbe war rot. Es würde eine Zeit dauern, bis sie wieder verblasste. Catherine nannte das, was sie alle zwei Wochen in der Botschaft tat, »Musik hören«. Sie ließ sich von der freundlich lächelnden Sekretärin des Rates in das schalldichte Zimmer führen, nahm Recorder und Kassette entgegen und lehnte einen Kognak ab, den die Sekretärin ihr bringen wollte. Nein, sie beabsichtigte, noch Auto zu fahren. Sie hörte sich an, was der Sprecher ihr im Auftrage Kartsteins mitteilte, rauchte ein wenig gelangweilt zwei Zigaretten dabei, weil es dieses Mal nichts von Bedeutung gab, ließ das Band trotzdem erneut durch den Recorder laufen, bevor sie es löschte. Mahnungen wegen der »Zek«, wie der Autor seine Sammlung inzwischen nannte, die Aufforderung, das Manuskript der »Verlorenen Schlacht« einer Bearbeitung zu unterziehen, um es für den
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amerikanischen Leser einigermaßen verständlich zu machen, und zuletzt die Bitte, dem Autor mitzuteilen, daß dieser oder jener Journalist ihn besuchen würde. Der übliche Trott, dachte Catherine, es ist, als ob ich am Schalthebel einer Maschine säße, die antisowjetische Bosheiten produziert und so genau eingestellt ist, daß sie meiner Kontrolle nur in Ausnahmefällen bedarf. Darauf beginnt sich meine Tätigkeit hier immer mehr zu reduzieren. Vorbei die Träume von der großen literarischen Aufgabe! Nun gut, ich werde versuchen, in dieses lausige Manuskript von der »Verlorenen Schlacht« ein paar Lichtungen zu schlagen, damit der Leser in diesem Dickicht skurriler Meditationen über des alten Rußlands Versagen wenigstens ab und zu einen Orientierungspunkt bekommt. Himmel, sollte ich jemals in Harvard russische Literatur lehren, wie Sef Kartstein mir das als Lohn für diesen Job in Aussicht stellt, ich könnte ganze Seminare stundenlang zum Lachen bringen mit meinen Erfahrungen! Sie schaltete das Bandgerät ab und war sogleich mit ihren Gedanken weit weg von Wetrow, von Kartstein, von allem was mit ihnen zusammenhing. Glenn hatte geschrieben! Ihm ging es den Umständen entsprechend gut, und er wollte versuchen, so schlug er Catherine vor, mit ihr zusammen im Sommer des kommenden Jahres Urlaub zu machen. Er wollte in New York eine Maschine nach Westberlin nehmen, und Catherine sollte zur selben Zeit aus Moskau anreisen. Ob Berlin der schönste Ort für einen gemeinsamen Urlaub nach so langer Trennung sein würde, blieb abzuwarten. Aber Glenn hielt es für günstig, sich erst einmal dort zu treffen. Seitdem Catherine auf dieses Wiedersehen hoffte, hatte sie ausgesprochen gute Laune. Sie winkte der Sekretärin einen Gruß zu, als sie das Büro verließ, und wünschte ihr ein erholsames Wochenende. Die Sekretärin verzog nur das Gesicht und deutete nach draußen. »Wird nicht viel sein, es sieht so aus, als ob wir Schnee bekommen!«
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Moskau hatte den ersten Frost. Mit ihm kam das, was Catherine an Moskau am meisten liebte, das Gefühl, in einem anderen Land zu sein. Es war weniger der Schnee selbst, mehr die Art, in der sich die Leute auf ihn einstellten, ihn als etwas Selbstverständliches, zum Leben Gehörendes akzeptierten. Catherine hatte sich angewöhnt, am Abend, wenn über dem Kutusow-Prospekt die Lichter brannten, aus ihrem Fenster zu schauen, auf die weiße Pracht da unten, auf die Autos, die sich mit abgeblendeten Lichtern, Käfern gleich, über die glatte Fahrbahn bewegten. Sie liebte es, den Kindern zuzusehen, die in den hohen Schneewächten herumtollten, den Frauen, die über den Pelzmützen Kopftücher trugen, wenn sie Hauseingänge und Bürgersteige freischippten. »Fahren Sie zur Worobjowskajer Chaussee«, riet sie der Sekretärin. »Wenn in der Nacht Schnee fällt, können Sie morgen schon Ski laufen, das Gelände dort ist recht gut geeignet.« Sie lächelte verschmitzt bei dem Gedanken an das belustigende Bild, wenn an Wintersonntagen am Rande des Universitätsareals, wo das Gelände steil abfiel zur Moskwa, die Residenten aus den westlichen Ländern eintrafen. Sie kamen in blank geputzten Autos, mit Skiern oder Schlitten auf den Dächern, gekleidet in alpine Skiausrüstungen, und trieben auf dem vergleichsweise kurzen Abhang »Wintersport«, als befänden sie sich im Hochgebirge. Meist endeten solche Ausflüge mit einem Umtrunk im privaten Kreis. Und am Montag erzählte man einander begeistert, wie schön der »russische Winter« sei. Die Sekretärin nickte lustlos. Vielleicht konnte sie überhaupt nicht Ski fahren. Catherine machte sich keine Gedanken darüber, sie verließ die Botschaft und stieg in den kleinen roten Datsun, den sie seit ein paar Monaten fuhr. Dank sei Sef Kartstein, daß er ihren Wunsch realisiert hatte. Seitdem sie das Auto besaß, waren so viele Ausflugsziele für sie erreichbar geworden, daß Catherine zuweilen in die Gefahr geriet, ihre Arbeit zu vernachlässigen. Sie beeilte sich nicht sonderlich, nach Hause zu kommen. Zuerst fuhr sie in den Valuta-Laden gegenüber dem Nowodewitschi-Kloster, kaufte ein,
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und dann entschloß sie sich, Kaffee zu trinken, in einem der neuen Cafes unweit ihrer Wohnung. Es lag in der ersten Etage, und man hatte aus seinen breiten Fenstern einen prächtigen Ausblick auf den Kutusow-Prospekt. Später stellte sie den Datsun auf dem Innenhof ab, nickte dem Wachmann zu und stieg in den Fahrstuhl. Ihre Wohnung war überheizt, sie öffnete ein paar Fenster, dann machte sie den Versuch aufzuräumen, gab es aber bald wieder auf. Überall türmten sich Bücher und Zeitschriften. So ungefähr, dachte sie, hat es immer bei Sef Kartstein ausgesehen. Sie griff nach dem Manuskript der »Verlorenen Schlacht«. Es würde eine mühsame Arbeit sein, der Stoff war zäh, die Charaktere lebten nicht so recht, und es gab keinen nennenswerten Handlungsstrang. Der Autor verließ sich darauf, daß der Hintergrund einer verlorenen Feldschlacht genügte, um den Leser für die Gestalten zu interessieren, vor allem für ihre Herkunft, die allzu breit geschildert war, ihre Kindheit, die Umstände ihrer Erziehung, Details von minderem Reiz. Um die Sache ein wenig lockerer zu machen, hatte er, als er wohl selbst merkte, wie zäh die Geschichte lief, ein paar Stilexperimente vollführt, die teils an Dos Passos erinnerten, teils an solche Seiltänze, die mittelmäßige Filmszenaristen als große Kunst bezeichneten, im wesentlichen deshalb, weil sie unverständlich waren und man verkünden konnte, sie seien profanen Geistern verschlossen. Nein. Sie legte die Manuskriptblätter aus der Hand. Der Mensch hat das Recht auf ein Wochenende! Sie schloß die Fenster und ging in die Duschkabine. Wer weiß, vielleicht komme ich unter dem Wasserstrahl auf eine Idee! Kaum hatte sie sich danach in das Handtuch gehüllt, läutete das Telefon. Lara Plotnikowa? Die würde erst in der kommenden Woche anrufen. Wer könnte das sein? Als sie sich meldete, hörte sie das Geräusch von fahrenden Autos und die Trillerpfeife eines Milizionärs. Die Stimme, die sich erkundigte, ob wohl Mademoiselle Catherine am Apparat sei, erkannte sie sofort.
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»Wadim? Sie?« »Ja, ich«, sagte Shagin. »Störe ich Sie?« »Überhaupt nicht!« Sie lachte. »Wenn Sie wüßten, wie wenig ich mich gestört fühle! Wo sind Sie?« »In der Stadt. Nicht weit vom Leningrader Bahnhof. Haben Sie zu arbeiten?« »Aber nein!« Der Leningrader Bahnhof war einige Kilometer entfernt. Sie fragte: »Haben Sie Zeit? Können Sie mich besuchen?« Shagin zögerte. »Nicht, daß ich das nicht möchte, verstehen Sie bitte recht, aber ich hatte eigentlich einen anderen Vorschlag.« Sie hatten sich im Laufe des Sommers einige Male getroffen. Sie hatten Ausflüge gemacht, Spaziergänge. Shagin war ein lustiger Gesprächspartner, er wußte viel, und er schien manchmal einsam zu sein. Der Schriftsteller eröffnete ihr: »Ich wollte Sie einladen, Catherine. Das heißt, wenn Sie Lust haben. Und Zeit. Blicken Sie aus dem Fenster. Können Sie sich denken, wie es im Wald aussieht, draußen, in Peredelkino?« Er brauchte sie nicht zu überreden. Sie war sofort bereit, nach Peredelkino zu fahren. Soll doch der Teufel dieses langweilige Manuskript holen! Ich werde es schon schaffen, auch wenn ich einmal nichts tue. Einen Tag wenigstens! »Hören Sie, Wadim«, sagte sie, »machen wir es kurz. Ich bin nur mit einem Handtuch bekleidet, aber ich werde in zehn Minuten die Wohnung verlassen. Wo kann ich Sie aufnehmen?« »Aufnehmen?« fragte er verblüfft. Er wußte nicht, daß sie den Datsun hatte, es war lange her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. »Kurz, Wadim, wo stehen Sie? Ich will Sie überraschen! Mit einem Auto . . .« »Nun gut, ich werde hinübergehen zum Auslandspostamt, dort darf ein Auto anhalten.« Sie rief ihm nur noch zu: »Gemacht! In einer halben Stunde spätestens!«
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Sie legte auf, warf das Handtuch fort, lief in den Schlafraum und öffnete den Schrank, um sich anzukleiden. Als sie die Wohnung wenig später verließ, griff sie im Vorbeigehen den Einkaufsbeutel, den sie vorhin achtlos abgestellt hatte, und nahm ihn mit. Wadim Shagin schüttelte stumm den Kopf, als Catherine mit dem roten Auto am Bordstein parkte und die rechte Tür öffnete. Er bückte sich, nahm die Pelzmütze vom Kopf, bevor er einstieg, und ließ sich dann vorsichtig auf dem Schalensitz nieder. Sie fuhr nicht sofort an. Lachend beugte sie sich nach vorn und betrachtete sein Gesicht. »Ein weißer Rabe! Wo haben Sie so lange gesteckt? Warum erst heute? Sie hatten mir versprochen, daß Sie mich bald anrufen.« Er sah nicht so heiter aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Ein bißchen versonnen. Vielleicht beschäftigte ihn eine Arbeit, die er gerade unter der Feder hatte. »Was ist das für ein Auto?« erkundigte er sich, ihren Fragen ausweichend. »Ein japanisches. Schnell und klein. Meine Firma hat es mir zur Verfügung gestellt. Die Kapitalisten sind ihren Angestellten gegenüber großzügig, wenn die in Moskau arbeiten. Wissen Sie auch, warum? Damit sie nicht vom Kommunismus infiziert werden!« Er lachte nicht. Er besah sich das Armaturenbrett, die Deckenbespannung, warf einen Blick nach hinten, wo es einen schmalen Notsitz gab. Schließlich sagte er: »Ich muß mich entschuldigen. Ich konnte nicht früher anrufen.« »Arbeit?« Am bequemsten wäre es, ich sagte jetzt ja, dachte er. Aber warum eigentlich? Er merkte, daß sie ihn immer noch anblickte. »Ja, auch Arbeit. Fahren Sie, bitte. Ich werde Ihnen erzählen, was noch gewesen ist.« Sie hörte verwundert, daß er verheiratet war. Kursanow hatte das nie erwähnt, und er selbst hatte auch nie über seine Familie gesprochen. Nun berichtete er, daß er soeben von seiner Frau käme, aus einem Krankenhaus. In den letzten Wochen hatte sie eine
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entscheidende Operation durchgemacht, dies war sein erster Besuch gewesen, danach. »Sie wird in sechs Wochen vielleicht wieder in einem Rollstuhl sitzen können«, sagte er. »Querschnittslähmung. Es war die dritte Operation, die Ärzte hatten alles darangesetzt, aber die Besserung ist vorerst gering. Man wird ihr eine weitere Operation vorschlagen, sie weiß das noch nicht.« Sie fuhren über die breite Ringstraße. Catherine hatte die Heizung des Wagens eingeschaltet, jetzt öffnete sie das Fenster an ihrer Seite. Querschnittsgelähmte Frau. Warum hat er im Sommer nicht darüber gesprochen? »Es ist eine lange Geschichte«, gab er zurück. »Wir sind erst seit ein paar Jahren verheiratet. Es passierte einige Monate nach unserer Hochzeit.« »Unfall?« »Auf der Baustelle. In Kasachstan. Ich begann dort zu arbeiten, nach meiner . . . Übersiedlung. Ich war vor dem Krieg Landvermesser gewesen. Und in Kasachstan, auf dieser Baustelle, gab es Arbeit für mich als Vermesser. Meine Frau arbeitete auch dort. Technikerin. Sie stand auf einem Bagger, als es geschah. Der Bagger war auf eine Erdschicht geraten, die unterschwemmt war, er kippte um. So ist das gewesen.« Sie hätte ihn fragen wollen, wie er nach Kasachstan gekommen war, immerhin war er ihr als Autor von Kinderbüchern bekannt. Aber sie unterließ das jetzt. »Fahren wir nach Peredelkino?« Er nickte. »Wenn Sie nichts Besseres vorhaben. Es ist schön da draußen. Raureif. Und es riecht nach Schnee. Ich dachte, wir sollten uns wieder einmal sehen. Ehrlich gesagt, als ich Sie anrief, hatte ich einfach das Bedürfnis, mit jemandem zusammen zu sein. Ich bin jedes Mal nur noch ein halber Mensch, wenn ich bei ihr gewesen bin. Es quält mich, sie zu sehen, ohne etwas tun zu können.« »Besteht eine Chance, daß sie wieder auf die Beine kommt?« Nachdenklich sagte er: »Auf die Beine vielleicht. Das heißt, man
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müßte ihr zwei Fußprothesen machen lassen, sie könnte damit stehen. Gehen vielleicht, langsam . . .« Eine Weile fuhren sie schweigend. Catherine wußte nicht, was sie sagen sollte, ohne einen Fehler zu machen. Was sagt man einem Mann, der seine ganze Hoffnung darauf setzt, daß seine Frau wenigstens wieder stehen kann? Auf zwei Prothesen. »Wie alt ist sie?« fragte sie schließlich. »Dreißig.« Catherine erinnerte sich an die Tage im Sommer. Zuerst war Kursanow dagewesen, der verständnisvolle, ein wenig zurückhaltende General, der ihr gestand, er bedaure es zuweilen, daß sie nicht seine Tochter sei. Solange er sich in Moskau aufhielt, war sie fast jeden Tag mit ihm zusammen gewesen. Ein seltsamer Mann. Soldat von frühester Jugend an, aber für ihre Begriffe so gar nicht der Typ des Soldaten. Sie war in den Staaten gelegentlich mit Militärs zusammengekommen, bei privaten Anlässen, und stets war sie das unangenehme Gefühl nicht losgeworden, daß sie sich für eine auserwählte Kaste hielten, für Leute, die über der Gesellschaft standen, von Geheimnissen umwittert, immer ein wenig geringschätzig auf Zivilisten herabschauend. Kursanow passte nicht in dieses Bild. Er verbarg nicht, daß die militärische Arbeit sein Lebensinhalt war, aber er hatte sich die Fähigkeit bewahrt, unter Zivilisten so unmilitärisch zu wirken wie jeder andere Bürger. Als Catherine ihn darauf aufmerksam machte, lächelte er nur. »Soldat sein ist ein Beruf. Aber er macht aus einem Menschen nicht notwendigerweise eine Ausnahmefigur.« Sie gab sich nicht damit zufrieden. Und sooft er am Abend über die Zeit mit ihrem Vater erzählte, erinnerte sie ihn daran, daß ihr Vater ihr stets beteuert hatte, er sei erst als Zivilist wieder glücklich und zufrieden gewesen. »Das glaube ich«, sagte Kursanow. »So wie ich Charles kannte, habe ich nichts anderes von ihm erwartet. Mein liebes Kind, du wirst diesen Knoten von Fragezeichen, der dich da auf der Seele drückt,
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nie loswerden, wenn du nicht zu der Einsicht kommst, daß es in dieser Welt unterschiedliche Armeen gibt, die ganz entgegengesetzte Ziele verfolgen. Was mich betrifft, ich bin ein Kommunist. Ich übe einen Beruf aus, in dem ich bei aller Konsequenz, mit der ich ihn ausübe, jeden Morgen von neuem hoffe, daß es mir erspart bleibt, ihn ernstlich ausüben zu müssen.« »Das ist schwer zu verstehen!« Er nickte geduldig. »Ja, das ist es. Aber mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Oder glaubst du, es bereite mir Spaß, meinem Geschwader beim Übungsflug zuzusehen und daran zu denken, wieviel Kleidung man aus dem in die Luft geblasenen Treibstoff wohl machen könnte? Wieviel Wohnungen wir statt der Flugzeuge bauen könnten? Wieviel Ferienheime einrichten, asphaltierte Straßen anlegen? Um wieviel schneller das alles gehen könnte, wenn wir die Last von Verteidigungsausgaben nicht auf dem Buckel hätten?« Sie begriff seine Gedanken. Trotzdem sagte sie: »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Sie beispielsweise auf einer Baustelle Wasserleitungen legen, Boris Petrowitsch.« Als sie später mit Wadim allein war, riet der ihr, in aller Ruhe zu überlegen, was der General gesagt hatte. »Es liegt eine tiefe Wahrheit darin, Catherine. Erst wenn Sie die erfaßt haben, werden Sie in der Lage sein, unser Land zu begreifen.« Er zeigte ihr einen Brief Kursanows. Der General hatte ihn geschrieben, als das Kinderbuch herauskam, das der Anlaß für ihre Bekanntschaft gewesen war, vor Jahren. Da stand: »Mein lieber Schriftsteller-Obersergeant, ich bin sicher, wenn Du so weitermachst, wirst Du bald ein ,Schriftstellergeneral' sein; dann dauert es erfahrungsgemäß nur noch bis zu Deinem Tode, bis man Dir ein Denkmal setzt. Ich gönne es Dir. Es wäre unehrlich, zu behaupten, daß ich mir nicht zuweilen auch heimlich wünsche, einmal ein Denkmal gesetzt zu bekommen. Aber dann siegt meine Vernunft, und ich hoffe nur, daß sich nie der Anlaß ergibt, der dazu führen könnte. Indem ich annehme, daß du das verstehst, gratuliere ich Dir
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dazu, einen so schönen Beruf wie den des Schriftstellers so erfolgreich auszuüben . . .« Im vergangenen Sommer, nachdem Kursanow wieder nach Fernost abgereist war und Catherine Zeit hatte, über die Begegnung mit ihm nachzudenken, kam es ihr vor, als sei es ihr erst durch ihn gelungen, einen Blick in die Köpfe der Menschen zu tun, unter denen sie lebte. Sie verglich das, was Kursanow oder Shagin sagten, mit dem, was Lara Plotnikowa an Gedanken offenbarte, und sie fand zwischen den beiden Denkweisen, den Lebensauffassungen, die sich ihr präsentierten, keine Brücke. Nach und nach begriff sie, daß ihre »Arbeit an Wetrow« sie zwar geographisch in die Sowjetunion geführt hatte, in Wirklichkeit aber nur in einen Winkel des Landes, der im Grunde unbedeutend war, der im Abseits lag. Ein Kritiker in einer der großen Moskauer Zeitungen hatte einmal Wetrows Erzählungen für die sowjetische Gesellschaft als »entbehrlich« bezeichnet. Woran lag es, daß sie, immer wenn sie mit Shagin oder Kursanow zusammen war, in die Gefahr geriet, sich dieser Meinung anzuschließen? Sie näherten sich dem Autobahnring, da bat Shagin sie plötzlich, etwas langsamer zu fahren. Er sagte: »Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen zumuten kann, Catherine, aber mir ist eingefallen, daß ich versprochen hatte, heute ein Pionierhaus zu besuchen; ich hatte es einfach vergessen.« Sie bremste. »Ein Pionierhaus?« »Ja, es liegt hier auf der rechten Seite. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten wir dort vorbeifahren. Es wird nicht lange dauern.« Sie bog in die Abzweigung ein. »Es macht mir nichts aus, ich habe nichts Besseres zu tun.« Das Pionierhaus lag am Ende einer der Ortschaften am Stadtrand. Ein Flachbau mit einem großen Hof, in dem sich Turngeräte befanden, Schaukeln, eine Wetterstation und ein Pavillon mit einem Fernrohr. Als der Datsun anhielt, waren an den Fenstern die Köpfe einiger Kinder zu sehen, neugierige, überraschte Blicke trafen das
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kleine Fahrzeug. Dann schwärmte eine Schar von Schulkindern aus dem Eingang, umsprang Shagin lärmend, bis dieser auf Catherine deutete und sagte: »Dies ist eine ausländische Freundin, sie verdient zumindest auch, von euch begrüßt zu werden!« Der Leiter des Hauses, ein noch junger Mann, den Catherine für einen Lehrer hielt, forderte sie auf, sich umzusehen, es gäbe allerlei Interessantes, vor allem aber sollte sie die Zeichnungen betrachten, die von den Kindern angefertigt worden waren; sie bedeckten die Wände eines Saales, in dem sich die Kinder bereits versammelt hatten. »Wissen Sie«, wandte sich der Leiter an Catherine, »wir haben einen Wettbewerb veranstaltet. Die Kinder haben das Buch von Wadim Shagin gelesen, das er über die Flieger geschrieben hat, und sie haben dazu Zeichnungen angefertigt. Die drei besten sollen von Genossen Shagin ausgesucht und mit Buchprämien belohnt werden.« Er behandelte sie nicht wie eine Ausländerin, er verriet mit keiner Bemerkung, daß er ihr nicht zutraute, das Leben in der Sowjetunion ausreichend zu kennen. Er stellte auch keine Fragen, zu welchem Zweck sie sich im Lande aufhielt und wer sie war. Er führte sie einfach zu den Zeichnungen und forderte sie auf: »Vielleicht gibt es darunter eine, die Ihnen besonders gut gefällt . . .« Nach zwei Stunden saß sie wieder mit Shagin im Wagen und fuhr zum Autobahnring zurück, auf dem Rücksitz lag eine der Kinderzeichnungen. Shagin schmunzelte. »Sie haben sich vermutlich gelangweilt, wie?« »Im Gegenteil. Es war interessant.« »Nun ja«, sagte er, »Schriftsteller zu sein in diesem Land hat verschiedene Seiten. Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit am Schreibtisch, es bringt eine Unzahl solcher Begegnungen, die einem das Herz wärmen.« Sie verschwieg, was sie tatsächlich empfand. Es war nicht die Zeit, darüber zu reden, daß ihre Vorstellung von der Rolle der Literatur in dieser Gesellschaft durch das knappe Erlebnis mit den
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lesebegierigen Kindern eine weitere Korrektur erfahren hatte. Die Theorien von Harvard waren die eine Seite der Sache, das Leben die andere. Wie oft hatte sie das in den letzten Jahren erkennen müssen, wenn sie das, was sie gelernt hatte, mit der Wirklichkeit verglich, in der sie sich befand. Sie fragte: »Haben Sie, als Sie zu schreiben anfingen, damit gerechnet, daß Sie eines Tages so populär sein würden?« »Im Unterbewusstsein vielleicht«, gab er zu. »Aber das begann alles viel prosaischer. In Kasachstan, auf der Baustelle. Sie können sich vielleicht nicht vorstellen, wie das ist, wenn eine Stadt gebaut wird, mitten im öden Land. Es gibt eine Wohnsiedlung und den Bau, sonst nichts. Keine Kindergärten, keine Bibliotheken, keine Pionierhäuser. Das ist alles erst im Entstehen. Aber es gibt Familien mit Kindern. Dort habe ich Geschichten erzählt, um diesen Kindern manchmal die Zeit zu vertreiben. Das war der Anfang. Ich liebe Kinder. Ich meine, daß alles, was wir heute an guten Eigenschaften in ihnen wecken, was wir an vernünftigen Anlagen fördern, was wir ihnen an großen, erhabenen Gedanken einpflanzen, morgen oder übermorgen das Gesicht der Gesellschaft prägen wird. Deshalb liebe ich es, Geschichten für Kinder zu erzählen. Halten Sie das für naiv?« »Nein. Aber bedeutet es nicht, daß Ihnen das heutige Gesicht der Gesellschaft nicht gefällt?« »Das heutige gefällt mir besser als das gestrige«, gab Shagin langsam zurück. »Und ich bin daran interessiert, daß das morgige wiederum besser ist als das heutige.« Die Datscha war aufgeräumt, alles stand an seinem Platz, selbst Shagins Manuskripte waren sorgfältig zusammengelegt neben der Schreibmaschine. Es war kalt, und Shagin bat Catherine, den Mantel anzubehalten, während er unter den bereits im Ofen aufgeschichteten Holzscheiten Feuer anzündete. Sie machten einen Spaziergang zwischen den meist schon verlassenen Sommerhäuschen, und da, plötzlich, begann es zu schneien. Zuerst waren es winzige Flöckchen. Shagin sprach von
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»gefrorener Luftfeuchtigkeit«, aber er kündigte an, daß auf dieses dünne Geriesel bald dichte Flocken folgen würden. »Ich rieche es! Riechen Sie es nicht auch? Die Luft hat diesen Geruch von Frost und Wasser vor einem Schneefall. Sehen Sie sich den Himmel an! Wie schmutzige Wäsche und zum Greifen nah. Das ist unser Winter. Lieben Sie ihn?« Sie gestand, die meisten Leute in den westlichen Ländern meinten, hier gäbe es vorwiegend Winter. »Tiefen Schnee, Schlitten, gefrorene Bäche, kahle Birken und eine Temperatur, die einem den Atem vor dem Mund gefrieren läßt. Mit einem Wort: Sibirien, Synonym für Rußland!« Er lachte. Schon aus einiger Entfernung sahen sie, wie aus dem Schornstein der Datscha kerzengerade der Rauch aufstieg. Unter den Schuhen knirschte es, die Erde war hart gefroren. »Sibirien hat auch nicht nur dieses eine Gesicht«, sagte Shagin. »Es hat sehr schöne Sommer. Kurz, aber voller Wunder, wie wir immer sagten.« »Sie haben in Sibirien gelebt?« »Einige Jahre.« »Ich beobachte in der letzten Zeit, daß man in Reiseprospekten viel über Sibirien schreibt. Ich glaube, man möchte Touristen dorthin reisen lassen.« Er nickte. Als sie die Datscha betraten, schlug ihnen eine Wolke warmer Luft entgegen. Wenig später setzte Shagin Teewasser auf. »Schwarzen grusinischen Tee und dazu Moosbeerenkonfitüre«, schlug er vor. Er suchte, ob sich noch Keks fand, aber Catherine hatte schon den Einkaufsbeutel aus dem Wagen geholt und packte seinen Inhalt auf den Tisch. Wadim Shagin schimpfte: »Sie sollen nicht, wenn Sie mich besuchen, diese Sachen mitbringen! Wenn noch Gäste kommen, könnten die denken, ich lade Sie nur ein, um einmal englisches Gebäck zu essen!« »Und amerikanisches Corned beef!« Sie lachte unbekümmert. »Natürlich, sonst wissen Sie nicht, wie man sich in der großen
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weiten Welt ernährt! Ein Schriftsteller sollte das aber wissen! Ach, Wadim, wann werden Sie endlich begreifen, daß ich nur das tue, was ich will? Wenn es mir keinen Spaß machte, das Zeug mitzubringen, würde ich es unterlassen. Im übrigen nehme ich Ihre Gastfreundschaft in Anspruch, trinke Ihren Tee, wärme mich an Ihrem Feuer also was?« »Setzen Sie sich!« knurrte er. Catherine dachte, es ist gut, er hat sich von den Sorgen um seine Frau gelöst, er beginnt wieder der alte, lustige Shagin zu werden Wadja, der Schriftsteller-Obersergeant, wie ihn der General nennt. »Wieso nennt er Sie eigentlich immer so?« Shagin brachte die Teekanne zum Tisch und ließ sich nieder. Er warf einen misstrauischen Blick auf die Kekspackung, die Catherine aufgerissen hatte, ehe er antwortete: »Weil das mein Dienstgrad war.« »Im Krieg?« »Ja.« »Erzählen Sie mir davon!« »Da gibt s nicht viel zu erzählen.« Shagin kostete vorsichtig einen Schluck Tee, war mit dem Geschmack zufrieden, und während Catherine Keks knabberte, die sie in die Moosbeerenkonfitüre stippte, zündete er sich eine Papiros an. »Waren Sie auch Flieger?« »Nein«, gab er zurück. »Ich war Infanterist. Vom ersten Tag des Krieges an.« »Sind Sie bis Berlin gekommen?« »Nein. Man hat mich kurz zuvor denunziert, ich wurde zu Unrecht verurteilt, zehn Jahre.« Catherine blickte ihn erschrocken an. War es möglich, daß dieser gutmütige blonde Hüne, der Piroggen zubereiten konnte und Geschichten für Kinder erzählte, eines der Schicksale hinter sich hatte, über die Wetrow schrieb? »Es gelang mir nach Jahren, eine Überprüfung meines Verfahrens zu erreichen. Ich wurde entlassen, rehabilitiert.«
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»Waren es diese sieben Jahre, in denen Sie Sibirien kennen lernten?« »Ja.« »Zu Unrecht in Haft. Ist das nicht ein viel schrecklicheres Gefühl, als wenn man wirklich eine Schuld auf sich geladen hat?« Er legte Holz nach. Er wollte nicht antworten, und sie spürte es. Er ging zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und bemerkte: »Es schneit, Catherine.« Als er an den Tisch zurückkam, sah Catherine ihn an. »Warum haben Sie mir das erst heute erzählt?« »Warum hätte ich es Ihnen früher erzählen sollen? Es ist vorbei.« »Aber es hat Ihr Leben zerstört, Wadim!« Er setzte sich wieder, brannte eine neue Papiros an, stieß den Rauch aus und schaute nachdenklich den Kringeln nach, die zur Decke aufstiegen. Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, Catherine, man redet selbst ein Wörtchen dabei mit, wenn es darum geht, das eigene Leben zu zerstören. Ich habe es nicht geduldet. Ich kenne Fälle, in denen am Ende ein verpfuschtes Leben herauskam. Aber ich habe mir mein Leben nicht zerstören lassen. Ich habe es als eine Prüfung aufgefasst. Habe sie durchgestanden. Mit Schrammen hier und da, aber ich bin letztlich als Sieger daraus hervorgegangen. Das zählt.« »Andere haben das nicht geschafft«, erinnerte sie ihn. »Ich weiß.« »Und Sie können danach einfach so weiterleben wie vorher?« Er schüttelte den Kopf. »Niemand lebt nach einer solchen Prüfung so weiter, wie er vorher gelebt hat. Man fängt noch einmal an. Nur wenn man das schafft, geht das Leben weiter. Nicht wie vorher. Anders. Aber nur, wenn man es schafft, noch einmal anzufangen.« Sie merkte, daß er am liebsten nicht weiter darüber sprechen würde, aber sie fragte ihn trotzdem: »Wadim, sagen Sie mir, was empfinden Sie, wenn Sie heute Leuten begegnen, die damals, als Sie inhaftiert waren, in Freiheit gewesen sind? Leute, die vielleicht solche Urteile wie das Ihre gefällt haben?«
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Er zog die Augenbrauen hoch, paffte eine Weile an der Papiros, dann sagte er: »Sie werden das nur schwer begreifen können, Catherine. Diese Dinge konnten nur geschehen, weil wir uns in einer Lage befanden, in der sich entschied, ob unser Land weiter bestehen würde oder ob es unterging. Bei allem, was man sonst noch an Gründen und Ursachen aufführen könnte, war das die schwerwiegendste Voraussetzung. Es gab so viele Fronten, noch vor dem Überfall auf uns im Jahre neunzehnhunderteinundvierzig. Und im Grunde wollte jeder von uns, daß das erhalten blieb, was wir geschaffen hatten. Also benahmen wir uns alle ähnlich. Wem wollen wir eigentlich den größeren Vorwurf machen? Uns selbst? Der Zeit? Den Umständen? Glauben Sie mir, ich habe heute keine Lust mehr, darüber nachzudenken. Es mag für einen Historiker interessant sein, dies alles von allen möglichen Seiten immer wieder von neuem zu untersuchen. Für mich war es in den fünfziger Jahren vorbei. Ich blieb in Kasachstan. Dort fand ich später meine Frau. Wir heirateten. Als meine Frau nach Moskau gebracht werden mußte, in diese Klinik, bot der Schriftstellerverband mir eine Wohnung in der Hauptstadt an, damit ich in der Nähe meiner Frau sein könnte. Ich habe sie nicht genommen, ich hätte nicht gewußt, was ich allein in drei Zimmern hätte tun sollen. So zog ich zuerst hierher, zu der Mutter eines Kameraden, der gefallen war. Dann befreundete ich mich mit Kursanow, und er bot mir an, hier zu wohnen. Sehen Sie, so unbemerkt ist das Leben weitergegangen, daß ich heute, wenn ich es mir genau überlege, schlimmere Sorgen habe als jemals zuvor. So ist das.« Es war dunkel geworden. Als sie zum Fenster traten, sah Catherine mit Erschrecken, daß der Schnee bereits fußhoch lag. Und er fiel immer weiter, in großen, langsam dahinschwebenden Flocken. »Wadim«, rief sie, »wie soll ich bei diesem Wetter nach Moskau zurückkommen? Ich glaube, ich muß sofort aufbrechen!« Er riet ihr davon ab. »Sie werden die Hand nicht vor den Augen sehen. Im Freien ist der Schneefall noch dichter als hier zwischen den Bäumen. Bleiben Sie, bis er nachlässt.«
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Sie blickten lange Zeit schweigend aus dem Fenster und sahen dem Schneetreiben zu. In der Ferne blinkte ein Licht, sonst war nichts zu sehen. Je später es wurde, desto höher wurde die Schneedecke vor der Datscha. Der Datsun war bereits nicht mehr zu sehen, er glich einem lang gestreckten Hügel. Catherine sah ein, daß es unmöglich sein würde zurückzufahren. Man mußte warten, bis der Schneefall aufhörte und die Straße zur Hauptstadt geräumt war. Shagin pflichtete ihr bei. »Haben Sie Geduld. Es kann Ihnen gar nichts passieren. Wir sitzen in einer warmen Datscha, haben Essen für Tage im Schrank, und Tee auch, ich habe sogar noch ein paar Packungen Zigaretten. Und wenn Sie müde werden, schlafen Sie in der Koje von Boris Petrowitsch. Ich werde noch ein bißchen arbeiten, nachher lege ich mich oben auf mein Sofa. Es ist alles in bester Ordnung!« Catherine blieb keine Wahl. Außerdem war morgen Sonntag, und niemand erwartete sie in Moskau. Sie machte zwar den zaghaften Einwand: »Was werden Ihre Nachbarn denken, wenn vor der Datscha die ganze Nacht mein Auto steht?« Aber Shagin lachte darüber. »Die werden denken, daß Sie hier schlafen, Catherine! Überlassen Sie den Rest ihrer Phantasie!« Dann interessierte er sich für die Lebensmittel, die noch vorhanden waren, und er stellte fest, daß sie gut und gern eine Woche davon würden leben können. »So lange dauert das Schneetreiben nicht!« beruhigte er sie. »Was möchten Sie essen, gebratenes Kalbfleisch oder kalte Platte?« Sie überlegte später noch, daß sie weder eine Zahnbürste bei sich hatte noch ein Stück Seife, aber dann dachte sie nicht mehr darüber nach. Warum soviel Gedanken über eine Sache, die in diesem Lande zu den natürlichsten der Welt gehört: Man bietet einem Gast ein Nachtlager an! Mußte man alle Dinge komplizierter machen, als sie wirklich waren? Am späten Abend, als sie Wodka mit Zitronenscheiben vor sich stehen hatten, fragte sie Shagin: »Wadim, haben Sie dieses Buch
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gelesen, das Wetrow geschrieben hat? ,Lagertag'? Ich mußte vorhin daran denken, als Sie von Ihrem Leben sprachen . . .« Er nickte. »Ja, ich kenne es.« »Was halten Sie davon?« Er zögerte. »Das ist nicht mit ein paar Worten zu erklären.« »Es hat Ihnen nicht gefallen?« »Nicht so sehr«, gab er zu. »Warum?« Für einen Augenblick kam Shagin in Erinnerung, was Kursanow über Catherine erzählt hatte. In Harvard Slawistik studiert. Eine Frau, die sich in Literatur auskennt. Eigenartig, warum sie wohl mit einem Posten als Übersetzerin bei einem Elektronikkonzern zufrieden ist. Aber er unterdrückte den Wunsch, sie darüber zu befragen. Er sagte nur: »Dafür gibt es eine Anzahl von Gründen, Catherine.« »Nennen Sie mir einen, Wadim! Den wichtigsten.« »Nun ja, was er schreibt, ist von einer anderen geistigen Position aus gesehen, als ich sie habe. Deshalb.« »Ist das Buch aus diesem Grunde schlecht?« Er lächelte. »Da müssten wir die Literaturtheoretiker befragen. Ich liebe es nicht. Das ist ein persönliches Urteil.« Nach einer Weile wandte sie ein: »Aber er hat ein ähnliches Schicksal gehabt wie Sie, Wadim! Verbindet das nicht? Schafft das nicht Gemeinsamkeiten? Unzerstörbare?« Es dauerte lange, bis er antwortete. Zu Catherines größter Überraschung sagte er gleichmütig: »Nein. Keine solche Gemeinsamkeit. Aber das dürfen Sie auch nur als eine persönliche Ansicht werten, Catherine. Weil ich Ignat Issaakowitsch Wetrow kenne.« »Sie . . . kennen ihn?« »Ich habe auf der Pritsche über ihm geschlafen.« Er sah ihr überraschtes Gesicht und lächelte. »Ja. Etwa drei Jahre. Es können auch vier gewesen sein. Warum erschreckt Sie das so?« Sie konnte sich fassen und ihm erklären, sie sei nur überrascht von dem Zusammentreffen zweier Häftlinge, die beide Schrift-
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steller geworden seien. Dann drang sie nicht mehr in ihn, sie wurde überhaupt ziemlich still, weil sie zu überlegen begann, wie ein annähernd gleicher Lebenslauf zwei so grundsätzlich verschiedene Haltungen erzeugen konnte. Es war in dieser Nacht, daß sie den Entschluß fasste, über Shagin mit Wetrow eine persönliche Bekanntschaft anzuknüpfen. Sie dachte lange darüber nach, während sie in der kleinen Kammer auf dem Bett Kursanows lag und nicht einschlafen konnte. Draußen war noch Licht; Shagin schrieb. Ja, ich werde Wadim dazu bringen, daß er mich mit ihm bekannt macht, dachte sie. Ich will diesen Mann von Gesicht zu Gesicht sehen, will ihn hören, ihm Fragen stellen. Ich will wissen, was für ein Mensch er ist! Ich will endlich wissen, was sich hinter dieser Figur verbirgt, deren zerfahrene Manuskripte ich redigiere und für die Sef Kartstein alle Medien der westlichen Welt einspannt! Sie schlief lange am nächsten Morgen. Erst als Shagin an die Tür schlug und ihren Namen rief, wachte sie auf. »Was ist?« »Sonntag«, erwiderte Shagin lakonisch. »Und Sonnenschein über herrlichem Schnee. Spiegeleier stehen auf dem Kocher, Tee ist bereit, der Ofen ist warm. Kriechen Sie aus den Federn, befeuchten Sie Ihr Gesicht mit Kölnischwasser, frühstücken Sie mit mir, danach können Sie sich in eiskaltem Brunnenwasser waschen, und anschließend machen wir einen Spaziergang ins Dorf! Haben Sie jemals die Kirche von Peredelkino gesehen, wenn auf den Zwiebeltürmen Schnee liegt und die Sonne das Gold der Kreuze blinken läßt?« »Nein«, antwortete Catherine. »Aber ich will das sehen! Selbst auf die Gefahr hin, daß man uns in dieser Siedlung endgültig für ein Liebespaar hält!«
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II. »Welcher gottverdammte Idiot hat das verbrochen?« Sef Kartstein starrte ungläubig auf den Zeitungsausschnitt in seiner Hand, er wurde blass, ein Zeichen von rasender Wut. Er las auf dem angeklebten Zettel den Namen der Zeitung: Bundesdeutsche Wochenschrift. Seine geringen Kenntnisse der deutschen Sprache genügten, um ihn über den Text, der da abgedruckt war, in Zorn zu bringen. Es war Abend, Kartstein war allein in seinem Domizil auf dem Campus der Harvard-Universität. Seine Wirtschafterin war gegangen. Trotzdem stellte der Professor immer wieder, von Mal zu Mal lauter, schließlich brüllend die Frage: »Welcher von allen unberechenbaren Idioten hat das getan? Wer?« Der Zeitungsausschnitt gab einen Teil von Wetrows Versepos »Dank der Heimat« wieder. Jene Arbeit, von der der Autor seit Jahren auf Kartsteins Anweisung behauptete, er habe sie im Haftlager unter dem Eindruck von Erlebnissen geschrieben, die er heute in einem ganz anderen Licht sähe, deshalb werde er diesen Text nie veröffentlichen, er sei sozusagen aus seinem Werk gestrichen. Wie konnte es geschehen, daß urplötzlich ein westdeutsches Blatt diese Arbeit abdruckte? Kartstein las noch einmal den Namen der Zeitung. Wie war das Manuskript in diese Redaktion gelangt? Wetrow hatte noch bei der Aussprache anläßlich seines Ausschlusses aus dem Schriftstellerverband darauf verwiesen, das letzte und einzige Exemplar wäre zusammen mit anderem Material bei Taschuk beschlagnahmt worden. Was war hier geschehen? Wütend lief Kartstein durch die Wohnung. Er schleuderte mit dem Fuß einen Stapel Bücher beiseite, die auf dem Teppich lagen, öffnete die Tür zum Bad, besann sich, daß er da nichts zu suchen hatte, stampfte zurück in den Arbeitsraum und knallte das Stück Zeitungspapier auf den Schreibtisch, bevor er sich entschloß, bei Deadrick anzurufen.
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Während er auf die Verbindung wartete, überlegte er. Dieses Versepos befasste sich an einigen Stellen mit der Situation von Soldaten, die während des Krieges den Deutschen gedient hatte, unter dem Kommando eines ebenfalls zu den Deutschen übergelaufenen Generals. Kollaborateure. Für jeden sowjetischen Bürger, der die deutsche Okkupation miterlebt hatte, gab es nichts Verabscheuungswürdigeres als diese Leute. Wetrow bedauerte sie! Er stellte sie als tapfere Menschen vor, die nur den Fehler gemacht hätten, sich von den Deutschen zu erhoffen, was ihnen ihr eigener Staat hätte geben sollen: Gerechtigkeit! Mein Gott, wenn der Kerl tatsächlich so denkt, soll er wenigstens das Maul halten, bis man eine Äußerung dieser Art von ihm fordert! Wenn er selbst hinter dieser Veröffentlichung steckt, dann kann er die Sache nur lanciert haben, ohne daß Catherine davon wußte. Auf welche Überraschungen muß man bei diesem Graphomanen noch gefasst sein! »Deadrick will ich sprechen!« Er brüllte es in die Telefonmuschel. Nach einer Weile bekam er die sachliche Auskunft, daß Mister Deadrick nicht im Hause sei. »Aber ich muß ihn sprechen!« rief Kartstein. »Hören Sie, es handelt sich um eine Sache von hoher Dringlichkeit!« Der Teufel soll dieses langweilige Büro holen, in dem das Telefonfräulein so tat, als wäre der Aufenthaltsort von Mister Deadrick ein Staatsgeheimnis! Ehe er noch weiter die Dringlichkeit seines Anrufes betonen konnte, sagte eine andere Stimme, vermutlich von einem Tonband: »Sie haben drei Minuten Zeit, Ihre Nachricht auf Band zu sprechen. Wir leiten die Information dem betreffenden Mitarbeiter unter Dringlichkeitsstufe eins zu.« Er ließ fast eine Minute verstreichen, bevor er laut und deutlich sagte: »Ich muß sofort Mister Deadrick sprechen, hier ist Sef Kartstein, Harvard. Sofort. Unaufschiebbar. Es handelt sich um eine Sache, die keine Stunde Verzögerung duldet!« Er legte auf, bevor die drei Minuten abgelaufen waren. Wieder nahm er den Zeitungsausschnitt und las. Nur ein kurzer Kommentar
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war beigefügt, ziemlich nichts sagend. Daß Herr Wetrow in seiner Heimat gegen die Unmenschlichkeit kämpft, für Freiheit der Publikation und daß der Ausschnitt aus seinem Werk ein interessantes Schlaglicht auf ein Problem werfe, das in der übrigen Welt bisher kaum Beachtung gefunden habe. Blödsinn, dachte Kartstein. Aber er vermochte nicht zu sagen, ob es sich bei dieser Publikation tatsächlich um eine Eigenmächtigkeit Wetrows oder etwa um eine gezielte Provokation handelte. Das letztere hielt er nach einigem Nachdenken für sehr wahrscheinlich, denn die Veröffentlichung gerade dieses Ausschnittes aus Wetrows »ungültigem« Versepos würde die These jener Kollegen im sowjetischen Schriftstellerverband bestätigen, die seit längerer Zeit erklärten, Wetrow habe sich geistig schon längst von der Sowjetgesellschaft gelöst, er lege es darauf an, sein eigenes Land zu verleumden, und bediene sich dazu ausländischer Verlage und Presseorgane. Sie werden ihm einen Strick daraus drehen! Kartstein trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Es muß etwas geschehen. Hoffentlich meldet sich Deadrick, ohne ihn und den Apparat der Agentur können wir nichts ausrichten! Eine Weile starrte Kartstein mürrisch das Telefon an, und er merkte, daß er Schmerzen bekam, wie jetzt immer, wenn er sich erregte. Er erhob sich schwankend und ging ins Bad. Aus dem Medizinschränkchen nahm er ein Pulver, löste es auf und trank die bitter schmeckende Flüssigkeit in einem Zuge. Er spülte mit etwas Bier nach, das noch in einem Glas herumstand. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf, während er wieder an den Schreibtisch zurückkehrte. In der Regel wirkte das Pulver nach wenigen Minuten. Er setzte sich und wartete. Vor ihm lag die erste Fassung der »Verlorenen Schlacht«. Erst vor einigen Tagen war das Manuskript eingegangen. Catherine hatte es in Moskau hervorragend überarbeitet. Das Mädchen entwickelte sich immer besser! Im Gegensatz zu allem, was Wetrow vorher geschrieben hatte, enthielt das Buch kaum Anspielungen auf die sowjetische Gesell-
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schaft; es konnte sie nicht enthalten, da es eine historische Phase schilderte, die vor der Oktoberrevolution lag. Für den aufmerksamen Leser allerdings war zu merken, daß der Autor die Geschichte keineswegs aus marxistischer Sicht interpretierte. Trotzdem, wenn Wetrow einigermaßen geschickt taktierte, könnte es ihm sogar gelingen, das Buch in Moskau herauszubringen, eine Chance, an die man schon nicht mehr geglaubt hatte. Eigenartig, dachte Kartstein, ich habe sogar dagegen gesprochen, daß er ausgerechnet jetzt diese Arbeit macht, ich hätte gleich berücksichtigen müssen, daß so ein »Zwischenbuch« taktisch außerordentlich klug ist. Es scheint, daß der Kerl doch nicht so naiv ist, wie ich manchmal angenommen habe! Er schreibt zwar einen Stil, an dem der Staub von einem halben Jahrhundert hängt, und er komponiert wie ein Gymnasiast. Alles in allem eine lausige Story. Stinklangweilig und zudem nicht welterschütternd neu. Aber der Name des Autors könnte das Ding hochziehen. Vor Tagen war Kartstein eine statistische Erhebung zugegangen, die ein Meinungsforschungsinstitut angestellt hatte. Er war zuerst überrascht gewesen, dann hatte er nicht glauben wollen, was er da las, doch schließlich war ihm klargeworden, daß die Zahlen sich auf recht verschiedene Weise interpretieren ließen: 70 Prozent aller Studenten in den Staaten konnten keinen Namen eines zeitgenössischen sowjetischen Autors nennen; 87 Prozent hatten nie einen Film aus der Sowjetunion gesehen, oder sie hielten den »Schiwago« für einen solchen, obwohl sie doch in der ersten Viertelstunde bereits erkannt haben müssten, daß da keine russischen Schauspieler auftraten. Interessanter als diese Zahlen war jedoch der letzte Hinweis aus dieser Umfrage, nach der 89 Prozent aller amerikanischen Studenten zugaben, für das Leben in der Sowjetunion, für alles, was dort vorging, großes Interesse zu haben! Was ließ sich daraus alles machen! Wenn diese heranwachsende Intelligenz so gut wie keine Ahnung von der Sowjetunion hatte, andrerseits aber Interesse am dortigen Leben, dann würde sie begierig alles aufnehmen, was man ihr als »sowjetisches Leben« 4
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Thürk, Gaukler II
servierte. Sie würde, und das war bereits aus den ersten Verkaufszahlen abzusehen, Wetrows Werke förmlich fressen! Kartstein war versucht, sich die Hände zu reiben. Doch da war dieser verdammte Zeitungsausschnitt. Ein entscheidender taktischer Fehler! War das noch gutzumachen? Nach und nach verschwanden die Kopfschmerzen. Kartstein atmete auf. Er brannte sich sogar eine Zigarre an. Unruhig lief er im Zimmer hin und her. Eine alte Standuhr schlug elfmal. Nein, es war wohl kaum noch zu erwarten, daß Deadrick sich telefonisch meldete. Zu spät. Nun ja, er würde die Nachricht morgen früh bekommen. Da half nichts, man mußte sich in Geduld fassen. Aber was konnte man ihm überhaupt vorschlagen? Kartstein setzte sich wieder hinter den Schreibtisch und versuchte sich zu konzentrieren. Er verbrachte eine Stunde mit Überlegungen, die zu nichts führten. Dann war er so müde, daß er nur noch das Bedürfnis verspürte, sich hinzulegen. Das Morphinpulver wirkte. Köstlich, diese Schlafsucht! Ohne sich auszuziehen, stieg Kartstein in sein Bett und kroch unter die leichte Decke. Er ließ das Licht brennen, die Zigarre glomm langsam in dem Aschenbecher auf dem Nachttisch aus. Am Morgen weckte ihn seine Haushälterin: »Professor, Sie haben Besuch!« Er verstand zuerst nicht, worum es ging, und knurrte mürrisch, er empfange mitten in der Nacht niemanden. Aber dann hörte er aus dem Nebenzimmer Deadricks Stimme. »He, Sef, altes Haus, wach auf, ich bin auf deinen Hilferuf gekommen, also laß dich gefälligst herab, mit mir zu reden!« Die Haushälterin schüttelte den Kopf, als sie sah, daß der Professor nicht einmal seinen Anzug über Nacht ausgezogen hatte. Sie versprach, Kaffee zu machen. Kartstein torkelte mit summendem Schädel ins Arbeitszimmer. »Leck mich am Arsch!« brummte er, als er sich an Deadrick vorbei ins Bad tastete. Die Jalousien waren geöffnet, und die Sommersonne erhellte das Zimmer, aber Kartstein sah alles wie durch einen bräunlichen Nebel. Er war froh, als er endlich vor dem Waschbecken
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stand. Mit einer fahrigen Bewegung schob er die Tür zu. Nicht nötig, daß Deadrick sah, welche Schwierigkeiten er hatte. Er hielt den Kopf unter den Wasserstrahl, so wie er war, im Jackett. Um nichts in der Welt hätte er sich jetzt ausgezogen und unter die Dusche gestellt. Als er glaubte, sein Zustand besserte sich, nahm er den Mund voll Wasser und gurgelte. Doch er mußte sich beeilen, das Wasser auszuspeien; aus dem Magen stieg eine beklemmende Übelkeit auf. Er übergab sich keuchend in das Waschbecken. Dabei verspürte er stechende Schmerzen in der Brust, er rang nach Luft, und plötzlich merkte er, daß ihm kalt wurde. Er mußte sich hinsetzen. Es dauerte Minuten, bis er in der Lage war, sich zu erheben. Seine Hände zitterten. Er griff in den Medizinschrank nach der Flasche mit den roten Pillen, schluckte drei oder vier davon, setzte sich wieder und starrte auf die Fliesen. Eine Viertelstunde später erschien er bei Deadrick, der ihn prüfend musterte. Das blasse Aussehen Kartsteins war ihm nicht entgangen, jetzt sah der Alte keinesfalls besser aus. Grünlich im Gesicht, mit Augen ohne Glanz. Er baut ab, konstatierte Deadrick. »Du siehst ziemlich versoffen aus«, sagte er. Kartsteins Reaktion war so, wie er sie erwartet hatte. Der Professor knurrte etwas von Leuten, die keine Ahnung haben, daß ein alter Mann am Morgen kein Malermodell sei, und im übrigen solle er gefälligst nicht von Schnaps reden, er habe seit Wochen keinen angerührt. Deadrick bezweifelte das nicht; Kartstein war kein Trinker, nein, hier deutete sich etwas anderes an. James Deadrick stellte es fest, ohne sich die Sorgen anmerken zu lassen, die er bei diesem Gedanken hatte. Wer sollte Sef Kartstein ersetzen? Was machen wir ohne ihn, jetzt, wo wir ihn dringend brauchen? »Du hast mich rufen lassen«, sagte er. »Hier bin ich!« Der Alte nickte. Es gelang ihm wieder, sich zu konzentrieren. Die Sache mit dem Zeitungsausschnitt. Er ging zum Schreibtisch, fand das Stückchen bedrucktes Papier, gab es Deadrick und knurrte:
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»Also was? Lassen wir uns da von jemandem ins Handwerk pfuschen? Oder bestimmen wir, was gedruckt wird?« Deadrick kannte den Ausschnitt. Er legte ihn nach einem flüchtigen Blick beiseite und erklärte: »Sef, das ist eine Panne.« Er sah, daß der Alte auffahren wollte, und kam ihm zuvor. »Du brauchst mir keine Predigt zu halten. Ich weiß, es ist eine gottverdammte Sauerei, und es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber ich kann nur versichern: Über uns ist dieses Manuskript nicht gelaufen. Wir vermuten, Taschuk hat es eigenmächtig kopiert und weitergegeben. Das ist sein Geschäft gewesen. Man kann ihn leider nicht mehr danach fragen, er ist gestorben.« »Ihr hättet verhindern müssen, daß dieses Scheißblatt das druckt!« Kartsteins Augen funkelten jetzt, er war ganz wach, er fühlte sich blendend, am liebsten hätte er sich nun den allmorgendlichen Genus gegönnt, sich langsam und sorgfältig zu rasieren. Deadrick schüttelte den Kopf. »Leider, Sef, sind wir nicht überall gleichzeitig. Du weißt das.« »Wenn ich es nicht schon längst gewußt hätte, wäre es mir jetzt klar«, brummte Kartstein. »Und was geschieht nun? Das Ding gibt Wasser auf die Mühlen jener Leute in Moskau, die Wetrow seit langem einen Verräter nennen. Glaubst du, das wird keine Konsequenzen haben? Und das alles in einem Augenblick, in dem der Mann ein Buch fertig hat, bei dem wir auf einen Druck in Moskau abzielen! Du weißt, wie nötig wir das brauchen! Aus! Vorbei!« »Du glaubst tatsächlich, sie würden die ,Verlorene Schlacht' jemals in Moskau drucken?« »Man hätte es durchbringen können. Mit etwas List und Tücke.« »Nein«, entgegnete Deadrick bestimmt. »Unmöglich, Sef. Das wissen wir genau. Wetrow hat den Fehler gemacht, vorher anzukündigen, es handle sich um seine Interpretation der letzten fünfzig Jahre russischer Geschichte. Das hat genügt. Man missbilligt seine Art, Geschichte zu interpretieren. Das Buch hat dort keine Chance. Was aber diesen Zeitungsausschnitt betrifft, so kann ich dich beruhigen; wir nehmen solche Sachen nicht einfach hin, wir
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haben sofort gekontert. Du wirst überrascht sein, wenn du hörst, wie!« »Überrascht wie Grant bei Shiloh!« murrte Kartstein. Deadrick lächelte. »Ich möchte dich nur daran erinnern, daß die sowjetische Miliz das Manuskript bei Taschuk beschlagnahmt hat. Nun ist es veröffentlich worden. Jemand hat es von Moskau nach Westdeutschland gebracht. Wer wohl, wenn es bei der Miliz gelegen hat?« »Der liebe Gott oder die KGB!« Kartstein lachte laut. Zu seinem Erstaunen bekräftigte Deadrick ernst: »Genau das. Aus der Tatsache, daß es nur dieses eine Manuskript gab, leiten wir ab, daß die sowjetische Abwehr es nach Westdeutschland lanciert hat, um den Autor auf diesem Umweg im eigenen Land anzuschwärzen.« »Und das glaubst du?« »Ich habe das nicht zu glauben! Aber wenn du morgen die Zeitungen bekommst, wirst du ein Statement des Autors lesen, das genau diesen Sachverhalt darlegt: Die KGB weiß nicht mehr, wie sie Wetrow, die unliebsame Stimme der Wahrheit, zum Schweigen bringen soll, also verfällt sie auf diese unerhörte Manipulation. Du kannst sicher sein, das wird aus der ganzen Sache ein Geschoß gegen die KGB machen. Wetrow wird in Zukunft mit großem Erfolg in alle Welt posaunen können, seine Situation spitze sich derart zu, daß er neben allen Schwierigkeiten, die er ohnehin hat, nun auch noch die raffinierte Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst fürchten muß. Nur weil er die Wahrheit sagt! Wie gefällt dir das?« Kartstein stand auf und lief im Zimmer hin und her. Sein Verstand arbeitete wieder vorzüglich. Was Deadrick darlegte, hatte etwas Phantastisches! Der Junge war ein Genie, wenn die Idee von ihm stammte. »Gut«, sagte Kartstein langsam. Er ging ans Fenster und sah eine Weile auf den Campus hinaus, wo Studenten eilig zwischen den Gebäuden dahinliefen, andere in Grüppchen herumstanden und diskutierten.
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»Gut«, wiederholte er, drehte sich um und sah Deadrick an. »Ich bin einverstanden. Weil es die einzige Chance ist, die Sache zu retten.« »Das freut mich«, versicherte Deadrick schmunzelnd. »Wir haben Miß Laborde bereits verständigt, sie hat das Statement für Wetrow entworfen, die Sache geht in Ordnung.« Kartstein wies auf das Manuskript der »Verlorenen Schlacht«. »Was wird damit?« »Bearbeiten lassen. Zum Druck vorbereiten. Das Übliche.« »Die Darstellung über die Lager wäre mir wichtiger, aber sie braucht noch viel Zeit«, bemerkte Kartstein. »Ich fürchte, er wird es schwer haben, sie fertig zu stellen, bevor die da drüben handeln.« »Du meinst, daß sie ihn einsperren?« Kartstein zuckte die Schultern. »Nach dem Gesetz könnten sie das wohl. Ob sie es allerdings tun werden, ist fraglich. Denn eigentlich haben sie es nicht nötig, der Mann ist sowieso isoliert, hat keinen Einfluß auf die innere Entwicklung.« Es klang etwas traurig, und Deadrick sagte schnell: »Was sollten sie sonst machen, wenn sie ihn nicht einsperren? Ihn in Sibirien ansiedeln? Wir würden einen Weg finden, mit ihm in Verbindung zu bleiben, Sef!« »Das vielleicht. Aber wie würde er reagieren?« Deadrick war versucht zu antworten, das wäre ihm ziemlich gleichgültig, wenn der Mann zuvor noch das Manuskript über die Haftlager schickte. Aber er sagte: »Er spürt, daß wir hinter ihm stehen. Niemand hat ihm das zwar je offiziell gesagt, aber nach allem, was wir ablesen können, hat er begriffen, wer ihn dirigiert.« Deadrick nahm Kartstein bei den Schultern und schob ihn zu einem Sessel. »Setz dich, Sef. Ich sage dir als erstem, was geschieht. Und zwar in jedem Falle, ob sie ihm nun Schwierigkeiten machen oder nicht. Du wirst es nicht glauben wollen, aber es ist absolut sicher: Er bekommt in genau einem Vierteljahr den Nobelpreis für Literatur!« Kartstein saß ein paar Sekunden regungslos. Dann sprang er auf,
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reckte den Kopf nach vorn und starrte Deadrick ungläubig an. »Sag das noch einmal!« »Wetrow bekommt im Oktober den Nobelpreis.« Kartstein setzte sich wieder. Unwillkürlich griff er sich mit beiden Händen an den Kopf. Schließlich murmelte er: »Junge! Weißt du, was du da sagst? Wenn das geschieht, dann wird diese Aktion in die Geschichte eingehen!« Deadrick lächelte zufrieden. Er hatte damit gerechnet, daß Kartstein total überrascht sein würde. Als sie zum erstenmal über die Möglichkeit gesprochen hatten, Wetrow für den Nobelpreis zu lancieren, war das nicht viel mehr als eine Erörterung am Rande gewesen. Heute war er so gut wie nominiert. Die politischen Auswirkungen waren noch nicht ganz abzusehen. Aber man war sich darüber einig, daß die Auszeichnung Wetrows im richtigen Augenblick kam. Experten sagten voraus, sie würde sich vorzüglich in die neue außenpolitische Konzeption einfügen, der man im Hinblick auf die Sowjetunion wohl oder übel in Zukunft folgen müßte. Hatte es vor Jahren bereits Anzeichen dafür gegeben, daß die Vereinigten Staaten den Vorschlägen der Sowjetunion für eine allgemeine internationale Entspannung würden zustimmen müssen, heute wurde darüber verhandelt. Angesichts dessen, was in den Vereinigten Staaten vorging, wo die Aufsässigkeit der Bevölkerung gegen die Lasten des Vietnamkrieges täglich zunahm, konnte es sich nur noch um Monate handeln, bis es zu den ersten praktischen Schritten kam. »Tja«, sagte Deadrick, »es sieht so aus, als ob wir mit der Sache genau in der richtigen Zeit liegen. Die Russen werden einen entscheidenden außenpolitischen Erfolg verbuchen. Und wir werden gerade dann mit Hilfe Wetrows ein wenig Dreck auf ihre Weste schmieren. Außerdem sind wir unserer Zeit erfreulich voraus, Sef. Denn wenn wir in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus tatsächlich gezwungen sind, die militärischen Mittel im Schrank zu lassen, dann findet der Krieg auf absehbare Zeit lediglich auf geistigem Gebiet statt. Das heißt, nicht mehr F-104 gegen MiG-21,
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sondern Wetrow gegen Kreml! Es sieht so aus, als ob unser Beruf einer entscheidenden Aufwertung entgegengeht!« Urplötzlich erinnerte sich der Alte: »Weiß Catherine von dem Nobelpreis?« Deadrick schüttelte den Kopf. »So sicher unsere Verbindung auch ist das müssen wir mit ihr persönlich besprechen. Wir haben überhaupt eine Anzahl neuer Instruktionen an sie zu übermitteln.« »Laden wir sie ein! Vielleicht möchte sie wieder mal New York sehen.« »Ich dachte an Berlin.« »Berlin.« Kartstein wiegte den Kopf. Warum eigentlich nicht? Sein Blick fiel auf die Zimmertür. Dort stand die Wirtschafterin, eine Kaffeekanne in der Hand. Bevor Kartstein zu einer ungehaltenen Bemerkung ansetzen konnte, sagte Deadrick: »Sehr freundlich von Ihnen! Servieren Sie inzwischen im Nebenzimmer. Wir sind in zehn Minuten fertig.« Kartstein stimmte zu: »Junge, die Idee mit Berlin ist gut. Ich wurde es gern wiedersehen. Außerdem könnte ich bei dieser Gelegenheit ein paar Gespräche mit Leuten führen, die wir brauchen werden.« »Also Berlin«, bestätigte Deadrick. »Ist zwar nur eine halbe Stadt, aber wenn du Lust hast, kannst du jederzeit in die andere Hälfte fahren. Sollten wir uns vielleicht nicht entgehen lassen, wie?« Kartstein hielt nichts davon. Er informierte sich über das Leben in sozialistischen Ländern lieber aus einschlägigen Publikationen. Augenschein war mit Verwirrung verbunden. Man konnte sie sich ersparen. Er horchte verwundert auf, als Deadrick mit einem mokanten Lächeln sagte: »Übrigens haben wir inzwischen ein ziemlich vollständiges Dossier über Wetrows neue Geliebte vorliegen. Diese Swetlana Fjodorowna. Sie ist Anfang der Dreißig. Keine politische Potenz. Alles in allem nicht viel. Wo es bunter wird, da wird es allerdings auch komplizierter.« Kartstein runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
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»Privatleben.« Der Professor sah ihn an. Dann ballte er die rechte Hand zur Faust und ließ den Mittelfinger aufrecht stehen. »Diese Branche?« Deadrick lachte. »Willst du es wirklich genau wissen, Sef?« »Ganz genau, du Idiot! Weiber haben mich immer interessiert. Also, los!« »Nun ja, sie ist keine Heilige.« »Heißt das, sie pennt mit zu vielen Männern?« »Es wäre etwas mehr dazu zu sagen, Sef«, antwortete Deadrick. »Wir haben Leute, die sich mit irgendwelchen Gedichtemachern in Moskau beschäftigen, mit Liedermachern, Gitarrespielern, Protestsängern, wenn du willst. Sie ist in diesen Kreisen recht gut bekannt.« »Also pennt sie mit diesen Kerlen?« Deadrick entschloß sich, Kartstein zu sagen, was er wußte. »Sie hat in diesen Kreisen einen interessanten Spitznamen. Man nennt sie ,die Flötistin', wenn dir das etwas sagt.« Kartstein blickte ihn verdutzt an, dann fragte er vorsichtig: »Das ist nicht wahr, Junge, wie?« »Doch, es ist wahr, Sef. Und das ist eine Sache, die uns Sorgen macht. Der Mann wird jeden Fetzen Renommee brauchen, den er besitzt. Eine solche Dame aber ist ein Angriffspunkt, verstehst du?« »Ich bin kein Idiot«; knurrte Kartstein. Er überlegte. Wetrow gab eine lächerliche Figur ab, zusammen mit einer Frau, die sich solche Eskapaden leistete. »Sag mal«, begann er, »der Kerl hat doch eine Frau, wenn ich mich recht entsinne. War das nicht eine ziemlich rührselige Geschichte, wie sie während der Haft auf ihn gewartet hat, ihm Päckchen geschickt?« »So ist es.« »Und?« »Scheidung«, gab Deadrick zurück. Kartstein faltete die Hände über dem Bauch und bewegte die Daumen. An seinem Gesicht war abzulesen, daß er zornig wurde. Nach einer Weile sagte er leise: »Dieser behämmerte Kleinstadtcasanova! Will er denn, daß die Leute ihn auslachen? Hat er wirklich
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so wenig Grips? Oder ist er immer noch dabei, das nachzuholen, was er während seiner Haft versäumt hat? Sag mir, Jimmy, wie deutest du das?« Deadrick zuckte hilflos die Schultern. »Ich habe mit einem Psychiater Kontakt aufgenommen. Wir wollen versuchen, alle Angaben zusammenzubekommen, die wir für ein Psychogramm brauchen.« »Unsinn«, meinte Kartstein. »Das heißt, natürlich kann man das machen. Warum nicht. Aber was hilft es? Gar nichts! Das einzige, was hier hilft, ist ein Machtwort! Das müssen wir besprechen, Junge, und zwar sofort! Der Kerl muß einsehen, daß es Grenzen gibt, die er gefälligst nicht zu überschreiten hat, wenn er weiter unser Mann bleiben will!« »Ich stimme dir zu«, sagte Deadrick. »Nur wird das nicht mehr so einfach sein, wie du es dir vorstellst, Sef.« »Das wollen wir doch erst einmal sehen! Wer macht ihn denn zu einem zweiten Tolstoi? Wir! Und wir brauchen keinen solchen Tolstoi-Nachfolger, der mit irgendwelchen Flittchen sein mühsam aufgebautes Renommee verflötet!« »Ja, ja«, sagte Deadrick geduldig. »Nur ist da trotzdem nichts mehr zu machen, Sef. Er hat die Scheidung eingereicht. Und diese kleine Flötistin will er heiraten.« »Dem ist eine Niete abgegangen«, stöhnte Kartstein ratlos. »Willst du noch mehr wissen?« Deadrick wartete nicht auf Kartsteins Zustimmung. »Er wird sie heiraten müssen. Sie ist nämlich schwanger von ihm.« Er beobachtete erstaunt, wie Kartstein die Augenlider zusammenkniff und wieder öffnete. Ich habe nie gewußt, daß der Alte so voller kalter Wut stecken kann, dachte er. Dann hob er die Hand. »Reg dich nicht auf, Sef. Es ist nutzlos. Die Sache ist geschehen, und wir müssen sehen, wie wir sie in Ordnung kriegen.« Er hörte die Tür gehen. Wieder stand die Wirtschafterin da. Um zu verhindern, daß Kartsteins unkontrollierte Wut sich an ihr entlud, erhob sich Deadrick und sagte: »Das ist lieb von Ihnen, daß Sie uns
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zum Frühstück rufen. Wir sind nahezu am Verhungern. Komm, Sef...« Kartstein folgte ihm. In der Tür hielt er ihn zurück und fragte entschlossen: »Wann sehen wir Catherine?« »Wann kannst du?« »Sofort! Sagen wir in einer Woche?« »Okay. Ich lasse den Flug buchen.« Der Frühstückstisch war gedeckt. Es roch nach Kaffee und Toast. Die Wirtschafterin hatte Konfitüren und Wurst bereitgestellt, Käse und Ahornsirup. Kartstein ließ sich auf einen Stuhl fallen. Scheidung! Schwanger! Was war in diesen Kerl gefahren? Er nahm einen Schluck Kaffee und stellte zu seiner Verwunderung fest, daß der sogar schmeckte. Ob ich zuerst den Sirup versuche? Himmel, ich werde diesem Trottel den Marsch blasen! Ohne Flöte! Er spürte ein Brennen in der Kehle. Magensäure. Kommt vom Ärger. Hoffentlich bleibt wenigstens der Kopfschmerz noch eine Weile aus! »Laß es dir schmecken, Junge«, sagte er zu Deadrick, der bereits bei seinem Spiegelei war. Und dann sagte er nichts mehr, bis sie gegessen hatten und Deadrick sich verabschiedete. Da merkte Kartstein, daß der eiserne Ring sich wieder um seinen Schädel zu legen begann. »Bis bald«, murmelte er. Er konnte sich nicht dazu aufraffen, Deadrick bis zur Tür zu begleiten. »Patra und Marinka«, verkündete Shagin. Er stand zwischen den beiden Pferden, in jeder Hand einen Zügel. Er machte eine gute Figur in den engen Reithosen, der knappsitzenden Windjacke, und Catherine dachte, er sollte immer Stiefel tragen, sie kleiden ihn. »Links, das ist Marinka. Die ist für Sie. Ganz besonders gutmütig. Ein Pferd mit Verständnis für die Behandlung von Ausländern!« Marinka hatte weiße Fesseln und einen weißen Stirnflecken, ihr braunes Fell glänzte. Das Tier warf den Kopf hoch, und Shagin gab mit dem Zügel nach. »Sehen Sie, das war die Begrüßung!« Er ließ
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den Zügel los, Marinka machte ein paar Schritte auf Catherine zu. Als diese die Hand hob, um das Tier zu streicheln, beugte es den Hals. Catherine holte tief Luft, der Geruch eines Pferdes! Sie nahm den herabhängenden Zügel, und Marinka blieb ruhig stehen, als Catherine sich an ihren Hals lehnte. »Sie sind ein Schuft!« beschimpfte sie Shagin. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie Pferde besorgen wollen?« »Darf man Sie nicht wenigstens einmal überraschen?« Sie fasste mit beiden Händen den Saum ihres leichten, bunten Sommerkleides, hob ihn ein wenig an und fragte: »Wie stellen Sie sich das vor? Im Minikleid auf einem Pferd! Ich wußte nicht, daß Sie solchen Sinn für praktische Witze haben!« Aber Shagin wies nur auf das Auto, das außerhalb des Anwesens geparkt war, auf dem der Stall des Gestüts lag: »Wenn ich schon jemanden überrasche, dann pflege ich das gründlich zu tun. Im Kofferraum finden Sie meine Segeltuchtasche. Sie enthält einen Jeansanzug, polnischer Import, außerdem ein Paar Sportschuhe, tschechischer Import. Beides in Ihrer Größe. Sputen Sie sich mit Umziehen, die Pferde wollen laufen!« Sie warf ihm die Zügel zu und ging kopfschüttelnd zu dem roten Datsun. Hinter ihr rief Shagin einem Pferdepfleger, der neugierig den Kopf aus der Stalltür steckte, zu: »Verschwinde! Kino ist erst abends!« Catherine hatte vor einiger Zeit mit Shagin darüber gesprochen, daß sie als junges Mädchen in den Ferien oft auf einer Farm gewesen wäre, wo es Pferde gab, und daß sie leidenschaftlich gern ritt. Es war zu dem Gespräch gekommen, als sie von ihm erfuhr, daß er zuweilen dieses Gestüt besuchte und daß er sich gern eines der Tiere auslieh, um ziellos durch das Gelände zu reiten. Eine seltene Art von Ausgleich, hatte sie damals gedacht. Aber bei einem Künstler muß man im Grunde mit allem rechnen, mit jeder Art von ungewöhnlichem Hobby. Und dieses passte eigentlich zu Shagin, dem Einzelgänger. Schreibt für Kinder und leiht sich, wenn er sich erholen will, aus dem Gestüt ein Pferd!
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Sie öffnete die Kofferraumklappe. In Shagins Tasche steckte tatsächlich ein Jeansanzug. Auch Schuhe waren da. Tennisschuhe in Blau! Ein Glück, daß ich unter dem Kleid den Badeanzug habe, dachte sie, als sie das Fähnchen über den Kopf streifte. Es war Hochsommer, und jemand, der mit dem Auto in der Umgebung von Moskau spazieren fährt, rechnet immer damit, auf einen Flusslauf zu stoßen, einen versteckt liegenden See, in dem er eine Viertelstunde schwimmen kann. Gestern war Shagin den ganzen Tag mit seiner Frau zusammen gewesen. Seit einigen Monaten durfte sie im Rollstuhl sitzen; die Ärzte hatten sie von der Notwendigkeit einer weiteren Operation überzeugen können, und sie bereitete sich darauf vor, zumal sie danach mit hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens mit Hilfe von Beinprothesen würde wieder stehen können. Catherine war erstaunt gewesen, als Shagin sie eingeladen hatte, seine Frau mit ihm zusammen zu besuchen. Sie begrüßte die Kranke etwas beklommen, aber sie spürte bald, daß sich die junge Frau mit dem schmalen Gesicht und dem straff zurückgekämmten braunen Haar über ihren Besuch freute. Es stellte sich heraus, daß Shagin ihr ziemlich viel über Catherine erzählt hatte, und sie schien kein Gefühl der Eifersucht zu empfinden, denn sie plauderte unbefangen mit Catherine. Sie war überzeugt davon, daß sie ihren Beruf eines Tages wieder würde ausfüllen können. Offenbar hatte sie sich völlig damit abgefunden, dann auf Prothesen stehen zu müssen. Als Shagin sich für eine Weile entfernte, um Eis zu holen, vertraute sie Catherine an, daß sie ihr dankbar wäre, weil sie Shagin gelegentlich von den zwei Dingen ablenkte, die seine Gedanken ausfüllten: die Arbeit und die Krankheit seiner Frau. Jede andere würde mich mit äußerstem Mißtrauen auszuhorchen versuchen, was zwischen mir und dem Mann geschieht, dachte Catherine. Es gehört wohl eine außerordentliche Verbundenheit zweier Ehepartner dazu, wenn man einander so bedingungslos vertraut. »Er nimmt das, was mir passiert ist, viel schwerer als ich«, sagte
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Shagins Frau. »Natürlich, für mich bedeutet es, auf sehr vieles verzichten zu müssen, aber ich habe Zeit genug, mich darauf einzustellen. Immer wieder, wenn ich Wadja sehe, merke ich, wie schwer es ihn trifft. Ich möchte, daß er so wird wie früher, wie damals, als wir uns kennen lernten. Er war um diese Zeit gerade . . .« Sie stockte und blickte Catherine überlegend an. Die sagte schnell: »Ja, ich weiß, woher er kam.« Sie erzählte dann von Kursanow, von ihrem Vater, sie sprach auch über Glenn Ward, und sie merkte verwundert, daß Shagins Frau nicht etwa erleichtert wirkte, als sie erfuhr, daß Catherine eines Tages diesen Korrespondenten heiraten würde. Sie blickte nachdenklich auf ihre Hände, die sie ruhig auf dem Schoß liegen hatte, und sagte leise: »Ich wünsche Ihnen, daß er gesund zurückkommt.« Dann bat sie Catherine: »Erzählen Sie mir von Amerika! Bitte! Sie sind die erste Amerikanerin, mit der ich spreche. Ich möchte wissen, wie man dort lebt.« Als Shagin später vorschlug, das Wochenende in der Umgebung der Stadt zu verbringen, hatte Catherine mit Freuden zugesagt. Im Hochsommer war die winzige Appartementwohnung wie eine Sauna. Tagsüber mußte Catherine trotz der geöffneten Fenster einen Tischventilator einschalten, um zu vermeiden, daß der Schweiß ihr auf die Haut trat. Erst am Abend war es wieder erträglich. So freute sie sich auf den Tag im Vorgelände der Hauptstadt, und mit dem Besuch im Gestüt war Shagin in der Tat eine Überraschung gelungen! Sie waren auf der Wolokolamsker Chaussee aus Moskau herausgefahren; Shagin wollte Catherine die Gegend zeigen, in der er in jenem denkwürdigen Winter 1941 als Soldat die Hauptstadt verteidigt hatte. Über Krasnogorsk waren sie in dieses kleine Dorf gelangt, wo Shagin erklärte, sie seien am Ziel. Er wies auf die Häuser. »Die gab es damals nicht. Nichts davon. Hier standen nur ein paar Dutzend Holzkaten. Als wir herkamen, waren sie niedergebrannt.« Er deutete auf eine Hügelkette im Norden. »Dort standen die
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Deutschen. Von hier bis zu diesen Hügeln bin ich auf dem Bauch im Schnee gekrochen, habe geschossen, mich geduckt, wenn man auf mich schoß, eben so . . .« Er sah sie an. »Ja, und dann haben wir die Hügel gestürmt. Mehr ist nicht zu sagen. Schluss mit den Erinnerungen; gehen wir einen Freund besuchen, er arbeitet dort drüben im Gestüt.« Das nächste Wochenende würde Catherine voraussichtlich in Berlin verbringen. Kartstein schien es mit der Zusammenkunft eilig zu haben. Aber sie zerbrach sich nicht den Kopf über den Grund. Sie stellte überhaupt fest, daß ihr das, was sie in Moskau zu tun hatte, zunehmend gleichgültig wurde. Sie erledigte, was es zu erledigen gab, doch ihr Ehrgeiz hatte sich verloren. Nun ja, mit Kartstein würde darüber zu reden sein, daß Lara Plotnikowa als Zwischenträgerin endgültig ausgeschieden war. Eines Tages, als sie sich mit Catherine traf, hatte sie unumwunden erklärt: »Ich bitte Sie, bei allem, was Wetrow betrifft, nicht mehr mit mir zu rechnen. Ich habe meine Beziehungen zu ihm abgebrochen.« Erst nach und nach offenbarte sie ihre Gründe für diesen plötzlichen Entschluß. Wetrow sei zwar nie ein Heiliger gewesen, er habe immer eine Anzahl von Freundinnen gehabt, mit denen er für kürzere oder längere Zeit intime Beziehungen unterhielt, aber letztlich habe sie, Lara, doch immer die entscheidende Rolle gespielt, und das habe sie andere, kurzfristige Verbindungen übersehen lassen. Nun aber wolle Wetrow künftig mit jener Swetlana Fjodorowna zusammen leben, und das ändere die Sachlage völlig. Die Scheidung sei eingereicht, er werde aber bereits vorher zu Swetlana Fjodorowna ziehen. »Ich habe ihn geliebt«, bekannte die Frau. Sie erregte sich so, daß ihr dabei Tränen kamen. »Er war für mich eine verehrungswürdige Gestalt, das hat mich über vieles hinwegsehen lassen, was mir von Beginn an nicht gefiel, beispielsweise das ungeklärte Verhältnis zu seiner Frau. Aber heute denke ich anders. Ich habe ihm viel geholfen, den größten Teil aller Verbindungen, die er anfangs
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brauchte, habe ich hergestellt. Ich habe keinen Lohn dafür erwartet, aber ich finde mich auch nicht mit einem Vertrauensbruch dieser Art ab. Schluss. Für mich ist die ganze Sache erledigt.« Das kam überraschend für Catherine. Sie überlegte, wie sie nun die Verbindung zu Wetrow halten könnte. Sie meldete Kartstein die neue Situation. Von diesem wurde sie instruiert, daß in Zukunft der Journalist Lennartson ihr Verbindungsmann sein würde. Lennartson war mit Wetrow inzwischen persönlich bekannt, er hatte ihn interviewt und besuchte ihn des öfteren. Aber Lennartson stand bei den sowjetischen Behörden nicht im besten Ansehen. Seine Berichte in verschiedenen skandinavischen Blättern waren einseitig und provokatorisch. Catherine machte Kartstein deshalb aufmerksam, daß der Umgang mit Lennartson über kurz oder lang das Ende ihrer Tätigkeit in Moskau bedeuten könnte. Kartstein bewies Verständnis, er nahm seine Anweisung zurück. Vermutlich würde es in Berlin darum gehen, wie sich eine neue ständige Verbindung zu Wetrow knüpfen ließ, ohne daß Catherine sich dabei unnötig exponierte. Seit einiger Zeit hatte sie begonnen, über alles, was sie in Moskau tat, eine Art Tagebuch führen. Der Wunsch, sich wenigstens vor sich selbst mit der zwiespältigen Lage auseinanderzusetzen, in der sie sich befand, hatte dazu geführt. Wenn sie schon aus vielerlei, ihr immer öfter fragwürdig erscheinenden Gründen weiter an diesem »Phänomen Wetrow« arbeitete, wenn sie Dinge tat, die ihr in ihrer Verlogenheit sehr wohl bewusst waren, so wollte sie doch für sich selbst jene Gedanken äußern können, die sie in der bisher unauslotbarsten Situation ihres Lebens bewegten. Wenn sie ihre Eintragungen machte, wurde ihr immer deutlicher bewusst, welch grandioser Schwindel hier mit einem Objekt betrieben wurde, das sich wie kein anderes dazu anbot. Objekt? Doch wohl, denn nichts anderes war Wetrow für Kartstein! Und das Subjekt Ignat Issaakowitsch Wetrow? Wie sah das seine Rolle? Ich muß Shagin dazu bringen, daß er mich endlich mit Wetrow bekannt macht, nahm sie sich vor. Ich will nicht länger nur aus der
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Distanz über ihn urteilen, ich muß mit ihm ins Gespräch kommen! Der Jeansanzug passte. Wie Shagin es nur angestellt hatte, die richtige Größe zu kaufen? Die Sportschuhe waren bequem. Als Catherine die Kofferraumklappe zuwarf, sah sie, daß Shagin bereits im Sattel saß. Ein Pferdepfleger stand dabei, sie rauchten. Sie lief zu ihnen, drehte sich vor Shagin und fragte: »Gefalle ich Ihnen?« Er lachte und warf ihr den Zügel des Pferdes zu. »Wie eine zu spät geborene Amazone!« Sie schwang sich gewandt in den Sattel. »Wollen wir?« Shagin nickte ihr aufmunternd zu. »Und ob!« Sie klopfte der Stute ganz leicht den Hals und beugte sich nach vorn. »He, Marinka!« Dann spannte sie die Schenkel an, das Tier trabte los. Am Fuße der Hügelkette machten sie halt. Es war ein schneller Ritt gewesen. Die grasbewachsene Ebene, leichter Boden, der unter den Hufen staubte, sonnenwarmer Heuduft, der von irgendwoher kam, wo am Morgen Gras geschnitten worden war. Hier unter den Büschen war Schatten. Die Sonne hatte das Gras noch nicht ausgedörrt. Seltsamerweise gab es keine Disteln, dafür riesige Lupinen, deren Blüten das Blau des Himmels hatten. Pfade führten hügelan. »Die Kinder aus dem Kolchos haben sie ausgetreten«, sagte Shagin. »Sie spielen manchmal die Eroberung der Hügel.« Er lachte. »Kinder! Wissen Sie, daß ich daran schuld bin? Ich habe ihnen einmal etwas aus einem Buch vorgelesen. Irgend jemand verriet ihnen, daß ich als Soldat hier gewesen bin. Da interessierte sie meine Geschichte nur noch am Rande; sie wollten, daß ich mit ihnen hierher ging und genau erklärte, wie das damals gewesen ist!« Er sprang vom Pferd und warf sich ins Gras. »Erster Ruhepunkt!« Als auch Catherine abgestiegen war, fiel ihm ein, daß sie den Tieren die Trensen abnehmen könnten. »Was meinen Sie, wie diese beiden es lieben auszureiten! Im Gestüt bewegt man sie zwar nach Plan, aber ich glaube, das ist zuwenig. Manchmal, wenn ich einen ganzen Tag
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mit Patra unterwegs gewesen bin, hatte ich den Eindruck, daß sie sich am liebsten bei mir bedankt hätte.« »Sie lieben Pferde?« Catherine legte sich neben ihn ins Gras. Er kaute an einer Belomorkanal, blinzelte in die Sonne und fragte: »Soll ich Ihnen die übliche Antwort geben: Nach vierzig Jahren Erfahrung mit Menschen ziehe ich Tiere vor?« »Das würde ich Ihnen nicht abnehmen!« Er beförderte die Belomorkanal in den anderen Mundwinkel und sagte: »Nichts davon. Man liebt Tiere. Und man liebt seine Freunde.« »Ich habe Sie am Anfang für menschenscheu gehalten. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.« Er fragte: »Was wäre ein Schriftsteller ohne das Gefühl, daß die Menschen auf dieser Welt die liebenswerteste Erscheinung sind?« »Alle?« »Auch nicht alle Tiere sind liebenswert.« »Eigentlich sollten Sie nach Ihren Erfahrungen nur ganz wenige Menschen lieben«, meinte sie. »Und warum?« »Man hat es Ihnen schließlich nicht leicht gemacht.« Er wiegte den Kopf. Er hatte keine Lust, ernste Gespräche zu führen, er hätte scherzen wollen, übermütig sein. Schließlich sagte er lächelnd: »Wem macht man es schon leicht, Catherine? Früher, da war ich ein Träumer. Ich dachte an eine Welt, in der allen Leuten nur Gutes geschieht, in der es jedem leicht gemacht wird, so zu leben, wie er das möchte. Alles gehört allen, und jeder tut nur das, was er will. Ich war ziemlich jung damals, und das war eine meiner Vorstellungen vom Kommunismus. Später habe ich gemerkt, daß die Geschichte ein bißchen komplizierter ist.« »Und der Kommunismus?« »Der auch. Generationen vergehen darüber. Die späteren werden kaum noch erfassen können, mit welchen Gedanken die erste einmal angefangen hat.« »Und dazwischen gibt es alles, was es eigentlich nicht geben
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sollte«, warf sie ein. »Ungerechtigkeit, Leiden, Bürokratie, unerfüllte Wünsche, irreale Träume, Hass, Tod. So wie hier in den Hügeln . . .« Er nickte. »Ja, das alles gibt es dazwischen. Aber das sind Wegmarken, mehr nicht. Der einzelne Mann, der sich mühsam an ihnen vorbeiquält, zählt sie vielleicht. Die Geschichte registriert sie nur am Rande. Sie bewertet allein die zurückgelegte Strecke. So ist das.« »Optimist«, sagte sie. »Drückt es Sie manchmal, daß Sie Jahre verloren haben? Daß man Sie aufgehalten hat an einer dieser Wegmarken?« »Manchmal«, gab er zu. »Der Mensch hat seine Stimmungen. Das Glück ist nicht so selbstverständlich, wie es in den Träumen war.« Die Luft flimmerte in der Sonne. Nicht die Spur eines Wölkchens am Himmel. Russischer Sommer! »Ihre Frau«, sagte Catherine nachdenklich, »ich bewundere sie. Ich glaube, an ihrer Stelle würde ich mich ganz anders benehmen.« Es dauerte eine Weile, bis er den Mund öffnete. »Im Herbst, vielleicht zu Wintersanfang, wollen die Ärzte die nächste Operation wagen. Ich habe Sorgen.« »Sie glauben nicht, daß diese Operationen ihr wirklich helfen?« »Ich glaube, sie kann nur ein bestimmtes Maß solcher Belastungen überleben. Und die Grenze dessen, was sie überleben kann, ist wohl erreicht. Ihr Herz ist überbeansprucht. Bereits bei der letzten Operation gab es Schwierigkeiten.« »Sicher warten die Ärzte«, meinte Catherine, »bis das Herz genügend gekräftigt ist.« »Das können sie tun, ja. Nur, mit jedem Tag, den sie warten, wird die Chance geringer, die Lähmung noch zu beseitigen.« Es lag sich weich auf dem sonnenwarmen Gras. Käfer summten. Irgendwo, ganz weit entfernt, tuckerte der Motor eines Traktors. Auf dem Hügel stritten sich ein paar kleine Vögel tschilpend um die ausgefallenen Samenkörner einer Unkrautpflanze. Die beiden Pferde grasten in einiger Entfernung. Glenn müßte da sein, dachte Catherine plötzlich. Was gäbe ich dafür, jetzt neben ihm zu liegen!
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Ob er schon seinen Koffer packt? Unmittelbar nachdem Kartstein ihr den Termin ihres Treffens in Berlin mitgeteilt hatte, war sie zu Wille« gegangen und hatte über Fernschreiber bei Glenn angefragt, ob er zur gleichen Zeit in Berlin sein könnte. Schon ein paar Stunden später war die Antwort dagewesen: »Ja, ich komme! Gutes Hotel, Kempinski! Ich liebe Dich! Glenn«. Sie rechnete. In Saigon mußte es jetzt auf den Abend zugehen. Man hörte viel von dieser Stadt. Amerikanisiert. Sie wimmelt von Bordellen, hatte jemand erzählt, der im Büro der Standard Electronics gewesen war, auf der Durchreise. Bordelle und PX-Läden. Tiefe Etappe. Wer da lebt, der lebt gut. Vielleicht mache ich mir unnötig Sorgen um Glenn, dachte sie. Er ist ein kluger Bursche, er wird wissen, wie er das alles übersteht. Und er ist anpassungsfähig. Jedenfalls werden wir in Berlin eine herrliche Zeit haben, nahm sie sich vor. Ein paar Tage bin ich mit Kartstein beschäftigt, und wenn ich den los bin, dann gibt es nur noch Glenn für mich. Sie schielte zur Seite. Shagin lächelte. »Woran haben Sie gedacht?« »An Glenn«, gab sie ohne Zögern zu. »Man hat es Ihnen angesehen.« Mehr sagte er nicht. Brannte sich eine neue Belomorkanal an und paffte Wölkchen vor sich hin, auf dem Rücken liegend, in den blauen Himmel starrend. Als die Sonne im Zenit stand, stiegen sie wieder auf die Pferde und ritten zwischen den Hügeln weiter ins Land. Es war heiß, aber die Tiere liefen schnell, und der leichte Luftzug kühlte. Trotzdem stand Catherine der Schweiß auf der Haut, als sie nach mehr als einer Stunde an das Flüsschen kamen, das sich zwischen Erlengehölzen und Weidenbüschen südwärts schlängelte, die Istra. Am Ufer war Schatten. Der Pferde tranken. Shagin band sie danach an eine Erle; er schlug Catherine vor: »Ein bißchen schwimmen? Wie denken Sie darüber?« Sie tummelten sich in dem klaren Wasser. Es war nicht tief, man konnte gerade noch auf den Fußspitzen stehen, und es gab keine Wirbel, der Fluß war an dieser Stelle ziemlich träge.
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Catherine stieg zuerst heraus. Sie war müde. Nachdem sie ihren nassen Bikini in die Äste der Erlen gehängt hatte, legte sie sich ins Gras und war wenig später eingeschlafen. Shagin schwamm noch eine Viertelstunde, dann kam auch er triefend ans Ufer, sah verwundert die Frau in dem Jeansanzug leicht zusammengerollt im Schatten liegen, tief schlafend, und entschied sich für einen Spaziergang am Ufer entlang. Er kam erst nach einer Stunde zurück. Catherine war wieder wach, sie saß unter den Bäumen und kämmte sich. »Das ist der Nachteil des Schwimmens«, kommentierte sie betrübt, »man ruiniert sich die Frisur dabei!« Shagin lachte nur und meinte, daß sie eben doch ein absolut zivilisationsabhängiges Wesen sei. Sie scherzten eine Weile, dann entschlossen sie sich weiterzureiten. Zurück, riet Shagin. Aber Catherine wollte noch am Ufer des Flusses entlang reiten, bis zur nächsten Ansiedlung, deren erste Häuser man von der Stelle aus sehen konnte, an der sie gebadet hatten. So gelangten sie nach kurzer Zeit in ein Dorf, in dem sich Shagin ebenso gut auskannte wie in dem Gestüt. Er entdeckte ein paar Kinder, die hinter den Häusern spielten, und fragte sie, ob jemand zu Hause sei. Sie verneinten, die Eltern wären auf den Feldern. Wie es schien, war Shagin hier ein gern gesehener Gast. Das bestätigte sich bald: In einem der Häuser stand nach Auskunft eines Jungen ein Fass mit erstklassigem Kwaß. Shagin forderte Catherine auf, vom Pferd zu steigen und das Getränk zu probieren. Als sie protestierte, man könne nicht einfach in fremde Häuser gehen und sich bedienen, beruhigte Shagin sie und erwiderte, daß er hier kein Fremder sei. Er führte sie in das kleine Holzhaus, fand den Tonbehälter mit dem Kwaß und schöpfte eine Kelle davon. »In der Tat: erstklassig!« sagte er und hielt Catherine die Kelle hin. Sie stillten ihren Durst, dann brachen sie wieder auf. Bei den Feldern, wo Leute arbeiteten, ritt Shagin ein Stück voraus, hielt in der Nähe einer Gruppe Frauen an und rief: »Mascha! Wir haben deinen Kwaß probiert! Er ist gelungen! Danke!«
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Die Frau, eine stämmige Person mit einem weißen Kopftuch, winkte lachend zurück und empfahl ihm unter dem Gelächter der anderen: »Fall nicht vom Pferd, Wadja! Und mach keinen Fehltritt, hörst du!« »Weiber!« brummte er, als er wieder bei Catherine ankam. »Sie haben manchmal ein arges Maul, aber sie meinen es nicht so schlimm . . .« Ich könnte tagelang so mit ihm gemeinsam durch die Landschaft reiten, dachte Catherine. Sie wurde sich, wie so oft, wenn sie mit Shagin zusammen war, bewusst, was sie vermisste, wenn sie in Moskau in ihrem Zimmer saß und arbeitete. Es ist, als wäre ich da in einem luftleeren Raum, als lebte ich unter einer gläsernen Glocke, die nicht die Wirklichkeit an mich heranläßt, sondern nur Wetrows Interpretation des sozialistischen Lebens. Wirklich in Rußland bin ich nur, wenn ich ihn vergesse! Trotzdem: Ich muß Shagin erinnern, daß er mich mit ihm bekannt machen wollte! Sie sprach mit ihm darüber, als sie nach Moskau zurückfuhren. Die Pferde hatten sie am späten Nachmittag wieder im Gestüt abgeliefert. Der kleine rote Datsun flitzte auf Moskau zu. Shagin wollte am Abend noch seine Frau besuchen und dann nach Peredelkino fahren. »Warum wollen Sie unbedingt mit ihm reden?« fragte er. »Ist er für Sie so interessant?« »Wadim«, redete sie ihm zu, »ich habe die russische Sprache studiert, ich interessiere mich für eure Literatur. Und Wetrow ist im Augenblick eine der Gestalten, von denen man bei uns am meisten spricht. Deshalb möchte ich herausfinden, was für ein Mensch das ist. Nur Sie wollen mir dabei nicht helfen.« Er winkte ab. »Beschimpfen Sie mich nicht, Catherine! Sie sollen Ihren Spaß haben. Vorausgesetzt, Wetrow selbst ist einverstanden. Ich sagte Ihnen wohl schon, er ist sehr mißtrauisch. Wie ein alter Wolf. Er spricht nicht einfach mit jedem.« »Aber mit Ihnen spricht er!« »Er hat mich sogar aufgefordert, ihn zu besuchen.«
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»Als alten Freund?« »Nein«, sagte Shagin. »Er weiß, wie ich denke. Er hat mich wissen lassen, daß er gern einige Auskünfte von mir haben möchte, für ein Buch, das er gegenwärtig schreibt.« Die Chronik über die Lager, dachte sie. Natürlich, er sammelt bei allen ihm bekannten ehemaligen Häftlingen Material, also hat er auch Shagin gebeten, ihm welches zu liefern. »Und wann werden Sie zu ihm gehen?« »Heute abend noch«, versprach er. Er lachte dabei, kopfschüttelnd, als begreife er das Interesse nicht, das Catherine an dem Autor zeigte. Aber er erinnerte sich wieder an Kursanows Verwunderung über Catherine s Tätigkeit einer Übersetzerin in einem Elektronikkonzern. Wer weiß, vielleicht versucht sie, auf dem Umweg über ein Interview mit Wetrow ein oder zwei Stufen auf der Hühnerleiter des Erfolges zu überspringen. Ein jämmerliches Unterfangen für eine so intelligente Frau nach der Ausbildung auf einer der berühmtesten Universitäten der Welt, aber warum sollte ich sie nicht zu ihm bringen? Sie ist klug genug, einen Heuchler von einem ehrlichen Mann zu unterscheiden; mag sie ihre Fähigkeiten erproben! »Was soll ich ihm sagen?« fragte er. »Wie soll ich ihn herumkriegen?« »Sagen Sie, ich wäre eine seiner aufmerksamen Leserinnen«, schlug sie vor. »Das stimmt sogar. Und daß ich Ausländerin bin. Vielleicht hat er Interesse, mit jemandem zu reden, der ihm ein wenig das Leben in Amerika beschreiben kann. Sagen Sie ihm auch, ich hätte einige Fragen an ihn, die sich aus dem ergeben, was ich von ihm gelesen habe. Ach, sagen Sie, was Sie wollen, nur erreichen Sie, daß ich ihn zu Gesicht bekomme!« »Wenn Ihnen so viel daran liegt, werde ich das auf jeden Fall zu erreichen versuchen.« Er sah sie an. »Wissen Sie, daß Sie mir einige Rätsel aufgeben, Catherine?« »Was für Rätsel?« »Sie sind ein vernünftiger Mensch, leben schon eine lange Zeit bei
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uns, und offenbar gehören Sie nicht zu jenen Leuten, für die unsere Gesellschaft ein Angsttraum ist. Was können Sie an einem Mann finden, der für die Spießer der westlichen Welt ein Bild von der Sowjetunion malt, das sie schon in den Zeitungen Hitlers finden konnten?« »Begreifen Sie nicht, daß gerade deshalb so ein Mann für mich eine interessante Erfahrung darstellt?« »Nun ja«, erwiderte Shagin, »interessant wie ein mit zwei Köpfen geborenes Kalb. Ein Mann, der innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft zum Faschisten wurde. Wie das zweiköpfige Kalb, das aus dem Leib einer gesunden Kuh kommt.« Er sah die Skepsis in ihren Augen und fügte hinzu: »Ich kenne ihn genau, sonst würde ich das nicht sagen. Glauben Sie mir, an den Abenden auf den Pritschen im Lager öffneten sich die Seelen der Leute!« »Sie fällen ein hartes Urteil über ihn«, sagte sie. »Ich will Ihnen nicht widersprechen. Trotzdem würde ich gern einen persönlichen Eindruck haben. Ist das in Ihren Augen verwerflich?« Da lachte er. »Aber nein! Warum sollen Sie, wenn Sie schon bei uns leben, nicht auch mit einem grandiosen Gauner sprechen, der aus einer der tragischsten historischen Erfahrungen unseres Landes ein Geschäft macht! Reden wir nicht mehr darüber, ich werde ihn auf irgendeine Art überzeugen, daß er Sie empfängt.« Er hielt Wort. Am Sonntag rief er bei Catherine an und teilte ihr mit, Wetrow habe zugestimmt, sich mit ihr zu treffen. Er hielt sich diesen Abend dafür frei. Sie solle aber mit ihrem Auto nicht vor seiner Datscha parken, sondern in einer gewissen Entfernung. Es sei nicht nötig, daß jedermann beobachte, wie eine ausländische Dame bei ihm zu Besuch erscheine. »Danke!« sagte Catherine. »Und wann sehe ich Sie wieder?« »Kommen Sie bei mir vorbei, wenn Sie mit Wetrow fertig sind«, forderte er sie auf. »Ich mache Tee. Und Sie können direkt vor meiner Datscha parken. Wie immer!«
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»Ich habe es geahnt!« rief Wetrow, als er Catherine sah. »Natürlich, es konnte nicht anders sein! Kommen Sie schnell herein, bevor eine Menge Leute Sie sieht!« Er schob sie eilig durch das Gartentor. Während er mit ihr den kurzen Weg bis zum Haus ging, blickte er sich mehrmals um, als fürchtete er, beobachtet zu werden. Er tat es so, daß Catherine darauf aufmerksam werden mußte; sie nahm es zur Kenntnis. Sie war damit beschäftigt, Wetrow zu betrachten, diesen gedrungen wirkenden Mann mit den breiten Schultern, dem länglichen Kopf, dem rotbraunen Backenbart. In der Tat. Wetrows Äußeres war wenig beeindruckend. Auch die Narbe auf der Stirn vermochte daran nicht viel zu ändern. »Schön haben Sie es hier«, sagte sie beiläufig, auf ein paar Ziersträucher weisend, die vor dem Haus standen. Wetrow lächelte geschmeichelt. Aber dann wurde sein Gesicht sofort wieder ernst. »Sehr schön, aber nichts gehört mir. Ein Habenichts. Vogelfrei, für jeden dieser KGB-Spitzel, die ringsherum in den Bäumen sitzen.« Er wies mit einer vagen Handbewegung auf die hohen Kiefern und Tannen, die weit entfernt, außerhalb des Grundstücks standen. Während er die Tür des Hauses für Catherine öffnete, flüsterte er ihr zu: »Sie sind mutig! Man wird jetzt schon ein Dutzend Fotos von Ihnen gemacht haben. Ich liebe mutige Menschen!« »Ja«, sagte sie gedehnt. Sie sah sich in dem geräumigen Wohnzimmer der Datscha um. Es hatte große Fenster, aber die lagen im Schatten der Bäume, so war die Temperatur im Haus überraschend angenehm. »Schöner Platz zum Arbeiten.« Er schob ihr einen Sessel zurecht. Catherine sah ihm zu, wie er von einem Fenster zum anderen ging, geduckt, auf leisen Sohlen, und wie er jeweils einen prüfenden Blick hinauswarf. Verfolgungstick? Oder glaubt er, er muß mir die Legende von der Bespitzelung vorspielen, die Sef Kartstein für ihn erfunden hat? Unschlüssig nahm sie eine Zigarette aus der kleinen Umhängetasche, die sie zu dem bunten Minikleid trug. Sie knipste ihr Feuerzeug an,
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während er immer noch von Fenster zu Fenster schlich und hinausspähte. Shagins Besuch war für ihn überraschend gekommen, obwohl er ihm vor langer Zeit geschrieben hatte. Er hatte nur kurz überlegt, ob er ihn einlassen sollte oder sich einfach nicht melden. Aber dann war er doch öffnen gegangen. Shagin war ein eigenartiger Kauz. Man wurde nicht klug aus ihm. Einerseits hatte er literarisch kaum etwas im Sinne, das sich gegen das Regime verwerten ließ, er schrieb nicht einmal etwas über seine eigene Lagerzeit. Andererseits gehörte er auch nicht zu jenen, die innerhalb des Schriftstellerverbandes die Chance wahrnahmen, sich selbst in den Vordergrund zu spielen. Dabei konnte er schreiben! Ein Erzähler, der niemals Mangel an Leserpublikum haben würde. Die Kinder rissen sich um seine Bücher. Wetrow wollte von ihm einige persönliche Erinnerungen aus der Haftzeit hören, die er verwenden könnte. Aber Shagin tat so, als erinnere er sich an nichts, außer dem, was sie gemeinsam erlebt hatten. Jedenfalls nichts Wesentliches. Er entschuldigte sich dafür: »Weißt du, Ignat Issaakowitsch, ich habe mich für alle diese Dinge kaum noch interessiert, nachdem ich rehabilitiert war. Ehrlich gesagt, ich habe das alles hinter mich gebracht, für immer. Also nimm es mir nicht übel, wenn ich nichts zu deiner Sammlung beitragen kann.« »Du gehörst auch zu denen, die gegen mich sind, wie? Hat es dich gefreut, daß sie mich aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen haben, ja? War es eine Erbauung für dich?« Shagin ließ sich nicht auf Streit ein. Er bat: »Laß uns nicht wieder über diese Dinge reden, Ignat Issaakowitsch. Ich habe in den letzten Jahren zu vieles um die Ohren gehabt, als daß ich mich auch noch hätte mit deinen Problemen beschäftigen können. Ich wollte nur höflich sein und auf deinen Brief wenigstens eine Reaktion zeigen, deshalb bin ich hier. Und aus einem anderen Grunde . . .« Dann berichtete er dem sofort aufhorchenden Wetrow, er habe durch Zufall die Bekanntschaft einer Amerikanerin gemacht, die
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sich in Moskau aufhalte und die den Wunsch geäußert habe, ihn, Wetrow, kennen zu lernen. Ob er sie empfangen wolle., Eine Amerikanerin, die in Moskau lebt? Wetrow schlug die Anweisung in den Wind, daß er keine fremden Leute empfangen sollte. Er war neugierig auf die Frau, die Shagin ihm beschrieb. Jetzt, als Catherine vor ihm saß, sagte er zu ihr: »Ich muß es wiederholen: Ich habe geahnt, daß Sie es sind!« »Wie meinen Sie das?« Catherine zog an ihrer Zigarette und warf einen besorgten Blick auf den Aschekegel an ihrer Spitze, worauf Wetrow sich endlich bequemte, aus einem Schränkchen einen Aschenbecher zu holen. »Sie brauchen mir nichts zu erklären, meine Dame! Nichts! Ich weiß alles! Ich habe mich immer gefragt, wer es wohl sein könnte, mit dem sich Lara Plotnikowa traf. Bis ich Sie eines Tages in Gesellschaft Laras sah. Zufällig. Ich hatte Lara begleitet, dorthin, wo Sie sich mit ihr trafen. Und heute sind Sie hier! Natürlich die Sache mit Lara . . .« Er verstummte, blickte Catherine fragend an. Sie unterließ es, darauf einzugehen. Sie schlug statt dessen vor: »Reden wir über diese Dinge lieber nicht, Mister Wetrow, einverstanden?« Sie nannte ihn »Mister Wetrow«, aus einer Laune heraus. Er straffte sich in seinem Sessel und lächelte breit. »Einverstanden. Ich stelle nur fest, daß Lara nicht mehr zu meinen Freunden gehört. Deshalb war es wohl nötig, daß wir beide uns persönlich miteinander bekannt machten. Aufschlußreich, daß es gerade Shagin war, der Sie zu mir brachte. Ich habe ihm wohl in Gedanken unrecht getan. Nun jedenfalls werde ich zu niemandem auch nur eine Bemerkung darüber machen, daß ich Sie kenne.« »Danke«, sagte Catherine. »Kommen wir zur Sache.« »Nicht bevor ich Ihnen gedankt habe!« rief er, sprang impulsiv auf und schüttelte ihre Hand. Sie war ein wenig überrascht von dieser Aufwallung, aber sie gab sich Mühe, das nicht zu zeigen. Er überschüttete sie mit einem Wortschwall: »Nie in meinem Leben hat es Menschen gegeben, die mir uneigennützig geholfen haben, erst
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jetzt! Nach allem, was ich erlebt habe, hatte ich es schon verlernt, daran zu glauben, daß so etwas möglich ist. Aber der Herr hat mich eines Besseren belehrt! Ich muß Ihnen danken, ja, ich muß es! Sie haben mir geholfen, mich selbst zu verwirklichen, im reifen Alter eines Fünfzigjährigen. Das wäre einfach nicht möglich gewesen, hätte es Sie nicht gegeben . . .« Als er endlich eine Pause machte, sagte sie gelassen: »Mister Wetrow, es ist nicht nötig, daß Sie mir danken. Was ich tat, das habe ich nicht für Sie persönlich getan.« »Für die Sache!« rief er. Catherine dachte überrascht, der Mann kann glänzende Augen haben! Nie habe ich jemanden gesehen, der so in Erregung geraten kann, in ihm muß das Temperament eines Cholerikers stecken. »Sie schreiben Bücher, an denen Verlage interessiert sind, die sich in anderen Ländern befinden«, machte sie ihn aufmerksam. »Ich habe ein paar technische Arbeiten erledigt, das war alles. Wenn Sie mir dafür danken, dann beschämt mich das. Lassen wir es.« »Ich danke Ihnen und überhaupt allen, die sich für mich eingesetzt haben«, beharrte er. »Ich weiß, es sind viele. Mein Dank ist zugleich der Dank aller ehrlichen Leute in diesem Lande, die heute unter Druck leben, geächtet, verfolgt. . .« Er hielt ihr einen längeren Vortrag darüber, daß es in der Sowjetunion Leute gäbe, die nicht mit dem Gesellschaftssystem einverstanden seien. Darauf müsse man die übrige Welt immer wieder aufmerksam machen: Der Sozialismus sei eine Ordnung, die nicht die Zustimmung der Menschen habe! Er selbst verstünde sich als ein Repräsentant aller jener Unglücklichen, und er sei entschlossen, der Welt außerhalb der Sowjetunion die Botschaft zu verkünden. Seine Worte kamen Catherine pompös vor, aber sie hatte beschlossen, nicht mit ihm zu argumentieren, ihn nur anzuhören. Obwohl sie etwas Ähnliches erwartet hatte, war sie doch verblüfft von der Selbstverständlichkeit, mit der er sich als Sprecher einer angeblich starken »Gruppe von Menschen« fühlte; die Legitimation
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dafür sei ihm durch die Berufung zum Dichter von Gott verliehen worden. Er war einen Augenblick still, da sagte sie schnell: »Mister Wetrow, Sie leben sehr zurückgezogen. Ihre wachsende Berühmtheit in der westlichen Welt wird aber gewisse Belastungen mit sich bringen. Fühlen Sie sich dem, was da noch auf Sie zukommen kann, gewachsen?« Er breitete die Arme aus. »Es gibt kein schöneres Gefühl, als zu wissen, daß das hiesige Regime mich letztlich nicht zum Schweigen bringen kann! Die Welt hört mich! Immer habe ich mir das gewünscht, immer in meinem Leben, jetzt ist es Wirklichkeit geworden.« Er kam nicht auf die Idee, sie zu fragen, ob sie etwa einen Wodka trinken möchte, ein Glas Tee. Als er begann, von der Tradition der alten russischen Schriftsteller zu reden, die fortzusetzen er gewillt sei, erinnerte Catherine ihn: »Mister Wetrow, die Leute, die in Amerika und anderswo Interesse an Ihren Büchern haben, konnten Ihnen bisher viel helfen. Sie möchten das auch weiterhin tun. Erzählen Sie mir aus Ihrem Leben, schildern Sie mir Ihre Ansichten, sagen Sie mir, was Sie zu den erstaunlichen Leistungen antreibt, die Sie vollbringen. Ich möchte ein vollständiges Bild von Ihnen haben, wenn ich dieses Haus wieder verlasse. Es wird dazu beitragen, daß wir Sie besser als bisher unterstützen können . . .« Er ließ sich nicht lange bitten, lief im Zimmer hin und her, zog die Vorhänge vor die Scheiben und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Nach und nach berichtete er von seiner Kindheit, seiner Schulzeit, dem Elternhaus, den Freunden, von frühen Ambitionen und Enttäuschungen, bis er beim Jahre 1941 angelangt war, der Zeit, in der die Deutschen das Land überfielen. »Ich war eine besondere Art Patriot, ja«, sagte er. »Wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich kam aus einer Familie, die von der Revolution kaputtgemacht worden war. Ich wußte das schon als Kind. Meine Mutter hat nicht versäumt, mir zu schildern, was
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vorgegangen war. Wir waren arm, alles, was meine Eltern besessen hatten, war dahin. Kolchoseigentum. Aus. Mein Vater hatte sich das Leben genommen; ich entschloß mich sehr früh, niemals etwas Ähnliches zu tun. Im Gegenteil, ich nutzte die Chance, die der neue Staat mir gab. Ging zum Studium. Schrieb meine ersten Geschichten, die keiner druckte. Aber ich fasste damals schon den Plan, eines Tages ein großer Schriftsteller zu werden. Nichts sollte mich daran hindern. Ich merkte natürlich, daß man mich nicht hochkommen lassen wollte. Ein paar der bekannten Dichter, an die ich Manuskripte schickte, ließen meine Briefe durch ihre Sekretäre beantworten. Unverbindlich: weiterarbeiten, strengere Maßstäbe anlegen. Korrupte Seelen! Ich aber mußte in den Krieg ziehen, Madame. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war?« »Ein wenig«, sagte sie. »Sie waren wahrscheinlich nicht gerade begeistert, daß sie eine Gesellschaft verteidigen sollten, die Ihnen im Grunde nichts bedeutete. War es so?« Er lächelte breit. »Es war etwas komplizierter«, antwortete er. »Anders eben. Ich mußte natürlich zusehen, daß ich keinen Argwohn erregte bei Vorgesetzten. Mit der Vorbildung eines Mathematikers geriet ich zur Artillerie. Gut. Wenigstens nicht in die erste Linie. Aber damit waren für mich die Chancen dahin, jemals auf die andere Seite der Front zu gelangen . . .« »Sie trugen sich mit dem Gedanken überzulaufen?« »Ich werde meinen damaligen seelischen Zustand in den ,Zek' genau schildern, Madame«, machte er sie aufmerksam. »Jedenfalls die Deutschen kamen als Antikommunisten, das machte sie für viele, die ähnlich dachten wie ich, zu Verbündeten. Ich bin heute fest davon überzeugt, daß damals eine historische Chance verpasst wurde. Leider begriffen die Deutschen nicht, worum es wirklich ging. Ebenso wie bei Kriegsende die Alliierten.« Sie unterbrach ihn mit der Frage: »Ich würde das gern besser verstehen, Mister Wetrow. Ist das, was Sie für Rußland anstreben, ich meine für die Sowjetunion, eine Art Sozialismus, oder ist es etwas anderes? Parlamentarische Demokratie sozusagen . . .«
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Er schüttelte energisch den Kopf. »Keines von beiden! Der Sozialismus verdirbt die Seele des Volkes, jede Art von Sozialismus übrigens. Für die parlamentarische Demokratie aber ist dieses Volk nicht reif. Was es braucht, ist eine Regierungsform, in der aufgeklärte Humanisten es nach den alten Regeln unserer Vorväter lenken und leiten, mit Milde und Geduld, auch mit Strenge, wo es not tut. Die Tradition des heiligen russischen Geistes, sie fehlt heute meinem Land. Nur sie kann es zur Läuterung bringen, zur Gewissenserforschung, zu einer neuen Moral.« Er sprach weiter, von einem russischen Nationalstaat auf der Grundlage tiefer Religiosität und einer vorsichtig dosierten Demokratie. Über die Besitzverhältnisse sprach er nicht, es verstand sich, daß sie geändert werden sollten. »Sehen Sie, Madame«, erläuterte er, »das alles hätte trotz des Scheiterns der Versuche Wlassows, damals, bei Ende des zweiten Weltkrieges, noch erreicht werden können. Die Chance war da. Verpasst wurde sie von den Aliierten! Können Sie sich vorstellen, wie wir darauf gewartet haben, daß das starke Amerika die inzwischen leicht gewordene Aufgabe übernähme, mit dem Sowjetregime Schluss zu machen? Wir fieberten!« »Sie waren zu dieser Zeit bereits inhaftiert?« »Ja. Ich hatte Gleichgesinnte um mich gesammelt, hatte es jedenfalls versucht. Das brachte mir Haft ein.« »Und Sie warteten tatsächlich auf so etwas wie eine Befreiung durch die Amerikaner?« »Natürlich!« Er sprang wieder auf und lief im Zimmer herum. »Hitler war geschlagen. Aber die Sowjetmacht war durch den Krieg so geschwächt, daß ein einziger ernsthafter Stoß sie hätte umwerfen können! Amerika hätte diesen Stoß führen können. Es hätte ihn führen müssen, um unsretwillen! Es führte ihn nicht. Warum? Aus demselben Grunde, aus dem es sich auch heute lieber mit den Sowjets arrangiert, als ihnen die Stirn zu bieten! Ich sehe meine Lebensaufgabe darin, der Welt das klarzumachen! Madame, man muß diesen satten, im Wohlstand lebenden Bürgern der westlichen
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Demokratien endlich einmal vor Augen führen, mit wem sie es hier zu tun haben! Man muß sie aufrütteln! Man muß ihnen die moralische Verpflichtung nahe legen, unser Volk endlich zu befreien! Das ist es! Sie müssen jeden Tag von neuem daran erinnert werden, daß sie diese Verpflichtung haben! Wir sind bereit, unseren Teil zu tun, aber der Stoß muß von außen kommen! Verstehen Sie?« »Ich verstehe«, sagte sie, obwohl sie höchst verwirrt war. Die Einsicht, daß sie es hier mit einem ausgesprochenen Antikommunisten zu tun hatte, war nicht neu. Daß seine Gedankengänge allerdings in einem solchen Maße abenteuerlich waren, hatte sie nicht für möglich gehalten. Abenteuerlich, aber auch naiv. Sie erinnerte sich, daß einige Zeitungen in den Staaten anläßlich von Interviews, die Emigranten gegeben hatten, in ihren Kommentaren darauf hinwiesen, daß prinzipielle Gegner jeglicher internationalen Entspannung den Versuch machten, Amerikaner, Engländer, Deutsche und Franzosen zu Helfern einer fanatischen Gruppe emigrierter Antikommunisten umzufunktionieren, die es gern sähen, daß andere die Sowjetunion angriffen, ihr Staatssystem zerschlügen, wonach sie selbst dann die Macht übernehmen würden. Einige der Kommentatoren hatten mit einem Appell an die Regierung geschlossen, man möge auf keinen Fall eine aussichtsreiche amerikanische Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion durch ein paar hemmungslose Extremisten kaputtmachen lassen. Und hier war nun Wetrow mit seiner Idee, daß die Deutschen das wieder hätten schaffen können, was er Rußland nannte. Die Alliierten, die ihre historische Chance verpassten. Ihre? Was, um Himmels willen, verbarg sich hinter den konfusen Gedankengängen dieses Mannes, wenn nicht das Prinzip einer geistigen Kollaboration? Die Absicht, auf dem Umwege über andere und deren Bemühungen selbst an die Macht zu kommen! Einen Augenblick lang überlegte Catherine: Was würde der bärtige Eiferer eigentlich von meinem Vater halten? Am Ende wäre Charles Laborde in seinen Augen einer von denen, die mit Schuld daran trügen, daß Leute wie
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er nicht im Triumphzug sozusagen an die Schalthebel der Macht geführt wurden! »Sie haben also wirklich zu denen gehört«, fragte sie Wetrow, »die damals darauf warteten, daß die Alliierten kämen?« Er dachte nicht lange nach. »Ich brannte darauf, Madame. Ich war Monate vor Kriegsende fest überzeugt gewesen, daß es so kommen würde. Ich tat meinen Wärtern jeden Gefallen, stets in der Gewissheit, bald ist es vorbei, ich muß lediglich überleben! Nichts anderes als überleben, und zwar um jeden Preis. Aber es kam niemand, Madame. Niemand! Und so wurden es acht Jahre. Das war, wenn Sie so wollen, mein Irrtum. Ich hatte eine Rechnung gemacht, die nicht aufging. Ich war der Betrogene.« Er lächelte gewinnend. Dann sagte er so freundlich, daß Catherine ihn erstaunt anblickte: »Im gewissen Sinne, Madame, macht der Westen durch seine Fürsorge für mich heute etwas gut, wozu er moralisch verpflichtet ist. Ohne es zu wissen, vielleicht. Jedenfalls war es höchste Zeit, daß man sich dort drüben, in den satten Ländern, endlich einmal um einen Mann wie mich kümmerte.« Catherine nickte. Er hielt es für Zustimmung. »Ich«, rief er, sich an die Brust schlagend, »und natürlich eine Anzahl Gleichgesinnter, wir sind die echten Verbündeten! Das sollte jeder wissen, der heute im Fernsehen oder in den Illustrierten mit Bildern gefüttert wird, auf denen der amerikanische Präsident in trautem Gespräch mit unserem obersten Parteichef gezeigt wird. Nicht bei denen liegt die Zukunft der Menschheit! Wir sind die Zukunft! Ich! Und die anderen . . .« Sie brachte es fertig, gelassen eine Zigarette anzubrennen, obwohl sie am liebsten ein paar Bosheiten gesagt hätte. Ruhig bleiben, ermahnte sie sich, stoisch, gleichmütig. Dies ist eine Lektion. Schlucke sie! Den Rauch der Zigarette vor sich hin blasend, sagte sie leise: »Sie gewähren mir einen höchst interessanten Einblick in Ihre Vorstellungswelt, Mister Wetrow. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Offenheit. Sagen Sie bitte, wie sehen Ihre persönlichen Pläne für die Zukunft aus. Und zwar unter Berücksichtigung der Tatsache, 5
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Thürk, Gaukler II
daß alles, was Sie schreiben, nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch hier Auswirkungen haben wird. Vielleicht auf Sie selbst. Wollen Sie hier bis zur letzten Konsequenz aushalten? Wollen Sie sich mit dem Gedanken vertraut machen, eines Tages von hier wegzugehen? Wie sehen Sie die Zukunft?« Er blickte sie düster an. »Es ist ganz klar, daß ich eines Tages hier weggehen werde. Glauben Sie, ich lasse mich fertigmachen?« »Sie fürchten für Ihre persönliche Sicherheit?« »Das auch«, sagte er. »Sehr sogar. Aber es gibt etwas anderes. Ich habe erkannt, daß ich hierzulande von niemandem gehört werde. Sobald meine Publicity im Westen groß genug ist, werde ich dorthin gehen. Weil man mich dort braucht.« Sie überlegte einen Augenblick. Das widersprach Kartsteins Konzeption, aber es war wohl jetzt noch nicht wichtig, darüber zu befinden. Wahr blieb, daß Wetrow immer stärker in die Isolation steuerte. Selbst der tolerante, stets für einen talentierten Autor aufgeschlossene Twardowski hatte sich von ihm distanziert. Überdies hatte Twardowski seit dem Frühjahr die Arbeit an der »Novy Mir« aufgeben müssen; es hieß, er sei unheilbar krank. Als Catherine Wetrow nach ihm fragte, stampfte dieser wütend durch das Zimmer, grollte eine Weile unverständliche Worte vor sich hin, bis er endlich sagte: »Er ist krank, ja. Er wird sich vermutlich nie wieder erholen. Es ist Krebs. Und ich bin nicht in der Lage, ihn zu bedauern!« »Aber er hat seinerzeit viel Verständnis für Sie gezeigt! Oder irre ich mich?« »Nun ja«, wich Wetrow aus. »Er trat natürlich nicht für mich ein. Er versuchte vielmehr, mich zu beeinflussen. Ich sollte mir überlegen, wohin mich meine Ansichten führten, sollte von neuem anfangen. Das war es! Ein Weichling! Ein paar Jahre Haft haben ihm gefehlt, wer weiß das besser als ich! Ich war es, der ihn auf die Probe seines Lebens stellte! Er hat sie nicht bestanden, und es hat sich an ihm wieder einmal bestätigt: Keiner in diesem Land, der nicht eingesperrt war, ist überhaupt ein Mensch!«
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Catherine erinnerte sich, daß Twardowski sich vor längerer Zeit öffentlich dagegen verwahrt hatte, als ein Emigrantenblatt in Westdeutschland eines seiner Gedichte druckte, ein unfertiges Werk. Aber sie hatte die Sache nicht weiter verfolgt. Wetrow erzählte ihr bereitwillig, wie das damals gekommen war. Er tippte mit dem langen Zeigefinger auf seine Brust. »Ich war es! Ich, Madame!« Er lief eine Weile hin und her, bis er sich wieder beruhigt hatte, dann erläuterte er: »Er hat mir immer wieder vorgeworfen, daß diese Emigrantenzeitungen meine Arbeiten drucken. Er wollte, genau wie der Schriftstellerverband, daß ich dagegen Protest einlege. Ich sollte mich distanzieren, Madame! Distanzieren von den Leuten, die mich veröffentlichen! Ha! Ich sagte ihm, das kommt nicht in Frage, bis man mich hierzulande druckt, und zwar alles von mir, von ,Karzinom' über die ,Vorhölle' bis zur .Verlorenen Schlacht'. Twardowski behauptete, was ich tue, sei unmoralisch, denn er glaubte nicht, daß man im Westen meine Sachen ohne meine Erlaubnis druckt. Was ging es ihn an? Nichts! Er stellte sich gegen mich. Da beschloß ich, ihm einen Denkzettel zu verabreichen. Er rechnete nicht damit, das war mein Vorteil. Ich besaß die Kopie eines Arbeitsmanuskriptes aus seiner Feder, ein langes Gedicht, in dem er sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen versucht. Ein Manuskript noch, keine fertige Arbeit. Über mehrere Stationen war es zu mir gelangt. Und von mir kam es nach Frankfurt am Main. Dort wurde es gedruckt. Was meinen Sie, was Twardowski für Augen machte, als die ,Grani' sein Gedicht brachte! Ein kritisches Gedicht! Er bekam einen Schlaganfall, Madame! Haben Sie davon gehört?« »Weiß Twardowski, wie sein Gedicht dorthin gelangt ist?« »Ob er es weiß oder nicht das war die Erfahrung, die er endlich einmal machen mußte. Und wenn es erst kurz vor seinem Tode ist!« »Glauben Sie nicht, er wird in der Lage sein, seine Freunde zu überzeugen, daß er nichts mit der Publikation zu tun hat?« »Etwas bleibt an ihm hängen«, meinte Wetrow. »Und wenn es nur ein kleines Stäubchen ist, es reicht, um ihn zu zermürben. Ich weiß,
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wie sehr er heute schon bedauert, jemals für mich Partei genommen zu haben. Er erträgt es nicht. Es nagt an ihm, es wird ihn zerfressen, innerlich.« Er widert mich an, dachte Catherine, obwohl ich vorher gewußt habe, daß er skrupellos ist. Sie gab sich Mühe, ihre Gedanken zu verbergen, und sagte gleichmütig: »Das haben Sie hervorragend eingefädelt. Nur es gibt jetzt überhaupt niemanden mehr hierzulande, der sich für Sie einsetzen würde, nicht wahr?« »Nein«, antwortete er. »Niemanden mehr. Aber das ist mir sehr lieb. Klare Fronten. Ich lebe hier, ja. Aber ich bin längst nicht mehr einer von ihnen. Das ist mein Weg. Ich werde ihn gehen, konsequent, Madame. Eines Tages werde ich dorthin gehen, wo ich geistig zu Hause bin. Mit Ihrer Hilfe.« Sie nickte. Sef Kartstein würde das nicht gern hören. Nutzlos, jetzt mit Wetrow darüber zu streiten. Man mußte Kartstein die Denkweise dieses Mannes schildern und es ihm dann überlassen, Maßnahmen zu treffen. Vorsichtig wies sie darauf hin: »Vorerst ist es allerdings nötig, Mister Wetrow, daß Sie hier leben, vergessen Sie das nicht. Ein großer Teil Ihrer Wirksamkeit im Ausland ist darauf zurückzuführen. Ich bin sicher, Sie verstehen das.« »Und ob ich es verstehe!« Er beugte sich nach vorn, sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von dem ihren entfernt. »Hören Sie, Madame«, sagte er langsam, »wir wollen ganz offen miteinander reden. Wenn ich jemals die ,Zek' veröffentliche, dann wird diese Frage gravierend sein, denn die ,Zek' werden meine Gegner hierzulande nicht schlucken. Dieses Buch wird sie zwingen, etwas gegen mich zu unternehmen. Deshalb will ich von außen her gegen jeden Zugriff geschützt werden, der eines Tages erfolgen könnte. Nur wenn ich spüre, daß man hier nicht mehr an mich heran kann, werde ich die ,Zek' aus der Hand geben, sonst nicht. Und nach diesem Buch will ich die Sowjetunion verlassen, machen Sie sich mit diesem Gedanken vertraut. Ich wünsche nach all diesen Jahren der aufreibenden Arbeit endlich die Früchte zu genießen, die ich mir verdient habe.«
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»Ich verstehe«, sagte Catherine. Natürlich, er wollte zu seinem Geld. Wer hatte jemals angenommen, dieser Mann sei eine Art Heiliger? Ein Mensch. Habgierig, ziemlich gerissen, dabei talentiert, bienenfleißig und, wie es schien, unbelastet von der Bürde moralischer Überlegungen. Mit der Auswanderung Wetrows aus der Sowjetunion wird auch meine Mission in Moskau enden, dachte Catherine. Man sollte das Erscheinen der »Zek« beschleunigen! »Ich bitte Sie, Madame«, drängte Wetrow, »mehr als bisher im Ausland zu verbreiten, daß ich hier gefährdet bin. Ich glaube, ich hatte 'Ihnen über Lara schon einmal etwas Ähnliches mitteilen lassen.« »Werden Sie tatsächlich beobachtet?« erkundigte sie sich. »Haben Sie das an irgendwelchen Anzeichen erkannt?« »Ich bin mir darüber klar, daß ich im Mittelpunkt eines Interesses stehe, das sich bei weitem nicht nur auf das konzentriert, was ich schreibe!« »Das hieße, man wird auch registrieren, daß ich Sie besucht habe?« Sie sagte es mit dem Anflug eines Lächelns. »Man wird sich darüber den Kopf zerbrechen, was Sie bei mir wollen. Ich bin sicher, man beobachtet Sie.« »Meinetwegen«, entgegnete Catherine. »Es ist nicht verboten, einen Schriftsteller zu besuchen und mit ihm zu sprechen, soweit ich weiß.« Er hob den Zeigefinger. »Dieser Schriftsteller aber heißt Wetrow, Madame, vergessen Sie es nicht!« »Oder Shagin«, gab sie zurück. »Mit ihm treffe ich mich auch.« Ein misstrauischer Blick traf sie. »Wie sind Sie überhaupt an den gekommen?« »Sie mögen ihn nicht besonders?« »Er hat nichts aus seiner Vergangenheit gelernt, wie mir scheint. Passt sich an. An Ihrer Stelle würde ich ihm mit einiger Vorsicht begegnen.« Lachend versprach sie: »Ich werde Ihren Rat beherzigen, Mister Wetrow. Haben Sie nur keine Sorge, ich bin nicht leichtgläubig,
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auch nicht leichtsinnig. An wen kann ich mich wenden, wenn ich Ihnen etwas mitzuteilen habe? Und wer kann mir Ihre Arbeit übergeben?« Er nickte, als habe er darauf gewartet, daß sie diese Frage stellte. »Meine Frau wohnt in Moskau«, sagte er. »Sie kann sich mit Ihnen treffen.« »Ist Ihre Frau von Tula nach Moskau umgesiedelt?« Es klang beinahe ärgerlich, als er antwortete: »Meine zweite Frau, Madame. Das heißt, wir sind noch nicht verheiratet. Aber sobald die Scheidung von meiner ersten Frau vollzogen ist, behördlich, werden wir heiraten. Sie kennen die Gorkistraße?« »Wer kennt sie nicht!« »Gut. Die Nummer ist einundvierzig. Über den Hof. Haben Sie Papier?« Sie reichte ihm einen Notizblock und einen Stift. Er notierte den Namen von Swetlana Fjodorowna und deren Telefonnummer. »Ich möchte Sie bitten, mich nicht zu begrüßen, wenn wir uns einmal zufällig irgendwo begegnen sollten. Das sind doch Regeln, die Sie beherrschen?« Sie unterdrückte ein Schmunzeln. Wie in einem schlechten Film, dachte sie. Er glaubt, was er sich vormacht, so fest, daß niemand es ihm mehr ausreden kann. Der große Konspirator gegen des sowjetische System. Warum erinnert er mich an Panoptikumsfiguren? Sie stand auf. Er erhob sich ebenfalls. Plötzlich fiel ihm ein: »Ich habe Ihnen nicht einmal Tee angeboten! So ein ungehobelter Junggeselle!« »Bitte nicht! Ich verlasse Sie in der Gewissheit, daß ich Ihre Persönlichkeit und Ihr Anliegen jetzt noch besser begreife als zuvor. Das soll Sie ermuntern, die ,Zek' möglichst bald fertig zu stellen. Es wird gebraucht.« »In einigen Monaten erhalten Sie die ersten hundert Seiten«, versprach er. »Es wird mich freuen.«
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»Sie haben mir eine Ehre erwiesen . . .«, hörte sie Wetrow sagen. Es klang unbeholfen. »Ich bitte Sie, Mister Wetrow, Sie sind der größte lebende Autor der Sowjetunion, wie könnte ich Ihnen eine Ehre erweisen! Ich bin sehr froh, daß Sie mich empfangen haben!« Sie merkte, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Himmel, er fühlt sich geschmeichelt, er nimmt mir das tatsächlich ab! Wieviel Selbstgefälligkeit gehört dazu, diese faustdicke Ironie zu überhören! »Danke«, sagte sie nochmals. »Dafür, daß Sie mir vertrauen.« Er hob mit einer theatralischen Gebärde die Hand. »Wir streiten für eine gemeinsame Sache, Madame! Es hat mich gefreut, Sie endlich persönlich kennen zu lernen.« Jesus, dachte sie, es fehlt nur noch, daß er die Flagge hisst! Sie beobachtete, daß er wieder misstrauische Blicke in die Gegend warf, während er sie zum Tor brachte. Niemand war zu sehen. Von irgendwoher kam das Geplapper einer Gruppe Kinder. Ein* Hund bellte. Sie hielt Wetrow die Hand hin. Amüsiert sah sie, wie er sich tief verbeugte, aber sie glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können, als er dabei flüsterte: »Ich mache es sehr förmlich. Nicht nötig, daß diese Kerle denken, wir kennen uns intim!« Sie ging davon, ohne sich noch einmal umzublicken. Wenn ich das Sef Kartstein erzählte, würde er es mir nicht glauben. Oder er würde sich auf die Schenkel schlagen vor Vergnügen. Ignat Is-saakowitsch, der Verfolgte! Rächer der zu Unrecht bestraften Sowjetbürger! Rasputin aus Rostow, mit dem Bankkonto in der Schweiz und der neuen Bettgenossin in der Gorkistraße. Hinterhaus. Eine Krämerseele, tief in der Einsamkeit vergraben, die der Lorbeerkranz des Gerechten ist! Sie stieg in den Datsun, den sie ein Stück von Wetrows Domizil entfernt geparkt hatte, und ließ den Motor an. Zu Shagin, dachte sie. Ich muß jetzt mit einem normalen Menschen reden. Aber noch bevor sie die Datscha erreicht hatte, sah sie ihn. Er lief auf dem schmalen Fahrweg. Als er das Motorengeräusch hinter sich hörte, drehte er sich überrascht um. »Oh, schon entlassen?«
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Sie fragte staunend: »Wadim, wo waren Sie? Sie sind angezogen wie zu einem Abend im Bolschoi!« Er lächelte, als er sich neben sie setzte, um die letzten paar hundert Meter im Wagen mitzufahren. »Ich war im Haus der schöpferischen Arbeit!« »Das ist dieses Schriftstellerheim?« »Ja. Da wohnen einige Kollegen. Ich hatte ihnen ein Manuskript von mir zu lesen gegeben.« »Sie haben Schwierigkeiten mit dem neuen Buch?« »Der Anfang sitzt nicht so, wie ich es möchte. Die Exposition. Aber ich komme nicht dahinter, weshalb.« »Und die Kollegen? Haben die Ihnen Ratschläge gegeben?« »Eine Menge«, sagte er. »Da gibt es welche, die haben Literaturwissenschaft studiert, die verstehen viel vom Handwerk, wenn sie auch selbst nie eine Geschichte erzählen könnten. Ja, ich habe einige recht interessante Hinweise bekommen . . . Wie war es bei Wetrow?« Da sie nicht gleich antwortete, erkundigte er sich: »Was hat er Ihnen alles erzählt, unser kleiner Ignat Issaakowitsch Kulagin?« »Wer?« fragte sie erstaunt. »Kulagin. Fahren Sie den Wagen dort unter die Kiefer.« Sie waren an der Datscha angelangt. Shagin stieg aus. »Kommen Sie herein, mögen Sie Tee? Oder Moosbeerenlimonade? Ich habe welche fabriziert.« »Sagen Sie mir lieber, wen Sie mit Kulagin meinen!« Er schob ihr einen Stuhl hin, bat sie aber: »Würden Sie so nett sein und Teewasser aufsetzen?« Dann stieg er die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf und rief über die Schulter zurück: »Bin gleich wieder da, ich will nur diesen feierlichen Anzug loswerden!« Sie füllte den Teekessel und setzte den Propankocher in Gang. Als Shagin die Treppe herunterkam, fragte sie ihn erneut: »Was hat es mit diesem Kulagin auf sich? Heißt Wetrow etwa in Wirklichkeit so?«
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»Nein. Das war ein Scherz. Haben Sie nie etwas von der Kulagina gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie es mir endlich? Oder muß ich jedes Wort aus Ihnen herauspressen?« Er schmunzelte. »Kein Zusammenhang, Catherine. Ein Vergleich. Die Kulagina lebte in Leningrad. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre wurde sie dort als parapsychologisches Phänomen berühmt. Sie haben wirklich nie von ihr gehört?« »Nein!« »Nun gut, also sie führte allerlei geheimnisvoll anmutende Kunststückchen vor. Las verschlossene Briefe, ließ eine Kompassnadel über ihrem Kopf ausschlagen. Auf dieser Ebene lag das, was sie bot. Übrigens schrieben selbst ausländische Zeitungen über sie, man lud sie sogar zu Kongressen ein. Dabei war sie weiter nichts als eine kleine, miese Gauklerin.« Er nahm das siedende Wasser vom Kocher und goß es über die Teeblätter in der Kanne. Langsam erzählte er weiter: »Die Kulagina war in Leningrad bei einem gewissen Kreis von Leuten bekannt. Das waren welche, die wollten an das glauben, was sie vollführte, also glaubten sie es eben. Viel berühmter aber war sie im Ausland. Im westlichen. Sie galt dort jahrelang als das hervorragende geistige Phänomen der Sowjetunion.« »Bildungslücke meinerseits«, konstatierte Catherine. »Und was hat die Dame mit Wetrow zu tun?« Shagin setzte schmunzelnd fort: »Die Kulagina starb neunzehnhundertsechsundsechzig. Ein paar kluge Leute hatten sie vorher schon überführt; sie arbeitete mit einem ins Haar gesteckten Magneten, mit Silberfolie, ich weiß nicht, womit noch. Ich glaube nicht, daß alle die Professoren, die zuvor gelehrte Abhandlungen über sie geschrieben hatten, danach noch gern ihren Namen hörten. Aber vielleicht irre ich mich. Ich habe erfahren, an einer ehrbaren Universität in einem westlichen Land sei sogar ein Lehrstuhl gegründet worden zur wissenschaftlichen Erforschung solcher geistigen Phänomene, wie die Kulagina eines war. Und nachdem ich unlängst
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in einem Archiv Literaturzeitschriften aus Frankreich und England gesehen habe, auch aus Westdeutschland, wäre ich nicht überrascht, wenn man dort eines Tages einen Lehrstuhl für Wetrologie gründete. Warum eigentlich nicht? Lehrstühle für Sowjetologie gibt es ja schon . . .« »Gut, gut«, sagte Catherine. »Ich kenne Ihre Meinung über Wetrow. Der Vergleich mit dieser Schwindlerin ist reizvoll. Nur glaube ich, daß Wetrow mehr ist als ein Gaukler.« »Natürlich, er ist Faschist«, meinte Shagin seelenruhig. »Bei uns liebt man Faschisten nicht. Deshalb hat er seine Chance dort gesucht, wo man diese Leute liebt. Und nun kommen Sie mir nur nicht mit der Geschichte von seinem überragenden Talent, sonst erinnere ich Sie sofort wieder an die Kulagina! Sie wissen doch es muß nicht unbedingt Bier sein, auch Jauche schäumt, wenn man nur eifrig genug darin herumrührt. Den Unterschied merkt man, wenn man davon kostet.« Er goß Tee ein. »Trinken Sie, die grünen Blätter aus Grusinien schäumen nicht!« Sie drohte ihm scherzend, und er wich zurück, Angst vortäuschend. »Sie sind ein Dogmatiker.« »Gut. Dogmatiker Shagin, gestatten?« »Bleiben Sie ernst! Sagen Sie, ist das nur Ihre Meinung, daß er ein Faschist ist? Oder denken viele so?« Er drehte eine Belomorkanal zwischen den Fingern, bis der Tabak locker genug lag, pflückte an ihrem vorderen Ende ein paar hervorstehende Tabakschnipsel ab, quetschte das Pappmundstück zurecht und brannte sie an. Dann erst antwortete er: »Die meisten von uns denken so. Aber es gibt natürlich auch Leute, die das glauben wollen, was er schreibt. Ebenso wie es Leute gab, die an den Hokuspokus der Kulagina glauben wollten.« Er blies Rauch in die Luft und streckte sich auf seinem Stuhl. Catherine sah ihn nachdenklich an. Schließlich sagte sie: »Ich finde diesen Mann komisch. Nicht eigenartig oder seltsam, es ist ein Hauch von Komik um ihn. Er spricht große Worte. Aber man muß ziemlich naiv sein, um von ihnen beeindruckt zu werden.«
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»Mich kotzt er schlicht und einfach an«, entgegnete Shagin. »Doch jetzt lassen Sie uns nicht mehr von diesem Kerl reden; er ist unsere Zeit nicht wert. Wo werden Sie Urlaub machen? Zu Hause? Oder bei uns? Auf der Krim? Im Kaukasus?« Sie schüttelte den Kopf. »Deutschland.« Er nickte. »Die Alpen, ja. Schwarzwald. Kenne ich aus Büchern.« »Mein Verlobter kommt aus Vietnam«, sagte sie. Seine Miene veränderte sich kaum, als er es zur Kenntnis nahm. Er sah sie nur an und erkundigte sich: »Heiraten Sie etwa im Urlaub?« »Aber nein!« »Das ist gut«, meinte er. »Denn sonst hätte ich Schwierigkeiten mit der Gratulation . . .« Es war schon spät, als Catherine in ihrer Wohnung ankam. Irgendwo, in einer der anderen Wohnungen der Etage, wurde gefeiert. Musik war zu hören, Stimmengewirr, Gelächter. Sie streifte die Schuhe ab, warf ihre Tasche auf den Tisch und überlegte, ob es sich noch lohnte, eine Arbeit zu beginnen. Kartstein hatte ihr zusammen mit den neuesten Zeitungsausschnitten über Wetrow die Korrekturfahnen der »Verlorenen Schlacht« geschickt. Sie entschloß sich, nichts mehr zu tun, nahm eine Flasche Kognak und goß davon etwas in ein Glas. Als sie trank, fiel ihr Blick auf den Stoß Zeitungsausschnitte. »WETROW DER MANN, DEN DAS SYSTEM FÜRCHTET!« Unter einem Titelbild, das den Autor zeigte, in grellen Farben, prangte der Satz: »Jedem Menschen schlägt einmal die Stunde der Wahrheit! Das ist Wetrows Botschaft und Warnung!« Sie blickte eine Weile auf das bärtige Gesicht mit der im Farbdruck seltsam rosig erscheinenden Haut, der sich scharf abzeichnenden Narbe auf der Stirn. Dann konnte sie dem Drang zu lachen nicht mehr widerstehen. Sie hob ihr Glas dem Bild entgegen und sagte laut: »Cheerio, großer Gaukler!« Sie leerte das Glas, ohne abzusetzen, schüttelte sich und lachte weiter.
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Glenn Ward hatte zwei Tage Zeit gehabt, sich einen Plan zurechtzulegen, wie er Catherine empfangen wollte. Zunächst hatte er das Hotel aufgesucht, in dem sie Quartier nehmen würde. Das »Kempinski« am Kurfürstendamm war nicht zu verfehlen. Eines der teuren City-Hotels mit Empfangspersonal in Livree und goldbetresster Mütze, einer Halle, in der man den Eindruck bekam, man werde aus ihr verwiesen, wenn man nicht mindestens eine Flasche Veuve Clicquot bestellte. Der Empfangschef, der ebenso gut in die Chefetage eines Automobilkonzerns gepaßt hätte, musterte Ward kurz, als dieser sich nach der Zimmerbestellung von Miß Laborde erkundigte, ehe er bestätigte, daß die Dame erwartet würde. »Dann möchte ich auch hier wohnen«, sagte der Journalist freundlich. »Die Dame kommt meinetwegen. Und ich komme ihretwegen. Von weit her.« Der Empfangschef ließ mit sich reden. Das Hotel war in diesen Hundstagen wenig beansprucht. »Sie kommen aus den Vereinigten Staaten?« erkundigte er sich, während er im Register blätterte, nach einem geeigneten Zimmer suchend. »Aus Saigon«, sagte Ward mit einem Grinsen. »Schon davon gehört?« Der Empfangschef hob ruckartig den Kopf. »Ich bitte Sie! Diese Stadt kennt man mittlerweile in der ganzen Welt, mein Herr! So, aus Saigon . . . Wenn es Ihnen recht ist, könnten Sie ein bequemes Einzelzimmer mit Bad auf der gleichen Etage haben, auf der Miß Laborde wohnen wird.« »Und ob mir das recht ist! Welche Etage?« Der Empfangschef gab ihm den Anmeldezettel, sagte »Elfte« und griff nach dem Schlüssel. Der Amerikaner hatte zwei mittlere Koffer neben sich stehen, über der Schulter trug er an einem verschwitzten Riemen eine Art Bordtasche, nur größer, als man sie gewohnt war, und aus einem Material, das man hierzulande nicht kannte. Er entnahm ihr eine Packung Zigaretten, die er dem Empfangschef hinschob.
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»Ich bin so frei«, sagte dieser belustigt. Um nichts in der Welt hätte er sonst von einem Gast ein so schäbiges Geschenk wie eine Zigarette angenommen. Dieser hier war anders. Amerikaner waren überhaupt eigenartig, sie hatten zuweilen recht unkonventionelle Umgangsformen. »Nie gesehen«, bemerkte er, auf die Packung blickend. Er roch an der Zigarette, mißtrauisch. Ward beruhigte ihn: »Sie können sie rauchen, es ist kein vietnamesisches Fabrikat. Dort hergestellt, ja, aber nach amerikanischem Geschmack!« Er gab den ausgefüllten Zettel zurück, und der Empfangschef warf einen routinierten Blick darauf, bevor er ihn ablegte. »Wie sieht es da unten aus, Mister Ward?« erkundigte er sich beiläufig. Ward nahm den Schlüssel. »Es sieht schlimm aus.« »Tja«, meditierte der Mann, »wo die Kommunisten einmal Fuß gefasst haben, dort ist es schwer, sich gegen sie zu behaupten. Wer weiß das besser als wir, in dieser Stadt. . .« »Eben«, gab Ward zurück. »Sie wissen es. Und wir lernen es gerade. Auf die harte Weise.« Er bückte sich nach seinen Koffern, ein Boy kam ihm zuvor. Im Fahrstuhl erkundigte sich Ward bei dem jungen Burschen, der eine prächtige Mütze mit dem Namen des Hotels trug, ob der wohl übermorgen Dienst hätte. Ward überredete ihn zu einem kleinen Geschäft. Eine Anzahl Dollarnoten wechselten den Besitzer, dann war alles geregelt. Eine Stunde vor Catherines Ankunft zog er das Jackett des Liftboys an und setzte dessen Mütze auf. Der Bursche war kleiner als er, es bestand die Gefahr, daß das Jackett platzte, deshalb hütete sich Ward, allzu tief Luft zu holen. Die Mütze saß einigermaßen. Der Empfangschef merkte von der ganzen Komödie nichts, weil der Liftboy sein Ersatzjackett angelegt hatte und die Mütze eines Kollegen trug, wenn er vom Empfang Gäste zum Fahrstuhl brachte. Als Catherine in die Halle trat, machte Ward dem Boy ein Zeichen. Der hielt sich an die schlanke dunkelhaarige Dame, die sich
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für das Appartement 1146 eintrug. Wie es vereinbart war, schleppte er ihren Koffer mm Fahrstuhl, schob ihn hinein und hielt ihr die Tür auf. Er wartete nicht, bis sie den großen Amerikaner erkannt hatte, der den Lift bediente, sondern schloß blitzschnell hinter ihr die Tür und verschwand um den Treppenaufgang, bevor der Empfangschef aufmerksam wurde. Ward stand mit dem Rücken zu Catherine, die Hand an der Schalttafel. Er druckte auf den Knopf mit der »11«, noch ehe Catherine etwas sagen konnte, dann drehte er sich um und begrüßte sie höflich: »Willkommen in Berlin, Miß!« Sie blickte einige Sekunden sprachlos in sein Gesicht, musterte die Mütze, das zu enge Jackett, dann begriff sie. Im selben Augenblick, in dem sie die Arme ausbreitete, drückte Ward auf den Knopf mit der roten Inschrift »Halt«. Das war zwischen dem vierten und fünften Stockwerk. Der Liftboy, der mit dem Frachtlift bis zum elften Stock gefahren war, mußte etwa eine Viertelstunde warten. Dann erst kam der Fahrstuhl an. Der Amerikaner legte dem Jungen das Jackett über den Arm, obenauf die Mütze, bat ihn, den Koffer nachzubringen, und trug die junge Frau zu ihrem Appartement, als handle es sich um eine behutsam zu transportierende Kristallvase oder etwas Ähnliches. »Whisky«, sagte der Amerikaner zu dem Boy. »Eine Flasche. Und Eis. Den Kühlschrank füllen mit Sandwiches und ein paar Flaschen Sekt. Das alles binnen zehn Minuten. Und einen Tisch im Restaurant, für das Abendessen!« Der Junge war in knapp zehn Minuten zurück. Höflich erkundigte er sich, nachdem er das Gewünschte im Kühlschrank untergebracht hatte: »Sir, der Tisch für den Abend ist gebucht. Nur es ist Lunchtime, vielleicht möchten Sie erst einmal . . .« Ward winkte ab. »Auf Wiedersehen!« Um diese Zeit stieg in Tempelhof Sef Kartstein aus der Maschine. Deadrick empfing ihn. Er ersparte ihm die zeitraubenden Formalitäten der Abfertigung, indem er ihn von einem Beamten der Ber-
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liner CIA-Station abholen und durch den Sonderausgang geleiten ließ. Kartstein schüttelte ihm zerstreut die Hand und brummte etwas, was nicht zu verstehen war. Deadrick deutete es als eine Klage über schlechte Verpflegung während des Fluges. Oder zuwenig Kognak. Jedenfalls schien Kartstein nicht gerade bester Laune zu sein. Er erkundigte sich im Auto, als sie zum Hotel fuhren: »Ist Catherine schon eingetroffen?« Deadrick nickte. »Eben habe ich im Hotel angerufen. Sie ist da.« Er mußte sich auf den Verkehr konzentrieren, um diese Zeit war die Bülowstraße ein Hexenkessel. Sie sollten hier einmal ein paar zusätzliche Fahrbahnen anlegen, dachte Deadrick. Der Wagen, den er fuhr, gehörte der Berliner CIA-Station, es war ein ziemlich massiger Ford, ein Volkswagen wäre besser gewesen! »Ich wohne im selben Hotel?« Kartstein verschwendete keinen Blick auf die üppig dekorierten Schaufenster in der Tauentzienstraße. Er fühlte sich nicht wohl. Anfangs hatte er es dem Flug zugeschrieben, aber selbst jetzt, nachdem er zwei rote Pillen zusätzlich genommen hatte und auch wieder auf der Erde war, schwirrte ihm der Kopf. Schlafen. Wenn man das nur könnte! »Du wohnst sogar auf derselben Etage«, teilte ihm Deadrick mit. »Und du?« »Nikolassee, Randbezirk. Ich bringe dich nachher dorthin. Wir haben einiges zu besprechen.« »Heute noch?« wendete Kartstein mürrisch ein. Aber Deadrick meinte: »Wir müssen ein paar neue Aspekte durchsprechen, Sef. Außerdem läuft mit dem Mädchen nicht alles so, wie ich es wollte.« »Was ist mit ihr?« »Später«, vertröstete ihn Deadrick. Er stellte den Wagen vordem Hotel ab, ohne sich darum zu kümmern, daß er die Fahrbahn zu einem Teil blockierte, und drückte einem herbeieilenden Boy die Zündschlüssel in die Hand. »Fahren Sie ihn in die Garage.« Dann half er Kartstein, die Anmeldeformalitäten zu erledigen, und begleitete ihn zu seinem Appartement.
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Kartstein erkundigte sich: »Solltest du nicht lieber verschwinden? Ich meine, das Mädchen braucht uns nicht unbedingt zusammen zu sehen.« Deadrick schüttelte nur den Kopf. »Keine Gefahr. Sie ist beschäftigt.« Der Professor beachtete den Boy nicht, der sein Gepäck brachte, Deadrick gab ihm ein Trinkgeld. Dann empfahl Deadrick Kartstein, sich erst ein bißchen zu erfrischen, und verließ das Appartement. Am Ende des Korridors fand er den Etagenkellner, einen elegant wirkenden Mann mittleren Alters, der in seinem Dienstraum dabei war, Wäschelisten zu prüfen. Als Deadrick eintrat, erhob er sich. »Was Neues?« erkundigte sich Deadrick. Der Kellner verneinte. »Alles ruhig. Getränke sind bestellt worden, ein paar Sandwiches, Kühlschrankfüllung. Seitdem nichts.« Deadrick nahm eine kleine Plastkapsel aus der Tasche, nicht größer als der Einstellknopf eines Kofferradios. »Am besten in den defekten Fernsehapparat, klar?« Der Kellner nickte. »Ich weiß Bescheid, Sir. Sonst noch etwas?« Deadrick überlegte. Der Mann arbeitete für die Berliner Station. Zuverlässig, war dort versichert worden. »Passen Sie auf«, wandte er sich an den Kellner. »Sie montieren das Ding an, während die beiden zum Abendessen sind. Und Sie achten darauf, was für Besuche sie bekommen. Um den älteren Herrn im Appartement 1107 brauchen Sie sich nicht zu kümmern.« »Klar.« Der Kellner hielt Deadrick die Tür auf. Eine Stunde später, als Deadrick damit beschäftigt war, das Aufzeichnungsgerät in dem abgestellten Ford einer letzten Prüfung zu unterziehen, rief Kartstein beim Empfang an, ließ sich Catherines Zimmernummer sagen und machte sich zu ihr auf. Die Tür war verschlossen. Er klopfte mehrmals, weil der Empfangschef ihm versichert hatte, sie sei in ihrem Appartement. Endlich drehte sich der Schlüssel im Schloß. Kartstein starrte verblüfft den großen hellblonden Mann an, der ihm gegenüberstand, nur mit einem Handtuch bekleidet, das er um die Hüften geschlungen hatte.
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»Verzeihung«, murmelte er. »Ich muß wohl ein falsches Zimmer erwischt haben.« Er sagte es auf amerikanisch, und der Mann riet ihm lächelnd: »Versuchen Sie es mal mit einer Brille, Daddy!« Ward kam zu Catherine zurück, die ausgestreckt auf dem Bett lag, mit geschlossenen Augen, und brummte vergnügt: »Ich hätte ihm deinen Anblick gönnen sollen, er sah so aus, als ob er das brauchen könnte!« Catherine blinzelte. »Was redest du da?« »Der Alte«, sagte er und blieb vor dem Bett stehen. Er beobachtete, wie sie ihm eine Grimasse schnitt und die Bettdecke höher zog. »Warum du mir nur immer diesen Anblick verweigerst! Schon in Moskau hattest du diese unfaire Art!« »Ich liebe Voyeure nicht«, sagte sie träge. »Du kannst mich ansehen, solange du willst, aber nicht aus dieser barbarischen Entfernung. Komm zu mir, und alles, was du siehst, gehört dir!« Er lachte und sprang übermütig auf das Bett. Sie schloß wieder die Augen. »Welcher Idiot wollte da etwas von mir?« »Ein alter Uhu. Sah aus wie Donald Duck . . .« Sie unterbrach ihn mißtrauisch: »Alter Uhu? Klein, ja?« »Ziemlich.« »Bißchen schlampig?« »In der Tat«, bestätigte Ward, während er sie an sich zog. Seine Hände streichelten ihre Brüste. Sie fragte: »Hatte er etwas gelichtetes Haar, Glenn?« Er küßte sie. »Nun laß den Alten weitersuchen, Darling! Ja, er hatte ziemlich lichtes Haar. War Amerikaner, übrigens.« Er fuhr zusammen, als sie sich plötzlich aufrichtete und gar nicht mehr schläfrig wirkte. »Sef!« »Wie bitte?« erkundigte er sich. »Sef Kartstein!« »Ist das einer der Zehntausend, mit denen du mich betrogen hast, während ich in Saigon saß?«
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Ja, es mußte Kartstein gewesen sein, es gab keinen Zweifel. Nun gut, ich werde ihn früh genug zu sehen bekommen, dachte sie und ließ sich wieder fallen. Sie biß Ward ins Ohrläppchen. »Wie oft soll ich dir noch sagen, ich habe dich überhaupt nicht betrogen!« »Ist das auch wahr?« Er kniff die Augen zu, damit sie glauben sollte, es sei ihm todernst mit dieser Sache. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust. »Du Barbar glaubst wohl, ich könnte dich so einfach aus meinem Gedächtnis streichen, wie?« »Auch wenn es sich um Jahre handelt?« »Gerade dann!« »Das ist mir peinlich«, gestand er. Sie merkte, daß er lachte. »Warum lachst du mich aus?« »Ich lache dich nicht aus, Darling. Nur habe ich dir nie so schlechten Geschmack zugetraut, mich mit einem Kerl wie diesem Alten da zu betrügen!« »Unsinn«, sagte sie. »Das ist der Mann, mit dem ich hier eine Unterredung habe. Sicher wollte er mich nur begrüßen.« »Sag ihm, du hättest wehrlos über dich ergehen lassen müssen, daß dich ein Teilnehmer des Vietnamkrieges mehrmals vergewaltigt hat. Das wird ihm begreiflich -machen, warum du nicht selbst zur Tür kamst!« Kartstein war früher angereist als erwartet. Heute will ich mein eigenes Leben haben, dachte sie, ganz für mich. Soll der Teufel Sef Kartstein holen, samt seinem Mister Wetrow! »Lieber«, sagte sie zu Ward, »wenn ich mir in der ganzen Zeit, die seit unserem letzten Beisammensein vergangen ist, jemals gewünscht habe, vergewaltigt zu werden, dann von dir!« »Und von wem noch?« Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie verschmitzt: »Von einem anderen noch. Einem einzigen. Aber dem steht der Sinn nicht danach.« »Und das tut dir leid, du kleine Nymphe?« Wieder zögerte sie, und er merkte, daß es kein reiner Scherz war,"
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was sie sagte. »Ich bin nicht gerade die glücklichste Person, so ohne dich dort in Moskau . . .« »Nun schön. Ich habe auch keine Lust mehr, lange zu warten. Wann heiraten wir?« Es ist wieder einmal ausgesprochen. Catherine schloß die Augen und überlegte. Was tun? Dieser verdammte Job in Moskau beginnt mir mein Leben so durcheinander zu bringen, daß ich Mühe haben werde, es jemals wieder zu sortieren. Unmöglich, Kartstein zu erklären, es sei Schluss, ich reise zurück nach New York. Oder auch nach Saigon, um mit Glenn leben zu können! Warum? Fasziniert mich dieser Job in Moskau so, daß ich ihn gar nicht mehr aufgeben will? Wenn ich ehrlich bin, ist es wohl so. Einerseits widert mich dieser Mister Dichter in wachsendem Maße an, aber andererseits reizt mich das, was ich dort tue. An einem unsichtbaren Hebel sitzen und Fäden ziehen, die unvorstellbare Mechanismen auslösen. Fäden, an denen so ziemlich die ganze Publizistik der westlichen Welt hängt. Der heimliche Steuermann einer unüberschaubaren Flotte sein. Ist es das? Wirklich? Glenn deutete ihr Schweigen als Einverständnis. Es hatte sich seit ihrer letzten Begegnung nichts geändert, obwohl viel Zeit vergangen war. Aber er spürte auch, daß Catherine Überlegungen anstellte, die kompliziert waren. Deshalb sagte er: »Ich habe in den letzten Monaten über vieles nachgedacht, Catherine. Du brauchst mir nicht zu sagen, daß es für dich nicht so einfach ist, den Job in Moskau aufzugeben. Wir wollen nicht weiter darüber reden. Aber ich habe keine Chance, nach Moskau zurückzukommen. Zu dir.« »Gar keine?« »Absolut keine. Ich weiß heute, daß meine Versetzung nach Vietnam nicht von der Redaktion ausging. Man hat den Chef unter Druck gesetzt. Ich bin mir darüber klar, daß dieser Druck von der CIA ausging. Es ist nicht so leicht, sich gegen die CIA zu stellen. Deshalb ist Moskau für mich verloren.« »Du siehst Gespenster«, sagte sie. »Warum sollte die CIA an dir Interesse haben? Hast du jemals etwas mit denen zu tun gehabt?«
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»Das könnte ich dich fragen, Catherine. Überleg dir, was du in Moskau tust.« Als sie betroffen schwieg, drang er nicht weiter in sie. Er spielte mit ihrem Haar, wickelte es um seine Finger, dabei dachte er: Schlimm, daß wir beide über diese Sache nicht offen reden können. Aber ich bringe sie in arge Verlegenheit, wenn ich ihr sage, daß ich mir zusammenreimen kann, für wen sie in Moskau arbeitet. Und sie fühlt sich, obwohl sie nichts lieber möchte, als mit mir zusammenzuleben, wahrscheinlich als Verräterin, wenn sie mir sagt, wie die Dinge liegen! »Wir könnten beide einfach in die Vereinigten Staaten zurückgehen«, schlug er nach einer Weile vor. »Es gehört Mut dazu. Auch ein bißchen Bedacht. Man darf nichts überstürzen. Aber wir könnten es schaffen, wenn wir wollten.« Sie hielt seine Hand fest, sah ihn an. »Glenn, du hast vorhin angedeutet, ich könnte etwas mit der CIA zu tun haben. Du kannst mir glauben, ich kenne niemanden, der von dort ist, und ich weiß nichts von dieser Einrichtung. So gut wie nichts.« »Warum sollte ich dir das nicht glauben?« Er nahm ihre Erleichterung wahr, und er dachte, leider gibt es zu viele Leute, die das gleiche von sich sagen können und die trotzdem der Agentur dienen. Unnütz, sich jetzt darüber auseinanderzusetzen. »Und dann«, sagte sie, »glaube ich, daß ich nicht mehr allzu lange in Moskau bleiben muß. Ich hatte dort ohnehin nur einen Job auf Zeit. Soweit ich es übersehe, nähert er sich seinem Ende. Langsam, aber immerhin. Der Plan, nach den Staaten zurückzugehen, ist deshalb für uns realisierbar.« Er lachte auf. »Wir reden darüber wie über ein Geschäft, Cath! Ist das nicht drollig? Zwei erwachsene Leute erwägen ihren Plan zu heiraten unter Berücksichtigung unbekannter Größen!« »Du solltest dich darüber nicht lustig machen! Oder siehst du einen anderen Weg?« »Keinen.« »Also gut. Nehmen wir uns vor, daß jeder auf seine Art versucht,
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so schnell wie möglich in die Staaten zurückzukommen. Das ist das Beste, was wir nach Lage der Dinge tun können.« »Einverstanden. Ich möchte aus Vietnam fort. Nicht allein, weil es gefährlich ist. Was ist heute schon ungefährlich! Nein. Das alles dort unten widert mich so sehr an, daß es mir schwer fällt, es durchzuhalten. Sobald du mir schreibst, daß du nach den Staaten zurückkehrst, komme ich nach. Wenn ich in Boston meinen Job verliere, fange ich etwas anderes an. Kennst du Wyoming?« »Ein bißchen. Was hat das mit uns zu tun?« »Jemand, den ich sehr gut kenne, hat dort oben, in Cheyenne, einen privaten Radiosender. Reklame, Nachrichten, Lokales, Showprogramme. Ich kann bei ihm jederzeit den Posten des Chefredakteurs haben, er fragt nach nichts.« »Wyoming«, sagte sie nachdenklich. »Ich war nur einmal dort oben im Nordwesten, mit meinem Vater. Er wollte den Yellowstone-Park sehen. Ein schöner Landstrich.« »Wir suchen uns eine Wohnung, kaufen ein Auto, ich arbeite, und damit verdiene ich genug für uns beide. Die Freizeit können wir im Yellowstone verbringen. Oder wir können im Wind River Range wandern. Ich war eine Zeit dort oben, es ist ein Traum, Cath!« »Und was mache ich?« »Du? Wir finden etwas. Hast du nicht einmal gesagt, du würdest gern Bücher übersetzen? Aus dem Russischen?« »Auch ein Traum«, sagte sie leise. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und flüsterte: »Cath, es gibt nichts, das zwei entschlossene Leute, die sich lieben, nicht schaffen können. Laß uns das nicht jetzt gleich entscheiden, laß uns nachdenken. Wir haben Zeit.« »Ja. Wir haben Zeit, Glenn.« Sef Kartstein hatte mit einigen Leuten von der Westberliner Freien Universität telefoniert. Es waren alte Bekannte, die ihm gelegentlich behilflich waren. In den nächsten Tagen würde er sie treffen. Er sah auf die Uhr. Um diese Zeit wollte Deadrick sich wieder melden. Wo
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er nur blieb! Der Alte ging ins Bad, fuhr mit dem Kamm durch sein schütteres Haar und wusch sich die Hände. Er überlegte ein paar Sekunden, ehe er sich entschied, die Flasche mit den roten Pillen einzustecken. Wer konnte wissen, wie lange die Besprechung mit Deadrick dauerte, er schien in den letzten Tagen noch einige neue Direktiven bekommen zu haben, was Wetrow betraf. Catherine! Warum kann ich sie nicht herausholen aus ihrem Appartement und sie wenigstens begrüßen? Dieser Kerl muß ihr mächtig gefehlt haben. Kartstein grinste. Stürmen ins Hotel und machen sozusagen einen Hechtsprung ins Bett! Er schüttelte den Kopf. Nun gut, es ist Zeit genug, laß die jungen Leute sich abkühlen. Nur Deadrick wird das nicht passen! Er wird kochen, weil dieser Bursche hier auf taucht. Das hätte man vermeiden können, wenn man dem Mädchen zu einem vernünftigen Zeitpunkt reinen Wein eingeschenkt hätte. Jetzt ist es zu spät. Das Telefon klingelte. Als er sich meldete, in der Hoffnung, daß es Catherine sein könnte, vernahm er die Stimme des Empfangschefs: »Sir, Ihr Wagen ist vorgefahren!« »Danke«, sagte er. »Ich komme.« Es war nicht der Ford, mit dem ihn Deadrick abgeholt hatte, es war auch nicht Deadrick, der am Lenkrad saß, sondern ein maulfauler Bursche mit New-Yorker Akzent, der ihm mitteilte, er solle ihn nach Nikolassee bringen. Kartstein wies ihn brummig an: »Fahren Sie zuerst den Kurfürstendamm entlang. Ich muß Zigarren kaufen.« Er warf nur einen wenig interessierten Blick auf die prächtige Villa, vor der der Wagen hielt, und stapfte sofort die Steintreppe zum Eingang hinauf, wo Deadrick ihn empfing. »Schöner. Treffplatz«, bemerkte er, an ihm vorbeigehend. »Wohnst du hier?« »Es ist vernünftiger als im Hotel«, gab Deadrick zurück. »Zumal sich da dieser Reporter herumtreibt. Sef, ich muß dir sagen, es gefällt mir überhaupt nicht, daß das Mädchen so eigenmächtig handelt.«
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Er führte den Professor in einen großen Wohnraum, der mit sehr feinen Möbeln ausgestattet war, aber keine Atmosphäre besaß. Kartstein brachte sofort den Hinweis an: »Hättest du meinen Rat befolgt und ihr beizeiten reinen Wein eingeschenkt, wäre das nicht passiert. So kannst du ihr nicht einmal einen Vorwurf machen, mein lieber Schlaukopf!« »Tut mir leid, es war nicht meine Entscheidung, Sef. Trotzdem, die Sache gefällt mir nicht.« »Mir auch nicht. Ich klopfte höflich an und stehe einem nackten Kerl gegenüber; meinst du, ich freue mich da? Wenn es wenigstens Cath selbst gewesen wäre, mit dem Handtuch um den Bauch!« Deadrick merkte, daß Kartstein offenbar gut aufgelegt war, außerdem hatte er eine halbaufgerauchte Havanna zwischen den Zähnen, das war ein Zeichen dafür, daß die Welt für ihn nicht allzu schwarz aussah. Gut, dann wird es um so schneller gehen, dachte Deadrick. Er holte Bier, gutes, genau temperiertes Berliner Kindl, das Kartstein schmatzend trank, wobei er anerkennend äußerte: »Schmeckt besser als Schlitz. Die Kerle hier verstehen was vom Bierbrauen!« Dann, nachdem er das ungleichmäßig abgebrannte Deckblatt der Havanna über ein Streichholz gehalten hatte, lehnte er sich bequem zurück und erkundigte sich: »Was ist es, das ich wissen muß, Sohn? Neue Gesichtspunkte?« Deadrick nickte. »Völlig neu nicht, aber immerhin . . .« Erst einige Tage vor dem Flug nach Berlin waren in der Agentur nochmals Computertests vorgenommen worden. Man hatte ein Planspiel veranstaltet, um sich endgültig über die künftige Linie klar zu werden, die mit dem Mann einzuschlagen war. Das war so spät geschehen, weil erst kurz zuvor die Kopien von den ersten hundert Seiten der »Zek« eingegangen waren. Fachleute hatten die von Catherine gelieferte Arbeitsübersetzung sofort analysiert und Urteile über die vermutliche Beschaffenheit des- Gesamtwerkes abgegeben. Inzwischen hatte ein Stab von einigen entscheidenden Leuten die von Deadrick angefertigte Zusammenfassung der Si-
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tuationsberichte studiert. Herausgekommen war schließlich eine Kurskorrektur, mit der sich die Agentur dem neuen Stand der Entwicklung anzupassen versuchte. »Die Sache ist so«, begann Deadrick, als er Kartstein über die wesentlichen Einzelheiten der neuen Konzeption informierte, »daß die Stimmung im Schriftstellerverband sich eindeutig gegen Wetrow wendet. Leider. Die Gründe mögen interessant sein, aber sie sollten uns jetzt nicht beschäftigen.« »Da bin ich gar nicht deiner Meinung, Junge!« unterbrach ihn Kartstein. »Wir haben irgendwas falsch gemacht. Es muß so sein, sonst wäre das nicht passiert!« Deadrick winkte ab. »Mach dir keine Vorwürfe, Sef. Wetrow ist bei allen für uns positiven Seiten ein ziemlich egozentrischer Mensch, neigt zu Schroffheit, zu Intrigen, die allzu schnell durchschaut werden können, und er hat dem Schriftstellerverband klipp und klar zu verstehen gegeben, daß er auf alle wohlgemeinten Ratschläge seiner Kollegen nicht einzugehen beabsichtigt.« »Aber das haben wir ihm geraten, Junge! Dann war das falsch?« »Nein.« Deadrick lächelte. »Wir konnten ihm doch nicht raten, daß er sich gegen das wehrt, was wir über ihn publizieren. Das hätte ihn hier bei uns unglaubwürdig gemacht. Nein, er mußte schon mit dem Kopf durch die Wand.« »Und jetzt ist er stecken geblieben, in der Wand, wie?« »Ich will es kurz machen«, sagte Deadrick. »Die Internationalisierung des Falles Wetrow, mit der wir bereits begonnen haben, wird zum absoluten Hauptaspekt. Unsere Planspiele haben die Möglichkeit erbracht, daß wir mit dem, was wir den Sowjets da zumuten, sehr weit gehen können. Wetrow muß eine Persönlichkeit werden, die international mit einer unüberhörbaren Stimme ausgestattet ist, um es klar zu sagen. Das ist die eine Seite. Zum zweiten werden wir dieses Buch über die Lager mit dem dreifachen Aufwand publizieren, den wir für seine anderen Bücher getrieben haben. Es soll ein Brocken werden, den wir den Sowjets vor die Nase setzen: So, nun seid ihr am Zuge!«
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Und dann?« Kartstein beschäftigte sich wieder mit dem Deckblatt der Zigarre. Dann«, sagte Deadrick, »haben sie den Schwarzen Peter, Sef. Sie können das schlucken, und es bleibt an ihnen hängen. Oder sie kassieren den Mann. Aber bis dahin ist er weltbekannt, und es würde egal, was sie gegen ihn unternehmen, einen Wirbel auslösen, den sie vermutlich nicht brauchen können. Stell dir vor, ein Nobelpreisträger wird verfolgt!« Klassischer Fall von Zwickmühle«, konstatierte Kartstein. Was Deadrick sagte, klang plausibel. Bis auf eine Kleinigkeit. »Allerdings gibt es eine Möglichkeit für die Moskauer, mit der man auch rechnen muss Sohn«, wandte er ein, »sie könnten ihn einfach abschieben. Sang-und klanglos.« Deadrick nickte. »Damit wurde bei uns auch gerechnet, Sef. Deshalb muß dem Mann immer wieder eingeschärft werden, daß wir zwar die Legende von seiner Bedrohung im eigenen Land überall verbreiten, daß er aber in Wirklichkeit überhaupt nicht in Gefahr ist. Und er soll gefälligst nicht einmal hinhören, wenn ihm der Vorschlag gemacht wird, das Land zu verlassen! Auf keinen Fall. Er muß Statements abgeben, in denen er immer wieder seine Verbundenheit zur heiligen russischen Erde, oder wie immer er das nennen will, beschwört. Das macht sich gut. Heimatverbundenheit eines großen Dichters. Es ist barbarisch, ihm diese Heimat zu nehmen, verstehst du? Sich weigern, den Gedanken überhaupt zu erwägen. Ich bin hier, ich lebe und dichte hier, und ich bin das Gewissen des Landes, wer mich antastet, tötet das Gewissen Rußlands, was weiß ich, dir wird da schon die richtige Formulierung einfallen. Verstehst du die Technik?« Natürlich verstand Kartstein. Die Leute in der Agentur hatten nüchtern Bilanz gezogen und ohne Illusionen ein taktisches Konzept entworfen, das haargenau auf die Entwicklung passte, die sich in der internationalen Politik anbahnte: Die Vereinigten Staaten hatten das Abenteuer Vietnam zu verdauen, sie mußten auf das eingehen, was die Sowjets ihnen seit Jahren vorschlugen, Koexi-
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stenz, Entspannung, Annäherung auf friedlicher Basis. Das würde sich auf lange Sicht als Nachteil für die Abwehr kommunistischer Ideen in den westlichen Ländern auswirken, und es würden psychologische Schranken nötig sein, um eine Überflutung zu verhindern. Wetrow war eine solche. Sehr klug gedacht, mußte er anerkennen. Trotzdem war er nicht zufrieden. Ein Traum war endgültig zu begraben: Es war nicht gelungen, mit Hilfe dieses Mannes das Gefüge des sozialistischen Kunstbetriebes durcheinander zu bringen. Keine Spaltung. Ein paar Diskussionen vielleicht hier und dort, aber nichts von Belang. Damit wurde man in Moskau fertig. »Wir stehen erst am Beginn einer langen Erkenntniskette«, bekannte Deadrick. »Wir brauchen in diesem Geschäft eben mehr Erfahrungen, um sicher operieren zu können, Sef.« »Sticht es seinen Kollegen in die Augen, daß er Valuta verdient?« Deadrick bewegte leicht die Schultern, dann erhob er sich, ging zum Fenster, und dort erst schien ihm einzufallen, daß die Metalljalousien herabgelassen waren. Er drehte sich um und sagte: »Möglich. Aber vielleicht nicht ausschlaggebend.« »Oder stinkt es den Leuten im Schriftstellerverband, daß er im westlichen Ausland Popularität genießt, sie hingegen nicht?« »Wer weiß«, gab Deadrick unbestimmt zurück. »Man könnte da viele Vermutungen aufstellen. Finanzielle Gründe und Eifersüchteleien wegen der Publicity scheinen mir jedenfalls nicht auszureichen, um zu erklären, daß die Wirkung des Mannes im eigenen Land so gut wie unbedeutend ist.« Er sah, daß Kartsteins Bierglas leer war, und goß nach. Der Professor trank und schwieg. Die »Zek«. Das würde wohl das letzte Werk sein, das man im Rahmen dieser Aktion in die Hände bekam. »Ich werde Catherine in diesem Sinne instruieren«, sagte er schließlich. »Sei vorsichtig«, warnte Deadrick. »Da ist dieser Kerl . . .« Kartstein nickte nur und brummte: »Laß ihr das bißchen Liebesleben, Sohn. Sie kommt aus der Kälte.« »Sie muß so verfahren, daß sie jedes Statement, das Wetrow
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angibt, vorher durchsieht. Er soll in Zukunft so viele Journalisten wie möglich empfangen. Die Schwerpunktinterviews organisieren wir gesondert.« Wie stellen wir uns zu dem Vorschlag, daß diese neue Geliebte als Kontaktperson fungiert?« »Wir haben keine andere Wahl. Und die Frau ist kaum exponiert. Es wird kein Aufsehen erregen, wenn sie sich nicht gerade hoffnungslos ungeschickt anstellt.« Kartstein lenkte das Gespräch wieder auf Catherine. Er wollte von Deadrick wissen, ob der nicht die Zeit für gekommen hielt, dem Mädchen doch noch die Wahrheit über ihre Arbeit zu sagen. Deadrick schüttelte den Kopf, es gäbe dafür keine Anweisung. Ihm lag nichts daran, weiter über Catherine Laborde zu sprechen, denn vor einigen Stunden hatte er ein Telefongespräch mit Langley gehabt und die Lage geschildert. Er hatte zwar noch keine Antwort, aber Deadrick zweifelte nicht, daß die Zentrale inzwischen erkannt hatte, welche Entscheidung hier getroffen werden mußte. Wir hätten die Panne mit diesem Reporter vermeiden können«, sagte er lächelnd zu Kartstein. »Da haben wir versagt, Sef. Wir hätten auf die Dame, als sie in Moskau anfing, einen zuverlässigen Mann ansetzen müssen, der ihre Bedürfnisse befriedigte. Schade, aber jetzt ist es zu spät.« Kartstein warf wütend den Rest der Zigarre in den Aschenbecher Und knurrte: »Du Idiot glaubst wirklich, die Weiber sind so, wie die Pornographen sie beschreiben? Hast du noch immer nicht begriffen, daß Liebe etwas mehr ist, als nur im Bett Dampf abzulassen?« Ja, ja«, beschwichtigte Deadrick ihn sofort. »Ich begreife alles. Nur ist bedauerlich, daß uns gerade dieses Mädchen solche Schwierigkeiten macht.« Die Alternative wäre ein Roboter«, murrte Kartstein. Aber er hatte keine Lust, länger darüber zu streiten. Er war müde geworden. Der Etagenkellner hatte gewartet, bis die Gäste aus dem Appartement 1146 gegangen waren. Er vergewisserte sich durch einen
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Telefonanruf beim Serviermeister, daß Miß Laborde und Mister Ward ihren Platz im Lokal eingenommen hatten, dann begab er sich in das Appartement, wo er mit geübten Griffen die Rückwand des Fernsehgerätes löste und das Abhörmikrofon hinter dem Metallgitter der Lautsprecherabdeckung anbrachte. Er sah sich nur kurz in dem Appartement um, stellte fest, daß das Bett zerwühlt war, einige Gläser herumstanden, woraufhin er in den Dienstraum zurückging und die Anweisung hinterließ, das Appartement vor Rückkehr der Gäste aufzuräumen. Dann zog er sich um und verließ das Haus. Catherine nahm mit Glenn Ward ein Abendessen ein, das sie mit einigen Gläsern eines leichten Weines beschlossen. Danach bummelten sie eine Stunde über den Kurfürstendamm. Es war spät am Abend, als sie sich entschieden, wieder in Catherines Appartement zu gehen. Morgen und übermorgen würde sie wenig Zeit für Ward haben, aber danach konnten sie gemeinsam dieses Berlin nach allen Richtungen hin durchwandern. Catherine beabsichtigte, erst frühestens in zwei Wochen nach Moskau zurückzukehren, und Ward hatte ebenfalls keine Eile. Am Empfang erfuhr Catherine, daß Professor Kartstein nicht im Haus sei; sie übermittelte ihm einen Gruß mit der Bitte, am Morgen mit ihr zu frühstücken. Dann lief sie zum Fahrstuhl, wo Ward bereits die Tür offen hielt und sie gutgelaunt fragte: »Madame, in welches Stockwerk darf ich Sie bringen?« Sie küssten sich in der kleinen, matt beleuchteten Kabine, bis die im elften Stock mit einem Ruck anhielt. Deadrick brachte Sef Kartstein etwa eine Stunde später ins Hotel zurück. Er vergewisserte sich, daß sich Miß Laborde und Mister Ward für die Nacht zurückgezogen hatten, dann trank er in der Bar einen Whisky, und dabei erinnerte er sich an das Tonband, das in dem Ford in der Hotelgarage lief. Es würde sich längst eingeschaltet haben, und man mußte zusehen, daß man rechtzeitig die Spulen wechselte. Er verschwand für kurze Zeit, erledigte das, und danach machte er sich mit einer sehr großen, außerordentlich schlanken
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Dame bekannt, die allein in der Bar saß und einen Cocktail nippte. Er fand heraus, daß es sich um die Inhaberin eines Antiquitätengeschäftes in Hamburg handelte, die zum Einkauf in Berlin weilte. Kurz vor Mitternacht fuhr er nochmals in die Garage hinunter, stellte fest, daß das Gerät, das sich über einen akustischen Sensor einschaltete, immer noch lief, und wechselte erneut die Spule. Wieder an der Bar, führte er ein ziemlich intimes Gespräch mit der inzwischen stark angetrunkenen Antiquitätenhändlerin, die ihm vertrauensvoll mitteilte, daß sie erst vor einem Jahr eine Krebsoperation gehabt hatte und ihr seitdem die linke Brust fehlte. Als sie schließlich auf dem Hocker einzuschlafen drohte, veranlasste Deadrick, daß der Barkellner sie in ihr Zimmer brachte. Erleichtert zahlte er und ging erneut in die Garage. Das Bandgerät stand still. Also waren die beiden eingeschlafen. Deadrick fuhr nach Nikolassee. Den Rest der Nacht verbrachte er damit, die Bänder abzuhören. Er war in der Villa allein, nur in Nebengebäude gab es einen zivilgekleideten Posten, der sich nicht blicken ließ. So braute sich Deadrick einen starken Kaffee, legte Zigaretten bereit und schaltete das Gerät an. Lange Passagen waren mit Geräuschen gefüllt, die Deadrick schmunzelnd registrierte, zuweilen sogar mit anerkennend hochgezogenen Augenbrauen. Dann kamen Phasen, in denen die beiden miteinander sprachen. Und Deadrick hörte mit wachsendem Interesse zu. Vietnam«, sagte Ward, »ist die widerlichste Erfahrung meines Lebens, Cath. Tote und Verstümmelte. Verbrannte Siedlungen. Vergiftete Reisfelder. Bomben auf Städte im Norden. Alles für die Freiheit. Und die Vietnamesen pfeifen auf das, was wir ihnen als Freiheit anpreisen. Den Nutzen von alledem haben ein paar Dutzend großer Industrievereinigungen, meist an der Westküste der Staaten. Rüstung. Sie machen das Geschäft. Zu bezahlen haben es die Vietnamesen. Wenn man von den GIs absieht, die dabei draufgehen . . .« Ich habe grausame Bilder aus Vietnam gesehen«, sagte Catherine, in Moskauer Zeitungen. Wieviel davon ist Propaganda, Glenn?«
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»Es ist ein grausamer Krieg«, antwortete er. »Es gibt überhaupt keinen Krieg, der nicht Grausamkeit erzeugt. Gewalttätigkeit. Nur fällt es den meisten Amerikanern nicht mehr auf, daß sie gewalttätig sind. Überleg, woher wir kommen. Wir sind an die Zerschmetterung des Schwächeren gewöhnt, gleich ob er im Recht ist oder nicht. Wir sind an Brutalität gewöhnt ebenso wie an Drogen, an korrupte Politiker und prügelnde Polizisten, an Lügen, öffentlich verbreitete, an Elend, an Städte, die einfach zum Teufel gehen, deren Häuser langsam in sich zusammenfallen. Es ist für uns normal, daß das Leben grausam ist. Was bedeuten da schon ein paar von Napalm verbrannte asiatische Kinder? Nichts. Die meisten Amerikaner nehmen das, was in Vietnam geschieht, für normal. Nur wenige erkennen, in welchem Maße unser Land entarten konnte, in einer Rekordzeit, daß es von einem Hort der Freiheit, als den es die Kinder in der Schule präsentiert bekommen, zu einer Pest geworden ist, die sich überall dort, wo sie frei schalten kann, ausbreitet. Abscheulich. Es ist traurig, das sagen zu müssen von seinem Vaterland, aber es hilft alles nichts, es ist so . . .« Nach einer Weile hörte Deadrick Catherines Stimme: »Das mit dem Vaterland ist für mich viel schwieriger als für dich, Glenn. Ich bin ziemlich unschlüssig. Manchmal fühle ich mich als Französin und möchte die nächste Maschine nach Paris nehmen. Dann wieder glaube ich, daß ich doch eine echte Amerikanerin bin. Und zuweilen, wenn ich mich dort umsehe, wo ich jetzt bin, überlege ich mir, ob ich nicht eigentlich da zu Hause sein möchte. Moskau. Kann man das erklären? Ich weiß es nicht. Die Russen machen keine besonders schönen Autos, und wenn man ein modisches Kleid kaufen will, braucht man Spürsinn. So vieles funktioniert bei ihnen nicht. Aber ich glaube, sie haben sich das Gefühl für die echten Werte des Lebens bewahrt. Wenn ich Russen, die ich kenne, mit Amerikanern vergleiche, die ich mindestens ebenso gut kenne, dann habe ich oft den Verdacht, die Russen haben mehr Respekt vor den Menschen. Ein großes Wort. Aber ich glaube doch, daß es so ist. Sie sind selbstbewusster, ja, mir scheint manchmal, überlegener. Ich beneide
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Nie immer häufiger um dieses nachsichtig lächelnd gezeigte Wissen um die Überlegenheit. Sie möchten nicht mit uns tauschen. Warum? Wenn du sie fragst, lagen sie dir, sie finden die von ihnen geschaffene Basis für das gesellschaftliche Zusammenleben gerechter als die unsere. Menschlicher. Wir sind gewohnt, das als Propaganda einzustufen. Ich zweifle immer stärker daran, daß wir damit recht haben. Ich denke, man hat uns antrainiert, über den Trivialitäten des Wohllebens die Basis der Dinge zu übersehen. Ach reden wir von etwas anderem! Wie war New York?« Ward lachte. »Schön anzusehen, besonders am hellen Tag, wenn man vom Flughafen über den Van-Wyck-Highway fährt, durch Long Island, über den Queens Boulevard, dann über die Queens-boroBrücke nach Manhattan. Eine grandiose Kulisse. Ich hatte ein Taxi genommen. Als wir auf der Fünften Avenue am Central-Park entlangfuhren, habe ich das schöne Bild bewundert, die Hügel und Seen. Der Fahrer muß das gemerkt haben. An der Fünfundachtzigsten Straße flitzten gerade drei Polizeiwagen mit heulenden Sirenen durch das Tor. Da sagte der Fahrer: ,Wer heutzutage nach Einbruch der Dunkelheit in den Central-Park geht, Mister, der kommt sich vor wie eine Zielscheibe in einer Schießbude auf Coney Island!' « »Warst du lange in New York?« »Nur ein paar Tage. Ich habe Freunde besucht. Man hat sogar eine Party für mich veranstaltet.« »Hast du ihnen von Vietnam erzählt?« »Wo denkst du hin! Ich wollte nicht hinausgeworfen werden, bevor die Steaks gegrillt waren. Nein, ich habe mir einfach angehört, was die Leute so für Sorgen haben: Jeans auf die Foto-Safari durch Tunesien anziehen oder lieber weiße Leinenkleidung? Wo Urlaub machen auf den Bahamas oder in Trinidad? Den neuen StereoRecorder kaufen oder lieber zuerst den Tiefkühlschrank? Was kann man dagegen tun, wenn sich immer mehr Juden und Neger im Tennisclub breitmachen? Rezepte für Obstsäfte aus selbstgezüch-
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tetem Obst, garantiert ohne künstliche Düngemittel! Daß der nächste Supermarket immer mehr darunter leidet, daß junge Puertoricaner dort mausen. Algenvertilgungsmittel für den Swimmingpool. Ob wir beim nächsten Barbecue mal versuchen, Fisch in der neuen Folie zu braten, die durchsichtig ist wie Plast, aber doch nicht brennbar, ein Produkt der Weltraumforschung . . .« »Du mußt dich unwahrscheinlich gemopst haben!« »Ich habe es nur durchgehalten, weil ich wußte, ich werde dich hier treffen!« Er war ganz offensichtlich nicht lange genug in den Staaten, dachte Deadrick. Sonst hätte ihm auffallen müssen, daß wir mit Leuten, die gegen den Vietnamkrieg zu Felde ziehen, weiß Gott alle Hände voll zu tun haben. Er hat nur die Oberfläche gesehen. Und in Saigon bekommt er unsere Zeitungen, die machen die Antikriegskampagnen ziemlich dezent auf. Das Band lief ab. Unterhaltung, in die Deadrick ab und zu hineinhörte, die ihn aber in Einzelheiten nicht mehr so stark interessierte. Erst als plötzlich die Agentur erwähnt wurde, fuhr er aus seinem Grübeln hoch und horchte angespannt zu. Die beiden sprachen über ihre gemeinsame Zukunft, und Catherine versicherte Ward wieder: »Ich habe nie in meinem Leben etwas mit dieser Agentur zu tun gehabt, Glenn. Nein, ich glaube, du siehst Gespenster.« »Aber ich weiß genau, die Agentur hat veranlasst, daß man mich aus Moskau abzog und nach Vietnam schickte.« »Dann könnte es doch ebenso gut mit dir selbst zusammenhängen«, meinte sie. »Wie kommst du auf den Einfall, ich sei der Grund?« »Weil ich nichts zu verbergen hatte oder geheimzuhalten dir gegenüber. Bleibst nur du übrig.« Deadrick zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Er ließ das Band zurücklaufen und prägte sich jeden Satz genau ein. Der Kerl hatte eine hochgefährliche Spürnase! Das hieß, daß man sich noch einmal mit ihm befassen mußte. Deadrick überlegte, während das Band
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weiterlief. Ich werde das fortführen, nahm er sich vor. Morgen früh stelle ich den Wagen wieder in der Garage ab. Werde einen Mann von der Berliner Station damit beauftragen, daß er alle zwei Stunden die Bänder wechselt. Nüchtern betrachtet, mußte wegen dieses Reporters etwas unternommen werden, und zwar bald, damit würde die Sache mit dem Mädchen an Problematik verlieren. Wenn dieser Kerl weiter seinen Einfluß ausüben konnte, mußte das bei ihr zu Konsequenzen führen. Hol's der Teufel, ich lasse mir nicht unser schönes Moskauer Spiel kaputtmachen von einem lausigen Zeitungsschreiber mit einer Windhundnase! Er stieg die Treppe hinauf zu seinem Schlafzimmer, duschte und legte sich in das frischbezogene Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Noch während er überlegte, ob er die Sache mit Ward bereits hier in Berlin erledigen sollte, schlief er ein. Glenn Ward erwachte in dem bequemen Doppelbett in Catherines Appartement. Er tastete nach ihr, aber sie war fort. Als er ins Bad kam, entdeckte er auf dem Spiegel die mit Lippenstift geschriebene Nachricht: »Lieber, ich frühstücke mit einem alten Herrn. Sei nicht besorgt um meine Tugend! Ich werde den Tag über mit ihm zu tun haben, wir sehen uns abends. Kuss, Cath PS: Meine Knie zittern ein bißchen, woran das nur liegen mag?« Er rasierte sich, nachdem er die Schrift abgewischt hatte. Dann entsann er sich, daß er Leary anrufen wollte. Leary war Redakteur einer Nachrichtenagentur, sie hatten sich in Saigon getroffen. Er lebte schon viele Jahre hier, war wohl mit einer Deutschen verheiratet. Einer jener Leute, mit denen man reden konnte. Leary begrüßte ihn freudig. Zwei Minuten später schlug er Ward vor, ihn im Hotel abzuholen. Er war ein kleiner, behender Mann, der mit ausgebreiteten Armen durch die Halle lief, auf Ward zu. Ein paar Leute beobachteten schmunzelnd, wie die beiden sich umarmten. Dann fiel Ward ein, nach Catherine zu sehen; er entdeckte sie im Restaurant, mit dem alten Zigarrenraucher an einem Tisch. Thürk, Gaukler II
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Der Zahlkellner stand daneben. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte Ward Leary: »Bist du mit dem Wagen da?« »Natürlich, wir machen einen Ausflug! Ich habe eine Überraschung für dich!« Leary lachte. Er trug einen gestutzten Schnurrbart, wirkte wie ein Südländer, obwohl er stolz darauf war, irische Vorfahren zu haben. »Komm«, bat ihn Ward. Er sah, daß Catherine sich erhob und der Alte, mit dem sie gefrühstückt hatte, ebenfalls aufstand. Mit Leary verließ er das Hotel und setzte sich neben ihn in dessen Auto. »Was nun?« erkundigte sich Leary. Es war ihm nicht entgangen, daß Ward jene schlanke, gutaussehende schwarze Dame beobachtete, die an einem der hinteren Tische gesessen hatte. »Warten«, gab Ward zurück. »Ich möchte gern wissen, wohin sie fährt.« Leary grinste. »Klassische Verfolgung, wie? Nun gut, du hättest keinen besseren Fahrer dafür finden können. Kennst du sie schon, oder nimmst du nur Maß?« Ehe Ward antworten konnte, schob sich ein dunkler, eleganter Wagen an ihnen vorbei und hielt an. Der Fahrer trug eine Schirmmütze, wie sie Chauffeure in Berlin oft tragen, aber Ward glaubte ihm trotzdem anmerken zu können, daß er Amerikaner war. Catherine und der alte Mann kamen aus dem Hotel, der Alte mit einer riesigen Zigarre zwischen den Zähnen. Sie stiegen in das vorgefahrene Auto, und Ward gab Leary das Zeichen: »Los, hinterher!« »Für den ist sie zu schade«, sagte Leary. »Da stehe ich absolut auf deiner Seite, Mister Detektiv!« Er folgte routiniert dem Wagen, in dem Catherine und Kartstein saßen, und nach einer Weile stellte er fest: »Es geht Richtung Wannsee, Junge! Offenbar ein Sommerausflug. Alter Herr segelt mit junger Dame . . .« Sie fuhren nicht über die Avus, sondern durch den südöstlichen Zipfel des Grunewaldes, vorbei an idyllischen Waldstücken, versteckt liegenden Restaurants, bis sie in Zehlendorf wieder auf
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belebtere Straßen gelangten. »Wannsee«, sagte Leary. »Wetten wir?« Ward nickte nur. Vielleicht hatte diese Elektronikfirma am Wannsee ein Büro. Als er Leary danach fragte, schüttelte der nach kurzem Überlegen den Kopf. »Nein, die Firma kenne ich, die haben ein Büro in der City. Vielleicht ein Gästehaus, das wäre möglich . . .« Er wandte sich Ward zu. »Übrigens, ich habe dort draußen auch ein Häuschen. Das heißt, es gehört meiner Frau, sie besaß es schon vor unserer Ehe. Wunderschöner Bungalow im Düppeler Forst. Wenn du Hotelkosten sparen willst du kannst jederzeit dort wohnen! Herrliche Gegend. Ein Katzensprung bis ans Wasser . . .« »Vielleicht«, meinte Ward. »Könnte ich auch eine Dame mitbringen?« Leary bewegte die Schultern. »Warum nicht? Ich bin allein, meine Frau ist für ein paar Wochen in Italien. Sie malt. Hobby. Und sie wollte unbedingt nach Palermo.« »Ich komme darauf zurück, Dan«, versprach Ward. Dann sah er, wie der große dunkle Wagen vor ihnen langsam an die rechte Straßenseite heranfuhr. Leary bremste ebenfalls ab und hielt an. Er beobachtete überrascht, wie Catherine und Kartstein ausstiegen und in einem Villengrundstück verschwanden. »Soll ich dir einen Rat geben?« sagte er schließlich, und da Ward ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Das ist ein Haus der CIA. Laß lieber die Finger von der Dame.« Glenn Ward war nicht überrascht. Im Grunde hatte er damit gerechnet. Nur war nicht zu begreifen, daß Catherine nicht einsehen wollte, mit wem sie es zu tun hatte. Etwas abwesend sagte er zu Leary: »Okay. Fahr zurück.« Leary wendete den Wagen. Nach einer Weile erkundigte er sich: Für den Fall, daß du in unseren Bungalow in Düppel ziehst ist das die Dame, die du mitbringen wolltest?« »Ja.«
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»Okay«, sagte Leary, »ich werde zuvor alles kompromittierende Material verschwinden lassen. Das Kommunistische Manifest, die Prawda und alles das. Trinken wir jetzt einen? Oder möchtest du noch jemanden verfolgen?« »Trinken wir einen, Dan«, sagte Ward. »Ich kann einen gebrauchen. Woher weißt du eigentlich, wem das Haus gehört?« Leary wiegte lächelnd den Kopf. »Junge, dies ist eine kleine, halbe Stadt. Winzig. Hier kennt man die Häuser, in denen die Agentur ihre Treffs abhält. Selbst in Ostberlin kennt man sie.« Am Abend, als Catherine ins Hotel zurückkam, erwartete Ward sie in der Halle. Er führte sie ins Restaurant, sie bestellten etwas zu essen, und Catherine erkundigte sich, wie Ward den Tag verbracht hatte. Er erzählte ihr von seinem Ausflug mit Leary und davon, daß dieser ihnen angeboten hatte, in seinem Bungalow zu wohnen. Catherine war sofort von der Idee begeistert. Sie ließ sich vom Kellner einen Stadtplan holen und suchte den Düppeler Forst. Als sie eine Weile lang die Karte studiert hatte, hob sie den Kopf und sagte: »Das machen wir, Glenn!« In dieser Nacht fragte Ward Catherine, ob sie wisse, in was für einem Haus sie den Tag über gewesen war. Sie blickte ihn verwundert an. »Es ist eine Villa. Ich glaube, der Stadtteil heißt Nikolassee. Ein Haus, das der Firma gehört. Gästehaus. Guter Platz, um sich in Ruhe zu unterhalten. Warum fragst du?« »Weil ich dem Wagen gefolgt bin, in dem du gefahren bist«, antwortete er. »Warum, Glenn?« »Anfangs aus Neugier. Vielleicht ein bißchen aus Eifersucht.« »Und dann?« Er sprach nicht von Leary, er sagte nur: »Der Mann, in dessen Auto ich fuhr, wußte, wem das Haus gehört. Er kennt sich in dieser Stadt aus.« James Deadrick, der sich wie am Vorabend die bespielten Bänder
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geholt hatte und sie gegen Mitternacht abzuhören begann, starrte ungläubig auf das Bandgerät. Glenn Ward sagte zu Catherine: »Es ist ein Quartier der CIA, Cath.« »Das ist nicht wahr!« »Doch. Glaub nicht, ich mache dir etwas vor. Ich habe kein Interesse daran, dich zu schockieren, ich will lediglich, daß du weißt, mit wem du es zu tun hast.« Eine Weile war es still. Dann sagte Catherine: »Es ist nicht möglich, nein. Da muß ein Irrtum vorliegen. Ich habe nichts mit diesen Leuten zu tun. Vielleicht hat meine Firma das Haus erworben, möglicherweise war es früher Eigentum der Agentur. Nein, das ist alles ein grandioser Irrtum.« Sie sagte das, um sich selbst zu beruhigen, obwohl sie insgeheim fürchtete, daß Wards Behauptung stimmte. Aber sie konnte sich nicht eingestehen, irgend etwas mit der Agentur zu tun zu haben. Sollte Kartstein engagiert sein? Es war nicht auszuschließen. Aber Kartstein hatte erklärt, der Job in Moskau werde von der Föderation der Nationalen Zeitungsverleger finanziert. Und diese Förderation? Catherine erinnerte sich, daß nicht nur die Zeitungen in den sozialistischen Ländern, sondern auch einige amerikanische Publikationen in letzter Zeit immer wieder Berichte darüber brachten, wie umfangreich das Netz der Agentur sei und welcher Unmenge legaler und halblegaler Mittel sie sich bei ihrer Arbeit bediente. Konnte sie Kartstein einfach danach fragen? Nein, sie entschied sich, das nicht zu tun. Aber der Verdacht, den Ward in ihr geweckt hatte, wuchs weiter und hörte nicht auf, sie zu beunruhigen. Was konnte man tun? Sie beschloß, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken. Glenn war hier, und morgen gab es ein letztes Gespräch mit Kartstein, worauf dieser abreisen würde. Anschließend hatte sie zwei Wochen Zeit, mit Glenn Pläne zu schmieden, auch um über das zu sprechen, was Glenn da herausgefunden zu haben glaubte. »Ein missverständlicher Zusammenhang, sicherlich«, sagte sie
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deshalb. »Bist du böse, wenn ich keine Lust habe, jetzt darüber zu reden, Lieber?« »Ich rede selbst nicht gern darüber«, antwortete Ward. Dann blieb es einige Zeit still, und später gab das Band Geräusche wieder, die James Deadrick diesmal nicht den Schimmer eines Schmunzelns entlocken konnten. Höchste Zeit, sagte er sich. Er war zutiefst erschrocken. Was er nicht im entferntesten für möglich gehalten hatte, war eingetreten, ein Außenstehender begann an dem Schleier zu zerren, der über dem geschickt eingefädelten Spiel lag. Was tun? Ich kann nicht mit Kartstein darüber reden, der Alte bekommt es fertig und macht eine ungeschickte Bemerkung zu diesem Mädchen, dann wäre alles noch mehr verfahren. Ich werde ihm morgen nur noch die letzten Anweisungen geben, die das Verhalten Wetrows betreffen, wenn es um die Entgegennahme des Nobelpreises geht. Sonst ist ohnehin alles erledigt. Ein Glück, daß dieses Mädchen so anstellig ist, sie leistet in der Tat eine hervorragende Arbeit. Man könnte Feuer speien, wenn man daran denkt, daß dieser Kerl sie derart verunsichert! Mit Bestürzung begriff er, daß er es nicht einmal wagen konnte, seine Entdeckung der Zentrale mitzuteilen. Wenn ich schon nicht verhindern konnte, daß der Kerl ausgerechnet während unseres Treffs zu dieser Dame stößt, dann hätte ich zumindest verhindern müssen, daß er seine Nase auf unserer Fährte entlang schiebt, bis hierher zu dieser Villa. Das kann mich meinen Job kosten. Ausschalten ist das einzige, was in diesem Falle getan werden kann, um weitere Pannen zu verhüten. Deadrick erinnerte sich, daß Ellis Emerson in Saigon saß. Old Ellis, wie sie ihn auf der Hochschule genannt hatten. Nicht als Chef der Station, aber immerhin im operativen Stab der Agentur, mit ziemlich weit reichenden Vollmachten. Emerson, das ist die Lösung! Old Ellis tut mir diesen Gefallen, ohne darüber zu reden. Auf einem Kriegsschauplatz gibt es hunderttausend Möglichkeiten, einen Mann auszuschalten, es dürfte nicht allzu schwer sein. Er hörte die
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restlichen Bänder ab, doch er stieß auf nichts mehr, was von Belang war. Er setzte sich an den Tisch und nahm eine Akte zur Hand. Bortinger. Morgen abend würde Kartstein sich auf die Reise zu ihm begeben. Die Frankfurter Station hatte zusammengestellt, was es in letzter Zeit Neues über diesen Mann gab. In altbewährt guter Manier von Randers eruiert, ein Dossier, das schnell zu überblicken war: linker Katholik, repräsentative Figur, politisch engagiert, wenn es um elementare moralische Fragen ging, Anhänger der Menschenrechtsbewegung, international geachteter Schriftsteller. Die offiziellen Einrichtungen der Bundesrepublik schoben ihn ziemlich stark in den Vordergrund; er ließ sich gut vorzeigen, kein Konformist, eher ein unbequemer Mahner, einer von denen, die gern als unabhängig galten, als »Gewissen der Nation«. Der Mann stellt offenbar in diesem Lande etwas dar, ist ein wirklicher Dichter. Die Russen kennen ihn. Gut. Übersetzungen. Ziemlich hohe Auflagen. Das macht sich ausgezeichnet. Einem solchen Mann kann man nicht verwehren, daß er Moskau besucht und dort mit jemandem spricht, der ihn interessiert. Nur er selbst darf nicht den geringsten Wind davon bekommen, wer ihn anheizt. Das muß Kartstein so virtuos einfädeln, daß es gar keine Panne geben kann! Er blätterte das Dossier durch, klappte es schließlich zu und war sicher, daß hier ein brauchbarer Hebel gefunden war. »Professor«, wandte sich Catherine Laborde an Kartstein, »sagen Sie mir, zu welchem Zweck machen wir das alles?« Sie saßen an einem der kleinen Tische auf dem Bürgersteig vor dem Cafe Kranzler, am Vormittag, unter einem bunt gestreiften Sonnenschirm, der die Hitze ein wenig abhielt, und hatten Limonaden mit Eiswürfeln vor sich stehen. Das Cafe war kaum besetzt, um diese Tageszeit herrschte hier nur müder Betrieb, die Kellner arbeiteten langsam, doch das schien die Gäste nicht zu stören, die sich zu einem Schwatz niederließen, bevor sie ihre Einkäufe fortsetzten, ihre Spaziergänge.
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Kartstein wich aus. »Warum stellst du diese Frage?« Catherine sagte: »Es ist eine lange Zeit vergangen. In Moskau sieht man vieles von dem, was man in den Staaten gelernt hat, genauer. Man macht sich Gedanken.« »Über Wetrow?« »Ja. Wir haben jetzt vier Bücher von ihm auf den Weltmarkt gebracht. Das heißt, ich habe sozusagen die Rohmanuskripte in die Mangel genommen und Lesestoff daraus gefertigt. Gut. Jetzt haben wir einen zweiten Tolstoi, und wir werden ihm im Herbst den Nobelpreis anhängen lassen, er wird dieses Buch über die Haftlager fertigmachen, zwei Bände wahrscheinlich, jedenfalls einen mächtigen Schinken, aber was dann?« »Er ist berühmt«, gab Kartstein träge zurück. »Wir haben aus einem unbekannten, unterdrückten Dichter einen gemacht, den die ganze Welt bewundert.« »Sie kennt ihn. Ob sie ihn bewundert, ist eine andere Frage.« »Natürlich bewundert man ihn«, entgegnete Kartstein ärgerlich. Er wußte, worauf Catherine hinauswollte, und es fiel ihm nicht ein, wie er sie von diesem leidigen Thema abbringen könnte. Nun, egal, es ließ sich vermutlich nicht vermeiden, mit ihr darüber zu sprechen. »Ich stelle fest«, sagte er, an seiner Zigarre paffend, »daß deine Faszination für Wetrow abgenommen hat. Habe ich recht?« Sie nickte lächelnd. »Wie lange wird mich diese Föderation Nationaler Zeitungsverleger noch in Moskau brauchen?« »Du bist nicht mehr gern dort?« »Ich möchte in die Staaten zurück. Heiraten. Eine Familie gründen. Ist das ein unerfüllbarer Wunsch?« »Er ist erfüllbar. Wenn auch nicht sofort. Ich rechne damit, daß die ganze Sache sich nach dem Erscheinen von ,Zek' erledigen wird. Früher wirst du dort nicht entbehrlich sein.« »Sie meinen, nach Erscheinen von ,Zek' ist es mit dem Spiel dieses großen Tolstoi-Nachfahren vorbei, ja?« Kartstein blickte versonnen auf die Straße. Autos in langen Schlangen. Alle Typen, alle Farben, alle Arten von Fahrern, vom
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Schirmmützen-Chauffeur bis zur lässig hingelehnten Dame im weißen Kleid mit passendem Hut und Handschuhen. »Warum ironisierst du die Sache immer mehr, Cath?« erkundigte sich der Professor, ohne sie anzusehen. Sein Blick folgte weiter den Autos, er schweifte über die Läden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die Anzeigetafel eines Kinos, ein riesiger Frauenbusen mit einem Gesicht darüber. »Ich ironisiere meine Arbeit nicht«, erwiderte Catherine. »Die tue ich mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Was ich ironisiere, ist die Person, um die es sich dreht.« »Das meine ich. Du gibst mir Fragen auf. Eigentlich müsstest du eine andere Einstellung zu ihm haben.« »Sie haben recht, Professor, eigentlich müßte er mich so ankotzen, daß ich den Kram hinwerfe. Wenn ich das nicht tue, dann nur, weil Sie mich dorthin geschickt haben und ich Sie nicht gern enttäuschen würde. Oder haben Sie mich gar nicht geschickt?« Er überhörte die Frage. Er sagte ernst: »Catherine, dieser Mann ist zu einem weltweiten Symbol der Geistesfreiheit geworden. Kein Objekt für Ironie, denke ich.« »Ich hoffe nur«, bemerkte Catherine, ohne sich von seiner Ermahnung beeindrucken zulassen, »daß Sie mich nie auffordern, über diesen großen Dichter eine theoretische Abhandlung zu schreiben, die ich mit meinem eigenen Namen zu unterzeichnen habe!« »Oh, oh«, machte Kartstein und schüttelte den Kopf. »Mädchen, du solltest nicht solche Sprüche machen! Was stört dich an ihm?« »Daß wir ihn aufbauen zu einem moralischen Giganten, obwohl wir genau wissen, daß er nicht viel mehr ist als ein mieser kleiner Krämer, der zufällig auch schreiben kann.« »Er ist ein Mann, der für die Freiheit steht.« »Er steht für Ideen von vorgestern, Professor. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Er schreibt gegen die Sowjets, ja. Aber ich fürchte, wir schieben ihn auf ein zu hohes Ross. Eines Tages wird er herunterfallen und jeden bis auf die Knochen blamieren, der sich
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öffentlich für ihn eingesetzt hat. Ich halte dieses ganze Spiel für eine Farce. Der Mann ist in seinem eigenen Land ein Anachronismus. Slawophiler Simili-Barock. Für uns wird er eine moralische Belastung werden. Und vergessen Sie nie, daß ich es Ihnen gesagt habe, der Mann ist skrupellos, Feinden wie Freunden gegenüber.« Kartstein lächelte. Er erinnerte sich an Wetrows Intrige gegen Twardowski. Ein Meisterstück! »Vielleicht haben die Kommunisten ihn zu Recht eingesperrt, damals?« tastete er sich vor. Catherine dachte an Shagin, der über Wetrow lakonisch gesagt hatte, dieser Mann sei ein Faschist und man sollte nicht zuviel an seinem Charakter herumrätseln, er habe keinen. Sie machte Kartstein aufmerksam: »Ich hoffe, er benutzt die Nobelpreisverleihung nicht dazu, der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, was die Alliierten im zweiten Weltkrieg falsch gemacht haben. Seiner Ansicht nach hätten sie nämlich mit General Wlassow und Hitler zusammen gegen Stalin marschieren sollen . . .« Der Professor unterbrach sie: »Mädchen, jedes Wort, das er sagt, wird von dir redigiert sein! Nichts ohne diese Vorsichtsmaßnahme! Und im übrigen habe ich dir erklärt, wie wir verfahren. Er macht einen Zirkus daraus, dort, nicht in Stockholm. Klar?« Sie nickte. »Ja, ja.« Sie war müde. Hatte es Sinn, Kartstein direkt zu fragen, wer ihr wirklicher Auftraggeber war? Hatte Glenn recht? Kartstein ist ein Fuchs. Geheimdienst? Ist ihm nicht fremd, natürlich nicht. Harvard ist ein Reservoir für Langley, welcher HarvardAbsolvent weiß das nicht. Die Elite. Sie brannte sich eine Zigarette an und nippte von der Limonade. Warum eigentlich plage ich mich mit diesem Gedanken. Ich kann im Augenblick nichts ändern. Und Kartstein werde ich keine offene Erklärung entlocken, also werde ich, bis Glenn heimkommt, weitermachen, egal, wer hinter der Sache steckt. Die Literaten sind es nicht, soviel weiß ich heute. Sie fuhr aus ihren Gedanken, als Kartstein ihr die Hand auf den Arm legte. »Ich muß dir noch einmal sagen, wie stolz ich auf dich bin! Und etwas anderes. Sobald du zurückkommst, bist du meine
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rechte Hand in Harvard. Wir werden für eine schnelle Karriere sorgen, das hast du verdient. Heute schon. Ist dir klar, mein Mädchen, daß ich in einigen Jahren meinen Hut abgeben werde?« Sie bewegte die Schultern, sah ihn zweifelnd an. Er erklärte ihr nicht näher, was ihn dazu bewog, an eine in naher Zukunft liegende Emeritierung zu denken, sondern sprach weiter: »Ist dir auch klar, daß alles, was bei uns herumsitzt, für mich kein Ersatz ist? Glaubst du, ich würde es im Ernst zulassen, daß man meinen Lehrstuhl etwa einem solchen Trottel wie Leo Wolf berg anvertraute ? Der kann eine Basilika nicht von einer Balalaika unterscheiden! Nein! Das machen wir ganz anders! Catherine Laborde ist eine der profiliertesten Kennerinnen russischer Literatur, die wir haben. Sie schlägt alles, was sich da an Anwärtern herumtreibt. Und sie ist so viele Jahre in Moskau gewesen, verstehst du: in Moskau! Diese Jahre der unmittelbaren Erfahrung werden allein jeden möglichen Widerspruch töten. Begreifst du nun, weshalb es wichtig ist, daß du deine Aufgabe dort mit Bravour erfüllst?« Eigentlich müßte ich mich freuen, dachte sie. Es wird einem nicht jeden Tag eröffnet, daß ein Lehrstuhl in Harvard auf einen warten. »Ich möchte gern noch einen Aspekt mit Ihnen erörtern, Professor«, sagte sie unvermittelt. »Nehmen wir an, Wetrow möchte nach der Veröffentlichung von ,Zek' das Land verlassen. Was wird dann geschehen?« Kartstein zog die Augenbrauen hoch. »Gibt es Anzeichen dafür, daß er das vorhat?« »Ich habe den Verdacht, daß ihm das vorschwebt.« »Er zählt, solange er in Moskau sitzt, Catherine«, schärfte der Alte ihr erschrocken ein. »Mache ihm das begreiflich!« »Nun gut, das tue ich. Aber was geschieht, wenn es nicht hilft?« Kartstein überlegte. »Nun ja«, meinte er, missmutig seine Zigarre betrachtend, die ungleichmäßig brannte. »Es würde Verwendung für ihn geben, sicher. Er könnte eine Art Sammlungspunkt sein. Da würden sich Leute finden, die ein neues Interesse an ihm haben. Für uns allerdings . . .« Er machte eine vage Handbewegung.
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»Ich verstehe.« Catherine lächelte. Sie hatte erfahren, was sie erfahren wollte: Mit dem Weggang Wetrows aus Moskau endete in jedem Falle ihre Aufgabe dort. Wenn es mir gelingt, ihn zu provozieren, werde ich ganz plötzlich von diesem belastenden, zweifelhaften Auftrag frei sein! Kartstein beobachtete eine elegante Dame, die sich an einen der Nebentische setzte. Er sah gedankenverloren zu, wie sie die Beine übereinander schlug, wie sie ihre Sonnenbrille zurechtrückte, die Passanten musterte, ein Getränk bestellte. Catherine dachte an Ward. Um diese Zeit mußte er schon in dem Bungalow sein, den sie heute noch beziehen würden. Sie hatte sich entschlossen, zwei Wochen dort draußen zu verbringen, an der Havel, wo man baden konnte, mit einem Boot zu einer Insel fahren, auf der es ein Naturschutzgebiet gab, in der Sonne liegen, miteinander Pläne machen, sich lieben. Wie sehr doch Glenn das einzige ist, auf das ich mich freuen kann, dachte sie. Wyoming. Er hat recht, das ist eine wunderbare Gegend. Vermutlich werde ich Kartsteins Angebot höflich ausschlagen und mich lieber nach Wyoming zurückziehen, werde Glenn helfen, mit seinem Rundfunksender fertig zu werden, und nebenbei ein wenig übersetzen. Vielleicht hin und wieder einen Essay schreiben. Gutachten. Wir werden sehen! Dann wieder dachte sie an Moskau. Daß sie erneut allein sein würde. Doch sie tröstete sich, daß es dort Shagin gab. Warum hänge ich an ihm? Einfach ein Mensch. Ohne daß er darüber viel mit mir redet, habe ich durch ihn mehr von Rußland begriffen, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Kursanow war auch noch da. Er würde wieder einmal kommen, für ein paar Tage vielleicht nur, aber man würde sich sehen. Herbst in Moskau. Mit dem Boot auf der Moskwa fahren. Ausflüge machen. Den Geruch der Erde atmen und die Augen zukneifen unter der Sonne, irgendwo zwischen Birkenwäldern und stillen Dörfern. Kartstein merkte nicht, daß sie mit ihren Gedanken woanders war. Er fasste zusammen, was ihm für die nahe Zukunft nötig er-
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schien, und er gab Hinweise, die sie nicht zum erstenmal hörte. Der Alte machte einen aufgekratzten Eindruck, offenbar fühlte er sich »Wie lange bleibst du noch in Berlin?« erkundigte er sich plötzlich. »Zwei Wochen.« »Mit diesem jungen Mann?« »Ja. Wir machen Urlaub. Haben es beide nötig.« »Warum fahrt ihr nicht nach Bayern? Oder in den Schwarzwald?« »Wir wollen nicht Bayern haben«, sagte Catherine langsam, »oder in den Schwarzwald. Wir wollen allein sein. Egal, wo.« Der Kurfürstendamm begann immer mehr nach Benzinqualm zu stinken. Der Lärm der Fahrzeuge schwoll an. Auf dem Bürgersteig tauten ein paar Hippies primitive Verkaufsstände auf. Sie boten selbstgefertigten Modeschmuck an, Ketten und Amulette. »Danke nochmals für das Angebot.« Catherine sah den Professor in. Kartstein lächelte. Es war alles in Ordnung. Die Sache lief. Ein schöner Tag. Sogar der Kopfschmerz schien nicht zu existieren. Und morgen werde ich über Bortinger eine neue Phase des Unternehmens einleiten! Dichter in der Freiheit müssen für Dichter in der Unfreiheit eintreten. Damit kriege ich ihn. Er saß eine Weile in der Sonne, ohne Catherine zu sehen und ohne das lärmende Gewimmel jm sich herum so recht wahrzunehmen. Unvermittelt ertappte er sich dabei, daß er an Miami Beach dachte. Zurückziehen. Dieses Meisterstück hier der Welt vor die Nase setzen und dann ausruhen. Barfuß am Strand entlanglaufen oder still auf der Terrasse sitzen und zuhören, wie der Wind die Palmenblätter knarren läßt. Als sich ein junger Mann neben der eleganten Dame niederließ, die er noch vor Minuten so interessiert beobachtet hatte, lächelte Kartstein nur matt. Eigenartig, wie manche Dinge an Bedeutung verlieren mit der Zeit! Boris Petrowitsch Kursanow stand schweigend neben ihr, die Mütze n der Hand. Catherine nahm ein wenig Erde auf die kleine Schaufel
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und warf sie auf den Sarg. Sie griff sich auch eine Handvoll Blumen und ließ sie hinabfallen. Ihr gegenüber stand Shagin. Er sah sie an, aber er zeigte nicht die Spur des Erkennens, er stand, leicht vornübergebeugt, mit hängenden Schultern, als lauschte er einer Melodie, die niemand außer ihm hören kann. Um das Grab war eine vielköpfige Menge versammelt. Schulkinder mit roten Halstüchern, Schriftsteller, Frauen, die Shagins Frau gekannt, mit ihr gemeinsam gearbeitet hatten. Catherine dachte, ich habe immer angenommen, er wäre ein einsamer Mensch. Vermutlich habe ich mich geirrt. »Kommen Sie«, flüsterte Kursanow. Er war erst am frühen Morgen eingetroffen. Müde, unrasiert war er bei Catherine erschienen und hatte gebeten, sich umziehen zu dürfen. »Ich möchte das nicht bei Wadim machen«, sagte er grämlich. »Ich glaube, wir sollten ihn abholen, wenn es soweit ist. Trifft man sich früher, glaubt man reden zu müssen. Es gibt aber nichts zu reden, wenn jemand tot ist. Man kann nur schweigen. Mit dem Schicksal hadert man nicht laut.« Sie schob ihn in ihr Appartement, nahm ihm den Mantel ab, hing die Uniformjacke auf einen Bügel, während Kursanow aus seinem kleinen Koffer eine neue Uniform auspackte und Halbschuhe. »Soll ich die Hose ein wenig aufbügeln?« erkundigte sich Catherine, als er im Bad verschwand. Er steckte den Kopf noch einmal heraus. »Wenn Sie meinen . . . Ich trage sie selten.« Sie überflog mit einem Blick das Zimmer, während er duschte. Hier und da lagen Manuskripte, sie räumte sie in Schubfächer. Auch die Belegexemplare von Wetrows Büchern ließ sie verschwinden. Als sie die Uniform gebügelt hatte, hängte sie sie in den winzigen Vorraum. Kursanow stellte die Dusche ab; er merkte, daß Catherine vor dem Vorhang stand, und fragte: »Sie haben Urlaub genommen?« »Ja«, erwiderte sie. »Ich warte im Zimmer auf Sie . . .« Er erschien angezogen, mühte sich mit dem Schlips ab, der nicht sitzen wollte, die Schnürsenkel der Halbschuhe waren zu lang, und er benutzte eine Nagelfeile dazu, sie zwischen Fuß und Schuh zu
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stecken. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und blickte vor sich hin. Nach einer Weile sagte er mit heiserer Stimme: »Mußte es ausgerechnet Wadja treffen? Warum ihn? Da bringt ein Mensch so viel Missgeschick hinter sich, bis er endlich zu leben beginnt, und dann geschieht das . . .« Er schüttelte den Kopf. Catherine erklärte: »Er hat schon im Frühjahr angedeutet, daß die Operation ein Wagnis ist. Das Herz war angegriffen . . .« »Ich weiß.« »Soll ich Ihnen etwas zu essen machen, Boris Petrowitsch?« Er war die Nacht hindurch geflogen, und es würde ein langer Tag werden. Aber Kursanow lehnte ab. »Lieber nicht. Es ist gut gemeint, doch ich würde keinen Bissen herunterkriegen. Warum trifft es ihn? Er hatte sich schon damit abgefunden, daß er in Zukunft eine gelähmte Frau haben würde, er war trotzdem so zuversichtlich . . . Ach, Teufel!« Als er sah, daß Catherine sich aus einer Schachtel eine Zigarette nahm, streckte er die Hand aus und bat: »Geben Sie mir auch eine.« Er drehte sie zwischen den Fingern, presste sie, wie man das tabakgefüllte Ende einer Papiros dreht und presst, um es aufzulokkern, und als sie endlich brannte, ärgerte er sich, daß er wieder rauchte. So hielt er die glimmende Zigarette zwischen den Fingern und ließ sie verqualmen. Catherine sagte leise: »Ein schlimmer Schlag für ihn. Er hat so sehr an ihr gehangen . . .« Sie biß sich auf die Lippe. Man redet Plattheiten, dachte sie, aber was, um Himmels willen, soll man sagen, wenn man plötzlich in solch einer Situation steckt? Es kam ihr vor, als habe sie eine Freundin verloren, obwohl sie mit Shagins Frau zusammengenommen nicht viel länger als ein oder zwei Stunden gesprochen hatte. »Der Junge ist einer von denen, die das Leben besonders hart behandelt«, sagte Kursanow. »Er hat seine Frau geliebt; wenn das einer weiß, dann bin ich es. Ohne viel darüber zu reden, hat er sie geliebt, es gab keine Alternative für ihn. Er hat sie so geliebt, daß
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er es nicht fertig gebracht hat, ihr diese erneute Operation auszureden. Sie wollte sie, und er hat zugestimmt. Aus.« Später nahm er seinen kleinen Koffer, in den Catherine die Alltagsuniform gepackt hatte und die Stiefel, und ging damit zum Fahrstuhl. Er wollte ein paar Tage bleiben, aber er würde erst morgen erfahren, ob das möglich war. Soldaten, dachte Catherine. Auf der Straße stand ein Wolga, davor ein uniformierter Fahrer, der eifrig die Türen aufriß, als sie einstiegen. Der General wies ihn nur leise an: »Zu meiner Datscha, Oleg . . .« Sie hatten Shagin abgeholt; nun war die Bestattung vorbei, die Leute standen um das Grab herum, einige bezeigten Shagin ihr Mitgefühl durch Händedrücke. »Es sind viele Schriftsteller dagewesen«, sagte Kursanow zu Catherine. »Erstaunlich, wie viele Freunde Wadim hat, ohne daß er selbst es weiß.« Sie fuhren nach Peredelkino zurück. Kursanow gelang es, noch ein paar Tage Urlaub zu bekommen, und Catherine ließ ihre Arbeit liegen und unternahm mit den beiden Männern ausgedehnte Spaziergänge durch die herbstlich bunten Wälder. An den Abenden spielten sie Schach oder hörten Schallplatten. Sie sprachen nicht von Shagins Frau, aber jeder wußte, daß man eigentlich nur beisammen war, um zu verhindern, daß die Gedanken sich ihr zuwandten. Catherine hatte in diesen Tagen Zeit, sich viel mit Kursanow zu unterhalten. Er erzählte vom Fernen Osten und von seiner Frau, und einmal stellte er Catherine die Frage, wie lange sie noch in Moskau bleiben würde. Sie deutete an, daß sie den größeren Teil ihres Aufenthaltes in der Sowjetunion hinter sich habe. Ob es ihr gefalle? Sie sagte: »Boris Petrowitsch, ich fühle mich recht wohl hier.« »Werden Sie es bedauern, wenn Sie weggehen müssen?« »Ich bin sicher.« »Warum bleiben Sie nicht?« Er fügte sogleich hinzu: »Verstehen Sie mich recht, ich möchte nicht, daß Sie sozusagen Ihr Vaterland
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aufgeben. Aber was zieht Sie nach den Vereinigten Staaten zurück?« »Mein zukünftiger Mann. Wir werden heiraten, sobald "wir beide wieder in den Staaten sind.« »Es geht ihm gut?« erkundigte sich Kursanow. "Er hätte sich verwünschen können, daß er nicht an diesen Mann gedacht hatte. Natürlich, sie hatte von ihm gesprochen. Ein Korrespondent, in Vietnam. »Er leidet unter dem Krieg«, sagte Catherine. Kursanow nahm das zur Kenntnis, ohne darauf einzugehen. Erst viel später fragte er: »Werden Sie Zeit finden, sich ab und zu ein wenig um Wadja zu kümmern?« Sie sah ihn an. Sie waren in einem bunt gefärbten Laubwald unterwegs, an einem warmen Tag, dessen Sonne tausend Erinnerungen an den vergangenen Sommer weckte, an Berlin, den Düppeler Forst, den Wannsee, die Havel, die Pfaueninsel. »Immer wenn er mich sehen möchte, werde ich da sein«, gab sie zurück. »Sie mögen Wadja?« Sie lächelte. »Ich könnte kaum einen besseren Freund haben.« Er schwieg wieder. Catherine glaubte erraten zu können, was er jetzt dachte. Wadim Shagin war allein. Und sie bezeichnete ihn als Freund. Dahin zielte auch die Frage, ob sie in Erwägung gezogen habe hierzubleiben, für immer. »Weiß Wadja, daß Sie heiraten wollen?« erkundigte sich Kursanow schließlich. »Er weiß das, ebenso wie ich wußte, daß er eine Frau hat.« »Hatte«, sagte Kursanow, und dann entschloß er sich, dieses Gespräch nicht weiterzuführen. »Wie ein Gemälde.« Stehen bleibend deutete er auf die Landschaft, die sich vor ihnen öffnete. Sie standen am Rande des Laubwaldes, vor ihnen dehnte sich ein weites, buschbewachsenes Tal, Weidegelände, ein paar Wege, die immer noch staubig wirkten wie im Hochsommer, die letzten roten Flecken an den Sträuchern, Hagebutten. Birken, ganz weit hinten, am Horizont, ihre weiße Rinde
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war nicht zu erkennen, aber ihr Geäst war unverwechselbar. Der Baum, der diese Landschaft prägte. »Ja, es ist schön«, bekannte Catherine. Sie lehnte sich an Kursanow. Er roch nach Leder und Rasierwasser. Als er den Arm um ihre Schultern legte und so mit ihr weiterging, mußte sie daran denken, daß sie zuweilen, wenn sie mit ihrem Vater Urlaub gemacht hatte, ebenso mit ihm gegangen war, irgendwo im Gebirge, auf den Reisen, die sie unternommen hatten, um Amerika zu entdecken. Warum erinnere ich mich jetzt daran? Sie fühlte sich glücklich, aber zugleich verwünschte sie sich. Was für ein Leben ist das? Hier ist Boris Petrowitsch, Pilot, Kommunist. In der Datscha sitzt Shagin, er unterscheidet sich von Kursanow nicht wesentlich, ein Russe, auch ein Kommunist, Patriot. Und ich? Ich bin der Dorn in ihrem Fleisch, ohne daß sie es ahnen. Ich sitze in meinem Appartement und arbeite an dem, was dieser verhinderte Kollaborateur zusammenschreibt, den wir zum Nachfahren Tolstois erklärt haben. Ich redigiere das, bringe es in lesbare Form, setze Statements für ihn auf, studiere die Reaktionen der Auslandspresse, lege taktische Verfahrensweisen fest, liefere Stichworte für ihn, der mich ankotzt und den solche Leute wie Kursanow oder Shagin verachten. Ist das schon Schizophrenie? Was ist es sonst? Ich wandere neben Boris Petrowitsch durch den Wald, er redet mit mir wie mit einer Tochter, wir verstehen uns, und doch trennen uns Lichtjahre. Gibt es aus dieser verdammten Situation einen einzigen ehrenhaften Ausweg? Und welchen? Was würde Kursanow sagen, wenn ich ihm alles erzählte? Was Shagin? In dem Augenblick, in dem sie das dachte, wurde ihr klar, daß sie nicht die Kraft aufbringen könnte, jemals mit einem dieser beiden Männer offen über das zu reden, was sie bewegte. Ich würde ihnen nicht ins Gesicht sehen können, dachte sie, ich wundere mich, daß ich es jetzt noch kann. Einige Tage später traf sich Catherine zum erstenmal mit Swetlana Fjodorowna. Alle Materialien, die Wetrow anläßlich der Verleihung des Nobelpreises brauchen würde, hatte sie sorgfältig zusammen-
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gestellt: Statements, den Entwurf für eine Rede, ein Danktelegramm, aber auch eine Übersicht über die Aufnahme, die seine Bücher im westlichen Ausland fanden, besonders gewichtige Rezensionen, Äußerungen von berühmten Literaten und auch eine Biographie, die an ausländische Pressevertreter übergeben werden sollte. Nachdem dies alles vorbereitet war, hatte Catherine bei Swetlana Fjodorowna angerufen und um eine Unterredung gebeten. Die Stimme der Frau klang ein wenig gedrückt, leise. Sie sagte sogleich zu und bat Catherine, sie in ihrer Wohnung in der Gorkistraße zu besuchen. Catherine fand das Haus schnell, durchschritt einen geräumigen Hof und stieg ein paar Treppen hinauf, wo vor der geöffneten Wohnungstür Swetlana Fjodorowna wartete, eine nicht sehr große dunkelhaarige Frau mit eigenartig unstetem Blick. Ihre Bewegungen waren von einer fahrigen Nervosität, als sei sie ihrer Wirkung auf andere nicht sicher. Ihr ohnehin kugelrundes Gesicht wirkte aufgedunsen. Sie lächelte und blickte an Catherine vorbei, als sie sie eintreten ließ. Erst als sie die Tür geschlossen hatte, nahm sie Catherines Hand, drückte sie und murmelte: »Ich danke Ihnen, auch im Namen von Ignascha, vielen Dank dafür, daß Sie dies alles für uns tun!« Catherine fand die Frau auf den ersten Blick wenig reizvoll. Ein geducktes, nicht sehr interessantes Wesen, das sich bemühte, große Worte so auszusprechen, daß sie echt klangen. Catherine übergab ihr alles, was sie vorbereitet hatte, und Swetlana Fjodorowna nickte eifrig, während sie den Erklärungen lauschte. Sie sprang auf und lief in die Küche, um Tee zuzubereiten, kam zurück, mit der Behendigkeit eines Wiesels, obwohl ihr Zustand sie hinderte, flink zu sein. Sie versuchte das zu überspielen, und es gelang ihr in gewissem Maße. Warum tut sie das? fragte sich Catherine, jeder sieht, daß sie im siebenten oder achten Monat ist. Ist es ihr peinlich, so gesehen zu werden? Der Tee, den sie zubereitet hatte, war gut. Starker, schwarzer grusinischer Tee, wie ihn auch Wetrow trank, was sie nicht zu
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erwähnen vergaß. Catherine schärfte ihr ein, wie sich Wetrow verhalten sollte, wenn er die offizielle Benachrichtigung von seiner Auszeichnung erhielt. Er sollte sofort das Danktelegramm abschicken und versprechen, daß er zur feierlichen Preisverleihung selbstverständlich nach Stockholm kommen würde. Später sollte er durchsickern lassen, man sei zwar gewillt, ihn reisen zu lassen, aber es stände zu erwarten, daß er nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren dürfe, weil die Sowjetbehörden mit der Verleihung des Preises an ihn nicht einverstanden wären. Daraufhin sollte vom Ausland her eine Kampagne gegen die Sowjetunion anlaufen, die dem größten Dichter der Gegenwart die verdiente Ehrung verweigere, nur weil er die Wahrheit sage. Dies alles war von Kartstein unter Einbeziehung der voraussichtlichen Reaktion der Sowjetbehörden wie ein Drehbuch für einen Film vorbereitet worden, von Catherine in Einzelheiten korrigiert. Auf dem runden Gesicht der Swetlana Fjodorowna spiegelte sich die Genugtuung darüber wider. Sie fand das alles großartig, und sie sagte es. »Es wird sie treffen wie ein Schlag ans Kinn«, meinte sie. Ihre Stimme bekam einen schwärmerischen Klang. »Sie werden einsehen müssen, daß Ignascha stärker ist als das Regime. Aber das wird sie so wütend machen, daß man mit allem rechnen muß, mit jeder Art von Rache. Ein wenig fürchte ich mich davor, wenn ich ehrlich sein soll. Nun, wir werden es durchstehen, es ist ja nicht mehr für lange.« Catherine versuchte vorsichtig zu erfragen, wie sich Swetlana Fjodorowna die Zukunft vorstellte. »Es wird eine wunderbare Zukunft sein, Madame! Bedenken Sie, Ignascha ist in der gesamten westlichen Welt berühmt. Man kennt ihn, achtet ihn als den größten Dichter der russischen Sprache. Das wird ihm dort zu einem großartigen Start verhelfen.« »Sie rechnen damit, über kurz oder lang das Land zu verlassen?« Für einen Augenblick sah die Frau Catherine an, dann irrte ihr Blick wieder über den Fußboden. »Ganz sicher. Wir wollen nicht hierbleiben. Wozu auch? Hier hat
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Ignascha keine Chance. Bei Ihnen aber ist er ein angesehener Mann. Denken Sie doch, wir könnten irgendwo mit dem vielen Geld, das für uns bereitliegt, ein Haus kaufen, könnten endlich so leben, wie wir es uns wünschen, uns alles leisten, was man sich in westlichen Ländern leisten kann ach, wir könnten so vieles tun! Wir sind uns darüber einig, sobald als möglich wegzugehen.« Catherine machte sie aufmerksam, daß Wetrow versprochen habe, die »Zek« schnell fertig zu schreiben und die Wirkung dieses Buches abzuwarten. Sie erinnerte sie: »Sie verstehen sicher, die internationale Wirkung des Buches ist hochgradig abhängig davon, daß der Autor hier in Moskau lebt. Man rechnet damit. . .« Swetlana Fjodorowna nickte nur. »Ja, ja, das ist klar. Aber damit ist es dann aus für uns. Wir haben keine Lust mehr, hier zu sitzen, wo uns die Leute kaum noch ansehen, und in Wirklichkeit sozusagen Millionäre zu sein. Wir wollen da weiterleben, wo uns die von Ignascha verdienten Millionen ein Leben garantieren, das uns liegt. Wofür hätte er denn sonst all die Mühen auf sich genommen, all die Schwierigkeiten, die Bedrohung?« Catherine wollte sich dazu nicht äußern. Vielleicht sollte sie gar nicht mehr den Versuch machen, ihn von seinem Plan abzuhalten, damit diese ganze widerliche Geschichte auch für sie selbst endlich zum Abschluss kam. Sie bat die Frau: »Ich verstehe Sie. Nur möchte ich Ihnen raten, diesen Teil Ihrer persönlichen Pläne möglichst mit niemandem zu besprechen. Denken Sie daran, wir haben der Welt erklärt, Wetrow ist ein fanatischer Wahrheitssucher, der sein Heimatland liebt, der es braucht wie die Luft zum Atmen und der sich gegen jeden Gedanken sträubt, freiwillig die Sowjetunion zu verlassen. Es kommt darauf an, dieses Image aufrechtzuerhalten.« Swetlana Fjodorowna versicherte: »Aber natürlich! Dies ist ja auch nur ein Gespräch zwischen uns beiden! Nach außen hin wird Ignascha immer genau das behaupten, was Sie sagten. Nur für uns ist eben klar, wohin der Weg geht, verstehen Sie, für uns, intern sozusagen!«
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»Sie werden heiraten?« »Ja. Sobald die Scheidung von seiner jetzigen Frau rechtskräftig ist. Dann wird das Kind geboren sein. Und Ignascha wird eine Frau haben, auf die er sich verlassen kann, nicht eine wie die Wetrowa! Ich werde überall mit ihm gehen, wohin er auch geht. Wir sind eine Familie!« Diese Frau, sagte sich Catherine, rechnet gut. Wetrow ist ein Mann, der auf sein Renommee zu achten hat. Natalia Wetrowa kann er loswerden, da gibt es kein Kind, keine Bindung anderer Art mehr. Sie aber bringt in absehbarer Zeit sein erstes Kind zur Welt, und von da an muß Wetrow damit rechnen, daß die Spießer im Ausland streng darauf achten, ob er seinen Verpflichtungen gegenüber der Mutter und dem Neugeborenen nachkommt. Swetlana Fjodorowna lächelte, als wollte sie andeuten, daß sie genau wisse, welchen Trumpf sie in der Hand habe. Für einen Mann, der soviel internationale Aufmerksamkeit erregt hatte wie Wetrow, würde es unmöglich sein, eine Frau mit einem Kind in der Sowjetunion zurückzulassen, wenn er selbst ging. »Sie haben sich hier nie so recht wohl gefühlt?« fragte Catherine. Die Antwort bestätigte ihre Vermutung. »Mein einziger Gedanke, seit vielen Jahren, ist, aus der Sowjetunion herauszukommen, anderswohin, wo man ganz anders leben kann. Gut leben. Das ist jetzt greifbar nahe.« »Sie haben nie etwas mit dem Kommunismus gemein gehabt?« Die Frau lachte laut. Ihr Gesicht rötete sich. »Madame, ich bin eine moderne Frau! Ich habe es satt, von den Errungenschaften der westlichen Zivilisation immer nur zu träumen. Ich will sie genießen! Verstehen Sie: Genießen will ich sie! Was schert mich der Kommunismus? Er ist gut, Ignascha Stoff für seine Bücher zu liefern, ja. Meine Sehnsucht ist die Welt, nicht der Kommunismus!« »Ich verstehe.« Catherine erinnerte sich, daß sie außer dem Material, das sie der Frau bereits übergeben hatte, noch das erste Exemplar der in Paris vorbereiteten Ausgabe der »Verlorenen Schlacht« bei sich trug. Sie nahm das Buch aus ihrer Tasche und
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schob es Swetlana Fjodorowna hin. »Bitte, übermitteln Sie es ihm so schnell wie möglich, er wird sich freuen, es zu sehen.« Swetlana Fjodorowna nahm das Buch und betrachtete es lange. Dann fragte sie: »Wieviel bringt uns das ein? Ich meine in Dollar?« Wetrow, der um diese Zeit in Peredelkino lebte, drehte das noch druckfrische Buch hin und her, bevor er es aufschlug, einzelne Passagen las und es langsam durchblätterte. Ein gut aussehendes Buch, auffälliger Einband, ein Klappentext, in dem wieder einmal darauf verwiesen wurde, daß der Autor der einzig beachtenswerte Dichter russischer Sprache sei, den es seit etwa fünfzig Jahren gegeben habe. Sehr eindrucksvoll. Er hielt es hoch und blickte Swetlana Fjodorowna an, die ihm gegenübersaß. »Wie findest du es?« Sie war mit einem Taxi gekommen, Wetrow würde sie mit seinem Moskwitsch wieder in die Stadt zurückbringen. »Sie hat gesagt, es bringt etwa fünfzigtausend Dollar. Vielleicht sechzigtausend. Die erste Auflage.« Er stutzte, dann überzog sich sein Gesicht mit einem Grinsen. »Du rechnest schnell!« »Ich bin Mathematikerin«, sagte sie. »Übrigens ist eine Mitteilung von Doktor Hedler aus der Schweiz gekommen. Unser Guthaben beträgt jetzt sechshundertvierundachtzigtausend Dollar. Dazu kommt in diesem Monat noch der Nobelpreis, und außerdem sind weitere Eingänge zu erwarten, aus Nachauflagen in verschiedenen Ländern. Freust du dich gar nicht?« Er hatte verdutzt aufgeblickt, als sie sagte »unser Guthaben«, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich schnell wieder zu einem zufriedenen Lächeln verändert. »Natürlich freue ich mich. Warum fragst du?« »Nur so. Ist dir klar, daß wir, noch bevor die ,Zek' herauskommen, eine Million beisammen haben? In Dollar!« »Es ist mir soeben klargeworden«, sagte er und stand auf. Er legte
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das Buch auf den Tisch. Er war müde. Die Arbeit an der »Zek« war kompliziert, es galt eine Unmenge von verwirrenden Einzelheiten vor dem Leser aufzutürmen, so daß er nicht mehr in der Lage sein würde, Wahres von Erdachtem, Gerüchten und Erfundenem zu unterscheiden. Hauptsache war, dieses Gemisch wirkungsvoll anzuordnen, mit Zwischentexten zu versehen, die Ungesagtes durchblicken ließen und Vermutungen in den Rang von Fakten erhoben. Eine wahrlich gigantische Arbeit! Nun ja, sie würde, wenn sie erschien, wohl die zweite Million bringen, aber bis dahin . . . Er sah Swetlana Fjodorowna an. Ein paar Sekunden überlegte er, was ihn an dieser Frau eigentlich faszinierte. Sie war weder sehr schön noch übermäßig intelligent, bestenfalls schlau. Wenn es sich um Literatur drehte, mußte man ihr raten, lieber den Mund zu halten. Sie sieht aus wie eine Melone mit Ohren, dachte er. Doch dann verdrängte er diese Gedanken; in ihrem Leib wuchs sein Kind. Das zählte. Er konnte sich nicht darüber klar werden, weshalb er sich plötzlich auf dieses Kind freute. Nie hatte ihn in der Vergangenheit der Wunsch bewegt, ein Kind zu haben, im Gegenteil. Jetzt war das Kind, bevor es in die Welt trat, das einzige, was ihn mit dieser Frau verband. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, sagte er sich. Ich werde sie nie mehr loswerden. Wer weiß, ob ich es wenigstens ein paar Jahre mit ihr aushalte. Sie rechnet schon mit dem Konto in der Schweiz! Verdammte Weiber! Das ist die Strafe dafür, daß man sich auf mehr einlässt als auf eine Nacht! »Wie lange willst du bleiben?« fragte er. »Ich will bald zurück«, sagte sie. »Mutter ist mit dem Jungen allein, sie will am Abend weggehen.« Der Junge, auch das war noch zu bedenken. Sohn dieses Chemikers, von dem sie sich hatte scheiden lassen. Dann ebenfalls mein Kind, wenn ich sie heirate, und das wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Dabei bin ich noch nicht einmal von Natalia geschieden! Das zieht sich in die Länge. Er kratzte sich den Kopf. Außer der nervtötenden Arbeit auch noch diese Misere! Himmel, am liebsten wäre mir, wenn Swetlana Fjodorowna morgen in den Kaukasus
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fahren würde, in ein Sanatorium, und zurückkommen^ wenn ich hier fertig bin, mit einem Kind, das laufen kann. »Ich fahre dich.« Er versuchte einen zärtlichen Ton in die Worte zu legen. »Wie fühlst du dich?« Er wollte sie küssen, aber als er sich ihrem Gesicht näherte, entschied er sich, ihr nur übers Haar zu streichen. Diese Frau war im Bett am leichtesten zu ertragen, nein, da war sie die absolute Spitzenklasse, mit nichts vergleichbar, was vorher gewesen war. Es gibt eben Frauen, die man außerhalb des Bettes möglichst weit von sich fort wünscht! > »Die Amerikanerin«, sagte Swetlana Fjodorowna, »hat daran erinnert, daß man auf die ,Zek' wartet. Ich konnte ihr nicht genau sagen, wann sie den nächsten Manuskriptteil bekommt.« Er überlegte. Natürlich, die Leute wollten vorarbeiten. Natalia hatte vermutlich den größten Teil dessen, was abgetippt werden sollte, fertig, nur sie bekam nicht so oft Urlaub, um nach Moskau zu fahren, und jemand anderem wollte sie das Manuskript nicht anvertrauen. »Ich denke, ich werde nach Tula fahren müssen.« Er hockte vor Swetlana Fjodorowna auf dem Teppich und hielt ihre Hand. »Zu Natalia?« »Das Manuskript holen, ja.« »Ignascha«, sagte sie, »ich verlange, daß du die Beziehungen zu dieser Frau abbrichst. Endlich. Es ist höchste Zeit. Es muß Schluss sein damit. Kein Manuskript mehr dorthin. Ich habe inzwischen Tippen geübt, ich kann das auch.« Ja, wenn du aus dem Wochenbett heraus bist, dachte er. Und wenn dir das Kind Zeit läßt. Das reicht kaum. Aber wir werden andere Möglichkeiten nutzen. Es gibt alte Freundinnen, man kann ihre Bereitschaft stimulieren, indem man ihnen ein paar Valuta-Rubel in die Hand drückt, damit sie sich im »Berjoska« irgendeinen ausländischen Quark kaufen. »Reg dich nicht auf«, beruhigte er Swetlana Fjodorowna. »Ich bin dabei, die Beziehungen zu beenden. Aber sie hatte eben angefangen
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gehabt, die ,Zek' zu schreiben. Das muß man langsam auslaufen lassen. Nur, ich muß nach Tula fahren, sie bringt mir das Manuskript nicht her.« »Dann fahr bald«, riet sie ihm. »Vor der Preisverleihung noch. Außerdem es ist Herbst. Denk daran, daß die Straßenverhältnisse dir zu schaffen machen, je länger du wartest.« Wetrow sah nach der Uhr. Es wurde dunkel. Am Abend wollte Ljuba Jelanskaja kommen. Es war Zeit, diese kleine Rechnerin loszuwerden. Nicht nötig, daß sie auch noch auf Ljuba eifersüchtig würde. Es genügte schon, wenn sie auf Natalia losging. Pure Dummheit, mit Natalia gab es keine Gemeinsamkeit mehr, seit Jahren! Und Ljuba schien sich daran gewöhnt zu haben, daß sie die Freundin bleibt, während ich diese gerundete Dame hier heiraten werde. Übrigens Ljuba! Sie könnte dieses Manuskript weitertippen. Hatte es oft genug angeboten. Und die Reinschrift, nach den Korrekturen, die von der amerikanischen Madame kommen, werde ich nach Leningrad geben, zu Olga Woronina. Sie wird mit Freuden die Endfassung tippen, die wir dann fotografieren und hinausgehen lassen! »Du siehst aus, als ob du dich nicht wohl fühlst. . .«, bemerkte er zu Swetlana Fjodorowna. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nur etwas unruhig, wegen zu Hause.« »Und das Baby? Drückt es?« Er legte die Hand auf ihren Leib. Sie hielt die Hand fest, führte sie abwärts, auf ihre Schenkel. Plötzlich sagte sie: »Himmel, laß mich aufstehen, ich halte das nicht aus!« Ihre dunklen Augen glänzten. Wetrow lächelte. Wenn jemand sagte, dies sei eine heiße Frau, dann würde er bestenfalls den äußersten Rand der Erscheinung treffen! In der Tat, sie muß die Schwangerschaft wie eine Strafe empfinden! Er entschied sich, die Sache ins Humoristische zu ziehen, verbeugte sich tief und sagte: »Gnädige Frau, sehen Sie zu, daß Sie möglichst bald Ihr Baby zur
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Welt bringen, damit wir die Freuden der Liebe wieder genießen können wie vorher!« Sie zog ihn am Ohr. »Wehe, du bleibst auch nur eine Sekunde länger in Tula als unbedingt nötig!« Er dachte, hoffentlich kriege ich sie jetzt zum Auto, ich muß zurück sein, wenn Ljuba kommt. Er holte ihren Mantel und war erleichtert, als sie ihn ohne weiteres anzog und zur Tür ging. »Weißt du, was mich mit dieser ganzen Misere versöhnt?« sagte sie, als sie in den Moskwitsch stieg. »Das Wissen darum, daß dort drüben eine Million wartet!« Er setzte sich hinter das Steuer. »Erst müssen wir einmal hier heraus sein«, gab er zu bedenken. Aber sie lachte nur. »Vergaß nicht, du bist bald Nobelpreisträger! Glaubst du, man kann einem Nobelpreisträger verbieten, seinen Wohnsitz zu wechseln? Nein, mein Lieber, damit können wir sie so wirkungsvoll unter Druck setzen, daß wir keine Sorgen mehr zu haben brauchen.« Er äußerte sich nicht dazu. Sicher, dies alles würde so zu machen sein, aber wie lange reicht eine Million zum Leben? Mit einer Frau wie Swetlana Fjodorowna! Und was werde ich dort schreiben? »Die verlorene Schlacht« fortsetzen, ja. Nur wer interessiert sich heute für ein Epos aus der Frühzeit der Sowjetmacht? Schwer zu entscheiden. Nun ja, der Verlag Possev hat seine Beziehungen. Die Pariser Emigrantengruppe hat Verbindungen. Und da sind alle jene, die in den letzten Jahren aus sozialistischen Ländern im Westen angekommen sind, Unzufriedene, Geflohene, Hinausgeworfene. Man kann eine publizistische Kraft aus ihnen zusammenschmieden, wenn man geschickt genug ist. Es gibt zum Glück nicht nur Entspannungspolitiker im Westen, es gibt eine Menge Leute, die genauso denken wie ich, und das ist die beste Basis für die Zukunft. Sprecher werden immer gesucht, vor allem solche, die das Renommee eines Dichters haben! »Wenn das Wetter so bleibt, fahre ich morgen nach Tula«, sagte er.
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Natalia Wetrowa ging von einem Zimmer ins andere, blieb an ihrem Flügel stehen, an einem Bücherregal, griff nach einer gerahmten Fotografie, die sie mit Wetrow zusammen auf einem Flussdampfer zeigte, legte sie aufs Gesicht, wanderte weiter, durch das Schlafzimmer, in dem ihr Bett aufgedeckt war, zerwühlt, blickte schließlich auf ihrem Schreibtisch den Stapel Manuskriptseiten an. Die »Zek«. Sie legte die Hand darauf und zog sie wieder zurück. Einige Monate lang hatte sie jede freie Stunde dazu verwendet, Wetrows Niederschrift abzutippen. Als sie sich trennten, hatte er ihr vorgeschlagen, ihm das Manuskript zurückzugeben. Aber Natalia hatte darauf bestanden, es weiterzutippen. Sie hatte bis dahin die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Wetrow das Verhältnis mit Swetlana Fjodorowna doch noch beenden würde, daß es eine der vielen Episoden blieb, die zwar schmerzten, aber nichts Endgültiges bewirkten. Nun war auch diese Hoffnung zerschlagen. Swetlana Fjodorowna war schwanger, und Wetrow wollte sie heiraten. Natalia hatte in den vergangenen Tagen, seitdem sie wußte, daß die Scheidung unausweichlich war, sehr oft alles überdacht, was während ihres Zusammenlebens mit Wetrow geschehen war. Inzwischen hatte sie aufgegeben, darüber nachzugrübeln, warum das alles so gekommen war. Es gab Dinge, die sie mehr bedrückten als das Scheitern ihrer Ehe. Da lag das Manuskript. Wie ein Hinweis darauf, daß die Scheidung nur ein äußeres Merkmal für einen Vorgang war, dessen Ursachen viel tiefer lagen. Letztlich war nicht einfach eine Ehe gescheitert, nein. Zwei Menschen, die über eine lange Zeit hinweg geglaubt hatten, daß sie miteinander lebten, hatten erkannt, daß jeder für sich lebte, daß die Interessen des einen denen des anderen so konträr waren, daß es seit vielen Jahren keine Gemeinsamkeit mehr geben konnte. Die Frau setzte sich an den Schreibtisch und betrachtete immer wieder den Stapel Manuskriptseiten. Die »Zek«. Dies war der letzte, entscheidende Test gewesen. Ignat Issaakowitsch Wetrow entpuppte sich als das, was er gewesen war, solange er politisch denken und urteilen konnte, er präsentierte sich als Heuchler. Eine be-
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stürzende Erkenntnis. Er machte in den »Zek« nicht einmal mehr den Versuch, Ereignisse ernsthaft zu analysieren, er griff sich Einzelheiten irgendwoher, verallgemeinerte sie und klagte an. Er stellte sich auf die Seite von Kollaborateuren wie Wlassow und erklärte, diese Leute allein hätten jene Weitsicht offenbart, die das russische Volk brauchte, wenn es sich endlich vom Kommunismus befreien wolle. Natalia Wetrowa hatte während des Abtippens Zeit genug gehabt, darüber nachzudenken, welch verschlungene Wege dieser Mann gegangen war. Wie viele Täuschungen hatte er sich ausgedacht, wie viele ehrliche Leute hatte er hinters Licht geführt, bis er endlich das offenbarte, was ihn seit Jahrzehnten antrieb: ein unstillbarer Hass gegen alles, was den übrigen Bürgern dieses Landes teuer war. Das Telefon klingelte. Die Frau nahm den Hörer ab. Aus der Hochschule rief jemand an, um mitzuteilen, daß am späten Nachmittag eine Versammlung stattfinde. »Ja, ich werde kommen«, sagte Natalia und legte auf. Es wurde ihr bewusst, daß sie gelogen hatte. Sie würde nicht hingehen. Sie würde überhaupt nirgendwo mehr hingehen. Vor ein paar Wochen hatte sie ihre Mutter begraben, eine verhärmte alte Frau, die bis zu ihrem letzten Atemzug nicht begriff, weshalb Wetrow ihre Tochter so unglücklich gemacht hatte. Was bleibt eigentlich noch? Natalia sah sich in dem Zimmer um. Das alles erinnerte zu sehr an die Vergangenheit. An ihn. Sie begann nach Papier zu suchen, nach einem Federhalter, und sie fing an zu schreiben, ohne daß sie so recht wußte, was sie tat. Sie schrieb an Wetrow. Ein paar Zeilen, daß sie nicht seinetwegen aus dem Leben gehe, sondern weil sie glaube, daß sie selbst sich falsch verhalten habe. »Ich habe Dich bei einer Sache unterstützt, von der ich Dich hätte zurückhalten müssen. Zurückreißen, wenn es nicht anders ging. Das habe ich nicht getan. Ich war Deine Gefährtin, und ich habe an dem, was Du getan hast, meinen Anteil. Mit diesem Anteil aber will ich nicht weiterleben. Ich könnte keinem Freund mehr in die Augen
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sehen, ich würde immer die unausgesprochene Frage spüren, warum ich jeden, der mir vertraute, auf eine so schäbige Weise verraten habe. Lieber Ignat Issaakowitsch, wenn Du jemals wieder Respekt vor Dir selbst haben willst, wenn Du imstande bist, durch die Mauer Deines Hasses noch die Realität zu erkennen, dann schicke dieses Buch voller Verleumdungen nicht nach dem Westen wie alle Deine anderen Bücher. Wirf es weg, vergaß es. Vergiss meinetwegen auch mich, tu, was Du willst. Aber bleib ein Mensch mit einem Gewissen. Laß Dich und Dein Talent nicht von Leuten ausnutzen, die uns am liebsten von der Landkarte auslöschen würden, wenn wir nicht in der Lage wären, sie zu zwingen, mit uns friedlich zu leben. Das Manuskript liegt vor Dir, Du mußt entscheiden. Über mich solltest Du nicht weiter nachdenken, ich möchte es nicht. Natalia« Wetrow kam, als die Dunkelheit sich gerade über die Stadt senkte, stellte seinen Moskwitsch auf der Straße ab und eilte die Treppen zur Wohnung hinauf. Insgeheim hoffte er, Natalia möge nicht zu Hause sein. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihr. Sie würde ihm ohnehin nur Fragen stellen, die er nicht beantworten wollte. Er öffnete die Wohnungstür, rief halblaut: -»Natalia!« und freute sich, als keine Antwort kam. Auf dem Schreibtisch entdeckte er den Stapel Manuskriptseiten, es war alles fertig. Er packte es in seine Aktentasche und war schon dabei, wieder aufzubrechen, als er den Brief sah, der auf dem Tisch lag. Verwundert öffnete er den Umschlag und las. Als er begriff, worum es sich handelte, ließ er das Blatt sinken und lauschte. War sie doch in der Wohnung? Er ahnte, daß er hier in eine Angelegenheit geriet, die alles andere als angenehm war, und seine Lippen spitzten sich zu einem Fluch. Dann stürmte er durch die Räume. Er fand Natalia auf dem Bett liegend, wie im Schlaf. Sie reagierte nicht, als er sie rüttelte, aber er merkte, daß sie noch atmete. Auf dem Nacht-
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schränkchen stand ein Glas mit einem Rest Wasser, daneben eine Pillenflasche. Er nahm sie und las die Beschriftung. Natürlich, Schlafmittel! Ein erneuter Versuch, Natalia wachzurütteln, zeigte keinen Erfolg. Da ging Wetrow in das Wohnzimmer zurück und rief die Medizinische Schnellhilfe an. Dann stieg er eine Treppe abwärts und sagte zu der Frau, die dort wohnte: »Bitte Olga Petrowna, kommen Sie mit mir hinauf, Natalia hat sich offenbar etwas angetan . . .« Die Frau stieß erschrocken einen Schrei aus und folgte Wetrow. Oben bemühte sie sich um Natalia, horchte an ihrer Brust, fühlte ihren Puls und richtete sich schließlich auf. »Sie lebt! Wir müssen einen Arzt holen . . .« »Ja, ja«, brummte Wetrow unwillig, »das ist schon getan. Bleiben Sie bei ihr, bis jemand kommt!« Er beschäftigte sich am Schreibtisch damit, einige Papiere zusammenzusuchen, von denen er glaubte, daß er sie brauchen würde. Der Rest des Archivs mit seinen Aufzeichnungen war längst bei Olga Woronina in Leningrad eingelagert, teilweise auch bei Ljuba Jelanskaja. Er sah die Briefe durch, die aufgestapelt auf dem Tisch lagen, fand aber nichts, das ihn interessierte. Er hörte, wie die Nachbarsfrau im Schlafzimmer zu Natalia sprach, aber offenbar bekam sie keine Antwort. Schließlich trat sie in die Tür und fragte: »Was mag sie nur dazu veranlasst haben, Ignat Issaakowitsch?« Er zuckte die Schultern. »Ich bin Monate nicht dagewesen, komme soeben von Moskau und finde sie.« Die Frau überlegte, sah ihn fragend an. »Ignat Issaakowitsch, werden Sie wirklich auseinander gehen? Die Leute reden davon . . .« Unwirsch antwortete er: »Die Leute sollten sich um ihren eigenen Kohl kümmern. Im übrigen werden wir auseinander gehen, ja.« Ehe die Frau eine weitere Frage stellen konnte, hielt vor dem Haus der Rettungswagen, ein paar Männer mit einer Krankentrage eilten die Treppen herauf, betraten durch die nur angelehnte Tür die Wohnung. Wetrow wies ihnen den Weg zum Schlafzimmer. Einer
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von ihnen war der Arzt, er setzte sein Stethoskop an, untersuchte Natalia, dann winkte er den Trägern, und diese legten die Bewusstlose auf die Trage, deckten sie mit einer Steppdecke zu und schafften sie hinaus. Der Arzt blieb bei Wetrow stehen. Er hatte die Pillenflasche in der Hand. »Ein an sich harmloses Schlafmittel, aber sie hat wohl eine Überdosis genommen.« Wetrow zog die Augenbrauen hoch, als der Mann ihn fragend ansah. »Ich lebe seit Monaten in Moskau, bin eben angekommen und habe sie gefunden . . .« »Sie leben getrennt?« »Ja. Wird sie leben?« Der Arzt überlegte eine Weile, dann sagte er: »Es sieht so aus. Der Puls ist noch kräftig. Wir sind rechtzeitig gekommen . . .« Er wandte sich zur Tür, entschuldigte sich, er müsse mit dem Wagen mitfahren. Als Wetrow zum Fenster hinausschaute, sah er, daß auf dem Fahrzeug bereits das blaue Signallicht flackerte. Zu der Nachbarin sagte er: »Ich muß wieder nach Moskau zurück. Falls es Rückfragen gibt Natalia weiß, wo ich zu erreichen bin.« Die Frau nickte. Dann meinte sie: »Wenn sie nun . . .?« »Sie wird nicht. Es ist alles in Ordnung. Eine Idee von ihr. Mehr nicht. Sie wird das überleben.« Er wartete, bis die Frau gegangen war, dann kontrollierte er den Schreibtisch noch einmal auf Dinge, die nicht hierbleiben durften. Er sah auch in den Schränken nach und in den Schubladen. Aber er fand nichts, das mitnehmenswert war. Im Vorbeigehen klingelte er bei der Nachbarin und übergab ihr den Schlüssel der Wohnung. Eigentlich hatte er vorgehabt, hier zu übernachten und erst am Morgen zurückzufahren, aber in dieser Situation hielt ihn nichts. Weit außerhalb der Stadt parkte er den Moskwitsch für kurze Zeit und zog den Brief aus der Tasche. Er machte sich nicht die Mühe, ihn nochmals zu lesen, er zerriss ihn in kleine Fetzen und ließ sie davon flattern. Bedauern? Sie war lange ein verlässlicher Partner gewesen. Die große Liebe hatte nur kurze Zeit angehalten, aber
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Natalia hatte sich als anhänglich erwiesen. Und brauchbar. Intelligent. Hatte ihn auf vieles aufmerksam gemacht, in den Anfangsjahren, das er beachten mußte. Nur war sie nicht bereit gewesen, den Weg mit ihm zu Ende zu gehen. Angst? Vielleicht. Vermutlich war sie viel zu sehr in diesem System verwurzelt, hing an den Gewohnheiten, in denen sie aufgewachsen war, und hatte nicht den Mut, das alles in Frage zu stellen, jeden herauszufordern und letztlich die neue Existenz zu suchen. Eine schwache Frau. Er trat den Gashebel durch, der Moskwitsch flitzte über die Asphaltstraße. Es hatte ein wenig geregnet, und die Luft war kühl. Stellenweise hing Rauch in der Luft. Herbst. Man verbrannte Laub, Unkraut. Natalia beschäftigte ihn nicht weiter. Er hatte wichtigere Dinge zu durchdenken. Er lachte laut, während er so auf der Landstraße dahin fuhr. Sie geben mir den Nobelpreis! Sie hätten ihn mir nie gegeben, wenn sie mich nicht wirklich brauchten. Das heißt, die Forderungen kommen jetzt von mir. Ab sofort ist es aus mit dem Entgegennehmen, nun diktiere ich! Es wird mir eine Freude sein, jedem, der mich besucht, in allen Einzelheiten zu erklären, was ich von diesem Land denke. Ich muß mich in den nächsten Tagen mit Rosanowitsch unterhalten, überlegte er. Der hat mir angeboten, in seiner Datscha zu wohnen, die viel luxuriöser ausgestattet ist als die von Jelanski. Er beschloß, dorthin zu übersiedeln. Man konnte da die Leute empfangen, die einem zum Nobelpreis gratulieren kamen, und ihnen zeigen, daß man im eigenen Lande nicht einmal eine eigene Wohnung besaß, sondern sich bei fremden Gönnern herumdrücken mußte. Gut für die Publicity! Wetrow war guter Dinge. Schließlich sang er, um sich wach zu halten. Irgendwo trank er Tee, fuhr weiter. Als er am Morgen in Peredelkino ankam, fand er eine Nachricht Ljubas vor: »Aus der Bundesrepublik Deutschland kommt in einer Woche ein berühmter Dichter nach Moskau. Bortinger. Will Dich besuchen. Gut, ihn zu empfangen. Einflussreich. Soll ich ihn hinausbringen? Ruf an!« Thürk, Gaukler II
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Er schlief bis in den späten Mittag. Als er den Transistor anstellte, hörte er plötzlich seinen Namen. Der Sprecher von Radio Liberty verkündete den Beschluss der Nobelstiftung, ihn auszuzeichnen. Es folgten Kommentare. Wetrow rasierte sich und erfuhr dabei, daß sein Name ». . . heute von den Steppen Ostsibiriens bis zu den dreckverkrusteten Stahlwerken des Ural bekannt ist. Er ist in der ganzen Welt berühmt, in Ost und West, als ein literarischer Genius,; dessen Talent sich messen kann mit dem der größten russischen Dichter: Dostojewski, Turgenjew, Tolstoi, Gorki. . .« »Immerzu!« Er lachte und kämmte seinen Vollbart vor dem Spiegel. Dann zog er sich an und machte sich auf den Weg zum Telefon. Er rief Ljuba an. »Ich ziehe demnächst nach Puschkino zu Rosanowitsch. Was ist mit diesem Bortinger?« Sie war erstaunt, daß er die Datscha verlassen wollte, aber sie stellte keine Fragen. Teilte ihm mit, wer Bortinger war. Er brummte: »Ist das wieder so ein Phantast, der glaubt, man könnte sich mit dem Kreml arrangieren? So ein Entspannungsdichter?« Schließlich stimmte er dann doch zu, verabschiedete sich und hängte auf. Bortinger. Ich muß nachsehen, was der überhaupt geschrieben hat! Er rief noch bei Swetlana Fjodorowna an und erkundigte sich nach ihrem Befinden, berichtete, daß das Manuskript abgetippt und alles übrige auch erledigt sei, und bat sie, Rosanowitsch zu informieren, daß er morgen in dessen Datscha umziehen möchte. Catherine Laborde las einige Monate später in einer Zeitschrift, die Kartstein ihr geschickt hatte, was Bortinger über seinen Besuch bei Wetrow schrieb. ». . . Ich fand ihn, ganz und gar in seine Arbeit vertieft, im Landhaus eines Freundes, diesen Ehrfurcht gebietenden Mann, den Dichter der Wahrheit, der ein so einfacher und doch so sensibler Mensch ist. Es ist keine selbstgewählte Einsamkeit, die ihn dorthin
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treibt, wo es nur verstreut liegende Häuschen im dichten Wald gibt, keine lärmenden Passanten, keine Klubs, auch keine Kollegen; der Dichter des ,Lagertag' wird in seinem Lande isoliert wie kein anderer. Komplett scheint der Boykott zu sein, niemand wagt es, mit ihm zu sprechen. Ab und zu blickte er aus dem Fenster des Häuschens, in dem er wohnt und in dem ihm nichts gehört außer seinen Manuskripten, und dann deutet er ins Dunkel zwischen den Bäumen: ,Da sind sie wieder, die stillen Beobachter, die Schatten. Sie bewachen mich, jeden meiner Schritte, und trotzdem können sie nicht mit mir fertig werden.' Ein Gigant von einem Menschen. Er rüttelt am Gewissen Rußlands. Wird das Regime ihn deshalb vernichten? Er zeigt keine Furcht davor, nicht er hat etwas zu verlieren, nein, die Welt verlöre etwas, einen der größten Dichter nämlich, den es jemals gab! Was mich am meisten an diesem grundehrlichen Mann beeindruckt hat, ist die Ruhe, die von ihm ausgeht. Wie kein anderer an seine Größe heranreicht, so ist auch kein anderer ähnlichen Gefährdungen und Verleumdungen ausgesetzt. Er erträgt sie, mit der Gelassenheit des echten Patrioten, der sich vor Gott zu verantworten weiß, vor sonst niemandem. Und er erklärt, auf seine Isoliertheit anspielend: ,Schon in meiner frühesten Jugend lernte ich zu begreifen, daß der Starke am mächtigsten allein ist!' « Catherine legte die Zeitschrift kopfschüttelnd wieder weg. Bortinger besaß Einfluß beim PEN-Club, das hatte Sef Kartstein richtig kalkuliert, man begann bereits in diesem Gremium über Wetrow zu streiten, vor allem mit den Mitgliedern aus den sozialistischen Ländern, die gelegentlich äußerten, daß sie die hektische Publicity für diesen antikommunistischen Russen widerlich fänden. Alles lief perfekt nach Kartsteins Planung ab. Der Nobelpreisverleihung war der geschickt herbeigeführte internationale Skandal gefolgt, als Wetrow plötzlich erklärte, er dürfe nicht nach Stockholm reisen, um dort den Preis in Empfang zu nehmen. Daß er nicht einmal einen Antrag auf ein Visum gestellt hatte, verschwieg er. Er
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blieb in Moskau, in der Erwartung, daß man ihm den Preis sozusagen ins Haus schickte. Inzwischen befassten sich Moskauer Zeitungen mit dem Ereignis. Die »Iswestija« veröffentlichte eine Erklärung des Schriftstellerverbandes, in der zu lesen war, der Verband bedauere, daß sich das Nobelpreiskomitee in das unwürdige Spiel der antisowjetischen Manipulationen hatte hineinziehen lassen. Im übrigen sei in der sowjetischen Öffentlichkeit bereits bekannt, daß die Werke Wetrows, illegal aus dem Lande geschleust und in westlichen Verlagen gedruckt, Verwendung für eine große antisowjetische Kampagne finden. Die »Literaturnaja Gazeta« machte sich über den Streit einiger Emigrantenorganisationen in Frankreich und Belgien lustig, die sich gegenseitig mit der Behauptung ausstechen wollten, sie wären es gewesen, die für Wetrow den Nobelpreis beantragt hätten, sonst niemand. Und sie druckte den Beitrag einer schwedischen Zeitung ab, in dem es hieß, die Verleihung dieses Nobelpreises sei ganz offenkundig eine Provokation gegen die Sowjetunion und aus verlässlichen Quellen sei bekannt geworden, daß hinter der Manipulation die CIA stände, man das Ganze also als eine zielgerichtete Aktion im Rahmen der ideologischen Diversion gegen die Sowjetunion sehen müsse. Es war dieser Artikel, der Catherine an das erinnerte, was Glenn Ward ihr in Berlin gesagt hatte. Sicher, auch hier wurde lediglich eine Vermutung geäußert, aber diese Vermutung entbehrte nicht einer erstaunlichen Logik. Die Erkenntnis, missbraucht worden zu sein, verursachte Catherine Laborde keinen Schmerz mehr. Sie war nach und nach gekommen, bis sie sich jetzt, angesichts der immer deutlicher werdenden Beweise, verfestigte. Catherine beschäftigte sich lange mit ihrem Tagebuch, als wäre dies die einzige Möglichkeit, sich zu wehren. Es fiel ihr schwer, das aufzuschreiben, wogegen sich noch vor einiger Zeit ihre Einsicht gesträubt hatte. Mehrere Tage hindurch überlegte sie, ob es möglich wäre, etwas aus eigener Kraft zu unternehmen. Dann gab sie nach und schrieb an
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Glenn. Sie bat ihn dringend, noch in diesem Jahr den Job bei der Zeitung aufzugeben und in die Staaten heimzukehren. Wer weiß, wann eine Antwort kommen wird, Glenn hatte lange nicht geschrieben. Wieder und wieder fragte sie sich, warum kann ich nicht auch ohne Glenn einfach heimgehen? Aber sie zögerte. Ihre Entschlusskraft reichte nicht aus, sich von selbst aus dem gefährlichen Engagement zu lösen, in das sie geraten war. Und sie sah das ein. Schließlich beschäftigte sie sich, wie um sich abzulenken, mit der Überarbeitung der »Zek«. Ein zähes Manuskript, weder ein Roman noch eine Dokumentation, eine gehässige Kreuzung von Fakten und Fiktionen. Über ganze Passagen setzte der Autor sehr geschickt bekannte und historisch belegte Tatsachen ein, um in ihrem Schatten Vermutungen und Gerüchte anzubringen, deren Wahrheitsgehalt nicht zu belegen war und die oft mehr als abenteuerlich anmuteten. Das war seine Methode, Historie zu klittern, das begriff Catherine nach den ersten hundert Seiten, aber sie arbeitete weiter, brachte Präzisierungen an, baute Sätze um, bevor sie nach und nach ein Arbeitsmanuskript in englischer Sprache fertig stellte, das an Kartstein gehen sollte. Zuvor jedoch stellte sie eine Kopie von dem Manuskript her und verwahrte sie bei sich. Sie hatte noch keine feste Vorstellung, was die Verwendung dieser heimlichen Kopie betraf, aber sie war entschlossen, damit etwas in Gang zu setzen, das ihr letztlich aus der beschämenden Situation heraushalf, in der sie sich sah. Neben Wetrows Manuskript gab es immer wieder Statements auszuarbeiten, denn ausländische Journalisten reichten häufiger Fragen an Wetrow ein, meldeten sich zu Besuchen an. Trotzdem behielt Catherine Zeit genug, um an ihrem Tagebuch weiterzuarbeiten. Hatte sie in der Vergangenheit oft nur knappe Aufzeichnungen gemacht, so beschrieb sie jetzt alles, was sie tat, wie sie es tat und wer ihr behilflich war. Sie vermerkte auch den wachsenden Widerspruch, in den ihre Tätigkeit sie mit ihren eigenen Ansichten brachte, schrieb über ihr Verhältnis zu Kursanow, zu Shagin.
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Manchmal lächelte sie, wenn sie an den Aufzeichnungen arbeitete, denn vieles kam ihr vor wie eine Beichte. Aber sie führte fort, was sie begonnen hatte, und als dem ziemlich ereignislosen Winter endlich der Frühling des Jahres 1971 folgte, notierte sie ihre Eindrücke bei der Bearbeitung der »Zek«, ihre Ansicht über Wetrows neue Frau und über das ganze »Spiel«, das durch ihre Hände lief. Einer ausländischen Zeitung entnahm sie die Nachricht, daß Wetrow um die Jahreswende ein Sohn geboren worden war; die Zeitung vermerkte es wie die Geburt des Erlösers. Catherine sah Swetlana Fjodorowna in dieser Zeit nicht. Sie hatte offenbar mit dem Säugling zu tun. Zu einem Höflichkeitsbesuch war Catherine nicht aufgelegt, sie verzichtete auch darauf, zur Geburt des Sohnes zu gratulieren. Offiziell war Wetrow immer noch nicht geschieden. Hin und wieder traf sie sich mit Shagin. Sie besuchten ein paar neue Lokale, sahen sich Ballettaufführungen an oder Theaterstücke. Zuweilen fuhr sie nach Peredelkino hinaus, machte Spaziergänge, sie holte Shagin auch mit dem Datsun ab, um irgendwohin in die nähere Umgebung zu fahren, ein Museum zu besichtigen oder einfach ein paar Stunden zu wandern. Shagin begann den Verlust seiner Frau zu verwinden. Er sprach nicht viel darüber, er schien sich blindwütig in seine Arbeit zu stürzen, sich in sie zu vergraben. Gelegentlich äußerte er den Wunsch, wieder nach Sibirien zu gehen. Er schwankte zwischen dem Verlangen nach Einsamkeit und dem Bestreben, bei den Menschen zu sein, die er inzwischen als Freunde schätzen gelernt hatte. An jenem Wochenende, die Maifeierlichkeiten waren vorbei, und der Frühling brach sich endgültig Bahn nach einem unfreundlichen, nasskalten Winter, trat im Bolschoi eine junge Solotänzerin auf, die aus Sibirien kam. Eine Neuentdeckung, über die man in Moskau sprach, ein Wunder an Grazie und tänzerischem Ausdruck, mit den besten Chancen, die Reihenfolge der großen Ballerinen des Landes fortzusetzen. Shagin hatte Karten für die Aufführung besorgt und Catherine noch am Vormittag angerufen. Sie würden sich gegen Abend treffen.
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Catherine hatte mittags aufgehört zu arbeiten. Sie hatte einen Brief an Ward geschrieben, von dem sie befremdlich lange nichts gehört hatte, und war am frühen Nachmittag ins »Kristall« gegangen, ein in der Nähe ihrer Wohnung gelegenes Cafe, in dem sie dann und wann einkehrte. Wie immer waren auch heute einige Ausländer hier, die im selben Wohnkomplex untergebracht waren wie Catherine. Sie wunderte sich, als sie plötzlich Bruce Willett eintreten sah, den kleinen, kahlköpfigen Korrespondenten des »Herald«, der Wards Nachfolge in Moskau angetreten hatte, der aber nicht in dieser Gegend wohnte, sondern im Metropol. Er blieb unentschlossen in der Tür stehen und heftete seinen Blick auf Catherine, die an einem der ersten Tische saß. Schließlich machte er ein paar Schritte auf sie zu, und sie merkte, daß er mit ihr sprechen wollte; sie forderte ihn auf, sich zu ihr zu setzen. Willett zögerte. Er begrüßte sie, sah sich im Raum um, ließ seinen Blick für ein paar Sekunden auf der Kapelle ruhen, die eine ziemlich laute Musik produzierte, und setzte sich dann. Er sprach über ein paar belanglose Neuigkeiten in der Stadt, machte eine Bemerkung über das Wetter, bestellte sich einen Kognak, trank ihn aus und wandte sich endlich halblaut an Catherine: »Miß Laborde, Sie müssen entschuldigen, aber ich hätte sie gern in einer etwas anderen Umgebung gesprochen . . .« Sie stutzte. Sollte er sich auch schon in diese lächerliche Furcht vor mithörenden Spitzeln gesteigert haben, wie Wetrow sie dem Ausland als sowjetische Realität aufschwätzte? Sie kannte ihn zuwenig, um das beurteilen zu können. »Warum sprechen Sie nicht?« ermunterte sie ihn. »Die Leute sind alle mit sich selbst beschäftigt, sie hören uns nicht zu.« »Es geht nicht darum . . .« Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Als die Kellnerin im Vorbeigehen fragend auf sein ausgetrunkenes Kognakglas deutete, schüttelte er den Kopf. Catherine lächelte ihn an. »Nun reden Sie schon! Wir sind hier völlig unter uns. Übrigens habe ich Sie lange nicht gesehen. So viel Arbeit?«
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Er nickte abwesend. Dann blickte er sie an. »Es ist«, sagte er, »wegen Glenn.« Er sah, daß das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror, sie ahnte, daß etwas geschehen war. »Glenn?« »Ja. Es fällt mir schwer, Miß Laborde, Ihnen das mitzuteilen. Es hat. . . einen Unglücksfall gegeben.« Sie forschte in seinem Gesicht, dann blickte sie zum Fenster hinaus, mit einem seltsam nachdenklichen Blick, in dem keine Trauer zu sein schien, ein bißchen Ratlosigkeit vielleicht. Sie versteht es, sich zu beherrschen, dachte Willett. Sie wird nicht in Tränen ausbrechen, hier in diesem Cafe. Dies ist nicht eine von den Frauen, die laut aufschreien. Was für ein verdammtes Glück Glenn doch hatte, sie zu finden. Und was für ein Pech. »Tot?« Er nickte. Catherine berührte die Kaffeetasse mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger, schob sie ein wenig zur Seite. Dann sah sie auf, winkte der Kellnerin, legte einen Geldschein auf den Tisch und erhob sich, Willett auffordernd: »Kommen Sie!« Sie gingen schweigend hinunter zur Moskwa. An der Ecke zum Schewtschenkokai saß eine Blumenfrau und bot Veilchen an, Maiglöckchen und Osterglocken. Unten am Fluß stützte Catherine sich auf das Eisengeländer und sagte zu Willett, der betreten neben ihr stehen geblieben war: »Erzählen Sie.« Er lehnte sich an die kalten weiß gestrichenen Eisenrohre. »Es gibt nicht allzu viel zu erzählen, Miß Laborde. Ein Kollege hat mich benachrichtigt; er wußte, daß ich mit Glenn befreundet war. Es ist im Delta passiert. Ganz im Süden. Schüsse. Wenn es Sie tröstet, er muß sofort tot gewesen sein. Man sagt das zwar oft, um Leute zu beruhigen, aber in seinem Falle war es tatsächlich so . . .« Catherine blickte über den Fluß hinweg, zum Smolenskajakai. Autos, Spaziergänger, Busse. Auf dem Wasser schaukelten die ersten Boote. Aus südlicher Richtung zog einer der schnellen
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weißen Tragflächenkreuzer heran, glitt vorbei, eine breite Bahn aufgewühlten Wassers hinter sich lassend. »Dieser gottverdammte Krieg«, murmelte Catherine. Sie wandte sich Willett zu. »Warum müssen Amerikaner dorthin gehen und Krieg führen? Jeder einigermaßen vernünftige Mensch würde mir sagen, daß Glenn noch leben könnte, wenn Amerika nicht diesen Krieg führte, den niemand begreift...« Sie senkte den Kopf. »Es tut mir so leid«, sagte Willett. »Wenn jemand mit Ihnen fühlt, Miß Laborde, dann bin ich es. Ich war froh, als ich dort weg konnte, und ich habe Glenn bedauert. Ja, wir stellen uns bei einem solchen Anlaß Fragen, die wir uns früher stellen müssten . . .« Nach einer Weile wandte sich Catherine an ihn: »Wie ist es passiert? Ich will möglichst alles wissen.« Willett zuckte die Schultern. »Der Mann, von dem ich es weiß, ist nicht dabeigewesen. Glenn war auf einem dieser kleinen Stützpunkte. Fünfzig Vietnamesen, ein amerikanischer Berater von den Special Forces, Sie wissen, diese CIA-Truppe. Glenn ging mit einer Patrouille los, am Nachmittag. Die Patrouille blieb über Nacht außerhalb des Stützpunktes. Glenn kam bei Einbruch der Dunkelheit zurück, auf einem schmalen Pfad balancierend, zwischen den Reisfeldern. Er machte sich aus einiger Entfernung bemerkbar, indem er rief, er sei der Zeitungsmann. Der Amerikaner muß es wohl nicht gehört haben; er befahl einer MG-Besatzung zu feuern. Sie taten es.« Obwohl sie wußten, wer er war?« Catherine sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Ihre Blicke trafen sich. Willett bewegte hilflos die Schultern. Sie haben ihn erschossen«, sagte Catherine leise. Sie versuchte nachzudenken, Ordnung in das zu bringen, was sie da gehört hatte, aber es gelang ihr nicht. Es würde eine Zeit dauern, bis sie ganz begriff, was geschehen war. Ein Offizier von den Special Forces. CIA-Einheit. Es war, als würden sich die vielen Teile eines zerstückelten Bildes zusammenfügen, aber sie blieben nicht an ihrem
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Ort, sie bewegten sich immer wieder, sträubten sich gegen die Einordnung zu einem Ganzen. Und trotzdem wurden die Konturen für Catherine mit einemmal seltsam klar. Es gibt Zufälle, auch unglückliche. Aber es gibt nicht so viele Zufälle auf einmal. Sie blickte wieder über die Moskwa. Hier unten roch man das Wasser. Eine Spur Winter schien noch in dem Geruch zu sein, eine letzte Erinnerung an Eis und Schnee. »Vielleicht verstehe ich es«, sagte sie zu Willett. »Vielleicht . . .« Später bat sie ihn, auf dem Rückweg an dem Haus vorbeizugehen, in dem sie wohnte. »Sagen Sie dem Wachmann, der dort steht, daß jemand nach mir fragen wird, ein Russe. Ich war mit ihm verabredet. Der Wachmann soll ihm ausrichten, ich sei leider verhindert ...« Willett versprach es. Was blieb ihm übrig, als zu gehen. Die Frau war still geworden, verschlossen. Sie stand an das Geländer gelehnt und blickte über den Fluß. Vielleicht sollte man sie jetzt lieber allein lassen. Er murmelte etwas davon, sie wieder einmal anzurufen, dann ging er. Ade, Wyoming, dachte Catherine, während sie hinter ihm hersah. Begrabe alle deine Pläne, Catherine Laborde. Begrabe die Hoffnung auf das Wiedersehen mit dem großen grauäugigen Jungen. Warum haben sie ihn getötet? Weil er herausgefunden hat, daß der CIA das Haus in Berlin gehört, in dem Sef Kartstein sich mit mir traf? Wer wußte davon? Niemand außer mir und ihm. Aber es scheint dort ebenso viele unsichtbare Augen und Ohren gegeben zu haben, wie es sie hier gab, damals, als man ihn stillschweigend von seinem Posten ablöste und nach Saigon schickte. Weil er mit mir befreundet war? Warum sonst? Sie starrte auf das träge dahin fließende Wasser und versuchte verzweifelt, eine Antwort zu finden. Was ich hier tue, hat sich für mich entblättert wie eine Blüte, und jetzt ist zu sehen, was sich im Inneren verbirgt. Zu spät, um auszusteigen. Glenn hat vieles nicht gewußt, er hat nur geahnt, mehr nicht. Aber allein seine Gedanken haben ihm den Tod gebracht. Es gibt keine andere Erklärung.
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Sie ging ein paar Schritte, blieb stehen, ging weiter, wandte sich um und ging zurück, immer blieb sie in der Nähe des Flusses, stand für lange Zeit einfach da und dachte nach. Sie begriff nur, daß es keinen Sinn hatte, gegen etwas Unabänderliches wie Glenns Tod Sturm zu laufen. Nein, das würde nutzlos sein, niemand würde sich zu dem bekennen, was tatsächlich geschehen war. Shagin tauchte plötzlich neben ihr auf, nahm ihre Hand, als er ihren erschrockenen Blick sah, und erkundigte sich: »Catherine! Was bedeutet das? Was tun Sie hier?« »Wieso . . . sind Sie da?« Sie sagte es stockend. Shagin lächelte. »Ich traf vor Ihrem Haus einen kleinen Mann, der schon ziemlich lange bei dem Wachposten stand, wie er mir sagte. Wartete auf mich. Er sagte aber nur, ich solle hier hergehen, es wäre besser, wenn Sie ein bißchen Gesellschaft hätten . . .« Der besorgte Willett! Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Shagin sah sie mißtrauisch an. Kann ich ihm alles sagen? Einfach alles? Nein. Es ist unmöglich. Er ist ein Freund, er würde in der gewohnten Art schweigend zuhören, würde mir weder Vorwürfe machen noch mich stehen lassen, er würde sicher sogar versuchen, mir zu helfen. Aber wie? Dies ist nicht ein kleines Missverständnis, das sich beseitigen läßt, es ist eine Sache mit unfassbaren Dimensionen. Ich würde mich schämen, darüber zu ihm zu sprechen, gerade zu ihm. Weder er noch Kursanow sollen jemals erfahren, daß sie in jemanden Vertrauen gesetzt haben, der es nicht verdiente, obwohl er daran ziemlich schuldlos war. Es gibt zwischen uns und ihnen so viel Lüge und Betrug, daß man wenigstens im Bewusstsein des einzelnen Menschen die Gewissheit aufrechterhalten muß, es sei möglich, miteinander zu leben, ohne heimlich mit dem Messer auszuholen. »Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte sie. Shagin versuchte aus dem Klang ihrer Stimme herauszuhören, was geschehen war. Er musterte sie schweigend. Sosehr er nachdachte, es fiel ihm kein Grund ein, warum sie sich so seltsam benahm. Vielleicht hat sie Ärger gehabt in ihrer Arbeitsstelle, dachte
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er. Oder man hat ihr gekündigt, daß sie wieder nach Hause zu gehen hat, und sie ist traurig. Wer soll das wissen! Unten auf der Moskwa schwamm, dicht am Ufer, eine kleine bunte Puppe vorbei, an die ein gelber Luftballon gebunden war. »Da«, Shagin wies schmunzelnd hinab, »ein gutes Zeichen!« »Das Kind wird traurig sein über den Verlust«, sagte Catherine leise. »Aber nein! Das ist eine Hochzeitspuppe! Die Taxis sind damit geschmückt, wenn sie junge Ehepaare befördern. Haben Sie das noch nie gesehen?« »Doch, ich erinnere mich.« Sie biß sich auf die Lippe, und Shagin merkte es. Er stutzte. Verwirrt sagte er: »Sicher kommt sie von oben her, vom ,Ukraina', dort feiern viele ihre Hochzeit. Es ist Sonnabend . . .« Dann blickte er sie an. »Catherine, bitte, sagen Sie mir, was drückt Sie! Kann ich Ihnen helfen?« Man trifft selten einen Russen, der nicht helfen will, dachte sie. Eine jener vielen selbstverständlichen Gewohnheiten, die tief in ihnen stecken. Ein Bedürfnis, das zu ihrem Charakter gehört. Sie leben nicht für sich allein, sie leben füreinander. Ach, Wadja, am liebsten würde ich jetzt meinen Kopf gegen deine Schulter legen und heulen wie ein Kind! »Nein«, antwortete sie. »Danke trotzdem.« Er drängte: »Sprechen Sie doch! Oder bin ich ein Fremder? He, ich bin Wadja Shagin! Erkennen Sie mich nicht? Ich bin der Mann, der den Kindern Geschichten erzählt! Fremden Kindern! Und Sie sind Catherine, und wir sind seit einer Ewigkeit Freunde, also sagen Sie mir, was Sie drückt, und wir holen uns zwei Pferde und reiten es nieder!« »Es geht vorbei, Wadja«, sagte sie, verzweifelt auf den Schlips blickend, den er umgebunden hatte, zu dem dunklen Anzug, der für den Besuch im Bolschoi vorgesehen war. Als sie es schließlich fertigbrachte, ihm in die Augen zu sehen, fügte sie hinzu: »Glenn Ward ist tot. Mein Verlobter. In Vietnam.«
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Er stand mit herabhängenden Armen vor ihr. Seine Miene zeigte Betroffenheit. Wadim Shagin wußte nicht, was er sagen sollte. Es gab wohl nichts weiter zu sagen. Als sie sich von ihm abwandte, sich wieder an das Geländer lehnte und auf das Wasser hinuntersah, folgte er ihrem Blick. Dort unten schaukelte immer noch die bunte Puppe in den Wellen, und der gelbe Luftballon, vom leichten Windzug bewegt, zerrte vergeblich an ihr.
III. Oleg Chworzow hatte sogar seine Gitarre mitgebracht. Er trug sie in letzter Zeit fast ständig mit sich herum, in einen Segeltuchüberzug gehüllt. Es war ein teures Instrument, er hatte es in einem BerjoskaLaden gekauft für Valuta, die ihm das erste Tonband voller so genannter Protestlieder eingebracht hatte. Chworzow besaß überhaupt viel Geld. Die Rubel, die er illegal für Valutabons eingetauscht hatte, würden noch eine Weile reichen. Dennoch mußte er daran denken, wieder etwas zu liefern. Chworzow hatte auch schon eine Idee. Im Westen war man reinweg vernarrt in Wetrow, das konnte man von Ausländern erfahren. Alle Zeitungen druckten das, was er sagte, überall standen seine Bücher herum, und jeder, der etwas auf seinen Ruf als Antikommunist hielt, versicherte ihn öffentlich seiner Sympathie. Daraus mußte sich doch Geld machen lassen! Im Schatten des Genies sozusagen. Chworzow saß ausgestreckt in dem Sessel, kaute an einem Stück Kuchen herum, goß Kaffee hinterher, und ab und zu griff er nach dem Wodkaglas, das wie selbstverständlich neben der Kaffeetasse stand. Ein Liedchen über den genialen Dichter, wie wäre das? Vom Leben unterm Damoklesschwert der KGB! Der Mann, der die Wahrheit herausspuckt wie ein Maschinengewehr die Salven! Und die Einsamkeit, die Furcht, die Besessenheit, der Welt ins Gesicht zu sagen, was für ein System das war, das sowjetische! Himmel, er hatte sogar Familie, jetzt, endlich! Kinder! Da saß Swetlana Fjodorowna, mit der unvermeidlichen Schürze über dem Umstandskleid, aufgedunsen, mit blassem Gesicht, tiefe Schatten unter den Augen, ein Klumpen Verzweiflung in der relativ großen Wohnung in der Gorkistraße. Und starrte ihn an. »Mütterchen«, sagte Chworzow feixend, »du bist ein Thema für sich! Die Madonna mit dem Hausfrauenblick. Aus dir kann man ein halbes Dutzend Songs machen, aus deinen Ängsten, Nöten, aus deiner stillen Dulderseele, aus all deinen unerfüllten Hoffnungen,
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deiner Hingabe, der Lauterkeit deines Charakters, die dich dazu bewegt, bei dem großen Verfolgten zu bleiben, obwohl das mit Entbehrungen verbunden ist, mit Zurücksetzungen! Tu mir einen Gefallen, sag, wie schafft er das bloß, daß er dich bei all seiner emsigen Schreiberei schon wieder dick gemacht hat?« »Du bist ein Schwein«, erwiderte Swetlana Fjodorowna matt. Chworzow protestierte: »Swetlana, Mütterchen, warum gebrauchst du so harte Worte? Kennen wir uns nicht lange genug, um zu wissen, wer wir sind?« »Was willst du?« fauchte sie ihn an, in einem unerwartet barschen Ton. Sie war entschlossen, sich diesen Kerl vom Hals zu schaffen, er sollte nie wieder bei ihr erscheinen. Ein Glück, daß Wetrow in Leningrad war. Wenn der wüßte, daß Chworzow hier sitzt, er würde sofort die Rückreise antreten. Chworzow war für ihn ein rotes Tuch, er rollte schon die Augen, wenn nur der Name fiel. »Ich will gar nichts«, sagte der Liedersänger, immer noch grinsend. »Oder doch, Mütterchen. Ich will dir ein Geschäft vorschlagen. Hast du mich wirklich nicht verstanden? Ich mache Songs, ich werde auch über deinen Dichter einen machen, vielleicht ein halbes Dutzend, und ich will, daß er mitmacht, klar? Ich will, daß er seinen Gönnern drüben im Westen bekannt gibt, Chworzow sei von ihm autorisiert, die Tragödie des einzigen wahren Dichters der Sowjetgegenwart in Liedern zu besingen. Ein klares Geschäft: Ich habe den Nutzen von den Liedern, er hat den Nutzen von der Publicity. Reden wir nun ernstlich darüber, oder nicht?« Sie überlegte. Wer konnte wissen, wie sich Wetrow zu diesem Vorschlag stellen würde? Vielleicht vergaß er angesichts der Vorteile, die ihm durch die Lieder entstehen konnten, seine Antipathie gegen Chworzow. Aber war es klug, ihm die Sache überhaupt vorzutragen? Er könnte ebenso mit einem Wutausbruch darauf reagieren! Schließlich sagte sie: »Ich werde es ihm ausrichten.« So als ob sie das nicht weiter interessierte. Chworzow nickte. »Hast du noch ein bißchen von dem Kuchen, Mütterchen?«
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Sie fuhr auf: »Sag nicht dauernd Mütterchen! Du bist ein Rüpel! Ich höre mir das nicht länger an!« Sie erhob sich trotzdem, ging in die Küche und holte Kuchen, den Chworzow ungeniert zu verspeisen begann, während er sagte: »Warum regst du dich so auf? Ich sage Mütterchen, und du bist es. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, daß du das Mütterchen der Kinder des Meisters bist! Im übrigen ist das eine hervorragende Rolle für dich. Wenn man bedenkt, daß du nicht gerade die allerbesten Anlagen mitgebracht hast, für so ein Mütterchen . . .« Hatte es Sinn, sich mit ihm zu streiten? Swetlana Fjodorowna beschloß, nicht weiter auf seine Frechheiten zu reagieren. Es war schwer, jemanden in die Schranken zu weisen, mit dem man lange Zeit auf die Art befreundet gewesen war wie sie mit Chworzow. Sie sah, daß seine Kaffeetasse leer war, goß nach und dachte, hoffentlich können wir bald die Stadt verlassen, das Land, damit alles zurückbleibt, was sich einem immer wieder aufdrängt! Sie dachte an das Kind, das sie in kurzer Zeit zur Welt bringen würde. Das dritte. Nun ja, wir sind inzwischen endlich verheiratet, und er hat im Westen das Image eines seriösen Mannes mit drei Kindern! Hol der Teufel alles, was war, die Zukunft wird bei weitem nicht so turbulent sein wie die Vergangenheit, aber sie wird sieben Stellen vor dem Komma haben, in Dollar, und das ist etwas! »Wovon lebst du eigentlich?« erkundigte sie sich. Chworzow lachte. »Von der Luft und von der Liebe! Warum fragst du?« »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, deshalb.« Er nickte. »Ja, seit dem Tag, an dem Twardowski begraben wurde. Da sah ich dich. Ist nun schon länger als ein Jahr her, viel länger. Übrigens habe ich an diesem Tage erst so recht begriffen, welch ein kluger Mann der große Meister ist! Jeder wußte, daß der gute Twardowski ihn nicht mehr sehen wollte, daß er sich sozusagen enttäuscht von ihm abgewandt hatte. Aber der große Meister brachte es fertig, sich bei dem Begräbnis bis ganz nach vorn durchzudrängen, an den Sarg, den offenen, und er küßte den Toten auf
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die Stirn! Himmel, das war eine reife Leistung! Der Schüler, der über den Meister hinausgewachsen ist, der ihn aber trotzdem selbst Im Tode noch ehrt, auf die traditionelle russische Weise! Ein Mann, vor dem man in Ehrfurcht erstarren muß! Wäre nicht der tote Twardowski da gewesen, hätte die Show völlig dem großen Meister Wetrow gehört! Wahrlich, eine Leistung, die mir Respekt abgenötigt hat. So was hätte ich nie fertig gebracht, ja, ich wäre nie auf die Idee gekommen! Da sieht man den Unterschied zwischen einem Laien Und einem Genie!« Sie wollte darüber nicht sprechen, darum fragte sie schnell: »Du hast mir nicht geantwortet. Wovon lebst du?« Er zuckte die Schultern. »Ich verdiene Devisen, ab und zu.« »Und man läßt dich in Ruhe? Oder arbeitest du irgendwo?« Chworzow griff lächelnd in die Innentasche seines karierten Jacketts, holte eine lederne Brieftasche hervor und entnahm ihr zusammen mit dem Ausweis ein Schriftstück, das er ihr hinhielt. »Du bist krank?« Es war eine ärztliche Bescheinigung, daß Oleg Chworzow wegen psychischer Depressionen in Behandlung sei. Es folgte der Hinweis, daß der Träger dieser Bescheinigung das Recht habe, in Gefahrensituationen Hilfe von Amtsstellen in Anspruch zu nehmen. »Der kleine, viel begehrte Jagdschein, meine Liebe! Er regelt alles.« In der Tat stellten die Behörden des Gesundheitswesens solche Bescheinigungen für Bürger aus, die sich in psychiatrischer Behandlung befanden. Swetlana Fjodorowna wußte, daß es schon seit einiger Zeit unter den Randfiguren der künstlerischen Szene üblich war, sich mit solch einem Dokument vor einer regulären Arbeit zu drücken, aber es war nicht ganz einfach, es zu bekommen. »Wie hast du das gemacht?« wollte sie wissen. Chworzow steckte die Bescheinigung wieder ein und sagte leichthin: »Ich schlafe nachts nicht mehr. Außerdem sehe ich ganz deutlich, wie die kleinen grünen Männlein mir nachstellen, Tag und Nacht, ich sehe sie immer hinter mir, sie folgen mir, kriechen mit mir ins Bett, geben keine Ruhe. Ich habe Kopfschmerzen, wenn ich
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mich nur unvorsichtig bewege, ganz fürchterliche Schmerzen in der Stirn, sie zermürben mich, meine Kinnlade klappt herab, es saust in den Ohren. Der Psychiater, bei dem ich war, hatte ein Einsehen, er behandelt mich regelmäßig. Mit allem möglichen. Auch mit Pillen. Die schmeiße ich in die Moskwa. Ruhe und viel Spaziergänge sind mir verordnet. Trifft sich gut, nicht?« »Und wie lange willst du das so machen?« »Solange es geht. Nach einer gewissen Zeit, wenn sich mein Zustand nicht bessert, ist der Arzt allerdings verpflichtet, mich in meinem eigenen Interesse stationär behandeln zu lassen. Dann wird die Sache kritisch. Entweder man spielt dann den Gesunden, und damit ist es aus mit einer Verlängerung der Bescheinigung, oder man wird in eine Krankenanstalt eingewiesen. Das eine so unangenehm wie das andere. Obwohl ich höre, daß ein paar Leute großen Erfolg im Westen haben, nachdem sie sich in eine Anstalt einweisen ließen. Der Betreffende wird dort über Nacht ein armer, von allen Leuten bedauerter Bürgerrechtsheld. Soll sich gelegentlich auszahlen. Aber mir ist das zu riskant, ich bin auch nicht so gut im Schauspielern, es fiel mir schon schwer genug, den Arzt zu überzeugen, daß es die kleinen grünen Männlein gibt. . . Tja, meine Liebe, damit wären wir wieder beim Geschäft! Was hältst du von meinem Vorschlag mit den Songs über den Meister?« »Ich weiß nicht«, sagte sie unentschlossen. Vielleicht brauchte man Wetrow dies alles gar nicht zu schildern. Die Idee mit den Songs war gut. Natürlich war es hervorragende Publicity, wenn aus Moskau illegal gefertigte Songs herausgeschmuggelt wurden, die sich mit der Tragödie des hervorragendsten Dichters der Gegenwart beschäftigten. Mochte Chworzow Geld daran verdienen, das störte nicht. »Wie willst du die Lieder nach drüben schmuggeln?« Chworzow sah sie an. »Das willst du von mir wissen? Ich denke, der große Meister hat bei weitem die besten Kontakte in dieser Richtung? Ist das nicht so?« »Nicht für deine Lieder«, wehrte sie ab. »Nein. Das würde er nicht machen.«
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»Aber er könnte mir wenigstens einen Tipp geben, Liebe!« Chworzow rieb sich die Hände an seiner Jacke ab, griff in die Tasche und brachte Zigaretten zum Vorschein. Er rauchte nervös. »Sieh mal, früher war das einfacher. Da gab es Taschuk. Der ist perdu. Melentjew hatte auch immer ein paar Fäden, die nach draußen führten. Er war ein schlauer Hund, hat sich von einer englischen Universität einladen lassen und ist einfach dortgeblieben, der scheidet also auch aus. Dann war immer noch Lennartson da, aber den hat man nach Hause geschickt. Nun bin ich etwas ratlos. Natürlich gibt es ein paar Korrespondenten, an die man sich wenden kann, aber die Kerle sind mir zu unzuverlässig. Mag sein, daß sie um ihre Akkreditierung fürchten, jedenfalls macht da nicht jeder gleich mit, und um Tonbänder zu exportieren, muß einer schon ein bißchen Risiko auf sich nehmen.« »Also hast du gedacht, Ignascha könnte dir das vermitteln?« Er grinste sie an. »Ja«, sagte er mit entwaffnender Offenheit. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, das tut er nicht. Du mußt dich selbst umsehen.« »Hat er Angst?« »Es geht nicht darum. Er steht für die gesamte freiheitliche russische Dichtung der Gegenwart, das ist eine Position, die es ihm nicht erlaubt, seinen Gegnern eine billige Handhabe zu liefern, um gegen ihn vorzugehen . . .« Chworzow winkte ab. »Gut, gut! Du brauchst mir keinen Vortrag zu halten! Ich verstehe schon. Tu mir wenigstens einen anderen Gefallen, rede Wetrow zu, daß er bei seinen Kontaktleuten auf mich verweist. Das kostet nichts. Nur den Leuten versichern, ich sei der Mann, von dem er Lieder über sich erwartet, das genügt schon. Ich traue mir zu, auch allein Kontakt zu ihnen zu kriegen.« Sie nickte. Das konnte sie zur Not erledigen, ohne Wetrow davon zu erzählen. Damit würde sie Chworzow zunächst los, und das war jetzt wichtig. Sie bat: »Sprich nicht mit anderen darüber!« Er lachte. »Mit wem glaubst du zu reden? Bin ich nicht lange
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genug im Geschäft, um zu wissen, daß Diskretion die Hauptsache ist? Wo ist eigentlich der Meister?« »In Leningrad.« Chworzow rekelte sich im Sessel. »Na ja«, sagte er, »da wird er auch nicht gerade die ganze Nacht Gedichte rezitieren. Ich verspreche dir jedenfalls, ich mache wunderbare Songs über ihn und dich und über die KGB, die ihn belauert, über die Banausen im Schriftstellerverband, die Lackierer der Wirklichkeit, über das stille Heldentum, das in der Suche nach der Wahrheit liegt. Ich habe so viele Ideen, daß ich eine Langspielplatte füllen könnte. Werde es auch tun. Die Söhne schlafen, die Mutter bangt, der Vater sitzt unter der Lampe und schreibt mühsam Wort für Wort sich das wahre Leben aus der Seele... ach, wir machen das schon!« Wetrow kam zwei Tage später zurück. Er begrüßte Swetlana Fjodorowna zärtlich, nahm die beiden Kinder auf den Arm, aber bereits nach kurzer Zeit zog er sich in das kleine Arbeitszimmer zurück, das ihm Swetlana Fjodorowna in der Wohnung eingerichtet hatte. Er sortierte die Manuskriptseiten und legte sie sorgfältig zusammen. Die »Zek« waren fertig! Ein Exemplar hatte er zur Sicherheit in Leningrad bei der Woronina gelassen. Er hatte auch einen weiteren Teil seiner Aufzeichnungen dorthin mitgenommen, Notizen, Zuschriften im Zusammenhang mit dem Lagerthema. Die Woronina würde das alles aufbewahren, niemand verdächtigte sie, eine harmlose, unauffällige Person. Wenn in Moskau oder Peredelkino eine unvorhergesehene Kontrolle stattfinden sollte, würde sie nur einen kleinen, unbedeutenden Teil der Aufzeichnungen gefährden können, die Wetrow für seine zukünftige Arbeit brauchte. Die zukünftige Arbeit! Wetrow fühlte sich, nachdem er die vielen hundert Seiten von »Zek« fertig vor sich liegen sah, ein wenig hilflos, ausgehöhlt. Er konnte seine Gedanken nicht auf eine neue Arbeit konzentrieren, dazu war die Anstrengung der vergangenen Monate zu stark gewesen, ein Wettlauf mit der Zeit,
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Tage und Nächte vor dem Papier, auf dem sich Zeile um Zeile reihte. Kr hatte es durchgestanden, weil ihn der Gedanke beflügelte, daß dieses Buch im Gegensatz zu allen anderen, die zuvor geschrieben worden waren, eine endgültige Entscheidung herbeiführen würde. Die Auslegung des gesamten sowjetischen Strafvollzugs in der Periode des Personenkultes als grundsätzliche und systembedingte Unmenschlichkeit, wie Wetrow sie in den »Zek« vornahm, würden den Staat in beispielloser Weise herausfordern. Trotzdem war Wetrow sicher, daß man nicht mit administrativen Maßnahmen gegen ihn vorgehen würde. Aber man würde ihm wohl keine Hindernisse in den Weg legen, wenn er durchblicken ließ, daß er gewillt wäre, das Land zu verlassen. Emigration, das war das Ziel. Wetrow sagte sich nüchtern, daß seine Rolle im Lande ausgespielt war. Einen spektakulären Abgang zu finden, das war wichtig, sonst nichts. Jedenfalls werde ich hier keine Zeile mehr schreiben, nahm er sich vor. Selbst die Aufzeichnungen für eine Art Tagebuch, das leine »Erfahrungen mit der sowjetischen Kulturpolitik« festhielt, hatte er eingestellt, den bereits geschriebenen Teil auf Filmstreifen gesichert und zur Ausschleusung nach dem Westen vorbereitet. Nein, es gab hier nichts mehr zu tun. Abschied nehmen? Von wem? Er ging in das Kinderzimmer. Eigentümlich, in diesem Alter Nachkommenschaft zu zeugen! Nun ja, dies alles war nicht vorgesehen gewesen, und eigentlich hat mich Swetlana Fjodorowna ein bißchen überrascht mit der Mitteilung, daß sie schwanger sei, ein ums andere Mal. Sie legte es darauf an. Sie will Sicherheit. Er lächelte. Man gewöhnt sich daran, Kinder zu haben. Außerdem sind sie nützlich. Aus dem gefährdeten Dichter Wetrow ist für die öffentliche Meinung im Westen die gefährdete Familie eines Nobelpreisträgers geworden! Selbst der Papst in Rom würde sich vermutlich für eine solche Familie einsetzen, falls ihr Gefahr droht. Er schloß leise die Tür hinter sich. Im Wohnzimmer war Swetlana Fjodorowna dabei, den Tisch abzuräumen. Es ging langsam, ihre Bewegungen waren träge. Mit diesem Kind ist die Grenze erreicht, dachte Wetrow. Wenn ich im Ausland bin, will ich eine Frau haben,
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die ich gelegentlich vorzeigen kann. Leben, ein wenig arbeiten, öffentlich auftreten, soviel wie möglich reisen, Gleichgesinnte sammeln und immer wieder leben, das war die Zukunft. »Hast du die Amerikanerin schon angerufen?« erkundigte er sich. Swetlana Fjodorowna nickte. »Sie kommt am Abend.« »Gut«, sagte er. Dann entschloß er sich: »Ich werde am Nachmittag nach Puschkino fahren. Ich habe die Absicht, ein paar Briefe zu schreiben, in Ruhe. Außerdem wird es Besucher geben, Journalisten haben sich angemeldet, ich will nicht, daß sie hier herkommen . . .« Sie war einverstanden. Es war besser, wenn er dort draußen blieb. Solange er sich hier aufhielt, mußte sich der ganze Haushalt auf ihn einstellen, es durfte nicht laut gesprochen werden, nicht einmal in der Küche, die Kinder störten ihn, wenn sie weinten, und selbst das harmlose Klingeln eines Nachbarn, der etwas aus der Stadt mitbrachte, versetzte ihn in einen Zustand der Unruhe, der manchmal Stunden anhielt. Dann stürmte er durch die Wohnung, nörgelte über alles, was ihn sonst kaum störte, und man war froh, wenn er sich endlich wieder in das kleine Arbeitszimmer zurückzog. »Soll ich der Amerikanerin noch etwas ausrichten?« Er schüttelte den Kopf. Dachte nach. Dann sagte er: »Sie soll das Manuskript möglichst schnell expedieren. Auf dem üblichen Wege. Die Filme sind nummeriert. Liegen in den Büchsen, auf dem Schreibtisch.« »Du gibst Filme und Manuskripte zusammen weg?« »Die Filme gehen nach Amerika, für die Übersetzung. Das Manuskript geht nach Paris, für die russische Ausgabe. Das ist alles geregelt, wir machen das so, weil wir durch die russische Ausgabe die Urheberrechte festlegen. Aber das braucht dich nicht zu interessieren, die Amerikanerin weiß Bescheid. Sie soll den Brief lesen, den ich dazugelegt habe. Darin steht alles, was ich an Wünschen und Aufträgen für sie habe.« »Kannst du mir Geld dalassen?« Sie sagte es leise. Er suchte in seiner Brieftasche herum und legte ein Päckchen Rubelscheine auf den Tisch.
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»Ich werde Valuta brauchen.« Er suchte nochmals in der Brieftasche und legte neben die Rubel ein paar Valutabons. Eine Menge davon war in der letzten Zeit verbraucht worden. Auch die Woronina hatte sich gefreut, ein Geschenk dieser Art zu erhalten. Was sie wohl dafür kaufen wird? Französischen Kognak? Kaviar? »Wenn du mehr brauchst, muß ich zur Bank.« »Es reicht. Wann kommst du wieder?« Er zuckte die Schultern. Schwer zu sagen. Die Dinge konnten sich lehr bald zuspitzen, aber es konnte ebenso gut noch Monate dauern. Bis das erste gedruckte Exemplar der »Zek« auf den Markt kam, ließ sich nichts Bestimmtes sagen. »Irgendwann, am Wochenende vielleicht, bin ich wieder mal hier«, tröstete er die Frau. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie. Als sie zu ihm aufsah, mit jenem seltsam unsicheren Blick, an den er sich inzwischen gewöhnt hatte, strich er mit der Hand leicht über ihren Bauch und sagte: »Nimm dich in acht und Überanstrenge dich nicht. In der heißen Sommerzeit mußt du bei deinem Zustand besonders vorsichtig sein . . .« Sie lächelte. Es war ein erleichtertes Lächeln. Gut, daß er keine Ahnung von Chworzow hat, er wäre überhaupt nicht ansprechbar! Nun ja, mit dem Land würde sie das alles zurücklassen. Eine Vergangenheit, an die sie sich unter keinen Umständen mehr erinnern würde! Eine Stunde später ließ er den Motor des Moskwitsch an und fuhr ab. Durch die geöffneten Fenster der Datscha zog der Geruch von Kiefernnadeln und Wildblüten. Jetzt, im frühen Sommer, war das Haus vom Weg her so gut wie nicht zu sehen. Dichtes Gebüsch säumte den Zaun, die belaubten Baumkronen verwehrten jeden Blick. Der große Raum im Erdgeschoß war elegant eingerichtet. Die Möbel hatte der Besitzer nach eigenen Entwürfen anfertigen lassen. Der Boden war mit schweren Teppichen bedeckt. Im Haus gab es
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einen Fernseher, mehrere Kühlschränke und einen elektrischen Kamin, den der Hausherr von einer Reise mitgebracht hatte. Ein Fahrstuhl war in den letzten Jahren eingebaut worden, ein seltsames Instrument, ohne Kabine, nur mit einem Podest, auf dem man vom Erdgeschoß in den ersten Stock hinauffahren konnte. Ein Scherz? Der Hausherr war stolz darauf, obwohl der Fahrstuhl viel Platz einnahm und die Harmonie in der Einrichtung der Datscha störte. Ein mechanischer Fremdkörper in einer Welt, in der es sonst lediglich Zeichen des guten Geschmacks gab und teure, aber genau aufeinander abgestimmte Gegenstände. In der Datscha war es still. Wetrow saß an dem Schreibtisch aus finnischer Birke, der sonst kaum genutzt wurde, es sei denn, der Besitzer schrieb einmal einen Privatbrief oder ein paar Autogramme. Die Platte war mit einer dicken Glasscheibe bedeckt, auf die Wetrow seine Schreibmaschine gestellt hatte. Er war dabei, ein Statement zu entwerfen, das sich mit der Rolle jener ausländischen Politiker beschäftigte, die mit der Sowjetführung verhandelten, um Möglichkeiten besserer Zusammenarbeit zu erörtern. Vor Wochen war er durch Catherine Laborde ermuntert worden, nun auch in weltpolitischen Fragen seine Meinung öffentlich zu äußern. Wetrow bezeichnete alle Entspannungsbemühungen als fragwürdig, er erklärte, freiheitlich gesinnte Sowjetbürger betrachteten die Annäherungsbestrebungen westlicher Länder an die Sowjetunion als Verrat. Ohne Rücksicht auf eine gegen das Sowjetregime kämpfende »innere Opposition« würden sich die westlichen Staatsmänner mit den Herrschern im Kreml einigen wie Krämer. Wetrow selbst machte sich zum Sprecher der »Rechtlosen« und »Unterdrückten«. Ein Dichter sei das Gewissen der Nation, er könne Dinge sehen, die anderen verschlossen blieben, er wäre kompetent, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden! Ignat Issaakowitsch Wetrow war sich darüber klar, daß er gegenwärtig die Hauptwaffe in einem Feldzug war, der das Ziel hatte, die staatliche Ordnung der Sowjetunion für die westliche Welt möglichst fragwürdig darzustellen. Nun gut, diese Statements wurden
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ausgezeichnet honoriert, man konnte also zufrieden sein. Als es Abend wurde, hatte er den Text entworfen. Er ließ ihn zunächst liegen, wie das seine Art war. Morgen würde er weiter daran arbeiten, ihn in die endgültige Form bringen. Inzwischen war anderes zu erledigen. Er hatte aus Zeitungsausschnitten, die ihm Ljuba Jelanskaja mitbrachte, erfahren, daß sich Bortinger in Westdeutschland erstaunlich vehement für ihn einsetzte. Sehr geschickt, dachte er, als er sich ein neues Bündel solcher Ausschnitte vornahm: Der Mann operiert aus einer Position, die nicht so leicht zu erschüttern ist. Ein Freund des Sowjetvolkes, der dessen Regierung gut gemeinte Ratschläge gibt, durch deren Befolgung das internationale Renommee der Staatsführung weiter verbessert werden sollte! Darauf muß man erst einmal kommen! Es muß mir gelungen sein, ihn zu beeindrucken, sagte sich Wetrow. Als er mich damals besuchte, war er sehr zurückhaltend, hörte still zu, ereiferte sich nicht, stellte nur hin und wieder eine Frage und versicherte im übrigen immer wieder, daß die Sowjetunion mit allem, was sie biete, einschließlich Wetrows, seine tiefe Sympathie habe. Gut so. Gegen das Wort eines anerkannten Dichters war schwer anzukommen, besonders wenn er sich als Freund der Sowjetunion bezeichnete. Was er sagte, hatte weit mehr Gewicht als alles, was etwa Literaturtheoretiker erklärten oder Rezensenten. Es war wohl diesem Umstand zuzuschreiben, daß selbst der Kanzler der westdeutschen Regierung gelegentlich ein Wort über die Rolle eines Mannes wie Wetrow fallenließ. Dies alles überlegte der einsame Mann in Puschkino, als er sich gegen Abend daranmachte, einen Brief an Bortinger zu entwerfen. Er hatte sich in Leningrad dazu entschlossen, nachdem die »Zek« fertig waren und das Ende einer Periode seines Lebens absehbar wurde. Bortinger mußte erneut mobilisiert werden, er konnte den entscheidenden Anstoß geben für den Start in die nächste Phase. Also schrieb Wetrow ihm ausführlich, daß er soeben ein äußerst gewichtiges, hochpolitisches Werk fertig gestellt habe, dessen Ver-
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öffentlichung ihn unter Umständen seine Freiheit kosten könnte, ja sogar das Leben. Er schrieb über seine Isolation, über Drohungen, anonyme Briefe und Anrufe, die ihn und seine Familie beunruhigten. Er vergaß nicht zu erwähnen, daß er sich im verstärkten Maße beobachtet und bespitzelt fühlte, daß er und seine Familie unter dieser unerhörten Belastung seelisch litten und an eine gedeihliche Arbeit nicht mehr zu denken sei. Vorsichtig deutete er an, daß er sich bisher mit aller Bestimmtheit gegen den Gedanken gewehrt habe, eines Tages sein Land verlassen zu müssen, aber im Augenblick sähe es so aus, als gäbe es keine andere Wähl. Er sei sich darüber klar, daß er mit seinem Vaterland den Boden unter den Füßen verlieren würde, aber er wüßte bald keine andere Möglichkeit mehr, sein eigenes Leben und das seiner Familie zu retten. Die Weltmeinung, so hoffte er, würde für seine Situation Verständnis haben. Er sei verzweifelt, habe in diesem Lande keinen Freund mehr, es sei eine unmenschliche Zumutung, die geschilderte Belastung noch auf unabsehbare Zeit ertragen zu müssen. Es wurde ein langer Brief. Wetrow bat Bortinger auch, ihn zu besuchen, wenn er wieder in Moskau sein sollte. Allein die Tatsache, daß er den Mut aufbrachte, zu ihm zu kommen, würde schon eine echte Hilfe sein. So, dachte er, als er gegen Mitternacht mit dem Brief fertig war, das wird ihn alarmieren. Was immer er daraufhin unternimmt, es wird in dem Augenblick für mich von Nutzen sein, in dem die »Zek« erscheinen. Es wird einen Sturm geben. Meine Rache ist erfüllt! Am Morgen, die Sonne stand schon hoch, machte er sich zu einem Spaziergang auf. Er hatte schlecht geschlafen, unruhig, war deshalb noch vor Tagesanbruch aufgestanden, hatte sich gewaschen, Tee getrunken und die Überarbeitung seines Briefes an Bortinger begonnen. Er fügte hier und da etwas an, beseitigte Wiederholungen, dann tippte er das Ganze sorgfältig ab, adressierte es, und jetzt benutzte er den Spaziergang, um den Brief auf der kleinen Poststelle zur Beförderung aufzugeben. Die Sonne brannte bereits mit großer Kraft. Der Sommer!
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Wetrow war sicher, daß er ihn noch hier verbringen würde. Der nächste Sommer, sagte er sich, wird ein anderes Gesicht haben. Berge in der Schweiz. Er legte die Hände auf den Rücken und wanderte durch den lichten Laubwald, hinüber zur Straße, wo die Kiefern standen und der Boden angenehm duftete. Den Kopf leicht gesenkt, schritt er weit aus. Er begegnete einigen Leuten, die ihn nicht beachteten, und auch er blickte sich nicht nach ihnen um. Er hob einen Stock auf und schlug gelegentlich nach einem Zweig. An einem Ameisenhaufen blieb er stehen, betrachtete das Bauwerk der winzigen Tiere. An der Straße angekommen, die nach Moskau führte, beobachtete er den Verkehr. Moskau. Das wird eines Tages auch der Vergangenheit angehören. Wird Erinnerung sein. Material für Bücher vielleicht, wenn sich das Geschäft lohnt. Nur dann. Ein Mann, der über etwas mehr als zwei Millionen verfügt, arbeitet nicht mehr für seinen Unterhalt, er tut nur noch das, was ihm Spaß macht. Eine unbestimmte Neugier auf die Städte des Westens erfasste ihn, auf die fremden Landschaften, die Laute, Gerüche. Wie wohl werde ich mich fühlen, dachte er. Von meiner Veranda aus die Berge betrachten. Wandern. Und ein geachteter Mann sein. Weltberühmt. Der Dichter, der sich in der Fremde herumschlagen muß. Er lachte lauthals, warf noch einen Blick auf die Straße, spuckte kräftig aus und machte sich auf den Rückweg. Catherine Laborde schaltete den Scramble-Recorder aus und nahm eine Zigarette. Sie hatte das Band zum zweitenmal abgehört, nun ließ sie es löschen. Kartstein hatte ihr nicht viel mitzuteilen gehabt. Die »Zek« waren von ihm gelesen worden, aber er enthielt sich einer Wertung. Er bemerkte nur, daß das wohl kaum als belletristische Arbeit aufzufassen sei, eher als eine Art Report, mit unverhältnismäßig vielen, stark subjektiv gefärbten Kommentaren, Urteilen, Vermutungen durchsetzt. Immerhin ein Werk, das eine große Publikumswirkung erzielen könne, meinte Kartstein, allerdings sei das abhängig von dem Zeitpunkt, zu dem es eingesetzt
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werde. »Eingesetzt.« Kann man Literatur »einsetzen«? Indem Catherine sich das fragte, wußte sie, daß es müßig war, im Zusammenhang mit Wetrow eine solche Frage noch zu stellen. Natürlich wurde seit langem alles, was er schrieb, von Kartstein »eingesetzt«. Der Alte hatte auch angedeutet, daß etwa gegen Ende des Jahres der beste Zeitpunkt der Herausgabe der »Zek« gekommen sein könnte. Bestimmte weltpolitische Zusammenhänge würden dann einen Entwicklungsstand erreicht haben, der es wirkungsvoll erscheinen ließ, mit den »Zek« für einen Paukenschlag zu sorgen. »Paukenschlag« hatte er wörtlich gesagt. Es war nicht schwer, zu erraten, in welchem weltpolitischen Zusammenhang Kartstein die »Zek« mit Gedröhn präsentieren wollte. In den letzten Jahren hatte sich in breiten Kreisen der Bevölkerung westlicher Länder die Neigung verstärkt, in einer Welt ohne gefährliche Spannungen leben zu wollen, von denen jeden Tag ein Krieg ausgehen konnte. Das Scheitern des Vietnam-Abenteuers der Vereinigten Staaten hatte zu diesem Stimmungswandel erheblich beigetragen. Die Einsicht, daß man weder einzelne sozialistische Staaten noch das gesamte sozialistische Staatensystem durch konzentrierte militärische Aktionen einfach ausschalten könnte, war inzwischen allgemein. Verträge zwischen der Sowjetunion und kapitalistischen Staaten, die das Verhältnis zueinander auf der Basis gegenseitigen Nutzens regeln sollten, waren abgeschlossen worden. Zusammen mit dieser Entwicklung stieg in den Ländern des Westens das Interesse an der Art und Weise, wie Leute in sozialistischen Staaten lebten. Wenn Kartstein darin einen Anlaß sah, mit Wetrows Büchern einen gewissen Bremseffekt zu bewerkstelligen, so entbehrte das nicht der Logik. Je mehr Catherine ihre Arbeit aus diesem Blickwinkel betrachtete, desto leichter fiel es ihr zu verstehen, was Glenn Ward gemeint hatte, als er erklärte, die CIA sei mit den vielen Fäden, die sie zu spinnen imstande war, das entscheidende Instrument einer neuen Variante der Kriegführung gegen den Kommunismus. So einfach ist die Sache, dachte Catherine. Sef Kartstein setzt das,
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was Wetrow schreibt, für die Agentur im Rahmen einer größeren Strategie ein. Und Catherine Laborde, die hoffnungsvollste Slawistin aus Kartsteins Stall, sitzt in Moskau, um die Aktion technisch zu leiten und Wetrow an die Leine zu nehmen. Jetzt, nachdem Glenn tot ist, werde ich dieses Abenteuer bis zum Ende durchstehen, sagte sie sich, aber ich werde es nicht einfach dabei belassen. Ich bin nur noch hier, weil ich den Schleier um das große Mysterium des selbstlosen Wahrheitssuchers auf meine Weise lüften will, nachdem ich so viel dazu getan habe, ihn mit zu weben. Sie drückte die Zigarette aus, nahm die gelöschte Kassette unter dem Magneten hervor, legte sie neben das Gerät und erhob sich. Jetzt wird die Sekretärin mir wieder Kaffee anbieten und Kognak, dachte sie, während sie hinausging. Aber die Sekretärin war nicht da. Ohne sich weiter aufzuhalten, verließ Catherine die Botschaft, stieg in den Datsun und fuhr zur Dorogomilowskaja zurück. Als sie ihre Wohnung betrat, mußte sie lächeln. Wie leer es hier aussah! Noch vor Wochen hatten überall Stapel von Manuskripten herumgelegen, Bücher, Bündel von Aufzeichnungen. Sie hatte alles weggeräumt, die Bücher über die Botschaft nach den Staaten zurückgeschickt. Auf dem kleinen Schreibtisch lag das Paket mit den Kopien der zweitausend Seiten von Wetrows »Zek«. Catherine hatte mehrere Tage gebraucht, um das Endmanuskript der russischen Fassung abzulichten, ehe es nach Paris ging. Bevor sie nun alles einwickelte, nahm sie den Brief zur Hand, den sie dem Paket beifügen wollte. Sie hatte ihn auf einer Maschine mit englischen Typen geschrieben, auf der nur der innerbetriebliche Schriftverkehr zwischen Mister Walcotts Moskauer Büro und der Zentrale in den Staaten getippt wurde. Sie öffnete alle Fenster, ließ die warme Sommerluft in die Wohnung, holte sich aus dem Kühlschrank einen Whisky, trank einen Schluck davon und las noch einmal, was sie geschrieben hatte. Es war ein Brief ohne Anrede und ohne Unterschrift. Sie hätte das Paket auch ebenso gut ohne diesen Brief abschicken können, aber es erschien ihr fair, den Empfängern wenigstens mitzuteilen, was zu ihrem Entschluß geführt hatte.
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»Ich übersende Ihnen das Manuskript des letzten Buches, das der Autor Issaakowitsch Wetrow verfasst hat. Es wird voraussichtlich gegen Ende des Jahres zunächst in Paris in russischer Sprache erscheinen, danach in Amerika, England, Italien, Westdeutschland und anderen Ländern. Die Vorbereitungen dafür sind abgeschlossen. Der Autor weiß nicht, daß ich dieses Exemplar seines Buches an Sie sende. Er steht seit der Mitte der sechziger Jahre unter Anleitung von ausländischen Literaturexperten, die jede seiner Arbeiten mit ihm beraten, jeden seiner Schritte geplant, jedes seiner Statements verfasst oder zumindest in ihrem Sinne redigiert haben. Die Auffassung, von der aus Wetrow schreibt, fügt sich in gewisse politische Konzeptionen; so kam es, daß seiner Arbeit diese ungewöhnliche Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die Publicity-Kampagne, mit deren Hilfe er binnen weniger Jahre zu einer angeblich bedeutenden literarischen Persönlichkeit gemacht wurde, war bis in alle Einzelheiten geplant und lief einschließlich der Nobelpreisverleihung auch plangemäß ab. Was mich betrifft, so habe ich an fast allen Veröffentlichungen Wetrows als Berater und auf editorischem Gebiet mitgearbeitet. Ich kenne den Werdegang von Autor und Werk genau. Im Verlaufe meiner Arbeit hat sich meine Meinung über Wetrow geändert. Heute weiß ich, daß er den Sinn seiner Arbeit allein darin sieht, sich an der Sowjetgesellschaft zu rächen. Mit seinem sehr ausgeprägten Gespür für materielle Vorteile hatte er früh erkannt, daß ihm dies beträchtliche Einnahmen im Ausland verschaffen wird. Ich habe mit Bestürzung begriffen, daß meine Tätigkeit geholfen hat, das Ansehen der Sowjetunion im westlichen Ausland zu schädigen. Das habe ich nicht gewollt. Sobald ich meinen Aufenthalt hier beende, und das wird in absehbarer Zeit sein, werde ich Ihnen meine Aufzeichnungen aus der Arbeit mit Wetrow zustellen. Sie werden für Sie aufschlußreich sein; aus ihnen ist zu ersehen, auf welche Weise unter den neuen Gegebenheiten unserer Zeit ein intensiver geistiger Krieg gegen Sie geführt wird.
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Aus sehr persönlichen Gründen, vor allem weil ich trotz meiner eigenartigen Tätigkeit doch eine Anzahl guter Freunde in Ihrem Lande habe, vor denen ich mich heute einerseits schäme, weil ich sie getäuscht habe, und die. ich andererseits nicht ins Zwielicht setzen möchte, werde ich dafür sorgen, daß Sie meinen Namen nicht erfahren. Ich bitte Sie daher, die Anonymität meines Schreibens richtig zu werten und auch mein Tagebuch unter demselben Aspekt zu betrachten. Als Dokument der Selbstverständigung, zu der ich mich gedrängt fühlte, soll es Ihnen lediglich Aufschluss über Zusammenhänge geben, die für Sie eines späteren Tages von Belang sein könnten.« Sie faltete das Schreiben zusammen, legte es zu dem Manuskript, packte alles in das graue Papier, verschnürte es und versah es mit der Anschrift des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Was war noch zu tun? Catherine überlegte. Sie würde zwei Monate Zeit haben, vielleicht mehr, bis sie wieder Kontakt zu Wetrow aufnehmen mußte. Sie hatte Kartstein in ihrer letzten Botschaft mitgeteilt, daß sie diese zwei Monate frei nehmen würde. Urlaub nach unendlich langer Zeit! Catherine warf das Kleid ab, es war warm in der Wohnung, die Sonne brannte auf die hellen Fassaden der Häuser. Sommer in Moskau. Barfuß ging sie ins Bad, duschte, rieb sich dann den Körper mit einem Frottiertuch ab, bis die Haut rot war. Danach fühlte sie sich erfrischt. Packen, ja! Während sie ihren Koffer mit den Dingen füllte, die sie in der nächsten Zeit brauchen würde, dachte sie daran, daß Wetrow sich jetzt wohl in Puschkino aufhielt. Sie schmunzelte. Nun ja, mein lieber großer Dichter, die kleine Catherine Laborde hat begonnen, ihr eigenes Spiel zu spielen! Sie hat dich über deine eigene Eitelkeit dazu gebracht, der Öffentlichkeit zu sagen, was du denkst, großer Humanist! Die Tünche blättert ab, und jeder kann sehen, was für eine Gestalt das ist, die sich da anmaßt, die Nachfolge Dostojewskis anzutreten! Zu lange habe ich alles getan, aus dir einen zweiten Messias zu fabrizieren; in der Zeit, die mir noch bleibt,
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werde ich die Kröte zum Vorschein bringen, die im Gewande des Prinzen steckt! Catherine hatte Wetrow in den letzten Monaten immer wieder geraten: »Jetzt ist die Zeit gekommen, den Mund aufzumachen. Man muß die Dinge beim Namen nennen. Über Literatur zu sprechen ist recht einfach, viele tun es. Aber über politische Kardinalfragen der Gegenwart äußert sich selten ein Dichter. Tun Sie es, die Welt wird es hören!« Wetrow befolgte den Rat, und Catherine registrierte das mit Genugtuung. Er provozierte die Sowjetunion mit jedem neuen Statement auf eine Art, die selbst bei Kartstein Verwunderung auslöste. Aber Catherine hütete sich, auch nur einen einzigen Strich anzubringen. Sie redigierte die Texte lediglich so weit, daß die konfuse Diktion Wetrows nicht allzu deutlich spürbar wurde. An Kartstein sandte sie Kopien mit der Bemerkung, sie habe versucht, den Dichter zur Milderung einiger Passagen zu bewegen, er aber habe sich gesträubt. Kartstein quittierte das mit der bissigen Bemerkung, der Herr Dichter sei vermutlich durch seinen Erfolg im Westen ein wenig aus dem Häuschen geraten, er solle nicht denken, daß man ihn beliebig lange so weitermachen lassen würde. Catherine tat, als habe sie den Hinweis nicht verstanden. »Ausgezeichnet!« lobte sie den Entwurf für Wetrows Beitrag zum Almanach der Nobelpreisträger, den er ihr eines Tages zuleitete. »Dies ist das heilige Wort der Wahrheit, Mister Wetrow, es besticht durch die innere Kraft seiner Würde, durch die Einfachheit seiner Gedanken, es bewegt tief.« Sie machte hier und da ein paar unbedeutende Striche und ließ es ihn nach Stockholm lancieren. Inzwischen hatte er sich sowieso angewöhnt, ausländische Korrespondenten einzuladen und mit ihnen zu sprechen, ohne daß dafür über Kartstein Abmachungen getroffen worden waren. Der Professor kommentierte den Beitrag für die Nobel-Broschüre mit der zurückhaltenden Bemerkung, daß man die Reaktion der
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sowjetischen Regierung darauf wohl schwerlich ermessen könne. Aber er fand sich damit ab, daß Wetrow immer selbständiger agierte, konnte es nicht ändern, und Catherine, die es hätte ändern können, legte es darauf an, daß Wetrow sich in einem Gefühl der internationalen Wertschätzung mehr und mehr mit den Gedanken exponierte, die ihn tatsächlich bewegten, daß er immer offener aussprach, was er dachte. Catherine packte Badezeug ein. Kein Buch. Dafür ein Transistor radio. Nach einer Weile fiel ihr ein, daß sie bei der Aeroflot anrufen mußte. Sie hatte, nachdem ihr die Reiseroute vom Büro für die Ausländerbetreuung bewilligt worden war, eine Flugkarte nach Leningrad bestellt, von dort einen Flug nach Riga, in dessen Nähe ein kleiner Kurort an der Küste lag, wo sie sich einige Wochen aufhalten wollte, und danach würde sie südwärts fliegen, bis Taschkent, um von dort über Tbilissi nach Suchumi zu reisen, wo sie die letzten Urlaubswochen am Strand des Schwarzen Meeres zu verbringen gedachte. Bei der Luftfahrtgesellschaft teilte man ihr mit, die Reise sei nach ihren Angaben gebucht worden, der Flug bis Leningrad sei okay und die Maschine flöge in genau fünf Stunden ab. »Danke«, sagte sie, »ich beeile mich!« Der junge Mann am anderen Ende der Leitung riet ihr: »Lassen Sie sich Zeit, fünf Stunden sind ausreichend, um die Koffer sorgfältig zu packen und das Gas und Wasser in der Wohnung abzustellen!« Er lachte dabei. Catherine warf ihre Reisedokumente in die Umhängetasche, beschäftigte sich nochmals mit dem Koffer, entschied sich gegen das eine oder andere Kleid, packte Strandhosen ein und Handtücher, alles ziemlich kunterbunt, denn sie hatte immer noch nicht gelernt, in das Kofferpacken System zu bringen. Zwei Stunden vor dem Abflug fiel ihr ein, daß sie Mister Walcott noch nicht informiert hatte. Sie rief ihn an und teilte ihm mit, er habe sie auf eine wohlverdiente Ferienreise geschickt und sollte nicht vergessen, das jedem zu sagen, der nach ihr fragte. I Thürk, Gaukler II
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Auf dem Flugplatz gewann sie ihre Ruhe wieder. Nachdem sie das Gepäck aufgegeben hatte, schlenderte sie durch die Halle, trank Limonade, kaufte ein paar Zeitungen, entdeckte an einer Theke eine Viertelliterflasche »Starka«, die sie erwarb, und als die Maschine aufgerufen wurde, hatte sie das Gefühl, endlich einmal wieder viele lange Sommertage ganz für sich allein zu haben. Urlaub! Sie nickte der Stewardeß zu, die an der Gangway der Maschine stand, setzte sich auf einen der Fenstersitze und schloß erleichtert die Augen. Bevor sie in Leningrad zu dem Hotel fuhr, in dem sie ein Zimmer bestellt hatte, gab sie bei der Hauptpost das Paket mit Wetrows Manuskript auf. Der Taxifahrer, ein noch junger Bursche, hob ihr vor dem Hotel galant den Koffer aus dem Wagen und lächelte. Die junge Frau gefiel ihm. Er wünschte ihr vergnügte Ferien, und Catherine sagte erstaunt: »Sie haben hellseherische Fähigkeiten! Warum treten Sie nicht die Nachfolge der Kulagina an?« Der Mann stutzte nur für ein paar Sekunden, dann warf er den Kopf zurück und lachte schallend. Sein Instinkt sagte Wetrow, daß es nicht eine Verhaftung war, die ihm bevorstand. Aus den Gesichtern der beiden Männer, die am späten Vormittag in der Datscha erschienen waren, auch aus ihren Andeutungen ließ sich nichts mit absoluter Sicherheit heraushören. Trotzdem spürte Wetrow, daß es ein Fehler wäre, wenn er sich weigerte mitzugehen. Die Männer standen ruhig vor ihm, mit gelassenen Mienen, freundlich sogar. Der kleinere, mit Brille und Vollmondgesicht, wiederholte: »Es handelt sich um eine Unterredung, Bürger Wetrow. Wenn wir das sagen, dann meinen wir das. Ihre Vermutungen kenne ich nicht, sie interessieren mich auch nicht. Aber die Staatsanwaltschaft hat Sie bereits zweimal eingeladen, und Sie sind nicht gekommen. Nun sind wir hier, um Sie zu holen.« »Aber sie haben keinen Haftbefehl!« Er bellte es. Man mußte sie
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einschüchtern, mußte ihnen klarmachen, daß hier jemand stand, der nicht so leicht um den Finger zu wickeln war. Der Kleine schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist eine Sache, bei der ein Haftbefehl nicht nötig ist. Man wünscht, mit Ihnen zu sprechen, sonst nichts. Sie sind Bürger der Sowjetunion; einer solchen Aufforderung müssen Sie natürlich Folge leisten.« »Mich abführen! In einen schwarzen Raben stecken! In Handfesseln!« Der zweite der Männer, noch jung, breitschultrig, mit einem rötlichen Gesicht und hellblonden Augenbrauen, sagte beschwichtigend: »Bitte, regen Sie sich nicht auf, Bürger! Wovor haben Sie denn Angst, daß Sie gleich an Handfesseln denken und an einen Transportwagen?« »Ich habe keine Angst!« Wetrow schlug sich an die Brust. Er schrie, um sich Mut zu machen. Galja nahm es mit Bestürzung zur Kenntnis. Sie stand im Hintergrund, in der Tür, die zum Schlafraum führte. Sie war noch nicht angezogen, hatte nur einen Frotteemantel über dem nackten Körper. Galja, die Achtzehnjährige aus Swerdlowsk, mit den etwas zu breiten Hüften, den viel zu großen Brüsten, dem unverschämt dicken Hintern, der ihr unter ihren Studienkolleginnen die Bezeichnung »Kügelchen« eingebracht hatte. Sie wich einen Schritt zurück, als müsse sie sich ebenfalls aufgefordert fühlen, den Beamten zu folgen. Aber die hatten sie lediglich gegrüßt. Wenn sie nur nicht nach meinem Ausweis fragen, dachte sie. Es braucht niemand zu wissen, daß ich bei Ignat Issaakowitsch geblieben bin, über Nacht! Ihr Gesicht war von Angst gezeichnet, obwohl sie sonst durchaus nicht kleinlaut war. Wetrows Haltung steckte sie an. Wenn er sich so erregt über diesen Besuch, dann wird das seinen guten Grund haben. Er hat Erfahrung. »Gut«, sagte der Kleine mit der Brille, »wenn Sie keine Angst haben, dann kommen Sie jetzt, wir haben einen Wagen draußen, einen Wolga. Er wird Sie nachher wieder hierher zurückbringen, das ist bereits geregelt.«
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»Ha!« rief Wetrow. »Zurückbringen! Ist das bei euch jetzt Mode? Ist das die neue Art, die Leute zu täuschen? Ich weiß sehr gut, wie das bei euch läuft! Ich bin schließlich jahrelang in euren Krallen gewesen!« Die Beamten sahen sich an und zuckten die Schultern. Der Kleine schüttelte den Kopf. Er sah bekümmert aus. »Bürger Wetrow«, sagte er schließlich, »benehmen Sie sich nicht unvernünftig. Wenn Sie jetzt nicht mitkommen, müssen wir von Ihnen einen Termin verlangen, zu dem Sie ganz gewiss erscheinen werden. Also wenn es Ihnen heute nicht passt . . .« Sein Blick wanderte zur Schlafzimmertür. Wetrows Gesicht wurde krebsrot, die Narbe zeichnete sich deutlich ab. Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum und schrie: »Sie Lümmel! Erdreisten Sie sich nicht, Anspielungen zu machen! Was soll das heißen, es passt mir heute nicht? Wollen Sie damit andeuten, daß ich schon keinen Besuch mehr empfangen darf! Sind wir schon wieder soweit?« »Keinesfalls«, gab der Beamte mit unerschütterlicher Ruhe zurück. »Aber wir respektieren, wenn jemand sich nun grade mal etwas anderes vorgenommen hat. Nur möchten wir dann einen verbindlichen Termin von Ihnen . . .« Galja winkte Wetrow. Der ließ die beiden Männer stehen und ging ins Schlafzimmer. Leise redete das Mädchen auf ihn ein: »Ignascha, vielleicht ist es doch besser, du gehst mit! Wenn nicht, dann werden sie meinetwegen Theater machen. Sie ziehen mich mit hinein . . . Und es ist ja möglich, daß sie weiter nichts wollen als ein Gespräch . . .« Er überlegte. Nicht weil Galja ihm zuredete, sondern weil die beiden Männer sich nicht abweisen ließen. Sie wurden nicht tätlich, sie drohten nicht, sie schimpften nicht einmal. Verfluchte Bande! Wenn man wenigstens Publikum hätte! Es war vielleicht doch am besten, ihnen zu folgen. Eine Verhaftung schien nicht geplant zu sein, das sah anders aus. Und eine Unterredung? Er drehte sich um und rief den beiden zu: »Warten Sie!«
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Dann wandte er sich an Galja: »Du läufst zum Telefon. Sprichst mit dem Mann, der sich meldet, wenn du diese Nummer gewählt hast. . « Hastig kritzelte er ein paar Zahlen auf ein Stück Papier. Ein Ausländer. Er muß erfahren, daß sie mich geholt haben. Ruf an, bis du ihn erreichst. Sag ihm, was passiert ist. Ohne deinen Namen zu nennen. Du bleibst aus dem Spiel. Pack deine Sachen zusammen. Wenn jemand kommt, darf es nicht so aussehen, als wärst du schon länger als ein paar Stunden hier!« Sie fragte verwundert: »Warum rufst du nicht selbst an?« Aber er gab nur barsch zurück: »Tu, was ich sage! Ich weiß, wie man so was inszeniert!« »Ich folge dieser Aufforderung nur unter Protest!« sagte er drohend, bevor er in den Wolga stieg. In der Datscha warf Galja ihr Kleid über. Sie lief hinaus, ohne hinter sich abzuschließen, fand in der Nähe des Genossenschaftsladens das Telefon und wartete erregt, nachdem sie die Nummer gewählt hatte. Als sich eine Männerstimme in einer fremden Sprache meldete, stotterte sie ratlos die Botschaft herunter, die Wetrow ihr aufgetragen hatte. Der Mann am anderen Ende der Leitung erkundigte sich in fehlerhaftem Russisch, mit wem er es zu tun habe. Aber Galja nannte ihren Namen nicht, sie drängte ihn nur nochmals, sofort das zu tun, worum Wetrow gebeten hatte. Der Mann sagte etwas verwundert zu. Auf dem Rückweg zur Datscha war Galja versucht zu lachen, da sie sich an den Wutausbruch Wetrows erinnerte. Weshalb er sich nur so erregte? Staatsanwaltschaft. Ärgerlich, wenn man dahin bestellt wird und eigentlich etwas anderes vorhat, aber warum die Wut? Die beiden Beamten waren schon Muster an Gemütsruhe gewesen. Hatte Wetrow vor etwas Angst? Das Mädchen wurde aus der ganzen Sache nicht klug. Sie war hier, weil ihr Vater ihr Grüße an Wetrow aufgetragen hatte. Vor einer Ewigkeit war er mit Wetrow zusammen inhaftiert gewesen. Der Vater erzählte nur wenig über diese Zeit, lediglich, daß der Grund für seine Bestrafung Schwarzhandel gewesen war. Er wollte
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nicht mehr daran erinnert werden. Gewiss, man kannte die Zeiten nicht mehr, in denen sich das abgespielt hatte, das erschwerte ein Urteil darüber. Und schließlich war der Vater heute ein angesehener Mann in der Möbelfabrik. Galja hatte nach ihrem Examen eine Stelle im Kindergarten des Wohngebietes angetreten. Seit ein paar Monaten studierte sie in Moskau. Sie schlenderte zu der Datscha zurück, blinzelte in die Sonne, ein wenig träge. Hinter dem Haus konnte man sich auf eine dieser Holzpritschen mit den Schaumgummikissen legen! Sie streifte das Kleid über den Kopf und entdeckte überrascht, daß sie nichts darunter trug. Himmel, was man so alles vergessen kann! Lachend lief sie ins Haus und wühlte in ihrem Campingbeutel, bis sie den Badeanzug fand. Wenig später lag sie, nach Sonnenöl duftend, auf einer Pritsche. Als der Wolga vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft hielt, blickte sich Wetrow nervös um. Noch war niemand zu sehen, kein Korrespondent, niemand mit einem Fotoapparat! Hatte Galja angerufen? Vielleicht niemanden erreicht? Oder lassen diese Kerle mich im Stich? Er stieg aus und folgte den Beamten. Unterwegs hatte er kein Wort gesprochen, nur als der Kleine mit dem runden Gesicht ihm eine Zigarette anbot, hatte er mürrisch abgelehnt: »Nein!« Das war alles gewesen. Jetzt führten die beiden ihn einen Gang entlang, in dem eine Tür der anderen glich, nur die Namen auf den Schildern waren unterschiedlich. Das Büro des Staatsanwalts hatte ein riesiges Vorzimmer, in dem mehrere Sekretärinnen saßen. Als Wetrow eintrat, erhob sich eine von ihnen und deutete auf einen Sessel: »Es wird ein paar Minuten dauern, bitte!« »Ich verzichte!« Er knurrte es. Die Sekretärin sah ihn verblüfft an, dann griff sie zum Telefon und meldete den Besucher. Wenig später leuchtete an ihrem Platz ein Lämpchen auf, sie erhob sich wieder, öffnete die gepolsterte Tür zum Arbeitszimmer ihres Vorgesetzten und nickte Wetrow zu. »Bitte!« Der Mann, dem Wetrow gegenüberstand, war klein, nicht sehr
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kräftig, er trug eine Brille mit ungefassten Gläsern. Ein intelligentes Gesicht, ein wenig unbeteiligt; wie es schien, nicht erregt. »Setzen Sie sich«, sagte er. Diesmal folgte Wetrow der Aufforderung. Nein, dies war keine Verhaftung, das stand fest! Nun, dann werde ich euch zeigen, wer ich bin. Ohne dem anderen die Möglichkeit zu geben, das Wort an ihn zu richten, polterte er los: »Ich mache Sie in aller Form aufmerksam, daß Sie einen Poeten vor sich haben! Ich bin einer der bekanntesten Dichter der Gegenwart, ich bin Laureat des Nobelpreises, wenn Sie wissen, was das ist, und ich bin nicht gewillt, mich in irgendeiner Form erniedrigen zu lassen. Im übrigen verlange ich, daß die Öffentlichkeit hinzugezogen wird, wenn mir Vorhaltungen gemacht werden!« Der Mann hinter dem Schreibtisch machte den Eindruck, als seien seine Gedanken, während er mit Wetrow sprach, ganz woanders. Er sagte: »Ich möchte mich vorstellen«, nannte seinen Namen und erläuterte, daß er vom Büro des Generalstaatsanwalts beauftragt worden sei, mit dem Bürger Wetrow zu sprechen. Sein Ton war ruhig, ohne Schärfe, und Wetrow registrierte das sofort. Er rief: »Sie haben kein Recht, einen Mann des Geistes zu verfolgen wegen seiner Gesinnung, seiner Wahrheitsliebe! Sie haben überhaupt keine Urteilsfähigkeit, was meine Arbeit betrifft! Ich protestiere gegen diese Vorführung! Ich protestiere im Namen aller echten Künstler dieses Landes! Ich werde auf keine Ihrer Fragen antworten! Aussagen werde ich nur machen, wenn ein von mir bestellter Anwalt dabei ist.« Der schmächtige Mann hinter dem Schreibtisch wartete, bis Wetrow Luft holte, dann sagte er langsam: »Bürger Wetrow, ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich erst einmal zu Wort kommen ließen, bevor Sie sich in eine unnötige Erregung steigern. Es besteht kein Grund zur Aufregung, denn es ist keine Anklage gegen Sie erhoben . . .« »Jede Anklage wäre für mich nichtig!« rief Wetrow. »Ich werde sie nicht zur Kenntnis nehmen!«
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Der Beamte griff nach einem Aktenordner und entnahm ihm etwas, das Wetrow sofort erkannte: die Nobel-Broschüre. »Sie sind zu uns eingeladen worden«, erklärte der Mann, »weil wir Sie auf Verletzungen der Gesetze unseres Landes aufmerksam machen wollen. Verstehen Sie recht, ein Bürger kann manchmal, in Unkenntnis und ohne sich über die Tragweite seiner Handlungen klar zu sein, unsere Gesetze verletzen. Wir sind bemüht, es nicht so weit kommen zu lassen; deshalb habe ich die Pflicht, Sie über die Rechtslage zu informieren, und ich bitte Sie zuzuhören. Sind Sie bereit, das zu tun?« »Ich bin absolut nicht bereit, über meine künstlerische Arbeit mit jemandem zu diskutieren, der davon keinen Deut versteht!« Der Beamte erwiderte gelassen: »Das trifft sich mit meinem Wunsch. Ich habe nicht vor, mit Ihnen über künstlerische Fragen zu sprechen, nur über die Einhaltung unserer Gesetze. Betrachten Sie das, was ich Ihnen hierzu sage, als einen gut gemeinten Hinweis, um Ihnen für die Zukunft Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ich komme zur Sache. Sie kennen diese Publikation?« »Ja.« »Das spart uns Zeit.« Der Beamte nannte eine Seitenzahl und las eine Passage vor. Dann legte er das Pamphlet hin und sah Wetrow an. »Sie statuieren hier wörtlich, daß in der Sowjetunion während einer bestimmten Phase der Entwicklung eine ganze Nationalliteratur ermordet worden sei, und zwar in Haftanstalten. Ich stelle dazu fest, daß dies nicht der Wahrheit entspricht.« »Sie leugnen, daß man Schriftsteller eingesperrt hat? Sie leugnen, daß sie gestorben sind?« »Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen zu erörtern, was in der Zeit, von der Sie schreiben, geschehen ist«, gab der Beamte zurück. »Das ist zur Genüge öffentlich erörtert worden. Auch die Frage, daß zu den unschuldigen Opfern dieser Phase Schriftsteller gehörten. Ich erörtere mit Ihnen ferner nicht, ob Sie das aus ungenügender Kenntnis der Sachlage so geschrieben haben oder aus Absicht. Ich
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mache Sie lediglich darauf aufmerksam, daß Sie hier die Unwahrheit verbreiten. Im übrigen ist es nicht nötig, daß Sie sich verteidigen, dies ist keine Gerichtsverhandlung. Ich fahre also fort und bitte Sie, mich nicht mehr zu unterbrechen. Sie erklären weiter wörtlich, daß in der Sowjetunion eine ,Abschlachtung des nationalen Gedächtnisses' vorgenommen wird. In welchem Zusammenhang das auch immer gesagt ist, es ist die Unwahrheit. Ebenso wie eine weitere Behauptung von Ihnen, wonach in der Sowjetunion ,die Lüge zum Staatsprinzip geworden ist'. Daran knüpfen Sie die Aufforderung um alle Sowjetbürger, nicht an dieser ,Lüge' teilzunehmen, also rufen Sie die Bürger auf, unser Staatsprinzip nicht zu respektieren, weil Sie der Ansicht sind, es sei Lüge.« Er klappte das Pamphlet zu und sah Wetrow an. Als dieser zu einer Entgegnung ansetzte, hob er die Hand und sagte: »Ich bitte noch um einen Augenblick Gehör. Wir sind hier nicht unter Schriftstellern, daher gibt es zwischen mir und Ihnen keine Diskussion über künstlerische Fragen. Auch nicht über die der künstlerischen Freiheit. Es ist auch nicht meine Aufgabe, mit Ihnen über Ihre Weltanschauung zu diskutieren. Es steht Ihnen frei, eine Weltanschauung zu haben, die sich mit der anderer Bürger nicht deckt. Was Ihnen aber nicht freisteht, das ist die Verbreitung von Unwahrheiten, die im westlichen Ausland dazu benutzt werden, das Ansehen der Sowjetunion zu schädigen. Hierauf allein habe ich Sie aufmerksam zu machen, weil es sich dabei um die Verletzung unserer Gesetze handelt. Betrachten Sie deshalb diese Unterhaltung so, wie sie gemeint ist, als Hinweis, der Ihnen helfen soll, unsere Gesetze einzuhalten. Haben Sie das verstanden?« »Und ob!« Wetrow sprang auf. »Ich verstehe, daß der Kunst erneut Fesseln angelegt werden! Daß man nicht einmal mehr vor einem Mann Achtung hat, der in der ganzen Welt Ansehen genießt! Der mit der höchsten literarischen Auszeichnung geehrt wurde, die es in der Welt gibt! Die finstere Ära der Unterdrückung ist erneut angebrochen, das freie Wort wird geknebelt! Ich verstehe, ich verstehe! Und wie ich verstehe . . .«
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»Dann ist es gut«, unterbrach ihn der Beamte. »Mehr habe ich mit Ihnen nicht zu besprechen.« Er erhob sich und drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. In der Tür erschien die Sekretärin. Der Beamte sagte: »Der Bürger Wetrow möchte gehen. Sorgen Sie dafür, daß er wieder nach Hause gebracht wird.« Der Korrespondent von »Time« erwartete Wetrow vor dem Gebäude. Er hatte den Fotografen mitgebracht. Als Wetrow ihn entdeckte, blieb er auf der untersten Stufe des Aufgangs stehen, bis die Aufnahme gemacht war. Dann wandte er sich an den Amerikaner. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind!« Er schüttelte ihm lange die Hand, wie um sicher zu sein, daß jedermann es sähe. Aber die Passanten schienen sich nicht um die beiden Männer zu kümmern, nur der Fahrer des Wolga tauchte neben Wetrow auf und sagte: »Ich stehe da drüben. Wenn Sie fertig sind, können wir fahren.« »Was war?« wollte der Amerikaner wissen. Er war noch nicht lange in Moskau, sein Russisch war schlecht, aber er versuchte trotzdem, sich verständlich zu machen; man hatte ihn bei seiner Entsendung besonders auf Wetrow verwiesen: wichtiger Mann! »Hören Sie zu«, sagte dieser jetzt, »man hat mich gegen meinen Willen hierher geschleppt. Man hat mich beleidigt. Meine künstlerische Arbeit geschmäht. Man hat mich bedroht. Dies ist ein empörender Akt; ich verlange, daß die Welt davon in geeigneter Form Kenntnis erhält!« Der Amerikaner notierte sich etwas. Er verstand bei weitem nicht alles, was Wetrow sagte, nur daß man ihn hierher geholt und ihm offenbar gedroht hatte. Das war zunächst einmal Stoff für eine aktuelle Meldung: Nobelpreisträger Wetrow, berühmter Kämpfer für die Freiheit der Künste in Moskau, vor die Staatsanwaltschaft zitiert, bedroht; fürchtet für seine Sicherheit. Neue Verhärtung der Haltung gegenüber den Künstlern in der UdSSR? Im Geiste hatte er die Meldung bereits fertig, er hörte Wetrow nur noch anstandshalber zu.
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Darf ich Sie besuchen?« erkundigte er sich. »Ich würde mit einem verlässlichen Dolmetscher kommen. Wann ist es Ihnen recht?« Heute abend!« sagte Wetrow sofort. Aber dann besann er sich. Dort draußen trieb sich diese Galja herum, er war nicht sicher, ob sie rechtzeitig weg sein würde. »Nein«, korrigierte er sich. Kommen Sie morgen. Früh. Nicht vor zehn Uhr. Sie wissen, wo Sie mich erreichen?« Der Korrespondent nickte. »Mein Fahrer kennt den Weg.« Und lassen Sie niemand davon wissen!« warnte Wetrow. Der Korrespondent schüttelte den Kopf. Er würde sich hüten, die Konkurrenz aufmerksam zu machen. »Darf ich Ihnen fünf bis sechs Fragen vorlegen?« »Sie dürfen!« Wetrow fügte hinzu: »Ich möchte zu dieser Sache sprechen, aber ich möchte mich auch zu einigen anderen Dingen äußern. Beispielsweise zu den Verfolgungen, denen meine Familie ausgesetzt ist. Schreiben Sie das auch in eine schnelle Meldung: Ich bin mit meiner Familie auf alles vorbereitet, selbst auf das Schlimmste, auf das Unmenschlichste. Ich werde alles durchstehen, weil ich weiß, daß die Welt auf meiner Seite ist!« Der Korrespondent nickte Wetrow zu und hob die rechte Hand, wobei er Zeige- und Mittelfinger kreuzte. Wetrow rätselte noch lange, was diese Geste wohl bedeuten sollte, während der Wolga ihn nach Puschkino zurückbrachte. Als er Galja sah, die ausgestreckt auf der Pritsche lag, zog er unwillig die Brauen hoch. »Du bist noch hier?« Sie rekelte sich. »Es ist schön in der Sonne. Sie haben dich nicht lange aufgehalten, wie?« Dummes Ding! Er ging mit weit ausgreifenden Schritten hin und her, die Hände auf dem Rücken. Niemand hört mir zu! Nur diese einfältige Gans. Trotzdem begann er zu dozieren: »Sie wollen mich endgültig kaputtmachen! Sie wollen die Literatur treffen, indem sie mich schlagen! Alles ist abgekartet! Aber ich werde es ihnen zeigen! Sie sollen sich irren! Morgen weiß es die Welt!«
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Das Mädchen gähnte. Erregung widersprach ihrem Temperament. »Du bist wütend, warum? Hast du was ausgefressen?« Er dozierte weiter, über die Borniertheit der Behörden, über die KGB und ihre Ränke, über die Unterdrückung der Wahrheit. Das Mädchen erkundigte sich: »Vater hat gesagt, du hast ein Buch geschrieben, vor ziemlich langer Zeit. Hast du deshalb Ärger?« Er antwortete nicht. Dieses Mädchen wußte nichts und verstand nichts. Gar nichts. Man mußte sie möglichst schnell loswerden! »Ich habe mir schon die Finger wund geschrieben, wenn es um einen Aufsatz ging«, sagte sie belustigt. Sie merkte nicht, daß Wetrow sie wütend anstarrte. »Liest du mir etwas vor, ja?« Er holte tief Luft. Kann es denn in diesem Lande jemand geben, der solche Fragen an Ignat Issaakowitsch Wetrow stellt? Ist das möglich? Noch dazu die Tochter eines Zek! Will sie mich veralbern? Aber er spürte, daß sie ehrlich war in ihrer Naivität. Schließlich lief er ins Haus, setzte sich an den Schreibtisch und begann Notizen für das morgige Interview zu machen. Er war froh, als Galja sich am frühen Abend verabschiedete, ein wenig getrübt und mit dem Versprechen, sich wieder einmal sehen zu lassen, wenn er es möchte. Er nickte nur zerstreut. »Ja, ja, komm mal wieder. Und grüß den Vater . . .« Er wartete nicht, bis sie durch das Zauntor verschwunden war, er drehte sich um und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Olga Woronina überflog das Zimmer mit einem prüfenden Blick, bevor sie es verließ. Es war alles in Ordnung. Das große Bett war mit einer Webdecke belegt, die Sessel mit Zeitungen abgedeckt, das Licht gelöscht, die Fenster geschlossen. Sie nahm die beiden Koffer auf, schloß ab, gab dem Hausmeister den Schlüssel und machte sich auf den Weg zu Irina, der jungen Sekretärin, die wie sie selbst im Literaturmuseum arbeitete. Es war Abend. Der erste Tag ihres Urlaubs. Ihr Gepäck hatte sie bereits zum Flugplatz schaffen lassen. In zwei Stunden startete die Maschine nach dem Süden. Vier
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Wochen Sonne auf der Krim. Sie freute sich. In ihrem Urlaubsgepäck waren eine Menge Bücher. Am Strand gab es Zeit genug zu lesen. Sie nahm ein Taxi, das sie zur Wohnung von Irina brachte, und sie bat den Chauffeur zu warten. Irina, die ihre Ankunft beobachtet hatte, kam ihr im Hausflur entgegen. Sie nahm ihr die schweren Koffer ab, die Olga Woronina für die Zeit ihres Urlaubs bei ihr deponieren wollte. »Sind sie verschlossen?« erkundigte sich Irina. Olga Woronina schüttelte den Kopf. »Leider funktionieren die Schlösser nicht. Aber das ist ja auch nicht nötig, es sind Manuskripte, die werden niemanden interessieren.« Irina versicherte, daß sie die Koffer gut bewahren würde. »Danke!« sagte Olga Woronina mit einem treuherzigen Blick. Sie winkte zurück, als das Taxi in Richtung Flughafen abfuhr. Irina ging schmunzelnd in ihr Zimmer. Sie hatte für die Woronina immer so etwas wie Mitleid empfunden. Eine alt gewordene Frau, nicht gerade hässlich, aber von der Art, nach der sich kein Mann umblickt. Arbeitete verbissen, war kenntnisreich, belesen. Eine Einzelgängerin. Wie war es nur zugegangen, daß diese Maus von einer Frau einen Mann wie Wetrow für sich interessieren konnte? Die Woronina hatte im Kollegenkreis verlauten lassen, daß sie mit diesem Autor ein tiefes gegenseitiges Verständnis verband. Was immer man sich darunter vorstellen mochte, für Irina war es eine Kuriosität. Wetrows erstes Buch hatte sie mit Interesse gelesen, die später veröffentlichten Erzählungen gefielen ihr nicht mehr, sie fand sie ohne Pfiff, ein wenig altbacken, ziemlich boshaft. Erst in letzter Zeit, als gelegentlich durchsickerte, welcher Art die Arbeiten waren, die der Autor im westlichen Ausland drucken ließ, war unter den Kollegen im Literaturmuseum wieder über ihn gesprochen worden. Studenten, die in den staatlichen Bibliotheken Rezensionen ausländischer Zeitschriften über Wetrow lasen, äußerten gelegentlich, es handle sich da offenbar um einen antisozialistischen Autor, obwohl er in Moskau lebte. Olga Woronina hatte solchen Meinungen mit einer Entschlossenheit widersprochen, die manche Kollegen
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Wetrow spielt den Dissidenten, gezielt. Da war diese Sache mit dem Nobelpreis . . .« »Wie ist die Woronina nur an diesen Kerl gekommen?« wunderte sich Wassili. Irina erzählte von jener Lesung vor Jahren. »Jedenfalls«, erklärte Wassili bestimmt, »kommt dieses Zeug aus dem Haus. Was ich da gelesen habe, in der kurzen Zeit, reicht aus. Das kann man nur mit der Kneifzange anfassen.« »Aber was willst du machen? Wir haben nun mal die Koffer!« Er nickte. »Ja, wir haben sie. Aber wir behalten sie nicht. Auch wenn ich Straßenfeger wäre und nicht Milizionär, würde ich diesen Haufen Gift zur Miliz tragen. Die Genossen sollen das mal in Ruhe lesen. Danach können sie entscheiden, was sie machen. Ich persönlich bin dazu nicht in der Lage.« »Wassili«, wandte Irina erschrocken ein, »das ist ein Vertrauensbruch! Denke nur, die gute Olga gibt mir die Sachen, und du zeigst sie sozusagen an! Nein, das ist nicht richtig!« Doch Wassili ließ sich nicht umstimmen. »Bei Dingen dieser Art gibt es keinen Vertrauensbruch mehr, Irina. Da gibt es nur die Pflicht einzugreifen. Ebenso wie ich meinen besten Freund aufhalten würde, wenn er mit fünfhundert Gramm Wodka im Bauch in ein Auto steigen wollte. Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Außerdem ist das nicht ein Manuskript der guten Olga, es ist eines von Wetrow, Olga bewahrt es nur auf. Ich glaube, daß der Kerl ihre Gutmütigkeit ausnutzt.« Irina schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich werde Olga nie mehr in die Augen sehen können. Sie ist eine so gute Frau . . .« Wassili beruhigte sie. »Mach dir keine unnötigen Sorgen. Niemand wird Olga Woronina dafür verantwortlich machen, daß dieser Wetrow Lügen über uns verbreitet. Man wird feststellen, was es mit diesem Machwerk auf sich hat und wie sie dazu kam, das ist alles. Aber das ist unumgänglich. Sie ist eine kluge Frau, sie wird das verstehen. Wenn sie vom Urlaub zurückkommt, werde ich selbst mit ihr reden und ihr erklären, weshalb ich so gehandelt habe.«
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Irina gab schließlich nach, und Wassili tat, was er sich vorgenommen hatte. Auf der Miliz war dann das Manuskript der »Zek« und der übrige Inhalt der Koffer gelesen worden, man hatte vorgesetzte Dienststellen konsultiert, und nun sollte Olga Woronina nach ihrer Rückkehr darüber befragt werden, wie sie in den Besitz einiger tausend eng beschriebener Seiten verleumderischen Materials kam, das offenbar dazu bestimmt war, ins Ausland lanciert zu werden. Zuvor aber, das war mit Wassili abgemacht, sollte dieser mit ihr sprechen. So erschien Wassili einen Tag nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub bei Olga Woronina und bat sie um eine private Unterredung. Er erklärte ihr, was sich abgespielt hatte, und dann sagte er: »Ich entschuldige mich bei Ihnen in aller Form dafür, daß ich die Koffer geöffnet habe. Ich war dazu nicht berechtigt, das stimmt, und es tut mir leid. Aber nachdem ich den Inhalt nun mal gelesen hatte, konnte ich nicht anders handeln, das müssen Sie verstehen, Bürgerin Woronina . . .« Die Frau war total verwirrt. Sie sagte leise: »Ja, ich verstehe.« »Sehen Sie«, fuhr Wassili fort, »daran habe ich die ganze Zeit geglaubt. Ich weiß, daß Sie eine untadelige Bürgerin sind, und ich habe mir von Älteren erzählen lassen, daß Sie damals, vor dreißig Jahren, während der Blockade ein Vorbild für viele waren. Deshalb wußte ich, daß Sie verstehen würden, was heute nötig ist. Ich war damals noch gar nicht geboren, ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen . . .« Er lächelte verlegen, und Olga Woronina musterte ihn versonnen. Ein junger Mensch. Sah gut aus in der Uniform. Sympathisch. Irinas Bräutigam. Die Blockade. Wie lange ist das schon her! Sie selbst sprach nur selten darüber. Alles, was man damals getan hatte, war so selbstverständlich gewesen. Da stand der Feind vor der Stadt, seine Granaten schlugen in Wohnzimmer und Museen, die Leute hungerten, froren, schossen, halfen einander. Eine außerordentlich klare Situation: sie oder wir! Olga Woronina erinnerte sich, wie sie sich bei einer Erfassungs-
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stelle gemeldet hatte. Kunststudentin, noch ohne Examen. Ihre Kommilitoninnen waren evakuiert worden, sie hatte sich geweigert. »Ich bin im Sanitätsdienst ausgebildet«, gab sie an. Dabei war es weiter nichts als ein Kursus in Erster Hilfe gewesen. Aber man nahm sie, und sie bekam die gleiche erdbraune Uniform wie die anderen, die vor der Stadt in den Gräben lagen und schössen. Olga Woronina schleppte Verwundete aus dem Feuer, sie legte Verbände an, schiente zerschmetterte Gliedmaßen, zog den Schlitten, auf dem manchmal drei oder vier Verwundete festgebunden waren, keuchend über den Schnee bis zum Verbandplatz. Sie hungerte ebenso wie die anderen, wickelte mit blaugefrorenen Händen Mullbinden um blutende Wunden, tröstete hier einen, der sein Augenlicht verloren hatte, und half dort einen anderen festhalten, der vor Schmerz tobte. Wie lange lag das zurück? Wie lange lag der Sieg zurück? Welches Jahr schreiben wir? Dieser junge Mann wurde erst geboren, als ich mich bereits damit abgefunden hatte, daß es für mich wohl kaum einen zweiten Mann geben würde. Und dann Wetrow. Dichter. Der Mann, der so oft von der Wahrheit gesprochen hatte. Wie verworren das alles ist! Nichts ist mehr klar, so scheint es. Der Feind vor der Stadt, das war eine einfache Entscheidung gewesen. Doch jetzt kommt dieser junge Bursche und sagt mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, bei Wetrow handle es sich um einen Feind, nicht um jemanden, dem man verpflichtet sei, so etwas wie Treue zu erweisen. Ein Feind. Wie sich das alles verwirrt! Die »Zek«. Ich weiß heute noch nicht, was ich von diesem Buch halten soll, obwohl ich es mehrmals gelesen habe, Teile davon selbst mühselig auf der Maschine abgetippt. Warum habe ich bis heute noch keine Meinung dazu? Wer kann darauf antworten? Die Miliz? Für sie ist die Sache einfacher, sie urteilen nach dem Gesetz. Aber was ist das Gesetz gegenüber dem Feuer, das in einem Dichter brennt? Dieser junge Mann sagt mit einer frappierenden Respektlosigkeit, es handle sich wohl weniger um einen Dichter als eher um jemanden, der Dinge aufschreibt, die im Ausland verwendet würden, um die
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Sowjetordnung zu verleumden, um den Leuten dort weiszumachen, der Sozialismus sei eine so barbarische Angelegenheit, daß die Arbeiterklasse in der übrigen Welt besser daran täte, sich mit dem Kapitalismus abzufinden. Ob das wirklich so einfach ist? »Ja . . .«, sagte sie langsam. Olga Woronina, die mutige Bürgerin der vierziger Jahre, deren Orden aus der schlimmsten Zeit, die diese Stadt erlebt hatte, drüben in der Kommode liegen unter den alten Familienfotos, steht dreißig Jahre später vor einem Richter, der ihr vorhält, sie habe einen Feind des Landes unterstützt. Er könnte ihr sogar vorhalten, sie habe ihn geliebt. Eine Frau, der heute noch, am Feiertag der Revolution, wenn die Scheinwerfer Furchen in den Himmel ziehen und die Leute auf den Straßen singen, Tränen in die Augen treten, ohne daß sie recht weiß, ob aus Trauer um die Toten oder aus Freude darüber, selbst die Revolution verteidigt zu haben, mit frostklammen Fingern, keuchend, hungrig wie nie zuvor und niemals mehr danach. Sie merkte, daß Wassili ihr die Hand auf den Arm legte. Wie aus sehr weiter Entfernung hörte sie ihn sagen, daß er froh sei, die ganze unangenehme Sache zu einem vernünftigen Ende bringen zu können. Und sie solle sich keine Sorgen machen, es würde eine Stunde dauern, dann sei alles vorbei. »Man wird ein Protokoll aufnehmen, damit alles seine Ordnung hat, und niemand außer den Behörden und Ihnen selbst wird von der Sache erfahren. Was Wetrow betrifft, so sind natürlich nicht Sie, sondern er selbst verantwortlich für das, was er da treibt. Das ist ganz klar.« Er erhob sich. Sagte noch etwas davon, daß er keine offizielle Vorladung mitgebracht habe, das sei nicht nötig, man habe sich ja auch so verständigt. Also, sobald sie abkömmlich sei, erwarte man sie in der Dienststelle der Miliz. Sie brachte ihn zur Tür. Er verabschiedete sich mit einem Händedruck. Er schien erleichtert zu sein. Sie sah ihm nach, wie er auf dem Treppenabsatz den Uniformrock straff zog, die Mütze aufsetzte, ein wenig schief, wohl nicht ganz der Vorschrift ent-
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sprechend. Dann schloß sie die Tür und lehnte sich erschöpft an die Wand. Sie ging in ihr Zimmer zurück, an die Kommode, und entnahm einer Schublade das Foto Wetrows. Sein Gesicht mit der Narbe. Der Bart, der es einrahmte. Die listigen Augen. Sie stellte es auf die Kommode und setzte sich in einen Sessel, so daß sie es ansehen konnte. Als es Abend wurde, zündete sie rechts und links von dem Bild Kerzen an und kehrte wieder zu dem Sessel zurück, todmüde, mit dem Gefühl, geschlagen zu sein. Wassili fuhr zwei Tage später um die Mittagszeit mit einem Streifenwagen durch die Stadt. Der Anruf über den Sprechfunk kam überraschend. Der Dispatcher in der Zentrale rief: »Wassili! Was hast du falsch gemacht, daß deine Braut dich während der Dienstzeit unbedingt sprechen muß?« »Nichts«, gab Wassili zurück. »Du kannst mithören, wenn du es nicht glaubst. Gib sie mir!« Irina war erregt. Ob man denn Olga Woronina unbedingt zwei Tage auf der Miliz behalten müsse wegen dieser Sache, sie sei immer noch nicht im Dienst, man mache sich Sorgen . . . Wassili zog die Stirn in Falten. Gerade heute morgen hatte er sich erkundigt; Olga Woronina war bei der Miliz gewesen. Man hatte ihr ein paar Fragen gestellt und ein Protokoll aufgesetzt. Danach war sie wieder gegangen. Er sagte ins Mikrofon: »Hör mal, Irina, das ist ein Irrtum. Bei uns ist sie nicht mehr. Aber ich fahre bei ihr vorbei. Bis abends dann!« Zehn Minuten später hielt der Wolga vor dem Gebäude. Die Wohnung war verschlossen. Keiner der anderen Mieter hatte Olga Woronina in den vergangenen zwei Tagen gesehen. Daraufhin benachrichtigte Wassili die Zentrale, forderte ein Einsatzfahrzeug an und erbat die Genehmigung, die Wohnung zu öffnen. Der Hausbesorger wurde geholt, er besaß die Zweitschlüssel. Bis er die Treppe hinaufgeklettert war, hatte das Einsatzfahrzeug sich ebenfalls eingefunden. Der Hausbesorger öffnete die Tür, während Wassili den herbeigeeilten Kollegen mit ein paar knappen Worten
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erläuterte, worum es sich handelte. Er betrat als erster die Wohnung. Kein Gasgeruch. Er atmete erleichtert auf. Aber dann blieb er wie ungenagelt in der Zimmertür stehen. Sie hatte eine Wäscheleine genommen. Das Eisenrohr der Heizung, das unter der Decke entlanglief, war leicht durchgebogen, aber es hatte das Gewicht des schmächtigen Körpers gehalten. Auf der Kommode stand das Foto Wetrows. Daneben die beiden silbernen Leuchter. Die Kerzen waren längst herabgebrannt. Wassili machte den Weg frei. Er stand mit hängenden Armen da, verstört und kraftlos. Er hatte Verkehrstote gesehen, Ertrunkene und Opfer von Bränden. Aber dies hier war etwas anderes. Er merkte, wie ihm das Wasser in die Augen stieg. Dann packte ihn die Wut. Während er den anderen half, die Tote aus der Schlinge zu befreien, sagte er heiser: »Er hat sie umgebracht. Dieser Bastard hat sie auf dem Gewissen. Möge ihn doch der Schlag treffen.« Deadrick sah gelangweilt der Sekretärin zu, wie sie das Papptablett mit dem Apfelkuchen auf dem kleinen Konferenztisch abstellte, den Kaffee in die Tasse goß und Zucker dazulegte. Perfekt, dachte er, sie weiß ganz genau, wann mir nach etwas zu essen ist und wann ich es ihr an den Kopf werfen würde. Das überschlanke, immer noch mädchenhaft wirkende Wesen in seinem Büro gab ihm seit Jahren Rätsel auf, aber nur selten kam er dazu, sich Gedanken über sie zu machen. Die geborene Sekretärin. Mit einer Ausnahme. Sie schläft nicht mit dem Chef. Der Chef bin ich. Er schmunzelte. Hat sich in dieser Zeit kaum verändert, wenn man davon absieht, daß die Jeansmode ein bißchen out ist, auch die der Miniröcke, und daß sie nun ein lockeres Kleid trägt, wie sie es in San Francisco in Mode gebracht haben, fast knöchellang, aus Crepe. Ähnelt den Dingern, die von den Damen in den dreißiger Jahren im Film getragen wurden. Leider sieht sie darin aus wie eine tote Taube, noch unscheinbarer als früher. Trotzdem, sie hat einen ständigen Freund. Als Chef weiß man das, man prüft die Personalakten in festgelegten Zeitabständen 245
und erfährt also, daß er Arzt ist, in Kontum residiert hat, in einem Hospital der USAID. Jetzt ist er zurück. Hat keine Schwierigkeiten gegeben, als sie ihn »anmeldete«. Die USAID ist schließlich unser Säugling, das macht den Mann von vornherein zur genehmigten Person. Sie drehte sich um und fragte, ob er noch etwas wünsche, aber er erkundigte sich: »Wann werden Sie heiraten, Judy?« Das Mädchen errötete. Die Frage kam unvermittelt. Sie machte ein betretenes Gesicht und sagte: »Nächstes Jahr. Vielleicht.« »Nur vielleicht?« »So meine ich das nicht. Ende dieses Jahres entscheidet sich, wohin mein . . .wohin er gehen wird. Dann erst können wir das alles planen.« »Der Herr Doktor geht wieder ins Ausland?« »Südamerika ist möglich.« »Ich hätte gedacht, Vietnam wäre ausreichend als Erfahrung auf diesem Gebiet. Scheint nicht so zu sein, wie?« Sie bewegte die Schultern, bemerkte dann beinahe kleinlaut, daß sie natürlich mitgehen würde. Leider sozusagen. Er nickte. Nun ja, das Personalbüro würde für Ersatz sorgen. Südamerika. Auch ein heißes Eisen. Er erhob sich und ging zu dem Tischchen hinüber, wo Kaffee und Apfelkuchen standen. »Schade«, sagte er beiläufig. »Aber bis dahin ist ja noch Zeit. Vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal.« Sie errötete wieder. Aber sie sagte nichts. Zog sich ins Vorzimmer zurück. Deadrick grinste bei dem Gedanken, daß sie immer noch Spagat übte, wenn sie allein im Büro war. Zuweilen hatte er sie dabei überrascht. Sah ausgesprochen lächerlich aus, zwei Beine, die aus einem Geknüll von Crepe kamen, der um die Hüften gerafft war. Er biß in den Apfelkuchen und stellte fest, daß der vermutlich schon ganz früh angeliefert worden war. Leicht vertrocknet an der Oberfläche. Wenigstens war der Kaffee gut. Wie Judy das nur machte, daß sie immer anständigen Kaffee bekam! Wenn man sonst in der Cafeteria einen Becher trank, hatte man den Eindruck, er sei 246
zuvor von einem Eskimo getrunken und dann per Flugzeug nach Langley transportiert worden! Er hörte nicht das Signal, das im Vorzimmer ankam, in Judys Sprechanlage. Erst als auf seinem Schreibtisch das Sprechgerät knackte und ihre Stimme sagte: »Der Chef. Für Sie!«, sprang er auf und betätigte den Knopf. Der Chef war neu. Er hatte nicht die poltrige Jovialität seines Vorgängers. Bei ihm gab es knappe, präzise Erörterungen, genau begrenzte Anweisungen, kein persönliches Wort. Nicht einmal ein »Danke«, wenn man ihm Feuer gab. »Sind Sie frei, Deadrick?« Die Stimme klang ruhig, ein wenig schläfrig. Aber das täuschte. »Ich bin zu Ihrer Verfügung, Sir.« »Dann schalten Sie jetzt die Hausübermittlungsanlage ein. Es wird Ihnen eine Meldung überspielt, die wir vor zehn Minuten über AP bekamen. Hören Sie sich das an. Stellen Sie Überlegungen an, wie wir uns verhalten. Dafür haben Sie eine halbe Stunde. Dann sehe ich Sie bei mir. Ende.« Es mußte etwas Besonderes vorliegen, wenn der Chef auf diese Art Anweisungen gab. Eine halbe Stunde Zeit zum Überlegen, das war unüblich. Deadrick schaltete das Gerät ein und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er kaute noch an dem Apfelkuchen, aber bereits bei den ersten Worten hörte er auf, schluckte alles, was er im Mund hatte, einfach hinunter und starrte auf die Scheibe. »In Leningrad wurde gestern mittag die etwa fünfzig Jahre alte Olga Woronina in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Sie war mit dem berühmten russischen Dichter Ignat Issaakowitsch Wetrow, Nobelpreisträger und vom sowjetischen Regime wütend verfolgten Dissidenten, befreundet gewesen. Dem Vernehmen nach hatte Olga Woronina das Manuskript eines neuen, explosiven Buches von Wetrow bei sich aufbewahrt, weil der Dichter es bei sich selbst vor dem täglich zu erwartenden Zugriff der KGB nicht sicher glaubte. Die Verwahrung dieses Manuskriptes war offenbar den sowjetischen Sicherheitsorganen verraten worden. Olga Woronina ver-
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brachte mehrere Tage im Gewahrsam der KGB, wurde unter Druck gesetzt und sollte belastende Aussagen gegen Wetrow machen. Als sie das selbst unter der Anwendung von körperlichen Folterungen verweigerte, wurde sie zunächst freigelassen. Sie nutzte diese Gelegenheit, um in ihrer Verzweiflung Selbstmord zu begehen. Mit dem Auffinden des geheimen Wetrow-Manuskriptes ist die Position des weltberühmten Dichters äußerst kritisch geworden. Stündlich ist mit dem Zugriff der KGB zu rechnen, zumal das aufgefundene Manuskript in scharfer Form die unmenschliche Praxis der Polizei- und Sicherheitsorgane in der Sowjetunion angreift. Ob die weltweite Popularität des Dichters ihn schützen kann, ist ungewiß. Experten meinen, die KGB wird ganz sicher nicht tatenlos bleiben; mit einer erneuten Verurteilung des Dichters und seinem Verschwinden in einem sibirischen Lager ist daher jederzeit zu rechnen.« Deadrick war erstarrt. Er brachte es gerade noch fertig, in der dafür vorgesehenen Zeit die Wiederholungstaste zu drücken, und lehnte sich dann zurück, während Schrift und Ton erneut wahrzunehmen waren. Aus. Er griff nach einer Zigarette, brannte sie an und überlegte. Nachdem er die Meldung zum zweitenmal gehört hatte, schaltete er das Gerät ab und sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde. Die »Zek« in den Händen der KGB! Wie konnte das geschehen? Warum hatte Wetrow ausgerechnet von diesem Manuskript ein Exemplar an irgendeine Frau in Leningrad gegeben? Und wer hatte das verraten? Fragen! Der Chef würde sie ebenfalls stellen, aber sie waren nicht zu beantworten. Außerdem war jetzt wichtiger, zu überlegen, was geschehen sollte. War noch etwas zu retten? Das Manuskript der »Zek« war in Paris bereits in Satz, ebenso in Westdeutschland und in den Staaten. Die Überraschung allerdings, die mit diesem Buch geplant gewesen war, würde verspielt sein. War Wetrow selbst noch zu retten? Er sah wieder auf die Uhr und stellte fest, daß es Zeit war, sich auf den Weg zu machen. An den Kontrollstellen im Hause gab es keinen Aufenthalt; Deadrick war genau eine halbe Minute vor dem 248
angegebenen Termin im Vorzimmer des Chefs, und dessen Sekretärin ließ ihn sofort eintreten. »Setzen Sie sich, Deadrick«, forderte der Chef ihn auf. Ein sportlicher Typ, dunkelhaarig, sehr schlank, mit einem nichtssagenden Gesicht, das nur durch eine elegante Brille einigen Charakter bekam. Dieser Mann war gefährlich intelligent. Deadrick war sich bis heute nicht darüber klar, wieviel er von der Materie verstand, aber es überraschte ihn immer von neuem, daß er mit absoluter Sicherheit urteilte. Sorgfältige Vorbereitung auf den jeweiligen Fall? Oder Allround-Wissen? Er hielt einen winzigen Notizblock in der Hand, auf dem einiges geschrieben war, mit einer dünnen, platzsparenden Schrift. Nun legte er den Block vor sich hin, ließ sich Deadrick gegenüber in dem Klubsessel nieder, zog Zigaretten aus der Tasche, brannte eine am Feuerzeug Deadricks an, als sei es selbstverständlich, daß dieser ihm Feuer gab, und fragte endlich, nachdem er einige Züge gemacht hatte: »Können Sie erklären, wie das möglich war?« Es hatte keinen Sinn, diesem Mann etwas vormachen zu wollen. Deadrick beschloß zu sagen, was der Wahrheit entsprach. »Sir«, begann er, »es handelt sich offenbar um einen Zufall. Ich bin allerdings der Meinung, dieser Zufall konnte sich nur auf der Basis bestimmter Voraussetzungen ereignen. Eine davon ist Wetrows Methode, seine Manuskripte, überhaupt sein ganzes Arbeitsmaterial seit jeher an verschiedenen Stellen aufzubewahren, sozusagen auszulagern, damit es niemals bei einer Haussuchung in seiner Wohnung komplett erwischt werden könnte. Wir kannten nicht alle seine Gewährsleute. Doch selbst wenn wir sie gekannt hätten, wäre so ein Zwischenfall von uns nicht zu verhindern gewesen. Ein zweiter Grund ist, daß Wetrow dazu neigte, zu viele Frauenbekanntschaften zugleich zu haben. Wir haben ihm zugeredet, das einzuschränken, im Interesse seiner Sicherheit, aber er ist unserem Hinweis nicht gefolgt. Das bringt mich zu einem dritten Grund. In der jüngeren Vergangenheit wurde Wetrow, parallel mit der steigenden Kurve seiner Popularität, immer störrischer gegen249
über unseren Anweisungen. Beispiele dafür finden sich in Interviews, die er entgegen unseren Ratschlägen gab, in Statements und bei anderen Gelegenheiten. Ich erwähne nur seinen Streit mit der orthodoxen Kirche, den er gegen unsere Anweisung begann. Soviel zu den vermeintlichen Ursachen.« Der Chef hatte ohne ein Zeichen von Zustimmung oder Ablehnung zugehört. Jetzt sagte er knapp: »Also das Risiko der Konspiration im allgemeinen, verstärkt durch Weibergeschichten und Überheblichkeit. Sehe ich das richtig?« »Richtig, Sir.« »Gut«, sagte der Chef, »dann wäre eine weitere Frage zu klären, bevor wir zu einem Entschluß kommen. Gibt es von Ihnen und Kartstein Pläne für Wetrow, nachdem ,Zek' veröffentlicht ist?« Deadrick zögerte. »Mit ,Zek' ist für Wetrow die wesentliche Etappe seiner Arbeit abgeschlossen. An Büchern wäre nur noch Stückwerk zu erwarten, Aufzeichnungen über seine Erfahrungen mit Kollegen, mit sowjetischen Dienststellen, eine mir noch nicht ganz plausible Streitschrift über einen sehr bekannten Schriftsteller, ähnliches. Kartstein ist mit mir einer Meinung, daß der Einfluß Wetrows im Lande trotz aller Bemühungen unsererseits nicht zu verstärken sein wird. Der Schriftstellerverband hat sich gegen ihn entschieden. Für uns bleibt er lediglich als Person manövrierbar. Im Besitze des Nobelpreises, stellt er sozusagen einen Turm dar, wenn ich einen Vergleich aus dem Schachspiel wählen darf, er kann in Grenzen bewegt werden und hat für unsere Länder eine gewisse Ausstrahlungskraft. Alles unter der Voraussetzung, daß er in Moskau bleibt. Oder . . .« »Oder?« fragte der Chef, als Deadrick stockte. Er sah ihn an wie jemand, der eine Nachrichtenleuchtschrift liest, wenn dort gemeldet wird, wer irgendwo ein Fußballspiel gewonnen hat. »Oder wenn er inhaftiert würde.« »Sie rechnen damit?« »Man muß wohl damit rechnen, Sir.« 250
»Rechnet Kartstein auch damit?« »Ebenfalls, Sir.« Der Chef lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er trug einen untadelig sitzenden dunklen Anzug, darunter ein schwachgestreiftes Hemd und eine silbergraue Krawatte. Während er die Zigarette ausdrückte, knöpfte er das Jackett auf. Die Krawatte hatte auf den Millimeter genau die richtige Länge. »Nun ja«, sagte er gedehnt. Zum erstenmal bemerkte Deadrick ein feines Lächeln in seinem Gesicht. »Mister Deadrick, ich teile diese Meinung nicht. Mit anderen Worten, wir sollten nicht davon ausgehen, daß die Sowjets Wetrow inhaftieren werden. Ich erspare mir, die Gründe aufzuzählen. Wir haben es mit Leuten zu tun, die zumindest ebenso klug sind wie wir. Deshalb kommt es für uns darauf an, aus dem Kapital Wetrow in der gegebenen Situation möglichst viel Zinsen zu schlagen, bevor es verfällt. Ich stimme Ihnen zu, daß leine für uns produktivste Periode vorbei ist. Nach dem Höhepunkt, über den wir jetzt sprechen werden, kann man ihn vermutlich abschreiben. Sprechen wir also über die Taktik der nächsten Monate, bis zum Erscheinen von ,Zek' oder haben Sie einen anderen Vorschlag?« »Habe ich nicht, Sir.« »Gut.« Er blickte auf seinen Notizblock. »Nach Konsultationen mit der höheren Ebene schlage ich Ihnen vor, folgendermaßen zu verfahren: Sie entwerfen auf der Basis der AP-Meldung, deren Verbreitung wir vorerst gestoppt haben, eine neue Variante. Diese Frau in Leningrad wurde nicht in ihrer Wohnung tot aufgefunden, sondern hat im Gefängnis der KGB Selbstmord begangen, weil sie den körperlichen Schikanen nicht länger widerstehen konnte. Vermeiden Sie möglichst den Ausdruck ,Folter'. Das feuert zurück. Streichen Sie die Bedeutung des Buches stärker heraus. Es handelt lieh um ein Werk, auf das die KGB eine hektische Jagd veranstaltet, um seinen Druck zu verhindern, klar? Ein Werk von größter und schonungslosester Offenheit, das mit allen Mitteln, buchstäblich mit allen, unterdrückt werden und keinesfalls ins Ausland gelangen soll. 251
Das aber bereits im Ausland ist. Auf einem Wege, der dem Autor selbst unbekannt ist. Das ist wichtig. Soweit die Startmeldung. Zwei Tage danach lancieren Sie ein Statement. Wetrow hat angesichts der Tatsache, daß in dem von der KGB erwischten Manuskript Namen von Dissidenten in der Sowjetunion genannt sind, seine offizielle Erlaubnis gegeben, daß man das Buch im Westen druckt. Und zwar weil er vermeiden will, daß die von ihm Genannten von der KGB Verfolgt werden können, ohne daß die Weltöffentlichkeit das weiß. Die Erlaubnis zur Publikation, durch den Autor ausdrücklich erteilt, ist also eine Schutzmaßnahme für jene, die er in seinem Buch nennt. Klar?« Deadrick nickte. In der Tat war immer wieder zu bewundern, mit welcher traumwandlerischen Sicherheit der Chef seine Entscheidungen fällte. Aber auch mit welcher Kaltblütigkeit. Was er hier anordnete, bedeutete das Ende der Tätigkeit Wetrows in Moskau, so oder so. Als er darauf hinwies, nickte der Chef und sagte gleichmütig; »Sie haben den Punkt erfaßt, Deadrick. Genau so ist es.« »Damit ist der Mann in erheblicher Gefahr, Sir«, warnte er. Der Chef nahm das zur Kenntnis. Seine Gegenfrage lautete: »Deadrick, was meinen Sie: Sind wir eine Hilfsorganisation für russische Dissidenten, oder sind wir ein Instrument, das Politik mit ihnen macht?« »Ich verstehe, Sir.« »Also ist alles klar. Der Mann ist für uns gelaufen, jetzt ist er am Ende der Strecke. Wir profitieren lediglich noch aus dem, was uns die Sowjets an Reaktion bieten. Deshalb meine nächste Anweisung: Setzen Sie sofort alle Stringer, die für uns schreiben, an die Arbeit. Top-Priorität für Wetrow und sein Schicksal in allen Publikationen, in denen wir die Finger haben. Groß aufmachen, Familie mit einbeziehen. Die persönliche Tragödie. Ich brauche Ihnen das nicht vorzukauen, Sie wissen, wie man das anfängt. Soviel Schaum wie möglich! Eine Granate wird dazu gemacht, daß sie eines Tages detoniert. Es kommt nicht darauf an, ihre schöne Form zu bewahren, es kommt auf den Knall an, auf den Luftdruck, die Ver252
letzungen, die durch sie hervorgerufen werden. Wetrow ist eine solche Granate. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« »Sehr verständlich, Sir.« Der Chef nahm erneut eine Zigarette, und nachdem sie brannte, fragte er: »Wie lange dauert es, bis sie Miß Laborde in Moskau benachrichtigt haben?« »Zwei Tage.« »Gut. Das reicht. Erläutern Sie ihr genau, wie Wetrow sich zu verhalten hat. Ich wünsche, daß man ihm klarmacht, er soll bei allen seinen Interviews immer wieder auf seine Gefährdung hinweisen. Und darauf, daß er niemals freiwillig die Sowjetunion verlassen würde, etwa um sich vor Verfolgung in Sicherheit zu bringen.« »Gibt es für die Betonung des letzteren einen speziellen Grund?« »Nach allem, was wir von unseren Gegenspielern wissen, werden sie uns nicht den Gefallen tun, den Mann zu inhaftieren. Wir rechnen vielmehr damit, daß man ihn innerhalb der Sowjetunion an einen Ort verschicken wird, der sehr weit von Moskau entfernt ist, so daß es ihm schwerfallen dürfte, Verbindung zu uns zu halten.« Als er merkte, daß Deadrick ihn verwirrt ansah, erkundigte er sich, ob ihm etwas nicht klar sei. Deadrick fragte: »Sir, Sie sagen das so... Sind Sie der Meinung, die Leute da drüben wissen, wer hinter ihm steht?« Der Chef lächelte. »Deadrick! Wollen Sie mir weismachen, Sie schätzen Ihre Gegenspieler für weniger intelligent ein als sich selbst?« »Natürlich nicht!'« beeilte sich Deadrick zu versichern. »Na also! Sorgen wir für die Explosion dieser Granate, von der ich vorhin sprach, und seien wir mit dem Erreichten zufrieden. Mehr ließ sich wohl nicht machen! Haben Sie noch Fragen?« Das war das Signal dafür, daß die Unterredung beendet war. Deadrick erhob sich aus dem Sessel und antwortete erleichtert: »Keine Fragen mehr, Sir. Alles klar.« »Gut. Meine Empfehlung an Professor Kartstein.« An der Tür blieb Deadrick noch einmal stehen, drehte sich um 253
und nahm eine Haltung an, die entfernt an die Haltung von Soldaten erinnerte, die sich bei ihren Vorgesetzten abmeldeten. Der Chef war kein Militär, aber es hatte sich herumgesprochen, daß er Straffheit liebte. Zufrieden nahm Deadrick wahr, daß er ihm jetzt zunickte, bevor er sich über den Schreibtisch beugte, um die Sprechtaste seines Intercom-Gerätes zu betätigen. Zwei Stunden später war Deadrick bereits auf dem Weg zum Flugplatz. Er hatte sich bei Kartstein telefonisch angekündigt. Der Alte schien von der Entwicklung in Leningrad nichts zu wissen. In der Maschine machte sich Deadrick Notizen über Einzelfragen, die er mit Kartstein besprechen wollte. Das Tonband mit neuen Anweisungen für Catherine Laborde hatte er bereits auf den Weg nach Moskau gebracht. Deadrick lächelte abwesend, als die Stewardeß ihm einen Whisky servierte. Der Chef hat mir bescheinigt, daß wir Erfolg hatten! Kartstein wird sich die Hände reiben! Der Harvard-Campus war ziemlich verwaist. Wenige Studenten lebten jetzt hier, das Semester hatte noch nicht begonnen. Als Deadrick Kartsteins Wohnung betrat, staunte er, da sie in den letzten Tagen offenbar gründlich aufgeräumt worden war. Die Fenster standen offen, und Kartsteins Haushälterin putzte die Scheiben. »Der Herr Professor ist in seinem Arbeitszimmer«, sagte sie und wies mit dem Lappen in die Richtung. »Ich glaube, es geht ihm nicht so sehr gut. . .« Deadrick blieb stehen. »Krank?« Die Frau bewegte ratlos die Schultern. »Er schläft nicht. Das Essen schmeckt ihm nicht. Er ist deshalb nicht nach Miami Beach gefahren.« Bevor Deadrick noch weiterfragen konnte, öffnete sich die Tür zu Kartsteins Arbeitszimmer, und der Alte kam heraus, blinzelnd, wie immer in schäbige Sommerhosen, gekleidet, das weinrote Polohemd seltsamerweise frei von Zigarrenasche. »Komm herein, Junge«, sagte er müde. Er rieb sich mit der Hand über die Augen. »Ich habe versucht zu schlafen. Es geht nicht.« 254
Die Hand, die er Deadrick hinhielt, zitterte. Der Alte ist reu im» Sanatorium. Er sieht gelb im Gesicht aus, und es gibt in dieser ganzen Wohnung nicht die Spur von Zigarrenrauch, das ist ein Alarmzeichen! »Hallo, Sef!« Es sollte vergnügt klingen, aber der Ton war falsch. Der Alte quittierte es mit einem säuerlichen Blick. Er wollte die Tür hinter Deadrick schließen, aber die Klinke glitt ihm aus der Hand, die Tür schlug zu. Auch im Arbeitszimmer waren die Fenster geöffnet, alles war aufgeräumt, der Schreibtisch war nahezu leer. Ebenso leer wie die Aschenbecher. »Was sehe ich!« Deadrick blickte sich um. »Du wirst zum Frischluftfanatiker?« Kartstein setzte sich schwerfällig in einen Sessel. Er sah Deadrick an und sagte leise: »Junge, ich weiß nicht, was los ist, aber irgend etwas ist los. Ich bin fertig. Muß wohl mal eine lange Pause einlegen. Heute früh hat mich einer besucht. Glaubst du, daß ich schon jetzt nicht mehr weiß, wer es gewesen ist?« »Aber mich erkennst du?« scherzte Deadrick. Der Alte lachte nicht. Er nickte nur. »Neuigkeiten?« »Ich fürchte, sie werden dich nicht sehr erfreuen, Sef . . .« Der Alte blinzelte ihn an. »Schlechte Nachrichten?« Er sprach langsam, als ob es ihm Mühe verursachte. Was hat er nur, wunderte sich Deadrick, ist seine Zunge geschwollen? Schließlich begann er von den Ereignissen in Leningrad zu berichten. Er hatte kaum drei Sätze gesagt, da unterbrach ihn Kartstein: »Was ist los? Sag mir, was wirklich los ist, Junge! Sie haben das Buch, ja? Oder?« Deadrick nickte. »Sie haben es, Sef. Leider. Aber . . .« Er bemerkte, wie sich das Gesicht des Alten plötzlich verfärbte. Es wurde rot. Seine Lippen nahmen eine beinahe bläuliche Farbe an. »Sef«, fragte Deadrick vorsichtig, »ist dir nicht gut? Soll ich dir einen Schnaps holen? Oder was anderes?« Der Alte machte Anstalten, sich aus dem Sessel zu erheben. Er brachte es fertig, ohne zu schwanken auf beiden Beinen zu stehen, sein Gesicht war nicht mehr so rot wie zuvor. Schon wollte Deadrick 255
erleichtert aufatmen, da blickte der Alte sich verwirrt um, als sei er allein im Zimmer und als gäbe es etwas zu finden, was schon lange verlegt war. Er brabbelte vor sich hin: »Wo habe ich nur die Frösche schon einmal gesehen? Wo kommen sie her? Da ... das sind sie! Rosa Frösche! Woher kommen sie nur?« Er drehte sich um seine eigene Achse und starrte auf den Fußboden. Deadrick war aufgesprungen, er trat auf den Alten zu. Kartstein tänzelte von ihm weg, beide Hände in Abwehrstellung gegen ihn ausgestreckt. »Sef«, sagte Deadrick erschrocken, »du bist krank! Setz dich wieder, ich helfe dir! Wir werden einen Arzt . . .« Kartstein lachte laut, ein schrilles, schepperndes Lachen, sich überschlagend. Er deutete mit dem Finger auf den Schreibtisch. »Da sind sie! Die kleinen rosa Tierchen mit den nackten Schenkeln! Alle sind wieder gekommen! Ei . . . ei . . . ei . . .!« Er griff nach den imaginären Tieren, seine Hand schloß sich um einen Köcher mit Bleistiften, den er an die Brust drückte und streichelte, wobei er zärtlich flüsterte: »Siehst du, jetzt habe ich dich! Du kleiner, süßer rosa Hüpfer! Du weiches Fröschlein, das immer . . .« Seine Stimme verlor sich in einem undeutlichen Gemurmel, er küßte den Bleistiftköcher, leckte ihn ab, als wäre es eine Portion italienischer Eiscreme. Deadrick ging auf ihn zu, aber der Alte wich ihm geschickt aus, wieselte um den Schreibtisch herum und schrie: »Fang mich doch, du kleiner Froschkönig! Ei, du kannst mich nicht fangen! Die Haut ist weich, sie ist so weich, so süß, so rosig wie das Fleisch der Engel . . . Morgen werden wir heiraten, wenn der Bus noch rechtzeitig kommt, und niemand wird es sehen, weil wir so klein sind, daß wir nichts wiegen, und nicht einmal der Regen kann uns naß machen, denn wir küssen uns nicht mit dem Mund, wir küssen uns mit dem Nabel, wo die anderen den Schlitz zum Einwerfen der Münze haben . . .« »Jesus!« stöhnte Deadrick. Er lief hinaus. »Wo gibt's hier einen Arzt?« 256
Die Wirtschafterin stand immer noch auf der Leiter. Sie blickte ihn erstaunt an. »Einen was?« »Arzt!« Die Frau machte einen Schritt abwärts und noch einen, dann stand sie auf dem Fußboden. Ihr Gesicht war mißtrauisch. »Ist Ihnen nicht gut?« Da schrie Deadrick: »Himmel, wo ist ein Arzt zu erreichen? Schnell, der Professor ist krank! Schwer! Wo . . .?« Die Frau wollte ins Arbeitszimmer, aber Deadrick hielt sie zurück. »Man kann telefonieren«, sagte sie kläglich. »Sagen Sie mir die Nummer!« Da entschloß sich die Frau. »Gehen Sie eine Treppe hinunter, zum Portier. Er ruft an. Hat alle Nummern. Gehen Sie, los! Ich kümmere mich um Mister Kartstein!« Sie schob ihn auf den Flur hinaus, und Deadrick klingelte den Portier heraus, der sofort telefonierte. Der Arzt hörte sich an, was vorgefallen war, dann antwortete er kurz entschlossen: »Sir, hören Sie, ich bin kein Spezialist für das, was Sie mir schildern. Aber ich komme sofort. Halten Sie den Erkrankten möglichst ruhig. Legen Sie ihn auf eine Couch, bis ich komme . . . und veranlassen Sie, daß man mir auf dem Campus den Weg weist!« Deadrick schickte den Portier hinaus, den Arzt zu empfangen. Der Mann erkundigte sich bekümmert: »Ist es schwer? Mister Kartstein ist ein so netter Mensch.« Deadrick lief zurück in die Wohnung. Der Wirtschafterin war es gelungen, Kartstein auf das Sofa zu zerren, wo sie ihn festzuhalten versuchte, aber er wehrte sich mit Kräften, die niemand in diesem kleinen, wenig muskulösen Körper vermutet hätte. Als er gerade dem Bleistiftköcher zuraunte: »Siehst du, mein kleiner rosa Liebling, jetzt gehen wir ins Bettchen...«, betrat der Arzt das Zimmer. Er war außer Atem. Ein großer, bebrillter Mann mit dunklem Kraushaar. Italiener der dritten Generation, konstatierte Deadrick unbewusst. Kartstein 9
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Thürk, Gaukler II
interessierte sich nicht für den Arzt, er strampelte im Griff Deadricks, während der Italiener ihm den Puls fühlte, mit einer kleinen Taschenlampe in die Pupillen leuchtete und schließlich Kartstein eine Injektionsspritze in den Oberschenkel stach. Zehn Minuten später saß der Professor, in eine Decke gehüllt, ruhig in seinem Sessel und starrte vor sich hin. In seinem Schoß lag der Bleistiftköcher. Der Arzt wandte sich an Deadrick: »Ein Verwandter von Ihnen?« »Ich habe dienstlich mit ihm zu tun. Sagen Sie, Doktor, was ist da zu machen?« Der Arzt zog die Schultern hoch und musterte Kartstein kritisch. »Das Beruhigungsmittel wird eine Weile vorhalten. Ein Kollege aus der Psycho-Branche ist auf dem Wege hierher. Er muß das entscheiden . . .« »Um was handelt es sich eigentlich, um Himmels willen? Er war eben noch völlig normal, und ganz plötzlich fing er an herumzutanzen . . .« Der Arzt legte Deadrick die Hand auf den Arm. »Mister, soweit ich es beurteilen kann, ist dies ein Zusammenbruch. Nerven. Es gibt viele Ursachen für so etwas. Ebenso viele Möglichkeiten des Ausgangs und noch mehr der Behandlung.« Kartstein brummelte ganz leise vor sich hin. Die Wirtschafterin wischte sich Tränen aus den Augen. Als der zweite Arzt kam, begleitet von zwei Helfern in weißen Kitteln, war Kartsteins Kopf auf die Brust gesunken. Er schlief. Sie transportierten ihn ins Krankenhaus. Deadrick blieb bei ihm, bis er untergebracht war und eine Schwester neben dem Bett Posten bezogen hatte. Er führte ein längeres Gespräch mit dem Chefarzt des Krankenhauses. Der erklärte, man werde Kartstein zunächst in der geschlossenen Abteilung beobachten, ein oder zwei Tage. Danach ließ sich das weitere Vorgehen entscheiden. Dagegen, daß Deadrick einen jungen Mann der Agentur vor dem Zimmer Kartsteins postierte, der dort Tag und Nacht zu wachen hatte, wendete er nichts ein. So etwas gab es auch bei Kriminellen, die verletzt eingeliefert wurden.
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Von Langley bekam Deadrick die Anweisung, in der Nähe Kartsteins zu bleiben, bis entschieden war, worum es sich handelte. Nach zwei Tagen empfing der Chefarzt Deadrick wieder und teilte ihm mit, der Patient sei in eine Spezialklinik zu verlegen, und /war ebenfalls in eine geschlossene Abteilung. Deadrick verständigte sich mit Langley und wurde beauftragt, das Sanatorium in Fitchburg zu wählen, dort habe die Agentur die Möglichkeit, Kartstein abzuschirmen. Fitchburg lag nur etwa vierzig Meilen von Cambridge entfernt. Deadrick begleitete den Alten auf dem Transport und überzeugte sich, daß auch im Fitchburger Sanatorium ein Mann der Agentur Kartsteins Zimmer bewachte. Der Chefarzt in Fitchburg war ein ehemaliger Militärpsychiater, der keine näheren Erläuterungen brauchte. Ihm genügte, daß die Agentur ihn anwies, alles nur Mögliche für den Patienten Kartstein zu tun und im übrigen dafür /u sorgen, daß außer dem besonders für diesen Zweck ausgewählten Personal niemand mit ihm Kontakt aufnahm. Wieder in Cambridge, ließ Deadrick noch zwei Männer der Agentur kommen und beauftragte sie, alle Aufzeichnungen Kartsteins, alle Tonbänder oder sonstigen Materialien zu sichern. Dann flog er zurück nach Langley, erstattete dem Chef Bericht und ließ an Catherine Laborde die Eilmitteilung ergehen, sofort zu einer Rücksprache nach New York zu kommen. Catherine hatte das Gefühl, diesen großen rotblonden Mann schon einmal irgendwo gesehen zu haben, aber sie konnte sich nicht erinnern, wo. Als James Deadrick an der Abfertigung im KennedyAirport neben sie trat und sich halblaut erkundigte: »Miß Laborde?«, nickte sie und fragte: »Wo ist der Professor?« Deadrick, der sich zwischen den Zollbeamten und dem Abfertigungspersonal mit erstaunlicher Selbstsicherheit bewegte, sagte halblaut: »Ich komme in seiner Vertretung.« Er stellte sich vor und erklärte, er sei ein leitender Mitarbeiter der Föderation Nationaler 259
Zeitungsverleger. Dann nahm er sie am Arm, gab dem Beamten am Ausgang ein Zeichen, und sie konnten ungehindert den Abfertigungsraum verlassen. Deadrick führte Catherine in ein kleines Zimmer, an dessen Tür der Vermerk »VIP« angebracht war; er öffnete eine Flasche Coca-Cola, goß davon in ein Glas, reichte es Catherine und forderte sie auf: »Erfrischen Sie sich erst einmal. Ihr Gepäck wird zu meinem Wagen gebracht.« Während sie trank, musterte sie den Mann, der ihr gegenüber in dem Sessel saß und sie anlächelte. Nein, ich habe ihn nie zuvor gesehen. Er macht den Eindruck, als wüßte er über alles Bescheid, was mit meiner Arbeit in Moskau zusammenhängt. Sie fragte wieder nach Kartstein. Deadrick hatte die Frau ebenfalls aufmerksam gemustert. Eine zweifellos recht anziehende Person. Und daß sie intelligent war wer wußte das besser als er! Sie besitzt Ruhe, konstatierte er, und das, was wir »poise« nennen, jene ausgeglichene Gelassenheit, die zwar in der äußeren Haltung sichtbar wird, die aber viel stärker eine geistige Beschaffenheit ist als eine physische. Grazie. Keine Schachtel, die gelernt hat, die Beine so übereinanderzuschlagen, daß man sie für welterfahren und freigeistig hält, sondern jemand, der nicht darauf achtet, wie er sich gibt und es trotzdem schafft, Blicke auf sich zu ziehen. Er riß sich aus seinen Betrachtungen und sagte mit gemessenem Ernst: »Miß Laborde, ich muß Ihnen eine Mitteilung machen. Sie betrifft Mister Kartstein. Wir haben Sie auch deswegen hergerufen, das heißt, ich habe es getan, da ich in der Sache, die Sie bearbeiten, engster Vertrauter des Professors war . . .« Er schilderte, was mit Kartstein geschehen war. Catherine machte ein ungläubiges Gesicht. Sie wollte nicht wahrhaben, daß es Sef Kartstein nicht mehr gäbe, daß er als hilfloses Wrack in einem Sanatorium liegen sollte. Deadrick bemerkte die Zweifel in ihrer Miene. Er sagte vorsichtig: »Miß Laborde, ich weiß, wie sehr Sie das trifft; ich habe 2bO
erleben können, wie eng das Verhältnis zwischen Ihnen und Sef war. Leider, es läßt sich nicht verschweigen, Professor Kartstein wird Monate dort zubringen. Jahre vielleicht. Es hat keinen Zweck, sich Illusionen zu machen, er wird diese Institution wahrscheinlich nie mehr verlassen können.« Er nennt ihn Sef, dachte sie. Ein Vertrauter. Ist er tatsächlich ein harmloser Mitarbeiter dieser ominösen Föderation Nationaler Zeitungsverleger? Sie schob die Antwort auf. Das hatte Zeit. Nichts war jetzt so wichtig wie das Schicksal Kartsteins. Stimmte das, was dieser Mann da sagte? »Ich möchte ihn auf jeden Fall sehen!« Deadrick nickte verständnisvoll. »Ich habe damit gerechnet. Wie lange können Sie hierbleiben? Ich meine, müssen Sie sehr schnell nach Moskau zurück?« Sie überlegte. »Letztlich liegt es an mir, wann ich zurückfliege.« Sie stutzte. Ich sage »zurückfliegen«. Als ob ich dorthin gehörte und hier nur auf Besuch wäre. Deadrick schien es nicht bemerkt zu haben. Er schlug ihr vor, ein paar Tage zu bleiben. »Und mit wem werde ich über die Entwicklung in Moskau sprechen?« »Mit mir«, sagte Deadrick. »Ich bin in alles eingeweiht, und ich werde Sef Kartstein als Partner für Sie vertreten, bis es andere Entscheidungen in unserem Gremium gibt.« »Also kann ich den Professor sehen?« Deadrick dachte nach. »Sie haben hier in New York eine Wohnung?« »Einen Anteil.« »Gut, gut. Ich werde Sie morgen früh dort abholen. Bis dahin werde ich dafür sorgen, daß wir auf dem schnellstmöglichen Wege in das Sanatorium kommen. Ich werde eine Maschine chartern, bis Boston, und von dort benutzen wir einen Wagen ... Ist Ihnen das recht?« »Natürlich. Dann kann ich vielleicht jetzt gleich meinen Rückflug buchen?« 261
Er nickte. »Wir erledigen das für Sie. Übermorgen? Oder einen Tag später?« Catherine bewegte die Schultern. Sie war unschlüssig. Dies alles kam unerwartet; sie fühlte sich plötzlich verloren hier, wußte nicht, was sie in der Stadt sollte. Schließlich stimmte sie zu: »Übermorgen.« Er nahm das Ticket, besah es kurz, entschuldigte sich für eine Minute und ging vor die Tür. Da stand ein junger Mann, der sich anhörte, was Deadrick ihm einschärfte, und dann mit dem Flugschein verschwand. »Das wird erledigt«, verkündete Deadrick, als er sich wieder zu Catherine setzte. »Übermorgen. Die Zeit erfahren wir gleich. Und nun hätte ich eine Frage zur Verfahrensweise, Miß Laborde, wenn Sie einverstanden sind. Zunächst wäre es Ihnen recht, wenn wir zusammen in ein kleines Restaurant fahren und dort etwas essen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bekomme keinen Bissen herunter.« »Aber . . . Sie müssen hungrig sein! Der lange Flug . . .« »Ich bin an Bord übermäßig gut verpflegt worden. Gestatten Sie mir einen Vorschlag, Mister . . .« »Deadrick«, sagte er lächelnd. »James Deadrick.« »Mister Deadrick«, wiederholte sie. »Es gibt einige Dinge zu besprechen. Können wir es hier tun? Oder woanders? Ich möchte es bald hinter mich bringen. Danach will ich zu meiner Wohnung, möchte mich ausruhen, damit ich morgen früh voll bei Kräften bin.« Er beeilte sich zu versichern: »Selbstverständlich, Miß Laborde, genauso werden wir es machen. Übrigens steht uns dieses Zimmer zur Verfügung, solange wir es brauchen. Niemand stört uns hier. Mein Wagen wartet, bis wir zu Ihrer Wohnung aufbrechen wollen. Also . . .« Er hob die Hände, kehrte beide Handflächen nach außen und lächelte. Er sieht recht gut aus, dachte Catherine. Einer dieser intelligenten jungen Männer: wie sie Amerika als Massenprodukt hervorbringt. Gute Manieren. Für die Außentemperatur trägt er einen ziemlich warmen Anzug, das ist der einzige Mißton, der sich entdecken läßt. 262
»Also«, sagte sie, »Mister Deadrick, kommen wir zur Sache. Kann ich Ihnen berichten, was ich nach Empfang der letzten Tonbandbotschaft getan habe?« Sie griff nach ihrer Handtasche und nahm Zigaretten heraus. Deadricks Feuerzeug schnappte, bevor sie die Packung geöffnet hatte. »Ich habe mit Wetrows Frau gesprochen und ihm übermitteln lassen, was mir aufgetragen worden war. Wieviel davon er befolgt, kann ich nicht voraussagen. Der Mann ist der Meinung, es könne ihm absolut nichts geschehen. Er begründet das damit, daß die dortige Regierung in der gegenwärtigen Phase ihrer Außenpolitik keinen spektakulären Zwischenfall wünsche, der sich störend auswirken könnte. Eine Meinung, die ich nicht teile, aber das ist eine andere Frage. Ich habe ihn gebeten, trotzdem in allen Interviews zu verbreiten, daß er sich gefährdet fühle. Was die Affäre in Leningrad betrifft, so konnte seine Frau mir keine näheren Auskünfte geben. Bei der Toten handelt es sich ihrer Meinung nach um jemanden, der Wetrow aus literarischem Interesse heraus unterstützt hat. Über die Ursachen, die zur Entdeckung des Manuskriptes führten, konnte sie nichts sagen.« Deadrick bestätigte: »Sie haben gut gearbeitet, Miß Laborde. Es beruhigt mich, daß nach diesem . . . unglücklichen Vorfall mit Sef die Sache dort drüben wenigstens trotz der Leningrader Angelegenheit wohl weiter in unserer Hand ist. Was mich interessieren würde, sind Reaktionen der sowjetischen Öffentlichkeit. Gibt es darüber etwas zu berichten?« Es gäbe vieles, dachte sie, aber es hätte wenig Sinn, ihm das zu sagen. Die Tatsache beispielsweise, daß alles, was Wetrow tut, was er in Statements und Interviews von sich gibt, bei der Bevölkerung seines Landes so gut wie gar kein Echo hervorruft, weil niemand seine Äußerungen zur Kenntnis nimmt. Dort drüben wird die »Prawda« gelesen, nicht die »New York Times«. Sinnlos, darüber einen Dialog zu führen. Sie lehnte sich zurück. »Es hat keine Stellungnahmen zu dem besagten Manuskript gegeben, bisher. Bevor es irgendwo veröffentlicht ist, wird es auch keine geben, das ist sicher. Abzuwarten bleibt, 263
was auf die Ankündigung Wetrows erfolgt, die Veröffentlichung im Ausland sozusagen als Schutzmaßnahme für die im Buch Genannten zu erlauben. Aber das sind Zukunftsprobleme. Wenn Sie von mir eine Einschätzung der Stimmung wollen, die sich in einzelnen Verlautbarungen, in Artikeln, Polemiken, Interviews zeigt, dann wäre zu sagen, daß Wetrow allgemein als ein Mann bezeichnet wird, der an Größenwahn leidet und an Verfolgungswahn.« »Und das glauben die Leute?« »Ja«, antwortete Catherine. »Es wird weiterhin gesagt, bei ihm handle es sich um einen faschistischen Lügner, der die Sowjetwirklichkeit im Interesse ausländischer, entspannungsfeindlicher Kreise verfälscht darstellt. Es wird offiziell erklärt, er erhielte dafür Bezahlung in Valuta und er sei daher nicht etwa ein Märtyrer, sondern eine bezahlte politische Marionette. Die ,Literaturnaja Gazeta' bezeichnet ihn als einen .literarischen Wlassow', wenn Sie mit diesem Begriff etwas anfangen können . . .« Er nickte. Wieder fragte er: »Und die Leute glauben das?« »Wenn Sie damit die große Mehrheit der Bevölkerung in der Sowjetunion meinen, lautet die Antwort: ja. Es mag in Kreisen von Intellektuellen gegenteilige Meinungen geben, aber die sind spärlich. Unerheblich für das Gesamtbild. Führende Funktionäre des Schriftstellerverbandes sagen über Wetrow, sie hätten von ihm einfach ,die Nase voll'. Was den letzteren Ausdruck betrifft, bin ich in der Lage zu bestätigen, daß er den Sachverhalt genau trifft. Die Aussagen über den politischen Aspekt kann ich nicht beurteilen. Ich habe mich mit Literatur beschäftigt, politische Probleme dieser Art sind nicht mein Gebiet.« Sie drückte den Rest ihrer Zigarette aus und sah ihr Gegenüber abwartend an. Deadrick zeigte keine Überraschung. In der Tat deckte sich das, was er hier hörte, mit dem, was sowohl der Chef als auch er selbst von der Sache erwartet hatten. Er lächelte. »Aufschlußreich, Miß Laborde. Außerordentlich vielsagend für uns.« Er erinnerte sich an sein letztes Gespräch mit dem Chef und 264
fügte an: »Übrigens muß ich Ihnen das Kompliment machen, daß Sie eine großartige Leistung vollbracht haben! Wenn jemand ermessen kann, was Sie in den letzten Jahren in Moskau geleistet haben, dann bin ich es. Ich habe eng mit Sef zusammengearbeitet. Deshalb konnte ich das Geschehen in allen Details verfolgen. Ich weiß heute noch nicht, wie Ihnen das zu danken ist . . .« Catherine ging nicht darauf ein, sie erkundigte sich: »Mich würde interessieren, wann ich meine Tätigkeit dort beenden kann. Es wird für mich Zeit, mir eine andere Beschäftigung zu suchen. Verstehen Sie, ich bin Jahre aus den Staaten weg, alle Verbindungen, die ich hatte, sind kalt geworden. Ich muß neu anfangen. Können Sie mir etwas Verbindliches sagen?« Deadrick wiegte nachdenklich den Kopf. Natürlich, da war sie wieder, die Frage, die schon in den Gesprächen im Hotel Kempinski eine Rolle gespielt hatte, damals, als dieser Reporter bei ihr im Bett lag. »Wollen wir diese Entscheidung aufschieben, bis das erste fremdsprachige Exemplar der ,Zek' vorliegt, Miß Laborde?« fragte er und fügte hinzu: »Seien Sie versichert, ich verstehe Sie genau. Selbstverständlich wird es in unserer Verantwortung liegen, Ihnen den Start hier zu erleichtern. Glauben Sie, wir haben alle Möglichkeiten dazu; es ist nicht nötig, daß Sie sich jetzt darüber Sorgen machen. Für Sie stehen hundert prächtige Chancen bereit, Sie brauchen nur zuzugreifen. Allerdings die Entwicklung in Moskau bis zur Publikation von ,Zek' zu verfolgen, das wird sich nicht umgehen lassen.« Was war das für ein Mann? Ein Literat? Es ist überhaupt kein Wort über Literatur gesprochen worden. Das ist der Typ des routinierten Managers, des Organisators, er denkt überhaupt nicht an Literatur. Vertrauter Sef Kartsteins? Ich habe nie etwas von ihm gehört, solange ich in der Nähe Kartsteins gewesen bin. Sie ahnte, wer er wirklich war, ein Organisator politischer »Spiele«. Für wen die organisiert wurden, darüber brauchte man nicht lange nachzudenken. Armer Glenn, du hast den Spürsinn eines Reporters 265
gehabt. Ohne auch nur den hundertsten Teil dessen zu kennen, worum es ging, hast du gewußt, wer die Spieler sind und wer die Figuren, die sie ziehen! Deadrick erhob sich und ging zur Tür. Er ließ sie offenstehen, streckte nur die Hand aus, dann kam er zurück und legte die Flugkarte neben, ihr Glas. »Übermorgen mittag. Ist Ihnen das recht?« Sie lächelte, als sie die Karte einsteckte. Imponierend, wie er die unwichtige Kleinigkeit der Buchung eines Fluges erledigte! Zwei Gänge bis zur Tür, das war alles. Kein Zoll beim Empfang. Gemütliche Unterredung im VIP-Raum. Morgen früh eine Chartermaschine nach Boston. Wagen steht bereit für die Fahrt ins Sanatorium. Hundert prächtige Chancen für die Zukunft. Ist das die CIA? Wenn nicht, wer dann? Eine »Föderation Nationaler Zeitungsverleger«? Nein, dies hier ist die Macht. Konziliant, entgegenkommend, elegant gekleidet, gebildet. Und doch die einzige Macht in den Vereinigten Staaten, die mit einem Federstrich alle Schranken beseitigen kann, die es auf ihrem Wege gibt, demokratische wie bürokratische. Sie stand auf, strich ihr Kleid glatt, nahm die Handtasche. Deadrick lächelte ihr zu, ging voraus, führte sie zu einem schwarzen Cadillac, dessen Fahrer eilfertig die Tür aufriß und die Mütze vom Kopf zog. Glasscheibe zwischen dem Fond und dem Fahrer. Ein Telefon. Und ein höflicher Mister Deadrick, der sie aufmerksam machte, daß sich an der Silhouette der Stadt einiges verändert hatte. Catherine erwartete Florence zu sehen, nachdem sie den flachen Sicherheitsschlüssel im Schloß der Wohnungstür herumgedreht hatte und eingetreten war. Aber in der Tür zum gemeinsamen Wohnraum stand ein halbnackter junger Mann, dessen Gesicht zum großen Teil von Haaren bedeckt war. Er war barfuß, hatte eine Zigarette im Mundwinkel und sagte überrascht: »Hi, Baby!« Sie ging an ihm vorbei in den Wohnraum, dabei sah sie, daß sein Blick seltsam starr, die Pupillen auffällig groß waren. Die Wohnung 266
stank nach kalt gewordenem Tabakrauch und nach etwas anderem, das Catherine nicht sofort definieren konnte. Es war ein säuerlichherber Geruch, wie von verbrannten Kräutern. Sie vermutete, daß es Hanf war, als sie das Häufchen auf dem niedrigen Tisch liegen sah, daneben die Packung Zigarettenpapier. Das ganze Zimmer war übersät von großformatigen Papierbögen mit Bleistiftzeichnungen, deren Bedeutung Catherine nicht sogleich begriff. Überall lagen Stifte und Pinsel herum, Farbdosen, Tuschsteine, Wischlappen voller Farbflecken. Und dazwischen Kleidungsstücke, vom Schuh bis zum Wintermantel. Die Tür zum Schlafraum von Florence stand offen. Das gleiche Bild. Es machte den Eindruck, als ob das Bett bereits mehrere Monate nicht aufgeschüttelt worden war. Catherine machte einen Schritt auf die Tür zu, die in ihren eigenen Schlafraum führte. Sie war geschlossen, Catherine holte den Schlüssel dafür aus ihrer Handtasche. Der halbnackte junge Bursche hinter ihr räusperte sich, aber bevor er etwas sagen konnte, fragte Catherine: »Wo ist Florence?« Er starrte sie mit großen Augen an. Seine Haare waren strähnig, man sah es jetzt im Licht, das durch die Fenster des Wohnraumes fiel. Schielte er eigentlich auch noch? Er wirkt wie ein alttestamentarischer Märtyrer, dachte Catherine belustigt. Was hat sich die gute Flo da nur eingeladen? Der Bursche verbeugte sich grinsend. »Madame, ich vermute, Sie sind Cath?« »Ich bin Cath. Also, wo ist Flo?« »Kalifornien«, sagte der Bursche schwärmerisch und lächelte. Sein Gesicht wurde dadurch ansehbar, beinahe jungenhaft sympathisch. Er streckte beide Arme aus und tänzelte ins Zimmer, eine Melodie vor sich hin summend. Ist er betrunken? fragte sich Catherine. Der Bursche blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, starrte sie an und sagte: »Kalifornien, Baby! Sie filmt. Zwar nicht mit Andy Warhol, aber mit Gus, und Gus wird der Welt zeigen, was die Kunst vermag, wenn man sie befreit! Ich bin Zet. Ganz einfach Zet. Zacharias für die Bourgeoisie und ihre Speichellecker . . .« 267
Sie schloß die Tür auf, stellte ihren kleinen Koffer in das Schlafzimmer, drehte sich noch einmal um und sagte: »Okay, Zet. Ich danke für die Auskunft. Wann kommt Flo zurück?« »Wer weiß! Zwei Wochen, zwei Jahre . . .« Also nicht so bald. Dann werde ich sie vermutlich nicht sehen. »Was treibst du da?« Der Bursche antwortete verdutzt und sachlich, als er sah, daß Catherines Finger auf seine Zeichnungen deutete: »Baby, das sind Skizzen für die Studiohintergründe des Films! Hast du wirklich gar keine Ahnung von so was?« »Gar keine. Wie oft räumst du das Zimmer auf?« »Zimmer aufräumen?« Er bestaunte sie wie ein Denkmal. »Wozu? Soll ich in dieser verdammten kleinbürgerlichen Tradition ersticken, daß alles immer an seinem Platz sein muß? Baby, wir verändern die Welt! Wir stülpen sie um! Wir scheißen auf die Bourgeoisie und ihre Ordnung!« »Ach, du bist Revolutionär?« Sie gab sich Mühe, es ernst klingen zu lassen. Der Bursche antwortete mit schwerer Zunge: »Baby, ich bin die Welt! Alles, was vor mir war, ist nur der Dünger gewesen, auf dem Leute wie ich gewachsen sind.« »Kommunist, ja?« Er lachte. »Die zahmen Schäferhunde der Revolution! Baby, ich bin kein Schäferhund, ich bin ein Wolf!« »Aha«, machte Catherine. Sie wußte nicht, ob sie weiter ein ernstes Gesicht machen sollte oder lieber lachen. Also schob sie ihren Koffer ein Stück weiter in den Schlaf räum und sagte: »Schön, Mister Zet-Wolf. Lassen Sie sich durch mich nicht stören, ich werde nur zwei Nächte bleiben. Was dagegen, wenn ich jetzt ein bourgeoises Bad nehme?« Der Bursche breitete wieder beide Arme aus, schüttelte den Kopf, daß die langen Haare flogen, und ließ sich dann auf ein Kissen fallen, das mitten im Zimmer lag. Catherine schloß die Tür hinter sich, begann ihren Koffer auszupacken, streifte ihre Kleidung ab und zog 268
den alten Frotteemantel an, der noch auf dem Bügel hing. Als sie in den Wohnraum kam, war der Filmmaler dabei, sich eine Zigarette zu drehen. Seine Finger waren nicht sehr sicher. »Helfen?« erkundigte er sich mit einer Kopfbewegung nach dem Baderaum. Catherine zog eine Grimasse. Dann sagte sie mitleidig: »Betrachte mich als deine erwachsene Schwester, Wölfchen, mach dir keine Hoffnungen.« »Und sie beherrschte ihre Triebe . . .«, summte der Bursche vor sich hin. Er starrte auf die Zigarette, die ihm nicht recht gelingen wollte. Catherine ließ sich das warme Wasser über den Körper laufen, und während sie einen Blick auf das Waschbecken warf, die Toilette, den Handtuchhalter, bemerkte sie, daß hier alles ebenso verlottert war wie im Wohnzimmer. Vermutlich war Flo Wochen nicht zu Hause gewesen, denn sie achtete sonst peinlich auf Sauberkeit. Wo sie wohl diesen Typ da draußen aufgelesen hatte? Ein Hippie. Ein Filmzeichner. Raucht Marihuana und scheint sich nicht zu waschen, trotzdem ist das Bad verdreckt. Heimkehr von einer langen Reise, dachte Catherine ironisch. Sie verspürte keine Lust, sich über das, was sie hier antraf, aufzuregen. Es hatte keinen Sinn. Sie seifte sich ein, ließ den Schaum abspülen, stand lange unter dem kalten Strahl und rieb sich schließlich mit ihrem eigenen Handtuch trocken, bis die Haut sich rötete. Jetzt hinüber gehen können, ins »Kristall«, dachte sie, und es fiel ihr gar nicht auf, daß sie sich an Moskau erinnerte, jetzt dort einen Kaffee trinken, mit jemandem ein paar Worte wechseln, der Kapelle zuwinken, daß sie zu laut spielte, und das Lachen eines dieser armenischen Gitarristen sehen (oder waren es georgische?), dann einen Spaziergang machen, vielleicht in den Datsun steigen und hinausfahren. Peredelkino. Himmel, ich bin zu Hause und träume von dort! Sie kämmte ihr Haar, beschloß, am morgigen Nachmittag den Frisiersalon aufzusuchen, den sie früher immer benutzt hatte, und
verließ das Bad. Sie sah den Jungen auf dem Kissen hocken, einen Schwaden übelriechenden Qualm um sich herum, und trat an eine der Zeichnungen, die am Boden lagen. »Willst du einen Zug?« Der Bursche hielt ihr den Stummel der Zigarette hin. Sie schüttelte den Kopf. Betrachtete die Zeichnung. Ein kopulierendes Pärchen vor dem Hintergrund einer Schaufensterscheibe, die mit Preisangeboten beschrieben war. Suppendosen und gerupfte Hühner. Auf dem hochgereckten Hintern des männliches Partners saß eine Katze und putzte sich. »Die gesunde Profanität«, erläuterte der Filmzeichner. »Die Befreiung der Menschheit kommt aus dem Sex, Baby. Sie kommt auf diesem Wege oder gar nicht. Nur da, wo das Establishment den Einfluß auf den Menschen im Bett verliert, setzt sich die Weltrevolution durch. Wir werden das in unserem Film zeigen. Florence ist eine grandiose Darstellerin. Du solltest sehen, wenn sie einen Orgasmus hat! Baby, das Publikum wird die Chase Manhattan Bank stürmen, nachdem es das gesehen hat!« »Hoffentlich stehen die Ampeln an den Überwegen auf Grün.« Der Bursche war am besten zu behandeln wie ein Kranker. Er war krank. Wie wohl das ganze Land. »Du bist eine kleine verklemmte Bourgeois?« fragte er lauernd. »Stimmt das?« Sie erinnerte ihn: »Ich bin deine erwachsene Schwester, Zettie!« »Okay.« Er streckte sich auf dem Kissen aus. »Ich werde einen Menschen aus dir machen. Über Nacht. Ich werde dich für die revolutionäre Kunst vorbereiten, dich aufnahmefähig machen, indem ich den Kanal erweitere, der verschüttet ist mitbürgerlichem Unrat! Baby, du wirst mir danken! Auf dem Höhepunkt der Begeisterung wirst du jubeln, du wirst schreien: ,Es lebe die Revolution!' Und dann wirst du durch die Straßen gehen und wirst die Morbidität unserer Zivilisation mit ganz neuen Augen sehen, du wirst den Pestgeruch spüren, der von den Repräsentanten des Establishments ausgeht, du wirst groß werden wie die Freiheitsstatue, größer!« Plötzlich hatte er einen Wisch Papier in der Hand. 270
Richtete sich auf. »Ich habe ein Gedicht auf dich gemacht, während du im Bad warst. Hörst du zu?« Sie stand vor ihm, die Hände in den großen Taschen des Frotteemantels vergraben. Ein Irrer? Wer wollte das entscheiden? »Lies vor«, sagte sie. »Ich habe eine Schwäche für Gedichte.« Er machte eine Geste mit der rechten Hand, während er das Papier dicht vor die Augen hielt und zu lesen begann. Kurzsichtig scheint er auch noch zu sein, dachte Catherine. Ein Panoptikum, das mich bei meiner Heimkehr erwartet! Gauner und Gestrandete! »Ode an die Hoden«, deklamierte der Junge. Er spuckte den kalt gewordenen Stummel aus und begann: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch, ihr habt nichts zu verlieren als eure Hoden! Die Welt besteht aus Klassen, wie die Träger von Hoden aus Klassen bestehen. Halbe Hoden, Viertelhoden, krumme Hoden, weiche Hoden, victorianische Hoden und rote. Wie meine: rot! Laß uns, Baby, mit dem Pinsel der Inbrunst, gespeist aus meinen roten Hoden, die Stadt rot anstreichen, das Land und deine Eingeweide, bis diese Zivilisation 271
der Wallstreethoden im glühroten Schaum versinkt und wir auf den nackten Ärschen der Leichen der krepierten Bourgeoisie die letzte, die endgültige Freiheit errichten!« Catherine bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Der Bursche starrte sie an, fragend. Er erwartete einen Kommentar. »Nun ja«, sagte sie, »es scheint, an dir ist ein kleiner Henry Miller verlorengegangen.« Er machte eine abfällige Handbewegung. »Miller! Ein bourgeoises Schwein! Dies hier ist die Kunst der Zukunft! Baby!« Er fuchtelte mit dem Wisch vor ihrem Gesicht herum, und sie trat einen Schritt zurück. Er mußte eine Menge Marihuana geraucht haben, seine Pupillen waren ziemlich starr. Immer wieder schwenkte er das Papier mit dem Gedicht, und dabei dozierte er: »Baby, wir werfen alles über Bord! Die ganze gelehrte Theorie der Kunst, samt ihren Erfindern! Alles für die Mülltonne! Keine Perspektive! Nichts gilt mehr, gar nichts. Dies ist der Aufbruch in ein neues Zeitalter, Baby! Die explorative Analyse der menschlichen Sexualität ist der entscheidende Meilenstein, den die Subindividuen unserer Zivilisation hinter sich bringen müssen, auf dem Weg zur Revolutionierung des Universums!« »Aha«, machte Catherine. Sie war es plötzlich leid, diesem erotischen Weltverbesserer zuzuhören. Sie drehte sich um, und an der Tür zu ihrem Zimmer sagte sie noch: »Eine wesentliche Erkenntnis, Zettie, wirklich. Ich werde darüber nachdenken.« Der Bursche grinste. Im Grunde war er harmlos. Nicht einer von denen, die nachts in der Subway junge Mädchen überfallen. Ein ausgeflippter Schwärmer. Was war bloß aus Florence geworden, daß sie sich den mit nach Hause genommen hatte? Sie merkte, daß er ihr folgte, und machte ihn aufmerksam: »Ich 272
bin müde, Zettie. Ich sehne mich nach einem langen, tiefen Schlaf. Also gib Ruhe und dreh das Radio nicht so laut.« »Baby«, sagte er enttäuscht, »du hast gar keine Lust, jetzt mit mir zu vögeln?« »Nein«, gab sie ruhig zurück. »Das hat dein Gedicht nicht geschafft. Mach ein besseres. Ich bin anspruchsvoll. Besonders wenn ich müde bin. Gute Nacht!« Sie ließ ihn stehen und schloß hinter sich ab. Eine halbe Stunde später schlief sie fest. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war in der Wohnung alles ruhig. Der Hippie lag zwischen seinen Zeichnungen und schnarchte. Er wurde nicht einmal wach, als Catherine sich wusch, sich etwas zu essen bereitete, und auch als sie die Wohnung verließ, rührte er sich noch nicht. Zwei Stunden später war sie bereits in Boston; die kleine Chartermaschine rollte aus und blieb vor einem Hangar stehen. Deadrick empfahl dem Piloten, sich auszuruhen, dann eilte er mit Catherine zu einem in geringer Entfernung geparkten Wagen. Sie fuhren weiter nach Fitchburg. Sef Kartstein erkannte weder Catherine noch Deadrick. Er lag in einem Einzelzimmer, in dem es außer dem Bett nur noch ein Waschbecken und einen Wandschrank gab. Der Alte war am Bett festgeschnallt. Sein sonst so verschmitztes Gesicht wirkte leer, von einer auffälligen Blässe überzogen. Als Catherine seine Hand berührte, richtete er die Augen auf die Besucherin, aber in ihnen war kein Ausdruck des Erkennens, weder Freude noch Schmerz. Um seine Mundwinkel stand Speichel; die Pflegerin wischte ihn mit einem Zellstoffetzen ab. »Professor!« sagte Catherine zaghaft. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, das war alles. Deadrick rief polternd: »Hallo, Sef! Alter Junge!« Da richtete sich der Blick des Kranken auf ihn. Der Mund blieb geschlossen. 273
Die Schwester flüsterte: »Er sieht Sie, aber er erkennt Sie nicht. Seit gestern steht er unter einem schwereren Mittel . . .« »Hat er getobt?« Deadrick fragte es, als sie das Zimmer verließen. »Er ist eigentlich recht ruhig. Aber manchmal beginnt er sich zu erregen. Es kann mit der Behandlung zusammenhängen, er bekommt elektrische Schocks. Im Normalfall kann das sehr viel ausrichten . . .« »Im Normalfall?« fragte Catherine ernüchtert. Die Schwester nickte. »Man merkt nach den ersten Behandlungen bereits, ob da noch etwas zu machen ist. Aber hier . . .« »Wie lange arbeiten Sie schon in Fitchburg?« erkundigte sich Deadrick. Die Schwester sah ihn an. In ihren Augen stand ein leichtes Lächeln, als sie antwortete: »Seit dem Tage, an dem Mister Kartstein eingeliefert wurde, Sir.« »Woher kommen Sie?« »Washington, Sir.« Er nickte. Die Agentur hatte alles vorzüglich geregelt. Der Chefarzt des Sanatoriums empfing die Besucher mit großer Höflichkeit, er bot ihnen Kaffee an und bewirtete sie in einem elegant eingerichteten Raum. Dabei sprach er lange über Kartsteins Befinden und ließ keinen Zweifel darüber, daß dessen Zustand ernst war. Er meinte, es könnte vielleicht im Laufe einer langen Behandlungszeit zu einer gewissen Besserung kommen, aber mit der Wiederherstellung des Patienten sei nicht zu rechnen. Weil seine Besucher etwas betroffen dreinschauten, erzählte er ihnen eine Menge über Geisteskrankheiten und angrenzende Gebiete der Medizin, schilderte Fälle, in denen man Leute wie Kartstein eines Tages sogar wieder hatte entlassen können, allerdings hilfsbedürftig, von dauernder Pflege abhängig. Als Catherine mit Deadrick das Sanatorium verließ, dachte sie daran, was Kartstein ihr bei ihrem letzten Zusammentreffen angekündigt hatte: sie in Harvard auf die Übernahme seines Lehr274
Stuhls vorzubereiten. Ob er damals schon gespürt hat, daß ihm nicht mehr viel Zeit bleibt? »Es ist erschütternd«, sagte Deadrick. Sie schwieg. »Sie haben sehr an ihm gehangen, Miß Laborde, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie. »Er war vielleicht der hervorragendste Mann in seinem Fach. Wer soll ihn ersetzen?« Deadrick zuckte nur die Schultern. Er sprach davon, daß man alles tun würde, um ihm zu helfen, und daß er selbst sich darum kümmern würde. Dann kam er wieder auf Wetrow zu sprechen. Unvermittelt erkundigte er sich, ob Catherine beim Begräbnis Twardowskis dabeigewesen war. Sie verneinte, und sie war überrascht, als Deadrick ihr versicherte, diese »Show« habe sie großartig inszeniert. »Loben Sie mich nicht für Dinge, die mich nicht betreffen«, wehrte sie ab. »Ich hatte Wetrow übermitteln lassen, er solle sich anläßlich der Beisetzung Twardowskis zurückhalten. Er hat das Gegenteil getan, also ist das eher ein Versagen meinerseits gewesen.« »Aber warum?« wunderte sich Deadrick. »Warum sollte er dort nicht auftreten?« »Weil so gut wie jeder der Trauergäste genau wußte, daß Twardowski einmal sehr viel von Wetrow gehalten hatte, am Anfang seiner Karriere. Und daß er sich später ziemlich offen von ihm distanzierte. Die Leute wußten also, daß es sich bei dem, was Wetrow dort aufführte, um Heuchelei handelte. Und das mußte seine Position unter den Schriftstellern noch verschlechtern. Ich wollte das verhindern. Mißlungen.« Deadrick lachte unbekümmert. »Miß Laborde, natürlich macht Ihnen niemand Vorwürfe, wenn Wetrow Ihre Ratschläge zuweilen nicht befolgt. Wir wissen, daß er eigensinnig ist, daß er oft ziemlich impulsiv handelt. Nur die Show an Twardowskis Grab war ja nicht eine Show für die sowjetischen Schriftstellerkollegen, nein, sie war für uns hier wichtig! Einer der besten Einfälle Wetrows. in der Tat. Ausgezeichnet für uns zu gebrauchen!« 275
»Ja«, sagte sie, »das habe ich später auch begriffen.« »Sie sehen, Sie können kaum etwas falsch machen, dort! Sagen Sie mir eins vorausgesetzt, Wetrow kann in Moskau weiterarbeiten nach Erscheinen der ,Zek' : An welches Thema sollte man ihn setzen? Womit könnte er nach diesem Buch den Sowjets noch ernstlich weh tun? Sie sind lange dort gewesen, Sie sollten das beurteilen können.« Die Frage kam unerwartet; Catherine konnte sie nicht beantworten. Deadrick drängte sie nicht. Er riet ihr, darüber nachzudenken, das sei sicherlich eine interessante Aufgabe für sie. Während sie nach Boston zurückfuhren, fragte er sie immer wieder nach Einzelheiten aus der Moskauer Literaturszene, und Catherine erkannte, daß er davon eine ziemlich eigenartige Vorstellung haben mußte. Sie machte ihn aufmerksam, daß es buchstäblich Hunderte von begabten jüngeren Leuten dort gäbe, die ihre ersten Arbeiten veröffentlichten, teils in Zeitschriften, teils in. Büchern, und daß die Leserschaft dieser Arbeiten in die Millionen ging. Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wir wissen zuwenig . . .« »Viel zuwenig. Selbst ich kann nicht alles verfolgen, was sich auf dem Gebiet der Literatur dort tut, obwohl ich mir viel Zeit nehme, Neuerscheinungen zu lesen.« »Was sind das für Leute, die da jetzt an die Öffentlichkeit treten?« »Junge Leute meist. Ein umfassendes System der musischen Erziehung bringt sie hervor. Man fördert sie, verhilft ihnen zum Start. Und was Wetrow anlangt, Mister Deadrick, Sie müssen sich darüber klar sein, daß kein Mensch dort ihn vermißt. So viele Autoren schreiben Bücher, die die Leute fesseln, mit denen sie sich auseinandersetzen, oft sogar ziemlich kritisch, so daß sie vollauf damit beschäftigt sind. Haben Sie jemals etwas von Dshingis Aitmatow gehört? Oder von Bondarew? Von Bykau? Da gibt es Valentin Rasputin und Anatoli Tschernousew, es gibt Sagrebelny und Gublin, Salygin und Narowtschatow, es gibt den Esten Jaan Kross und den Letten Lams, den Georgier Dumbadse und den Litauer 276
Bubnys. Man findet den Turkmenen Dshumageldyjew und den Baschkiren Karim... Unmöglich, sie auch nur alle aufzuzählen, Mister Deadrick. Dies ist eine multinationale Literatur. Manchmal bezweifle ich, daß man bei uns verstanden hat, was das bedeutet.« »Und wäre der eine oder andere von diesen jungen Leuten für uns von Bedeutung?« Sie sah ihn an. Das einzige, was ihn bewegt, ist der Wunsch, jemanden zu finden, der gewissermaßen in die Fußstapfen Wetrows tritt. Natürlich, nicht die Literatur interessiert ihn, es interessiert ihn die politische »Verwendbarkeit« des einen oder anderen Autors. Glenn, wie gut dein Instinkt war! »Nein«, sagte sie. »Jedenfalls sehe ich da keine Chance. Das sind Leute, die keine Konzessionen machen. Sie setzen sich oft sehr kritisch mit der Gesellschaft auseinander, ja. Aber von einem Standpunkt, den wir im gleichen Sinne nutzen könnten, wie es bei Wetrow möglich war, sind sie so weit entfernt wie die Erde von der Milchstraße. Für das, was wir vielleicht gebrauchen könnten, bleiben höchstens ein paar Randfiguren. Angekränkelte Typen, um es ehrlich zu sagen. Mit dem Vorteil, daß sie sich für entsprechende Valutabeträge von uns managen ließen, aber mit dem unbestreitbaren Nachteil, daß sie weder nennenswertes Talent besitzen noch die Arbeitsdisziplin, die einen Schriftsteller auszeichnen muß, wenn er die Berufsbezeichnung zu Recht tragen will. Meist könnte man sie nicht einmal vorzeigen, sie sind so armselige Tröpfe, daß man sich vor aller Welt blamierte, wenn man sie auch nur in die entfernteste Verbindung mit Kunst bringen wollte. Nein, da ist keine Chance!« »Nun ja«, meinte Deadrick, »wenn es auch nicht Kunst ist diese Leute verfugen erfahrungsgemäß über eine Menge Informationen, die für uns recht interessant sein könnten . . .« Er sagte das so vor sich hin, ohne besonderen Nachdruck, doch Catherine hatte ihn verstanden. Selbstverständlich kam es der Agentur darauf an, zu allen möglichen Leuten in Moskau Verbindungen zu knüpfen, Informationen zu erlangen, Manipulations277
möglichkeiten auszuhecken; allein, dies ist das Geschäft der CIA, nicht meines. Ich werde dafür nichts tun, gar nichts. Ich bin aus Interesse an einem Literaten nach Moskau gegangen, und ich bin dortgeblieben und habe weitergemacht, nachdem mir längst klar war, daß es sich dabei kaum noch um Literatur handelte. Ich werde das auch noch zu Ende führen, aber das heißt nicht, daß Catherine Laborde in Moskau weiterhin den Kohl der CIA baut. Sie lenkte die Unterhaltung auf Wetrow zurück. Als sie in Boston anlangten und wieder in die Maschine stiegen, war Catherine inzwischen klargeworden, daß es der Agentur lediglich noch darauf ankam, mit Hilfe der »Zek« einen möglichst großen internationalen Skandal anzuzetteln, in dessen Mittelpunkt hoffentlich eine spektakuläre Maßnahme der Sowjetbehörden gegen den Autor stehen sollte. Alles, was Deadrick an taktischen Hinweisen gab, war darauf gerichtet. Er versicherte noch einmal, daß sie im neuen Jahr bestimmt in die Staaten zurückkehren könnte, und er erkundigte sich eingehend nach ihren Plänen. Als er hörte, daß Kartstein ihr vorgeschlagen hatte, die Lehrtätigkeit aufzunehmen, mit dem Ziel, ihn eines Tages zu ersetzen, wiegte er nachdenklich den Kopf. Warum eigentlich nicht? Diese Frau war eine Kapazität auf dem Gebiet, auf dem Kartstein endgültig ausgefallen war. Man würde das in der Agentur zu besprechen haben. Er setzte Catherine vor ihrem Haus ab und verabschiedete sich artig. »Ich hole Sie morgen vormittag ab, Miß Laborde!« »Aber ich kann ganz gut allein zum Flughafen kommen, Mister Deadrick.« Er lächelte nur. »Nein, nein, es wird mir eine Ehre sein, Sie bis an die Maschine zu begleiten!« Zacharias war damit beschäftigt, gelbe Farbe auf einem großen Bogen Papier zu verreiben, als Catherine die Wohnung betrat. Er blickte sie verzückt an, mit bereits wieder ziemlich glasigen Augen, und sagte: »Hi, Baby! Spaß gehabt?« »Eine Menge!« gab sie zurück und ging in ihr Zimmer. Dort setzte 278
sie sich auf das Bett und versuchte das Bild Sef Kartsteins loszuwerden, wie er angeschnallt in den Kissen lag. Der Alte wird nie mehr auf die Beine kommen. Aus. Und ich? Mister Deadricks tausend Chancen wahrnehmen? Oder für Verlage arbeiten wie vor der Zeit in Moskau? Das eine werde ich bestimmt nicht tun, und auch wenn ich das andere tue, werde ich nie wieder die Catherine Laborde sein, die ich damals gewesen bin. Was ist nur aus mir geworden? Sie schüttelte den Kopf. Müßig, jetzt darüber zu grübeln. Nicht zum erstenmal stellte sie fest, daß sie sich nach Moskau sehnte. Sie saß lange, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu ordnen. Sef Kartsteins Gesicht war immer wieder vor ihr, das Bett. Und Mister Deadrick: »Nun ja, wenn es auch nicht Kunst ist. . .«Gegen Abend erhob sie sich, ging in die Küche und stellte fest, daß nichts mehr zu essen da war. Sie holte aus dem nächsten Supermarket eine Tüte mit Lebensmitteln. Zacharias aß die Hälfte davon, während sie mit Verwunderung feststellte, daß sie gar keinen rechten Hunger hatte. Sie hörte nicht auf das Geschwätz des Burschen, der ihr zuredete, sich sexuell zu befreien, um endlich ein revolutionärer Mensch zu werden. Wer, um Himmels willen, hatte nur diesen Unsinn in die Köpfe solcher Burschen gepflanzt? Wer hatte ihnen suggeriert, in schmuddeligen Lumpen zu gehen, sich nicht zu waschen, die Haare immer länger werden zu lassen? Wer auch immer es gewesen war, es war ihm gelungen, den Bürgerschreck Gestalt annehmen zu lassen, und dieser Bürgerschreck tat ihm den Gefallen, lauthals zu verkünden, er sei Revolutionär, Kommunist sogar, und werde die Weltrevolution veranstalten wie ein Happening, bei dem zwei Dutzend Schlampen öffentlich im Schaufenster von Macy's in Kochtöpfe urinierten. Wenn dieser kleine Schwätzer ahnte, daß ich einem leibhaftigen kommunistischen General die Hosen gebügelt habe, während der in meinem Bademantel in der Duschkabine hockte! Daß ich mit einem echten ehemaligen Zek über die Felder vor Moskau geritten 279
bin und sogar in seiner Datscha geschlafen habe. Würde er vor Ehrfurcht erblassen? Oder mir versichern, die russischen Kommunisten seien hoffnungslos verbürgerlicht, was schon daraus hervorgehe, daß sie keine Gedichte auf rote Hoden machen und die Theorie von der sexuellen Befreiung wohl für Schnee aus der Zarenzeit halten? Wie verworren es doch auf dieser Welt zugeht, trotz all der modernen Kommunikationsmittel, der blitzschnellen Nachrichtenverbindungen, der Möglichkeit, in ein paar Stunden von New York nach Moskau zu fliegen! Und wer profitiert von dieser Verworrenheit am meisten? Zacharias klopfte an ihre Tür, als es dunkel wurde. Er trat ein, mit einem Marihuanastengel in der Hand. »Einen Joint, Baby?« »Danke.« Er ließ die Arme hängen. Sah sie an. Sie lag auf dem Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Zacharias griff in die Tasche seiner speckigen Jeanshose. Er brachte ein kleines Fläschchen hervor und hielt es ihr hin. »Mal das probieren, Baby? Ein flüssiger Edelstein! Es macht dich frei. Läßt dich alles vergessen, die Welt, dich selbst. Nur ein paar Tropfen davon, wenn dir alles zuwider ist und du kein Licht mehr in der Ferne siehst. Nur ein paar kleine Tröpfchen, und du bist imstande, von einem Wolkenkratzer in die Tiefe zu springen, mit einem Jubelruf, ohne Angst, ohne Schmerz, so wie wenn dich rosa Wolkenbetten erwarten! Willst du?« Sie verzog das Gesicht. Zacharias stellte das Fläschchen auf den Tisch. »Für alle Fälle. Ich habe genug davon. Peyote. Sie machen es in Mexiko. Aus Kakteen, glaube ich. Wir brauchten es nur dem CocaCola zuzusetzen, und wir hätten ein glückliches Volk! Ich schenke es dir!« »Danke«, sagte sie. »Und jetzt?« Der Bursche sah sie mit einem seltsam bedauernden Ausdruck in seinen glasigen Augen an. »Bist du sicher, daß du immer 280
noch nicht das Verlangen hast, von einem Revolutionär gevögelt zu werden?« Sie holte tief Luft. Dann sagte sie grob: »Hau ab! Mach Gedichte über deine Hoden. Und komm nicht mehr in mein Zimmer, sonst erschlage ich dich mit meinem Büstenhalter!« Am Morgen packte sie schnell ihren kleinen Koffer. Ohne recht zu wissen, warum, nahm sie aus der Schublade die russischen Orden, den Nachlaß ihres Vaters, und steckte sie ein. Sie nahm auch sein Bild mit, das ihn mit Kursanow zeigte, und die Flasche, die Zacharias auf den Tisch gestellt hatte. Deadrick erwartete sie mit dem Cadillac. Am Flugplatz behielten sie noch Zeit, Kaffee zu trinken, dann wurde die Maschine aufgerufen. Catherine setzte sich erleichtert und schnallte sich an. America my Love! Wenn Sef Kartstein auch ganz offenbar nicht ehrlich gewesen ist, so ist er doch zu bedauern. Schade um den Alten! Das Leben geht weiter. Die hunderttausend Chancen der Miß Laborde. Ob in Peredelkino schon das Laub jene einmalige flammende Färbung annimmt, die den Herbst ankündigt! Mit Marinka an den Fuß der Hügel traben. Selbstgemachten Kwaß aus einer Kelle trinken. Und Boris Petrowitsch, ein bißchen nach Kara Novo duftend, der den Arm um meine Schultern legt und fragt: »Warum willst du nicht hierbleiben?« Die Maschine schoß in die Wolken. Nach einigen Minuten hatte sie die Wand durchstoßen. Unter dem Flugzeug lag nun eine weiße Fläche, wie Schnee auf endlosen Feldern, die nie einen Baum gekannt hatten. Sonne darauf, blendend hell. Catherine schloß die Augen und schluckte. Was habe ich nur, dachte sie! Verdammt, wenn ich nicht aufpasse, fange ich an, in dieser Kapsel voller fremder Menschen zu weinen wie ein Kind, dem man seinen Lollipop verweigert! Sie schnallte sich ab, wischte die Augen aus und rauchte eine Zigarette. Neben ihr fragte ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit einer lächerlich runden Nase: »Was uns da nur erwartet, in Moskau? Wissen 281
die eigentlich, was ein Hamburger ist? Ich werde Hamburgers vermissen, ich bin sie gewohnt! Und was trinken die eigentlich?« »Tee«, sagte Catherine. »Tee!« wiederholte der Mann. Er lachte wie über einen guten Witz. Als sie aus dem niedrigen Holzhaus traten, schneite es. Die Flocken fielen langsam, sie schwebten in ruhigen, geschwungenen Bahnen zu Boden, und sie waren groß. Agrafena Gordejewna war eine kleine, rundliche Frau mit einem mütterlich-freundlichen Gesicht. Sie trug ihre graue Steppjacke, über dem Haar ein Wolltuch. Das Haus lag am anderen Ende von Peredelkino, am Rande der Felder, tief eingeschneit, mit ein paar winzigen Fenstern, aus denen Licht fiel. Während Catherine die Skier anschnallte, umarmte die alte Frau Shagin und riet ihm, mit Catherine nicht mehr allzulange draußen zu bleiben. »Sie ist unseren Winter nicht gewohnt, Junge, sie wird sich erkälten.« Shagin lachte und beruhigte sie mit dem Hinweis, daß es in Amerika auch Schnee gäbe. Die Alte hielt das Wolltuch unter dem Kinn mit der einen Hand zusammen, mit der anderen zupfte sie an ihrer Jacke herum. »Amerika!« Sie schüttelte den Kopf. Shagin streifte die Handschuhe über. Er war froh, daß er Gruscha bei guter Gesundheit angetroffen hatte und daß sie zur Neujahrsfeier kommen würde, in die Datscha Boris Petrowitschs. Es würden viele Leute da sein, und Gruscha hatte zugesagt, Essen für alle zuzubereiten. Sie war eine der besten Köchinnen, denen Shagin begegnet war, und manches von dem, was er selbst auf diesem Gebiet zustande brachte, war von Gruscha abgeguckt. Wie alt war sie eigentlich? Er wußte es nicht. Pjotr, ihr Sohn, war in seinem Alter gewesen. Ihr einziger. Von dem Tage an, da Shagin in dem kleinen Holzhaus erschienen war, um der Alten zu erzählen, daß er mit Pjotr zusammen gekämpft hatte und ihn hatte begraben müssen, war er nie ganz das Gefühl losgeworden, daß sie ihn wie einen eigenen Sohn betrachtete. Auch jetzt wieder. Sonst hatte sie meist, wenn er sie
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besuchte, von Pjotr gesprochen, mit jener nicht mehr zu Tränen neigenden Traurigkeit einer Mutter, die sich damit abgefunden hatte, daß es den Sohn nicht mehr gab. Heute nicht. Das mag daran gelegen haben, daß Catherine dabei war. Gruscha trat zu ihm und küßte ihn zum Abschied. Sie flüsterte: »So eine schöne Frau, Wadja! Und von so weit her! Wirst du sie heiraten?« Er lachte laut. Gruscha blickte sich erschrocken nach Catherine um, aber die war noch mit ihren Skibindungen beschäftigt. »Was gibt's da zu lachen? Sie ist eine gute Frau, ich kann das sehen! Und du bist allein. Es ist nicht gut, wenn man so lange allein ist, Wadja!« Catherine verstand kein Wort von dem Geflüster, aber sie spürte, daß die beiden über sie sprachen. Ob ich ihr sage, daß ich am liebsten bei ihr bleiben würde? In dem kleinen, bequem eingerichteten Häuschen mitten im tiefen Schnee. Die altmodischen Plüschmöbel, die Ikone in der Ecke, die Bilder von Mann und Sohn auf der Kommode. Gehäkelte Deckchen, ein Strauß Strohblumen, Andenken an den letzten Sommer. In ein paar Stunden werde ich in Moskau sein, dann wird mir die Luft von Peredelkino fehlen, der Geruch nach Schnee, nach Holzrauch. Was mir fehlen wird, wenn ich wieder in New York bin, daran denke ich lieber nicht! Sie trat zu den beiden. »Es war schön bei Ihnen, Mutter Gruscha! Danke!« Die Alte nahm ihre Hand und schüttelte sie heftig. »Ich werde mich freuen, Sie zum Neujahr wiederzusehen!« Sie sagte es mit der Würde, die zu der Gattin eines Botschaftsrates gepaßt hätte, aber es klang herzlich, nicht wie eine Floskel. »Ich auch!« Sie blickte zu Wadim. Der nickte. Da stieß sie die Skistöcke in den Schnee und schritt aus. Sie fuhren auf die Felder hinaus. Wollten um das Dorf herum zur Datscha von Boris Petrowitsch zurück. Shagin strebte auf einen Hügel zu, der weit in den Feldern lag. Natürlich, er wollte von dort oben abwärts gleiten, bis an die Zeile der Datschen heran. Eine stäubende Schußfahrt war
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hier nicht möglich, nur sanfte Hügel gab es, die wie Buckel aussahen unter dem Schnee. Sie erklommen den Hang, nebeneinander, langsam, ohne ins Schwitzen zu geraten. Catherine hatte Zeit nachzudenken. »Die Zek« war erschienen. Seit Tagen waren alle Blätter der westlichen Welt voll von Rezensionen und Betrachtungen über den Mut des Autors, die Bedeutung dessen, was er geschrieben hatte, und von Vermutungen darüber, was wohl die sowjetischen Dienststellen nun tun würden. In den Moskauer Zeitungen gab es zu diesem Anlaß gelegentlich eine Glosse über den Autor, der sich als »Verkünder der Wahrheit« fühlte, aber die Wahrheit zurechtbog, wie er sie brauchte. Doch man hörte auch Stimmen, die ihm bescheinigten, daß er es in der Karriere eines Verräters am eigenen Lande mit dieser Veröffentlichung zu einem Höhepunkt gebracht habe. Die Serebrjakowa, eine Schriftstellerin, die nach langer, ungerechtfertigter Haftzeit rehabilitiert worden war, hatte über ihn geschrieben, daß er mit den »Zek« ein bombastisches, in geschraubtem Stil verfaßtes Credo eines Mannes abgelegt hatte, der an einem erstaunlich engen historischen Horizont litt und den sein ohnmächtiger Antikommunismus offenbar um den Verstand brachte. Ein anderer, der eine vielgelesene Erzählung über seine Zeit in der Haft geschrieben hatte, bezichtigte Wetrow der Lüge. Er erinnerte an Belinski, der erklärt hatte, daß der Mensch, wenn er voll und ganz dem Lügen verfällt, seinen Geist und auch sein Talent verliert. Bondarew machte sich über Wetrows Rolle als »Messias« lustig, über dessen »apostolisches Banner«, mit dem er den Versuch unternahm, den Verfall seiner Persönlichkeit, den Verrat und die Unmoral dessen, was er tat, zu verhüllen. In einer Literaturzeitschrift erschien das Wetrow-Zitat aus den »Zek«: »Es gibt auf Erden kein schlimmeres Los, als Russe zu sein!« Die Zeitschrift meinte, daß eher das Los des Landes ein schlimmes 284
sei, wenn es einem Manne wie Wetrow gestattete, sich weiterhin als Russe zu bezeichnen. In einem politisch sehr profilierten Artikel, der sich diesem Thema widmete, war der Hinweis zu lesen, daß Wetrow durchaus keinen »Sonderfall« darstellte. Sozialistische Länder hätten sich schon des öfteren von Überläufern trennen müssen, und das würde auch in Zukunft noch gelegentlich vorkommen. Verachtung ist das Wort. Catherine hatte mit Shagin über Wetrow sprechen wollen, aber der Besuch bei Gruscha Gordejewna war dazwischengekommen. Jetzt, als sie der Kuppe des Hügels zustrebten, fragte sie: »Wadim, haben Sie gehört, was es für eine Aufregung um das neueste Buch des großen Meisters Wetrow gibt?« Er brummte etwas, und sie fragte: »Was meinen Sie?« »Ich meine gar nichts.« »Natürlich, Sie haben es nicht gelesen!« Er sah sie an. »Und ob ich es gelesen habe! Vergangenen Sommer schon. Hat mich ein paar Tage gekostet, die Schmiererei!« »Der Meister hat Ihnen Einblick in sein Werk gestattet?« Sie fragte das, obwohl sie genau wußte, daß es anders gewesen sein mußte. »Keine Spur. Eine vernünftige Seele hat dem Schriftstellerverband im Sommer das Manuskript zum Lesen gegeben. Irgend jemand, der Zugang dazu hatte. Man bat mich um meine Meinung darüber. Am liebsten hätte ich es abgelehnt, das Ding anzufassen!« »So schlecht?« Er blieb stehen. »Catherine, müssen wir die saubere Winterluft mit dem Gestank verpesten, den dieser politische Hochstapler verbreitet?« Sie zog ein Gesicht. »Es war nur eine Frage!« »Gut. Ich habe sie beantwortet.« Auf der Kuppe ruhten sie einen Augenblick aus. Unter ihnen lag die weiße Landschaft im leichten Schneegeriesel. Rauchfäden kräuselten aus den Kaminen im Dorf. Die erleuchteten Fenster blinkten bis hierher. 285
»Stellen wir uns vor, wir stünden auf dem Kamm der Alpen«, schlug Shagin schmunzelnd vor. »Und jetzt schießen wir im rasenden Tempo den Steilhang hinunter, bis ins Tal, ja?« Sie lachte. »Auf geht's!« Sie stießen sich beide zugleich ab. Aber der Hang war nicht steil, und der Schnee war hoch, es gab noch keine Spur, so glitten sie fast gemächlich hinunter, mußten immer wieder die Stöcke zu Hilfe nehmen, und als sie endlich an der Baumreihe anlangten, hinter den die Datschen begannen, blieb Shagin stehen, holte tief Luft, griff in die Tasche und brannte sich eine Belomorkanal an. Catherine kam langsam näher. Dies war alles andere als alpiner Skisport. Sie lachte. »Das ist milder Langlauf, für ältere Leute!« Shagin hielt ihr das Pappmundstück der Belomorkanal hin. »Genügt Ihnen ein Zug? Oder wollen Sie selbst eine anbrennen?« Sie nahm einen Zug und lehnte sich an ihn. Bin ich wirklich schon so alt, daß ich mich gar nicht mehr nach sausenden Schussfahrten sehne? Daß ich eine Pause einzulegen bereit bin nach der Gleitfahrt von diesem Katzenbuckel? Oder habe ich einfach kein Bedürfnis, mir etwas zu beweisen? Schneid. Sportliches Können. »Sie sind ein scheußlicher Mensch«, sagte sie. »Vorhin, als ich Sie nach Wetrow fragte, haben Sie reagiert, als ob ich Sie persönlich beleidigt hätte!« Um Shagins Mundwinkel entstanden ein paar kleine Falten. Er lächelte. »Dabei will ich nur meine Kenntnisse erweitern!« Shagin rauchte ruhig weiter. »So schimpfen Sie doch wenigstens! Die ganze Welt redet über den Verfasser der ,Zek', aber das scheint Sie gar nicht aufzuregen?« Er nahm bedächtig noch einen Zug aus der Belomorkanal, dann schnippte er den Rest im Bogen fort, nahm die Mütze vom Kopf, klopfte die Schneeflocken ab, die sich im Pelz verfangen hatten, setzte sie wieder auf und wendete sich schließlich zu Catherine. Ei nahm sie bei den Schultern, zog sie an sich und küßte sie. Als er sie losließ, lag eine Schicht frischen Schnees auf seiner Mütze. 286
»Warum... tun Sie das?« Es klang ratlos, aber Shagin nahm das nicht wahr, er hielt es für Überraschung, was da in ihrer Stimme war. Mit ernstem Gesicht, bemüht, das verräterische Zucken in den Mundwinkeln zu bändigen, sagte er, nachdem er sich geräuspert hatte: »Aus zwei Gründen. Erstens, weil ich Sie überzeugen will, daß ich kein scheußlicher Mensch bin . . .« »Gelungen. Und der zweite Grund?« »Um dich an eine Frage zu erinnern. Du hast sie bis jetzt nicht beantwortet. Ob du hierbleiben wirst.« Er sah, daß ihr Gesicht den gleichen verwirrten Ausdruck annahm wie vor Wochen, als er zum erstenmal davon gesprochen hatte. Sie blickte ihn nicht an, starrte in den Schnee. »Ist das so schwer zu entscheiden?« »Schwerer, als du ahnst.« »Meinetwegen?« Sie sah ihn an. Über der Stirn hing eine Locke ihres Haares. Schneeflocken tanzten vor ihren Augen. »Nicht deinetwegen, Wadja. Du bist der beste Mensch, den ich kenne . . .« »Unser Leben?« fragte er. »Ist es das? Ein fremdes Land? Mit fremden Verhältnissen? Gewohnheiten, die dir nicht ins Blut gehen?« Zu seinem Erstaunen schüttelte sie den Kopf. »Mir ist gar nichts fremd hier. Alles ist vertraut. Du auch . . .« Sie kam ihm hilflos vor. So seltsam verstört, daß er beschloß, nicht länger in sie zu dringen. Er nahm die Skistöcke auf, schob die Hände durch die Schlaufen und sagte: »Du mußt vieles überlegen, das braucht Zeit, ich verstehe das. Ich wollte dich nur erinnern, mehr nicht. Fahren wir?« Sie nickte. Dann, in einem plötzlichen Impuls, zog sie seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn. Seine Mütze fiel in den Schnee. Er sah, daß ihre Augen feucht waren. Sie flüsterte an seinem Ohr: »Verzeih mir meine Dummheit, Wadja. Eines Tages wirst du wissen, warum ich dich darum bitte.« 287
Er nahm seine Mütze auf, klopfte den Schnee ab und stülpte sie auf den Kopf. »Geduld«, sagte er schmunzelnd, als sie weiterfuhren, »ist die Hälfte unseres Nationalcharakters. Aber ich warne dich. Die andere Hälfte ist Beharrlichkeit. Wir geben nie auf. Wir sind berühmt dafür!« Zwei Stunden später war sie in Moskau. Die Wohnung Swetlana Fjodorownas roch nach nassen Windeln. Im August hatte sie das dritte Kind zur Welt gebracht. Wetrow war selten hier. Er hielt sich meist in Rosanowitschs Datscha auf. Die Situation war für ihn äußerst kompliziert geworden, er geriet immer mehr in die fragwürdige Position eines Mannes, der gegen die Regierung der Sowjetunion alle möglichen unhaltbaren Beschuldigungen erhob. Swetlana Fjodorowna sagte ganz unumwunden. »Miß Laborde, ich bitte Sie, helfen Sie uns, daß wir endlich das Land verlassen können!« »Wie kann ich da helfen? Haben Sie einen Antrag auf Ausreise aus der Sowjetunion gestellt?« »Das können wir doch nicht! Was würde die Welt dazu sagen, nachdem Ignascha überall verkündet hat, er würde niemals freiwillig hier weggehen!« Kein Zweifel, Wetrow verwickelte sich hoffnungslos in die Widersprüche, die er selbst konstruiert hatte. Das Gejammer der Frau ließ Catherine ziemlich unberührt. Sie ertappte sich, daß sie dabei an ihre eigene Zukunft dachte. Was wird aus mir? New York? Und hier? Wadim? Sie riß sich aus diesen Gedanken. »Hören Sie, Swetlana Fjodorowna, nach allem, was ich von der Sache weiß, sehe ich eine einzige Chance. Ihr Mann müßte seine bisherige Position aufgeben und um Ausreise ersuchen. Wie ich die Dinge beurteile, legt man hierzulande ohnehin keinen großen Wert auf ihn.« Die Frau verriet Catherine unter Tränen: »Ignascha ist zermürbt. Ich bin es auch. Wenn ich in den Milchladen komme, wirft mir die 288
Verkäuferin empörte Blicke zu. Ignascha hat Angst. Er würde es nie zugeben, aber ich weiß es. Wenn er nicht bald außer Landes gehen kann, ist er fertig.« »Ich hatte immer den Eindruck, Mister Wetrow wäre ein sehr starker Mensch . . .« »Er ist es nicht!« klagte Swetlana Fjodorowna. »Er ist sensibel. Er hat eine dünne Haut. Jede Kritik regt ihn auf. Sein Blutdruck steigt, er kann nicht schlafen, wird nervös. Sobald man ihn angreift, packt ihn die Angst, ich weiß es. Helfen Sie uns! Bitte!« Der große Märtyrer, dachte Catherine geringschätzig. Noch hat ihn niemand ernstlich angegriffen. Ein paar Artikel in den Zeitungen, und schon verkriecht er sich. Möchte flüchten. Was wird er tun, wenn man wirklich eine öffentliche Debatte um ihn auslöst? »Ich gebe Ihnen einen Rat«, sagte sie nach einer Weile. Ihr war eingefallen, daß seit einigen Tagen Bortinger in Moskau war, es hatte in der Abendzeitung gestanden. »Gehen Sie ins ,Rossia'. Sprechen Sie mit Bortinger. Er hat sich für Mister Wetrow engagiert. Er hat Einfluß. Er soll Ihren Mann besuchen oder ihn zu sich einladen. Demonstrativ. Mister Wetrow sollte ihm seine Sorgen vortragen. Er könnte sich ins Ausland einladen lassen und dann dortbleiben. So wie es sein Freund Melentjew gemacht hat.« Die Frau überlegte. Schließlich meinte sie: »Aber Ignascha hat gesagt, es darf nicht wie eine Flucht aussehen!« Catherine wiederholte: »Gehen Sie ins ,Rossia', zu der Zeit, zu der die Hausgäste frühstücken. Bortinger wird dort sein. Sprechen Sie ihn an. Er kennt Ihren Namen. Er wird Sie nicht abweisen.« Langsam fuhr sie durch die stillen Straßen heim. Auf den Bürgersteigen waren Schneeräumer bei der Arbeit. Die Moskwa war zugefroren. Es schneite immer noch, aber nicht mehr so stark wie zuvor in Peredelkino. In ihrer Wohnung lag Catherine noch lange wach, starrte an die Decke und dachte über Shagin nach. Schließlich schlief sie ein. Sie träumte, daß sie mit Shagin tanzte. Auf Skiern. Seltsamerweise stolperten sie nicht dabei, sie schwebten über das Parkett, und am Thürk, Gaukler II
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Rande stand Gruscha, das wollene Kopftuch über dem weißen Haar die Hände über dem Bauch gefaltet, und lächelte. Wetrow lief aufgeregt in der Datscha herum, als Swetlana Fjodorowna am folgenden Nachmittag zu ihm kam und berichtete, sie habe mit Bortinger gesprochen, der sei bereit, sich mit ihm zu treffen. Ob er ins »Rossia« kommen könnte. »Und ob ich dorthin gehe!« Er hatte tagelang gegrübelt, was zu tun wäre. Die Dinge wuchsen ihm über den Kopf. Wenn er vor Jahren schon von Isolation gesprochen hatte, erst jetzt begriff er, wie stark er wirklich vom literarischen Leben im Lande, vom Leben überhaupt getrennt war. So sieht das Ende aus. Kein Mensch interessiert sich für mich. Niemand fragt nach mir. In den Literaturzeitschriften gibt es inzwischen Redakteure, die nicht einmal meinen Namen kennen, wenn sie nicht gerade durch eine Polemik darauf aufmerksam gemacht werden, daß ich hier lebe. »Es wird kein Wunder geschehen«, sagte er laut. Swetlana Fjodorowna sah ihn verblüfft an. Er dozierte: »Ich werde die Sache selbst in die Hand nehmen. Mein Wunder selbst bewerkstelligen.« Mit dem Fahrstuhl fuhr er zur ersten Etage und kleidete sich um. Anzug mit weißem Hemd und unbequemem Schlips, dazu einen pelzgefütterten Mantel und eine schwarze Pelzkappe. Der Moskwitsch stand in der Garage, er sprang sofort an. Bis zur Hauptstraße kam er nur langsam vorwärts, weil der Schnee glattgefahren war, aber dann konnte er auf der geräumten Chaussee mit ziemlich hoher Geschwindigkeit fahren. Er setzte Swetlana Fjodorowna in der Gorkistraße ab und fuhr zum »Rossia« weiter. Es gelang ihm, Bortinger zu erreichen. Sie trafen sich im Restaurant in der obersten Etage, von wo aus man einen Blick auf den Kreml hatte, auf die zugefrorene Moskwa, in deren Eis sich die rötliche Abendsonne spiegelte. Der behäbige, etwas ungeschlacht wirkende Westfale, dessen legerer Dialekt niemanden darüber 290
täuschen durfte, daß er außerordentlich spitz zu formulieren verstand, rauchte mehrere Zigaretten hintereinander, während er Wetrow zuhörte. Eigentlich hatte Bortinger erwartet, Wetrow würde sich dafür bedanken, daß sich der Gast nach Empfang jenes Jammerbriefes sehr oft öffentlich für den Kollegen in Rußland eingesetzt hatte. Vielleicht weiß er nicht alles, dachte Bortinger, man vertreibt hier unsere Zeitungen nicht. Und daß Wetrow die Zurückgezogenheit liebte, war ohnehin bekannt. Er beugte sich vor, legte eine Hand ans Ohr, weil Wetrow fast flüsternd sprach, und als er ihn schließlich doch bat, ein wenig lauter zu sprechen, gab Wetrow mit einem schnellen Seitenblick zum nächsten Tisch zurück: »Lauter? Was denken Sie, wer hier alles mithört! Dieses Hotel wimmelt von Mithörern, die KGB ist dafür bekannt, daß sie in die Zimmer Mikrofone installiert, um Material gegen Ausländer zu sammeln.« »Soso«, sagte Bortinger nur und beugte sich weiter nach vorn. Mit der Zeit verstärkte sich sein Verdacht, daß Wetrows Nerven bis zum äußersten angespannt waren, daß er innerlich bebte. Angst? »Tut man Ihnen denn etwas?« erkundigte er sich. Als Wetrow aufzählte, was Kommentatoren und Rezensenten in den vergangenen Wochen in der sowjetischen Presse über ihn geschrieben hatten, winkte Bortinger ab. »Ich habe davon gehört. Natürlich, das belastet einen Menschen. Aber andererseits ist es verwunderlich, wenn man von offizieller Seite zu dem Stellung nimmt, was Sie geschrieben haben? Man muß immer damit rechnen. Sehen Sie, mir passiert es zu Hause, daß man mich heute für einen heimlichen Kommunisten hält, nur weil ich verspüre, daß sich bei uns Kräfte regen, die die Demokratie abzubauen versuchen, und weil ich dagegen schreibe. Man beschimpft mich, verleumdet mich, alte Nazis schicken mir Drohbriefe, und die Erzeugnisse unseres größten Zeitungskonzerns operieren in sehr geschickter Abstimmung gegen mich. Das alles gehört wohl zum Beruf eines Schriftstellers, besonders wenn er sich entschlossen hat, politisch nicht neutral zu sein . . .« 291
Er wollte Wetrows Befürchtungen zerstreuen, weil er sie für übertrieben hielt. In den letzten Tagen hatte er mit einigen anderen sowjetischen Autoren gesprochen. Sie lehnten die Art und Weise ab, in der Wetrow im Ausland gegen die eigene Gesellschaft hetzte, aber keiner hatte auch nur angedeutet, daß Gewalt angebracht wäre gegen diesen Autor. Natürlich, in seiner Situation hält man das Ticken einer Standuhr für den Zeitzünder einer Bombe. Er beobachtete Wetrows Hände, während dieser sprach. Der Mann hat sich nicht mehr in der Gewalt, dachte er. Ach, es ist eben nicht so einfach, über lange Zeit gegen die öffentliche Meinung anzugehen, noch dazu vom Ausland her! Schließlich sagte er: »Herr Wetrow, ich werde bei den Gesprächen, die ich in den nächsten Tagen noch führe, nicht verschweigen, daß ich mit Ihnen gesprochen habe und daß ich beunruhigt bin, daß ich für Ihre Sicherheit fürchte. Wenn Ihnen das hilft . . .« Wetrow spielte ungeduldig mit dem Teeglas. Dieser Kerl war schwerfällig. Wollte er nicht verstehen, worum es ging? »Danke«, sagte er. »Aber das allein wird mir vermutlich nicht helfen. Könnten Sie nicht etwas anderes für mich tun?« »Gern«, erwiderte Bortinger, sich eine neue Zigarette anbrennend. »Wenn ich in der Lage bin . . .« »Es geht darum«, sagte Wetrow leise, »daß ich auf alles vorbereitet bin, auf alles. Ich rechne damit, daß man mich eines nicht fernen Tages verhaftet und ins Gefängnis steckt. Ich werde nicht freiwillig gehen, man wird mich tragen müssen, das habe ich schon angekündigt. Aber was nutzt es? Ich frage Sie, ist es klug, mein Talent hier vor die Hunde gehen zu lassen? Wäre es nicht besser, es zu erhalten?« »Wenn Sie ernstlich befürchten müssen, daß so etwas geschieht«, sagte Bortinger, »dann wäre es in der Tat schade. Aber ich glaube nicht so recht daran, verzeihen Sie . . .« Wetrow unterbrach ihn unwillig: »Ich weiß es! Sie lauern auf eine Chance. Deshalb gibt es für mich nur eine Lösung, wenn ich mein Leben erhalten, mein Talent für die Menschheit retten will: Ich muß 292
hier heraus! Verstehen Sie, heraus. Sofort. Ohne Verzug. Helfen Sie mir dabei. Ich werde mich revanchieren, später . . .« Bortinger blickte ihn mit großen Augen erstaunt an. Er nahm einen Zug aus der Zigarette, drückte sie dann aus und sagte: »Ja, wenn das so ist, Herr Wetrow . . . Sehen Sie tatsächlich keine andere Möglichkeit mehr?« »Nein.« Bortinger wiegte den Kopf. »Es ist nicht so einfach, das Vaterland zu verlassen. Haben Sie das genügend überlegt? Sie schreiben über Rußland. Kann man über Rußland schreiben, wenn man in der Fremde lebt? Ich meine, kann man das ernsthaft tun? Nicht nur seine Meinung zu Tagesfragen äußern, sondern Literatur machen?« »Man muß es lernen«, sagte Wetrow dumpf. »Können Sie Schriftsteller im Ausland dazu bewegen, daß sie fordern, man möge mich endlich in die Freiheit entlassen?« Bortinger hatte mit dieser Wendung des Gesprächs nicht gerechnet, als ihn Wetrows Frau um das Zusammentreffen bat. Jetzt war er in Verlegenheit. Natürlich, man konnte manches ins öffentliche Interesse rücken, aber ihm wollte nicht in den Kopf, daß dieser Mann tatsächlich bedroht sein sollte. Schließlich sagte er sich, egal, ob es so ist oder nicht, es ist sein Wunsch. Eine eigenartige Situation. Er dachte nach. Man sollte nichts tun, ohne die Folgen zu erwägen. Auch wenn man ein weltbekannter Schriftsteller war, sollte man das so halten, und unter den gegenwärtigen Umständen in der Bundesrepublik war es recht angebracht, sich genau zu überlegen, was man auf politischem Gebiet tat. Vielleicht ist es für mich gar nicht so ungünstig, wenn ich mich energisch für Wetrow exponiere. Man hält mir vor: Bortinger tendiert zum Kommunismus. Ich würde allen den Wind aus den Segeln nehmen, wenn ich erneut Wetrow demonstrativ in Schutz nähme, öffentlich, diesmal vor den Kommunisten, den sowjetischen . . . »Tja«, sagte er, »das muß ich mir durch den Kopf gehen lassen, wie man Ihnen am besten helfen kann, Herr Wetrow. Lassen Sie mir ein wenig Zeit, ich werde bestimmt etwas erreichen.« 293
Wetrow blickte sich wieder um, als suche er die nächsten 1 nach versteckten Mikrofonen ab. Dann zog er aus der Innentasche seines Jacketts einen Briefumschlag und schob ihn Bor zu. »Würden Sie das für mich aufbewahren? Bitte. Nur außer L für mich aufbewahren. Es ist eine letztwillige Verfügung.« »Sie haben ein Testament gemacht?« »Ja. Ich verfüge im Ausland über beträchtliche Geldmittel. Fi Fall meines Todes habe ich sie meiner Familie vermacht. Eine auch Hilfsorganisationen, die sich der Unterstützung von Disidenten widmen.« Bortinger drehte den Umschlag unentschlossen. »Ist das nie wenig voreilig?« »Es ist für alle Fälle gedacht. Ich bitte Sie, es aufzubewahren nach meinem Tode zu veröffentlichen.« »Ich danke für Ihr Vertrauen«, sagte Bortinger höflich und st das Kuvert ein. Er zog heftig an seiner Zigarette. Die ganze ! war ihm außerordentlich unangenehm. Aber was war zu Konnte man einen Mann wie diesen Russen abweisen? Er w sich an Wetrow: »Ich werde Ihr Testament zu treuen Hi nehmen. Und ich bitte Sie, sich keine unnötigen Sorgen zu machen, ich versuche, etwas für Sie zu tun. Wird es Ihnen vorerst ein wenig helfen, wenn ich Ihnen das versichere?« »Es hilft mir viel!« sagte Wetrow. Und wieder wies er darauf hin: »Ich verfüge über Mittel im Ausland, ich werde mich für alles, was man für mich tut, gebührend revanchieren!« Bortinger unterließ es, das zurückzuweisen. Man sagt vieles, wenn man erregt ist. Man vergißt es ebenso schnell. Er hob das Kaffeekännchen und merkte überrascht, daß noch Kaffee darin war. Boris Petrowitsch Kursanow stieß die Tür der Datscha auf. Er ließ Catherine vorangehen. Die Gäste, die da auf Stühlen und Hockern saßen, sich unterhielten oder dem Klang des Akkordeons lauschten, 294
hätten die Neuankömmlinge nicht bemerkt, wenn nicht mit ihnen ein kräftiger Zug kalter Luft hereingeweht wäre. »Hallo!« rief Catherine überrascht. Sie erkannte die große Stube nicht wieder. Mehrere Tische waren zusammengerückt, mit weißen Tüchern bedeckt, und sie bogen sich förmlich unter der Last der Speisen, die Gruscha hergerichtet hatte. Ein halbes Dutzend verschiedener Salate, kaltes Fleisch, geräucherter Fisch, Wurst, Tomaten und Gurken waren aufgetürmt. In der Mitte dampfte ein Kessel voll Borschtsch. Anderswo lagen in langen Reihen Piroggen, mit Fleisch und Pilzen gefüllt oder mit Obst und Konfitüre. Gläser waren bereitgestellt für Sekt und Wein, für Wodka und auch für Mineralwasser. Gruscha war damit beschäftigt, Stücke von Hammelfleisch, Zwiebelscheiben, Tomaten und Speck in peinlich genau eingehaltener Reihenfolge auf Schaschlykspieße zu schieben. Die Männer, die ihr zugesehen hatten, wandten sich den beiden Zuletztgekommenen zu. Catherine stellte verblüfft fest, daß sie außer Gruscha die einzige Frau in der Gesellschaft war. Kursanow schob sie in die Mitte des Raumes und verkündete laut: »Genossen, das ist Catherine. Wessen Tochter sie ist, habe ich euch vorhin schon gesagt. Macht euch bekannt!« Kursanows Frau, die ebenfalls hatte kommen wollen, war an Grippe erkrankt. Aber sie hatte darauf bestanden, daß der General, wie vereinbart, nach Moskau flog. So war er allein erschienen. Jetzt warf er den Mantel ab, schnupperte nach dem Duft, der aus dem Borschtschkessel zog, und rieb sich die Hände. Er trug seine beste Uniform, und auch Catherine war im Gegensatz zu den anderen feierlich gekleidet. Boris Petrowitsch war mit ihr im Heim der Schriftsteller gewesen; Moskauer Künstler hatten dort eine Estrade veranstaltet, Tänzer und Sänger, Komiker, Chöre, Solisten. Der Mann, der Catherine den Mantel abnahm, war groß, hatte kohlschwarzes krauses Haar, und er stellte sich mit einer vollendeten Verbeugung vor: »Abadse. Sie können mich Schura nennen. Architekt.« »Und Casanova«, ergänzte Shagin. Er drückte Catherines Hand 295
und riet ihr unter dem Gelächter der anderen: »Nimm dich in ach vor diesem Sudländer. Er hat mehr Mädchenherzen gebrochen, als Gruscha je Piroggen gebacken hat!« Aus Kursanows Einheit waren zwei Offiziere gekommen, junge Männer, denen man anmerkte, daß sie sich hier zu Hause fühlten. Der eine hatte den Gesichtsschnitt des Tadshiken. Er hielt Catherine ein gefülltes Weinglas hin, prostete ihr zu und nannte seinen Namen. Catherine vergaß ihn sofort. Aber sein Gesicht gefiel ihr. Sie trank. Der Tadshike prüfte sachkundig, wieviel sie getrunken hatte, dann versicherte er: »Sie sehen genauso aus, wie Bons Petrowitsch Sie beschrieben hat.« »Er hat mich beschrieben?« »Vor vier Wochen, als wir erfuhren, daß wir Urlaub bekommen wurden, um nach Moskau zu fahren.« Der zweite Offizier fugte hinzu: »Seitdem waren wir neugierig. Weil Boris Petrowitsch von Ihnen geschwärmt hat wie von einer Tochter, auf die er mächtig stolz ist.« Kursanow ging an ihnen vorbei und brummte: »Sag auch dazu, daß du Gluck gehabt hast bei der letzten Übung. Um ein Haar hättest du nämlich heute nacht Dienst geschoben.« Der Flieger kniff ein Auge zu und schmunzelte. Dann fragte er, ob Catherine schon einmal Schaschlyk gegessen hatte. Sie nickte. Er erwiderte: »Aber nicht solchen, wie ich ihn nachher brate!« »Ja, ja«, meinte der Tadshike, »er ist der beste Schaschlykbrater östlich der Wolga. Haben Sie den Bratrost vor der Tür gesehen?« Bevor sie antworten konnte, nahm Gruscha ihre Hand und zog sie mit sich. »Sie müssen Hunger haben, Kind!« Sie füllte einen Teller mit Borschtsch. Kursanow saß bereits mit seinem Teller in der Hand auf einem Hocker. Nach und nach lernte Catherine die anderen kennen. Der Akkordeonspieler war ein melancholisch aussehender Bjelorusse in Shagins Alter, von dem sie erfuhr, daß er ebenfalls Schriftsteller sei, aus Minsk, und daß er gerade einen neuen Roman veröffentlicht hatte. Als Catherine ihn nach dem
Thema fragte, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns: »Historisches Thema. Aus dem Partisanenkrieg.« »Das nennen Sie historisch?« fragte sie zwischen zwei Löffeln Borschtsch verblüfft. Er nickte. »Natürlich. Was da war, ist heute Geschichte.« »Sie haben es erlebt?« Er nickte wieder. Er war wortkarg, wirkte beinahe schüchtern. Als er sich erhob, um sich ein Glas Wodka einzugießen, merkte Catherine, daß er nicht ganz sicher auf den Füßen stand. Kursanow, der ihrem Blick folgte, raunte ihr zu: »Prothese, vom Oberschenkel an, links.« Und etwas später, als der Mann wieder sein Akkordeon nahm, fügte er ebenso leise hinzu: »Ein Wunder der Medizin. Sie haben es mit einem Fuchsschwanz abgesägt. Betäuben konnten sie ihn auch nicht. Übrigens, ein hervorragendes Buch. Es gibt Stellen darin, wenn man die liest, fällt einem das Schlucken schwer, wenn Sie verstehen, was ich meine . . .« Shagin schob einen jungen Mann vor sich her auf Catherine zu, der ein kariertes Jackett trug und einen grellbunten Schlips. Er hatte einen militärisch kurzen Haarschnitt, und man merkte ihm an, daß er nicht an Zivilkleidung gewöhnt war. »Das ist Oleg, der Piep-piep-Mann«, erklärte Shagin. Der Bursche verbeugte sich verlegen und verschwand bald wieder in Richtung auf den Borschtschkessel. Shagin grinste, als Catherine ihn fragte, was ein Piep-piep-Mann sei. »Er dient jetzt das dritte Jahr bei der Marine. Auf einem U-Boot. Der militärische Dienst besteht für ihn darin, vor einem elektronischen Gerät zu sitzen, mit Kopfhörern. In diesen Hörern tönt ununterbrochen ein Signal: piep-piep. Das läßt ihn völlig kalt. Nur wenn das Gerät alle sechs Wochen einmal pääp-pääp macht, wird es aktiv. Dann drückt er auf einen Knopf.« »Und danach macht das Gerät wieder piep-piep!« Kursanow lachte und stellte seinen leeren Teller ab. Gruschas Gesicht war gerötet. Die Schaschlykspieße waren fertig. Sie legte sie in die Beize zurück, wischte sich die Hände ab 297
und rief dem Akkordeonspieler zu: »Spiel was Lustiges!« Sie sich Kursanow und schwenkte ihn zu der Musik herum, bis sie b außer Atem waren. Die anderen klatschten Beifall, und Gru schimpfte: »Ihr Faulpelze, laßt das Mädchen sitzen! Habt ihr A vor ihr?« Von da an tanzte Catherine länger als eine Stunde mit einem dem anderen, und in den Pausen trank sie Wein, aß Schinken i geräucherten Stör, naschte süße Piroggen und fleischgefüllte, bi das Gefühl hatte, vor Erschöpfung umfallen zu müssen. Sie setzte sich zu Shagin, der neben dem Akkordeonspieler saß, ein i Wodka in der Hand, und leise zu der Musik summte. Er fragt« es ihr gefalle, sie nickte nur. Die letzte Feier zum neuen Ja! Moskau, dachte sie. Warum steckt mir ein Kloß im Hals? Ich so, als wäre ich fröhlich, aber ich bin es nicht. Der Akkordeonspieler spielte moldauische Zigeunerlieder, Abadse, der Architekt, sang dazu mit einer erstaunlich sehe Stimme, wehmütig, klagend. Shagin stieß sie an. »Paß auf, Catherine, er zersingt dir den Verstand, er ist ein Teufel!« »Aber ein liebenswerter!« meinte sie. Shagin zog sie zur Seite. »Wir waren auf der gleichen Baustelle. Ich kam dorthin mit einem eigenartigen Gefühl. Damals. Du verstehst, was ich meine? Bei ihm mußte ich mich melden, er war der Chef. Er saß in seiner Baubude, unrasiert, übernächtig, und als ich hereinkam, sah er mich an und tippte auf ein Schreiben, das vor lag. Es war ein Dokument der Staatsanwaltschaft über meine Rehabilitierung. Er sagte kein Wort. Zeigte es mir, und als ich es ihm zurückgab, schmiss er es zerknüllt in eine Ecke, wo schon eine Menge Papier lag. Dann goß er mir einen Ararat ein. Sagte immer noch nichts. Nachdem wir getrunken hatten, drückte er mir einen Theodoliten in die Hand und ein Bündel Fluchtstäbe und machte die Tür der Bude auf. Vor uns lag eine weite, grenzenlos erscheinende Ebene. Sonne darüber. Staubfahnen. Er stand neben mir. Er sagte: »Geh,
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steck deine Stäbe, Wadim Shagin. Du wirst gelegentlich stehenbleiben und nach rückwärts sehen, das bleibt nicht aus. Aber steck deine Pfähle, Junge. Wir werden mit jedem eingesteckten Fluchtstab hundert Meilen von diesem Wisch Papier da wegkommen, nach vorn. Wir haben es bitter nötig. Nicht bloß du. Ich auch. Das ganze Land, Junge. Aber, wem sage ich das . . .' Er gab mir einen Schubs, und ich war draußen. Er rief mir nach: ,Komm zu mir, wenn die Gespenster anrücken! Aber glaub nicht, daß du Schnaps kriegst! Du kriegst ein neues Bündel Fluchtstäbe!' « Er hob sein Glas. »Trinken wir darauf, daß die teuer bezahlten Erfahrungen des Lebens sich in unsere Seelen eingebrannt haben. Jeder Kommunist kann sie lesen. Wenn er will. Und kein anderer soll uns bedauern, es sei denn, er will uns beleidigen . . .« Abadse hörte von alldem nichts. Er war dabei, grusinische Trinksprüche zu rezitieren, lang, wortreich, voll verstecktem Witz. Gruscha flüsterte dem Akkordeonspieler etwas ins Ohr. Der Bjelorusse lächelte, zog die Augenbrauen hoch, trank von seinem Wodka, und dann spielte er die Lieder, die dreißig Jahre alt waren, älter sogar. Gruscha setzte sich neben ihn, es war, als nähme sie das Stimmengewirr im Raum nicht mehr wahr, als seien da nur noch die Melodien und der Gesang, der von den Männern kam. »Nachtigall, Nachtigall, stör mir die Soldaten nicht. . .«, sangen die Älteren. Die Jüngeren summten vor sich hin. »Sie haben es gesungen«, flüsterte Gruscha Catherine zu, »damals, als sie auszogen . . .« Sie wischte sich über die Augen. Kursanow drehte sich um und blickte aus dem Fenster. Der U-Boot-Fahrer rollte unschlüssig eine Zigarette zwischen den Fingern, aber er zündete sie nicht an. Catherine sah, wie der Harmonikaspieler sein Holzbein bewegte, als drücke ihn die Prothese. Er spielte wie ein Träumender. Shagin starrte auf das leere Glas in seiner Hand. Der tadshikische Flieger hielt eine Pastete in beiden Händen, sie war in der Mitte zerbrochen, er hätte sie auf einen Teller legen können, aber er bewegte sich nicht. »Herbstträume, alte Walzerweise . . .« Abadse schien nicht zu
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merken, daß nur er allein noch sang, bis der Harmonikaspieler en lieh aufhörte und es ganz still war. Der Bjelorusse mit dem Holzbein öffnete die Augen und sah sich erstaunt um. Dann erhob er sich vorsichtig, streckte sich, ging an den Tisch und nahm ein Glas. Danach begann er moderne Lieder zu spielen. Shagin tanzte mit Catherine. Sie sprachen nicht, und Catherine ertappte sich, wie sie ihren Kopf auf seine Schulter legte. Kursanow beobachtete es schmunzelnd. Der Tadshike mühte sich zusammen mit dem U-BootFahrer, vor der Datscha die Holzkohlen unter dem Rost zum Brennen zu bringen. Der zweite Fliegeroffizier inspizierte die Schaschlykspieße und lobte Gruscha. Er stellte fest, daß dies der beste Schaschlyk sei, den er seit langer Zeit auf den Rost gelegt habe. Abadse löste Shagin ab. Er war ein ausgezeichneter Tänzer. Catherine fühlte sich federleicht in seinem Arm. Als sie eine Pause machten, wollte er wissen, wie es ihr in Moskau gefalle und wie lange sie noch bleibe. Sie sagte, daß sie das Land bald verlassen werde. »Schade«, meinte er. »Bei uns wird es jetzt erst so richtig interessant. Haben Sie eine Vorstellung von dem, was wir alles bauen?« Er schwärmte von einer neuen Aufgabe in Zentralsibirien. Erdöl. Und er schilderte, wie man dort lebte, auf einer Riesenbaustelle, zu der selbst das Wasser mit Hubschraubern gebracht werden mußte. Vorerst. »Dieses Land ist ein einziger Bauplatz«, sagte er nachdenklich. »Wir krempeln es um, von einem Winkel zum anderen, als würden wir jetzt erst anfangen, es uns anzueignen. Dabei machen wir zuweilen auch ziemliche Dummheiten. Manchmal bildet sich nämlich irgendein Trottel ein, er sei der liebe Gott, und dann gibt es Krach. Oder ein anderer, ganz Schlauer, glaubt, er habe lauter Dummköpfe um sich herum. Gibt auch Krach. Nur es wächst weiter, immer weiter!« Plötzlich nahm er sie bei den Schultern und vertraute ihr lachend an: »Wenn wir die nächsten zwanzig Jahre Frieden haben, kann es sein, daß Amerika recht altmodisch gegen uns aussieht! Sagen Sie das Ihrem Präsidenten!«
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»Leider kenne ich ihn nicht persönlich«, gab Catherine zurück. Er zog sie mit sich hinaus, wo die Holzkohlen unter dem Rost glühten, in der frostklaren Nacht. Da erschien Kursanow, der ihr den Mantel über die Schultern legte und sie aufforderte: »Gehen wir ein Stück! Frische Nachtluft ist das beste Mittel gegen beginnende Trunkenheit! Ich glaube, ich muß eine Pause einlegen.« Sie stapften durch den Schnee, der unter ihren Schritten knirschte. Aus der Datscha klang das Akkordeon. »Wann werden Sie nach Hause fliegen?« erkundigte sich Kursanow. »Bald. Vielleicht schon in ein paar Wochen.« Er ging schweigend neben ihr her. Nach langer Zeit erst meinte er: »Ich werde Sie vermissen. Wir alle. Eigenartig wird das sein, nach Moskau zu kommen und zu wissen, Sie sind nicht mehr da.« »Ich werde Sie auch vermissen.« Er wird nicht einmal ahnen, wie sehr, dachte Catherine. Das Sprechen fiel ihr schwer. Wenn er jetzt nur nichts fragt, ich würde mich verraten. Aber Kursanow begann von ihrem Vater zu reden und von Shagin. Er erkundigte sich, ob Shagin wüßte, daß sie nach Hause gehe. ' »Er weiß es. Und er hat mich in eine sehr schwierige Situation gebracht. Er möchte, daß ich dableibe.« »Das möchte ich auch . . .« Sie sah ihn an. Sie standen unter hohen Fichten, deren Äste dick mit Schnee beladen waren. Catherine nahm eine Handvoll Schnee und ballte sie zusammen. »Was haben Sie geantwortet?« Sie zuckte hilflos die Schultern. Was kann ich Wadim Shagin sagen, einem Kommunisten aus Moskau, der mir in seiner etwas unbeholfenen Art zu verstehen gibt, er möchte mit mir leben? Er hat keine Ahnung von mir. Wüßte er, was ich hier getan habe, er würde ohne ein Wort gehen, und ich bekäme ihn nie wieder zu Gesicht. Ebenso Boris Petrowitsch. Für ihn bin ich die Tochter von
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Charles Laborde, das zählt. Wer hat nur die Legende aufgebracht von dem tief verwurzelten Mißtrauen der Russen gegenüber Leute aus anderen Ländern! Sie haben mich mit offenen Armen au genommen und vertrauen mir, sie stellen keine Fragen, bieten dir an, bei ihnen zu bleiben. Welcher verdammte Wind hat mich hie hergeweht, um mich unglücklich zu machen! »Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll.« Kursanow nahm ihren Arm. »Man kann in solchen Dingen eine anderen kaum einen brauchbaren Rat geben«, sagte er. »Nur, Wadja ist ein guter Junge. Er steht zu dem, was er einmal sagt, Catherine. Überlegen Sie gut.« »Gehen wir zurück?« fragte sie. Er nickte. Hängte sich bei ihr ein. »Sie könnten bei uns leben meinte Kursanow. »Vorausgesetzt, daß Sie unser Leben akzeptieren. Es gäbe Arbeit für Sie. Und wenn Sie sich vor den bürokratischen Schwierigkeiten fürchten, dann sollten Sie an mich denken. Ich würde mich jederzeit für Sie einsetzen . . .« Ja, dachte sie. Und Mister Deadrick würde sich freuen. Er hat weiter jemanden in Moskau. Die Alternative dazu wäre au zupacken. Aber dafür bin ich zu feige. So einfach ist das. Und so aussichtslos. »Überlegen Sie es in Ruhe«, riet Kursanow. »Heute ist nicht der Tag, an dem man einen solchen Entschluß faßt. Wir wollen das aufschieben. Es ist noch Zeit ...» »Ja«, sagte sie, »es ist noch Zeit.« Der Fliegeroffizier stand vor dem Bratrost. Gruscha hatte ihm eine Schürze umgebunden. Der U-Boot-Fahrer wärmte sich die Hände über dem Holzkohlenfeuer und sog den Duft ein, der von den Schaschlykspießen aufstieg. »Erstklassige Sache, Genosse General«, sagte er, als Kursanow herankam. Kursanow wandte sich schmunzelnd an Catherine: »Nun hören Sie sich das an! Wissen Sie, wer das ist? Dieser Piep-piep-Mann? Der Sohn eines Geschwaderkameraden! Ich habe ihn schon ge-
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kannt, als er noch gestillt wurde! Und jetzt sagt der ,Genosse General' zu mir, in der Neujahrsnacht!« Sie aßen Schaschlyk, als es auf Mitternacht zuging. Shagin stellte das Transistorradio an, und sie lauschten den Glockenschlägen. Es gab die üblichen Umarmungen, das Glas Sekt, die Küsse und HurraRufe. Das Holzkohlenfeuer unter dem Rost verglomm langsam. Gegen Morgen kam ein Fahrzeug, das Kursanow vorsorglich bestellt hatte, es brachte die Gäste zur Stadt, in ihre Quartiere. Kursanow begleitete Gruscha bis zu ihrem Haus. Catherine blieb in der Datscha zurück, mit Shagin, der nach einer Sektflasche griff, zwei Gläser voll schenkte und Catherine aufforderte: »Trinken wir das letzte Glas zusammen!« Er merkte, daß Catherine nachdenklich war, und er fragte leise: »Wann werden wir uns wiedersehen?« »Bald.« Er spürte ihre Unsicherheit. »Catherine«, sagte er, »ich bin kein junger Bursche mehr. Manches sagt sich in meinem Alter schwerer. Wenn du dich entschließt hierzubleiben, werde ich dich fragen, ob du mit mir leben willst. Es hat keinen Sinn, in der umgekehrten Reihenfolge zu verfahren, ich glaube, du verstehst das.« Er drehte das Glas in der Hand und hielt es gegen das Licht. »Es war ein schöner Abend«, sagte sie in dem verzweifelten Versuch, ihn abzulenken. »Eine schöne Nacht.« Wieder diese Ratlosigkeit. Ein trauriges, verstörtes Gesicht. Warum? Es ist jetzt nicht die Zeit, das herauszufinden, dachte er. Er trank, setzte das Glas ab und wiederholte: »Ja, eine schöne Nacht.« Sie dachte über ihn nach, während sie am Fenster standen und nach draußen blickten, wo das Grau der frühen Morgenstunden über den Horizont kroch und den Schnee fahl machte. Wadim Shagin. Könnte ich doch die Zeit zurückdrehen! Um zehn Jahre! Sie versank in tiefes Grübeln, und erst Kursanow brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Er stapfte durch den Schnee heran, eine gedrungene Gestalt im Soldatenmantel, die Pelzmütze ein wenig schief auf dem Kopf. Boris Petrowitsch, der mit Vater geflogen war. 303
Der General sah sie erstaunt an, als er in die Stube trat. »Habt ihr euch gestritten?« Sie schüttelte den Kopf. Verflucht seien die Tränen, die stillen Verräter dessen, was in einem Menschen vorgeht! Sie wischte sich über die Augen. »Boris Petrowitsch, ich danke Ihnen allen für diese Nacht. Ich werde sie so schnell nicht vergessen . . .« »Na, na«, redete ihr Kursanow beruhigend zu, »wir haben schließlich nichts weiter gemacht als ein bißchen gegessen und getrunken, Lieder gesungen und vielleicht etwas viel Männerzeug geredet. Jetzt gehst du schlafen, Mädchen, da hinten, in meinem Sonderabteil. Der Obersergeant Shagin und ich, wir kümmern uns darum, daß die Stube in Ordnung kommt. Marsch!« Er schob sie vor sich her, und sie gehorchte. Legte sich auf Kursanows Bett und starrte an die Decke. Hörte noch lange, wie die beiden Männer Gläser zusammenstellten und Teller, wie sie die Tische zurechtrückten und die leeren Flaschen vor das Haus trugen. Irgendwann hörte sie Shagins Stimme: »Sie ist unglücklich, Boris Petrowitsch. Sie spricht nicht darüber, aber ich kann es spüren. Und ich habe keine Erklärung. Warum?« »Warum«, brummte Kursanow. »Wenn wir es wüßten, ließe sich helfen. Aber so . . .« Ob ich sie noch einmal wiedersehe? überlegte sie. Ist es möglich, daß man so auseinandergeht? Sie weinte, bis sie endlich einschlief. Sie sah weder Kursanow noch Shagin wieder. In den ersten Wochen des neuen Jahres gab es von der »New York Times« bis zur »Frankfurter Rundschau« nichts als alarmierendes Geschrei, daß Ignat Issaakowitsch Wetrow, der große Nachfahre Tolstois, kurz vor seiner Verhaftung stünde, der mit ziemlicher Sicherheit die Aburteilung folgen würde. Catherine machte sich Gedanken darüber, wie weit der Arm des Mister Deadrick reichte. Selbst Zeitschriften, die sonst nicht ausgesprochen antisowjetisch waren, beteiligten sich in dieser oder 304
jener Art an der allgemeinen Hysterie, die um Wetrow entfesselt wurde. Wenn sie die Moskauer Blätter las, staunte sie über die Gelassenheit, mit der hier zu der Sache gesprochen wurde, sie bemerkte aber auch die Bestimmtheit, mit der selbst Leser in Briefen an die Redaktionen gegen Wetrow auftraten. An einem Abend im Februar sah Catherine im Fernsehen, wie der Chefkommentator der »Prawda« auf einen Stapel Zuschriften verwies, in denen die Staatsführung aufgefordert wurde, dem Treiben Wetrows ein Ende zu setzen. Die Sendung lief noch, als das Telefon klingelte. Swetlana Fjodorowna bat Catherine für den nächsten Nachmittag um eine Unterredung. Wetrow habe vor Tagen eine Aufforderung der Generalstaatsanwaltschaft erhalten, sich dort einzufinden. Er sei ihr nicht gefolgt. Soeben sei eine zweite solche Aufforderung gekommen. Wetrow würde sie ebenfalls nicht beachten. Ob sie diesen Tatbestand an ein paar vertrauenswürdige westliche Journalisten weiterleiten könnte. Catherine antwortete knapp: »Das kann ich leider nicht, ich habe zu diesen Leuten keine Verbindung. Tun Sie es selbst, wenn Sie es für richtig halten.« Es geht zu Ende, schlußfolgerte sie. Bevor sie sich schlafen legte, stellte sie ihr Handgepäck zusammen, das Wichtigste, das sie mitnehmen würde, wenn sie abreiste. Alles andere hatte sie ohnehin, soweit es sich um Bücher, Ausarbeitungen oder Manuskripte handelte, bereits der Botschaft zugeleitet, mit der Maßgabe, es auf dem Dienstwege in die Staaten zurückzuführen. Sie quälte sich in dieser Nacht noch lange mit dem Gedanken, an Kursanow schreiben zu müssen oder an Shagin, aber sie brachte keinen Brief fertig. Schließlich steckte sie das Foto, das ihren Vater und Kursanow zeigte, sowie die sowjetischen Orden aus dem Nachlaß Charles Labordes und das Tagebuch, das sie in den letzten Jahren geführt hatte, in einen Umschlag und legte die Notiz bei: »Lieber Boris Petrowitsch, ich glaube, dies alles ist bei Ihnen besser aufgehoben als bei mir. Verzeihen Sie mir, wenn Sie können. Und bitten Sie auch Wadja, mir zu verzeihen. Catherine«.
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Am Morgen machte sie sich zur Botschaft auf und erwirkte die Sondergenehmigung, Deadrick über den Fernschreiber eine Nachricht zu schicken. Zu ihrem Erstaunen antwortete Deadrick auf ihre Schilderung der Situation binnen weniger Stunden. Er empfahl zu warten, bis eine Entscheidung über Wetrow fiel, und dann sofort nach Berlin zu fliegen. Er werde sie dort empfangen. Am späten Nachmittag machte sie einen Spaziergang am MoskwaUfer. Es war kalt, schneidender Wind wehte, die Möwen hockten verfroren auf den eisernen Geländerstangen. Catherine kehrte in ihre Wohnung zurück, als die Dämmerung anbrach. Sie war noch im Mantel, da hörte sie das Telefon anschlagen. Wieder Swetlana Fjodorowna. Diesmal aufgeregt, weinerlich. »Sie haben ihn abgeholt! Eben haben sie ihn mitgenommen! Er hat seinen ältesten Mantel angezogen, die ältesten Schuhe, und die Tasche mitgenommen . . . Er wird nicht wiederkommen, hören Sie! Bitte, tun Sie etwas, ich flehe Sie an, helfen Sie ihm! Alles ist aus . . . alles . . .! Bitte, bitte . . .« Catherine hatte keine Lust mehr, sich das Gezeter anzuhören. Sie sagte barsch: »Hören Sie auf, mich anzubetteln! Man hat ihn geholt. Gut. Ich bin nicht länger daran interessiert, was aus ihm wird. Er hat sein verdammtes Leben, und ich habe meins. Rufen Sie mich nicht mehr an. Meinetwegen kann ihn der Teufel holen!« Sie legte auf, bevor die Frau in der Lage war, noch ein Wort zu sagen. Dann rief sie den Botschaftsrat an, der ihre Verbindung zu Kartstein und später zu Deadrick betreut hatte. Sie bat ihn, ihr für den nächsten Tag einen Flug nach Berlin zu buchen. Dringend. Sie traf am Nachmittag in Westberlin ein. Hotel am Kurfürstendamm. Mister Deadrick hatte für alles gesorgt. Am Abend rief er sie vom Hotelfoyer aus in ihrem Zimmer an. Er lud sie zum Essen ein, und sie unterhielten sich eine Weile über die jüngsten Ereignisse, dann entschuldigte sich Catherine, sie sei müde. Deadrick verschob alle Entscheidungen bis zum folgenden Tag. Er ließ sich Catherines Paß geben und verabschiedete sich.
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Catherine Laborde erwachte am späten Vormittag mit schwerem Kopf. Sie hatte am Abend ein Schlafmittel genommen, und jetzt fühlte sie sich zerschlagen. Ein wenig träge schlich sie zur Dusche. Der Schwall kalten Wassers half. Nachdem sie ein Frühstück verzehrt hatte, das sie sich auf ihr Zimmer kommen ließ, überlegte sie. Was tun? Der Kreis hatte sich geschlossen. Was will ich noch hier? Mit Mister Deadrick reden? Ich habe ihm nichts mehr zu sagen. Er hat mich vom ersten Tage in Moskau an benutzt wie einen Gegenstand; jetzt wird der Gegenstand nicht mehr gebraucht, er kann abgelegt werden. Ich werde mich selbst ablegen. Schluß. Sie rief bei der PAN AM an und erkundigte sich nach einem Platz in der nächsten Maschine nach New York. »Morgen früh, Madame«, sagte die Angestellte. »Darf ich den Namen eintragen?« Catherine nannte ihn. »Die Paß-Nummer?« Sie versprach, erneut anzurufen, legte auf, wählte die Rezeption und erkundigte sich, ob Mister Deadrick ihren Paß hinterlegt habe. Der Angestellte suchte eine Weile, dann rief er seinen Chef, und der teilte Catherine höflich mit, ihr Paß sei nicht da. Bevor sie darüber nachdenken konnte, was das zu bedeuten hatte, klingelte ihr Telefon. »Sie bekommen Besuch, Madame. Mister Deadrick. Darf ich ihn hinaufschicken?« »Ja.« Deadrick begrüßte sie mit einer Kaskade freundlicher Worte, lief aber sofort an ihr vorbei, schaltete den Fernsehapparat ein und blieb daneben stehen. »Haben Sie ein paar Sekunden Geduld, Miß Laborde! Sie werden staunen!« Der Reporter sprach in der Diktion eines Kriegsberichterstatters. Catherine verstand nur wenig Deutsch, Deadrick bemühte sich, ihr von Zeit zu Zeit zu übersetzen, was da gesagt wurde. Auf dem Bildschirm war der Frankfurter Flughafen zu sehen. Eine Meute von Journalisten drängte sich hinter den Gittern der Absperrung. Polizisten wachten darüber, daß niemand die Abgrenzung übertrat.
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Eine Verkehrsmaschine rollte langsam heran, während der Sprecher mitteilte: »In wenigen Minuten wird dieser große Dichter, der erbitterte Feind des sowjetischen Regimes, der Mann, der unter den allerschwersten persönlichen Entbehrungen in den letzten Jahren seinen einsamen Kampf mit der Feder austrug, für die absolute Wahrheit und gegen die kommunistische Diktatur, der Maschine entsteigen. Ein erhebender Augenblick! Der erste Schritt in die Freiheit, für einen Mann, den die ganze Welt bewundert, um den sie gebangt hat! Die sowjetischen Behörden haben ihn aus dem Lande gewiesen. Die offizielle Version lautet, nach Artikel dreizehn des sowjetischen Strafgesetzbuches sei ihm durch einen Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt, wegen systematisch begangener feindseliger Handlungen gegen die UdSSR, die mit den in der Verfassung festgelegten Rechten und Pflichten des Sowjetbürgers unvereinbar seien. Wetrow, so heißt es, habe durch seine Handlungsweise der UdSSR Schaden zugefügt. Nun, wie immer man das interpretiert, hier ist der Mann, der für uns die Hoffnung genährt hat, daß es im Sowjetreich Kräfte gibt, die sich aktiv gegen den Kommunismus zur Wehr setzen. Sie haben unsere uneingeschränkte Sympathie, und so wird dieser Mann hier begeistert empfangen . . .« Deadrick blinzelte Catherine grinsend zu. »Gute Show, wie?« Sie verzog die Mundwinkel. Gute Show, ja. Des großen Spiels letzter Akt: Der Gaukler mit der Narbe auf der Stirn steigt in unmittelbarer Nähe seines Bankkontos aus einem Jet. Endstation einer Reise mit geborgtem Fahrgeld. Zweitausend Leitartikler und Kommentatoren werden sechs Wochen lang von ihm zehren. Er wird Interviews geben, Reden halten. Dann wird er sich in eine Villa zurückziehen. Er wird Dreck aufwirbeln, immer dann, wenn Dreck gebraucht wird. Der Rest seines Schicksals wird sich in den Gremien der Emigranten abspielen, zwischen dem Donkosakenchor und der ukrainischen Exilregierung. Gute Show, in der Tat. Jemand lief auf Wetrow zu und überreichte ihm einen Blumenstrauß.
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»Seine Familie«, verkündete der Reporter andächtig, »wird ihm in wenigen Wochen folgen können, so verlautete aus Moskau . . .« Deadrick grinste immer noch. Catherine sagte beiläufig: »Nun ja, dann wird sich Swetlana Fjodorowna als erstes eine neue Schürze kaufen.« Ein kleines Mädchen knickste vor Wetrow. Der Reporter bemerkte: »Wie muß es wohl in diesem Mann aussehen? Ein Leben der Entsagung liegt hinter ihm, ein Leben des Kampfes und der Hingabe an die Kunst. Die große Ehrung mit dem Nobelpreis hat ihm nichts von seiner Natürlichkeit genommen, ihn nicht bequem gemacht, satt; er ist derselbe streitbare Wetrow geblieben, als den wir ihn schätzen. Er hat das sowjetische Regime herausgefordert, hat gehungert, gefroren, einsam, um das tägliche Brot bangend, seine Tage verbracht bis zu diesem Augenblick, in dem die freie Welt ihn jubelnd empfängt . . .« »Herrliche Show!« sagte Deadrick wieder. Catherine forderte: »Stellen Sie diesen Quatsch ab, das kotzt mich an . . .« Da er es nicht tat, ging sie zu dem Gerät und drehte den Ton weg. Dann wandte sie sich an Deadrick: »Ich brauche meinen Paß. Ich möchte morgen in die Staaten fliegen. Wozu haben Sie ihn eigentlich an sich genommen?« »Ja«, sagte Deadrick gedehnt, »Miß Laborde, ich würde Ihnen empfehlen, die Reise noch etwas aufzuschieben.« »Warum? Was soll ich hier?« Er deutete auf einen Sessel. »Setzen Sie sich. Sie haben eine Pause verdient. Inzwischen klären wir ein paar Dinge, die sich da ergeben haben . . .« »Was für Dinge?« »Nun ja«, er lächelte, »es ist vor allem die Frage nach Ihren neuen Aufgaben, Miß Laborde. Wir sind natürlich bestrebt, Sie in eine Position zu versetzen, die Ihren Kenntnissen entspricht.« »Danke. Ich werde auch allein zurechtkommen. Geben Sie mir meinen Paß, damit ist alles erledigt.« »Leider«, sagte Deadrick, »wird das noch eine kleine Weile dauern,
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Miß Laborde. Da sind einige Fragen, die wir klären möchten, bevor Sie etwas Neues anfangen.« »Ich verstehe nicht.« Sie wurde ärgerlich. »Habe ich nicht mehr die selbstverständliche Freiheit, in die Staaten zurückzukehren, wann es mir paßt?« »O doch«, versicherte er. »Natürlich haben Sie! Nachdem wir alles geklärt haben . . .« »Was, zum Teufel?« »Miß Laborde, es handelt sich darum, daß Sie immerhin in Moskau eine sehr verantwortliche Arbeit gemacht haben, eine konspirative sozusagen. Dadurch ergeben sich für uns gewisse Notwendigkeiten. Wir müssen absolut sicher sein, daß Sie darüber in Zukunft schweigen. Über die Frage haben wir uns mit Ihnen zu verständigen. Sie werden das sicher verstehen, und letztlich sind Sie ja wohl auch daran interessiert, unserer Sache nicht nachträglich zu schaden. Sie würden damit übrigens auch Ihrer Zukunft schaden, Miß Laborde . . .« Sie blickte kühl auf Deadrick. »Über meine Zukunft zerbrechen Sie sich besser nicht den Kopf. Die geht Sie einen Dreck an. Mein Leben ist meine Privatsache, das werden Sie gefälligst respektieren!« »Bitte«, versuchte er, sie zu besänftigen, »überlegen Sie in Ruhe, Miß Laborde. Ich möchte Ihnen Unannehmlichkeiten ersparen, sonst nichts. Es wäre doch schade . . .« »Was wäre schade? Wenn mir etwas Ähnliches zustößt wie Glenn Ward, das meinen Sie doch, nicht wahr?« »Es tut mir leid. Ich hatte gehofft, wir würden eine erfreulichere Unterhaltung führen können.« »Geben Sie sich keine Mühe. Ich brauche keine Erklärungen mehr. Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu reden. Auch nichts zu schaffen. Ich bin ein freier Mensch. Was ich mit den Erfahrungen mache, die ich in den letzten Jahren in meinem Kopf gespeichert habe, ist meine eigene Angelegenheit. Schicken Sie mir meinen Paß, Mister Deadrick. Auf Wiedersehen!«
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Sie erhob sich und öffnete die Zimmertür. Deadrick stand verblüfft aus dem Sessel auf. Er schüttelte betrübt den Kopf und sagte im Hinausgehen: »Wie leid mir das tut. Sehr schade, daß die Sache so ausgeht. Für Sie.« Catherine warf angewidert die Tür zu. Auf dem Bildschirm war eine dunkle Limousine zu sehen, in der Wetrow jetzt den Flughafen verließ. Sie schaltete den Apparat ab und hockte sich in einen Sessel. Am Abend entschloß sie sich, Leary anzurufen. Er war immerhin Glenns Freund gewesen, und er hatte ihnen damals sein Haus zur Verfügung gestellt. Vielleicht wußte er einen Rat. Doch als sie den Hörer in der Hand hatte, fiel ihr ein, daß es vielleicht besser wäre, ein solches Gespräch nicht am Telefon zu führen. Also zog sie sich den Mantel an und verließ das Hotel. Sie blieb vor dem Eingang stehen. Ein Taxi hielt soeben, eine Frau stieg aus. Catherine winkte dem Fahrer. Als er den Wagen heranfuhr, stand plötzlich ein junger Mann neben ihr, nahm sie am Arm und sagte freundlich: »Sie möchten ein Fahrzeug, Miß Laborde? Sofort!« Er bedeutete dem Taxichauffeur weiterzufahren. Aus der Reihe der Autos, die unweit des Hotels am Straßenrand parkten, schob sich eines heraus und hielt vor Catherine. »Bitte!« lud der junge Mann sie ein. Catherine schüttelte den Kopf. »Danke, ich werde zu Fuß gehen!« Der junge Mann gesellte sich wie selbstverständlich zu ihr. Lächelnd vertraute er ihr an: »Ich begleite Sie. Für den Fall, daß Sie Hilfe brauchen; Sie haben keinen Paß, Miß Laborde!« Er ging neben ihr, mit jenem freundlichen Lächeln, das auch in Deadricks Gesicht gestanden hatte, vorhin. Ein unverbindliches, nichtssagendes Lächeln. Ernüchtert kehrte sie um und fuhr mit dem Lift hinauf zu ihrem Zimmer. Eine Stunde später rief sie im amerikanischen Konsulat an. Man sagte ihr, die Dienststunden seien vorbei, aber sie bestand darauf, den Konsul zu sprechen. Sie erklärte, sie sei eine amerikanische
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Staatsbürgerin in einer gefährlichen Situation. Als sich nach einer Weile der Konsul meldete, teilte sie ihm mit, daß ein Amerikaner, der sich Mister Deadrick nannte, ihren Paß an sich genommen habe. Es sei für sie wichtig, in die Vereinigten Staaten zu kommen; ob es die Möglichkeit gäbe, ihr ein anderes Reisedokument auszustellen. Der Mann am anderen Ende der Leitung fragte: »Sie sind Miß Laborde, nicht wahr?« »Ja, die bin ich!« »Aha! Beunruhigen Sie sich nicht. Mister Deadrick hat alle Vollmachten, die Sache mit Ihnen zu regeln. Wenn das geschehen ist, bekommen Sie natürlich Ihren Paß zurück. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Das klang höhnisch in ihren Ohren. Catherine legte auf, ohne zu danken. Sie haben mich in der Falle. Folgsam sein, der Agentur den Rest des Lebens anvertrauen und schweigen, das waren wohl die Bedingungen. Oder es gibt einen Verkehrsunfall. Zinksarg nach New York. Wie gut Sef Kartstein es doch hat! Und Glenn? Lieber nicht an ihn denken! Sie verspurte Hunger, ging in die Grillbar im obersten Stockwerk des Hotels und aß ein Steak. Dann beschlich sie Furcht vor ihrem Zimmer. Noch nicht dorthin zurückkehren! Sie bestellte Kognak, an der Bar sitzend, während um sie herum die Leute ebenfalls tranken, miteinander sprachen, scherzten. Der Barkeeper zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als er merkte, daß die Dame ohne Begleitung es offensichtlich darauf anlegte, sich zu betrinken. Aber er goß immer wieder ein. Zwei Stunden vor Mitternacht war Catherine übel von der Unmenge Alkohol, die sie zu sich genommen hatte. Aber die Gedanken waren trotzdem da, sie ließen sich nicht verdrängen. Hol's der Teufel, ich werde schlafen gehen, morgen ist auch noch ein Tag! Sie brachte es fertig, den Raum zu durchschreiten, ohne ins Torkeln zu kommen. Aber sie irrte sich in der Tür. Neben dem Ausgang führte eine zweite Tür hinaus auf den Dachgarten, der während der Wintermonate nicht benutzt wurde. Zusammen-
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gestellte Tische und Stuhle, eine brusthohe Balustrade, dahinter die Lichter der Stadt. »Verzeihen Sie«, sagte eine Stimme neben ihr, als sie verwirrt, den Türknopf noch haltend, dastand. Ein junger Mann in untadeligem Anzug. Sprach amerikanisch. New England, es war ihm anzumerken. Er nahm Catherine am Arm. »Kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer!« Sie schwieg, während sie im Fahrstuhl nebeneinander standen. Noch einer von Mister Deadricks Leuten? »Ihr habt Glenn erschossen«, sagte sie dann ruhig. Der junge Mann blickte sie erstaunt an. »Ja«, sagte sie. »Grüßen Sie Mister Deadrick. Richten Sie ihm aus, ich bedaure, zwei Fehler gemacht zu haben. Der erste, daß ich nach Moskau ging, und der zweite, daß ich nicht dort geblieben bin.« Der junge Mann führte sie über den Korridor zu ihrem Zimmer. Er half ihr aufzuschließen. Bevor er ging, sagte er höflich: »Gute Nacht!« Sie schwankte durch das Zimmer. Ließ sich auf das Bett fallen. »Miß Laborde ist am Ende«, sagte sie laut. »So oder so. Sie hat alle Fehler gemacht, bis zum letzten. Aber sie wird keine Fehler mehr begehen. Keinen einzigen. Sie hat begriffen.« Mit einiger Muhe erhob sie sich, ging ins Bad und hielt den Kopf unter die Wasserleitung. Dann trank sie in langen Zügen. Das Wasser schmeckte schal, aber es löschte den Durst. Wieder im Zimmer, stellte sie den Fernsehapparat ein. Nach einer Weile konnte sie auf dem Bildschirm erkennen, wie Bortinger eine Zigarette rauchte. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Bortinger rauchte immer noch. Sie stellte den Ton an. Das Bild wechselte. Bortinger neben Wetrow. Reporter und Fotografen, die sich in einer dichten Traube um die beiden drängten. Wetrow gestikulierte. Sie hörte ihn. »Ich danke, danke, danke! Ich möchte nichts weiter sagen! Noch geht es um meine Familie, Sie verstehen. Erst dann . . . Verzeihen Sie . . .« Gibt es nichts anderes auf der Welt als diesen Heuchler? Sie biß
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sich auf die Lippe. Sinnlos. Sie haben ihn, und sie machen Reklame mit ihm, wie mit einer Hausfrau, die für die Güte eines Waschmittels spricht. Was bin ich dagegen? Ein kleines Instrument, das im verborgenen gearbeitet hat. Wie die Unruh einer Uhr, die sieht man auch nicht, man sieht nur die Zeiger! Das Schicksal der Unruh. Wird sie defekt, wechselt man sie aus. Den Zeigern merkt man das nicht an. Sie wandte sich von dem Apparat ab. Langsam ging sie durch das Zimmer, hin und her. Sie merkte, daß ihre Trunkenheit verflog. Warum nur so schnell? Himmel, ich möchte nichts wissen, nichts hören, nichts sehen, gar nichts, nur dunkel soll es um mich sein, und bitte keine Bilder auf dieser Dunkelheit! Die Bilder kamen, ohne daß sie es verhindern konnte. Kursanow und Shagin. Marinka, an jenem Hügel. Der Fluß. Ein gelber Luftballon mit einer Kinderpuppe daran dümpelte im Wasser. Wieder Shagin. Mit einer Belomorkanal im Mundwinkel. Glenn lachte hinter seinem Rücken hervor. Die grauen Augen. Sie schüttelte sich. Ging zu ihrer Handtasche, die auf dem Nachttisch lag. Ich will endlich Ruhe finden. Catherine Laborde, die die russische Literatur liebte und sich einbildete, die sowjetische zu kennen. Bis sie nach Moskau kam. Die Lady aus den Vereinigten Staaten, die im dunkeln operierte, ohne daß selbst ihre besten Freunde davon wußten. Wie widerlich das alles ist. Sie kramte in der Handtasche. Dabei kam ihr das kleine Fläschchen in die Hand, das sie aus New York mitgebracht hatte. Sie drehte es in den Fingern. Der flüssige Edelstein. Wie hatte dieser Hippie gesagt? Es macht frei. Läßt dich alles vergessen, die Welt, dich selbst. Nur ein paar Tropfen, und rosa Wolken erwarten dich! Ja, ich will vergessen! Alles. Auch mich selbst. Sie schraubte den Verschluß auf, roch an dem Inhalt und schluckte ihn dann in einem einzigen Zug hinunter. Catherine Laborde hat es bitter nötig zu vergessen. Könnte ich doch Boris Petrowitsch und Wadim Shagin auch solch ein Fläschchen geben! Sie werden sich erinnern, lange und mit einem eigenartigen Gefühl. Ekel? Was empfindet man für
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einen Menschen, der es fertiggebracht hat, Freundschaft zu mißbrauchen? Was empfinde ich für Wetrow? Schluß machen, mit all dem, das war der letzte Gedanke, den sie hatte, als sie sich vom Bett erhob. Ihr war, als nähme sie jemand an der Hand und geleite sie aus dem Zimmer. Doch sie war allein. Ohne es zu wissen, ging sie zum Fahrstuhl. Sie drückte den Knopf mit dem »D«. Dachgarten. Auch ohne zu wissen, warum sie das tat. Oben, in der Bar, saßen immer noch Leute. Catherine warf nur einen flüchtigen Blick auf sie. Der junge Mann, der sie nach unten gebracht hatte, war nicht mehr da. Unbemerkt schob sie die Tür zum Dachgarten auf. Warum sollte ein Gast nicht ein bißchen frische Luft atmen, da draußen! Niemand folgte ihr, niemand nahm sie überhaupt zur Kenntnis. Sie stand an die Brüstung gelehnt und blickte hinunter, auf den nassen Asphalt. Es war kalt, aber sie spürte das nicht. Naßkaltes Berlin-Wetter. Autos kurvten unten herum. Die Neonschlangen waren zum größten Teil erloschen. Der Himmel war von einem stumpfen Grau. Da waren die Bilder wieder. Verschwommen, im Nebel versinkend. Glenn Ward und das Häuschen in Düppel. Schnee über Peredelkino. Töne waren da. Das Getrappel von Pferdehufen und Glocken schlage. Was nur die Wolken dabei taten! Und warum waren sie rosa? Abadse sang »Ach, ihr Wege«, mit einer Stimme, die wie der einsame Schrei eines Clairons klang. Glenn, auf einem Damm balancierend, zwischen zwei Reisfeldern. Frühlicht. Ich werde Boris Petrowitsch Wyoming zeigen. »Catherine«, sagte die Stimme Shagins. Ein Lippenpaar, dazwischen eine Papiros. »Keiner soll mich bedauern, es sei denn . . .« Sie wußte nicht, daß sie auf der Brüstung stand. Sie hatte das Gefühl, frei zu sein, es gab kein Gewissen und keine Skrupel, kein Bedauern, keine Trauer, nichts. Nur den immer dichter werdenden rosa Nebel. Aus der Papiros war plötzlich eine Birke geworden. Sie war so hoch, sie nahm kein Ende. Ein weißer Blitz vor dem rosa Himmel. »Catherine«, sagte Kursanows Stimme, »überlegen Sie es gut . . .«
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Sie schlug auf dem Pflaster auf, während der Fernsehschirm in ihrem Zimmer immer noch das Bild Wetrows zeigte. Ein Foto, die Narbe geschickt durch Retusche verstärkt. Dann fuhr die Kamera zurück. Eine Runde alter Männer wurde sichtbar. Einer von ihnen wies auf das Bild, das den gesamten Hintergrund bedeckte. »Dies, meine Damen und Herren«, sagte der alte Mann, »ist der stumme Gast unserer Runde. Ignat Issaakowitsch Wetrow, einer der ehrenhaftesten Dichter, der integersten Menschen, die auf dieser Erde leben. Wir wollen uns zu später Stunde über die große Bedeutung seiner einmaligen Persönlichkeit für die freie Welt unterhalten . . .«