Tony Tanner - Agent der Weißen Väter
Band 2
Der Fluch des Pharaos von Dr. Uwe Krause
Tony Tanners Tagebuch London. ...
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Tony Tanner - Agent der Weißen Väter
Band 2
Der Fluch des Pharaos von Dr. Uwe Krause
Tony Tanners Tagebuch London. Bei der Ankunft gab es Nieselregen. Der Köter von Misses Blackhall kläfft wie immer durch das ganze Treppenhaus, der Kater der Amanda Honey stinkt nach wie vor wie eine Herde Ziegenböcke, und Misses Jones grüßt mich immer noch nicht, wenn ich ihr im Treppenhaus einen "Guten Tag" wünsche. Ein dreifaches Hipp-Hipp-Hurra auf die alltäglichen Misslichkeiten, denn sie beweisen uns, dass wir noch leben. Als ich die Wohnungstür aufschloss, hatte ich das miese Gefühl es könnte alles abgebrannt sein, ausgeraubt oder voller Würmer oder ein außerirdischer grüner Schleim würde alles bedecken. Als Francine noch bei mir war, hatte ich solche Ängste nie. Da war es selbstverständlich, dass alles in Ordnung war. Selbstverständlich vielleicht liegt darin der Knackpunkt. Ich Trottel bin in die Selbstverständlichkeit dieser Beziehung hineingeschlüpft wie in ausgelatschte Filzpantoffel. Als ich heute früh aufstand, hatte ich für eine Weile das herrliche Gefühl, diese ganze Bombay-Geschichte sei nur ein böser Traum gewesen. Als ich dann mein demoliertes Gesicht im Badezimmerspiegel ansah, war klar, dass ich entweder den Spiegel wechseln muss oder mich unter die Guillotine legen, jedenfalls sieht keiner so aus, der nur geträumt hat. Diese ganze Geschichte in Bombay - ich hätte bei vier oder fünf Gelegenheiten einen anderen Weg wählen können. Ich hätte die Sache beenden können, doch stattdessen bin ich irgendwie immer tiefer in den Schlamassel geraten. "Irgendwie" trifft die Sache auf den Punkt. Du steckst im Dreck und kannst dich noch nicht einmal genau erinnern, wieso du dort bist. Vielleicht fängt unser kleiner Tony ja an durchzuknallen. Postlibidinöse Psychopathie. Vielleicht sollte ich mich bei einem Seelenklempner auf die Couch legen. Bei Couch fällt mir diese Französin ein. Wie hieß sie eigentlich? Sie hatte so ein verdammtes Namensschild an der Uniform, aber ich komme nicht auf den Namen. Leila, Lotte, Lucy oder so. Lucy klingt gut. Hier tanzt die Lucy. Jedenfalls war sie das, was der Kotzbrocken Heathercroft einen heißen Feger nennen würde. Ich bin sicher, er hätte seine Chance genutzt und die Frau flachgelegt.
Ganz im Unterschied zu mir. Junge - allein diese Vorstellung dieser fette, schwabbelige, rosige Hintern von Heathercroft und dann lustig rauf und runter. Das muss aussehen wie ein Pavian, der Liegestütze macht. Ich wette, er hat Pickel auf beiden Backen. Nun ja, das ist alles pure Theorie. Aber wie sie mich angesehen hat. Wenn ich jemals im Leben einen Herzstillstand haben sollte, brauche ich mich bloß an diesen Blick zu erinnern, und die Pumpe fluppt wie bei einem Teenie. Scheiß drauf, diese Frau ist doch bloß eine dieser Edelnutten, die sich an alte Säcke hängen wie die Kletten. Der hehre Glanz der Macht und des Luxus im Austausch gegen eine gebührliche Nutzung des weiblichen Geschlechtsapparates durch die alten Böcke. Und wenn die Ziege die ersten Falten am Bump hat und sich der Seigneur eine Jüngere krallt, bleibt immer noch der große Enthüllungsartikel in der Sun: "Ich trieb es mit Husch ibn Hoschi. Ich machte es ihm mit der Hand und er machte es mir mit dem Mund. Er war wie ein wildes Tier und riss mir die Kleider vom Leib. Nur meinen linken Stiefel und den rechten Handschuh musste ich anbehalten. Wir machten es auf dem Boden, wir machten es im Kronleuchter und wir machten es in der Kloschüssel. Wir trieben es in der Flugzeugtoilette und im Treibhaus. Sein Pint ist 82 Zentimeter lang, 17 Kilo schwer, mit "I love England" tätowiert und in vier Dimensionen drehbar. Zum Abschied schenkte er mir eine Tüte Abgas seines Porsche und eine Ehrenkarte für die Tombola im Altersheim. Ich werde ihn nie vergessen." Und damit ist der morgendliche Blutstau für die verklemmten Spießer in der U-Bahn gesichert. Vielleicht sollte ich mich als Pornoschreiberling versuchen? Jedesfalls tut es gut, hier einfach zu sitzen und den Federhalter kratzen zu lassen. 1. Tony Tanner fuhr zu seiner Arbeitsstelle, hatte eine halbstündige Besprechung mit seinem Vorgesetzten, in der alle Unterlagen aus Bombay durchgesprochen wurden, und besuchte nur noch kurz sein Büro. Da seine Reise nach Bombay von Amts wegen mit fünf Tagen anberaumt gewesen war, er aber schon nach zwei Tagen mit allen erforderlichen Informationen zurück war, blieben ihm nun drei Tage zur freien Verfügung, die nicht auf seinen Urlaub angerechnet wurden. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und testete seinen
Gemütszustand. Es war schon seltsam, wie sehr zwei Tage einen Menschen aus seinem Lebenszusammenhang zu reißen vermochten. Die Tür wurde aufgestoßen, und Heathercroft platzte herein. Tonys Anblick schien seine Heiterkeit zu erregen. "Hey, was ist mit deiner Denkerstirn, Tanner. Ist da ein Alien rausgekrochen?" "Husten. Husten im Kleiderschrank. Sehr gefährlich. Die Situation müsste dir bekannt vorkommen. Und nachdem ich dir jetzt ein pikantes Detail meines Intimlebens offenbart habe, scher dich bitte tunlichst zum Teufel, aber mach vorher die verdammte Tür zu und zwar von außen, sonst mache ich mir einen Klammerbeutel aus deinem pickeligen Skrotum." Tony blickte wie eine ganze Meute hungriger Kampfhunde. Heathercroft setzte zum Rückzug an, stoppte dann aber doch und druckste herum. "Tanner," setzte er an, "es gibt da etwas, was wir kurz bereden ..." "Wir müssen bereden, warum ich bei deinem Anblick immer an Arbeit denke, statt an Kotztüten, wie es nur dem natürlichen humanen Instinkt entspräche. Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass deine Kollegen immer den Schutt wegräumen müssen, den du liegen lässt, weil du viel zu sehr damit beschäftigt bist, Sekretärinnen anzubaggern, als dass du ernsthaft was für dein weit überhöhtes Gehalt tun könntest. Also verpiss dich, sonst werde ich unter Umständen vielleicht möglicherweise sogar deutlich." Die Tür klappte zu. Das hatte Spaß gemacht. Tatsächlich gehörte Heathercroft zu den Wesen, die alleine deswegen eine Existenzberechtigung haben, weil es eine tiefe Befriedigung vermittelte, sie zu beschimpfen. Und Heathercroft seinerseits war zu sehr auf die Erweiterung seines geschlechtlichen Erfahrungshorizontes fixiert und verband zudem in kongenialer Weise Arroganz und ein dickes Fell, dass ihm selbst eine Beschimpfung durch eine ganze Horde wortmächtiger walisischer Poeten schlichtweg schnurz gewesen wäre.
Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, traf Tony die psychologische Rache für seinen impertinenten Ausfall gegen einen Beamten ihrer britischen Majestät. Seine Freude über die Beschimpfung Heathercrofts schwand schnell und gerann über das Zwischenstadium eines gewissen Bedauerns, das Tony Tanner als Ausfluss seiner mehr oder weniger erfolgreich absolvierten guten Erziehung ansehen musste, zu einem handfesten Ärger über diesen Idioten Heathercroft, der ohne Anklopfen in fremde Büros einbrach wie der SAS bei einer Geiselbefreiung. Ein kleinerer Dauerlauf war gerade richtig, um den Testosteronspiegel zu senken. Aber als Tony an der Themse entlang lief, dröhnte sein Kopf bei jedem Schritt, und alle Passanten schauten ihn an, als habe er gerade eben mit seiner Stirn den Tower gerammt. Schnaufend, mit Kopfschmerzen und immer noch ärgerlich kehrte Tony in sein Domizil zurück. Er duschte und zog sich um. Auf dem Anrufbeantworter war ein Telefonat registriert. Er spulte zurück und ließ das Band ablaufen. Ihn traf fast der Schlag. "Hallo Tony, bist du da? Hallo, wenn du da bist, dann geh doch bitte an den Apparat. Bitte." Es war Francine. Eine kurze Pause. "Du bist nicht da, wie? Natürlich bist du nicht da. Du bist ja nie da, wenn ich mal mit dir reden möchte. Klasse was? Drei Sätze und schon bin ich mitten drin in unserer gewesenen Beziehungskiste. Ist vielleicht ganz gut, dass ich dir die Sache auf die Art näher bringen kann. Ich meine, wenn du jetzt an der Strippe wärst, dann würde ich bestimmt losheulen, weil ich dann deine Stimme hören würde und an deinen Dackelblick denken müsste, den du immer hast, wenn wir Streit hatten oder das, was du Streit nennst. Eigentlich hatten wir nie Streit. - Hätte uns vielleicht ganz gut getan. Aber eigentlich gab es ja gar keine Gelegenheit. Wir waren irgendwie ein ideales Paar, nicht? Oh Tony - - -" Sie seufzte, und dann gab das Aufnahmegerät eine Weile nur das Rauschen der Leitung wieder und das Knacken, als irgendwo irgendeine Verbindung irgendwohin vermittelt wurde. Tony glaubte schon, der Anruf wäre zu Ende, aber dann setzte Francine neu an. "Also - wo ist bloß mein Mist-Taschentuch, sag nichts, ich weiß, ich
werde es nie lernen und jetzt bist du ja nicht da, um mir deines auszuleihen. Ja, also, ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut. Es hätte nicht so kommen müssen, aber irgendwie - ach ich weiß nicht. Du warst immer unterwegs, und dich wenn du zurückkommst auf dem Flughafen scharf zu machen, dass wir dann übereinander hergefallen sind wie die wilden Tiere, das war toll, aber auch tolle Sachen verlieren mit der Zeit an Glanz. Ich meine, du reist in der Weltgeschichte herum und ich hasse Flugzeuge und habe auch meinen Job und wenn du zu Hause bist, ist alles supertoll und du gehst in die Kneipe oder du hängst mit diesen lächerlichen Kopfhörern herum und lernst so Sachen wie "99 freundliche Sätze in Nieder-Tibetanisch" oder "Wie sage ich einem norwegischen Fischhändler, dass er ein Arsch ist, ohne dass er es merkt?" Für dich war das alles toll, du hattest dein Leben, und ich war das Sahnehäubchen auf Tony Tanners Eisdessert. Deinetwegen hätte es so weitergehen können, ist mir schon klar. Aber du hängst ja auch nicht allein in dieser Scheißstadt. London ist Unterhaltungsmetropole, vergiss es doch. Irgendwann hat eine Frau wie ich auch das drängende Bedürfnis nach eine geregelten Zusammenleben, so richtig spießig mit Nippesfiguren über dem Kamin und einem Sofa von Laura Ashley. Du, mein Lieber, hast dich kein bisschen verändert. Dir passen nicht nur die Hosen von vor zehn Jahren noch, auch der Typ in der Buxe ist der gleiche. Aber ich habe mich verändert, Sonnenscheinchen. Und ich habe mich zu oft verteufelt einsam gefühlt. Hey, ich werde ja richtig wütend, das tut gut. Tony, du bist ein Arsch - nein, bist du nicht, streichen wir das aus dem Protokoll. Ich liebe dich. Ich liebe dich wahnsinnig. Wir waren wirklich so ein perfektes Paar - verdammt, das war jetzt wieder kein bisschen hilfreich. Scheiß-Taschentuch." Tony hörte, wie der Hörer auf eine Unterlage geknallt wurde, dann erklang das laute Schnauben, mit dem Francine ihre naseverstopfende Sentimentalität loswurde. "Weißt du, seit Mama tot ist, war es für mich sehr einsam. Und ich bin nicht mehr der Partyfeger, der ich mal war. Und alle die Leute von früher, die sind weggezogen oder hängen abends nur schlaff in den Seilen und die meisten haben Kinder und wollen gar nicht auf die Piste gehen und wenn, dann ist es unheimlich peinlich, mit so einer hormonell überversorgten Endzwanzigerin in die Disko zu
gehen. Ja, und überhaupt Kinder. Verdammt noch mal, ich will mich nicht jeden mistigen Monat drei Tage lang fühlen müssen wie Dracula im Sonnenschein und dann diese Scheißpakete mit Slipeinlagen aus dem Supermarkt schleppen für nichts und wieder nichts. Mutter Natur hat mich mit einer wunderprächtigen Gebärmutter ausgerüstet und ich will was davon haben. Das hast du nie kapiert. Das ich die Pille nicht vertrage war übrigens gelogen, aber ich will keine Sondermülldeponie für diesen ganzen Chemiedreck sein. Und irgendwie wäre das für uns auch eine Chance gewesen. Du hättest sicherlich einen perfekten Vater abgegeben, ein bisschen kindisch vermutlich, und ich denke, zu den Elternsprechtagen hätte ich alleine gehen müssen, weil du die Schule ja hasst. Aber sonst - Du bist überhaupt ziemlich perfekt in meinen Augen. Bilde dir jetzt bloß nichts ein. Ich bin einfach bescheuert, das ist es. Hat nichts mit dir zu tun. Ja also, ich will es mal so sagen, wenn man so alleine herumhängt und einem die Decke auf den Kopf fällt, dann macht man mal Fehler. Oder auch nicht. Ich meine, du kennst einen Typen und der hört dir zu und das tut gut. Und weil Männer eben so sind, bumst er dich hinterher. Zwei Stunden erleichterndes Gequatsche und als Bezahlung machst du die Beine breit und hoffst, der Typ macht dir nicht die Frisur kaputt. Das ist ein Geschäft. Ja, und jetzt bin ich schwanger und weil ich wusste, dass es dich umbringen würde, habe ich unsere Geschichte beendet. Aber ich will das Kind. Es hat nichts mit dem Typen zu tun. Eigentlich ist es dein Kind, denn ich habe immer an dich gedacht, wenn einer von den Seelentröstern auf mir rumrutschte. So, jetzt ist das also auch raus. Ich meine, wenn du das wegstecken kannst, dann können wir uns ja vielleicht noch mal sehen. Vielleicht hast du Lust, mit mir essen zu gehen. Ich sehe dann zwar aus wie die Kuppel von St. Paul's, aber vielleicht stört dich das ja nicht weiter. Ich fände es schön. Weißt du, ich liebe dich nämlich immer noch. Ich weiß, ich wiederhole mich. Ja, eines muss noch raus, dann haben wir es wirklich überstanden. Der Kerl, von dem es ist, war .." Tony Tanner hechtete mit wildem Gebrüll auf den Anrufbeantworter los, riss das Gerät mit einem Ruck von der Leitung, rannte in die Küche und steckte es in den Mikrowellenherd. Dann stellte er den Herd an und tigerte laute Urschreie ausstoßend durch die Räume. Nach fünf Minuten war die Wohnung voller Qualm, der Anrufbeantworter ebenso ruiniert wie der Mikrowellenherd.
Und Tony war vollkommen heiser. 2.
Er riss alle Fenster seiner Wohnung auf, um den Gestank von verbranntem Gummi und geschmolzenem Plastik zu vertreiben, der Assoziationen von Flugzeugabstürzen, Autounfällen und abgeschossenen Panzern hervorrief. Er lehnte sich aus dem Fenster und schnappte nach frischer Luft. Der Anruf von Francine war exakt das, was die Jäger einen Blattschuss nennen. Auf einmal war wieder alles möglich, und doch blieben seine Gefühle hinter dieser Erkenntnis zurück, zögerten noch, misstrauisch wie ein gerade freigelassenes Tier an der offenen Tür des Geheges. Wie ein Verurteilter, der plötzlich begnadigt wird, dachte er: "Was, ich werde nicht hingerichtet? Ich bin frei? Das können Sie mir nicht antun, Herr Henker, was soll ich denn jetzt mit dem langen Nachmittag anfangen?" Er brauchte Ablenkung, und da kam es ihm gerade zupass, dass er noch einen Besuch bei Dorkas machen musste. Tony schnappte sich den Kasten, verstaute ihn in einer Plastiktüte und suchte nach einem Jackett. Sein Koffer war noch nicht ausgepackt. Er öffnete ihn, warf ungeduldig die Kleidungsstücke auf das Sofa und stockte, wie eingefroren in der Bewegung, als er zwei Blätter aus weißem Papier in einer Jackentasche bemerkte. Er musste einen Moment überlegen, bis ihm deren Herkunft klar war. Dann suchte er einen Bleistift und setzte sich mit den Blättern an einen Tisch. Die eifrige Lektüre von altmodischen Kriminalromanen in Verbindung mit der kriminalistischen Kenntnis, die ihm lange Abende vor dem Fernseher bescherten, zahlten sich jetzt voll aus. Vorsichtig setzte er den Bleistift an und schwärzte vorsichtig und mit Hingabe das erste Blatt. Das Ergebnis war enttäuschend. Außer Knicken und Linien, die rein zufälligen Ursprungs
waren, konnte er nichts entdecken. Beim zweiten Blatt hatte er Erfolg. Es musste über dem anderen gelegen haben. Schon bald blieben in dem geschwärzten Feld Spuren zurück, schmale Linien, die der Bleistift nicht erfasst hatte. Zuerst konnte Tony keinen Sinn in der Schrift entdecken. Vergeblich suchte er nach zusammenhängenden Wörtern. Er fürchtete, auf eine fremde Schrift gestoßen zu sein, auf Bengali vielleicht oder Arabisch, denn er glaubte, charakteristische Unterlängen zu erkennen. Schließlich beschränkte er sich darauf, die Linien ganz mechanisch auf ein neues Blatt Papier zu übertragen. Und nun erkannte er es. Vor ihm lag eine Formel. Eine physikalische Formel vielleicht? Nein, da standen Abkürzungen wie Cl, H oder S. Obwohl Tony von Chemie nicht allzu viel Ahnung hatte, wurde es deutlich, dass es sich um eine sehr komplexe Formel handeln musste. Tony übertrug alles, was er erkennen konnte, noch einmal auf ein neues Blatt, fertigte eine Kopie an, versteckte diese Kopie unter einem Topf, in dem eine vertrocknete Blumenleiche Klage über den Verlust der pflegenden Hand Francines führte, und arbeitete sich durch die Tür in das Treppenhaus. Unter dem einen Arm trug er das ruinierte Mikrowellengerät, in der anderen Hand eine Einkaufstüte mit dem Kästchen für Dorkas. Aber der musste sich noch gedulden. Tony hatte zuvor noch eine andere Erledigung zu machen. Zwei Stockwerke tiefer musste er an Misses Jones vorbei, die mit einem Blecheimer eine Barrikade auf dem Treppenabsatz aufgebaut hatte und missmutig einen Feudel hin- und herschob. Im Normalfall hätte Tony alles getan, um eine solche Begegnung zu vermeiden. Misses Jones gehörte zu jenen Exemplaren Mensch, die ihrer eigenen Gattung mit einer Mischung aus Misstrauen und ungeschönter
Boshaftigkeit entgegentreten. Selbst Francines sonniges Gemüt hatte an den schwarzen Klippen dieser Ein-FrauDemonstration für die Ausrottung des Menschengeschlechtes Schiffbruch erlitten. Es wehte das Gerücht durch das Haus, dass Misses Jones einst als Krankenschwester Dienst am Nächsten geleistet habe. Tony hielt das für völlig unmöglich, bis er sich eines Sonntags einen Knöchel verstaucht hatte und den Notdienst eines nahe gelegenen Hospitals aufsuchen musste. Dort hatte er sich einem Wesen in Schwesterntracht gegenübergesehen, das ihn dann allerdings höchst unangenehm an Misses Jones erinnerte und im übrigen die Feinfühligkeit eines Kopfschlächters bewies. Am Ende einer höchst schmerzhaften Behandlung, über die am nächsten Tag sein Hausarzt wenig lobende Dinge sagte, entschuldigte sich Tony nicht nur, weil er durch seine Ungeschicklichkeit den sonntäglichen Frieden der Ambulanz gestört hatte, sondern empfand tiefste Scham bei dem Gedanken, dass er überhaupt einen Fuß sein eigen nannte, den er zum Zwecke der Verstauchung nutzen konnte, ja, ihn überkamen bohrende Zweifel an seiner Berechtigung, überhaupt auf dieser Welt zu sein. So kam es, dass Tony, sobald er auch nur andeutungsweise seine Hausgenossin witterte, den Rückzug antrat, indem er sich selbst und der Umwelt mehr oder weniger geschickt vorspielte, er habe seinen Herd angelassen oder müsse noch einen Schlüssel holen. Heute warf er sich den abschätzigen Blicken der Nachbarin entgegen, die ihn abtasteten wie die Grapschfinger eines Zollbeamten bei einer Leibesvisitation, grüßte laut und freundlich und war wie vom Blitz getroffen, als er tatsächlich eine Antwort aus ihrem Munde erhielt. Natürlich war es kein Gegengruß. Sie hob den triefenden Feudel und brachte ihn wie eine Lanze in Anschlag, um damit auf Tonys lädierten Mikrowellenherd zu deuten.
"Was soll das denn sein?", krächzte sie. Tony stieg vorsichtig über den Eimer und manövrierte an diversen Wasserpfützen vorbei. "Das ist ein Kunstwerk", erklärte er ernsthaft mit der krächzenden Stimme, die ihm noch zur Verfügung stand. "Es ist ein Werk des dynamischen Aktionismus und ich nenne es "Die Stille nach dem Anruf". Ich werde es gleich für einen fünfstelligen Betrag an eine Galerie in Soho verkaufen. Einen schönen Tag, Misses Jones." "So, so". Misses Jones Stimme triefte vor Missfallen. "Sie produzieren also in Ihrer Wohnung etwas, das Sie Kunst nennen." Ihre Stimme schraubte sich mit zunehmender Lautstärke in die Nähe jener Tonlage, die für Weingläser und Sektschalen lebensbedrohlich sein kann. "Wenn Sie in Ihrer Kunst herstellen, dann ist Ihre Wohnung eine Werkstatt. Und das ist verboten. Denn die Herstellung von Kunst in einer Werkstatt ist in diesem Haus nicht gestattet. Dies ist ein Wohnhaus. Ich werde die Hausverwaltung benachrichtigen!" Tony war inzwischen in die rettende Nähe der Haustür gelangt. Beim Klang der Stimme verspürte er eine nicht zu unterdrückende Erektion des rechten Mittelfingers und er war nicht in der Stimmung, derart gesunde Regungen zu bekämpfen. So betrat Tony Tanner die Straße, während seine rechte Hand ein verborgenes, aber dennoch eindeutiges Zeichen des Protestes abgab. In der Mülltonne fand sich noch ein Platz für sein Kunstwerk. Sein nächster Weg führte Tony in eine Apotheke. Er verlangte krächzend nach dem stärksten Medikament für überstrapazierte Stimmbänder. "Fußball", erklärte er auf den fragenden Blick des Apothekers. Ein Mann im blauen Overall mit dem Namenszug einer Sanitärfirma, der neben Tony
stand, nickte verständnisvoll. "Arsenal spielt aber auch einen Schrott zusammen in der letzten Zeit. Aber es wird bestimmt auch wieder besser." "Wollens hoffen", krächzte Tony. "Im Interesse meiner Schreiorgane." Ein herzhafter Schlag auf die Schulter warf Tony fast um, obwohl er als Aufmunterung gedacht war. "Und immer dran denken, Kumpel: You never walk alone." "DAS habe ich in den letzten Tagen in der Tat zu spüren bekommen," dachte Tony und dankte mit einem matten Winken für die wohlgemeinte Lebenshilfe. *** Sein Weg führte ihn zu einem der renommiertesten Labors der britischen Chemieindustrie, wo er seinen alten Klassenkameraden Blofield in Amt und Würden wusste. Dort gab er den Zettel mit der Formel in einem Umschlag mit der Aufschrift "Benjamin Blofield, top urgent" ab. Dann trottete er los, um einen Taxistand zu finden. Als er schließlich vor Dorkas' Laden stand, konnte er sich einem verbrecherischen Impuls nicht entziehen. Er öffnete leicht die Tür, schob die Hand durch den Spalt, hielt die Glocke fest, die den Eintritt eines Kunden meldete und schlüpfte fast lautlos in den Raum. Aus einem Nebenraum klang das Kratzen eines Füllfederhalters. Tony hob den Kasten beidhändig über die Theke, suchte kurz nach der richtigen Höhe und dann ließ er sein Mitbringsel fallen. Der Kasten krachte auf die Theke. Ein Staubwolke wirbelte auf. Das Kratzen endete mit eine erschreckten Haken, ein Stuhl polterte um, dann erschien das dickliche Gesicht von Dorkas in der Tür. Seine angespannten Züge lichteten sich, als er Tony erkannte.
"Welche Freude und welches Vergnügen," strahlte er. "Welche unerwartete Freude und welches unverdiente Vergnügen. Dieses mit den besten Grüßen von Prabanadrath Devasatri aus Bombay." Dorkas fasste den Holzkasten mit den Fingerspitzen, drehte ihn und deutete dann auf Tony. "Öffnen Sie ihn", forderte er dann. "Ich denke gar nicht daran. Das ist für Sie. Und außerdem stand auf dem Deckel noch so ein Spruch." "Sehr richtig." Dorkas nickte wohlgefällig wie in Pfarrer, dem ein Konfirmand gerade die zehn Gebote fehlerfrei aufgesagt hatte. "Der rechte Ort." Doras Hand deutete auf den unordentlichen Laden, in dem sie standen. "Die rechte Zeit." Er deutete auf die Uhr an seinem Arm. "Der rechten Hand." Und nun deutete Dorkas auf Tony. Der zögerte und hob schließlich den Deckel auf. Der Kasten war mit roter Seide ausgeschlagen. Auf dieser Seide lag ein Gegenstand, den Tony sofort erkannte, obwohl er ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein großer Knoten aus Leder. Auf den zweiten Blick erkannte man die feine Struktur von Schlangenhaut und die Kunstfertigkeit, mit der das Leder zu einem Knoten zusammengefügt worden war. Vor Tony lag die Peitsche des nKum mPhosa, jene Waffe, die an der Scheide jenes tibetischen Dolches fehlte, den er in der Sammlung Matankas gesehen hatte. Der Anblick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. "Für Sie," sagte Dorkas.
Tony war derart überrascht, dass Dorkas, nachdem er eine Weile gewartet hatte, seine Aussage wiederholte. "Das ist für Sie." Tony verschluckte sich fast an den Hustenpastilllen, mit denen er sich den Mund vollgestopft hatte wie ein gieriges Backenhörnchen, schaffte sich Raum für die Zunge und legte los: "Machen Sie sich aus dem Ding ein Zäpfchen und stecken Sie es sich hin, wohin Sie wollen. Aber erwarten Sie nicht, dass ich dieses Gerät in die Hand nehmen und erwarten Sie weiterhin nicht, dass ich noch einmal meinen Fuß in ihr exquisites Ladenlokal setze." Er war schon auf dem Weg zur Tür, als ihn die sanfte Stimme von Dorkas stoppte. "Könnte es sein, Herr Tanner, dass sie zuweilen zu einer gewissen Dämlichkeit neigen?" Tony lallte, weil er wieder Hustenpastillen in die Backentaschen schieben musste, nahm aber unterdessen vor der Ladentheke Aufstellung und wirkte ähnlich eindrucksvoll wie ein Wrestler in seiner Ringecke. Merchand banker, dachte er, Merchand banker! Das war ein Cockney-Wort, das "wanker" bedeutete, etwas ganz schön Schmutziges also. "Dämlich? In der Tat. Denn sonst wäre ich bei Ihrem Anblick schreiend weggelaufen, hätte weder Ihren Kramladen noch überhaupt dieses Stadtviertel jemals betreten und sicherlich keinerlei Expertentipps über Antiquitätengeschäfte im fernen Bombay angenommen. Und hiermit wünsche ich Ihnen Lebewohl!" Mit gesenktem Kopf, die Arme auf die Theke gestützt, ließ Dorkas die Rede über sich ergehen. Als Tony schwieg, begann er, mit den Fingern auf das Holz zu trommeln.
"Sind Sie fertig?" fragte er. "Mit Ihnen auf jeden Fall." "Oh, darin liegt nichts Verdienstliches. Ich bin sozusagen nebensächlich. Aber die Hauptfrage ist doch wohl, sind DIE mit Ihnen fertig, Herr Tanner? Und in diesem Fall, fürchte ich, lautet die Antwort nein." "Wer sind DIE?" krächzte Tony. Dorkas hob nur die Schultern. "Sehen Sie, Herr Tanner, Sie machen mir Vorwürfe, weil Sie glauben, ich hätte gewisse Ereignisse - sagen wir 'angestoßen'. Und wenn ich mir die Spuren in Ihrem Gesicht anschaue, dann kann ich die Schlussfolgerung ziehen, dass Sie in Bombay - hmm, in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Tatsache ist aber, dass ich und meine - nennen wir sie Kampfgefährten, nicht in der Lage sind, irgendetwas zu bestimmen. Wir können leider nur reagieren. Und das, was Ihnen zugestoßen ist, wäre Ihnen auch zugestoßen, wenn Sie mich nie gesehen hätten. Es wäre Ihnen möglicherweise in anderer Form zugestoßen. Aber Sie können dem nicht entgehen, so oder so. Aber ohne uns hätten Sie vielleicht - oder sagen wir es offen - mit Sicherheit, nicht überlebt, denn Sie hätten niemanden gehabt, der Ihnen hilft." "Wer sind DIE?" Dorkas schnaufte ungeduldig. "Ich weiß es nicht. Wir wissen es nicht. Keiner weiß es. Es ist wie ein physikalisches Experiment: Alle Berechnungen deuten darauf hin, dass da etwas ist, aber noch fehlt die Versuchsanordnung, um dessen Existenz zweifelsfrei zu belegen." "Und ich bin ein Teil dieser Versuchsanordnung?"
"Vielleicht. Vielleicht sind Sie auch nur ein Teil der Berechnung." "Das ist krank. Bin ich hier bei 'Versteckte Kamera' oder ist das eine psychologische Untersuchung irgendeines durchgeknallten Soziologen?" "Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber leider sind wir mit dem Schlimmsten konfrontiert, das es gibt. Der Realität." "Und diese Realität heißt, dass möglicherweise kleine außerirdische Männchen mit großen dunklen Insektenaugen versuchen, mir das Fell über die Ohren zu ziehen?" "Durchaus möglich", antwortete Dorkas ernsthaft. "Die Außerirdischen haben wir auf unserer Liste. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wir haben auch walisische Elfen und kontinentaleuropäische Zwerge auf der Verdächtigenliste - bevor Sie jetzt anfangen zu lachen, das ist kein Witz." "Und diesen Zwergen soll ich mit dieser Peitsche eins auf den Buckel geben?" "Woher wissen Sie denn, dass es eine Peitsche ist? Es sieht doch aus wie ein Schmuckknoten aus Schlangenleder?" Diesem Einwurf konnte Tony allerdings wenig entgegensetzen. Aber das machte ihn nur noch wütender. "Ich weiß es eben, meine genialische innere Stimme hat gesprochen. Nichtsdestotrotz, vergessen Sie 's. Ich mache diese Spielchen nicht mit. Ich habe mir Blasenentzündungen im Dutzend geholt, weil ich bei Nässe und Kälte vor den Flugbasen der Amis gesessen und gegen Atomwaffen demonstriert habe. Und das habe ich, werter Herr, nicht nur
deswegen getan, weil so viele Mädels mit Knackärschen unter den Demonstranten waren. Sondern aus Überzeugung. Im übrigen, soll ich rumlaufen wie Zorro?" Dorkas entwickelte jetzt einen Eifer wie ein Verkäufer, der einem Kunden einen Anzug der letzten Saison als hochmodisch andrehen will. "Nehmen Sie es als Gürtel oder als Armband oder -" "Huh huh", Tony ließ sein höhnischstes Lachen ertönen. "Und im Verteidigungsfall fummele ich mir das Ding aus dem Gürtel, die Hose rutscht und ich stehe da wie ein Exhibitionist. Klasse Verteidigungsstrategie. Der Gegner ist paralysiert, weil er sich schlapplacht. Wissen Sie was. Machen Sie sich ein Zäpfchen draus und ..." Die letzten Worte sprach Tony Tanner schon auf der Straße. Hinter ihm bimmelte gedämpft die Ladenglocke. Er rechnete damit, dass Dorkas hinter ihm her laufen würde und legte sich schon einige weitere Bosheiten zurecht. Um so enttäuschender war, dass Dorkas sich keinen Zentimeter aus seinem antiquarischen Kramladen fortbewegte. Gut, die Sache war gegessen. Für einen Moment lebte er in der wundervollen Illusion der Normalität. Er hatte sich von diesem seltsamen Mann getrennt, er hatte den Reden dieses seltsamen Mannes keine Beachtung geschenkt und damit hatte er sich befreit. Tabula rasa. Zurück in den Alltag. Neustart des Programms. Gleich würde er Francine anrufen. Und spätestens morgen früh würde er sich ihren heftigen Versöhnungsversuchen nicht weiter verschließen und alles würde gut werden und er würde mit ihr zusammenleben und sie würden Kinder haben und aufs Land ziehen und sich einen Hund anschaffen und ...
Was war das für ein Auto? Das Motorengeräusch weckte in ihm eine unklare Erinnerung. Und der Fahrer - weißhaarig oder trug er eine Mütze? Tony kniete sich unter dem Vorwand, ein Schuhband knoten zu müssen, hinter einen parkenden Wagen. 3. Das Motorengeräusch schwoll langsam an, schien neben seinem Versteck eine Weile zu verharren und wurde dann langsam leiser. Mit klopfendem Herzen erhob sich Tony. Vielleicht war er nur Opfer seiner eigenen Phantasie geworden. Vielleicht war er von der Wirklichkeit eingeholt worden. Er fühlte sich seltsam schwerelos, als er seinen Weg fortsetzte. Er war in einem Schwebezustand, irgendwo gebannt zwischen seinem Alltag, dem normalen Leben, das ihm mehr und mehr entglitt und einer Wirklichkeit, die ihm von seltsamen Männern in verstaubten Antiquitätengeschäften eingeredet wurde. Ganz von Ferne vernahm er in seinem Inneren das Aufbrüllen einer Panik, die hinter ihm wie eine Brandungswelle in den Himmel wuchs. Tony Tanner überlegte kurz und fasste einen Entschluss. Er hatte keine Wahl mehr, die Richtung wurde ihm vorgegeben. Er führte in kurzes Telefonat und nahm sich dann ein Taxi. Vielleicht würde diese Welle bald über ihm zusammenschlagen und ihm den Verstand rauben. Aber solange er noch klar denken konnte, würde er sich wie ein Wellenreiter von ihr weitertreiben lassen, würde die Energie seiner Angst nutzen und - vielleicht würde er den rettenden Strand doch noch erreichen. ***
Der Fußboden war mit glänzenden Kunststoffplatten belegt, die Wände schimmerten in sanftem Lindgrün. Der Flur des Institutes machte einen hellen und freundlichen Eindruck und hätte, mit einigen krakeligen Zeichnungen bereichert, auch zu einem Kindergarten gehören können. Aber jeder Atemzug machte Tony deutlich, dass hinter diesen Türen keine fröhlichen Spiele eingeübt wurden. Ein leiser, aber merklicher beißender Geruch lag in der Luft, eine deutliche Erinnerung an den Chemiesaal von Tonys ehemaliger Schule. Hinten auf dem Gang öffnete sich ein Tür. Ein Mann steckte den Kopf heraus und winkte zu Tony hinüber. "Ich komme gleich. Ich muss nur eben noch lüften ... " Der Rest des Satzes erstickte in Husten. Nach einer Weile tauchte der Mann wieder auf. Sein Kittel, der vor langer Zeit einmal weiß gewesen sein musste, war nur noch ein Demonstrationsobjekt für eine Waschmittelreklamesendung, und auch seine Krawatte zeigte Gebrauchsspuren. Sie existierte nur noch zur Hälfte, weil der Rest samt darunterliegendem Hemd weggeätzt worden war. Tony musste lächeln, als der Mann plattfüßig auf ihn zulatschte und aufgeregt einen Zettel schwenkte. Es war immer wieder unheimlich, wie wenig sich manche Menschen veränderten. Benjamin Blofield war sich gleich geblieben, seit sie zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Seine Figur hatte inzwischen zwar etwas Birnenförmiges an sich, und die Haare hatten sich zugunsten der Stirn zurückgezogen. Aber die Reste waren ungekämmt wie ehedem, und die dicke Hornbrille saß immer noch schief. Blofield war das Chemiegenie der Schule gewesen. Vielleicht ist Genie das falsche Wort, er war eher derjenige Schüler, der sich am meisten für Chemie interessierte. Das brachte ihm bald den Namen "Ben the Bang", denn den mehr oder minder
erfolgreichen Abschluss eines Experimentes konnte die Umgebung in den meisten Fällen durch akustische Signale von der Lautstärke einer Bombenexplosion erkennen. Ben the Bang war ein Außenseiter und in dieser Hinsicht ein Seelenverwandter von Tony Tanner. So kam es, dass die beiden ansonsten sehr verschiedenen Schüler eine Art von Symbiose eingingen, deren eindrucksvollstes Ergebnis noch heute in den Annalen der Schule verzeichnet ist. Es handelte sich um die Herstellung eines ganz passablen Sprengstoffes aus einem Pflanzendünger. Während Benjamin Blofield mit dem Erfolg an sich zufrieden gewesen wäre, hatte Tony ihn zu einem Beweis des praktischen Nutzens seiner Erfindung angestachelt. Der wurde dann in schönster Weise erbracht, als die Müllcontainer der Lehranstalt, von verschwörerischer Hand auf das Rugbyfeld gerollt, explodierten und ihren Inhalt vulkanartig auf die Schlammfläche verteilten, auf der bald das seelenerhebende Spektakel eines der männlichsten Spiele, das die starke Nation der Briten sich und der Welt zum Geschenk machte, stattfinden sollte. Es bedarf keiner gesonderten Erwähnung, dass ein Schüler, dessen Namen nie ans Licht gebracht werden konnte, den nachfolgenden Spielausfall als großen Vorteil empfand. Die Untersuchungen, in denen sich sowohl Tanner als auch Blofield als begabte Lügner entpuppten, verliefen im Sande, zumal auch der Schulleitung der Vorfall derart peinlich war, dass er schnellstmöglich unter den Teppich gekehrt werden sollte. Das Bewusstsein ihres gemeinsamen Verbrechens schweißte Tony Tanner und Benjamin Blofield einerseits enger zusammen. Andererseits war der Kumpel eine stets lebendige Erinnerung an die schändliche Tat, und man begann, sich aus dem Weg zu gehen. Schließlich verloren sie sich aus den Augen und das letzte, was Tony vor Jahren von Blofield gehört hatte, war dessen Mitarbeit an diesem chemischen Institut. Er war der festen Überzeugung, dass Blofield seinen Arbeitsplatz bald in einen rauchenden Krater verwandeln würde, aber als
er sich am Vormittag telefonisch gemeldet hatte, verband ihn eine Sekretärin mit dem "wissenschaftlichen Direktor Benjamin Blofield". "Hallo Tony, lang ist’s her, hast dich aber prachtvoll gehalten." Blofields ausgestreckte Hand wurde ruckartig wieder zurückgezogen, und ihr Besitzer versuchte, eine klebrige Schicht aus der Handfläche abzupulen. Das gelang nur teilweise, weil der Zettel, der an der anderen Hand festklebte, die Aktion behinderte. Schließlich griff Tony zu und zog Blofield den Zettel aus der Hand. "Ja also, der Zettel, richtig - mmm, ich habe leider nicht viel Zeit, ich muss den Reinigungsdienst und den Anstreicher benachrichtigen. Aber jedenfalls ist diese Formel ein richtig dicker Hund." Blofield vergaß seine Eile und setzte sich auf die Bank, auf der Tony gewartet hatte. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, den Zettel auseinanderzufalten. "Ein Gas, richtig?" fragte Tony. "Stimmt genau." " Ein Giftgas?" "Öhh nöö, kein Giftgas im militärischen Sinne. Ein giftiges Gas auf jeden Fall, aber nicht militärisch anwendbar. Um das herzustellen braucht es einen Aufwand, der für ein Dutzend Atombomben reichen würde." Blofield tippte mit dem Zeigefinger auf die verschiedenen Teile der Formel, während Tony sich um einen verständnisvollen Gesichtsausdruck bemühte. "Also,
grundsätzlich
-
grundsätzlich
ist
die
Formel
unvollständig. Leider. Die ist nämlich Gold wert. Ja, also ein Gas, teure Ausgangsstoffe, schwer herzustellen, enormer Energieaufwand, große Mengen an gefährlichen Abfallprodukten. Eine absolut exotische Substanz. Wirtschaftlich völlig unbrauchbar. Dabei von höchstem wissenschaftlichem Wert. Ich habe nämlich noch nie davon gehört, dass es überhaupt gelungen ist, einige der Bestandteile zusammenzubringen, ohne dass die miteinander reagieren. Siehst du, dass hier ist der geniale Trick, dieses dreiwertige Oxid verhindert die Reaktion, ohne selbst eine Änderung herbeizuführen. Aber auf so was muss man kommen. Ja, ich würde mir diese köstliche Formel gerne noch einige Wochen in aller Ruhe reinziehen, da steckt Könnerschaft drin. Ähm, hast du sie zusammengestellt? Oder hast du wirtschaftliche Interessen daran?" "Nein, was ist mit dem Faktor Druck?" "Druck? Na ja, du brauchst schon enorme Drücke um dieses Gas herzustellen. Aber zuviel darf es auch wieder nicht sein, denn dann müsstest du kühlen wie ein Eismann, denn sonst gibt es eine Reaktion und dann - puuuaaaah." Blofield erhob sich und wedelte mit den Armen in Richtung Decke. Seiner Pantomime einer riesigen Explosion merkte man die persönliche Erfahrung deutlich an. "Tja", auch Tony erhob sich wieder. Er war enttäuscht, obwohl er wenig Hoffnung gehabt hatte, mit Hilfe der Formel etwas ... aber was sollte das gewesen sein ... in Erfahrung zu bringen. "Ich schenke dir die Formel, mach was draus", sagte er, als Blofield ihm den klebrigen Zettel in die Hand drücken wollte. Er war den Gang schon halb heruntergegangen, als Blofield hinter ihm herrief. "Noch etwas, Tony. Teile dieses Gases
erinnern mich an das, was man ‘Ursuppe’ getauft hat. Die Atmosphäre der Erde zu der Zeit, als sich die ersten Aminosäuren bildeten. Und besuch mich doch mal. Ich habe einen ausgezeichneten selbstgemachten Erbsenwein, den können wir dann trinken." Tonys Antwort fiel höflich, aber mit einem merklichen Mangel an Enthusiasmus, aus. Er suchte sich eine Telefonzelle, rief an und fuhr mit einem Taxi zum Nationalmuseum. 4. Im Nationalmuseum absolvierte Tony eine Odyssee durch lange Flure und über Treppenaufgänge, bis er schließlich, direkt unter dem Dach, an die richtige Tür klopfen konnte. "Herr von Puttkammer ist gerade nicht da", sagte die Sekretärin. "Aber Sie können solange in seinem Büro warten. Ein Herr Heathercroft hat das Treffen ja schon arrangiert." Die Sekretärin lächelte ihn an und Tony verfluchte die Museumsleitung, die die wertvollsten Ausstellungstücke in Vorzimmer unter dem Dach verbannte. Diese kleine Blondine hätte die Auflage jedes Herrenmagazins vervierfacht, selbst wenn sie im Astronautenanzug auf dem Titelbild erschienen wäre. Aber diese Schonung seines Hormonspiegels wurde Tony Tanner nicht zuteil. Sie stand mit hochhackigen Stiefeletten, engsitzender Jeans und einem Pullover, unter dem sich ihre Brüste mit der Aggressivität zweier gezogener Colts eines Revolverhelden abzeichneten, vor ihm. Sie hatte helle blaue Augen, eine niedliche Stupsnase und einen großen Mund, der wie eine süße, frisch aufgeschnittene einladende Frucht, ausgebreitet auf der Seide ihrer Haut, wirkte. Tony fixierte eine Fliege an der gegenüberliegenden
Wand und bemühte sich, an Hundedreck, Autounfälle und Beinamputationen zu denken. "Ich möchte Ihnen auf gar keinen Fall Umstände machen, " brachte er heraus, wobei seine Stimme wieder in ein ärgerliches, weil unattraktives, Krächzen umschlug. "Ich kann gerne an einem anderen Termin wiederkommen ..." "Nein, nein, der Professor wird bald hier sein." Sie schwebte zu einer Tür, öffnete und lud Tony mit einer Handbewegung zum Eintritt. Von Puttkammers Büro war klein und mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen, einem Schrank und einem Bücherregal spartanisch eingerichtet. Tony schaute aus dem Fenster. Außer der Dachschräge und einigen schläfrigen Tauben auf der Regenrinne war nichts zu sehen, was ihm die Wartezeit verkürzt hätte. Aus dem Vorzimmer erklang das Hämmern einer Schreibmaschine, dann wurde telefoniert. Ein Buch auf dem Schreibtisch erregte seine Aufmerksamkeit. "Autorenverzeichnis / Altertumskunde" stand auf dem Einband. Tony nahm das Buch zur Hand, blätterte und suchte schließlich das Stichwort "von Puttkammer". "von Puttkammer, Jesus Wilhelm Ludwig", las er und dahinter die Eintragungen "Theorien zur 1. Zwischenzeit", "Einige Anmerkungen zu einem Pharao der 7. Dynastie" und "Ausgrabungsberichte 1977 - 1996". Und Leute, die solche Bücher schrieben, hatten solche Sekretärinnen! Angesichts der Ungerechtigkeit dieser Welt ließ Tony missgelaunt den Daumen über die Seiten gleiten. Dann stockte er, schlug zurück und fand nach kurzer Suche den Namen, der ihm aufgefallen war. "Dorkas, Sir Edmond: Beitrag zur Festschrift für Alwin Bates-Hennopy; Zur Entwicklung der assyrischen Rechtsformeln; Zur Rechtfertigung des Krieges in den Tafeln Assurnarsipals II.; Kampf, Jagd und Elitetheorie im Alten Assyrien; mit Weis,
Fritz: Die Geschichte hinter der Geschichte - Priesterschulen, Kriegerbünde und hermetische Zirkel im AO." Der Name Fritz Weis hatte in dem Buch keine Eintragung. Bates-Hennopy war dagegen ertragreicher, obwohl Tony aus den Titeln nicht schlau wurde: "Arkanum Magnum sive Opus Hermeticum; Die Symbolik afrikanischer Geheimgesellschaften und ihre Beziehung zum Vorderen Orient; Wanderbewegungen symbolischer Inhalte; Vermutungen zur Wirkungsgeschichte von Gehei..." Ein Schrei aus dem Vorzimmer schreckte Tony auf. Er riss die Tür auf. Die Sekretärin wälzte sich auf dem Boden, schrie und zog sich die langen Fingernägel durch das Gesicht, auf dem schon blutenden Striemen glänzten. Der Anblick eines solchen hysterischen Anfalls machte Tony völlig hilflos. Seine Beruhigungsversuche kamen ihm selbst lächerlich vor, nutzlos waren sie allemal, denn die Sekretärin wälzte sich weiter auf dem Boden, schrie weiter und zerkratzte sich, wie von einem bösen Dämon besessen, weiterhin das Gesicht. Tony kniete neben ihr, versuchte ihre Arme festzuhalten, um ihre Selbstverstümmelung zu verhindern und hatte plötzlich selbst die Fingernägel im Gesicht. In einer Mischung aus Schrecken und Empörung packte er fester zu, die Frau zog, und er lag halb auf ihr, als die Flurtür aufflog und zwei Männer in den Uniformen des Wachdienstes hereinstürzten. "Helfen Sie mir", schrie die Frau und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, "er hat versucht, mich zu vergewaltigen!" Bevor er überhaupt wusste, was geschah, wurde Tony am Kragen von der Frau heruntergerissen und in einen schmerzhaften Polizeigriff genommen. Die Sekretärin zeigte keinerlei Anzeichen von Hysterie mehr, sondern bot nur noch ein Bild hilfloser Verzweiflung, als sie sich einem der
Wachmänner schluchzend an die Schulter warf. "Lassen Sie mich los, was soll das", Tony protestierte krächzend und stieß gleich darauf einen lauten Schmerzensschrei aus, denn der Wachmann hatte den Griff nur noch fester gemacht. "Dir werd ich zeigen, was das soll, du Schwein," brüllte er in Tonys Ohr. Tonys rechter Fuß landete einen Treffer in die Kniekehle der Sekretärin. Die brach mit einem kreischenden Aufschrei zusammen und riss ihren Beschützer halb mit sich. Für eine Sekunde wurde der Griff um Tonys Arm lockerer, ausreichend, um ihm eine halbe Drehung zu ermöglichen. Sein Knie rammte in den Schritt des Wachmannes. Als der stöhnend vornüber klappte, warf ihn Tony mit einem kräftigen Stoß in von Puttkammers Büro. Dann riss Tony das Telefonkabel aus der Wand, schmetterte dem anderen Wachmann, der immer noch von der Blondine umklammert halb auf dem Boden lag, das Telefonbuch der City of London über den Schädel, versperrte die Vorzimmertür von außen und rannte. Er dachte nicht nach, sondern wollte nur fort; er warf sich vorwärts in die Flucht, die Bewegung, in das Wegrennen, als läge darin allein schon die Rettung. Dann erst fragte er sich, ob er die richtige Richtung gewählt hatte. Aber für eine Umkehr war es zu spät. Hinter ihm ließen wütende Faustschläge das Milchglas der Tür scheppern. Er erreichte eine schmale eiserne Wendeltreppe. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er die Tür unter den Schultern der Wachmänner zerbersten hörte. Hastige Schritte polterten über den Gang, Bürotüren wurden aufgerissen, Stimmen erklangen. Tony hielt sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest und sprang mehrere Stufen gleichzeitig hinunter. Seine Schritte hämmerten ein hektisches Stakkato, während er sich mehr stürzend als laufend die Spiralen der Treppe abwärtswand. Wie kam er zu einem Ausgang? Und würde es ihm überhaupt noch nützen oder war es nicht wahrscheinlicher, dass inzwischen schon das
Aufsichtspersonal alarmiert war und jeden Ausgang scharf bewachte? Überall waren jetzt Stimme, Rufe, Befehle zu hören. Eine Alarmglocke schrillte in der Ferne, leise, aber eindringlich und bedrohlich. Ein Treppenabsatz, ein schmaler Gang, an seinem Ende ein Fenster. Tony hielt an. Was war das. da hinten am Fenster? Eine Leiter. Und eine Leiter bedeutete ein Gerüst. Und ein Gerüst war seine Chance. Es war tatsächlich ein Gerüst, auf dem ein Bottich mit Mörtel stand. Aber das Fenster hatte keinen Griff. Da wo der Griff zum Öffnen sein sollte, der rettende Griff, der Griff, den Tony brauchte, waren nur leere Schraubenlöcher und ein Umriss aus rohem Holz, von weißer Farbe umgeben. Es war mehr die Wut über die verfluchten Zufälle in dieser widerwärtigen Welt als der Vorsatz, seine Flucht weiterzuführen, die Tony in diesem Moment antrieb. Noch niemals in seine Leben hatte Tony Tanner eine Glasscheibe zerbrochen. Und so war der Ellbogenstoß, der einen Regen von Scherben über das Gerüst niedergehen ließ, ein weiterer Abschied unter den vielen, die er in diesen Tagen nehmen musste. 5. Hektisch schlug er die größten Splitter, die wie Reißzähne in dem Rahmen steckten, weg. Seine Jacke zerfetzte, ein Schnitt in den Ellenbogen ließ ihn aufschreien. Aber jetzt war die Öffnung groß genug. Er zwängte sich hindurch, machte einige unsichere Schritte auf dem schwankenden Gerüstbrett und war bei der Leiter. Über ihm flog ein Fenster auf, jemand beugte sich hinaus, verschwand wieder, und dann hörte Tony erregte Stimmen. Er hastete die Leiter hinab, kam ins
Stolpern, seine Hände packten das rissige Holz der Holme und brachten ihn wieder ins Gleichgewicht, Splitter bohrten sich in seine Handflächen. Er war in einem Lichthof. Der Kleinlaster einer Baufirma stand verlassen neben dem Gerüst. Ein Torbogen bedeutete den Weg nach draußen, aber als er keuchend unter dem hallenden Gewölbe stand, versperrte ein eisernes Doppeltor den Weg. Überklettern? Unmöglich. Die eisernen Spitzen waren mehr als bloße Verzierung. Für einen Augenblick hatte er nur den Wunsch, sich vor das Tor zu setzen und einfach zu warten, bis sie ihn endlich packen würden. Dann schüttelte er dieses Gefühl ab und rannte zurück in den Hof. Noch war kein Mensch zu sehen. Aber der Wagen war da. Und der Wagen war offen. Der Zündschlüssel steckte. Tony verfluchte sein mangelndes Interesse am Autofahren, als er den Anlasser aufheulen ließ. Der Motor spuckte, sprang an und brüllte unter den Tritten von Tonys Gasfuß auf. Der Rückwärtsgang! Wo war der gottver... Rückwärtsgang? Auf dem Aschenbecher mitten im Armaturenbrett war ein Schaltschema abgebildet, aber Tony schaffte es nicht, den Gang einzulegen. Der Wagen machte einen Sprung vorwärts, rammte eine Gerüststange, worauf das gesamte Gerüst in gefährliche Schwankung geriet. Eisen schepperte gegen Eisen, Schrauben fielen von Brettern herunter und knallten wie Geschosse auf das Hofpflaster. Staub rieselte. Noch ein Versuch, das Motorheulen überdeckte Tonys gleichfalls heulende Flüche, als er versuchte, den störrischen Schalthebel in die richtige Position zu drücken. Wieder hüpfte der Wagen nach vorne und sprang wie ein wütender Kampfhund gegen eine Gerüststütze. Dann versuchte Tony es mit Anheben des Schaltknaufs. Er ließ die Kupplung kommen und der Wagen schoss nach hinten, während Tony noch auf das schwankende Gerüst blickte, von dem mehr und mehr Teile herunterprasselten. Der Außenspiegel kratzte an der Mauerecke, aber Tony
schaffte es, den Wagen in die Toreinfahrt zu lenken. Er presste das Gaspedal auf das Bodenblech herunter. Der Motor heulte auf, und dann krachte die Ladefläche des Kleinlasters genau in die Mitte des Tores. Die beiden Flügel wurden zur Seite geschmettert, dahinter lag eine schmale Straße. Zwischen zwei parkenden Autos war eine Lücke, breit genug, so glaubte Tony, wurde aber durch das Geräusch weggeschleuderter Stoßstangen eines Besseren belehrt. Er fegte durch ein Gebüsch und bremste auf einer kleinen Grünfläche, wobei er zwei tiefe Narben in den Rasen pflügte. Dann enträtselte er unter weiteren Flüchen den Mechanismus, der die Tür von innen öffnete. Zwei junge Männer saßen auf einer Bank, der eine gegen den anderen gelehnt, saugten andächtig an einem Joint und stierten auf den Wagen und den Mann, der heraussprang. "Äh, ich hab einen voll megageilen Trip", murmelte der eine, "ich seh hier Typen mit'm Auto rumbrettern." Tony mischte sich unter die Menschen und glaubte sich hier in größerer Sicherheit, bis er die Blicke der Passanten bemerkte. Ein Blick in das spiegelnde Glas einer Schaufensters zeigte ihm, das er wirklich nicht stadtfein war. Ein aufgerissener Zementsack auf der Ladefläche hatte sein Gesicht überpudert. Durch die weiße Schicht schimmerte die Blutspur, die die Fingernägel der Sekretärin hinterlassen hatten. Seine Jacke war zerrissen und alles andere als gentlemanlike. In der öffentlichen Toilette einer U-Bahn-Station wusch er sich, so gut es ging. Dann wollte er zu seiner Wohnung, war schon in der Straße, bis ihm klar wurde, dass er jetzt so etwas wie ein gesuchter Verbrecher war. Wohin? Er streifte durch die Stadt, immer auf der Hut vor der Polizei. Schließlich war es dunkel und er stand vor dem Geschäft von Dorkas. Tony klopfte gegen die Tür, hämmerte schließlich, obwohl ihm klar
war, dass er jeden Nachbarn im weiten Umkreis neugierig machen würde. Endlich hörte er über sich Fensterläden quietschen. Dorkas kapierte schneller, als Tony es gehofft hatte. "Ich komme, seien Sie etwas leiser, Sie alarmieren ja cat and cows." Gleich darauf wurde eine Kellertür geöffnet, und Dorkas’ Kopf erschien in einem Treppenabgang. "Was, um Himmels Willen, haben Sie verbrochen," fragte Dorkas, als er Tony durch einen muffig riechenden Keller und dann hinauf in seine Wohnung führte. "Ich habe einer Blondine in die Kniekehle getreten." "Ein etwas aparte Liebestechnik. Und als Beweis zarter Zuneigung geradezu unbrauchbar." Dorkas brauchte einige Minuten, um die Sicherungsketten einzuhaken und alle Schlösser an der Wohnungstür zu verschließen. Tony saß zusammengesunken in einem Sessel, der zusammen mit seinem Gegenstück, einer Lampe und einem kleinen Tisch das darstellte, was für Dorkas wohl ein Wohnzimmer war. Er erzählte Dorkas die Geschichte seines Besuches und schaute sich gleichzeitig unauffällig um. Die Wohnung wirkte uneinheitlich, ein Bastard aus einer Bibliothek, einem Flohmarkt und einer Junggesellenbude. Dazu kam ein guter Schuss plüschiger, spießigster Gemütlichkeit, der sich in Häkeldeckchen über den Sessellehnen und einer ebenso exotischen wie scheußlichen Schreibtischlampe ausdrückte, die Tony in einem Nebenraum sehen konnte. Dorkas saß im gegenüber. Er trug eine überdimensionierte Kordhose mit abgewetzten Knien, ein großkariertes Hemd, darüber eine Hausjacke, wie sie Tony zuletzt am Darsteller des Professor Higgins in "My Fair Lady" bewundert hatte, und genau die Sorte von Filzlatschen, die für
Tony den darstellten.
Albtraum
an
kleinbürgerlichem
Feierabend
"Nun," sagte Dorkas, als Tony schließlich schwieg, "dass Sie eine Blondine vergewaltigen wollten, mag ja noch hingenommen werden. Aber dass Sie einen Rasen zerstört haben, macht Sie in England zum Volksfeind Nummer Eins." "Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Art von Humor in diesem Moment richtig zu schätzen weiß, Sir!" Dorkas erhob sich kichernd. "Grämen Sie sich nicht allzu sehr, das Problem ist mir nicht neu." Er schlurfte in die Küche und hantierte mit Kesseln und Kannen. "Wir wollen uns an das gute alte Prinzip halten: Keine Rettung der Welt ohne vorher eine gute Tasse Tee zu trinken. Bevorzugen Sie Earl Grey oder Orange Pecoe? Oder trinken sie lieber einen Grünen?" 6. "Von Puttkammer ist seit mehreren Wochen nicht mehr in seinem Büro gewesen," erklärte Dorkas, nachdem er geräuschvoll und unter ständiger Gefahr lebensgefährlicher Verbrühungen einen ausgesprochen schmackhaften Tee zubereitet hatte. "Woher wissen Sie das so genau?" "Junger Mann!" Dorkas zog ironisch die Augenbrauen in die Höhe. "Man bekommt solche Informationen aus der Zeitung. Sunday Times, nur um ein Beispiel zu nennen. Aber man muss natürlich auch die kleinen Meldungen lesen und darf nicht beim Sportteil hängenbleiben. Im übrigen hat von Puttkammer eine Sekretärin, die seine Affinität zu Mumien in
schauderhafter Weise belegt. Eine ausgetrocknete Ziege, die sich mit Hilfe von Kosmetik, Mode und Friseur in die unteren Randbereiche der Attraktivität aufschrillt." "Die Kleine in seinem Vorzimmer kann das nicht gewesen sein, Mr. Dorkas. Sie sind ja wahrhaftig ein Kenner des weiblichen Geschlechts! Oder schimmert auch hier Ihre Liebe zu Antiquitäten durch?" Tony kicherte innerlich, als er bei Dorkas eine deutliche Veränderung der Hautfarbe zu einem tiefen Rot registrierte. Es gab doch nichts Schöneres, als die Schwächen seiner Mitmenschen zu entdecken. "Was treibt von Puttkammer eigentlich in der Wüste - und was ist er für ein Mensch?" Dorkas griff die Frage geradezu begierig auf. "Vor allem ist er unbeliebt. Na ja, er ist Deutscher, eine absolute Ursünde auf unserer Seite des Ärmelkanals. Er hat zwar seit langer Zeit einen britischen Pass, spricht aber das 'th' immer noch so aus, dass sich jedem Cockney die Zehennägel kräuseln. Aber das ist nur der Hintergrund. Er wäre auch verhasst, wenn er ein veritabler Lord Leckmichdoch mit ellenlangem Stammbaum wäre, denn er benimmt sich in der Ägyptologie so, als würde einer mit dem Flammenwerfer in den Wiener Opernball kommen. " "Wenn ich Ihre poetische Metapher einmal in meine normale Denkweise umsetze, dann hat er in wichtigen Dingen eine fundamental andere Meinung als die Mehrheit?" "Richtig, als so ziemlich alle anderen maßgeblichen Wissenschaftler, von einigen Pseudokennern und dilettierenden Spinnern mal abgesehen. Das Problem bei von Puttkammer ist, dass er nicht einfach als Anfänger oder Großmaul weggeputzt werden kann. Er hat profunde
Kenntnisse, er Veröffentlichungen, vorzuweisen."
hat und
wichtige, auch anerkannte er hat archäologische Erfolge
"Und wo liegt der Streitpunkt?" Dorkas kratzte sich geräuschvoll den Schädel, wobei ein kleiner Schneefall von Hautschuppen auf seine Schultern herunterrieselte. "Also," setzte er dann zögernd an, "es geht ganz allgemein um Fragen der Datierung. Um ehrlich zu sein, ist mir die Materie auch nicht vollständig vertraut. Vor allem geht es um die Entwicklung der ägyptischen Kultur, ihre Herkunft und ähnliches. Von Puttkammer ist - na ja, er sieht viele Dinge anders." Dorkas stützte das Kinn in eine Handfläche und blickte versonnen in seinen Tee. Er schwieg, lange und beharrlich, und Tony begann schon zu befürchten, er könnte mit offenen Augen eingeschlafen sein. Schließlich sprach Dorkas weiter, aber jetzt wirkte seine Stimme wie die eines einsamen Mannes, der ein Selbstgespräch führt. "Es ist schon seltsam, da gehen ganze Industriezweige verloren, Fabriken verrotten, es werden Kriege geführt, die Jugend steht arbeitslos auf der Straße und manche Menschen haben nichts anderes zu tun, als sich um die Interpretation des Osirismythos zu streiten und die Frage zu diskutieren, ob Seth schon immer der Bösewicht war und ob Osiris nicht ursprünglich ein Schlaffsack ohne 'cojones' war, der erst später mit Hilfe der Muttergöttin Isis wenigstens ein hölzernes Begattungszäpfchen bekam." "Ich verstehe den Zusammenhang nicht so ganz ..." Plötzlich erwachte Dorkas wieder. "Der Zusammenhang? Kurz gesagt, wenn Seth, der in der ägyptischen Mythologie den Bösewicht par excellence spielt, ursprünglich der strahlende Sieger und Herrscher war, dann könnte man daran
eine ganz andere Sicht der ägyptischen Kultur anknüpfen. Verstehen Sie, jeder Mythos spiegelt auch Veränderungen des menschlichen Zusammenlebens wider, der Gesellschaft, wenn Sie so wollen. Machtverhältnisse, die Definition von Oben und Unten, von Gut und Böse, von Himmel und Hölle, das wofür der Mensch lebt. In jedem Lehrbuch über Ägypten lesen wir vom 'Ka', dem überirdischen Gesetz, der Ordnung, die durch die Kultur dargestellt wird. Seth war Herrscher der Wüste, somit Gegner des 'Ka', so eine Art Punker, der in den sandigen Dünen hauste und die üppigen Gärten am Nil plündern wollte. Und das war auch das Ägypten, das die Griechen bewunderten und das ihr Lehrmeister war. Und dann kommt von Puttkammer daher und spricht von einer ursprünglichen Kultur in der Wüste, von einer Spaltung dieser Kultur, die durch den Streit zwischen Seth und Osiris ausgedrückt wird und so weiter und so fort. Langer Rede, kurzer Sinn, von Puttkammer wühlt seit Jahrzehnten im Sand, um archäologische Belege für seine Theorie zu finden." "Erfolgreich?" "Lange Zeit ohne Erfolge, oder zumindest ohne den erhofften Erfolg. Er fand alte Grabstätten, verlassene Tempel und Städte, und ließ seine Funde wutschnaubend anderen Wissenschaftlern zur weiteren Auswertung, weil sie nicht in sein Weltbild passten. Er ist halt ein unbeugsamer Charakter, starrsinnig, zielstrebig, rücksichtslos gegen sich und andere. Aber in den letzten zwei Jahren arbeitete er mit einem neuartigen Bodenradar. Natürlich in einer Gegend, in der sich sonst kein Altertumsforscher herumtreiben würde, weil da höchstens die verdorrten Überreste verirrter Karawanen zu finden sind. Aber von Puttkammer hat etwas gefunden, und das buddelt er seit vielen Monaten aus." "Ist er allein?"
"Er hat selbstverständlich einheimische Helfer und einen jungen britischen Assistenten. Wie hieß der noch ---? - Burns, Bruns, Braddock - ich komme nicht drauf. Jedenfalls ein junger Mann mit beachtlicher Selbstverleugnung. Sonst hätte er es, wie die anderen Assis, nicht lange bei seinem Herrn und Meister ausgehalten. Entweder hat von Puttkammer ihn überzeugt oder dieser Bruce, jetzt hab ich's , Herbert Bruce heißt er, also dieser Bruce ist einer dieser lästigen Universitätsparasiten, die sich wie ein Korkenzieher in den Khyber Pass (Cockney: Arse = Arsch) der Professoren eindrehen, um an diesem eigentlich eher schattigen Plätzchen etwas vom inneren Licht der großen Männer abzukriegen." Tony stellte die Frage, die ihm schon seit einiger Zeit auf der Zunge lag. "Was hat dieser von Puttkammer mit Matanka zu tun?" Dorkas zuckte die Schultern. "Vermutlich nichts, aber wenn dieser Herr Matanka ein Kunstsammler ist, dann ist es für ihn natürlich von größerem Interesse, seine Männer hinter von Puttkammer herzuscheuchen, denn der ist immer gut für eine überraschende Entdeckung an einem unerwarteten Ort. Will sagen, bevor die ägyptische Altertumsverwaltung überhaupt in Gang kommt, kann man einige hübsche Stücke altägyptischer Kunst ohne großes Aufsehen zur Seite schaffen und außer Landes bringen. Machen Sie das einmal bei den größeren Ausgrabungsstätten, wenn Ihnen dabei ein ägyptischer Beamter über die Schulter schaut. " "Bakschisch", warf Tony ein. "Nicht jeder ägyptische Beamte ist bestechlich. Und wenn Sie ein Relief von zehn mal zehn Metern ablösen und transportieren wollen, geht das nicht ohne Zeit und Aufsehen. Nein, das Stichwort Bakschisch greift in diesem Fall nicht. Mich wundert nur, was dieser Herr Matanka an solchen
Werken findet. Aber mich wundert sonst noch einiges." "Was, zum Beispiel?" "Dieses Gas, von dem Sie vorhin erzählten. Es gibt keinen Sinn. Wenn es VX gewesen wäre oder ein anderes Nervengas - vielleicht dient es zur Anreicherung eines radioaktiven Stoffes? Oder für die Härtung eines Materials, aus dem man Werkzeuge herstellt. Oder es gibt ein Medium ab, in dem man bestimmte Reaktionen ablaufen lassen kann. Verdammt." Dorkas sprang mit unerwarteter Plötzlichkeit auf und ging im Zimmer auf und ab. Das schlurfende Geräusch seiner Filzpantinen nahm der Bewegung allerdings viel von ihrer Dynamik. "Da studierst du ein halbes Leben lang und es gibt immer noch Dinge, die du nicht verstehst. Aber soll ich deshalb jetzt ein paar Semester Atomphysik oder Chemie dranhängen?" "Was für ein herrlicher Tag", stöhnte Tony. "Wir haben also einen spinnerten Deutschen mit britischem Pass, der etwas gefunden hat, ein Gas, das zu nichts nutzt, aber eine größere Bedeutung zu haben scheint, geklaute Kunst und eine Vergewaltigung, die man mir anhängen will." "Sie vergessen den von Ihnen vandalisierten Rasen!" Dorkas hatte sich wieder beruhigt. Er schaute auf die Uhr. "Zeit für die Nachtruhe. Sie bleiben selbstverständlich hier. Ich werde morgen einen Bekannten anrufen. Er ist Rechtsanwalt. Spezialist für aussichtslose Fälle. Der paukt Sie irgendwie wieder raus. Im Notfall plädiert er auf momentane, hormonell bedingte mentale Insuffizienz, das macht er nämlich gerne." "Und was heißt das?" "Mmmh, es heißt, dass Sie sich wie ein normaler Mann
benommen haben, nur etwas zu viel. Sexuell bedingte Blödheit. Hähähä, das Phänomen ist täglich auf Standesämtern zu beobachten. Dann kommen Sie mit einer Bewährungsstrafe davon. Sie können hier auf dem Sofa schlafen. Ich lege Ihnen eine neue Zahnbürste ins Badezimmer. Daneben stelle ich eine Creme für Ihr Boat Race (Cockney: Face = Gesicht). Ich hoffe sehr, Sie schnarchen nicht?" 7. Tony fuhr aus dem Schlaf hoch. Er hatte auf dem ungewohnten Sofa falsch gelegen. Sein Nacken schmerzte, sein rechter Arm hing steif und wie ein totes Stück Fleisch von der Schulter herab, seine Kleidung war durchgeschwitzt und klebte auf der Haut. Ein schwerer Dunst von Schweiß stieg von ihr auf und ließ Tony schaudernd an den Geruch von Panik und Blut denken, der um einen Schlachthof wabern mochte wie rötlicher Dunst. Aber alles das hatte ihn nicht aus dem Schlaf gerissen. Es war dieser Traum. Aber nein, es war eben nicht dieser Traum. Er selbst war es, oder vielmehr irgendetwas in ihm, das sich mit aller Kraft aus diesem Traum herausgewunden hatte, strampelnd wie ein Tier, das in ein Sumpfloch gestürzt ist. Und nun versuchte Tony Tanner, seinen rasenden Puls zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen. Eine Uhr tickte lautstark, in einem Nebenzimmer lag Dorkas, atmete hörbar und setzte immer wieder an, um die Stille der Nacht in kleine handliche Scheiben zu zersägen. Das alles wirkte in seiner Banalität unendlich beruhigend. Aber Tony gehörte nicht mehr dazu. Nicht in diesem Moment jedenfalls, da hinter seinen Augen noch die Bilder des - oder sollte es wirklich heißen "seines" - Traumes lebten und mit dem grausamen Gewicht eines Götzenbildes gegen seinen Schädel drückten. Er
betrachtete diese inneren Bilder, ungläubig wie jemand, der gerade Zeuge eines katastrophalen Unfalls geworden ist und nun, Sekunde für Sekunde, versucht, die Wirklichkeit dieser rauchenden Trümmer auszublenden, sie um Gottes Willen nicht an sich heranzulassen, sie nicht wahr werden zu lassen, weil ein Schrei schon würgend in der Kehle steckt wie ein versehentlich verschlucktes stacheliges Insekt. Vor sich hatte er eine Frau gesehen. Eine nackte Frau eigentlich war es nur ein nackter Leib, denn ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Sie lag vor ihm, warm und lebendig, dennoch reglos und abwartend, bis auf die Ebbe und Flut ihres Atmens, der die sanfte Wölbung ihres Bauches leise schwellen und sinken ließ. Seine Fingerspitzen strichen über die glatte Rundung ihres Schenkels, registrierten die Weichheit der Haut, spürten die zarten blonden Härchen, glitten über die Hüfte mit ihrer unerwarteten knochigen Härte unter der Hülle der Haut, retteten sich zurück auf das sanfte Gefälle ihres Bauches, strichen an den ersten dunkleren, festeren Haaren entlang, stiegen hoch und umkreisten ihren ovalen Nabel. Er bemerkte den leisen Schatten, dort wo sich ihre Haut unter dem Gewicht seiner Finger einwölbte, seine Berührung aufnahm wie eine Schale, die geformt wurde, um klares Wasser aufzufangen und festzuhalten. Seine Finger verharrten; einen Herzschlag lang genoss er das Spiel zwischen dem Druck seiner Finger und dem Gegendruck ihres atmenden Leibes, empfand eine taumelnde Beglückung auf der unmessbaren Stufenleiter zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, Liebe, Lust und Begierde. Aber dieser Moment schmolz oder gefror in einer Kälte, die von irgendwo herein wehte. Jetzt war es, als säße er wie ein Beobachter in seinem Schädel und müsste durch seine Augen starren, ein hilfloser Pilot in der Kanzel eines Flugzeuges, das sich aller Kontrolle entzogen hat. Seine linke Hand geriet erneut in Bewegung, strich um den
Nabel und wanderte tiefer. Aber nun geriet etwas anderes in sein Blickfeld, und hier glaubte Tony, sich an sein eigenes Stöhnen erinnern zu können, das durch die pelzigen Schichten des Schlafes bis an sein Bewusstsein gedrungen war. Dieses Andere, dieses Fremde und Bedrohliche, dieses so Schreckenerregende war sein rechter Arm. Sein eigener Arm, an dessen unteren Ende sich eine Hand befand, seine Hand, an der Finger waren, seine Finger, und diese Finger umklammerten den tibetanischen Dolch. Tony, sein Ich, sein Ego - oder was mag es gewesen sein? begann zu zucken, sich winselnd zu winden, schließlich wie ein wild gewordener Affe im Käfig seines eigenen Kopfes zu toben. Sein Arm schwenkte über den nackten Frauenkörper, senkte sich. Die Spitze des Dolches, die allein schon durch ihre metallische Feinheit und Härte schauern ließ, dem Auge des Betrachters ähnlich der Medusa schon beim bloßen Anblick Verletzungen zuzufügen schien, senkte sich. Senkte sich und senkte sich mit der urteilslosen Entschiedenheit eines Stachels, durch den das Mückenweibchen fremdes Blut in sich aufsaugt. Blieb vibrierend über der linken Hand stehen, bis sich diese zurückzog und aus dem Blick verschwand. Tony oder wer auch immer - war über das Stadium des Widerstandes hinaus. Starr und hilflos ließ er die Bilder in sich eindringen, wie ein halbbetäubter Zuschauer in einem Kino, auf dessen Leinwand sein eigener Untergang zur Vorführung kommt. Die Spitze des Dolches senkte sich, berührte die Haut, verstärkte den Druck bis ein einzelner Blutstropfen aufsprang , der rot und wunderschön anzusehen über das weiße Schneefeld der Haut glitt - und dann war es noch ein Tropfen und noch einer und schließlich wand sich eine kleine rote Schlange abwärts ... An diesem Punkt war Tony erwacht. Er packte seinen gefühllosen rechten Arm und hob ihn in eine andere Stellung. Mit vielen kleinen Stichen kehrte das Blut zurück in die Adern.
Er wollte aufstehen, stolperte aber über eine Teppichkante und ließ sich zurück auf das Sofa fallen. Seine Schläfen pochten, er fühlte sich unendlich müde und wagte dennoch nicht, die Augen zu schließen, aus Furcht, die Bilder könnten zurückkehren und ihn wieder bedrängen. So schaute er in die fahle Dunkelheit, in das Gemenge aus Nacht und den nie verlöschenden Lichtern einer Großstadt und lauschte den Geräuschen aus der Wohnung, dem Haus und der Straße. Er bejubelte insgeheim jedes vorbeiknatternde Moped und jedes Rauschen in einer Wasserleitung, eigentlich Geräusche, die ihm sonst lästig waren. Aber nun hielt er sie hoch wie einen Passierschein, der ihn zurück in die Normalität führen konnte, fort von seiner Angst, er würde aus der Stille der Nacht heraus die Wölfe des Wahnsinns heulen hören. Ihn fröstelte. Er zog eine Decke um die Schultern und saß dann lange im Dämmer. Ein Mann kann alles verlieren, sein Haus, sein Gut, selbst seine Heimat und dennoch gelassen leben, weil er in seinem Inneren einen festen Halt findet. Aber was hat ein Mann, in dessen eigenem Inneren ihm nur die Fratzen des Wahnsinns angrinsen? Was hat dieser Mann außer einer Decke, die seinen schweißnassen Körper wärmt und die wenigen Momenten, in denen sich die grauenhaften Bilder nicht vor seine offenen Augen drängen. Schließlich schlief Tony Tanner wieder ein, aber vielleicht war es auch nur eine lange Ohnmacht der Erschöpfung. 8. Die Stimme von Dorkas drang in Tonys Halbschlaf des Erwachens. Dorkas hatte sein Telefon in einem engen schallenden Flur aufgestellt, zudem drückte er sein Misstrauen gegen moderne Kommunikationstechniken durch eine Lautstärke aus, die seinen Gesprächspartner vermutlich auch ohne das Hilfsmittel des Telefons erreicht hätte.
" ... die Sache mit den Uniformen ist gut. Ich werde mich umhören. Da gibt es sicherlich einiges, das man denen anhängen kann. - Und mit der anderen Sache. Nein -- ich habe keine Möglichkeit, an einen Autopsiebericht heranzukommen. Aber ich zweifele auch, ob der von Interesse wäre. -- Natürlich sind die zurückhaltend, das ist doch eine Sache, von der jeder Boulevardjournalist träumt - nein, nicht mal ein Foto, aber der Bericht stammt aus erster Hand und sollte authentisch sein ...!" Sir Edmond Dorkas beendete sein Gespräch und ging zu Tony. Der stellte sich auf seinem Sofa schlafend - eine kindische Reaktion, wie er sich selbst eingestand, aber er hatte keine Lust auf Dorkas, keine Lust auf den Tag. Er wollte nur noch schlafen und träumen - doch bei diesem Stichwort riss Tony Tanner die Augen auf. Die Erinnerung an den Traum dieser Nacht überfiel ihn. Geblendet von der Helligkeit des Vormittages schloss er die Lider gleich wieder, aber nicht schnell genug, um den Anblick von Dorkas, der sich mit dem Gesichtsausdruck einer selbstsicheren Katze zu ihm herunterbeugte, zu vermeiden. "Wenn Sie ein Gebrauchtwagen wären", klang es in Tonys Ohren, "würde ich Sie nicht kaufen. Schlechte Nacht gehabt?" Tony nickte. "Naja," fuhr Dorkas aufgeräumt fort, "wollen mal sehen, ob ein Frühstück Ihrem Äußeren zu mehr Glanz verhelfen kann. Eigentlich ist es kein Frühstück, eher Mittagessen. Sie haben vielleicht nicht gut geschlafen, aber jedenfalls lange." Der Küchentisch legte Zeugnis für Dorkas’ barbarischen Lebenswandel ab. Tony registrierte eine geleerte Dose Sardellen, die Zellophanverpackung eines Kuchens aus einem Supermarktregal, eine Schachtel mit Trockenpflaumen und
eine riesige Tasse mit Kakaoresten. "Ich glaube, ich kann nichts essen", behauptete Tony aus einem gesunden Überlebenswillen heraus. "Auf die Gefahr hin, wie meine Mutter zu klingen, aber ein Tag ohne Frühstück ist wie ein zweibeiniges Pferd - und das fällt garantiert auf die Schnauze." Auf dem kleinen Küchentisch stapelten sich, sorgsam getrennt von den Krümeln und Sardellensoßenklecksern, einige schmale Zeitschriften. Während Dorkas Tee eingoss und aus einer Abstellkammer einen zweiten Stuhl herbeischaffte - anscheinend war seine Wohnung wirklich nur für eine einzelne Person eingerichtet - versuchte Tony, die Titel der Zeitschriften zu erkennen. Trotz eines lautstark knackenden Nackens misslang ihm das. Schlimmer noch, Dorkas bemerkte sein Interesse und schnappte sich sofort die oberste Zeitschrift. Er hielt Tony die Titelseite hin. "The Welsch Wiccan Way" lautete der Titel des Heftes. Die Titelzeile war in verschnörkelten Buchstaben geschrieben und mit Motiven verziert, die eindeutig keltische Kunst nachahmten. Darunter war eine Frau gezeichnet, ein Mittelding zwischen Waldfee und Domina in engem Mieder, wallendem Rock und mit Kelch und Dolch in den erhobenen Händen. Alles das machte den Eindruck einer liebevollen, nicht ungeschickten, aber wenig professionellen und zeitgemäßen Gestaltung. Ein Computer jedenfalls war bei diesem Titel nicht eingesetzt worden. Tonys fragender Blick erübrigte jedes Wort. "Hübsch, nicht wahr?", sagte Dorkas. "Das ist das Mitteilungsblatt eines - mmmmh, nennen wir es Hexenzirkels aus dem sangesfreudigen Wales. 'Wicca' ist das angelsächsische Wort für das, was man später Hexe nannte.
In den Kreisen dieser so genannten Neu-Heiden eine gängige Selbstbezeichnung. Solche Mitteilungsblättchen bekommt man übrigens in vielen esoterischen Buchläden. Natürlich treiben sich die Wicca-Anhänger inzwischen auch im Internet herum, aber die Form der Mitteilung über solche Hefte, die meistens zu keltischen Festen erscheinen, ist immer noch beliebt." "Und was findet der eifrige Leser in diesen Heften?" "Oh, einen Kessel Buntes sozusagen - Neuheidentum mit einem großen Schuss Ökologie, Psychologie, Betrachtungen über die 'Alte Religion' wie es genannt wird, natürlich kommt man an Feminismus und Matriarchatsforschung nicht vorbei, diese Damen haben inzwischen unsere gute alte "History" zur "Herstory" umgepolt. Dann gibt es noch viele Briefe und Beiträge von Neuheiden, die ihre persönlichen Erlebnisse und religiösen Visionen schildern - teilweise geradezu peinlich kindisch, teilweise aber auch mit beeindruckendem Ernst." "Ich halte das alles für eine Spielerei frustrierter ExKirchgänger." Dorkas wiegte den Kopf bedächtig hin und her. "Das war früher auch meine Meinung", gestand er dann. "Ich dachte, dass sich hier frustrierte Ex-Hippies ihr esoterisches Kuscheleckchen geschaffen haben. Und zum Teil trifft das auch zu. Aber eben nur zum Teil." Dorkas schlug eine Seite auf, die mit einem abgerissenen Kalenderblatt markiert war. Dann stellte er einen Fuß auf den Küchenstuhl und warf sich in die Positur eines Schauspielers, der einen klassischen Text zum Besten gibt. "Zwölf prasselnde Feuer umgrenzen den Ort. Zwölf Männer stehen im Rund. Auf ihren Schultern ruhen die Masken des
Widders, des Stieres und der anderen Himmelszeichen. Schatten und Feuerschein umspielen ihre nackten Körper. Rot wie Blut leuchtet ihre bemalte Haut. Aus dem Dunkel der Nacht erscheint die große Priesterin, begleitet von ihren zwölf Fackelträgerinnen. Weiß schimmert das Gewand der Priesterin, mit Gold bepudert glänzen die nackten Leiber ihrer Dienerinnen. Die Priesterin nimmt Platz am Altar und spricht das Gebet zu der Großen Göttin, dann spricht sie die Worte: ‘Wir wollen den Acker pflügen für des Jahres Fruchtbarkeit’ und öffnet ihr Gewand. Sie liegt auf dem Altar, und das erste Zeichen des Jahres nähert sich ihr. Es küsst ihre Brüste und verehrt ihre Scham um dann ..." "Schluss", schrie Tony. "Das ist ja widerlich." "Tatsächlich? Ich dachte, Sie hätten einen Sinn für derartige Unterleibsprosa," konterte Dorkas trocken. "Es ist abstoßend, ein wüstes Selbsterfahrungsgruppe, Sexualtherapie, Bühnenstück und Barbarenritual."
Mittelding aus neumodischem
"Sie haben die feuchten Träume pubertierender Primaner vergessen. Aber ansonsten ist Ihre Analyse sehr stimmig." "Um meine Resistenz gegenüber schlechtem Geschmack zu testen, haben Sie mir diesen Schmodder vermutlich nicht vorgetragen?" Dorkas warf das Heft zurück auf den Stapel und goss sich eine weitere Tasse Tee ein. Tony hatte die Anzahl der Tassen nicht mitgezählt, war aber sicher, dass Dorkas’ Körperzellen inzwischen vollständig mit schwarzem Tee gefüllt sein mussten. "Die Dame, der die literarische Welt diesen Höhepunkt verdankt, heißt Sarah Hammond, und sie veröffentlichte diesen Text vor genau einer Woche unter der
Überschrift ‘Eine Vision’." "Auch das ist noch keine hinreichende Entschuldigung, mich mit dieser Vision zu quälen." "Sachte. Sarah Hammond wurde ermordet." "Vermutlich von einem letzten verzweifelten Verteidiger des guten Geschmacks." "Möglich. Aber würde ein solcher Verteidiger des guten Geschmacks sich die Mühe machen, unsere Autorin mit fünf Messerstichen umzubringen und dabei jeden Stich exakt in die Hochachse des Körpers zu setzen?" "Das kann Zufall sein." "Auch das kann ich Ihnen noch zugestehen. Aber ist es Zufall, dass die Einstiche genau in denjenigen Körperregionen sitzen, in denen eine ganze Reihe esoterischer Schulen, angefangen vom Yoga, die Chakren, die Energiezentren des Menschen sehen? Und kann es Zufall sein, dass sich der Mörder oder die Mörderin die Mühe gemacht hat, die Schädeldecke des Opfers zu durchbohren? Übrigens genau an der Stelle, von der tibetanischen Mönche behaupten, sie diene der Seele als Ausgang, um den sterblichen Körper zu verlassen? Und noch eines - würde sich ein Mörder der Aufgabe unterziehen, seinem Opfer die Augen auszustechen?" "Das klingt nach einem Perversen aus einem dieser WiccaZirkel." "Ein Perverser macht sich nicht soviel Mühe. Er schnappt sich irgendein Schulmädchen und praktiziert in Daddys Garage einen selbst gebastelten Satanskult. Oder schubst Grabsteine
um und kommt sich dabei gewaltig vor. Oder er pinkelt in die Ecke seiner Gummizelle. Aber er nimmt sich keine Autorin vor, die in esoterischen Zirkeln schon Berühmtheit erlangt hat. Vor allem nicht, wenn sie nur unter Pseudonym veröffentlicht - in diesem Heft nennt sich Sarah Hammond ‘Isadora’, ‘Anbeterin der Isis’. Und dann der Zeitpunkt der Ermordung. Eine Woche nach der Veröffentlichung ihrer Vision. Warum eine Woche Wartezeit? Und die Antwort: Weil wir erst in der vergangenen Nacht Vollmond hatten!" "Sie wurde also in der vergangenen Nacht getötet?" Über Tonys Rücken schienen Tropfen von Eiswasser zu rieseln. Der Traum der letzten Nacht drängte sich in seine Erinnerung und krachte in seine Gedanken wie eine Lokomotive, die einen Holzschuppen rammt. Dorkas brauchte sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen, nach dem Anlass für Tonys Erschrecken zu forschen. Tony erzählte alles. Er ließ seine Erlebnisse der letzten Tage aus sich heraussprudeln, erbrach förmlich wie ein Kranker alle Abenteuer und Gefahren, die sein ansonsten so braves Leben umgebaggert hatten. Als er geendet hatte, fühlte er sich besser. Er schämte sich und nannte sich selbst einen Schwätzer, aber er fühlte sich besser. Die beiden Männer saßen eine Weile schweigend in der Küche, zwischen einem Spülstein, in dem sich das verkrustete Geschirr einer ganzen Woche stapelte, und einem Fenster, das den Blick auf einen tristen Hinterhof geboten hätte, wenn sich irgendein Mensch die vergebliche Mühe eines Blickes gemacht hätte. Die Uhr tickte und markierte unverdrossen ihren Weg durch die Zeit. "Schlimmer als ich dachte", sagte Dorkas nach einer Weile. "Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich etwas mit der Sache zu tun ...?"
"Doch, das glaube ich. Jedenfalls auch einer bestimmten Ebene, die ich weder ‘höher’ noch ‘tiefer’ nennen will, haben Sie eine Verbindung zu der Tat. Stichwort ‘Tat’ - ich bin sicher, dass es sich um einen Ritualmord handelt. Und warum? Weil diese Frau etwas ausgeplaudert hat, was die Öffentlichkeit nicht erfahren durfte. Und sei es auch nur jener Teil der Öffentlichkeit, der in seltsamen Buchläden stöbert." "Also war diese so genannte Vision etwas, das wirklich stattfindet?" "Zumindest muss eine Nähe zur Wirklichkeit vorhanden sein. Eine allzu große Nähe wohlgemerkt." Tony sprang auf und lief durch die Küche. Seine Ellbogen rempelten scheppernd den Berg von schmutzigen Geschirr. "Wenn es eine Verbindung, welcher Art auch immer, zwischen mir und diesem Mord gegeben hat, dann gibt es auch eine Verbindung zwischen Sarah Hammond und Matanka und allen möglichen Vorgängen. Zumindest ist das naheliegend genug, um sich die Sache näher anzusehen. Und das werden Sie machen." "WER, ICH?" Dorkas schaute sich mit leichten Anzeichen von Panik nach einem imaginären Dritten um, der gemeint sein könnte. Erwartungsgemäß fand er niemanden, und so begann er sein Rückzugsgefecht. "Warum ich?" "Weil Sie der Experte sind, Sir Edmond Dorkas, und weil ich etwas anderes vorhabe - ich kann jetzt doch nicht einfach durch dieses Land reisen, mit der Anklage einer Vergewaltigung im Nacken." "Lassen Sie den Sir weg, ich lege nicht viel Wert auf Titel. Aber die Anklage ...", Dorkas ergriff begierig die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. "Anklage, tatsächlich, es gibt eine
solche. Jemand hat Interesse daran, die ganze Angelegenheit möglichst hoch zu hängen. Sie sollten also demnächst in keiner Fernsehshow auftreten. Vergewaltigung, Körperverletzung, Beschädigung öffentlichen Eigentums, Sachbeschädigung - für Sie müsste ein neuer Henker eingestellt werden. Aber der Anwalt arbeitet daran. Sie haben in Panik gehandelt, die Frau ist eine Hysterikerin, die Wachleute brutale Wichtigtuer und so weiter. Wie gesagt, er ist ein Experte für aussichtslose Fälle." "Nun, dann ist es doch angebracht, wenn ich mich für eine Weile aus dem englischen Klima entferne." "Und wohin?" "Ich dachte an Ägypten." "Ägypten!" Dorkas faltete seine Hände. 9. Man konnte das Krachen, mit dem Heathercrofts Unterkiefer auf die Schreibtischplatte aufschlug, förmlich hören. Da Heathercroft keine Durchwahlnummer besaß, hatte Dorkas an der Zentrale angerufen und, nachdem die Verbindung geschaltet war, Tony den Hörer in die Hand gedrückt. "Tanner, du, ich glaub' ich hab' Visionen. Weißt du eigentlich, was hier los war, gestern tauchten plötzlich einige Typen von der Polizei auf und erkundigten sich nach dir und ich ..." "Halt's Maul", sagte Tony und war damit auf dem obersten Niveau an Höflichkeit, die er Heathercroft gegenüber aufzubringen vermochte, angelangt.
"Ich rufe dich nicht an, damit du mir die Ohren vollquatschst, sondern damit du einige Sachen für mich erledigst." "Jetzt habe ich wirklich eine Vision. Bin ich dein Laufbursche? Bist du in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt und willst mich hineinziehen, was?" "Pass auf, Heathercroft, ich sage es dir nur einmal. Erstens würde sich die mieseste Mafiabande davor ekeln, dich auch nur als Leiche vor der Tür zu engagieren. Zweitens wirst DU morgen schon Laufbursche sein, wenn du mein Gehör auch nur noch eine Sekunde mit deinem Geseire belästigst und nicht genau tust, was ich dir sage. Zur Erinnerung: Unautorisierte Informationsabgabe über Büroangestellte an dritte Personen. Das bedeutet den Sekundenrausschmiss, wie sicherlich selbst dir bekannt sein dürfte. Soviel zum Geschäft. Und nun sage ich dir, was du machst." Heathercroft wimmerte noch ein wenig, gab aber dann angesichts der Entschiedenheit in Tony Tanners Stimme jeden weiteren Widerstand auf. "Ich brauche einen Flug nach Kairo, schnellstmöglich, Diplomatenstatus, Empfehlungsbrief - die ganze Palette rauf und runter." "Wie soll ich das machen, das kriege ich nie durch und außerdem ..." "Wie du das machen sollst, du Pfeife? Zuallererst schickst du die Blondine, die gerade unter deinem Schreibtisch hockt, weg und machst deinen stinkigen Hosenstall zu. Dann beginnst du nachzudenken und ..." Ein tiefes Stöhnen drang durch das Telefon, gefolgt von hektischen Geräuschen, die mit einem Türenknallen ihr
abruptes Ende fanden. "Oh Mann, wo hast du die verdammte Videokamera", jaulte Heathercroft. "Und auch noch in Farbe, das ..." "Das sollte dich zu der Überzeugung bringen, dass ich meine Auge und Ohren überall habe. Ich weiß viel mehr, als du armes Würstchen jemals auch nur ahnen wirst. Also, ich brauche den Kram bis zum frühen Nachmittag. Noch Fragen?" "Wie zum Teufel soll ich das machen?" "Heathercroft, woher diese jungfräuliche Bescheidenheit? Du bist doch auch sonst in der Lage, dich für acht Wochen beruflich nach Hawaii zu schicken, glaube bloß nicht, deine linken Touren wären mir entgangen. Aber um dein armes Gehirn nicht allzu sehr zu martern, gibst du an, dass irgendeine Herzogin, ein Name wird dir schon einfallen, und irgendeine höhere Charge der Kirche irgendwann in der nächsten Zeit ein koptisches Waisenhaus in Kairo besichtigen möchte. Ich brauche drei Wochen - und denk' dran, dass ich auch eine Kreditkarte der Firma brauche. Off Limits, versteht sich. " "Ja, ja, ich werde mich bemühen. Und außerdem wollte ich dir noch was sagen, Tanner, es fällt mir zwar schwer, aber ..." "Dass einem Neandertaler wie dir jede Form sprachlicher Äußerung jenseits von 'Hunger, Durst, Liebe machen' schwer fällt, war mir schon immer klar. Also konzentriere dich auf deinen Job und merke dir jetzt, wie du mir die Sachen zukommen lassen wirst. Sonst bringe ich dir nichts Schönes mit!" Dorkas lehnte im Türrahmen und grinste Tony an, als der den Hörer aufgehängt hatte.
"Sie lassen ein bewundernswertes Talent zum Kotzbrocken erkennen." Tony zuckte ungerührt die Schultern. "Betrachten Sie es als meine persönliche evolutionäre Anpassung an die Umwelt. Wenn meine Umwelt ein Interesse daran hat, mies zu mir zu sein, dann ändere ich mein Verhalten entsprechend." "Wann wollen Sie aufbrechen?" "Schnellstmöglich. Ich schätze, dass ich am späten Nachmittag fliegen kann." Dorkas räusperte sich. "Und Sie sind wirklich der festen Überzeugung, dass sich nicht vorher eine kleine Reise nach Wales einschieben ließe, kleine vierundzwanzig Stunden, darauf kommst es wohl nicht an - und dann könnten Sie sofort ab nach Kairo ..." "Keine Diskussion. Wales ist Ihre Aufgabe, Dorkas. Schließlich haben Sie die Angelegenheit ja auch aufs Tapet gebracht." Brummelnd zog Dorkas ab und begann, aus diversen Schränken und Kommoden jene Dinge herauszuziehen und auf sein Bett zu werfen, die er für ein Überleben in Wales für dringend notwendig hielt. Tony betrachtete eine Weile, wie sich alles stapelte und fragte erst, als Dorkas Bettlaken und Kissenbezüge neben eine Sammlung von Insektenpulver und Desinfektionsspray legte, ob die Absicht bestünde, eine komplette Eselskarawane zu organisieren. Auf diese Bemerkung, die - wie Tony sich selbst eingestehen musste noch ein wenig vom Stil seines Gespräches mit Heathercroft geprägt war, ließ Dorkas das Federbett, das er gerade in der Hand hielt, fallen und murmelte etwas von 'zu wenig Erfahrung
mit Reisen'. Als Dorkas dieses sagte, machte er sich einer Lüge schuldig. Denn der einzigen und wirklichen Wahrheit entsprach, dass Dorkas nicht die allergeringste Erfahrung mit Reisen hatte, weil er noch nie im Leben verreist war. Die Geographie von Dorkas' Welt wurde durch die Londoner U-Bahn- und Buslinien bestimmt. Jenseits dieser Grenze begann eine unbekannte Welt, die keinerlei Verlockung bot, aber mit größeren Gefahren verbunden war, als sie je ein mittelalterlicher Seemann bei der Fahrt in unbekannte Weite erwartet hätte. Rein theoretisch war sich Dorkas darüber im Klaren, dass die Welt keinen Rand hatte, über den hinaus der unglückselige Wanderer in eine endlose Tiefe stürzen könnte. Aber psychologisch war er zutiefst von dieser Möglichkeit überzeugt, ja, er hätte bei der Frage 'Besteht die Gefahr, zehn Meilen jenseits der Grenzen von Greater London über den Rand der bewohnten Erde in das Nichts abzustürzen?' mit einem schmerzlichen 'Ja' geantwortet und dabei jeden Lügendetektortest mit Bravour bestanden. Niemals hatte Dorkas die selbst gesteckten Grenzen seines Gebietes überschritten. Niemals hatte er auch nur das Bedürfnis dazu gehabt. Dennoch war Dorkas der Idealtyp eines Entdeckers. Er war der Typ, der kein Risiko scheute, der immer weiter ging als die anderen, der immer wissen wollte, von Neugier, Abenteuerlust und Forschungsfreude getrieben, was hinter dem nächsten Hügel lag. Das einzige, was Dorkas von einem Henry Livingstone oder einem Roald Amundsen unterschied, war die Ebene, auf der die Fahrten ins Ungewisse stattfanden. Dorkas erlebte geistige Abenteuer. Er sattelte keine Kamele und spannte keine Schlittenhunde an, sondern er griff nach Büchern. Seine Sümpfe bestanden in der Konjunktivformen des Aramäischen, seine Dschungel in den Königslisten der Assyrer, seine Wüsten in den öden Formeln ägyptischer Grabtexte. Hier scheute er vor keiner
Schlussfolgerung zurück, wagte Gedanken und Überlegungen, die dem Rest der wissenschaftlichen Welt so unmöglich erschienen wie der Gipfelsturm für einen Gelähmten. Die muffige Luft einer Bibliothek ließ Dorkas tief durchatmen, der Mief verstaubter Folianten weckte seine Lebensgeister mehr, als es je der Duft einer Rose vermocht hätte. Im Gegenteil. Die Stadt war für Dorkas, und das konnte er wissenschaftlich belegen, die Keimzelle jedweder höheren Kultur. Jenseits der Stadt lauerte die wilde, ungezügelte Natur und sandte ihre abscheulichen Boten in Form von bücheranknabbernden Mäusen, denkmalverschmutzenden Tauben oder mauersprengendem Gestrüpp in den umfriedeten Garten holder menschlicher Kulturtätigkeit. Eine Wiese konnte Dorkas höchstens in der Darreichungsform eines impressionistischen Gemäldes in einem Museum ertragen, ansonsten betrachtete er die Versammlung grüner Grashalme als empörend obszöne Zurschaustellung ungezügelten Wachstums und als hinterhältiges Asyl für Unmengen stechender, saugender, bohrender, nagender, knabbernder, kneifender oder Säure verspritzender Kerbtiere. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Aussicht auf eine Fahrt nach Wales Dorkas in einen Zustand höchster Besorgnis versetzte. Vor einiger Zeit hatte er gelesen, dass Südwales, genauer, die Black Mountains und die Brecon Beacons, ein Übungsgebiet des Special Air Service, einer Eliteeinheit der britischen Armee, ist. Und nun stand er dem erschütternden Faktum gegenüber, dass er selbst in dieses wilde Land reisen sollte, in dem nach seiner Überzeugung hinter jedem Busch ein übermotivierter Scharfschütze der Armee oder ein walisisch singender Neuheide zu erwarten war. Tony riss Dorkas mit einem Auftrag aus seinen düsteren Zukunftsvisionen. Da Tony naheliegenderweise nicht in seine
Wohnung gehen wollte, musste Dorkas dorthin, um einen Koffer zu holen. Kofferpacken war niemals die Sache von Tony Tanner gewesen. So erleichterte er sich das Berufsleben, indem er stets eine ganze Reihe von Koffern bereitstehen hatte, die er nach einem festen Schema packte. Es gab einen Koffer für gemäßigte Zonen, einen für heiße und einen für kalte Gegenden, und da nichts auf der Welt so einfach war, als dass es durch einen Tony Tanner nicht noch etwas komplizierter werden könnte, waren die Koffer noch nach den Kategorien 'Grandhotel', 'unauffällig' und 'Safari' unterteilt, wobei 'Winter/Safari' keine weiß gefärbte Tropenkleidung enthielt, sondern eine Auswahl von Kleidungs- und Ausrüstungsstücken, die jeden Polarforscher mit Neid erfüllt hätten. Die Wahrscheinlichkeit, diese Herrlichkeiten jemals nutzen zu können, lag bei Eins zu einer Milliarde, aber wer wusste denn, ob nicht ein Mitglied der 'Royals' einmal von dem Wunsch übermannt würde, eine britische Antarktisstation zu besichtigen? Das Äußere der Koffer entsprach ihrem Inhalt, wobei die Auswahl von feinstem Leder über Leichtmetall bis zu grobem Leinen ging, dem man seinen horrenden Preis nicht ansah. Tony instruierte Dorkas genau, welchen Koffer er holen sollte. Allerdings war er sich selbst in diesem Moment nicht sicher, wo der erwünschte 'Heiß/unauffällig' in der Reihe stand. Immerhin konnte er Dorkas auf den Weg geben, dass es sich um einen sandfarbenen Leichtmetallkoffer handeln musste. Auf dem Rückweg musste Dorkas an einen bestimmten Taxistand und dort, nach Austausch eines Passwortes, Tonys Reiseunterlagen in Empfang nehmen. Dorkas hüllte sich in einen langen karierten Mantel, setzte eine Mütze mit Augenschirm und hochgebundenen Ohrenklappen auf und bewaffnete sich mit einem Schirm. "Sie können gerne das Telefon benutzen. Falls Sie
Langeweile haben, spülen Sie einfach das Geschirr"; sagte er und empfahl sich. Tony erkundigte sich telefonisch nach dem nächsten Flug nach Kairo. Es blieben ihm dreieinhalb Stunden. Genug Zeit, aber sicher nicht genug für Langeweile. Oder doch? Sein soziales Gewissen siegte und er machte sich seufzend daran, den Geschirrstapel zu reinigen. Als er alle Teller und Tassen abgewaschen hatte, stand er mit Händen, von denen der Schaum klatschend auf den Boden tropfte, in der Küche und suchte nach einem Abtrockentuch. Er fluchte halblaut vor sich hin. Was für eine miese Welt! Ein Butterbrot fiel immer auf die falsche Seite, die Bahnschranken waren stets geschlossen und ein Abtrockentuch war nie zur Hand, wenn man es brauchte. Er brauchte nur die Augen zu schließen, schon sah er Francine vor sich, wie sie theatralisch mit den Augen rollte und ihren Standard-Küchenspruch: 'Was ist die Steigerung von Volltrottel? - Mann!' losließ. Schon etwas lauter fluchend wagte Tony einen Durchbruch in das Badezimmer, wo er sich eines rosafarbenen Badelakens bemächtigte. Es war nicht leicht, das Geschirr mit dem großen Frotteetuch trocken zu reiben, aber er schaffte es ohne Verluste und stapelte hochbefriedigt Teller und Tassen zu sauber glänzenden Stapeln. Jetzt war eigentlich die Gelegenheit, Francine anzurufen. Als er das Badetuch zurückbrachte, fiel ihm ein Bilderrahmen auf, der in dem kleinen Flur vor dem Bad hing. Jetzt, wo das Licht durch eine geöffnete Tür fiel, sah er, dass er kein Bild enthielt, sondern um eine Buchseite. Dorkas blieb also auch seinem ganz speziellen Stil treu. Neugierig trat Tony näher. Das schützende Glas spiegelte. Er musste halb in die Hocke gehen, um die Buchstaben zu entziffern. Es handelte sich um eine Fotokopie aus einem wissenschaftlichen Werk, soviel war auf den ersten Blick zu erkennen. 'Frag. gnost. graec.' stand
oben auf der Seite. Und darunter las er : " Ohne Zweifel gibt es unter den Juden Männer von ganz besonderer Weisheit, selbst wenn jeder gebildete Mensch den Glauben dieses Volkes, sie seien auserwählt und das einzige Volk ihres einziges Gottes, heftig missbilligen muss. Denn sind wir nicht alle mit den Schwächen des Fleisches geschlagen, in gleicher Weise, ob Mann und Frau, und genauso wenn wir dunkelhäutig dem wilden Nubien entstammen wie es auf die beutelüsternen Stämme des Nordens zutrifft. So sagen die Christen --- nicht nur von seinem Volk hochgelobt, sondern auch von Fremden, besaß Rauschai sowohl Klugheit als auch Wissen. Mag jeder selbst entscheiden, ob er dem Wissen oder der Klugheit den Vorzug gab, als er bei seiner Arbeit an dem, was die Juden 'Talmud' nennen, diesen gewissen Text mit Stillschweigen überging, den er, wie manche behaupten, von einem persischen Magier --- jener Männer, die in Höhlen oder Klöstern rund um das Tote Meer lebten, wie andere sicher zu wissen meinen. Die Ehrfurcht der Juden vor dem geschriebenen Wort ist bekannt und verdient Bewunderung und höchstes Lob. Daher ließ Rauschai einen silbernen Behälter anfertigen, in dem er das Stück Schriftrolle aufbewahrte. Er ließ aber den Behälter versiegeln und sicher verschließen, auf dass niemand den Text herausnehmen und lesen könne und auf diese Weise von Zweifeln übermannt würde. Den Behälter übergab er aber, wie ich sicher weiß, seinem ältesten Schüler, mit der Verpflichtung, ihn gleicherweise weiterzugeben bis auf den Tag der von ihnen erhofften Zeit des Messias. Und es heißt, dass niemand die Worte der Schriftrolle lesen dürfe, bis dass der Erhoffte den Behälter aufbricht und die Worte laut vorliest und spricht: Höret, dies sind die Worte des Lügners, denn sehet, ich bin gekommen. Ich traf aber in Alexandria einen Vorbeter der Synagoge, der behauptete, er kenne die Worte der Schriftrolle, denn sein Ahn habe den Rauschai belauscht zu dessen Zeiten in Babylon, wie dieser die Worte laut las und
darauf erschrak und viele Wochen fastete und noch mehr betete, als es die Männer dieses Volkes an sich schon tun. Und die Worte der Schriftrolle gingen so: 'Verflucht seien die Söhne der falschen Götter, denn um ihrer Willen wurde der Himmel verschoben und die Sterne von ihrem Platz versetzt, an den sie der Herr befohlen hatte, so dass die Taube sich verirrte und der Wanderer in der Wüste fehlging und ---" Hier war die Seite beendet. "Ich sehe, Sie haben meine Wendemarke entdeckt. " Dorkas stand plötzlich hinter ihm. Tony wollte hochfahren, aber seine Knie waren steif und gaben nur widerwillig nach. "Hier sind Ihre Reiseunterlagen." Dorkas hielt Tony einen dicken braunen Umschlag hin. Tony stakte zum Küchentisch und ließ den Inhalt des Umschlags herausgleiten. Heathercroft hatte pariert. Und auch der Koffer stand in der Tür. 10. "Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand folgt", sagte Dorkas. "Aber ich kann mich auch täuschen. Ich bin, glaube ich, etwas überempfindlich." "Nun, wenn nicht in den nächsten Minuten die Wohnung gestürmt wird, war es wohl eine Täuschung. Und wenn nicht? Dann können wir auch wenig machen, außer durch den Hinterausgang zu verschwinden. Aber ... Wieso Wendemarke?" Dorkas schaute verständnislos auf Tony. "Na, Sie nannten diese Fotokopie doch Ihre Wendemarke, wenn ich mich nicht total verhört haben sollte." "Haben Sie nicht. Wie viel Zeit bleibt Ihnen noch?"
Tony schaute auf die Uhr. "Mindestens zwei Stunden. Ich will auf keinen Fall auch nur eine Minute am Flughafen warten müssen." "Das reicht also für einen Rosy Lea (Cockney: tea = Tee). Und dann erfahren Sie die Sache mit der Wendemarke." Es bereitete Tony ein tiefes Unbehagen, sehen zu müssen, wie Dorkas das gespülte Geschirr wieder in Gebrauch nahm. Dennoch war die Aussicht auf so einen frischen Rosy Lea nicht schlecht. "Der Text, den Sie vorhin gelesen haben", erklärte Dorkas, "stammt von Diomedes Kybernes. Wie der Name schon sagt, muss es sich um einen Seemann gehandelt haben, der das gesamte Mittelmeer bereiste und vielleicht sogar die Biskaya, den Ärmelkanal und die afrikanische Westküste kannte. Aber das tut nichts zur Sache. Er lebte im 6. Jahrhundert, die genauen Daten weiß man nicht. Also dieser Diomedes war kein selbständiger Denker, aber ein begabter Sammler. Er verzichtete allem Anschein nach darauf, bei seinen Hafenaufenthalten die üblichen Bordellbesuche zu machen, sondern besuchte statt dessen Kirchen, Sektenhäuser, Synagogen und Philosophenschulen, in denen sich die letzten Heiden trafen. Er war besonders von den gnostischen Lehren fasziniert, obwohl die Kirche zu seiner Zeit schon den Kampf gegen diesen gefährlichen Feind gewonnen hatte." "Gnostik sagt mir nicht allzu viel." "Kurz gesagt eine Glaubenshandlung, die darauf hinausläuft, diese Welt als fundamental schlecht anzusehen, weil sie nicht von dem wirklichen Gott geschaffen wurde, sondern von einem Demiurgen, einer Art Satan, der mit unserer Welt die
eigentliche Welt Gottes nur nachäffte. Aber das ist im Moment Nebensache. Diomedes Kybernes lebte relativ lange und schrieb bis zu seinem letzten Atemzug. Er schuf eine regelrechte Bibliothek der antiken Religionen. Sie existierte in Konstantinopel bis zur Eroberung durch die Kreuzritter. Bei der Plünderung ging sie verloren. Dieser Text, den ich mir als Kopie in den Flur gehängt habe, ist alles, was von seinen Schriften noch geblieben ist. Möchten Sie noch einen Rosy?" "Gern!" "Der Rauschai, den Diomedes dort erwähnt, ist niemand anderes als Raw Aschi, der den babylonischen Talmud zusammenstellte. Übrigens nicht zu verwechseln mit dem Raschi, der im Mittelalter im Frankreich lebte. Nun, und der Text, den Raw Aschi ganz bewusst nicht in seine Sammlung aufnahm, ist die so genannte dritte Genesis-Variante." "Ich versuche, verständnisvoll zu blicken, aber ich fürchte, es misslingt mir doch ..." "Wir alle habe in der Sonntagsschule gelernt, dass es zwei verschiedene Versionen der Schöpfungsgeschichte gibt. Einmal wird der Mensch zusammen mit den anderen Geschöpfen erschaffen, ein anderes Mal aus Lehm geformt und in den ominösen Garten gesetzt. Und es muss eine weitere Variante gegeben haben, die in jüdischen Kreisen zirkulierte. Da Diomedes mit seiner Vorliebe für den Gnostizismus anscheinend alles in Bewegung gesetzt hat, um ihren Text herauszufinden und er sie ausführlich zitiert, erscheint mit sicher, dass es eine gnostische Version war. Zumal Raw Aschi über seinen Fund eher entsetzt als erfreut war. Er hätte das Papier vernichtet, wenn nicht der Name Gottes darin erschienen wäre und das Papier unantastbar gemacht hätte. So verfiel er auf die Lösung mit dem silbernen Behälter. "
"Und dieser Text, diese verlorene dritte Genesis-Variante war Ihre Wendemarke?" "Nicht so hastig. Sie ist ja nicht verloren. Sie existiert in ihrem silbernen Behälter. Ja, irgendwann vor einigen Jahren begann ich, den Weg dieses kleinen Behälters zu verfolgen. Nicht einfach und auch eher ein Hobby neben meiner wissenschaftlichen Arbeit. Aber hochinteressant. Der Gegenstand wurde immer wieder erwähnt, obwohl es gerade in diesem Bereich nicht einfach ist zwischen Angebern, Phantasten und ernsthaften Berichterstattern zu unterscheiden. Ich fand also heraus, dass die silberne Kostbarkeit nach Südfrankreich wanderte, dann im Zuge einer Judenvertreibung über das Elsass in das Rheinland kam. Als sich die glaubenseifrigen Kreuzzügler auf ihrem Weg in das Heilige Land zuerst einmal auf die jüdischen Gemeinden stürzten, muss sich ein französischer Ritter namens Adolphe de Vallebrun, nachdem er den Besitzer massakriert hatte, des Behälters bemächtigt haben. Er wusste nichts von dem Inhalt. Für ihn war das ein seltsamer Talisman, und er trug ihn während des Kreuzzuges, wo er ihm allen Anschein nach Glück brachte und vererbte ihn dann weiter. Das Geschlecht Vallebrun verlosch, der Besitz ging auf einen Verwandten über, der alles Mobiliar auf sein Schloss nach Südfrankreich brachte. Leider standen seine Erben während der Revolution auf der falschen Seite. Das Schloss wurde gesprengt, die Bewohner getötet oder vertrieben, und das Inventar verkauft. Ich fand eine Liste des Käufers, eines jungen Pariser Kunsthändlers namens Salomon Levi. Der Name sollte uns misstrauisch machen. Jedenfalls ist unter dem gesammelt gekauften Inventar auch ein 'silbernes Schmuckstück mit judäischem Dekor'. Langweile ich Sie?" "Keinesfalls. Berichten Sie weiter, bitte."
"Es scheint, als hätte der ansonsten sehr geschäftstüchtige Monsieur Levi keine Lust, den besagten Gegenstand zu veräußern. Irgendwann bei den Unruhen 1848 wurde sein Laden geplündert, obwohl Levi Christ und respektabler Bürger war. Vielleicht hätte er den Namen wechseln sollen . Er starb 1851. Vorher erhielt er Besuch von einem Russen namens Sewkowitch, der als Kunstagent tätig war. Hier wurde für mich die Sache etwas schwierig, denn Sewkowitch war zugleich Agent des Zaren und hinterließ ungern Spuren. Aber ich erwischte ihn sozusagen durch eine Zeitungsmeldung über einen Ball in der russischen Botschaft, wo er als Gast erwähnt wird. Sewkowitch kaufte 'etwas', nämlich genau unseren Gegenstand, und verkaufte ihn an Jewgenij Orosin Stoljaskin. Und nun nähern wir uns der Wendemarke. Dieser Stoljaskin stammte aus einer Familie getaufter Juden. Sein Urgroßvater war schon konvertiert. Die Stoljaskins lebten in Odessa, waren reiche Kaufleute in einer weißen Villa in der besten Lage der Stadt. Das Familienoberhaupt sammelte Schriften und andere Altertümer. Und 1881 wurde die Villa verbrannt und die Familie getötet. Das war meine Wendemarke." "Ich verstehe nicht ganz ..." "Es ist doch offensichtlich. 1881 war das Jahr, in dem in ganz Russlands Pogrome gegen die Juden begannen. Anfang März 1881 brachen die Verfolgungen auch in Odessa aus. Aber, und darauf kommt es an und Sie können sicher sein, dass ich alte Stadtpläne studierte - die Läden und Wohnungen der Juden, die in Odessa daran glauben mussten waren in einem ganz anderen Viertel. Wieso also zieht eine Menge von fanatisierten Judenhassern in ein Villenviertel, um das Haus eines Kaufmannes, dessen jüdische Herkunft nur noch in den Familienanalen verzeichnet gewesen sein kann, und äschert dieses Haus mit allen darin befindlichen Personen und Gegenständen ein?"
"Sie meinen der - Gegenstand, die Genesis-Variante?" "Genau, irgend jemand nutzte die Gelegenheit - wenn er nicht sogar selbst die Gelegenheit schuf, denn die 1881er-Pogrome waren oft von oben gesteuert - um diesen Text zu vernichten. Und genau das war meine Wendemarke. Ab dann fragte ich mich, wer soviel Macht, soviel Menschenverachtung und soviel Intelligenz besitzen konnte, um solche Dinge zu arrangieren. Und das vielleicht sogar über Jahrhunderte hinweg." Tony schluckte. Sein Lachen klang etwas gekünstelt. "Jetzt kommen die Geheimgesellschaften, nicht wahr?" "Exakt." "Das ist lächerlich. Diese Quatsch mit Verschwörungen von Reaktionären, Juden, Illuminaten, Rosenkreuzern, Kommunisten, Jesuiten, Papisten, CIA, KGB. MI 5, MI 6, Freimaurern - seit neuestem sind die Neonazis ja stark en vogue. Das kann doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Das ist doch alles propagandistischer Mist!" Dorkas lehnte sich zurück und schaute Tony ernst an. "Genau das soll die Öffentlichkeit ja auch glauben. Ich will es mal so erklären: Wenn der Junge Tony die Schokolade seiner Mutter geklaut hat und die Mutter das entdeckt, dann wird der Junge nicht sagen, dass die Schokolade nicht verschwunden ist, denn diese Tatsache lässt sich nicht leugnen. Er wird vielmehr sagen, dass seine Schwester die Diebin war." "Ich verstehe mal wieder nicht ganz." "Womit kann man eine Geheimgesellschaft am Besten verstecken? Hinter anderen Geheimgesellschaften. Die Taktik besteht in der Immunisierung des öffentlichen Bewusstseins:
Schütte die Zeitungen zu mit wilden Geschichten von Freimaurern, esoterischen Verschwörungen, papistischen Ränkespielen. Bringe so einen Schund wie die 'Protokolle der Weisen von Zion' in die Öffentlichkeit. Lasse den Spekulationen freien Lauf. Lasse Cagliostro seine Schiebereien machen, und lasse Dumas seinen Phantasien entwickeln, lasse die Alchemisten Mumien ausgraben und gönne den Mitgliedern der Society ihren 'Ordo Templis Orientalis'. Und hinter dieser Nebelwand kannst du wirken, kannst du deine Fäden ziehen, kannst du das machen, was du willst." "Sie meinen also, es gibt diese Geheimgesellschaft, die so geheim ist, dass sie keiner kennt?" "Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass ich seit diesem Tag, als ich von dem Ende der Familie Stoljaskin hörte, sozusagen auf der Suche bin." Dorkas erhob sich ächzend. "Ich bin zum Kartographen geworden. Ich versuche, Spuren zu finden, Zusammenhänge zu erkennen, Linien zu ziehen, die sich vielleicht einmal zu erkennbaren Umrissen verdichten. Und auf diese Weise habe ich die letzten Jahre verbracht, ich habe manches entdeckt und nichts verstanden. Aber ich habe zumindest Menschen gefunden, die, ohne dass sie einen Fall für den Psychiater darstellten, den selben Verdacht hegen wie ich. Die auch Spuren gefunden haben." "Und was ist meine Rolle in diesem Spiel?" "Dass muss sich noch zeigen. Vielleicht sind Sie eine Spur. Oder ein Teil der Lösung. Aber wenn Sie nicht aufpassen, dann geschieht Ihnen dasselbe wie den Stoljaskins. Aber weil Sie lernfähig sind, werden Sie das wohl jetzt annehmen."
Aus dem Küchenschrank hatte Dorkas das Holzkästchen geholt, in dem die Peitsche lag. Tony war in der Tat lernfähig. Außerdem ließ sich die Peitsche tatsächlich wie ein Armband um den linken Unterarm legen. Dann verließen Tony Tanner und Dorkas die Wohnung, überquerten einen Hof und gelangten durch einen Keller auf eine Querstraße. Dorkas besorgte ein Taxi. "Wünschen wir uns Glück", sagte er zum Abschied. "Wir können es beide brauchen." Tony Tanners Tagebuch Ich habe vergessen, Francine anzurufen. Na ja, vielleicht ist es aus taktischen Gründen nicht ungeschickt, wenn ich die Dame meines Herzens noch einige Tage zappeln lasse. Ich frage mich, woher Dorkas seine Informationen über den Mord in Wales bezog. In dem Taxi, das mich zum Flughafen brachte, liefen die Radionachrichten, und darin wurde die Bluttat mit keinem Wort erwähnt. Auch in den Zeitungen, die ich mir während des Fluges durchlas, stand davon keine Zeile. Also hat er seine eigenen Quellen oder er ist ein totaler Spinner. So ganz habe ich mich noch nicht entschieden. Die Geschichte mit der dritten Genesis-Variante gibt mir zu denken. Wenn Dorkas kein Spinner ist, dann bedeutet das, dass ‘sie’, wer immer sie auch sein mögen, entweder eine Menge Leute zu ihrer Verfügung haben, oder aber in der Lage sind, Gruppen von Menschen zu steuern, ohne dass es den einzelnen Personen überhaupt bewusst wird. Ich denke mir, dass mir die Variante ‘Dorkas hat einen Haschmich’ besser gefallen würde als alles andere. Aber irgendwie glaube ich nicht mehr daran, dass in dieser verdammten Geschichte überhaupt jemand Rücksicht auf die Wünsche von Tony Tanner nimmt. Es ist schon bemerkenswert - da bezahlen irgendwelche übersättigten Typen Zehntausende von Dollars und fliegen um die halbe Welt, nur für das Vergnügen, in 8.500 Meter Höhe an Sauerstoffmangel, Erschöpfung oder Unterkühlung zu krepieren. Und ich, praktizierender und
bekennender Spießbürger der ich bin, habe die Ehre, dass der Berg zu mir kommt. In den nächsten Tagen werde ich versuchen hochzukommen, nichts hops zu gehen und wieder runter zu kommen. Dann wird sich hoffentlich alles Weitere ergeben. Aber die Sache lässt sich wirklich perfekt an. Dorkas hat den falschen Koffer erwischt. Demnächst werde ich immer mit Teppich im Handgepäck fliegen, damit ich was habe, in das ich reinbeißen kann. 11. Unter Weltenbummlern ist die Frage nach den chaotischsten Städten dieser Welt ein beliebtes Gesprächsthema. Es gibt natürlich verschiedene Ansichten darüber, welche Namen als die ‘schlimmsten Zehn’ aufzuführen sind. Aber eines ist gewiss: Bombay, Sao Paulo, Kalkutta, Bangkok - und Kairo - haben einen sicheren Platz auf jeder dieser Listen. Kurz vor der Landung in Kairo erklang die Stimme einer Stewardess durch den Bordlautsprecher. Es war eine niedliche Brünette, die außerdem ein noch niedlicheres Lispeln kultivierte, aber ihre Durchsage machte Tony Tanner aus ganz anderen Gründen nervös. Es gab wegen technischer Probleme bei der Anflugkontrolle eine kleine Verzögerung der Landung. "Bleib ruhig, altes Haus", sagte sich Tony. "Schlimm genug, dass du jede rote Ampel als persönlichen Anschlag wertest, jetzt rede dir nicht ein, dass man deinetwegen den Nil über die Landebahn umgeleitet hat." Das Flugzeug drehte seine Warteschleifen über der Stadt. Da lag sie unter ihm in der Dunkelheit - Kairo, 'die Siegreiche'. Ein Gespinst aus flimmernden Lichtern, so wie jede nächtliche Großstadt aussieht, wenn man sie durch die Augen ermüdeter und gelangweilter Geschäftsreisender, die sich nur nach danach sehnen, ihr Handy endlich wieder in Betrieb nehmen zu können, betrachtet. Für Tony Tanner war der Anblick immer wieder beeindruckend. Ein unverwechselbares funkelndes Oval, eingeklemmt zwischen die Dunkelheit des Mokattamgebirges und die schwarze Weite der hinter Giseh beginnenden Wüste wie von
den Armen einer schwarzen Zange; gespalten von der geheimnisvollen, dunklen Narbe des Flusses, der an einigen Stellen die glitzernden Spangen der Brücken trug. Über die Corniche ergoss sich der Strom des Verkehrs, als flösse eine Schmelze aus Licht durch eine Hochofenrinne. Von hier oben, gestand sich Tony mit heimlichem Grinsen, war kaum zu bemerken, dass nur jeder dritte oder vierte ägyptische Autofahrer sich den Luxus einer Beleuchtung an seinem Gefährt gönnte. Das war im Grunde auch nicht nötig, wie Tony aus eigener Erfahrung wusste, denn auf dieser Seite des Mittelmeeres verlässt man sich auf akustische Signale. Jeder Kairoer, der hinter einem Lenkrad Platz nimmt, beginnt zu hupen, bevor er den Motor anlässt. Und dann lässt er die Finger nicht von dem Signalhorn, sondern gibt jedem potentiellen Gegner, das heißt Fußgängern, Eselskarren, überladenen Lastwagen, Bussen, Militärtransporten, Dreirädern mit stinkend blauwehender Zweitakt-Abgasfahne, chromglänzenden Limousinen, Kamelen, Lastträgern, altersschwachen Taxis, Mopeds mit Vier-Mann-Besatzung und streunenden Kötern, durch Hupgedröhne im Zehn-Sekunden-Takt seine Existenz kund. Die Hupfrequenz steigert sich je nach Temperament und Verkehrslage oder sinkt zu einem reinen Lebenslust-Hupen, das spätestens (alles andere ließe auf eine schwere Depression schließen) alle halbe Minute erklingt. Ein ägyptischer Autofahrer, der nicht hupt, hat einen Defekt an seiner wichtigsten Sicherheitseinrichtung. Oder er ist tot. Nach der Landung rollte das Flugzeug auf einen Abstellplatz, die Passagiere stiegen über eine fahrbare Treppe aus der Maschine und standen ziemlich hilflos in der Dunkelheit herum. Die Turbinen wurden abgestellt und liefen singend aus. Das Gepäck wurde aus der Maschine geladen und mit einem Zug klappernder Wägelchen abtransportiert. Eine seltsame Stille senkte sich über den Platz. Die Menschen standen zusammen, schienen sich instinktiv wie eine Tierherde bei Gefahr zusammenscharen. Murmelnde Gespräche erklangen, jemand lachte, ein anderer wurde laut und protestierte gegen die Behandlung, aber keiner wagte es, auf eigene Faust den Weg über das dunkle Flughafengelände anzutreten. Tony hielt sich etwas abseits. Hatte dieser Vorfall etwas mit ihm zu tun? Und wenn ja, was würde
dann folgen? Er verdrängte diese Gedanken und sog die Luft tief ein. Sie roch nach dem Kerosin des Flugzeugs, dessen Turbinen mit lautem Knacken abkühlten, und nach einer Gruppe teils stark parfümierter, teils stark schwitzender Europäer. Aber darunter war ein anderer Duft spürbar. Unverbraucht, herb und doch lockend ritt er auf den Windstößen, die von den Felsen des Mokattam herunterwehten. Und mit sich brachte er das Herzklopfen, die herrliche Erregung, die den Wanderer überkommt, wenn er die Schwelle überschreitet, den Seefahrer, wenn die letzte Verbindungstrosse zum Kai ins Wasser klatscht oder den Karawanenführer, wenn sich die Kamele unter ihrer Last grunzend erheben und den Weg aufnehmen. Das war es auch, was Tony Tanner am Reisen liebte. Die Fremde umgab ihn, drang wie Wasser in ein abgetragenes Hemd in hinein und schuf in Momenten wie diesen die Illusion, er könnte er selbst bleiben und dabei doch ein ganz anderer sein, ein anderes, nie auch nur geahntes Leben führen, das ihm jetzt so unbekannt und abenteuerlich wie ein Roman erscheinen würde. "Da kommt endlich der verdammte Bus." Die Rufe schreckten Tony Tanner aus seinen Überlegungen. Er hasste jede Form von Gedrängel und bezahlte diese Abneigung mit einem Platz in der offenen Bustür. Während der Bus langsam auf das Flughafengebäude zurollte, schaukelte und ächzte die zusammengepresste Masse Mensch bei jeder Delle im Asphalt, und Tony spürte die Ellbogen in seinem Rücken. Das Gepäck war in einer langen Reihe aufgestellt, bewacht von einigen Polizisten. Vor allem die beiden schnüffelnden Hunde machten Tony misstrauisch. Die Sache sah nach einer Bombenwarnung aus. Für einen Augenblick keimte bei ihm der Verdacht auf, Dorkas könnte eine solche Höllenmaschine in seinen Koffer praktiziert haben. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf wie ein Hund, der Wasser ins Ohr bekommen hat und schritt zu seinem Koffer. Sofort war ein Polizist bei ihm. "Ihr Koffer?" "Absolut." Tony zeigte seinen Flugschein und hielt den Daumen unter die Gepäcknummer.
"Bitte öffnen." Der Polizist betrachtete ergriffen den Inhalt, fuhr mit der Hand unter den eleganten Kamelhaarmantel und suchte zwischen Kaschmirpullovern, einem dezent gemusterten Jackett aus schwerem Wollstoff und einem samtgefütterten Abendanzug. Dann nickte er und wandte sich dem nächsten Reisenden zu. Tony klemmte sich unterdessen bei seinen Bemühungen, den Koffer wieder zu verschließen, fast die Fingerspitzen ab. Er hätte den Versuch machen können, mit seinem Diplomatenpass zu wedeln, aber das hätte nur Aufsehen erregt. Was aber weit schlimmer war: Dorkas hatte ihm den falschen Koffer gebracht. Hier war nun Tony Tanner in der größten Stadt Afrikas, und seine Klamotten stammte aus dem Koffer ‘Grandhotel/ Winter’. In grimmiger Stimmung eilte er nach der Passkontrolle zu einer Wechselstube, steckte ein dickes Bündel Banknoten ein, die so abgegriffen waren, dass er sich ohne besondere Mühe die Bakterienkolonien vorstellen konnte, die auf dem Papier ein zahlreiches und ungestörtes Leben führten, und suchte alsdann nach einem Geschäft, in dem er sich passende Kleidung kaufen konnte. Der Versuch endete nach einer halben Stunde, und er war nicht von Erfolg gekrönt. Aber Tony hatte den Flughafen besser kennen gelernt. Schließlich gab er auf, bestieg ein Taxi und ließ sich in die Stadt fahren. Er nahm ein Zimmer in der Sharia el Gouhmhouriya, der Straße der Republik, knappe zehn Minuten Fußweg vom Hauptbahnhof entfernt. Das Hotel war ein Haus der mittleren Kategorie. Den typischen Touristen suchte man hier vergebens (aber wer suchte schon ernsthaft danach?), stattdessen begegnete man abenteuerlustigen Einzelreisenden, jugendlichen oder auch schon weniger jugendlichen Weltenbummlern, europäischen Monteuren, die ihren Firmen nicht wichtig genug für ein besseres Hotel waren und ein oder zwei Einheimischen. Tony suchte sicherlich nicht das 'so typisch ägyptische Flair', von dem CollegeLehrer nach drei Tagen Aufenthalt im Hotel Viktoria noch jahrelang im Partykreise politisch progressiv denkender intellektueller Schnösel schwärmen konnten. Er ging lediglich davon aus, dass man ihn in diesem Hotel zuallerletzt suchen würde. Der Nachtportier konnte ihm nur noch ein Doppelzimmer geben. So lag Tony Tanner in diesem großen hohen Raum mit altmodisch gemusterter Tapete
und Stuckverzierungen an der hohen Decke. Die Klimaanlage ratterte vor sich hin. Er stellte sie ab und öffnete das Fenster. Unter ihm lag ein kleiner ummauerter Garten. Das Freiluft-Kino 'El Nasr', das unmittelbar neben dem Hotel lag, gab eine Spätvorstellung. Verzerrt und scheppernd dröhnten die kehligen Worte aus den Lautsprechern. Selbst in den kurzen Momenten, in denen es keine Dialoge, keine Explosionen und keine Musik gab, rauschte und knackte es aus der Tonanlage. Tony lag hilflos auf dem Rücken, schwitzte seinen Frotteeschlafanzug nass und fragte sich, warum er bei der Bestückung seines Koffers davon ausgegangen war, dass winterliche Grandhotels zwangsläufig weder funktionierende Heizungsanlagen noch verschließbare Fenster haben. Er lauschte auf das Dröhnen aus dem Kino und durchschaute bald die rhythmische Abfolge von Dialog, Schießerei und schmusiger Musik. Darüber schlief er ein und wurde in der Frühe durch Straßenlärm geweckt. Es bedurfte einer ausführlichen Dusche und zweier Kannen Kaffee, bis sein Kopf, in dem das Echo des nächtlichen Lautsprecherschepperns unentwegt zwischen den Schädelwänden schwappte, einigermaßen klar wurde. Etwas Bewegung konnte ihm nur gut tun, und so machte sich Tony zu Fuß auf den Weg zur britischen Botschaft. Er erregte etwas mehr Aufmerksamkeit, als ihm eigentlich lieb war. Dennoch schritt er in seinem schottisch gemusterten Anzug, der besser in das winterliche Edinburgh gepasst hätte, wacker aus und dankte dem Schicksal, dass er die Bemerkungen der Ägypter, deren an sich sonniges Gemüt sich bei seinem Anblick zu temperamentvoller Frohgelauntheit aufschwang, nicht verstehen konnte. Tony machte sich über die offiziellen Öffnungszeiten der Botschaft wenig Illusionen und hatte sich ein ausführliches Frühstück gegönnt. Aber noch hatte die Sonne die Stadt nicht bis zum Glutofen aufgeheizt, und vom Nil her wehte manchmal ein erfrischender Wind. Die Luft war geschwängert mit dem Geruch der schlecht verbrannten, schwefelhaltigen Dieselabgase schwerer Lastwagen, die ihre Rußfahnen über die Straßen verteilten wie Sprengwagen
ihre Wasserfontänen. Dreiräder knatterten vorbei, von überall erklangen die Hupen, der Gehsteig erzitterte jedes Mal, wenn ein Lastwagen oder ein überladener Bus vorüberratterte. Die Luft schmeckte nach dem aufgewirbelten Staub. Kairo wirkte wie eine Droge, wie ein starkes Aufputschmittel, dessen Wirkung nach einiger Zeit zu Stumpfheit und Betäubung führte. Vor dem Tor zum Botschaftsgelände zögerte er einen Augenblick. Konnte er sicher sein, dass sein Konterfei mit dem Zusatz 'polizeilich gesucht wegen Vergewaltigung' nicht schon in der Pförtnerloge lag? Es blieb keine Wahl. Tony atmete tief durch, was angesichts der Abgasschwaden einigen Mut erforderte, und trat zu der Sprechanlage. Der junge Botschaftsangestellte, der ihn schließlich in seinem Büro empfing, tendierte bei Tonys Anblick zu unziemlicher Fröhlichkeit. Er riss sich aber sofort zusammen, als er dessen Ausweis unter die Nase gehalten bekam. "Sie haben Glück, Sir," sagte er schließlich mit angestrengter Verbindlichkeit. "Wir kennen den Aufenthaltsort dieses von Puttkammer ziemlich genau. Oder sagen wir, so genau, wie dieser Mensch es uns erlaubt, denn er macht immer ein ziemliches Geheimnis um seine Ausgrabungen. Er selbst ist hier nie aufgetaucht, aber sein Assistent, angenehmer Mensch übrigens, war in den letzten Wochen einige Male hier. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ich die Idee Lord Dunnerstons, diesem von Puttkammer dort in der Wüste die Ehrenmedaille der südenglischen Gesellschaft der ägyptophilen Vergangenheitserforscher ... mmhh, ziemlich zweifelhafter Verein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, also kurz gesagt, es ist eine Schnapsidee." Tony ließ das Wort ausklingen und schwieg dann eisern weiter, bis sein Gegenüber begann, nervös auf dem Stuhl zu rutschen. Nachdem er diesen schönen Erfolg erzielt hatte, zog Tony blasiert die Brauen hoch. "Die Bezeichnung 'Schnapsidee&' (Tony sprach das Wort mit jenem unüberhörbaren Unterton von Abscheu und Ekel aus, mit dem in echt schottischen Kneipen der Begriff 'Britannien' versehen
wird) gehört nicht zu den Bezeichnungen, mit denen mein Büro zu arbeiten pflegt. Halten wir uns also an die Fakten. Lord Dunnerston hat beste Beziehungen zur königlichen Familie, darum bin ich hier, und ein solcher Mann hat Ideen, deren Bewertung mir nicht zusteht. Ich brauche hoffentlich nicht zu betonen, dass mein Besuch ebenso wie der Anlass desselben sozusagen nie stattgefunden hat." "Das wäre auch mein Wunsch." "Wie belieben?" "Ich meine, ja mmh, was meine ich, ich meine natürlich, dass ich ebenfalls für Geheimnisse bin, ich meine für Geheimhaltung, dass es Sie gibt, ich meine, dass Sie hier waren..." Der junge Mann bekam unter Tonys ruhigem Blick hektische Flecken auf der Stirn. Er sprang auf, ging zu einer großen Wandkarte von Ägypten, stellte sich auf die Zehenspitzen, tippte auf den roten Fleck, der Kairo darstellte, und fuhr dann mit dem Finger nach unten, den Nil entlang bis zum Nasser-See und dem dicken waagerechten Streifen, der die Grenze zum Sudan bezeichnete. Dann fuhr den Finger nach links und blieb auf halber Strecke zur libyschen Grenze stehen. "Hier ist es, Bir Tarfawi. Das heißt in der Nähe. Ungefähr zwanzig Kilometer in irgendeine Richtung. Aber in der Oase werden Sie die genaue Position herausfinden, denn die Arbeiter kommen daher. Sie könnten bis El Kharga fliegen und von dort die Piste bis Bir Tarfawi benutzen. Alternativ können Sie bis Abu Simbel fliegen und dann quer durch die Wüste fahren - was ich Ihnen allerdings nicht raten würde. Übrigens sollten Sie vorsichtig sein. Je weiter Sie nach Süden dringen, desto eher werden Sie zum Ziel fundamentalistischer Anschläge." Bei diesem Worten warf er einen unverschämten Blick auf Tonys Zwirn und biss sich auf die Unterlippe. Sein Kinn begann, leicht zu vibrieren. Tony Tanner hatte gelernt, Haltung zu bewahren und verabschiedete sich mit Dank. "Ich finde alleine hinaus", sagte er. Kaum hatte er die Tür des Büros geschlossen, als dahinter wieherndes Gelächter aufbrandete. Dann hörte er noch die Telefongabel klappern. Auf dem Weg zum Ausgang begegnete
Tony einer erstaunlichen Anzahl von Sekretärinnen und sonstigen Angestellten. Das gesamte Botschaftspersonal schien sich auf dem Gang herumzutreiben, und selbst die Pförtnerloge war gedrängelt voll wie eine Studentenbude bei der Semesterabschlussfete und alle entgegneten mit gebissbleckender Freundlichkeit und wohlgemuter Offenherzigkeit Tonys Gruß, als der aus dem Tor stiefelte. Abu Simbel, warum nicht Abu Simbel?
12. Vom Hotel aus reservierte Tony telefonisch den nächsten Flug nach Abu Simbel. Der nächste Flug nach El Kharga fand erst in zwei Tagen statt, während Egypt Air mehrmals am Tag Touristen zu der berühmten Tempelanlage am Nasser-See brachte. Es blieb gerade noch Zeit, das Zimmer für zwei Wochen im Voraus zu bezahlen und ein Taxi zu bestellen. Einige Stunden später saß Tony Tanner in der zweistrahligen Boeing der Egypt Air und schaute auf den grünen Streifen, der den Lauf des Nil durch die gelbliche Wüstenlandschaft markierte. Er war sich nicht sicher, ob seine Entscheidung richtig gewesen war, und ob er nicht unüberlegt und vorschnell gehandelt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, einen einzelnen Europäer in dem 13-Millionen-Chaos der ägyptischen Hauptstadt aufzuspüren, war nicht sehr groß, zumal sich dieser Europäer jetzt vorsichtiger bewegte als noch vor kurzem in Bombay. Und dennoch drängte es ihn, eine innere Unruhe zog ihn weiter, so als wäre selbst eine Bewegung in der falschen Richtung besser als jedes kluge Zögern. Der Pilot zog in niedriger Höhe eine Schleife, sodass seine Passagiere die Statuen und Säulen des Tempels von Abu Simbel genau betrachten konnten, dann erst folgte die Landung. Der Flughafen bestand aus einer Start- und
Landebahn, einem betonierten Vorfeld und dem Abfertigungsgebäude. Das gesamte Gelände schien wie ausgestorben. Aber dann entdeckte Tony, als die Boeing langsam und sanft schaukelnd über das Vorfeld rollte, eine zweimotorige Propellermaschine. Sie bot eigentlich nichts, was die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Dann bemerkte er die Personen, die vor geöffneten Tür standen. Es war mehr eine instinktive Reaktion, die ihn genauer hinschauen ließ, als eine bewusste Handlung. Und dann erkannte er die langhaarige Frau und den weißhaarigen Mann, die sich gerade anschickten, in die Maschine zu steigen. Das heißt, er glaubte sie zu erkennen. Er war sich so sicher, dass sein Herz zu pochen anfing, denn die Frau war jene Stewardess, die er in Bombay kennen gelernt hatte und auch ihr Begleiter war ihm auf Matankas Party begegnet. Während sein Herz angeregt pochte, presste Tony sich die Nase am Fenster platt, aber die Boeing machte nun eine Wendung, und die Propellermaschine verschwand aus seinem Gesichtsfeld. Tony ließ sich zurück in den Sitz fallen. Es musste ein Zufall sein. Nein, kein Zufall, eine Verwechslung, eine Täuschung. So genau hatte er die Personen nicht gesehen. Die Entfernung war zu groß, um die Gesichter zu identifizieren. Es konnte nicht sein. Aber nachdem er sich diese Meinung mit allen Vernunftgründen zurecht gelegt, formuliert und bestätigt hatte, blieb ein nagender Zweifel bestehen. Was, wenn doch? Ja, was? Jedenfalls kaum Gutes! Tony drängte sich zusammen mit der Herde von Shorts tragenden, mit knallbunten Baseballkappen bedeckten und die Welt durch Videokameras betrachtenden Touristen aus dem Abfertigungsgebäude. Im Normalfall hätte eine solche Herde touristischer Weltentdecker bei ihm eine sofortige Fluchtreaktion ausgelöst. Jetzt nutzte er sie als Deckung und nahm dafür gerne die Rippenstöße im Gedrängel in Kauf. Alles strebte auf einige Omnibusse zu, die den Direktverkehr zu den Sehenswürdigkeiten besorgten. Reiseleiter wedelten
mit Fahnen, Sonnenschirmen oder versuchten auf andere Weise die Aufmerksamkeit ihrer Schützlinge auf sich zu lenken. Tony wollte mit einem der Busse bis zur Ortschaft fahren. Und dort musste er sich ein Fahrzeug besorgen. Und dann musste er versuchen, sich nach Bir Tarfawi durchzuschlagen, was, wie er sich selbst eingestand, noch etwas hirnrissiger war als der Versuch, in Badeschlappen den Südpol zu erreichen. Die ersten Busse waren besetzt und fuhren ab. Er sah, wie Reiseleiter die Tickets der Einsteigenden kontrollierten und einige Personen abwiesen und auf die anderen Busse deuteten. Tony beschloss, besonders vorsichtig zu sein. Der letzte Bus, der in der Reihe stand, schien so eine Art öffentlicher Nahverkehr zu sein. Hier war Tony Tanner richtig. Er nahm seinen Koffer auf und schlenderte in ostentativer Lässigkeit auf den Bus zu. "Wo du wolle? Ich dich fahre!" Tony zuckte zusammen und schaute auf den Mann, der in von der Seite angesprochen hatte. Was er sah, gefiel ihm keineswegs. Der Mann war viel zu klein für sein Gewicht. Der Schmerbauch, der zwischen dem Bund einer schmuddeligen Jeans und dem Saum eines ebenfalls schmuddeligen Hemdes hervorblitzte, hatte eindeutige Vorteile für Tony. Denn obwohl ihm der Mann eng auf die Pelle rücken wollte, bildete der Bauch eine ansehnliche Barriere, und so konnte Tony den knoblauchgeschwängerten Atmen, der schon Narkosequalität hatte, gerade noch überleben. Das Hemd des Mannes besaß noch zwei Knöpfe, die sich heroisch gegen die gewaltigen physikalischen Belastungen stemmten, denen sie bei jedem Atemzug ausgesetzt waren. Aus dem offenen Kragen quollen dichte schwarze lockiges Brusthaare, das Tony zu der Überzeugung führten, dass dieser Mann einen Pelz wie ein Gorilla haben musste. Damit war die Kapazität an Haarwuchs
allerdings auch erfüllt, denn der runde Kopf des Ägypters, der auf einem kurzen Hals und einem Mehrfachkinn ruhte, war glatt wie eine Billardkugel, wenn man von einigen Löckchen absah, die in der Nähe der abstehenden Ohren schweißnass am Schädel pappten. Eine dicke Goldkette, die trotz ihres sicherlich hohen spezifischen Gewichtes dennoch nicht in der Lage war, die Brusthaare herunterzudrücken, ein goldenes Armband und einige glitzernde Ringe an den Wurstfingern komplettierten die Erscheinung. "Dich würde ich nicht mal auf dem Kinderkarussell an ein Lenkrad lassen und am wenigsten, wenn ich mit im Wagen sitze", dachte Tony. Laut sagte: "Verbindlichsten Dank für Ihr freundliches Angebot. Aber ich werde den Bus nehmen." "Nix Bus nehme. Bus nix gut. Zu viele Leut. Wo du wolle? Ich mache gute Preis." Der Mann grapschte nach Tony Koffer, und einen Augenblick lang zerrten beide, bis der Mann nachgab und Tony seinen wiedereroberten Koffer mit wütendem Schnaufen in die andere Hand nahm. Er ließ den Ägypter stehen und ging weiter auf den Bus zu. Viel Zeit blieb nicht mehr, dann es standen nur noch zwei Busse vor dem Gebäude. Seine Nase machte Tony klar, dass er den Mann immer noch nicht losgeworden war. "Ich Nagib. Ich gut Fahrer. Wagen da, du steige ein, ich mache gute Preis. Wo du wolle?" Aus reiner Neugier folgten Tonys Blicke der ausgestreckten Hand des Mannes. Was er sah, war ein alter Peugeot-Kombi unbestimmter Farbe, der aussah, als hätte er sämtlichen Pariser Fahrschulen als Übungsobjekt fürs Einparken gedient. Zumindest das Leistungsgewicht war verbessert worden, denn der Ausbau der Seitenscheiben, der Scheinwerfer, der
Stoßfänger und eines Kotflügels sparte mit Sicherheit etliche Kilo. Damit über die Funktion des Automobils keine Zweifel aufkommen konnten, war in großen gelben Buchstaben das Wort 'Taxi' auf die Türen gepinselt. Dieser Wagen passte zu seinem Besitzer, hatte aber nun rein gar nichts an sich, das Tony zum Einsteigen hätte bewegen können. "Nein danke", war der letzte Rest an Höflichkeit, den Tony aufbringen konnte, bevor er beschleunigt weiterging. Der vorletzte Bus startete und fuhr an. Der Mann änderte die Taktik und bearbeitete Tony mit der sozialen Tour. "Ich Nagib, ich zehn Kinder und Frau und krank' Schwiegermutter. Ich musse Taxi fahre, sonst nicht satt werde meine Familie und meine Frau schimpfe mir, weil Kinder schreie. Arme Kinder viele hungrig, immer schreie. Ich hier Bild von mein Familie." Der Mann stakste neben Tony her und wühlte in seiner Hosentasche, was ihn zu einigen steifbeinigen Hüpfern zwang. Dann hielt er Tony das Foto unter die Nase. Der fühlte sich aus angeborener Höflichkeit bemüßigt anzuhalten und auf das Foto zu schauen. Es zeigte eine Schar außerordentlich hässlicher Blagen, die sich vor einem Lehmhaus um zwei ältere Frauen geschart hatten. Alle lachten fröhlich in die Kamera und hätten jeden Zahnspangenhersteller reich gemacht. Die Frau hatte ein Gesicht, das ihre Unberührtheit auch dann garantiert hätte, wenn sie das letzte weibliche Wesen auf diesem Planeten gewesen wäre. Mit einer gewissen Rührung schaute Tony auf. Mit einer solchen Frau Kinder zu zeugen bewies eine Mischung aus ästhetischer Idiotie und gefährlichster Geschlechtsgier, die sich seinem Verständnis weit entzog. Der Mann nutzte diesen Moment, in dem Tony sich mit einer Mischung aus
Bewunderung und Abneigung schüttelte, bemächtigte sich des Koffers und sauste mit erstaunlicher Behändigkeit zu seinem Wagen. Dort warf er den Koffer durch das Seitenfenster auf die Rückbank und winkte Tony einladend zu. Der brauchte allerdings keine gesonderte Einladung mehr, sondern zischte wie ein Krokodil, das Beute anpeilt, zu dem Taxi. "Gut Wage", versicherte Nagib und klopfte stolz auf das Blechdach. Tony achtete nicht darauf, denn er hing halb im Wagen und angelte nach dem Koffer. Der Bus ließ den Motor an. Tony zerrte den Koffer hervor und wollte loslaufen, aber es war zu spät. Der Bus fuhr los. Ohne Tony Tanner, und der Busfahrer reagierte mit Unverständnis auf dessen wildes Gestikulieren, das jeden Ozeandampfer auf einen einsamen Inselbewohner über zwei Kilometer Distanz hinweg aufmerksam gemacht hätte. "Bus nix gut, Bus jetzt weg. Jetzt du fahre Taxi. Wo du wolle?" "Verbindlichsten Dank, ich ziehe es vor, zu Fuß zu gehen", quetschte Tony zwischen den Zähnen hervor. Er lief los, auch wenn ihm inzwischen bewusst war, dass seine Lackschuhe die am wenigsten geeignete Fußkleidung für diesen Zweck darstellten. Der Bus verschwand hinter einer Ecke des Abfertigungsgebäudes. Als Tony die Stelle erreicht hatte, war der Bus nur noch spielzeuggroß, obwohl sein Motor weithin dröhnte und der fettige Abgasgeruch noch über der Straße stand. Dann bemerkte Tony ein helles Licht, das sich seitlich dem Bus näherte. Er hatte keine Zeit mehr, über die Art dieser Erscheinung nachzudenken, denn im nächsten Moment verschwand das Licht in dem Bus und es gab ein helleres, größeres Licht, das selbst im Sonnenglast der ägyptischen Wüste blendete. Ein ungeheurer Knall folgte dem Lichtblitz. Der Bus verging in
einer weißglühenden Explosion. Wrackteile schleuderten in die Luft, schrammten über die Straße und schlugen aufstaubend in den Sand ein. Die Luftwelle der Detonation traf Tony ins Gesicht. Flammen schlugen aus dem Wrack, schwarze Rauchwolken quollen träge auf und warfen ihre Schatten über das zerstörte Gerippe des Busses. Tony blieb wie erstarrt stehen, hin- und hergerissen zwischen einer instinktiven Fluchtreaktion und dem Wunsch zu helfen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Es war Nagib. "Kanne nicht helfe, ist Panzerfaust von Fundamentalisten, ich vermute." Die seltsame Stille, die nach der Explosion herrschte, wurde durch einen lang gezogenen Sirenenton zerrissen. *** Missmutig wischte Dorkas die beschlagenen Scheiben frei und schaute nach draußen. Der Anblick bot keine Überraschungen. Tatsächlich hatte es während der letzten Stunde der Fahrt nie anders ausgesehen. Die Straße zog sich oberhalb der Klippen entlang. Auf der einen Seite lag die graue, von Schaumstreifen gefurchte Fläche der See, auf der anderen Straßenseite stiegen die Hügelflanken steil an und verschwanden im Nebel, der die Kuppen umhüllte. Es war windig und kalt, und ein feiner, alles durchdringender Nieselregen wurde in Schleiern über den Asphalt gepeitscht. Bis auf drei Hausfrauen, die neben ihren Einkaufskörben hockten, gab es keine weiteren Passagiere in dem Bus. Dorkas hatte sich nach hinten gesetzt, weil er hoffte dort seine Ruhe zu haben. Aber die Position im Heck des Busses hatte auch ihre Nachteile. Auf der gewundenen Straße wurde ihm schlecht. Er umklammerte seine riesige altmodische Reisetasche, in der sich alle Dinge befanden, die Dorkas für seinen Aufenthalt in Wales für notwendig hielt. Darunter befanden sich diverse Paare langer Unterhosen, zwanzig
dicke Wollstrümpfe, mehrere Pullover und einen Poncho, den er in einem Army-Surplus-Laden erstanden hatte. Am wichtigsten waren wohl die zwei Dosen mit Desinfektionsspray. Die Fahrt hatte ihn durch Ortschaften, die Llansantffraid oder Llanrhystyd hießen, geführt. Allein solche Namen weckten in Dorkas das Bedürfnis, sein Desinfektionsspray flächendeckend einzusetzen. Wieder seufzte er und schaute auf die nassen Schafe auf der Weide, die aussahen, als würden sie an Wales ebenso sehr leiden wie Dorkas. In Pentrebont stieg er aus, schleifte keuchend seine Tasche zu einem Taxistand und verhandelte mit dem einzigen vorhandenen Fahrer über den Fahrpreis. Diese Verhandlung verschaffte Dorkas tiefen Einblick in die menschliche Seelenlandschaft, war aber unter finanziellen Gesichtspunkten wenig erfolgreich, denn der Fahrer ließ ihn kalt lächelnd im Regen stehen, bis Dorkas den vorgegebenen Preis akzeptierte und im Voraus bezahlte. 13. Das Taxi fuhr fort von der Küstenstraße und hinauf in die Berge. Dorkas hätte möglicherweise sogar den Anblick der Landschaft genießen können, wenn nicht Nebel und Nieselregen alles in graue Schleier gehüllt hätten. "Was woll’n S’e denn dort", fragte der Fahrer plötzlich. Da er seit einer halben Stunde keinen Ton von sich gegeben hatte, schrak Dorkas bei dem Klang der Stimme zusammen. Seine Gedankenwelt war in diesem Moment ganz von dem Gefühl bestimmt, das durch ein kratziges, völlig durchnässtes Wollunterhemd hervorgerufen wurde. "Warum fragen Sie?" "Geht mich ja nichts an, aber da oben ist nich’ viel los.
Immerhin, ein Gasthaus gibts. Leben aber ‘ne Menge Spinner da.!" "Spinner?" Dorkas legte alles, was er an fragendem Tonfall erübrigen konnte, in das Wort 'Spinner'. Der Fahrer schwieg eine Weile und konzentrierte sich auf die Straße, die in engen Windungen höher führte. Es gab kaum Verkehr, aber einmal begegnete ihnen ein Tankwagen für Milch, und das Taxi musste eine Vollbremsung machen, weil keiner der Fahrer mit Gegenverkehr gerechnet hatte. Die Scheibenwischer quietschten mit einschläfernder Monotonie über die Frontscheibe. Alles, was jenseits einer Steinwurfweite lag, wurde vom Nebel verschluckt. Das Taxi fuhr durch eine kleine Ortschaft und bog erneut ab. Eine noch engere Straße, die auf noch höhere Pässe in noch dichteren Nebel führte. "Na klar, Spinner", äußerte der Fahrer plötzlich. Er war ein langer, dürrer Mann. Weil sein Sitz so weit hinten stand, musste sich Dorkas halb umdrehen, um sein Gesicht sehen zu können. "Die haben da so ‘ne Partei gegründet, die für die Unabhängigkeit von Wales ist. Schwachsinn. Außerdem gibts da so ‘ne Art Kommune von Leuten, die sich Heiden nennen. Und ‘n paar bescheuerte Künstler sind auch in der Gegend. Die setzen Steinmännchen in die Gegend und hüpfen nächtens singend drum herum. - Gesindel." Der Fahrer schnaufte vor Empörung und nahm die nächste Kurve etwas flotter als nötig. Dorkas fingerte nach dem Haltegriff. Die schmale Straße führte jetzt abwärts. Ein Bach, geschwollen von dem Regen der letzten Tage, floss neben der Straße und schickte an einigen Stellen sein braunes Wasser über den Asphalt. An vielen Stellen zogen sich Rinnsale wie weiße Fäden durch das Gras der Hänge. Hinter einer Wegbiegung öffnete sich der Blick auf ein Tal. Der Fahrer lenkte den Wagen bis vor ein Gasthaus und wendete, noch
bevor er Dorkas aussteigen ließ. Dann holte er Dorkas« Reisetasche aus dem Kofferraum und fuhr grußlos von dannen. Dorkas hievte seine Tasche aus der Pfütze, an deren tiefster Stelle der Fahrer sie platziert hatte, und schaute sich um. Die Ortschaft bestand aus einer Handvoll niedriger, alter Häuser, die sich unter ihren Dächern krümmten wie verschüchterte Schildkröten in ihren Panzer. Die Straße führte auf der anderen Seite der Ortschaft weiter, war aber nicht mehr asphaltiert. Zwischen den Häusern standen schöne alte Bäume, in denen der Wind rauschte. Die Tür des Gasthauses war verschlossen. Dorkas lehnte sich gegen das rissige Holz der Tür und beschloss, sein Leben hier zu beenden, falls nicht irgendwann doch die Tür geöffnet werden sollte. Nach einer Weile, in der er auf das Rauschen des Windes im Laub und das Plätschern des Regens in den Pfützen und das Gluckern des Wassers in der Dachrinne gelauscht hatte, kam ihm die Idee zu klingeln. Leider fand er keine Klingel, und er brauchte eine Weile, bis er sich einer Zeile in einem Stevenson-Roman erinnerte, in der jemand an eine Tür hämmerte. Dorkas beschloss, es David Balfour gleichzutun und bearbeitete die Tür mit der Faust. Gleich darauf wurde ein Fenster aufgerissen. "Wenn Sie Journalist sind, hauen Sie ab. Von Ihrer Sorte haben wir in den letzten Tagen genügend gehabt!" Zwar verstand sich Dorkas nicht als Vertreter der journalistischen Zunft, aber andererseits war es doch so etwas wie eine offiziöse Neugier, die ihn in dieses Tal geführt hatte. Ein Schwarm Krähen flog krächzend vorbei - irgendwo dort droben in der nebligen Höhe. Dorkas druckste herum. "Ich bin kein Journalist (das war die Wahrheit), aber ich habe mit Miss Hamm - ähh, mit Isadora korrespondiert (das war eine Lüge) und wollte deswegen ..."
"Kommen Sie rein", sagte die Männerstimme, und die Tür wurde geöffnet. So stand denn Dorkas triefend in dem Schankraum des Gasthauses und war sich der traurigen Tatsache bewusst, dass seine Rettung vor einer finalen Lungenentzündung auf einer faustdicken Lüge beruhte. Seine Gewissensnöte wurden schwächer, als er sich in einem der Gästezimmer umgezogen hatte und nun in der großen dämmrigen Schankstube vor einem Teller mit Rührei und Speck saß. Der Mann, der ihn eingelassen hatte, klapperte in der Küche mit Töpfen, stellte scheppernd Geschirr zusammen, machte dann das Licht aus und setzte sich zu Dorkas. Er war ein mittelgroßer, zart wirkender Mann, Mitte dreißig, wie Dorkas schätzte, mit wunderschönen, großen braunen Augen, einem gepflegten Kinnbart, und einer Stirnglatze, die ziemlich plötzlich, als wäre sie rasiert, in eine wilde Mähne dunkler Haare überging, die ihm fast bis auf die Schultern fielen. Er stellte einen Typ dar, den man eher an den Küsten des Mittelmeeres vermutet hätte als in den nebligen Bergen von Wales. Sein Akzent, den er mit einer gewissen Attitüde pflegte, machte indessen klar, dass Walisisch seine Muttersprache war. "Schmeckt's?", fragte er und fügte hinzu: "Ich bin Anthony Gray." "Dorkas", sagte Dorkas und erfreute sich daran, eine klare, eindeutige und wahre Aussage gemacht zu haben. Eine Weile kaute er weiter und gab sich ganz der Freude hin, grobes Brot mit den Zähnen zu zermahlen und sich gabelweise duftendes Rührei in den Mund zu stopfen. Schließlich war der Teller leer. Dorkas nahm das letzte Brotstück in die Hand und wischte damit sorgfältig über den Teller, bevor er die würzige Kruste in den Mund steckte. Und während er noch genüsslich kaute,
wurde ihm schlagartig klar, dass er sich eben benommen hatte wie einer der Hirten, Fuhrknechte oder Bauern, für deren ehrlich erworbenen Hunger dieses Gasthaus gebaut worden war. Das behagte ihm nicht. Er hatte den plötzlichen Verdacht, diese gemütliche Stube mit den dunklen, niedrigen Deckenbalken könnte etwas enthalten, das in ihn eindrang und ihn veränderte - irgendeine tabakblaue Ausdünstung zahlloser Nächte voller rauer Männerstimme, schrill lachender Frauen und trunkener Gesänge. Darum lehnte er auch das Angebot ab, ein Bier mitzutrinken und bat um einen Pfefferminztee. "Nicht viel los hier", bemerkte Dorkas, als er vor seinem Tee saß und Gray sich mit seinem Bier wieder zu ihm an den Tisch gesetzt hatte. "Hier ist nie viel los. Manchmal kommt der Gesangsverein, dann ist die Stube voll. Aber die üben lieber im Stall von Martin Spencer, da ist die Akustik besser. Im Grunde kann kein Mensch von so einer Schenke leben. Ich mach es auch nur noch, damit die Leute hier in der Gegend einen Platz haben, wo sie zusammensitzen können. Ansonsten - ich hab' 'n paar Hühner, 'ne Kuh, Ziegen, Schafe, 'n bisschen Gemüseanbau hinterm Haus, ab und zu gehe ich angeln, und manchmal hole ich sogar einen Fisch heraus. Wir haben hier in der Gegend einen Tauschring aufgezogen, Schafswolle gegen Benutzung eines Traktors, einen Sack Mehl gegen einen Stapel Kaminholz oder so. Ich organisiere das alles ein wenig. Ich komme zurecht. Ich will kein anderes Leben, nichts, wo 'viel los' ist." Gray lehnte sich zurück, schob die Beine lang unter den Tisch und schaute Dorkas an. Der rührte in seinem Pfefferminztee und dachte über Grays letzten Satz nach. Wollte er, Dorkas, ein anderes Leben? Ja, sagte er sich, ich will, aber ich kann nicht. Wahrscheinlich darf ich nicht einmal wirklich wollen. Und
darum stellte er auch seine nächste Frage. "Sarah, oder Isadora, kann ich ..." "Ich werde Sie morgen zu ihren Eltern führen. Die wollten erst einmal ihre Ruhe haben und sind zu Verwandten gegangen. Sie können sich denken - die Obduktion, die Freigabe der Leiche, der ganze Kram mit der Polizei. Und dann bekamen die Medien doch noch Wind von der Sache und plötzlich wimmelte alles von sensationsgeilen Journalisten und Kameraleuten, die uns durch die Fenster filmten. Na ja, das scheint jetzt ausgestanden zu sein. Gibt ja auch nicht viel her, unser Ort." Sein Gewährsmann bei der Polizei hatte Dorkas zwar alle Ergebnisse der Obduktion und auch die Adresse der Ermordeten mitgeteilt. Aber dass Sarah Hammond noch bei ihren Eltern gewohnt hatte, war für Dorkas neu. Es passte auch nicht in die vage Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte. Aber in letzter Zeit passten die wenigsten Dinge. Jedenfalls war Vorsicht angebracht. Er hatte sich als jemand ausgegeben, der mit Sarah Hammond korrespondierte. Dabei wusste er kaum etwas von ihr. Wie viel aber hätte er wissen müssen, um gegenüber Gray diese Lüge aufrecht zu erhalten? Dorkas entschloss sich zu einem Frontalangriff. "Ich wusste nicht, dass sie noch bei ihren Eltern wohnte." Gray zuckte die Schultern. "Kein Wunder. Sie war halt etwas seltsam, unsere Sarah. Solche Dinge waren für sie kaum einer Erwähnung wert." Gray starrte in sein Bier. Plötzlich zuckten seine Schultern und er begann zu kichern. "Vor einiger Zeit kam so ein Typ hierhin, von irgendeiner
esoterischen Gesellschaft, mit dem hatte sie über Jahre korrespondiert. Ich weiß nicht, was sie ihm geschrieben hat, aber anscheinend hat sie ihm unseren Ort beschrieben und sich selbst und dabei eine Menge Phantasie investiert. Jedenfalls tauchte der Typ hier auf, fragte wo sie wohnt, fiel fast um, als ich ihm das Haus zeigte, und als dann noch Sarah selbst erschien, verschwand der Besucher auf Nimmerwiedersehen. Im übrigen ist sie auch erst seit der Geschichte mit Christopher vor anderthalb Jahren wieder hierhin zurück." Also noch eine weitere Attacke von vorn: "Sie hat mir nichts davon mitgeteilt" Das war die reine Wahrheit, wie Dorkas beruhigt feststellte. Gray antwortete nicht, sondern stand und ging zur Theke. Mit einem vollen Bierglas kam er zurück, setzte sich und drehte das Glas schweigend zwischen beiden Handflächen. Der Wind hatte aufgefrischt und heulte um die Hausecken. Regenschauer prasselten gegen die Fenster. Irgendwo schlug eine Tür im Durchzug. Jetzt schmeißt er dich raus, dachte Dorkas. Er ahnt, dass du über Sarah Hammond nichts, aber auch gar nichts weißt, außer dass sie Schmuddelphantasien in kleinen Zeitschriftchen esoterischer Zirkel veröffentlichte. "Sie hat mir nichts davon mitgeteilt", echote Gray plötzlich, so als wäre nicht eine ganze Zeit des Schweigens vergangen. Er schaute Dorkas scharf an. "Ich weiß nicht, warum ich das jetzt tue, aber ich erzähle Ihnen jetzt alles, was ich über Sarah Hammond weiß. Es kommt ja wohl nicht mehr darauf an. Wissen Sie, es ist in gewisser Weise auch meine Geschichte, schließlich habe ich bei den ganzen Spielchen lange genug mitgemacht, bis es mir zu heiß wurde. Ich kenne Sarah seit unserer Schulzeit. Sie hatte schon damals eine große Klappe. Was sie sagte war
nicht unbedingt zutreffend oder besonders intelligent, aber man konnte sicher sein, dass Sarah ihren Senf dazugeben musste. Und so ist sie in gewisser Hinsicht geblieben. Sie fühlte sich nur wohl, wenn sie Türen einrennen konnte. Und wenn die Tür offen war, dann musste Sarah durchs Fenster einsteigen oder lieber noch ein Loch in die Wand hauen. Wenn ich so zurückdenke, dann war es vermutlich genau diese Eigenschaft, die Sarah in diesen ganzen Esoterikkram hineinführte. Verstehen Sie? Wenn die gesamte Naturwissenschaft behauptet, dass es solche Dinge wie Magie nicht geben kann, dann ist das für einen Menschen wie Sarah Hammond Anlass genug zu sagen: Ätsch, ihr blöden Spießer, ich zeige euch allen, dass ihr euch irrt. Im Grunde fing es schon in den ersten Schuljahren an. Wir spielten nicht Räuber und Gendarm, sondern Merlin und König Artus. Und wehe, wenn einer die Zeremonien, die Sarah für uns einrichtete, zu früh verlassen wollte, weil es ihm langweilig war! Dann gabs aber Zunder! Na ja, ein Junge, der nicht mehr mitmachen wollte und heimlich abhaute, brach sich auf dem Weg nach Hause ein Bein. Natürlich Zufall. Aber jedenfalls guckten wir unsere Sarah seitdem mit anderen Augen an. Vielleicht war's ja auch kein Zufall. So ging das dann über die Jahre dahin. Irgendwie zerbrach unsere Clique schließlich, und ich hatte nicht mehr so oft Kontakt mit ihr. Eines Tages fand ich dann, als ich sie einmal besuchte, da war ich vielleicht sechzehn oder so, in ihrem Zimmer Aleister Crowleys 'Magick';. Der Name sagt Ihnen was, vermute ich?" Dorkas nickte. "Standardwerk der modernen Sexualmagie. An dem Punkt war es dann wohl aus mit den kindlichen Spielen?" "So sehe ich es jetzt auch, aber damals war ich nur amüsiert. Na ja, ich studierte Soziologie - was man halt so studiert, bevor man sich aufs Land zurückzieht und einen alternativen Lebensstil pflegt. Sarah studierte einige Semester Psychologie, brach das Studium aber wieder ab. Dann jobbte
sie eine Weile in einer Galerie in London. Diese Galerie hatte sich auf spirituelle Kunst spezialisiert, also moderne MandalaInterpretationen, Sandmalereien der Navajos und so was. Dort lernte sie Christopher kennen. Die beiden hatten sich gesucht und gefunden - ich kenne nicht mal den Nachnamen von Christopher, fällt mir gerade ein. Egal - es bildete sich ein regelrechter Zirkel, in dem Ritualmagie betrieben wurde. Das war auch die Zeit, in der Sarah die ersten Aufsätze in irgendwelchen esoterischen Heftchen veröffentlichte. Diese Sache mit der Ritualmagie passte wieder voll zu Sarah. Das war für sie 'ne Art Panzerfaust, mit der sie den Tresor der anderen Welten knacken wollte. Immer voll durch die Wand. Beschwöre dir einen Dämon, und der zeigt dir wo's langgeht. So ähnlich sehe ich das." "War diese Ritualmagie jetzt ernsthaft gemeint oder eher, na, so ein Mittelding zwischen Partyspiel und Karneval?" "Ich fürchte, die meinten es verdammt ernst. Am Anfang gab es so ein paar Mitläufer, irgendwelche Späthippies, die immer auf eine geile Fete aus waren. Aber die merkten bald, dass es nicht ihr Revier war. Nein, ich glaube Sarah und ihr Kreis meinten es verteufelt ernst. Vielleicht sollte ich in den Zusammenhang besser nicht 'verteufelt' sagen. Ich weiß über diese Londoner Zeit nicht allzu viel. Sarah und Christopher schwiegen sich aus. Ich habe mir aber die Mühe gemacht, ein wenig zu schnüffeln. Ich weiß, dass beide Ärger wegen Drogenbesitzes bekamen - Haftstrafen auf Bewährung. Wer Sarah kennt, der weiß genau, dass sie nicht der Typ ist, der im Scheißhaus sitzt und sich einen Schuss reindrückt. Nein, für mich gab es keine Frage, dass sie das Zeug für ihre rituelle Magie brauchten. Damit ist klar, dass die Sache mehr war als ein Hobby. Und es scheint, als wären sie über die Experimentalphase weit hinaus gekommen." "Das heißt, sie haben irgend etwas beschworen? Oder
irgendwelche magischen Ergebnisse erzielt?" "Wissen Sie, Herr Dorkas, es ist unglaublich schwierig, in diesem Bereich Wahrheit und Legende zu unterscheiden. Man liest Dinge und sagt sich, die Heinis sind doch reif für die Gummizelle. Aber irgendwie hat man dann doch das gewisse Kribbeln im Bauch. Aleister Crowley ist wohl das Beispiel Nummer Eins dafür." "Und Sarah, respektive Isadora trat an, um das 'Tier 666', sprich Altmeister Crowley, zu beerben?" "Ich weiß es wirklich nicht. Es ist auch nicht mein Problem. Das ganze Thema war mir schlicht total egal. Ich war zu der Zeit damit beschäftigt, mit mir selbst klar zu kommen. Ich hatte eine Scheißscheidung hinter mich zu bringen und meine Frau verschwand mit den beiden Kindern, weil ich nicht so leben wollte, wie es ihr in den Kram passte. Auf der Suche nach den Kindern bin ich übrigens einiges über Sarah und ihren Zirkel gewahr geworden. Später, als ich einsah, dass ich für die Kinder schon ein Fremder geworden war, richtete ich mir mein Leben so ein, wie ich es immer schon gewollt hatte. Ich zog in diesen Ort zurück, kaufte das Haus, es war damals halb verfallen. Ich machte das nur, weil ich sauer darüber war, dass hier alles verfällt und vergammelt, während die Leute in irgendwelchen Hochhäusern in Cardiff herumhängen. Ich engagierte mich für den Tauschring und machte ein bisschen in Regionalismus-Bewegung für ein unabhängiges Wales, Folklore-Veranstaltungen, Dichterlesungen in walisischer Sprache, Sängerwettstreite und so. Aber ich weiß, Sie wollen mehr über Sarah wissen. Also, zu der Zeit als Sarah in London war, tobte ein regelrechter Untergrundkrieg der magischen Zirkel. Es klingt absurd, aber es ist die Wahrheit. Es gab jede Menge Abspaltungen von den alten Orden und Gemeinschaften und wie meist in diesem Bereich spielte Neid, Eifersucht und Geltungsdrang eine wesentliche Rolle."
Gray stützte den Ellbogen des linken Armes auf die Tischplatte und begann mit den Fingern zu zählen. "Also es gab den N.O.T.O, 'Novum Ordo Templis Orientalis' ich habe nie Latein gelernt, ich fürchte, ich kriege die Namen nicht so richtig hin - eine Abspaltung des O.T.O.. Dann gab's den 'Ordo Veritatis Orientalis', abgekürzt O.V.O., die sich auch vom O.T.O. abgespalten haben. Es muss da zugegangen sein wie vor dem Scheidungsrichter. Dann gab es eine Gruppe, die sich sinnigerweise SM nannte, 'Sethos militaris' oder so. Das waren die Lackleder-Freaks unter den Hobbymagiern. Ihr Symbol war das durchstochene Auge des Horus. Es gab die 'Gesellschaft für alternative Magie';, 'Die Kinder der großen Mutter';, 'Merlins Jünger', die 'Hammer des Thor', die sich mit SM gerne mal eine klassische Prügelei auf der materiellen Ebene lieferten. Und natürlich die 'Sorores Iside' ..." "Der Zirkel, den Sarah gegründet hatte." Dorkas hatte ins Blaue gezielt und einen Volltreffer gelandet. Gray nickte. "Sie mischte extremen Feminismus mit extremer Ritualmagie. Die Kerls hatte nichts zu sagen und wurden lediglich als Energielieferanten gebraucht. Sarah hat sich in der Zeit einige hässliche Geschlechtskrankheiten geholt und mindestens zwei Abtreibungen in irgendwelchen Hinterhofpraxen machen lassen." "Klingt nicht sympathisch." "Es war auch nicht sympathisch. Dabei war sie im Grunde ein wirklich nettes Mädel, auch wenn das jetzt etwas komisch klingen mag. Aber in diesem Bereich, in der Magie, war sie total vernagelt. Rücksichtslos und fanatisch. Ich habe einen Mann getroffen, der in ihrem Kreis eine Weile mitgemacht hatte und der sagte mir 'Ich habe keine Lust mehr, meinen Arsch hinzuhalten'. Und er meinte das wörtlich."
"Mit anderen Worten, Sarah und ihren Gruppe haben nichts ausgelassen?" "Aber auch gar nichts. Und wenn Sie mich fragen müssen, wo Sarahs Pekinese überall mit seiner langen blauen Zunge hingekommen ist, dann können wir jetzt das Thema wechseln." "Danke, die Einzelheiten kann ich mir denken. Wie hat Crowley einmal so schön geschrieben: 'Wenn meine Phantasie auch sehr schmutzig ist, so wie die jedes Menschen' ..." Gray nahm einen tüchtigen Schluck und blickte in sein Glas. "Es gab also eine Weile dieses Spielchen, bei denen sich die Gruppen gegenseitig den Tod an den Hals wünschten. So richtig hübsch mit Voodoo-Püppchen und zerrissenen Fotos und so." "Und der Erfolg?" "Beeindruckend. Es gab eine statistisch relevante Erhöhung der Selbstmordzahlen und einige ungeklärte Fälle. Vermutlich wurde öfter nachgeholfen, wenn die Dämonen zu lahmarschig waren. Und wer kann feststellen, ob bei dem Sprung von der Brücke nicht jemand Hilfestellung durch einen festen Tritt von hinten gegeben hat. Die Polizei hat jedenfalls nie einen von den Magie-Freaks festgenagelt. Na ja, Leute die derart bescheuerte Sachen machen, sind psychisch wohl zwangsläufig so labil, dass ihnen ein Selbstmord als gute Idee erscheinen muss. Allerdings gab es zwei oder drei Fälle, die schon heftig waren. Leichen, die aus der Themse gefischt wurden und die aussahen, als hätte sie ein Tiger zerfleischt. Eigentlich kein Thema für diese Tageszeit."
"Und Sarah war mitten drin in dieser Szene?" "Sie war die 'Queen of Magic'. Als ich ihr einmal begegnete, sagte sie, dass sie das, was die Pfeifen von der Agape-Logen geschafft hätten, schon könnte." "Agape-Loge sagt mir nichts." "Nun, ich war auch völlig unwissend. Aber mit Hilfe einiger Bücher kam ich dann auf die richtige Spur. Die Agape-Loge wurde von Jack Parsons in den USA gegründet, und der war ein Schüler Crowleys. Er bombardierte Crowley mit wirren Briefen über seine magischen Versuche, und Crowley, der ziemlich ungehalten reagierte, sagte zu seinen Leuten, Parsons habe vermutlich ein Mondkind geschaffen." "Also ein Wesen, das auf Grund einer Beschwörung entstanden ist?" "So ist es. Das zeigt doch, wie bekloppt diese Magie-Fritzen sind. Ich meine, es gibt doch angenehmere Möglichkeiten zur Zeugung von Wesen? Dass Parsons nachher in geistige Umnachtung verfiel, braucht wohl nicht mehr erwähnt zu werden. Seis drum. Es gab also diese Reihe ungeklärter Todesfälle, die ich eben ansprach. Und plötzlich war Sarah wieder hier, mit ihrem Christopher an der Hand. Der war Künstler, das heißt, er war hauptsächlich Bildhauer. Hatte bei einem Maler namens Gallsworthy oder Gainsworth gelernt. Der ist ziemlich bekannt und hat seinerseits bei Austin Osman Spare eine Lehrzeit gemacht. Aber zu der Zeit, als er bekannt wurde, war er nicht mehr auf dem Magie-Trip, sondern machte in Meditation. So eine Mischung aus Zen-Malerei und Jackson Pollocks Drip-paintings. Er saß stundenlang bewegungslos und schweigend vor einer Leinwand und legte dann explosionsartig los. Schwang den Pinsel und tröpfelte oder
kippte die Farbe gleich so auf die Leinwand. Er nannte das 'Erkennungsdienstliche Behandlung der unsichtbaren Welt'. Eigentlich hatte ich dann mit Christopher wesentlich mehr zu tun als mit Sarah. Wir verstanden uns. Er war in Ordnung. Er konnte singen und saufen und lachen, damit erfüllte er alle Voraussetzungen für eine gelungene Integration in unsere Bergwelt. Seltsamerweise hatte er mit Sarahs magischen Versuchen nichts am Hut. Er hatte früh genug auf die Bremse getreten. Aber er nannte sich auch 'Erdsucher'. Er war ein Anhänger von Alfred Watkins und seiner Theorie der LeyLinien. Später traktierte er mich mit den Werken von John Mitchell, mit Feng Shui und der Orgon-Theorie von Wilhelm Reich. Ja und dann begannen wir mit seinem Projekt. Er nannte es 'Seelenlotse'. " 'Seelenlotse' - der ägyptische Thot leitete die Seelen durch die Unterwelt, fuhr es Dorkas durch den Kopf. Und Thot war für die Griechen Hermes Trismegistos. Laut sagte er: "Da hat dann Sarah vermutlich mitgewirkt." "Weder sie noch Christopher haben das ausgesprochen, aber sie hat bei der Idee mit Sicherheit eine Rolle gespielt. Es ging schlicht darum, von der Küste bis in die Berge eine ununterbrochene Reihe von Steinfiguren zu setzen. Zuerst eine gerade Linie, und dann liefen die Figuren in eine weite Spirale hinein. Es sollte ein Stück Landschaftskunst sein. Und die dahinterliegende Idee war, sozusagen die poetische Rechtfertigung für die Medien, die verlorenen Seelen der ertrunkenen Seeleute von der See bis in unser Land zu leiten, wo sie Ruhe finden würden." "Aber warum die Spirale?" "Keine Ahnung. Er erzählte etwas von einem Symbol der großen Mutter, in deren Schoß die Seelen ruhen sollten ."
"Und diese Steinsetzungen sind wirklich durchgeführt worden?" "Zum Teil. Christopher arbeitete wie ein Blöder und er stellte auch Helfer an, teilweise Schulkinder, die die Figuren herstellen sollten. Es waren ja gewaltige Steinfiguren von mindestens drei Metern Höhe. Sie hatten Menschengestalt, oft aber Tierköpfe. Meistens von Vögeln. Sie erinnerten irgendwie an Totemfiguren der Naturvölker. Es war eine irrsinnige Plackerei, die Dinger an Ort und Stelle zu bringen. Aber es sah auch phantastisch aus. Diese Reihe von grob behauenen Steinfiguren in Regen und Nebel - Irgendwie archaisch. So nach der Welt der Fantasy-Filme." "Wurde das - Kunstwerk vollendet?" "Nein. Mit Christophers Tod war das Projekt erledigt. Sein Tod war auch so eine Sache. Er wurde von einer der Figuren erschlagen. Die Polizei sprach von Unfall und schloss die Akte. Aber ich frage mich immer noch, wie eine solche Figur, tief eingegraben und gut befestigt wie sie war, sich auf einem nicht allzu steilen Hang losreißen und schräg herunterstürzen kann und dabei so schnell sein, dass dem Menschen, den sie erschlägt, keine Möglichkeit bleibt, einen Schritt zur Seite zu tun." "Und Sarah?" "Die zog zu ihren Eltern zurück, schrieb ihre Artikel und ein oder zwei Bücher. Sie war vollkommen unauffällig, war aber auch oft unterwegs. So ging das bis zu dem Mord." Gray schwieg eine Weile, dann sagte er, er habe am Morgen einiges zu tun, aber Dorkas könne ruhig noch unten sitzen bleiben. Dorkas hatte kein Interesse. Bevor er sich in sein Bett legte, steckte er den Kopf noch einmal aus dem Fenster. Es
regnete heftig, und der Wind drückte sich in plötzlichen Böen zwischen Haus und Baum hindurch. In dem Lichtschein seines Fensters schimmerte der nasse Vorplatz und die Pfützen warfen das Licht zurück. Dorkas stutzte. Er schaute noch einmal genauer hin und bemerkte eine Spiegelung, die sich als gerade Linie parallel zur Hauswand hinzog und dann um die Ecke bog, wo sie im Dunkel verschwand. Jemand hatte allem Anschein nach einen kleinen Entwässerungsgraben gezogen. Dorkas schloss das Fenster, machte sich bereit für das Bett und löschte das Licht. Es war gar nicht so schlimm, in einem fremden Bett zu liegen, wie er befürchtet hatte. Es war sogar recht angenehm. Er dachte über Sarah Hammond nach. Er hatte das Gefühl, ihr in der letzten Stunde etwas näher gekommen zu sein und sie jetzt besser zu kennen. Aber welcher Mensch findet schon den Faden der lang genug ist, um die Tiefe des Menschen auszuloten, dachte Dorkas elegisch und schlummerte ein. Sein letzter Gedanke war, dass diese Linie da draußen vielleicht kein Entwässerungsgraben war. Sondern ein magischer Kreis. *** Dorkas fuhr aus dem Schlaf hoch. Etwas musste ihn geweckt haben. Und es hatte ihn nicht auf sanfte Weise geweckt. Denn als er den ersten Gedanken fassen konnte, saß er aufrecht im Bett. Die Dunkelheit war vollkommen. Sie war so dicht, dass sie nicht außen zu sein schien, sondern schon hinter seinen Augen begann. Alles war still. Sein Herz pochte und ließ seinen Körper schwanken. Das Blut sauste und summte in den Ohren. Dorkas saß wie gebannt. Langsam ließ die Spannung, aufgebaut durch einen unbewussten Schrecken, nach. Er wollte sich schon wieder in die Kissen sinken lassen, da hörte er es wieder. Ein hartes Klopfen an der Haustür. Jemand hieb mit schwerer Faust gegen das Holz. So schwer, dass selbst die Wände zu zittern schienen.
Ein Säufer im lebensbedrohlichen Stadium sinkenden Blutalkoholspiegels, hoffte Dorkas. Dann schaute er auf die Uhr. Es war halb drei. Es musste etwas anderes sein. Aber jedenfalls nichts, das ihn anging. Das Klopfen verstärkte sich und ging in einen Rhythmus über, der an eine große Trommel erinnerte. Die Schläge ließen die Schwärze vibrieren. Langsam gewann Dorkas den Eindruck, dass nicht jemand vor der Tür stand, sondern etwas. Etwas, das Einlass begehrte und kein Mensch war. Unfug, er schüttelte den Gedanken ab, schimpfte sich selbst einen abergläubischen Idioten und stand dann doch auf. Es war besser aufzustehen. Er tastete sich zur Tür, stolperte über seine Schuhe und bekam die Klinke zu fassen. Der Flur war durch das Licht, das aus der Schankstube drang, erhellt. Zögernd schlurfte Dorkas auf den Treppenabgang zu. Er wollte nicht vorwärts, aber etwas zwang ihn dazu. Das Pochen an der Tür war schnell, laut und hart wie von einer Eingeborenentrommel, die zu Jagd oder Krieg ruft. Der Klang verband sich mit dem Pochen des Herzens, sickerte in die Nervenbahnen und trieb Dorkas weiter. Alles in ihm wehrte sich, er fürchtete sich wie ein Mann, der hinter einer Ecke den Krach eines Unfalls gehört hatte, um diese Ecke zu gehen und seinen Augen den Anblick der Katastrophe zuzumuten. Stufe um Stufe trieb es Dorkas die Treppe herunter. Die Schankstube war erleuchtet. Gray stand in der Stube wie ein unbewegtes Standbild, drei Meter von der Tür entfern, und fixierte mit stierem Blick das Schloss. Unter der Wucht der Schläge bebte die Türfassung. Lange konnte sie nicht mehr standhalten. Mit mechanischen Schritten schlurfte Dorkas von der Treppe heran und stellte sich neben Gray. "Nicht aufmachen", flüsterte Gray tonlos. "Um Gottes Willen, nur nicht aufmachen. Da - sehen Sie nur!"
Deutlich erkannte Dorkas eine grünliche Schleimbrühe, die unter der Tür durchsickerte. Kein Schleim, Regenwasser, sagte er sich. Und es war auch kein Schleim, es war etwas, das sich nach freiem Willen bewegen konnte, das sich die Fugen zwischen den Fußbodenfliesen entlang tastete und immer tiefer in den Raum drang. Dorkas versuchte mit aller Kraft, die Ruhe zu bewahren. er musste die Situation unter Kontrolle halten, er durfte seinem Geist nicht die Zügel schießen lassen, ihm keine Panik erlauben. Aber es war zu spät. Der Rhythmus der Schläge hatte beide Männer in der Gewalt. Sie begannen zu schwanken wie Marionetten und starrten gegen die Tür. Und zugleich starrten sie nach innen, in ihre Köpfe, in ihr Bewusstsein, und dort sahen sie, was vor der Tür war. Sie sahen das grünlich-eitrige Schimmern blasig verfaulten Fleisches unter der Lampe, sahen die bläulich aufgedunsenen Glieder der Ertrunkenen, die schwarz um den Schädel geschrumpfte ledrige Haut eines Verbrannten. Sie hörten das schartige Röcheln, das aus der Kehle eines monströsen Wesens drang und wie ein Kältehauch zwischen den gefletschten Zähnen hervorpulste. Und sie sahen noch mehr. Die Angst ließ die Männer gefrieren. In hypnotischem Zwang bewegte sich Dorkas zur Tür. "Nein", presste Gray mit letzter Kraft hervor. "Sie verdammter Idiot., nicht öffnen ..." Aber Dorkas legte die Hand auf die Kline und drehte den Schlüssel um. Gray riss sich aus seiner Starre und stürzte mit einem Satz vorwärts. Er legte einen Arm von hinten um Dorkas Hals und würgte und zerrte nach Kräften. Aber Dorkas hatte den Schlüssel fest in der Hand. Röchelnd drehte er weiter, bis das Schloss aufschnappte. Gray ließ los und warf sich heulend hinter einen Tisch.
Dorkas öffnete die Tür. 14. Die Tür schwang quietschend auf. Das Licht aus dem Schankraum fiel auf einen leeren, nassen Vorplatz. Dorkas schaute auf die Pfütze zu seinen Füssen. Draußen war niemand. Dorkas reckte seinen Körper. "Kommen Sie", rief er Gray zu. Gray schob Stühle zur Seite und kletterte unter dem Tisch hervor. Er rieb sich die schmerzenden Knie und stellte sich neben Dorkas. Für einen Moment betrachteten sie die Ringe, mit denen die Regentropfen in die Wasserlachen einschlugen und lauschten auf das Prasseln des Regens. In einem Nachbarhaus begann ein Hund zu heulen. "Warum haben Sie die Tür aufgemacht", fragte Gray. "Sieh dem Tiger in das Auge und er springt dich nicht an, sagte schon Omar Shaiyin. Was haben Sie gesehen?" "Gesehen? Fürchterlich zugerichtete Leichen, Zombies, Monster die gesamte Besetzungsliste mieser Horrorschmöker." "Ja, das habe ich auch gesehen. Aber dann sah ich mein Kindermädchen. Die hat mich früher immer unter die eiskalte Dusche gezerrt, mich saure Milch trinken lassen und mich verprügelt, wenn meine Eltern auf Reisen waren. Diese widerliche Sumpfkuh. Aber damit haben sie einen Fehler gemacht. " "Wer sind "sie", und was für einen Fehler meinen Sie?", fragte Gray. Er hatte sich einen Schnaps eingegossen und
kippte das scharfe Zeug mit einer heftigen Bewegung des Halses herunter. Dorkas schüttelte den Kopf, als Gray die Flasche fragend in seine Richtung hielt. "Der Fehler war das Hausmädchen. Sie war ein absolutes Schreckensobjekt für mich, aber ihr Erscheinen machte mir klar, dass hier die Projektionen meiner Ängste vor der Tür standen. Und damit hatten sie verloren. Aber wer diese "sie" sind, weiß ich nicht." An Schlaf war nicht mehr zu denken. Gray und Dorkas hockten nebeneinander in der Schankstube wie die einzigen Überlebenden eines Schiffsunterganges. Die Schnapsflasche war zur Hälfte leer, Dorkas rührte wieder in seinem Pfefferminztee. Plötzlich ließ er den Löffel fallen. "Diese Steinfiguren. Wo läuft die Reihe entlang?" Gray brauchte eine Weile, bis er seine Zunge soweit unter Kontrolle hatte, dass die Worte einigermaßen verständlich waren. "Sie kommen über die Kuppe, die man von der Haustür aus sieht." "Und die Spirale? Ist die Spirale überhaupt fertiggestellt?" "Die Spirale war zuallererst fertig. Sie läuft um das Dorf herum ..." Dorkas sprang auf. "Wir müssen die Spirale zerstören." "Unmöglich. Man bräuchte Hebekräne oder müsste sprengen. Und warum überhaupt?" Dorkas antwortete nicht und lief stattdessen grübelnd durch
den Raum. "Es reicht, wenn wir die Figuren aus der Erde ziehen und umkippen. Drei oder vier an der Stelle, da wo die Spirale beginnt ..." "Ich habe den Traktor von Frank Myers noch hier. Aber warum muss das jetzt, mitten in der Nacht, passieren?" "Erinnern Sie sich noch an das, was hier vor nicht ganz einer halben Stunde los war?", entgegnete Dorkas bissig. "Ich bin sicher, es hat etwas mit diesen Steinsetzungen zu tun. Und darum müssen wir so schnell wie möglich eine Unterbrechung durchführen!" Gray stand auf und suchte torkelnd unter der Theke nach einem Schlüssel. "So als ob man ein Kabel durchknipst?" "So ähnlich, aber fragen Sie mich nicht nach den genauen Gründen. Es ist so ein Gefühl, dass wir genau diese Aktion unternehmen müssen." Während er sich noch anzog, hörte Dorkas eine schwere Kanone feuern. Eine Garbe von vier, fünf Schüssen, dann war wieder völlige Stille. Er lief nach unten, folgte dem kalten Luftzug zu einer offenen Hintertür und sah Gray vor einem Monstrum von Traktor. Der blaue Qualm, der über der Szene stand, machte Dorkas deutlich, dass er hier die Kanone gefunden hatte. Er wedelte hustend Abgasschwaden zur Seite und trat zu Gray. "Will er nicht?" "Er muss. Klettern Sie mal hoch und treten Sie die Kupplung und geben gleichzeitig Vollgas."
"Wer ist die Kupplung und warum sollte ich sie treten?", fragte Dorkas mit der ganzen Unschuld einer freundlichen Männerseele. Gray betrachtet ihn verblüfft. Der Schnaps hatte seine Wirkung getan. Gray musste sich am schmutzigen Kotflügel der Monstermaschine abstützen. In der einen Hand schwenkte er eine brennende Lötlampe. "Sie haben wohl keinen Führerschein", fragte er völlig überflüssigerweise. Dorkas` Entgegnung, dass dort, wo er herkomme, genügend Taxis zur Verfügung stünden, fiel etwas schärfer aus. Trotz seines Protestes bekam Dorkas die Lötlampe in die Hand gedrückt und stand dann mit gespreizten Beinen, durchgedrückten Knien und weit geöffneten Armen vor dem Traktor. Mit der Lötlampe musste er einen Zylinderkopf anwärmen, während die andere Hand hektisch einen Pumpenschwengel hin- und herbewegte. Schließlich schrie Gray "Jetzt!", Dorkas ließ die Lötlampe fallen und begann an einem Schwungrad zu drehen. Aus den Tiefen der Maschine drang ein mechanisches Rumpeln, dann ein Grollen, schließlich brach mit einem Knall eine schwarze Rauchwolke aus dem Auspuff und der Motor begann mit hustenden Stößen zu laufen. Dorkas krabbelte auf den Beifahrersitz, der hoch auf dem Kotflügel des riesigen Hinterrades angeschraubt war. "Dieser Anlassvorgang ist ja eigentlich eher was für eine Pfadfindergruppe." Gray stocherte mit dem Schalthebel im Getriebe. Es krachte fürchterlich. "Das ist auch der Grund, warum die Bauern die Motoren nur morgens anmachen und dann weiterlaufen lassen bis zum Abend. Halten Sie sich fest." Der Traktor ruckte an und bewegte sich hoppelnd auf die Hauptstraße zu. Der infernalische Motorenlärm weckte die Schläfer in der weiten Umgebung, und die Hunde heulten und zerrten an ihren Ketten.
Gray steuerte den Traktor aus dem Ort heraus, ein Stück die Straße entlang, und bog dann auf einen Feldweg. Ein Stück weiter hielt er an. Im Licht der starken Scheinwerfer waren zwei der Figuren zu sehen. Dorkas stockte der Atem. Es waren blockartige graue Steingestalten, die im Schein der vibrierenden Traktorenlampen erregt zu zittern schienen. Die Gliedmaßen waren nur grob angedeutet - stämmige kurze Beine und Arme, die vor der Brust gekreuzt waren. Die vordere Figur hatte ein menschliches Antlitz, mit grimmig geschürzten Brauen und einem Mund, der einen Fluch oder ein endgültiges Urteil auszustoßen schien. Die hintere Figur hatte eine stark ausgeprägte Nase und ließ den Betrachter bewusst im Unklaren darüber, ob das Gesicht noch zu einem Menschen oder schon zu einem Tierwesen gehörte. Die langen Schatten der Figuren lagen schwer auf dem Gras und schienen vor geballter, kaum gebändigter Energie zu beben. Dorkas schaute sich um. Er konnte außer der Weidefläche und einigen Buschgruppen nichts entdecken. Der Regen zog glasige Streifen quer durch die Lichtkegel. "Da vorne beginnt die Spirale", Grays Hand deutete die Richtung an. "Sehen Sie, die nächste Figur ist schon zur Seite versetzt." "Gut. Dann legen wir diese beiden Figuren um, und dann die nächsten beiden in der anderen Richtung." Dorkas trieb zur Eile. Gray fummelte in halbtrunkener Tranigkeit mit einer schweren Eisenkette, während Dorkas unruhig in die Dunkelheit spähte. Endlich konnte er das Ende der Eisenkette nehmen und um die erste Figur herumführen. Er zuckte zurück, als seine Hand zufällig den Stein berührte. Die Oberfläche war warm. Viel wärmer als es bei der Kühle der Nacht, nach einem kalten und verregneten Tag, zu erwarten gewesen wäre. Und bei der sekundenkurzen
Berührung hatte er unter den Fingerspitzen nicht die Empfindung von rauem Stein gehabt. Es fühlte sich an wie die Haut eines Reptils. "Sarah, du Drecksstück", fauchte Dorkas zwischen den Zähnen hervor und beeilte sich, die Kette an den Zughaken zu hängen. Dann erklomm er seinen Sitz, was mit den glitschigen, schlammbedeckten Schuhen gar nicht leicht fiel. Gray schaltete im Untersetzunggetriebe, und der Traktor kroch langsam aber beständig vorwärts. Die riesigen Hinterreifen mahlten sich in die nasse Erde, griffen wieder und schoben die Maschine vorwärts. Zugleich bewegte sich die Steinfigur. Dorkas registrierte mit Befriedigung, wie sich das Gesicht der Figur, in einer Geste der Demut scheinbar, zentimeterweise nach vorne neigte. Ein Aufschrei Grays ließ ihn herumfahren. Im Lichtkegel der Scheinwerfer erschienen drei Hunde. Es waren große schwere Bullenbeißer. "Was zum Teufel machen die Köter hier", brüllte Gray und brachte den Traktor zum Stehen. Dann schrie er die Namen der Hunde, und immer wieder "Pfui", "Sitz" und "Platz" . Die Frage, was die Hunde hier wollten, erübrigte sich in der nächsten Sekunde. Das erste Tier setzte zum Sprung an und schleuderte seinen schweren Körper hoch zum Fahrersitz. Es schnappte knurrend zu, erwischte Grays klatschnassen Jackenärmel und stürzte im gleich Moment wieder rückwärts neben die stampfende Maschine. Gray schrie auf, der Stoff des Ärmels riss mit einem Knirschen. Aus einer klaffenden Fleischwunde strömte Blut, und Gray verteilte einen Regen roter Tropfen, als er in Panik den Arm zurückwarf. Der Hund krümmte sich zusammen und katapultierte sich wie eine losschnellende Stahlfeder erneut nach oben. Dieses Mal hatte Gray etwas in der unverletzten Hand. Es war die Schnapsflasche. Er schlug zu, als der Hund das Maul nach seiner Kehle aufriss. Er hämmerte mit der fast leeren Flasche
auf die Hundenase ein und brüllte dabei vor Panik, Schmerz und Wut, während die Vorderkrallen des Tieres seine Jacke und seine Haut zu Streifen rissen. Die beiden anderen Tiere umschlichen knurrend den Traktor. Dorkas war im Moment der ersten Attacke auf seinen Sitz auf dem zitternden Kotflügen geklettert und sprang von einem Fuß auf den anderen wie ein hysterisches Schulmädchen beim Anblick einer Maus. Dann rammte etwas seine Waden und warf ihn zwischen Kotflügel und Fahrersitz. Für einen Moment war Dorkas dort eingeklemmt und bekam einige Tritte des wie wild strampelnden Gray gegen die Schulter. Wie ein Ertrinkender mit den Armen schlagend rappelte er sich halb auf und wurde im nächsten Moment von einem von hinten anspringenden gegen das Instrumentenbrett geschmettert. Er schrappte mit dem Gesicht über einen Hebel, und die Drehzahl des Motors steigerte sich zu einem Brüllen. Dorkas schnappte nach Luft. Über ihm war das nasse, stinkende Hundefell, er spuckte Haare aus und schaffte es, das Tier etwas wegzudrücken. Er bekam einen Haltegriff zu fassen und zog sich hoch, während der Hund hechelnd zu einer Drehung ansetzte, um an Dorkas Kehle zu kommen, aber auch für das Tier war es zu eng. Es sprang vom Traktor, um einen neuen Anlauf zu machen. Glas splitterte. Gray hatte die Flasche an der Motorhaube entzwei geschlagen und drückte jetzt den scharfkantigen Rest seinem tierischen Gegner in ein Auge. Der Hund heulte kurz auf, erwischte aber Grays Hals und zog mit einem Reißzahn eine blutende Spur quer über dessen Adamsapfel. Gray kreischte schrill, warf sich instinktiv herum und stach dem Hund mit einer verzweifelten Bewegung das verbliebene Auge aus. Der starke Kiefer schnappte zu, erwischte Grays Jacke noch einmal riss ihn fast aus dem Fahrersitz. Strampelnd
arbeitete
sich
Dorkas
zurück
auf
den
Beifahrersitz. Er hörte neben dem Knurren der Hunde ein ersticktes Keuchen im Ohr und erkannte in einem Moment der Klarheit, dass er es selbst war, der so keuchte. Die Hunde waren wild vor Blutdurst und behinderten sich gegenseitig, sodass Dorkas tatsächlich auf den nassen, plastikbezogenen Sitz rutschen konnte, so als wäre dort das "Frei-O" der Kinderspiele. Ein Hund plumpste von der Maschine und klatschte in den aufgewühlten Matsch. Der andere erwischte Dorkas&' Schuh und zerrte mit ungestümer Kraft daran. Dorkas klammerte sich an das Geländer, das um den Sitz lief und krallte sich mit der anderen Hand an eine Blechkiste. Der Deckel der Kiste öffnete sich dabei mit einem Ruck, der Dorkas fast von der Maschine geworfen hätte. Dabei rutschte der Hund ab, und seine Zähne rissen die Sohle von Dorkas&' Schuh. Sein Bein war frei, er drehte sich und griff in die Kiste nach dem ersten, was ihm in die Hände kam. Bevor er bewusst zugreifen konnte, wurde ihm fast die Wirbelsäule gebrochen, als ihm ein Hund in den Rücken sprang, wobei Dorkas gegen den kämpfenden Gray gestoßen wurde. Die Bestie fand aber Halt auf dem Sitz hinter Dorkas. Dorkas fühlte ein schweres Werkzeug in den Händen, und während das Untier nochmal kurz den Halt auf dem nassen Blech des Kotflügels verlor, führte Dorkas dieses Werkzeug hinter dem Rücken zwischen die Hinterbeine des Hundes und drückten die beiden Griffe zusammen. Der Hund jaulte auf und schoss in die Höhe. Dorkas stieß sich von Gray ab. Er hob die schwere Zange über den Kopf. Gray wurde wieder angegriffen und wehrte sich nur noch sehr lahm. Die Kräfte verließen ihn. Dorkas sah das Tier und schlug gezielt zu. Der Hundeschädel zerbarst unter der Wucht des Schlages, die Zange verschwand zur Hälfte in der Wunde. Dorkas riss sie heraus. Der Hund konnte nicht mehr leben. Er musste tot sein, so wollten es alle Regeln der Natur. Aber der Hund lebte noch
- jedenfalls war er nicht tot und er starrte Dorkas hasserfüllt aus blutunterlaufenen Augen an, während er sich und Grays Kleidung krallte. Dorkas war für eine Sekunde wie gelähmt. Die Ausdünstungen einer blinden Wut, eines Vernichtungswillens, der nicht zu dieser Welt, nicht zu dieser Schöpfung gehörte, trafen ihn wie das Rauschen eines Störsenders. Ein Wunsch wuchs in seinem Inneren. Der Wunsch, alles geschehen zu lassen, den Mühen des Lebens zu entsagen, sich in die Unabänderlichkeit der Vernichtung zu ergeben. Einfach alles mit sich geschehen lassen. Es würde nur ein kurzer Moment sein, zu kurz, um überhaupt dem Schmerz ein Gewicht zu geben; ein vorüberflirrendes Krachen von Knochen, Reißen von Haut und Adern - und dann könnte er die süße Milch des Nichts trinken, die bergende mütterliche Schwärze der Vernichtung aufsaugen. Schweißtropfen rannen brennend in sein linkes Auge. Wie mühsam war das doch alles, wie unendlich lästig und mühsam. Und er brauchte nur eine Sekunde still zu halten und alles wäre vorbei. "Nein", schrie Dorkas und riss erneut seine Waffe hoch. Blut und der quallige Schleim des getroffenen Hirns tropften von dem Eisen. Dorkas begann, wütende Schreie auszustoßen wie ein Krieger in einer Schlacht, der sich in jedem Moment seines Zorns, seiner Kraft und seiner Lebendigkeit vergewissern muss, und er prügelte auf den Hund ein. Er trieb das Tier zurück, aber es setzte immer wieder zum Sprung an, krallte sich an den erschöpften Gray und rutschte dann endlich langsam von ihm herab. Dorkas kletterte ächzend nach unten, umrundete den Traktor und erschlug den Hund, der sich in die Kurbel des Schwungrades verbissen hatte. Die Maschine raste mit einem unglaublichen Lärm. Auch Gray war vom Traktor hinabgeklettert und wankte jetzt zu Dorkas. Er hielt immer noch die blutigen Reste der
Schnapsflasche in der Hand. Schwankend ließ er seinen ungläubigen Blick auf der Szene ruhen. Er hatte dem Hund, den Dorkas kastriert hatte, die Kehle aufgeschlitzt. Aber einer der Hunde lebte noch. Mit blinden Augenhöhlen, aus denen Blut rieselte, umkreiste er den Platz, verschwand hinter dem Traktor und erschien knurrend, mit offenem Maul, aus dem Geifer in weißen Fäden troff, auf der anderen Seite. Die beiden Männer drängten sich aneinander. Ihr Atem ging keuchend und stand als weiße Wolke über ihren Köpfen. Ihre Kleider waren zerrissen und klebten völlig durchnässt an der Haut. Dorkas drückte Gray die rotverschmierten Zange in die Hand. Gray schrie in das Getöse des heulenden Motors: "Jack, komm her, Jack." Und der Hund kam. Er sprang dorthin, von wo er die Stimme gehört hatte. Gray trat ihm in die Rippen und ließ die Zange auf den Rücken des Hundes sausen. Das Rückgrat zerbrach. Aber der Hund kroch weiter, schob sich mit den Vorderpfoten näher an Gray heran. Der schaute hilflos zu Dorkas. "Das ist kein Hund, nun machen Sie schon, schlagen Sie zu", schrie Dorkas. Seine Stimme kam krächzend und rau aus der Kehle. Und so schlug Gray zu, erschlug seinen geliebten Hund, den er als Welpen mit der Flasche gefüttert hatte, bis er schluchzend, von Weinkrämpfen geschüttelt, vor einem unförmigen Haufen von schmutzigem Fell, zerrissenem Fleisch und zerborstenen Knochen stand. Dann ging er müde zum Traktor und stellte das Gas zurück. Die Maschine beruhigte sich und erstarb dann ganz. Das Scheinwerferlicht wurde gelblich. Nur noch der Regen rauschte. "Mein Gott, was war das? Ich muss zu einem Arzt. Ich blute aus allen Knopflöchern!" Gray zitterte vor Kälte, Kraftlosigkeit und Blutverlust. "Ich weiß, was das war" sagte Dorkas. "Und Sie wissen ebenfalls, was das war. Und genau darum führen wir jetzt
unsere Arbeit zu Ende. Aber vorher verbrennen wir die Kadaver. Der Arzt muss warten." Gray setzte sich wieder in Bewegung. *** Tony Tanner betrachtete missmutig die Wüste bei Abu Simbel. Er sah auf eine endlose, leicht gewellte und von kleineren Tafelbergen überragte Ödnis. Der Sand war von einem stumpfen Braungelb, aber das Gesamtbild der Landschaft wurden von ausgedehnten Geröllfeldern bestimmt. Die Steine waren meist dunkel, oft sogar schwarz, und dann wirkte es, als wären die Ölteppiche eines fernen Tankerunglücks in diese gottverlassene Gegend gespült worden. Hat sich was mit sattgelben blauen Himmel, dachte er. malerische Karawanen, nichts von freiheitsliebenden Helden dunkel glühenden Augen.
Dünen unter einem krachend Hier ist keine Kulisse für mit romantischen Abenteuern mit Omar-Sharif-Gesicht und
Das hier wirkte wie ein verlassener Müllplatz, der schäbige Hinterhof eines Kontinents. Der Arsch der Welt, Anus Mundi. Und dies war exakt die Position, auf der sich Tony Tanner in diesem Moment befand. Nach dem Anschlag hatte es von Soldaten förmlich gewimmelt. Die Truppen waren ausgeschwärmt, in dem Versuch, die Attentäter zu finden, hatten das Wrack des Busses gelöscht und die Leichen weggetragen. In einem seltenen Anfall von Geistesgegenwart hatte sich Tony sofort wieder in Richtung auf das Flughafengebäude zurückgezogen und wirkte jetzt wie ein verschreckter Tourist in wenig passender Kleidung und nicht wie ein Augenzeuge. Oder war er mehr als ein Augenzeuge? War er vielleicht gar das Ziel
des Anschlags gewesen? Er durfte diesen Gedanken nicht näher an sich heranlassen. Trotzdem, dieses "was wäre gewesen, wenn" hämmerte im Hintergrund seinen Rhythmus. Der Taxifahrer, der ihm unwissentlich - oder war es nicht unwissentlich? - das Leben gerettet hatte, fuhr wieder vor. Aber dieses Mal kümmerte er sich nicht um Tony, sondern saß in seinem Peugeot-Kombi und schien selbst wie erstarrt. Tony überlegte kurz, schaute auf die beiden Militärlastwagen, die vorüberdröhnten, und fasste einen Entschluss. Er schritt zu dem Taxi und stellte dem Fahrer eine Frage. "Ich dich fahre, wo du wolle", war die Antwort. "Ich dich fahre auch Bir Tarfawi." Nagib brauchte eine halbe Stunde, um die Vorbereitungen für eine Fahrt von etwa 250 Kilometern durch Wüstengebiet zu treffen. Er fuhr mit Tony in das Dorf, hielt vor einer Hütte, die sich anhand einiger Reifenstapel als Technologiezentrum der Ansiedlung identifizieren ließ, und begann, Treibstoffkanister, Taschen, Seesäcke, Bündel und Wasserbehälter zu laden. Jedes Mal, wenn Nagib eine Last hochwuchtete und dann stöhnend auf die Gepäckfläche fallen ließ, schaukelte der Wagen, und die Federung quietschte und knarrte. Zuletzt kamen zwei Sandbleche auf das Wagendach, und Nagib meldete sich zur Abfahrt bereit. Tonys schüchterne Anfrage nach Navigationsmitteln wurde zunächst mit Unverständnis quittiert. Dann hellte sich Nagibs Miene auf. "Du Neugier, wie Nagib finde Weg?" Er wühlte im Handschuhfach und förderte einen Kompass zutage, den er, so vermutete Tony, an einer Schießbude gewonnen haben musste. Vermutlich war es müßig, an dieser Stelle des Globus auf ein Fahrzeug mit Satellitennavigationsanlage zu hoffen.
Aber dann klopfte sich Nagib auf den umfänglichen Bauch und erklärte: "Nagib kenne Wüste. Weg finde Nagib mit Gefühl." Das war dann allerdings eine Beruhigung für Tony, den in diesem Bauch war sehr viel Platz für sehr viel Gefühl dieser praktisch-navigatorischen Art. Nagib umfuhr den Militärkordon in einem weiten Bogen und schlug dann eine nordwestliche Richtung ein. Der Wagen war völlig überladen und setzte immer wieder laut scheppernd mit dem Bodenblech auf. Die Dieselkanister hinter Tony verbreiteten einen durchdringenden Gestank und schlugen bei jeder Wagenbewegung krachend gegeneinander. Trotz dieser wenig erquicklichen Umstände war Tony bald klar, dass er mit dem fetten Nagib einen Glücksgriff getan hatte. Der Ägypter saß lässig hinter dem Lenkrad, dessen unterer Teil an seinem Bauch entlangschubberte, und lenkte den Wagen mit instinktiver Sicherheit auf der günstigsten Linie, vorbei an Schlaglöchern, Sandbänken oder zackigen Felsblöcken. Es gab Stellen, an denen der Wind den Untergrund zu einer Folge waschbrettartiger Rillen geformt hatte. Der erste Versuch, eine solche Stelle mit höherer Geschwindigkeit zu durchqueren, endete damit, dass beide Insassen Kopfberührung mit dem Wagendach hatten, weil das Auto unkontrolliert hüpfte und sprang. Danach vermied Nagib diese Hindernisse oder fuhr so langsam, dass Tony an jene Form von "verkehrsberuhigenden" Barrikaden dachte, die eine besonders boshafte Art europäischer Terroristen, Stadtplaner genannt, zu ihren Anschlägen verwendet. Nagib fluchte ständig temperamentvoll vor sich hin, als würde er sich zur Hauptverkehrzeit durch eine Großstadt kämpfen. Er nahm die Wüste persönlich. Jedes Sandloch wurde auf die übelste Weise beleidigt, einfach weil es existierte, jede felsige Erhebung musste sich Tiraden der Verachtung anhören, aus Rache über ihre Frechheit, in Nagibs Weg zu liegen. Immer
wieder griff Nagib hoffnungsvoll nach dem Schalthebel, um kurze Zeit später wieder in einen kleineren Gang wechseln zu müssen. Sie fuhren so langsam, dass die Tachometernadel sich nicht aus der Ruheposition bewegte. Aber vielleicht war der Tacho ja auch schlicht kaputt, denn auch der Kilometerzähler verweigerte die Arbeit. Schließlich versackten sie doch in einem der unzähligen Sandlöcher, und Nagib drückte wütend und anhaltend auf die Hupe, während der Vorderwagen langsam einsank. Sie banden die Sandbleche los und legten sie vor die Räder. Der Versuch, auf diese Weise aus dem Sandloch zu kommen, misslang, und der Wagen wühlte sich unter wütendem Motorenheulen und ständigem Hupen noch tiefer in den Sand. Nagib schleifte die Sandbleche an eine andere Stelle und schickte Tony, das Werkzeug zu holen. Der suchte in dem schmierigen Seesack, der ganz hinten auf der Ladefläche lag, und fand eine Klappschaufel. Aber er fand auch noch etwas anderes. Tony hielt den Gegenstand im ersten Moment für einen Wagenheber oder ein Ersatzteil für die Auspuffanlage. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass Nagib ihm nicht zusah, sondern unleidlich brabbelnd an den Sandblechen ruckelte. Mit einem schnellen Griff zog Tony an dem Rohr, das sich zu ihm hin etwas erweiterte. Er entdeckte ein klappbares Visier, einen Handgriff mit Abzug - und am anderen Ende einen dicken, birnenförmigen Sprengkopf. Man brauchte keine besonderen Kenntnisse auf militärischem Gebiet, um dieses Gerät als Panzerfaust zu identifizieren. Tony schob die Waffe zurück und schaute auf den schweißnassen Rücken seines Fahrers. Hatte Nagib nicht sofort, als der Bus explodierte, gesagt, hier wäre eine Panzerfaust eingeschlagen? Ein Kenner der Materie also! Hatte sich Tony, ohne es zu wissen, neben einen
fundamentalistischen Terroristen gesetzt? Welche Gründe Nagib auch immer für die Auswahl seines Werkzeugs haben mochte, die beste Taktik war in diesem Falle wohl, sich unwissend zu stellen. Tony klappte die Schaufel auseinander, schraubte sie fest und begann, den puderfeinen Sand fortzuschaffen. Es kostete viel Zeit und noch mehr Schweiß, den Wagen wieder flott zu bekommen. Inzwischen waren die Schatten schon merklich länger geworden. Nagib wurde durch das schräg einfallende Licht irritiert. Er umfuhr ein Hindernis, das sich hinterher als Schatten herausstellte, und setzte dafür den Wagen krachend gegen einen Steinblock, den er als bloße Sinnestäuschung angesehen hatte. Schließlich stellte er fluchend den Motor ab. "Mache Pause bis morge, dann weiter", verkündete er und begann, ein Lager aufzuschlagen. Tony kletterte inzwischen zu einer kleinen Anhöhe hinauf. Der glühenden Farben des Sonnenunterganges waren stumpf geworden. Aus den Mulden stieg schnell die Dunkelheit. Wie hieß diese Wüstengegend doch noch auf den alten Karten der Kolonialzeit? "Das leere Viertel" wurde sie genannt. Landschaften, die nichts zu bieten hatten als die Wahrscheinlichkeit eines Todes in Wahnsinn und Umnachtung. Was hatte einen Pharao dazu getrieben, in diese Gegend zu ziehen, in dieses Nichts aus Geröll und Sand? War er einer Vision gefolgt, oder gab es vielleicht einst tatsächlich eines dieser legendären Wüstenkönigreiche, wie sie die Träume der alten Fremdenlegionäre vergoldeten? Tony seufzte. Mit ziemlicher Sicherheit war der Pharao weitaus weniger blöde als er selbst. Er stockte. Nein, das war keine Täuschung. Deutlich erkannte er einen Lichtkegel, der in einiger Entfernung vorbeizog. Tony stürmte herunter und berichtete Nagib von seiner Beobachtung. Nagib pumpte gerade Druck auf einen Benzinkocher und nickte bedächtig zu
Tonys Bericht. Er war wenig beeindruckt. "Ist Piste nach El Shab. Fahre morge El Shab, dann fahre Bir Kurayim, dann fahre Bir Safsaf, dann fahre Bir Tarfawi. Vielleicht morge Bir Tarfawi, so Allah will, und Allah ist groß, vielleicht morge nach morge, vielleicht erst später. Inschallah." Tony verbrachte die Nacht auf einem Feldbett und stellte wieder einmal fest, dass der alte Spruch: ';Die Wüste ist ein sehr kalter Ort, an dem es tagsüber sehr heiß wird' seine Berechtigung hatte. Er bibberte unter seiner Decke und war dankbar über sein gut gefüttertes Jackett, das ihn vor dem Erfrieren rettete. Nagib schnarchte unverdrossen. Subkutanes Fett isoliert bekanntlich sehr gut. Am nächsten Morgen frühstückten sie ausgiebig, brachen das Lager ab und überquerten die Anhöhe. Nach einer knappen Stunde hatten sie die Piste erreicht und folgten den Reifenspuren in Richtung Südwest bis El Shab. Nagib entwickelte die Qualitäten eines finnischen Rallyeprofis, während sich Tony an den Taxifahrer in Bombay erinnert fühlte und mit Händen, deren Knöchel weiß waren, einen improvisierten Haltegriff umklammerte. Der Wagen schwankte immer wieder und drohte auszubrechen und sich querzustellen, wenn die Reifen aus den tief eingefahrenen Spuren in lockeren Sand rutschten. Dann ließ Nagib das Lenkrad wirbeln und stieß Laute aus, als müsste er ein nervöses Pferd beruhigen. Auf jeden Fall kamen sie nun schneller vorwärts. In El Shab vereinigte sich die Wüstenpiste mit einer anderen, die aus Richtung El Kharga kam, und führte weiter in Richtung Sudan. Nagib hielt sich nicht lange auf. Er wirkte unruhig und misstrauisch, während Tony den Anblick grüner Palmenwipfel ebenso genoss wie die Gelegenheit, seine gemarterten Bandscheiben etwas zu dehnen.
"Müsse weiter, nicht mache Gymnastik", befand Nagib, nachdem er den Tank gefüllt und den Motor gewartet hatte. Erst einige Kilometer hinter El Shab wurde Nagib wieder entspannter. Tony merkte es daran, dass nun wieder die so wenig autofreundliche Landschaft beschimpft wurde. Er hatte einen Verdacht, warum Nagib so schnell aus der Ansiedlung verschwinden wollte. Ansiedlungen bedeuteten Menschen, Funkgeräte, Polizeiposten, Steckbriefe, Suchlisten - zumindest war das eine Theorie. Am Ende dieses Tages schlugen sie einige Kilometer hinter Bir Safsaf das Lager auf. Nagib war nicht bereit gewesen, die Nacht in der Oase zu verbringen, obwohl Tony seine gesamte Überredungskunst aufgeboten hatte. Aber Tony hatte überhaupt nicht mit einem Erfolg seiner Argumente gerechnet. Es war eher ein Test gewesen. Er verbrachte die zweite kalte Nacht in der Wüste, lauschte auf das Schnarchen Nagibs und betrachtete den Sternenhimmel. Wenn man eine Verbindung zwischen gutem Gewissen und Schlaffähigkeit ziehen wollte, dann war an Nagibs Moral mit Sicherheit nichts auszusetzen. Vielleicht hatte er ja auch nur Angst gehabt, wegen schnarchender Ruhestörung der Oase verwiesen zu werden. Es waren am folgenden Tag nur noch wenige Stunden Fahrt bis zu ihrem Ziel, als es geschah. Der Untergrund war über eine lange Strecke steinhart und fast ohne Geröll, eine vom ständigen Wind blankgefegte Ebene. Nagib nutzte die Chance und fuhr so schnell wie bisher noch nie auf ihrer Reise. Der Motor dröhnte rau vor sich hin, eine gewaltige Staubfahne markierte ihren Weg. Plötzlich bemerkte Tony Tanner ein seltsames klimatisches Phänomen - eine Reihe kleiner Staubwirbel sprang auf der Seite auf und näherte sich rasend schnell dem Wagen. Er stieß Nagib an und fragte nach der Ursache, aber Nagib
bekam lediglich große Augen, brüllte mehrfach 'Allah u akbar' und riss den Wagen in eine enge Kurve. Das Gepäck rutschte krachend auf eine Seite, der Wagen neigte sich, fuhr auf zwei Rädern, Tony rutschte von seinem Sitz, packte vergeblich nach einem Halt und musste sich in Nagibs Wanst abstützen. Irgendwie schaffte es Nagib, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Er beteuerte die Größe Gottes unvermindert mit höchster Lautstärke, krallte sich an das Lenkrad und zog den Kopf ein, als würde er dadurch die Windschnittigkeit des Gefährts erhöhen. Mit Vollgas raste er auf eine Anhöhe zu, die mit großen Steinbrocken übersät war. "Jetzt ist mein Fahrer verrückt geworden", dachte Tony und rappelte sich mühsam wieder hoch. Dann sah er etwas, das seine Meinung über Nagibs Geisteszustand schlagartig zum Positiven wendete. Hinter einer Geländefalte stieg ein Hubschrauber auf. Es war ein MIL 24 sowjetischer Bauart mit schwenkbarer Bugkanone und Raketenstationen unter den Stummelflügeln. Deutlich konnte Tony den Piloten und den Waffenoffizier in ihren Kuppeln am Bug der Maschine erkennen. Und er sah deutlich, wie das MK-Rohr auf sie zuschwenkte. Die nächste Salve sprang auf sie zu und stichelte wieder eine saubere Reihe von Sandfontänen aus dem Boden. Nagib konnte ausweichen und erreichte die Anhöhe. Der Wagen bremste in einer Staubwolke, Nagib und Tony sprangen aus dem Wagen und sprinteten in Deckung hinter die nächsten Steinblöcke. Tony war trotz seines besseren körperlichen Zustandes etwas langsamer, denn er hatte als Tribut an seine Erziehung die Wagentüre ganz automatisch wieder geschlossen, nachdem er herausgesprungen war, und dann war ihm klar geworden, dass das Schließen einer Wagentüre in dieser Situation so ziemlich das Blödeste war, was ein Menschen machen konnte, und er hatte die Tür wieder aufgerissen.
Er blickte sich vorsichtig um. Der Hubschrauber flog niedrig und war jetzt fast auf einer Höhe mit ihrem Versteck. Der Waffenoffizier feuerte eine Salve. Die Schüsse kamen so schnell, dass man sie nicht mehr unterscheiden konnte. Es klang wie das Schnarren einer Kinderratsche. Die Einschüsse lagen weit oberhalb Tonys Deckung und schlugen nur Steinsplitter los, die auf ihn herunterprasselten. Dann erklang durch das Hämmern des Rotors ein Fauchen, und einen Herzschlag später nahm ihm eine Explosion den Atem. Die Rakete war ganz in seiner Nähe eingeschlagen, nur ein schwerer Felsblock, der zwischen ihm und dem Einschlag lag, hatte ihn davor bewahrt, in tausend Fetzen gerissen zu werden. Trotzdem warf ihn der Druck der Detonation nach vorne, sein Gesicht grub sich in den Wüstenstaub. Sand geriet in seinen Mund, in die Nase, in die Ohren. Wieder das Fauchen, gefolgt von einem Heulen, als die Rakete vorbeizog, das sofort in das ohrenbetäubende Krachen des Einschlags überging. Eine Staubwolke stieg pilzförmig auf, breitete sich aus und hüllte die Anhöhe ein. Sand rieselte herunter. Durch den Motorenlärm vernahm Tony Nagibs Hilferufe. Er raffte sich auf, schaute nach der MIL, die soeben eine Bogen flog, und hetzte gebückt in Richtung von Nagibs Stimme. Der Ägypter lag halb unter einem Felsblock. Ein Splitter hatte seinen rechten Oberarm aufgeschlitzt. Der Sand war nass von Blut. Tony riss sein Hemd auseinander und band die Wunde ab. Mehr konnte er nicht tun. Er hob vorsichtig den Kopf über die Kante des Felsblocks. Direkt unter ihm stand der Wagen, noch mit laufendem Motor. Der Hubschrauber schwebte niedrig über der Ebene, sein Rotor wirbelte den Sand auf beiden Seiten zu zwei riesigen Kreisen aus Staub hoch. Dann kippte die Maschine scharf nach vorne, nahm Tempo auf und dröhnte direkt über ihnen über die Anhöhe hinweg. Nagib begann leise zu wimmern.
15. Tony warf sich zu Boden und drückte sich in die die Spalte unterhalb des Felsens. Nagib hielt sich den Arm und fluchte in allerhöchster Lautstärke. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Als der aufgewirbelte Staub herabgerieselt war, herrschte eine überraschende Stille. "Sie sind weg", sagte Tony. "Nicht weg, solang' wir noch lebe", antwortete Nagib. Er behielt Recht. Wieder wummerte der Rotor, als der Hubschrauber überraschend hinter einer Kuppe hervorstieß. Die Luft vibrierte. Der Helikopter glitt lauernd über das Trümmerfeld, in dem sich Tony und Nagib versteckt hielten und setzte dann zu einer eleganten Kurve an. Es wirkte auf Tony wie die arrogante Vorstellung einer Bande von Motorradrockern. Diese Piloten wollten ihren Spaß haben. Sie wollten ihre Opfer, die sich wie lichtscheue Insekten in den Schatten der Felsblöcke drückten, erledigen, und sie wollten sich dabei selbst ihre Geschicklichkeit beweisen. In Tony Tanner stieg eine besondere Art von Wut auf. Eine Wut, derer er sich nicht schämte. Eine Wut, die sein Gehirn blitzschnell Vorschläge entwickeln ließ. Bevor er weiter rebellische Gedanken pflegen konnte, hörte er aus der Luft ein leises Fauchen und sah die weißen Streifen, die sich von den Raketenbehältern des Helikopters lösten und blitzschnell auf ihn zuwuchsen. Er zog den Kopf ein, harrte den Bruchteil einer Sekunde ebenso hilflos wie ergeben der Entscheidung, und wurde dann fast taub von der Explosion. Die Einschläge trafen nur zehn Meter unterhalb ihres Versteckes. Staubwolken wurden mit Wucht zwischen die Steine gepresst, Splitter jaulten umher und prasselten gegen den Fels. Tony sprang auf.
Nagib schrie etwas hinter ihm her, aber Tony verstand es nicht. Er rannte, geschützt durch den hochgeworfenen Staub auf den Wagen zu. Der Hubschrauber drehte von ihm ab. Genug Zeit, um aus der Deckung hervorzuspringen, sich hinter den Wagen zu werfen und zum Heck zu robben. Von hier aus lugte Tony zu der Maschine. Den Piloten ging so langsam die Geduld aus. Der Waffenoffizier ließ die Maschinenkanone schnarren. Systematisch, als wäre es eine chirurgische Sonde, wanderten die Einschläge über die Felsbrocken und in die Zwischenräume. Tony schlug auf den Knopf der Heckklappe. Das Ding klemmte. Halb gebückt musste er ruckeln und zerren, bis die Tür aufschwang. Er riss den Werkzeugsack von der Ladefläche, wollte ihn sich über die Schulter werfen, wurde von dem Gewicht umgeworfen, raffte sich auf und schleifte den Sack in die nächste Deckung. Dort schüttete er den gesamten Inhalt heraus und packte sich die Panzerfaust. Es war ein gutes Gefühl, sich wehren zu können, stellte er fest. Aber wie sollte er das Ding bedienen? Er musste zurück zu Nagib, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Tony griff sich die Panzerfaust und sprang gebückt zwischen den Steinen hangaufwärts. Der WO musste die Bewegung zwischen den Schatten bemerkt haben. Die Einschläge der Maschinenkanone kamen näher und verfolgten Tony, während er am Boden zwischen den Felsblöcken kroch und seine Last hinter sich her zerrte. "Komme hier", hörte er Nagibs staubheisere Stimme. Er wagte zwei, drei Sprünge, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und warf sich neben Nagib auf den Boden. Er deutete fragend auf die Waffe. "Ist russische RPG 7", erklärte Nagib ohne weitere Umstände.
"Klappe auf Visier, lege um Sicherungsbügel, ziele durch Fadenkreuz, drücke ab und schließe Auge, weil Feuer viel hell." Tony folgte den Anweisungen. Dann drückte er sich hoch, legte sich das Rohr der Panzerfaust auf die Schulter, stützte den linken Arm auf die Kante des Felsblocks und nahm Ziel. Die MIL 24 stand bewegungslos in der Luft, ihnen genau gegenüber. Die Besatzung schien zu beratschlagen, von wo sie den Todesstoss ansetzen sollte. Tony erkannte, wie der Waffenoffizier mit dem Finger auf das Versteck deutete. Er zeigte genau in Tonys Richtung. Tony hielt die Luft an, fixierte das Ziel, krümmte den Abzugsfinger und schloss die Augen. Er rechnete mit einem harten Rückstoß und war überrascht, als sich das Geschoss mit lautem Fauchen und fast ohne Druck auf seine Schulter löste. Das grelle Licht brannte sich durch seine geschlossenen Lider und tauchte alles in ein blutig helles Rot. Dann schlug Tony die Augen wieder auf. Farbige Punkte tanzten auf seiner Netzhaut, aber er konnte noch das weiße Licht erkennen, mit dem die Panzerfaust auf ihr Ziel zuraste. Er hatte auf die beiden Lufteinläufe der Turbinen gezielt. Er sah, wie das Licht in dem rechten Lufteinlauf verschwand und dabei Stücke der Turbinenschaufel losschlug. Dann geschah eine Sekunde lang nichts, eine endlos lange Sekunde schwebte der Hubschrauber weiterhin über der Senke. Der Rotor hämmerte in der heißen Luft, die Turbinen heulten. Und dann zerfetzte eine Explosion das Oberteil des Helikopters, Teile des Rotors lösten sich und wurden mit boshaftem Pfeifen fortgeschleudert, das Turbinengeräusch ging in ein schrilles Kreischen über und wurde von einer Reihe von Detonationen übertönt. Die MIL bäumte sich auf wie ein getroffenes Tier und sackte nach unten. Sie traf mit dem Schwanz auf den Boden auf, der Heckrotor wühlte sich in den
Boden und spie Steine und Staub zur Seite, bevor er zerbarst. Dann schlug der Rumpf auf, eine weißliche Wolke wirbelte hoch, in die sich der ölige Rauch brennenden Kerosins mischte. Nagib stand auf und stellte sich neben Tony. Beide Männer waren von Staub überpudert. Ihre Gesichter wirkten seltsam starr, als wären sie für ein traditionelles asiatisches Bühnenstück geschminkt. Nur die Augen waren lebendig und zeugten von Anspannung, Furcht, und nun von Triumph. Schweißbäche malten Muster auf die staubige Haut. "Ist gut Treffer", konstatierte Nagib. "Halte nur Kopf unte’, weil gleich alles explodiere." Das Wrack war jetzt klar zu erkennen. Das Heck war zusammengeschoben, der Rumpf lag halb im Boden eingegraben auf der Seite, aus der zerborstenen Turbine quoll Rauch. Das Krachen und Knistern der Flammen war deutlich zu hören. Tony stieß einen überraschten Ruf aus. Die Seitentür wurde aufgeschoben, ein Mann zog sich hoch, stürzte über die Kante des Rumpfes auf den Boden und kroch strampelnd von dem Wrack weg. Tony drehte sich zu Nagib. "Wir müssen zu ihm hin." "Nicht nötig zu ihm, stirbt schon von alleine." Tony brauchte kurze Zeit, um zu verstehen, was Nagib meinte. "Ich will ihn nicht umbringen, ich will ihm helfen." Nagib schüttelte den Kopf über soviel Sentimentalität. "Du bleibe hier, gleich gehe hoch Munition das ist an Bord."
Aber Tony war schon auf dem Weg nach unten. Der schwarze Rauch drang jetzt überall aus den Löchern und Spalten des geborstenen Rumpfes, kleine schwarze Fäden, die sich wie eine Flüssigkeit über die Metallhaut schlängelten. Im Innenraum prasselten die Flammen hoch. Die Hitze bildete einen Ring aus glasig trüber Luft um das Wrack. Tony legte eine Hand schützend vor das Gesicht und zwang sich selbst Schritt für Schritt näher an den Mann. Er erreichte ihn, packte ihn am Kragen und schleifte ihn im Rückwärtsgang fort, bis er einen Stein erreicht hatte, in dessen Deckung er den Mann ablegte. Er blickte zurück zum Wrack und wünschte im nächsten Moment, er hätte sich diesen Blick erspart. Denn er sah die eingeklemmte menschliche Gestalt, die sich in der vorderen Glaskanzel, oberhalb der Maschinenkanone, zusammenkrümmte und gegen das Panzerglas hämmerte. Es war nur eine Sekunde, ein unwirklicher Moment, als würde ein Film in die Wirklichkeit eingespielt, dann wehte wieder Rauch vorbei und nahm Tony die Sicht. Tony stand mit hängenden Armen da. Zu seinen Füßen lag der Pilot und stöhnte. Sein Gesicht war rauchgeschwärzt, aber er schien äußerlich unverletzt zu sein. Tony kniete sich und schaute das Gesicht genauer an. Asiatische Züge stellte er fest, ein ehemaliger Sowjetsoldat vielleicht. Ein Söldner - aber wer wollte beurteilen, welche Umstände ihn angetrieben hatten? Tony zögerte, dann rannte er zu dem Seesack, aus dem er die Panzerfaust geholt hatte. Die Werkzeuge waren im Sand verstreut , Schraubenschlüssel, Zangen, ein undefinierbarer Gegenstand in einer Hülle aus schmutzigem olivfarbenen Tuch, Isolierband, Drähte und anderes. Er griff sich ein Brecheisen und rannte zurück, auf die Überreste des Hubschraubers zu. Die Hitze, die das Wrack umhüllte, war wie eine solide Mauer. Zwei, drei Mal krachte es, als erste Patronen der Maschinenkanone explodierten. Alles in Tony drängte zur Flucht, aber als wäre er eine frisch aufgezogene
mechanische Puppe, schritt er steifbeinig weiter. Es war kein Mut, der Tony Tanner antrieb, sondern eher eine Art spießbürgerlicher Halsstarrigkeit. Er hatte sich etwas vorgenommen, und das führte er nun zu Ende. Die vordere Kuppel des Helikopters war mit grauen Rauch gefüllt. Durch dessen Schleier waren die dunklen Umrisse eines Mannes erkennbar, der sich wie eine Schlange drehte und wendete. Das waren keine Fluchtversuche mehr, sondern nur noch die hilflosen Zuckungen eines Erstickenden. Tony ließ sein Brecheisen auf die Kuppel niederkrachen. Das beschussfeste Material zeigte keinen Kratzer, stattdessen wurde das Brecheisen zurückgeschleudert und flog ihm fast aus der Hand. Er versuchte es an einer anderen Stelle. Wieder nichts. Tony keuchte. Der Gestank verbrennendes Gummis machte das Atmen schwer und legte sich wie eine erstickende Hand auf Nase und Mund. Er wechselte den Griff und schlug gezielt mit der Spitze gegen die Kuppel. Wieder kein Erfolg. Aber neben seinem Bein krachte es, und eine Kugel durchschlug die Außenhaut des Hubschraubers, ein zackiges Kraterloch zurücklassend und pfiff davon. Es hatte keinen Sinn, weiterhin wie wild auf die Kuppel zu hämmern, Er musste nachdenken. Aber wie sollte er nachdenken, wenn jetzt schon wieder eine Folge von Schüssen krachte und das Löcher in den Rumpf hämmerten, aus denen Rauch quoll. Seine Augen tränten. Fast blind tastete er an der Kuppel entlang. Dann war unter seinen Fingerspitzen ein Rand, eine Leiste, dann ein Spalt. Tony zwinkerte mit den Augen, bis er durch Rauch und Tränenflüssigkeit die Stelle sehen konnte. Durch den Aufprall hatte sich hier zwischen Kuppel und Rumpf ein Spalt aufgetan. Tony schob das Brecheisen in den Spalt, drückte es tiefer hinein und warf sich mit seinem gesamten Gewicht auf das Werkzeug. Die Kuppel knackte und knisterte, dann sprang sie mit plötzlicher Wucht auf. Er beugte sich durch den
aufquellenden Rauch nach vorn, seine Hand quirlte den stinkenden Rauch, schlug schmerzhaft gegen harte Gegenstände und schnitt sich an einer messerscharfen Zacke. Aber er machte weiter und bekam etwas Weiches zu fassen. Tony zog, zuckte, zerrte, und konnte den Oberkörper des Eingeschlossenen nach vorne ziehen. Er warf das Brecheisen weg, schob seinen Kopf unter die Achsel des Mannes und trug ihn schwankend von dem Hubschrauber weg. Die Last drückte ihn fast zu Boden. Mit jedem Schritt schien er fast bis zu den Knien einzusinken. Er biss die Zähne zusammen, und innerlich heulte er vor Wut wie ein ganzes Wolfsrudel über seine verdammte körperliche Schwäche. Jetzt wollte er nicht mehr aufgeben, jetzt nicht mehr. Noch ein Schritt, dann darf ich zusammenbrechen, fuhr es ihm durch den Kopf und dann, Ätsch, reingefallen, jetzt noch ein Schritt. Er presste sich Schritt für Schritt ab wie eine Mutter, die Löffel für Löffel ekelhaften Spinatbreis in die unwilligen Münder ihrer Bälger praktiziert. Er taumelte, bekam seine Bewegungen wieder unter Kontrolle - dann explodierte ein Raketengeschoss, zündete die restlichen Geschosse und brachte den Treibstoff zur Detonation. Es war ein betäubender Lärm, eine Welle von Feuer und Hitze und eine Druckwelle, die Tony mitsamt dem Mann auf seiner Schulter fortschleuderte wie Strohpuppen und ihnen damit das Leben rettete. Denn als Tony wieder zu sich kam, lag der Mann immer noch über ihm, aber über dem Mann war eine schwere Schicht von Sand, Staub und kleinem Geröll, und darüber lagen zerfetzte, glühende Teile des Hubschraubers. Tony spuckte Sand und schnaubte sich unter Missachtung seiner guten Kinderstube in die Handfläche. Dann bemühte er sich, das Gesicht des Mannes vom Staub zu befreien. Der Mann atmete noch, aber die schwarze Rußschicht unter seinen Nasenlöchern machte unmissverständlich klar, dass seine Lunge von dem giftigen Rauch angegriffen war. Der
Hubschrauber war verschwunden. Ein qualmender schwarzer öliger Fleck markierte die Absturzstelle. Überall in der Senke und auf den anliegenden Höhen lagen Trümmerteile. Tief atmete Tony die Luft ein, die heiß und stickig war, aber frei von dem beißenden Gummigestank, der ihm noch immer auf der Zunge haftete wie ein bräunlicher Belag. Er richtete den Oberkörper des Mannes auf, fasste ihn unter den Achseln und schleifte ihn zum Wagen. Dann stockte er, schaute sich um, ließ den Mann fallen und rannte auf den Wagen zu. Er rannte auf Nagib zu der, sich immer noch den blutenden Arm hielt und mit dem anderen wütende Gesten der Abwehr machte und dabei lauthals fluchte. Und er sah den Piloten, der einen schweren Schraubenschlüssel schwang und Nagib zu treffen versuchte. Nagib wich geschickt aus, aber es war dennoch deutlich, wer in diesem Kampf die Initiative innehatte. Tony näherte sich den beiden Männern. Seine Knie waren weich wie Pudding. Ihm war klar, dass er keine Chance gegen den Piloten hatte, egal, in welchem Zustand der auch sein mochte. Nagib machte erneut einen Sprung nach hinten, wobei sein Bauch wie ein absurdes Anhängsel schwabbelte. Er erblickte Tony und begann zu schreien: "Nehme Pistole aus Werkzeug. Mache schnell." So schnell er konnte stolperte Tony zu dem Werkzeug, das immer noch auf dem Boden verteilt war. Wo sollte darin eine Pistole sein? Er hatte doch den gesamten Seesack geleert und keine Pistole gefunden. Inzwischen trottete Tony nur noch wie ein erschöpfter Tanzbär, während die Gedanken wie zähflüssiger Sirup durch sein Hirn rannen. Wenn Nagib sagte, er solle die Pistole nehmen, dann musste eine Pistole da sein. Wenn er keine Pistole bemerkt hatte, dann musste die Pistole nicht so aussehen wie eine Pistole sonst aussieht, die einer
Pistole ähnelt, sondern die Pistole musste aussehen wie etwas, das nicht wie eine Pistole aussieht. Aber eine Zange sah nicht nur nicht aus wie eine Pistole, sie war auch keinesfalls eine Pistole, also fielen bei der Suche schon die meisten Gegenstände aus - Tony starrte auf die verstreuten Dinge im Sand. Da - das Tuch - er beugte sich danach, kippte in seiner Erschöpfung fast vornüber und bekam einen Tuchzipfel zu fassen. Er zog, und aus dem Tuch wickelte sich eine schwere, mattschwarz schimmernde Pistole. Hinter sich hörte er Nagib schreien. Tony nahm die Waffe in die Hand und wog das Gewicht mit der Handfläche. Nagibs Schreie wurden dringlicher. Tony fuhr herum und sah den Piloten, den Schraubenschlüssel über den Kopf schwingend, auf sich zulaufen. Er hob die Waffe und drückte ab. Der Hahn fuhr klackend herab, kein Schuss löste sich. Sein Gegner hatte sich in den Sand geworfen, als er die Pistole erblickt hatte, sprang jetzt aber wieder auf. Plötzlich wirbelten die Gedanken wieder durch Tonys Kopf. War die Waffe überhaupt geladen? Man musste die Waffe entsichern - aber wie? Es gab nur den einen Hebel auf der rechten Seite der Waffe, den er umlegen konnte. Man musste eine Waffe durchladen. Er zupfte am Oberteil der Pistole und zu seinem Erstaunen ließ sich der Schlitten zurückziehen und sprang zurück in seine Position, als Tony losließ. Aus den Augenwinkeln sah er den Schatten des Gegners auf sich zukommen. Es gab keine Zeit zum Überlegen. Tony hob die Pistole, umklammerte mit der linken die rechte Hand, zielte über Kimme und Korn und drückte ab. Der Schuss bellte los. Der Mann, der knapp zwei Meter vor Tony war, wurde an der Schulter getroffen. Der Schuss warf ihn zurück und schleuderte ihn zugleich in die Luft, als hätte ihm jemand von hinten die Beine weggetreten. Der Mann schrie. Auch Tony schrie, denn nach der Schuss war die Pistole nach oben
gesprungen und hatte ihm mit ihrem brutalen Rückschlag fast den Daumen gebrochen. Er ließ die schmerzenden Handgelenke sinken, und die Waffe wäre zu Boden gefallen, wäre nicht in diesem Moment Nagib dagewesen, um sie an sich zu nehmen, zu entsichern und mit liebevoller Sorgfalt in ihr Tuch einzuwickeln. "Was du warte? Helfe lieber aufräume, stehe rum, du mache später, wenn Bir Tarfawi", rief Nagib. Also machte sich Tony ans Aufräumen. Dazu gehörte es auch, dem Piloten, den er abgeschossen, gerettet und wieder angeschossen hatte, zu verbinden. Der Mann hatte einen glatten, aber ziemlich großen Durchschuss an der rechten Schulter. Die Wunde an sich war nicht einmal gefährlich, aber der Blutverlust konnte dem Mann das Leben kosten. Nagib hatte einen erstaunlich gut sortierten Verbandkasten - sozusagen das menschenfreundliche Pendant zu seiner Waffensammlung, wie Tony sich selbst sagte, und so gab es genügend Mull, um die Blutung aufzuhalten und einen provisorischen Verband anzulegen. Dann verstaute Nagib die beiden Verletzten auf den Vordersitz. Tonys Platz war jetzt im Gepäckraum. "Du wolle rette diese Kerlen - du ihnen gebe deine Platz", befand Nagib und gab noch eine Anweisung. "Wenn Kerlen aussehe mache Ärger, dann du spalte Schädel mit Werkzeug. Und nicht erst diskutiere, du schlage sofort! Und danach nicht eine dritte Mal rette Kerlen! Bringt Unglück!" Auf der Fahrt schaute Nagib zu Tony zurück, der sich auf den schmerzenden Daumen blies. "Guter Schuss du mache. Ist Pistole ist Colt Kaliber .45. Ist gute Waffe, Waffe für Männer." Sein Daumen wurde langsam dick und zeigte eine
interessante Farbskala, die von Grün nach Blau verlief. Zumindest Tonys Daumen war nicht genug Männer-Daumen für diese Form von tragbarer Artillerie. Aber es gab wichtigere Körperteile, an denen sich Männlichkeit beweisen ließ, meinte zumindest Tony. Jedenfalls nahm er sich vor, im weiteren Verlauf seines Lebens den Handfeuerwaffen Kaliber .45 mit größerer Vorsicht zu begegnen. *** Bir Tarfawi war nach einigen Stunden erreicht. Es gab eine medizinische Station, in die sie die beiden verletzten Hubschrauberpiloten brachten. Nagib überschwemmte den Mann, der sich als eine Art von Verwaltungschef herausstellte, mit einer Flut von Erklärungen und Gesten. Es war allerdings Tony, der mit Hilfe einer Scheckkarte und der schriftlichen Erklärung, dass er im Namen des Scheckhalters alle Behandlungskosten übernehmen würde, die düstere Miene des Bürokraten heiter werden ließ. Die Verwundung Nagibs wurde mit einigen Stichen genäht. Inzwischen zog Tony Erkundigungen über die Ausgrabungen an. Das stellte sich als wesentlich leichter heraus, als er befürchtet hatte. Wenn von Puttkammer auch in der übrigen Welt ein Geheimnis um seine Ausgrabungen machte, aus Bir Tarfawi rekrutierte er seine Arbeitskräfte und unterhielt ein kleines Lager mit Versorgungsgütern. Man erklärte Tony, dass in drei Tagen ein Lastwagen zur Ausgrabungsstelle fahren würde. Es handelte sich um den regelmäßigen Versorgungsdienst, mit dem auch Arbeiter zur Ausgrabungsstelle gebracht wurden. Drei Tage in dieser Oase zu warten, schien Tony keine gute Idee zu sein. Nachdem die Aufregung der Fahrt und des Kampfes sich langsam legte, nachdem er ausführlich geduscht hatte und sich seinen Mitmenschen nähern konnte,
ohne Angst zu haben, schon weit außerhalb der Sichtweite am Geruch erkannt zu werden, und nachdem er sich eine Mahlzeit von noch größerer Ausführlichkeit gegönnt hatte, spürte er eine nagende Unruhe. Etwas pochte und trieb ihn vorwärts, ohne dass er diese Unruhe in Worte fassen konnte. Zu seinem Schrecken fand er Nagib in einem Krankenbett liegend wieder. Die Wunde hatte sich entzündet, und nun hatte sein Fahrer starkes Fieber. Zuerst sorgte Tony mit einigem Bakschisch dafür, dass Nagib wie in einem erstklassigen Hotel versorgt würde. Der Ägypter lag in seinem Bett, den Oberkörper von einigen Kissen gestützt. Als Tony das Zimmer betrat, ließ Nagib die Illustrierte, die er gerade durchgeblättert hatte, blitzschnell unter der Decke verschwinden. "Ah, du bist", stellte er dann bei Tonys Anblick befriedigt fest und holte das Heft wieder heraus. Es handelte sich um ein Exemplar des 'Hustler' aus dem Jahre 1981, dem man ansah, dass es schon durch mehrere Generationen hormonverscheuchter schwitziger Männerhände gereicht worden war. Nagib sah trotz dieser anregenden Lektüre schlecht aus. Die wenigen Haare waren von Schweiß wie angeklebt, in seinem Gesicht waren tiefe Falten, die Tony bisher noch nicht bemerkt hatte, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. "Ich Fieber", erklärte Nagib. "Fieber weg in zwei, drei Tage, dann Nagib wieder stark wie Hengst von Kamel." Er schaute Tony an und schien seine Gedanken zu erforschen. "Du nicht wolle warte und ich nicht könne fahre. Nicht schlimm. Nagib kenne Mann, der dir vermiete Land von Rover. Dann du fahre allein. Piste ist markiert mit Stöcken, du nicht könne dich verirre. Fahrt nicht lang, vier Stunde, wenn viel. Kein Problem. Du fahre allein. Du gehe zu Mann, und sage, du komme von Nagib. Dann er dir nicht gebe Schrottauto,
sondern Land von Rover. " Der Landrover war nicht so neu, wie Nagib es beschrieben hatte, aber er wirkte vertrauenswürdig genug. Tony stellte den Wagen vor dem Haus ab, in dem er die Nacht verbrachte und machte sich am nächsten Morgen ohne Verzögerungen auf den Weg. Allerdings erkundigte er sich vorher noch nach Nagibs Befinden. Man machte ihm klar, dass Nagibs Appetit groß war. Sehr groß. Er esse und esse. Tony verstand, und zwei mittlere Geldscheine wechselten die Besitzer. Daraufhin versicherte man ihm, dass sich auf baldige Besserung Nagibs hoffen ließe. Die beiden anderen Männer waren in einem weniger guten Zustand. Der eine hatte viel Blut verloren, bei dem anderen musste sich das gesamte Atemsystem erst erholen. Ihr Zustand war nicht rosig, aber stabil. Tony steckte den Kopf zu den beiden herein. Der eine erkannte ihn, wandte aber seinen Blick nach innen und zeigte keine weitere Reaktion. Tony Tanner hatte sich niemals der typisch männliche Eitelkeit überlassen, sich für einen guten Autofahrer zu halten. So stieß er bald an die Grenzen seiner automobilistischen Ambitionen, als ihm der Wagen ständig aus der Spur lief, das Lenkrad gegen seinen demolierten Daumen schlug, und jedes Schlagloch seine Bandscheiben zu irreparablen Schadensfällen zusammenzustoßen schien. Er reduzierte die Geschwindigkeit und kroch mehr, als dass er fuhr. Aber er hatte für die Fahrt genügend Zeit, und nun ließ sich die Piste besser ertragen. Er brauchte keine Angst haben, sich zu verfahren, denn der Weg war durch Reifenspuren deutlich gekennzeichnet. Zudem standen längs der Piste hohe Holzpfähle, so dass er immer mindestens zwei dieser Peilpunkte vor sich hatte, egal ob er sich in einer Senke oder auf einer Anhöhe befand.
Nach drei Stunden Fahrt hielt er auf einer Höhe an und schaute sich um. Die Wüste erstreckte sich in eintöniger Weite bis an den Horizont. Es gab nichts, was dem Auge einen Halt gegeben hätte. Der Blick glitt über dunkelbraune Wellen bis an den Horizont, als würde er auf einer glatten Eisfläche ins Rutschen kommen. Man konnte hier sein, aber auch woanders - auf der nächsten Geländefalte oder hinter dem Horizont - es würde keinen Unterschied machen. Man konnte gehen, tagelang, und sich dennoch nicht weiterbewegen, denn die Wüste veränderte sich nicht. Man konnte gehen und die einzigen Veränderungen, die sich abspielten, fanden in der Seele des Wanderers statt. Vielleicht gewann er an Stärke, an Einfachheit, vielleicht schliff er allen überflüssigen Zierrat von sich ab, jede eitle Hoffnung, jeden morschen Traum, jedes verlogene Bild von sich selbst, so wie der Wind der Wüste die Felsen auf ihre nackte Form reduzierte. Am Ende mochte dieser Wüstenwanderer zu etwas werden, was einem wertvollen Schwert ähnelte - hart, glänzend, unbestreitbar in seiner Einfachheit und Vollkommenheit. Ein Mensch, an dem sich die Umstände des Daseins teilten wie eine reife Frucht. War es ein Zufall, dass drei große Religionen in der Wüste entstanden waren? Nun ja, sagte sich Tony Tanner, die größere Wahrscheinlichkeit war wohl, dass die Menschen abstumpften, sich in die sicheren Hürden der eigenen Tradition zurückzogen oder schlichtweg verrückt wurden. Es fiel ihm nicht schwer, wenn er auf dieser Anhöhe stand und die Einsamkeit in sich einsickern ließ, von Ferne das erste Wimmern des Wahnsinns zu hören. Es brauchte nicht viel in dieser Stille, durch die der Wind winselte, in dieser Landschaft, in der er ein Eindringling war, allein schon weil er ein lebendiges Wesen war. Die Frage stieg wieder in ihm hoch. Was hatte einen ägyptischen Herrscher in dieses Land getrieben? Und was hatte seine Leute bewogen, ihrem Herrn zu folgen, selbst
wenn er sie in dieses grauenerregende Nichts aus Hitze, Wind, Sand und Geröll führte? Vielleicht würde er es einmal erfahren. Er ging zurück zu seinem Wagen und blieb dann wie angewurzelt stehen. Der Horizont hatte sich verdüstert. Über den halben Himmel verlief ein Vorhang von dunkelbrauner, schmutziger Farbe, und dieser Vorhang schwebte näher und näher an ihn heran. Ein Sandsturm! dachte es in Tony Tanners Kopf, und dann hörte er, wie seine Gedanken alles mögliche herunterrasselten, was er je über Sandstürme gelesen oder gehört hatte. Aber alles das fand in einem anderen Zimmer stand und es war, als stünde Tony in einem Nebenraum und höre das Gemurmel der eigenen Gedanken, während er selbst nur, gebannt, erstarrt, auf diesen gigantischen Schleier sah, der auf ihn zuschwebte. Er spürte etwas Gigantisches, eine Kraft von unaussprechlicher Heftigkeit, die jeden menschlichen Fluchtversuch durch seine schiere Lächerlichkeit schon im Ansatz vereiteln musste. Tony empfand die Schlaffheit, die durch seine Glieder rieselte, das Weiche, sich Ergebende eines Tieres, das sich unrettbar in den Krallen seines Jägers weiß. Es hatte doch alles keinen Zweck mehr. Der Schleier schleifte über die Wüste, langsam, aber mit einer Notwendigkeit, die jenseits aller Bestreitbarkeit lag. Tony sah, wie Sandwirbel aus dem Boden schossen, wieder zusammensanken und sich dem Schleier einschmiegten. Dann riss er sich aus seiner Lethargie, sprang in den Wagen, startete den Motor und fuhr herunter in die enge Senke, in der er etwas Schutz zu finden hoffte. Er hatte eben die Senke erreicht, den Wagen in Richtung auf den nächstgelegenen Markierungspfahl ausgerichtet und den Motor abgestellt, als der Sturm über ihn kam. Tony hatte nicht mit dieser Plötzlichkeit und nicht mit dieser Heftigkeit gerechnet. Es wurde schlagartig dunkel, der Wagen begann unter der Wucht der Windstöße leicht zu schwanken. Das
Heulen des Windes steigerte sich zu einem schrillen Kreischen und Wimmern. Durch die Ritzen der Türen drang Sand. Bald spürte Tony Sandkörner im Mund und auf der Nasenschleimhaut. Er zog sich eine Decke, die auf dem Rücksitz lag, über den Kopf und wartete ab, in dieser lächerlichen Verkleidung, die ihn wie eine alte Bettlerin an einer Straßenecke aussehen ließ, die schon längst aufgegeben hat, um Mitleid zu buhlen und sich nur noch resigniert dem Vergehen der Zeit anheimgibt. So saß Tony Tanner und wartete auf das Ende des Sturmes. Das Warten hatte noch etwas von einer Tätigkeit, einer Aktion, einer bewussten Handlung. Aber das Heulen des Windes hielt an, schien sich sogar noch zu steigern. Es schmerzte in den Ohren, es verwirrte die Gedanken, es griff nach den Bildern im Kopf und begann, diese Bilder neu zu formen. Schließlich wurde der Lärm zur Stille, zum Hintergrund, zu einer weißen Wand kreischender Geräuschlosigkeit, vor der die Schemen verdrängter Ängste zu tanzen begannen. Und Tony Tanner hörte auf zu warten. Er hörte auf, weil es nichts mehr gab, was er tun konnte, weil er ebenso erstarrt, gelähmt, fixiert war wie beim Anblick der Sturmfront. Der Sturm griff nach ihm. Er setzte sich mit seinem Sand in Tonys Augen fest, er bildete einen Belag auf der Zunge, knirschte zwischen den Zähnen, klebte unter den Nasenlöchern, saß in den Ohren. Es gab keine Fluchtmöglichkeit, kein Schwimmen gegen diese Strömung. Es gab nur den Sand, als würde der Sturm die Landschaft bis auf das Skelett ausweiden und das Fleisch in kleine Sandkörner verwandelt über die Welt verteilen. Es gab nur den Sturm, die Welt mit seinen Regeln überzog, Regeln, die ein Mensch nicht begreifen konnte, Regeln, die den Menschen ignorierten. Für den Menschen gab es nur das Nichts, die Vernichtung, die Verneinung jeden Lebens, jeden Gedankens, jeder Empfindung.
Die hoffnungslose Gewissheit seiner völligen Fremdheit in dieser Welt überkam Tony. Er konnte sich an das bisschen Verstand klammern, das ihm noch geblieben war. Er konnte versuchen, sich Gedichte in die Erinnerung zu rufen oder sich den Weg von seiner Wohnung bis zu der nächsten U-BahnHaltstelle vorzustellen. Aber was garantierte ihm, dass er nicht in Wirklichkeit schon wie ein Säugling vor sich hinbrabbelte? Er saß hier wie in einer Raumkapsel, ohne Verbindung zu irgendeinem anderen Menschen. Aber was dort draußen stattfand, war kein Weltraum mit eindeutig festgelegten Gesetzen. Es gab dort draußen, in dem Imperium des Sturmes, keine Gewissheit, keine Gesetzmäßigkeit, keine Wahrscheinlichkeit, keine Berechenbarkeit, keine wissenschaftliche Wahrheit. Es gab da draußen eine Kraft, die tobte, zerstörte und zerschlug, weil es ihr so behagte. Hinter die Bilder, die er sich vor Augen rief, hinter das Gesicht von Francine, hinter die Stimme von Dorkas mit seinen Theorien und Deutungen, drängte sich etwas anderes. Tony versuchte, es zu ignorieren, aber es wurde fester und deutlicher. Er schüttelte den Kopf, öffnete die Augen und schaute in die Dunkelheit. Aber da war es auch. Er konnte ihm nicht entfliehen. Was er sah war die Fratze eines Dämons, die er einmal in einem Museum gesehen und dann wieder vergessen hatte. Nun erinnerte er sich wieder, die verzerrte Fratze eines assyrischen Sturmdämons. Die Karikatur eines menschlichen Gesichtes - löwenartig, als wären zwei Fotografien übereinander geschoben worden - von ungehemmter Boshaftigkeit, der die Anklänge an menschliche Züge nur als letzte Bestätigung dienten. Glückliche Zeiten, in denen er, den Katalog unter dem Arm, an derartigen Exponaten vorbeigehen konnte, um sie alsdann bei einem Kaffee in dem Museumsrestaurant zu vergessen. Aber vielleicht war es ja
ganz anders. Vielleicht waren die Besucher die Ausstellungsstücke und die uralten Dämonen und Götterstatuen die Betrachter. Vielleicht hatte der Sturmdämon Tony nicht vergessen. Vielleicht war er jetzt gekommen. Aber auch dieses Bild verschwand und bald sehnte sich Tony nach dieser Fratze, nach diesem fassbaren, festen, anschaulichen Bild. Denn nun blieb nichts mehr, nur das Wissen um das Nichts, das draußen tobte und das ihn vernichten würde. Es würde ihn vernichten, weil er das Nichts nicht ertragen könnte. Er würde sich selbst auflösen, aus Furcht, aus Entsetzen, aus Verzweiflung. Und dann begann Tony Tanner etwas zu verstehen. Eine Ahnung überkam ihn, warum sich die Menschen dieser Wüsten den harten Gesetzen ihrer Religion so willig unterworfen hatten. Er konnte ihre Bitten vernehmen: Lass uns deine Geißel verspüren, oh Herr, denn der Schmerz macht uns lebendig. Fessele uns mit deinen Geboten, fordere das Opfer der Erstgeborenen, dürste nach dem Blut, das wir uns dir zu Gefallen aus den Armen schneiden, knechte uns mit Regeln und Vorschriften und Tabus, beuge uns unter das Joch deiner harten Gesetze, die uns die Tage sauer machen aber überlasse uns nicht diesem Nichts, treibe uns nicht in die Formlosigkeit, weise uns nicht aus dem Garten deiner Zwänge in das Reich dessen. Und Tony verstand, was sie mit 'dessen' meinten. Seth, den Herrscher der Wüste, dessen Gesetz die Gesetzlosigkeit ist, den Leugner aller heiligen Gebote, den Zertrümmerer der Städte und den Verwüster der Felder. Seth, der viele Namen trägt und keinen, Seth, der viele Gesichter hat und keines. Seth, der die Erde zum Schrecken macht und der die Unterwelt beherrscht, wenn die Seelen der Unvorbereiteten ihren Weg suchen. Seth, der Verschlinger. Langsam drang eine Stille in Tonys Bewusstsein, die anders war. Er lauschte und war sich unsicher, ob es das Dröhnen in
seinem Gehör war oder das Toben des Sturmes oder die Stille. Er warf die Decke zur Seite. Sand rieselte auf den Sitz. Es war dunkel. Aber es war auch still. Er schaute auf die Fenster und stellte fest, dass der Wagen unter Sand begraben war. Die Türen ließen sich nicht öffnen. Er warf sich gegen die Türen, drückte mit den Beinen dagegen. Aber sie bewegten sich keinen einzigen Millimeter. 16. Wie tief mochte er im Sand stecken? Eine dünne Schicht, die gerade nur das Dach bedeckte? Oder war er unter einer neu entstandenen Sanddüne eingeschlossen? In diesem Fall war er verloren. Dann brauchte er nur noch abzuwarten bis er erstickte, oder wenn wider Erwarten genügend Luft zu ihm durchdränge, dann hätte er die Gelegenheit, sein eigenes Verhalten während des Verdurstens zu studieren. Er brach den Gedankengang ab wie ein Techniker ein Stromkabel kappt und begann, wieder an der Tür zu rütteln. Er riss und zerrte, bis ihm die Muskeln schmerzten und die Hände kraftlos wurden. Unter Wasser hätte er die Scheiben herunterdrehen und einen Druckausgleich herbeiführen können, um dann die Türen zu öffnen. Unter Wasser! Der Durst brannte in seiner Kehle, bei jedem Lidschlag schien Sandpapier über seinen Augapfel zu reiben. Tony Tanner riss, zerrte, hämmerte, trat. Aber er blieb eingeschlossen. Ihm wurde langsam schwarz vor den Augen. Wie lange mochte er in Bewusstlosigkeit verharrt haben, als schließlich die Halluzinationen kamen. Er sah vor sich das Gesicht eines Mannes, eines rotgesichtiges Mannes mit einem gewaltigen blonden Schnurrbart, das sich an die Seitenscheibe drückte.
"Das ist unter Garantie ein Engländer. So bedauernswert blöde kann nur ein Engländer sein." Die Halluzination sprach mit ausgeprägtem schottischem Akzent. "Natürlich kann das nur ein Engländer sein, Schotten sind doch so doof, dass sie auf ihre hässliche Fresse fallen, sobald sie sich auch nur einen Schritt aus den Highlands herauswagen." Diese Stimme war derart snobistisch englisch, wie man es sonst nur auf Studentenbühnen in der Umgebung von Oxford hörte. "Dann wollen wir mal", sagte die schottische Halluzination. Tony hörte das Geräusch von Schaufeln an der Blechhaut des Landrovers und das Ächzen angestrengter Arbeit. Schließlich riss jemand die Seitentür auf. Tony Tanner atmete mehrmals tief ein. "Kommen Sie junger Mann, hereinspaziert in diese schöne Welt." Die Sonne stand schon tief, dennoch blendete ihre Helligkeit Tonys Augen. Er hielt sich die Hand schützend vor das Gesicht und schaute sich um. Er sah eine Gruppe von Männern, zwei Frauen und drei Geländewagen. Die Leute schauten ihn erwartungsvoll an. Tony zuckte die Schultern. "Ich hatte noch eine halbe Stunde auf der Parkuhr. Da konnte ich doch nicht einfach losfahren." Es waren zwanzig Zentimeter der Funkantennen gewesen, die Tony gerettet hatte. Soviel ragte noch aus dem Sand heraus. Aber das reichte, um den Blicken des Adrian Mac Morley ("Mac Morley von DEN Mac Morleys, Herr Tanner!") aufzufallen und die Rettungsaktion einzuleiten. Es gab der Geschichte eine gewisse Würze, dass zu den gewaltigen Funkantennen kein Funkgerät mehr vorhanden war und der
Besitzer sie nur aus ästhetischen Gründen - um den Begriff 'Angeberei' zu vermeiden - am Wagen gelassen hatten. Man zog Tonys Landrover aus der Düne, dann setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung. Tony sollte sich anschließen, was er auch dankbar tat. Nach einer Stunde bogen die vor ihm fahrenden Wagen von der Piste ab und bildeten einen Kreis, den Tony mit seinem Wagen vervollständigte. Nun standen sie wie die alten Pioniere mit ihren Planwagen. Tony wurde zum Abendessen eingeladen, zu dem er außer einigen Litern lauwarmen Wassers nichts beisteuern konnte. Aber Wasser war wertvoll genug, um als vollwertiger Beitrag anerkannt zu werden. Er setzte sich in den Kreis zu anderen, bekam seine Suppe, die aus nicht näher bestimmbaren Trockenrationen zusammengekocht war, aber dennoch akzeptabel schmeckte, und schaute sich seine Begleiter an. Bisher hatte er dazu wenig Gelegenheit gehabt. Es gab zu viele Dinge zu erledigen, und dann drängte der Führer der Gruppe zum Aufbruch. Das war der Mann mit dem Studentenbühnen-Zungenschlag. Er hatte sich als Hal Hornsby vorgestellt. Hornsby bildete dem Aussehen und dem Alter nach so etwas wie das statistische Mittel seiner Reisegruppe. Er ging auf die Vierzig zu oder hatte zumindest die jugendlich-frischen Ufer der Dreißig schon verlassen, er war schlank mit jener Taillenweite, die verriet, dass ihm diese Schlankheit schon etwas Mühe abverlangte. Er war unrasiert. Die Stoppeln gaben seinem Gesicht weder einen Anflug von Männlichkeit, noch wirkte diese Kinnbehaarung abenteuerlich, sondern sie hatten eher etwas Peinliches, wie ein übersehener Dotterfleck vom Frühstücksei auf der Seidenkrawatte eines Lateinlehrers. Tony Tanner brauchte dreißig Sekunden um zu der Überzeugung zu gelangen, dass ihm der Anblick eines Eishockey-Feldes in dieser Wüste weniger absurd erschienen wäre als das Auftauchen - so sehr er es in jeder Sekunde
segnete und pries - eines Mannes wie Hal Hornsby. Die anderen Männer passten in dasselbe Schema. Die Frauen boten auch keinen Lichtblick. Vielleicht waren sie einmal hübsch gewesen - Tony Tanner benutzte in seinem Selbstgespräch den Begriff 'knackig' - aber das war mindestens fünfzehn Jahre her, und in der Zwischenzeit schien nichts geschehen zu sein, was diese Knospen zum Blühen gebracht und ihre frauliche Frische über die kritischen Klippen der 35 hinaus erhalten hätte. So wie sie mit den anderen im Kreis saßen, konnte Tony förmlich den faden Keksduft ihrer einsamen Sonntagnachmittage wittern, das Rascheln unrettbar altmodischer Seidenkleider hören, die an Sommertagen aus dem Schrank geholt und nach einiger Überlegung mit einem unterdrückten Seufzen zurückgehängt wurden. Obwohl die Frauen keine Schwestern waren, ähnelten sie sich sehr - beide verblüht ohne je wirklich geblüht zu haben, mit einem Zug um den Mund, der Bitterkeit verriet, mit dunklen Ringen unter den Augen, in denen manchmal so etwas wie ein mühevolle Koketterie aufblitzte, und mit Figuren, die nicht mehr schlank waren, sondern hager, trocken und mumienartig. Einzig Adrian Mac Morley entzog sich diesem Gruppenbild. Schon sein Schnurrbart, der wie der Schwanz einer fetten Katze über die Oberlippe verlief, dann Kurs auf das Kinn nahm, um daraufhin die Ohren anzusteuern, wirkte unter diesen Leuten so passend wie Indianerschmuck auf dem Börsenparkett. Und es dauerte auch nicht lange, dann wurde Tony klar, dass Mac Morley auch gar nicht zu der Gruppe gehörte, jedenfalls nicht wirklich. Mac Morley löffelte stumm sein Abendessen, wartete dann höflich fünf Minuten, in denen Tony kurz sein Woher und Wohin darlegte und entsprechend über seine neuen Begleiter informiert wurde, und wandte sich dann an Hornsby.
"War ja wohl nichts", stellte er bissig fest. Hornsby zuckte leicht zusammen, als hätte er diesen Schlag schon erwartet. Dann setzte er sich gerade hin und antwortet genauso bissig. Zumindest in dieser Hinsicht übertraf Hornsby Tonys Erwartungen. Der Mann konnte richtig giftig sein, als wäre der Drei-Tage-Bart doch mehr als eine unglückliche Folge mangelnder Rasiermöglichkeiten. "Die Tatsache, dass Ihnen hier noch kein Supertanker begegnet ist, würde Ihnen wohl reichen, um die Existenz dieser Schiffe zu leugnen?" "Ich bin aber nicht hier, um Schiffchen zu gucken, sondern weil laut Ihrer Theorie, Sie erinnern sich Herr Hornsby, das Auftauchen von UFOs geradezu zwangsläufig war." "Ich erinnere mich allerdings. Und ich bin mir auch bewusst, dass wir keine Beobachtung solcher Flugobjekte machen konnten. Aber... " - Hornsby hob die Stimme und bekam etwas von einem Prediger - "dennoch ist meine Theorie von der Linearität energetischer Kurse voll bestätigt." "Eine sich selbst bestätigende Theorie, nehme ich an?", raunzte Mac Morley. "Dieser Sandsturm bestätigt meine Theorie. Sowohl seine ungeheure Stärke - ich habe über Funk mit El Kharga gesprochen, die haben mir bestätigt, dass sie einen derartigen Sturm seit einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt haben - als auch seine Zugrichtung." "‘n bisschen konkreter, wenn es dem Herrn Hornsby möglich wäre."
"Was zum Teufel gibt es da noch zu erklären? Wir haben keine UFOs gesichtet, weil keine Energie da war. Die Energie wurde von der Atmosphäre aufgesaugt und in diesen Sturm transferiert, dem Herr Tanner fast zum Opfer gefallen wäre." "Soll das heißen", mischte sich Tony ein "dass es Ihrer Meinung nach so etwas wie Schienen aus Energie gibt, auf denen, mmmh, UFOs sich entlang bewegen?" Hornsby klatschte erfreut in die Hände. "Sie haben es erfasst, und das Bild von den Schienen gefällt mir ausnehmend gut! Es gibt, und deshalb sind wir hierhin gekommen, statistisch relevante Häufungen von UFO-Sichtungen in bestimmten Gebieten. Das hat mich zu meiner Theorie geführt. Und der Sturm, wie gesagt, bestätigt das." Mac Morley war zu seinem Wagen gegangen und kam mit einem Armvoll Bierflaschen zurück. "Es lebe der gasbetriebene Kleinkühlschrank. Aber demnächst saugen wie unsere Energie nicht mehr aus Butanflaschen, sondern aus den Energieschienen von Herrn Hornsby." Es stellte sich heraus, dass die Gruppe am Tag vorher an der Ausgrabungsstätte von Puttkammers gewesen war, auf dem Rückweg befindlich sich aber entschlossen hatte, noch einmal tiefer in die Wüste vorzustoßen und daher den selben Weg wie Tony genommen hatte. Eigentlich hätte Tony ihnen begegnen müssen, aber sie hatten sich, per Funk vor dem Sturm gewarnt, in die schützende Schlucht eines niedrigen Felsmassivs zurückgezogen. Sie waren von Puttkammer selbst nicht begegnet, der hielt sich in der neuentdeckten Grabkammer auf, aber der Assistent war sehr zuvorkommend gewesen und hatten ihnen die Ausgrabungsstätte so weit wie möglich gezeigt.
Hornsby holte ein Polaroid-Foto aus der Tasche und reichte es Tony. Der beugte sich nach vorne, um den hellen Schein der Petromax-Lampe auf das Bild zu lassen. "Mr. Herbert Bruce war zwar zuvorkommend, hat aber offensichtlich viele Dinge für sich behalten. Wissen Sie, er hat einen Aluminiumkoffer, in dem wohl die wichtigsten Fotos und Aufzeichnungen gesammelt werden. Und da er gerade abgelenkt war und der Koffer offen und dieses Foto daneben lag, habe ich die Gelegenheit genutzt." Was Tony in den Händen hielt, war also das Foto von einem Foto. Eindeutig war eine schlecht erhaltene Wandmalerei zu erkennen. "Beachten Sie die drei Gegenstände auf der rechten Seite. Der Gedanke an Raketen drängt sich geradezu auf. Ganz links kann man noch so einen Gegenstand erkennen", lenkte Hornsby Tonys Interpretation in die gewünschte Bahnen. "Raketen?" murmelte Tony zweifelnd. "Zumindest Gegenstände, deren Form die Vermutung aufdrängt, dass sie technisch und seriell hergestellt wurden. " "Vielleicht ein Reserverad vom UFO", kicherte Mac Morley vorlaut dazwischen. In das peinliche Schweigen sagte Tony: "Das erscheint mir durchaus als wahrscheinlich. Wenn wir von der Existenz von UFOs ausgehen, dann müssen Gegenstände, die aus irgendwelchen Gründen von diesen Flugobjekten herabfielen, für die Leute der damaligen Zeit also vom Himmel fielen, besonderes Interesse wachgerufen haben. Man hätte sie dann wohl für Gegenstände der Götter gehalten, aufbewahrt und
ihre Form so weit wie möglich kopiert." Mac Morley brabbelte unzufrieden und nahm einen weiteren Schluck Bier. "Sie glauben wohl auch an diesen Kram?" fuhr er Tony an. Der fühlte sich nicht fähig, jemanden, der ihn vor kurzer Zeit aus seiner Sanddüne gebuddelt hatte, um etwas mehr Respekt zu bitten. "Ich habe lediglich gesagt, wie es sein könnte", antwortete er dann pikiert. "Aber etwas anderes fällt mir auf." Hornsby und Mac Morley streckten neugierig den Kopf vor, als Tony ihnen das Foto, das sie beide zur Genüge kannten, vorhielt. "Ich habe lediglich gehört, dass von Puttkammer nach einem Grab aus der ersten Zwischenzeit suchte. Dieses Wandbild, aber ich bin natürlich kein Experte, sieht mir nicht nach erster Zwischenzeit aus. Es stammt aus viel jüngerer Zeit." "Warum hatte Bruce es dann neben seinem Koffer?" Hornsby war völlig verblüfft. "Sie haben recht, aber ich war so sicher, dass - es ist mir gar nicht aufgefallen, ich war da wohl etwas zu sicher. Aber warum hatte unser kleiner Brucius es dann neben dem Koffer?" Vielleicht wollte er jemanden reinlegen, fuhr es Tony durch den Kopf. Oder jemand sollte auf eine Spur gebracht werden. Oder jemand sollte von einer Spur weggelockt werden. Oder Bruce hatte ebenfalls Interesse an diesen Gegenständen. Es gab zu viele Möglichkeiten und keine plausible Erklärung. Die Bierflasche kreiste wie der unvermeidliche Joint in einer Studenten-Wohngemeinschaft. Tony nahm eher aus Höflichkeitsgründen einen Schluck, bevor er die Flasche
weitergab. Das Gespräch drehte sich weiterhin um UFOs, kein Thema, an dem Tony größeres Interesse entwickeln konnte. Zudem stellte er fest, dass sich die Wirkung von Alkohol unter bestimmten Umständen potenziert. Und solche Umstände war bei ihm eingetreten. Er stand auf und machte einige Schritte, wobei er sich darauf konzentrierte, seinen Zustand nicht durch übermäßige Schwankungen um die Körperachse zu verraten. Die Luft war kühl geworden. Nach dem Sturm schien der Himmel klarer als je zuvor, und Tony stand lange auf einem Fleck und betrachtete die Sterne. Die Schattenrisse der umliegenden Höhen schnitten messerscharf durch die Himmelskuppel. Tony drehte sich, betrachtete die sanft geschwungenen Linien und stockte. Dort über dem Hügelkamm war ein Schatten, der nicht in das Schema passte. Tony kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Es schien eine Kuppel zu sein. Er ging zu seinem Wagen und wühlte unter dem Sitz nach einer Taschenlampe. Mac Morley war an seinem Wagen und klimperte mit Bierflaschen. "Was treibt Sie denn jetzt noch um, die Blase etwas?" fragte er. "Man weiß ja nie, was sich ergibt. Aber eigentlich wollte ich auf die Anhöhe. Da scheint ein Gebäude zu sein, das ich mir anschauen wollte." "Gebäude, ha?" Mac Morley ließ sich schwer gegen den Wagen fallen und überlegte. "Auf der Karte war irgendwas vom Grab eines Marabus, aber ich weiß wirklich nicht, ob das hier war. Ist ja wohl egal. Auf dem Rückweg brauchen Sie sich nur nach dem Lärm zu orientieren, dann können Sie sich nicht verlaufen. Diese 'Society of British Ufologists' ist nicht nur verbohrt, sondern auch versoffen!" Der Alkohol hatte die Stimmung der Gemeinschaft inzwischen
enorm gesteigert. Die Stimmen klangen lauter, das Lachen der beiden Frauen bekam einen schrillen Beiklang. Tony war froh, dass er sich der nun bald anstehenden ‘Was sind wir doch alle für nette Leute’-Phase entziehen konnte. Der Aufstieg gestaltete sich nicht einfach. Die Hügelflanke war mit Sand bedeckt. Seine Schuhe versanken bis über die Knöchel, manchmal rutschte er die gerade mühsam erkletterten Meter wieder herunter und musste sich die Beine ausgraben. In der Senke fand wieder eine hitzige Diskussion statt. Tony grinste. Es ging immer noch um die drei unidentifizierbaren Gegenstände. "Raketenartig. Papperlapapp", höhnte Mac Morleys Stimme. "Wenn Sie nicht ständig nach kleinen grünen Männchen Ausschau halten würden, dann könnten Sie mal einen Blick in Gardiners Liste werfen: Unklassifizierbare Hieroglyphen, Nummer 31 - da haben Sie Ihre Rakete. Oder Kategorie ‘Körbe, Säcke’, Zeichen Numero 38 - setzen Sie einen Standfuß drunter und Sie haben die schönsten Raketen, die sich ein UOF-Freak wünschen kann." "Unklassifizierbare Zeichen - da haben wir es doch. Sie können sich aus Gardiners Liste ein Zäpfchen drehen. Wenn Sie glauben, dass ein hübscher Begriff Wissen ersetzt, dann sind Sie genau der Typ, für den ich Sie halte." "Für was halten Sie mich denn, Hornsby", Mac Morleys Stimme bekam einen drohenden Unterton, der durch seinen schottischen Akzent nur noch dramatischer wirkte. "Jedenfalls für eine Person, der ich nicht sagen kann, was ich von ihr halte ..." Tony hatte den Kamm erreicht, und als er weiterging, schwanden die Stimmen bis auf ein undeutliches Murmeln. Er
hatte tatsächlich ein Gebäude gesehen. Während des mühsamen Aufstiegs waren ihm Phantasien durch den Kopf gefahren. Er sah sich schon als Entdecker eines gewaltigen antiken Palastkomplexes, den der Sturm freigelegt hatte. Nun ging er stark ernüchtert auf den würfelförmigen Bau von gerade einmal vier Metern Seitenlänge zu, der von einer Kuppel abgeschlossen wurde. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Er umkreiste das Gebäude und fand einen spitzbogigen Eingang an der Ostseite. Im Schein der Taschenlampe trat er ein. Der Anblick war ernüchternd. Kahle fensterlose Mauern, Sand auf dem Boden, in einer Ecke lag ein Haufen aufgerissener Tüten, Plastikschalen und ein halb verbrannter Karton. 'Turkey. Diced with Gravy', konnte er entziffern. Das waren ohne Zweifel Militärrationen gewesen. Es lebe die westliche Zivilisation, dachte Tony Tanner bitter. Beutel mit Urin auf dem Mond und Plastiktüten in der Wüste. Wir haben allen Grund, stolz zu sein. Die Decke des Raumes war löchrig. Tony stellte sich unter das größte Loch, das in der Mitte des Raumes war, leuchtete nach oben in die Kuppel und wandte sich dann den Kritzeleien an den Wänden zu. Es waren meist Inschriften in arabischer Schrift, aber er fand auch kyrillische Sätze und das unvermeidliche 'Kilroy was here' mit der ebenfalls unvermeidlichen Zeichnung und ein an Deutlichkeit nicht zu überbietendes 'Fuck the World' mit einem Datum, das einige Jahre zurücklag. Tony dachte sofort an Militärmanöver, die die Ägypter mit der westlichen Führungsmacht veranstaltet haben könnten. Schließlich waren US-Amerikaner und Ägypter im Golfkrieg Verbündete. Aber solche Militärrationen waren in jedem 'Army Surplus'-Geschäft kaufen, also konnten es ebenso gut Zivilisten gewesen sein, die sich hier breit gemacht hatten. Dann überlegte er und betrachtete das Loch in der Decke.
Von außen sah das Gebäude völlig symmetrisch aus. Wenn er jetzt in der Mitte des Raumes nach oben leuchtete, dann müsste er direkt auf den Scheitel der Kuppel sehen können. Aber das war nicht der Fall. Tony ging nach draußen, umkreiste das Gebäude und suchte nach Anzeichen von Asymmetrie. Er fand keine. Er ging zurück in den Raum, leuchtete nach oben. Im Lichtkegel sah er die ansteigende Wölbung der Kuppel. Er schritt den Raum ab, ging wieder nach draußen, schritt die Außenwände ab und fand eine Differenz. Zwischen Außenmauer und der Innenwand gegenüber dem Eingang musste ein Hohlraum sein. Diese Innenwand war wie alle anderen mit Lehm grob verputzt und ließ auch nach eingehender Untersuchung keine Besonderheit erkennen. Tony tastete die Wand ab. Als er den zweiten Mann aus dem Hubschrauber geholt hatte, waren seine Fingerspitzen fast verbrannt, und nun tat jede Berührung mit dem rauen Putz weh. Dann klopfte er die Wand nach Hohlräumen ab, bis seine Knöchel ebenso schmerzten wie sei seine Fingerkuppen. Schließlich ließ er sich in den Sand fallen. Er kannte die Frage, die er sich jetzt stellen würde. Sie lautete: Wie komme ich eigentlich hierhin und was will ich eigentlich hier? Aber bevor diese Frage kam, sprang er wieder auf und ging zur Außenmauer. Und hier fand er bald das, wonach er suchte. Ein Stein ragte deutlich über die anderen hinaus, so deutlich, dass es schon fast als ein bewusst gesetztes Zeichen erscheinen konnte. Tony ruckelte und konnte den Stein bald herausziehen. Dann schob er einen Arm und den Kopf in die Mauerlücke. Er wusste selbst nicht genau, was er erwartet hatte, vielleicht den gruseligen Anblick eines mumifizierten Heiligen oder irgendwelche Gegenstände, die zu verstecken sich lohnte. Aber seine Taschenlampe beleuchtete nur einen schmalen, völlig leeren Raum. Nein, so ganz leer war der
Raum nicht, denn an der gegenüberliegenden Wand stand ein grobgezimmertes Regal. Bücher oder Schriftrollen mochten einst hier gelagert haben. Ein Unbekannter hatte sie gefunden und mit sich genommen und allen anderen nichts gelassen als die Enttäuschung. Ein letztes Mal ließ Tony den Lichtkegel der Lampe durch den Raum gleiten. Er drückte sich ächzend noch ein Stück weiter durch die Öffnung. Das Atmen fiel ihm schwer, weil seine Brust zusammengedrückt war, aber auch, weil der Raum einen abstoßenden muffigen Geruch ausströmte, der allzu sehr an Grüfte und Katakomben erinnerte. Er hob mühsam den Arm und leuchtete aus einem anderen Winkel. Eingeklemmt zwischen Bodenbrett und Stütze schimmerte ein kleines Stück Papier. Um es zu erreichen, musste sich Tony noch ein schmerzhaftes Stück weiter in den Raum drücken und mit zwei Fingern nach dem Zettel schnappen, während die anderen Finger die Taschenlampe umklammerten. Dann dauerte es einige anstrengende Minuten, bis er sich millimeterweise, zuckend und schiebend wie ein seltsamer Zirkusakrobat, aus der Öffnung befreit hatte. Der schlecht vertragene Alkohol, die enge Öffnung und der schlechte Geruch des Raumes vereinigten sich zu einer aufund abschwellenden Übelkeit, die wie ein fremdes Wesen in seinem Magen zuckte. Mit offenem Mund ging er Weile umher, sog die kühle, reine Wüstenluft ein und versuchte, seinen Magen zu beruhigen. Dann erst schaute er sich den Zettel an. Es war eine Seite aus einem kleinen Taschenkalender, das Datum des entsprechenden Tages war Mittwoch, der 6. April. Mit Bleistift war eine Positionsangabe aufgeschrieben, darunter stand 'Kairo' und eine Adresse. Viel war das nicht, fand Tony. Im Grunde zu wenig für die Übelkeit, die er jetzt langsam überwunden hatte, und die Plackerei, mit der er nun den Stein wieder in seine ursprüngliche Position brachte. Es
war Tony Tanner ein Herzensanliegen, den Stein wieder ganz exakt in die Wand zu schieben und die Fugen so gut wie möglich mit Sand zu füllen. Den Zettel schob sich Tony unter die Peitsche, die er immer noch um den linken Arm trug, wo sie nutzlos und Juckreiz erregend auf einen Einsatz harrte. Als er zurückkam, befand sich die Gruppe schon in Auflösung. Die meisten warfen ihre Schlafsäcke in den Sand und krochen hinein, einige andere versuchten, es sich in den Geländewagen bequem zu machen. Auch Tony kletterte in seinen Wagen und versuchte, sein Schlafbedürfnis mit der Innenraumgestaltung eines Landrovers in Einklang zu bringen. Es gelang ihm nur mit Mühe. Aber diesen Versuchen mit ständig wechselnden Stellungen schlief er ein. Ein Klopfen an das Fenster weckte ihn. Er sah den rotgesichtigen Mac Morley und wurde in einem fürchterlichen Moment von der Furcht durchzuckt, er wäre schon wieder unter dem Sand verschüttet und müsste ausgegraben werden. Dann sah er den strahlend blauen Himmel und seine Laune besserte sich deutlich. "Guten Morgen", begrüßte er Mac Morley. "Wunderhübsches Wetter, ist es nicht wahr, kein Regen zu erwarten, und selbst vor Glatteis brauchen wir uns nicht zu fürchten, es ist schließlich überall gestreut." "Welch köstlicher Witz. Als ich ihn das erste Mal gehört habe, habe ich mir in die Windeln gemacht vor Lachen." "Ich vermute, Sie haben mich nicht geweckt, um mit mir ein Duell mit der Witzkeule durchzuführen?" "Nein", gestand Mac Morley, "ich habe eine Bitte an Sie. Und ich muss gestehen, ich werde diese Bitte auf noch aufrechterhalten, selbst wenn Sie sich weiterhin als der Born
der guten Laune gebärden sollten, den Sie jetzt abgeben. Also - kann ich mit Ihnen fahren?" Tony reckte sich gerade. Nach der Nacht im Auto hatte er zum ersten Mal in seinem Leben bewussten, aber recht schmerzhaften Kontakt mit jedem Knochen und jedem Muskel, der sich irgendwo in seinem Körper versteckte. "Sie wollen mit mir fahren? Aber ich will doch heute zu der Ausgrabungsstätte und dann gleich zurück nach Bir Tarfawi?" "Eben. Ich fahre mit Ihnen zurück nach Bir Tarfawi und dann über die Piste bis El Kharga. Von dort gibts eine ausgebaute Straße zum Nil. Wissen Sie, die anderen wollen noch weiter, bis runter zur sudanesischen Grenze. Spinner! Nun ja, und da ich mir inzwischen schon eine feste Meinung über diese Sekte der UFO-Gläubigen gebildet habe, will ich nur weg. Und ich dachte, nachdem ich geholfen habe, Ihren Wagen auszugraben ..." Tony zuckte die Schultern. "Von mir aus können Sie mitkommen. Aber ich warne Sie, ich bin ein miserabler Autofahrer ..." "Ich verlasse mich darauf, dass Sie keinen Baum rammen", rief Mac Morley über die Schulter hinweg. Er war schon auf dem Weg, um sein Gepäck zu holen. Das Lager erwachte, und verschlafene Gestalten krochen aus ihren Schlafsäcken. Tony hatte zwar leichthin zugesagt, Mac Morley mitzunehmen, aber dann kamen ihm doch Bedenken. Vielleicht wurde er auf diese Weise in einen Konflikt innerhalb der Gruppe einbezogen? Aber Hornsby nahm die Nachricht mit großer Erleichterung auf, so als würde sich Tony bereit erklären, den Müll nach unten zu bringen.
"Er ist eigentlich als Gast mitgereist", erklärte Hornsby, "aber durch seine permanente Stänkereien ging er uns allen bald auf die Nerven. Dieser Mann ist so vernagelt - Kritik um der Kritik willen. Immer Opposition. Immer dagegen sein, schon aus Prinzip. Äußerst anstrengend. Schockierend. Wenn Sie ihn mitnehmen, tun Sie mir und uns allen einen großen Gefallen." "Na, wenn das so ist, dann kann ich mich wenigstens ein wenig für meine Rettung revanchieren." Man tauschte noch Adressen aus, dann ging Tony auf die Händeschüttel-Tour, und schließlich fuhr er los. Mac Morley hatte sich von keinem verabschiedet und saß während dessen im Wagen. "Ich wette", knurrte er, als Tony wieder auf die markierte Piste eingebogen war, "als Sie diesen vertrockneten Ziegen die Hand gegeben haben, war das das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass die Körperkontakt mit einem Mann hatten. Oh, Junge, Junge, diese kondensierten Jungfern - man gieße heißes Wasser drauf und vielleicht kommt 'ne Frau dabei raus. Instant-Ladies ..., ha ha ha." Tony hatte keine Lust, sich an einem Gespräch dieser Art zu beteiligen, und schaute angestrengt auf die Piste, obwohl der Untergrund hier hart und eben war wie Asphalt. Aber Mac Morley ließ sich nicht von seinem Thema abbringen. Harte Wochen, in denen er mit seiner Meinung hinter dem Berg halten musste, bedurften der Bewältigung. Tony Tanner bekam diesen gewissen Blick, den Francine sehr gut als den 'Durchzugs-Ausdruck' kannte. Sie hatte ihrerseits allerdings Jahre gebraucht, bevor sie die Kombination von höflichem Interesse und einem leicht verschleierten Blick als das erkannte, was es war: Zeichen
dafür, dass Tonys Gehör die aufgenommenen Schallwellen ohne Verarbeitung durch irgendein Teil des Hirns auf der jeweils anderen Seite wieder austreten ließ. Tony verfeinerte diese berufsbedingte Technik durch Interesse heuchelnde, dabei aber völlig belanglose Fragen wie: Tatsächlich? Habe ich ja noch nie gehört? Du meine Güte? oder das unschlagbare Und was geschah dann? Soviel bekam er denn aber doch mit, dass Mac Morley Gründungsmitglied einer schottischen Gesellschaft war, die sich mit etwas befassten, was er 'Feng Shui' nannte. Die Gegend war so langweilig, dass Tony doch langsam auf den Zuhörmodus schaltete. "Wie sind Sie eigentlich mit Hornsby und seiner Gruppe zusammengekommen", fragte er. Insgeheim betete er, dass Mac Morley ihm diese Geschichte nicht gerade eben erst zum Besten gegeben hatte. Aber wenn es so war, dann war es dem Schotten zumindest egal. Er schnaufte und nutzte die Gelegenheit, über Hornsby herzuziehen. "Wo ich diese Spinner kennen gelernt habe? In Deutschland allein diese Tatsache hätte mich misstrauisch machen sollen. Um genau zu sein, war es - wie heißt das noch - in Westfalen. Wir waren bei den Externsteinen. Das ist eine Felsformation, die schon seit Urzeiten eine religiöse Rolle gespielt hat. Ja, wir machten unsere Untersuchungen hinsichtlich Erdstrahlen, dem Fluss der Chi-Kraft und ähnliches - mmh, wissen Sie eigentlich, was Feng Shui ist ...?" Tony nickte mit dem Kopf. Er hatte zwar nur eine vage Ahnung, dass es sich um die chinesische Theorie der Erdenergien handelte, aber weitergehende Erklärungen wollte er jetzt gar nicht hören.
" Ja, also, das was wir machen, ist sozusagen die schottische oder die europäische Variante. Wir, das heißt die Leute meiner Gruppe und meine Wenigkeit, waren dabei, die Externsteine zu vermessen. Ein wirklich eindrucksvoller Ort. Wenn er in Schottland läge, würde ich sagen, unübertrefflich. Zu der Zeit waren auch jede Menge Späthippies da, esoterische Spinner und unsere UFO-Freaks. Ich kam mit diesem Hornsby ins Gespräch, weil er so eine Theorie hatte, die ein wenig an die Drachenwege der Chinesen erinnerte." "Sie meinen diese Energielinien, über denen sich die UFOs bewegen?" "Genau. Na ja, ob es das deutsche Klima war oder eine schlechte Verdauung durch das komische Bier, das sie da unten trinken, jedenfalls erschien er mir recht akzeptabel. Ich meine als Mensch und als - nennen wir es der Einfachheit halber Wissenschaftler. Wir korrespondierten eine Weile, und schließlich lud er mich zu dieser katastrophalen Reise ein." "Und hier haben Sie Ihre Meinung über Herrn Hornsby grundlegend revidiert?" "Grundlegend. Ich glaube, als Einzelperson ist er wirklich in Ordnung. Aber man darf ihn nicht in die Nähe seiner UFOFreaks lassen. Da kehrt er den Prediger raus. Wussten Sie, dass in der Gruppe ein pensionierter SAS-Major ist? Ohne den wären diese Pfeifen in der Wüste schon längst hopsgegangen. Aber obwohl der Major der einzige ist, der sich in der Wüste auskennt, führt Hornsby weiter das große Wort." "Und das stört Sie?" "Hören Sie, Mr. Tanner, ich kann winzig kleine Antennenstücke im Sand erkennen und ich kann auch Ironie
erkennen. Und in diesem Bereich bin ich Hundertprozent humorbehindert, verstehen Sie! Sie haben die Typen ja nicht erlebt! Aber ich. Und ich sage Ihnen, der Begriff Fanatiker trifft den Punkt genau. Das sind die roten Khmer der Ufologen. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen - tschuldigung, wenn ich eben etwas heftig war. Aber ich habe mir jetzt drei Wochen lang auf die Zunge gebissen und jetzt muss es raus. Also, da zeigt dieser Großkotz Hornsby eine Karte und verkündet stolz, dass Giseh, Abu Simbel und die Ausgrabungsstätte vor uns ein Dreieck bilden. Toll, sag ich, geben Sie mir drei Punkte und ich mach Ihnen noch 'n Dreieck draus, Shanghai, Oxford und mein Scheißhaus beispielsweise. Da guckt er giftig und fängt an, mich zu missionieren. Von wegen Pyramiden und Himmelsrichtung und was weiß ich. Alles völlig beliebiger Scheißdreck, Verzeihung für den Ausdruck. Aber er bezeichnet genau das, worum es geht. Geistige Onanie. Akademiker-Dünnschiss." "Ich dachte, Sie wären wegen UFO-Beobachtungen hier in der Wüste gewesen?" "Waren wir auch. Aber die kleinen Grünen waren eigen und haben sich nicht gezeigt." "Und Sie halten von diesen UFO-Sichtungen nichts?" "Das ist alles Unfug. Man stelle sich das doch mal vor. Wenn irgendeine dämliche Magd im Mittelalter behauptet, sie wäre vom Leibhaftigen gepimpert worden oder wenn ein Heiliger eine Engelerscheinung hat, dann heulen unsere hochmodernen Psycho-Fuzzis los und haben sofort die Erklärung bei der Hand: neurotisierte Sexualverdrängung, libidinöse Visualisierung in religiöser Verbrämung und was die sonst noch an Wortgeklingel auf der Pfanne haben. Aber wenn heute eine Hausfrau, die seit zehn Jahren vergeblich versucht, wenigstens von einem Nachbarn angetatscht zu
werden, weil ihr Alter sie nicht mehr anrührt, dann plötzlich erzählt, sie sei von kleinen eisgrauen Männlein untersucht und an einer ganz gewissen Stelle operiert worden, dann sind die Herren Wissenschaftler aufmerksam und machen ernsthafte Untersuchungen. Fällt Ihnen da nicht auch was auf?" "Wenn ich Sie recht verstehe, dann halten Sie die kleinen grünen Männchen für die moderne Version von Engeln, Teufeln, Dämonen und diesen mythologischen Gestalten?" "Was soll es sonst sein? Früher hüpfte ein ordentlich geiler Pan durch die Wälder und ließ die Mädels kreischen, dann waren es die höllischen Ausgeburten oder die himmlischen Heerscharen, und unsere elend langweilige Zeit kann sich nur diese kosmischen Rappelkisten vorstellen. Ich könnte mir wirklich in den Bauch beißen, wenn ich mir überlegen, welchen Schrott die Leute heute schlucken. Entführung durch Außerirdische, die komischen 'Männer in Schwarz', die die Zeugen bequatschen - das ist doch alles nur Kinderkram für unsere kindische Zeit." "Nun ja, zumindest die Sache mit dem Sturm hat mich beeindruckt." Mac Morley nickte. "In dieser Hinsicht gehe ich mit Hornsby ja durchaus konform. Aber diese Schlussfolgerungen, die er zieht! Sehen Sie, ich halte es für möglich, dass über diesen Energiebahnen Lichterscheinungen entstehen, so etwa wie die Kugelblitze, aber damit ist dann auch Schluss. Und bitte keine Knilche vom Mars, die irgendwann landen und sagen: Hei Leute, hier ist der Dreipunkteplan für die Rettung der Menschheit und hier die Pille, die euch alle glücklich macht und hinten im Wagen ist noch eine Blondine für jeden, der eine braucht. Das ist doch kindisch." Wer war jetzt eigentlich der Fanatiker - Hornsby oder Mac
Morley? Tony gab etwas mehr Gas, denn die Sache wurde doch etwas anstrengend. 17. Mac Morley schwieg eine Weile, aber Tony merkte deutlich, dass es in seinem Beifahrer grummelte. Wenn er einen schnellen Blick zur Seite warf, konnte er deutlich sehen, wie die Kinnmuskeln des Schotten arbeiteten, so als würde er gerade einige unausgesprochene Bemerkungen zwischen den Zähnen zermalmen. Tony legte keinen Wert auf Unterhaltung. Wenn im Kino oder im Fernsehen attraktive Männer mit markanten Gesichtszügen ihre Geländewagen durch die Wüste steuerten, dann wirkte das wesentlich weniger schweißtreibend als die Wirklichkeit, der er sich hier gegenüber sah. Einige Male hatte er direkt in ein Sandloch gesteuert, und der Landrover war mit der Kühlerhaube tief eingetaucht, während das Heck hochbockte, und jedes Mal schoss Tony die Panik durch die Adern, dass jetzt der Überschlag kommen würde. Aber der Wagen fing sich jedes Mal wieder in einer aufstaubenden Sandfontäne, und zwei wie exquisite Cocktails durchgeschüttelte Insassen konnten ihren Weg fortsetzen. Der letzte derartige Schock schien Mac Morleys zurückgehaltene Bemerkungen endgültig losgerüttelt zu haben. "Man muss sich das mal vorstellen", knurrte er los. "Technologie um Tausende von Lichtjahren zu überwinden, aber so blöde, dass sie ständig auffallen. Warum sind die kleinen grünen Männchen nicht schon vor vierzig Jahren auf dem Piccadily Circus gelandet und haben dort ihre Fahne aufgepflanzt? Das gibt doch keinen Sinn! Oder ihre Eigenschaft, sich ständig sexuell unterversorgte Muttis zum Betatschen an Bord zu holen! Man stelle sich das mal vor -
jeder minder begabte Serienmörder lässt seine Opfer diskret im Säurefass verschwinden, bloß diese Insektengesichter schnippeln an den Damen rum - natürlich immer am Unterleib, wo sonst! Als wären sie geile Medizinstudenten im vierten Semester - und dann, schwuppdiwupp, ist Mutti wieder im Bett, neben ihrem schnarchenden, stinkigen Ehegespons, und die Mami ist gezwungen, Bücher zu schreiben und Interviews zu geben. Wissen Sie was, Tanner? Diese Aliens haben einfach keinen Stil, das ist es! Also, was soll das Ganze?" "Terror", antwortete Tony Tanner. Er wusste selbst nicht genau, wie er auf diese Antwort kam, aber er erinnerte sich an Dorkas und seine Theorien. "Wie meinen?" Mac Morley war ernsthaft verblüfft, auf seine rhetorische Frage eine Antwort bekommen zu haben. "Ich meine, dass hier schlicht Angst verbreitet werden soll. Sagen wir mal, wie war es im letzten Jahrhundert, wenn ein paar Baströckchenträger gegen die Europäer aufmuckten? Man schickte ein Kriegsschiff, das kreuzte vor der Küste auf und ab, und dadurch rutschten den unwilligen Untertanen ihrer allerchristlichsten Majestäten das Herz in die nicht vorhandenen Hosen." "Oh Mann!" Mac Morley wischte sich Schweiß und Staub aus dem Gesicht. "Das hätte jetzt auch von diesem Hornsby kommen können. Ergibt aber keinen Sinn. Denn unsere Kolonialpolitiker hatten ja wohl klare Vorstellungen und Ziele. Und das kann man von den Ufo-Geisterfahrer kaum behaupten!" Tony zuckte die Schultern. "Wissen wir es? Ich meine, wenn wir uns die Politiker anschauen - kapieren die eigentlich immer, was da läuft? Na also, das könnte doch durchaus der Einfluss der Außerirdischen sein, den wir nur nicht
durchschauen können." Mac Morley kratzte sich grunzend am Kinn. "Stimmt", konstatierte er dann nach einer Weile. "Stimmt. Ich glaube, dass bei der EU in Brüssel der außerirdische Einfluss sehr stark ist. Wahrscheinlich sind die Kommissare da selbst schon Aliens." Er geriet in Begeisterung. "DAS ist es. Endlich haben wir eine schlüssige Erklärung für die europäische Agrarpolitik sie ist das Werk von Außerirdischen. Und dass Maggie Thatcher nicht von dieser Welt sein konnte, ist doch jedem klar. In ihrer unvermeidlichen Tasche hat sie wahrscheinlich ein Tütchen Marsatmosphäre als Notvorrat. Oder John Major, dem sah doch jeder an, dass er sich niemals von seinem UfoAbsturz erholt hat. Und unser aller Tony Blair-WitschProtscheckt ..." "Vergessen wir nicht Michael Jackson", warf Tony ein. "Der kann eigentlich nicht echt sein." "Und all diese komischen Rapper - bewegen sich, als wären ihnen das Kleinhirn amputiert worden und können nur schlechte Reime nuscheln - wahrscheinlich wegen kultureller Unfähigkeit aus ihrem Sonnensystem vertrieben." Mac Morley kicherte eine Weile vor sich hin und wurde dann ganz plötzlich wieder ernst. "Wir haben hier gut blödeln", sagte er dann. "Aber Hornsby lässt tagtäglich solche Sachen ab. Und er meint es ernst. Oder er wird zumindest von seinen Leuten ernst genommen. Letztens war er damit zugange, dass die Außerirdischen uns schon ständig Zeichen geben würden. In verschlüsselter Form, aber für jedermann zugänglich, durch Zeitungsmeldungen, Literatur, Kinofilme, was weiß ich. Die blöde Masse kriegt das natürlich nicht mit. Aber die Klugen erkennen die Zeichen und werden daher von den Außis auch freundlich behandelt."
"Und der Rest?" "Ex und hopp! Zumindest laut Hornsby. Der Mann ist gefährlich. Ich weiß, ich wiederhole mich. Er ist unter den Ufologen ein Außenseiter. Im Grunde hat er so eine Art Sekte innerhalb der UFO-Sekte gegründet. Er behauptet zum Beispiel, so ein Film wie 'Stargate' wäre ein Zeichen für die Gegenwart. Natürlich hätten die Autoren keine Ahnung, aber ihre Ideen wären Splitter eines universalen Erdgedächtnisse und weil die Tage der Erscheinung näher kommen, er nennt das wirklich 'Tage der Erscheinung', dringen immer mehr dieser Mosaiksteinchen aus dem universalen Erdgedächtnis in das Bewusstsein der Menschen ein. Die Eingeweihten erkennen die Wahrheit hinter der Kinogeschichte - so eine Kinderkacke -". "Na ja, irgendwie klingt das doch ganz plausibel, oder nicht?" "Zu plausibel, für meinen Geschmack. Jedenfalls hat er damit seine Leute total unter Kontrolle. Die fressen ihm aus der Hand. Wenn irgendeiner aufmuckt, kommt gleich noch 'ne Erkenntnis - tiefe Einsichten aus einem Song der Spice Girls oder wie die Schlampen auch heißen mögen, oder einer dieser unerträglichen Rapper hat zwischen seinen "Aha" und "Yeah" irgendwas geäußert, was Guru Hornsby dann für seine Getreuen übersetzt - und schon ist er wieder der unbestrittene Meister. Und im größten Notfall holt er den Millennium-Effekt aus dem Ärmel." "Millennium-Effekt?" "Sagen Sie, wo leben Sie eigentlich? Der so genannte Jahrtausendwechsel, den die blöden Rechner angeblich nicht auf die Reihe kriegen sollten. Oh, das wird toll. Hornsby lief sicher bei der Beschreibung dieser kommenden Katastrophen
zu Höchstform auf." Mac Morley stieß ein lautes, unfrohes Lachen aus. "Dass sich Atomraketen selbstständig machen sollten, war eigentlich Nebensache. Aber am 1.1. 2000 um 0 Uhr und eine Sekunde sollten auch die Fahrstühle verrückt spielen, die Küchenmaschinen durchdrehen, die Klimaanlage versuchen, uns zu ersticken - überflüssigerweise, denn wir sind doch schon im Atomblitz verdampft - die Rolltreppen nicht mehr rollen und die Kassen nicht mehr kassieren, und wer unglücklicherweise einen Rasierapparat benutzte oder hähähä, vielleicht einen Vibrator, der sollte gar keine Gelegenheit mehr haben, das gewaltige Bild der aufwallenden Atompilze richtig zu genießen, weil es ihn vorher weggehauen hat. Und was ist passiert? Nix. Also ist dieses Datum, wie vorher etliche Weltuntergänge auch, abgehakt, und Hornsby beschwört neue Bedrohungen herauf." "Klingt nach einer richtigen Punk-Idylle. Aber ich vermute, Hornsby hat irgendein Hilfsmittel für sich und seine Anhänger." "Worauf Sie einen lassen können. Aber leider habe ich nicht rausgefunden, was er mit seinen Leuten ausbaldowert hat. Die Gruppe hier ist übrigens nur ein kleiner Teil seiner Anhängerschaft. Sozusagen der Generalstab." "Sie hätten halt manchmal den Mund halten sollen, dann wüssten Sie jetzt, wie Sie sich retten können." "Bevor ich mich von einem Spinner wie Hornsby retten lasse", schnaubte Mac Morley, "grabe ich mich lieber selbst ein." "Bravo, da höre ich den ungebrochenen Stolz des Hochländers." Mac Morley brabbelte etwas, das wie "Verarschen kann ich mich alleine" klang und schwieg für den Rest der Fahrt verbissen.
Sie überquerten eine Dünenkette, und dann lag die Ausgrabungsstelle vor ihnen. Tony war ein wenig enttäuscht. Für eine archäologische Sensation sah das alles geradezu beschämend dürftig aus: einige große und kleine Zelte, einige Kistenstapel, ein schmutziger Lastwagen. In der Mitte des Lagers deckte eine große, verblichene Plane ein quadratisches Loch ab, aus dem einige Leitern ragten. Mac Morley quittierte den Anblick des Lagers mit einem gelangweilten Knurren. Er wirkte blasiert wie ein fauler Bernhardiner, der auf seinem Teppich vor dem Kamin liegt, während Herrchen mit der Leine lockt. Dann aber setzte er sich gerade auf seinen Sitz und äugte aufmerksam auf die Zelte. Tony rollte vorsichtig auf das Lager zu. "Warum arbeiten die nicht?", knurrte Mac Morley. "Mittagspause, vielleicht", vermutete Tony frohen Herzens, denn er wusste um den Zustand seines eigenen Magens. "Dann säßen alle hier herum und würden beidbackig Fladenbrot kauen." "Na gut, dann eine Vollversammlung zwecks Abstimmung über einen Streik zwecks Erhöhung der Löhne zwecks mehr Geld in der Haushaltskasse." "Quatsch", fauchte Mac Morley. "Dieser von Puttkammer bezahlt seine Leute gar nicht so schlecht. Und er hat sie unter Kontrolle. Da ist nichts mit Streik. Die sind viel zu froh, sich hier was dazuverdienen zu können. Halten Sie an. Ich gehe mal nachschauen. Hier ist doch etwas faul!" Mac Morley stieg aus und stiefelte steifbeinig, mit einer Hand
seinen Rücken massierend, zu dem größten Zelt. Tony würgte den Motor ab und wartete. Das Blech der Motorhaube knackte. Stimmen erklangen aus dem Zelt. Er vernahm aufgeregte Wortkaskaden in arabischer Sprache, dazwischen Brocken von Englisch, die er jedoch nicht genau verstehen konnte. Dann erschien Mac Morley und eilte auf Tony Tanner zu. Er war weiß im Gesicht. "Ich hatte Recht", sagte Mac Morley, und seine Stimme klang belegt. "Hier ist was oberfaul!" *** Lucille Chaudieu fröstelte. Trotz der flimmernden Wüstenhitze lief ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie auf das Zelt und die beiden Männer, die in seinem Schatten saßen, schaute. Noch nie im Leben hatte sie sich so fremd, so ausgeschlossen, so überflüssig gefühlt. Es war, als hätte eine unbekannte Kraft sie auf einen fremden Planeten geschleudert. Und dabei war sie selbst es gewesen, die darauf bestanden hatte, Mont-Alban auf dieser 'Geschäftsreise', wie er es nannte, zu begleiten. Er hatte ihr abgeraten, wohl wissend, dass sie seine Warnungen ignorieren, dass ihr Entschluss mitzukommen, dadurch nur noch fester würde. Er hatte sich in ihre Seele eingeschlichen wie ein Dieb; er kannte inzwischen ihre geheimen Ausflüchte, die bequemen Lügen und die faulen Selbstbilder, all die dunklen Hinterhöfe, Flure und Fluchtwege ihrer Psyche besser als Lucille selbst. Und so hatte er in diesem leisen, unausgesprochenen und gnadenlosen Krieg, der zwischen Lucille Chaudieu und Francois de Montalban tobte, eine weitere Schlacht gewonnen. Er hatte eine Falle aufgebaut, und sie war in diese Falle gestolpert und hatte sich unter seinen belustigten Blicken gedemütigt. Niemals vorher war das so offensichtlich geworden wie in dem
Moment, als Montalban sie seinem Geschäftspartner vorstellte. Er sprach immer nur von dem 'Scheich' - Lucille hatte das für eine romantische Kinderei gehalten, bis sie den Auftritt dieses Mannes miterlebt hatte: Hinter einer Biegung des Wadi, in dem Montalban mit seinen Leuten lagerte, wehte eine riesige Staubwolke heran. Als sie sich näherte, konnte man einen Pulk von Fahrzeugen erkennen, Offroadwagen, geländegängige Pick-Ups, auf deren Ladeflächen schwere Maschinenkanonen angebracht waren, allradgetriebene TatraLastwagen und sogar zwei leichte Radpanzer. Die Fahrzeuge hielten in der Nähe des Lagers, nur ein Wagen fuhr weiter bis zum Zelt Mont-Albans. Dem Wagen entstieg eine schlanke, fast zarte Gestalt, eingehüllt in die traditionellen weiten Gewänder der Beduinen. Etwas in den Bewegungen und Gesten dieses Mannes machte Lucille sofort klar, dass er der 'Scheich' sein musste. Sie wusste selbst nicht genau, woher diese Überzeugung kam, aber etwas von der Spannung und der Kraft des Befehlens und Herrschens, einer seit Generationen geübte Attitüde, lag in den Gesten dieses Wüstenbewohners. Der Scheich und Montalban verneigten sich langsam und gemessen, als würden sie eine Figur aus einem alten höfischen Tanz aufführen. Dann sahen sie sich in die Augen und umarmten sich wie alte Schulfreunde, die sich seit langer Zeit wiedertreffen. Der Scheich sprach ein korrektes, aber kehliges Französisch, während sich Montalban in einem Arabisch versuchte, dem man deutlich die singende Melodie seiner Muttersprache anhörte. Montalban winkte Lucille heran und sagte einige erklärende Sätze zu seinem Gast und Verhandlungspartner. Lucille trat zögernd näher, befangen angesichts der Vertrautheit der beiden Männer. Der 'Scheich' reichte ihr eine schmale, sehnige Hand. Die Hand passte zu dem Gesicht,
das sie unter dem Kopftuch sehen konnte. Es war schmal, fast mager, von einer scharfen Adlernase bestimmt, unter der ein schmaler Mund lag. Die scharfen Falten zwischen Nasenwurzel und den niedergebogenen Mundwinkeln verliehen dem Gesicht einen Ausdruck, der zwischen resigniertem Ekel und höhnischer Verachtung zu pendeln schien, so als sei diese Welt das Ergebnis eines von unfähigen Dienern schlecht ausgeführten Auftrages. Die Haut des Scheichs war dunkel, fast schwarz; ungewöhnlich für ein Volk, stellte Lucille bei sich fest, bei dem dunkle Haut eher als Zeichen einer Herkunft aus dem Sklaventum denn als gute Voraussetzung für Führertum galt. Ein gepflegter, schwarzer Bart umrahmte den Mund. Die Augen unter hochmütig gebogenen Brauen waren ebenfalls pechschwarz, und sie schauten mit einem Ausdruck auf Lucille, der sie fast zum Schreien gebracht hätte. Nicht dass sie männliche Begierde oder unziemliche Bewunderung darin gelesen hätte. Nein, der Blick des Scheichs sprach ihr schlichtweg jede Menschlichkeit ab. Für ihn, daran konnte es keinen Zweifel geben, war sie höchstens ein Ding, ein Gegenstand. Man mochte dieses Ding unter Umständen nutzen, um sich sexuelle Entspannung zu verschaffen oder um durch dieses Werkzeug Söhne in die Welt zu setzen, vielleicht mochte man sich mit dem Ding vor Freund und Feind brüsten wie mit einer Trophäe. Das aber war nicht viel an Wert, denn ein Mann kann seinen Samen durch jede gesunde Frau weitergeben. Seinen Sexus zügelt der Mann ebenso, wie er einem wilden Hengst den Willen zu brechen vermag, und ein weißes Reitkamel verleiht dem Besitzer unendlich mehr Prestige als das schönste Weib der Welt. Der Scheich neigte leicht den Kopf, eine Geste, die etwas boshaft Ironisches an sich hatte, und vergaß Lucille, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Montalban brachte Lucille zurück zu ihrem Zelt, während der Scheich den Aufbau seines Lagers überwachte.
"Ein eindrucksvoller Mensch, was meinen Sie, meine Schöne?", bemerkte Mont-Alban, und um seine Lippen spielte ein sarkastisches Lächeln. "Eindrucksvoll vielleicht. Aber menschlich wie diese Wüste hier."
Mensch?
Er
wirkt
so
"Gut beobachtet. Er ist so etwas wie die menschliche Erscheinungsform der Wüste. Jede Landschaft prägt die Menschen, die sie bewohnen. Und die Wüste ist eine grausame Mutter. Sie tötet die Schwachen, seit Jahrtausenden tut sie das, und lässt nur die Starken weiterleben. Wer noch kämpfen kann, raubt das, was der Schwache nicht mehr verteidigt. Das ist die Ökonomie der Natur - nach der Begattung frisst das Spinnenweibchen das Männchen, und das Weibchen dient als Nahrung für den Nachwuchs. Der Starke nimmt sich die Wasserstellen und verdurstet nicht, und vielleicht gelingt es ihm sogar, den Tod durch Nierenversagen um einige Jahre hinauszuschieben. Hier gilt das Recht des Stärkeren." "Ein jämmerliches Recht, wenn Sie mich fragen." Montalban legte den Kopf in den Nacken und lachte. Es sieht aus, als würde ein Wolf den Mond anheulen wollen, dachte Lucille. "Lassen Sie alle die humanitären Menschenrechtsprofis für einen Tag durch diese Wüste ziehen und Sie werden merken, warum nur Stärke Recht verleiht. Und die Welt wäre eine Menge lästiger Schwätzer los, dieses nur nebenbei bemerkt. Bei einem Glas Whiskey in einer klimatisierten Lounge im UNO-Zentralgebäude lässt es sich trefflich über Gleichheit und Menschenrechte palavern. Aber werfen Sie in New York das World Trade Center um und Sie werden merken, dass alles
nur eine Mischung aus Geschwätz, Feigheit und Hilflosigkeit ist. Hier in der Wüste hingegen ist alles wieder auf die beiden Grundprinzipien reduziert, hier gibt es nichts Überflüssiges, genauso wenig wie in der Landschaft." "Und was sind die beiden Grundprinzipien?" Montalban deutete auf das Lager des Scheichs. Die Wagen standen im Kreis um die eben aufgebauten Zelte, die Wagen mit dem Maschinengewehren und die beiden Radpanzer waren auf einigen kleinen Anhöhen verteilt und beherrschten ganz offensichtlich jeden Zugang des Wadis. Bärtige Männer in Beduinenkleidung oder in beige-braunen Wüstentarnanzügen, jeder mit einem Gewehr auf dem Rücken und einen Dolch im Koppel, wimmelten zwischen Wagen und Zelten. Es wirkte wie ein heilloses Durcheinander, zumal laut geschrien und gelacht wurde, aber die Geschwindigkeit, mit der die Zelte aufgeschlagen, Kochstellen geschaffen und Vorräte abgeladen wurden, zeigte, dass hier jeder genau wusste, was er zu tun hatte. "Sehen Sie", sagte Montalban, "das ist es: Männer und Waffen. Etwas anderes hat unsere Welt nie bestimmt und wird sie auch nie bestimmen. Das ist übrigens die persönliche Leibwache des Scheichs. Diese Männer würden sich für ihn in Stücke schneiden lassen. Genau das tun sie auch bei Verrätern. Näheres ließe sich unter Umständen in den Verlustakten des Mossad finden. Es ist nämlich so, dass einer von dessen Leuten nicht schnell genug an seine hilfreiche Giftkapsel kam." Mont-Alban lachte heiser und wütend und stampfte weiter. Den Rest des Tages verbrachte Lucille im Schatten des Zeltdaches. Mont-Alban saß mit dem Scheich in dessen Zelt zusammen. Als die Nacht kam, zündeten die Männer einige Feuer an, schlachteten Hammel, die sie auf einem Laster
mitgebracht hatten und bereiteten sich das Mahl. Lucille kroch fröstelnd in ihren Daunenschlafsack. Der herbe Geruch der Feuer und des Fleisches zog über das Wadi. Dann stiegen monotone Gesänge, getragen von rhythmischem Händeklatschen, auf. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf und erwachte mitten in der Nacht, weil sich in der Nähe die Wachen ihre Parolen zugerufen hatten. Dann war es wieder still, eine gnadenlose Stille, in der selbst der Wind zum Schweigen gekommen war. Sie starrte in die Dunkelheit. Im benachbarten Zelt schlief der Mann, den sie hasste, wie sie noch nie einen Menschen gehasst hatte und dessen Geliebte sie geworden war. Sie konnte sich vorstellen, wie er dort lag. Umfangen von einem tiefen, kindlichen Schlummer, dessen Unschuld und Verletzlichkeit nicht zu diesem Mann zu passen schien, und dennoch bereit, in der nächsten Sekunde zu erwachen. Er schlief stets auf dem Bauch, das eine Ohr auf der Matratze, als wäre es der Erdboden und er müsste auf die Hufschläge feindlicher Kavallerie achten, und er hatte stets eine geladene und entsicherte Pistole in Griffweite. "Eine kleine abergläubische Angewohnheit", hatte er ihr damals gesagt, als sie zum ersten Mal zusammen gewesen und sie mitten in der Nacht aufgestanden war - erfüllt von einer Mischung aus Faszination und Ekel, den schlimmsten Feind ihres Lebens eben noch voller Lust in sich gespürt zu haben. Sie war gegen ein Schränkchen gestoßen. und im nächsten Moment hatte sie das Rauschen der Laken gehört, und als sie das Licht angemacht hatte, in die Mündung seiner Pistole gesehen. "Eine sehr gewöhnungsbedürftige Angewohnheit, Monsieur", hatte sie geantwortet. "Sozusagen ein kleines Laster, das sich aus meiner Militärzeit
herleitet. Je besser der Feind schleicht, desto besser muss das eigene Gehör werden." Schlich sie gut? Lucille Chaudieu drehte sich in ihrem Schlafsack um und bedeckte das Gesicht gegen die raue Nachtluft. Wie viel wusste er von ihr? Mehr jedenfalls als sie je einem Mann zugestanden hatte, selbst diesem anderen Mann. Aber Mont-Alban fragte nicht, er nahm sich. Er konnte beobachten, scharfsinnig und erfahren wie ein alter Waldläufer, der halb verwischte Spuren entschlüsselt. Er war der erste Mann, vor dem sie sich nackt fühlte - und das im wirklichen Sinne, denn sein Blick blieb nicht an der Schönheit der Oberfläche haften. Hatte sie etwas von ihm gelernt, irgendeine Kenntnis, die sie wie einen Raub mitnehmen konnte? Sie kannte seinen Körper, sie kannte die vielen Narben, sie hatte ihn als phantastischen und herzlosen Liebhaber erfahren, der so sanft und so grausam war wie der Schlachter, der einem Kälbchen das Messer durch die Kehle zieht. Aber sonst? Er blieb ihr ein Fremder, ein vertrauter Feind, der ihre Seele durchwanderte und ihr manchmal das Herz zu rauben schien, bis sie sich selbst ihrer Gefühle nicht mehr sicher sein konnte. Schüsse schreckten sie am Morgen auf. Es klang nach einem schweren Gefecht mit langen Feuerstößen aus automatischen Waffen und dem dumpfen Ploppen von Granatwerfern. Als sie verwirrt vor dem Zelt erschien, sah sie die Truppe des Scheichs beim Waffentest. Die Männer hatten ihre Spielzeuge, und mit glänzenden Augen stanzten sie Sandfontänen aus dem Boden des Wadi, ließen die groben Kiesel aufspritzen und freuten sich an den gewaltigen Staubwolken, wenn am Gegenhang die Granaten einschlugen. Sie machte sich fertig und ging zu Montalban, der neben dem
Scheich auf einem der Lastwagen stand. "Was ist das hier? Die Spielstunde?" "So ungefähr, ein Spaß für große bärtige Jungens mit Haaren auf der Brust", antwortete Montalban ungerührt. Er deutet auf den Hang, der unter Granatwerferfeuer genommen wurde. "Wenn Sie dort drüben wären, würden Sie den Ernst des Spiels wahrscheinlich anders einschätzen. Sie sehen heute wieder traumhaft schön aus, es wird Zeit, dass wir aus dieser Umgebung, die weibliche Schönheit nur schlecht widerspiegelt, verschwinden." Er half Lucille auf den Lastwagen und wandte sich wieder dem Scheich zu. Auf einem kleinen Klapptisch lag, beschwert mit einem Pistolenmagazin, eine Karte. Drei rote Kreise konnte sie erkennen, wagte aber nicht, sich allzu offensichtlich dafür zu interessieren. Ihre Chance kam, als einer der Leute Montalbans durch den Schießlärm brüllte und seinen Chef zum Funkgerät rief. Montalban sprang mit einem Satz von der hohen Ladefläche des Tatra herab. Vielleicht war es eine Frage des Alters, dass er sich und der Umwelt ständig beweisen musste, in welch guter Verfassung er war. Vielleicht war es aber auch nur die natürliche Aktion eines Mannes, der oft genug mit dem Fallschirm abgesprungen war. Er ging mit federnden Schritten zum Funkgerät, das unter einer Zeltplane stand. Der Scheich diskutierte mit einem seiner Leute und war ebenfalls abgelenkt. Lucille nutzte die Chance und schaute genauer auf die Karte. Sie stellte Afrika dar. Zwei der roten Kreise waren um Städte an der Ostküste gezeichnet - Nairobi und Dar-esSalam, wie sie erkennen konnte. Der dritte Kreis lag über der Westküste - sie konnte 'Kalaunga' entziffern, dann kam MontAlban schon wieder zurück. Er wirkte ruhig, aber sie wusste, dass unter dieser Ruhe die schiere Wut tobte.
"Schlechte Nachrichten", fragte sie und bemühte sich, Besorgnis in die Stimme zu legen. "Schlechte Nachrichten? Ja, auf Ebene A zumindest. Ein ärgerlicher Verlust an Material und Menschen." "Und auf Ebene B?" Montalban zögerte mit der Antwort. "Wenn Sie von einem besonders gefährlichen und besonders intelligenten Menschenfresser-Löwen wissen und sich aufmachen, um ihn zu erlegen, was empfinden Sie, wenn er Ihnen zum vierten oder fünften Mal entwischt?" "Ich würde mich ärgern. Vermutlich würde ich mit der Jagd aufhören und Golf zu meinem Hobby machen." "Die typische Antwort einer Frau. Und was würde ein Mann sagen? Er würde jubeln. Denn nun weiß er sicher, dass er den richtigen Löwen jagt. Und er weiß, dass er einen Gegner hat, den zu jagen sich lohnt. Und das ist die Ebene B." Mont-Alban drängte zum Aufbruch. In der nächsten halben Stunde wurde mit dem Scheich gefeilscht, dann wurden Kisten auf die Tatra-Laster geladen, Papiere ausgetauscht und man brach die Lager ab. Nach kurzer Zeit blies der Wind über einen menschenleeren Platz und löschte die letzten Reifenspuren aus. Während der Fahrt zu ihrer improvisierten Landepiste kostete Lucille ein geheimes Triumphgefühl aus. Irgendetwas, und sie würden herausfinden, was, hatte Montalban betroffen gemacht. Und sie hatte drei weitere Asse im Spiel - Nairobi, Dar-es-Salam, Kalaunga. Was immer das bedeuten mochte.
*** "Wird er es schaffen?" "Wenn er ein Rennpferd wäre, würde ich keinen Penny auf ihn setzten." Der ältliche Arzt schaute Dorkas offen in die Augen. "Und Sie müssen wissen, dass ich auch auf geringste Chancen setze." Dorkas ging herüber zu Gray, der unter einer grauen Decke mit dem Namen eines Krankenhauses auf einer Bahre lag. Der Zustand des Verletzten war tatsächlich wenig hoffnungsvoll. Gray rang nach Luft und bei jedem Atemzug drang ein heiseres Röcheln aus seiner Kehle. Er starrte blicklos in den nebelverhangenen Himmel. Als er Dorkas' knirschende Schritte hörte, wandte er sich und winkte ihn zu sich. Dorkas kniete sich ächzend hin, und als Gray noch einmal mühsam winkte, brachte er sein Gesicht trotz allen Widerwillens näher an das des Verletzten. Gray stank nach Schnaps, Schweiß und Desinfektionsmittel. Nur mit Mühe konnte er den Mund bewegen. Speichelfäden spannten sich zwischen seinen Lippen, als er zum Reden ansetzte. Dorkas musste sein Ohr ganz nahe an diesen Mund heranbringen, um das Geflüster zu verstehen. "Die Geschichte mit dem - - Mondkind -" "Was ist damit?", fragte Dorkas, sofort aufmerksamer. "Ich glaube, dass das Mondkind mehr ist als eine Spinnerei. Ich glaube ..." Gray saugte röchelnd und gurgelnd Luft ein. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er sammelte Kraft und konnte erst dann fortfahren. " ... es existiert. Ich belauschte Sarah und Christopher - vor einigen Wochen - sie hatten Angst davor - vor diesem
Mondkind. Das war auch der Grund - einer der Gründe - aus London zu verschwinden. Falls Sie in Sarahs Zimmer gelangen ..." "Schluss jetzt, Sie müssen Kraft sparen." Es war eine junge, dralle Sanitäterin, die jetzt mit berufsmäßig barscher Munterkeit nach der Liege griff. Ihr Kollege packte das andere Ende, Gray wurde in den Krankenwagen geschoben, die Türen wurden geschlossen und der Wagen fuhr ab. Dorkas erhob sich unter weiterem lautem Ächzen. Der Arzt verstand seinen fragenden Blick. "Schock", sagte er. "Da kann ich Spritzen geben, bis es ihm aus den Poren rauskommt, wenn der Schock in der Seele sitzt, dann ist der Lebenswille dahin. Und dagegen kommt alle ärztliche Kunst nicht an. Mal abgesehen davon, die Bisswunden an sich sind nicht ohne. Wie konnte das nur passieren?" Dorkas schaute in eine andere Richtung und zuckte die Schultern. "Ich habe es auch schon dem Constabler gesagt, dass ich keine Schimmer habe. Ich lag in meinem Bett, und als ich durch den Lärm erwachte, fand ich ihn in diesem Zustand neben dem Traktor. Vermutlich haben die Hunde durchgedreht." "Hunde können nicht durchdrehen, dafür sind sie zu blöd. Dieses Privileg teilt der Mensch mit den Primaten. Nun ja, ich mache mich wieder auf die Socken." Er ging zu seinem Wagen und ließ Dorkas in einer blauen Rauchwolke und dem Abgasgeruch eines schlecht eingestellten Motors zurück. Erst als der Mann schon neben ihm stand, bemerkte ihn Dorkas. "Sie sind dieser Freund von Sarah?", fragte der Mann. Seine
Blicke wanderten mit offener Neugier über Dorkas. "Ich habe eben Ihre Notiz an meiner Tür gefunden. War ja ein bisschen Aufregung hier." Er ging einen Schritt zurück und betrachtet Dorkas noch einmal, als handele es sich um das obszöne Kunstwerk eines übel beleumundeten Bildhauers. "Sie sehen nicht so aus, wie Sarahs Freunde", stellte er dann fest. Es klang geradezu versöhnlich. "Wir hatten eher brieflichen Kontakt", stotterte Dorkas. "Das erklärt manches, kommen Sie. Sie können sicher sein, wenn Sie ausgesehen hätten wie die Freunde meiner Tochter, dann hätte ich Sie mit Steinwürfen weggejagt."
18. Dorkas trottete wortlos hinter Sarah Hammonds Vater her. Die Abneigung dieses Mannes gegen das 'soziale Umfeld' seiner Tochter war offensichtlich und für Dorkas höchst beruhigend. Er stand hier nicht dem Senior-Magier gegenüber, sondern einem verwirrten Vater, dem sein Kind mehr und mehr entglitten war, bis er es zuletzt ganz verloren hatte. Als ob er Dorkas' Gedanken vernommen hätte, wandte er sich zurück. "Wissen Sie, Sarah war eigentlich nicht mehr unsere Tochter. Klingt jetzt vielleicht ein bisschen grausam oder einfach wirr, aber es war so. Sie war schon immer ein ungebärdiges Ding, nicht pflegeleicht, wie man so schön sagt. Aber wir haben uns damit abgefunden, wie Eltern das tun sollten. Aber dann, vor einigen Jahren, entwickelte sie sich in eine völlig andere Richtung. Sie erschien uns wie ausgetauscht. Wir sahen sie wahrhaftig nicht häufig, vielleicht drei Mal im Jahr, wenn's hoch kommt. Und bei solchen zeitlichen Abständen merkt man halt eher, wenn sich jemand verändert hat. Sie wirkte zuerst
wie eine Fremde, und zuletzt, na ja, wie eine feindselige Fremde." "Und trotzdem ist sie zu Ihnen zurückgekommen." "Ja, das hat uns am meisten überrascht. Aber glauben Sie nicht, dass wir davon entzückt gewesen wären. Irgendwie hatten wir mit dem Kapitel schon abgeschlossen. So hart das klingt, aber wir hatten unsere Trauerphase schon hinter uns gebracht. Unsere Tochter war für uns gestorben. Es gab da ein paar Sachen, die ich Ihnen nicht auf die Nase binden muss, aber das machte uns klar, dass sie eine andere Person geworden war. Ich habe mich immer gefragt, wie Eltern es aushalten, zu ihren Kindern zu stehen, selbst wenn die sich durch Drogen selbst kaputt machen. Vielleicht kommt da Mitleid ins Spiel oder Schuldgefühle. Schuldgefühle hatten wir jedenfalls nicht gegenüber Sarah. Und Mitleid konnte man bei ihr auch nicht entwickeln. Man hat ja auch mit keinem Kampfpanzer Mitleid." Sie kamen zu der Haustür, und Dorkas trat in den engen Flur. Es roch muffig, man konnte merken, dass dieses Haus seit geraumer Zeit nicht mehr gelüftet worden war. Die trübe Stimmung, die dieser stickige Mief transportierte, passte bestens zu der Stimmung, in der sich Dorkas befand. Und trotzdem rieselte ihm ein Schauer über den Rücken. "Warum haben Sie Sarah wieder aufgenommen?", fragte er. Der Mann zuckte nur mit den Schultern. "Keinen blassen Schimmer. Ich glaube, weder meine Frau noch ich wollten es. Aber Sarah wollte es, und sie setzte ihren Willen immer durch. Da stand sie eines Abends vor unsere Tür, mit einer Menge Gepäck und erklärte, frech wie Dreck, wenn ich mal so sagen darf, dass sie jetzt hier wieder wohnen wollte. Nun ja - gehen Sie ruhig hoch. Ich komme nicht mit. Ich will diese Räume nie
wieder betreten." Eine schmale Treppe führte vom Flur aus in die obere Etage. Als Dorkas hochstieg, schleifte seine linke Hüfte an der Wand, und die rechte bekam Kontakt mit dem Geländer. Also drehte sich Dorkas und stieg, die eine Schulter vorgeschoben, die Füße vorsichtig setzend wie ein Hüftkranker, nach oben. Am Ende der Treppe knickte ein Flur nach rechts ab. Alle Türen standen offen. Dorkas ging an einem Bad vorbei. Es folgte ein leerer, abgedunkelter Raum. Neugierig schaute Dorkas hinein. Hinter der Tür lagen zusammengerollte Futons, also war das wohl der Schlafraum gewesen. Aber sicherlich nicht nur das, denn Dorkas konnte deutlich einen schwachen Geruch von Räucherstäbchen wahrnehmen. Räucherstäbchen und ein Raum, in dem man die Matratzen zur Seite räumen kann. Hier hatten sie ihre Rituale abgehalten, das stand für Dorkas fest. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte er die Kreidelinie, die den Umriss eines liegenden Körpers auf dem Holzboden nachzeichnete. Schon wollte er sich zurückziehen, weil er sich wie ein sensationslüsterner Gaffer vorkam, als ihn eine Beobachtung zurückhielt. Die Kreidelinie gab ohne Zweifel einen auf dem Rücken liegenden Körper wieder. Die Arme lagen neben dem Oberkörper, die Beine waren ausgestreckt, die Hände lagen flach auf dem Boden, und der Untersuchungsbeamte hatte jeden einzelnen Finger nachgezeichnet. Dorkas zupfte sich an der Nase, kratzte sich am Kinn und versuchte, die Echos seiner geheimen Zweifel genauer zu vernehmen. Das alles wirkte zu entspannt, zu locker - so als hätte hier jemand sein autogenes Training absolviert und wäre dabei von einem Freund spaßeshalber mit Kreide nachgezeichnet worden. Hatte Sarah Hammond den Tod in derartiger Ruhe erwartet? Drogen? Oder hatte man sie nach ihrer Ermordung auf diese Weise hingelegt, in die Mitte des Raumes, den Kopf gegen
das Fenster nach Osten ausgerichtet? Sir Edmond Dorkas stand eine Weile im Türrahmen und überlegte. Dann stieß er sich mit einer ungeduldigen Schulterbewegung ab und schritt auf den Raum am Ende des Ganges zu. Die Atmosphäre in diesem Haus schlug ihm auf das Gemüt. Er wollte es der Kombination von schlechter Luft und Übermüdung zuschieben, aber vielleicht war es etwas gänzlich anderes. An der Wand zwischen den beiden Türen hingen gerahmte Fotografien. Zum ersten Mal sah Dorkas in das Gesicht von Sarah. Sarah als Kind auf der Schaukel wehende rote Mähne, Sommersprossen, ein Sommerkleidchen, das wild flatterte, ein im Lachen weit geöffneter Mund, in dem die Zahnlücken dunkel schimmerten. Ein Mädchen, das einem schwedischen Kinderbuch entsprungen zu sein schien. Dorkas betrachtete das Bild mit einer gewissen Wehmut. Hier sah er, wie ein Leben begann und, während er diesen festgehaltenen, fotografisch eingefrorenen Moment vor Augen hatte, kannte er das Fazit dieses Lebens und fragte sich, ob dieses wilde Mädchen nicht tausend bessere Möglichkeiten gehabt hätte als jene, die es schließlich wählte. Auf dem Foto standen die Schaukelseile parallel zum Boden, stellte Dorkas noch fest, bevor er zum nächsten Bild überging. Sarah im Kreis von Klassenkameraden. Sie stand nicht in der Mitte, aber ihre Gestalt markierte dennoch den Schwerpunkt der Gruppe. Unklar, woran das lag; an der Flut roter Haare vielleicht oder an der Art, wie sie die eine Hand auf die Hüfte gelegt hat. Für ein Blag diese Alters eine höchst unpassende Geste. Dorkas seufzte und machte eine Schritt zur Seite. Er spürte dieses Kribbeln im Hinterkopf, das ihm die Nähe einer Erleuchtung signalisierte - die ersten Beben einer guten Idee, die sein Hirn noch nicht in Worte fassen konnte. Sarah zusammen mit Freunden. Jetzt stand sie im
Mittelpunkt, hatte die Arme um die beiden Halbstarken an ihrer Seite gelegt. Ihr allzu enger Pullover ließ keine Zweifel aufkommen, dass sie die entscheidenden Schritte in Richtung Weiblichkeit schon gemacht hatte. Sie wirkte so, als wäre sie einem Bild der Präraffaeliten entsprungen - schön, blass, edel, fast durchschimmernd wie ein Schmuckstück. Und dabei eine eigensinnige Jungfer, die den Drachen ebenso nervlich strapaziert, wie den Ritter, der sie vor eben diesem Drachen rettet. Das letzte Bild zeigte eine Porträtaufnahme. Dorkas baute sich davor auf und betrachtete es mit der Aufmerksamkeit eines Kriminalisten, der in den Zügen eines Verdächtigen forscht. Er schaute eine Weile, stutzte, ging zurück zum vorigen Bild und kehrte von dort wieder. Kein Zweifel, es war das Gesicht desselben Menschen. Aber dennoch - welche Veränderung! Derartige Sprünge in der Entwicklung erwartete man vielleicht bei einem Kleinkind oder einer Jugendlichen, die in der unsicheren Fahrwassern der Pubertät schifft. Aber Sarah Hammond hatte, als sie sich mit ihren Freunden abbilden ließ, diese Klippen wohl schon hinter sich gelassen. Nein, das gefiel ihm nicht. Dorkas grunzte missbilligend und widmete sich erneut der Betrachtung des letzten Fotos. Das Gesicht hinter der spiegelnden Glasscheibe hatte etwas eindeutig Katzenartiges. Schrägstehende Augen, eine kleine Nase, perfekt geschwungene Brauen, dazu ein großer Mund mit vollen Lippen. Dorkas überlegte eine Weile, dann wusste er, woran ihn dieses Gesicht erinnerte. Es wirkte wie die fleischgewordene Interpretation jener olmekischen Statuen, von denen die Wissenschaft behauptet, sie würden menschliche Züge mit denen des heiligen Jaguars vermischen. Genau dieses Katzenartige hatte Dorkas verwirrt, denn es kam wie ein verborgenes Laster zum Vorschein, von dem in den früheren Porträts nichts zu sehen gewesen war. Sie war keine Schönheit. Aber sie hatte eine Aura von
Wildheit, Eigensinn und unbändiger Energie um sich, die selbst aus diesem Foto herauszuknistern schien. Ganz ohne Zweifel war Sarah Hammond eines jener weiblichen Wesen gewesen, deren Erscheinen jede Ehegattin im weiten Umkreis in Panik versetzt. Eine Frau, deren Auftritt ein gutes Dutzend dieser konfektionierten Laufsteg-Zicken mit ihren leerfotografierten Hochglanz-Frätzchen aufwiegen konnte. Dorkas schaute sich weiter um. Der Impuls, sich abzuwenden und Sarah Hammond zu vergessen, stieg in ihm hoch wie die Übelkeit nach einer durchzechten Nacht. Für einen Moment schloss er die Augen, konzentrierte sich und widerstand. Er erkannte eine träge Grausamkeit, eine schläfrige Verkommenheit unter einem herrlich weichen Fell. Nein, Dorkas hätte die Tatsache, dass Sarah Hammond tot war, sogar begrüßt, wenn diese Dame nur die Freundlichkeit gehabt hätte, sich in einer weit entfernten Gegend ermorden zu lassen. Er wandte sich ihrem Zimmer zu. Die Einrichtung bot ein wenig einheitliches Gemisch von Jungmädchenzimmer, Hippieunterkunft und Bibliothek. Auf dem mit einer rosa Decke bezogenen Bett saß eine alte Stoffpuppe. Ihr fröhlich grinsendes Pfannkuchengesicht hatte offensichtlich sehr viele kindliche Zärtlichkeitsattacken zu ertragen gehabt. Der Anblick ließ Dorkas an das kleine Mädchen denken, das Sarah einmal gewesen war, und für einen Moment überflutet ihn ein Gefühl von tiefer Sympathie und Mitleid. Dann erfasste sein forschender Blick eine schwere Bronzevase, eine Nachbildung eines mykenischen Originals. Er wollte die wenigen Schritte hinüber machen, und in diesem Moment schlug die sentimentale Stimmung, die er mit einem gewissen Vergnügen in sich nachklingen ließ, um. Dieses Unwohlsein, das nicht körperlich, sondern geistig war, kam derart plötzlich und massiv, dass es Dorkas fast den Atem
nahm. Sein erster Gedanke bestand darin, so schnell wie möglich diesen Raum, dieses Haus, diese Gegend zu verlassen. Seine Beine wendeten sich schon automatisch, ohne bewussten Befehl, wieder der Tür zu, als es Dorkas gelang, der plötzlichen Panik Herr zu werden. Dorkas japste wie ein alter Karpfen auf dem Trockenen. Dann wischte er sich mit einer zornigen Bewegung den Schweiß von der Stirn und ging wieder auf die Vase zu. Sie enthielt nichts Aufregendes, lediglich eine Menge langer Nadeln mit massiven Rundköpfen, wie sie in jeder Schneiderwerkstatt zu finden waren. Dorkas wendete sich einem Regal zu. Seine Begeisterung für Bücher überdeckte jetzt alles andere. Sorgfältig las er die Titel und machte sich ein Bild über das Alter der Werke. Da gab es nichts, was man nicht in jedem besser ausgestatteten esoterischen Buchladen finden konnte. Magische Grundlagenliteratur - Lévi, Crowley, Blavatsky, einige Werke über Schamanismus, Alchemie und Hexenkult und das alles in neuen Auflagen. Neugierig zog Dorkas einen Zettel aus einem Werk von Lévi. 'Kleinbürgerlicher, feiger Scheißer' stand darauf. Und auf einem ähnlichen Zettel, den Dorkas aus Crowley's 'Magick' zupfte, hatte jemand, und es gab keinen Zweifel, dass es Sarah gewesen war, 'geiler alter Sack' gekritzelt. An Selbstbewusstsein hatte es ihr nicht gemangelt. Aber darüber hatte es auch nie Unklarheit gegeben. Was hatte sie an Lévi zu bemängeln? Gab es da nicht eine Geschichte von einer Dämonenbeschwörung, die Lévi nicht zu Ende geführt hatte, weil er vorher in Ohnmacht gefallen war? So genau konnte sich Dorkas nicht erinnern, aber er war sicher, dass er auf der richtigen Spur war. Ja, es passte nur allzu gut zu Sarah Hammond; sie würde nie in Ohnmacht fallen, sie würde den Weg bis zum Ende durchgehen. Und sie würde sich auch nicht in sexuellen Vorlieben und Eitelkeiten verstricken wie Crowley. Den Weg bis zum Ende gehen.
Der Satz klang in Dorkas Kopf nach. Suchend blickte er sich um, wendete sich sich um die eigene Achse und prüfte jeden Gegenstand, auf den sein Auge fiel. Den Weg zu Ende gehen - das Echo dieses Gedankens wurde leiser, und je mehr er verlosch, desto schneller sickerte und tröpfelte erneut eine unbestimmte Panik in Dorkas' Denken. Wie eine flüssige Masse, durchsichtig, geschmacklos und unbesiegbar flutete sie über ihn, umschloss jeden Gedanken, wisperte in seine Ohren, schüttelte ihn mit gesichtloser Furcht, ließ seinen Atem hecheln und seinen Puls jagen. Nur raus hier - Bilder von Brandkatastrophen, Explosionen, zusammenstürzenden Gebäuden rasten ihm durch den Kopf wie die bebilderten Kommentare seiner Panikattacke. Dorkas versuchte, die Finger an seine Schläfen zu legen, um sich dort zu massieren. Aber was seine Fingerspitzen ertasteten konnte nicht sein Kopf sein, es musste sich um einen fremdartigen, absonderlichen, abstoßenden Gegenstand handeln, dessen war er sich sicher, während er zugleich unsagbar widerwärtige Berührungen auf seiner Kopfhaut ertragen musste, deren Herkunft ihm nicht deutlich war. Das ist das Ende, ging es ihm durch den Kopf, und dieser Gedanke hatte etwas ungemein Tröstliches. Und als ihm diese Tatsache bewusst geworden war und er sie dankbar angenommen hatte, schienen alle Bilder und Gedanken wie weicher Schnee niederzurieseln, alles sank und fiel, und Dorkas gab sich diesem Sinken hin, während sein Herz die letzten vergeblichen Schläge tat und seine Poren die letzten öligen Schweißtropfen herauspressten. Dann traf ihn ein Widerstand. Es war, als wäre er in seinem süßen Sinkflug, hinab in den warmen, weichen Schlamm der endgültigen Auflösung, an einem Vorsprung hängengeblieben. Etwas, das weit jenseits der Worte, der persönlichen Erinnerung, der bewussten Entscheidungen seinen Ursprung
hatte, hielt ihn auf, stärkte ihn und peitschte ihn rücksichtslos zurück in das Leben. Und so tauchte Dorkas wieder auf, schoss aus der Tiefe der Selbstaufgabe hinauf in das klare Bewusstsein, giftig wie ein hungriger Hai und wütend wie ein nasse Katze. Das Zimmer schien von Wellen erfüllt, Vibrationen, als würde irgendwo ein riesiger Lautsprecher unhörbare Bässe in die Welt hinausbrüllen. Dorkas konnte förmlich spüren, wie es seine Haut traf, wie sein Solarplexus zum Resonanzboden zu werden schien. Energien tobten zwischen den Wänden, sprangen hin und her, überkreuzten sich, verdichteten sich zu beinahe materieller Form. Die Luft vor Dorkas schien sich zu verdichten, sie flimmerte, waberte und kochte, als wäre dort eine Hitzequelle. Aus den Schlieren formte sich eine Gestalt - oder war es eine Augentäuschung, eine Staubfädchen auf der Pupille, ein Faden an der Wimper. Dorkas beschloss, dass es genau so war. Er sammelte alle Kraft, die er noch in sich spürte, und indem er sich über das Gesicht wischte, beendet er mit einem Schlag alle Erscheinungen, die ihn eben noch bis an die Grenze des Todes getrieben hatte. Er sah etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Er ergriff das große, gefaltete Blatt, ging aus dem Raum und wunderte sich selbst, wie banal und einfach sein Abgang war. Diese Verwunderung hielt an, bis er sich wieder die enge Treppe herunterschieben musste. "Sie sehen aus, als hätten Sie da oben einen Marathonlauf absolviert", sagte der alte Hammond etwas verstört. "Nun ja," antworte Dorkas trocken, "jedenfalls war ich in einer gewissen Richtung eine gewaltige Strecke unterwegs." Vor ihm lag das Blatt, das er aus Sarahs Zimmer geholt hatte. Es war eine Landkarte, aber mit dieser Feststellung war Dorkas auch schon am Ende des Verstehens angelangt. Es gab keine Namen auf dieser seltsamen Karte, keine Städte,
keine markanten Punkte. In gewisser Weise ähnelte alles einem Schnittmusterbogen mit geraden, gekurvten, durchgezogenen oder gestrichelten Linien, die sich vereinten, trennten, sich durchschnitten und in bestimmten Punkten zusammenliefen. "Darf ich mir eine Kopie hiervon machen", fragte Dorkas. "Warum Kopie? Nehmen Sie doch den Wisch mit!" Dorkas bestand darauf eine Kopie zu machen. Es war schwierig, genug Papier zu finden. Schließlich fand Hammond in einer Ecke unter einem Stapel Zeitschriften noch Reklamezettel, wie sie Supermärkte oder andere Geschäfte verteilen lassen. Die Handzettel waren nur auf einer Seite bedruckt. Dorkas und Hammond klebten sie zusammen, und dann begann Dorkas sorgfältig mit der Übertragung der Zeichnung. "Eine Frage", sagte er zwischendurch, während er sich an der Kopie zu schaffen machte, " hat Ihre Tochter genäht oder geschneidert?" "Sarah? Die hielt alles, was damit zu tun hatte, für Weiberkram. Das sagte sie wörtlich so. Warum fragen Sie?" "Och, nur so." Dorkas erwähnte die Nadeln, die in Sarahs Zimmer gefunden hatte, nicht. Aber deren Verwendung war ihm jetzt ohne weiteren Zweifel klar geworden. "Noch was", Dorkas strichelte die letzte Linie. "Hätten Sie vielleicht ein Foto Ihrer Frau?" Hammond war es müde, die Wünsche seines seltsamen Gastes zu kommentieren. Er verschwand wortlos und kehrte mit einem Familienfoto zurück. Misses Hammond war eine
eher untersetzte, dunkelhaarige Dame - der Typ der italienischen Mama, bei deren Anblick Dorkas sofort mit einem gewissen Schauder an stark behaarte Waden dachte. "Ich weiß, was Sie denken." "Sagen Sie mir, was ich denke, das erspart mir eigene Anstrengung", erwiderte Dorkas und faltete die Kopie der Karte sorgfältig zusammen. "Dass Sarah weder mir noch meiner Frau ähnelt, haben schon andere bemerkt. Und zuallererst wir, die Eltern. Aber ich versichere Ihnen, dass sie weder ein Adoptivkind war noch das Ergebnis eines Fehltrittes seitens meiner Frau." "Tja, dann war es wohl die Verwandtschaft, die sich unbekannterweise hier genetisch bemerkbar gemacht hat", kommentierte Dorkas. Aber wenn er seine wahren Gedanken geäußert hätte, hätte es anders geklungen. Hammond bestand darauf, für Dorkas einen Tee zu kochen. Dem war das nicht recht, er wäre am liebsten sofort von diesem Ort verschwunden, aber seine Höflichkeit, in Verbindung mit seinem unbezwingbaren Appetit auf Tee, ließ ihn bleiben. Sie unterhielten sich eine Weile, wobei jeder darauf achtet, möglichst nett und unverbindlich zu bleiben. Dann sagte Hammond: "Und was raten Sie mir. Was soll ich jetzt machen?" Dorkas schwieg. Die Stille, die sie mit ihrem Gerede so tunlichst vermieden hatten, breitete sich aus. "Verkaufen Sie das Haus.", antworte Dorkas dann. "So schnell wie möglich. Gehen Sie fort von hier und kehren Sie nie wieder zurück."
Er sah seinem Gegenüber in das Gesicht und erkannte, dass der etwas anderes erhofft hatte. Aufmunterung, Tröstung - er war ein Mann, der durch die Hölle gegangen war, der zusehen musste, wie sich seine geliebte Tochter, dieses niedliche, ungebärdige, charmante, kluge kleine Ding in ein Monster verwandelte, in eine Fremde, die sich mit der Aura der Bedrohlichkeit umgab. Keine Spiele mit den Enkelkindern an sonnigen Tagen im Garten, keine Gemeinschaft im Familienkreis, keine Gespräche, die einem alternden Mann das Gefühl geben würden, dass etwas von ihm weiterlebt, selbst wenn er einmal diesen zeitlichen Körper hinter sich gelassen hat. "Es ist nie zu spät für einen neuen Anfang", sagte Dorkas und vernahm mit einer gewissen Verwunderung den Klang seiner Stimme, die diesen Gemeinplatz mit der Entschiedenheit einer ewigen Wahrheit verkündete. Er war gespannt, was er noch sagen würde. "Seien Sie ehrlich, Sie sind nur zu feige, um Ihre wirklichen Wünsche lebendig werden zu lassen. Kaufen Sie sich das Segelboot, von dem Sie seit Ihrer Jugend träumen, der Erlös des Hausverkaufes wird dafür reichen, und lassen Sie alles hinter sich. " Hammond lehnte sich nach vorne und schaute Dorkas aufmerksam an. "Woher wollen Sie wissen, was ich mir seit meiner Jugend gewünscht habe? Ich meine - Sie haben Recht, völlig - aber woher wissen Sie ..." "Manchmal habe selbst ich helle Momente", bekannte Dorkas leichthin. Und dann fügte er noch hinzu: "Machen Sie sich wegen Ihrer Frau keine Sorgen. Sie wird mitmachen, Sie müssen Sie nur fragen." Hammond brachte Dorkas mit dem Wagen hinunter zur Küste. Und mit jeder Meile, die sie sich von dem Ort in den Bergen entfernten, fiel eine Schicht grauer Betrübnis und
Furcht von ihnen ab. Zuletzt verriet Hammond sogar sein intimstes Geheimnis - den Stapel Prospekte über 'Welsh Fishing Boats', den er seit Jahren, als wäre es pornographische Literatur, zwischen seiner Wäsche versteckte. Hammond setzte Dorkas an einer Bushaltestelle ab, murmelte etwas, das nach 'Danke' klang, und tuckerte davon. Die Leute, die mit ihm an der Bushaltestelle warteten, schauten Dorkas mit einem gewissen Misstrauen an. Denn der dachte gerade wieder an Sarah Hammond. Diese Frau war wirklich unglaublich. Es war surreal, unmöglich, unfassbar, gefährlich wie ein Bakterienkrieg und er wusste dennoch, dass sie es wirklich getan hatte. Sie war den Weg zu Ende gegangen. Dorkas kicherte, bis sein geschüttelter Leib das Lachen nicht mehr halten konnte und er losprustete. Die Leute um ihn her rückten etwas weiter von ihm fort. *** "Ich habe keine Lust auf Komplikationen", sagte Tony Tanner und stieg aus dem Wagen. "Ich habe in der letzten Zeit so viele Komplikationen gehabt, dass man darüber eine ganze Seifenoper schreiben könnte." MacMorley schaute Tony ungeduldig an. "In diesem Fall und da es hier keine Bäume gibt, an denen Sie sich aufhängen könnte, kann ich Ihnen nur den Rat geben, zehn Minuten am Auspuffrohr Ihres Wagens zu saugen. Bei laufendem Motor versteht sich. Wenn Sie sich für das Weiterleben entschließen, dann kommen Sie." Er führte Tony in das größte Zelt, in dem sich die Arbeiter versammelt hatten. Mac Morley und Tony waren die einzigen Europäer.
"Wo ist der Assistent?", flüsterte Tony. "Gestern nach Kairo abgereist. Kurz vor dem Sandsturm. Er hat den berühmten Koffer dabei. Das war kurz vor dem Unfall." "Welchem Unfall, um Gottes willen?" MacMorley palaverte mit dem Vormann der Arbeiter, und langsam wurde klar, was geschehen war. Von Puttkammer hatte auch während des Sandsturmes in der Grabkammer gearbeitet, allein, wie es seine Art war. Die Arbeiter mussten sich in die Zelte zurückziehen und bemerkten nach Abklingen des Sturmes, dass der Zugang zum Grab verschüttet war. Sie hatten das zuerst dem Sturm zugeschrieben und versucht, den Gang zu öffnen. Dann war ihnen klar geworden, dass die gesamte Konstruktion zusammengebrochen war. Unter herabgestürzten Steinquadern fanden sie von Puttkammer, verstümmelt und erschlagen. Der Vormann glaubte an eine Explosion. Von Puttkammer und sein Assistent arbeiteten bei Gaslicht, in dem Zugang und der Kammer selbst standen einige volle Ersatzflaschen, und die elektrostatische Aufladung durch den Sandsturm könnte die Katastrophe ausgelöst haben. "Genau werden wir das nie herausfinden", knurrte MacMorley. "Es ist alles verschüttet, zusammengefallen und zerstört." "Und die Grabkammer. Das waren doch unersetzliche Erkenntnisse -" "Verloren. Alles verloren." Aus den hinteren Reihen der Arbeiter erklangen zornige Stimmen. Tony konnte nur 'Allah' verstehen, alles andere verschwand in einem Schwall fremder Worte. Der Vormann wandte sich den Störern zu und
antwortete lautstark. Worte und Widerworte wechselten sich ab. Die Stimmung wurde aggressiv. Tony schob sich rückwärts aus dem Zelt, während MacMorley seinem kämpferischen keltischen Wesen entsprechend in der Diskussion mitmischte, ohne sich um irgendwelche Sprachbarrieren zu kümmern. Tony ging zu dem Loch, das noch gestern der Mittelpunkt der Ausgrabung gewesen war. Einige halb von Sand bedeckte Steinblöcke zeigten die Stelle an, wo man auf den Gang gestoßen war. Die Verschalung aus Brettern, die den Sand am Nachrieseln hindern sollte, war geborsten. Die Explosion musste gewaltig gewesen sein. Es würde nur Tage dauern, bis alles wieder vom Sand aufgefüllt war. Ein kleines Zelt erregte Tony Aufmerksamkeit. Es stand direkt neben dem Grabungsloch. Aufgerissene Filmverpackungen deuteten an, dass hier einzelne Ausgrabungsstücke fotografiert und wahrscheinlich auch registriert worden waren. Verstohlen blickte Tony um sich. Aus dem Versammlungszelt tönten immer noch laute Stimmen. Keiner achtete auf ihn. Er schob den Zeltstoff zur Seite und schlüpfte in das Innere. Dort fand er eine Bank, auf der Bank eine liegende Gestalt, über der liegenden Gestalt eine schwere Tuchplane. Er zögerte, wartete, bis sich sein Puls beruhigte und hob dann die Plane hoch. Im nächsten Moment wünschte er, er hätte dieses Zelt nie betreten, aber nun war es zu spät für Hemmungen. Dort, wo einmal der Kopf des Archäologen gewesen war, war nun eine Fratze, eine Schreckensmaske, geformt aus Sand und Blut. Es gab hier nicht die Gnade des Missverstehens von Puttkammer war von einem Stein am Kopf getroffen worden, der Schädel war zerschmettert und verformt, das Gesicht in einem letzten Schrei erstarrt. Der feine Sand hatte sich mit dem Blut zu einer festen Masse verbunden, die alle Züge überdeckte und nur die Zähne des geöffneten Mundes
sichtbar ließ. Tony schluckte und zog die Plane weiter zurück. Dort, wo sie den Kopf bedeckt hatte, war ein schmutzigroter Fleck. Sand rieselte von der Leiche. Der linke Arm stand unnatürlich vom Körper ab. Der rechte Arm lag halb auf der Brust. Die Hand war ebenfalls unter einem getrockneten Gemisch aus Sand und Blut verschwunden. Tony ging auf die andere Seite der Bank. Die linke Hand war krallenartig geöffnet, während die Rechte erkennbar geschlossen war. Er überwand noch einmal seine Widerwillen und begann, den Sand von der rechten Hand zu entfernen. Die Finger wurden sichtbar. Sie umklammerten einen Gegenstand. Es kostete Tony viel Mühe und noch mehr Überwindung, diesen Gegenstand aus den leichenstarren Fingern zu befreien. Er brachte die Plane zurück in ihren ursprünglichen Zustand, ging aus dem Zelt und erbrach sich. Als er die Krämpfe, die ihn schüttelten, einigermaßen überstanden hatte, ging er auf das Versammlungszelt zu. MacMorley kam ihm entgegen. "Verschwinden wir", sagte der Schotte und zerrte Tony am Arm zum Wagen. Auch Tony hatte keine Veranlassung, hier länger zu verweilen. Erst als sie hinter der nächsten Kette von Sanddünen verschwunden waren, entspannten sie sich. "Jetzt werden sie sich die Köpfe einschlagen", meinte MacMorley. "Sie haben das ja nicht mitgekriegt, aber da ist jetzt ein regelrechter Glaubenskrieg ausgebrochen. Die Rationalisten gegen die islamischen Fundamentalisten und die Abergläubischen gegen beide. Eine Partei glaubt an eine Explosion, die andere an eine Strafe Allahs für leichenschänderische Ungläubige, und die dritte an den Fluch des Pharaos." "Und woran glaubt Herr MacMorley?"
"Ich habe versucht, diesen Leuten klar zu machen, dass ja alles drei zugleich möglich ist. Aber die mögen jetzt eine handfeste Keilerei, und mir ist es letztlich egal." Der Geländewagen wühlte sich in Richtung Bir Tarfawi durch den Sand. Und Tony Tanner kannte seine nächsten Aufgabe. Er musste versuchen, aus den Hubschrauberpiloten herauszubekommen, wer ihre Auftraggeber waren. Und es gab noch diesen Assistenten namens Bruce ... "Was ist eigentlich genau in dem ominösen Koffer, den Bruce mit sich führt?", fragte er MacMorley. "Schauen Sie rein, dann wissen Sie 's." "Danke für diese ausführliche und so nett formulierte Auskunft." Eine Weile herrschte verbissenes Schweigen. Dann fragte MacMorley: "Gehen Sie jetzt direkt nach Kairo?" "Über Abu Simpel. Warum?" "Ich werde noch einige Tage in Kairo bleiben. Ich will wissen, was Hornsby mit seinen Mannen vorhat. Vielleicht werde ich gewahr, wo sich Bruce rumtreibt. Der Typ interessiert mich zwar kein bisschen, aber wenn ich was von ihm höre, dann melde ich mich bei Ihnen. Falls Sie Ihre Hoteladresse rausrücken." "Es geht nichts über Adressentausch mit richtig netten Menschen." *** Die Piloten waren aus Bir Tarfawi verschwunden. Im Grunde
hatte Tony mit nichts anderem gerechnet. MacMorley übernahm den Wagen, den Tony bisher gefahren hatte, und brach ohne weitere Umstände nach El Kharga auf. Das Wiedersehen mit Nagib war herzlich. Nagib drängte zum Aufbruch. Als sie El Shab erreicht hatten, erklärte er Tony, es sei besser, einen anderen Weg zu wählen. Und so fuhren sie in Richtung Edfu, eine Strecke lang parallel zum Nil. Den Rest der Strecke legte Tony mit der Eisenbahn zurück, nicht ohne sich vorher von Nagib verabschiedet und ihn bezahlt zu haben. Als er wieder in seinem Hotel war, auf dem Bett lag, gegen die Decke starrte und auf den Lärm des Kinos hörte, fragte er sich, ob er jemals mit diesem Aufruhr in seinem Kopf fertig werden könnte. Es war, als würden ihn von allen Seiten Leute anschreien und, schlimmer noch, als bestünde sein Kopf aus Tausenden von Videoanschlüssen, in die ständig gleichzeitig Bilder eingespeist würden. Er griff in seine Brusttasche und holte den schweren Gegenstand hervor, den er aus Puttkammers Totenkrallen genommen hatte. Es war ein schmaler, fingerlanger Stab, dessen beide Enden mit Widderköpfen verziert waren. Der Stab hatte keine offensichtliche Funktion. Er war weder Werkzeug noch Schmuckstück. Und für ein Herrschaftszeichen war er, obwohl aus Gold, zu klein und viel zu unscheinbar. Zumindest hatte er eine beruhigende Funktion, denn Tony schlief mit dem Stab in der Hand ein und erwachte erst am Morgen, weil ihn sein eigenes Schnarchen störte. Beim Frühstück überlegte er die nächsten Schritte. MacMorley hielt sich wahrscheinlich noch in Kairo auf. Er musste dem Schotten noch etwas Zeit lassen, vielleicht würde er dann mit dem Aufenthaltsort von Bruce rausrücken. In der Zwischenzeit konnte sich Tony ganz seiner sentimentalen Ader hingeben und den Laden in der Altstadt aufsuchen, in
dem er damals zusammen mit Francine eine gewisse Statue gekauft hatte, den Hermes trismegistos. Bei dem Gedanken an diese Statue und an das, was sich an sie anknüpfte, überkam ihn ein leichter Unmut. Wenn es je eines Beweises bedurfte, dass alles, was man im Leben machte, falsch war und das Gegenteil ebenfalls, dann war er hier zu finden. Mit dieser tröstlichen Erkenntnis ausgestattet, machte sich Tony auf den Weg. Hätte er die Gestalt bemerkt, die sich an seine Fersen heftete, dann wäre ihm sofort klar geworden, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte. 19. Während Jeremy Steele durch das Gewimmel von Fußgängern einen gewissen Tony Tanner verfolgte, fragte er sich wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, wer von ihnen der Jäger und wer der Gejagte war. Auf den ersten Blick schien die Antwort eindeutig. Er hatte Tonys Spur in London aufgenommen, hatte sie verloren, hatte sie wieder aufgenommen, hatte Tanner nach Kairo verfolgt. Er hatte diesen Moloch Kairo, dieses allesverschlingende lehmbraune und betongraue Chaos von Boulevards, Straßen und Gassen durchstreift, hatte sich voll zähneknirschender Wut und dann wieder mit eiskalter Ruhe in sein Zimmer in der billigen Absteige zurückgezogen, hatte in diesem schäbigen Raum voll des Miefs von feuchten Tapeten, leckgeschlagenen Abwasserrohren und schmutzigen Laken, in dem gestreiften Helldunkel, das durch die Fensterläden fiel, überlegt, gewartet, sich das Hirn zermartert. Draußen quoll der Verkehrslärm auf wie ein gigantischer Hefeteig, brandete durch die Gasse, drang in sein Zimmer, aber Steele bemerkte nichts davon. Er war eingeschlossen in das Kreisen seiner Gedanken, er strickte seine Netze und
legte seine Fallstricke. Er versuchte, die Schritte seines Opfers zu erahnen, sie in dem imaginären Raum der Vermutung und des Verdachts zu wittern, zu verfolgen und vorherzusehen. Er spielte ein Spiel, dessen Regeln er nicht festlegen konnte. Er spürte den Fluch des Jägers, das uralte Paradox, das den Verfolger zwingt, sich auf das Wild einzulassen, es zu erspüren, seine Reaktionen zu lernen, seine Finten und Hakenschläge zu den seinen zu machen. Schließlich ist es nicht mehr die Frage, was macht das Tier, was macht 'er', sondern 'was mache ich'. Denn er ist ich. Ich bin sein Parasit, ich bin die Zecke, die unbemerkt in seiner Haut sitzt, ich nähre mich von seinem Blut. Der beste Jäger ist der, der dem Hirsch gleich geworden ist. Und manchmal ist genau das der Anlass zur Jagd. Nicht der Hunger, nicht der Schutz der Herden. Sondern eine Pilgerschaft, an deren Ende der Untergang des Jägers steht oder sein Übergang zu einem Wesen von begnadeter Kraft, wenn er das machtvolle Tier erlegt, wenn er dessen Herz verzehrt und die Klauen und Zähne zu seinem Schmuck gemacht hat. Und der Jäger preist und lobt sein Opfer. Aber das war nicht Steeles Jagd. Er dachte nicht in solchen Kategorien. Steele war auf seine Art ein Gralssucher, und die Schale, die ihm Erlösung bringen sollte, barg das Blut und den Schmerz eines Verhassten. Und dennoch - war es nicht ein unglaublicher Zufall, dass er sich vor dieses Hotel auf die Lauer gelegt hatte? War es ein Triumph seines, Steeles, Scharfsinns, oder zappelte er vielleicht schon selbst in der Falle? War er noch der Jäger oder hatten sich die Verhältnisse nicht schon längst umgekehrt? Hatte er die Spur gefunden oder war sie gelegt worden, damit er sie finden sollte? Aber wenn es so war, wozu diente es? Auf Steeles Schläfen drückten sich bläulich schimmernde Adern durch die Haut wie zornige Nattern, die sich auf hellem
Fels ringeln. Es war Zeit zu handeln, er wollte sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen. Tony Tanner ging am Bahnhof vorbei. Steele rückte ihm näher, denn er fürchtete einen plötzlichen Fluchtversuch durch die Menschenmassen, die sich aus einem gerade aus Alexandria angekommenen Zug hinaus auf den Vorplatz ergossen. Nichts dergleichen. Tony Tanner verfolgte unbeirrt seinen Weg. Manchmal blieb er stehen, orientierte sich und ging dann weiter. Er folgte einem System, einem inneren Plan, den Steele nicht erkennen konnte. Sie kamen an der Al-Akhsa Moschee vorbei, dann bogen Tony Tanner und mit ihm sein Schatten in die Altstadt ab. Vor einem Laden mit vernagelter Tür blieb Tony stehen. Er zögerte, schien unsicher, was er tun sollte, und dann betrat er das Geschäft nebenan und blieb dort. Steele hielt sich hinter einem Eselskarren in Deckung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Opfer wieder aus der Vordertüre erschien, war gleich Null. Andererseits zögerte Steele, seinerseits den Laden zu betreten. Vielleicht war es genau das, was von ihm erwartet wurde. Aber wenn es so war, hielt man ihn für ziemlich blöde. Steele kam mit seinen Überlegungen nicht zu Ende, denn Tanner erschien wieder, begleitet von dem Ladenbesitzer, der einen kleinen Jungen herbeirief. Mit dem zusammen verschwand Tony Tanner in einer Ladenpassage. Vermutlich lässt er sich zu irgendeinem besonders bekannten Geschäft führen, dachte Steele, der mit Mühe den Anschluss halten konnte. Aber weder der Junge noch Tony Tanner warfen auch nur einen Blick auf die goldglänzenden Auslagen der Schmuckhändler, auf Kunsthandwerk, Touristenkitsch und Teppiche. Sie durchquerten das Viertel der Geschäfte und erreichten Wohnstraßen, in denen Fremde selten gesehen wurden.
Der Junge deutet auf eine Tür, bekam seine Belohnung und machte sich schleunigst aus dem Staub. Steele drückte sich hinter den Pfeiler eines Hauses. In dieser engen Gasse gab es ein oder zwei Gemüsehändler, ein Kaffeehaus, in dem ein Kassettengerät klagende arabische Melodien dudelte - und ansonsten nur schmucklose, teils sogar recht unansehnliche Wohnhäuser. Was also führte diesen Mann hierhin? Tony Tanner zögerte. Seit er an diesem Morgen aufgestanden war, fühlte er so etwas wie eine elektrische Spannung in der Luft. Es knisterte merklich auf der Haut, die Stadt wirkte noch lauter, noch aufgedrehter und chaotischer, wie eine zu stark parfümierte, zu stark geschminkte Frau am Rande eines hysterischen Anfalls. Der Lärm der Hupen und das Geschrei schienen sich mit geschliffenen Spitzen in das Gehör zu bohren. Eine solche Atmosphäre drängte eigentlich dazu, sich mit einer Kanne Kamillentee und einem Roman von Sir Walter Scott in einen sehr weich gepolsterten Sessel zurückzuziehen. Soviel zum Thema, in der Theorie habe ich mein Leben völlig im Griff, dachte sich Tony Tanner und stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, dass ihm wenigstens die Selbstironie noch geblieben war. Er war denselben Weg gegangen, denn er einmal zusammen mit Francine gegangen war. 'Gegangen' war eigentlich ein falscher Ausdruck, sie waren geschlendert - eine Art der Fortbewegung, die in den Tafeln der Biologie nicht verzeichnet ist, denn Hand in Hand mit einer Frau zu gehen, beflügelt und verzögert zugleich. Mit Enttäuschung hatte er erfahren, dass der Laden, in dem er die Hermes-Statue gekauft hatte, schon seit einiger Zeit geschlossen war. Dann war ihm der Zettel eingefallen, den er in dem Grabmal gefunden hatte, und er nutzte die Gelegenheit, um sich nach der Adresse zu erkundigen. Wäre die Straße nicht zufällig in der Nähe gewesen, dann hätte er die Angelegenheit vergessen.
Er hielt sie für eine Nebensache - Herbert Bruce war wichtig, seine Sentimentalitäten waren wichtig und wichtig war es, heil nach Hause zu kommen. Und nun stand er vor der Tür und empfand einen gewissen Zweifel, ob das Durchschreiten dieses Eingangs seiner unversehrten Heimkunft nützlich sein könnte. An der Hauswand standen einige arabische Worte. Sie waren mit Ölfarbe gemalt und Tony erkannte sofort, dass hier ein Meister der Kalligraphie am Werk gewesen war. Das war bestimmt nicht die Reklameschrift eines Händlers. Damit war die Sache entschieden. Tony holte tief Luft und drückte gegen die Tür. An der Straßenecke erklang in diesem Moment ein blechern scheppernder Schrei durch einen schlecht eingestellten Handlautsprecher. Die Haustür schwang ohne Widerstand auf. Dahinter lag ein enges, düsteres Treppenhaus. Stufen führten nach oben, aber Tony ging auf einen Lichtschimmer zu, der durch ein kleines Fenster in einer rückwärtige Tür drang. Es roch nach der Reinlichkeit von Behördenfluren, die von scheuerpulver-bewaffneten Putzfrauen aufrecht erhalten wird. Dazwischen mengte sich der Duft von Weihrauch. Monotoner Singsang war hörbar. Durch das Fenster konnte er nur einen engen Hof erkennen. Einige große Tontöpfe mit kleinen Bäumen bildeten einen Kreis auf dem groben, sauber gefegten Pflaster. Tony drückte die Klinke herunter und betrat vorsichtig den Hof. Kahle Mauern aus hellbraunen Ziegeln stiegen wie Felswände um eine Schlucht. Um den Himmel zu sehen, musste er den Kopf in den Nacken legen. Erst ab der zweiten Etage durchbrachen schmale Fenster die kahlen Flächen. Unter diesen Fenstern hingen Wäschestücke und schlappten in
heißen Windstößen wie erstickende Fische auf einer Sandbank. Außer der Tür, die er eben durchschritten hatte, gab es nur noch einen weiteren Ausgang. Zu seiner Rechten öffnete sich ein Flügel einer schön verzierten hölzernen Doppeltür. Die anders gefärbten, helleren Ziegel um den Rahmen zeigten, dass diese Tür ursprünglich in einem anderen Gebäude eingebaut gewesen sein musste. Tony trat näher und betrachtete staunend die vielfältigen Schnitzereien, die das dunkle, wie poliert glänzende Holz bedeckten. Quadratische Kassetten waren zwischen breiten Stegen eingelassen. Ein Geflecht von Pflanzenornamenten überwucherte die Stege, Weinreben schienen in satter Schwere von den Ranken zu hängen, exotische Blüten sprossen, an einer Stelle hatte sich der Schnitzer den Spaß erlaubt und eine Biene erschaffen, die gerade Honig aus einer Blüte zu saugen schien. Zwischen den Ranken, als wären auch sie in Teil dieser natürlichen Pracht, waren arabische Worte zu erkennen. Tony hielt sie für Koransprüche, aber es mochten auch Dichterzitate sein oder vielleicht nur deprimierend banale Sprichworte. Hier hatte ein Meister seines Fachs alle Kunstfertigkeit gezeigt. Trotzdem waren die Kassetten interessanter, denn sie zeigten, trotz des Verbotes solcher Darstellungen durch den Koran, menschliche Gestalten. Auch jemand mit weniger Kunstverständnis als Tony Tanner hätte bald erkannt, dass die Darstellungen in den Kassetten aus weitaus älterer Zeit stammten und erst nachträglich in den Rahmen eingesetzt worden sein konnten. Die Gesichter mit den eindrucksvollen, übergroßen Augen, auch die Kleidung der Figuren und ihre Waffen erinnerten an Darstellungen aus spätrömischer oder byzantinischer Zeit. Es gab eine Szene, in der einige Männer einen Pfahl in die Erde rammten. Andere Männer saßen zu Füßen eines Vortragenden, eine weitere Kassette zeigte einen Streit, bei der sich zwei Gruppen von Männern gegenseitig mit Vorwürfen zu überschütten schienen. Eine andere Darstellung
schien mythologischer Natur, denn sie zeigte einen Bauern, der vom Feld floh, weil ein Drache aus der eben aufgeworfenen Ackerfurche aufstieg. In einer Kassette waren einige Männer dargestellt, die mit den Gesten offensichtlicher Verzweiflung und Ratlosigkeit zusammenstanden. Im Hintergrund waren schwach die Köpfe einiger Kamele erkennbar, also handelte es sich vielleicht um Wüstenreisende. Etwas in dieser Darstellung brachte in Tony Tanner eine Erinnerung zum Klingen. Eine Weile dachte er angestrengt nach, biss sich auf die Lippen und lauschte auf diesen kaum hörbaren Ton in seinem Inneren und versuchte, Worte dafür zu finden. Vergeblich. Zurück blieb das zornige Gefühl des Versagens. Es gelang ihm auch nicht, in diesen Darstellungen einen gemeinsamen Faden zu finden. Es waren allem Anschein nach Szenen aus dem täglichen Leben, gemischt mit mythologischen Darstellungen und religiösen Inhalten. Vielleicht hatte es ja nie einen Zusammenhang gegeben und man hatte die Überreste verschiedener Schmuckwerke in dieser Türe zusammengefasst, einfach weil die Schnitzereien wertvoll durch Alter und Ausführung waren. Vielleicht hatten diese kleinen Kunstwerke ursprünglich eine Truhe geschmückt, waren Teil einer Wandverkleidung oder eines Altares. Eine Scheibe klirrte, als ein Fenster mit Schwung aufgerissen wurde. Dann begann eine Frauenstimme zu keifen. Tony Tanner verstand nichts von dem, was dort in schrillen Tönen herausgesprudelt wurde, aber ihm war dennoch klar, dass er das Opfer dieser sicherlich wenig freundlichen Bemerkungen war. Ohne weiteres Zögern schob er sich durch die Tür und befand sich in einem großen Saal. Zwei Säulenreihen unterteilten den Raum. Auf dem Boden lagen Schilfmatten. Die Kopfseite des Raumes verlor sich im
Dämmer. Es gab keine Beleuchtung und nur der schwache Lichtschein, der durch die geöffnete Türhälfte fiel, ließ die schmucklosen Säulen hervortreten. Tony schritt durch den Raum, dorthin, wo eine weitere Tür sein musste, durch die jetzt deutlich wahrnehmbarer monotoner Gesang erklang. Er war von seiner eigenen Aktion alles andere als überzeugt, aber wieder einmal hatte er sich auf ein Spiel eingelassen, und vorwärts zu gehen schien eine der Regeln dieses Spieles zu sein. Er konnte spüren, dass er alleine in den großen Raum war. Dennoch hielt er sich an die Säulenreihe und glitt möglichst leise von einer zur nächsten hinüber. Es war jetzt so dunkel, dass er sich mehr tastend vorwärtsbewegen musste. Dann entdeckte er einen Schimmer - eine Tür an der rechten Seite der Stirnwand. Mit einigen weiten Sätzen hatte er sie erreicht und kniete sich auf den Boden, um unauffällig durch die Türöffnung zu schauen. Ein weiterer Saal öffnete sich, diesmal durch Bogenfenster in helles Licht getaucht. An den Wänden hockten einige Männer und waren mit geschlossenen Augen in einen monotonen Gesang vertieft; in der Mitte des Raumes drehten sich andere Männer in einem langsamen Tanz um die eigene Achse. Derwische, fuhr es Tony durch den Kopf. Die Männer waren völlig in ihre religiöse Übung versunken, sie hatten allen Kontakt zu ihrer Umwelt verloren und befanden sich in einem Reich, in dem sie vielleicht das Licht Allahs erahnen, aber jedenfalls keinen Beobachter an der Tür bemerken konnten. Es hatte etwas von Voyeurismus, von obszöner Neugier, diese Gesichter in ihrer frommen Abwesenheit zu betrachten. Dennoch verharrte Tony Tanner noch einen Moment und ließ seine Blicke über die Männer gleiten. Es waren Jünglinge ebenso wie Greise unter ihnen, alle hatten die dunkle Haut
und die Gesichtszüge des Nordafrikaners. Alle bis auf einen, der unter den anderen an der Wand hockte. Es war ein älterer Mann mit tief gefurchtem Gesicht und hagerer Figur. Er wirkte auf den ersten Blick wie ein Europäer, aber Tony war klar, dass die Mittelmeerküste mit ihrem Völkergemisch zur Genüge solche Typen hervorbrachte, die wie englische Landadelige wirkten und waschechte Levantiner waren. Lautlos zog er sich wieder zurück. "Du könntest in diese religiöse Veranstaltung platzen und die Leute fragen, warum man ihre Adresse in einem Grabmal in der Wüste findet, aber dann wärst du in einem Film der MarxBrothers, also mach dich hinweg", sagte sich Tony Tanner und führte den Entschluss sofort aus. Obwohl keine Gefahr drohte und der Gesang in unveränderter Monotonie weiterklang, schlich er sich in gleicher Weise wie bei seinem Eintritt an den Säulen entlang. Der Ausgang lag schon vor ihm, als er hinter sich das Rauschen von Stoff vernahm. Er ahnte es mehr, als dass er es bewusst wahrnahm. Instinktiv, mit einem Schrecken, der ihm den Rücken langrieselte, schaute er sich um und sah eine Gestalt auf sich zueilen. Und ebenso instinktiv wandte er sich zur Flucht. Er stand unter der Türschwelle, als der Verfolger ihn einholte und nach seiner Jacke griff. Bevor Tony seinen Schwung abbremste und stehen blieb, hatte er das Kleidungsstück schon halb verloren und steckte nur noch mit einem Arm darin. Der andere Mann ließ sofort los, als hätte ihn das Resultat seines hastigen Zugreifens selbst überrascht. Es war derjenige, den Tony für einen Europäer gehalten hatte. Er machte keinen wütenden Eindruck, wirkte nicht einmal wie einer, der wirklich weiß, was er tut. Er stand nur mit hängenden Armen da und schob sein Gesicht näher an das von Tony Tanner heran, als glaubte er in ihm einen alten Bekannten zu erkennen und wolle sich nun vergewissern.
Tony stammelte einige flaue Entschuldigungen für sein Eindringen und versuchte zugleich zu erkennen, ob noch weitere Männer hinter ihm her waren. Aber der Saal lag bewegungslos im Halbdunkel, und der Gesang klang leise und ohne die kleinste Veränderung weiter. Der Mann reagierte nicht auf Tony Worte. Nicht, dass er sie nicht zu verstehen schien. Nein, er wirkte so, als hätte er überhaupt nicht bemerkt, dass der Fremde ihn mit Worten zu erreichen versuchte, als hätte er noch nicht einmal die Mundbewegung registriert. Statt dessen begutachtete er mit schräg gelegtem Kopf Tonys Gesichtszüge, als würde ein Kunstkenner den Porträtkopf eines Römers in einem Museum beschauen. "Ein Idiot", fuhr es Tony durch den Kopf. Ein armer Trottel, der von den Frommen durchgefüttert wurde. Ein dicker Kloß verstopfte Tonys Kehle. Er fühlte sich hilflos wie ein Kaninchen unter den Blicken einer Schlange. Nur noch einen Moment, dann wollte er die Starre abschütteln und erhobenen Hauptes weg und auf die Straße stolzieren. Das war kein Problem, er war dessen sicher, aber die Sekunden verstrichen und er schob den entscheidenden Moment vor sich her, immer wieder, wie eine Bugwelle, die das Schiff nicht überholen kann. Die Lippen des Mannes zitterten, wollten Worte formen, die aber niemals zu Klang und Ton wurden. Er wollte etwas mitteilen, aber er bleib stumm und betastete mit seinen Blicken weiter Tonys Gesicht. Dann, bevor der überhaupt reagieren konnte, zerrte er ihn mit plötzlichem Zupacken näher an die Tür, hielt mit der einen Hand Tonys Schulter und legte die andere auf eine Kassette, in der zwei streitende Gruppen von einem zerbrochenen Gegenstand getrennt wurden. Es wirkte, als sollten seine Arme eine Leitung herstellen, damit ein Strom von der Darstellung bis zu Tony fließen konnte. Die Augen des
Mannes bekamen einen geradezu unterwürfig bettelnden Ausdruck. Tony war einen Augenblick halb erstarrt und wäre zu Boden gestürzt, wenn ihn der Mann nicht mit erstaunlicher Kraft gehalten hätte. Dann sammelte er alle Kraft und riss sich los. Seine Jacke glitt zu Boden, einige Papiere fielen heraus und verteilten sich auf dem Pflaster. Hastig raffte Tony alles zusammen und rannte zur rettenden Flurtür. Der andere Mann hatte sich nicht gerührt. Tony durchquerte den Flur. Von der Straße tönte wütendes Gezeter und Geschrei. Die Geräuschkulisse war alles andere als einladend, aber er konnte weder zurück noch in diesem Flur länger warten. Er stieß die Tür auf und schaute auf eine Menschenmenge, die sich wie ein Mahlstrom aus Turbanen, bärtigen Köpfen und langen Gewändern zu eine wütenden Strudel formte. Am Rande der Menge standen einige jüngere Männer, von denen einer mit einem Megaphon Parolen brüllte, die von der Menge zurückgeschrien wurde. In der Mitte der Menge tauchte plötzlich ein Mann auf. Seine Nase blutete, ein Auge war halb zugeschwollen - dennoch erkannte Tony ihn auf den ersten Blick. Der Mann, der ihn in Bombay aus dem Auto gezerrt hatte. Dass dieser Mann kämpfen konnte, hatte Tony mit eigenen Augen gesehen, aber hier erdrückte ihn die schiere Masse. Dutzende von Armen rissen an ihm, zogen und zerrten ihn hin und her und wenn er sich mit einem wütenden Schlag gegen ein Gesicht oder einem Stoß in eine Kehle einen Gegner vom Hals geschafft hatte, trat ein anderer an dessen Stelle, noch aufgepeitschter, noch wütender. Bevor Tony irgendetwas unternehmen konnte, hatte man ihn entdeckt. Das Megaphon schrillte eine Anweisung, einige Männer vom Rand der Menge stürzten sich schreiend auf Tony und griffen nach seiner Kleidung. Tony fiel nach hinten gegen die Tür und rutschte zu Boden. Mit einigen Tritten
gegen die Schienbeine seiner Gegner verschaffte er sich etwas Platz, aber bevor er auch nur daran denken konnte, wieder hochzukommen, packten ihn erneut harte Fäuste. Er fuchtelte mit dem rechten Arm wie ein ungezogenes Kind, während die Linke schon nicht mehr zu ihm zu gehören schien und eisern festgehalten wurde. Es gab keine Rettung. Sein Hirn sandte schrille Paniksignale, die letzten Meldungen vor dem Verstummen, vor dem Untergang in einer irrsinnig gewordenen Menschenmenge. Er lag mit dem Rücken auf der staubigen Strasse, von Händen und Füssen förmlich an das Pflaster genagelt und starrte hilflos auf ein Dickicht langer, schmutziger Gewänder, auf Schuhe und Sandalen zwischen denen behaarte Waden blitzten. Sein rechter Arm flatterte noch wie der Flügel eines schon halb toten Vogels. Tony griff mit der rechten Hand nach seinem linken Arm und klammerte sich an sein eigenes Handgelenk, während seine Gegner versuchten, den rechten Arm loszureißen. Einige Sekunden lang erinnerte die Szene an eine Kraftprobe balgender Schüler. Tony merkte, wie sein rechter Arm von fünf, sechs Händen umklammert wurden. Sie rissen an ihm, er krallte sich an sein linkes Handgelenk und spürte, wie sich sein eigener Griff lockerte. Mit gefletschten Zähnen und einer verkrampften zitternden Anstrengung versuchte Tony Tanner sich gegen die geballte Kraft seiner Gegner zu stemmen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und übertönte das Geschrei, rote Flecken tanzten vor seinen Augen. Er versagte, der eigene Griff lockerte sich. Ein Krampf lähmte seine Hand, mit Daumen und Zeigefinger zog er einen weißen, schmerzenden Streifen über die eigene Haut, während seine Gegner ächzten und sich gegenseitig anfeuerten. Aus - Sein rechter Arm gehörte nicht mehr zu ihm. Aber Tony hatte mit zwei Fingern noch etwas erwischt, und
bevor sich in seinen panischen Gedanken das Wort 'Peitsche' bilden konnte, wusste er, was es war. Er gab jeden Widerstand auf und drückte jetzt sogar noch in die Richtung, in die sein Arm gezogen wurden. Die Gegner kamen aus dem Gleichgewicht und lockerten kurz den Griff und Tony konnte seine Rechte weit genug ausschwingen, damit sich die Peitsche von seinem linken Handgelenk löste und entrollte. Tony warf sich auf die Seite und schaffte es, eine kurze Ausholbewegung zu machen. Im Grunde war es lächerlich, aber es reichte, um die Peitsche gegen einige der Beine zu schlagen. Der Effekt war völlig unerwartet und überraschte Tony fast ebenso sehr wie die getroffenen Männer, die sich plötzlich vor Schmerzen brüllend auf dem Boden wälzten. Die Peitsche hatte sich mit einem scharfen Knall entrollt. Es war nicht einmal ein lauter Knall, aber es war ein Ton, der die Situation entscheidend veränderte, so als hätte in der Ferne ein Raubtier seinen Jagdruf ausgestoßen. Der Mann mit dem Megaphon , dessen kehliges Schreien bisher wie eine endlose Eisenkette durch den Verstärker gerollt war, brach ab. Verwirrung machte sich breit. Zeit genug für Tony, sich gegen die Tür zu stemmen und wieder auf die Beine zu kommen. Die Peitsche in seiner rechten Hand schien zu vibrieren, als habe er den Schwanz einer Schlange angefasst. Dann rollte Geschrei, angeführt von dem Megaphon wie eine rote Welle durch die Straße, und die Männer stürzten sich mit vermehrter Wut auf Tony und den anderen Mann. Dieser hatte auf dem Boden gelegen, erdrückt von seinen Gegnern. Er war am Ende seiner Kräfte und nutzt trotzdem die wenigen Sekunden der Unterbrechung, um sich hochzudrücken und schwankend auf die Beine zu kommen. Ein Tritt in die Nieren ließ ihn gleich darauf wieder stöhnend zusammensinken. Tony konnte nicht weit ausholen, aber es
reichte. Er hatte auch nicht gezielt und trotzdem fuhr das harte Leder den Angreifern über die Stirn und hinterließ bei jedem eine aufplatzende Wunde, aus der Blut in ihre Augen floss, so dass sie sich die Hände vor das Gesicht hielten und schreiend taumelten, von einer Sekunde zur anderen von fanatischen Kämpfern zu hilflosen Verwundeten degradiert. Der nächste Peitschenschlag fegte durch die Menge, dieses mal hatte Tony kraftvoll und zornig ausgeholt, und die Wirkung erinnerte an die Explosion einer Granate in einem Hühnerstall. Männer purzelten nach allen Seiten, blutige Striemen zeichneten den Weg, den Tony Tanners Waffe genommen hatte. Tony hielt sich nicht auf. Er sprang zwischen die taumelnden Männer, stieg über die am Boden liegenden und riss den Europäer hoch. Der andere konnte kaum gehen, Tony schob den freien Arm unter seine Achsel und zog ihn mit. Es gab keinen Versuch mehr, ihn aufzuhalten. Er stolperte an dem Mann und mit dem Megaphon vorbei, der das Gerät vor die Brust hielt und mit flackernden Blicken auf Tony starrte. Tony Tanner unterbrach seine Flucht kurzzeitig, um dem Anführer vor das Schienbein zu treten. Es entsprach vielleicht nicht ganz den Regeln der Fairness, aber er fühlte sich hinterher besser. Keiner verfolgte sie. Die beiden Männer keuchten durch eine Seitenstraße, bogen um einige Ecken, bis sie sich endlich in der Masse der Menschen in den Altstadtstraßen sicher fühlen konnten. Tony winkte einen Limonadenverkäufer heran und flößte seinem Begleiter das klebrig süße Getränk ein. Dann wickelte er sich die Peitsche wieder um den linken Unterarm. Dorkas hatte recht gehabt. Es handelte sich um ein ungemein nutzbringendes Accessoire.
Allerdings spürte Tony im rechten Arm ein Schwächegefühl, als hätte die Peitsche ihm sämtliche Kraft aus den Muskeln gesogen. "Danke", sagte der Mann. Seine Gesicht sah nicht gut aus. Das eine Auge war geschwollen und lag wie ein rötlicher hühnereigroßer Klumpen unter den Brauen, die Lider des anderen waren ebenfalls so dick, dass das Auge wie durch eine Panzerscharte schaute. Aber der Blick aus diesem Auge war wieder hart und klar. "Sie müssen zu einem Arzt", sagte Tony. "Besorgen Sie mir ein Taxi!", murmelte der Mann durch seine geschwollenen Lippen hindurch. Er stützte sich schwer auf Tony und so humpelten sie zur nächsten größeren Straße, wo die Chance bestand, ein Taxi zu finden. "Fundamentalisten", sagte der Mann plötzlich. "Was war in dem Haus?" "Eine Derwisch-Schule. - Vermutlich sind die Derwische den strengen Fundamentalisten zu mystisch und zu eigensinnig", antwortete Tony. Das gab dem Aufruhr vor dem Haus zumindest eine Erklärung. Sie stellten sich an den Rand der Straße. Der Verkehr flutete an ihnen vorbei. Die Hitze hatte noch zugenommen, ein heißer Wind fuhr über die endlose Blechlawine und wirbelte Staub auf. Kaum Taxis waren zu sehen, und wenn eines auftauchte, dann war es besetzt. Nach einigen Minuten warten begann der Mann neben Tony zu stöhnen. Er schwankte und Tony fürchtete, er könnte zusammenbrechen. Aber der Mann schob langsam und unter offensichtlichen Schmerzen eine Hand in die Tasche und angelte einen Geldschein heraus. Damit winkte er dem nächsten Taxi zu.
Der Fahrer bekam einen langen Hals, als er den Geldschein sah, fuhr zum Straßenrand, wobei er ein halbes Dutzend Beinahe-Unfälle verursachte und hielt neben den beiden Männern. Der Mann neben Tony deutet auf den Geldschein und dann auf den Fahrer und sagte nur 'Hospital'. Der Fahrer nickte und begann über das ganze Gesicht zu strahlen, was ihn aber nicht hinderte, seine bisherigen Passagiere ebenso abrupt wie lautstark aus seinem Wagen zu weisen. Tony half beim Einsteigen. Dann schnappte sich der Taxifahrer den Schein und jagte sein Gefährt mit quietschenden Reifen in den Verkehr. Tony blieb am Bordstein zurück und bedachte neidvoll, welche Wirkung doch ein simpler Geldschein haben konnte. Andererseits - eine Tausend-Dollar-Note hatte ja selbst heute noch einen gewissen Wert. *** Auf dem Rückweg zu seinem Hotel hatte Tony Tanner genügend Muße, über einige Fragen nachzudenken. Er kam zu keinem wesentlichen Ergebnis, wenn man von der eher allgemeinen Erkenntnis, dass diese Welt sowohl seltsam als auch gefahrvoll ist, absieht. Als er das Hotel betrat und den dämmrigen angenehm kühlen Durchgang zum Garten hinabging, musste er seine Welterfahrung noch um die Erkenntnis bereichern, dass diese Welt voller Überraschungen ist. In einem der verschlissenen und vielleicht gerade deswegen sehr bequemen Sessel lümmelte sich MacMorley. Tony hatte ihn nicht bemerkt und zuckte zusammen, als wäre eine Muräne aus ihrem Loch hervorgeschossen, als er MacMorleys Organ hörte. "Sie sehen leicht angeschlagen aus, Tanner. Sind Sie vielleicht beim Schlussverkauf zwischen Kairoer Hausfrauen geraten?" "Sehen Sie, Herr Mac Morley, es sind genau solche
Bemerkungen, die Ihnen die Sympathie Ihrer Umwelt zufliegen lassen. Natürlich nur, wenn Sie sie verschlucken. Darf ich Sie zu einem Bier einladen?" "Bei Bier beginnt die Zählung mit fünf Gläsern, das sollte selbst ein säuferisch minderbegabter Engländer wissen", knurrte MacMorley und trottete hinter Tony her in den kleinen Garten. Tony wartete, bis der Schotte einige Gläser Bier vertilgt hatte, wobei er bei jedem Glas bissige Bemerkungen über den Geschmack des Gerstensaftes machte und dann von alleine loslegte. "Herbert Bruce", sagte Mac Morley plötzlich. "Unser Assistent ist noch in Kairo. Aber wenn Sie den Typen abfangen wollen, müssen Sie bald die Hufe schwingen. Denn er wird bald verschwinden." "Hat er diesen ominösen Koffer dabei?" "Ständig. Er lässt das Ding nie aus den Augen. War reiner Zufall, dass ich ihn gefunden habe. Ich begegnete nämlich zufällig einem aus der Hornsby-Gemeinde und bin hinter dem her. Und der hat sich vor dem Ägyptischen Museum mit Bruce getroffen. War eigentlich ein genialer Treffpunkt - überall Busse, Touristenrotten und diese peinlichen Reiseleiter, die Fähnchen schwenken und ihre Herden hinter sich herziehen. Bruce hat noch irgendeine Typen getroffen. Den habe ich noch nie gesehen, aber er hatte eine heiße Braut an der Hand. Na ja, er will heute abschwirren. Das wars, was ich Ihnen sagen wollte." Mac Morley setzte sich in Positur und schaute Tony beifallheischend an.
"Tja," sagte Tony Tanner, "das ist noch ein pisswarmes, labbriges, stinkiges, wie Kälberpipi schmeckendes Bier wert. Habe ich ein Adjektiv vergessen? Übrigens, bei welcher Gelegenheit lernt ein Schotte den Geschmack von Kälberpipi so genau kennen - doch sicherlich bei den Highland Games als Ausdruck traditioneller Eichung der Geschmackspapillen?" "Es gibt letzte Dinge, die einem Menschen verschlossen bleiben, der die Schande der englischen Geburt mit sich trägt", erklärte MacMorley, nicht völlig ohne eine gewisse würdevolle Freundlichkeit. Er erklärte noch, dass er sich mit dem Zug nach Alexandria begeben wollte, weil Hornsby ebenfalls aufgetaucht sei. Dann verabschiedete er sich leicht schwankend. Die Trennung fiel Tony leicht, zumal er Mac Morley nur mit Mühe davon abbringen konnte, seine bierpralle Blase vor der Theke der Rezeption zu entleeren. Wenn er eine Chance haben wollte, Bruce noch abzufangen, dann musste er schnell handeln. Und er handelte schnell, wie er sich selbst zugestand, als er mit dem Taxi die breite Straße zum Flughafen herunterrollte. Der Fahrer wirkte nervös. Er murmelte vor sich hin und zeigte schließlich auf die Wüste, die hier bis an den Straßenrand reichte. Tony beugte sich aus dem Fenster. Ihm stockte der Atem. Der Himmel war verschwunden, und eine riesige bräunliche Wand wälzte sich auf die Stadt zu. Der Sturm warf seine ersten prasselnden Schauer von Sandkörnern auf das Wagendach, als das Taxi vor dem Flughafen hielt. Jetzt kam kein Flugzeug mehr vom Boden weg. 20. Im Flughafengebäude wimmelte es von Menschen, die neben ihrem Gepäck standen und warteten. Die übliche
Aufbruchsstimmung eines Flughafens war von allgemeiner Ratlosigkeit abgelöst worden. Tony Tanner konnte diese Stimmungslage problemlos nachvollziehen, denn er stellte sich die Frage, wie er in diesem Chaos einen Mann finden sollte, dessen Gesicht er noch nicht einmal kannte. Vielleicht gehörte Herbert Bruce samt seinem Koffer schon zu den Gestalten, die sich draußen um die Taxis drängten, weil sie zurück in die Stadt wollten. Das waren die Realisten, die nicht daran glaubten, dass an diesem Tag noch ein Flugzeug starten würde. Die Optimisten blieben und waren der festen Überzeugung, dass es sich um ein kurzzeitiges Wetterphänomen handelte. Allerdings bildeten diese sonnigen Gemüter eine Minderheit, während die Mehrheit im Flughafen blieb, weil ihr nichts anderes einfiel. Tony Tanner steuerte den Schalter einer britischen Fluglinie an. Er hatte sich entschlossen, dass ihm nur die allerblödeste aller Möglichkeiten zur Verfügung stand und hoffte, dass Herbert Bruce oder wer auch immer, ihm eine derartige Dämlichkeit nicht zutraute. Er verhandelte eine Weile mit der Angestellten und musste feststellen, dass sein bewährter Charme bei dieser Dame genau wirkungslos war wie ein Schnupfenspray bei fortgeschrittener Beulenpest. Es blieb ihm nur seine letzte Geheimwaffe, und so zückte er einen Ausweis, der ihn als Vertreter einer britischen Behörde auswies. Heimlich hatte er gehofft, auch hiermit keinen Erfolg zu erzielen - es hätte ihn ein wenig über seinen totalen Misserfolg als Amateurcharmebolzen hinweggetröstet. Aber die Dame hinter dem Schalter verschluckte fast das Kaugummi, das sie während der gesamten Unterredung mit Tony in verschiedenen Beiß-, Mahl- und Kautechniken bearbeitet hatte und nahm Haltung an. Dann griff sie zum Telefon, führte ihrerseits ein kurzes Gespräch und nickte Tony zu.
Der bedankte sich freundlich und bezog Position an einer Säule neben dem Schalter. Es dauerte nicht lange, dann dröhnte durch den gesamten Flughafen die Lautsprecherdurchsage, die Herrn Herbert Bruce dringend zum Schalter der Fluggesellschaft bat. Tony konnte sich entspannen. Irgendwie war er der festen Überzeugung, dass Bruce, der sicherlich kein Lämmlein an Unschuld war, auf diesen Trick nicht hereinfallen konnte. Es war auf eine laue Weise sogar ein gutes Gefühl. Man hatte alles getan, was man tun konnte und es hatte nicht geklappt. Dumm gelaufen und dann schnellstmöglich ab nach London. Tony schloss die Augen und träumte für einen Moment von Nieselregen und saftig grünem Rasen. Als er die Augen öffnete, erkannte er, dass er Pech gehabt hatte. Dieser Mann, der einen Metallkoffer in der Hand trug und sich dem Schalter näherte, musste Bruce sein. Nun ja, sagte sich Tony, es wäre wohl für Bruce besser, wenn er nicht dieser Typ wäre. Denn wer möchte schon ein spitznasiger, schmächtiger Mann sein, der die Jugend schon hinter sich gebracht hat, ohne alle Pickel zu verlieren, dafür aber unter der Notwendigkeit lebt, vorzeitig auf die Hauptmasse seines Haares verzichten zu müssen? Der Mann war offensichtlich nervös. Er ließ seine kleinen, rotumränderten Äuglein über die Umgebung schweifen und drehte sich immer wieder um, als wäre jemand hinter ihm her. Tony stieß sich von der Säule ab und ging direkt auf den Mann zu. "Herr Bruce, Herr Herbert Bruce? Ich muss Sie kurz sprechen." Bruce prallte zurück, als er Tonys Stimme hörte, drehte sich auf dem Absatz um und rannte fort. Er rammte seinen Koffer einem Wartenden in die Kniekehle, so dass dieser mit einem Aufschrei umkippte und im Fallen einige aufgestapelte Koffer zu Boden riss. Wütende Stimmen gelten
hinter dem Fliehenden her. Tony war von der Reaktion von Bruce etwas überrascht - das letzte Mal, als er einen derartigen Effekt erzielt hatte, war er in der ersten Klasse gewesen und hatte zu diesem rothaarigen Mädchen gesagt: "Du, ich möchte Dich küssen!" Tony Tanner dachte nicht gerne daran. Er setzte sich in Bewegung und sprang über die Koffer hinweg, die wie eine Barriere auf dem Boden lagen. Bruce war schon nicht mehr zu sehen, aber empörte Blicke und Rufe markierten seinen Weg. "Warum hat dieser Idiot nicht einfach gesagt, ich heiße Miller und ist gegangen?", dachte Tony, während sein Puls sich langsam zu höheren Schlagzahlen hinbewegte. Die stickige Luft in dem Flughafengebäude war leichtathletischen Übungen dieser Art wenig förderlich. Hier standen nicht mehr so viele Menschen herum. Vor sich konnte er jetzt Bruce erkennen, der mit dem Koffer schlenkernd wie um sein Leben rannte. Unästhetischer Laufstil, stellte Tony fest, aber sehr effektiv. Irgendwie schien dieser Bruce in der großen Tradition britischer 800-Meter-Läufer zu stehen. Tony japste und versuchte zu beschleunigen. Bruce schlitterte über den Fußboden, prallte auf die gegenüberliegende Wand und verschwand hinter einer Ecke. Tony kam keuchend zu der Stelle und konnte Bruce nicht mehr sehen. An der Wänden waren einige Türen, die vermutlich zu den Betriebsräumen des Flughafens führten. Er stütze seine Hände auf die Knie und schnappte nach Luft, wie ein Läufer hinter der Ziellinie. Er hatte kein Klappen einer Tür gehört, aber inzwischen rasselte seine Lunge derart, dass er nicht einmal eine Explosion gehört hätte. Die Türen waren verschlossen, er rüttelte an jeder Klinke und hatte nirgendwo Erfolg. Dann hörte er ein Heulen. Für einen Moment wusste er nicht, was dieses Geräusch bedeutete, dann erkannte er es. Jemand hatte eine Außentüre geöffnet. Der Sand, der unter
seinen Sohlen knirschte, ließ keinen Zweifel, dass er richtig gefolgert hatte. Er riss die Tür auf und schaute in ein Inferno aus heulendem Sturm und Sandwolken, die über den Beton der Rollfläche fegten. Hier kam keiner durch. Und wenn, dann wäre er nach ein oder zwei Schritten nicht mehr zu sehen. Tony machte einen Schritt zurück und biss sich auf die Lippe. Sollte er etwa da hinaus - und hatte Bruce wirklich diesen Hexenkessel zur Flucht ausgewählt? Die Frage beantworte sich in gewisser Hinsicht von selbst, denn das Dröhnen in seinem Schädel, hervorgerufen durch den Aufprall einer Metallkoffers auf den Hinterkopf, belehrte Tony Tanner in eindeutiger Weise über den derzeitigen Aufenthaltsort von Herbert Bruce. Tony knickte nach vorne weg, aber es war eher eine instinktive Schutzreaktion, als vom dem Schlag verursacht. Bruce mochte ein guter Läufer sein, in der Disziplin des Kofferkampfes war er ein Anfänger. Tony Tanner warf sich nach vorne, stütze sich auf die Hände und landete mit dem rechten Bein einen Tritt, der mit dem Adjektiv "gemein" nur unzureichend beschrieben wäre, gegen ein Knie des Archäologen. Bruce sprang mit einem Aufschrei zurück und hüpfte vor Schmerz auf der Stelle. Zeit genug für Tony, wieder auf die Beine zu kommen. Dann musste er den Kopf einziehen, denn Bruce schwang seinen Koffer wie ein Hammerwerfer und ließ ihn haarscharf über Tony hinwegsausen, so dass der den Luftzug im Nacken spürte, als stünde er unter einem Jahrmarktskarussell. Als der Koffer an ihm vorbei war, wollte Tony zum Angriff übergehen und merkte sofort, dass er damit einen kapitalen Fehlgriff getan hatte. Denn Bruce drehte sich tatsächlich wie ein Hammerwerfer um die eigene Achse und schmetterte den Koffer mit gewaltiger Wucht gegen Tonys Arm. Der Aufprall schleuderte Tony nach unten und ließ ihn ein Stück über den Boden rutschen. Diese Chance ließ sich Bruce
nicht entgehen. Er wandte sich ab und rannte wieder los. Der dumpfe Schmerz in seinem Arm überdeckte für einen Augenblick alles, aber dann rappelte sich Tony wieder hoch und nahm die Verfolgung auf. Er reagierte mehr oder weniger instinktiv, wie ein Reptil, das nach der Beute schnappt, denn durch seinen Körper pulsierte der Schmerz und wischte jeden klaren Gedanken weg. Bruce war erschöpft. Er pendelte mit dem Kopf hin und her, während sie den leeren Gang entlanghasteten. Der Koffer schlenkerte in seiner Hand und knallte manchmal mit einem metallischen Scheppern an die Wand. Der Abstand zwischen den Männern blieb gleich. Im Rennen nestelte sich Tony die Peitsche vom Handgelenk. Er konnte sich noch glücklich schätzen, dass sein linker Arm getroffen worden war. Mit rechts packte er den Griff der Peitsche und versuchte mit allerletzter Anstrengung etwas näher an den Fliehenden heranzukommen. Dann schwang er die Peitsche und registrierte mit Verwunderung, dass der Lederriemen wie eine Schlange auf Bruce zuzischte und sich um seinen Unterschenkel wickelte. Tony riss an der Peitsche, und einen Moment lag Bruce, vorwärtsgetrieben von seinem eigenen Schwung, wie ein schwebende Jungfrau in der Luft, bevor er krachend zu Boden stürzte. Es war ein glatter Knockout. Tony fackelte nicht lange. Mit einem harten Tritt beförderte er den Koffer aus der Umklammerung des Ohnmächtigen und einige Meter weiter den Gang hinunter. Dort nahm er ihn im Vorbeigehen auf und mischte sich eine Minute später unauffällig unter die wartenden Passagiere. Die Peitsche wickelte er sich wieder um das Handgelenk. Er war durchaus zufrieden mit sich, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Frau aufschrie und Tony in der Wand neben sich eine Beschädigung bemerkte, die eine Sekunde
vorher noch nicht sichtbar gewesen war. Als der zweite Schuss an seinem Ohr vorbeiheulte und beim Aufprall aus der Wand Splitter herausschlug, hatte Tony die Situation zumindest in ihren groben Zügen erkannt. Jemand trachtete ihm ganz ordinär nach dem Leben, und dieser Jemand war ganz bestimmt nicht Herbert Bruce! Seine Neugier drängte ihn danach, nach dem Schützen zu schauen, sein Überlebenswille forderte ihn zur schnellstmöglichen Flucht auf. Tony Tanner gehorchte letzterem, umfasste mit beiden Händen den Koffer und ergab sich jener Beschäftigung, in der in der letzten Zeit eine gewisse Routine erworben hatte - dem Fortlaufen. Hinter sich hörte er dieselbe Geräuschkulisse, die er bei seiner Verfolgung von Bruce gehabt hatte - wütende Schreie, Rufe und die Trillerpfeifen der Polizei. Wer immer auf die künstliche Verkürzung seiner Lebenszeit aus, er nahm keine Rücksicht auf irgendeine Form von öffentlicher Aufmerksamkeit. Die harte Tour, fuhr es Tony durch den Kopf. Aufgesetzter Kopfschuss und dann ab durch die Mitte, während die Panik ausbricht. Mafiamethode. Er musste sich verstecken, er musste durch irgendeine Tür, hinter irgendeine Wand. Aber sie waren dicht hinter ihm und ihre Schüsse sirrten mit boshaftem Insektenklang an ihm vorbei, trafen Unschuldige, Menschen warfen sich auf den Boden oder hechteten über die Schalter in die engen Räume von Flughafenangestellten. Tony zickzackte wie ein Hase zwischen den Menschen hindurch. Die Erschöpfung legte sich wie eine heiße Klammer um seine Schenkel. Er hatte nur noch einige Schritte, dann war es aus, dann konnte er nur noch stehen bleiben und auf den Knall warten, der sein Leben beenden würde. An der Seite war jetzt ein Bistro. Die Leute hatten sich unter die kleinen Tische geflüchtet. Eine Frau schrie wie eine Irrsinnige. Hinter der Theke waren die Angestellten in Deckung gegangen. Irgendwo heulte eine
Sirene. Tony hastete weiter - nur nicht stehen bleiben. Plötzlich fasste eine Hand an deinen Arm und riss ihn aus seiner Bahn. Er konnte keinen Widerstand mehr leisten. Er wurde vorwärtsgestoßen, durch eine aufschwingende Tür, hart klapperten die Absätze von Frauenschuhen auf Fliesenboden - Warum zum Teufel klappern hier hochhackige Pumps, soll ich jetzt von einer Tunte umgenietet werden oder was? Eine weitere Tür wurde aufgerissen., ein heftiger Stoß beförderte Tony in einen kleinen Raum. Er knallte gegen die Wand und hörte die Tür zuschlagen. "Alles klar", keuchte Tony Tanner. "Ich träume, dass ich auf einer Damentoilette im Kairoer Flughafen bin. Bei Drei wache ich auf und ..." Den Satz konnte er nicht beenden, denn eine Hand legte sich auf seinen Mund. Es war eine weiche Hand, die außerordentlich gut duftete, und dahinter war ein roter Mund, der mit einem reizenden französischen Akzent sagte: "So halten Sie doch den Mund, Sie blödes britisches Rindvieh." In dem engen Abteil musste sie sich gegen ihn drängen. Er spürte ihren warmen weichen Körper und war sich bewusst, dass sein eigener Kreislauf in diesem Moment nicht allein mehr die Belastung durch das schnelle Rennen zu verkraften hatte, sondern sich einer vermehrten Ausschüttung gewisser Hormone erwehren musste. Lucille Chaudieu schaute ihn mit ihren braunen Augen an, und er hatte das Gefühl, als würde sich unter ihm eine Klappe öffnen, durch die er gleich in einen unendlichen Abgrund stürzen müsse. Lucille musterte sein Gesicht und fragte dann: "Geht es Ihnen einigermaßen?" Tony nickte und sie nahm lächelnd ihre Hand von seinem Mund. Sie verharrten eine Weile, eng beieinander, und lauschten den Geräuschen aus der Abflughalle, die allmählich
nachließen. "Bleiben Sie hier, verschließen Sie die Tür hinter mir. Ich werde mir etwas einfallen lassen, um sie hier herauszuholen. Verstanden?" Tony nickte brav seine Zustimmung. Lucille öffnete die Tür, schaute sich um und verschwand. Vorher wandte sie sich noch einmal an Tony: "Und noch eines. Lassen Sie sich bloß nicht von fremden Frauen ansprechen!" Tony verriegelte die Kabinentür und setzte sich auf mit hochgezogenen Beinen auf die Keramikschüssel. Die Situation war derart absurd, dass sie nicht mal in einem Monty Python-Film vorgekommen wäre. Er wartete und hatte in jeder Sekunde die panische Angst, jemand würde ihn entdecken. Mehrere Leute kamen in den Waschraum, und Tony fürchtete, dass diese enge Damenkabine die letzte der Schönheiten dieser Welt sein könnte, was seine brechenden Augen wahrnehmen würden. Aber Stimmen und Geräusche verrieten ihm, dass es sich um einige Damen handeln musste, die versuchten, sich Blut oder verschütteten Kaffee aus der Kleidung zu waschen. So wartete er und bat heimlich alle weiblichen Wesen in seiner näheren Umgebung um Verzeihung für seine Anwesenheit auf dieser Welt, denn war er nicht der Verursacher aller Panik und mitverantwortlich für Verletzungen, ja vielleicht sogar für den Tod von Unbeteiligten? Endlich hörte er wieder das vertraute Klappern von hohen Absätzen. Einen Moment herrschte Stille, dann flog etwas auf seinen Kopf und es wurde dunkel um ihn. Als er sich mühsam unter dem Stoff hervorgearbeitet hatte, hörte er ein leises 'Anziehen'. Nach einigen vergeblichen Versuchen, die Stoffmenge zu ordnen, dämmerte es Tony, was er da in der Hand hatte. Es war ein Frauengewand, die Freude jedes fundamentalistischen Ehemannes, die arabische Variante des
Ein-Mann-Zeltes. Zum Glück war es recht einfach, sich die Kleidung überzustreifen. Sorgfältig kontrollierte Tony den Sitz der Kopfbedeckung und öffnete dann die Tür. Gebückt wie ein altes Mütterchen, den Koffer unter dem Gewand vor den Bauch gedrückt, schlich sich Tony aus der Damentoilette. Hinter der Eingangstür erwartete ihn Lucille Chaudieu. "Gehen Sie hinter mir her", zischelte sie. Tony ging hinter ihr her und hielt den Blick auf ihre schwingenden Hüften, ohne sich dabei besonders zwingen zu müssen. Mein Gott, dachte er, sich vorzustellen, dass Frauen solche Beine haben und sie einfach zum Laufen benutzen. Unglaublich, das grenzt an Missachtung der Schöpfung. Lucille benutzte ihre Beine, um zu einem Seitenausgang des Flughafens zu schreiten. Dort winkte sie einem wartendem Taxifahrer und schob ein altes Mütterchen in den Wagen. Als der Wagen losruckte, blickte Tony durch das Heckfenster, aber Lucille war schon verschwunden. Der Taxifahrer fuhr los. Vor dem Flughafen rotierten die blauen und roten Lichter der Einsatzfahrzeuge. Nach einigen Minuten Fahrt nahm Tony seine Haube ab. Der Taxifahrer schien einiges gewohnt zu sein, jedenfalls nahm er die Geschlechtsumwandlung des alten Mütterchens mit äußerlicher Gelassenheit zur Kenntnis. Er konnte Tony nur sagen, dass die junge Frau ihn abgefangen hatte, als er gerade vor dem Flughafengebäude hielt. Sein Fahrgast werde ihn fürstlich bezahlen, und er habe es doch mit einem Ehrenmann zu tun? Tony war sicher, dass Lucille bereits eine tüchtige Summe an den Mann gezahlt hatte, und dass das gewünschte Zweithonorar mehr die Anerkennung dafür war, dass der Taxifahrer sich mit Lucilles Geld aus dem Staube gemacht hatte. Tony ließ sich zu seinem Hotel bringen, holte sein Gepäck und beglich die Rechnung, dann gab er dem Fahrer die Anweisung, ihn nach Alexandria zu bringen. Die Fahrt war wegen des Sandsturms zuerst mühselig, aber dann klarte das
Wetter auf, und sie fuhren im Morgengrauen in die Vororte von Alexandria ein. Tony hatte im Wagen geschlafen. Er erwachte, als der Fahrer vor dem Flughafen anhielt. Der Rest war die Routine des Reisens, in der Tony Tanner kein Anfänger war. Er erwischte einen Flug nach Rom und nahm von dort die Linienmaschine nach London. Während er unter sich die Alpen sah und das Gewicht des Koffers auf seinen Knien spürte, durchfuhr ihn wie ein Blitz ein Gedanke. Was, wenn in diesem Koffer eine Bombe wäre? Der Koffer war abgeschlossen, bisher hatte er keine Gelegenheit gehabt, ihn zu öffnen. Und er hatte sich mit seinem Ausweis an jeder Sicherheitskontrolle vorbeigeschmuggelt, das Gepäck war also nicht durchleuchtet worden. Wie schmuggelt man eine Bombe an Bord eines Flugzeugs, raste in seinem Kopf, man lässt sie sich durch eine Idioten klauen und der nimmt sie mit an Bord. Der Gedanke ließ sich nicht abschütteln, und erst als die Turbinen im Rückwärtsschub aufheulten und das Flugzeug auf der Landebahn in Heathrow an Geschwindigkeit verlor, hatte er einen Augenblick der Entspannung. Im Flughafengebäude steuerte er das nächste Telefon an und wählte die Nummer von Dorkas. Er musste lange warten, eine fürchterliche lange Zeit, in der er auf das Tuten im Hörer lauschte, ganz von fern das Klingeln des Apparates vernehmen konnte und sich unendlich verloren vorkam. Endlich nahm Dorkas ab. "Wo waren Sie, Dorkas, ich wollte schon auflegen?" Dorkas Stimme hatte eine ungnädigen Klang. "Ich war da, wo man immer ist, wenn das Telefon klingelt. Hören Sie, Herr Tanner, kommen Sie nicht zu meiner Wohnung. Wir treffen uns schnellstmöglich an diesem Imbiss am Piccadilly-Circus." Ende