Alexei Panshin
Der galaktische Dandy
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction A...
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Alexei Panshin
Der galaktische Dandy
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Action Band 21 158 © Copyright 1968 by Alexei Panshin All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1982 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Originaltitel: STAR WELL Titelillustration: Vincent DiFate Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-21158-8
Mitten im Herzen des Flammerion-Spalts liegt Starwell, ein kleiner luftloser Asteroid, einer der Handels- und Umschlagplätze des NashaitImperiums. Und obwohl es dort Restaurants und Casinos gibt, luxuriöse Suiten und teure Läden, rät Wu und Fabricants Reiseführer interstellaren Touristen, Starwell wenn möglich zu meiden, da es sich um eine langweilige und wenig reizvolle Örtlichkeit handle… Aber Wu und Fabricant hatten die geheimen unterirdischen Anlagen nicht zu sehen bekommen und waren nicht über die Natur der dort gelagerten Dinge informiert – und wenn, dann hätten sie sich immer noch gegen Abstecher dorthin ausgesprochen – dann erst recht. Als unser Held Villiers und sein Trogfreund Torve auf der Szene erscheinen, wird bald klar, daß die Wahrheit ans Tageslicht muß, daß für Starwell ein neues Zeitalter angebrochen ist… Einer der wenigen wirklich humorvollen SFRomane, witzig und intelligent, aus der SatireWerkstatt des Hugo-Preisträgers Alexei Panshin.
EINLEITUNG
STAR WELL ist ein kluges, erfreuliches und gelungenes Buch; und es ist etwas, das ich in der Science Fiction nie zuvor gesehen habe. Er ist der erste aus einer Serie von Romanen, die die Auffassung untersuchen, daß die Welt aus kleinen auf gegenseitigem Interesse beruhenden Gemeinschaften besteht. Wenn die Substanz dieser Behauptung so scharfsinnig offenbart wird wie in diesem Roman, spielt es keine Rolle, welcher »kleinen Gemeinschaft« Sie angehören: STAR WELL trifft ins Schwarze. Während ich diese Zeilen schreibe, ist der zweite Band über die Abenteuer des Anthony Villiers fast vollendet. Wenn ich nach einer Entsprechung zu diesem roman fleuve in der Mainstream-Literatur suche, fällt mir A Dance to the Musik of Time ein, vielleicht auch Men of Good Will; jedenfalls nicht Jalna. Die Empfehlungen für das Projekt des 28-jährigen Mr. Panshin sind eindrucksvoll. Er ist der Autor eines ausgezeichneten, ja geradezu klassischen SF-Romans und Hugo Gewinners RITE OF PASSAGE∗, auf der World Science Fiction Convention 1967 erhielt er einen weiteren Hugo für seine kritische Bestandsaufnahme des vergangenen Jahres; er veröffentlichte kürzlich die erste längere Abhandlung über Robert Heinlein, HEINLEIN IN DIMENSION; seine Kurzgeschichten erschienen in Analog, If, Fantasy & Science Fiction und Galaxy. Was folgt, ist eine Schaubühne für Glücksritter, Duelle und Verrätereien, ein Menuett aus guten und schlechten Manieren; ∗
Welt zwischen den Sternen, Bastei-Lübbe 22024
es wird über die Maschinerie des Universums spekuliert, Generalinspekteure treten auf, um alles zu inspizieren. Und Anthony Villiers, ein Gentleman par excellence, taucht durch all das hindurch, duckt einen Schlag oder zwei ab und bringt seine Gegner gehörig durcheinander. Mr. Villiers? Wenn Sie meinen, es sei unhöflich, die Bekanntschaft einer Person zu machen, die Ihnen nicht in aller Form vorgestellt worden ist, nun – dann gehen Sie bitte davon aus, daß diese Vorstellung soeben erfolgt ist. SAMUEL R. DELANY New York, April 1968
Für Geschichtsfans war es das Jahr 4171 A. U. C. Für Christen war es 3418. Für Moslems war es die Mitte des Jahres 2882. Aber allgemein schrieb man das Jahr 1461.
I
Die Krume des Universums ist nicht überall gleich fruchtbar. Es gibt Stellen, wo die Sterne nicht wachsen. Da gibt es den Flammarion-Spalt, der den Rand des Imperiums von Nashua schneidet, benannt nach – egal. Jemand, der solange tot ist, sollte froh sein, auch nur durch ein Loch bekannt zu sein. Das einzige Merkmal des Spalts sind ein paar Brocken zufällig herumtreibenden Weltallmülls. Keiner weiß, woher sie gekommen sind. Keiner hat sie gezählt oder ihren Kurs notiert. Auf jeden Fall gibt es Gerüchte, daß einige wenige bewohnt sind. Von Männern, die eine kalte und ungewisse Existenz den Sicherheiten wärmeren Klimas vorziehen. Mit einer Ausnahme: Ein Felsen ist fahrplanmäßiger Anflughafen für Schiffe, die sich in den Spalt wagen. Dieser Planetoid, Star Well, was soviel heißt wie Sternenquelle, bietet eine Unterbrechung der Reise, Warenhäuser, Unterhaltung, Komfort, Spiele – kurz gesagt, alles außer einer Sonne, Atmosphäre und naher Nachbarschaft.
Anthony Villiers betrat das Spielcasino von Star Well und blickte sich mit jenem lässigen Anflug von Sicherheit um, den man leicht für Arroganz halten konnte. Innerhalb dieses Planetoiden gab es weder Tag noch Nacht. Schiffe kamen zu den verschiedensten Zeiten an, die Passagiere an Bord lebten nach den unterschiedlichsten Tag-und-Nacht-Rhythmen. Das Spielcasino war rund um die Uhr geöffnet, und das Spiel blieb Stunde um Stunde konstant. Villiers schob sich zwischen den Tischen durch, gelegentlich hielt er an, schaute dem Spiel zu und ging dann weiter. Er machte selbst keine Einsätze. Seine Kleidung war der neuesten Mode voraus. Seine Schulterstreifen waren grün, sein Cape von einem dunkleren Grün. Seine Absätze waren sechs Zentimeter hoch, relativ wenig, wenn man bedachte, daß er nicht von besonderer Körpergröße war. Sein braunes Haar trug er offen. Er hatte hier in Star Well die Ankunft und Abfahrt von drei Schiffen erlebt und konnte jetzt mit einem gewissen Grad von Sicherheit seinen Weg durch das Labyrinth finden und auch Zeitabläufe wiedererkennen. Er hob leicht die Augenbrauen, als er sah, daß Derek Godwin die Aufsicht hatte und nicht Hisam Bashir Shirabi, der unterwürfige Besitzer von Star Well, der sonst zu dieser Stunde Dienst tat. Godwin war auch modisch gekleidet, aber wo Villiers’ Kleidung ein sorgsam abgestimmter Anspruch war, waren Godwins Sachen eine mißtönende Anmaßung, die Wahl eines Mannes aus unsicherem Milieu oder von unsicherem Geschmack. Nichtsdestoweniger war er aus anderen Gründen bemerkenswert: Er war nicht nur der zweitwichtigste Mann in Star Well, sondern galt in gewisser Beziehung auch als gefährlich. »Guten Abend, Mr. Villiers.«
Villiers wandte sich um und stellte fest, daß die Stimme zu Norman Adams gehörte, einem jungen Gentleman, mit dem er Gelegenheit hatte, an der Speisetafel zu sitzen. Obwohl Adams nur ein paar Jahre jünger war, legte er eine so überstürzende Eifrigkeit an den Tag, daß sich Villiers dagegen wie ein alter Hase vorkam. »Mr. Adams«, sagte er. Adams nickte in die Richtung, in die Villiers gerade geschaut hatte. »Ehrlich«, sagte er, »Godwin versteht sich zu kleiden. Ich schätze den Schnitt seines Anzugs.« »Tja«, machte Villiers. »Für Gegenden, die so einsam sind wie diese hier, bringt er die Präsentation einer Erscheinungsform zuwege, die durchaus in einer größeren Gesellschaft als dieser hier Aufmerksamkeit erregen dürfte.« »Meinen Sie?« Adams war ebenfalls gut gekleidet, aber er wirkte irgendwie konservativ, als hätten ältere Menschen seinen Geschmack beeinflußt, oder aber er stammte aus einer vergleichsweise hinterwäldlerischen Gegend. Dennoch hatte Villiers einen jungen Ex-Priester und eine Anzahl von Marine-Offiziere außer Dienst auf Nashua gesehen, in deren Gesellschaft Adams durchaus gut passen konnte. »Ja«, sagte Villiers, »wenn Sie seinen Geschmack schätzen, sollten Sie ihn nach dem Namen seines Schneiders fragen, solange Sie Gelegenheit dazu haben.« Adams nickte. »Eine gute Idee, Sir«, sagte er. »Aber Godwin ist nicht gerade ein zugänglicher Mann. Jedenfalls schätze ich ihn so ein. Ich fühle mich in seiner Gegenwart wie ein kleiner Hund, der zu dumm ist, um still in der Ecke zu sitzen. Je mehr er sich zurückzieht, desto mehr habe ich das Gefühl, mich vordrängeln zu müssen.« »Nun, vielleicht wird sich von selbst eine Möglichkeit ergeben«, sagte Villiers.
Adams rasselte mit einem Packen von Chips in seiner Hand. »Spielen Sie?« »Ich versuche«, sagte Villiers, »Wohlhabenheit vorzutäuschen, indem ich meine Rechnungen durcheinandermische, aber ich muß schon ein Spiel finden, das zu mir paßt.« Adams lachte. »Würden Sie so freundlich sein, mir bei einem kleinen Spiel Gesellschaft zu leisten?« fragte Villiers. »Vielleicht Lotterie?« Adams zog ein Gesicht. »Das habe ich früher mit meinen Schwestern gespielt.« »Auch einfache Spiele können interessant sein.« »Halten Sie mich bitte nicht für unhöflich, Sir, aber ich ziehe aktivere Spiele vor.« Adams deutete auf die farbige Fontäne des Flambeau. Der rote Ball tanzte auf der Flammenspitze und fiel dann herunter, als das Feuer erstarb. »Ich glaube, ich habe heute Glück.« »In diesem Falle gestatten Sie, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste.« Sie gingen untergehakt zum Flambeau-Tisch. Adams war größer, hatte ein rundes Gesicht und konnte mit seiner Größe und Stärke offenbar nicht so recht umgehen. Damit ähnelte er dem jungen Hund, mit dem er sich verglichen hatte. Villiers war klein, schmal und schnell, und wesentlich zurückhaltender. Adams, der sich schwer amüsierte, placierte seine Wetten ganz nach dem Gefühl, lächelte breit, wenn er gewann und zog schmerzhaft die Luft ein, wenn er verlor. Er verlor mehr, als daß er gewann. Villiers stand neben ihm, während das Spiel seinen ruhigen Verlauf nahm. Dieses Spiel, wie auch seine Vorläufer, erlaubte Wetten mit verschiedenen hohen Risiken, und Villiers spielte sehr konservativ, kleine Einsätze, ungerade oder gerade, weiß oder schwarz. Wenn er mehr verlor als
gewann, verlor er nicht viel. Er gab Adams zu dessen Spiel keine Ratschläge. Schließlich klapperte Adams mit drei letzten Chips in seiner Faust, dann hielt er sie auf seinen Fingerspitzen, während er überlegte. »Arme Dinger«, sagte er. »Na schön, eine letzte Wette. Wollen mal sehen – fünfzehn ist eine runde Zahl und dazu das heutige Datum.« »Heute ist der 16.«, sagte der Croupier am Tisch. »Das Datum hat vor dreißig Minuten gewechselt.« »Ah«, sagte Adams, »dann kommt das Schiff von Morian morgen an?« »Ja, Sir.« »Gut. Macht nichts, ich mag nun mal fünfzehn.« Er warf die Chips auf die Zahl und berührte die braune, freundliche Figur im Hintergrund des Spielfeldes. »Und ich hatte einen kleinen Gorf, als ich ein Junge war.« »Ein guter Grund, um bei einer letzten Wette die Wahl zu treffen«, stimmte Villiers zu. Anstatt seine übliche Spieltaktik zu verfolgen, warf er seinen Chip ebenfalls auf das Bild des kleinen Tieres. »Ich glaube, ich schließe mich Ihnen an.« »Die letzten Einsätze. Die letzten Einsätze. Nichts geht mehr.« Das Feuer erhob sich langsam, leuchtete erst in Scharlachrot, dann in strahlend-metallischem Gelb. Die Flamme wirbelte herum, und Zungen aus Blau, Grün und Purpur spielten ihr eigenes privates Spiel. Auf der Spitze alldessen tanzte der rote Ball, König der Berge. Dann plötzlich erlosch die Flamme, und der König hatte keinen Berg mehr. Der Ball schwebte langsam herab, nicht länger mehr ein Ball. Er berührte die Schale, prallte empor, berührte sie wieder und sank in einer Lache zusammen.
»Sechzehn, Tier, schwarz«, gab der Croupier bekannt. Er und sein Assistent sammelten die Chips ein und zahlten die wenigen Gewinner um den großen Tisch aus. »Verdammt!« sagte Adams. »Ich hätte mich an das Datum halten sollen! Ich wußte es. Ich war so dicht dran diesen Abend. Ich hasse es, jetzt aufzuhören.« Er untersuchte seine Taschen, zog eine Börse heraus und begann sein Geld zu zählen. »Tja. Wenn Sie warten möchten, Mr. Villiers – ich bin sofort wieder zurück.« »Das Glück scheint heute Nacht nicht unseren Weg zu nehmen«, bemerkte Villiers. »Aber doch!« Villiers betrachtete die wenigen Chips, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Meinen Sie wirklich? Vielleicht wäre es das beste, die letzte Wette eine letzte Wette sein zu lassen und den Abend zu beenden. Kommen Sie, Sir, ich lade Sie zu einem Drink oder etwas zu rauchen ein, was auch immer Sie vorziehen.« »Vielen Dank, nein, Mr. Villiers«, sagte Adams. Eine Stimme wünschte ihnen gute Nacht, und sie wandten sich ab, um nach Godwin zu suchen. Dieser war ebenfalls größer und robuster als Villiers. Sein Gesicht war schmal, seine Nase groß und spitz, was ihm einen fuchsartigen Ausdruck verlieh. Sein langes schwarzes Haar war in den Seiten von passenden Schmucknadeln gebändigt, die mit silbernen Ornamenten verziert waren. Er trug einen dünnen Schnurrbart, den er fortwährend mit einem Daumennagel strich, wobei er den Eindruck erzeugte, daß er ihn auf diese Art ausdünnte und ihn nicht aus modischen Erwägungen so gestaltet hatte. »Guten Abend, Mr. Godwin«, sagte Villiers. »Ich hoffe, Sie amüsieren sich?«
Villiers zuckte die Schultern. »So la la. Ich muß gestehen, daß ich einen mehr persönlichen Sport vorziehen würde. Könnte das Haus, in Ihrer Person, mir mit einem Spiel Lotterie einen persönlichen Gefallen tun?« Er wandte sich Adams zu. »Es ist Ihr Wunsch weiter Flambeau zu spielen, nicht wahr?« »Allerdings.« »Also, Mr. Godwin?« Godwin bedachte ihn mit seinem üblichen kalten Blick. »Sie spielen Lotterie? Das hätte ich mir denken sollen. Aber bis jetzt sind Sie doch mit den Tischen zufrieden gewesen?« »Bisher hat es für mich auch keine Rolle gespielt, ob ich gewonnen oder verloren habe.« »Dann will ich Ihnen gern dienlich sein, wenn Sie lieber gegen einen Mann als gegen eine Maschine verlieren.« Godwin erhob eine beringte Hand und machte zwei schnelle Gesten. »Mr. Shirabi gestattet Ihnen soviel Spielraum?« Godwin fuhr auf. »Ich brauche Shirabis Erlaubnis nicht! Er hat nicht die…« Dann riß er sich wieder zusammen und senkte die Stimme. »Sagen wir mal, ich genieße genug Vertrauen, um ein Spiel Lotterie zu machen.« »Ah, dann spielen Sie also gut, was?« Villiers wandte sich Adams zu. »Wollen Sie uns bitte entschuldigen? Vielleicht werden wir noch einen Abend miteinander verbringen, bevor Ihr Schiff abgeht.« Adams verneigte sich mit korrekter Präzision. »Mr. Villiers. Mr. Godwin. Meine Herren.« Godwin grunzte und wandte sich ab. Villiers schloß sich ihm an. Adams blickte ihnen einen Moment nach, als sie zwischen den großzügig placierten Tischen davongingen. Sein Gesicht verzog sich wie bei einem kleinen Kind, das zufällig das kleinere Stück Kuchen erwischt hat. Dann wandte er sich ab, um sich Chips zu besorgen.
Während des Weges sagte Villiers zu Godwin: »Ich muß gestehen, ich war überrascht, Sie zu dieser Stunde im Saal anzutreffen.« »Oh?« »Es scheint mir, daß zu anderen Gelegenheiten Mr. Shirabi die Spiele zu dieser Zeit überwacht hat.« »Sie sind sehr aufmerksam. Shirabi hat gerade etwas… also etwas Geschäftliches, das er persönlich überwachen will.« »Dann gibt es Dinge, die Ihnen nicht… erlaubt sind… durchzuführen?« Godwin warf Villiers einen scharfen Blick zu, dann lächelte er dünn. Sie hatten die Seite des Casinos erreicht, wo ein Tisch und zwei Stühle von zwei Angestellten aufgestellt wurden. Einer von beiden reichte Godwin ein paar Packen mit Kartenspielen. Er lud Villiers ein, sich zu setzen. Indem er selbst Platz nahm, sagte er: »Wenn Shirabi hier wäre, hätten Sie ihn auch zu einem Spiel herausgefordert?« »Vielleicht.« »So einen ungehobelten Menschen? Ich glaube Sie besser zu kennen. Sie würden sich nie mit einem Mann zu einem Spiel an den Tisch setzen, der ganz offensichtlich kein Gentleman ist.« Villiers lächelte leicht, sagte aber nichts. Godwin öffnete einen Packen Karten. »Welchen Einsatz wünschen Sie?« »Nach Ihrem Belieben.« »Zehn Royals pro Spiel, fünf die Hälfte, ein Royal für einzelne Punkte.« »In diesem Fall bitte ich Sie, mir Kredit zu geben. Ich habe nicht genug dabei, um das Risiko zu decken. Oder wenn Sie es vorziehen, gehe ich kurz in meine Räume und kehre gleich zurück.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Godwin. »Was Sie verlieren, lasse ich auf Ihre Rechnung schreiben.« »Sehr freundlich.« »Wollen wir die Karten vergleichen, bevor wir beginnen?« »Nicht nötig«, sagte Villiers. »Teilen Sie bitte aus, Mr. Godwin.« Godwin gab die Karten aus und legte den restlichen Stapel zur Rechten. Während er noch austeilte, sagte Villiers: »Da fällt mir gerade ein, ich wollte Sie nach dem Namen Ihres Schneiders fragen.« Godwin betrachtete seine Karten kurz, nachdem er ausgeteilt hatte, und sah dann Villiers an. »Ihre Kleidung sieht gut genug aus, vielleicht ein wenig langweilig. Trotzdem, wenn Sie gerne…« Villiers lachte. »Ich fürchte, Sie haben mich mißverstanden. Es geht nicht um mich, sondern um Mr. Adams. Er scheint Ihren Geschmack und meine Gesellschaft vorzuziehen.« »Dieser Grünschnabel!« explodierte Godwin und spielte aus. »Wie Sie meinen. Sie beide scheinen ihn in gleicher Art zu sehen.« »Wir beide?« »Sie und er. Ich glaube, er fühlt seinen Mangel an Schliff und betrachtet Sie als den glänzendsten Gentleman weit und breit. Ich würde sagen, Sir, das ist ein Kompliment. Sie haben gut ausgespielt.« »Wenn Sie meinen, daß der Junge so eine gute Gesellschaft darstellt, sollten Sie ihn Ihrem eigenen Schneider vorstellen.« »Unglücklicherweise ist mein Schneider nicht in der Nähe. Und wie Sie ja sagen, ist meine Kleidung langweilig.« Godwin sah ihn über den schmalen Tisch hinweg an. »Und mein Schneider ist in der Nähe?« Villiers zuckte die Schultern und spielte eine Karte aus. »Ich habe ihm nur versprochen, nach seinem Namen zu fragen.
Persönlich habe ich keine Ambitionen auf eine so strahlende Erscheinung, wie Sie sie darstellen. Wie Sie wissen, habe ich weder Ihre Größe noch Ihren Elan.« »Sie sagten, er zieht meinen Geschmack vor und Ihre Gesellschaft. Meinen Sie, er würde meine Gesellschaft vorziehen, wenn ich ihm entgegenkomme?« »Sehr wahrscheinlich«, sagte Villiers. Die Partie endete mit dem technischen Sieg Villiers’. Was den Gewinn betraf, hatte er leicht verloren, weil Godwin zwei Hälften gewonnen hatte, aber das Spiel ging zu ihm auf die Vorhand über, und das verschaffte ihm einen leichten Vorteil. Er spielte methodisch, nicht mit der Gerissenheit, die Godwin zur Schau stellte. »Jedenfalls«, sagte Villiers, »unterstelle ich mal, daß Sie es vorziehen, Ihre Gunst etwas zurückzuhalten.« Godwin hob die Augenbrauen. »Ich habe den Verdacht, daß Sie sich von Mr. Adams gereizt fühlen und dann als notwendig erachten könnten, ihn zu töten.« Godwin lachte. »Da brauchen Sie keine Angst zu haben, Villiers. Ich habe mich entschlossen, dieses Jahr jeden Ärger zu vermeiden. Wie Shirabi sagte, waren fünf Mann letztes Jahr etwas zuviel, und einer hat Ärger gemacht. Ein Marine-Schiff führte eine Untersuchung durch. Natürlich wurde ich freigesprochen, aber es war ermüdend, all die Fragen zu beantworten. Aber ich stimme Ihnen zu – Adams würde mich bald reizen. Mr. Adams.« Godwin lehnte sich vor und nahm die ausgespielten Karten auf. »Danke. Wissen Sie, ein paar Dinge an Ihnen geben mir Rätsel auf.« Er spielte wieder eine Karte aus. »Sie sind ein geheimnisvoller Mann, Sir.« »Ganz und gar nicht«, sagte Villiers. »Wenn überhaupt, habe ich den Ruf, viel zu offen zu sein.«
»Vielleicht, vielleicht.« Godwin sah ihn direkt an. »Aber Sie kleiden sich wirklich gut. Nein, nein – wirklich. Ihre Manieren sind besser als sagen wir zum Beispiel meine eigenen. Ihr Gepäck macht einen teuren Eindruck und ist von bemerkenswertem Umfang. Und doch reisen Sie ohne Diener. Müssen Sie nicht zugeben, daß das etwas seltsam wirkt?« Godwin spielte seine letzte Karte aus, und Villiers ließ seine eigenen auf den Tisch fallen. »Sie spielen gut, Mr. Godwin. Machen wir ein drittes Spiel?« »Wenn Sie wollen. Aber ich fürchte, daß es das letzte sein muß.« Als Godwin austeilte, sagte Villiers: »Ich fürchte, es gibt gar kein Rätsel. Mein Diener und ich sind vorübergehend durch gewisse Umstände getrennt. Ich erwarte ihn mit dem nächsten Schiff aus Morian.« »Tatsächlich, ganz einfach«, sagte Godwin. »Dann sagen Sie mir doch bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht, warum Sie in all Ihrer Vornehmheit auf diesem Spiel bestanden?« »Auch das ist kein Geheimnis. Ich habe nun mal keinen Spaß daran, an einem Tisch Geld zu verlieren. Es gehört zwar zu meinen normalen Ausgaben, aber ich ziehe die Zufallsspiele vor, weil ich einen Zufallsfaktor brauche. Wenn es danebengeht, dann ziehe ich es vor, in Ihren Worten, gegen einen Mann zu verlieren statt gegen eine Maschine.« Godwin hörte plötzlich auf zu spielen. Nach einem Moment lachte er kalt und spielte wieder eine Karte aus. »Sie sind ein scharfer Beobachter.« »Wenn Sie Ihre gelegentlichen Fehler während unseres Spiels meinen, waren sie nicht besonders teuer. Wenn Sie den Flambeau-Tisch meinen, war es nicht nötig, besonders wachsam zu sein. Der Croupier ist zu plump. Er trieb Mr. Adams Einsatz immer wieder um den Tisch herum, als wollte er Fangen spielen.«
Godwins Brauen hoben sich, und sein Daumen zerrte gedankenvoll an seinem Schnurrbart. Er erhob die Hand und gab wieder ein Signal. Fast sofort stand ein Riese in der Uniform des Casinos neben dem Tisch. Er war über zwei Meter groß. Seine rechte Hand war wie eine Schaufel, und sein Daumen war zweimal so groß wie ein Finger von Villiers. Die linke Hand hatte er in der Tasche und spielte mit irgend etwas. Seine Nase war ein breiter Sattel und erhob sich zum unteren Ende. Tatsächlich standen seine Nüstern direkt aus seinem Gesicht. Das Gesicht selbst war rund und hatte etwas Schweinsartiges. »Levi«, sagte Godwin, »siehst du Josiah?« Der Riese blickte sich mit einem leeren Gesichtsausdruck um, bis er den Croupier am Flambeau-Tisch sah. Dann nickte er, streckte einen massigen Arm aus und zeigte in die Richtung. »Uh-huh. Dort ist er.« »Levi, führe ihn in mein Büro und achte auf ihn, bis ich da bin. Ich muß mal mit ihm reden.« Levi produzierte hurr-hurr-hurr-Geräusche wie eine kaltlaufende Maschine. Villiers nahm an, daß es sich um seine Art des Lachens handeln sollte. »Kann ich mir etwas Spaß mit ihm machen?« fragte Levi. »Nur ein bißchen, Levi, er soll nicht außer Atem kommen.« »Was heißt das?« »Ermüde ihn nicht.« »Oh«, sagte Levi und machte wieder sein Geräusch. Als er wegtrottete, spielte Godwin wieder eine Karte aus. Villiers beobachtete den Koloß über Godwins Schulter hinweg. »In gewisser Beziehung ist er ein perfektes Instrument«, sagte Godwin, ohne sich umzudrehen. »Was halten Sie von ihm?« »Ich muß zugeben, daß ich weder seine Art noch seinen Geist bewundere.«
Godwin lächelte. »Spiele mit dem Zufall berühren ihn nicht weiter. Die sind zu kompliziert für ihn. Er macht sich mehr aus einfacheren Vergnügungen. Und, Mr. Villiers, er ist mir persönlich ergeben.« »Er scheint eine gewisse kindliche Freude bei seiner Arbeit zu verspüren«, sagte Villiers und spielte eine Karte aus, wobei er aber ein Auge auf die Bewegung bei den Tischen hielt. »Oh ja, das auch. Sein allgemeiner Mangel an Verständnis ist manchmal etwas hinderlich, manchmal aber auch nicht. Aber er erfaßt das Prinzip von Schmerz und Belohnung.« Es gab einen lauten Krach, der umso stärker zu bemerken war, weil die anderen Geräusche aus dem Casino verstummt waren. »Da bin ich ganz sicher. Er scheint sich gerade eine Sonderportion rohes Fleisch zu verdienen.« Godwin spielte eine Karte aus und drehte sich dann um. »Ich fürchte, nein. Der arme Josiah hat mehr abbekommen, als ich eigentlich gewollt hatte. Jedenfalls wird es Josiah gut tun. Er scheint es nötig haben, einen gewissen Sinn für Zurückhaltung zu erlernen.« Villiers legte seine Hälfte auf den Tisch. »Sie machen jetzt stark ihre eigenen Punkte«, bemerkte Godwin. Adams erschien am Tisch. »Großer Gott, Mr. Godwin, was geht hier vor?« »Interne Richtigstellungen«, sagte Villiers. »Haben Sie gewonnen, Mr. Adams?« »Nicht besonders. Ich hätte Ihren Rat annehmen sollen. Das Glück ging immer um Haaresbreite an mir vorbei. Ich war verdammt frustriert.« Villiers legte seine letzten beiden Karten auf den Tisch. »Nun, auch unser Spiel hier ist beendet. Erlauben Sie mir nun, Ihr Gastgeber zu sein.«
»Oh, vielen Dank.« Godwin schlug seine Hände hinunter. »Es scheint, ich schulde Ihnen Geld, Sir.« »Sie können es von meiner Rechnung abziehen«, sagte Villiers. »Begleiten Sie uns, Mr. Godwin?« »Zu freundlich«, antwortete Godwin, »aber ich fürchte, das Geschäft bindet mich hier weiter.« Er verneigte sich vor Villiers. »Sie sind ein gefährlicher Gegner.« Villiers lachte. »Wie Mr. Adams etwas früher sagte, pflegte er das Spiel mit seinen Schwestern zu spielen.« »Mr. Villiers, wenn Sie kein gefährlicher Mann sind, tun Sie gut daran, einer zu werden. Nennen Sie es einen wohlgemeinten Rat.«
II
Von all den bekannten Objekten im Flammarion-Spalt ist Star Well das größte. Seine Position wurde korrigiert und fixiert. Wenn es früher seinen eigenen Launen folgte, so ist seine Position jetzt relativ zentral. Es kann verhältnismäßig leicht von allen bewohnten Himmelskörpern an den Grenzen des Spalts erreicht werden. Ab und zu muß die Position von Star Well notwendigerweise korrigiert werden, da ein Raumanker noch nicht erfunden worden ist und die dahinziehenden Sterne unbekannte Kräfte entsenden, indem sie sich gleichzeitig in neun verschiedene Richtungen bewegen. (Es mögen auch zehn sein: die Theorien von V. H. Rainbird [1293-1447], die Bewegung der Metagalaxis durch die universale Eihülle betreffend, die unglücklicherweise unvollständig geblieben sind und nach seinem Tod in den Händen der kritischen Nominalisten landeten, die seine Experimente ablehnten, da sie der Meinung waren, das Universum würde sie nicht überleben, werden gegenwärtig von einer Studiengruppe rekonstruiert. Das Ergebnis wird erwartet.) Auf jeder objektiven Skala aber ist Star Well ein Staubkorn, und wenn es nicht unausgesetzt schreien würde, könnte der Rest des Universums eines Tages aufwachen – isoliert und allein. Nichtsdestotrotz ist Star Well groß genug, um seine Funktion zu erfüllen. Von außen ist Star Well ziemlich reizlos. Es ist ein unregelmäßig geformter Felsbrocken, etwa fünfzig Kilometer lang; an seiner breitesten Stelle mißt er sechzehn Kilometer. Die einzigen Anzeichen von Menschen auf der Oberfläche sind
die Gerippe der Leuchtfeuer und die Metallgewebe der Landenetze. Wenn ein Schiff festmacht, klettern ein paar Menschen auf die Oberfläche, dann gibt es da eine kurze Schaumschlägerei, die Aktivität andeuten soll, und dann werden die Skelette und Netze wieder ihrer eigenen Gesellschaft überlassen. Ab und zu, wenn die Intervalle zwischen den landenden Schiffen zu groß sind und die Gäste sich langweilen, machen ein paar Gruppen Spaziergänge auf der Oberfläche, aber das letzte Mal als das geschah, gab es Streit und einen Toten, und ein Raumschiff der Marine kam, um die Umstände zu untersuchen. Seitdem werden die betreffenden Raumanzüge im Keller unter Verschluß gehalten und noch seltener benutzt als zuvor. Im Innern ist Star Well natürlich mit hellerleuchteten und fein möblierten öffentlichen Einrichtungen versehen, wo Reisende essen, trinken, rauchen, schlafen, spielen und sich amüsieren. Dann gibt es die Quartiere derjenigen, die für den Service angestellt sind. Es gibt jede Menge von Korridoren, Tunnels, Kaufhäusern, Dachgeschossen und Kellern. Dazu zwei Raumhäfen. Trotzdem umfaßt ein Gesteinsbrocken wie Star Well fast zweiundfünfzigtausend Kubikkilometer, und das meiste von diesem toten Fels ist nach wie vor toter Fels, auch wenn es Gerüchte gibt, daß sich nach der Ankunft von Shirabi einiges geändert hat. Man sagt, daß, wenn man absolut leise ist und eine nackte Wand im genau richtigen Moment berührt, man die heimliche Arbeit spürt, die tief unten im Felsen geleistet wird. Geheime Tunnel. Geheime Räume. Shirabi ist inzwischen lange weg von Star Well, aber die Gerüchte gehen weiter – das beweist den Eindruck, den Shirabi auf die Leute gemacht haben muß. Eine gewisse Sorte von Leuten sieht einfach so aus, als würde sie geheime Löcher buddeln, als hätte sie geheime Folterkeller und als hinterlasse sie einen feuchten Film auf Ihrer Hand, wenn man einen Händedruck
damit tauscht. (Aber machen Sie ruhig weiter – berühren Sie den Felsen, atmen Sie kaum, lauschen Sie… Da!) Es kann durchaus etwas an dieser geheimnisvollen Geschichte dran sein. Zu Shirabis Zeiten drang irgendein Passagier in die Tunnel vor und ging verloren. Es dauerte seine Zeit, bis das Verschwinden bemerkt wurde, und eine Suche wurde organisiert. Schließlich wurde er gefunden, tot, gestorben an Luftmangel, Schock und Hunger, vielleicht auch an Langeweile. Es klingt unwahrscheinlich, aber wieder strengte die Marine eine Untersuchung an, und es gab wieder kein Ergebnis. Auf jeden Fall gibt es keinen Zweifel daran: Nehmen Sie all diese Aufenthaltsräume, Schlafzimmer, Bäder, Salons, Speiseräume, Casinos, Küchen, Hallen, Empfangsräume, Büros, Suiten, hydroponische Anlagen, Tunnel, Gänge, Kaufhäuser, Landeplätze, (geheime Räume) und (geheime Tunnel) und reihen Sie all dies aneinander… nun, ich würde sagen, das ergibt eine ganz schöne Strecke. Zwei Schiffe waren auf dem Weg nach Star Well. Das eine war die Orion, das Schiff von Morian, dessen Ankunft nach Zeitplan von dem armen Josiah bestätigt worden war. (Denken Sie nicht zu schlecht von Josiah. Es kann ganz schön langweilig sein, einen Flambeau-Tisch zu beaufsichtigen. Wenn da jemand ein bißchen Witz und Einbildung zur mechanischen Langeweile des Zufalls hinzufügt und etwas mehr mit den Möglichkeiten der Kontrollen tut, als nur ab und zu einen gutgepolsterten Idioten auszunehmen, so sollte man es als kreative Geste begrüßen. Ich tadle auch nicht Levi. Er war ja nur ein Werkzeug. Aber Godwin – manchmal ist es schwer, mit jemanden zu sympathisieren, der so wenig Sinn für künstlerische Kreativität hat.) Das Schiff von Morian sollte laut Zeitplan in etwa acht Stunden anlegen, Passagiere und Ladung wechseln, die Post austeilen und dann weiter nach
Luwashe fahren, dem Planeten, von dem Villiers gerade gekommen war. Die Orion war auf Kurs und in sicheren Händen, wenn man vom Dritten Offizier absah, der wie ein schlapper Haufen in einer Ecke des Kartenraums lag und rammdösig an einem Stück Fibrin kaute. Das allerdings war sein üblicher Zustand, der von jedem übersehen wurde, weil sein Onkel der Baron von Bolaire war. Man sagte, daß, solange man ihn in eine Ecke steckte und dort vergaß, er weiterhin bezahlt und befördert wurde, und tatsächlich wurde er SeniorCaptain der Linie und saß immer noch in der Ecke und kaute bis zu seinem Ende. Bei der Bolaire-Linie legte man größten Wert auf Sparsamkeit in allen Dingen, was natürlich auf Kosten des Komforts ging. Der Aufenthaltsraum für die Passagiere, vom alten Bolaire nur mit dem größten Widerwillen eingerichtet, maß kaum vier mal fünf Meter. Das war der größte Bereich für die Passagiere an Bord. Eine Doppelkabine stellte ihre Bewohner vor die Wahl: Entweder lagen beide im Bett – die Betten waren natürlich übereinander –, oder man konnte die Betten wegklappen, und beide Passagiere konnten sich setzen, wenn sie darauf achteten, wohin sie die Füße taten. Es gab siebzehn Passagiere an Bord des Schiffes, darunter eine Herde von jungen Mädchen, die zu Miss McBurneys Berühmten Ehrbaren Seminar und Abschlußgymnasium auf Nashua (sic!) gebracht wurden, um dort zu lernen, wie man eine richtige Dame wird, aber nur zwei Passagiere erfreuten sich des Komforts der Hauptkabine. Der weibliche Bärenführer und seine fünf Schützlinge hielten sich in ihren Kabinen auf, wobei das fünfte Mädchen überaus unglücklich mit der Situation und ihrer Mitbewohnerin war. Der Grund für diesen Rückzug war die Tatsache, daß Mrs. Bogue, die Gouvernante, die Unterhaltung in der Hauptkabine nicht nach ihrem Geschmack
fand, und wenn sie nicht daran interessiert war, konnte und durfte es die Mädchen natürlich ebensowenig interessieren. Hauptsächlich ging es in dem Gespräch um Theologie, und aus ganz privaten und unerforschlichen Gründen, von denen der hauptsächlichste Mrs. Bogues mangelndes Interesse war, fanden sie sich nur allzugern bereit, zu bleiben und mehr von diesen seltsamen und interessanten Dingen zu erfahren. Das brachte natürlich nichts. Mrs. Bogue wußte, wofür man sie bezahlte – sie hatte fünf Mädchen in einer Schule in Nashua abzuliefern. Sie hatte vor, sich dieser Aufgabe so effektiv und mit so wenig Ärger für sich selbst wie möglich zu entledigen. Konsequenterweise beschuldigte sie die Mädchen schwerster Disziplinlosigkeit, schließlich hatte sie »Frosch« gesagt, und die Mädchen waren nicht gleich gesprungen. Darauf entschied sie, daß die beste Methode zur Wiederherstellung der Disziplin war, die Mädchen auf ihre Quartiere zu verbannen. Die alten Erziehungsmethoden sind doch immer noch die besten. Vermutlich hätten die Mädchen ohnehin keinen großen Spaß an der Theologie gehabt. Keiner der anderen Passagiere hatte Spaß daran. Die Leute blieben in ihren Quartieren und lasen zum dritten Mal die Nachrichtenblätter über die Körperteilknappheit in den Hospitälern auf Morian. Langweilig. Aber besser noch als das Gespräch. Der Captain sagte sogar zu seinem ersten Offizier: »Ein Glück, daß der alte Bolaire auf dieser Reise nicht hereinschaut. ›Mangelhafte Ausnutzung‹ würde er sagen, und bei der nächsten Reise hätten wir nur noch den halben Raum zur Verfügung.« »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand, Sir. Vielleicht wartet er in Star Well auf uns.« »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Sohn. Er inspiziert nie ein Schiff, auf dem sein Verwandter mitfliegt. Es sieht wie
Vertrauen aus, aber ich glaube, er hat einfach nicht die Nerven’ dafür.« »Das habe ich gehört«, warf der Dritte Offizier ein. Und das stimmte, aber er vergaß es bis zum nächsten Morgen. Dinge, an die man sich nicht erinnern kann, sind nie geschehen. Der Dritte Offizier hörte eine ganze Menge, schrieb sich alles sorgfältig auf und vergaß es prompt. Alles und jedes war immer wieder ganz neu für ihn. Jeden Morgen wurde er dem Captain zum ersten Mal vorgestellt. Als er sich schließlich zur Ruhe setzte, wurde er von seinem letzten Schiff entlassen und an den häuslichen Herd seiner Familie gebracht, wo ihm seine alte, alte Mutter Nacht für Nacht Mrs. Waldo Wintergoods Tiergeschichten vorlas. Die beiden Theologen waren ein interessantes Paar. Einer von ihnen war ein Trog namens Torve, eine hellbraune, wollige, fast zwei Meter große Kröte. Er hatte einen weißen Bauch und die allerfeinsten schwarzen Streifen auf seinem Rücken. Seine Persönlichkeit schien schwerfällig. Seine Motive waren undurchsichtig. Und bedenken Sie eines: Nachdem die Trogs vor etwa zweihundert Jahren von der Menschheit besiegt worden waren, zwang ein Gesetz sie, sich innerhalb zweier Sonnensysteme aufzuhalten. Um irgendwo außerhalb dieser zwei Sonnensysteme herumzureisen, waren besondere Papiere erforderlich. Sie wurden auf jedem Planeten, auf jeder Station zwischendurch abgefordert, registriert und zurückgegeben. Nur 53 Trogs hatten solche Papiere. Torve gehörte nicht dazu. Behalten Sie ihn also im Auge und sehen Sie, was passiert. Der andere war ein listiger alter Sack namens Augustus Srb. Kurz, fett, intelligent und sogar beeindruckend, trug er seine Kutte als Priester der Erneuerten Kirche von Mithra mit soviel Schwung und Flair, daß seine Verteidigung der kirchlichen Doktrin da nicht so ganz mithalten konnte.
Mithra wurde sechs Jahrhunderte vor der Gründung von Rom verehrt und hatte seitdem seine Höhen und Tiefen. Er war der Sohn der Sonne und wurde von einer Jungfrau am 25. Dezember zur Welt gebracht. Das klingt ziemlich vertraut. Er starb für die Sünden der ganzen Menschheit und wurde im Äquinoktikum des Frühlings wiedergeboren. Auch das ist das übliche, wie auch der Rest der Sache: Taufe, Kommunion und die Aussicht auf ein ewiges Leben. Vielleicht ist dies hier der beste Aspekt dieser Religion: Die Farbe Violett ist Mithra heilig, und so wird konsequenterweise die Anlage von Veilchenbeeten empfohlen. Der Mithraismus fristete fünfzehnhundert Jahre lang ein Leben im Untergrund oder als weniger wichtiger Bestandteil in anderen Religionen, bevor er in modernen Zeiten nach den Spaltungen der Spaltungen und nach dem Glaubensverlust, der das Christentum für tausend Jahre ruinierte, wiederentdeckt wurde. Der Mithraismus ist eine gute Religion, wenn nicht sogar eine große Religion. Er verdiente vielleicht besseres als Augustus Srbs Geschwafel, das er den ernsthaften Worten Torves entgegenzuhalten hatte: »Begreifen Sie also soweit die Ganzheit?« »Ganzheit? Oh ja, ja. Ich folge Ihnen mit Interesse. Fahren Sie fort, wenn Sie möchten.« »Ganzheit ist alles, das besteht. Draußen ist das Nichtsein. Aber das Nichtsein ist reif, Früchte zu tragen, und die Existenz ist wiedergeboren. Verstehen Sie?« fragte Torve ernsthaft. »Oh ja«, nickte Srb. »Ganzheit ist geboren und wächst, bewegt sich durch Nichtsein und nährt sich vom Nichtsein.« »Ja.« »Im Eventualsten aller Fälle kann das Nichtsein nicht länger mehr die Ganzheit nähren. Bewegung verlangsamt sich, hört
schließlich auf. Es ist wie die große Schwere im Magen nach einem reichhaltigen Mahl. Wenn die Bewegung aufhört, bricht alles zusammen. Mit einem Lidschlag schrumpft die Ganzheit zur Größe eines Saatkorns, und alles verharrt in Stasis. Nur in ferner Zukunft ist das Nichtsein bereit, wieder zu nähren. Ist inzwischen siebzehnmal passiert, seitdem die Ganzheit sich selbst erfunden hat. Verstehen Sie?« »Nein, ich muß gestehen, daß ich nichts verstehe. Vielleicht sollten wir noch etwas über das Nichtsein reden.« »Oh, das Nichtsein ist einfach. Es ist nichts.« Warum saß Srb weiter ruhig da und hörte sich das alles an? Ich vermute, er witterte so eine gerechte Chance, seinen Mithraismus zu erläutern – aber dann machte er von der Möglichkeit doch keinen rechten Gebrauch. Vielleicht war es nur eine Gelegenheit, die Zeit totzuschlagen. Und darüber hinaus, wie würde es wirken, wenn er aufstünde, um mit anderen über Belanglosigkeiten zu schwatzen? Alles nur Schein. Das andere Schiff, das Star Well entgegenschoß, war dort gar nicht zu einem offiziellen Stop gemeldet, und nur wenige Leute wußten, daß eine Landung kurz bevorstand. Es war Schwärze vor der Schwärze. Es verriet in keiner Weise seine Existenz. Es bewegte sich schnell und sicher, und keiner an Bord machte sich Gedanken über Fibrin.
Als Villiers an diesem Morgen aufstand, zog er sich selbst an und fluchte herzhaft und gekonnt über die Schwierigkeiten, einen Faltenwurf auf dem Rücken korrekt zu drapieren, ohne dabei Hilfe zu haben. Diener waren nicht nur dekorativ und machten Eindruck auf die Leute, sie hatten auch eine gewisse Nützlichkeit, gerade in solchen delikaten Geschmacksfragen. Villiers hatte einen seltsamen und verborgenen Humor, und er
genoß die Übung seiner Fähigkeit, Verwünschungen auszustoßen, was nicht unbeträchtlich dazu beitrug, daß er den Rest des Tages sein normales gutgelauntes, wenn auch reserviertes Selbst blieb. Er legte unglückliche Falten in die Schulterdrapierungen und löste sie wieder auf. Beim vierten Versuch endlich erzielte er den Faltenwurf, den er erreichen wollte. Vielleicht hätte er das Ergebnis auch früher erreicht, wenn ihm die Beschäftigung nicht solchen Spaß gemacht hätte. Als seine Toilette beendet war, begutachtete er sich im Spiegel. Schließlich nickte er und verließ seine Räume auf der Suche nach einem Frühstück. Er entschied, sich in der großen Halle bedienen zu lassen. Villiers folgte dem alten Motto: Lebe so, wie du gekleidet bist. Und er war gut gekleidet. Ein rundliches, fröhliches, etwas hausbackenes Mädchen servierte ihm ein exzellentes Frühstück. Sie hatte die Konfitüre vergessen und ging wieder, um sie zu holen. Es handelte sich dabei um ein lebendes grünes Gelee, das in der fauligen Vegetation von New Frechman’s Bend wuchs, und nach einer anfänglich unerfreulichen Reaktion darauf hatte Villiers entschieden, daß ihm dieses wabblige Zeug schmeckte. Seitdem bestellte er es sich, wann immer er die Gelegenheit hatte. Als das Mädchen zurückkehrte, machte er ihm ein Kompliment über das Frühstück. »Oh, wohl bekomms, Sir«, sagte sie, »vielen Dank.« »Sag mal«, meinte er, »lebst du auf Dauer in Star Well?« »Oh, nein, Sir.« »Du willst doch nicht sagen, daß du jeden Tag von irgend woher anreist?« Sie lachte fröhlich. »Nein, das ist nur ein Fünf-Jahres-Vertrag zwischen meinem Herrn, dem Marquis, und Mr. Shirabi. Im
nächsten Jahr werde ich zurück nach Herrendam gehen, zusammen mit den anderen. Ich werde dann verheiratet.« »Herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe, du wirst sehr glücklich werden. Stammen Mr. Godwin und Levi auch von Herrendam?« »Levi Gonigle schon, aber Mr. Godwin war schon hier, als ich herkam. Manche sagen, er ist schon länger hier als Mr. Shirabi. Levi hat sich fest vorgenommen, sich hier durchzuboxen. Vorher wollte ihm niemand Arbeit geben, und der Vertrags-Herr hatte gerade ihn speziell ausgewählt. Er will weiter hier bleiben, auch nach Ende des Vertrags. Er will nicht wieder nach Hause.« Das Mädchen entschuldigte sich, als ein neues Paar den Raum betrat. Es setzte sich an einen Tisch in der Nähe, und das Mädchen eilte, es zu bedienen. Villiers wandte sich wieder seinem Frühstück zu und verteilte etwas Gelee auf sein Fleisch. Es breitete sich von selbst aus und ließ ein paar Fühler auch nach unten wachsen. Er gab ihm etwas Zeit, damit es sich wohlfühlte, bevor er damit begann, es zu verspeisen. Während er wartete, vertrieb er sich die Zeit damit, sich in das schöne Mädchen zu verlieben, das gerade Platz genommen hatte. Wirklich, eine Augenweide. Er wandte seinen Kopf leicht, um sie besser betrachten zu können. Ja, ein sehr erfreulicher Anblick. Das Mädchen war teuer gekleidet. Sie war eine Blondine, und Rosa stand ihr ausgezeichnet. Ihr Haar war kurz und in Locken gehalten, die über ihrer Stirn und um ihre zarten Ohren Fingerhakeln spielten. Ihre Nase war klein und nicht anmaßend. Alles in allem ein süßes, niedliches Ding. Ihr Begleiter war etwas älter als Villiers. Er war auch gut gekleidet, aber mehr nach gutem Gefühl als gutem Geschmack. Seine Figur war eher mittelmäßig, aber der Schnitt seiner Kleidung verbarg dies annehmbar. Kurz gesagt, er sah gut
genug aus, wenn sich irgendwer jemals die Mühe machen sollte, ihn anzuschauen. Während Villiers die letzten Bissen zu sich nahm, wurde den beiden serviert und der Mann sprach gutgelaunt und herzlich auf das Mädchen ein. Aber die Kleine saß schweigend da. Die meiste Zeit richtete sie ihren Blick auf das Essen. Einmal sah sie zu Villiers auf, dem das gefiel. Als seine Mahlzeit dann schließlich beendet war, ging Villiers allerdings seiner eigenen Wege und fühlte dabei nur einen leisen Anflug von Bedauern. Er besänftigte sich damit, daß er die nächste schöne Dame, der er begegnete, bewundern würde, und er war gleichermaßen bereit, wieder diese hier zu verehren, wenn er sie das nächste Mal sehen würde. Dann erwog er verschiedene preiswerte Arten, sich zu unterhalten, und entschied, daß ein Besuch in den Geschäften von Star Well angemessen sei. Er fand das betreffende Stockwerk ohne große Schwierigkeiten, trat aus dem Lift und spazierte die Promenade entlang. Er winkte den Leuten, denen er begegnete, freundlich zu, während er an den Geschäften vorbeiflanierte, bis er zum letzten Laden kam, der alle möglichen Kuriositäten und Antiquitäten enthielt. Er hielt an und ging hinein. Läden, die Kuriositäten und Antiquitäten verkaufen, sollten selbst kurios und antik sein, voller Staub, Gerümpel und geheimen Schätzen. Dieser Laden enthielt keinen Staub und nur wenig Gerümpel, so daß Villiers sich fast wieder umgedreht und gegangen wäre. Saubere Tische, Regale und Schubladen, alles wohlgeordnet, versprachen wenig von einer Entdeckung, wie Villiers sie zu machen hoffte. Das Erscheinen eines älteren Herrn, der aus dem Hintergrund des Ladens trat, verhinderte seinen Rückzug. Das Haar des Alten war dünn, die Haltung gebeugt, und auf seinen Handrücken hatte er Leberflecken.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Die Stimme war dünn, aber fest. »Mr. Eyre?« Villiers hatte den Namen von dem kleinen Schild erfahren, das diskret an der Tür angebracht war. »Nein, Sir. Mr. Spottiswoode, zu Ihren Diensten. Mr. Eyre ist gerade auf einer Einkaufsreise und wird erst in einigen Monaten wieder zurück sein. Wollten Sie ihn persönlich sprechen?« »Nein. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe mich gefragt, ob Sie auch Bücher haben.« »Oh, Bücher finden Sie unten am Ende der Promenade.« »Ich suche nach einem kuriosen und antiken Buch.« »Tatsächlich haben wir ein paar. Wenn ich bitte unser Verzeichnis zu Rate ziehen darf.« Mr. Spottiswoode glitt hinter ein Pult, wählte eine Nummer und zog eine kleine Schublade auf. »Das Buch heißt Gefährten von Vinland, von Ottilie A. Liljencrantz.« »Verzeihen Sie, Sir. Ich habe Sie mißverstanden. Ich dachte, Sie meinen einfach irgend ein altes Buch. Ich wußte nicht, daß Sie einen speziellen Titel wünschen. Ich habe weder vom Titel noch von der Autorin gehört.« Villiers buchstabierte dem alten Mann den Namen. Spottiswoode ging seine Kartei durch und sah sorgfältig alle Karten an. Dann hielt er plötzlich inne. »Gütiger Himmel! Wir hatten tatsächlich einst ein Buch von Ottilie A. Liljencrantz. Es hieß Radvar der Sangesschmied. Aber wir haben es vor langer Zeit verkauft. Und, na sowas – für eine bedeutende Summe. Vierzehn Royais.« Villiers nickte. »Ich kenne das Buch. Es ist relativ bekannt.« »Bekannt!« »Relativ.«
»Bestehen Sie auf einer antiken Ausgabe? Ich möchte meinen, daß Sie einen preiswerten Nachdruck für ein paar Taler bekommen könnten.« »Unglücklicherweise gibt es keine Nachdrucke. Man kann keine Kopie ohne ein Original machen, und nach meiner Erfahrung gibt es kein Original mehr. Ich habe überall gesucht. Es wurde zu einer Zeit veröffentlicht, als noch Papier zur Bücherherstellung verwendet wurde, und Sie kennen ja die Schnelligkeit, mit der Bücherpapier verdirbt. Soweit ich beurteilen kann, wurde das Buch niemals in dauerhafter Form reproduziert.« »Woher wissen Sie dann, daß es überhaupt existiert?« »Ich habe in meiner Schulzeit eine Besprechung davon gefunden, in einem ebenfalls antiken Katalog. Ich weiß zwar nicht, daß es jetzt existiert, aber ich weiß, daß es einst vorhanden gewesen sein muß.« »Außerordentlich interessant«, sagte Mr. Spottiswoode. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Sir?« »Ja.« »Mr. Eyre macht des öfteren Einkaufsreisen für diesen Laden und andere Verkaufsstätten. Er hat sieben solcher auf Yuten, Morian und Trefflewood. Wenn Sie uns beauftragen wollen und Mr. Eyre zufällig ein Exemplar dieses Buches auf einer seiner Reisen entdecken sollte, würden wir es in Ihrem Namen erwerben.« »Oder es kopieren, wenn ein Erwerb ausgeschlossen ist«, sagte Villiers. »Oder eine Kopie. Natürlich zu Ihren Lasten.« »Natürlich.« Villiers zog eine Börse hervor. »Ich nehme an, Sie wünschen eine Anzahlung.« Mr. Spottiswoode akzeptierte die Anzahlung. Sie einigten sich auf einen Royal für die Nachforschungen. Das würde die
Kosten für mehr als die nahe Zukunft decken. Er notierte die Personalangaben und fragte dann nach einer Adresse. »Hmmm. Das ist ein Problem. Ich bin auf Reisen, und die beste Adresse, die ich Ihnen geben kann, mag trotzdem etwas ungewiß bleiben.« Er lächelte ironisch. »Nun, dann geben Sie mir trotzdem Ihre beste Adresse, Sir, und wir sind sicher, daß die Sendung ankommen wird.« »Schön, daß wir sicher sind. Senden Sie es an Mr. Anthony Villiers, zur Verwahrung durch den Duke von TremontMichaud auf Cherteris.« Mr. Spottiswoode hob darauf seine alten Augenbrauen. Offenbar war der Ruf dieses Mannes selbst über diese weite Entfernung gedrungen. Aber er notierte die Adresse und kopierte sorgfältig das persönliche Post-Symbol, das ihm Villiers zeigte. Villiers hatte nichts als Bücher im Kopf, als er die Promenade weiter entlangging bis hin zu jenem Laden, auf den ihn Mr. Spottiswoode zuerst hingewiesen hatte. Dort angekommen, investierte er nach kurzem Zögern siebenundeinhalb Taler für eine faszinierend und verschwenderisch illustrierte Ausgabe von Vergleichende Biologie von sieben alten Rassen und ersparte sich jede Bemerkung über den irrsinnig hohen Preis der Reproduktion. Anstatt den Weg zurückzugehen, den er gekommen war, entschied Villiers, eine Ecke abzukürzen, um schneller wieder in seinen Gemächern zu sein. Und vielleicht würde es auch interessanter werden. Natürlich wußte er in diesem Moment noch nicht, als wie interessant sich dieser Weg herausstellen würde. Er verfolgte die Promenade bis zum Ende, wo sich die Wände zu einem engeren Gang entgegenneigten. Wenn er diesem Gang etwa einen Kilometer folgte, wobei er sich parallel zu einem Gang im dritten Stock bewegte, durch den er
schon viele Male geschritten war, sollte er entweder einen Fahrstuhl oder eine Treppe finden, die ihn wieder zurückbringen würden. Während er lief, blätterte er in dem Buch und bewunderte die Arbeit. Das Buch war stabil und gut gearbeitet, die Aufmachung attraktiv, die Illustrationen dreidimensional und wirklichkeitsgetreu. Obwohl im Laufe der Jahrhunderte viele Gebrauchsgegenstände neuer Art erfunden worden waren, gab es nichts darunter, was den Platz des Buches einnehmen konnte. Bänder und Filme benötigen beide technische Ausrüstung, um sie in eine verständliche Form zu übertragen. Ein Buch war handlich und gleichzeitig verständlich, und nichts übertrifft den Geruch eines frischen Buches, das gerade aus der Maschine kommt. Er fand das Kapitel, weswegen er das Buch gekauft hatte, das vierte, in dem eine seltsame Rasse, als Trogs bekannt, beschrieben war. Er las beim Gehen. Er erfuhr einige Dinge, die er zuvor nicht gewußt hatte. Anscheinend konnten die verschiedenen Kasten durch die Muster auf ihrem Fell unterschieden werden. Die Scholaren trugen ein kräftiges Braun. Bauern waren grau, oft mit einem olivfarbenen Schatten auf dem Kopf. Soldaten waren schwarz gestreift auf weißem Grund. Das stimmte nicht ganz mit dem Wissen überein, das er von den Trogs hatte, und er hob seinen Kopf, um nachzudenken und um seine Richtung zu bestimmen. Als er aufsah, erhaschte er den letzten Schimmer einer seltsam gekleideten Gestalt, die gerade in einiger Entfernung um eine Ecke verschwand. Sie trug weder modische Kleidung noch eine Angestellten-Livree, nicht einmal einen gewöhnlichen Alltagsanzug eines normalen Bürgers. Die Kleidung erinnerte ihn vielmehr an einen Sportdreß, eng am Körper anliegend ohne Falten, Fransen, Rüschen oder Rockschöße. Die Farbe war ein tiefes Schwarz. Zugegeben, ein
seltsamer Aufzug für einen Ort wie diesen, der keinesfalls Anspruch darauf legte, mit einer Turnhalle verwechselt zu werden. Vielleicht eine private Turnhalle? Arbeitete sich Shirabi hier in den unteren Stockwerken aus, um seine Figur zu behalten? Wenn es darum ging, die Figur in Form zu halten, war Godwin der wahrscheinlichere Kandidat. Kurzentschlossen folgte ihm Villiers. Er preßte das Buch fest an sich und ging mit schnellen Schritten auf den Seitengang zu, in dem die Gestalt eben verschwunden war. Er erreichte die Ecke und schaute herum. Es war nichts zu sehen, aber nach einem nahezu unmerklichen Zögern ging er in die gleiche Richtung. Der Gang war eng und nicht gerade hell beleuchtet. Decke, Wände und Boden waren so glatt geschnitten wie alles in Star Well, aber hier hatte man sich nicht die Mühe gemacht, den Felsen zu polieren, nachdem die Schnitt- und Schürfarbeiten abgeschlossen waren. Dieser Gang hier war eine kleine Verbindung zwischen zwei größeren Hauptadern. Der nächste große Korridor war nicht weit entfernt, und der Mann im schwarzen Trikot mußte in diese Richtung gegangen sein. An der nächsten Ecke sah Villiers erst nach links, dann nach rechts, und dann entdeckte er seinen Mann wieder. Die Gestalt erschien ihm ziemlich vertraut. Es war der junge Norman Adams, und was er gerade tat, das konnte man am besten als schnüffeln bezeichnen. Oder spionieren. Oder auf Zehenspitzen gehen. Herumschleichen. Adams verhielt an der Tür zu einer Treppe und wandte sich um. Villiers zog schnell seinen Kopf zurück und blickte fast automatisch selbst hinter sich, um zu sehen, ob er beobachtet wurde. Er sah nichts. Nach einer Sekunde streckte er seinen Kopf wieder vor und sah gerade, wie die Tür zur Treppe sich schloß.
Schnell hinterher, der Beute nach. Als er an der Tür war, öffnete er sie vorsichtig und horchte. Ja, leise verstohlene Schritte die Stufen hinab. Als er noch ein kleiner Junge war, hatte Villiers dieses Spiel in einem Dutzend Variationen gespielt, und auch später auf der Schule noch. Es ist schon eine verdammte Schande, daß man, wenn man erwachsen wird, solche reinen, unschuldigen Vergnügungen hinter sich läßt, um andere, ernsthaftere Dinge zu verfolgen. Es hat etwas Elementares, schwarzgekleidete schleichende Gestalten zu verfolgen, ohne dabei beobachtet zu werden. So stieg auch Villiers die Stufen hinab, Schritt für Schritt, hielt an, wenn Adams anhielt, machte dann den nächsten Schritt. Es war nicht leicht, aber es machte Spaß. Er kam an einigen Türen vorbei, während er hinabstieg, aber die Schritte vor ihm gingen weiter. Dann hörte er, wie eine Tür aufschwang, und seine Vorsicht vergessend, nahm er die Treppe in Sätzen zu drei und vier Stufen. Er öffnete die Tür, von der er annahm, daß Adams hindurchgegangen sei, und sah hindurch. Niemand war zu sehen, und Villiers schlüpfte hindurch und schloß sie vorsichtig hinter sich. Er befand sich in einem weiten Gang, ähnlich dem, von wo aus er in das Treppenhaus gegangen war. Er suchte nach Anzeichen von Adams und fand nichts. Er untersuchte beide Richtungen des Korridors und entschied sich schließlich für den nächsten Verbindungsweg. Fast wünschte er, einen Jagdgorf oder eine Hundemeute dabei zu haben, die Grundlage der erwachsenen Version dieses Spiels, aber dann empfand er diesen Gedanken als wertlos. Selbstvertrauen – darauf kam es an. Hunde und Schnüffler nahmen der Verfolgung den eigentlichen Gehalt. Das Buch immer noch in der Hand, stöberte Villiers herum. Nach einer Weile war ihm klar, daß er Adams verloren hatte.
Vielleicht war der auch gar nicht durch die betreffende Tür gegangen. Oder vielleicht hatte er sich versteckt und war hinter Villiers’ Rücken verschwunden, als er den anderen Gang absuchte. Oder aber er kannte seinen Weg so gut, daß er Villiers einfach hinter sich gelassen hatte. Auf jeden Fall konnte er Adams nicht noch einmal aufspüren. Der Verfolgte hatte seinen Verfolger abgeschüttelt. In diesem Moment erkannte Villiers, daß er nicht nur Adams verloren hatte, sondern auch die Orientierung. In den Kreuzgängen und Bögen, in diesem Labyrinth, das überall gleich aussah, hatte er es tatsächlich geschafft, zu vergessen, wo die Treppe war. Er war deswegen nicht allzu besorgt. Er hatte sich verlaufen, aber nicht völlig. Er konnte jetzt keinen bestimmten Punkt wiederfinden, aber er wußte ungefähr, wo er war und wohin er wollte. Er brauchte nur eine andere Treppe zu finden, um wieder zu einem der öffentlichen Stockwerke zu gelangen, mit denen er vertraut war und mit denen er keine Probleme hatte. Er entschied sich, dem gegenwärtigen Gang zu folgen, aber das erwies sich als nicht besonders gut. Der Gang erweiterte sich zu einer gigantischen Halle. In dieser Halle stand eine große rote Maschine, die wie ein mechanischer Grashüpfer wirkte, und Villiers erkannte darin einen automatischen Ladekran. Es mußte sich hier um einen der Häfen von Star Well handeln. Hinter dem Grashüpfer endete die Halle abrupt. Draußen würde ein Schiff in einem Netz ruhen. Ein Extensor würde sich zum Schiff strecken, und an Schiff und Extensor würden sich dann Türen öffnen. Der Grashüpfer würde sich auf Schienen zum Maul des Schiffes bewegen und auf Schienen wieder zurück zu den Lagerhäusern an den Seiten der Halle. In einer parallel liegenden Halle würde ein anderer Extensor sich zum Schiff strecken, und Passagiere würden aussteigen.
Durch einen solchen Mechanismus hatte Villiers den Boden von Star Well betreten. Aber nicht diesen Hafen, dachte er. Seine Aufmerksamkeit war zwar auf andere Dinge gelenkt gewesen, und er konnte sich nicht an alle Einzelheiten bei seiner Ankunft entsinnen, aber obwohl ein Hafen dem anderen ähnelt, war Villiers seiner Sache sicher. Es schien Villiers sinnvoll, den Parallelgang zu finden und von dort aus zu seinen Räumen zu gehen, aber bei weiterem Nachdenken entschied er, bei der Methode zu bleiben, die ihn am sichersten nach Hause führen würde. So suchte er weiter nach einer Treppe. Minuten später schlenderte er einen Korridor entlang, als er eine Stimme hörte. »Mr. Villiers?« Die Stimme klang fragend. Er wandte sich um. Es war Hisan Bashir Shirabi selbst, der in einer offenen Tür stand. Shirabi würde man wohl kaum mit einem Gentleman verwechseln, ganz gleich, wie er gekleidet war. Er hatte nicht das Auftreten, die Haltung, die Erscheinung, den Tonfall, die Manieren, all das, was Godwin zum Beispiel durchaus in der Lage war vorzuführen. Es war auch zweifelhaft, ob Shirabi jemals den Versuch dazu gemacht hatte. Er war ziemlich groß und sehr dünn, so daß er noch größer wirkte. Er war dunkel, und die Spitze seiner Hakennase war so scharf, daß man meinen konnte, er würde sich ihrer als Waffe bedienen. Sein Schnurrbart war schwarz und dick, hatte aber keine gleichmäßige Oberfläche, so daß er an einen etwas abgewetzten Teppich erinnerte. Sein Gebaren hatte etwas so Heimtückisches, daß Adams ihn, mochte er sich noch so sehr bemühen, darin nicht übertreffen konnte. Adams übernahm diese Heimtücke zeitweilig, aber bei Shirabi war sie fester Bestandteil seiner Persönlichkeit.
Seine Kleidung war gewöhnlich, und in diesem Fall mehr als gewöhnlich. Es handelte sich um Wegwerfkonfektion, und sie war von einer Anzahl Spritzer und dunkler Flecken verziert. Shirabi trug Handschuhe. Er zog sie aus, warf sie hinter sich und schloß die Tür. »Kann ich Ihnen helfen, Mr. Villiers?« Er hätte auch fragen können, was Villiers hier wollte, aber er fragte nicht direkt. Nicht Villiers. Villiers machte eine höfliche Geste. »Vielleicht, Mr. Shirabi. Ich suchte den Aufgang von der Promenade zu meinem Quartier, und dabei machte ich den Fehler, beim Gehen in mein Buch zu schauen. Jetzt habe ich nicht einmal die leiseste Idee, wo ich mich befinden könnte. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie mich führen könnten, Sir.« »Aber gern, gern«, meinte Shirabi. Er deutete voraus und sie gingen gemeinsam in die Richtung. »Sie sollten aber vorsichtiger sein. Es ist durchaus möglich, daß man sich hier ernstlich verläuft. Sind Sie schon lange hier, Sir?« Da war ein deutlicher Unterschied, wie er, im Gegensatz zu Villiers, das »Sir« betonte. »Nach der Uhr nur kurze Zeit. Subjektiv gesehen, etwas länger. Ich sollte mir das eine Lehre sein lassen und weniger in unbekannter Umgebung lesen.« Shirabi blickte ihn an. »Sie scheinen von dieser Erfahrung nicht weiter erschüttert zu sein, würde ich sagen.« »Mr. Shirabi, es ist mein Schicksal, in der Öffentlichkeit sehr wenig von meinen wahren und heftigen Gefühlen zu zeigen. Ich versichere Sie, daß ich grenzenlos verstört bin.« Shirabi fand es etwas beschwerlich, mit diesem jungen Mann umzugehen. Dauernd formell, immer höflich, und sogar zu korrekt, um seine Gefühle deutlich zu zeigen. Es war unmöglich festzustellen, ob er das, was er sagte, meinte oder
nicht. Und manchmal war es nicht einmal möglich, aus dem, was er sagte, auch nur zu erahnen, was er meinte. »Übrigens, Sir«, sagte Shirabi, »wie lange haben Sie vor, bei uns zu bleiben? Irgendwie ist das nicht festgehalten worden. Wir haben das gern für unsere Statistik. Außerdem hilft es zu verhindern, daß die Rechnungen der Gäste ins Grenzenlose wachsen, um das mal auszusprechen. Nicht, daß es etwas ist, was Sie betrifft, Sir.« »Das sollte man meinen«, sagte Villiers, »besonders, wenn man bedenkt, daß ich meine Rechnung letzte Nacht auf die Hälfte verringert habe.« »Wie denn das?« »Ich spielte mit Mr. Godwin Karten. Übrigens, wie das Leben so spielt, habe ich vor, morgen abzureisen. Ich nehme das Schiff nach Luvashe.« »Ich wollte Sie nicht drängen, Sir. Ich habe nur gern die Dinge geordnet.« Shirabi führte sie zu einem Lift, und sie fuhren rasch nach oben. »Eines verstehe ich noch nicht«, sagte Shirabi. »Sie wohnen drei Stockwerke über der Promenade. Wie haben Sie es geschafft, nach unten zu gelangen?« Villiers lachte. »Ganz offensichtlich gehören Sie nicht zu den Leuten, die beim Laufen lesen, Sir.« »Nein«, sagte Shirabi, »dazu gehöre ich nicht.«
III
Von all den irrelevanten Qualitäten, die der Mensch sich entschlossen hat, hochzuschätzen, ist Unermeßlichkeit vielleicht die, die es am wenigsten verdient hat. Das NashuiteImperium ist mit Leichtigkeit die größte politische Einheit unter all den elenden Unglücksfällen, unter denen die Menschen gelebt haben. Augenscheinlich ist das Imperium unregierbar. Kommunikation und Fortbewegung haben die gleiche Geschwindigkeit; beide sind langsam, und das Imperium ist riesig. Gemeinsame Gesetze und gemeinsame Sprache werden von den Entfernungen auf harte Proben gestellt. Wie lange es überhaupt Gemeinsamkeiten geben wird, ist die Frage. Moultons Klassiker, Das dynamische Gleichgewicht instabiler Systeme, der die zufallsbedingten Umstände beschreibt, durch die es einer derart unbeständigen, unsicheren Angelegenheit gelingt, irgendwie weiterzutaumeln und durch eben dieses Taumeln zusammenzuhalten, ist der Aufmerksamkeit jedes ernsthaft Studierenden wert. Und diese bürokratischen Pinsel in Nashua verbringen tatsächlich den Großteil ihrer Zeit damit, zu planen, wie das Imperium ausgedehnt werden kann! Jeder von ihnen sieht sich als Spinne, die im Zentrum eines riesigen Netzes sitzt und deren kleinster Muskelreflex Auswirkungen bis zum Ende des Universums hat. Tatsächlich aber sägt nur einer am Stuhl des anderen, obwohl die idiotischen kleinen Kriege, die das Imperium von Zeit zu Zeit mit den kleinen Konföderationen, freien Planeten und den Schatten an den Grenzen austrägt, vor ihrer eigenen Tür liegen können. Dumm, dumm, dumm. Aber
sie wissen es nicht besser. Wie könnten sie auch? Sie haben nicht einmal von Moulton gehört, keiner von ihnen. Je weiter man sich von Nashua entfernt, desto mehr wird das Imperium zur Chimäre. Es gibt Planeten, wo es keinen Platz in wachen Gedanken findet – das Wort, wie der Teil eines Liedes, das seit zwanzig Jahren vergessen ist, schwebt flüchtig an den Rändern der Träume und verschwindet im Angesicht der morgendlichen Realitäten.
In der Orion, die auf dem Weg nach Star Well war, schmiedeten zwei der Mädchen, die für Miss McBurney’s Berühmtes Ehrbares Seminar und Abschlußgymnasium auf Nashua bestimmt waren, geheime Pläne in ihrer kleinen, beengten Kabine. Das eine im unteren Bett lag auf dem Rücken und starrte nach oben. Das andere stützte sich auf ihre Ellbogen und blätterte in einem Buch. Das Mädchen unten hieß Alice Tutuila. Es war jung, dunkel und hübsch. Ihre Eltern hatten sie sorgfältig darüber aufgeklärt, warum es so wichtig war, zu Miss McBurney’s zu gehen. Mit einer Ausbildung zu einer wirklichen Dame, mit dem Qualitätssiegel einer Ausbildung auf Nashua, mit ihrer Schönheit und der Hilfe ihrer Eltern würde sie gut einheiraten können und ein glückliches Leben führen. Sie war kein so romantisches Mädchen, daß sie nicht einsah, wie erstrebenswert es war, ein glückliches Leben zu führen. Darum war sie bereit, Mrs. Bogue, Strapazen, Heimweh und die Reisekrankheit zu ertragen, mit dem Gedanken, daß kleinere Beschwerlichkeiten immer das Los von Heldinnen sind. Das Mädchen auf dem oberen Bett war von weitaus weniger gesicherter Herkunft, obwohl die Dokumente über ihre Person gut genug waren, um das kritische Auge von Miss McBurney zu befriedigen, das unfehlbar war im Erkennen der
Voraussetzungen, die sie an künftige Schülerinnen stellte. Das war erstmal ein guter Stammbaum, damit die Schule ihren sozialen Status behauptete, und dann Geld. Wenn sie mit genügender Menge der zweiten Voraussetzung rechnen konnte, war sie bereit, bei der ersten Voraussetzung winzige Abstriche zu machen – aber diesmal sollte sie sich gründlich irren. Aber das machte alles nichts, weil das Mädchen auf der oberen Pritsche keinesfalls vorhatte, Miss McBurney’s Berühmtes Ehrbares Seminar und Abschlußgymnasium auf Nashua zu besuchen. Sie wollte vielmehr all die guten Dinge, von denen ihre Eltern hofften, daß sie diese zugunsten einer guten Erziehung vergessen würde. Sie wollte betrügen, reinlegen, hintergehen, schwindeln, lügen, Blödsinn und Quatsch machen, ganz nach der Art ihrer Väter. Dabei war sie gar nicht besonders hübsch, nicht die Art Mädchen, das einem sofort ins Auge fällt, nicht die Art Mädchen, in das man sich gleich verlieben kann. Sie hatte Geist und einen hellwachen Blick, beides Qualitäten, die eine schöne Frau durchaus entbehren kann. Grundsätzlich jedoch war sie ein Mädchen, nur ein Mädchen – und das war genau richtig für jemand mit ihren Ambitionen. Sie plante, bei der nächsten Gelegenheit durchzubrennen, und Alice Tutuila war – aus romantischen Motiven – bereit, ihr dabei zu helfen, jedenfalls soweit, mit der Freundin Pläne zu schmieden. Um den Absprungspunkt zu bestimmen, hatten sie sich Quellenmaterial beschafft, Reiseführer, die sie sich während der theologischen Diskussion in der Halle »ausgeborgt« hatten. »Hast du was gefunden?« fragte Alice. »›Star Well: 2 lnd hfn, 315 apprts (9th-lr), var din. (Großer Saal 4A), spi, th & a, a*, d*, p-(A), e-(A), n ta, 3 pls w 4unpls. Star Well ist ein kleiner Felsen, aber seiner Lage wegen
die Nabe des Flammarion-Spalts. In erster Linie ein Zwischenhafen, aber vor allem bekannt für seine Spieltische. Außerordentlich langweilig, würden wir sagen, es sei denn, Sie sind ein Spieler.‹ Dann kommt da noch eine Liste der Eigentümer und leitenden Angestellten. Mehr ist da nicht.« »Was bedeutet der erste Teil? All diese Abkürzungen?« »Laß mich mal nach der Tabelle suchen. Oh, ja. Es gibt da zwei Landehäfen und 315 Appartements, die von Taler aufwärts bis zu einem Royal pro Tag kosten.« »Soviel verlangen die für ein Zimmer? Irre!« »Das ist wirklich schrecklich viel. Es gibt da eine große Variationsbreite an Diners und eine besondere Auszeichnung für die große Halle. Sie ist – wollen mal sehen – ausgezeichnet und außerordentlich teuer. Spiele, aber das haben sie auch anschließend noch mal erwähnt. Theater und Amüsierbetriebe. Alkohol, Drogen, Perversionen – begrenzt und teuer. Einkaufsmöglichkeiten, auch begrenzt und teuer. Keine Touristen-Attraktionen. Drei Schiffe die Woche planmäßig, dazu unplanmäßige.« »Das hört sich nicht besonders toll an, Louisa. Wahrscheinlich alles sehr klein. Man kann nirgendwohin fliehen. Du kannst nicht weglaufen, wenn du nirgendwohin fliehen kannst. He. Sag mal, wie findest du das: Du versteckst dich im Schrank eines Appartements für einen Royal pro Tag, bis das Schiff ohne dich abfliegt. Ein toller Gentleman entdeckt dich dort und ist völlig weg von deinem Charme. Er bietet dir auf der Stelle an, dich zu seiner Geliebten zu machen und entführt dich zu einem Leben voller Sünden und abartiger Begierden. Oh, wie ich das liebe!« Alice drückte ihr Kissen an sich und schloß die Augen. »Ich bin nicht sicher, ob das klappt. Vielleicht mag er mich gar nicht so sehr. Oder vielleicht ist er kein so toller Gentleman. Jedenfalls muß ich diesen Ort sehen.« Sie blätterte
weiter in ihrem Buch. »Wollen mal sehen, wie der nächste Aufenthalt aussieht. Oh, der ist ja viel besser.«
»Was habe ich gehört? Sie haben Geld an den jungen Villiers verloren?« fragte Shirabi. Er war mit seinem Wegwerfanzug bekleidet und trug Handschuhe, tauchte sie bis zu den Ellbogen in chemische Jauche, die seinen Pflanzen gutes, gerades Wachstum, Stärke und Gesundheit verleihen sollte. Nach viel zu vielen Jahren der Nervosität und Unpäßlichkeit, dem Resultat eines Lebens unter dauerndem Druck in kleinen Räumen und dem Umgang allein mit Symbolen und den Symbolen von Symbolen, hatte er sich ein Hobby zugelegt, das imstande war, ihm den Kontakt mit der Wirklichkeit wieder zurückzugeben. »Sieh wie die Saat aufgeht, erlebe wie sie wächst und gedeiht, pflege sie auf ihrem Weg – das ist wahre, tiefe Befriedigung«, pflegte er zu sagen. Es kümmerte ihn nicht besonders, was er da aufzog, weil er jede Pflanze als seinen Freund betrachtete. Aber Blumen und Nahrung kamen dabei nicht in Betracht. Er hatte nur Freude daran, Pflanzen zu sehen und zu wissen, daß er eine Hand dafür hatte. Es machte ihm Spaß herauszufinden, welche Nahrung eine Pflanze am liebsten mochte. Damit versorgte er sie dann. Es war wie das Gefühl der Vaterschaft. »Ich habe auch schon Geld gewonnen, Shirabi«, erwiderte Godwin. »Ich erwarte das. Ich erwarte nicht das Gegenteil. Ich bezahle Sie nicht, damit Sie Geld verlieren.« »Sie bezahlen mich überhaupt nicht!« sagte Godwin scharf. »Vergessen wir das nicht.« »Nein. Aber wenn Sie schon da sind, können Sie auch etwas zu Ihrem Unterhalt beitragen. Und das bedeutet keinesfalls,
mein Geld zu verlieren. Sie wissen, daß ich jeden Minim spare. Sie kennen Wege, um nicht zu verlieren.« »Auch mein Geld«, sagte Godwin. Er saß vorsichtig auf einem Hocker, den er vorher bedeckt hatte, und betrachtete seine Umgebung mit Abscheu. Zwischen Shirabi und Godwin bestand ein bedeutsamer Unterschied: Wenn beide Cidre trinken und dazu Würstchen essen würden – wobei ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, daß beiden so etwas zuzutrauen ist –, und beide ließen ihr Wurststück zwischen die Kissen des Stuhls fallen, würden sie es beide aus dem Dreck herausfischen. Aber sie würden bei ihrer Suche verschiedene Haltungen einnehmen, und sie würden beide aus verschiedenen Gründen suchen. Shirabi wandte sich um und richtete sich auf. »Wie haben Sie verloren?« »Warum werfen Sie nicht dieses Grünzeug fort? Ich hasse es.« »Wie haben Sie verloren?« »Oder wir halten unsere Gespräche anderswo ab.« »Wie haben Sie verloren?« »Er wußte, was ich tat und sprach mich darauf an. Keine Herausforderung. Er ließ mich nur wissen, daß er wußte, was ich tat. Er weiß, daß Josiahs Flambeau-Tisch präpariert ist. Das kam noch hinzu. Ich mußte aufhören, und danach hat er gewonnen.« Shirabi lachte. »Keine Herausforderung? Der Typ ist nicht danach. Nein, Sie waren feige, mein feiner Gentleman.« »Sagen Sie das nicht nochmal! Ich sage Ihnen, daß er nicht darauf bestanden hat.« »Oh, tatsächlich nicht? Ihr Ruf hat ihn überwältigt, was?« »Ich kann mit ihm fertig werden, wenn’s sein muß. Das habe ich ihm auch gesagt, nach bester Manier.« »Ich bin sicher, daß er beeindruckt war.«
Shirabi war überrascht, als Godwin plötzlich von seinem Stuhl aufstand und quer durch den Raum kam. Bevor er die Flasche mit der Mixtur fallen lassen und die Hände erheben konnte, hatte ihn Godwin an der Kehle gepackt und schmerzhaft nach hinten über die harte Kante eines Tanks gedrückt. Ein grüner Zweig kitzelte ihn zärtlich an der Nase. Gepreßt, betont, Wort für Wort, sagte Godwin: »Er hat mich nicht herausgefordert.« Ebenso gepreßt sagte Shirabi, aber das lag nicht an seiner Erregung, sondern an seiner zusammengedrückten Kehle: »Passen Sie auf Ihren Anzug auf.« Godwin begriff plötzlich, löste den Griff um den Hals des dunklen Mannes und trat zurück. Dann sah er an sich hinunter. Er konnte die Feuchtigkeit fühlen, bevor er sie sah. Sein ganzes Vorderteil verdunkelte sich von der Nährlösung, die Shirabi auf ihn gegossen hatte. Seine Lippen begannen zu zittern, und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut. Kaum fühlte er sich befreit, duckte sich Shirabi, verschwand unter dem Tank und kam auf der anderen Seite wieder hoch. Mit einer schnellen Bewegung tauchte er den Behälter wieder in die chemische Brühe und brachte ihn wieder hoch. »Sie haben meinen Anzug ruiniert.« »Tatsächlich. Ich bin nicht einer von Ihren Sechs pro Jahr, oder wie hoch Ihre Abschußquote auch immer ist. Wenn ich Sie töten würde, würde ich mir nicht mal die Mühe machen, mich daran zu erinnern. Gentleman.« Godwin deutete auf die Vorderseite seines Anzugs. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte Shirabi. »Sie hätten mich töten können, aber Sie hätten dann auch eine Ladung Chemikalien ins Gesicht bekommen, und ich garantiere Ihnen, Sie hätten die Hälfte davon geschluckt, und wenn ich mich dafür auf Ihren Kopf hätte setzen müssen, um es Ihnen in den Hals zu gießen.«
Nach kurzem Zögern sah Godwin wieder an seinem Anzug hinunter, und der Moment war vorbei. Bei dieser Art des Kampfes braucht es einen Moment zur tödlichen Wendung, und diesen Moment hatten sie verpaßt. »Wenn es jemals wieder zu einem Kampf mit Ihnen kommt, werde ich Sie töten«, sagte Godwin. Allerdings war sich Godwin dieser Sache nicht allzu sicher. Obwohl Shirabi seine Anmaßungen nicht teilte und ihn vielleicht sogar verachtete, war er nichtsdestoweniger äußerst gefährlich für seine erlesene Bekleidung. Shirabi sagte nur: »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Godwin hatte ein gefährliches Leben gewählt, um alles Vulgäre hinter sich zu lassen, und es war ihm niemals als fair erschienen, daß Shirabi hier eine größere Macht haben sollte als ein Mann von größerem Schliff. Ihre Verachtung beruhte auf Gegenseitigkeit. Männer wie sie würden eines Tages entscheiden, einander zu töten. Diesmal jedenfalls nickte Godwin scharf und schleppte seinen besudelten Anzug hinaus, um ihn zu wechseln, bevor er auseinanderfiel. Nachdem Godwin gegangen war, hantierte Shirabi gedankenvoll an seinen Pflanzen herum. Einmal zog er seinen linken Handschuh aus und kratzte sich am Ohr. Schließlich ging er zum Service in der Ecke. Das Signal zeigte die Verbindung an, der Ruf wurde empfangen, aber Godwin ließ den Bildschirm dunkel. Vielleicht ein unpassender Moment. »Gentleman, ich denke gerade nach, und ich fange an, mich über unseren Mr. Villiers zu wundern. Wenn er Sie nicht herausgefordert hat, ist er nicht der Mann, für den ich ihn halte. Und ich habe ihn diesen Morgen erwischt, wie er hier herumspazierte. Zufällig verlaufen, sagte er.« »In den unteren Geschossen?« »Ja. Er ist etwas zu fix für meinen Geschmack. Und er sagte mir, daß er morgen nach Luvashe abreist. Von dort ist er auch
gekommen. Warum würde er einfach nur hierherkommen und dann wieder zurückfahren wollen? Das hört sich so an, als sei er wegen irgend etwas hier. Es kann sich dabei nur um eine Sache handeln.« »Das ist Ihr Problem, nicht meins«, sagte Godwin. »Von jetzt an konzentriere ich mich auf meinen Anteil und meinen Job.« »Was wird Ihnen Ihr Anteil oder Ihr Job nützen, wenn wir mit einem Keller voller Daumen gefaßt werden, die erst einen Tag später geholt werden sollen?« »Das ist immer noch Ihr Problem. Sie Bauernlümmel! Ich soll Ihnen einen Gefallen tun?« »Zvegintzov.« Godwin dachte einen Moment darüber nach und sagte dann: »Na schön. Sie sagten, er fliegt morgen nach Luvashe ab. Wenn Villiers etwas ahnt, wird er auf dem Weg nach Luvashe kaum in der Lage sein, was anzustellen, oder?« »Wenn er morgen abreist, ist er in Ordnung, und es war nur ein Zufall. Ich mache mir dann keine Sorgen mehr. Aber lassen Sie ihn jede Minute überwachen. Und durchsucht sein Gepäck.«
Das Objekt dieser Spekulationen war gerade dabei, in der großen Halle zu Abend zu essen. Kurz vor dem in purpurnen Plüsch gehaltenen Eingang begegnete er Norman Adams. Adams war nicht mehr in seinen Spionageanzug gekleidet. Offenbar hatte er seinen Weg nach Hause gefunden und hatte sich in eine gleichermaßen düstere, aber gesellschaftlich akzeptablere Schale geworfen. Aber das war kein großer Unterschied. Unzweifelhaft konnte er, mit seinem engen schwarzen Trikot bekleidet, auch nicht weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als einem Gentleman von Geschmack lieb war.
»Hallo, Mr. Adams«, sagte Villiers. »Ihr Diener.« »Leisten Sie mir beim Essen Gesellschaft?« »Leider nein. Ich habe letzte Nacht einen Royal verloren, und die große Halle ist jetzt etwas über meine Verhältnisse.« Das war ein Versuch Adams, seinen üblicherweise zur Schau gestellten Lebensmut vorzutäuschen, doch darunter klang Verdrießlichkeit durch. Er machte den Eindruck eines kleinen Jungen, den man gelehrt hatte, daß gute Manieren unerfreuliche Stimmungen bemänteln sollten, der einem aber immer noch zeigen will, daß seine unerfreulichen Stimmungen durch gute Manieren bemäntelt werden. Das Ergebnis, wenn es sich um einen Jungen handelt, der nicht so klein ist, daß seine Gefühle ihn überwältigen (»Nun, ich habe doch versucht, nett zu sein!«), ist eine spezielle Abart freundlicher Verdrießlichkeit. Es ist ziemlich schwierig, diesen Effekt hinzukriegen, und man muß Adams zugute halten, daß er darin erfolgreich war. »Na schön, dann seien Sie bitte mein Gast.« »Nein, Sir. Ich glaube, ich habe schon zuviel Gastfreundschaft von Ihnen angenommen.« »Aber ich bestehe darauf.« »Ich habe schon gespeist. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen?« Adams wandte sich abrupt um und verschwand. Villiers hob die Augenbrauen und sah Adams nach. Statt dann die Augenbrauen wieder zu senken und zum Essen zu gehen, hob er sie noch höher. Ja, ganz sicher war ein Geräusch hinter ihm zu hören, als ob jemand weinte. Er wandte sich um und sah erst einmal nichts, bis ihm aufging, daß die Tränen in einem purpurnen Alkoven in der purpurnen Wand vergossen wurden. Er untersuchte die Sache näher und fand heraus, daß es sich um die erfreuliche junge Dame von seinem nicht zustande gekommenen Frühstücksflirt
handelte. Ihr Weinen schwoll an, als er in ihr Blickfeld trat, und gleichzeitig verdoppelte die junge Dame ihre Anstrengungen, den Tränenstrom zurückzuhalten. Villiers fühlte eine seltsame Art von Vertrautheit, die er sich nicht erklären konnte. An diesem Abend war das Haar des Mädchens rot und schulterlang. Es stand in fürchterlichem Mißklang zu ihrer sonstigen Aufmachung, aber Villiers ahnte, daß er dem Mädchen keine Freude machte, wenn er ihr dies sagte. Statt dessen meinte er: »Entschuldigen Sie, meine Dame, aber Sie waren nicht zu überhören. Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?« »Oh, Sir«, sagte sie, »keiner kann mir jetzt helfen. Ich bin jenseits jeglicher Hilfe.« Sie schmachtete derart delikat und mit solcher Anmut, daß jeder objektive Zuschauer nur zustimmen, applaudieren und mitfühlen konnte. »Vielleicht doch nicht jenseits jeglicher Hilfe«, sagte Villiers. »Haben Sie schon zu Abend gegessen?« »O nein«, antwortete sie und betupfte ihre Augen. »Ich fühle mich nicht in der Lage, an einem Essen teilzunehmen. Ich bin viel zu durcheinander.« »Soso«, machte Villiers, »und ich hatte gedacht, daß Sie mir vielleicht beim Dinner in der großen Halle Gesellschaft leisten. Ruhe, gutes Essen, angenehme Umgebung und ein mitfühlender Zuhörer – vielleicht könnten diese Dinge zusammen der Welt ein angenehmeres Aussehen verschaffen.« Schüchtern blickte sie durch wunderbare Wimpern auf – es mochten ihre eigenen sein, vielleicht aber auch nicht, in jedem Fall standen sie ihr bewundernswert. »Vielleicht könnten Sie das«, sagte sie. »Vielleicht könnte ich nun doch ein leichtes Diner vertragen.« Villiers geleitete sie hinein. Als sie zu ihrem Tisch geführt wurden, achtete er darauf, daß sie an der äußeren Seite saß. Es
ist schwierig zu erklären, aber die Zeit ist gekommen, eine Unzulänglichkeit Villiers einzugestehen. Für sich genommen war die Tönung ihres Haars, die Tönung ihrer Lippen, die Wahl ihrer Kleiderfarbe und das Drum und Dran untadelig. Im gemeinsamen Konzert erzeugte das alles eine ununterbrochene Folge von kleinen und großen Dissonanzen, die ihm weh taten. Obwohl er sie außerordentlich schön fand, wies die Tatsache, daß er sie auf der Außenseite placiert hatte und nicht etwa vor einem unmittelbaren Hintergrund, darauf hin, daß seine Neigung zu ihr etwas weniger als vollständig war. Und so etwas kann man natürlich nicht billigen. Wie dem auch sei, seine Gegenwart mußte einen beruhigenden Einfluß gehabt haben. Denn als das Diner gebracht wurde – von ihm bestellt, während sie noch bemüht war, die Spuren ihrer Tränen zu beseitigen – fand sie ihren Appetit wieder und langte herzhaft zu. Insgesamt aß sie wesentlich mehr als Villiers. Möglich, daß sie mit einem Metabolismus gesegnet war, der große Mengen an Treibstoff verbrauchte und alles verbrannte, was sie zu sich nahm. Es gibt solche Systeme, und wir, die wir zwei leichte Mahlzeiten pro Tag zu uns nehmen und zusehen, wie sich jeder Bissen in unansehnliches Fett verwandelt, können sie nur beneiden. Ihre Geschichte, während und zwischen den Happen erzählt, reichte aus, um das härteste Herz zu erweichen. Zu Zeiten setzte es ihr so zu, daß sie gegen ihren Willen wieder den Tränen nahe war, eine hilflose Sklavin der Tragik ihrer betrüblichen Erlebnisse. Sie hieß Maybelle Lafferty, und sie war eine Erbin. Das war die ganze Crux: schön, unschuldig und eine Erbin. Das machte sie zur Zielscheibe von Mitgiftjägern seit der zartesten Kindheit. Ihr Vater war Ragnar Jacob Horatio Lafferty, der bedeutendste Fardel-Hersteller im ganzen Imperium und der
Reichste der Reichen von Livermore. Sie war ein Kind des Alters. »Daddy – mein lieber, süßer, freundlicher, liebenswerter Daddy. Er beschützte mich, und ich habe es nicht begriffen. Wenn ein Mann kam und mich rief, nahm ich ihn auf und fand ihn wunderbar. Aber Daddy jagte ihn weg, und ich dachte, Daddy liebt mich nicht und will mich unglücklich machen, will nicht, daß ich jemals heiraten soll. Ich begriff es nicht.« (Das war wieder eine der Szenen, wo sich die Tränen zeigten und nach einem heftigen Schniefen verlangten, um zu verschwinden.) Da sie die Einmischung ihres Vaters mißverstand, sah sie in ihm einen Feind, der getäuscht werden mußte. Dann wurde ihr Henry Maurice auf einem Wohltätigkeitsball im Heim einer lieben Klassenkameradin vorgestellt. Et war ein reifer Mann, ein Gentleman, ein Mann von Kultur und Geschmack, wie sie noch keinen Mann jemals kennen gelernt hatte. Da sie die Ablehnung ihres Vaters fürchtete, mußten sie sich fortan heimlich treffen, gefangen in der überwältigenden Woge ihrer gegenseitigen Leidenschaft. Nachdem ihr Vater hinter diese Treffen gekommen war, verbot er ihr, Henry jemals wiederzusehen. An diesem Punkt hatte Henry vorgeschlagen, daß sie fliehen sollten. Sie hatte mit Hilfe ihres Dienstmädchens die Koffer gepackt und sich mit Henry ins Unbekannte aufgemacht. »Ist das der Gentleman, mit dem Sie diesen Morgen gefrühstückt haben?« »Ja, das ist er. Sieht er nicht böse und grausam aus?« Villiers verkniff sich einen Kommentar. Es schien, als hätte Henry Maurice ihre Unschuld ausgenutzt, und jetzt hatte sie die Wahrheit erfahre^. Er war genauso schlecht, wie ihr Vater gesagt hatte. Er benutzte sie, kalt und kalkulierend, als Sprungbrett zum Vermögen ihres Vaters.
Sie zog geschäftig ein zartes rosa Taschentuch hervor und schneuzte sich das Näschen. Mit dieser Methode wollte sie neuen Tränen das Wasser abgraben. Kläglich sagte sie: »Aber Henry kennt Daddy nicht. Daddy würde ihm niemals auch nur einen Minim geben, ganz gleich, was passiert. Daddy liebt mich und würde alles geben, um mich wieder zurückzuholen, aber Henry wird Daddy niemals überzeugen, daß Daddy ihm auch nur soviel gibt.« »Welch Unglück.« »Oh, es kommt noch schlimmer. Henry ist ein grausamer, brutaler Mann. Wenn er entdeckt, daß sein Plan nicht aufgeht, was wird dann aus mir? Ich fürchte, daß Henry mich verstoßen wird, ohne Freunde und ohne einen Penny, in irgendeiner Gosse, Lichtjahre von meinem Heim und meinen Bekannten entfernt. Von meinem Daddy. Oder schlimmer. Wenn ich doch nur jemand hätte, auf den ich mich verlassen kann.« Villiers öffnete den Mund zu einer Antwort, aber bevor er etwas sagen konnte, gab das Mädchen ein überraschtes »Oh!« von sich. An ihrem Tisch stand der Mann, der sich beim Frühstück Miss Laffertys Gesellschaft hatte erfreuen dürfen. Er war dunkel und grimmig, wesentlich ähnlicher dem Monster, als das sie ihn beschrieben hatte, als dem Gott, der ihre Gefühle geweckt hatte. Aber andererseits doch nicht so ein Monster. Dunkel, dicklich, finster, konservativ und wütend. »Ihr Diener, Sir«, sagte er zu Villiers und ignorierte ihn sofort, um sich dem Mädchen zuzuwenden. Villiers erhob sich halb. »Der Ihre«, sagte er. »Miss Lafferty, ich möchte privat mit Ihnen reden«, sagte Henry Maurice und packte sie fest beim Handgelenk. »O nein, Henry.« »Wenn Sie Ihre Unterhaltung für ein paar Momente zurückstellen würden, könnten wir noch unseren Nachtisch
essen«, sagte Villiers. »Es wäre ein Jammer, die Hälfte zurückgehen zu lassen.« Henry Maurice schoß den herablassendsten aller Blicke auf ihn ab und sagte dann: »Komm. Komm jetzt. Ich bestehe darauf. Entschuldigen Sie uns, bitte.« Der Widerstand der schönen Miss Lafferty schwand. Während sie ihren Stuhl verließ, sagte sie leise: »Ja, Henry.« Die Augen hatte sie niedergeschlagen. Doch hinter Henrys Rücken hob sie ihre Wimpern und warf Villiers einen derart durchdringenden Blick zu, daß er Steine hätte erweichen können. »Ihr Diener«, sagte Henry Maurice, und die zwei zogen ab. Er hielt sie immer noch beim Handgelenk gepackt. Sie verließen den Raum, sie blieb dabei etwas zurück, aber nicht so offensichtlich, daß sie einen Skandal hervorgerufen oder zu Gerede Anlaß gegeben hätte. Es war offensichtlich, daß die junge Dame eine gute Ausbildung genossen hatte. Villiers sah ihnen nach, bis sie vollständig verschwunden waren, und wandte dann seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Dessert zu.
Die Tür zu Villiers’ Appartement öffnete sich leise in der ihr eigenen diskreten Art. Die Türen der weniger teuren Appartements waren gemeinhin etwas lauter, nicht so wohlerzogen oder verschwiegen still. Das war nicht etwa Absicht, wie es scheinen mochte, nicht einmal die Berücksichtigung der Erkenntnis, daß reiche Leute empfindlichere Ohren haben. Es lag tatsächlich an der größeren Anzahl von Leuten, die hier hereinkommen mußten, ohne bemerkt zu werden. Derek Godwin trat selbstsicher in den leeren Raum. Sein Selbstvertrauen hing zum Teil mit der schwarzen Brille
zusammen, die es ihm ermöglichte, im Dunklen zu sehen. Er hatte eben keine Lust, sich die Schienbeine anzustoßen. Das Selbstvertrauen war ferner ein Produkt des Wissens um seine eigenen Fähigkeiten. Er würde in der Lage sein, jedes Versteck zu finden, alles zu öffnen, was verschlossen war, und alles, was er anfaßte, wieder an seinen Ort zurückzulegen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sein Selbstvertrauen hing endlich auch mit den Warnsignalen zusammen, die er empfangen würde, wenn Villiers sich seinem Appartement näherte. Ein anderer Mann hätte vielleicht in dieser Situation gepfiffen, aber das tat Godwin nicht, weil es nicht zu dem Image paßte, von dem er meinte, daß er es besaß. Weder sein Vor- noch sein Nachname waren sein eigen. Das heißt, sie gehörten ihm schon, aber er hatte sie angenommen. Zusammengenommen stellten sie für ihn all das dar, was er zu sein wünschte. Es gab Zeiten, in denen er sich den ganzen Tag lang an diesen zwei Worten berauschte. In verschiedenen Stimmlagen und Akzenten ausgesprochen, spiegelten sie ihm einen lieblichen Maientag in den Niederungen seines Geistes vor. Er war stolz, Derek Godwin zu sein. Oh, welche Wege wir einschlagen, um uns in die Irre zu führen! Anstatt sich klarzumachen, daß der Adel zu seinen ausdrücklichen Feinden gehörte, und seine durchaus vorhandenen Kräfte auf dessen Überwindung zu konzentrieren, tat er alles, um einer von ihnen zu werden, und erfreute sich seiner Fähigkeit, sich in ihre Gesellschaft einfügen zu können. Selbst der Wunsch eines Grünschnabels, den Namen seines Schneiders zu erfahren, bereitete ihm insgeheim Vergnügen. Solcherart Selbstverwirrungen sind der hauptsächliche Grund dafür, daß unsere Welt kein besserer Ort ist. So arbeitete er weiter in Villiers’ Raum und wandte dabei Techniken an, die von Menschen ausgeübt wurden, seit es den ersten zugeschnürten Beutel aus Kaninchenfell gab.
Schließlich liegt es in der Natur von verschließbaren Objekten, daß sie geöffnet werden können. Es würde den Kern ihres Seins verletzen, wenn dem nicht so wäre. Die Ganzheit (Sie erinnern sich der Ganzheit?) in der Fülle der Zeit bringt Kaninchenfellbeutel, Taschen und Säcke hervor, und genauso muß sie Godwins erzeugen, um sie heimlich zu öffnen. Alles impliziert etwas: Eine Zelle impliziert einen Körper, ein Sandkorn impliziert Strandburgen und Picknicks, und eine Tasche impliziert Godwin, der seine Tätigkeit ausübt.
Villiers empfing einen Brief. Er hatte das Theater verlassen, wo er zwei Stunden verbracht hatte, um einer mittelmäßig provinzhaften Unterhaltung beizuwohnen. Er wiederum wurde von zwei verschiedenen Männern beobachtet, die dies aus unterschiedlichen Interessen taten. Der eine war von der Show ebenso gelangweilt und beobachtete ihn scharf. Der andere, eine einfachere Seele, unterhielt sich köstlich und hatte ein paar volle Minuten vergessen, Villiers zu beobachten. Es spielte allerdings auch keine Rolle. Er war immer noch gut zu sehen gegen Ende der Vorstellung. Ein Boy in der Star-Well-Livree eilte zu ihm, als er draußen stand, und überreichte ihm einen Brief. »Für Sie, Sir.« Er nahm die Münze, die ihm Villiers gab, und ging ab, worauf er sofort vom zweiten der beiden Männer aufgegriffen wurde. Nachdem er erfahren hatte, was in dem Brief stand, sagte der Mann: »Na sowas!« und ließ den Jungen weitergehen. Im Brief stand folgendes: Jetzt erkennen Sie die Tiefe meiner Verzweiflung. Oh, bitte sagen Sie, daß Sie mir helfen wollen in dieser schweren Stunde des Jammers. Kommen Sie ungesehen in mein Zimmer. Henry
darf nichts erfahren. Er ist schon eifersüchtig. Von einer, die Sie für ihren einzigen Freund hält: Maybelle Lafferty (Miss). Hisan Bashir Shirabi betrat seinen Hobbyraum. In seiner Begleitung befand sich seine neueste Geliebte, ein Mädchen, das von Herrdam aus verpflichtet war. Nach allgemeiner Wertschätzung war sie kaum als schön zu bezeichnen, aber Shirabi fand sie attraktiv. Sein Name stimmte übrigens auch nicht, aber er war auch von seinem richtigen Namen nicht so verschieden, daß eine gewisse Verwandtschaft nicht offensichtlich war. Wohlklang und Geltungssucht waren nicht die Gründe für seinen Namens Wechsel. Ein kurzes Mißverständnis in seiner Jugend hatte ihn dazu gebracht, und obwohl der wirkliche Grund längst nicht mehr vorhanden war, behielt er seinen falschen Namen, weil ein weiterer Namenswechsel die Leute nur unnötig verwirrt hätte. In seiner ganzen Verhaltensweise war er ein zutiefst unsicherer Mann. Er wählte unansehnliche Frauen, weil er es nicht wagte, ihre schöneren Schwestern zu begehren. Ein einfacher Mangel an Selbstvertrauen. Er war völlig unfähig, sich bei Leuten durchzusetzen, die von besserer Herkunft waren, ein Relikt seiner Jugend, dessen er sich nur zu klar bewußt war und das er wütend verabscheute, aber er war unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Es hatte Ausnahmen gegeben, zweimal in seinem Leben, und die Umstände waren gleichermaßen bizarr und zutiefst demütigend für die betreffenden höhergestellten Personen. Shirabi hütete diese Erinnerungen wie einen Schatz und dachte dennoch nur mit einiger Reserviertheit daran. Wenn Godwin unglücklich war, weniger darzustellen als dieser einfältige Linkshänder, so war Shirabi gleichermaßen unglücklich über Godwins Gegenwart. Wenn Godwin in der Lage war, das aus sich zu machen, was er von sich hielt,
konnte Shirabi nicht länger mehr sein Vorgesetzter sein. Das Ergebnis war ein fortdauernder Kampf. Das war kein Zufall. Obwohl Shirabi nach allgemeinen Maßstäben ein unsicherer Kandidat war, so war er in anderer Hinsicht mehr als fähig und mehr als skrupellos, wenn es darum ging, mit Leuten und Dingen auf seiner Ebene umzuspringen. Das alles war genauestens von Zvegintzov ausgetüftelt, der Shirabi die Führungsrolle zugeteilt hatte, ein Platz, den Godwin vorher eingenommen hatte. »Das Geheimnis beruht auf der Spannung«, pflegte Zvegintzov zu sagen. »Laß zwei fähige und völlig unterschiedliche Leute zusammenarbeiten, und du kannst sicher sein, daß du jeden Penny sehen wirst, der zu Recht dir gehört.« Das System hatte seine Vorteile, aber diese beiden Männer mußten äußerst vorsichtig ausgesucht werden. Wenn die Gegensätze zu groß sind, kommt es zu unerfreulichen Vorfällen. Die beiden richten dann ihr Hauptaugenmerk darauf, gegeneinander zu kämpfen, anstatt auf die Marine zu achten und ihren Job zu tun, wie es sich gehörte. Shirabi hatte das Mädchen hergebracht, weil er in seinem Hobbyraum die tiefsten Empfindungen hatte. Er war völlig unfähig, anderswo zu lieben. Konsequenterweise hatte er inmitten der Tanks und Pflanzenfreunde diskret ein Bett placiert. Es war ein hübsches Bett. Das Mädchen trat zuerst in den Raum. Sie keuchte und sagte: »Was ist denn hier passiert?« Shirabi drängte sich hinter ihr hinein und erstarrte. Seine Augen weiteten sich. Abrupt ergriff er die Aufschläge seiner Purpurrobe (diesmal hatte er die Farbe der großen Halle gewählt) und zog wild daran. Das war nicht etwa ein Anzeichen sexueller Leidenschaft, die ihn in dieser sichereren
und vertrauten Umgebung übermannte. Es war ein Ausbruch plötzlicher Wut. Er ließ die Aufschläge wieder los, stieß die Fäuste aneinander, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Was ist denn passiert?« fragte das Mädchen. Er drehte sich um, packte sie am Arm und schob sie aus dem Raum. Sie protestierte ordinär gegen diese unfreundliche Behandlung, aber er hörte ihr nicht zu. Er schlug die Tür hinter ihr zu. In seinen Augen hatte sie sich selbst seiner Gunst entzogen. Jemand, der so gewöhnlich auf dieses Unglück reagierte, war seiner unwürdig. Mit verschleiertem Blick sah er auf die leeren Tanks, auf das Grünzeug, das über den Boden verstreut war, auf die purpurne Blume, die sorgfältig auf ein Kissen im Herzen des grünen Sumpfes gebettet worden war, aber nun daneben lag. Diesem kaltblütigen Mord mußte man in derselben Sprache begegnen, und während er noch schluchzte, formte sich ein Entschluß in seinem Herzen.
Die Tür von Maybelle Laffertys Zimmer wurde weit aufgestoßen, und Henry Maurice stürmte herein, mit einem Gesichtsausdruck, der von Wut und Enttäuschung sprach. Erschreckt setzte sich Maybelle im Bett auf und umklammerte das Bettzeug. »Na schön«, sagte Maurice, »wo steckt er?«
IV
Sie können das Imperium eine Fiktion nennen, wenn Sie wollen. An vielen Orten hat es kaum genug Macht, soviel Steuern zu kassieren, um den Glauben an sich selbst zu finanzieren. Die Marine ist das wichtigste Exekutiv-Instrument des Imperiums. Die Marine führt Kriege, unterdrückt Aufstände, patrouilliert entlang der Handelslinien, hilft das Gesetz durchzusetzen, untersucht ungewöhnliche Vorfälle und fügt der Geburtstagfeier des Imperators einen zusätzlichen Farbtupfer bei. Auf dem Planeten Nashua ist ein Marine-Offizier das selbstbewußte Mitglied einer unglaublichen Machtstruktur. Er kann eine Drohne sein, ein Tagedieb. Er kann sowohl unfähig als auch arrogant sein. Er kann streitlustig sein. Er kann sich seiner Privilegien bewußt sein und sich nicht um seine Pflichten kümmern. Wie dem auch sei, je weiter man sich von Nashua entfernt, desto wahrscheinlicher ist es, daß ein Offizier Verantwortung zeigt. Die Macht der Marine, wenngleich an sich groß, ist oftmals mehr eine Drohung, als tatsächlich vorhanden. Diese Macht muß mit Zurückhaltung ausgeübt werden, mit intelligenter Sorgfalt, die sich am Ergebnis mißt, die auf Stabilität zielt, im Bewußtsein, daß die reale Welt etwas anderes ist als die Phantasiegebilde von Männern, die seit vierzig Jahren in ihrem Büro auf Nashua sitzen. Ein Offizier mag arrogant und unfreundlich sein, aber er ist immer in der Gemeinschaft seiner Kameraden, die darauf achten, daß er sich in der Öffentlichkeit anständig benimmt.
Und wenn Sie wirklich nach einem echten Freund suchen, einem Mann, auf den man sich bei jedem Wetter verlassen kann, einem Mann, der all die traditionellen Werte der Alten verkörpert: der glaubwürdig ist, loyal, hilfsbereit, freundlich, rücksichtsvoll, fürsorglich, ergeben, fröhlich, vorsorglich, tapfer, sauber und voller Glauben – also, kurzgesagt, ein richtiger toller Typ – versuchen Sie es mit einem Mann der Marine irgendwo weit draußen. Je weiter draußen Sie sind, desto besser wird der Freund sein, den Sie gewinnen.
Die Orion, das Schiff der Bolaire-Linie in Richtung Luvashe, sollte laut Zeitplan innerhalb der nächsten Stunden auf Star Well landen. Abreisende durften ihre neuen und engen Quartiere erst kurz vor dem Abflug des Schiffes belegen, aber der Landeraum am Hafen Zwei war schon mit Wartenden überfüllt. Aus verschiedenen Gründen: Einige wollten Ankömmlinge treffen, andere wiederum warteten auf Nachrichten, die das Schiff aus Morian bringen würde, und wieder andere wollten auf den Schirmen im Warteraum die Landung des Schiffes beobachten. Villiers, der sowohl das Schiff sehen wollte, als auch damit abzufliegen gedachte, kam sehr früh. Es war gut, daß er das tat, denn so sah er sich die Umgebung näher an, während er sich dem Warteraum näherte, und bemerkte, daß sie ihm irgendwie fremd war. Diese Fremdheit machte es ihm nicht schwer, seinen Weg zu finden – er konnte sich sehr gut zurechtfinden – , aber das war nicht der Hafen, auf dem er gelandet war, und es war auch nicht der Hafen, den er zufällig gefunden hatte, als er sich am vergangenen Morgen auf seinen abenteuerlichen Weg gemacht hatte. Er verhielt und hing seinen Gedanken nach. Er sah auf die Uhr und ging noch einmal zurück. Minuten später war er wieder auf der Promenade angelangt. Er ging in den
Laden, wo er das Buch über die verschiedenen alten Rassen gekauft hatte. Die Frau, die ihn zuvor bedient hatte, war wieder da, und sie erkannte ihn. »Hallo, Sir«, sagte sie, »was darfs heute sein?« »Haben Sie einen Führer von Star Well?« Sie langte unter die Theke und holte eine Karte hervor. Es handelte sich um die Karte, die überall auf Star Well ausgestellt war. Sie sollte einem Fremden ermöglichen, sich auf Star Well zurechtzufinden. Aber die Karte war sehr oberflächlich und zeigte nur die öffentlichsten der öffentlichen Orte. »Nein, danke«, sagte Villiers. »Ich dachte da an etwas mit Fakten, Abbildungen und Geschichte.« »Oh«, sagte sie. »Dann sollten wir mal unseren Freund hier fragen. Der wird alles wissen.« Sie tätschelte freundlich einen kleinen Computer. Dann sah sie in ein Verzeichnis und tippte einen kodierten Befehl in die Maschine. Sie surrte kurz und gab dann ein paar leere Pieptöne von sich. »Tut mir leid«, sagte die Frau. »Anscheinend haben wir hier nichts.« »Ich könnte schwören«, meinte Villiers, »daß ich mich an eine Ausgabe von Wu und Fabricant erinnern kann, die Star Well ausführlicher behandelt.« »Oh, Wu und Fabricant führen wir leider nicht. Ich kenne es. Sie sagen, das Star Well extrem langweilig ist.« »Wie kurzsichtig von ihnen«, sagte Villiers. Übrigens wurde er noch immer beschattet. Kaum war er gegangen, erhielt die Frau einen Anruf. Als Villiers im Wartesaal ankam, sah er Norman Adams unter der Menge. Adams mußte ihn beim Eintreten gesehen haben, und genauso klar gab er das Gegenteil vor. Er drehte ihm schließlich den Rücken zu, und weil er offenbar nichts
fand, wohinter er sich verstecken konnte, tat er so, als sei er in tiefe Gedanken versunken. Er sah erst auf, als Villiers schon eine volle Minute vor ihm stand und so wirkte, als würde er so für immer stehen bleiben. »Mr. Adams.« »Mr. Villiers.« Villiers ließ sich neben Adams nieder und streckte seine Beine behaglich aus. »Ein schöner Tag, um ein Schiff zu erwarten, nicht wahr?« »Oh ja, ganz sicher.« »Schönes Wetter.« »Ja, nehme ich an.« »Mr. Adams, ich schmeichele mir – darf ich mir schmeicheln? –, daß ich eine gewisse Kenntnis über das Standardverhalten in sozialen Beziehungen habe. Wenn man einen Menschen beleidigen will – direktes Schneiden; will man ihn hingegen nur von oben herab behandeln – indirektes Schneiden. Die gezielte Beleidigung, die eindeutig abfällige Bemerkung selbst – die natürlich überhört wird –, selbst Lächeln, das in zwölf verschiedenen Abstufungen möglich ist. Es scheint, daß man mir das mit Erfolg beigebracht hat. Allerdings muß ich zugeben, daß Sie mir gestern und heute eine Spielart gezeigt haben, von der mir vorher nicht bewußt war, daß sie existiert.« »Sir!« »Ja?« fragte Villiers, aber Adams war unfähig weiterzusprechen, die Stimme versagte ihm, darum fuhr Villiers fort: »Ich dachte, Sie sind vielleicht so gut, mir zu helfen, damit ich mein Repertoire erweitern kann. Wie nennen Sie das, was Sie da gerade machen?« »Das ist unerträglich!« brach es aus Adams hervor. »Dem stimme ich zu.«
Adams straffte seine Gestalt. »Wenn Sie einen Treffpunkt nennen wollen…« »Ein Duell?« Villiers lachte laut auf. »Sie mißverstehen mich, und ich fürchte, daß ich Sie auch mißverstehe. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen – vielleicht habe ich einen etwas blutdürstigeren Redestil, als ich von mir glaubte. Ich muß mir das wohl abgewöhnen. Ich meine, bis auf gestern kamen wir doch gut miteinander aus, und seitdem war es aus. Ich versuche mir meine Feinde nicht durch Zufall zu verschaffen. Oder sind wir etwa nicht gut miteinander ausgekommen?« »Ich meine auch«, sagte Adams widerstrebend. »Nun?« Adams brütete schweigend über dieser Frage. Endlich fragte er nervös: »Sind Sie mir heute hierher gefolgt?« »Nein. Ich hatte mich mit jemanden getroffen.« »Sind Sie mir gestern gefolgt?« »Ja.« »Nun, und warum sind Sie mir gefolgt?« Die Frage klang drängend. »Ich war einfach neugierig«, sagte Villiers. »Warum ist es für Sie so wichtig, ob Ihnen jemand folgt oder nicht?« Adams’ Reaktion war erstaunlich. Einen langen Moment sagte er nichts, dann wurde er langsam rot, bis über beide Ohren. Es schien so, als habe er alles von Villiers erwartet, nur nicht eine ruhige Zustimmung und eine darauf folgende ebenso ruhige Frage. Er beantwortete die Frage auch nicht, sondern stand auf und verließ hastig den Raum. Und er kehrte nicht zurück. Das Quartier von Miss Maybelle Lafferty war nicht schlecht, obwohl es an das von Villiers bei weitem nicht heranreichte. Und doch war es groß genug, um mehr als ein gutes Versteck
anzubieten. Ein wendiger Mann wie Villiers hätte mit Sicherheit leicht deren sechs gefunden. Das Geräusch einer Hand an der Tür traf sie unvorbereitet. Die Erwartung war zu groß gewesen und hatte sie in einen Zustand versetzt, in dem sie nur warten konnten. Sie hatten sich nur aufs Warten konzentriert, und sie waren nicht darauf vorbereitet, daß ihre Erwartungen erfüllt werden würden. Folgerichtig gerieten sie in leichte Panik. »Versteck dich«, zischte Maybelle. Sie räusperte sich und sagte: »Einen Augenblick, bitte.« Henry Maurice, der lange nicht so behende war wie Villiers und möglicherweise auch nicht dessen Überlegenheit besaß, wählte das nächste Versteck. Er ging in die Knie und rollte sich unter das Bett, wobei er seinem Anzug unwiederbringlichen Schaden zufügte. Wenn überhaupt elegante Kleidung aus einem Grund getragen wurde, doch wohl aus dem, daß der Träger es nicht nötig hatte, grobe, unkultivierte Dinge zu tun, wie etwa sich unter ein Bett zu rollen. Maurice dachte auch nicht daran, daß er in einem taktischen Nachteil war, wenn er unter einem Bett hervorzukriechen hatte, um den Wütenden zu spielen. Er tat jedenfalls sein Bestes, um sich für die Situation in die richtige Stimmung zu bringen, und riß sich zusammen. Während Maybelle gerade die Tür erreicht hatte, hatte er sich eben wieder in der Gewalt. »Ja?« sagte sie und öffnete die Tür. Es war eines der uniformierten, rotwangigen Mädchen. »Oh, tut mir leid. Ich wollte sauber machen. Ich kann später wiederkommen.« »Das wäre nett.« »Übrigens, ist da nicht eben etwas in Ihrem Zimmer zu Boden gefallen?«
»Das war nichts«, sagte Maybelle und lächelte. Sie schloß die Tür und saß schon wieder, während sich Henry unter dem Bett hervorquälte. »Sehen wir den Dingen ins Auge. Er wird nicht kommen. Vielleicht hat er die Botschaft nicht erhalten«, sagte sie. Henry war nicht bereit, seine kostbare Wut zu verschwenden. »Er hat den Brief bekommen. Ich sah doch, wie er ihn öffnete. Ich sah, wie er ihn gelesen hat. Es muß deine Schuld sein! Du hast die Sache verpfuscht!« »Vielleicht mag er keine Mädchen. Vielleicht hättest du ihm den Brief schicken sollen.« »Das ist zwar komisch, aber nicht sehr konstruktiv. Du hast ihm ziemlich gut gefallen. Er hat beim Frühstück zu dir rübergesehen. Er hat dich zum Essen eingeladen. Er war perfekt: reich, jung, wohlerzogen, jung genug, um hereingelegt zu werden, harmlos genug, um nicht an einem Duell interessiert zu sein. Genau die Sorte, die zahlen würde. Genau die Sorte, die einen Skandal vermeiden würde. Was also hast du falsch gemacht?« »Henry, ich schwöre dir, ich habe es genauso gemacht, wie du gesagt hast. Ich habe ihm die Geschichte erzählt. Ich habe sie genauso erzählt, wie wir es geübt haben. Er ist einfach nicht gekommen.« Henry seufzte und setzte sich auf das Bett. »Nein, ist er wirklich nicht. Darin hast du recht. Gott weiß, daß du nicht schauspielern kannst, aber ich dachte, daß wir diese Taube einfangen würden.« »Henry!« sagte sie. »Tut mir leid. Ich weiß, daß du dein Bestes gegeben hast.« »Es gibt immer noch den jungen. Diesen großen Tolpatsch.« »Adams? Ich glaube nicht, daß der soviel Geld hat.« »Er muß Geld haben. Er spielt. Und ich weiß, daß ich ihn täuschen kann. Sag doch bitte ja.«
Henry sah auf seine zerknitterten Sachen herab. »Nun, wenn wir jemals hier unsere Rechnung zahlen und abhauen wollen, müssen wir uns irgendein Opfer suchen. Früher oder später, so Gott will, wird es jemand geben, den du hereinlegen kannst.«
In der gelandeten Orion versammelten sich die Passagiere vor einer noch verschlossenen Schleuse. Torve der Trog und Augustus Srb führten die Reihe der Wartenden an. Mrs. Bogue und ihre fünf Schützlinge standen in der Mitte der Schlange. Alice Tutuila wollte jetzt irgend etwas sehen. Sie hatte feststellen müssen, daß die Raumfahrt lange nicht so romantisch war, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie hatte mehr als genug von Gängen, Schleusen und engen Räumen. Auf der Reise hatte sie Sterne sehen wollen, Schiffe, die sich über die Schwärze der Nacht hinwegschwangen, Piraten, galante Gentlemen, die Rettungen vollführten, ohne daß sie ins Schwitzen gerieten oder daß ihnen die Frisur verrutschte, oder ein paar andere der Weltraum-Attraktionen, die sie mit gutem Recht erwarten durfte. Und Mrs. Bogue hatte sie wie ein guter Schäferhund, der die Gedanken seiner Schafe kennt, von den kleinsten Anzeichen dieser wunderbaren Erlebnisse abgeschirmt. Schiffe? »Glotzt nicht so, Mädels!« Gentlemen? »Kommt weiter! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Selbst fette Priester und seltsame fremde Kreaturen: »Für solche Dinge sollten sich junge Damen nicht interessieren.« Es war ein romantischer Wunsch, daß sie Piraten herbeisehnte. Es hatte durchaus Zeiten gegeben, da ein solcher Wunsch nicht nur romantisch war, sondern jenseits der Grenzen des Möglichen. Aber es gibt Zeiten, und Zeiten… Was bedeutet, daß Piraten nicht außerhalb der
Wahrscheinlichkeit waren. Im Jahre 1460, also im letzten Jahr, hatte eine Gruppe verzweifelter frauenloser Minenarbeiter, ihrer eigenen Gesellschaft überdrüssig, eine Ladung Heiliger Prostituierter auf ihrem Weg zu den Gosh-Tempeln auf Braunfels gestoppt. Nach zähen Verhandlungen wurde die Situation bereinigt, indem auf diesem Planeten ein lokaler Tempel von Gosh eingerichtet wurde, was der Beginn eines rapiden Zulaufs dieser Religion war. Die Priester von Gosh erkannten plötzlich die Anziehungskraft der bis dahin kleinen Sekte – aber die auslösende Handlung war eindeutig Piraterie. Doch alles, was Alice sehen konnte, war die Reihe der Leute vor sich und eine geschlossene Metalltür, die außerdem noch in einem unappetitlichen Cremegelb gehalten war. Es war alles so weit entfernt von den Piraten. »Reiß dich zusammen, Alice«, sagte Mrs. Bogue scharf und begleitete ihren Befehl mit einem gleichermaßen scharfen Klaps. Dann schwang die Tür auf. Die Schlange bewegte sich voran. Auf der anderen Seite der Tür war ein breiter Gang, der zur Zeit mit der Orion verbunden war. Sie passierten ihn schnell und gelangten in einen großen, hell erleuchteten Raum. Hinter einem Schalter saß der Repräsentant des Imperiums auf Star Well. Der Repräsentant war ein alter Mann namens Phibbs. Sein Gesicht war glatt bis auf die dicken Tränensäcke unter den Augen, aber sein Haar war an den Wurzeln weiß. Er hatte weder Energie noch Ehrgeiz, schon gar nicht Intelligenz, und er kannte auch sein Gesetzbuch nicht besonders gut. Was er wußte oder was er glaubte zu wissen, führte er mit Feuereifer aus. Er kannte keine Ausnahmen und wußte nichts von Toleranz, und wenn, dann würde er auch keinen Unterschied gemacht haben – er hatte zuviel Freude daran, Leuten Ärger zu
bereiten, indem er die Vorschriften, die er nicht gemacht hatte und für die er auch nicht verantwortlich war, strikt befolgte. Alices Freundin Louisa, die neben ihr stand, gab ihr einen verstohlenen Stoß. »Sei jetzt vorsichtig«, flüsterte sie. »Wenn du jetzt Mrs. Bogue sauer machst, werden wir hier nichts zu sehen kriegen.« Alice nickte. Vor sich sah sie den fetten Priester und den Trog, die auf den alten uniformierten Mann hinter dem Schalter einredeten. Vor ihnen erstreckte sich eine Wartehalle, in der eine Anzahl von Leuten herumstand. Ihre Schlange bewegte sich nicht weiter vorwärts, und der Priester und der Trog redeten weiter auf den alten Mann ein. Endlich wurde der Priester durchgewinkt, und der Trog trat aus der Schlange hinaus und wartete daneben. Sie kamen weiter vorwärts. Als sie den Schalter erreicht hatten, legte Mrs. Bogue sechs Formulare vor Phibbs hin und breitete sie aus. »Hier haben Sie alles«, sagte sie. Sie hatte keinen Spaß daran, mit irgendwelchen Unsinn ihre Zeit zu vertrödeln, und war stolz darauf, alle ihre Angelegenheiten unter sorgsamer Kontrolle zu haben, bis hin zu dieser Verrichtung, Papiere zur Inspektion vorzulegen. Sie deutete auf die Papiere und tippte den Mädchen nacheinander auf die Köpfe. »Jane, Fiona, Alice, Louisa und Orithyia.« Phibbs machte da nicht mit. Die grimmige alte Dame mischte sich nach seinem Geschmack zu sehr in seinen Job ein. So nahm er sich Zeit, die Papiere zu betrachten, sah jedes lange an, sah dann auf die Mädchen, ob sie zu diesen Papieren paßten, und las dann wieder in den Papieren. Ein Papier war mit Sicherheit eine Fälschung, aber er kam nicht darauf, welches – außerdem hatten sie die Kontrollen von fähigeren
Leuten überstanden, und so würde es auch in Zukunft sein. Aber er nahm sich Zeit, sie alle genauestens zu studieren. »Die Mädchen scheinen in Ordnung zu sein«, sagte er schließlich. »Aber was ist mit Ihnen?« Ärgerlich stieß sie auf den obersten Zettel. »Das. Das ist meins!« »Oh, Oh, ja. Das Bild sieht Ihnen aber nicht sehr ähnlich.« Während sie verhandelten und die Mädchen sich an der Lage ihrer Aufpasserin weideten, trat ein Gentleman aus der Menge hervor, die im Wartesaal herumstand. Er ging nach vorn, wo der Trog auf der Seite stand und sprach ein paar Minuten mit ihm. Der Trog stand mit dem Rücken zum Schalter, und Alice hatte einen guten Blick auf den Gentleman. Er war jung und gut gekleidet, nicht sehr groß und schlank. Sein Haar war braun und hing ihm frei bis auf die Schultern. Seine Züge waren nicht so ebenmäßig und perfekt, daß man ihn als gutaussehend bezeichnen konnte, aber seine Gegenwart war unübersehbar. Alice machte Louisa auf ihn aufmerksam, indem sie die Freundin leicht mit dem Ellenbogen anstieß. Ohne ihren Kopf zu wenden, flüsterte sie: »Wie gefällt dir der da?« Der Gentleman hatte offenbar ihren Blick gesehen. Er sah sie an, schaute nochmal herüber und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Trog zu, der sich vor ihm auftürmte. Als das Gespräch beendet war, drehte der Trog sich um und watschelte plattfüßig fort. Phibbs nahm sein Weggehen nicht zur Kenntnis. Alice fühlte, wie ihr Arm plötzlich von Louisa gedrückt wurde. Das Mädchen japste erregt. Der junge Herr kam direkt auf sie zu. Er verbeugte sich und sagte: »Miss Parini, ich freue mich, Sie zu sehen. Ich muß gestehen, das ist schon eine Überraschung.«
Alice konnte sich kaum beherrschen. »Miss Parini« war keine andere als Louisa. Und Louisa verneigte sich erfreut. »Mr. Villiers«, sagte sie. Mrs. Bogue raffte ihre Papiere zusammen, wandte sich um und sagte: »Was glaubst du, was du da gerade treibst?« Kaum hörbar flüsterte Louisa: »Sie bringt uns zur Schule.« Villiers, der die Worte wohl gehört hatte, wandte sich Mrs. Bogue zu und verneigte sich tief. »Verehrte Madame«, sagte er. »Ihr Diener. Ich bin ein enger Freund der Familie Parini. Darf ich Ihnen meine Gesellschaft andienen? Ich bin seit einigen Tagen hier in Star Well, und ich kenne mich gut genug aus, um Ihnen Zeit und überflüssige Wege zu ersparen.« »Nun«, sagte sie, »ich muß schon sagen, es ist erfreulich, mal einen jungen Mann zu treffen, der Manieren hat.« »Anthony Villiers«, stellte er sich lächelnd vor. Kein Zweifel, er konnte charmant sein, wenn er sich Mühe gab. Ich muß gestehen, daß ich von Charme nicht allzuviel verstehe. Würde sich Godwin auf diese Art vorstellen, die Wirkung wäre finster, ölig und gefährlich, aber nie gewinnend. Villiers, der durchaus noch reserviert war, hatte Mrs. Bogue sofort und ohne sichtliche Anstrengung gewonnen. Es ist keine Frage: Das Leben ist nicht fair. Ich hoffe, Sie haben nicht etwas anderes geglaubt.
Phibbs sagte: »Tut mir leid, aber diese Papiere reichen nicht aus. Ich kenne die Bestimmungen. Niemand kann das Gegenteil behaupten. Jeder Bewußter mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit der hier durchkommt, muß von mir registriert werden… äh, seine Rote Karte, seine Reiseerlaubnis… und, äh, sein Ziel und die Länge des Aufenthalts.«
»Er ist ein Priester wie ich«, sagte Srb. »Wollen Sie seine Integrität anzweifeln?« »Ich weiß nicht, was ich will. Wo war ich gerade stehen geblieben? Ja, also, mit den Vorschriften habe ich nichts zu tun. Ich tue nur meine Arbeit. Ich zahle – ich meine, ich werde dafür bezahlt, daß ich das tue, was ich tun soll, und ich weiß, was ich tun soll, und er darf nicht durch, und das ist alles.« Torve schwieg. Er stand einfach auf seinen flachen Füßen da wie ein Klotz. »Er kann nicht weiterfliegen, solange er nicht diese Kontrolle passiert hat«, sagte Srb. »Stimmt doch, oder?« »Ja. Nein! Ja! Gehen Sie weiter! Ihre Papiere sind in Ordnung, und Sie halten die Schlange auf.« Phibbs trieb Srb mit einem ungeduldigen Wedeln der Hände an und sagte dann zu dem Trog: »Und, äh, bleiben Sie aus dem Weg und warten Sie dort drüben eine Minute.« »Ich werde versuchen, Sie hier rauszuholen«, sagte Srb. »Danke, aber ich meine, das wird nicht nötig sein«, sagte Torve. Er bewegte sich aus der Schlange und stellte sich dort auf, wo Phibbs es gesagt hatte. Srb nahm die Tasche auf, die er in der Hand getragen hatte, raffte seine Röcke um sich, und wie ein großes rotes Wassertier, das sich außerhalb seines Elements befindet, ließ er seine Leibesfülle in den Warteraum wogen. Er hielt an, besah sich die Leute um sich herum, einen nach dem anderen, und setzte dann seinen Weg fort. Normalerweise ging ein eben angekommener Passagier, der einige Zeit in Star Well verbringen wollte, sofort zum ServiceSchalter in der Wartehalle. Die einzigen Ausnahmen waren Leute, die innerhalb der nächsten Stunden wieder abreisen würden, und die wenigen, die sich nicht neun Taler pro Tag für ein miserables Zimmer leisten konnten und statt dessen lieber so unauffällig wie möglich von einem öffentlichen Platz zum
nächsten wanderten. Srb fiel natürlich weder unter die eine noch unter die andere Kategorie, aber dennoch ging er nicht zum Service-Schalter. Zum dritten Mal schweifte jetzt sein Blick über die Leute im Empfangsraum. Diesmal wirkte er schon leicht ungeduldig. Er stand in der Nähe des Ausgangs und wollte gerade den Raum verlassen, als ein dringendes »Pssst« seine Aufmerksamkeit erregte. Hinter ihm, gerade außerhalb des Warteraums, stand ein großer, linkisch anmutender, nüchtern gekleideter junger Mann. Der Junge machte das Erkennungssignal in der Handfläche. Linker kleiner Finger, rechte Handfläche, ein Kreuz von unten nach oben und von rechts nach links gezogen und die Quadranten mit Punkten in der richtigen Reihenfolge versehen. Srb antwortete mit dem Gegenzeichen. »Sie sind, nehme ich an, Junior Leutnant Adams.« »Ja, Sir, General Srb.« Srb war nicht General in einer militärischen Organisation, noch in einer Religion oder einer wohltätigen Hierarchie. Er war ein Generalinspekteur des Imperiums, ranggleich einem Admiral der Marine, und die Anrede ›General‹ faßte er als höfliche Geste auf. Er war tatsächlich ein Anhänger des Mithra-Kultes und war privat an vergleichender Religionslehre interessiert, aber ein Priester war er nicht. Er verkleidete sich oftmals als Priester, um bequemer und ohne unnötige Aufmerksamkeit in seltsamen und verdächtigen Regionen reisen zu können. Ein fetter Laie ist eine Sache; ein fetter Priester eine ganz andere. Den einen kann man ohne Schwierigkeiten verhören, den anderen nicht. Eine solche Täuschung ist zwar nicht die feinste Art, Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, aber Srb kümmerte sich wenig um Feinheiten, mehr um Ergebnisse, und vor allem um seine Sicherheit und seine Bequemlichkeit. Und er war sich
durchaus all der kleinen Privilegien, Vergünstigungen und Zuteilungen bewußt, die ein Priester automatisch genießt, die man die Segnungen des Klerus nennen könnte. »Warum konnten Sie mich nicht im Warteraum in normaler Kleidung erwarten?« »Der da«, sagte Adams und deutete auf Villiers, der sich gerade mit dem Trog in einem Gespräch befand. »Ich möchte nicht, daß der uns zusammen sieht.« »Wer ist das?« »Er heißt Anthony Villiers. Ich glaube, er weiß etwas.« »Wieviel weiß er?« »Das ist es ja eben, Sir. Ich bin da nicht sicher.« »Vielleicht sollten wir uns am besten in Ihrem Appartement treffen. Geben Sie mir die Nummer, und wir sind sicher, daß er uns nicht zusammen sehen wird.« Erst als Srb die Nummer und die Lage von Adams’ Appartement hatte und Adams gegangen war, bewegte sich Srb zum Service-Schalter. Inzwischen warteten einige Leute vor ihm. Er nahm seinen Platz in der Reihe ein und stellte seine Tasche neben sich. In dem Moment kam Torve der Trog, der seinen Platz in der Schlange verlassen hatte. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Tatsächlich?« meinte Srb. »Sehr schön, mein Freund. Sollen wir uns zum Essen treffen, wie verabredet?« Der Mann vor ihm wandte sich beim Klang seiner Stimme um. »Oh, Padre«, sagte er. »Ich hatte nicht gemerkt, daß Sie hinter mir stehen. Bitte nehmen Sie meinen Platz.« »Danke, mein Sohn. Der Herr schütze dich.« »Ich sehe Sie dann später beim Essen«, sagte Torve und verließ den Warteraum. Bevor Srb den Schalter erreicht hatte, verließ der Mann, der ihm von dem jungen Adams gezeigt worden war, in Begleitung von Mrs. Bogue und ihren fünf jungen Schützlingen ebenfalls den Raum.
Nun, Villiers war hier, um Torve den Trog zu treffen. Als Torve zur Seite trat, überquerte Villiers die unsichtbare Linie, die die Leute im Warteraum von den ankommenden Passagieren trennte. Er nahm keine Notiz von den anderen Ankömmlingen, sondern ging direkt auf Torve zu. »Dieselbe alte Sache?« fragte er, obwohl das nicht die wichtige Frage war, die er eigentlich stellen wollte. »Wie gewöhnlich«, sagte Torve. »An dem Tag, an dem wir ein paar geeignete Papiere zum Kopieren finden, wird alles einfacher sein.« »Oh, das macht nichts.« »Was sind die Bedingungen?« »Eine Minute warten.« »Hmm. Nicht so übel. Jetzt zum Wichtigen. Die Überweisung war nicht auf Luvashe. Haben Sie sie auf Morian gefunden?« »Nein«, sagte Torve der Trog. »Dann möge der Himmel uns helfen. Ich habe meine Ausgaben hier auf die Hälfte reduziert, aber gestern habe ich meinen letzten Royal ausgegeben. Ich habe nur noch Wechselgeld.« »Ich habe Neuigkeiten«, sagte Torve. »Die Überweisung war auf Morian, aber da waren wir schon weg. So wurde sie weiter nach Yuten geschickt.« »Na, das erleichtert mich. Kein Zweifel, sie werden überrascht sein, daß wir so bald wieder auftauchen. In jedem Fall muß man darüber nachdenken.« »Die Minute ist um.« »Gut.« Villiers teilte Torve mit, wie sein Quartier zu erreichen war und wie man die Tür überreden konnte, ihn
hereinzulassen. »Ich treffe Sie dort in wenigen Minuten. Ich sehe da jemanden, von dem ich glaube, daß ich ihn kenne.« »Ich habe einiges, worüber ich nachdenken kann. Ich werde meditieren, bis Sie da sind«, sagte Torve. »Blurb.« Villiers ging auf die Damen zu, und Torve, dessen Warteminute vorbei war, wandte sich um und ging fort. Phibbs sagte nichts. Er nahm von Torves Verschwinden keine Notiz. Als sich die Schlange aufgelöst hatte und er seinen Schalter schloß, mag er das Gefühl gehabt haben, etwas vergessen zu haben, aber wenn er das Gefühl hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
V
Einst dachten die Menschen, daß das Feuer der entfesselte Zorn der Götter sei. Dann lernten die Menschen es auch, ein bißchen Zorn zu entfesseln. Der Mensch dachte einst, daß Fliegen ein Vergnügen sei, das allein dem Genuß von Vögeln, Fledermäusen und Pferden vorbehalten war, aber der Mensch lernte, wie ihr Genuß zu teilen war. Ein paar tausend Dinge, kaum verstanden, gefürchtet, für jenseits der Kontrolle gehalten, sind hinzugefügt worden, als ihre Zeit aus dem Füllhorn des Möglichen reif wurde. Einige wenige Dinge aber widersetzen sich immer dem Verständnis, und eines der wesentlichsten davon ist die Kindererziehung. Eine Zeitlang glaubte man, alles unter Kontrolle zu haben. Eltern konnten ihre Kinder nach Spezifikationen bestellen, wie sie vielleicht ein Haus bestellten, Kleidung oder irgendwelche Gegenstände beliebigen Stils. Glück? Das war dabei nicht in Sicht. Dumme Eltern sahen sich plötzlich mit Kindern versehen, die weitaus intelligenter waren als sie selbst. Die Gesellschaft sah sich einer Dominanz von Frauen oder Männern gegenüber, gerade wie der Wind der Mode blies. Und es gibt einfach keinen Weg, um ein Kind in ein neues Modell zu verwandeln, wenn das alte gerade nicht nach der herrschenden Mode ist oder sich der eigene Geschmack geändert hat. Über fünf- oder sechshundert Jahre lang wurden so alle möglichen Experimente unternommen, aber irgendwie werden in diesen modernen Zeiten die meisten Babys immer noch nach der traditionellen Methode empfangen und geboren. Catch-as-catch-can. Die Experimente erfüllten einfach nicht
die Erwartungen. Eltern, die es sich leisten können, werden niemals ein mißgebildetes oder geisteskrankes Kind zur Welt bringen, aber sie werden auch kein Kind von der Stange kaufen. Aber gewöhnliche Kinder sind auch unbefriedigend. Man mag sich wünschen, daß alle Eltern ein Kind haben, das ihnen in allem zustimmt, das niemals die Autorität anzweifelt, das niemals einen freundlichen Befehl mißachtet und mit der Zeit zu etwas heranwächst, das sie verstehen und akzeptieren können. Aber Kinder, selbst die von der Stange, schlagen nicht nach dieser Art. In einer angepaßten Familie wird sich wenigstens ein Kind den Kopf kahl scheren, um Schlangenmensch zu werden. In einer eher ausgeflippten Familie wird wenigstens ein Kind nach der Sicherheit von Milliarden Menschen verlangen und sich so kleiden, so denken, essen, arbeiten und spielen, wie sie es tun. Es gibt keine Möglichkeit, das zu verhindern. Wie Sie sich vielleicht erinnern, wurde Sokrates zum Tode verurteilt, weil er die Jugend Athens verdarb. Was natürlich gar nicht stimmte. Die Eltern hatten einfach die Zeit verschlafen und suchten nun nach einem Sündenbock. Und wie man unter der Hand hört, findet der Imperator von Nashua das Interesse seines zweiten Sohnes an der Morovianischen Landwirtschaftslehre sowohl verblüffend als auch störend und hat aus diesem Grunde schon einige königliche Dispute mit ihm gehabt, in denen er den Jungen zu überzeugen versuchte, daß er sich lieber passendere Interessengebiete suchen sollte, als Gräser zu studieren. Wie man sich denken kann, ohne viel Erfolg. Das Ergebnis einer 22 Jahre dauernden Studie der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, die im Jahre 914 vom Petenji-Institut begonnen worden war, zeigt auf, daß man in jenen Jahren eine 18-prozentige Chance hatte, daß das eigene Kind sich als Versager herausstellen würde. Dagegen
bestand die Chance von 37 %, daß die Eltern das Kind nicht verstanden, selbst wenn sie es akzeptierten. Und das sagt nichts über die normalen Probleme aus, die bei der Erziehung eines Kindes entstehen. Ich glaube nicht, daß sechshundert Jahre etwas an diesen Tatsachen geändert haben. Arme Familien, deren Mitglieder nicht zusammenpassen, haben dabei größere Probleme als reiche. Das beste, was ein armer Vater tun kann, ist, seinen Versager von Sohn zur Arbeit auf ein Feld zu schicken, das sechs Meilen in der anderen Richtung liegt. Er kann ihn bei den Mahlzeiten ignorieren und seine Abende in einer anderen Ecke des Zimmers verbringen. Ein reicher Vater hat andere traditionelle Möglichkeiten, wie etwa den monatlichen Wechsel. Das bedeutet, daß ein junger Mann auf Reisen – wohin auch immer – geschickt und so lange mit angemessenen Geldsummen ausgestattet wird, wie er bloß von Zuhause wegbleibt. Das klingt wie eine glückliche Lösung – wenn das Geld am rechten Ort zur rechten Zeit eintrifft.
Als Villiers zu seinen Räumen zurückkehrte, saß Torve der Trog am Boden und machte Blurb, blurb, blurb Geräusche. Seine Anatomie und die Art, wie er saß, bewirkten, daß die Knie überlappten und die braunen, pelzigen Füße zur Seite ausgestreckt waren. Es waren breite, spatenartige Dinger und gehörten nicht gerade zu seinen attraktivsten äußeren Merkmalen. Tatsächlich hatte er nur wenige attraktive äußere Merkmale anzubieten. Er war groß und klotzig und von Fell bedeckt, und sein Kopf schien im Verhältnis zum Körper nicht die richtigen Proportionen zu haben. Am meisten erinnerte er an eine zwei Meter große säugetierartige Kröte, die durch eine Laune der Natur aufrecht gehen konnte. Das einzige, was verhinderte, daß er abstoßend wirkte, waren seine
vorgewölbten blauen Augen. Diese Augen waren nicht einfach nur kleine, blaue Scheiben, sondern große glühende Aquamarine, für die ein mittelalterlicher König liebend gern seine jüngste Tochter eingetauscht hätte. Ein geringerer König hätte vielleicht seine älteste Tochter dagegen eingetauscht. Selbst in diesen erleuchteteren Zeiten hatte das Augenblau der Trogs die Fähigkeit, Wärme auszustrahlen. Die Blurb, blurb, blurb Geräusche waren hohe Kunst. Villiers wußte wenig von den Prinzipien dieser Kunst, und Torve war entweder unfähig oder nicht willens, sie ihm zu erklären, aber was davon nun zutraf, wußte Villiers auch nicht. Manchmal dachte er, daß es nur um den Rhythmus ging, manchmal auch, daß es um Modulationen oder subtile Veränderungen der Schwingungen ging. Auch wenn er die Kunstform als solche nicht verstehen konnte, fand er sie immerhin auch nicht besonders störend. Stellen wir sie uns einfach wie das Zirpen einer Grille oder das Wurbeln eines fidelischen Eisenwurms vor. »… Blurb…« Villiers zog die Tür zu und begann sich auszuziehen. »Bitte nehmen Sie den Stiefel, Torve«, sagte er. Der Trog half ihm, die hochhackigen, eng geschnittenen Stiefel auszuziehen, und Villiers seufzte erleichtert. »Manchmal denke ich, meine Füße werden breiter. Oder vielleicht wachsen sie noch.« Er lag auf dem Rücken im Bett und schloß die Augen. Torve kehrte zu seiner Komposition zurück. Selbst wenn Villiers nicht gewußt hätte, daß Torve eher improvisierte, als etwas zu üben, dem er schon die endgültige Form gegeben hatte, hätte er das erkannt oder zumindest gemeint, es zu erkennen. Es fehlte das gewisse notwendige je ne sais quoi einer ausgefeilten Arbeit. Villiers lag da und hörte ein paar Minuten zu, während er seine Gedanken ordnete. Dann stand er plötzlich auf und
ging in die Service-Ecke. Er ließ das Bild abgeschaltet, da er nicht die Notwendigkeit einsah, einen niederen Angestellten mit dem Anblick seiner Unterwäsche zu beehren. Aber Sie, die Sie vielleicht daran interessiert sind, sollen wissen, daß ihre Farbe beige war, daß seine Strümpfe halblang und wohlgefüllt waren, daß sein Leibchen locker geschnitten war und daß seine Kanone, eine Grene & McKenna in einem Umkehrholster auf . der linken Seite hing. Villiers wünschte, mit der Verwaltung verbunden zu werden. »Blurb. Blurb…« »Hier spricht Villiers aus der Palatine-Suite.« »O ja, Sir!« »Ich habe meine Pläne geändert. Ich reise heute abend nicht ab, wie ich Mr. Shirabi gesagt habe. Ich habe mich entschieden, ein paar Tage länger in Star Well zu bleiben. Werde ich meine gegenwärtigen Räume behalten können, oder wird es nötig sein, daß ich umziehe?« »Pardon, Sir, ich sehe sofort nach.« Der Bedienstete auf dem Bildschirm wandte sich um und sah in seinen Listen nach. »Kein Problem, Sir. Sie können in Ihrer Suite bleiben.« »Sehr schön«, sagte Villiers und wollte abschalten. »Einen Moment, Sir. Ich kann Sie nicht sehen und höre ein merkwürdiges Geräusch in der Leitung. Ist das Gerät in Ordnung?« »Völlig in Ordnung. Besten Dank.« Villiers wandte sich um. »Damit ist das geringste unserer Probleme erledigt.« Er setzte sich wieder aufs Bett. Müßig zupfte er an den Fransen des Baldachins. »Was wir jetzt machen sollen, um genug Geld zu bekommen, damit wir von hier in Richtung Yuten verschwinden können, weiß ich allerdings nicht.« Ohne aufzusehen, sagte Torve: »Brauchen sich nicht Sorgen zu machen. Alles wird zur Gleichheit kommen.«
»Hmmm?« »Keine Sorgen machen. Ich mache mir auch keine Sorgen. Blurb. Blurb. Ich habe Vertrauen. Blurb. In der Erfüllung der Zeit kommen viele Linien des Geschehens zusammen – sie werden…« Die Worte fehlten ihm. Mit den Pfoten vollführte er eine runde Bewegung und glättete sie gleich wieder. »Wir gehen dann nach Yuten, haben Geld, alles ist gut. Sehen Sie?« »Ich sehe, daß Sie Vertrauen haben.« Torve strahlte. »Ah, Sie sehen.« »Nein.« »Na schön, Sie sind trotzdem ein guter Kerl, Tony. Sie verstehen wenig, aber Sie sind trotzdem ein guter Kerl.« »Danke schön. Da ich keine große Auswahl habe, nehme ich das mal als Kompliment.« Villiers zog den Holster aus dem Leibchen. Der griffige Überzug legte seinen üblichen kratzenden Protest ein, als es aus der zarten Umarmung des Stoffs gezogen wurde. Er legte den Holster nieder und begann, sich die Socken auszuziehen. »Wer war dieses junge weibliche Mädchen-Geschöpf?« »Sie ist die Tochter eines Mannes, den ich vor einigen Jahren getroffen habe, ein ziemlicher Schurke. Einer von diesem Parini-Blinoff-Branko-Clan.« »Diese Namen?« »Sie sind alle miteinander verwandt. Wenn Sie einen Mann mit einem dieser Namen treffen, sollten Sie wachsam sein.« »Aber Sie haben den Vater einen Schurken genannt. Gerade Sie?« Villiers lachte. »Bin ich ein Schurke, Torve?« »Manchmal schon«, erwiderte Torve ernsthaft. Villiers lachte wieder. »Mr. Parini ist immer ein Schurke. Jedenfalls wird Louisa Parini von dieser fürchterlichen alten Dame auf eine Schule nach Nashua gebracht. Ich kenne die Schule. Dort wurde ich rausgeworfen – wegen einer
Schurkerei. Ich wollte nämlich meine mühsam erlernten guten Manieren an den Mädchen ausprobieren. Ich beneide Louisa nicht. Ich glaube, Miss McBurney hat die Dumpfheit erfunden.« »Sie ziehen sich an, um auszugehen?« »Ja. Ich habe Mrs. Bogues Erlaubnis, Louisa zum Essen in die große Halle auszuführen. Die paar Taler werden unsere Rechnung nicht wesentlich erhöhen, und ich hoffe, es wird ihr Spaß machen. Wollen Sie uns Gesellschaft leisten?« »Nein. Ich dachte auch schon, aber ich bin mit MithraPriester Srb verabredet. Wir werden zu Abend essen. Er versteht auch wenig, aber es ist wichtig für die Linien des Geschehens, daß wir…« Er machte wieder seine rundenden und glättenden Bewegungen. »Und die Tatsache, daß wir zusammen reisen – ist das der Schlüssel zu den Linien des Geschehens?« »Ah, dann verstehen Sie doch!« »Nein«, sagte Villiers. »Aber so erfreut ich darüber bin, daß sich unsere Linien des Geschehens vereinigen, auch wenn ich das Prinzip nicht verstehe, so würde ich doch sagen, daß die verbindende Kraft die Freundschaft ist.« »Wie kann Freundschaft so wichtig sein? Das verstehe ich nicht.« Villiers zeigte sich erfreut. »Ich wußte es. Der Tag mußte endlich einmal kommen, und es hat lange gedauert, aber jetzt ist er da. Sie verstehen etwas nicht!« »Blurb. Meine neue Komposition. Nein, Sie haben einen wirklich seltsamen Geist. Ich verstehe nicht. Aber das spielt keine Rolle: vorziehenswerte Linie von Geschehen und Freundschaft reisen zusammen. Ich mag Sie – bedeutet für mich nichts. Linie des Geschehens packt Sie am Hals und läßt Sie nicht los – bedeutet Ihnen nichts. Wir gehen gemeinsam nach Yuten und werden beide glücklich sein.«
»Ich werde glücklicher sein, wenn die Rechnungen bezahlt und wir schon unterwegs sind.« »Keine Sorgen machen. Alles wird kommen…« »Ich weiß, ich weiß. Alles wird zur Gleichheit kommen.« »Sagen Sie mir bitte, wann es an der Zeit ist, nach Yuten zu gehen.« »Das werde ich.« Alice Tutuila tanzte auf dem Bett herum und rief: »Oh, toll! Diner in der großen Halle, und Mrs. Bogue läßt dich gehen. Wie hast du das geschafft?« Louisa inspizierte ihre Kleider. »Ich weiß nicht, was ich anziehen soll. Hilf mir doch dabei, Alice. Ich bin so aufgeregt.« »Aber wer ist das – ich meine, Mr. Villiers? Du hast mir nie von ihm erzählt. Woher kennst du ihn?« Alice zielte ihre Fragen in Louisas ungefähre Richtung, ohne sich die Zeit zu nehmen, nachzuprüfen, ob überhaupt eine davon ihr Ziel erreichte. Louisa selbst war viel zu sehr damit beschäftigt, über das Kleiderproblem nachzudenken, darin mischten sich noch Aufregung und Vorfreude und ihre eigenen Kommentare. Das Ergebnis war ein fröhliches Irrenhaus, das beiden Mädchen einen Mordsspaß machte. Alices Freude ließ allerdings deutlich nach, als klar wurde, wie wenig klare, knallharte, detaillierte Informationen sie eigentlich erhielt. Sie erhob sich vom Bett und ging durch den Raum. »Was hast du denn da?« fragte sie. »Oh nein, das geht doch nicht. Hier, ich helfe dir.« Sie hmmmmmte sich ihren Weg durch Louisas Kleiderschrank. »Ist es nicht herrlich, etwas Platz zu haben? Nur hier zu stehen und zu atmen!« »Ist doch viel besser, nicht wahr? Wenigstens setzt man sich nachts nicht auf und stößt sich dabei den Kopf.«
»Hier. Versuch das mal. Mutter hat nicht gesehen, daß ich es eingepackt habe, aber ich dachte, ich würde es vielleicht brauchen können. Es ist sehr modern.« Louisa ging zum Ankleideraum. Einen Moment später sagte sie: »Ich kann die Haken nicht alle erreichen.« »Keine Sorge. Ich helfe dir. Wollen mal sehen, wie du aussiehst.« Louisa posierte im Flur. »Zu knapp ist es ja nicht. Aber ich glaube, ich passe noch nicht so ganz rein.« Sie hatte recht. Es hing herab, wo es hauteng hätte sitzen sollen, teilweise, weil ihr etwas an Alices Größe fehlte, teilweise, weil sie noch lange nicht Alices Rundungen hatte. »Ich fürchte, du hast recht. Wir werden es mit deinem Blauen versuchen. Es ist sehr hübsch, aber es macht dich so jung.« »Aber ich bin doch jung. Ich bin jung.« »Wie willst du ihn denn dazu bringen, dich zu entführen, damit ihr ein Leben voller Leidenschaft verbringt? Doch nicht im blauen Kleid.« »Das mit dem Entführen war deine Idee, Alice. Ich suche nur jemanden, der mir hilft.« »Meinst du, das wird er machen?« Louisa nahm das blaue Kleid mit ins Ankleidezimmer und schlüpfte in den Stoff. Ihre Stimme klang undeutlich, als sie sagte: »Ich weiß nicht. Ich werde ihn fragen.« »Wer ist dieser Mr. Villiers, und woher kennst du ihn?« »Ich weiß nicht genau, wer er ist. Er und Vater kennen sich schon längere Zeit, und einmal war er bei uns. Damals dachte ich, er sei älter, aber sehr alt ist er wirklich nicht, oder?« »Jünger als dreißig, glaube ich«, sagte Alice. »Er scheint nett zu sein, aber vielleicht ein bißchen steif.« Louisa kam heraus. Dieses Kleid paßte zweifellos besser, und es stand ihr auch besser. Es sah natürlich aus, ebenso wie Louisa, obwohl ihr das im Augenblick nicht schmeckte, aber
vielleicht würde es das später tun, wenn sie die Vorteile davon besser zu würdigen wußte. »Hilf mir beim Zuknöpfen«, sagte Louisa. Alice kam ihr zur Hilfe. Es ist eine verblüffende Frage, warum Damenkleidung unweigerlich immer so gearbeitet ist, daß man sie nur mit Verrenkungen oder mit fremder Hilfe anziehen kann. Es ist sicher kein unlösbares Problem, Verschlüsse zu entwerfen, die die Linien des Kleides nicht beeinträchtigen und trotzdem bequem zu erreichen sind. Die einfachste Antwort ist die, daß eine solche Machart Möglichkeiten eröffnet, sich beim An- oder Auskleiden helfen zu lassen. »Dabei ist er gar nicht so steif«, sagte Louisa. »Auf jeden Fall kann ich mich anders an ihn erinnern. Er kann sogar sehr lustig sein.« Sie begann, ihre Schmuckstücke zu inspizieren. »He, ich habe eine Idee«, sagte Alice. Sie ging zur ServiceEcke, und nachdem sie diese eine Minute untersucht hatte, kannte sie sich mit den Kontrollen genug aus, um einen Anruf zu bewerkstelligen. »Oh, hallo«, sagte sie. »Ich habe einen Freund hier in Star Well, einen Mr. Villiers. Können Sie mir sagen, welches Zimmer er hat?« »Mr. Villiers hat kein Zimmer. Mr. Villiers bewohnt die Palatine-Suite.« »Wieviel kostet die?« »Entschuldigen Sie?« »Die Suite – was kostet die pro Tag?« »Oh, hör auf«, sagte Louisa, wurde aber ignoriert. »Die Palatine-Suite ist das Beste, was wir zu bieten haben. Einen Royal pro Tag«, sagte der Mann an der Rezeption. »Danke«, sagte Alice und legte auf. »Das hättest du nicht tun sollen«, meinte Louisa. »Man fragt Leute nicht so direkt aus. Man fragt zuerst einen Mann, wo Mr.
Villiers wohnt. Dann fragt man einen anderen Mann, was die Palatine-Suite kostet.« »Das sehe ich nicht ein«, sagte Alice. »Ich wollte es gleich wissen.« »Aber jetzt weiß er, woran du interessiert bist. Nicht an Mr. Villiers, sondern an Geld. Das hättest du ihn nicht wissen lassen dürfen.« »Ich verstehe immer noch nicht, warum. Und, du liebe Güte – er wohnt im Ein-Royal-pro-Tag-Appartement! So hatten wir uns das doch immer vorgestellt. Oh, du mußt dich unbedingt im Schrank verstecken.« Jemand versuchte, die Tür zu öffnen, und dann klopfte es. Als Alice zur Tür ging, um zu öffnen, meinte Louisa: »Ich brauche mich gar nicht im Schrank zu verstecken. Schließlich führt er mich zum Essen aus.« »Nein, ich meine danach, wenn unser Schiff…« Alice schwieg plötzlich, als sie sah, wer an der Tür war. »Guten Abend, Mrs. Bogue.« Mrs. Bogue rauschte herein. »Guten Abend, Alice. Was ist mit dem Schiff?« »Oh, nichts. Ich sagte gerade, es ist so schön, hier zu sein nach diesem engen Schiff.« »Du bist nicht angezogen, Alice.« Sie sah auf ein Stück Papier. »Wir haben in 40 Minuten einen Tisch im Selbstbedienungsrestaurant. Ich möchte, daß du in 20 Minuten fertig bist. Und hör mit dem Unsinn auf. Guten Abend, Louisa. Du siehst recht gut aus.« »Danke, Mrs. Bogue.« »Dreh dich mal um. Laß mich dich anschauen.« Louisa drehte sich gehorsam um. »Alice, hör auf herumzutoben und beweg dich. Ich glaube, so kannst du gehen, Louisa. Jetzt möchte ich dich bitten, heute
Abend besonders auf deine guten Manieren zu achten. Setz dich gerade hin, überleg dir, was du sagst, sprich nicht mit vollem Mund, sei pünktlich um zehn wieder zurück und vergiß nicht, dich bei Mr. Villiers für den Abend zu bedanken.« »Ja, Mrs. Bogue.« »Und, Louisa. Ich möchte, daß du heute Abend besonders hübsch aussiehst. Ich habe dir das da mitgebracht. Das sollst du tragen.« Sie hielt eine silberne Brosche hoch. »Oh, Mrs. Bogue, wie hübsch. Vielen Dank.« »Hier, ich stecke sie dir an. Ich dachte mir, Silber paßt zu jedem Kleid.« Alice kam herüber und sah sich die Brosche an. »Ja, wirklich.« Mrs. Bogue drehte sich zu ihr um und sagte: »Alice, du hast genau fünfzehn Minuten. Du solltest deine Zeit wirklich besser nutzen.« Worauf sie davonrauschte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, meinte Alice: »Sieht wirklich gut aus, die Brosche, nicht wahr?« »Und dabei war ich endlich so weit, sie total zu hassen«, meinte Louisa. »Ich hasse sie noch«, antwortete Alice. »Denk nur mal daran, wie sie uns auf dem Schiff in unsere Kabinen gesperrt hat.« »Trotzdem, das hätte ich nicht von ihr erwartet.« Adams ließ Phibbs aus dem Zimmer, drückte die Tür zu und verschloß sie. Phibbs mußte seinen Pflichten nachgehen. Das Schiff, das von Morian gekommen war, sollte jetzt nach Luvashe auslaufen, und Phibbs hatte die Passagiere, die an Bord gingen, zu kontrollieren. Adams drehte sich nach Augustus Srb um, der ruhig in einem großen Sessel saß und Pfeife rauchte. »Ich glaube nicht, daß er etwas weiß, Sir. Er scheint kein besonderes Licht zu sein.« »Nein.«
»Ich meine, wir müßten nicht einmal eine Untersuchung durchführen, wenn wir hier in Star Well einen etwas intelligenteren Mann hätten, der das Imperium vertritt.« Srb paffte nachdenklich. »Das ist Ihre erste Untersuchung? Stimmt doch, was?« »Ja, Sir.« Adams hustete plötzlich und wedelte den Rauch weg. »Oh, tut mir leid. Stört Sie der Rauch?« »Ja, Sir. Ich wollte es nur nicht vorher sagen. Ich dachte, Sie wollten Phibbs ärgern. Aber ich habe das Gefühl, daß meine Augenbrauen die Stirn hochkriechen und meine Ohren klingeln.« »Ich mache sie aus«, sagte Srb. »Manchmal vergesse ich, daß nicht jeder meine Laster teilt.« Er bedeckte den Pfeifenkopf mit der Handfläche. »Die Luft wird in wenigen Minuten wieder sauber sein. Es stimmt schon, daß wir wesentlich weniger Untersuchungen durchführen müßten, Leutnant, wenn intelligentere Männer das Imperium repräsentieren würden. Aber wir müssen mit Phibbsen auskommen, weil diese einfachen Posten an unattraktiven Orten schlecht bezahlt werden und konsequenterweise keiner außer diesen alten Narren daran Interesse hat. Wenn die Dinge mal schief laufen, sind Leute wie Sie und ich dran, um sie wieder auszubügeln.« »Ja, Sir.« »Hat man Ihnen gesagt, warum man Sie hergeschickt hat?« »Man sagte, ich solle Ihnen die Beine ersetzen.« »Das kann man wohl sagen. Und meine Augen und meine Ohren. Und was immer sonst es ist, wofür ich Sie brauche. Ich werde hier sitzen, und Sie werden laufen. Aber wissen Sie, warum wir hier sind?« Srb nahm seine Hand vom Pfeifenkopf und sah nach, ob sie wirklich ausgegangen war. Er zog am Mundstück, um ganz sicher zu sein, dann trennte er sorgfältig mit einem Pfeifenstocher die verbrannte Asche vom
unverbrannten Rest und klopfte diesen wieder zurück in seinen Tabaksbeutel. »Ich hasse Verschwendung«, sagte er und blickte auf. »Man hat mir auch gesagt«, meinte Adams, »daß es in den letzten Jahren eine Reihe von Untersuchungen hier gegeben hat.« »Ja. Unfälle, Duelle, ein mysteriöses Verschwinden. Jedenfalls waren die Erklärungen gut genug, daß die Untersuchungen wieder eingestellt wurden. Der Ärger ist nur, daß es zusammen zu viele Dinge gegeben hat, die eine Überprüfung durch die Marine erfordern. Abgesehen davon ist an den Rändern des Spalts eine Zunahme von illegalen Geschäften zu verzeichnen, besonders beim Daumenhandel. Nach unseren Prinzipien müssen wir uns Star Well näher ansehen, und weil wir das völlig unauffällig machen, werden wir sicher herausfinden, was herauszufinden ist.« »Wenn es etwas gibt.« »Wenn es etwas gibt.« »Während ich auf Sie gewartet habe, Sir, habe ich mich ein bißchen umgesehen. Dabei wußte ich allerdings nicht, wonach ich suchen sollte.« »Haben Sie etwas herausgefunden?« »Nein, Sir. Aber Mr. Villiers ist mir gefolgt. Das ist der Mann, den ich Ihnen heute Nachmittag gezeigt habe.« »Sie wissen sicher, daß er Ihnen gefolgt ist?« »O ja, Sir. Er hat es sogar zugegeben. Ich glaube, ich mag ihn. Er ist sehr höflich. Aber ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er verwirrt mich.« »Ich glaube, das kann ich verstehen«, sagte Srb trocken. »Wir werden unsere Untersuchungen anderswo durchführen müssen, wenn sie wissen, daß wir sie überwachen. Von jetzt an vermeiden wir es, zusammen gesehen zu werden, und ich versuche mal etwas über Ihren Mr. Villiers herauszufinden.«
Die Orion, mit ihrer neuen Ladung von Passagieren, die in ihre kleinen Kabinen gestopft wurden, mit einem weggetretenen Dritten Offizier, der nicht einmal gemerkt hatte, daß sie gelandet waren, mit einem Passagier-Aufenthaltsraum, in dem drei Männer Systematische Anarchie diskutierten und vier weitere über Yachten sprachen (wobei man bedenken muß, daß die Tage der Zwei-Mann-Yachten vorbei waren, weil die Haltung zu teuer war und ihre Anzahl zu begrenzt), aber ohne Anthony Villiers an Bord, verließ Star Well etwa acht Stunden und 22 Minuten nach ihrer Ankunft mit Kurs auf Luvashe. Inzwischen waren die Schleusen zurückgezogen, und als das Schiff tatsächlich ablegte, rief Godwin Hisan Bashir Shirabi an. »Villiers ist nicht an Bord der Orion«, sagte Godwin. »Ich weiß«, antwortete Shirabi. »Ich habe schon die Nachricht erhalten, daß er seine Räume weiter bewohnen will. Unbegrenzt – er hat nicht gesagt, wie lange er zu bleiben gedenkt.« Shirabi stimmte ihm in allen Punkten zu, und Godwin konnte sich ein wölfisches Grinsen nicht verkneifen. Es gibt Leute, die brauchen ab und zu mal einen Tritt, damit sie kapieren, wer sie eigentlich sind. Das war etwas, was Godwin schon früh gelernt und was er mit gutem Erfolg schon einige Male praktiziert hatte. Kalkulierte Grausamkeit ist etwas, dem man schwer ins Auge sehen kann. Godwin fuhr sich mit einem Daumennagel über den Schnurrbart. »Wollen Sie, daß er verschwindet? Sein Gepäck war sauber.« »Ich glaube, darauf kommt es nicht an. Er hat dumme Fragen gestellt, und er ist nicht abgereist. Wir können es uns einfach nicht leisten, ihn leben zu lassen. Das Risiko ist zu groß. Und
es gibt genau einen Weg, wie wir es machen können. Bei dem Geld, das er hat, kann man nicht normal mit ihm umspringen, es sei denn, er wird in einem Duell getötet.« »Sie meinen, Sie wollen mir noch einen auf die Schultern laden.« »Sehen Sie mich an«, sagte Shirabi. Er war ein gewöhnlicher, schmieriger, diebischer Mann, der in gewöhnliche purpurne Sachen gekleidet war. »Er würde nie ein Duell mit einem Mann wie mir austragen.« »Wenn er es täte, würde er Sie töten.« »Vielleicht. Ja. Aber ich will nicht, daß Sie ein Risiko eingehen. Wenn Sie meinen, Sie können ihn nicht in einem Duell töten, müssen wir einen anderen Weg finden. Aber das Schiff kommt heute nach.« So sehr er einer der ihren sein wollte, meine ich doch, daß man fairerweise feststellen muß, daß Godwin die Hochwohlgeborenen ebenso haßte wie Shirabi. Die beiden hatten etwas Wundervolles gemeinsam, aber keiner von beiden begriff das auch nur. Ah, diese Blindheit, die uns abhält, unsere wahren Freunde zu erkennen und sie mit Klammern aus Stahl an uns zu binden! So war es schon immer. Gemeinsame Interessen werden übersehen, und das Triviale trennt. »Machen Sie sich nicht in die Hosen«, sagte Godwin. »Ich werde ihn töten.« »Gut«, stimmte Shirabi im gleichen freundlichen Ton zu. »Holen Sie ihn heute nacht ins Casino.« Godwin nickte, und der Schirm wurde schwarz. Shirabi wandte sich ab und blickte auf den Tisch zu seiner Linken. Dort war ein Sortiment von Waffen ausgebreitet: Schwerter, Neuro-Rute, Gerinner, Vibro-Messer. Er lächelte leise vor sich hin, und dieses Lächeln wurde langsam zu einem häßlichen Gelächter. Manche Leute feiern ihre Feste schon vorher.
VI
Ich finde es schwer, an Generalinspekteure zu glauben. Bedenken Sie: Männer von totaler Rechtschaffenheit, die das Imperium durchstreifen, zwar über große persönliche Macht verfügen, sie aber nur zurückhaltend ausüben, die völlig im Verborgenen arbeiten, das Unrecht bekämpfen und wiedergutmachen, die Praktiken lokaler Herrscher untersuchen und die Marine rufen, wenn es notwendig sein sollte. Ich bin darüber hinaus sicher, daß sie dafür keinen Dank erwarten, sondern einfach ihre Pflicht tun und wieder in der Nacht verschwinden, dabei verdutzte, aber dankbare Menschen hinter sich lassend. Und ich glaube das einfach nicht. Solche Menschen kann es gar nicht geben. Die Macht verdirbt. Totale persönliche Redlichkeit ist eine Legende. Daß es eine Instanz gibt, die im Geheimen Fehler ausbügelt und Unrecht beseitigt, das ist ein Kindermärchen. Andererseits ist nicht abzustreiten, daß das Imperium dringend solche Gegengewichte braucht – nennen wir sie mal Generalinspekteure, wenn Sie so wollen. Das Imperium ist von seiner Anlage her instabil. Die Marine ist mit all den Schwachstellen wie Größe, Bürokratie und endlosen hinderlichen Bestimmungen belastet. Vorschriften werden umgangen, Gesetze werden öffentlich gebrochen, kleine Leute werden zu Opfern, Bestechungsgelder werden angenommen und das Geschäft jener, die Zerstörung, Zersplitterung und Tod als die ihnen gemäße Kunst betrachten, blüht. Wer garantiert die Stabilität? Phibbse? Da braucht man schon etwas Besseres. Ganz sicher braucht man Generalinspekteure. Aber wo findet man die?
Man kann nicht einfach einen Garten anlegen und sie darin wachsen lassen. Man kann einen Generalinspekteur nicht heranziehen. Man kann ihn nicht ausbilden. Man kann nicht einfach einen Knopf drücken und einen Generalinspekteur von einer Maschine ausspucken lassen. Der Job verlangt Intelligenz, Ehrlichkeit, Individualität, Kreativität, Gerechtigkeitssinn und eine weite Bandbreite von subtilen Begabungen, die normalerweise nicht zur Leistungsskala des gewöhnlichen Menschen zählen und die man oft unter dem ungenauen, alles und nichts aussagenden Begriff »Glück« zusammenfaßt. Das Wort »Glück« ist ein Geräusch, das von jenen gemacht wird, die nicht über diese Begabung verfügen und sie daher am liebsten mit einem Schneuzen abtun möchten. Nehmen Sie es als Axiom: Wirkliche Persönlichkeiten treffen auf ihren Reisen nur Narren, Gauner, Schwätzer und Streber. Die Leute, mit denen sie gern zusammentreffen würden, verfügen nicht über den schlechten Geschmack, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Qualität, die sie treffenswert macht, verbietet automatisch, daß man sie treffen wird. Das gilt natürlich auch für Generalinspekteure. Die einzigen geeigneten Kandidaten sind jene, die für das Amt nicht geeignet sind. All das könnte bedeuten, daß es Generalinspekteure überhaupt nicht gibt. Sie könnten eine Legende sein, die man erfunden hat, um Kinder brav zu machen und Erwachsene ehrlich. Tatsächlich erscheint mir diese Möglichkeit als die wahrscheinlichste.
Villiers begleitete Louisa Parini in die große Halle. Louisa trug offensichtlich ihre besten Manieren zur Schau, und Villiers gab
sich alle Mühe, es ihr gleichzutun. Allerdings hatten weder die Ermahnungen von Mrs. Bogue etwas damit zu tun noch das, was Louisa plante oder erhoffte. Es lag einfach in der Natur der Dinge, daß junge Mädchen, die von einem Freund der Familie zum Essen ausgeführt werden, sich spielerisch so benehmen, als seien sie erwachsen, und daß diese Freunde, wenn sie wirklich Freunde sind, das Spiel mitmachen. Die einzige Frage ist nur, wie lange beide das Spiel durchhalten, bis sie es aufgeben und zu einer etwas angenehmeren Konversation übergehen. Villiers ließ Louisa Platz nehmen. Am Abend zuvor hatte Maybelle Lafferty ihm an eben diesem Tisch mit dem Rücken zum Saal gegenübergesessen. Wir wissen bereits, warum sie mit dem Rücken zum Saal saß statt mit dem Rücken zur Wand. Aber beachten Sie, daß sich der Tisch zwischen Villiers und ihr befand. Villiers nahm denselben Platz ein wie am Tag zuvor, plazierte aber Louisa neben sich. Ihr Kleid entsprach wirklich ihrem Alter. Es war blau, ihr braunes Haar war zurückgekämmt und von einer silbernen Spange gehalten. Dazu trug sie eine silberne Brosche. Dieses Silber war ihr einziger Schmuck, ihr Kleid war weiß abgesetzt, hatte aber keine weiteren Verzierungen. Sie sah so aus, wie sich wohl jeder seine Tochter wünschte: freundlich, strahlend, hübsch, bescheiden und wohlerzogen. So war sie zwar in Wirklichkeit überhaupt nicht, aber sie sah zumindest so aus. Villiers bestellte das Essen. Die Bedienung war das gleiche hausbackene, rotwangige Ding, das schon gestern serviert hatte. Sie schien erstaunt zu sein, ihn zu sehen. »Oh, Mr. Villiers«, sagte sie, »ich dachte, Sie seien schon abgereist.« »Nein«, antwortete er. »Ich habe mich entschlossen, etwas länger zu bleiben. Das Essen ist zu gut, um so schnell zu verschwinden.«
Das war etwas, woran sich Louisa erinnerte und was sie an ihm gleich gemocht hatte. Er log zwar nur ein bißchen, konnte damit aber seine wahren Beweggründe verbergen. Erwachsene neigen nicht dazu, das unter die erstrebenswerten Tugenden einzureihen, aber jeder, der einmal versucht hat, einer direkten Frage auszuweichen und dabei gescheitert ist, wird Louisas Bewunderung verstehen. Sie wiederum war nicht ganz so erfolgreich darin (aber durchaus in der Lage), Dinge für sich zu behalten, wenn sie das wollte. Alice etwa war eine Schmeichlerin und hoffte, alles durch ihre Schmeicheleien herauszubekommen. Mrs. Bogue verstand sich mehr aufs direkte Anbohren, aber diesmal hatte sie nicht einmal gemerkt, daß es da eine Ölquelle gab, die sich hätte anbohren lassen. Wenn die nur wüßten. Wenn die nur wüßten! Ha! »Ja, Sir«, sagte das Mädchen und verschwand. »Wie lange fehlt Ihnen schon die Spitze von Ihrem linken kleinen Finger, Tony?« fragte Louisa. »Früher hatten Sie die doch noch, oder?« Er besah sich seine Hand. Nicht das ganze Glied, aber die Fingerspitze dicht unter dem Nagel fehlte. Sie war nicht plötzlich verschwunden. Sie fehlte schon die ganze Zeit. Bisher hatte es ganz einfach noch keiner bemerkt. Wundern Sie sich nicht darüber – sagen Sie mir lieber die Augenfarbe Ihres Nachbarn, den Sie jeden Tag sehen. »Nein, das ist relativ neu. Ich hatte einen Unfall. Ist vor zwei Jahren passiert. Damals war ich auf Livermore.« »Oh, Fiona ist auch von Livermore.« »Wer ist Fiona?« »Eines von den Mädchen, das auch nach Nashua geht. Aber reden Sie weiter.« »Ich war damals etwas knapp bei Kasse, darum nahm ich einen Job an, anstatt mich auf die Nächstenliebe der ›Väter von Livermore‹ zu verlassen. Das ist ein Verein mit sehr engen und
unerfreulichen Ansichten über Mildtätigkeit. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß sich ihre Praktiken nicht sehr von dem unterscheiden, was man vor Beginn der Gemeinsamen Zeitrechnung als angemessene Strafen für Ungläubige betrachtete.« »Aber Sie haben sich doch nicht wirklich Arbeit gesucht und auch gearbeitet?« »Vielleicht nicht, aber um die Geschichte weiterzubringen, sagen wir einfach mal, ich hätt’s getan. Das war damals, als der letzte große Auftrieb der Weißhornrinder stattfand. Die schwarz gehörnten sind kleiner und schneller und leben in so unwegsamen Gegenden, daß man sich nicht die Mühe macht, sie zusammenzutreiben, obwohl ich sie jederzeit vorziehen würde. Sie sind bösartiger und härter. Jedenfalls verbreitete sich die Nachricht, daß bald das große Ausschwärmen losgehen würde, und so stellten sie jeden einigermaßen körperlich brauchbaren Mann ein, den sie finden konnten. Ich ließ mich als Flankenreiter aufstellen. Die Treiber arbeiteten hinter den Rindern und betätigten die Lärmmaschinen: Pfeifen, Gongs, Sirenen und Donnerschläge. Die Flankenreiter arbeiteten an den Seiten und beaufsichtigten die Lassowerfer, Netzschleuderer und Zaunmannschaften.« »Ich bin nicht sicher, ob ich das hören will«, sagte Louisa. »Sie haben wirklich mit Ihren Händen gearbeitet, Tony?« »Stört Sie das?« »Ja.« »Ich führte nur die Aufsicht.« »Ich mag das trotzdem nicht hören. Sie würden so was doch nicht wirklich tun.« »Wollen Sie nicht den Teil hören, wo die Zugmaschine ihr größtes Zahnrad verlor und der Stolperdraht meinen Finger abriß? Das Tier wurde nicht eingefangen. Es fraß nämlich meine abgerissene Fingerkuppe und krepierte daran.«
»Oh, das ist niemals passiert«, sagte Louisa. »Nun, ich gebe zu, daß man die Story etwas besser aufpolieren müßte. Aber die Moral würde Ihnen gefallen. Ich habe den Finger nicht wiederherstellen lassen, um mich daran zu erinnern, nie wieder einen Job anzunehmen, der mit körperlicher Arbeit zu tun hat.« »Das gefällt mir«, sagte sie. »Und hier ist unser Essen«, meinte er. »Es war also doch ganz gut, die Geschichte abzukürzen.« Jetzt sehen Sie ja selbst, wie lange die höflichen Manieren gehalten haben. Und Sie lernen Villiers auf diese Weise besser kennen, als wenn wir ihn an einem Spieltisch beobachten oder dabei, wie er vor einer schlechtgelaunten Dame in mittleren Jahren Kratzfüße macht. Die Bedienung rollte ihren Wagen an die Seite des Tisches und öffnete die Abdeckung, um die dampfenden Schüsseln zu zeigen. »Bitte sehr, Sir«, sagte sie, und entgegen der herrschenden Sitte stellte sie eine Platte auf den Tisch. Dabei beugte sie sich zu Villiers hinüber und sagte: »Ich muß Ihnen etwas sagen. Seien Sie vorsichtig. Sie werden beobachtet, und man stellt Fragen.« »Wer?« fragte Villiers ruhig. »Mr. Shirabi und Mr. Godwin.« Dann sagte sie in normalem Tonfall: »Bitte schön.« »Danke«, nickte Villiers.
Srb und Torve speisten in einem anderen, etwas preisgünstigeren Saal. Das Essen war einfacher, die Dekoration schlichter und der Service mit Sicherheit besser. Es stellt ein kleines Paradoxon dar, daß ein überschneller Service einem sonst vorzüglichen Speiserestaurant bei Wu und
Fabricant die 4A-Einstufung kosten kann. Wu und Fabricant respektieren ein gesundes Maß an Selbstbewußtsein. Torve der Trog aß Kumquats von einer schwer beladenen Platte, dazu Zucker-Gras aus Morovia und Rubelo, eine rote Wurzelpaste, die der verbreitete Magenfüller in diesem Oktanten war. Die Kumquats waren in diesen modernen Zeiten zu einer Fülle von verschiedenen Sorten gezüchtet worden, und Torve aß nur die süßen goldenen Rinden und legte die kleinen Früchte zur Seite. Er schälte sorgfältig die ganze Rinde ab, legte dann die nackte Frucht auf einen Teller zu seiner Rechten, brach die Rinde in kleine Stücke, stippte dann jedes Stück in Rubelo, holte es, mit roter Paste überzogen, wieder heraus und stopfte es geschickt in seinen Mund. Dann kaute er es länger, als jeder Zuschauer es für nötig gehalten hätte. »Darf ich eine von Ihren Kumquats haben?« fragte Srb und deutete auf den Teller. Torve reichte den Teller über den Tisch. »Bedienen Sie sich. Ich esse nur die Rinden. Die Früchte vertragen sich nicht mit meiner Verdauung.« Er war Vegetarier und aß überhaupt kein Fleisch mit Ausnahme von weißen Maden, einer nicht besonders weit verbreiteten Delikatesse – jedoch Torves Leibgericht. Normalerweise sind Trogs keine Vegetarier. Eigentlich sogar das genaue Gegenteil – sie schätzen Fleisch nämlich sehr. Aber Torve war Vegetarier aus Überzeugung, wenn auch seine Gründe dafür dunkel blieben. Die Würmer stellten einen Ausrutscher dar, von dem er sich nicht abbringen konnte, den er aber leugnete, so gut es ging, und vor anderen verbarg. Er hatte das Gefühl, daß er sich dessen schämen müßte, was ja auch zutraf. Weiße Würmer! Srbs Mahlzeit war etwas normaler. Er begann mit einem Fischgericht, nahm als nächsten Gang braisiertes Lendenstück mit Rubelo, Zucker-Gras, Thet-Augen und Lima-Bohnen und
beendete das Mahl mit einem großen Stück Käsetorte. Nicht zu vergessen die Kumquats. Dazu trank er Bier. Srb war Anhänger einer altehrwürdigen Theorie, die sich mit der Entstehung der Zivilisation befaßte, eine zwar unbewiesene, aber so weit im Bereich des Möglichen liegende Theorie, daß man sie billigen konnte. Die Zivilisation ist von stabilen Lebensbedingungen für die betreffende Bevölkerung abhängig, damit diese bauen, erfinden, Geld scheffeln, Aufzeichnungen machen und Vorräte horten kann, um Kriege zu führen. Eine solche Zivilisation kann nicht bei Nomaden entstehen, das heißt bei Leuten, die dauernd in Bewegung sind, um sich Wurzeln, Beeren und wilde Tiere zu suchen. Zivilisation ist vielmehr von Landwirtschaft abhängig. Aber warum hat der Mensch die Landwirtschaft erfunden? Doch nicht etwa, um zu bauen, zu erfinden, Geld zu scheffeln, Aufzeichnungen zu machen und Vorräte zu horten. Das kann man ja alles nicht vorhersehen. Nein, der Sinn der Landwirtschaft besteht darin, es der Menschheit zu erleichtern, sich die nötigen Grundstoffe zu sichern, um daraus Bier zu brauen. Wenn Srb Bier trank, und er trank gern Bier, machte ihm der Gedanke Freude, daß er damit die Zivilisation ohne deren Wissen unterstützte, wie es seine Pflicht war. Srb aß eine Kumquat und spülte sie mit Bier hinunter. »Ich habe Sie heute nachmittag mit einem Gentleman reden sehen. Waren Sie mit ihm verabredet?« »Ja, ist Mr. Anthony Villiers. Er ist ein höchst angenehmer Begleiter.« »Er scheint von angenehmem Äußeren zu sein.« »Er bereist Imperium, sieht alles an. Ich reise manchmal mit ihm.« »Hmm. Vielleicht können Sie mich ihm später vorstellen.« »Ist möglich. Nehmen Sie noch eine Kumquat.«
Sie wundern sich vielleicht, warum Villiers gewarnt wurde, daß man ihn beobachte. Die Bedienung war weder sexuell attraktiv noch besonders intelligent, sie und Villiers stammten aus völlig verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Warum sollte sie ihn warnen? Es klingt hier vielleicht etwas aufgesetzt, aber Villiers war wirklich ein höchst angenehmer Mensch. Auf jeden Fall akzeptieren Sie bitte, daß sie ihn warnte. »Was sollte das eben?« fragte Louisa. »Nichts Besonderes«, meinte Villiers und bediente sie und sich selbst. »Ich werde überwacht, man verfolgt mich, und mein Gepäck wurde durchsucht.« »Wer folgt Ihnen?« »Sehen Sie sich jetzt nicht auffällig um. Links von mir, nicht am Tisch an der Wand, sondern in der nächsten Reihe, der Gentleman in Grau, der hier in der großen Halle etwas deplaciert wirkt.« »Oh, ich sehe ihn. Alice würde sich zu Tode gruseln. Sie liebt sowas.« »Gehört die auch zu Ihrer Jungmädchenschar?« »Ja. Sie ist das Mädchen, mit dem ich zusammenwohne. Sie ist wirklich sehr romantisch. Warum werden Sie verfolgt?« »Ich bin nicht ganz sicher. Irgend etwas Illegales geht hier vor. Vermutlich meinen sie, daß ich ihnen auf die Spur gekommen bin.« Er schloß die Haube auf der Warmhalteplatte des Wagens. »Ich habe so eine Ahnung, was es sein könnte, aber bisher war ich nicht in der Lage, mich zu vergewissern. Aber reden wir über wichtigere Dinge! Wie hat Ihr Vater erreicht, daß Miss McBurney Sie aufnahm?« »Oh, Sie kennen ja Daddy. Er kaufte eine Empfehlung und half bei den anderen etwas nach. Und er ließ Jack, ›die Hand‹, ein paar gute Papiere zusammenstellen.« »Was stellen Sie dar?«
»Das ist einfach«, sagte sie. »Ich bin fünfzehn. Mein Name ist Louisa Parini. Ich habe einen älteren Bruder, Leutnant bei der Marine, und eine zwei Jahre alte Schwester namens Anne. Ich habe eine Mutter. Daddy ist als zweiter Sohn geboren. Er ist Kaufmann. Er importiert Teppiche, nicht für den Fußboden, sondern für Wände, ornamentale Teppiche. Sein Bruder ist alt und hat keine Kinder, Daddy ist sein Erbe, und eines Tages wird er Markgraf werden.« »Ist das letzte nicht ein bißchen dick aufgetragen?« Sie legte ihre Gabel hin und sah ihn an. »Was meinen Sie damit? Daddy kann jedes Wort beweisen.« »Sie scheinen Ihre Geschichte gut gelernt zu haben.« »Ich habe ein perfektes Gedächtnis«, sagte sie. »Ich kann Ihnen alles sagen, was Sie hören wollen, bis hin zum Namen unseres Gorfs. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, bis es Sie anödet.« Das klingt vielleicht unnötig angeberisch, aber Louisa war nicht ohne Stolz. Sie kannte ihre Story in- und auswendig. Das gehörte zu ihren Pflichten, und darauf verstand sie sich. Der Bruder in ihrer Geschichte war erfunden, nicht aber ihre zweijährige kleine Schwester. Selbst im Alter von zwei Jahren wußte Anne schon, was sie zu sagen hatte, und wenn ihr nichts einfiel, wußte sie sich auch zu helfen: Dann weinte sie einfach. »Trägt Ihr Vater immer noch seinen Bart?« fragte Villiers. »Ja, sicher.« »Ich habe ihn immer darum beneidet«, meinte Villiers. »Mir würde er zwar nicht stehen, aber er hat die Größe, einen zu tragen. Warum hat er sich entschlossen, Sie zur Schule zu schicken?« »Oh, das war furchtbar. Irgend jemand hat ihn auf die Idee gebracht, und er war einfach nicht davon abzubringen. Sie wissen ja, wie er ist, wenn er sich mal was vorgenommen hat. Er möchte, daß ich eine Lady werde. Dabei habe ich das doch
schon ganz gut gelernt. Ich brauche gar nicht zur Schule zu gehen. Aber er hat mich weggeschickt. Ich konnte seinen Entschluß einfach nicht ändern.« »Eine schlimme Sache«, meinte Villiers. »Ich kenne die Schule. Sie ist ganz schön streng.« »Und das vier Jahre«, sagte sie. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Bitte, Tony, wollen Sie mir nicht helfen? Ich will einfach nicht dorthin. Ich kann mir schon vorstellen, wie es dort sein wird. Nichts als Vorschriften. Ich will nicht nach Vorschriften und Stundenplänen leben. Ich möchte einfach so leben wie Sie und Daddy und jeder andere auch.« »Vielleicht sollten Sie herausfinden, wie es ist, ein Leben nach Vorschriften und Stundenplänen zu führen. Die meisten Leute ziehen so ein Leben allem anderen vor.« »Ich weiß, daß das nichts für mich ist, Tony. Und Sie haben nie so gelebt.« Villiers schob seinen Stuhl zurück und entspannte sich. »Das stimmt nicht, Louisa. Nur in den letzten Jahren habe ich so ein Leben wie jetzt geführt. Eigentlich erst seitdem ich Ihren Vater kennengelernt habe. Sicher, ich habe die Regeln gebrochen, was Ihnen noch nicht gelingen wird, aber ich habe auch unter ihnen gelebt.« »Warum konnten Sie denn die Regeln brechen?« fragte Louisa. »Nun, mein Hintergrund hielt jeder Untersuchung stand. Wenn sie mich irgendwo rausgeworfen haben – und das kam ein paarmal vor –, dann gab es wieder einen anderen Ort für mich. Sie müssen da etwas vorsichtiger sein. Aber das sind Dinge, die man Ihnen beibringen kann.« »Ich bin immer vorsichtig. Manchmal macht es mich richtig krank, wie vorsichtig ich bin. Dann werden Sie mir also nicht helfen? Sie sind wie Daddy.« Plötzlich hatte sie eine Idee. »Hat Daddy Sie angeheuert?«
»Was?« »Hat Daddy Sie angestellt, damit Sie aufpassen, daß ich hier nicht abhaue?« Villiers lachte. »Nein, Ihr Vater hat mich nicht angestellt.« »Nun, es würde ihm ähnlich sehen, mich überwachen zu lassen.« »Tatsächlich«, sagte Villiers, »wäre es mir eine Hilfe, wenn Sie mir sagen könnten, wie ich Ihren Vater erreichen kann. Ich habe eine Arbeit für ›Jack die Hand‹.« »Sie wollen mir ja auch nicht helfen.« »Ich brauche viel dringender Hilfe als Sie. Ich habe keinen roten Heller mehr, dafür aber hier mehr Schulden, als ich bezahlen kann. Ich muß jetzt unbedingt eine Möglichkeit finden, um meine Rechnung zu bezahlen und nach Yuten zu kommen.« Sie lebte sichtlich auf. »Ach, so!« »Nein, nicht so!« korrigierte Villiers. »Auf meine Weise. Ich bin nicht auf Betrug aus.« »Ich weiß«, sagte sie. »Aber ich könnte es Ihnen beibringen. Wir könnten Partner werden. Ich weiß alles, was Daddy weiß.« »Alles?« »Na, jedenfalls das Hauptsächliche. Unter diesen Umständen können Sie eine Menge daraus machen.« »Sie sollten jetzt besser Ihren Nachtisch essen.« »Oh, bitte!« »Ich denke darüber nach. Ich denke darüber nach.« Villiers starrte auf einen entfernten Punkt, während Louisa, begeistert über die Möglichkeit, daß er über ihr Angebot nachdachte, sich mit ihrem Nachtisch beschäftigte. Die Idee, Villiers dabei zu helfen, wie er sich von Planet zu Planet schwindelte, regte ihre Phantasie an; das war ja weitaus besser als alles, was sie und Alice Tutuila sich jemals über eine romantische Entführung ausgedacht hatten, und es hatte noch
den Vorteil der bodenständigen Realität, ohne dabei düster, dumpf und dumm zu sein. Kurz gesagt, es war so dicht an der Wirklichkeit, daß man es sich gar nicht besser ausdenken konnte, und es war nicht nur möglich, sondern Villiers dachte ernsthaft darüber nach. Die Begeisterungsfähigkeit eines fünfzehnjährigen Mädchens sollte ja allgemein bekannt sein, und Louisa Parini war kein gewöhnliches fünfzehnjähriges Mädchen. Aber sie verbarg ihre Gefühle hinter ihrer Süßspeise. Villiers setzte sich plötzlich auf. Louisas Augen waren sofort auf ihn gerichtet, obwohl sie sich anscheinend beim Essen nicht stören ließ. »Also doch!« sagte er. »Also doch? Also, ja?« Ihre Stimme hob sich. »Nein, ich meine was anderes. Schauen Sie mal zur anderen Seite des Saales hinüber. Sehen Sie den großen jungen Mann im braunen Anzug? Bei ihm sitzt ein hübsches junges Mädchen in einem grünen Kleid mit einer schwarzen Kronenzopffrisur.« »Ja, sehe ich«, sagte Louisa. »Wenn ich mich nicht irre, wird in den nächsten fünf Minuten ein Mann an den Tisch treten und das Mädchen wegzerren. Essen Sie langsam und passen Sie auf.« Louisa nickte und widmete sich wieder ihrem Teller, behielt aber ihre Augen auf dem entfernten Tisch. Während sie noch warteten, berichtete Villiers von seiner Begegnung mit Henry Maurice und Maybelle Lafferty. »Und Sie haben den Brief erhalten, sind aber nicht hingegangen?« »Nein. Ah, da kommt Henry. Passen Sie auf.« Sie beobachteten weiter und verfolgten die Wiederholung der Vorstellung von letzter Nacht. Henry war wütend. Maybelle kämpfte mit den Tränen. Adams (natürlich war es Adams) erhob sich und sagte etwas. Henry packte Maybelle beim
Handgelenk und führte sie vom Tisch weg. Sie schoß einen letzten klagenden Blick auf Adams ab. Adams schien einen langen Moment nachzudenken, bevor er sich wieder setzte. Im Gegensatz zu Villiers hatte er die Feinfühligkeit, seine Mahlzeit nicht fortzuführen und zu beenden, er saß vielmehr schweigend da, allein mit seinen Gedanken. »Sie hat ihn«, sagte Louisa. »Aber sie ist nicht besonders gut. Selbst ich könnte das besser, und ich bin erst fünfzehn. Er muß ziemlich blöde sein.« »Er ist tatsächlich nicht der aufgeweckteste junge Mann, dem ich je begegnet bin. Sagen Sie, wenn Sie irgend etwas ausspionieren müßten, würden Sie da auch enge schwarze Sachen tragen und auf Zehenspitzen gehen?« Louisa kicherte. »Nein. Hat er das gemacht?« »Ja. Was würden Sie tragen?« »Ganz gewöhnliche Sachen. Und ich würde mich verlaufen.« Villiers lachte. »Das ist besser, glaube ich. So habe ich das auch versucht, aber damit habe ich mir eine Durchsuchung meines Gepäcks und die Gesellschaft unseres Freundes in Grau eingehandelt.« »Er sieht gelangweilt aus«, sagte Louisa. »Er ist auch gelangweilt. Vielleicht sollten wir ihn einladen, uns Gesellschaft zu leisten.« Villiers stand auf und trat auf den Gang. Er ging zu dem Tisch, an dem der Mann in Grau saß, und verbeugte sich. »Sir«, sagte er in seiner üblichen höflichen Art, »ich habe bemerkt, daß Sie allein speisen müssen. Meine Dame und ich sind selbst fremd hier und wissen, wie unerfreulich es ist, ohne Gesellschaft auf einer weiten Reise zu sein. Ich hoffe, ich dränge mich nicht auf. Mein Name ist Villiers. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns die Ehre gäben, mit uns den Abend zu verbringen.«
Auf diese freundlich vorgebrachte Einladung fiel dem Mann keine Erwiderung ein. Tatsächlich hatte er bei Villiers’ Annäherung ein höchst bestürztes Gesicht gemacht. Als Villiers sprach, erbleichte der Mann mehr und mehr. Als Villiers geendet hatte, erhob sich der Mann und stürzte davon, unfähig, mit der Situation fertig zu werden. Es ist zwar ein Jammer, wenn das Spiel von Hund und Hase darunter leidet, daß der Hase den wilden Mann spielt und der Hund ein Hasenherz hat, aber wenn die Welt sich nicht verändern würde, säßen wir immer noch im Garten Eden, würden auf Holzflöten spielen und Bananen essen, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Als Villiers sich wieder umdrehte, war zu bemerken, daß Louisa gewisse Schwierigkeiten hatte, ihre Beherrschung zu bewahren, was darauf hinwies, daß sie in Sachen Manieren noch etwas Schulung nötig hatte. Wäre sie mindestens einen Tag auf Miss McBurneys Schule gewesen, hätten ihre Schultern gewiß nicht so gezuckt. Er kehrte zum Tisch zurück und hob milde eine Augenbraue. »Was haben Sie ihm bloß erzählt?« wollte Louisa wissen. »Was ich Ihnen sagte. Ich erkundigte mich, ob er uns Gesellschaft leisten wolle.« »Oh, Tony, Sie sind wirklich komisch!« Villiers bot ihr seinen Arm, und sie erhob sich, um sich einzuhaken. »Würden Sie das Casino oder das Theater vorziehen?« »Das Theater«, sagte sie, aber ihr Tonfall verriet ihm das Gegenteil. »Sie können mir ruhig die Wahrheit sagen. Bevorzugen Sie wirklich das Theater?« »Oh, nein! Aber Sie sagten doch, daß Sie kein Geld haben.« »Habe ich auch nicht. Aber das macht nichts. Meine Rechnung ist so hoch, daß wir einen gewissen Kredit haben,
und wir werden ihn nicht überziehen. Wir werden gerade soviel verlieren, daß wir uns unterhalten.« »Oh, das ist wunderbar. Ich war noch nie in einem Spielcasino.« »In diesem Fall werden wir es als Teil Ihrer Ausbildung betrachten. Hier wird betrogen.« Louisa lachte und achtete nicht mehr auf ihre Schritte. Da sie selten von Herren am Arm geführt wurde, hatte sie sich zunächst darauf konzentriert, nicht aus dem Takt zu kommen. Sie sah von ihren Füßen auf zu Villiers’ Gesicht. »Haben Sie sie dabei beobachtet?« fragte sie. »Ja. Ich zeige Ihnen, worauf Sie achten müssen. Beim Glücksspiel kenne ich mich besser, aus als bei anderen Betrügereien. Oh, übrigens, ich wollte Sie noch fragen, ob Sie wissen, was Henry und Maybelle für ein Spiel treiben?« »Wollen Sie etwa sagen, Sie wüßten das nicht? Ich dachte, Sie seien deswegen nicht hingegangen, weil Sie Bescheid wüßten.« Villiers schüttelte den Kopf. »Es ist vielleicht dumm von mir, das zuzugeben, aber ich wußte nur, daß sie irgendwie nicht echt waren.« »Nun, das Spiel, das die beiden treiben, gehört zu den übelsten überhaupt. Ich meine, Mammy und Daddy würden sowas nie tun. Henry wäre in das Zimmer gestürzt, in dem Sie und Maybelle im Bett lagen. Es hätte sich herausgestellt, daß sie geschwindelt hat und daß die beiden in Wirklichkeit verheiratet sind. Henry wäre sehr, sehr böse geworden, und zu guter Letzt hätten Sie ihnen Geld geben müssen. Ich meine, wenn Sie welches gehabt hätten, natürlich.« »Tja, wenn«, lächelte Villiers. »Es tut mir fast leid, daß ich nicht hingegangen bin. Es wäre vielleicht sehr amüsant geworden.«
VII
Die meisten Gebräuche sind, für sich genommen, unsinnig, ebenso unsinnig wie der Zweck, dem sie dienen. Kann etwas willkürlicher sein als der vollendete Sitz und Faltenwurf eines Umhangs? Die gegenwärtigen Moden, wie der Umhang zu tragen sei, sind bald passe, und was einmal als äußerst bizarr galt, wird allgemein gebräuchlich. Dieses Kleidungsstück ist so völlig nutzlos, daß es darin von kaum einem anderen übertroffen wird. Und doch trägt jeder, der etwas darstellen will, einen Umhang, hat seine Meinung über Länge, Farbe, Muster und Faltenwurf, und lehnt mit Recht denjenigen ab, der keinen trägt. Nehmen Sie es nicht als Kompliment für Villiers, wenn ich feststelle, daß er gut gekleidet ist. Das stimmt zwar, aber ich hoffe, daß Sie ihn nicht allein deswegen bewundern. Wenn Sie schon auf Bewunderung bestehen, dann doch bitte für seine Fähigkeit, maßvoll zu sein, und nicht für die Fähigkeit, sich der Mode anzupassen. Die richtigen Gabeln, die Reihenfolge der Gänge, öffentliche Zeremonien – alles leere Pracht. Jedes dieser formellen Spiele ist bei objektiver Beurteilung komisch. Und da sie ja normalerweise nur dazu dienen, die Menschheit in diejenigen aufzuteilen, die darüber Bescheid wissen, in diejenigen, die noch nicht darüber Bescheid wissen und in diejenigen, die nie Bescheid wissen werden, macht sie das noch viel dümmlicher. Und doch haben diese Sitten einen Vorteil, selbst wenn man weiß, daß die eine Sorte von Gebräuchen genauso dümmlich ist wie die andere. Gebräuche befreien uns schließlich davon,
jede kleine Handlung zu einem Gegenstand der Entscheidung zu machen. Villiers’ Gedanken waren auf das Problem fixiert, wie er an sein Geld kommen konnte. Wenn all diese Routineangelegenheiten wie Essen, Wohnen, Kleidung und Beziehungen zu anderen Menschen nicht Routine wären, sondern Überlegung, Entscheidung und Handeln verlangten, dann wäre Villiers in der unglücklichen Situation unserer vorgesellschaftlichen Vorfahren gewesen, die zwanzig Stunden am Tag zusammengekauert in einer fötalen Haltung unter ein paar Felsbrocken kauerten, von Furcht gelähmt, erschöpft, mit schmerzenden Knochen, im Versuch, genug Nervenkraft zu sammeln, um sich wieder in eine allzu reale Welt zu stürzen. Die Gebräuche befreiten ihn davon. Sie verringerten die Anzahl von Dingen, die ihm vielleicht passieren konnten, auf ein paar, mit denen er fertig zu werden vermochte. Und so war es seinem Geist vergönnt, auf eine pekuniäre Pilgerfahrt zu gehen. Die Sache ist die: Bald wird hier ein Duell stattfinden. Duelle sind lächerlich, und doch nicht lächerlicher als alles andere auch. Erinnern Sie sich einfach daran, daß ein Duell zu jenen Gebräuchen gehört, nach denen Villiers lebte und mit denen er umgehen konnte. Wenn es Sie stört, daß sich Villiers einer solch nutzlosen Beschäftigung hingab, vergessen Sie bitte nicht, daß er während der ganzen Zeit an wichtigere Dinge dachte.
Das Casino war eine Messe für die Gesichtslosen. Die meisten Menschen sind beim Spielen von einer Atmosphäre umgeben, die jedem Casino einen strahlenden Glanz verleiht, eine spröde Schärfe, eine Spannung, die es sonst nirgendwo gibt. Der Lärm schneidet, doch hier sind die Blutlosen. Das Klirren und
Rasseln bildet den Widerpart zum an- und abschwellenden Summen der Stimmen. Hände werden feucht. Die Kontrolle verringert sich auf gewisse motorische Reflexe. Unterkiefer fallen herunter. Lärm, Geld und Emotionen werden zu einem Mühlrad, und der Geist versinkt in Selbsthypnose. Wenn Sie diesem Vergnügen nicht verfallen sind, gibt es nur zwei Arten, ein Casino zu betreten: voller Unschuld oder als ein Wolf unter Schafen. Villiers betrat das Casino mit der ihm eigenen unschuldigen Arroganz. Louisa war der Wolf unter den Schafen. Sie sah sich im Raum um und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Ich sehe schon, wie diese Leute betrogen werden. Es muß eine dumpfe Art sein, Geld zu verdienen.« »Es ist etwas unsensibel, nicht wahr?« »Wir sollten schnell weitergehen. Oh, dieser Reiseführer hatte unrecht. Darin stand, daß Star Well langweilig sei, wenn man nicht gerade spielt. Dabei glaube ich, daß wir viel Spaß haben werden.« »Sie haben einen Reiseführer über Star Well gelesen?« »Ja, auf der Orion.« Villiers nickte. »Sie sagten, Sie haben ein gutes Gedächtnis. Was stand da drin? Nicht der Kommentar – nur die Beschreibung der Anlagen.« »Lassen Sie mich mal überlegen«, sagte Louisa, holte tief Luft und hörte auf zu denken. »Appartements gibt es von neun Taler aufwärts bis zu einem Royal, insgesamt sind es dreihundert. Alice schlug vor, daß ich mich im Schrank eines Ein-Royal-pro-Tag-Appartement verstecken sollte, bis unser Schiff abflöge. Dann sollte ich herausspringen und den Gentleman mit meiner Schönheit betören.« »Ich glaube, das brauchen Sie gar nicht mehr zu tun.« »Sie war sehr erfreut, als sie hörte, daß Sie in der PalatineSuite wohnen.«
»Sie können ihr ja sagen, daß ich schon völlig weg bin, darum brauchen Sie sich nicht in meinem Schrank zu verstecken.« »Das war das Wort, das sie gebraucht hat«, meinte Louisa erfreut. »Schrank? Wenn ich mich nicht irre, ist das doch ein ganz normales Wort.« »Nein. ›Weg sein‹! Sie sagte, der Gentleman wäre dann völlig weg von meinem Charme.« »Nun, das sollte man hoffen. Oder etwa nicht? Sagen Sie mal – diese Alice –, erzählen Sie der alles?« »Ich sage ihr natürlich nicht alles. Jedenfalls nichts Wichtigeres.« Sie blieben an einem Tisch stehen, wo gewürfelt wurde. Sie stellten sich aber nicht direkt an den Tisch, sondern hinter die Spieler, die das Spiel verfolgten. »Was stand noch im Reiseführer?« fragte Villiers. »Zum Beispiel, wieviel Raumhäfen hat Star Well?« »Zwei. Ich erinnere mich ganz deutlich daran.« »Hmm. Daran erinnere ich mich auch. Aber ich weiß nicht, wie alt das Buch ist. Passen Sie auf, jetzt bekommen Sie etwas zu tun. Ich möchte die Frage nicht selbst stellen. Gehen Sie zu einem der Angestellten und fragen Sie, wieviel Landehäfen es hier gibt. Ganz unschuldig, so nebenbei.« »Aber ich bin erst fünfzehn«, sagte Louisa. »Wenn ich allein bin, werfen sie mich raus.« Villiers hob die Augenbrauen. »Es ist eine Schande, jetzt von einem Test zu reden, aber ich glaube, Sie waren es, die eine Partnerschaft vorgeschlagen haben. Wie gut sind Sie?« Louisa war nicht der Typ, auf die offensichtliche Unfairneß dieser Herausforderung hinzuweisen. Villiers nahm zu leicht alle Rechte für sich in Anspruch und wies Louisa die Rolle des Lehrlings zu, während eigentlich doch sie es war, die Villiers
auf neue Bahnen lenken wollte, wobei er dann der Neuling sein würde. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Sie sah nicht einmal einen Grund dafür. »Na schön«, sagte sie, drehte sich um und wühlte in ihrem Täschchen herum. Dann machte sie ein paar Handgriffe und wandte sich wieder ihm zu. Die Veränderung war verblüffend. Das Mädchen, das vorher nicht in der Lage war, Alices Kleider zu tragen, weil sie zu »modisch« waren und sie selbst noch zu klein dafür, wirkte plötzlich zu alt für ihr eigenes Kleid. Als würde sie zu lange an der Frische der Jugend hängen, die sie längst nicht mehr hatte. »Besser?« »Ich bin überaus beeindruckt.« Villiers ging weiter, während Louisa auf der Suche nach einer Star Well-Uniform war. Nach wenigen Minuten stand sie wieder neben ihm. »Zwei«, sagte sie ruhig. »Das war’s dann wohl. Sie schmuggeln, es muß so sein. Und das geht hier auch ganz leicht. Star Well hat wenigstens drei Raumhäfen. Ich habe nämlich einen dritten gesehen.« Villiers berichtete kurz und mit leiser Stimme, was er am vergangenen Morgen erlebt hatte. »Mir scheint, hier gibt es eine Möglichkeit für…« Er sprach nicht weiter. »Für uns?« »Für etwas. Ich dachte, daß Adams einer Untersuchungsbehörde angehört, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.« »Weil er nicht besonders helle ist?« »In erster Linie, weil er nicht kompetent und erfahren genug ist, um so einen Auftrag selbst durchzuführen. Wenn er wirklich ein Ermittlungsbeamter ist, dann muß er einem anderen assistieren. Aber ich habe hier bisher noch niemanden
gesehen, für den er arbeiten könnte. Ich muß auch darüber nachdenken, wo für uns der Vorteil liegen könnte.« »Ist das nicht derselbe Mann, den Sie mir mit Miss Labelle und Henry gezeigt haben?« fragte Louisa. »Ja.« »Nun, den habe ich mit jemandem gesehen, der sein Boß sein könnte. Bevor Sie heute nachmittag herüberkamen und mit mir sprachen, redete er mit dem Mithra-Priester, der mit unserem Schiff ankam.« »Tatsächlich?« Villiers’ Augen leuchteten. »Ja, und ich habe sowieso nicht geglaubt, daß der ein Priester ist. Ich dachte mir, daß er nur so tut, um billiger reisen zu können.« »Sie sind sicher, daß er kein Priester ist?« »Nein, aber ich glaube, er ist keiner.« »Ich gebe viel auf Ihr Urteil. Ich kann mich kaum an den Mann erinnern, aber ich weiß, mit wem er heute abend zusammen ist. Ich werde mal sehen, was ich herausfinden kann.« »Ich weiß auch, mit wem er zusammen ist«, sagte Louisa entschieden. »Wirklich?« »Er kommt gerade mit dem Fremden herein, mit dem er an Bord der Orion immer gesprochen hat.« Villiers drehte sich um und sah Torve den Trog in Begleitung eines kleinen, fetten Priesters in einem scharlachroten Mantel. Ganz offensichtlich bahnten sie sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch in Richtung auf Villiers und Louisa. Ein erfreulicher Zufall, oder Torve zeigte sich einmal mehr als Verbindungsglied. »Ich nehme an, daß sie uns Gesellschaft leisten wollen«, sagte Villiers ruhig. Torve blieb vor ihm stehen. »Ist Villiers«, sagte er.
Villiers vollführte eine Geste. »Ihr Diener, Sir. Anthony Villiers. Dies ist Fräulein Louisa Parini. Louisa, mein Freund Torve.« Er sah Srb auffordernd an, der sich vorstellte. »Wir sind mit demselben Schiff hergekommen«, sagte Louisa, nachdem sie gnädig ihre Hand gereicht hatte. »Sie kamen mir gleich so bekannt vor«, sagte Srb. »Eine von den jungen Damen auf dem Weg zur Schule, wenn ich mich recht erinnere. Heute abend sehen Sie aber etwas älter aus.« »Das muß an der späten Stunde liegen«, sagte Villiers. »Oder es ist dieses harte Licht.« »Sehr wahrscheinlich. Ich sah so wenig von den anderen Passagieren, daß ich kaum einen beschreiben könnte. Der Aufenthaltsraum war immer überraschend leer. Ich war darüber so erstaunt, daß ich den Captain fragte, ob eine Seuche an Bord herrsche, aber er sagte, die Passagiere wollten einfach ihre Ruhe haben.« Torve war während des höflichen Gesprächs zunehmend unruhiger geworden, was im krassen Gegensatz zu seiner Geduld im Warteraum stand. »Ich glaube, ich gehe jetzt lesen«, sagte er geradeheraus. »Sie haben sehr interessante Bücher, Tony. Vergleichende Biologie von sieben alten Rassen. Ich glaube, ich werde das lesen.« »Haben Sie Rainbird ausgelesen?« fragte Villiers. »Oh ja, oh ja! Sehr interessant, aber nicht sehr überzeugend.« Er wandte sich abrupt um und ging davon. Srb räusperte sich. »Es hat mir Freude gemacht, mich mit ihm zu unterhalten, und ich glaube, ich mag ihn, aber ich muß gestehen, daß ich ihn nicht begreife. Benimmt er sich öfter so?« »Durchaus«, sagte Villiers. »Er ist sonst sehr förmlich, aber er hat andere Gebräuche als wir, und manchmal verstehe ich ihn auch nicht.«
»Entschuldigung«, sagte Srb »aber sagten Sie nicht, daß Ihr Name Villiers sei? Dieser Name ist mir bekannt.« Villiers lächelte. »Es ist ein verbreiteter Name. Unsere Familie ist sehr groß.« »Nein, Sir, ich habe die Bekanntschaft von Mr. Walter Villiers auf Controlled Berkshire machen dürfen.« »In diesem Fall freue ich mich, Sie kennenzulernen, Monsignore Srb. Eine große Ehre. Ich kann Mr. Walter Villiers leider nur zu meinen entferntesten Cousins zählen, aber sein Ruf wirft ein unverdientes Glanzlicht auf den Rest der Familie. Wollen Sie Miss Parini und mir nicht die Ehre geben, uns heute abend mit Ihrer Gesellschaft zu erfreuen?« Louisa folgte der Unterhaltung mit großem Interesse, während sie sich dabei unauffällig im Hintergrund hielt. Bis Alice es erwähnt hatte, hatte sie nicht weiter darauf geachtet, wie unterschiedlich sich Villiers privat und in der Öffentlichkeit verhielt. Obwohl sie mehr mit dem privaten Villiers vertraut war, gefiel ihr auch sehr gut, wie er öffentlich auftrat. Ebenso war sie an Srb interessiert, der ihr, während sie ihn aus der Nähe beobachtete, immer weniger wie ein Priester vorkam, sondern mehr und mehr wie der Großmeister einer geheimen Untersuchungsbehörde. Ihre Einbildungskraft stattete ihn mit größerer Intelligenz, Schlauheit, Energie und Verschlagenheit aus, als es seine Erscheinung erlaubte, doch ihre natürliche Sympathie gehörte dennoch nicht Untersuchungsbeamten, nicht einmal Generalinspekteuren. Srb machte eine höfliche Verneigung und sagte: »Mein lieber junger Herr, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.« »Wir wollten uns gerade die verschiedenen Spieltische ansehen«, meinte Villiers. »Fräulein Parini war noch nie in einem Casino, und ich hatte vor, ihr einige der Grundzüge zu erklären, bevor sie einen Einsatz wagt.«
»Wunderbar«, sagte Srb. »Ich bin mit dem Glücksspiel selbst nicht vertraut. Darf ich sagen, daß Sie dann zwei Schüler haben?« »Dabei dachte ich, daß Sie ein erfahrener Spieler seien.« Srb hustete. »Gelegentlich ein Kartenspiel mit meinem Butler. Fünf Minims pro Spiel, ein Minim für Minuspunkte. Das können ein paar Thaler pro Abend werden.« »Dann sind Sie nicht unerfahren«, sagte Villiers und geleitete sie weiter. »Ein höchst interessantes Geschöpf, dieser Torve«, meinte Srb. »Auf der Reise von Morian haben wir lange Zeit über Theologie diskutiert.« Villiers blinzelte. »Theologie? Ich bin sicher, daß Torve von Theologie nichts versteht.« »Aber sie haben darüber geredet«, sagte Louisa. »Ich habe zugehört.« »Er hat mir ein paarmal eine alte Legende der Wiedergeburt erklärt. Bizarr, aber höchst interessant.« »Das ist wirklich sehr interessant. Könnten Sie mir etwas über die Legende sagen?« »Moment, ich versuch’s mal.« Srb gab sein Bestes, um Torves Erklärung von der Ganzheit und dem Nichtsein und ihrer Beziehung zueinander zu rekonstruieren. Nach einem Moment unterbrach ihn Villiers. »Entschuldigen Sie, Sir, aber das ist keine Theologie.« »Verzeihung?« »Erinnern Sie sich an das Buch, von dem ich ihn fragte, ob er es ausgelesen habe? Es handelte sich dabei um eine allgemeinverständliche Darstellung der kosmologischen Theorien von V. H. Rainbird – Das siebzehnte Universum. Was Sie gerade beschrieben haben, ist Rainbirds Darstellung der Bewegung durch die universale Eihülle der Metagalaxis.« »Großer Gott, ist das Ihr Ernst?«
Villiers nickte. »Sie meinen tatsächlich, daß, während ich über Theologie sprach, er über Physik redete?« »Ja. Anscheinend.« »Hmmm. Irgendwie kam mir das, was er sagte, sehr logisch vor. Ich fürchte, Sie haben mir Stoff für lange Überlegungen gegeben.« »Oh, das sind aber hübsche Maschinen«, sagte Louisa. »Was macht man mit denen?« Vor ihnen, auf einigen hohen Tischen standen Reihen von Apparaten. Durch Einwurf eines, zweier oder fünf Thaler wurde die Maschine aktiviert, lächelte einladend und startete. Es gab 25 Schlüssel und 25 Lichter, und dazwischen eine Unzahl von Variationen. Die Maschine spuckte bei bestimmten Farb- oder Musterkombinationen einen Gewinn aus. Hier brauchte man keine Intelligenz, um zu spielen, nur die Fähigkeit, eine Münze einzuwerfen und irgendwo auf die Tastatur zu drücken. »Theoretisch sind das Spielmaschinen«, bemerkte Villiers. »Praktisch sind es Geldfresser. Wollen Sie Ihr Glück versuchen?« »Gern«, sagte Louisa. Villiers gab ihr ein Zwei-Thaler-Stück und deutete auf eine Maschine. Sie ging hin und wollte schon eine Münze in den Zwei-Thaler-Schlitz werfen, als sie von einer freundlich blickenden alten Dame zur Seite geboxt wurde. »Meine Maschine, wenn Sie gestatten.« Sie warf automatisch eine Münze ein, hieb auf die Tastatur, und ohne das Ergebnis abzuwarten, ging sie wieder zur rechts danebenstehenden Maschine. Die grünen Lichter blinkten auf, und zwei Münzen fielen in die Schale. Inzwischen war die Dame zwei Maschinen weiter. Als sie sich ihren Weg zurückarbeitete, strich sie mechanisch die Münzen ein, ohne auf das Ergebnis der
Maschine zu schauen, und warf sie sofort wieder in den Schlitz. »Sieht nicht aus, als ob es Spaß macht«, meinte Louisa. »Fragen wir doch einfach«, sagte Villiers. »Entschuldigen Sie, Madame, haben Sie Freude am Spiel?« »Ruhig, Junge«, sagte sie, ohne ihren Kopf zu wenden. »Ich bin beschäftigt. Such dir eine andere Maschine.« Villiers winkte Louisa zu einer anderen Maschine. Ihr anfängliches Interesse war erlahmt, aber sie ging trotzdem hin. Während sie sich über die Tasten beugte und sie nacheinander drückte, um ein Maximum an Spiel für ihr Geld zu bekommen, sagte Srb: »Darf ich annehmen, daß Sie eigentlich gar nicht gern spielen?« »Jedenfalls nicht mit Maschinen, egal was für Maschinen es sind. Diese Maschinen geben höchstens dreißig Prozent von dem zurück, was man eingesetzt hat. Ich ziehe Spiele vor, bei denen meine Fähigkeit, die Chancen abzuwägen und dann die richtige Entscheidung zu treffen, den Ausschlag gibt.« Srb sah ihn nachdenklich an. »Sie scheinen ein Einzelgänger zu sein, Sir.« »Eine interessante Beobachtung. Wenn ich Ihren Gedanken weiterführen darf, würde der Massenmensch es vorziehen, sich der Gerechtigkeit der Maschinen anzuvertrauen?« Srb zog seine Pfeife hervor. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?« »Nein«, sagte Villiers. »Sie, Louisa?« Sie sah von der Tastatur auf. Die letzte Taste mußte noch gedrückt werden. »Nein, rauchen Sie nur. Jetzt verstehe ich, warum die anderen alle Tasten auf einmal drücken. Sonst ist die Entscheidung zu schwierig.« Srb reinigte seine Pfeife. »Ich denke gern in Metaphern«, gestand er, »und das Rauchen bringt meinem Geist diese Metaphern.«
Louisa drückte die letzte Taste. Die Maschine blinkte und traf dann ihre innere Entscheidung. Von der Vielzahl der Möglichkeiten waren zwei kalte grüne Lichter übrig, ferner je ein blaues, ein rotes und ein bernsteinfarbenes. Es kam kein Geld. Louisa drehte sich um. »Ist das alles?« »Das ist alles«, nickte Villiers. Eine hartnäckige einfache Melodie, die er nicht identifizieren konnte, ging Derek Godwin immer wieder durch den Kopf. Er schien zu schweben, wußte, zählte und benannte all die Mysterien seiner Existenz, hatte die vollkommene Kontrolle über sich, fühlte sich gefährlich. Es war Zeit, nach unten zu gehen, aber er ging nicht. Er sah durch das Einwegglas auf die Spieltische und genoß das Hochgefühl, das kurz vor dem Augenblick kommt, da man ein Gott wird. Die Macht war in ihm. Er wandte sich um und musterte sich im Spiegel des Büros, immer noch mit der Melodie als Begleitung seiner Gedanken. Er legte eine Hand an seine Kehle, spielte mit dem Sitz seines Kragens, schnaubte um seine Nase zu reinigen, und drehte sich leicht, um den Sitz seines Umhangs (Farid Elegante) zu kontrollieren. Als er seine Kanone unter dem Mantel tätschelte, lächelte er sich selbst zu und drehte den Kopf, um die Ähnlichkeit mit Ian Steele noch zu erhöhen. Er glättete zwei widerspenstige Haare in seinem Schnurrbart. Ja, genau wie Ian Steele. Manche Leute kommen immer zu spät, manche zu früh. Godwin, der sich immer rechtzeitig zurechtmachte, neigte dazu, zu früh zu erscheinen, aber er hielt sich immer bis zum richtigen Moment zurück. Die Spannung, als Resultat der elektrischen Kraft in ihm, wartete auf ihre Befreiung. Das Gefühl war angenehm. Das Gefühl war rein. Er war ein sich
selbst bedienendes Instrument der Zerstörung, das seine Kraft zurückhält. Er wandte sich zur Tür, und als er hindurchtrat, summte er die Melodie, in der sein Geist gefangen war. Der Titel war ihm abhanden gekommen, darum verlegte er die Melodie wieder in seinen Kopf und ließ sie lautlos abspielen. Als er die Stufen von seinem Büro herabkam, schwoll der Lärm von den Spieltischen an. Er blieb auf der untersten Stufe stehen. Er sah Shirabi, sah Levi Gonigle, sah Anthony Villiers. Erst dann machte Godwin den nächsten Schritt. Eine formelle Entschuldigung um seiner Kraft freien Lauf zu lassen, mehr brauchte er nicht. Godwin betrachtete das aber nicht als Problem. Die Gründe waren Wege und er kannte jede begehbare Route – er hatte sie alle schon einmal eingeschlagen. Wenn er ein A hatte, wußte Godwin auch das B, das ihn genau dahin brachte, wohin er wollte. Langsam ging er weiter. Bald stand er etwa sieben Meter hinter dem nichtsahnenden Villiers, der gerade mit einem Mithra-Priester und einem unbekannten Mädchen sprach. Fast tat ihm Villiers leid. Dann ging Godwin auf ihn zu. Villiers sagte gerade mit einer Stimme, die zwar gedämpft, aber dennoch zu hören war: »Nein, die Eingriffe werden nicht vom Croupier gemacht. Ich glaube, es ist der Mann in Lederkleidung am Ende des Tisches.« Godwin war nahe genug, um das zu hören. Er lächelte sein kürzestes Lächeln und sagte dann laut: »Sie sind der Meinung, daß hier nicht ehrlich gespielt wird, Sir?« Villiers drehte sich um. Er musterte Godwin von oben bis unten und von unten bis oben, wie um seine Absichten besser erkennen zu können. Dann sagte er ruhig: »Das wissen Sie
doch, Sir. Sie wissen genau, daß hier falsch gespielt wird, und Sie wissen auch, daß ich es weiß.«
Das Duell fand in der Duell-Galerie von Star Well statt, einem langen, engen Raum, der von beiden Seiten bequem eingesehen werden konnte. Louisa jedoch sah weder den Raum noch das Duell. Die Nachricht von dem bevorstehenden Duell verbreitete sich schnell. Einige Leute verließen sofort das Casino, um sich die besten Plätze zu sichern. Dabei stellten sie fest, daß Wu und Fabricant, die sonst unübertrefflichen Herausgeber von Reiseführern, sich in ihrer Beurteilung von Star Well geirrt hatten. Godwin stolzierte in seinem besten Sonntagsstaat durch die Halle. Villiers fragte Srb gelassen, ob er für ihn sekundieren würde. Zwischen ihnen und um sie herum waren Spieler aus dem Casino. Louisa erkannte auch die alte Dame von den Spielautomaten. Louisa war ruhig, hatte aber dennoch Angst. Sie wußte nicht, ob Villiers welche hatte. Er war ruhig und höflich und zeigte keine Furcht vor diesem großen, protzigen und offenbar mörderischen Mann. Aber sie hatte Angst um ihn. Das Beste, was sie tun konnte, war, ihre Angst nicht auf ihn zu übertragen. Wenn er sie ansah, lächelte sie, so gut sie konnte. Als sie aus dem Casino kamen, wurden sie von Mrs. Bogue erspäht. Sie beeilte sich, setzte ihre Ellenbogen rücksichtslos ein, um sich einen Weg zu bahnen. »Mr. Villiers, ich hätte Besseres von Ihnen erwartet. Sie haben Louisa ins Spielcasino geführt.« »Ja, ich fürchte, das ist richtig.« »Wollen Sie mir das erklären?« »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, Madame, bezweifle ich, daß mir das möglich sein wird.«
Villiers sprach ruhig, wenn auch etwas angespannt. »Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen erkläre, daß meine Gedanken im Augenblick nicht geordnet sind und meine unmittelbare Gegenwart an einem anderem Ort erforderlich ist.« Er wandte sich ab, und Louisa sagte: »Oh, Tony! Seien Sie vorsichtig!« Er drehte sich noch einmal um. »Ich versuche mein Bestes«, sagte er und lächelte. Sie lächelte auch, doch als er es nicht mehr sehen konnte, erstarb ihr Lächeln. »Komm, Louisa«, sagte Mrs. Bogue und packte sie fest am Handgelenk. »Wenn Miss McBurney wüßte, wo du gewesen bist!« »Er könnte getötet werden!« »Wenn Mr. Villiers getötet wird, dann hat er eben Pech gehabt. Ich habe nichts dagegen, daß diese Männer sich duellieren, aber wenn sie sterben, sollten sie sich nicht hinterher beschweren. Schließlich haben sie es so gewollt. Nun komm schon. Hier ist nicht der rechte Platz für dich. Und was hast du da auf deinem Gesicht verschmiert? Wisch das sofort ab! Louisa Parini, ich erkenne dich gar nicht wieder! Ich dachte, du seist klüger als die anderen.« Louisa verwandelte sich wieder in ein junges Mädchen zurück, als ihr Gesicht geschrubbt wurde, aber kaum war sie wieder frei, wandte sie den Kopf und blickte traurig auf die Leute, die aus dem Casino strömten. Als sie Louisas Raum erreicht hatten, öffnete Mrs. Bogue die Tür. Bei dem Geräusch kam Alice aus dem Ankleidezimmer. Sie hatte sich zum Schlafengehen zurechtgemacht und putzte sich gerade die Zähne. »He«, begann sie, und dann stocke sie, als sie Mrs. Bogue mit Louisa sah.
Mrs. Bogue deutete auf den Ankleideraum. »Mach weiter, Alice, und dann sofort wieder ins Bett.« Alice verschwand. Mrs. Bogue blickte Louisa an. »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Brosche meiner Schwester zurückgeben würdest, die ich dir leider geborgt habe.« Sie wandte sich ab, während Louisa die silberne Brosche löste. Mrs. Bogue ging zur Service-Ecke und läutete. Ein pickliger junger Mann in Uniform erschien auf dem Bildschirm. »Wissen Sie, wer ich bin?« fragte Mrs. Bogue. »Nein, Madame.« »Ich heiße Selma Bogue und bin verantwortlich für die Mädchen in diesem und den anschließenden Zimmern. Sie sollten das in Ihren Buchungslisten nachprüfen. Ich möchte, daß aus diesem Raum Anrufe weder hinein- noch hinausgelassen werden.« Alice kam wieder herein und ging zu ihrem Bett, offenbar nur mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Doch als sie unter der Decke lag, konnte man fast sehen, wie sie ihre Ohren spitzte. »Ja, Madame«, sagte der Mann an der Rezeption. »Bitte beachten Sie, daß diese Anordnung solange gilt, bis ich sie widerrufe.« »Ja, Madame. Soll ich Ihnen einen Lederriemen hinaufbringen lassen?« »Wie bitte, junger Mann?« »Das gehört zum Service von Star Well, Madame. Wir haben eine große Anzahl von Instrumenten für Bestrafungen zur Verfügung, wie sie vielleicht in Ihrem Fall vonnöten sind.« »Nein, danke«, sagte sie. »Sowas brauche ich nicht. Und keine Anrufe hinein oder heraus.«
Sie legte auf und wandte sich um. Dann nahm sie die Brosche von Louisa entgegen und sagte: »Damit ist die Sache noch nicht erledigt, Miss Parini. Ich werde mir eine geeignete Bestrafung überlegen.« Sie ging zur Tür. »Ich komme in zehn Minuten wieder. Dann sind Sie im Bett.« Sie verließ den Raum und verschloß die Tür hinter sich. Einen Moment herrschte Schweigen. Alice lag regungslos mit dem Rücken zur Tür, ganz wie zuvor; Louisa hatte sich, seitdem sie hereingekommen war, nicht von der Stelle gerührt. Dann drehte sich Alice um, bettete das Kinn auf die gefalteten Hände, stützte die Ellbogen auf und sagte: »Rede!«
VIII
Stellen Sie sich vor, Sie werden in ein Duell verwickelt: Es fängt alles ganz normal an – sagen wir mal, Sie essen mit Freunden –, reden, trinken, erzählen Witze, alles ganz normale Vergnügungen ganz normaler Art. Das einzige, was Ihre Fröhlichkeit dämpft, ist die Tatsache, daß Sie um zehn zu einer anderen Party müssen – Ihr Kommen wird sicher erwartet, bis dahin ist es ein gutes Stück zu fahren, und der Abend wird dadurch unterbrochen. Aber das ist unwichtig. Dann aber wird die Sache ungemütlich. Henderson erscheint und bringt seinen dümmlichen Kumpel Wold mit. Wold hat ein rotes Gesicht, ist ein Maulheld und liebt es, die Schwächen anderer Leute aufzudecken. Diesmal hat er Sie am Wickel. Haben Sie wirklich Schwächen gezeigt? Sie sind sich dessen nicht sicher, aber es paßt Ihnen jedenfalls ganz und gar nicht, daß er so etwas vermuten und sich einen Spaß daraus machen könnte, sie nach seinem Belieben wie einen Ball zu treten. Sie leisten Widerstand. Er trinkt viel. Sie geben es ihm, so gut Sie können, und fragen sich die ganze Zeit, ob Sie sich nicht dabei selbst zum Narren machen. Dann rastet er plötzlich aus und ist nicht wieder zu beruhigen. Er verlangt Genugtuung. Sie finden sich in einer Situation wieder, in die Sie niemals hatten kommen wollen. Aber jetzt können Sie nicht mehr zurück. Das würde Sie ja nicht etwa als einen Mann mit Verstand auszeichnen, von ruhigem Temperament und freundlichem Verhalten, sondern jeder würde Sie nun für einen Mann ohne Feingefühl halten, einen Feigling, einen Mann, der selbst zugibt, kein Mann zu sein. Sie fragen Kahane, ob er Ihnen sekundiert. Sie tun Ihr Bestes, um die Kontrolle über die
Situation zu behalten. Und doch haben Sie das eindringliche Gefühl, hier am falschen Platz zu sein. Sie sehen auf die Uhr und stellen fest, daß Sie jetzt gehen müßten, wenn alles normal gelaufen wäre, gehen müßten, um zu dieser anderen Party zu kommen. Könnten Sie das in diesem Moment sagen? Nein. Sie sehen sich Wold an. Sein Gesicht leuchtet. Er lächelt. Er hat schon Menschen getötet. Sie wissen, daß ihm das Spaß macht, wenn er betrunken ist. Untersetzt, muskelbepackt, ein Mann, der die Zeit und das Geld hat, im Umgang mit Waffen trainiert zu sein. Die Waffen werden verglichen und scheinen Kahane und Henderson gleichwertig zu sein. Alles muß fair zugehen, wissen Sie. Fair? Es geht so langsam. Die Menschen schweben ungreifbar am Rande Ihres Gesichtsfeldes herum, beschäftigt mit sinnlosen Unternehmungen. Sehen Sie, daß da drüben Geld seinen Besitzer wechselt? Sie sind nicht sicher. Sie bekommen einen Drink angeboten, und weil Ihre Kehle trocken ist und weil Sie damit wenigstens etwas zu tun haben, trinken Sie ein Glas Wasser. Doch dann, obwohl die Zeit so langsam vergeht, ist alles viel zu schnell bereit. Sie haben eine Waffe in der Hand, wissen nicht einmal, was für eine. Sie sehen Wold auf der anderen Seite des Raumes. Der Gerinner – es handelt sich also um einen Gerinner – liegt verdammt schwer und massiv in Ihrer Hand. Nein, hier sollten Sie nicht sein. Das sollten Sie auch nicht tun. Sie wollen das jemanden sagen, aber Sie pressen die Lippen zusammen und konzentrieren sich. Beim Kommando heben Sie den Gerinner. Sie sehen, daß Wold dasselbe macht, aber schneller, sicherer. Sie zielen und drücken ab. Da ist Dampf, eine schwarze Explosion in Ihrer Brust, und Ihr Geist gerät ins Taumeln. Sie versuchen, sich zu konzentrieren, konzentrieren, konzentrieren. Nur auf eine
Sache: stehenzubleiben. Aber Sie merken bald, daß das nicht geht. Die Schwärze wird zu einer Wolke, die sich rasch ausbreitet, Ihre Knie geben nach, Sie fragen sich, ob man Sie auf der Party vermissen wird. Wird sich überhaupt jemand darum scheren? Ein faires Duell? Ein Freibrief für einen Mann, der das Talent zum Töten hat – und Spaß daran, es einzusetzen. Muß es so sein? Gibt es nicht die Möglichkeit, daß Wold vom Schweiß geblendet ist, daß Ihr kaum gezielter Schuß Wolds Gerinner wegfegt, daß Sie das Instrument einer höheren Gerechtigkeit sind, ohne es zu wissen? Eine Möglichkeit? Hoffen Sie darauf.
»Kein Licht«, sagte Louisa. Sie schlüpfte aus dem Bett und kroch auf Händen und Knien über den warmen Fußboden. »Was hast du denn vor?« wollte Alice wissen. Es war eine unerträglich langsame Stunde vergangen, seitdem Mrs. Bogue die Mädchen zum letzten Mal kontrolliert hatte. In der Dunkelheit hatten sie die Zeit verstreichen lassen, während ihre geflüsterte Unterhaltung hin und her ging. »Ich muß herauskriegen, was passiert ist«, sagte Louisa. »Und zwischen uns war noch nichts abgemacht.« Sie saß im Schneidersitz im Schrank, durchwühlte ihre Kleider und lehnte sich zurück, wenn sie sprach. Dann fummelte sie weiter in ihren Reisetaschen herum. »Oh«, sagte Alice, »du meinst, er war interessiert?« »Das kannst du wohl annehmen.« »Na schön«, meinte Alice, »und was sage ich Mrs. Bogue, wenn sie zurückkommt?« »Du weißt von nichts. Du hast geschlafen.«
Alice lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Keine von beiden sagte ein Wort, nur ein Rascheln war zu hören und das Geräusch einer Tasche, die geschlossen wurde. »Willst du die Tür öffnen?« fragte sie endlich. »Oh, mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Louisa mit undeutlicher Stimme, weil sie gerade in ein Kleid schlüpfte. »Mein Bruder, der bei der Marine ist, hat mir gezeigt, wie man Türen öffnen kann.« Das war natürlich nicht ganz die Wahrheit. Tatsächlich war die Tür schwierig zu öffnen, aber Louisa machte sie so schnell auf, daß ein nichtsahnender Zuschauer gar nicht auf die Idee gekommen wäre, daß sie von außen abgeschlossen war. Wenn man in der Lage ist, so eine Fertigkeit von seinem älteren Bruder an einem regnerischen Nachmittag zu lernen, muß man schon sehr gut sein oder viel geübt haben. Louisa war sehr gut. »Sie würde mir sowieso nicht glauben«, meinte Alice. »Wer?« Alice sprang aus dem Bett und ging in den Ankleideraum. »Mrs. Bogue. Sie würde mir kein Wort glauben. Dann kann ich genausogut am Spaß teilhaben. Ich komme mit.« »Oh, das ist nett von dir«, sagte Louisa. »Beeil dich.« Sie schlossen die Tür hinter sich, gelangten in eine offene Halle, ließen diese hinter sich und waren schnell um die Ecke verschwunden. Sobald sie die Zeit hatten und einen Winkel erreichten, den man nicht einsehen konnte, machten sie sich etwas zurecht, und waren kurz darauf zwei junge Damen auf einem Abendspaziergang – nett anzusehen und gut gelaunt, so wie es sein sollte. Louisa übernahm die Führung, so gut sie konnte. Sie spähte nach allen Seiten scharf aus, und bald waren sie am Casino, doch danach kannte sie den Weg nicht mehr so genau. Soweit war sie bisher nicht gekommen, und sie mußten sich auf ihr Glück verlassen.
Es war seltsam. Vielleicht, weil sie die Situation nicht in der Hand hatte, hatte sie kaum Furcht verspürt, als sie in Begleitung von Mrs. Bogue und später in ihrem Zimmer war. Jetzt fühlte sie nackte Angst. Irgendwo hatte sie Villiers verloren. Und das war ihre Angst. Nicht so sehr, daß er vielleicht tot sein könnte, sondern daß sie ihn nicht wiedersehen würde. Die Gänge wurden zum Alptraum. Sie führten zu keinem Ziel, sondern gingen endlos weiter. Sie und Alice fühlten sich in einem Labyrinth verloren. Irgendwo waren Wärme, Farben, Menschen, aber nicht hier. Ihr war kalt – sie spürte die Gänsehaut auf ihren Armen. Alles um sie herum schien zu verschwimmen. Die wenigen Leute, die sie sah, waren weit weg, ihre Stimmen verzerrt. »Wohin gehen wir?« fragte Alice. »Ich werde den Mann da fragen«, entschloß sich Louisa. Sie trat vor einen älteren Herrn. »Entschuldigen Sie, Sir. Wir suchen die Duell-Galerie. Können Sie uns den Weg zeigen?« Er stand direkt vor ihr, aber er schien weit entfernt, und seine Stimme klang verschwommen, woran nicht nur sein gewaltiger Schnurrbart schuld war. »Sicher«, sagte er. »Das ist nicht weit. Aber sind die Damen nicht noch etwas jung für die Duell-Galerie?« »Bitte, Sir. Heute nacht war ein Duell dort. Ein Freund von mir wurde herausgefordert, und ich möchte wissen, wie es ihm geht.« »Nun, ich würde trotzdem an Ihrer Stelle nicht hineingehen, sondern draußen warten. Zu brutal. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen den Weg.« Sie folgten dem Gentleman und kamen kurz darauf vor der Duell-Galerie an. Louisa war nicht überrascht, daß draußen kein Mensch zu sehen war und von innen kein Laut herausdrang.
»Sind wir hier richtig?« fragte Alice und sah sich um. »Wo sind die denn alle?« »Ich weiß nicht«, meinte Louisa. »Vielleicht ist schon alles vorbei.« Sie war sicher, daß es so war, daß es nicht mehr in ihrer Macht lag, zum Besseren oder Schlechteren einzugreifen. Auf jeder Seite waren Treppen, die zu den Galerien emporführten, und direkt vor ihnen befanden sich die braunen, halb zurückgeschobenen Türen, die sich zur eigentlichen Halle öffneten. Drinnen war es dunkel. Louisa ging voran und hob die Hand, um die Lichter anzuschalten. Sie leuchteten nur zögernd auf. Die Duellfläche bestand aus schimmerndem Marmor. Sie war leer. Vom Boden führten noch weitere Treppen zu den Galerien empor. Louisa wußte nicht, was sie zu sehen erwartet hatte. Sie konnte nirgendwo eine öffentliche Bekanntmachung entdecken. Es war auch kein vielsagender Blutfleck zu erkennen. Da war nur ein langer, leerer, kalter Raum. »Wir könnten zurück ins Casino gehen«, sagte Alice. »Die Leute dort sollten Bescheid wissen.« »Nein«, widersprach Louisa. »Warum nicht? Das ist vernünftig.« »So will ich es nicht erfahren. Gehen wir zu seinem Appartement.« »Oh, toll!« sagte Alice. Louisa fühlte auf dem Weg durch die Hallen, wie diese seltsame Furcht wieder in ihr emporstieg. Wie um sie noch zu betonen, trafen sie keinen Menschen. Sie wollte schon rufen, daß die Leute doch aus ihren Verstecken kommen sollten, aber dann hatte sie Angst davor, was wohl geschehen würde, wenn sie wirklich riefe. Sie wollte rennen, schreien, gegen die Wände hämmern. Und vor allem wünschte sie sehnlichst, sie hätte das Schlüsselwort, das sie nur aussprechen mußte, damit
die Welt wieder in Ordnung wäre. In der Zwischenzeit gab sie sich alle Mühe, so ruhig weiterzugehen, wie sie nur konnte. Für Alice war dieser Ausflug bisher nicht mehr als eine Möglichkeit für lustvolle Gefühle aus zweiter Hand. Glücklich trabte sie neben Louisa einher, den Kopf voller romantischer Gedanken. Wenn Villiers am Leben war, dann mußten sie ihn finden. Wenn das in aller Öffentlichkeit stattfand, sehr schön, denn ein Wiedersehen in der Öffentlichkeit ist immer dramatisch. Wenn es im privaten Bereich stattfand, umso besser, denn private Wiedersehen sind so pikant. Die Idee, daß Villiers und Louisa ein sexuelles Verhältnis haben könnten, nahm sie ganz gefangen, obwohl sie nicht sicher war, ob Louisa wirklich aus dem Stoff gemacht war, aus dem erfolgreiche Geliebte sind. Und Wiedersehen, ob nun pikant oder dramatisch, vielleicht noch verbunden mit einem Versteck im passenden Schrank, sind der Stoff, aus dem fantasievolle Leidenschaften erwachsen. Andererseits, wenn Villiers nicht mehr am Leben war, sollte man ihn dennoch so schnell wie möglich finden. Einmal gefunden, war sein toter (oder noch besser, sterbender) Körper die rechte Basis für eine sensible junge Dame, um ihre Trauer in Worten und Tönen so zum Ausdruck zu bringen, daß selbst der abgestumpfteste Zuhörer gerührt sein würde von der Tiefe ihres Gefühls. Und wenn er tot war, dann konnten wunderbare Dinge an einer Schule wie der von Miss McBurney geschehen. Wenn man mit so einer unglücklichen Vergangenheit geschickt umging… Sie war realistisch genug, um darüber Bescheid zu wissen. Alice hoffte nur, daß Louisa ihre unglaublichen Chancen auch ordentlich nutzen würde. Wenn sie jetzt versagte, in dieser Stunde der perfekten Möglichkeiten, würde ein Schatten
auf die Freundschaft mit Alice fallen, und das würde ihr gar nicht passen.
Die Ergebnisse dessen, was wir tun, bleiben uns zumeist verborgen. Wir verhalten uns, so gut wir können, und hoffen, daß eher etwas Gutes dabei herauskommt, als etwas Schlechtes. Aber vorher weiß man das nie. Das unscheinbare Simple – sagen wir mal, die Einnahme von Acetylsalicylsäure (C9H8O4), die als fiebersenkendes, schmerzstillendes Mittel Verwendung fand – kann unvorhergesehene Konsequenzen haben: einige Jahrhunderte lang genetische Schäden, die zu bereinigen wiederum noch ein paar Jahrhunderte dauert. Von einer augenscheinlich komplexen Serie von Verkettungen mag sich unter einer Belastung oder einem neuen Blickwinkel herausstellen, daß sie in Wirklichkeit nur eine einzige Schlüsselverbindung hat. Berühren Sie es, und das Chinesische Puzzle fällt auseinander. Auch die schrecklichste und hoffnungsloseste Situation kann durchaus eine Schokoladenseite haben. Das ist das Hauptversprechen aller Happy Ends seit der Rückkehr des Odysseus. Aber alles, was man im Augenblick erkennt, ist das Verebben des Schmerzes, die Myriaden von ineinandergreifenden Teile eines Puzzles oder das Schreckliche und Hoffnungslose einer Situation. Wenn vielleicht unsere Gehirne darauf trainiert wären, diesen Gedanken zu akzeptieren, und unsere Sprache es erlauben würde, wäre es sicher besser, nicht an Kausalzusammenhänge zu glauben. Vielleicht wären Zufallslinien, in denen Ereignisse nicht begründet sind, sondern durch ihre eigene Logik entstehen, weitaus befriedigender. Das würde die Bewertung
unserer Handlungen, die in Fehlschläge oder Erfolge münden, viel einfacher machen. Wenn Louisa nicht an Kausalität glauben würde, müßte sie sich auch keine Vorwürfe machen. Woran sollte sie überhaupt schuld sein? Louisa konnte es nicht wissen, aber trotzdem bewirkte ihre Angst, daß sie sich schuldig fühlte. Schuldig weshalb? Und weiter, worin lag ihre Schuld? Wenn man tief genug gräbt, findet man immer etwas. Villiers wäre nicht ins Casino gegangen, wenn er ihr nicht eine Freude hätte bereiten wollen, und dann hätte er auch nicht solche Sachen gesagt, die wiederum von Godwin so persönlich genommen wurden. Beides war natürlich Unsinn, aber beides war gut genug für Louisa. Sie fühlte sich schuldig. Sie blieb vor dem Eingang der Palatine-Suite stehen. Alice war etwas hinter ihr zurückgeblieben. Dann trat sie einen Schritt vor und läutete, trat wieder einen Schritt zurück, als sie die Klingel drinnen hörte. Nach einem Moment hörte man ein schweres Schleifen, das sich auf die Tür zu bewegte, dann ein Klicken, als ihre Identität überprüft wurde, und dann öffnete sie sich ganz. Torve der Trog stand vor ihnen, mit gebürstetem Fell, die Augen von leuchtendem Blau, ein Buch in den gespreizten Fingern. Wenn Sie ihn gefragt hätten und er es schlicht und verständlich ausgedrückt hätte, wäre die Beschreibung dessen, was er sah, etwa so ausgefallen: Die Klingel hatte eine lebenslinienhafte Erstreckung von ihrer zufälligen Erschaffung bis hin zu dem Moment, da die Atome, aus denen sie bestand, sich im Namen eines anonymen Zwanges teilten, und entlang dieser Linie befanden sich eine Anzahl zufälliger Klingeltöne. Einer dieser Klingeltöne hatte auf einem Punkt existiert, der etwas vor einer jener Gelegenheiten lag, da er zur Tür hinüber ging, um sie zu öffnen. Eigentlich absolut kein ursprünglicher
Zusammenhang, sondern nur die Annäherung zweier zufälliger Geschehenslinien. »Hallo. Ist Mädchen aus Casino, Miss Parini, und Freundin aus dem Schiff Orion.« »Ja, Sir, Mr. Torve.« Jetzt, da sie hier war, mochte Louisa nicht so brutal auf das Thema kommen. Zögernd fragte sie: »Äh, ist Mr. Villiers hier?« Hinter ihr schämte sich Alice für die Freundin. Nicht mal die Hälfte dessen, was, angemessen gewesen wäre. Louisa war eben noch viel zu jung. »Ich habe nicht mehr gesehen, seit wir zusammen in Casino.« »Aber er hat sich duelliert. Er hat sich duelliert, und ich war nicht dabei. Vielleicht ist er tot.« Plötzlich brach Louisa in Tränen aus. Alice dachte daraufhin schon etwas besser von ihrer Freundin, obwohl natürlich eine Ohnmacht passender gewesen wäre. Torve drückte das Mädchen gegen seinen Pelz. »Er ist nicht tot. Ich bin ganz sicher. Ich würde sofort fühlen.« Louisa fühlte sich beruhigt von der Wärme seiner Stimme und von der Wärme des Pelzes. Stellen Sie sich vor, Sie würden von einer riesigen, pelzigen braunen Kröte an sich gedrückt – schön, nicht wahr? Es verwandelte ihre Tränen in stoßweise Schluchzer und die Schluchzer in ein leises Schniefen. »Wir müssen handeln«, sagte Torve. »Wir gehen jetzt verschiedene Wege in Richtung. Sie haben ihn vielleicht in Keller gebracht. Geheime Orte.« »Oh, ich weiß alles darüber«, sagte sie. »Er hat es mir erzählt.« »Ist gut. Ihr geht dorthin. Seht nach ihm so gut wie möglich. In Zwischenzeit will ich Hilfe holen und in höheren Orten suchen.«
Schweigend nickte Louisa. »Geht«, sagte Torve. »Geht gut.« Louisa nahm Alice beim Arm und wandte sich um. Die Tür schob sich hinter ihnen zu. Torve öffnete wieder sein Buch, fingerte sich durch die Seiten und hielt dann inne, als er die bestimmte Stelle gefunden hatte. Lesend durchquerte er den Raum und fand den warmen Platz auf dem Fußboden, den er bevorzugte. Etappenweise ließ er sich in seine gefaltete Sitzposition nieder und versenkte sich behaglich in seinem Buch. »Blurb«, machte er, »blurb, blurb.« In einiger Entfernung befanden sich die Mädchen auf ihrem Weg in die unteren Stockwerke in einer unsicheren Welt, in der Villiers entweder lebendig oder tot sein konnte. Ihre Linien des Zufalls hatten sich momentan genähert und hatten sich wieder getrennt, sich dabei aber nicht berührt. Alice sagte nüchtern. »An sich fand ich ihn häßlich. Ich meine, als wir noch auf dem Schiff waren. Aber er ist nicht häßlich.« »Oh nein«, antwortete Louisa. »Er ist so verständnisvoll. Er hat mich wieder beruhigt.« Tatsächlich war ihre Furcht verflogen, und sie fühlte sich auch nicht länger schuldig. Sie machte sich Sorgen, aber sie hatte das Gefühl, daß fähigere Hände als ihre die Sache unter Kontrolle hatten. Nachdem sie ein paar Minuten gelaufen waren, fragte Alice: »Wonach suchen wir eigentlich?« »Das weiß ich auch nicht genau«, antwortete Louisa. Sie begann Alice eine sorgfältig bereinigte Version der haarsträubenden Geschichte zu erzählen, die sie von Villiers erfahren hatte. Alice stand bald ganz groß im Bann der Worte. Das war viel besser als die kleine Romanze und das Duell, die
vorher noch so wichtig erschienen waren! Aber jetzt hatte sie auch zum ersten Mal Angst. »Es muß irgendwo unter uns sein. Mr. Villiers wollte eigentlich zu seiner Suite, als er sich verlief.« Sie befanden sich in einem Treppenhaus, das nach unten führte. »Wie willst du wissen, wann wir das richtige Stockwerk erreicht haben?« fragte Alice. Louisa öffnete die Tür zu jedem Stockwerk, das sie erreichten. »Ich weiß nicht. Wenn ich das richtige Gefühl habe«, sagte sie. »Wenn ich das falsche Gefühl habe, versuchen wir es wieder.« »Vielleicht hättest du das Geschöpf hier unten suchen lassen sollen, während wir Hilfe holten«, sagte Alice langsam. Louisa schloß wieder eine Tür und stieg zum nächsten Stockwerk hinunter. Sie probierte die Tür. »Das ist vielversprechend«, sagte sie. »Was denn?« »Sie ist verschlossen.« Louisa machte sich an die Arbeit. Im nächsten Moment hatte sie die Tür geöffnet. »Du sagtest, dein Bruder sei bei der Marine?« fragte Alice. »Der Junge muß ganz schön in Ordnung sein. Ich habe Uniformen schon immer gern gehabt.« »Komm schon«, sagte Louisa. Sie befanden sich in einem Gang, der genauso aussah wie die anderen. Er war in funktioneller blauer Farbe gehalten. Die Lichter, die bei ihrem Durchgehen aufleuchteten, waren matt und zeigten das Blau nur als dumpfes Grau. Sie gingen vorsichtig weiter. Die Lichter hinter ihnen verblaßten, wenn sie vorbei waren, während die Lichter vor ihnen zu fahlem Leben
erwachten wie guttrainierte Schwärme von Glühwürmchen, die man sorgfältig die Freuden der Gemeinsamkeit gelehrt hatte. »Ich glaube, hier unten ist nichts«, sagte Alice. »Ich sehe jedenfalls nichts.« »Still, einen Moment.« »Ich höre auch nichts.« »Still.« Sie schlichen leise weiter und versuchten, jeden Laut aufzuschnappen, der unvorsichtig genug war, sich hören zu lassen. »Nichts«, sagte Alice endlich, wobei ihr nicht klar war, ob es besser war, wenn sie nichts hörte oder wenn sie doch etwas hörte. Nichts, entschied sie fest und endgültig. »Ich dachte, ich hätte da etwas gehört«, sagte Louisa. »Es war nur für so einen Moment, ganz am Anfang.« »Was für ein Geräusch war’s denn?« Louisa sah das größere Mädchen an und dachte nach. »Vielleicht Schritte«, sagte sie endlich. »Nun, das könnte wirklich…« Alice hielt an und versuchte sich auszudenken, was es gewesen sein könnte oder was es statt dessen gewesen sein könnte, aber sie vermochte sich nichts Besseres oder Schlechteres vorzustellen. Louisa sah sie an, wartete etwas, schüttelte leicht den Kopf und ging dann weiter. Alice folgte ihr.
IX
Wenn sich die Manager der großen Schmugglerorganisationen treffen, klagen sie am meisten über das Mitarbeiterproblem. Kurz gesagt: Es fehlt an Handlangern. Es gibt einfach zu wenig junge Gauner, die bereit sind, sich von älteren und erfahrenen Männern ausbilden zu lassen. Shirabi war sich dieser Tatsache wohl bewußt. Ihm gehörte Star Well nicht, er managte das Unternehmen für andere Männer, die wiederum bedeutende Manager des interstellaren Schmuggels waren. Aber hatte er die geeigneten Hilfskräfte? Nein. Er hatte zwar genug Angestellte – genau zweihundertsechsunddreißig –, aber über zweihundert von ihnen waren Vertragsarbeiter, und diesen Leuten kann man nicht trauen. Entweder sind sie nicht helle genug, oder sie sind nicht dumm genug. Wenn sie dumm genug sind, kann man sie nur beschränkt einsetzen – und Verbrechen kann eine durchaus anspruchsvolle Beschäftigung sein. Wenn sie helle genug sind, kennen Sie Verordnung J, nach der ein Vertragsarbeiter für die Auswirkungen der Befehle, die er befolgt, rechtlich verantwortlich ist. Ein Teil des Problems beruht auf der Tatsache, daß die Sünde nicht besonders gut bezahlt wird. Die großen Bosse, die Zvegintzovs, wollen natürlich soviel wie möglich für sich behalten. Vom Teilen haben sie noch nichts gehört. Dann wieder sind viele junge Leute besonders ehrgeizig. Der lange, arbeitsreiche Weg ist nicht besonders anziehend für sie. Sie widmen sich lieber ihren eigenen kleinen Geschäften.
Schließlich war Star Well nicht gerade ein attraktiver Arbeitsplatz, es sei denn, man war wenigstens zweiter Manager. Die Leute langweilten sich hier. Shirabi hatte sogar vier weitere Arbeiter bewilligt bekommen, aber die hatten es bisher nicht einmal fertig gebracht, bei ihm zu erscheinen. Drückten sich wahrscheinlich, nahm er an. Wieviel aktive Handlanger blieben ihm da eigentlich noch? Vierzehn. Mehr nicht. Zwölf von ihnen waren im Casino in drei Schichten tätig. Wenn es darüber hinaus zum Beispiel galt, ein Schiff mit Daumen zu beladen, mußte er sich mit Extraprämien die Schichtarbeiter heranholen, die gerade keinen Dienst hatten. Er haßte es, daran zu denken, wieviel Schlaf er verloren hatte, wieviel Abende er sich nicht seinen Pflanzen widmen konnte, wieviel von der Arbeit er allein hatte tun müssen. Hier muß ich noch einen Punkt einfügen, damit Sie mehr Klarheit gewinnen. Es wäre nicht fair, wenn Sie sich vorstellten, daß Louisa und Alice von einer Bande umgeben waren, die in der Lage wäre, es mit den Soldaten des Imperiums aufzunehmen, eine kleine Armee, die sich hinter Hisan Bashir Shirabi gebildet hatte. Das hier ist nur eine kleine Geschichte. Draußen ist da ein ungeheures Imperium, Bestandteil eines noch ungeheueren Universums. Milliarden wühlen und wirbeln, kämpfen und lieben. Stürme und Kriege erschüttern ganze Planeten und werden doch nicht bemerkt. Dennoch: Hier hängen Geld, Liebe und Leben in einem gewissen Gleichgewicht; Dinge, die wichtig genug sind, wie Sie sicher zustimmen werden, ohne daß man übertreiben muß.
Derek Godwin sah zu den gefüllten Reihen auf beiden Seiten des marmornen Kampfbodens auf. Die Anzahl der Zeugen gefiel ihm. Sie würden ihn dabei sehen, wie er das tat, was er
am besten konnte. Die Melodie ging immer noch durch seinen Kopf, und er konzentrierte sich darauf, während er wartete. Er war bereit. Nur die Waffen und Villiers waren es noch nicht. Villiers hatte die Wahl der Waffen gehabt, und er hatte eine für sich unglückliche Wahl getroffen – Neurorute und Messer. Von allen Waffen liebte Godwin die Neurorute am meisten. Wenn er Ian Steele überhaupt ähnelte, dann mit einer Neurorute in der Faust. Neuroruten sind dünn zulaufende Gerten, braun oder schwarz. Eine braune Neurorute erzeugt einen schmerzhaften Schock. Ein gutgeführter Streich kann eine Lähmung verursachen, die eine ganze Woche dauert. Richtig angewendet, kann eine Neurorute den Gegner besinnungslos machen. Eine schwarze Duell-Neurorute aber zerstört bei der Berührung Nervenpartien. Ein richtig geführter Streich verlangt nach chirurgischer Behandlung. Richtig angewendet, kann eine schwarze Neurorute töten. Godwin hatte auch nichts gegen ein Messer. Er war von Herzen Linkshänder, und Messer sind linkshändige Waffen. Sie verwirren, wenn das nötig sein sollte. Sie parieren, wenn etwas pariert werden muß. Und sie schneiden, wenn eine Kehle vorwitzig genug ist, sich ihnen darzubieten. Godwins Sekundant, ein fetter junger Mann namens Harvey Chapeldaine, hatte ihm aus dem Mantel geholfen und nahm ihm auch den Umhang ab. Die Kleidungsstücke wurden zur Seite gelegt, zusammen mit Godwins Gerinner. Villiers hatte ebenfalls seinen Mantel abgelegt, aber er war noch nicht bereit. Er bat um ein Band, um sein Haar zurückzubinden, damit es ihm nicht in die Augen fiel. Godwin schnaubte. Sein Haar wurde jederzeit von Schmucknadeln zurückgehalten. Ein Band war nicht sofort verfügbar. Da beugte sich eine Dame in der Galerie vor, riß ein Band von ihrem Kleid ab und
warf es hinunter. Es gab Applaus, und Villiers verbeugte sich, bevor er sein Haar zurückband. Chapeldaine und Srb trafen sich mit Shirabi. Shirabi präsentierte einen Kasten, in dem sich Messer befanden. Sie waren ausgewogen, ausbalanciert, auf Schärfe geprüft, und zwei wurden ausgewählt. Dann hielt Shirabi zwei schwarze Neuroruten hoch. Er schaltete beide ein, um zu zeigen, daß sie in Ordnung waren, schaltete sie wieder aus und reichte sie den Sekundanten. Sie gingen damit zu den Duellanten. »Hier, Mr. Godwin«, sagte Chapeldaine. Godwin griff zuerst nach dem Messer. Er wog es in der linken Hand, prüfte das Heft und machte dann einen Schnitt durch die Luft, wobei er Villiers anblickte. Dann nahm er die Neurorute entgegen, machte damit einen Ausfall und fand sie befriedigend. Er schaltete sie ein, wobei er sie einen Millimeter zu dicht an Chapeldaine vorbeizog, und schaltete sie wieder aus. Shirabi war nicht der Duelleiter. Er zweifelte an seiner Fähigkeit, ein Duell zu leiten, und seine Zweifel machten ihn noch unsicherer. Vielleicht in einer Waldlichtung, aber nicht hier. Der Leiter hieß Bledsoe. Er war der erste, der ein Beglaubigungsschreiben vorweisen konnte. Shirabi gefiel dieser professionelle Anstrich, und er engagierte den Mann. Godwin war es ebenfalls recht, daß die Sache unter einem professionellen Duelleiter ablief. Das verlieh dem Ereignis noch mehr Würze. Bledsoe trat einen Schritt vorwärts. Er war ein Mann mittleren Alters, wichtigtuerisch, unfehlbar, sein Mund war eine Spur zu dünn, um sympathisch zu wirken. Er winkte den Duellanten. Er hatte keinen Heiligenschein, verbreitete aber die Aura eines Talmud-Gelehrten. »Viel Glück, Mr. Godwin«, sagte Chapeldaine.
Godwin antwortete nicht. Er trat vor und fühlte, wie sein Schritt federte. Er genoß die elektrische Spannung der Vorfreude. Das Gewicht der Waffen war gut. Der Boden war gut. Die Menge war gut. Der Duelleiter war gut. Und auch der Gegner war nicht schlecht. Villiers sah nicht besonders besorgt aus: Er zeigte keine Nervosität, er ließ seine Waffen nicht fallen, und er schien in guter körperlicher Verfassung zu sein. Aber er war klein und hatte keine besonders große Reichweite. Er konnte auf Armeslänge gehalten und in Stücke gedroschen werden. Das beste war, daß ihm sein Großmaul gestopft wurde, und Godwin berauschte sich an der Vorstellung, daß er das Stopfen übernehmen würde. »Gibt es die Möglichkeit, daß Sie Ihre Unstimmigkeiten freundschaftlich beilegen?« fragte Bledsoe. Villiers hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. »Laßt uns anfangen«, rief Godwin. »Na schön, Gentlemen.« War da ein feiner ironischer Unterton? »Der Platz gehört Ihnen.« Auf dem Kampfplatz gab es keinen Ring, keine Seile, keinen Halt für einen Fehltritt, nichts was helfen konnte. Nach einem fairen Beginn würde nichts mehr den endgültigen Ausgang des Kampfes beeinträchtigen. Villiers trat leichtfüßig und wachsam vor, und die Gerten stießen zu. Godwin hatte zuerst geplant, seinen Gegner gleich zu Beginn zu überwältigen, aber dann entschied er, etwas vorsichtiger vorzugehen. Damit vergab er sich nichts. In seinem Kopf summte die Melodie, als er und Villiers einander abschätzten. Dann gab es einen kurzen Angriff, eine kleine Herausforderung, den Ansatz einer perfekten Erwiderung, ein Abblocken und darauf die Befreiung. Für die Beobachter war es ein eher langweiliges tap, tap, tap. Für Godwin und Villiers
war es jedoch wichtig, weil der Gegner sich in seiner Taktik offenbarte. Godwin prüfte seinen Gegner mit einer weiteren obskuren Eröffnung. Villiers antwortete schnell und sicher. Jetzt wußte Godwin Bescheid. Villiers war erfahren. Seine Vorsicht war richtig gewesen, verdammt noch mal. Godwin setzte sein Gewicht und seine größere Reichweite ein, um Villiers die ganze Länge des Kampfbodens zurückzutreiben. Sie bewegten sich Schritt für Schritt. Wie mechanische Spielzeuge hieben und stachen sie sich ihren Weg den Raum entlang unter den Augen der hungrigen Zuschauer. Mit einer Plötzlichkeit, die Godwin verblüffte, startete Villiers seine Gegenattacke. Er hatte mehr Kraft in sich, als ihm anzusehen war, und zuerst mit der Wut seines Angriffs, dann mit seiner Schnelligkeit zwang er Godwin den ganzen Weg wieder zurück bis zur Mitte des Kampfbodens. Das war gute Arbeit, aber Godwin hatte eine vorzügliche Deckung, und in der Mitte des Raumes brachen sie ab und traten zurück, um die Sache zu erörtern. »Sehr hübsch, Mr. Villiers«, sagte Godwin und brachte seine Neurorute wieder hoch. Villiers nickte nur. Godwin war seiner selbst sicher. Bei der Arbeit im nahen Schlagabtausch war Villiers gut genug, daß er Godwin verletzen konnte, aber solange er Villiers auf Abstand zu halten vermochte, konnte er auch mit ihm spielen, ihn abstechen und erledigen. Die Zuschauer waren ganz im Bann des Kampfes. Es zeigte sich, daß hier kein simples Abschlachten stattfand, kein leicht zu erringender Sieg. Wenn Godwin zuerst ihren Rückhalt – wenn nicht gar ihre Sympathie – gehabt hatte, so wandten jetzt viele ihre Zuneigung Villiers zu. Godwin hörte ein paar
aufmunternde Zurufe und haßte diese Leute für ihre Wankelmütigkeit, für das mangelnde Vertrauen in ihn. Godwin startete einen neuen Angriff. Er täuschte mit dem Messer, das bisher kaum eingesetzt worden war eine Finte vor, brachte seine Gerte ins Spiel und versuchte dann einen ernsthaften Angriff mit dem Messer, der jedoch danebenging. Er verfehlte Villiers jedoch nur um wenige Zentimeter, und dieser zeigte daraufhin größeren Respekt vor dem Messer. Dann kam der Wendepunkt. Die Fechtgänge sind komponiert wie Fragen, die gestellt und beantwortet werden, Improvisationen über Themen, ein Wettkampf gemeinsamen Wissens, in dem ein bizarres Duett gespielt wird. In der reinen Welt der Kunst sind Zufälle, Fehler und verzweifelte Wildheit Stilmittel. In der tödlich-realen Welt zeigen sie klar auf, was die Kunst nicht vermag. Godwin kam zu langsam herein, dann aber wieder um ein Haar zu schnell. Sein Angriff wurde pariert. Aber Villiers parierte nicht so scharf, wie er es hätte tun sollen. Für einen Moment war er außer Balance. Godwin nutzte diese Unsicherheit aus, indem er einen seitlichen Angriff startete. Es war nichts, das wirklich gezählt hätte. Die Eröffnung war ein Zufall, die List war harmlos: nur der Reflex, die kleinste Chance auszunutzen. Aber die Gerte berührte Villiers’ linke Hand. Die Hand öffnete sich, und Villiers ließ das Messer fallen. Das Messer fiel zu Boden und traf Villiers Stiefel. Ohne hinzusehen, stieß er es zur Seite. Aber seine Hand war berührt worden, und er hatte eine wichtige Waffe verloren. Seine Verteidigung war jetzt nicht mehr vollständig, und sein Angriff war wie ein Flughörnchen, das sich mit einem Vogel messen will, gut, so weit es kam, aber es fehlte die Wendigkeit. Godwin wußte jetzt, daß Villiers’ Leben ihm gehörte – die einzige Frage war, wann er den Ballon zum Platzen bringen wollte. Er traf keine
Entscheidung. Jetzt wollte er erst einmal den ganzen Spaß auskosten. Auch die Menge wußte, daß Villiers jetzt in Schwierigkeiten steckte. Als das Messer fiel, setzten sie sich aufrechter hin und atmeten heftiger. Godwin trieb Villiers wieder Schritt für Schritt die Halle hinunter. Diesmal den ganzen Weg. Bis zum Ende. Drohung, Drohung beantwortet. Aber bei jeder Erwiderung war Villiers gezwungen, zurückzuweichen. Seine Hand machte ihm anscheinend Schwierigkeiten. Er schüttelte sie. Das Ende der Halle war auch das Ende der Möglichkeiten. Diesmal würde sich Godwin nicht zurücktreiben lassen. Villiers würde hier stehen, bis er eine Erwiderung verpaßte oder eine Eröffnung ausließ, und das wäre es dann. Zwischen diesem gegenwärtigen Punkt und dem Ende der Halle. Mit Ausnahme des kurzen Kommentars von Godwin gab es während des Kampfes keine Unterhaltung. Nur ein Cyrano konnte gleichzeitig reden und kämpfen; den meisten Männern fehlt es sowohl an den Lungen als auch am Witz, wenn sie kämpfen. Das dauernde Gemurmel im Hintergrund schwoll an und ebbte wieder ab. Klatschen und Quietschen der Füße auf dem Boden. Das Klicken und Klingen der Waffen. Atemzüge, leicht und schwer. Über allem der Geruch, den Godwin am meisten liebte und haßte, der Geruch von Schweiß. Er hielt Villiers am Ende seiner Neurorute, setzte dabei immer wieder sein Messer ein, und dann kam die letzte Eröffnung. Villiers kam in einem Angriff auf ihn zu, ein Akt der Verzweiflung, und der Angriff wurde natürlich abgefangen. Und dann war er dran, offen für den mot juste, als er zurücktrat. Godwin setzte einen perfekten Stich mit der Gerte an, der letzte Angriff auf Villiers. Und in diesem
Moment fiel ihm der Titel des Liedes ein, das ihm dauernd im Kopf herumging. Der Stich traf nicht. In einem blitzartigen Augenblick sah Godwin, daß er einen Fehler gemacht hatte. Villiers sprang nicht zurück. Er kam weiter auf ihn zu, in den Stich hinein, kam hinter Godwin an, und während er vorbeiglitt, zog er seine Neurorute in einer eleganten Bewegung über Godwins Brust. Duelle sind nicht fair, wenn sie von den falschen Leuten gewonnen werden! Ihm schien, als sei seine Brust nicht länger mehr ein Teil von ihm. Sie war ein Holzklotz, auf den ein Mann mit einer Axt einhieb. Späne und Splitter. Und Schmerz, aber der war weit weg. Er wußte, daß da Schmerz war, aber er fühlte ihn nicht. Er konnte nicht mehr klar denken. Er dachte über das Denken nach und hatte Angst. Er wußte nicht mehr, wo er war. Er war, und er war irgendwo, aber er konnte nicht mehr sagen, ob er stand, saß oder lag. Er existierte in einer Vorhölle, wo es Stimmen gab, aber es war kein Sinn in ihnen. Es gab auch Farben, die sich kaleidoskopartig in zufälligen Mustern gruppierten, aber er hatte keinen Bezug mehr zu ihnen. Licht schmerzte in seinen Augen, und er wollte darum bitten, daß es ausgeschaltet wurde, aber das brachte er nicht mehr fertig. Dann war ein Gesicht über ihm, so nahe, daß er es gegen seinen Willen erkennen mußte. Es war Shirabi. Er riß sich zusammen und schaffte es, zu sagen: »Falscher Mann.« Shirabi antwortete darauf, aber die Laute waren unklar, ergaben keinen Sinn. Die Anstrengung, sie zu verstehen, war zu groß für ihn. Aber in diesem letzten Moment klaren Denkens hatte er etwas begriffen, das sich nun wieder seinem Zugriff entzog. Es schien wichtig, diese Erkenntnis wieder ins Bewußtsein zurückzuholen. Verzweifelt versuchte er es. Worte
formten sich in seinem Geist, und er kämpfte darum, sie zu artikulieren. »Glühwürmchen, Glühwürmchen schimmere…« sagte er endlich, lächelte, machte seine Hosen naß und starb. Schwärme von Engeln mit leuchtenden Gesichtern und weißen Schwingen senkten sich auf ihn herab und hoben ihn fort. Er war doch nicht die geringste von Gottes Kreaturen, und sie liebten und achteten ihn. Sie nahmen ihn an. Und sie trugen ihn fort in eine Welt, die besser war als alles, was er bisher gekannt hatte. Aber dieser letzte Teil der Ereignisse wurde natürlich von all den anderen Menschen in der Duell-Halle, die das Unglück hatten, weiter auf dieser weniger erhabenen Ebene des Seins leben zu müssen, nicht beobachtet.
Mord. Es war Mord der übelsten Sorte. Daß Shirabi damit durchkam, verdankte er einem schier unwahrscheinlichen Glück. Er öffnete den Kasten, damit Srb und Chapeldaine den Inhalt begutachten konnten. In den Messern lag keine Gefahr. Sie waren nur ihr eigenes scharfes Selbst. Nur um zu üben, nur um zu sehen, ob er das fertigbrachte, ließ er zwei bestimmte Messer aus dem ganzen Angebot auswählen. Jeder, der sich auf Kartentricks versteht, weiß, wie man einen anderen eine bestimmte Karte aus einem Spiel von 52 Karten auswählen läßt. Nicht so etwas Einfaches, wie eine Karte etwas aus einem Fächer herausragen zu lassen. Wirkungsvoller ist es, jemanden eine Karte hinüberzureichen und den Gegenüber davon zu überzeugen, daß er es war, der die Wahl getroffen hat. Der Trick besteht weniger darin, die Karte hinüberzureichen, sondern die Person davon abzuhalten, sich darüber hinterher zu wundern.
Beide langten zur gleichen Zeit in den Kasten, wobei sich ihre Hände berührten. Es gab ein leichtes Zögern, das man wohl am besten als fragende Stille bezeichnen könnte. »Nach Ihnen, Padre«, sagte Chapeldaine schließlich. Srb langte in den Kasten und nahm als erster ein Messer. Er trat zurück, und Chapeldaine traf Shirabis zweite Wahl. Es ging ganz sauber zu, und alles, was man sah, war, daß zwei Männer Messer aussuchten. Mehr sahen sie selbst auch nicht. Doch die Messer, die sie nahmen, wurden ihnen in Wirklichkeit gegeben. Wann und wie geschah das? Das kann man nicht erklären, denn das würde das letzte bißchen Magie in der Welt zerstören. Es geschah, und es ist ganz einfach, wenn man weiß, was zu tun ist. Shirabi drehte sich um, schloß den Kasten und stellte ihn auf den Boden des Waffenständers zurück. Dann wandte er sich wieder den Sekundanten zu und blickte danach auf die anderen Waffen. »Neuroruten waren die zweiten Waffen?« fragte er. Natürlich wußte er sehr gut, daß es so war. »Ja«, sagte Chapeldaine. Shirabi drehte sich um, die Neuroruten in der Hand. Das war der wichtige Moment, der wichtige Beweis seiner Fertigkeit. Eine der Neuroruten, die er in Händen hielt, war eine richtige Waffe. Die andere, die genauso schwarz und genauso tödlich aussah, war falsch, nur zum Üben gedacht. Das schlimmste, was sie austeilen konnte, war ein elektrischer Schlag. Er mußte die erste in die Hände von Srb legen und die zweite in die Hände von Chapeldaine, und zwar genau in dem Moment wenn beide entschieden hatten, daß die Waffen, die sie da hielten, genau die waren, die sie auch haben wollten. Das tat er auch. Er legte sie den beiden in die Hände und nahm sie dann wieder weg. Das demonstrierte sein unparteiisches Recht, so zu handeln. Er schaltete sie an und
aus. Er wedelte mit ihnen herum. Jeder Mann konnte beide Waffen berühren, und dann waren die Neuroruten in ihren Händen, auf den Weg zu den Duellanten. Fragen Sie Srb oder Chapeldaine. Beide würden erklärt haben, daß sie beide Waffen genau geprüft und daraufhin die Neurorute ausgewählt hätten, die sie dann in Händen hielten. Srb war, was immer er war, und Chapeldaine war kein Dummkopf. Es ist in der Tat unglücklich, daß jemand, der so fähig war wie Shirabi, andererseits so wenig talentiert im Umgang mit Menschen war. Aber er war gut. Shirabi folgte dem Verlauf des Duells mit wachem Interesse. Als er sah, wie Villiers die Halle hinuntergetrieben wurde, fragte er sich, ob er nicht vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte. Wenn Godwin so gut war, daß er Villiers so schnell überwältigen konnte, seinen entscheidenden Schlag führte und herausfand, daß seine Waffe nichts taugte, würde die Sache ungemütlich werden. Aber es hatte ja diese Eintragung über Anthony Villiers im Band von Martin und Morrison gegeben, den er sich aus dem Zimmer Godwins ausgeliehen hatte, eine so winzige Notiz, daß man sie leicht übersehen konnte. Nach der Beschreibung konnte dies der betreffende Anthony Villiers sein. Aber galt diese Eintragung noch? Und wenn sie stimmte, bewies sie, daß der Mann das Training haben könnte, um mit Godwin fertig zu werden. Auf diese kleine Chance hin hatte er seinen Plan aufgebaut. Er wollte nicht, daß Godwin weiter am Leben blieb. Er konnte nicht mit ihm arbeiten, er konnte auch nicht über seinen Kopf hinweg arbeiten. Godwin war in seinen Augen eine Beleidigung. Godwin hatte zerstört, was er am meisten liebte, und hatte sich danach verhalten, als sei nichts geschehen. Er wollte Godwin tot sehen.
Shirabi lächelte, als das Kampfgeschehen sich vom Ende der Halle zurückverlagerte. Ha! Er keuchte und hatte Angst, als Villiers’ Hand getroffen worden war. Das Messer fiel, und so sollte es auch sein, aber würde jemand den Unterschied bemerken? Konnte Godwin etwa doch gewinnen? Schließlich hatte er ein Messer, das töten konnte. Villiers wurde zum Ende der Halle zurückgetrieben. Es schien, als säße er dort in der Falle. Unfähig, auszuweichen, würde er in Stücke zerfetzt werden. Die Menge flüsterte, sah gespannt zu, wartete auf den rechten Moment, um die Halle mit einem hitzigen Schrei zu füllen. Wenn nur Villiers gewußt hätte, daß er von Godwins Neurorute nichts zu befürchten hatte, hätte er einen Schlag empfangen können, um selbst einen auszuteilen! Und dann schrie die Menge wirklich. Villiers kam auf Godwin zu, war an Godwin vorbei, und Godwin ließ Neurorute und Messer fallen, sank auf die Knie. Der Streich selbst war Shirabi und den meisten anderen verborgen geblieben, aber es gab keinen Zweifel. Godwin war erledigt. Das Duell war zu Ende. Doch dann sprang plötzlich Levi Gonigle über die Balustrade auf den Kampfboden. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus – wie aus der Kehle eines Bullen. Er packte Villiers von hinten und versuchte, ihm das Genick zu brechen. Villiers versuchte verzweifelt, mit der Neurorute nach hinten zu schlagen, um die fürchterliche schwarze Erscheinung abzuschütteln, die ihn beugte und zu zerbrechen suchte. Shirabi rannte auf die Kämpfenden zu. Er konnte nicht zulassen, daß Villiers hier getötet wurde. Wenn er der Eintragung von Martin und Morrison entsprach, war er kein Untersuchungsbeamter, und Star Well hatte keine Probleme. Wenn Levi ihn tötete, war alles verdorben.
Er wand die Neurorute aus der Hand, die immer noch versuchte, sie einzuschalten. Er legte die Hände auf Levis Schultern und zerrte mit aller Kraft daran. Er wollte Levi nicht wegziehen. So stark war er nicht. Es war eine Bitte um Aufmerksamkeit. Er schrie auf Levi ein, aber der warf ihn ab, so daß er als purpurnes Bündel zu Boden flog. Er stand wieder vom Boden auf, hieb Levi in die Rippen und schrie die ganze Zeit auf ihn ein. »Laß ihn los! Ich bin Shirabi! Laß ihn los, Levi!« Vielleicht waren der Lärm und die Schläge in Levis Bewußtsein vorgedrungen. Er ließ Villiers zu Boden fallen. Villiers kroch weg, holte keuchend Luft. Srb half ihm auf die Beine. »Aber er hat Mr. Godwin verletzt«, widersprach Levi. »Ich weiß«, antwortete Shirabi, »aber es war ein fairer Kampf.« Levi schüttelte langsam den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Mr. Shirabi, macht es Ihnen denn gar nichts aus?« »Natürlich«, sagte Shirabi. »Ich werde die Sache wieder in Ordnung bringen. Aber du solltest dir das nicht ansehen, Levi. Geh fort, du weißt schon, wohin. Ich gebe dir nachher einen wichtigen Auftrag.« Widerstrebend verschwand Levi. Wenige in der Menge hatten den Vorfall gesehen, aber die meisten kümmerten sich nicht um das Nachspiel dieser Unterhaltungsvorstellung, die nun vorbei war. Die Galerien leerten sich rasch. Villiers hockte keuchend an der Wand, schien sich aber zu erholen. Jetzt mußte sich Shirabi um die Waffen kümmern. Bledsoe hielt Villiers’ Neurorute in der Hand und starrte gedankenvoll darauf. Shirabi mußte sie sich zurückholen, er brauchte beide. Er begann die Waffen einzusammeln und
begann mit Godwins Messer. Beim leisesten Anzeichen von Bledsoe würde er zum wandelnden Waffenarsenal werden und ihm die Neurorute aus der Hand nehmen. Hinter sich hörte er laute Töne. Er wandte sich um und entdeckte Ellis Phibbs, diesen plappernden Narren. Der wußte gerade soviel, daß er heraustapern konnte, wenn die Schiffe kamen, und damit war Shirabi auch vollauf zufrieden. Aber andererseits wollte er seine Finger in jede andere öffentliche Angelegenheit stecken. Wie die meisten anderen Menschen brauchte er es, daß er gebraucht wurde, und Vorkommnisse wie dieses gaben ihm die Möglichkeit dazu, ganz gleich, was die Leute über ihn denken mochten. »Ich hörte von einem Duell. Ich will alles darüber wissen. Ich habe meine Pflicht zu erfüllen. Wenn die Marine darüber informiert werden will, muß ihr jemand Bericht erstatten können.« Dann entdeckte er plötzlich Srb, und ebenso plötzlich brach er ab. In einem Augenblick plötzlichen Schocks sah Shirabi das. Die anderen hatten zu tun, obwohl Bledsoe bei Phibbs’ Erscheinen aufgeblickt hatte. Chapeldaine und der Arzt versuchten, Godwin aufzurichten. Der Großteil der Menge war schon weg oder drängte sich an den Türen. »Wenn Sie hier sind, Mr. Srb«, sagte Phibbs mit gesenkter Stimme, »dann werde ich ja wohl nicht gebraucht.« Srb meinte ungerührt: »Ich war einer der Sekundanten. Wenn Sie Ihre Pflicht tun wollen, so lassen Sie sich nicht abhalten.« Phibbs wandte sich um. Der ganze Hintergrund schien ihm allmählich klar zu werden. Er gab drei Abstufungen von Oh’s von sich: »Oh? Oh, Oh!« Dann hatte er sich in der Gewalt, aber es war alles zu durchsichtig. »Wer war hier verantwortlich?« fragte er.
Bledsoe war überwältigt, aber nicht wie Shirabi von der Bedeutung der Dinge. Er war überwältigt von Phibbs’ nervtötendem Auftreten. »Ja?« sagte er, und Shirabi schnappte ihm die Neurorute aus der Hand. »Ich war der Duelleiter.« Die zwei begannen miteinander zu reden. Schweigend nahm Shirabi die Waffen vom Boden auf, Routine am Ende eines Arbeitstages, und legte sie in den Waffenständer. Als er sich wieder abwandte, lagen auf dem vorderen Fach zwei Neuroruten; die eine gehörte Villiers, die andere war schnell ausgetauscht worden. Zwei Neuroruten, zwei tödliche Waffen. Vom Waffenständer ging er zu Godwin hinüber, immer noch voll unbestimmter Furcht. »Ich kann nichts für ihn tun«, sagte der Arzt. »Am besten, Sie frieren ihn ein, wenn er eine Minute tot ist. Mit besseren Einrichtungen kann er vielleicht später zum Leben erweckt werden.« Shirabi nickte und beugte sich dicht über Godwin. Godwin erkannte ihn. Angestrengt sagte er: »Falscher Mann.« Shirabi sah zu Srb hinüber. »Ja. Der falsche Mann.« Godwin hatte plötzlich einen verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht. Seine Fersen schlugen bei der Anstrengung zu sprechen gegen den Boden. Schließlich sagte er, als ob es eine ungeheure Bedeutung hätte: »Glühwürmchen, Glühwürmchen schimmere…« Er starb erleichtert. »Was war das?« fragte der Arzt. »Das verstehe ich auch nicht«, sagte Shirabi. »Sehr seltsam.« Dann wandte er sich um und winkte. Der Kältekarren wurde von zwei Männern eilig auf sie zugerollt. »Das letzte Mal hatten wir keinen Kältekarren«, sagte Shirabi, »und die Marine führte daraufhin eine Untersuchung durch.«
Der Karren wurde mit professioneller Geschicklichkeit geöffnet. Es gab ein Flattern, ein schneehaftes Flirren und Godwin war völlig bedeckt. Dann beugten sich die beiden Männer hinunter, hoben Godwin mit liebevoller Sorgfalt auf und betteten ihn in die kalte Höhlung des Karrens. Sie schlossen die Klappen über ihm und überließen ihn seiner Ruhe.
X
Es gibt da einen guten alten Ausdruck – absahnen und sich aus dem Staub machen. Irgendwer hat mir mal gesagt, woher dieser Ausdruck kommt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. In jedem Fall ist es ein Ausdruck für Lebensklugheit und umsichtiges Verhalten. Shirabi, der ein sensibler Mann war, bereitete sich darauf vor, abzusahnen und sich aus dem Staub zu machen. Er saß in den geheimen Untergeschossen von Star Well auf einem weißen Kältekarren. Auf seinen Knien lag ein großes braunes Buch. Er dachte nach. Um ihn herum standen Reihen von weißen Kältekarren, die genauso aussahen wie der Karren, auf dem er saß, doch keine Räder hatten. Alle warteten auf die Ankunft des schwarzen Frachters. Star Well war das Zentrum des Daumenschmuggels im Spalt. Dieser Schmuggel war außerordentlich profitabel, sowohl was das Geld als auch was die damit verbundene Macht betraf. Auch die Politik wurde davon beeinflußt, ebenso die Spekulation an der Börse und auch der offizielle Markt für Arme, Lebern und Haarteile. Aber Star Well war nur für eine bestimmte Zeit das Zentrum dieser Geschäfte. Die Eigentümer wußten, daß ihre Machenschaften entdeckt werden würden, und daß es dann auf Star Well wieder eine Zeitlang ehrlich zugehen mußte. Shirabi hatte seine Befehle, was er beim ersten Anzeichen von Ärger zu tun hatte, seine persönlichen Befehle: »Absahnen und sich aus dem Staub machen!«
Nachdem ihm klar geworden war, daß Godwin auf Villiers eifersüchtig war, und nachdem Martin und Morrison ihm eine Erklärung über Villiers geliefert hatten, hatte Shirabi es nicht länger wahrscheinlich gefunden, daß Villiers der Untersuchungsbehörde angehörte. Das hatte ihm freie Hand gegeben, Villiers zu benutzen. Aber als das Spiel vorbei gewesen war, war dieser Ellis D. Phibbs aufgetaucht und dazu ein Mithra-Priester, der offenbar kein Mithra-Priester war. Wenn Shirabi ein Hasenfuß war, hatten seine Vorgesetzten offenbar nichts dagegen einzuwenden, eigentlich begrüßten sie sogar diese Tatsache. Shirabi war ein Hasenfuß, und er spürte, das es an der Zeit war, abzuhauen. Jetzt wartete er auf das Schiff, das ankommen sollte. Sein Plan war, die Ladung Daumen an Bord zu schaffen, dann zu verschwinden und nie wieder nach Star Well zurückzukehren. Er wartete zudem auf die Ankunft der Männer, die ihm helfen sollten. Levi Gonigle hatte er draußen postiert, um die Gänge zu überwachen und ihm Ärger vom Leibe zu halten. Er glitt vom Karren herab und schloß das Buch in seinen Händen. Es handelte sich um Martin und Morrison Index. Er hatte sein Büro aufgeräumt, hatte alles mitgenommen, was ihm wichtig war, und den Rest dagelassen. Godwins Buch hatte er mitgenommen, um noch einmal hineinzuschauen. Jetzt wußte er nicht, was er damit anfangen sollte. Er sah sich um. Er hatte nicht vor, es mitzunehmen – er brauchte es nicht mehr. Er könnte es auf einen Kältekarren legen – bald würden sie durch einen ausfahrbaren Korridor in die Borde des Frachters geschoben werden. Er dachte kurz nach, zögerte etwas und öffnete den Kältekarren, auf dem er gesessen hatte. Dann starrte er auf die stillen Züge von Derek Godwin. »Sie wollten immer schon ein Gentleman sein«, sagte Shirabi und legte das Buch in Godwins gekreuzte Arme. Das Kältefeld
schockte Sharibis Hände. Es fühlte sich so an, wie Pfefferminz schmeckt. Es schien reine Verschwendung, Godwin einfach wegzuwerfen. Natürlich wollte Shirabi ihn nicht zu einem der großen Wiederbelebungshäuser schicken, um ihn zum Leben zurückzuholen. Aber er wollte ihn auch nicht einfach ungenutzt lassen. Deshalb hielt er es für vernünftig, ihn nach unten zu den anderen Körpern zu schaffen, die bald verladen werden würden. Shirabi schloß den Karren wieder. »Ich hatte nicht gedacht, daß Sie so brauchbar wären.« Mit den Händen schlug er einen Trommelwirbel auf dem Deckel des Kältekarrens und tanzte um ihn herum, aber das Ganze war ohne Überzeugungskraft. Das unerfreuliche Erscheinen von Srb hatte ihm den ganzen Abend verdorben. Wenn man es einmal wußte, konnte man sich in Srb nicht mehr täuschen. Ihm stand Ermittlungsbeauftragter in die Stirn geschrieben. Wenn andere Berufe die Aura von Geld, Sex oder gefährlichen Abenteuer um sich verbreiten, so versprach Srb Rückkehr zur Herrschaft des Rechts und andere Unerfreulichkeiten. Shirabi wurde vom Öffnen der Tür zur Lagerhalle überrascht. Er wandte sich um und sah Levi Gonigle, der unter jedem Arm ein Mädchen hielt. »Ich hab sie gefangen, Mr. Shirabi, ich hab sie gefangen«, sagte er. »Darf ich mit ihnen spielen?«
Nach dem Duell wurde Villiers von Bledsoe, dem ernsten Duelleiter, zu seinen Räumen gebracht. Srb hatte sich wegen wichtiger Geschäfte verabschiedet, und Villiers hatte ihm für seine Hilfe gedankt. Dann hatten sie sich getrennt.
Nachdem der Arzt seine Hand untersucht hatte, war Villiers bereit, seine Suite aufzusuchen. Seine Kleidung war reichlich mitgenommen, zum Teil, weil er sie vor dem Kampf hatte ablegen müssen, zum Teil, weil sie während des Kampfes selbst gelitten hatte. Um sich wieder in der Öffentlichkeit zeigen zu können, mußte er sein Äußeres wiederherrichten. Außerdem litt er immer noch unter dem grausamen Angriff, den Levi Gonigle auf ihn gestartet hatte. Bledsoe sagte in seiner reservierten, gestelzten Art etwas darüber, daß er Villiers’ Form bewunderte, »jetzt, da er frei sprechen könne«, und bot Villiers seine Begleitung an. Villiers hatte tatsächlich jetzt ein bißchen Unterstützung nötig und zögerte nicht, das Angebot anzunehmen. »Schon früher an diesem Abend sind Sie mir aufgefallen, Sir«, bemerkte Bledsoe bedeutungsvoll. Villiers, der Mantel und Umhang über dem Arm trug und immer noch etwas unsicher auf den Beinen war, wobei er dennoch einen durchaus passablen Eindruck machte, wandte sich dem Mann zu. »Tatsächlich?« »Ja. Sie haben mich nicht gesehen, aber ich saß am Nebentisch, während Sie zu Abend aßen. Ich war sehr eingenommen von der offensichtlich freundlichen Art, mit der Sie mit dem jungen Mädchen umgingen, das Ihnen Gesellschaft leistete.« Diesen Satz konnte man in vielerlei Richtungen auslegen, was abhängig war vom Tonfall, der Zeit und der Person, die ihn aussprach. Bledsoes Alter, Geschlecht, Kleidung und Benehmen schlossen von vornherein eine Reihe von Möglichkeiten aus, und sein Tonfall ließ noch ein paar weitere vergessen, aber dennoch war Villiers nicht sicher, was er meinte oder andeuten wollte. Villiers sah wieder zu Bledsoe hinüber und sagte mit neutraler Stimme: »Wir sind gute Freunde.«
»Ich bin nicht sicher, ob Sie mich verstehen«, meinte Bledsoe. »Ihre Freundlichkeit hat mir gefallen. Es ist ein Vergnügen, wenn man die wenigen Leute in dieser Welt sieht, die freundlich miteinander umgehen können.« Villiers nickte, hörte dem Mann weiter zu und sagte gelegentlich etwas, bis sie seine Suite erreicht hatten. Dann dankte er Bledsoe für seine Hilfe, entschuldigte sich und ging hinein. Es wäre durchaus möglich gewesen, Bledsoe hineinzubitten, aber letztlich schätzte er Bledsoes Gegenwart so hoch auch wieder nicht ein. Außerdem lag ihm nicht an Gesellschaft, bis er nicht wieder zu sich selbst gefunden hatte. Bledsoe verstand ihn entweder oder schien ihn zumindest zu verstehen. Mit sorgfältig gewählten Schritten ging er wieder seiner Wege. Torve der Trog saß auf dem Boden und erzeugte seine üblichen Geräusche. Sein Fell war eine Nummer zu groß für seinen Körper. Wenn er aufrecht stand, war das kaum zu sehen, aber wenn er saß oder lag, fiel sein Fell in unregelmäßige, runzlige Falten, die sich überall bildeten, besonders aber an seinem runden Bauch. »War irgend etwas los, während ich fort war?« fragte Villiers. »Natürlich nur innerhalb der Zeit, in der Sie hier waren.« Torve sah ihn an und meinte: »In Ihrem Kopf ist etwas verlogen, verbogen? – nein verwoben. Und irgend etwas los heißt, daß jemand gestorben ist.« Villiers setzte sich abrupt. »Jemand ist gestorben. Ich habe das schlimmste Duell hinter mir, das man sich vorstellen kann. Fünfzehn Minuten, nachdem Sie gegangen waren, kam dieser Narr Godwin und forderte mich heraus. Ich weiß immer noch nicht, warum. Vielleicht habe ich ihn zu sehr gereizt, aber so schlimm war es doch gar nicht.«
»Warum! Warum! Ist ganz gleich, warum«, sagte Torve. »Dinge passieren, das ist es. Allein wichtig ist, was passiert.« Villiers erzählte ihm langsam die ganze Geschichte, und Torve nickte zwischendurch ein paarmal. Als er fertig war, sagte Torve: »Genau wie ich sagte – wichtig ist, was passiert. Könnte nicht besser sein, bin sicher.« »Sie sind sicher?« »Gewiß. Wie geht es Ihrer Hand?« »Besser, als es eigentlich sein sollte. Ich glaube nicht, daß die Nerven verletzt wurden. Das ist sehr seltsam.« Er stand auf. »Am besten, ich lasse Louisa wissen, daß es mir gut geht. Sie könnte sich Sorgen machen, seitdem sie weggeschleppt wurde.« Er ging zur Service-Ecke und versuchte anzurufen. Der Anruf wurde natürlich entsprechend den Anweisungen von Mrs. Bogue abgewimmelt. »Na schön«, sagte er. Er streckte sich und gähnte. »Am besten, ich versuche mich mal wieder menschlich zu machen.« »Eine gute Idee«, sagte Torve. »Der Imperativ der Zeit verlangt, daß Sie heute nacht noch in den Keller gehen. Sie sollten dazu in bester Verfassung sein.« Villiers schüttelte den Kopf. »Ich gehe heute nacht nicht in den Keller. Schlimmstenfalls gehe ich ins Bett. Morgen überlege ich mir, was wir mit unseren Möglichkeiten anfangen. Ich hatte während des Duells eine Idee, aber dann verlor ich mein Messer, und die Idee ist mir entfallen. Ich bin inzwischen auch noch nicht wieder darauf gekommen, was das war.« Torve meinte dazu: »Sie denken immer nur ›warum‹, was auch immer ein ›Warum‹ zu bedeuten hat. Ich kenne den Imperativ der Zeit.« Er kratzte langsam und genußvoll seinen Bauch. »Hier drin weiß ich es. Sie gehen heute nacht in den Keller. Das ist Ihre Linie des Geschehens.« Was soll man darauf noch sagen?
Srb war eine rote Blume vor der Service-Ecke, eine scharlachrote Blüte in einem weichen Sessel. »Keine Antwort?« fragte er. »Tut mir leid, Sir, aber Mr. Adams meldet sich nicht.« Srb dankte und schaltete ab. Er zündete seine Pfeife an und dachte über eine passende Metapher nach.
Villiers erschien wiederverjüngt – die Wiederverjüngungseinrichtungen in einer Suite, die einen Royal pro Tag kosten, sind ausgezeichnet – und halb angezogen in der Tür. »Würden Sie bitte den Hänger etwas glätten?« Torve langte vom Boden hoch und zupfte am Umhang herum. »Habe ich richtig gehört, daß hier vor ein oder zwei Minuten jemand war?« fragte Villiers. »War nichts«, sagte Torve. »War Irrtum.« Tatsächlich waren es die beiden Mädchen gewesen, die jetzt gerade in Richtung Keller gingen. Es läutete. Villiers hob die Augenbrauen und ging zur Tür. Er hielt kurz davor an, um noch einige Korrekturen an seiner Kleidung vorzunehmen. Die Glocke läutete drängend noch einmal, als er die Platte berührte, die die Tür öffnete. Mrs. Bogue sah auf, als die Tür sich zurückschob. Sie war eine Frau, die offenbar sehr auf ihr Äußeres hielt. Haar und Kleidung waren eine Einheit. Ihr Haar war grau, und sie hatte nichts getan, um dies zu ändern. »Treten Sie zurück, Mr. Villiers«, sagte sie fest. Villiers trat einen Schritt zurück und ließ sie ein. »Na schön«, sagte sie und sah sich im Zimmer um. »Holen Sie sie, bitte.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Villiers und wandte sich von der Tür ab. »Holen Sie sie hervor, bitte.« »Blurb«, sagte Torve, und Mrs. Bogue wirbelte herum. »Was macht der hier?« wollte sie wissen. »Mr. Villiers, es scheint, daß ich Sie sehr, sehr falsch eingeschätzt habe. Krankhafte Beziehungen zu scheußlichen Tieren! Ich mag ab und an meine Pflicht vernachlässigt haben, aber ich möchte zu meiner Genugtuung sagen, daß ich die ganze Zeit, in der wir in diesem miserablen kleinen Schiff zusammengesperrt waren, meine Mädchen angehalten habe, sich diesem da nicht zu nähern.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Torve. »Wir, um das mal klarzustellen, sind keine Mithraisten. Oh, ich hoffe übrigens, Sie sind nicht etwa auch ein Mithraist.« »Nein, Madame, das gehört nicht zu meinen Schwächen.« »Nun, ich verlange, daß Sie meine Mädchen herausgeben, und das sofort. Ich will nicht, daß sie hier länger als unbedingt notwendig bleiben!« »Welche Mädchen?« fragte Villiers ruhig. Torve las weiter, wobei von Zeit zu Zeit ein Zittern durch seinen Körper ging. Er nahm von Mrs. Bogue und ihrem beredt vorgebrachten Mißvergnügen keine Notiz, auch zeigte er kein Interesse an der Unterhaltung. »Natürlich Louisa und Alice. Sie kennen niemand außer Ihnen. Sie können nirgendwo sonst sein. Darum sind sie hier.« »Sie sind nicht hier«, sagte Villiers. »Wollen Sie mir bitte sagen, wann Sie die Mädchen zum letzten Mal gesehen haben?« »Vielleicht bin ich der derjenige, der sie zum letzten Mal sah«, ließ sich eine Stimme vernehmen. All diejenigen, die sich schon einmal als Amateur-Detektiv betätigt haben, werden Ihnen eine Menge darüber erzählen
können, wie man sich auf offenstehende Türen verlassen kann, auf verstohlen abgehörte Unterhaltungen und auf zufällig vorbeikommende Fremde, die mit wichtigen Informationen zur Lösung des Problems beitragen. In diesem Fall stand Bledsoe, der Duelleiter, in der offenen Tür. Villiers hob die Augenbrauen. Er war ein Meister der Augenbraue. »Wo haben Sie die Mädchen gesehen?« »Sie gingen zu einer Treppe. Sie wollten wohl nach unten, wenn ich mich nicht irre.« »Was soll das heißen?« verlangte Mrs. Bogue zu wissen. »Tatsächlich«, sagte Bledsoe, »ist Neugierde, im Gegensatz zum Mithraismus, einer meiner Fehler. Ich habe Sie ein wenig belauscht.« »Das war während des Abendessens, nicht wahr?« fragte Villiers. »Nein. Bei der Unterhaltung im Casino.« »Das stimmt«, meinte Villiers. »Werden Sie mit der Sache allein fertig, oder brauchen Sie Hilfe?« fragte Bledsoe. »Bieten Sie mir Ihre Dienste an?« »Aber nein«, sagte Bledsoe. »Ich bin kein Mann des Handelns. Ich war nur neugierig.«
Die Mädchen wurden vor Shirabi auf die Füße gestellt. Das größere sah ganz entschieden unglücklich aus. Sie zitterte. Shirabi schaute sie an und meinte: »Mir wird auch langsam kalt.« Das andere Mädchen, das dunkler wirkte, sagte fest: »Wir haben uns verlaufen.« Shirabi schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht. Ich sehe, daß eure Gegenwart eine zusätzliche Belastung darstellt, aber
daß ihr auch verlaufen habt, glaube ich nicht. Mit wem steckt ihr unter einer Decke? Srb? Villiers?« »Mit niemandem«, sagte die Größere. »Erzähl mir keine Märchen«, sagte Shirabi. »Sonst kann sich Levi mit euch beschäftigen.« Levi strahlte. »Levi, geh raus und bewache weiter den Gang«, sagte Shirabi. »Nun mach schon.« Widerstrebend ließ Levi es zu, daß er abgeschoben wurde. Wie ein Welpe, den man in den Keller sperrt. Derselbe steife Gang. Derselbe vorwurfsvolle Ausdruck in seinem einfachen Gesicht. Und dann derselbe Blick zurück. Shirabi folgte ihm zur Tür. Als er sich wieder umdrehte, sagte die Kleinere: »Wir wollten herausbekommen, was mit Mr. Villiers passiert ist.« »Hier unten?« »Bitte, Sir«, sagte Alice. »Es ist die Wahrheit.« Wie schon früher erwähnt, gab es nur wenige Gelegenheiten, bei denen Hisan Bashir Shirabi in der Lage war, absolut gemein zu Leuten höheren Standes zu sein. Wenn Aufsässigkeit verlangt war, benahm er sich meistens gehorsam. Wenn Härte erforderlich war, fehlte sie ihm. Wenn es darum ging, in Blut, Zorn und totalem Terror zu schwelgen, dann zeigte er sich unfähig dazu. Es gab nur zwei Ausnahmen, und die fanden unter erniedrigenden Umständen statt. Der Ärger war nur, daß die Umstände für Shirabi genauso erniedrigend waren wie für seine Opfer. Es war eine furchtbare Last, unter der er lebte. Shirabis Bewußtsein seiner Unfähigkeit erniedrigte ihn ebenso sehr wie die Unfähigkeit selbst. Für Zvegintsov war er nicht so brauchbar, wie er es nach seinen natürlichen Fähigkeiten und Instinkten hätte sein können. Er war von einem unbedeutenden Posten zum anderen geschoben worden, und jetzt war er hier,
wo seine Schlappen wenig zählten, wo es gleich war, ob ein Manager viel verpatzte oder wenig. Und jetzt war er bereit, abzuziehen. Seine kurze Ära war beendet. Das beste, was er erwarten konnte, war eine neue Aufgabe, die nicht wichtiger war als diese hier, vermutlich sogar noch unbedeutender. Sehen wir ihn uns einmal an: Hisan Bashir Shirabi, ein Mann, der kurz vor seinem Ende steht. Purpurne Roben, dunkles Gesicht, scharfe Nase, schwarzer Schnurrbart. Alles, was man brauchte, um ein perfekter Schurke zu sein, und doch reichte es nicht aus. Ein leerer Mann, weniger als er wirklich hätte sein können, mit grünleuchtenden Augen, einer Aura des lauernden Unheils, und zuckenden Blitzen um die Schultern. Aber es gibt Situationen, in denen die Seele frei ist und sich wie eine große Fledermaus mit wilden Schwingenschlägen zum Mond erhebt. Die verlorene Welt unten ist dunkel und still. Alles was bleibt, ist ein wild kämpfendes Herz, das schlägt und schlägt und schlägt. Eine neue Wärme füllte seine Brust. In seinen Ohren dröhnte es. Er fühlte, wie er wuchs. Die Mädchen schienen sich in einer ungeheuren Entfernung von ihm zu befinden. Nein, nein – sie waren Zwerge. Das war es. Er streckte zwei Finger seiner rechten Hand aus. Er wußte, daß auf seinen Willen hin Blitze zucken würden, aber er ließ sie nicht zucken. »Wollt ihr mehr über Mr. Villiers wissen?« fragte er mit tiefer, drängender Stimme. »Zerstückelt. Zertreten. Zerquetscht. Das Schicksal von allen. Zerhackt und in Scheiben geschnitten. Gewürfelt und geteilt. Zu einer Kugel zerdrückt. Geschlagen, im Magen und unendlich tot. Unendlich tot. Unendlich.« Beide Mädchen begannen zu weinen. Sollten sie nur. Shirabi lächelte und wuchs weiter.
»Ihr seid die nächsten«, sagte er. »Wißt ihr, was in den Kisten ist?« Er schlug einen Deckel hoch und dann noch einen und dann noch einen. Die beiden Mädchen klammerten sich eng aneinander. »So ist jeder Kasten. Jeder einzelne. Und zwei habe ich noch übrig. Ich werde heute nacht von hier verschwinden, und ihr werdet bei mir sein.« Es war erstaunlich. Es war wunderbar. Es war die Belohnung für sein sehnendes Herz, All die alten Fesseln waren plötzlich abgestreift. In diesem phantastischen Moment war er alles, was er jemals hatte sein wollen, all das, was er bisher versäumt hatte zu sein. Lag das am Tod von Godwin, dem verblichenen Symbol dessen, was er fürchtete und beneidete? Lag es daran, daß seine Aufgaben in Star Well erfüllt waren? Lag es an der Stunde, am Ort, an der Situation, die zusammenwirkten zu jenem fruchtbaren Augenblick, da er alles herausströmen lassen konnte, was so lange zur Frustration verdammt in ihm gelegen hatte? Wir werden es nie erfahren. Alles, was wir ahnen können, ist, daß hier ein einsames Herz seine süße Erfüllung suchte. »Nun zu euch, ihr Lieben. Ihr werdet zu Daumen werden. Zu Beinen, Zehen, Armen, Knochen, Venen und Nerven. Ihr werdet andere Menschen wieder gesund machen. Gibt euch das nicht ein wunderbares Gefühl? Haut für die Gehäuteten. Schienbeine für die Schienbeinlosen. Herzen für die Herzlosen. Geschlechtsteile für die, die keine haben. – Wißt ihr, was der größte Mangel im Daumengeschäft ist? Kleine Körperteile. Ich glaube, man wird sich auf euch freuen.« Er machte einen Luftsprung. Er tanzte. Er war eine böse, flammende purpurne Erscheinung. Er tanzte um die Mädchen, die sich gegen den Kältekarren preßten, in dem Godwin lag. Rings herum und immer rings herum tanzte er, warf seine Arme auf und nieder, und sang seine glücklichen Gesänge. Die
Mädchen hielten sich an dem schrecklichen weißen Karren fest, hielten sich aneinander fest und versuchten, ihre schwindenden, verschwimmenden Sinne festzuhalten. Und von der Tür aus sah Levi Gonigle mit aufgerissenen Augen und herabhängendem Unterkiefer zu.
Als Villiers klingelte, öffnete Srb die Tür. »Sie, Mr. Villiers? Ich hatte nicht erwartet, Sie heute nacht noch einmal zu sehen.« »Sieur Srb, ich glaube, ich sollte mit Ihnen reden. Aber ich habe nicht viel Zeit.« »Kommen Sie herein.« Srb schloß die Tür und setzte sich wieder. Villiers blieb stehen. Der Raum, stellte er fest, war von Srbs persönlichem Wohlgeruch erfüllt, ein charakteristischer nussiger, getoasteter Duft, der ihn an Kindheitsnachmittage erinnerte. »Sieur Srb, ich möchte Ihnen einen Handel vorschlagen. Ich bin zur Zeit in finanziellen Schwierigkeiten. Ich brauche zwei Passagen nach Yuten. Andererseits sind Sie hier, um gewisse Dinge zu erfahren. Nein, Sie brauchen nicht vorzugeben, verwundert zu sein. Wir wissen beide, wer Sie sind. Stellen Sie mir Adams zur Verfügung, und Sie können in wenigen Minuten die Schmuggelsache hier abschließen.« Srb zog bedächtig an seiner Pfeife. »Na schön«, sagte er. »Nehmen wir mal an, wir reden von der gleichen Sache, warum dann so Hals über Kopf? Es kann schwierig werden.« Natürlich würde es schwierig werden. Srb war nicht in der Lage gewesen, Adams aufzustöbern, seitdem er vom Duell zurückgekommen war. Das war ein böser Ausrutscher von diesem alten Narren Phibbs. Zeit war jetzt ein wichtiger Faktor, und er konnte Adams einfach nicht finden.
»Weil Miss Parini und ein anderes Mädchen aus ihrer Klasse bereits im Keller herumschnüffeln. Vielleicht schrecken sie Shirabi auf. Das muß nicht schlimm sein, aber vielleicht sind sie doch in Gefahr. Sie haben miterlebt, daß Godwin mich töten wollte. Die Mädchen könnten verletzt werden. Deswegen brauche ich sofortige Hilfe.« »Lassen Sie mich die Dinge klarstellen«, sagte Srb. »Diese beiden Mädchen, an denen Sie Interesse zeigen, könnten durchaus in Gefahr sein. Sie wollen, daß sie gerettet werden. Abgesehen davon wollen Sie zwei Fahrkarten nach Yuten. Das ist nicht eine Sache, das sind zwei. Als Gegenleistung versprechen Sie, Ihre normale Pflicht als Bürger des Imperiums zu tun, indem Sie dabei helfen, einen unseligen illegalen Handel zu beenden. Das ist eine Sache. Zwei für eine?« »Jetzt ist nicht die Zeit für einen Kuhhandel«, sagte Villiers. »Wenn Sie unbedingt eine zweite Sache brauchen: Ich glaube, ich weiß, wo ich Mr. Adams finden kann. Wissen Sie das auch?« Srb blickte ihn lange und schweigend an. Er dachte nach. Natürlich war er ein Kuhhändler, und der Handel ging ihm zu leicht. Aber seine Position war auch nicht besonders stark. Wenn man an Adams dachte – überhaupt nicht stark. »Ich nehme Ihr Angebot an«, sagte er endlich. »Wenn Sie Mr. Adams finden können, können Sie ihn haben, und der Handel gilt.« Villiers drehte sich sofort zur Tür um. »Noch eine Frage, Mr. Villiers«, sagte Srb. »Meinten Sie das im Ernst, als Sie sagten, wir hätten nicht, über Theologie diskutiert?«
XI
Würden Sie zugeben, daß Sie so atemberaubende, elementare Ängste haben, die so persönlich sind, daß Sie ihnen nur in der letzten Stunde einer Oktobernacht freie Bahn lassen? Ka-lonk, sagte eine schwere, entfernte Tür widerhallend zu sich selbst. Ein kaltes, staubiges Echo. Die Mädchen, die eng aneinandergepreßt auf dem Unterteil des weißen Wagens saßen, in dem Derek Godwin gegenwärtig untergebracht war, schauderten und fuhren auf. Shirabi war gerade eben gegangen. Sein grausamer Tanz war durch das Erscheinen eines Boten abgekürzt worden. Der Frachter näherte sich, und die Freischicht von Zweitarbeitern und Doppelschaffern von oben stand bereit. Jetzt waren seine Anordnungen erforderlich. Shirabi blickte auf die Mädchen herunter, die unter seinem Blick schrumpften. »Bin in einer Minute zurück«, sagte er. »Haltet mir meinen Platz frei.« Die Mädchen kuschelten sich eng aneinander. Sie warteten, voller Angst, weil Shirabi gegangen war, voller Angst, daß er wieder zurückkehrte. Motorengeräusche, sanft, kalt und regelmäßig. Echos, die unartikulierten Erinnerungen ferner Stimmen. Sie zitterten, berührt von den kalten Winden, die in diesen geschlossenen Hallen lauerten. Sie waren so sehr verängstigt, wie es möglich war – wohl auch durch Shirabis plötzliches Wachstum in ihrer Gegenwart. Wenn eine vielleicht etwas weniger Angst hatte, dann war es Louisa, die alles mehr von der praktischen Seite sah. Sie hatte Angst, aber ihr Gehirn arbeitete noch. Auf der anderen Seite
gab sich Alice ganz ihrer sensiblen Natur hin und setzte alles in Angst um. Um die Wahrheit zu sagen, Alice hatte bisher ein Leben geführt, das sie unvorbereitet auf die realistischen Seiten der Romantik ließ. Es gibt ein sine qua non der Romantik, das sie nicht kannte: Man kann nicht über einen Leichnam weinen, ohne nicht den echten Schmerz zu empfinden, man kann sich nicht von seinem Liebhaber umarmen lassen, ohne Strafe fürchten zu müssen; schließlich gibt es auch keinen Regenbogen, ohne daß es vorher geregnet hat. Alice, Alice hatte Angst. Alice hatte Angst. Alice hatte Angst. Ihr Herz schlug so laut, daß die Hand, die sie an ihre Brust preßte, zitterte. Sie war sich ihrer eigenen Angst bewußt, und dieses Bewußtsein machte die Angst nur noch schlimmer. Der Boden unter ihrer rechten Hand war kalt und trocken. Louisas Rücken, dort, wo er Alices Arm und Schulter berührte, war fest und unbeugsam. Der Wagen, an den sie ihre rechte Wange lehnte, war ein unbequemer Halt. Grauen ist wie eine rote Flut. Grauen ist erst ein Bach, dann ein reißender Strom. Sie wartete, starr vor Angst, daß Shirabi zurückkehrte. Ohne daß sie es merkte, liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Sie schluchzte nicht. Sie weinte einfach, wußte aber nicht, daß sie weinte. Ein plötzliches eisiges Kreischen ließ sie auffahren, aber ihre Sicht war getrübt. Verzweifelt wischte sie sich die Augen, als sich schwere Schritte vorsichtig näherten. Als sie wieder sehen konnte, ragte Levi fürchterlich über ihr auf. Er war sanft, groß, klotzig, abstoßend. Er war ein wilder Idiot, gekleidet in eine Uniform, die vortäuschen sollte, daß er etwas anderes war als ein ungezähmtes Tier.
»Willst du Spaß haben?« fragte Levi voll tiefer neugieriger Unschuld. Sie antwortete nicht, sondern preßte sich enger an Louisa. Er langte mit schwerer Hand nach ihrem Kopf, den sie wegzudrehen suchte. Die Hand sah aus wie ein roh zugehauener Holzklotz. Die Hand verwandelte sich in eine Zypressenwurzel, die ihr zweimal an die Schulter stupste. »He, willst du Spaß?« fragte er. Alice drehte ihr Gesicht weg und verbarg es in ihrer Armbeuge. Sie wurde bei den Schultern gepackt, rauh herumgedreht und dann von Levis rechter Hand hochgehoben. »He«, sagte er und lächelte. »Harr, harr.« Seine Zähne hatten die Größe von Alices Fingerspitzen. Seine Zunge hing lose heraus und glitzerte feucht. In ihrem Kopf drehte sich alles, als er sie keuchend ansah. Ihre Knie gaben unter ihr nach. Er war so fürchterlich. Es war einfach ungerecht, daß dies der schreckliche Moment sein sollte, der ihre Mädchenzeit beendete. Eigentlich hatte sie ehrgeizigere Pläne. Er hielt sie weiter mit der rechten Hand fest. Dann langte er mit der anderen Hand vor und berührte sie mit dem linken Zeigefinger. »Spaß«, sagte er. Alice wurde ohnmächtig. Logischerweise verpaßte sie so das Interessanteste.
Während er weiterhastete, dachte Villiers daran, anzuklopfen. Aber in welcher Reihenfolge? Erst klopfen und dann versuchen, ob die Tür offen war? Nur die Tür probieren? Wenn sie verschlossen war, sollte man klopfen oder lieber versuchen, sie zu öffnen? Am Ende beschloß er, direkt vorzugehen. Als er die richtige Tür erreicht hatte, streckte er
die Hand aus, und zu seiner großen Überraschung schwang sie sofort auf. »Na schön«, sagte er. »Wo sind Sie, Mr. Adams?« Maybelle Lafferty saß aufrecht im Bett. Ihr langes braunes Haar fiel in Locken über ihre bloßen Schultern. »Mein Mann! Es ist mein Mann! Oh, versteck dich!« Villiers drehte sich ruhig um und zog die Tür zu. Der überraschte Adams hatte sich in den Bettüchern verfangen. Die plötzliche Verwirrung und Maybelles kommandierendes Geschrei ließen ihn aus dem Bett fallen und strampelnd auf dem Boden landen. Dann wurden ihm gleichzeitig Villiers Anwesenheit und der Sinn hinter Maybelles Gejammer bewußt. Er stolperte auf die Füße und stand mit einem Socken als einziger Bekleidung blöde da. »Was meinst du damit?« herrschte er Maybelle an. »Was machen Sie hier?« herrschte er Villiers an. »Was meinst du damit?« herrschte er wieder Maybelle an. Maybelle antwortete nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, eine würdige Schülerin der Thespis zu sein. Doch ihr Mangel an Technik und Talent in der Kunst der Schauspielerei wurde durch ihre Schönheit und Erregung mehr als wettgemacht. »General Srb schickt mich«, sagte Villiers mit einer Stimme, die durchdringend klingen sollte. »Junior-Leutnant Adams, das Imperium braucht Sie.« »Ich traue Ihnen nicht«, sagte Adams. »Woher soll Srb wissen, daß ich hier bin? Sagen Sie mir das!« »Sie unterschätzen Ihre Vorgesetzten, mein Sohn«, bemerkte Villiers. »Ich meine, Sie werden herausfinden, daß Srb immer alles weiß. Sehen Sie her.« Schnell zeichnete Villiers die Erkennungsgeste in seine Hand, die ihm zuvor gezeigt worden war.
»Ich habe es nicht genau gesehen«, sagte Adams. »Würden Sie es bitte noch einmal wiederholen?« Maybelle wurde klar, daß hier etwas nicht stimmte. Es war nicht Henry, der das Zimmer betreten hatte. Es war Villiers, einen Tag zu spät. Ein verrückter Gedanke ging ihr durch den Kopf. Hatte sie vielleicht geschrieben: »Kommen Sie ungesehen morgen abend auf mein Zimmer«? Sie blickte auf Adams mit seinem einzelnen Socken und Villiers mit seinem Finger in der Handfläche. In ihrem Gehirn spielte sich nichts ab. Es herrschte Schweigen. Dann stand Henry in der Tür. Sie fühlte sich erleichtert. Alles war wieder in sicheren Händen. Sie brauchte nicht mehr nachzudenken. Sie ging wieder an den Punkt zurück, an dem sie stehengeblieben war, wie ein folgsames Schulmädchen. »Mein Mann! Versteckt euch beide!« Henry trat, genau der Zeitplanung entsprechend, in den Raum. Mit Vergnügen bemerkte er, daß die Dinge diesmal bestens liefen. Die Tür war nicht abgeschlossen, wie es sein sollte. Direkt vor sich sah er den Rücken eines gutgekleideten Mannes. Er packte eine Schulter und sagte: »Jetzt hab’ ich Sie, Sir! Sie waren mit meiner Frau länger in einem Raum, als es der Schicklichkeit entspricht. Erklären Sie sich!« Villiers schüttelte ihn ab. »Wenn Sie gestatten.« Er fuhr mit der Wiederholung des Erkennungssignals fort. Dann sah er über die Schulter und bemerkte: »Ich nehme an, daß Adams der Mann ist, den Sie sprechen wollen. Ich bin nicht so lange hier, wie Sie vielleicht meinen.« Adams, der das exakt wiedergegebene Erkennungszeichen inzwischen erkannt hatte, knallte die Hacken zusammen und versteifte sich zum größten Teil. »Sir!«
Henry Maurice ging zu ihm hinüber, sah ihn von oben bis unten an und sagte: »Ich nehme an, Sie können mir das hier erklären.« Adams hielt seinen Blick über Maurices Kopf hinweg auf Villiers gerichtet. »General Srb und ich arbeiten in dieser Sache zusammen«, erklärte Villiers. »Sie werden gebraucht, Adams – jetzt. Ziehen Sie sich an.« »Sir!« sagte Adams und langte nach seinen Hosen. Henry folgte ihm. »Ich hoffe, Sie können das erklären.« Adams schüttelte den Kopf und zog seine Hosen an. »Das kann ich nicht erklären.« »Nun, was gedenken Sie zu tun?« »Ich gehe jetzt mit Mr. Villiers. Wir werden gebraucht.« »Ziehen Sie nur das nötigste an, Mr. Adams«, sagte Villiers. »Sie brauchen sich nicht schön zu machen.« Henry wandte sich an Maybelle. »Weißt du, was hier vorgeht? Was treibt dieser Villiers eigentlich?« »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Er kam vor wenigen Minuten rein. Er hat noch kein Wort mit mir gesprochen.« »Ich bitte um Verzeihung, Miss Lafferty«, sagte Villiers. »Dabei ist mein Benehmen unentschuldbar. Wie geht es Ihnen heute abend? Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen.« Er machte seine Kratzfüße, während Adams seinen ersten Stiefel anzog. Maybelle dankte und verbeugte sich so graziös, wie es nur möglich ist, wenn man flach im Bett liegt. Sehr hübsch. Henry wandte sich Villiers zu, während Adams den zweiten Stiefel anzog. »Was schlagen Sie vor, was ich in dieser unerträglichen Situation tun soll?« »Ich? Natürlich nichts, Sir. Adams, sind Sie bereit?« »Sir! Ich bin bereit.«
»Dann kommen Sie. Guten Tag, Miss Lafferty. Mr. Maurice.« Er wandte sich zur Tür, und Adams hastete nach ihm aus dem Zimmer. Hosen, Stiefel, Hemd, aber kein Mantel. Die Pistole in der Hand. »Gut«, sagte Villiers. »Die werden Sie noch brauchen.« Levi Gonigle blickte verwundert auf das Mädchen, das so schlaff von seiner Hand herabhing. Hatte er sie zu stark geschüttelt? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er konnte sich auch nicht daran erinnern. Er schüttelte sie ein paarmal, aber sie schien das Interesse verloren zu haben. Vielleicht schlief sie auch. Das war sehr dumm von ihr, gerade jetzt. Sie schien ihm jetzt ziemlich nutzlos zu sein. So ließ er das Mädchen los, und sie sank zu Boden und rutschte gegen den Karren. Er knuffte die andere. »Was ist mit dir? Willst du spielen?« Levi langte in seine Jacke und zog die geschlossene Hand wieder heraus. Er öffnete sie und zeigte in seiner Handfläche einen roten Ball und ein paar Stücke Silber. »Schau.« Er warf die Murmeln auf die Platte des geschlossenen Kältekarrens. Dann ließ er den Ball über Godwins verborgene Nase tanzen und sammelte die gewonnenen Steine wieder ein. Wenn Louisa in der richtigen Stimmung gewesen wäre, um zu spielen, wäre es doch noch ein unfaires Spiel gewesen. Elfer waren für ihn eine Kleinigkeit. Das einzige, was ihn davon abhielt, Meisterschaft nach Meisterschaft zu gewinnen, war eine kleine Unsicherheit in der Ballbehandlung. »Ah, da bist du ja, Levi«, sagte Mr. Shirabi. Levi steckte schnell Ball und Silberstücke weg. Mr. Shirabi verstand manche Dinge nicht, die doch sehr lustig waren. Andererseits war er ein netter Mann, für den er gern arbeitete.
»Wir brauchen noch zwei Kisten«, sagte Shirabi. Er deutete darauf. Levi trottete hinüber und hob eine Kiste auf. Die Kisten für die Kältekarren waren groß. Die Kisten waren schwer. Normalerweise brauchte es zwei Männer, eine anzuheben und zu tragen, aber Levi wurde damit allein fertig. Er brachte sie dorthin, wo Mr. Shirabi stand, und setzte sie ab. Mr. Shirabi nickte und richtete die Kältekiste aus, so daß sie mit den anderen in einer Reihe stand. »Bring mir das dunkle Mädchen«, befahl er. »Aber vorsichtig.« Levi wandte sich von der anderen Kältekiste zu den Mädchen. Er besah sie sich genau und entschied schließlich, daß das schlafende Mädchen dunkler wirkte. Aber er wollte auch keinen Fehler machen. »Das hier«, fragte er. »Ja«, sagte Mr. Shirabi. Levi dachte daran, daß er vorsichtig sein mußte, hob das Mädchen an und brachte es zur offenen Kiste. Dann legte er es sanft hinein. »So ist’s recht«, sagte Mr. Shirabi. »Nicht die Ware beschädigen.« Es gab ein Klicken und ein Summen, und dann schloß Mr. Shirabi die Kiste. Das andere Mädchen hatte sich erhoben und wich langsam zurück. »Hol die andere Kiste, Levi«, befahl Mr. Shirabi. Levi ging, um die Kiste zu holen. »Versuch nicht wegzulaufen«, sagte Mr. Shirabi. »Es nützt dir doch nichts. Aber wenn du meinst, du mußt es versuchen – nur zu!« Sie setzte dazu an, um den Wagen herumzulaufen, aber Shirabi war schneller. Sie lief zur anderen Seite, und Shirabi war wieder da.
»Siehst du?« sagte er. Levi setzte die zweite Kiste ab. Mr. Shirabi richtete sie wieder in eine Reihe mit den anderen aus, wobei er das Mädchen im Auge behielt, das hinter dem Kältekarren erstarrt zu sein schien. »Ach, so wollten Sie es haben«, sagte Levi. Er stand da, wo er nicht im Wege war. Er stand nicht gern anderen Leuten im Weg. Die Leute sagten sonst immer: »Levi, du stehst im Weg«, und dann fühlte er sich immer so unwohl. Also versuchte er, nicht im Weg zu stehen. »Komm jetzt«, sagte Mr. Shirabi und öffnete die Kiste. »Steig hinein.« »Ich habe von diesen Kisten gehört«, sagte das Mädchen. »Manchmal funktionieren sie nicht, und dann wacht man nicht mehr auf.« »Das stimmt«, meinte Mr. Shirabi. »Aber das Risiko mußt du schon eingehen. Nun komm schon.« Das Mädchen stand starr auf der Stelle und blickte sie an. Levi steckte die Hand in die Tasche, während er wartete, und befühlte den Ball. Endlich schmolz der Widerstand des Mädchens dahin. Sie kam näher, legte eine Hand auf Mr. Shirabis Schulter und stieg in die Kiste. Dann lag sie da, und Mr. Shirabi langte nach dem Schalter. »Adieu, Daumen«, sagte er. Die riesigen Türen am Ende der Lagerhalle glitten langsam nach oben, damit der Grashüpfer freie Bahn hatte. Als der Eingang frei war, bewegte sich der Grashüpfer voran, beugte sich herab, schob seine Arme unter die erste Kältekiste und hob sie an. Levi sah fasziniert zu. Er beobachtete gern Maschinen bei der Arbeit.
Mit sicheren Schritten bewegte sich Villiers voran. Adams war immer einen halben Schritt hinter ihm. Adams holte auf. »Mr. Villiers«, sagte er vertraulich, »Sie scheinen Mr. Srb besser zu kennen als ich. Was für eine Sorte Mensch ist er eigentlich?« »Hart, aber fair«, meinte Villiers. »Ja, ich würde sagen: hart, aber fair. Ein gestandener Mann. Ruhig, verläßlich, tiefgründiger als er zunächst erscheint.« »Oh«, sagte Adams. »Sehen Sie, ich wußte erst nicht, was ich von ihm halten sollte. Er raucht, wissen Sie? Man hat drei Senior-Kadetten aus der Akademie geworfen, weil sie geraucht haben.« »Sie sind noch nicht lange dabei, Mr. Adams?« »Nun, Sir, ein und ein halbes Jahr.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, riet Villiers. »Konzentrieren Sie sich darauf, wachsam zu sein.« »Ja, Sir«, sagte Adams. »Und ich wollte Ihnen noch danken, daß Sie gekommen sind. Das war ja richtig peinlich. Stellen Sie sich vor, die beiden sind verheiratet. Dann haben sie mich an der Nase herumgeführt.« Villiers nickte. »Aber ich glaube, sie ist eigentlich nicht schlecht«, schwatzte Adams weiter. »Pssst«, machte Villiers. Vor ihnen in der Halle war jemand, den Villiers kannte. Es war Josiah, der Croupier am Flambeau-Tisch. Die Spuren von Levis Händen waren immer noch an ihm zu sehen. Er erkannte Villiers und Adams und wollte sich schnell davonmachen. »Den holen wir uns«, sagte Villiers. Bevor Josiah verschwinden konnte, hatte Villiers ihn an einem Arm gepackt und Adams am anderen. Es war gut, daß Adams dabei war, denn Josiah war größer als Villiers und hätte ihn vielleicht abschütteln können. Kein Zweifel.
»Wieviel weiß er?« fragte Adams. »Ja, was weiß ich überhaupt?« fragte Josiah. »Dieser Herr hier gehört mit zur Bande der Falschspieler – und ich hege keinen Zweifel, daß er uns direkt in den Keller führen kann.« »In den Keller?« fragte Josiah. »Was höre ich – Falschspiel?« fragte Adams. »Hier wird doch nicht etwa falsch gespielt? Oder?« »Der dritte Hafen«, sagte Villiers. »Wir sind hinter dem Schmuggelgeschäft her.« »Oh«, sagte Josiah. »Was haben Sie eben über das Falschspiel gesagt, Sir?« »Hatten Sie etwa gedacht, daß ein Mann, den Sie viel üblerer Schurkereien verdächtigen, ein ehrliches Spielkasino führt?« fragte Villiers. »Josiah hat Sie systematisch ausgenommen.« »So ist das also!« sagte Adams. Sein Griff um Josiahs Arm verstärkte sich, und er berührte Josiahs warme Nasenspitze mit der kalten Spitze seiner Kanone. »Sie zeigen uns jetzt besser den Weg.« Josiah sah Villiers aus empfindsamen blauen Augen an. »Ich bin ja kein Feigling, verstehen Sie. Aber wenn Sie hier alles dichtmachen, dann sollte ich Ihnen wirklich helfen. Die üblichen Bedingungen?« »Die üblichen Bedingungen«, sagte Villiers. »Was bedeutet das?« fragte Adams. »Das würde Sie nur verwirren, fürchte ich. Vielleicht ist es sogar besser, Sie wissen es nicht.«
Shirabi schloß den Deckel über dem zweiten Mädchen und erhob sich. Er war erfüllt von seiner neuen Macht, einer Macht, die groß genug war, um verängstigte kleine Mädchen noch mehr zu erschrecken. Er rieb seine Hände und streckte sie
dann. Er bewunderte die blauen Venen auf den Handrücken. Sie schienen ihm ein Zeichen eleganter Verkommenheit zu sein, wie die Adern in einem edlen Gorgonzola. Der Grashüpfer verstaute seine zweite Ladung von Kisten im Bauch des Frachters. Er wirkte wie der Vater eines Babys, das zum ersten Mal allein stehen soll, immer noch bereit, mit einem schnell helfenden Arm zu unterstützen. Dann glitt er auf seinen Schienen zurück in die Lagerhalle. Der Mann am Steuer schwenkte die Front leicht um ihren Drehpunkt. Er senkte die Arme wieder ab. »Hier herüber. Diese Kisten!« Der Fahrer, Achdut Haavoda, antwortete auf die neue Autorität in Shirabis Stimme: »Ach, Scheiße, Shirabi. Ich mach das so, wie ich das will.« »Ich will, daß diese Kisten als nächste an Bord kommen«, schrie Shirabi. Er deutete auf die Kisten zu seinen Füßen, die die Körper von Alice Tutuila und Louisa Parini enthielten. Haavoda zuckte die Achseln, wendete den Grashüpfer und holte sich die Kisten für die nächste Ladung. Er mußte deshalb seinen Ladeplan ändern, aber Shirabi kümmerte sich nicht darum. Shirabi faltete die Hände über seinem Bauch, während er beobachtete, wie die Kisten verstaut wurden. Es verschaffte ihm eine einsame Befriedigung, die Leidenschaft eines frischgebackenen Jägers, der wußte, daß die Tauben von heute die Elefanten von morgen sein würden. Levi starrte immer noch mit offenem Mund auf den Grashüpfer. Er spielte in seiner Tasche herum. »Geh zur Tür und paß auf«, sagte Shirabi. »Was?« »Geh zur Tür. Paß auf.« Shirabi stand hinter dem Kältekarren, in dem Godwin untergebracht war, und stieß ihn an. Zuerst ging es langsam, aber als er ihn erst einmal in Schwung hatte, fand er es leicht,
ihn neben den Schienen des Grashüpfers entlang zu lenken. Der Grashüpfer nahm eine weitere Ladung auf und schwang herum, um ihm zu folgen. Ned Hornygold, der junge blonde Captain des Frachters, stand im Schleusenausleger und sah Shirabi entgegen, der einen weißen Kältekarren vor sich hertrieb. »Was machen Sie da, Shirabi?« »Noch ein Körper. Den nehmen wir auch an Bord.« Es wäre besser gewesen, wenn der Karren von einem zweiten Mann geführt worden wäre. Als Shirabi ihn zu der Stelle schob, an der der Captain stand, rutschte das linke Rad in die Schienen des Grashüpfers, der Karren neigte sich etwas zur Seite. Shirabi drückte gegen den Wagen, aber anstatt das Rad aus der Schiene zu drücken, wurde es weiter festgeklemmt. »Ich sitze fest«, sagte er. Hornygold winkte wie verrückt dem Grashüpfer zu. »Halt! He, halt!« »Kleiner Zwischenfall«, sagte Shirabi und zuckte verlegen die Schultern. Hornygold packte den Griff des Karrens neben Shirabi. »Stoßen oder ziehen?« »Versuchen wir’s mit Stoßen.« Sie versuchten es mit Stoßen. »Vielleicht sollten wir besser ziehen.« Sie versuchten es mit Ziehen. Von den vier Männern, die in der Schleuse arbeiteten, gehörten zwei zu Shirabi. Sie stellten ihre Arbeit ein und sahen zu, wie die Sache weiterging. Hornygold legte sich auf den Bauch, um sich das Rad anzusehen. »Kommt her und helft mit«, sagte Shirabi zu seinen Leuten. »Es ist eingeklemmt«, sagte Hornygold. »Der Wagen muß angehoben werden. Wie haben Sie das eigentlich geschafft, Shirabi?«
Shirabi drehte sich um. Haavoda lehnte sich über die Kontrollen seiner Maschine. Shirabi winkte und rief nach Levi. Levi folgte der Stimme seines Herrn. »Ja?« »Levi. Dieser Wagen sitzt fest. So kommt er nicht hinein. Das Rad ist verklemmt. Der Karren muß angehoben werden. Kannst du das?« »Aber ja, fein, gern.« Er griff mit beiden Händen unter den Karren. Er bückte sich, spannte seine Muskeln an, hob, und das Ende des Wagens kam frei. »Sehr gut, Levi«, sagte Mr. Shirabi. Plötzlich schrie Haavoda, der von seinem Sitz auf dem Grashüpfer einen besseren Überblick hatte: »Da ist Josiah. Und dieser Villiers ist auch dabei. Und noch ein Mann.« »Sie sind hinter uns her«, sagte Shirabi. »Levi, in diesem Karren ist Mr. Godwin. Du willst doch nicht, daß er zurückbleibt. Bring ihn ins Schiff.« Seine Stimme hatte immer noch diesen wunderbaren neuen Befehlston. Levi war hocherfreut, endlich wieder etwas für Mr. Godwin tun zu können. Er stieß mit aller Kraft gegen den hinteren Teil des Wagens und rammte das Rad damit wieder in die Schienen des Grashüpfers. Verwirrt drückte er fester dagegen. »Rafi, Mapai, ran mit euch!« befahl Shirabi, und die beiden Männer versuchten, Levi zu helfen. Es herrschte allgemeine Verwirrung, und der Wagen bewegte sich kein Stück weiter. Hornygold ging zur Tür der Schleuse zurück. »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte er. »Wollen Sie nicht kämpfen?« fragte Shirabi, holte Godwins Gerinner hervor und schwang ihn kriegerisch. »Nein«, sagte Hornygold. »Wenn ich’s mir recht überlege, gehe ich lieber mit Ihnen«, sagte Shirabi. Er warf Levi die Waffe zu. »Das ist der Mann,
der Mr. Godwin getötet hat, Levi. Richte die Waffe auf ihn und zieh den Abzug durch.« Er und Hornygold verschwanden durch die Schleuse des Schiffes und stürmten geradewegs in den Kontrollraum. Hornygolds zwei Besatzungsmitglieder waren ihnen auf den Fersen. Gebückt rannte Villiers durch die Lagerhalle. Adams lief rechts neben ihm. Josiah hinter ihnen, noch tiefer gebückt. Die Lagerhalle war eine große Höhle, die aus dem gewachsenen Fels geschnitten worden war. Am entfernten Ende befanden sich hohe Türen und weiter dahinter ein Wirrwarr von Menschen und Maschinen, die gerade ein Schiff beluden. Ein Mann an den Kontrollen des Grashüpfers sah sie, schrie und rannte zu den Toren des Lagerhauses. Er betätigte die Kontrollen und setzte die Tore in Bewegung. »Achdut Haavoda!« schrie Josiah. »Halt! Mapai! Rafi! Hier spricht die Marine. Ergebt euch!« Die Tore senkten sich unerbittlich mit der ihnen eigenen Schwerfälligkeit nach unten. Villiers verdoppelte seine Geschwindigkeit und ließ die anderen beiden hinter sich. Er warf sich zu Boden, rollte sich unter dem Tor hindurch, wobei ihm doppelter Schaden widerfuhr wie Henry bei seinem Sprung unters Bett, was er nur halb so stark bedauerte. Als er wieder auf den Beinen war, richtete er seine Waffe auf Haavoda. Adams warf sich ebenfalls zu Boden, um sich hindurch zu rollen, aber zu spät. Er pralle mit einem häßlichen dumpfen Schlag gegen den unteren Teil des geschlossenen Tores. Haavoda blickte auf die Kanone in Villiers’ Hand und sagte sehr vernünftig: »Kapitulation.« Schließlich war er kein Kämpfer, sondern Maschinist. »Kapitulation«, bestätigte Villiers, und wandte seine Aufmerksamkeit sofort den anderen Männern zu. Wenn Sie
sich wundern, wie er das wagen konnte, muß man folgendes erklären: Wenn jemand sagt »Kapitulation«, und er ergibt sich nicht, dann will keiner mehr mit ihm spielen. Villiers und Haavoda wußten das beide. Ein dumpfer Schlag erklang von der anderen Seite der Lagerraumtore, die selbstvergessen nachhallten. In der Schleuse herrschte noch Bewegung. Drei Männer stemmten Rücken und Schultern gegen einen Kältekarren, der im letzten Abschnitt des Ladeganges stand. Der mittlere der drei war Levi Gonigle, der in beiden Händen eine Waffe hielt und sich offenbar fragte, wozu sie gut sein sollte. Wenn jemand sagt »Kapitulation«, und er ergibt sich nicht, wird er den Rest seines Lebens einsam umherirren, denn jeder wird sich abwenden, sobald er vorbeikommt. Die Leute werden mit Fingern auf ihn zeigen und sagen: »Er hat »Kapitulation« gesagt, aber er hat sich nicht ergeben. Er ist ein Betrüger. Mit dem wollen wir nichts zu tun haben.« Seine einzige Gesellschaft werden dann Leute sein, die sich genauso verhalten haben. Das klingt lächerlich – ich gebe zu –, aber es ist auch nicht lächerlicher als jede andere allgemein verbreitete Sitte. »Kapitulation«, sagte Mapai und trat zur Seite. »Kapitulation«, sagte Rafi und trat zur anderen Seite. »Kapitulation«, bestätigte Villiers. Hinter ihnen kam Bewegung auf. Adams sagte mit jungenhafter Festigkeit in der Stimme: »Na schön, jetzt hab ich euch!« »Ich habe mich schon ergeben«, entschuldigte sich Haavoda. Aber Levi sagte nicht »Kapitulation«, und trat auch nicht zur Seite. Ihm war unbekannt, daß man so etwas tun konnte. Er hielt immer noch die Kanone in seiner rechten Hand. Mit dem Rücken seiner rechten Hand und seiner Linken hielt er den
Karren, stemmte die Schultern gegen das Metall und hob ihn an. Er machte »Ahhh-ha!« Und das Rad war wieder frei. Im Innern des Schiffes läutete zweimal eine Glocke. Die Schleusentüren gaben ein warnendes Klicken von sich und begannen sich zu schließen. Levi hörte das nicht. Er konzentrierte sich darauf, den Karren in das Schiff zu schaffen. Er drückte, so stark er konnte, um Mr. Godwin zu retten. Die Türen senkten sich auf den Karren zu und hielten ihn fest umklammert. Jetzt würde er sich nicht mehr bewegen lassen. Levi begriff nicht, was hier vorging. Zuviel Informationen strömten auf ihn ein, als daß er sie bewältigen konnte – ein Karren, der sich nicht bewegen ließ, läutende Glocken, Schreie, Menschen, die sich bewegten. Wie ein Politiker, dem die Politik zu kompliziert geworden ist, fand er die einfachste Lösung: Gewalt. Er hob die Kanone und drückte ab. Haavoda wurde getroffen. Der Schock ließ ihn aufschreien, und dann wälzte er sich als schreiendes Bündel auf dem Boden. Hatte Levi das gewollt? Links von Levi warf sich Mapai auf den Boden. Er verbarg seinen roten Kopf in den Händen und sah nicht auf. Zu Levis Rechten blieb Rafi stehen. Aber er sagte, völlig irritiert: »Verdammt, Levi. Sei doch nicht so dämlich!« Villiers schoß. Adams schoß. Levi fiel zu Boden, die Kanone fiel ihm aus den Händen und schlug gegen den Felsen. Der arme Levi – er verstand von Konsequenzen genau so wenig wie Torve der Trog, hatte aber nicht Torves Alternativen zur Verfügung. Und er war tot – was immer das auch in dieser Zeit zu bedeuten hatte. Villiers und Adams rannten auf das Schiff zu. Sie sprangen an der Leiche vorbei. Mapai und Rafi hielten sich wohlweislich zurück. Auf der linken Seite des Karrens gingen sie zu Boden, Villiers zuerst, hinter ihm Adams. »Was jetzt, Sir?« fragte der. »Ist das alles?«
»Nein, ich habe ein paar Leute im Schiff verschwinden sehen.« »Oh«, sagte Adams. »Dann werden wir sie mal herausholen.« »Der Kontrollraum müßte da oben sein«, sagte Villiers. Er zeigte mit seinem rechten Daumen hin. »Mit allem Respekt, Sir«, versetzte Adams. »Einer von uns muß da hoch. Ich melde mich freiwillig.« Villiers gab Adams den Weg frei, um durch den Raum unter dem Karren hindurchzukriechen. »Sie haben recht. Das ist Ihre Aufgabe.« »Und vielleicht auch meine Beförderung«, sagte Adams und kroch auf Knien, Bauch und Ellbogen durch das Loch. Villiers hatte jetzt bessere Möglichkeiten als je zuvor. Er gab ihm einen kleinen Vorsprung und kroch dann selbst unter dem Karren hindurch. Als er im Innern des Schiffes war, befand er sich neben einem Kältekasten. Er drehte sich und ging dahinter in Deckung. Dann hob er langsam den Kopf. Durch zwei Seitengänge und über das Durcheinander von Kisten hinweg sah er Teile von Adams, der in Richtung Kontrollraum schlich. Er vernahm das haarsträubende Geräusch eines abgefeuerten Gerinners. »Sie sind nicht hier oben«, schrie Adams zurück. »Aber jemand schießt vom Gang draußen auf mich.« »Im Schiff ist keiner?« »Nein, Sir.« Villiers erhob sich, suchte nach dem Schalter für die Schleuse, fand ihn und legte ihn um. Die Schleusentüren begannen sich wieder zu öffnen. Er packte die Griffe des Karrens, drückte, drückte und drückte ihn frei, hinter die Türen und nach draußen. Die Türen waren jetzt wieder offen, Glocken läuteten, und dann schlossen sich die Türen wieder.
»Wenn Sie nicht getroffen werden wollen, sollten Sie die Türen da oben auch schließen«, empfahl Villiers. »Ja, Sir«, sagte Adams. Er behielt den Kopf unten und lief in gebückter Haltung durch den Kontrollraum. Nach kurzer Zeit hatte er den Schalter gefunden und schloß die zweite Schleuse. Und dann waren sie allein im verschlossenen Schiff. Villiers klopfte seine Kleidung ab, die Sachen hatten zum zweiten Mal an diesem Abend schwer gelitten. Er blickte um sich, was der Raum enthielt. Als Adams im Eingang des Kontrollraums erschien, wandte sich Villiers ab. »Sir, ich denke gerade nach«, sagte Adams langsam. »Sitzen wir jetzt nicht in der Falle? Sie sind alle entkommen. Wenn wir hinauswollen, brauchen sie uns nur an den Schleusentüren zu empfangen.« »Im Gegenteil«, sagte Villiers. »Wir haben gewonnen.« »Aber nein, Sir, wir sitzen in der Falle.« »Mr. Adams, verstehe ich Sie recht, daß Sie meinen, wir wären hier gefangen?« »Ja, Sir.« »Mr. Adams, das hier ist ein Raumschiff.« »Ja, Sir.« »Star Well ist ein Stück Felsen. Wir sind ein Raumschiff. Wir sind draußen. Wir sind das Universum. Sie sind drinnen, und wir haben sie umzingelt.« »Oh«, sagte Adams. »Ja, Sir.« Villiers lächelte. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Mr. Adams. Mr. Srb kann sich glücklich schätzen, solch einen Mann zu haben.« Und wie wir wissen, war Srb tatsächlich glücklich. Wenn Srb keinen Assistenten gehabt hätte, der etwas auf eigene Faust unternahm, wäre Shirabi mit seiner Ladung von Daumen längst in der Schwärze des Universums verschwunden. Das Glück war es, das Srb als Inspekteur so erfolgreich machte. Er
saß unter einem Apfelbaum und wartete, daß der oberste Apfel in seinen Schoß fiel. Und der fiel auch, wie immer. Adams sah bleich aus. »Habe ich richtig gehandelt, Mr. Villiers? Ich habe einen Mann erschossen.« Villiers streckte seine Hand aus, den Handrücken nach oben. Die Hand zitterte nur leicht, kaum wahrnehmbar. »Sehen Sie?« fragte er. »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Alles in Ordnung?« Adams nickte. »Übrigens, Mr. Adams«, sagte Villiers. »Jetzt, da wir allein sind, würden Sie die Güte haben, mir eine Frage zu beantworten, die mit Ihrer Kleidung zusammenhängt?« »Aber sicher«, sagte Adams.
Eine Stunde später hatte sich das Schiff von Star Well gelöst und beschrieb einen Orbit um den Felsbrocken. Villiers saß im Kontrollraum und sah zu, wie Adams sich mit den Instrumenten zurechtfand. Hierfür war Adams zuständig. Zu seiner Ausbildung hatte es gehört, zu lernen, wie man Raumschiffe steuert. Jetzt hatte er das Handbuch vor der Nase und versuchte mühsam, sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Villiers erhob sich. Adams merkte nicht, wie er den Kontrollraum verließ. Er fand Kältekästen in den Regalen und zwei verlassen auf dem Boden. Auf einen plötzlichen Impuls hin kniete sich Villiers neben die Kiste, die ihm zuvor als Deckung gedient hatte, und öffnete sie. Der Deckel einer Kältekiste dient zwei Zwecken. Der eine ist es, Schutz zu bieten vor dem Kältefeld im Innern der Kiste, das gefährlich werden kann; der andere ist ästhetischer Natur. Aus verschiedenen Gründen ist das Innere einer Kältekiste zumeist unerfreulich. Villiers hielt seine Finger in sicherem Abstand,
und der rosige Körper im Innern der Kältekiste störte ihn nicht weiter. Louisa hatte gute Gründe gehabt, nicht so ohne weiteres in eine Kiste zu steigen. Ungefähr fünf Prozent der Menschen in einer Kältekiste konnten nicht wieder zum Leben erweckt werden – was natürlich für einen Daumen-Schmuggler unwichtig war, da er die Leute gar nicht wieder erwecken wollte. Es gab mal eine Zeit, als zehn Prozent nicht wiedererweckt werden konnten, doch dafür war ein Gen verantwortlich, das mittlerweile im ganzen Universum als unerwünscht ausgerottet worden ist. Villiers schloß den Deckel und ging zur nächsten Kiste. Dann wandte er sich den Kisten auf den Regalen zu. Bei der sechsten Kiste hielt er an. Darin fand er Louisa. Das Licht, das von oben kam, konnte ihr Gesicht nicht voll beleuchten. Villiers sah sie einen langen Moment an, dann berührte sein Finger zögernd den verborgen angebrachten Schalter. Die Frage war schließlich bereits entschieden. Er schaltete ab und löste das Kältefeld auf. An ihren Aufenthalt in der Kältekiste haben die Menschen unterschiedliche Erinnerungen. Manche werden in die wabernde Strömung endloser schwarzer Wolken geworfen. Manche breiten schimmernde Schwingen aus und fliegen. In fast allen Fällen haben die Leute ein Gefühl der Trennung. Louisa blickte auf und lächelte. Sie war klar genug, um sagen zu können: »Hallo, Tony.« »Sie sind soeben so etwas wie gerettet worden«, sagte er. »Kommen Sie runter.« Er half ihr aus der Kiste, und sie schmiegte sich in seine Arme. Wenn sie immer noch Angst gehabt hätte, würde sie so viel von ihm ergriffen haben, wie sie nur mit ihren Armen umfangen konnte. Wenn sie ruhig und ganz beieinander gewesen wäre, hätte sie besser auf ihr Hände aufgepaßt. Aber
so schmiegte sie sich bloß in seine Arme, und ihre Augen schmachteten, als sie ihn berührte. Villiers erklärte, was inzwischen passiert war, aber er sagte es so schonend wie möglich. Langsam hatte er das Gefühl, daß sie wieder beieinander war. Abschließend fragte er: »Sind Sie stark genug, um laufen zu können?« »Ja«, sagte sie. »Nun, dann kommen Sie und begrüßen Ihren anderen Retter.« Adams war in der Pantry neben dem Kontrollraum. Er füllte gerade ein Tablett mit ein paar eßbaren Dingen. »Sie sind zwar nicht sehr ordentlich, aber dafür haben sie ein paar sehr hübsche Sachen zum Essen. Während wir hier warten, dachte ich… Wer ist das, Sir?« »Miss Parini, darf ich Ihnen Leutnant Adams von der Marine des Imperiums vorstellen? Mr. Adams, dies ist Miss Parini.« Adams verbeugte sich mit leicht rotem Kopf. Dann fragte er: »Woher kommt sie?« »Sie war in einer dieser Kältekisten«, meinte Villiers. »Tatsächlich? Nun. Äh, Sir. Da wir hier solange sein werden, bis der Kreuzer kommt, könnte ich nicht auch jemand aufwecken? Ich meine, das wäre dann ausgeglichener.« »Nur eine«, betonte Villiers. »Und Sie sollten sich bei der Auswahl Zeit lassen.« Adams nickte und salutierte. »Ja, Sir.« Er rannte nach hinten in den Laderaum. Villiers bedeutete Louisa, sich an den kleinen Tisch zu setzen. »Hätten Sie Lust…« Er studierte ein Etikett. »Hätten Sie Lust auf ein Sandwich mit Lachsrogen? Adams hatte recht. Ich kenne die Marke. Sehr gut.« »Teilen wir uns eines«, schlug Louisa vor. »Das ist gerecht.«
Villiers suchte herum, fand einen Löffel, warf ihn wieder weg und fand einen anderen, sauberen. Er schnitt zwei feine Scheiben Brot ab, butterte sie leicht, holte die rosa Fischeier heraus und strich sie auf die Scheiben. Hatten sie wirklich erst an diesem Abend zum letzten Mal gegessen? Er klappte das Sandwich zusammen und teilte es in zwei Hälften. Villiers reichte Louisa eine Hälfte. »Das muß man alles können«, sagte er. »Ich dachte gerade daran, daß eine lange Zeit seit unserem gemeinsamen Abend vergangen ist.« »Würden Sie mir eine Frage beantworten?« fragte Louisa schüchtern. »Ja, natürlich.« Sie legte ihr Sandwich auf den Tisch. »Haben Sie über das nachgedacht, worüber… na, Sie wissen schon, worüber wir uns unterhalten haben?« Villiers nickte. »Ja – immer wenn ich eine freie Minute hatte. Ich werde von hier nach Yuten gehen. Wenn alles gutgeht, bekomme ich dort mein Geld, das da seit drei Monaten liegt. Und Sie, meine ich, sollten auf Miss McBurneys Seminar gehen.« »Verlangen Sie nicht das von mir«, bat Louisa. »Wollen Sie mich loswerden, weil ich Ihnen soviel Ärger gemacht habe?« Villiers beugte sich zu ihr hinüber und ergriff ihre Hände. »Louisa, das sollten Sie nicht denken. Ich will Sie nicht loswerden. Ich bezweifle nur, ob ich wirklich ein so begabter Partner wäre, wie Sie ihn brauchen.« »Oh, Sie könnten es schaffen, Tony«, sagte Louisa. »Möglich«, meinte Villiers und mußte bei diesem Gedanken lächeln. »Aber das würde meinen ganzen Lebensstil so extrem verändern – ich müßte alte Verbindungen aufgeben, alte Gewohnheiten fallen lassen, und mich um neue kümmern. Das schaffe ich nicht.« »Sie meinen, Sie wollen es nicht schaffen«, sagte Louisa.
Villiers war sich nicht ganz sicher, ob es ihm gelingen würde, ihr den Unterschied klarzumachen, der dazwischen bestand, nicht der eine Teil eines Gaunerpärchens werden zu wollen und sie zurückzustoßen. Dann fiel ihm eine Möglichkeit ein. »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen.« »Fragen Sie.« »Können Sie besser schauspielern als das Mädchen, das wir während des Essens sahen?« »Das im grünen Kleid mit der schwarzen Kronenzopffrisur?« Villiers dachte nach. »Ja, die meine ich.« »Ich glaube schon«, sagte Louisa zurückhaltend. »Wieviel besser?« »Ein bißchen schon.« »Ich bin der Einladung, die sie mir geschickt hat nicht gefolgt«, sagte Villiers. »Erinnern Sie sich? Nicht deswegen, weil ich wußte, was sie und Henry Maurice planten. Sondern, weil sie nicht gut genug die Lady spielte, um mich zu überzeugen.« »Und ich kann Sie auch nicht überzeugen?« »Nein, Louisa. Ich glaube nicht.« »Oh.« »Ich nehme an, man wird es Ihnen bei Miss McBurneys beibringen. Und genau das beabsichtigt auch Ihr Vater.« Sie stand auf, ohne ein Wort zu sagen. Sie ging ein paar Schritte weg und ließ Villiers ihren Rücken betrachten. Er konnte nicht sagen, ob sie versuchte, sich zusammenzunehmen oder ob sie nachdachte. Nach einer kleinen Weile sagte sie mit ruhiger, leiser Stimme: »Tony, was heißt das – ›ein Päckchen tragen‹?«
Genau wie es schreckliche Träume in einer späten Oktobernacht gibt, genau so gibt es auch die luftigen
Maienträume. Wenn der Mai nicht Ihre Jahreszeit ist, dann ist das hier nicht Ihre Geschichte. Alice Tutuila hatte die ganze Zeit in ihrer Kältekiste wie in einer fröhlichen Pfütze verbracht. Sie erwachte mit einem Gefühl von Schwere und Müdigkeit. Sie streckte ihre Arme aus. Dann schlug sie die Augen auf und blickte in das Gesicht eines großen, gutaussehenden Mannes, der sich über sie beugte. Ihr Herz klopfte sofort heftig, und dabei wußte sie noch gar nicht, daß dieser junge Mann zur Marine gehörte. Der junge Mann drehte sich um und rief: »Sir? Sir? Ich habe auch eine gefunden!«
XII
Adams verabschiedete sich von Alice vor Phibbs’ Schalter, aber Villiers setzte seinen Weg fort, bis er mit Louisa bei Mrs. Bogue angekommen war. Mrs. Bogue war über seine Gegenwart nicht besonders erfreut, sagte aber nichts. In der Nacht zum 17. war ihr die Kontrolle völlig entglitten, und für den Augenblick war sie zufrieden mit dem, was sie bekam, bis sie wieder die vollständige Kontrolle zurückerlangt hatte. »Und Sie versprechen mir, daß Sie mich auf Nashua besuchen werden, wenn Sie dort sein sollten?« »Wenn ich da bin, werde ich Sie besuchen«, versprach Villiers. Die Dialoge im letzten Akt sind entweder sehr klar oder außerordentlich mehrdeutig. Louisa wollte weder das eine noch das andere. Sie weigerte sich, einen Schlußstrich zu ziehen, und nannte es einfach den Vorhang nach dem ersten Akt. »Auf Wiedersehen, Tony«, sagte sie. Er nahm ihre Hand. »Auf Wiedersehen.« Dann drehte er sich um. Er ging auf Adams zu, der eine Hand halb erhoben hatte, um zu winken. »Mr. Villiers.« Es war Bledsoe, der ebenfalls mit diesem Schiff abreisen wollte. Er nickte bedächtig, während er sprach. »Mr. Bledsoe.« Bledsoe reichte Villiers eine Karte. »Für Sie, Sir, meine Karte.«
Villiers sah auf die Karte. Bledsoe meinte noch: »Darf ich Sie, Sir, zu dem guten Rat beglückwünschen, den Sie Miss Parini gegeben haben? Das war außerordentlich klug.« Der Name auf der Karte lautete nicht Bledsoe. Dort stand vielmehr Pavel Branko, seines Zeichens Unternehmer. Branko! »Ein Cousin?« fragte Villiers. »Ein Cousin zweiten Grades, zu Diensten. Auf der anderen Seite der Karte steht eine Adresse, die für Sie vielleicht interessant ist. ›Jack die Hand‹. Guten Tag, Sir.«
Louisa wachte in der Nacht auf, als ein freundlicher Traum in ihr Bewußtsein drang. Der Traum bestand aus reinstem Gefühl. Sie lag wach und dachte darüber nach. Es handelte sich um einen ganz besonderen Traum. Der Raum war größer als ihre Kabine auf der Orion. Alice lag über ihr in tiefem Schlaf. Louisa starrte auf die Unterseite ihres Bettes, das eine halbe Armlänge von ihr entfernt war. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken. Das war ja nur der erste Akt.
Es regnete auf Yuten, als Villiers und Torve den MarineKreuzer verließen. Es war ein Frühsommerregen, kalt und prasselnd. Er spritzte in kleinen Pfützen auf, die die weiße Oberfläche des Feldes schnell wieder aufsog. Der Regen wurde in Stößen vom Wind herangepeitscht. Torves Pelz wurde langsam feucht. »Das fühlt sich gut an, nicht wahr?« fragte Villiers, der sich gegen den Wind stemmte. Wenn man überhaupt kein Wetter erlebt, wird es schnell langweilig. Nach einigen Reisewochen ist es schön, wieder Wind und Regen zu spüren, das Leuchten des grauen Himmels
zu sehen und die dunklen Bewegungen der Wolkengeister, schön, auf schlammigen Boden zu gehen und zu spüren, wie der Schlamm an den Sohlen klebt. Sie waren die einzigen Passagiere, die ausstiegen. Als sie das Hafengebäude erreichten, ließ der Regen langsam nach. Die Sonne drang durch ein kleines Wolkenloch und erleuchtete die Welt, als stünde sie über einer Zeltplane. Die ganze graue Welt glühte plötzlich auf, und die Pfützen leuchteten. Es gab den üblichen Aufenthalt, als Torve sich eincheckte. Die Sache wurde in der üblichen Weise abgekürzt, und es dauerte auch nicht länger als sonst. Während sie noch warteten, wurde Villiers von Lord Hawkwoods Cheetah erkannt. »Viscount Cherteris«, sagte der Mann und eilte auf sie zu. »Lord Hawkwood würde sich geehrt fühlen, wenn Sie ihn aufsuchen würden. Eine außerordentlich angenehme Woche, das versichere ich Ihnen. Die Jagdgesellschaft versammelt sich schon. Keine Treiber, keine Anfänger, und jetzt ist gerade Winter in seinen Ländereien in Kirkie. Das Wild ist ausgezeichnet, wie Sie vielleicht vom letzten Jahr noch wissen.« »Nein«, sagte Villiers. »Ich habe im letzten Jahr leider nicht teilgenommen.« »Oh, das tut mir leid«, sagte der Cheetah. Er verbrachte seine Zeit auf dem einsamen Raumhafen von Yuten, um im Auftrag von Lord Hawkwood die richtigen Leute wissen zu lassen, wo etwas Interessantes stattfand. Eine alte Sitte. »In diesem Fall wäre es ein Jammer, ein wahrer Jammer, wenn Sie nicht anwesend sein würden.« »Entschuldigen Sie mich für einen Moment«, sagte Villiers. »Überlegen Sie es sich?« »Natürlich, Sir.« Villiers wandte sich ab, als ein anderer Cheetah, den er nicht kannte, auf ihn zutrat.
»Sir, Grüße von Mr. Graftoon, und würden Sie freundlicherweise…« »Einen Moment, wenn Sie gestatten«, sagte Villiers. Er verließ die beiden Cheetahs, die sich mißtrauisch beäugten und dabei noch Torve mit zweifelnden Blicken bedachten. Torve stand einfach plattfüßig da und wartete. Villiers fand den Postschalter im Raumhafen und ging hinein. Hier herrschte eine schläfrige Stimmung, was vermutlich am Regen lag. Ein einzelner Beamter saß hinter dem Schalter. Er blickte auf, als Villiers hereinkam. »Guten Tag, Sir«, sagte Villiers. »Wird Post nach Yuten gesandt, wenn hier eine Hauptadresse angegeben ist?« »Ja, Sir, das ist richtig.« »Würden Sie dann bitte nachsehen, ob Post für mich angekommen ist? Mein Name ist Villiers.« Der Beamte nickte und ging nach links aus dem Gesichtskreis von Villiers. Villiers verrenkte sich fast den Hals, aber er konnte den Mann nicht sehen. Es ist schwer zu glauben, daß jemand seine Arbeit ordentlich macht, wenn man ihn nicht sehen kann. Nach einer Minute sagte der Beamte: »Sagten Sie Villiers?« »Ja. Sagte ich.« »Ich sehe hier nichts für jemanden mit diesem Namen.« Er folgte seiner Stimme aus dem Postraum. »Erwarteten Sie etwas Bestimmtes, oder hoffen Sie nur auf eine Sendung?« »Etwas Bestimmtes. Es sollte von Morian kommen, Sir. Und es sollte dieses Zeichen darauf sein.« Villiers zeichnete sein persönliches Postsymbol in seine Hand. »Morian, sagten Sie? Warten Sie eine Sekunde. Ein Schiff ist gerade von Star Well gekommen.« »Star Well?« fragte Villiers und hob die Augenbrauen.
»Ja. Es könnte Post aus Morian mitgebracht haben. Star Well ist schließlich die Achse des Spalts, müssen Sie wissen.« »Ja, ich weiß.« »Warten Sie.« Der Beamte wandte sich um und suchte in dem Labyrinth von Päckchen, Briefen, Karten und Kästchen, Säcken und Gerümpel herum. Dort hinten war ein zweiter Mann, so farblos, daß er Teil der Gerätschaften zu sein schien. Der Beamte brachte ihn auf Trab, und er führte eine komplizierte, wohl ortsübliche Tätigkeit aus. Als sich der Beamte wieder umdrehte, hatte er ein paar Postsachen in den Händen. Er sortierte sie, während er an den Schalter zurückkam. Er fand einen Umschlag und hielt diesen weit von sich ab, um die Aufschrift besser lesen zu können. »Hmm«, sagte er schließlich. »Villiers. Können Sie sich ausweisen?« »Ich habe den Umschlag geschrieben«, sagte Villiers. »Ja«, meinte der Beamte, »aber vielleicht hat Ihnen jemand gesagt, wie die Sendung aussieht. Ich brauche Ihre Identifikation.« Villiers wies sich ein paarmal aus und empfing als Gegenleistung den Umschlag. »Frisch aus dem Schiff«, sagte der Beamte. »Von Star Well?« »Ja.« »Irgendwo muß es ja eine Moral geben. Vielen Dank.« Es handelte sich um die übliche Summe, zu wenig und zu spät. Villiers sah sie an, seufzte und kehrte zu Torve und den beiden Cheetahs zurück. »Meine besten Empfehlungen an Mr. Graftoon«, sagte er. »Aber ich fürchte, meine Gesellschaft ist schon anderweitig versprochen.« Er lächelte freundlich.
Graftoons Verbindungs-Sekretär seufzte, grüßte und zog sich zurück. Villiers nickte dem Mann von Lord Hawkwood zu. »Wenn Sie vorausgehen wollen?«
Alle Männer, die von Villiers und Adams gefangen worden waren, kamen hinter Gitter. Alle bis auf einen. Einige hatten sich schon ergeben, und die anderen wußten genau, wie sinnlos es gewesen wäre, Geiseln zu nehmen oder sich in einem Raumanzug auf der Oberfläche zu verbergen. Das würde das Unvermeidliche nur hinauszögern. Star Well wurde von seinen Besitzern für eine Weile geschlossen. Sie zeigten sich völlig überrascht und schockiert, was ihr Manager da getrieben hatte. Allerdings meinten sie, daß sie sich die Verbesserungen durchaus zunutze machen konnten, und als Star Well wieder öffnete, hatte es drei Raumhäfen und erfreute sich eines ungeheuren Aufschwungs hinsichtlich der Benutzung seiner Lagerhallen und ihrer technischen Einrichtungen. Derjenige, der fehlte, war Hisan Bashir Shirabi. Er war nicht getötet worden. Er war nicht gefangen worden. Er war auch nicht entkommen. Er wurde nie wieder in Star Well gesehen. Er war einfach verschwunden. Psst. Hören Sie mal! Der Felsen da! Legen Sie Ihr Ohr daran! Ist das nicht das Echo heimlicher Tunnelarbeiten? ‘s liegt Jahre zurück, Jahre zurück. Oder könnte es gar das sanfte Geräusch heimlicher purpurner Schritte sein?