TOM ARDEN Der Kreis den Orokons 10
Der fünfte Kristall
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TOM ARDEN Der Kreis den Orokons 10
Der fünfte Kristall
2
In ganz Agondon verbrachten viele nach dem Ende des Vogelballs den Rest der Nacht damit, ruhelos durch einen Spalt im Vorhang hinaus in die Finsternis oder in die Glut eines ersterbenden Feuers zu starren. Dabei hofften sie und beteten dafür, dass die entsetzlichen Vorfälle der Nacht wie die Phantome eines fiebernden Hirns verblassten. In der Dunkelheit, welche die Welt mit ihrem schwarzen Schleier verhüllte, lag auch eine gewisse Barmherzigkeit. Die Finsternis mochte schreckliche Dinge gebären, die dennoch merkwürdig irreal wirkten, wie Träume. Die Zeit und alles, was sie mit sich brachte, schien aufgehoben, als lauere sie am Rand der Realität und warte nur darauf, im Morgengrauen zu verschwinden. Aber die Wahrheit konnte auch der neue Morgen nicht verleugnen, und so lang die Nacht auch war, am Ende brach der Morgen schließlich doch an. Und mit ihm die Meditationen des Koros, des ersten der fünf Gott-Tage, die das Jahr beschließen. An diesem Tag verlassen bis auf die Dienstboten nur wenige das Haus, und jene hasten durch die weiße Welt, unterwegs, um notwendige Besorgungen auszuführen. Nur Dienstboten und… die Wachsoldaten der Blauröcke. Allerdings dienten nicht alle Blauröcke auch wirklich Ejard Blau. Nicht mehr. Im Koros-Palast schlichen zwei junge Rekruten die Treppen hinunter, während sie sich die Bärenfellmäntel zuknöpften. Sie hatten zwar noch Zeit, bis ihre Wache begann, aber jetzt wartete eine andere Art von Pflicht auf sie. Stolpernd kämpften sie sich über leere Hinterhöfe, auf denen vereiste Pfützen gräulich schimmerten. Sie sahen aus wie Spiegel, die auf den kalten Steinen zerborsten waren. Mehr als einmal blieben die beiden Burschen stehen und flüsterten nervös miteinander. »Mor… Morvy, meinst du, dass wir das Richtige tun?« »Das weißt du doch, Crum. Denk nur an Blenkinsop. Der weiß es ganz bestimmt!« Liebevoll streichelte Crum das zappelige kleine Tierchen 3
in seinem Wams. Wer hätte gedacht, dass er Blenkinsop gesund wiedersehen würde? O ja, sie taten das Richtige! In der Nacht war viel getuschelt worden, und bald hatten sich die Nachrichten unter den Soldaten wie Passwörter zwischen Mitgliedern einer Geheimsekte verbreitet. Und jetzt wurde es Zeit zu handeln. Die beiden Rekruten gelangten auf einen unbekannten Hinterhof. Dort warteten schon andere, und sie nickten sich nervös zu. Ein kalter Wind rüttelte an den Stalltüren, und ein Pferd wieherte. Woanders bereiteten sich weitere Deserteure vor. In Wachstationen tauschten Männer verstohlene Blicke und verließen anschließend ihren Posten. Patrouillen zogen durch die Straßen, bis ein Mann nach dem anderen verschwand. Wenn sie erwischt würden, hätten sie keine Gnade zu erwarten. Aber es gibt Zeiten, in denen Männer anderes mehr fürchten als ein Erschießungskommando. Die Gestalten bewegten sich verstohlen, aber stetig auf ihr Ziel in den Hügeln Agondons zu. In Corvey Cottage hielten die Rebellen Kriegsrat. Ihre Lage war, bei Licht gesehen, verzweifelt. Der entscheidende Moment war gekommen, und all ihre Pläne waren gescheitert. Sie hatten die Königin nicht in ihre Gewalt bringen können. Dafür aber war der König bei ihnen. Der wahre König. Die ersten Deserteure trafen kurz nach Tagesanbruch ein. »Blauröcke!«, rief ein Wachposten. Im Bauernhaus brach hektisches Treiben aus. Doch zur allgemeinen Überraschung warfen die Blauröcke ihre Musketen in den Schnee, knieten sich hin, rissen sich die Hüte vom Kopf und verneigten sich. Erstaunt sahen die Wachposten zu, als ihr rot gekleideter Herr aus dem Haus trat. Heute sollte nicht noch mehr Verzweiflung auf Corvey Cottage gehäuft werden – denn manchmal begibt es sich in der Geschichte, dass der Lauf der Ereignisse plötzlich die Richtung ändert. Der Mann, den man gemeinhin als Bob Scarlet kannte, 4
trat langsam auf die erste kniende Gestalt zu. Er streckte die Hand aus und legte sie dem Soldaten auf den Scheitel. Seine Finger ruhten nur einen Moment dort, fast so, als wollte er den Mann segnen. Der Blaurock blickte hoch und sah erstaunt in das königliche Gesicht, das jetzt nicht mehr hinter der schwarzen Maske verborgen war. Zufälligerweise handelte es sich bei diesem Soldaten um den Rekruten Crum, aber selbst der schien instinktiv zu wissen, was er zu sagen hatte. »Euer… Euer Majestät«, stammelte er und schluckte. »Mein königlicher Lehnsherr…« Blenkinsop zappelte fröhlich in Crums Uniform. Ejard Rot lächelte. Ja, das Schicksal hatte sich zu seinen Gunsten gewendet! Aber es gab auch Blauröcke, die vollkommen loyal blieben. Am Ufer des Riel näherten sich die hämmernden Schritte schwerer Stiefel dem Haus von Lady Cham-Charing. Eine behandschuhte Faust pochte an die Tür. Einen kurzen Moment herrschte Ruhe, dann klopfte es erneut. Der Butler tauchte auf und öffnete die Tür einen Spalt breit. Das genügte. Die Faust öffnete sich zu einer flachen Hand und stieß die schwere Eichentür weit auf. Der Butler stürzte entsetzt zu Boden. Er hörte, wie eine laute Stimme Befehle bellte, und eine Hand hielt ihm einen schriftlichen Befehl unter die Nase. Der alte Mann rappelte sich hoch und hastete zum Gemach seiner Herrin. Wie sollte er ihr diese schlimmen Nachrichten beibringen? In der Eingangshalle formierten sich bereits die Soldaten. Sie schafften Kisten, Sandsäcke und sogar eine Artilleriekanone herein. Schlammige Stiefel hinterließen ihre Spuren auf den kostbaren Teppichen, und die fürchterlichen Worte hallten im Gehirn des Butlers wider wie die Glocke des Untergangs. Im Namen Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät, König Ejard vom Blauen Tuch… Möge der Herr Agonis den König beschützen… Konnte das denn wahr sein? Konnte das Haus der Cham-Charing, seit Epizyklen der Sitz der Cham-Charings, tatsächlich so einfach von der Armee der Blauröcke requi5
riert werden? Doch der Butler wusste längst, wie die Antwort lautete: ja, tausendfach, ja! Und in wenigen Augenblicken würde seine Herrin in verzweifeltes Schluchzen ausbrechen. »Ach, Torso… geliebter Torso…« Im Koros-Palast durchlebte eine andere Lady gerade eine Verzweiflung vollkommen anderer Art. Umbecca wiegte sich zusammengesunken auf dem Bett ihres Geliebten. Nur das Pigar-Papageien-Kostüm, das achtlos in einer Ecke lag, erinnerte noch an den Ball. Der nackte Körper auf dem Bett atmete kaum noch, seine abgetrennten Gliedmaßen waren um ihn herum arrangiert und stanken in dem von dem lodernden Kaminfeuer überheizten Raum. »Teuerste Lady, kommt dort weg. Ihr könnt nichts mehr tun.« Franz Waxwell stand zögernd neben ihr und redete salbungsvoll auf sie ein, während er die Hände rang. Er bedrängte Lady Umbecca bereits eine Weile, sich endlich in ihre eigenen Gemächer zurückzuziehen, aber sie nahm seine Worte kaum wahr. Sie tastete blindlings hinter sich und bekam den Körnerkuchen zu fassen, der auf einer Etagere lag. Sie brach ein Stück ab, tunkte es in eine Schüssel mit Milch und hielt dem Geliebten das krümelnde Stück an den Mund. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm Liebkosungen ins Ohr. Wollte Torso denn nicht essen? Wollte Torso vielleicht einfach so dahinsiechen? Torso sabberte und stöhnte. Umbecca seufzte. Der Körnerkuchen war vielleicht doch ein wenig zu fad. Sie stopfte sich das Stück in den Mund und fand ihre Einschätzung bestätigt. Nur um sicherzugehen, aß sie noch rasch den Rest des Kuchens auf. Dann griff sie wieder hinter sich. Mohrenköpfe? Torso hatte sich nie viel aus ihnen gemacht. Ungeduldig verschlang die fette Frau sie. Aber das hier? Rotwäldertorte mit Kirschen und Sahne? Hatte sie nicht eines wundervollen Morgens vor noch gar nicht allzu langer Zeit solch eine Torte mit Torso geteilt? Aber ja. Damals hatte der geliebte Mann mit hochmütigem Blick und gespitzten Lippen neben 6
ihrem Bett auf einem Stuhl gesessen, die Beine übereinander geschlagen, die Gabel elegant zwischen den Fingern gehalten und Umbecca mit wundervollstem Klatsch über die Schlampe Sonia Silverby, über die verrückte Louisa Bolbarr und über dieses hochnäsige Miststück Constansia Cham-Charing unterhalten. Ach, wenn doch diese friedlichen Tage wiederkehrten! Erneut dachte Umbecca an Nirry Jubb, dieses unkeusche Monster in Frauengestalt, die so grausam ihre Glückseligkeit vernichtet hatte. Es war wirklich unvorstellbar, nach allem, was sie für dieses Mädchen getan hatte! Und wie hatte Nirry ihr das zurückgezahlt? Ärger wallte in Umbecca hoch, wurde jedoch sofort von Verzweiflung vertrieben. Schluchzend wollte sie sich auf den nackten Torso werfen, besann sich indes und stürzte sich lieber auf die Rotwäldertorte. Der Apotheker hatte sich bereits mehrmals bemüht einzugreifen. Schritt um Schritt hatte er sich dem Bett genähert und versuchte, den Blick der Lady auf sich zu ziehen. Er hatte sich geräuspert, aber es nützte nichts. Vielleicht musste er ein wenig entschiedener vorgehen. Nach einem vernehmlicheren Räuspern bat er die Lady zu überlegen, ob es wirklich ratsam wäre, trotz ihrer überbordenden weiblichen Fürsorge, seine ärztlichen Aufmerksamkeiten noch weiter hinauszuzögern. War nicht allmählich die Zeit für eine neue Medikamentengabe gekommen? Denn schließlich lief Torso bereits blau an. Der arme Franz Waxwell. Der Morgen schimmerte schon hell hinter den Vorhängen, und die Uhr auf dem Kaminsims maß tickend die Zeit, aber er hatte bisher noch keine einzige Notiz in sein Diagnosebuch eintragen können. Das bereitete ihm Unwohlsein. Immerhin war er ein Mann von peinlichster Gründlichkeit. Franz Waxwell hielt nichts von den Praktiken so mancher Kollegen, die sich absolut nichts bei einer kleinen, schamlosen Mehrleistung hier und da dachten. Angewidert musterte er den Beinahe-Leichnam. Was für ein Anblick! Die Blutegel auf der Brust, die kauterisierten Stümpfe und die verfaulenden Arme und Beine um den 7
Torso drapiert! Zweifellos würde das Ding bald sterben, doch für den Apotheker war es absolut vordringlich, dass er seine Künste bis aufs Letzte ausschöpfte, bevor dieser traurige Moment eintrat. Er ging noch näher ans Bett und legte seine Hand auf Umbeccas fette Schulter. Die Lady bedurfte ebenfalls seiner Aufmerksamkeit. Schokolade klebte an ihrem Mund. Ihr Kleid war mit Sahne voll gekleckert, die auch von dem goldenen Kreis des Agonis tropfte, den sie wieder umgelegt hatte. Der Apotheker lächelte. Vor einer Weile hatte er der Lady mit einer verächtlichen Geste zur Etagere die Wichtigkeit ihres gewohnten Frühstücks ins Gedächtnis gerufen. Musste eine Lady nicht an ihre Kraft denken? Was waren diese faden Kuchen schon gegen die überlegene Schönheit eines vollständigen ejländischen Frühstücks? Mit bewundernswertem Selbstbewusstsein hatte er vom Haferbrei gesprochen, von den Würstchen, dem Braten, den Bohnen, den mit Sahne verfeinerten Rühreiern und dem glänzenden, duftenden Schinken, der sie in ihren Gemächern erwartete. Jetzt jedoch äußerte Waxwell eine ernstere Sorge. Die Körpersäfte der Lady waren aus dem Gleichgewicht, davon war er fest überzeugt. Sie musste unbedingt gewisse Medikamente einnehmen, und nun wurde der Apotheker kühner. Er deutete die Notwendigkeit einer Prozedur an, die er an dieser Lady niemals hatte ausführen wollen, ganz im Gegensatz zu, sagen wir, der Königin. Umbecca ließ sich jedoch nicht erweichen. »Grausamer Apotheker, haltet Ihr mich etwa für eine Eurer gelangweilten, oberflächlichen Gesellschaftsdamen, die sich nur um ihre eigenen armseligen Wehwehchen kümmern, wenn der Geliebte ihres Herzens dringend der Aufmerksamkeit einer Krankenschwester bedarf? Ja, Geliebter, sage ich, denn war es nicht der teure Torso, den ich liebte, selbst als ich meinen Eheschwur leistete? Schimpft mich blasphemisch, tituliert mich als was Ihr wollt, aber ich kann meine Liebe nicht länger leugnen! Wo sonst soll ich sein als an seiner Seite, solange er mich noch brauchen könnte?« 8
Umbecca ergriff ein abgetrenntes Bein, nahm es in die Arme, küsste und streichelte es. »Lieber, lieber Torso, fürchte nicht, dass ich dich verlassen könnte. Was bedeutest du mir anderes als das Leben selbst? Was wäre ich, wenn du nicht mehr bist?« Waxwell griff nach dem Bein, aus dem zäher, gelber Eiter auf das Kleid der Lady tropfte. »Lady Veeldrop, Eure Körpersäfte! Kommt, lasst mich…« Sie schlug ihm auf die Finger. »Teuerste Lady, Ihr seid überspannt…« »Ihr grausamer, böser Mann, weicht von mir, geht…!« Umbecca hätte vielleicht sogar geschrien, doch in diesem Augenblick öffnete ein Lakai die Tür. Er kündigte den Erz-Maximus an. »Ihr wolltet mich sehen, Madam?« Der große Mann hatte seine prächtigsten Roben angelegt. Und wenn ihn die Szene, die sich seinen Augen jetzt bot, auch erschrecken mochte, so ließ er sich dennoch nichts anmerken. In seinen langen Jahren im Dienst der Öffentlichkeit hatte er so manches gesehen. Stattdessen erschrak jedoch Umbecca. Sie erinnerte sich wieder an den Ball und daran, warum sie diesen Bonzen gerufen hatte. Wie eine stolze Mutter trat sie schlurfend vor und hielt dabei ihre verwesende, blutige Last immer noch in den Armen. Aber ihrer zitternden Stimme war die Verwirrung deutlich anzumerken. »Seine… Kanonisierung«, murmelte sie. »Seine… Heiligsprechung…« »Handelt es sich bei diesem… Ding um das… Bein des Lektors?« Der Erz-Maximus hob fragend eine Braue. Sicher, er hatte viel gesehen, aber ein so hoher Würdenträger des Ordens des Agonis war wirklich nicht an den Gestank verfaulenden Fleisches gewöhnt. Sein Blick glitt von Lady Veeldrop über die zischenden Lampen, die zugezogenen Vorhänge und den Schein der flackernden Flammen auf den Heiligenbildern, bis er schließlich an dem bläulichen, verstümmelten Ding hängen blieb, das nackt auf dem Bett lag. Erwartete man vielleicht, dass er ein Gebet sprach? 9
»Ein tragisches Ende«, sagte er fromm. »Für jemanden, der so… viel versprechend war.« »Ende? Torso… tot?« Umbeccas Lachen nahm eine bedrohlich hysterische Note an, und der Erz-Maximus wandte sich besorgt an den Apotheker. Waxwell verbeugte sich höflich. Unter den Angehörigen seines Berufsstandes war es ein offenes Geheimnis, dass der Erz-Maximus an Gicht, Verdauungsstörungen, Bronchialkatarrh, kurz, an all den gewöhnlichen Erkrankungen des Alters litt. Ebenso unverhohlen wurde gemunkelt, dass sein Leibarzt ein zittriger alter Narr war. Der Apotheker bemühte sich mit Erfolg um ein herzliches Lächeln, aber leider erwiderte der große Mann es nicht. Die Lady hatte sich mittlerweile von ihrem Lachanfall erholt. »Also… wird er nun heilig gesprochen?« »Ein Heiliger, Madam, muss zunächst einmal tot sein«, erwiderte der Erz-Maximus freundlich und bemühte sich, nicht zu tief einzuatmen. »Oder lebt vielleicht ewig?« Die fette Frau ließ sich auf einer Chaiselongue nieder. Sie ließ sich von dem Apotheker Wasser und einen Schwamm bringen und fing an, das Bein zu waschen. Es sah fast so aus, als wollte sie gleich ihr Kleid öffnen und dem Bein die Brust anbieten. Glücklicherweise beschränkte sie sich darauf, ein Wiegenlied zu summen und sich mit tadelnden Lauten daranzumachen, den Eiter und das getrocknete Blut abzuwaschen. Die beiden Herren sahen ihr nervös dabei zu. Der ErzMaximus erlitt offenbar einen kleinen Hustenanfall und suchte in seinen Roben nach einem Taschentuch. Dann hielt er es sich vor Nase und Mund und murmelte, dass Lektor Feval selbstverständlich mit allen gebührenden Ehren bestattet werden würde, die einem so geschätzten Mitglied des Ordens des Agonis zukämen. »Bestattet?« Umbeccas Augen blitzten. »Aber Madam, Ihr sprecht von Heiligkeit.« Der große Mann wollte ihre Hand nehmen, aber die Lady tupfte immer noch mit dem Schwamm an dem Bein herum. »Der arme Torso!«, stöhnte sie. »Seht doch nur dieses rote Mal an seinem Bein!« Zuvor von verkrustetem Blut 10
bedeckt, leuchtete das rote Mal jetzt mit verblüffender Intensität. Anscheinend war die Farbe unlösbar mit der Haut verbunden. Erneut warf der Erz-Maximus Waxwell einen kurzen Blick zu. Wenn der Kerl sie doch endlich allein ließe! Sollte der große Mann ihn vielleicht eigenhändig aus dem Gemach scheuchen? Vielleicht sollte er das Bein des Lektors ergreifen und dieses eklige Ding dem Feuer überantworten. Plötzlich packte ihn die Müdigkeit, und er ließ sich neben der Lady auf die Chaiselongue sinken. Der Erz-Maximus suchte nach Worten, die Lady Umbecca ablenken könnten. »Es gibt bereits Berichte über die Rebellen, Madam…« »Hm. Hm. Torvester? Doch nicht mein lieblicher Tor?« Wovon redete sie? Und dabei tupfte sie immer noch an diesem Mal herum. Für den Erz-Maximus war es eine fantastische und gleichzeitig beunruhigende Vorstellung, dass Lady Veeldrop den Verstand verloren haben könnte. Ihr Einfluss auf die junge Königin war eindeutig negativ, dessen war er sicher, und dass sie Feval protegierte, den er einst verbannt hatte, erfüllte den großen Mann mit Entsetzen und Scham. Aber wenn eine so Ehrfurcht einflößende Person dem Wahnsinn anheim fiel, wie sicher konnten sich dann noch die anderen fühlen? Und welches Omen verhieß das für das Regime der Blauröcke? Er startete einen neuen Versuch. »Euer früheres Dienstmädchen, diese Verräterin… War es nicht ein Glücksfall, dass man sie ergriffen hat?« Das musste sie doch aufrütteln oder nicht? Er hatte gehört, dass dieses Mädchen morgen hingerichtet werden sollte. Sie sollte am Erdon-Baum aufgehängt werden. Es gab bereits Gerüchte über Bewegungen der Rebellenstreitkräfte. Einige sprachen von Desertionen in den Reihen der Blauröcke. Der große Mann verspürte Furcht. Konnte Ejard Rot tatsächlich zurückgekehrt sein und nach Rache verlangen? Diese Vorstellung war einfach zu schrecklich, um ihr weiter nachzuhängen. 11
Der Apotheker überdachte derweil seine eigenen Möglichkeiten. Er konnte doch jetzt sicher die Erlaubnis der Königin einholen, die mitgenommene Lady Veeldrop unter Hausarrest zu stellen? Wie ein schwer beladenes Schiff, das sich zu einem Törn in entlegene, gefährliche Gewässer aufgemacht hatte, schien Lady Umbecca sich auf eine lange, vielleicht endlose Reise der mentalen Verwirrung begeben zu haben. Sicherlich waren jetzt regelmäßige Gaben von Schlafsirup erforderlich, ganz zu schweigen von anderen, exotischeren Tränken. Und was den Erz-Maximus anging: Auch seine Körpersäfte waren augenscheinlich in einem höchst bedenklichen Zustand. Sein Leibarzt musste tatsächlich vollkommen unfähig sein. Mindestens ein Fruchtsirup wäre angezeigt. Immerhin war der große Mann für diese gefährdete Stadt noch entschieden wichtiger als die Lady Sollte er nicht die besten Dienste für sich in Anspruch nehmen können? Unaufhörlich plapperte er von diesem Mädchen, das man zum Tode verurteilt hatte. »Diese Exekution ist das größte Ereignis des ganzen Zyklus, was sage ich, des ganzen Gen. Was ist es anderes als ein Exempel, eine Warnung an die, die unsere hehre Sache verraten? Aber ist die Befriedigung für Euch, teuerste Lady, nicht noch viel größer?« Die einzige Antwort war das feuchte Sauggeräusch des Schwammes. Verstohlen warf der große Mann dem Apotheker einen Seitenblick zu. Dieser Waxwell scheint vollkommen fasziniert zu sein, dachte er. Der Bursche betrachtet den Wahnsinn um ihn herum geradezu entzückt. Oder starrt er in Wahrheit nur auf das Bein? Streng deutete der Erz-Maximus auf das Bett. Atmete der Patient ruhig? Atmete er überhaupt noch? War der Apotheker nicht verpflichtet, sich dessen zu vergewissern? Der große Mann seufzte, während er dem Geräusch des Schwammes lauschte. Er war kein böser Mensch, jedenfalls hielt er sich nicht für einen. Hatte er nicht sein ganzes Leben dem Lord Agonis gewidmet? Aber im Verlauf seiner Karriere war sein Glaube allmählich immer schwächer geworden und schließlich erstorben. Erstickt von Gefälligkeiten, Kompromissen und Täuschungen. In den Augen der 12
Öffentlichkeit war er ein Mann vom Tuch, der Größte unter ihnen sogar, in Wirklichkeit jedoch war er ein Politiker und moralisch so verdorben, wie Politiker eben sind. Erneut fiel sein Blick auf das Bein. Was war es anderes als ein Symbol seines Scheiterns? Er dachte wie so häufig an einen jungen Mann namens Silas und eine wunderschöne Lady namens Lolenda. Und dann dachte er an das Baby, das er vor langen Jahren zur Adoption freigegeben hatte. Der Schwamm tat saugend sein Werk. Und das Mal flammte unveränderlich rot! Wie sorgfältig Feval es verborgen haben musste, in all den Jahren im Dienste des Ordens des Agonis! Verzweiflung erfüllte den Erz-Maximus. Hätte er diesen bösen Mann doch denunzieren können! Es gibt Wahrheiten, die besser niemals das Licht der Welt erblicken, aber irgendwie gelingt es ihnen trotzdem, sich den Weg an die Oberfläche freizukämpfen. Selbst jetzt ließ dem großen Mann diese Enthüllung die Galle in den Hals steigen. Sollte er Lady Umbecca sagen – dieser verblendeten alten Hexe – , was Feval war, es ihr ins Ohr flüstern wie die Zärtlichkeiten eines Liebenden? Plötzlich hatte er Lust, etwas Grausames zu tun, er sehnte sich danach, diese Lady am Boden zerstört und gebrochen zu sehen, weinend, und ihn anflehend, dass diese Schande nicht wahr sein konnte. Der Apotheker drehte sich um. »Er ist tot… tot!« Die Worte schnitten wie eine Klinge durch den dämmrigen Raum. Die Lady blickte hoch. Langsam zeichnete sich Begreifen auf ihrem Gesicht ab, und ebenso langsam ließ sie das Bein zu Boden gleiten. »Eay! Nicht mein Eay…!« Sie brach in Tränen aus. Die Heiligenbilder an den Wänden blitzten und funkelten, als der Erz-Maximus die zerstörte Frau verlegen und hoffnungslos umarmte. Was war das für ein Impuls, der ihn jetzt trieb und der nur Gnade, Liebe und Mitgefühl in ihm auslöste? »Teuerste Lady, keine Angst… Er wird seine Heiligsprechung bekommen.« Der Apotheker seinerseits nahm ein kleines Buch heraus 13
und lächelte. Doch dann verschwand dieses Lächeln, und er runzelte die Stirn. Erneut schaute er auf das Bein. Was war das für ein Mal? 2. Das Buch der Offenbarung »Das gefällt mir nicht.« »So kann es nicht weitergehen.« »Aber was können wir dagegen tun?« Die Sprecher waren der Reihe nach Jem, Cata und Rajal. Sie saßen in Decken gehüllt in dem bebenden Himmelsschiff und schauten auf die geheimnisvolle Gestalt von Myla, die sich ständig veränderte und wie ein Phantom unter der gepolsterten Decke schwebte. Immer noch drang diese geheimnisvolle Musik aus ihrem Mund, und ihre Haut glühte in einem unirdischen Licht. Jenseits der metallenen Hülle heulte der Wind. Der Schnee klatschte gegen die Bullaugen und die gebogene Glasscheibe im Bug des Schiffes. »Was ich gern wissen würde«, sagte Cata, »ist…« »Wohin wir fliegen?« Jem lächelte. »Richtig, das habe ich schon einmal gefragt. Darf ich die Frage noch einmal stellen?« »Aber natürlich. Und ich kann nur noch einmal antworten, dass ich eine Ahnung habe. Jedenfalls glaube ich es.« »Ist es immer noch dieselbe Ahnung?« Jem streichelte Catas Hand. »Wir fliegen nach Norden, stimmt’s? Es wird kälter. Und ich frage mich, ob wir möglicherweise zu dieser Einsiedelei der Winde fliegen.« »Und der Kristall des Agonis? Alles hängt von der Magie ab.« Jem hob ihre Hand an die Lippen. Er war immer noch verwundert darüber, dass er wieder mit ihr zusammen war. Läge doch dieses Abenteuer schon weit hinter ihnen! »Noch fünf Tage«, murmelte er. »Fünf Tage, um die Welt zu retten… Aber wenn es vorbei ist, dann sind wir wenigstens zusammen.« »Das ist ein sehr großes ›Wenn‹«, sagte Cata. 14
»Das weiß ich«, erwiderte Jem. »Ich weiß.« Sie seufzten. Rajal, der ein bisschen weiter weg saß, seufzte ebenfalls, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Der Blick seiner dunklen Augen war auf Myla gerichtet. Wie viel Magie hatte sie verbraucht, um sie hierher zu bringen? Sie sah nicht älter aus als vorher. Aber wie lange würde das noch anhalten? Es war schon später Vormittag, aber der erschöpfte Kleine schlief immer noch auf einer gepolsterten Liege und hatte den Arm um den schnurrenden Ejard Orange geschlungen. Auf der gegenüberliegenden Couch lag Tishy Cham-Charing. Den Kopf hatte sie zur Seite geneigt, und die Hornbrille war an ihrer Nase heruntergerutscht. Auf ihren Knien lag ein geöffnetes, modriges Buch. Jem griff danach. »Einige Leute können wirklich überall lesen.« »Zu Hause im Bett sollte sie sein, da gehört sie hin«, murmelte Cata. »Warum ist sie hier?« »Sie konnte wohl kaum etwas dagegen tun«, erwiderte Jem. Cata runzelte die Stirn. Wie viele Witze über Tishy hatte sie bei Mistress Quick gehört? Das Mädchen war wirklich berühmt, aber eher aus den falschen Gründen. Jem kannte sie aus seiner Zeit als angehender Gentleman und wusste ebenfalls einiges über sie. »Komm schon, Cata, so schlecht ist sie gar nicht. Ich dachte, du magst unkonventionelle Mädchen.« »Vergleichst du mich etwa mit ihr? Hast du denn dieses Liedchen nie gehört – Tishy, Tishy, alles fällt herunter –, als sie damals mit Ejard Blau auf dem Ball des Ersten Mondes getanzt hat? Sie ist nicht unkonventionell, sie ist einfach nur unerfahren, sie spielt das kleine Mädchen, und das nicht einmal besonders gut. Wie lange hat es gedauert, bis sie sich wieder beruhigt hat, nachdem sie feststellte, dass wir durch die Luft fliegen? Ich musste ihr sogar eine Ohrfeige verpassen!« »Immerhin ist sie Magie nicht gewöhnt«, meinte Jem. »Jedenfalls nicht so wie wir.« »Sie wird uns Ärger machen, wo wir auch hingehen.« 15
Rajal hörte diese Diskussion mit an und musste lächeln, zum ersten Mal in dieser Nacht. Hatte Cata Tishy nicht eine Ohrfeige gegeben, die etwas fester war als nötig? Jem hielt immer noch achtlos Tishys Buch in der Hand. »Was ist das eigentlich für ein Buch?«, fragte Cata. »Sicher so ein romantischer Schmöker. Mir ist schon aufgefallen, dass so schlichte Mädchen einen Hang zu dieser Art von…« Tishy schlug die Augen auf. »Eigentlich ist es ein höchst seltenes Werk über uralte Theologie«, sagte sie. »Ich habe es aus der Kammer der Verbotenen Texte gestohlen.« Rajal konnte nicht verhindern, dass er schallend lachte. Cata errötete. »Ach, wirklich? Wie interessant, Tishy…« »Ich wollte eigentlich Vytonis Diskurs über die Freiheit stehlen. Dieses Buch habe ich zugegebenermaßen nur aus Versehen mitgenommen. Zuerst war ich enttäuscht, aber allmählich finde ich es sehr faszinierend, und außerdem ist es eine große wissenschaftliche Herausforderung. Es heißt: Die Einsiedelei der Winde. Eine Prophezeiung und es ist…« »Was?« Rajal hörte auf zu lachen. Jem schaute bestürzt auf das Buch in seiner Hand. Rasch blätterte er durch die modrigen Seiten. »Aber das ist… Ich meine, es ist…« Tishy stand auf. »Vorsichtig! Es ist aus der Zeit der Unschuld, und…« »Bist du sicher?«, fragte Jem. »Ich musste das Zeug lernen, als ich zum Gentleman ausgebildet wurde, und diese Schrift kommt mir eindeutig anders vor. Außerdem wissen Mädchen nichts von…« »Mädchen wissen dies nicht, Mädchen tun das nicht! Wie oft hab ich das schon gehört?« Tishy schnaubte verächtlich und schob sich die Brille wieder auf die Nase. »Zu deiner Information, es ist in Juvescial Aros geschrieben, einer Sprache, die man die Zunge des Agonis nennt, nicht dieses übliche Zeit-der-Unschuld-Zeugs, das man dir und deinesgleichen beibringt… Ich lerne immer noch, wie man sie liest. Es ist sehr schwierig. Aber wenigstens habe ich die Grundlagen schon hinter mir.« Jem schluckte und reichte ihr das Buch zurück. »Tut mir 16
Leid, Tishy Ich… ich meinte es nicht so, wirklich nicht. Und Cata auch nicht. Stimmt doch, Cata, hab ich Recht?« Cata schwieg, nickte aber. »Dieses Buch«, fuhr Jem drängend fort. »Was steht drin?« Tishys Blick schien in weite Ferne zu schweifen. Einen Moment lang hing die Situation in der Schwebe, denn es schien, als wollte sie in einen gelehrten Diskurs verfallen und uralte Diskussionen über textuelle Transmissionen und die Schwierigkeiten der Übersetzung zum Besten geben. Doch glücklicherweise stand Tishy am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere und hatte deshalb noch ein Herz für ihre Zuhörer. Also erklärte sie einfach den Inhalt des Buches so weit und so gut sie konnte. Es handelte von den ersten Tagen des Sühneopfers, als die Agonisten sich im Reich von Ejland niederließen. »Das klingt nicht besonders aufregend«, sagte Cata. »Wenn das alles ist, warum ist das Buch dann verboten worden?« »Und diese… diese Einsiedelei?«, fragte Jem. »Einsiede… was?«, erkundigte sich der Kleine und gähnte. Er hatte die Augen wieder aufgeschlagen. Bedauernd sah er sich in dem Himmelsschiff um und betrachtete Mylas schwebende Gestalt. Immer noch drang diese Musik über ihre Lippen und umspielte mit ihrer süßen, eigenartigen Melodie das harsche Heulen des Windes. »Eine Einsiedelei? Ist das nicht eine Art religiöses Gebäude?«, fragte Cata. Unwillkürlich sah sie Tishy fragend an. »In den Legenden und in fremden Ländern werden sie oft so genannt.« Tishy deutete auf das Buch. »Aber bisher bin ich hier drin auf nichts dergleichen gestoßen. Trotzdem könnte so etwas vorkommen, immerhin habe ich noch längst nicht alles enträtselt. Aber mir ist eine Passage über den Kolkos Aros aufgefallen.« »Den Kristallhimmel?« Catas Blick glitt zu Jem. Beklommen dachten sie beide an die weißen Berge, die über dem Heim ihrer Kindheit in den Tälern des Tarn geleuchtet hatten. Der Kolkos Aros, der Kristallhimmel, hatte sich 17
hoch am Horizont erhoben und eigentlich nie real gewirkt. Jemand hatte einmal gesagt, dass diese Berge in Wirklichkeit nur eine Illusion wären, und alle behaupteten, man könne sie unmöglich besteigen. War das etwa der Ort, zu dem sie jetzt flogen? »Aber dieses Buch«, sagte Jem. »Warum war es verboten?« Tishy überlegte. »Als die Kinder des Agonis das Tal des Orok verlassen haben«, erwiderte sie dann, »sollten sie dorthin gehen, hinauf in die Berge.« »Nicht in die Berge«, verbesserte Jem sie. Er erinnerte sich an seinen Religionsunterricht. »Sondern nur in ihre Nähe. Deshalb leben wir ja hier in diesen nördlichen Ländern, wie es uns auch befohlen…« »Nein, bis in die Berge«, widersprach Tishy »Genau das hat der Ur-Gott uns aufgetragen. Vorausgesetzt«, fügte sie ziemlich selbstbewusst hinzu, »du beziehst dich auf diese literarische Interpretation der Geschichte. Natürlich haben unsere Theologen immer behauptet, dass so ziemlich alles im El-Orokon nur eine Metapher ist und wir es nicht ernst nehmen müssten…« »Damit wir tun können, was uns gefällt?«, fragte Cata. »Genau«, bestätigte Tishy »Aber ich vermute, dass dieses Buch die alten Weissagungen mehr als nur ein bisschen zu wörtlich nimmt und damit, wenigstens indirekt, die Theologie des derzeitigen Regimes kritisiert. Vermutlich wurde es zur Zeit des Großen Schismas verboten, vielleicht auch aufgrund der Nachwirkungen des Gegen-Schismas, in der frühen Regierungszeit von Elabethl….« Da keiner der anderen etwas dagegen vorbringen konnte, schwiegen sie. Cata fragte sich, was sie von einer so gelehrten Lady halten sollte; Rajal hätte gern gewusst, was es damit auf sich hatte, dass die Agonisten in die Berge gehen sollten, während der Kleine ein Spielchen mit Ejard Orange trieb, das dem Kater offenbar nicht sonderlich gefiel. Roll den Schwanz auf. Roll ihn wieder zusammen. Roll den Schwanz auf. 18
Roll ihn wieder zusammen Der Kleine sang leise, langweilte sich jedoch bald und schielte dann zu dem Weidenkorb, in dem sich ihre restlichen Vorräte befanden. Ejard Orange folgte seinem Blick, doch dann wurden sowohl der Kleine als auch der Kater enttäuscht, als Jem Tishy plötzlich begeistert bat, ihnen etwas aus dem Buch vorzulesen. »Ist es wenigstens eine Geschichte?«, fragte der Kleine mit zusammengebissenen Zähnen und spielte mit einem von Ejard Oranges Ohren. »Aber ja«, antwortete Tishy. »Obwohl ihr eine solche Geschichte selten gehört haben dürftet. Es ist mir vorhin gelungen, einen weiteren Fünf-Stab zu übersetzen… Mal sehen.« Sie las leise und tonlos und stockte mehr als einmal. Trotzdem hätte man Miss Laetitia Cham-Charing für die Königin der Vorleserinnen halten können, so aufmerksam hörte ihr die kleine Gruppe zu. Was sie las, war Folgendes:
Fünf Stab Drei I. So begab es sich, dass Ondon, der erste von vielen Königen des grünen und bewaldeten Landes, alle Ratschläge von Vater-Priester Ir-Ion zurückwies, und damit auch den Willen von Orok, dem Allmächtigen: Niemals, so erklärte dieser stolze und prahlerische König, würde sein Volk dieses Land verlassen, in dem es eigentlich gar nicht hätte sein sollen. II. Alle Ermahnungen des Vater-Priesters fruchteten nichts. Schon lange schlief Orok in der Dunkelheit seines Todes, und schon lange waren die Kinder des Orok
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verschwunden: Auch das Juwel des Krüppels hatte lange untätig dagelegen, ein Symbol, nicht mehr, und noch nicht vom strahlenden Licht des Glaubens erfüllt. III. Doch es begab sich, dass Ondon in dem Palast, den er jetzt erbaut hatte, einen Platz für Ir-Ion und all seine Brüder-Priester fand: Denn auch wenn Ondon nach den Maßstäben der Welt regierte, tat er es dennoch als ein Mann des Glaubens, damit er von allen als der würdigste Träger des Juwels des Krüppels angesehen würde. IV Und das dachte er: Dass die gemeinen Leute zwar ihren König feierten und niemals woanders lebten als in diesem Land, das sie gefunden hatten, sie aber dennoch im Griff des Glaubens blieben, den sie nicht brechen konnten, und wenn doch, dass sie dann von dem Willen der Götter bestraft worden wären. V Und das war die Aufgabe, die Ondon seinen Priestern stellte. Er wollte sie unter seiner Knute, als Instrumente des Staates: Auch wenn ihre Götter schwiegen, wollte der Monarch dennoch, wie alle menschlichen Monarchen, dass sie sprachen, und wenn sie sprachen, dann in einer Stimme, die wie seine klang.
Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Während Tishy las, hatten sich Jem, Cata, der Kleine und Rajal mehrmals viel sagend angesehen. Einigen mochte der Inhalt des Fünf-Stabes vielleicht kryptisch und wenig bemerkenswert erscheinen, aber den vieren, die Tishy zuhörten, waren die Implikationen ihrer Worte ganz klar. Als sie aufhörte, fingen sie sofort an, aufgeregt miteinander zu diskutieren »Also gehören die Agonisten gar nicht nach Ejland?«, fragte Rajal. »Und all die Jahre haben sie versucht, uns Vagas hinauszuwerfen!« »Diese Träger«, erkundigte sich der Kleine, »wo sind sie jetzt?« 20
»Dieses Juwel des Krüppels«, sagte Cata. »Was meinen sie damit?« »Das muss der Kristall des Agonis sein«, erwiderte Jem. »Aber…« Er wollte Tishy gerade bitten, weiter zu übersetzen, weil er unbedingt dieses uralte Geheimnis enträtseln wollte, doch in dem Moment wurde das Himmelsschiff von einem mächtigen Stoß getroffen. Ejard Orange sprang hoch und zischte. Sein helles Fell sträubte sich auf dem Rücken. Jem, Cata, Rajal, der Kleine und auch Tishy, sie alle stürzten zu Boden. Einen Moment hörte sogar Mylas Lied auf, und ihr unheimlicher Glanz flackerte kurz. »Was… was ist passiert?«, erkundigte sich Tishy ängstlich. »Seht… Seht nur!«, sagte Cata. »Da, hinter den Bullaugen!« Ein purpurnes Leuchten erfüllte den Himmel. »Lilane«, stieß Jem hervor und schluckte. »Sie sind überall.«
Das Himmelsschiff flog heulend durch die kalte Morgenluft, schwankte und rollte, als wäre es ein echtes Schiff, das in einer stürmischen See krängte. Aber der Himmel war ruhig, auch wenn er stark bewölkt war. Sogar das Schneetreiben hatte nachgelassen. Den Tumult veranstalteten die Lilane, die sich gegen die Metallhülle warfen. Die Kreaturen versammelten sich drohend um die Bullaugen und erfüllten das Innere des Schiffes mit ihrem unheimlichen Licht. Dann jedoch drehten sie aus einem für Jem nicht erkennbaren Grund plötzlich scharf ab, flogen kreischend wie Möwen umher, bis sie sich plötzlich und ohne Vorwarnung wieder auf die Bullaugen stürzten. Im Augenblick hatten sie sich gerade wieder zerstreut. Ein blasses, weißes Licht erfüllte das Himmelsschiff. »Wenn ich sie nur aus ihrer Trance holen könnte«, sagte Rajal leise und blickte auf seine schwebende Schwester. »Klar«, erwiderte der Kleine. »Damit das Himmelsschiff abstürzt.« 21
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Rajal. »Aber was habe ich gemeint?« »Dass du sie wiederhaben willst? Wie sie vorher war?« Der Kleine empfand genauso und dachte an das dunkeläugige kleine Mädchen, dem er auf ihrem letzten Abenteuer in einem geheimen Garten begegnet war. Traurig fing er aufs Neue an, Rajal zu bedrängen, ihm mehr von Myla zu erzählen, von der Myla, wie sie früher gewesen war, von der echten Myla, damals, als Rajal und Jem, die Große Mutter und Zady mit ihr in ihrem Vaga-Wagen umhergereist waren. Rajal versuchte nachzudenken, aber die Trauer bereitete ihm stechende Kopfschmerzen. Sein Blick glitt zu Jem und Cata. Die beiden Liebenden saßen vor der gebogenen Frontscheibe, hielten sich an den Händen, steckten die Köpfe zusammen und betrachteten aufmerksam die Szenerie, die sich ihnen bot. »Ich hatte Recht«, sagte Jem und streckte die Hand aus. »Ich wusste es…« »Der Tarn?«, fragte Cata atemlos. »Der Wildwald? Wie merkwürdig es ist, ihn aus so großer Höhe zu betrachten…« »Sieh doch, da ist Irion…« Rajal und der Kleine drängten sich neben sie, und Ejard Orange sprang auf den Rand vor der Scheibe. Nur Tishy rührte sich nicht und steckte ihre Nase noch tiefer in ihr Buch. »Jem, ist das der Ort, von dem du kommst?«, wollte der Kleine wissen. »Siehst du das da in der Mitte?«, sagte Jem. »Dieses verschneite Rund? Das ist der Dorfanger, begraben unter dem Schnee. Und sieh doch, dieses Gebäude dort drüben…« »Das große? Mit den Säulen?« »Der Tempel von Irion. Kannst du dir vorstellen, dass Cata und ich uns auf diesen Stufen kennen gelernt haben?« Cata betrachtete ernst und staunend diese weiße Welt. Wenn sie in den vielen Nächten ihres Exils von ihrer ersten Heimat geträumt hatte, dann war sie ihr in der Jahreszeit 22
der Viana erschienen, wenn die Zugvögel zurückkamen und die Blüten sich öffneten, wenn der Fluss anschwoll und die Knospen sprossen, oder sie dachte an die Jahreszeit des Theron, wenn es schwül war, nach Weihrauch roch, das Licht honigfarben war und die freudigen, lauten Lieder der Wildnis überall ertönten. Eine Erinnerung aus frühester Kindheit regte sich in ihr. Cata wusste nicht genau, in welcher Jahreszeit sie geboren war, aber sie war sich zum ersten Mal des Theron-Jahres bewusst gewesen, als sie an seinem Ende die Kälte spürte. Sie hatte geschluchzt und geglaubt, dass nun die Wärme für immer verschwunden wäre und die sterbenden Blätter niemals zurückkehren würden. Das war natürlich albern gewesen, aber jetzt stieg wieder diese frühkindliche Traurigkeit in ihr hoch, die ihr merkwürdig real erschien. Unter dem Himmelsschiff war kaum ein Fleckchen Grün zu sehen, und Cata befürchtete, dass dies ein böses Omen sein könnte. Ejard Orange kratzte an der Scheibe. Jem beobachtete ihn, kam aber nicht mehr dazu, über den Grund für das Verhalten des Katers nachzudenken, denn in diesem Moment durchstießen sie einen Wolkenfetzen, und ein gewaltiges Bauwerk tauchte vor ihnen auf. Es lag auf einem hohen Felsen und überragte die ganze Siedlung. »Kleiner, sieh doch, die Burg! Dort bin ich aufgewachsen. Als ich so alt war wie du, war es nur eine Ruine… Na ja, das ganze Dorf war eine Ruine im Vergleich zu heute…« »Ist die Zeit etwa rückwärts gelaufen? Wie in KalTheron?« »Nicht ganz, Kleiner. Die Blauröcke sind gekommen.« Jem verstummte. Er kniff die Augen zusammen und konnte den Hügel westlich des Dorfes erkennen, wo die Invasionsarmee die Vagas in ein armseliges Lager gesperrt hatten. »Hast du auch hier gelebt, Rajal?«, fragte der Kleine. »Mit Myla?« »Wenn man das leben nennen kann«, erwiderte Rajal leise. »Zum Glück sind wir entkommen.« Ejard Orange fuhr mit den Krallen gegen die Scheibe 23
und miaute kläglich. Jem strich der Katze über den pelzigen Hals. »Was hast du denn, Eji?« »Er hat Hunger«, antwortete Cata. »Wie üblich.« »Sagt dir das deine Tier-Telepathie?«, fragte Rajal. »Das war nur eine Vermutung. Er hat schließlich kein Frühstück bekommen.« »Wir auch nicht.« Der Kleine stöhnte. Erwartungsvoll sah er zu dem Weidenkorb, der sie den ganzen Weg von Wenaya bis hierher begleitet hatte. »Könnten wir nicht wenigstens ein kleines bisschen essen?« »Mehr als ein kleines bisschen gibt es auch nicht«, erwiderte Jem. »Hast du vergessen, dass wir seit Inorchis den Korb nicht mehr aufgefüllt haben?« »Ist da nicht noch etwas Hühnchen?«, fragte der Kleine. »Und Zunge-mit-Wurzel-Pastete? Und eine Amphore mit Saft?« Jem lachte, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Du hast Recht, Kleiner, aber wir sollten lieber vorsichtig sein. Warten wir ab, wohin wir fliegen.« »Ich dachte, das zumindest wäre klar.« Cata blickte nach vorn. Der Tarn blieb bereits hinter ihnen zurück, und die Berge rückten näher. Sie zog den Mantel fester um die Schultern. Sie fröstelte, aber das lag nicht nur an der Kälte. »Wenigstens haben wir diesmal Mäntel«, bemerkte der Kleine missmutig. Jem nickte. Das war zwar nicht schlecht, aber sie würden im Kristallhimmel mehr als das brauchen. Viel mehr. Ein heftiger Schlag erschütterte das Schiff. Ejard Orange fauchte. »Die Lilane«, sagte Cata. »Sie sind wieder da.« Jem sah erst sie und dann Ejard Orange neugierig an. Vor den Bullaugen waren keine Lilane zu sehen und auch nicht an der Scheibe. »Sie… sie sammeln sich auf uns… Sie hocken in großen Scharen oben auf dem Schiff«, erklärte Cata. Sie flüsterte und hatte einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Gedankenverloren streckte sie die Hand aus und glättete das 24
gesträubte Fell des orangefarbenen Katers. »Du kannst sie spüren?«, fragte Jem. »Aber es sind doch… Phantome.« »Phantome«, warf Rajal ein, »bringen ein Schiff gewöhnlich nicht zum Schwanken.« »Du meinst, sie sind… real?«, wisperte der Kleine. »Nicht ganz«, erklärte Cata. »Etwas dazwischen…« Der Kleine warf einen fragenden Blick auf Ejard Orange. »Dann ging es also gar nicht um dein Frühstück, hm? Vorhin?« »Er hat sie vor mir gespürt«, sagte Cata. »Und da ist noch etwas. Ich bin sicher, dass da noch etwas ist.« Erneut blickte sie auf die weiße Welt hinunter. Ihre Angst wuchs. Die Täler blieben hinter ihnen zurück, und schon bald würde das Schiff zwischen den mächtigen Gipfeln des Bergmassivs verschwinden. Gewaltige Abgründe und felsige Klüfte kamen in Sicht, Schluchten, Böschungen und Plateaus. Wenn die Berge aus der Ferne auch wie ein flatternder Vorhang aus Stoff wirkten, der sich wie blasse Gaze gegen den Himmel abhob, so sahen die großen, zerklüfteten Felswände aus der Nähe doch ziemlich real aus. Die Felsen traten drohend vor dem Weiß ringsum hervor. Frischer Schnee klatschte gegen die Scheibe, und erneut schwankte das Himmelsschiff. »Tishy, geht es dir gut?«, erkundigte sich Jem. »Ich habe gerade einen neuen Fünf-Stab übersetzt«, erwiderte die gelehrte junge Dame. Sie war ein bisschen grün im Gesicht. »Du hast ihn übersetzt? Können wir… können wir ihn hören?« Doch dies war nicht der richtige Moment. Die Lilane flogen kreischend immer wieder gegen die Hülle an, und purpurnes Licht drang erst durch das eine und dann durch das andere Bullauge. Schon bald stellte sich eine gewisse Regelmäßigkeit bei dem Schwanken ein, und es wurde immer stärker. Myla strahlte unverändert weiter und auch das Lied drang wie zuvor aus ihrem Mund. Ejard Orange heulte und rannte in der Kabine herum. Die anderen hielten sich an den Sitzen, den Säulen und dem nutzlosen Kontrollbrett 25
fest. »Wenn ich nur meine Kugel hätte!«, rief der Kleine. »Wir kön… könnten doch ge… gegen diese Berge krachen, hab ich Recht?« »Ich wüsste nicht, was uns daran hindern sollte«, erwiderte Rajal. »Amulett, hörst du zu?« »Das kannst du nur hoffen«, sagte der Kleine grimmig. »Wir alle können es nur – « »Hört auf! Wir krachen ständig gegen irgendetwas«, fuhr Jem sie an. »Warum sollten wir ausgerechnet diesmal kein Glück haben? Außerdem ist Myla bei uns. Immerhin hat sie uns so weit gebracht, stimmt’s?« »Ich mache mir keine Sorgen um Myla«, sagte Rajal. »Das heißt… natürlich doch, aber du weißt ja, was ich – « »Kann jemand vielleicht diese Katze zum Schweigen bringen?«, erkundigte sich Tishy gereizt. »Seht nur!« Der Kleine hatte diesen Ruf ausgestoßen. Er hatte die Augen furchtsam aufgerissen und schlug die Hand vor den Mund. Über die verschneiten Felder unter ihnen glitt ein riesiger Schatten. Es war der Schatten eines Vogels. Eines ungeheuer großen Vogels. Jem überlief es eiskalt vor Entsetzen. Er drückte sein Gesicht gegen die Scheibe und versuchte, in den Himmel über ihnen zu sehen. Die Lilane blockierten seine Sicht zwar, doch es gelang ihm, einen kurzen Blick auf den fliegenden Schatten zu erhaschen, der bedrohlich den Himmel durchquerte. »Der Vogel des Nicht-Seins«, flüsterte er. Dann passierte es. Cata schrie, sank zu Boden und presste die Hände gegen den Kopf. Das Himmelsschiff begann heftig zu kreiseln. Jem und seine Freunde wurden durch die Luft geschleudert. Ejard Orange war außer sich, sprang, fauchte und kratzte. Mylas Lied verstummte in einem wilden Schrei, und das geheimnisvolle Licht, das sie umgab, flackerte erneut. »Myla, nein!«, rief Rajal. »Myla…!« Cata schrie immer noch. Jem hielt sich mit aller Kraft an 26
einer Strebe fest. Sein Kopf schien unter einem schrecklichen Schmerz zu explodieren, und der blaue Kristall an seiner Brust brannte wie Feuer, als der Vogel des NichtSeins seinen gewaltigen Kreis zog. Das Himmelsschiff wirbelte noch immer herum, und jetzt drangen die Lilane durch die Hülle, bahnten sich einen Weg durch das Metall und das Glas und brachten mit dem vielfachen Schlagen ihrer Flügel die Luft im Inneren des Schiffes zum Vibrieren. Die Zeit verzerrte sich und schien in tausend Teile zu zerspringen. Jems Kristall glühte unaufhörlich weiter, ebenso der von Rajal, Cata und dem Kleinen. Sie konnten das Böse von Toth beinahe körperlich spüren. Es war fast so, als explodierten sie langsam in einem purpurnen Feuerball, doch alles, was Jem fühlte, war der glühende Kristall an seiner Brust, was er hörte, waren schrille Schreie, und was er sah, wie in einer finsteren und schrecklichen Vision, war der Vogel des Nicht-Seins, der den Himmel verdunkelte wie eine Drohung, dass das Böse, und das Böse allein, diese Welt beherrschen und sie für immer regieren würde. Die Welt war der Vogel. Der Vogel war die Welt. Dann flog der Vogel weiter. Und das Himmelsschiff stürzte ab.
Und dann? Was hast du dann getan? »Habe ich das nicht schon gesagt? Wir haben das Kind der stolzen Mutter in die Arme gelegt. Welches Glück sich auf ihrem geröteten, verschwitzten Gesicht abzeichnete, und wie sich ihre Züge veränderten, die vorher von den Mühen der Geburt verzerrt waren…« Aber dann? Was hast du dann getan? »Haben wir sie nicht mit Lob überschüttet und die Schönheit ihrer wundervollen Leibesfrucht besungen? Stolz haben wir Klein-Polty betrachtet, und ich habe auch den Vater voller Freude angesehen. Wie ich ihn um sein glückliches Schicksal beneidet habe! Wirklich, ich sehnte mich auch nach diesen… diesen… ich wollte sagen, diesen Emp27
findungen.« Also haben sich auch deine Gefühle geregt? »Sehr sogar, aber… natürlich haben sie sich geregt!« Bohne verstummte einen Moment. »Es hätte auch mitten in der Nacht sein können, doch es war helllichter Tag… Wie hell die Sonne auf dem Wasser funkelte! Die Stockenten, wie fröhlich sie geschwommen sind, zwischen dem weichen, dornigen Schilf herumgequakt haben und…« Aron, du sprachst gerade von dem Kind. »Das Kind?« Erneut stockte er. »Ja, das Kind – wie hätte es nicht glücklich sein können? Wie könnt Ihr nur fragen? Immerhin geschieht es nicht jeden Tag, dass ein Kind –« Geboren wird? Ich würde meinen, das kommt wohl recht häufig vor. »Ja, sicher, aber nicht… Poltys… Und was für ein Kind es war! Wir bemerkten sofort die Ähnlichkeit mit seinem Erzeuger. Polty lachte, ich lachte. Miss Rextel war geradezu ekstatisch vor Freude. Wie wir die kleinen stämmigen Beinchen des Kindes liebkosten, die energisch in der Luft herumstrampelten! Wie wir uns über seine dicken Händchen freuten, die erst Vaters Finger in die Faust nahmen und dann den seiner liebsten Mutter! Seine kindlichen Schreie waren die süßeste Musik, und fand er die Stockenten nicht entzückend? Natürlich haben wir seine Stirn wie üblich mit Schnaps beträufelt und so das Glück gerufen, das ein so besonderes Kind sein Leben lang begleiten muss. Und wie stolz wir seinen flammenden Flaum glatt strichen!« Er hatte rotes Haar?, fragte das Phantom. Wie Flammen? »Wie Blut… nein, nicht wie Blut.« Zum dritten Mal stockte Bohne. »Warum… warum habe ich das bloß gesagt?« Er wusste, dass er träumte. Aber wie echt dieser Traum wirkte! Sein Herz hämmerte schmerzhaft in seiner Brust, als er dieses Wesen in seiner wehenden, schwarz-grauweiß gestreiften Robe und das Licht ansah, das an der Stelle erstrahlte, an der eigentlich das Gesicht hätte sein sollen. Wieder ertönte die Stimme, weich und zärtlich, und 28
jetzt spürte Bohne, wie etwas in ihm zerbrach. Das Entsetzen packte ihn, aber er musste weiterhin starren, fasziniert und zitternd. Blut, flüsterte das Wesen. Es muss doch Blut geflossen sein. Komm schon, war da, nicht Blut? Viel Blut? Ströme von Blut? »Bei einer Geburt?«, fragte Bohne. Er spürte, wie etwas hinter seinen Lippen brannte, ein Geheimnis, das in die Welt hinausdrängte. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. »Blut!«, brach es aus ihm heraus. »Es war finsterste Nacht, und sie sagten Gebete, und alles schrie, und ein Messer sauste blitzend herab…« Ja, und das Blut, all das Blut!, zischte das Phantom. Erinnere dich daran, wie es spritzte, wie es in einem starken Strahl emporschoss… »Nein! Ich… nein! Kaiserin, was sagt Ihr da?« Bohne hatte das Gefühl, als würde sein Herz explodieren. Kaiserin? Warum nannte er das Phantom Kaiserin? Erinnere dich, intonierte sie. Aron, erinnere dich! »Niemals!« Das war eine andere Stimme. »Niemals!« Bohne wachte auf. War er in seiner eigenen Kammer? In seinem eigenen Bett? Das Tageslicht dräute schon rötlich hinter den Vorhängen. Ja, er war wieder in Poltys Quartier, aber Bohne hätte nicht sagen können, wie er dorthin gekommen war. Er fühlte sich, als wäre er verprügelt worden. Er stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht. »Niemals.« Wieder diese Stimme. »Niemals.« »Polty?« Bohnes Stimme klang gebrochen, fast wie die eines Kindes. Er sah den Umriss seines Freundes, der mitten in der unordentlichen Kammer stand. Etwas glänzte in seiner Hand, eine Schnapsflasche, er nahm einen Schluck daraus und warf sie dann verächtlich zu Boden. »Po… Polty? Polty?« Polty drehte sich um. Er zitterte, was nicht verwunderlich war. Er trug nur ein Hemd, und im Kamin brannte kein Feuer. Aber eines war unerhört: Polty wach und Bohne noch in den Federn! Bestürzt murmelte der unglückliche 29
Offiziersbursche Entschuldigungen und krabbelte aus dem Bett, als wollte er mit seinen gewohnten Pflichten beginnen. Doch Polty hielt ihn am Arm fest. »Es ist alles vorbei, Bohne.« »Wa… was meinst d… du damit, Po… Polty?« Bohne klapperten die Zähne. Ein kalter Wind pfiff durch den Kamin herein, und Schneeflocken klatschten unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Doch innerlich fror Bohne noch viel mehr. Natürlich war ihm klar gewesen, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Wie denn auch? Aber jetzt fürchtete er sich schon allein vor dem Gedanken an jede Veränderung. Poltys Stimme klang hohl, und er hatte dunkle Schatten unter den Augen. »Glaubst du, ich könnte ihm noch länger dienen? Einfach weitermachen, nach allem, was er mir angetan hat? Verstehst du denn nicht, Bohne? Ich war ein Narr… ein verblendeter Narr, und nachdem er jetzt meinen Sohn ermordet hat…« »Polty, es tut mir so Leid… Polty, ich…« »Er hat mich benutzt, das ist alles.« Die Stimme klang so hohl, als käme sie aus einem tiefen Brunnen. »Wahrscheinlich hast du es immer schon geahnt, nicht wahr, Bohne? Hast du wirklich jemals geglaubt, dass er mich wieder vollkommen machen würde? Ha! Es wäre lachhaft, wirklich zu albern, wenn es da nicht…« Polty verstummte. Bohne wurde von Sehnsucht gepackt. Er trat zu seinem Freund. Jetzt, dachte er, jetzt muss ich ihn umarmen, ihn festhalten, ihn trösten, wenn er um die Zerstörung seines Körpers weint, um seinen toten Sohn, einfach um alles. Polty jedoch drehte sich abrupt um und schritt durch die heruntergekommene Kammer. Dabei trat er auf einen Mantel, gegen einen Teller und einen scheppernden Nachttopf, dessen Inhalt gefährlich schwappte. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, und sein Hemd flatterte um seine fetten Schenkel. »Ich weiß, was wir zu tun haben. Du auch, Bohne?« Seine Stimme klang plötzlich anders. Die lähmende Trauer 30
war daraus verschwunden und von einer fieberhaften Erregung ersetzt worden. Er blieb am Fenster stehen und zog die Vorhänge zurück. »Wir werden ihn verlassen«, sagte er. »Wir gehen einfach, Bohne, nur du und ich. Und weißt du, wohin wir gehen?« »Wohin denn, Polty?« Jetzt war auch Bohne aufgeregt. »Ich habe über Cata nachgedacht«, erklärte Polty und drehte sich wieder um. Seine Silhouette zeichnete sich schattenhaft gegen das helle Fenster ab. »Sicher, ich denke immer über sie nach, das stimmt, aber jetzt habe ich etwas begriffen, was mir bisher nicht klar war. Ich weiß, wo sie sich versteckt. Mir ist nur nicht klar, warum ich das nicht schon früher erkannt habe.« Er grinste. »Komm schon, Bohne! Kannst du es nicht erraten? Ist es nicht vollkommen offensichtlich?« Nicht für Bohne. »Ich… ich…« »In Irion!« Poltys Augen leuchteten triumphierend. »Ich bin mir ganz sicher, Bohne. Was ist Cata denn im Grunde ihres Herzens anderes als ein einfaches Kind der Natur? Sie ist nach Hause gegangen, zurück zu ihrem verrückten alten Vater…« »Aber was ist mit Jem, dem Krüppel? Ist sie nicht… War sie nicht mit ihm…?« Polty machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, Bohne, was bedeutet der schon meiner Herzensschwester? Cata hat diesen verkrüppelten Kerl nie geliebt, nicht einen einzigen Moment. Sie hat mich nur gequält, das ist alles, sie hat nur so getan. Natürlich wollte sie mich eifersüchtig machen. Und meine Liebe prüfen. Wenn du so viel von Frauen verstehen würdest wie ich, Bohne, wärst du schon längst hinter ihre Schliche gekommen. Und diese Jagd ist nichts anderes als ein Teil des Vergnügens!« Polty lachte. »Armer Bohne, du bist so naiv! Sie soll den Krüppel geliebt haben? Cata? Niemals!« Er nahm seinen Marsch durch das Zimmer wieder auf. »Aber der augenlose Silas? Dieser verrückte alte HalbVaga? Um ihn wird sie sich kümmern!« Bohne war jetzt vollkommen verwirrt. »Kann er denn noch am Leben sein?« 31
Polty verdrehte die Augen. »Ich sage dir, Bohne, Cata ist wieder in Irion, und genau deshalb fahren wir dorthin. Wir reisen noch heute ab. Ach, Bohne, ich habe alles ganz klar vor Augen, du nicht? Die Burg, der Tempel, der Träge Tiger… der Dorfanger, der Wildwald, der Fluss…« »Und Stockenten? Meinst du, dass es da auch Stockenten gibt?« »Was denn? Ach so, ja, Hunderte. Bohne, was meinst du wohl, ist aus deiner alten Hure von Mutter geworden? Wynda wird es doch wohl immer noch gut gehen, meinst du nicht auch? Sie wird uns noch überleben, ganz bestimmt… Und der alte Wolveron? Ach, für diesen kernigen alten Halunken hatte ich immer schon eine Schwäche…« »Tatsächlich, Polty?« »Aber natürlich! Ist er nicht Catas Vater? Oh, er wusste, dass ich immer auf seiner Seite gestanden habe! Schließlich ist er ein Magier, hab ich Recht? Nein, Bohne, ich will keine Einwände hören. Schließlich hat er doch dafür gesorgt, dass der Krüppel wieder gehen konnte, stimmt’s? Wer sonst, wenn nicht er? Und wenn er einen Krüppel wieder gehen machen kann, kann er doch sicher auch Penge wieder an seine angestammte Stelle verpflanzen, hm? Für den augenlosen Silas dürfte das ein Kinderspiel sein…« Bohne staunte. »Glaubst du denn, dass er das tun wird, Polty?« »Wenn er erfährt, dass ich seine Tochter heiraten will? Sei kein Narr, Bohne! Wie ich mich danach sehne, sie wieder in die Arme zu schließen! Und sie, sie muss sich ja genauso nach mir verzehren. Ihr Herz wird vor Liebe zu mir überfließen, wenn ich in die Höhle ihres Vaters spaziere! Stell dir nur vor, wie viele Söhne wir haben werden, Bohne, und Töchter natürlich auch. Schluss mit diesem erbärmlichen Leben… Nach Hause, Bohne! Wir fahren nach Hause.« Bohne nickte. Er hatte Tränen in den Augen. Während Polty sprach, war der schlaksige Kerl auf die Knie gesunken, als wollte er beten. Bilder von Irion schossen ihm durch den Kopf. Er schwankte, vergaß Toth, vergaß alles, was in der letzten Nacht geschehen war. Nach Hause, wie32
der nach Hause zu kommen! Mit dem lieben, teuren Polty! »Schnell, wir müssen packen!« Polty war plötzlich von Tatendrang erfüllt. »Wir haben eine lange Reise vor uns, die sehr schwierig werden wird. Wir sind schließlich Deserteure und müssen uns versteckt halten. Wo ist meine Hose? Und Penge? Schnell, Bohne, schnell!« Aber Bohne brauchte keine weitere Aufforderung. Er hastete bereits durch das schmutzige Gemach und raffte willkürlich alles zusammen, was sie möglicherweise brauchen könnten. Jacken und Mäntel, Zahnpuder und Rasiermesser, Handtücher und Feldflaschen. Derweil zwängte sich Polty mühsam in seine Hose. Er schnappte sich Penge und umklammerte liebevoll das schwappende Glas. Der gute alte Penge. Was für eine wunderbare Vorstellung, dass er bald wieder an seinem angestammten Platz und bereit für die Hochzeitsnacht sein würde! »Komm schon, Bohne, trödel nicht herum!« Bohne stopfte Bettwäsche in einen Seesack. »Polty, einen Moment noch. Wohin gehen wir?« »Nach Irion, Bohne, nach Irion!« »Aber vorher? Bevor wir…?« »Komm endlich, Bohne!« Polty schritt zur Tür. Wo war sein Umhang? Und seine Stiefel? Bohne musste lachen. »Ach, Polty, Polty…« Jemand klopfte an die Tür. »Wer kann das sein?« Polty drehte sich verärgert um. »Wimmle sie ab, Bohne. Und zwar schnell!« Bohne öffnete die Tür. Und schnappte nach Luft. Er kam nicht dazu, sie zu schließen, selbst wenn er die Geistesgegenwart besessen hätte, denn die Gestalt, die im Korridor gewartet hatte, drängte sich rasch an ihm vorbei in das Gemach. Polty war beunruhigt. »Wer ist das, Bohne? Wer ist das?« Ihr ungebetener Gast trug ein schwarzes Kostüm, das nicht das kleinste Fleckchen Haut unbedeckt ließ. Hinter ihm bauschte sich im Gehen ein Fellcape, das wie ein Flügelpaar geschnitten war. Seine Maske war mit spitzen Federn geschmückt, und winzige Juwelen glitzerten überall 33
auf seinem eleganten, glatten Kostüm. »Das ist… der Falke der Finsternis.« Bohne schluckte. »Er kommt vom Würger, das heißt, ich meine, er war gestern Nacht dort. Das war… Das ist sein Kostüm für den Vogelball.« Polty bemühte sich redlich, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Aber warum sollte er überhaupt Angst haben? Empört, wie er war, hätte er den Eindringling gern vor die Tür gesetzt, aber der Bursche war wirklich ziemlich beeindruckend. »Also? Was wollt Ihr?«, verlangte Polty zu wissen. »Es ist unser Meister, der etwas von dir will, Polty« Die Stimme klang ironisch. »Unser… unser Meister?« Polty wich zurück. »Ihr… Ihr seid ein Diener von Toth?« »Aber natürlich bin ich das, Polty Ich muss allerdings zugeben, dass ich längst nicht so lange in seinen Diensten stehe wie du oder unser schlaksiger Freund hier. Lange Zeit wusste ich nicht einmal, wer er ist. Und von dir und ihm wusste ich überhaupt nichts. Aber ich war ja immer schon etwas langsam, hab ich Recht? Jedenfalls im Vergleich zu dir. Wie lautet noch mal die Mär von diesem legendären Wettlauf, den nicht der Schnellere gewinnt? Steht darüber nicht etwas in den Annalen von Imral? Du weißt schon, in diesem Buch, das die Unangesen ständig zu Rate ziehen? Das wurde allmählich ganz schön ermüdend, hab ich Recht?« Während er sprach, schlenderte der Fremde durch das Gemach und ließ seinen flinken Blick mal hierhin und mal dorthin gleiten. Polty zitterte, und Bohne sank auf einen Stuhl. Diese Stimme! Ihm kam diese Stimme irgendwie bekannt vor. Und zwar nicht nur von letzter Nacht. »Ihr scheint…«, stammelte Polty, »Ihr scheint mich gut zu kennen. Ich nehme an… Vermutlich hat Toth Euch – « »Oh, Toth brauchte mir nicht viel zu erzählen. Sind wir nicht Freunde, Polty? Alte Freunde?« »Polty!«, rief Bohne. »Diese Stimme… Es ist…« Aber Polty hatte dem Fremden bereits die Federmaske heruntergerissen. 34
Er keuchte und wich stolpernd zurück. Hinter der Maske kam ein ekelhaft entstelltes Gesicht zum Vorschein. Die Haut war verbrannt und vernarbt. Die wimpernlosen Augen glitzerten, und der lippenlose Mund klaffte in einem grotesken Grinsen auseinander, als sich das Geschöpf erst zu Bohne und dann wieder zu Polty umdrehte. »Was habt ihr denn, meine guten Freunde? Erkennt ihr mich nicht mehr? Erkennt ihr etwa Jac Burgrove nicht, den bestaussehenden Junggesellen von Varby? Aber nein, das könnt ihr vermutlich auch nicht. So etwas passiert mit einem, wenn man ihn bei lebendigem Leib verbrennen lässt!« »Jac!«, stieß Polty entsetzt hervor. »Jac, ich habe nicht… Jac, ich dachte…!« Jac Burgrove sprach gelassen weiter. »Du hast mich in Unang Lia meinem Tod überlassen, Polty Du hast mich in dieser Zelle in Qatani unter dem Khan des Halbmondes im Stich gelassen. Du hast mich einfach zurückgelassen, als das Feuer tobte. Du hast dich selbst gerettet und sogar Bohne, aber an deinen alten Freund Jac hast du nicht gedacht.« Polty fiel nichts ein, womit er sich hätte verteidigen können. Angewidert wandte er sich ab. Er umklammerte Penge in seinem grünen, schwappenden Glas. Mr. Burgrove trat zu ihm und redete in seinem beiläufigen Plauderton weiter. »Vermutlich war es ganz gut, dass ich Toth begegnet bin, hab ich Recht? Oh, nach dem Feuer war ich ziemlich übel zugerichtet. Die Wachen, die mich gefunden haben, gaben keinen Pfifferling darauf, dass ich überleben würde. Es ist mir aber trotzdem gelungen, und dann habe ich auch irgendwie eine Passage von Unang Lia ergattert. Ich musste mich tief unten im Frachtraum des Schiffes verstecken, damit mich nicht zufällig jemand sah und vor Entsetzen aufschrie. Blutet dein Herz nicht für mich, Polty? Was für ein Schicksal den alten Jac ereilt hat! Weißt du noch, wie sich die Ladys in Varby jedes Mal ihre hübschen Köpfchen verdreht haben, wenn er vorüberging? Ich glaube, du hast 35
ihn beneidet, stimmt’s, Polty?« »Jac, ich…« Poltys Kehle war wie ausgedörrt. »Ach, mach dir keine Gedanken, alter Freund!« Der lippenlose Mund lachte. »Wir machen alle Fehler, wenn wir jung sind, hm? Und sind wir nicht außerdem längst quitt?« »Quitt? Was meinst du damit?« Mr. Burgrove deutete auf Penge. »Ich meine, Polty, dass wir beide für die Ruchlosigkeit unseres früheren Lebens bestraft worden sind. Und ich meine auch, dass wir beide darauf warten… wiederhergestellt zu werden. Das ist doch unsere Belohnung, nicht wahr? Wir werden sie schon bald bekommen. Denk daran, die Herrschaft unseres Meisters steht unmittelbar bevor!« »Ich…« Die Verzweiflung drohte Polty zu übermannen. »Jac, du darfst ihm nicht glauben! Jac, begreifst du denn nicht…?« »Wir sind seine Diener, Polty! Dem können wir nicht entrinnen!« »Nein…!« Was Polty als Nächstes tun wollte, hätte er nicht zu sagen gewusst. Vielleicht wollte er erneut leidenschaftlich um Abbitte flehen, vielleicht wollte er sich auch in der Hoffnung auf Mr. Burgrove stürzen, ihn überwältigen und Toth so entkommen zu können. Jedenfalls stolperte er, und das Penge-Glas rutschte ihm aus dem Arm. »Nein!«, schrie Bohne, und auch Polty schrie auf. Sofort waren beide auf den Knien und krabbelten in der Flüssigkeit und dem zerbrochenen Glas herum. Ein fauliger Gestank erfüllte die Luft. Wo war Penge? Jemand lachte. Sie blickten entsetzt auf. Wie konnte das sein? Mr. Burgrove hatte sich weder gebückt noch hingehockt, und doch hing das kostbare Ding, das in dem Glas geruht hatte, pendelnd und tropfend an der Hand ihres alten Freundes herunter. Die lange Vorhaut war gedehnt und beinahe durchscheinend, als er sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Polty streckte die Hand aus, aber eine Glasscherbe drang ihm ins Knie. 36
Er schrie auf und krümmte sich. Jetzt begann die Vorhaut zu reißen. Es war schrecklich. Mr. Burgrove jedoch lächelte nur und packte das Organ stattdessen an seiner abgetrennten Wurzel. Polty wimmerte leise, und Bohne sah staunend zu, als sich das zerstörte Gesicht jetzt zurückneigte und die behandschuhte Hand sich hob. Wie ein dicker, schleimiger Aal schwebte Penge über dem lippenlosen Mund. »Also«, sagte Mr. Burgrove beinahe träumerisch. »Er hat seinen alten Freund hilflos dem Feuer überlassen… Und als wäre das nicht genug, hat er auch noch den Vater seines alten Freundes totgeschlagen…« »Deinen Vater? Jac, was willst du damit…?« »Was denn, du hast ihn schon vergessen? Du hast den Würger vergessen?« »Der Würger ist dein…? Aber Jac, wenn ich das gewusst…!« »Meine Güte, was für ein schlechtes Gedächtnis«, fuhr Mr. Burgrove ungerührt fort. »Allerdings darf ich wohl annehmen, dass du dieses Ding hier nie vergessen hast, oder? Und du wirst es auch niemals vergessen.« Das aalähnliche Ding senkte sich dichter zu den Lippen herunter, immer dichter. »Ach, Polty, wie stolz du immer auf diese Fleischrolle warst, wie vollkommen unmäßig, wahnsinnig stolz…« »Nein!«, wimmerte Polty. Aber Penge hatte sich bereits aus den behandschuhten Fingern gelöst und war in einer gleitenden, beinahe eleganten Bewegung Mr. Burgroves Kehle hinuntergerutscht. Stille. Aber sie war nicht vollkommen. Der Wind heulte eiskalt über den Schnee, und in sein Heulen mischte sich, fast noch eisiger als der Wind, eine geheimnisvolle, lockende Musik. Rajal schlug die Augen auf. Er stolperte im Schnee herum. Wie war er hierher gekommen? Die Musik faszinierte ihn, und er schaute hoch, starrte auf die eisbedeckten Gipfel der Berge. Wo steckten 37
die anderen? Und wo war das Himmelsschiff? Er drehte sich um. Berge, wohin man blickte. Aber war da nicht ein ganz besonderer Berg? Sein Gipfel war perfekt symmetrisch, wie der elegante Bogen eines Tempelfensters; gleichzeitig schien er jedoch von einer unheilvollen Macht beseelt… Jetzt überkam Rajal das Gefühl, dass dies alles nur eine Vision war, ein Traum… nein, das war nicht die reale Welt des Wachens. Sein Blick verschwamm, und die unheimliche Musik verzerrte sich. Dieser perfekte Berggipfel rief ihn, mit einer klaren, kalten Stimme. Beunruhigt wollte Rajal fortlaufen und sich verstecken, als wären die Berge vernunftbegabte Wesen, die ihn sehen konnten. Stattdessen fühlte er, wie der Kristall des Koros ungebeten unter seinen dicken Pelzen pulsierte. Der Edelstein antwortete auf den Ruf. Das purpurne Licht schien sich durch die Pelze zu brennen und schickte seine Strahlen in den gleißenden Schnee hinaus. Rajal keuchte und wand sich vor Schmerzen. Diese Schmerzen waren real, selbst wenn diese Szene einfach irreal sein musste. Sinnlos schlug er um sich, als ihm die Lilane auffielen, die sich um ihn scharten und schrien. Er sank auf die Knie. Und dann sah er in der Wolke der umherflatternden Lilane, in dem Schnee, der sich plötzlich zu einem wahren Schneetreiben steigerte, die Gestalt eines Mannes, die langsam auf ihn zukam. Furcht wallte in Rajal auf, eine Furcht, die noch weit schlimmer war als der Schmerz. Es war, als wäre ihm vollkommen klar, was passieren würde, als wüsste er es mit einer Sicherheit, die er nicht verleugnen konnte. Aber wie konnte das sein? Es war doch nur eine Vision. Nur ein Traum. Mittlerweile war die Gestalt deutlicher zu erkennen. Die Lilane waren verschwunden, und das Wesen rauschte und schimmerte wie ein purpurner Geist, fast als wäre es aus diesen bedrohlichen Vogelwesen zusammengesetzt, wie zu einer einzigen Verkörperung des Bösen verschmolzen. Eine Hand streckte sich ihm entgegen, eine flatternde Hand. Rajal wüsste, dass er ihr nicht widerstehen konnte. 38
Er versuchte die Hand wegzuschlagen, einmal, zweimal, doch dann schien ihn plötzlich alle Kraft verlassen zu haben. Er stöhnte und schluchzte. Die merkwürdige Musik klang immer noch in der Luft, und in sie eingebettet hörte er ein lockendes, spöttisches Rajal, Rajal… Rajal, Rajal. Diesmal konnte er die Hand nicht abwehren. Sie flatterte, flatterte… Rajal spürte, wie die Phantomfinger sich durch seinen dicken Mantel wühlten, spürte, wie sie zerrten und rissen. Er schrie. Gelächter schien ihn einzuhüllen, und in dem Lachen und in der Musik hörte er immer noch das spöttische: Rajal, Rajal… Dann plötzlich veränderte sich die Stimme: Raj, Raj… Mmm. Mmm… Wann hörte das endlich auf? Die Kriegslords ignorierten die Geräusche. Oder taten zumindest so. »Ein schönes Gemach? Allerdings.« Baron-Admiral Aynell drehte sich seufzend um und ließ seinen Blick über die schweren, gemusterten Teppiche gleiten, über das purpurne Leder, über die Vorhänge, die das kalte Tageslicht fern hielten. »Als ich mein Eheweib zum ersten Mal besucht habe – natürlich war sie da noch nicht mein Weib –, hat sie mich, wenn ich mich recht entsinne, in einem ganz ähnlichen Gemach empfangen.« »In ihrem Privatgemach?«, erkundigte sich der PrinzElector. »Privatgemach? Was wollt Ihr damit andeuten, Sir?« Mmmm, machte der Erste Minister. Also wirklich, wie lange sollte das noch dauern? Der Prinz-Elector lachte unbekümmert und strich sich über seinen Schnurrbart, für den er berühmt war. Bis jetzt hatte er die Formen der Höflichkeit gewahrt, doch jetzt langweilte er sich und gestattete sich ein wenig Übermut. Nur ein kleines bisschen. »Admiral«, erwiderte er langsam, als spräche er zu einem Kind. »Ich habe nicht auf eine Latrine angespielt, sondern auf einen Raum wie diesen, ein Gemach, in das sich die Mächtigen und Großen zurückziehen. Und war Eure 39
Gemahlin nicht die Tochter eines großen Mannes?« Aynell kniff die Brauen zusammen. Als einfacher Seebär, so nannte er sich etwas abwertend gern selbst, hatte er sich nie so recht an dieses geistreiche Geplänkel der Stadt gewöhnen können. Und er hatte auch nicht vor, es zu tun. Aber was konnte der Prinz-Elector meinen? Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, der Baron-Admiral habe seine Stellung durch diese sehr vorteilhafte Heirat erlangt. Was auch den Tatsachen entsprach. Aynell wiederum fühlte sich durch dieses Gerücht verleumdet, was ebenfalls nicht verwunderlich war. Hätte er sich hier nicht im Arbeitszimmer des Ersten Ministers befunden, hätte er den Prinz-Elector sicher zur Rede gestellt. Der Bursche war ein ehrloser Geck, und sein Schnurrbart kringelte sich angeblich derart perfekt nur aufgrund eines Musketenschusses in der Schlacht von Bajari. Aynell hatte den Mann schon immer verachtet. Er schnaubte, und der Prinz-Elector verzog das Gesicht. Dann deutete er auf das Gemälde über dem Kaminsims, als wolle er fragen, ob ein solches Gemälde mit seinen wimmelnden Echsen, den Schlangen, den Schildkrötspinnen, den Giraffenkäfern und den anderen Missgeburten – ja, das war das richtige Wort – wohl nach dem Geschmack der zarten, sanften Baroness Aynell wäre. Aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Plötzlich wurde der Prinz-Elector müde und richtete seine Aufmerksamkeit erschöpft auf den Weltglobus in einer Ecke. Er versetzte ihm mit seiner behandschuhten Hand einen Stoß und ließ ihn kreiseln. Mmm, summte der Erste Minister. Wie lange sollte das noch dauern? Die Olton-Uhr tickte, die Lampen zischten, und das Feuer knisterte. Lord-General Gorgol stand am Fenster und spähte durch einen Spalt in den Vorhängen hinaus. Der gleißende Schnee blendete ihn, und er kniff seine schmutzig braunen Augen zusammen. Am Buchregal blätterte Varby von und zu Holluch, das Monokel ins Auge geklemmt, gelangweilt die Gesetzbücher durch. Merkte er, dass einige Seiten herausgerissen waren? Er merkte es 40
allerdings, klemmte sich jedoch nur das Monokel etwas fester ins Auge. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte diese Angelegenheit ihn gewiss mehr beunruhigt. Doch jetzt gab es andere Dinge, die ihn alarmierten. Ernst ließ er das schwere Buch sinken. Sollten sie nicht noch einmal den Ersten Minister auf sich aufmerksam machen? Sie hatten zwar eingewilligt zu warten, aber konnten sie wirklich noch länger warten? Varby von und zu Holluch brauchte jedoch nichts zu sagen. Auf der Treppe waren schwere Schritte zu hören, und dann schwang die Tür auf. Die Wache schlug die Hacken zusammen, und Generalmajor Heva-Harion kam herein. Prinz-Elector Jarel hob eine Braue. In letzter Zeit hatte Mander Heva-Harion ein wenig – nein, mehr als nur ein wenig – von seiner gewöhnlichen Gelassenheit verloren. Und er schien sie auch jetzt nicht wiedererlangt zu haben. Er rückte seine Perücke gerade und wischte sich die Stirn. Die Anwesenden warteten auf seine Entschuldigung, auf die atemlos vorgetragene, endlose Litanei von Verzögerungen, die ihn aufgehalten hatten, wie es schon die anderen vor ihm getan hatten. Die Aufregung auf den Straßen, die Verwirrung, die in der ganzen Stadt herrschte. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen riss der Generalmajor die Augen und den Mund vor Staunen weit auf. Verwirrt sah der Prinz-Elector zu, wie sein bürgerlicher Kollege die Szene in sich aufnahm, die sich ihm bot. Sein Blick glitt zwischen den versammelten Kriegslords und dem Ersten Minister hin und her, der mit gekreuzten Beinen am Feuer saß, regungslos wie eine Statue, und die langen Finger gegen den rasierten Schädel gepresst hatte. »Geht es… geht es ihm gut?«, erkundigte sich der Generalmajor flüsternd. Der Prinz-Elector zuckte mit den Schultern und dachte gar nicht daran zu flüstern. »Er benimmt sich so, seit wir hier sind. Allmählich wird es ein wenig langweilig.« »Aber… aber wir müssen etwas unternehmen!« »Was können wir denn schon tun?«, blaffte Aynell gereizt. »Er muss uns anhören, und zwar jetzt!«, rief Gorgol mit 41
seinem gutturalen Derkold-Dialekt. Man hatte immer den Eindruck, dass er Schleim im Hals hatte. Er überragte seinen mit gekreuzten Beinen dasitzenden Herrn wie ein Bär. »Euer Exzellenz, versteht Ihr denn nicht? Die Rebellen ziehen ihre Truppen zusammen, und unsere Männer desertieren… Ejard Rot, wenn er es denn wirklich ist, verlangt, dass wir verhandeln. Oder Agondon, so droht er, wird dem Erdboden gleichgemacht! Die Zukunft unserer Stadt, nein, unseres ganzen Reiches steht auf dem Spiel!« Gorgol wollte weiterreden, aber es war sinnlos. Der Erste Minister summte tonlos weiter, ohne die Augen zu öffnen oder auch nur zusammenzuzucken. Er stieß bloß unaufhörlich dieses Mmmm aus… »Das reicht!«, brauste Varby von und zu Holluch auf und ging zur Tür. »Was bleibt uns anderes übrig, als anzunehmen, dass Tranimel verrückt geworden ist? Was können wir anderes glauben, als dass seine Herrschaft zu Ende ist? Wo ist der König? Wir müssen mit dem König sprechen…« »Kommt zurück, Ihr Narr!«, fauchte Gorgol ihn an. »Wir sind schließlich die Kriegslords, oder nicht? Sind wir nicht dafür verantwortlich, und zwar nur wir, dass die Sicherheit dieses Reiches gewährleistet bleibt? Welchen Sinn macht es da, an andere Autoritäten zu appellieren? Vergesst den Ersten Minister! Vergesst den König! Die Feiglinge in unseren Reihen mögen vielleicht zu den Rebellen übergelaufen sein, aber wir stehen immer noch an der Spitze einer mächtigen Armee. Denkt an die Schlacht von Wrax! Denkt an den Grünen Thron-Prätendenten! Was können die Rebellen schon gegen die Macht der Blauröcke ausrichten? Ich sage, wir greifen an! Und zwar auf der Stelle!« Heva-Harions Gesicht hatte die Farbe von Roten Beeten angenommen. »Gorgol, Ihr seid hier der Narr! Sollten wir unsere Stadt und die fruchtbaren Hügel um sie herum der Verwüstung preisgeben? Wenn wir jetzt angreifen, würden wir damit nur die Bedrohung durch die Rebellen zugeben. Ich habe es schon früher gesagt und sage es noch einmal: Wir müssen heimlich vorgehen, diesen angeblichen Ejard Rot ergreifen und ihn als den Schwindler entlarven, der er 42
ist. Das ist eine Aufgabe für Spezialagenten. Wir müssen nach außen hin verhandeln oder zumindest so tun, als wären wir dazu bereit.« »Und vielleicht«, sagte der Prinz-Elector hinterhältig, »können wir ja auch anbieten, Seine Kaiserliche Agonistische Majestät auszuliefern?« »Den König ausliefern? Das ist Hochverrat!« Aynell war mit seiner Geduld am Ende. Der Prinz-Elector verdrehte die Augen. »Also wirklich, können wir nicht einmal Taktiken und Strategien diskutieren? Beruhigt Euch, Konter-Admiral!« »Baron-Admiral«, verbesserte ihn Aynell beleidigt. »Ach wirklich? Vielleicht war Euer früherer Titel doch erheblich passender?« »Ihr verweichlichter Trottel…!« »Meine Herren, meine Herren, also wirklich«, warf Varby von und zu Holluch beschwichtigend ein. »Seht doch!«, rief Heva-Harion. Die Kriegslords blickten auf ihren weiß gekleideten Anführer. Falls es überhaupt noch ihr Anführer war. Die ganze Zeit über hatte Tranimel weitergesummt: Mmmm, Mmmm… Es war zum Verrücktwerden. Aber jetzt passierte noch etwas anderes. Die Gestalt erhob sich im Lotussitz von der Erde und stieg langsam, aber stetig in die Luft. »Das… das glaube ich nicht!«, stammelte Gorgol. Varby von und zu Holluch schluckte schwer. »Er… er dreht sich!« Die Kriegslords wichen zu den Buchregalen zurück, während Tranimel auf sie zukreiselte. Er hatte die Augen geöffnet, und sie strahlten in einem unirdischen Licht. Hinter ihm loderte das Feuer im Kamin hoch auf. Es war gespenstisch. Die Lampen zischten und fauchten, und die Vorhänge bauschten sich. Und das Bild über dem Kaminsims! Die schrecklichen Kreaturen schienen beinahe aus dem Rahmen zu springen, als sie sich wanden und übereinander krochen, sich schlugen und der Eiter des Bösen ihnen aus allen Poren quoll. Der Prinz-Elector sank vollkommen entsetzt auf die Knie, Varby von und zu Holluch versuchte, zur Tür zu gelangen, stürzte 43
jedoch und presste die Hände auf die Brust. Gorgol brüllte heiser und wollte sich auf Tranimel stürzen, aber eine unsichtbare Kraft warf ihn zurück. Mmm, Mmm. Das Summen war jetzt lauter, beinahe ein Dröhnen. Und obwohl es nicht aufhörte, sprach Tranimel jetzt. Seine Augen blitzten. Das Gemach schien zu schwanken, und plötzlich umflatterten ihn Phantome, nahezu transparente Vogelwesen, die purpurn glühten. Dann kreuzte der Schatten einer anderen Kreatur die Kammer, obwohl das eigentlich unmöglich war. Dieses ungeheure Wesen und das Donnern seiner mächtigen Schwingen erfüllten den Raum. Die Kriegslords krümmten sich und gingen in Deckung. »Oh, ja, die Zeit ist gekommen!«, ertönte eine boshafte Stimme. »Ach, meine Hübsche, ich bin jetzt bei dir! Flieg, Schönchen, flieg zu den geheimnisvollen Bergen! Ja, und siehst du ihn, dort in dem Weiß? Schwankt der Vaga? Fällt der Vaga? Er muss, er muss! Du bist ein Narr, Vaga, wenn du glaubst, das Schicksal gewährte dir eine Beute, die von Rechts wegen mir gebührt, mir, sage ich! Denn was bist du schon, Vaga, was kannst du jemals anderes sein als der niederste Sklave im Dienst meines Ruhmes? Eine Weile habe ich dich in dem Glauben gelassen, dass der purpurne Stein dir gehört. Aber nur eine gewisse Zeit, und diese Zeit ist jetzt abgelaufen! Oh, ja, ich sehe dich im Schnee. Und jetzt, während meine Hübsche weiter oben die Himmel durchschneidet, strecke ich diese imaginäre Hand aus… Sagte ich imaginäre? Nein, denn ich imaginiere sie nicht mehr nur!« Er streckte die Hand aus, krallte seine Finger zu einer Klaue und schien etwas aus der Luft zu klauben. Ekstatisch warf er den Kopf in den Nacken und stieß stöhnend einen Namen aus – Rajal, Rajal! –, während um ihn herum die Musik chaotisch anschwoll. Purpurfarbenes Licht umhüllte ihn, und plötzlich zuckte ein blendender Blitz durch den Raum. Dann herrschte wieder Ruhe, eine beinahe vollkommene Stille, bis auf das Knistern des Feuers, das Zischen der Lampe und das leise Klicken der Olton-Uhr. 44
Als die Kriegslords aufblickten, sahen sie, dass ihr Führer, der er ganz zweifellos immer noch war, die Beine zum Boden ausstreckte. Ein schwaches Lächeln huschte über sein asketisches Gesicht, und in seiner Hand hielt er einen purpurnen Kristall. Die Blicke der Lords klebten wie gebannt an ihm. Einen Moment glühte der Kristall mit einem inneren Leuchten, doch dann erlosch dieses Licht, und der Kristall war nur noch ein matter, dunkler Stein. Gleichmütig ließ der Erste Minister ihn in seinen Roben verschwinden. Dann wandte er sich dem Bild über dem Kaminsims zu, auf dem die Monster jetzt wieder vollkommen reglos waren. Beinahe traurig blickte er auf die GeierFledermaus, die Schildkrötspinne, den Hydra-Wolf. Als er sprach, klangen seine Worte unbeteiligt, fast ironisch. Aber sie genügten, um Gehorsam von seinen erstaunten Dienern zu verlangen. Immerhin waren es die Worte, nach denen sie sich die ganze Zeit gesehnt hatten. »Aber, meine Lords, muss ich mich etwa fragen, weshalb Ihr noch zögert? Seid Ihr denn keine Männer und noch dazu Ejländer? Gibt es etwa nicht einen Krieg zu gewinnen? Sputet Euch und bereitet Euch auf die Schlacht vor! Ein großer Sieg harrt unser, und ich bin sicher, dass wir ihn erringen werden, o ja, der Sieg wird zweifellos der unsrige sein!« »Raj, wach auf!« Diesmal schlug Rajal tatsächlich die Augen auf. Er lag zusammengerollt auf der Seite im Schnee. »Jem! Aber… aber natürlich… Es war nur eine Vision… ein Traum…!« Er rappelte sich auf und versuchte, die Benommenheit abzuschütteln. »Wo… wo sind wir? Was ist passiert?« »Erinnerst du dich noch an den Moment, bevor wir abgestürzt sind? Ich habe die Luke geöffnet und sagte: Springt. Du bist gesprungen, weißt du das noch? Du und der Kleine. Na ja, genau genommen musste ich ihn hinauswerfen.« »Der Kleine?« Rajals Miene war ausdruckslos. Reflexartig presste er die Hand gegen die Brust und suchte nach 45
dem Kristall unter dem Pelz. Er drehte sich entsetzt um, weil er verhindern wollte, dass die anderen Angst in seinem Blick erkennen konnten. Der Traum! Nein, das konnte doch nicht Wirklichkeit sein, das durfte nicht sein! »Ich bin noch im Himmelsschiff geblieben«, fuhr Jem fort. »Das war ganz schön knapp, Raj. Ein Glück, dass wir in einer Schneewehe gelandet sind. Wenn wir auf einem dieser Felsen aufgeschlagen wären… Na ja, es lohnt nicht, darüber nachzudenken, hab ich Recht?« Rajal nickte. Er wurde von Schuldgefühlen gepeinigt und wollte nur eins: sie verbergen. Er sah sich ziellos um und bemerkte den Kleinen, der wie verrückt zitterte und Ejard Orange fest im Arm hielt, sowie Tishy Cham-Charing, die sich aus dem Schnee arbeitete und triumphierend ihr Buch umklammerte. Sie klemmte den kleinen Band unter ihren Arm und suchte in ihrer Tasche nach Handschuhen. Hinter ihr lag das Himmelsschiff auf der Seite, beinahe ganz von einer Schneewehe begraben. Jem berührte sacht Rajals Arm. »Raj, was Myla angeht…« Rajal wirbelte herum. Plötzlich war alles andere vergessen. »Myla? Was ist mit Myla?« »Raj«, flüsterte Jem. »Sie ist…« »Myla!« Verzweifelt stürmte Rajal zu dem Schiff. Jem wollte hinter ihm her laufen, aber da tauchte Cata neben ihm auf. »Lass ihn gehen, Jem. Er muss allein damit klarkommen.« Rajal verschwand durch die zerstörte Luke ins Innere. Jem erwartete einen gepeinigten Schrei, aber alles blieb ruhig. Vielleicht war das noch schlimmer. »Wenigstens kann er sich jetzt wieder erinnern«, sagte Jem und seufzte. »Ich habe mir einen Moment ernsthaft Sorgen gemacht.« »Er war besinnungslos, stimmt’s?« »Anscheinend. Aber Cata, was ist mit dir passiert?« »Du meinst, weil ich so geschrien habe? Oben in der Luft?« Ein schmerzerfüllter Ausdruck glitt über Catas Gesicht. »Ich weiß nicht, aber der Vogel des Nicht-Seins… Es 46
war so, als wäre er in meinen Kopf eingedrungen.« »Wie die anderen Tiere? Auf die Art, wie sie mit dir… reden?« »Ja, aber… Ach, dies hier war schrecklich, brutal und voller Tod.« Cata schüttelte sich, und Jem umarmte sie, was in seinem dicken Pelzmantel nicht ganz einfach war. »Es waren Todesqualen«, sagte sie leise. »Und ich konnte nicht widerstehen. Die Macht dieser Kreatur ist einfach… überwältigend.« »Ich weiß, ich weiß, aber wenigstens ist sie jetzt fort.« »Fort, ja, aber für wie lange?« »Ach, Cata, was sollen wir nur tun?« Cata befreite sich aus seiner Umarmung. »Natürlich diese Einsiedelei suchen, Jem, was sonst?« Ejard Orange miaute kläglich und befreite sich aus den Armen des Kleinen. »Er sucht nach dem Weidenkorb, nicht wahr?«, sagte Jem freundlich. Er hockte sich neben den Kleinen. Das Kind zitterte immer noch, und sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Das überraschte Jem nicht. Immerhin hatte der Kleine als Erster gesehen, was mit Myla geschehen war. Jem nahm die kleine, von einem Handschuh geschützte Hand in die seine und suchte nach tröstenden Worten. Aber was konnte er schon sagen? Er sah sich um. »Wohin ist Eji verschwunden?« Der große Kater tapste über einen schneebedeckten Felsen, als habe er eine Spur aufgenommen. Jem sah Cata an. Pflichtschuldig hatte sie sich um Tishy gekümmert, aber jetzt drehte sie sich verwirrt in die Richtung um, in die Ejard Orange verschwunden war. Jem folgte ihr und schließlich trottete auch der Kleine hinter ihnen her. Neugierig gingen sie um den Felsen herum. So sahen sie zum ersten Mal diesen merkwürdig perfekt geformten Berggipfel, der sich hinter den endlos scheinenden Eisflächen erhob. Fetzen einer geheimnisvollen Musik wehten zu ihnen herüber, aber nein, es musste eine Täuschung des Windes sein. Cata legte eine Hand an ihren Kopf. »Dieser Berg… Es ist fast, als würde er…« 47
»Er ruft«, sagte Jem. »Er ruft uns zu sich…« »Mein Kristall«, erklärte der Kleine. »Ich fühle, wie er pulsiert.« Cata sah Jem an, und er erwiderte ihren Blick. Unter ihren Mänteln konnten beide spüren, wie sich ihre Kristalle’ ebenfalls erhitzten. Aufregung zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. »Was grinst ihr denn alle so?«, fragte Tishy verwirrt. Sie beachteten sie nicht. »Aber es ist so schrecklich weit weg«, sagte Jem. »Und die Lilane«, fuhr Cata fort. »Sie werden sicher zurückkommen…« »Und der Vogel des Nicht-Seins? Fünf Umkreisungen…« »Was bedeutet, dass wir uns beeilen sollten…« »Und Myla? Was machen wir mit Myla?« Jem hatte Mylas Namen ausgesprochen. Der Kleine schrie entsetzt auf und sank in den Schnee. Einen Augenblick hatte er nur das bevorstehende Abenteuer im Sinn gehabt. Jetzt jedoch konnte er nur an das Los seiner armen Freundin denken. Jem tröstete den kleinen Jungen, während Cata zu Rajal in das Himmelsschiff ging. Er würde all seine Kraft brauchen, sie alle würden ihre gesamten Kräfte dringend benötigen. Aber als sie sah, wie Rajal seine Schwester umklammerte und hemmungslos weinte, brach Cata ebenfalls zusammen, so sehr sie sich auch dagegen wehrte. Myla lag zusammengesunken und reglos da. All ihre Magie war verschwunden, und sie war jetzt eine alte, eine uralte Frau.
6. Die Nacht bricht an »Zeit für Geschichten, Tishy?« Cata versuchte, jeden Sarkasmus aus ihrer Stimme zu verbannen. Der Schnee fiel in einem wehenden Schleier auf die weißen Hänge. Die kleine Gruppe hatte auf dem Weg zu dem geheimnisvollen Berg eine Rast eingelegt und 48
es sich unter einem Felsvorsprung gemütlich gemacht. Sie teilten die kargen Vorräte, die sie aus dem Weidenkorb geholt und in einem kleinen Beutel verstaut hatten. Der Kleine knabberte an einem Hähnchenschenkel, Cata aß eine Banane, die beinahe gefroren war. Jem trank einen Schluck Saft. Rajal brachte nur ein paar Nüsse hinunter. Tishy knabberte an einem Keks und öffnete eifrig ihr Buch. Fünf Stab Vier I. So kam es, dass Vater-Priester Ir-Ion und alle anderen Träger des Juwels des Krüppels im Palast ihres Gebieters wie Gefangene leben mussten. Sie mussten so tun, als wären sie blind für seine Häresien, und alles gutheißen, was er tat, auch wenn es vieles gab, was niemals hätte gutgeheißen werden dürfen. II. Und das Wichtigste von den Dingen, die niemals hätten gutgeheißen werden dürfen, war der Krieg, den Ondon jetzt erklärte: Denn wie dieser mächtigste Herrscher all die grünen und bewaldeten Länder am Rand der Welt für sich beansprucht hatte, die von dem sterbenden Gott eigentlich dem Volk der Viana, zugesprochen worden waren, so wollte er jetzt Vianas Anhänger vernichten. III. Jetzt führte Ondons Volk, das sich immer noch fälschlicherweise die Kinder des Agonis nannte, stolz schreckliche Kriege gegen seine Feinde: Lang und blutig waren die Schlachten in diesen Randländern, in deren Verlauf sie die Kinder der Viana in die Länder des Ostens zurücktrieben. IV Das bereitete dem Vater-Priester Ir-Ion höchste Kümmernis. Lange und demütig betete er zu seinem schweigenden, verschwundenen Gott, und dann kam endlich ein Zeichen von ihm: Das Juwel des Krüppels glühte auf, und in seinem heiligen Licht wurde Ir-Ion
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plötzlich klar, was er zu tun hatte. V Also sagte sich der Vater-Priester von dem irregeleiteten Ondon los und führte seine trauernden Anhänger und das Juwel des Krüppels fort: Während ihr böser Monarch immer noch seinen Krieg führte, entkamen sie und begaben sich auf eine lange und gefahrvolle Reise, die sie dorthin führte, wohin sie eigentlich von Beginn an hätten ziehen sollen, nämlich zum Kristallhimmel.
»Ist das alles?« Cata hob fragend eine Braue. »Jedenfalls bin ich so weit gekommen«, erwiderte Tishy, »bevor das Himmelsschiff abgestürzt ist. Ich brauche Zeit, um weiter zu übersetzen, aber ich werde es versuchen…« Auch wenn Jem Tishys Talent bewunderte, konnte er seine Enttäuschung kaum verbergen. Allerdings fand er es unhöflich, das auch laut auszusprechen. Cata dagegen hatte keine solchen Bedenken. Sie nahm einen Schluck Saft. »Damit erzählst du uns nicht gerade etwas Neues, hab ich Recht?« Tishy schniefte beleidigt. »Ich… Ich habe von diesem Ondon noch nie zuvor etwas gehört, ihr etwa? Oder vom Vater-Priester Ir-Ion?« Cata war nicht beeindruckt. »Das ist wirklich sehr interessant.« Sie schnitt eine Grimasse, als ihr wie allen anderen vor ihr auffiel, dass halb gefrorener Wanaya-Saft nicht unbedingt das richtige Getränk für den Kristallhimmel war. »Aber wir wissen doch, dass sich der Kristall hier oben in diesen Bergen befindet, hab ich Recht?«, fuhr sie fort. »Warum wären wir wohl sonst hier?« »Der nächste Fünf-Stab verrät uns vielleicht etwas mehr«, sagte Jem, was Cata ein wenig verstimmte. »Lass dich nicht entmutigen, Tishy. Wir wissen vielleicht, wohin wir gehen, aber viel mehr wissen wir nicht, stimmt’s?« »Was gibt es denn da noch viel zu wissen?«, fragte Rajal und beugte sich traurig über die gealterte, reglose Myla. »Was erwartet uns dort, wenn wir hinkommen?«, sagte Jem. 50
»Ob wir es überhaupt bis dorthin schaffen?«, fragte der Kleine. Der junge Unangese zitterte mehr als die anderen und war sehr niedergeschlagen. Er legte den Hähnchenknochen weg und griff nach Ejard Orange. Auch wenn der große Kater bedauernd den Knochen ansah, versuchte er nicht, sich aus den Armen des Kleinen zu befreien. Wenigstens konnten sie sich so gegenseitig wärmen. Müde machte sich die kleine Gruppe für den Weitermarsch fertig. »Wir kommen hin, wir schaffen es«, murmelte Jem. Aber insgeheim wünschte er sich, er könnte sich dessen wirklich sicher sein. Grimmig warf er einen Blick auf den geheimnisvollen Berg. Sie hatten das Himmelsschiff schon weit hinter sich gelassen, wobei sie Myla auf einer improvisierten Trage trugen, hatten Kienspan und ein Stück Seil mitgenommen und ihre restlichen Vorräte in einen Beutel gestopft. Es wurde bereits dunkel, und der merkwürdig geformte Berggipfel schien noch kein bisschen näher gekommen zu sein. »Er bewegt sich«, sagte der Kleine zitternd. »Ganz bestimmt.« »So etwas solltest du nicht einmal denken«, erwiderte Jem und griff nach der Trage. Die zerbrechliche alte Frau, die einmal Myla gewesen war, war leider trotz ihrer Gebrechlichkeit überraschend schwer. »Fertig, Raj?« »Jem, bin jetzt nicht eigentlich ich an der Reihe?«, fragte der Kleine. Er meinte es offensichtlich vollkommen ernst. »Sei nicht albern!«, fuhr Rajal ihn an. »Du bist zu klein.« Seine Worte verletzten den Kleinen. Er hatte von Anfang an die Bahre tragen wollen. »Sei nicht so gemein zu mir, Raj. Sie ist vielleicht deine Schwester, aber sie war auch meine Freundin.« »Was weißt du schon von ihr, du Rotzlöffel?«, fauchte Rajal. »Halt einfach den Mund, ja?« »Warum tust du das nicht selbst?«, erkundigte sich Cata. »Sie sollten beide damit aufhören«, mischte sich Jem 51
grimmig ein. »Er versucht doch nur, dir zu helfen, Raj. Und, Kleiner, du musst dich außerdem um Ejard Orange kümmern. Das ist doch wohl genug Verantwortung für eine Person, hab ich Recht?« Sie trotteten weiter, während die Kälte unbarmherzig durch ihre Pelze drang. Von Zeit zu Zeit fühlten diejenigen, die noch einen Kristall trugen, das Pochen der geheimnisvollen Steine, aber es dauerte nie lange und war auch viel schwächer als zuvor. Doch je dunkler es wurde, desto mutloser wurden sie auch. Sie waren von ihrem Ziel viel weiter als nur einen Tagesmarsch entfernt, das wurde rasch klar. Sie würden schon bald ihr Nachtlager aufschlagen müssen. Jem dachte an den Kienspan. Ab und an stießen sie auf ein paar vom Wind verkrüppelte Tannen, deren Zweige unter der Last des Schnees schwer herunterhingen. Sie könnten versuchen, mit ihnen ein Lagerfeuer zu machen… »Hoffentlich ist es wenigstens in der Einsiedelei warm«, beschwerte sich der Kleine. »Und hoffentlich ist man uns dort freundlich gesonnen«, sagte Jem. »Das ist auch wichtig.« »Ich hoffe einfach nur, dass sie uns überhaupt alle hineinlassen«, fügte Cata hinzu. »Sind wir denn sicher, dass es sie… überhaupt gibt?« Rajal hatte schwer mit seiner Last zu kämpfen. »Woher wissen wir denn, dass da eine Einsiedelei liegt?« »Der Harlekin lügt nicht«, sagte Jem. »Ich bin sicher, dass mein Buch uns helfen wird«, erklärte Tishy strahlend. »Wenn ich noch einen Fünf-Stab übersetzen kann, werden wir gewiss etwas daraus erfahren.« »Natürlich«, erinnerte Cata. »Irgendwas von zweifellos großem historischem Interesse. Ich würde eigentlich lieber wissen, wo genau sich diese Einsiedelei befindet. Was glaubst du, Jem? Am Fuß des Berges? Oder in halber Höhe auf seinen Hängen? Raj hat nicht ganz Unrecht mit seinem Einwand, weißt du? Wie können wir sicher sein, dass sie überhaupt existiert?« 52
»Sagte ich nicht schon, dass der Harlekin nicht lügt?« »Und bist du sicher, dass es wirklich der Harlekin war?« »Was willst du damit sagen, Cata?« Cata antwortete nicht. Sie trotteten weiter bergauf und suchten sich zwischen verschneiten Felsbrocken hindurch ihren Weg. Vor ihnen verblasste der geheimnisvolle Berg, versank hinter einer gefährlichen Schneelandschaft mit Abgründen, Schluchten und hohen, zerklüfteten Felsvorsprüngen, die im Abendlicht unheimlich purpurn leuchteten. Jem schüttelte sich, als er an die Lilane dachte. Mit jedem mühsamen Schritt wurden seine Gedanken trostloser. Mittlerweile teilte er auch schon Catas Zweifel und selbst die Bedenken Rajals. Und das waren längst nicht alle Sorgen, die ihn bewegten. Cata trug den Sack mit den Lebensmitteln über der Schulter. Jem fand ihn beunruhigend leicht. Und sollten sie etwa im Dunkeln ein Lager aufschlagen? »Ich wünschte, wir könnten den Tarn noch sehen«, sagte Cata. Das wünschte sich Jem ebenfalls. In der Nähe des Himmelsschiffes hatten sie noch auf die Täler zu ihren Füßen blicken können. Es war ein Trost gewesen, wie verloren sie sich auch gefühlt haben mochten. Jetzt jedoch hatten sie sich in einem verschneiten Labyrinth verirrt, in dem nur dieser mystische Berg ihnen die Richtung vorgab. »Hast du schon mal daran gedacht«, sagte Rajal keuchend, »dass dies hier das einfache Stück des Weges ist? Früher oder später müssen wir bestimmt klettern… Und zwar richtig klettern.« Das war so ziemlich das Letzte, woran Jem jetzt denken wollte. »Ich weiß nicht, vielleicht haben wir ja Glück…« Cata lachte tonlos. »Jem, sollte das etwa überzeugend klingen?« »Wenigstens versuche ich, die positiven Seiten zu sehen«, erwiderte er mürrisch. »Kleiner, trödle nicht so herum! MUSS ich euch alle daran erinnern, dass es auch eine positive Seite gibt? Wir haben die Kristalle, oder nicht? Und zwar nicht weniger als vier Stück! Außerdem sind wir dem fünften auf der Spur. Also bitte, unsere Lage könnte 53
schlechter sein. Schließlich sind wir Toth entkommen.« »Fürs Erste.« Rajal konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. Jem ignorierte ihn. »Also, wo gehen wir lang?« Sie waren eine Weile zwischen monströsen, verschneiten Felsbrocken einhergestapft und standen jetzt vor einer Weggabelung. Der Kleine deutete nach rechts. »Da lang.« »Hier lang«, widersprach Cata und deutete nach links. Jem runzelte die Stirn. Er verlagerte das Gewicht der Trage in seinen Händen und drehte sich erst ein wenig in die eine, dann in die andere Richtung. »Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich glaube… ich glaube, der Kleine hat Recht. Mein Kristall reagiert, wenn ich mich hierhin wende.« Cata stöhnte. »Meiner glüht, wenn ich mich in die andere Richtung bewege. Was macht deiner, Raj?« Rajals Stimme klang tonlos. »Ich weiß es nicht. Welche Rolle spielt das schon?« »Eine sehr große«, erwiderte Jem verblüfft. »Ich stimme für diesen Weg. Cata?« »Nun, vielleicht hast du Recht. Also Raj, sag uns, wo geht es lang?« »Also gut, gehen wir in die Richtung, die Jem vorgeschlagen hat«, murmelte Rajal, als interessiere ihn das alles nicht. Der Kleine wollte protestieren, aber irgendwie zwang er sich dazu, nichts zu sagen. Nur Myla war wichtig, nur Myla. Sie setzten den Weg in angespanntem Schweigen fort. Der Weg führte an einem weißen Hügel entlang, über den dunkle Wolken und rötliches Licht ein geflecktes Muster warfen. Es schneite wieder stärker. Mittlerweile war der geheimnisvolle Berggipfel ihrer Sicht vollkommen entzogen, verschwunden hinter Wolken und eingehüllt von der einfallenden Dunkelheit. »Meine Güte, ich werde mir noch die Augen verderben«, erklärte Tishy. Sie hatte versucht, im Gehen den nächsten Fünf-Stab zu übersetzen. »Vermutlich sollte ich lieber aufhören. Aber wirklich, dieser nächste Fünf-Stab klingt sehr 54
interessant.« »Ich glaube, wir alle brauchen dringend eine Pause«, erklärte Jem, blieb stehen und stellte die Trage ab. Rajal folgte ausdruckslos seinem Beispiel. »Hoffen wir, dass wir ein Feuer entzünden können. Kleiner, hör auf herumzutrödeln.« Der Kleine hastete herbei. »Vielleicht können wir dann ja die Zunge-und-Wurzel-Pastete aufwärmen«, rief er mit gezwungenem Optimismus. »Ich sagte doch, es gibt auch eine positive Seite«, erwiderte Jem mit ähnlich gespielter Fröhlichkeit. »Wir gehen sogar in die richtige Richtung, hab ich Recht? Mein Kristall glüht noch. Und deiner, Raj?« Rajal wandte sich wortlos ab. »Cata?«, fragte Jem weiter. »Kleiner?« Sie nickten beide, aber Catas Miene war ernst. »Bist du sicher, dass du den Kristallen vertrauen kannst, Jem? Vergiss nicht, dass sie nicht nur aus einem Grund glühen.« »Wie war das noch mit der positiven Seite?« Jem stöhnte. »Wirklich, Freunde… Kleiner, hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht herumtrödeln?« »Vielleicht bereiten sie sich einfach nur vor«, erklärte der Kleine mit seiner piepsigen Stimme. »Vorbereiten?« Jems Stimme klang scharf. »Wer? Worauf?« »Darauf, dass der Vogel des Nicht-Seins wiederkommt. Du weißt, dass er es tun wird, Jem. Ich habe einige Lilane am Weg gesehen. Ejjy auch. Hast du doch, Ejjy, stimmt’s?« »Das ist das Zwielicht«, erwiderte Jem. »Es spielt uns einfach nur-« »Ach, was soll das alles noch?«, brach es plötzlich aus Rajal heraus. Er schlug seine Hände vor die Stirn, als würde er plötzlich stechende Kopfschmerzen haben. Seine nächsten Worte klangen wie ein ängstlicher Aufschrei. »Ihr Narren, ihr Narren! Begreift ihr denn nicht, dass alles vorbei ist? Ist euch denn nicht klar, dass wir längst verloren haben?« 55
»Raj!«, rief Jem. »Was redest du da?« Aber Rajal hatte sich abgewandt und stürmte davon. Er rannte rutschend über das verschneite, leicht ansteigende Feld. Jem lief hinter ihm her und winkte heftig mit den Armen. »Raj! Raj!« »Sollten wir… sollten wir sie nicht verfolgen?«, fragte Tishy zögernd. »Ach, lasst sie einfach, lasst sie nur«, sagte Cata. Sie klang beinahe verbittert Dann sah sie wieder nach vorne. Sie mussten sich auf die Nacht vorbereiten. Aber wo sollten sie ihr Lager aufschlagen? »Raj! Rajal…« Jem gelang es, den Flüchtigen auf dem Feld einzuholen und ihn zu Boden zu werfen. Die sorgenvollen Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Was war das jetzt wieder für eine Verrücktheit? Er hätte seinen Freund am liebsten geschlagen, ihn geschüttelt, aber er vermochte nichts weiter zu tun, als Raj als Arme so fest zu halten, wie er nur konnte. Jem atmete schwer und sah seinem Freund in das verzerrte, vor Kälte blaue Gesicht. »Raj, was hast du? Raj, was ist los?« Rajal schluchzte schwer. »Es ist vorbei…« »Ich verstehe das nicht. Sag mir, warum – « »Verstehst du das nicht? Als der Vogel des Nicht-Seins gekommen ist – « »Er ist gekommen, und er ist wieder weggeflogen…« »Fühl doch einfach, Jem, fühl einfach…« Beklommen führte Rajal Jems Hand. Und entsetzt ließ es Jem zu, dass Rajal seine behandschuhten Finger zwischen die Pelze schob. »Ich… ich dachte zuerst, es wäre nur eine Vision«, stammelte Rajal. »Ein Traum. Aber Jem, ach Jem, als der Vogel des Nicht-Seins kam…« »Nein…« Jem riss sich los. Der Schmerz drohte ihn zu überwältigen. Und der Himmel wurde noch dunkler, dun56
kelrot. »Hasst du mich jetzt, Jem?« Rajal klapperten die Zähne. »Jem, ich wollte nicht…« Jem hätte ihn jetzt am liebsten noch inbrünstiger schlagen wollen als zuvor, aber warum sollte er das tun? Es war Wahnsinn, es musste Wahnsinn sein. Ein Traum. Eine Vision. Und wie sehr spürte er in diesem visionären Augenblick, dass Toth um sie herum war, sie verhöhnte, sie verspottete! Sie durften ihm nicht nachgeben, das durften sie einfach nicht! »Raj«, murmelte Jem leise. »Du bist derjenige, der nicht begreift. Das ist nicht das Ende. Wie könnte es das Ende sein? Toth hat einen Kristall, na und? Einen. Aber wir haben die anderen…« »Aber der Vogel des Nicht-Seins kommt zurück…« Jem knirschte mit den Zähnen. »Und wir werden uns auch den letzten Kristall holen!«, stieß er hervor. Er schluchzte beinahe, als er jetzt Rajals Schultern packte und ihn schüttelte. »Hörst du mich, Raj? Wir werden ihn uns holen, das schwöre ich dir. Du musst es glauben, Raj, glaub es einfach.« Rajal wimmerte. Schnee lag auf seinem Gesicht und drang unaufhaltsam unter seine Pelze. Wie er sich verachtete! Er befreite sich aus Jems Griff und rollte sich in den Schnee. »Ich… ich glaube dir.« Doch seinen Worten fehlte jede Überzeugung. Jem atmete tief durch, rappelte sich auf und streckte die Hand aus. »Komm mit«, sagte er ruhig. »Gehen wir zu den anderen zurück. Und, Raj…? Sag den anderen nichts. Und nun steh einfach auf und komm mit mir zurück… Komm schon, komm.« Langsam und zögernd gehorchte Rajal. Der Rückweg war schwer und weiter, als sie erwartet hatten. In dem tückischen Zwielicht verloren sie oft das Gleichgewicht. »Jem, Jem…« Das war der Kleine, der ihnen aufgeregt hinter einer Kurve des Wegs entgegenkam. Ejard Orange tanzte zwischen seinen Füßen herum. »Jem, du wirst es nicht glauben! Ejjy hat eine Höhle gefunden, ist das nicht toll? Es gibt dort Bäume, und wir können ein Feuer ma57
chen. Du hast doch noch den Kienspan, ja? Jem?« Jem musste laut lachen, und selbst Rajal rang sich ein Lächeln ab »Geht es dir gut, Baines?« »Ich… ich verstehe nichts davon, Miss Landa. Entschuldigt, aber Goody Olch war immer eine fromme agonistische Frau, das war sie, und sie hat sich niemals mit so einem heidnischen Palaver abgegeben… Ich meine, entschuldigt bitte…« »Bist du da so sicher, Baines?« Landa lächelte traurig, als sie sich daran erinnerte, wie eine verwirrte Nirry ihr bei ihrem Gottesdienst Gesellschaft geleistet und die Göttin angefleht hatte, die verschwundene Cata zurückzubringen. Das war in grüneren Wäldern gewesen, an einem wärmeren Tag, in einer viel weiter zurückliegenden Vergangenheit. »Ich… ich weiß nicht genau, worauf Ihr anspielt, Miss Landa.« Tränen schimmerten in Baines’ einem Auge. »Ich will nur alles versuchen, um Goody Olch zu helfen, und wenn es irgendwas gibt, irgendetwas…« Landa drückte Baines’ Arm. Die beiden trotteten durch die Berge, eingehüllt in dicke Pelze. Sie gaben ein bemerkenswertes Paar ab: die wunderschöne Priesterin der Viana, die wie eine Statue wirkte, und die einäugige alte Dienerin, die in ihrer Aufregung nicht einmal daran gedacht hatte, sich den Mantel richtig zuzuknöpfen. Sie zitterte bereits, und das Zittern verstärkte sich noch, als sie sich einer kahlen, uralten Eibe näherten, die sich auf dem verschneiten Hang gefährlich neigte. »Das… das ist sie, Miss Landa? Ent… entschuldigt, aber sie sieht aus, als wäre sie nur noch für Feuerholz geeignet.« Diesmal lächelte Landa nicht. »Die Macht ist hier, so weit von Vianas Wäldern entfernt, sehr schwach. Und dieser Baum ist der älteste in diesen Hügeln und der einzige, unter dem meine Gebete möglicherweise erhört werden könnten. Hier habe ich die Göttin jeden Tag um Stärke 58
angefleht, für unseren Anführer gebetet, für Meister Jem, und für Miss Cata. Ich habe für Goody Olch und auch für Goodman Olch gebetet, und auch für dich, Baines. Ich bin sicher, dass unser Schicksal uns bald enthüllt wird. Aber ich brauche deine Hilfe.« »Ich dachte… es wäre etwas, was nur ihr Heiden – « »Baines, wenn ich wüsste, wo Miss Cata ist, würde ich… Aber du bist meine einzige Hoffnung, verstehst du das nicht? Du bist ein Verbindungsglied.« »Ich bin ein… was?« »Schon gut, tu einfach, was ich dir sage.« Zu Baines’ Überraschung zog sich die Priesterin Landa ihre Pelzmütze vom Kopf, sodass ihre langen, kupferroten Haare auf ihre Schultern herabfielen. »Ich weiß, dass es kalt ist, also beeilen wir uns. Mach einfach alles nach, was ich tue. Und denk an Goody Olch. Was auch immer du tust, denk an Goody Olch.« Baines nickte. Das wenigstens sollte ihr leicht fallen. Sie verzweifelte geradezu, wenn sie sich vorstellte, wie ihre Arbeitgeberin in dieser öden Zelle schmorte. Doch als die alte Dienerin jetzt neben der Priesterin unter dem uralten Baum im Schnee lag, war sie heilfroh, dass Goody Olch sie nicht sehen konnte. Was würde sie von so viel Narretei halten? Vermutlich würde sie ihre Dienstmagd ausschelten und ihren Ehemann gleich mit, weil sie beide die Katze 6Krone vernachlässigten. Gestern Nacht hatte Goodman Olch Baines alles über seinen Besuch im Alten Knast erzählt. Bevor er die Zelle verlassen hatte, musste er seiner Frau versprechen, das Geschäft weiterzuführen, selbst im schlimmsten Falle, und niemals zuzulassen, dass all ihre harte Arbeit umsonst gewesen war. Schluchzend hatte er auch eingewilligt, die, wie Nirry sagte, nutzlose alte Baines zu behalten, was Baines unter ihren Tränen ein Lächeln abrang, und sich niemals mit diesen Schlampen von der anderen Seite der RedondoGärten einzulassen. Die Katze &Krone, da waren sie sich einig, sollte eine Taverne für die bessere Gesellschaft bleiben, genau so, wie seine Nirry es immer vorgehabt hatte Doch kaum war ein Tag verstrichen, da war die Katze & 59
Krone verrammelt, Zappelphilipp lag krank im Corvey Cottage danieder, und Baines benahm sich wie eine Heidin und würde sich darüberhinaus auch noch den Tod holen! »UI… UI…UI…UI… UI…!« Landas Ruf drang wie der scharfe Schrei eines Vogels durch den Wald, Baines’ Schrei dagegen war ein heiseres und unsicheres Krächzen, als sie es ihr nachtat. Die Priesterin umklammerte die Wurzeln des Baumes und richtete sich dann mit einer schlangenhaften Bewegung auf. Puderschnee rieselte von ihren Pelzen herunter. Baines versuchte, so gut sie konnte, ihrem Beispiel zu folgen, aber so elegant Landa sich bewegte, so unbeholfen sah es bei Baines in ihrer dicken Kleidung aus. Die Priesterin schien bereits in Trance zu sein, als sie jetzt die grobe, vereiste Rinde des Baumes umarmte. Was für eine heidnische Blasphemie! »Tochter des Orok, sieh deine Bittstellerin! Schwester des Koros, erhöre ihr Flehen! Heiligste Viana, die du so zart bist wie Blätter, komm zu mir an diesen waldigen Ort, wo ich dich für eine Schwester bitte, die im Dunklen umhergeirrt ist und die jedes Wissen von deiner Gnade vergessen hat. Ich wage nicht zu vermuten, aus welchem Gutdünken du sie so unwissend gelassen hast, Göttin, sondern kann nur sagen, dass sie eine gute Frau ist und dass ihr Geist mein spirituelles Feuer anfacht, wenn ich dich jetzt bitte, ihre geliebte Herrin zu befreien, die ungerechterweise von den Männern des Bösen eingekerkert wurde. Tochter des Orok, sieh deine Bittstellerin. Schwester des Koros, erhöre ihr Flehen…« Jetzt begann Landa ein kompliziertes Lied zu singen, das Baines ungeschickt zu imitieren versuchte. Sie tanzten sogar, sie tanzten unter einem toten Baum im Schnee! Zumindest hatte Miss Landa ihr Herz am rechten Fleck, und außerdem waren die Bemühungen der anderen, Goody Olch zu helfen, auch nicht beeindruckender verlaufen. Bis jetzt hatte Baines den Wegelagerer Bob Scarlet bewundert, und die Entdeckung, dass er tatsächlich der abgesetzte König von Ejland war, hatte sie zunächst so aufgeregt, dass sie schon glaubte, ihr Herz müsse zerspringen. 60
Aber was sollte sie jetzt von ihm halten? Seine Pläne, die Königin in seine Gewalt zu bringen, hatten nicht das Geringste damit zu tun, Goody Olch zu helfen. Einige behaupteten, dass sie niemals hingerichtet werden würde, weil die Rebellen die Stadt bis dahin längst eingenommen hätten. Davon waren sie fest überzeugt. Andere waren aus anderen Gründen derselben Meinung. Sie führten an, dass Gefangene eine Ewigkeit im Alten Knast schmorten, bis ihnen wirklich etwas zustieß. Als ob ein Tag an diesem schrecklichen Ort für eine Frau wie Goody Olch nicht schon viel zu lange wäre! Baines ging die Puste aus. »Viana – Vianu, Viana – Vianu…« »Göttin der Lebenden, verzehre mich wie ein Feuer…« »Lass mich im grünen Wald liegen, lass mich dort leben und…« Hul und Bando hätten sicher etwas unternommen, aber ihr Anführer hatte sie am Morgen auf eine Erkundungstour geschickt. Morven und Crum wollten zwar gern helfen, aber Baines hatte zu den beiden nicht allzu viel Vertrauen. Wenn nur nicht auch noch Miss Cata schon wieder verschwunden wäre! Und was war aus Meister Jem und seinen Freunden geworden? Sie waren doch gerade erst nach Agondon zurückgekehrt! Es war schon sehr merkwürdig, höchst merkwürdig, und das hier war ebenfalls sehr seltsam. »Lass keine Axt in den Hügeln von Wrax zuschlagen…« »Ach, Göttin, bitte rette Goody Olch!« Hah, das war wirklich sehr wahrscheinlich! Glaubte Miss Landa denn tatsächlich, dass sie heidnische Magie beschwören konnte und dass die genügte, um Goody Olch aus ihrer Zelle zu befreien? Oder erwarteten sie göttlichen Besuch, eine Vision, die ihnen sagen würde, was sie zu tun hatten? Der Gesang und das Tanzen gingen unaufhörlich weiter. »Lass mich leben und lass mich sterben…« »Göttin der Sterbenden, erfülle mir mein Begehren…« »Viana – Vianu, Viana – Vianu…« Mittlerweile war Baines vollkommen erschöpft. Sie 61
musste zwar zugeben, dass ihr nicht mehr kalt war, aber konnte sie irgendwo auch nur eine Spur von Magie entdecken? Ganz gewiss nicht, und sie wollte gerade aufhören und ihre armen Lungen schonen, als sie eine in Pelz gekleidete Gestalt bemerkte, die sich über den verschneiten Hügel zu ihnen vorarbeitete. »Miss Landa!«, rief eine Stimme. »Baines…!« Baines hielt inne. »Zappelphilipp! Er hat das Krankenbett verlassen? Was ist passiert?« Eines war jedenfalls sicher. Der Bursche war vollkommen aufgelöst. Hinter ihm stürmten die beiden Deserteure der Blauröcke her, Morven und Crum. Sie versuchten offensichtlich, ihn einzuholen, oder vielleicht sogar ihn zurückzuhalten. »Goodman Olch!«, keuchte Baines. Schluchzend fiel Zappelphilipp ihr in die Arme. Es blieb dem Soldaten Morven überlassen, die schreckliche Nachricht zu überbringen. Kunde aus Agondon war nach Corvey Cottage gelangt. Miss Nirrian Jubb, die berüchtigte Tempelbomberin, so nannte man sie, sollte an diesem Nachmittag gehenkt werden. Landa trat zu ihnen. Die Priesterin war zu abrupt aus ihrer mystischen Trance gerissen worden und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passiert war. »Sie wird hingerichtet?«, sagte sie atemlos. »Aber…« Morven schluckte. »Sie wird aufgehängt.« »Heute Nachmittag«, fügte Crum hinzu. »Am ErdonBaum…« »Nein! Bei Viana, nein!« Landa strich sich ihr kupferrotes Haar aus dem Gesicht und warf einen Blick auf den öden Ort, wo sie versucht hatte, die heiligen Kräfte zu beschwören. Anscheinend fruchtete ihr Glaube hier nichts. Aber es gab noch mehr als nur Glauben. Sie sah ihre Gefährten entschlossen an. »Baines, kümmere dich um Zappelphilipp! Morven und Crum, sattelt die Pferde! Und holt einen Wagen. Ich suche Ejard Rot. Wir brauchen Verstärkung!« Nach diesen Worten schritt sie zügig zum Cottage zurück. 62
»Mehr Bier, Schlampe!« »He, wen schimpfst du da eine Schlampe?« »Deine Tochter, Offero!«, sagte Narben-Majesta. »Wir wissen doch alle, dass du sie in den Redondo-Gärten arbeiten lässt. Und sie ist wirklich eine feine Ergänzung zu den Ladys der Nacht«, fügte er galant hinzu und wollte sich verbeugen, aber Offero der Maulwurf versetzte seinem Kumpan einen wütenden Schlag an den Kopf. Shammy die Kapuze kicherte und spießte rasch eine Scheibe Truthahn von Offeros Teller auf seine Gabel. »Die Gärten, wahrhaftig!«, rief Offero. »Und warum, Majesta, ist meine entzückende, tugendhafte Tochter jetzt hier und schenkt Ejlands Bestes in deinen nichtswürdigen Humpen, hm? Und in deinen, Finger? Was? Impalini? Molly?« Majesta schnaubte verächtlich. »Habe ich nicht gesagt, sie ist eine Lady der Nacht? Jetzt haben wir schließlich helllichten Tag.« »Jungs, Jungs«, sagte Molly Halbe-Halbe. Sie schlang ihren Arm um die schmutzige Taille des dürren Mädchens und warf ihm ein Lächeln mit ihrem vor Zahnlücken starrenden Mund zu. »Denk dir nichts dabei, Liebchen. Keiner von diesem Haufen dürfte auch nur an einem Rock schnüffeln, wenn er nicht dafür bezahlen würde. Beachte ihr überhebliches Benehmen einfach nicht. Mach das Beste aus dir, solange du in deiner Blüte bist, das rate ich dir. Du bist ein gutes Kind. Wenn Redondo mit dir fertig ist, wirst du immer einen Platz in meiner Mädchenbande finden!« Schniefend dankte ihr das Mädchen für ihr Wohlwollen. »Schlampe! Mehr Bier!«, schrie Offero der Maulwurf. Diese Szene spielte sich im Alten Knast ab, wo die Unterweltführer von Agondon in den luxuriös eingerichteten Gemächern des Schließers Figaro Finger tafelten. Samt und Seide, Gold, Silber und zahllose wertvolle Edelsteine, alles Dankesgaben von Agondons vornehmsten, entehrten Edelleuten, schimmerten in dem Schein des gedämpften Sonnenlichts. Aber es war keine gewöhnliche Festgesellschaft. Man hatte sich am Morgen auf Schlachtpläne geeinigt, und die 63
Ober-Übeltäter, die ihren Handlangern das notwendige Blutvergießen überlassen hatten, ganz zu schweigen vom obligatorischen Sterben, feierten bereits die Wiedereinsetzung des Rotrock-Regimes. Zweifellos befanden sie sich an der Schwelle eines neuen Zeitalters. »Können wir wirklich den Jarvel-Handel kontrollieren?« Peter Impalini grinste. »Wenn die Hafenanlagen in unserer Hand sind, schon«, erwiderte Narben-Majesta. »Und die Zollhäuser«, fügte Offero der Maulwurf hinzu. »Und was ist mit den Huren?« Shammy die Kapuze kicherte. »Huren?« Molly Halbe-Halbe verdrehte die Augen. »Könnt ihr Kerle denn an nichts anderes denken? Aber wenn es staatliche Bestechungsgelder gibt, könnte das ein recht respektabler Beruf sein. Ich habe mir immer ausgemalt, meine Tage als ehrbare Lady zu beschließen, und mich beschleicht das Gefühl, es könnte auch dazu kommen, wenn Bob Scarlet erst mal auf dem Thron sitzt.« Finger lehnte sich zurück und stopfte sich eine Pfeife. »Jungs, und damit schließe ich auch dich ein, Molly, ich glaube, dass allein der Himmel die Grenze für Gentlemen unseres Berufsstandes ist. Der gute alte Bob! Hat jemand schon mal einen solchen Gauner gesehen?« »Kann er wirklich Ejard Rot sein?«, erkundigte sich Peter Impalini. »Ha! Das ist nur einer von Bobs vielen Tricks«, behauptete Offero der Maulwurf. »Aber was für einer! Was hätte ich dafür gegeben, auf dem Ball gewesen zu sein!« »Trick?«, fragte Narben-Majesta gereizt. Er war ein überzeugter Anhänger der Rotröcke. »Was soll das heißen, Trick?« Es hätte sicher wieder Streit gegeben, aber ein Klopfen an der Tür verhinderte das. Unruhe zeichnete sich auf vielen Gesichtern ab, als sich die Schlampe mit dem Unterarm die Nase wischte, kurz zur Tür ging, zurückkam und mit dem schniefenden Singsang eines Kindes, das Sätze aus Litaneien rezitiert, verkündete, ein Sergeant Carnelian 64
Floss von den Fünften Königlichen Füsilieren aus dem Tarn wolle die Dienste von Goodman Finger in Anspruch nehmen. »Blauröcke! Verrat!« Peter Impalini sprang mit gezücktem Messer auf. »Runter damit, du betrunkener Narr!«, fauchte ihn Offero der Maulwurf an. »Das hier ist schließlich der Alte Knast, schon vergessen? Vermutlich eine ganz normale Gefängnisangelegenheit, was, Finger?« Das konnte Finger nur hoffen, als er auf den Korridor hinaustrat. Der Schließer runzelte die Stirn. Er hatte zwar einen Blaurock erwartet, aber nicht so einen. Der Kerl war zerzaust und schwitzte, und der Verband um seinen Kopf war braun von getrocknetem Blut. Seine Stimme war nur ein raues Krächzen. »Gebt sie heraus… ich muss sie mitnehmen!« »Ihr seid wegen der Bombenlegerin hier?« Der Sergeant nickte eifrig. »Wegen Nirry… Ich muss sie… ich bringe sie…« »Ja, ja, zum Erdon-Baum, wohin sonst?« Der Schließer war ungeduldig, weil er wieder zu seinen Kumpanen zurückwollte. Er klapperte mit seinem Schlüsselring, während er den Korridor entlangging, und sein Pfeifenrauch wehte hinter ihm her. Anscheinend kümmerte ihn das Schicksal der Frau, der er eigentlich hätte helfen sollen, herzlich wenig. Aber Figaro Finger riskierte für niemanden seinen Hals. »Hier entlang, hier entlang. Der Lektor ist jetzt bei ihr, wisst Ihr? Schon den ganzen Morgen. Der neue Lektor, natürlich.« Der Schließer lachte schallend. »Sag mal, Kollege, du siehst aber nicht sehr gut aus. Bist du etwa an die Rebellen geraten? Oder warst du gestern Nacht vielleicht ein bisschen zu besoffen? Das wird es sein, bestimmt… Ich kenne euch Soldatenpack doch!« »Ich bin ein bisschen… ein bisschen heruntergekommen«, war die Antwort. »Sicher, ich sage mir zwar immer, dass es so schlimm nun auch wieder nicht ist, aber es gibt wohl niemanden, der mich… niemand würde mich einen guten Menschen nennen. Trotzdem hat der alte Carney 65
Floss ein gutes Herz, das hat er, und bevor er abtritt, möchte er noch eine Sache tun, die gut ist, nur eine gute Tat…« »Was war das, Kumpel? Du plapperst da vor dich hin… He, achte auf das Loch dort in der Ecke. Du landest direkt in der Kanalisation, wenn du da reinfällst.« Sie standen jetzt direkt vor Nirrys Zelle. Finger lachte erneut, als er mit seinen Schlüsseln herumfummelte. Durch die vergitterte Tür drang eine salbungsvolle Stimme, die einen Schwall von Gebeten über die verurteilte Gefangene ergoss. »Hast deine Kameraden draußen gelassen, was? Die anderen, meine ich.« Die Pfeife wackelte in Fingers Mund, als er redete. »Schließlich kannst nicht nur du allein sie bewachen, hab ich Recht? Man sagt, sie wäre die wichtigste Rebellin, die wir je gehängt hätten. Einige behaupten sogar, dass sie eine Revolution auslösen könnte, was hältst du davon? Wenn du mich fragst, ist das einfach nur ein Weibsbild, mehr nicht. Stülp ihnen einen Beutel über den Kopf, dann sind sie alle gleich, was?« Diesmal brüllte Finger geradezu vor Lachen. Er drehte sich um, damit er im Licht der Fackel die Schlüssel besser sehen konnte. »Ich würde mir den Spaß ja gern selbst ansehen, aber ich feiere gerade ein bisschen mit ein paar Geschäftsfreunden, und… na ja, ich konnte so große Menschenansammlungen noch nie leiden, und außerdem ist ein Tod einfach nur ein – « »Tod!«, zischte Carney Floss und rammte Finger ein Messer in den Hals. Die Pfeife fiel klappernd zu Boden, gefolgt von dem Schlüsselbund. Floss hob ihn auf. Sein Herz raste, als er die Leiche des Schließers durch das Loch schob und sich dann ungeduldig wieder zur Tür umdrehte. In der Zelle hatten die Gebete aufgehört, und zwei Stimmen sprachen jetzt leise miteinander. Die erste gehörte Nirry, und sie klang freundlich. »Ich bin… ich bin so froh, dass Ihr es seid, Flonce.« »Lektor Flonce«, erwiderte die andere Stimme streng. »Ich bin jetzt Lektor, mein Kind…« »Ich… Natürlich.« Nirrys Stimme klang verlegen.»Ich 66
habe immer gedacht, dass Ihr – « »Oh, welche Verworfenheit! Ihr wollt doch wohl nicht behaupten, dass Ihr deshalb das getan habt, was Ihr…!« »Aber… aber Lektor! Ich habe es gar nicht getan! Ich meinte nur…!« »Was! Ich habe mit dir den ganzen Morgen gebetet, und trotzdem leugnest du deine Schuld noch? Gab es je eine solche Heimtücke? Ich sage, Nirrian Jubb, du bist eine verderbte Kreatur, der Liebe des Herrn Agonis entrückt! Wenn man dir das Genick bricht, wirst du direkt in das Reich des Nicht-Seins hinabfahren, und zwar ohne jeden – « »Stirb, du Schwein!« Die Tür flog auf, und ein Messer blitzte. Wenige Augenblicke später, nachdem Lektor Flonce ins Reich der Abwasserkanäle hinabgefahren war, hielt Carney Floss die zitternde Nirry in den Armen. Die war so schockiert, dass sie nicht einmal hatte schreien können. »Ach, Carney, Carney, was hast du da getan?« Der Sergeant unterbrach ihre Klagen mit einem KUSS. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Nirry protestiert, aber jetzt gab sie sich der Umarmung ihres Retters hin. Sie hätte eine Ewigkeit in seinen Armen bleiben und seine tröstende Wärme spüren können. Aber Carney trat zurück und sagte ihr, dass sie sich beeilen müssten. Rasch, rasch, doch es war zu spät. Sie hörten bereits das unheilvolle Trampeln von Stiefeln, das im Korridor widerhallte. Carney wirbelte herum. »Was ist…?« »Ah, Sergeant! Ist die Gefangene so weit?« Generalmajor Heva-Harion stand in der Tür. Hinter ihm wartete die Patrouille, mindestens sechs Mann stark, wenn nicht sogar acht. »Ich frage mich, wo dieser Schließer steckt. Unnützer Kerl! Aber komm, Mann, fessle sie. Und was ist mit ihrer Augenbinde? Wo ist ihre Augenbinde? Ihr seid wohl ihre persönliche Wache?« Carney schluckte. »Ja… Jawohl, Sir.« »Dann vergesst nicht, dass sie eine gefährliche Mörderin ist. Sie ist keine Frau, sondern ein Monster in Frauengestalt. Diese Hinrichtung ist lebenswichtig. Sollte ihr vorher irgendetwas passieren, mache ich Euch persönlich dafür 67
verantwortlich. Habt Ihr verstanden? Verstanden, Sergeant?« Carney schluckte erneut. »Ja… Jawohl, Sir.«
8. Nirrys Schicksal ist besiegelt »Mehr Tee, Euer Gnaden?« Constansia nickte kurz. Was war aus ihrem wunderbaren Teeservice geworden? Und aus ihren eigenen Dienstboten? Wer waren diese fremden Dienstmädchen in ihren vulgären, gerüschten Uniformen? Ihre Tasse klapperte auf der hässlichen Untertasse, als sie sie anhob und erneut beunruhigt auf die kostbar tapezierten Wände mit ihren schmierigen Spiegeln, den bunten Gobelins und den zahllosen Gemälden, Stichen und Kameereliefs dieser Person schaute, die sich selbst die zaxonische Nachtigall nannte. Alles war vulgär. Und nichts war sauber »Ein Bordell«, sagte sie laut. »Dieser Ort hier ist ein Bordell.« »Leise, Constansia.« Eine Hand berührte ihren Arm, und erst jetzt wurde sich Lady Cham-Charing wieder der Gegenwart von Lolenda Mynes bewusst, die direkt neben ihr saß. Wie verwelkt und voller Altersflecken diese Hand war! »Süße Lolenda, was ist aus unseren Jugendzeiten geworden? Weißt du noch, wie wir mit Mazy Tarfoot über den Riel gerudert sind, lange bevor sie die Regentenbrücke gebaut haben? Und wie wir über die Wiesen mit Gänseblümchen und Narzissen gelaufen sind und unsere Schmetterlingsnetze durch die Luft geschwenkt haben? Wie wir gespielt und gelacht haben…« »Nur ruhig, Constansia. Du bist jetzt in Sicherheit.« »In Sicherheit?« Erneut klapperte die Tasse, und Lady Cham-Charing sah sich in dem Gemach um, bei dem es sich unzweifelhaft um ein Bordell handelte. Auf dem Sofa gegenüber saß Miss Tilsy Fash in einem extravaganten Kleid, das einer bescheidenen Dame absolut nicht zu Ge68
sicht stand. Neben ihr quetschten sich Freddy Chayn und diese Quisto auf die Sitzgelegenheit – und ausgerechnet auch noch die der beiden Quisto-Schwestern, deren Ruf ruiniert war. Und dann Freddy! Ein Mitglied einer Königsfamilie! In einer solchen Gesellschaft! Miss Fash legte ihre Hand auf sein Knie. Sie hatte lange, rote Fingernägel. »Du hast mir doch vergeben, nicht wahr, Freddylein?« Ihre Stimme klang heiser und amüsiert. »Ich bin sehr eifersüchtig, wie du weißt, und ich dachte wirklich, du hättest eine Affäre mit der armen kleinen Miss Quisto, auch wenn das absurd ist, ich weiß.« Freddy errötete, und das Mädchen senkte den Blick. Miss Fash sprang auf und ging hin und her, als wollte sie ihr Kleid vorführen, während sie einen Tobarillo in ihre elfenbeinerne Spitze steckte. Sie zog eine Rauchfahne hinter sich her. »Aber was ist eine kleine Szene in der Öffentlichkeit anderes als die Würze des Lebens, nach der es eine Frau verlangt? Ich rede natürlich von Frauen, die Geschäftssinn haben. Aber, Freddy, deine Wohltätigkeit rührt mich. Ich habe mich selbst auch der Hilfe für bekehrte Huren gewidmet, natürlich im Süden, wo die Moral etwas lascher ist.« Die parfümierte Person bückte sich an Freddy vorbei, wobei sie ihm beinahe ihre Brüste ins Gesicht schob, und streichelte die Wange von Miss Quisto. »Armes Schätzchen, möchtest du vielleicht für mich arbeiten? Ich brauche immer eine Kammerzofe. Und meine Köchin? Meine Köchin ist eine Schlampe. Andererseits diniere ich fast jeden Abend außerhalb, also bekommt sie auch kaum Gelegenheit zum Üben. Könnt Ihr Euch vorstellen, meine Lieben, dass sie vermutlich Herrenbesuch empfängt? Oh, aber vielleicht kündigt sich da sogar ein Besuch für mich an!« Diese letzte Bemerkung wurde von einem perlenden Lachen begleitet und galt dem Klopfen an der Tür. Constansia mochte es nicht glauben. Im Haus der Cham-Charing verkündete der Butler das Eintreffen eines Gastes, und das 69
auch nur, wenn Ihre Ladyschaft daheim war. Miss Fash dagegen wartete nicht einmal auf einen Dienstboten, sondern ging zur Tür und öffnete sie selbst. Sie lehnte sich gegen den Rahmen und redete leise mit dem Gast, anscheinend einem Gentleman. Allerdings klang sein Tonfall keineswegs wie der eines wohlerzogenen Herrn. Constansias Teetasse klapperte erneut. »Wo sind wir hier hineingeraten?« Lady Lolenda nahm ihr die Tasse weg und stellte sie auf den Tisch, gefährlich nah an den Rand. »Arme Constansia«, sagte sie liebevoll. »Weißt du es denn nicht mehr? Wir mussten fliehen! Miss Fash ist Freddys… Freundin. Sie hat uns aufgenommen, als kein anderer uns helfen wollte. Du erinnerst dich doch noch, oder?« »Niemand… gar keiner?«, erwiderte Constansia. Sie hob die Stimme. »Aber… Ich will zurück zum Cham-CharingHaus Wann können wir wieder zum Haus der Cham-Charings zurückkehren?« Sie zog besorgte Blicke vom anderen Sofa auf sich. Freddy war verlegen, aber Jildas Gesicht drückte nur Mitgefühl aus. Sie trat zu der aufgewühlten alten Dame. »Lady Cham-Charing, Ihr wart so gut zu mir. Ich schwöre Euch, dass Ihr Euer Heim zurückbekommt. Freddy sagt, dass wir ganz bestimmt gewinnen werden! Die Rebellen versammeln sich schon.« Sie schaute kurz zur Tür. Miss Fash nickte, lachte und blies den Rauch aus. »Vielleicht gibt es ja schon bald neue Nachrichten. Ganz bestimmt sogar! Ein Sieg der Rotröcke?« »Rebellen?«, fragte Lady Cham-Charing. »Rotröcke?« Miss Fash schlug die Tür zu und kehrte mit einem triumphierenden Lachen zu ihren Gästen zurück. »Das war ein Bote von Danny Garvice. Wir haben sie jetzt in der Falle. Bis morgen ist die Insel umzingelt! Und ein bestimmter Vorfall von heute Nachmittag«, fuhr sie geheimnisvoll fort, »wird die letzten Zweifler auf unsere Seite bringen. Oh ja, die Blauen sind erledigt!« Sie ging zu Freddy und küsste ihn überschwänglich. »Dummer Freddy! Hast du wirklich 70
geglaubt, dass ich für beide Seiten arbeiten könnte? Was war ich im Grunde meines Herzens je anderes als eine Rebellin?« Es krachte, als Lady Cham-Charing aufsprang und dabei Tasse und Untertasse vom Tisch fegte. Ihr Kopf wackelte bedenklich, und sie konnte kaum sprechen. »Freddy… Soll das heißen, dass Ihr von all dem wusstet? Wenn ich mir vorstelle, dass ich Euch mit Tishy verheiraten wollte! Ich hätte es beinahe tatsächlich…!« »Kommt schon, Lady Cham«, sagte Miss Fash freundlich. »Ihr kennt doch auch die Ungerechtigkeiten des Regimes der Blauröcke…!« »Die Blauröcke«, fuhr Jilda fort, »die Euch Euer Haus genommen haben…« »Die Blauröcke«, warf Lady Lolenda ein, »die die arme…!« »Ich… ich kenne die Regierung, und ich kenne das Gesetz!« »Dasselbe Gesetz, Constansia, das dich enteignet hat…« »Dasselbe Gesetz, das unschuldige Frauen hinrichtet…!« »Aber… aber Rebellen} Das ist nicht richtig! Es ist nicht… Lolenda, nicht auch du?« Constansia presste die Hände auf die Schläfen und sah sich Hilfe suchend um. »Oh, wo ist nur Elsan? Wo ist Lady Margrave? Sie würde mich verstehen, sie würde mich…« »Ruhig, nur ruhig! Ihr wisst doch, dass die arme Lady Margrave…« Bei diesen Worten sank Constansia mit einem jämmerlichen Schrei zu Boden. Die Frauen scharten sich um sie, während Freddy mit roten Wangen den Boden seiner Teetasse erkundete. »Schneller, Bando!« Die Peitsche knallte. »Wenn doch…!« Hul hockte auf dem Kutschbock und kaute an seinen Fingernägeln. Die blaue Kutsche fegte den Wrax-Weg entlang in Richtung Erdon-Baum. »Was sollen wir nur tun? Wir können sie nicht retten, alter Freund, hab ich Recht? Was können wir tun, als dazusitzen und mit 71
anzusehen, wie – « »Wie die Revolution beginnt!«, rief Bando. »Ich schwöre dir, alter Freund, die Blauröcke werden das nicht überstehen! Das ist der letzte Tropfen, der allerletzte Tropfen, der das Fass – « »Bando, nein! Das klingt ja fast, als wäre es etwas Gutes – « »Niemals! Hul, ich… Aber Hul…!« Entsetzt verstummte Bando und starrte geradeaus auf die schlammige Straße. Bei ihren Erkundungen in Agondon hatten die beiden Freunde zu ihrer Bestürzung die schrecklichen Neuigkeiten erfahren, die sich wie ein Lauffeuer überall in der Stadt verbreitet hatten. Sofort hatten sie alles stehen und liegen lassen und sich auf den Weg zur Hinrichtungsstätte gemacht. Aber was konnten sie dort ausrichten? Sie sahen schon die Menschenmenge. Einige waren in prächtige Gewänder gekleidet, andere in Lumpen gehüllt, einige fuhren in schönen Kutschen vor, andere hockten auf Karren, kamen zu Pferde und zu Fuß und bevölkerten das weite Feld, auf dem der Erdon-Baum stand. Hier wurden seit jeher Mörder, Diebe, Rebellen und Bedürftige zur Belustigung der Massen hingerichtet. Und eine Hinrichtung durch den Strang war immer ein besonders derbes Vergnügen. Straßenhändler mischten sich unters Volk, und es gab Stände, an denen Bier, geröstete Kastanien und Kuchen verkauft wurden, nicht zu vergessen Erinnerungsteller, Humpen, Leinen, Moritatenblätter und Pamphlete. Am Erdon-Baum wurde der Gerechtigkeit Genüge getan, und das unter der Begleitung von wüsten Trinkliedern, trunkener Schwärmerei, Geschrei, Gebrüll und der Zweckentfremdung von faulen Eiern, matschigen Äpfeln und schimmeligen Tomaten. Jedenfalls verlief es meistens so. Bandos Schnurrbart zuckte. »Es ist merkwürdig ruhig.« »Glaubst du wirklich, dass es einen Aufstand geben könnte?« »Darauf würde ich nicht wetten, alter Freund. Sieh nur die vielen Blauröcke. Vergiss nicht, sie führen diese Hinrichtung durch, um ihre Macht zu demonstrieren. Wenn 72
jemand die Gesetze missachtet, wird das sofort heftige Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen. Was kümmert es Ejard Blau schon, ob er seine eigenen Untertanen ermordet?« Hul schüttelte sich. »Du meinst, Tranimel. Oder besser: Toth.« »Erinnere mich bloß nicht daran.« Selbst jetzt konnte Bando dieses schreckliche Auftreten des Bösen nicht fassen, dessen Zeuge er beim Vogelball geworden war. Insgeheim dachte er, dass ihr langer Kampf vergeblich gewesen war. Sie hatten geglaubt, gegen das menschliche Böse zu ringen, doch die Wahrheit war noch viel schlimmer, als er sich jemals hätte träumen lassen. Aber Bando Riga war ein tapferer Mann, er war bis hierher gekommen und würde weitermachen. Bis zum bitteren Ende. Wie auch immer dieses Ende aussehen mochte. »Es ist eine sehr große Menge, Hul.« Lachend deutete er auf die blaue Kutsche, in der sie fuhren, und ihre Armee-Bärenfellmäntel. »Ich würde uns keine großen Chancen einräumen, wenn die Dinge schlecht laufen, oder?« »Du glaubst, wir sollten uns verkleiden?« »Eher nicht verkleiden.« Vor ihnen tauchte eine Weggabelung auf. »Wir nehmen die Seitenstraße. Dann können wir die Kutsche im Wald verstecken und unsere eigenen Pelzmäntel anziehen.« Hul nickte. »Dass wir jetzt noch an unsere Sicherheit denken können!« »Ich weiß, alter Freund, ich weiß. Aber im Augenblick können wir für die arme Goody Olch nicht viel tun. Ich fürchte, dass man sie bald aufknüpfen und Ejard Blau hochleben lassen wird.« »Verflucht sei Ejard Blau. Dreimal verflucht sei er!« »Verflucht sei Ejard Blau, dreimal verflucht sei er!« »Was meintet Ihr, Miss Landa?«, fragte Baines. »Nichts, gar nichts.« Landa riss sich mühsam zusammen. Was nützte es schon, es den anderen zu sagen? Sie dachten immer noch, dass sie nur die Vorhut wären und bald Verstärkung eintreffen würde. Konnten sie glauben, 73
dass ihr heldenhafter Anführer sich nur über die Oberlippe gestrichen und gelächelt hatte, als er von Nirrys Hinrichtung hörte? Was denn, er sollte seine Schlachtpläne vorverlegen? Streitkräfte der Rebellen zum Erdon-Baum schicken? Die Zeit war noch nicht reif dafür, sagte er. Und hinterher? Dass eine hilflose Frau aufgrund gefälschter Beweise aufgeknüpft worden war, ja, diese Wahrheit mussten sie überall verkünden. Dann war die Zeit reif, sehr reif sogar. Es schüttelte Landa immer noch, wenn sie an sein Lächeln dachte. »Wir sind fast da!«, rief sie. »Rückt ein bisschen dichter zusammen!« »Noch dichter? Wir treten uns ja fast auf die Hacken!«, erwiderte Baines, tadelte sich dann jedoch selbst. Was war schon ihre Unbequemlichkeit gegen das Leiden von Goody Olch? Wenn nur der Aufstand der Rebellen Erfolg hatte! Die alte Dienstmagd umklammerte fest die Hand von Zappelphilipp und sah sich nach den anderen um. Wenigstens hatten sie keinen verloren. Morven und Crum trampelten hinter ihnen her. Sie waren als Bauern verkleidet. Es schneite schon wieder. Und tatsächlich, alle waren merkwürdig niedergeschlagen. Das Tuten von Hörnern durchbrach die Stille. Dann erklangen militärische Trommelwirbel. Entsetzt blickten sie über ein Meer aus Pelzhüten zu dem drohenden Schafott, das im Schatten des Erdon-Baumes errichtet worden war. Zappelphilipp schluckte. »Ach, Nirry! Meine arme, arme Nirry!« »Wollen wir sie wirklich retten, Miss Landa?«, fragte Baines. Landas Erwiderung klang distanziert. »Selbst jetzt noch fühle ich die grüne Macht, die wie eine Woge in mir aufsteigt und bereit ist auszubrechen. Kaum zu glauben, dass ich wirklich angenommen habe, die Göttin würde mein Flehen missachten. Sicher, ihre Macht ist hier schwächer, so weit von Vianas Wäldern entfernt. Aber meine Kräfte sind wesentlich stärker. Ich kann Goody Olch retten, darauf verwette ich mein Leben!« »Wenn Ihr das sagt, Miss Landa.« Baines hatte eigent74
lich eher erwartet, dass Bob Scarlet Säbel schwingend von irgendwo auftauchen würde – von wo, das wusste sie nicht genau – und dass dann alles gut werden würde. Bloß nicht schon wieder dieser Magie-Quatsch! Landa klang bereits wieder so, als wäre sie halb in Trance. Sie presste ihre behandschuhten Finger an die Stirn. »Wenn ich meine grüne Macht freilasse, werden die Anhänger des Bösen hilflos sein.« Vertrauen, das war die Lösung. Jetzt musste Landa glauben, dass sie es schaffen konnte. Selbst wenn es nicht gelang. »Dann müssen wir Goody Olch nur noch von hier wegschaffen.« »Und in dem Moment kommt die Verstärkung, ja?« Morven blinzelte, während er sich die Brille abwischte. Wie Crum hatte auch er eine Muskete unter seinem Mantel versteckt. Doch die beiden würden nur wenig gegen die massierten Kräfte der Blauröcke ausrichten können. Sie brauchten eine Rebellenarmee. Und sie würden auch eine bekommen. Oder nicht? »Meine arme Nirry!«, flüsterte Zappelphilipp. Denn jetzt kam der Gefangenentransport. Man führte Nirry die Treppe zum Schafott hinauf. Von einem Ast des Erdon-Baumes hing die Schlinge herunter und wartete auf ihr Opfer. Der Henker war in traditionelles Schwarz gekleidet und ebenfalls bereit. Die Hörner verstummten und auch die Trommelwirbel, und ein Mann vom Tuch stieg auf das Podest und hob ein kleines, schwarz eingebundenes ElOrokon empor. Der Bursche wirkte etwas verstört, als wäre er nicht so recht auf diese Situation vorbereitet. Verlegen richtete er sich den Kragen, wie ein Mann, der sich zu hastig hatte anziehen müssen und jetzt versuchte, es wieder gutzumachen. Während er die Litanei der Sterbenden herunterbetete, verhaspelte er sich häufig in seinem Text. »Ist das nicht… Kaplan Etravers?«, zischte Baines. »Dabei hatte ich gehört, dass Canon Flonce der neue Große Lektor wäre! Eigentlich müssten sie ihn doch zu einer so wichtigen Hinrichtung schicken! Das ist eine Beleidigung der Herrin, das ist – « Baines hätte noch weitergeschimpft, aber Zappelphilipp 75
packte ihren Arm. Seine Stimme klang belegt und brach. »Ich… ich kann es nicht glauben! Der Bursche hinter meiner Nirry… siehst du ihn? Das ist… das ist Carney Floss! Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet er…!« Zappelphilipp versagte die Stimme, und er fiel Baines in die Arme und schluchzte hilflos. Mit Nirry hatte der einfache Bursche ein größeres Glück erlebt, als er sich jemals hätte vorstellen können, und jetzt, schon nach so kurzer Zeit, war dieses Glück vergangen, und eine Traurigkeit würde ihm folgen, die viel, viel größer war und bis ans Ende seines Lebens andauern würde. Und das Ende kam vermutlich auch schneller, als er dachte. Die Trommelschläge wurden wieder laut und auch das Tuten der Hörner. Der Mann vom Tuch trat zurück, nachdem er seine Pflicht erfüllt hatte, und der Henker nahm seinen Platz ein. Er legte Nirry die Schlinge um den Hals. Es schneite noch stärker, und die kahlen Zweige des ErdonBaumes hoben sich deutlich gegen das Weiß ab. Schweigen. Gleich musste die Falltür aufklappen. »Nein!« Den Ruf stieß Carney Floss aus. Er stürmte plötzlich vor, erstach den Henker und dann auch noch den Kaplan. Die Menge brüllte auf. Der Sergeant riss Nirry die Schlinge vom Hals und sprang mit ihr genau in dem Moment vom Schafott herunter, als ein gewaltiger Blitz aus dem Himmel zuckte und den Erdon-Baum in einem Ball aus grünem Feuer verzehrte. Im nächsten Moment herrschte vollkommenes Chaos. »Schnell!«, rief Landa. »Wir müssen sie holen!« Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, und grüne Blitze zuckten aus ihren Händen. Die anderen rannten hinter ihr her. Die Blauröcke sammelten sich bereits. Schüsse peitschten auf, und Morven und Crum erwiderten das Feuer. »Nirry, Nirry…!« Landa riss ihr die Augenbinde herunter. Nirry wirbelte herum. »Carney…!« Was dann geschah, dauerte nur einen winzigen, erbar76
mungslosen Moment. Trotzdem sollte Nirry ihn niemals vergessen. Carney Floss fiel blutend in den Schneematsch. Nirry achtete nicht auf die Schüsse, die Schreie und das Chaos, sondern sank neben ihm in den blutgetränkten Schnee. Erst jetzt brachen sich in ihr die Gefühle Bahn, die sich den ganzen Tag in ihr aufgestaut hatten, und sie weinte haltlos. »Carney… ach, Carney, nein…!« Mit seiner schwieligen Hand strich er ihr über die Wange. »Liebste Nirry… süße Nirry, wie sehr ich dich geliebt habe!« Dann war der Moment vorüber Und Nirry, verloren zwischen Trauer und Freude, blickte hoch und sah Zappelphilipp und Baines, Landa, Morven und Crum und dann auch Hul und Bando, die sie verzweifelt aufforderten, ihnen zu folgen.
»Wie lange noch?« Cata seufzte. Ob sie ihre Reise meinte oder auf Tishys Übersetzungen anspielte, war nicht ganz klar. Jedes Mitglied der kleinen Gruppe hatte sich um die Taille angeseilt, und nun tasteten sie sich einen schmalen, schlammigen Weg hinauf. Cata ging als Erste, dann folgten Jem und Rajal, die Mylas Trage schleppten, und dann Tishy und als Letzter der Kleine. Ejard Orange lief zwischen ihnen herum, mal voraus, mal hinterher. Tishy hatte ihr Buch aufgeklappt und übersetzte angestrengt. Fünf Stab Fünf!. Doch gewaltig war die Rache Ondons, als er herausfand, dass der Vater-Priester Ir-Ion und seine Anhänger geflohen waren und das kostbare Juwel mitgenommen hatten, das seine Herrschaft garantierte. Also nannte Ondon sie Verräter und ließ sie verfolgen, die verräterischen Träger des Juwels des Krüppels.
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Jem stöhnte. »Die Träger des Juwels des Krüppels, also wirklich!« »Wäre es dir lieber, wenn es die Träger von Jem, dem Krüppel, wären?« Cata lächelte »Von Prinz Jemany, wenn ich bitten darf«, erwiderte Jem mit gespielter Förmlichkeit, und Cata verbeugte sich ungeschickt. Beide lachten, aber es war nicht der richtige Moment für Scherze. Auf der einen Seite erhob sich eine schroffe glatte Felswand, und auf der anderen drohte ein tiefer Abgrund. Den ganzen Morgen über war ihre Reise mit jedem Schritt gefährlicher geworden. Rajal schaute besorgt auf Mylas Trage. »Mir kommen allmählich Bedenken, was diesen Pfad angeht«, sagte er. »Ist er zufällig hier oder hat jemand ihn angelegt?« »Wer denn?«, entgegnete Cata. »Im Kristallhimmel lebt niemand.« »Und was ist mit dieser… Einsiedelei?«, gab Jem zu bedenken. »Nun, die ist natürlich ausgenommen – falls diese’ Einsiedelei überhaupt existiert«, konnte sich Cata nicht verkneifen hinzuzufügen. »Natürlich tut sie das«, erklärte Jem. »Vielleicht bedeutet dieser Pfad ja nur, dass wir ihr immer näher kommen. Hoffen wir es einfach.« Sie trotteten weiter, und Tishy las noch eine Strophe vor. Während der Krieg also immer noch das grüne und bewaldete Land verwüstete, scharte Ondon eine Gruppe seiner vertrauenswürdigsten Büttel um sich und ritt eiligst hinter denen her, die ihn hintergangen hatten. Ondon versprach, dass er den Vater-Priester Ir-Ion töten und das Juwel des Krüppels im Triumph zurückholen würde.
»Ich wünschte, wir könnten auch eiligst losreiten«, sagte Rajal bissig. »Müssen wir uns diese Geschichte denn wirklich anhö78
ren?«, beschwerte sich Cata. »Wie wäre es mit einem Liedchen, das uns aufmuntert? Raj, wie wäre es mit einem deiner Lieblingslieder?« »Wie wäre es zum Beispiel mit König und Königin der Schwerter?« »Lieber nicht«, widersprach Jem. »Tishy, mach weiter. Wenn du kannst.« »Ich habe euch ja gesagt, dass dies hier ein bemerkenswerter Fünf- Stab ist«, erklärte Tishy Cata verdrehte die Augen, als sie das Rascheln hörte, als Tishy umblätterte. Wirklich, das war doch einfach lächerlich! Aber Tishy hatte zu viel Angst, den rutschigen, schmalen Grat emporzusteigen, wenn sie nicht zwischen jedem Schritt immer wieder auf die schimmeligen Seiten ihres alten Buches sehen konnte. Cata fing an, sich etwas vorzusummen. Sie hatte diese langweilige Geschichte gründlich satt, und von Tishy hatte sie ebenfalls die Nase voll. Wenn nur Landa statt ihrer hätte mitkommen können! Cata erwartete, dass die nächste Strophe genauso langweilig werden würde wie die vorherigen. Doch es begab sich, dass lange und gefahrvolle Reisen vor dem Monarchen und seinen Männern lagen. Denn die nördlichen Regionen waren heimtückisch, und die Priester, die sie verfolgten, entzogen sich immer wieder ihrem Zugriff. Lange Jahre verstrichen, und sie sind immer noch nicht gefunden worden, als habe eine geheime Magie ihnen bei ihrer Flucht geholfen.
»Gefahrvolle Reisen?«, fragte Cata. »Welch ein aufmunternder Gedanke!« »Ganz zu schweigen von der Vorstellung, dass es lange Jahre dauerte«, sagte Rajal. »So viel Zeit haben wir nicht«, erklärte Jem. »Uns bleiben fünf Tage, schon vergessen?« Rajal lachte freudlos. »Glaubst du wirklich, das könnten wir vergessen?« Dieser Gedanke lastete schwer auf ihrem Gemüt. Mittlerweile war der Weg immer schwieriger geworden, und es war kein Ende abzusehen. Dunkle Wolken 79
verhüllten den geheimnisvollen Berg, und obwohl es mitten am Tag war, lag alles um sie herum tief im Schatten. Die Kristalle pochten nur schwach. Sie stiegen immer höher empor, und es gab keinen Weg zurück, denn die Zeit lief ihnen davon, und der Proviant ging ihnen aus. »Ich denke, dass bald Mittagszeit ist«, sagte der Kleine hoffnungsvoll. Er war immer noch verärgert, dass das Frühstück so mager ausgefallen war. Und das nach dieser langen Nacht, die sie zusammengedrängt in dieser kahlen, verqualmten Höhle zugebracht hatten! Jem seufzte und wollte ihm einen Vortrag darüber halten, dass sie ihre Vorräte einteilen mussten. Mittlerweile waren ihre Nahrungsmittel wirklich bedenklich zusammengeschrumpft. Bedauernd betrachtete er den Beutel, den sich Cata ohne jede Mühe über die Schulter geschlungen hatte. Er holte tief Luft, um anzufangen. Aber der Kleine war bereits abgelenkt. »Was hat du, Ejjy? Was ist los?« Doch der Kleine beantwortete seine Frage selbst. Er schluckte und deutete nach oben, dann nach unten. Die Lilane versammelten sich. Tishy begann mit der nächsten Strophe, aber ihre Stimme klang irgendwie belegt. IV Doch niemals sollte der Monarch seine lange Verfolgung aufgeben, obwohl seine Büttel starben und er altersgrau wurde. Er hatte Erzählungen von einer goldenen Zitadelle gehört, und obwohl seine Wege verschlungen waren, kam er noch rechtzeitig in die Berge, die man den Kristall.
»Was… was sollen wir jetzt tun?«, brach es aus Rajal heraus. »Tun? Wir können nichts tun!«, rief Cata. Sie ging weiter und zog an dem Seil, das sie mit ihren Gefährten verband. »Toth ist uns auf den Fersen, na und? Haben wir etwas anderes erwartet? Wir haben doch alle noch unsere Kristalle, oder nicht?« 80
»Nun, eigentlich – « »Raj, halt den Mund!«, befahl Jem. »Was geht da eigentlich zwischen euch vor?« Cata fuhr herum. Sie waren stehen geblieben und hatten Mylas Trage abgesetzt. Über ihnen sammelten sich die Lilane und kamen immer näher. Tishy hatte nur Augen für ihr Buch. Ihre Brillengläser beschlugen, und sie wischte sie ärgerlich sauber. »Hier wartet eine spannende Enthüllung auf uns, da bin ich mir absolut sicher«, murmelte sie. »Raj, wovon redest du da?«, fragte Cata. »Jem, vertraust du mir nicht mehr? Glaubt ihr nicht, dass ich etwas spüren kann, ihr beiden? Denkt ihr denn nicht…?« Aber was Cata dann spürte, hatte nichts mit ihren beiden Freunden zu tun. Ejard Orange kreischte laut, als ein riesiger Schatten über sie hinwegglitt. Cata schrie und stolperte zurück. »Nein, nein…!« Jem warf sich nach vorn und verwünschte die Seile, die ihn hielten. Es geschah so schnell. Zuerst schrie Cata, und dann rutschte sie von dem Pfad ab. Jem stemmte die Füße gegen den Boden und hielt krampfhaft das Seil fest, das um ihre Taille geschlungen war. »Meine Hand! Nimm meine Hand…!« Doch seine Worte verhallten ungehört. Cata zuckte und wand sich, und das Seil ruckte und verdrehte sich. Verzweifelt bemühten sich die anderen, nicht ebenfalls abzustürzen. Tishy fiel das Buch aus der Hand, und es segelte langsam in den tiefen Abgrund. Seiten lösten sich aus dem Einband und flatterten im Wind. Die Lilane kreischten derweil unablässig und hackten mit Schnäbeln und Klauen auf sie ein. Der Vogel des NichtSeins zog immer noch seinen gewaltigen Kreis und flog wieder in Richtung Ejland – das Reich, das unaufhaltsam der Vernichtung anheim fiel. Und Cata schrie und schrie. Jem schrie ebenfalls. »Oh, Cata! Cata, bitte…!« Konnte er ihre Hand packen? Oder würde sie ihn hinabziehen? Wenn Jem abstürzte, würden auch die anderen in 81
die Tiefe gerissen werden. »Cata! Oh, bitte, Cata…!« Konnte sie ihn überhaupt hören? Er sah nur noch das Weiße in ihren Augen, und ihr Gesicht war zu einer qualvollen Maske verzerrt. Nein, sie konnte ihn nicht hören – für sie gab es nur den Vogel des Nicht-Seins, der sie in der Gewalt seiner schrecklichen psychischen Macht hatte. Dann erscholl plötzlich Gelächter um sie herum. »Bitte!«, stieß Jem hervor. »Oh, Cata! Cata…!« »Cata, komm schon…!«, flehte auch der Kleine. Der Wind peitschte über den glatten Rand des Abgrunds. Ejard Orange sprang und tanzte gefährlich dicht darauf herum. Myla lag reglos da, verwelkt und erschöpft, während Tishy unaufhörlich murmelte, als wäre sie im Bann einer ganz eigenen Vision. »Jem«, sagte Rajal und schob sich ein Stück nach vorn. »Kannst du sie erreichen?« »Ihre Handgelenke! Pack sie an den Handgelenken!« Sie streckten sich so gut sie konnten, doch eine andere Hand, eine Phantomhand, kam ihnen zuvor. Gegen sie gab es keinen Widerstand. Triumphierendes Gelächter erschallte laut in Catas Ohren. Dann hörte sie, wie Jem schluchzte und keuchte, als er sie wieder auf den gefährlichen Pfad zurückzog, genau in dem Augenblick, als der Vogel des Nicht-Seins verschwand. Und als Toths Gelächter erstarb. »Cata, geht es dir gut? Cata, sag etwas!« »Es ist vorbei, Jem«, murmelte sie. »Es ist vorbei…« »Nein!«, rief Jem. »Das glaube ich nicht!« In diesem Augenblick wurde Tishys Gemurmel, das die ganze Zeit nicht nachgelassen hatte, plötzlich zu einer klaren Deklamation. Es war die letzte Strophe des FünfStabs, diejenige, die sie gerade noch rechtzeitig vor dem Verlust des Buches hatte übersetzen können. V Und so kam er zu der goldenen Zitadelle, an den Ort, an dem seine Feinde ganz sicher Zuflucht gesucht hatten. Sterbend stolperte er weiter und verlangte das Juwel
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des Krüppels: Doch als er an die Tore pochte, löste sich eine Lawine und begrub den Suchenden und die goldene Zitadelle unter sich.
Welch merkwürdiger, schrecklicher Triumph ihre Stimme erfüllte! Sie lachte wie verrückt und hätte die Strophe vielleicht sogar wiederholt, wenn Rajal sich nicht umgedreht und ihr eine Ohrfeige verpasst hätte. Tishy sank ernüchtert zurück. »Ich… Es tut mir Leid!« »Die Einsiedelei?«, flüsterte Jem. »Du meinst… sie ist nicht mehr da? Sie ist zerstört worden?« Tishy nickte langsam. Jem schlug die Hände vors Gesicht. Zwei Kristalle sind verloren. Wir können nicht nach Hause gehen. Und wir können auch nirgendwo sonst hingehen. »Harlekin«, murmelte er. »Wie konntest du mich so belügen?« Jetzt war ihre Suche hoffnungslos. Das Einzige, was sie sicher wussten, war, dass der Vogel des Nicht-Seins zurückkehren würde und dass sie keine Möglichkeit hatten, sich seiner Macht zu widersetzen. Noch drei Tage, dann war Toth der Herr dieser Welt. Schließlich brach der Kleine das Schweigen. »Seht… seht doch.« Er schluckte. »Da vorne.« Sie drehten sich langsam um. Durch das Schneetreiben konnten sie eine Gestalt auf dem Weg erkennen. Es war ein Mann, jedenfalls sah es von weitem so aus. Aufgrund der Pelze und eines langen, am Boden schleifenden Umhangs aus dicker Wolle, der in bunten geometrischen Formen gefärbt war, war das nur schwer zu sagen. Der Mann suchte sich sorgfältig mit einem dicken Stab tastend seinen Weg, während er zu den bestürzten Reisenden hinunterstieg. Jem stand zitternd auf, um ihn zu begrüßen. Unter der Pelzkapuze sah er ein rotbraunes, wettergegerbtes Gesicht. Jem zögerte und überlegte, was er sagen sollte. War der Mann vielleicht feindlich gesinnt? Das war alles andere 83
als klar, denn er betrachtete die Reisenden gleichmütig. Dann sagte der Mann etwas, und Jem runzelte die Stirn. »Ich… Es tut mir Leid. Ich verstehe nicht.« »Und ich glaube es nicht!«, rief Tishy atemlos. »Erkennst du die Sprache denn nicht? Er spricht Juvescial, die Zunge des Agonis! Er… er heißt uns willkommen, Jem.« Der Fremde drehte sich um und bedeutete den Freunden mit einem Winken, ihm zu folgen. Es gibt einige höchst ärgerliche Dinge an fremden Sprachen, vor allem, wenn man gereizt, müde oder verängstigt ist. Zum Beispiel bietet sich denen, die sie sprechen, die Möglichkeit, sich denen überlegen zu fühlen, die das nicht tun; dessen war Cata sich wohl bewusst. Dann die Verwirrung, die man bei den anderen hervorrufen kann, wenn man für sie übersetzt; und zu der Zeit war Jem sehr verwirrt. Und dann auch noch der hässliche Klang, den sie in den fremden Ohren erzeugen; und Rajal, dessen Ohren sehr empfindlich waren, schaute ziemlich gequält drein Der Kleine seinerseits fragte sich vor allem, wo wohl das Haus des Fremden sein mochte und welches Essen er ihnen servieren würde, wenn sie endlich da waren. »Ich wünschte, sie würde uns sagen, worüber sie sich die ganze Zeit mit ihm unterhält«, murmelte Cata und deutete auf Tishy und den Fremden. Die beiden gingen voraus und unterhielten sich auf Juvescial, während sie energisch den steilen Hügel emporstiegen. »Er muss erheblich mehr gesagt haben, als sie übersetzt hat. Viel mehr.« »Vermutlich dauert es einfach zweimal so lange, dasselbe in dieser furchtbaren Sprache auszudrücken wie in unserer«, sagte Rajal. »Schrecklich, die ganze Zeit so reden zu müssen. Ich weiß gar nicht, wie er das aushält.« »Raj, du klingst wie Kapitän Porlo«, erwiderte Jem. »Wenn du so weitermachst, sagst du als Nächstes noch ›verdammte Ausländer‹.« »Ich bin schließlich ein Vaga, oder nicht? Aber es gibt Ausländer und Ausländer.« 84
»Was glaubt ihr, was für eine Art Essen er hat?«, mischte sich der Kleine ein. »Wirklich, ihr seid vielleicht zwei!« Cata musste lachen, aber es dauerte nur einen Moment. Dann fiel ihr Blick auf Mylas verwelktes Gesicht. Ihr Kopf rollte auf der Trage hin und her. Mittlerweile atmete Myla kaum noch, und Cata riss beunruhigt ihren Blick von ihr los. Um sich abzulenken, fragte sie bestimmt schon zum dritten Mal, welchen Namen der Fremde hatte. Tishy hatte ihn genannt. »Starzok«, erwiderte Rajal, der den Anblick der Gestalt auf der Trage ebenfalls nicht länger ertragen konnte. »Aber woher kommt er?« »Natürlich aus der Einsiedelei«, behauptete Jem etwas zu hastig. »Dann ist er ein Geist? Hat Tishy uns nicht erzählt, dass dieser Ort zerstört worden ist?« »Glaubst du das wirklich, Raj? Das ist doch nur eine Legende.« »Die Schwesternschaft des Blauen Sturms war angeblich auch eine.« Jem hielt es für das Beste, darauf nicht zu antworten. Er deutete mit dem Kopf auf Ejard Orange. Der große Kater schoss fauchend rastlos hierhin und dorthin, seit sie den Fremden getroffen hatten. »Er hat sich immer noch nicht beruhigt. Was hat er denn nur, Kleiner?« »Es schneit, und er hat keinen Pelzmantel.« »Dafür hat er aber ein Fell.« »Ich wünschte, wir hätten auch eins. Zusätzlich zu den Pelzen«, sagte Rajal. Cata kniete sich in den Schnee und strich dem Kater über das vereiste Fell. Sie runzelte die Stirn. »Etwas beunruhigt ihn, und es ist nicht nur die Kälte.« »Hoffentlich ist es nicht Starzok«, sagte Jem. »Das könnte sein«, erwiderte Rajal. »Irgendwas an dem Mann ist merkwürdig, da bin ich sicher. Immerhin ist er nicht sonderlich neugierig, hab ich Recht? Ich kann kaum glauben, dass sie hier jeden Tag Besucher empfangen, und trotzdem war er nicht im Geringsten überrascht, uns zu sehen.« 85
Cata schüttelte sich. »Vielleicht hat er uns erwartet. Also wirklich, warum kann uns dieses verdammte Mädchen nicht mehr erzählen?« »Das wird sie schon noch tun«, beruhigte Jem sie. »Denkt an etwas anderes.« »Ein Dach über dem Kopf? Ruhe? Essen?« »Vor allem Essen«, sagte der Kleine. Rajal verzog das Gesicht. »Red bloß nicht vom Essen!« »Aber ich mache mir wirklich Sorgen«, beharrte der Kleine. »Myla muss schon fast verhungert sein.« Das brachte Rajal zum Schweigen. Sie trotteten weiter. Der Berg wurde immer steiler, und es schneite immer noch Mittlerweile wies ihnen nur noch Starzoks bunter Umhang den Weg. Er war schon weit vor ihnen, und die bunten geometrischen Muster leuchteten durch den Schnee. Sie waren alle erschöpft. Eine Weile wechselte Cata sich mit Jem und dann mit Rajal an der Trage ab. Der Kleine wollte ebenfalls helfen, aber erneut befahl Jem ihm, Ejard Orange im Auge zu behalten. Außerdem, fügte Cata mit einem kurzen Seitenblick auf Tishy hinzu, gab es da ja auch noch andere, die einspringen könnten. »Es sieht so aus, als würde sie sich prächtig mit unserem neuen Freund verstehen, hab ich Recht?«, sagte Jem. »Wenn es denn ein Freund ist«, unkte Rajal. Jem und seine Gefährten folgten Starzok über eine letzte schneebedeckte Klippe und fanden sich auf einer ebenen Felsplatte wieder, an deren Ende sich hinter einem Koniferendickicht eine Felswand steil in den Himmel emporhob. Es herrschte dichtes Schneetreiben, aber Jem erkannte trotzdem einige zusammengedrängte Gebäude, die in dem Weiß wie graue Phantome wirkten. »Hütten«, sagte er. »Holzhütten.« »Sie sind nicht alle aus Holz«, widersprach Cata. »Und es sind auch nicht alles Hütten.« »Du hast Recht. Einige sind solider gebaut. Vor allem das in der Mitte. Sieh dir die Säulen an. Und diese Veran86
da.« »Siehst du diese Schnitzereien?« Rajal deutete mit dem Kopf. »In den Steinen? Es ist dasselbe Muster wie auf Starzoks Umhang. Was ist das für ein Ort?« »Sein Dorf?«, erwiderte Cata. »Ich weiß, es ist bloß eine Vermutung.« »Wenigstens gibt es hier etwas zu essen«, sagte der Kleine hoffnungsvoll und drückte sich an ihnen vorbei. Er spähte auf die Veranda eines der kleineren Häuser. »Sie bewahren ihre Lebensmittel draußen auf!«, rief er. Jem sah einen großen, pelzigen Schatten, der an einem Haken hing. »Für was hältst du das, Cata?« »Ich würde sagen, es ist ein toter Bär. Oder ein Wolf.« »Ich weiß nicht, ob es mir hier gefällt.« Jem trottete zu Tishy, die immer noch lächelnd neben Starzok stand, der in seiner fremden Sprache unaufhörlich plapperte und stolz auf die Siedlung deutete. »Tishy?« Jem musste ihren Namen wiederholen, bevor sie sich umdrehte. Ihre Augen strahlten hinter den Brillengläsern, und ihre Wangen waren nicht nur vom Wind dunkel gerötet. »Weißt du, wie bemerkenswert das hier ist? Wir haben nicht nur einen juvescialen Sprecher vor uns, sondern auch noch einen, der die Zunge des Agonis beherrscht! Stell dir vor, was für gelehrte Bücher ich schreiben könnte! Wenn ich nur für immer bei ihm bleiben dürfte!« »Möglicherweise hat er genau das im Sinn«, sagte Cata, die zu ihnen getreten war. »Du solltest lieber hoffen, dass er schon eine Frau hat.« »Wa… Was?« Rajal unterbrach sie. »Ich höre Musik.« »Er hat Recht«, erklärte Jem. »Ein Tabor? Eine Blockflöte?« Woher kamen dieses leichte rhythmische Trommeln und diese Melodie? Jem sah sich in die eine Richtung um und Rajal in die andere, aber es war der Kleine, der die beiden alten Männer entdeckte, die wie Starzok gekleidet waren und aus einem der kleineren Häuser kamen. Sie arbeiteten sich durch den hohen Schnee zu ihnen vor, während sie 87
ihre feierliche Musik darboten. Jem wollte Tishy schon fragen, was hier vorging, doch in diesem Moment tauchten noch mehr Dorfbewohner auf und bevölkerten mit ihren bunten, zusammengeflickten Kostümen die Szenerie. Zwei Jungen bewarfen sich mit Schneebällen, duckten sich, liefen herum und lachten. Es waren noch mehr Männer da, jüngere als Starzok und die beiden Musikanten. Und Frauen und Mädchen, deren Gestalt in ihren dicken Pelzen nicht zu erkennen war. Einige hielten vermummte Kinder in den Armen. Langsam sammelten sie sich um die Neuankömmlinge. »Sie sind doch eindeutig freundlich gesinnt«, sagte Jem. »Was für ein Anblick.« »Ganz zu schweigen von dem Geruch«, sagte Rajal leise. Tishy forderte ihn auf zu schweigen, aber Rajal wiederholte die Behauptung nur noch lauter und mit deutlicheren Worten, als wollte er nachdrücklich unterstreichen, dass die Dorfbewohner ihn wohl kaum verstanden. Glücklicherweise taten sie das auch nicht. Mittlerweile drängten sich etwa dreißig von ihnen neugierig um die Fremden, grinsten und betasteten sie. Einer der Jungen packte Ejard Orange ziemlich grob am Kragen und hob ihn hoch. Der Kater heulte, und der Kleine entriss ihn dem Jungen. Er fürchtete, dass sein orangefarbener Freund vielleicht dasselbe Schicksal teilen sollte wie die Wölfe und Bären. Die alten Frauen musterten Myla. Einige berührten sie, und die Trage schwankte bedenklich. Andere, alte und junge gleichermaßen, waren sehr neugierig auf Cata. Sanft, aber bestimmt schob Cata die forschenden Hände weg und zog instinktiv die Kapuze enger um ihren Kopf. Jem wurde allmählich unruhig, und Rajal ging es nicht anders. Er nahm die reglose, gealterte Gestalt seiner Schwester schützend in die Arme. Starzok hob seinen Stab und auch seine Stimme. Er sprach zu den Dorfbewohnern, und seine Worte hatten einen flehenden Unterton. »Wovon redet er?«, rief Jem Tishy zu. Tishy musste ihre Stimme erheben. »Leute von Hier un88
ten auf Erden«, dolmetschte sie aus dem Stegreif, »wir hatten noch nie… er sagt irgendwas von… so feine Bittsteller, dass sie nie so schöne hatten, die gekommen sind und vor dem Kolkon Vera Kion warten wollen…« »Dem was?«, erkundigte sich Rajal, aber Tishy hörte ihn nicht. Sie fuhr fort, sinngemäß zu übersetzen. »Immer kamen welche, die Zutritt suchten, und es waren immer solche, die irgendwie… verwittert und… vergeudet waren, aber diesmal, da ist er sich sicher, sind diese Bittsteller… Aber diese Grammatik, das ist wirklich merkwürdig. Was für merkwürdige Beugungen des – « Tishy hätte noch weiterschwärmen können, aber die Dorfbewohner wurden zudringlicher. Der Kleine umklammerte Ejard Orange fester, und Rajal mühte sich mit Myla ab, aber jetzt wurde Cata der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jem versuchte, die Dorfbewohner wegzuschieben, aber sie ließen sich nicht abschrecken. Rötliche Hände griffen nach Catas Mantel, zupften an ihrer Kapuze. Schließlich fiel sie herab, und Catas dunkles Haar quoll daraus hervor und wehte in dem Schneetreiben. Starzok verstummte schlagartig. Eine Frau schrie auf, dann ein Mann. Dann auch ein Kind. Die Dorfbewohner wichen zurück, und einige warfen sich jammernd in den Schnee. Gleichzeitig schienen Angst und Wut die Menge zu ergreifen. »Was ist denn, was haben sie?«, fragte Jem. Er stürmte vor und schloss Cata in die Arme. »Sie sagen… sie meinen, sie wäre die Kaiserin!«, rief Tishy »Was denn, können sie in die Zukunft sehen?«, wollte Rajal wissen. »Jem sitzt noch nicht einmal auf dem Thron, und ausgerechnet diese Leute – « »Nicht… die Kaiserin von Ejland«, sagte Tishy atemlos, während die Dorfbewohner sie stießen und schubsten. »Sie sagen etwas von der Kaiserin des… des Traums… des endlosen Traums…« »Des endlosen Traums?« Cata war entsetzt. Der Lärm hatte nicht aufgehört, aber Starzok schlug, 89
wenn auch etwas zögerlich, mit seinem Stock um sich. Diesmal klang seine Stimme befehlend und gebieterisch. Die Dorfbewohner wichen wie geschlagene Hunde zurück. »Narren!«, übersetzte Tishy. »Es sind nur Bittsteller wie die anderen auch. Und dieses Mädchen ist eine von ihnen. Sie sind alle nur Bittsteller, seht ihr das denn nicht? Geht jetzt, lasst ab von eurer Narretei! Die Fremden werden nur heute Nacht hier bleiben. Morgen führe ich sie zum Kolkon Vera Kion.« Mit diesen Worten deutete Starzok auf das größte Gebäude, das mit den Verzierungen im Giebel. Einige Male drehte er sich um und bedeutete ihnen mit einem Winken, ihm zu folgen. Jem sah den alten Mann zum ersten Mal lächeln. Seine Zähne waren von einem gelblichen Braun.
»Bittsteller?« »Aber warum hilft er uns?« »Wer ist dieser Starzok?« »Kolkon was?« Die kleine Gruppe der Gäste hatte immer noch viele Fragen, als sie sich in dem von Bergbewohnern überfüllten, schäbigen Gebäude umsahen. Überall waren Feuerkörbe aufgestellt, die das höhlenartige Innere in einen bräunlichen Schimmer tauchten. Mitten in dem Gemach stand ein langer Tisch, der aus einer einzigen Platte zu bestehen schien und von Stühlen mit hohen Lehnen gesäumt war. Häute, Felle und Kadaver hingen von den Dachbalken herunter, während ein schmuddeliges Bettzeug den Boden bedeckte. Jem und Rajal setzten Mylas Trage ab. »Dieser Rauch brennt mir in den Augen«, sagte Jem. »Rauch?«, fragte Rajal. »Was ist mit dem Gestank?« »Einigen von uns scheint beides nichts auszumachen«, erklärte Cata und warf Tishy einen viel sagenden Blick zu. Zwischen den Vorhängen aus Fellen stand ein Regal, das ein Durcheinander aus alten Schriftrollen und halb zerfallenen, in Leder gebundenen Büchern enthielt. Während ihr Gastgeber sich im rückwärtigen Teil der Halle zu schaffen 90
machte, stürzte sich Tishy sofort auf das Regal. Sie konnte ihre Aufregung kaum verhehlen. Draußen hörte man wieder die Tabors schlagen und Flöten pfeifen. Außerdem drang Murmeln ins Innere des Hauses. Die Dorfbewohner drängten sich offenbar auf der Veranda zusammen. Jeder war darauf bedacht, den Fremden möglichst nahe zu sein. »Sie müssen doch frieren!« Cata schüttelte sich und zog ihren Mantel enger um sich. »Mir ist jedenfalls kalt, selbst hier drin.« Der Kleine fröstelte ebenfalls, wenngleich aus einem anderen Grund. Er drückte Ejard Orange nervös an sich, während er die Felle und Pelze an den Deckenbalken betrachtete. »Ich glaube, ich sehe keine Katzenfelle. Jedenfalls keine orangefarbenen.« »Ich frage mich, wer dieser Junge ist.« Jem streckte die Hand aus. Am Feuer steckte ein großes Stück Fleisch zischend und fettspritzend auf einem quietschenden Spieß, den ein buckliger Junge drehte. Er warf den Gästen einen verstohlenen Blick zu. Starzok schrie und gab dem Jungen einen Schlag auf den Kopf. Offenbar befahl er ihm, wieder an seine Arbeit zu gehen. Dann kehrte der alte Mann lächelnd zu seinen Gästen zurück. »Sieht aus, als wollte er, dass wir uns hinsetzen«, sagte Cata. »Sollen wir?« Zögernd folgten Jem und der Kleine der Einladung, Rajal dagegen blieb neben Myla hocken. Vielleicht lag es an dem Schattenspiel der Feuerkörbe, aber ihr Gesicht sah noch verwelkter aus als zuvor. Traurig wandte Rajal sich ab und zog einen Stuhl von dem Tisch heran. Das Sitzmöbel war zwar abgenutzt, aber mit feinsten Schnitzereien verziert. Anderes Schnitzwerk verzierte den Tisch und die Balken an der Decke. Goldene Bilder schimmerten dämmrig an den Wänden, von der Finsternis zwischen den Feuerkörben beinahe verborgen. Dabei war dieses Dorf so arm, so bedürftig! Konnte es ein Überbleibsel, ein letzter Außenposten einer einstmals 91
großartigen Zivilisation sein? Mit einer leidenden Miene kam der Bucklige mit silbernen Humpen herbei, die ebenfalls schön ziseliert waren, und füllte sie aus einem schweren Krug. Die vier an der Tafel schnüffelten unbehaglich, zunächst wegen des stechenden, modrigen Gestanks des Jungen und dann wegen des grauen, wässrigen Schnapses, den er serviert hatte. Zögernd ließ sich auch Tishy am Tisch nieder, nicht ohne eine Schriftrolle und ein paar Bücher von dem Regal mitzubringen. »Du wirst doch wohl mit uns reden?«, fragte Cata. »Ich möchte wissen«, sagte Jem, »wer diese Leute sind.« »Der Junge heißt Blayzil«, erklärte Tishy. »Er ist Starzoks Sohn, sein einziger Sohn, und seine Schande. Jedenfalls hat der alte Mann das gesagt.« Mit Genießermiene schwenkte Tishy die Flüssigkeit in ihrem Becher, trank einen Schluck… und prustete. Cata konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Genau«, sagte sie. »Was ist nun mit all diesen Dorfbewohnern?« »Die Leute von Hier unten auf Erden«, murmelte Tishy mit gerötetem Gesicht. »So nennen sie sich selbst.« »Hier unten?«, fragte der Kleine und beäugte seinen Humpen. »Unter diesem Kolkon-Ding?«, vermutete Cata. Blayzil schaffte Teller und schmutziges Geschirr heran. Er schmollte zwar, aber seine Blicke glitten lebhaft hin und her. Hätte er nicht Angst vor dem Zorn seines Vaters gehabt, hätte er sich bestimmt wie ein Hund in der Nähe der Gäste herumgedrückt. Cata war froh, dass er es nicht tat, und lächelte ihm gezwungen zu, wobei sie sich bemühte, möglichst nur durch den Mund zu atmen. Ejard Orange war weniger diplomatisch. Er befreite sich aus den Armen des Kleinen und flüchtete über den gemusterten Teppich. Jem runzelte die Stirn. »Kolkon Vera Kion… Berg des Realen?« »Du hast also tatsächlich etwas gelernt!« Tishy war sichtlich beeindruckt. 92
»Aber, Tishy, was ist mit dir?«, fragte Rajal. »Oder vielmehr, was ist mit Starzok? Hast du herausgefunden, warum er uns hilft? Komm schon, er muss dir doch etwas erzählt haben.« Tishy verzog das Gesicht. »Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie wenig.« Blayzil kam wieder, diesmal mit einem fetttriefenden Stück Fleisch. Sofort vergaß Ejard Orange seine Abscheu. Mit einem lauten Miau sprang er auf den Tisch, bereit, seinen Teil vom Teller des Kleinen zu fordern. Im gleichen Moment ertönte von draußen ein hohes, angestrengtes Keifen, wie ein Echo zu seinem Maunzen. Arger zeichnete sich auf Starzoks Miene ab. Er stand auf und ging zur Tür. Er riss sie auf und schrie in die Nacht hinaus. Man hörte so etwas wie einen Schlag. Die Stimmen wurden leiser, ebenso die Musik, und dann hörte man das Scharren von vielen fliehenden Füßen. Starzok kehrte wieder zurück und nahm seinen Platz am Kopfende der Tafel ein. Dann zerteilte der alte Mann sein brutzelndes Fleisch. Jem und seine Freunde versuchten, dankbar zu wirken, aber es war nicht leicht. Eine dicke Speckschicht bedeckte jede Scheibe, und weiße Fettringe marmorierten das braune, schleimige Fleisch. Lächelnd deutete Starzok auf den Kleinen. »Er möchte, dass du neben ihm sitzt«, erklärte Tishy. »Bist du sicher, dass er nicht Ejjy möchte?«, murmelte Rajal. »Vielleicht als ersten Gang?« Eine Weile verlief die Mahlzeit still, oder vielmehr ohne Worte. Das Feuer knackte im Kamin, und die Feuerkörbe knisterten ebenfalls. Der Wind zerrte an den Fensterläden, und man hörte das zögerliche Schaben des Bestecks der Gäste sowie das muntere Knirschen von Starzoks Kiefer. Der Bergmensch hatte bald alle Manieren zusammen mit seiner Gabel und seinem Messer fallen lassen, riss jetzt mit schmutzigen Fingern an dem Fleisch und schlürfte und grunzte, während er es sich in den Mund stopfte Grinsend hielt er nur inne, um den Kleinen zu tätscheln, ihm in die Wangen zu kneifen und ihm mit fröhlichen Ges93
ten zu bedeuten, zu essen, tüchtig zu essen. Mittlerweile hockte Blayzil in seiner Ecke und wimmerte und duckte sich wie ein geprügelter Hund. Einmal knurrte Starzok wütend und warf ihm eine Scheibe Fett zu. »Er sagt… er wünscht sich, dass er seine Tochter noch hätte, statt diesem nutzlosen Sohn«, übersetzte Tishy »Seine Tochter?«, fragte Jem. »Was ist mit ihr passiert?« »Vermutlich verhungert, wenn er sie so behandelt hat wie seinen Sohn«, erwiderte Rajal. »Es sei denn, natürlich, er hätte sie so behandelt wie den Kleinen.« »Kein Wunder, dass sie davongelaufen ist«, erklärte Cata. »Hältst du es noch aus, Kleiner?« »Immerhin ist es besser, als draußen zu sein, hab ich Recht?« Jem klang jedoch nicht sonderlich überzeugend und trank erneut einen Schluck von dem gräulichen Schnaps. Er war überraschend stark und schaffte es wenigstens, den Geschmack des Bärenfleisches oder Wolfsfleisches – oder was es auch immer für Fleisch sein mochte – zu vertreiben. »Tishy, kannst du nicht versuchen, mehr aus ihm herauszubekommen? Du hast ihn doch vorher auch zum Reden gebracht.« »Wahrscheinlich haben sie über Grammatik diskutiert«, erklärte Cata bissig. Tishy errötete, aber bevor sie antworten konnte, ertönte draußen wieder die Musik der Tabors und Flöten. Starzok blickte scharf hoch, aber diesmal war es Blayzil, der plötzlich hochsprang. Er grinste und tanzte unbeholfen in dem Raum umher. Dann sang er, als wäre er verrückt geworden, und seine brüchige Stimme übertönte die Musik. »Was macht er da?« Jem befürchtete schon, dass Starzok den Jungen windelweich prügeln würde. Aber der alte Mann schien wie gebannt zu sein, selbst als der Junge durch den Raum tanzte, dabei die ganze Zeit sang und schließlich die Türen aufriss. Ein eiskalter Windhauch fegte herein und blies die Feuerkörbe aus, und die Dorfbewohner stampften im Kreis um den Tisch und füllten den nur von einem Kaminfeuer erhellten Raum mit ihrer wilden, merkwürdigen Musik. 94
Starzok saß derweil da, lachte und klatschte im Takt. »Er hat offenbar seine Meinung geändert«, bemerkte Rajal. »Tishy«, sagte Cata. »Was ist das für ein Lied? Worum geht es darin?« »Diese Melodie«, murmelte Jem. »Ich habe sie schon einmal gehört.« Tishy bemühte sich, die Worte zu verstehen. »Diese… Die Kaiserin, es geht um die… Kaiserin…« »Die Kaiserin des endlosen Traums?«, fragte Cata. »Aber wer ist sie?«, wollte Rajal wissen. »Was ist sie?« Das Lied endete genauso plötzlich, wie es begonnen hatte, und die Dorfbewohner waren wieder hinausgestampft und hatten die Türen hinter sich zugeschlagen. Nur Blayzil war noch da, grinste und verbeugte sich, während sein Vater applaudierte. Jem und seinen Freunden blieb nichts anderes übrig, als in den Applaus mit einzustimmen. Verwirrt starrten sie im dämmrigen, rötlichen Schein des Kaminfeuers erst Blayzil an, dann Starzok und schließlich sich gegenseitig. Starzok plapperte plötzlich los, und seine Worte überschlugen sich beinahe. »Er sagt… er sagt, er wusste, dass sie ihn holen würden«, erläuterte Tishy »Es sieht so aus, als wäre dieses Lied ein Ritual. Wenn es einmal begonnen worden ist, kann man es nicht mehr aufhalten.« »Aber wozu dient es?«, erkundigte sich Jem drängend. »Ja«, unterstützte ihn Rajal. »Was bedeutet es?« Tishy zuckte mit den Schultern und deutete auf die Rollen und Bücher, die um sie herum auf dem dunklen Tisch verstreut waren. Zu ihrer Enttäuschung schien Starzok sich in dem Dämmerlicht ganz wohl zu fühlen. Jedenfalls machte er keine Anstalten, die Feuerkörbe wieder anzuzünden. Er hackte ein frisches Stück Fleisch ab und bediente besonders großzügig erst den Kleinen und dann Tishy. Dann nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Humpen und befahl Blayzil nachzuschenken, bevor er den anderen bedeutete, die Mahlzeit fortzusetzen. Aber mittlerweile hatte keiner seiner Gäste mehr besonderen Appetit, auch wenn 95
Rajal feststellte, dass ihm der gräuliche, starke Schnaps allmählich zu schmecken begann. In dieser Nacht sollten sie anscheinend keine Antworten finden. Doch als Starzok seine Mahlzeit beendet hatte, lehnte er sich mit dem Humpen in der Hand zurück und wurde überschwänglich. Er zog den Kleinen dichter an sich, drückte und liebkoste ihn. »Er sagt, der Kleine ist ein guter Junge«, übersetzte Tishy. »Ein sehr guter Junge.« »Wirklich?«, fragte Rajal. »Woher weiß er das?« »Er sagt, er hätte lieber den Kleinen als Sohn, nicht Blayzil.« Der Kleine wand sich im Griff des stinkenden alten Mannes. Jem und die anderen waren peinlich berührt und auch angewidert. Aber eine merkwürdige Furcht hinderte sie daran einzugreifen. Außerdem hatten sie mittlerweile alle reichlich dem Schnaps zugesprochen. Unter ihrem getrübten Blick schien der Saal ein wenig zu schwanken, und die Schnitzereien schienen sich zu bewegen und hervorzutreten. Und dann begann Starzok von der Kaiserin zu sprechen. Tishy übersetzte. »Sie ist diejenige, welche aus dem Jenseits ruft… Sie ist diejenige, die ruft… Sie ist diejenige, die – « »Na, das erklärt dann ja alles!«, rief Rajal. »Raj, leise!« Jem hob beschwichtigend die Hand. »Das ist wirklich faszinierend«, murmelte Tishy, nachdem der alte Mann eine Weile weitergesprochen hatte. »Kaum vorzustellen, dass eine ganze uralte Mythologie der Wissenschaft verloren gehen soll. Wenn ich nur diese Rollen studieren könnte, diese Bücher… Wer weiß schon, welche Schätze in ihnen verborgen sind?« Cata war ungeduldig. »Aber, Tishy, was sagt er?« Tishy rückte ihre Brille zurecht. »Ich fürchte, es ist ein bisschen vage. Diese Kaiserin, wisst ihr, also sie war… na ja, er sagt, sie ist, aber ich traue seinen Zeiten nicht, er bringt sie ständig durcheinander, als wenn Vergangenheit und Gegenwart – « 96
»Übersetz weiter, Mädchen!«, fuhr Cata sie an. Tishy gehorchte. »Na ja… es scheint so, als war sie… als wäre sie eine Art von Geist… aber nicht wirklich ein Geist wie ein Gespenst, eher eine Art von… geistigem Wesen, das sich selbst aus dem Reich des Unergründlichen manifestiert, eine Art von… Rufer, die diejenigen sucht, oder die eine sucht, in dem Punkt ist er ziemlich vage… Also wirklich, die Sprache ist ziemlich degeneriert. Das zeigt nur, was ohne ordentlichen, systematischen Unterricht passiert –« »Tishy!«, schnauzte Rajal sie an. »Diejenigen, die… was?« »Diejenigen, die zu der Einsiedelei gehen, natürlich.« Jem zuckte zusammen. »Was? Aber wir-« »Ich habe es gewusst«, murmelte Cata, »ich habe es ganz sicher – « »Cata? Was sagst du da?« Jem drehte sich zu ihr um, doch in dem Moment sprach Starzok schneller, und Tishy musste sich anstrengen, um seinen Worten folgen zu können. Sorge flammte in den Augen des alten Mannes auf, und er unterstrich seine Worte mit weit ausholenden Handbewegungen. »Er spricht von seiner Tochter, seiner verschwundenen Tochter«, erklärte Tishy »Ihr Name war Mishja, die süße kleine Mishja. Es gab niemals ein schöneres Kind und niemals einen glücklicheren Vater, bis die Rufe kamen und Mishja wegging… Ach, aber die Rufe waren nur in ihrem Kopf! Wie viele vor ihr war auch die arme Mishja, die verrückte kleine Mishja, geblendet von einem Phantom im Schnee und hatte dem gehorcht, was sie für einen heiligen Ruf hielt. Leider war ihr nicht klar, dass dieser Ruf eine Täuschung war. Undenkbar, dass sich ein einfaches Dorfkind zu den Fünf Gerufenen zählen und ernsthaft glauben konnte, dass man sie in der Einsiedelei empfangen würde!« »Moment mal«, sagte Rajal. »Die Einsiedelei… ist sie da oder ist sie verschwunden?« »Ist sie real oder eine Illusion?«, mischte sich Cata ein. »Was ist mit der Lawine?«, hakte Jem nach. 97
Starzok war verstummt und umarmte tränenfeucht den widerstrebenden Kleinen. Tishy bearbeitete den alten Mann mit ernsten Fragen, und aus seinen gebrochenen Antworten konnten sich die Freunde endlich das Bild zusammensetzen, das sie so lange gesucht hatten. Erstaunt erfuhren die Freunde, dass die Einsiedelei vor Äonen tatsächlich von einer Lawine verschüttet worden war. Aber Starzok behauptete, dass dies nicht das Ende der Geschichte sei, denn am Ende jedes Fünfer-Zyklus erschien die Einsiedelei wieder. Zu diesem Zeitpunkt kamen die Bittsteller, die der Kälte trotzten und eifrig Zutritt durch das Heilige Portal erbaten. Der Kleine wand sich in Starzoks stinkender Umarmung. »Aber warum? Weshalb?« »Von wo kamen sie?«, fragte Jem. »Aus diesem Dorf?« »Von hier«, sagte Tishy, »und von weit weg. Starzok sagt, dass sich irgendwie die Legende verbreitet haben muss, weit hinaus in die Welt hinter diesen hohen Bergen. Das stimmt wohl auch, nicht wahr? Denkt nur an das Buch, das ich heute verloren habe. Es gab immer welche, sagt er, die sich berufen fühlten und keine andere Chance hatten, als dem Ruf zu folgen. Es waren zwar nur wenige, aber sie kamen und setzten alles auf eine, wenn auch nur scheinbare Aussicht auf ewige Wonne, auf das, was er die Akzeptierten nennt. Ja, die Akzeptierten.« »Ich glaube nicht, dass mir das gefällt«, sagte Cata. »Was meint er mit… nur scheinbar?«, erkundigte sich Jem. Starzok lachte, als hätte er die Frage verstanden. Aber als Tishy seine nächsten Worte übersetzte, schien es, als hätte er an etwas ganz anderes gedacht. »Aber ihr«, sagte er laut Tishys Übersetzung, »aber ihr seid die Fünf. Ja, ihr seid ganz sicher die Fünf Gerufenen.« Der alte Mann grinste immer noch und drückte den Kleinen besonders innig. Dem traten beinahe die Augen aus den Höhlen. »Ehm… wir sind aber zu sechst«, erklärte Rajal und warf der reglosen Myla einen wehmütigen Blick zu. Starzok hatte sich für sie bisher noch gar nicht interessiert. Das fand 98
Rajal mehr als nur seltsam. Er presste sich die Hand auf die Stirn und wünschte sich jetzt, er hätte weniger von diesem gräulichen Schnaps getrunken. Jem wünschte sich dasselbe. »Das stimmt, wir sind sechs«, sagte er gedehnt. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in Starzoks Blick. Tishy übersetzte wörtlich. »Aber ihr haltet euch für die Auserwählten, habe ich Recht? Das tut ihr ganz gewiss, und ihr müsst froh sein, dass der Ruf, den ihr gehört habt, wahr ist und nicht falsch. Leider dachte meine arme Mishja einmal dasselbe! So schön war sie, wie die Morgenröte im Vergleich zur Dämmerung, und sie sammelte ihre Gefolgsleute um sich. Die folgten ihr nur zu gern, und sie waren vollkommen sicher, dass sie durch das Heilige Portal gelassen würden. Da war Ekik, ihr Verlobter, Lanzik, sein bester Freund, Jamaja, meine Frau, und mein kleiner Sohn Blayzil. Ich tat alles, was in meiner Macht stand, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten! Welchen Erfolg hatte ich? Sie gingen trotzdem, aber wie bei allen falschen Suchenden wartete das Verhängnis schon auf sie, lange bevor sie die Einsiedelei erreichten. Es war ein dunkler Tag, und es herrschte dichtes Schneetreiben. Und der Weg war beschwerlicher als zu jedem anderen Zyklus der Jahreszeiten. Diese Narren! Auf Gijoks Grat taten sie ihre tödlichen Fehlschritte. Der gefährliche Abgrund verschlang sie, meine Tochter, ihren Verlobten, seinen Freund und meine Frau. Nur Blayzil überlebte wie durch ein Wunder, um mir die Geschichte zu erzählen. Nur Blayzil, der arme, verfluchte Blayzil! Ach, wäre es doch ein anderer gewesen!« Starzok wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Beinahe brutal schob er den Kleinen weg, stand hastig auf, sodass sein Stuhl quietschend über den Boden rutschte. Er überragte seine Gäste wie eine wütende, heruntergekommene Gottheit. Einen Moment fürchteten sie, dass der alte Mann jemandem Gewalt antun könnte, vielleicht ihnen, vielleicht Blayzil, vielleicht sogar sich selbst. Stattdessen schlurfte er undeutlich murmelnd davon. 99
»Wie nett«, bemerkte Rajal. »Das ist vielleicht ein Gastgeber!« »Raj, leise! Tishy, was sagt er jetzt?«, fragte Jem. »Dass wir schlafen müssen«, erwiderte Tishy »Wir alle müssen schlafen gehen. Morgen wird er uns bei Tagesanbruch zur Einsiedelei führen.« »So einfach ist das?« Jem schluckte und sah Starzok nach, dessen Gestalt sich dunkel vor dem rötlich flackernden Feuer abhob. »Geht es dir gut, Kleiner?«, flüsterte Jem. »Immerhin bin ich noch nicht zerdrückt worden«, erwiderte der Kleine ebenfalls im Flüsterton. Jem lächelte. Der Kleine war über die Liebkosungen Starzoks ziemlich empört gewesen. Jetzt war der alte Mann schlafen gegangen. Er hatte sich in eine separate Kammer zurückgezogen und seinen Gästen die schäbigen Felle und Decken überlassen, die haufenweise an den Wänden des Speisesaals herumlagen. Blayzil hatte unterwürfig gegrinst. Er schien gern bei ihnen bleiben zu wollen, aber Starzok hatte ihm eine Kopfnuss gegeben und den heulenden Jungen danach in sein eigenes Gemach geschickt. Im Kamin knisterten frische Holzscheite. »Bist du sicher, dass du nicht frierst, Kleiner?«, fuhr Jem fort »In Unang war es nie so kalt wie hier, das kann ich jedenfalls mit Sicherheit behaupten. Aber ich habe schließlich Ejjy Er ist besser als jede Decke.« »Natürlich ist er das.« Jem kraulte den großen Kater hinter den Ohren, die gerade noch unter dem Bettzeug des Kleinen hervorlugten. Dann wandte er sich ab. »Versuch jetzt, ein bisschen zu schlafen, hm?« Der Kleine gähnte. »Ejjy schläft schon.« »Ich meinte euch beide.« »Jem?« Jem drehte sich wieder um. »Glaubst du das wirklich? Ich meine das mit der Einsie100
delei und alles? Werden wir wirklich hineingelassen?« »O ja, das glaube ich«, flüsterte Jem. »Wir müssen hineinkommen.« Aber insgeheim hegte er Bedenken. Was hatte Starzok gemeint, als er von den Fünfen sprach? Jem versuchte durch den dämmrigen Saal die Stelle zu erkennen, an der Rajal neben der reglos daliegenden Myla sein Lager aufgeschlagen hatte. Wenn man Starzoks Worten Glauben schenken konnte, war der Weg, der vor ihnen lag, sehr tückisch. Würden sie Myla mitnehmen können? Und was sollten sie tun, wenn das nicht ging? Er fühlte sich hilflos und hasste ihre Abhängigkeit von Starzok. Aber das ist ungerecht, dachte Jem. Was sollten wir ohne den alten Mann tun? Oder ohne Tishy? Während sich Jem zu seinem improvisierten Bett zurücktastete, kam er an der zusammengekauerten, dunklen Gestalt der jungen Gelehrten vorbei, die überraschend schnell in einen lautstarken Schlaf gesunken war. Zweifellos lag das an dem gräulichen Schnaps. Sie hatten viel zu viel davon getrunken, weil sie unbedingt den widerlichen Geschmack des Fleisches hatten unterdrücken wollen. Selbst der Kleine. Und jetzt wünschte sich Jem, er hätte es nicht getan. Mehr als einmal fühlte er die Schwere seiner Glieder und ein plötzliches Schwanken, als würde sich der Saal bewegen. Er legte sich neben Cata und schlang den Arm um sie, als es ihn plötzlich schüttelte. Wenn sie nur allein wären! Er glitt mit seinen Lippen zu ihrem Ohr. »Schläfst du noch nicht?« »Ich glaube, in diesem Bettzeug hausen Flöhe.« Jem lachte leise. »Tishy haben sie jedenfalls nicht gestört.« »Die lassen sie natürlich in Ruhe. Sie ist viel zu blutarm.« »Ha! Ich wette, du wünschst dir, dass du auch Juvescial gelernt hättest.« »Willst du damit andeuten, dass ich eifersüchtig bin?« Cata rollte sich zu ihm und presste sich an Jem. Durch ihre 101
dicken Pelze konnten sie kaum die Umrisse ihrer Körper fühlen. »Trotzdem, immer noch besser als vieles, was ich sonst so getan habe.« »Ich könnte mir etwas noch viel Besseres vorstellen.« »Und das ist auch etwas, woran du nur denken kannst. Reg dich ruhig wieder ab.« »Woher wusstest du das? Außerdem kann ich nichts dagegen tun.« »Das behaupten sie alle.« Sie küssten sich zärtlich, bis Cata schließlich atemlos zurückwich. »Das reicht jetzt. Schließlich hat mir das überhaupt erst den ganzen Ärger eingehandelt.« »Ärger?« Jem verstand zunächst nicht. Seit sie wieder mit Jem zusammen war, war Cata oft kurz davor gewesen, ihm von ihrem gemeinsamen Kind zu erzählen. Aber immer wieder hatte sie sich gesagt, dass die Zeit dafür noch nicht reif war, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu beunruhigen, und dass sie warten sollte, bis ihr Abenteuer vorbei war. Doch jetzt sprudelten die Worte ganz unerwartet aus ihr heraus. »Weißt du noch, diese Nacht in Unang Lia? Wenn du mich jetzt fragst, welche, dann trete ich dich dorthin, wo es wirklich wehtut… Na ja, sagen wir einfach, jemand hätte dich lehren sollen, wie man aufpasst.« Jem richtete sich hastig auf. Er war gleichzeitig verwirrt, entzückt und verängstigt. Er hätte lachen, weinen und jubeln, herumspringen und in die Luft boxen können. Stattdessen nahm er nur Catas Hände, und seine Stimme klang belegt, als er sagte: »Ach, Cata, Cata! Aber… du dummes Mädchen! Du rennst herum wie eine Verrückte, du bist geklettert, du hast – « »Leise, Jem, du bist ja genauso schlimm wie Nirry! Noch bin ich nicht so breit wie ein Scheunentor, hab ich Recht? Komm schon, ich bin aus härterem Holz geschnitzt. Wenigstens das müsstest du doch wissen.« »Aber… Du hast das alles allein durchgestanden?« »Das brauchte ich nicht. Nirry war ja da.« Cata lächelte. »Sie hat es natürlich sofort gemerkt. Als ich mich das erste Mal morgens übergeben musste, hat sie mich sofort miss102
trauisch beäugt! Sie war zwar ein bisschen schockiert, aber ich habe ihr gesagt, dass wir verheiratet wären… Das sind wir doch, Jem, stimmt’s?« Jem dachte an die merkwürdige Zeremonie in Unang Lia auf der Treppe vor dem Heiligtum der Flamme. »Na ja, du hast damals eine fremde Prinzessin verkörpert.« »Und du einen fremden Prinzen. Und die beiden sind getraut worden. Also?« Jem lachte. »Sollen wir es noch einmal tun?« »Was denn, in einem agonistischen Tempel?« »Besser wäre es. Immerhin wirst du Königin, wenn ich König werde.« Staunend strich Jem mit der Hand über Catas Bauch, als erwarte er, schon einen geschwollenen, dicken Hügel zu ertasten. »Ich kann es kaum glauben. Wie wollen wir ihn denn nennen, unseren Sohn und Erben?« »Sohn? Typisch Mann. Es könnte auch ein Mädchen sein.« »Cata, ich habe gespürt, wie er strampelt!« »Das hast du nicht. Es ist noch viel zu früh.« Aber Jem wollte sich nicht darüber streiten. Glücklich sank er wieder in Catas Arme. »Ach, Cata, ich liebe dich so sehr.« Eine Weile lagen sie vollkommen glücklich nebeneinander, als wären sie in eine andere Sphäre transportiert worden, weit weg von diesem kalten Ort. Keine Gefahr bedrohte sie, und ihre Feinde, ja selbst ihre Freunde kamen ihnen merkwürdig irreal vor. Es war fast, als wäre ihr Abenteuer bereits Vergangenheit, wäre ein Traum, aus dem sie erwacht waren. Cata brach den Bann. Sie rutschte unruhig hin und her. »Aber, Jem, was wollen wir tun? Ich habe ja versucht, tapfer zu sein, aber das hier ist zu viel. Raj hat seinen Kristall verloren… und meiner ist ebenfalls weg. Das bedeutet, wenn der Vogel des Nicht-Seins wiederkommt, ist der Kleine an der Reihe.« Zögernd zwang sich Jem, ihre Lage nüchtern zu beurteilen. »Ich weiß, Cata. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich zu dieser Einsiedelei der Winde gelangen. Starzok sagte ja, dass wir schon in aller Frühe aufbrechen wür103
den.« »Vertraust du Starzok denn? Ich nicht, kein bisschen. Warum sollte er uns helfen? Und wenn er den Kleinen so mag, wieso hasst er dann seinen eigenen Sohn? Dass seine Frau tot ist, scheint ihn nicht sonderlich zu bedrücken, hab ich Recht? Ist dir das auch aufgefallen?« Jem musste ihr kleinlaut zustimmen. Aber was konnten sie schon tun? Er küsste Cata, strich ihr übers Haar und drängte sie zärtlich einzuschlafen. Aber nach wenigen Augenblicken flüsterte sie weiter. »Und wie oft hat er deiner Meinung nach Gäste? Dieses Bettzeug lag schon hier bereit, als wir gekommen sind, stimmt’s? Es schien auf uns zu warten.« »Shh, Cata.« Jem wollte sie küssen, hielt aber inne, als er wieder diese Übelkeit verspürte. Wie sehr er sich wünschte, dass er diesen gräulichen Schnaps nicht angerührt hätte! Ein Scheit rutschte Funken sprühend im Kamin herunter. Später sollte Jem annehmen, dass er eine Weile geschlafen hatte. Er wurde von einem Stechen in der Seite geweckt. Der harte Boden war durch das Bettzeug fühlbar, und ihm war kalt Er starrte in die Dunkelheit und überlegte, ob er sich dazu aufraffen konnte, aufzustehen, sich durch den Saal zu tasten und neues Holz aufzulegen… Nein, er würde sich lieber an Cata pressen… Das ferne, rötliche Glühen ließ die Schatten tanzen. Ja, Cata… Jem schloss die Augen und dachte an die Lilane, stellte sich vor, wie sie hier in Starzoks Kammer waren. Konnten sie sich hinter den herabhängenden Häuten verbergen, über den Dachbalken lauern, die kreuz und quer unter der Decke verliefen? In seinen Gedanken sah er, wie die Lilane herunterflatterten und sich den schlafenden Gästen näherten; er sah, wie die einzelnen Vogelwesen sich zu der Gestalt eines Mannes zusammenfügten. Und dieser schimmernde Mann erhob sich über ihn und griff nach dem verborgenen Kristall… Er richtete sich erschrocken auf. Es war nur ein Traum, 104
ein Traum… »Ach Cata, Cata…«In dem Moment empfand Jem wirkliche Furcht. Er tastete nach Cata. Sie war fort. Mittlerweile war das Kaminfeuer vollkommen erloschen, und alles, was Jem sah, war eine samtige Dunkelheit. Ihn fröstelte, und er rieb sich die Arme. Er hörte die Atemzüge seiner Freunde und das schneidende Heulen des Windes. Aber da war noch etwas anderes. Durch den Wind hörte er eine Musik, ein leises, hohes Klagen, leiser als die Atemzüge von Jems Freunden und höher als das Wehklagen, das er vorher gehört hatte. Er drehte sich herum und versuchte vergeblich, in dem Dunkel etwas zu erkennen. Es kam von draußen. Waren die Dorfbewohner etwa wieder da? Ein Fenster klapperte im Wind, und Jem glaubte einen Flecken Farbe zu erkennen, ein purpurnes Glühen, das durch eine Spalte in dem Fensterladen zu sehen war. Er warf sein Bettzeug zurück, tastete nach seinen Stiefeln und zog sie rasch an. Dann kroch er zur Tür und stolperte dabei wie ein Blinder durch den Saal. Die Kammer hinter ihm wirkte wie eine riesige, samtschwarze Leere Erneut glühte es draußen, erst purpurn, dann grün. Dann spürte Jem, wie etwas gegen seine Beine stieß, und blickte nach unten. Er sah in zwei golden glühende Augen. Ejard Orange miaute. Jem war erleichtert, aber das Gefühl hielt nur einen Moment an. Die Katze drängte ihn mit einem leichten Schubs zur Tür. Durch die Schlitze in den Fensterläden drang Licht, erst rot, dann blau. Was war das für eine Musik? Und was war das für ein Lied? Kommt, seht an die Kaiserin des endlosen Traums! Nunmehr ist nichts mehr, wie es einst schien: Gold wird glänzend, Zeit wird fließen, Wenn Ihr die Kaiserin des endlosen Traums seht! 105
Jem durchströmte eine dunkle Vorahnung. Er riss die Tür auf und stolperte zurück, als die volle Kraft des Windes ihn traf. Schneeflocken klatschten ihm ins Gesicht, und er hielt sich eine Hand vor die Augen. Aber in dem Schneetreiben sah er eine erschreckende Szene. Entsetzt kämpfte er sich zur Veranda vor. »Cata! Cata, was machst du da?« Ah, seht die Schwester der Heiligen Nacht, Deren strahlender Blick Euch blendet: Endloses Licht, Zeitloser Flug Das erwartet Euch bei der Schwester der Heiligen Nacht… Barfuß und nackt tanzte Cata im Schnee. Ihre Pelze lagen auf dem Boden verstreut. Sie schritt und sprang durch das pudrige Weiß, wirbelte und schwang sich mit unglaublicher Eleganz herum, und ihre Haut glühte in Regenbogenfarben. Jem stolperte die Stufen hinunter und stammelte ihren Namen Seht die Herrin der Mystischen Suche, Die Euch an ihre heilige Brust ziehen möchte: Ost oder West, Endgültige Ruhe Erwartet Euch bei der Herrin der Mystischen Suche… Er wusste, dass er sie aufhalten musste, aber wie sollte er das bewerkstelligen? Die ganze Zeit schwebte eine zweite Gestalt über Cata, wie ein Puppenspieler, eine weibliche Gestalt, bekleidet mit einer gestreiften Robe, und an der Stelle, an der ihr Gesicht hätte sein sollen, befand sich nur Licht. »Cata!«, schrie Jem, aber natürlich konnte sie ihn nicht hören. Umarmt die Tochter der Verdammten und Geretteten, Die Euch auf jedem Weg erwartet, den Ihr zu beschreiten wagt: 106
Ihr schreit, Ihr wütet Wie all jene, die versklavt sind, Trotzdem liebtet Ihr die Tochter der Verdammten und… war verzaubert, und diese Magie übertrug sich auch bald auf Jem, während er sie beobachtete. Sie waren in eine Dimension geheimnisvoller Magie versetzt und achteten nicht mehr auf den Schnee und die Kälte. Der Zauber umhüllte ihn, und es kam ihm so vor, als wäre er kurz davor, diese Welt zu verlassen. »Ach Cata… Cata!« Sie drehte sich um die eigene Achse und wirbelte davon. Kann das wirklich die Kaiserin des endlosen Traums sein? Kann denn nichts so sein, wie es zu sein scheint? Und dennoch wird das Licht strahlen, Wird die Liebe erblühen Zwischen Euch und der Kaiserin des endlosen Traums… Miauend versuchte Ejard Orange, den Zauber zu durchbrechen. Der große Kater sprang vor und schlug mit der Tatze nach dem Phantom, aber der Hieb ging einfach durch das Wesen hindurch. Der Tanz schien endlos weiterzugehen, so lange, bis Cata erschöpft und erfroren zu Boden sinken würde. Doch so weit kam es nicht. Aus dem Schneetreiben stürmte eine andere Gestalt heran, unförmig in ihren dicken Pelzen. Sie stürzte sich auf Cata. Die Gestalt schrie auf und warf sie zu Boden. Dann war sie fort. Und das Phantom ebenfalls. Das Mondlicht glänzte bleich auf dem Schnee. Cata lag reglos mit dem Gesicht nach unten da, während Ejard Orange um sie herumsprang. Jem stürmte zu ihr, sammelte dabei die achtlos abgelegten Pelze ein und streifte sie ihr ungeschickt über. Er trug keine Handschuhe und konnte seine Finger kaum noch spüren. 107
»Cata, geht es dir gut? Cata, stütz dich auf mich…« Der Wind drang ihm eisig bis auf die Haut, und ihm klapperten die Zähne. Jem versuchte, Cata aufzuheben, rutschte jedoch aus und stürzte. Er keuchte. Sollte er nach Hilfe rufen? Würde ihm jemand helfen? Würde ihn überhaupt jemand hören? Auf der Veranda schlug die Tür von Starzoks Haus heftig im Wind. Plötzlich war da jemand, griffen Hände zu. Nach einem Moment erkannte Jem das Gesicht. »Blayzil!« Zusammen gelang es Jem und dem merkwürdigen Jungen, die bewusstlose Cata ins Haus zurückzuschleppen. Die anderen regten sich endlich und erkundigten sich schlaftrunken, was passiert war. Blayzil fachte das Feuer wieder an, und Jem ließ sich davor zu Boden sinken. Er umarmte Cata, redete ihr leise zu und rieb ihre Glieder. »Es geht ihr gut…«, sagte plötzlich jemand. »Sie wird es überstehen.« Blayzil hatte gesprochen. Erstaunt musterte Jem die formlose, in Pelze gekleidete Gestalt und dachte erneut an die Person, die Cata zu Boden geworfen hatte. War das vielleicht auch Blayzil gewesen? Ejard Orange miaute. »Sag mal«, murmelte Rajal und gähnte. »Wo ist denn der Kleine?« »Ist er nicht… ist er nicht bei Starzok?« Tishy erschauderte. Wie aus der Ferne registrierte Jem diese Worte. Er machte sich Sorgen, aber in diesem Moment schlug Cata wieder die Augen auf. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von ihrem vor Kälte blau angelaufenen, wunderschönen Gesicht in Anspruch genommen. »Sie will mich, Jem… Jem, sie wartet auf mich…« »Wer, Cata… Was meinst du damit?« »Die Kaiserin«, murmelte Cata. »Die Kaiserin des endlosen Traums.«
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13. Noch eine fremde Zunge Das Weiß blendete sie. An diesem Morgen hatte der Wind nachgelassen, und alles war merkwürdig statisch, eisig und schneidend, als wäre die Luft selbst gefroren. Hoch über den Bergen stand die Sonne, und ihre kalten Strahlen tauchten jede Gletscherspalte, jede Felszacke und jede Erhebung in ein gnadenloses, scharfes Licht. Jem und seine Freunde mussten die Augen zusammenkneifen. Oft gingen sie mit gesenktem Kopf weiter, und wenn sie hochblickten, legten sie die Hände wie ein schützendes Visier über die Augen. Nur Starzok schritt zuversichtlich voran und pflanzte seinen Stock mit hartnäckiger Sicherheit in den Schnee. Von Anfang an beschlich Jem das Gefühl, als wäre die Zeit aufgehoben worden. Unsicher hielt er Catas Hand, während Tishy ihn an Mylas Trage ablöste. Als sie sich im Morgengrauen vor Starzoks Haus versammelt hatten, waren ihnen die Ereignisse der letzten Nacht wie ein Traum vorgekommen. Der Kleine schlurfte fröhlich im Schnee umher. Er war wieder da und vollkommen unversehrt. Cata konnte kaum glauben, dass sie nackt im Schnee getanzt hatte. Die Dorfbewohner scharten sich um sie, lächelten und sangen, als wollten sie schon das triumphierende Ende einer Suche feiern, von der sie kaum etwas verstanden. Nur Blayzil wirkte irgendwie bedrückt. Mehr als einmal hatte Jem versucht, mit dem Jungen zu reden, genau wie Tishy, aber Blayzil war ihnen scheu ausgewichen, offensichtlich aus Angst vor seinem Vater. Als Blayzil Anstalten gemacht hatte, die kleine Expedition zu begleiten, hatte der alte Mann ihn ärgerlich fortgejagt. Sie trotteten schweigend weiter. Jem und Cata ließen sich ein bisschen hinter die anderen zurückfallen. Der Weg vor ihnen war immer noch eben und weit und der sanfte Anstieg alles andere als steil. Vor ihnen schien der geheimnisvolle Berg den ganzen Himmel auszufüllen, und sein spitzer Gipfel war von ätherischer, kalter Pracht. Und dabei kein bisschen wirklicher oder auch nur näher als zuvor. 109
»Lag es an diesem gräulichen Schnaps?«, fragte Cata. »Haben wir uns deshalb so gefühlt?« »Vielleicht. Aber es hat auch irgendwas mit diesem Ort hier zu tun.« »Irgendwas war gestern Nacht.« Sie schwiegen einen Moment. »Aber jetzt ist es weg? Bist du sicher?« »Jem, ich bin mir keineswegs sicher! Ich weiß nur, dass es gestern Nacht da gewesen ist und mich umgeben hat wie Wasser. Wie Luft.« Cata drehte sich zur Seite. »Ich konnte nichts dagegen tun. Aber ich wollte auch nichts dagegen tun.« Jem stieß pfeifend die Luft aus. Er wollte noch mehr sagen, aber seine Gedanken waren noch genauso vernebelt wie sein Atem, der Wolken in der kalten Luft bildete. Eine gewaltige Felswand stieg vor ihnen an, und der verschneite Weg wurde schmaler und steiler. Ernst betrachtete Jem seine Gefährten: Rajal und Tishy, die Myla trugen, den Kleinen, der Ejard Orange in den Armen hielt und weiter vorn an Starzoks Seite ging. Der alte Mann bückte sich und strich dem kleinen Jungen über den Kopf. »Was ist mit Tishy?«, sagte Jem. »Es sieht nicht so aus, als hätte er jetzt noch viel Zeit für sie.« »Vermutlich langweilt sie ihn«, erwiderte Cata. »Das ergeht den meisten Leuten so.« Jem lachte, unterbrach sich aber sofort. »Das mit dem Kleinen gefällt mir nicht.« »Aber was ist gestern Nacht eigentlich passiert?«, fragte Cata. »Hat der Kleine wirklich in Starzoks Kammer übernachtet?« »Du hast ihn doch heute Morgen herauskommen sehen, oder nicht?« »Aber Jem, er hat doch nur dort geschlafen! Starzok muss ihn hineingetragen haben. Was hat er noch zu Tishy gesagt? Dass er sich Sorgen um den Jungen macht?« »Ha! Er sollte sich lieber um Blayzil kümmern!« Sie stapften weiter. Irgendwo hinter ihnen ertönte ein Rauschen und Krachen, das in dem weißen Morgen irgendwie unwirklich klang. Wie ein verträumtes Murmeln 110
der riesigen Berge»Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Schnaps zu tun«, sagte Cata. »Hat der Kleine nicht auch etwas davon getrunken?« »Warum?, frage ich mich. Warum haben wir überhaupt davon getrunken?« »Vielleicht besitzt Starzok ja eine Art Macht. Vielleicht hat der Schnaps in dem Licht nur gräulich ausgesehen. Vielleicht war er ja purpurrot, Jem, so purpurn wie die Lilane.« »Was willst du damit sagen?« Cata verstummte. Dann fragte sie: »Was war das da eben für ein Geräusch?« »Ein Schneebrett, das abgestürzt ist«, erwiderte Jem. »Nur Schnee.« Jem und Cata fielen immer weiter zurück. Sie bemühten sich, zu den anderen aufzuschließen. »Tishy ist müde«, bemerkte Jem. »Ich sollte wieder zu Myla zurückkehren.« »Nicht. Warte, wir könnten die Trage eine Weile zusammen nehmen.« »Bist du dazu denn in der Lage? Es wird bald viel anstrengender werden.« »Natürlich schaffe ich das!«, erwiderte Cata verächtlich. Sie hielt Jems behandschuhte Hand fest in ihrer und drehte ihm ihr Gesicht zu. »Wie lange dauert es noch?« »Es ist früh, noch sehr früh…« »Und der Vogel des Nicht-Seins…« »Er wird kommen, ich weiß…« »Und der Kristall des Kleinen…« »Wird der Nächste sein, ich weiß…« »Warte, Jem, was ist… Was wäre, wenn du seinen Kristall nimmst? Ich meine, wenn du drauf aufpassen würdest?« »Cata, ich kann es dir nicht erklären, aber die Kristalle… So funktionieren sie nicht. Und ich kann nicht mehr tun, als der Kleine auch tun könnte. Der rote Kristall mag einmal meiner gewesen sein, aber jetzt ist er seiner. Seiner, wie deiner – « Cata riss sich heftig los. »Meiner war, Jem. Er war es.« 111
Jem verwünschte sich für seine Gedankenlosigkeit. »Entschuldige, Cata, es tut mir Leid…« Sofort drehte Cata sich wieder um, und sie umarmten sich mit wilder Leidenschaft. »Ich kann nichts dagegen tun, Jem. Ich war so oft stark, aber diesmal habe ich Angst, wirklich Angst…« »Ich auch, Cata, ich auch…« »Wie lange dauert es noch?« »Bis zur Einsiedelei? Wir müssen eigentlich bald – « »Nein, Jem. Bis der Vogel des Nicht-Seins kommt…« Obwohl Jem Cata umarmte, erschauerte er bei ihren Worten, die so kalt waren wie Eis. Er tastete sich in ihren Umhang, schloss die Augen und sehnte sich danach, in ihrer dunklen, lockenden Wärme zu versinken. Stattdessen stieg das Bild dieser mächtigen Kreatur des Bösen vor seinen Augen empor, die Toth auf die Welt losgelassen hatte und die den dritten Tag ihres schrecklichen, kreisenden Fluges unterwegs war. Es war Mitternacht in Agondon und Mittag in diesen Bergen. Aber es war doch noch früh, sehr früh… Starzok hatte sich umgedreht und hob seinen Stock. Rasch schlössen Jem und Cata zu ihren Freunden auf. Mit Gesten deuteten sie an, dass sie jetzt die Trage nehmen wollten. Rajal lehnte das Ansinnen mit einem heftigen Kopfschütteln ab, Tishy dagegen ließ sich mit offensichtlicher Erleichterung ablösen. Sie wischte sich die Brille sauber und blinzelte in das grelle Licht, als Starzok anfing zu sprechen. Cata trat neben sie. »Was sagt er jetzt?« Während Tishy aufmerksam zuhörte, achtete Jem überhaupt nicht auf die Worte ihres Führers. Er betrachtete traurig Mylas zerstörtes Gesicht. Speichel rann aus ihrem geöffneten Mund, ihr Gaumen war verwelkt und ihre Zähne waren schwarz und krumm, wie verrottete Früchte, die jeden Moment herausfallen mussten. Sie würde sicherlich bald sterben… Jem biss sich auf die Unterlippe. Nein, das durfte er nicht denken, das durfte er einfach nicht! Als Rajal sich zu ihm umdrehte, wich Jem dem Blick seines Freundes aus. »Von hier an«, dolmetschte Tishy, »wird der Weg be112
schwerlicher. Es gibt einen Pfad, der… Jamantis-Weg genannt wird. Er ist sehr steil und gewunden, dann kommt eine Ebene, die Erreichter Horizont heißt… nein, Gefundener Horizont…« Cata verdrehte die Augen. »Hat er auch gesagt, wie lange es dauert?« »Es würde keine Rolle spielen, selbst wenn er es täte«, erwiderte Tishy und setzte sich die Brille wieder auf die Nase. Sie war offensichtlich ein bisschen beleidigt. »Ihre Zeiteinteilung unterscheidet sich ziemlich von unserer, weißt du.« »Was?«, mischte sich Rajal ein, der mitgehört hatte. »Dass sich ihr Hygienestandard von unserem unterscheidet, kann ich ja nachvollziehen, aber ihre Zeiteinteilung?« »Raj, shh…!« Cata legte einen Finger auf die Lippen. Jem hörte diesem Geplänkel wie aus weiter Ferne zu. In diesen Momenten der Ruhe empfand er wieder dieses Gefühl einer merkwürdig vertrauten Fremdheit. Die Zeit, eine andere Zeit? Ja, das verstand er. Aber wieso konnte Rajal das nicht begreifen, wo doch Mylas Zeit so viel schneller verstrich und ein ganzes Leben in nur wenigen Tagen aufzehrte? Für die anderen schien die Zeit stillzustehen, silbrig und gefroren wie das Eis und der Schnee. Aber Jem war davon überzeugt, dass sie bald zersplittern würde. »Und am Ende«, fuhr Tishy fort, »erwartet uns Gijoks Grat…« »Ist das nicht der Ort, an dem seine Tochter…?«, begann Cata. »Das Beste dürfte wohl sein«, murmelte Tishy, »wenn wir sie nicht erwähnen.« »Er dürfte das ja wohl kaum verstehen«, wandte Rajal ein. »Tut es trotzdem nicht«, erwiderte Tishy. »Es könnte uns Unglück bringen.« Da sie damit genau Catas eigene Gedanken laut aussprach, besserte sich deren Stimmung gegenüber der jungen Gelehrten. Ein bisschen verlegen berührte sie Tishys Arm. »Tishy, ich weiß wirklich nicht, wo wir ohne dich wären. Wir wären niemals so weit gekommen.« 113
Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre Tishy vor Freude über das Kompliment errötet. Doch jetzt schüttelte sie sich nur. Starzoks Rede war mit Warnungen gespickt gewesen, und sie hatte nur die blanken Tatsachen und Namen übersetzt. Ausdruckslos erwiderte sie, dass sie noch lange nicht am Ziel seien. Es war Cata, die nun errötete. »Polty?« Polty rührte sich. Wie lange hatte er dagelegen, gebibbert und gestöhnt? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Trugbilder brannten vor seinen Augen, phosphoreszierende Phantomvögel bewegten sich rastlos in den Ecken seiner Kammer. Einmal glaubte er sogar, die gewaltigen Käfergiraffen über den Teppich laufen und mit einem Senken ihres langen Halses unter seinem Bett verschwinden zu sehen. Manchmal schluchzte er, manchmal schrie er auf und schlug um sich. Aber seine Kraft war verschwunden. Der Schweiß rann pausenlos über seinen teigigen Körper, und beißende Strahlen schossen unkontrolliert aus dem vernarbten Loch, in dem sich eigentlich Penge hätte befinden sollen. Der arme Penge! Immer wieder sah Polty Burgroves entstelltes Gesicht vor sich und den weit aufgerissenen, lippenlosen Mund. Jemand schüttelte ihn. »Polty? Polty!« »Bohne? Wo… Was?« Polty taten die Augen weh, während er langsam seine vertraute Kammer in sich aufnahm, die Täfelung, den Kamin, die Stockflecken an der Decke, die gleichmütig über ihm schwebte. Durch einen Spalt in den Vorhängen fiel ein breiter Strahl silbriges Licht auf den Teppich. »Aber die Vögel… der Käfer? Bohne, wo sind sie hin?« »Sie sind verschwunden.« Bohne atmete ruhig durch und betrachtete seinen Freund traurig und verzweifelt. »Ach, Polty, du warst krank. Aber jetzt ist es vorbei. Du hast kein Fieber mehr und hast auch aufgehört zu zittern.« »Fieber?« Polty schob seine Decke zurück und strich sich mit der Hand über seine klebrige, nackte Brust. »Ich war im Delirium, stimmt’s? Ach, Bohne, Bohne! Kannst du dir vorstellen, dass ich diesen Wolf mit seinen vielen Köp114
fen gesehen habe, der sich mit seinen zahlreichen Mäulern über mich gebeugt hat? Wie sie stanken und geiferten!« »Aber nein, Polty, da war kein Wolf.« Bohne zwang sich zu einem Lächeln. »Es sei denn, du meinst mich. Ich habe dir die Stirn abgetupft. Und die Brust. Ich habe sogar einmal versucht, die Laken zu wechseln, aber du warst zu schwer für mich. Ich konnte dich nicht hochheben.« »Ich habe… ich habe mich voll gepisst, stimmt’s?« »Und Schlimmeres. Aber jetzt geht es dir besser, nicht wahr? Polty, weißt du, was das bedeutet?« »Bedeutet? Was bedeutet schon noch etwas?« Bohne brach beinahe die Stimme. »Wir gehen nach Hause. Weißt du noch, wir wollten gerade aufbrechen, als du… als du plötzlich krank geworden bist. Aber ich habe deine Taschen schon gepackt. Jetzt gehen wir doch, stimmt’s? Nach Irion? An den Fluss? Zu den Stockenten?« Polty ließ sich wieder auf das Bett fallen. »Welche Enten, Bohne?« »Wir werden sie sehen, wenn wir erst da sind.« Bohne traten Tränen in die Augen. Er warf sich über seinen Freund. »Ach Polty, wie glücklich wir sein werden!« »Was? Runter von mir, geh runter!« »Welch anrührende Szene!« Das war eine andere Stimme. »Burgrove!« Polty richtete sich hastig auf, und Bohne fiel polternd zu Boden. »Oder der Falke der Finsternis, wenn euch das lieber ist.« Die dunkel gekleidete Gestalt stand in dem Lichtstrahl, der ihr Kostüm funkeln ließ. Die Maske bedeckte wieder ihr Gesicht. »Ja, wirklich sehr rührend. Aber ich glaube nicht, dass ihr Burschen so bald nach Hause kommt. Wir haben euch hier behalten, kapiert ihr das denn nicht?« Bohne rappelte sich hoch. »Lass ihn in Ruhe, du…« Doch es war sinnlos. Zwar stürzte sich Bohne auf die dunkle Gestalt, aber eine knappe Bewegung der behandschuhten Hand schleuderte ihn wieder zu Boden. »Du… Monster?«, half Burgrove ironisch aus. »Wolltest du das sagen, Bohne? Und ich dachte, du wärst so vertraut 115
mit unserem Freund Polty. Ist er nicht auch ein Monster? Und was ist mit dem Speichellecker, der ihm bei all seinen verruchten Taten so außerordentlich beflissen zur Hand gegangen ist, hm? Du bist ein sentimentaler Narr, Bohne. Nach den Maßstäben unserer Welt sind wir alle Monster. Aber jetzt geht diese Welt allmählich unter, und eine neue Zeit dämmert heran.« Polty setzte sich auf und schlang das schmutzige Laken um seinen nackten Körper. »Eine neue… Zeit?«, fragte er ausdruckslos. »Habe ich nicht gesagt, dass wir euch hier behalten haben, Polty? Ja, wir haben euch behalten, bis wir euch brauchten.« Er machte eine lässige Handbewegung. »Keine Sorge, Bohne, du kommst auch mit. Unser Meister hat eine Aufgabe. Eine Aufgabe für euch beide.« Bohnes Stimme klang mürrisch. »Wir gehen nach Hause.« »Ja«, stimmte Polty ihm zu. »Nach Hause.« Burgrove lachte. »Ach, meine Freunde, vielleicht tut ihr das ja wirklich.« Er trat ans Fenster und berührte leicht die Vorhänge. Sie fielen zu Boden, und das blasse Licht erfüllte das Zimmer. In dem reflektierten Weiß des Schnees fielen einem die Unordnung, die Spinnweben, der Staub und der Dreck scharf ins Auge. »Das Licht«, sagte Burgrove. »Die Wahrheit. Im Licht sehen wir viele Dinge so, wie sie wirklich sind. Und solltet ihr die Dinge nicht sehen, wie sie tatsächlich sind? Hm, Polty? Bohne?« Beiläufig nahm Burgrove seine gefiederte Maske ab. Polty und Bohne starrten ängstlich auf das vernarbte, entstellte Gesicht, das einmal Varbys bestaussehendem Junggesellen gehört hatte. Burgrove riss seinen grinsenden, lippenlosen Mund weit auf, breitete die Arme aus und würgte laut und widerlich etwas seinen Rachen hinauf. »Was…«, klagte Bohne, »was macht er da?« Das Geräusch wurde schärfer, als etwas Fleischiges, Blutiges, das eindeutig nicht Burgroves Zunge war, zwischen den geöffneten Kiefern hervortrat. Polty hielt die Luft 116
an. Wie hätte er diesen dicken, glänzenden rosa Pilz nicht erkennen sollen? »Penge!« Er sprang vor und stolperte über das Laken. Hatte er etwa das Ende des Dings packen und es herausreißen wollen? Diese Chance bekam er nicht. Burgroves Kinn ruckte empor, und mit einer schnappenden Bewegung sog er das zylinderförmige Fleischstück wieder in seinen Mund zurück, als wäre es tatsächlich eine deformierte Zunge. »Ich bewahre ihn für dich auf, mein Freund.« Er schlang Polty den Arm um die Schulter. »Ich behalte ihn hier sicher bei mir, bis du dir deine Belohnung verdient hast. Und das wirst du doch tun, sie dir verdienen, hab ich Recht? Aber natürlich wirst du das tun.« Burgrove hob die Stimme. »Aber jetzt kommt, unsere Aufgabe wartet schon.« Mit diesen Worten schlang er den anderen Arm um Bohne und führte seine beiden Gefährten in einem Halbkreis zu der Täfelung. Ein merkwürdiges Licht umhüllte sie, und sie schritten durch die Wand hindurch. Und traten im Gemach des Ersten Ministers heraus, weit entfernt auf der anderen Seite des Palastes.
14. Offensichtlich Fünf Gläubige »Elsan, wo bist du?« Die wimmernde Frage wurde jedoch keiner Antwort gewürdigt. »Du hältst nicht Schritt!« Diesmal war die Stimme etwas heiserer. »Ach, warum habe ich dich nur mitgenommen?« Lady Cham-Charing hüllte sich in ihre Pelze und spähte angestrengt durch den Schnee. »Ich warne dich, Elsan. Ich lasse dich zurück…« Natürlich war das nur ein Spiel, ein Spiel, um sie bei Laune zu halten. Constansia tastete sich an diesem kalten Morgen auf der menschenleeren Straße von Tür zu Tür und wusste sehr genau, dass sie allein war. Schließlich war sie 117
nicht verrückt. Niemals! Genauso sicher, wie sie wusste, dass heute die Meditation des Theron angebrochen war, im Jahr des Sühneopfers 999d, war ihr auch klar, dass Elsan tot war, ermordet von den Rebellen. Und wie knapp Constansia ihren bösen Klauen entkommen war! Sie würden sie bestimmt als Nächste holen! Oh, ja, Freddy war auf ihrer Seite und sogar Lolenda, aber die Rebellen wussten, dass eine Cham-Charing niemals zu Verrätern überlaufen würde. Zweifellos hatten sie die arme Tishy bereits umgebracht, ja, das musste ihr widerfahren sein! Constansia schüttelte sich. »Komm, Elsan, es kann nicht mehr weit sein. Haben sie nicht behauptet, dass überall auf den Straßen Blauröcke patrouillieren? Wir müssen uns unter ihren Schutz begeben, wir müssen die Rebellen denunzieren!« Der Schnee peitschte der alten Frau ins Gesicht, während sie mühsam durch die weiße, tödliche Stille weiterhumpelte. Constansia war nur unter größten Schwierigkeiten Miss Tilsy Fash und ihren bösen Handlangern entkommen. Die Frau führte ein großes Haus und hatte viele liederliche Dienstboten. Zudem tummelte sich bei ihr noch eine große Zahl von Personen undefinierbarer Klasse und Stellung. Vermutlich waren viele davon Gäste oder Schmarotzer, auf jeden Fall aber waren es Rebellen. Und alle kümmerten sich um Constansia, rieten ihr zur Ruhe und boten ihr Medizin an. Medizin, also wirklich! Natürlich würden sie Gift benutzen, wenn sie Constansia umbrachten, damit es so aussah, als wäre sie eines natürlichen Todes gestorben. Mittlerweile durchkämmten gewiss bereits Soldaten die Stadt nach ihr, und die Nachricht von ihrem Verschwinden war bestimmt schon das Gesprächsthema in der besseren Gesellschaft Agondons, davon war Constansia überzeugt. Am Ende war es die Medizin gewesen, die Constansia die Chance zur Flucht ermöglicht hatte. Sie hatte so getan, als schlucke sie etwas von dem widerlichen Gifttrunk, den ihr diese heimtückische Miss Quisto angeboten hatte. Dann hatte sich Constansia schlafend gestellt, und die kleine 118
Närrin hatte sie auch prompt allein gelassen. Zweifellos wartete sie darauf, dass dieses Gift seine Wirkung tat. Glücklicherweise hatte das Mädchen versäumt, die Tür des Gemaches abzuschließen. Sofort war Constansia aufgesprungen, hatte kurz in dem Koffer nach ihrer wärmsten Kleidung gesucht und war im Nu die Treppe hinuntergestiegen. Und dann hatte die alte Frau plötzlich auf der Straße gestanden, und zwar ganz allein, das erste Mal in ihrem Leben. Etwas machte sich an ihren Hacken zu schaffen. Constansia sah beunruhigt hinab, aber ihre Sorge wich der Überraschung, als sie einen kleinen, drahtigen Terrier sah, einen dieser Hunde, welche Ladys als Schoßhunde schätzen. Der Hund zitterte, sah ziemlich mitgenommen aus und war sehr schmutzig. Normalerweise wäre Constansia angewidert zurückgewichen, aber jetzt bückte sie sich mühsam, hob das kleine Geschöpf hoch und steckte es unter ihre Pelze. Dann schleppte sie sich weiter, wobei sie häufig Pausen einlegen musste. Das Weiß blendete sie, und der Schnee peitschte eiskalt in ihr Gesicht. Wo war sie hier nur? Constansias Kenntnis von der Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, war auf einige wenige ausgesuchte Viertel beschränkt, und diesen Teil der Insel, in dem sie sich jetzt befand, kannte sie ganz und gar nicht. Offenbar war es ein Viertel für theatralischere Typen, die zwar nicht so heruntergekommen waren, wie sie vermutet hätte, aber dennoch nicht dem entsprachen, was sie als respektabel bezeichnet hätte. Sie musste doch sicher bald auf Soldaten treffen? Constansia flüsterte sich die Frage zu und stellte sie nicht mehr einer eingebildeten Elsan Margrave, sondern eher dem Schoßhund, den sie instinktiv und etwas unzutreffend als »Mops« ansprach. Die arme Elsan hatte einen Hund gehabt, der »Mops« hieß, aber das war auch ein richtiger Mops gewesen und kein Vantage-Terrier. »Du hast dir einen sehr schlechten Tag ausgesucht, Mops, hab ich Recht? Aber hast du ihn dir überhaupt ausgesucht? Oder bist du genauso obdachlos wie ich? Obdachlos, frie119
rend und hungrig, so ist es! Wahrscheinlich hast du eine böse Herrin gehabt, die einfach zu den Rebellen übergelaufen ist und alle ihre Pflichten dir gegenüber vergessen hat! Ach, es ist schrecklich, wenn es zu Rebellionen kommt. Aber können wir wirklich glauben, dass unsere tapferen Blauröcke so etwas zulassen? Ich glaube das nicht, Mops. Du etwa?« In dem Moment bog Constansia um eine Ecke und sah eine Zwei-Mann-Patrouille der Blauröcke. Erleichterung zeichnete sich auf ihrem gefrorenen Gesicht ab, und sie hastete so gut sie konnte auf die Männer zu. Sie fürchtete, dass die beiden sie vielleicht übersehen könnten. Constansia hob die Stimme, jedenfalls versuchte sie es, aber es schmerzte sie, lauter zu reden als im Flüsterton. Sie streckte die Hand aus und umklammerte den Ärmel eines Bärenfellmantels. »Korporal, bitte…« »Verschwinde bloß, Alte!« Korporal Supp lachte schallend, und sein Kamerad, Soldat Rotts, machte eine obszöne Handbewegung. Constansias Gedanken überschlugen sich. Wussten diese Burschen denn nicht, wer sie war? »Ich… ich…« Ihr blieben die Worte im Hals stecken. »Zurück in die Redondo-Gärten mit dir, Lady…« »Lady… Ja, das stimmt. Ich bin Lady… Lady…« »Sie ist schon ein bisschen alt für die Gärten, meinst du nicht? Bei den Steinen des Agonis, ich würde stets meine Faust diesem welken alten Weib vorziehen! Was meinst du, Suppy, sollen wir sie in den Alten Knast schaffen?« »Lass sie doch, Rottsy! Wir haben keine Zeit für die Ausgestoßenen, wo doch die Rotröcke die Stadt umzingeln wie ein Ringelwurm! Hau ab, Weib, und schätze dich glücklich!« »Nein, bester Korporal, bitte…!« Constansia wollte erneut den Arm des Soldaten ergreifen, aber Supp stieß sie mit dem Gewehrkolben zur Seite. Sie stürzte schwer zu Boden Der Terrier jaulte und fiel aus ihrem Mantel. »Diese verrückte alte Ausgestoßene!« Supp lachte und 120
versetzte dem Hund einen derben Tritt. Rotts seinerseits spuckte die alte Frau an und bedachte sie ebenfalls mit einem gezielten Tritt. Die Soldaten marschierten weiter. »Ausgestoßene?«, sagte Rotts. »Hast du den Mantel gesehen? Die hat zu ihrer Zeit einige Taler verdient.« »Das muss aber schon ziemlich lange her sein!« Sie lachten und verschwanden im Schneegestöber. Mittlerweile kroch der verletzte kleine Hund wieder zu Constansias ausgestreckter Gestalt und drängte sich so gut es ging in ihren warmen Pelzmantel. Dann blieb er dort liegen und jaulte leise. Constansia rührte sich nicht. Wie lange ging das noch? Hohe Felswände umschlossen sie, als sie sich auf dem Jamantis-Weg vorarbeiteten. Der verschneite Pfad wurde immer steiler und enger. Grelles Sonnenlicht und tiefer Schatten wechselten sich ständig ab, während der Weg sich emporschlängelte. Sie stolperten häufig, und schon bald hatten sie keine andere Wahl, als im Gänsemarsch hintereinander zu gehen. Die einzigen Geräusche waren ihr heftiges Atmen und ihre knirschenden Schritte im Schnee. Ein- oder zweimal hörten sie in der Ferne das Krachen eines abgehenden Schneebretts und einmal das Poltern einer Steinlawine. »Ejjy?«, fragte Cata. »Was machst du denn hier hinten?« Der große orangefarbene Kater sah zu ihr hoch und miaute. Er zuckte mit den Ohren und reckte den Schwanz steil in die Höhe. Zu dieser Zeit hinkte Cata der kleinen Prozession hinterher und sah erst, was weiter vorn passierte, als sie um einen Felsvorsprung bog. Starzok hatte sich den Kleinen auf die Schultern gesetzt. Wie ein stolzer Reiter oder eine Galionsfigur schaute der Kleine gebieterisch voraus. Ejard Orange war anscheinend vergessen. »Armer Ejjy…« Cata nahm ihn auf den Arm. Während sie weiterging, drückte sie ihn an ihre kalte Wange und fühlte die Wärme seiner kleinen pelzigen Schnauze. Lang121
sam blinkte er mit den gelben Augen, und Cata fühlte sich unausweichlich in seine Gedanken ein. Ah, Ejard Orange war nicht nur wütend! Er war auch besorgt, sehr besorgt, als spüre er etwas, oder als fühle er, dass gleich etwas passieren würde… Cata glaubte es. Sie dachte an den Kleinen und Starzok. Dann an den Vogel des Nicht-Seins. Wie lange würde es noch dauern? Diese Frage stellte sich auch Jem. Er trug sein Ende der schweren Trage und geriet allmählich in einen benommenen, tranceähnlichen Zustand. Träge glitt sein Blick zwischen Myla und Rajal hin und her. Sein Freund ging vor ihm. Sein Rücken war gekrümmt, und er hatte die Schultern hochgezogen. Wo die Sonne ungehindert auf das Weiß schien, gleißte es immer heller, und die Schatten der überhängenden Felsen wurden immer schwärzer. Jem war von einem tiefen, ruhigen Ernst erfüllt. Wie lange noch? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Sie stiegen gerade einen vereisten Abhang hinauf. Cata fluchte, aber Rajal sprach zärtlich auf Myla ein. Jem sah zu, wie sein Freund sie in die Arme nahm und wie einen Sack über seine Schulter hob. Jem klemmte sich die Trage unter den Arm und folgte Rajal. Mylas Gesicht hing über ihm wie ein runder, zerstörter Mond, der sich merkwürdig weiß gegen den hellen Himmel abhob. Jem seufzte und wünschte sich sehnlichst, endlich schlafen zu können. Dann war das Gesicht verschwunden, und helles Licht stach ihm in die Augen. Es war ein strahlendes Weiß, das ihn beinahe blendete. Jem starrte in den kristallenen Himmel. Er hörte Stimmen, Ausrufe. Oh, aber er fiel… er fiel zurück. Cata streckte die Hand aus. »Rasch! Komm und sieh!« Jems Trance verschwand, und er ließ die Trage fallen, als er sich auf die glatte Ebene vorgearbeitet hatte. War dies der Ort, den man den Gefundenen Horizont nannte? Er beschattete die Augen und erblickte eine erstaunliche Vision Auf dem ganzen Weg zum Kolkon Vera Kion hatten Jem und seine Freunde angenommen, dass sie zu einem ein122
zelnen, unteilbaren Gipfel unterwegs wären, der sich spitz, vollkommen und gebieterisch über die niedrigen Gipfel erhob und von zerklüfteten Felswänden umringt war. Jetzt jedoch blickten sie über einen gewaltigen Abgrund und sahen, dass sie einer Sinnestäuschung erlegen waren. Es handelte sich um zwei Gipfel, von denen der eine von dem anderen verborgen worden sein musste. Aber beide waren so perfekt, wie der eine schon von weitem ausgesehen hatte. Das wäre schon faszinierend genug gewesen, ein Anblick, der selbst das überdrüssigste Herz mit Bewunderung erfüllt hätte, doch die Vision des geheimnisvollen Gebäudes war noch beeindruckender. Es ruhte auf einem Gletscher in dem Spalt zwischen den beiden Gipfeln, als schwebe es in der silbrig schimmernden Luft. Die Einsiedelei der Winde! Jem hatte zunächst den Eindruck eines puren goldenen Schimmerns, und erst als er genauer hinsah, nahm dieses goldene Funkeln Form an. Er hatte schon viele merkwürdige Orte gesehen, aber dieser hier war einer der seltsamsten. Die Einsiedelei war auf dem Eis des Gletschers erbaut und bestand anscheinend aus verschiedenen, flachen Rechtecken, die mit einer willkürlichen, gefährlichen Unbekümmertheit – wie Bauklötze eines Kindes aufeinander geschichtet waren. Aus der Ferne konnte man nur die Umrisse und das helle Strahlen des Goldes erkennen. Erst später sollte Jem die komplizierten, beinahe beängstigenden Verzierungen sehen, die in rätselhaften Kurven und verschlungenen Linien die gesamte Oberfläche der heiligen Wände bedeckten. Doch das spielte keine Rolle. Schon vom ersten Moment an spürte er die Macht, die von dieser Einsiedelei ausging und die sich aus jedem einzelnen glänzenden Strahl des Goldes im Sonnenlicht ergoss. Er stolperte weiter und vergaß seine Gefährten. Unverständliche Wörter drangen ihm über die Lippen, als er in dem Puderschnee auf die Knie sank. Er kniff die Augen zusammen, weil der Anblick so schmerzte, und umklammerte den Kristall unter seinem Pelzmantel. Er fühlte, wie er pulsierte und brannte. 123
Jem war kurz davor, in Schluchzen auszubrechen, obwohl er nicht gewusst hätte, wieso. Aus endloser Ferne hörte er ein Lachen. War es Starzok? Oder jemand anders? »Jem, hörst du mich?« Cata berührte seine Schulter. »Die Suche«, sagte er, »ist zu Ende.« Cata nickte, und ihr Gesicht war merkwürdig traurig. In einem großen Halbkreis bog sich wie ein dünnes Band Gijoks Grat durch die Luft. Er überquerte den Abgrund zwischen dem Gefundenen Horizont und ihrem geheimnisvollen, goldenen Ziel. Starzok hob seinen Stab und deutete voraus. Gehorsam wie eingeschüchterte Kinder banden sich erst Tishy und Cata, dann Rajal und Jem mit Stricken aneinander. Mittlerweile waren sie alle sehr müde, erschöpft von der verzehrenden Erwartung und dem gleißenden Weiß, von der Kälte und ihrer zähen, endlos scheinenden Reise. Sie gingen weiter. Nur Jem zögerte, bevor ihn das zerrende Seil weiterzog. In der Stille hörte er, wie ein Stein oder ein Schneebrett herabstürzte, und nahm das Echo in dem tiefen Abgrund wahr. Instinktiv drehte er sich um. War das da eine menschliche Gestalt, die ihnen von einem Felsvorsprung hinterherstarrte? Blayzil. Jem war davon überzeugt, dass es sich um Blayzil handelte. »Wo… wo ist er?« Zitternd sah Polty sich um und zog das Laken fester um sich. In mehreren Kaminen loderten Feuer, aber trotzdem war es in dem Gemach klamm und kalt. Einen Moment fürchtete er schon, das Fieber habe ihn wieder gepackt. Ein Vogel flog an ihm vorbei, und er hörte etwas, das an das Zischen einer Schlange erinnerte. Er blinzelte. In dem unregelmäßigen Licht, das durch die zerrissenen Vorhänge fiel, sah er die vertrauten Trümmer der Ziegelsteine, den Gips und die zersplitterten Balken. Es stank bestialisch, und überall huschten Ratten umher. Staub hing in der Luft, und auf dem Boden glitzerten die scharfen Scherben eines zertrümmerten Spiegels. »Ist er… ist er hier?«, fragte Bohne. Er schaute sich um. 124
Die Wand, durch die sie getreten waren, glitzerte wie Burgroves Kostüm. Jemand klopfte an die Tür. »Ihr entschuldigt mich kurz?«, fragte Burgrove mit absurder Höflichkeit und entließ seine Gefährten aus seiner beklemmenden Umarmung. Er schritt zur Tür, und man hörte einen kurzen, gemurmelten Wortwechsel mit einem Bittsteller, bei dem es sich um Baron-Admiral Aynell zu handeln schien. Verwirrt stolperten Polty und Bohne durch die Trümmer. Bohne fiel über einen silbernen Kerzenleuchter, der mit Wachsresten überzogen war. Poltys nackter Fuß trat auf etwas Weiches, aber er wagte nicht, den Blick zu senken und nachzusehen, was es sein mochte. Sein Laken verfing sich und wäre ihm beinahe entglitten. Erschaudernd riss er es los. Dicke, schiefe Säulen reichten bis zur Decke, und ein eleganter, verzierter Wandschirm stand schräg in einer Ecke. Polty strich mit der Hand über die kühle, wunderschöne Oberfläche. Aber was war das für ein merkwürdiges Gurren? Er riskierte einen Blick hinter den Schirm und rang nach Luft. »Tante Umbecca!« Die fette Frau hockte auf einem Trümmerhaufen aus Mauerwerk und wiegte etwas Großes, Zylindrisches in ihren Armen. Der Gestank war unerträglich. Bohne wich zurück, und Polty schlug die Hand vor den Mund. Entsetzt dachte er an seinen toten Sohn, und erst dann erkannte er, dass Umbecca ein verwesendes menschliches Bein in den Armen hielt. Sie blickte hoch, unschuldig lächelnd, und hielt ihm das eklige, von Eiter bedeckte Ding entgegen, als sollte er es bewundern. »Mein Baby«, flüsterte sie. Ihre Stimme war die eines kleinen Mädchens »Po… Polty, was hat sie denn?«, brach es aus Bohne heraus. »Sie ist… sie ist verrückt geworden!« Polty wich stolpernd zurück. Mittlerweile war Burgroves Stimme lauter geworden. Of125
fensichtlich waren Varby von und zu Holluch und möglicherweise sogar Heva-Harion Aynell zu Hilfe gekommen. Sie brüllten vor Wut. Burgrove schlug ihnen einfach die Tür vor der Nase zu. »Also ehrlich, diese Kriegslords sind wirklich völlig nutzlos! Können sie denn nicht allein Schlachtpläne entwickeln, ohne dafür Hilfe beim Ersten Minister zu suchen?« Aber wo ist der Erste Minister?, dachte Bohne. Oder besser, wo steckt Toth? Hinter der Tür hörten sie erstickte Rufe, und dann einen weiteren Schrei, zwar gedämpft, aber viel näher. Bohne spähte in das unregelmäßige Licht. Auf einem Trümmerhaufen saß, an eine Säule gefesselt wie ein Opfer an einem Stamm, eine junge Frau in einem prächtigen Kleid mit langer Schleppe. Sie hatte einen Knebel im Mund und zerrte heftig an ihren Fesseln. »Komm schon, Kind, willst du dich sinnlos erschöpfen?«, fragte Burgrove und drehte sich zu ihr um. »Habe ich nicht gesagt, dass ein großartiges Abenteuer auf Euch wartet, das größte in Eurem ganzen Leben? Ich bin sicher, dass ich das erwähnt habe. Also schont Eure Kräfte, Kind, spart sie für das auf, was noch vor Euch liegt.« »Aber das…«, begann Polty, »das ist…« »Die Königin?«, beendete Burgrove für ihn den Satz. »Sie ist genauso wichtig für diese Mission wie ihr anderen, die ich hier versammelt habe. Ach, wäre sie nur so gehorsam wie ihr werter Gatte. Der macht erheblich weniger Schwierigkeiten.« »Ihr… Gatte?«, fragte Bohne. Mit einem schwarzen Arm, der im Sonnenlicht funkelte, wies Burgrove auf die zerfetzten Vorhänge. In einer schattigen Ecke hockte zusammengesunken eine Gestalt in Hermelin und zerknittertem blauem Samt und spähte über das Fensterbrett. Jetzt rührte sie sich, stand auf und schwankte ganz und gar unmajestätisch auf sie zu. Der kostbare Pelz verfing sich in dem Schutt. Sollten sie sich verneigen? Bohne setzte zitternd dazu an, aber Burgrove lachte nur. Der König ging verwirrt weiter und wies mit seiner ent126
stellten Hand auf das Fenster. Sprach er Burgrove an? Polty? Bohne? Es war schwer zu sagen. Auf jeden Fall klang seine Stimme angestrengt und gepresst. »Aber was… was geht da vor? Die Straßen meiner Stadt… Warum sind sie leer? Warum massieren sich da Armeen auf den Hügeln?« Wieder klopfte es an der Tür. Burgrove ging gereizt hin und öffnete sie. Jetzt suchten Gorgol und der Prinz-Elector, vielleicht verstärkt von Heva-Harion, um eine Audienz beim Ersten Minister nach. Aber sie bekamen keine. Burgroves Antwort war knapp, und die Kriegslords reagierten empört. Sie wollten sich anscheinend an ihm vorbei in das Gemach drängen, doch da hörte man ein scharfes Zischen, dem laute Schreie folgten. Die Tür wurde wieder zugeschlagen. »Verflucht sollen sie sein, diese Kriegslords«, sagte Burgrove. »Begreifen sie denn nicht, dass diese albernen Schlachten bald bedeutungslos sein werden? Ob sie gewinnen oder verlieren, welche Rolle spielt das noch? Oh, Meister, unsere Zeit ist gekommen!« Bohne umklammerte ihn. »Burgrove, was meint Ihr damit?« Doch der König sorgte erneut für eine kleine Ablenkung. Mit hervortretenden Augen hatte Oroks Repräsentant im Reich des Seins ein kleines Lied gesummt und einige Tanzschritte vollführt, während Burgrove die empörten Kriegslords abgewimmelt hatte. Jetzt klatschte er unerwartet in die Hände. »Aber natürlich! Es ist mein Sieg, der nachgespielt wird! Das ist es doch, was da draußen vor sich geht, hab ich Recht? Der Sieg von Ejard Blau! Eine Feier, ein Festzug! Aber wie viele Jahre ist das her? Sagt mir, Falke der Finsternis, wie viele Jahre ist es her, seit wir meinen verhassten Bruder vernichtet haben?« Burgrove legte seinen Arm um die hermelinbedeckten Schultern. »Aber, aber, Eure Kaiserliche Agonistische Majestät, wir brauchen uns im Moment keine Sorgen um Ejard Rot zu machen. Wir brauchen uns überhaupt keine Sorgen zu machen. Schon bald werdet Ihr weit von Agondon entfernt sein und ein aufregendes und spannendes Leben führen.« 127
Der König plapperte, und sein fleischiges Gesicht verriet seine Besorgnis. »Weit entfernt von Agondon? Nein, nein, nicht weit weg von Agondon! Aber wo… wo ist mein Erster Minister? Er kann doch nicht… Er kann doch bestimmt nicht… Tranimel, Tranimel, wo seid Ihr?« Vielleicht lag es an der uralten Macht der Monarchie, dass seine Frage sofort beantwortet wurde. Ein unwirkliches Murmeln wurde laut, und dann glomm im oberen Teil des Gemachs ein geheimnisvoll schimmerndes Licht auf. Erstaunt blickten die Gestalten in den Trümmern hinauf und sahen den Ersten Minister, der anscheinend tief in einer Meditation versunken war. Er hockte mit gekreuzten Beinen mitten in der Luft und drehte sich langsam um die eigene Achse. Während der Minister rotierte, glühten seine Roben und sein kahl geschorener Schädel erst purpurn, dann grün. Das Licht wurde von den beiden Kristallen ausgestrahlt, die gemächlich wie kleine, glänzende Planeten ihre Bahnen um ihn zogen. Bohne duckte sich, Polty stolperte und stieß mit dem König zusammen. Derweil kämpfte die Königin an ihrer Säule unaufhörlich gegen die Stricke an. Nur Umbecca schien das alles nicht zu kümmern. Sie hockte immer noch hinter dem Schirm und redete gurrend und weinend auf das verfaulende Bein ein. Burgrove sank auf die Knie. »Meister! Meister, jetzt!« Urplötzlich ertönte ein gewaltiger Donnerschlag. Es wimmelte überall von kriechenden, sich windenden Monstern, und ein gewaltiger Sturmwind fegte unversehens durch das Gemach
Bisher war der Weg schon sehr beschwerlich gewesen, jetzt jedoch wurde er schwieriger und noch viel gefährlicher. Der Pfad wurde immer schmaler, und mehr als einmal rutschten die Freunde aus und wären fast abgestürzt. Dann wurde die Stille plötzlich von peitschenden, eisigen Windböen zerrissen, die an der kleinen Gruppe zerrten. Sie bissen die Zähne zusammen und zwangen sich mit reiner 128
Willenskraft vorwärts. Linker Fuß, rechter Fuß. Ihre Lungen schmerzten in der dünnen, eiskalten Luft. Immer weiter, weiter. Der Kleine hopste auf Starzoks Schultern auf und ab, und Mylas hängender Kopf schwankte vor und zurück, vor und zurück. Wie lange noch? Diese Frage drängte sich ihnen genauso unwiderstehlich auf wie zuvor, und die Antwort war unverändert fern. Die Einsiedelei war so nah – und gleichzeitig so weit weg. Vielleicht würde sie immer vor ihnen schweben und in dem gleißenden Licht glänzen. Weiter, weiter, auf und ab. Die ganze Zeit beobachtete Jem Mylas Gesicht, das vor ihm wie ein Pendel hin und her schwang. Vor und zurück, vor und zurück, und das im Rhythmus seines eigenen Atems. Es war bezaubernd, und noch zauberhafter war die langsame Veränderung, die sich vor Jems Augen mit dem zerstörten, uralten Gesicht vollzog. Die Falten glätteten sich. Das schlaffe Fleisch wurde fester. Je näher sie der Einsiedelei kamen, desto jünger wurde Myla. Jem wollte Rajal voller Freude seine Beobachtung zurufen, aber die Trance hielt ihn in ihrem Bann. Dann kam der Höhepunkt. Sie arbeiteten sich auf das letzte gefährliche Felsband vor. Bis jetzt war die Einsiedelei nur ein Schemen gewesen, ein strahlendes Gleißen im Sonnenlicht. Jetzt jedoch konnten sie in plötzlicher Klarheit Schnörkel, Verzierungen und Wasserspeier erkennen, die aus purem Gold gefertigt waren. Es gab spitze, schneebedeckte Giebel, hohe, merkwürdige Fenster, ein gewaltiges Portal wartete auf sie, eine Zugbrücke, die fest geschlossen war und die sich, wenn sie sich denn öffnete, über einen Abgrund aus Eis legen würde. Der Kleine streckte die Hand aus und zappelte aufgeregt auf Starzoks Schultern. Gesang drang aus der Kehle des alten Mannes. Erschöpft und am Ende ihrer Kräfte mussten die Freunde nur noch die letzte Klippe überwinden. Dann kamen die Lilane. Der Horror vollzog sich unversehens wie in einem Traum. Urplötzlich, von einem gewaltigen Wind getragen, 129
stürzten sich die Kreaturen des Bösen auf sie und schlugen in dem gebrochenen Licht mit ihren Flügeln nach ihnen. Donnernd erfüllten ihre Schwingen die Luft, sie dröhnten, kreischten und hackten. Der Schnee wurde aufgewirbelt. Und der Himmel strahlte purpurn. Cata sank auf die Knie und presste ihre Hände gegen den Kopf. Ejard Orange befreite sich fauchend aus ihren Armen. Starzok brach zusammen, und der Kleine fiel auf ihn. Tishy kam gefährlich ins Rutschen, und Rajal kämpfte mit Mylas Gewicht. Dann vollzog sich eine weitere Veränderung, und Rajal musste nicht mehr um sein Gleichgewicht kämpfen. Jem sah es zuerst. Er schwankte und sah durch die Lilane hindurch Mylas Gesicht. Dann hob sie den Kopf, öffnete die Augen, und Rajal drehte sich um und schrie auf, als seine Schwester, die jetzt wieder eine junge, wunderschöne Frau war, emporstieg. Sie vertrieb die kreischenden, purpurnen Halb-Phantome. Während sie sich mit erhobenen Armen langsam um sich selbst drehte, drang ein Lied über ihre Lippen. Jem wand sich, während das Licht des Kristalls an seiner Brust aufflammte. Schreiend rollte er bis an den Rand des Abgrunds, und sein Seil zerrte gefährlich an Rajal und an Cata. Er versuchte krampfhaft, sich an dem Felsen festzuhalten. Unter ihm gähnte der Abgrund. Er lag auf dem Bauch, und die Hitze des Kristalls brannte durch seine Pelze. Die Lilane wichen zurück und kreischten wütend. Jem wurde auf den Rücken geworfen, als hätte eine Macht von seinem Körper Besitz ergriffen. Jetzt strömte das Licht von seinem Kristall ungehindert nach oben, in einem blauen, fluoreszierenden Strahl. Und Myla sang weiter, während sie sich langsam um die eigene Achse drehte. Dann sah Jem einen roten Strahl, der den seinen kreuzte. Es war der Kristall des Kleinen, dessen Licht wie das des blauen die Luft und die Lilane durchdrang. Um sie herum herrschte Chaos, und aus der Tiefe hallten die Echos der Schreie und des Lärms bis zu ihnen herauf. Die Lilane flatterten umher, die Strahlen der Kristalle 130
zuckten durch die Luft, Myla drehte sich unaufhörlich, und jetzt legte sich der fürchterliche Schatten des Vogels des Nicht-Seins über sie. Seine gigantischen Schwingen peitschten die Luft. Nur Mylas Magie hielt ihn zurück. Die Strahlen der Kristalle zuckten empor. Mittlerweile umringten die Lilane Starzok, und ihre purpurnen Strahlen durchdrangen seine gestürzte Gestalt. Er stand auf und glühte jetzt so dunkel wie sie. Er schrie den Namen seiner toten Tochter und beugte sich über den Kleinen. Sein Gesicht war eine verzerrte Fratze des Bösen. Seine Augen glühten unmenschlich, und er streckte die Hand gierig in das Licht des Kristalls. »Mishja… Mishja…«, stammelte er. »Toth… Das ist Toth!«, schrie Jem, aber niemand hörte ihn. Aus dem Abgrund stieg donnernd ein Ball aus purpurnem Nebel empor, der von der Macht des Vogels des Nicht-Seins beschworen wurde. Blitze zuckten, während der Ball immer höher emporstieg und immer näher kam, als wolle er alles verschlingen, was ihm im Weg stand. Oben auf dem Grat sprang Ejard Orange Starzok an. Der alte Mann wich zurück und glühte mit der bösen Energie, die ihm verliehen worden war. Wütend riss er sich die Katze von der Schulter. Doch Ejard Orange griff erneut fauchend an. Seine rasiermesserscharfen Klauen zerfetzten das verzerrte Gesicht. Der Kleine versuchte verzweifelt wegzukrabbeln, aber er konnte sich kaum rühren, weil die Kraft des Kristalls ihn auf dem Boden festhielt. »Kleiner… Kleiner…!« Jem versuchte aufzustehen, aber auch ihn hielt der Kristall gefangen. Rajal hockte auf den Knien und streckte flehentlich die Hände nach Myla aus. Tishy rutschte weinend auf den Knien herum, während Cata sich wand und schrie, gepeinigt von den ungeheuren Kräften dieser wahnsinnigen, psychischen Energie. Schwankend und stolpernd gelang es Starzok, sich Ejard Orange vom Gesicht zu reißen. Er schleuderte den Kater fort. Der segelte kreiselnd immer weiter hinab, in den kochenden, emporsteigenden Nebel, ohne dass jemand sein erbärmliches Kreischen hörte. 131
»Nein…!« Noch ein Schrei, den niemand wahrnahm. Blayzil hatte ihn ausgestoßen, als er von den Felsen weiter oben in die Tiefe sprang. Er stürzte sich wutentbrannt auf seinen verwandelten Vater. Purpurnes Licht zuckte ihm entgegen, aber der Junge griff erneut an. Sie rangen miteinander, und Blayzil schlug wie von Sinnen zu. Starzok brüllte und bäumte sich auf. Blut strömte aus seinem Gesicht und tränkte Bart und Kleidung. Er schlug seinen Sohn, prügelte auf ihn ein und hätte ihn beinahe über den Rand der Klippe geworfen. Blayzil wehrte sich und griff immer wieder an, aber Starzok war einfach zu stark. Und der mächtige Vogel lauerte immer noch über ihnen. Blayzil lag keuchend da. Der alte Mann packte einen Felsbrocken und hob ihn hoch in die Luft. Gleich würde er den Fels herabsausen lassen und seinem Sohn das Gehirn aus dem Schädel schlagen. Myla drehte sich immer noch um die eigene Achse. Die Strahlen der Kristalle zuckten immer noch durch die Luft und kreuzten sich. Doch jetzt begann Mylas rotierende Gestalt zu flackern, wie das Licht eines Leuchtturms in sturmgepeitschter Luft. Der Felsbrocken sauste herab. Blayzil wich mit einer Drehung aus und sah Starzoks Stab, der im Schnee lag. Er rappelte sich auf, packte ihn, drehte sich um und rannte mit vorgestrecktem Stab auf seinen Vater zu, als wäre es ein Speer. Starzok fiel hintenüber und rang nach Luft. Der alte Mann lag direkt am Rand des Grats und musste jeden Augenblick hinunterstürzen. Doch dann fand seine suchende Hand plötzlich den Kleinen und griff nach dem Kristall. Seine Finger tauchten in den roten Strahl. Das Licht durchdrang seine Hand, und Starzok zog den Kleinen triumphierend zu sich. Im letzten Moment gelang es Blayzil, den Kleinen zurückzuziehen. Aber während er den kleinen Jungen hinter sich schob, verlor Starzoks Sohn das Gleichgewicht und stürzte zusammen mit seinem Vater in die Tiefe. Blayzil hatte den Kleinen retten können, nicht aber den 132
Kristall. Als der alte Mann abstürzte, glühte der Kristall in seiner Hand. Im gleichen Moment verschmolzen der blaue Strahl von Jems Kristall und der rote von dem Kristall des Kleinen miteinander und trafen die rotierende, leuchtende Gestalt von Myla. Die folgende Explosion schien die ganze Welt zu erschüttern. Starzok wurde hilflos wie ein Blatt im Wind emporgetragen und versank mit dem Kristall in der Hand in dem ungeheuren Vogel des Nicht-Seins. Der purpurne Nebel folgte ihm, und im nächsten Moment verschwand die Kreatur des Bösen in einem gewaltigen Blitz. Erneut herrschte nur eisiges, gleißendes Schweigen auf dem Grat vor dem Kolkon Vera Kion. Es war vorbei. Das heißt, fast. Strahlendes Licht erfüllte das Gemach des Ersten Ministers. Der Wind hatte die zerrissenen Vorhänge endgültig heruntergefetzt. Bohne stöhnte und richtete sich langsam auf. Besorgt sah er sich um. In dem Chaos waren wilde Bilder vor seinem inneren Auge aufgestiegen. Bilder von weißen, strahlenden Bergen und einem schrecklichen Vogelwesen, das aus dem Himmel herabgestiegen war, um eine kleine, unselige Gruppe von Bergsteigern zu töten. Aber es waren nicht irgendwelche Bergsteiger. Bohne hatte gewusst, wer sich in dieser Gruppe befand. »Raj«, flüsterte er. »Raj… geht es dir gut?« Aber dennoch war es Polty, auf den Bohne zustürmte. Der König stand an der Säule und umklammerte seine Gemahlin, als habe er sie während der ganzen, schrecklichen Magie festgehalten. Eine Weile hatte sie sich gewehrt, jetzt jedoch war sie ruhig. Umbecca tauchte auf. Sie jammerte und hatte das verwesende Bein offenbar vergessen. Jetzt trat auch Burgrove wieder zu ihnen. Er zog die Anwesenden mit einer lautlosen, geheimnisvollen Macht zu sich, hob eine Hand, und die Fesseln fielen von der Königin ab. Sie trat stolpernd in den Kreis neben ihre vier unseligen Gefährten. Weit über ihnen, unsichtbar im hellen Glanz, drehte sich der Anti-Gott immer noch um sich 133
selbst. Aber jetzt umkreisten nicht mehr zwei Kristalle seinen Kopf, sondern deren drei. »Was… was ist passiert?«, fragte Bohne stöhnend. »Mit jedem Kristall wachsen meine Kräfte«, verkündete eine Stimme hinter Burgroves Maske. Aber es war keine direkte Antwort auf Bohnes Frage. »Mit dem ersten konnte ich meine Feinde sehen, als würden sie vor mir stehen. Der zweite ermöglichte es mir, in ihren Verstand zu schauen, und jetzt, mit dem dritten Kristall, verschieben sich die Kräfte zu meinen Gunsten. Es wird ein Leichtes sein, morgen den vierten Kristall zu erobern. Mein Sieg ist gewiss. Und ihr, meine Freunde, werdet die Agenten meines Sieges sein. Ihr werdet die fünf Bittsteller sein, die vortreten, um meinen größten Preis zu fordern. Kommt, meine Bittsteller, kommt!« Nach diesen Worten hob Burgrove die Maske an, und sein Gesicht war das des Ersten Ministers. Das Licht des roten Kristalls glühte in seinen Augen, als er seine Gefangenen einen nach dem anderen musterte. Jetzt trat er zur Seite, und vor ihnen tauchte eine Vision auf, die ihren Gesichtskreis vollkommen ausfüllte… Doch es war mehr als nur eine Vision. Es war eine gewaltige, goldene Zugbrücke, die sich in einer Landschaft aus purem Eis vor ihnen herabsenkte. Das schimmernde Licht hüllte sie ein. Verzaubert traten sie vor. In diesem Moment kletterte eine ziemlich mitgenommene Gruppe von fünf anderen – nämlich Jem, Cata, Rajal, Tishy und der Kleine – über die letzte Anhöhe vor der Einsiedelei. Erschöpft wollten sie nur eins: sich hinlegen und ausruhen. Doch sie kamen zu spät und konnten nur noch mit ansehen, wie sich die goldene Zugbrücke majestätisch über den gewaltigen Schlund aus Eis senkte und fünf Bittsteller empfing, die plötzlich wie von schimmernder Magie erzeugt aus dem kalten Gleißen auftauchten. Da standen sie, die glücklicheren Fünf, prachtvoll in ihre höfischen Gewänder gekleidet, bereit, empfangen zu werden. Es waren Polty, Bohne, Umbecca, Jeli und Ejard Blau. Sie überquerten die Zugbrücke, die sich hinter ihnen schloss 134
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16. Der Kleine Stern Leser, wir sind jetzt im letzten Stadium unserer Reise angekommen. Wir sind eine lange Strecke zusammen gereist und müssen uns bald voneinander trennen. Vielleicht ist das hier unsere letzte Chance, uns voneinander zu verabschieden. Was wir miteinander geteilt haben, war eine Art Traum, eine aufgebauschte Illusion, mehr nicht. Aber Träume sind nie trivial oder falsch. Wir stellen uns jenseits der Phantasiegebilde unseres Geistes eine Welt vor, die solide und so unerschütterlich wie der Stein ist, gegen den wir treten. Aber auch das ist eine Illusion. Unsere Träume sind nur schimmernde Vorhänge, die dem Wind hilflos ausgeliefert sind, und so ist auch das Leben. Nach der trügerischen Trägheit seines Beginns fängt das Leben rasch an zu rasen, und sehr bald begreifen wir, dass wir sterben müssen. Als ich noch ein Kind war, erschien mir mein eigener Tod wie ein kleiner Stern am Abend, bei dessen Anblick Kinder sich etwas wünschen. Die Zeit erstreckte sich vor mir wie ein unendliches Land, das ich eines Tages ganz nach meinem Gutdünken erobern und erkunden würde. Doch jetzt finde ich mich auf einer geschrumpften Insel wieder, wo die Gezeiten gierig an den zurückweichenden Ufern nagen. Geboren zu werden, sagte einmal ein Mann, ist wie auf einer Insel zu stranden. Wir sterben wie Schiffbrüchige, denen erst dann klar wird, dass die Welt, die sie für so groß hielten, eigentlich nichts weiter war als dieser winzige Fleck. Vor kurzem stand auch ich am Anfang von allem. Ich war sehr stolz, und ich war jung; ich stand auf einem Hügel und glaubte, die Welt läge mir zu Füßen. Ich stellte mir vor, wie es sicher jeder getan hat, dass die Zeit, die vor niemandem Halt macht, für mich stehen bleibt und mich in einem Moment der Ewigkeit verharren lässt. Aber so freundlich ist die Zeit nicht. Schon bald müssen wir erkennen, dass das Leben uns nur zurückträgt, auf einen langen Weg fort von allem, was wir einst gewesen sind. Wir täuschen uns mit unseren Machtphantasien darüber hinweg. Aber eigentlich besitzen wir gar keine Macht, wenn uns 136
alles, was wir lieben, so einfach genommen werden kann. Wir lachen oft über den Tod, aber der Tod lässt sich nicht beschwichtigen. Mein Tod ist ein gewaltiger Baum geworden, der mich ständig überschattet, ganz gleich, wohin ich mich auch wende. Wenn der Tod einem näher rückt, verstärkt sich auch unausweichlich die Panik bei dem Gedanken an all das, was wir versäumt haben. Wir haben so wenig Weisheit erlangt, so viel Liebe nicht gegeben, unsere besten Dinge vergeudet oder in Unordnung hinterlassen. Die Welt, so wird gesagt, ist eine Komödie für die, die denken, und eine Tragödie für die, die fühlen; die Quelle von Komödie und Tragödie ist jedoch dieselbe. Das Leben ist Wollen, rastloses Wollen. Wenn am Ende das Begehren erlischt, verfügen wir vielleicht zum ersten Mal über einen klaren Blick, schauen verwundert zurück auf all unseren Stolz, auf unsere Anmaßungen, auf all unsere glorreichen Pfade, die uns nur ins Grab gebracht haben. Wir sind Staub in einem Strahl des Sonnenlichts, steigen und sinken; fällt dann die Sonne auf uns, lässt sie uns funkeln wie einen kleinen Stern. Das ist das Leben. Der Vorhang bauscht sich und ist ständig in Bewegung. Ich werde bald tot sein und du auch. Wir müssen behutsam und freundlich miteinander umgehen. Wenn ich tot bin, Leser, wirst du vielleicht an mich denken und dich daran erinnern, dass ich einst so lebendig war wie du. Eine Weile sah sie alles verschwommen, wie in einem Nebel. Als er sich endlich verzog, fand sie sich in einer kleinen, sauberen Kammer von äußerster Schlichtheit wieder. Es war eine Kammer, die einem ehrbaren Dienstboten hätte gehören können. Nur der Weihrauch, dessen schwerer Duft in der Luft hing, und eine bunte Perlenschnur am Fenster, die in dem kalten Winterlicht funkelte, ließen darauf schließen, dass es sich vielleicht um eine exotischere Räumlichkeit handeln mochte. Constansia Cham-Charing wusste nicht, wie sie hierher gekommen war. Sie konnte es nicht einmal erraten. Dass sie keine Angst hatte, musste wohl an den beruhigenden 137
Stimmen liegen, die sie gehört hatte, und zwar schon lange, bevor ihre Sehkraft zurückgekehrt war. Außerdem merkte sie, dass Mops bei ihr war. Sie spürte seinen warmen Körper neben sich im Bett. Zudem war der kleine Hund sauberer und roch viel besser als vorher. Erst langsam erkannte Constansia die drei ungewöhnlichen Gestalten, die neben ihrem Bett standen. Ihr wurde sofort klar, dass dies die Besitzer der Stimmen sein mussten. Sie waren alle drei älter, und sie waren sehr freundlich. Es handelte sich um zwei Gentlemen und eine Lady. Aber was für merkwürdige Gentlemen! Und was für eine seltsame Lady! Erst nach einer Weile dämmerte es Constansia, dass sie die Gentlemen kannte. Allerdings hatte sie die beiden früher niemals ohne ihre gewohnte Theaterkluft gesehen. Der eine, der sich Harlekin nannte, hatte immer eine silberne Maske getragen, und das Gesicht des anderen, der Clown genannt wurde, war immer weiß geschminkt gewesen. Wie gern sich Constansia an ihre großartigen Auftritte im damals noch berühmten Cham-Charing-Haus erinnerte! Jetzt saßen sie lange zusammen und plauderten über die alten Zeiten. Die Lady hatte Constansia zwar noch nie zuvor gesehen, aber ihr war klar, dass es sich bei ihr um eine vornehme Person handeln musste. Noch lange, nachdem Harlekin und Clown gegangen waren, blieb die Lady neben ihrem Bett sitzen. Sie sprach zwar nicht viel, reichte ihr aber mehrmals einen merkwürdigen, süßen Trank und forderte sie auf, ihn zu schlucken. Benommen vermutete Constansia, dass es sich um eine Droge handeln musste, aber was es auch für eine Droge sein mochte, es war jedenfalls kein Rebellengift. Dies hier war etwas Gutes, etwas Heilendes. Auf dem Kopf trug die Lady ein merkwürdiges Arrangement aus Tüchern, in die ein blitzender Stein eingearbeitet war. Dieser Edelstein faszinierte Constansia, und sie konnte ihren Blick nicht davon losreißen. Zwar hielt sie die Lady wie auch den Harlekin und den Clown für Angehörige des Vaga-Volkes, aber es störte sie weit weniger, als es zweifelsohne schicklich gewesen wäre. Und auch wenn sie re138
gistrierte, dass keiner der drei sie mit ihrem angestammten Titel angesprochen hatte, nahm sie es ihnen nicht übel. Constansia spürte, dass dieser kleine Raum etwas Besonderes und isoliert von der Außenwelt war und dass diese Freunde, die sie gerettet hatten, ganz besondere Menschen waren. Vielleicht sogar mehr als nur Menschen. »Seid Ihr Götter?«, fragte sie schließlich. »Wir sind keine Götter«, erwiderte die alte Lady und lächelte. »Aber wir helfen den Göttern ein bisschen. Und die Götter brauchen auch dringend Hilfe, jetzt, wo die Kräfte des Anti-Gottes so furchtbar wüten.« »Anti-Gott?« Constansia war immer noch verwirrt, aber die alte Lady erklärte sich nicht weiter. Stattdessen redete sie von ihren Enkelkindern und wie gern sie die beiden noch einmal sehen würde, bevor sie starb. Letztere Aussicht schien sie ansonsten recht wenig zu bekümmern. »Meine Kräfte sind mittlerweile sehr schwach, und meine Zeit neigt sich dem Ende zu. Aber ach, wie sehr sehne ich mich nach Rajal und Myla! So wie Ihr, meine Freundin, Euch nach Eurem eigenen lieben Enkelkind sehnt.« Constansia blinzelte. »Enkelkind? Ich glaube, da befindet Ihr Euch im Irrtum. Ich habe ein Kind. Eine Tochter.« »Liebe Freundin, das ist schwerlich möglich. Lasst nur, mir könnt Ihr nichts vormachen. Ich weiß, was Ihr getan habt, und ich weiß auch, was Ihr noch tun werdet. Ihr seid eine närrische, verblendete Frau, aber im Grunde Eures Herzens seid Ihr nicht böse. Ich vergebe Euch, wie Euch auch Eure Enkelin vergeben wird, und Ihr Eurer Enkelin. Und Eurer Tochter.« »Vergeben? Ich verstehe Euch nicht!« »Teure Freundin, das habe ich auch nicht erwartet. Aber macht Euch keine Sorgen. Ihr habt viel gelitten, aber die Zeit Eures Leidens geht zu Ende. Die Wege des Schicksals mögen geheimnisvoll und verschlungen sein, aber vieles von dem, was Ihr verloren habt, wird Euch wieder zurückgegeben werden – einschließlich Eures verschwundenen Enkelkindes.« 139
»Tishy?« Constansia setzte sich im Bett auf. »Tishy kommt zurück? Aber woher wollt Ihr das wissen? Wie könnt Ihr Euch dessen so sicher sein? Und… und wer seid Ihr überhaupt?« Weißes Licht tanzte auf der Perlenkette am Fenster. Eine Hand griff nach der von Constansia; es war eine Hand, die noch viel knotiger war als ihre eigene. »Einige nennen mich die Große Mutter. Andere nennen mich Xal. Aber was bin ich in Wahrheit anderes als eine alte Frau, die wie Ihr in einem Sturm Schutz sucht? Seien wir froh, dass wir einander gefunden haben und die Gastfreundschaft von Harlekin und Clown genießen können. Unsere Bekanntschaft wird nur von kurzer Dauer sein. Wenn der Sturm sich gelegt hat, werden wir Euch zu Euren Freunden zurückbringen. In den Jahren, die Euch noch bleiben, werdet Ihr Euch vielleicht von Zeit zu Zeit an uns wie an einen beunruhigenden, aber nicht unerfreulichen Traum erinnern.« »Was… was meint Ihr damit?« Constansia sollte später niemals das außergewöhnliche Gefühl erklären können, das diese Worte in ihr hervorriefen. Sie wusste nur, dass sie von ihnen berührt und tiefer bewegt wurde, als sie ertragen konnte. Tränen rannen ihre runzligen Wangen hinunter, und sie zog den warmen Mops dichter an sich. »Große Mutter…«, begann sie Aber Constansia hatte beinahe augenblicklich vergessen, was sie hatte sagen wollen. Stattdessen fragte sie: »Eure Enkelkinder… Wie sagtet Ihr, waren ihre Namen?« »Der des Jungen lautet Rajal. Das Mädchen heißt Myla.« »Das sind merkwürdige Namen«, erwiderte Constansia. Die Große Mutter lächelte nur, diesmal jedoch traurig, und küsste Constansias Wange. Jem hatte die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Sein Gesicht brannte vor Kälte. Durch das Schneetreiben sah er nur einen goldenen Dunst, der auf der anderen Seite des Eisschlundes schimmerte. Konnte es sein, dass die Einsiedelei bereits verschwand, aus dem Sein entrückte, 140
nachdem sich die Zugbrücke gesenkt, die Fünf hereingelassen und danach wieder gehoben hatte? Jem war verzweifelt. Wieder tastete er mit gefühllosen Fingern nach dem Kristall unter seinen Pelzen. Zitternd sank er auf die Knie. Nein, dachte er, das kann nicht sein! Es darf nicht sein! Wie konnte Toth triumphieren, wo doch noch ein Kristall außerhalb seiner Gewalt war? Allerdings war Jems Kristall im Augenblick kalt und passiv. Jem fluchte und stöhnte. Wie hell der Kristall zuvor gestrahlt hatte! Warum glühte er jetzt nicht wie Feuer, zerstörte die Wände der Einsiedelei und vernichtete Polty und seine Komplizen mit seiner mystischen Kraft? Jem hörte Schritte hinter sich. Eine kleine Schneewolke stieg auf, und eine behandschuhte Hand packte seinen Arm. Er hielt den Kristall empor. »Er ist tot, Cata. Er ist tot!« »Jem, das ist nicht der richtige Moment. Das weißt du doch, oder nicht? Komm mit in die Höhle. Hilf mir, den Kleinen aufzuheitern. Er ist untröstlich wegen des Verlusts von Ejard Orange – von Mylas Verschwinden ganz zu schweigen. Und was Raj angeht…« Zögernd stand Jem auf und ließ sich von Cata über die Klippe führen. Sie hatten unter einem Felsvorsprung Unterschlupf gefunden. Er gewährte ihnen Schutz vor dem Schnee und dem Wind, nicht aber vor der Kälte. Sie konnten kein Feuer mehr machen, und es wurde bereits dunkel. »Worauf warten wir?«, fragte Jem. »Welchen Sinn hat das alles noch? Warum diese Wache?« »Willst du lieber zurückgehen?« Cata drückte seinen Arm. »Jem, irgendwas muss passieren. Das ist Toths Trick, aber wie sollte er funktionieren? Sie werden herausfinden, dass Polty nicht… Oder Umbecca… Das werden sie doch merken, hab ich Recht?« »Wer soll es herausfinden, Cata?« »Nun, die Träger des Juwels des Krüppels.« »Sicher, aber wer sind diese Träger? Wer sind sie wirklich?« Cata verstummte. Elend kauerten sie sich in der Fels141
mulde zusammen, die man nur mit einiger Übertreibung Höhle nennen konnte. Der Kleine starrte zu Boden und zitterte am ganzen Körper. Jem zog ihn zu sich heran. Er versuchte, Rajal anzulächeln, aber es gelang ihm nicht. »Sie sind… sie sind das, was sie immer schon waren«, erklärte Tishy nach einem Moment. »Was?« Jem wandte sich ihr zu. »Die Träger. Während der ganzen Zeit des Sühneopfers waren sie dieselben: Sie haben gebetet und gewartet. Und jetzt glauben sie, dass ihre Zeit gekommen ist.« Cata war nicht überzeugt. »Woher weißt du das?« »In dem Buch stand mehr, als ich vorgelesen habe. Viel mehr.« »Was denn?«, drängte Jem. »Was weißt du noch?« »Dass die Träger Gebundene sind, nicht Transzendierte –« »Sicher, sehr hilfreich«, warf Cata scharf ein. »Cata, nicht!«, sagte Jem tadelnd. »Dass die Zwillingsgipfel dieses Bergs der Wahrheit als Konfrontation und Kontemplation betrachtet werden und so betrachtet werden müssen.« »Ach ja?« Cata konnte einfach nicht anders. »Und welcher ist welcher?« Tishy ließ sich nicht beirren. »Und ich weiß, dass die Träger geteilt sind, wie die Berge, und dass auch ihr Gott geteilt ist.« »Agonis?«, fragte Jem verblüfft. »Geteilt? Wie denn?« »Sie fantasiert, Jem«, sagte Cata. »Ihr Blick ist glasig, und sie ist blau vor Kälte… Tishy, komm wieder zu dir! Denk an den Tag, wenn du wieder bei deinen Büchern bist! Bei deinen Büchern, Tishy! In deiner Bibliothek! Denk daran, und glaube es!« »Was ist mit Ejard Orange?«, fragte der Kleine. »Der Kater? Was ist mit… Bohne?«, fragte Rajal. »Bohne?« Cata konnte es nicht glauben. »Raj, ich dachte, du würdest nach Myla fragen…« »Ich auch«, sagte der Kleine. »Das dachte ich auch.« Besorgt musterte Cata die Gesichter ihrer Freunde. Sie wollte weitersprechen, aber die Worte gefroren ihr auf den Lippen. Der Wind heulte um den Felsvorsprung, und es 142
wurde immer dunkler. Die Freunde fühlten, wie eine bedrohliche Taubheit ihre Glieder lahmte. Konnten sie denn nichts tun? Cata stellte sich vor, wie sie über den eisigen Abgrund schwebten und die Mauern der Einsiedelei mit einer plötzlichen, unwahrscheinlichen Kraft erstürmten. Nein, das war absurd. Sie zitterte und dachte an ihren verlorenen Kristall, dachte an den Vogel des Nicht-Seins. Die Zeit verstrich, und das Schweigen lastete schwer auf den fünf Reisenden, bis plötzlich geheimnisvolles Licht die sturmgepeitschte Finsternis erhellte. Es glühte purpurn und dann golden und hüllte die Einsiedelei ein. Geisterhafte Muster schienen über die Mauern zu spielen, und dann ertönte Musik, deren Melodie sich durch den heulenden Wind wob. Jem und seine Freunde lagen wie erstarrt da. Sie waren zwar nicht erfroren, konnten sich aber dennoch nicht bewegen. Vielleicht war das eine Nachwirkung von Toths Magie, der sie immer noch verhöhnte, vielleicht war es aber auch ein anderer Zauber, der sie gleich verschlingen würde. Es war Cata, die den Ruf gleich beim ersten Ton hörte. Wie im Traum stand sie auf und ging auf ein Licht zu, das sich vor ihr bewegte. Ein goldener Strahl umhüllte sie und nahm sie mit, trug sie über den eisigen Abgrund und durch die Mauern der Einsiedelei hindurch. Die Zeit verstrich. Dann war es Jem, der wieder zu Bewusstsein kam und mit einer merkwürdigen Gelassenheit feststellte, dass Cata fort war. Er stand auf und ging in den Sturmwind hinaus, folgte der Musik des Windes und des Schnees und der anderen, unheimlicheren Musik darunter. Als er sich zu seinen Gefährten umdrehte, sah er nur kalte Statuen, von Eis überzogen. Er umklammerte den Kristall, der diesmal glühte. Jem schaute auf die Einsiedelei, die in dem magischen Licht hell erstrahlte. Eine Stimme erklang hinter ihm. »Jem, diese Prüfung wird bald vorüber sein.« Der Harlekin? Konnte das sein? Diesmal drehte sich Jem nicht um. Als würde ein Schleier gelüftet, war plötzlich Morgen, und Jem sah, wie Cata 143
auf ihn zukam, über das Eis und den Schnee glitt. Neben ihr schwebte eine große Gestalt mit einer Kapuze, die ein Gewand mit einer Schleppe aus Gold trug. Erst jetzt regte sich Staunen in Jem. Er wusste, dass sich hinter ihm seine Freunde rührten, dass das Eis von ihren erfrorenen Gesichtern wegbrach. Rajal. Tishy Der Kleine. Aber Jem konnte sich nicht umdrehen, sondern musste unverwandt Cata anschauen. Sie war verwandelt, ja. Aber wie? Sie lächelte und lehnte sich eng an den goldenen Fremden. Jem begriff, dass dieser Fremde, auch wenn er dessen Gesicht nicht erkennen konnte, keineswegs ein Fremder war. »Jem«, sagte Cata, »alles ist gut. Wirklich, alles ist gut!« Der Fremde hob einen goldenen Arm. Als Jem aufwachte, fand er sich in der Einsiedelei wieder
Die Belagerung von Agondon, welche die Herrschaft von Ejard Blau beendete, dauerte nicht lange. Im Vergleich zu der Belagerung von Irion, die den Blauen König auf den Thron gebracht hatte, war es bloß ein Augenzwinkern. Aber die Zeit verstreicht im Krieg nicht wie gewöhnlich. Für diejenigen, die an dieser Belagerung von Agondon teilgenommen hatten, dauerte sie viel zu lange, und das Leiden, das sie hinterließ, sollte noch viele Jahre andauern. Etwa zur Zeit der Meditation des Koros waren die Angriffe der Rebellen auf die Stellungen der Blauröcke zu häufig geworden, als dass man sie so einfach hätte niederschlagen können. Sie ähnelten Buschfeuern, die immer wieder aus dem Unterholz aufflackerten. Im Vergleich zu der gewaltigen Armee, die ihnen gegenüberstand, war die Streitmacht der Rebellen ein zerlumpter und schlecht ausgebildeter Haufen. Aber sie waren auch rücksichtslos und wurden nicht von einer umständlichen Befehlskette behindert, die ihre Feinde fesselte und die von den Kriegslords in ihren luxuriösen Gemächern bis zu den Rekruten auf den 144
matschigen Straßen und Feldern reichte. Das waren Rekruten, die schlecht ernährt und verängstigt waren und außerdem nicht mehr wussten, was sie eigentlich verteidigten. Sie waren ausgebildet worden, um zu marschieren, kannten vorgegebene Manöver und waren es gewöhnt, Befehle ohne jedes Nachdenken zu befolgen. Entsprechend wenig wussten sie mit den zerlumpten Gruppen der Feinde anzufangen, die plötzlich auftauchten und ihre wilden, unberechenbaren Angriffe vortrugen. Heimlichkeit und Überraschung waren die Verbündeten der Rotröcke, und in den folgenden Jahren, in denen ein neuer König auf dem Thron saß, sollten die Armeen von Ejland viel aus den Vorkommnissen dieser öden, verzweifelten Tage lernen Etwa zur Zeit der Meditation der Viana drohte aus diesen Buschfeuern ein ausgewachsener Steppenbrand zu werden. Die Kriegslords gaben zwar unaufhörlich ihre Befehle heraus, aber nichts konnte die Begeisterung eindämmen, welche die Stadt ergriff, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass der rechtmäßige König zurückgekehrt war und seine Krone zurückforderte. Die vereitelte Hinrichtung der großen Tempelbomberin goss nur noch mehr Öl ins Feuer. Für das einfache Volk war der Blitz, der den Erdon-Baum vernichtet hatte, ein Zeichen göttlicher Missbilligung des Regimes der Blauröcke. Sie würden vernichtend geschlagen werden. Es gab viele Deserteure, die sich hastig ein rotes Tuch um die Stirn banden, ein Posten nach dem anderen wurde aufgegeben, und in den Außenbezirken wurden die Patrouillen von den Straßen vertrieben. Mittlerweile füllten auch Flüchtlinge von der Insel Xorgos die Reihen der Rotröcke, und sie beeindruckten die Leute mit den Geschichten über ihre außergewöhnliche Befreiung. Der nächste Tag musste die Entscheidung bringen. Im Morgengrauen am Tag der Meditation des Theron befanden sich die Hügel von Agondon vollkommen in der Hand der Rotröcke. Gegen Mittag kontrollierten die Rebellen den Hafen und alle Landstraßen, die in die Stadt führten. Am Nachmittag durchbrach eine furchtlose Rebelleneinheit unter dem Kommando von Danny Garvice die Bar145
rikaden der Bolbarr-Straße, überrannte das Händlerviertel der Ollon-Felder und tränkte eben diese Erde mit rotem Blut, auf der Lady Cham-Charing und ihre Jugendfreundinnen vor so vielen Jahren mit ihren Schmetterlingsnetzen herumgelaufen waren und gelacht hatten. Als die Nacht hereinbrach, eroberten die »Diebes-Divisionen« unter Führung von Narben-Majesta und Shammy der Kapuze die Ollon-Kaserne. Das markierte, so meinten später viele, das Ende. In dieser Nacht marschierte eine zerlumpte Armee unter der Führung eines Mannes namens Bob Scarlet im Triumph durch die reichen Straßen und Viertel der Neustadt Agondons. Jetzt war die Insel der letzte Stützpunkt der Blauröcke. Unterhändler wurden hin und her geschickt. Die Kriegslords weigerten sich zu kapitulieren. Und während dieser ganzen Zeit hatte sich der Erste Minister in seiner überhitzten, zerstörten Kammer eingeschlossen und weigerte sich, seinen Lords Rat oder Hilfe zu gewähren. Die große Schlacht war für den nächsten Tag anberaumt. »Bist du stolz, Morvy? Blenkinsop ist jedenfalls stolz.« »Crum, du hast doch nicht etwa die Ratte mitgenommen?«»Natürlich nicht! Nein, ich habe sie Raggle und Taggle gegeben. Die sollen auf sie aufpassen. Der gute alte Blenkinsop hockt warm und gemütlich in Corvey Cottage.« »Oder wird am Schwanz durch die Luft gewirbelt.« »Du nuschelst so, Morvy Was hast du gesagt?« »Nichts, Crum. Ich sagte, das war nett von dir.« »Na ja, ich bin wohl auch schon ein bisschen alt für ihn. Ich meine, er ist wirklich ziemlich klein für ein Haustier, hab ich Recht?« Crum dachte eine Weile nach. »Habe ich dir schon mal davon erzählt, wie Zohnny Ryle Blenkinsop seinem Vetter Binty gegeben hat?« »Das hier ist sein Blenkinsop?« »Also wirklich, Morvy! Du kannst dich vielleicht dumm anstellen. Und nicht nur, was Ratten angeht. Aber Blenkinsop ist trotzdem stolz auf dich«, fügte Crum freundlich hinzu. »Stolz weshalb, Crum?« 146
»Weil du hier bist. Und kämpfst, Morvy« Morven schluckte. Glücklicherweise kämpften sie noch nicht. Man schrieb die Nacht vor der Meditation des Theron. Die beiden jungen Rekruten schoben Wache und hatten sich rote Binden um die Ärmel ihrer Bärenfellmäntel geschlungen. Sie standen vor einem Haus in der Davalon-Straße, in Agondons Neustadt, dessen Fenster und Türen mit goldenen Schnörkeln verziert waren. Das Haus war von den Invasoren der Rotröcke beschlagnahmt worden und diente jetzt dem Mann als Hauptquartier, der sich selbst Seine Kaiserliche Agonistische Majestät König Ejard vom Roten Tuch nannte. Drinnen beratschlagten der König und seine Generäle die Taktik für den morgigen Tag, draußen brannten Kohlenbecken hell im Schnee. Trunkene Rebellen machten die Straßen unsicher, und die Huren versammelten sich erwartungsvoll. Irgendwo wurden die Trommeln geschlagen, vielleicht am anderen Flussufer. »Wir werden gewinnen, Morvy, hab ich Recht?«, fragte Crum. »Du meinst unsere Seite? Na ja, wir werden jedenfalls angreifen. Am Morgen.« »Morvy? Erinnerst du dich noch an die Schlacht um Wrax?« Das tat Morven allerdings. Die beiden Freunde hatten sich im Krankenhaus von Wrax befunden, nach einem unglücklichen Unfall in der Nacht zuvor. Als sie eigentlich mitten im Schlachtgetümmel hätten sein sollen, lagen sie auf harten Betten, mussten zänkische Schwestern und schreckliches Essen ertragen. Sie fanden es einen fairen Tausch. »Morvy«, sagte Crum, »diesmal können wir uns nicht drücken, oder?« Morven hätte ihm gern einen Vortrag über Heldentum, Gerechtigkeit und den Kampf um die Freiheit gehalten. Stattdessen sagte er ehrlich: »Nein, Crum, das können wir nicht.« »Du passt doch schön auf dich auf, nicht wahr, Morvy?« »Ich werde mein Bestes tun, Crum. Und du auch, ja?« In dem Moment gab es einen merkwürdigen Wortwech147
sel direkt vor den Stufen des Hauses mit den goldenen Schnörkeln. Unbemerkt war ein Karren die Straße entlanggerumpelt. Jetzt sprang eine weibliche Gestalt herunter. Ein besorgter Bursche begleitete sie und bemühte sich vergeblich, sie zurückzuhalten. Soldaten stürzten sich gierig auf die Lady, aber ihre harschen Worte zerstreuten sie sofort in alle Winde. Morven und Crum fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Es war Nirry Wütend stürmte sie die Treppe des Hauptquartiers von König Ejard Rot hinauf. »Wo ist er? Wo ist der Verräter?« »Goody Olch, bitte…« Ihr männlicher Begleiter hastete aufgelöst hinter ihr her. Es war der Bruder, der in seinem dicken Mantel kaum zu erkennen war. Selbst seine Tonsur war unter einer Pelzmütze verborgen. »Ich will zu ihm…!«, stieß Nirry hervor. »Sie will… zum König!«, keuchte der Bruder. »Zu seiner… Kaiserlichen Agonistischen Majestät?«, fragte Morven. »Allerdings, und ihr werdet mich auch schön vorlassen!«, fauchte Nirry. Ihre Augen blitzten. »Aber… aber Goody Olch, wir dachten, Ihr wärt in Sicherheit in Corvey Cottage, zusammen mit Baines und Raggle und Taggle und – « »Und meinem Zappelphilipp!«, kreischte Nirry. »Wo ist er? Ach, ich wusste doch, dass man diesem dummen Kerl nicht trauen kann! Wart ihr es etwa, seine alten Spießgesellen, die ihn überredet haben zu kämpfen? Ihr habt ihn angestiftet, hab ich Recht? Ich wette, dass ihr es wart!« »Kämpfen? Goody Olch, ich habe nicht – « »Zappelphilipp, kämpfen? Aber Zappelphilipp ist doch – « »Nicht mal in der Armee, genau! Aber er ist weg und hat sich den Rebellen angeschlossen, hab ich Recht? Er hat sich den Rebellen angeschlossen, nachdem ich meine sauer verdienten Ersparnisse dafür vergeudet habe, ihn von den Blauröcken freizukaufen! Euer verdammter König hat es mir versprochen, und jetzt…!« 148
»Aber Goody Olch, bitte…!« »Aus dem Weg!« Mit diesen Worten stieß Nirry Crum beiseite, trat Morven auf den Fuß und stürmte durch die Tür. Der Bruder lehnte sich erschöpft gegen den prunkvollen Vorbau, während die Wachen sich wimmernd um ihre Verletzungen kümmerten. Sie waren zwar schwer, reichten aber bedauerlicherweise nicht aus, um sie vor der morgigen Schlacht zu bewahren. »Meine Güte«, sagte der Bruder und atmete tief durch. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Stattdessen hat sie mich gezwungen, sie in die Stadt zu fahren. Was seid Ihr für ein Mann?, hat sie gesagt. Wollt Ihr etwa eine wehrlose Frau allein losfahren lassen und das auch noch in der Nacht vor einer Schlacht? Wehrlos, von wegen! Das ist viel zu aufregend für einen Mann Gottes… Sagt, Kameraden, Ihr wisst nicht zufällig, wo ein armer Bruder vielleicht einen Happen zu essen bekommen kann, oder?« Mittlerweile hatte die Ehrfurcht gebietende Herrin der Katze & Krone eine Wache nach der anderen überwunden und sich bis in das luxuriöse Arbeitszimmer von Ejard Rot vorgearbeitet, wo Seine Majestät vor seinen Rebellenführern hin und her marschierte. Shammy die Kapuze war ebenso anwesend wie Narben-Majesta, neben ihm saßen Offero der Maulwurf, Peter Impalini und Molly Halbe-Halbe. Ebenso waren versammelt Folio Webster, Roly Rextel, Onty Michan, Danny Garvice und Magda Vytoni. Ganz zu schweigen von Hul, Bando und Landa. Der König sprach gerade von ihrem Schicksal, das sich jetzt erfüllen würde, von dem Ruhm und der Schlacht, die ihnen bevorstand, von dem Sieg, der ihnen sicher war. Die wohlformulierten Sätze flossen ihm nur so von den Lippen und wurden von Nirrys plötzlichem Auftritt abrupt unterbrochen. Alle staunten nicht schlecht über das, was dann geschah. Nirry stürzte sich auf den König und hämmerte mit ihren Fäusten auf ihn ein. »Verräter, hinterhältiger Verräter! Sieh dich an, aufgeblasen vor Stolz wie ein großer Ochsen149
frosch! Ich habe dir in meiner Taverne Unterschlupf gewährt, und das ist jetzt der Dank! Du hast versprochen, dass mein Zappelphilipp nicht kämpfen muss! Du hast gesagt, gib mir die Katze & Krone, und dein Zappelphilipp ist in Sicherheit! Jetzt ist er mit deinen Leuten auf und davon, und deine Rebellen haben ihn eingesackt! Wo ist er? Gib ihn mir wieder, gib ihn mir sofort zurück! Verrotteter, verlogener Rebellenabschaum…!« Schließlich war es Landa, der es gelang, Nirry festzuhalten, bis die bestürzte Tavernenwirtin tränenüberströmt zusammenbrach. Mit einem Blick bedeutete die Priesterin Bando und Hul, dass sie sich um Nirry kümmern würde. Als die beiden Frauen die Konferenz verließen, folgte ihnen, etwas verspätet, raues Gelächter. Im Flur setzten sie sich auf die Treppe. Zärtlich wiegte Landa Nirry in den Armen und erklärte ihr, dass der König nicht wusste, wo Zappelphilipp steckte, sagte ihr, dass die Streitmacht der Rebellen mittlerweile aus Tausenden und Abertausenden von Freiwilligen bestand. Zappelphilipp konnte überall sein. Es war nicht die Schuld des Königs. Trotzdem fühlte Landa sich elend, als sie dies sagte. »Er hat mir gesagt, dass mein Zappelphilipp in Sicherheit wäre. Er hat es versprochen.« »Nirry, ich… wir tun alles, was wir können, um ihn zu finden, das verspreche ich dir. Sobald die Schlacht vorbei ist.« Aber Nirry hörte nicht mehr zu. Sie wischte sich hastig die Augen. »Sieh dir nur an, was für einen Schweinestall sie aus diesem entzückenden Haus gemacht haben! Überall liegt Schneematsch herum, Ornamente sind abgebrochen, und die Bilder hängen schief, überall sind Flecken an den Tapeten von den schmutzigen Händen… Alles, was schön war, ist jetzt schmutzig und verdorben. So sind die Männer, Miss Landa, das machen die Männer!« Plötzlich riss sich Nirry zusammen und sprang auf. »Wie konnte ich die Katze & Krone auch nur einen Moment allein lassen, und das in einem solchen Augenblick? Ich muss wieder dorthin zurück, ich muss! Miss Landa, wenn Ihr glaubt, ich würde zulassen, dass diese verfluchten Männer 150
meine Taverne auch so ruinieren, dann habt Ihr Euch geirrt, das sage ich Euch…« Landa schnappte nach Luft. »Aber Nirry, du bist überspannt Vergiss nicht, wir sind in der Neustadt von Agondon… Die Taverne liegt auf der Insel, hinter den feindlichen Linien. Du kannst doch nicht einfach… Komm schon, Nirry, Zappelphilipp ist Zappelphilipp, aber eine Taverne ist doch nur eine – « Nirry wich zurück, als hätte man sie geschlagen. »Nur eine Taverne? Ich habe all meine Ersparnisse in diese Taverne gesteckt! Glaubt Ihr wirklich, ich wollte wieder als Dienstmädchen arbeiten, nur weil diese nutzlosen Rebellen die Früchte meiner harten Arbeit zertrümmert haben? Ich werde dort hingehen! Blaue oder Rote, Rote oder Blaue, ganz gleich, ich habe etwas zu verteidigen, und ich werde es verteidigen, komme was da wolle! Es wird sicher nicht einfach, aber Ihr könnt doch zaubern, Miss Landa, hab ich Recht? Helft Ihr mir?« Landa starrte sie mit offenem Mund an. Doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach jemand anders, hinter ihr. »Keine Sorge, Goody Olch. Ich werde Euch helfen!« Nirry fuhr herum. »Baines? Ich habe dir doch befohlen…!« Es war jedoch nicht nur Baines da, sondern auch Raggle und Taggle. Der eine Junge machte einen Bocksprung über den anderen. »Biddy-Biddy-Bobbel!« »Diddy-auf-dem-Doppel!« »Tut mir Leid, Goody Olch«, erklärte Baines, »aber ich konnte Euch doch nicht allein gehen lassen, hab ich Recht? Glaubt Ihr denn, wir hätten einfach abgewartet, während Ihr in Gefahr seid? Und was diese beiden angeht, die zurückzuhalten…« Der Bruder tauchte keuchend hinter ihnen auf. »Wir gehen zur Taverne zurück? Oh, ich würde sagen…« Landa musste lachen. Also führte sie spät in der Nacht eine unerschrockene kleine Gruppe über das Eis des Flusses Riel. Die Uferböschung 151
erwies sich als ein schwieriges Hindernis, vor allem für den fetten Bruder, ganz zu schweigen von der damenhaften Baines, aber Landa hatte noch genug Magie von ihrer letzten Anrufung der Göttin Viana übrig. So sorgte sie dafür, dass alle sicher in der Katze & Krone ankamen.
18. Die andere Seite der Hecke »Cata? Wo… wo ist Cata? Wo sind meine Freunde?« Erst spürte Jem die Wärme, dann einen durchdringenden Geruch nach Weihrauch. Normalerweise wäre er schlagartig wach geworden, doch jetzt hob er nur langsam den Kopf und sah sich um. Er lag in einer kleinen Zelle mit Steinwänden auf einem schmalen Bett. Es gab weder andere Möbel noch irgendeine Dekoration. Durch eine Gittertür fiel weißliches Licht in den Raum, und am Ende der Koje hockte ein in goldene Gewänder gekleideter Akolyth, der mit gesenktem Blick eine zähflüssige Salbe in Jems Fußsohlen einmassierte. Jem musterte den Jungen mit zusammengekniffenen Augen. Der sah auf, als er merkte, dass er beobachtet wurde. Jem zuckte zusammen. Im Gegensatz zu der großen Gestalt in der Nacht zuvor trug dieser Junge keine Kapuze, und sein flaches, kupferfarbenes Gesicht kam Jem bekannt vor. »Blayzil?«, flüsterte er. »Aber ich habe doch gesehen, wie du starbst… Ich…« Der Junge reagierte nicht auf Jems Worte, sondern stand auf und deutete auf die Gittertür. Jem hatte gedacht, er wäre ein Gefangener, aber er schien keineswegs in dieser Zelle eingesperrt zu sein. Er stand unsicher auf und merkte erst jetzt, dass er genauso gekleidet war wie der Junge. Er trug ebenfalls eine weite Robe, allerdings war sie schwarz, nicht goldfarben. Und er war dazu mit einer Schärpe bekleidet, die von der Schulter bis zur Hüfte reichte. Sie schimmerte in den Farben des Orokon. Seine Hand glitt zu seiner Brust. Hatte er 152
noch den Kristall bei sich? Aber ja… ja. Er berührte den Boden und fühlte ein leichtes Brennen, das von den feuchten Sohlen in seine Beine stieg. Der Junge öffnete die Tür. Jem trat hinaus und stand in einem langen Korridor aus Stein. An der einen Seite war er von vielen Türen gesäumt, die genauso aussahen wie die Tür, durch die sie eben getreten waren. Auf der anderen Seite drang gelbliches Licht durch hohe Fensterschlitze. Jem hatte sich gefragt, wie es hier eigentlich so warm sein konnte, wo sich doch draußen eine Wüste aus Schnee und Eis befand. Anscheinend hatte die Salbe etwas damit zu tun, aber als Jem jetzt an diesen Streifen aus Sonnenlicht vorbeiging, wusste er, dass die Wärme eine zweite Quelle haben musste. Er war neugierig, als sie das Ende des Korridors erreichten und der Junge ihn in das helle Licht hinausführte. Jem schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, lag ein grünes Tal vor ihm. Verwirrt nahm er den Anblick von exotischen Sträuchern, Vorhängen aus Blättern und leuchtenden Blumen in sich auf. Prachtvolle Lauben, Grotten und duftende Gänge warteten auf ihn. Wohlgerüche erfüllten die Luft, und die Sonne schien. Nur das entfernte Pfeifen des Windes und die blassen Gipfel der Zwillingsberge erinnerten an die Kälte außerhalb dieses merkwürdigen, verzauberten Reiches. »Aber wie… Was ist das für ein Ort?« Jem drehte sich zu seinem Gefährten um, aber der Junge war verschwunden. Erneut wandte Jem sich um. Es war ruhig. Selbst der Wind war abgeflaut. Ein Schmetterling flatterte durch die duftende Luft und wäre Jem beinahe ins Gesicht geflogen. Der zwinkerte und stieg eine moosige Treppe hinunter, als würde eine unsichtbare Macht ihn dazu zwingen. Er schritt tiefer in den Garten hinein. Warme, gewundene Pfade breiteten sich vor ihm aus. Jem wanderte staunend zwischen den prächtigen, schweren Blüten tropischer Bäume und Pflanzen herum. Manchmal streckte er die Hand aus und berührte ein Blatt, eine Blüte oder einen Stängel. Vielleicht wollte er sich vergewissern, dass sie echt waren 153
Die Sonne streichelte immer noch seine Haut und drang durch das Labyrinth der Blätter hindurch. Vögel zwitscherten, und überall torkelten Schmetterlinge durch die Luft. Aber wo waren seine Freunde? Wo war Cata? Er hatte ein Labyrinth betreten. Die Zeit schien sich zu dehnen, während Jem zwischen geschwungenen, hohen Hecken flanierte, bis es schwierig schien, den Rückweg zu finden. Aber warum sollte er zurückgehen? Erneut griff er nach seinem Kristall und überlegte, ob er wohl glühte. Doch als er ihn berührte, merkte er, wie sich hinter ihm etwas bewegte. »Blayzil? Ich meine…« Es war nicht der Junge. Etwas raschelte und fauchte, und dann sah er einen orangefarbenen Schwanz zwischen den Blättern verschwinden. Ejard Orange? Aber er war doch im Schnee verschwunden, wie Blayzil und wie Myla! Jem rief den Namen des Katers, während er ihn verfolgte und sich durch eine dichte Hecke arbeitete. Es war schattig, und ein starker Duft nach verrottetem Humus stieg ihm in die Nase. Im nächsten Moment war Jem in dem Gestrüpp aus Zweigen und Blättern gefangen. Dann hörte er die Kampfgeräusche von der anderen Seite der Hecke. Kampfgeräusche und Stimmen. Er schob sich die Zweige aus dem Gesicht und versuchte, die Besitzer der Stimmen ausfindig zu machen, obschon er genau wusste, um wen es sich handelte. »Miststück! Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich niemals mehr gehen lassen werde…!« »Du bist verrückt! Ich werde dich niemals heiraten! Nicht einmal, wenn du – « »Cata, ich liebe dich! Verstehst du denn nicht? Ich werde dich immer – « Man hörte Schläge und Schreie, und dann schrie auch Jem auf, als der blaue Kristall seine Brust versengte. Er rang nach Luft und kämpfte gegen die Zweige und Blätter an. Durch das Grün sah er einen Kopf mit karottenfarbenem Haar, das wie Feuer in der Sonne glühte, und dann eine schwingende Mähne dunkleren Haars. Er erhaschte einen 154
Blick auf Catas Gesicht, dann auf Poltys, dann sah er undeutlich etwas Schwarzes, dann etwas Weißes. Cata und Polty waren gekleidet wie Jem, nicht einmal die Regenbogenschärpe fehlte. Aber Catas Robe war schwarz und die von Polty weiß. Jem rief nach Cata, er riss sich los und stürmte wütend auf die andere Seite der Hecke. »Der Krüppel!«, rief Polty »Jem!« Cata schlug die Hand vor den Mund. »Bist du real?« Jem stolperte. Etwas flatterte an seiner Schulter, wo er sich die Robe eingerissen hatte. Sein Kristall schwang frei vor seiner Brust, und seine blauen Strahlen zuckten. Aber wo war Jem hier gelandet? Es sah aus wie in einer Laube, die von Rosensträuchern umgeben war. Ihr Duft war überwältigend, genau wie Cata. Jem breitete die Arme aus, aber Polty schubste sie zur Seite. Der Amethystring an seinem Finger blitzte. »Überlass ihn mir, Miststück!« Polty holte mit der Faust aus, aber Jem duckte sich und wich stolpernd zurück. Er erholte sich jedoch rasch und griff an, aber Cata war schneller. Sie hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn nach Poltys Kopf. Jetzt duckte sich Polty und strauchelte, aber auch er fing sich rasch. Dann sprang er einen Schritt vor und bekam Jems Kristall zu fassen. Jem schnappte nach Luft und würgte. Erneut griff Cata in den Kampf ein, aber Polty schleuderte sie zur Seite. Sie blieb zusammengesunken liegen, und kurz darauf landete Jem ebenfalls auf dem Boden. Polty hielt ihn fest und versuchte, ihm den glühenden Kristall vom Hals zu reißen. Jem schlug heftig auf Poltys Hände ein. »Du Narr, Krüppel! Glaubst du tatsächlich, du könntest triumphieren? Glaubst du, du würdest den Kristall erringen? Oder die da für dich gewinnen?« Polty holte aus und wollte zuschlagen. »Ich bin der Sieger, und zwar in diesem Augenblick!« Aber er triumphierte etwas zu voreilig. Cata sprang auf 155
und warf sich auf Polty Sie rollten über den Boden, schlugen und traten sich. »Also wirklich!«, sagte jemand. Die Stimme war schrill und laut. Und sehr vertraut. Jem blickte zuerst hoch. Vor dem zerzausten Trio stand eine gebieterische Gestalt, die ebenso in Weiß gekleidet war wie Polty Aber der Umfang ihrer Robe war so gewaltig, dass ihr Leuchten mit dem der Sonne zu wetteifern schien. »Tante Umbecca?«, fragte Jem verblüfft. »Bist du… real?« Umbecca schien beleidigt. »Das solltest du dich lieber selbst fragen, Jemany, da ich weiß, dass du eigentlich vor, na ja, vor ziemlich langer Zeit in einem Sturm mit Goodman Waxwell hättest ums Leben kommen sollen.« »Ich hätte ums Leben kommen sollen?«, fragte Jem leise. »Waxwell… Er wollte mir die Beine amputieren. Das wolltest du doch nicht wirklich, Tante, hab ich Recht? Du hast gesagt, du wolltest es nicht. Du hast geschrien, als sie mich weggeschleppt haben. Ich habe es gehört.« Die fette Frau zupfte an ihrer Regenbogenschärpe. »Damals gab es vieles, was ich nicht verstanden habe, Jemany Mein geliebter Torso hat mich seitdem eine Menge gelehrt, und gerade erst hat Toth mir noch viel mehr beigebracht. Wie hätte ich, eine unschuldige und tugendhafte Frau, den Abgrund des Bösen in dir erkennen sollen? Ja, das Böse, sage ich, denn wie hättest du deinem unausweichlichen Schicksal anders entkommen können als mit böser Magie?« »Es gibt auch gute Magie, Tante.« »Oh, daran hege ich keinen Zweifel, denn was sonst hätte mich hierher gebracht? Aber Jem, ach Jem, wie hat es nur so weit mit dir kommen können? Denk nur an das schöne Leben, das du hättest führen können, wenn du die Weisheit von Goodman Waxwell akzeptiert hättest! Stell dir vor, wie wir zusammen gelacht hätten, wenn ich dich in deinem Rollstuhl durch die duftenden Gärten geschoben hätte! Ich hätte dir die Haare zerzaust, Jem, und dich mit Süßigkeiten gefüttert. Stattdessen hast du dich in einem Schweinestall der Verderbtheit gesuhlt und hättest unwei156
gerlich bald den Tod erlitten. Doch jetzt sehe ich dich auf dem Boden kriechen: Darf ich hoffen, dass du gerade noch rechtzeitig wieder ein Krüppel geworden bist? Denn dann, und nur dann, gibt es vielleicht Hoffnung für dich!« Trotzig stand Jem auf. Cata und Polty hatten aufgehört, sich zu prügeln, und hockten verlegen auf dem Boden, eingeschüchtert von der massigen Frau. Jem bemächtigte sich hastig Catas Hand und zog seine Geliebte dicht neben sich. »Ich dachte, sie wäre zumindest überrascht, auch dich hier zu sehen«, murmelte er. »Ich habe sie schon in den Gärten getroffen«, erklärte Cata. »Bei dem Versuch, ihr aus dem Weg zu gehen, bin ich über Polty gestolpert. Aber beruhige dich, sie hat auch mir alles vorgehalten, meinen Betrug, meine Undankbarkeit und meine sichere Verdammnis. Doch was kümmert es mich? Soll sie sich doch um Jeli kümmern. Die hat sie wirklich verdient.« »Tuscheln wir, Catayane?« Umbecca warf ihr einen bösen Blick zu. »Hat dir niemand gesagt, wie ungezogen das ist?« »Aber sicher, Tante. Du hast es getan, immer wieder.« »Pah!« Die fette Frau wandte sich angewidert ab. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich geglaubt habe, man könnte eine Lady aus dir machen – aus dir, der Frucht eines Vaga und einer Hure!« »Sie… sie ist eine Lady!«, rief Polty »Herzens-Mutter, du vergisst dich! Du sprichst von der Frau, von der Frau… die mein Eheweib werden soll!« Polty wollte Cata unbeholfen umarmen, aber die warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Umbecca verdrehte die Augen. »Kommt, sollten wir nicht zu den anderen gehen? Und uns zivilisiert benehmen, während wir auf das unausweichliche Ende der Zeit des Sühneopfers warten? Es ist bald so weit, Kinder, und in Kürze sind all diese armseligen Sorgen nur noch Spreu im Wind.« »Die anderen?«, fragte Jem. »Sie sind alle hier?« Er sollte die Antwort sehr bald erfahren, aber erneut flüsterte Cata etwas. 157
»Was hast du gesagt, Kind?«, dröhnte Umbecca. »Ich sagte«, erwiderte Cata scharf, »dass du nicht weißt, was du redest. Tante, ich weiß, dass wir uns hassen, aber in einem Punkt hast du Recht: Dass es jetzt keine Rolle mehr spielt. Es ist nur eines wichtig, nämlich Jems Suche. Was zählt, ist, Toth zu besiegen. Begreifst du denn nicht, dass der Anti-Gott dich beherrscht? Merkst du denn nicht, dass er ein Puppenspieler ist und dir die Worte in den Mund legt, die du aussprichst?« Cata packte plötzlich leidenschaftlich Umbeccas Arm. Doch die fette Frau schüttelte sie wütend ab. »Tante, willst du denn nicht auf mich hören?« »Dummes Ding!« Umbecca rauschte mit wehender Robe wie eine Fregatte unter dem Wind gebieterisch aus der Laube. Jem, Cata und Polty folgten ihr wie gemaßregelte Kinder. »Cata, gib auf«, sagte Jem. »Es mag einmal etwas Gutes in ihr gewesen sein, aber das war vor langer Zeit. Sie ist jetzt nichts weiter als ein fetter, eiternder, böser Fleischberg.« »Das habe ich gehört!«, rief Polty boshaft. »Das sage ich ihr.« Erneut warf er einen begierigen Blick auf Jems Kristall. Jem zog sein zerrissenes Gewand zusammen und befestigte es mit der Regenbogenschärpe. Was hielt Polty wohl davon ab, einen neuen Versuch zu unternehmen, sich des Kristalls zu bemächtigen? War es nur Umbeccas Gegenwart? Und warum waren er selbst und Cata schwarz gekleidet, während ausgerechnet Polty und Umbecca Weiß trugen? Jem wusste, dass er eine Rolle in einem schrecklichen Spiel zu erfüllen hatte, aber was genau das für ein Spiel war, konnte er nicht einmal erahnen
»Die anderen«, murmelte Jem. Die Laube lag mitten auf einer sonnigen Lichtung, einem hübschen Ort, der belebt war von Schmetterlingen, Bienen 158
und bunten Vögeln. Irgendwo murmelte ein Bach, und Gelächter brandete auf. Es kam aus dem Astwerk einer mächtigen Eibe. Als Jem genauer hinsah, erkannte er eine vertraute Gestalt in einer weißen Robe und der obligatorischen Regenbogenschärpe. Der Mann hockte in den Zweigen und schwenkte eine Amphore mit Wein, aus der er genüsslich trank. Weder Cata, Polty noch Umbecca schien dieser Anblick zu überraschen, Jem jedoch staunte, und das Gefühl der Besorgnis verstärkte sich. Der Mann lachte erneut, stimmte dann prustend ein Lied an und wedelte dabei mit der Hand herum wie ein Dirigent. Eine Hand, an der, wie Jem bemerkte, ein Finger fehlte. »Was macht der König da oben?«, fragte er. »Er besingt den Morgen«, erwiderte Cata. »Was sonst?« Umbecca rauschte derweil zielstrebig über die Wiese. Ihr Ziel war ein großes, kariertes Tuch, das auf der Erde lag und auf dem sich Speisen türmten. Die Gerichte glänzten einladend und schienen in der Sonne zu pulsieren. Jem sah auch den Bach, der in der Sonne glitzerte. Doch jetzt wurde er von einer anderen Stimme abgelenkt und dann von einer weiteren, die von der duftenden, von Blumen übersäten Lichtung zu ihm drang. »Die Wege des Schicksals«, sagte die erste Stimme, »sind geheimnisvoll, und es ist nicht an uns, die wir bloße Bauern in ihren undurchschaubaren Klauen sind, sie in Frage zu stellen. Aber auch wenn nur die Qualen des NichtSeins den niederträchtigen Verräter Porlond bestrafen können – « »Ein bisschen langsamer, Cham-Charing. Wirklich, Ihr seid kaum zu verstehen!« »Es… es tut mir Leid, Majestät. Soll ich von vorn beginnen?« »Nein, lies weiter. Aber wen hat Becca denn geheiratet? Ich bin wirklich etwas verwirrt.« Die Königin lag auf dem Rücken im Gras, hatte einen Halm zwischen den Lippen und einen Fuß unbekümmert über ihr angewinkeltes Knie gelegt. Das war kaum eine Haltung, die einer Lady geziemte, andererseits aber wurde 159
ihre Stellung ja ausreichend von der gepeinigten, schwarz gekleideten Gestalt bestätigt, die sie als ihre Zofe hatte rekrutieren können. »Bec… Becca kommt in dieser Geschichte nicht vor«, erklärte Tishy und hielt das kleine, ledergebundene Buch hoch. »Das ist Eine Schönheit der Täler, der letzte Roman der ›Miss R…‹« »Kein Wunder. Wie langweilig kann ein Buch eigentlich sein? Furchtbar langweilig und öde! Ach, wenn wir nur Der Schrecken am dem Nicht-Sein hätten oder Die Geheimnisse der Verwunschenen Abtei!« »Das sind aber keine… belehrenden Bücher, Eure Majestät.« »Du willst, dass ich belehrt werde, Cham-Charing?« Jeli lachte und rollte sich durch das Gras. »Dummes Ding, ich will erregt werden… erregt!« »Jeli hat sich offensichtlich kein bisschen verändert«, bemerkte Cata finster. »Arme Tishy! Kann sie ihr nicht irgendwie entkommen?« Jem war geneigt, ihr bei einem Fluchtversuch zu helfen, am liebsten durch einen kräftigen Tritt in die Kehrseite Ihrer Königlichen Majestät. Er hielt sich jedoch zurück. »Was ist das denn?«, fragte er stattdessen. Während sie auf die Lichtung gingen, hörten sie Kampfgeräusche. Sie kamen vom Bach. Umbecca achtete nicht darauf, sondern stürzte sich auf das Picknick. Polty wirkte jedoch plötzlich beunruhigt. »Dieser Narr, was macht er denn jetzt schon wieder?« Es war Bohne, der sich – natürlich in Weiß gekleidet – im Schilf neben dem Bach wälzte. Rang er da etwa mit jemandem? Es dauerte eine Weile, bis Jem klar wurde, dass Bohnes Gegner der in Schwarz gekleidete Rajal war. Der schrie die ganze Zeit halblaut auf Bohne ein. Er solle sich endlich befreien, er solle sich lossagen. Poltys Gesicht lief dunkelrot an. Er stürmte durch das Schilf, baute sich vor seinem Offiziersburschen auf und wirkte, vielleicht zum ersten Mal, wie ein richtiger Militär. »Aufhören!«, bellte er. »Hört sofort damit auf!« Auf dem Fluss schwammen Stockenten. 160
Jem drehte sich zu Cata um und lächelte unsicher. Auf der Lichtung hatte sich Umbecca auf die Decke fallen lassen und machte sich gerade über einen gewaltigen Kuchen her. »Das muss doch eine Illusion sein, hab ich Recht?«, fragte er. »Eine Art Traum?« »Bist du dir da so sicher?«, fragte Cata. »Ich bin jedenfalls hellwach.« »Aber was für ein Spiel treiben diese Träger mit uns? Und… und wo stecken sie eigentlich?« Diese Frage sollte bald beantwortet werden. Aber vorher drehte sich Jem um und sah voller Freude, wie eine kleine Gestalt mit wehender schwarzer Robe auf ihn zulief. »Kleiner!« Er schloss den Jungen in die Arme und hob ihn hoch. »He! Lass mich runter! Lass mich runter!« »Nicht, bis du mir versicherst, dass wenigstens du echt bist!« »Natürlich bin ich echt! Was glaubst du denn?« »Wo ist denn Ejard Orange, Kleiner? Ich habe ihn heute Morgen schon zweimal gesehen. Er ist zwar vor mir weggelaufen, aber vor dir wird er doch bestimmt nicht flüchten, stimmt’s?« Das Gesicht des Kleinen wurde lang. »Ejjy? Hier ist er nicht. Wie… wie sollte er das auch sein?« »Der Kater ist tot, Jem«, erinnerte Cata ihn sanft. »Wie… Myla«, sagte der Kleine. »Myla?« Erinnerungen vom Vortag stiegen in Jem hoch. Wie fern das alles jetzt schien! »Hier, lass mich den Kleinen nehmen«, sagte Cata. »Niemand braucht mich zu nehmen!«, protestierte der Kleine und wollte zu Boden springen, aber Cata blieb hartnäckig, und so ließ sich der kleine Junge mit einem Seufzer von Cata in die Arme schließen. Er ließ sogar zu, dass sie ihm übers Haar strich, aber das dauerte nur einen Moment. Dann sank Cata hintenüber, und der Kleine glitt zu Boden. »Cata?«, fragte Jem. »Was hast du? Geht es dir gut?« »Na… Natürlich«, erwiderte Cata. »Es ist nur ein 161
Krampf, nichts weiter.« Der Kleine sah sie ungläubig an, und Jem senkte den Blick. Gereizt strich sich Cata das Haar zurück. »Du bist sehr blass«, sagte Jem. »Nicht so blass wie du!«, blaffte Cata. Der Streit wäre noch weiter gegangen, doch da spürte Jem eine Bewegung in der Luft. Sie brachte die Blätter nicht zum Rascheln und war auch keine warme Windbö. Jem blickte auf die Bäume, die dieses duftende Reich umgaben. In einem goldenen Blitz erschien der Junge wieder, der Blayzil so ähnlich sah. Jem wusste nicht, ob er aus dem Blattwerk hervorgetreten oder einfach aus dem Nichts aufgetaucht war. Jedenfalls kam er nicht näher, sondern blieb einfach stehen und starrte sie an. »Was will er?«, fragte Jem. »Ich weiß nicht, aber da vorn ist noch einer«, erklärte der Kleine. »Noch einer?« Jem drehte sich um und sah auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung einen zweiten Jungen. Diesmal war er sicher, dass die goldgewandete Gestalt plötzlich aus der Luft aufgetaucht war. Plötzlich erschien noch einer und dann noch einer. Sie waren umzingelt. Tishy stieß einen besorgten Schrei aus. Und Seine Kaiserliche Agonistische Majestät gab von seinem Ast aus konfuse Befehle. Nur Umbecca schien das alles nicht zu beeindrucken. Allerdings hatte sie auch genug mit dem großen Truthahnschlegel zu tun, den sie sich in den Mund gestopft hatte Die goldgekleideten Gestalten hoben gleichzeitig die Arme und kreuzten sie an den Handgelenken. Ein Blitz flammte auf und schien die ganze Lichtung zu verzehren. Als das blendende Licht nachließ, fanden sich Jem und seine Gefährten auf einem vollkommen anderen Schauplatz wieder. Jem hielt Cata und den Kleinen fest an der Hand, während sie sich unsicher umschauten. In einer bunt gewürfelten Gruppe drängten sich die Schwarzen und die Weißen in der 162
Mitte einer gewaltigen, runden Halle. Durch eine große Glaskuppel drang das Sonnenlicht herein. An den Wänden standen dichte Reihen von zahllosen goldenen Gestalten. Sie trugen Kapuzen und rührten sich nicht. Nur die Akolythen zeigten ihre Gesichter. Es war nicht zu erkennen, ob es Jungen oder Mädchen waren, aber sie sahen alle aus wie Blayzil. Jetzt traten zehn von ihnen vor, einer für jeden Gast oder Gefangenen. Jem leistete Widerstand, aber nur kurz, als sein Blayzil-Doppelgänger ihn sanft von seinen Gefährten trennte und ihn zu einem von mehreren Kästen führte, die lautlos aus dem Steinboden aufgestiegen waren. Sie sahen aus wie steinerne Särge. Der Deckel des Sarkophags schwang auf, und Jem trat hinein. Er leistete keinen Widerstand mehr, obwohl er nicht wusste, warum. Verwundert sah er zu, wie seine neun Begleiter ähnlich platziert wurden. Cata war immer noch ein wenig blass und stolperte unsicher, er sah, wie Umbecca der Truthahnschlegel aus der Hand fiel. Ejard Blau plapperte irgendwas und sah sich nach seiner verschwundenen Amphore um, Rajal protestierte, als man ihn von Bohne trennte, aber alle gehorchten, und sie gehorchten auch, als die Akolythen ihnen goldene Kelche reichten und die Gefangenen – oder Gäste – aufforderten zu trinken. Der König war der Erste, und er trank gierig. Jeli rümpfte die Nase. Polty schnaubte. Wenig begeistert schaute Jem in den Kelch. Er wusste, dass es eine Droge war, und ihm war klar, dass er trinken musste. Musik umschmeichelte die Sarkophage, wenn es denn welche waren. Es war ein feierlicher, messeähnlicher Grabgesang. Dann schlössen sich die Sarkophage. Und fingen an zu rotieren. Jem kam das, was jetzt folgte, wie eine ganze Ewigkeit vor. Eine wilde Fantasie erfüllte ihn, Visionen von bunten, wirbelnden Formen, die in einem arabesken Tanz zu pulsieren schienen. Bis auf das Gefühl des sich Drehens, des ständigen Drehens, während der geschlossene, sargähnliche Kasten rotierte, war nichts deutlich oder klar zu erkennen. Und wie aus einer fernen Welt drang der Gesang zu ihm. Die Laute schienen sich selbst in Worte aufzulösen, die Jem in dieser fremdartigen Ewigkeit kaum zu verstehen 163
vermochte. Was er hörte, war Folgendes: Spalte dich und komm zu uns, Agonis-Im-Unergründlichen: Sieh uns an mit Liebe im Blick, Agonis-Im-Unergründlichen: Irritiere uns mit dem Juwel des Krüppels, Führe zu uns den Kristall: Irritiere uns mit dem Juwel des Krüppels, Halt uns fern von dem Kristall, Agonis-Im-Unergründlichen: Durch Konfrontation komm zu uns, Agonis-Im-Unergründlichen: Durch Kontemplation komm zu uns. Reinige diese Fordernden, Agonis-Im-Unergründlichen: Verdorre sie zur Würdigkeit. Agonis-Im-Unergründlichen: Irritiere uns mit dem Juwel des Krüppels, Halt uns fern von dem Kristall: Irritiere uns mit dem Juwel des Krüppels, Führe zu uns den Kristall Agonis-Im-Unergründlichen: Durch Konfrontation komm zu uns, Agonis-Im-Unergründlichen: Durch Kontemplation… Das Lied ging immer weiter, in zahllosen Variationen, und die Gemeinde der verhüllten Gestalten wurde von einer ekstatischen religiösen Verzückung gepackt, welche die runde Halle mit einer geistigen Kraft erfüllte, die so stark war, dass sie fast die ganze Welt zu verzehren schien. Jems Gedanken kreisten unaufhörlich, und ebenso rotierten die Särge und die Litanei von Agonis-ImUnergründlichen. Als die Rotation endlich aufhörte und er aus dem Sarg trat, wusste Jem nur eines: Dass ihm noch nie zuvor so schlecht gewesen war. Er sank zu Boden und schwankte, 164
aber sofort stand ein Blayzil-Junge neben ihm und drängte ihn aufzublicken. Die Sarkophage versanken wieder im Boden, und die Akolythen verschwanden. Zitternd hockten die Gefangenen – denn das mussten sie sein – im Kreis und sahen sich ihren Häschern gegenüber. Um sie herum lag die Halle im Dunkeln, und das einzige Licht kam von den goldenen Roben, die glänzten und sich in Wellenbewegungen rührten. Dann ertönte eine Stimme, aber weder Jem noch einer seiner Gefährten hätte sagen können, welche der verhüllten Gestalten sprach. Die Stimme schien eher aus allen zu kommen, nicht nur von einem von ihnen. Sie sagte Folgendes: MENSCHEN VON HIER UNTEN AUF ERDEN, WIR HABEN EUCH AN DIESEN ORT GEBRACHT; IHR WERDET IHN NICHT VERLASSEN, BIS SICH EINE VERÄNDERUNG EINGESTELLT HAT. DIE HERAUSFORDERUNGEN UND DIE STREITIGKEITEN ZWISCHEN EUCH SIND IM MOMENT OHNE JEDE BEDEUTUNG. DIE PROPHEZEIUNG HAT VON FÜNFEN GESPROCHEN; UND HIER STEHEN ZEHN VOR UNS. ABER NUR AUF FÜNF WARTET DIE BEFREIUNG. DIE GRUPPE IN SCHWARZ, DIE GRUPPE IN WEISS, EINE VON BEIDEN MAG DIE RICHTIGE SEIN; IN EINER VON BEIDEN MAG SICH DER BEFINDEN, DER DEN GOLDENEN KRISTALL ERRINGEN WIRD. ERNEUT SAGE ICH, ES HAT KEINE BEDEUTUNG; WAS ZÄHLT, IST NUR, DASS WIR DER KNECHTSCHAFT DER EWIGKEIT ENTRINNEN. DIE BEFREIUNG IST ALLES, UND SEID VERSICHERT, DASS SIE KOMMEN WIRD. DER HEUTIGE MORGEN IST IN GANZ EJLAND ALS DIE MEDITATION DES AGONIS BEKANNT. AN DIESEM TAG WIRD ALLES ENTSCHIEDEN. MENSCHEN VON HIER UNTEN AUF ERDEN, MEHR GIBT ES NICHT ZU SAGEN.
»Mehr nicht?«, murmelte Jem. Hunderte von Fragen wollten aus ihm heraussprudeln. Er hatte geglaubt, dass die Träger des Juwels des Krüppels die wahren Diener des Agonis wären. Kümmerte es sie denn nicht, wer seinen Kristall bekam? Und wie konnte es überhaupt einen Zweifel an dem Aus gang geben? Bedeutete das… Hieß das, dass auch Toth gewinnen konnte? Jem entblößte seine Brust. War er nicht der Schlüssel zum Orokon, wie es in einer uralten Prophezeiung vorausgesagt worden war? 165
Er umklammerte den Kristall und spürte sein Pulsieren. Polty stürzte sich auf ihn. »Krüppel, gib ihn her!« Schreie ertönten. Jem wich zurück und schlug auf seinen Angreifer ein. Doch Polty verstärkte seine Angriffe und grabschte hastig und gierig nach dem Kristall. Der Amethyst in seinem Ring pulsierte im Gleichklang mit dem mystischen Kristall. Schließlich bekam er ihn zu fassen. Er zerrte daran, verzog das Gesicht und sabberte. Aber jetzt hoben die geheimnisvollen Gestalten ihre goldenen Arme, wie es die Akolythen auf der Lichtung getan hatten, kreuzten sie, und dann blitzte unausweichlich die gleißende Helligkeit auf. Und die Szenerie veränderte sich erneut Das Pochen des Kristalls an seiner Brust ebbte langsam ab, als sich Jem im Freien wiederfand. Er saß an einer langen, mit weißem Tuch gedeckten Tafel, die wie zu einem Gartenfest gedeckt war. Nur die Jahreszeit stimmte nicht. Die Bäume waren kahl, der Bach war gefroren und der Boden von Schnee bedeckt. Trotzdem war Jem warm, als wäre die Kälte auf die andere Seite einer Glaswand verbannt. Er sah zu der Eibe hinüber, in deren Zweigen der König gehockt hatte. Was war das? Ein bunter Reflex hoch oben in den Ästen? Ein Kriechen, ein Sprung? Ejard Orange? Jem strich sich sein wirres Haar zurück. Mehrere fünfarmige Kerzenleuchter waren über die Tafel verteilt. Sie waren reich ziseliert. Auf jedem Arm brannte eine Kerze, obwohl helllichter Tag war. Jem atmete langsam, und mit jedem Atemzug tauchte ein weiterer Gast an der Tafel auf. Einer nach dem anderen kamen sie schimmernd aus dem Nichts und nahmen die freien Plätze ein. An Jems Seite der Tafel reihten sich seine Gefährten in Schwarz auf, links neben ihm Cata und Rajal und rechts von ihm Tishy und der Kleine, dessen Sitz sogar mit einer besonderen Kiste erhöht worden war. Ihnen gegenüber saßen in einer Reihe Bohne, Umbecca, Polty, der König und Jeli. Dann nahmen an Fuß- und Kopfende der Tafel zwei der verhüllten Fremden Platz. Der am Kopfende streifte seine 166
Kapuze zurück und entblößte seinen haarlosen, uralten Schädel. Sein Gefährte am anderen Ende ließ seine Gesichtszüge verhüllt. Akolythen gingen um die Tafel herum und bedienten mit bewundernswerter Finesse die Gäste, denn das waren sie gewiss: Gäste. Schon der erste Gang war üppig, und Umbecca schrie erfreut auf. Der König griff gierig nach einem mit Juwelen besetzten Kelch, während Polty unbeeindruckt an den Kandelabern vorbei drohende Blicke auf Jem warf Eine Windbö strich über die Tafel, aber die Kerzen flackerten nicht einmal. »Einige von uns scheinen nicht besonders hungrig zu sein«, sagte Jem und deutete auf die golden gekleideten Gestalten, die beide nicht an dem Essen teilnahmen. Der Bursche ohne Kapuze saß teilnahmslos da. Wären seine Augen nicht geöffnet gewesen, hätte man glauben können, er sei in tiefer Meditation versunken. Der andere mit der hochgeschlagenen Kapuze hatte seine Hände vor sich auf die Tafel gelegt, als wolle er jeden Moment aufstehen. Jem sah, dass diese Hände runzlig und uralt waren. Er erinnerte sich an den Alten von letzter Nacht und überlegte, ob es sich bei Kapuze, wie er ihn nannte, wohl um denselben Mann handeln mochte. »Ich habe auch nicht sonderlich viel Appetit«, erklärte Tishy und beäugte die merkwürdige Zusammenstellung, die sich auf ihren Tellern befand. Es war eine Komposition aus Lachs, Hummer und Seestern in einer Portweinsoße, die reichlich mit kandierten Früchten garniert war. »Ich habe ziemlich großen Hunger«, beichtete Cata. »Auf das da?«, fragte Jem zweifelnd, als sie begann, ihre Behauptung unter Beweis zu stellen. »Du bist immer noch sehr blass. Geht es dir wirklich gut?« »Was ich gern wüsste, ist, woher das alles kommt«, warf Rajal ein. »Meerestiere? Wein? Früchte? Hier oben?« Polty verdrehte die Augen. »Es ist doch Magie, richtig? Wie ich Magie liebe!« Liebevoll betrachtete er seine heißgeliebte Cata. »Mein Liebling, wenn du nur wüsstest, was ich für dich aufbewahre!« »Eigentlich bewahrt Mr. Burgrove es auf«, erinnerte ihn 167
Bohne. »Keine Magie ist besser als Wein«, murmelte der König. »Und wie ist es so, König zu sein?«, erkundigte sich der Kleine keck. Mürrisch trank der König seinen Kelch leer. Und fasste der Königin völlig unvermittelt lüstern an die Brust. Sie schlug seine Hand angewidert und fast schon reflexartig weg. »Prinz Jemany, möchtet Ihr noch etwas Chutney?«, fragte sie mit einem gewinnenden Lächeln und bedeutete Tishy, die Speise weiterzureichen. Cata warf Tishy einen wütenden Blick zu, aber Jemany bekam gar nicht die Chance, das königliche Geschenk anzunehmen. Umbeccas plumpe Hand schoss vor, packte die Schüssel und hatte im nächsten Moment das gesamte Chutney auf ihren Teller gehäuft. Es schneite, und die Flocken schmolzen auf dem Essen. »Cham-Charing, füll meinen Becher«, befahl die Königin. »Gibt es dafür keine Diener?«, erkundigte sich Jem. Es gab sie. Und sie waren dabei, den zweiten Gang zu servieren. Jeli lächelte Jem nachsichtig an. »Eine Königin braucht ihre eigene Dienerin.« Ihre Miene wurde eisig. »ChamCharing, mein Kelch!« »Mach’s doch selbst!«, zischte Cata. »Also wirklich, Jeli, wenn ich mir vorstelle, dass wir beinahe Freundinnen geworden wären!« »Das war, bevor ich wusste, was du bist. Du hinterhältiges Flittchen! Und ich habe dich für ein ehrbares Mädchen gehalten!« »Dasselbe habe ich auch von dir gedacht, Miststück!« »Aber, aber, keine Zänkereien!«, mischte sich Polty ein und berührte seinen Amethystring. Dann beugte er sich über die Tafel und fixierte Jem mit stählernem Blick. »Du wirst sie niemals bekommen«, flüsterte er. »Du bist verrückt!«, erwiderte Jem vernehmlich. Jeli hatte sich mittlerweile zu Cata gebeugt, und zu deren Erstaunen waren ihre Worte beinahe dieselben. »Du 168
wirst ihn niemals bekommen.« »Polty?«, fragte Cata ungläubig. »Glaubst du etwa, ich wollte den…?« »Aber nicht doch, ich rede natürlich nicht von Polty«, widersprach Jeli lächelnd. »Ejjy!«, rief der Kleine plötzlich. »Seht doch, dahinten ist Ejjy!« Aber niemand hörte ihm zu. Der zweite Gang bestand aus einem nicht identifizierbaren Stück Fleisch, das die Akolythen in die Mitte der Tafel stellten. Für Jem und seine Freunde sah es verdächtig nach Starzoks widerlichem Spießbraten aus. Aber es gab zahllose Beilagen, Soßen und Gewürze. Der Dampf ringelte sich in der kalten Luft, aber nur Umbecca griff zu. Poltys karottenrotes Haar hob sich scharf gegen das Weiß ab. Er hatte den Blick immer noch auf Jem gerichtet und spielte unablässig mit seinem Amethystring. Jems Robe klaffte wieder auseinander, und der Kristall war zu sehen. Glühte er vielleicht, wenn auch nur ein kleines bisschen? Oder war es das Licht? Polty sah zwischen dem Goldenen mit und dem ohne Kapuze hin und her. Ganz offensichtlich spielte er mit dem Gedanken, erneut zu versuchen, sich des Kristalls zu bemächtigen. »Du musst auf mich hören«, flüsterte Rajal derweil und beugte sich zu Bohne hinüber. »Aron, bitte…« »Wenn ich das nur verstehen würde«, sagte Jem seufzend und hinderte einen der Blayzil-Jungen mit einer Handbewegung daran, ihm nachzuschenken. »Was hatte es mit diesem Lied vom Agonis-Im-Unergründlichen auf sich? Agonis ist nicht im Unergründlichen. Wir sind ihm begegnet, er war Lord Empster… Und was bedeutet dieses Gerede von Flucht? Wem müssen sie entkommen? Wir sind hier die Gefangenen, wir müssen fliehen.« »Was, und den Kristall niemals finden?«, fragte Cata. »Wir sind gefangen«, sagte Tishy. »Aber das sind sie auch. Sie-« »Halt den Mund, Cham-Charing«, unterbrach Jeli sie, und ihre Augen blitzten. »Ist dir die Wahrheit denn immer noch 169
nicht klar? Jedes vernünftige Mädchen würde den Göttern danken, dass es in einen so ehrbaren Dienst treten kann! Und du? Vergiss nicht, deine Mutter gilt in Agondon nichts mehr, sie ist ein Niemand. Wer bist du, dass du es wagst, dein Wort an Prinz Jemany zu richten?« »Aber Kind, habe ich es dir nicht erzählt?«, murmelte Umbecca undeutlich. Brocken flogen aus ihrem vollen Mund über die Tafel. »Jemany ist kein Prinz, er ist nur ein böser Junge. Der verkrüppelte Sohn meiner Nichte, das ist alles.« Bei diesen Worten schien Cata aufbegehren zu wollen, doch stattdessen blickte sie nur angeekelt drein. Jem wollte sich gerade um sie kümmern, als eine neue Stimme sich meldete, eine sehr ironische und sehr vertraute Stimme. »Wer auch immer ihre Mutter sein mag, Miss Laetitia hat Recht.« Das kam von dem Goldenen mit der Kapuze. Cata strahlte, und ihre Augen weiteten sich. »Meine Freunde«, fuhr der Sprecher fort, »es gibt eine Geschichte, die erzählt werden muss. Das ist euch allen doch klar, hab ich Recht? Selbst dir, Umbecca, obschon dich nur dieses Fleisch zu interessieren scheint. Es handelt sich dabei übrigens um Walfleisch, und es ist ziemlich fettig, wie man mir sagte, viel zu fettig. Aber vielleicht ist das ja der Grund, Umbecca, warum du es so gern magst.« »Was… Wer?« Soße rann über Umbeccas Kinn. Am anderen Ende der Tafel schloss der Goldene ohne Kapuze die Augen. Jetzt schien er tatsächlich zu meditieren. Aber nein… vor ihm lag ein Kartenspiel, in zwei Stapel geteilt. Ohne hinzusehen, nahm der Fremde eine Karte auf, drehte sie in der Hand um und legte sie gelassen auf den anderen Stapel. »Ihr werdet euch gewiss daran erinnern, meine Freunde«, fuhr Kapuze fort, »warum die Träger des Juwels des Krüppels hierher kamen, zum Kolkos Aros oder Kristallhimmel – « »Aus bloßer Perversität«, fiel ihm Polty ins Wort. »Hier zu leben, wenn man in Agondon leben konnte…« »Allerdings, Herzenssohn«, nuschelte Umbecca durch 170
das Fett. »Ich bin froh, dass wir uns in diesem Punkt einig sind. Diese Berge mögen zwar pittoresk sein, aber sie sind zweifelsohne sehr provinziell. Ein Glück, dass mein teurer Torso mich jetzt nicht sehen kann!« »Hat nicht der Ur-Gott befohlen, dass sie hierher gehen sollten?«, fragte Jem und ignorierte seine fette Tante. »Komm schon, Tishy, du kannst uns alles darüber erzählen.« »Cham-Charing, halt den Mund«, fauchte Jeli. Aber ihr Befehl verpuffte wirkungslos. Schüchtern erklärte Tishy: »Die Träger befreiten sich aus dem Würgegriff von Ondon, dem Krieger-König, um hier diese Bergfeste zu finden. Bescheiden wollten sie in Eintracht mit den Befehlen Oroks leben und wachend die langen Äonen überstehen, die man die Zeit des Sühneopfers nannte. Jedenfalls behaupten das die uralten Texte«, fügte das Mädchen hinzu, das mit jedem Wort an Selbstsicherheit gewann. »Obwohl man das natürlich auch sehr kontrovers – « »Allerdings!« Kapuze schlug mit der Handfläche auf das Tischtuch. »Kontroverse! Und diese Kontroverse muss ausgetragen werden! Schon in meinem weltlichen Leben habe ich bezweifelt, dass man mich alles gelehrt hatte. Und nach meiner Rückkehr hierher begriff ich, dass ich gut daran getan hatte zu zweifeln.« Er beugte sich vor. »Ist Euch niemals aufgegangen, meine Freunde, dass Orok dort im Unergründlichen nur einer von vielen Göttern war? Und dass er dort auch keineswegs Allmacht besaß? Was steht auf der ersten Seite des El-Orokon anderes, als dass es einen Krieg im Unergründlichen gab, in dessen Verlauf Orok verwundet wurde, sodass er sich in die weite Einöde zurückzog? Oh ja, es gab andere Götter außer Orok, und im Unergründlichen beugten sich keineswegs alle seinem Zepter. Und ist nicht auch der Vater-Priester Ir-Ion nach langen Meditationen über das Juwel des Krüppels zu eben dieser Erkenntnis gelangt?« »Er wollte Orok entfliehen?«, sagte Jem. »Nicht nur Ondon?« 171
»Moment mal«, mischte sich Rajal ein. »Das ergibt keinen Sinn – « »Ach nein?« Kapuzes Stimme klang spielerisch. »Die Macht des Kristalls des Agonis ist weit größer als die der anderen Kristalle. Während Ir-Ion und seine Trägerschwestern und -brüder in ihren Meditationen wie Liebende auf den Kristall starrten, erlangten sie die Fähigkeit, hinter die bloße Erscheinung der Dinge zu blicken. Sie sahen Orte, an denen die Grenzen zwischen den Dimensionen sehr dünn sind. Ein solcher Ort ist der Kolkos Aros, der Kristallhimmel. Wenn die Träger ihre kristallverstärkte Macht dort konzentrierten, so dachten sie, wären sie vielleicht in der Lage, ihre Fesselung an diese Welt aufzuheben und ins Unergründliche zu transzendieren. Sie wären keine Geschöpfe des Orok mehr, die in der Demütigung des Sühneopfers herumkrochen, sondern frei – « Jeli gähnte. »Was sind eigentlich Grenzen der Dimensionen?«, erkundigte sie sich. »Wein, Junge, Wein…« Der König winkte einem Akolythen. Jem beugte sich vor, als wollte er Kapuze in sein verhülltes Gesicht starren. »Aber das ist sehr erstaunlich. Ihr meint also, die Träger… Ihr meint, Ihr selbst… Ihr wart niemals wirklich Diener von Orok? Oder von Agonis?« »Ach, wir greifen ein wenig vor«, erwiderte Kapuze. »Du kennst doch die Geschichte von Irions Flucht vor Ondon?« »Tishy hat uns alles darüber erzählt«, mischte sich der Kleine ein. »Ondon wollte nicht zum Kristallhimmel gehen, und er wollte es auch den Trägern nicht erlauben. Sie sind weggelaufen, und Ondon hat sie verfolgt. Das stimmt doch, Tishy? Und am Ende ist Ondon hierher gekommen. Aber als er an die Pforten geklopft hat, hat ihn und die Einsiedelei die Lawine verschüttet.« »Das muss ein ziemlich nachdrückliches Klopfen gewesen sein«, murmelte Rajal. »Allerdings, das war es«, bestätigte Kapuze. »Wir sind in diese Berge gekommen und haben diese Zitadelle als Schild um uns errichtet. Voller Zuversicht, dass sie schon 172
bald ein Behälter sein würde, in dem wir endlich ins Unergründliche übertreten könnten.« »Dann ist sie tatsächlich nicht echt?« Bohne war verblüfft. »Halt die Klappe, Bohne«, befahl Polty. »Sie besteht aus spiritueller Energie, hast du das schon vergessen? Dieser alte Bettelmönch erzählt uns nichts, was Toth uns nicht schon erzählt hätte.« »Hat er dir denn auch erzählt, dass du morgen verlierst?«, fragte Jem. Kapuze seufzte, ohne auf diesen Wortwechsel zu achten. »Der Übergang rückte näher. Wir waren bereit, unsere Energien konzentriert. Hätten wir doch unser Ziel erreicht, bevor Ondon zu uns gelangte!« »Aber was spielte das für eine Rolle?«, fragte Jem. »Was konnte er tun?« »Leider«, fuhr Kapuze fort, »hatte Ondon in den langen Jahren seiner Wanderschaft seine eigenen Kräfte ebenfalls gestärkt. Schließlich war er, wie alle Angehörigen unserer Rasse, auch einmal ein Träger des Juwels des Krüppels gewesen. Er war ebenfalls seiner Macht ausgesetzt gewesen. Dieser Narr! Er dachte, er könnte sein Schicksal verleugnen, es wie Spreu im Wind beiseite wischen. Doch stattdessen hatte sich allmählich eine negative Gegenkraft in ihm aufgebaut, die den Gipfel ihrer Stärke erreichte, als er sich unserer geheimen Zitadelle näherte. Stellt es euch vor: Er glitt über den gefrorenen Abgrund und klopfte, schlug nur mit der bloßen Faust gegen unser mächtiges Portal, aber das tat er genau in dem Augenblick, als wir diese Welt verlassen wollten. Das genügte. Die Kraft explodierte um ihn herum und hüllte auch uns ein. Die Lawine schoss herab.« »Aber Ihr seid noch hier!«, bemerkte der Kleine. »Oder nicht?« »Das hängt davon ab, was du unter hier verstehst«, erwiderte Kapuze. »Nein, die Lawine hat uns nicht vernichtet, aber sie hat uns in der Schwebe gehalten. Der Übergang war jetzt unmöglich, und wir saßen zwischen zwei Dimensionen in der Falle. Wir waren nicht mehr ganz auf 173
der Welt des Orok, noch waren wir im Unergründlichen. Aus diesem Grund erscheint unsere Zitadelle und verschwindet wieder, und aus diesem Grund ziehen wir auch ständig Fordernde an, Bittsteller aus der Welt des Orok. Wir suchen unter ihnen jene aus, in denen der Geist stark brennt, in dem rastlosen Bemühen, unsere Energien zu erneuern. Aber das, meine Freunde, müsst ihr ja längst wissen. Vor allem du, Jemany. Denn du bist niemand anders als der größte unserer Fordernden, unserer Bittsteller, Schlüssel zum Orokon.« Jem konnte ein Gefühl von Stolz nicht unterdrücken. Poltys Blick jedoch verfinsterte sich, und nur die herumeilenden Blayzil-Jungen, die ein köstliches Dessert servierten, hinderten ihn an einem gewalttätigen Ausbruch. Das war auch gut so. Denn Umbecca hätte ihm niemals verziehen, wenn er den Himbeerkäsekuchen zerquetscht hätte. Doch dann runzelte Jem die Stirn. »Guter Sir… Sirs, es gibt nur eines, was ich nicht verstehe…« »Nur eines?«, erkundigte sich Rajal. »Na ja, eines unter vielen.« Jem sah zwischen dem Goldenen mit und dem ohne Kapuze hin und her. Es schneite stärker, und der Wind frischte auf, als kündige er einen Blizzard an. Aber die Kerzen brannten immer noch vollkommen ruhig. »Ihr sitzt hier also fest, richtig? Und während der ganzen Zeit des Sühneopfers habt Ihr versucht… freizukommen. Habt Energie gesammelt. Gewartet. Aber Ihr seid doch nicht mehr dieselben, hab ich Recht? Ich meine, wie am Anfang? Ich meine, seid Ihr… unsterblich?« Der Goldene ohne Kapuze drehte eine Karte in seiner Hand, und es sah einen Moment so aus, als wolle er antworten. Doch Kapuze kam ihm zuvor. »Würde es dich überraschen zu erfahren, dass wir in gewissem Sinn sterblich und unsterblich zugleich sind? Jeder von denen, die mit dem Vater-Priester Ir-Ion gegangen sind, hat eine Unzahl von Reinkarnationen durchgemacht. Und sie waren auch nicht auf dieses Bergreich beschränkt. Da wir neue Kräfte des Geistes gesucht haben, mussten wir unsere Energien oft weit nach draußen richten und haben uns in vielen Verkleidungen unter die Frauen und Männer auf der 174
Welt des Orok gemischt. Wer bin ich, wenn nicht ein zurückkehrender Pilger aus den grünen Tälern von ›Hier unten auf Erden‹?« »Ihr habt unter uns gelebt?«, fragte der Kleine. »Allerdings«, erwiderte Kapuze. »Zwar verblasst mein letztes irdisches Leben bereits, aber ich weiß noch so einiges von dieser Inkarnation. Wenn ich nur geahnt hätte, wer ich wirklich war! Wie viel beser hätte ich mit meinen Kräften hausgehalten! Aber wie es bei einem Sterblichen sein muss, war ich natürlich unwissend. Erst als mich mein weltlicher Tod ereilte und mein Bruder-Träger kam, um mich zurückzuholen, verstand ich, wer ich einst gewesen war und wer ich wieder sein würde.« Und wer wart Ihr? Die Frage lag Jem auf den Lippen, aber er sah Cata an und bemerkte, dass sie zitterte. Empfand sie etwa die Kälte, gegen welche die anderen immun waren? Er schlang ihr den Arm um die Schultern und zog sie dicht an sich. Mittlerweile hatten die anderen Speisenden interessiert den Himbeerkäsekuchen betrachtet. Doch sie sollten alle enttäuscht werden. Ein Akolyth hatte, hilflos gegenüber Umbeccas gebieterischem Ton, die bereits abgeschnittenen Stücke zurückgeschoben und dann den gesamten Kuchen vor der fetten Frau abgestellt. Immer wieder senkte sich ihr Löffel, und ein Rand aus Sahne umringte ihren Mund. Der Kleine sah sehnsüchtig zu, ebenso Bohne. Sie mussten sich jedoch mit Kaffee und Pfefferminzblättchen begnügen. Kapuze seufzte und hob die leeren Hände. »Doch welche Bedeutung hat das alles jetzt noch? Wir haben zwar während dieser langen Zeit des Sühneopfers den Übergang versucht, aber kannten wir nicht die ganze Zeit die Wahrheit? Erst mit dem vorherbestimmten Ende kann unsere Freiheit kommen, erst wenn der Kreis des Orokon wieder vollständig ist und Lord Agonis endlich seine Lady Imagenta in die Arme schließen kann.« »Gelobt sei Lord Agonis«, nuschelte Umbecca. Es kam aus vollem Herzen. Und aus dem Bauch. Der Käsekuchen war der beste, den sie jemals gekostet hatte, und sie sehnte sich nach einem zweiten dieser Güte. 175
»Agonis…?«, fragte Jem verwirrt. »Imagenta?« »Was, du kannst mir nicht folgen?« Kapuze schien überrascht. »Prinz, ich habe dir eine Geschichte erzählt. Was ist eine Geschichte anderes als eine Oberfläche, eine Leinwand? Und wer hat die ganze Zeit hinter dem Schirm die Fäden gezogen? Wer, wenn nicht Lord Agonis?« »Ihr müsst uns etwas mehr Zeit geben«, sagte Rajal. »Wir sind nicht alle so klug wie Tishy, wisst Ihr, und selbst sie scheint ein bisschen verwirrt zu sein.« Tishy errötete. »Ihr sprecht, Sir, von Agonis-ImUnergründlichen – « »Genau das ist der Punkt«, fiel Rajal ihr ins Wort. »Agonis ist aber nicht im Unergründlichen. Wir haben ihn getroffen und – « »Warte, Rajal«, unterbrach ihn Jem. »Aber… aber Lord Empster – « Der Goldene ohne Kapuze zog eine Pfeife aus der Tasche. Er beugte sich vor, hielt einen Kienspan an eine Kerze und zündete damit den Tabak an. Dann lehnte er sich zurück und lächelte schwach. Wollte er jetzt etwa sprechen?
Doch letztlich blieb es Kapuze überlassen, die Geschichte zu erzählen. »Die Legende – oder vielmehr das El-Orokon – schildert, wie Agonis in einen Spiegel schaut und von dem Bildnis von Toths schöner Tochter verzaubert wird. Aber das ElOrokon erzählt nicht die ganze Geschichte. Dieser Spiegel, der Agonis vom Anti-Gott geschenkt wurde, war ein Portal ins Reich des Nicht-Seins. Und die Lady, fürchte ich, war erheblich mehr als nur ein schönes, aber passives Geschöpf. Sie hatte Macht! Durch Imagenta wurde der schöne Gott geteilt, und seine Essenz wurde ins Reich des Nicht-Seins verbannt. Sein körperliches Selbst war dazu verdammt, durch diese Welt zu wandern und vergeblich nach einer Geliebten zu suchen, die auf dieser Welt gar nicht zu fin176
den war. Ja, dieser Agonis-Auf-Der-Erde, dieser Empster, ist ein hohler Mensch, der sich danach sehnt, die Leere zu befriedigen, die erbarmungslos wie der eiserne Klöppel einer Glocke in ihm schlägt.« Der Goldene ohne Kapuze schnaubte. Ein Rauchschleier verbarg seine Gesichtszüge. »Aber dieser Agonis-Im-Unergründlichen – «, begann Rajal gereizt. »Wir sprechen dabei von Agonis in seiner idealen Gestalt, die er nach dem Ritual der Wiedervereinigung erlangen wird.« »Dem was?« Diesmal war es Jem, der fragte. »Die Zeremonie, wenn man es denn so nennen kann, die stattfindet, nachdem der goldene Kristall gefunden wurde, der Kreis des Orokon wieder vollständig ist und die Transzendenz, die wir so lange ersehnt haben, endlich vollzogen wird. Meine Freunde, ich habe vom Vater-Priester IrIon gesprochen, aber niemals war Ir-Ion der wahre Lenker unseres Schicksals. Nein, es war Agonis, der Agonis-VonDer-Essenz, der aus der Gefangenschaft durch die Kraft des goldenen Kristalls unser Bewusstsein steuerte. Während der Agonis-Auf-Der-Erde seine fruchtlose Suche vorantrieb, hat der wahre Agonis, wenn wir ihn denn so nennen wollen, uns angespornt. Aber das musste er natürlich auch. Denn wenn wir den Übergang vollziehen, wird auch er hinübergehen.« Tishy dachte scharf nach. »Aber… das ist ja ganz außergewöhnlich! Allein die theologischen Implikationen kann ich kaum… Ihr meint, auch Agonis sehnt sich danach, vor Orok zu fliehen? Aber… Agonis war so gut, so pflichtbewusst seinem Vater gegenüber…« Diesmal antwortete Rajal. »Nein, das habe ich noch nie geglaubt. Agonis sehnt sich doch nur nach seiner Imagenta, hab ich Recht? Und die wird er auch bekommen, oder nicht? Wenn der Suchende kommt? Wenn der Kristall entdeckt wird? Wenn der Kreis des Orokon sich schließt?« »Alles«, sagte Kapuze ernst, »hängt von der Wiedervereinigung ab.« »Aber wie soll das funktionieren?«, fragte Rajal drän177
gend. »Bis zu einem gewissen Punkt kann ich Euch folgen. Hier irgendwo gibt es einen Kristall, richtig? Wir würden es sehr zu schätzen wissen, wenn Ihr Euch etwas beeilen und ihn uns bringen könntet! Dann muss Jem ihn sich schnappen, wie üblich, und… Aber was ist mit den anderen Kristallen? Brauchen wir nicht alle fünf? Und brauchen wir nicht auch den Fels des Seins und Nicht-Seins, oder wie man den nennt? Die Kristalle müssen doch alle dort hineingesteckt werden, richtig? Und dann… Was passiert dann?« Er verstummte, und ihn fröstelte zum ersten Mal an diesem Tag. Rund um die verzauberte Tafel tobte ein Blizzard. Jem sprach als Nächster. »Ich wüsste gern Folgendes: Ihr wartet schon die ganze Zeit auf die Transzendenz. Aber an dem Ort, an dem wir vorher waren, dieser Halle, in der alle Träger versammelt waren, da sagtet Ihr, dass es keine Rolle spielen würde, wer morgen den Triumph davonträgt. Also beantwortet mir eine Frage: Wieso spielt das keine Rolle? Wie kann das unwichtig sein?« Es herrschte Schweigen. Ejard Orange tapste um die Tafel herum, aber niemand bemerkte ihn. Jem zitterte. Seine Augen glühten, und ihr Glanz verstärkte sich noch, als Kapuze kurz und spöttisch lachte. »Mein armer Jemany, wie ich sehe, befindest du dich immer noch unter der Fuchtel des alten Glaubens. Hast du nicht begriffen, dass hier alles anders abläuft? Für mich, ja für mich, ist es sehr wichtig, dass du obsiegst. Aber für meine Schwestern und Brüder? Was interessiert die anderes, als dass der Kristall gefunden und der Kreis des Orokon wieder geschlossen wird? Du warst der Schlüssel zum Orokon, aber Toths Kräfte sind mittlerweile größer als deine. Und warum sollte Toth nicht der Agent der Transzendenz sein? Welchen Unterschied macht das schon?« »Aber das ergibt doch keinen Sinn!«, rief Rajal. »Wenn Toth den Orokon in seine Gewalt bekommt, wird er die Welt zerstören!« »Eine Welt«, antwortete ihm Kapuze, »an der meine Schwestern und Brüder keinen Anteil haben. Und was bedeutet schon Zerstörung? Die Welt des Orokon ist nur eine 178
von vielen Welten, die in der Kluft zwischen Sein und Nicht-Sein umherwirbeln. Vielleicht muss diese Welt ja zerstört werden, damit eine andere entstehen kann!« »Nein!«, rief Jem. »Toth kann nicht gewinnen, er kann einfach nicht…!« »Das wird er auch nicht«, sagte Cata. »Jem, du musst daran glauben!« »Das habe ich ja«, erwiderte Jem und ließ sich nach vorn sinken. »Immer, bis jetzt…« Jemand warf eine Spielkarte, die langsam auf den Tisch herunterflatterte. Kapuze fing sie noch in der Luft auf. Und hielt sie Jem hin. Es war der Harlekin. »Du musst diese Geschichte unbedingt erzählen, nicht wahr?« Zum Erstaunen aller sprach jetzt der Goldene ohne Kapuze. Er war aufgestanden und starrte kühl durch den Pfeifenrauch, der sein Gesicht immer noch verhüllte, auf seinen Gefährten. Kapuze ließ die Karte fallen. »Du hast nicht versucht, mich aufzuhalten.« »Ich hätte dich nicht aufhalten können. Ich dachte, du wärst sein Beschützer, und jetzt hast du das Selbstvertrauen des Jungen zerschmettert…« Jem blickte hoch und sah den Sprecher scharf an. Wie oft hatte er diese Stimme gehört? Mit einem schmerzhaften Stich erinnerte er sich an die Zeit, als dieses Gesicht noch attraktiv gewesen war und sein Besitzer ein großer Mann in der vornehmen Welt. Aber auch damals schon hatte er den breitkrempigen Hut getragen, und sein Gesicht hatte hinter dem Rauch seiner Pfeife merkwürdig verschleiert gewirkt. »Mein Behüter…«, stieß Jem rau hervor. »Aber er musste es doch erfahren…« Der Goldene ohne Kapuze schaute immer noch starr über den Tisch. Kapuze war jetzt aufgestanden und erwiderte den Blick kühl. Als die beiden sich ansahen, war es, als existierten für sie weder Jem und seine Gefährten noch Polty und die seinen. »Und was spielt es schon für eine Rolle?« Der ohne Kapuze, Lord Empster, nahm die Karten vom Tisch und warf sie in die Luft. Sie verschwanden, bevor sie zu Boden fallen konnten. »Was ist wichtig, außer, dass du noch immer die 179
Freiheit gewinnen kannst?« »Ich habe dich verärgert«, stellte Kapuze fest. »Hab ich Recht?« »Aber natürlich! Ein hohler Mensch genannt zu werden? Eine leere, hallende Glocke? Dennoch sind alle deine Worte wahr gewesen. Aber glaube nicht, dass ich gänzlich von meiner Emanation getrennt bin, die zusammen mit meiner Lady im Reich des Nicht-Seins logiert. Ich war es – nicht nur er –, der euch während der langen, qualvollen Äonen eures Wartens angetrieben hat. Doch morgen werden alle Teilungen endlich vorüber sein. Leb wohl, Vater-Priester IrIon. Oder wäre es dir lieber, wenn ich dich mit dem Namen deiner letzten Reinkarnation ansprechen würde?« Lord Empster – Agonis-Auf-Der-Erde – wartete nicht auf die Antwort. Noch während er sprach, schien das Gold seiner Robe sich selbstständig zu machen, lief über sein Gesicht und seine Hände, bis seine Gestalt wie eine prächtige vergoldete Statue aussah. Pfeife und Rauch lösten sich auf, und schließlich blieb nur noch ein goldener Nebel zurück Der Gott oder Halbgott war verschwunden. »Wo… wo ist der Bursche hin?«, erkundigte sich der König. »Das werden sie mir im Tempel-Kolleg niemals glauben«, stöhnte Tishy »Also wirklich«, sagte Umbecca undeutlich, während sie die Krümel von der Käsekuchenplatte leckte. »Wenn Ihr mich fragt, ist ein solches Gebaren schlicht unhöflich.« Jem hatte nur Augen für Kapuze. »Ihr seid VaterPriester Irlon? Aber ich dachte – « »Kind, vielleicht sind deine Gedanken ja wahr. Sprach ich nicht von Inkarnationen? Sieh meine Tochter an. Meine Tochter weiß es.« Cata saß neben Jem und lächelte. Dann begann sie zu schluchzen, als der alte Mann die Kapuze zurückschob und sein verstümmeltes Gesicht enthüllte. »Augenloser Silas…«, flüsterte Bohne. »Nein…!« Umbecca fiel der Teller aus der Hand. Sie stöhnte, allerdings klang es eher wie der Schmerzensruf einer kalbenden Kuh. 180
Der alte Wolveron? Silas Wolveron? Der Lektor von Irion? »Papa, ach Papa… Natürlich wusste ich es…!« Cata lief zu dem alten Mann und umarmte ihn. Jetzt jedoch stand Polty auf und schob ungeduldig seinen Stuhl zurück. »Das alles ist wirklich sehr rührend, aber –« »Schweig, du Schlange…!«, begann Jem. »Oh, nicht nur eine Schlange«, unterbrach Polty ihn spöttisch. »Jedenfalls nicht ganz eine Schlange. Sieh dich um, Krüppel. Du bist nicht sehr aufmerksam. Warum siehst du dich nicht einfach um?« »Was? Was?« Jems Blick glitt über die Reste des Mahls, über die Kerzen, die Gesichter seiner Gefährten. Die Akolythen waren verschwunden, und der von Kerzenschein erhellte Tisch wirkte wie eine zerbrechliche Oase aus Licht, die von dem bedrohlich dunklen Himmel abgeschnitten war. Jem sah in den Blizzard hinaus. Jetzt bemerkte er das purpurne Glühen, das durch den Schnee schimmerte. Hitze strömte von seinem Kristall aus, und ein Schatten flog über sie hinweg. Die Kerzen erloschen. Polty grinste triumphierend. Die Szenerie um ihn herum löste sich auf. Ejard Orange sprang auf den Tisch, der Kleine schrie, doch dann waren auch der Kleine, Ejard Orange und der Tisch verschwunden. Jem umklammerte Cata, spürte jedoch stattdessen die Hand des alten Wolveron auf seiner Schulter. »Es tut mir Leid, mein Kind, es muss sein. Du wirst obsiegen oder nicht die Oberhand behalten, ganz wie es die Winde der Zeit verordnen.« »Alter Wolveron, was meint Ihr?« Aber der alte Mann war plötzlich verschwunden, und Jem sah sich Polty gegenüber. Polty und den Lilanen, unter dem gewaltigen Schatten des Vogels des Nicht-Seins, der zum vierten Mal seinen Kreis um die Erde zog. Der Blizzard tobte, und Jems Kristall glühte durch den Stoff seiner schwarzen Robe. 181
»Du willst die Oberhand behalten? Du, du Krüppel?« Polty trat vor. Seine weißen Gewänder leuchteten blendend hell. Hinter ihm lauerte wie ein Puppenspieler ein purpurner Schatten. Jem wusste, dass es der Schatten von Toth war und dass dieser Schatten immer da gewesen war, immer im Geheimen gelauert hatte, schon damals vor einer Ewigkeit in Irion, als ein Junge, ein fetter rothaariger Junge, einen anderen Jungen gequält hatte, einen Jungen mit verkrüppelten, nutzlosen Beinen. Polty lachte. »Ja, Krüppel, ich habe die ganze Zeit nur mit dir gespielt. Glaubst du denn, ich hätte so lange warten müssen? Du nutzloser, dummer Krüppel…!« »Ich bin kein – « Jem hob die Hand, als wollte er einen Schlag abwehren. Aber es kam kein Schlag. Es war auch keiner nötig. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er fiel in den Schnee, gebrochen, wie die Katze, der Polty einmal mit einem kurzen Ruck das Rückgrat gebrochen hatte. Alle Willenskraft verließ Jem, alles Wollen. Er dachte an all das, was er getan hatte, um die Kristalle zu finden. Nur mit Gewalt, nur mit Terror hatte Toth die anderen Kristalle erbeutet. Rajal, Cata, der Kleine, sie alle hatten sich nach Leibeskräften gewehrt. Aber Jems Kristall? Das war ein Kinderspiel. Die Lilane kreischten. Der Schatten wurde dunkler. Polty lachte erneut und streckte die Hand aus. Jem sah das Blitzen des Amethystrings und verlor das Bewusstsein. Als er aufwachte, lag er wieder in seiner Zelle. Und hatte kein Gefühl mehr in den Beinen. Die Meditation der Javander senkte sich mit kalter Klarheit über Agondon. Es hatte aufgehört zu schneien. Kein Wölkchen stand am Himmel, der über der Stadt hing wie eine Theaterkulisse aus Metall, die hohl klingen würde, wenn man einen Stein dagegen warf. Längs der Promenade, die die Insel wie einen Kragen umschloss, standen die Streitkräfte der Blauröcke gut gerüstet und in Erwartung des Angriffs. Auf der anderen Seite des zugefrorenen Riel wartete die Armee der Rotröcke, 182
ebenfalls entschlossen und siegesgewiss. In dem grellen Licht der Morgensonne zeichnete sich die Insel deutlich ab. Sie lag da wie ein Juwel, ein wertvolles Beutestück, das gleich in gierige Hände fallen würde. Dieser Anblick war beinahe ein wenig trostlos. Die Agondonbrücke und die Regentenbrücke waren am Tag zuvor zerstört worden. Die Blauröcke hatten sie gesprengt, um die Rotröcke aufzuhalten. Aber die konnte nichts mehr aufhalten. Als die ersten Schüsse fielen, schwärmte die zerlumpte Armee der Rotröcke wie Heuschrecken über den knackenden Fluss. Für Ejard Rot und seine Generäle sah es so aus, als könnten sie einen schnellen, leichten Sieg erringen. Aber wenn Männer auf einer Insel belagert werden, wehren sie sich besonders verzweifelt. Viele hatten Angst vor dem, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie in die Hand der Rebellen fielen. Und außerdem neigten viele gemeine Soldaten zum Aberglauben und redeten sich ein, die Aussichten für den heutigen Tag wären gut. Denn als die Rotröcke am Tag zuvor ihre entscheidenden Siege erfochten hatten, schrieb man die Meditationen des Theron. Heute jedoch war der Tag der Javander, der blauen Göttin des Meeres. Das musste doch ein Omen sein. Folglich wehrten sich die Blauröcke heftiger, als ihre Gegner erwartet hatten, und es entpuppte sich als schwierig, die Verteidigungslinien der Insel zu durchbrechen. Schon immer war diese kleine, felsige Insel Ejlands letzte Bastion gewesen. Die Promenade war voller Kanonen, und überall sah man Wälle, Befestigungen und Schießscharten. Die Rotröcke erlitten schwere Verluste. Folio Webster befand sich unter den Gefallenen, er bekam eine Musketenkugel in die Brust. Magda Vytoni wurde von einer Granate in tausend Stücke gerissen, als sie die Böschung emporkletterte und mit dem trotzigen Schrei »Freiheit!« ihre Faust in die Luft reckte. Ein weiteres prominentes Opfer war Peter Impalini. Er war zu aufgeregt gewesen und hatte sich nicht wie die anderen klugen Unterweltführer vorsichtig hinter den Linien aufgehalten. Er wurde von einem Bajonett auf dem Eis unterhalb des Cham-Charing-Hauses aufgespießt. Endlos war jedoch die Zahl der namenlosen 183
Opfer, die an diesem Tag fielen. Aber die Blauen konnten dem Ansturm auf Dauer nicht standhalten. Und die unvermeidlich auftretenden Lücken in ihrem Verteidigungsring erwiesen sich als katastrophal. Danny Garvices Bomben taten ihre Arbeit beinahe zu gut. Ein beträchtlicher Teil der Uferböschung des Riel brach vor den Ollon-Feldern ein, und eine große Zahl von Soldaten, blaue wie rote, versank in den eisigen Fluten, die herausschössen, als die gewaltigen Steine das Eis des gefrorenen Flusses durchschlugen. Von da an herrschte nur noch ungezügelte Gewalt, ohne eine klare Frontlinie. Die Rotröcke stürmten die Insel und liefen kreischend wie Derwische über die eisglatten, gepflasterten Straßen. Die Luft war erfüllt von den Splittern der Granaten und dem Zischen der Musketenkugeln. Männer kämpften mit bloßen Händen, Bajonette stachen zu, und Blut tränkte den Schnee. Irgendwo mitten im Gewühl steckten auch Morven und Crum, die sich allerdings nach Kräften bemühten, in Deckung zu bleiben. Die beiden Freunde waren schon früh getrennt worden, und jeder hielt den anderen für verloren, obwohl sie in Wirklichkeit nur selten weit voneinander entfernt waren. Die beiden unglücklichen und von Entsetzen geschüttelten Rekruten stürmten die Insel nur deshalb mit den anderen, weil sie nichts dagegen tun konnten. Sie wurden mit der Angriffswelle vorangetrieben, und es gab keine Möglichkeit für sie, über das gebrochene Eis zurückzukehren. Kaum waren sie jedoch auf der Insel, lächelte ihnen das Glück. Morven floh vor dem aufgepflanzten Bajonett eines wütenden Blaurocks in das Haus der Cham-Charing, wo er das Glück hatte, sich ausgerechnet in der Bibliothek verstecken zu können. Er verrammelte die Tür und stellte zu seinem Entzücken fest, dass die buchgesäumten Wände den Krach von draußen angenehm dämpften. In der Hoffnung, dass es keinem Raufbold einfiel, in eine Bibliothek einzudringen, machte er es sich gemütlich und beschloss, hier das Ende der Schlacht abzuwarten. Morven überlegte, ob er in einem solch entscheidenden Moment der Geschichte nicht Vytonis Diskurs über die 184
Freiheit lesen sollte, aber bedauerlicherweise war ihm sein Exemplar im Eifer des Gefechts aus der Tasche gefallen. Und in diesem Großbürgerhaus würde er wohl nur schwerlich eine Ausgabe davon finden. Er dachte an das AonStipendium und daran, wie sehr er es verdient hätte, und fragte sich, ob er nicht seine privaten Studien fortführen sollte. In dieser beeindruckenden Bibliothek mussten sich doch viele Werke der Klassiker befinden, vermutlich mit nicht aufgeschnittenen Seiten und unversehrten Buchrücken. Aber plötzlich wurde Morven sehr müde und begnügte sich mit einem Exemplar von Beccas Erster Ball, in das er sich vertiefte und das er überraschend unterhaltsam fand. Crum dagegen hatte sich mittlerweile in einen abgelegenen Hinterhof geflüchtet, einen von vielen in der labyrinthischen Altstadt Agondons, wo er sich bei einem Talgkerzendreher und seiner Tochter verbarg, zusammen mit ihren drei Hunden, ihrer einäugigen Katze, ihrer Taube und ihrem Papagei. Auch wenn Crum sich Sorgen um Morven machte – und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Er machte sich mehr Sorgen um seinen Freund als der sich um ihn –, so verbrachte er dennoch einen sehr angenehmen Nachmittag. Der Kerzendreher war bemerkenswert zuvorkommend zu seinem Gast, ebenso wie seine Tochter. Als Crum sie verließ, drängten ihn beide, sie bald wieder zu besuchen. Crum fand vor allem die Tochter nett, denn sie erinnerte ihn an Zohnny Ryles Schwester. Sie hatte seine Geschichten vom Leben auf dem Bauernhof sehr genossen, und auch seine Spekulationen darüber, was wohl passiert wäre, wenn Blenkinsop die einäugige Katze kennen gelernt hätte. Zappelphilipp befand sich an diesem Tag ebenfalls auf der Insel, obwohl er erheblich mehr Mut an den Tag legte als Morven und Crum. Wie viel genau, war jedoch schwer einzuschätzen. In den folgenden Jahren sollten die Schilderungen seiner Heldentaten proportional zu seinem Bauchumfang ansteigen, den er Nirrys guter Küche verdankte. Außer Frage stand allerdings, dass er ein oder zwei Schüs185
se abgefeuert und vielleicht sogar den einen oder anderen Stoß mit dem Bajonett riskiert hatte. Seine Hauptrolle an diesem Tag aber war die, die er in der Vorstellung seiner Frau spielte Am späten Nachmittag erreichte die Schlacht ihren Höhepunkt. Ohrenbetäubende Kampfgeräusche erfüllten die Redondo-Gärten. In der Katze & Krone spähte Nirry durch einen Spalt in den geschlossenen Fensterläden und rang die Hände. Hinter ihr lugten Raggle und Taggle abwechselnd mit großen Augen auf das Schlachtgetümmel oder spielten aufgeregt Biddy-Biddy-Bobbel. Der Bruder, der sich großzügig an den Vorräten gütlich getan hatte, schlief ungeachtet des Lärms und hatte seine dicken Finger über seinem mächtigen Bauch gefaltet. Baines dagegen kümmerte sich um den Haushalt, verfluchte den Staub und wischte sich ihr Auge. Nirry dagegen wurde immer verzweifelter. Es war schon schwierig genug gewesen, zurück zu der Taverne zu gelangen, aber die Schlacht, die jetzt hier tobte, war noch viel schlimmer. Wo steckte bloß Zappelphilipp? Nirry hatte mittlerweile jede Todesart oder Invalidität durchgespielt, die ihm widerfahren sein mochte, und Baines hatte sie immer wieder getröstet – vergeblich. Gerechterweise hätte sich Nirry eigentlich mehr Sorgen um Miss Landa machen müssen, denn die war sicherlich tapferer als Zappelphilipp. Sie hatte darauf bestanden, wieder zu den Rebellen zurückzukehren, nachdem sie ihre Freunde sicher in der Katze & Krone abgesetzt hatte. Aber ein heimliches Schuldgefühl nagte an Nirry. Und zwar die Furcht, dass man ihr Zappelphilipp als Strafe für ihre Tändelei mit Carney Floss genommen haben könnte. Konnte denn Lord Agonis so grausam sein? Nirry schloss häufig die Augen und bat um Vergebung für ihr sündiges Herz. Wenn ihr Ehemann unversehrt zu ihr zurückkommen würde, so schwor Nirry, würde sie ihn erst grün und blau schlagen und ihm dann für den Rest ihres gemeinsamen Lebens eine gute, treue und gehorsame Ehefrau sein. Als sie am Fenster stand und diese Gedanken in ihr kreisten, glaubte Nirry ein vertrautes Paar Ohren in dem 186
Gewühl der miteinander ringenden Armeen zu erkennen. Ob es wirklich Zappelphilipp war? Nirry jedenfalls war fest davon überzeugt. Wie von Sinnen schrie sie den Namen ihres Ehemanns. Sie schnappte sich einen Besen, um ihn nach Leibeskräften zu verprügeln, ignorierte das Jammern von Baines und stürmte durch den Flur zur Vordertür. Dort schleuderte sie die Stühle und Tische beiseite, mit denen sie den Eingang zuvor verrammelt hatte. Unzweifelhaft wollte Nirry in der offenen Tür stehen bleiben und ihren Ehemann zu sich rufen. Sie war sicher, dass der vertraute, schrille Ruf ihn augenblicklich zu ihr bringen würde. Leider erwies sich das nicht als ganz so einfach. Denn die vertrauten Ohren waren nicht mehr zu sehen. Nirry beugte sich gefährlich weit über ihre gut gefegte Schwelle hinaus. Und das gerade in dem Moment, als ein Zug Rebellen vorbeistürmte. Nirrys Besen flog durch die Luft, und die zerlumpte Horde trug sie einfach mit davon. Kugeln pfiffen ihr um die Ohren, und überall wurde wild herumgeschrien. Nirry hatte Angst, dass sie unter die Räder geraten und zu Tode getrampelt werden könnte. Doch ihre Wut bei dem Gedanken an ein solch absurdes und unwürdiges Ende erfüllte sie mit einer fast übermenschlichen Kraft. Sie stemmte sich gegen die marodierenden Männer und wünschte sich sehnlichst, sie hätte noch ihren Besen, um die Horde damit in die Flucht schlagen zu können. Aber sie hatte keine Wahl, als mit dem Strom zu schwimmen. Gerade als Nirry stolperte und zu stürzen drohte, fühlte sie, wie eine Hand sie packte und aus dem Gewühl zerrte. Sie taumelte. »Bando!«, rief sie erstaunt. Sie konnten jedoch nicht reden, ja nicht einmal schreien, so laut waren die Explosionen und das Gebrüll ringsum. Nirry wollte zurück zur Katze & Krone, doch Bando zerrte sie in die andere Richtung. Er musste sie in Sicherheit bringen, in die nächstmögliche Deckung, die er finden konnte. Sie waren bereits ein Stück von den RedondoGärten entfernt und wurden in Richtung des KorosPalastes gedrängt. Auf ihn richtete sich der entscheidende Angriff, mit dem die Rebellen hofften, diesen letzten 187
Stützpunkt der Blauröcke zu erobern. Sie stürmten immer weiter vor, und Bando hielt Nirrys Hand die ganze Zeit fest in seiner. Den Rest des Tages nahm Nirry wie durch einen Schleier wahr. Sie stürmten durch eine Bresche in der Mauer und befanden sich plötzlich im Innern des Koros-Palastes. Der Lärm war ohrenbetäubend. Fenster zersplitterten, und Wände stürzten zusammen. Sie lief mit Bando eine Treppe hinauf, dann noch eine und noch eine. Verschwenderischer Luxus, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, flog nur so an ihren Augen vorbei. Sie liefen an Rüstungen und uralten Portalen vorüber und kämpften sich ihren Weg in die marmornen Hallen frei. Kronleuchter fielen von den Decken, und Putz regnete auf sie herab. Plötzlich rief jemand: »Hier lang, Bando!« Durch den Gipsnebel erkannte Nirry Miss Landa, die neben Hul und Ejard Rot stand. Beunruhigt sah sie, dass der Rote König eine gewaltige, uralte Streitaxt schwang, die er einer alten Rüstung aus ihren metallenen Handschuhen gerissen hatte. »Nirry!«, rief Landa entsetzt. »Was machst du…?« Für lange Erklärungen war jetzt keine Zeit. Die fünf liefen einen endlos scheinenden Korridor entlang. »Das ist der richtige Weg!«, rief Ejard Rot. »Er wird sich hier irgendwo verstecken, ich weiß es! Ich bringe ihn um! Ich bringe ihn um!« Er zertrümmerte mit der Axt eine Tür. »Sire…!«, keuchte Hul. »Seid Ihr sicher…« »Ich bin mir sicher«, erwiderte Ejard Rot und lächelte. Dann forderte er die anderen mit einem Schwenken seiner Axt auf, ihm zu folgen. In dem Gemach war der Kampflärm von draußen nur noch schwach zu hören, aber trotzdem fanden sie sich in einer Ruine aus Verheerung und einem Haufen Schutt wieder. Dieser uralte Raum musste einmal unglaublich luxuriös eingerichtet gewesen sein. Von einem Fenster war der Vorhang heruntergerissen worden, und ein Strahl des Sonnenlichts erhellte die ansonsten dämmrige Kammer. In verschiedenen Kaminen loderten Feuer. Die Hitze war erstickend. 188
Nirry fühlte sich sofort höchst unbehaglich. »Was ist das hier für ein Ort?« Sie umklammerte Miss Landa. »Bruder! Bruder, zeige dich!« Die Worte des Königs hallten hohl in der Kammer wider. Bando schluckte. »Die purpurnen Vögel…« Jetzt sah auch Nirry diese merkwürdigen HalbPhantome. Doch in dem Dämmerlicht huschten noch mehr Kreaturen herum, die sie nicht genau erkennen konnte. Das Entsetzen packte sie, und sie wäre davongelaufen, wenn sie nicht eine Macht auf der Stelle festgehalten hätte. »Sire, das ist Tranimels Werk«, erklärte Hul. »Der Erste Minister?« Die Stimme des Königs klang abwesend. »Ein Mann ohne Blutadel und ohne Erziehung? Was kümmert mich dieser Funktionär, wenn mein Bruder dafür frei ausgeht?« »Sire«, fuhr Hul fort. »Ich habe mehrfach versucht, Euch zu sagen, dass Tranimel mehr ist… viel mehr, als er eigentlich sein sollte…« Aber der König schenkte ihm kein Gehör. Merkwürdige Musik drang in die Kammer und nahm rasch an Intensität zu. Nirry blickte sich furchtsam um. An der Wand sah sie ein gewaltiges Wandgemälde, das eine Landschaft aus Schnee und Eis darstellte. Erst später sollte sie begreifen, dass es nicht einfach nur ein Gemälde war, sondern ein Portal zu einem fernen Ort. Der König schritt durch die Finsternis, trat die Trümmer aus dem Weg und forderte seinen Feigling von einem Bruder weiterhin lautstark auf, sich endlich zu zeigen, wie ein Mann vorzutreten und sich seinem Tod zu stellen. Da ertönte ein lauter, wahnsinniger Schrei aus den oberen Bereichen der purpurn leuchtenden Kammer. »Triumph! Der Triumph ist mein!« Nirry kreischte, und Bando wirbelte stolpernd herum. In dem Moment sahen sie den Körper des Ersten Ministers, der offenbar von irgendeiner Macht besessen war und sich langsam mit gekreuzten Beinen hoch oben in der Luft 189
drehte. Drei glühende Kristalle, purpurn, grün und rot, umkreisten den kahl rasierten Kopf des Ersten Ministers, und ein vierter Kristall, der blau glühte, erschien in seiner Hand. Sein Licht blendete sie. Dann ertönte eine andere Stimme. »Ah, unsere Gäste sind eingetroffen. Wie kann ich nur so gedankenlos sein und ihnen keine Erfrischungen anbieten?« Der Sprecher trat hinter einem zerstörten, schwankenden Wandschirm hervor. Er war schwarz gekleidet, und sein Gesicht wurde von einer falkenähnlichen Maske verdeckt. Die Augen glitzerten bösartig im Licht der Kristalle, und die dunkle Gestalt hob die Hand, als wollte sie die fünf erstaunten Eindringlinge bannen. »Ihr glaubt also, Ihr hättet heute gesiegt? Mein Meister bittet Euch, noch einmal genauer nachzudenken. Alles, was bis jetzt geschah, ist nur eine Scharade, um ihn zu amüsieren, bevor er sein Blatt auf den Tisch legt. Roter König, du wirst dieses Reich nie wieder regieren.« Der Falkenmann lachte. Glaubte er tatsächlich, dass Toths Magie ihn schützte? Wenn ja, dann hatte der Mann, der einst der bestaussehende Junggeselle in Varby gewesen war, zu viel Vertrauen in seinen bösen Meister gesetzt. Und wie bei allen Dienern des Bösen, so war am Ende seine eigene Rolle ebenfalls nur eine Scharade. Und die war jetzt vorbei. »Nein…!« Der König holte mit seiner Axt aus. Er schlug zu, und der Kopf wurde sauber von Burgroves Körper abgetrennt. Entsetzt traten die Begleiter des Königs zurück, aber ihr Schrecken wuchs noch, als der kopflose Leichnam zu Boden polterte und ein aalartiges Ding sich aus der durchtrennten Speiseröhre heraus wand. Erneut schlug die Axt zu und zerhackte Penge in kleine Stückchen. Die Stücke wanden sich wie bei einem Regenwurm, und der König trampelte darauf herum. In der Luft drehte sich der Erste Minister unbeeindruckt von den Ereignissen auf dem Boden der Kammer weiter in der Luft, aber er rotierte jetzt schneller, seltsam beleuchtet von dem Strahlen der Kristalle. Immer noch erklang die Musik in 190
dem Raum, hatte sich aber zu einer wahren Kakophonie gesteigert. Kesselpauken dröhnten, Hörner bliesen und Becken schepperten. Nirry wollte fliehen, ganz gleich wohin. Sie riss sich von Miss Landa los, lief einige Schritte, knickte mit dem Fuß um und landete unsanft in den Trümmern. Ein gewaltiger Wind wehte plötzlich durch das Gemach und schleuderte die Eindringlinge erst gegen die eine, dann gegen die andere Wand. Dann gegen die dritte. Hul, Nirry, Bando, Landa und Ejard Rot taumelten und wirbelten umher, stießen zusammen und stürzten zu Boden. Die Axt wurde dem König aus der Hand gerissen und flog dicht an Nirry vorbei. Beinahe hätte die Waffe sie getroffen. Überall flatterten die Lilane Flügel schlagend umher, und die Phantom-Monster näherten sich ihnen drohend. Immer wieder drehten sie sich im Kreis, flogen durch die Luft, wurden vom Licht der Kristalle geblendet und waren der Gewalt des Sturms hilflos ausgeliefert. Mit einem Mal wurden sie wie in einem Strudel in eine weiße Landschaft gesogen. Es herrschte plötzlich Stille. Stille und Kälte. Und da lag sie vor ihnen, die Einsiedelei der Winde.
23. Ein labyrinthischer Tanz Nein, Krüppel, o nein, du kleiner Krüppel! Warum… warum nennst du mich Krüppel? Weil du genau das bist. Das und nicht mehr Aber… aber ich bin ein Held. Die einzige Hoffnung der Welt. Wenn du ein Held bist, dann gibt es keine Hoffnung. Ich habe die Kristalle gefunden. Ich habe einen nach dem anderen gefunden. Ja, und dann hast du sie alle wieder verloren. Nicht alle. Es gibt noch einen… Aber den hast du noch nicht. Ich sage, dass ich ihn bekomme. Und wenn ich ihn habe, was dann? 191
Du meinst, was wird ohne die anderen? In seinen Träumen versuchte Jem, die Stimme zu vertreiben, die in seinem Kopf herumsummte. Aber welchen Sinn machte es schon, sie zu verdrängen? Wenn die Stimme da war, sah er nur Muster aus dunklen, wirbelnden Farben, verstummte die Stimme, verwandelten sich die Farben in Wolkenberge, zwischen denen er, wenn sie sich teilten, wie aus großer Höhe auf eine vernichtete Stadt hinabblickte. Rauchwolken trieben über sie hinweg, die Gebäude waren von Feuer geschwärzt oder zusammengefallen. Er sank tiefer auf die Straßen hinab, konnte den Schneematsch sehen, den Schlamm, eine rote Pfütze und einen Leichenkarren, der umgekippt war. Eine Ratte krabbelte auf einen Leichnam und fraß dessen Augen. Jem schrie auf. Das konnte nicht sein! Das konnte nicht Agondon sein! Er würde diese Stadt retten… Aber nein, Krüppel. Nein, mein kleiner Krüppel. Wieso sagst du Nein? Wie… wie kannst du das tun? Wie kannst du glauben, dass du den Kristall erringst? Ich bin der Schlüssel zum Orokon. Es ist vorherbestimmt. Die Dinge passieren einfach, Krüppel Nichts ist vorherbestimmt. Das kann ich nicht glauben. Dann wäre das ganze Leben nur blanker Hohn. Du Dummerchen! Das Leben ist blanker Hohn! Das… das kannst du nicht wirklich glauben! Es ist ein Tanz, das ist es. Eine Gigue, die von einem Clown getanzt wird. Ein Clown? Was willst du damit sagen? Was für ein Clown? Wie wäre es zum Beispiel mit… einem Harlekin? Wie oft hörte Jem diese Worte? Aber jedes Mal, wenn er der quälenden Stimme entkam, fand er sich in Agondon wieder und schwebte wie ein Geist über der zerstörten Stadt. Er fand sich in einer schwarzen, stinkenden Gasse wieder. Aus einer Tür sah ihn ein alter Mann an und hob die Arme. Er hatte an der Stelle, wo eigentlich die Hände hätten sein sollen, nur blutige Stümpfe. Jem wandte sich 192
ab, aber nur, um mit neuem Schrecken konfrontiert zu werden. Ein nacktes Kind mit glasigen, blicklosen Augen kam ihm entgegen. Ein toter Hund lag auf der Straße. Seine Eingeweide waren über das Pflaster verstreut. Dann sah Jem einen orangefarbenen Kater, der kläglich miaute. Und er hörte das Quietschen einer Ziehharmonika. Auf einem Haufen Schutt saß, im Schatten, aber dennoch unverwechselbar, der Harlekin, der sich mit unglaublicher Langsamkeit um die eigene Achse drehte. Und er lachte und lachte… Jem wollte weglaufen, konnte es jedoch nicht… Nein, Krüppel. Oh nein, mein kleiner Krüppel. Also, was passiert jetzt? Ich denke, dass sich Toth den letzten Kristall holt. Was glaubst du? Und… den Kreis des Orokon wieder schließt? Einfach so? Zweifellos. Und dann seine ewige Herrschaft antritt. Die Herrschaft der Finsternis. Wie kannst du das so… beiläufig sagen? Ach, komm schon, Krüppel. Nichts dauert ewig. Jedenfalls nicht wirklich. Was denn? Die Dinge könnten sich wieder verändern? In ein oder zwei Äonen? Aber ja. Nichts ist für immer, alles fließt… Nein! Nein, ich schwöre dir, ich werde das nicht zulassen. Ich werde . Hast du mich nicht verstanden? Du bist ein Krüppel, Junge! Immer wieder hatte Jem diese Worte gehört, aber erst jetzt nahmen sie ihre wahre, unwiderrufliche Bedeutung an. Er öffnete die Augen und bemerkte die stachelige, grüne Masse, die auf ihn zukam. Erst nach einem Moment wurde ihm klar, dass es eine Hecke war, deren stachlige Blätter scheinbar willkürlich mit Blüten durchsetzt waren. Ah, er war wieder in dem Labyrinth, in dem er schon vorher gewesen war. Aber… Jem bewegte sich nicht. Wie konnte die Hecke es dann tun? »Was für ein entzückendes Wetter! Es ist wirklich ganz 193
reizend, nicht wahr, Jem?« »Wa… Was?« Jem saß wieder im Rollstuhl. Er trug nur ein Nachthemd, und um seine Knie war eine karierte Decke geschlungen. »Meine… meine Beine! Was ist mit meinen Beinen passiert?« »Alles in Ordnung, mein Lieber? Ist dir auch nicht zu warm? Oder zu kalt? Mach dir keine Sorgen, wir sind fast da. Vergiss nicht, wenn du müde wirst, dann sag es deiner Tante Umbecca.« Jem wollte sich umdrehen, um seine Tante anzuschauen, aber er schaffte es nicht. Er war erschöpft und hatte das Gefühl, als würde sein Leben aus ihm herausrinnen. Die Räder knirschten auf dem Kiesweg. »Vergiss nicht, Jem, wenn du ein bisschen Schlafsirup haben möchtest…« Sie bogen um eine Ecke. Was war das? Seine Tante stieß einen Schrei des Entzückens aus. Sie waren an einer kleinen Nische vorbeigekommen, die in die Hecke geschnitten war, und seine Tante trat hinein. Jem hörte Stimmen. Vielmehr eine Stimme. »Was denn, ich? Ihr böser Schmeichler, Ihr könnt ja wohl nicht an eine andere Lady denken, hab ich Recht? Aber Kaplan, ich wusste nie, ob ich Euch glauben kann, das war das Problem. Die Schöne des Balls? Aber Ihr Dummer, es gibt heute keinen Ball Was ist das? Eine Brosche? Ein glitzernder Edelstein? Also wirklich, ich bin überwältigt. Ich soll sie anstecken? Wenn Ihr vielleicht selbst die Güte hättet… Oh, aber Eure Hand ist so weich… Nein, nicht kitzeln.« Gekicher. »Na wartet, jetzt kitzle ich Euch, ich kitzle Euren… Torso! Ach, Eay! Oh, Eay, Ihr seid ein schlimmer, schlimmer…« Jem war von all dem so angewidert, dass er sich sogar ein bisschen zusammenriss, nur ein kleines bisschen. Seine Augen waren ihm zugefallen, und jetzt zwang er sich dazu, sie wieder zu öffnen. Da sah er Ejard Orange, der gebieterisch auf dem Pfad vor ihm stand. In seinem Traum war der Kater ein ausgehungertes, erbärmliches Tier gewesen, aber hier war er so, wie er immer gewesen war. Ejard Oranges Schwanz zucke, 194
während er Jem mit funkelnden Augen ansah. Jem schluckte. Wenn er auch nicht laut sprach, war er sich dennoch des Austauschs bewusst, der zwischen ihm und dieser geheimnisvollen Kreatur stattfand. Ejjy! Ich dachte, du wärst tot. Ich bin natürlich nicht tot. Bist du tot? Wie du siehst, bin ich es nicht. Du kannst deine Beine nicht bewegen. Das kannst du doch nicht, hab ich Recht? Ich verstehe das nicht. Ich bin wieder ein Krüppel. Das ist ganz einfach. Toth hat die Kristalle, stimmt’s? Bin ich deshalb ein Krüppel? Es war der Kristall, der dich gehend gemacht hat, Jem. Nein… sag nicht so was! Ich muss es dir sagen. Denn es ist die Wahrheit. Aber was kann ich tun? Flehentlich streckte Jem die Hand nach der Katze aus, sank aber wieder zurück in dem Rollstuhl, als Tante Umbecca mit einer funkelnden Brosche am Kleid aus der kleinen Nische in der Hecke auftauchte und Ejard Orange in einer Lücke in der Hecke verschwand »Meine Güte, dieses Labyrinth ist wirklich ziemlich gewunden, hab ich Recht, Jem?« »Aber du weißt doch, wie wir hier herauskommen, Tante? Das weißt du doch?« Seine Tante kicherte jedoch nur, genauso wie sie mit Eay Feval gekichert hatte, oder dem Wesen, das ihn darstellte. Sie gingen weiter, und der Kies knirschte unablässig unter den Rädern des Rollstuhls. Umbecca keuchte ein wenig, als sie ihm von der Pracht erzählte, die auf sie wartete, als wären sie unterwegs zu einer Gartenparty. »Jem, schläfst du schon wieder?« Seine Augenlider fielen ihm zu. Sie bogen gerade um eine Ecke, ein scharfer rechter Winkel in dem Labyrinth. Jem sog den Duft der Blumen in sich auf, der stachligen Blätter, von klebrigem, aufsteigendem Blütensaft. Er sah zwar nach vorn, merkte aber trotzdem, dass seine Tante sich umwandte und erneut einen Schrei ausstieß, als Schritte hinter ihr zu hören waren. 195
»Kaplan, für mich? Aber sie sind wundervoll! Also wirklich, so werde ich gewiss die Schöne des Balls werden, wenn es einen Ball… Was war das? Ihr meint, alle würden mich ständig betrachten? Ihr Schlimmer! Kommt, legt sie um meinen Hals… Denn muss ich diese Juwelen nicht sofort anlegen? So ist es richtig… Aber, Kaplan, Eure Hand zögert! Habt Ihr Eure Moral vergessen? Immerhin ist der Torso einer Lady nur der Torso einer Lady…« Erneutes Gekicher. »Ach, aber wie himmlisch! Kaplan… Ach, Eay!« Das Kichern wurde heftiger, aber Jem hörte nicht mehr zu. Hinter der scharfen Ecke verdunkelte sich die Sonne zu einem merkwürdigen purpurnen Glühen. Dann hörte er ein Geräusch, dass er in seinen Träumen immer schon gehört hatte: ein Leierkasten, dessen Musik sich durch die Luft zu winden schien. Jem konnte es kaum fassen. Barnabas? Die Hecke raschelte, und der kleine Mann trat auf den Weg. Er stöhnte unter dem Gewicht des klobigen Instruments. Jem hätte die Decke gern zur Seite geworfen, wenn er es nur vermocht hätte, und den magischen Zwerg umarmt, der sein erster und vielleicht auch bester Freund gewesen war. Jemmy, glaubst du denn, dass ich nicht real sein könnte? Barnabas, ich bin so froh, dass du hier bist! Oh, ich war immer hier… immer bei dir. Bist du ein Geist? Oder Harlekin… oder Tor? Ich bin nur der Hofnarr des alten Königs, mehr nicht. Meines Vaters Narr? Es gibt da ein Lied… Aber sie haben ihn getötet! Getötet? Bist du dir da sicher? Nein, keineswegs, Barnabas. Das musst du auch nicht. Erinnere dich einfach. Es gibt so viel. An was soll ich mich erinnern? Dass du ein Krüppel gewesen bist. Und dann laufen konntest. Nach diesen Worten wollte Jem aufschreien, als würde ihm dieser Schrei die Fähigkeit zurückgeben, wieder gehen zu können. Aber da kam seine Tante. Sie kam auf ihn zu, 196
als habe sie nur kurz innegehalten, um zu verschnaufen. Das purpurne Licht verschwand, und Barnabas hechtete rasch durch das Loch in der Hecke. »Meine Güte, was war denn das für ein Geräusch, das ich da gehört habe?« »Ein Geräusch, Tante? Ich habe kein Geräusch gehört.« »Nein? Armer Jem, du bist immer noch krank. Es sind diese Beine, hab ich Recht? Eines ist gebogen, das andere verdreht! Was für eine Last… Ich weiß, es ist zu viel, als dass ein Junge es ertragen könnte.« »Ja, Tante.« Jems Stimme war träumerisch, aber nicht, weil er vorn Schlafsirup benommen war. Es war Barnabas, der ihn verwirrt hatte. Dass du ein Krüppel gewesen bist. Und dann laufen konntest. Aber wie sollte er jemals wieder laufen können? Das Labyrinth machte eine lange, gebogene Kurve. »Fast, mein Lieber, wir sind fast… Aber was ist das? Moment, ich glaube, ich sehe da etwas glänzen, da vorn an der Weggabelung. Vielleicht das Nest einer Dohle? Habe ich dir schon erzählt, dass meine Schwester Ruanna ihr schönstes Diadem an eine Dohle verloren hat? Ich habe diese böse Kreatur selbst gesehen, als sie durch das Fenster hinein- und dann rasch wieder hinausflog… Ach, sie war so schnell! Mir sind beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen! Und ich habe vielleicht geschrien! Aber einen Moment, nur einen Moment!« Nachdem Umbecca davongeeilt war, hörte Jem eine andere Stimme. Eine Dohle, also wirklich! Sie hat es selbst gestohlen, das weiß ich genau. Wer… wer bist du? Aber warte, ich kenne dich! Kannst du mich nicht sehen, Jem? Dreh einfach nur deinen Kopf. Ich… Aber ich kann mich kaum bewegen. Dann muss ich mit dir tanzen. Komm, nimm meine Hand. Harlekin! Aber meine Decke, sie fällt herunter! Nur in deinen Gedanken. Aber das alles findet in deinem Kopf statt. 197
Was meinst du damit? Aber das ist ja wunderbar! Alles findet im Kopf statt, Jem. Da fängt es an. Alles? Also tanzen wir nicht wirklich? Vielleicht nicht. Aber du könntest es tun, hab ich Recht? Jem gab sich diesem wilden Tanz hin, obwohl er wusste, dass er nicht real sein konnte. Er drehte sich, er sprang, und die ganze Zeit hielt der Harlekin dabei seine Hand. Die Musik hüllte sie ein, es war die Musik von Barnabas, der wieder durch die Hecke auf den Weg gesprungen war. Ejard Orange war ebenfalls da, hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und hüpfte im Takt herum. Im Hintergrund zitterte Umbecca vor Aufregung. »Was denn, Kaplan, auch noch ein Diadem? Aber das ist zu viel! Was denn, das würde einer Königin zur Zierde gereichen! Was? Ich sollte Königin sein? Ich, und nicht dieser kleine, widerliche Klotz am Bein, Jeli? Kaplan, also wirklich! Königin Umbecca? Königin, nein, Kaiserin… Kaiserin von Ejland. Kaiserin der Welt? Aber Eure Hände, also Ihr Schlimmer, sie sind ja unter meinen Röcken!« Sie keuchte. »Kaplan, also wirklich… ach, Eay! Aber wartet… wartet, was ist das da vorn? Was sehe ich da? Doch nicht… Torvester!« Im gleichen Moment war alle Lust aus Umbecca gewichen. Sie fiel schmerzerfüllt mit den Knien auf den Kies, ihr Herz hämmerte, und sie schlug die Hände vors Gesicht. Torvester? Sollte sie jetzt beten? Nein. Langsam ließ sie die Hände vom Gesicht sinken. Es war sehr heiß zwischen den Hecken. »Also Jem, ich hatte vielleicht ein Erlebnis! Ich dachte, ich hätte… kannst du dir das vorstellen? Ich dachte, ich hätte Onkel Torvester gesehen? Das ist natürlich albern, ich weiß… Oh, deine Decke, sie ist ja ganz durcheinander. Diese Beine, also wirklich! Sie bereiten dir eine Menge Ärger, nicht wahr, armer Junge?« Jems Augen glänzten, und er nickte. »Weißt du, dass ich allmählich glaube, dass Goodman Waxwell vielleicht Recht hatte?« Umbecca beugte sich herunter, legte den Mund an das Ohr ihres Neffen und redete leise weiter. »Du wärst doch glücklicher ohne sie, hab ich 198
Recht? Immerhin brauchst du sie ja nicht, und sie bereiten dir so viel Ungemach. Wir werden versuchen, dir eine kleine Operation zu verschaffen, hm? Man hat mir erzählt, dass es eine sehr einfache Prozedur ist, und es gibt hinterher auch eine Menge Süßigkeiten für tapfere Jungen, die nicht herumschreien. Ja, Jem, es wäre viel hygienischer… und so viel adretter.« Umbecca, festlich angetan mit ihrer Brosche, ihrer Halskette und ihrem Diadem, strich Jem durchs Haar, summte ein kleines Liedchen und schob seinen Rollstuhl fröhlich aus dem Labyrinth hinaus »Da sind wir, mein Lieber!« Sie hatten das Labyrinth verlassen und standen in einem großen Park mit gepflegten Rasenflächen, Blumenbeeten und schattigen Bäumen. Es war offenbar die Lichtung vom Tag zuvor, doch sie hatte sich bemerkenswert verändert. Später sollte Jem eine gewisse Eibe wiedererkennen und auch das Murmeln des Baches hören. Doch jetzt sah er weit entfernt einen Rundbau aus Stein mit einer goldenen Kuppel und buntem Glas, der sich mitten in dem Park erhob, und zahllose Gestalten in goldenen Gewändern, die über die Wiesen spazierten. »Wir machen dich ein bisschen hübsch, ja?« Umbecca strich Jem über die Wange und trat mit einem gewinnenden Lächeln vor ihn, um die Decken zu richten. Zum ersten Mal an diesem Tag bemerkte Jem, was sie trug. Erneut war sie ganz in Weiß gekleidet, aber statt ihrer schlichten Robe trug sie jetzt das aufgepolsterte Kleid einer vornehmen Lady Ihm fiel auf, dass die Träger – falls sie es waren – ganz ähnlich gekleidet waren, wenn auch in Gold. Reifröcke schimmerten, Hauben blitzten, und Gentlemen in eleganten Gehröcken verbeugten sich höflich voreinander. Hüte, Perücken, Sonnenschirme, Gehstöcke schimmerten im Licht, und die Akolythen, die als goldene Lakaien verkleidet waren, trugen goldene Tabletts umher. Jem sah einige Gestalten in Schwarz und andere in Weiß. 199
Und dann gab es auch noch eine Gruppe in Rot. Er starrte ungläubig hin. »Mit denen würde ich mich nicht abgeben, wenn ich du wäre«, flüsterte Umbecca ihm zu. »Es ist schrecklich, was für Leute sich heutzutage unter die bessere Gesellschaft mischen. Nach deiner kleinen Operation, Jem, werden wir beide oft unterwegs sein, das darf ich wohl sagen. Nur du und ich, und wir werden in der vornehmen Gesellschaft ziemliches Aufsehen erregen. Ich glaube, du wirst rasch sehr beliebt sein, wenn du so mit deinem Rollstuhl herumfährst… Natürlich musst du darin angebunden werden, aber das macht nichts. Ich bin sicher, dass du wegen deiner Schlagfertigkeit sehr berühmt wirst… Vielleicht brichst du sogar der einen oder anderen Lady das Herz. Beachte nur die Emporkömmlinge nicht, das rate ich dir!« »Aber sie sind…«, stammelte Jem. »Das sind… sind das nicht…?« Es bestand keinerlei Zweifel. Wer sich da unter dem Schatten der großen Eibe zusammendrängte und sich unsicher umsah, waren vier der besten Freunde von Jem. Hul… Bando… Landa… Nirry. »Woher diese Schlampe die Frechheit nimmt, sich in aller Öffentlichkeit zu zeigen, weiß ich wirklich nicht!«, fuhr Umbecca unbeirrt fort. »Ist ihr denn nicht klar, dass ich sie dem Henker überantwortet habe? Tot ist sie, das ist richtig! Aufgehängt am Hals! Vermutlich erwartet sie, dass ich sie wieder in meine Dienste aufnehme! Nie im Leben, Nirry Jubb. Eine Maid mit gebrochenem Genick, die auch noch ihre Tugend verloren hat? Sie behauptet, dass sie verheiratet wäre, kannst du dir das vorstellen? Vielleicht kannst du ja deine Schlagfertigkeit an ihr ausprobieren, Liebling? Eine vernichtende Bemerkung, das ist genau das, was wir jetzt – « Umbecca hätte weitergeredet, wenn nicht ein Lakai an sie herangetreten wäre, sich respektvoll verbeugt und ihnen zwei Kelche mit perlendem Varl-Wein gereicht hätte. Die fette Frau leerte ihr Glas gierig. Jem dagegen konnte seines nur zitternd festhalten und verschüttete dabei etwas von seinem Inhalt auf die Decke. Errötend hielt er das Glas 200
mit beiden Händen fest, wagte jedoch nicht, es an die Lippen zu heben. Er sah sich nach den anderen Leuten um. Wie weit weg sie zu sein schienen! Noch mehr Lakaien tauchten auf, und diesmal trugen sie Tabletts »Vol-au-vents? Hummer?« Umbecca schnappte sich ein Tablett und dann noch ein zweites. Sie vergaß sich und auch ihren Neffen, ließ sich ins Gras sinken und verschlang das Essen. Im nächsten Moment klebten der Blätterteig und das Fleisch wie Schuppen an ihrem kleinen Mund und rieselten wie Schnee auf das Oberteil ihres Kleides herunter. Sie stöhnte ekstatisch. Sahnedressing quoll zwischen ihren Fingern hervor. Jem hörte eine Stimme. »Sollen wir uns ein wenig umsehen, mein Kind? Das ist jetzt wohl der richtige Moment. Das heißt, du kannst dich umsehen. Ich bin dafür nicht so recht… ausgestattet.« »Der alte Wolveron?« Jem sah blinzelnd ins Licht. Ja, er war es. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und man sah das blinde, vernarbte Gesicht. »Aber… aber Ihr tragt wieder Eure schwarzbraunen Gewänder! Und der Stab in Eurer Hand… Er ist nur aus knorrigem, knotigem Holz. Warum seid Ihr nicht kostümiert wie die anderen?« »Mein Kind, diese Frage könnte ich dir auch stellen. Nimm diese Decke weg, was bleibt dir dann? Ein Nachthemd, das ist alles. Ein Flanellnachthemd mit blauen und roten Streifen.« »Aber Ihr seid blind! Woher wisst Ihr das?« »Wissen wir nicht von vielen Dingen, auch wenn wir sie nicht sehen können? Aber lass mich deinen Stuhl schieben. Ach, brauche ich diesen Stab wirklich? Ich glaube nicht, meinst du nicht auch? Ich werde ihn einfach… ich werfe ihn einfach weg, das mache ich. So… Übrigens, sei vorsichtig mit dem Varl-Wein. Du wirst ihn doch nicht verschütten, oder?« Jem konnte es nur hoffen. Vor ihnen erstreckte sich ein Pfad, doch der alte Mann ignorierte ihn einfach und ging direkt über den Rasen auf den Rundbau zu. Man hätte denken können, dass der Rollstuhl ihm auf der weichen 201
Erde Schwierigkeiten bereiten würde, aber im Gegenteil, er behinderte ihn nicht im Geringsten. »Ich bin aus Euch nie so richtig klug geworden«, erklärte Jem. »Das ist gar nicht so schwer. Und schon bald wird es auch nicht mehr nötig sein«, fügte der alte Mann geheimnisvoll hinzu. Er machte eine Pause und drehte sich um. »Meine Güte, mein Stab scheint gewachsen, geradezu zu einer gewaltigen Konifere emporgeschossen zu sein. Sie stört die Symmetrie des Parks sehr. Aber das macht nichts. Alles muss vergehen.« Der Stuhl fuhr weiter, und Jem spürte ein wachsendes Unbehagen. In dem Gras sah er ein Kaninchen, dessen Nase zuckte. Ein Eichhörnchen huschte vorbei, und er war davon überzeugt, dass er einmal sogar einen Fuchs sah. Warum sollten ausgerechnet diese Tiere sein Unbehagen mehren? Eine Schwalbe landete auf der Armlehne des Stuhls und hüpfte wieder davon. »Und Tante Umbecca?«, fragte Jem schließlich. »Wird sie nicht bemerken, dass Ihr mich weggeholt habt?« Der alte Mann lachte, es war beinahe ein Kichern. »Das bezweifle ich, du nicht? Es gibt nur wenig, was verlockender ist als eine Hummerpastete. Oder habe ich gerade eine angeregte Unterhaltung gestört?« »Sie hat gesagt, dass meine Beine bald amputiert werden sollten.« »Ich persönlich finde das höchst überflüssig, solange ein Junge sich selbst sauber halten kann. Das Wort Tempel kommt mir dabei in den Sinn, findest du nicht auch?« Jem wurde klar, dass sein Gefährte den Rundbau meinte. Aus der Nähe war das Gebäude wesentlich größer, als es von weitem wirkte. Kannelierte Säulen ragten hoch über die Menge empor bis hinauf zu der majestätischen Kuppel. In den Wänden zwischen den Säulen befanden sich die hohen Fenster aus buntem Glas. Aber wo waren die Türen? »Und er ist auch besser als der, den du in Irion hattest, was? Ich glaube, ich kann mich an einen gewissen Jungen erinnern, der ihn in die Luft gesprengt hat. Erinnere dich daran, Jem, erinnere dich an das, was du einst gewesen 202
bist!« Diese Stimme! Jetzt fand Jems Unbehagen ein Ziel, und er versuchte, sich im Stuhl umzudrehen. »Du bist nicht der alte Wolveron! Das bist du nicht, hab ich Recht?« Ein maskiertes Gesicht beugte sich über die Seite des Rollstuhls. »Eigentlich nicht. Silas ist mit seiner Tochter beschäftigt. Es sind die letzten gemeinsamen Momente für die beiden, bevor… Also dachte ich, ich sollte die Gelegenheit ergreifen und eine kleine Scharade aufführen. Das macht dir doch nichts aus, Jem?« Jem schaute ernst in die Silbermaske. »Und du bist auch nicht Tor, hab ich Recht? Du warst nie wirklich Onkel Tor, stimmt’s? Niemals. Du siehst nur aus wie er. Du bist jemand anders, aber – « »Du auch, Prinz Jemany. Vielleicht.« Die langen, knochigen Finger des Harlekins schwebten beinahe spöttisch vor Jems Gesicht. Etwas befand sich zwischen diesen Fingern, etwas Glänzendes. Und dann fiel es herunter. »Nimm sie, Jem. Nimm sie…« »Deine Münze! Aber ich dachte, ich…« Erneut versuchte Jem, sich umzudrehen, aber der Harlekin packte entschlossen die Griffe des Rollstuhls und sagte, dass es da jemanden gäbe, den Jem unbedingt kennen lernen müsste. Er versetzte dem Stuhl einen kräftigen Schubs, und Jem sauste mitten durch die Menge. Die Ladys kreischten, und ein Lakai ließ sein Tablett fallen. Der Stuhl kam vor einer Gestalt in Rot zum Stehen. Jem schluckte und sah ihr ins Gesicht. Es gab also noch ein fünftes Mitglied der roten Gruppe. Der hier war kein Freund, aber eine Gestalt, die Jem schon einmal gesehen hatte. Auch wenn diese attraktiven, männlichen Gesichtszüge wie beim Harlekin hinter einer Maske verborgen gewesen waren. Natürlich kam ihm das Gesicht vertraut vor. Einen Moment glaubte Jem in einen Spiegel zu sehen. Er schluckte erneut und blickte dann auf das Glas in seiner Hand. Leider hatte er den goldenen Varl-Wein verschüttet. Die Flüssigkeit bildete eine Pfütze auf seiner Decke und 203
wurde langsam von ihr aufgesogen »Du bist mein Vater«, sagte Jem. »Bist du nicht mein Vater?« Der Rote König würdigte den verkrüppelten Jungen in dem Rollstuhl keines Blickes. Eine betrunkene, weiß gekleidete Gestalt schwankte auf sie zu und stolperte, als würde sie von einer Kraft bewegt, die sie nicht unter Kontrolle hatte. Es war Ejard Blau. Die Brüder standen sich gegenüber und warfen sich über Jems Rollstuhl hinweg hasserfüllte Blicke zu. Hul und Bando waren ebenfalls da. Vorsorglich traten sie neben den Roten König, als wollten sie ihn vor einem Angriff beschützen. Aber es erfolgte keiner. Trunken und tränenüberströmt streckte der Blaue König die Hand aus und berührte seinen Bruder mit seiner verstümmelten Hand. Vielleicht glaubte er, mit dieser Geste Frieden zwischen ihnen herstellen zu können. Aber es funktionierte nicht. Der Rote König verzog nur spöttisch die Lippen, und sofort verfärbte sich das Kostüm seines Bruders von Weiß zu Blau, als wäre Farbe darüber ausgegossen worden. Immer noch musterten sich die Brüder schweigend. Ein Fuchs, der sich durch die Menge geschlichen hatte, beobachtete sie neugierig. Er wedelte mit seinem buschigen Schwanz. Ein großer Bär stand da und blinzelte Jem zu, aber Jem sah nicht in das große, pelzige Gesicht. Wie der Fuchs hatte er nur Augen für Ejard Rot und Ejard Blau. »Könnt Ihr mich sehen?« Jems Stimme klang leise und piepsig. »Ihr könnt mich nicht sehen, hab ich Recht? Hul? Bando? Könnt Ihr mich denn wenigstens sehen?« Verzweiflung durchströmte Jem, und er dachte, dass er die Münze des Harlekins bereits irgendwie verloren haben musste. Das war zu erwarten gewesen. Er umfasste die Räder seines Rollstuhls. Mühsam setzte er sich in Bewegung und rollte auf die Tempelmauer zu. Diesmal schrie niemand, und es wich ihm auch keiner hastig aus. Allerdings bewegte sich sein Stuhl diesmal auch viel langsamer 204
»Tishy?«, fragte Jem nervös. Eine Frau in einem schwarzen Kleid, das an eine Beerdigungstracht erinnerte, hockte auf der Plinthe einer kleinen Säule. Ein breitkrempiger Hut verdeckte ihr Gesicht, aber das Buch, das sie sich vor die Nase hielt, machte klar, um wen es sich hier handeln musste. Sie streckte ihre behandschuhte Hand aus, und Ejard Orange kam um die Säule herum. Sie streichelte ihn, und er schnurrte zufrieden. »Sie irren sich«, sagte die Frau. »Sie glauben, dieser Tag heute wäre der letzte Tag. Das Ende der Zeit des Sühneopfers? Aber das ist doch der letzte Tag des Zyklus 999e, hab ich Recht? Und das ist, wie mir aufgefallen ist, ein Schaltjahr. Wir haben sechs, nicht fünf Zwischenkalendertage. Und was glaubst du, was das bedeutet, Meister Orange, hm?« Der orangefarbene Kater zuckte mit einem Ohr. »Ich glaube«, antwortete er, »dass dies vollkommen unvorhergesehene Konsequenzen nach sich ziehen wird. Das Ende ist nie so einfach, wie die Leute es erwarten.« »Kannst du mich sehen, Tishy?«, fragte Jem. »Oder du, Ejjy?« Der Kater zog die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ich glaube nicht, dass sie dich sehen kann«, schnurrte er. »Du verblasst allmählich aus der Existenz, Jem. Niemand braucht dich mehr. Bis auf deine Tante, vielleicht. Und im Moment siehst du selbst für mich wie ein Geist aus.« »Aber nein, Ejjy! Ich konnte doch nicht verhindern, dass ich die Kristalle verloren habe.« »Das hoffe ich für dich, Krüppel.« Jem war beleidigt. »Warum bist du eigentlich nicht tot?« »Ich?« Der Kater putzte sich. »Warum bist du nicht tot?« Wenn das ein Rätsel sein sollte, wusste Jem jedenfalls keine Antwort darauf. Niedergeschlagen rollte er wieder zurück, suchte sich seinen Weg durch die Menge und fuhr haarscharf an dem Bären vorbei. Mittlerweile lag Jems Decke schief auf seinen Knien, und sein blaurotes Nacht205
hemd war nass von Schweiß. Er hob die Decke hoch und warf sie zur Seite. »Oh, wer hat das geworfen?« Nirry sah in ihrem roten Kleid großartig aus. Neben ihr stand Landa. Die beiden rot gekleideten Frauen hatten sich, wie ihre männlichen Gefährten, unter die Menschenmenge gemischt. Sie ließen die Decke achtlos liegen und führten eine Unterhaltung weiter, die anscheinend schon längere Zeit andauerte. »Komm schon, Nirry, so schlimm ist das doch gar nicht…« »Sie ist schwanger, Miss Landa! Und Meister Jem…« »Die Göttin wird sich um sie kümmern«, tröstete Landa sie fromm. Nirry schniefte. Sie war den Tränen nahe. »Ich weiß nichts von einer Göttin, Miss Landa. Aber ich werde mich um sie kümmern. Oder glaubt Ihr, dass ich Miss Cata auf die Straße setzen würde? Sie wird immer ein Bett in der Katze & Krone finden – ich würde sogar zu meiner Herrin zurückgehen und mir die Finger wund arbeiten, wenn ich mich dafür um Miss Cata kümmern könnte… um Miss Cata und ihr armes, vaterloses Kind!« Bei diesen Worten brach Nirry vollkommen zusammen. »Tränen, meine Schöne?«, ließ sich plötzlich eine männliche Stimme vernehmen. Es war Polty, der ganz in Weiß gekleidet war. Er trug sogar eine Perücke, die sein flammend rotes Haar verbarg. Jems Augen funkelten. Vergeblich versuchte er aufzustehen. Polty trat neben Nirry »Aber, aber, keine Tränen. Wie wäre es mit einem KUSS, um mein Glück zu feiern?« Grinsend schob er Landa beiseite und nahm ihre Freundin in den Arm. Aber Landa schlug zurück. Sie riss ihm die Perücke vom Kopf, sodass sein rotes Haar wie eine Offenbarung des Bösen aufflammte. Polty schlug sie zu Boden und flüsterte Nirry vernehmlich etwas ins Ohr. Jem musste voller Verzweiflung jedes einzelne Wort mit anhören. »Du dummes kleines Flittchen – um Miss Cata zu wei206
nen! Begreifst du denn nicht, dass ihre Qualen vorüber sind? Heute Nacht bekomme ich Penge wieder, und was sie dann für eine Freude erleben wird! Was denn, ihr eigener kleiner Unfall hat sie aufgeregt? Natürlich ist sie von der Lust dieses Krüppels infiziert worden! Aber glaubst du nicht auch, dass wir sie wieder gesund machen können? Glaubst du nicht, dass wir von vorn anfangen können? Pah, das ist das Einfachste von der Welt – ein paar Sekunden Arbeit mit einer Häkelnadel, und ihre Unschuld ist wiederhergestellt. Eine Aufgabe, die ich vermutlich sogar selbst in Angriff nehmen kann… und die einem gewissen intimen Moment noch etwas mehr Würze verleiht, hab ich Recht?« Polty hätte zweifellos noch mehr gesagt, aber in dem Moment schien es, als würde er Jem erblicken, der ihn mit weißem Gesicht aus seinem Rollstuhl anstarrte. Polty runzelte die Stirn und schob Nirry zur Seite. Wütend beugte er sich über die Lehnen des Rollstuhls. Rote Locken fielen ihm über die Augen, und er näherte sich bis auf wenige Zentimeter Jems Gesicht. »Was denn, Krüppel, immer noch nicht tot? Macht nichts, jetzt dauert es nicht mehr lange! Aber sieh dich doch an! Was ist das denn für ein Fleck auf deinem Nachthemd?« Polty blickte nach unten, und Jem tat es ihm gleich. Es hatte nichts genützt, die Decke wegzuwerfen. Der nasse Fleck war durchgegangen. Aber es war kein Urin, das war es nicht! Poltys Atem schlug ihm ins Gesicht. »Und du dachtest, du könntest gewinnen? Ein Hosenpisser wie du? Dabei trägst du ja noch nicht mal eine Hose! Und selbst wenn, du hättest ja doch nicht viel, was du hineinstecken könntest. Heute Nacht bekomme ich Penge zurück… und dann kannst du zusehen, was ich mit ihm mache! Sieh einfach zu, Krüppel!« »Ich werde… Du wirst niemals…!« Aber Jem kam nicht dazu, mehr zu sagen. Polty gab dem Rollstuhl einen Stoß. Jem bereitete sich auf den unvermeidlichen Sturz vor, aber stattdessen kam der Rollstuhl nach einer Weile zum Stehen. Er hatte dabei den Bau mit den vielen Säulen noch weiter umrundet. Jem betrach207
tete das Bauwerk verzagt. Ein Dachs watschelte vorbei, begleitet von einem hüpfenden Vogel. Jem glaubte, dass es sich um eine Schneeschwalbe handelte. Er seufzte. Rechts und links neben einer Säule saßen zwei Gestalten, die er kannte. Beide trugen Schwarz, und beide saßen mit gekreuzten Beinen da, unbeachtet von den anderen. Der Kleine starrte in eine gläserne Kugel. »Ich kann sie sehen.« »Aber Kleiner«, sagte Jem. »Die Kugel… Ich dachte, du hättest sie verloren – « Rajal unterbrach ihn. »Wen? Wen kannst du sehen?« »Myla. Sie ist hier drin, Raj, ich schwöre, sie ist hier drin.« »Kleiner, das ist nicht real.« »Was ist schon real? Sie ist jedenfalls hier drin.« »Und was macht sie?« »Sie ist wunderschön. Und wieder jung.« »Kleiner, musst du mich quälen?« Traurig spielte Rajal mit dem Amulett an seinem Handgelenk. Und fügte hinzu: »Und Jem? Was ist mit Jem passiert?« »Raj, ich bin hier unten! Kannst du mich – « Der Kleine blickte hoch in die Menge. »Ejjy!« Er sprang auf und lief mit der Kugel in der Hand davon. Rajal seufzte und starrte durch Jems Phantomgestalt hindurch. Zwischen den golden gekleideten Flaneuren tauchten zwei weiß gekleidete Gestalten auf. Die eine trug eine prächtige Kluft, die andere war dürr und unbeholfen. Die Königin trank Champagner. Ihre Stimme klang hoch und schmetternd. »Also wirklich, Diener, ich habe geliebt – « »Eure Königliche Hoheit?«, sagte Bohne. »Wie… wie ist es Euch gelungen, aufzuhören?« »Er ist ein kleiner Hosenpisser, mehr nicht. Ich überlasse ihn Catty – falls ich ihr nicht den Kopf abschlagen lasse, natürlich. Man behauptet, dass seine Beine amputiert werden müssen. Kannst du dir vorstellen, wie Catty seine Beinstümpfe badet, in irgendeinem Landhaus, das sie von einer mildtätigen Seele geschenkt bekommen haben und 208
das irgendwo in einer trüben Provinzstadt liegt? Ich auch nicht. Ach, was war er einmal für ein süßer Junge!« Ein Maulwurf zeigte sich in einem Erdloch, drehte seinen kleinen Kopf herum und verschwand wieder. »Ich würde seine Stümpfe baden«, erklärte Bohne. »Ich meine, wenn er der meine wäre.« »Du bist wohl kaum meine Klasse, Diener. Nein, ich will einen anderen.« »Eine andere Klasse, Eure Majestät?« »Einen anderen Liebhaber, Diener, einen anderen Liebhaber!« Die Königin streckte die Hand aus und schien sich einen goldenen Truthahnschlegel einfach aus der Luft zu pflücken. »Hast du die schon mal probiert? Es sind Stockentenschlegel, wirklich köstlich. Was ist mit diesem Polty? Ein Bild von einem Mann, hab ich Recht? Nicht so eine schlaksige Bohnenstange wie du. Er sieht sehr… stattlich aus.« »Ich… ich glaube, er ist bereits vergeben, Eure Majestät.« »Vergeben? Diener, hast du vergessen, wer ich bin? Ach, was muss ich nur ertragen! Wo steckt bloß meine Kammerzofe, wenn ich sie brauche? Das möchte ich gern einmal wissen!« Bei diesen Worten drehte sich die Königin nach links und nach rechts und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. Rajal schien allen Mut zusammenraffen zu müssen, um die beiden zu unterbrechen. Er drehte das Amulett an seinem Handgelenk, schluckte und trat vor. Und versank in dem Maulwurfshügel. Bohne bemerkte es nicht, die Königin schon. Aber sie gähnte nur. »Hm… Und was ist mit dem roten Burschen?«, fragte sie »Mit welchem, Eure Majestät?« »Dem großen, Diener! Du kannst mir schon etwas Geschmack zutrauen!« »Ich… ich denke, das ist der König… Ich meine, des Königs Bru-« »Sprich nicht über meinen Ehemann zu mir! Ah, aber er ist ein sehr gut aussehender Kerl, hab ich Recht?« 209
»Sei… Seine Majestät? Aber natürlich!« »Nicht der, Diener! Sein Bruder! Warum ist eigentlich nicht er König?« »Es hat… einen Krieg gegeben, um dafür zu sorgen, dass er es nicht blieb, Eure Majestät. Tausende sind gestorben – « Jeli verdrehte die Augen. »Diener, was kümmern mich Tausende. Ich brauche eine Ablenkung, hab ich Recht?« Die Stimmen redeten weiter, drangen in Jems Bewusstsein ein und vermischten sich rasch mit zahllosen anderen Stimmen. Gläser klirrten, und irgendwo spielte Musik. Jem schaute sich um, betrachtete das glänzende Gold, die strahlende Sonne. Es war wie Honig, wie klebriger Honig. Ihre Ohren sind offen, dachte er, aber sie können nicht hören; ihre Augen sind geöffnet, aber sie können nicht sehen. Sie glauben, dass das Leben einfach so weitergeht und dass nach heute alles so bleibt, wie es war. Sie sind taub, und sie sind blind, und sie sprechen, sind aber dumm. In dem Augenblick hörte Jem den Leierkasten, und jemand packte seinen Stuhl von hinten. Er schrie protestierend auf. Die Gäste waren plötzlich verschwunden, und er bewegte sich immer schneller. Der Leierkasten spielte ebenfalls immer schneller. Rasch umrundete er den torlosen Tempel, die blitzenden Säulen fegten an ihm vorbei. Bäume und Blumen schienen vor seinen Augen zu verschwimmen. Irgendwo im Park befand sich eine Blumenuhr. Ihre Zeiger drehten sich vor seinem Gesicht. Jem war begeistert, er glaubte, gleich abzuheben, zu fliegen… doch dann brandete Gelächter auf, als der Rollstuhl sich überschlug Würde wenigstens sie ihn sehen? Jem lag am Fuß eines sanften Hangs unter der mächtigen Eibe. Auf der Spitze des Hügels war Cata. Er flüsterte ihren Namen, rief ihn laut. Sie hockte im Gras, und ihr schwarzes Kleid war zerknittert. Der alte Wolveron stand neben ihr, in seine braunen Gewänder gehüllt, und beugte sich zu seiner Tochter herunter. Gesprenkeltes Sonnenlicht 210
drang durch das Blätterdach, und das Muster aus Schwarz, Weiß und Gold flimmerte beinahe schmerzhaft vor den Augen. Kaninchen, Füchse und Dachse umringten sie, es gab sogar ein nervöses Rotkehlchen und ein Eichhörnchen, das an einer NUSS knabberte. Tränen rannen über Catas Gesicht. »Nein, Papa…« Der alte Mann umarmte sie und drückte sie fest an sich. »Liebes Kind, ich kann nichts tun. Zu lange schon ist der Teil von mir gestorben, der einst Silas Wolveron war. Warum sonst hätte ich so zäh an diesem Selbst festgehalten, wenn nicht, weil ich wusste, dass du noch einmal zu mir kommen würdest? Aber dies, mein Kind, ist das Ende. Sei nicht traurig, alles muss vergehen, und du liebst einen anderen, was jedermanns Tochter irgendwann tut.« »Papa, sag das nicht! Du warst der Einzige – « »Vergessliches Kind! Ich sage auch, dass diese Illusion vergehen wird. Und du wirst wieder das sein, wozu du geboren wurdest, das schwöre ich dir!« Die Tränen flossen weiter, und die Liebkosungen hörten nicht auf, bis der alte Mann sich langsam von seiner Tochter freimachte. Er griff nach seinem Stab und stand langsam auf. Seine Stimme klang hohl, als er wiederholte, dass alles vorbei sei. Dass nun die Zeit gekommen wäre, in der er wieder seine ewige Identität als Vater-Priester Ir-Ion annehmen müsste. »Aber Papa… lass mich… lass mich dich doch so kennen lernen!« »Tochter, bald wird es nichts mehr zu kennen und zu wissen geben.« Vergeblich versuchte Cata aufzustehen, aber es schien, als wäre auch sie verkrüppelt. Die Tiere um sie herum sahen beunruhigt zu. Sie schienen sie anzuflehen, ihren Verstand mit dem ihren zu vermischen, ihre Kräfte aufzunehmen. Aber es nützte nichts. Sie sank zu Boden und blieb reglos liegen. Jem grub seine Finger in das Gras und zog sich mühsam den Hügel hinauf, während er die Beine hinter sich her schleppte. Wenn er ihr nur näher käme, ein bisschen näher! Dann könnte er Cata umarmen, das wusste er, und dann würde sie ihn vielleicht auch wieder sehen 211
können. Er sank zurück. Ein Karpfen mit silbrigen Schuppen fiel aus den Zweigen. Er schüttelte das Wasser ab, richtete sich auf, wedelte mit den Flossen und glitt dann in ein Loch im Boden. Träumerisch stützte Jem seinen Kopf auf den Unterarm und ließ den Blick durch den Park unterhalb der mächtigen Eibe schweifen. Er sah Umbecca, die auf ihn zuwatschelte. Die fette Frau schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Hinter ihr sah Jem die goldgekleideten Gestalten, die nur halb real um den strahlenden Tempel spazierten. Dann schien es ihm, als würden sie schweben, wie Geister durch die bunten Glasfenster verschwinden. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, eine Eule flog auf den Rasen und rollte sich zu einem Ball zusammen, ein Bär kugelte sich hin und her, ein Otter stemmte sich aus dem Bach, schüttelte sich und stieg dann in die Luft empor, wobei er heftig mit seinen kleinen Tatzen ruderte. Irgendwo schlug eine Glocke. Die Zeit lief ab. Der alte Wolveron drehte sich zu Jem um. Verzweifelt starrte Jem in das verstümmelte Gesicht. Die Stimme des alten Mannes klang leise und zitterte, wie die Fische, die in den Zweigen des Baumes schwammen. »Denk an das, was du bist, mein Sohn… Erinnere dich an das, was du immer gewesen bist.« »Ich… ich war der Schlüssel zum Orokon«, sagte Jem verständnislos. »Das bist du noch… und wirst es auch immer sein.« »Aber Toth… und Polty…« »Mein Sohn, weißt du nicht, was dich zum Schlüssel des Orokon gemacht hat? Dich, und keinen anderen? Dich, und nicht Poltiss?« Der alte Mann sagte nichts mehr, sondern legte seinen Stock in den Rachen des Wald-Tigers, der gerade erst hinter einem Baum aufgetaucht war. Dann nahm der alte Wolveron Jems Gesicht zwischen seine Hände und hob ihn hoch. Er küsste ihn auf die Augen und ließ ihn dann wieder zu Boden gleiten. Als Jem langsam in das weiche Gras zurücksank, fühlte 212
er etwas Hartes, Metallisches auf der Zunge. Er öffnete den Mund. Es war die Münze des Harlekins. »Papa!«, rief Cata. »Papa, verlass mich nicht…!« Aber der alte Mann war bereits verschwunden. Dann schlug die Glocke erneut, und alles andere verschwand ebenfalls.
Von irgendwo kam ein Summen. Das sich allmählich zu einem Mantra verdichtete. Licht drang durch Jems Augenlider, und er sah die Farbmuster der Fenster purpurn, grün, rot, blau und golden auf dem Steinboden leuchten. Er blickte hoch und drehte seinen Kopf zurück. Die Träger standen hintereinander aufgereiht auf ihren Vorsprüngen. Sie sahen noch prächtiger aus als zuvor. Mit ihren kostbaren Gewändern hätte man sie auch für goldene Vögel halten können, die auf vielen Stangen übereinander hockten, oder für eine Galerie mechanischer Frauen und Männer, die auf den Regalen eines fantastischen Spielzeugladens standen. Es mussten Tausende von ihnen sein, Kreis um Kreis, Etage um Etage. Jem dagegen trug immer noch sein blaurot gestreiftes Nachthemd. Er saß wieder in seinem Rollstuhl, und Tante Umbecca stand neben ihm. Sie keuchte ziemlich vernehmlich. Aber das konnte doch nicht sein! Es musste ein Irrtum sein, oder nicht? Er blickte hinunter auf den freien Platz auf dem Boden. In dem bunten Licht der Fenster schwebten die Staubpartikel, und im untersten Bereich standen, wie Schmetterlinge im gleichen Abstand zueinander aufgespießt, die Fremden, die an diesen verzauberten Ort gekommen waren. Die rote Gruppe bestand aus Hul, Bando, Nirry, Landa und Ejlands rechtmäßigem Herrscher, Ejard Rot. Die schwarze Gruppe bildeten Cata, Rajal, der Kleine und Tishy Aber irgendjemand fehlte in der schwarzen Gruppe. Als er sich umsah, bemerkte Jem, dass er bei seinen 213
weiß gekleideten Feinden eingeordnet worden war. Polty hatte sein flammend rotes Haar entblößt. Ferner waren Bohne, Umbecca, Jeli und Jelis sabbernder Ehemann anwesend, der immer noch ein Glas in der Hand hielt. Sein ehemals weißes Gewand war noch immer blau. Das Mantra dröhnte weiter. Jem biss sich auf die Lippen. Die Münze des Harlekins war aus seinem Mund verschwunden. Sie lag auch weder in seinem Schoß noch in seinen Händen. Spielte das jetzt noch eine Rolle? Er umklammerte die Räder des Rollstuhls. Er wollte den gefliesten Kreis überqueren, wollte bei Cata sein, bei seinen Freunden, während die Welt um ihn herum untergingDoch plötzlich fühlte er sich fürchterlich matt und erschöpft und sank zurück. »Geht es dir gut, mein Lieber?«, flüsterte Umbecca und warf einen wissenden Blick auf Jems Schoß. »Wir hatten doch keinen weiteren… Unfall mehr, oder? Deine armen Nerven… Du bekommst gleich noch etwas Schlafsirup, mein Junge!« Eine Hand zerzauste ihm das Haar. »Weißt du, Jem, ich freue mich so sehr auf deine kleine Operation… Ohne diese ekligen Beine bist du ganz leicht. Ich kann dich dann in die Arme nehmen wie ein Baby! Denk dir nur, Jem, du bist dann mein eigenes, kleines süßes Baby!« »Tante«, sagte Jem und seufzte. »Kann mich noch jemand anders sehen?« »Ich glaube nicht, Liebchen. Wer würde dich auch schon sehen wollen?« Zitternd umfasste Jem die Räder des Rollstuhls fester. Gewaltsam warf er sich plötzlich nach vorn, rollte über den Boden auf Cata zu. Ja, er würde sie zwingen, ihn anzusehen! Doch stattdessen geriet der Stuhl unvermittelt ins Rutschen, als hätte eine unsichtbare Kraft ihn gepackt. Er wurde auf das kreisförmige Parkett zurückgeschleudert, beugte sich zitternd vor und stand jetzt isoliert genau in der Mitte zwischen Poltys Gruppe und der von Cata. Bemerkte ihn denn jetzt jemand? Konnte ihn wenigstens seine Tante noch sehen? 214
Das Mantra schwoll an, und das Gold der Träger glitzerte hell. Jetzt wurde es hinter den Fenstern dunkler. Cata schnappte nach Luft. Ejard Blau fiel das Glas aus der Hand, als sich die Farben zu einer Form zusammenfügten, einer menschlichen Gestalt. Der alte Wolveron schwebte über dem Boden, den Stock in der Hand. Eine Glocke aus hellem Licht schien ihn einzuhüllen, während der Rest des gewaltigen Tempelraums in völliger Finsternis lag. Cata tat einen stolpernden Schritt nach vorn. »Papa… Du bist zurückgekommen!« Es krachte, laut wie ein Donnerschlag, und Cata sank auf die Knie. Nirry schrie auf und wollte ihr zu Hilfe eilen, aber Landa hielt sie zurück. Polty schnaubte, stampfte auf und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Dummes Mädchen… Poltiss, bitte!«, fuhr Umbecca ihn an. Die fette Frau befand sich vollkommen im Bann dieser Erscheinung. Sie hatte nur Augen für Silas Wolveron, wenn es denn Wolveron war Jem knirschte mit den Zähnen. Das Mantra hatte sich mittlerweile zu einem wilden Geschrei gesteigert, das laut durch die Dunkelheit dröhnte. Er presste die Hände auf die Ohren, aber es nützte nichts. Überall um ihn herum sanken seine Gefährten auf die Knie, wie erschreckte Anhänger vor einer erzürnten Gottheit. Die Wolveron-Gestalt hob die Hand. Eine dröhnende Stimme erschallte, die von den steinernen Mauern verzerrt zurückgeworfen wurde. TRÄGER, SCHWESTERN UND BRÜDER, VEREINIGT EUCH. SEIT ÄONEN HABEN WIR AUF DIESEN AUGENBLICK GEWARTET, AN DEM DIE LAST DES SEINS ENDLICH VON UNS GENOMMEN WIRD; SEIT ÄONEN SEHNEN WIR UNS DANACH, DER WELT ZU ENTKOMMEN UND DIE BANDE ZU DURCHTRENNEN, DIE UNS AN SIE FESSELN. UNSERE WACHE IST ZU ENDE. DIE TRANSZENDENZ LIEGT ENDLICH IN UNSERER REICHWEITE: ENDLICH KÖNNEN WIR UNS ERHEBEN UND WIE VÖGEL INS REICH DES UNERGRÜNDLICHEN EINGEHEN. WIR DÜRFEN ES NICHT MEHR AUFSCHIEBEN. DAS IST DER MOMENT, IN DEM WIR ALLES GEWINNEN. LASST DIE AVATARS VORTRETEN,
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AUF DASS WIR DEN KRISTALL HERGEBEN, DEN WIR SO LANGE GETRAGEN HABEN, UND SO DIE VEREINIGUNG DES KREISES DES OROKON ERLAUBEN. GESEGNET SEI LORD AGONIS! TRÄGER, SCHWESTERN UND BRÜDER, LEBT WOHL!
Jem zitterte am ganzen Körper, und sein Nachthemd war schweißnass. Er würgte und war fest davon überzeugt, dass er im nächsten Moment zuckend zu Boden fallen würde. Polty stand mit einem lauten Grunzen auf. Er straffte die Weste seines Anzugs, sog vernehmlich die Luft ein und strich sich sein unordentliches Haar zurück. Langsam gewann er an Zuversicht. Er grinste, er ließ seine Fingerknöchel knacken und wippte leicht auf den Fußballen. Jem hörte einen dumpfen Schlag und ein Huschen Er sah hoch und bemerkte die Lilane, die sich hinter den Fenstern versammelten. Natürlich! Es wurde Zeit. Der fünfte Vorbeiflug des Vogels des Nicht-Seins musste unmittelbar und unausweichlich bevorstehen. Und jetzt fing der wahre Schrecken erst an. Polty trat in die Mitte des Kreises. Seine vier Gefährten bauten sich wie eine Phalanx aus Wachen hinter ihm auf. Einer nach dem anderen legte seine Hand auf sein Herz, und über ihren Herzen glühte es auf. Jem wollte die Hände vors Gesicht schlagen, zwang sich jedoch, hinzusehen, zwang sich, seine vernichtende Niederlage in ihrer ganzen Vollständigkeit zu verfolgen. Auf der dürren Brust von Aron Throsh, den man Bohne nannte, hing der Kristall, den Jem einst getragen hatte. Ihm traten Tränen in die Augen. Der purpurne Kristall war der erste, den er gefunden hatte, in einem Labyrinth unter dem Tempel von Irion. Sehnsüchtig betrachtete er den dunklen Stein, der einst von Orok, dem Vater der Götter, voller Wut in den Himmel geschleudert worden war. Wie lange hatte der Kristall in seinem Versteck geruht und auf den verkrüppelten Jungen gewartet, der dazu bestimmt war, sein Entdecker zu sein, und den er mit der Fähigkeit zu gehen belohnt hatte? Wenn Jem ihn nur wieder in seine 216
Gewalt bekäme, diesen großartigen, glühenden Kristall des Koros! Jem strömten die Tränen mittlerweile ungehemmt über das Gesicht, aber vor sich sah er durch den Tränenschleier einen grünen Nebel. Tante Umbecca war die Quelle des Lichts, und Jems Trauer wich blanker Wut. Wie konnte Umbecca besitzen, was Cata gehört hatte? Auf dem gewaltigen Busen seiner Tante lag der Kristall der Viana, der Göttin der Erde, den Jem erst am Ende seines Kampfes mit dem König und der Königin der Schwerter aus seinem Versteck in Zenzau hatte befreien können. Aber hier standen jetzt ein anderer König und eine andere Königin. Wie als einen Kontrast zu seinem blauen Gewand trug der heruntergekommene Herrscher von Ejland den roten Kristall, der einst von dem Kleinen bewacht worden war. Jem wischte sich die Tränen aus den Augen. War denn Ejard Blau, der verhasste Usurpator, würdig, den Kristall des Feuergottes Theron zu tragen, der einmal in einem fernen Land das Feuer der Heiligen Flamme gespeist hatte? Und sollte Jeli, Catas treulose Freundin, etwa den Kristall beherrschen, den Jem als letzten unter so großen Entbehrungen errungen hatte, den Kristall der Meeresgöttin Javander? Jems Knöchel wurden weiß, so fest umklammerte er die Reifen seines Rollstuhls. Sie waren die Avatars, die Verkörperungen der Götter! In einer arroganten Persiflage eines Bittenden hob Polty die Arme und trat noch näher an den alten Wolveron heran. Die von einer Robe umhüllte Gestalt ihrerseits streckte die Hände aus, als wollte sie all ihre goldenen Schwestern und Brüder umschließen, was natürlich unmöglich war. Cata wollte verzweifelt vorstürzen und »Papa! Papa, nein!« rufen. Aber dafür blieb keine Zeit. Überall in dem Rundbau hoben die Goldenen die Arme, und aus ihren Händen strömte die Macht. Ein Brüllen brandete auf, als würden Hunderte, Tausende mächtige Ströme gegen ihre Gestade schlagen. Die Macht strömte in die Sphäre aus Licht. Mittlerweile war die Gestalt Wolverons unsichtbar ge217
worden, aber aus einer endlos scheinenden Ferne drang ein triumphierender Schrei bis zu ihnen. Die Fremden konnten nur hilflos zusehen, waren auf ihren Plätzen wie angewurzelt. Eine Weile schien es so, als würde dieses Strömen, dieses Wogen, dieses gewaltige Fließen der Macht niemals aufhören. Dann jedoch, endlich, zuckte ein greller Blitz auf, und die Kugel aus Licht verwandelte sich in eine Säule, die golden glänzend durch die Decke drang. Jem saß staunend in seinem Stuhl. Seit er an diesen mystischen Ort in den Bergen gekommen war, hatte er sich oft gefragt, wo sich der Kristall wohl verstecken mochte. Jetzt erkannte er, dass er zerstreut gewesen war. Er war nicht an einem einzigen Ort verborgen gewesen, sondern hatte stattdessen aufgeteilt in winzige Stücke in jedem einzelnen goldenen Träger geruht. Und nun war das, was zerstreut gewesen war, wieder vereint. Die Träger waren verschwunden, ihr Anführer war verschwunden, doch was zurückgeblieben war, was die Wolveron-Gestalt zurückgelassen hatte, war der fünfte und letzte der Kristalle. Er glühte mit einer Brillanz, die selbst die Sonne beschämt hätte, und seine Schönheit und seine Pracht ließen den purpurnen, den grünen, den roten und den blauen Kristall verblassen. Nun begann der goldene Kristall langsam und hoch über ihren Köpfen zu rotieren.
27. Triumph des Willen Die Fenster zersplitterten. Die Lilane kreischten, und über der zerstörten Kuppel sahen sie den gewaltigen Schatten des Vogels des Nicht-Seins. Poltys Haar brannte, und sein weißer Anzug verfärbte sich langsam purpurn. »Er gehört mir!«, schrie er. »Er gehört mir!« Er versuchte den Kristall mit einem Sprung zu packen, aber eine unsichtbare Kraft warf ihn zurück wie einen Gummiball, der von einem Hindernis abprallt. »Was passiert da? Toth, was geht hier vor?« 218
Der Kristall warf merkwürdige, spiralförmige Muster aus Licht auf den Boden. Wütend sah sich Polty um. Erneut versuchte er, den Kristall zu packen, und erneut wurde er zurückgeworfen. Es dauerte einen Moment, bis Polty verstand. »Mist!«, knurrte er. »Ich will diesen Kristall mit einer so starken Begierde… Wie ich danach dürste, ihn zu packen… so wie ich danach dürste, Penge wiederzubekommen! Denn in dem Moment wird auch Cata mir gehören, und zwar für immer! Wie könnte ich noch einen Moment warten? Was, ich soll dem Pfad folgen? Was ist das für ein Spiel? Aber welche andere Möglichkeit bleibt mir, als ihm zu folgen?« Er gewann mühsam wieder die Kontrolle über sich selbst. Er bellte Befehle. Gehorsam verschränkten hinter ihm Jeli, Ejard Blau, Umbecca und Bohne die Hände und marschierten über den spiralförmigen Pfad, selbst als sich der Boden unter ihren Füßen immer weiter ausdehnte und die Entfernung immer größer wurde, die sie zurücklegen mussten. Die Schwerkraft stieg ebenfalls an. Jeder Schritt, den sie taten, fiel ihnen schwer, und je weiter sie gingen, desto schwieriger wurde es. Es war, als würden sie sich gegen die Ordnung der Dinge wehren. Und dennoch brannte der Kristall weiter, schien sie zu verhöhnen, und immer noch schwebte weit über ihnen der Vogel des Nicht-Seins, der diesmal nicht weiterflog, sondern auf der Stelle verharrte. Die Zeit dehnte sich. Die Lilane kreischten. Dissonanzen drangen von irgendwo an die Ohren der Fremden. Langsam, ganz langsam gingen Polty und seine Gefährten weiter, wie Gefangene, die schwere Ketten schleppten. Aber die Kraft, von der die falschen Avatars gebunden wurden, schien in den anderen Kräfte freizusetzen. Die ganze Zeit hatten die Mitglieder der schwarzen und auch die der roten Gruppe hilflos am Boden herumgezappelt wie Insekten, die man mit Nadeln festgesteckt hatte. Doch jetzt richtete sich Landa auf die Knie auf, faltete die Hände zum Gebet und rief ihre Göttin an. Bando schlug wütend durch die Luft, als müsse er sich aus einem unsichtbaren Netz befreien. Der 219
Kleine kämpfte ebenfalls mutig. Lilane flogen um ihn herum, und es gelang ihm, sie zu vertreiben. Aber als er zuschlug, fiel ihm etwas aus der Tasche. Er schrie auf. Es war die Kugel des Sehens. Sie glühte und schwebte zur Decke empor. Die Lilane stießen kreischend zusammen und zogen sich hastig zurück. Jem konnte nur sehnsüchtig zusehen. Gab es vielleicht doch noch Hoffnung? Hoch über ihnen verdunkelte sich der Schatten des Vogels des Nicht-Seins. Der Tempel erbebte in seinen Festen. Im gleichen Moment klafften Spalten im Boden auf, die rasch zu gewaltigen Abgründen wurden und im Zickzack über den spiralförmigen Pfad liefen. Polty schrie seinen Avatars heiser Befehle zu. Ejard Blau blieb sabbernd stehen, und Umbecca wäre beinahe in einen der gewaltigen Schlünde gestürzt. Jem rollte in seinem Stuhl gefährlich hin und her. Die Kugel des Kleinen flog durch die Luft und umkreiste den Kristall wie ein gehorsamer Planet. Dann passierte es. Rajals Amulett erwachte plötzlich zum Leben. Ein helles Licht lief wie Feuer seinen Arm empor. Lilane stürzten sich auf ihn, aber er schlug sie mit seinem sengenden Arm in die Flucht. Dann schaute er sich wild um; anscheinend hatte sich sein gesamtes Blickfeld auf einen einzigen Punkt verengt. Er umklammerte das Amulett und rief immer wieder einen Namen, den einen Namen, von dem er ganz und gar besessen zu sein schien. »Aron!« Bohne befand sich auf dem glühenden Pfad und blickte jetzt zurück. Er stolperte und blinzelte verwirrt. Seine Miene verriet seine Zweifel, und er schluckte schwer. Mehr Aufmunterung brauchte Rajal nicht. Die Schwerkraft, die die falschen Avatars aufhielt, zeigte bei ihm keinerlei Wirkung. Er umklammerte weiterhin das Amulett und stürmte vor, sprang über die Spalten und Abgründe, die sich willkürlich auftaten und wieder schlössen, nur um dann woanders in dem sich immer weiter ausdehnenden Boden aufzuklaffen. Schließlich betrat Rajal den spiralförmigen Pfad. 220
Polty stellte sich ihm entgegen. »Weg da, Vaga-Jüngelchen…!« Doch diese beleidigenden Worte feuerten Rajal nur noch mehr an. Mit einem Mut, den er vorher noch nie bei sich erlebt hatte, griff er Polty an. Sein Amulett glühte… Aber Polty war zu stark Und die merkwürdige Schwerkraft machte seine Faust so schwer wie einen Stein. Er versetzte Rajal einen mächtigen Hieb, der diesen nach hinten schleuderte. Polty warf lachend den Kopf in den Nacken. Rajal fiel derweil schmerzerfüllt zu Boden und wäre beinahe in einen gähnenden Abgrund gestürzt. Mit seinem glühenden Arm konnte er sich gerade noch festhalten und aus dem Schlund herausklettern. Doch Polty stürzte sich auf ihn, was in seiner Langsamkeit grotesk aussah. »Du willst mich besiegen? Ich werde dich töten, Vaga!« Langsam trat er auf den glühenden Arm, und ebenso langsam trat er gegen Rajals Kopf. Keuchend fiel Rajal wieder in den Abgrund zurück und hielt sich verzweifelt fest. Nur sein glühender Arm verhinderte seinen Absturz. Aber allmählich verblasste das magische Licht. Nur noch kurze Zeit, wenige Augenblicke, dann würde Rajal abstürzen. »Nein«, murmelte Jem. »Bitte nicht…« »Rajal!« Der Schrei klang wie eine Fanfare. Bohne hatte ihn ausgestoßen. Mit verzerrtem Gesicht riss er sich den purpurnen Kristall von der Brust. Er pulsierte in seiner Faust und zuckte, als wollte er sofort zu seinem rechtmäßigen Träger zurückkehren, wenn er dafür nur die geringste Chance bekam. Bohne schwitzte und zitterte. Seine Finger lockerten ihren Griff. Polty wandte sich um, und seine Augen glühten. »Bohne, du Verräter! Nein, du kannst nicht gegen mich kämpfen…!« »Ich… ich liebe ihn, Polty! Ich kann nicht zulassen, dass du das tust!« »Liebe? Was, einen Vaga? Und dazu noch einen Jungen? Bohne, du widerst mich an. Ich habe immer schon ge221
dacht, dass du dich weibisch verhältst, und jetzt wird mir erst klar, was für ein Weib du eigentlich bist! Wage es, den Kristall zu werfen! Dann schneide ich dir das Rückgrat heraus! Dein Schicksal ist es, mir zu gehorchen, hast du verstanden?« Bohne stieß die Worte hervor, als bereite jedes einzelne ihm unsägliche Qualen: »Nein, Polty, so war es einmal. Ich weiß, dass ich ein Narr war, aber jetzt bin ich keiner mehr. Ich habe ein eigenes Leben und auch einen eigenen Verstand. Du hast mich mein ganzes Leben lang beherrscht, aber jetzt lasse ich mich nicht mehr unterdrücken!« Das Glühen in Rajals Arm wurde schwächer und erlosch beinahe. »Der Kristall«, stöhnte er. »Aron, der Kristall…« »Bohne!« Poltys Stimme klang wie Donner. Nur die Schwerkraft hinderte ihn daran, zu seinem Offiziersburschen zu laufen und ihn zu verprügeln. »Ich sage dir, Bohne, du gehörst mir, für immer mir…!« »Nein, Polty… nicht mehr…« Die Finger lösten langsam ihren Griff um den Kristall. »Aron… Aron, bitte!« Polty sank zu Boden, gebeugt von der Schwerkraft. »Ach, Bohne, du weißt ja gar nicht, wer ich in Wirklichkeit bin! Hast du es denn niemals vermutet? Warum, glaubst du wohl, hat mich die alte Wynda so gut behandelt, nachdem ich von Goodman Waxwell weggelaufen bin? Warum, glaubst du, hat deine Mutter mich so geliebt? Oh, ich wusste es selbst lange nicht. Aber Bohne, sie war auch meine Mutter! Verstehst du, Bohne? Wir sind Brüder, Bohne…!« Rajals Glühen flackerte. »Aron, ich sterbe… Aron, ich… ich liebe dich…!« Tränen strömten Bohne – oder besser Aron – über das Gesicht. Aber in dem Augenblick keimte auch eine seltsame Kraft in ihm auf, und er schleuderte den Kristall mit aller Kraft von sich. Der purpurne Stein flog in einem hohen Bogen durch die Luft. Brüllend schwang sich Polty herum, um ihn aufzufan222
gen. Aber Rajal war schneller. Er streckte den Arm aus, gerade in dem Moment, als dessen Glühen erlosch und er unweigerlich abstürzen musste Er fing den Kristall auf. Jubelnd schoss Rajal empor in die Luft, getragen von einem magischen Stoß, um seinen Liebsten zu retten, der auf dem Spiralpfad zusammengesunken war. Und er kam gerade noch rechtzeitig, bevor Polty ihn mit vernichtenden Strahlen aus seinen glühenden Augen versengen konnte. Landa sprang voller Freude auf die Füße. Ihr Gewand war plötzlich grün! Es gab Hoffnung, es musste einfach Hoffnung geben! Doch über ihnen schlug der gewaltige Vogel des NichtSeins höhnisch mit den Flügeln. Im gleichen Moment stürmte König Ejard Rot vor, um seinen taumelnden Bruder anzugreifen. Etwas warf ihn jedoch zurück, aber es war keine menschliche Hand. Eine merkwürdige Kraft hinderte ihn, als wären die beiden Könige gleichgepolte Magneten. Der Blaue König duckte sich, lachte dann jedoch wie von Sinnen, als sein Bruder unkontrolliert durch die Luft sauste. Ejard Rot lag keuchend auf dem Boden. Bando trat hastig neben ihn, um seinen Herrn zu schützen. Doch der Rote König stieß ihn verächtlich zur Seite. Er sprang auf und riss seine Pistole heraus. Der Boden hob und senkte sich. Erneut wollte der König angreifen und den Kräften der bösen Magie trotzen. »Bob, nicht…!«, rief Bando. Es war fast, als wären sie wieder draußen auf dem Wrax-Weg, der König war Bob Scarlet und Bando sein Gefolgsmann, der geschworen hatte, ihn zu verteidigen und vor allem zu beschützen. Der alte Rebell sprang hoch, weil er seinen Meister vor dem Tod bewahren wollte. Ein Schuss peitschte auf. Falls der König erwartet hatte, dass er seinen Bruder hier in diesem magischen Raum erschießen konnte, wo die Naturgesetze um ihn herum außer Kraft gesetzt waren, irrte er sich. Die Kugel prallte zurück, und es war Bando, der zu Boden fiel und sich die Brust hielt. 223
Hul stürmte an die Seite seines Gefährten. »Nein, nicht Bando…!« Nirry schlug die Hände vors Gesicht. »Die Jungen, die armen Jungen…« Aber hier gab es keine Hoffnung mehr. Bandos Brust war zerfetzt. Er starb in Hüls Armen. Doch nun überschlugen sich die Ereignisse, und für Trauer blieb keine Zeit. Erneut schlug der Vogel des NichtSeins donnernd mit seinen gewaltigen Schwingen. Die zähe Schwerkraft war verschwunden, und jetzt konnten sich alle leichter bewegen. Während Jem in seinem Rollstuhl weiterrollte, fühlte er plötzlich ein Zucken und Stechen in seinen Beinen. Er war Cata mittlerweile sehr nahe. Sie lag immer noch stöhnend auf dem Boden. Sofort drehte sie ihm ihr Gesicht zu. Sie schwebte hoch, und Erkennen zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Es war allerdings Nirry, die als Erste begriff, was als Nächstes geschehen musste. Sie wischte sich entschlossen die Tränen weg, sprang auf den spiralförmigen Pfad und stürzte sich, ja, flog beinahe auf die überraschte Umbecca. »Gib mir den Kristall, du fette alte Kuh!« Erneut mischte sich Polty ein und wollte sich auf Nirry stürzen, aber bevor er sich’s versah, rang Landa mit ihm, trat ihn, schlug nach ihm und trieb ihn schließlich zurück. »Miststück! Miststück!« Polty taumelte und bedeckte seine Augen. Umbecca war wütend. Ihre fetten Hände umschlossen Nirrys Hals. Als Cata dies sah, stürzte sie sich wild entschlossen auf ihre böse Tante, schlug sie, trat nach ihr und riss an den plumpen, mörderischen Händen. Aber Umbecca war stark, so stark! Ein Abgrund öffnete sich neben ihnen. Die Frauen rangen und taumelten in der Luft. Dann war Nirry frei, und Umbeccas massiger Körper hüpfte wie ein Ball herum und stürzte in den gähnenden Schlund, genau in dem Moment, als die Schwerkraft wieder einsetzte Umbecca hielt sich mit aller Kraft fest, aber ihre Stärke reichte nicht, um ihr gewaltiges Körpergewicht hochzustemmen. Jämmerliche Schreie drangen aus ihrem kleinen 224
Mund. »Catayane… Nirry! Rettet mich, rettet mich! Denkt nur an all das, was ich für Euch getan habe! Meine Liebchen, meine Schätzchen…!« Jeli eilte herbei. Die Königin wusste nicht, welchem Impuls sie gehorchte, aber anscheinend rührte sich doch so etwas wie Mitgefühl in ihr. Plötzlich wusste sie, wie sehr sie ihre Tante liebte. »Rettet sie! Oh, so rettet sie doch…!« Aber alles, was Cata retten konnte, war der grüne Kristall, den sie ihrer Tante von ihrem enormen Busen riss, bevor die fette Frau in dem gähnenden Schlund versank. Der Abgrund schloss sich, und Umbecca war fort. Neue Kraft durchströmte Jem. Aber sie reichte immer noch nicht. Er erhob sich, brach jedoch sofort wieder zusammen, während sein Stuhl wegrollte und in einen klaffenden Abgrund stürzte, der sich gerade aufgetan hatte. Mittlerweile wirbelte Polty entsetzt herum. »Tante Becca! Nein, nicht Tante Becca…!« Er stieß Landa und Nirry beiseite, packte Cata und schüttelte sie, schlug sie. Tränen rannen ihm über die Wangen, und Speichel flog aus seinem Mund. »Miststück! Du Miststück, warum hast du…?« Catas Haar flog heftig hin und her, während sie sich verzweifelt wehrte. Die ganze Zeit hielt sie dabei den grünen Kristall in der Hand. Aber jetzt wirbelten die Lilane vor und zurück, folgten dem Spiralpfad, und erneut übernahm Polty die Führung. Er fluchte und zerrte Cata hinter sich her, während er durch die verschiedenen Kraftfelder stürmte. Er musste den goldenen Kristall erbeuten, koste es, was es wolle! Wütend bedeutete er seinen übrig gebliebenen Avatars, ihm zu folgen. Ejard Blau trat nervös vor. Seine Frau war zusammengebrochen und betrauerte schluchzend den Verlust ihrer Tante. Der Blaue König packte grob ihre Hand und zerrte sie auf die Füße. Sie mussten Poltiss folgen! Der Vogel des Nicht-Seins schwebte immer noch drohend über ihnen. Und die Kugel des Kleinen umkreiste 225
nach wie vor den goldenen Kristall, doch jetzt begann die Kugel zu flackern und zu pulsieren. Sie bewegte sich schneller und schlug eine Bresche in die Lilane, gerade in dem Moment, in dem Ejard Orange vor dem Blauen König auftauchte. Der König stolperte, schrie auf, taumelte und verlor dabei seinen Kristall. Sofort war der Kleine zur Stelle und fing den glänzenden roten Stein auf. Triumphierend sprang er in die Luft. Die Kristallkugel explodierte. Erneut zuckte es in Jems Beinen. Wo die Kugel gewesen war, rotierte jetzt eine weibliche Gestalt in der Luft. Sie war ganz in Blau gekleidet. Es war eine alte, eine uralte Frau, ein verhutzeltes altes Weib. Aber auf ihrem Kopf steckte ein strahlendes Diadem. Das Lichano-Band! Das musste es sein! Mit jeder Drehung schien die Alte einen Zyklus nach dem anderen rückwärts zu durchlaufen und wurde jünger und jünger und wunderschön und noch jünger… Nach wenigen Momenten war sie ein kleines Mädchen. »Aron!«, rief Rajal. »Das ist meine Schwester… Aron, das ist Myla!« Myla griff sich an den Kopf und nahm das Lichano-Band von ihrer Stirn. Sie war von Lichtstrahlen umgeben, und mächtige magische Strahlen zuckten aus ihren Händen. Sie schlugen in die Königin ein. Jeli brach zusammen und bebte krampfhaft, als der blaue Kristall sich losriss und auf Myla zuflog. Myla fing den Kristall auf und hastete davon, fort von dem Kampf, kauerte sich mit dem Kleinen in eine Ecke. Polty schrie trotzig auf. Mit aller Kraft stürmte er auf den goldenen Kristall zu und zerrte die schreiende, sich heftig wehrende Cata hinterher. Aber seine Nemesis war gekommen Jem fühlte, wie die Macht ihn durchströmte. Er rappelte sich schwankend auf, stolperte jedoch nicht mehr, als seine Kraft wieder in ihn zurückkehrte und ihn mit einer freudigen Begeisterung erfüllte. Das Licht um ihn herum brannte und zuckte. Sein blondes Haar strahlte, und sein Nachthemd blähte sich auf. 226
»Der Krüppel? Schon wieder?« Polty verzog die Lippen. Jem stürzte auf ihn zu und holte mit der Faust aus. Dann landete sein Hieb in dem verhassten Gesicht. All die Wut auf Polty, die sich in den letzten Jahren angesammelt hatte, war in diesem einen Schlag konzentriert, den er ihm jetzt versetzte. Jedenfalls hoffte Jem, dass es so war, denn im nächsten Moment würde der Feind, dem er sich gegenübersah, nicht mehr Polty sein. Doch Polty war tot. Sein Schädel war gespalten. »Mein Bruder… Bruder…!« Aron wollte zu ihm laufen, aber Rajal hielt ihn zurück. Er umarmte ihn fest, während Aron herzerweichend schluchzte. »Ach, Jem, Jem…!« Cata lief zu ihm. Aber sie hatten keine Zeit. Jem packte ihre Hand, und Hals über Kopf stürmten sie den spiralförmigen Pfad entlang auf den goldenen Kristall zu. Nein, Toth würde nicht triumphieren! In dem Moment donnerte es von oben, und die Wände explodierten und flogen nach außen. Überall flatterten plötzlich die Lilane herum. Jem und Cata stürzten zu Boden. »Der Vogel des Nicht-Seins…!« »Er kommt herunter…!« »Er greift uns an…!« »Warte, er schrumpft…!« Die mächtige Kreatur sank immer weiter herab und verschwand dabei hinter gewaltige Rauchwolken. Der Rauch blähte sich auf, purpurn und erstickend, bis nur noch eine Flammensäule übrig war, die über den hingestreckten Polty zuckte. Dann war die Flamme Poltys Haar, schließlich war sie Polty Und Polty erhob sich, ein verwandelter Polty Seine Kleidung war verbrannt, und sein nackter Körper kam zum Vorschein. Seine großen, schweren Hoden baumelten widerlich unter der verstümmelten Scham. Wie seine Kleidung hatte auch sein Leichnam im Licht der Lilane geglüht. Dasselbe purpurne Licht umhüllte nun den aufrecht ste227
henden Toten, ließ das lockige Haar glühen, es drang aus den Höhlen, in denen sich eigentlich die Augen hätten befinden sollen, drang aus dem Mund mit der schwarzen Zunge, der jetzt willkürlich auf und zu klappte, während Toth durch ihn seine widerlichen Worte sprach. Jem und Cata wanden sich hilflos in seinem Blick. »Narr, Krüppel, du alberner Narr! Hast du tatsächlich geglaubt, du könntest mich überlisten? Hast du wirklich angenommen, du könntest Toth-Vexrah besiegen, das größte aller Kinder Oroks? Alles, was bis jetzt geschehen ist, diente nur meiner Zerstreuung, damit ich mich ein wenig amüsieren konnte, bevor ich endlich nach so langer Zeit das Juwel des Krüppels in meine Hände bekomme, und damit das Schicksal dieser Welt!« Der purpurne Blick hob Jem unwiderstehlich hoch, aber er stand nicht auf seinen Füßen. Seine Beine waren wieder nutzlos und baumelten unter seinem Körper in der Luft. Er schwebte, als hielten ein gewaltiger Daumen und Zeigefinger ihn um seinen Oberkörper gepackt. Cata streckte die Hände aus und hielt ihn fest. »Jem! Nein, Jem…!« Es war sinnlos. Toth kontrollierte ihn. »Geh zum Kristall, Krüppel! Geh jetzt dorthin! Bist du nicht der Schlüssel zum Orokon? Ist das nicht der ganze Grund für dein Sein? Die Grundlage deines Stolzes? Und du darfst ruhig stolz sein, weil du ein treuer Diener von TothVexrah bist! O ja, auf dich habe ich mich die ganze Zeit verlassen, ich habe erwartet, dass du alle Kristalle aus ihrem sicheren Versteck holen würdest. Du warst wirklich sehr nützlich, mein idiotisches Kind! Und jetzt darfst du deinen letzten Akt darbieten, oder soll ich sägen, deinen letzten vor dem Ende? Nimm den Kristall, Krüppel! Ja, streck die Hand aus und nimm ihn! Jetzt!« Jem segelte durch die Luft und konnte nur das ausführen, was Toth befahl. In dem zerstörten Tempel blieb den anderen nichts anderes übrig, als starr vor Entsetzen zuzuschauen, wie Jems Hände sich mechanisch und ohne Freude um das großartige, sonnengleiche Juwel schlössen, das letzte Objekt seiner langen Suche. 228
Toths Gelächter brandete dröhnend auf.
28. Die Ankunft der Götter »Wo… wo bin ich?«, murmelte Jem. Das Lachen war verstummt, das Licht erloschen, und erneut hatte sich die Szenerie um ihn verändert. Der Tempel war vollkommen verschwunden. Möglicherweise befand er sich wieder auf der Lichtung, aber diese Lichtung war bar aller Blumen und Bäume und bestand nur noch aus einem öden Moor. Ein kalter Wind wehte und zerrte an seinem Nachthemd. Der Himmel war bewölkt und purpurgrau. Jem sah hinab und bemerkte den Kristall in seinen Händen, der golden glühte. Er sah seine Beine, die gebogen und verdreht herunterhingen. Er schwebte über einem zerklüfteten, runden Felsbrocken, der sich wie eine Bühne vom Moor erhob. Auf dem Felsen hockte Ejard Orange, der zu ihm hochblickte und miaute. »Stirbst du denn niemals?«, fragte Jem. »Was denn, diesmal reden wir nicht, hm?« Der große Kater miaute erneut. Weit oben am Himmel erschienen menschliche Gestalten. Jede war in einer Blase aus Blau oder Rot gefangen. Diese Blasen schwebten über den Felsen und hüpften und torkelten in dem starken Wind umher. In den roten Blasen saßen Ejard Rot, Hul, Nirry und Landa, in den blauen Ejard Blau, Jeli, Tishy und Aron. Aber wo waren die anderen? Wo war Cata? Jems Blick glitt über das Moor. Auf einem kleinen Felsbrocken sah er einen Fuchs, der ihm merkwürdig bekannt vorkam. Und nicht weit davon erblickte er das Kaninchen, den Dachs, und die Schwalbe, die in der Kälte zitterte. Jetzt kam auch Toth in Sicht. Sein Leichenkörper ging über einen Hügel, der mit Heidekraut bewachsen war. Poltys Leichnam war immer noch nackt und glühte, aber in seiner Hand hielt er einen langen Stab, der aussah wie der eines Schäfers. Es schien, als wollte Toth eine widerliche 229
Parodie von Catas totem Vater zum Besten geben. Und die ganze Zeit baumelte sein großer Hodensack obszön zwischen seinen Beinen hin und her. Plötzlich war er viel näher, als hätte es einen Zeitsprung gegeben. Ejard Orange sprang rasch von dem Felsbrocken herunter und versteckte sich im Heidekraut, als die böse Kreatur einen weiteren unheimlichen Sprung machte. Dann tat sie einen dritten, und nun stand der Anti-Gott vor dem Felsen und schaute aus seinen purpurn glühenden Augen zu Jem hinauf. Ein Bär schlurfte hinter ihm her und kratzte sich. »Der Krüppel«, begrüßte Toth Jem ironisch. »Vielleicht möchtest du ja die Avatars bitten vorzutreten. Ich meine diesmal die richtigen.« Jems Gesicht blieb ausdruckslos, während das Licht des goldenen Kristalls es beschien. »Meine Güte, das habe ich ganz vergessen. Du bist ja vollkommen hilflos.« Mit einem grotesken Lächeln ließ der Anti-Gott Poltys Finger schnippen, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Myla, der Kleine, Cata und Rajal erschienen in der Luft. Sie schrien auf und landeten nacheinander in der grün-braunen Heide. Eine große Anzahl von Fischen regnete bei der Gelegenheit ebenfalls vom Himmel »Komm schon, Vaga-Junge, hoch mit dir!«, befahl Toth. »Kind der Natur, du auch… Und auch ihr, ihr beiden Rotznasen. Was denn, Krüppel? Ach, nun schau doch nicht so überrascht drein! Natürlich ist das der Fels des Seins und Nicht-Seins. Genau, er hat sich die ganze Zeit unter dem Rundbau befunden. Was denn, du hättest nicht erwartet, dass er dort oben in den Bergen liegt? Vergiss nicht, dass diese Zitadelle sich halb in und halb außerhalb des Reiches des Unergründlichen befand. Und wir stehen hier natürlich in der Hälfte, die im Unergründlichen liegt. Wo sonst hättest du den Fels des Seins und Nicht-Seins versteckt, hm? Du glaubst doch wohl nicht, dass Vater ihn in deiner Welt hätte herumliegen lassen, damit irgendwelche alten Menschen zufällig darüber stolpern? Also wirklich! Aber was ist das? Meine Güte, ich glaube, ich höre ein Geräusch.« Es war ein erbärmliches Schluchzen, das offenbar unter 230
dem Felsen hervordrang. Mit einem Seufzer trat der AntiGott vor. Er bückte sich, stützte sich auf seinen Stab, und seine purpurnen Augenhöhlen weiteten sich Besorgnis erregend. »Ah, jetzt sehe ich es! Ja, du steckst im wahrsten Sinne des Wortes in der Klemme, hab ich Recht? Keine Angst, meine Teure, ich glaube, ein kräftiger Ruck wird genügen. Du willst doch sicher nicht da unten warten, während wir das Ende der Zeit des Sühneopfers erleben? Und die ganze Aufregung verpassen? Das kann ich mir nicht vorstellen! Lass mich nur eben meinen Hirtenstab beiseite legen. Bär, hältst du ihn bitte kurz fest, ja? So, meine Liebe, nun nimm meine Hände… Geifere nicht so, Weib, was glaubst du, habe ich vor? Und nein, mein Name ist nicht Poltiss!« Bei diesen Worten zog Toth, und dann zog er noch einmal. Er stand auf, wischte sich theatralisch die Stirn und unternahm dann einen dritten Versuch. Diesmal hatte er Erfolg. Er stolperte zurück und fiel rücklings in die Heide, als die massige Gestalt von Umbecca unter dem Felsen hervorkam. Sie schoss heraus wie ein Korken aus der Flasche. Die fette Frau saß zerzaust in der matschigen Heide, die Röcke hochgeschoben und die nackten Beine ausgestreckt. Sie blinzelte und plapperte wie ein monströses Baby »Das war meine gute Tat für heute«, sagte der AntiGott, während er wieder aufstand. »Also, wo waren wir? Ach ja, Avatars, eure Zeit ist gekommen. Komm her zu mir, Vaga-Junge. Ja, Widerstand ist zwecklos, hab ich Recht? Und sag deinem dürren Freund, er soll da oben in seiner Luftblase aufhören, so blöde zu glotzen. Wie du so einen Idioten lieben kannst, geht über meinen Horizont. Also leg jetzt deinen Kristall auf den Fels. Siehst du diese Mulde dort? Es gibt fünf davon, und ich glaube, das da ist deine. Außerdem, was macht das schon für einen Unterschied? Ich habe jedenfalls keine Ahnung, also legt einfach die Kristalle hinein, ja? Schließt den Kreis des Orokon, sage ich, und überlasst die Einzelheiten den Erbsenzählern.« Er schaute wieder auf die Blasen, diesmal zu denen von Hul und Tishy »Hat denn keiner von euch beiden daran 231
gedacht, einen Notizblock und einen Bleistift mitzunehmen? Ich könnte mir denken, dass jeder Student des Altertums einen Mord begehen würde, wenn er dafür heute hier sein könnte. Und da schwebt ihr nun, während sich die Geschichte vor euren Augen entfaltet, und was tut ihr? Ihr vertraut auf eure Erinnerung! Ihr seid vielleicht Gelehrte! Na ja, ich würde sagen, ihr könntet eine oder zwei Vorlesungen daraus machen… vorausgesetzt allerdings, dass ihr noch lange genug am Leben seid.« Mit spöttischer Stimme redete Toth weiter. Er forderte Cata, den Kleinen und Myla auf, ihre Kristalle auf den Fels zu legen. Niemand, nicht einmal Myla, die über Zauberkräfte verfügte, konnte sich seinem Befehl widersetzen. Dann drehte sich die Kreatur zu Jem um. »Und jetzt deiner, Krüppel.« Jem schwebte immer noch hoch über dem Felsen. Dort hatte er, gehalten von böser Magie, hilflos zusehen müssen, wie seine Freunde ihre vier Kristalle an die vorgesehenen Plätze legten, beinahe so, als wären es Opfergaben, die sie ihm darbrachten. Als Jem jetzt die Stimme von Toth in seinem Kopf hörte, erkannte er den wahren Schrecken seiner Fesselung. Rajal, Cata, der Kleine und Myla standen vor ihren Kristallen. Und ein Platz war noch frei. Der goldene Kristall brannte in Jems Händen. »Ach, gib ihn endlich her!«, befahl Toth ungeduldig. Er schnappte sich den Hirtenstab und versetzte Jem einen gewaltigen Schlag. Jem flog durch die Luft. Der Kristall flog ihm aus der Hand und rollte vor den Felsen. Toth packte ihn. »Mir ist schon klar, dass ich dich gebraucht habe, um dieses verdammte Ding zu finden, aber ich will verflucht sein, wenn ich ihn nicht allein ins Loch stecken kann! So! Mist, warum geht er nicht hinein? So! Was? Blödes Loch, es ist verschlossen! Verflucht soll es sein, ich werde…« Jem lag rücklings in der Heide. Um ihn herum schwammen einige Fische. Ejard Orange fraß einen. Umbecca saß daneben und heulte wie ein Baby. Irgendwo schrie eine Eule. Und Regentropfen prasselten herab. Aber noch etwas passierte am Himmel. Eingesperrt in 232
ihre Blasen hatten sich einige – wie zum Beispiel Ejard Rot – heftig gewehrt. Jeli hatte sich die Kehle wund geschrien, allerdings ohne dass die anderen sie hören konnten, und dabei die durchsichtigen Wände der Kugel mit ihren Fingernägeln bearbeitet. Tishy hatte sich wie ein verwirrtes Vögelchen voller Entsetzen hierhin und dorthin gewandt. Landa dagegen war auf die Knie gesunken und hatte angefangen zu beten. Sie betete immer noch, und ihre Gebete wurden immer inbrünstiger. Schließlich veränderte ihre rote Kugel die Farbe. Sie wurde grün. Einen Moment flammte das Grün auf und tauchte die Szenerie unter ihr in grünliches Licht. Staunend rührte sich Jem in der Heide, gerade als die Phantome der Götter hinter ihren wahren Avatars erschienen. Zu Rajal kam Koros. Zu Cata kam Viana. Zu dem Kleinen kam Theron Zu Myla kam Javander. Einen Moment schien die Zeit stillzustehen, während Jem diese außergewöhnlichen Erscheinungen betrachtete. Im El-Orokon war Koros ein gebeugtes und missgestaltetes Wesen, umhüllt von Finsternis. Der reale Koros war zwar finster, aber weder gebeugt noch missgestaltet. Genauso wenig war seine Schwester Viana sanft wie Blattwerk, obwohl Blätter und Lianen ihren wunderschönen grünen Körper bedeckten und eine Krone auf ihrer hohen Stirn bildeten. Oh nein, Viana war beeindruckend, während ihr Bruder Theron trotz seines feurigen Rots und seiner ledernen Schwingen nicht ganz so einschüchternd war, wie man hätte befürchten können. Was Javander anging, diese Göttin hatte Jem schon vorher gesehen, mit ihrem wehenden Haar und der Krone aus Korallen, Gold und Juwelen. Laut dem El-Orokon war Therons Schwester kalt wie Wasser, aber Jem wusste, dass das längst nicht die ganze Wahrheit war. Toth wirbelte wütend herum. Allein mit der Kraft seines Blickes hätte er die Neuankömmlinge zurücktreiben, ja sie vernichten können. Doch die vier Götter hoben die Hände 233
und lenkten ihre Kraft in ihre Avatars. Rajal, Cata, der Kleine und Myla packten den Fels, umklammerten ihn. Das Licht strömte aus ihren Kristallen. Es gab einen Blitz, und die Avatars und die Götter waren eins. Und wendeten sich gegen Toth. Es regnete stärker, während die Kraft der Magie wuchs. Toth schwankte. Er umklammerte immer noch den goldenen Kristall fest mit beiden Händen. Es donnerte, und die göttliche Macht strömte unaufhörlich weiter. Die Blasen – die blauen, die roten und die grünen – hüpften in der Luft auf und ab. Aber wo ist Lord Agonis?, dachte Jem. In dem Moment reagierte Ejard Orange. Der große Kater sprang auf den Felsen, erhob sich auf die Hinterbeine und begann zu tanzen. Dann war er verschwunden, und eine menschliche Gestalt tanzte an seiner Stelle weiter. Sie trug ein buntes Kostüm und eine silberne Maske. »Der Harlekin!«, rief Jem. »Aber warum…?« Die Götter verblassten, geblendet von der glänzenden Gestalt. Die Avatars stolperten zurück. Sie waren wieder sie selbst und wurden jetzt von einer neuen und mächtigen Kraft ergriffen. Toth hob den Kristall, als wollte er ihn wegwerfen. »Hochstapler!«, schrie er. »Ich durchschaue deine Verkleidung! Nein, du kannst nicht triumphieren! Nein, du hast keine Existenz! Agonis-Im-Unergründlichen, du bist nur ein Ideal! Wie kann deine Emanation hier sein?« Jem war entsetzt. Der Harlekin war… Agonis? Agonis… war der Harlekin? Und was war dann mit Lord Empster? Die Silbermaske blitzte, als sich die Strahlen der Kristalle und die Blitze in ihr fingen. »Agonis, ich zerschmettere dich!«, schrie Toth. »Agonis, ich zerschmettere dich, wie ich dich schon früher zerschmettert habe!« Licht strömte aus den Augen des Anti-Gottes, und plötzlich schimmerte eine weitere Gestalt neben der des Harlekins, eine Gestalt von vollendeter weiblicher Schönheit. 234
Der Harlekin unterbrach stolpernd seinen Tanz und versuchte verzweifelt, Lady Imagenta zu umarmen. Er schlang die Arme um sie, aber sie befreite sich und schimmerte hell. Jetzt war sie hinter ihm. Er drehte sich um, und sie verschwand aufs Neue. Eine neue Stimme durchdrang das Donnern und den Regen. »Lass sie in Ruhe, Emanation! Lass sie in Ruhe, sie gehört mir!« Jem drehte sich um. Es war Lord Empster. »Du!«, schrie Toth. »Ich dachte, du wärst – « »Was? Verschwunden mit den Goldenen? Ich mag ein gefallener Gott sein, aber ich bin trotzdem ein Gott…« »Ein Halb-Gott, ein zerstörter Gott…« »Kreatur des Bösen, was bist dann du?« »Lord Empster…«, begann Jem und bemühte sich aufzustehen, aber der Agonis-Auf-Der-Erde stieß ihn in den Schlamm zurück und sprang mit mächtigen, unnatürlichen Sätzen zum Fels des Seins und Nicht-Seins. Dort rang er mit seinem zweiten Ich, während die ganze Zeit das Phantom namens Lady Imagenta um sie herumtanzte, schimmerte und ihnen entglitt wie der Regen. Toth taumelte. »Nein! Nein, das kann nicht sein…!« Imagenta verschwand, aber die beiden Halbgötter kämpften weiter. Die Avatars wurden zurückgehalten und konnten nicht eingreifen. Die beiden Agonis glühten in göttlicher Macht und stiegen zum Himmel empor, wo sie sich unaufhörlich über dem Fels des Seins und Nicht-Seins drehten. Die ganze Zeit über verstärkte sich das Glühen des goldenen Kristalls in Toths Händen. Der Stein drohte, ihm im nächsten Augenblick aus den Fingern zu gleiten und zu den strahlenden Kämpfern in den Himmel zu steigen. Plötzlich wurde Jem klar, was da geschah. »Sie… sie kämpfen nicht, sie vereinigen sich! Die Macht des Kristalls… sie bringt sie zusammen! Toth kann ihn nicht mehr halten, jedenfalls nicht mehr lange… sie ziehen ihn zu sich, und sie brauchen ihn, damit sie sich vereinen können…!« Der Wind heulte um die beiden Halbgötter, aber jetzt 235
übertönte ihn die Stimme von Toth, der seinen Trotz herausschrie, während er sich krampfhaft bemühte, den goldenen Kristall festzuhalten. »Nein, Agonis… Nein, niemals! Meine Herrschaft beruht auf deiner ewigen Teilung! Wofür sonst hätte ich Lady Imagenta geschaffen, diesen Traum in einem Spiegel, wenn nicht, um dich zu spalten und die Erde ins Chaos zu stürzen? Nein, selbst wenn der Kristall meine Hände verlassen muss, so schwöre ich, dass dieser Stein dich niemals vereinen wird!« Der Anti-Gott schwankte, und purpurnes Licht flackerte Cata kämpfte sich auf ihn zu, Rajal ebenfalls. Myla konzentrierte ihre Kräfte, und der Kleine drehte sich auf der Stelle. Toth schwankte und taumelte unaufhörlich. Er wollte nicht aufgeben, niemals würde er aufgeben! Er holte weit aus und schleuderte den Kristall fort. Die Avatars stolperten und stürzten zu Boden. Toths Kräfte waren erschöpft, und er fiel ebenfalls in den Schlamm. Seine Flammen erloschen. Der Kristall flog glühend durch den Regen. Er drehte sich und wirbelte herum. Und stieß gegen die Blase, in der sich Ejard Blau befand. Es klirrte, als wäre Glas zersprungen. Der Blaue König schrie und segelte durch die Luft. Sofort flog Ejard Rot auf ihn zu, getragen von einer Welle mystischer Kraft. Jem rang nach Luft. »Nein…!« Wie zwei Kanonenkugeln auf Kollisionskurs stießen die Könige zusammen und explodierten in einer Nova aus Blau und Rot. In der Schockwelle dieser Explosion zersprangen auch die anderen Kugeln, und diejenigen, die darin gefangen gewesen waren, verschwanden. Dann lösten sich auch die Halbgötter in nichts auf. Plötzlich herrschte Ruhe über dem Fels des Seins und Nicht-Seins, eine Zone der Ruhe, in welcher der Sturm nicht wütete. Das war Jems Chance. Er war wie betäubt vor Schreck. War Nirry tot? Und Hul? Jem wusste es nicht, aber trotzdem kamen, wie durch einen Fluch, seine Kräfte zurück. Er 236
glitt weiter, hasste sich dafür und rappelte sich schließlich hoch. Er sprang vor, packte den goldenen Kristall und stieß ihn in den Fels des Seins und Nicht-Seins. Jetzt war alles vorbei. Alles war zu Ende. Aber das war es nicht. Die fünf Kristalle glühten. Langsam zunächst und dann immer schneller begann der Fels sich zu drehen. Die Avatars erhoben sich. Erneut manifestierten sich die vier Götter, als würden sie ihre Kräfte in einer letzten, apokalyptischen Anstrengung vereinen. Aber der Anti-Gott kehrte ebenfalls zurück. Er erschien auf dem Felsen und stieß Jem beiseite. Jems Beine gaben unter ihm nach. »Toth! Aber wie hast du…?« »Narr, glaubst du, du hättest mich besiegt? Narr, glaubst du tatsächlich, du hättest triumphiert? Wie solltest du obsiegen, nachdem Agonis vernichtet ist? Verstehst du denn nicht, ich habe Agonis zerstört, das schönste und größte aller Kinder des Orok!« »Ich…« Jem blieben die Worte im Hals stecken. Toth lächelte, und seine Augen glühten. »Ach, Krüppel, ich wusste schon immer, dass ich mich auf dich verlassen konnte. Ganz der treue Diener, der du bist, hast du den Kreis des Orokon geschlossen und damit meine Macht für immer garantiert! Und jetzt habe ich keine Verwendung mehr für dich. Fünfmal ist der Vogel des Nicht-Seins vorübergeflogen, fünf Kristalle habe ich in meinen Händen. Jetzt ist die Zeit des Sühneopfers vorüber. Und nun beginnt die Ewigkeit des allmächtigen TOTH-VEXRAH!« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte wie von Sinnen. Der Donner krachte in der sturmgepeitschten Welt unter ihnen. Jem klammerte sich ausgestreckt an dem rotierenden Fels fest. Hier gab es nur die Kristalle und das Licht, nur den Schrecken von Toths alles verzehrendem Bösen. Die Götter waren verschwunden. Und Cata? Und die anderen? Verzweiflung explodierte in Jems Herz, fast so laut wie 237
der Donner. Aber jetzt wuchs Toth und veränderte sich. Das purpurne Licht flammte auf, und Poltys Leichnam zerplatzte in blutige Stückchen. Ein Kreischen erfüllte den Himmel. Erneut wurde Toth zum Vogel des Nicht-Seins, dann wirbelte das Geschöpf, das einst Chorassos genannt wurde, rückwärts durch die gepeitschte Luft und nahm erneut seine wahre, primitive Form an. Plötzlich war sie da und schien den ganzen Himmel auszufüllen Sassoroch! Jem war sicher, dass jetzt sein Tod gekommen war. Er lag hilflos auf dem Fels, als die mächtige, geflügelte Schlange herabstieß, bereit für den tödlichen Angriff. Gift troff von ihren Lefzen, und das Böse glühte auf ihren Schuppen und in ihren Augen. Da kam der Schrei. »Mein Baby, nicht mein Baby…!« Es war Umbecca. Kreischend stürzte die fette Frau vor und warf sich über Jems ausgestreckten Körper. Jem lag wie betäubt da und rang nach Luft und musste entsetzt zusehen, wie die Schlange wieder in den Himmel emporstieg, sich durch den Sturm hinaufschwang und seine Tante zwischen ihren mächtigen Kiefern davontrug. Dieses eine Mal wirkte Umbecca Mitleid erregend winzig. Die Kiefer mahlten einmal, nur einmal, dann war Umbecca für immer verschwunden. Jem rang nach Luft. Tränen traten ihm in die Augen, und er wurde von einer plötzlichen, unerklärlichen Trauer über den Tod dieser eitlen, bösen Frau gepackt, die ihn doch seit seiner frühen Kindheit gequält hatte. Aber er hatte nicht viel Zeit für Verzweiflung. Die Schlange griff erneut an, als sie merkte, dass sie um ihre eigentliche Beute betrogen worden war. Jem wappnete sich. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr zu fliehen. Er schrie auf, schrie und schrie und gab sich völlig dem Gefühl der Angst hin. Er schrie nach Cata. Er schrie nach den Göttern. Er schrie und schrie. Schrie nach Harlekin. 238
Und dann passierte es. Die Zeit hielt inne. Sassoroch erstarrte, der Sturm erstarrte, und die verdammte Heide war nur ein Gemälde, weit weg in einem luxuriösen Arbeitszimmer, einem Ort voller Gold und Samt, wie der Ort, an den sich Jem aus Lord Empsters Haus erinnerte.
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Und es war nur Jem da, der das Gemälde betrachtete. Nur Jem. Und der Harlekin.
He, ho! Der Kreis ist rund! Wo kann er anfangen und wo enden… »Harlekin?« Jem trug immer noch sein Nachthemd, aber es war jetzt purpurn, als wären die Farben im Regen verlaufen. Vermutlich waren sie das auch, aber jetzt war er trocken, und ihm war warm. Er lag auf einer Chaiselongue. Auf dem marmornen Kaminsims tickte eine Uhr, ein Feuer knisterte hell, und das Lied, das der Harlekin sang, war leise, wie ein Wiegenlied. Jem fühlte sich behaglich, sehr behaglich sogar. Aber verkrüppelt war er immer noch. Der Harlekin saß neben ihm und nahm seine Maske ab. Er legte sie auf einen kleinen, mit Intarsien verzierten Tisch und wandte Jem dann sein Gesicht zu. Es ist ein Gesicht, dachte Jem, das ganz und gar nicht dem Gesicht meines Onkels Torvester ähnelt. »Tante Umbecca«, fragte Jem schließlich, »ist sie tot?« Der Harlekin lächelte. »Das möchte ich doch annehmen. Meinst du nicht auch?« »Und die anderen? Cata und Raj und…?« »Leise, Jem. Bald wird dir alles klar werden. Aber vielleicht findest du ja hier in diesem Gemach schon einen Hinweis darauf.« Die Hand des Harlekins – eine sehr knochige Hand, beinahe schon skelettartig, wie Jem fand – deutete zum Kamin. Plötzlich stand dort eine schlanke, weibliche Gestalt, eine Gestalt, die Jem schon einmal gesehen hatte. Sie hielt ihr Gesicht abgewandt und trug eine beinahe klösterliche Kutte. Ja, es war eindeutig eine Nonnenkutte, aber sie war bunt gestreift. Würde sie sich umdrehen? Jem glaubte es nicht. Er sah den Harlekin an. »Ich habe gesehen, wie du ge240
storben bist.« Wieder lächelte der Harlekin und seufzte dann. »Jem, du hast nichts dergleichen gesehen. Was du gesehen hast, war das Scheitern meines Versuchs, mich selbst zu heilen. Ich kann dir noch nicht sagen, was aus meinem irdischen Wesen geworden ist, dazu ist es noch zu früh. Ich weiß nur, dass ich weiterhin dazu verdammt bin, geteilt zu sein.« »In wie viele Stücke? War Ejard Orange auch eines?« »Ich bin, das stimmt, unter vielen Namen auf der Welt gewandelt. Barnabas ist einer, an den du dich vielleicht noch erinnern kannst.« »Du warst auch Barnabas?« »Und Zady: Erinnerst du dich an Zady?« »Ja, aber…« Jem schüttelte verwirrt den Kopf. »Was ist mit Regenbogen? Was ist mit… Bubi, der Äffin?« Der Harlekin lachte, aber es klang nicht fröhlich. »Wir wollen nicht übertreiben, Jem. Vergiss jedoch nie, dass ich immer bei dir gewesen bin, aber mein In-der-Welt-Sein ist sehr labil. Das erklärt meine vielen Identitäten. Und mein häufiges plötzliches Verschwinden.« »Aber du bist wirklich Agonis? Diese Identität ist echt?« »Das hängt vermutlich davon ab, was du unter echt verstehst. Was Toth sagte, stimmt. Ich bin ein Ideal, das nicht wirklich existieren kann, jedenfalls so lange nicht, wie mein abgetrenntes Selbst, das Wesen, das vor allem als Lord Empster bekannt ist, in dieser Welt umherwandelt. Nein, Jem, ich existiere nicht. Weil ich es nicht kann.« »Du kannst es nicht? Ich – « »Ach, was ist wirklich und was ist Illusion? Habe ich dich das nicht schon früher einmal gefragt?« »Vermutlich.« Unsicher blickte Jem auf das Gemälde, das weit weg auf der anderen Seite des Gemachs hing. Unermesslich weit weg. Es war eine Szene im Moor, nicht mehr, eine Moorszene. Dunkel. Stürmisch. Die Lady am Kamin bewegte sich. Vielleicht drehte sie sich ja doch um. Aber sie tat es nicht. 241
»Und was passiert jetzt?«, wollte Jem wissen. »Mit Toth? Das werden wir noch früh genug erfahren. Die Zeit des Sühneopfers muss auf jeden Fall enden. Aber das neue Zeitalter? Das weiß ich auch nicht. Vergiss nicht, ich bin nicht wiedervereinigt worden.« Der Harlekin hob eine Augenbraue. »Oder sollten wir lieber sagen, dass es eine andere Vereinigung gab?« Jem war verwirrt, aber sein merkwürdiger Gefährte machte keine Anstalten, sich weiter zu erklären. »Trotzdem, ich glaube«, fuhr er fort, »wir können die Welt gerade noch vor dem Anti-Gott retten. Diesmal zumindest.« »Diesmal? Du meinst doch nicht…!« Der Harlekin hob beschwichtigend die Hand. »Oh doch«, sagte er. »Es wird ein neues Zeitalter anbrechen, wie es Zeitalter nun mal so an sich haben. Aber ich bezweifle, dass es ein Zeitalter des Friedens wird. Vielleicht wird es das niemals geben – jedenfalls nicht in dieser Welt, die mein Vater geschaffen hat.« Jem schwieg einen Moment. »Aber werde ich verkrüppelt bleiben? Und Cata? Du hast nichts über Cata gesagt.« Der Harlekin schien darauf nicht antworten zu wollen. »Verstehe«, sagte Jem schließlich. »Und was wird mit dir geschehen?« Die große Gestalt erhob sich und ging über den prächtig gemusterten Teppich. Sie drehte sich um und lächelte. »Vermutlich werde ich wohl so weitermachen wie bisher. Was bleibt mir schon anderes übrig?« »Und Lady Imagenta? Willst du sie nicht suchen?« Das Lächeln erlosch. Der Harlekin ließ den Kopf hängen, und Jems Blick glitt nicht zum ersten Mal zu der seltsamen Person am Kamin. Die Regenbogenlady bot einen merkwürdigen Anblick. Er runzelte die Stirn und fragte sich, ebenfalls nicht zum ersten Mal, wer sie war. Konnte sie die Lady Imagenta sein? Oder ihre Emanation? Oder war sie jemand vollkommen anderes? »Sie ist nur eine Illusion«, murmelte er. »Toth hat es gesagt.« »Und habe ich dich nicht schon gefragt, was wirklich ist und was Illusion?« 242
»Cata ist keine Illusion«, erwiderte Jem trotzig. »Cata ist wirklich, ich weiß, dass sie…!« Er biss sich auf die Lippen. Die Regenbogenlady drehte sich um, und Jems Herz hämmerte, als er erwartete, endlich ihr Gesicht sehen zu können. Doch alles, was er sah, war ein goldenes Licht, das an der Stelle erstrahlte, wo eigentlich ihr Gesicht hätte sein sollen. Es klopfte an der Tür. »Das muss Ondon sein«, sagte der Harlekin. »Ondon?« Jem konnte sich nicht an den Namen erinnern. Kühl schritt der Harlekin zur Tür, kehrte dann jedoch noch einmal um, als habe er es sich anders überlegt, und ging zur Chaiselongue zurück. Das Klopfen war erneut zu hören, als er sich zu Jem hinabbeugte und dicht an seinem Ohr flüsterte: »Denk daran, der Weg ist bereitet.« »Weg? Welcher Weg?« Der Harlekin antwortete jedoch nur mit einem Lächeln. Wieder ertönte das Klopfen, und die Uhr tickte im gleichen Takt. Er deutete auf das Gemälde. »Die Zeit verstreicht, auch wenn wir glauben, dass sie es nicht tut. Umarme mich, mein Kind, und verlasse mich ein letztes Mal. Du weißt, was du tun musst. Und du brauchst meine Hilfe jetzt nicht mehr.« »Nein, Harlekin, ich… Bitte, verlass mich nicht, bitte…!« »Meine Münze… Nimm sie, nimm sie einfach. Nimm sie diesmal.« Im nächsten Augenblick war das Arbeitszimmer verschwunden, und Jem landete, mit der Münze in der Hand, wieder in der Moorszene. Aber er sollte nicht lange dort bleiben. Der Sturm tobte mit unverminderter Wucht, und Jem lag immer noch hilflos rücklings auf dem Fels. Er starrte, erneut von Entsetzen geschüttelt, auf die Schlange Sassoroch, die zum Angriff ansetzte. Plötzlich jedoch erhob sich der Fels, schillerte im Licht der Kristalle purpurn, grün, rot, blau und golden und begann, langsam zu rotieren. Er gab ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich, lauter noch als der Sturm und auch 243
lauter als das schreckliche Zischen der geflügelten Schlange, die sich auf ihn stürzte. Ein Schlund öffnete sich, der wie ein gewaltiger Strudel ein Loch in die Wand der Dimensionen riss. Jem spürte, wie ihm das Nachthemd vom Leib gerissen wurde. Der purpurne Stoff wurde in der Luft zerfetzt. Jetzt musste er nackt dem Sturm und dem dunklen Strudel trotzen. Plötzlich wurden Jem, der Fels und alles andere aus dem Unergründlichen hinaus gerissen und auf die Erde zurückgeschleudert. Nur die Berge nicht. Er schrie und schrie. Der Fels rotierte immer noch in der Luft, aber jetzt erstreckten sich unter ihm Ruinen, ausgebombte, verbrannte und geschwärzte Ruinen. Man sah zerlumpte Menschen, die panisch zu fliehen versuchten. Überall gab es Explosionen, flackerten Feuer auf. Und immer noch donnerte es, immer noch wütete der Orkan. Gewaltige Blitze zuckten aus den Wolken, und mitten in dem gleißenden, dröhnenden Sturm begriff Jem plötzlich, dass er in Agondon war. Agondon, der Stadt seiner Albträume. Und jetzt wurde es schlimmer, noch viel schlimmer. Denn jetzt flog noch etwas Gewaltiges durch den Strudel aus Wolken, tauchte in der Realität auf und schien den gesamten Himmel über der gepeinigten Stadt auszufüllen. Erneut konnte Jem nur schreien. Sassoroch! Sassoroch! Die ganze Welt schien nur aus Sassoroch zu bestehen, dieser Himmelsschlange mit ihren goldenen Schuppen, ihren Flügeln, den Klauen, den fürchterlichen Fängen und ihrem gewaltigen Schwanz, dieser wahren und schrecklichsten Gestalt des Anti-Gottes. Und wer stemmte sich ihr entgegen? Ein verkrüppelter, nackter Junge auf einem kreiselnden Felsbrocken! Es war das Ende von allem. Im nächsten Moment würde Jem sterben, verschwinden, als habe er niemals existiert. Er spielte keine Rolle mehr, und nichts war mehr wichtig. Doch nein, denn dann würde sich Sassoroch auf Agondon stürzen, sich seiner Rachgier hingeben, die durch nichts würde gestillt werden können. Wie Jem seine Schwäche verwünschte! Wie er das Schicksal, die Zeit und seine Bestimmung verfluchte! Mit bitterem Hass schloss er 244
auch den Harlekin in seine Verwünschungen mit ein. Und im selben Augenblick wurde Jem klar, was er tun musste. Er umklammerte immer noch die Münze des Harlekins, und zwar so fest, dass sie ihm in die Finger schnitt. Er schleuderte sie hinauf in den Sturm, mitten in die Flugbahn der angreifenden Schlange. Der Felsen drehte sich. Die Münze drehte sich. Und Jem durchlebte in einem Augenblick einen ganzen Äon. Er erhob sich und schwebte in der Luft, ein winziges, nacktes Subjekt, ein bloßes Insekt im Vergleich zu Sassorochs Macht. Aber irgendwo in der Luft hörte er eine zögerliche Musik. Es war ein Versprechen auf Harmonie. Er hörte sie wieder, und jedes Mal hörte er eine Strophe, die er kannte. Dies war die erste: Das Kind, das der Schlüssel zum Orokon ist Wird das Mal des Riel tragen Und in sich den Geist des Nova-Riel: Aber seine Aufgabe wird größer sein, weil auch Der Böse größer ist, Wenn die Zeit des Endes des Sühneopfers Gekommen ist. Er drehte und drehte sich. Wütend schlug auch Sassoroch in der Luft einen Kreis. Wusste die Kreatur schon in diesem Augenblick, dass ihr Triumph zunichte gemacht worden war? Hätte sie Jem nicht einfach wegfegen können, ihn einfach übersehen können, winzig, wie er war? Was bedeutete Jem schon im Vergleich zu der Stadt unter ihm? Aber auch der Anti-Gott musste sich dem Willen des Schicksals beugen, der Zeit und der Bestimmung. Alles lief ab, wie es in der Erzählung von Nova-Riel aufgeschrieben worden war, dieser uralten Geschichte, die Jem als Kind in einem zerfledderten Buch gelesen hatte. Als der verkrüppelte Junge – der jetzt jedoch Jem war – zu der Schlange emporstieg, zwang er Sassoroch dazu, auszuweichen und 245
sich um sich selbst zu drehen. Und Jem fragte sich verwirrt, wieso er erst zu einem Mann hatte heranwachsen müssen, um jetzt die Rolle eines Jungen zu spielen. Ein Akkord erklang. Und eine weitere Strophe ertönte: Denn Sassoroch wird erneut aus dem Nicht-Sein Ausbrechen, und seine Macht wird hundertfach sein: Aber jetzt wird er seine wahren Namen und Sein wahres Gesicht offenbaren, Das vor der Welt verborgen war, Als er Sassoroch gewesen ist. Er drehte und drehte sich. Jem hätte am liebsten laut gelacht. Sein wahres Gesicht? Wie konnte Toth ein wahres Gesicht haben? Selbst in dieser Gestalt offenbarte der Anti-Gott, dass er verdammt war. Was war er denn in Wahrheit? Nichts war er, gar nichts! Selbst jetzt, als sein Schlangen-Selbst sich drehte, sich immer wieder um sich selbst drehte, offenbarte Toth seine Ohnmacht, die seine Rache unerfüllt lassen würde. Jem drehte sich unaufhörlich vor den geifernden Fängen, und ebenso wie die wirbelnde Münze kreiselte die wütende, wie wahnsinnig tobende Kreatur. Riel hatte, in dem Akt, der ihn zu Nova-Riel gemacht hatte, die Kreatur dazu gebracht, sich zehnmal um sich selbst zu drehen. Für Jem und dieses Monster, das so viel mächtiger war, musste sich die Zahl dieser Drehungen verhundertfachen. Wie oft hatten sie sich gedreht? Zehnmal? Schon zehnmal? Aber da, höre die nächste Strophe: Und vor der Rückkehr des Bösen wird eine Zeit Des Leidens über die Welt hereinbrechen, Und sie wird das Ende der Zeit des Sühneopfers Verkünden: Und nur die Macht des Orokon Wird das Böse besiegen, das dann kommen wird. Er drehte und drehte sich. Die Schuppen blitzten auf. Die Augen flammten wie 246
Feuer. Zwanzigmal? Dreißigmal? Klauen zischten durch die Luft. Und erneut wurde Jem beinahe verbrannt, zerfetzt und verschlungen. Aber das konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Er hatte die Macht! Unter ihm rotierte der Fels weiter, als befände er sich im Gleichtakt mit der Münze, die immer höher in den Himmel emporstieg, höher als die Wolken, sich Jems Blick entzog, dem der Schlange und auch dem der Zuschauer auf der Erde. Denn ja, es hatte sich eine Menschenmenge versammelt, eine entsetzte Menge, die dennoch voller Spannung diesen Zweikampf verfolgte. Vierzigmal? Fünfzigmal? Jem schwebte und blickte benommen hinunter Und sah sie. Cata, Rajal, den Kleinen, Myla. Da waren sie, alle waren sie da! Und stand dahinten nicht Nirry? Und da, neben ihr, Hul? Freude durchströmte Jem, während er wieder außerhalb der Reichweite der Schlange schwebte und einem weiteren Feuerstoß aus ihren gewaltigen Nüstern auswich. Was vermochte ihre Macht schon gegen die immer stärker werdende Harmonie auszurichten? Jem schoss an dem Kopf des Monsters vorbei und tanzte dann wieder vor den glühenden Augen. Immer weiter drehten sie sich. Sechzig! Siebzig! Die Harmonie. Die Strophe: Und das Kind wird zuerst den Kristall der Dunkelheit finden, der vom Vater der Götter In den Himmel geschlendert wurde: Und dann Wird es durch die Länder des El-Orok wandeln, Um die Kristalle der Erde, des Feuers, des Wassers und der Luft zu suchen, Auf dass er sie im Orokon vereinigen kann! Er drehte und drehte sich. Wie oft, wie oft schon? Jem war vollkommen von seiner Erregung gepackt und fühlte sich nicht länger wie ein nackter Krüppel, während er von Kräften durch den Sturm geschleudert wurde, die 247
jenseits seiner Kontrolle lagen. Nein, er war König, und Cata war die Königin. Ja, es konnte sich noch fügen! Ja, es musste so sein! Blitze zuckten, und der feurige Odem der Schlange schlug ihm entgegen, aber Jem lachte nur. Dann stürzte sich die Schlange kochend vor Wut erneut auf ihn herab. Der Hieb einer Klaue traf Jem und schleuderte ihn durch die Luft. Er wirbelte gegen den zuckenden, sich windenden Körper und blieb in einer Spalte zwischen zwei Schuppen stecken. Sassoroch fuhr herum, und seine Augen sprühten Feuer. Jem kämpfte verzweifelt. Und es gelang ihm, freizukommen Aber sofort griff die Schlange ihn erneut an. Jem taumelte im Sturm. Er würde nicht mehr lange kämpfen können. Ein Feuerstoß nach dem anderen verfehlte ihn nur knapp. Wie oft schon? Wie oft? Dissonanzen erfüllten die Luft. Die Münze trudelte abwärts. Und sank immer weiter auf das geifernde Monster zu, das mit seinen mächtigen Schwingen die Luft peitschte. Es war vorbei, es musste vorbei sein. Doch bevor der Tod kommt, einen winzigen Augenblick vorher, gibt es einen letzten, aufschiebenden Moment. Und den erlebte Jem jetzt. Er schaute hinab, hinunter durch den wirbelnden Schnee, an den zerfetzten Wolken vorbei, vorbei an den rotierenden Kristallen im Fels. Was bedeuteten ihm diese Kristalle jetzt noch? Ein Blick auf Cata. Nur ein einziger Blick noch. Und durch den Sturm hindurch sah er sie. Es war nur ein Blick, sicher, aber es hätte ein ewiger Blick sein können. Sie hatte sich auf dem Platz unten auf der Erde erhoben, ihr wehendes schwarzes Haar zeichnete sich dunkel vor dem Schnee ab. Sie warf den Kopf zurück. Und es umgaben sie in einem Kreis, der ihr immer näher rückte, die Kreaturen, welche die ganze Zeit auf sie gewartet hatten und ihr immer nah, so nah gewesen waren. Zweifellos waren es Illusionen, keine wirklichen Wesen, 248
und sie wirkten fantastisch in der Umgebung dieser zerstörten Stadt. Aber sie waren da: Bär, Dachs, Kaninchen, Tiger… all ihre alten Freunde, ihre einzigen Freunde aus der Zeit, als Cata noch ein Kind der Natur gewesen war. Die Geister des Wildwaldes kamen zu ihr zurück. War auch die Schneeschwalbe da? Die Eule, das Rotkehlchen, der Mauersegler? Alle waren da, sie mussten da sein, und sie kamen immer näher und immer näher und wurden von Catas Wesen aufgesaugt. Der Moment war vorüber. Der Blick war vorbei. Aber jetzt stieß Cata einen nichtmenschlichen Schrei aus, mit dem sie die Magie zu Hilfe rief, die immer in ihr geschlummert hatte, sich für den Moment bereitgehalten hatte, in dem sie gebraucht wurde. Und dieser Moment war jetzt gekommen. Sehnsüchtig breitete Cata die Arme aus. Ihre Macht strömte in den Himmel empor und schlug mit einer mächtigen Explosion in Sassoroch ein. Die Schlange taumelte, fasste sich wieder und griff erneut an. Aber jetzt strömte auch neue Energie durch Jem, gespeist von Catas mystischer Macht. Er war bereits in den Wolken verschwunden. Die Schlange wirbelte herum, und ihre Schwingen schlugen, ihr Schwanz peitschte wie verrückt. Erneut sank Jem hinunter. Und drehte und drehte sich. Voller Freude hörte er die Strophe: Und wenn er Erfolg hat, dämmert ein nettes Zeitalter herauf, und alle Länder des El-Orok Werden in Frieden leben. Doch wenn er scheitert, Wird das Entsetzen, das vergangen ist, nichts Sein gegen das Entsetzen, das kommen wird. Er drehte und drehte sich. Die Münze sank immer rascher herab. Neunzigmal drehte sich die Toth-Kreatur, dann hundertmal. Er hatte gewonnen! Jem hatte gesiegt! Ein neuer 249
Schlund öffnete sich, zerriss den Himmel, und diesmal war es ein Schlund aus Licht. Kreischend verschwand Sassoroch im Nicht-Sein. Jem schwebte weiter taumelnd durch den Sturm. Dann verstummte der Sturm plötzlich. Stattdessen ertönte Musik, nur ein Akkord, aber es war eine Harmonie, die so allumfassend war, dass selbst das Universum einen Moment innehielt. Alle Streitereien waren vergessen, alle Leidenschaften verbraucht. Und es herrschte Ruhe auf der Welt. Strahlend schwebte Jem in der klaren, kalten Stille. Er sah weit unter sich den Fels, der sich immer noch drehte, sah die Kristalle, die ihre glorreichen Strahlen aussandten. Und Cata? Sie war in dieser neuen, merkwürdigen Helligkeit verloren. Aber Jem sah die Münze, die sich weiter kreiselnd herabsenkte. Sie prallte gegen den Fels. Im gleichen Moment erhob sich eine ungeheure Schattengestalt aus der Finsternis des Felsens und erfüllte den ruhigen Himmel, so wie Toth in der Gestalt Sassorochs den Sturm erfüllt hatte. Aber diesmal gab es keine Gewalt und keine Geräusche. Wie hätte man diese neue, mächtige Erscheinung beschreiben sollen? Später konnte weder Jem noch einer der unten Versammelten auch nur einen Versuch dazu unternehmen. Sie vermochten nur den winzigen Bruchteil eines Augenblicks emporzuschauen, bevor sie gezwungen wurden, sich abzuwenden. Sie wussten, dass sie mit einer Macht konfrontiert wurden, die größer war als jede andere, die sie zuvor erlebt hatten. Größer als die Macht des AntiGottes, größer als die Macht von Koros, Viana, Theron und Javander, und bei weitem größer als die Macht des Lord Agonis. Es war Orok, der Ur-Gott. Die Gestalt schwang in weitem Bogen ein mächtiges Schwert. Von irgendwoher, fast schien es, mitten aus der Stille, obwohl das unmöglich war, drangen Worte, Worte wie Donnerhall, aber sie wurden von keiner menschlichen 250
Zunge gesprochen. Vielleicht war es ein Segen, möglicherweise auch ein Fluch, der auf die Menschheit hinabregnete, während sich das Schwert senkte. Plötzlich war der Ur-Gott verschwunden und hinterließ eine Verzweiflung, die man nur schwer erklären konnte. Dann explodierte der Fels. Schließlich drangen vom Boden Schreie empor. Wie ein gewaltiges Feuerwerk, das schönste, das man jemals gesehen hatte, erhoben sich die fünf Kristalle des Orokon über der Stadt und wurden erneut über die ganze Welt verstreut. Purpurn, grün, rot, blau und golden – der merkwürdigste aller Regenbogen erfüllte den Himmel, bis er schließlich verblasste. Nur eine Form schwebte hoch oben über ihnen, ähnlich dem Schwert, das vom Vater der Götter geschwungen worden war. Darüber erhob sich ein spitzer Bogen. Dann verschwand auch das Bogen-Schwert. Und Jem stürzte in die Tiefe.
30. Die Macht des Lebewohl »Jem, ach Jem…« Jem rührte sich. Wie konnte er noch in dieser Welt sein? Er erkannte wie durch einen Schleier menschliche Gestalten, die sich bewegten wie in einem fernen Traum. Er sah den hellen Himmel, der in einem kalten Azurton leuchtete, und fühlte das Kratzen einer Decke… Nein, das war ein Mantel, bestimmt ein Mantel. Jemand musste ihn über seinen Körper gelegt haben. Ohne sich besondere Sorgen zu machen, spürte Jem den verschneiten Boden unter sich, der auf seiner nackten Haut brannte. Wenigstens konnte er noch fühlen. Doch was bedeutete das schon? Er versuchte probehalber, den Kopf zu bewegen, aber der war eine bleiernde Last. Er wusste nur, dass etwas eine Pfütze unter ihm bildete, die sich wie ein Heiligenschein im Schnee ausbreitete, und dass es klebrig war und nicht so kalt wie der Schnee. 251
Und es war rot, zweifellos rot. »Ach, Jem… Jem…« Er schlug mühsam die Augen auf. Und fing an zu denken. Sein Kopf lag in einem merkwürdigen Winkel da. Er sah eine zerstörte Kapelle, die nur noch aus einem Turm bestand, nicht mehr Und was war das da? Der schiefe, zerstörte Giebel eines elabethanischen Hauses? Zwischen dem Schluchzen und dem Gemurmel der Stimmen hörte Jem ein hohes Quieken. Konnte das eine Ratte sein, eine von Agondons Millionen Ratten? Nein, ihm kam die verrückte Idee, dass es sich um ein Tavernenschild handelte, das sacht im Wind hin und her schwang. Das Schild zeigte, da war er sicher, eine orangefarbene Katze… eine Katze mit einer Krone… Jem hätte gelacht, wäre er dazu in der Lage gewesen. Er war irgendwo auf der Insel auf den Boden gestürzt, irgendwo in der Nähe des Platzes, den man Redondo-Gärten nannte. War es etwa würdelos, ausgerechnet hier gelandet zu sein? He, du süßer Schlüssel zum Orokon… Hallo, mein kleiner Prinz von Ejland…? Nein, es war gut. Und es war richtig. »Jem… ach, Jem…« »Cata… Cata…« Jetzt erst erkannte Jem sie, als sie schimmernd über ihm schwebte. Und er wusste, dass auch seine anderen Freunde in der Nähe waren. Der gute alte Raj, er war doch da, oder? Und der Kleine… und Myla? Und Nirry, war sie auch hier? Die arme Nirry War die Katze & Krone etwa beschossen worden und ausgebrannt? Jem wollte danach fragen, hatte jedoch nicht die Kraft dazu. Eine Weile spürte er nur Catas Hand, die über seine Stirn strich, hörte ihre Stimme, die schluchzend erstickte Liebkosungen flüsterte… Liebkosungen und Versprechungen… Aber was für Versprechungen? Vielleicht sprach sie von dem Kind, das sie haben würden, von dem Kind, das Jem niemals sehen würde. Wenn er hätte sprechen können, hätte er viel über seinen Sohn oder seine Tochter gesagt, aber noch viel mehr über seine Liebe zu Cata… 252
Er wurde wie von sanften Wellen fortgetragen. Visionen schossen ihm durch den Kopf, Visionen von seiner Mutter und Onkel Torvester, Visionen von Barnabas und dem Harlekin, die so merkwürdig auf dem Dorfanger getanzt hatten… Jem sah Rajal, schüchtern und gereizt, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, er sah den armen, misshandelten Polty, er sah seine fette Tante, die liebe Tante Umbecca – er hätte beinahe gelächelt –, und er sah die Große Mutter und Robander Selsoe und Prinzessin Bela Dona und Pellam Pelligrew und den guten alten Kapitän Porlo… Was für Feinde sich Jem gemacht hatte! Aber was hatte er für Freunde gewonnen! Er öffnete erneut die Augen und flüsterte: »Was war das für ein Leben… was für ein Leben, Cata. Ich kann kaum glauben, dass es schon vorüber ist.« »Rede nicht so, Jem.« Das war nicht Catas Stimme. Die lag in Nirrys Armen und schluchzte hemmungslos. Landa tröstete sie und strich ihr sanft übers Haar. Nein, es war Rajals Stimme, die er jetzt hörte. Sein angespanntes Gesicht schwebte über dem seines geliebten Gefährten. »Nichts ist vorbei. Dein Leben fängt gerade erst an…« »Ich bin zerschmettert, Raj, vollkommen zerschmettert.« »Du wirst wieder gesund werden. Myla ist hier, ihre Kräfte…« Jem hätte den Kopf geschüttelt, wenn er dazu noch in der Lage gewesen wäre. Was konnte Myla jetzt noch ausrichten? Er blickte zur Seite und sah Hul und Tishy, die sich umarmten. Ihre Brillen blitzten, und ihre Blicke waren besorgt. Jem lächelte sie an, als wollte er sie segnen. »Und was ist mit deinem Freund, Rajal? Ist er bei dir? Hat er es geschafft?« Rajal schluckte. Ja, Aron war hier, war jetzt bei ihnen. Schüchtern nahm er die Hand seines Geliebten. »Sei glücklich, Raj. Denk daran, ich habe dich auch geliebt… auf meine Art. Und Myla? Wo ist Myla? Mein liebes Kind, was musstest du für eine Bürde tragen! Aber jetzt ist alles vorbei. Du bist in Sicherheit… Kommt, trauert nicht 253
um mich… Kleiner, du wirst doch nicht traurig sein, oder? Ein tapferer Junge wie du? Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, als Regenbogen gestorben ist? Dass er in deinem Herz weiterleben wird. Nun, ich habe das Gefühl, dass ich Regenbogen bald wiedersehen werde, und dann wohne ich direkt neben ihm, Kleiner, genau neben ihm… Also, wie kannst du dann noch traurig sein? Was haben wir für ein Abenteuer erlebt! Was waren wir für Freunde! Als ich ein kleiner Junge war, habe ich davon geträumt, was die Zukunft mir wohl bringen würde. Wie hätte ich so etwas erraten können? Solch ein Abenteuer! So viel Liebe! Ich hätte niemals geglaubt, dass es so viel Liebe geben kann.« Cata rappelte sich auf. »Jem… Jem, bitte…!« Doch mittlerweile rang Jem schon mit dem Tod, und seine Augen schlössen sich. Erneut glitt sein Leben vor seinem inneren Auge vorbei, aber alles war durcheinander und miteinander vermischt. Er sah die Burg von Irion und das Heiligtum der Flamme, er sah das Haus in der Davalon-Straße mit den goldenen Schnörkeln über Fenstern und Türen. Dort hatte ein Junge aus den Provinzen als Lord Empsters Mündel gelebt. Jem sah sich selbst, grotesk in Seide und Spitze gekleidet, wie er auf dem Fluss Riel Schlittschuh lief. Er sah, wie er in einer Kutsche fuhr. Dann sah er die Catayane, die durch die Wellen pflügte. Er sah den Tempel von Wrax und die fliegende Insel Inorchis, er sah Javanders Große Zitadelle tief unter den Fluten… Es gab so viel, so viel. Aber immer waren da die Kristalle, die strahlend hell glühten. Und immer war da auch Cata. Jem fiel das Kämpfen schwerer. Der Tod näherte sich, aber noch einmal öffnete er die Augen. Das Gesicht über ihm gehörte Cata. Ehrfürchtig sah er in das dunkle, geliebte Gesicht. Könnte er sie doch eine Ewigkeit so anschauen! Wenn die Zeit, die ihnen noch blieb, doch nicht so grausam kurz wäre! »Ich… Mich fröstelt, Cata. Und mir ist heiß…« Ihre Tränen benetzten sein Gesicht. »Ich lasse nicht zu, dass du stirbst, Jem…« »Meine Liebste, es ist besser so, verstehst du das nicht? 254
Ich war nur ein Bauer im Schachspiel des Schicksals. Das hatte ich eine Weile vergessen, das ist alles. Und jetzt habe ich das Schicksal erfüllt, das mir auferlegt war. Ich habe es ganz gut gemacht, meinst du nicht auch? Aber jetzt ist es vorbei… und ich muss abtreten. Ach, es wäre auch nicht gut gegangen, Cata. Ich bin nur ein Krüppel gewesen… ohne die Kristalle war ich nur ein Krüppel.« Cata unterdrückte ihr Schluchzen. »Du Narr, Jem, du warst nie ein Krüppel, wenn wir beide zusammen waren. Weißt du nicht mehr, wie du damals zu mir in den Wildwald gekommen bist, lange bevor deine Suche begann? Es gab da eine Magie zwischen uns, schon damals. Du hast meine Hand genommen, und plötzlich spielten deine verkrüppelten Beine keine Rolle mehr. Mit mir konntest du gehen. Das war kein Schicksal, Jem, das war ich… du und ich. Du bist mit mir gelaufen, Jem, gelaufen!« Cata wollte weitersprechen, aber Jem hörte nicht mehr zu. Mittlerweile atmete er nur noch keuchend, und es bereitete ihm sichtlich Schmerzen. Aber zwischen den einzelnen Atemzügen gelang es ihm, seine letzten Worte zu formen. »Ich habe dich geliebt, Cata… möchte, dass du weißt, dass ich dich immer… geliebt habe. Und wenn ich weiterlebe… in einer Welt jenseits dieser Welt… werde ich dich immer noch lieben, Cata. Es hört nicht auf, und nichts kann… mir meine Liebe zu dir nehmen… Meine Liebe ist für immer… für immer und ewig, Cata.« Jem sank zurück, als sein Leben schließlich erlosch. Das war also der Tod, endlich der Tod! Aber ja, er hatte Recht: So war es besser. Der Schmerz war zu Ende, und er gab sich dem Ende willig hin. Aus der Ferne hörte er Schreie, die immer schwächer wurden. Meister Jem! Bitte, nicht… Er ist tot, er ist tot… Nein, das kann er nicht, er darf nicht… Dann verstummten auch diese Schreie, und Jem war weit weg, stand auf einem Hügel an einem sonnigen Nachmittag, und eine gewundene Landstraße breitete sich 255
fahl vor ihm aus Ja, das war der Tod, und dies war der Weg. Doch dann geschah etwas noch viel Merkwürdigeres. Konnte das ein Trick sein, eine Täuschung des versiegenden Lebens? Er hörte, wie eine Stimme näher kam. Vielleicht war es nur ein Flüstern, ein heißer Atemhauch an seinem Ohr, und vielleicht erklang sie nur in seinem Kopf. Erst freute er sich, denn es war Cata… Cata, die noch ein letztes Mal zu ihm sprach. Doch dann packte ihn die Furcht. Und schließlich der Schmerz. Jem, ich habe gesagt, dass ich dich niemals sterben lassen würde. Und das werde ich auch nicht tun. Meine Liebste, du kannst es nicht aufhalten. Nicht mehr. Das kann ich wohl. Ich habe mein ganzes Leben diese Macht in mir gehabt. Aber natürlich. Du warst es, Cata, die unsere Welt gerettet hat. Es waren wir beide, Jem. Deine Kräfte und meine. Aber meine Kräfte sind erschöpft, Cata. Meine sind versiegt. Meine aber nicht. Ich werde jetzt deine Hände nehmen, Jem. Cata… Cata, was machst du da? Hab keine Angst. Ich muss es tun. Denn ich liebe dich. Cata… Cata, nein! Cata, hör auf! Die letzten Worte rief Jem laut. Aber er war nicht der Einzige, der schrie. Waren das Landa und Myla, die Cata anflehten, als ihre Ahnung zu einer plötzlichen, schrecklichen Gewissheit wurde? Und wessen Stimme schrie da: Tod! Es ist der Tod! Aus wessen Kehle drangen diese schrecklichen, schmerzerfüllten Schreie zum Himmel empor? Jem stand nackt da, und sein Mantel rutschte von ihm herunter. Dann war da auch Cata, die plötzlich in seine Arme sank. Sie klammerte sich an ihm fest, hing an ihm. Und dann sank sie langsam zu Boden. Er lag neben ihr und küsste ihre Augenlider, nachdem 256
sie sich geschlossen hatten. War das ein Lächeln, das über ihre Lippen glitt? »Oh, meine Liebste, was hast du getan?« Der Schnee war so kalt, so schrecklich kalt. Dann war Nirry neben ihm, keuchte und zitterte. »Miss Cata… Da war ein Licht, das aus ihr herausströmte…« »Sie war zu schwach«, sagte Myla und schluchzte. »Nach dem Kampf mit Sassoroch war sie – « »Ihre Essenz«, stöhnte Landa. »Sie versiegt, sie versiegt…« Jem konnte sie nicht hören. Seine Freunde standen zwar alle um ihn herum, aber sie schienen weit weg zu sein. Es gab nur Cata für ihn, und Cata war verloren. Er umarmte sie fest, so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Aber sie war schon kalt, so kalt! Jem war vor Schreck wie betäubt und sah sich verständnislos um. Es war später Nachmittag. Es wurde allmählich dunkler, und es schneite wieder. Hoch oben am Himmel leuchtete der purpurne, pockennarbige Mond. Dann kam die Vision. Jem stolperte erschreckt zurück. Einen Moment lang versuchte er noch, Cata festzuhalten, aber er konnte nicht verhindern, dass sie ihm aus den Armen glitt. Vage bemerkte er, dass jemand vielleicht Rajal oder Hul – ihm den Mantel um die zitternden Schultern legte. Aber er konnte ihn nicht festhalten, sondern ließ ihn achtlos zu Boden sinken, während er auf die regenbogenfarbenen Roben schaute, das golden strahlende Gesicht. Er hörte Musik, ein Lied. Und von irgendwo, von einem verborgenen Platz tief in seinem Verstand, drangen die Worte des Harlekins in sein Bewusstsein, der ihm gesagt hatte, dass dieser Augenblick vorbereitet worden war. Immer näher rückte diese blendende Vision, schwebte über den verschneiten Boden. Mittlerweile musste Jem die Augen zukneifen und sie mit der Hand vor dem Licht schützen. Dann wurde das Licht schwächer und verblasste allmählich. Und endlich konnte Jem das Gesicht der Kreatur sehen. Er schrie auf 257
Cata! Sie trug Catas Gesicht! Sofort zog sich die Vision wieder zurück und verschwand zwischen den Ruinen der Redondo-Gärten. Schluchzend rief Jem Catas Namen und verfolgte sie. Irgendwo hinter ihm waren Rajal und Aron, aber Jem lief zu schnell. Er stolperte und fiel auf die Knie. Es nützte nichts, es half nichts. Die Kaiserin des endlosen Traums war verschwunden und hatte Catas Essenz mit sich ins Unergründliche genommen. Jem schlug die Hände vors Gesicht. Das war also seine Errettung. So und nicht anders würde es also sein. Er atmete tief durch. Er konnte nicht einmal mehr schluchzen und fühlte die Kälte kaum, die seine Haut zu einem gefleckten Purpurblau färbte. Was sollte er auch fühlen außer Verständnislosigkeit? Eine Verzweiflung, die ihn den Rest seines Lebens begleiten sollte. Ach, Cata, Cata! Hatte sie gewusst, dass sie sterben musste, wenn sie ihm ihre letzten Kräfte schenkte? Hatte sie wirklich vorgehabt, ihn zu verlassen? Und ihr gemeinsames Kind mitzunehmen? Jem wusste nichts außer dem einen: dass er jetzt allein war und immer allein sein würde. Gestrandet in eben der Welt, die er gerettet hatte. Aber so ganz allein war er nicht. Ein leises Kichern drang an seine Ohren. Mädchenhaftes Gelächter. Jem blickte ausdruckslos auf. Es war Jeli. Die Königin hockte auf einer zerstörten Mauer und spielte mit ihren blonden Locken. Sie biss sich auf die Lippen und betrachtete den nackten jungen Mann. Schüchtern senkte sie den Blick, summte ein kleines Liedchen und lachte dann erneut. Jem schüttelte den Kopf. Jeli? Jeli Vance? Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, was wohl aus ihr geworden war, ja, es hatte ihn nicht einmal gekümmert. Und es interessierte ihn auch jetzt nicht Wie konnte Jeli am Leben sein, wenn Cata sterben 258
musste? Verzweifelt rappelte sich Jem auf. Er schämte sich nicht einmal wegen seiner Nacktheit, ihm war nur kalt. Ihm klapperten die Zähne, und er rieb sich die Schultern, schlang seine Arme um sich und dachte ironisch, dass er sich den Tod holen könnte. Vielleicht hatte er ihn sich ja schon geholt, er hoffte es jedenfalls. Vermutlich war er jetzt König von Ejland. König! Was bedeutete ihm das noch, wo Cata nicht Königin sein und an seiner Seite sitzen konnte? Er drehte sich um. Er musste zu seinen Freunden zurückkehren. Aber jetzt stand jemand anders vor ihm. Ein großer Mann in einem purpurnen Kostüm. Jems Augen weiteten sich. Und Entsetzen packte ihn, als er in ein Gesicht blickte, das ihm sowohl vertraut als auch fremd vorkam. Nein! Nein, das konnte nicht sein! Doch erneut dachte er an den Harlekin – oder vielmehr an Agonis-Im-Unergründlichen –, der ihm von seinem gescheiterten Versuch erzählt hatte, sich wieder zu vereinigen. Und er dachte an Toth, der den glühenden Kristall weggeschleudert hatte, bevor der Stein die Chance bekam, dieses Werk zu vollenden. Was hatte Agonis noch gesagt? Eine andere Vereinigung. Ja, und zwar eine Fusion, die Jem niemals erwartet hätte. Der Rote König und der Blaue, der Blaue König und der Rote. So lange hatten sie miteinander gerungen, waren hin und her gesprungen wie die kleinen Handpuppen in den Buden auf den Vaga-Jahrmärkten. Aber jetzt gab es etwas anderes als Blau und Rot. Es gab einen dritten Weg. »Komm, Prinz, du holst dir noch den Tod.« Es war Jems eigener Gedanke, den er diesmal aus dem Mund dieses vertrauten Fremden hörte. In der Nähe stand ein Zug Blauröcke, die jetzt natürlich die falsche Farbe trugen, aber sie waren bereits zu ihrem neuen Herrn übergelaufen Hände legten sich auf Jems Schultern. Und ein Umhang wurde ihm übergelegt. 259
Trotzdem konnte er nur dastehen und starren. »Also wirklich, Prinz«, sagte der Mann in Purpur. »Du willst hier nackt herumtollen? Ausgerechnet in den Redondo-Gärten? Und dann noch bei einem solchen Wetter! Ich will ja gern eingestehen, dass in unserer Familie seit alters her eine gewisse Neigung zur Exzentrizität vorgeherrscht hat, aber das hier geht doch ein bisschen zu weit. Ein kleines bisschen, hm? Für meinen Sohn und Thronfolger? Ach, und dein Gesicht! Es geht dir wirklich nicht gut… Komm, wir müssen dich zum Palast zurückbringen.« Ejard Purpur lächelte ihn liebevoll an. Doch in den Augen des neuen Königs glomm ganz weit hinten ein schwacher, kaum wahrnehmbarer, lilaner Glanz.
Das Merkwürdigste auf der Welt ist die Art, wie die Zeit vergeht. Nach diesem Krieg mussten viele erwartet haben, dass Ejland jetzt für immer im Griff der Kälte bleiben würde, denn das neue Zeitalter konnte ja nur eines des ewigen Eises sein. Wenn man in den Ruinen von Agondon stand, die sich schwarz gegen den Schnee abhoben, musste sich eine solche Schlussfolgerung förmlich aufdrängen. Es sah aus, als sollte der Fluss für immer wie ein Spiegel daliegen und als sollte das Licht bereits früh am Nachmittag schwächer werden. Das waren die neuen Verhältnisse in der Welt. Es würde keine andere geben. Jem jedoch beteiligte sich nicht an diesen Spekulationen. Für den Thronfolger bestand die Jahreszeit aus wilden, unnatürlichen Feuern, aus fieberndem Schweiß in einer überhitzten Kammer Man hörte viel besorgtes Getuschel an seinem Krankenbett, und viele Gebete wurden seinetwegen gesprochen. Und das nicht nur im Palast. Für Prinz Jemany wurden viele Nachtwachen gehalten, oft von frierenden, zerlumpten Gläubigen in zerfallenen Tempeln. Wenn auch nur wenige begriffen, wie viel sie ihm in Wirklichkeit verdankten, machte das für sie keinen großen Unterschied. Er war der Sohn des neuen Königs, und das genügte. Für alle, außer für Jem. In seinen wenigen wachen Mo260
menten sehnte sich Jem nach dem Tod. Oft glaubte er, dass er nahe war und ihn gleich holen würde. Häufig winkte er ihn näher zu sich, lockte ihn, spielte mit ihm. Wenn ihn etwas trösten konnte, dann war es der Gedanke, dass er bald in seine Umarmung sinken würde, dass er bald in dieses unentdeckte Land aufbrechen würde, nur mit dem dunklen Gefährten als Führer an seiner Seite. Genauso sicher, wie der Schnee fallen und Wasser gefrieren würde. So sicher, wie auch das Tageslicht bald enden musste. Aber es sollte anders kommen. Der Tod, das wissen alle, ist zwar von Dauer, doch sein Triumph über einen jungen Menschen von kaum zwanzig Jahren ist keineswegs so sicher. Vor allem dann nicht, wenn dieser junge Mann vor seiner Krankheit besonderer Kräfte teilhaftig wurde, die ihm durch seine Geliebte eingegeben wurden. Vielleicht waren es ja diese Energien, die sich behaupteten und den Tod in Schach hielten und denen es sogar erfolgreich gelang, die gut bezahlten Dienste eines gewissen Meister Waxwell zu bekämpfen. Auf jeden Fall verschwand der dunkle Gefährte langsam, aber unaufhaltsam aus Jems Kammer. Auch wenn man wohl annehmen kann, dass er mehr als nur ein wenig verstimmt darüber war, einer solch schönen Beute beraubt worden zu sein. Zumindest konnte sich der Tod immer noch an anderen schadlos halten. Und die Ernte war in dieser Jahreszeit insgesamt sehr fett. Die Welt der Gelehrsamkeit, zum Beispiel, erlitt einen herben Verlust. Professor Mercol wurde bewusstlos in der Kammer der Verbotenen Texte aufgefunden und sollte sein Bewusstsein nicht mehr wiedererlangen. Er überlebte den Anbruch des neuen Zeitalters nur kurz. Seine letzte Handlung war die Nominierung für das Aon-Stipendium gewesen, wie seine Kollegen bald herausfinden sollten. Und seine Entscheidung lieferte Anlass für viele Kontroversen. Einige behaupteten, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, dass der große Mann wohl den Verstand verloren haben musste. Einige behaupteten, dass seine Wahl angefochten werden sollte. Aber eine Universität neigt wie jede andere Institution dazu, ihre Verfahren 261
gründlich zu überdenken. Weder sorgfältige Recherchen in den Statuten noch Beratungen diverser Komitees konnten ein Regelwerk finden, das diese Nominierung hätte aufheben können. Es gab zwar keinerlei Präzedenzfall, der sie unterstützt hätte, aber es gab auch keinen, der dagegen gesprochen hätte. Einige wiesen jedoch darauf hin, dass es eine Art Präzedenzfall gab, nämlich dass in der Geschichte der Universität bisher noch nie eine Nominierung des Verantwortlichen für die Vergabe des Aon-Stipendiums abgelehnt worden wäre. Und in Anbetracht des Andenkens an diesen großen Gelehrten blieb den Autoritäten der Universität keine andere Wahl, als dem letzten Wunsch des Toten zu entsprechen. Mercols Generation war in diesem letzten Zyklus des Sühneopfers schwer getroffen worden. Es gab viele Todesfälle, als wolle der Geist des neuen Zeitalters grausam, aber effizient eine Bresche durch die Alten und Gebrechlichen schlagen. Eines seiner Opfer war eine Frau, die uns als Lady Lolenda oder Berthen Waxwell bekannt ist. Eines Morgens befand sie sich auf dem Weg zum Gottesdienst, dem einzigen Trost ihrer alten Tage, als sie auf einer Eisplatte ausrutschte und stürzte. Da ihr eine Hand fehlte, konnte die unglückliche Frau sich bedauerlicherweise nicht an dem Geländer neben ihr festhalten. Das allein allerdings genügte nicht, sie zu töten. Sie war wohl bettlägerig, hätte aber noch viele Jahre leben können, wenn sich nicht eine starke Erkältung ihren anderen Leiden hinzugesellt hätte. So sollte sie weder ihren ehemaligen Geliebten Silas Wolveron noch ihren zeitweiligen Stiefsohn Poltiss Veeldrop mehr als einen Monat überleben. Außerdem gab es in diesem Jahr auch viele Epidemien. Während die Pest hauptsächlich in den unteren Schichten der Gesellschaft wütete, gab es auch kleinere Seuchen, die sich von solchen künstlichen sozialen Barrieren nicht aufhalten ließen. Grippe, Lungenentzündung und ähnliche Krankheiten gediehen auch weit außerhalb der Elendsviertel der Armen. Eine Weile fürchtete sogar der gefeierte Harlekin der Silbermasken – das Original, nach dem zweifellos mehrere andere Harlekins geschaffen wurden – um 262
seinen langjährigen Gefährten, den Clown. Er hatte so große Angst um ihn, dass einige sogar behaupteten, das alte Urgestein hätte seine Treue zu seinem Vaga-Gott aufgekündigt und sich unter den liebenden Schutz des Lord Agonis begeben. Das war wirklich eine sehr rührende Geschichte. Aber weder das Gerücht noch die Tatsache, dass es stimmte, genügten, um den alten Darsteller und seinen Freund zu retten, als der König eine neue und diesmal sehr gründliche Vaga-Säuberung anordnete. Es war eine vollkommen unerwartete Nacht-und-Nebel-Aktion, die jedoch in der vornehmen Welt eine Menge Beifall erntete. Einige hatten schon befürchtet, dass die Herrschaft von Ejard Purpur zu liberal sein könnte und auf diese Weise sogar die moralische Laschheit fördern würde. Nachdem sich die Lage allmählich wieder normalisiert hatte, erwies sich die Neuigkeit von dieser Säuberung als eine von zwei Nachrichten, die dazu führten, die Erholung einer anderen wichtigen Person des öffentlichen Lebens feiern zu können, deren Gesundheit in einem sehr bedenklichen Zustand gewesen war. Es handelte sich natürlich um Lady Cham-Charing. Und die zweite Nachricht, die ihr schlagartig zur völligen Genesung verhalf, war eine, die ihr persönlich und höchst ehrerbietig vom Ersten Minister überbracht wurde. Man gestattete ihr förmlich, in das Heim ihrer Familie zurückzukehren, welches das alte Regime illegalerweise während der Schlacht um Agondon requiriert hatte Constansia brach in Tränen aus, segnete den neuen König und bedankte sich demütig bei Lord Agonis, dass Gerechtigkeit und Gnade wieder in Ejland Einkehr gehalten hatten. Anscheinend war ihre Erschöpfung nur von kurzer Dauer gewesen, und schon bald war Constansia – in ihrem Krankenbett sitzend und mit Mops an ihrer Seite – wieder voll und ganz mit den notwendigen Renovierungen des Cham-Charing-Hauses beschäftigt. Keine Kosten sollten gescheut werden, und es wurden auch keine Kosten gescheut. Constansias Glück wäre vollkommen gewesen, wenn da 263
nicht Tishy gewesen wäre, die sie noch mehr zur Verzweiflung brachte als früher. Denn wer sollte letzten Endes Agondons führende Gastgeberin werden, nachdem Lady Umbecca von der Bildfläche verschwunden war? Mildra Venturon? Schwerlich. Der Sohn der armen Lady Venturon war im Krieg ums Leben gekommen, und einige meinten, ihre Trauer um ihn würde wohl niemals enden. Und was Baroness Bolbarr anging… ihr schönes neues Haus war – tragischerweise – dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Aldermyle-Residenz war ebenfalls nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Cham-Charing-Anwesen dagegen war, was Constansia ja schon immer gewusst hatte, aus härterem Stein erbaut. Und die Welt sollte schon bald sehen, wie hart dieser Stein war. »Nicht wahr, Mops? Nicht, mein Schätzchen?« Von Glückseligkeit eines solchen Ausmaßes konnte in den Reihen der niederen Klassen keine Rede sein. Viele Arme machten Feuer in den Ruinen, gingen tunlichst den herumstampfenden Patrouillen aus dem Weg und fanden nicht einmal Trost durch das Ende des Konflikts. Sie litten unter dieser Jahreszeit, als würde der Krieg einfach nur auf eine andere Art und Weise weitergeführt. Es hätte eines ganzen Menschenalters bedurft, um allein die Verluste der niederen Stände aufzuzählen; außerdem sind in dieser Geschichte viele Namenlose gestorben, die nur dazu dienten, Menschenmengen zu bilden oder die Schlachtreihen bei einem Gefecht aufzufüllen. Dennoch sind drei von ihnen besonders zu erwähnen, drei, von denen kein Einziger jemals eine Einladung in das Haus der Cham-Charing erhalten hätte. Der Erste war Nirrys Vater, Stephel Jubb, der rasch den Verlockungen der Flasche erlegen war, nachdem Lady Umbecca ihn aus ihren Diensten entlassen hatte. Nach Gin stinkend, von seinem Erbrochenen ganz zu schweigen, starb er eines Nachts zusammengesunken auf einer Türschwelle, kurz nachdem Jem die Welt gerettet hatte. Seine Tochter hätte ihn ohne weiteres zu sich nehmen können, wenn sie ihn denn gefunden hätte. Die Katze 264
&Krone hatte nur wenig Schaden erlitten und florierte sehr bald wieder, zusammen mit dem anderen Gewerbe, für das die Redondo-Gärten berühmt waren. Aber das Leben in einer Taverne wäre für den alten Mann gewiss nicht gut gewesen. Außerdem hätte sein Zustand sicher nur zu Nirrys Bestürzung beigetragen. So sollte sie also niemals erfahren, was aus ihm geworden war. Der zweite merkwürdige Todesfall trug sich weit entfernt zu, in Nirrys Geburtsort, der auch der von Cata und der von Jem war. Dort hauchte eine gewisse Lady, die einstmals gut in die Redondo-Gärten gepasst hätte, in eben jener Gefängniszelle ihr Leben aus, in der sie den größten Teil dieser Geschichte zugebracht hatte. Unbeklagt wurde Wynda Throsh in ein Armengrab geworfen, und danach marschierten die Totengräber, die diese Arbeit ziemlich durstig gemacht hatte, in ein Etablissement, das direkt neben dem Dorfanger lag, um ihren Durst zu löschen. Die Taverne war als der Träge Tiger bekannt und befand sich schon seit längerem unter neuer Leitung. Und zu dieser Zeit ergänzte eine dritte Person, ebenfalls eine Gefangene, und zwar in einem Vaga-Lager in AraZenzau, die bereits erwähnten Todesfälle. Es war eine alte, gebeugte und verwelkte Frau, die schon lange am Ende ihres Lebens verweilt hatte. Sie konnte die Entbehrungen dieses Lebens in Gefangenschaft, die wahrlich nicht ihre erste war, wie sie bedauernd sagte, kaum noch ertragen. Die jüngeren Mitglieder ihres Volkes wurden von der Aura ihrer Macht angezogen. Sie waren davon überzeugt, dass die alte Frau nur durch ihre Magie am Leben erhalten wurde. Eine Weile, so begriffen sie, hatte sie auch in Agondon gelebt. Aber nach den letzten Säuberungen war sie von ihren Freunden getrennt worden. Sie sprach oft von ihren Enkelkindern, und manchmal, wenn sie von ihnen redete, wurde sie von Krämpfen geschüttelt. Visionen drohten ihr die Augen zu verbrennen, und sie konnte nur schreien und schreien. Sie schrie noch, wenn die Wachen kamen und sie schlugen, damit sie endlich verstummte. Doch selbst als sie gebrochen und zerschmettert war, glomm immer noch Leben in ihr, und voller Leidenschaft sprach sie von einer 265
Zeit, in der sie Rajal und Myla wieder in die Arme schließen würde. Aber dieser Wunsch wurde ihr nicht gewährt. Man kann der Natur eben nur eine gewisse Zeit trotzen, selbst wenn man Xal, die Große Mutter, ist. Also begab es sich, dass die Kälte andauerte und die Hoffnung vieler unter sich begrub und die Träume einiger weniger erfüllte. Aber die Jahreszeit sollte, auch wenn sie lang war, unnatürlich lang, nicht ewig dauern. Sie verschwand allmählich, das Eis brach, der Schnee schmolz, und das Gras kehrte wieder, die Blumen und Bäume trieben Blätter. Die Tage wurden länger, und die Vögel kehrten zurück. Regenschauer verdrängten das Schneetreiben, dann verschwand auch der Regen, und der Himmel schimmerte erst zögernd, dann immer strahlender in einem blendenden Azur. Diese Theron-Jahreszeit, so sagten viele voraus, würde die schönste seit Menschengedenken werden. Wärme verbreitete sich wie ein Göttergeschenk im Land, und während sie sich ausbreitete, schien es, als ob tatsächlich eine Art neues Zeitalter in Ejland angebrochen wäre. In ganz Agondon wurde gehämmert, verputzt, gemalt und Zement gerührt. Der Hafen erwachte wieder zum Leben. Der Handel blühte auf und die Gesellschaft ebenfalls. In den Redondo-Gärten stellte Nirry – oder vielmehr Zappelphilipp unter Nirrys Aufsicht – Bänke vor der Katze &Krone auf und steigerte damit enorm den Umsatz. Lady ChamCharing kehrte in ein Anwesen zurück, das jedem viel prachtvoller vorkam, als es jemals zuvor gewesen war. Sie gab augenblicklich eine kleine intime Soiree für – na sagen wir – zwei- bis dreihundert der vornehmsten Adligen. Eine Soiree, die, so waren sich alle einig, ein gewaltiger Triumph war. Im königlichen Palast begann der Thronfolger zunächst damit, sich aufzusetzen, dann zu sprechen und schließlich zu gehen. Es war eine überaus patriotische Zeit. Die neue purpurne Fahne war erst kürzlich vorgestellt worden, und die Streitkräfte wirkten großartig in ihren purpurnen Unifor266
men. Gleichzeitig wurde Mr. Eignars Reichshymne endlich mit Strophen von Mr. Coppergate vervollkommnet, Ejlands größtem lebendem Poeten. Sie wurde in der Wrax-Oper unter gewaltigem Applaus uraufgeführt, und das zündende Lied wurde bald in allen Kasernen und Schulen von Ejland und seinen Provinzen gesungen. Die Nachricht von Prinz Jemanys Genesung konnte diese Welle von imperialem Stolz natürlich nur noch verstärken. In ganz Agondon wurden Feierlichkeiten veranstaltet, die sich bald auch in den vielen Reichen fortsetzten, die unter dem Zepter des Agonis standen. Sofort wurde der Prinz, obwohl ihn nur wenige je zu Gesicht bekommen hatten, ein Idol der Massen. Es gab zahllose Radierungen, Porträts und Büsten von ihm, von denen ihm allerdings keine auch nur annähernd ähnlich sah. Es gab mit seinem Konterfei bemalte Teeservice und illustrierte Fächer. Liederblätter, Zeitungen und hastig zusammengeschusterte Biografien deklamierten inhaltlich zwar vage, dafür aber umso leidenschaftlicher die Rolle, die der Prinz bei der Rückkehr seines Vaters auf den Thron gespielt hatte. Reizende junge Schauspieler stellten ihn auf diversen Bühnen dar, obwohl sie dabei immer in hoch aufgerichteten Stellungen posierten. Und Priester, Schullehrer und Eltern im ganzen Königreich bemühten ihn als Beispiel für Pflichterfüllung, Heroismus und patriotische Leidenschaft. Sie empfahlen der Jugend dringend, doch bitte in seine Fußstapfen zu treten. Für den Hof war diese Gelegenheit einfach zu willkommen, um sie sich entgehen zu lassen – jedenfalls flüsterten das einige Zyniker. Denn gerade in diesem Moment verkündete Seine Kaiserliche Agonistische Majestät, König Ejard Purpur, dass seinem geliebten Sohn – sowohl um seine Genesung zu feiern, als auch, um mit der angemessenen Ernsthaftigkeit seine Verbundenheit mit dem Reich zu symbolisieren – der Titel Prinz von Zenzau verliehen werden sollte. Besser noch, diese Amtseinsetzung, wie es im offiziellen Jargon hieß, sollte zur Sonnenwende des Theron stattfinden. Dafür war eine gewaltige Zeremonie im neu renovier267
ten Großen Tempel von Agondon angesetzt. Königliche Gäste und andere vornehme Würdenträger aus der gesamten bekannten Welt waren eingeladen worden. Die erregte Öffentlichkeit konnte kaum im Zaum gehalten werden. Es war die Sonnenwende des Theron. Der Große Tempel. Morven und Crum. Ihr Standort direkt innerhalb des Haupttores war mit Sicherheit alles andere als beneidenswert. Sie waren beinahe so weit weg vom Altar, wie man innerhalb des Tempels sein konnte, und dann blockierten auch noch massive Pfeiler ihre Sicht. Doch was machte das schon? Um an diesem Ort zu sein, hätten viele einen Mord begangen. Morven und Crum konnten sie jetzt hören, die Menge, die draußen wogte, jubelte und applaudierte, während eine Kutsche nach der anderen ihre berühmten Gäste vor dem Portal absetzte. »Aber er ist doch ein Ejländer, Morvy, hab ich Recht?«, fragte Crum. »Das ist er doch, Morvy, oder?« »Leise, Crum. Worauf spielst du an?« »Ich flüstere doch nur. Aus dem Mundwinkel.« »Narr, hast du vergessen, wo wir sind?« »Sei nicht albern, Morvy, wie sollte ich das vergessen? Außerdem macht die Menge genug Lärm.« »Die dürfen das. Wir nicht.« Crum sog beleidigt die Luft durch die Nase. Der Lärm draußen war nur ein Vorspiel. Die Menge erwartete den Prinzen, aber der würde erst auf dem Höhepunkt der Zeremonie erscheinen, und zwar allein in einer besonderen Kutsche. Crum hatte nicht ganz ohne Berechtigung gefragt, wie sie wohl den richtigen Zeitpunkt dafür abpassen wollten. Die Straßen waren voller Menschen. Andererseits, vermutete Crum, waren sie auch voller Wachen. »Aber das ist er doch«, sagte Crum beharrlich. »Hab ich Recht, Morvy?« Sein Freund seufzte. »Wovon redest du eigentlich?« 268
»Prinz Jem. Er ist doch ein Ejländer, hab ich Recht?« »Natürlich ist er das, Crum. Was sollte er sonst sein?« »Na, genau das ist es, was ich nicht verstehe.« Crum deutete auf den Thron von Zenzau, der glitzernd und riesig hoch oben am Ende des Hauptgangs stand. »Jem ist Prinz von Ejland. Wie kann er auch noch Prinz von Zenzau sein?« »Also Crum, wirklich! Habe ich dir das nicht schon erklärt?« »Du hast es versucht. Aber hauptsächlich hast du von Mr. Vytoni geredet.« »Und wie sonst, wenn ich fragen darf, soll jemand die Wissenschaft politischer Ökonomie verstehen, wenn man nicht auf Vytonis endgültige Analyse zurückgreift?« »Seine was, Morvy?« Morven verdrehte die Augen. »Crum, Ejland hat Zenzau erobert, ja? Sie haben den Akt der Einheit unterschrieben, ja? Sie haben sogar diesen verdammten monströsen Thron von Wrax hierher geschafft, was für die Zugpferde eine mörderische Angelegenheit gewesen sein muss, wenn ich dir das mal sagen darf…« »Bauer Ryles Zugpferd – «, begann Crum. »Aus diesem Grund«, unterbrach Morven ihn rasch, »gibt es diese Scharade. Und jetzt halt den Mund. Oder willst du, dass wir einen Verweis bekommen?« Crum war kein bisschen klüger, als er jetzt in düsteres Schweigen versank. Er wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass er Blenkinsop nicht weggegeben hätte. Achteten diese Jungs denn auch sorgfältig auf ihn? Abgelenkt betrachtete er die bunten Fenster, die Fächergewölbe, die Wandschirme und die Monumente. Er war mehr an den Leuten interessiert. Wie ein Fluss aus Seide, Juwelen und Gold, das in dem hellen Licht des Nachmittags glänzte, strömten Adlige durch die Türen und strebten ihren renovierten Bänken zu. Gentlemen zogen die Hüte, und Ladys lachten und wedelten kokett mit ihren bemalten Fächern. »Hör auf zu glotzen«, murmelte Morven. »Ich… Das mache ich doch gar nicht. Es… es ist nur der Kragen. Er ist zu eng.« 269
»Du wirst allmählich ein bisschen pummelig, Crum. Das liegt an des Kerzendrehers Tochter, hab ich Recht? Die stopft dich mit ihren Keksen voll.« Crum errötete. »Ich bin nicht pummelig. Das liegt nur an dieser Uniform. Mir war meine alte lieber.« »Wirklich? Du hättest sie ja ändern können.« »Morvy!« »Leise!« Crum schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Aber ich bin doch nicht pummelig, oder?« »Ich meinte mit ändern färben, Crum, nicht weiten. Purpurn färben.« »Was? Ach so, verstehe.« Crum lächelte, verfiel dann aber sofort wieder in seine düstere Stimmung. »Zohnny Ryles Schwesters Ehemanns Schwesters Baby hatte diese Farbe, weißt du. Genau so. Und Jumphrey, so hieß das Baby, ist tot geboren worden. Warum müssen wir eigentlich purpurn sein? Welchen Unterschied macht das schon?« »Ach, Crum, wenn wir das nur wüssten!« »Du meinst, du weißt es nicht, Morven?« Jetzt reagierte Morven gereizt. »Halt den Mund, Crum. Bitte!« Crum schniefte erneut beleidigt und überlegte, ob er sich wohl wenigstens an der Nase kratzen durfte. Er hoffte, dass er keinen Heuschnupfen bekam. Auf dem Bauernhof im Varl hatte er immer Heuschnupfen bekommen, und zwar schrecklichen Heuschnupfen. Sicher, hier gab es nicht viel Heu, aber Pelze konnten es auch auslösen. Und das war ein ziemlich großes Problem, denn immerhin sollten Morven und er die Hermelinschleppe des Prinzen tragen. Also würden sie hinter ihm her marschieren, wenn er zum Altar hinaufging. Crum war eigentlich ganz froh, dass er Blenkinsop nicht mitgebracht hatte. Plötzlich packte er Morvens Arm. »Sieh doch!« Morven schob ihn weg. »Idiot! Hör damit auf!« Doch diesmal ließ sich Crum nicht abschrecken. »Das ist Zappelphilipp, Morvy. Hast du sie nicht gesehen? Zappelphilipp und Nirry! Oh, sie haben uns nicht bemerkt. Sollen wir ihnen zuwinken?« 270
Es gab einen kurzen Kampf, in dessen Verlauf Morvens Muskete ziemlich lautstark zu Boden fiel. Eine adlige Lady – leider war es nicht Nirry – warf ihm einen tadelnden Blick zu. Morven lief rot an. »Du siehst schlimm aus, Morvy«, sagte Crum ein wenig später. »Reiß dich bloß zusammen. Richte deine Muskete. Und deine Brille. Du wirst uns noch einen Tadel einbringen, und was passiert dann mit uns?« Morven vermutete, dass es sich bei diesen Worten um ein Friedensangebot handelte. Aber er hatte keine große Lust, darauf einzugehen. Seine Stimme klang brüchig. »Ich wünschte, ich hätte das Aon-Stipendium bekommen. Es ist so ungerecht. Ich wünschte wirklich, ich hätte es bekommen.« »Ach, mach dir doch nichts draus, Morvy«, sagte Crum freundlich. »So ist es besser. Jedenfalls denke ich das.« »Was?«, zischte Morven. »Du hättest doch wieder zurück zur… zur Schule gehen müssen, hab ich Recht?« »Allerdings!« Morven schrie beinahe. »Na ja… Ich hätte dich vermisst, Morvy.« Überrascht blinzelte Morven seinen Freund an. Die Gäste hatten sich mittlerweile hingesetzt, und die Orgel fing an zu spielen. Und so versammeln wir uns hier, um zu preisen Dies göttliche Wesen auf Erden: Dieses prinzliche Wesen, dessen Tapferkeit Einen König erschütterte, der sich in einem Stall Suhlte Aus verruchten Sitten, Aus verruchten Sitten… Die Feierlichkeiten wurden mit Hymnen eingeläutet, die von dem Kaiserlichen Agonistischen Tempel-Chor dargeboten wurden. Angetan mit ihren purpurnen Talaren erhoben sich Hunderte von Jungen wie einer. Wie Musik aus himmlischen Sphären erfüllten ihre reinen Stimmen das Kirchen271
schiff und erhoben sich zu der gewölbten Decke wie der Geist der Menschheit selbst, der sich eifrig bemühte, diese unvollkommene Welt zu transzendieren Mit blauen Flaggen gegen den Himmel Verkündete der Königsbruder, welcher Alles Gute, alles Vertrauen und alle Werte Von dieser Welt genommen hatte, dass seine Herrschaft andauern würde Und keiner ihn besiegen könne, Und keiner ihn besiegen könne… »Ein bisschen anders als unsere beiden, was, Liebste?«, flüsterte ein gewisser Bursche in einer Bank der Lady neben ihm zu, ein bisschen zu laut allerdings. »Zappelphilipp, leise!«, erwiderte die Lady zischend. Ihr Hut, eine komplizierte Kreation aus Blumen, war besonders beeindruckend. »Aber du hast Recht«, fuhr sie dann sanfter gestimmt fort. »Ich glaube nicht, dass die beiden in diese Bande aufgenommen würden. Wenn ich mir nur vorstelle, was für ein Durcheinander sie dort anrichten würden«, fügte sie hinzu und kicherte. »He, Taggle, hör damit auf! Raggle, Schluss damit!« Die Waisen schauten mit unschuldigen Augen zu ihr hoch. Aber wie ein Hirte mit seinem Stab Führte der junge Prinz den Widerstand an: Das aufwallende Böse dieser Zeit Sollte nicht länger die Welt Von Ejland heimsuchen, Von Ejland heimsuchen… Eine zweite Stimme flüsterte etwas in Nirrys Ohr. »Und wer ist das da?« »Baines, nicht mit dem Finger zeigen!« Entschlossen drückte Nirry die ausgestreckte Hand nach unten. Wirklich, wer behauptete eigentlich, dass nur Jungen eine Last sein konnten? »Glaubst du nicht auch, dass dies 272
Lady Selinda ist?« Baines blieb hartnäckig. »Nein«, flüsterte Nirry. »Selinda ist die mit dem fetten Kindermädchen, siehst du? Sie stehen dahinten.« Also erhob der Prinz sein Schwert, Den Blick fest auf den Vater gerichtet: Und das Böse konnte nicht einmal wagen, Ihn anzusehen, sondern stürzte blutend Auf die Erde, um zu sterben, Auf die Erde, um zu sterben… »Die andere, glaube ich, die in dem ganzen Chiffonfummel, ja, das muss die Schimmernde Prinzessin sein. Sie vertritt ihren alten Vater. Er ist irgendein vornehmer Herrscher von irgendeiner Wüstenei, ein Scheich oder Sultan oder wie sie das nennen.« »Anscheinend ist sie ihrer Gefährtin ziemlich zugetan, hm? Auffällig zugetan, würde ich sagen.« »Diese Fremden haben manch seltsame Sitten, Baines.« »Leise!«, zischte man ihnen von einer Bank weiter vorn zu. Aber jetzt wurde ein neues Zeitalter geboren: Die Sitten des Purpurnen Reiches schätzten Vertrauen und Tugend wieder als Werte hoch Und schlugen das Buch Des Friedens in der Welt auf, Des Friedens in der Welt auf… Nach der Eröffnungshymne kamen die Reden. Aber es kann wohl trotz des ausführlichen Genuschels der Festredner nicht so endlos lange dauern, dachte Lady Cham-Charing, bis man einem jungen Mann eine Krone auf den Kopf gesetzt hatte. Und dabei waren einige der Gäste von so weither gekommen Schließlich bestieg Lektor Arden die Kanzel. Es war der Bursche, der durch die überraschenden Tode von Lektor Feval, Lektor Flonce und Lektor Garvice ins Amt des Großen Lektor gestolpert war. Er sprach von der heiligen Pflicht des Monarchen, denn schließlich war er der weltliche 273
Stellvertreter von Lord Agonis – oder vielleicht sogar für den Ur-Gott Orok? Und natürlich galt das auch für die Nachfahren des Monarchen. Der Lektor redete von einem Schwur, der geleistet werden musste, von einem Vertrag, der besiegelt werden sollte. Danach sprach der Erste Minister, der schleimige Mandy Heva-Harion, der etwas unzusammenhängend aus dem El-Orokon vorlas; dann kam der Erz-Maximus an die Reihe, der mit Robe, Mitra und Weihrauchfässchen auf die Kanzel schritt und noch mehr Worte über die Bedeutung dieser Amteinsetzung verlor… Alles in allem wirkte es tatsächlich wie eine uralte Zeremonie. Niemand hätte vermutet, dass man sie vor knapp einem Monat im Tempelkolleg im Eilverfahren aus der Taufe gehoben hatte. Aber Lady Cham-Charing hatte wenig Interesse an Zeremonien, die sie nicht selbst ersonnen hatte oder bei denen sie nicht selbst im Mittelpunkt stand. Sie streichelte den kleinen Terrier, der auf ihrem Schoß saß und ein kleines rosa Band um den Hals hatte. Sie musterte die bunten Fenster, die ihr verstorbener Ehemann gestiftet hatte, und blickte nicht zum ersten Mal zur königlichen Loge. Leise nahm sie eine Unterhaltung wieder auf, die sie sporadisch mit ihrer alten Freundin Mazy Michan – geborene Tarfoot – führte, die nach dem Tod ihres Ehemanns nach Agondon zurückgekehrt war und jetzt mehr oder weniger Lady Margraves Platz im Cham-Charing-Zirkel eingenommen hatte. Lady C.: »Nein, wirklich. Sie kann doch nicht immer noch Königin sein!« Lady M.: »Wohl eher Königinwitwe, findest du nicht?« »Eine Art Gefährtin? Eine Prinzessgemahlin?« »Oder hat sie etwa keine Position inne? Gar keine?« Es war eine höchst beunruhigende Vorstellung. Mit gerunzelter Stirn beobachteten die beiden alten Freundinnen die Gattin des vormaligen Königs. Wie frech das Mädchen in der königlichen Loge saß und ihre goldenen Locken um die Finger wickelte! Die Frage ihrer neuen Position hatte so manchen am Hofe vor ein Rätsel gestellt. Einige meinten, der König 274
müsse sie heiraten, glaubten, dass er sie insgeheim schon immer geliebt habe, und ließen durchsickern, dass er sie sogar schon heimlich geehelicht habe. Auf jeden Fall war es eine höchst unorthodoxe Angelegenheit. Mazy wedelte mit ihrem Fächer, als wollte sie diesen Punkt unterstreichen. »Er kann sie nicht heiraten! Die Frau seines Bruders? Außerdem hat das Mädchen nie viel hergemacht.« »Jedenfalls nicht, solange diese fette Frau in ihrer Nähe herumgluckte«, bemerkte Constansia bissig. »Andererseits, wer von uns hat das schon? Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht, Sir Pellion?«, fuhr Mazy fort und drehte sich zu dem alten Gentleman um, der an ihrer anderen Seite saß. »Constansia sagte mir, dass Ihr Euch niemals wieder in der Öffentlichkeit zeigen wolltet.« »In einer neuen Ära«, kam die Antwort, »muss man viel erdulden.« »Eine sehr weise Antwort, Sir Pellion«, strahlte Lady Cham-Charing, während der alte Mann keuchend in sein Taschentuch hustete. Es gab eine Pause zwischen den Reden, was die Unterhaltung erleichterte. »Ihr versteht jetzt vielleicht, wie übereilt es von Euch war, meine kleine Abendveranstaltung zu meiden? Ich musste auch viel erleiden und habe dennoch überlebt, oder? Und gibt es nicht vieles, was ich ertragen muss?« Bei dieser letzten Bemerkung bekam die Stimme der Lady einen stählernen Unterton. Es gab vieles, wofür sie dankbar war, das stimmte. Die Renovierung ihres Hauses war ein Triumph. Es würde eine zweite Soiree geben und eine dritte. Die diesjährige Nachmittagsfeier würde die beeindruckendste werden, die jemals veranstaltet worden war. Aber wirklich, was sollte sie nur mit Tishy machen? Wenn das Mädchen selbst heute, an diesem besonderen Tag, ein modriges Buch auf dem Schoß hatte und darin las, dann war ihr Fall wirklich hoffnungslos! Die bestürzte Mutter schaute Freddy Chayn an, der glücklich dicht neben der kleinen Miss Quisto saß. Genauer gesagt, neben der Prinzessin von Chayn. Lady Cham-Charing streichelte Mops. 275
Die goldenen Locken drehten sich. Jeli gab sich ihren Gedanken hin. Meister Waxwell saß hinter einem Vorhang bereit, für den Fall, dass seine Dienste benötigt werden sollten. Aber er hatte ihr bereits eine großzügige Dosis von einer gewissen schwärzlichen, klebrigen Substanz verabreicht, von der Ihre Königliche Majestät in letzter Zeit immer abhängiger geworden war. Mit einem aufgesetzten Lächeln ließ sie den Blick über die Gäste gleiten, und die bunten, strahlenden Gewänder der Fremden verschwammen vor ihren Augen. Wer war das denn, dieser Bursche mit dem Pferdeschwanz? Der Botschafter von Lania Chor, richtig. Alle behaupteten, er wäre ein ziemlich wilder Kerl. Und der da? Der Triarch von Hora? Na ja, einer von ihnen jedenfalls. Und die da… diese fremden Schönheiten, vornehme Ladys aus Ländern, in denen Ladys, jedenfalls nach Jelis Wissen, weit eingeschränkter leben mussten als hier? Und diese Schimmernde Prinzessin, also wirklich! Das Mädchen war nicht annähernd so schön, wie alle behaupteten. Jeli kicherte. Wie hatte ein Witzbold es ausgedrückt? Es ist alles mit Spiegeln gemacht worden. Ja, das musste sie unbedingt behalten. Ihr Blick glitt weiter, über Frauen wie Constansia ChamCharing, die Jeli immer schon verachtet hatte, und Mistress Quick, die sie noch mehr verabscheute. Gab es denn niemanden, den sie lieben konnte? Sie empfand einen eifersüchtigen Stich, als ihr Blick auf ihre alten Schulfreundinnen fiel, Huskia Bichley und Erina Aldermyle. Beide waren längst verheiratet, und Erina hatte schon Kinder. Sogar zwei! Natürlich gab es da auch noch Jilda Chayn. Jelis presste die Lippen fest zusammen. Jilda! Glaubte die Schlampe wirklich, sie könnte alle Erinnerungen an ihren Ruin auslöschen? Nein, sie würde niemals vergessen dürfen, wer sie einst gewesen war. Dafür würde Jeli schon sorgen. Ganz bestimmt. Er bekam einen Stoß in die Rippen. »Je, Zappelphilipp, du 276
machst es schon wieder!« »Nein, Liebes«, erwiderte er flüsternd. »Aber ich konnte es noch nie leiden, wenn ich eine Perücke auf der Birne habe, das weißt du doch. Wie diese adligen Gentlemen das aushaken, ist mir schleierhaft.« »Vergiss den Adel, und sei einfach nur dankbar, dass wir hier sind. Weißt du eigentlich, wie viel Glück wir haben?« »Das ist wohl nicht nur Glück. Hatte Meister Jem dabei nicht auch seine Hand im Spiel?« »Es heißt nicht mehr Meister Jem. Etwas mehr Respekt, Zappelphilipp Olch!« Aber Nirry war nicht ganz aufrichtig. Würde der Prinz nicht auch für sie immer Meister Jem bleiben? Ach, natürlich! Wenn sie ihn nur noch einmal sehen und ihn kräftig herzen könnte! Aber das würde natürlich nicht gehen. Was war das Wort, das sie dafür benutzten? Protok… noch was. Baines lächelte abwesend. Sie hatte genug von den fremden Gästen, und ihr Blick blieb jetzt an dem König hängen, der weit entfernt in der königlichen Loge saß. Merkwürdig, aber in Rot hatte er ihr besser gefallen. Sah sie ihn nicht noch vor sich, wie er seine Pistole um den Finger wirbelte, unter seiner Maske lächelte und sie seine Einäugige Schönheit nannte? Dieser purpurne Bursche da oben war irgendwie nicht mehr derselbe »Eins verstehe ich aber überhaupt nicht«, sagte Zappelphilipp. »Wohin ist Miss Landa verschwunden? Wieso ist sie nicht hier?« »Dieses Mädchen war schon immer seltsam«, erklärte seine Frau. »Und jetzt ist sie noch merkwürdiger geworden. Na ja, sie ist wirklich etwas befremdlich geworden, seit…« Nirry unterbrach sich, aber nicht, weil dieser snobistische Sauertopf aus der Reihe hinter ihr sie in dem Moment zum Schweigen aufforderte. Nein, sie wollte nicht an Miss Cata denken. Nicht jetzt. Dann würde ihre ganze Schminke zerlaufen, und wie sah sie dann aus? Glücklicherweise bekam sie in dem Moment Gelegenheit, die Jungs zur Ordnung zu rufen. »Raggle! Taggle! Ihr 277
habt doch wohl nicht etwa diese Ratte mitgebracht? Hier in den Tempel! Oh, nein!« Blenkinsop sah sie unschuldig an, und nur seine Schnurrbarthaare zuckten verdächtig. Und als der junge Prinz das Grün überquerte, Waren die Farben der Liebe ganz deutlich zu erkennen, Wie sie hoch emporstiegen In flammenden Farben… Und so weiter und so fort. Dieses Lied wurde von der gesamten Versammlung gesungen, jedenfalls war es so gedacht. Einige jedoch, nicht zuletzt der Botschafter von Lania Choir, hatten Schwierigkeiten damit. In seinem Fall war das kein Wunder. Schließlich musste ein Dolmetscher ihm jeden einzelnen Vers übersetzen, bevor er ihn in seiner eigenen, barbarischen Sprache deklamieren konnte. Man hätte beinahe annehmen können, dass es ein barmherziger Akt gewesen wäre, den Burschen nach draußen zu bringen und ihn zu erschießen. Andererseits, dachte Constansia, würde das sicherlich einen ernsten diplomatischen Zwischenfall auslösen. Die Hymne kam schließlich zu ihrem wenig glorreichen Ende Es waren nicht unbedingt die besten Eingebungen gewesen. Im Tempelkolleg würden zweifellos Köpfe rollen. Constansia nahm sich vor, sich das zu merken. Ja, sie musste wirklich wissen, wer in Gnade stand und wer im Regen. »Nicht wahr, Mops?«, flüsterte sie und drückte den kleinen Terrier zärtlich. Aber jetzt hatte sie andere Probleme. Als sich die Versammlung wieder hinsetzte, fiel ihr Blick auf die Strümpfe ihrer Tochter. Grün? Selbst heute? Welch eine Närrin war sie doch gewesen, Professor Mercol zu vertrauen! Sie hatte ihn engagiert, damit er ihre Tochter von solchen Perversitäten abbrachte, und stattdessen hatte er sie noch darin bestärkt. Das Aon-Stipendium, 278
also wirklich! Für ein Mädchen! Mercol musste verrückt geworden sein. Oder er war in das Mädchen verliebt gewesen. Und wenn Tishy ihn auch geliebt hatte? Dann, dachte Constansia, wird sie sich eben neu verlieben. Was bleibt einer Mutter anderes, als zu hoffen? Sie beugte sich zu ihrer Tochter hinüber. »Du bist doch mit Prinz Jemany ganz gut ausgekommen, nicht wahr, Schatz?«, flüsterte sie dicht an Tishys Ohr. »Nun… ist dir eigentlich klar, dass es sich beim nächsten Mal, wenn es eine so vornehme Versammlung gibt, wahrscheinlich um eine… königliche Hochzeit handeln dürfte?« Tishy errötete. »Was willst du damit andeuten, Mutter?« »Nur… dass ein Mädchen gut daran täte, an seine Zukunft zu denken!« »Aber sicher. Meine ist das Aon-Stipendium.« Tishy lächelte traurig. Was hatte Mr. Vytoni noch geschrieben? Nur wenige Wohltaten verlassen die Hände derer, die uns regieren. Das Entscheidende ist, dass wir Herren unserer Gedanken bleiben. Dass sich in unserem Kopf, wenn schon sonst nirgendwo, ein Ort befindet, an dem wir frei sein können. Und war sie das nicht? Oh, sicher, mehr als einmal hatte sie bedauert, dass ihr Kollege, ein gewisser Mr. Hulverside, Agondon verlassen hatte. Man hätte annehmen sollen, dass er nur zu gern geblieben wäre. Wäre er nicht eine Zierde für den Hof gewesen? Vielleicht sogar ein großartiger Erster Minister? Aber Mister Hulverside hatte andere Pläne. Ganz andere. Und eines nicht so fernen Tages, sagte sich Tishy, werde ich ihm vielleicht sogar bei ihrer Verwirklichung helfen. In der Zwischenzeit jedoch hatte sie noch viel zu lernen. »Mutter«, sagte sie, ein klein wenig boshaft, »hast du eigentlich jemals einen Gedanken an den Harlekin und den Clown verschwendet? Sie sind verbannt worden, wusstest du das? Hast du das überhaupt erfahren?« Was war das denn für ein Unsinn? Natürlich wusste Constansia das. Sie nahm Mops in die Arme und liebkoste seine kleine, kalte Schnauze. »Aber es sind doch nur… Vagas, Schatz«, erwiderte sie 279
beiläufig. Die goldenen Locken wurden gedreht und gedreht. Jelis Ehemann – denn natürlich war er ihr Ehemann – beugte sich zu ihr. Er sah mit seiner Krone, seinem Hermelin und dem purpurnen Samt großartig aus. Erwartungsvoll deutete er auf den zenzaunischen Thron, dessen mit Juwelen besetzte Armlehnen in einem Lichtstrahl funkelten. Das bunte Glas der Fenster ließ sie in den Farben des Regenbogens schimmern. Liebevoll umfasste er ihre zarten, nervösen Finger. »Ist er denn bereit, meine Liebe? Bist du sicher, dass er bereit ist?« »Aber natürlich, Liebster.« Jeli nahm ihre Pflichten sehr ernst. Wie oft – oh, immer und immer wieder! – hatte sie nach dem zukünftigen Prinzen von Zenzau gesehen? Es war keine schwere Aufgabe, ihn anzusehen, und an diesem Morgen war es ihr mehrere Male, während er sich angekleidet hatte, gelungen, in seine Gemächer zu stürmen, während er noch nicht ganz angekleidet war Jeli hatte sich so gewünscht, in seiner Kutsche mitfahren zu dürfen. Sie nahm an, dass er mittlerweile durch die Straßen rollte und seinem Ziel näher kam, während die Wachen den Weg vom weinenden, flehenden Pöbel frei räumten, der verzweifelt versuchte, einen Blick auf diese königliche Person werfen zu können. Ja, er war nah. Jeli hörte, wie sich draußen das Geschrei steigerte. Wie er diese Reise allein überstehen konnte, ging über ihre Vorstellungskraft. Widmete er sich tatsächlich in diesem Moment der Meditation? Wer hatte eine so närrische Tradition ausgegraben? Hätte Jeli auf dem Weg zu ihrer Hochzeit meditieren können? Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Vieles hatte sich verändert, auch Jem. Als er endlich von seiner langen Krankheit genesen war, hatte Jeli gefürchtet, dass er wüten und weinen würde, wenn er von bestimmten Maßnahmen erfuhr, von notwendigen Maßnahmen, die das neue Zeitalter mit sich gebracht hatte. Zum Beispiel, was die Vaga anging. Diese dunklen Schwestern und Brüder waren schwerlich eine angemessene Gesellschaft für einen zu280
künftigen Monarchen. Dieses nervigen kleinen Jungen, Kleiner hieß er, hatte man sich ebenfalls entledigt. Ganz zu schweigen von diesem vulgären Burschen, der auf den Namen Stange oder Erbse oder etwas ähnlich Absurdes hörte. Sollte er doch im Alten Knast verrotten! Jem begann schließlich ein neues Leben. Sollten ihn da etwa alte Irrungen bekümmern oder ablenken? Der Plan hatte besser funktioniert, als man zu hoffen gewagt hatte. Jeli hatte nichts davon verlauten hören, dass er sich auch nur einmal beklagt hätte! Und zu ihrem besonderen Entzücken hatte er auch den Namen einer ganz bestimmten Lady kein einziges Mal erwähnt! Einen Namen, den Jeli auch nie mehr zu hören wünschte. Aber warum sollte Jem auch an Catty Veeldrop denken? Das war nur eine jungenhafte Vernarrtheit gewesen, mehr nicht, aus den Tagen, bevor er eine richtige Lady kennen gelernt hatte… Wenn er nur ihrem Charme gegenüber etwas aufgeschlossener gewesen wäre… Jeli traten Tränen in die Augen. Der Prinz, das stimmte, musste eine Braut finden. Aber zum Glück waren die Mitglieder der höheren Klassen nicht an die erstickende Moral ihrer Untertanen gebunden. Liebevoll malte sie sich die entzückenden Arrangements aus, die sich bald ergeben würden. Nicht, dass sie unglücklich gewesen wäre. Oh nein, überhaupt nicht. Geistesabwesend hatte die Königin – denn sie war natürlich Königin – den Druck der königlichen Hand erwidert. Dann jedoch erzitterte sie ein wenig. Passierte es schon wieder? Manchmal ging mit der Hand, dieser besonderen Hand, eine bestürzende Veränderung vor. Glücklicherweise hielt diese Veränderung nie lange an. Jeli konnte nur hoffen, dass es sich um eine Illusion handelte, einen Nebeneffekt, der durch ihre Medizin hervorgerufen wurde. Der Hand, dessen war sie sicher, fehlte manchmal ein Finger. Ja, es war jetzt fast so weit. Die Wachen am hinteren Ende des Tempels gaben ein Zeichen. Die Kutsche war gekommen, und schon bald wür281
de wie ein Bräutigam – nein, wie eine Braut – Ejard Purpurs lange verschollener Sohn durch den Mittelgang hinaufschreiten. Doch erst kam die Hymne. Gab es eine bessere Gelegenheit als diese, sie einzuweihen? Neben dem Altar bauten sich in ihren elegantesten Galauniformen die besten Musiker der Streitkräfte Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät auf, eine Armee aus Flötenspielern und Trommlern. Fahnen wurden entrollt. Die Chorsänger traten wieder aus den Kulissen, und diesmal stolzierte an ihrer Spitze, komplett mit Speer, behorntem Helm und Roben in den gleichen Farben wie die Reichsflagge, die gefeierte zaxonische Nachtigall, Miss Tilsy Fash. Applaus brandete im Tempel auf. Alle Langeweile war vergessen, als die Orgel anhub, die Flöten erklangen, die Trommeln rollten und wirbelten und sich darüber der etwas übertriebene Sopran der großen Diva erhob, die sich schon seit Jahren auf dem Höhepunkt ihres Könnens befand. Voran, Ejland, immer glorreich Voran gegen deinen Feind: Voran, gerecht und siegreich, Wohin nur die Kühnen gehen: Herrsche, herrsche, Ejland! Niemals, niemals falle! Ejland, Ejland, über allem Wehe dein purpurnes Banner: Jede niedere Rasse mit niederem Samen Soll sich vor dir preisend neigen! Es ging immer so weiter, Strophe um Strophe, Welle auf Welle patriotischer Glut, die sich in einer ekstatischen Begeisterung im Tempel ausbreitete. Miss Fash würde zweifellos sehr bald zu Dame Tilsy geadelt werden. Und am Ende hatten sich alle Anwesenden erhoben – bis auf Tishy allerdings, und das sehr zum Ingrimm ihrer Mutter –, trampelten mit den Füßen und schwenkten kleine Fähnchen. Nirry, Zappelphilipp und Baines sangen, Raggle und 282
Taggle jagten sich durch die Bänke, hüpften auf und ab und schrien sich die Kehle wund. Selbst Jeli bot eine charaktervolle Vorstellung, unterstützt von dem freundlichen Meister Waxwell, der in dem Moment hinter dem Vorhang aufgetaucht war, als er fürchtete, das Mädchen würde umfallen. Voran, Ejland, von des Zepters Gestaden Halt fern jedes Tyrannen Schlag: Voran, hinaus und immer weiter Werden sich deine Grenzen ausbreiten: Herrsche, herrsche, Ejland! Niemals, niemals falle! Ejland, Ejland über alles, Und im Licht des Morgengrauens lese ich… In fremde Erde wirst du mit männlicher Arbeit Den Samen deiner Erlösung pflanzen! Es gab zugegebenermaßen einen kleineren diplomatischen Zwischenfall. Der Botschafter von Lania Choir stürmte wutentbrannt aus einem Seiteneingang des Kirchenschiffes, nachdem er seinen Dolmetscher zusammengeschrien hatte. Seine Augen sprühten Feuer. Anscheinend wusste er diese letzten Früchte von Mr. Coppergates lyrischem Genie nicht sonderlich zu würdigen. Aber das war kein Anlass zur Sorge. In dem Durcheinander und dem allgemeinen Aufruhr wurde das fremdländische Gebrüll kaum wahrgenommen. Seine Kaiserliche Agonistische Majestät beobachtete es zwar, wohl wahr, aber er hatte dafür nur den Hauch eines Lächelns übrig. Voran, Ejland, Mutter der Freien Und Heimat der Tapferen: Voran und verbreite unaufhörlich Die Herrschaft über die Wellen. Herrsche, herrsche, Ejland! Niemals, niemals falle! Ejland, Ejland, über allem Wird deine Reichsfahne wehen. Auf dass keine Frau und kein Mann aus Ejland 283
Je als Sklave oder Vasall sterbe! Endlich war die Hymne zu Ende. Die Darsteller zogen sich zurück, aber die Gäste blieben stehen. Denn jetzt war es so weit! Der Moment, auf den alle gewartet hatten, war gekommen. Rund um den Tempel wurden ein letztes Mal die Bleistifte gespitzt, während die königlichen Künstler darauf warteten, die Zeichnungen zu skizzieren, die ihnen ein Vermögen einbringen würden! Die Ladys und selbst die Gentlemen hielten den Atem an. Wie viele Köpfe hätten sich, alle Aristokratie vergessend, liebend gern zum großen Portal umgedreht? Das Schweigen war eindringlich und beinahe körperlich spürbar. Und dann kam er. Der Schrei. Die Köpfe ruckten, ganz und gar unaristokratisch, herum. Die Leute schnappten nach Luft, und dann wurden die ersten Rufe laut. Jeli erbleichte. Der König war aufgesprungen und stürmte den Gang hinunter. Was hatte das zu bedeuten, diese verzweifelten Wachen, die sich in einer Hermelinschleppe wälzten, sich aufrappelten und dabei den zerbrochenen, schwankenden Leib einer… Vogelscheuche in Samt und Spitze enthüllten? Erst nachdem Seine Kaiserliche Agonistische Majestät eine der beiden Wachen so heftig geohrfeigt hatte, dass deren Brille in hohem Bogen davonflog, begann der schluchzende, auf dem Boden kriechende Narr seine Erklärung herauszustammeln, dass dies dieses Modell, dieser Kleiderständer, dieses Bildnis, diese Attrappe – das Einzige war, was in die Kutsche geschafft, das heißt eingeschlossen, soll heißen darin enthalten… Gnädigerweise fand der zweite Wachsoldat einfachere Worte. »Er ist… weg«, stotterte Crum. »Prinz Jem… ist verschwunden!«
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33. Man kann trotzdem frei sein In den Hügeln von Agondon ist das Gras grün und wuchert wild. Es gibt dort Löwenzahn und Gänseblümchen, Schmetterlinge und Bienen. Der Wind ist warm, und der Himmel leuchtet in einem hellen, strahlenden Blau, als ein junger Mann in der einfachen Tracht eines Hausierers die steilen Hänge emporsteigt, wobei er manchmal sogar etwas klettern muss. Auf dem höchsten Hügel bleibt er stehen und dreht sich um. Er atmet schwer. Dann beschattet er mit der Hand die Augen und blickt auf die Stadt hinunter, die er eben hinter sich gelassen hat. Da liegt sie, die große Metropole, die er geliebt und gehasst hat. Während er sich fragt, wann er sie wiedersehen wird und ob überhaupt, gleitet sein Blick über den Fluss, über das geschäftige Treiben an den Hafenanlagen, über den Handelsbezirk und die reiche Neustadt, über die Elendsgebiete, die als Vaga-Viertel bekannt geworden sind. Über die Insel. Und den Tempel. Jetzt muss er lächeln. Er kann kaum fassen, dass seine Flucht gelungen ist. Von dem Moment an, als er seine Krankheit überwunden hatte, wusste Jem, dass er sich verstellen musste. Wie liebevoll er die Umarmungen des Königs erwidert hatte! Wie herzlich er der neuen Reichshymne applaudierte! Als man ihm sagte, dass man ihn zum Prinzen von Zenzau machen wollte, ist Jem sogar in Tränen der Dankbarkeit ausgebrochen! Wie eine gehorsame Marionette hat er jeden Wahnsinn akzeptiert, der in seinem Namen durchgeführt wurde. Doch die ganze Zeit über hat Jem seine eigenen Pläne geschmiedet. Hul ebenso. Die Idee, dass Jem allein zum Tempel fahren sollte, nach allen anderen, war Hüls Einfall gewesen, und es war ein Geniestreich. Die Kreuztunnel waren sehr hilfreich gewesen, wie auch einige der Diener. Sogar der eine oder andere Höfling hatte ihnen geholfen. Damit hatten sie bewiesen, dass die Macht der Purpurröcke, wie jede Macht, ihre Grenzen hatte. Der Widerstand regte sich be285
reits, wie es das Wesen des Widerstands war und immer sein würde. Aber Jems Gedanken galten in diesem Moment seinen Freunden. Würde er sie wirklich wiedersehen, in den bislang nicht eroberten Ländern, die hinter Zenzau lagen? Ob Hul mittlerweile in Sicherheit war, wusste Jem nicht genau. Er wusste nicht einmal, ob es Landa gelungen war, Agondon zu verlassen und den Kleinen und Myla rechtzeitig hinauszuschmuggeln. Was Rajal anging, hegte Jem ernste Zweifel. Das Letzte, was er gehört hatte, war, dass Rajal sich weigerte, die Stadt zu verlassen, solange Bohne – sprich Aron – im Alten Knast schmorte. Er hatte geschworen, seinen Geliebten zu befreien, koste es, was es wolle. Landa hatte auf sie warten wollen, aber der Kleine und Myla waren in zu großer Gefahr. Es war schließlich Rajal gewesen, der darauf gedrängt hatte, dass sie gehen sollten. Der arme Rajal! Er war vielleicht schon tot. Jem hatte gehört, dass sie ihn angeblich bereits am nächsten Tag ergriffen hatten. Das war durchaus möglich, mehr noch, sogar wahrscheinlich. Aber vielleicht ja auch nicht. Vielleicht versteckte sich Rajal ja noch irgendwo verkleidet in der Stadt, schmiedete Pläne und sammelte neue Gefährten um sich. Schließlich kehrte Jem der Stadt den Rücken zu. Zuerst ging er langsam bergab, dann rannte er förmlich. Er begab sich über die Felder zur fahlen Landstraße, die blass und staubig in der Sonne vor ihm lag. Die ganze Welt, so sagte er sich, lag vor ihm. Es war ihm gleichzeitig merkwürdig leicht und schwer ums Herz. Er war auf eine lange Reise gegangen, um die Welt zu retten, und hatte mehr oder weniger Erfolg damit gehabt. Aber durch seinen Akt hatte er auch neues Leiden in die Welt gebracht. Vielleicht mussten die Dinge ja so sein. Überall sprachen die Leute von Gut und Böse, als wenn dies so einfach zu unterscheiden wäre. In Wahrheit jedoch waren Gut und Böse untrennbar miteinander verbunden, und oft konnte niemand sicher sagen, was nun was war. Für Jem war jedenfalls nichts gewiss außer seiner Liebe 286
zu Cata. Und die Trauer, die er immer empfinden würde, jetzt, wo sie von ihm gegangen war. Er hatte kein Vertrauen mehr in Nationen, Könige und Götter. Nicht einmal Gerechtigkeit und Freiheit fanden seine bedingungslose Zustimmung, so sehr er auch in der Zukunft für sie kämpfen würde. Für das Leben, das vor ihm lag, brauchte Jem einen tiefen Glauben. Und dieser Glaube war Cata. Wenn er auch an nichts anderes glauben konnte, daran musste er glauben: Dass sie auf ihn wartete, irgendwo auf ihn wartete, geschützt vor den Fährnissen dieser Welt. Eines Tages würden sie bestimmt wieder zusammen sein.
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Dramatis Personae JEM, der Held, Sucher des Orokon CATA, die Heldin, Geliebte von Jem RAJAL, Jems treuer Freund, Geliebter von Aron Throsh MYLA, Rajals jüngere Schwester, mittlerweile sehr viel älter geworden KLEINER, ihr kleiner Gefährte EJARD ORANGE, ein höchst bemerkenswerter Kater POLTY (POLTISS VEELDROP), ihr unerbittlicher Feind BOHNE (ARON THROSH), Poltys treuer Freund, Geliebter Rajals LADY UMBECCA VEELDROP, niederträchtige Großtante von Jem und Cata NIRRY, ihr früheres Dienstmädchen, jetzt Wirtin von Katze & Krone ZAPPELPHILIPP, Nirrys treuer Gatte EAY FEYAL, ein vornehmer Mann vom Tuch KÖNIG EJARD ROT, rechtmäßiger Herrscher von Ejland, siehe auch: BOB SCARLET SEINE KAISERLICHE AGONISTISCHE MAJESTÄT KÖNIG EJARD BLAU IHRE KÖNIGLICHE MAJESTÄT JELICA, seine Frau, geborene Miss Jeli Vance TRANIMEL, beider Erster Minister, siehe auch: TOTH-VEXRAH FRANZ WAXWELL, Apotheker WITWE WAXWELL, seine Tante und noch eine Menge mehr CONSTANSIA CHAM-CHARING, einst große Dame der besseren Gesellschaft TISHY CHAM-CHARING, ihre unverheiratbare Tochter LADY MARGRAVE, Constansias Freundin FREDDY CHAYN, Spross eines unbedeutenden Fürstentums PROFESSOR MERCOL von der Universität von Agondon BAINES, auch bekannt als die »Einäugige Schönheit« MORVEN und CRUM, arglose junge Rekruten BLENKINSOP, eine braune Ratte, Crums Haustier WÜRGER, der Inhaber des gleichnamigen exklusiven Herrenclubs MR. BURGROVE (JAG), ein heruntergekommener Lebe289
mann GENERALMAJOR HEVA-HARION, ein Kriegslord PRINZ-ELECTOR JAREL, ein Kriegslord LORD-GENERAL GORGOL, ein Kriegslord BARON-ADMIRAL AYNELL, ehemaliger Konteradmiral VARBY & HOLLUCH, ein einzelner Mann, nicht etwa zwei WEBSTER, eine Kaffeehausberühmtheit JAPIER QUISTO, Agondons bester Herrenschneider JILDA QUISTO, seine entehrte Tochter HEKA QUISTO, seine andere entehrte Tochter MEISTER CARROUSEL, der große Frisör XAL, die »Große Mutter« des Vaga-Volkes Die FLIEGENDEN MENTINIS, bemerkenswerte blinde Trapezakrobaten MISS TILSY FASH, die »Zaxonische Nachtigall« SERGEANT CARNEY FLOSS, Säufer und Blaurock ROTTSY und SUPP, ebenfalls Blauröcke MISS VYELLA REXTEL, eine unselige junge Dame Das ERSATZBABY ALEX ALDERMYLE, ein junger Hurenbock der besseren Gesellschaft
Andere ALDERMYLES, VENTURONS und BOLBARRS MAZY MICHAN, die Gattin des zenzanischen Gouverneurs SIR PELLION PELLIGREW, hat sich aus der Gesellschaft zurückgezogen MISTRESS QUICK, die einen Auftritt ganz in Kamee hinlegt GOODY GARVICE, ihre vertrauenswürdige Stellvertreterin ERZMAXIMUS des Ordens von Agonis CANON FLONCE, dessen soziale Stellung sich bald ändern wird LEKTOR ARDEN, der seine ebenfalls bald verändert RIPANDER, letzter der gefeierten Kastraten von Wrax Die CLUMPTON-CLOWNS MOPS, ein Hund, aber eigentlich kein Mops 290
Die GLÄUBIGEN im Großen Tempel ADLIGE in der Wrax-Oper und auf dem Ball AUSLÄNDISCHE WÜRDENTRÄGER, die nach Agondon eingeladen wurden HÖFLINGE, DIENER, WACHEN, SOLDATEN, PÖBEL etc.
REBELLEN DER ROTRÖCKE: BOB SCARLET, Rebellenführer, siehe auch: KÖNIG EJARD ROT HUL, Gelehrter, treuer Anhänger der Rebellen BANDO, kein Gelehrter, aber noch treuer RAGGLE und TAGGLE, seine beiden Buben LANDA, eine wunderschöne Priesterin der Viana Der BRUDER, noch einer aus der Rebellenbande FOLIO WEBSTER, ein Rebellengelehrter ROLY REXTEL, Kantor von Varby, dessen Schwester verschwunden ist ONTY MICHAN, Kusine des zenzanischen Gouverneurs DANNY GARVICE, ein wahrer Magier, wenn es um Bomben geht MAGDA VYTONI, Enkelin des Philosophen SHAMMY DIE KAPUZE, Führer der Unterwelt NARBEN-MAJESTA, noch einer, schlimmer OFFERO DER MAULWURF, noch einer, noch schlimmer SKIWY oder SCHLAMPE, seine bedauernswerte Tochter FIGARO FINGER, korrupter Schließer des Alten Knastes PETER IMPALINI, ehemaliger Schwertschlucker, Künstler mit Messern MOLLY HALBE-HALBE, eine berüchtigte Verbrecherin HARLEKIN VON DEN SILBERMASKEN CLOWN, sein langjähriger Gefährte GEFANGENE auf der Insel Xorgos Abtrünnige Blauröcke etc. 291
IM KRISTALLHIMMEL: STARZOK, ein geheimnisvoller alter Mann BLAYZIL, sein geheimnisvoller Sohn SILAS WOLVERON, Catas Vater, nicht wirklich tot BARNABAS, ein magischer Zwerg, ganz und gar nicht tot LORD EMPSTER, Jems undurchschaubarer Hüter, siehe auch: AGONIS-ONDON, Lord-Heiliger der Kinder des Agonis (vor langer Zeit) VATER-PRIESTER IRION, ein uralter Vater-Priester ANHÄNGER und FALSCHE ANHÄNGER der Götter TRÄGER DES JUWELS DES KRÜPPELS STOCKENTEN AKOLYTHEN etc
AUF NEBENSCHAUPLÄTZEN ODER TOT: ZOHNNY RYLE und seine Familie, damals in Varl TOR (TORVESTER), Jems Onkel und ein Harlekin LEKTOR GARVICE, ehemals am Großen Tempel tätig STEPHEL, der verschwundene Vater von Nirry WYNDA THROSH, Mutter von Bohne und auch die von Polty LENY, VEL und TYL, Mitglieder von Poltys alter Bande Starzoks Familie MISHJA, EKIK, LANZIK und JAMAJA NATHANIAN WAXWELL, Arzt in Irion BERTHEN SPRATT, ein Dienstmädchen Die LADY LOLENDA ZADY ein Vaga GAROLUS VYTONI, der große zenzanische Philosoph »MISS R…«, die vornehme Autorin »FANNY O«, keine vornehme Autorin MR. COPPERGATE, ein vornehmer Autor MR. BELFORD SLIPSLOP, kein vornehmer Autor 292
DR. TONSON, ein berühmter Spekulant MR. CREDULON, der bekannte Bühnenarchitekt THELL, uralter Autor der »Theaterstücke des Thell« Die Komponisten ELGNAR, STROSSINI und BACHOVEN Die Künstler RAPHIAN und BELLORETTO Viele andere LEBENDIGE Viele andere TOTE etc.
GÖTTER UND SELTSAME KREATUREN: OROK, Ur-Gott, Göttervater KOROS, Gott der Finsternis, wird von den Vagas verehrt (purpurn) VIANA, Göttin der Erde, wird in Zenzau verehrt (grün) THERON, Gott des Feuers, wird in Unang Lia verehrt (rot) JAVANDER, Göttin des Wassers, wurde einst in Wenaya verehrt (blau) AGONIS, Gott der Lüfte, wird in Ejland verehrt (golden) DIE KAISERIN DES ENDLOSEN TRAUMS PENGE, ein höchst wichtiger Teil von Polty H’ENGE (HOLZPENGE), sein hölzerner Nachfolger TOTH-VEXRAH, der böse Anti-Gott, siehe auch: TRANIMEL LADY IMAGENTA, seine geheimnisvolle Tochter FALKE DER FINSTERNIS, sein geheimnisvoller Diener Die LILANE, geheimnisvolle purpurne Vögel CHORASSOS, oder der Nicht-Vogel Die Schlange SASSOROCH Der HARLEKIN Andere KREATUREN DES BÖSEN Etc.
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Digitalisiert und korrigiert von Minichi Nightingale
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