Leslie L. Lawrence
Der Fluch des Huan-Ti
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Leslie L. Lawrence
Der Fluch des Huan-Ti
Inhaltsangabe Schon seit Generationen suchen Forscher und Archäologen nach dem Grab des legendären chinesischen Urkaisers Huan Ti und seiner tönernen Armee. Daß keineswegs nur ehrenhafte Leute auf der Suche sind, muß auch Leslie Lawrence erfahren, als er nichtsahnend in Bangkok ein Flugzeug in Richtung Peking besteigt. Kaum in der Luft, wird ihm bereits klar, daß diese Maschine wohl nie ihr vorgegebenes Ziel erreichen wird. Für die Fluggäste gibt es kein Entkommen mehr, der Fluch des Huan-Ti scheint auf ihnen allen zu liegen…
Genehmigte Sonderausgabe für Serges Medien GmbH, Köln Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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ch legte das Buch zur Seite und starrte aus dem Fenster. Hellgraue Wolkenfetzen zogen neben uns vorbei, dicke Regentropfen rollten über das Glas. Die Maschine brummte leise und zufrieden vor sich hin; eine ganze Zeit nun schon, seit wir in Bangkok abgehoben und via Peking Kurs in Richtung Nanking eingeschlagen hatten. Angenehmer Teeduft bereicherte die Luft der Kabine. Die in traditionelle thailändische Kleidung gehüllte Stewardeß füllte mit einem freundlichen Lächeln die Tassen nach und bot dazu kleines, rundes Gebäck an. Der Servierwagen verlor das Gleichgewicht, als das Flugzeug in eine besonders unfreundliche Wolke eintauchte, und machte sich auf seinen Rollen sofort selbständig. Beherzt stellte ich ihm ein Bein und beendete damit seine kurze Fahrt ins Heck. Die Stewardeß tippelte, mit dem Tablett gekonnt balancierend, hinterher und schenkte mir ein wenn überhaupt möglich noch strahlenderes Lächeln als zuvor. Sie drehte sich zu mir um, vielleicht flüsterte sie mir auch etwas zu, und berührte dabei wie aus Versehen mein Bein. Ich lächelte zurück und hielt den Wagen fest, bis sie ihr Tablett darauf in Sicherheit gebracht hatte. Als sie schon fast hinter dem Vorhang zwischen den Abteilen der verschiedenen Klassen verschwunden war, schaute sie noch einmal zurück und zwinkerte mir zu. Nicht auffällig, aber sehr bestimmt. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Gerade gab ich mich der stillen Hoffnung hin, daß uns Peking mit gutem Wetter beglücken würde, als mein Nachbar meinen Arm ergriff. »Worauf warten Sie denn noch, Sie Hampelmann?« In seinem Englisch schwang ein starker französischer Akzent mit, und jedes Wort ließ den ehemaligen Soldaten erkennen. Er preßte die Vokale hart zwischen den Lippen hervor, als ob er neben einer Kanone stehen und seit vierundzwanzig Stunden ununterbrochen 1
Feuerbefehl geben würde. Was das betrifft, war auch seine Erscheinung militärisch. Das kurzgeschnittene schneeweiße Haar, der riesige, abstehende Schnurrbart erinnerten mich an die preußischen Befehlshaber des Ersten Weltkrieges. Lediglich seine beinahe schon an Eingeborene erinnernde braungebrannte Haut zerstörte die dadurch gewonnene Illusion. »Wie meinen Sie?« Er schüttelte den Kopf und stieß einen lauten Seufzer aus. »Irgendwas stimmt mit der heutigen Jugend nicht mehr, glauben Sie mir… Mein Guter, damals hätte ich sonstwas dafür gegeben, so ein Mädchen zu bekommen. Wenn ich jetzt dreißig Jahre jünger wäre… Wissen Sie, was wir Franzosen tun, wenn uns jemand so zuzwinkert?« »Ich habe keine Ahnung…«, spielte ich den Dummen. »Allerdings sind wir Engländer auch nicht so unwissend, wie man meint.« »Inwiefern?« »Nun, wir halten uns zum Beispiel zurück, wenn wir bemerken, daß ein hübsches Mädchen mit unserem Nachbarn flirtet…« Ein leichter Schatten flog über sein Gesicht, aber nur ganz kurz. Dann kratzte er sich am Haaransatz und zog eine Grimasse. »Das hatte ich wohl verdient… Nun ja… Übrigens, mein Name ist Villalobos, General Adam Villalobos.« Der Name kam mir bekannt vor, aber im Moment konnte ich ihn noch nicht einordnen. Ich war mir allerdings sicher, ihn schon einmal gehört oder sogar in Zeitungen gelesen zu haben. Ich drückte seine Hand und dachte dabei angestrengt nach. Er war sicherlich Soldat, schließlich hatte er sich doch auch als General vorgestellt. »Lawrence«, erwiderte ich. »Leslie L. Lawrence.« Er zog seinen Arm zurück und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Oh, dann kenne ich Sie doch! Ich bin nicht zuletzt wegen des Treffens mit Ihnen auf dem Weg nach Nanking. Was für ein Glück! Wollen Sie ihr wirklich nicht hinterhergehen?« »Bis Peking dauert es ja noch eine Weile«, antwortete ich. »Wo2
her wissen Sie denn, wer ich bin?« »Aus den Entomologischen Blättern. Ich selbst bin auch sehr an Käfern interessiert. Besonders an den Bambusschädlingen.« »Äh … und warum gerade an denen?« »Wenn sie den Bambus auffressen, bleiben keine Knospen für die Pandas übrig. Klar?« »Nun … um ehrlich zu sein…« »Also gut, nochmal von vorne. Wissen Sie noch, wie ich heiße?« »General Villalobos.« »Lassen Sie das mit dem General. Das liegt Jahrhunderte zurück.« Plötzlich knipste jemand die Taschenlampe in meinem Kopf an, und mir fiel es wieder ein. Villalobos … natürlich! »Sie sind der Vorsitzende der Pandakommission!?« Er lächelte zufrieden und brüllte mir vergnügt in die Ohren: »Na endlich, Mann! Schließlich hatten wir sogar mal einen kleinen Briefwechsel…« »Vor drei Jahren…« »Genau! Ich bat Sie um Hilfe.« »Sie wollten wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, die Schädlinge auf biologische Weise zu bekämpfen, da Chemikalien auch die Pandas töten würden.« »Na, das müssen wir aber feiern! Los, gehen Sie ihr nach, wenn schon nicht deswegen, dann wenigstens, um etwas Whisky zu besorgen!« Ich wollte mich schon aus dem Sitz erheben, als sich hinter mir plötzlich jemand nach vorne beugte und mir ohne viele Worte eine volle Flasche des wertvollen Getränkes in den Schoß plumpsen ließ. Villalobos starrte mit großen Augen auf meinen neuen Schatz. »Sind Sie so etwas wie ein Hobbyzauberer?« Ich stand auf und schaute in die nächste Reihe. Ein Riese, mindestens zwei Meter groß, grinste mich an. Seine Glatze glänzte wie eine Billardkugel, lediglich ein kleines lilafarbenes Haarbüschel in der Mitte unterbrach die Symmetrie. Ein geschickter Tätowierer hatte auf der mir entgegengestreckten Hand eine Trommel mit zwei 3
Schlagstöcken verewigt – es erinnerte ein wenig an einen Totenschädel mit gekreuzten Schienbeinknochen. Das Grinsen verwandelte sich in ein offenes Lächeln und offenbarte einige Goldzähne. »Hey!« Für einen Moment wußte ich nicht, ob er mich begrüßte oder sich nur über etwas freute. Noch während ich angestrengt darüber nachdachte, zerquetschte er mir beinahe die Finger. »Hallo…«, erwiderte ich schwach. »Sind Sie unser Schutzengel oder so?« »Oder so. Warum, Probleme damit?« »Wer sind Sie?« »Der Begleiter des Generals«, grinste er. »Hatte zufällig gelauscht. Sind Sie etwa Villalobos? Ich hab' Sie mir aber anders vorgestellt…« Villalobos errötete ein wenig, und die Hand auf der Lehne schien etwas zu zittern. »Was heißt hier, mein Begleiter?! Ich habe keinen Begleiter! Wer zum Teufel…« »Sie sind doch der Pandatyp, oder?« »Der Vorsitzende der Pandakommission, wenn ich bitten darf!« »Alles klaro. Ich bin der Leichenfresser.« Da mir aus den Wortfetzen nicht ganz klar wurde, welche Muttersprache ihn ins Waisenhaus eingeliefert hatte, nahm ich einfach an, daß er Probleme mit dem englischen Wortschatz hatte. Villalobos eignete sich inzwischen die Whiskyflasche an und prüfte gerade das Etikett. »Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden…« »Leichenfresser.« »Leichenfresser? Sicher?« »Sagen Sie mal«, blickte er mich mißtrauisch von der Seite an, »lesen Sie denn überhaupt keine Popzeitschriften?« Beschämt blickte ich zu Boden und stammelte etwas von hundertprozentiger Popzeitschriften-Abstinenz. 4
»Sie meinen, Sie haben noch nie etwas von den Leprakranken Leichenfressern gehört?!« Villalobos blinzelte mich über die Flasche hinweg an und versuchte, seinen offenen Mund hinter ihr zu verbergen. »Ähm, sehen Sie…«, fing ich vorsichtig an, »heutzutage gibt es ja so viele Gruppen…« »Leprakranke Leichenfresser aber nur einmal. Kennen Sie denn das hier nicht?« Und damit fing er an, leise eine Melodie zu summen, um kurz darauf auch noch den Text zu singen. Ich vernahm irgend etwas mit Blut, das bei jedem Biß des Satans hervorquillt. »Ich gratuliere«, sagte ich. »Ganz nettes Lied. Und danke für den Whisky. Den General scheinen Sie ja zu kennen.« »Ich bin sein Begleiter.« Villalobos seufzte und zwirbelte mit Märtyrergebärde seinen Schnurrbart. »Das scheint sein Tick zu sein. Sagen Sie mal, wohin begleiten Sie mich denn nun?« »Na zu den Pandas, Chef.« »Wohin?« »Sie halten doch diesen Vortrag, oder? So an neun oder zehn Orten. Angeblich soll da auch gesammelt werden.« Der General sank leichenblaß in seinen Sessel zurück und schien sich auf den Tod vorzubereiten. Ich nahm ihm vorsichtig die Whiskyflasche aus der Hand, damit ihr nichts passierte. »Sie…? Sie sind das … Ensemble?« flüsterte er. »O mein Gott! Ich wollte doch ein Streichquartett! Ich hatte vor, extra ein Pandalied für diesen Anlaß schreiben zu lassen…! O mein Gott!« »Tja, Streichquartette gab's zur Zeit nicht. Ja, der Typ von der Agentur schwafelte was von einem Lied… Keine Angst, Major, wir kriegen das schon hin! Spätestens in Peking ist der Gassenhauer fertig. Pampapam, papa-panda! Sowas in der Art. Der Killerpanda … zum Beispiel. Kein schlechter Titel, was?« Villalobos vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich werde verrückt«, krächzte er mit einer Stimme, die keinen Zwei5
fel über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage aufkommen ließ. Es klang, als hätte er gerade die Hälfte seiner Truppen verloren. »Man hat mir gesagt, ich soll eine Benefizveranstaltung machen, in zehn Ortschaften Geld sammeln … und mein Vortrag würde von einem Streichquartett untermalt werden, mit ein-zwei besonders schönen Pandaliedern… Das darf doch nicht wahr sein…! Welcher Idiot…« Leichenfresser pflanzte sich neben meinem Stuhl auf den Teppichboden der Maschine und nahm mir die Flasche weg. »Während sich der Feldwebel wieder einkriegt, mache ich sie schon mal auf, okay?« Er biß in den Korken, zog ihn mit den Zähnen aus der Flasche und spuckte ihn zwei Reihen nach vorne. »So, das hätten wir. Haben Sie Ihre Zahnbecher da?« Der zusammengesackte Villalobos stocherte in seinen Sachen herum und förderte vier kleine zusammengesteckte Pappbecher zutage. »Hier, geben Sie mir einen Schluck, oder ich weiß nicht, was passiert… Hören Sie, Mr. … äh, Leichenfresser, das war doch nur ein Scherz, nicht wahr?« »Inwiefern?« »Na, diese Begleitung und so?« »Warum? Was haben Sie an den Leprakranken Leichenfressern auszusetzen?« Seine Stimme überschlug sich vor Entrüstung, und die Trommelschläger erzitterten auf seiner Hand. Ich blickte starr zu Boden, um nicht laut aufzulachen. Villalobos hingegen schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Ach was. Gar nichts.« »Na, dann runter damit, sonst wird es noch schlecht!« Wir tranken gleichzeitig, obwohl es Villalobos wohl am meisten nötig gehabt hatte. Kaum war sein Becher leer, ließ er ihn nachfüllen. »Wo sind die anderen?« erkundigte er sich schlaff, nachdem auch die zweite Portion der Schwerkraft gehorcht hatte. »Die äh…« »Leprakranken?« »Ja.« »Seitdem wir eingestiegen sind, habe ich sie nicht mehr gesehen. 6
Sie sind wohl in den Frachtraum runtergegangen, schlafen. Sie müssen auf die Instrumente aufpassen, nicht daß die so ein Dummkopf mitgehen läßt. Sie wissen ja gar nicht, wozu Teenager heute fähig sind! Der totale Wahnsinn!« »Wie groß ist denn Ihre Gruppe?« »Sechs, mich mitgerechnet.« »Um Himmels willen, warum denn so viele?« »Wir sind halt kein Streichquartett.« »Und … wie haben Sie es sich vorgestellt…?« »Oh, das überlassen Sie ruhig uns, General! Sie halten Ihren Vortrag über die Pandas, irgendeinen Quatsch, Hauptsache, es dauert nicht länger als zehn Minuten, sonst gehen die ja alle nach Hause. Dann kommen wir. Der Gig dauert etwa anderthalb Stunden, und Sie gehen dann herum und sammeln die Moneten ein. Wir kriegen nur die freie Verpflegung, schließlich ist das ja so eine Benefizsache. Können wir von den Steuern absetzen. Sind Sie denn auch in Pandasachen unterwegs?« Diese Frage galt allem Anschein nach mir. »Nur zur Hälfte«, gab ich der Wahrheit entsprechend zu verstehen. »Ich bin eher in Käfersachen unterwegs…« »Sind Sie Kammerjäger?« »Weniger. Ich erforsche Käfer, so wie der General seine Pandas.« Nachdenklich schüttelte er seine lilafarbene Minihaarpracht, und schluckte den Rest des Hochprozentigen runter. »Junge, Junge, Idioten gibt es! Tschuldigung, damit meine ich nicht unbedingt Sie. Wie kann man sich bloß mit so einem Quatsch beschäftigen? Pandas sind ja noch okay, obwohl, ich hab' gelesen, die hören nicht so gut… Na, aber Käfer!« Ich hielt die Zeit für gekommen, die Stewardeß zu suchen. Nicht, daß ich noch vor Peking unbedingt auf ein Abenteuer aus war. Aber mich ließ dieses Zwinkern nicht zur Ruhe kommen. Sie schien mich tatsächlich gerufen zu haben, allerdings überkam mich dabei das seltsame Gefühl, daß sie es dabei keineswegs auf ein amouröses Abenteuer angelegt hatte. 7
Ich kletterte über Leichenfresser hinweg, murmelte irgend etwas als Entschuldigung und machte mich auf den Weg in Richtung Vorhang, hinter dem sie kurz zuvor verschwunden war.
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ch durchquerte eine zweite, dann die dritte Kabine; lediglich vier, fünf Touristen schliefen in den Sesseln. Im Küchenabteil sortierten zwei thailändische Stewardessen das Geschirr. Als ich die offene Tür passierte, lächelten sie mich pflichtbewußt an. Keine der beiden war die gesuchte Schönheit. Ich ging bis zur Pilotenkanzel nach vorne, konnte das Mädchen aber nirgends finden. Also kehrte ich zur Kombüse zurück und verstand die Fliegerwelt nicht mehr. Die Damen schauten wieder auf und lächelten erneut. Die goldverzierten Kostüme glitzerten im einfallenden Sonnenstrahl. Beinahe wäre ich stehengeblieben und hätte dumm gefragt, zog ich es dann aber doch lieber vor, die Treppe zum Frachtraum zu nehmen. Unten herrschte trübes Halbdunkel, nur ein paar kleine Notlampen an der Decke brannten zur Orientierung. Hinter den Packstücken schlief der Rest der Musikertruppe auf zusammengeschobenen Feldbetten; alle Leprakranken Leichenfresser friedlich beisammen. Leichter Whisky- und Gingeruch deutete auf gewisse Ursachen hin. Ich wollte mich gerade auf den Rückweg machen, als mir vor den aufgestapelten Koffern etwas Seltsames auffiel. Etwas, das mich im ersten Moment an eine Pendeluhr oder ein asiatisches Geduldsspiel erinnerte. Ich trat näher, um es in Augenschein zu nehmen. Erst da bemerkte ich, daß der dunkle obere Teil, den ich zuerst für das Gehäuse der etwas übergroßen Pendeluhr gehalten hatte, in Wirklichkeit ein has8
tig zusammengefaltetes Feldbett war. Es sah aus, als ob sich jemand mit vollem Gewicht drauf geworfen hätte, um die Aluminiumteile ineinanderzubiegen. Das Wrack war mit dem abstehenden Fuß am Kopfteil des Bettes zwischen die oberen Koffer gesteckt worden und wackelte somit bei jedem größeren Luftlochkontakt des Flugzeuges mit entsprechender Frequenz. Aber nicht das Bett weckte mein Interesse. Eher das kleine puppenförmige Objekt, das an einem Strick am unteren Ende baumelte. Ich nahm es in die Hand und hielt es ins spärliche Licht. Es war eine rotgebrannte Tonfigur, hart und kalt. Ich schauderte bei dem Anblick, und ein kalter Luftzug wehte just in diesem Augenblick durch den Frachtraum. Die kleine Skulptur lag in meiner offenen Hand, mit dem Kopf nach oben, und starrte mich an. Es war eine Frau mit typisch asiatischen Zügen. Ein altmodisches, kaftanartiges Gewand verhüllte ihren Körper, ihre Haare waren mit Dutzenden von schmucken Nadeln hochgesteckt. Sie lächelte, überlegen, oder besser gesagt, rätselhaft. Ich hatte das Gefühl, irgendwo dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben… Je näher ich es betrachtete, desto bekannter kam es mir vor. Als ob sie die chinesische Nofretete wäre… Die Tonfigur strömte eine spürbare Kälte aus, wie bei einer Bierdose aus dem Kühlschrank. Die Leichenfresser schliefen den Schlaf der Gerechten, und schienen selbst im Traum nicht daran zu denken, aufzuwachen. Wahrscheinlich war es ihr Geniestreich gewesen. Die Steinpuppe hatten sie wohl in Bangkok erstanden, um den ihrem Niveau entsprechenden Scherz damit durchzuziehen. Ich ließ die Figur wieder los, und sie pendelte hin und her, mit dem Strick um den kleinen Hals. Als sich der Kopf wieder einmal in meine Richtung drehte, schien sie mich vorwurfsvoll anzuschauen. Einer der Musiker stöhnte und ließ sein Bett gefährlich knacken. Ich zuckte mit den Schultern und machte die ersten Schritte auf die Treppe zu. Dabei ließ mich dieser Blick der stilisierten Frau einfach nicht in Ruhe. Immer noch beherrschte das Bild der Pendel9
uhr mein Gehirn, mit der Puppe als Pendel. Und ihr Gesicht… Vielleicht hatte ich es einmal in einem Kunstgeschichtsbuch gesehen. Ming-Zeit, Chin … wer weiß? Sie war mir von irgendwoher bekannt; und das, obwohl man asiatische Gesichter ohne viel Erfahrung kaum auseinanderhalten kann. Ich setzte den Fuß gerade auf die letzte Stufe, als ich plötzlich innehielt. Wobei ich beinahe auf die Nase gefallen wäre… Ich fuhr auf und lehnte mich an die Wand. Zum Teufel, und wie ich sie kannte! Schließlich hatte sie mir erst vor knapp einer halben Stunde zugezwinkert. Wahrscheinlich irritierten mich ihr etwas altmodisches Äußeres und die hochgesteckten Haare. Aber ansonsten gab es keinen Zweifel: Es handelte sich bei der Figur um ein Abbild meiner gesuchten Stewardeß! Ich ging zu der kleinen Küche und spähte hinein. Die beiden Mädchen lächelten matt. Eine von ihnen rauchte, die andere feilte ihre Nägel. »Entschuldigen Sie, meine Damen«, sprach ich sie höflich an, »sprechen Sie Englisch?« »Selbstverständlich«, antwortete die mit der Zigarette und versteckte selbige sofort rücksichtsvoll hinter ihrem Rücken. »Was wünschen Sie?« »Ich, äh … einen Whisky.« Sie griff nach oben zu den Getränken, ließ dabei geschickt die Zigarette in den Abfluß fallen, füllte dann ein Glas und legte einige Eiswürfel mit hinein. »Bitte sehr. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Während ich ihr Lächeln bewunderte, nahm ich auch das Getränk entgegen. Ich lehnte mich an die Tür, als ob ich ein ganz normaler, gelangweilter Fluggast wäre. »Sie sind wunderschön, wissen Sie das?« Die beiden lachten auf. Anscheinend freuten sie sich über mein Urteil. »Sie alle drei.« Wieder ein Lachen, dann meinte die andere Stewardeß: 10
»Nur zwei. Sie und ich.« »Nein«, behauptete ich, »drei. Sie beide und diese andere. Sie ist auch sehr hübsch.« Sie lächelten immer noch, aber nicht mehr so ungezwungen. »Welche dritte, mein Herr?« erkundigte sich die, die mir den Whisky ausgeschenkt hatte. »Etwa die alte Dame?« Vorsichtig nahm ich einen Schluck. »Sind Sie hier nur zu dritt? Wo ist denn die dritte Stewardeß?« Sie wechselten einen kurzen Blick und lachten dann wieder gemeinsam auf. Offenbar waren sie jetzt doch überzeugt, daß ich scherzte. »Nein, nein, mein Herr«, sagten sie gleichzeitig. »Wir sind hier nur zu zweit. Nur wir beide.« Etwas Kaltes jagte mir über den Rücken, und es war keiner der Eiswürfel, denn die waren alle noch in meinem Glas. »Hören Sie, meine Damen«, antwortete ich, nun schon mit etwas Nachdruck. »Sie beide sind hier, soweit, so gut. Aber gerade eben ist noch jemand da reingekommen«, und damit deutete ich auf unsere Kabine, »mit einem Wagen und Getränken. Eine dritte Stewardeß. Verstehen Sie?« »Oh ja«, meinte die kleinere, nicht ganz so hübsche. »Das war ich.« »Nein, nicht Sie! Die Frau, von der ich spreche, war größer, und…« Ich wollte nicht sagen, hübscher. »Dann war ich es vielleicht«, half ihr die andere aus. »Ich hatte den Tee rausgefahren. Mit dem Wagen.« »Nein, auch nicht Sie! Und auf dem Wagen war nicht nur Tee, sondern auch Gebäck und Alkohol. Wo ist dieses dritte Mädchen?« Sie schauten einander ungläubig an, und als die größere merkte, daß mein Whisky alle war, wollte sie nachfüllen. Ich zog mein Glas zurück und forschte beharrlich weiter. »Wo ist die dritte Stewardeß?« Wahrscheinlich wurde ihnen in diesem Moment klar, daß es kein Scherz war. Und daß ich mich nicht nur aus purer Langeweile mit ihnen unterhielt. 11
Auch sie wurden plötzlich ernst. Die kleinere schloß demonstrativ den Getränkeschrank. »Es gibt kein drittes Mädchen. Wir sind hier zu zweit.« »Aber es muß sie geben! So verstehen Sie doch, eben erst…« »Es gibt kein drittes Mädchen!« Ich drehte mich auf dem Absatz um und ließ sie stehen. Auf dem Rückweg in unseren Teil des Flugzeuges mußte ich erneut feststellen, wie wenig Fluggäste an Bord waren. In einem Abteil schliefen zwei junge Mädchen in weißen Kleidern, mit Tennisschlägern in der Gepäckablage über ihren Köpfen. Im anderen war eine ältere Dame in ein schwarzumhülltes Buch vertieft, wahrscheinlich die Bibel. Ich kletterte über Leichenfresser hinweg, der immer noch auf dem Boden hockte, allerdings hatte ich nicht vor, mich wieder hinzusetzen. Der Musiker ächzte dabei, als ob ich ihn als Klettergerüst mißbraucht hätte. Ich beugte mich zu Villalobos hinüber und blickte ihm ernst in die Augen. »Könnten Sie mich kurz begleiten?« »Ich?« erkundigte er sich verwirrt mit großen Augen. »Wohin denn?« »Zu den Stewardessen.« »Ah, es hat also doch geklappt?! Aber … wissen Sie, in meinem Alter… Nehmen Sie doch lieber Mr. Leichenfresser mit!« »Nein, darum geht es nicht«, sagte ich. »Hatten Sie diese Stewardeß beobachtet, die mir … zuzwinkerte?« »Oh, und wie… Warum?« »Kommen Sie doch bitte kurz mit!« Er machte eine unwillige Miene, stand aber auf. »Könnten Sie mir denn nicht verraten, weshalb? Was soll diese Heimlichtuerei?« »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« »Mir auch?« erkundigte sich Leichenfresser und war im Begriff aufzustehen. »Ich habe sie auch gesehen. Gibt's eine Romanze?« »Weiß ich noch nicht«, gab ich zu. »Kommen Sie ruhig mit.« Er rappelte sich hoch, so daß der General an ihm vorbei konn12
te. Ich ging vor, hinter mir Villalobos, und Leichenfresser machte das Triumvirat komplett. Beim Vorbeigehen bemerkte ich, wie eines der weißgekleideten Mädchen aufwachte und die lilafarbenen Haare unserer Nachhut mit anerkennendem Blick musterte. Die Tür zur Kombüse war verschlossen, die Klinke gab meinem Rütteln auch nicht nach. Ich glaubte, ein Flüstern aus dem Raum selbst zu vernehmen … aber wer kann das schon in einem Flugzeug hoch über den Wolken mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten? »Nun?« erkundigte sich Villalobos und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Was jetzt?« »Wir werden sie suchen… Einen Moment.« Ich betrat das angrenzende Abteil und konnte auch prompt die hübschere der beiden Flugbegleiterinnen entdecken. Sie trug ein paar Wolldecken herum, sah auf, als sie uns entdeckte, und senkte auch gleich darauf erschrocken den Blick. Ich drehte mich zu den beiden um. »War sie das?« Villalobos starrte sie eine unangenehm lange Zeit an, besonders in Höhe ihrer Brüste, als ob das zur Identifizierung unerläßlich wäre. »Ja«, stellte er schließlich unumstößlich fest. »Nein, nein«, schüttelte zu meiner Erleichterung Leichenfresser den Kopf. »Mit Sicherheit nicht!« Villalobos schien ihn mit seinen Augen aufspießen zu wollen. »Sie wollen mir sagen, daß dies nicht das Mädchen ist? Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?! Bei tausend indochinesischen Soldaten konnte ich mir auf Anhieb von 500 die Namen merken! Und die restlichen habe ich auch nie verwechselt! Außerdem…« »Das ist sie trotzdem nicht«, warf Leichenfresser resolut dazwischen. Ich wollte mich schon einmischen, als am anderen Ende die zweite Stewardeß erschien. Der Musiker sah sie und erstrahlte im vollen Glanz der bevorstehenden Genugtuung. »Da, mein lieber General! Schauen Sie da hin! Das ist das Mädchen! Also wie war das noch mal mit diesen tausend Soldaten…?« 13
Villalobos stampfte vor Wut auf den Teppichboden. »Halten Sie mich etwa für senil, Mann? Es ist doch ganz offensichtlich, daß unsere Stewardeß die andere ist!« »Sie haben ja gar keine Augen im Kopf, mein lieber Feldwebel… Welche war es denn Ihrer Meinung nach, Herr Käfersammler?« »Vollkommen egal«, antwortete ich resigniert. »Welche auch immer Sie wollen.«
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ir kehrten zu unseren Plätzen zurück, wo ich wartete, bis sich der General wieder hingesetzt und Leichenfresser sich auf den Boden zurückgepflanzt hatte, entschuldigte mich und ließ sie dann allein. Mir war klar, daß sie mir verwunderte Blicke nachwarfen, doch der bloßen Gewißheit halber wollte ich mich nicht extra noch einmal umdrehen. Die beiden Mädchen saßen sich in der Küche gegenüber. Beim Klang meiner Schritte blickten sie auf, als sie mich aber erkannten, muß der Schreck groß gewesen sein, zumindest nach dem schnellen Blick auf die Tischplatte zu urteilen. Die hübsche, große sagte dabei etwas zu der anderen, allerdings auf thai, so daß ich nichts verstehen konnte. Ich eilte die Treppe hinab zu den Leichenfressern. Die Musiker schnarchten weiterhin, als wäre nichts passiert. Der Duft nach Hochprozentigem schien sich sogar noch verstärkt zu haben. Die Tonfigur baumelte vor mir hin und her, mit dem Strick um den Hals. Erneut nahm ich sie in die Hand, und erneut spürte ich den kalten Schauer. Das Gesicht gehörte ohne jeden Zweifel der dritten, verschwundenen Stewardeß. Ich ließ die Puppe wieder los. Sie drehte und wand sich, als ob 14
es eine richtige, erhängte menschliche Gestalt wäre. Die Leprakranken waren mit sich und der Welt sichtlich zufrieden. Einige zogen sich die Decke sogar bis über den Kopf, als ob sie im angenehm warmen Gepäckraum der Maschine frieren würden. Mir kam zwar der Gedanke, unter die Plaids zu schauen, ich hielt mich aber noch rechtzeitig zurück. Ich dachte mir, warum sollte ich meine Nase in Angelegenheiten stecken, die mich wahrscheinlich nichts angingen?! Wenn sich die Stewardeß dazu entschieden hatte, die verbleibende Zeit mit einem der Bandmitglieder unter einer Decke zu verbringen … nun denn! Aber warum stritten es die anderen zwei dann ab? Hatten sie etwa Angst, ich würde es der Fluggesellschaft melden? Wie schon eben an selber Stelle zuckte ich mit den Schultern und entschied mich, die Suche aufzugeben. Ich wollte mich gerade abwenden, als ich plötzlich eine Tür hinter den Gepäckstücken entdeckte. Es war eine typische Flugzeugtür, in der Mitte geteilt. Nirgends sah ich an ihr Buchstaben oder Zeichen, die auf eine Toilette oder Küche hingedeutet hätten. Die Tonfigur beendete ihre Kreiselbewegungen und blieb mit dem Gesicht zur Tür still hängen. Und schien mich somit dazu bewegen zu wollen, diese zu öffnen. Was ich auch getan hätte, wenn nicht die Koffer im Weg gewesen wären. Lust, sie umzuschichten, hatte ich hingegen keine. Enerviert stieß ich die kleine Figur an, die kurz ausschlug und dann wieder in den Stillstand pendelte. Mit dem Gesicht erneut zur Tür. Also beugte ich mich nach vorne und fing seufzend an, das Gepäck zur Seite zu räumen. Ich war etwa zur Hälfte fertig, als direkt neben mir auf der Treppe ein Geräusch erklang. Schnell verlagerte ich mein Gewicht und tastete mit der Rechten nach einer stabilen Handtasche. Als ich allerdings die Farbe Lila in Kopfhöhe erhaschte, ließ ich sie wieder fallen. Der Neuankömmling war Leichenfresser. Er blieb neben mir stehen und schaute sich interessiert an, was 15
ich so anstellte. Erst als ich beinahe schon fertig war, meldete er sich zu Wort. »Was soll das werden? Aerobic?« »Ich möchte sehen, was hinter der Tür ist.« Er begutachtete sie und strich sich über das spärliche Haar. »Sagen Sie mal … wie sicher sind Sie sich eigentlich, daß Sie noch ganz richtig ticken?« Ich gab ihm keine adäquate Antwort. Also bückte er sich ebenfalls und half, die restlichen Koffer auch noch beiseite zu räumen. »Gehört die Ihrer Truppe?« deutete ich auf die erhängte Figur. »Die hier? Glaub ich nicht… Nein, so was haben wir nicht gekauft. Warum?« »Weil sie vor Ihrer Band herumbaumelt. Dies ist nämlich die Frau, die ich suche.« Er trat vorsichtig einen Schritt zurück und runzelte die Stirn. »Welche Frau?« »Die Stewardeß.« Sein Blick verriet inzwischen echte Sorge. »Fühlen Sie sich auch wirklich wohl?« Anstelle einer Antwort trat ich zur Tür und drückte den Knopf, der die Klinke ersetzen sollte. Das Metall bewegte sich und rutschte nach innen, wo uns Dunkelheit erwartete. Soweit ich es einsehen konnte, war der Raum dahinter nicht größer als die Kombüse über uns. Leichenfresser hinter mir schlich sich vorsichtig heran. Er hatte wohl immer noch seine Zweifel bezüglich meiner geistigen Verfassung. Entschlossen drückte ich nun die Tür ganz nach innen und trat zur Seite, damit wenigstens das Halbdunkel des Frachtraumes etwas Licht ins Dunkle brachte. Als dann diese schwachen Strahlen zumindest Umrisse erahnen ließen, wären wir fast in ein riesiges Etwas hineingerannt, das wie die kleine Tonfigur draußen an einem Strick von der Decke baumelte. Leichenfresser stieß einen leisen Pfiff aus und meinte: 16
»Junge, Junge, noch ein Klingeling?« In der Tat, es war noch ein Klingeling. Allerdings diesmal nicht aus Ton, es sei denn, man bezeichnete in Hinblick auf gewisse Termini der Schöpfung menschliches Fleisch ebenfalls als Ton. Denn das, was dort oben vor uns hing, war mit Sicherheit ein erhängter Mensch. Und als sich unsere Augen an die kaum gemäßigte Dunkelheit gewöhnten, wußte ich auch ganz genau, wer. Selbstverständlich die Stewardeß, die ich gesucht hatte.
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eichenfresser keuchte und starrte dabei mit aschfahlem Gesicht auf das Opfer. »Heilige Mutter Gottes… Mir wird gleich schlecht!« »Dann holen Sie sich von oben eine Tüte. Kennen Sie sie?« »Ich traue mich noch nicht, genau hinzusehen.« Er sank auf einen Koffer, mit dem Rücken zur Tür, und zitterte am ganzen Körper. Ich lehnte mich an die Wand und versuchte, nachzudenken. Mein Gott! Was soll ich jetzt bloß machen? Vorerst widmete ich mich Leichenfresser und klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch! Atmen Sie tief durch, dann vergeht es wieder! Sie haben noch nie einen Toten gesehen…?« »Nein…«, stammelte er. »Und erst recht keinen Erhängten. Ich hätte nicht gedacht, daß es … so schrecklich ist. Muß ich mir das wirklich ansehen?« »Nein.« Der Tod verunstaltete ihre Züge. Die Augen traten aus den Höhlen, die Zungenspitze hing dunkelblau aus dem Mund, ihre Hän17
de waren eiskalt. Ich bückte mich, fand aber nichts in ihrer Umgebung, das mir irgendeinen Hinweis gegeben hätte. Also schloß ich die Tür wieder und schüttelte den Musiker. »Könnten Sie hierbleiben, während ich…« »Auf gar keinen Fall!« unterbrach er mich hastig und sprang behende auf. »Niemals! Im Gegenteil, ich werde sogar die Jungs aufwecken, damit die ebenfalls von hier verschwinden.« »Es gibt keinen Grund zur Panik. Lassen Sie sie, kommen Sie lieber mit.« »Wohin denn, Mann?« »Wir müssen es jemandem sagen … dem Piloten wahrscheinlich. Damit er es per Funk durchgibt.« »An wen?« »Unwichtig. Kommen Sie!« Wir gingen die Treppe wieder rauf, er voran, ich hinterher. Selbst so schaute er zweifelnd über die Schulter, ob ihn die Tote nicht doch verfolgen würde. Die Kombüse der Stewardessen war leer. Auch das erste Abteil war leer. Nur ein traurig vor sich hindösendes asiatisches Gesicht schaute auf, als wir seine Reihe passierten; dann sank es wieder in das Kopfkissen zurück. Ich trat vor die Tür der Pilotenkabine und klopfte an. Und erhielt keine Antwort. Nach dem zweiten Versuch gab ich der Türklinke eine Chance, aber auch sie war wenig kooperativ. Sprich: verschlossen. Der Asiate stand auf und blickte uns durch seine Brille neugierig an. »Gibt es ein Problem?« »Nein, nein«, beeilte ich mich, zu versichern, obwohl ich inzwischen glaubte, es besser zu wissen. »Haben Sie vielleicht die Stewardessen gesehen? Sind sie etwa hier drin?« »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.« Ich klopfte erneut an, auch diesmal ohne Reaktion. Der Fremde taxierte uns immer mißtrauischer. 18
»Was wollen Sie denn von ihnen?« Ich gab Leichenfresser einen Wink, und wir machten uns davon. In der kleinen Küche war immer noch niemand. Also begaben wir uns zurück zu Villalobos, der wahrscheinlich am Text eines zukünftigen Pandavortrages saß, mit dem Kugelschreiber in der Rechten. Als er uns entdeckte, legte er das Manuskript zur Seite und zupfte wie immer seinen Schnurrbart zurecht. »Wie geht es mit den Damen voran?« Ich nahm seinen Arm. »Kommen Sie, General!« Er schnaubte und beugte sich über seine Papiere, schien sie mit seinem Körper beschützen zu wollen. »Ich werde mich hüten! Wohin denn? Haben Sie schon wieder eine neue Stewardeß entdeckt?« »Man hat sie … erhängt!« sagte Leichenfresser und schluckte. »Erhängt? Wen?« »Die Stewardeß!« »Welche?« »Die … dritte.« »Unsinn! Es waren doch nur zwei!« Trotzdem folgte er uns auf dem Fuße, als wir uns wieder auf den Weg zur Treppe machten. In der kleinen Küche saß endlich eine unserer Flugbegleiterinnen, und zwar die weniger hübsche, kleinere. Ich packte sie unsanft am Handgelenk und schleifte sie, keinen Widerspruch duldend, mit. »Kommen Sie! Ich muß Ihnen was zeigen!« Sie rief etwas und biß dann plötzlich in meine Hand. Aus dem Handgelenk verabreichte ich ihr dafür eine Ohrfeige, woraufhin sie mir an die Schulter fiel und sich ausheulte. Villalobos streckte sein Prachtstück von Bart kämpferisch vor. »Was soll das?! Sind Sie verrückt geworden? Das ist jetzt aber wirklich zuviel des Guten! Sie reden vollkommen wirres Zeug und schlagen unschuldige Damen. Als ehemaliger Offizier der Französischen Armee kann ich das nicht gutheißen, und ich sehe es als meine Pflicht 19
an…« Ich erfuhr nie, was er als seine Pflicht ansah, denn inzwischen war ich mit dem Mädchen im Schlepptau im Treppenabgang verschwunden. »Ich möchte Ihnen einen blinden Passagier zeigen«, eröffnete ich der Stewardeß und tätschelte ihr Gesicht. »Keine Angst!« Sie hatte keine Angst, wollte mir aber wieder in die Hand beißen. Ich rettete meine Haut, bestrafte sie diesmal allerdings nicht mehr für den Versuch. Villalobos räusperte sich hinter mir, mit Leichenfresser im Rücken. Unten angekommen, deutete ich auf die kleine Tonfigur. »Sehen Sie?« Das Mädchen nickte. Sie versuchte, sich soweit wie möglich von mir fernzuhalten. »Wissen Sie auch, was das ist?« Sie schüttelte den Kopf. Ich schob sie direkt vor das eingeklemmte Feldbett. »Schauen Sie sich das Gesicht an. Erkennen Sie sie? Dies ist die dritte Stewardeß. Die ich gesucht hatte.« Sie beugte sich nach vorne, als ob sie die Züge des fremden Gesichtes unter die Lupe nehmen wollte, nutzte die Gelegenheit aber nur, um erneut meine Hand mit ihren schönen Zähnen zu attackieren. Villalobos betrachtete entnervt die Figur. »Aha! Und dieses … Ding … ist aus Ton?« »Dies war die dritte Stewardeß!« »Die Tonfigur? Mann, Sie gehören wirklich ins Irrenhaus!« Ich glaube, letzteres brachte schließlich das Faß zum überlaufen. Ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten. »Ins Irrenhaus? Ich?« schrie ich, und es kümmerte mich dabei nicht im geringsten, ob die Leprakranken Leichenfresser aus ihrem Dauerschlaf gerissen wurden. »Dann sehen Sie sich das hier an, vielleicht ändert das ja Ihre Meinung!« Ich schleppte das Mädchen zur Tür und ließ die Falttür auf20
schnappen. Sanftes Licht trat durch die Öffnung ein. »Sehen Sie!« Leichenfresser nahm seine gewohnte Position auf einem Koffer ein, mit dem Rücken zum Spektakel. »Auf keinen Fall!« Villalobos war hingegen nicht so zimperlich. Sein Gesicht verfinsterte sich, er holte ein Messer hervor, stürzte in den kleinen Raum und schrie mich dabei an. »Sie Irrer! Abartiger! Perversling!« Ich wollte ihm ein Bein stellen, wurde aber abgelenkt. Die Stewardeß hatte die Gunst der Sekunde ausgenutzt, sich meinem Arm entrissen und war getürmt. Ich ließ sie laufen. Dann öffnete ich den Rest der Tür, um etwas mehr sehen zu können. Das erhängte Mädchen war nirgends zu sehen. Dafür aber Villalobos. Er kniete auf dem Boden und befreite mit seinem Messer gerade eine Frau von ihren Fesseln.
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ch wollte mich mit hineinzwängen, sein gezücktes Messer hielt mich aber vorerst ab. »Sie bleiben, wo Sie sind! Einen Schritt, und ich steche Sie ab!« Seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß er es ernst meinte. Also blieb ich draußen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war außer Atem, wie bei Konditionsübungen unter strahlender Sonne. Ich trottete zu dem Musiker hinüber, der sich immer noch an der gegenüberliegenden Wand ergötzte. »Sie können sich wieder umdrehen. Die Gefahr ist gebannt.« »Wieso?« 21
»Die Leiche ist verschwunden.« Er sprang auf, als hätte ihn eine Kobra in den Allerwertesten gebissen. »Was?!« Erschrocken starrte er auf die Tür, in der jetzt Villalobos auftauchte, mit der weinenden Stewardeß in den Armen, die sich an seinem Hals festkrampfte. Sein Schnauzer stach uns genauso entgegen wie die Messerspitze. »Jeder, der mir zu nahe kommt, wird von seinen Leiden erlöst! Auch Sie, mein junger Clown!« Damit meinte er wohl den Musiker. Er brachte die junge Frau ein paar Meter weg und legte sie behutsam auf den Boden, direkt neben die Tonfigur. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie Fieslinge! Ich habe schon so manchen Sexbesessenen erschießen lassen! Wenn wir gelandet sind, werde ich den Vorfall sofort den Behörden melden! Haben Sie sie so festgeschnürt?« »Fragen Sie sie doch selber!« riet ich ihm. »Das werde ich auch!« Er tätschelte sanft ihre Wange und lächelte ihr ermutigend zu. »Sprechen Sie Englisch, junge Dame?« Sie schniefte und nickte schließlich. »Wer hat Ihnen wehgetan? Der da?« Sagte es und deutete auf mich. Die Stewardeß schüttelte den Kopf. Villalobos schluckte unzufrieden und richtete dann den Finger auf Leichenfresser. »Vielleicht er?« Erneutes Verneinen. Der General kratzte sich verzweifelt am Hinterkopf. »Wer zum Teufel denn sonst?« Das Mädchen beugte sich rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sein Gesicht veränderte sich, zeugte plötzlich von maßloser Überraschung; als ob sie gerade gesagt hätte, der französische Präsident 22
persönlich wäre unter den Fluggästen und hätte sich als Buddhist verkleidet. Ich wollte etwas sagen, aber Leichenfresser kam mir zuvor. »Was denn nun?« Erneut flüsterte sie dem General etwas zu, der nun, falls überhaupt, noch ratloser in die Welt schaute. »Was denn nun?!« Diesmal hatte ich es mit dem Musiker zugleich gesagt. Mit der freien Hand zwirbelte Villalobos seinen Schnurrbart, richtete seine blicklosen Augen auf uns und ließ die Stewardeß wieder zu Boden gleiten. »Hier sind alle verrückt«, stellte er mit zittriger Stimme fest und lehnte sich an die Wand, die ich nach dem Kartenhausprinzip aus Koffern geschaffen hatte. »Und offenbar greift das langsam auch auf mich über…« »Was hat das Mädchen gesagt? Wer hat sie gefesselt?« Villalobos breitete ratlos die Arme aus. »Ein Pandabär«, antwortete er. »Ein richtiger, lebender Pandabär.« Erschöpft lehnte er sich noch weiter zurück, als würde er irgendeinen Kampf innerlich aufgeben. Die provisorisch aufgetürmten Gepäckstücke sackten zur Seite und fielen dann mit großem Getöse zusammen. Villalobos schrie, die Stewardeß kreischte, und Leichenfresser wurde unter den Koffern begraben. Nur die Leprakranken schnarchten unbeirrt weiter.
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ch warf die Gepäckstücke achtlos beiseite und befreite Leichenfresser. Fluchend schüttelte er seinen lilafarbenen Kamm und schnaubte dann erleichtert. 23
»Ein Glück, daß es nur diese Koffer sind. Ich dachte schon, wir stürzen ab!« »Keine Angst, Fräulein«, beruhigte ich die erneut vor Todesangst zitternde Stewardeß. »Es ist nichts passiert. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« Sie nickte, und Ihre Augen suchten Villalobos. Von uns dreien genoß er bei ihr wohl das größte Vertrauen. »Könnten Sie mir sagen, was mit Ihnen genau passiert ist?« ermutigte ich sie. Sie blickte immer noch Villalobos an, erhob sich dann aber langsam. »Wo ist Sikara?« »Wer ist das?« »Meine Kollegin. Das andere Mädchen.« »Wahrscheinlich oben. War es wirklich … ein Panda … der Sie niedergeschlagen und so verschnürt hat?« »Ein Pandabär«, bestätigte sie flüsternd. »Ein riesiger, furchtbarer Panda.« »Wie riesig?« erkundigte sich Leichenfresser mit zusammengekniffenen Augen. »Der Panda? Wie, wie … ein richtiger Mensch.« »Also größer als normal.« »Ich weiß nicht … ich habe noch nie einen wirklich gesehen. Nur auf Bildern.« »Könnten Sie genau erzählen, wie es vorgefallen ist?« »Bestimmt war es nur ein schlechter Traum«, murmelte Villalobos. Das Mädchen stand auf, so schnell, daß sie dabei fast den immer zutraulicher werdenden General umgerempelt hätte. »Es war kein Traum«, leierte sie herunter. »Ein richtiger Pandabär. Er stand da auf der Treppe«, deutete sie auf die Stufen. »Ich kam gerade herunter … wir müssen jede halbe Stunde den Frachtraum kontrollieren. Und da … erwischte er meinen Hals, und dann … schlug er mich … hier.« Sie zeigte auf ihre Kopfspitze, wo sich allerdings wegen der auf24
getürmten Haare vorerst nichts ausmachen ließ. »Und?« »Ich wurde nicht ohnmächtig … also schlug er wieder zu. Da ließen dann irgendwie meine Kräfte nach.« Sie sprach ganz gut Englisch, obwohl ihr Akzent ziemlich schlimm war. »Wie heißen Sie denn, Miss?« »Ich? Darcy.« »Aber das ist doch ein englischer Name.« »Und amerikanisch. Ich … wurde während des Krieges geboren. Damals gab es hier viele Amerikaner… Meine Mutter gab mir den Namen Darcy.« Ich sah sie wortlos an und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Verstohlen warf ich einen Blick auf meine Uhr; wir würden noch einige Stunden in der Luft sein. »Sie arbeiten bei der thailändischen Fluggesellschaft?« Sie schüttelte den Kopf und richtete dann ihr Haar. Auch die Schminke hätte in die Werkstatt gemußt, aber ich sagte ihr nichts. »Ich arbeite … auf Privatflügen. Eine Vermittlungsagentur schickt uns zu den Maschinen. So ist das bei uns üblich.« Erneut spürte ich den unangenehm kalten Schauer. Villalobos und Leichenfresser waren noch nicht soweit. »Okay, Darcy. Zu diesem Flug wurden Sie ebenfalls vermittelt?« »Natürlich. Wie Sikara. Wir fliegen immer zusammen.« Villalobos war klüger, als ich dachte. Er drehte die Augen und schnaubte verzweifelt: »Verdammt! Und was für eine Maschine ist das?« Der Musiker, immer noch sichtlich ahnungslos, setzte sich auf den Boden. »Was wohl? Ein Flugzeug!« »Wem gehört es, Miss?« Jetzt versuchte sie sogar ein kleines Lächeln. »Ich weiß nicht. Es ist eine Privatmaschine.« »Aus Thailand?« 25
»Ich weiß es nicht, mein Herr.« »Auch nicht, wem sie gehört?« »Das teilt man uns doch nicht mit! Meistens sind es Charterflugzeuge, die Privatpersonen oder Firmen gehören. Aber die Namen wissen wir nicht.« »Und die Piloten?« »Werden meistens ebenso vermittelt.« »Und wer fliegt die Maschine?« »Das ist mir nicht bekannt, mein Herr. Ich habe sie nicht gesehen. Sie hatten abgeschlossen, wir dürfen da nicht hinein.« Gerne hätte ich mich erkundigt, wo sie denn dann gewesen waren, als wir sie verzweifelt im ganzen Flugzeug gesucht hatten, ließ es aber bleiben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß es noch weitaus schlimmere Fragen zu beantworten galt. »Kennen Sie denn den Kurs, Darcy?« »Ich? Sie sind doch die Fluggäste! Eine Chartermaschine landet dort, wo die Passagiere es wünschen. Das geht uns Stewardessen nichts an.« »Für wie lange wurden Sie … äh, verpflichtet?« »Wir werden pro Tag bezahlt. Fünfzig Dollar. Bis zum Ende der Reise.« »Und dieses Mal? Für wie lange?« »Das hängt von den Passagieren ab.« Das war's. Die Ermittlungen konnten somit eingestellt werden. Leichenfresser schien erst jetzt zu kapieren, daß irgend etwas nicht stimmte. Villalobos hingegen starrte bereits seit einiger Zeit mit dunkler Miene vor sich hin und knabberte dabei an seinem Schnurrbart. »Was soll das alles? Hat man uns etwa entführt?« Der Scherz wurde allerdings nicht von dem entsprechenden Unterton begleitet. »Das möchte ich gerade herausfinden«, gab ich zu verstehen und bereitete mich auf den weiteren Teil des Verhörs vor. Villalobos ließ mir aber keine Zeit mehr. Erbost trat er gegen den nächstbesten Koffer und ging dann zielstrebig auf die Treppe zu. 26
»Ich gehe rauf und prügele es aus ihnen raus.« »Aus wem?« »Egal. Aus dem Kapitän. Oder wer auch immer in dieser Kanzel sitzt.« »Welche verschlossen wurde!« erinnerte ich ihn. »Dann trete ich so lange dagegen, bis jemand öffnet. Oder die Tür bricht.« »Vielleicht wäre es besser, vorher etwas nachzudenken. Vergessen Sie nicht, daß hier auch noch irgendwo ein Pandabär unterwegs ist!« »Pah! Wer glaubt schon an solche Ammenmärchen?« »Eben noch gehörten Sie auch zu dem Menschenschlag!« »Keine Sekunde. Die junge Dame stand sicherlich unter Schock. Oder wußte, daß wir zu einem Pandakongreß unterwegs sind, und … ihre Nerven, oder so…« »Das stimmt nicht«, behauptete die Stewardeß resolut. »Ich habe wirklich einen Pandabären gesehen! Und…« »Und?« »Dabei fällt mir ein … er hatte auch eine Pistole. Mit so einem, äh, dicken Lauf…« »Schalldämpfer«, nickte Leichenfresser. »Ein Grund mehr, nicht in der Gegend herumzurennen.« »Wollen Sie etwa sagen, wir sollen bis Peking oder Nanking, oder was zum Teufel auch immer, hier unten bleiben?« »Wir sollen zuerst nachdenken.« »Worüber, Menschenskind?« Erneut wandte ich mich an Darcy. »Fräulein… Irgendeine Information werden Sie doch wohl darüber haben, wie wir in diese Maschine gekommen sind?« Das Mädchen schaute sich hilfesuchend um. Anscheinend verstand sie meine Frage nicht so recht. Diesmal war es Leichenfresser, der Zeugnis seiner Spitzfindigkeit ablegte. Er nahm ihre Hand und streichelte sie sanft. »Wir wollten nicht in dieses Flugzeug einsteigen, Darcy Baby. In ein ganz anderes, das nach Peking fliegt. Anders als das hier. Ver27
stehst du, Darcy Baby?« Die Stewardeß zog schnell ihren Arm zurück, verstand es aber. »Das war so«, fing sie schnell an und versteckte ihre Hand hinter dem Rücken. »Wir wurden früh morgens über den Charterflug informiert.« »Hat man Ihnen auch das Ziel mitgeteilt?« »Nein. Am Flughafen sagte man uns lediglich, welcher Ausgang.« »Hatten Sie die Maschine gesehen?« »Nur kurz, bevor wir das Flugzeug betreten haben.« »Die Piloten?« »Waren bereits an Bord. Alles war vorbereitet, Essen und Trinken. Der Agent sagte, die Passagiere müßten für nichts bezahlen.« »Ahhaha«, meldete sich Leichenfresser zu Wort. »Die erste gute Nachricht auf diesem Kahn.« »Welch ein Typ ist es wohl?« fragte ich Villalobos. »Meiner Meinung nach eine gründlich umgebaute Boeing 727.« Ich zermarterte mir den Kopf, versuchte, mir jede Einzelheit meines Check-in's wieder in Erinnerung zu rufen. Ich ging zu dem passenden Tor, bekam meine Papiere ausgehändigt, dann kam eine Frau und führte mich zur… »General … Sie sind doch sicher alleine zur Maschine gekommen?!« »Meine thailändischen Freunde hatten mich zum Flugplatz begleitet. Warum?« »Und sie blieben nicht bis zum Einstig bei Ihnen?« »Natürlich nicht. Sie mußten in die Stadt zurück.« »Woher wußten Sie, durch welches Tor Sie Ihre Maschine erreichen würden?« »Soll das ein Scherz sein? Es war an der Tafel angeschlagen. Außerdem wurde es durchgesagt.« »Können Sie sich noch genau an die Nummer erinnern?« »Nein. Keine Ahnung. Wer merkt sich schon solchen Unsinn?« »Ich«, glänzten plötzlich Leichenfressers Augen auf. »Tor zweiundzwanzig wurde angezeigt, anfänglich.« »Anfänglich?« 28
»Also, das stand da zumindest.« »Und die Ansage?« »Da habe ich nicht drauf geachtet. Wir hatten ein wenig Spaß mit den Jungs.« »Und dort sind Sie auch eingestiegen?« »Tor zweiundzwanzig, meinen Sie?« »Meine ich.« »Ich nicht. Ich mußte nämlich pi … auf die Toilette gehen. Wir hatten so blöd rumgealbert, daß ich davon pi … auf die Toilette mußte.« »Und dann?« »Wann dann?« »Nach der pi-Toilette.« »Ich ging zurück, aber die Jungs waren bereits verschwunden. Eine Frau kam und sagte, ich solle ihr folgen. Was ich dann auch machte.« »Welches Tor?« »Na, daß es nicht das zweiundzwanzigste war, darauf können Sie Gift nehmen! Ich bin viel weiter gelatscht. Abgesehen davon«, grinste er breit, »war ich mehr an dem Mädel interessiert…« »Aha. Und dann?« »Dann? Na, ich ging in die Röhre und setzte mich schließlich im Flugzeug auf den erstbesten Platz. War ja fast überall frei.« »Und Ihre Freunde?« »Die pennen meistens bei den Instrumenten. Sie waren ziemlich alle, da wir seit drei Tagen auf den Beinen sind. Ich hingegen kann nie in einem Flugzeug schlafen. Deswegen wollte ich einige nette Kerle suchen und ein kleines Schwätzchen machen. Über lauter tolle Dinge. Weiber, zum Beispiel. Deswegen bin ich nicht runter zu ihnen gegangen.« Villalobos begrub sein Gesicht in den Händen. Als er wieder aufblickte, war er ganz der befehlsgewohnte Soldat im feindlichen Sperrfeuer. »Demnach wurden wir entführt«, konstatierte er trocken. »Wir sind 29
nicht in der Maschine der Thailändischen Fluggesellschaft nach Nanking über Peking, sondern ganz woanders. Und das nicht versehentlich, da können Sie sicher sein. Wir sitzen in der Falle.« »Falle? Was für eine Falle?« dröhnte Leichenfresser. »Ich bin doch kein Politiker oder so … ich bin Musiker! Und ich verlange…« »Die Frage lautet also«, faßte ich die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammen, »wer zum Teufel uns entführt hat, und aus welchem Grund.« »Und außerdem, wohin die Reise nun geht«, fügte der General hinzu. »Sie haben keine Idee, Miss?« Darcy schüttelte traurig ihren hübschen Kopf. »Tut mir leid.«
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as Schicksal wollte wohl nicht, daß Leichenfresser seine Truppe auf diesem Flug wiederfand. Ehrlich gesagt, achtete ich inzwischen gar nicht mehr auf ihn. Da es noch einige ungeklärte Details gab, ordnete ich erst einmal die kleinen Mosaiksteinchen. Die Dinge wurden sichtlich aus dem Hintergrund gelenkt, und zwar mit ziemlicher Präzision. Alle Passagiere – zumindest diejenigen, auf die man es abgesehen hatte – wurden gesondert empfangen und zu einem abgelegenen Tor gebracht. Dorthin, wo die Sondermaschine stand. Aber warum bloß? Soweit war ich gekommen, als Leichenfresser aufschrie. Und zwar mit einem ganz besonderen Schrei. Wenn man dafür Noten vergeben würde, hätte man sicher eine neue für ihn erschaffen müssen. Sein Gebrüll war ohne Zweifel außergewöhnlich! »Verdammt! Hey, Leute! Schaut euch das an!« Mit mulmigem Gefühl trottete ich mit den anderen zu den Feld30
betten. Der Mundwinkel unserer Stewardeß zuckte dabei nervös. Auf dem ersten Bett schnarchte ein Mittzwanziger den Schlaf der Gerechten. Er hatte ein rosiges, zufriedenes Gesicht, und soweit wir es in dem Halbdunkel und teilweise unter der Decke ausmachen konnten, trug er Marinekluft. Auf dem Platz neben ihm lag ein hagerer Bursche mit hervorstehenden Wangenknochen, selbst im Traum verkrampft seine Brille festhaltend. Ein schlimmer Verdacht kam in mir auf, während der Musiker weiter grölte. »Verdammter Mist! Das sind nicht die Leprakranken! Man hat mir meine Band gestohlen! Wo seid Ihr, Jungs?« Die Schlafenden schnarchten unbeirrt weiter, als ob die Schreie gar nicht über ihren Köpfen ertönen würden. Ich beugte mich zu dem Navy-Jungen runter und zog sein Augenlid hoch. Und ließ es kurz darauf wieder fallen. »Was ist?« erkundigte sich Villalobos mißtrauisch. »Sie wurden betäubt. Wahrscheinlich irgendeine Spritze.« »Die hier? Unsinn … die haben sich hemmungslos vollaufen lassen!« »Das denke ich nicht. Der Geruch kommt von unten. Man hat sicherlich ein, zwei Flaschen Gin oder Whisky auf dem Boden zerbrochen, um Neugierige davon abzuhalten, sich näher mit den Opfern zu beschäftigen.« »Ich verstehe … aber wer sind sie?« »Keine Ahnung. Auf keinen Fall die Musiker!« Was auch Leichenfresser bestätigte. Er kam zu mir und drückte doch tatsächlich eine Träne im Augenwinkel breit. »Meine Band! Man hat mir meine Band gestohlen! Wissen Sie, was wir alles zusammen gemacht hatten? Wir waren die beste Band der Welt!« Villalobos blickte mich fragend an. Vom Ansatz her gar nicht mal so schlecht: Jemandem ging es lediglich um die Leprakranken, und wir waren nur zufällig mit hineingezogen worden! Doch dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. 31
»Wer zum Teufel sollte eine Musikergruppe entführen? Noch dazu hier, am Ende der Welt?!« Villalobos lehnte sich an die Wand, diesmal an eine richtige. »Ich habe da eine Idee. Nehmen wir an, es gibt eine Firma, die gerade Bankrott machen will. Sie hat eine alte Chartermaschine, die man mit Passagieren vollpackt, wenn es sein muß, auch mit Gewalt. Das Flugzeug startet, und dann in der Luft: Bumm…!« »Bumm was?« erkundigte sich Leichenfresser, Böses ahnend. »Einfach bumm! Sie wird in die Luft gejagt. Die Maschine stürzt ab, die Versicherung zahlt, und die Firma ist aus der Patsche.« »Und ich?« schrie der Musiker. »Was ist mit mir?« »Was schon«, zuckte der General mit den Schultern. »Wenn Ihre Musik da oben ankommt, werden Sie in den Englein ein dankbares Publikum finden. Die Ewigkeit dauert ziemlich lange.« Leichenfresser jaulte auf und schlug erbost gegen die Bordwand. »Ich bringe ihn um!« »Wen?« »Der dafür verantwortlich ist!« »In Ordnung«, mischte ich mich wieder in die Unterhaltung ein. »Das ist ein guter Ausgangspunkt. Wir müssen den oder die Leute finden.« »Aber wie?« dachte Villalobos laut nach. »Darcy? Darcy…« Er bekam keine Antwort. Während wir uns mit den Schlafenden beschäftigt hatten, war das Mädchen verschwunden, und zwar wie vom Maschinenboden verschluckt.
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illalobos wollte sie suchen, aber ich hielt ihn zurück. »Überflüssig. Haben Sie eine Waffe?« »Mein Messer.« »Und Sie?« »Ich?« schreckte Leichenfresser zurück. »Woher denn? Nur meine Fäuste.« Ich trat zu dem Matrosen und zog die Decke nun ganz runter. An seinem Gürtel hing erwartungsgemäß ein langes, schneidezähniges Messer. Er schien nichts gegen eine Enteignung einzuwenden zu haben. »Besser als nichts.« Leichenfresser beobachtete unser Treiben immer nervöser. Sein Haarbüschel verfolgte meine Bewegungen mit heftigen Zuckungen. »He, einen Moment mal, Leute!« meldete er sich blaß zu Wort und legte die Stirn in Falten. »Und die Kanone?« »Welche Kanone?« »Die Kanone vom Pandabären, mit dem Schalldämpfer. Sie wollen doch nicht etwa mit diesen Zahnstochern dagegen antreten?« »Ein kluger Kopf rennt nicht durch die Wand«, zitierte auch Villalobos etwas kraftlos. »Genau!« brummte Leichenfresser, der immer mehr die Lust an der Sache zu verlieren schien. »Wenn wir wenigstens wüßten, was genau hier vor sich geht…« »Apropos … warum haben Sie mich eigentlich mit hier runter geschleppt?« erkundigte sich der ehemalige General. »Ich glaube, Sie wollten mir etwas zeigen…?« »Wollten wir«, bestätigte der Musiker. »Nur hat man uns inzwischen die Leiche gestohlen.« »Welche Leiche?« erschrak Villalobos. »Die Leiche von dem dritten Mädel.« »Jetzt hören Sie aber auf! Sie haben doch selbst gesehen, daß sie 33
nur zu zweit waren!« »Es waren drei«, schaltete ich mich in die Unterhaltung ein und erzählte mit einigen Worten, wie wir mit Leichenfresser die erhängte Stewardeß gefunden hatten. »Und … wo ist sie jetzt?« »Ich hoffe, nicht am Steuerknüppel«, erwiderte der Musiker mit bitterer Miene. »Lassen Sie uns die da am besten aufwecken«, deutete ich auf die Feldbetten. Da fielen Leichenfresser erneut seine Kameraden ein. Er fing an zu fluchen, und das nicht gerade sehr gewählt. »Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Sie werden schon auftauchen. Zuerst sollten wir uns aber denen hier widmen.« Ehrlich gesagt, hatte ich es mit Schlafenden auch schon einfacher gehabt. Ich kniete mich neben den jungen Seemann, gab ihm ein paar Klapse auf die Wangen, dann immer intensiver, aber er hustete mir was. Schließlich löste Leichenfresser das Problem, indem er ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche hervorzauberte und sie dem Jungen unter die Nase hielt. Die Stupsnase erbebte einige Male und nieste dann plötzlich zufrieden. Was wichtiger war, ihr Eigentümer öffnete dabei endlich die Augen. »Salmiak?« erkundigte sich der General interessiert. »Das? Mein liebstes After Shave, Mann!« empörte sich der Angesprochene. »Hundert Dollar die Unze!« »Wo bin ich?« fragte der Marinesoldat drehbuchgerecht. »Jungs, wo zum Teufel bin ich?« »In einem Flugzeug«, klärte ihn der General auf, und versuchte dabei so militärisch wie nur irgend möglich zu wirken. »Was um Himmels willen suche ich in einem Flugzeug? Wo ist mein Hubschrauber?« »Wahrscheinlich noch in Bangkok«, meinte Leichenfresser unvorsichtigerweise. Was dann passierte, spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab. Der Mann sprang hoch, flog über sein Bett und verpaßte mir ei34
nen gewaltigen Kinnhaken. Gott weiß, warum er sich dafür gerade mich ausgesucht hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls meine Rechte zu schwingen. Wodurch der Junge zurückflog, diesmal über den schnarchenden Brillenträger hinweg, und auf dem Boden landete. Mit der einen Hand massierte er seinen Unterkiefer, mit der anderen suchte er nach seinem Sturmmesser, mußte aber verbittert feststellen, daß dieses bereits zwischen meinen Fingern blitzte. Er blieb sitzen, etwas betreten, aber sichtlich noch nicht am Ende seiner Kampflust. »Hört mal, Jungs! Ich bin ein Navysoldat der Vereinigten Staaten von Amerika. Euch wird's wirklich dreckig gehen, wenn mir irgend etwas passiert! Geben Sie mir mein Messer zurück, Sie Mistkerl! Das ist Staatseigentum!« Was mir so ziemlich egal war. Statt dessen näherte ich mich ihm vorsichtig, blieb prophylaktisch außer Zahnreichweite stehen und versuchte ihm gut zuzureden. »Sehen Sie, Soldat … wie ist eigentlich Ihr Name?« »Ich rede nicht mit Terroristen!« »Ich auch nicht. Sind Sie dazu fähig, mir etwa zwei Minuten zuzuhören?« »Teilen Sie mir Ihre Bedingungen mit.« Leichenfresser tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe; die vorherrschende Meinung in ihm war wohl, der Junge sei verrückt. Ich hingegen fand, daß er sich für seine Situation ganz normal verhielt. Ich erzählte ihm alles, außer der Leiche und der kleinen Tonpuppe. Die Story war ohnedies schon verwegen genug. Und dort saß er dann, stumm vor sich hinbrütend, als ich fertig war. Als er schließlich das Wort ergriff, zitterte seine Stimme ganz leicht. »Junge, Junge, wenn das stimmt, ist das der größte Haufen Mist, in dem ich je gesessen habe. Und Sie nehmen mich wirklich nicht auf den Arm?« Wortlos reichte ich ihm meinen Paß. Er drehte und wendete ihn, 35
gab ihm mir dann ratlos wieder zurück. »In Ordnung, ich glaub's. Bleibt mir ja wohl kaum was anderes übrig. Schade, daß ich meine MP nicht dabei habe. Ich hab' sie Freddy um den Hals gehängt…« »Wo?« »Auf dem Flughafen. Vor dem Klo.« »Mußten Sie auch pi … auf die Toilette?« staunte Leichenfresser. »Soll vorkommen. Da hat mich dann so eine Frau erwischt, sie wissen schon, in Uniform. Sagte, ich solle meine Waffe bei den anderen lassen und ihr folgen. Es sei ein Befehl, sagte sie.« »Und Sie glaubten ihr.« »Warum nicht? Was hätte ich tun sollen?« »Und dann?« bohrte ich weiter. »Sie packte mich in die Maschine. Obwohl mir schon da klar war, daß ich eigentlich auf einen Hubschrauber gehöre…« »Aha. Und warum?« »Das ist Geheimsache.« »Wir sind nicht in der Situation, wo…« »Wir mußten zu einem anderen Stützpunkt fliegen. Bei Sonnenaufgang sollte ich längst zwischen den Korallen herumschwimmen.« »Sind Sie etwa ein Froschmann?« fragte Villalobos. »Richtig. So in der Art.« »Was sollten Sie da tun?« »Ich sagte doch, Geheimsache!« »Zum Teufel, Mann!« herrschte ich ihn an. »Es könnte sein, daß wir wegen Ihnen in der Tinte sitzen. Ich möchte wenigstens wissen, warum!« »In Ordnung, in Ordnung«, verzog er den Mund. »Was regen Sie sich so auf? Ich bin Kampftaucher, na und? Ein paar Jungs haben sich da unten verfahren und sitzen jetzt fest.« »Ein U-Boot?« »Genau.« »Welches?« 36
»Ist das nicht egal? Sagen wir, die Poseidon.« »Um Gottes willen«, fuhr Villalobos auf, »das ist ja ein Atom-UBoot!« »Genau.« »Ist es gekentert?« »Ich kann nur wiederholen, was man uns gesagt hat. Festgefahren. In den Korallenriffen. Wir hätten es da rausholen sollen. Ich sollte auch mit von der Partie sein, selbstverständlich.« »Sie sind so etwas wie ein Unterwasser-Sprengstoffexperte«, konstatierte der ehemalige General leise. Das sich ständig bewegende Kaugummi im Mund des Navysoldaten blieb plötzlich stehen. »Woher wissen Sie das?« »Ich bin – oder war – Soldat. General.« »Verdammt«, staunte der Seemann. »Amerikanischer?« »Französischer.« »Was soll das Ganze dann hier? Irgendeine blöde NATO-Sache?« »Keinesfalls«, versicherte ihm Villalobos. »Was Mr. Lawrence erzählt hatte, stimmt alles bis aufs Wort. Übrigens, wie heißen Sie?« »Wimmer. Rudolf Wimmer.« »Da wären wir also, Mr. Wimmer.« »Aber was soll das Ganze? Was können die von mir wollen? Ist das eine Geiselnahme, oder was?« »Ich weiß es nicht. Kennen Sie die anderen?« Sein Blick schweifte rasch über die restlichen Betten, dann schüttelte er den Kopf. Wahrscheinlich realisierte er erst jetzt, was mit ihm geschah. Er schloß die Augen, als könnte er damit die unangenehme Wirklichkeit verbannen, aber leider waren wir immer noch da, als er sie wieder öffnete. »Wollen Sie helfen?« »Natürlich. Was soll ich tun?« »Wecken wir die anderen.« Mit dem Dürren neben ihm hatte ich keine Schwierigkeiten. Der Mann mit der Brille blickte mich bereits mit lebhaften Augen an, 37
als ich mich über ihn beugte. »Hören Sie, ich…« »Unnötig«, unterbrach er mich. »Ich habe alles gehört. Mein Name ist Van Broeken.« Das klang irgendwie bekannt, aber näheres dazu fiel mir noch nicht ein. »Von wo wurden Sie denn verschleppt?« »Auch vom Flughafen.« »Und wo wollten Sie hin?« »Nach Holland. Amsterdam.« »Waren Sie ebenfalls auf … äh, der Toilette?« »Ach was! Ich wollte gerade Schokolade kaufen, als eine uniformierte … Dame zu mir trat und mir sagte, ich solle mich beeilen. Ich wunderte mich sogar, woher sie mich kannte und warum sie so hetzte, schließlich sollte meine Maschine erst in fünfundvierzig Minuten starten. Aber sie haderte nur so vor sich hin, mit einem ganz seltsamen Akzent … ich hab' gar nicht alles verstanden. Wieso hätte ich mißtrauisch sein sollen? Ich dachte, der Start wurde einfach vorgezogen.« »Waren Sie allein?« »Allein. Beziehungsweise … ich half dem tauben Mann. Und dem kleinen Mädchen.« »Mädchen?« »Das den Tauben führte.« »Das verstehe ich nicht.« »Sehen Sie: Ich stand vor dem Süßigkeitenstand, als mich ein Mädchen mit europäischem Akzent ansprach. Ein Teenager, etwa achtzehn. Ich sollte ihrem Großvater drei Toblerone kaufen.« »Aha.« »Was ich auch tat. Dann kam diese Thailänderin und sagte, daß meine Maschine gleich abheben würde. Ich drehte mich um, weil ich ja die Schokolade gekauft hatte, aber das Mädchen und der Alte waren verschwunden. Und die Frau in der Uniform wurde immer ungeduldiger. Selbst im Flugzeug hielt ich das Zeug noch in der 38
Hand. Und die Jacke der Kleinen … das war nämlich so … in diesem Durcheinander… Also, das Mädchen wollte mir unbedingt das Geld sofort geben, obwohl ich sagte, es hätte noch Zeit, bis ich die Toblerone gekauft habe. Aber sie gab mir ihre Jacke und suchte ihre Geldbörse…« Der Mann kramte unter seiner Decke und riß mit einem begeisterten Jubelschrei ein rotes, zerknittertes Seidenstück hervor. »Hier ist sie! Ich habe sie schließlich eingesteckt … und…« Ich nahm ihm das knallrote, ölige Tuch ab, das er als Jacke bezeichnet hatte. Es hatte weder Ärmel noch sonst etwas, war einfach nur ein billiges Stück Stoff mit Öl- und Brandflecken. Mit Daumen und Zeigefinger hielt ich es an der Ecke fest und schüttelte es leicht. Ein schwarzes, schweres Metallding fiel vor meine Füße. Schnell griff ich danach und hielt es hoch. Es war eine Mini-Maschinenpistole, Typ HM-3. Unter dem Sicherheitsbügel schimmerte die Aufschrift: Made in Mexico.
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an Broeken starrte auf die Waffe; sein Mund bewegte sich lautlos, wie bei einem Gebet. »Reden Sie!« Er ergriff die Decke und zog sie vor sich, als ob sie ihn vor der sichtlich erwarteten MP-Salve retten könnte. »Was wollen Sie von mir? Ich sehe das Ding zum ersten Mal! Ich schwöre es! Mir hat dieses Mädchen eine rote oder orangefarbene Jacke gegeben! Und die war leer! Mit dem Ding da habe ich mit Sicherheit nichts zu tun!« »Und wie ist es dann zu Ihnen gekommen?« 39
»Was weiß ich!« Leichenfresser streckte seinen Finger aus und tippte damit gegen den Lauf der Waffe. »Wichtig ist, daß sie sich jetzt in Ihren Händen befindet. Damit können Sie auf den Panda ballern.« »In einem Flugzeug, was?! Sagen Sie, Mr. Van Broeken, was hatten Sie eigentlich in Bangkok zu tun?« »Ich habe an einer Konferenz teilgenommen.« »Was für eine Konferenz?« »Sinologie. Chinesische Archäologie. Glauben Sie mir, ich sehe zum ersten Mal dieses … Ding! Wo fliegen wir überhaupt hin?« »Im Moment gerade nach Osten«, sagte Villalobos. »Nach Osten? Woher wissen Sie das?« »Aus der Bewegung der Sonne.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Van Broeken?« »Alles mögliche. Hauptsächlich Kunsthistoriker. Chinesische Kunst, versteht sich.« »Welches Spezialgebiet?« »Die früheren Epochen. Zur Zeit beschäftige ich mich viel mit der Armee aus Ton… Wissen Sie…« »Sie sagten, es gäbe da eine Konferenz in Bangkok?« »Gab. Sie war wegen der Tonarmee. Wissen Sie, was das ist?« »Darüber später. Haben Sie jemals in China gelebt?« »Nein. Aber noch dieses Jahr komme ich zurück … oder wollte zurückkommen… Ich habe nämlich eine Theorie…« »Judy!« Eine alte, krächzende Stimme ertönte unter einer der Decken. »Judy!« Es kam keine Antwort, also machte ich mich selbst auf den Weg, den Eigentümer der Rufe zu besichtigen. Ein älterer Herr mit Glatze, Zwicker und Hörgerät hockte unter dem derben Stoff und starrte mich mit offenem Mund verständnislos an. Die Porzellanzähne glänzten selbst im Halbdunkel des Frachtraumes. Van Broeken sprang auf und deutete anklagend auf den Alten. 40
»Das ist er! Das ist der alte Mann! Der Taube!« Der Alte setzte sich auf, ließ die Beine auf den Boden fallen, grinste in die Runde und wartete ab, was nun geschah. Leichenfresser schüttelte den Kopf. »Nicht nur taub, blöd auch noch.« Das Objekt der Bemerkung schaute Leichenfresser an, nickte und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ich riß nun die Decke auch von dem daneben stehenden Bett herunter. »Wachen Sie auf, Judy!« Es war tatsächlich ein Teenager, obwohl näher an zwanzig als an fünfzehn. Das Mädchen gähnte, streckte sich und kreischte dann laut los, so daß der Navysoldat zusammenschreckte. »Großvater! Wer sind die Leute?« Großvater grinste und fixierte weiterhin den Musiker. »Sind Sie okay, Judy?« Automatisch nickte sie und wollte sofort weiterschreien, als sie plötzlich Leichenfresser entdeckte. Dann schrie sie trotzdem, nur irgendwie anders. »Heilige Scheiße, das kann doch nicht wahr sein! Leichenfresser! Süßer, kleiner Leichenfresser!« Dann flog sie dem Zweimeter-Mann an den Hals und fing ohne ein weiteres Wort an, ihn abzuknutschen. Villalobos rieb sich die Augen und schlitterte müde neben dem Seemann zu Boden. »Haben Sie vielleicht eine Zigarre?« »Sony, ich stehe nur auf Kaugummis.« Ich versuchte, das Mädchen von dem Musiker zu lösen, was mir trotz der ähnlichen Bemühungen des Angegriffenen nur schwer gelingen wollte. Als ich es dann geschafft hatte, drehte sie einige Runden um ihn und tanzte wild drauf los. »Kneif mich, Großvater! Wir sind in einer Maschine mit Leichenfresser! Wenn ich das den Mädels erzähle, flippen die aus! Leichi, du läßt mich doch Fotos machen, ja?! Und eins von uns beiden, zusammen! In Boston!« 41
Der Angesprochene nickte unsicher, das Mädchen tanzte weiter, bis es plötzlich Van Broeken entdeckte. »Hey, Sie! Wo ist meine Jacke? Und die Schokolade? Ich hab' sie Großvater versprochen! Und was ist mit Ihnen allen los? Wieso stehen Sie da, wie begossene Pudel?« Dann schaute sie sich schnell um und bemerkte wohl zum ersten Mal so richtig, daß wir uns keineswegs im First Class Abteil der Bangkok-Boston-Maschine befanden. »Sagen Sie mal, wo sind wir hier überhaupt? Leichi?« »In der Luft«, meinte der Musiker scharfsinnig. »Oh, ich dachte schon, im Central Park… Das sehe ich auch! Was ist das hier, eine Trauerfeier? Was ist hier los?« Erneut mußte ich die Initiative ergreifen. »Werte junge Dame«, begann ich, »unglücklicherweise muß ich Ihnen mitteilen, daß wir uns nicht auf dem Flug nach Boston befinden.« »Soll das ein Scherz sein? Wo denn sonst?« »Wie Mr. Leichenfresser eben bereits bemerkt hat, irgendwo in der Luft.« »Sie sind ja verrückt. Und was machen wir hier?« »Keine Ahnung. Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, und das tut es selten, wurden wir entführt.« Mit offenem Mund starrte sie mich an. »Wir wurden was?« Ich erzählte ihr dasselbe wie den anderen zuvor auch. Ebenso ließ ich die Geschichte mit der erhängten Stewardeß wieder aus. »Na toll!« urteilte das Mädchen und umarmte den alten Mann. »Wir wurden gekidnappt! Ge-kid-nappt!« schrie sie ihm in das Hörgerät, woraufhin er zufrieden in ein rhythmisches Nicken verfiel. Ich spürte einen stechenden Schmerz hinter meinem Ohr. Wahrscheinlich ein Nervenende. »Sagen Sie mal, Judy … was haben Sie eigentlich in Bangkok gemacht? Ich meine, Sie und Ihr Großvater?« »Wir? Nun, wir sind Amateurarchäologen. Großvater ist außerdem 42
Numismatiker. Wissen Sie, er liebt alte Münzen. Ich selbst stehe eher auf figürlichere Dinge.« »Zum Beispiel Tonfiguren?« Erneut staunte sie mit offenem Mund. »Wie haben Sie denn das rausgekriegt? Waren Sie etwa auch dabei?« »Wo?« »Auf der Konferenz. In der Amateurloge. Wir waren die ganze Zeit über dort. Obwohl die meiner Meinung nach niemals Huan-Tis Schatz finden werden. Das Geld zeigt nämlich den Weg an, und dieser führt eindeutig nach Süden.« »Was für ein Geld?« »Steingeld, natürlich.« »Ich verstehe kein Wort.« »Das wundert mich nicht. He, Großvater, was ist das? Woher hast du es?« Während unserer Unterhaltung hatte Großvater nämlich in aller Stille unter seine Decke gegriffen und eine 45er Magnum hervorgeholt, die er nun in Begleitung eines freundlichen Lächelns auf meine Brust richtete.
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s gibt ein paar Dinge auf der Welt, die mich ausgesprochen nervös machen. Eines davon ist, einer großkalibrigen Waffe in den Lauf zu schauen. Noch dazu aus nächster Nähe. Und obwohl ich die mexikanische MP geschultert hatte, fiel mir nicht im Traum ein, danach zu greifen. Der alte Mann hätte mich durchlöchert, bevor ich den Arm auch nur bewegt hätte. Allerdings schien Großvater nicht diesen Plan zu verfolgen. Er grins43
te wie eine besoffene Maus den Kater an und wußte nicht, was er mit der Pistole anfangen sollte. Ich um so mehr. Mit einem Sprung war ich bei ihm und drehte die Magnum aus seiner Hand. Vielleicht etwas heftiger, als beabsichtigt, denn der Alte schüttelte noch eine ganze Weile hinterher seine Finger, als ob er sie sich verbrannt hätte. »Wo hast du sie her, Großvater?« fragte Judy erschrocken. Die Sache begann eindeutig, an epischer Breite zu gewinnen… Es war eine hübsch polierte Pistole mit Schalldämpfer, die Seriennummer war natürlich entfernt worden. »Was zum Teufel…«, murmelte Wimmer und griff nun seinerseits unter die Decke, zog die Hand aber mit enttäuschtem Gesichtsausdruck wieder hervor. »Ich hab' wohl kein Geschenk erhalten.« Ich gab die Pistole Villalobos. »Wenn es sein muß, benutzen Sie sie. Aber nur dann!« Ehrlich gesagt hätte ich gerne noch etwas mehr über das Steingeld erfahren, über Huan-Tis Schatz und den Weg nach Süden, aber die Situation gebot mir, dies auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Vor allem, da Wimmer seine Seemannsmütze in den Nacken schob und auf die am anderen Ende des Raumes baumelnde Tonfigur deutete. »He, was ist denn das?« Noch bevor ich ihn daran hindern konnte, war er bei dem demolierten Feldbett und hielt das kleine Püppchen in der Hand. »Jetzt hätte ich fast geglaubt, ich wäre daheim. Genau, wie in Old John's Geschäft.« Ich spürte, daß wieder etwas passierte, das mich noch tiefer in dieses unwirkliche Durcheinander hineinziehen würde. »Wer ist Old John?« »Na, Onkel John. Mein Onkel. Zu Hause, in Idaho. Er hat solche Figürchen.« »Tonfiguren?« »Solche wie die hier, aber auch größere. Man sagt, sie werden in China gebrannt, und einige sind echt viel Geld wert.« 44
Ich wußte überhaupt nicht mehr weiter. Sollte ich in einem Aufwasch die Maschine erobern, den Panda konfrontieren und irgendeine sinnvolle Erklärung für die Geschehnisse finden oder einfach nur einen kleinen Plausch über den Onkel des Navysoldaten aus Idaho führen? So seltsam es auch erscheinen mag, ich entschied mich für das letztere. »Was ist ihr Onkel? Antiquitätenhändler?« »Mhm. Er hat ein kleines Geschäft, voll mit allerlei Dingen. Mir gefallen am besten die Holzpantoffeln. Die wurden noch gemacht, als New York nur ein kleines holländisches Kaff war.« »Und Sie sagen, Ihr Onkel hätte auch chinesische Tonfiguren?« »Ja. Er hat sie irgendwo in Chinatown gefunden. Genau solche wie die hier.« »Schauen Sie sich das Gesicht an!« »Tolles Weib.« »Sind die anderen auch so?« »Die meines Onkels? Na ja … kann schon sein. Ich kann sie nicht so gut auseinanderhalten. Da ist auch eine mit Bart. Die hat mein Onkel am liebsten. Würde sie sogar mit ins Bett nehmen, wenn's geht. Wer weiß, wenn Tante Dolly meine Frau wäre, würde ich wahrscheinlich auch darüber nachdenken.« Ein kleines Licht erschien am Ende des Tunnels. Nichts greifbares noch, aber immerhin. »Hat Ihnen Ihr Onkel je etwas über diese Figuren erzählt?« »Was hätte er schon erzählen sollen? Oder… Warten Sie mal! Er erwähnte, glaube ich, daß es Teile einer ganzen Sammlung wären. Sie wissen schon, wie eine Briefmarkenserie. Es gibt Leute, die sie zusammentragen und dann glücklich sind.« »Ihr Onkel sagte also, es gäbe eine ganze Kollektion dieser Tonfiguren…« So langsam fing ich an, ihn zu verstehen. Falls er tatsächlich das meinte, was ich annahm… Für ihn war das Thema sichtlich ausgeschöpft, denn er ließ die kleine Puppe wieder los, die daraufhin in 45
Ruhe weiterbaumelte. Ich nahm sie in die Hand und riß sie von dem Bett runter, um sie in die Tasche zu stecken. Wer weiß, wozu sie noch gut sein würde? Nun richtete ich all meine Aufmerksamkeit auf Großvater. Er saß zufrieden auf der Bettkante und schien in keiner Weise seine Waffe zu vermissen. »Wo haben Sie die Pistole her?« schrie ich ihm ins Ohr. »Ich fand sie zwischen meinen Beinen«, schrie er, wenn möglich, noch lauter zurück. Diese Dezibelattacke ließ die Decke des letzten Feldbettes in Wallung kommen, und ein erschrockenes asiatisches Gesicht starrte uns kurz darauf erschrocken an. »Rauskommen!« herrschte ich ihn an, da ich langsam genug von dem Versteckspiel hatte. »Raus da!« Ich drückte ihm zwar nicht den Lauf der Maschinenpistole in die Seite, dennoch schienen meine Worte auch so zu wirken. »Jetzt schauen Sie unter Ihre Decke!« sagte ich. »Womöglich ist da etwas…« »Was?« Er suchte, fand aber entgegen dem Sprichwort nichts. »Es ist nämlich so«, fuhr ich fort, »daß anscheinend eine gute Fee einigen von uns Geschenke hinterlassen hat. Die Waffe hier über meiner Schulter fanden wir zum Beispiel in Mr. Van Broekens Bett. Klar?!« Die Antwort stand ihm ins Gesicht geschrieben. Irgendwie stellte es sich dann doch noch heraus, daß er Kao Ven hieß, Geschäftsmann war und das in Peking gebräuchliche Chinesisch genauso mies sprach wie Englisch. In das Flugzeug war er mehr oder minder genauso gekommen wie wir. Er schaute mich an, lächelte sein undurchdringliches Lächeln und wartete, was als nächstes geschah.
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ir waren genug Leute und auch ausreichend bewaffnet. Allerdings nervte mich ein wenig der Umstand, daß man in einem Flugzeug, wo Überdruck herrschte, nicht so einfach nach Lust und Laune herumschießen konnte. »Hören Sie«, sagte ich schließlich. »Einige von uns werden jetzt hochmarschieren und den Dingen auf den Grund gehen.« »Genau!« freute sich der Kampftaucher. »Oder wie wir Seebären es auszudrücken pflegen, laßt uns ihnen den Passatwind ins Gesicht speien!« »Hier ist Ihr Messer. Sie können damit umgehen?!« Sein Elan schien durch meine Frage wieder etwas gebremst, was mir nicht sonderlich gefiel. »Na ja…« »Was Na ja?« »Äh, das ist ein Tauchermesser…« »Na und?« »Bisher habe ich nur Seetang damit geschnitten… Ich weiß nicht, ob ich dazu fähig wäre… Sie verstehen?« Natürlich verstand ich. Der Chinese stand auf, lächelte mich an und nahm mir das Messer aus der Hand. »Ich … glaube, ich könnte es…«, stammelte er. »Mein Gott«, erbleichte das Mädchen. »Worum geht es hier eigentlich? Wollen Sie etwa … einen Menschen umbringen?« »Ach was«, sagte ich. »Kommt gar nicht in Frage. Wir spielen nur ein wenig Verstecken mit einer Leiche. Und mit ihrem Henker. Uns könnte leicht dasselbe Schicksal zuteil werden, wenn wir nicht aufpassen. Villalobos, Sie sind doch Soldat gewesen… Ich hoffe, Sie haben keine Bedenken dieser Art…« »Von mir aus können wir gehen!« »Schießen Sie nur, wenn es unvermeidlich ist.« »Mir brauchen Sie nicht zu erklären, was passiert, wenn eine Boe47
ing ein Loch bekommt…« »Und ich?« erkundigte sich Leichenfresser eingeschnappt. »Wollen Sie mich etwa auslassen?« »Sie dürfen Ihre Fäuste einsetzen. Oder das Taschenmesser von General Villalobos. Los!« Ich nahm die MP in die Hand und stellte sie auf Einzelfeuer. Villalobos streckte die Hand mit der Pistole vor, und wir wollten gerade losmarschieren, als Kao Ven meinen Arm berührte. »Das wird nicht gut so«, meinte er. »Wenn jemand oben am Ende der Treppe steht…« Ich wußte auch selbst, wie viel wir damit riskierten. Aber welche Alternative hatten wir? Die Zeit rannte uns davon, und wer weiß, wie weit man uns noch verschleppen würde, wenn wir nichts unternahmen? Und da nur eine Treppe aus dem Frachtraum führte, blieb uns auch da nicht allzuviel übrig. »Ich bin gerne der erste…«, sagte Kao Ven mit einem sanften Lächeln auf dem rundlichen Gesicht. »Ich kann lautlos gehen. Wenn es sein muß, kann ich jedem den Hals aufschlitzen.« Mit einer fachmännischen Geste vollführte er die dazugehörige Aktion vor unseren Augen in der Luft. Jeder bessere Elitekämpfer hätte ihn darum beneidet. »Ich habe es im Koreakrieg gelernt«, erklärte er, als er meinen staunenden Blick bemerkte. »Ich bin nur etwas aus der Übung. Wissen Sie, wer uns entführt hat? Wen ich erledigen soll?« »Jeden, der eine Waffe trägt«, antwortete ich weise. »Achten Sie vor allem auf den Pandabären.« Sein Gesicht wurde daraufhin etwas länger. »Auf wen?« Ich wiederholte meinen Rat. Er lächelte und trat zum Treppenaufgang. Ich begleitete ihn mit dem Lauf meiner Waffe, bis er aus unserem Blickfeld verschwand.
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ie lange warten wir noch?« meldete sich Villalobos ungeduldig zu Wort. »Was ist, wenn sie ihn erwischt haben?« »Immer mit der Ruhe. Lassen wir ihm etwas Zeit.« Ich lehnte mich an die Außenwand und schloß die Augen. Mein Gedankenstrom wurde plötzlich vom verzweifelten Aufruf des Teenagers unterbrochen. »Mein Gott, Mr. Lawrence!« »Was ist, Judy?« »Leichenfresser sagte gerade, man hätte hier jemanden erhängt. Ist da wirklich eine Leiche in dem Raum?« Am liebsten hätte ich dem schwatzhaften Musiker einen ärgerlichen Blick zugeworfen, aber ich wollte das Treppenende nicht aus den Augen lassen. Also ließ ich die Frage unbeantwortet. Sie flüsterten noch eine Weile, und ich dachte schon daran, bis zehn zu zählen und dann Villalobos zu bitten, mich bei meinem Marsch nach oben zu decken, als Großvater blubbernd loskreischte. Es war ein seltsames Geräusch, wahrscheinlich tauben Menschen vorbehalten, allerdings mit einem fordernden Unterton, der mich unweigerlich einen kurzen Blick riskieren ließ. Zuerst sah ich den Alten, der vor der geöffneten Kabinentür stand und wie nach einer kurzen Begegnung mit einem Geist verzweifelt nach Luft rang. In der kleinen Kammer brannte eine schwache Deckenbirne, deren Licht den von Stahlplatten eingefangenen Raum erhellte. In der Mitte der Kabine baumelte die Leiche der Stewardeß, mit dem Gesicht und der heraushängenden, bläulich verfärbten Zunge zu uns gewendet, an ihrem Strick. Jene Leiche, die erst vor kurzem verschwunden war und die ich schon beinahe wieder als Vision abgetan hatte. Judy schrie auf, Großvater blubberte weiterhin wie unter Wasser, Wimmer stand bloß wie versteinert da, und Leichenfresser preßte seinen Kopf in schierer Verzweiflung gegen die 49
Wand. Ich drehte die MP wieder zur Treppe, aber nichts bewegte sich. Weder Panda noch Kao Ven erschienen am oberen Ende. Falls es den Panda überhaupt gab und man der Geschichte der anderen Stewardeß Glauben schenken konnte. Da der Chinese das große Tauchermesser mitgenommen hatte, konnte ich Wimmer nur das Taschenmesser von Villalobos übereignen. Ich ließ ihn die Tür zur Kammer verschließen und postierte ihn mit dem strickten Befehl davor, jeden in zwei Hälften zu teilen, der dort herauskam. Der leicht schwitzende Navysoldat nahm das kleine Messer in Gewahrsam, allerdings war ihm gar nicht so wohl dabei. Schweiß perlte über seine Schläfen. Dann gab ich Villalobos das Zeichen: Vorwärts! Er seufzte und ging vor. Die Maschine vollführte eine enge Kurve, so daß ich mich am Geländer festhalten mußte. Meine andere Hand verkrampfte sich um die Maschinenpistole, und so konnte ich es auch nicht verhindern, daß etwas Seltsames der Länge nach gegen mein Gesicht schlug. Unfreiwillig fuhr ich auf und trat einen Schritt zurück. »Was ist?« »Ich weiß nicht«, sagte ich und schob erneut die MP schützend voraus. »Irgend etwas hat mein Gesicht berührt.« »Doch nicht der Panda?« Ich dachte da eher an etwas anderes, sagte aber noch nichts. Diesmal blieb das Flugzeug ruhig, als ich die ersten Schritte aufwärts tat. Als das harte Etwas erneut gegen meinen Kopf prallen wollte, duckte ich mich mit einer eleganten Bewegung, schnappte es gleichzeitig und hielt mich daran fest. Was keine kluge Idee war, denn es hätte ja auch ein Messer sein können. Zum Glück gab es nur ein leises Surren, als ob eine Saite reißen würde, dann lag das Objekt in meiner Hand. Bereits bei der ersten oberflächlichen Untersuchung merkte ich, 50
daß es tatsächlich das war, was ich erwartet hatte. Eine kleine Tonfigur mit einem Strick um den Hals. Da stand ich nun und wußte nicht weiter. Villalobos kam neben mir an und ließ seinen Blick zwischen mir und dem Treppenende hin- und herschweifen. »Was ist das?« Wortlos reichte ich ihm das tönerne Püppchen. Er begutachtete es und fluchte dann verhalten. »Verdammt. Wo haben Sie es her?« Ich legte den Finger auf die Lippen und deutete nach oben. Dann bedeutete ich ihm, die Figur hinzulegen und mir geräuschlos zu folgen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er sie sich nicht so genau angeschaut hätte, aber er tat es und legte sie dann direkt dem uns folgenden Leichenfresser vor die Füße. Oben angekommen, schickte ich erst einmal den Lauf der Waffe voraus und spähte danach in die Kabine. Nur das leise Brummen der Triebwerke störte die Stille, nichts bewegte sich. »Heilige Scheiße…«, vernahm ich von unten Leichenfressers unverwechselbare Stimme. »Noch eine Puppe? Was soll das werden, ein Museumsbesuch…? Verdammt … das sind ja Sie, General!« Im ersten Salon war niemand. Die Tür der Pilotenkanzel schien nur angelehnt zu sein. Obwohl ich meine Augen stark in Anspruch nahm, vermochten auch sie nicht den Asiaten von vorhin auszumachen. Es wäre wohl nicht sehr klug gewesen, auch nur einen Schritt nach vorne zu machen, so lange nach den klassischen Regeln des Anpirschens nicht jemand mit hundertprozentiger Sicherheit unseren Rücken freihielt. Ich machte aber einen Schritt und dann sogar noch weitere. Bei der Tür angekommen, sah ich bereits die leuchtenden, blinkenden Instrumentenkonsolen vor mir und auch mich, wie ich mit heldenhaftem Mut meine Waffe auf den Phantompiloten richtete. All dies, ohne die Absicherung durch den General abzuwarten. Es wäre sicherlich ein Bild für die Götter gewesen, wenn es sich so abgespielt hätte. 51
Leider wurde nicht viel daraus. Gerade wollte ich den Lauf wie gehabt vorausschicken, als plötzlich zwischen den Reihen hinter mir ein bunter Schatten hervorsprang, und bevor ich mich richtig umsehen konnte, steckte auch schon ein ziemlich hartes Etwas zwischen meinen Rippen. Wie aus einem besseren Zeichentrickfilm ertönte die Stimme von Papa Panda. »Pfoten hoch!« Ich ließ die Maschinenpistole fallen und faltete meine Hände hinter dem Nacken zusammen. »Drei Schritte zurück!« Folgsam kam ich auch diesem Befehl nach. »Sie können sich umdrehen!« Also drehte ich mich um. Der Anblick kam nicht gerade überraschend, dennoch schockierte er mich ein wenig. Es war ein hochgewachsener Pandabär, der mir gegenüberstand und eine MP auf mich gerichtet hatte, die der ähnelte, die ich eben fallen gelassen hatte. »Setzen!« schlug er vor und deutete zur Unterstützung mit dem Lauf auf den auserkorenen Platz. Da weder Villalobos noch Leichenfresser am Horizont auszumachen waren, kam ich der freundlichen Bitte natürlich nach. Der Panda hockte sich mir gegenüber hin und beobachtete mich eine ganze Weile wortlos. Es war ein wirklich tolles Kostüm und hätte bei jedem Maskenball einen Platz auf dem Siegertreppchen errungen. Er ließ dabei den großen, bunten, runden Kopf wie ein echter Bär freundlich hängen. Es hätte mich interessiert, ob die Verkleidung aus echtem Pandafell hergestellt worden war. Der Panda war natürlich nur zur Hälfte ein Panda; besser gesagt, bis zur Hälfte der Oberschenkel. Von da an übernahmen schwarze Leggings die Funktion der Verkleidung und endeten in ebenso schwarzen, weichen Lederstiefeln. Ich begutachtete ihn ziemlich genau, und auch er blieb mir in nichts nach. Dabei wartete ich natürlich darauf, daß der General auftauchte 52
und die Zirkusnummer beendete. Irgendwo im Olymp hatte man mich wohl erhört, denn Villalobos tauchte tatsächlich auf. Aber irgend etwas lief mit meinem guten Draht zu den griechischen Göttern schief, denn er war nicht alleine. Die Hände über dem Kopf führte er einen weiteren schwerbewaffneten Panda in meine Richtung. Ich schloß schnell die Augen und machte sie wieder auf. Die Fata Morgana hatte sich insofern verändert, daß zwar mein Bär mir immer noch gegenüber saß, Villalobos mit seinem jedoch verschwunden war. »Überrascht?« erkundigte sich plötzlich mein Gastgeber und lachte mit einem rauhen, tiefen Ton auf. »Ein wenig«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Keine Angst. Es wird niemandem etwas passieren.« Er schaute auf das linke Handgelenk, als ob er seine Uhr zur Rate ziehen wollte, merkte aber noch rechtzeitig, daß sein Blick lediglich auf den schwarzen Handschuh fallen würde. »Ich muß Ihnen etwas gestehen«, sagte er und wippte belustigt mit seinem Kopf. »Wir haben Sie an Bord geholt.« »Schau an. Und weshalb?« »Wir brauchen Sie.« »Wer wir?« »Haben Sie von Kaiser Huan-Ti gehört?« »Nehmen wir einmal an, ja.« »Also ja. Gut. Sicherlich kennen Sie auch die Legende der Tonarmee.« »Nur oberflächlich. Wer sind Sie?« »Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren. Ich möchte Ihnen noch einmal versichern, daß weder Ihnen noch den anderen Fluggästen irgend etwas passieren wird.« Ich versuchte, etwas Ruhe auf meine Züge zu zeichnen. »Wenn Sie mir verraten würden, worum es geht, kämen wir vielleicht weiter.« Traurig schüttelte er den Pandakopf. 53
»Dafür haben wir leider keine Zeit. Wir sind bald da.« »Wo?« »In Laos, wo man uns helfen wird.« »Sie sind ja verrückt! Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Vientiane vor zehn Jahren gibt es nichts, was mich mit Laos verbinden würde! Da haben Sie aber einen gewaltigen Fehler gemacht!« Er schaute sich aufgeregt um, als ob er ernsthaft über meinen Einwand nachdenken würde, und überraschte mich dann mit der Frage: »Wer hat die Stewardeß umgebracht?« »Sie! Oder?« »Wo ist die Leiche?« Nun verstand ich gar nichts mehr. »Unten in der kleinen Kammer«, sagte ich. »Im Frachtraum, natürlich.« »In welcher Kammer?« »Na, in der Kammer! Unten!« In diesem Moment schwankte das Flugzeug, und mir war so, als ob auch die Motoren kurz ausgesetzt hätten. Es gab ein gewaltiges Rütteln unter uns, und irgendwo schrie eine Frau kurz auf. Der Panda sprang auf und klemmte die Waffe unter den Arm. »Ist die denn verrückt geworden?!« rief er und war ohne ein weiteres Wort mit zwei Sätzen in der Pilotenkabine verschwunden. Er riß die Tür hinter sich zu, und ich hörte das Schloß einschnappen. Den nächsten Satz wiederum machte ich. Noch im Verfolgungsflug riß ich meine MP vom Boden. Als ich an der verschlossenen Tür ankam, mußte ich meinen Elan bremsen. Selbstverständlich ließ sie sich nicht öffnen. Einen Moment lang dachte ich daran, das Schloß mit einem Schuß zu demolieren, überlegte es mir dann aber anders. Vor allem, da immer mehr klar wurde, daß etwas mit den Motoren nicht stimmte. Das ständige Knacken in meinen Ohren deutete darauf hin, daß wir ziemlich schnell an Höhe verloren. Also schulterte ich die Waffe wieder und trabte in Richtung Treppe. Im Aufgang stolperte ich über 54
Villalobos, der auf allen vieren über einem Pandabären kauerte. Leichenfresser beobachtete die beiden mit vor der Brust verschränkten Armen und ließ seine lila Mähne freudig herumtanzen, als er mich entdeckte. »Ah, hallöchen! Stürzen wir ab?« Er war kaum bei Sinnen, genauso übrigens wie ich selbst. Lediglich Villalobos zeigte keine Anzeichen von Furcht oder auch nur Unruhe. Er zupfte die Enden seines Schnurrbartes zurecht und deutete dann mit dem Schalldämpfer auf den Bären. »Der ist alle! Kaputt. Finito.« Der Maskierte lag vor der Treppe, die Füße baumelten über der obersten Stufe. Unter dem Pelz sickerte rotes Blut hervor, und zwei Löcher verrieten, wo die Kugeln in seinen Körper eingedrungen waren. Eines davon war in etwa an der Stelle, wo unter dem Kostüm sein Herz sein mußte. »Waren Sie das?« Sein Schnurrbart erzitterte. »Ach was! Ehe ich zu mir kam, war er schon tot. Alles ging so schnell, daß ich es gar nicht bemerkt hatte. Plötzlich fiel er auf meinen Rücken und dann zu Boden. Beinahe hätte er Mr. Leichenfresser von der Treppe runtergestoßen.« »Richtig«, bestätigte der Musiker. »Der andere Panda hat auch nichts gemerkt«, murmelte ich. »Was?« »Haben Sie mich denn nicht gesehen?« »Sie? Nein! Aber ich hatte Sie gesucht! Übrigens, wo waren Sie denn überhaupt? Und wieso hat er Sie nicht erwischt?« wurde er mißtrauisch. »Keine Angst, auch mich hat man geschnappt, nur war das ein anderer Panda.« »Ein anderer?« zog er die Augenbrauen zusammen. »Wollen Sie etwa sagen, es gibt noch mehr von denen auf diesem Flugzeug?« »Mindestens zwei.« Wieder sackte die Maschine ab, wieder mußte ich schlucken. 55
»Also sind da noch weitere im Flugzeug…«, konstatierte er. »Als ob einer von ihnen nicht genug wäre. Aber diesen hier habe nicht ich umgebracht! Hier, riechen Sie die Pistole!« Er hielt sie hin, ich roch, und man hatte wirklich nicht mit ihr geschossen. Nun gab es also einiges zum Nachdenken. Lediglich die Zeit fehlte mir dazu… »Wo sind die anderen?« »Wo sie bisher auch waren. Unten.« »Kao Ven ist nicht aufgetaucht?« »Nicht daß ich wüßte. Sie haben ihn auch nicht getroffen?« wandte sich der General an Leichenfresser. Der Musiker schüttelte den Kopf. Als ob sie diese Aussage belohnen wollte, hörten die unruhigen Bewegungen der Maschine auf, das Rütteln erstarb, und die Motoren summten wieder wie vorher. »Also überleben wir es doch?« fragte Leichenfresser ungläubig. Wenn ich gewußt hätte, wieviel Treibstoff eine Boeing 727 bunkern konnte und was davon als Verbrauch pro Stunde in Schubkraft umgewandelt wurde, hätte ich ausrechnen können, wieviel Zeit uns noch in der Luft blieb. Da aber nur lauter unbekannte Faktoren in einer imaginären Gleichung standen, gab ich diesen Kampf erst einmal auf. »Was machen wir mit ihm?« deutete der General auf den Panda. »Sollten wir nicht nachsehen, wer es ist?« Das Flugzeug schien ruhig weiterfliegen zu wollen, also war es wohl im Moment egal, womit wir uns beschäftigten. Ich machte mir an der Maske zu schaffen, was sich aber beim ersten Anlauf als gar nicht so einfach erwies. Kopf- und Oberteil waren mit einer mir unbekannten Technik ineinander verankert, und sie wollten sich einfach nicht lösen. Leichenfresser kniete sich daneben, schaute eine Weile interessiert zu, was ich so alles veranstaltete, und schob schließlich, als ich immer nervöser an den Enden des Kostüms zupfte, meine Hände beiseite. Mit einem einzigen Griff 56
löste er die erste Klammer. »Es ist genauso wie bei den Gitarrenkoffern. Mit solchen Klammern werden sie verschlossen.« Der Anleitung nach öffnete ich alle anderen der Reihe nach und riß dem Panda schließlich mit einem einzigen, bestimmten Ruck die Maske ab. Ich wußte nicht, wen ich unter dem Pandakopf finden würde. Wegen des Verzerrmikrofons vor dem Mund hätte meiner zum Beispiel sowohl ein Mann als auch eine Frau sein können. Darauf jedoch, was mich als Anblick erwartete, war ich in keiner Weise vorbereitet. Genausowenig, wie Villalobos oder Leichenfresser. Vor uns lag nämlich die Leiche des getöteten Kao Ven im Pandakostüm. Der Musiker brachte kein Wort heraus, winkte einfach nur ab und rutschte neben dem Toten auf den Boden. Inzwischen war er Lichtjahre von seiner Angst vor Leichen oder abstürzenden Flugzeugen entfernt. Er resignierte wie ein buddhistischer Mönch, der nach fünfundzwanzig Jahren Meditation von seinem Lehrer erfährt, dies wäre erst die erste Hälfte des vorgesehenen Zeitraums gewesen. Villalobos hingegen fluchte, auf französisch und ziemlich abwechslungsreich. Ich selbst nahm wieder einmal die Wand als kühlende Stütze und preßte meine Stirn gegen das Metall. Langsam wurde es wirklich Zeit, aus diesem absolut unwirklichen Alptraum zu erwachen! Ich riß mich am schnellsten zusammen, warf die MP über den Rücken und ergriff die Beine des Chinesen. Dann gab ich Leichenfresser einen Wink, ihn unter den Armen anzuheben. Der Musiker nickte und stellte sich ausnahmsweise als Leichenträger auf Zeit zur Verfügung. Als wir mit dem als Panda verkleideten toten Kao Ven unten am Ende der Treppe ankamen, schlug uns nicht gerade Freude entgegen. Judy schrie wie am Spieß, Wimmer und Van Broeken blickten uns ungläubig und ziemlich wortlos an. Nur Großvater sprang wie ein junges Kalb übermütig zu uns rüber und schien sich außerordentlich zu freuen, daß er den Chinesen wiedererkannte. 57
»Kao Ven! Hehehe! Wie kommt der in diese Maskerade?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber er ist tot.«
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udy nahm sich zusammen und kam, vorsichtig einen großen Bogen um die Toten machend, zu mir herüber. »Sagen Sie mal«, begann sie, »haben wir irgendeine Chance, hier heil wieder herauszukommen?« »Chancen gibt es immer«, sagte ich, und nicht nur in Gedanken fügte ich hinzu, daß es diesmal eine nicht mal so kleine sein dürfte. »Um Himmels willen! Aber warum…? Was wollen die denn von uns?« »Da oben hat mich vor etwa fünf Minuten auch ein Panda erwischt. Er sagte, uns würde nichts passieren. Ich glaube ihm.« »Blödsinn«, meinte Wimmer. »Die wollen uns als Geiseln. Und fliegen mit uns in den Nahen Osten. Mit Sicherheit.« »Ich habe da eine andere Vermutung«, antwortete ich. »Eine andere?« hakte Judy nach, und ich hörte aus der weinerlichen Stimme ihre Verzweiflung heraus. »Was sonst? Das sind doch hier lauter Verrückte. Wahrscheinlich Drogensüchtige… Die werden uns alle umbringen!« »Na, da werde ich wohl auch noch ein paar Wörtchen mitreden«, sagte ich und kniete mich neben Kao Ven nieder. Eine ganze Weile betrachtete ich sein rundliches, nun blutverschmiertes Gesicht in der Hoffnung, es würde mir noch etwas mitteilen. Im übertragenen Sinne, natürlich. Dann stand ich wieder auf und rieb mir die Augen. »Die Variante von Miss Judy wäre sicherlich die einleuchtendste. 58
Verrückte oder Fanatiker. Nur fällt ihnen im Traum nicht ein, uns etwas anzutun. Merken Sie es denn nicht? Kein Mensch kümmert sich hier um uns! Als ob wir gar nicht an Bord wären. Warum wohl?« »Ja, warum?« fragte Van Broeken. »Weil sie mit sich selbst zu tun haben.« »Mit sich selbst? Die Pandas?« »Jemand hat Kao Ven ermordet. Und er war ein Panda, nicht?« »Na und?« »Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir hier unverhofft in etwas reingeraten sind. In eine große Sache. Auf der einen Seite stehen die Pandas, auf der anderen jemand anders.« »Natürlich. Alles klar«, meinte Villalobos ironisch. »Doch, es stimmt! Die Pandas wollten wohl die Maschine entführen.« »Wollten?« »Nur eine Vermutung. Andere wiederum wollen sie anscheinend daran hindern. Und wir sitzen hier genau zwischen zwei Fronten… Übrigens, wie hat man Sie denn überhaupt geschnappt?« Er zupfte wieder an seinem Bart und kratzte sich dann am Hinterkopf. »Weiß ich nicht. Ich war gerade oben angekommen, als er plötzlich neben mir stand. Der Panda … ich meine, Kao Ven erschien neben mir und hielt mir die Pistole in den Rücken. Natürlich wußte ich da noch nicht, wer er war. Er sagte kein Wort, winkte nur mit der Pistole, daß ich ins Abteil eintreten soll. Und dann lehnte er sich plötzlich an mich und fiel kurz darauf hin. Jemand hatte ihn erschossen.« »Haben Sie nichts gehört?!« »Sie meinen, einen Schuß? Keine Spur. Nicht mal ein leises Plopp… Es war doch sicher ein Schalldämpfer, nicht wahr?« Die Motoren dröhnten wieder lauter, als ob der Pilot bremsen würde. »Wollen wir es noch einmal versuchen?« fragte Villalobos. Beinahe hätte ich zugestimmt, als mir die kleine Kabinentür ein59
fiel. Wimmer stand immer noch davor, mit dem Taschenmesser des Generals in der Rechten. Ich ging zu der Tür, drückte auf den Einlaßknopf und schielte in den Raum. Dabei bückte ich mich ein wenig, damit mich die Füße der Stewardeß nicht trafen. Aber das war überflüssig. Das Mädchen war nicht in der Kabine. Dafür aber ein zweiter Panda, in der gleichen Maske, wie Kao Ven eben. Er lag in der Ecke, mit Wimmers Tauchermesser in der Brust.
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udy begrub ihr Gesicht in den Händen und schrie, Großvater streckte den Hals, um soviel wie möglich mitzubekommen, und Wimmer fing mit einem lauten Schluckauf an. Ich spürte einen leichten Druck hinter den Ohren und einen stechenden Schmerz im Hinterkopf. Beides verhieß nichts Gutes. Ich schnappte mir Villalobos und drehte ihn zur Treppe. »Nur hierhin schauen, mein General! Was immer passiert, drehen Sie sich nicht um! Und wenn da oben jemand mit einer Waffe erscheint, versuchen Sie, ihn zu erwischen!« Was kümmerten mich da noch Überdruck und stockende Triebwerke! Womöglich hatte Judy gar nicht so unrecht, und wir waren in den Händen gemeingefährlicher Psychopathen. Ich preßte mich in den engen Raum, griff dem Panda unter die Arme und zog ihn raus. Sie umringten uns wie Passanten die Opfer eines Verkehrsunfalls. »Schnell! Nehmen Sie seine Maske ab, Leichenfresser!« Der Musiker kniete sich neben uns nieder und löste mit fachmännischen Griffen die Klammern des Anzuges. Ein dünnes, asiatisches Gesicht kam zum Vorschein, mit Brille 60
unter den buschigen Augenbrauen. Ich hätte schwören können, daß es derselbe Mann war, der vor der Pilotentür einige Minuten zuvor gefragt hatte, ob etwas nicht stimmte. Und was ich von der Besatzung denn wolle. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß er tot war, sprang ich in den engen Raum zurück. Ich suchte so lange, bis ich in Form eines kleinen Schaltkastens fündig wurde. Der General bewegte sich in der Zwischenzeit, wie ich es befohlen hatte, nicht von der Stelle. Er starrte regungslos auf den Treppenaufgang. »Sehen Sie sich die Kabine an!« sagte ich und richtete nun meinerseits die MP auf den Ausgang. »Wonach soll ich suchen?« »Interessiert es Sie nicht, wie aus der Leiche der Stewardeß ein Panda wurde?« »Wissen Sie was? Nein!« An seiner Stimme merkte ich, daß auch er bald die Nerven verlieren würde. Mein Gott, hatte hier denn keiner mehr seine Sinne beisammen?! »Die Kabine ist eine Art Lastenaufzug«, erklärte ich. »Sie fährt zwischen diesem Frachtraum und dem Abteil über uns auf und ab. Ich bin erst jetzt drauf gekommen.« »Gratuliere.« Ich ergriff seinen Ellbogen und zog ihn näher zur Treppe hinüber. »Hören Sie, General! Wir müssen etwas unternehmen! Als ich da oben war, hatte mich einer der Pandas erwischt. Er sagte, wir würden bald ankommen.« »Ankommen? Wo?« »In Laos. Und wenn wir erst einmal gelandet sind, ist alles vorbei. Was diesen Flug angeht, meine ich.« »Ich verstehe Sie nicht…« »In Laos gibt es, abgesehen vielleicht von der Hauptstadt, keinen Flughafen, der groß genug wäre, um mit solch einer Maschine sicher landen zu können.« 61
»Mein Gott!« »Wenn sie landen … und das wollen sie … dann wird dieses Flugzeug am Boden zerschellen!« »Landen? Aber wer?« »Woher soll ich das wissen? Die Pandas. Oder diejenigen, die hinter ihnen her sind. Wir müssen das Unmögliche versuchen!« »Und zwar?« »Die Crew schnappen. Oder befreien. Wie auch immer. Und dann die Maschine nach Bangkok zurückbringen.« »Und wenn der Treibstoff nicht mehr reicht?« »Darüber sollten wir uns vorerst keine Gedanken machen. Ich rechne es mir so aus, daß wir sie von zwei Seiten umzingeln.« »Wen?« »Sowohl die Pandas als auch die anderen. Jeder ist hier unser Feind. Schließlich geht es um unser Leben!« Er rieb seine Augen und seufzte resigniert auf. »Okay, raus damit. Was sollen wir tun?« »Holen wir die anderen.« Sie standen immer noch um den Toten herum. Judy schluchzte und seufzte gleichzeitig; vielleicht ein wenig zu intensiv. Großvater schien unbeeindruckt. Nachdenklich trompetete er mit seiner Nase in ein Taschentuch, so daß es zeitweilig sogar das Dröhnen der Motoren übertönte. Was er selbst natürlich nicht im geringsten zu merken schien. Wimmer starrte unentwegt auf den Griff seines Messers, als ob er darüber nachdenken würde, ob er es jemals wieder in die Hand nehmen könnte. Ich mußte innerhalb von Sekunden eine Entscheidung treffen. Und so nahm ich mir vor, alles auf eine Karte zu setzen.
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eine erste Tat war wohl so etwas wie ein Scheidepunkt in der Sache. Ohne ein Wort trat ich zu der Leiche, stemmte meinen Fuß gegen den Bauch, drehte sie so auf die Seite und zog mit einem schnellen Griff das Messer aus dem Körper. Ich blickte die anderen nicht an, vernahm nur ihren keuchenden Gruppenatem. Als ich den Knauf schon in der Hand hielt, fiel mir ein, daß ich eigentlich weder die eventuellen Fingerabdrücke abwischen noch meine eigenen anbringen sollte. Innerlich winkte ich aber schon im selben Moment ab und gab das Messer dem untätig herumstehenden Leichenfresser. »Sie kommen mit mir!« »Und wir?« keuchte mir Judy ins Ohr. »Ich bleibe nicht hier, darauf können Sie Gift nehmen!« »Wir werden die Treppe benutzen. Sie fahren nacheinander mit dem Aufzug hoch. Villalobos und Wimmer gehen vor!« »Und ich?« fragte Van Broeken. »Sie kommen mit uns! Leichenfresser und ich schleichen uns vor, und wir treffen uns oben bei dem Aufzug!« Weder ein Panda noch eine Maschinenpistolensalve erwartete uns am Ende der Treppe. Das erste Abteil war vollkommen leer, bis hin zur Pilotenkabine. Ich sprintete hin, klopfte mit meiner Waffe an. Erneut gab ich mich der Idee hin, einige Kugeln ins Schloß zu schießen, aber auch diesmal hielt mich irgend etwas zurück. Wenn ich per Zufall den Piloten treffen würde… Um den Aufzug zu erreichen, mußten wir ein weiteres Abteil passieren. Damit es keine unnötige Panik gab, versteckte ich die Waffe unter meinem Jackett, und Leichenfresser schob das Messer in seine Gesäßtasche. Inzwischen waren es fünf Personen, die sich in diesem Teil des Flugzeuges aufhielten. Neben den beiden Tennismädchen und der älteren Dame waren noch ein rundlicher Mann und ein rothaari63
ger junger Typ in Schlaf versunken. Die Augen blieben auch nach unserer Ankunft geschlossen, und ich vernahm ihr leises, gleichmäßiges Atmen selbst neben den Triebwerkgeräuschen. Weder Stewardessen noch Pandabären lümmelten in ihrer Umgebung herum. Den Aufzug entdeckten wir in genau demselben Moment, als er oben ankam. Zuerst schob sich die Waffe von Villalobos aus der eingelassenen Tür, dann sein Kopf und schließlich das gequälte Gesicht von Wimmer, der mit weißen Knöcheln das Messer umkrampfte. »Verdammt«, fluchte der General und ließ seinen Blick über den Passagierraum schweifen. »Ich dachte schon…« Was er dachte, sollte ich nie erfahren. Eines der beiden weißgekleideten Mädchen stand nämlich auf und sah uns. Mit einem schrillen Schrei sank sie sofort wieder in ihre Polster zurück. Villalobos wollte fortfahren, aber aus den Lautsprechern ertönte in diesem Moment eine angenehm warme, auf Beruhigung ausgelegte Frauenstimme. »Wir bitten unsere werten Fluggäste, die Sicherheitsgurte anzulegen. Unsere Maschine setzt zur Landung an. Bitte stellen Sie das Rauchen ein, und bleiben Sie auf Ihren Plätzen, bis das Flugzeug vollständig zum Stillstand gekommen ist! Vielen Dank.« Ich sprang zum nächsten Fenster und zog die Gardine beiseite. Als ich unter uns die immer größer werdenden Berge und den hoffnungslos grünen Urwald entdeckte, wurde mir klar, daß wir überhaupt, aber auch wirklich überhaupt keine Chance mehr hatten. Dieses Flugzeug würde nie wieder nach Bangkok zurückfliegen.
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ch weiß nicht, ob Sie schon einmal eine Notlandung einer Boeing auf einer taschentuchgroßen Landebahn mitgemacht haben. 64
Ich für meinen Teil hatte mir zwar vorgenommen, die Augen bis zuletzt offen zu halten, trotzdem gab es einige Sekunden, in denen ich sie schließen mußte. Wenn die Maschine auch einen Piloten hatte – und selbst das schien mir in den letzten Minuten nicht mehr so sicher zu sein –, so kümmerte es ihn doch äußerst wenig, sie rüttelfrei zu halten. Oder auch nur die minimalsten Sicherheitsvorschriften einzuhalten. Wir kurvten zwischen den riesigen Bergspitzen herum wie ein Schweizer Bergwachthubschrauber. Das Problem bestand lediglich darin, daß es sich hierbei um eine Boeing 727 handelte; um einen Elefanten im Mauseloch. In einem Moment versperrten hohe Berge die Sicht, und der Bauch des Flugzeuges schien sie hauchdünn zu berühren, im anderen schwebten die Räder wieder über riesigen Tälern – falls wir überhaupt noch so etwas wie Räder hatten. Der Phantomkapitän schien aber zu wissen, was er tat. Schon daß wir die letzten fünf Minuten nicht gegen eine Bergkuppe geprallt waren, grenzte an ein Wunder. Danach aber gelangten wir in ein Becken, aus dem es kein Entrinnen mehr zu geben schien. Wohin ich auch blickte, überall ragten Berge in die Höhe. Und wir waren immer noch schnell, viel zu schnell. Was dann passierte, hat sich nur als lückenhaftes Daumenkino in meinem Gehirn verewigt. Das Monstrum verlor an Geschwindigkeit und Höhe. Anscheinend gab es doch noch Räder, denn ich spürte die Hydraulik erbeben, als sie sie ausfuhr. Die Boeing schien die Hände des Piloten abschütteln zu wollen, so widerspenstig rüttelte sie uns durch. Sie zitterte, die Motoren brausten zu einem unirdischen Dröhnen an. Dies war wohl auch der letzte Moment gewesen, den wir noch in der Luft verbracht hatten. Die Triebwerke wurden plötzlich wieder leiser, die riesige Maschine prallte auf den Boden. Grüne Zweige peitschten gegen die Scheiben, ein gewaltiges Krachen vom Heck her drang in mein Bewußtsein; eine gewaltige Staubwolke verdunkelte die Sonne, brechende Palmen winkten mir traurig zu. Als es schließlich vorbei war, lehnte ich mich gegen den Sitz vor 65
mir. Meine Beine zitterten, der Schweiß rann mir in die Augen. Aus einem der Gepäckhalter fiel eine Handtasche etwas verspätet zu Boden. Plötzlich erschien Villalobos neben mir. »Was ist passiert?« »Nichts«, antwortete ich und versuchte, aufzustehen. »Wir sind wohl gelandet.« Inzwischen hatten sich auch schon die anderen bei mir versammelt. Nur Van Broeken, das Mädchen und ihren Großvater konnte ich nirgends entdecken. Es war still, gespenstisch still. Weder draußen noch im Flugzeug hörte man ein Geräusch. Eines der beiden Tennismädchen erhob sich, lächelte mich irgendwie schuldbewußt an. Sie wollte etwas sagen, schluckte es aber herunter. »Nun?« fragte der General. »Was jetzt?« »Schnell zum Cockpit!« Ich rannte voraus, hinter mir Villalobos, gefolgt von Leichenfresser und Wimmer, abwechselnd mit Messer oder Pistole bewaffnet. Wir rannten so lange, bis ein aus den Reihen plötzlich herausgestrecktes Bein meinen Lauf in einen Flug umwandelte. Der Teppichboden raste mit erschreckender Geschwindigkeit auf mein Gesicht zu, und ich spürte, wie jemand auf meinem Rücken landete. Dann hörte ich einen kurzen Aufschrei, und es wurde dunkel vor meinen Augen. Als ich wieder zu mir kam, schmerzte mein Hinterkopf wie wild, und ich konnte kaum atmen. Auch die Augen wollten sich nicht öffnen. Oder besser, sie wollten, aber es nützte nichts, denn irgend etwas versperrte die Aussicht. Als ich es zur Seite schieben wollte, erreichte ich damit nur, daß es noch schwerer auf meinem Kopf lastete. Befreit davon wurde ich letztlich, als eine entschlossene und starke Hand es von mir nahm. Endlich konnte ich aufblicken. Zuerst entdeckte ich, wie schön 66
die Decke des Flugzeuges eigentlich bespannt war, und dann, wie nett ein strahlendes, gerötetes Sommersprossengesicht aussehen könnte. Wenn es mir nicht über dem Lauf meiner eigenen MP zulächeln würde.
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tehen Sie auf!« sagte eine eigentlich freundliche Stimme. »Und schön die Hände hoch, sonst gibt es ein paar Löcher!« Keuchend kam ich in die Höhe, wo mich schon Villalobos, Leichenfresser und Wimmer mit erhobenen Händen erwarteten. Unsere Peiniger hätten eigentlich genauso in einen alten Klamaukfilm gepaßt wie wir. Der lange, rotgesichtige Junge, der mich mit meiner Waffe bedrohte, hätte gar nicht so schlecht abgeschnitten, wenn er nicht ständig gegrinst hätte. Und dafür die MP beiseite gelegt hätte… Mit Waffe sieht leider jedes schiefe Lächeln ein wenig bedrohlich und gekünstelt aus. Hinter ihm stand als Verstärkung der Rest der Passagiere: Die zwei weißen Mädchen, die alte Dame mit dem verrutschten lilafarbenen Hut und der Dicke. Ich hätte auflachen müssen, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. »Werden Sie mit mir verhandeln?« fragte der Rothaarige und setzte sich auf eine Armlehne. »Vorerst habe wohl ich die besseren Karten in der Hand.« »Das sehe ich«, erwiderte ich. »Was wollen Sie?« »Was wollen Sie? Teilen Sie mir Ihre Bedingungen mit!« »Geben Sie mir meine Waffe zurück!« »Ich bin doch nicht blöd! Wo sind wir?« Unfreiwillig schielte ich aus dem Fenster. Eine traurige Palme und ein Stückchen blauer Himmel mußten vorerst als Aussicht auf das 67
Paradies reichen. »In Laos«, sagte ich. Die Maschinenpistole in seiner Hand bebte, eines der zwei Mädchen schrie auf, was bei ihnen wohl einfach zum Leben dazugehörte, und sank wieder einmal in einen Sitz zurück. Ihrer Freundin klappte der Unterkiefer runter, und sie starrte mich mit unschuldigen, aber ziemlich verwirrten blauen Augen an. Ich dachte krampfhaft darüber nach, was ich tun sollte. Es könnte Stunden dauern, bis ich Rotschopf überreden würde, uns in Ruhe zu lassen. Und zwischenzeitlich… Nein, ich mußte einfach versuchen, ihm gut zuzureden! »Hören Sie, Mann! Wir sitzen hier in einer notgelandeten Maschine, die jeden Moment explodieren kann! Wir müssen hier verschwinden, so schnell wir nur können! Außerdem sind noch Leute unten im Frachtraum! So verstehen Sie doch endlich, das hier ist kein Spiel!« Ich glaube, er hätte Vernunft angenommen, wenn nicht plötzlich einer der Teenager in Panik verfallen wäre und lauthals losgeschrien hätte. »Das stimmt nicht! Glauben Sie ihm ja nicht!« rief sie aus der Deckung ihres Sitzes. »Die wollen uns umbringen! Erschießen Sie sie!« Der Finger des Rothaarigen am Abzug bebte nervös. Mein Herz wurde plötzlich sehr schwer. Zu oft schon hatte ich miterlebt, was ein Amateur in Panik alles vollbringen kann. Gerade war ich soweit, mich ungeachtet der Gefahr auf ihn zu werfen, als auf einmal der Vorhang des Abteils zur Seite gezogen wurde und in einem in Mitleidenschaft gezogenen blauen Anzug eine wohlproportionierte Dame mit blutverschmiertem Gesicht und verdrecktem blonden Haar auftauchte. Als sie Rotschopf entdeckte, fuhr sie auf, griff in ihre Tasche, holte eine kleine Pistole hervor und zielte damit auf ihn. »Lassen Sie sie fallen, sonst…« Dann torkelte sie, ließ ihr Schießeisen los und fiel mit einem dumpfen Aufprall zwischen zwei Sesselreihen. Im plötzlichen Durcheinander riß ich meinem Gegenüber die Ma68
schinenpistole aus der Hand. Er griff ihr zwar der Ordnung halber hinterher, mußte aber einsehen, daß nun ich am Drücker war. »Immer mit der Ruhe, junger Mann! Helfen Sie lieber der armen Frau da drüben!« Mit dem Lauf deutete ich auf unseren ohnmächtigen Retter. Villalobos war an mir vorbeigerannt und kniete bereits neben ihr. Die beiden Mädchen kreischten jetzt im Chor, die alte Frau hatte ihre Mütze verloren. Leichenfresser stand dicht neben mir, mit dem Tauchermesser in der Hand. Ich ergriff seinen Arm und zerrte ihn mit mir. »Kommen Sie!« »Wohin?« »In den Frachtraum!« Villalobos war inzwischen dabei, die Bekleidung der jungen Frau etwas zu lichten. Gerne hätte ich diesen Teil von ihm übernommen, aber irgend etwas trieb mich nach unten. Kao Ven lag immer noch dort, wo wir ihn hingelegt hatten, und auch der andere Pandabär hatte seine Position trotz der harten Landung seltsamerweise nicht verändert. Großvater saß neben Judy auf deren Bett und lächelte unentwegt. Judy sagte kein Wort, aber ich sah ihr an, daß sie längst nicht mehr wußte, wo wir uns befanden: in der Hölle, im Himmel oder immer noch irgendwo dazwischen. Ich trat zu ihr und nahm ihre Hand. Sie war kalt und trocken. »Wie geht es Ihnen, Judy?« Sie blickte mich an, und lehnte sich an meine Brust. Dann fing sie an zu weinen, mit einem schnellen, jugendlichen Schluchzen. Ich streichelte ihren Rücken und wartete, daß sich der Sturm wieder legte. Etwa fünf Minuten dauerte er, dann schaute sie mich mit tränennassem Gesicht an. »Was ist passiert?« »Wir haben es überlebt. Der Boden hat uns wieder.« »Wo?« »Wahrscheinlich in Laos. Aber es könnte auch China sein … oder Thailand.« 69
»Was?!« »Ich weiß nicht. Wir sind in einem Wald gelandet. Wir müssen jetzt schnell das Flugzeug verlassen. Kommen Sie!« Ich trieb sie zur Eile an, obwohl mir langsam klar wurde, daß dies überflüssig war. Wenn die Maschine bis jetzt nicht in die Luft geflogen war, würde wohl auch später nichts mehr daraus werden. Leichenfresser zwängte sich neben mich, nahm meine Hand von ihrer Schulter und legte dafür seinen Arm um sie. Judy schien den Wechsel sehr zu begrüßen. Ich seufzte und begann, mich mit Großvater zu beschäftigen. »Sind Sie okay, Mr. äh…?« »Einen Dreck! Was für blöde Reifen haben denn diese Dinger heutzutage? Wo sind wir denn gelandet, hä? Auf einem Ackerfeld?« »Können Sie mitkommen, Großvater?« »Natürlich kann ich das! Sie müssen mich nur am Ellbogen stützen.« Als wir oben angekommen waren, überließ ich den Alten Villalobos. Von zerfetzten Uniformen sah ich plötzlich zwei, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Ich rannte zurück in den Frachtraum. Er war irgendwie seltsam trostlos, so ganz leer und ohne Leben. Die herumgefallenen Kofferberge wiesen darauf hin, daß auch hier unten die außergewöhnliche Landung ihre Zeichen hinterlassen hatte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte auf den Knopf des Aufzuges. Die Tür öffnete sich, und es passierte genau das, was ich erwartet hatte. Die blauen, starren Augen der toten Stewardeß blickten mich vorwurfsvoll an. Ich trat ganz nah an sie heran, so nah, wie es die Verhältnisse nur erlaubten. Ein seltsamer, fernöstlicher Duft erreichte meine Nase, von dem mir ganz leicht übel wurde. Sie war eine dünne, feingliedrige Gestalt, kaum mehr als fünfzig Kilo schwer. Die Spitzen ihrer Seidenschuhe kratzten über den Boden, die langen, schwarzen Haare fielen wirr über ihren Rücken. Vor kaum einer Stunde noch war sie eine äußerst attraktive junge Frau gewesen; das konnte ich ja selbst bezeugen. Welchen Veränderun70
gen ein Mensch innerhalb so kurzer Zeit unterliegen kann, wurde mir wieder einmal auf traurigste Weise bewußt. Und jeder hätte sich davon überzeugen können, der in diesem Moment neben mir stand. Neben mir stand zwar niemand – dafür aber hinter mir. Als er sich zu Wort meldete, blieb mir beinahe das Herz vor lauter Schreck stehen. Ich lugte über die Schulter und sah Van Broeken und den unbekannten Rotschopf vor der Treppe stehen. Sie beobachteten ihrerseits mit interessiertem Gesichtsausdruck mein Treiben. Der Rothaarige schien dabei ein klein wenig blasser auszusehen als der Sinologe. »Das … das ist ja … die Stewardeß!« flüsterte er. »Sie hatte mir den Tee serviert!« »Na endlich«, sagte ich und kletterte aus der engen Kabine. »Wenigstens ist jetzt noch einer da, der sie gesehen hat. Ihnen schenkte sie also ebenfalls den Tee aus, Mr. …?« »Hardy«, stellte er sich vor. »Theodor Hardy.« »Und mein Name ist Lawrence. Leslie L. Lawrence.« »Sehr erfreut. Mr. Van Broeken kenne ich bereits. Dürfte ich erfahren, was hier vor sich geht?!« Ich schaute auf die Tote und zuckte dann mit den Schultern. »Von mir nicht. Ich weiß nämlich selbst kaum etwas. Plötzlich verschwanden die Stewardessen, und es erschienen dafür die Pandabären. Dann wurden beide Parteien dezimiert. Das ist alles.« Van Broeken trat zu dem Mädchen, stellte sich auf die Zehenspitzen und betastete ihren Hals. Dann zog er seine Hand zurück und schüttelte den Kopf. »Sie wurde erwürgt.« »Wie bitte?« schluckte der Rotschopf, und ich glaubte, eine Träne in seinem linken Auge zu entdecken. Van Broeken deutete auf ihren Hals. »Sehen Sie die Spuren unter dem Strick?« Vorerst sah ich nur den Strick. »Sie sind durch das dicke Seil leicht verdeckt. Sie wurde damit aufgehängt, aber nicht getötet! Und auch nicht an diesem Ort. In so 71
einem engen Raum kann man einen ja nicht einmal richtig erwürgen!« »Das sagen Sie, als wären Sie Profi in Sachen erwürgen…« »Bin ich auch!« entgegnete er mit einem rätselhaften Lächeln. Ich wußte nicht, ob er das ernst meinte oder es als Scherz gedacht hatte. Auf jeden Fall klammerte ich mich etwas fester an meine MP. »Soll das ein Witz sein?« »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Dieses Mädchen wurde oben erwürgt, und zwar mit den Händen. Das sieht man an den Spuren. Eine abscheuliche, rohe Art. Die klassische, schöne Art des Erwürgens kennt kaum noch jemand. Haben Sie von der Garrotte gehört? Ein Metalldraht, mit zwei Holzgriffen an den Enden. Innerhalb von zehn Sekunden können Sie jemanden damit töten, ohne daß der Betroffene auch nur eine Chance hätte, zu entkommen. Wenn der Draht scharf und dünn genug ist, schneidet er sofort die Kehle durch.« Hardy zuckte zusammen und schluckte. »Brrr! Furchtbar!« »Einerseits«, sagte Van Broeken und wendete sich wieder von der Leiche ab. »Andererseits ist Morden eine Kunst. Oder Töten. Oder wie man es auch immer nennen mag. Einige Zimperliche bevorzugen den Begriff liquidieren. Aber das ist vollkommen egal.« Obwohl ich kein Freund der Kunst des Tötens war, durfte ich mich nicht in moralische und philosophische Dispute über das Ausschalten unserer Mitmenschen einlassen. Vor allem, da ich spürte, daß unsere Abenteuer mit der Landung noch nicht vorüber waren. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich ging es jetzt erst richtig los.
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ir kletterten in den Passagierraum zurück. Die Tür zur Pilotenkabine war endlich offen, und ich konnte einen Blick hineinwerfen. Unzählbar viele runde und ovale Lämpchen blinkten über den Konsolen. Einige waren zerbrochen, andere wieder hingen ganz aus ihren Fassungen, so als ob man sie mit Absicht herausgerissen hätte. Auf dem Boden der Kabine lagen Stoffreste, blutverkrustete Taschentücher, zerstreute Kosmetika und andere, nicht auf Anhieb identifizierbare Artikel herum. Im Abteil hatte sich inzwischen die Panik etwas gelegt. Die Tennismädchen kreischten nicht mehr, sahen mich nur etwas befangen an, als ich mit schußbereiter Waffe auftauchte. Erfreut stellte ich fest, daß inzwischen tatsächlich zwei ganz hübsche, uniformierte Damen unter uns weilten; demnach war es nicht bloß ein Wunschtraum gewesen… Die neu hinzugekommene Rothaarige war etwas größer als die Blonde, und ihr Gesicht war ebenfalls mit kleinen Kratzern und Schürfwunden übersät. Als ich mich zu ihnen durchgekämpft hatte, schlürfte sie gerade Orangensaft aus Opas Thermosflasche. Sie blickte mich an und ließ den Arm mit der Flasche sinken. »Wer sind Sie?« Ich bemerkte, daß ihr Blick etwas länger bei meiner Waffe verweilte, also schob ich die MP mit der Hand auf den Rücken und lächelte sie an. »Die hier braucht Sie nicht zu beunruhigen. Ich bin kein Flugzeugentführer, sondern genauso ein Passagier wie all die anderen hier. Und ich würde verdammt gerne erfahren, was mit uns passiert ist. Vor allem natürlich, ob wir hier nicht jeden Moment in die Luft fliegen können?« Die Rothaarige mit den grauen Augen reichte mir ihre verschmierte Rechte. 73
»Malgorzata Leroy.« »Leslie L. Lawrence. Gehören Sie zum Personal?« »So könnte man es auch ausdrücken. Ich bin der Flugkapitän von diesem verfluchten Kahn. Und sie hier ist Lisolette Brian, mein Navigator.« Die Blondine nickte mir zu. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll…« »Die Maschine wird nicht explodieren«, unterbrach mich die Pilotin, »falls es das ist, was Sie wissen wollten. Es gibt nichts, was noch explodieren könnte, es sei denn, jemand hat auch noch eine Bombe an Bord versteckt.« »Und das Kerosin?« »Es dürfte noch ein halber Liter da sein, danke der Nachfrage… Noch fünf Minuten in der Luft, und wir wären abgestürzt. Es war pures Glück, daß ich den Flugplatz gefunden habe.« »Flugplatz?!« »Warum so überrascht? Dies ist definitiv ein Flugplatz! Von hier aus sieht es zwar nicht danach aus, aber es ist einer. Klein und schmal, aber immer noch besser als eine Plantage. Obwohl, was den Beton angeht … und die Sträucher und Bäume…« »Wie haben Sie denn hierher gefunden?« »Dieser Verrückte hatte mir einen Plan gezeigt. Können Sie sich vorstellen, was es heißt, eine solch kleine Piste mitten in Südostasien zu finden?! Noch dazu halb zugewachsen vom Dschungel. Unser Leben hing an wenigen Minuten, selbst so mußte ich die Treibstoffzufuhr auf Minimum stellen. Na, wenn mir das jemand erzählen würde … ich wüßte sofort, wohin ich ihn treten würde!« »Also wird sie nicht explodieren? Was war denn unser eigentliches Flugziel?« »Hongkong.« »Aus welchem Grund?« »Was geht Sie das denn an? Wenn hier jemand das Recht hat, Fragen zu stellen, dann bin ich das! Was zum Teufel machen Sie denn alle in meiner Maschine? Hä? Und wo sind die Frösche?« 74
Ich schloß für einen Moment die Augen. Sie wissen schon, die Stiche im Hinterkopf… »Frösche?« »Ja, Frösche. Hier, wo Sie gerade sitzen, sollten Frösche quaken. Zwanzigtausend Frösche.« »Was für Frösche?« fragte Leichenfresser träge und ließ selbst in dieser Situation nicht Judys Hand los. »Echte Frösche?« »Wir sollten Frösche nach Hongkong bringen. Vielleicht haben diese Idioten sie in den Frachtraum geschafft…« Leichenfresser schüttelte den Kopf und verkündete mit dem Stolz der Eingeweihten der ersten Stunde: »Im Frachtraum sind keine Frösche. Bis vor kurzem waren wir eine ganze Zeit lang dort unten. Da gibt es nur drei Leichen: die der erhängten Stewardeß, dann die beiden Pandabären…« Falls er so etwas wir Erfolg erwartete, nun, den hatte er zweifelsohne. Die zwei weißgekleideten Teenager kreischten, als ob sie erst jetzt den Musiker erkannt hätten, allerdings mehr aus Verzweiflung denn aus Freude, die ältere Dame fuchtelte mit einem Regenschirm herum und forderte, sofort freigelassen zu werden, und sogar Pilot und Kopilot machten ein schwer zu deutendes Gesicht. Und ich war mir sicher, es war nicht der Verlust ihrer Frösche, der ihnen so zusetzte.
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ls es endlich etwas ruhiger wurde, hob ich die Hand und bat ums Wort. Als Argument plazierte ich außerdem noch schön sichtbar die Maschinenpistole vor dem Bauch. Da ich nicht sicher war, ob mich auch wirklich jeder sehen und hören konnte, stellte ich mich auf einen Sessel, trotz meiner Abneigung, Sitzmöbel als 75
Podeste zu mißbrauchen. »Meine Damen und Herren!« begann ich. »Lassen Sie uns die parlamentarische Form wahren. Zuerst einmal, mein Name ist Lawrence. Leslie L. Lawrence. Ich war als Pandaforscher unterwegs nach…« »Dann sind Sie der Grund!« deutete Lisolette anklagend auf meine Brust. »Sie haben uns diese perversen Schweine auf den Hals gehetzt!« »Wen?« »Ihre Freunde! Er drückte mir eine Pistole gegen den Hals und betatschte mich dabei.« »Wer?« »Ihr Pandamann!« Erneut brach die Hölle aus, jeder versuchte, gleichzeitig zu reden. »Dürfte ich vielleicht zu Ende bringen, was ich sagen wollte!?« »Verdammt, reden Sie schon!« meinte der Dicke mit den Hosenträgern. »Und danach sollten wir hier schleunigst raus… Meine Blase ist etwas schwach, Mann!« »Dann gehen Sie doch auf die Toilette!« »Die darf man nur während des Fluges benutzen!« Um Himmels willen, ich war ja hier mit lauter wohlerzogenen Mördern an Bord! Langsam trat doch wieder Ruhe ein, und wir konnten den eingeschlagenen Weg weitergehen. Villalobos hatte die alte Frau zu ihrem Platz zurückgeführt, nachdem sie eine ganze Weile mit dem inzwischen gebrochenen Regenschirmstiel gegen die Ausgangstür gehämmert hatte. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, daß das Flugzeug eine leichte Schräglage hatte; bei der Landung waren wohl die Fahrgestelle etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Oder der Beton hatte unter ihnen nachgegeben. »Ich möchte keineswegs irgendeine Führerschaft übernehmen«, erklärte ich. »Wir müssen nur ein paar Dinge klären. Zuerst einmal, wo wir genau sind.« »Nichts einfacher als das«, meldete sich Malgorzata. »In Laos.« »Woher wissen Sie das?« 76
»Die Pandas, die in unsere Kabine eingedrungen sind, hielten mir eine Karte vor die Nase. Es war keine einfache Sache, diesen kleinen Flughafen hier zu finden.« »Und wo ist dieser Flugplatz nun?« »Unter uns.« »Ich meine natürlich, wo in Laos!?« »Ungefähr in der Mitte. Zwischen Bergen und Tälern. Und was für Berge…!« »Wo sind die Pandas?« »Haben Sie nicht eben gesagt, sie wären tot?« »Wie viele haben Sie insgesamt gesehen?« »Was weiß ich! Hören Sie, ich mußte das Flugzeug steuern, genauso wie Lisolette. Es war schon schlimm genug, daß man uns dabei Kanonen unter das Kinn gedrückt hat. Ich hatte wirklich keine Zeit, sie zu zählen! Außerdem sahen sie ja alle gleich aus… Woher hatten die wohl bloß ihre Verkleidung?« Darüber hatte ich mir auch schon meine Gedanken gemacht, behielt die Ergebnisse aber erst einmal für mich. Im Moment hätte es nur unnötig Zeit gekostet. »Wissen Sie, ob irgendwo in der Nähe eine bewohnte Ortschaft liegt?« »Woher? Keine Stadt, das hätte ich mit Sicherheit gesehen. Eine einzelne Hütte wäre mir natürlich nicht aufgefallen…« »Wem gehört denn dann dieser Flughafen?« »Gute Frage.« »Und sie könnte von dem beantwortet werden, der die Pandas ermordet hat. Und sich nun mit Sicherheit unter uns aufhält.« Es wurde still, und sie zogen sich etwas voneinander zurück. Keiner wollte die Schuld auf sich nehmen, Pandas und Stewardeß ermordet zu haben. »Ich will hier raus! Ich habe genug von Ihnen allen!« kreischte plötzlich eines der beiden jungen Mädchen los. »Ich glaube, mir wird schlecht…« Inzwischen ging es uns allen nicht mehr so gut. Die Lüftung funk77
tionierte nicht, und obwohl ein grauer Schleier den Himmel verdeckte, war es in der Maschine unglaublich heiß geworden. Es schien, als würden wir in einem riesigen Benzinfaß in der prallen Hitze festsitzen. »Wo sind die Stewardessen?« »Die wer?« »Die Mädchen! Die uns den Whisky gebracht hatten.« »Sind Sie verrückt? Was für Stewardessen? Fröschen Whisky bringen?!« Die alte Frau, die bis vor kurzem noch an der Tür gehämmert hatte, setzte sich nun auf ihren Platz zurück und hörte uns interessiert zu. Ich glaube, selbst eine Bombendrohung hätte sie nicht mehr aus unserer Nähe fortbringen können. »Wie kann man diese Maschine verlassen?« »Zum Beispiel durch die Türen. Wenn Sie vom Stuhl wieder runterklettern und mir folgen, kann ich es Ihnen gerne zeigen…« Wir öffneten die Luke, suchten eine Notrutsche und ließen uns dann schön der Reihe nach auf den Beton schlittern. Als ob es sich um eine Sonntagsübung der örtlichen freiwilligen Feuerwehr handeln würde.
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er Flugplatz war wirklich so groß wie ein Taschentuch und sah auch aus wie ein verschneuztes Exemplar dieser Gattung. Die riesige Maschine ließ ihre Nase traurig hängen, wie ein Elefant in einem zu kleinen Gehege. Ich bückte mich und untersuchte den Beton. Er war grau und zerschlissen, aus den daumenbreiten Rissen wucherten Unkraut und Blumen und verwandelten die Landebahn in einen fröhlichen klei78
nen botanischen Garten. Wohin ich auch schaute, überall grüßten Palmen mit ihren langen, wippenden Blättern. Über den Baumspitzen türmten sich riesige Berge zu einer furchterregenden Kulisse auf. Ich umrundete das Flugzeug, das oberflächlich gesehen in Ordnung zu sein schien, lediglich das Vorderrad war in ein großes Loch abgesackt. Die Sonne brannte, obwohl rundherum kleine Schäfchenwolken den Himmel bedeckten. Langsam spürte ich, wie sich Hunger und Durst bemerkbar machten. Ich hoffte, daß noch etwas davon übrig war, was die Stewardessen… Die Stewardessen! Da ich am Heck der Maschine war, brauchte ich nur wenige Schritte, um die andere Rutsche zu entdecken. Sie war mit dem Notausstieg verbunden, genau gegenüber der Stelle, an der wir das Flugzeug verlassen hatten. Der ziemlich steile Gummiteppich verhieß nichts Gutes, also ließ ich es bleiben, wieder ins Innere zu klettern. Die Vöglein waren vermutlich eh schon ausgeflogen! Meine Mitpassagiere hatten sich unter einer Palme versammelt und in kleine Gruppen aufgeteilt. Die Tennismädchen heulten sich gegenseitig den Kragen naß, während die ältere Dame mit dem lila Hut versuchte, sie zu trösten. Die beiden Piloten hatten das Flugzeug als letzte verlassen. Jetzt saßen sie unter einer anderen Palme und machten sich gerade an einem Erste-Hilfe-Kasten zu schaffen. Der Kapitän, Malgorzata, wischte gerade das Gesicht ihrer Kollegin mit einem Erfrischungstuch sauber. Lisolettes Auge wurde von einem großen Monokel verunstaltet, das wohl kaum von einem Gentleman stammen dürfte. »Was wollen Sie?« fragte Malgorzata unfreundlich, als ich neben ihnen auftauchte. »Mit Ihnen reden.« »Dann reden Sie.« »So hatte ich es mir aber nicht vorgestellt.« »Sondern?« mischte sich nun Lisolette ein und preßte die Hand 79
auf den schmerzenden Fleck in ihrem Gesicht. »Sollen wir Ihnen einen Tisch decken? Möchten Sie auch Kerzenlicht, oder reicht es, wenn wir nur das Tafelsilber auftragen?« Sicherlich hätte es Momente gegeben, wo ich ihren Humor in vollen Zügen genossen hätte. Dieser gehörte allerdings nicht dazu. »Hören Sie mal!« begann ich etwas schroffer, als ich es üblicherweise mit jungen Damen tue. »In Angesicht dessen, daß Sie die Eigentümer dieser Maschine hier sind, haben Sie auch eine gewisse Verantwortung für Ihre Passagiere zu tragen…« Malgorzata hörte auf, sich mit Lisolettes Gesicht zu befassen, und blickte mich finster an. »Was?!« »Soweit ich weiß, hat der Kapitän auf seinem Kahn, oder der Pilot in seinem Flugzeug, die Verantwortung für seine Passagiere zu tragen. Wenn etwas passiert, wird diese Verantwortung sogar noch größer!« »Soll ich Ihnen einen Kuß geben?« »Wie bitte?« »Soll ich Ihnen etwa einen Kuß geben?! Ich werde nur dann verantwortlich sein, wenn Sie sich alle in Frösche verwandeln. Sie wissen schon, wie im Märchen, nur andersrum. Mit Ihnen habe ich nichts zu tun! Wenn sich ein Storch in mein Flugzeug verirren würde, dann hätte ich zugegebenerweise einiges zu tun. Aber weder für Sie noch für diese Pandakerle…« Ihre Stimme überschlug sich, und sie schluckte vor Aufregung. »Verschwinden Sie hier, wenn Sie was Gutes tun wollen!« Mir blieb nichts anderes übrig, als die Kavallerie einzusetzen. »Können Sie lesen?« »Ich sagte doch, verschwinden Sie!« Ich holte aus meiner Tasche den Ausweis hervor, und schob ihn ihr unter die Nase. Den Ausweis vom Pariser Interpol-Büro. Sie lasen ihn wirklich, auch Lisolette. Sie schielte verwegen über Malgorzatas Schulter. Als sie sich immer mehr über das Dokument beugten, konnte ich 80
durch die tiefen Ausschnitte ebenfalls einen tollen Einblick in ihre Ausweise gewinnen. Ich schwöre, wenn sie sie mir vorgelegt hätten, wären mir niemals Zweifel über die Echtheit gekommen. Bei ihnen lag das allerdings etwas anders. Malgorzata Leroy blickte mich mißtrauisch an und studierte mein verschmiertes Gesicht. »Sind Sie ein Bulle?« »Keineswegs. Interpol hat mich beauftragt, mich an der Pandafront ein wenig umzusehen. Die chinesischen Behörden hatten uns mitgeteilt, daß im internationalen Tierhandel einige Pandabären angeboten worden sind, die aus China stammen. Dem hätte ich nachgehen sollen.« Sie klappte den Ausweis wieder zu und gab ihn mir zurück. »Und was wollen Sie jetzt?« »Vor allem dieses Abenteuer lebend überstehen. Was auch möglich wäre, wenn wir zum Beispiel auf einer kleinen, verlassenen Lichtung irgendwo in Laos nicht den Hungertod sterben müßten. Oder die aufhören würden, uns zu dezimieren…« Beide blinzelten daraufhin verstört. »Die?« »Diejenigen, die uns hierhergezwungen haben.« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie… Jemand wußte von diesem Flugplatz. Und er wußte auch, daß man auf ihm landen kann.« »Na ja, was letzteres angeht…« »Die Maschine wurde nicht zufällig hierher gebracht. Und wenn es so ist, müssen diejenigen ganz in der Nähe sein.« Der Kapitän wußte noch nicht so recht, was ich für ein Typ war. Lisolette sah ich an, daß sie sich inzwischen beruhigt hatte. Sie beschäftigte sich jetzt wieder mit ihrem Gesicht. Miss Leroy aber hatte vorerst ihren Stolz noch nicht abgelegt. Also entschied ich, ihr den Gnadenschuß zu geben. Ich bückte mich, ergriff ihr Handgelenk und riß sie auf die Beine. »Ich zeige Ihnen was! Kommen Sie!« Zuerst sträubte sie sich noch ein wenig, aber da mein Griff fest 81
blieb, gab sie schließlich auf. Vor allem, weil sie bemerkte, daß die anderen schon komisch herüberschauten. Ich ging mit ihr auf die andere Seite ihrer Maschine und deutete auf die zweite Notrutsche. »Nun? Was sagen Sie dazu?« Sie sagte gar nichts. Einige Sekunden lang stand sie wie versteinert da; als sie schließlich wieder Worte fand, war nichts Überhebliches mehr in ihnen. »Mein Gott! Wer war das?« »Ich hätte da ein paar Ideen. Aber zuerst möchte ich mich mit Ihnen ein wenig unterhalten. Würden Sie mir auch einige Antworten geben?« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie sich noch einmal die Rutsche ansah, und stieß dann einen tiefen Seufzer aus. »Natürlich. Glauben Sie … daß Sie als, äh, Agent von Interpol hier etwas tun können?« »Ich werde es versuchen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.« Sie drehte sich um, und nun war sie es, die mich voranzog. »Los! Sie werden sie bekommen!« Meine erste Aktion war, Lisolette zu entfernen. Nicht daß ich ihr nicht vertraut hätte, nur waren die anderen schon sichtlich unruhig. Ich befürchtete schon, sie würden zu uns kommen und Fragen bezüglich der nächsten Schritte stellen. Ich bat also das Mädchen, ein paar Lebensmittel zu organisieren. »Wie denn?« erkundigte sie sich mit einem betörenden Lächeln. »Mit einem Bumerang? Oder leihen Sie mir dafür ihre Maschinenpistole?« »Stellen Sie eine Alpinistentruppe zusammen und klettern Sie zurück an Bord. In der Kombüse habe ich belegte Brote gesehen. Was immer Sie finden, bringen Sie es mit!« Sie nickte und fing an, die Leute zusammenzutrommeln. Zufrieden konstatierte ich, daß Villalobos, Leichenfresser und die anderen langsam, aber sicher die Rutsche emporkletterten, wie mittelalterliche Angreifer an einer Stadtmauer. 82
Ich setzte mich neben Malgorzata ins Gras und versuchte, das Knurren unserer Mägen zu ignorieren. »Also«, lächelte ich, »lassen Sie uns anfangen. Zuerst einmal: Woher haben Sie diesen Namen?« »Welchen?« fragte sie überrascht. »Malgorzata? Meine Mutter kam aus Polen, ich habe ihn von ihr bekommen. Manchmal ist es ganz nützlich, daß ihn keiner aussprechen kann… Meine Freunde nennen mich nur Mal. Das dürfen Sie jetzt auch.« »Danke, Mal. Und ich bin Leslie.« »Und… Sie sind wirklich kein Bulle?« »Wirklich nicht.« »Schade. Ich mag Bullen ganz gerne. Was machen Sie dann? Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie Pandaloge sind, mit so einem durchtrainierten Körper?!« »Ich bin Biologe«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Und beschäftige mich hauptsächlich mit Käfern.« »Eben waren es noch Pandas…« »Die auch. Die Königlich Englische Biologische Gesellschaft hat mich zu einen Pandakongreß geschickt.« »Und Interpol.« »Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Meine Freunde bei Interpol bitten mich oft, ihnen zu helfen. Sie wissen ja, als einfacher Wissenschaftler erfahre ich viel mehr als ein Polizist. Jeder ist viel offener gegenüber einem Professor…« »Aha…« »Sie glauben mir nicht? Es ist aber so! Also, ich sollte wirklich an einem Pandakongreß teilnehmen und mich dabei umhorchen, wer und auf welche Weise Pandas aus China rausschmuggelt.« »Äußerst interessant.« »Seit wann sind Sie denn Pilot, Mal?« »Seit rund fünf Jahren.« »In Thailand?« »Erst seit drei Jahren. Vorher war ich bei der Air France.« »Als Kapitän?« 83
»Nein. Wissen Sie, daheim in Frankreich vertraut man uns Frauen nicht so sehr. Ich wäre wohl immer noch Kopilot, wenn ich dort geblieben wäre. Deswegen hat mir dieser Job hier auch so zugesagt.« »Um welche Firma handelt es sich dabei?« »Wissen Sie … darüber dürfte ich eigentlich nicht reden … aber wir sind wohl in einer Art Notlage … also, sie heißt Paranat-Sulamond.« »Nie gehört.« »Keine Weltfirma, zweifelsohne. Aber hier in der Gegend hat sie einen guten Namen.« »Mhm. Und womit beschäftigt sie sich?« »Mit Frachtgut. Spezielles Frachtgut. Sachen, die besondere Handhabung verlangen.« »Auch Pandabären?« »Wieso nicht? Wir haben erstklassige Fachleute. Wenn die Papiere in Ordnung sind, nehmen wir alles mit.« »Womit hatten Sie es bisher zu tun?« »Oh, ich wurde wohl als Prinzessin für die Frösche auserkoren… Hauptsächlich Frösche, und Meeressachen. Krebse zum Beispiel. In speziellen Behältern.« »Und mit welchem Ziel?« »Alles mögliche. Aber in der Regel Hongkong. Dann Malaysien, Singapur, Indonesien.« »Werden Sie gut bezahlt?« »Ja.« »Gab es schon mal Unannehmlichkeiten mit der Fracht?« »Woran denken Sie?« fuhr sie auf. »Die Sachen sind immer gut festgeschnürt. Ich schwöre Ihnen, ich war noch nie zuvor in so einer Situation!« »Und in anderen?« »Auch in keinen anderen!« »Die Zollbeamten haben nie etwas gefunden?« Sie wurde rot und wütend. »Jetzt hören Sie mal! Sie wollen mich wohl in irgend etwas rein84
reiten? Hä?! Raus mit der Sprache, was ist hier los?« Sie war etwas laut geworden, und einige von den anderen schauten besorgt herüber. »Immer mit der Ruhe! Ich hatte nichts dergleichen im Kopf! Ich möchte nur herausfinden, ob Ihre Firma nicht in irgend etwas verwickelt ist. Konkret jetzt in dieser Sache.« »Warum zum Teufel sollte sie?« »Und wo sind dann Ihre Frösche?« Daraufhin wurde sie wieder etwas stiller, und auch der empörte Ausdruck verschwand von ihren Zügen. »Was weiß ich!« antwortete sie verzweifelt. »So etwas ist mir noch nie passiert!« »Macht nichts«, beruhigte ich sie. »Gehen wir weiter. Sie fliegen also die Maschinen dieser Para-was-auch-immer-Gesellschaft. Ist der Heimathafen Bangkok?« »Ja. Dort ist die Verteilung.« »Was für eine Verteilung?« »Na, die von der Ware. Frösche, Krebse und so weiter. Dort werden sie hingebracht, und von dort transportieren wir sie weiter.« »Waren Sie schon einmal in Laos?« »Nie.« »Wieso?« »Weil wir mit Laos nichts zu tun haben. Außerdem ist das, glaube ich, militärisches Sperrgebiet. Ich war auch nervös, daß uns beim Flug keiner eine Rakete in den Hintern jagt.« »Wo erhalten Sie die Aufträge?« »Einmal jede Woche gibt es eine kleine Konferenz in der Zentrale, wo der Eigentümer und der Flugleiter die Aufgaben austeilen. Meistens habe ich zwei Flüge pro Woche.« »Mit welchen Maschinen?« »Na, diese umgebauten Rostlauben hier…« »Ist das Ihr eigenes Flugzeug?« »Nein. Ich fliege drei verschiedene Modelle. Hängt davon ab, welche gerade repariert wird und was wir transportieren. Die Maschi85
nen sind genau auf die Fracht zugeschnitten.« »Und wann erfahren Sie, welchen Typ Sie jedes Mal erhalten?« »Kurz vor dem Flug. Wenn ich die Papiere übernehme.« »Und bei dieser hier?« »Gestern. Auf dem Flughafen, vom Flugleiter. Gestern hatte man nämlich mit den Verladearbeiten angefangen. Die ganze Nacht über hat man die Frösche eingeladen … oder … wie auch immer.« »Sie haben die Fracht nicht kontrolliert?« Sie schwieg eine Weile betreten und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein.« »Machen Sie das denn nie?« »Doch«, antwortete sie ganz leise, »eigentlich immer. Es ist sogar vorgeschrieben…« »Verstehe. Doch diesmal haben Sie eine Ausnahme gemacht. Weshalb?« »Weil … ich verschlafen habe. Ich wurde nicht geweckt.« »Von wem?« »Vom Weckdienst. Üblicherweise wecken die mich jeden Tag, nur heute haben sie es irgendwie vergessen. Ich bin von selbst aufgewacht, allerdings erst in letzter Sekunde. Ich konnte gerade so meine Sachen anziehen, da stand auch schon das Taxi vor der Tür. Ich bin dann schnell zum Flugplatz … oder wollte es, denn kurz bevor ich die Wohnung verließ, meldeten sich die vom Weckdienst. Soweit ich es verstanden habe, sagten sie, ich selbst hätte sie gebeten, mich an diesem Tag ausnahmsweise später zu wecken. Was natürlich vollkommener Unsinn ist, aber ich hatte einfach nicht die Zeit, mich weiter zu beschweren. Unnötig zu sagen, daß dies der erste Vorfall dieser Art war.« »Ich verstehe«, sagte ich nachdenklich und dachte, daß ich endlich den ersten Knoten an einem riesig langen, glatten Seil gefunden hatte. »Also kamen Sie verspätet am Flughafen an…?« »Ach was! Gerade noch rechtzeitig, beziehungsweise … na ja, im letzten Moment. Ich hatte gerade noch Zeit, die vorgeschriebenen technischen Checks durchzuführen, dann erhielt ich auch schon 86
die Starterlaubnis, und husch, weg war ich!« »Was ist, wenn Sie zu spät kommen?« »Das wäre ziemlich schlimm. Man würde mir alle Kosten vom Gehalt abziehen, und wenn es sich wiederholt, kann mir gekündigt werden. Die Firma muß viel Strafe zahlen, wenn sie den Flughafen länger als nötig in Anspruch nimmt.« »Und so wußten Sie demnach auch nicht, ob die Frösche wirklich an Bord waren?« »Wie hätte ich auch ahnen können, daß sie es nicht sind? Die Frachtpapiere waren alle gültig und vom Zoll abgestempelt worden.« »Ist außer Ihnen sonst noch jemand bei solchen Flügen an Bord?« »Manchmal, wenn es die Fracht verlangt. Für die Frösche allerdings haben wir zwei bisher immer gereicht.« »Ich verstehe. Also waren Sie gestartet… Und haben Sie irgend etwas … Außergewöhnliches bemerkt?« »Nichts. Der Tower gab uns die Daten, und wir machten uns auf den Weg nach Hongkong.« »Wann merkten Sie, daß etwas nicht stimmt?« »Als die Kabinentür hinter uns verschlossen wurde.« »Und wann geschah das?« »Kurz nach dem Start. Plötzlich klickte das Schloß, und wir waren eingeschlossen.« »Was haben Sie unternommen?« »Nichts, wir flogen weiter. Wir waren noch im Steigflug.« »Haben Sie dem Tower all das mitgeteilt?« »Lisolette verlor den Kontakt. Und als wir endlich die Flughöhe erreicht hatten, kam der Panda ins Cockpit.« »Woraufhin Sie…?« »Woraufhin wir ganz schön erschrocken waren. Im ersten Moment dachte ich, wir transportieren die Bären, und einer ist freigekommen. Ich hätte schon fast losgeschrien, als er seine Pistole hervorholte, was dann die Situation klärte. Zwar nicht verbesserte, aber klärte… Er legte mir eine Karte in den Schoß und gab mir gute Ratschläge, was ich tun sollte, wenn ich am Leben bleiben wollte.« 87
»Wußten Sie, daß außer dem Panda auch noch andere Passagiere im Flugzeug waren?« »Was weiß ich, woran ich in der Situation dachte… Auf jeden Fall kam noch ein zweiter Panda rein, sie flüsterten etwas, dann ging er wieder raus.« »Und Sie?« »Ich hab' mich gesträubt. Am Ende kam es sogar zu einem Kampf.« »Was?! Wie denn das?« »Ich hatte auf Autopilot geschaltet und ihm ein Bein gestellt. Dann schlug ich um mich, wie ich nur konnte, er aber leider auch, wie Sie aus den Spuren erkennen können. Am Ende gewann er natürlich die Oberhand, aber wir hatten beim Kampf schon das halbe Cockpit demoliert. Zum Glück funktionierten alle wichtigen Teile noch!« Es beschäftigte mich natürlich, wer sich wohl mit den Mädchen geschlagen hatte: Kao Ven oder der andere Panda? Oder vielleicht sogar ein dritter? »Und dann?« »Wir waren vollkommen alle. So etwas war uns noch nie zuvor passiert. Die Entführung, meine ich. Lisolette ging es nicht so gut, sie taumelte ständig, wohl durch ihren hohen Blutdruck. Und während der gesamten Zeit mußten wir diesen verfluchten Flugplatz suchen!« »Ihr Pandabär hatte natürlich verboten, Kontakt mit den Behörden aufzunehmen, denke ich…?« »Selbstverständlich, gleich am Anfang, wobei er uns mit der Pistole drohte. Wir durften nicht antworten, wenn man uns gerufen hatte… Sie können sich bestimmt vorstellen, wie ich mich dabei gefühlt hatte. Dieses Gebiet ist Sperrzone, wenn man uns hier ein paar hübsche Projektile hinterherschickt, fliegen unsere Aluminiumfetzen nur so in der Gegend herum…« »Und Sie?« »Ich hielt die Maschine so tief wie möglich, um unter ihrem Radar durchzutauchen. Obwohl, heutzutage… Wie auch immer, es hat 88
geklappt. Keiner wollte uns haben…« »Wann hat der Panda die Kanzel verlassen?« »Kurz vor der Landung. Er blickte immerzu auf seine Uhr, steckte auf einmal die Pistole aus der Tür und verschwand dann auch sofort.« »Und dann?« »Dann? Dann mußte ich landen, Sie Scherzkeks! Und zwar binnen weniger Minuten, und wo auch immer. Inzwischen schaute ich nur noch nach einigermaßen ebenen Flächen, der Rest war mir egal. Aber überall standen nur Berge herum, immer nur die verfluchten Berge. Ich wollte schon aufgeben, als ich endlich doch noch hierherfand. Wenn ich auch nur ein klein wenig schneller oder höher gewesen wäre, dann … dann Gnade uns Gott! Noch ein paar Kilometer in der Luft, und ebenso!« »Also sagen Sie, der Panda war die ganze Zeit über bei Ihnen in der Pilotenkabine…«, kehrte ich zum Ausgangsthema zurück. »Und er ist nicht für eine Sekunde rausgegangen?« Sie dachte nach und zuckte mit den Schultern. »Sehen Sie, das könnte ich nicht beschwören. Wie gesagt, auf einmal kam ein zweiter Panda rein … sie besprachen irgend etwas, und dann ging auch wieder einer raus.« »Sie meinen, es wäre … nicht sicher, wer…« »Genau. Gott allein weiß, wer nun welcher gewesen ist. Kann sein, daß sie gewechselt haben. Wie hätte ich sie denn unterscheiden sollen? Aber warum interessiert Sie das so sehr?« »Ich versuche herauszubekommen, wie viele es von ihnen insgesamt gab.« »Und?« »Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht zwei, vielleicht mehr… Das ist mir noch schleierhaft. Wenn sie nur zu zweit waren, sind unsere Probleme gelöst, da beide tot sind… Wenn es mehrere waren … nun…« »Nun was?« »Nun, dann sind sie entweder hier unter den anderen, oder sie 89
haben sich zusammen mit den Stewardessen aus dem Staub gemacht.« »Aber ich sagte doch schon, wir hatten keine Stewardessen an Bord!« »Es waren aber einige da, die uns bedient haben. Übrigens, hatten Sie mich gehört, als ich reinkommen wollte?« »Natürlich. Aber der Panda hatte von innen verschlossen… Mr. Lawrence, könnten Sie mir etwas erklären?« »Und zwar?« »Woher zum Teufel hatten diese Kerle die Idee mit den Pandabären? Und vor allem die Masken und Felle? Ich verstehe zwar nicht viel von Terroristen, aber ich glaube, es wäre weitaus einfacher, sich eine Strumpfhose über den Kopf zu ziehen, als sich in solch eine schwere Maskerade zu zwängen, unter der es außerdem auch verdammt heiß sein mußte. Ganz zu schweigen, daß sie sie erst einmal an Bord schmuggeln mußten… Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine…?« Nachdenklich betrachtete ich ihr Gesicht und mußte feststellen, daß ich selten einen hübscheren Flugkapitän gesehen hatte. »Ich weiß nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich tappe noch im dunkeln. Ich glaube, unsere Leute wollten nicht unbedingt Pandabär spielen.« »Was meinen Sie damit?« »Sie haben die Masken erst nach dem Start gefunden.« »Wo denn?« »Wohl im Frachtraum. Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen, und ich denke, diese Felle wurden von irgend jemandem zum Pandakongreß verschickt.« »Na aber…« »Einen Moment, gleich verstehen Sie es!« Ich griff in die Tasche und holte die Einladung zum Pandakongreß heraus. »Sprechen Sie Chinesisch?« »Ich?!« »Gut, dann passen Sie auf! Hier! Siebter Punkt… Panda Kostümball für einen wohltätigen Zweck. Verstehen Sie? Einige der Eingeladenen ließen sich in Bangkok ihre Felle und Masken herstellen, und 90
dann wurden sie per Fracht für Nanking aufgegeben.« »Statt der Maschine nach Nanking aber haben sie meine erwischt.« »So wie wir auch… Und Lisolette?« wechselte ich schnell das Thema. »Wurde sie ebenfalls zu spät geweckt?« »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.« »Haben Sie sie gar nicht gefragt?« »Selbst dafür hatte ich keine Zeit. Abgesehen davon ist… Na ja … es ist ein wenig kompliziert mit ihr…« »Was?« »Es geht Sie zwar nichts an … aber Lisolette verbringt nicht jede Nacht im eigenen Bett!« »Und Sie?« »Werden Sie nicht frech!« Ich grinste, aber dann wurde mein Gesicht auch ungewollt wieder ernst. »Also, liebste Mal, wie auch immer wir es drehen und wenden, wir sind hier Opfer einer wirklich clever ausgeklügelten Verschwörung!« »Ach nein! Und was wollen die von mir?« »Ich denke, die wollten nicht Sie, sondern die Maschine und Ihr Können, natürlich.« »Und woher nehmen Sie diese … Verschwörungstheorie?« »Es hängt unter anderem auch mit dem zusammen, was Sie mir erzählt haben! Daß Sie zu spät geweckt wurden. Wissen Sie, wie das passieren konnte?!« »Ja. Das sind Idioten!« »Im Gegenteil. Jemand hat es so eingerichtet, daß Sie erst im letzten Moment aufgeweckt wurden. Damit Sie keine Zeit hatten, sich in der Maschine umzuschauen. Denn wenn Sie es getan hätten, wäre Ihnen wohl sicher aufgefallen, daß kein einziger Frosch auf Ihren betörenden Kuß wartete, dafür aber einige Passagiere einen rüttelfreien Flug nach Peking oder sonstwohin erhofften.« »Aber warum? Um was genau geht es hier?« »Das möchte ich herausfinden, Mal, und genau dazu brauche ich 91
Ihre Hilfe. In Ordnung?« »In Ordnung, natürlich«, sagte sie und legte ihre Hand auf meine. »Was immer Sie wollen.« Und sie ließ die Hand ein klein wenig länger als nötig dort, wo sie war.
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s dämmerte bereits, als die von Leichenfresser und Villalobos geführte Truppe ihren Beutezug beendete. Das Ergebnis war um einiges magerer, als ich es erwartet hatte: einige vertrocknete belegte Brote, ein paar Flaschen Whisky und etwas Knabberzeug. Leichenfresser wollte die Brote mit Wimmers Messer aufteilen, aber Villalobos hielt ihn zurück. Er riß es ihm aus der Hand und warf es zu Boden. Der Musiker zuckte mit den Schultern und verließ die Szenerie, Arm im Arm mit Judy. Großvater lehnte sich an einen Baum und starrte in den Himmel. Es war warm wie in einem Kochtopf von Eingeborenen. Ich entschied mich, Judy als nächste dranzunehmen. Die beiden blickten auf, als ich sie erreichte. Das Mädchen zog ihre Hand aus der ihres Idols heraus, während Opa weiterhin die Sterne begutachtete, als ob ihn das Ganze nichts angehen würde. Ich hockte mich neben sie und bat um Entschuldigung. Leichenfresser stand wohlerzogen auf und wollte uns verlassen, doch Judy zog ihn wieder zurück. Ein paar Sekunden dachte ich darüber nach, ob ich etwas dagegen haben soll, aber dann sagte ich mir, wieso sollte er nicht dabei sein? Diesmal zeigte ich keinen Ausweis, tat so, als würde mich rein wissenschaftliche Neugier zu einem Tratsch treiben. »Liebe Judy«, begann ich, »da wir noch eine Menge Zeit haben, 92
bis uns jemand entdeckt…« »Und wenn hier nie jemand vorbeikommen wird?« unterbrach sie mich. »Dann geben wir morgen Rauchzeichen. Oder wenn das auch nicht hilft, gehen wir einfach los. Irgendwo werden wir schon ankommen.« »Falls wir bis dahin nicht den Hungertod sterben«, meinte Leichenfresser und streichelte sich über den Bauch. »Ich habe zuviel Säure im Magen. Der Onkel Doktor hat mir nahegelegt, regelmäßig zu essen. Inzwischen fange ich ja an, regelmäßig nicht zu essen! Von dem Pulver für meinen Magen ganz zu schweigen.« »Wieso nimmst du es nicht ein?« fragte Judy besorgt. »Womit denn?« regte sich der Musiker auf. »Dieser blöde General hat mir sogar das Messer aus der Hand gerissen. Ich weiß gar nicht, was er hat. Nur weil jemand damit ermordet wurde … kann man doch ruhig ein paar Scheiben Brot damit schneiden, oder?« Ihr Gesicht verfinsterte sich ein wenig, aber sie sagte nichts. »Noch im Flugzeug«, nahm ich den Gedanken wieder auf, »erwähnten Sie irgendwelche Steinmünzen. Wissen Sie, ich beschäftige mich auch mit so manchen asiatischen Reliquien…« »Sind Sie Sinologe?« »Nicht direkt. Aber ich liebe das Land. Ich glaube, Sie erwähnten den Schatz des Huan-Ti?« »Tatsächlich? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber es ist ja auch kein Geheimnis.« »Sie haben an der Konferenz teilgenommen?« »Ja. Da mein Großvater kein Wissenschaftler ist und ich selbst erst Studentin bin, noch dazu keine vom Fach, da ich mich für Soziologie eingeschrieben habe, durften wir nur in der Amateursektion Platz nehmen. Zwischen all diesen idiotischen Dilettanten… Was da alles für Dummköpfe rumsitzen! Einer zum Beispiel…« »Mich würde eher Ihr Beitrag interessieren«, unterbrach ich sie. »Ja, stimmt. Ich rede da einfach drauf los… Also, Großvater ist Händler, er hat ein Geschäft für Kunstgegenstände in Boston. Fast meine gesamte Kindheit habe ich zwischen diesen Dingen verbracht. 93
Dort habe ich mich wohl auch in China verliebt.« »Und Ihr Großvater?« »Er wollte sein ganzes Leben lang nach China kommen. Jetzt endlich schien es so, als könnte es klappen, obwohl erst nächsten Herbst. Wir wurden eingeladen, nachdem wir unseren Vortrag über den Schatz des Huan-Ti gehalten haben. Über die Armee aus Ton.« »Könnten Sie das etwas ausführen? Wissen Sie, ich bin in dieser Sache nicht so bewandert…« »Entschuldigung. Wo soll ich anfangen…? Vor einigen Jahren kam ein Chinese in das Geschäft. Er sah recht heruntergekommen aus, was für die Bostoner Chinesen ziemlich unüblich ist. Außerdem sprach er auch relativ schlecht Englisch. Schließlich haben wir ihn doch verstanden; er wollte uns etwas verkaufen. Dann öffnete er ein Taschentuch und legte uns einige Kiesel auf den Tisch. Wirklich, ohne Scherz, geschliffene Kieselsteine. Was hätten Sie denn an unserer Stelle getan?« »Ich weiß nicht«, gestand ich. »Wie haben Sie reagiert?« »Wir haben uns gewundert, denn so etwas war uns bis dahin noch nie unter die Augen gekommen. Und dafür, daß es lediglich ein paar glatte und teilweise mit Zeichen versehene Steinchen waren, verlangte er ziemlich viel Geld. Dann erklärte er uns schließlich, daß die Zeichen auf den durchlöcherten Kieseln bewiesen, daß es sich bei ihnen um Geld des Huan-Ti handelte.« »Schon wieder dieser Huan-Ti…« »Wir wußten, daß er etwa zweihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung regiert hat und unter anderem die Große Mauer gegen die Hunnen erweitern und erneuern ließ. Er war ein ziemlich resoluter, strenger Herrscher. Nun, wir sprachen also mit diesem Mann, von dem sich herausstellte, daß er Archäologe war und sich aus Taiwan abgesetzt hatte.« »Abgesetzt?« »Wortwörtlich. Er wollte nach China zurück!« »Aha. Hat er noch etwas verraten?« »Er war ziemlich verzweifelt. Er sagte, es wäre möglich, daß ihm 94
nur noch ein paar Tage blieben. Der taiwanesische Geheimdienst wäre hinter ihm her und könnte jederzeit zuschlagen. Wir haben daraufhin natürlich angeboten, daß er sich bei uns verstecken könnte, obwohl wir … ehrlich gesagt, etwas Angst hatten. Ich vor allem, ich war ja noch ein Kind.« »Ich hatte keine Angst!« warf Großvater dazwischen. »Während des Abendessens – wir hatten ihn eingeladen – erzählte er uns wundersame Dinge. Er sagte, er habe im Archiv eines Museums in Taiwan eine Schriftrolle entdeckt, die etwas über die Tonarmee des Huan-Ti erwähnen würde.« »Worüber?« »Zuerst verstanden wir es auch nicht, aber er erklärte es. HuanTi hatte beschlossen, all sein Hab und Gut mit ins Grab zu nehmen, und zwar nicht nur tote Sachen, wie Geld oder Schätze, sondern auch seine Armee, die Gefolgsleute, Diener und Freunde, die er hatte.« »Wie Attila«, sagte ich. »Bitte?« »Ein hunnischer Herrscher. Er fand in Ungarn seine Ruhestätte.« »Ich verstehe… Nur, Huan-Ti wollte wirklich niemanden umbringen! Also setzte er fest, daß von jedem seiner Bediensteten eine Tonfigur gemacht werden sollte, und zwar in Lebensgröße. Wenn der Ton gebrannt war, konnte man sie hinterher schön braun anmalen, und schon hat er sein eigenes Regiment. Mit zehn-, zwanzigtausend originalgetreuen Abbildungen seiner Armee. Dann ließ er das Ganze neben seinem Grab in der Erde verschwinden. Angeblich war das sein Wille gewesen, und so wurde er auch ausgeführt.« »Wenn das stimmt, wäre es eine riesige wissenschaftliche Entdeckung«, sagte ich, »ähnlich wie das Grab des Tut-Ench-Amun.« »Mindestens. Nur stehen die Chancen ziemlich schlecht, daß irgend jemand sie findet. In Anbetracht dessen, daß die Armee begraben wurde und nirgendwo auf der Oberfläche besondere Zeichen gesetzt worden sind … kann man sie nur durch Zufall entdecken.« »Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie und Ihr Großvater aber 95
doch etwas gefunden, das…?« »Warten Sie ab! Ich bin noch nicht fertig. Also, der Chinese erzählte uns all dies und fügte dann hinzu, daß er eine Theorie hätte, wonach es doch einen Weg gäbe, das Grab des Huan-Ti und damit seine Tonarmee zu finden. Natürlich hörten wir ihm interessiert zu, obwohl uns nicht im Traum einfiel, daß wir einmal Näheres damit zu haben würden. Stimmt's, Großvater?« »Nicht im Traum«, bestätigte Großvater. »Der Mann sagte, die mitgebrachten Steinmünzen würden den Weg zum Grab markieren. Dieses alte Dokument, das er in Taiwan gefunden hatte, beschrieb, daß die ansteigende Anzahl der Geldstücke die Richtung weisen würde. Vom Meer aus betrachtet und mit einem dreispitzigen Berg als Ausgangspunkt. Ist doch ganz einleuchtend, oder?« »Ich verstehe kein Wort«, sagte ich ruhig. »Kein einziges Wort.« »Oh, das ist gut!« erhob Leichenfresser den Zeigefinger. »Das ist voll okay! Hören Sie mal…«, meinte er, und fing an zu trällern. »So etwa:… Tamtatatam… Beim Dreispitzer, tamtatatam … liegt die Tonarmee, tratatatam … die Welt geht zu Ende, tratatatam … wenn die Steinsoldaaaaten erwachen … und das Urteil über uns fällen … tamtatatam. Ich muß noch etwas daran arbeiten, aber es klingt doch gut, nicht?« Ich schloß die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Judy mußte meine Pein wohl bemerkt haben, denn sie fuhr fort. »Der Chinese sagte, unweit von Peking, dicht am Meer, gäbe es einen Berg mit drei Bergspitzen. Und vor gar nicht so langer Zeit, kurz vor dem zweiten Weltkrieg, gab es dort eine Ausgrabungsstätte, wo man Huan-Tis Steingeld gefunden hatte. Einen ganzen Krug voll, genau fünfundzwanzig Stück.« »Halt! Woher wußte man, daß es das Geld von Huan-Ti war?« »Auf jedem war der Name des Herrschers eingemeißelt.« »Und dann?« »Hier wurden auch die Dokumente gefunden, von denen ich bereits gesprochen habe. Und diese Papiere besagten, daß man auf einer Linie vom Meer weg weitere Krüge mit Huan-Tis Geld finden 96
würde. Die Zahl der Geldstücke würde sich jedesmal um fünf erhöhen… Verstehen Sie? Wenn jemand den Gefäßen in Richtung Süden nachgeht, wird man einen Berg mit drei Kuppen finden, genauso wie der am Ausgangspunkt. Und unter diesem Berg wird man schließlich die Tonarmee finden.« »Sie meinen, man hat weitere Krüge gefunden?!« »Na endlich haben Sie kapiert! Der Chinese meinte, in den Fünfzigern hätte man drei weitere Behälter ausgegraben. Sie sind jetzt alle in Taiwan, an einem geheimen Ort. Im ersten waren dreißig, im zweiten fünfunddreißig und im dritten vierzig Geldstücke. Verstehen Sie? Und der Weg zeigte weiterhin in Richtung Süden. Nach Südostasien, um genau zu sein. Wir waren zu dem Kongreß gekommen, um die Geschichte des Chinesen vorzutragen.« »Und?« »Es war ein durchschlagender Erfolg.« Obwohl ich das Gefühl hatte, es wäre alles nur ein Märchen, gab es mir doch zu denken. Vielleicht saßen wir ja wegen Huan-Ti in der Patsche? Konnte es sein, daß sich jemand so sehr nach dem Schatz des chinesischen Herrschers sehnte, daß er sich nach dem Vortrag von Judy und ihrem Großvater ein Flugzeug schnappte und der Legende nachgehen wollte? Aber wozu brauchte man dann zum Beispiel mich? Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich von der Aura ihrer Geschichte zu lösen. Wie bei jedem Mythos, gab es auch hier einiges an faszinierender Naivität. Die Krüge mit immer mehr Geldstücken … hm… Ich nahm mir vor, zu Hause in London diesem Motiv etwas nachzugehen. Wo in den verschiedenen Kulturen der Berg mit drei Spitzen wohl noch auftauchen würde…? Und da Mal gerade in Begleitung von Lisolette an uns vorbeischlenderte, um an den irdischen Freuden teilzuhaben, die Villalobos gerade unter den Passagieren aufteilte, rief ich ihr ungewollt gewitzt nach: »Miss Malgorzata!« 97
Sie drehte sich um und hielt ihren hübschen Kopf fragend etwas schief. »Ja, bitte?« »Haben Sie nicht zufällig beim Vorbeifliegen einen Berg mit drei Spitzen bemerkt? Drei Bergkuppen, direkt nebeneinander?« Sie nahm die ihr entgegengestreckte Portion Sandwich und Whisky entgegen, und prostete mir mit dem Plastikbecher zu. »Und ob ich den bemerkt habe! Beinahe wären wir sogar dagegengeknallt … nacheinander gegen jede der drei Spitzen!« Ich spürte, wie aus meinem Lächeln eine gekünstelte Fratze wurde. »Und … wo ungefähr?« »Ungefähr?« fragte sie und deutete hinter meinen Rücken. »Na hier, ungefähr! Vor Ihrer Nase! Sie können die Spitzen ja selbst zählen. Der Flugplatz liegt genau zu den Füßen dieses Berges.« Sie spazierte wieder an mir vorbei, ließ noch ein reizendes Lächeln aufblitzen und pflanzte sich mit ihrer Kopilotin unter eine Palme. Wir für unseren Teil starrten einander nur wortlos an. Selbst in Leichenfressers Hand hielten die beiden Stöckchen inne, die er noch kurz zuvor für Tamtatam-Zwecke mißbraucht hatte.
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eine Stimme klang etwas müde, als ich mich wieder zu Wort meldete. »Könnten Sie mir was über diesen Chinesen sagen?« »Viel mehr wissen wir auch nicht, oder, Großvater? Wir hatten ihm angeboten, daß er bei uns bleiben kann, aber er verschwand noch in derselben Nacht.« »Sie meinen, nach dem Zubettgehen? Er hat sich fortgeschlichen?« 98
»So könnte man es auch nennen.« »Haben Sie noch die Geldstücke? Die von Huan-Ti?« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Er hat sie wieder mitgenommen. Und noch etwas Taschengeld…« »Soll das heißen, er hat Sie bestohlen?« »Na ja, nicht direkt. Er nahm fünfundzwanzig Dollar mit und hinterließ einen Schuldschein.« »Nichts weiter? Würden Sie ihn erkennen, wenn er wieder auftauchen sollte?« »Wohl kaum. Und wissen Sie auch, warum?« »Nein. Beziehungsweise … Chinesen sehen für unsere Augen alle ziemlich gleich aus.« »Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Unser unbekannter Bekannter trug einen Bart.« »Na und?« »Am nächsten Morgen habe ich ihn gefunden.« »Den Bart?« »Und Farbreste im Waschbecken. Er hatte uns nicht sein richtiges Gesicht gezeigt.« »Woraufhin Sie…?« »Nichts. Wir haben ihn mit der Zeit vergessen. Nicht aber seine Theorie. Und da er nie wieder auftauchte, beschlossen wir, seine Geschichte weiterzugeben. Und ihr nachzugehen, nur für den Fall, daß etwas Wahres dran war.« »In der Maschine erwähnten Sie, daß Sie sich auch mit Tonfiguren beschäftigen…« »Nur ich, mein Opa weniger. Er kümmert sich nur um Münzen. Ich selbst bin wohl so sehr der Legende des Huan-Ti verfallen, daß ich mich seitdem nur mit den Tonfiguren beschäftige.« Ich holte aus meiner Tasche die kleinen Figuren hervor und legte sie in meine Hand, schön nebeneinander. Sie blickte sie fröstelnd an. »Das waren die aufgehängten, nicht?« »Ja, das waren sie. Jetzt, wo Sie sich ein wenig beruhigt haben, 99
würde ich Sie gerne um Ihre Meinung bitten…« Sie nahm die Frauenfigur, drehte sie in jede Richtung, schaute sich auch die Sohlen an, schüttelte dann aber den Kopf. »Über diese hier kann ich nichts sagen. Ich weiß nicht, wer sie gefertigt hat, aber sie sieht noch ziemlich neu aus. Das Gesicht ist mir auch nicht bekannt.« »Mir schon.« »Ach ja? Irgendeine Göttin?« »Nein. Eine Stewardeß.« »Wie bitte?« »Können Sie sich an die erhängte Stewardeß in dem kleinen Aufzug erinnern?« Sie schüttelte sich wieder und gab mir die Puppe zurück. »Ich will mich nicht erinnern!« »Ich bin aber überzeugt, daß dies ihr Gesicht ist.« »Wollen Sie damit sagen, die kleine Skulptur ist nach ihr gestaltet worden?« »Schauen Sie sich die andere an!« Auch diese nahm sie gehorsam an sich, begutachtete sie und zuckte dann mit den Schultern. »Kenne ich auch nicht. Die Figuren sind total neu!« »Sehen Sie sie sich genauer an!« schlug ich vor. »Erkennen Sie vielleicht jemanden von uns?« Sie starrte lange auf das Gesicht des Tonpüppchens, dann blickte sie mich an und fragte mit fröstelnder Stimme: »Villalobos?« »Das ist auch meine Meinung. Mich würde vor allem interessieren, was Sie so alles über Tonfiguren wissen.« Sie gab mir auch die zweite Puppe wieder und zog dann die Beine an, um ihre Knie zu umarmen. »Was ich weiß? Nun, sehr viel, und gleichzeitig gar nichts. Die Herstellung von Tonfiguren blickt in China auf eine jahrtausendealte Tradition zurück. Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich behaupte, die Porzellankunst wäre ohne die Kenntnisse aus dem Umgang mit 100
Ton nie zur Blüte gekommen. Jeder Chinese ist ein geborener Tonkünstler. Schon vor vielen tausend Jahren kamen wunderbare kleine Tonfiguren aus den Werkstätten in China. Zu Zeiten, als wir uns immer noch gegenseitig mit Steinäxten hinterherjagten…« »Kann man diese Stilrichtung konkret irgendeiner Epoche zuordnen?« »Eindeutig Huan-Tis Zeit. Gewisse Stilmerkmale beweisen – hier, die Furchen in dem Stoff der Frau zum Beispiel, oder die Hand mit der Waffe bei der anderen Figur –, daß es dem Huan-Ti-Stil folgt.« »Folgt? Ist es nicht echt?« »Mit Sicherheit nicht. Ich glaube, er wurde in einem elektrischen Ofen gebrannt. Die dürfte es damals noch nicht gegeben haben…« »Hat es irgendeine Bedeutung, wen die Figur darstellt?« »Absolut! Kaiser genauso wie einfache Leute. Oder Götter. Die Kunst der Tonfiguren war schon damals gleichzeitig erhaben und profan. Die Geister der Wälder wurden ebenso verewigt wie die schlichten Fischer des Yang-tse.« »Kann es sein, daß es die Figuren aus der Tonarmee sind?« »Wie gesagt, sie sind vollkommen neu. Und wenn Sie fragen, ob man Huan-Tis Soldaten als Muster genommen hat … nun, ich weiß es nicht. Was suchen dann die Gesichter dieser Stewardeß und von unserem Mr. Villalobos auf ihnen?« Ich dachte im stillen, daß ich die Stewardeß zwar noch einigermaßen erklären könnte, Villalobos aber wirklich nicht ins Bild paßte. »Wie groß sind die Soldaten der Tonarmee? Ich meine, der Legende nach?« »Wie normale Menschen. Also zwischen einsfünfzig und zwei Meter.« »Oha… Und es soll mehrere tausend davon geben… Das hört sich ziemlich unwahrscheinlich an…« »Damals glaubte auch niemand an Troja.« »Was sagen Sie dazu, daß diese kleinen Püppchen aufgehängt worden sind? Genau wie die Leiche der Stewardeß? Sie wurde nämlich 101
vorher bereits erwürgt, müssen Sie wissen.« »Ich bitte Sie … ich will nichts davon wissen!« »Wir können unseren Kopf nicht in den Sand stecken, Judy! Wenn wir vermeiden wollen, daß wir…« »Ich hatte auch mal einen Freund, der aufgehängt wurde«, sagte Leichenfresser und warf die Stöckchen fort, mit denen er bisher die Luft zertrommelt hatte. »Er wurde einfach aufgehängt…« »Wo?« erkundigte sich Großvater und schaltete sein Hörgerät eine Stufe stärker. »Wo denn?« »An einem Haken«, meinte Leichenfresser und lächelte trübe die Sterne über ihm an, als ob nur die etwas Genaueres über die Umstände erzählen könnten. »Armer Junge«, meinte Großvater. »War er unartig?« »Eher besoffen«, erwiderte der Musiker. »Ihm war schlecht, also hat er den Schreibtisch des Hauseigentümers vollgekotzt. Das lustige daran war, der Kerl war irgend so ein Nobelpreisträger … wir waren bei seiner Tochter eingeladen … es war eine super Party, übrigens, soweit ich mich erinnern kann… Jedenfalls, plötzlich war es soweit, und die kleine Pfütze war nicht mehr aus der Welt zu schaffen… Der Mann war bei der Feier nicht dabei … und als er dann nach Hause kam und sein Manuskript … wie soll ich sagen … in unleserlicher Form wiederfand, wurde er unheimlich wütend. Angeblich gab es nur dieses eine Exemplar, und er sollte es am nächsten Tag irgendeinem Verlagstypen geben… Also nahm er meinen Freund und hängte ihn einfach in der Garderobe an irgendeinem Haken auf. Es war eine äußerst brutale Tat, von einem äußerst brutalen Mann…« »Ist er gestorben?« erkundigte sich Großvater. »Ach was. Er hat von vorne angefangen. Mußte alles wieder neu schreiben. Tolle Sache, was?« Großvater schüttelte verständnislos den Kopf, und ich versuchte, mit Meditation die inzwischen regelmäßig auftauchenden Stiche hinter meinem linken Ohr zu unterdrücken. »Entschuldigen Sie«, wandte ich mich an Leichenfresser, »aber dürf102
te ich Ihre Geschichte unterbrechen? Ich würde gerne fortfahren…« »Sicher doch! Meinem Freund ist übrigens nichts passiert, er mußte lediglich eine unangenehme Magenspülung über sich ergehen lassen.« »Miss Judy«, seufzte ich, »haben Sie jemals etwas über aufgehängte Tonfiguren gehört? Ich meine, als Teil einer Legende oder als Kunstobjekt?« Sie dachte angestrengt nach und schüttelte dann den Kopf. »Keine Spur!« Großvater klopfte gegen sein Hörgerät und stierte mich dann plötzlich an. »Ich schon! Wollen Sie was über erhängte Tonfiguren erfahren?« Mißtrauisch beäugte ich seine Hörhilfe. »Ja, warum?« »Haben Sie von den Stranglern gehört?« »Von den wen?« »Den Stranglern. Die Bande der Strangler… Nein, nicht?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Der alte Mann zog nun seinerseits die Beine an, um sie zu umarmen, wie kurz zuvor seine Enkeltochter. »Das war, als die Chin-Dynastie die Macht verlor…« »Im 17. Jahrhundert?« »Genau. Als die Mandschuren die Herrschaft übernahmen. Haben Sie noch keine Holzschnitte gesehen, hä? Von den Hinrichtungen der Strangler?« »Nie im Leben!« »Wenn ich mich richtig erinnere, war es irgendeine Form von Volkszorn, der das Ganze ins Leben rief. Es richtete sich gegen die mandschurische Obrigkeit und die Mandarine. Die besitzlosen Bauern schlossen sich zu Banden zusammen, gingen in die Berge und brannten kleine Tonfiguren. Wenn sie erfahren hatten, daß irgendein Mandarin die Bevölkerung zu hart rannahm oder ein Landgutsbesitzer selbst über das damals Übliche hinaus Schrecken und Tod verbreitete, erschufen sie sein Miniaturabbild aus Ton und hängten es an sei103
ner Tür an einen Nagel. Die Anführerin dieser Leute war eine wunderschöne Frau, sie hieß Jü Tao-Chun. Und im Namen des gerechten Kaisers Huan-Ti ließ sie Mörder oder harte Mandarine aufknüpfen. Sie verbreitete über sich, der Geist des Huan-Ti wäre in sie gezogen, und mit seiner Hilfe würde sie auch die Figürchen anfertigen.« »O ja!« rief Leichenfresser erfreut, »diese Sache kenne ich bereits! Einmal haben wir in Rio gespielt. Die Baßgitarre bekam plötzlich solche Rückenschmerzen, daß sie nicht spielen konnte. Wenn sich der Junge auch nur ein wenig nach vorne beugte, war es aus… Wir haben ihn mit allem eingerieben, was man kriegen konnte, ohne Erfolg! Dann sagte unser Impresario, die Konkurrenz wäre schuld daran. Man hätte einen Zauberer aufgesucht, der aus Wachs die Figur unseres Freundes geformt hatte, und wann immer sie jetzt eine Nadel in seinen Rücken steckten, ginge es ihm schlecht. Sie haben ihn verzaubert, oder sowas! Und er wurde erst wieder gesund, als wir Rio verlassen haben! Dann war er plötzlich wieder okay.« »Weiter«, herrschte ich Großvater schnell an. »Nun … sie haben also seine Figur aufgehängt, allerdings ohne eine Nadel! Sie wollten ihn einfach nur warnen, und wenn das nichts nutzte, wurde der Delinquent schließlich ermordet.« »Wie?« hakte ich aufgeregt nach. »Was weiß ich? Wahrscheinlich wurde er erhängt, und daher der Name dieser Leute!« So weit waren wir gekommen, als plötzlich ein greller Schrei die Stille zerriß. Von den nahegelegenen Bäumen flogen aufgeschreckte Vögel in die Höhe, und die uns umgebenden, inzwischen unsichtbaren Berge beglückten uns eine ganze Weile noch mit dem Echo dieses Schreies. Ich sprang auf, entsicherte die Maschinenpistole und rannte auf die Stimme zu. Leichenfresser war mir dicht auf den Fersen, und irgendwann vernahm ich auch noch das Keuchen von Villalobos an meiner Seite. »Was ist passiert?« »Woher kam die Stimme?« 104
Keiner gab mir eine Antwort, aber inzwischen war das auch überflüssig. Nicht weit vor uns teilten sich die Büsche, und die beiden Tennismädchen torkelten hervor. Besser gesagt, eines torkelte, das andere umarmte und stützte ihre zu Tode erschrockene Freundin. Ich hielt die Waffe auf das Gebüsch gerichtet, aber niemand folgte ihnen. Leichenfresser und Villalobos waren sofort bei ihnen. Der Musiker pellte mit bis dato unvorstellbarer Zärtlichkeit das offensichtlich nicht ganz bei Bewußtsein weilende Geschöpf von der Schulter der anderen. Einige Schritte später stand ich ebenfalls bei ihnen. Der Musiker legte das Mädchen auf den Boden und blickte mich ratlos an. Villalobos brummte etwas, schob den Lilahaarigen beiseite und fing an, sie sanft, aber bestimmt zu ohrfeigen. Ihre Freundin zitterte wie Espenlaub, und schließlich landete sie in meinen Armen. Sie war dünn und drahtig, wie eine typische Sportlerin von etwa fünfzehn Jahren es auch sein sollte. Ich streichelte ihre Wangen in der Hoffnung, sie würde nicht wie ihre Freundin das Bewußtsein verlieren. Einige seltsame Drehungen mußten ihre Augen zwar mitmachen, aber es waren keine Anzeichen eines Anfalls. Bald war sie soweit beruhigt, daß sie sogar sprechen konnte. »Furchtbar… Schrecklich…«, keuchte sie. »Wir … wir mußten in die Büsche … und auf dem Baum … dem Baum…« »Was ist auf dem Baum?« »Auf dem Baum…« Da Villalobos immer noch mit der anderen beschäftigt war, plazierte ich das Mädchen auf dem Boden und ergriff die Hand von Leichenfresser. »Können Sie mit Waffen umgehen?« »Wenn Sie mir zeigen, auf welcher Seite die Kugel rauskommt…« »Na gut, dann… Wo ist das Messer von Wimmer?« Leichenfresser verschwand und kehrte kurz darauf mit dem gesuchten Tauchermesser wieder auf. 105
Schnell schlugen wir uns in die Büsche. Ein paar Zweige preschten uns ins Gesicht. Leichenfresser spazierte mit vollem Elan in eine kleine Erdspalte. »Sind Sie sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« fluchte er. Obwohl ich schon lange nicht mehr im Dschungel gewesen war, konnte ich dennoch ziemlich gut ihre Spuren verfolgen. Abgebrochene Zweige und heruntergefallene Blätter zeigten mir unmißverständlich die Richtung. Der Mond und die Sterne schließlich gaben genügend Licht für die Suche. Wir mußten gar nicht so weit gehen. Nachdem ich Leichenfresser aus dem Loch befreit hatte, gelangten wir auf eine kleine Lichtung. Es waren nur etwa zwanzig Meter, die sie vom Flugplatz trennte. Am anderen Ende dieser Wiese stand ein riesiger, dicht bewachsener Baum. Die im Mondlicht hervortretenden Konturen der Zweige und Äste hätten sicherlich jeden kreativ begabten Menschen zum Abmalen dieser Szenerie bewegt. Der etwas nach unten gerichtete Ast hingegen, der wie die Kralle eines riesigen Vogels seine Silhouette gegen den Himmel warf, wäre wohl kaum mit auf das Bild gekommen. Kein Maler hätte das Motiv mit in seine Schöpfung übernommen. Der bleiche Lichtstrahl des Mondes über Laos beleuchtete nämlich eine dunkle, menschliche Gestalt, wie sie in langsamem Tempo ihre Runden um die eigene Achse drehte. Aus der Ferne, vielleicht sogar direkt von den Spitzen des Berges kam das Geräusch eines kreischenden Raubvogels.
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ensch ärgere dich nicht!« »Wie bitte?« »Wie in dem Spiel. Wir werden immer weniger. Von Zeit zu Zeit wird einer von uns immer ins Aus befördert.« Die Beine des erhängten Mannes baumelten vor meinem Gesicht. Seine mit dünnen gelben Fäden zusammengenähten Seidenschuhe drehten sich direkt vor meinen Augen. Ich hatte gerade vor, ihre Bewegung zu stoppen, als mich Leichenfresser mit einem Aufschrei warnte. »Warten Sie! Da, am Bein!« Zwischenzeitlich hatte ich es auch gesehen. Über einem der Seidenopanken hatte man eine dünne Nylonschnur angebracht. Sie reichte beinahe bis zum Boden; kaum einige Zentimeter fehlten zu den Grasspitzen. Und am Ende des Seils hing eine kleine Tonfigur, die pflichtbewußt den Bewegungen ihres Eigentümers folgte. Ich nahm das Püppchen in die Hand, seufzte auf und riß es mit einem Ruck frei. Die Schnur platzte kurz unter dem Knöchel und brachte die Leiche erneut in unkontrolliertes Schwingen, als ob sie losfliegen oder sich zu den drei Zacken des Berges vor uns begeben wollte. So drehte und wendete sie sich über unseren Köpfen dahin, bis ich sie schließlich an den Füßen festhielt und zum Ruhestand brachte. Leichenfresser hatte sich in den letzten Stunden enorm verändert. Kurz zuvor, in einigen tausend Metern Höhe, wurde ihm beim Anblick der toten Stewardeß noch schlecht, jetzt blinzelte er nicht einmal. »Was machen wir?« erkundigte er sich stumpf. »Holen wir sie runter?« »Versuchen wir es«, antwortete ich. »Geben Sie mir das Messer!« Leichenfresser machte eine Räuberleiter, ich kletterte hoch und schnitt das Seil durch. Eigentlich würde ich so etwas pietätvoller machen; nur waren wir 107
gerade in Laos, neben uns ein unbrauchbares Flugzeug, wer weiß wie weit von der nächsten bewohnten Ortschaft entfernt. Außerdem war es Nacht, die Raubvögel kreischten, und mit meinen Nerven ging es so ziemlich zu Ende. Die Leiche fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Ich sprang aus Leichenfressers Hand und beugte mich über sie. Das Gesicht blickte in den Himmel, der Körper lag seltsam verdreht da, wie es nur Körper an sich haben, die kurz zuvor tot ins Gras gefallen sind. Die vormals hübschen Augen observierten mit glasigem Ausdruck die Sterne, begleitet von der unausgesprochenen, verzweifelten Frage: warum? In der Tat, warum? »Darcy?« fragte Leichenfresser absolut überflüssig, schließlich wußten wir beide sehr genau, daß es sich um die kleinere Stewardeß handelte. Leichenfresser lehnte seinen Rücken gegen einen Baumstamm und blickte starr auf das Mädchen. »Was ist hier nur los?« fragte er, und seine Stimme klang heiser und erschöpft. »Was geht hier vor sich?« Ich hatte in meinem Leben auch schon leichtere Fragen gehört. Ich hielt die kleine Figur ins blasse Licht des Mondes. Soweit ich es in dem Halbdunkel erkennen konnte, war ihr Gesicht das von Darcy. Die Haare und die Bekleidung erinnerten mich an die der anderen Stewardeß-Puppe. Es entsprach sicherlich den Traditionen des Huan-Ti-Zeitalters. »Ist sie es?« keuchte Leichenfresser und beobachtete dabei gespannt, wie ich die Tonfigur untersuche. »Ja.« Plötzlich teilten sich die Büsche, und Van Broeken schob sich auf die Lichtung. Ohne ein Wort zu sagen, trat er zu Darcy und begutachtete ihren Hals. Dann zog er mit dem Finger die Linie des Strickes nach und nickte anerkennend. »Das war jetzt endlich ein Metalldraht!« Es war wohl der letzte Tropfen im Glas. Ich schob mein Gesicht 108
ganz nah an das seine, und funkelte ihm in die Augen. »Wollen Sie mir vielleicht etwas sagen, Mr. Van Broeken?« Er lächelte und blickte dabei auf die kleine Figur in meinen Händen. »Woran denken Sie, Lawrence?« »Haben Sie mich sofort erkannt, als Sie im Flugzeug aufgewacht sind?« »Natürlich. Kann man Sie denn je vergessen?« »Wie sind Sie in die Maschine gekommen?« »Wie ich es erzählt habe. Stellen Sie sich vor, ich habe Ihnen die Wahrheit und nur die volle Wahrheit gesagt! Jemand hat mich übers Ohr gehauen. Anstatt jetzt in Peking zu landen, stecke ich hier mit Ihnen in der Hölle fest. Gut, nicht? Sie haben mich auch wiedererkannt?« »Erst später. Sie haben sich verändert, Van…« »Van Broeken. So lautet jetzt mein Name.« »Damals…« »Damals ist inzwischen Vergangenheit, Lawrence! Darüber gibt es nichts weiter zu sagen!« »He, was zum Teufel…«, staunte Leichenfresser. »Sie kennen sich?« »Sehr gut sogar«, lächelte Van Broeken. »Mr. Lawrence verdanke ich es, daß ich den Strafvollzug der Vereinigten Staaten kennenlernen durfte. Vier Jahre mußte ich dieser Erfahrung widmen. Aber … ich hatte es verdient! Wer ungeschickt ist, soll dafür auch bezahlen!« »Sammeln Sie immer noch Kunstgegenstände?« fragte ich und versuchte, irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen von Van Broeken und den Geschehnissen zu finden. »Wenn ich mich richtig erinnere…« »Sie wollen fragen, ob ich immer noch ein Hehler bin? Nein, natürlich nicht mehr. In meinem Alter und in meiner gesellschaftlichen Position kann sich ein Mensch das nicht mehr leisten! Wissen Sie, ich habe etwas Geld. Und ich liebe die Kunst der vergangenen Jahrhunderte. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe vor, ein Buch über die Tonfigurenkunst in China zu schreiben. Deswegen 109
war ich ja auch auf dem Kongreß! Abgesehen davon, alles hat sich wirklich so zugetragen, wie ich es Ihnen erzählt habe. Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin, oder Sie! Haben Sie sich etwa wieder in irgend etwas hineinmanövriert, Lawrence?« »Halt, halt! Langsam mit den jungen Pferden!« piekte mir Leichenfresser seinen Finger in den Magen. »Wer sind Sie denn nun, hä? Und was soll das heißen, schon wieder? Und was soll das heißen, Sie hätten diesen … Herrn hier ins Gefängnis gebracht? Sind Sie etwa irgendein Bulle?« »Na ja, etwas in der Art«, gab ich zu, und es gefiel mir immer weniger, daß es langsam die ganze Nachbarschaft erfuhr. »Ich werde es Ihnen erklären, später! Vorerst behalten Sie das bitte noch für sich!« »Mir gefällt das nicht«, meinte der Musiker und kratzte sich am Haarschopf. »Hat man mich hier irgendwie übers Ohr gehauen?« »Ich habe Sie nicht übers Ohr gehauen, aber es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu erklären! Wenn Sie nicht vorhaben, auch an einem Ast zu schaukeln, sollten Sie Ihren Mund halten, klar?!« »Es ist überhaupt nicht klar!« »Wäre aber besser, Sie würden den Rat von Mr. Lawrence befolgen«, half mir Van Broeken aus. »Er ist ein Experte in Sachen Mord.« »Sie wohl eher«, sagte ich. »Schauen Sie sich doch Ihren Hals an!« »Was soll ich mir da anschauen? Ich sagte doch bereits, es war ein Stahldraht oder eine Garrotte. Sie können es nennen, wie Sie wollen. Auf jeden Fall war es saubere Arbeit.« »Mann oder Frau?« Er blickte den Baumstamm hoch, versuchte, Darcys Gewicht zu schätzen, und zuckte dann mit den Schultern. »Hätte auch eine Frau sein können. Eine starke Frau kann durchaus eine Garrotte benutzen und die Leiche dann an einem Baum aufknüpfen.« Ich dachte an die Tennismädchen und winkte in Gedanken auch gleich wieder ab. Selbst gemeinsam wären sie dazu nicht fähig gewesen. »Womit beschäftigen Sie sich neuerdings, Van Broeken?« 110
»Wie gesagt, mit kleinen Tonfiguren.« »Suchen Sie den Schatz des Huan-Ti?« Er lächelte anerkennend. »Bravo. Gute Arbeit. Und falls ja? Schatzjagd ist nicht strafbar!« »Woher wissen Sie überhaupt von der Legende?« »Na hören Sie mal! Schließlich arbeite ich seit Jahren in der Kunstszene! Wissen Sie, wie viele Geschichten es über verlorene Schätze und Ähnliches gibt? Aus dem Stehgreif wüßte ich ein Dutzend Pharaonen und Inkakönige, deren Grab noch nicht gefunden wurde, aber Märchen und Legenden mit Gewißheit den genauen Ort aufzeichnen…« »Und warum sind Sie dann nicht denen auf der Spur?« »Gute Frage«, lachte er auf. »Die werde ich aber auch noch kriegen. Vorerst konzentriere ich mich auf die Tonarmee.« Leichenfresser hörte uns mit offenem Mund zu, dann brummte er: »He! Worüber quatschen Sie da? Und was soll das«, deutete er auf Van Broeken, »daß Sie sich so gut in Sachen Erwürgen auskennen? Hä?! Raus damit, Mann!« Van Broeken lächelte und breitete die Arme aus. »Ein Fehltritt aus meiner Jugend!« meinte er. »Es gab Zeiten, da gehörte es zu meinem Beruf!« »Sie waren ein Henker?« Van Broeken lachte erneut auf, mit einer belustigt wirkenden, doch diesmal irgendwie traurigen Stimme. »Henker?! Nun ja, fast. Ich war ein Bulle, mein lieber Freund, falls es Sie interessiert… Ich war in Antwerpen sogar der Oberbulle. Aber das ist lange her. Sehr lange.« »Seitdem hat sich Herr Van Broeken auf die andere Seite der Barrikaden geschlagen, nicht wahr?« Noch bevor er darauf antworteten konnte, erschienen plötzlich mehrere Personen auf der kleinen Lichtung. Da weder Judy noch die jungen Teenager dabei waren, mußte ich meine Ohren vorerst nicht gegen allzu laute Schreie, wappnen. Mal und Lisolette sahen 111
zwar etwas geschockt aus, doch sie schienen keinem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. Einige Sekunden später waren auch der dicke Mann und die alte Frau bei uns. Mit dem heiligen Grausen der Schaulustigen begutachteten sie das Gesicht der Toten. Schließlich war es Mal, die der Situation überdrüssig wurde. Sie nahm ihre Fliegerjacke von der Schulter und legte sie der Stewardeß über den leblosen Körper. Wimmer zog verzweifelt seine Seemannsmütze über die Augen. »Du lieber Gott! Die hat man aber schlimm erwischt! Wurde sie vergewaltigt?« Niemand antwortete ihm. Die alte Dame in dem lilafarbenen Hut zwängte sich neben mich und piekste mich in die Seite. »Wer sind Sie, mein Sohn?« Ich zwang mir ein zaghaftes Lächeln auf die Züge. »Leslie L. Lawrence.« »Oh, der berühmte Käferforscher? Ich muß sagen, was Sie bei uns veranstaltet haben, war ein Eklat!« »Wie bitte?« »Ach, Sie wissen ja wahrscheinlich gar nicht, wen Sie vor sich haben, nicht?!« »Ehrlich gesagt…« »Ich bin Wilhelmina von Rottensteiner. Ich hoffe, der Name sagt Ihnen etwas!« Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Ihr Name sagte mir nicht nur etwas, er erinnerte mich geradewegs an das schlimmste Fiasko meiner Laufbahn! Mein Gott, damals waren wir uns ja sogar persönlich begegnet! Automatisch suchten meine Augen nach einem Stuhl, auf den ich mich setzen konnte. Für einige Sekunden vergaß ich sogar, daß ich mich im Dschungel befand. In der Zwischenzeit stützte sie sich auf ihren Regenschirm und beschrieb mit der dürren, ausgestreckten Hand einen Halbkreis. »Was zum Teufel soll das alles hier?« 112
»Das würde ich auch gerne wissen«, sagte ich. »Wie kommen Sie denn hierher, Frau Professor?! Ich meine, nach Bangkok?« »Wie denn wohl? Mit einem Flugzeug. Allerdings mit einem richtigen, nicht so einem wie dem hier… Ich fliege, wenn es geht, immer nur mit der Lufthansa, mein Sohn. Da hatte ich noch nie irgendwelche Probleme!« »Haben Sie auch an dem Kongreß teilgenommen?« »Selbstverständlich.« Ich starrte in die Dunkelheit und dachte darüber nach, mit wem alles mich mein Schicksal hier, am Fuße des Dreispitzigen Berges, zusammengeführt hatte. Am Ende stellte sich noch heraus, daß sich hier alle Archäologen der bekannten Welt ein Stelldichein gaben. Denn Wilhelmina von Rottensteiner war eine Archäologin, und zwar eine von der bekannteren Sorte. Sie leitete das Institut der Hamburger Universität, hatte an unzähligen Ausgrabungen in ganz Asien mitgewirkt und personifizierte – wie bereits erwähnt – das schlimmste Ereignis meiner Laufbahn. Als Entschuldigung könnte ich höchstens vorbringen, daß ich damals gerade erst angefangen hatte, mich mit Käfern zu beschäftigen, und bis dato meine gesamte Zeit den asiatischen Schriftrollen und Patschken gewidmet hatte. Ich arbeitete in London an der Hochschule und hatte gerade einen Artikel über eine bestimmte Holzfresserart geschrieben, die mit Vorliebe Museen schädigt. Der Bericht war – mit heutigen Augen – ziemlich stümperhaft und herablassend verfaßt worden, aber kurz nach Erscheinen erhielt ich einen Brief von Frau von Rottensteiner. Sie teilte mir mit, daß ich meine Ergebnisse gerne auch in der Praxis vorführen könnte, da ihre Fakultät gerade von der von mir behandelten Schädlingsart heimgesucht werde. Sie würden mich bei Erfolg für ewig in ihre Gebete mit einschließen. Unnötig zu sagen, daß ich sofort in dem nächsten Flieger nach Hamburg war. Zwei Monate später, als ich Deutschland wieder – fluchtartig – verließ, hatte sich die Anzahl der Holzfresser entschieden erhöht. All die Wirkstoffe, von denen ich so überzeugt in meinem Artikel berichtet hatte, entpuppten sich als wahre populationsfördernde Wundermittel. 113
»Und was machen Sie in diesem Urwald?« fragte sie. »Ich war auf dem Weg zu einem Pandakongreß.« »Na«, spitzte sie die Lippen, »da wären Sie richtig. Die müssen sich in der Tat vermehren, statt auszusterben!« Ich schluckte, aber sie zog den Schirm aus der Erde und klopfte mir damit auf die Schulter. »Kopf hoch! Alte Schachteln wie ich brauchen hin und wieder etwas Schadenfreude! Wenn Sie einen Moment Zeit haben, können Sie mir später ja mal erklären, in was für einen Schlamassel wir geraten sind. Dieses arme Mädchen dort wurde ermordet. Und wenn ich es richtig verstanden habe, gab es da oben auch schon so einen Vorfall. Ich hoffe, Ihre Hände sind dabei sauber?!« »Natürlich. Aber Sie haben mir noch nicht gesagt…« »Ihnen werde ich es verraten! Mich interessiert die unterirdische Tonarmee! Deswegen war ich in Bangkok.« »Schickt man denn das Programm im voraus zu?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Natürlich.« »Daher wußten Sie also, daß es einen Vortrag über Huan-Tis Schatz geben würde?« Sie blickte mich an, als ob ich einer ihrer Studenten wäre, der gerade gestanden hätte, daß er sich nicht auf die Übung vorbereiten konnte. »Einen Dreck! Kein Wort stand darüber im Programm! Das hatte man mir erst nachträglich mitgeteilt. Übrigens beschäftigt mich die Sache mit Huan-Ti schon seit langem. Ich habe auch etliche Artikel darüber verfaßt. Das weiß jeder!« »Man hat es Ihnen später erst mitgeteilt?« »Per Telegramm.« »Wer?« »Na, die Organisatoren!« Etwas in meinem Kopf machte klick, und ich spürte, daß ich auf der richtigen Spur war. »Aus Bangkok?« 114
»Natürlich! Man hat mir Bescheid gegeben, daß ein zuvor nicht angekündigter Vortrag zum Thema Tonarmee gehalten würde, der mich bestimmt sehr interessieren dürfte. Sie waren so freundlich und hatten mir sogar schon die Zimmer im voraus bestellt. Die Organisatoren wollten sogar einen Teil meiner Kosten übernehmen! Nett, nicht?« »Unter welchem Namen meldete man sich bei Ihnen?« »Was soll das heißen? Die Or-ga-ni-sa-to-ren. Klar?!« »Und Sie sind losgeflogen?« »Selbstverständlich!« »Und wer hätte diesen Vortrag halten sollen?« »Wer? Ach, irgend so ein Chinese. Wie hieß er doch gleich? Ah, ja! Professor Kao Ven! Aber ob er aus China oder Taiwan kommt … keine Ahnung! Was ist? Wieso sind Sie so blaß? Kennen Sie den Mann etwa? Wissen Sie, wer es ist?« Sie wäre sicherlich sehr überrascht gewesen, wenn ich genickt und ihr mitgeteilt hätte, daß es sich um einen Pandabären handelte. Einen toten Pandabären.
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ein Gesicht sah wohl ziemlich lächerlich aus, denn sie schaute mich sorgenvoll an. »Ist Ihnen schlecht? Verdammt, diese Toten … langsam gehen sie auch mir auf die Nerven!« »Eine Frage noch«, nahm ich mich zusammen. »Als Sie in Bangkok ankamen, lief da alles normal?« Sie prustete und stampfte wütend auf. »Im Gegenteil! Diese Spitzbuben haben irgendwas verwechselt. Erstens, dieser Mann hielt gar keine Vorlesung. Der ganze weite Weg, 115
und kein Vortrag! Und auch kein Chinese, der ihn halten würde. Haben Sie so etwas schon einmal gehört?! Aber das war noch gar nichts! Meine Zimmerreservierung wurde nicht anerkannt, und das versprochene Geld wollte man mir auch nicht auszahlen! Zum Glück hatte ich ein paar Reiseschecks dabei. Mein lieber Sohn, seitdem es diese Computer gibt, wird alles durcheinandergebracht.« »Ich verstehe. Und wie sind Sie in diese Maschine gekommen?« »Ich habe keine Ahnung. Ach ja, ich wollte nach Peking; ich dachte mir, wenn ich schon mal da bin, kann ich auch einen kleinen Abstecher zu ein, zwei Kollegen machen. Man kommt in meinem Alter ja kaum noch zu solchen Reisen. Und was passiert? Es stellt sich heraus, ich sitze im falschen Flieger. Dann auch noch die vielen Waffen und alles…« Gerne hätte ich die Unterhaltung noch fortgesetzt, aber da die Nacht nun wirklich ganz dunkel über uns eingebrochen war, mußten wir uns mit irdischeren Dingen beschäftigen. Vor allem, was mit Darcys Leiche passieren sollte. Auch die Tatsache, daß über unseren Köpfen in der Maschine weitere Tote herumlagen, stimmte mich nicht ruhiger. In bezug auf die tote Stewardeß gab es mehrere Vorschläge. Die Tennismädchen spielten abwechselnd das Spiel Bewußtloswerden, bis ich ihnen schließlich in meiner Not eröffnete, ihr ständiges Greinen würde die wilden Tiere anlocken. Daraufhin zogen sie sich zusammen und zurück und zitterten gemeinsam wie Espenlaub unter einer Decke. Auch Mal und Lisolette wärmten sich mit einer aus dem Flugzeug erbeuteten Wolldecke und fielen sofort in einen tiefen Schlaf. Ich glaube, der lange Tag hatte die beiden am meisten in Anspruch genommen. Wir Männer entschieden, abwechselnd Wache zu schieben. Trotz der Geschehnisse war ich kein bißchen müde. Also schulterte ich die Maschinenpistole und verabredete mich mit Villalobos für Mitternacht. Darcys leblose Hülle lehnte ich gegen die Reifen der Boeing und 116
deckte sie zu. Ich war ganz in meine philosophischen Gedanken versunken, als plötzlich Wimmer neben mir auftauchte und mit einem Grashalm zwischen den Zähnen neben mir Platz nahm. »Verdammter Mist, diese Sache«, stellte er fest. »Ich bin müde und kann trotzdem nicht schlafen. Außerdem habe ich Angst, daß ich aufwache und merken muß, wie mich der Wind unter dem Ast hin und her baumeln läßt. Und Sie?!« »Deswegen habe ich meine kleine Kanone hier…« »Bisher hat die auch nicht viel ausrichten können…« »Das stimmt. Aber inzwischen sind wir vorgewarnt. Wir wissen, daß wir in Gefahr sind.« »Sollte mich das jetzt beruhigen?« »Bitte erzählen Sie mir noch etwas über Ihren Onkel!« Er klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. »Himmel, daran denke ich schon die ganze Zeit! Alles hat irgendwie mit diesen Tonsoldaten zu tun… Und Onkel John hatte in seinem Geschäft auch solche kleinen Figuren, wie… Meinen Sie, die haben auch mich im Visier?« »Ich glaube nicht…« Meine Stimme klang nicht sehr überzeugt, das wußte ich. »Das glauben Sie nicht? Und was soll dann dieser ganze Zirkus hier, hä? Die Leute fallen wie die Fliegen. Und überall diese Figuren… Wenn ich das hier mit heiler Haut überstehe und zu den Jungs zurückkomme, werde ich ihnen sagen, daß sie einen Dreck auf schwarze Kater oder alte Holzbein-Seebären geben und sich lieber vor kleinen Tonfiguren in acht nehmen sollen…« »Erzählen Sie von ihrem Onkel John!« »Was soll ich noch sagen? Er lebte in Idaho so vor sich hin, zusammen mit seinem Krempel. Er liebte die Chinesen. War bei jedem ihrer Feste dabei, aß mit Stäbchen und so.« »Sie erwähnten eine Figurensammlung…« »Richtig. Wissen Sie, ich war noch ein Kind und interessierte mich für den Orient. Er sagte, daß viele wie er Figuren oder Skulpturen sammeln würden. Es gibt ganze Sammlungen, und wenn auch nur 117
ein Stück fehlt, würde man ganze Kontinente bereisen, um es zu finden. Ich sage Ihnen, Marotten haben manche Menschen! Einer meiner Kumpel, zum Beispiel…« »Hat er jemals über die Tonarmee gesprochen?« »Kein Wort. Was ist das? Mein Gott, eine Terroristengruppe? Und mich werden sie als ersten hinrichten, weil ich Amerikaner bin. Und außerdem Soldat…« »Das ist doch keine solche Armee, Mann!« »Ach, nein? Sondern?!« »Lauter Tonsoldaten. Figuren wie die hier, nur menschengroß. Ihnen fällt nichts dazu ein?« »Nichts. So etwas hatte er bestimmt nicht in seiner Sammlung.«
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ein nächster Gast war der hagere Rothaarige, Theodor Hardy. Er pflanzte sich neben mich hin, umarmte seine Knie und sagte mit Grabesstimme: »Wir kennen uns noch nicht. Oder besser gesagt, Sie kennen mich noch nicht…!« Überrascht blickte ich auf. »Wieso … was heißt das?« »Ich weiß so einiges über Sie…« »Ach ja?! Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, daß Sie Asien wie Ihre Westentasche kennen. Wollen Sie auch ein paar Einzelheiten aus Ihrer Vergangenheit erfahren?« Ganz ungewollt schob sich der Lauf meiner Waffe in seine Richtung. Er merkte es und lächelte müde. 118
»Die alten Reflexe, was? Nun, glauben Sie mir, die Informationen sind aus bester Hand. Ich weiß zum Beispiel, daß Sie Offizier der RAF, der Königlichen Air Force, waren. Und Erfahrungen in Indochina sammelten. Sowie einige ziemlich dunkle Gestalten aus dieser Gegend kennengelernt haben. Soll ich fortfahren?« Es war in der Tat erschreckend, was er da sagte. Vor allem, da es hundertprozentig stimmte. »Über Sie werden Legenden erzählt, Lawrence«, fuhr er fort. »Kenner östlicher Sprachen, ein bekannter Käfersammler. Na, wie war ich?« »Was wollen Sie von mir? Und vor allem, wer sind Sie?« »Oh, ich bin nur ein einfacher kleiner Reporter. Theodor Hardy; nicht mehr.« »Für welches Blatt arbeiten Sie?« »Welches auch immer gut bezahlt. Ich bin Freiberufler.« Ich verzog die Mundwinkel. Typen wie er, sogenannte freie Mitarbeiter, Hyänen, denen nichts und niemand heilig sein konnte, waren mir zuwider. Außer Geld und vielleicht das eigene Leben interessierte sie nichts wirklich. »Wenn ich Ihr Schweigen richtig deute, halten Sie nichts von Leuten wie mir.« »Wie sind Sie hierher gekommen?« »Ich bin womöglich der einzige, der wirklich auf diesen Bug wollte.« »Sie wußten, was hier vor sich gehen würde?« »Wissen nicht, aber Vorahnungen hatte ich schon.« »Vorahnungen? Daß man uns entführen würde?« »Ja.« »Und … und…« Ich wollte ihn fragen, warum er dann nicht Bescheid gesagt hatte, uns warnen oder der Polizei einen Tip gegeben konnte. Aber dann schluckte ich die Frage wieder runter. Für Menschen wie ihn gab es dazu keinen Grund. Er rannte nicht zur Polizei, nicht einmal, wenn tausend Bomben in der Maschine gewesen wären. Keine Ex119
plosion, keine Story. Eine Story, die er als erster meistbietend an irgendein Boulevardblatt verhökern konnte… »Warum sind Sie zu mir gekommen?« »Ich muß unbedingt mit Ihnen reden.« »Über was?« »Sehen Sie, ich weiß, daß Sie mich verachten oder auch hassen. Ich will Sie jetzt nicht davon überzeugen, daß auch wir einen berechtigten Platz unter der Sonne haben…« »Sondern?« »Hören Sie mir einfach nur zu! Schließlich sitzen wir in einem Boot! Ob es uns nun gefällt oder nicht! Ich muß Ihnen etwas erzählen. Nennen Sie es von mir aus eine halbe Beichte…« »Eine halbe…?« »Ich kann Ihnen nicht alles sagen. Nur einen Teil.« »Und wenn es mich nicht interessiert? Wenn ich einfach aufstehen und Sie zusammenschlagen würde?« »Das wäre ein schlechter Schachzug. Es könnte unsere einzige Chance zum Entkommen sein, wenn Sie erfahren, was ich Ihnen zu sagen habe. Nun?« Aus Erfahrung wußte ich, daß man nie voraussagen konnte, aus welcher Ecke einem der rettende Grashalm zugereicht wird. »Also?« Er schaute zum Mond hinauf, seufzte und fing an. »Ich will Sie nicht mit der Beschreibung meiner Persönlichkeit aufhalten. Es würde Sie nicht interessieren. Auf jeden Fall liebe ich meinen Beruf.« »Sie haben da einen seltsamen Geschmack.« »Mag sein. Aber ich bin ein echter Reporter. Ich lebe und sterbe für das Thema. Für die Story. Egal, zu welchem Preis!« »Ja, das kenne ich. Auch zum Preis von einigen Leichen…« »Ach was. Leichen … wir können das Leben nicht beeinflussen oder den Tod aufhalten. Wir sind einfach nur da, wo etwas passiert.« »Auch das klingt mir bekannt. Haben Sie sich selbst diese Philosophie zurechtgelegt, oder steht das in irgendeinem Buch?« 120
»Ich akzeptiere diese Tatsache und lebe auch danach.« »Was wollen Sie mir denn nun sagen?« »Ich will ein Geschäft mit Ihnen machen.« »Ein Geschäft? Hier? Mit mir?« »Ich weiß, es klingt überraschend, aber ich meine es trotzdem ernst.« »Und worin würde dieses Geschäft bestehen?« »Ich habe eine Tochter in London. Gwendolin.« »Ich gratuliere.« »Ich erziehe sie alleine … beziehungsweise, da ich kaum zu Hause bin, lebt sie in einem Internat. Wir sehen uns nur sehr selten. Ich möchte, daß Sie sich um sie kümmern, für den Fall, daß…« Mein Gesicht muß wohl Bände gesprochen haben, denn er schüttelte schnell den Kopf. »Keine Angst, ich will nicht, daß Sie sie adoptieren oder so… Ich … ich weiß einfach nur, daß Sie exzellente Verbindungen haben, während mein Ruf ziemlich … schlecht ist. Ich habe eine nette kleine Summe für meine Tochter beiseite geschafft, Wertpapiere und so. Ich möchte, daß Sie dafür sorgen, daß man sie nicht darum prellt oder es ihr aus der Tasche zieht. Sofern ich dies hier nicht überleben sollte. Was ziemlich bald eintreten kann.« »Wieso gerade ich?« »Ich vertraue Ihnen. Und Ihren Freunden und Bekannten noch mehr. Außerdem möchte ich, daß jemand den Fall zu Ende bringt, falls ich dazu nicht mehr in der Lage sein sollte. In Ordnung?« »Und als Gegenleistung…?« »Ein Batzen Informationen.« »Alles, was auch Sie wissen?« »Wie gesagt, in zwei Stufen.« »Wie bitte?« »Ich sagte doch, diesen Fall möchte ich zu Ende bringen. Ich, ganz alleine. Es ist die Reportage des Jahrhunderts, und ich lasse nicht zu, daß sie mir jemand wegschnappt. Genau deswegen setze ich mein Leben aufs Spiel. Und ich denke, das ist auch mein gutes Recht.« Nun schaute ich zum Mond hinauf, als ob er mir einige Antworten 121
geben könnte. »Wenn ich Sie richtig verstehe«, faßte ich nach einer kleinen Pause zusammen, »offerieren Sie mir einen Teil ihrer Informationen.« »Genau.« »Und was wird mit der zweiten Hälfte? Ich denke mal, der erste Teil ist ohne den Rest nutzlos.« »Bravo!« lächelte er anerkennend. »Ich habe Sie schon immer bewundert, Lawrence. Nun, den zweiten Strauß der Hinweise werden Sie ebenfalls hier erhalten.« »Hier?« »In Laos.« »Aber wie?« »Das bleibt mein Geheimnis. Wie gesagt, erst nach meinem Tod. Falls ich getötet werde. Na, steht das Geschäft?« »Und falls nicht?« »Ich würde es sehr bedauern. Dann müßte ich mich jetzt zu meiner Decke zum Schlafen zurückbegeben. Es würde nichts an meinem Tod oder Überleben ändern. Es würde höchstens Gwens Leben erschweren. Obwohl, wer weiß. Eins würde mich aber furchtbar stören… Erraten Sie es?« »Raus damit!« »Daß niemals irgend jemand erfahren würde, was geschehen ist. Daß der Artikel des Jahrhunderts ungeschrieben bleibt. Ich würde mich ziemlich unruhig in meinem Sarg hin- und herwälzen.« Ich reichte ihm meine Hand. »In Ordnung. Sie haben mein Wort.« »Fein, Lawrence«, sagte er ernst, vielleicht sogar ein wenig übertrieben. »Dann fange ich mal an… Sie werden wohl wenig von den Arbeitsmethoden solcher Schreiberlinge wie mir wissen. Ich habe schon einige interessante Dinge vor meinen Kollegen oder den Bullen herausgegraben, meistens übrigens zu deren größtem Unmut. Ich war immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wie man so schön sagt. Und wissen Sie auch, warum?« »Ihre Informanten.« 122
»Genau, und ich habe immer darauf geachtet, daß nach Abschluß einer Geschichte, wenn ich abkassiert habe, auch diejenigen einen Teil des Geldes erhielten, die mir die Tips gegeben hatten. So läuft halt nun mal das Spiel. Alleine kommst du nicht zurecht. Nicht einmal bei den Modeseiten, geschweige denn, wenn es um politische Dinge geht. Also, vor etwa einem Jahr meldete sich ein Informant und erzählte eine Geschichte, mit der ich im ersten Moment nichts richtiges anfangen konnte.« »Und zwar?« »Die Legende von der Tonarmee. Sie war in Kunsthistorikerkreisen längstens bekannt, aber meine Nase wurde ehrlich gesagt von einer meiner Bekannten, einer Redakteurin für Kunst und Geschichte, darauf gestoßen. Zuerst maß ich der Sache keine Bedeutung bei, da mich Legenden über vergrabene Schätze oder so nicht weiter reizen konnten. Die Welt ist voll mit solchen Storys. Versteckte Pyramiden, Inka-Mumien, nubische Königreiche, die sich vor der weißen Vorherrschaft unter die Erde zurückgezogen haben, und so weiter. Lauter Blödsinn. Anfänglich hielt ich die Geschichte der Tonsoldaten für etwas ähnlich Stupides. Für ganz genau zwei Tage.« »Keine lange Zeit«, nickte ich. »Denn nach zwei Tagen erhielt ich den nächsten Anruf. Ein weiterer Informant mit denselben Fakten.« »Tja, Legenden leben davon, unter Menschen ausgetauscht zu werden.« »Nur kam diese Nachricht aus Europa. Aus Schweden. Wollen Sie wissen, was mein Mann erzählte? Wort für Wort genau dasselbe wie meine amerikanische Bekannte. Nur um einiges umfangreicher und mit einer kleinen Extrageschichte gewürzt. Möchten Sie sie hören?« »Ich bin ganz Ohr.« »Nun, mein Informant, nennen wir ihn Johansson, arbeitet in einem Antiquitätenladen. Er hatte mir schon oftmals nützliche Dinge zugeflüstert. Er teilte mir mit, daß der Inhaber von einem Chinesen besucht worden war. Er war dreckig, schäbig gekleidet. Sagte, er käme aus Taiwan und wolle nach China zurück, aber der tai123
wanesische Geheimdienst sei hinter ihm her, um ihn auszulöschen. Um untertauchen zu können, brauche er Geld.« »Aha. Sehr aufschlußreich.« »Danach gab es weitere Treffs mit Johanssons Boß. Der Chinese zeigte ihm Geldstücke, lauter kleine Steinchen mit Schriftzeichen. Das Geld von Kaiser Huan-Ti. Wissen Sie, wer Huan-Ti war?« »Nicht genau…« »Macht nichts. Vorerst. Und dann erzählte der Chinese die Legende von der Tonarmee. Kennen Sie die?« »Sicher«, nickte ich. »Das dachte ich mir auch. Also, angeblich gibt es mehrere tausend menschengroße Tonsoldaten, aus der Zeit des Huan-Ti. Wenn die Nachricht stimmt, wäre es die größte Entdeckung dieses Jahrhunderts oder überhaupt in der Geschichte der Archäologie. Der Wert einer solchen Ausgrabung ist gar nicht abzuschätzen. Dieser Kunstschatz … hätte einfach keinen definierbaren Preis. Oder wissen Sie etwa, wieviel Dollar der Altar von Babylon oder die Schätze der Mayas einbringen würden?« »Es ist in Geld nicht aufzuwiegen«, nickte ich. »Sie sagen es. Allerdings sähe es schon anders aus, wenn jemand den Schatz rauben und ihn dann einzeln auf dem internationalen Kunstmarkt verschachern würde. Können Sie sich vorstellen, was auch nur ein einziger Tonsoldat einbringen dürfte? Und es gibt Tausende davon, und jeder sieht anders aus! Schließlich haben damals lebende Menschen dafür Modell gestanden.« »Sie wollen sich also Ihren Lebensabend mit dem Schatz versüßen, Mr. Hardy?« »Ach was! Mich interessieren nicht die Figuren selbst. Wenn ich sie finden würde, wüßten es einen Tag später auch die Behörden. Nein, ich will kein Geld, sondern die Story! Ich will als erster darüber schreiben. Ich, Theodor Hardy, freier Journalist: ich, ich, ich! Gwendolins Vater!« Die hohe Tonlage, die er am Ende erreichte, ließ mich ernsthaft an seinem Verstand zweifeln. 124
»Nun, ich fahre mit Ihrer Erlaubnis fort. Der Chinese erzählte eine kleine Geschichte über die Zusammenhänge zwischen den zum Verkauf angebotenen Geldstücken und der Tonarmee.« Ich entschied mich, eine erste Karte vorsichtig auszuspielen. »Ich glaube, die kenne ich.« »Wie bitte?« »Tonkrüge mit Steingeld. Das meinten Sie doch, oder?« »Junge, Junge, Sie vergeuden Ihre Zeit aber auch nicht gerade! Na ja, dann muß ich halt weniger quatschen. Der Chinese sagte auch, daß die Armee wahrscheinlich in Laos vergraben liegt, zusammen mit der Grabstätte des Huan-Ti.« »Beim Dreispitzberg…?« »Ja. Irgendwo hier in der Nähe. Kurz darauf verschwand der Kerl.« »Nahm er Geld mit?« »Was für Geld?« »Bargeld. Ich meine, hat er etwas geklaut?« »Davon weiß ich nichts. Die Steinmünzen hat er zumindest wieder mitgenommen. Meinten Sie das?« »Sagen wir mal, ja. Und dann?« »Dann ließ ich die Legende erst einmal nachprüfen.« »Wie bitte?« »Ich war neugierig, ob die Tonarmee überhaupt existiert, oder ob es nur ein Hirngespinst war, das jemand in die Öffentlichkeit gerückt hatte, um abzusahnen.« »Sie sind gar nicht so dumm, Hardy!« »Danke sehr. Hauptsächlich bohrte an mir, ob das ganze irgendeinen Wahrheitsgehalt hatte. Und um das herauszufinden, kontaktierte ich einige Sinologen, Wissenschaftler der chinesischen Kunst und Geschichte, und auch Archäologen. Was sie mir erzählten, nahm mir zwar gewissermaßen die Hoffnung, machte mich aber auch gleichzeitig offen für die ganze Angelegenheit. Es stellte sich heraus, daß die Tonarmee nur ein paar blasse und mißverständliche Spuren in der Geschichte hinterlassen hatte.« »Und zwar?« 125
»Das Ganze gründet in einer uralten Notiz. Über die verlorene Armee. Kennen Sie sie?« »Nicht die Spur.« »In einem der Shi's, also den Jahrbüchern, wird eine mißverständliche Andeutung über einen Prinzen gemacht, der von Kaiser Huan-Ti gegen die Hunnen geschickt wurde. Seinen Namen weiß ich nicht mehr, ehrlich gesagt, habe ich immer wieder Probleme mit diesen chinesischen Namen… Auf jeden Fall erhielt dieser Prinz, der nebenbei auch noch so etwas wie ein Gutsherr direkt an der Chinesischen Mauer war, von Huan-Ti den Befehl, eine marodierende Hunnentruppe zu stellen. Angeblich kam diese Order direkt vom Kaiser. Die Hunnen waren wohl an wichtige Informationen über die chinesische Verteidigungslinie gekommen, wer weiß. Also, sie zogen von dannen, und die chinesischen Truppen, mehrere tausend Mann, angeführt von diesem Prinzen, hinterher. Plötzlich verschwanden die bösen Buben in der Wüste Gobi. Der ratlose Prinz konnte nichts anderes tun, als ihnen zu folgen, obwohl sowohl sein Herz als auch sein Verstand zur Umkehr rieten. Die Soldaten hatten Hunger und vor allem Durst, und die Wüste wollte und wollte nicht aufhören. Und dann, plötzlich, als sie bereits halbtot herumtorkelten, fanden sie die weggeworfenen Wasserschläuche der Hunnen, in denen noch ein kleiner Rest plätscherte. Trotz der ausdrücklichen Warnung des Prinzen tranken seine Männer von dem Wasser, bis sie schließlich alle tot umfielen. So wurden die chinesischen Truppen also vernichtet. Eine tolle, vor allem lehrreiche Geschichte, nicht?« »In der Tat. Aber wo bleiben die Tonsoldaten?« »Das ist es ja gerade! Angeblich entstanden diese aus den gefallenen Leuten des Prinzen.« »Wie bitte?!« »Dem Jahrbuch zufolge fand einige Jahre später eine andere chinesische Truppe die Gebeine ihrer Kameraden. Und nicht nur Gebeine, denn auch die Körper selbst waren immer noch vorhanden, keineswegs verwest oder so. Angeblich wurden sie durch das Gift 126
der Hunnen konserviert. Selbst die Haare und Bärte waren noch dieselben. Dort lagen sie, im Staub der Wüste Gobi, als ob sie bloß schlafen würden. Gift, Sonne und trockene Luft hatte sie für immer und ewig mumifiziert, alle zehntausend Mann.« »Ah … das klingt interessant.« »Und es kommt noch besser. Ihre Entdecker packten eine Leiche auf ein Pferd und wollten sie als Beweis ihrer Entdeckung mit nach Hause nehmen. Aber Natur und Götter spielten ihnen einen Streich, denn kaum hatten sie die Gobi verlassen, zerfiel der Tote zu Staub. Dies haben sie dann wohl auch dem Kaiser erzählt, denn er gab den Befehl, seine treuen Diener der Nachwelt zu erhalten. Den Chroniken zufolge wurden zehntausend Wagen voll Ton mit Hunderten von Bildhauern in die Wüste geschickt, um diesen Befehl des Himmelssohns auszuführen.« »Demnach umhüllten sie die Leichen mit Ton.« »Richtig. Dann wurde die Armee auf Karren Stück für Stück nach China zurückgebracht. Irgendwo wurden sie begraben, tief unter die Erde, damit niemand mehr ihre Ruhe stören konnte. Soweit geht also das Märchen…« »Danach klingt es auch…« »Seitdem wird ständig über die Tonarmee getuschelt. Hur in anderer Form. Es heißt, Huan-Ti ließ von seinen Soldaten menschengroße Kopien erstellen. Neuerdings halten Forscher diese Variante für wahrscheinlicher. Auch dem bin ich nachgegangen, genauso wie Ihnen. Sie sind ein Kenner der östlichen Kulturen, speziell Zentralasiens. Deswegen hat man Sie ja auch ausgesucht…« »Ausgesucht? Wer, um Himmels willen?!« Er hob den Zeigefinger und bat um Geduld. »Immer der Reihe nach! In China ist die Legende der Tonarmee seit langem bekannt. In Europa hingegen weniger. Oder wenn, dann wurde sie nicht ernst genommen. Ähnlich wie bei den anderen versunkenen Schätzen… Und dann erscheint urplötzlich ein Chinese, der angeblich aus Taiwan geflüchtet ist und die wichtigsten Antiquitätenhändler der Welt einen nach dem anderen aufsucht. Zwei 127
Jahre seines Lebens opfert er dafür oder sogar noch mehr! Es hat mich ja schon Mühe gekostet, überhaupt seine Spur zu verfolgen und seine Route zu rekonstruieren… Überall erzählt er die Geschichte der Tonsoldaten, weist mit Hilfe einiger Steinchen darauf hin, daß sie vermutlich irgendwo in Laos zu finden wären, und verschwindet dann wieder.« »Nun, das ist in der Tat seltsam.« »Als mir klar wurde, daß er an mindestens fünfzehn Türen geklingelt hatte, versuchte ich, etwas über den Kerl zu erfahren. Und wissen Sie was?! Es ist ein Phantom, keiner weiß so genau, wie er aussieht oder wie er heißt. Es ist nicht einmal sicher, daß er tatsächlich ein Chinese war.« »Sie haben nachgeforscht?« »Genau. Ich stellte eine Liste oder, wenn es Ihnen so besser gefällt, einen Fahrplan des Mannes zusammen.« »Wie ist Ihnen denn das gelungen?« »Wie schon gesagt, ich habe so meine Quellen…« »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum? Was hat Sie denn so mißtrauisch gemacht?« »Nun, sehen Sie, ich bin schon ein alter Hase im Geschäft. Besser, Sie erfahren es von mir, daß es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt. Wenn jemand alle wichtigen Läden der Welt mit irgendeiner Legende und ein paar Steinmünzen in der Tasche aufsucht, halbherzig eine Geschichte vorträgt und dann wieder im Nebel verschwindet, kann das nur zwei, allerhöchstens drei Gründe haben.« »Und zwar?« »Entweder will er Informationen sammeln oder aber Interesse an etwas wecken. Oder…« »Oder?« »Oder er sucht jemanden.« »Auf welche Variante tippen Sie denn?« »Ehrlich gesagt, hatte ich keine Idee. Mir war nur klar, daß der Typ irgendwas Bestimmtes damit erreichen wollte.« Ich lachte nicht, noch weniger war mir danach, ihn dafür zu ver128
spotten. Mir war klar, daß es sich lohnen würde, auf das Gespür eines ›alten Hasen‹ zu achten. »Ich vermute, Sie haben sich dem Phantom an die Fersen geheftet…« »Bravo, Lawrence, und noch einmal bravo! Sie hätten doch sicher das gleiche gemacht, nicht?« »Wahrscheinlich.« »Ich habe es auf jeden Fall versucht. Ohne Geld oder Mühe zu scheuen, bin ich ihm nachgehetzt. Und es war nicht einfach, das dürfen Sie mir glauben. Außerdem mußte ich vorsichtig sein, denn er sollte ja von all dem keinen Wind bekommen.« »Ich denke mal, die Legende hat Ihnen dabei einen guten Dienst erwiesen…« Er sah mich entgeistert an, und ich muß zugeben, daß ich mich geschmeichelt fühlte. »Verdammt, Lawrence, in Ihnen hätte ich wirklich einen ernstzunehmenden Konkurrenten! Genau das habe ich getan; ich erkundigte mich nach den Tonsoldaten. Bereits nach dem zweiten Satz sprudelte es aus den Leuten nur so heraus. Ohne daß ich besonders nachhaken mußte.« »Wo waren Sie denn überall?« »Von Hawaii bis Schweden.« »Und?« »In den Antiquitätenläden habe ich nicht viel herausbekommen. Wie gesagt, mir stand ja nicht einmal eine Beschreibung zur Verfügung. Und Chinese war er auch nur in dem Maße, wie er es mit seiner Verkleidung jeweils vorgehabt hatte.« »Trotzdem, irgendwelche Ergebnisse müssen Sie doch erzielt haben!« »Nun, er war keinesfalls auf der Suche nach etwas Bestimmtem, die Kollektionen der Geschäfte interessierten ihn meist gar nicht. Einigen Eigentümern oder Verkäufern sagte er sogar direkt, er wolle nichts kaufen. Und offenbar auch nicht verkaufen. Denn die Gelder von Huan-Ti waren nur Vorwand, um ein Gespräch anzufan129
gen.« »Na, wenn er weder kaufen noch verkaufen wollte, dann…« »Ja, Mr. Lawrence?« »Dann muß er nach jemandem Ausschau gehalten haben.« »Richtig. Genau das habe auch ich mir zusammengereimt. Und noch etwas. Wenn der Kerl jemanden sucht, und ihn schließlich auch findet, wird er mit der Suche natürlich aufhören. Falls ich Glück habe, fängt er nicht noch irgendwelche Verwirrspielchen an. Besucht keine weiteren drei Orte, nur um eventuelle Verfolger in die Irre zu führen.« »Sie konnten also feststellen, wen er als letzten besucht hat?« »Genau, Lawrence! Mir ist es gelungen, genau das herauszufinden!« »Und? Wer war es?« »Das gehört mit zu den Dingen, die Sie erst im Falle meines Ablebens erfahren sollen.« »Aaah ja… Gibt es sonst noch etwas?« »Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?« »Mich dem zuletzt Besuchten an die Fersen geheftet. Um festzustellen, wer er wirklich ist.« »Genau so bin auch ich vorgegangen«, sagte er mit betontem Stolz. »Genau so. Erneut ließ ich all meine Verbindungen spielen, fragte alle möglichen Leute … und hatte Erfolg! Ich bekam Kontakt zum taiwanesischen Geheimdienst!« »Sie sind ja verrückt, Hardy!« »Ich kann mit fast hundertprozentiger Sicherheit behaupten, daß man dort keinen blassen Schimmer hat, wer dieser Kerl ist. Allerdings hat mich einer meiner dortigen Informanten auf etwas gebracht. Besser gesagt, auf einen Chinesen, der sich in der Vergangenheit viel mit der Tonarmee befaßt hatte. Und … der ein Meister der Verkleidung war! Aber ich will Sie nicht weiter auf die Folter spannen. Er hieß Lei Tshung-tao und war ein Vertrauter von Chang Kai-shek. Ein Oberst. Die graue Eminenz der Abwehr. Der Mann ohne Gesicht.« »Was soll das heißen?« 130
»Niemand hat je sein Gesicht gesehen. Nicht einmal seine engsten Mitarbeiter. Ich arbeitete wie ein Tier, aber es war wirklich verdammt hart, etwas über ihn zusammenzukratzen. Die wichtigsten Dokumente liegen in China oder in Taiwan. Was soll ich sagen … keines der beiden ist unbedingt ein ideales Land für solche Nachforschungen… Man hat mich nicht einmal einreisen lassen. Also mußte ich mich im British Museum umschauen. Laut den nicht gerade verläßlichen Quellen bot sich folgendes Bild: Lei Tshung-tao tauchte als Mitglied der Chinesischen Kommunistischen Partei aus dem Nichts auf. Er nahm an den Kämpfen des Kuomintang teil, dann finden wir ihn plötzlich in der unmittelbaren Umgebung von Chang Kai-shek. Von diesem Moment an wird nicht mehr über ihn geschrieben. Wir wissen nicht mehr, was er tut, können es höchstens ahnen.« »Sie sagten, er war bei der Abwehr?« »Wahrscheinlich. Und wissen Sie, was ich noch gefunden habe? Kurz bevor Chang Kai-shek aus China vertrieben wurde, verschwand eine Expedition.« »Expedition? Zu der Zeit? Wie viele waren es denn?« »Fünfzehn Leute.« »Welche Nationalität?« »Meist Amerikaner und Deutsche.« »Woher wissen Sie das alles denn so genau?« »Nach der Gründung der Volksrepublik ließ man sie suchen. Das Internationale Rote Kreuz bat die chinesische Regierung um Hilfe. Mao Se-tung selbst gab den Befehl, mit den ausländischen Suchtrupps zusammenzuarbeiten. Schließlich wurden ihre Gräber auch irgendwo an der Küste gefunden. Es stellte sich eindeutig heraus, daß sie Opfer der japanischen Besatzungstruppen geworden waren.« »Was waren das denn überhaupt für Forscher?« »Archäologen, aber auch ein paar Kunsthistoriker.« »Seltsame Geschichte.« »Sie wird noch seltsamer, wenn ich Ihnen verrate, daß nur zwölf Leichen gefunden wurden. Drei Körper wurden weiterhin vermißt.« 131
»So was… Und woher haben Sie die genaue Zahl der Mitglieder?« »Aus den einstigen Dokumenten. Fünfzehn Mitglieder waren bei den Ausgrabungen dabei, aber das Rote Kreuz hat nur zwölf Leichen exhumiert. Also müssen drei von ihnen dem Tod entgangen sein.« Ich spürte, wie die Strahlen des Mondes über meinen Rücken schlichen; und ihre Berührungen waren keineswegs freundlich. Im Gegenteil, sie fühlten sich an, wie blutrünstige Messerspitzen. Hardy stand urplötzlich auf und staubte seine Hose ab. »Na, dann will ich mal. Gute Nacht!« Ich verstand seine Eile nicht. »Warten Sie! Wenn … wenn nun doch etwas mit Ihnen passieren sollte«, rief ich ihm nach, »wo finde ich dann Ihre Aufzeichnungen?« »Sie werden sie finden! Schauen Sie sich ein wenig in der Nähe der Leichen um!« Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er zwischen den Palmen. Und ich? Ich saß weiter unter dem silbernen Mond und versuchte, das Gehörte zu verdauen.
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ch begrub mein Gesicht in den Händen und fing an nachzudenken. Wie war das nochmal? Angeblich wird seit Generationen eine Legende über die Tonarmee des Huan-Ti gesponnen, die von dem Kaiser unter die Erde gebracht worden war. Außerdem gibt es diese mysteriösen Strangler, die seit Jahrhunderten in seinem Namen böswillige Mandarine umbringen und ihnen vorher als Warnung kleine Tonfiguren an die Tür hängen. Dann erscheint aus dem Nichts ein rätselhafter Chinese, der in den bekanntesten Antiquitätenläden der 132
Welt den Eigentümern erzählt, daß die Armee aus Ton Wirklichkeit ist und man sie auch finden kann. In Bangkok wird daraufhin eine Konferenz der Sinologen abgehalten, zu der unter anderem Frau von Rottensteiner eingeladen ist, die sich mit der Legende der Tonsoldaten befaßt. Sie wird entführt, und zwar an den Ort, wo angeblich besagte Armee zu finden ist, siehe den Mythos des Dreispitzberges. Schließlich taucht ein seltsamer Kerl, dieser Mann ohne Gesicht, Lei Tshung-tao auf, und eine verschwundene Expedition tritt plötzlich wieder in Erscheinung… Mein Gott, in was bin ich da schon wieder hineingeraten? Plötzlich schob sich ein Schatten vor den Mond. Automatisch hob ich den Lauf der Maschinenpistole, bis sich der fettleibige Mann neben mir auf den Rasen plumpsen ließ. Genau dorthin, wo eben noch Hardy gesessen hatte. Er schaute mit ausdruckslosem Blick auf meine Waffe, dann zog er ebenfalls die Beine an und umklammerte sie. Er schwitzte ziemlich stark in der schwülen Hitze. Die Nickelschnallen an seiner Hose glänzten im silbernen Halbdunkel. »Sie sind Leslie L. Lawrence?« erkundigte er sich rauh. »Ja. Und Ihr Name war…?« »Der würde Ihnen nichts sagen.« Er saß eine Weile wortlos neben mir und begutachtete den Wald. Dann griff er in seine Tasche, als ob er ein Taschentuch hervorholen wollte. Vorher spielte er noch an seinen Schnallen, und dieses Knirschen schläferte meine Vorsicht etwas ein, denn als ich das nächste Mal zu ihm hinüberblickte, hielt er mir bereits einen Revolver vor die Nase. Um genau zu sein, einen 38er Colt. »Klettern Sie ein wenig zur Seite, Mann, und lassen Sie die Waffe hier liegen«, befahl er nervös. Schweiß perlte auf seinem Gesicht, und ich konnte den schweren Geruch seiner Körperausdünstungen riechen. Was blieb mir übrig? Ich schickte mich selbst in Gedanken zum Teufel und folgte seinem Wunsch. Er nahm die MP und warf sie hinter sich ins Gras. 133
»Schön leise aufstehen und losgehen!« Ich stand schön leise auf und ging los. Nach drei Schritten hatten mich die Büsche verschluckt. Der Dicke war dicht hinter mir, und ich hatte das Gefühl, ganz Laos würde in seinem Schweißgeruch versinken. »Stellen Sie sich dort an den Baum.« Also stellte ich mich an den Baum. »Und jetzt reden Sie mal schön. Raus mit der Sprache!« Ich mag es überhaupt nicht, wenn man auf diese Art mit mir kommuniziert. Üblicherweise bin ich dann beleidigt und kriege kaum ein Wort heraus. So auch diesmal. Er kam zu mir und schob sein Gesicht ganz dicht an meines, so daß ich seine Schweißperlen genauestens beobachten konnte. »Los, raus damit! Wo hat der Kerl seine Papiere?« »Bei sich vielleicht«, sagte ich und dachte dabei verzweifelt über einen Fluchtweg nach. »Nein. Bevor ich Sie besucht habe, habe ich ihm eine übergebraten und seine Taschen durchsucht.« »Dann hat er sowohl Sie als auch mich reingelegt«, sagte ich und dachte dabei über die Möglichkeit nach, ihm den Revolver aus der Hand zu treten. Leider aber war der gut genährte Kerl ein echter Profi. Sogar ein wahrer Profikiller. Die langsamen, sparsamen Bewegungen deuteten auf einen Mann hin, der genau wußte, was er tat. Davon konnte ich mich im nächsten Moment selbst überzeugen. Er trat einen Schritt zurück und schlug mit einer schnellen Bewegung zu. Ich fuhr auf und fiel zu Boden. Salziger Geschmack brannte mir auf der Zunge, und Blut tropfte aus meiner Nase ins Gras. Andere werden in solchen Momenten jähzornig. Bei mir ist das genau umgekehrt. Ich bin eher ruhig, wenn man mich niederschlägt. Ein kalter Schauer jagte meinen Rücken hinunter, wie schon so oft in meinem Leben. Still saß ich auf dem Boden und bewegte mich nicht. Kein Wehlaut verließ meine Lippen. Auch ich war ein Profi. 134
Aber er kam nicht in meine Nähe. »Aufstehen!« Ich tat ihm den Gefallen. »Reden Sie!« Auch mir war klar, daß ich reden mußte. Reden, reden, reden! Ich mußte auf jeden Fall verhindern, daß er auf den Abzug drückte. »So verstehen Sie doch, Mann«, wimmerte ich und spuckte eine ansehnliche Blutmenge aus. »Ich weiß nichts! Wenn Sie uns zugehört haben, dann wissen Sie doch auch, daß mir der Rothaarige nicht verraten hat, wo seine Papiere liegen! Mir ist ja nicht einmal klar, worum es hier überhaupt geht!« Er beugte sich nach vorne und trat mir in die Nieren. Der brennende Schmerz raubte mir fast Verstand und Besinnung. Ich krümmte mich, versuchte lediglich, den Kopf oben zu behalten. Ich spürte instinktiv, daß mir nur noch eine Chance blieb: so zu tun, als ob er mich dort hätte, wo er wollte. Und ihn dann in meine Nähe zu locken. Wenn das nicht klappte, war ich am Ende. »In Ordnung«, keuchte ich, sichtlich am Ende meiner Widerstandskraft. »Ich werde reden.« »Raus mit der Sprache!« Er kam weder näher, noch drehte er den Lauf der 38er von mir weg. »Die Dokumente … äh … hat er nicht bei sich.« »Das weiß ich selbst«, brummte er gereizt. »Wo hat er sie versteckt?« »Im … Flugzeug!« »Wo?« »Unter einem Sitz.« »Welcher Sitz?« »Lassen Sie uns hochgehen, ich zeige es Ihnen…« Da bekam ich den zweiten Tritt. An der selben Stelle, wie vorhin. Der plötzliche Schmerz ließ mich taumeln, die Bäume drehten sich um mich herum, und ich spürte schon gar nicht mehr, wie es sich der Dicke mit dem Knie in meinem Magen über mir bequem machte. 135
»Du sollst reden!« Ich hätte versuchen können, sein Bein umzudrehen, und mich auf ihn zu stürzen. Sofern ich nicht in den Lauf der Waffe geblickt hätte. Was aber leider der Fall war. »Unter … dem… Sitz…« Er stand auf und trat ein paar Schritte zurück. »Aufstehen!« Was ich auch versuchte, aber diesmal ging es wirklich schwer. In dem Moment befiel mich der Gedanke, daß ich womöglich verloren hatte. Es würde nichts nützen, ihn in die Maschine zu locken, denn ich hatte einfach keine Kraft mehr, ihn zu besiegen. Die Bäume drehten sich immer noch wie wild, die Büsche krümmten sich, der Mond zeigte eine kleine Gene-Kelly-Tanzeinlage. Der Kopf meines Widersachers wuchs gespenstisch an; er öffnete den Mund, und ich wußte, daß er etwas sagte, irgendeinen Befehl ausstieß, aber seine Stimme kam nicht bei mir an. Er setzte den Revolver an meine Schläfe, und mir wurde klar, daß er abdrücken würde. Ich dachte daran, daß Hardy wahrscheinlich schon längst tot war, sonst hätte er ihm diese Fragen gestellt und nicht mir. So weit war ich gekommen, als sich hinter ihm plötzlich etwas regte. Zwei verschwommene Schatten huschten zwischen den Bäumen herum, als ob sich Schäfchenwolken vor den Mond schieben würden. Diese Schatten aber bewegten sich etwas seltsam, genau so wie ein Mensch, der nicht vorzeitig entdeckt werden will. Der Dicke trat noch einen Schritt näher an mich heran, und ich ahnte, daß er wieder zuschlagen würde. Ich hätte meinen Arm zum Schutz gehoben, wenn mir dazu noch genug Kraft übrig geblieben wäre. So aber konnte ich nur noch ohnmächtig den Schlag erwarten. Der aber kam nicht. Statt dessen torkelte der Mann, öffnete wieder den Mund und ließ die Waffe fallen. Erschrocken blickte er mich an, als ob ich plötzlich davonschweben würde. In diesem Moment kehrte mein Hörvermögen wieder zurück. Ein 136
langes, verzweifeltes Stöhnen verließ seine Kehle, dann fing er an, in breitem Strahl Blut zu spucken. Die ersten warmen Tropfen trafen mein Gesicht und blendeten mich. Nur mit unmenschlicher Anstrengung konnte ich die Hand heben, um mir das Blut aus den Augen zu wischen. Der Dicke fiel zu Boden und strampelte wie ein abgestochenes Schwein. Er unternahm verzweifelte Versuche, die Grasbüschel zu packen. Die Halme rutschten aber immer wieder aus seinen verkrampften Fingern, und bei jeder Anstrengung aufzustehen, quoll ein neuer Strahl Blut aus seinem Mund. Ich krümmte mich, preßte die Hände auf den Bauch und tat alles, um nicht hinsehen zu müssen. Ich wußte zwar nicht, was passiert war, aber mir wurde klar, daß ich von meinem Angreifer nichts mehr zu befürchten hatte. In diesem Moment traten die zwei Schatten aus den Büschen hervor. Sie bewegten sich flink, als ob sie das Terrain genau kennen würden. Als ich bei einem das breite Buschmesser in der Hand aufblitzen sah, startete ich einen verzweifelten Versuch, mir die Waffe des Dicken zu angeln. Diese erste Bewegung seit langem aber verursachte einen solch furchtbaren Schmerz, daß ich laut aufschrie. Ein Schleier legte sich über meine Augen, und es dauerte einige Sekunden, bis ich wieder zu mir kam. Dann aber sah ich alles klarer, als in der ganzen letzten halben Stunde. Der Schmerz hatte wohl auch meine Übelkeit mitgenommen, als er sich verabschiedete hatte. Die beiden kleinwüchsigen Figuren beugten sich über meinen Angreifer. Ich versuchte, mich nicht zu regen, damit sie nicht auf mich aufmerksam wurden. Natürlich war mir klar, daß meine Chancen dafür in etwa denen eines Elefanten glichen, der sich schamhaft hinter ein Lorbeerblatt zurückzog. Trotzdem blieb mir nicht viel anderes übrig. Ich hielt den Atem an und beobachtete, was sie mit dem Toten vorhatten. Zuerst einmal staunten sie ein wenig. Sie blickten mich an, und 137
einer von ihnen deutete auch noch auf mich. Dann herrschten sie einander an, was man mit etwas gutem Willen auch Sprache nennen konnte. Und als mein Ohr die seltsamen Laute voll aufgenommen hatte, war mir auch schon klar, wen ich da vor mir hatte. Und ich kann nicht behaupten, daß mir diese Erkenntnis viel Freude bereitet hätte. Trotz der immer wahrscheinlicheren Tatsache, daß sie mir das Leben gerettet hatten. Denn selbst in Lebensgefahr trifft man nur sehr ungern auf Meos… Irgendwann, vor Ur-Zeiten, war ich einige Male mit ihnen zusammengetroffen. Die kleinwüchsigen, dürren Söhne dieses Bergvolkes, mit ihren turbanartigen Kopfbedeckungen, waren gleichermaßen Meister des Messers, der Lanze oder des Blasrohres. Sie können sich nur schwer der Zivilisation anpassen, und trotzdem unternahmen die Regierungen – in Laos gleichermaßen wie in Thailand oder China – alles, um sich ihre Loyalität zu erwerben. Denn die Meos waren perfekte Soldaten, bar jeglicher Hemmungen. Wenn man es schaffte, sie auf die eigene Seite zu bringen, konnte man sich ihrer Treue und Beständigkeit auf ewig sicher sein. Sie waren unermüdlich und äußerst grausam. Sie liebten ihre Götter, die Geister der Vorfahren und die Dämonen des Dschungels. Sie kümmerten sich nicht um Buddhismus, den Islam oder die Heiligen der Christen. Seit Menschengedenken bauten sie Mohn und Hanf an, stellten Opium und Haschisch her. Als ich mehr und mehr zu mir kam, stellte ich verwundert fest, daß die beiden mit überraschtem Gesichtsausdruck über dem Toten standen und ihre Messerspitzen auf die umliegenden Büsche richteten. Als ob sie sich vor jemandem in acht nehmen wollten, der sich dort verborgen hielt. Ich verstand rein gar nichts, nahm aber eindeutig ihre Verblüffung wahr. Ich versuchte, mich auf die Waffe des Dicken zu konzentrieren, und streckte das Bein aus, um sie zu erreichen. Das Gespräch der beiden wurde immer hektischer, und als ich den Revolver endlich mit der Fußspitze antippen konnte, bellte mich einer der zwei an. 138
Wie versteinert hielt ich inne, zog das Bein aber nicht zurück. Inzwischen war mir alles egal. Ich war davon überzeugt, daß mich nichts mehr sonderlich verwirren konnte. Dabei hatte diese chaotische Nacht für mich gerade erst angefangen.
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ch schloß die Augen und streckte den Fuß Millimeter um Millimeter weiter aus. Ich wartete, daß mein Knöchel den Revolver erreichte, und machte dann eine schnelle Sensenbewegung. Die Waffe wirbelte im Gras herum und schlitterte auf mich zu. Dann wagte ich wieder einen Blick in die Welt hinaus. Der 38er lag wenige Zentimeter von meiner verkrampften Faust entfernt. Blitzschnell ergriff ich ihn und stemmte mich in die Höhe. Ehrlich gesagt, ließ meine Geschwindigkeit dabei einiges zu wünschen übrig. Wenn die Meos die Sache ernst genommen hätten, wäre ich wohl kaum mit heiler Haut aus der Sache herausgekommen. Die breiten Messer hätten meine Kehle durchschnitten, noch bevor ich die Waffe auch nur ansatzweise in Anschlag gebracht hätte. Die Meos kümmerten sich allerdings überhaupt nicht darum, daß ich wie ein Wilder hin- und hertanzte und mit einem Colt herumfuchtelte. Sie stießen erneut ihre seltsamen Laute aus, dann schien einer von ihnen sogar mit den Schultern zu zucken. Ich weiß nicht, ob es klug war, was ich tat. Wenn ich vollkommen bei mir gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch gar nichts unternommen. Aber Schmerz und Schrecken der vergangenen Minuten hatten mich dermaßen verwirrt, daß ich die Waffe auf sie richtete. Der vorne Stehende stieß einen Warnschrei aus, dann zischte etwas an meinem Gesicht vorbei und blieb mit einem lauten Surren im Baum hinter mir stecken. 139
Ich kauerte mich auf den Boden. Wegen des Schmerzes in meinen Nieren sah ich immer noch Sternchen. Ich wollte zwar abdrücken, aber mein Finger gehorchte nicht. Ich spürte, wie ich vor Schweiß klitschnaß wurde, und plötzlich wurde mir klar, was für einen Irrsinn ich da anzetteln wollte. Was danach folgte, war wie ein dumpfer, trüber Traum. Einer der Meos beugte sich mit blitzendem Metall über meinen Kopf. Ich schloß die Augen und nahm logischerweise an, daß es nun vorbei war. Die Waffe lag mit meinem verkrampften Finger um den Abzug am Boden. Sogar der kleine Lufthauch, der die Blätter des tropischen Waldes zum Rauschen brachte, hatte mehr Kraft als ich. Der Meo dachte eine Weile nach, dann steckte er das Messer in seinen breiten Gürtel. Der andere war bereits auf dem Heimweg; es raschelte und knackste zwischen den Büschen. Der kleinwüchsige Eingeborene beugte sich über mich und streichelte meine Stirn. Seine Hand war klein und kalt wie die eines Kindes. Als er in der Mitte über meiner Nase ankam, hielten seine Bewegungen plötzlich inne, und er ließ für lange Sekunden seine Finger auf meiner Haut ruhen. Als er sie dann wegnahm … waren meine Kopfschmerzen fort. Viel besser ging es mir zwar noch nicht, aber ich spürte, daß ich aufstehen könnte. Der Meo schien mir diesen Wunsch von den Augen abzulesen, denn er griff mir sofort unter die Arme. Noch bevor ich richtig merkte, was vor sich ging, lehnte ich am Baum, und zwar direkt neben dem feststeckenden Messer. Der Kleine sagte etwas, lächelte mich an, und zog es aus dem Stamm. Mondlicht erhellte die kleine Lichtung. Alles war so unwirklich wie in einem Traum. Der andere Meo ließ einen leisen Laut aus den Büschen erklingen. Soweit es mein knirschender Hals zuließ, drehte ich mein Gesicht zu ihm hinüber. Er stand unweit von dem Toten und der Blutlache, unter einer Palme mit langen, breiten Blättern, die im aschfahlen Schatten des Mondes raschelten. Beide Männer teilten sich den verwirrten Blick hinauf zur Krone des Baumes. Sofern ich noch zu irgendeiner Regung fähig gewesen wäre, hät140
te ich wohl auch mit offenem Mund über das Spektakel gestaunt. Aus dem Blätterwerk ließ sich nämlich einem verträumten Käfer gleich, etwas Kleines an einem langen Seil herab und blieb wenige Zentimeter über der Leiche baumelnd hängen. Das braune, längliche Objekt schwang hin und her, als ob ein erhängter Mann an der dünnen Schnur aufgeknüpft wäre. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schaute nach oben zwischen die Blätter. Dort bewegte sich aber nur der Wind, und das Mondlicht versilberte die Spitzen der langen Palmenhalme. Die Meos schrien auf und bewegten sich rücklings in das Dickicht. Meine schußbereite Waffe ließen sie auch diesmal außer acht. Wohl genau in diesem Moment verstärkte sich der bisher nur ein paar Blätter bewegende Windhauch und ließ die Zweige der Sträucher ebenfalls rascheln. Der Stamm der Palme knackste, die Krone beugte sich nickend herab. Das kleine Etwas an der Schnur folgte erst zaghaft, dann immer wilder, den Bewegungen des Mutterleibes und beschrieb schon bald eine ganz ansehnliche elliptische Bahn. Die Eingeborenen starrten das Flugobjekt wie gebannt an, dann rief einer der beiden erneut etwas Unverständliches, und schon waren sie im Nichts verschwunden. Genau wie sie kurz zuvor aufgetaucht waren. Und die kleine Tonfigur legte sich mächtig ins Zeug, um Kopernikus und die Leiche zu beeindrucken. Verzweifelt blickte ich den Meos nach. Ich versuchte, den Revolver zu heben, aber zwischenzeitlich schien er sogar noch schwerer geworden zu sein, als ich es in Erinnerung hatte. Wie ein zentnerschwerer Kohlensack zog er meine Hand nach unten. Also wollte ich ihn zu Boden fallen lassen. Doch auch das schien nicht zu klappen. Der Abzug umklammerte meinen Finger und ließ mich nicht los. Die entsetzliche Last zog mich langsam, aber sicher zu Boden. Ein paar Sekunden lang versuchte ich noch verzweifelt, mich dagegen zu wehren, dann gab ich auf. Mit einem leisen Stöhnen sank ich bewußtlos zwischen die Wurzeln. 141
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ls ich die Augen wieder aufbekam, hatte sich in meiner Umgebung nichts verändert. Mir war nicht klar, wie lange ich so dagelegen hatte. Der Mond stand um einiges höher, als bei meinem letzten Blick nach oben. Ich hob probeweise den Revolver an und wunderte mich, wie leicht er plötzlich geworden war. Keine Spur von der Wucht, die mich nach unten gezogen hatte. Auch mein Zeigefinger ließ sich wieder bewegen. Kein Abzug wollte nach ihm schnappen. Nachdem ich wieder auf die Beine gekommen war, machte ich ein paar Schritte, überraschenderweise ohne Probleme. Langsam und vorsichtig fuhr ich über mein Gesicht. Schwachen Schmerz spürte ich erst, als ich mein Kinn betastete. Vorsichtig blickte ich mich um. Die Bäume bogen sich unter der Last des Windes, die Büsche rauschten, was es hergab, und die Tonfigur kreiste weiterhin vor meinen Augen herum. Von irgendwelchen Lebewesen keine Spur. Ich inspizierte erst einmal die kleine Puppe. Sie war etwas größer als die bisherigen und auch nicht so akribisch angefertigt wie die anderen. Sie zeigte einen dicken, bösartig dreinblickenden Mann mit Bierbauch in europäischer Kleidung und einem stilisierten Hosenträger über dem Hemd. Zweifelsohne war es der Tote vor meinen Füßen. Ich griff nach der Schnur und wollte die Tonfigur abreißen. Die Schnur schnitt mir ins Fleisch, und erst beim zweiten Mal wollte es mir gelingen. Ich legte sie ins Gras und wendete mich nun der Leiche zu. Der Gedanke, daß die Meos jederzeit zurückkehren könnten, bekümmerte mich zwar ein wenig, aber ich hatte keine große Wahl. Der Kerl war tot noch häßlicher als lebendig. Dicke Fettpolster wölbten sich an seinem Kopf, unter dem Kinn, einfach überall. Die Augen verschwanden beinahe unter den Wülsten der oberen Gesichtshälfte, und Hunderte von Mitessern zierten seine Nase, eini142
ge zum Platzen reif. Weswegen er durchaus noch ein angenehmer Zeitgenosse hätte sein können. Was er aber nicht war. Das stellte sich bei meiner Inspektion mehr und mehr heraus. Was ich für ein Hemd gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine robuste Leinenjacke, hart, als ob er sie mit Absicht gefüttert hätte. Und auch die Hosenträger waren nicht das, wonach sie aussahen. Als Teil eines ausgeklügelten Gürteltaschensystems beherbergten sie zwei braune Lederhalfter unter den Achseln. Einer davon war leer, sein Bewohner lag nun wohl in meiner Hand. Aus dem anderen aber blitzte ein zweiter Colt hervor. Die starren, wäßrigen Augen des Toten blickten auf die Schnur, die ich eben von ihrer Last befreit hatte. Aus der kurzen, stumpfen Nase rann Blut ins Gras. Obwohl ich überhaupt keine Lust dazu verspürte, packte ich seine Hand und drehte ihn auf den Bauch. Und der Anblick ließ mich nicht gerade in Freudentaumel ausbrechen. Aus seinem Rücken ragte nämlich ein Eisenstück heraus. Es steckte fast bis zu den Rippen in seinem Körper und erinnerte mich an nichts, was ich je zuvor gesehen hatte. Ich kniete mich hin, vergaß Meos und andere Gefahren des Dschungels und starrte verblüfft auf das Geschoß. Denn daß es geschossen worden war, stand außer Zweifel. Es ähnelte dem spitzen Ende eines Pfeils, nur viel größer. Der kurze Stab darunter war allerdings hohl, dort war wohl ursprünglich der Stoff zum Antrieb gewesen. Nach kurzem Zögern ergriff ich den Stiel und versuchte, ihn herauszuziehen. Ohne Erfolg allerdings, was mich vermuten ließ, daß er in einem Widerhaken endete. Auf die Weise konnte ich ihn nur entfernen, wenn ich in Kauf nahm, gleichzeitig ganze Fleischstücke mit aus dem Körper zu reißen. Ich schluckte und überredete mich, vorerst auf die daraus möglicherweise ermittelbaren Informationen zu verzichten. Was würde es schon nützen, wenn ich wußte, wie das Ende des Eisenpfeils aus143
sah? In seinen Taschen fand ich nichts Besonderes. Also richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Tonfigur. Mir war klar, daß die Vorkommnisse gleichermaßen erschreckend wie unglaublich waren. Besonders der Teil mit den Figuren. Ich hockte mich hin und dachte angestrengt nach. Angenommen, jemand hatte sich das alles im voraus ausgedacht. Angenommen, die Figuren hatten eine kultische oder sonst irgendwie geartete Bedeutung. Aber woher zum Teufel konnte jemand im voraus wissen, wie das nächste Opfer zum Zeitpunkt seines Todes gekleidet sein würde? Wie viele Tonpuppen hatte ich bis jetzt gefunden? Drei. Die erste gehörte zur Phantomstewardeß und zeigte sie in ihrer Arbeitskluft. Wer auch immer die Morde verübt hatte, mußte sich ziemlich genau mit den Uniformen des hiesigen Flugpersonals auskennen. Mhm… Doch, das war möglich. Der Mörder kannte den Plan, und er kannte auch die Kleiderordnung der Stewardeß. Er konnte die kleine Figur im voraus fertigstellen und brennen. Dann brachte er das Mädchen um und hängte das Püppchen an die Leiche. Wäre das möglich? Mit der zweiten Figur sah es schon etwas anders aus. Die von General Villalobos. Und dann die dritte! Das konnte ja nun wirklich niemand ahnen, daß der Dicke in Hemdsärmeln und mit Schulterhalftern im Dschungel von Laos herumspazieren würde… Oder etwa doch? Mein Gott! Ich nahm die Figur und legte sie vor mich hin. Warum hatte ich überhaupt angenommen, sie wäre aus Ton? Weil sie dem Gewicht nach dieser Behauptung entsprach? Oder wegen der allzu offensichtlichen Parallele zur Tonarmee? Ziemlich ungestüm fing ich an, mit dem Knauf des Revolvers auf 144
sie einzuschlagen. Als ob ich den Kopf dessen vor mir hätte, der mich in diese Lage gebracht hatte. Die kleine Figur sprang unter den Schlägen verzweifelt hin und her, gab aber kein Stückchen seines Materials frei. Nach einigen weiteren ergebnislosen Versuchen nahm ich sie wieder in die Hand und hielt sie dicht vor meine Augen. Winzig kleine Abschürfungen gab es da zu sehen, sonst nichts. Am liebsten hätte ich die Figur ins Gebüsch geworfen, aber dann hielt ich mich zurück. Wer weiß, wozu sie noch gut sein mochte. Also wurden die Püppchen nicht aus Ton gebrannt, sondern aus einer Plastikmasse geformt, die nach kurzer Zeit an der Luft steinhart wurde. Demnach hatte man die Figuren nicht im voraus hergestellt, zumindest nicht so weit im voraus. Der unbekannte Bildhauer hatte sie immer vor Ort angefertigt. Deswegen konnte er das Mädchen in ein Stewardessenkleid kleiden und den Dicken in Hemd und Halfter. Ich seufzte, und obwohl mir bewußt war, daß ich erneut etwas herausgefunden hatte, war mir noch immer nicht klar, wozu das alles gut sein sollte. Warum überhaupt wurden diese kleinen Püppchen hergestellt? Wollte man mich damit vielleicht warnen? Gut, aber wovor? Ich hatte vor, das auf jeden Fall so bald wie möglich festzustellen. Also stemmte ich mich hoch und zog die Leiche in die Büsche.
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uerst wollte ich nach Hardy sehen. Ich verfluchte mich dafür, daß ich ihn überhaupt hatte gehen lassen. Viel Zeit zum Grübeln blieb mir allerdings nicht. Sowohl der Mörder des dicken Profikillers als auch die Meos konnten jederzeit zurückkommen. Im Moment wußte ich nicht einmal, vor wem ich mich mehr in acht zu nehmen hatte. Ich trat auf die Lichtung, stieg über die Decke von einem anderen Fluggast und erreichte bald darauf Hardys Sachen. Das Mondlicht erhellte die Züge des Reporters. Seine Augen schliefen unter den geschlossenen Lidern, sofern man den Spaziergang in die Ewigkeit Schlaf nennen konnte. Ich beugte mich zu ihm hinab und zog die Ecke seiner Wolldecke etwas beiseite. Und taumelte nur deswegen nicht zurück, weil mir bereits in etwa klar gewesen war, welches Bild mich erwarten würde. Der arme Kerl hatte ein Drahtseil um den Hals, das seinen Atem wohl für immer erstickt hatte. Blut konnte ich nirgends entdecken. Am liebsten hätte ich aufgeschrien. Jetzt, wo ich endlich etwas herausgefunden hatte… So weit war ich gekommen, als der Tote sich plötzlich erhob und mir seine Rechte so hart gegen das Kinn schmetterte, daß ich rücklings zu Boden fiel. Ich kam gar nicht zu mir, so schnell kniete er auf meiner Brust. Und legte die Garrotte nun um meinen Hals. Ich kämpfte nach besten, ausgelaugten Kräften und wollte um Hilfe rufen. Die riesige Hand auf meinem Mund verhinderte dies allerdings energisch. Ich warf mich in die Luft und strampelte wie wild, bis sich sein Griff plötzlich lockerte. Immer noch mit der Hand auf meinem Mund flüsterte er: »Psst! Sind Sie das, verdammt?« Er ließ los, und ich schnappte nach Luft. Die Zeit gönnte er mir noch, dann griff er mir unter die Arme 146
und zog mich hoch. »Los! In die Büsche!« Ehrlich gesagt, fiel mir dieses Hetzen ziemlich schwer. Wenn ich richtig mitgerechnet hatte, war es das dritte Mal, daß ich an diesem Tag niedergeschlagen wurde. Aber vielleicht hatte ich mich ja auch verzählt. Wir machten am Rand der Lichtung halt, und ich fiel sofort zwischen die Sträucher. Er beugte sich besorgt über mich. »Geht es Ihnen nicht gut?« Ich winkte, daß er mich nur Luft holen lassen soll. Zwei, drei Minuten hockte er geduldig neben mir und war erst wieder beruhigt, als ich seine Frage beantworten konnte. »Wo zum Teufel waren Sie?« »Der Dicke hat mich erwischt.« »Was?!« »Da, in den Büschen. Schauen Sie es sich selbst an.« Er tat wie geheißen, und als er zurückkam, war sein Blick noch finsterer als bisher. »Waren Sie das?« Soweit es mir möglich war, erzählte ich ihm von meinem Rendezvous mit dem Profikiller. Daß er mich beinahe kaltgemacht hätte. »Mir ging es ebenso!« »Wann?« »Gleich nachdem ich Sie verlassen hatte. Ich bemerkte nämlich, daß er in den Büschen herumschnüffelte, also ging ich zu meiner Decke, legte mich hin und dachte, ich könnte ihn auf die Art unbemerkt beobachten. Ich nahm an, er würde versuchen, Sie mit irgendeiner zweitklassigen Geschichte einzuwickeln. Statt dessen kam er aber zu mir. Ich schwöre Ihnen, zuerst dachte ich noch, Sie wären es! Sogar der Mondschein hatte diesem Mistkerl geholfen. Plötzlich warf er sich auf mich, so daß es mir beinahe alle Knochen gebrochen hätte, und ehe ich mich versah, zog er schon an dieser 147
Schnur, die er mir freundlicherweise um den Hals gelegt hatte. Normalerweise wäre ich schon längst tot…« »Aber…?« »Bereits nach dem ersten Mord wurde mir klar, daß mich kein Versicherungsunternehmen der Welt mehr als neuen Kunden akzeptieren würde. Kennen Sie das hier?« Er zeigte mir seine Hand oder besser das, was darin lag. Ein kleines Plastikplättchen. Ich grinste. »Natürlich.« »Nun, nach der ersten Leiche klebte ich mir drei davon an den Hals. Eins auf jede Seite. Ist zwar ein wenig primitiv als Schutz, aber es hat gewirkt, wie man sieht.« »Der Dicke dachte also, er hätte Sie umgebracht.« »Offensichtlich.« »Das hat er mit mir auch vorgehabt. Wenn ihm nicht jemand eine Rakete in den Rücken geschossen hätte…« »Was?!« »Sagen Sie mir vorher noch, warum zur Hölle Sie nicht gekommen sind und mich gewarnt haben?« »Weil ich ohnmächtig wurde… Dieser Schweinehund hätte mich beinahe umgebracht. Ich meine, nicht mit der Schlinge, dagegen waren ja diese Plastikdinger…« »Sondern?« »Na ja…« Er kratzte sich am Hinterkopf und grinste verlegen. »Er hat mich an einer wichtigen Stelle getroffen… Er … äh, kniete auf meinen Eiern… Können Sie sich vorstellen, was das bei einem solchen Fettkloß für ein Gefühl ist?« Konnte ich nicht und wollte es auch gar nicht. »Was für eine Rakete erwähnten Sie da eben?« »Schauen Sie sich seinen Rücken mal an!« Gemeinsam gingen wir zu der Leiche. Als er sah, was ich meinte, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. »Junge, Junge! Was ist denn das?« 148
»Vielleicht ein Geschoß aus einer Armbrust. Ich denke mal, sie arbeitet mit Preßluft. Äußerst leise und teuflisch genau.« Er griff nach dem Ende des Metallpfeiles und wollte ihn herausziehen, zog aber bald darauf den selben Schluß wie ich und ließ es sein. »Wann haben Sie bemerkt, daß der Typ in unserer Nähe herumlungert?« »Leider erst, nachdem ich Ihnen gegenüber bereits die Dokumente erwähnt hatte.« »Und warum zum Teufel haben Sie mich dann nicht gewarnt?!« »Wie denn? Der Kerl konnte alles sehen und hören, besonders mich. Er lag direkt hinter Ihnen.« »Ich verstehe… Jetzt verraten Sie mir nur noch, wie Sie in das Flugzeug gekommen sind?« »Einfach… Ich bin Ihnen gefolgt, Lawrence.« »Was?!« »Also gut. Schlagen Sie mich, treten Sie mich, nur bitte nicht dahin, wo bereits der Dicke seine Spuren hinterlassen hat… Ehrlich gesagt, haben Sie es zum Teil mir zu verdanken, daß Sie jetzt hier sind…« »Ihnen?!« »Ich muß Ihnen etwas beichten… Als ich mich entschloß, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen, wurde mir bald klar, daß ich es alleine zu nichts bringen würde. Ich brauchte jemanden, der sowohl Profi war, als auch ein wenig von der Materie verstand… Ich kenne Sie seit langem, Lawrence! Ich kenne und achte Sie!« »Danke sehr.« »Als die ersten Tonsoldaten aufgetaucht sind…« »Wie bitte?!« »Warten Sie einen Moment. Also, als die ersten Soldaten auftauchten, war ich mir sicher, daß hier jemand seinen Köder ausgeworfen hat. Nur was oder wen er damit fangen wollte, war mir noch nicht klar. Anscheinend ging es ihm um die Archäologen, die auf die eine oder andere Weise etwas mit Huan-Ti und seiner unterir149
dischen Armee zu tun hatten.« »Aber … ich kenne doch gerade mal die Geschichte, und die auch nur aus Büchern…« »Aber das konnten die nicht wissen. Besser gesagt, gingen sie genau vom Gegenteil aus…« Langsam ging mir ein Licht auf, und es reichte aus, um die Faust zu ballen und ihn beinahe kurzerhand nach Bangkok zurückzubefördern. »Sie Mistkerl! Sie haben mich da mit hineingezogen?!!« »Ach was… Es geht bloß darum«, meinte er verschämt, »daß ich aus Ihnen einen Tonarmee-Spezialisten gemacht habe… Ich schrieb ein paar Artikel hierhin und dorthin, in denen ich mich auf Sie als den Experten der Huan-Ti-Legende bezog. Ich erweckte den Anschein, daß Sie alles im kleinen Finger hätten, was es über diese Soldaten zu wissen gibt… Zum Glück haben mehrere Zeitschriften meine Ausführungen übernommen. Aus Ihnen ist ein ernstzunehmender Sinologe geworden, Lawrence!« »Ich bringe Sie um!« »Stellen Sie sich hinten an… Das schönste war, daß mir die Kerle auf den Leim gegangen sind! Man hat Sie zusammen mit den anderen hierhergebracht. Ich hatte nichts weiter zu tun, als Ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen. Seit Monaten hetzen wir hinter Ihnen her…« »Wir?« Er schluckte und blickte betrübt drein. Seine Stimme klang auf einmal sehr traurig. »Ich … hatte mich mit einer Kollegin aus Thailand zusammengetan. Sie war von den Bangkok News.« »Ist Sie hier bei uns?« Er nickte. Sein sonst so spöttisches Gesicht war wie versteinert. »Ja. Aber sie ist tot.« »Wer…?« »Es war die Stewardeß. Kalima. Ich habe sie in den Tod getrieben… Ich hätte sie nicht hier mit hineinziehen dürfen…« 150
Eigentlich hätte ich jetzt Erleichterung verspüren müssen, da es wieder ein Rätsel weniger zu lösen gab. Statt dessen zogen noch dunklere Trauerwolken am Horizont auf. Vermischt mit einigen furchterregenden Blitzen. »Die Ärmste… Aber wo sind nun die Dokumente?« »In der Maschine. Ich wollte es Ihnen gerade sagen, als ich den Dicken entdeckte. Wissen Sie, was ihn verraten hat?« »Was?« »Seine Gürtelschnallen. Sie blitzten im Mondlicht auf.« »Die Papiere…?!« »Auf meinem Sitz. In eine Zeitung gewickelt. Als wir die Rutsche runterließen, war mir nicht klar, was mich unten erwarten würde… Es schien sicherer zu sein, sie einfach dort zu lassen.« Ich seufzte und blickte zur Rutsche hinüber. Das Flugzeug lag gerade im Schatten einer Wolkenbank, also hielt ich es für möglich, unbemerkt in die Maschine zu gelangen. Nur mit meiner Lust haperte es. Sowohl Nieren als auch mein Kinn schmerzten verteufelt, und sie schienen schon vorsorglich Warnsignale von bestechender Intensität auszusenden, um mich an meinem Vorhaben zu hindern. Ich schluckte meinen Unwillen hinunter und stand zaghaft auf. »Also los!« Ich rutschte zweimal ab, Hardy nur einmal. Meine Hand hatte ich mir wundgescheuert und irgendwo wohl auch meinen Kopf angeschlagen. Schließlich, nach viertelstündigem Kampf, gab sich der Feind geschlagen, und wir kauerten im Takt keuchend in der Kabine. »Ihr Platz…?« »Der da. Sehen Sie?« Die Zeitung lag immer noch da, eine Ausgabe der Bangkok Morning Post. Ich hob sie hoch, und ein wahrer Fotokopienwasserfall ergoß sich auf den Boden. »Vorsicht, Mann!« flüsterte Hardy. Er bückte sich und klammerte die losen Blätter wieder zusammen. »Gerade Sie sollten doch Ordnung ins Chaos bringen! Wollen Sie sie jetzt lesen?« 151
»Je eher, desto besser«, meinte ich. »Ich habe das dumpfe Gefühl, daß uns morgen früh eine kleine Überraschung erwartet.« »Wie meinen Sie das?« »Mein Knie schmerzt so komisch. Das ist ein schlechtes Omen…« »Was?« »Auf jeden Fall ist die Tatsache, daß die Meos aufgetaucht sind, kein gutes Zeichen. Jemand hat sie geschickt, um sich zu vergewissern, ob wir die Landung mit heiler Haut überstanden haben.« »Das leuchtet mir ein… Na, dann fangen Sie mal schön an!« Durch das Fenster schien zwar ein kleiner Anteil des schimmernden Mondlichts herein, aber es reichte keinesfalls aus, um Buchstaben zu entziffern. Probeweise griff ich nach dem Schalter der Leselampe. Und war selbst am meisten überrascht, als sie funktionierte. »Ich hatte es gehofft…«, brummte Hardy. »Die Akkus halten noch eine Weile. Die Seiten sind übrigens numeriert, und ich rate Ihnen, sie der Reihe nach durchzugehen. Ich schau mich derweil ein wenig um.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg zum Gepäckraum.
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ie erste Seite enthielt eine chronologische Tabelle. Ich überflog die Zeilen, fand aber nichts Interessantes. Hardy hatte sie wohl angefertigt, um sich besser orientieren zu können: • 1911 Fall des Chinesischen Kaisertums. Gründung einer Republik mit General Jüan Shi-kaj als Präsidenten. • 1912 Gründung des Kuomintang (Nationale Partei). Jüan Shikaj löst das Parlament auf und regiert das Land durch eine 152
• 1921 • 1927 • 1931 • 1937 • 1949
Militärdiktatur. Zusammenbruch der Verwaltung, China zerfällt in einzelne Landesteile, die von rivalisierenden Putschisten regiert werden. Gründung der Kommunistischen Partei. Der Kuomintang, angeführt von Chang Kai-shek, löst sich von der KP. Japan greift China an. In der Mandschurei wird Mandshukuos Marionettenregierung ins Leben gerufen. Japan erobert Schanghai. Japan greift Peking an. Gründung der Volksrepublik China.
So aufmerksam ich das Blatt auch betrachtete, es sagte mir nichts Neues, was nicht jeder Mensch sowieso schon wußte, der sich einigermaßen mit der neueren Geschichte Chinas auskannte. Papier Nummer zwei war die Kopie eines Zeitungsartikels, den Hardy seiner kurzen Randnotiz zufolge einem Hamburger Blatt von 1930 entnommen hatte. Der knappe Text berichtete über die Tagung irgendeines Kuratoriums, auf der ein gewisser W. Warnecke sich nach dem Fortschritt der Arbeiten einer deutsch-amerikanischen Expedition in China erkundigte. Der namentlich nicht genannte Antwortgeber versicherte, daß die Archäologen bereits im Gelände arbeiten würden, Informationen über sie aber nur sehr sporadisch Deutschland erreichten. Zuletzt hatte man sie in der Mandschurei gesichtet. Der Artikel war datiert vom 3. Dezember 1930. Das dritte Dokument war ebenfalls ein Zeitungsartikel, aus einer anderen Hamburger Zeitung. Eine gewisse Elsa Winter wandte sich mit einem offenen Brief an den Bürgermeister der Stadt. Sie legte ihm nahe, der Stadtrat möge bei der Regierung erwirken, daß intensiv nach den vermißten Personen gesucht werden solle. Sie forderte, die deutsche Regierung solle sich mit der japanischen in Verbindung setzen, um zu erfahren, ob die Expedition in der Tat die besetzte Mandschurei verlassen harte. 153
Datiert vom 14. Dezember 1933. Die restlichen Zeitungsausschnitte liefen in etwa auf dieselben Schlüsse hinaus. Anhand der gesammelten Informationen ergab sich nun folgendes Bild: Im Herbst 1937, nach etlichen Jahren der Verzweiflung, tauchte die Expedition wieder auf. Frühere Quellen gaben keine genaue Auskunft über die Anzahl der Mitglieder oder wer namentlich unter den Forschern zu finden war. Offenbar konnte Hardy diesbezüglich nichts ausgraben. Die Artikel von 1938 sprachen von fünfzehn, spätere Berichte sogar von sechzehn Teilnehmern – sofern man Teile eines privaten Briefes überhaupt als einen Bericht bezeichnen konnte. Geschrieben im Juni 1939 von einer Frau Luise Martin an Unbekannt. Wo auch immer der fleißige Hardy dieses Stück Papier herhatte, es eröffnete weitere Einblicke in die rätselhafte Geschichte der Archäologentruppe. Luise Martin war als Frau eines Händlers lange in China gewesen und schrieb kurz nach ihrer Ankunft in Europa einen Brief an ihre Freundin. Die Fotokopie zeigte nur den Teil des privaten Schriftstückes, den Hardy für interessant und relevant gehalten hatte. Als ich es so durchlas, wurde mir bewußt, daß der Reporter ein angeborenes Talent dazu hatte, Mosaiksteinchen zusammenzufügen. Es gehörte zu seinem Beruf, scheinbar vollkommen unwichtige Teilchen nebeneinanderzulegen und einigermaßen korrekte Rückschlüsse aus ihnen zu ziehen. Zweifelsfrei hatte seine Spürnase auch diesmal gut funktioniert. In dem ziemlich unleserlichen Text hatte man – wahrscheinlich war es Hardy selbst gewesen – mit dickem, schwarzem Bleistift mehrere Passagen unterstrichen. Ich las die Zeilen mit wachsendem Interesse, und als ich fertig war, wollte mir die Sache noch immer nicht ganz klar werden. Als ob jeder, der irgend etwas über diese Expedition gewußt hatte, es als seine Pflicht angesehen hatte, in Rätseln zu sprechen. Nun, der Brief von Luise Martin erwähnte ein unangenehmes Ereignis, von dem man ihr vorher versichert hatte, es würde nie eintreffen. Es blieben ihnen nur wenige Tage, um zu packen. Sie woll154
ten gerade aufbrechen, als ein gewisser Lenoux von der französischen Botschaft ihnen einen Besuch abstattete. Luise hatte eine lange Unterredung mit ihm. Aus welchem Grund – und warum sie das unternahm, und nicht ihr Mann – blieb unklar. Um so klarer war, daß Lenoux in Sorge war. Es ging ihm um einen Leutnant La Coster, der von seiner Reise in eine von Seuchen geplagte Region längst wieder hätte zurück sein sollen. Die Evakuierung der Botschaft in Peking stand kurz bevor, und man würde La Coster in China lassen müssen, wenn es nicht gelang, mit ihm in Kontakt zu treten. Am Ende bat Lenoux Luise, La Coster über einen gewissen Herrn Müller die Information zukommen zu lassen, daß er sich der Expedition anschließen möge. Ich ließ den Papierstoß in meinen Schoß fallen und versuchte, auf einen grünen Zweig zu kommen. Scheinbar hatte sich dieser rätselhafte Leutnant den Archäologen angeschlossen, und so wurden aus fünfzehn plötzlich sechzehn Mitglieder… Na und? Ich blätterte weiter. Die nächsten Seiten bestanden aus Dokumenten und Notizen zu Oberst Lei Tshung-tao. Das erste davon, ein mit chinesischen Schriftzeichen und etlichen Tintenflecken übersätes, zerschlissenes Papier, glich eher einem Flugblatt als einem Zeitungsartikel. Ich war schon dabei, all meine Chinesischkenntnisse zusammenzuraffen, als ich merkte, daß der umsichtige Hardy auf der Rückseite bereits eine Übersetzung beigefügt hatte. Selbst der literarisch gehobene Sprachstil des Übersetzers aber konnte nicht über den abfälligen Ton des Originals hinwegtäuschen. Es handelte sich um eine einzige Haßtirade gegen Lei Tshung-tao. Der Schreiber, irgendein Sekretär einer örtlichen KP-Zentrale, skizzierte kurz Leis Laufbahn und ›demaskierte‹ dann den ›japanischen Agenten‹. Er beschuldigte ihn, auf Geheiß seines Vorgesetzten mit dem Feind zu kooperieren, nannte ihn einen Dieb, japanischen Lakaien und mehrfachen Mörder. Erneut blickte ich nachdenklich vor mich hin. Der Mann ohne Gesicht… Also hatte er die Fronten gewechselt. Oder war das auch 155
nur ein Täuschungsmanöver…? Die nächsten Blätter waren wohl interne Dokumente, in trockener Beamtensprache. Was ihren Inhalt vielleicht um so mehr verstärkte. 1950 wandte sich das Internationale Rote Kreuz mit der Bitte an die Chinesische Volksregierung, ihm bei der Suche nach der seit 1930 verschollenen deutsch-amerikanischen archäologischen Expedition zu helfen. Im März 1951 teilte die Regierung dem Roten Kreuz mit, daß man anhand diverser Hinweise aus der Bevölkerung in der Nähe von Hangtshou auf ein Massengrab gestoßen sei, das man aufgrund der bei der Exhumierung zu Tage geförderten Erkenntnisse als letzte Ruhestätte der verschwundenen Expedition betrachten konnte. Diverse Zeichen deuteten auf das Werk der japanischen Besatzungstruppen hin. Alle Forscher waren mit einem Genickschuß getötet worden. Im September bedankte sich das Internationale Rote Kreuz bei der Regierung und dem Volk von China für die Hilfe, die man den Mitarbeitern der Organisation bei der Suche nach Hinweisen geleistet hatte. Im weiteren Verlauf bröckelte dann die Informationsflut zwischen den beiden Organen ab, so daß sich kein eindeutiger Hinweis ergab, ob man später die sterblichen Überreste der Toten in ihre Heimat hatte ausführen dürfen. Noch weniger, ob man etwas über die verbliebenen drei Mitglieder herausgefunden hatte. Und über Leutnant La Coster, falls er sich wirklich der Expedition angeschlossen haben sollte. Ich wischte mir die Stirn ab und las weiter. Die nächste Kopie verewigte einen französischen Artikel aus einem zweitklassigen Boulevardblatt, das ich selbst manchmal zu vertilgen pflegte, wenn mich der Zufall nach Paris führte. Diese Art von Magazinen paßte ideal zu den Zeithäppchen, die man sich im Zug oder Flugzeug nimmt, um dann bald darauf wieder alles schnell zu vergessen. Was allerdings auf diese Zeilen nicht zutraf. Im Gegenteil. Ich spürte, wie sich alle meine Sinne in Bereitschaft versetzten, als ich die 156
Überschrift las. ›DIE TONARMEE: KEINE LEGENDE, SONDERN WIRKLICHKEIT!‹ Der Untertitel verhieß noch mehr: ›Hat man Huan-Tis Tonsoldaten gefunden?!‹ Ich plazierte die restlichen Seiten neben mir auf dem Sitz und vertiefte mich in den Artikel des geübten Journalisten. Nach dem besagten Duo in Großbuchstaben folgte der teilweise kursiv gehaltene Haupttext. ›Von unserem Hamburger Korrespondenten. Nach der gestrigen Pressekonferenz in einem unterirdischen Bunker könnte eine rätselhafte Legende endlich ihre Bestätigung finden. Mehrere unbekannte Personen suchten unsere Mitarbeiterin am Samstag spätabends mit der Nachricht auf, daß sie ihr gerne einen der Tonsoldaten aus HuanTis Schatz zeigen würden. Unsere Korrespondentin, eine Absolventin der Münchener Kunstakademie, nahm die Gelegenheit natürlich sofort wahr und stimmte einer Teilnahme an dem geheimnisvollen Treffen zu.‹ Danach führte der Verfasser detailliert die Legende der Tonarmee aus und umriß auch ein vages Bild von Huan-Tis Zeitalter. Er bemerkte, daß man im Laufe der Geschichte mehrere Versuche unternommen hatte, die Soldaten zu finden, bisher aber keinen Erfolg aufweisen konnte. Die Gräber waren für die Archäologen immer wieder eine Enttäuschung gewesen. Dann folgte die Beschreibung des dubiosen Treffens. Die Ausführungen der Reporterin, einer gewissen Lilly Kohn, zeichneten ein wirres und bizarres Szenario auf. An einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit erschienen, verbanden ihr maskierte Männer die Augen und führten sie nach gut eineinhalbstündiger Autofahrt in einen unterirdischen Bunker. Die Korrespondentin beteuerte, daß die lange Fahrt wohl eher der Irreführung galt, denn sie vernahm in der Zwischenzeit dreimal die Ansagerstimme des Hauptbahnhofes. Als man ihr die Binde von den Augen nahm, dachte sie, versehentlich oder mit Absicht zum geheimen Treffpunkt irgendeiner Sekte geschleppt worden zu sein. Der Raum, in den auch andere Mit157
glieder der Pressekonferenz gebracht wurden, war wohl ehemals ein Luftschutzkeller gewesen. Die vielen obszönen Zeichnungen an den alten Wänden ließen dies zumindest erahnen. In den Metallhaltern unter der Decke brannten Fackeln und überzogen die unterirdische Welt mit einem eigentümlich gruseligen Licht. Mehrere Male rannte eine Ratte an den Beinen der Reporterin vorbei. In der linken Ecke des Raumes stand eine Bank für die vier Journalisten. Die drei Kollegen waren Lilly Kohn gänzlich unbekannt. Erst später kam ihr die Möglichkeit in den Sinn, daß man das Ganze nur ihretwegen so inszeniert hatte. Gegenüber der Holzbank stand ein langer, mit schwarzer Seide bedeckter Tisch, der von Kerzen beleuchtet war. Dahinter saßen die Männer mit den Strumpfhosen über dem Kopf. Man erlaubte den Anwesenden, sich Notizen zu machen, dann stand einer der Gastgeber auf. Er erzählte kurz die Geschichte der Tonsoldaten, sprach ein wenig über Huan-Ti und verkündete schließlich, eine private Organisation hätte die unterirdische Armee gefunden. Er erwähnte zwar keine genaue Zahl, ließ aber durchblicken, daß es sich um eine ungeheuer große Menge an lebensgroßen Figuren handeln mußte, eventuell sogar mehrere tausend. Die Maße würden mit denen eines realen Menschen übereinstimmen, und die Legenden würden nicht übertreiben, wenn sie davon sprächen, daß wirklich jeder Tonsoldat ein eigenständiges, unverwechselbares Gesicht trüge, also einem tatsächlichen Menschen nachgebildet worden sei. Der Mann, der mit einem starken amerikanischen Akzent sprach, behauptete, daß die Soldaten bereits vor dem Krieg von einer internationalen Expedition entdeckt worden seien, was Lilly Kohn später als eindeutigen Hinweis auf die verschwundene deutsch-amerikanische Forschertruppe deutete. An dieser Stelle ging sie außerdem auf die Tatsache ein, daß bei der Exhumierung drei Mitglieder verschwunden geblieben waren. Ihre Angehörigen hatten kurz darauf alle Hoffnung aufgegeben, und die Namen kamen ins Re158
gister der für immer Vermißten. Ich hörte für eine Weile auf zu lesen und blickte aus dem Fenster in die trübe Dschungelnacht hinaus. Über Leutnant La Coster gab es bisher nichts zu lesen. Warum wohl? Was danach passierte, verwies Lilly später ins Land der phantastischen Abenteuer. Der Redeführer sagte, die Armee wäre nicht auf dem Gebiet der jetzigen Volksrepublik vergraben. Die Finder erkannten keine Verwaltung oder irgendein irdisches Hoheitsgebiet an. Sie hätten nicht vor, die Tonsoldaten einem Museum zu vermachen, sondern wollten sie versteigern. Der Erlös würde man später Wohltätigkeitsorganisationen, der Krebsforschung und anderen humanitären Institutionen stiften. Als Glanzpunkt der Vorstellung wurde ein kleiner Wagen hereingerollt, auf dem eine menschengroße, verdeckte Gestalt lag. Der Mann setzte sich hin, und eine andere Person, diesmal eine Frau, übernahm das Wort. Sie sagte, daß es ihnen gelungen wäre, einen der Soldaten nach Europa zu bringen, und in wenigen Sekunden die sehr verehrten Mitglieder der Presse die Gelegenheit haben würden, sich selbst vom Wahrheitsgehalt des Gesagten zu überzeugen. Als zweite nach den Entdeckern könnten nun sie einen Blick auf die zwei Jahrtausende alte Figur werfen. Unsere Reporterin war so erregt, daß ihr beinahe schlecht wurde. Die Dame hinter dem Tisch setzte sich, und ihre Helfer zogen betont langsam das schwarze Seidentuch von der Statue. Kurz darauf blickte den Journalisten einer von Huan-Tis Bogenschützen entgegen. Die vier Auserwählten sprangen natürlich auf und baten, sich den Tonsoldaten näher anschauen zu dürfen. Die Maskierten genehmigten dies, und jeder bekam drei Minuten zur Verfügung. Zusammenfassend bemerkte Lilly Kohn, daß es wohl das größte kunsthistorische Ereignis ihres Lebens gewesen sei. Den Bogenschützen hatte man aus einem besonderen Ton hergestellt. Die Oberfläche war bemalt worden, aber die Farbe war an den meisten Stellen bereits verblaßt oder abgeblättert. Zum Teil konn159
te man kaum noch ihre Spuren entdecken. Köcher und Bogen ließen unschwer die Waffengattung des Soldaten erkennen. Er war ein dunkel dreinblickender, stupsnäsiger Mann mit Schnauzer und langem Haar; vom Typ her eher indoeuropäisch als chinesisch. Lilly faltete ihre Hände zusammen und bat inniglichst, eine Zeichnung von ihm machen zu dürfen. Zuerst wollte man es ihr nicht gestatten, aber als die völlig verzweifelte Reporterin nicht locker ließ, willigte man schließlich doch noch ein. Da die Zeit nur sehr knapp war, konnte sie natürlich nur die wichtigsten Merkmale festhalten. Dennoch war die grobe Zeichnung eine kleine Sensation. Ich begutachtete das umrahmte Bildchen und sah eine Figur, die vom Stil her in etwa denen glich, die – im kleineren Format natürlich – in meiner Tasche auf bessere Zeiten hofften. Danach folgte die Beschreibung der Rückfahrt, begleitet von einigen Schlußfolgerungen. Letztlich schrieb die Journalistin, es wäre hundertprozentig eine echte Tonfigur aus Huan-Tis Nachlaß gewesen, was sie unter anderem auch noch damit belegte, daß man ihr kurz vor dem Ende der Pressekonferenz ein Foto gezeigt hatte, welches am Ort der Ausgrabungen fünfzehn weitere Soldaten, zum Teil noch in der Erde, abbildete. Das Grab des Huan-Ti lag demzufolge in einem Tal oder einer Senkung, und in einer oberen Ecke konnte man schwach drei zusammengehörende Bergspitzen erkennen. Der Artikel schloß mit dem Satz, daß man hoffentlich bald einige der Tonsoldaten in den großen Museen der Welt bewundern können werde. Ich schaute mir noch einmal die kleine Zeichnung an, wollte mir das Gesicht des Bogenschützen ganz genau einprägen. Dann legte ich den Artikel beiseite und machte mich an das nächste Dokument. Es war ein Nachruf. Die trauernde Familie gab schweren Herzens bekannt, daß die bekannte Reporterin und Kunsthistorikerin Lilly Kohn Opfer eines tragischen Verkehrsunfalls geworden sei. Ein Wagen hätte sie auf dem Bürgersteig erfaßt, der Fahrer konnte nicht 160
gefaßt werden. Verdammt! Langsam wurde mir klar, warum Hardy so wild auf die Geschichte war. Anscheinend gab es hier ein neues Tutenchamun-Syndrom. Nicht nur der Pharao, auch Tonsoldaten konnten also töten? Los! Her mit dem nächsten Zettel! Hastig las ich die ersten Zeilen und ließ das Blatt beinahe wieder fallen. Mein Kinn meldete sich mit einem dumpfen Schmerz, und meine Augen pochten. Auch dieser Artikel stammte aus einer Zeitung. Bud Gregory aus Los Angeles schrieb 1952 eine Reportage, die ziemlich genau der vorherigen ähnelte. Gregory wurde als Journalist der LA Time ebenfalls von rätselhaften Entführern zu einer sogenannten Pressekonferenz gelockt, wo er sogar Fotos machen durfte. Dieses Bild zeigte zweifelsfrei einen anderen Tonsoldaten. Ein spitzer Speer ruhte auf der Schulter, und der Mann selbst hatte mongolische Züge. Mit den schmalen Augen in seinem breiten Gesicht schien er mich direkt anzustarren. Ich legte die Kopie hin und kam zur nächsten. Selbstverständlich war auch diese ein Nachruf.
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ch hielt die Zeilen näher an das flackernde, trübe Licht, und las mit einem flauen Gefühl im Magen die mitleidsvollen Worte. Die trauernden Verwandten teilten hiermit allen Freunden, Kollegen und Bekannten mit, daß Bud Gregory, Kunstexperte der Los Angeles Time bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sei. Er hatte nachts im Ozean gebadet und konnte später nur noch tot geborgen werden. Asche zu Asche, Staub zu Staub! Ich lehnte mich zurück und verdaute das bisher gelesene. Leider 161
wollte sich immer noch kein Bild zusammenfügen. Als ob ein dicker, dunkler Schleier die Sicht versperren würde. Ich weiß nicht, wie lange ich in Gedanken versunken dasaß. Es hätte eine halbe Stunde sein können oder auch nur Minuten. Ich schreckte erst auf, als Hardy keuchend neben mir erschien. »Vorsicht«, rang er nach Luft. »Wir kriegen Besuch!« Er klatschte mit der Hand auf den kleinen Lichtschalter. In der plötzlichen Dunkelheit erschien die im silbernen Mondlicht schimmernde Kabine wie ein unterirdisches Grab. Mein Gott, das war es ja! Schließlich waren wir beim Dreispitzberg… Hardy schaute aus dem ovalen Fenster. »Ich hätte schwören können, daß jemand die Rutsche hochklettert. Ich hab' sogar das Kratzen gehört!« »Was gab es unten zu sehen?« »Was schon? Die Pandas. Kein schöner Anblick!« »Und … Ihre Kollegin?« Sein Blick verfinsterte sich. Er antwortete nicht, starrte nur aus der Luke. »Haben Sie etwas gefunden?« drehte er sich schließlich wieder um. Was hätte ich ihm antworten sollen? Viele äußerst interessante Sachen, die mindestens genauso rätselhaft waren…? »Wir müßten das noch mal im Detail durchsprechen…«, meinte ich und kratzte mich am Haaransatz. »Ich habe Ihnen alles erzählt. Sagen Sie mir, warum?« »Was warum?« »Warum hat man Kalima umgebracht?« fragte Hardy. »Weil Sie Ihre Nase in Dinge gesteckt haben, die nicht für Sie bestimmt waren. Woher konnten die bloß wissen, wer Sie sind und was Sie vorhaben?« »Na, und bei den Pandabären?« Ich breitete die Arme aus. »Wofür halten Sie mich? Auf jeden Fall sind wir beim Berg mit den drei Spitzen. Sie haben ja das Foto von den Ausgrabungen ge162
sehen. Wir dürften nicht weit davon entfernt sein.« Plötzlich horchte er auf und hob dann den Zeigefinger. »Hören Sie?! Das Kratzen!« Diesmal nahm auch ich es wahr. Jemand war auf der Notrutsche auf dem Weg nach oben. »Was sollen wir tun?« Da dieser Salon direkt am Ausgang mündete, hielt ich es für besser, ein Abteil weiter nach vorne zu gehen. Wir passierten gerade die Trenngardine, als mit einem leisen Knirschen die Tür des Notausstiegs zur Seite geschoben wurde. Jemand betrat den Salon, den wir eben verlassen hatten. Oder waren es mehrere Personen?
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ir zogen uns zwischen zwei Sitzreihen zurück. Fast eine Viertelstunde hielten wir es in unserer Deckung aus, und währenddessen hörte ich immer noch das Knirschen der Tür. Neben mir grunzte Hardy unruhig. Mehrmals warf ich einen verstohlenen Blick in seine Richtung. Ehrlich gesagt, wußte ich nicht, was ich tun soll. Oder was zum Teufel der Ankömmling mit der Tür vorhatte. Wollte er sie aus den Angeln heben? Nachdem sie immer weiter diese seltsamen Geräusche von sich gab, wurde ich des Wartens überdrüssig. Ich streckte den Lauf des Schalldämpfers vor, den ich zusammen mit dem Colt meinem schwitzenden Möchtegernmörder abgenommen hatte, und lugte um die Ecke. Auch in Hardys Hand erschien eine ehrfurchterweckende 45er. Bereits nach dem ersten zaghaften Blick stieß ich eine böse Verwünschung aus. Die Lukentür bewegte sich wirklich, nur eben nicht von Geisterhand getrieben, sondern durch den Wind. Es war alles 163
nur ein Spiel der auffrischenden morgendlichen Windböen. Hardy zog fragend die Augenbrauen hoch. Ich wollte ihm meine Entdeckung gerade mitteilen, als ich plötzlich vom Gepäckraum her leise Wortfetzen vernahm. Als ob die örtlichen Geister ihre Strategie für die drohende Morgendämmerung besprechen würden. Mit dem Reporter im Schlepptau schlich ich die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten unter unserem Gewicht, und jedes Geräusch ähnelte dem einer Maschinenpistolensalve. Es war dunkel, wie in der tiefsten Hölle. Auch die Leichen der Pandas wollten diese Analogie irgendwie nicht aus meinem Kopf verbannen… Die bunt zusammengewürfelten Gepäckstücke türmten sich, kleinen Bergspitzen gleich, vor unseren Augen auf. Die dumpfen Männerstimmen und die um einiges angenehmere weibliche erschienen in dem düsteren Raum vollkommen unwirklich. Es war wirklich wie in einer Kulisse der Traum- oder Geisterwelt. Um uns herum die Toten, vermengt mit den rätselhaften Stimmen aus dem Grab. Hardy blieb hinter mir stehen und schnaufte unruhig. »Was ist das? Ein Kassettenrecorder?« In der Tat hörte es sich an wie eine Bandaufnahme, die irgendwo zwischen den Koffern nun von Geisterhand abgespielt wurde. Die Töne umwebten mich, nahmen mich in den Arm und flüsterten mir ihre betörenden Rufe zu. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. Dann brach eine harte Stimme den Zauber, gefolgt von der Antwort einer Frau. Wenn ich es richtig heraushörte, auf englisch, aber die genaue Bedeutung war nicht auszumachen. Ich hob den Kopf und atmete tief durch. Versuchte, die Herkunft der Stimmen zu entdecken. Es klang so nah, und doch … schien irgendwas zwischen uns zu sein. Sie konnten logischerweise nur im Salon über uns sein. Mit zwei ausgestreckten Fingern deutete ich dem Reporter an, daß wir gemeinsam wieder hochgehen würden. Er nickte und übernahm die Führung. Wir erreichten die Treppe. Als ich über die Leichen der Pandas 164
stieg, stieg der schwere Duft der Verwesung in meine Nase. Es war warm, als würde jemand die Boeing von unten heizen. Vor der Gardine blieben wir stehen. Hardy zuckte mit den Schultern und zeigte damit, daß er keine Alternative sah. Wir mußten auf den Nutzen des Überraschungseffektes hoffen. Ich nickte, steckte den Revolver in meine Hintertasche und griff mit beiden Händen zu den Flügeln des Vorhangs. Dann blickte ich dem Reporter tief in die Augen. Er seufzte theatralisch und nickte mir schließlich zu. Der Rest ging wie geschmiert. Nach den klassischen Regeln des Überraschungsangriffes. Die Gardinen sprangen zur Seite und wir dafür in die Kabine. Hardy fiel auf die Knie, mit der Waffe im Anschlag, während ich bereits mit gezücktem Lauf zwischen den Sitzreihen unterwegs war. Die schwachen Strahlen des Mondes beleuchteten schadenfroh unsere Bemühungen und die traurig baumelnden Vorhänge, die wie Flügel eines Nachtfalters zum Start ansetzten. Kein Mensch war im Abteil, nur die Stimmen. Die rätselhaften Stimmen, die uns ständig einkreisten, in ihren Bann zogen. Hardy fuhr leise auf, wischte sich die Stirn ab und schüttelte ungläubig seinen Rotschopf. Die Geister flüsterten, zogen belustigt ihre Kreise um unsere Köpfe. Und schienen uns wieder in den Frachtraum zurücklocken zu wollen. Inzwischen legte ich jegliche Vorsicht ab. Wie eine wildgewordene Herde trampelten wir in den Bauch der Maschine zurück, hinweg über übelriechende Pandabären, vorbei an Kofferbergen. Und standen in etwa da, wo wir vorhin gewesen waren. Auch im übertragenen Sinne: Es war einfach niemand im Abteil. Nur die Stimmen, die miteinander verbundenen, wirren Stimmen. Ich lehnte mich an die Außenwand und starrte blicklos in die Dunkelheit. Die Stimmen schienen aus der Tiefe zukommen, aus ein paar Metern Tiefe und vielleicht ein paar tausend Jahren Vergangenheit. Es klang wie ein uralter, chinesischer Dialekt. 165
Hardy stemmte seine Hände in die Hüften und schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Tonsoldaten…?« Der Wortschwall hielt an, wurde sogar noch intensiver, als ob einer der Geister extra für uns die Lautstärke hochgedreht hätte. Das Band blieb weiterhin ein einziges Rätsel: Manchmal hörte es sich wie ein Monolog an, manchmal wie das Durcheinander von mehreren hundert Leuten. »Verdammt…«, murmelte der Reporter. »Das klingt wie aus der Liftkabine…« Im selben Moment war der Zauber, die Gaukelei der Tonsoldaten vorbei. Wir schauten einander in die Augen und entdeckten im selben Moment die Wahrheit. Er grunzte und rannte ans andere Ende des Kofferberges. Wir umringten die Eisentür zum Aufzug von zwei Seiten. Vorsichtig, die Waffe auf die erhoffte Öffnung gerichtet, drückte ich den Knopf, der uns Einlaß gewähren sollte. Die Tür knirschte, wollte aber nicht in die Wand rutschen. Sie versperrte uns starr und fest den Zugang. Auch mit vereintem Schulterdrücken hatten wir keinen Erfolg. »Es geht nicht«, flüsterte Hardy kurze Zeit später. »Sie werden wohl den Aufzug zwischen den beiden Ausgängen angehalten haben.« Ich stellte mir vor, wie sie da oben in dem engen Raum zusammengepfercht über Dinge sprachen, die höchstwahrscheinlich auch mich etwas angingen. Ich bedeutete Hardy, sich nicht zu bewegen, und preßte mein Ohr an die Eisentür. Und das Wunder geschah. Ich hörte ihr Gespräch wie in einer Radioübertragung. Die Tonhöhe wurde zwar etwas verfälscht, aber ich konnte jedes Wort verstehen. Es handelte sich eindeutig um zwei Frauen und zwei Männer. Hardy tat es mir nach und lauschte ebenfalls gespannt. Noch bevor ich mich vollkommen dem Genuß des Lauschens hingab, kam mir der Gedanke, was wohl aus der armen Stewardeß geworden war. Aber vorerst erschien mir diese Frage nicht so wich166
tig. Wortführer war zweifelsfrei eine befehlsgewohnte Frauenstimme. In Gedanken ging ich meine weiblichen Bekannten auf diesem Flug durch, fand aber kein passendes Gesicht zu dem Organ. »Sie müssen Menschen umbringen … mit den eigenen Händen«, sagte sie gerade. »Blut vergießen. Das Spiel fängt an, ernst zu werden. Sind Sie sich auch sicher, daß Sie es schaffen können?« »Ja«, antworteten die anderen. »In Ordnung«, seufzte sie und schien ein wenig zu zögern. »Es gibt da etwas, das mich beunruhigt… Ein Mann, der mir nicht gefällt. Er könnte alles komplizieren.« »Wer?« erkundigte sich eine männliche Stimme. »Lawrence. Der Kerl, der sich als Pandaforscher ausgibt. Ich weiß aber genau, was er wirklich ist.« »Was denn?« erschrak die andere Dame. »Ein ehemaliges Mitglied der Royal Air Force. Geheimagent und so. Hart wie Stahl. Dagegen wäre eine Kobra ein niedlicher Osterhase. Wenn der von der Sache Wind bekommt, könnte er alles vermasseln.« »Dann muß er sterben!« konstatierte die resolute Männerstimme. »Genau dieser Meinung bin ich auch«, antwortete sie. »Wer übernimmt seine Liquidierung?« Es war schon interessant, mit zuzuhören, wie sie über mein Leben entschieden. Als ob es dabei gar nicht um meine Haut gehen würde. Nebenbei allerdings machte ich mir schon Gedanken, welche Gesichter zu den Organen paßten. Es war still, keiner beeilte sich, zu meinem Henker ernannt zu werden. »Na ja«, meinte die Frau, »ich kann Ihre Gefühle verstehen. Es ist schwer, jemanden umzubringen, der uns nichts getan hat. Aber denken Sie daran, daß er es tun könnte.« »In Ordnung«, meinte der Mann von eben zögernd. »Ich werde ihn töten.« »Ich auch«, bot sich der andere an. 167
Ich verzog den Mund und konnte keinesfalls Hardys anerkennendes Zwinkern erwidern, das er mir in Anbetracht der plötzlichen Berühmtheit meiner Person schenkte. Auch erfüllte es mich irgendwie nicht gerade mit Freude zu hören, daß sich gleich mehrere Männer meiner Ermordung widmen wollten. Wieder folgte ein kurzes, betretenes Schweigen, als ob sie alle gerade verlegen zu Boden starren würden. »Danke«, meinte schließlich die herrische Frauenstimme. »Genau das habe ich von Ihnen auch erwartet. Aber ich denke, es wird wohl doch meine Angelegenheit bleiben. Ich muß es tun. Noch bevor die Sonne aufgeht, wird Lawrence sterben!« Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und preßte die Lippen zusammen. Noch bevor die Sonne aufgeht? Da hatte ich aber wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!
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ieder folgte eine längere Pause. Und wieder war es die Rädelsführerin, die das Schweigen brach. »Nachdem wir Lawrence losgeworden sind, kann die Hauptvorstellung beginnen.« »Aber wann?« »Das hängt nicht von uns ab. Die Uhr tickt. Und wir wissen nicht, wann die Bombe explodiert.« »Nicht, daß wir mit in die Luft fliegen«, meinte die eine Männerstimme besorgt. »Haben Sie etwa Angst?« »Ach was. Nur … ich sehe unseren Fluchtweg noch nicht so klar.« »Es gibt keinen!« 168
»Wie bitte?!« herrschte die andere Frau sie an. »Ich meinte natürlich, für mich wird es keinen geben.« Ich hätte einen ganzen Aufsatz über die Charakteristik von Stimmen schreiben können. Bereits nach wenigen Sätzen wurde klar, daß die Eigentümer der beiden energischen Organe, die resolute Dame und einer der Männer, die beiden anderen übers Ohr hauten. Und mir war auch klar, daß es ein Spiel auf Leben und Tod war. »Also«, fing der andere zaghaft wieder an, »als ich damals eingewilligt habe…« »Haben Sie es sich anderes überlegt?« wollte die Frau wissen. »Ihnen ist bekannt, was die Strafe für…« »Ja, natürlich, natürlich«, unterbrach sie der andere. »Aber niemand sprach davon, daß auch wir daran glauben könnten!« »Ich habe nicht vor, weiterzuleben«, antwortete sie. »Nicht nach dem, was wir vorhaben.« In diesem Moment rutschte Hardy aus und knallte gegen die Tür. Was danach folgte, war wie ein schlechter Traum. Der Reporter fiel auf den Boden und fluchte entsetzlich. Ich sprang hoch, um die Treppe hinaufzuhetzen, aber ein ausgestrecktes Bein, das mir plötzlich aus einer Koffernische in den Weg gestellt wurde, brachte auch mich zum Fall. Ich flog durch die Luft und landete direkt auf Hardy, der sich gerade aufgerappelt hatte und nun erneut zu Boden ging. Wir schlugen Purzelbäume wie herumtollende Bärenjungen im Zoo. Zuerst stieß ich mit meinem Kopf gegen den von Hardy, dann traf ich den Boden und schließlich – wie auch immer mir das vor die Nase kam – mein eigenes Knie. Als ich den Reporter abgeschüttelt hatte und wieder auf die Beine gekommen war, nahm ich mir vor, jeden umzubringen, der sich mir noch einmal in den Weg zu stellen wagte. Vor allem den Kerl, der zwischen den Kofferbergen lauerte. Da es ziemlich dunkel war, konnte ich ihn nicht gleich finden. Er hatte sich eine tolle kleine Ecke eingerichtet, in die er sich wie ein Fuchs in seine Höhle zurückgezogen hatte und wo er mich beim Hineinschielen mit einem Kopftritt empfing. 169
Ich wurde immer wütender. Um nicht unwiderruflich die gute Laune zu verlieren, plazierte ich eine rechte Gerade in die Mitte der Dunkelheit. Daß ich nur die eisenbeschlagene Sohle seines Schuhwerks traf, stimmte mich auch nicht gerade fröhlicher. Der zweite Schlag betäubte ebenfalls nur den Absatz des Stiefels. Und natürlich meine Faust. Hardy war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und verfolgte das Spektakel mit gewissem Interesse. Ich bückte mich und riskierte erneut einen Blick ins Innere des Fuchsbaus. Als Dank erhielt ich eine Ohrfeige. Hardy verzog den Mund, schüttelte den Kopf und fragte mich etwas, was ich wegen meinen klingenden Ohren nicht richtig verstand. Ich glaube, in genau solchen Situationen verlieren selbst die routiniertesten Cops ihre Geduld. Sie schießen einfach drauf los. Zum Glück hatte ich eine bessere Idee. Schön langsam schob ich immer mehr Gepäckstücke von oben auf den Kopf des Feindes. Und fragte laut nach einem Streichholz, mit dem ich das Flugzeug danach in Brand setzen konnte. Mein Opfer sprang daraufhin mit selbst für umzingelte Kaninchen beachtenswerten Haken aus der Höhle. Zu Hardys Pech allerdings – und meinem Glück womöglich – auf seiner Seite. Kurz darauf sah ich, wie sich vor dem Reporter ein Schatten aufbaute, und vernahm das Geräusch einer dem Klang nach ziemlich saftigen Ohrfeige. Hardy gab einen Klagelaut zum besten und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich hörte, wie seine Pistole den Gang entlangschlitterte. In diesem Augenblick gab ich die Taktik auf, den Angreifer im Nahkampf überwältigen zu wollen. Ich richtete die Waffe auf den Feind … oder besser gesagt, hatte es vor, denn der Übeltäter war im ständig lichter werdenden Halbdunkel wie vom Erdboden verschluckt. Daß er nicht bloß ein Phantom meiner Einbildung gewesen war, bezeugten lediglich meine immer noch tauben Ohren und Hardys beständiges Fluchen. Mit der Waffe im Anschlag taumelte ich zu dem Reporter hinü170
ber. Diesmal war er es, der sein linkes Ohr massierte. »Wo ist er?« »Ich weiß nicht. Aber wenn ich ihn erwische, bringe ich ihn um!« »Wenn Sie ihn erwischen«, meldete sich eine klingende Stimme hinter uns zu Wort und fügte schnell noch hinzu: »Hände hoch!« Hardy hielt sich daran, ich hingegen drehte mich blitzschnell um und ließ mich zu Boden fallen. Mir war klar, daß ich mit meinem Leben spielte, aber viel blieb mir nicht übrig. Ich griff nach seinen Stiefeln und zog sie zu mir. Den darauffolgenden Kampf kann man in abgewandelter Form manchmal bei Wrestling-Übertragungen sehen. Mein Gegner setzte Füße, Hände, Zähne und seltsame Zuckungen ein, außerdem trat er Hardy auch noch in einen gewissen, sowieso schon in Mitleidenschaft gezogenen, wichtigen Körperteil. Langsam ahnte ich, um wen es sich handelte, aber sicher konnte ich mir noch nicht sein. Um dem Abhilfe zu schaffen, war diesmal ich mit dem Austeilen von Ohrfeigen dran, und mein Widersacher landete in den Gepäckstücken. Hardy keuchte, hielt die Gegend unter der Gürtellinie fest im Griff und kroch dem Feind hinterher, um sich seine Pistole wieder anzueignen. »Verdammt, wer ist dieser Idiot?« »Arschloch!« erklang es aus den Trümmern. »Du blödes Arschloch!« Ich nahm ihre Hand und befreite sie aus der mißlichen Lage. Als sie uns endlich erkannte, weiteten sich ihre Augen. »Ach, Sie?« Es war Malgorzata, unser Flugkapitän.
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ch hockte mich neben Hardy, um meinen Atem wieder in ruhige Gefilde zurückzuführen. Mal schloß sich schuldbewußt an und musterte uns besorgt. »Was machen Sie denn hier überhaupt?« »Dasselbe wollte ich Sie auch gerade fragen«, meinte Hardy. »Na hören Sie mal! Schließlich ist das hier mein Flugzeug!« Der Reporter winkte ab. Er wollte sich anscheinend nicht auf einen Streit über die Eigentumsfrage der Boeing einlassen. »Eigentlich wollte ich nur ein paar Decken holen«, gestand das Mädchen. »Die sind aber oben«, erinnerte ich sie und schüttelte den Kopf, um das Sausen in den Ohren loszuwerden. »Wie ist es möglich, daß Sie sich auf ihrer eigenen Maschine nicht auskennen?« »Ich hatte sie gerade eingesammelt, als ich ein Geräusch hörte. Jemand kam die Rutsche hoch, wahrscheinlich Sie beide!« »Und?« »Was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen? Ich rannte hier runter und versteckte mich hinter den Koffern. Mein Gott, ich wäre beinahe umgekippt, als ich die Leichen sah…« »Ist außer uns noch jemand an Ihnen vorbeigekommen?« »Ach was! Ich hab' ja noch nicht einmal Sie richtig wahrgenommen. Nur diese komischen Stimmen…« »Sie haben sie gehört?« »Ja… Es war furchtbar! Wissen Sie … ich bin ja nicht gerade schreckhaft … dann könnte ich auch kein Flugzeug steuern … aber das war etwas vollkommen anderes! Es klang wie aus einer Gruft… Wie das Gespräch von Toten. Lachen Sie mich jetzt nicht aus!« »Sie waren im Aufzug«, sagte Hardy. »Der Schacht verstärkte ihre Stimmen, aber die Eisentür veränderte die Tonlage. Deswegen klang es so seltsam.« Sie stand auf und blickte uns vorwurfsvoll an. 172
»Aus dem Liftschacht? Wer war es?« »Das wollte ich gerade feststellen, als Sie so freundlich waren und mir ein Bein stellten. Ich wage gar nicht zu fragen, weshalb…« »Weil ich Angst hatte.« »Reagieren Sie immer so, wenn Sie Angst haben?« erkundigte sich Hardy süffisant. Diesmal war es Malgorzata, die nicht auf das Thema einging. »Ich wußte gar nicht, was ich überhaupt tat. Ich sah einen Schatten vorbeihuschen und hatte Angst, daß dieser Schatten – demnach also Sie – mich entdecken würde. Mein Gott! Und Sie haben die Kerle wegen mir verpaßt!« »Ganz genau.« »Und Sie wissen nicht, wer es war?« »Nein.« »Worüber haben die sich denn unterhalten?« »Keine Ahnung«, log ich. »Man konnte kein Wort verstehen. Übrigens ist alles nicht so schlimm. Bestimmt suchten ein paar der anderen auch nur nach Decken.« »Als ich in die Maschine kletterte, schliefen aber alle noch.« Es gab da eine kleine Dissonanz in ihrer Stimme, die mir bei Tageslicht wohl gar nicht erst aufgefallen wäre. In dieser dunklen Enge aber schienen Stimmen sehr viel eindeutiger zu werden. Ich war mir sicher, daß ihr da unten etwas aufgefallen war und sie deshalb ins Flugzeug geklettert war. Ich werde mir nie verzeihen, daß ich in diesem Moment die Sache nicht weiter verfolgt und versucht hatte, aus ihr herauszuholen, was genau sie beobachtet hatte. Die Sache hätte weitaus einfacher und vor allem mit weniger Blutvergießen, beendet werden können. Leider fiel mir das zu dem Zeitpunkt nicht auf. Ich legte es einfach in einer Ecke meines Gehirnes ab, nahm zur Kenntnis, daß sie mir nicht die Wahrheit erzählt hatte, und nahm mir vor, zu einem geeigneteren Zeitpunkt etwas nachzuhaken. Mal rutschte jetzt ganz dicht an mich heran. Ihre Haare fielen wild durcheinander, und obwohl ich im Halbdunkel kaum etwas aus173
machen konnte, hätte sie sich bei der Wahl zur schönsten Pilotin der Welt meiner Stimme sicher sein können. »Und wo sind die jetzt?« »Mit dem Aufzug nach oben gefahren und sicherlich schon längst aus der Maschine gerutscht.« »Was nun?« »Wir verlassen ebenfalls das Flugzeug. Langsam dämmert es; wenn alle aufgewacht sind, können wir gemeinsam die nächsten Schritte planen.« »Meinen Sie, es gibt hier irgendein Dorf in der Nähe?« »Sicherlich.« »Woher wollen Sie das denn so genau wissen?« Ich war schon drauf und dran, ihr die Geschichte mit den Meos zu erzählen, aber dann zuckte ich nur mit den Schultern. In ein paar Stunden würde es hell sein, und dann… Ich ging vor, nach mir kam Mal und schließlich der immer noch keuchende Hardy. »Ist Ihnen was passiert?« erkundigte sich unser Flugkapitän mitfühlend. »Haben Sie sich etwa gestoßen?« Hardy brummte etwas, und ich blickte besorgt nach hinten, aber es gab keinen Grund dazu. Der Reporter erinnerte mich zwar an ein Sprichwort bezüglich gewisser Blicke, die töten können, ansonsten hielt er sich aber zurück. Wir erreichten den oberen Salon. Die Tür ins Freie stand immer noch offen, und die Mondstrahlen fielen nun ungehindert ins Flugzeuginnere. Das vom beständigen Wind verursachte Quietschen hieß uns willkommen. Ich holte mir Hardys Papiere und klemmte sie unter die Arme. Dann blickte ich auf und mußte in dieselbe Richtung starren wie die anderen zwei. In den dunklen Schlund des Lastenaufzuges.
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n der Hand des Reporters schimmerte dumpf seine Pistole, obwohl uns beiden klar war, daß wir sie nicht brauchen würden. Gegen Tote ist sie nämlich wirkungslos. Das trübe Halbdunkel beleuchtete nur das untere Drittel der Kabine, die Strahlen des silbernen Nachtgefährten reichten nicht mehr in die oberen Regionen. Deswegen sahen wir vorerst auch keine Leiche, nur die zwei goldenen Pantoffel, die in dem leichten Luftzug hin und her schwangen. Hardy stand wie die biblische Salzsäule vor dem Phänomen. »Mein Gott«, raunte er, »das … das darf nicht wahr sein! Neeiin!« Ich befürchtete schon, er würde um sich schießen. Also nahm ich den Arm unserer Pilotin und zog sie vorsichtig beiseite. Die Leiche drehte sich mit unnatürlich verrenkten Beinen weiter um die eigene Achse, als ob nichts passiert wäre. Hardy lehnte sich an die Wand, rutschte zu Boden und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Das ist … unmöglich! Unmöglich!« stöhnte er. »Sagen Sie mir, daß ich träume!« Er wollte in den Aufzug klettern, aber ich hielt ihn noch rechtzeitig am Anzugzipfel fest. Hätte ich nicht Minuten zuvor die Stimmen gehört, wäre ich wohl als erster hineingesprungen. Wie hatte doch gleich noch einmal die nette Lady gesagt? Noch bevor die Sonne aufsteigt, wird Lawrence tot sein. Ich schaute aus dem Fenster und sah bereits die Morgenröte. Dort standen wir also und wagten nicht, uns zu bewegen. Obwohl ich gerne hineingeklettert wäre, tat ich es aus mehreren Gründen nicht. Ich wollte die anderen, außerhalb des Flugzeuges, nicht mit einer neuen Leiche beim Frühstück empfangen, außerdem hätte die Kabine ja auch mit ein paar Kilo Dynamit präpariert sein können. Und was, wenn das sowieso schon längst unter uns tickte? Draußen wurde es immer heller. So ging das nicht weiter! 175
»Hardy!« Der Reporter stöhnte und schüttelte weiterhin ungläubig den Kopf. »Aber ich habe sie doch begraben!« »Was?« »Begraben.« »Wen?« »Kalima.« »Wie bitte?!« »Ich habe sie aus der Maschine geholt und begraben. Zwischen den Palmen.« »Das verstehe ich nicht…« Er blickte mich an, und in seinen Augen sah ich sichere Anzeichen eines aufkeimenden Nervenzusammenbruchs. »Was verstehen Sie nicht? Ich wollte nicht, daß sie hier in der Maschine verfault! Das war ich ihr einfach schuldig.« »Wann war das?« »Kurz bevor ich mit Ihnen sprach. Keiner hat auf mich geachtet. Ich schob sie die Rutsche hinunter … auf der anderen Seite… Dann habe ich sie in den Wald geschleppt.« »Und womit … womit haben Sie gegraben?« »Mit dem Messer. Aber die Erde ist so locker, das hätte ich auch mit bloßen Händen geschafft.« Ich dachte angestrengt nach. Entweder hatte jemand die Leiche der Reporterin wieder ausgegraben, oder aber… Ohne ein weiteres Wort gab ich ihm meine Waffe und sprang in den Aufzug. Angenehmer Sandelholzgeruch kitzelte meine Nase. Er stammte wohl aus der Uniform des armen Mädchens. Die mit goldenen Fäden genähten Opanken schwebten in der Luft, als ob sie auf einer Lichtschimmerbrücke einen Tanz zeigen wollten. Es blieb mir nichts übrig, ich mußte ihr ins Gesicht sehen. Vieles ging mir in diesem Moment durch den Kopf, ähnlich wie bei einem Ertrinkenden. Ich sah Gesichter von all den Toten, die ich am liebsten aus meiner Erinnerung verbannt hätte. 176
Als ich ihre Züge untersuchte, stockte mir der Atem. Bei der Leiche mit dem verzierten Schuhwerk handelte es sich nämlich nicht um Kalima, die Kollegin von Hardy. Es war Stewardeß Nummer zwei, Sikara. Irgendwie verlor ich das Gleichgewicht, dann erholte ich mich wieder. Unweit von uns, vielleicht kaum noch wenige hundert Kilometer entfernt, zog der Sonnenwagen mit seinen Rädern Lichtbögen in die Luft, und die Welt erwachte an dieser Stelle. Hardy schluckte, als ich meinen Revolver wieder zu mir nahm. »Runter jetzt.« »Kalima…« Viel Zeit blieb uns womöglich nicht mehr, also schüttelte ich einfach nur den Kopf. »Nein. Es war die andere Stewardeß.« Wir traten zum Notausstieg und blickten hinaus. In der Dämmerung konnten jederzeit feindliche Lichtstrahlen unser Lager erobern. »Los!« Hardy rutschte als erster hinunter. Ich drehte mich um. Malgorzata stand hinter mir, knabberte an den Fingernägeln und blickte zum Liftschacht zurück. Dabei standen ihr die Tränen in den Augen. »Schnell, Mal!« Sie nickte und rutschte ebenfalls von dannen. Im selben Moment passierte das Wunder. Am östlichen Himmel schien eine riesige Apfelsine zu explodieren. Gelbe Streifen ergossen sich über den Himmel und veredelten die Bergspitzen mit einem goldenem Schimmer. Die ganze Welt schien zu singen; die im Licht badenden Palmenblätter intonierten lautlos die Sonnensymphonie. Unten angekommen, blickten wir alle drei zur Sonne hinauf. Auf Hardys dreckverschmiertem, unrasiertem Gesicht machte sich ein bitteres Lächeln breit. Er ließ beide Arme hängen, und zusammen mit dem zum Buckel gekrümmten Rücken erinnerte er mich an ei177
nen legendären Glöckner. Mals rote Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst und fielen ihr wirr ins Gesicht, die Augen waren noch gezeichnet von den Tränen der Nacht. Wie drei warnend ausgestreckte Finger versperrten uns die Spitzen des vor uns liegenden Berges die vollkommene Sicht auf die immer höher kriechende gelbgoldene Scheibe. Hardy kam als erster wieder zu sich. Vielleicht war er am wenigsten mit solcher Magie zu beeindrucken. »Wollen Sie mit der Waffe in der Hand auch noch den Sonnenuntergang abwarten?« Seine Stimme klang nicht einmal spöttisch, nur müde, unheimlich müde. Ich blickte mich um und steckte den Revolver dann in die Jackentasche. Wie geahnt, übernahmen die Sonnenstrahlen die Macht über die Dämmerung. Und ich lebte immer noch. Beim ersten Vogelgezwitscher gerieten auch die Decken in Wallung. Am schnellsten tauchte Wimmer auf, gefolgt von Leichenfresser und den anderen. Plötzlich wurde mir bewußt, wie mörderisch erschöpft ich mich fühlte. Während sich der Rest der Truppe langsam zu uns gesellte, umklammerte ich verzweifelt den Revolver in meiner Tasche. Ich wußte nicht, wer mich umbringen wollte und ob er es überhaupt vor so vielen Leuten riskieren würde. Vielleicht bildete ich mir das alles ja auch nur ein. Keiner der Anwesenden verriet Überraschung oder Wut über meine immer noch ziemlich vitalen Lebensfunktionen. Die Tennismädchen heulten wie gehabt, die ehemals weißen, inzwischen ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Röcke und Oberteile und die goldblonden Haare beschworen in mir das Bild von gefallenen Engeln, verstoßen von einer erzürnten Gottheit. Hardy zwängte sich ein Lächeln auf das Gesicht und nahm sich der beiden an. Sie setzten sich gemeinsam unter eine Palme, und der Reporter stellte ihnen diverse Fragen über Tennistechniken. Mal taumelte an ihren Platz zurück und weckte Lisolette. Sie hockte sich neben ihre Kopilotin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Diese schüttelte daraufhin energisch den Kopf und deutete in Richtung 178
der Bäume. Ich machte mir gerade selber den Vorschlag, doch noch ein wenig Schlaf zu tanken, als mich Leichenfresser mit einem Schulterklopfen beehrte. »Mr. Lawrence … sitzen wir tief in der Scheiße?« Ich war überrascht, wie ernst seine Stimme trotz der vulgären Ausdrucksweise klang. Die letzten Stunden hatten wohl den Rest seines infantilen Popmusiker-Gehabes weggeblasen. »Es scheint zumindest so.« »Ist was passiert heute nacht?« Ich wußte einfach nicht, was ich ihm sagen durfte. Panik mußte ich auf jeden Fall vermeiden… Ich war schon dabei, ihm irgendein Märchen aufzutischen, als sich seine kalten, blauen Augen direkt in meine bohrten. »Der Dicke… Sie wissen schon … der mit den Hosenträgern, wurde umgebracht.« Damit war es hinfällig, ihn vernebeln zu wollen. »Ich weiß.« »Waren Sie es?« Wortlos schüttelte ich den Kopf. »Wer war er?« »Woher soll ich das wissen? Wohl kaum ein Methodistenpfarrer.« »Gab es … irgendwelche Probleme zwischen Ihnen?« In einer anderen Situation hätte ich laut gelacht. »Probleme? Na wenn Sie einen Mordversuch ein Problem nennen…« Er weitete vor Überraschung die Augen. »Heilige Scheiße! Der Kerl war hinter Ihnen her?« Erst jetzt fiel mir auf, daß Leichenfresser den Toten als erster erwähnt hatte. »Und Sie? Woher wissen Sie, daß er nicht mehr am Leben ist?« griff ich ihn an. »Ganz einfach«, meinte er und schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. »Ich mußte nachts aufstehen, um zu pi … auf die Toilette zu gehen. Na ja, und zwischen dem Gestrüpp lag dann die179
ser Kerl da. Ich bin glatt über ihn gestolpert.« »Und dann?« »Dann habe ich mir fast in die Hose gepi…« »Das meinte ich nicht. Danach! Sind Sie hierher zurückgekommen?« »Natürlich. Aber vorher habe ich ihn mir noch einmal genau angeschaut.« »Weshalb?« »Die Hosenträger kamen mir so komisch vor. Dann merkte ich, daß er Waffen bei sich getragen hatte.« »Und?« »Ich bin Amerikaner und sehe oft in die Flimmerkiste. Dicke Touristen spazieren selten mit einem Schulterhalfter im Dschungel herum. Noch dazu mit einem für zwei Revolver. Also schaute ich ihn mir noch genauer an. Und wissen Sie, was mir dabei auffiel?!« »Na?« »Ich kenne den Typen!« Bisher beobachtete ich die anderen, aber nun widmete ich all meine Aufmerksamkeit dem lilahaarigen Musiker. »Sie kennen ihn?« »Scheint so. Sein Gesicht war oft im Fernsehen. Er war ein ziemlich hohes Tier in irgendeiner Familie. Vielleicht die Genovese-Bande, wer weiß.« Mein Gott, bekam ich es jetzt etwa auch noch mit der Mafia zu tun? »Sind Sie sich da sicher?« »Sofern man das in solchen Fällen sein kann. Es steht ihm zwar nicht auf die Stirn geschrieben, aber dennoch…« Er verstummte, was ich als Zeichen wähnte, daß plötzlich jemand hinter mir aufgetaucht war. Ich hatte recht. Es handelte sich um Van Broeken, der eine Pistole auf uns richtete. Ich wollte mich wieder fallen lassen, genau wie in der Maschine, als ich nähere Bekanntschaft mit Mals eisenbeschlagenen Stiefeln machen durfte, aber diesmal fehlte mir wirklich die Kraft dazu. Das Gehirn sendete zwar die entsprechenden Befehle an meine Muskeln 180
aus, doch die wollten irgendwie nicht mehr mitmachen. Statt des blitzschnell und perfekt ausgeführten Hechtsprunges in den Rasen blieb ich einfach vor der Mündung stehen. Van Broeken drehte die Waffe um, inspizierte sorgsam das Innere des Laufes, blies hinein und steckte sie schließlich weg. Und als ob das nicht genug wäre, machte er die schönste Verbeugung, die ich je in einem Mantel-und-Degen-Film gesehen hatte. »Guten Morgen, meine Herren. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber womöglich interessiert es Sie ja, daß unser dicker und inzwischen toter Gefährte Tarantelli hieß und in der Tat der Capo der Genovese-Familie war. Verzeihen Sie, daß ich mich einmische, aber in dieser Stille kann man Ihre Stimmen ziemlich weit hören.« Der Wald um uns herum war inzwischen genauso bevölkert wie die Straße zwischen Hollywood und Los Angeles. Vögel begrüßten mit ihrem Gesang die neue Sonne, irgendwo weiter entfernt im Dschungel heulten Füchse auf. Soviel zur Stille. »Aha… Und woher wissen Sie das so genau?« »Das weiß jeder. Mein junger Freund hier hat recht. Eine Zeitlang wurde er oft im Fernsehen vorgestellt. Letztes Jahr hieß es, er wäre für immer verschwunden. Ich glaube, man hat sogar schon einen neuen Capo ernannt. Es war in der Tat eine Freude, ihn wiederzusehen.« »Sie haben ihn auch gesehen?« »Wieso, wer denn noch?« »Ich zum Beispiel.« »War er da noch am Leben oder bereits tot?« »Ich habe ihn nicht umgebracht, falls es das ist, was Sie meinen.« Er zuckte mit den Schultern und winkte ab. »Das ist mir, ehrlich gesagt, egal. Ich habe nur darüber nachgedacht, was er wohl hier, in unserer Mitte, zu suchen hatte. Er war nämlich nebenbei auch der Kunstexperte in der Familie.« »Soll das heißen, die Mafia beschäftigt sich auch noch mit geklauten Kunstschätzen?« »Warum denn nicht? Nur nicht auf die Art, wie Sie sich das jetzt 181
vorstellen… Keine Picassos oder so. Sie sind allerdings immer wieder hinter nicht eingetragenen Schätzen her. Die Mafia, mein Freund, finanziert sogar manche Ausgrabungen. In Ägypten, Mesopotamien, überall auf der Welt. Anschließend werden die Reliquien versteigert.« Van Broeken zog wieder seine Waffe hervor, dann das dazugehörige Magazin, schob es in den Griff und lud durch. Er lächelte, verbeugte sich und verschwand zwischen den Bäumen. Leichenfresser kratzte sich am Haarschopf und blickte ihm nachdenklich hinterher. »Glauben Sie, daß uns tatsächlich die Mafia erwischen wollte? Vielleicht … wegen mir … meiner Gruppe?« Ich ließ ihn mit seinen schlimmsten Ängsten allein und ging zu meiner Decke. Ich hatte vor, auf Teufel komm raus wenigstens eine halbe Stunde Schlaf zu finden. Wenn man mich kurz vor Morgengrauen töten wollte, dann mußte man damit schon den nächsten Tag abwarten. Sofern es für ihn und für mich so etwas überhaupt noch geben würde. Ich trat neben meinen Deckenhaufen, an dessen Kopfende mein zusammengefalteter Blazer lag. Es war eine alte und in Situationen wie dieser gar nicht so abwegige Angewohnheit von mir, den Anschein zu erwecken, ich würde tief und fest an meinem Platz schlafen. Bei nicht allzu starkem Mondlicht konnte der Schatten durchaus für meinen Kopf gehalten werden, besonders, wenn es der Angreifer eilig hatte. Ich kniete mich neben das Bündel und wußte nicht, ob ich nun weinen oder lachen soll. Die Wolldecke wurde nämlich von einem genau solchen Pfeil in den Boden gespießt, der auch den dicken Tarantelli ins Jenseits befördert hatte. Mit leicht zittriger Hand nahm ich die Stahlrute und zog sie aus der Erde. Auch diesmal konnte ich keine Rückstände von Schießpulver erschnuppern. »Verdammt!« fluchte jemand in meinem Rücken und hockte sich kurz darauf neben mir auf den Boden. »Da hatten Sie aber Glück, 182
Mann! Wann hat man Ihrer Decke denn den verpaßt?« Ich mußte mich gar nicht erst umdrehen. Die Stimme identifizierte eindeutig den Navysoldaten Wimmer. Die Frage ließ ich unbeantwortet, statt dessen drückte ich ihm den Pfeil in die Hand. »Schauen Sie ihn sich genau an!« Er zog die Augenbrauen in die Höhe, nahm sich aber die Zeit, wog das Geschoß, warf es in die Luft und fing es wieder auf. »Tja … zweifelsfrei geeignet, jemanden damit umzulegen.« »Was meinen Sie, was es ist?« »Ein Projektil.« Ich nahm es ihm wieder aus der Hand und schob es unter die Decke. »Sie arbeiten doch unter Wasser, nicht?« »Ja, aber…« »Was würde passieren, wenn man mit einem Unterwassergewehr hier oben, auf dem Trockenen schießen würde?« »Nun … wenn es umgebaut wurde, dann … kann es schon für einen Mord mißbraucht werden.« »Was meinen Sie mit umbauen?« »Na ja … einige Veränderungen. Einstellungen ändern und so.« »Und Sie könnten das machen?« »Ich habe es noch nie versucht.« »Aber Sie könnten es…« »Was wollen Sie damit sagen?! Sie glauben doch wohl nicht, daß ich etwas damit zu tun habe?! Warum sollte ich so etwas machen?« »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Und ich weiß auch nicht, wer so ein Gewehr abgefeuert haben könnte, wenn nicht Sie. Heute nacht hat jemand gesagt, ich würde den Sonnenaufgang nicht mehr erleben. Und es lag nicht an ihm, daß er unrecht behielt… Auf jeden Fall möchte ich Ihnen hier und jetzt mitteilen, daß ich…« Soweit war ich gekommen, als unweit von uns, aus Richtung des Dreispitzberges eine grüne Rakete in den Himmel geschossen wurde. 183
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ir versammelten uns um das Flugzeug herum, wie eine aufgescheuchte Schafherde. Mal drängte sich irgendwie neben mich und vergaß – scheinbar versehentlich – ihre Hand auf meinem Arm. Als ich sah, daß sich alle von der gegen die Reifen gelehnten Decke fernhielten, bat ich Villalobos, zusammen mit Leichenfresser die tote Darcy in die Büsche zu ziehen. Als die Tote aus unserer Nähe verschwunden war, zwängten wir uns gemeinsam unter den Bauch der Boeing. Die Strahlen der Sonne wurden mit höllischer Intensität von der Aluminiumoberfläche reflektiert, und mir war klar, daß es binnen kürzester Zeit verdammt heiß werden dürfte. Ich schob die MP auf den Rücken und übergab dem vom Leichentransport zurückkehrenden Leichenfresser meinen erbeuteten Colt. Alle scharten sich nun um mich, verdreckt, müde, ungewaschen und hungrig, wie sie nun eben mal waren. »Haben Sie die Rakete gesehen?« fragte ich überflüssigerweise. So überflüssig, daß auch niemand darauf antwortete. »Innerhalb der nächsten Stunde werden sie hier sein.« »War dieses Zeichen denn für uns bestimmt?« fragte Frau von Rottensteiner. »Für wen sonst?« »Und es bedeutet nicht gerade Gutes, oder?« Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich hasse Panikmache, aber diesmal durfte ich nichts beschönigen. Allerdings versuchte ich dennoch, die Schärfe meiner Worte ein wenig zu dämpfen. »Meine Damen und Herren, bitte hören Sie mir zu! Wie Sie inzwischen wohl selbst bemerkt haben werden, sind wir nicht gerade aus freien Stücken hier.« »Ha!« meinte Leichenfresser und griente bitter. »Aus freien Stücken?! Kükenscheiß!« 184
Die beiden jungen Mädchen setzten ihren seit gestern anhaltenden Tränenmarathon fort. »Man könnte sogar sagen, wir wurden hierher entführt. Warum, wissen wir noch nicht.« »Oh doch!« warf Wimmer dazwischen. »Diese Schweinehunde wollen Amerika erpressen! Wenn wir ihnen nicht in die Fresse hauen, werden die in der ganzen Welt ihre Opfer suchen!« »Jetzt lassen Sie doch den Mann endlich mal ausreden!« herrschte Villalobos die anderen an und streckte seinen Schnurrbart streitlustig vor. »Na, dann reden Sie endlich!« attackierte mich Frau von Rottensteiner mit ihrem Schirm, als ob ich selbst dafür verantwortlich wäre, daß ich bisher keinen gescheiten Satz zu Ende führen konnte. »Los, Freundchen! Was sollen wir tun?« »In das Flugzeug zurückklettern!« Die beiden jungen Tennisspielerinnen fingen fahrplanmäßig mit dem Kreischen an, eine warf sich sogar zu Boden und trommelte mit den Fäusten auf das unschuldige Gras ein. Judy und Villalobos wollten ihr zur Hilfe eilen, ernteten aber nur Tritte und Schläge. Schließlich beugte sich ihre Partnerin über das hysterische Nervenbündel und schrie mit unartikulierter Stimme ihre Sorge in die Welt hinaus: »Neiiin! Nicht in die Maschiiiine! Da sind Leiiiiichen!« »Schütten Sie ihnen einen Eimer Wasser über den Kopf«, schlug Van Broeken mit in die Hüften gestemmten Armen vor. »Geben Sie mir Wasser!« brummte Villalobos. Als ob sie sich abgesprochen hätten, sprangen die zwei Mädchen gemeinsam auf und rannten in den Wald. Ich spürte, wie sich Müdigkeit in rasendem Tempo in mir breitmachte. Schon bekam ich das Gefühl, die Boeing würde auf meinen Kopf fallen. Wie von einer dicken Glaswand getrennt, erreichte mich die Stimme von Villalobos nur verschwommen und dumpf. Als ich die Augen wieder öffnete, war von den Tennismädchen nichts mehr zu sehen. 185
Binnen weniger Minuten hatten wir die Rutsche hinter uns. Sie war inzwischen so heiß, daß man sie durchaus zum Braten von Spiegeleiern hätte verwenden können. Auch das Innere des Flugzeuges empfing uns mit einer beispiellosen Hitze, die noch dazu von einem durchdringenden, üblen Geruch garniert wurde. »Kann man den Gang zum Gepäckraum irgendwie abschotten?« erkundigte ich mich bei Mal, die außer einer einzigen Flasche warmer Coca Cola nichts von einer Inspektion der Pilotenkanzel mitgebracht hatte. Sie blickte mir in die Augen und schüttelte dann bestürzt den Kopf. Der Gestank wurde immer unerträglicher. Er war süßlich und ließ den Magen zusammenkrampfen. Keiner sagte etwas, und doch wußte jeder, wo er herkam. Ich ging zum Aufzug, der Angewohnheit zuliebe auch diesmal mit vorgehaltener Waffe. Als ich mich ihm näherte, wurde auch der Gestank stärker. Mal war inzwischen alles egal, sie trottete mit aufgeriebenem Gesichtsausdruck hinter mir her. Ich holte tief Luft und versuchte mich nur auf den Schalter zu konzentrieren. Ich griff hinein, die goldenen Schuhe gerieten in Bewegung, etwas Kaltes, Starres schlug gegen mein Gesicht. Krallenartige Fingernägel gruben sich in meinen Hals, schienen sogar für einer Sekunde bei der Kehle haltzumachen. Erschrocken fuhr ich zurück, während meine Hand bereits den Knopf gedrückt hatten. Die Tür schlug so schnell zu, daß mein Arm noch im Aufzug hängenblieb. So sehr ich ihn auch herauszuziehen versuchte, es ging nicht. Und der Lift fuhr runter. Ich dachte bereits, ich würde demnächst eine Prothese benötigen. Zum Glück stoppte die Automatik aber den Abwärtsgang, als sie das Hindernis registrierte. Der kleine Raum wurde wieder zurückgeschickt, die Türflügel glitten auf. Aber statt den Aufzug nun – etwas vorsichtiger – endgültig hinunterzuschicken, packte mich ein seltsamer Zwang. Blitzschnell sprang ich neben die Leiche, und noch während ich Mals verblüfften Schrei vernahm, hatte ich auch schon den Schalter betätigt. 186
Die Tür schloß sich wieder, und ich war mit der toten Stewardeß allein im Dunkeln.
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in paar Sekunden später kamen wir im Frachtraum an. Die Leiche schwang zum Abschied noch einmal in meine Richtung, und der Stoff ihrer Uniform streichelte mein Gesicht. Ich fiel kopfüber zwischen die Koffer. Der Gestank hier unten war nicht mehr auszuhalten, ich drückte mir mein Taschentuch vor die Nase und rannte zum Aufgang. Dabei stolperte ich erst einmal über die Pandabären, und natürlich hatte ich das Gefühl, sie würden nach meinen Beinen greifen. Wie ein Eilzug düste ich die Stufen hoch. Im Salon hatten die Männer bereits unter der Anweisung von Villalobos Gefechtsposition an den Fenstern bezogen. Leichenfresser begutachtete mit ekstatischem Lächeln seinen Colt und grinste mir zu, als ich an ihm vorbeiging. Mit dem Kolben der MP zerschlug ich eines der Fenster und schaute ins Freie. Draußen rührte sich nichts, nur die Sonne schien, und die Palmenblätter tanzten im Rhythmus des lauen Windes. Leichenfresser betrachtete eine Weile den Dschungel, dann verflog plötzlich sein Lächeln. »Mann, Leute!« sagte er und legte vorerst seine Waffe beiseite. »Ich hab' ja noch gar nicht gefrühstückt! Sollen wir etwa wirklich mit leerem Magen kämpfen?« Wilhelmina von Rottensteiner klopfte mir mit ihrem unzerstörbaren Markenzeichen, dem Regenschirm, auf die Schulter. »Meinen Sie das etwa im Ernst?« Ich kämpfte schon wieder mit dem stechenden Schmerz im Hin187
terkopf, diesmal fielen mir aber beinahe auch noch die Augenlider zu. »Was genau meinen Sie, Frau Professor?« fragte ich mühsam. Sie streckte den Schirm aus dem Fenster. »Na das hier. Dieses Kriegsspiel. Meinen Sie wirklich, das bringt was?« Das war mir inzwischen auch schon eingefallen. Wir ähnelten eher den Patienten eines Kleinstadtkrankenhauses, als einer kampfbereiten Elitetruppe. Lisolette lag zwischen den Sesseln, sichtlich von Fieber geschüttelt. Mal wechselte die Umschläge auf ihrer Stirn, Großvater spielte an seinem Hörgerät herum und hätte für keine Sekunde den Stock aus der Hand gelegt, als ob er damit den Feind attackieren wollte. Judy drückte sich ein Taschentuch unter die Nase und blickte mich mit einem vorwurfsvollen Blick an, als würde sie mich persönlich für die immer stärker anrollenden Geruchswellen verantwortlich machen. Bei all dem wäre es natürlich ein Fehler gewesen, die Fliegen zu vergessen. Der Gestank und das getrocknete Blut sorgten seit den frühen Morgenstunden für eine Invasion von Fliegen aus vermutlich aller Welt. Manchmal machten sie Pause, und dazu fanden sie wohl unsere Haut am geeignetsten. Ein ziemlich schlimmes Gefühl, wenn man daran dachte, daß dieselbe Fliege, die uns gerade über die Lippen kletterte, kurz vorher im Blut eines unserer ehemaligen Mitpassagiere gebadet hatte. Wir Männer allerdings sahen wirklich schick aus. Über Leichenfresser und meine Wenigkeit habe ich mich bereits ausgelassen, und der Schnurrbart von Villalobos stellte für jede Fliege in der Boing eine ernste Gefahr dar, aufgespießt zu werden. Der ehemalige französische General stand mit bemerkenswertem Gleichmut hinter einem Fenster, Wimmer kratzte sich mit einem kleinen Zahnstocher den Dreck unter den Fingernägeln weg und glaubte wohl nicht so recht an einen näherrückenden Feind. Hardy starrte müde vor sich hin und hielt manchmal wohlerzogen die Hand vor den Mund, wenn er gähnte. 188
Wilhelmina von Rottensteiner klopfte mir erneut auf die Schulter. »Hören Sie mal, Käferfreund! Wo ist der Dicke?« Ich legte den Kopf zur Seite; alle sahen mich an, selbst die fiebernde Lisolette. Die Möglichkeit, es ihr diskret ins Ohr zu flüstern, war wohl nicht gegeben. »Äh … draußen. Im Wald…«, sagte ich leise. Sie zog die Augenbrauen zusammen, schnupperte mit der dünnen Hakennase in die Luft und stieß mir dann den Regenschirm gegen die Brust. »Na hören Sie mal! Das ist so aber gar nicht in Ordnung! Diese armen Mädchen, und dann auch noch der Dicke! Gehen Sie ihnen nach und holen Sie sie zurück!« Das leise Trommeln im Nacken verstärkte sich wieder. Als es fortissimo erreicht hatte, war mir klar, daß es psychosomatisch sein mußte. Also nahm ich meine Sinne zusammen und schrie nicht wie geplant einfach los. »Ihr Dicker ist tot«, sagte ich statt dessen und versuchte, so teilnahmslos wie möglich zu klingen. »Was sagen Sie da?« taumelte sie zurück. »Tot?« »Mausetot«, nickte ich. »Mein Gott! Wann ist er gestorben?« »In der Nacht.« »Aber … aber … wie?« »Erschossen. In den Rücken.« Lisolette schloß die Augen, der Schweiß tropfte ihr von der Stirn. Wimmer legte den Zahnstocher beiseite und starrte mich mit offenem Mund an. Opa stand auf und trottete, auf seinen Stock gestützt, zu mir herüber. »Tot, hä? Tot?! Der Dicke?« Ich schluckte. »Absolut.« »Ich wußte es, hähähä. Ich wußte, daß es mit ihm bald vorbei sein 189
würde.« »Sie wußten es?« blickte ich ihn entgeistert an. »Woher denn?« »Ich hab' seine Hand gesehen, hähähä… Seine Lebenslinie … sie war zu kurz. Er hat sowieso schon viel zu lang gelebt … für so eine kurze Linie.« Frau von Rottensteiner schob den lila Hut in den Nacken und herrschte mich an. »Jetzt reden Sie doch endlich, Mann!« Mit blieb nichts anderes übrig, als mein Mitternachtserlebnis mit den anderen zu teilen. Ich erzählte auch von den Meos und dem seltsamen Tod des Profikillers. Nur über seine Identität als Capo schwieg ich mich aus. »Die Meos!« flüsterte die Professorin und seufzte dann laut. »Ich wollte sie schon immer einmal aus der Nähe beobachten! Ich hab' ja so viel über sie gelesen!« »Möglicherweise kommen Sie ziemlich bald in den Genuß einer umfassenden Beobachtung. Wahrscheinlich waren sie es, die die grüne Rakete hochgeschossen haben.« »Kannibalen?« erkundigte sich Leichenfresser interessiert. »Miese Terroristen«, meinte Wimmer resolut. »Feinde der Vereinigten Staaten!« Wilhelmina von Rottensteiner warf ihm einen vernichtenden Blick zu, woraufhin sich der Kampftaucher wieder seinen Fingernägeln widmete. Sie hielt mir die Hand entgegen. »Zeigen Sie mir den Pfeil!« Ich holte das unterarmlange Projektil aus der Tasche. Sie warf einen Blick darauf, hielt es hoch und gab es mir schließlich zurück. »Ich kenne es.« »Sie kennen das hier?!« »Ja. Es wird in Safariparks benutzt. Man steckt hier vorne eine Spritze dran, und dann werden Tiere damit in den Schlaf geschickt. Schwupp, rein in die Haut… Bei Operationen oder Untersuchungen zum Beispiel.« »Und woraus wird so ein Pfeil abgeschossen?« 190
»Falls ich mich richtig erinnere, aus einem Gewehr. Einem ziemlich großen.« Villalobos kaute nachdenklich auf seinen Bartspitzen herum. »Was glauben Sie, wer es gewesen sein könnte?« »Ich habe absolut keine Vorstellung.« »Die Meos?« »Das halte ich für unwahrscheinlich. Die hatten Messer.« »Also dann?« »Keine Ahnung. Jeder hätte es sein können. Sie auch…« »Ich?! Wo hätte ich so eine besondere Waffe hernehmen sollen? Oder steckt sie im Moment gerade hinter meinem Ohr?« Wilhelmina von Rottensteiner stand auf und bewegte sich in Richtung Rutsche. »Na, mir reicht das jetzt, ich hab' genug von Ihrem idiotischen Kriegsspiel.« Noch bevor ich es verhindern konnte, saß sie mit kampfbereit vorgestrecktem Schirm in der Luke. Ein paar Sekunden später stand sie bereits auf dem Beton und winkte höhnisch. »Was ist, Cowboys, bleiben Sie da oben?« Wimmer, Hardy und Leichenfresser blickten mich unschlüssig an. Ich wollte gerade etwas Kluges sagen, aber die Ereignisse der nächsten Minuten sollten mir diese Freude für eine Weile verwehren. Ein langgezogener weiblicher Schrei zerstörte die Stille, und aus den Büschen rannten die beiden Tennisdamen auf die Piste. »Ahhh!« kreischte die erste. »Eine Leiiiche! Zwischen den Bäumeeeen!« »Wildeee!« schloß sich die andere an, und beide rannten wie verrückt zur Professorin. Dann kam erneut Bewegung ins Laubwerk, und kleine, halbnackte, verwirrt durcheinander winkende Männer strömten auf den Platz. Die Meos waren da.
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ch nahm die MP vom Hals und reichte sie Villalobos. »Zur Not dürfen Sie sie auch benutzen.« Er nickte und zwirbelte wie gewohnt seine Schnurrbartspitzen. Ich setzte mich auf die Gummirutsche und segelte hinunter. Die Meos standen etwa zehn Meter von der Maschine entfernt wild durcheinander. Ich konnte keinen Anführer erkennen, sie waren alle gleich gekleidet, also wandte ich mich schließlich auf gut Glück an einen, der etwas näher stand als die anderen. »Sprichst du chinesisch?« Er blickte mich an und lächelte. »Englisch?« Er klatschte in die Hände, drehte sich zu seinen Kollegen um und sagte etwas in ihrer melodischen Sprache, von der ich leider kein einziges Wort verstand. Die Rutsche hinter mir knackte, und als ich mich umsah, stand Villalobos bereits hinter mir. »Wo ist die Maschinenpistole?« fuhr ich ihn an. »Ich hab' doch gesagt, Sie sollen mich decken!« »Immer mit der Ruhe«, flüsterte er mir zu und fing dann zu meiner größten Überraschung an, mit dem Meo zu sprechen. Und zwar in deren Sprache. Der Meo antwortete, und die darauffolgende Unterhaltung dauerte gute zwei, drei Minuten. »Sie können…«, fing ich an, aber der General winkte nur ab. »Später. Er sagt, sie hätten gesehen, wie das Flugzeug landete, wollten aber nicht sofort nachsehen. Die gestrige Nacht wäre keine gute Nacht gewesen, meint er.« »Wem sagt er das«, gluckste hinter mir Leichenfresser. »Kennen sich die anderen auch so gut mit Vorhersagen aus?« »Er behauptet«, fuhr Villalobos unbeirrt fort, »sie wären allesamt im Dienst zweier Herren, Vang Pin und Dr. Camus.« 192
»Fragen Sie sie, wer die sind!« »Das ist unnötig«, fuhr eine strenge Stimme aus dem Hintergrund dazwischen. »Ich werde Ihnen alles persönlich erklären, meine Freunde.« Blitzschnell drehten wir uns alle um. Ein kleiner, dicker Chinese mit Tropenhut lächelte uns unverbindlich an. Dann verbeugte er sich und hielt uns die Hand hin. »Meine Damen, werte Fräuleins…« Die Teenager hörten zu weinen auf und blickten den Ankömmling wie gebannt an. Sein Lächeln bestärkte sie wohl wenigstens zeitweilig in dem Glauben, daß sie an diesem Tag doch nicht in den Kochtöpfen von Wilden landen würden. »Verehrte Herren…« Wir verbeugten uns alle; Villalobos mit Würde, Leichenfresser mit etwa soviel Grazie wie ein Nilpferd in der Ballettschule. Der Chinese blickte auf die Boeing und schüttelte den Kopf. »Wie konnten Sie die nur auf diesem Taschentuch landen?« »Wir hatten einen tollen Piloten«, antwortete ich und formte einen Trichter vor meinem Mund. »Hallooo! Sie können herunterkommen!« »Wir verhandeln nicht mit Terroristen!« kam Wimmers Reaktion. »Wer ist der Herr?« erkundigte sich der Chinese höflich. »Oh, ein Verrückter«, sagte ich beiläufig. »Kümmern Sie sich nicht um ihn. Sie sind Vang Pin?« »Genau. Der Eigentümer dieser Ländereien.« Während wir uns so nett unterhielten, kam auch Mal die Rutsche herabgeschlittert. Dann schwebte sie zu uns herüber und lächelte unseren Gastgeber an. Vang Pin verbeugte sich vor ihr, wenn möglich, noch tiefer. »Die Dame gehört zum Personal? Ein wahres Wunder, was die Crew hier vollbracht hat.« »Ich hab' die Mühle gelandet«, meinte sie nicht ohne Stolz. Der Chinese staunte mit offenem Mund. »Sie…? Die Dame ist der Pilot? Also…« Dann drehte er sich um 193
und sagte etwas zu den Meos. Die halbnackten Eingeborenen blickten sie darauf mit fast schon religiösem Respekt an. »Was ist denn nun eigentlich mit Ihnen geschehen?« Mal wollte bereits die Litanei anfangen, aber ich hielt sie zurück. »Eine lange Geschichte. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich dazu später kommen…« Dann schrie ich erneut zur Maschine hoch. Diesmal mit einem Unterton, der kurz darauf alle außer Lisolette auf den Boden der Tatsachen kommen ließ. Der Chinese machte ein immer verdutzteres Gesicht. Was Wimmer allerdings wenig kümmerte. Er gab mir einfach meine Maschinenpistole zurück. »Entschuldigen Sie bitte, aber … Sie sind…?« »Leslie L. Lawrence.« »Ich bitte um Verzeihung, wir werden bald Zeit haben, uns alle miteinander bekannt zu machen«, meinte der Chinese. »Vorerst nur soviel: Ich habe hier einige Ländereien angekauft, in deren ungefährer Mitte Sie gestern gelandet sind. Bitte betrachten Sie sich also als meine Gäste. Ich fürchte, daß Sie für eine längere Zeit auf meine Gastfreundschaft angewiesen sein werden… Bitte verzeihen Sie, aber mein Partner, Dr. Camus, wird auch bald hier sein, und…« Er wurde von lauten Trompetentönen unterbrochen, und kurz darauf traten einige neue, bisher nicht gesehene Meos aus den Büschen hervor. In ihrem Schlepptau kam ein weißer, wunderschöner Elefant, mit langen, fast schon unwirklich gleichmäßigen Stoßzähnen. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, daß wir die Erscheinung mit offenem Mund begrüßten. Die Morgensonne stand bereits hoch über dem Dschungel, und der Elefant war so unwahrscheinlich weiß wie der reinste Neuschnee im Winter. Die Augen waren dabei rot wie die eines Angorakaninchens. Wo dann die Ähnlichkeit natürlich auch sofort wieder aufhörte. »Mein Gott, wie schön!« seufzte Mal selbstvergessen. »Ich werd' verrückt, das ist ja wie in Tausendundeiner Nacht«, war auch Leichenfresser begeistert. Sofort fing er an zu dudeln. »Pa194
rampapamm, parampapamm … pam-para rappapapam…« »Könnten Sie wohl damit aufhören!« fuhr ihn Villalobos an. »Was plärren Sie immer so rum?« Mehr brauchte Leichenfresser auch nicht. »Plärren?! Sie haben ja gar kein Gehör! Das ist unser bester Song! ›Die Liebe kommt auf dreibeinigen Elefanten‹ … Eigenkomposition! Welterfolg! Sagen Sie bloß nicht, Sie haben es noch nie gehört?!« Villalobos preßte die Augen zu. Der Elefant kam dicht an die Maschine heran, hätte sie sogar mit dem Rüssel berühren können. Ein paar Eingeborene rannten hin und halfen einem in Tropenkleidung gehüllten alten Europäer aus dem Zelt, das man auf dem Rücken des riesigen Tieres aufgebaut hatte. Die Zeremonie von eben wurde wiederholt. Der Mann stellte sich als Christopher Camus vor, küßte jeder Dame einzeln galant die Hand, inklusive der Teenager. Die hatten schon längst aufgehört zu weinen und strahlten wie reife Äpfel in der Sonne. Und siehe da, auf einmal sahen sie sogar ganz hübsch aus! Selbst Vang Pin lächelte und nahm dann meinen Arm, um mich beiseite zu ziehen. »Mr. Lawrence«, begann er und strengte sich sichtlich an, den jovialen Gesichtsausdruck aufrecht zu erhalten. »Ich weiß nicht, ob Sie bereits davon Kenntnis haben … und letzten Endes ist es ja auch Privatsache… Ich würde es gar nicht erwähnen, wenn nicht … äh, wenn Sie nicht auf meinem, ich meine, unserem Grundstück gelandet wären … ähm, ein Toter liegt nämlich zwischen den Bäumen, ein paar Meter von hier entfernt…« »Ich weiß«, nickte ich. »Sie wissen es? Sie … äh, kannten ihn?« »Ja, ich hatte das Vergnügen… Ein gewisser Tarantelli. Angeblich. Von der Mafia. Ebenfalls angeblich.« Ich weiß nicht, warum ich so ehrlich war; vielleicht, weil ich bisher vom heutigen Morgen angenehm überrascht war. Statt des unerbittlichen Kampfes wurden wir gerade von zwei netten alten Herren auf ihren Landsitz eingeladen. »Sie meinen … seinetwegen mußten Sie notlanden?« 195
Also fing ich an und erzählte ihm schön der Reihe nach alles, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Wortlos hörte er mir zu, so daß ich mir am Ende nicht sicher war, ob er auch tatsächlich alles verstanden hatte. Pandabären, verschwundene, dann wieder auftauchende Leichen, erhängte Stewardessen, Preßluftgewehre … ich gebe zu, für fünf Minuten war das eine ganze Menge. Vang Pin holte ein beachtenswert großes blaues Taschentuch hervor und wischte sich damit die Stirn ab. Dann schluckte er laut. »Sie wollen also sagen, daß da oben Leichen im Flugzeug liegen … äh, wie viele?« »Warten Sie mal, da muß ich noch mal nachzählen. Langsam komme ich schon selbst durcheinander. Die zwei Pandas…« »Pandas?« hakte er mit trübem Blick nach. »Pandabären. Beziehungsweise Menschen. Ich meine, Pandamenschen. Wegen des Kostümballs.« »Kostümball«, nickte er traurig und schien sich ein klein wenig von mir zurückzuziehen. »Kostümball, sagten Sie?« »Den hätte es gegeben, ich meine, auf dem Pandakongreß. Aber das ist jetzt unwichtig.« »Wie Sie meinen«, willigte er ein. »Außerdem war da die Stewardeß. Kalima. Aber sie ist nicht mehr da oben, wir haben sie begraben. Ich dachte, daß sie es war, die meinen Hals im Aufzug berührte, aber da hatte ich mich geirrt.« »Berührte Ihren Hals«, wiederholte er. »Kalima.« Ich spürte, daß ich das Thema immer verwirrter und dumpfer behandelte. »Es war nicht Kalima«, sagte ich. »Das glaubte ich nur im ersten Augenblick! Sie wurde begraben. Also bleibt die richtige falsche Stewardeß, und … ach ja, die beiden Pandas. Macht drei. Die andere Stewardeß ist hier beim Vorderrad, macht also vier.« Vang Pin trat ein paar Schritte nach vorne, schaute hinter das Rad und kam dann mit unbewegtem Gesicht zurück. »Sind Sie sicher, daß da oben…?« »Zweifeln Sie etwa an meinem Wort?« 196
Er breitete verlegen die Arme aus. »Oh nein, um nichts in der Welt. Nur habe ich das Gefühl, daß Sie erst einmal etwas Ruhe brauchen! Nach so vielen schlimmen Erlebnissen…« Das klang ziemlich so, wie das Gespräch zwischen einem Verrückten und seinem Pfleger. »Mr. Vang Pin…«, sagte ich mit der Beharrlichkeit der Gerechten, »die Leiche am Rad ist der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Worte. Überzeugen Sie sich doch selbst!« »Das habe ich bereits getan«, sagte er traurig. »Wie bitte?« »Lieber Mr. Lawrence, bitte regen Sie sich nicht auf! Es ist alles eindeutig mit dem Streß zu erklären, dem Sie und Ihre Freunde ausgesetzt waren. Etwas Ruhe, gute Speisen und Jasmintee…« »Oh, verdammt!« fluchte ich und zerrte ihn, noch bevor die Meos eingreifen konnten, nach vorne zu dem fast menschengroßen Rad. »Ist das für Sie nichts? Ist das keine…« Plötzlich bekam ich sehr wenig Luft. Die Leiche war verschwunden. Vang Pin pfiff die kampfbereiten Meos zurück und gab auch seinem Partner einen beruhigenden Wink. »Kein Problem, Christopher! Mr. Lawrence hat nur…« Ich lehnte bereits an der Radaufhängung und wischte mir die Stirn ab. »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich ihn. »Sie kann ja gar nicht hier sein. Sie liegt zwischen den Büschen, wir haben Sie hineingezogen…« In diesem Moment erbebte das Flugzeug. Die Turbinen sprangen mit ohrenbetäubendem Getöse an. Ein unbekannter, starker Arm griff nach mir, riß mich nach oben. Als ich zu mir kam, saß ich bereits in der Kabine und betrachtete mit einem Glas Whisky in der Hand den grauen Streifen der Themse, den Big Ben und Westminster. Dann fiel mir eine ganze Weile nichts mehr auf. 197
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s war bereits später Nachmittag, als ich aufwachte. Die Sonne schien mir durch riesige, weiß umrahmte Fenster in die Augen. Die Holzleisten erinnerten an die französischen Schlösser des Mittelalters und erweckten in mir für kurze Zeit die Illusion, ich wäre tatsächlich in Europa. Die wogenden Palmenblätter vor dem Fenster und ihre etwas entfernter wachsenden Geschwister zerstreuten diese Hoffnung aber bald darauf. Ganz zu schweigen von den furchtbaren Schmerzen, die meinen Hinterkopf heimsuchten. Ich schloß wieder die Augen, und als ich sie das nächste Mal aufmachte, stand die Sonne bereits ein gutes Stück tiefer. Ich betastete meinen Schädel und mußte überrascht feststellen, daß er mit einem riesigen Verband umwickelt war. Ich wollte weitertasten, aber eine Hand schlug mir auf den Arm. »Lassen Sie das, ja?!« Schwerfällig drehte ich mich zur Quelle der Stimme um. Zuerst sah ich einen Kimono, dann die beiden goldenen Opanken. Und sie schienen direkt vor meinen Augen zu baumeln. Erschrocken fuhr ich auf und wollte mich aufsetzen. »He, was ist denn mit Ihnen los?« Die Stimme klang nicht nach einer erhängten Leiche. Es war überhaupt keine Grabesstimme, sogar für diese Welt schien sie ziemlich energisch zu sein. Malgorzata saß in Kimono und Seidenpantoffeln neben meinem Bett auf einem Stuhl und las irgendein Buch. Ich wollte mich nun erst recht aufsetzen, aber es sollte erst beim dritten Versuch, mit Mals Hilfe, klappen. Bereits im Sitzen machte ich meine ersten Gehversuche, und zwar in Sachen Sprache. »Guten … Abend. Wie geht es Ihnen?« Sie ließ das Buch in ihren Schoß plumpsen und sah mich ent198
geistert an. »Mir? Wie es mir geht, fragen Sie? Wie geht es Ihnen? Ich dachte schon, Sie wären Geschichte…« »Was ist mit mir passiert?« »Dr. Camus meinte, Sie hätten eine Gehirnerschütterung.« »Ist das Flugzeug weggeflogen?« »Welches Flugzeug?« »Na … Ihres. Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß die Triebwerke zündeten…« Ich hörte auf, denn ihr Blick gefiel mir gar nicht. »Meine Triebwerke? Die werden wohl nie mehr anspringen… Geschweige denn ohne Treibstoff.« »Aha… Und wovon habe ich dann die Gehirnerschütterung?« Sie war ganz süß, wie sich mich ansah. Und noch süßer, als sie anfing, mit dem Saum ihres Kimonos zu spielen. Abgesehen von den roten Haaren und ihren blauen Augen war sie so schüchtern wie ein Geishalehrling am ersten Unterrichtstag. »Na ja … ich glaube, von mir.« »Von Ihnen? Ich? Was haben Sie denn mit mir gemacht, während ich schlief?!« Weitere rote Wellen schwappten über ihr Gesicht. »Seien Sie nicht so geschmacklos! Es ist gestern passiert.« »Was denn, um Himmel willen?« »Na, daß ich Ihnen ins Gesicht getreten habe. Dr. Camus meint, ich hätte mit meinem Stiefel Ihren Kopf getroffen. Sie wissen doch, als Sie mich aus der Kofferecke herausholen wollten.« Die immer sanfter werdenden Lichtstrahlen der Sonne brachen sich an ihrem Gewand. Vorne, zwischen ihren Brüsten, blitzte ein riesiger Drachen auf und schien mir geradewegs seine riesige Zunge entgegenzustrecken. Er rollte den Schwanz nach hinten, wo er sich etwas höher im Ausschnitt verlor. Ihr Gesicht war immer noch rot, als sie mich anfuhr: »Was starren Sie mich so an?!« »Ich denke gerade darüber nach, wo der Schwanz des Drachen 199
wohl endet.« Sie beugte sich über mich und legte die Hand auf meine Stirn. »Seltsam, dabei scheinen Sie gar kein Fieber zu haben. Dr. Camus hat gesagt…« Ich nahm ihre Hand und hauchte einen kraftlosen Kuß auf ihre Finger. Sie zog sie zurück, als ob ich zugebissen hätte. »Was tun Sie denn da?« »Ich möchte aufstehen«, gab ich ihr zu verstehen. »Dr. Camus hat gesagt…« Da sie das schon ein paarmal gesagt hatte, interessierte es mich nicht mehr so sehr, also schwang ich einfach die Füße vom Bett. Sie hatte bestimmt schon zuvor einige Männer in Unterhose gesehen, dennoch ordnete sie einen strategischen Rückzug für sich selbst an. Mit zwei Schritten war sie an der Tür, und erst als sie sich dahinter in Sicherheit wähnte, riskierte sie noch einen Blick zurück. »Mr. Camus erwartet Sie zum Dinner. Bis dann!« Erfreut stellte ich fest, daß neben meiner Tasche auch die MP auf dem Boden lag. Ich überlegte eine Weile, dann ließ ich sie, gegen die Wand gelehnt, dort. Es gehört sich nicht – zumindest in besseren Kreisen –, zum Dinner mit einer mexikanischen Maschinenpistole zu erscheinen. Was die Kleiderwahl anging, hatte ich zwei Möglichkeiten. Entweder der gestern noch ziemlich sportlich und elegant wirkende, inzwischen allerdings etwas in Mitleidenschaft gezogene helle Anzug, oder der Seidenkimono, der im Schrank meines Zimmers hing. Diesmal dauerte die Entscheidung nicht so lange, ich entschied mich kurzerhand für den Kimono. Als sich der leichte Seidenstoff um meinen Körper hüllte, schwebte ich in Gedanken in die alten Zeiten, zu der Wüste Gobi zurück, wo ich mich fast ausschließlich so gekleidet hatte. Zwar hieß es dort Del und nicht Kimono… Und plötzlich, wie über tausend Wolken hinweg, hörte ich aus der Ferne wieder die guten Ratschläge meines gesprächigen mongolischen Freundes, Galsandordshi: ›Wenn du dich in einen Del kleidest, Lubsang – dies war mein mon200
golischer Name –, wirst du von deinem früheren Ich befreit. Jeder, der einen Del anzieht, trägt damit gleichzeitig die Steppe, die Berge, die Stille der großen Seen und das Gebrüll der Kamele in der Wüste. Jeder, der einen Del anzieht, bekommt ein neues Lebensgefühl. In einem europäischen Anzug wirst du nie ein richtiger Mongole werden! Wie kannst du frei leben, wie soll deine Seele fliegen können, wenn deine Bekleidung Taschen hat! Das ist lächerlich… Du willst deine Streichhölzer: und findest sie nicht! Du suchst die Zigaretten: statt dessen fällt dir dein Taschentuch in die Hände. Wie viel besser ist da doch ein Gürtel, mit dem Messer, dem Tabaksbeutel und deinem Feuerzeug! Und für den Rest hast du die große Ausbuchtung in deinem Umhang. Du faßt rein, und alles ist an seinem Platz. Und diese verfluchten Taschen…‹ Er hätte es wohl auch noch weiter ausgeführt, wenn leises Klopfen nicht seinen Monolog unterbrochen hätte. »Bitte!« Die Tür ging auf, und Hardy trat ein. Unnötig zu erwähnen, daß auch er einen Kimono zur Schau trug. Der rote, typisch irische Kopf stand in krassem Gegensatz zu dem grünen Seidenumhang mit den Drachenverzierungen. »Geht es Ihnen besser?« Er trat näher und machte es sich auf meinem Bett bequem. »Und Sie?« »Ich hab' ein wenig geschlafen. Seit gestern hatte ich keinen Schlaf…« »Die anderen?« »Sie haben sich wohl alle gut erholt. Der Kerl mit den lila Haaren hat das Gelände ein wenig unter die Lupe genommen.« »Leichenfresser? Er hat was getan?« »Besser gesagt, die Frau des Hauses unter die Lupe genommen…« »Die Frau des Hauses? Ich weiß ja noch nicht einmal so richtig, wer der Hausherr ist…« »Das wird sich bald herausstellen. Ach ja, stimmt, ich bin eigentlich hier, um Bescheid zu sagen, daß in zehn Minuten das Abendmahl beginnt. Ich hoffe, Sie sind entsprechend ausgehungert.« Zehn Minuten reichten gerade, um fertig zu werden. Während ich 201
duschte, blätterte der Reporter Mals liegengelassenes Buch durch. »Na so was, wollen Sie fliegen lernen?« »Was?« »Navigationsprobleme bei Nachtflügen. Soso…« Ich wollte ihn über das Mißverständnis aufklären, aber es klopfte erneut jemand an der Tür. Das war es dann aber auch schon mit der Höflichkeit, denn noch bevor ich ihn hätte hereinbitten können, stand Leichenfresser bereits neben uns. Die Knöpfe an seiner Lederweste glänzten wie neu poliert, die schwarze Hose war ebenfalls auf Hochglanz gewienert, seine mit Stahlnägeln besetzten Lederarmbänder erinnerten an längst vergangene Gladiatoren. Obwohl zu Cäsars Zeiten die Arenakämpfer wohl kaum mit lilafarbigen Haarbüscheln vor das Volk treten durften… Er breitete die Arme aus, umarmte mich aber nicht, sondern fing irgendwelche Entspannungsübungen an. »He! Wir sind hier an einem echt tollen Set, das können Sie mir glauben. Die Frau ist einfach super musikalisch. Und ihr Hintern ist auch nicht ohne. Ich hab' nur kurz erwähnt, ich wäre hungrig, und schon brachte sie mir so einen Spucknapf voll panierter Schnecken oder was. Da ist mir voll der Appetit vergangen. Wie sieht's mit Ihnen aus?« »Bisher gut«, murmelte Hardy. »Die anderen?« »Ich sag' Ihnen, so viele Elefanten habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Da gehe ich raus, und schon kommt so einer angerannt und folgt mir, wie ein Dackel. Ich hab' ihm gesagt, husch! Aber das hat ihn gar nicht gekümmert. Er wäre ja ganz nett und so, wenn er nicht so große Beißerchen hätte… Dagegen zu rennen wäre nicht ganz okay, was?!« »Wovon reden Sie?« »Von den Elefanten, Mann! Die rennen hier herum wie daheim die Hühner. Da fällt mir ein, ich bin schon wieder hungrig. Das Mädel hat ein Klavier, aber in einem so schlechten Zustand…« Er verstummte erst, als wir draußen auf dem Flur in das Dienstmädchen rannten, das man geschickt hatte, um uns zu holen. 202
Hätte ich nicht gewußt, daß wir an einem von Menschen gemiedenen Fleckchen südostasiatischer Erde waren, Hunderte Kilometer von der nächsten größeren Siedlung entfernt, wäre mir das Ganze wie eine Szene aus einem vornehmen Londoner Club vorgekommen. Aus dem Flügel, in dem sich auch mein Krankenzimmer befunden hatte, kamen wir durch einen verglasten Durchgangsflur in das Hauptgebäude. Der Vorraum wurde von sanftem Licht erhellt, es schien, als würde es direkt aus den Scheiben glimmen. Nach einem kurzen Spaziergang verwehrte uns eine große, zweiflügelige Tür den Eintritt. Unsere Begleiterin blieb neben dem Pfosten stehen und lächelte uns an. Ich lächelte zurück und drückte die Flügel auf. Und hielt den Atem an. Von der Decke schickten gigantische Kronleuchter aus geschliffenen Kristallen ihr Licht in den riesigen Raum, wo es von meterhohen Spiegeln zurückgeworfen wurde. Da fast jeder Quadratzentimeter der Wand auf diese Weise verglast war, sah es aus, als ob sich mehrere hundert Leute in der Halle befinden würden. Leichenfresser klopfte dem Mädchen freundlich auf den Hintern und klatschte dann in die Hände. »Mein Gott, wieviel Futter!« Ein Teil des großen Raumes wurde von einem mindestens zehn Meter langen ovalen Tisch eingenommen, der wohl alles bot, was man sich aus Tausendundeiner Nacht hätte erträumen können. Berge von Fleisch, Käse, Fisch und verschiedenen Früchten. Um die kleineren Tische standen die anderen Passagiere des Flugzeuges herum. Als wir eintraten, blickten sie allesamt auf. Der bereits vorher kennengelernte Chinese löste sich von der Gruppe und streckte mir schon von weitem die Hand entgegen. »Endlich, Mr. Lawrence! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir um Sie in Sorge waren! Besonders, als Dr. Camus sagte, Sie hätten eine Gehirnerschütterung. Ich hab' mir gedacht, wir sollten diese glückvolle Landung ein wenig feiern.« 203
Ergriffen schüttelte ich seine hingereichte Rechte. »Danke, Mr. Vang Pin. Und Dr. Camus?« »Oh, der Doktor wird bald hier sein. Ich schlage vor, daß Sie bis dahin schon einmal Platz nehmen. Gleich wird die Schildkrötensuppe gebracht. Bitte verzeihen Sie, ich werde beim Dinner neben den Damen sitzen, aber später müssen wir uns unbedingt unterhalten!« Er verbeugte sich und glitt lächelnd weiter. Gegenüber dem Tischlein-deck-dich standen kleinere Tische, umrahmt von jeweils drei Stühlen. Ich sah, wie Vang Pin Judy und Lisolette mit netten Gesten beiseite zog. Leichenfresser hatte es sich bei dem großen Tisch gemütlich gemacht. Also setzten wir uns mit Hardy zu zweit etwas abseits. Es sah schon danach aus, daß wir alleine bleiben würden, aber dann tauchte Wilhelmina von Rottensteiner neben dem Tisch auf. Als sie stehenblieb und ich aufschaute, stockte mir wortwörtlich der Atem. Ein beinahe schon unbekanntes Gesicht lächelte uns an. In der fernöstlichen Bekleidung sah sie wirklich mindestens zehn Jahre jünger aus. Ohne ihren altmütterlichen Hut konnte man die kurzen, gelockten Haare und die aristokratisch geschwungene Stirn erkennen, und auch die wachen, klugen Augen schienen irgendwie heller zu funkeln. Sie schnüffelte mit der dünnen, etwas gebogenen Nase herum und schüttelte dann anerkennend den Kopf. »Kein schlechter Tausch. Auf Ihrem Pandakongreß hätte es bestimmt keine Schildkrötensuppe gegeben. Pro Tasse mindestens zehn Dollar.« Als sie mit ihrer Portion fertig war, strich sie mit dem Finger über den Saum des Seidenkimonos. »Sehen Sie? Ein blauer Drachen.« »Er bringt die Kraft«, nickte Hardy. »Woher wissen Sie das?« »Ich bin öfters in Thailand.« »Interessant … vor kurzem habe ich auch etwas Zeit dort verbracht.« Hardy legte den Löffel beiseite und starrte die Professorin unver204
hohlen an. Dann schlug er sich gegen die Stirn. »Aber natürlich! Deswegen waren Sie mir so bekannt! Erinnern Sie sich? Wir haben uns doch sogar bei einem Empfang getroffen…« »Und Sie haben mir ein paar Fragen gestellt!« »Man hatte Ihnen gedroht, eine Bombe in Ihrer Ausstellung zu zünden. Hat man inzwischen herausgefunden, wer es war?« »Wahrscheinlich radikale Künstler oder Anarchisten.« »Was zum Teufel wollten die überhaupt von Ihnen?« »Rein persönlich wohl gar nichts. Aber wissen Sie, mein Lieber, ich bin die Personifizierung des Kapitalismus, der akademischen Kunst und Gott allein weiß, wessen noch. Wenn man die Ausstellung in die Luft jagte, würden die sich bei jeder Zeitung die Titelseite sichern. Und Öffentlichkeit ist wohl das, was solche Leute am meisten brauchen.« Mein Kopf flog zwischen den beiden hin und her, dennoch kapierte ich nicht so recht, um was es eigentlich ging. Hardy bemerkte meine Verwirrung als erster, und schließlich tat ich ihm genug leid, um mich einzuweihen. »Sie wissen natürlich wieder einmal nicht, wovon wir sprechen. Nun, die Professorin und ich haben uns vorher schon einmal getroffen, und zwar in Bangkok.« »Vor genau drei Jahren«, ergänzte Frau von Rottensteiner. »Ich sollte einen Artikel über ihre Ausstellung schreiben.« »Was für eine Ausstellung denn?« »Oh, nicht einmal das wissen Sie? Frau von Rottensteiner ist eine begabte Künstlerin!« »Übertreiben Sie nicht, Mr. …?« »Hardy. Und ich übertreibe nicht. Die Professorin malt wunderbare Genrebilder mit asiatischen Motiven. Und diese herrlichen Münzen! Ich erinnere mich an einen Sun-Jat-sen-Kopf, er war einfach himmlisch! Hatten Sie auch in China schon eine Ausstellung?« Wilhelmina von Rottensteiner löffelte die Suppe aus und ließ den Löffel hart auf der Tischplatte aufschlagen. »Ich bin nichts weiter als eine alte Frau! Weder Wissenschaftler 205
noch Künstler, noch sonstwas! Bitte verzeihen Sie!« Damit sprang sie auf und verließ uns ohne ein weiteres Wort. Zum Glück kam gerade ein Junge mit einem Tablett voller Getränke vorbei. Ich ließ uns zwei Gläser auf den Tisch stellen, und während wir tranken, versank jeder in seine eigenen Gedanken. »Was ist denn mit der los?« fragte Hardy schließlich. »Hab' ich irgendwas Falsches gesagt…? Nein, nichts, oder?« »Es waren wohl verborgene Saiten, die Sie da zum Klingen gebracht haben.« »Was für Saiten?« »Sie haben sie an die Vergangenheit erinnert.« »Wieso Vergangenheit? Das ist doch erst drei Jahre her?!« »Vergessen Sie nicht, im Alter sind drei Jahre eine lange Zeit. Was ist denn damals überhaupt passiert, wenn man fragen darf?« »Eigentlich gar nichts. Deswegen verstehe ich es ja auch nicht. Glauben Sie, daß sie sauer auf mich ist?« »Ich denke nicht«, antwortete ich geduldig. »Anscheinend mag sie es einfach nicht, an die Vergangenheit erinnert zu werden.« »Und was soll ich Ihrer Meinung nach nun tun?« »Mir erzählen, was passiert ist.« »Frau von Rottensteiner hatte eine Ausstellung in Bangkok. Sie wurde von der westdeutschen Kulturkommission organisiert, glaube ich. Sie macht wirklich schöne Bilder und Kleinplastiken. Dann bekamen die Deutschen in der Botschaft einen Brief, daß man alles in die Luft jagen würde.« »Und mit welcher Begründung?« »Das Übliche. Weltimperialismus, Weltrevolution, und so weiter. Lauter Blödsinn. Damals habe ich die Professorin flüchtig kennengelernt. Seltsam, daß sie Forscher und Künstler gleichzeitig ist.« So weit waren wir gekommen, als Vang Pin aufstand und sich mit dem Whisky in der Hand vorsichtig verbeugte. Die Spiegel ließen seine Figur an tausend Stellen gleichzeitig erscheinen, auch in unserer nächsten Nähe krümmten sich gerade mindestens zwei Chinesen. 206
»Meine Damen und Herren!« fing er an. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Bitte erlauben Sie mir, mein Glas auf Ihre geglückte Landung und insbesondere auf Miss Malgorzata zu erheben, die Sie alle von den Sternen auf mein Grundstück gebracht hat.« Mal wurde richtig rot, aber auch Lisolette bekam Beifall. Die Kopilotin war noch ein klein wenig hübscher als Malgorzata: Die weiche, perfekte Figur, die reizenden Rundungen wurden von dem Drachenkimono mehr betont als verhüllt. »Bereits an der Piste habe ich Ihnen gesagt, daß Sie, ähm … eine gewisse Weile hier mit uns verbringen werden müssen. Solange Sie in Laos weilen, fühlen Sie sich bitte bei mir wie zu Hause. Und wenn jeder von Ihnen in seine Heimat zurückgekehrt ist, erinnern Sie sich bitte mit Freude an die hier verbrachte Zeit. Ich verspreche Ihnen, daß ich alles unternehmen werde, um mir Ihre Zuneigung zu verdienen. Sollten Sie irgendeinen Wunsch oder ein Problem haben, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an mich oder meine Familie.« »Was sagen Sie dazu?« erkundigte sich Hardy nach dem zweiten Whisky. »Zu was?« »Das Ganze ist so wie im Schloß von Dracula. Er verspricht ständig, irgendwelche Gäste zu bringen, und es kommt doch niemand. Die Besucher bleiben auf sich gestellt.« Im selben Moment öffnete sich die Flügeltür, und eine etwa zwanzig Jahre alte chinesische Frau trat ein, gefolgt von einer etwas älteren, doch mindestens genauso schönen. Automatisch erhoben wir uns von unseren Plätzen. Die beiden lächelten und verbeugten sich. Vang Pin eilte zu ihnen und küßte der jüngeren die Hand. »Diese Dame ist die verehrte Paj Miang, meine Ehefrau. Und dies ist Ho Ling, meine Schwägerin. Sie sprechen beide perfekt Englisch. Bitte, nehmt Platz!« Hardy setzte sich ebenfalls und zuckte mit den Schultern. »Das mit Dracula muß ich wohl zurücknehmen.« 207
Kurz darauf erschien auch Dr. Camus. Er war der einzige der hier Wohnenden, der in einem europäischen Anzug steckte. In seiner zerschlissenen, kurzen Hose und dem viel zu weiten Hemd sah er wie ein etwas zu groß geratener Liliputaner aus. Nach der Schildkrötensuppe kam ein weiterer Gang, der ebenfalls im Sitzen eingenommen wurde. Danach wurden wir mit freundlichem Lächeln von den Bediensteten zu dem ovalen Tisch geführt. Ich hatte gerade meinen Teller mit allerlei irdischen Köstlichen vollgepackt, als Vang Pin in meinem direkten Umfeld erschien. Mit dem warmherzigen Blick des geborenen Gastgebers schaute er zufrieden meinem Treiben zu und kam erst näher, als ich nach der zweiten Portion Ei mit Kaviar sichtlich keinen Bissen mehr runterbekam. »Zu Ihrem Wohl, Mr. Lawrence«, lächelte er mir zu, nachdem ich mich für das wunderbare Essen bedankt hatte. »Könnten wir ein paar Gedanken austauschen?« Er führte mich in den angrenzenden Raum, wo riesige, bauchige Sessel die vom Essen in Mitleidenschaft gezogenen Körper erwarteten. Und falls jemand nach geistiger Nahrung hungerte, fand er auf den Bücherregalen an den Wänden sicherlich den richtigen Lesestoff. Vang Pin bot mir einen Platz an, und als er sich selbst hingesetzt hatte, reichte er mir von einem Beistelltisch eine Schachtel und öffnete den Deckel. »Zigarre?« »Ich würde lieber eine Pfeife rauchen, wenn Sie erlauben.« »Aber bitte sehr«, sagte er höflich, holte für sich eine Havanna raus und biß das Ende ab. Dann wartete er, bis ich mit meinen Vorbereitungen fertig war, und ungefähr zur selben Zeit ließen wir gemeinsam die ersten Rauchwolken zur Decke steigen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, tat er den ersten Schritt und blickte dabei den Rauchkringeln nach. »Ich möchte nicht, daß Sie mich mißverstehen, aber im Grunde freue ich mich sogar, daß Ihnen dieses Unglück widerfahren ist. Ich meine damit natürlich nicht die Morde! Schrecklich! Was Sie da oben alles aushalten mußten…! Nein, ich freue mich, daß Sie hier sind! Die Welt hat uns in 208
den letzten Jahren ein wenig verlassen. Seit dem Vietnam-Krieg…« »Wann haben Sie das Grundstück gekauft?« erkundigte ich mich höflich. »Vor vier, fünf Jahren.« »Und warum gerade hier? Ich meine, dieses Gebiet war doch wohl auch vorher nicht gerade der Mittelpunkt Asiens…« »Vielleicht gerade deswegen. Sehen Sie, ich bin nicht mehr der Jüngste. Mein ganzes Leben lang war ich unterwegs, habe überall Geschäfte gemacht und bin müde geworden. Es tut mir gut, mich von der Hektik der Welt zurückzuziehen. Nur, sehen Sie … meine Frau… Sie ist um einiges jünger als ich. Ich glaube, ihr fehlen ein wenig die Stadt, die Autos, die Menschen, Kino und Theater. Sie kann sich mit Ihnen allen über vieles unterhalten, für das ich in meinem Alter kein geeigneter Gesprächspartner wäre. Deswegen sagte ich, ich würde mich über Ihr Hiersein freuen.« »Das ist sehr nett von Ihnen.« »Andererseits bin ich von dem, was mit Ihnen passiert ist, zutiefst erschüttert. Und so sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, kann ich nicht verstehen, warum das alles passiert. Sie etwa, Mr. Lawrence?« »Nein. Ich eigentlich auch nicht. Obwohl…« »Ja?« Der Wirkung halber paffte ich noch ein paarmal an der Pfeife. »Es gibt natürlich gewisse Zeichen, aus denen man wiederum gewisse Rückschlüsse ziehen kann.« »Ein altes chinesisches Sprichwort, Mr. Lawrence, sagt, daß man durch eine trübe Tasse nicht hindurchsehen kann.« »Ich werde es sofort erklären. Also, ich weiß nichts Bestimmtes. Eigentlich noch nicht einmal, wie ich in das Flugzeug gekommen bin.« »Sie wissen es nicht?« Ich hielt mich an die Tatsachen und versuchte, so kurz, aber umfassend wie möglich, die ganze Geschichte zu erzählen. Angefangen mit der Stewardeß, die mir zugezwinkert hatte und von der sich später herausstellte, daß sie Hardys Kollegin war. Ehrlich gesagt, be209
hielt ich einige Sachen für mich, so zum Beispiel die ganze Geschichte mit den Tonsoldaten und Hardys Suche nach ihnen, oder daß ich es dem Reporter verdankte, überhaupt hier zu sein. Warum? Nun, im Laufe der Jahre hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, niemals mehr zu erzählen, als zum Verstehen der Dinge unbedingt notwendig war. Vang Pin schüttelte dabei ständig den Kopf. Auf seinem traurigen Vogelgesicht sprangen die Falten besorgt auf und ab. Von dem Ärmel seines Kimonos spuckte mir ein roter Drachen seine Feuerwalzen entgegen. »Seltsam«, faßte er dann seine Gefühle zusammen. »Äußerst seltsam. Als ob es eine im voraus gut organisierte Aktion gewesen wäre.« »So wird es wohl auch tatsächlich sein«, nickte ich. »Jemand wollte, daß wir genau hier, auf Ihrem Gut landen.« »Darüber mache ich mir auch meine Gedanken«, sagte er und breitete die Arme aus. »Aber warum? Was will man denn gerade von mir?« »Das weiß ich nicht«, verkündete ich weise. »Aber wenn man nur von Ihnen etwas wollte, würde man uns dazu nicht brauchen. Ein erster Anhaltspunkt wäre natürlich, wenn wir eine Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und uns entdecken könnten.« Ungläubiges Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ach was? Woran denken Sie dabei?« »Zum Beispiel der Flugplatz«, gab ich zu bedenken. »Gibt es hier irgendwo in der Nähe eine andere Landebahn? Sagen wir, innerhalb einiger tausend Quadratkilometer?« »Nicht, daß ich wüßte«, schüttelte er nachdenklich den Kopf und drehte die Zigarre zwischen den Fingern. »Sehen Sie, das ist nicht einmal so abwegig. In der Tat, es ist die einzige Verbindung zwischen Ihnen und mir. Der Flugplatz. So was … seit gestern zerbreche ich mir den Kopf, und Sie finden es nach wenigen Minuten heraus!« Jemand klopfte leise an, und ein Diener brachte uns Kaffee. »Ich dachte, Sie trinken Tee«, bemerkte ich verwundert. »Ich habe kaum einen Chinesen gesehen, der je Kaffee getrunken hätte.« 210
»Eine schlechte Angewohnheit«, gestand er und begrüßte mit dem Lächeln des Genießers den Duft des heißen Getränks. »Wissen Sie, das stammt noch aus meinen Zeiten als Handlungsreisender. Die Europäer tranken alle Kaffee, und ich machte es ihnen nach. Anfänglich, zugegeben, aus Zwang, dann wurde es zu Gewohnheit. Meine verehrten Ahnen würden sich bestimmt im Grabe umdrehen, wenn sie das erfahren würden. Nun, jedes Neujahr verbrenne ich in Gedenken an sie Papiergeld und bete um Vergebung… Aber diese Flugplatztheorie ist wirklich sehr interessant.« »Haben Sie ihn gebaut?« »Ich? Ach was, wozu? Ich besitze doch gar kein Flugzeug. Das Fliegen kann ich sowieso nicht leiden, und nach dem, was ich von Ihnen gehört hatte, dürfte mir wohl für den Rest meines Lebens sowieso die Lust dazu vergangen sein. Ich glaube, er wurde von den Franzosen gebaut und stammt noch aus der Kolonialzeit. Er ist wohl deshalb so klein.« Damit erklärte sich nicht nur Größe, sondern auch Zustand der Piste. »Aber er gehört Ihnen?« »Natürlich. Vielleicht komme ich sogar noch ins Guinness-Buch der Rekorde? Der einzige Flugplatzeigentümer ohne ein Flugzeug…« »Wissen noch andere von der Landebahn?« »Eigentlich jeder, der sich die Mühe macht, dort herumzuspazieren. Obwohl es Privatgelände ist, sind nicht überall eindeutige Grenzmarkierungen angebracht. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht verhindern, daß der eine oder andere Fremde sich dorthin verirrt. Aber ich hab' auch nichts dagegen. Wir beschäftigen uns hier hauptsächlich mit Ackerbau und Holzfällerei. Ich habe zum Beispiel herrliche Reisfelder. Mit einem Wort, jeder konnte den Flugplatz sehen, der einmal dort war.« »Auch die Meos?« »Warum nicht? Die erst recht!« »In was für einem Verhältnis stehen sie denn zu Ihnen?« »In gar keinem. Man kann mit Meos in keinem Verhältnis stehen. 211
Sie haben ihr eigenes Leben, ich das meine.« »Aber ich habe mindestens dreißig von ihnen beim Flugzeug gesehen…« »Das sind meine eigenen Meos. Einige habe ich in meine Dienste aufgenommen.« »Oh, ich dachte, die Meos wären nicht so für geregelte Arbeit…« »Sind sie auch nicht… Eigentlich arbeiten sie nicht, sie halten lediglich Wache. Für etwas Kleingeld. Nicht viel, aber sie verlangen auch nicht nach mehr. Bei ihnen ist Kriegführung eine Tradition.« »Und der Anbau von Rauschgift.« Er klopfte die Asche ab und schwieg eine Weile. Dann blickte er mir geradewegs in die Augen. »Auf meinem Anwesen wird nichts dergleichen angebaut! Und auch woanders lasse ich sowas nicht zu. Ich hasse Drogen! Seit langem schon. Es gab da jemand in meinem Leben … den ich sehr geliebt habe … und der dem Opium zum Opfer fiel. Mit Drogen habe ich nichts zu tun!« »Verzeihen Sie! Ich wollte nicht…«, entschuldigte ich mich eilig. »Ach was. Sie haben ja recht, die anderen Meos leben zum größten Teil davon. Anbau und Verkauf. Jeder Meo ist ein geborener Soldat, Jäger und Opiumschmuggler. Das kann ich bezeugen.« »Und die Behörden?« »Welche? Die aus Laos? Deren Arm reicht nicht so weit. Dies hier gehört zum Hoheitsgebiet des Prinzen Boun Oum. Und der wird vom Volksmund einfach Drogenprinz genannt. Muß ich es weiter ausführen?« »Nein… Äh, sagen Sie, haben Sie bereits eine Vorstellung davon, wie lange wir hierbleiben müssen?« »Zehn Tage, zwei Wochen auf jeden Fall.« »Haben Sie keine Funkverbindung zur Hauptstadt?« »Leider nein.« »Und wie halten Sie dann den Kontakt mit Vientiane?« »Überhaupt nicht. Wenn die was wollen, kommen sie mit dem Hubschrauber hierher und landen im Hof. Dann fliegen sie wieder 212
davon, und keiner weiß, wann sie sich das nächste Mal blicken lassen.« »Und wenn Sie etwas brauchen?« »Sie meinen, Lebensmittel? Zum Teil sind wir Selbstversorger. Außerdem verbringt meine Frau jährlich mehrere Monate im Ausland. In China, Thailand, Malaysien. Bei solchen Gelegenheiten bringt sie immer alles mit, was wir im nächsten Halbjahr gebrauchen könnten.« »Dann bleibt uns nur die Hoffnung, daß man das Flugzeug entdeckt.« »Nun ja. Wenn man tatsächlich nach Ihnen suchen sollte, könnte man auch auf das Flugzeug stoßen. Die Maschine ist ziemlich groß. Sind Sie sicher, daß man Sie hier vermuten wird?« »Absolut.« »Dann gibt es kein Problem. Aber ich kann auch noch etwas anderes für Sie tun: Gleich morgen früh werde ich jemanden zur nächsten Siedlung schicken, um die Behörden zu informieren.« »Wie lange wird das etwa dauern?« »Ich fürchte, mindestens zehn Tage, bis mein Mann dort ankommt. Wenn er überhaupt ankommt…« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie, Mr. Lawrence, das hier ist nicht der Piccadilly Circus, sondern die Hochebene in Laos. Mit Urwald, Bergen und Meos. Keiner kann sich sicher sein, tatsächlich an seinem Ziel anzukommen.« »Auf jeden Fall möchte ich mich auch im Namen der anderen für Ihre Bemühungen bedanken. Gehört der Berg mit den drei Spitzen auch zu Ihrem Grundstück?« »Nur eine Bergkuppe.« »Wie bitte?« »Nur eine der drei Bergkuppen liegt auf meinem Gebiet. Die äußerste. Die Grenze verläuft genau in der Mitte zur anderen. Auch so bin ich schon stolz, daß mir wenigstens eine gehört.« »Und die anderen zwei?« 213
Sein Gesicht verfinsterte sich, als ob er die Frage nicht gerne beantworten würde. Es dauerte lange, bis er in der Schachtel eine passende neue Zigarre fand. Ich hatte das Gefühl, er machte es, um mich von meiner Frage abzubringen, aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Eisern schwieg ich mich, auf Reaktion wartend, aus. Er blies einige Kringel in die Luft und blickte ihnen mißmutig hinterher. »Was meinten Sie?« »Wem die beiden anderen Bergspitzen gehören?« »Oh, ach ja. Es gibt ein Kloster, ein buddhistisches. Ich war nur einmal oben, eine der Bergkuppen gehört ihnen.« Die Worte kamen nur sehr unwillig aus ihm heraus, was mich natürlich um so neugieriger machte. »Das trifft sich ja wunderbar«, meinte ich vorlaut. »Ich hab' mich schon immer für Klöster interessiert. Könnten Sie mir mehr darüber erzählen?« Er seufzte, was wohl ein Zeichen seiner Kapitulation war. »Viel mehr weiß ich nicht. Sie sind erst vor einigen Jahren hierhergezogen, angeblich mit Unterstützung der Regierung. Ebenfalls angeblich sind sie über die Grenze aus China geflüchtet. Ehrlich gesagt, mögen wir einander nicht besonders. Oder besser gesagt, sie mich nicht.« »Ist etwas Bestimmtes vorgefallen?« »Eben nicht, das ist es ja! Sie waren etwas früher da als ich. Kurz nach meiner Ankunft stattete ich ihnen einen Höflichkeitsbesuch ab. Obwohl ich gar kein Buddhist bin. Aber sie ließen mich nicht einmal ins Kloster hinein!« »Das ist aber seltsam.« »Ich hatte sogar ein Geschenk dabei. Ich überlegte mir, am Ende der Welt gäbe es bestimmt einiges, das sie gebrauchen könnten. Also dachte ich mir, ich werde sie ein wenig unterstützen. Aber sie machten nicht einmal die Tür auf. Sie haben nur herausgerufen, daß ich mich zum Teufel scheren soll.« »Wortwörtlich?!« 214
»Sinngemäß.« »Unglaublich.« »Danach habe ich einen Brief an ihren Abt geschrieben, und einer meiner Männer hat ihn persönlich überbracht. Das ist gut ein Jahr her, und ich warte seitdem immer noch auf die Antwort.« »Was für ein Kloster ist denn das?« »Sehen Sie, ich bin kein Buddhist… Einige sagen, es wurde Maitreja, dem Kommenden Buddha, gewidmet. Aber ich hab' Ihnen noch nicht alles erzählt!« Erneut kreierte er ein paar gelungene Rauchwolken, und ich war froh, daß ihm anscheinend doch wieder die Lust gekommen war, offen zu reden. »Man erzählt sich, daß die … ähm, Mönche, wie wildgewordene Maulwürfe graben.« »Sie machen was?« »Sie graben.« »Was? Eine Verteidigungslinie?« »Wer weiß… Nein, ich glaube eher, sie suchen etwas bestimmtes.« »Einen Schatz?« »So was ähnliches. Sie rennen mit Schaufeln herum und graben überall. Meine Meos sehen sie manchmal. Angeblich schauen sie auch immer wieder mal mit so seltsamen Ferngläsern hier rüber.« »Ein Marschkompaß«, rutschte es mir raus. »Davon verstehe ich nichts. Aber da ist irgendwas faul, wie Sie es in Europa ausdrücken würden. Einfache buddhistische Mönche mit Feldmeßinstrumenten…?« »Vielleicht haben sie vor, ihr Kloster weiter auszubauen. Ach ja, da fällt mir ein, wer hat denn überhaupt das jetzige erbaut?« »Es stand seit Jahrzehnten leer, Sie haben es sich angeblich wieder hergerichtet.« »Das heißt, sie wußten bereits vor ihrer Ankunft, daß sie hier ein leerstehendes Kloster erwarten würde?« »Offensichtlich.« »Vielleicht heben sie ja auch nur Wassergräben für ihre Felder aus.« 215
»Meine Meos sagen, die suchen nach etwas. An bestimmten Stellen graben sie tief in die Erde, und kurz darauf machen sie dasselbe an einer vollkommen anderen Stelle. In den meisten Fällen irgendwo in der Nähe der Bergkuppen. Vor kurzem haben sie sich sogar einmal auf mein Gebiet getraut!« »Und Sie?« »Es war mir egal, ich ließ sie gewähren. Schaden können sie mir ja damit nicht. Aber wenn sie sich auch noch zum Schwarzen Prinzen rübertrauen, wird es ihnen schlecht ergehen.« »Schwarzer Prinz? Wer ist denn das?« »Der Eigentümer der dritten Bergspitze.« »Und woher der Name?« »Die Bevölkerung hier nennt ihn so. Angeblich ist er immer in Schwarz gekleidet. Wenn er sich überhaupt blicken läßt…« »Wieso?« »Keiner hat ihn je richtig gesehen. Angeblich verläßt er bloß nachts sein Anwesen und dann nur in Schwarz. Einmal habe ich in Hongkong einen Film gesehen, Zorro. Darin ging es um einen Mann, der ebenfalls nur im Dunkeln unterwegs war, um der Gerechtigkeit zu dienen.« »Aha. Und dient Ihr Prinz auch dem Guten?« »Kaum. Die Meos sagen, er kümmere sich um gar nichts. Die ganze Nacht spaziert er bloß in der Gegend herum. Und jetzt halten Sie sich fest, Mr. Lawrence!« »Schon passiert«, meldete ich und umklammerte wirklich die Armlehnen meines Sessels. Vang Pin neigte sich nach vorne, als ob er Angst hätte, daß uns jemand belauschen könnte. Selbst seine Stimme dämpfte er ein wenig. »Die Meos behaupten, auch der Schwarze Prinz würde ständig graben!« Er hatte recht gehabt. Es war sinnvoll gewesen, sich festzuhalten. »Wie graben?« »Meine Diener sagten, er würde auf einem Pferd ausreiten und di216
verses Werkzeug mitnehmen. Spitzhacke, Schaufel und so weiter. Dann bleibt er hier und da stehen und fängt an zu graben. Aber im Gegensatz zu den Mönchen macht er die Löcher hinterher wenigstens wieder zu.« »Also sucht er ebenfalls nach etwas Bestimmtem.« »Anscheinend.« »Und was meinen Sie, wonach?« »Die Meos erzählen von einer Legende. Demnach birgt eine der Bergspitzen einen uralten Schatz. Aber ich halte nicht viel von solchen Geschichten. Wissen Sie, in Südchina, wo ich geboren wurde, hat jeder kleine Hügel eine eigene Geschichte. Und bei fast jedem heißt es, große Kaiser oder ihre Gattinnen wären dort begraben, natürlich mit all ihren sagenumwobenen Wertsachen.« »Haben die Legenden denn immer gelogen?« Er dachte eine Weile nach und zuckte dann mit den Schultern. »Meistens. Aber es kann immer wieder Ausnahmen geben. Nicht wahr?« Sehr viel spukte im Moment in meinem Kopf herum, also setzte ich meine Fragerei mit unvermindertem Interesse fort. »Trotzdem … worüber genau sprachen die Meos?« »Irgendeine Tonarmee. Sie soll hier begraben sein.« »Tonarmee?« stellte ich mich dumm. »Seltsame Legende.« »Fragen Sie erst gar nicht, denn mehr kann ich Ihnen auch nicht erzählen. Angeblich ließ Kaiser Huan-Ti eine Armee aus Tonsoldaten anfertigen. Mehrere tausend, menschengroße Figuren aus gebranntem Ton. Später wurde er zusammen mit ihnen begraben. Schatzgräber hat es schon immer gegeben, und ich denke mal, wird es auch immer geben. Vielleicht haben die Bewohner des Klosters und der Schwarze Prinz die Sache zu ernst genommen. Die Priester hätten zwar trotzdem etwas höflicher sein können… Vielleicht hielten sie mich für eine Art Konkurrenz. Das würde ihre Grobheit einigermaßen erklären … schließlich sind wir ja Landsmänner!« Jetzt erst verstand ich das wahre Ausmaß seiner Kränkung! Am meisten schmerzte ihn wohl, daß ihn Chinesen, die eigenen Leu217
te, abgewiesen hatten. Mit zittriger Hand hob er die Zigarre zum Zug und paffte leise vor sich hin. Er hatte wohl alles erzählt, was es über seine Nachbarn zu sagen gab. Ich dachte gerade darüber nach, was ich noch in Erfahrung bringen könnte, als Dr. Camus ins Zimmer trat. Er nahm den Zwicker ab und wischte verlegen das Glas sauber. »Nun, Dr. Camus?« fragte Vang Pin mit einer Stimme, die keinen Zweifel aufkommen ließ, wer hier der Herr im Hause war. »Welche guten Nachrichten können Sie uns überbringen?« Der Doktor bediente sich ebenfalls aus der Zigarrenkiste und zündete die braune Havanna an. »Ich habe mir die Maschine gründlich angesehen«, begann er und schaute dabei auf das glühende Ende seiner Zigarre, »und es ist einfach beängstigend! Mein Gott, der ganze Gestank!« Mein Herz verkrampfte sich, als mir die vormals so hübschen Stewardessen einfielen. »Ein regelrechter Schlachthof«, fuhr Camus fort. »Als ob Dämonen unter ihnen getobt hätten. Nicht wahr, Mr. Lawrence?« »Genau«, nickte ich. »Es müssen Dämonen gewesen sein. Haben Sie alle Leichen gefunden?« »Drei Tote lagen in der Maschine. Zwei Männer in diesen lustigen Maskeraden und ein Mädchen in dem Lastenaufzug. Schrecklich… Und dann noch ein Mädchen und ein Mann im Wald. Hören Sie, Vang Pin, so was haben Sie noch nicht erlebt: Der Kerl wurde mit einer Minirakete hingerichtet.« Der Angesprochene nickte. »Die Götter und unsere Vorfahren bestimmen unsere Todesart bereits im voraus.« Dr. Camus hatte da wohl seine eigene, nicht ganz damit konform gehende Meinung. Er setzte sich hin. »Ich habe noch nie so ein Projektil gesehen. Sie etwa?« »Jemand hat mir erzählt, man brauchte ein ziemlich großes, umgebautes Gewehr dazu.« 218
»Möglich. Ach, und dann haben wir natürlich auch das Grab des dritten Mädchens gefunden. Ihre nachträgliche Erlaubnis vorausgesetzt, haben wir sie ein wenig tiefer begraben, genau wie die anderen. Wir sind hier in den Tropen, Mr. Lawrence.« »Darüber bin ich mir im klaren«, nickte ich. »Mr. Lawrence hat sich nach unseren Nachbarn erkundigt«, wandte sich Vang Pin an Dr. Camus. »Nach dem Kloster und dem Schwarzen Prinzen.« »Oh.« »Mr. Lawrence meint, sie würden nur einen Wasserkanal graben.« Camus zeigte keine Überraschung. »Eine interessante Theorie. Und zu welchem Zweck?« Er blies riesige Rauchwolken auf mich zu und schien sich gar nicht für meine Antwort zu interessieren. Etwas anderes schien ihm wichtiger zu sein. »Mr. Lawrence«, fing er an, »ich muß zugeben, daß ich mir einfach nicht erklären kann, was bei Ihnen vorgefallen ist.« »Damit stehen Sie nicht alleine«, versicherte ich ihm. »Mir ist ja noch nicht einmal klar, was ich in dieser Maschine zu suchen hatte. Von meinen Reisegefährten kenne ich lediglich Frau Professor von Rottensteiner. Und auch sie habe ich nur ganz kurz vor zehn Jahren einmal kennengelernt.« »Trotzdem, was denken Sie darüber?« »Schwer zu sagen. Ich glaube, ich wurde hier in etwas hineingezogen, das mir vollkommen schleierhaft ist. Ebenso wie die Frage, wer mich warum in das Flugzeug gebracht hat.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Lawrence?« »Entomologe. Käferforscher. Außerdem kenne ich mich ein wenig mit asiatischen Kulturen aus. Früher habe ich an der School of Oriental Studies studiert.« »Haben Sie lange hier in Fernost gelebt?« »Besonders in Südostasien.« »Dann könnte dies die Erklärung sein.« »Ich weiß nicht, wie ich meine vor Jahren hier verbrachten Stu219
dien mit diesen Vorkommnissen in Verbindung bringen soll.« »Manchmal fehlt nur der Schlüssel«, meinte Vang Pin, »um das Schloß öffnen und die Tür aufstoßen zu können.« »Stimmt. Nur der Schlüssel«, nickte Dr. Camus, und dann kippte sein Kopf nach vorne, und er schlief übergangslos ein.
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ie Dinnergesellschaft hatte sich aufgelöst, alle zogen sich in ihre Gemächer zurück. Zum Glück wies die Residenz des Chinesen genügend Gästezimmer auf. Ich stellte den Wecker meiner Armbanduhr auf Mitternacht und nahm mir fest vor, ein paar Stunden zu schlafen. Vorsichtig wickelte ich den Verband von meinem Kopf und betastete die Wunde. Zum Glück tat es kaum noch weh. Ich legte mich auf das Bett, zog das Laken hoch und war gerade beim in solchen Fällen obligatorischen hundertsten Schäfchen angekommen, als leise an meine Tür geklopft wurde. Die Herde rannte auseinander, dabei wäre gerade das erste schwarze Tier an der Reihe gewesen. Ich zerrte die MP unter meinem Kopfkissen hervor und trabte damit zum Eingang. Mit der anderen Hand drehte ich den Schlüssel um und richtete die Waffe auf den Eindringling. Aber selbst ein libyscher Terrorist mit einer Stinger auf der Schulter hätte mich wohl weniger überrascht als die Erscheinung an der Türschwelle. Es war Malgorzata, mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen. Ich senkte die Maschinenpistole und hielt die Tür auf. »Hallo, Mal… Treten Sie ein.« Sie kam in das Zimmer und schaute sich um. »Setzen Sie sich doch!« schlug ich vor und fegte schnell eine Un220
terhose von der Lehne des einzigen Stuhls in meinem Reich. Mal blickte mich traurig an. »Ich glaube, ich habe etwas sehr Unmoralisches getan.« »Jemanden vergewaltigt?« wollte ich wissen. »Bisher noch nicht«, gurrte sie geheimnisvoll. »Etwas Schlimmeres.« »Und zwar?« »Ich habe geklaut.« »Schmuck?« »Whisky.« »Von wem?« »Vang Pin.« »Wieviel?« »Eine ganze Flasche. Gerade genug für uns zwei.« Ich beobachtete sie genau, sah aber nur den Kimono an ihr. Und etwas verheißungsvolles im Ausschnitt, allerdings keine Flasche. Außerdem gab es zwei davon. »Wo ist sie denn?« Sie machte eine so schnelle Bewegung, daß ich ihr mit den Augen gar nicht folgen konnte. Plötzlich hatte sie die Flasche in der Hand, aus dem breiten Ärmel wie einen Hasen hervorgezaubert. »Hoppla…« Die nächsten Minuten verliefen im Zeichen brüderlichen Teilens. Gläser hatte sie keine mitgebracht, aber ich verstand mich darauf, aus Papier kleine Trinkhütchen zu falten. Ihr Blick war bereits nach dem ersten Schluck milder. »Wissen Sie, warum ich hier bin?« »Ich kann es nur hoffen«, grinste ich. »Und genauso hoffe ich, daß ich nicht enttäuscht werde.« »Jetzt werden Sie frech!« stellte sie fest, aber ihre Stimme klang weder besonders belustigt noch beleidigt. Unter der Oberfläche, das spürte ich, beschäftigte sie irgend etwas anderes ungemein. Ich schluckte eine weitere Portion des edlen Getränks herunter und wurde ernst. 221
»Wollen Sie sich nicht mit auf mein Bett setzen?« »Nein!« »Sie mißverstehen mich! Es ist hier nur einfach bequemer. Und erzählen Sie mir, warum Sie wirklich gekommen sind.« Sie stellte ihren Ersatzbecher zur Seite und schaute mir tief in die Augen. Ich glaubte, Furcht in ihrem Blick entdecken zu können. »Mr. Lawrence…« »Leslie«, korrigierte ich sie. »Oh, Leslie … ich habe solche Angst! Ich werde verrückt vor Angst!« Ich strich nur in dem Maße über ihren Kopf, wie es die Etikette in der momentanen Lage erlaubte. »Wovor denn, Mal? Wir sind doch hier in Sicherheit. Die Mörder sind schon längst über alle Berge.« Sie blickte auf und zog ihren Kopf weg. »Ich bin kein Kind mehr… Wer soll hier über alle Berge sein? Wir sind doch alle noch hier … außer den Toten! Und ich weiß etwas, Leslie, das … das…« »Das?« half ich ihr. »Mein Gott … mein Gott!« begrub sie ihr Gesicht in den Händen. »Warum mußte ich nur diesen verfluchten Flug annehmen?!« Ich rutschte etwas näher an sie heran und umarmte sie. Sie beugte sich zu mir herüber und lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ich wartete geduldig, daß sie sich von selbst wieder beruhigte, wenn ich schon nicht dazu in der Lage war. Dann, nach einer Weile, fing sie erneut an. »Ich weiß etwas. Ich habe jemanden gesehen, der … dem … und dieser Jemand weiß es! Schrecklich, Leslie, es ist schrecklich!« »Wäre es nicht besser, wenn Sie mir alles der Reihe nach erzählen würden, Mal?« Anstatt zu antworten, stand sie auf. »Machen Sie das Licht aus!« Ich gehorchte. Mit flinken Bewegungen schälte sie sich aus dem Kimono und ließ ihn zu Boden gleiten. Natürlich hatte sie darunter nichts an. 222
Ein paar Sekunden stand sie mit gesenktem Kopf vor mir und trat dann dicht an mich heran. »Lassen Sie mich durch«, hauchte sie. Dann schob sie sich an mir vorbei, legte sich hin und zog das Laken über sich. Wie versteinert saß ich verstört da und blickte in meiner Verwirrung ständig auf die Armbanduhr. Es war elf Uhr, eine Stunde vor Mitternacht. Ich seufzte schließlich, kniff ihr freundlich in das Hinterteil und lachte nervös. »Warum grinsen Sie so blöd?« »Liebste Mal … äh … es ist mir wirklich eine Ehre, daß Sie bei mir eingezogen sind. Nichtsdestotrotz steht es so, daß … äh…« Sie warf die Decke von sich, sprang auf, warf nun mich in die Tiefen der Matratze, kam sofort hinterher und bedeckte uns beide mit dem Laken. Dunkle Nacht brach über uns herein. »Du bist ein richtiger Dummkopf!« keuchte sie und biß mir in die Schulter. »Du merkst aber auch gar nichts… Muß ich denn alles machen?« Sie machte es. Sehr gründlich, und zwar mehrmals.
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ch wachte durch das Klingeln an meinem Handgelenk auf. Mal schnappte sich meinen Arm, rückte ihn ans Ohr und sagte zu meiner Handfläche: »Hallo?! Weckdienst? Vielen Dank!« Ich kletterte aus dem Bett, wodurch sie vollends aufwachte. »Mein Gott, was ist los?« Ich beugte mich über ihren Kopf und küßte sie. 223
»Nichts, Mal. Schlaf ruhig weiter.« »Wohin gehst du?« »Ich habe etwas zu tun.« »Ich komme mit!« »Auf keinen Fall! Ich muß mir noch einmal die Maschine anschauen. Und dort liegen, wie du weißt…« Ich wollte ihr nicht verraten, daß Dr. Camus die Leichen bereits entfernt hatte. »Da will ich nicht hin«, zuckte sie zurück. »Bitte, laß mich nicht allein!« Es dauerte gute fünf Minuten, bis ich ihr erklärt hatte, warum es so wichtig war, daß ich mich da draußen unbedingt umsehe. Daß ich nur auf diese Weise die genauen Umstände der Morde aufklären könnte. Ich wies sie an, hinter mir die Tür zu verschließen und sie niemandem aufzumachen. Nach einem langen und intensiven Abschiedskuß fand ich mich endlich auf dem Flur wieder. Ich wartete ab, bis sie innen den Schlüssel umdrehte, und machte mich dann auf den Weg. Während ich durch den Glasflur huschte, der die Zimmer miteinander verband, dachte ich daran, daß ich in dem mysteriös hereinschimmernden Mondlicht ein perfektes Ziel für einen Scharfschützen abgeben würde. Der Gang machte eine Linkskurve. Ich zählte die Türen, blieb vor der dritten stehen und klopfte an. Sie wurde lautlos geöffnet, dahinter schielte mir Hardy mit einer Pistole entgegen. »Sie sind spät dran, Lawrence«, brummte er vorwurfsvoll. »Ich hatte zu tun«, murmelte ich. »Leichenfresser?« »Anwesend«, flüsterte jemand aus dem Raum. »Von mir aus kann es losgehen.« »Waren Sie schon draußen?« »Vor einer halben Stunde. Das Tor wird nicht abgeschlossen, nur die Elefanten könnten ein Problem werden.« »Los!« Ein paar Minuten später sahen wir das Gebäude bereits aus dem Palmengarten, der das Grundstück umgab. 224
Es war das erste Mal, daß ich Vang Pins Besitztum in Augenschein nehmen konnte. Es bestand aus mindestens zehn Einzelflügeln. In mehreren Fenstern brannte noch Licht; bei einem wurde es im selben Moment ausgemacht, als ich hinschaute. Leichenfresser lehnte sich an einen Baumstamm und summte vor sich hin. »Können Sie nicht für einen Moment still bleiben?« zischte ihm Hardy zu. »Kennen Sie unseren Titel ›Hinter hellen Fenstern lauert der Satan‹…?« »Nein, zum Glück nicht«, murmelte der Reporter. »Obwohl, was unsere momentane Situation angeht, könnten Sie damit ins Schwarze getroffen haben.« »Achtung! Elefant auf neun Uhr!« flüsterte Leichenfresser. »Himmel!« erschrak Hardy. »Ich hoffe, Sie haben ihn nicht mit ihrem Gesumme hierhergelockt…« Der Dickhäuter stampfte mit überirdischem Getöse an uns vorbei, warf aus seinen roten Augen einen kurzen Blick auf Leichenfresser, zeigte dabei aber nicht das besondere Aufflackern des Erkennens, wie es unter Musikerkollegen sonst üblich ist, und trottete unbeirrt davon. »Wohin?« fragte der erleichterte Leichenfresser. »Das ist ja echt nicht mehr normal. Man kann voll verrückt werden. Da geht der Mensch hinter das Haus, um zu pi … also er geht raus, und schon steht da so ein weißer Riese. Ich gehe zu einem Baum, und will schon anfangen zu pi … äh, und plötzlich kommt wieder einer an!« »Wenn Sie nicht aufpassen, beißen die noch den kleinen Leichenfresser ab«, nickte Hardy freundlich. »Wenn ich Angst habe, muß ich ständig pi… Verdammt, was ist das?« Es war ein Uhu, der sich auf einem Ast laut über unsere Störung beschwerte. Abgesehen davon war die Nacht wunderbar. Der riesige Mond über uns zog seine majestätische Bahn am Himmel, der Dschungel genoß das Nachtleben, und die leichte Brise ließ die Pal225
menblätter in einen rauschähnlichen Tanz verfallen. Von diesem Hauch spürten wir am Boden allerdings wenig. Nur ein etwas süßlicher Früchteduft umwebte uns. »Können Sie sich überhaupt orientieren?« fragte Hardy leise. »Ich bin ein menschlicher Kompaß«, meinte der Musiker zufrieden. »Ich war noch ein Baby, als ich schon alleine nach Hause fand. Einmal hat mein Onkel…« »Später«, stellte ihn Hardy ab. »Wohin?« Leichenfresser drehte sich ein paarmal um sich selbst, summte dabei leise vor sich hin und deutete dann genau in die entgegengesetzte Richtung, in der ich das Flugzeug vermutet hätte. Trotzdem war es nicht sein Fehler, daß wir es dann doch nicht gefunden haben.
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twa eine halbe Stunde später erreichten wir den Palmenwald, der die Boeing barg. Der Mond blendete uns förmlich, und wohin wir auch blickten, kreuzten überall Elefantenspuren unseren Weg. Ich bückte mich, untersuchte das abgerissene Gras. Es hatte noch nicht die Zeit gehabt, trocken zu werden. Irgend etwas sagte mir, daß ich vorsichtig sein sollte. Ich lauschte, aber außer Leichenfressers Best Of-Trällerei konnte ich nichts hören. In diesem Moment hätte ich viel dafür gegeben, alleine zu sein, aber mir war klar, daß ich sie auf jeden Fall mitnehmen mußte. Schon deswegen, um ohne Zeitverlust das Flugzeug wiederzufinden. »Was ist?« unterbrach der Musiker flüsternd seinen Gesang. »Was haben Sie gefunden?« »Das hier«, deutete ich auf die Spuren. Er bückte sich, schaute sich die braungrünen Häufchen eine Wei226
le an und blickte dann ratlos zu mir hoch. »Elefantenkacke«, sagte er enttäuscht. »Na und?« »Das Zeug dampft nicht«, meinte ich. »Scheint aber trotzdem frisch zu sein…« »Also?« zuckte er mit den Schultern. »Das bedeutet nur, daß hier ein Elefant vorbeigekommen ist.« Weitere Erklärungen hielt ich für zwecklos und behielt meine Rückschlüsse für mich. Hardy sagte nichts, beeilte sich aber zusehends immer mehr. Leichenfresser stolperte hinter uns her wie ein schlecht abgerichteter Wachhund. Ein paar Minuten später erreichten wir das Ende der Landebahn. Der Mond beglückte uns immer noch mit seinem fast grellen Licht. Nichts bewegte sich, nur das Rascheln der Blätter wurde irgendwie leiser. Als wir aus den Büschen stürmten, war ich nicht einmal richtig überrascht. Unterwegs hatte ich bereits alle Möglichkeiten durchgespielt und war zu dem Ergebnis gekommen, daß, wer immer uns auch entführt hatte, dies unbedingt als ersten Schritt auf seiner Liste haben mußte. Hardy erstarrte zur Salzsäule, und Leichenfresser keuchte ein paarmal, bis er vollkommen aufgearbeitet hatte, was er vor sich sah. Eine leere Landepiste. Der riesige Vogel, der uns hierhergebracht hatte, war verschwunden. Hardy lehnte sich an einen Baum und wischte sich die Stirn ab. »Kneifen Sie mich, Mann!« wandte er sich an den Musiker. »Sehen Sie genauso nicht, was ich nicht sehe?« »Jemand hat die Maschine geschluckt«, krächzte Leichenfresser verzweifelt. »Mit der werden wir wohl kaum nach Bangkok zurückfliegen können! Wie konnten sie die bloß wegziehen?« »Sie werden die Maschine wohl in Einzelteile zerlegt haben.« »Dieses Riesending? Und wo haben sie die Teile hingebracht?« »Haben Sie denn die Elefantenspuren nicht gesehen? Sie haben ihre Freunde mit den Rüsseln geholt und dann die Sachen einfach aufgeladen.« 227
»Aber wer braucht denn so ein Ding?« »Sie haben sie wahrscheinlich vergraben oder in eine Schlucht geworfen.« »Aber warum?« staunte Leichenfresser. »Damit man uns nicht findet. Wenn man nach uns sucht, würde man ein so großes Flugzeug aus der Luft sofort entdecken.« »Verdammt«, empörte sich der Musiker und zerzauste seine wenigen lilafarbenen Haare. »Deswegen hat der Kerl so viele Elefanten!« »Sind Sie denn so sicher, daß unser Gastgeber hinter der Sache steckt?« »Wenn nicht er, dann dieser Dr. Camus. Der hatte genug Zeit. Während wir beim Abendbrot saßen, ließ er garantiert die Boeing auseinandernehmen! Er selbst hat doch damit geprahlt, daß er hier war! Sie haben es selbst gehört!« Ich dachte daran, daß jetzt jegliche Möglichkeit, von hier zu verschwinden, in der Hand von Vang Pin lag. Wenn die Maschine von keinem Bergungstrupp gesichtet wurde – und davon durfte man hundertprozentig ausgehen –, konnten uns nur seine zur nächsten Siedlung geschickten Leute das Tor zur Außenwelt öffnen. Sofern der Chinese dieses Angebot überhaupt ernst gemeint hatte.
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ch ließ sie sich austoben. Wo immer ich hinschaute, sah ich Elefantenspuren. Zertrampelte Stoffstücke, Aluminiumteile, an einer Stelle einen kleinen Berg Plastikbecher. Die Spuren ließen eindeutig darauf schließen, daß Malgorzatas Flugzeug nie wieder auf einer taschentuchgroßen Piste notzulanden 228
brauchte. Ich lehnte mich an einen Baumstamm und versuchte, den Rhythmus des Waldes aufzunehmen. Denn der Dschungel lebte und atmete direkt dort, neben uns, auch wenn wir das bisher vergessen hatten. Die Nachtvögel kreischten in den Baumkronen, Affen, die ungezogen lange aufgeblieben waren, rüttelten an den Zweigen und Blättern, verschiedene Säugetiere waren auf der bis zum Morgengrauen andauernden Pirsch. Wie lange war es doch her, daß ich das letzte Mal in einer einsamen Nacht auf einer monderleuchteten Lichtung im Dschungel gegen einen Baum gelehnt gestanden hatte? Ich spürte, wie nach und nach, Zelle für Zelle mein Körper jedes Geräusch, jede Regung des Urwaldes aufsog, sich damit identifizierte. Ich holte schneller und einfacher Luft und konnte wieder all die Düfte riechen, die mir bis vor kurzem verborgen geblieben waren. Ich bückte mich und riß ein Stück Farnkraut ab. Der bittere Saft, der an der Bruchstelle austrat, ließ mich befreit durchatmen und öffnete meine Nase. Ich nahm Blumenduft wahr, die Ausdünstungen der Affen auf den Palmen und aus der Ferne den seltsamen Gestank von Schwefel, der wohl aus einem kleinen Sumpf austrat. Ich versuchte, den Wald zu überzeugen, daß ich wieder nach Hause gekommen war. Vielleicht hätte ich mich noch eine ganze Weile mit meinen alten Bekannten über das Wiedersehen gefreut, aber Leichenfresser und Hardy waren mir nachgekommen und zerstörten die Idylle. »He, Lawrence! Was nun?« Ich entschied mich schnell, denn der Weg vor mir war noch lang. »Sie gehen zurück. Morgen früh treffen wir uns.« »Und Sie?« »Ich habe noch etwas zu tun.« »Wäre es nicht doch besser, wenn wir bei Ihnen blieben?« »Hören Sie«, seufzte ich. »Ich habe Jahrzehnte im Urwald verbracht. Ich kenne ihn wie meine Westentasche. Vertrauen Sie mir!« Leichenfresser strich sich über die Haare, Hardy steckte die Pis229
tole in die Tasche und zuckte mit den Schultern. »Sie haben sicher recht. Außerdem tun mir sowieso die Füße in diesen Schuhen weh. Wann werden Sie zurück sein?« »Spätestens morgen, in der Frühe.« »Können Sie uns verraten, wo Sie ungefähr hinwollen?« »Ich versuche, die Boeing zu finden.« »In Ordnung«, nickte er. »Ich würde an Ihrer Stelle dasselbe tun!« Ich selbst hatte es natürlich nicht im Traum vor. Leichenfresser winkte zum Abschied und verschwand dann mitsamt seiner Haarpracht im Nichts. Ich wartete ein paar Minuten und setzte mich dann unter einen Busch. Irgend etwas sagte mir, daß ich nicht der einzige sein würde, der sich heute nacht für das Flugzeug interessierte.
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er erste Besucher war Wimmer. Er glitt so leise aus dem Unterholz, daß ich nur so staunte. Kein Ast knackste, kein Blatt flog zur Seite, wohin er auch trat. Er bückte sich, sah sich ein paar Kleinigkeiten auf dem Beton an und verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. Mit einem breiten, belustigten Lächeln, das ich bei ihm zuvor noch nicht gesehen hatte. Er drehte sein Gesicht zum Mond und lachte lautlos, aber so intensiv, daß ihm beinahe die Tränen kamen. Und dann blieb mir fast das Herz stehen. Er kam direkt auf mich zu und blieb ganz dicht vor meinem Gestrüpp stehen. Dann zog er aus einem etwa zwei Meter entfernt stehenden Busch eine schwarze, längliche Sporttasche hervor. Er preßte sie an sich, als ob sie sein lang vermißtes Kind wäre, das er nun im Waisenheim wiedergefunden hatte. 230
Ich machte mich so klein wie irgend möglich. Zwei Schritte nach rechts, und er hätte mich entdeckt. Ich hob die MP ein wenig an, um ihn mit dem Lauf zu erwischen, wenn er seinen Kopf zu nahe stecken sollte, aber er blieb zum Glück, wo er war. Er grinste noch eine ganze Weile vor sich hin, dann schulterte er die Tasche und verschwand wieder im Wald. Ich saß regungslos an meinem Platz, bis sich die Blätter hinter ihm wieder geschlossen und beruhigt hatten. Langsam fing ich an zu zweifeln, ob meine mühsam aufgestellte Theorie nicht doch nur eine wilde Ausgeburt meiner Phantasie war. Oder wurde ich etwa auch das Opfer einer gewaltigen Täuschung? Als Villalobos auftauchte, konnte mich sowieso nichts mehr überraschen. Er zupfte sich den Bart zurecht, blickte sich um, kam aber nicht näher. Er hatte auch keine Tasche, die er unter einem der Büsche hervorzaubern wollte. Ernst blickte er auf die leere Piste, dann zum Palmenwald hinüber. Schließlich verschwand er wieder zwischen den Büschen. Erneut blieb ich mit meinen quälenden Gedanken alleine. Ich wartete noch eine Weile, da aber niemand weiter auftauchte, machte ich mich auf den Weg. Ich kontrollierte noch einmal die Maschinenpistole, lud sie durch. Das laute, metallische Klicken gab mir Kraft, obwohl ich immer weniger von dem zu verstehen schien, was um mich herum passierte. Trotzdem hatte ich nicht vor, das Spiel so schnell aufzugeben. Der Mond leuchtete immer noch hell, wie auf Bestellung. Die großen Palmenblätter raschelten im schwachen Windhauch, aber unten, am Boden herrschte weiterhin Windstille, ebenfalls wie auf Bestellung. So wurde mein Geruch nicht weit voraus getragen. Der Gestank des Sumpfes hingegen schwebte mir auch so entgegen. Ich hatte seine Existenz bereits bei den Matschspuren auf dem Elefantenpfad erahnt, und mir war klar geworden, daß irgendwo in diesem Morast die Überreste unseres Flugzeuges liegen würden. Und obwohl ich mir nicht viel davon erhoffte, glaubte ich dennoch, einige Informationen retten zu können, wenn ich es mit meinen ei231
genen Augen sah. Eine Weile stand ich nur im Mondschein da und dachte nach. Ich zog mich erst hinter eine Baumgruppe zurück, als plötzlich ein Elefant vor mir auftauchte. Hätte ich auch nur eine Zehntelsekunde länger gebraucht, wäre ich wohl von den beiden Meos entdeckt worden, die ihm folgten. Sie sprachen leise, mit einem melodischen Unterton. Schade, daß ich kein einziges Wort verstand. Kaum war der Dickhäuter mit seinen zwei Anhängseln vorbei, erschien auch schon ein zweiter und dann ein dritter. Ich strengte meine Augen an und konnte tatsächlich die Körbe auf ihren Rücken entdecken. In denen hatte man wohl die Einzelteile der Boeing abtransportiert. Als alles wieder still wurde, ging ich der Biegung nach, die der Pfad machte. Weit hatte ich es nicht mehr. Bereits nach wenigen hundert Metern erreichte ich den Rand des Sumpfes. Zerbrochene Sitze, verschieden große Metallteile und Seitenplatten, geöffnete Koffer lagen wild durcheinander. Das Bild ähnelte dem einer Flugzeugkatastrophe. Und dann entdeckte ich etwas, das mich meine Vorsicht in den Wind schreiben ließ. Es war mein eigener, in New York gekaufter Koffer, unweit von mir im Morast. Noch dazu unversehrt. Wenn dies früher passiert wäre, hätte ich der Sache kaum Beachtung geschenkt. Aber die Jahre, die ich fernab von Asien verbracht hatte, schläferten all meine Instinkte ein; unter anderem auch das Gebot der Vorsicht in einem Urwald. Ich warf die MP über die Schulter und bückte mich, um mein Eigentum genauer unter die Lupe zu nehmen. Wenn der Mond nicht so hell geschienen oder sich auch nur eine kleine Wolke vor ihn geschoben hätte, wäre es für mich ein paar Sekunden später ein leichtes gewesen, die Szenerie von oben zu genießen. Vom Himmel aus hätte es eine tolle Aussicht auf das breite, lange Buschmesser gegeben, das meinen Kopf abgeschnitten hätte; und auf meine Leiche, neben der ein grinsender Meo mit stolzem Lächeln herumgestanden hätte, nachdem er mich von der Pflicht 232
erlöst hatte, meinen Kopf mit mir herumtragen zu müssen. Aber der Mond schien hell, und als das Messer gehoben wurde, um die tödliche Bewegung mit voller Wucht auszuführen, konnte ich sowohl dies als auch die dazugehörende Person als Schatten auf meinem eigenen Koffer entdecken. Im nächsten Moment flog ich bereits davon: über das Gepäckstück direkt in den Sumpf. Als ich in die stinkende Suppe fiel, hörte ich, wie sich hinter mir der Stahl ins Leder bohrte. Irgend etwas knackste, und ich war von klebriger, dicker Brühe umgeben. Erschrocken suchte meine Hand nach Wasserpflanzen, an denen ich mich festhalten und an der Oberfläche halten konnte, aber es war überflüssig; erfreut merkte ich, daß mir die Soße nur bis zur Brust reichte. Ich wischte mir das lehmige Wasser aus den Augen, und sofort gefror mir das Blut in den Adern. Meine Maschinenpistole lag noch an Land, einige Meter von dem Meo entfernt, der mit vorgestrecktem Messer und einem grausamen Lächeln auf mich zukam. Ich hatte keine Chance, die Waffe zu erwischen. In der Hand des kleinwüchsigen Eingeborenen funkelte das Messer und kam etwas näher. Noch nie hatte ich mich in einer ähnlich verzweifelten Lage befunden. Ich war einfach unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen; als ob sich mein Gehirn in einen undurchdringlichen, kalten Klumpen verwandelt hätte. War das das Ende? Ich machte einen Schritt nach hinten, damit er mich nicht so schnell erreichte, und fuhr erschrocken auf. Nach diesem einen Schritt konnte ich gerade so noch auf Zehenspitzen stehen. Der Meo kam ganz dicht an mich heran und genoß die Situation augenscheinlich. Und plötzlich wurde mir in vollem Ausmaß bewußt, in welche mißliche Lage ich da geraten war. Wenn ich blieb, wo ich war, brauchte der Kleine nur eine Handbewegung zu tun, und mein Kopf würde davonsegeln. Und wenn ich auch nur einen einzigen Schritt weiter in den Sumpfsee riskiert hätte, würde dieser mich für immer und ewig nach unten ziehen und begraben. Der Meo blieb stehen, lächelte und sagte etwas. Vielleicht woll233
te er mir Mut machen, diesen bestimmten Schritt zu tun. Das kindhafte, schelmische Grinsen ließ erahnen, daß er überhaupt keine Lust hatte, mich umsonst zu töten. Soll ich mich doch selbst umbringen, das wäre für uns beide der beste Weg. Mir war klar, daß ich es nicht mehr lange auf Fußspitzen aushalten würde. Ganz zu schweigen davon, daß der Meo jederzeit die Geduld verlieren konnte. Ich hatte keine Wahl und mußte den entscheidenden Schritt nach hinten wagen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, worauf ich hoffte. Vielleicht, daß ich der erste sein würde, der es schafft, einen Sumpf zu durchschwimmen, oder daß ein Engel erschien und mich aus dieser Zwickmühle befreite. Ich glaube, ich war sowieso nicht ganz bei mir. Sonst hätte ich diesen letzten Schritt nie getan. Aber ich tat ihn und wartete, daß die stinkenden Matschwellen über mir zusammenschwappten. Die verrottete Brühe floß bis zu meinem Mund und blieb kurz unter der Nase stehen. In einer anderen Situation wäre mir jetzt sicherlich übel geworden. Der Meo schaute interessiert zu, wann ich denn endlich ersoff. Und um es ein wenig voranzutreiben, stieß er mit dem Messer nach mir. Es war nur eine Frage von Millimetern, daß er mir nicht das Augenlicht genommen hatte. Ich blubberte und trat weiter nach hinten. Obwohl mir klar war, wie lächerlich dieser Versuch erscheinen mußte, machte ich verzweifelte Schwimmbewegungen, die in etwa an gefangene Bienen in einem Honigglas erinnerten. Ich schlug in der immer stinkigeren Brühe wild um mich, als plötzlich das langersehnte Wunder geschah. Ich spürte, wie mir irgend etwas Hartes, Festes unter die Füße kam. Mit den Armen verdrosch ich immer noch den Morast und versuchte dabei in wilder Panik herauszufinden, ob die Stütze echt war. Sie war echt. Ich stemmte mich dagegen, gab dann einen letzten, gewaltigen Schrei zum besten, holte tief Luft und tauchte unter. 234
Es war wohl ein Stück vom Flugzeug oder das Rückteil von einem Sitz, das aus dem Korb eines Elefanten herausgerutscht war oder von einem Meo unachtsam zu nahe am Ufer fallen gelassen worden war. Wie auch immer, der kleine Kerl draußen konnte nicht wissen, daß ich etwas derartig Stabiles unter den Füßen hatte. Ich hockte mich hin und betete, daß ich mehr Luft hatte, als der Meo Geduld. Wenn ich auftauchte, während er noch auf mich wartete, war ich ein toter Mann. Ich zählte die Sekunden und ließ von Zeit zu Zeit ein paar Luftbläschen aufsteigen, die an der Oberfläche mit einem stinkenden Rülpser zerplatzten. Ich hoffte, daß der Eingeborene bald die Lust an dem Schauspiel verlieren und sich auf den Weg zu seinen Kumpels machen würde. Ich war bei hundertfünfzig angelangt, als ich spürte, wie mir langsam übel wurde. Das Blut pochte in meinem Gehirn, und das Pochen der Adern stieg mit jeder Blase mehr nach oben, in den Kopf. Als ich zweihundert erreichte, ließ ich den Rest der Luft aus meiner Lunge. Der Meo sollte sehen, daß nun alles vorbei war. Daß ich endgültig tot war. Sicherheitshalber gab ich noch ein paar Sekunden dazu, dann schoß ich nach oben. Was kümmerten mich jetzt noch Meos und Buschmesser. Ich wollte nur noch Sauerstoff, und zwar so schnell wie möglich. Nachdem ich einige gehetzte Züge von der schweren Sumpfwolke genommen hatte, die über mir lag und im Moment trotzdem das Gefühl von bester Bergluft vermittelte, wischte ich mir den Schlamm aus den Augen. Erschrocken sah ich, daß der Meo weiterhin am Rande des Morastes saß, mit dem Rücken zu einem breiten Busch, das Messer neben sich auf den Boden, und mich unverhohlen angrinste. Erneut tauchte ich unter, wie ein verrückter Wasservogel. Wieder blieb ich zweihundert Einheiten unter dem Schlamm, obwohl es mir eindeutig schwerer fiel als vorhin. Mit Grausen dachte ich an die Möglichkeit, daß der Eingeborene meinen Plan durchschaut hat235
te. Wenn er bereits bei meinem ersten Manöver gemerkt hatte, daß ich nicht gestorben war, würde er wohl kaum gehen, bevor er sich nicht hundertprozentig überzeugt hatte, daß ich wirklich tot war. Ich wischte erneut meine Augen frei und schielte hinüber zum Ufer. Es hätte mir viel bedeutet, wenn mein Widersacher inzwischen verschwunden wäre. Aber der Meo saß immer noch da und grinste. Ein drittes Mal stürzte ich mich in die stinkende Masse, immer verzweifelter blubbernd. Obwohl ich die schönsten Bläschen steigen ließ, wurde mir langsam bewußt, daß ich ihn nicht würde über das Ohr hauen können. Nicht mit diesem simplen Trick. Als ich ihn dann beim dritten Auftauchen immer noch in der selben Position auffand, mit demselben hämischen Lächeln, und dem Messer im Gras, begann etwas, mir seltsam vorzukommen. Vielleicht, daß er mir nicht hinterherspazierte, um mich abzustechen. Schließlich konnte ich so bis zum Morgengrauen im Sumpf herumhocken. Irgend etwas sagte mir, daß während meiner Tauchgänge etwas am Ufer passiert war, das die Situation vollends verändert hatte. Vielleicht wollte er mich gar nicht töten, sondern nur erschrecken? Gehörte er etwa zu Vang Pins Männern, und ich hatte seine Attacke mißverstanden? Nun ja, aber ein Buschmesser konnte man schwerlich falsch auslegen. Ich legte mich auf den Rücken, um ein paarmal tiefdurchatmen zu können. Die Soße ließ aber nichts dergleichen zu. Sie zog mich hinab und wollte mich nicht wieder loslassen. Immer nervöser griff ich um mich und strampelte mit den Beinen. Aber das Teil, das mir bis dahin Halt gegeben hatte, war verschwunden. In die Tiefe gerutscht. Mit Kraft der Verzweiflung warf ich mich noch einmal nach oben und krallte mich an einer Wurzel fest. Und obwohl sie kurze Zeit später riß, gab sie mir doch noch so viel Schwung, daß ich mich etwa anderthalb Meter nach vorne arbeiten konnte. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, hätte ich vor Freude und Erschöpfung weinen können. 236
Der Meo betrachtete meine Übungen mit Interesse, kam aber weder, um mich umzubringen noch um zu helfen näher. Mit regungsloser Fratze genoß er es, wie ich keuchte, würgte und nach Luft rang, während ich auf ihn zukam. Das Licht des Mondes wurde ständig stärker, als ob eine Supernova über unseren Köpfen explodiert wäre. Das spöttische Grinsen vereinfachte sich zu einem milden Lächeln, und das riesige Buschmesser sah nur noch wie eine Requisite aus einem zweitklassigen Schauerfilm aus. Der Matsch war mir nicht nur in die Augen geflossen, sondern auch in Mund und Ohren. Vom Geschmack her war mir die Abendmahlzeit irgendwie angenehmer in Erinnerung. Würde ich unter Rheuma leiden, hätte mir das Bad allerdings sicherlich gutgetan. Ich wurschtelte so lange im Schlamm herum, bis mir endlich etwas Langes, Hartes in die Hände fiel. Ich ergriff es und riß es mit letzter Kraft aus dem Sumpf. Es war ein armbreiter, knorriger Ast. Wenn mich jemand beim Herausklettern gesehen hätte, wäre die Welt jetzt um einen Bericht über das Auftauchen eines prähistorischen Urmenschen reicher. Hätte dieser bestimmte Jemand hingegen Probleme mit der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, so wäre ich auch als Geist des Moores durchgegangen. Vorerst war ich auf allen vieren, nahm aber keine Sekunde den Blick von dem Meo, der wohl die Gefahr verkannte, in der er sich nun selbst befand. Vielleicht war er sich zu sicher, was die Sache mit dem Buschmesser anging. Er ließ mich einfach aus der Pfütze klettern und grinste nur über meine kläglichen Versuche, an Land wieder zu mir zu kommen. Als ich sicher war, den Sumpf heil verlassen zu haben, richtete ich mich auf. Streckte den Stock nach vorne und ging schön langsam, wie es sich in solchen Fällen gehört, auf ihn zu. Ich näherte mich seitlich: einen Schritt … noch einen … und dann … schrie ich laut auf und warf den Stock auf den Eingeborenen zu. Ich machte eine Drehung, hechtete zu meiner MP, stellte sie auf Dauerfeuer und rief wütend auf englisch: 237
»Hände hoch! Aufstehen, und Pfoten in die Höhe!« Der Stock war direkt neben dem Meo auf das Gras gefallen. Ein paar Schlammtropfen klatschten auf seine Sachen, einer sogar auf die Stirn. Aber der Meo lächelte nur, ohne sich zu bewegen. Inzwischen ahnte ich bereits, daß irgend etwas mit meinem Mann schiefgelaufen war. Ich trat noch ein paar Schritte auf ihn zu, ohne den Lauf auch nur für eine Sekunde von ihm zu nehmen. Anstatt loszuhetzen und seine Freunde zu rufen oder nach seinem Messer zu greifen, grinste er einfach nur weiter. Als ob dieses neutrale Feixen seine beste Waffe wäre. Noch zwei Meter, und ich war bei ihm. Nah genug für ihn, um das Messer zu nehmen und nach mir zu stechen. Im Sumpf blubberte es laut, als ob noch jemand da unten auf Erlösung warten würde. Ich drehte mich nur ganz kurz um, sah aber nichts Besonderes. Der Meo vor mir konnte aber auch durch diese Störung nicht aus der Ruhe gebracht werden. Unentwegt blickte er mich mit diesem merkwürdigen spöttischen Lächeln an. Und dann sah ich, daß sein Blick gar nicht auf mich gerichtet war, sondern auf etwas in meinem Rücken, weit hinten, im Moor. Und sein Lächeln war auch keine friedliche, gleichmütige Maske, sondern ein Zähnefletschen, das sich gegen den Tod richtete. Ich beugte mich über ihn und stieß ihn mit dem Lauf meiner Maschinenpistole an. Er fiel rücklings gegen den Strauch, sein Kopf kippte nach vorne. Wenn ich nicht befürchtet hätte, daß die stinkende, klebrige Masse mir vom Gesicht in den Mund tropfte, hätte ich vor Schreck laut aufgeschrien. So aber konnte ich nur nach Luft schnappen, wie ein Hund, den Bauchschmerzen quälen. Der Eingeborene war tot; und die Fratze seines Todeskampfes hatte ich für ein Lächeln gehalten… Obwohl ich mich jetzt erst recht hätte erleichtert fühlen sollen, kam keine Freude in mir auf. Der Gestank des Sumpfes plagte meine Nase, mein Körper brannte, als ob ich in Feuer gebadet hätte. 238
Und am Schatten meiner Waffe sah ich, daß meine Hände zitterten. Ich schulterte die MP und kniete mich neben den Toten. Der Kopf war zur Seite gefallen, er schien mich geradewegs anzustarren. Ich legte Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals, die Ader war noch warm. Der Mond schien wild weiter, im Morast blubberte es, meine Hände zitterten, und irgendwo meldete sich ein Frosch zu Wort. Was wohl irgendwie als Kommando mißverstanden wurde, denn bald gab es einen ganzen Chor, der ihm nacheiferte. Ich kratzte mich an der Nase und dachte, daß sich der Mörder schon längst davongeschlichen haben würde. Die Frösche hatten ihr Konzert nur angefangen, weil sie die Luft für rein hielten. Natürlich im übertragenen Sinne. Und obwohl ich mich nicht besonders mit der Psyche der Frösche in Laos auskannte, hätte ich ihren Gefühlen wirklich gern vertraut. Erneut betastete ich den Hals des Toten. Er wies eine dünne, blutige Linie auf, die vorne ziemlich tief in die Kehle eingedrungen war. Und was ich vorher nicht gesehen hatte: Das Blut aus der zerrissenen Halsschlagader hatte sich bereits in einer kleinen Pfütze zu meinen Füßen gesammelt. Er war allem Anschein nach mit einer Garrotte umgebracht worden. Genauso wie die Mädchen in der Maschine. Mein Gott, aber von wem? Wer konnte wissen, daß ich mich nachts aus dem Haus von Vang Pin stehlen würde? Wer konnte wissen, daß ich die Landepiste untersuchte? Oder daß ich mich hier an den Sumpf heranwagte? Und ich hatte es noch nicht einmal vorgehabt! Erst als ich auf die Spuren der Elefanten, und dann einige aktive Exemplare mit großen Körben auf dem Rücken gestoßen war, hatte ich meinen nächtlichen Spaziergang in diese Richtung fortgesetzt. Hätte ich keine Angst gehabt, daß man mich hier entdeckte, wäre ich wohl nicht gegangen, ohne irgendwelche Antworten auf diese Fragen zu finden. Das helle Mondlicht und das freie Ufergelände aber servierten mich jedem Attentäter wie auf einem silbernen Tab239
lett. Noch einmal untersuchte ich den Toten eingehend. Wieder sah sein Gesicht aus, als würde er lächeln. Und dann kurz huschte ein kleiner Schatten an ihm vorbei. Als ob eine besonders schnelle Fledermaus über uns hinweggeflogen wäre. Ich wollte mich gerade abwenden, als der Schatten noch einmal über sein Gesicht fegte. Woanders hätte ich das Ganze vielleicht gar nicht beachtet. Aber der mörderisch helle Mond schien alle Eindrücke in dieser Nacht ein wenig zu verstärken. Als der Schatten das dritte Mal vorbeikam, wußte ich bereits, daß irgendwas vor der Nase des Meos baumelte. Es war wohl schon dort gewesen, bevor ich mich hingekniet hatte, nur geriet es bei dieser Bewegung genau über meinen Kopf. Ich blickte zu dem etwas höher liegenden Zweig nach oben und fand im selben Augenblick die kleine Tonfigur, wie sie bei absoluter Windstille vergnügt vor sich hin- und herschwang. Ich holte meine Maschinenpistole nach vorne und richtete sie auf den Busch. Obwohl ich in meinem Kopf lautes Gebrüll plante, kam nur ein leises Röcheln aus meinem Mund: »Hände hoch! Rauskommen!« Der Meo kippte vor Schreck um. Automatisch richtete ich die Waffe auf ihn, aber die Leiche hatte nichts Unerlaubtes vor. Sie lag friedlich im Gras, direkt neben dem breiten Buschmesser. Kurz entschlossen warf ich es in den Sumpf. Was dann folgte, sollte in keinem Horrorroman fehlen. Kaum war das Messer in den dreckigen Fluten versunken, erschütterte ein schrecklicher Schrei die Gegend. Natürlich hörten die Frösche sofort mit ihrem Liedchen über die erlösende Prinzessin auf, und ohne daß sich auch nur ein Wattebausch vor den Mond geschoben hätte, ließ mich das Gefühl nicht los, daß es merklich dunkler geworden war. Auch eine kalte Brise schien über das Moor zu fegen. Sie strich mir über das Gesicht und schenkte mir zum Abschied eine Gänsehaut. Dann erstarb der Schrei, und eine sanfte, etwas altmodisch wir240
kende Stimme meldete sich zu Wort. Sie schien von überall her zu kommen: aus dem Sumpf, dem Wald, den Büschen, vielleicht sogar aus dem Blätterwald der Baumkronen. Sie war sanft und einschmeichelnd, und ich hätte nicht sagen können, ob sie einer Frau oder einem Mann gehörte. Sie sprach Chinesisch, möglicherweise sogar in genau dem Akzent, der zu Huan-Tis Zeiten unter den Mandarinen in Mode war. »Sei gegrüßt, Lawrence!« sagte die Grabesstimme. Ich zuckte zusammen und blickte mich verwirrt um. Die Stimme lachte leise auf. Wo ich mich auch hindrehte, sie schien immer aus genau der Richtung zu kommen. Das Moor, die Bäume, ja sogar das Schilf reflektierten die Stimme, was ihr eine wahrlich unheimliche Akustik sicherte. »Lawrence… Lawrence…« »Wer bist du?« rief ich und ließ die Waffe sinken. »Woher kennst du meinen Namen?« »Ich kenne jeden«, antwortete die Stimme. »Es gibt nichts auf dieser Welt, das mir nicht bekannt wäre.« »Wer bist du?« wiederholte ich die Frage. »Einst war ich ein großer Kaiser«, kam die Antwort. »Ich wollte, daß China groß und mächtig wird. Ich ließ eine Mauer gegen die Barbaren errichten… Ich war Kaiser … Huan-Ti!«
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ätte ich nicht lange Zeit in Asien gelebt, wäre die Idee, daß ich verrückt geworden bin, gar nicht so abwegig gewesen. Oder die Möglichkeit, daß ich durch die Geschehnisse – oder eventuell dank der Sumpfgase – Halluzinationen hatte. Ganz zu schweigen von der Variante, daß sich tatsächlich Kaiser 241
Huan-Ti meinetwegen aus dem Jenseits hierher bequemt hatte. »Ich habe die Tonarmee anfertigen lassen, damit sie mich bis zum Ende aller Ewigkeit begleitet«, flüsterte die Stimme. »Ich wollte, daß meine Soldaten mein Grab hüten und mir von den schnell davonfliegenden Jahren erzählen, von den Wolken am Himmel, den Bienen auf den Blumen. Von der Welt, die ich für immer verlassen hatte. Ich wollte, daß man uns nie findet, daß man nie die Träume meiner Männer stört, die Ruhe meiner Diener. Jeden, der meine Einsamkeit zu stören wagt, wollte ich mit einem Fluch belegen. Und dann gab es einen großen Krieg in China, und man hat mein Grab gefunden.« »Wer?« Aber man hatte nicht vor, mir diese Frage zu beantworten. »Ich kann nun nicht mehr unter der Erde bleiben. Mein Jahrtausende dauernder Schlaf ist vorbei. Ich will, daß du einen neuen Ruheplatz für uns findest.« »Warum gerade ich?« »Ich will, daß du den Zeichen folgst. Wenn sie dir etwas anhaben wollen, werde ich sie vernichten. Ich wünsche, daß du, wenn du mein Grab gefunden hast…« Die Luft brauste an mir vorbei, als ob ich in einem Orkan schweben würde, einem Orkan von Stimmen. Dann wurde plötzlich wieder alles klar. »…geh zu der zweiten Kuppe des dreispitzigen Berges. Dort wirst du den weißen Stein finden.« Erneut wurde die Stimme undeutlich, und ich vernahm nur Wortfetzen. »…führe meinen Wunsch aus. Du achtest die Traditionen der Chinesen, du hast unsere Sprache gelernt, so wie ich… Ich war auch kein Chinese. Mein Vater war ein Barbar … und ich werde Rache an denen nehmen, die meine Ruhe gestört haben. Du wirst mein…« Etwas klirrte, und die Stimme war verschwunden. Die kleine Puppe hing weiter an ihrer Schnur. Sie stellte einen friedlich aussehenden Mandarin mit ausgestreckter Hand dar. 242
Der Sumpf rülpste hinter mir gewaltig. Der Mond erhellte alle drei Kuppen des Dreispitzberges, die mir freundlich zuzuwinken schienen. Der Tonmandarin an der Plastikschnur deutete mit seiner Hand unmißverständlich auf den mittleren Hügel.
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A
ls der Schlamm trocknete, fing meine Haut wie wild an zu jucken. Vorsichtig schlich ich mich an meinen Koffer heran, der in der Nähe des Toten lag. Zuerst einmal mußte ich feststellen, daß es doch nicht meiner war. Ich betete vor mich hin, daß er dann wenigstens einem Mann gehörte. Wild zerwühlte ich den Inhalt und fand einen eleganten, blauen Zweireiher. Schade nur, daß einer der Ärmel von dem Messerhieb des Meos vollkommen abgetrennt wurde. Ich suchte weiter, fand aber nur noch Schlimmeres. Und Schuhe sah ich überhaupt keine. Ich beugte mich zum Wasserspiegel hinunter, scheuchte Frösche und Mücken beiseite und wusch mich, so gut es ging. Die MP hielt ich ständig auf das Gebüsch gerichtet, was viel Talent erforderte, da ich mit der anderen Hand versuchte, mir dabei den Dreck abzuschrubben. Nach einigen Minuten war ich fertig. Ein wenig übertrieben hätte man auch sagen können, ich war wie neu geboren. Gut, ich stank zwar ein wenig, aber immerhin hatte ich große Teile des braunen Belags von meiner Haut abkratzen können. Wenn dem dunkelblauen Anzug nicht ein Ärmel gefehlt hätte, wäre ich sicher unter die zehn bestgekleideten Beinahe-Leichen der Welt gekommen. Mit den Schuhen aber konnte ich nichts anfangen. Ich hatte sie soweit wie möglich gesäubert und war unter schmatzen243
den Geräuschen wieder in sie reingerutscht. Ich steckte die kleine Tonfigur in die Tasche, blickte noch einmal zu dem Sumpf hinüber, der beinahe meine Grabstätte geworden wäre, drehte mich dann um und watschelte los. Geradewegs auf die mittlere der drei Bergkuppen zu.
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ch trottete so lange ziellos vor mich hin, bis ich plötzlich einen Pfad kreuzte. Er war vielleicht zwei Meter breit und schien direkt zu der anvisierten Spitze zu führen. Gerade hatte ich mich gegen einen Baum gelehnt, um mich etwas auszuruhen, als plötzlich wie aus heiterem Himmel zwei Meos vor mir erschienen – natürlich in voller Messermontur. Sogar den Atem hielt ich zurück, damit er mich nicht verraten konnte. Die Blätter der Farnkrautwedel raschelten, als ob sie sich in der Sprache der Meos unterhalten würden. Der Vordermann blieb stehen, hob die Hand mit dem Messer und drehte sich genau zu dem Busch rüber, hinter dem ich mich verborgen hielt. Die Blätter meines Farns flüsterten weiter ihr trauriges Lied, und wenn ich Mitglied irgendeiner naturgrünen Sekte gewesen wäre, hätte ich sicher geglaubt, sie tun es nur, um mich zu verraten. Die überirdische Kommunikation lief allerdings doch nicht so perfekt ab, denn der Meo wandte sich wieder ab, und ein paar Sekunden später war die Gegend so verlassen, als ob nie zuvor ein Mensch hier vorbeigekommen wäre. Mich allerdings konnte diese seltsame Stille nicht mehr täuschen. Ich wußte, daß ein asiatischer Mensch so lange keine Ruhe gibt, wie er die Quelle seiner Ungewißheit nicht genauestens erforscht hat. Also machte ich es mir ein wenig bequemer und wartete ab. 244
Es dauerte fünf Minuten. Der Meo trat direkt mir gegenüber aus den Büschen hervor, natürlich mit gezücktem Messer. Auf dem Pfad konnte er aber nur das kleine weiße Äffchen entdecken, das gerade faul von einem Baum geklettert war. Der Meo scheuchte es grinsend auf. Der Affe blickte zähnebleckend zu ihm rüber und kletterte dann ohne Eile wieder in die Baumkrone zurück. Der Eingeborene steckte sein Buschmesser hinter den Gürtel und verschwand wieder im Dickicht. Irgendwas sagte mir, daß der Weg jetzt frei war; ich konnte gehen, wohin ich auch wollte. Was in meinem Fall bedeutete, zum Schwarzen Prinzen.
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er Mond schien in dieser Nacht irgendeinen Rekord brechen zu wollen, was die Lichtstärke anging. Es war eher wie eine riesige Jupiterlampe bei Dreharbeiten, in deren Zuge mich jetzt Tausende von Augenpaaren bei der Arbeit beobachteten. Ich versuchte, mich so zu bewegen, daß möglichst wenig Angriffsfläche übrig blieb. Einige Male hatte ich mich ins Gras geworfen, obwohl sich jedesmal wieder herausstellte, daß mich doch niemand verfolgte. Das Haus des Schwarzen Prinzen erinnerte ungemein an das von Vang Pin. Der breite, aus mehreren Steinflügeln bestehende Gebäudekomplex wurde von einem dichten, mit Bäumen und Palmen flankierten Park umgeben. Die inneren Gärten und Durchgänge zwischen den Häusern wurden von hohen Mauern vor neugierigen Blicken geschützt. Ich versteckte mich hinter einem Baum und versuchte nachzudenken. Die Ereignisse der letzten Tage hatten mich nicht nur kör245
perlich, sondern auch psychisch ziemlich ausgelaugt. Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich eine so tolle Idee gewesen war, hierherzukommen. Es war, als ob ich zeitweilig nicht nur über meinen Körper, sondern auch über den Geist die Kontrolle verloren hätte. Was wollte ich hier überhaupt? Einbrechen? Durch ein Fenster linsen? Und den geheimnisvollen Zorro bei der Kostümprobe ausspionieren? Das Zentralgebäude war ein typisches Bauwerk Südostasiens, zweistöckig, mit einem Pagodendach. Kleine Glöckchen waren an den hochgebogenen Ecken der Holzkonstruktion angebracht, die im trägen Wind eine leise Melodie intonierten. An dem großen, roten Holztor hatte der unbekannte Meister mehrere metallene Drachenköpfe aufgenagelt. Aus ihren Mäulern hingen bronzene Ringe, und es kostete mich viel Willenskraft, nicht sofort hinzurennen und mit lautem Klopfen auf mich aufmerksam zu machen. Obwohl es mich interessiert hätte, was wohl der Schwarze Prinz zu meinem nächtlichen Besuch gesagt hätte. Als ich den Duft der Blumen in den Bäumen vernahm, eröffneten sich meinem Geist plötzlich vollkommen neue Ideen. Buddha mußte wohl dasselbe gefühlt haben, als er unter dem Feigenbaum saß und die Erleuchtung fand. Er erkannte auf einmal den Sinn des Lebens und den Weg, wie man aus dem Kreislauf des Leidens entkommen konnte. Meine Erleuchtung war natürlich bei weitem nicht so spirituell. Ich hatte einfach nur alle Ereignisse seit Sonntag zusammengenommen betrachtet und realisierte auf einmal, um was es in diesem Spiel überhaupt ging. Was um mich herum passierte, und was genau die Legende der Tonarmee bedeutete. Nur die Antwort auf die Frage, wer der Schwarze Prinz war, entzog sich im Moment meiner Kenntnis.
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s ist mir oft passiert, daß sich meine Eingebungen als falsch erwiesen. Oder daß binnen weniger Sekunden eine mühsam und langwierig aufgebaute Theorie zu Schutt und Asche zerfiel. Noch häufiger allerdings geschah es, daß mir, wenn ich bereits überzeugt war, alle Details zu kennen, der Zufall – oder mein Schicksal – irgendein neues Hindernis in den Weg legte. Die Zähne der Drachen glitzerten im Mondschein, die graue Wand und das rote Zauntor schimmerten träge im Halbschatten, und ich entdeckte einen goldenen Schriftzug unter dem Pagodendach. Es waren altchinesische Schriftzeichen, ich konnte sie gerade noch entziffern. Sie zitierten Kien-lun, einen der Mandschu-Kaiser: An diesem Ort verfliegt die Hoffnung. Der Blütenstaub reizte meine Nase, also senkte ich den Kopf und versuchte mit aller Kraft, ein Niesen zurückzuhalten. Ich schluckte und hielt mir die Nase zu, daß mir Tränen in die Augen traten. Als ich nach dem Sieg wieder aufblickte, waren mindestens ein, zwei Minuten vergangen. Und dies hatte ausgereicht, um etwas in meiner Umwelt geschehen zu lassen: etwas Wichtiges und Endgültiges. Ich streckte den Kopf nach vorne, um ein klares Bild zu gewinnen. Menschen konnte ich immer noch nicht entdecken, aber die Glöckchen hatten aufgehört zu klingeln. Es herrschte Windstille, nur die Drachen schrien lautlos ihren Zorn heraus. Ich umklammerte die Maschinenpistole und blickte mich noch einmal sorgfältig um. Meine Augen streiften über das Dach, die kleinen Ringe der Anklopfer, die rötlichen Dachziegel, die Aufschrift mit dem einladenden Spruch… Die Aufschrift! Meine Augen wanderten zu den goldenen Zeichen zurück. Im ersten Augenblick sah ich nichts Ungewöhnliches an ihnen. Der relativ kurze Satz, und dann… Es war wie ein Rätsel. Ein Rätsel mit zwei identischen Bildern, wo 247
bei dem rechten zum Beispiel acht kleine Fehler eingezeichnet oder etwas weggelassen wurde. Meine Aufgabe war es nun, diese acht Unterschiede zu finden, und zwar so schnell wie möglich. Noch einmal fuhr mein Blick über die Schriftzeichen, und dann stockte mir der Atem. Man hatte Kien-luns Namen aus dem Spruch entfernt. Ich wischte mir die Stirn ab und schluckte meine Panik hinunter. Ich glaube nicht an Magie und Zauberei, obwohl man mit einer solch kategorischen Aussage in Fernost etwas vorsichtig sein sollte. Trotzdem hätte ich beschwören können, daß vor kurzem noch die zwei Zeichen vorhanden waren. Zehn Sekunden lang preßte ich die Augen zusammen, und als ich wieder aufblickte, war Kien-lun an Ort und Stelle. Inzwischen wußte ich längst nicht mehr, was hier vor sich ging. Routinemäßig schloß und öffnete ich wenig später meine Augen und wunderte mich überhaupt nicht mehr, daß die Schriftzeichen erneut verschwunden waren. Scheinbar gab es eine große Hand, die sich regelmäßig vor den Namen schob und dann wieder zurückzogen wurde. Obwohl mir klar war, daß es riskant werden könnte, sich direkt ans Tor zu begeben, blieb mir nichts anderes übrig. Jede Kleinigkeit konnte in diesem verfluchten Fall von Bedeutung sein. Von großer Bedeutung… Auf allen vieren trabte ich wie ein etwas zu groß geratener Affe über die paar Quadratmeter monderleuchtete Fläche, die mich von dem roten Tor trennten. Die nächste Etappe sollte bei weitem nicht mehr so einfach werden. Im Schatten des spitzen Tordrachens kam ich wieder in die Höhe, und als ersten Erfolg stieß ich mir dabei auch sofort meinen Kopf an einem abstehenden Holzbalken, der vom Dach herunterhing wie die Schaufel eines Windrades. Keuchend vor Schmerz bog ich ihn etwas zur Seite. Leise, ganz leise knirschte das wettergegerbte, morsche Stück. Ich betastete mei248
ne Stirn und konstatierte erfreut, daß die Beule sich neben den älteren durchaus sehen lassen konnte. Ich streckte mich nun etwas vorsichtiger aus und lugte zur Schrift hinüber. Die goldenen Zeichen funkelten wie Sterne am Himmel, aber die Buchstaben des Kaisers konnte ich wieder nicht entdecken. Ich stemmte die Arme in die Hüften und dachte angestrengt nach. Und während ich so dastand, machte ich plötzlich ein paar Striche des ersten Phonems aus. Ich hätte schwören können, daß es der Anfang von Kien-luns Namen war. Plötzlich drückte mir eine eisige Hand die Kehle zu und ließ gerade genug Platz, hastig nach Luft zu schnappen. Die Erkenntnis traf mich wie eine kalte Dusche. Ich konnte Kienluns Schriftzug deshalb nur sporadisch erkennen, weil eine dunkle Masse mir von Zeit zu Zeit die Sicht versperrte. Irgend etwas hing unter dem Vordach des Eingangs, und obwohl ich meine Augen gar nicht anstrengte, wußte ich, daß es eine Leiche war. Unfreiwillig trat ich einen Schritt zurück und hob die Hand. Eine leichte Brise wehte mir entgegen. Genug, um einen menschlichen Körper in Bewegung zu halten. Ich dachte daran, vielleicht lieber gar nicht hinzusehen. Vielleicht sollte ich mich einfach nur umdrehen und zu Mal zurückkehren. Oder alles hier hinter mir lassen. Ich wußte, daß ich es schaffen konnte. Der Mekong war in der Nähe, mit etwas Glück konnte ich ihn in wenigen Wochen erreichen. Ich hatte schon früher oft Tage oder Wochen alleine im Dschungel verbracht. Ob ich immer noch Käfer und Wurzeln essen könnte wie früher? Würde ich immer noch ohne Probleme Vogeljunge fangen und roh verschlingen können? Und schließlich: Würde ich immer noch den tödlichen Fallen der anderen Dschungelbewohner entgehen können? Irgendwo hoch über mir wurde ein Fenster geöffnet. Eine helle Frauenstimme fragte etwas, eine andere, etwas jüngere antwortete. Dann vernahm ich von einem der inneren Höfe Wortfetzen eines leisen Gesprächs. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und griff nach oben. Gerade so 249
erreichte ich die Füße des Toten und drehte die Leiche so, daß ich sie mir von vorne anschauen konnte. Die Hände baumelten direkt über mir, und als ich die alten, runzligen Finger mit den schweren Ringen sah, brauchte ich mir sein Gesicht nicht mehr anzuschauen. Ich wußte, wer es war. Trotzdem vergewisserte ich mich. Die Augen starrten blicklos ins Leere, der Kopf war etwas zur Seite geneigt, als ob er sich ganz intensiv den Worten eines imaginären Gesprächspartners widmen würde. Die beiden ergrauten Bartspitzen hingen traurig nach unten und schienen sich ihrem Schicksal zu ergeben. Der Tote war General Villalobos.
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as dann passierte, hätte mich noch mehr verstören müssen. Und sicherlich wäre es auch so gekommen, wenn es keine Vorgeschichte dazu gegeben hätte. Gerade der letzte Tag aber, und vor allem die Leichen dieses Tages hatten mich dermaßen aus der Fassung gebracht, daß mich jetzt nicht einmal mehr verblüfft hätte, wenn Englein mit goldenen Trompeten am Nachthimmel erschienen wären und eine Fanfare zum Beginn des Jüngsten Gericht geblasen hätten. Schritte kamen von innen auf das Tor zu, und zwar ziemlich viele. Geflüster, leise Worte und Befehle erreichten mein Ohr. Im selben Moment vernahm ich auch hinter mir Geräusche, als ob es im Gebüsch zu einem Boxkampf gekommen wäre. Die von innen kamen schneller am Tor an als die anderen von der kleinen Lichtung. Ein Schlüssel wurde umgedreht und ein dem Klang nach gewaltiger Riegel weggezogen. Ich kauerte mich auf den Boden, zog mich zurück und hoffte, daß mich meine Verfolger nicht entdecken wür250
den. Das Tor wurde mit lautem Ächzen geöffnet. Die Flügel wurden nach innen gezogen, also konnten die Bewohner nicht sofort die Leiche entdecken, die an dem breiten, reich verzierten Querbalken etwas seitlich vom Eingang hing. Der Vordermann drehte seinen Kopf zurück und sagte etwas zu seinen Begleitern. Er redete Chinesisch und sprach mit einer hohen Tonlage, die entweder Frauen oder ganz jungen Männern vorbehalten ist. Dem Dialekt nach stammte er aus Shanghai und nicht Peking, weswegen ich auch relativ wenig verstand. Seine schattenhaften Begleiter, in denen ich Meos zu entdecken wähnte, scharten sich um den armen Villalobos und flüsterten erregt miteinander. In diesem Moment verstärkte sich auch der Lärm hinter mir, und ich mußte automatisch hinschauen. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, und es fehlte nicht viel dazu, daß ich in ihre Richtung losfeuerte. Aus den nahen Büschen traten nämlich einige Meos mit gezückten Messern hervor. Diese Waffen richteten sie auf zwei Männer in ihrer Mitte. Die schwer ächzenden und möglicherweise verletzten Gefangenen konnten sich gerade noch auf den Beinen halten. Einer, ein dürrer Rothaariger, hatte ein blutverschmiertes Gesicht, das er wohl nicht nur deshalb nicht abwischte, weil seine Hände hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Der andere war etwas breiter und kräftiger, und in seinem Blick konnte ich keine Angst erkennen, als der Mond sein Gesicht kurz erhellte. Er verfolgte das Gehabe der Eingeborenen eher mit gewissem Interesse und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf. Das bemerkenswerteste an ihm waren allerdings seine Haare. Seine lila gefärbten Haare glänzten richtiggehend im Mondschein, was so ziemlich das gesamte Spektrum zum Vorschein brachte, das aus dieser Grundfarbe gewonnen werden konnte. Ein besonders farbempfindsamer Künstler hätte vor Verzückung lustvoll aufgeschrien. Die beiden drangsalierten Männer waren natürlich Hardy und Leichenfresser. 251
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ie Meos, die die Gefangenen begleiteten, blieben kurz stehen, als sie das Durcheinander bei dem Tor bemerkten. Mir aber kam dieser Aufschub ganz recht, denn sie waren bereits so nahe gekommen, daß ihr Anführer fast über meinen Kopf gestolpert wäre. Hätte die Leiche von Villalobos sie nicht abgelenkt, wären sie schon längst um einen Gefangenen reicher gewesen. Ein paar Sekunden später lag der Tote auf dem Boden. Wer das Seil durchgeschnitten hatte, konnte ich nicht erkennen, um so mehr aber, wie sich der schwarze Schatten über ihn beugte. Und sein Körper zitterte heftig, wie bei einem Schwächeanfall. Ich hob den Kopf, um besser sehen zu können. Der verhüllte Anführer, vermutlich der Schwarze Prinz, krümmte sich mit seinem breiten, dunklen Hut über den Kopf des Toten, so daß ich keines der beiden Gesichter sah. Ich konnte nicht feststellen, ob er wie Zorro eine Maske trug oder sich voll auf den dunklen Schatten seiner Hutkrempe verließ. Aber irgendwie war ich mir sicher, daß er weinte. Die Meos und ein paar Chinesen standen um ihn herum, aber keiner traute sich, etwas zu sagen. Auch die Neuankömmlinge nicht. Hardy und Leichenfresser starrten entgeistert auf die Szenerie. Der Musiker erkannte als erster den General. »Mein Gott, der Schnurrbartkönig!« stöhnte er und schluckte. »Ja, sehen Sie doch, die haben sogar den Major umgebracht … einfach aufgeknüpft…! Glauben Sie, daß man auch uns…« »Halten Sie die Klappe!« knurrte Hardy. Der Schwarze Prinz erhob sich. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß es eine Frau war. Vielleicht wegen der anmutigen Art ihres ganzen Wesens… Sie glitt mit weichen Bewegungen vor die beiden Gefangenen. »Wo habt ihr sie erwischt?« fragte sie die Meos. Die Antwort kam ebenfalls auf chinesisch, allerdings gebrochen, von einem der Eingeborenen. 252
»In der Nähe des Sumpfes, Prinz.« Der Schwarze Prinz schaute kaum in die Richtung der Gefangenen, im Gegenteil, er schien sein Gesicht vor ihnen verbergen zu wollen. »Was machen wir mit ihnen?« Vorsichtig nahm ich die Maschinenpistole vom Rücken und brachte sie in Anschlag. Sollte ich irgendeinen falschen Befehl hören, würde ich ein kleines Feuerwerk veranstalten müssen, obwohl mir nichts ferner lag, als die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Die rätselhafte dunkle Gestalt zog ihren Hut noch tiefer ins Gesicht. »Schließt sie ein! Kung Tung-fej wird für sie verantwortlich sein.« Ein Chinese, der wie die Meos gekleidet war, trat vor und verbeugte sich. »Jawohl, Prinz. Was wünscht du außerdem, Herr?« »Wenn…«, seine Stimme stockte, was gar nicht zu einem Phantomprinz seines Formats paßte. »Wenn ich morgen bis zum Sonnenuntergang nicht zurück sein sollte, dann…« Der Chinese verbeugte sich erneut und wartete mit spitzfindigem Gesichtsausdruck auf die Antwort. »Dann, mein Prinz?« »Dann bringt sie um!« erwiderte der Schwarze Prinz und zog den Umhang über seiner Brust enger zusammen. »Die Leichen laßt ihr im Sumpf verschwinden!« Er hob den Arm wie zum Abschied und war mit einem einzigen Sprung in der Dunkelheit verschwunden. Die Meos gingen in das Gebäude und zerrten Leichenfresser und Hardy mit sich. Gleichgültig blickte ihnen der Mond nach. Ich auch, aber eher verzweifelt.
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ls sie hinter dem Tor verschwunden waren und die Gegend wieder in Stille badete, nahm ich mir ein paar Minuten Zeit, über verschiedenes nachzudenken. Stoff dazu hatte ich zweifellos genug. Ich hätte versuchen können, die Gefangenen zu befreien, aber mir war klar, daß dies die dümmste aller möglichen Varianten wäre. Der Schwarze Prinz hatte befohlen, die beiden bis Sonnenuntergang zu verschonen, was bedeutete, daß Hardy und Leichenfresser bis dahin – allerdings auch nur bis dahin – in Sicherheit waren. Ich hätte auch versuchen können, die Tonarmee zu finden, denn falls ich dem Geist von Huan-Ti glauben konnte, wußte nur ich Bescheid, wo ich zu graben hatte. Oder ich hätte dem Schwarzen Prinzen nachrennen können, in der Hoffnung, ihn zu erwischen und dadurch ein paar Antworten zu erhalten. Nach kurzem Zögern entschloß ich mich schließlich doch lieber, in Vang Pins gastfreundliches Heim zurückzukehren. Letzten Endes fühlte ich mich für die gesamte Truppe verantwortlich, auch wenn ich mir diese Aufgabe nicht selbst ausgesucht hatte. Auch das Bild der schlafenden Mal tauchte in meinem Kopf auf, was meine Schritte unterwegs zusätzlich beschleunigte. Dem Anwesen näherte ich mich mit größter Vorsicht. Vang Pin brauchte schließlich nicht zu erfahren, daß ich nachts Spaziergänge im Dschungel unternahm. Ich schaute mich noch ein wenig im Park um und traf ein paar Dickhäuter; ansonsten war alles still. Einer der Elefanten kam zu mir und streckte mir aus angemessener Entfernung seinen Rüssel entgegen. Ich suchte nach etwas Brauchbarem in der Hosentasche, fand aber nichts Akzeptables. Schuldbewußt tätschelte ich die lange Nase und kratzte dafür seine Stirn. Der Gute schnupperte an mir herum und trompetete dann leise auf. Als ich ihn hinter mir ließ, blickte er mir mit traurigen Augen nach. Ohne Probleme gelangte ich in das Haupthaus zurück, schlich 254
durch den Glaskorridor und hielt auf mein Zimmer zu. Dabei murmelte ich alle Gebete, die mir einfielen, damit mir keiner über den Weg lief, denn bei einem Treffen im Halbdunkel hätte jeder, der mich in zerschlissenen Kleidungsstücken, verdreckt und zerzaust, stinkend, in klitschnassen Schuhen und mit einer MP bewaffnet aus dem Nichts auftauchen gesehen hätte, mit vollem Recht lauthals losgeschrien. Zum Glück blieb mir das erspart. Ich erreichte ohne Zwischenfälle meine Tür und klopfte leise an. »Mal!« Keine Antwort. Erneuter Versuch, gleiches Ergebnis. Ich kniete mich hin und schielte durch das Schlüsselloch. Der Schlüssel steckte von innen. »Mal?« Nichts rührte sich. »Mal!« Diesmal war ich schon ziemlich laut, aber selbst nach einem erneuten Anklopfen gab es keine Antwort von innen. Ich schulterte die MP, rannte wieder zurück zum Eingang, war bald darauf im Hof und erreichte mein Fenster. Dann stellte ich mich auf Zehenspitzen und schaute ins Zimmer. Der Mond stand so, daß ich Mals Gesicht nicht sehen konnte. Dafür aber ihren Körper, der seltsam verdreht unter der Decke zur Geltung kam. Dies war wohl der Zeitpunkt, an dem ich endgültig in Panik geriet. Ohne weit nachzudenken, schlug ich das Fenster mit dem Gewehrschaft ein. Die Scherben fielen klirrend zu Boden, und ich hörte erst mit der Zerstörung auf, als in einem benachbarten Haus irgendwo das Licht anging. Mit einem flotten Satz war ich im Raum angelangt und kniete im nächsten Moment auch schon neben dem Bett. Ich beugte mich über Mals Arm und fühlte ihren Puls, dann zerriß ich das Oberteil des Hemdes, das sie sich von mir geborgt hatte, und legte mei255
ne Hand auf ihr Herz. Es schlug noch, wenn auch nur sehr schwach. Ich kniete mich neben sie auf den Boden. Jetzt erst spürte ich, wie mir kalt und naß wurde und der Schweiß an meiner Stirn herabfloß. Schwarze Wolken zogen an meinen Augen vorbei, und am liebsten hätte ich mich neben Mal gelegt. Aber das Fenster war offen, zerschlagen, und zwar von mir. Ich legte nun mein Ohr auf ihre Brust. Der Atem war flach, aber regelmäßig. Als ob sie etwas Schlimmes träumen würde oder jemand sie kurz vor dem Einschlafen erschreckt hätte. Ich nahm ihre Hand und schüttelte sie zärtlich. »Mal!« Als ich es aussprach, stach mir plötzlich ein übler Geruch in die Nase. Ich hob die Decke, sah aber nur den perfekten Körper der Pilotin. Auch unter ihrem Rücken lag nichts Besonderes. Ich drehte sie zur Seite, sie stöhnte unzufrieden auf. Dann hob ich das Kopfkissen hoch, und der Gestank wurde intensiver. Ich legte die Maschinenpistole zur Seite, und zwar so, daß sie weiterhin auf das Fenster zeigte. Nach kurzem Wühlen fand ich, wonach ich gesucht hatte. Zur Hälfte unter das Laken gerutscht, steckte ein blaugestreiftes Taschentuch fest, und war allem Anschein nach für den Übelkeit erregenden Gestank verantwortlich. Ich nahm es zwischen Zeige- und Mittelfinger, hielt es weit von mir weg und trug es zur Toilette. Unterwegs roch ich nur ganz kurz daran, aber selbst das genügte, um mir den Magen umzudrehen. Ich zog das Kissen unter Mals Kopf hervor und nahm den Bezug ab. Der Wasserhahn gab kaum etwas von sich, aber nach ein paar Sekunden konnte ich Mal den ersten nassen Umschlag auf die Stirn legen. Wäre das Wasser kalt gewesen, hätte es vielleicht auch eher gewirkt. So aber verging eine lange Zeit, bis ich etwas Leben in sie hauchen konnte. »Mein Gott«, stöhnte sie und hielt sich die Stirn. »Der Weck256
dienst…« Dann entdeckte sie mich und schrie leise auf: »Ach du Scheiße… Wer sind Sie denn?« Sie fiel auf das Laken zurück und zog den dünnen Bezug über sich. Weitere Minuten vergingen, bis ich ihre Erinnerungen wieder aufgefrischt hatte. Daraufhin allerdings warf sie sofort das Tuch von sich und stürzte sich in meine Arme. Es kümmerte sie dabei reichlich wenig, daß Lehmbrocken an meiner Stirn klebten und mein Geruch deutlich an eine Kloake erinnerte. »Mein Gott, Leslie«, ächzte sie, und dicke Tränen kullerten über ihr Gesicht. »Endlich bist du da… Ich hatte solche Angst! Wirklich, solche … wie noch nie zuvor, nicht einmal in der Luft… Dieser schreckliche Mann…!« Ich zog sie dicht an mich und streichelte ihr beruhigend den Rücken. »Jetzt ist ja wieder alles in Ordnung, Mal!« Anscheinend war ich erfolgreich, denn plötzlich fand sie Zeit, ihre Nase zu benutzen. Irritiert schnüffelte sie an mir herum. »Was stinkt denn hier so?« »Ich fürchte, meine Wenigkeit.« »Oh…«, meinte sie, zog sich aber tapfer nicht zurück. »Wo bist du denn gewesen?« »Später, Schatz. Jetzt bist erstmal du dran. Was ist passiert? Hast du jemanden reingelassen?« Sie seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Niemanden. Er … kam erst, als ich schon eingeschlafen war.« »Du meinst, durch das Fenster?« Sie schluckte ein paarmal und deutete dann mit dem Kopf auf den Wasserhahn. »Könnte ich etwas Wasser kriegen?« Ich nahm unsere selbstgebastelten Papierhütchen und holte ihr etwas zu trinken. Dabei brachte ich zwecks späterer Identifizierung auch das stinkende Taschentuch wieder mit. Mal nahm einige Schlucke und verzog dann die Miene. 257
»Pfui…! Warm und ungenießbar! Was … was ist dieser komische Geruch?« »Ich bin in einen Sumpf gefallen.« Sie roch weiter an mir herum und schüttelte den Kopf. »Etwas anderes… Mein Gott!« Sie griff sich an die Kehle, und ich befürchtete schon, sie würde sich übergeben. Ihre Augen weiteten sich, aber zum Glück war sie kurz darauf wieder in Ordnung. Mit einigen Rülpsern brachte sie die Sache in Ordnung. Ich schüttelte das blaue Tuch vor ihr hin und her. »Erinnert dich das an etwas?« »Sowas ähnliches hat mir der Kerl unter die Nase gedrückt.« »Wie war er überhaupt reingekommen?« »Ich schätze, durch die Tür«, antwortete sie. »Nicht durchs Fenster?« »Ich weiß es nicht, Leslie… Ich glaube, die Tür stand hinter ihm offen.« »Natürlich hattest du zu dem Zeitpunkt schon geschlafen.« »Das tat ich bereits kurz nachdem du gegangen warst. Ich wachte erst auf, wie er…«, stöhnte sie, und begrub das Gesicht in den Händen. Dann nahm sie die Arme wieder herunter und trat heftig mit dem nackten Fuß gegen das Bett. »Verdammt! Warum gibst du mir keine Ohrfeige?! Bitte, schlag mich!« Sie schien sich in der Tat nichts sehnlicher zu wünschen. »Bist du unter die Masochisten gegangen?« grinste ich bitter. »Ach was! Im Grunde bin ich eher sadistisch veranlagt. Erinnerst du dich denn nicht…? Na ja, später. Ich … ich schäme mich nur, daß ich so schwach und dumm bin! Wie ein junges Huhn! Ich jammere hier herum, anstatt…« »Dann jammere nicht«, riet ich ihr etwas ungeduldig. »Also, wie war das noch mal?« Sie schloß die Augen, und als ich sie wiedersah, strömte aus ihnen eine unheimliche Selbstbeherrschung. »Als ich aufwachte, war jemand im Zimmer.« 258
»Wie hast du es bemerkt?« »Jetzt, wo du fragst… Ich glaube, er zog einen Reißverschluß auf … oder zu. Danach klang es zumindest. Was suchst du?« Letzteres fragte sie, als ich schon längst neben meiner kleinen Tasche kniete. Meine Ahnung bewahrheitete sich leider. Die kleinen Tonfiguren, die ich in der Maschine und im Wald gefunden hatte, waren, abgesehen von einer einzigen, allesamt verschwunden.
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ehlt etwas?« fragte Mal nervös. »Die kleinen Figuren…« »Die, die du bei den Toten…?« »Also, wie war das mit dem Einbrecher?« »Als du gegangen warst, bin ich gleich eingeschlafen. Eigentlich wollte ich warten, aber ich war vollkommen erschöpft. Ich konnte die Augen einfach nicht offen halten.« Obwohl unsere Situation mehr als beunruhigend war, blieb sie sich selbst treu und warf mir einen schelmischen Blick zu. »Ich war einfach kaputt von … du weißt schon. Dann weckte mich ein Geräusch, das wie ein Reißverschluß klang. Ich weiß gar nicht, woher ich die Kraft nahm, meine Lider zu öffnen. Auf jeden Fall schrie ich los, da stand nämlich so ein Typ im Zimmer … du weißt schon, wie im Flugzeug…« »Äh…?« »Ein Panda! Ein Pandamensch!« Ich spürte den Schlag eines Vorschlaghammers gegen die Brust; dementsprechend fiel es mir schwer, zu atmen. »Ein Panda? Aber wie zum Teufel…?« 259
»Ich glaube, er kam durch die Tür. Sie stand offen, ich sah auf dem Boden einen schwachen Lichtschimmer von der Flurbeleuchtung draußen…« »Und was hast du gemacht?« »Geschrien, natürlich! Und ich wollte ihm ins Gesicht treten. Ja, ich trat natürlich zu, denn er war ganz dicht am Bett.« »Und dann?« »Na ja … ich habe ihn, glaube ich, nicht getroffen… Warte mal, wie war das noch mal…? Wenn du jetzt nicht gekommen wärst, hätte ich es bis morgen früh garantiert vergessen. Oder das Ganze für einen Traum gehalten. Ihn … und … und auch den anderen, der … der…« »Warte mal!« Ich hob die Hand, denn vorerst klang das alles etwas verwirrend. »Also suchte der Kerl in meiner Tasche herum, und als er merkte, daß du aufgewacht warst, ließ er die Tasche liegen und…« »Jetzt erinnere ich mich! Er sprang zur Tür!« »Er rannte davon?« »Nein, noch nicht. Ich glaube, er machte sie nur zu.« »Aha. Und du?« »Ich schrie wohl die ganze Zeit über … ich weiß nicht, was.« »Deine Waffe?« »Hier unter meiner… Mein Gott, natürlich! Ich hatte sie in der Hand, als er mich ansprang. Dann … an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern.« »Wie groß war er?« fragte ich. »Ich meine, ein Europäer, oder eher ein Chinese?« Sie schüttelte den Kopf und seufzte verzweifelt auf. »Woher soll ich das wissen? Erstens habe ich mir wegen dieser blöden Maske beinahe in die Hose gemacht. Ich erinnerte mich ja sofort an die Maschine … an die vielen Toten. Ich dachte, der Panda wäre gekommen, um auch mich … umzubringen. Aber das war immer noch nicht so schlimm, wie … wie…« »Weiter, Mal!« 260
»Na ja, auf jeden Fall betäubte der Panda mich. Jetzt erinnere ich mich, er preßte mir dieses furchtbare Tuch vor die Nase. Ich hätte wohl abdrücken sollen, oder?« »Es war absolut richtig, es nicht zu tun! Ich hatte den Fehler gemacht und dich alleine gelassen!« »Als ich zu mir kam, dachte ich, ich würde sterben.« »Der Panda?« »Der war schon wieder weg. Ich hatte furchtbaren Durst, und dieses verdammte Tuch lag auch noch auf meinem Gesicht. Ein Glück, daß ich überhaupt Luft bekam!« Ich nickte zustimmend. »Mir war, als würde ich verdursten. Und mein Kopf dröhnte. Meine Zunge klebte am Gaumen, ich war wohl noch nicht richtig beisammen. Ich schleppte mich zum Wasserhahn, aber da kam kaum etwas raus. Außerdem war es schrecklich warm. Dann… Irgendwie konnte ich mich zur Toilette raus…« »Stop!« unterbrach ich sie. »War die Tür verschlossen?« Sie schüttelte unglücklich den Kopf. »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ist alles so … mosaikmäßig … ich sehe nur noch kurze Ausschnitte vor mir … Details … ich weiß, daß ich draußen im Gang stand und jemanden gesehen habe.« »Wen?« »Eine chinesische Frau.« »Auf dem Flur?!« Sie schloß einen Moment lang die Augen, als ob ihr das bei der Konzentration helfen würde. »Tut mir leid. Alles drehte sich um mich, ich… Wie auf einem Karussell. Ein Gesicht tauchte vor mir auf … das Gesicht dieser Frau. Da war sie noch auf dem Flur, ja.« »Hat sie etwas gesagt?« »Ich weiß nicht. Ich kann mich einfach nicht erinnern! Alles war so verschwommen… Ich lehnte mich an die Wand, und … ja! Sie sagte etwas … rief nach mir oder so… Ich glaube, sie war auf der 261
Flucht… Ich … weiß es einfach nicht!« »Den Panda hast du nicht mehr getroffen?« »Nein.« »War sonst noch jemand auf dem Gang?« »Keine Ahnung«, sagte sie verstört und preßte den Kopf zwischen ihre Hände. »Ich … ich kann mich … nicht … erinnern… Es ist, als ob ich zu viel getrunken hätte. Vielleicht war da noch jemand, aber…« »In Ordnung, Kleines«, sagte ich und nahm ihre Hand. Sie war kalt und feucht. »Dann … bin ich zur Toilette gegangen … und kam erst bei dem Wasserhahn wieder zu mir. Ich trank etwas und wusch mir das Gesicht. Dann plötzlich … sah ich diese Frau und schrie … einfach los. Ich … ich weiß nicht mehr, wie ich in das Zimmer zurückgekommen bin. Ich … weiß es nicht.« Ich spürte, wie sie anfing zu zittern, als ob es plötzlich kühler geworden wäre. »Was hat die Chinesin denn auf der Toilette gesucht?« »Sie … sie drehte sich.« »Was?!« Ich sprang auf, und fühlte nun meinerseits etwas Kaltes meinen Rücken runterkriechen. Mal stand ebenfalls auf und klammerte sich an mir fest. Ich sah, wie ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. »Diese Frau wurde ermordet, Leslie«, sagte sie und drückte meinen Arm immer fester. »Sie wurde getötet, und aufgehängt. Und ich fürchte, daß ich ebenfalls dort war, und … und ich habe den Mörder gesehen! Aber ich kann mich nicht erinnern, wer es war! Ich … es ist, als ob mir jemand meine Erinnerungen genommen hätte. Dabei wurde sie gerade ermordet, als ich … als ich dort…« Ich riß mich aus ihrem Griff und hetzte auf den Flur. Es war mir im Moment vollkommen egal, ob sie mir folgte oder nicht. Ich mußte so schnell wie möglich in die Damentoilette. Auch vor der Tür dachte ich nicht lange über die Möglichkeiten nach und plazierte einen scharfen Tritt unter die Klinke. 262
Als ich hineinstolperte, wußte ich sofort, daß Mal die Wahrheit gesagt hatte; es war keine Vision gewesen, die ihr in Form von Alpträumen die Erinnerungen zerstückelte, sondern die blutige Wirklichkeit. Eine Frau in Kimono und Seidenpantoffeln hing an einem roten Stoffseil. Den Kopf zur Seite gelegt, blickte sie mit traurigen Augen auf die Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand. Ich sah sie eine Weile lang stumm an und lehnte mich dann mit einem tiefen Seufzer an die Fliesenwand. Es war Paj Miang; die junge Ehefrau unseres Gastgebers.
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ch weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, bis sich Mal hinter mir rührte. Vielleicht Sekunden, vielleicht auch ganze Minuten. Eine Weile lang versuchte ich noch nicht einmal nachzudenken. Ich hatte ein Gefühl, als ob man mir die Schlinge um den Hals gelegt hätte. Und als ob jeder, der gerade Lust dazu verspürte, sie zuziehen konnte. Ich kam wieder zu mir, als Mal mich umarmte. »Mein Gott, Leslie … das ist ja sie!« »Du wußtest es nicht?« Sie schüttelte schnell und bestimmt den Kopf. »Ach was! Ich habe mich nur erinnert, daß es eine junge, chinesische Frau war. Ich habe keine Ahnung, warum ich an eine Chinesin gedacht habe … es hätte ja genausogut eine Laotin sein können…« »Wahrscheinlich hattest du sie im Unterbewußtsein erkannt.« »Das ist so … furchtbar, Leslie! Warum … warum?« »Aus dem selben Grund wie auch die anderen«, sagte ich. »Wahr263
scheinlich aus dem selben Grund…« »Und ich war hier und habe nichts unternommen… Vielleicht, wenn … wenn ich nicht so benommen gewesen wäre…« Dann hätte man dich womöglich gleich mit aufgeknüpft, dachte ich im stillen, sagte aber nichts. Statt dessen ging ich wieder auf den Flur hinaus, dann durch den Gang zum Hof. Der Mond schien immer noch hell vom nächtlichen Himmel, obwohl er schon ziemlich weit unten stand, fast am Horizont. Ich blieb in der Mitte des Hofes stehen, nahm die Maschinenpistole und feuerte eine kurze Salve in die Luft. Dann setzte ich mich auf die Treppe und wartete auf die Reaktion. Infolge der Schüsse verstummten sogar die Äffchen in den Baumkronen. Schon ein paar Sekunden später aber ging ein fürchterliches Gekreische los, und bösartig funkelnde rote Augen starrten zuhauf in meine Richtung. Wütend schüttelten sie die Äste, gleichzeitig wurden Lampen und Kerzen in den Nebengebäuden angezündet, und nervöser Verkehr setzte auf den Verbindungskorridoren ein. Ein paar Minuten später raschelte es in einem Busch neben mir, und ein Elefant trottete auf den Hof. Er schnüffelte, anscheinend irritierte ihn der Pulverrauch. Er stampfte hin und her und zog sich schließlich mit lustigen Ohrenbewegungen rückwärts eiernd in das Gebüsch zurück. Kurz darauf erschien ein kleiner, in einen Seidenkimono gehüllter Chinese in der Tür zum Hof. Erschrocken fuhr er auf, als ich vor ihm auftauchte, und traute sich erst gar nicht näher, bevor ich ihm nicht freundlich zugewunken hatte. Ich sah ihm an, daß er am liebsten Reißaus genommen hätte. »Keine Angst«, sagte ich auf englisch und ließ die MP sinken. »Sprichst du diese Sprache?« »Ja, Herr.« »Ich war es, der in die Luft geschossen hat.« »Ja, Herr.« »Es ist etwas sehr Schlimmes in unserem Haus passiert. Ich habe 264
geschossen, um euch zu wecken. Verstehst du mich?« »Ja, Herr.« »Kannst du mir das Zimmer von Dr. Camus zeigen?« Er zögerte, also nahm ich die MP von der Schulter und steckte sie ihm entgegen. »Hier, ich habe nichts Böses vor. Ich will Dr. Camus wirklich nichts tun. Aber ich muß mit ihm reden. Es ist etwas Schlimmes passiert … ein Unfall…« Er schaute sich meine Waffe an und gab sie schließlich zufriedengestellt zurück. »Ich verstehe, Herr! Kommen Sie!« Wir gingen durch den Glasflur in ein zweites, dann in ein drittes Gebäude. Die Gänge wurden von schwachen Neonlampen erleuchtet; nach einigen Kurven und Ecken kamen wir in eine riesige, mit Vitrinen und Diwanen vollbepackte Eingangshalle. Mein Begleiter deutete auf eine der vielen Türen. »Diese dort gehört zu den Räumlichkeiten von Dr. Camus, Herr! Aber er mag es nicht, nachts gestört zu werden…« Ich trat vor die Tür und klopfte energisch an. Überhaupt nicht zurückhaltend. Vielleicht beim dritten Mal gab es endlich eine Regung drinnen, und krächzend-brummend schlurfte jemand zum Eingang. »Wer zum Teufel ist dort?« fragte er auf französisch, und zwar ziemlich unfreundlich. »Lawrence«, antwortete ich. »Dr. Camus, könnten Sie bitte einen Moment herauskommen?!« »Lawrence?!« Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er mit überraschtem Gesicht meinen Namen wiederholt. »Natürlich … äh … gibt es irgendein Problem?« »Ich fürchte, ja.« »Einen Moment, ich bin sofort da.« Er krächzte noch ein wenig und öffnete dann einen Spalt breit. Der Diener hinter mir wartete sprungbereit auf irgendein Zeichen. Dr. Camus blinzelte und setzte seinen Zwicker auf. Es dauerte eine 265
gute halbe Minute, bis er sich an die Lichtbedingungen gewöhnt hatte. Als er mich dann in meinen zerfetzten Sachen, dreckig und mit einer Maschinenpistole bewaffnet, erkannte, machte er wieder einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen. Schnell war ich bei ihm und klammerte mich am Flügel fest. Er versuchte noch eine Weile, mich abzuschütteln, gab dann aber auf. Ich spürte, wie sich hinter meinem Rücken etwas tat, also schaute ich schnell nach hinten. Es war eine Frage von Zehntelsekunden, daß mich der kleine Chinese mit seinem Messer aufgespießt hätte. Ich trat ihm gegen die Hand, und er krümmte sich mit einem Aufschrei zusammen. Das Messer fiel irgendwo zwischen den Vitrinen zu Boden. Dr. Camus zappelte ebenfalls noch ein wenig herum und blickte mich dann entnervt an. »Was wollen Sie denn, Mann?« Ich ließ ihn los, paßte aber auf, daß er nicht fortlaufen konnte. »Jetzt hören Sie mal!« sagte ich. »Wir brauchen Ihre Hilfe! Sie sind doch Arzt, oder?« »Natürlich, aber…« »Es gab einen … Unfall…« Der Chinese kam auf allen vieren näher und versuchte, mir die Beine wegzuziehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm gegen die Stirn zu treten. »Könnten Sie ihm nicht sagen, daß er mich in Ruhe lassen soll?! Verdammt, ich will hier doch niemandem etwas antun!« Dr. Camus merkte dies wohl auch gerade. Er bellte dem immer noch auf dem Boden liegenden Diener etwas zu und ließ sich gleich darauf auf das nächstbeste Kanapee fallen. »Können Sie mir nicht hier alles erzählen?« »Dafür haben wir keine Zeit! Jemand ist… Egal, kommen Sie!« Er brummte irgend etwas, blickte zaghaft in Richtung seines Zimmers, stemmte sich hoch und zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Wo wollen wir hin?« »In unser Nebenhaus. In die Damentoilette.« 266
Er hielt inne und zog mißtrauisch die Augenbrauen zusammen. »Was haben Sie gesagt?!« »Sagen Sie diesem kleinen Kerl da, er soll uns dorthin zurückbringen.« »Unnötig«, brummte er mürrisch. »Ich weiß selber, wo das ist.« Als wir ankamen, konnte ich Mal nirgends entdecken. Dr. Camus blieb nervös stehen, als er auf dem Boden die Türklinke und Holzsplitter entdeckte. »Eine Explosion?« »Nein, mein Schuh. Ich dachte … aber sehen Sie es sich doch selbst an!« Ich hatte ihn mit Absicht nicht vorbereitet. Und beobachtete daher angestrengt seinen Gesichtsausdruck. Er schaute hinein, entdeckte die Leiche, schrie auf und torkelte zurück. Seine Knie zitterten, und ich befürchtete bereits, er würde zusammenklappen. Beim Anblick seines kleinen Affengesichtes hätte man mehrere Fallstudien schreiben können, deren Endergebnis aber sicherlich immer wieder Furcht, Entsetzen, Unglaube und Verblüffung gewesen wären. Es war schon irgendwie seltsam, wie er vor der Toten stand. Er blickte zu ihr hinauf, wie man sonst nur Göttinnen anbetet. Mit Angst und Liebe. Er drehte sich nicht zu mir um, als er anfing zu fragen. »Wie ist es passiert?« »Ich weiß genauso viel wie Sie. Miss Malgorzata hat sie gefunden.« »Mein Gott…! Weiß es Vang Pin schon?« »Keiner hat bis jetzt davon erfahren, außer uns dreien.« »Man muß es ihm sagen!« »Würden Sie das übernehmen?« »Mein Gott … ja, natürlich. Das ist furchtbar! Er wird es nicht überleben!« »Könnten Sie sie sich näher anschauen? Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen … ich weiß nicht, vielleicht kann man noch etwas 267
für sie tun… Vielleicht…« Es klang hoffentlich glaubwürdig. In Wahrheit wollte ich mich schlicht und einfach vor Vang Pins Eintreffen noch ein wenig ungestört mit dem Doktor unterhalten. Er fühlte ihren Puls und schüttelte dann den Kopf. »Nein, mit ihr ist es vorbei… Arme Paj Miang. Ich weiß nicht, wie er das verkraften wird…« »Sie meinen Mr. Vang Pin?« »Wen denn sonst?« herrschte er mich nach einer kurzen Pause nervös an. »Schließlich ist er ein alter Mann. In diesem Alter verkraftet man solche Schicksalsschläge nicht mehr so einfach… Ich habe ihm immer gesagt, er soll alles verkaufen und von hier verschwinden. Aber nein! Und nun … bitte!« »Dr. Camus … könnte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Entsetzt blickte er mich an. »Sie? Und gerade jetzt? Wie zum Teufel fällt Ihnen denn so was ein?« »Dr. Camus«, fuhr ich leise fort, »in dieser Nacht ist viel passiert, das eine Erklärung erfordert. Außerdem ist sie nicht die einzige Tote…« Er sprang auf, als hätte ihn eine Kobra gebissen. »Was reden Sie da?!« Obwohl mir nichts ferner lag, als die Geschehnisse der letzten Stunden auszuwälzen, gab es doch ein paar Kleinigkeiten, die ich ihm mitteilen wollte. Nur damit er sah, daß ich nicht scherzte. »Haben Sie bemerkt, wie ich aussehe?!« »Natürlich! Ich wollte bereits Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, obwohl mir schleierhaft ist, was das mit der…« »Jemand wollte auch mich umbringen«, fuhr ich unbeirrt fort. »Sie umbringen?« erschrak er. »Wer?« »Ein unbekannter Meo. Mit einem Buschmesser.« »Was, hier im Haus?« »Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht.« »Das war keine gute Idee. Der Urwald von Laos ist nicht für solche Ausflüge gedacht…« 268
»Außerdem wurde General Villalobos ermordet.« »Was sagen Sie da?!« »Man hat ihn erhängt. Genau wie Paj Miang.« »Mein Gott«, schnappte er nach Luft. »Wo?« »Draußen. Ein Mörder sitzt uns im Nacken. Er wird uns wohl alle töten, wenn ich nicht herausfinde, weshalb wir in Gefahr sind. Verstehen Sie? Sie müssen einfach meine Fragen beantworten!« »Oui«, sagte er und versuchte, sich zu fassen. »Fragen Sie!« Ich wollte keine Zeit damit verschwenden, irgendwo nach Sitzgelegenheiten zu suchen, also lehnte ich mich einfach nur an die Wand und versuchte, die Tote zu ignorieren. »Wie lange kannten Sie sie?« »Paj Miang? Seit mindestens fünf Jahren.« »Und wo haben Sie sie kennengelernt?« »In Hongkong.« »Und wie?« »Ihr Vater war mein Geschäftspartner. Besser gesagt, wir hatten einige gemeinsame Unternehmungen. Einmal lud er mich zu sich nach Hause ein. Paj Miang servierte den Tee…« »War Vang Pin da bei Ihnen?« »Nein, ich war alleine dort.« »Und wie haben sich die beiden dann kennengelernt?« »Ist das so wichtig?« fragte er genervt. »Also?« »Ich habe ihm von dem Mädchen erzählt.« »Soll das heißen, Sie haben die zwei zusammengebracht?« »Oui, so könnte man das sehen.« »Hatten Sie das Gefühl, Vang Pin könnte … wie soll ich sagen, eine Frau brauchen?« »Genau so. Ich hatte dieses Gefühl, ja.« »Und warum gerade Paj Miang?« »Warum, warum…? Wieso fällt jemand Entscheidungen? Weil sie nun einmal so fallen … ich kannte ihre Familie, ihre Situation…« Er zögerte ein wenig, was mir reichte, um zuzuschlagen. 269
»Wie war ihre Situation? Ihre … finanzielle?« »Verdammt! Wozu soll das alles gut sein?« »Sie haben nicht geantwortet«, blieb ich hartnäckig. »Na ja … schlecht.« »Wie schlecht?« »Katastrophal. Ihr Vater, mein sehr verehrter Freund … machte bankrott. Er blieb ohne einen Cent. Wenn Sie es wissen wollen, auch Paj Miangs Mitgift war weg.« Ich verstand ihn, obwohl mir im Moment noch nicht klar war, wozu mir diese Informationen nutzen würde. Aus seinen Worten wurde mir bald klar, daß Paj Miangs Vater Pleite gemacht hatte und deswegen seinen Freund Dr. Camus bat, für seine hübsche und wohlerzogene Tochter einen reichen Mann zu finden, der gleichzeitig auch der Familie aus der Patsche helfen würde. Ob sie sofort an Vang Pin gedacht hatten, wer weiß… Aber der Doktor brachte die beiden schließlich zusammen. Es hätte mich interessiert, ob er dafür irgendwelche Zuwendungen erhalten hatte, aber das war wohl etwas, was er mir sowieso nicht auf die Nase binden würde. »Was geschah dann?« »Paj Miang und Vang Pin heirateten und lebten hier glücklich zusammen.« »Ach wirklich?« »Darauf können Sie Gift nehmen. Moral hat hier eine andere Bedeutung als in Europa.« »Hatten die beiden Feinde?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Haben Sie eine Vorstellung davon, wer sie umgebracht haben könnte?« Er blickte mich mit einem kalten, undurchdringlichen Blick an. »Sie haben das Verderben ins Land gebracht! Zum Teufel mit Ihnen, warum mußten Sie bloß hierherkommen? Warum?!« »Die Frage beschäftigt mich auch schon eine ganze Weile. Kann es sein, daß das alles wegen der vergrabenen Tonarmee mit uns passiert?« 270
»Sie sind ja vollkommen verrückt!« sagte er. »Sie glauben doch wohl nicht an diesen Unsinn?« Ich nahm die kleine Figur aus der Tasche, die ich neben dem toten Meo gefunden hatte, und hielt sie ihm vor die Nase. »Was sagen Sie dazu?« Er schaute sie sich an, strich mit dem Finger über die Kanten und schüttelte dann den Kopf. »Was soll ich denn dazu sagen? Was ist damit?« Ich erzählte ihm etwas verkürzt die Geschichte mit dem Moor und dem Eingeborenen. Interessiert hörte er mir zu und wischte nur ein paarmal seinen Kneifer an dem Ärmel seines Kimonos ab. Als ich fertig war, dachte er ein paar Sekunden stumm nach und schüttelte schließlich den Kopf. »Das ist unverständlich. Dieser verfluchte Huan-Ti… Bereits in China habe ich von den Legenden gehört … irgendwo war da auch ein Buch… Es hieß, daß jeder, der die Tonarmee zu Gesicht bekommt, sterben würde. Huan-Ti hat die Entdecker mit einem Fluch belegt… Ach was, Unsinn! Am Ende falls ich selbst noch auf diesen Mist rein…« »Was könnte diese Figur denn mit Huan-Ti gemeinsam haben?« versuchte ich es noch einmal, aber Camus senkte seinen Kopf und preßte die Hände auf die Ohren. In dieser Stellung verharrte er auch, bis sich langsam eine regelrechte Versammlung von verstörten Bediensteten vor der Damentoilette gebildet hatte.
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ch war immer noch da, als Vang Pin und seine Schwägerin eintrafen. Die Leiche lag bereits auf dem Boden – Camus hatte diese Aufgabe mit einigen Bediensteten übernommen. 271
Ho Ling brach weinend über der Toten zusammen, Vang Pin wurde von Dienern gestützt. Jetzt erst sah ich, wie hübsch die junge Frau des Hauses gewesen war. Selbst der gewaltsame Tod hatte ihre Züge nicht entstellen können. Sie sah aus wie eine vor Jahrtausenden gestorbene Kaiserin. Einige Minuten später trat ich leise zu Vang Pin und fragte ihn höflich, ob ich ein paar Worte mit ihm wechseln könnte. Zu meiner größten Überraschung schien er darüber sogar froh zu sein. »Ich glaube, die Sonne steigt bald auf, und es ist wohl besser, wenn ich jetzt nicht alleine bleibe… Kommen Sie … ich lasse uns etwas Tee machen.« Seine Stimme war voller Schmerz, aber ich glaubte, auch noch etwas anderes heraushören zu können. Etwas, das ich im Moment noch nicht so recht einordnen konnte. Vang Pin und seine Frau hatten einen ganzen Flügel für sich. Das Nebenhaus erinnerte an einen chinesischen Pagodentempel, die Zimmer gingen ineinander über, keines war in sich abgeschottet. Am Ende der Zimmerflut versperrte uns eine rote Flügeltür, mit den selben Drachenköpfen und Anklopfern wie draußen am Tor, den Weg. Das Schlafzimmer des Hausherren ähnelte den Ruhegemächern aller reichen Chinesen auf dieser Welt. In einer Ecke stand der Privataltar, überall hingen bunte Lampions und standen Erinnerungsstücke aus Papier oder wertvolle Jadeschnitzereien. An den Wänden hatte man teure Wandteppiche angebracht, in den Vitrinen zogen wertvolle Porzellanreliquien und Figuren den Blick auf sich. Der alte Mann mit den vielen kleinen Kindern auf dem Buckel, ein Symbol der Fruchtbarkeit, grinste mir frech zu. Vang Pin bot mir einen Sessel an und saß dann selbst so lange in sich versunken und wortlos in seinem Fauteuil, bis wir den Tee vor uns hatten. Bevor er den ersten Schluck nahm, blickte er mir über den Tassenrand hinweg in die Augen. »Sie sind überrascht, nicht?« Ich trank etwas von dem aromatischen Jasmintee und stellte die 272
Tasche auf den kleinen Beistelltisch zurück. »Warum sollte ich?« Er lächelte, ganz leise, auf typisch asiatische Art. »Daß ich nicht so überrascht bin.« Ich starrte vor mich hin und zuckte dann mit den Schultern. Natürlich hatte ich gesehen, was ich gesehen hatte. Er zeigte keinesfalls die typischen Symptome eines Ehemannes, dessen Frau gerade ermordet worden war. »Wir sind alle verschieden«, sagte ich. »Manche können sich mehr beherrschen, andere weniger…« »Danke, aber das meinte ich nicht. Ich denke, es wird Sie interessieren, daß ich … mit so etwas Ähnlichem gerechnet hatte…« Jetzt fiel ich vor Überraschung wirklich fast aus dem Sessel. »Sie wußten, daß man Ihre Frau ermorden würde?!« Er lächelte wieder auf seine typisch alte, typisch undurchdringliche Art. »Genau. Ich wußte, daß man sie früher oder später umbringen würde.« »Mein Gott, und Sie…« »Sie wollen sagen, ich habe nichts unternommen?! Im Gegenteil! Genau deswegen sind wir hierhergezogen.« Irgend etwas schien mir langsam klar zu werden. Warum er sich hier, beim Dreispitzberg, verschanzt hatte. »Mr. Vang Pin«, begann ich und blinzelte zu der Tasse hinüber, in der sich nur noch ein kleiner Schluck Tee befand. »Bevor Sie etwas erzählen … ähm … bedenken Sie es lieber noch einmal. Ich habe kein Recht…« Er machte eine abweisende, ungeduldige Handbewegung. »Ich muß es einfach jemandem erzählen! Und jetzt kann ich es tun! Ich dachte, ich könnte es abwehren, aber ich muß nun erkennen, daß dies ein Irrtum war. Und … irgendwo tief in meinem Inneren wußte ich es bereits im voraus.« Er stand auf, spazierte zu einer Glasvitrine und blickte lange auf den Porzellankrieger. Dann drehte er sich mit einem um Verzeihung 273
bittenden Blick wieder zu mir. »Mr. Lawrence … möchten Sie vielleicht ein Bad nehmen?« Entgeistert schaute ich ihn an. »Wie bitte? Ich meine … jetzt…?« »Sie sehen fürchterlich aus…« Er breitete die Arme aus. »Und stinken auch so…« Eine Viertelstunde später saß ich ihm erneut gegenüber, diesmal wirklich sauber und in einen eleganten Seidenkimono gehüllt. Die MP lag zu meinen Füßen, als ob sie gar nicht zu mir gehören würde. Vang Pin hatte inzwischen neuen Tee zubereiten lassen und ein paar Räucherstäbchen angezündet. Ein angenehmer, betörender Duft erfüllte den Raum. Als ich aus dem Badezimmer trat, überraschten mich die ersten Sonnenstrahlen dieses Tages. Mein Gastgeber lehnte sich zurück und schnupperte vorsichtig in die Luft. Das Ergebnis dürfte ihn zufriedengestellt haben, denn er füllte mir zur Belohnung die Tasse mit Jasmintee. »Wer sind Sie, Mr. Lawrence?« »Ein Biologe. Eigentlich Entomologe.« »Und außerdem?« »Ich war auf dem Weg zum Pandakongreß in Nanking. Aber das habe ich doch bereits erzählt…« »Ja. Das haben Sie erwähnt… Eigentlich würde es mich interessieren, ob es etwas in Ihrer Vergangenheit gibt, das … ähm … das jemandem einen Grund dafür liefern könnte, Sie zu entführen?« Ich dachte eine Weile nach, dabei wußte ich genau, was ich antworten sollte. Oder was ich besser nicht preisgab, daß mich nämlich ein Journalist namens Hardy in die Sache hineingezogen hatte. »Möglich«, gab ich also zu, »obwohl ich es mir nicht vorstellen kann. Denken Sie, die Entführung des Flugzeugs hatte etwas mit meiner Person zu tun?« Er zuckte mit den Schultern und starrte in den sich kringelnden Rauch der Duftstäbchen. 274
»Wer weiß? Aber … wollen Sie nicht fragen, warum mich das alles interessiert?« »Sie wollen wohl erfahren, ob ich etwas mit der Ermordung Ihrer Frau zu tun haben könnte.« »Genau das war mein Ziel. Und? Haben Sie?« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein, meines Wissens nicht. Ich hatte noch nicht einmal von ihr gehört, bevor Sie sie uns vorgestellt haben. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort!« »In Ordnung. Dann hören Sie sich jetzt meine Geschichte an, vielleicht können Sie sich einen Reim darauf machen. Nun, es fing damit an, daß ich vor acht Jahren plötzlich Witwer wurde. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich recht wohlhabend bin … sogar ziemlich wohlhabend. Aber wir hatten niemals Kinder.« »Wo haben Sie damals gelebt, Mr. Vang Pin?« »Wo auch immer mein Geld war. Überall in der Welt. Man muß an so vielen Orten wie möglich seine Finger im Spiel haben. Das ist das Geheimnis des Erfolges, denn so ist die Wahrscheinlichkeit geringer, alles auf einmal zu verlieren.« »Eine alte Weisheit«, nickte ich anerkennend. »Aber, um auf Ihre Frage genauer zu antworten, hauptsächlich in Asien. In Hongkong oder Singapur.« »Und womit haben Sie Ihr Vermögen gemacht, Mr. Vang Pin?« Rote Wellen wanderten über sein Gesicht, und er zog die Augen zu engen Schlitzen zusammen. Es dauerte ein paar Sekunden, dann kehrte der gleichmütige Gesichtsausdruck zurück. »Eine sehr direkte Frage, wie man bei Ihnen sagen würde. Nun, zum Teil geerbt, zum Teil selbst erwirtschaftet.« »Haben Sie sich jemals mit Kunstgegenständen beschäftigt?« Dies war meine zweite, wenn möglich noch direktere Frage. Er fuhr sich über das Gesicht und zuckte schließlich mit den Achseln. »Natürlich. Sie werden kaum einen reichen Chinesen finden, der nicht auf die eine oder andere Weise Geld mit Kunst gemacht hät275
te. Vergessen Sie nicht, vor dem Ende des Kaisertums gab es keine Gesetze zum Schutze der Nationalschätze. Wenn irgendwo etwas ausgegraben wurde, versuchte es jeder zu verkaufen, so gut es irgend ging. Clevere Geschäftsleute erwarben Kunstgegenstände von Bauern und verkauften sie dann mit märchenhaftem Profit weiter.« »Legal?« »Lieber Mr. Lawrence, der Begriff war damals in dieser Region noch unbekannt. Zwischen 1911 und 1947 hatte kein Politiker die Zeit, sich mit Antiquitäten zu beschäftigen. Obwohl … ich glaube nicht, daß das irgend etwas mit dem Tod meiner Frau zu tun haben könnte… Wo war ich stehengeblieben?« »Daß Sie vor acht Jahren Witwer geworden sind.« »Richtig. Genau so war es. Ich verlor meine Frau, Cheng Niang. Möge sie im Boden der Ahnen in Frieden ruhen!« Er nahm ein Räucherstäbchen und winkte damit in Richtung des Hausaltars. Die Luft um mich herum füllte sich mit Sandelholzgeruch, der in meinem Hals kratzte. »Drei Jahre lang war ich alleine, und es hat mir nicht gefallen, Mr. Lawrence. Ich war gewohnt, daß jemand bei mir war … mir Ratschläge gab…« »In finanziellen Angelegenheiten auch?« »Ja, Cheng Niang kannte sich auch darin ziemlich gut aus. Und es gab noch etwas… Lachen Sie mich jetzt dafür nicht aus, aber … wir hatten keine Kinder. Ich habe auch keine Verwandten mehr…« Entgeistert blickte ich ihn an. Er war eher achtzig als siebzig und hoffte trotzdem, in seiner zweiten Ehe etwas mehr Glück bezüglich des Kindersegens zu haben… »Ich beschloß«, fuhr er fort, »noch einmal zu heiraten. Dr. Camus brachte mich mit Paj Miang zusammen.« »Seit wann kennen Sie Dr. Camus?« »Wir waren Partner bei einem Geschäft, dann wurden wir Freunde. Er ist mein Hausarzt, in gewisser Weise immer noch mein Partner und, wie soll ich sagen … mein Gesellschafter in einer Person. Und, ja, ich glaube, uns verbindet auch eine Form von Freundschaft.« 276
»Wie vermögend ist Mr. Camus?« »Das sollten Sie wohl besser ihn selbst fragen. Auf jeden Fall ist er nicht von mir abhängig, wenn Sie das meinen. Er hätte genug Geld, um sich woanders zur Ruhe zu setzen, wenn er sich hier langweilen würde.« »Ich möchte nicht übermäßig neugierig wirken. Dennoch… Wie groß dürfte sein Vermögen wohl sein?« Vang Pin starrte nachdenklich in die Luft und kratzte sich unter dem Kinn. »Ich weiß es nicht, Mr. Lawrence. Ich schätze, es ist eine siebenstellige Summe.« »In Dollar?« »Wohl auch in Pfund.« »Ich verstehe. Also hat Ihnen Dr. Camus jemanden vorgeschlagen. Ihre nächste Frau, Paj Miang…« »Richtig. Er fing an, mir ihre Schönheit, jugendliche Frische und ihre Anmut anzupreisen. Bereits nach den ersten Worten ahnte ich, daß … ähm … jemand das Netz nach mir ausgeworfen hatte.« »Sie meinen, Dr. Camus … hatte sich bereit erklärt, Sie…« »Ich weiß, was Sie meinen, und mir ist es auch eingefallen. Ich nahm zwar nicht an, daß mein Freund so etwas tun könnte, aber dennoch stellte ich in Hongkong zwei Privatdetektive ein, die sich ein wenig umsehen sollten. Dr. Camus weiß bis heute nichts davon. Nun, es stellte sich heraus, daß die verehrten Eltern Paj Miangs mich schon seit langem im Visier hatten. Sie hatten nämlich ihr ganzes Vermögen verspielt. Nichts war übrig geblieben. Sie kamen irgendwie mit dem Doktor in Kontakt, und mein armer, naiver Freund ging ihnen auf den Leim. Sie stellten ihm Paj Miang vor, erzählten wohl, wie schwer es wäre, für ein wohlerzogenes, hübsches junges Mädchen heutzutage einen verläßlichen, wohlhabenden Ehemann zu finden; und Dr. Camus dachte natürlich sofort an mich, ohne auch nur zu ahnen, daß er von Anfang an manipuliert wurde.« »Entschuldigen Sie, ist Dr. Camus verheiratet?« »Ledig.« 277
»Warum hat er dann nicht an sich selbst gedacht? Wieso wollte er Ihnen eine Frau besorgen? Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen, aber… Ihre verstorbene Frau war wunderschön … und er…« Er schluckte und wurde etwas rot. »Dr. Camus interessiert sich nicht für Frauen.« »Sie meinen, er steht eher auf … Männer?« Ein leichtes Lächeln tauchte nun ganz kurz auf. »Er ist nicht homosexuell veranlagt, wenn Sie das meinten. Er lebt einfach nur … für sich allein. Er könnte es sich bestimmt nicht vorstellen, daß jemand einen Einfluß auf sein Leben nimmt … eine Ehefrau zum Beispiel.« »Ich verstehe. Sie hatten also herausgefunden, daß die geldarme Familie ihre Tochter mit Ihnen verheiraten wollte. Oder?« »Genau. Da wußte ich bereits alles über sie.« »Daß sie keinen Cent besaßen?« Er lächelte verschmitzt. »Oh, das war noch das wenigste…« »Wie, das wenigste?« »Meine Detektive hatten auch noch etwas anderes herausbekommen. Etwas, was der gute Dr. Camus nicht einmal ahnen dürfte…« Ich spürte, wie sich wieder einmal eine kalte Hand unter den Kimono schob und meinen Rücken rauf- und runterfuhr. Ich schauderte, obwohl die Sonne immer höher kletterte. Vang Pin schüttete etwas Tee nach, und als ein Diener hervorsprang, um die leere Kanne zu entfernen, schickte er ihn davon. »Meine Leute hatten gute Arbeit geleistet. Eine bessere als Dr. Camus… Obwohl, wer weiß, in den Augen meiner Schwiegereltern war er ja auch erfolgreich. Nun, es stellte sich heraus, daß Paj Miang, das hübsche, wohlerzogene Mädchen einer gutsituierten Familie, seit Jahren die Geliebte eines Gangsterbosses namens Roter Drachen war.« »Und Sie?« versuchte ich sachlich zu bleiben, obwohl ich sicher war, daß man mir meine Aufregung ansehen konnte. »Ich dachte etwas nach. Dann schaute ich mir Paj Miang persönlich 278
an.« »Sie hatten sie noch nicht gesehen?« »Nur auf Fotos. Ich weiß, daß sich dies von einem alten Mann töricht anhören mag, Mr. Lawrence, aber … ich hatte mich in sie verliebt.« Ich nahm mir vor, nicht zu lächeln, und untersuchte daher intensiv meine Fingernägel, unter denen trotz des Bades immer noch Dreck aus dem Sumpf steckte. »Sie meinen, Sie haben so getan, als wüßten Sie von nichts?« »Genau.« »Und Dr. Camus?« »Er war glücklich, gleich zwei gute Taten vollbracht zu haben. Seinem Geschäftspartner und dem guten Freund gleichermaßen geholfen zu haben.« »Wissen Sie, wodurch Paj Miangs Vater pleite gemacht hatte?« Er nickte anerkennend. »Bravo, Mr. Lawrence! Sie verstehen Ihre Sache wirklich gut! Nun, es war zweifelsfrei das Werk des Roten Drachen.« »Warum sollte er das getan haben?« »Aus Rache natürlich. Paj Miang hatte mit ihm Schluß gemacht.« »Wollte sie die Heirat mit Ihnen genauso wie ihre Eltern?« »Unsere Heirat? Sie hatte wohl keine Wahl. Entweder die Armut oder ich.« »Und Sie haben sie geliebt…?« »Natürlich. Das sagte ich doch bereits.« »Entschuldigen Sie … aber … wie stand es mit ihr?« Er lachte trocken, heiser auf. »Ob sie mich geliebt hat? Nein, mit Sicherheit nicht. Vielleicht geachtet wie einen Vater. Ich konnte auch gar nicht erwarten, daß eine junge Schönheit wie sie sich in einen alten Mann wie mich verlieben würde. Nein, mein junger Freund, wie schon seit Jahrhunderten in China, so habe ich dieses Mädchen schlicht und einfach mit meinem Vermögen gekauft. Vielleicht mindert es Ihr Urteil über mich, zu erfahren, daß sie dabei alle nur erdenklichen Freiheiten 279
genoß. Sechs Monate eines jeden Jahres konnte sie verbringen, wo auch immer sie nur wollte.« »Zusammen mit ihrer Schwester?« »Ja. Mit Ho Ling. Sie war die Mitgift von Paj Miang. Meine Schwägerin…« »Das hört sich an, als wäre die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Schwägerin nicht so gut…« »Wie soll ich sagen, Mr. Lawrence… Es stimmt schon, Ho Ling und ich, wir können nicht viel miteinander anfangen. Paj Miang war früher ein anständiges Mädchen. Es war ihre ältere Schwester, die sie in schlechte Kreisen eingeführt hatte. Und diese Beziehung ist seither nicht abgerissen…« »Sie meinen, in diesen sechs Monaten, die Ihre Frau immer fort war…« »Sprechen wir lieber nicht darüber, Mr. Lawrence! Es ist nun sowieso vorbei.« »Ich glaube, zu Anfang des Gesprächs sagten Sie, daß Sie den Tod Ihrer Frau vorausahnten. Daß Sie wußten, er würde sie früher oder später einholen…« »Ja. Mir war klar, daß man sie ermorden würde.« »Aber wer?« »Der Rote Drachen natürlich.« »Und weshalb?« »Was heißt hier, weshalb? Aus Rache natürlich, daß sie ihn verlassen hat. Lange Zeit habe ich mich auf diesen Moment vorbereitet… Dennoch…« Seine Stimme versagte, und ich spürte, daß ich mich besser zurückziehen sollte. Trotzdem wollte ich die Gelegenheit ausnutzen, ungestört – vielleicht zum letzten Mal – mit ihm reden zu können. »Nur noch ein, zwei kurze Fragen, bitte. Warum haben Sie sich so von der Welt zurückgezogen? War es wegen Paj Miang?« »Ausschließlich wegen ihr.« »Woher wußten Sie denn überhaupt von diesem Landsitz hier, in Laos, in der Nähe der chinesischen Grenze?« 280
»Warten Sie mal…«, meinte er nachdenklich. »Ich glaube, die Idee hatte Ho Ling, meine Schwägerin. Sie und meine Frau haben den Kauf abgewickelt. Ganz im geheimen, damit der Rote Drachen keinen Wind von der Sache bekam. Natürlich wußte ich in den Tiefen meiner Seele, daß es nichts nützen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er uns finden würde.« »Wissen Sie, wem Ihr Landsitz vor Ihnen gehört hat?« »Ich habe keine Ahnung. Aber er gehört nicht mir…« »Nein?!« fragte ich überrascht. »Es war mein Geschenk an die Braut … an meine geliebte Paj Miang.« Er schob sich in seinem Sessel hin und her. Er blies das Räucherstäbchen aus und blickte mich mit unverhohlener Ungeduld an. »Gibt es noch etwas, Mr. Lawrence?« »Ich würde gerne noch Ihre Meinung über die Tonarmee hören.« Er legte das Duftstäbchen auf den Tisch und blickte den letzten Rauchfetzen hinterher. »Was wollen Sie wissen?« »Alles! Alles, was Sie darüber wissen!« Er lächelte, diesmal sah es wieder alt und etwas spöttisch aus. »Ich fürchte, da haben Sie sich den Falschen ausgesucht, Mr. Lawrence! Fast mein ganzes Leben habe ich außerhalb Chinas verbracht, getrennt von der chinesischen Kultur. Bei anderen würden Sie da wohl mehr Glück haben.« »Mir reicht es, zu erfahren, was Sie wissen…« »Nun, wenn Sie darauf bestehen… Obwohl ich nicht verstehe, wieso gerade ich Sie aufklären soll… Wie Sie sicherlich schon vernommen haben werden, ließ Kaiser Huan-Ti eine Armee aus Tonsoldaten herstellen und versteckte sie unter der Erde. Angeblich liegt er ebenfalls dort begraben.« »Wissen Sie vielleicht, wo dieses Grab ist?« »Lieber Mr. Lawrence, selbst wenn ich es wüßte, würde es mich nicht interessieren. Ich bin Händler, kein Archäologe.« 281
»Haben Sie auch von der Legende des Dreispitzberges gehört?« »Habe ich.« »Und?« »Ich kann mich nur wiederholen. Und wenn Sie darauf anspielen wollen, daß meine Nachbarn nach den Tonsoldaten graben, so ist das ihr Problem! Ich habe Ihnen ja erzählt, daß dieser Schwarze Prinz sogar auf mein Gebiet herüberkommt. Mich interessiert es einfach nicht.« »Kennen Sie den Fluch des Huan-Ti?« »Was meinen Sie damit?« »Daß der Kaiser angeblich alle mit einem Fluch belegt hat, die sein Grab zu Gesicht bekommen.« Es stand auf und ging von einer Ecke zur anderen. »Konkret, in der Form, nicht. Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich könnte mir vorstellen, daß es solche Flüche überall gibt.« »Nun, Mr. Vang Pin, mehr Fragen habe ich auch gar nicht. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid auszusprechen, und … wir werden alles tun, um Ihnen so schnell wie möglich aus den Augen zu verschwinden. Ich glaube, der Zeitpunkt unseres unfreiwilligen Besuches kam gänzlich unpassend… Dann auch noch diese Vorfälle… Ich nehme an, Sie werden die Behörden bald informieren?« Er blieb stehen, dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich werde niemanden informieren. Was passiert ist, war ein Unfall. Es ist meine Sache, und niemand sonst hat damit zu tun. Ganz zu schweigen davon, daß die Polizei… Ach was! Täglich verschwinden ganze Dörfer an der Grenze. Was zählt da schon ein einzelner Mensch? Als ich Paj Miang zur Frau nahm, war mir alles recht. Ich nahm sie so, wie sie war, mitsamt ihrer Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukunft. Ich wußte, daß ich sie irgendwann nicht mehr würde schützen können. Mir war klar, daß der Rote Drachen sie töten würde, wenn er sie entdeckte. Nun ist es passiert, der Fall ist abgeschlossen. Sie können gehen und vergessen sicher bald schon sowohl Paj Miang als auch mich…« 282
»Sofern wir gehen«, sagte ich zweideutig. Mißtrauisch blickte er mich an. »Wie bitte?« »Man hat das Flugzeug verschwinden lassen. Es wurde auseinandergenommen und auf Elefanten abtransportiert. Die Reste liegen in einem Sumpf, hier in der Nähe.« Langsam sank er in seinen Sessel zurück und blickte mich an, als würde er einen Geist sehen. »Was sagen Sie da?« Entsprechend detailliert berichtete ich ihm von meinen Erlebnissen der vergangenen Nacht. Von dem verschwundenen Flugzeug, den Spuren, die zum Moor führten. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich einen dermaßen verblüfften Chinesen gesehen. »Das ist … einfach unglaublich«, flüsterte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, wer…« »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Das Kloster und der Schwarze Prinz.« »Aber warum hat man die Boeing verschwinden lassen?« »Damit man uns nicht findet. Wenn es keine Maschine gibt, kann uns auch keine Suchmannschaft finden.« »Gleich morgen früh schicke ich einen Mann zum Mekong.« »Es dauert mindestens zwei Wochen, bis er dort ankommt. Wer auch immer das Flugzeug auseinandergenommen hat, er wollte, daß wir uns mindestens zwei Wochen nicht vom Fleck rühren.« »Ich verstehe immer noch nicht, weshalb?!« »Nein?« sagte ich lässig und stand auf. »Dann werde ich es Ihnen erklären. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß die Tonarmee keine Legende, sondern Wirklichkeit ist. Zusammen mit Huan-Tis Grab befindet sie sich hier, in einem der Täler des Dreispitzberges. Außerdem bin ich überzeugt, daß mehrere Leute den genauen Ort kennen, aber schweigen wie ein Stockfisch. Fragen Sie mich nicht, warum, ich habe keine Ahnung. Andere wiederum wollen den archäologischen Schatz erbeuten, dessen Wert in Geld gar nicht zu ermessen ist. Also: Es gibt ein paar, die wissen, wo die Armee ist, aber 283
nicht wollen, daß sie gefunden wird, und dann gibt es ein paar andere, die etwas damit anfangen könnten, aber den genauen Fundort nicht kennen. Das mag jetzt vielleicht alles etwas rätselhaft klingen, aber Sie werden gleich verstehen, worauf ich hinaus will. Nun, diejenigen, die den Schatz heben wollen, haben die anderen mit irgendeinem Trick hierhergelotst und warten auf die beste Gelegenheit, mit deren ungewollter Hilfe die Tonsoldaten aufzufinden. Worauf sie in diesen zwei Wochen warten, entzieht sich im Moment noch meiner Kenntnis. Also, so weit wären wir im Moment.« Vang Pin kratzte sich am Hinterkopf und zog die Augenbrauen zusammen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie mir beibringen, daß in meinem Haus einige von Ihnen einen Kampf um die Tonsoldaten austragen? Daß einige wissen, wo das Grab zu finden ist, und andere wiederum nicht?« »Etwas in der Art, ja.« »Und Sie glauben, daß auch meine Frau…« »Keine Ahnung«, erwiderte ich der Wahrheit entsprechend. »Vielleicht hat auch der Rote Drachen Wind von der Sache bekommen und ist mit in den Ring gestiegen. Oder aber der Tod Ihrer Frau hat mit alldem nichts zu tun…« »Aber das ist doch wirklich zum Verzweifeln!« stöhnte er entrüstet. »Mörder in meinem Haus? Was, wenn sie anfangen, sich gegenseitig umzubringen?« »Das ist schon längst passiert.« »Wie? Was?!« Er sprang auf und breitete die Arme aus. »Was reden Sie da?« »General Villalobos wurde heute nacht ermordet. Er wurde am Torpfosten des Schwarzen Prinzen aufgeknüpft. Das Spiel hat also begonnen… Außerdem wurde er auf dieselbe Art getötet wie Ihre Frau.« »Das … das kann auch ein Zufall sein«, murmelte Vang Pin. »Natürlich«, gab ich zu. »Allerdings sollte es einen schon zum Nachdenken bringen, wenn kurz hintereinander zwei Menschen ermordet 284
werden, beinahe am selben Ort und mit derselben Methode…« »Trotzdem könnte es Zufall sein«, brummte er. »Von mir aus«, meinte ich. »Allerdings…« »Allerdings was?« »Beide Seile waren mit demselben Knoten geknüpft. Ein schwer zu bindender Seemannsknoten, der hauptsächlich bei den Piraten der malaiischen Gewässer gebräuchlich ist. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß zwei, einander möglicherweise sogar unbekannte Mörder gleichzeitig, am selben Ort und auf die selbe Art zuschlagen…« »Mein Gott!« stöhnte Vang Pin und lehnte sich an eine Vitrine mit Elfenbeinschnitzereien. »Mein Gott! Was soll das alles nur bedeuten?!« »Wohl die Tatsache, Mr. Vang Pin, daß entweder auch General Villalobos von dem Roten Drachen ermordet wurde, oder aber Ihre Frau ebenfalls nicht.« »Das ist unmöglich! Unvorstellbar! Wer sonst…?« »Das werde ich versuchen herauszufinden. Noch einmal, danke für das Gespräch!« Ich verbeugte mich und verließ das Zimmer. Als ich noch einmal zurückblickte, sah ich einen über die Räucherstäbchen zusammengesunkenen Vang Pin, der mindestens zehn Jahre gealtert war.
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al flog mir um den Hals, als ich die Tür öffnete. »Um Himmels willen, Leslie! Endlich bist du da! Ich hab' mich die ganze Zeit über nicht einmal vor die Tür getraut! Und dieses zerbrochene Fenster! Ich hatte solche Angst, es könnte jemand rein285
klettern!« Ich warf die MP auf das Bett und setzte mich daneben. »Was ist mit den anderen?« »Manchmal habe ich draußen Schritte gehört, aber angeklopft hat niemand.« Ich blickte vor mich hin und wußte überhaupt nicht, was ich tun sollte. Villalobos war tot, Leichenfresser und Hardy gefangen. Und wenn sich an der Situation vorerst nichts änderte, waren sie bis heute abend erstmal in Sicherheit. Und wenn sich nun doch etwas an ihr änderte? Ich begrub mein Gesicht in den Händen. Mein Gott, was sollte ich bloß unternehmen? Ich hatte vieles enträtselt, seitdem wir auf der taschentuchgroßen Piste gelandet waren. Ich wußte oder ahnte bereits sehr viel, aber es reichte noch nicht aus. Eines war sicher: Wir waren alle zum Tode verurteilt worden. Wenn meine Theorie stimmte, durften sie keinen Zeugen hinterlassen. Falls eintrat, was ich befürchtete, würden die drei Bergkuppen bald mit Leichen übersät sein. In Gedanken ging ich noch einmal die Liste der übriggebliebenen Flugpassagiere durch. Mal saß neben mir, auf sie konnte ich mich hundertprozentig verlassen. Genauso, wie auf Leichenfresser und Hardy, aber die beiden… Vielleicht sollte ich sie aus der Gefangenschaft befreien… Der Gedanke hatte durchaus etwas für sich, aber genauso hoch waren auch die damit verbundenen Risiken. Wenn man mich auch noch erwischte, würde hier keiner mehr lebend herauskommen. Zu viele Meos waren im Dschungel unterwegs, zu viele von ihnen bewachten die Pagode. Nur im äußersten Fall durfte ich mich einer solchen Gefahr aussetzen. Wer blieb noch übrig? Wilhelmina von Rottensteiner mit ihrem Schirm oder Großvater auf seiner Krücke? Ein ziemlich abwegiger Gedanke… Genauso, wie die zwei Teenager… Und Judy? Sie konnte ihren Großvater nicht alleine lassen. Was wäre, wenn ich Vang Pin bitten würde, mir seine Meos für 286
einen Sturm auf die Burg des Schwarzen Prinzen auszuleihen? Aber unser Gastgeber würde sich wohl kaum auf einen Krieg einlassen – er hatte sicherlich kein Interesse daran, sich später wegen so etwas vor der Regierung rechtfertigen zu müssen –, der noch dazu ein vollkommen offenes Ende hatte. Der Musiker und der Reporter konnten bereits tot sein, bevor wir sie erreichten, oder so gut versteckt, daß wir sie nie im Leben finden würden. Ich zermarterte mir das Gehirn, denn dies war nicht die einzige Frage, die mich beschäftigte. Es gab da ein paar Dinge, auf die ich mir einfach keinen Reim machen konnte. Als ob mir in der letzten Nacht jemand absichtlich vollkommen irreführende Spuren hinterlassen hätte. Schon allein die Nacht in dem Flugzeug! Vier Stimmen unterhielten sich im Aufzug. Eine Frau sagte, ich wäre ihr potentiell gefährlichster Gegner, weil nur ich sie an ihrem Vorhaben hindern könnte. Und als ich wieder auf der Betonpiste stand, hatte bereits jemand meine Decke mit diesem seltsamen Geschoß aufgespießt, und wenn ich wirklich den Schlaf der Gerechten geschlafen hätte, würde ich mir nun hier wohl kaum noch den Kopf zerbrechen müssen. Dementsprechend bereitete ich mich auf weitere Anschläge vor, doch statt dessen rettete mir jemand im Morast das Leben – und zwar derselbe Typ, der mit einer Garrotte herumrannte und pausenlos die Leute dezimierte. Es kam mir vor, als ob wir Blindekuh spielen würden, wobei ich in der Hauptrolle glänzte. Die anderen standen um mich herum, johlten, pfiffen und lachten und kniffen mir von Zeit zu Zeit in den Hintern. »Was sollen wir bloß tun, Leslie?« fragte Mal zitternd und schmiegte sich an mich. »Wäre es nicht besser, von hier zu verschwinden?« Ich schaute auf die Uhr. Bald konnten wir frühstücken. Sofern der Tod der Frau des Hauses die Gemüter nicht so sehr aufgebracht hatte, daß man uns schlicht und einfach vergaß. Ich umarmte sie und zog sie dicht an mich. »Mal … ich brauche deine Hilfe!« 287
Sie schenkte mir einen flüchtigen Kuß. »Du weißt, daß ich alles tue, was du verlangst.« »Ich möchte Wimmer erwischen!« Sie zog den Arm weg und sah mich erschrocken an. »Was?! Wimmer? Meinst du etwa, er…« »Ich hab' nichts dergleichen gesagt, Mal. Ich will einfach nur mit ihm reden.« »Leslie, bitte… Bitte sag mir alles! Ich halte das nicht mehr aus! Diese Unsicherheit! Siehst du denn nicht, daß wir alle der Reihe nach umgebracht werden?! Ich hab' einmal ein Buch gelesen, über ein Schiff, auf dem ein Verrückter sein Unwesen trieb. Als sie im Hafen ankamen, war nur noch er am Leben. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber er spazierte einfach in der Kapitänsuniform vom Schiff. Erst nach zwei Tagen fiel jemandem die Stille auf, und als die Behörden an Bord gingen, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. Ich … ich hab' das nur erzählt, weil … ich weiß, jeder Vergleich mit unserer Situation hinkt ein wenig, aber… Ich könnte schwören, daß wir in derselben Lage stecken. Jemand will uns alle umbringen!« Ich zögerte einen Moment, ob ich ihr alles sagen durfte, was in dieser Nacht passiert war. Dann mußte ich mir eingestehen, daß sie ein Recht darauf hatte. Ich streichelte ihr über die Haare und erzählte alles von dem Moment an, als ich um Mitternacht das Zimmer verlassen hatte. Auch die seltsame Stimme, die mir den Ort der Tonarmee verriet, ließ ich nicht aus. Sie hörte mir mit offenem Mund zu. Als ich fertig war, fiel sie wortlos in die Kissen zurück. Ich trat zum Wasserhahn und preßte aus ihm einen Schluck voll Wasser heraus. Als ich mich umdrehte, stockte mir der Atem. Mal hielt ihren Revolver in der Hand, sie kontrollierte gerade das Magazin. Ihr Gesicht war hart und unbeweglich, wie Granit. So hatte ich sie bisher nur einmal gesehen. »Mal…« Mit kühlem Lächeln blickte sie zu mir herüber. 288
»Ja, Liebster?« »Was ist mit dir geschehen…?« Sie hielt den Colt ins Licht und blickte durch den Lauf. Dann nickte sie, ließ das Magazin einschnappen und steckte die Waffe in ihren Kimono. »Was soll geschehen sein?« Sowohl Blick als auch Stimme waren hart und eiskalt, so kalt, wie ich es mir zuvor nicht hätte träumen lassen. »Ich hab' einfach nur gemerkt, wie dumm ich war… Eine dumme Pute! Mir ist klar geworden, daß ich um mein Leben kämpfen muß… Nun, ich werde kämpfen! Und wehe dem, der sich mir in den Weg stellt!« Ein wenig war ich schon erleichtert, daß ich mir nun nicht mehr so viel Sorgen um sie zu machen brauchte, aber ehrlich gesagt stimmte mich ihre Metamorphose auch ein wenig unzufrieden. Ich mochte eher Frauen, die ein klein wenig weiblicher waren als der Typ, den sie im Moment präsentierte. »In Ordnung, Mal«, sagte ich und klopfte ihr auf die Schulter. »Danke. Wir müssen uns jetzt beeilen. Wenn du natürlich vorher erst wissen willst, was ich mit Wimmer vorhabe…« Sie sprang auf und stellte sich ganz dicht vor mich. »Nein, das will ich nicht. Ich vertraue dir vollkommen, Leslie! Ich werde alles tun, was du verlangst, und zwar ohne nach dem Grund zu fragen. Du wirst es mir schon erklären, wenn wir aus dieser Hölle wieder raus sind.« »Und wir werden herauskommen, darauf kannst du Gift nehmen!« »Gut, Liebster. Alles in Ordnung. Was soll ich tun?« »Bring Wimmer irgendwie in den Wald.« »Wohin?« »Weißt du, wo die Maschine stand?« »Ich glaube, ja.« »Gut. Ich werde irgendwo unterwegs warten. Und sei nicht überrascht, wenn ich mir den Kerl schnappe! Glaubst du, du kannst es schaffen?« Sie blickte mich an, und für einen Moment wurden ihre Züge wie289
der etwas weicher. »Das überlaß nur mir, Leslie. Haben wir noch etwas Zeit?« »Wieviel denn?« »Das hängt auch von dir ab.« »Wie meinst du das?« Sie ließ ihren Kimono herunterrutschen und warf sich aufs Bett. »So!« Ich stieß einen Seufzer aus, wagte es aber nicht, auf meine Uhr zu schauen. Sie klopfte erst eine gute halbe Stunde später an Wimmers Tür.
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I
ch versuchte, so zu verschwinden, daß mich möglichst niemand dabei entdeckte. Die Bediensteten rannten herum oder beflüsterten in Gruppen unter den Bäumen heftig die Geschehnisse der Nacht. Ich war furchtbar hungrig, aber im Moment konnte ich nichts dagegen tun. Es war äußerst wichtig, Wimmer noch rechtzeitig zu erwischen. Ich wartete bereits eine halbe Stunde in meinem behelfsmäßigen Versteck, als sie endlich auftauchten. Mal erklärte dem Mann mit heftigen Gesten etwas bestimmt furchtbar Wichtiges. Wimmer blieb manchmal stehen und schaute sich mißtrauisch um. Ich sah ihm an, daß er der Pilotin nur sehr ungern folgte. Ich wartete, bis sie auf meiner Höhe waren, trat aus den Büschen und richtete die Maschinenpistole auf den Navysoldaten. »Guten Morgen, Wimmer!« Er blickte mich erschrocken an, griff dann nach seiner Mütze und schleuderte sie theatralisch zu Boden. Sein glattes Kindsgesicht verzog sich zu der Maske eines Betrogenen. 290
»Verdammt! Du hast mich reingelegt, du Miststück!« Damit trat er in ihre Richtung, traf aber zum Glück niemanden. Ich stellte mich neben ihn und steckte ihm den Lauf zwischen die Rippen. »Regen Sie sich ab, Wimmer! Sie sitzen nun in meiner Falle, und es wäre besser, wenn Sie sich etwas anständiger benehmen würden!« Mal grinste ihm ins Gesicht und umarmte mich. Der Kampftaucher stand kurz davor, zu heulen. »Eine verdammte Hure und ihr Zuhälter!« »Noch so ein Wort, und ich mache ein Sieb aus dir! Ist das klar?! Du hast es hier mit einer Dame zu tun, verstanden?!« Trotz seiner mißlichen Lage verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Ach was? Eine Dame als Terroristin?« Ich hielt es für besser, ihn hart ranzunehmen. Ich brauchte ihn einfach, war auf seine Hilfe angewiesen. Allerdings wußte ich auch, daß Navysoldaten ihre Treue nicht so einfach an jeden verschenken. »Ich brauche Ihre Hilfe, Wimmer!« »Inwiefern?« »Ich will ein paar Leute erwischen.« »Ach, wirklich?« »Ach, wirklich!« Ich gab Mal einen Wink, etwas zurückzutreten, entfernte mich auch selbst von ihm, hielt die MP aber immer noch auf ihn gerichtet. »Also?« »Was also?« »Werden Sie mir helfen?« Ich sah ihm an, daß er sich den Kopf zerbrach. Und mir war auch klar, worüber. Ich mußte vorsichtig sein, denn wenn er sich in die Büsche schlug, konnte niemand sagen, wann ich ihn wiedersehen würde. Er nickte. Allzu schnell und allzu großzügig. »Ich bin bereit. Natürlich nur, wenn Sie mir genau sagen können, worin diese Hilfe besteht. Ich als Soldat der US Navy könnte mit 291
meinem Schwur in Gewissenskonflikt geraten, wenn…« Es war wirklich bemitleidenswert, wie er mit dem heruntergeleierten Text versuchte, meine Wachsamkeit einzulullen. Dabei kam er beständig näher, breitete langsam die Arme aus und war bald auf zwei Schritte herangekommen. Ich beobachtete jede seiner Regungen genauestens, da ich mir nicht sicher sein konnte, ob er außer seinem Messer nicht doch noch irgendeine andere Waffe bei sich führte. Und er redete immer noch. Ich hätte wetten können, daß er gar nicht wußte, was genau er da von sich gab. Er sprach einfach nur monoton weiter, wie ein leckgeschlagener Sack voller überflüssiger Weisheiten. Er warf sich genau in dem Moment auf mich, in dem ich es erwartet hatte. In der Mitte eines längeren Satzes; wahrscheinlich hatte man es ihnen so beigebracht. Ich muß sagen, er machte es wirklich gut. Wie der Blitz tauchte er unter, stützte sich mit einer Hand am Boden ab und versuchte mit der anderen, den Lauf meiner Waffe nach oben zu schlagen, damit die Salve in die Luft ging. Ich konnte nicht wissen, welche weiteren Griffe man ihm eingebleut hatte, aber ich nahm mir vor, ihn ein wenig zu überraschen. Erst einmal ließ ich ihn mit meiner Waffe gewähren. Sollte er sie von mir aus auf den Himmel richten. Ich hatte sowieso nicht vorgehabt, herumzuschießen. Dafür fegte ich aber mit meinem Bein seine andere Hand weg, wodurch er, noch bevor er die MP erreicht hätte, auf die Nase fiel. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihm mit dem Schaft der Maschinenpistole eins überzubraten, aber … wozu hätte ich sowas tun sollen? Kampftaucher brauchen auch mal ein Erfolgserlebnis. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er mich stolpern sah. Er stemmte sich hoch – ziemlich langsam übrigens – und warf sich in meine Richtung. Dabei schnappte er sich den Lauf der Waffe und wollte sie mir entreißen. Er erwürgte den Lauf der armen MP beinahe, und ich hätte nur abzudrücken brauchen, um ihn loszuwer292
den. Als er immer heftiger wurde, befreite ich mich aus dem Riemen, zog kurz an der MP, und als er daraufhin noch kraftvoller zerrte, ließ ich plötzlich los. Der Navysoldat fiel hin, bereits zum zweiten Mal innerhalb einer Minute, sprang dann wie ein Gummiball auf und richtete die Maschinenpistole grinsend auf mich. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten, Schwachkopf«, meinte er überglücklich und wischte sich die blutige Nase ab. »Du wolltest mich übers Ohr hauen? Als mir diese dumme Pute ihre Geschichte erzählte, wußte ich sofort, worum es geht… Ich wollte nur zeigen, daß…« Ich hatte mich wohl ein wenig bewegt, denn seine Stimme wurde plötzlich einen Ton höher. »He, he, Kleiner! Nicht bewegen, sonst brenne ich dir ein Loch in den Pelz! Und jetzt, rede!« Er drehte sich ein wenig zu Mal um und gab ihr mit dem Kopf einen Wink. »Stell dich neben ihn, du Hure!« Mal zuckte zusammen und ich wohl auch ein wenig, denn er lachte heiser, aber vergnügt auf. »Was denn, du Miststück? Gefällt dir meine Ausdrucksweise nicht? Dabei bist du wirklich nichts weiter, als eine dreckige Hure!« Es machte ihm sichtlich Spaß, die schmutzigen Wörter auszusprechen. Ehrlich gesagt, konnte ich seine Gefühle nachvollziehen. Letzten Endes war er davon überzeugt, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Trotzdem hörte ich etwas Unsicherheit aus seiner Stimme heraus. Er zeigte es zwar nicht, aber sicherlich dachte er die ganze Zeit über angestrengt darüber nach, was zum Teufel er nun mit uns anstellen sollte. In Vang Pins Haus zurückbringen? Oder sich gemeinsam mit uns ins nächste Abenteuer stürzen? Ich konnte mich gut in seine Lage versetzen. Seine ganze Ausbildung zielte darauf, in ihm das Bewußtsein der Überlegenheit der Amerikaner, insbesondere die physische und psychische Vorherrschaft des amerikanischen Navysoldaten zu festigen. Doch jetzt, ganz al293
lein zwischen all den minderwertigen Individuen, hatte sich die Sache auch rein optisch verändert. Folglich war er ratlos. Ich tat einen Schritt nach vorne und kümmerte mich dabei nicht um die erboste Grimasse und den zuckenden Finger am Abzug. »Hören Sie mal, Wimmer«, fing ich an. »Ich habe bereits erwähnt, daß ich Hilfe brauche. Ich bin auch nicht aus freien Stücken hier, genauso wie die Dame, die Sie auf unerfreuliche Art ständig beschimpfen. Ich bin mir übrigens sicher, daß sie sich dafür noch rächen wird…« Er bückte sich, wobei er uns für keine Sekunde aus den Augen und dem Schußwinkel ließ, und nahm seine zu Boden gefallene Mütze auf. Dann pustete er ein paar Staubkörnchen fort und setzte sie auf. »Da kann ich ja nur lachen«, sagte er mit fester Stimme, als ob ihm seine Kopfbedeckung neuen Mut eingeflößt hätte. »Am liebsten würde ich euch umbringen!« »Und was hält Sie ab?« wurde ich neugierig. »Ich will mir die Finger nicht mit eurem Blut schmutzig machen«, meinte er phlegmatisch, als wäre es ein Text aus einem billigen Film. »Ich werde euch nackt hierlassen, nehme die Sachen mit und gehe zum…« Leider beendete er den Satz vorzeitig und schrie uns dann an: »Ausziehen!« Dann zwinkerte er Mal zu. Anscheinend wurde er nun etwas vorlaut. Sie drehte sich nervös zu mir um, aber ich nickte kaum wahrnehmbar und lächelte ihr ermutigend zu. Malgorzata stieg aus ihrem Kimono und ließ ihn zu Boden gleiten. Die handflächengroßen Teile, die wohl die Unterwäsche symbolisierten, waren eher dazu gedacht, noch mehr Aufmerksamkeit auf die zu verhüllenden Körperpartien zu lenken. Wimmer schluckte, seine Augen weiteten sich. »Weiter!« Mal blickte erneut zu mir rüber. Diesmal schüttelte ich den Kopf. »Weiter!« »Wimmer…« 294
»Du auch, du Dreckskerl!« »Ich möchte Sie auf etwas aufmerksam machen…« Meine Rolle wollte ich so gut wie möglich spielen. Ich konnte ihn nur dann fertigmachen, wenn er sich hundertprozentig auf seinen Sieg verließ. »Ausziehen, Mann! Vergeude nicht meine Zeit!« Ungeachtet der Maschinenpistole redete ich weiter. »Die Show ist vorbei, Wimmer. Wie hat Ihnen die kleine Striptease-Einlage gefallen?« »Schnauze! Zieh endlich deine Sachen aus, oder ich…« »Wissen Sie, warum ich Ihnen diese kleine Vorstellung organisiert habe?« »Klappe halten!« »Ich möchte, daß das letzte Bild, das Sie von dieser Welt mit in den Tod nehmen, eine wunderhübsche, nackte Frau ist. Ich fürchte, Ihre Augen werden demnächst für eine ziemlich lange Zeit geschlossen bleiben, Wimmer. Unter der Erde werden Sie wohl kaum die Gelegenheit bekommen, solch einen hübschen Anblick zu genießen.« »Willst du mir etwa drohen, du Wurm?!« »Ganz im Gegenteil. Ich möchte nur Ihre Aufmerksamkeit auf ein paar Lücken in Ihrer Ausbildung lenken.« Ich hatte ihn anscheinend so sehr überrascht, daß er sich auf einen Plausch einließ. »Was quasselst du dir zusammen?« »Oh, ich war nur so frei und habe erwähnt – möglicherweise etwas enigmatisch –, daß Sie etwas vergessen haben, Wimmer…« Der Kampftaucher grinste breit. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, was? Mit so einer dünnen Geschichte kommst du bei mir trotz der geschwollenen Sprache nicht durch, Freundchen. Los, ausziehen! Sonst schieße ich Ihnen ins Knie!« »Das dürfte nicht so einfach werden.« »Ach, und warum?« 295
»Wenn Sie mir nicht ständig ins Wort fallen würden, hätte ich es Ihnen eben bereits erklärt. Ich wollte Ihnen mitteilen, daß Ihr Training einige Lücken aufweist. Hat man Ihnen denn nie beigebracht, was man als erstes tun soll, wenn man einen Gegner scheinbar kampfunfähig gemacht und seine Waffe entwendet hat…?« »Na was denn, Klugscheißer?« »Nachschauen, ob seine Waffe auch geladen ist. Ohne Patronen kann man zwar herumfuchteln, aber Sie werden danach wenig gute Karten auf den Tisch legen können.« Mal grinste in ihre vorgehaltenen Hände, und Wimmer wurde kreidebleich, als ob man ihn frisch getüncht hätte. Mit nervösem Zucken stellte er die Waffe zuerst auf Dauer-, dann auf Einzelfeuer. Außer ein paar metallischen Klicklauten konnte er ihr aber nichts entlocken. Mit ernstem Gesicht sah ich ihm in die Augen. »Darf sich die Dame jetzt wieder anziehen?« Er warf die MP fort und sich selbst auf mich. Natürlich war es nicht weiter schwer, ihn zu stoppen. Es kümmerte mich auch nicht, daß das Messer in seiner Rechten aufblitzte. Ich ließ ihn näherkommen, und als er direkt vor meiner Nase auftauchte, trat ich elegant zur Seite und schlug ihm ins Gesicht. Mit einem heftigen Aufschrei flog er zwischen die Palmen. Mal stieg wieder in ihren Kimono und band gerade den Gürtel zu, als er wieder aus dem Unterholz auftauchte. Das Messer hatte er noch bei sich, aber die Mütze war ihm wieder irgendwie abhanden gekommen. Und mir schien auch, daß er etwas Ernsteres abbekommen haben dürfte, denn seine Bewegungen waren bei weitem nicht mehr so flink wie vorher. Doch auch der Schmerz konnte ihn nicht davon abhalten, wie ein drittklassiger Gangster mit dem Messer vor meinem Gesicht kreisend näherzukommen. Wenn ich ein Amateur gewesen wäre und nur auf die Messerspitze geachtet hätte, wäre ich wohl sicher sehr beeindruckt gewesen. So aber wußte ich genau, auf was ich zu achten hatte, und sah jede Bewegung genauestens voraus. 296
Nur die von Mal nicht. Sie nahm blitzschnell wieder den Gürtel ab, formte eine Schlinge und warf sie ihm um den Hals. Der Navysoldat knickte um, ließ das Messer fallen und landete auf den Knien. Die Pilotin trat zu ihm, wickelte den Strang noch einmal um die Faust, damit er fester saß, und gab Wimmer dann ohne Umschweife eine gewaltige Ohrfeige. Der Kopf des Kampftauchers schoß nach hinten, Blut tropfte aus seiner Nase. Mal nahm mit bemerkenswerter Ruhe den Gürtel wieder ab und band ihn sich um die Taille. Ich blickte zu Boden und spürte meine eigenen Schweißtropfen auf der Schläfe. Und wagte es nicht, irgend etwas zu fragen.
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er Navysoldat hockte auf dem Boden und wischte sich die blutige Nase am Ärmel ab. Er stöhnte, sagte aber nichts. »Stehen Sie auf!« Langsam und schwerfällig kam er dem Befehl nach. »Ich hoffe, Sie sehen ein, daß wir die Stärkeren sind.« Er senkte den Kopf und schwieg. »Ich möchte, daß Sie erfahren, daß ich ein Profi bin. Und nicht von gestern. Ich bin mindestens so gut wie Ihre Ausbilder! Diesen ganzen Zirkus habe ich nur veranstaltet, um Ihnen zu zeigen, daß Sie mir nicht das Wasser reichen können. Außerdem wäre auch noch die Dame da… Nun, sehen Sie es ein?« »Was wollen Sie von mir?« krächzte er. »Zuerst einmal Ihre Tasche.« Er blickte auf; seine Augen glühten wutentbrannt. »Ich habe keine Tasche… Woher nehmen Sie diesen Unsinn?« 297
»Ich habe Sie heute nacht bei der Landebahn gesehen.« Sein Blick wurde noch finsterer. »Sie … Sie haben mich gesehen?« »Ja, Sie und die Tasche. Und ich weiß sogar, was in ihr steckt.« »Ich habe keine Tasche.« »Seien Sie kein Dummkopf, Wimmer! Wenn ich wieder im Haus bin, werde ich sowieso Ihr Zimmer durchsuchen!« Irgend etwas blitzte in seinen Augen auf, und es ließ mich sofort meinen ursprünglichen Plan ändern. Es bedeutete wohl, daß ich doch ruhig gehen sollte, finden würde ich sowieso nichts. Seine Beute hatte er anscheinend woanders versteckt. An seiner Stelle hätte ich wohl auch nicht Vang Pins Anwesen gewählt, sondern eine der tausend anderen Möglichkeiten, die es allein in der näheren Umgebung gab. Und daß ich das Objekt der Begierde hier draußen ohne seine Hilfe finden würde, war reichlich unwahrscheinlich. Genauso, daß ich ihn mit netten Worten überzeugen könnte. Ich mußte seinen Willen vollkommen brechen, damit er mit dem Fundort herausrückte. »Ich frage Sie zum letzten Mal, Wimmer: Geben Sie uns Ihre Tasche freiwillig?« »Ich besitze überhaupt gar keine Tasche. Sie müssen sich verguckt haben. Ich war gestern nacht gar nicht da, als das Flugzeug auseinandergenommen w…« Er biß sich schnell auf die Unterlippe und schaute erschrocken auf. »Woher wissen Sie dann, daß die Maschine verschwunden ist?« Ich ging vor ihm in die Hocke und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter. »Jetzt hören Sie mal, Freundchen! Glauben Sie mir doch, daß ich Ihnen nichts Böses tun will! Auch wenn es nicht in ihr Navy-Gehirn reingehen will, Ihr Leben hängt ebenfalls davon ab, ob ich die Tasche bekomme oder nicht! Ich weiß ganz genau, was sie beinhaltet. Schließlich haben Sie mir ja selbst gesagt, wohin Sie ursprünglich unterwegs waren. Also, zum letzten Mal: Sagen Sie mir, wo ich sie 298
finden kann!« Keine Antwort. Ich gab Mal einen Wink. »Gib mir deinen Gürtel!« Sie nahm ihn ab und reichte ihn mir. Ich schnappte mir seine Hände und band sie ihm hinter dem Rücken zusammen. Schön fest, damit es ihm weh tat. Er konnte einem leid tun, aber ich mußte so vorgehen. Es war kein Scherz, als ich gesagt hatte, daß unser aller Leben größtenteils davon abhing, ob ich die Tasche bekam. Ich nahm die MP und füllte aus meiner Tasche bedächtig das Magazin. Dann reichte ich die Waffe meiner Partnerin mit dem Rat, ihn bei dem kleinsten Fluchtversuch abzuknallen. Ich war mir allerdings sicher, daß es nicht soweit kommen würde. Er war sichtlich am Boden zerstört und hatte nichts dergleichen im Sinn. Nach einem Abschiedswink verschwand ich in den Büschen. Bereits nach wenigen Schritten überflutete mich der Dschungel mit voller Wucht. Vögel zwitscherten, Schmetterlinge kreisten um meinen Kopf. Einige Affen spielten mit mir Verstecken, und wenn sie auf einem größeren Ast haltmachten und das Gesicht in den Händen begruben, schienen sie Wimmer nachahmen zu wollen. Ich zog meine Kreise, fand aber nicht, wonach ich suchte. Also erweiterte ich den Radius um zehn Schritte und fing von vorne an. Ich schaute nach links und nach rechts, blieb aber auch diesmal erfolglos. Es stimmte mich etwas mißmutig, daß mein Plan womöglich scheitern könnte. Ich unternahm einen weiteren Versuch, und endlich, nach kurzem Schlendern wurde ich belohnt: Ein etwa anderthalb Meter hoher Ameisenhaufen mit Millionen von sorgsam erbauten Eingängen versperrte mir den Weg. Und wenn es auch keine entsprechend hohe Zahl an Ameisen gab, die sie benutzten, so schätzte ich die Population der kleinen Tierchen doch auf einige Hunderttausende. Ich beugte mich hinab und inspizierte sie etwas genauer. Es war nicht gerade die Rasse, die ich mir gewünscht hätte, aber für mein Vorhaben würden sie schon ausreichen. 299
Ich blickte vor meinen Schuh; ein dicker, schwarzer Käfer schleppte sich dahin. Ich war wohl versehentlich auf ihn getreten, als ich mich der Ameisenkuppe näherte. In Gedanken entschuldigte ich mich bei ihm, bückte mich und plazierte ihn auf einem Blatt auf der Kuppe des kleinen, braunen Berges. Kurze Zeit später war der arme, sowieso schon sterbende Käfer unter Dutzenden von Ameisen begraben. Ich trottete zur Lichtung zurück. Wimmer saß immer noch auf dem Boden, stumm, störrisch und unnachgiebig. Mal blitzte mich mit ihren Augen an, als ob sie mir etwas sagen wollte. Ich kniete mich neben dem Navysoldaten nieder. »Nun, Wimmer?« Während ich fort war, hatte er wohl die Show des unbezwingbaren US-Marinesoldaten einstudiert, denn er zog die Augen zusammen und spuckte mir vor die Füße. »Auch gut«, meinte ich und stand wieder auf. Ich nahm ihn bei seiner Fessel und zog ihn unbarmherzig vom Boden hoch, was er auch sofort mit einem schmerzvollem Aufschrei quittierte. Er taumelte vor mir herum und sammelte erneut Spucke, was ich wiederum meinerseits mit einer Ohrfeige quittierte. Ich gebe zu, es ist nicht sehr fair, einen Mann zu schlagen, dessen Hände man kurz zuvor zusammengebunden hat, aber der Zweck heiligte wohl in diesem Fall die Mittel. Wenn ich mich an die Genfer Konvention hielt, würden wir sicherlich alle draufgehen. Wimmer torkelte zurück, fiel aber nicht hin. Allerdings tränten seine Augen. Ich hielt ihm meinen Daumen unter die Nase. »Sehen Sie den? Noch ein Versuch, Kamel zu spielen, und ich steche ihnen zur Belohnung ein Auge raus!« Ich schubste ihn an der Schulter vor mich hin, in Richtung Dschungel. Die breiten Blätter, die ihm dabei unentwegt entgegenschlugen, brachen wohl sein Schweigegelübde. »Wohin gehen wir?« keuchte er. »In den Wald«, sagte ich. »Wieso, was dachten Sie denn?« »Wozu?« 300
»Ich werde Sie umbringen«, behauptete ich lässig. »Sie hatten Ihre Chance, oder? Jetzt bleibt mir nichts weiter übrig, als Sie zu töten.« »Dann werden Sie die Tasche nie finden!« meinte er weise. »Ich werde sie finden.« »Was? Wie denn?« »Sie werden es mir sagen.« »Wenn Sie mich umbringen?« Der Versuch, mich zu erpressen, war ziemlich naiv aufgebaut. Er zielte darauf hinaus, daß ich nichts erfahren würde, nachdem ich ihn getötet habe. »Sie werden reden«, sagte ich beiläufig. »Noch bevor Sie den letzten Atemzug machen, werden Sie singen, daß es eine Freude sein wird, Ihnen zuzuhören. Sogar Ihre größten Geheimnisse werden aus Ihnen nur so heraussprudeln, bloß um das Leiden zu verkürzen.« Er blieb stehen und starrte mich entsetzt an. »Sie wollen mich foltern, Sie Schwein?!« »Das werden Sie schon noch früh genug erfahren. In Fernost gibt es einige überlieferte Methoden, die ziemlich gut dazu geeignet sind, verschlossene Lippen zu öffnen. Ich hab' mich entschieden, eine davon bei Ihnen auszuprobieren. Ich bin wirklich gespannt, was so ein Marinesoldat aushält, Wimmer! Ich schlage Ihnen sogar eine Wette vor: Bereits nach zehn Minuten werden Sie darum betteln, daß ich Sie erschieße. Oder zu dem Versteck gehe und mir die Tasche hole. Nun? Wieviel setzen Sie dagegen?« Da er sich zu keiner Reaktion hinreißen ließ, schubste ich ihn weiter nach vorne, bis zu dem Ameisenhaufen. Mal folgte uns ohne Kommentar, und als ich sie kurz ansah, entdeckte ich wieder diesen marmorartigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich nicht mochte. Am Ziel angelangt, band ich seine Hände los und befahl ihm, sich an einen Baum zu stellen. Als er sich weigerte, landete meine Faust in seinem Magen. Mal setzte sich auf den Boden und starrte blicklos in die Luft. Als ob es sie überhaupt nicht interessieren würde, was ich da trieb. 301
Zuerst band ich seine Hüfte an den Baum, dann die Füße. Er konnte sich praktisch nicht mehr bewegen, nur sein Kopf zuckte wild hin und her. Seitdem ich gedroht hatte, ihm sein Augenlicht zu nehmen, wagte er es nicht mehr, herumzuspucken. Ich plazierte mich ein paar Schritte von ihm entfernt voll in seinem Blickfeld, beobachtete ihn eine Weile und seufzte dann theatralisch. Mein Blick war erfüllt von unterdrücktem Schmerz und Trauer, als ich anfing, mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihm auf- und abzuspazieren. Ich schüttelte bedauernd den Kopf und kniete mich dann neben den Ameisenhaufen. Die Bewohner der Kuppel arbeiteten fleißig, trugen verschiedene Rohstoffe in den Bau. Jetzt erst schien der Amerikaner zu ahnen, daß es einen Zusammenhang zwischen ihm und den kleinen Tierchen geben könnte. Unruhig beobachtete er jede meiner Bewegungen, aus seinen Augen strahlte immer größeres Entsetzen. Er tat mir leid, aber ich mußte auch den letzten Schritt vollziehen. Ich blickte zu Mal hinüber, die lustlos dem Treiben der Ameisen zuschaute. Wahrscheinlich ahnte sie noch nicht einmal, was ich mit dem armen Wimmer vorhatte. »Mal!« »Ja?« »Magst du Ameisen?« Ein gelber Funke blitzte in ihren Augen auf. Sie erriet wohl, daß ich nun ihre Kooperation brauchte. »Ich hab' nichts gegen sie.« »Und kennst du sie auch ein wenig?« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nur, daß es braune, schwarze und rote gibt. Und die Termiten; die fressen alles auf, was ihnen in den Weg kommt.« Ich deutete auf die kleine Kuppel. »Und die hier?« Sie kam näher, hockte sich neben mich auf den Boden und schaute ganz bedächtig hin. 302
»Sie sind schön groß. Ich glaube sogar, ich habe in meinem Leben noch nie so große Ameisen gesehen…« »Weißt du, wie sie heißen?« »Nicht die Bohne.« »Sie haben auch einen lateinischen Namen, aber der würde dir nichts sagen. In Südostasien nennt man sie schlicht Mörderameisen.« Sie stand auf und fröstelte. »Buh! Ein schrecklicher Name. Und wen ermorden sie?« »Jeden. Hast du noch nie von der Lieblingsfolter der Meos gehört?« »Gott sei Dank nicht!« »Nun, wenn die Meos einen schnappen und ihn vor seinem Tode noch einmal so richtig foltern wollen, verfüttern sie diesen armen Teufel einfach an die Mörderameisen.« »Aber das ist ja schrecklich, Leslie!« »In der Tat, Liebste. Aber manchmal gibt es keine andere Lösung. Nun, wenn sich die Ameisen erst einmal für jemanden interessieren, klettern sie schnell an ihm hoch und fangen an, ihm das Fleisch abzuknabbern. Nach kurzer Zeit verflucht er den Moment, in dem ihn seine Mutter zur Welt gebracht hat. Einmal, vor etlichen Jahren, war ich Zeuge, wie man einen Mann aus Barmherzigkeit auf so einen Ameisenhaufen gebunden hatte.« »Aus Barmherzigkeit?« »Ja, denn wenn man ihn direkt auf den Hügel setzt, beenden die Ameisen die Prozedur ziemlich schnell. Nach einer halben Stunde sind nur noch die weißen Knochen übrig. Jede Schule würde das Skelett ohne weitere Präparation in ihre Lehrmittelsammlung aufnehmen. Kein Plastik ist so perfekt wie echte Knochen…« »Und wenn nicht … aus Barmherzigkeit…?« »Nun, dann binden sie ihr Opfer an einem nahegelegenen Baum fest.« »Und wie finden ihn die Ameisen?« »Da wird etwas nachgeholfen…« »Wie denn?« 303
Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Wimmers Gesicht vor angestrengter Aufmerksamkeit fast zerplatzte. Er lauschte jedem Wort mit erschrockener Miene. »Zum Beispiel mit Honig. Sie lieben einfach Honig! Sie sind ganz verrückt danach. Plündern regelmäßig die Vorräte der Wildbienen.« »Mit Honig? Aber wie?!« »Also paß auf. Die Meos binden ihr Opfer an den Baum. Die Ameisen nehmen das natürlich vorerst gar nicht wahr. So mir nichts, dir nichts greifen sie keinen Menschenriesen an. Vielleicht würden sie es wochenlang nicht versuchen, also hilft man dabei ein wenig nach. Man nimmt etwas Honig und schmiert es dem Typen ins Gesicht. Angeblich haben die Mörderameisen einen erstaunlichen Geruchssinn. Sie riechen den süßen Braten meilenweit gegen den Wind. Und können nicht widerstehen. Genausowenig wie später dem Fleisch…« Ihre Stimme überschlug sich plötzlich, wurde weinerlich. Sie baute sich vor mir auf und faltete die Hände zum Gebet zusammen. »Bitte, Leslie, nein!« Ich zuckte mit den Schultern und schob die MP nach hinten. »Ich muß die Tasche kriegen. Nur das kann unser Leben retten.« »Dann töte ihn anders!« »Ich will ihn ja gar nicht töten, nur das Versteck erfahren! Ich habe ihm oft genug das Angebot gemacht, zu kooperieren. Er wollte aber nicht. Nun, dann werden wir ja jetzt sehen, wie lange er stillhalten kann.« »Das kannst du doch nicht mit ihm machen!« »Wieso nicht? Ich habe Monate unter den Kopfjägern verbracht. Diesen Trick habe ich von ihnen gelernt. Zuerst wurde mir übel, als sie einen Japaner so herrichteten. Dabei sind die bekannt für ihre Verschlossenheit. Der arme Kerl schrie noch, als die Ameisen bereits seine Zunge zerfraßen. Entschuldige… Aber ich konnte in seinen Mund sehen. Der war auch nicht mehr ganz da… Ich weiß, daß das schrecklich für dich sein muß, aber versteh doch, ich habe einfach keine andere Wahl. Wenn ich die Tasche nicht finde, werden wir alle draufgehen. Dieser dumme Kerl versteht nicht, daß ich nicht 304
sein Feind sein will. Ich muß es tun, Mal!« Ich muß schon gestehen, unsere Aufführung war bühnenreif. In jedem Provinznest hätten wir die Herzen in Scharen gebrochen. Mal wendete sich ab, wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge, hielt plötzlich inne und sah mich dann siegessicher an. »Hast du Honig gesagt, Darling?« »Honig«, nickte ich. »Ha! Und wo willst du den herkriegen?« Es war wirklich toll, wie sich die Sache entwickelte. Mal spielte perfekt mit, und Wimmer seufzte hörbar auf, obgleich er wohl ahnte, daß noch nicht alle Gewitterwolken über ihn hinweggezogen waren. Aber das Fehlen des süßen Stoffes schien ihm doch ein wenig Hoffnung zu machen. Die ich sofort wieder zerstörte, als ich in meine Hemdtasche griff und ein kleines Fläschchen hervorholte, das ich in weiser Voraussicht noch vor dem Frühstück aus Vang Pins Küche hatte mitgehen lassen. Ich zeigte es demonstrativ Mal und verkündete stolz: »Hierher, Liebste…« Ich befürchtete manchmal schon, Mal würde ihre Rolle etwas übertreiben, und Wimmer könnte merken, daß wir nur eine Show abziehen. Der Navysoldat war allerdings in einem Zustand, in dem ich ihn wohl auch mit Marsmännchen hätte zu Tode erschrecken können. »Mein Gott, Leslie, was ist das?« »Honig, natürlich. Könntest du mir bitte helfen, Mal?« Sie gab mir keine Antwort, ging zum Rand der kleinen Lichtung und setzte sich wie eine störrische Katze mit dem Rücken zu mir auf den Boden. Dann erst sagte sie, ohne den Kopf zu wenden: »Ich kann es nicht, Leslie! Ich kann das nicht mit ansehen. Jemanden zu töten … gut, das ist was anderes … aber zu foltern…!« »Ich kann doch aber nichts dafür! Ich brauche diese verfluchte Tasche!« Mit dem Mund entkorkte ich das kleine Gefäß, spuckte das dün305
ne Siegelplättchen aus und stellte mich vor dem Marinesoldaten auf. »Tut mir leid, Freundchen«, sagte ich der Wahrheit entsprechend. »Wollen Sie beten?« »Mistkerl!« stöhnte er und versuchte, sein Gesicht abzuwenden. »Verdammtes, sadistisches Schwein!« Ich bückte mich und krempelte sein Hosenbeine bis zu den Knien hoch. Er sträubte sich, aber die Fesseln hielten. »Ich muß jetzt Ihre Beine eincremen«, berichtete ich nüchtern. »Wenn ich dazu Ihr Gesicht nehmen würde, müßten Sie sterben, bevor ich ein Wort aus Ihnen herauskriege. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, das ist kein Haß oder Vergeltung meinerseits. Von mir aus könnten Sie hundert Jahre alt werden. Mich interessiert nur Ihre Tasche!« Er wollte etwas sagen, schluckte es dann aber hinunter und bewegte nur seinen Mund, als ob er beten würde. Er tat mir plötzlich furchtbar leid, und beinahe hätte ich ihn davonziehen lassen. Mal blickte mich an, in ihren Augen ein stummes Flehen. Und dann dachte ich daran, daß ich mit meinem weichen Herz möglicherweise das Todesurteil für uns alle unterschreiben würde. Nicht nur unseres, auch das von Wimmer. Also biß ich die Zähne zusammen und wiederholte ständig für mich selbst, daß ich den Koffer haben muß. Unbedingt den Koffer! Was immer es auch kosten möge. Mit einem tiefen Seufzer griff ich in den Honig. Angenehmer Blumenduft stieg in meine Nase. In Wimmers wohl auch, denn er öffnete schnell seine Augen wieder und blickte auf mich herunter. »Verdammtes Schwein!« Ich schmierte ihm mit zwei Fingern eine Portion auf das linke Bein, dann auf das rechte. Als ich fertig war, betrachtete ich zufrieden mein Werk. Jetzt fehlten nur noch die Ameisen, um das Bild zu komplettieren. Die Ameisen aber dachten nicht im Traum daran, Notiz von dem armen Amerikaner zu nehmen. Erschrocken fiel mir ein, was ich 306
wohl tun würde, wenn diese friedlichen Tierchen auf den Honig ganz einfach verzichten würden?! Denn, das muß ich wohl nicht erwähnen, es waren natürlich keine Mörderameisen, sondern schlicht und einfach eine große, aber friedliche Gattung, die höchstens ein-zwei Käfer überwältigen konnte, und das auch nur in Hundertscharen … aber für einen Menschen bedeuteten sie in etwa dieselbe Gefahr wie ein Osterhase. Sie kamen und gingen und machten stets einen großen Bogen um den Baum, an den ich mein Opferlamm angebunden hatte. Der Navysoldat begutachtete besorgt seine vollgeschmierten Beine und spuckte hin und wieder in Richtung einer ihm seiner Meinung nach zu nahe kommenden Ameise. Nach etwa zehn Minuten wurde mir klar, daß ich bis zum Jüngsten Tag warten konnte, bis die Insekten den Kampftaucher angriffen. Zum Glück aber war ich Entomologe, Insektenforscher, und wußte, womit man die Kleinen auf Trab brachte. Ich nahm einen Ast und stocherte wild in einer der kleinen Öffnungen herum. Sofort griffen die Soldaten an. Sie hielten sich am Zweig fest und versuchten zu analysieren, aus welchem Holz der Feind geschnitzt war. Und bissen sichtlich große Stücke aus ihm heraus. Der Gott der Ameisen hatte sich wohl für diesmal mit mir verbündet. Kaum war ich bei Wimmer angekommen, gab es eine Revolte im Bau, er geriet in Wallung, und ganze Wellen von Angriffstruppen folgten den von mir vorsorglich fallengelassenen Ameisenkollegen und Honigtropfen. Falls auch das nicht helfen sollte, war ich gezwungen, den Marinesoldaten loszubinden und die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln. Als ich Wimmer erreichte, waren nur noch zwei oder drei Ameisen auf dem Zweig. Vorsichtig schnipste ich sie auf seinen Fuß, woraufhin sie nach allen Regeln der Kunst ein Vollbad im süßen Naß nahmen. Ich wartete nicht ab, ob sie sich zu Tode freuten, und ging zu Mal rüber. »Wärst du wirklich dazu fähig?« stöhnte sie. Ich zog sie an mich und kitzelte ihre Seite. 307
»Nur wenn ich wüßte, daß ich dich damit retten kann. Übrigens bin ich kein Henker. Wenn er in fünf Minuten nicht redet, binde ich ihn wieder los.« Es sollte keine fünf Minuten dauern. Die aufgebrachten Ameisen brauchten weitaus weniger für die Strecke zwischen der Kuppe und dem Amerikaner. Auf dem Weg umringten sie nervös die entführten und schließlich fallengelassenen Freunde und setzten dann ihren Weg zum Baum fort. Eine Welle von etwa hundert Soldaten erreichte als erstes den Navysoldaten. Ich ließ Mals Hand los und setzte mich für den Fall in Alarmbereitschaft, daß die Sache überhandnahm. Ich hätte es wirklich nicht gerne gehabt, wenn meine Idee allzu gut funktioniert und Wimmers Knochen tatsächlich nur noch als Ausstellungsstücke etwas getaugt hätten. Die Ameisen griffen an. Der Amerikaner schrie bereits wie am Spieß, als lediglich die ersten Grashalme vor seinen Schuhen abknickten. »Verdammt, jetzt sind die Viecher doch tatsächlich da!« rief er und riß mit solcher Kraft an seinen Gurten, daß die paar Affen in der Krone erschrocken zu einem anderen Baum hinübersprangen. »Verdammte Dinger! Mörder! Verfluchte Killer!« Ich kümmerte mich genausowenig um sein Geschrei, wie die Insekten. Das erste Bataillon erreichte seinen Fuß, und daß es für sie kein Ausflug oder ein simples Mittagessen war, zeigte mir bald ein markerschütternder Schrei. »Aah! Mein Gott! Hilfe! Sie beißen! Hilfeee!!!« Mal sprang auf, und wenn ich sie nicht zurückgehalten hätte, wäre sie zu Wimmer gerannt. »Nein, nicht das!« rief sie und wollte sich losmachen. »Mach, was du willst, aber nicht das! Eher…« »Hilfe, ich werde umgebracht! Sie zerfleischen mich…!« Seine Stimme überschlug sich, er fing an zu schluchzen, die Augen traten hervor, und Blut rannte an seinem Kinn hinab, nachdem er sich vor Verzweiflung in die Lippe gebissen hatte. 308
Ich nahm mir vor, bis hundert zu zählen. Wenn er dann immer noch nicht verraten hatte, wo sich seine Tasche befand, mußte ich ihn losmachen und mir etwas anderes einfallen lassen. Was blieb mir sonst übrig? Die ganze Zeit über hielt ich Mals Hand fest umklammert, da sie sich ständig losreißen wollte, um ihn zu befreien. Wimmer schrie, und ehrlich gesagt standen mir bei diesem Schrei die Haare zu Berge. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein mußte, wenn man diese Folter ernsthaft anwendete. Wenn jemand tatsächlich von Termiten aufgefressen wurde… »Lassen Sie mich los!« schrie er. »Lassen Sie mich los, Sie Henker! Machen Sie doch mit der verfluchten Tasche, was Sie wollen! Stecken Sie sie sich von mir aus in den Hintern!« Ich schob das Mädchen beiseite und trat vor. Neue Ameisenbataillone schwollen an, also mußte ich mich beeilen. Wimmers Bein sah aus wie ein riesiger Mohnkuchen, bedeckt mit lauter schwarzen Punkten. »Sagen Sie das noch einmal!« »Was soll ich nochmal sagen, Sie Satan!« schrie er wild. »Binden Sie mich los, verdammt noch mal! Die fressen mich auf, sehen Sie das denn nicht?! Mein Gott, es brennt! Es brennt, es tut so weh … aah!« »Wo ist die Tasche?« »Aah! Aaah!« »Die Tasche?!« »Unter dem großen Stein… Aaaah…« Ich erinnerte mich an den riesigen, runden Felsen in der Nähe von Vang Pins Residenz. Er war mir aufgefallen, weil es aussah, als wäre er geradewegs von einem der drei Bergspitzen heruntergekullert. Mir blieb nicht viel Zeit, denn mehrere Hunderte Insektensöldner waren direkt neben meinen Beinen unterwegs. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sie stehenblieben und die neue Situation analysierten. Man kann nicht sagen, daß sie ihre Entscheidung hi309
nauszögerten. Der größere Teil setzte seinen Weg zum ursprünglichen Ziel, also Wimmer, fort, und ein kleiner Spähtrupp griff meinen Fuß an. Ich machte einen großen Satz, ließ sie dadurch links liegen und machte mich an die Arbeit. Ich halbierte ein herumliegendes Palmenblatt, legte die beiden Kanten übereinander und rasierte mit der so gewonnenen scharfen Fläche Wimmers Beine ab. Als sowohl Honig als auch Ameisen verschwunden waren, merkte ich erst, daß ich wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen war. Seine Haut war mit hart gewordenen Bißstellen übersät, und nach der Häufigkeit dieser Schwellungen zu urteilen mußte er höllische Schmerzen haben. Und Angst, natürlich. Ich löste die Knoten der Fesseln, warf ihn mir über die Schulter und wollte weit wegrennen. Während meiner Flucht merkte ich, wie mir in den Knöchel gebissen wurde. Brennender Schmerz machte sich sofort breit, als ob jemand Glut in meine Schuhe geschmuggelt hätte. Und wenn ich nicht Angst davor gehabt hätte, mich gänzlich lächerlich zu machen, hätte ich sicherlich vor Pein aufgeschrien. Wimmer hatte mehr oder weniger das Bewußtsein verloren, und ich tanzte zwischen all den Ameisen einen hübschen Regentanz in der Mitte der Lichtung. Auch wenn ich im Augenblick noch so lächerlich wirken mochte; gerade mit dem Anschlag auf Wimmers Leben hatte ich das unausgewogene Spiel etwas ausgeglichener gestaltet. Die Ameisen hatten nämlich die Wende in der ganzen Geschichte um Huan-Ti und seine Tonarmee gebracht.
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ein Bein schmerzte genauso wie das meines Opfers. Zum Glück merkte er das nicht. Mal hingegen schon, aber von ihr brauchte ich vorerst kein Mitleid zu erwarten. »Tut es weh?« Ich antwortete auch gar nicht darauf, sondern trottete nur zu dem Amerikaner hinüber. Der kratzte sich mit einem Bein das andere. Ich hatte ihn so an einem Baum angebunden, daß er seine Füße bewegen konnte. Was hätte ich in diesem Moment für etwas kaltes Wasser oder eine kühlende Hautcreme gegeben! Ich konnte unsere Wunden aber nur mit breiten Palmenblättern abdecken und so vor der Sonne schützen. Die Ameisen hatten sich inzwischen beruhigt. Einige Minuten lang hatten sie noch nach ihren verschwundenen Eindringlingen gesucht, sich dann jedoch langsam, aber sicher dem Honig zugewandt. Vorsichtig, um nicht zu ertrinken, umringten sie die für ihre Verhältnisse teichgroßen Tropfen und schlürften die süße Flüssigkeit auf wie durstige Wanderer in der Wüste am Rande einer Oase. Ich händigte Mal meine Maschinenpistole aus und verschwand im Unterholz. Meine Füßen juckten wie wild, und Wimmer tat mir immer mehr leid. Außerdem quälte mich auch noch furchtbarer Durst, und ich war ausgesprochen wütend auf mich selbst, daß ich nicht daran gedacht hatte, wenigstens eine Feldflasche voll Wasser mitzubringen. Allerdings konnte ich auch nicht behaupten, daß mir in Vang Pins ansonsten gastfreundlichem Haus die Feldflaschen ins Gesicht gesprungen wären… Die Sonne strahlt über mir gewaltige Hitzewellen aus, und kurz nachdem ich die beiden allein gelassen hatte, tanzten die ersten violetten Ringe vor meinen Augen. Ich riß mir ein Palmenblatt ab und hielt es mir als Sonnenblende vor die Stirn. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Stein fand. Unweit von 311
ihm wand sich der Pfad der Elefanten durch den Wald, der zum Haus von Vang Pin führte. Auf dem kleinen Felsen spielten einige Affen und machte mit lautem Gekreische unmißverständlich klar, was sie von der Störung hielten. Sie blieben selbst dann noch da, als ich mich gegen den Stein lehnte, um mich auszukeuchen. Sie besprachen mit nervösem Gegackere die Sache. Schließlich kletterte der wohl älteste von ihnen ganz in meine Nähe und bleckte mir die gelblichen Zähne entgegen. Ich ließ sie in Ruhe, obwohl sie langsam wirklich frech wurden. Sie kamen immer näher, und ein junges Weibchen streckte den Arm nach mir aus. Die lilafarbenen Rädchen drehten sich immer noch vor meinen Augen. Ich wischte mir die Stirn ab und zuckte plötzlich zusammen, als die Krallen des Oberaffen über meinen Arm fuhren. Ich schrie auf und schlug mit dem Palmenblatt nach ihnen. Die Paviantruppe kreischte empört auf, machte sich in Richtung der nächsten Baumkrone davon und hörte selbst dort nicht mit dem Schimpfen auf. Ich umrundete den kleinen Felsen, konnte aber nirgends eine Tasche entdecken. Ein zweiter Rundgang brachte mich auch nicht weiter. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß mich Wimmer hereingelegt hatte. Um Himmels willen, was sollte ich denn noch mit ihm anstellen? Mein schön aufgebauter Plan schien wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Wenn ich Wimmers Utensilien nicht fand, war alles vorbei. Allerdings wußte ich auch, daß ich es wohl kaum noch einmal über mich bringen würde, ihn an den Marterpfahl zu binden. Die Affen kreischten weiterhin über meinem Kopf, und plötzlich überkam mich der entsetzliche Gedanke, daß sie die Tasche fortgeschleppt haben könnten. Ich hockte mich hin und untersuchte jeden Zentimeter des Bodens. Was ich fand, bestätigte meine Vorahnung. Das abgeknickte Gras und die in die Erde gepreßten Kiesel zeugten alle von einem schweren Gegenstand, der kurz zuvor noch dort gelegen haben mußte. 312
Wimmer kümmerte sich nicht viel ums Verbergen, er wollte sein Gepäck lediglich nicht mit ins Haus bringen. Er hatte die Tasche einfach an den Felsen gelehnt und vielleicht noch einige Palmenblätter darübergelegt – dies würde die zerkauten Überbleibsel um den Stein herum erklären. Leider konnte ich noch etwas anderes aus den Spuren herauslesen. Zum Beispiel, daß einige Affen die Tasche mit vereinter Kraft irgendwohin geschleppt hatten. Die tiefen Furchen der Fußstapfen und der verstreut herumliegende Affenkot deuteten darauf hin, daß die Paviane schwer zu schleppen gehabt hatten. Die Tiere über mir wurden immer aggressiver. Mehr und mehr Neuankömmlinge schlossen sich dem aufgeregten Geschnatter an und zerrten mit Elan an den Ästen der Bäume. Ich bereute bereits, keine Waffe mitgenommen zu haben. Obwohl Paviane nur selten Menschen angreifen, war es nie ganz ausgeschlossen, und dabei konnte es einem eventuellen Opfer ziemlich schlecht ergehen. In Indien war ich mehrmals dabei gewesen, als man in der Nähe unseres Lagers Leichen von Eingeborenen gefunden hatte, die von einer wilden Horde Paviane zerfleischt worden waren. Mir ging auch durch den Kopf, zu Mal und Wimmer zurückzukehren. Wenn ich die MP in der Hand hielt, gab es keinen Affen auf der Welt, der mir Angst eingejagt hätte, ob allein oder in der Gruppe. Aber… Und genau dieses Aber war es, weswegen ich das Gelände nicht verlassen durfte. Die Affen hatten bereits gemerkt, daß ich auf ihren neuen Schatz aus war, und würden in der Zwischenzeit einen Weg finden, ihn vollends von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Es wurden immer mehr. Inzwischen bleckten mir mindestens fünfzig Gebisse entgegen. Es war wie im Dschungelbuch. Aber so sehr ich mich auch innerlich sträubte, ich mußte ihnen endlich entgegentreten. Noch bevor sie mich hätten einschüchtern können, trat ich zu einem Baum und brach mir einen ansehnlich dicken Ast ab. Ein 313
Messer hatte ich nicht, also dauerte es einige Sekunden, bis ich ihn in eine gefährliche Waffe verwandelt hatte. Die Paviane schauten mir mit Argusaugen zu, und wenn ihnen eine heftige Bewegung zu sehr mißfiel, quittierten sie sie mit entsprechendem Gekeife und Zähneblecken. Ich hob den Knüppel über den Kopf und gab – wie in den guten alten Karatefilmen – einen markerschütternden Schrei zum besten. Dann machte ich einen Satz nach vorne und erschlug einen ahnungslosen Strauch. Laub und Äste wirbelten durcheinander; ich machte noch ein paar selbstbewußte Verrenkungen und schielte dann nach oben. Das Affenpublikum staunte mit offenem Mund und ohne ein Mucks von sich zu geben über meine wirklich nicht alltägliche Vorstellung. Ich hielt den Stock nach vorne, öffnete vorsichtig das Laubwerk und bahnte mir so meinen Weg auf den Spuren der Tasche. Immer mehr Kot ließ erahnen, daß die Fracht für dieses kleinen Kerlchen ungeheuer schwer gewesen sein mußte. Und obwohl ich mich nicht für Tarzan hielt, glaubte ich doch, anhand der hier und da vorkommenden Bluttropfen und Fellstücke erahnen zu können, daß es einen ständigen Streit um die Beute gegeben hatte. Etwa dreihundert Meter von dem Felsen entfernt fand ich Wimmers Tasche. Wenn der Marinesoldat sie als erster entdeckt hätte, wäre sein Aufschrei wohl noch schmerzhafter gewesen als bei der Attacke der Killerameisen. Das so sehr begehrte Stück als Tasche zu bezeichnen wäre eine Beleidigung für jedes Gepäckstück gewesen. Ihr Zustand erinnerte mich an die Maus, die ein Uhu einmal vor meine Augen wiedergekäut und dann ausgespuckt hatte. Der Gedanke, was aus dem Inhalt des Seesackes geworden sein konnte, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Das größere Problem waren allerdings die Affen, die sich auf den Überresten breitmachten: mindestens fünf ausgewachsene Paviane. In angemessener Entfernung blieb ich stehen und dachte angestrengt nach. Einer der Affen sprang ins Gebüsch, doch die anderen vier 314
versuchten, den Stock zu ergattern, als ich ihn in ihre Richtung schwang. Also versuchte ich, sie mit meinem Blick zu verscheuchen, wie ich es von Radsch Kumar Singh gelernt hatte. Er hatte mir damals beigebracht, daß Tiere manchmal vor dem starren Blick eines Menschen zurückschreckten. Leider ist es nicht einfach, mit einem Blick gleichzeitig vier Augenpaare festzunageln. Ich schaute und schaute, und plötzlich wurde mir beinahe schwindelig. Ihre bösartigen, gelben Augen bohrten sich direkt in meine, und wenn jetzt die Tasche bei mir gewesen wäre, hätte ich sie ihnen sicherlich bedingungslos ausgehändigt. Aber sie war bei ihnen, und ich war derjenige, der den Inhalt brauchte. Ich, und die anderen. Die Palmen über mir rauschten, flüsterten miteinander. Die Paviane hatten mich nach allen Regeln der Kunst eingekreist. Angriff soll die beste Verteidigung sein. Also stieß ich wieder meinen Kampfschrei aus und stürmte auf die Vierergruppe zu. Der größte und dickste von ihnen versuchte, meine Keule zu erwischen, erreichte aber nur, daß er eins auf die Finger bekam. Er kreischte mit erschreckend menschlicher Stimme auf. Es wurde prompt als Zeichen zum Angriff mißverstanden, und plötzlich kamen sie von allen Seiten und Höhenlagen auf mich zu. Die nächsten Sekunden gehörten nicht zu den besten meines Lebens. Meine Abscheu war vielleicht noch größer als die Angst. Ich spürte, wie sich scharfe Zähne in meine Schulter gruben, und nur in letzter Sekunde konnte ich noch ein Maul zur Seite schlagen, das sich an meiner Halsschlagader zu schaffen machen wollte. Inzwischen lag ich schon auf dem Boden, die Affen sprangen wie verrückt auf mir herum, zerfetzten den wunderschönen Seidenkimono von Vang Pin und hatten dasselbe auch mit mir vor… Natürlich gab ich mich nicht so leicht geschlagen. Ich trat und schlug nach ihnen, biß vielleicht auch das eine oder andere Mal zu. Dabei schrie ich wie am Spieß; verzerrte Gesichter, glühend gelbe Augen und haarige Schnauzen sprangen vor meinem Kopf hin und her. Neben den Krallen schmerzte das Gekreische am meisten. 315
Ich kämpfte mit aller Kraft, und dann wurde mir auf einmal klar, daß es aus war. Ich konnte nicht entkommen! Gegen die Legion von gut zwanzig Kilo schweren Affen hatte ich keine Chance … besonders ohne Waffe. Es war, als ob ich ein Erdbeben mit bloßen Händen aufhalten wollte. Ich hatte mein Zeitgefühl total verloren, auf meine Uhr zu schauen wäre genauso überflüssig wie undurchführbar gewesen, aber es waren sowieso nur ein paar Minuten vergangen. Als das letzte bißchen Kraft verschwendet war, konnte ich nur noch meinen Kopf schützen. Insgeheim hoffte ich vielleicht, daß sie es irgendwann langweilig finden würden, mich zu verdreschen, und sich wieder den schöneren Dingen des Lebens widmen würden. Ob sie das letztlich tatsächlich vorgehabt hätten, kann ich nicht sagen. Geld hätte ich auf diese Möglichkeit jedenfalls nicht gesetzt. Ich lag auf dem Bauch und schützte meinen Nacken. Mit dem Trampeln hörte ich auf, als ich bemerkte, daß ich meistens sowieso nur die Erde traf. Als es um mich herum irgendwie stiller wurde, ließ ich noch ein paar Faustschläge in der Umgebung verpuffen und hielt dann erschöpft inne. Langsam, sehr vorsichtig öffnete ich die Augen und drehte mich auf den Rücken. Der Wald schloß sich über mir, ich sah grüne Zweige, riesige Blätter und einen neugierigen Vogel mit seinem roten Schopf zu mir herabschauen. Ich zwinkerte ihm zu, woraufhin er sich mit aristokratischem Stolz von mir abwandte und so tat, als würde ich gar nicht existieren. Ich setzte mich auf und sah mich scheu um. Die Zweige regten sich nicht; entweder waren die Affen vollends verschwunden, oder aber sie warteten regungslos irgendwo über mir in den Baumkronen. Ich konnte nicht fassen, daß ich ihnen entkommen war. Dann entdeckte ich einen regungslos daliegenden Pavian, einen der dickeren, nicht weit von mir entfernt. Ich konnte mir nicht im entferntesten denken, was ich mit ihm gemacht haben konnte, daß nun er an meiner Stelle tot auf dem Boden lag. Soweit ich mich erinnerte, hatte 316
ich ihm im geeigneten Moment lediglich die Nase abreißen wollen, aber nicht einmal das hatte geklappt. Taumelnd kam ich in die Höhe, trottete zu ihm und drehte den Körper um. Ja, er hatte seine Nase noch. Als ich mich etwas genauer umsah, konnte ich noch mindestens weitere drei Leichen zählen. Allesamt waren es große, gefährliche Biester, wohl die Anführer der Kolonie. Ich verstand die Welt nicht mehr. Es war ausgeschlossen, daß ich sie umgebracht haben konnte. Oder etwa doch? Waren meine Schläge vielleicht härter ausgefallen, als vermutet? Ich war zwar kein Primatenforscher, glaubte aber dennoch zu wissen, daß ein ausgewachsener Affe nach zwei linken Haken nicht einfach so den Löffel abgeben würde. Ich drehte den Pavian wieder auf den Bauch zurück und verstand plötzlich. Ich fuhr auf und hechtete ins Unterholz. Erst als ich mich mit dem Laubwerk getarnt hatte, fühlte ich mich in Sicherheit. Den Pavian hatte nicht ich getötet. Mein Fausthieb hatte mit Sicherheit nicht für sein plötzliches Ableben gesorgt. Es war das seltsame, raketenförmige Geschoß, das auch den Mafioso umgebracht und sich in meine Decke gebohrt hatte. Aus einer rätselhaften Waffe abgefeuert, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Wer weiß, wie lange ich mich im Gebüsch versteckt hielt, in den Ohren pochte mein sich nur langsam beruhigender Herzschlag. Die Tasche lag in meiner Nähe, und alle Affen waren verschwunden. Die lebenden, meine ich. Ich schaute auf meine Uhr, wartete noch fünf Minuten, und entschied mich dann für eine genaue Untersuchung des Tatorts. Schon meine erste Bewegung brachte die Nachteile dieses Vorhabens zum Vorschein; der Kimono klaffte auf, als ob man ihn nach neuester Mode aus zwei Hälften zusammengenäht hätte. Mein Füße juckten schrecklich. Von den Armen rutschte die Seide herab, und als ich so an mir heruntersah, konnte ich eigentlich keine Stelle sehen, an der sich nicht mindestens ein blauer Fleck oder tiefer Kratzer 317
befand. Ich sah aus, als hätte ich mich mit Wildkatzen um eine Maus gebalgt. Ganz zu schweigen von den Bissen, die hauptsächlich meine Schultern zierten. Außerdem fühlte ich mich gerädert oder besser: wie von einer Dampfwalze überrollt. Die fünf Minuten hatten dennoch ihre Wirkung getan. Vielleicht war es das Wissen, nun endlich erbeutet zu haben, wonach ich gesucht und worum ich gekämpft hatte; oder die Tatsache, daß ich diesen Kampf gewonnen hatte – wenn auch möglicherweise mit Hilfe eines rätselhaften Wilhelm Tells … ich weiß es nicht, jedenfalls kam ich wieder zu Kräften und kletterte auf allen vieren hervor. Zweimal ging ich um den Kampfplatz herum, fand aber nichts. Sämtliche Spuren hatten die Affen und ich gründlich verwischt, ich konnte einfach nichts erkennen. Inzwischen ging ich wieder aufrecht … nicht, daß mich der mysteriöse Schütze auch noch für einen gefährlichen Pavian hielt und am Ende abdrückte. Denn daß er mich – als Mensch – nicht treffen konnte, dafür aber kleinere und sicherlich flinkere Affen, schien unwahrscheinlich. Zeit zum Zielen hätte er während meines Kampfes jedenfalls genug gehabt. Und wenn er meinen Tod gewollt hätte, wäre es wohl noch einfacher gewesen, sich zurückzulehnen und den Affen ihren Spaß mit mir zu gönnen. Statt dessen tötete er alle Anführer… Verflucht…! Der unbekannte Schütze hatte mir ja das Leben gerettet! Über mir regte sich etwas. Ich schaute hoch und blickte in das Gesicht eines Pavians. Doch welche Veränderung… Anstelle des wilden Hasses sah ich Furcht und Entsetzen. Und dann merkte ich, daß er gar nicht mich anstarrte, sondern seine toten Gefährten. Ich stemmte die Arme in die Hüften, drehte mich langsam in alle Richtungen und rief dabei unsicher: »Hallo… Ist da jemand…?« Der Affe riß erschrocken die Hand vor die Augen und verschwand wieder in der Baumkrone. 318
»Ist da jemand?« Der Vogel blickte nun endlich wieder auf mich herab, allerdings mit soviel Herablassung, daß ich ihm am liebsten etwas an den Kopf geworfen hätte. Meine Stimme klang dumpf, wie eine leere Tonne. »Bitte, antworten Sie doch! Wer ist da?« Doch der Wald schwieg. Ich nahm die anderen Körper unter die Lupe. In jedem steckte ein ähnlicher Pfeil, also versuchte ich die Stelle zu finden, von der man sie alle gleichzeitig abgeschossen hatte. Die Bäume waren als Deckung zwar nicht weit, jedoch hatten die auf mir herumtanzenden Affen bestimmt kein einfaches Ziel abgegeben. Außerdem mußte der Schütze ja auch noch aufpassen, daß er nicht mich traf. Am Ende wurde mir lediglich klar, daß mein Retter wahnsinnig gut mit dieser rätselhaften Waffe umgehen konnte. Ich versuchte noch einmal, die letzten Minuten des Kampfes zu rekonstruieren, sah mir von weitem die Position der Paviane zueinander an und verstand nur eine winzige Kleinigkeit nicht: Wenn nämlich jemand binnen so kurzer Zeit vier Pfeile abschießen konnte, mußte er ein automatisches Gewehr oder etwas Ähnliches benutzen. Allerdings wußte ich, daß solche Dinger nur sehr ungenau schießen können, selbst auf so kurze Entfernung. Und überhaupt: Wer schießt schon mit einer automatischen Waffe, einer Raketen-Maschinenpistole, auf ein sich schnell bewegendes Ziel, das sich auch noch in direkter Nähe der zu schützenden Person befindet…? Irgend etwas stimmte also an diesem Bild nicht. Eigentlich stand mir keine überflüssige Zeit zur Verfügung, dennoch wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Schließlich hatte mir der Unbekannte das Leben gerettet: Er hatte auf die Paviane gezielt und sie auch mit tödlicher Schnelligkeit und Sicherheit getroffen. Und dann kam ich plötzlich dahinter. Die Idee war im ersten Moment so abwegig, daß ich sie zunächst gar nicht wahrnehmen wollte. Es schien so unwahrscheinlich zu sein, was sich da als endgül319
tige Schlußfolgerung anbahnte… Irgend etwas sagte mir, daß nicht ein Mensch auf die Affen geschossen hatte. Die Geschosse waren aus mindestens zwei Gewehren abgefeuert worden.
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er Durst wurde immer schlimmer, also beschloß ich, mich erst einmal um die Tasche, beziehungsweise ihren Inhalt zu kümmern. Am liebsten wäre ich irgendeinem Wildpfad gefolgt, um eine Wasserstelle zu finden, aber ehrlich gesagt, hatte ich doch etwas Angst vor den Affen. Den Weg zurück kann ich nicht mehr beschreiben. Die lilafarbenen Flecke tauchten wieder in meinem Blickfeld auf und drehten sich mit monotoner Beharrlichkeit geradewegs in mein Gehirn hinein. Irgendwie erreichte ich jedenfalls die Stelle, wo ich Mal und den Navysoldaten zurückgelassen hatte. Die darauffolgenden Minuten fehlen in meiner Erinnerung. Wimmer stand plötzlich über mir und sprenkelte kaltes Wasser auf mein Gesicht. Ich wollte mich hochstemmen, aber er drückte mich auf den Boden zurück. Dann sah ich Mal, die sich über mich beugte, und ich glaubte Tränen in ihren Augen zu entdecken. Die ganze Zeit über fühlte ich mich, als bestünde mein Körper aus einem einzigen, großen Schmerzzentrum. Und dann dachte ich, das alles hier käme der Erfahrung am nächsten, die Wüstenreisende kurz vor dem Verdursten empfanden. Sie wähnen sich in einem kristallklaren See und schlürfen das gute Naß so lange in ihrer ganz persönlichen Fata Morgana, bis ihr lebloses Gesicht in den Sand fällt. 320
Zum Glück kam ich schnell wieder zu mir. Als ich nicht nur meinen Geist, sondern auch den Körper wieder kontrollierte, setzte ich mich auf. Mein erster Blick fiel auf Wimmer, der neben seiner Tasche saß und das zerfetzte Etwas zu öffnen versuchte. Meine Hand suchte nach der MP, aber sie war nicht in meiner Nähe. Ich wurde das dumme Gefühl nicht los, daß der Amerikaner Mal irgendwie ausgetrickst und mich jetzt in eine Falle gelockt hatte. Unsicher kam ich in die Höhe, aber wenn die Pilotin in diesem Moment nicht neben mir gestanden hätte, wäre ich sicher wieder auf die Knie zurückgefallen. Wimmer bemerkte es und grinste mich an. »Na, was ist los, Großer?« »Wo ist meine Maschinenpistole?« Er zuckte mit den Schultern und öffnete seine Tasche. »Suchen Sie sie doch…« Ich sah Mal an. Sie erwiderte zwar den Blick, aber mit so viel Entsetzen über meinen Zustand, daß ich mich fragte, ob ich nicht doch nur eine herumspukende Leiche war. »Mein Gott… Was ist mit dir passiert?« »Ein paar … Affen … ein kleiner Disput … unter Freunden. Wo ist meine Waffe?« Sie bückte sich und holte sie aus dem Gebüsch. »Hier.« »Wimmer!« Er hörte mich gar nicht, so sehr war er in die Inspektion seines Eigentums vertieft. »Wimmer!« »Was?!« »Hände hoch!« Er nahm sich nicht einmal die Mühe, mich anzuschauen. »Ach, hören Sie doch mit dem Quatsch auf! Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin?!« Er griff in seinen Seesack, holte etwas heraus und zeigte es mir. 321
Ich legte die MP zur Seite und hockte mich neben ihn. Er drehte sich zu mir um und machte die Tasche wieder zu. »Na?« »Genau damit hatte ich gerechnet«, sagte ich. »Woher wußten Sie es?« »Von dem, was Sie im Flugzeug erzählt haben. Ein paar fallengelassene Worte können viel verraten…« »Und wer zum Teufel sind Sie denn nun?« Ich zog den Interpol-Ausweis hervor, der mich zwar nur in Panda-Angelegenheiten zu etwas berechtigte, aber er las sowieso nur die großen Buchstaben und nickte schließlich. »In Ordnung. Ich glaube Ihnen. Die Dame… Mal war so nett und hat mich aufgeklärt. Sie sagte, Sie wären ein harter Kerl, aber ich hätte nichts zu befürchten.« »Danke.« »Danken Sie der jungen Frau. Sagen Sie mal, warum zum Teufel wollten Sie mich an die Ameisen verfüttern? Meine Füße brennen, als ob ich bei einem indischen Fakir Lehrstunden im Feuergehen genommen hätte. Ich dachte, Sie wollen mich umbringen!« »Sie waren ja nicht zur Kooperation bereit!« »Ihr Gesicht sieht so durchtrieben aus… Wie ein Terrorist. Außerdem kann ich von weitem sehen, daß Sie nichts von amerikanischen Soldaten halten. Oder irre ich mich da etwa?« »Nein, es ist in der Tat so.« »Sehen Sie. Mal hat sich meiner erbarmt und auch noch ein paar Dinge erzählt. Ich hab' ihr geglaubt.« »Ich wollte schon vorher einiges erklären, aber Sie waren ziemlich abweisend…« »Wieso, was hätten Sie denn an meiner Stelle getan? Sie binden mich vor einem Haufen Killerinsekten an, wollen meine Tasche klauen und werfen mir dann vor, ich wäre nicht sehr kooperativ?!« Ich setzte mich und winkte auch Mal zu uns auf den Boden. Gute zwanzig Minuten redete ich ununterbrochen und wurde dabei das dumme Gefühl nicht los, kleinen Kindern ein Märchen zu erzäh322
len. Nur die können mit solcher Inbrunst Geschichten lauschen. Ehrlich gesagt, überraschte mich dieses intensive Interesse auch ein wenig. Es war fast so, als würden sie es nicht ganz ernst nehmen, was ich da zusammentrug. Als ob es tatsächlich nur Märchen wären, über hübsche Prinzessinnen, kühne Ritter und viele böse Hexen. Als ich fertig war, wurde es eine Weile still. Nur die Baumkronen rauschten über unseren Köpfen, vom Wind oder von den Bewegungen der Affen in Bewegung versetzt. Ich ließ ihnen ein wenig Zeit. Nahm die MP in die Hand, kontrollierte das Magazin, ließ es wieder einschnappen und betrachtete zufrieden die Waffe. Wimmer kam als erster zu sich. Er stemmte die Ellbogen auf die Tasche und blickte mir direkt in die Augen. »Stimmt das alles?« »Nun, es sind Hypothesen. Allerdings würden sie erklären, warum wir hier sind.« »Abgesehen von mir.« »Sie, mein junger Freund, sind wahrscheinlich nur die Watte.« »Wie bitte?« »Watte. Sie persönlich müßten in der Tat nicht dabeisein. Aber man brauchte ein paar typische Fluggäste, damit die Sache nicht zu auffällig wurde.« »Sie meinen, ich bin nur zufällig hier?« »Höchstwahrscheinlich.« »Na, und die Kunsthandlung von Onkel John? Die Tonfiguren?« »Zufall. Sie haben nichts mit dem zu tun, was hier abläuft.« Er schüttelte den Kopf und strich sich über die Igelfrisur. »Das gefällt mir überhaupt nicht, Lawrence! So viele Zufälle gibt es nicht! Man hat mir beigebracht, daß man daran nicht glauben soll.« »Trotzdem bin ich der Meinung.« »Na ja. Und welche Rolle ist mir nun zugedacht?« »Die einer Leiche, genauso wie den anderen. Kein Mensch darf 323
diesen Ort lebend verlassen. Egal, ob Watte oder echt.« »Folglich würde mir nichts anderes übrig bleiben, als mich Ihnen anzuschließen?« »Ich fürchte, Sie haben es erfaßt, Wimmer.« Der Kampftaucher starrte in den Wald, als würde er dort die Lösung suchen. »Ich frage schon gar nicht mehr, was Sie machen würden, wenn ich ablehne… Die Antwort haben Sie mir ja heute schon in Form einiger Ameisen gezeigt. Gut, ich mache mit… Obwohl, was wäre, wenn ich, einfach so, zu Fuß hinausstiefeln würde in die weite Welt? Ich weiß, daß westlich von hier der Mekong seine Bahnen zieht. Sagen wir mal, ich würde losziehen und immer geradeaus gehen, bis ich ihn erreiche… Glauben Sie, ich hätte eine Chance?« »Schwer zu sagen. Aber gut, nehmen wir an, die haben Sie.« »Wie groß, in Prozent?« »Ich würde es in Ihrem Fall eher in Promille ausdrücken…« Er griff sich in die Haare; dabei bemerkte ich, wie seine Hand zitterte. »Und wenn ich bei Ihnen bleibe und alles tue, was Sie verlangen?« »Oh, na dann … kommen wir in den Prozentbereich.« »Wieviel?« »Ich weiß es nicht. Aber auch wenn es nur eins zu hundert steht, würde es sich lohnen.« Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich schüttelte sie. Fest und entschlossen. »Hören Sie«, sagte er plötzlich und zog seine Hand weg. »Sie sollten wissen, daß ich Sie nicht mag! Selbst wenn Sie für Interpol oder wen auch immer arbeiten. Ich mag eigentlich überhaupt keine Europäer. Aber wir Amerikaner sind immer kompromißbereit… Ich werde mit Ihnen hier zusammenarbeiten, weil es unser beider Vorteil ist. In Ordnung?« Beinahe hätte ich losgelacht, und auch Mal sah ich an, daß sie es nur schwer zurückhalten konnte. »Und was die Tasche angeht, steht sie Ihnen natürlich zur Verfügung 324
… obwohl ich für dieses Eigentum der Streitkräfte der Vereinigten Staaten die Verantwortung trage … auch bei Mißbrauch. Diesmal allerdings, fürchte ich, habe ich keine andere Wahl. Oder irre ich mich da?« »Nein.« »Eines müssen Sie mir aber versprechen! Sie dürfen es nur … dafür … benutzen!« Er konnte oder wollte die Sache nicht beim Namen nennen. »Es soll amerikanischen Interessen dienen?« »Nun…« »Eines kann ich Ihnen versichern. Ich werde es nur gegen diejenigen verwenden, die uns umbringen wollen. Gut so?« Er salutierte. »Jawohl, Sir!« Er bückte sich, nahm die Tasche und stellte sie mir vor die Füße. Dann salutierte er noch einmal. Weiß Gott, aber irgendwie fühlte ich mich nicht besonders geehrt, von ihm das Eigentum der Navy ausgehändigt zu kriegen. Besonders, nachdem ich dafür bereits schon gegen eine ganze Affenhorde gekämpft hatte.
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ir entschieden uns, die Tasche vorerst wieder zu dem Felsen zurückzubringen. Als Wimmer sie – diesmal etwas umsichtiger – deponiert hatte, setzten wir uns auf den Boden und lehnten uns an den harten Stein. Auf Wunsch der beiden wiederholte ich noch einmal alles, was ich über diesen verfluchten Fall bisher herausbekommen hatte. Und wieder hörten sie mir mit derselben Faszination zu wie beim ersten Mal. Erleichtert nahm ich wahr, daß 325
sie langsam anfingen, mir zu glauben. Und verstanden, was genau ich von Ihnen erwartete, speziell von Wimmer. Der Navysoldat lehnte sich zurück und seufzte. »Also wissen Sie…! Wenn ich all das in einem Bericht zusammenfassen müßte, würde ich bis an mein Lebensende daran arbeiten… Das ist ja wie in einem Roman…« »Das Leben schreibt bekanntlich die besten Romane«, antwortete ich weise. Ich fand mich gerade mit der Tatsache ab, daß Mal wohl nicht zum Lösen komplizierter kriminalistischer Rätsel geschaffen war, als sie nach langem Nachdenken ebenfalls zur Unterhaltung beitrug. »Leslie … ich habe furchtbare Angst!« Ich wollte vor Wimmer nicht den besorgten Liebhaber spielen, streichelte ihr aber trotzdem über die Haare. »In dieser Situation ist das ganz normal, Mal.« »Versteh mich nicht falsch, es geht mir nicht um mein Leben, obwohl das natürlich auch blöd klingt. Nein, es ist etwas anderes… Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll… Es ist, als ob dies gar keine normalen Morde wären. Es … es sieht nicht wie ein übliches Verbrechen aus. Äh … verstehst du, was ich meine?« »Ja, ich glaube, ich weiß, was du sagen willst.« »Als ob nicht einfach schlechte Menschen hinter der Sache stehen würden, sondern das Böse selbst… Der Satan. Und … und wenn das so ist, sind wir dann nicht zu klein und zu machtlos, um dagegen anzukämpfen? Das ist es, was mir Sorgen macht, Leslie.« Seltsam, daß eigentlich auch Wimmer kurz zuvor etwas Ähnliches gesagt hatte, nur mit anderen Worten. Der Marinesoldat hielt den Terrorismus für die Ursache unserer Lage, eine ebenso mythische und körperlose Gestalt wie der Teufel. Ich hingegen war mir ziemlich sicher, daß unsere Gegner nur allzu reale Menschen waren, die uns aus ganz typisch menschlichen Beweggründen wie Schachfiguren in einem Spiel nach Belieben hinund herschoben. Obwohl es natürlich Ansichtssache ist, ob man hinter manch einer menschlichen Eigenschaft nicht doch irgend326
einen diabolischen Einfluß wähnt. »Also wurde Mr. Schnurrbart auch umgebracht«, grübelte Wimmer vor sich hin, als wir bereits auf dem Rückweg waren und die ersten Dachspitzen von Vang Pins Residenz auftauchten. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer das gewesen sein konnte?« »Selbstverständlich.« »Wer?!« »Später.« »Gut. Was kommt als nächstes?« »Ich suche mir eine Dusche, einen neuen Kimono und etwas Wundsalbe. Ich denke, unser Gastgeber wird diese Gegenstände auf Lager haben. Dann sehen wir weiter.« Wimmer wandte sich nun an Mal. »Und Sie, Miss?« Noch bevor sie antworten konnte, nahm ich demonstrativ ihre Hand. »Mal kommt mit mir.« Wimmer nickte. »Genau das hätte ich auch vorgeschlagen«, nickte er, drehte sich um und verschwand im Gebüsch.
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enn ich nicht gewußt hätte, daß Vang Pin ein Geschäftsmann und Hobbylandwirt war, hätte ich glatt annehmen können, er besäße eine Kimonofabrik. Für den total zerfetzten, den ich am Leibe trug, schenkte er mir ein atemberaubendes Seidenwunder, das sogar mich in Erstaunen versetzte. Und ich war sicher kein Anfänger in Sachen Asien… Ich schloß die Tür hinter dem Dienstboten und schälte mich aus 327
dem alten. Mal schüttelte anerkennend den Kopf. »Du siehst selten häßlich aus! Ich kann mir nicht vorstellen, was den Affen so an dir gefallen hat…« »Vielleicht mein herzliches Lächeln«, erwiderte ich. Sie trat zu mir und kratzte sanft über meinen Rücken. »Waren die Affen darin besser?« Ich tat, als wüßte ich nicht, worauf sie aus war, und zog den neuen Seidenmantel über. Ich tippelte auf den Flur, rein in den Duschraum und stellte gerade das Wasser an, als erneut ein scharfer Fingernagel über meinen Rücken strich. Ich drückte mir die warmen Tropfen aus den Augen. Es war Malgorzata. Ihr Kimono lag neben meinem auf dem Boden, und ihr kräftiger, braungebrannter Körper versuchte, mich aus dem Wasserstrahl zu drängen. »He!« rief ich. »Was machst du hier?« »Was machst du hier?« fragte sie zurück. »Wieso… Ich war als erster hier, und nun…« Sie kniete sich unter dem Strahl hin, als würde sie nach einer runtergefallenen Seife suchen. »Das hier ist die Damendusche, Liebster«, meinte sie und hob den Kopf. »Wenn ein Mann hier eindringt, muß er dafür … bezahlen!« Als sie wieder zu Wort kam, zog sie mich zu sich herunter. Das Wasser klatsche auf unsere Köpfe, wie im tropischen Regenwald. Doch selbst dieses in unseren Ohren donnerartige Geräusch konnte nicht Mals zufriedene Gluckser übertönen.
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as Mittagessen hatte gerade begonnen, als wir ankamen. Während ich die anderen der Reihe nach anblickte, mußte ich mir ein Grinsen verkneifen. Ich sah ihnen deutlich ihre Verwirrung an, als sie meine Wunden bemerkten. Dr. Camus ließ seinen Löffel fallen und schaute mich entgeistert an. »Mein Gott, Mr. Lawrence…!« Ich drückte Mal auf einen freien Stuhl und pflanzte mich neben sie. »Guten Appetit«, meinte ich. »Ich hoffe, Sie sind alle wohlauf, trotz der Umstände…« Wilhelmina von Rottensteiner sah ebenfalls ziemlich erschrocken aus, als ich meine Hand nach dem Salat ausstreckte und dabei der hochrutschende Ärmel den Blick auf meinen mit Wunden übersäten Arm freigab. »Was ist denn mit Ihnen passiert, Käfermann? Ein paar wilde Katzen getroffen?« Vorerst beachtete ich die Frage nicht. »Mr. Vang Pin?« schaute ich mich um. Aber keiner sollte dazu kommen, mir zu antworten. »Wissen Sie überhaupt, was hier heute nacht passiert ist?« fuhr mich Lisolette mit blitzenden Augen an. »Wissen Sie, daß…« »Ja« nickte ich. »Mal!« fuhr sie mit eisiger Stimme fort. »Mal, wo warst du heute nacht?« Die Angesprochene zuckte zusammen und sah mich hilfesuchend an. »Wußtest du, daß man heute nacht die Frau unseres Gastgebers ermordet hat?!« »Ja, Lisolette.« »Dann frage ich noch einmal: Wo warst du in der Nacht?« Die Frage hing in der Luft, und die Stimme der Kopilotin hatte 329
seltsam eifersüchtig geklungen. Als wären die beiden nicht nur Kollegen, sondern… Dr. Camus hob beruhigend die Hand. »Bitte, bitte…! Meine Damen! Miss Mal … äh, daß ist doch Ihr Name, nicht wahr, meine Liebe? Miss Mal wird sicherlich eine Erklärung für ihr Fortbleiben haben. Übrigens glaube ich kaum, daß wirklich jeder ein Alibi für diese Nacht hat… Ich denke…« Er stammelte verzweifelt vor sich hin und wollte sichtlich mit aller Kraft den Anschein einer gutbürgerlichen Tischgesellschaft aufrecht erhalten. Frau von Rottensteiner quittierte dies auch sofort mit einem Aufschnauben. »Junge Dame, würden Sie bitte aufhören, hysterisch zu werden?!« herrschte sie die Kopilotin an. Die Mundwinkel der Blondine zuckten gefährlich, aber sie hielt sich zurück. Mit zitternder Hand nahm sie von dem Salat und fiel dann plötzlich in sich zusammen. Mit dem Kopf auf der Tischplatte weinte sie zwar nicht, aber ihre Schultern zuckten vor aufgestauter Nervosität. »Entschuldigung«, sagte sie nach einer Weile, und ihre grünen Augen bohrten sich dabei in meine. »Ich … ich bitte um Entschuldigung … ich … ich habe noch nie zuvor eine solche Situation durchgemacht. Bitte verstehen Sie … ich bin bisher nur Flugzeug geflogen … und einen Mord habe ich höchstens im Fernsehen gesehen. Und dann … plötzlich … sitze ich mittendrin… Bitte verzeih mir, Mal!« Die Angesprochene stand auf, eilte zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Lisolette… Wenn ich geahnt hätte…« »Es war einfach schrecklich, was ich durchstehen mußte«, meinte sie, und erbebte erneut. »Als heute nacht diese Frau umgebracht wurde, dachte ich schon, ich würde wahnsinnig. Ich wollte zu dir rübergehen, aber du warst nicht im Zimmer. Jede halbe Stunde habe ich angeklopft… Verzeih mir, Mal!« 330
Ich hielt die Zeit für gekommen, mich da einzumischen. »Miss Malgorzata hat die Nacht bei mir verbracht.« Van Broeken grinste und klatschte sogar demonstrativ in die Hände. »Bravo!« »Und sie wird vorerst auch bei mir bleiben.« Diesmal gab es keinen Applaus. Van Broeken beugte sich nach vorne. »Ist das irgendwie von Bedeutung?« Die beiden Tennismädchen weinten der Abwechslung halber gerade mal nicht, sondern grinsten nur dümmlich. Ich hätte ihnen am liebsten die gute Laune verdorben, hielt mich aber ein wenig zurück. »Ich bin der Überzeugung, daß der oder die Täter ihre bisherigen Morde im Zusammenhang von weiteren, noch geplanten verübt haben.« Dr. Camus hob die Hand mit einer weißen Serviette zwischen den Fingern. Er sah aus, als ob er sich einem imaginären Feind ergeben wollte. »Äh … soll das heißen Mr. Lawrence, daß der Mörder Ihrer Meinung nach hier unter uns weilt?« »Genau das soll es heißen«, bestätigte ich leise. Was von den anderen mit Totenstille belohnt wurde.
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r. Camus legte die Serviette beiseite, was auch bedeuten konnte, daß er sich doch nicht ergeben wollte. Statt dessen spießte er mit der Gabel ein paar Salatblätter auf, sah sie sich genau an, als würde es sich dabei um eine seltene Pflanze handeln, und hol331
te tief Luft. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll… Was heute nacht passiert ist, ist einfach … unglaublich. Mindestens so unglaublich wie das, was Sie jetzt behaupten, Mr. Lawrence! Könnten Sie Ihre … Theorie vielleicht etwas genauer erläutern? Und … äh … ich wollte eigentlich schon früher fragen, aber … könnten Sie nicht einmal ohne diese Maschinenpistole zum Essen kommen?« »Ich würde Sie gerne bitten, Mr. Vang Pin Bescheid zu sagen!« Hitzig fuhr er auf. »Mr. Vang Pin spricht gerade das Totengebet!« »Nun, dann eben, wenn er damit fertig ist. Außerdem können Sie ihm ausrichten lassen, daß er sein Gebet gleich auch noch auf andere ausdehnen kann.« Die beiden Teenager klammerten sich aneinander wie zwei kleine Äffchen. »Was soll das heißen, Lawrence?« fragte Frau von Rottensteiner. »Was, zum Teufel, wollen Sie damit schon wieder sagen? Und wieso müssen Sie eigentlich immer in Rätseln sprechen?« »Ich spreche durchaus nicht in Rätseln«, erwiderte ich und packte mir meinen Teller voll. »Ich habe mich heute nacht etwas in der Gegend umgeschaut.« »Na und?« »Es wird Sie nicht alle gleichermaßen überraschen… Aber unser Flugzeug ist inzwischen buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden.« »Was?!« »Wie gesagt. Verschluckt. Von einem Sumpf.« Großvater legte die Hand hinter das Ohr und schien so alles verstehen zu können. Judy hielt ihren Mund so weit offen, daß die gebratene Taube vor ihr auch blind den Weg in ihren Magen gefunden hätte. »Das ist nicht wahr!« »O doch … heute nacht hat irgend jemand oder, besser gesagt, haben mehrere Personen das Flugzeug auseinandergenommen, ab332
transportiert und in einem Sumpf vom Erdboden verschwinden lassen. Sie können sich ja gerne bei der Piste umschauen … obwohl es nicht sehr ratsam ist, draußen herumzulaufen.« Nun, wenn es für den einen oder anderen keine Neuigkeit gewesen sein dürfte, blaß sahen sie trotzdem alle aus. Ich mußte zugeben, daß sie keine schlechten Schauspieler waren. Abgesehen vielleicht von den Tennismädchen, deren Fahrplan für diesen Zeitpunkt mal wieder Schluchzen und sich-in-die-Arme-fallen vorsah. Die Tür wurde geöffnet, und in Begleitung seiner Schwägerin trat unser Gastgeber ein. Er war bleich und vornehm, vielleicht etwas zu bleich. Der Diener, den Camus losgeschickt hatte, um Vang Pin zu holen, verschränkte die Arme vor der Brust und blieb neben der Eingangstür stehen. Allzu clever brauchte man nicht zu sein, um die großkalibrige Waffe unter seinem Umhang auszumachen. »Guten Appetit, meine Damen und Herren. Dr. Camus?« Der Franzose sprang auf, verbeugte sich und deutete auf die freien Stühle neben uns. »Bitte sehr! Mr. Lawrence … äh…« Ho Lings Gesicht regte sich nicht einmal, als sie meine MP entdeckte, Vang Pin hingegen zuckte ein klein wenig zusammen. Er zögerte einen kurzen Augenblick und nahm dann doch auf dem angebotenen Stuhl Platz. Er breitete die Arme aus und zwang sich zu einem Lächeln. »Bitte verzeihen Sie, daß ich am Mittagessen nicht teilgenommen habe, aber Sie haben bestimmt schon erfahren, was heute nacht geschehen ist. Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Bitte, entschuldigen Sie…!« Er faßte sich ans Auge, doch nur ich sah aus der Nähe, daß es dort gar keine Träne zum Wegwischen gab. Die beiden Tennismädchen kapierten wohl erst jetzt, daß es um etwas ging, von dem sie noch keine Ahnung hatten. Das ältere wandte sich an Judy, und als die ihr kurz die Situation zugeflüstert hatte, schrie sie plötzlich auf, so daß der Diener an der Tür erschrocken nach seiner Waffe griff. 333
Das Mädchen hielt sich die Hand vor den Mund, und ich dachte bereits, wir würden jetzt einen Teil des Essens wiedersehen. Zum Glück fiel sie jedoch nur mit dem Kopf auf die Tischplatte und fing an zu heulen. Ihre Freundin leistete Schützenhilfe, und kurze Zeit später lagen sie sich wieder einmal heulend in den Armen. Wilhelmina von Rottensteiner wandte sich nervös an unseren Gastgeber. »Sagen Sie, Mr. Vang Pin … haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was hier in Ihrem Haus abläuft?!« Der Chinese schüttelte traurig den Kopf. »Ehrlich gesagt, nein… Meine Frau…« »Aber Sie werden doch wohl irgendeinen Verdacht haben, wer dafür verantwortlich sein könnte? Oder sind Sie der Meinung, daß wir es mit einem Verrückten zu tun haben?« Noch bevor er antworten konnte, schaltete ich mich dazwischen. »Mr. Vang Pin befürchtet, daß man seine Frau wegen einer Sache umgebracht hat, die weit in der Vergangenheit zurückliegt…« »Vergangenheit? Was meinen Sie damit?« Ich schaute den Chinesen an, der kaum wahrnehmbar nickte. Ich deutete es als Erlaubnis, fortzufahren. »Nun, gewisse Kriminelle waren wohl hinter Mr. Vang Pins Frau her. Es tut mir leid, daß ich erneut nur so vage formulieren kann, aber viel mehr wissen wir bisher auch nicht.« »Wer ist dieser wir?« wollte Judy wissen. »Mr. Vang Pin und ich.« Großvater nahm die Hand hinter dem Ohr hervor und deutete mit dem knorrigen Zeigefinger auf meine Wenigkeit. »Wer sind Sie?« Ich hielt es für überflüssig, mich noch weiter verdeckt zu halten. Also zog ich meinen Ausweis hervor und hielt ihn hoch, so daß ihn jeder sehen konnte. »Interpol.« Daß sich meine Befugnisse auf die Pandamission beschränkten, verschwieg ich natürlich. 334
Wilhelmina von Rottensteiner schüttelte den Kopf. »Also ein Bulle…! Dabei hätte ich schwören können, daß Sie der Kerl sind, der damals unsere Käferpopulation ins Astronomische wachsen ließ…« »Ja, der bin ich außerdem«, versicherte ich ihr. »Interpol hat mich lediglich gebeten, einigen Dingen auf den Grund zu gehen.« »Aha…«, brummte Van Broeken. »Also haben Sie das Recht, uns Fragen zu stellen… Nun denn, nur zu! Und was Mr. Vang Pins Frau angeht, vielleicht würde es nichts schaden, etwas mehr über die Sache zu erfahren, meinen Sie nicht auch?« »Natürlich«, spielte ich den Zuvorkommenden. »Falls Mr. Vang Pin es erlaubt.« Der Angesprochene preßte die Lippen aufeinander, und zuckte schließlich mit den Schultern. »Von mir aus. Ich würde es sowieso nicht verheimlichen können. Es hätte auch gar keinen Sinn.« Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Sagt irgend jemandem von Ihnen der Name Roter Drachen etwas?« »Nein. Klingt aber gut«, meinte die Professorin. »Nun, der Rote Drachen ist der Herrscher über Glücksspiel, Prostitution und Rauschgifthandel von Hongkong bis Singapur. Die Ehefrau von Mr. Vang Pin war eine Zeitlang in engem Kontakt mit ihm … wie soll ich sagen, in sehr engem… Unser werter Gastgeber und meines Wissens auch Dr. Camus sind der Ansicht, daß der Rote Drachen Mrs. Vang Pin aus Rache umgebracht hat.« Judy sprang auf und griff so fest nach der vor ihr stehenden Stuhllehne, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. »Soll das heißen … soll das … heißen…« Vor lauter Angst – oder Erregung – stockte ihr der Atem, und sie kam nicht weiter. Nichtsdestotrotz wußte ich, was sie fragen wollte. »Ja, das soll es, Miss Judy. Bitte behalten Sie alle die Nerven! Dr. Camus hat mir zwar seine Mißbilligung gestanden, aber immerhin kann ich behaupten, eine Waffe zu haben. Außerdem bin ich nur 335
ein freier Mitarbeiter von Interpol, was heißt, ich brauche mich nicht an … gewisse Vorgehensweisen zu halten! Ich benutze die Maschinenpistole, wenn ich es für nötig halte und auch ohne Warnung, falls es notwendig sein sollte. Sofort, wenn ich irgendeine Gefahr wittere! Ich denke, jeder versteht, was ich meine?! Und hält sich daran?!« Keiner antwortete. Demnach hatten sie verstanden.
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roßvater nahm Judy's Hand und drückte sie. Plötzlich schien sich das Blatt gewendet zu haben; nun war es das Mädchen, das Beistand brauchte. Ich bewegte meine MP ein wenig, gerade genug, damit sie es mitbekamen, und drehte mich auf meinem Stuhl so, daß ich auch den Diener an der Eingangstür im Auge behalten konnte. »Es ist nun so, daß wir relativ viel über den Roten Drachen wissen. Unter anderem, daß er sehr an Kunstschätzen interessiert ist oder an allem, was irgendwie in bare Münze umzuwandeln ist. Mit anderen Worten, wir gehen davon aus, daß er hier unter uns sitzt und aus diversen Gründen Mrs. Vang Pin ermordet hat.« Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Das ältere der beiden Mädchen, das erst vor kurzem aufgehört hatte zu weinen, sprang auf und hielt ein scharfes Tranchiermesser in den Händen. Ihre Finger waren weiß vor Anstrengung. »Mr. Lawrence…«, fing sie an, und ich wunderte mich nicht schlecht über die Veränderung, die sie durchgemacht hatte. So entschlossen war sie bisher in ihrem ganzen Leben sicherlich nur bei einem hochdotierten Wettkampf gewesen, wenn die Gegnerin im Tie-Break den 336
Spieß umzudrehen versuchte. »Mr. Lawrence… Sind Sie sicher, daß der Rote Drache ein Chinese ist?« Ich muß sagen, selbst die letzte Nacht mitgerechnet, war dies wohl die anscheinend dümmste und doch logischste Frage des Tages. Und schon gab ich den Ball weiter an: »Mr. Vang Pin?« Unser Gastgeber breitete die Arme aus und ließ den Blick über den auf seinem Ärmel tanzenden blauen Drachen schweifen. »Persönlich bin ich ihm – zum Glück – nie begegnet. Es heißt aber, daß er…« Er zögerte, schüttelte unwillig den Kopf und fuhr dann doch fort: »Nun, die Meinungen gehen da auseinander. Trotzdem … bin ich überzeugt, daß der Rote Drachen kein Asiate, sondern ein Weißer ist… Europäer oder Amerikaner.« Die Stille war jetzt noch größer als nach meiner unheilvollen Behauptung, er befände sich unter uns.
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s war Wilhelmina von Rottensteiner, die als erste zu sich kam. Sie klopfte mit dem Ende ihres Regenschirmes entnervt auf den Marmorfußboden. »Jetzt hören Sie mal… Sie behaupten, daß hier jemand herumsitzt, der in Wahrheit irgendein Drachen ist, und daß dieser Bandit Ihre Frau umgebracht hat? Und daß er mit derselben Maschine hierherkam, wie wir? Und daß es ein Weißer ist… Aber wer? Und übrigens … wer hat denn die Leiche Ihrer Frau gefunden, Mr. Vang Pin?« »Mr. Lawrence.« Die Professorin deutete mit ihrem Schirm auf meine Brust. »Aha! Sie stecken ja in allem drin, was? Und wo haben Sie sie nun 337
gefunden? In Ihrem Schlafzimmer?« Es war sehr gefühllos, was sie von sich gab, aber Vang Pin war so in seinen Gedanken versunken, daß er es gar nicht mitbekam. »Nein, nicht dort«, antwortete ich ruhig. »Es war in der Damendusche.« »Was zur Hölle hatten Sie denn dort zu suchen?« »Ich habe mich in der Tür geirrt.« »Aber natürlich. Ganz per Zufall gehen Sie in die Damendusche, und ganz zufällig finden Sie dort eine Leiche. Wie würden Sie denn Ihre Geschichte finden?« »Wenn ich sie umgebracht hätte, warum sollte ich dann dem Hausherren Bescheid sagen? Wollen Sie vielleicht andeuten, ich wäre der Rote Drache?« Alle zogen sich ein wenig von mir zurück. Die Professorin blickte mir lange in die Augen und zuckte dann mit den Schultern. »Warum nicht? Dieser Ausweis da kann ja auch gefälscht sein! Wenn Sie dieser Drache sind, könnten Sie sich für jeden Tag einen anderen drucken lassen. Kein Mensch hier glaubt Ihnen noch, Lawrence!« Vang Pin sprang auf und stellte sich ungeachtet des ihm zugewandten Laufes der Maschinenpistole direkt vor meinen Stuhl. »Ich verlange eine Erklärung, Mr. Lawrence! Ich war so töricht und habe mein Haus für Sie alle geöffnet. Und nun muß ich mit Grausen erkennen, daß ich auch den Tod mit eingeladen habe. Jemand von Ihnen hat meine Frau umgebracht; und vielleicht haben die anderen ja recht, und Sie selbst waren es, Mr. Lawrence! Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie nicht beschuldigen! Aber was Sie hier tun, dagegen verwahre ich mich aufs schärfste! Sie hantieren mit einer Waffe herum und nehmen wortwörtlich mein Haus ein. Als ob Sie hier der Herr wären! Ganz zu schweigen davon, daß Sie auch etwas Rücksicht auf mich nehmen könnten. Schließlich hat man in der letzten Nacht meine geliebte Frau ermordet. Sie … Sie treten hier alle Rechte und Werte mit Füßen! Das ist … ungeheuerlich! Können Sie mir eine Erklärung dafür geben?« 338
Ich gab Mal einen Wink, sich näher zu mir zu setzen, und legte die MP auf den Tisch. »Wollen Sie wirklich erfahren, was sich in Ihrem Hause abspielt?« »Wie können Sie denn das nur in Frage stellen…?« »Nun, in Ordnung. Da das Spiel sowieso bald in die letzte Phase eintritt, werde ich wohl einige meiner Karten vor Ihnen aufdecken müssen. Sind Sie bereit, mir zuzuhören?« »Na, dann reden Sie mal«, ermunterte mich Frau von Rottensteiner. »Vielleicht werde ich auf meine alten Tage doch noch klug.« Ich wollte gerade anfangen, als Judy aufsprang. »Warten Sie! Wenn es so ist, und Sie wissen tatsächlich etwas, sollten das dann nicht auch die anderen erfahren?! Mr. Vang Pin, würden Sie bitte jemanden ausschicken, damit er die fehlenden Fluggäste hierherbringt?« »Das wird nicht nötig sein«, sagte ich mit Bedacht bissig. »Wer jetzt nicht hier ist, wird überhaupt nicht mehr kommen.« Die Teenager kreischten, und Judy stützte sich leichenblaß auf dem Tisch ab. »Was soll das heißen? Bitte…« Jetzt, wo der letzte Akt begonnen hatte, durfte ich nicht mehr geduldig oder schonungsvoll sein. Das Spiel sollte ab jetzt nach meinen Regeln gespielt werden. »General Villalobos wurde ermordet. Ich habe die Leiche selbst gesehen.« Wortlos starrten sie alle auf den Boden, nur die beiden Teenager schnieften vor sich hin. Judys Gesicht machte eine seltsame Veränderung durch, ihr Blick wurde irgendwie abgeklärter. »Und Leichenfresser?« »Von ihm weiß ich nichts. Genausowenig wie von Mr. Hardy und Mr. Wimmer. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie sich zusammen auf den Weg zum Mekong gemacht hätten. Bei allen dreien sind die Zimmertüren verschlossen gewesen…« Judy preßte die Lippen zusammen und schloß die Augen, um eine Träne zurückzuhalten. Ohne Erfolg. 339
Irgendwie tat sie mir leid. »Es könnte sein, daß Mr. Leichenfresser noch lebt…«, sagte ich ermutigend. Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein… Das ist unwahrscheinlich. Wenn er leben würde, hätte er mich nicht hiergelassen. Wir hatten nämlich besprochen, daß er…« Sie biß sich auf die Lippe, doch ich wußte bereits, was sie sagen wollte. Ich hängte die MP über die Schulter und spazierte vor ihnen auf und ab. Dabei versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen, und als ich halbwegs damit fertig war, stellte ich mich vor das große Fenster und schaute sie der Reihe nach an. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Keiner antwortete, nur Vang Pin winkte resigniert ab. »Wie bereits erwähnt, habe ich mich gestern nacht dazu entschlossen, mich ein wenig umzusehen. Speziell das Flugzeug wollte ich unter die Lupe nehmen. Da hätte mich einiges interessiert… Aber mein Plan schlug fehl. Jemand war mir zuvorgekommen. Er hat die Maschine tranchiert und sie schön Stück für Stück in einem Sumpf verschwinden lassen. Was können Sie dazu sagen, Mr. Vang Pin?« »Wieso…?« hob er überrascht den Kopf. »Glauben Sie etwa, daß ich…?« »Nehmen wir es mal an. Das Problem ist nämlich dies: Diese Boeing mußte auseinandergenommen werden! Mit einem Schneidbrenner, einer Schweißmaschine, Gott weiß womit! Und dann waren ziemlich viele Elefanten nötig, um das ganze Zeug abzutransportieren. Meines Wissens gibt es, abgesehen von Ihnen, niemanden, der die Möglichkeiten dazu hat: Meos, Elefanten, Werkzeuge. Oder wie sehen Sie das, Mr. Vang Pin? Wären Sie zu so etwas in der Lage?« »Nun, ja … aber warum hätte ich das tun sollen?« »Damit man uns nicht findet, sofern man überhaupt nach uns sucht. Damit man aus der Luft das Flugzeug nicht entdecken kann. Deshalb, zum Beispiel.« 340
»Ich dachte bisher, dazu würde es reichen, das Flugzeug, sagen wir mal, mit einem halben Wald voll Blätter zu tarnen… Oder waren Sie nicht bei der Armee? Da wird einem das doch beigebracht!« Ich zwang mir ein Lächeln ab. »Mr. Vang Pin, entweder spielen Sie perfekt den Unwissenden, oder aber Sie hinken meilenweit der Technik hinterher… Nun, nehmen wir mal an, irgendwo verschwindet ein Flugzeug. Sagen wir, an einem Ort, wo man es von oben nicht sofort entdecken würde. Also schaltet man in dem Suchflugzeug oder dem Helikopter – schwupp – die Infrarotkamera ein, und schon kann man die Umrisse der Maschine sehen! Egal, wieviele Bäume sie drübergelegt haben. Mit diesen alten Tricks kann man heutzutage nichts mehr erreichen. Oder nehmen wir zum Beispiel die Ultraschallpeilung… Der ausgesandte und reflektierende Ton würde dem Sucher sofort verraten, wo die Maschine liegt.« Er schüttelte anerkennend den Kopf. »Nun, ich muß wohl eingestehen, daß ich wirklich nicht gut informiert bin. Sehen Sie, ich wußte davon gar nichts! Wenn ich Ihre Maschine hätte verstecken wollen, wäre meine Wahl sicherlich auf Zweige und Blätter gefallen. Allerdings bleibt somit die Frage, wer es getan haben könnte.« »Beginnen wir doch bei den Elefanten. Wer hat hier in der Gegend so viele zur Verfügung, um in einer einzigen Nacht eine Boeing abzutransportieren?« »Vielleicht der Schwarze Prinz. Allerdings habe ich noch nie mit ihm gesprochen. Ja, und das Kloster. Sie haben auch eine Herde.« »Und die Meos? Könnten Sie nicht von ihnen etwas erfahren?« Vang Pin schüttelte den Kopf. »Ein Meo würde sich eher umbringen, als daß er seinen Auftraggeber verrät. Selbst wenn er am nächsten Tag bereits bei mir dienen würde… Nein, ein Meo vergißt seine Vergangenheit einfach.« »Äh … wer ist der Schwarze Prinz?« erkundigte sich Judy, die langsam wieder zu sich gekommen war. »Der Eigentümer der anderen Bergkuppe. Villalobos wurde an sei341
nem Pagodendach aufgeknüpft.« »Und woher … woher…?« »Ich war in der Nähe. Im Gebüsch.« Van Broeken sah mir spöttisch in die Augen. Er steckte einen Zahnstocher in den Mund und zerbiß ihn in zwei Hälften. »Na, und was haben Sie sonst noch in dieser ach so interessanten Nacht gesehen, Lawrence?« Ich hätte erzählen können, wen ich alles neben der Piste beobachten konnte, aber das schien mir jetzt nicht wichtig zu sein. Nicht annähernd so wichtig wie das Spinnen meines Netzes, in das die Bösewichte hoffentlich arglos hineinspazieren würden.
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ls ob ich es zufällig tun würde, schob ich die Maschinenpistole zurecht und beantwortete erst dann die pathetische Frage. Und schmierte mein Netz schön mit Honig ein. »Natürlich. Ich hatte das Vergnügen, Huan-Ti zu treffen.« Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich solch verblüffte Gesichter gesehen. »Wen?!« ächzte Judy. »Den Kaiser. Huan-Ti.« »Sie sind verrückt!« stellte Frau von Rottensteiner trocken fest. »Ja, das dachte ich am Anfang auch«, versicherte ich ihr. »Allerdings wurde ich eines Besseren belehrt. Huan-Ti hat zu mir gesprochen.« »Sie haben bestimmt halluziniert«, sagte Großvater. »Aber nein!« Wilhelmina von Rottensteiner winkte nur ab und steckte ein Stück Würfelzucker in den Mund. 342
Vang Pin schien die Sache allerdings zu interessieren. Er strich sich über den dünnen Bart und hob den Zeigefinger. »Ich würde Mr. Lawrence nicht auslachen. An diesem Ort sind schon Dinge passiert … die, wie soll ich sagen … nicht alltäglich waren.« »Zum Beispiel?« »Ich erzähle es Ihnen, sobald Mr. Lawrence fertig ist.« »Nun, viel habe ich nicht mehr zu sagen. Das Flugzeug wurde zerstört, und ich habe versucht, den Spuren der Elefanten zu folgen.« »Und? Haben Sie die Boeing gefunden?« »Nein. Zumindest nicht auf diese Weise. Leider bin ich kein geübter Fährtenleser. Außerdem ist die Gegend übersät mit Elefantenpfaden. Als ob man diese Dickhäuter mit Absicht so getrieben hätte, daß sie möglichst viele Spuren hinterließen. Schließlich kam ich irgendwie bei einem Sumpf an.« »Ich kenne ihn«, nickte der Hausherr. »Und dort sah ich dann, daß man an genau jener Stelle die Maschine versenkt hatte!« »Und wie sind Sie darauf gekommen?« »Es gab gewisse Anzeichen. Ein Koffer am Ufer, der wahrscheinlich von einem der Elefanten heruntergefallen war. Und dann … erwischte mich ein Meo.« Vang Pin schüttelte den Kopf, als ob man damit rechnen müßte, daß jeder Europäer im asiatischen Dschungel von Kopfjägern geschnappt wird. »Und…?« keuchte Judy. »Ich wäre beinahe umgekommen. Wenn … wenn mir nicht jemand im letzten Moment geholfen hätte.« »Wer?« »Das würde ich auch gerne wissen. Auf jeden Fall erledigte er, während ich eine Schlammkur machte, den Meo für mich.« »Und … wie?« »Sie meinen, wie er ihn getötet hat? Mit einer Halsschlinge, einer Garrotte. Sie wissen doch, was das ist, nicht?« 343
Judy zuckte zusammen und griff nach der Hand ihres Großvaters. »Und… Sie haben keine Ahnung, wer es war?« »Woher denn? Sicherlich derselbe, der auch für die anderen Morde verantwortlich ist. Darauf deutet übrigens auch die kleine Tonfigur, die ich dann neben der Leiche gefunden habe.« »Sie meinen, so eine, wie…« »Wie die Figur im Dschungel, bei der toten Stewardeß; und übrigens auch bei den anderen Leichen. Mein Schutzengel erledigte den Meo und hängte diese kleine Puppe über seinen Kopf. Wenn ich an übernatürliche Dinge glauben würde, müßte ich jetzt sagen, es war Huan-Ti.« »Warum sollte er so etwas tun?« »Vielleicht aus Voraussicht. Er hat Angst, man könnte seine Tonarmee finden. Und möchte verhindern, daß seine Beschützer in unwürdige Hände fallen…« Plötzlich meldete sich Dr. Camus mit krächzender Stimme zu Wort. »Ich an Ihrer Stelle würde mit solchen Dingen keine Scherze treiben. An Ihrer Stelle…« »Ich habe nicht vor, damit zu scherzen…« »Dürfte ich zu Ende sprechen? Ja, es kann sein, daß wir von oben beobachtet werden. Ich habe etliche Dinge gesehen, die nicht hätten passieren dürfen, wenn es nach der Wissenschaft ginge. Ich bin Arzt, ich weiß, wovon ich rede. Und ich finde es überhaupt nicht komisch, daß jemand, der schon dort ist, seine Rechte verteidigt. Es ist noch keiner von dort zurückgekommen. Wieso sollte ich nicht daran glauben, daß sie mit uns Kontakt aufnehmen könnten, wenn sie wollen?« »Trotzdem hielt ich es für seltsam, daß Huan-Ti gerade mit mir reden wollte. Wieso nicht mit einem Landsmann? Wieso mit einem Fremden?« »Huan-Ti war auch ein Fremder«, mischte sich jetzt Ho Ling ein. »Ein Barbar. Er hatte blaue Augen und rotes Haar. Ein richtiger Barbar.« »Woher nehmen Sie denn diesen Quatsch!« herrschte Großvater 344
sie mit unerklärbarer Heftigkeit an. »Huan-Ti war der größte Kaiser! Wie können Sie sagen, er war ein Barbar?!« Judy wurde rot und beugte sich zu ihm hinüber. »Du hast sie mißverstanden, Großvater! Sie sagt nur, daß er von barbarischer Abstammung war.« Großvater wollte den Streit fortsetzen, aber Vang Pin schnitt ihm das Wort ab. »Er war ein Barbar. Aber die Herkunft zählt nicht. Der Mensch wächst mit seiner Aufgabe. Dr. Camus hat wohl recht. Huan-Ti hat Sie mit Absicht auserwählt.« Ich beobachtete die Gesichter angestrengt, aber jeder schien ernst zu nehmen, was er gesagt hatte. Oder aber sie spielten es verdammt gut. »Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, warum er gerade mich auserkoren hat.« »Weil der Kaiser anscheinend sicher ist, daß man sein Grab finden wird, zusammen mit den Tonsoldaten. Vielleicht kann man da oben in die Zukunft blicken, wer weiß. Huan-Ti wollte, daß die Reliquien an einen würdigen Ort kommen. Und er hat Vertrauen in Sie, daß Sie dafür auch Sorge tragen werden!« »Verzeihen Sie, aber … es ist immer noch nicht ganz klar … obwohl…« Dr. Camus zog die Augenbrauen hoch und lächelte mich trübe an. »Wie hat er zu Ihnen gesprochen?« »Was genau meinen Sie…?« »Haben Sie ihn auch gesehen?« »Nein, das nicht…« »Aber die Stimme haben Sie gehört?« »Ja, natürlich.« »Vom Sumpf aus?« »Schwer zu sagen … sie schien von überall her zu kommen. Aus der Luft, dem Sumpf, den Büschen…« »Wie hat er gesprochen?« 345
»Äh … chinesisch, natürlich.« Das Wichtigste hatte mich noch niemand gefragt, und ich war gespannt, wann es soweit sein würde. Schließlich war es Vang Pin, der die alles entscheidende Frage stellte. »Und was wollte er von Ihnen? Ein Versprechen, daß niemand seine Ruhe stören wird? Im Gegenzug dafür, daß er Sie gegen den Meo beschützt hatte…?« Ich machte eine effektvolle Pause und spielte scheinbar gedankenverloren an der Waffe. »Im Gegenteil, Mr. Vang Pin… Huan-Ti hat ausdrücklich verlangt, daß ich sein Grab und die Tonarmee suche. Dr. Camus wird wohl recht haben, der Kaiser hat irgendwie Vertrauen zu mir gefaßt. Er weiß anscheinend, daß ich den Schatz, sofern ich ihn wirklich finden sollte, dem chinesischen Volk übergeben werde und die Tonsoldaten nicht an amerikanische Millionäre verscherbele. Und vielleicht … vielleicht empfindet er auch etwas Zuneigung für mich…« »Ach was.« Frau von Rottensteiner spitzte anzüglich die Lippen. »Ich wußte gar nicht, daß die chinesischen Kaiser so wild auf Engländer sind!« »Aber ich bin doch gar keiner«, lächelte ich ihr zufrieden ins Gesicht. »Nein?!« »Ich stamme aus Ungarn.« »Tja, das habe ich nicht gewußt… Aber ein Chinese sind Sie trotzdem nicht.« »Nun, das zwar nicht, aber … vielleicht haben vor langer, langer Zeit, in den Tiefen der Geschichte, Huan-Ti und meine Vorfahren einmal ein Treffen abgehalten. Ich meine, sinnbildlich. Schließlich hatte er blaue Augen und rote Haare. Er war ein Barbar. Und er weiß, daß ich ebenfalls aus einem Barbarenvolk stamme. Deshalb vertraut er mir.« »Wollen Sie mir tatsächlich weismachen, daß Sie diesen Unsinn auch noch glauben…?« schüttelte die alte Frau den Kopf. »In nicht wenigen Regionen der Welt werden viel gröbere Dumm346
heiten zur staatlichen Ideologie gemacht… Aber Sie haben recht, wir schweifen von der Realität ab. Wichtig ist eigentlich nur, daß mir Huan-Ti mitgeteilt hatte, wo ich seine Tonarmee finden kann.« Das schlug natürlich ein wie eine Bombe. Großvaters Hand rutschte hinter seinem Ohr weg, Judy fuhr auf, und Wilhelmina von Rottensteiner fixierte mich mit ihrem Blick wie der Wolf die Henne. »Könnten Sie das wiederholen?!« »Wie Sie wünschen. Ich-weiß-wo-die-Tonarmee-versteckt-ist!« »Wo?« »Hier ganz in der Nähe. Bei dem Dreispitzberg.« »Das sagt die Legende auch. Haben Sie eine Ahnung, wie viele solcher Märchen überall in China kursieren?« »Ja. Allerdings habe ich ziemlich viel Hoffnung bei diesem hier.« »Wieviel mehr ist diese Legende denn wert als all die anderen?« Ich verzog entnervt das Gesicht, was mir nicht einmal schwerfiel. »So viel, daß ich mich im Gegensatz zu den anderen Märchenerzählern selbst von einigen Dingen überzeugen konnte, die die Sache etwas glaubwürdiger gestalten. Legenden und Sagen kann es Tausende geben, aber Huan-Ti tötete nur meinen Gegner und sagte nur mir, wo ich sein Grab finden kann! Wie können da die anderen Geschichten mit meiner konkurrieren?« Meine Augen glänzten wohl – mit Absicht – wie im Wahnfieber, was Frau von Rottensteiner auch sofort mit einer Bemerkung bestätigte. »Sie haben den Verstand verloren«, meinte sie ernst. Ich blickte auf meine Uhr und lächelte gezwungen. »Geben Sie mir noch fünf Minuten?« Vang Pin war gerade im Begriff gewesen, aufzustehen. Er schaute mich fragend an und setzte sich dann unwillig wieder. »Worum geht es?« »Ich möchte Ihnen eine alte Geschichte erzählen.« »Ist das absolut notwendig? Der Tod meiner Frau…« »Ich verspreche, sie wird Ihnen gefallen. Auch den anderen… Al347
len wird sie sehr gefallen.« »Was wird es?« krakelte Großvater, der wieder einmal den Faden verloren hatte. »Was sagt dieser Kerl?« »Ich werde mich kurz fassen und versuchen, das Drumherum wegzulassen. Es geht nur um die Fakten.« »Sie machen mich neugierig«, sagte Frau von Rottensteiner. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, auf das Treffen oder, Gott bewahre, die Verwandtschaft zwischen Huan-Ti und Ihren Vorfahren einzugehen?« »Nicht im entferntesten. Die Geschichte ist viel jünger. Kaum ein paar Jahrzehnte alt. Aber zwischenzeitlich hat sich viel verändert.« »Wem sagen Sie das…?!« »Damit Sie wirklich alles verstehen, muß ich aber doch etwas weiter ausholen. Es fängt mit Huan-Ti und seinen Tonsoldaten an. Nein, nein, keine Angst, es geht nicht um meine Vorfahren… Ich wollte nur sagen, daß seit Jahrhunderten Gerüchte und Legenden über die verborgene Tonarmee des Kaisers kursieren. Wobei diese Geschichten interessanterweise immer mit irgendwelchen konkreten Fundstellen verbunden sind.« »Was soll Ihrer Meinung nach denn daran interessant sein?« erkundigte sich die Professorin. »Es ist ganz natürlich, gewisse markante geologische Orte mit Legenden und Sagen in Verbindung zu bringen! Es gibt mindestens hundert Orte, die speziell mit der Tonarmee in einem Atemzug genannt werden.« »Richtig. Genau darum geht es. Überall in China gibt es Berge oder auch nur Hügel, die angeblich den Schatz des Huan-Ti markieren. Die Armee des Kaisers.« »Na und?« »Diese Legenden erreichten irgendwann Anfang dieses Jahrhunderts auch Europa, vielleicht sogar noch früher. Es wurden mehrere einschlägige Artikel verfaßt, obwohl die Wissenschaftler selbst die Sache nicht allzu ernst nahmen. Höchstens Ethnographen, die an der Folklore der jeweiligen Region interessiert waren. Für sie war der Begriff des verborgenen Schatzes so wichtig. Denn es ging nicht nur um die Tonarmee, sondern auch um das Grab des Huan-Ti selbst. 348
Und um die rätselhaften Schriftrollen, die all das Wissen und all die Geheimnisse der damaligen Zeit beinhalten sollten.« Die Tennismädchen sperrten Mund, Augen und Ohren auf, vergaßen vor lauter Interesse sogar das Heulen. Dieser Erfolg erinnerte mich an die schönsten Jahre meiner akademischen Laufbahn. »Die Folkloristen waren daran interessiert, welchen Zusammenhang es zwischen Huan-Ti und den großen Wissensströmen des Altertums gegeben haben mochte. War die Idee mit der Tonarmee eine typisch chinesische, oder wurde sie von ägyptischem, griechischem oder persischem Gedankengut beeinflußt? Oder verhielt es sich genau umgekehrt? Erreichten die Werke des chinesischen Geistes den Westen und befruchteten dort die archaische Mittelmeer-Kultur? In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde lediglich in ethnographischen Zirkeln über dieses Thema diskutiert und selbst dort nur sehr verhalten, schließlich hatte man die gnostischen Schriften der Kopten noch nicht gefunden. Auf jeden Fall, während sich die Folkloristen noch herumstritten, machten sich andere Forscher bereits auf den Weg. Es gab ein paar junge Leute in Amerika und Deutschland, die die Sache von einem ganz anderen Blickwinkel aus betrachteten. Sie sahen die Sache genauso wie Schliemann. Sie wissen schon, der Entdecker von Troja. Er hatte immer behauptet, daß die Geschichten von Homer einen großen Wahrheitsgehalt besäßen – daß es Troja wirklich gegeben hat. Und er hat die Stadt schließlich auch gefunden.« »Was hat das mit Huan-Ti zu tun?« schüttelte Vang Pin den Kopf. »Vorerst gar nichts. Diese jungen Archäologen dachten einfach nur etwas nach. Die Mauern von Troja lagen noch nicht so lange frei. Schliemanns Entdeckung hatte in diesen Kreisen einen ziemlich großen Wirbel ausgelöst. Man könnte sagen, unter den jungen Wissenschaftlern war die Hölle los! Alle fingen an zu glauben, daß jede Sage, jede Geschichte und jedes Märchen ein Körnchen Wahrheit beinhaltete, wenn es auch noch so gering war. Man brauchte nur die kleinen Schnipsel zusammenzusuchen, und schon hatte man den Ort, wo man graben mußte. In diesen euphorischen Jahren dach349
ten diese besagten amerikanischen und deutschen Archäologen zum ersten Mal daran, daß man mit der deduktiven Logik eines Schliemann auch ein anderes Rätsel lösen könnte.« »Das von Huan-Ti«, nickte Judy. »Genau. Sie dachten, wenn Schliemann mit Hilfe der Epen von Homer Troja gefunden hatte, könnte dasselbe auch mit dem Grab des Kaisers passieren. Schließlich hieß es ja zu der Zeit, jede Legende würde den wahren Fundort verraten. Aber das sagte ich bereits… Nun, sie steckten die Köpfe zusammen und entschieden sich bald darauf, die Sache vor Ort zu untersuchen. In diesen Jahren – in den Zwanzigern – war China überhaupt nicht mehr so unerreichbar, wie man vielleicht glauben würde. Die Kolonialisierung war in vollem Gange. Als würden sich die westlichen Großmächte – allen voran die Vereinigten Staaten – dafür rächen wollen, daß das Land bis dahin allen äußeren Einflüssen getrotzt hatte. Wie hungrige Löwen auf ein verletztes Kalb, stürzten sie sich auf das Land. Und der auch aus militärischer Sicht unterlegene Staat konnte den Angreifern nicht lange standhalten. Ich will Ihnen hier keine Vorlesung in Marktwirtschaft halten, aber Sie können mir glauben, daß China trotz seiner Armut ein riesiger Markt für die Industrieländer war. Da das Mandschurische Kaiserhaus nicht in der Lage war, diesen Riesen ins zwanzigste Jahrhundert zu führen, war es automatisch zum Scheitern verurteilt. 1911 brach die Revolution aus, in deren Verlauf man den letzten chinesischen Kaiser verjagte, die Republik ausrief und Sun Yat-sen zum Präsidenten machte. Die nächsten Jahre verliefen im Zeichen des Chaos. Bereits im darauffolgenden Jahr scheiterte die Regierung, und Jüan Shi-kaj rief die Militärdiktatur aus. China zerfiel praktisch in die Hoheitsgebiete diverser marodierender Militärs; die zentrale Verwaltung brach zusammen, jegliche Papiere und Pässe hatten höchstens in der Stadt Gültigkeit, wo sie ausgestellt worden waren, und das auch nur für kurze Zeit. Und warum ich das alles erzähle? Nun, um zu zeigen, daß Schliemann einen schlechten Zeitpunkt gewählt hatte, um Troja zu fin350
den. Er hätte es früher, oder aber viel später tun sollen – natürlich aus der Sicht der Expedition. Denn was nützte schon jugendlicher Eifer oder die Unterstützung diverser Stiftungen, wenn es keine reelle Chance gab, nach China zu kommen? Gut, Geschäfte machen konnte man … aber eine Forschertruppe in die Wildnis schicken…? Es gab zu jener Zeit keinerlei Sicherheiten, denn die verschiedenen Befehlshaber arbeiteten immer auf eigene Rechnung. Mit anderen Worten, sie lebten von Raub, Mord und anderen netten Geschäften. Wenn ihnen eine westliche Expedition in die Hände gefallen wäre, hätten die Mitglieder noch froh sein können, wenn sie mit den Kleidern am Leib nach Hause zurückkehren durften. Ganz zu schweigen davon, daß man ihnen sofort alles wegnehmen würde, was sie eventuell bei einer Ausgrabung finden würden. Also entschieden sich die Archäologen, die Fahrt erst einmal zu verschieben. Bis sich in China die Verhältnisse ein wenig verbessert hatten. 1912 geschah aber auch noch etwas anderes, nicht nur der Fall der bürgerlichen Regierung. Der Kuomintang wurde gegründet, also die Nationale Partei, angeführt von Chang Kai-shek, die anfänglich alle demokratischen Kräfte vereinte, die um Chinas Zukunft besorgt waren. Sogar die Kommunisten gehörten zu diesem Zeitpunkt noch zu der Vereinigung. Nun, Chang Kai-shek wollte Ordnung schaffen, und das gelang ihm auch ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er immer mehr nach rechts driftete und es mit den Kommunisten zum Bruch kam, also etwa 1927. Obwohl China zu jenem Zeitpunkt immer noch Tausende von Gefahren barg, waren der Kuomintang und speziell Chang Kai-shek stark genug, um zum Beispiel einer ausländischen Expedition Sicherheit zu garantieren. Die Archäologen, die damals die Idee einer Forschungsreise aufgeworfen hatten, waren 1927 nicht mehr dieselben. Viele von ihnen waren inzwischen in mittleren Jahren und hatten vielleicht sogar schon ihren Jugendtraum vergessen. Unter Umständen waren es ihre eigenen Kinder, die die Geschichte der Tonarmee wieder ausgruben und das bis dahin zusammengetragene Material durchforsteten. Und 351
so, wie ich die Stiftungen in Amerika kenne, ist es gut möglich, daß sogar noch das Geld bereitstand, wahrscheinlich mit Zins und Zinseszins… Wer konkret den Vorschlag gemacht hat, die Expedition zu starten, weiß ich nicht. Auf jeden Fall dürfte es Jahre gedauert haben, bis die Mannschaft zusammengestellt war. Ich weiß auch nicht, wer genau zu dieser Truppe gehörte. Hauptsächlich Amerikaner und Deutsche natürlich, aber es ist gut möglich, daß auch noch andere Nationen ihre Wissenschaftler beisteuerten. Wenn ich jemals aus dieser Situation hier wieder herauskommen sollte, werde ich bestimmt eine Spur finden – sofern sie nicht alle verwischt worden sind.« »Was wollen Sie damit sagen?« flüsterte Judy. »Das erkläre ich noch. Also, Ende der zwanziger Jahre stand die Expedition bereit. Fünfzehn Forscher fuhren mit, genau fünfzehn. Das ist wichtig, Sie sollten es sich merken! Fünfzehn.« »Ist das irgendeine Glückszahl?« meinte Lisolette spöttisch. »Ich glaube kaum. Es war wohl Zufall, obwohl es bei solchen Unternehmungen sicherlich eine Mindestteilnehmerzahl gibt. Sowohl zu viele wie auch zuwenig Köche könnten den Brei verderben … verzeihen Sie den Vergleich. Fünfzehn muß wohl genau gestimmt haben. Ich glaube, Frau von Rottensteiner könnte hierzu etwas mehr sagen…« Die Professorin nickte trocken. »Um die Fahrt auch nur im entferntesten ausführen zu können, mußten sie sich natürlich erst einmal den guten Willen, mehr sogar noch, die Unterstützung der chinesischen Behörden sichern. Und die Chinesen haben sie ihnen schließlich auch zugesichert.« »Seltsam«, meinte Van Broeken. »So wie Sie das China der Zwanziger beschreiben, würde das wohl sicher keiner erwarten.« »Trotzdem war dem so. Und die Erklärung ist auch ganz einfach: Wie bereits erwähnt, zersplitterte der Kuomintang 1927 in zwei Gruppen, nachdem sich die Kommunisten gegen Chang Kai-shek gestellt hatten. Er mußte nun nicht mehr nur gegen die verschiedenen Militärs Krieg führen, sondern auch noch gegen die Rote Armee. Auf 352
wen konnte er sich in diesem verzweifelten Kampf denn eher stützen als auf das westliche Ausland? Und die Sympathie, sofern ich dieses Wort benutzen darf, beruhte natürlich auf Gegenseitigkeit. Die Imperialisten konnten gegen die Kommunisten auch nur auf Chang Kai-shek setzen. Und was hätte seine Loyalität gegenüber dem Westen mehr zum Ausdruck gebracht als die persönliche Fürsorge und sein Wohlwollen in bezug auf eine deutsch-amerikanische Expedition? Ich glaube, unsere Archäologen wußten von alldem gar nichts. Oder wenn, so war es ihnen egal. Sie waren mit der Tonarmee beschäftigt und mit der großen Chance, Huan-Tis Grab zu finden. Aufgrund der erwähnten politischen Umstände ging es relativ schnell, die nötigen Unterlagen aus China zu besorgen, vielleicht sogar verbunden mit dem persönlichen Segen Chang Kai-sheks. Also konnte es endlich losgehen! Ob von Deutschland oder Amerika aus – wer kann das schon sagen. Auf jeden Fall waren sie 1927 bereits in China angekommen.« »Woher wissen Sie das alles?« wunderte sich Van Broeken. »Es ist ja fast so, als wären Sie dabeigewesen…« »Leider nicht«, antwortete ich lächelnd. »Dann könnte ich Ihnen noch mehr Einzelheiten erzählen … und wäre wohl auch um einiges älter… Die Expedition kam also an, wahrscheinlich in Peking. Leider kann ich nicht sagen, wie lange die Vorbereitungszeit gedauert hat oder wo genau sie mit der Suche anfangen wollten. Sicherlich ging es erst einmal in die dortigen Bibliotheken, vielleicht hat ja Chang Kai-shek sogar selbst geholfen und ihnen den Zutritt zu den geheimen Archiven des Kaiserlichen Palastes erlaubt. Mit Sicherheit waren unter den Forschern einige Sinologen, was nicht nur zum Durchlesen von Dokumenten notwendig war, sondern auch bei der Feldarbeit. Aber kehren wir für einen Moment zu General Chang Kai-shek zurück. Wir wissen, aus welchen Erwägungen heraus er die Expedition willkommen hieß. Und wie wichtig es für ihn war, daß die Forscher erfolgreich waren. Stellen Sie sich vor, was für einen po353
litischen Vorteil es ihm gebracht hätte, wenn seine Schützlinge die Tonsoldaten finden würden! Man würde die archäologische Sensation des Jahrhunderts in einem Atemzug mit seinem Namen erwähnen…! Er durfte nicht zulassen, daß den Forschern etwas zustieß! Das mindeste, was er tun konnte, war die Entsendung Dutzender, wenn nicht sogar Hunderter von Männern, die der Expedition freies Geleit sichern sollten.« Ich wischte mir die Stirn ab, rückte die Maschinenpistole an meiner Schulter zurecht und fuhr fort. »Es tut mir leid, aber wir müssen wieder auf ein Nebengleis. Chang Kai-shek hatte einen verläßlichen Vertrauensmann, einen hartgesottenen jungen Mann namens Lei Tshung-tao. Sein Leben liegt für uns zum größten Teil im dunkeln, es gibt keine Fotos von ihm, einige Details seiner Aktivitäten wurden bewußt geheimgehalten … nicht zuletzt, weil er 1927 bereits der Chef von Chang Kai-sheks Geheimpolizei war. Wir glauben, daß er bei all den geheimen Verhandlungen dabei war, die sein Chef oder dessen Abgesandte mit den abtrünnigen Generälen, Mitgliedern des gestürzten Kaiserhauses, den Kommunisten oder später den Japanern geführt hat. Und obwohl er bei solchen Gelegenheiten natürlich immer dem Kuomintang diente, ließ er es sich nicht nehmen, persönliche Freundschaften oder Zweckgemeinschaften aufzubauen. Lei Tshung-tao war klug und dementsprechend skrupellos. Es dürfte ihn kaum etwas anderes interessiert haben als seine eigene Karriere. Kaltblütig verriet er alles und jeden, wenn es der Plan so verlangte. Sicherlich war er Chang Kai-shek für die Position des Geheimdienstoberhauptes und den Rang eines Obersten dankbar, dennoch hielt sich dieser Dank, wie wir später sehen werden, in Grenzen. Lei Tshung-tao war intelligent und raffiniert wie eine Schlange; er konnte mit den Seelen der Menschen spielen und hatte auch Geduld, wenn es nötig war. Chang Kai-shek übertrug ihm die Verantwortung für die Expedition. Ob er sich darüber besonders freute, weiß ich nicht. Ich denke wohl, eher nicht. Er machte seine Arbeit und versuchte darauf zu achten, daß den Forschern nichts zu354
stieß. Weder über die Arbeit der Expedition noch über die Beziehung zwischen ihnen und dem Geheimpolizisten weiß ich etwas. Ich halte es allerdings für wahrscheinlich, daß er immer wieder bei ihnen auftauchte und nach dem Rechten sah, um zu erfahren, ob es ihnen an nichts fehlt. Bei solchen Gelegenheiten erzählten ihm die Archäologen wohl auch etwas über die Legende der Tonarmee. Lei Tshung-tao war, wie erwähnt, ein intelligenter Mensch. Er hatte die Akademie in Nanking absolviert, dort, wo Chang Kai-shek und Tschu En-laj noch gemeinsam unterrichtet hatten. Der junge Soldat gehörte sicherlich zu ihren Lieblingsschülern… Da ihm die Forscher absolut vertrauten, zeigten sie ihm wohl ihre Quellen und stellten gemeinsam Theorien auf, wo sich der Schatz befinden könnte und wo wohl der große Kaiser seinen ewigen Schlaf gefunden hatte. Lei Tshung-tao wurde langsam, aber sicher besessener von der Legende. Warum? Das dürfte mehrere Gründe haben. Zum einen seine bereits erwähnte Intelligenz. Er war geblendet von dem Mythos, von der Möglichkeit, ihn zu enträtseln. Er wollte dort sein, wenn das Grab gefunden, die unterirdische Kammer geöffnet wurde, Teil dieser großen Entdeckung werden. Nur am Rande füge ich hinzu, daß Sie daran auch sehen können, mit welcher Begeisterung und Berufung die Archäologen an die Arbeit gingen, wenn sie sogar diesen verwegenen, zu allem entschlossenen und sehr realistischen Menschen mit einer Sage derart beeindrucken konnten. Der Oberst fing an, der Geschichte Glauben zu schenken, und dachte Tag für Tag darüber nach. Dann fing er wohl an, die Möglichkeiten durchzuspielen: Was wäre, wenn man das Grab wirklich finden sollte? Die Sensation würde jede Titelseite der Welt füllen, und eben dort würde auch sein Name stehen. Dann dachte er diesen Gedanken zu Ende und fragte sich, wie es wohl wäre, wenn nur sein Name auf den Titelblättern stehen würde. Wenn man den Fund des Jahrhunderts einzig und allein ihm zuschreiben würde. Er würde in die Geschichtsbücher eingehen, man 355
würde Artikel über ihn schreiben, ihn in den Schulen verehren. Die Sache beschäftigte ihn wohl derart, daß er weitergrübelte. Und wenn ein Soldat grübelt, kommt selten etwas Gutes heraus. Lei Tshung-tao sagte sich bereits kurze Zeit später, daß ihm die Schulbücher egal, seine Karriere dafür um so wichtiger war. Blieb also nur noch die Frage, wie er die Expedition zu seinem persönlichen Vorteil nutzen konnte… Ja, genau das war die wichtige Frage. Und obwohl von einer Tonarmee noch weit und breit nichts zu sehen war, legte er sich schon eine Taktik zurecht: Mit den Kunstschätzen wollte er sich das Wohlwollen ausländischer Gönner erkaufen, die ihn dann auf den Regierungsstuhl katapultieren würden. Kann man sich überhaupt wundern, daß der geschickte und kluge Geheimdienstchef zu dem Schluß kam, er müßte seinen Arbeitgeber verdrängen und dessen Platz einnehmen…? Aber Lei Tshung-tao war, wie gesagt, nicht dumm. Er wußte, daß das gerade erst begonnene Spiel mehrere mögliche Ausgänge haben konnte. China war für einen solchen Plan zu groß, die Bedingungen und Gegebenheiten zu kompliziert und die Zukunft viel zu unklar. Er mußte damit rechnen, daß aus seinen hochtrabenden Träumen außer Luftblasen nicht viel übrig bleiben würde. Nicht nur, daß sich sein Präsidentenposten zerschlagen mochte, es konnte sogar sein, daß er seinen momentanen Posten verlor. Aber reich konnte er immer noch werden… Zum Beispiel, wenn er sich die Tonsoldaten besorgte. Als er mit seinen Gedanken soweit gekommen war, wurde ihm klar, daß es vielleicht gar nicht gut wäre, wenn die Expedition Erfolg hätte. Wahrscheinlich 1929 oder 1930 fiel ihm zum ersten Mal ein, daß es seinen Zielen am meisten diente, wenn Huan-Tis Tonsoldaten erst dann auftauchten, wenn er die Erlaubnis dazu erteilte… Dazu mußten sie aber erst einmal gefunden werden. Der Oberst hatte inzwischen überhaupt keine Zweifel mehr, daß die Legende der Wahrheit entsprach. Daß Huan-Tis Grab tatsächlich existierte, genauso wie die Tonarmee; man mußte sie nur finden. Ich glaube, von diesem Moment an war er immer häufiger Gast bei der Expe356
dition und wartete ungeduldig darauf, daß eine Spitzhacke auf dem Kopf eines Tonsoldaten landete. Die internationale Politik und manch ein geschichtliches Ereignis machten ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Sowohl innerhalb Chinas als auch auf dem Weltparkett wurde es unruhiger. Die Nationale Revolution der Kommunisten im Süden mußte gestoppt werden, im Dezember 1927 wurde die Kantoner Kommune ausgerufen, die ebenfalls vernichtet werden mußte. Chang Kai-shek hatte also genug zu tun. Da er immer mehr vor den schnell an Popularität gewinnenden Kommunisten um seine Macht fürchtete, unternahm er alles, um sie loszuwerden. Er kämpfte gegen die Kommunisten an, ließ viele Parteimitglieder hinrichten, und führte Feldzüge in den nördlichen Regionen. Bis 1928 sollten diese jedoch alle ohne Erfolg bleiben, bevor er dann schließlich Peking einnehmen konnte. Sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, daß es zwischen dem Präsidenten und seinem Geheimdienstchef in diesem Jahr erstmals zu Reibereien kam. Lei Tshung-tao verbrachte immer mehr Zeit bei den Archäologen, anstatt sich um den Feind, in diesem Fall die Kommunisten, zu kümmern. Doch Chang Kai-shek ließ so nicht mit sich umspringen: Er rief den Oberst zu sich, beschimpfte ihn vor allen Leuten und ordnete ihm eine neue Aufgabe zu. Lei Tshung-tao mußte nachgeben, also hatte er sicherlich jemanden zur Expedition geschickt, der ihm über jeglichen Fortschritt berichten sollte. Dann zog er sich zurück und verschwand im dunklen Nebel der Geheimdienste.« »Was für eine schöne Ausdrucksweise«, grinste Frau von Rottensteiner. »China ist ja schließlich auch schön. Aber ich möchte mit den Dingen, die größtenteils auch mir nur aus zweiter Hand bekannt sind, fortfahren. Also, zurück zur Expedition…« Vang Pin stand auf und stützte sich auf den Tisch. »Eine hübsche und lehrreiche Geschichte, Mr. Lawrence … und zumindest für mich, wie alles, was mit meiner geliebten Heimat zu 357
tun hat, äußerst interessant. Eine Frage hätte ich allerdings: Was Sie da erzählt haben, ist das erfunden oder wahr?« »Ich habe bereits angedeutet, daß ich gewisse Dinge genau weiß, andere vermute und wieder andere wohl nie beweisen könnte. So sieht es aus.« »Ich verstehe. Und die Dinge, die sich Ihrer Meinung nach so und nicht anders abgespielt haben … nun, ähm … sind Sie sich da absolut sicher, daß die so vorgefallen sind?« »Absolut.« »Aber warum?« »Ich habe Dokumente, die diese Ausführungen stützen.« »Haben Sie die etwa zusammengetragen?« »Warum ist das wichtig?« »Nur der Verläßlichkeit wegen.« »Ich verstehe. Nun … nein, sie sind nicht direkt von mir. Aber sie gehören einem fähigen Menschen, der jetzt nicht hier unter uns ist und der sich seit Jahren mit Lei Tshung-tao und dem Schicksal der Expeditionsmitglieder befaßt. Er hat mir seine Unterlagen, ähm … überlassen.« Unser Gastgeber verbeugte sich und setzte sich ohne ein weiteres Wort wieder hin. »Gut, ich möchte dann gerne fortfahren. Also, zurück zur Expedition. Wir wissen, daß sie China erreicht hat, und wir wissen, daß sie unter den wachsamen Augen Lei Tshung-taos mit ihrer Arbeit begann. Wir haben auch einen kleinen Hinweis, wo die Archäologen gearbeitet haben. Ein Artikel aus einer deutschen Zeitung von 1930 berichtet davon, daß die Expedition kurz vor der japanischen Okkupation der Mandschurei irgendwo im Norden unterwegs gewesen ist. Denen, die in der chinesischen Geschichte nicht so bewandert sind, muß ich noch ein paar Dinge erklären. Im Herbst 1931 annektierte Japan einen größeren Teil Chinas, die Mandschurei, unter dem Vorwand, das Mandschurische Kaisertum wiederherzustellen. Allerdings war jedem klar, daß es in Wahrheit nur um die Erweiterung des ei358
genen Machtraums und letztlich die vollständige Eroberung Chinas ging. Unsere ahnungslosen Forscher wurden schließlich auch genau dort von der Invasion überrascht. Natürlich stellt sich hier die Frage, warum die Archäologen nicht schon vorher das Gebiet verlassen haben. Schließlich war der chinesische Geheimdienst schon lange vor Ausbruch des Krieges über die Pläne der Japaner informiert gewesen. Nun, hier kann ich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht war Lei Tshung-tao so sehr von seinen anderen Aufgaben eingenommen oder so weit von der Mandschurei entfernt, daß er sie einfach nicht warnen konnte. Vielleicht waren sie gerade irgendwo mit Ausgrabungen beschäftigt und unerreichbar … wer weiß? Und dann gibt es da auch noch eine dritte Möglichkeit. Chang Kai-shek hatte nämlich vorgehabt, sich mit den Japanern zu arrangieren. Er dachte, daß die Eroberer mit der Mandschurei und dem neuen Kaiserreich Mandschukuo zufrieden sein würden. Es gab erste Verhandlungen, geheime natürlich, und ich wäre nicht überrascht, wenn sich herausstellen würde, daß Lei Tshung-tao mit von der Partie war. Die Japaner versprachen Chang Kai-shek sicherlich, nur die Mandschurei zu besetzen, sofern er nicht allzu viel gegen die Marionettenregierung des letzten Kaisers Pu-ji unternahm. Lei Tshung-tao hat wohl auch ein Zusatzabkommen getroffen, wodurch die Expedition weiter ungestört arbeiten konnte und den Ausländern nichts geschah. Während er selbst natürlich insgeheim immer ein Auge auf sie werfen durfte.« Ich holte tief Luft und sah sie einen nach dem anderen an. Von Gesicht zu Gesicht schaute ich jedem direkt in die Augen. Und als ich dann wieder sprach, war meine Stimme fest und bedeutungsschwer. »In diesen Jahren haben dann die Archäologen die Tonarmee und das Grab des Huan-Ti gefunden.« Das Chaos hätte nicht größer sein können, wenn eine mittlere Bombe explodiert wäre. Alle sprangen auf und riefen durcheinander. 359
»Unsinn!« schrie Vang Pin, aber sein erregtes Gesicht schien vom Gegenteil zu zeugen. »Die Legende kann nicht wahr sein!« Die Tennismädchen zeigten mir das internationale Siegeszeichen und grinsten, als ob wir drei gerade erst gemeinsam den Schatz gehoben hätten. Als es langsam wieder ruhiger wurde, fuhr ich fort. »Doch, Mr. Vang Pin, es ist wahr. Die Tatsachen deuten darauf hin, daß die Expedition ihr Ziel erreicht hat.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich werde es Ihnen gleich erzählen. Vorher aber müssen Sie noch ein wenig Geduld haben. Sie sollen genau verstehen, wie ich zu diesem Schluß gekommen bin. Also… Ein weiterer Zeitungsartikel aus Deutschland, diesmal von 1933, berichtet bereits von einer verschwundenen Expedition. Die Zeit zwischen 1931 und 1933 ist und bleibt ein Rätsel. Formal war es nicht mehr China, wo die Forscher arbeiteten, also gab es überhaupt keine Nachrichten über sie. Wir wissen auch nicht, wie die japanischen Besatzungstruppen mit ihnen umgegangen sind. Es ist unklar, wieviel die Unterstützung Lei Tshung-taos wert war. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, daß er zu dieser Zeit bereits für die Japaner gearbeitet hat.« »Woher nehmen Sie das alles bloß?« murrte mich Wilhelmina von Rottensteiner an. »Wie gesagt, viele Fakten sprechen für sich. Wenn sich jemand die Mühe macht und genau aufpaßt, kann er eine Menge herausfiltern.« »Und Sie passen natürlich ganz genau auf?!« Ich fuhr mit meiner Geschichte fort, als ob sie mich gar nicht unterbrochen hätte. »Die Archäologen fanden das Grab. Allerdings hatten sie irgendwie schon früher angefangen, Lei Tshung-tao nicht mehr zu trauen. Was ihre Vorsicht weckte, kann ich nicht sagen. Vielleicht sein übertriebenes Interesse an der Tonarmee, vielleicht etwas ganz anderes… Oder daß er im von Japanern kontrollierten Teil Chinas herumspazieren konnte, wie es ihm beliebte. Oder die Japaner hatten etwas verraten… Es gibt viele Möglichkeiten. Klar ist jedenfalls, daß 360
sie gewarnt waren. Und dabei spielte ein Franzose namens La Coster eine nicht unwesentliche Rolle. Leutnant La Coster.« »Aha … eben hieß es noch, es wäre eine deutsch-amerikanische Expedition gewesen…«, murmelte Frau von Rottensteiner. »Leutnant La Coster stieß erst später zu den Forschern. Von seiner Person und der Tatsache, daß er die Archäologen erreicht hatte, erfuhr ich durch einen Privatbrief, den mein bereits erwähnter verläßliche Bekannter aufgestöbert hatte. Aber bevor ich zu dem Franzosen komme, würde ich Sie gerne noch etwas fragen: Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß ich bei den Mitgliedern dieser Expedition nie irgendwelche Namen benutzt habe?!« »Ich wollte gerade nachfragen«, brummte Van Broeken. »Nun … ich kenne sie einfach nicht! Nirgends, in keiner Unterlage konnte ich Spuren der Namen finden. Als ob jemand mit voller Absicht diese Daten ausgelöscht hätte… Aber es kann natürlich auch Zufall sein. Eigentlich bin ich mir sogar sicher, daß man irgendwo in Amerika, vielleicht in den Archiven der betreffenden Stiftung, auf die Namen stoßen würde. Warum es keine öffentlichen Aufzeichnungen gibt? Nun, möglicherweise waren es zu viele Namen für einen kleinen Zeitungsartikel, oder die Forscher baten selbst darum, anonym zu bleiben. Im Falle eines Mißerfolges wäre es einfach gewesen, sich in die Namenlosigkeit zurückzuziehen. Das alles wäre gut möglich. Einen Namen allerdings kennen wir. Den von Leutnant La Coster.« »Ein Soldat, noch dazu Franzose, in dieser Expedition?« schüttelte Vang Pin ungläubig den Kopf. »Er war kein reguläres Mitglied der Truppe. Den etwas verworrenen Zeilen des Briefes nach zu urteilen wütete zu der Zeit irgendeine Seuche im Norden Chinas – dem könnte man übrigens anhand der damaligen Zeitungen aus dem Gebiet nachgehen. Jedenfalls schickte die französische Botschaft, aus welchem Grund auch immer, La Coster in die Region. Möglicherweise sollte er die Lage ausloten, vielleicht auch Hilfe leisten… Er könnte Militärarzt gewesen sein… Auf jeden Fall war er weit von Peking entfernt im Hinterland tä361
tig. Wir schreiben inzwischen 1937, in der Weltpolitik wurde es immer verworrener. Japan bereitete sich unverhohlen auf den Krieg gegen China vor, und im Sommer bot Mao Tse-tung dem Kuomintang eine Allianz gegen die Japaner an. Chang Kai-shek nahm jedoch nicht an, im Gegenteil, er setzte alles daran, die Kommunisten zu vernichten. Im Juli 1937 griff Japan an, womit dann der große Verteidigungskrieg Chinas begann.« Es war still im Raum, keiner fügte eine Bemerkung hinzu. Als ob alle – abgesehen von den Jüngeren natürlich – in Gedanken in dieses unheilvolle Jahrzehnt zurückreisen würden. »Uns obliegt es nun, der Spur der Expedition zu folgen. Zwischen 1927 und 1937 liegen genau zehn Jahre. Können Sie sich vorstellen, welch lange Zeit das ist? Und in der Zwischenzeit gab es kaum irgendeinen Kontakt zu den Forschern. Daß auch die Familienmitglieder und Freunde in Sorge waren, beweisen etliche Briefe und Zeitungsausschnitte. Aber wieso waren sie nicht zurückgekehrt? Wieso hatten sie sich nicht gemeldet? Wieso schrieben sie keine Briefe nach Hause, wieso verbrachten sie ihre wichtigsten Forschungsjahre in China, ohne Kontakt mit der Heimat aufzunehmen?« Es war unheimlich still geworden. Hätte es im Raum Fliegen gegeben, hätte ihr Summen wie ein gewaltiges Donnern geklungen. »Es gibt zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Erstens, sie waren in Gefangenschaft geraten. Zum Beispiel in die von Lei Tshungtao, der sie auf die Art zwingen wollte, für ihn die Tonarmee zu finden. In den turbulenten Jahren hatte man sie auf internationaler Ebene bald vergessen, und auch Chang Kai-shek hatte Besseres zu tun, als sich um seine ehemaligen Schützlinge zu kümmern. Jeder konnte die Forscher gefangennehmen, keiner kümmerte sich mehr um sie. Die andere Möglichkeit wäre, daß sie selbst diese Abgeschiedenheit gewählt hatten. Sie wollten vor den Augen der Öffentlichkeit verschwinden, weil … nun, weil sie die Tonarmee tatsächlich gefunden hatten! Und wissen Sie, wo?! In der Mandschurei!« Ich beobachtete sie genau, aber diesmal folgte keine Reaktion. 362
»Was die Mitglieder der Truppe natürlich nachdenklich machte. Wenn sie ihre Entdeckung in die Welt hinausposaunen würden, wäre es gut möglich gewesen, daß die Melodie nur bis Tokio kam. Die Japaner hätten die Tonsoldaten selbst ausgegraben und nach Hause verschleppt, schließlich gehörte Mandschukuo selbst formal nicht mehr zu China. Ich glaube, ihrer Entscheidung ging ein langes und angestrengtes Überlegen voraus. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie ihre Entdeckung vor den Japanern, ganz besonders aber vor dem ständig in ihrer Nähe herumschwirrenden Lei Tshung-tao geheimhalten mußten. Wie es letztlich zu der großen Entdeckung gekommen war, könnten heute nur noch die Beteiligten selbst beantworten. Vielleicht waren sie ja tatsächlich mit der Spitzhacke auf den Kopf eines Soldaten gestoßen. Auf jeden Fall konnten sie das große Ereignis verheimlichen. Und zwar ziemlich gut, wenn man bedenkt, daß es bis heute nicht herausgekommen ist. Doch schon wartete das nächste Problem, das mit der allgemeinen Situation zu tun hatte. Was sollten sie mit der Armee tun? In der Erde konnten sie sie nicht lassen, dazu war das Risiko zu groß, daß der Schatz unwiderruflich zerstört wurde. Zum Beispiel, indem Häuser über dem Grab errichtet wurden oder die Japaner sie fanden. Oder daß sie einfach wieder in Vergessenheit geraten würde. Die Gegend konnte sich binnen kurzer Zeit so stark verändern, daß man die Stelle nie wiederfinden würde. Die Zukunft der Mandschurei war vollkommen ungewiß; wer konnte da schon voraussehen, was in ein, zwei Jahren passieren würde? Also setzten sie sich zusammen und kamen bald darauf zu dem Schluß, daß sie … daß sie die Armee ausgraben und an einen sicheren Ort schaffen mußten! Ich weiß, diese Idee klingt im ersten Moment sehr abwegig, aber dort, in der Situation, war es sicher anders. Wir können nicht wissen, um wieviele Soldaten es sich handelte. Um ein paar? Ein paar hundert? Eventuell Tausende? Und vergessen wir auch nicht, daß den Expeditionsmitgliedern alle Zeit der Welt zur Verfügung stand. Wir können nur rätseln, was 363
mit ihnen während dieser zehn langen Jahre passierte. Es ist gut möglich, daß sie kurz nach dem schicksalhaften Ereignis einen Schwur leisteten, ihr Leben der Sache der Tonarmee zu widmen. Von Zehntausenden von Archäologen … wie vielen eröffnet sich solch ein Lebensziel? Eine Entdeckung, die es wert wäre, sein Leben dafür zu opfern. Nun, sie entschieden sich, dieses Opfer zu bringen. Möglicherweise zählten sie die Soldaten, schätzten die Größe des Fundes ab und kamen zu dem Schluß, daß sie etwa zehn Jahre brauchen würden, um den Schatz in Sicherheit zu bringen… Damit verbunden war natürlich auch sofort die Frage, wohin mit dem Schatz? Nach China? Vom Regen in die Traufe? Ihnen muß klar gewesen sei, daß die Besetzung der Mandschurei nur der erste Schritt im Kampf gegen China war. Was würde es bringen, wenn sie zehn Jahre damit verbrachten, die Armee in Sicherheit zu bringen, nur um dann plötzlich zu merken, daß auch dort schon die Japaner herrschten? Ich weiß nicht, wessen Idee es gewesen ist, ob die des inzwischen zu ihnen gestoßenen französischen Leutnants … auf jeden Fall machte man sich auf den Weg über die Grenze – obwohl jede Grenze von dort ziemlich weit entfernt war. Man kann nur ahnen, daß die Suche nach einem geeigneten Gastland ziemlich lange gedauert haben mußte. Und warum man gerade diesen Ort hier gewählt hat, kann ich auch nicht erklären. Möglicherweise ist die Nähe zu China dabei ein Faktor gewesen. Sie rechneten wohl damit, daß sich die Lage in ein, zwei Jahrzehnten stabilisieren würde, und dann würde man den Fund ohne viel Aufheben zurückbringen können. Denn daß man vorhatte, ihn den Chinesen wiederzugeben, brauche ich wohl nicht extra zu betonen. Sie alle waren Besessene der chinesischen Kultur und wollten ihre Entdeckung dem Volk zugute kommen lassen. Wie gesagt, war zu der Zeit wohl auch schon Leutnant La Coster bei ihnen. Die Japaner griffen 1937 Peking an, die französische Botschaft wurde evakuiert. Der in der Mandschurei hängengeblie364
bene La Coster konnte nicht zurückkehren, also erhielt er den Befehl, sich den Archäologen anzuschließen. Woraus man wiederum den Schluß ziehen kann, daß man in der französischen Botschaft – und somit sicherlich auch in den anderen – ziemlich genau wußte, wo sich die Expedition zu jener Zeit befand. Ich habe große Lust, noch weiter zu gehen. Stellen Sie sich vor, was für eine heroische Tat es gewesen sein muß, den neuen Aufbewahrungsort zu suchen, die Grabkammer – mehr noch, ganze Katakomben – auszuheben, und vor allem, die Tonarmee hierher zu transportieren! Ein wahrer archäologischer Langer Marsch, und ganz zufällig auch noch zeitgleich mit Maos Langem Marsch, den er seinen Kommunisten abverlangt hatte… Unsere Forscher vollbrachten ein riesiges, unglaublich mühsames Werk! Vergessen Sie nicht, in den Dimensionen Chinas zu denken! Gott weiß, wie viele tausend Kilometer diese Menschen in den folgenden Jahren absolvierten, stets mit den gut getarnten Tonsoldaten im Gepäck… Und all das im geheimen, ständig in der Gefahr, entlarvt zu werden… Und plötzlich war alles vorbei. Die Tonsoldaten waren an ihrem neuen Platz, hier, am Fuße des Dreispitzberges.« Ich machte eine kurze Kunstpause und fuhr dann fort. »Man könnte also sagen, alles fand ein gutes Ende. Huan-Tis Schatz war vor den japanischen Räubern in Sicherheit gebracht worden, wo die Archäologen besseren Zeiten entgegenfieberten… Aber manchmal leistet sich das Leben die grausamsten Scherze… Und wieder ist es sehr schwierig, den genauen Ablauf zu rekonstruieren. Wahrscheinlich fand Lei Tshung-tao, der sich inzwischen vollends von seinem ehemaligen Arbeitgeber Chang Kai-shek gelöst hatte und in den Dienst der Japaner getreten war, endlich wieder mal Zeit, den Forschern auf die Finger zu schauen. Und fand irgendwie heraus, daß sie ihn übers Ohr gehauen hatten. Daß sie zwar die Tonarmee gefunden, diese aber auch schnurstracks vor ihm und seinesgleichen versteckt hatten. Vielleicht hat er sogar versucht, den geheimen Ort aus ihnen herauszuprügeln, oder es gab einen anderen Grund, daß er sie … ermorden ließ. Ich weiß es nicht.« 365
Die Stille wurde noch bedrückender, ich sah das Entsetzen in ihren Augen. »Der Rest ist aus den Unterlagen des Internationalen Roten Kreuzes und anderer Organisationen bekannt. Bereits kurz nach der Gründung der Volksrepublik in den Fünfzigern gab es einen Versuch, das Schicksal der verschollenen Expedition aufzuklären, dem von chinesischer Seite aus überraschenderweise auch sofort nachgegangen wurde. 1951 wurde das Rote Kreuz informiert, daß man in der Nähe der Stadt Hangtshou auf ein Massengrab gestoßen sei, das höchstwahrscheinlich die ehemaligen Mitglieder der deutsch-amerikanischen Expedition barg. Sie waren von den Japanern getötet worden. Alle mit einem Genickschuß… Nein, nicht alle. Dem Schreiben nach wurden zwölf Leichen exhumiert. Die Forschergruppe hingegen bestand aus fünfzehn Personen, den später hinzugestoßenen Leutnant La Coster nicht mitgerechnet. Obwohl ich auch hier keinesfalls vollständige Informationen besitze, gehe ich davon aus, daß diese fehlenden vier Personen verschont worden sind.« »Woher … wollen Sie das wissen?« stammelte Lisolette, und ich sah Tränen in ihren Augen. »Sofort, ich komme noch darauf zu sprechen. Leider ist das alles, was ich über die Expedition weiß. Und jetzt würde ich Ihnen gerne noch sagen, was meiner Meinung nach mit den übrigen Mitgliedern geschehen ist… Ich wiederhole, ich habe keinerlei Beweise für das, was ich jetzt erzählen werde. Es kann durchaus nur eine Ausgeburt meiner Phantasie sein… Und doch möchte ich es erzählen, vielleicht ist es ja für einige von Ihnen lehrreich…« »Ach, wofür denn?« fragte Van Broeken. »Das sollte jeder für sich entscheiden«, antwortete ich und begann mit dem letzten Teil der Geschichte. »Lei Tshung-tao ließ die Expedition also bei den Japanern auffliegen – wann, wo und wie ist mir nicht bekannt –, auf jeden Fall irgendwann Ende der Dreißiger. Oder eventuell auch Anfang der Vierziger, als sich Japan bereits im Krieg mit den USA befand. Lei Tshung-tao dürfte wohl einiges in Bewegung gesetzt haben, um die Mitglieder 366
der Gruppe als Spione erscheinen zu lassen, was natürlich ihrem Todesurteil gleichkam. Und ich glaube, damit erfüllte sich dann auch ihr Schicksal. Die Japaner stellten sie einfach vor eine Grube und… Nun ja. Es gab aber ein paar Forscher, bei denen sie nicht genau wußten, was sie tun sollten. Oder anders gesagt, sie befürchteten, die gute Beziehung zum Deutschen Reich oder speziell Hitler zu gefährden, wenn sie sie töteten. Es geht natürlich um die deutschen Mitglieder der Expedition – wonach also drei der Forscher Deutsche waren. Die Japaner entschieden, sie nicht umzubringen, sondern schön leise zurück nach Deutschland zu verfrachten. Was dort mit ihnen geschah, gehört wohl zu den unlösbaren Rätseln dieser Welt. Noch einen Satz zu Leutnant La Coster. Auch er entkam wohl der Exekution. Ob man sich seiner medizinischen Fähigkeiten bedienen wollte oder sich über den Status eines Franzosen nicht sicher war, da ja Hitler gerade in Paris einmarschierte, bleibt unklar. Nun, das war es, was ich Ihnen erzählen wollte. Es erklärt vieles von dem, was mit uns passiert ist. Ich habe es berichtet, weil ich will, daß Sie nachdenken … und dann tun, was Sie tun müssen.« Ich zog die Maschinenpistole über der Schulter zurecht und gab Mal einen Wink, daß wir gehen konnten. Vang Pin stand auf und blickte mich leichenblaß an. »Wohin gehen Sie, Lawrence?« Ich drehte mich zu ihm zurück und schaute noch einmal jedem einzelnen intensiv in die Augen. »Heute nacht hat mir Huan-Ti gesagt, wo ich seine Tonarmee suchen soll. Ich gehe jetzt und werde sie finden. Ich will, daß sie nach China zurückkehrt! Und das wird sie auch!« Ich nahm Mals Hand und zog sie aus dem Raum. Hinter uns wurde es still, selbst das Stühlerücken hörte für einen Moment auf. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloß.
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A
ls wir bereits im Wald waren, drückte mir Mal den Arm. »Du warst toll, Leslie! Sie haben es alle geschluckt!« »Danke.« »Und wie wahr ist das alles mit der Tonarmee?« »Sie ist hier irgendwo in der Nähe. Sagt jedenfalls Huan-Ti.« »Hör auf zu scherzen!« Ich tätschelte ihr die Wange. »Es ist kein Scherz, Mal! Ich schwöre dir, heute nacht habe ich mit Huan-Ti gesprochen.« Genervt riß sie ihren Arm aus meinem Griff und drehte den Kopf zur Seite. »Mal, es ist wirklich kein Scherz! Ich schwöre dir, ich sage die Wahrheit! Heute nacht, nachdem ich aus dem Morast geklettert war und mich gerade klitschnaß über den glücklicherweise getöteten Meo beugte, sprach er mich plötzlich an…« Ihre Augen blitzen gefährlich, als sie den Kopf schüttelte. »Willst du mir etwa weismachen, daß Tote so ganz einfach zurückkehren und mit Leuten sprechen können?! Dir Befehle geben, wo du hingehen sollst, damit du ihr Grab findest?« »Ich will dir gar nichts weismachen! Am wenigsten, daß der tote Kaiser mit mir kommuniziert hat. Natürlich war es jemand, der sich für ihn ausgegeben hat.« »Aber weshalb?« »Eine gute Frage. Er will wohl erreichen, daß ich die Tonarmee finde.« »Aber … ich verstehe immer noch nicht so richtig, warum…« Ich dafür um so mehr. Ich verstand nur allzu gut. Und nahm mir vor, mich seinem Willen zu fügen; nur eben nicht ganz so, wie er sich das vorstellte. Verstohlen schielte ich zu ihr hinüber. Ich sah ihr an, daß sie immer noch böse war und sich nicht so richtig entscheiden konnte, 368
wie wir nun zueinander zu stehen hatten. Ich machte halt und drehte sie zu mir herum. »Mal, dafür ist jetzt keine Zeit! Ich schwöre dir, sobald wir die Sache überstanden haben, wirst du alles erfahren, von Anfang an. Alles hängt jetzt davon ab, wie raffiniert wir sein werden. Hast du die Waffe noch?« Sie nickte mürrisch. »Halte sie bereit. Und vertraue niemandem außer mir! Es ist äußerst wichtig, egal was irgend jemand sagt, daß du nur auf mich hörst. In Ordnung?« »Von mir aus«, meinte sie immer noch mißmutig. »Und wohin jetzt?« »Wir werden die Tonarmee suchen.« »Ich glaube, das hast du bereits gesagt. Was hat dir denn dein Kaiser zugeflüstert, wo sollen wir suchen?« »Unter der mittleren Kuppe des Dreispitzberges.« »Was ist da?« »Huan-Ti erwähnte irgendeinen weißen Stein.« Sie nahm meine Hand und hielt mich für einen Moment zurück. »Leslie…?!« »Ja?« »Ich möchte nur wissen, ob du dir ganz sicher in dem bist, was wir hier machen?« Ich lächelte und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. Und was ich antwortete, meinte ich auch so: »Ich weiß es nicht, Mal. Ehrlich gesagt, habe ich keinen blassen Schimmer! Aber ich kann einfach nichts anderes tun, verstehst du?!« Sie nickte und klammerte sich an meinem Hals fest. Ein paar Sekunden lang standen wir einfach nur so da, dann ließ sie mich wieder los, trat einen Schritt zurück, holte ihren Revolver hervor und überprüfte ihn. Als sie mich anblickte, hatte sie wieder dieses maskenhafte Gesicht aufgesetzt, und ihre Augen glänzten fast schon glasig. »Okay, Leslie! Dann mal los!« 369
Ich nickte, und wir machten uns auf den Weg ins Unbekannte.
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ach einem kurzen Fußmarsch erschien plötzlich der Dreispitzberg vor unserer Nase, als ob er schon die ganze Zeit nur darauf gelauert hätte, uns zu erschrecken. Es war kein Berg des Himalajas oder der Mont Blanc, höchstens ein paar hundert Meter hoch, dennoch war er zumindest inmitten dieses Flachlands ein ansehnlicher Berg. Wir gingen in der Mitte eines ausgetrampelten Pfades; ich machte mir keine Mühe, einen Weg abseits der ausgetretenen Route zu suchen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß wir nichts zu befürchten hatten, solange wir auf der Suche nach den Tonsoldaten waren. Wenn mich nicht alles täuschte – und wieso sollte es das? –, hatte man den Meos befohlen, uns in Ruhe zu lassen. Zumindest für eine Weile. Ich lehnte mich an einen krummen Palmenstamm. Soweit, so gut… Aber was dann? Ich versuchte, mich in die Haut der anderen zu versetzen. Was erwartete man wohl, daß ich tun würde? Doch sicher, daß ich alles stehen und liegen ließ und mich zur Tonarmee begab. Der einzige, der sich da jetzt nicht so sicher sein konnte, war der Schwarze Prinz. Aber er war im Moment verhindert. Was, wenn… Diese Variante gefiel mir weitaus besser. Nach einigen Schritten fühlten wir uns in ein Volksmärchen versetzt, denn der Weg teilte sich in drei Richtungen, die augenscheinlich zu den drei Bergkuppen führten. Es stand sogar der große Baum an der Verzweigung, der entweder die Hexe in der Krone oder den Schatz unter den Wurzeln barg. Womöglich beides. Vorsichtshal370
ber schaute ich nach oben, konnte aber, abgesehen von einem zornigen Affen, nichts entdecken. Und obwohl alle Paviane für mich hoffnungslos gleich aussahen, war ich mir irgendwie doch sicher, daß er zu der verscheuchten Truppe gehörte, mit der ich so viele Probleme gehabt hatte. Ich zögerte nur eine Sekunde, dann nahm ich den mittleren Pfad und gab Mal ein Zeichen, mir zu folgen. »Führt der zu den Tonsoldaten?« flüsterte sie andachtsvoll, und ihre Anspannung schien etwas nachzulassen. »Weißt du, woran ich denken muß?« »Woran?« »Daß das alles irgendwie auf so lächerliche Weise unglaublich ist…! Der Nachmittag ist so herrlich. Auf den Bäumen sitzen Vögel und Äffchen, und doch … könnte es sein, daß wir sterben.« Darauf antwortete ich nichts. Das tat ich bei solchen Bemerkungen nie. Ich hätte ihr sonst zustimmen müssen. Ich strengte mich nicht weiter an, uns vor neugierigen Augen zu schützen. Trotzdem pochte mein Herz etwas schneller, als wir die Eingangspagode des Schwarzen Prinzen erreichten. Die gefletschten Mäuler der Drachen an dem Tor erwarteten uns bereits. Mal hatte sowas wohl schon öfters in Thailand gesehen, denn sie zeigte keine übermäßige Überraschung oder Furcht. Ich glaube, mich beeindruckten sie um ein Vielfaches mehr; nicht etwa, weil ich Angst hatte, sondern wegen der immer neuen Erfahrung, die ich mit ihnen machte. Der Drache war für mich der personifizierte Ferne Osten, mit all den Geheimnissen und Wundern, die meine Seele stets aufs neue mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllten. Ich griff nach einem der großen Ringe und klopfte an. Nach knapp einer Minute wiederholte ich die Prozedur. Kurze Zeit später wollte ich gerade den dritten Versuch starten, als sich das Tor langsam, mit wehleidigem Ächzen auftat. Auf alles gefaßt, preßten wir uns an die Wand. Als ein altes, runzliges Gesicht unter dem Torbogen erschien, sprang ich blitzschnell hervor und hielt ihm den Lauf der MP unter die 371
Nase. »Rein!« Da er sich nicht bewegte, war ich gezwungen, dem Mann einen Schubs zu geben. Er taumelte, ruderte mit den Armen und verlor beinahe das Gleichgewicht. Unterdessen waren wir bereits auf der Innenseite des Tores, inmitten eines mit Blumen reich bepflanzten Vorgartens. Aus dem Torhaus führte eine Treppe auf einen Etagengang, und der Abnutzung ihrer Stufen nach zu urteilen mußte das Säulengeländer wohl ständig in Benutzung sein. Als ich mich umsah, konnte ich trotzdem niemanden entdecken. »Wo ist dein Herr?« herrschte ich ihn auf chinesisch an. Seine Augenwimpern zuckten leicht, woran ich beruhigt erkannte, daß er die Sprache verstand. Es war ein greiser, mindestens achtzig Jahre alter Mann, seiner Kleidung nach zu urteilen kein Meo. Er besaß eine Glatze, wie buddhistische Bonzen, trug aber keine Mönchskluft, sondern einen vielfarbigen Kaftan, der von einem breiten, unbestimmbar bunten Gürtel zusammengehalten wurde. Ich wiederholte die Frage und drückte ihm die Waffe gegen die Brust. Er murmelte etwas, schluckte und öffnete den Mund. Ich ließ die MP sinken und konnte Mal ansehen, daß auch sie kapiert hatte; der Mann war stumm. »Aber du verstehst, was ich sage?!« Mit kugelrunden Augen nickte er. »Ist hier noch jemand außer dir?« Kopfschütteln. »Wo ist dein Herr?« Er tat, als hätte er mich nicht verstanden. »Kannst du schreiben?« Heftiges Nicken. Mal holte aus einer Tasche einen kleinen Notizblock samt Stift hervor, den ich ihm unter die Nase hielt. »Gestern nacht hat man zwei Männer hierhergebracht. Wo sind 372
sie?« Er schaute mich an, schüttelte den Kopf und weigerte sich, den Stift zu nehmen. Ich zog ein verärgertes Gesicht, knurrte laut und schob den Lauf der Maschinenpistole zwar vorsichtig, aber dennoch fester in seinen Bauch. Woraufhin er wie ein Ertrinkender nach Papier und Schreiber schnappte und mit furchtbarer Klaue Schriftzeichen auf das Blatt kritzelte. Als er fertig war, übergab er das Werk mit einem stolzen Blick. Kurze Zeit später war auch ich sehr stolz, speziell darauf, daß ich wenigstens von den Umrissen her die Bedeutung seiner Nachricht entziffern konnte. Er war am Morgen aus dem Dorf gekommen, um hier die Stellung zu halten, und hatte von nichts eine Ahnung. Ich zerknüllte das Papier und steckte es in die Brusttasche. In diesem Moment hätte ich ein gutes Modell für ein Denkmal der Ratlosigkeit abgegeben. Die Blumen waren wunderschön, und in einem kleinen Teich schwammen Goldfische. Das ganze Anwesen machte einen angenehmen, gepflegten Eindruck. Einem anderen hätte ich wahrscheinlich gar nicht geglaubt, daß erst vor kurzem an dem Pagodendach des Torhauses die Leiche von Villalobos gebaumelt hatte. Mir gegenüber sah ich eine halb geöffnete Eingangstür mit Drachenverzierungen, die wahrscheinlich in einen weiteren Hof führte. Ich grübelte gerade darüber nach, wieviele Innenhöfe uns noch von dem Haupthaus trennten, als ich die seltsame, absolut nicht hierherpassende Musik vernahm. Mal schnappte nach meiner Hand und drückte sie. Die Musik verstummte, und minutenlang konnte ich nichts dergleichen mehr hören. Der Alte stand mit geschlossenen Augen neben mir und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Er machte den Eindruck, als würde er gar nicht lebendig sein, gar nicht hierher gehören, und wäre nur für diese spezielle Angelegenheit aus irgendeiner Dimension in diese Welt versetzt worden. 373
Ich war bereit, die Sache meiner aufgestauten Nervosität zuzuschreiben, als die leise Musik erneut loslegte. Es klang, als würde jemand auf einer Art Flöte spielen. Ich schüttelte den Mann an den Schultern und versuchte ihm klarzumachen, daß ich erfahren wollte, woher die Melodie kam. Er sah mich erstaunt an und verstand mein Anliegen anscheinend nicht. Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen, mit ihm zu kommunizieren, wurde mir klar, daß ich von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Also schob ich ihn beiseite und folgte den klangvollen Tönen. Die Flötenmusik tänzelte zwischen uns herum, war mal von der einen, mal von der anderen Stelle zu hören, als würden Geister mit uns spielen. Doch seit wann kennen Geister Rockmusik? Ich trat fest gegen die nur angelehnte Tür und rannte in den zweiten Hof. Auch hier umrahmten kleine Zierbeete, Steingärten und ein Goldfischtümpel den Weg. Ein dünner Bach kringelte sich durch die Anlage, und eine niedliche Holzbrücke verband den Kiesweg mit der anderen Seite. Dort erwartete mich ein drittes Tor mit Drachenköpfen. Bei ihm blieb ich allerdings kurz stehen, weil die Musik wieder verstummte. Ich ging erst weiter, als auch das Lied fortgesetzt wurde. Ein altes Elvis-Presley-Lied übrigens. Ich erreichte die Mitte des dritten Innenhofes und hatte plötzlich das Gefühl, in die falsche Richtung zu laufen. Die Musik wurde leiser, schien jetzt von hinten zu kommen. Also drehte ich mich um und bemerkte mit Genugtuung, daß es wieder lauter wurde. Dreimal absolvierte ich die Strecke zwischen dem Eingang und dem dritten Hof. Dreimal überquerte ich auf der kleinen Brücke den Minibach. Das einzige, was sich in der Zwischenzeit änderte, war die Melodie. Es war immer noch Rock'n Roll, aber das Lied selbst war mir nicht bekannt. Als ich auch nach dem vierten Mal wieder umkehren mußte, war 374
ich schon etwas verzweifelt. Was zum Teufel machte ich hier eigentlich, wo ich nach Tonsoldaten suchen müßte und nicht irgendwelchen melodischen Geistern nachjagen…! Mal griff nach meinem Kimonoärmel und zog mich zurück in die Mitte des zweiten Hofes. Sie legte einen Finger auf die Lippen, beugte den Kopf zur Seite und behauptete dann mit fester Stimme: »Hier!« Ich drehte mich fassungslos um die eigene Achse. »Hier…? Wo?!« Darauf konnte sie allerdings nicht gleich antworten. Es gab zwei gegenüberliegende Treppenaufgänge, die zu den Brüstungen und den Seitenzimmern führten. In jedem davon konnte der unbekannte Musiker auf der Lauer liegen. Das Liedchen schwebte um uns herum, drehte wie ein Schwarm Tauben große Runden über unseren Köpfen, nur umständlich die Richtung wechselnd, doch gerade noch in Reichweite bleibend. Ich hatte das Gefühl, ich bräuchte nur meine Hand auszustrecken, und schon würden uns die Noten auf die Köpfe rieseln. Ich erschauderte. Die Sonne brannte mit unverminderter Energie, trotzdem schien die Melodie irgendwie auf den Schwingen einer kalten Brise zu schweben. »Unter der Erde!« Mal deutete plötzlich bestimmt auf den Boden vor uns. »Es kommt von hier!« »Wo?« Mein verständnisloses Gesicht sprach wohl Bände, denn sie wiederholte sich energisch: »Hier, unter der Erde!« Das Tor wurde mit einem heftigem Knall ins Schloß geworfen. Ich drehte mich blitzschnell um, aber es war nur der Alte, der langsam über den Hof trottete, nachdem er die Eingangstür verschlossen hatte. Es sah nicht danach aus, als würde ihn meine heftig hochgerissene MP besonders beeindrucken. Wahrscheinlich wußte er nicht einmal, daß es eine Waffe war. Mal kauerte sich hin und preßte ihr Ohr auf den Steinboden. Dann schüttelte sie traurig den Kopf. 375
»Ich hab' mich wohl geirrt, Leslie! Es ist doch nichts.« Aber die Musik ging weiter, und inzwischen hatte auch ich das Gefühl, daß sie von unten kam. Der Alte beobachtete uns eine Weile und lachte dann schallend auf. Er legte sogar den Kopf in den Nacken, so belustigt war er über unsere Aktion. Sein gesamter dürrer Körper bebte dabei. Ich ließ ihn in Ruhe. Mir war weder klar, was ihm so gefiel, noch was er annahm, wonach wir suchen würden. Als er fertig war, war ich fest entschlossen, das Heim des Schwarzen Prinzen zu verlassen. Wenn ich noch mehr Zeit nutzlos vergeudete, würde ich unsere Chancen, die sowieso schon nicht sehr gut waren, über das Tragbare hinaus verschlechtern. Ich gab Mal das Zeichen zum Aufbruch, als der alte Mann mich plötzlich am Ärmel packte. Das Grinsen hatte er eingestellt, lediglich ein paar Speicheltropfen an Kinn und Hals zeugten noch von seiner Häme. Mal verzog den Mund, und auch mich versetzte es nicht gerade in helle Begeisterung, dennoch hatten mir meine in Fernost verbrachten Jahre beigebracht, daß es sich meistens lohnte, seine wahren Gefühle zu verbergen. Manchmal konnten sich der beste Wille und das größte Herz hinter einem sabbernden Mund verbergen. Was sich außerdem noch dahinter verbarg, weiß ich bis heute nicht. Es erwies sich allerdings als äußerst weise, noch einen Moment zu warten und zu versuchen, über den Sinn seiner Freude zu rätseln. Er nahm mich nämlich bei der Hand und führte mich davon. Als er mich im dritten Hof zu der hinter einem Palmenbusch verborgenen, in die Wand eingelassenen Tür führte, hätte ich mich selbst in den Hintern treten können. Den Durchgang hätte ich auch alleine finden müssen! Ich klopfte meinem Führer auf die Schulter, öffnete die kleine Tür und trat mit der Waffe im Anschlag über die Schwelle. Es war eine Art langer, schmaler Korridorhof, in dessen Mitte ein aus Betonringen gebauter Brunnen stand. Die Musik, bisher dezent im Hintergrund, verstärkte sich bei jedem meiner Schritte, als ob sie mich 376
auf die Weise begrüßen – oder beglückwünschen – wollte. Der Alte triefte vor Freude und Speichel. Ich selbst nur vor Freude. Ich beschleunigte meinen Gang und trat an den Rand des Brunnens. Er war tief und, soweit ich es sehen konnte, nicht mit Wasser gefüllt. Aber daß es ein singender Brunnen war, stand fest. Aus seinen unsichtbaren Tiefen ertönte das Flötenspiel. Also steckte ich meinen Kopf in das Loch und versuchte herauszufinden, was da unten noch außer Rock'n Roll stecken könnte. Die Musik selbst gefiel mir übrigens immer weniger, sie klang irgendwie falsch. Oder sie stammte von einem nie dagewesenen Instrument, einem Zwitter aus Flöte und Pfeife. Ich ließ einen lauten Ruf los: »Hallooo! Ist da unten jemand?« Die Melodie verstummte, nur um einer mir wohl bekannten Stimme Platz zu machen. »Na endlich, da ist der Typ! Echt okay, daß wir gerettet sind! Na, was sagen Sie dazu?!« Der Angesprochene sagte gar nichts, dafür hatte ich Leichenfressers Worte um so deutlicher vernommen. »Leichenfresser! Sind Sie das?« »Wieso, was dachten Sie denn?« »Können Sie hochkommen?« »Wir sind zusammengebunden!« »Gut, warten Sie!« Der Alte und Malgorzata geisterten um mich herum. Verzweifelt schaute ich mich um, fand aber weder Eimer noch Strick oder gar eine Kette, an der ich mich hätte hinunterlassen können. »He«, meldete sich die Tiefe wieder. »Was gibt's?« »Wann holen Sie uns endlich rauf?« »Haben Sie eine Idee, wie ich zu Ihnen runterkommen soll?« »Fragen Sie doch die Meos!« Es war ganz nett, daß er selbst in dieser Situation seinen Sinn für Humor nicht verloren hatte… 377
Mit meinem ging es jedenfalls zur Neige. Ich gab meinen beiden Begleitern einen Wink, näherzukommen. Mal kam meinem Wunsch prompt nach, nicht so der Alte. Mit watschelndem Gang setzte er sich in Richtung Ausgang in Bewegung, sprang über die Schwelle und warf schön höflich die Tür hinter sich ins Schloß. Ich hielt mich am Rand des obersten Betonringes fest, schwang mich über die Brüstung und ließ mich langsam hinab. Mal beobachtete jede meiner Bewegungen mit immer bestürzterer Miene. Zu meiner größten Freude erfaßten meine baumelnden Füße bald darauf stabilen Untergrund. Vorsichtig stützte ich mich ab und war erst zufrieden, als klar wurde, daß es genau das war, wonach ich gesucht hatte. Irgendwann früher einmal hatte man eine Eisenleiter an den Rand des Brunnens angebracht. Als man dann wohl einen anderen Weg ins Innere gefunden hatte, wurde sie überflüssig, so sehr, daß man sogar die zwei obersten Sprossen abgesägt hatte. Ich dachte schon, die Kletterei würde nie enden und daß ich irgendwann auf Erlig Khan, den Herrscher der mongolischen Unterwelt, treffen würde. Es dauerte achtzig Sprossen, bevor meine Schuhe endlich auf trockenem, kieseligem Boden Halt fanden. Die Musik ertönte erneut, diesmal so dicht neben mir, daß ich erschrak. Leichenfresser spielte Für Elise und zwar so bewundernswert falsch und ohne ein Gespür für den Rhythmus, daß es kaum noch weh tat. Sie saßen, an die Wand gekettet, in einer Art unterirdischem Verlies. Das bißchen Licht, das sich breitmachte, fand vorher seinen Weg durch einen schmalen Schacht. Wo er oben endete, konnte ich nur raten; vermutlich in einem Beet oder unter einem Busch. Zuletzt sah ich in der Verfilmung von Monte Christo Typen wie die beiden. Sie waren schmutzig und unrasiert und Hardy bis zur Ohnmacht verzweifelt. Leichenfresser hingegen schien absolut Herr der Lage zu sein. Es sah nicht danach aus, als würde ihn seine Situation sonderlich betrüben. Er saß bequem auf dem Boden und hielt eine kleine Bambusflöte in der Hand, die er gerade in dem Moment auf die Erde 378
legte, als ich mich vor ihnen aufbaute. Hardy stieß einen tiefen Seufzer aus, und ich befürchtete wirklich schon, er würde das Bewußtsein verlieren. »Lawrence«, flüsterte er und lehnte sich an die Wand. »Gerade rechtzeitig! Ich dachte schon, wir würden hier verschimmeln.« »Sie sind seitdem hier unten?« »Seit wann?« »Seit letzter Nacht?« »Na ja, das war so … nachdem Sie uns nach Hause geschickt hatten…« Ich schaute mir zwischenzeitlich ihre Fesseln an, kam aber nicht allzu weit. Die Ketten waren in die Wand betoniert; nicht einmal Superman hätte sie aus der Verankerung reißen können. Hardy seufzte erneut. »Stellen Sie sich vor, nicht genug, daß sie uns erwischt haben, wir hier herunter geschleppt und angekettet wurden, daß man uns mit dem Messer bedroht hat … dann muß ich mir auch noch das Geträllere dieser Person mit anhören! Er hat mir ständig lauter Blödsinn vorgepustet…« Leichenfressers Ketten rasselten aufgeregt. »Sie nennen Beethoven Blödsinn?!« »So wie Sie spielen … aber das meinte ich nicht.« »Sondern? Ist Elvis für Sie der Blödsinn?« »Mein Gott, Sie wissen doch genau, was ich meine! Die ganze Nacht flöteten Sie mir diese furchtbaren…« »Wo haben Sie sie überhaupt her?« Leichenfresser streckte zufrieden die Brust raus. »Selbst gemacht.« »Sie?!« »Einer der Kerle hat ein Bambusrohr dagelassen. Ich bin hingekrochen und konnte es glücklicherweise gerade so erreichen. Die Zeit vergeht viel schneller mit guter Musik… Stellen Sie sich vor, beim Morgengrauen habe ich sogar ein ganz neues Problem in der Harmonielehre entdeckt!« 379
»Damit…?!« »Nicht das Instrument zählt, Lawrence, sondern das Gespür! Der Kerl hier zum Beispiel ist absolut unmusikalisch … und, ähm … hat auch überhaupt keine Intelligenz, was die Klassiker angeht!« »Wie zum Teufel haben Sie die Flöte hingekriegt?« »Das ist keine Flöte! Aber ich werde ihr einen coolen Namen geben. Sie muß natürlich noch perfektioniert werden … schade, daß ich mich bisher nicht mit Bambusinstrumenten beschäftigt habe. Ach so, wie ich sie gemacht habe? Ich hab' die Löcher einfach rausgebissen. Es ist nicht leicht, Bambus mit den Zähnen zu bearbeiten, aber… Na ja, dann habe ich so eine kleine Pfeife reingesteckt … ist übrigens auch selbst zurechtgebissen… Nur diese Kette hat mich furchtbar gestört! Da fällt mir ein … wollen Sie sie mir denn nicht abnehmen?« Ich dachte bereits seit Minuten darüber nach, wie ich sie befreien konnte. »Wie hat man Sie hier herunter gebracht?« »Über eine Treppe«, brummte der langsam wieder zu Kräften kommende Hardy. »Also nicht da, wo ich runtergekommen bin?« Der Reporter deutete zum anderen Ende des Gewölbes. »Ich glaube, eher dort.« Die Gruft war genau zehn Schritte lang und wurde von einer riesigen, eisenbeschlagenen Tür begrenzt, die ein Schloß wie eine Bäckerschaufel aufwies. Ich lehnte mich dagegen und wollte die Klinke bewegen, aber das war natürlich zwecklos. Ich bückte mich und linste ins Schlüsselloch. Innen versperrte ein mindestens ein Kilo schwerer Riegel die Tür. Ich glaube, ich hätte sie nicht einmal mit einer Granate aufbekommen. »Es gibt keine andere Lösung, ich muß Ihnen die Handschellen aufschießen«, teilte ich ihnen mit. »Um Himmels willen«, Leichenfresser wurde blaß. »Anders geht es nicht?« »O doch«, meinte der inzwischen vollkommen erholte Hardy bis380
sig. »Sie können sie ja abknabbern, wie die Bambusflöte…« Leichenfresser stöhnte und schloß seine Augen. »Dabei hasse ich dieses Geräusch so sehr…« In den nächsten Sekunden konnte er sich etwas mehr damit anfreunden. Zuerst zerschoß ich Hardys Fesseln, dann kam seine dicke Kette dran. Selbst so blieben die Schellen und einige Glieder an ihren Handgelenken, das wäre mir im Halbdunkel nämlich doch zu heikel geworden. Leichenfresser rasselte mit den Überresten und imitierte laut einen beliebten Nachtvogel. »Huhu, huhu … hier ist das singende Gespenst!« Hardy starrte ihn entgeistert an. »Mein Gott, der Kerl ist wirklich nicht ganz dicht!« Der Musiker klemmte sich sein neues Instrument unter den Arm und war reisefertig. Wir gingen zum Schacht des Brunnens, und ich zeigte ihnen, wo sie die einzelnen Sprossen zu suchen hatten, damit sie nicht herunterfielen. Hardy schaute sich leicht schadenfroh den erbleichenden Leichenfresser an, der auf den Boden sank. »Ich kann das nicht! Ich habe Höhenangst!« »Natürlich, aber vor den hohen Tönen, da haben Sie keine Höhenangst…« »Leslie! Alles in Ordnung da unten?« Es war Mal, mit ziemlich besorgt klingender Stimme. Ich rief ihr irgend etwas Beruhigendes zurück und gab dann Hardy einen Wink, vorzugehen. Ein paar Sekunden später sah ich ihn nur noch als vagen Fleck, der sich an der Seite des Brunnens nach oben kämpfte. Ich wartete etwa zwei Minuten und klopfte dann Leichenfresser auf die Schulter. »Los, mein Junge!« Er schüttelte wehleidig den Kopf. »Tut mir leid, Mr. Lawrence, es geht nicht! Alles, nur nicht das! Ich leide nämlich unter…« Ich griff ihm unter die Arme, zerrte ihn hoch und drückte ihn 381
gegen die Wand. Zum Glück stieß er mit seinem Kopf nicht allzu fest dagegen. »Los jetzt! Hoch!« Ich stemmte meine Schulter gegen seinen Hintern und gab ihm einen Ruck. Er war kein Leichtgewicht, und die Angst legte noch ein paar Kilo drauf, trotzdem machte er sich kurz darauf auf den Weg nach oben. Wir waren schon etwa bei der Hälfte angelangt, und ich dachte bereits, die Sache mit ihm durchgestanden zu haben, als er sich plötzlich sträubte und stehenblieb. »Was ist? Weiter!« »Mir ist schwindelig!« »Mir auch.« »Ich falle runter.« »Keine Angst, ich stütze Ihren Allerwertesten! Schauen Sie nicht nach unten!« »Mr. Lawrence … wie hoch werden wir wohl sein?« »Zehn, fünfzehn Meter vom Grund entfernt.« »Und … und wenn ich runterfalle, was würde dann mit mir…« »Sie wären platt wie ein Pfannkuchen.« Dann mußte ich erschrocken keuchen, denn irgend etwas flog haarscharf an meiner Nase vorbei. »Mein Gott!« rief er weinerlich, und sein ganzer Körper erbebte auf meiner Schulter. »Meine Flöte! Sie ist runtergefallen, ich muß sie wiederholen!« Irgendwo hoch über uns verdunkelte sich die Röhre, und ich wußte, daß Hardy angekommen war und gerade hinauskletterte. Im nächsten Moment hörte ich auch schon Mals Stimme. »Mr. Hardy ist oben, Leslie! Alles in Ordnung bei euch?« »Verdammt«, schimpfte der Musiker und kletterte wieder los wie eine Eidechse. »Dabei habe ich die Löcher mit den eigenen Zähnen…« Ich weiß bis heute nicht, was seine Kraft vervielfacht hatte. Vielleicht der Schmerz, seine geliebte Flöte verloren zu haben. Als ich jedenfalls aufblickte, war er schon einige Sprossen über mir, und so 382
sehr ich mich auch in der Angst beeilte, er könnte es sich wieder anders überlegen und abrutschen, erreichte ich ihn doch erst oben, am Rand des Brunnens, gerade als die beiden anderen ihn mit gemeinsamer Kraft hinaushievten. Ich weiß nicht, ob ich selbst aus eigenen Stücken aus dem Loch klettern konnte. Als ich wieder vollends bei Sinnen war, keuchten sie beide neben mir. Während ich zu Kräften kam, versuchte ich mir auszurechnen, den wievielten Kimono ich gerade zur Strecke gebracht hatte, gab es aber auf. Statt dessen ging ich zu der Betonröhre zurück und schaute hinein. »Wollen Sie nicht sehen, wo wir hergekommen sind?« winkte ich Leichenfresser zu. »Den Teufel werde ich! Noch einmal könnte ich das bestimmt nicht schaffen.« Mal umarmte mich und überhäufte mich mit ihren Küssen. »Als ich die Maschinenpistole hörte … es war furchtbar!« Wir hielten einen kurzen Kriegsrat im ersten Innenhof, bei dem ich sie unter anderem darüber aufklärte, was seit ihrem Verschwinden vorgefallen war. Leichenfresser stieg nicht ganz dahinter, Hardy um so mehr und versank in seinen Gedanken. »Und was nun?« fragte er schließlich. »Wir gehen los und suchen die Tonarmee.« »Sie glauben also zu wissen, wo sie ist?« »Ich denke, ja.« »Und … dann?« »Ich weiß nicht… Irgendwas wird passieren, das alle Fragen löst.« »Sie wissen, was hier gespielt wird?« »Ja.« »Und kommt es oft vor, daß Sie falsch liegen?« Ich grinste über den leichten Seitenhieb. »Eher selten.« »Haben Sie die Hanffelder gesehen? Hier ist alles voll mit Cannabis.« »Ehrlich gesagt, sind mir nur der Dschungel und der Sumpf auf383
gefallen. Letzteren hätte ich mir übrigens gerne erspart. Obwohl, wer weiß…? Die Sache hat mich schließlich der Lösung etwas näher gebracht.« Er schielte auf meine Waffe und schüttelte ungläubig den Kopf. »Glauben Sie, daß wir sie mit dieser Waffe kleinkriegen werden? Meine hat man mir nämlich abgenommen.« »Mal hat auch noch einen Revolver, nicht wahr? Übrigens, noch einmal, wie war das mit dem Cannabis?« »Es wird auf den abgeholzten Gebieten angebaut. Anstelle des Dschungels. Und daraus wird dann Haschisch gewonnen. Jetzt sehe ich wenigstens mal, wie es hergestellt wird. Bisher hatte ich nur mit dem Endprodukt das Vergnügen…« »Meinen Sie, daß Vang Pin auch etwas mit dem Hanfanbau zu tun hat?« »Jeder hier in dieser Gegend hat etwas damit zu tun. Die Meos auf alle Fälle… Apropos! Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die Kerle verschwunden sind?!« »Und ob! Schon bevor ich Sie beide entdeckt hatte, habe ich darüber gegrübelt, was sie wohl vertrieben haben könnte. Es gefällt mir keinesfalls. Sie sind getürmt wie Ratten von einem sinkenden Schiff…« Hardy starrte auf den Boden und kratzte sich dann am Haarschopf. Er war sich nicht sicher, ob er seinen Gedanken aussprechen sollte. Ich sah ihm an, daß irgend etwas unendlich in ihm bohrte, aber anscheinend war er sich seiner Sache nicht so sicher wie ich der meinen. »Mr. Lawrence…« »Ja?« »Ich will keinen Unsinn reden … ich weiß gar nicht, ob ich es überhaupt erzählen soll… Aber wenn ich die Äußerungen der Eingeborenen richtig verstanden habe…« »Was meinen Sie?« »Sehen Sie, ich spreche die Sprache der Meos ein wenig. Nicht viel, gerade nur das Wichtigste… Ich hab' ein paar Jahre mit einem 384
Fotografen zusammengearbeitet, der aus der Gegend hier stammte und ständig versuchte, es mir beizubringen. Nur so, aus Spaß. Es ist eine schwere Sprache, schwieriger als das Lao. Nun, jedenfalls habe ich heute morgen gehört, wie sich die Eingeborenen oben auf dem Hof gegenseitig Dinge zuriefen.« »Und?« »Nun ja, ich weiß nicht… Etwas aus diesem verdammten Schacht herauszuhören und zu verstehen ist schon bei einer Sprache, die man selbst spricht, ziemlich schwierig…« »Also?« »Na ja, zwei oder drei Kerle riefen sich da etwas zu. Irgendwas in der Richtung, daß das Radio gesagt hätte, man würde bald die Gegend bombardieren.« »Bombardieren? Hier? Sind Sie sich da sicher?!« »Eben nicht! Das sag ich ja gerade; daß ich unter diesen Verhältnissen … eventuell alles mißverstanden haben könnte.« »Wer zum Teufel sollte hier Bomben abwerfen?« »Was weiß ich! Vielleicht die Chinesen.« »In Laos?« »Dann sind es die Amis«, schaltete sich Leichenfresser in das Gespräch ein. »Die werfen immer überall Bomben ab.« Ich schüttelte den Kopf, denn das war nun wirklich absolut abwegig. »Ich hab' die Stimme des Kerls immer noch in meinen Ohren. Ja … daß man verschwinden muß, weil bald die Gegend bombardiert wird. So hätte es das Radio gesagt«, hielt Hardy an seiner Version fest. »Haben Sie nicht nur einfach irgendein Radiohörspiel mitgekriegt?« erkundigte sich der Musiker. Hardy zuckte mit den Schultern und sagte nichts mehr. Mal stellte sich neben mich und drückte meine Hand. »Was nun, Leslie?« »Sind alle bereit?« »Natürlich«, meinte Leichenfresser. 385
Und dann: »Äh … wozu?« »Ich weiß nicht«, gestand ich. »Auf jeden Fall möchte ich Sie warnen. Mal, auch du hör gut zu! Die Sache steht so, daß ich im Moment nicht genau sagen kann, was uns erwarten wird. Ich habe einfach keine Ahnung! Ich könnte Ihnen allen noch eine Menge Details erzählen, aber ich fürchte, es würde nichts nützen. Der wichtigste Punkt im Moment ist, daß ich weiß, wo die Tonsoldaten versteckt sind. Wer die findet, wird die Lorbeeren für die größte Weltsensation seit der Öffnung von Tutanchamuns Grabkammer ernten. Sie sollten sich also darüber im klaren sein, daß sehr viele Leute auf den Schatz ganz wild sind. Für einen einzigen Soldaten gäbe es Millionen von Dollars auf dem Schwarzmarkt! Und wenn die Legende wahr ist, liegen hier gleich mehrere tausend unter der Erde! Eventuell zusammen mit Huan-Tis Grab und den dazu gehörenden märchenhaften Schätzen.« »Und … und Sie meinen das ernst, Sie wissen, wo diese … äh, Grabkammer ist?! Absolut sicher?« »Ja«, sagte ich. »Absolut sicher.« »Wissen es auch die anderen?« »Einige werden das wohl.« »Man wird Ihnen nachspionieren und Sie dann erwischen!« »Möglich. Deswegen halte ich es nur für fair, Ihnen anzubieten, jetzt zu gehen. Sie brauchen nicht mitzukommen; Mal, du auch nicht! Ich gebe Mr. Hardy meine Maschinenpistole und nehme nur deinen Revolver mit. Mit ein wenig Glück werdet Ihr hier mit heiler Haut rauskommen. Und ich werde die Tonarmee finden. Das scheint irgendwie mein Schicksal zu sein. Es ist mein … Fall.« »Und meiner«, entgegnete Hardy. »Aus ganz bestimmten Gründen auch meiner!« Mal schaute mir in die Augen, und ihr Blick hätte in dem Moment töten können. »Wenn du noch einmal … noch einmal so einen Unsinn redest, kriegst du eine noch größere Ohrfeige als im Flugzeug!« »Mr. Leichenfresser?« 386
Der Musiker zog den verdreckten Kimono enger über der Brust zusammen und kratzte sich am ebenfalls mitgenommenen herabhängenden lila Haaransatz. »Wissen Sie, was soll ich sagen… Der Teufel wollte, daß wir hierherkommen… Wir hätten auf irgendsoeinem dummen Pandaeinsatz gespielt, für diesen Schnurrbartmann, der hier aufgehängt wurde. Dann hat man mich in ein Verlies gesteckt, aus dem ich unter Einsatz meines einzigartigen Lebens selbst herausklettern mußte. Na, und dann habe ich mir noch eine geile Flöte geknabbert und sie prompt verloren… Sie sehen, lauter Pech!« »Also?« »Dann ist da noch dieses Mädchen… Absolut in mich verknallt. Welcher Idiot läßt so ein Weib hier zurück? Also, auf zu diesen Tonsoldaten!« »Überlegen Sie es sich noch einmal gut!« riet ich und ging auf den Ausgang zu. »Ich will ja den Teufel nicht an die Wand malen, aber…« »Das wäre auch besser so«, unterbrach mich Leichenfresser und lächelte Malgorzata zu. »Kennen Sie mein schönstes Lied, Madame?« »Nein«, erschrak Mal. »Äh … welches wäre das denn?« Leichenfresser wurde fünf Zentimeter größer, schob die Brust raus, räusperte sich und fing dann, begleitet von sichtlich unheilbaren Zuckungen in einem fürchterlichen Falsett zu singen an: »Komm mit mir, Baby … pamparamm … zur schwarzen Messe in die Welt des Teuuufels…!« Ich trat aus der Pagode und lenkte meine Schritte in Richtung auf die Bergspitze. Leichenfresser sang uns weiter sein Meisterwerk vor, die anderen beiden folgten ihm stumm. Nach hundert Schritten drehte ich mich noch einmal um und schaute zur Residenz des Schwarzen Prinzen zurück. Zwischen den grünen Ziegeln der Pagodendächer und den hinter dem Anwesen liegenden Hanfplantagen gab es einen fließenden Übergang, und nur die bereits hinreichend bekannten, goldglitzernden Schriftzüge stachen irgendwie davon ab. 387
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ir waren etwa auf halbem Weg zwischen Bergspitze und Pagode, als der Pfad steil nach oben anstieg. Ich observierte die Gegend ziemlich genau, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Vorerst wanderten wir weiter zwischen Palmen und Unterholz hindurch. Die Bäume wuchsen immer dichter und versperrten langsam, aber sicher die Aussicht auf die Kuppe vor und das Anwesen hinter uns. Nach wenigen Schritten häuften sich auch die Felsbrocken. Sie ähnelten jenem, der eine Weile den Aufenthaltsort von Wimmers Tasche markiert hatte, waren allerdings um einiges größer. Mehrmals mußten wir anhalten, da der Pfad so seltsame Windungen machte, daß ich überzeugt war, wir würden rückwärts oder zumindest im Kreis gehen. Wie sich allerdings später herausstellte, hatte jeder Umweg einen guten Grund; entweder versperrte dichtes, undurchdringliches Dickicht den Weg oder aber spitze, unüberwindbare Felsen. Wer auch immer den Weg vorgetrampelt hatte, er kannte die Gegend zweifellos wie seine Westentasche. Etwa nach einer halben Stunde erreichten wir einen kleinen, zerfallenen Tempel. Nur ein paar noch stehende Wände verrieten, daß man hier mal einem Gott geopfert hatte. Ich bückte mich und kratzte mit dem Lauf der MP das Unkraut etwas zur Seite, und schon lächelte mir von den Fliesen Maitreja, der Kommende Buddha, entgegen. Leichenfresser fuhr plötzlich auf und deutete auf einen flachen Stein. »Heilige Trommel«, meinte er dann, »jetzt sehen Sie sich mal das da an!« Mal stieß einen kurzen Schrei aus, und auch Hardy ließ sich zu einem gurgelndem Krächzen verleiten. Ich folgte der angewiesenen Richtung mit den Augen und spürte, wie sich mein Hals zuschnürte. 388
Auf der ebenen Fläche stand eine etwa dreißig Zentimeter große Tonfigur und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den schmalen Pfad, der uns weiter hinauf zu der Spitze führen sollte.
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al schluckte und hakte sich bei mir ein. »Was soll das bedeuten, Leslie?« »Er will uns den Weg zeigen.« »Und wer hat ihn hier hingestellt?« »Huan-Ti hat mir doch versprochen, mich zu seinen Tonsoldaten zu führen…!« »Ich meine es ernst!« »Später, Mal! Im Moment zählt nur, daß die Figur da ist.« Ehrfürchtig begutachteten sie die Tonfigur. Es war ein alter Chinese mit langem Haar und herabhängendem Schnauzer. Von seinem dürren Arm war der Ärmel zurückgerutscht, und er deutete mit gekrümmtem Zeigefinger auf den Weg nach oben. Ich beugte mich über ihn und tat, als wollte ich die Figur untersuchen. Dabei war es der Stein, der mich interessierte. Das Gesicht der Puppe war ein typisch chinesisches und hatte, anders als die kleinen Figuren, nichts mit unserer Truppe zu tun. Der große schwarze Käfer auf dem kleinen Felsen allerdings zog meine Aufmerksamkeit mit seinen watschelnden, unsicheren Schritten um so mehr auf sich. Als mein Schatten über ihn fiel, hielt er inne und traute sich erst nach langen Sekunden wieder, sich zu bewegen. Er fuhr seine Fühler aus, um den Weg zwischen den Unebenheiten des Steins zu finden. Als er ihn dann endlich vor sich hatte, blieb er erneut stehen und betastete den Boden, als würde er unbekanntes Terrain betre389
ten. Es war wohl das große W, das ihn störte. Es war mit einem harten Gegenstand in den harten Felsen geschnitzt worden, wahrscheinlich mit einem Geldstück. Und, den scharfen Rändern nach zu urteilen, vor nicht allzu langer Zeit.
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ie zweite Tonfigur fanden wir, etwa zweihundert Meter entfernt, am Fuße eines großen Felsbrocken. Sie stand in einer natürlichen Ausbuchtung und deutete mit der Hand auf einen weiteren Felsen, der kaum eine Gehminute entfernt war. Leichenfresser starrte verblüfft auf den stilisierten Chinesen. »Ist das hier so eine Art Brauch? Ich weiß noch, einmal, da hatten wir ein Konzert in Holland, und da hat man uns lauter kleine Windmühlen hinterher geschenkt. Die größte war mindestens fünf Kilo schwer… Und die blöden Zollleute daheim haben sie zerbrochen, weil sie glaubten, wir wären Schmuggler oder so was.« Ich spazierte zu der Puppe und war erst beruhigt, als ich auch hier das W entdeckte. Ich stieß einen Seufzer aus und wischte mir die Stirn ab. Als alle drei sich wieder einmal um mich scharten, startete ich einen letzten Versuch, es ihnen auszureden. Ich sagte, jetzt wäre die letzte Möglichkeit, noch auszusteigen. Hardy zuckte bloß mit den Schultern, Mal ließ die obligatorischen Blitze aus ihren Augen schießen, und Leichenfresser kassierte die Figur ein. »Als Andenken«, grinste er und zwinkerte mir zu. Ich schaute zu dem weißen Felsen hinüber, der unser Ziel sein sollte. Irgendwie stach er aus der Umgebung heraus, schien sogar aus einem anderen Gestein zu sein als all seine Nachbarn. 390
Die Baumkronen raschelten unangenehm heftig über uns. Affen tanzten herum, und das Knacken der Äste hinterließ in uns das Gefühl, als ob da oben Meos auf der Lauer liegen würden und nur darauf warteten, sich auf uns stürzen zu können. Die Meos…! In Gedanken kehrte ich immer wieder zu diesem beunruhigenden Thema zurück. Wo zum Teufel konnten sie sich versteckt haben? Als ich auf dem Weg nach oben einen relativ guten Blick auf die Plantagen hatte, hielt ich extra nach ihnen Ausschau, jedoch ohne Erfolg. Ich wollte die anderen nicht unnötig beunruhigen, aber Hardys Worte hatte ich keinesfalls auf die leichte Schulter genommen. Wohin waren sie bloß verschwunden, und weshalb? Leichenfresser holte die kleine Figur wieder aus der breiten Kimonotasche und begutachtete sie zufrieden. »Sagen Sie, Mr. Lawrence, ist das so eine Antiquität?« Wir waren bereits nahe bei dem anderen Felsen, und ich entschloß mich, erst zu antworten, nachdem ich mich gründlich umgesehen hatte. Mal trottete hinter mir her wie ein kleiner Hund, die anderen beiden folgten uns mit einigem Abstand. Die weiße Oberfläche blendete mich förmlich, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings wenig beachtete. Ich suchte nach einem W oder wenigstens einer Tonfigur. Leichenfresser, der den riesigen Stein in der anderen Richtung erkundete, fuhr plötzlich laut auf. »Verdammt! Was ist denn das?!« Seine Stimme verriet, daß er wohl kaum nur eine Topfpflanze gefunden hatte. Mit einem Satz war ich bei ihm. Der Musiker kniete auf dem Boden und deutete zwischen die angrenzenden Büsche. »Sehen Sie, Treppenstufen!« Ich stellte mich vor die Öffnung und seufzte innerlich auf. Also waren wir endlich angekommen! Wir standen vor dem Eingang ins Reich der Geheimnisse. Meine Anspannung verflog wie bei einem Löwendompteur kurz vor dem Auftritt. Ich konzentrierte mich nur noch auf die vor mir stehende Aufgabe und machte mir keine Ge391
danken um die Zukunft, die darauf folgen konnte. Der Lilahaarige hatte vor Überraschung sogar vergessen, seinen Mund zu schließen. »Heilige Elefanteneier! Das Ding geht ja auf Schienen!« Ja, das tat er wirklich. Der weiße Felsen, meine ich. Auf zwei kleinen Eisenschienen, die von der jetzigen Position bis über die freigewordene Öffnung führten. Die Eisenträger waren vollkommen verrostet, aber man konnte auch sehen, daß vor kurzem das schwere Gestein darübergerollt worden war. »Mein Gott«, meinte Hardy und keuchte vor Aufregung. »Was hat es geöffnet?« Ich ging zu dem Felsen und stemmte meine Schulter dagegen. Viel brauchte es nicht, das Ding in Bewegung zu setzen. Ich hielt es wieder an, nahm dann meine Waffe von der Schulter und schlug mit dem Schaft zu. Prompt blätterte ein suppentellergroßes Stück ab. Ich brauchte mich nicht zu bücken, mich interessierte mehr die neue Bruchstelle. Es war kein Gestein, sondern Gips! Deswegen war die Farbe so unwirklich weiß! Wenn ich nicht tausend andere Dinge im Kopf gehabt hätte, wäre ich bestimmt schon früher darauf gekommen… Wir blickten den dunklen Treppenabgang hinunter, jeder von uns belastet mit seinen ganz geheimen Zweifeln und Hunderten von Fragen, die eine Antwort forderten. »Wieso hat man die Öffnung nicht wieder verschlossen?« erkundigte sich Mal flüsternd, als ob sie Angst hätte, belauscht zu werden. »Damit wir sie auch ja nicht verfehlen«, antwortete Hardy. Ich setzte vorsichtig meinen Fuß auf die erste Stufe. Sie schien stabil zu sein, und auch sonst konnte ich nichts Besonderes entdecken oder spüren. Hardy schielte nach unten, und auch Leichenfresser riskierte einen staunenden Blick. »Ich brauche nicht zu klettern?! Obwohl, Mensch, inzwischen ist wahrscheinlich sogar meine Höhenangst weg…« Ich schaute nach, wo das Licht herkam. Und dann wurde mir klar, 392
daß der Gang, wie bei dem unterirdischen Verlies des Schwarzen Prinzen, durch Schächte beleuchtet wurde, die nach oben zur Oberfläche führten und dort von Unterholz und Büschen sicherlich gut versteckt wurden. Die Treppe machte einen Knick und führte immer steiler hinab. Als würde sie geradewegs in die Höhle führen… Wegen des Lichts brauchten wir uns also keine Sorgen zu machen, obwohl es einige Passagen gab, bei denen oben wohl die Löcher zugewachsen waren und es dadurch nur sehr spärlich den Gang erreichte. Richtig erleichtert war ich erst, nachdem ich bei einem helleren Teil wieder ein in die Wand geritztes W entdeckte. Allem Anschein nach hatte man das Labyrinth nicht erst gestern angelegt. Armbreite, querwachsende Wurzeln zeugten davon, daß die Natur auch unter der Erde alles daransetzte, ihr Reich zurückzuerobern. »Wir hätten Taschenlampen mitbringen sollen«, ärgerte sich Hardy, als er wieder einmal stolperte und nur mit Mals Hilfe nicht das Gleichgewicht verlor. In der Tat schien es zusehends dunkler zu werden. In der nächsten Kurve ließ ich sie vorgehen und preßte mein Ohr an die Wand. Ich glaubte, Schritte hinter uns hören zu können, aber es konnte natürlich auch das Geräusch der ständig tropfenden Wurzeln und Erdbrocken sein. Ich eilte den anderen nach. Gerade als ich anfing, nervös nach einem neuen W zu suchen, hörte ich Malgorzatas überraschten Aufschrei. Der Gang wurde breiter und gab die Sicht auf eine riesige unterirdische Kathedrale frei. Es war keine Übertreibung, von einer Kathedrale zu sprechen, der Raum war gigantisch. Wie das Hauptschiff eines mittelalterlichen Doms, mit all den Attributen, die dessen monumentale Erscheinung beschreiben konnten. Ich blickte nach oben und konnte einfach keine Kuppel ausmachen, so hoch war sie angelegt. Der Grundriß mußte sich auf gut dreihundert mal hundertfünfzig Meter erstrecken. Ich erschauderte, als mir klar wurde, wieviel Arbeit es gekostet haben mußte, soviel Erde auszuheben. 393
»Da!« krächzte Leichenfresser und deutete auf den uns am nächsten stehenden Stützpfeiler. Wir schauten alle gleichzeitig hin. Dicht daneben stand auf dem Boden die nächste Chinesenfigur und deutete mit dem ausgestreckten Arm zur Mitte der Kathedrale. Ich glaube, in dieser Sekunde vergaß ich für eine ganze Weile alles um mich herum. Und obwohl ich wußte, daß all meine Rückschlüsse und Folgerungen richtig waren, konnte ich mich nicht dem Zauber des Anblicks entziehen. In der Mitte der riesigen Höhle, umgeben von den schwitzenden Erdwänden und einem Holzgeländer, lag eine riesige, offene Ausgrabungsstätte. Von der Tiefe her war sie nicht so beeindruckend, die große Grube reichte höchstens zwei Meter in den Boden. Sie war quadratisch, mit einer Seitenlänge von etwa vierzig Metern. Und in dieser offenen Grabstätte, mit den Gesichtern zu uns, standen die lächelnden Tonsoldaten! Hunderte, wenn nicht sogar Tausende der menschengroßen Tonsoldaten!
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ie nächsten Minuten vergingen im Zeichen der allgemeinen Begeisterung. Mal und Hardy rannten zu dem Grab. Die Pilotin wäre am liebsten hinuntergesprungen, um die Tonfiguren zu umarmen. Die Soldaten lächelten, als ob sie ihre späten Nachkommen mit Freude begrüßen würden. Leichenfresser schlenderte zu mir herüber und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also haben wir sie gefunden?« 394
Ich nickte. Daraufhin kratzte er sich am Haarkamm und blinzelte mich an. »Sollte ich mich jetzt irgendwie … äh, besonders fühlen?« Ich konnte darauf nichts erwidern. Als ich zum Grab ging, standen sie direkt vor mir, zum Greifen nahe. Mal kam zu mir und lehnte sich an meine Schulter. »Oh, Leslie, das ist so … phantastisch! Als ob alles nur ein Traum wäre! Ich wollte schon immer Teil einer außergewöhnlichen Sache sein… Als ich das erste Mal mit einem richtigen Flugzeug abhob, dachte ich, ich könnte nie wieder dieses Gefühl haben… Und jetzt… Das ist einfach wunderbar! Guck doch, wie herrlich sie sind!« Die Tonsoldaten lächelten, und ich versuchte, die Quelle des Lichts auszumachen. Denn obwohl die Schächte des Treppenaufganges weit zurücklagen, war es doch auffallend hell im Saal. Ich konnte es mir nur so vorstellen, daß man an den Seiten, oben bei der Brüstung, in die vor uns verborgenen Ecken Fenster zur Außenwelt eingebaut hatte. Die Decke mußte wohl direkt unter der Erdoberfläche enden. Ich ließ die anderen ihren Freudentaumel genießen. Sie zählten gerade die Soldaten, rannten am Rand des Grabstätte wie aufgescheuchte Teenager herum und addierten mit ausgestreckten Armen die Reihen. Mal blieb manchmal stehen, als ob sie sich nur schwer entscheiden könnte, ob sie zu ihnen hinunterspringen oder zu dem besseren Beobachtungsposten auf das Geländer über uns hochschweben sollte. Im Gegensatz zu den beiden war Leichenfresser keinesfalls so sehr beeindruckt. Er stand immer noch in der selben Position da, fast schon traurig, was schon deswegen irgendwie seltsam war, weil sich bisher eigentlich er für die oberflächliche gute Laune verantwortlich gezeigt hatte. »Alles klaro?« »Was meinen Sie?« »Na ja, wir haben sie gefunden, und fertig?« »Wie Sie sehen…« 395
»Und warum haben Sie uns dann da oben so viel Angst eingejagt?« »Ich hatte das wirklich nicht vor…« »Also, ich werde Ihnen jetzt etwas sagen … und lachen Sie mich nicht aus … aber ich glaube, ich habe recht schlimme Vorahnungen, Mann!« Was soll ich sagen, mir ging es genauso. Von dem Moment an, als die Boeing mit uns notgelandet war. Und das hatte sich auch nicht verbessert, als ich meine Schritte in diesen unterirdischen Gang gerichtet hatte. Aber mir war klar gewesen, daß ich auch die unangenehmen Schachzüge durchführen mußte, wenn ich das Rätsel um die Tonarmee lösen wollte. Mal erschien wieder einmal vor meiner Nase und warf sich in meine Arme. »Leslie … das ist einfach unglaublich! Bisher sind es etwa vierhundert, aber Mr. Hardy meint, man hätte hier eine eigenartige Lagerung gewählt, die er schon mal in irgendeiner verlassenen Stadt gesehen hat. Er sagt, die Soldaten wurden in mehreren Schichten begraben, daß also praktisch diese hier auf den Köpfen der anderen stehen … und daß das Ganze wer weiß wie tief reicht! Verstehst du?! Ist das nicht wunderbar, Leslie?!« Doch, das war es in der Tat. Trotzdem konnte ich mich über die Entdeckung nicht so richtig freuen. Mal rannte zu den Soldaten zurück, und ich hörte wieder diese seltsam schlurfenden Schritte, die uns meiner Meinung nach bereits im Treppengang gefolgt waren. Diesmal kamen sie aber von oben, wo sich die Brüstung an der Wand entlangzog. Ich drehte mich schnell um und richtete die Maschinenpistole auf das Geländer, aber es war zu spät. Und im selben Moment wurde mir auch klar, was für einen riesigen Fehler ich begangen hatte. Ich war nämlich davon ausgegangen, daß sie sich uns auf dem selben Weg nähern würden, den auch wir genommen hatten, und ich hatte dabei vollkommen außer acht gelassen, daß sie zufällig auch einen anderen Gang zum Geländer finden könnten. 396
Noch während ich den Gedanken zu Ende dachte, blitzte und krachte etwas zwischen der Wand und der Grube mit den Tonsoldaten auf, und gleichzeitig mit der Explosion sah ich Mal mit ausgebreiteten Armen zwischen die Tonarmee fliegen. Ich wollte ihr hinterherspringen, aber ein an meiner Nase vorbeipfeifendes Geschoß stoppte meinen Elan. Ich warf mich also einfach auf den Boden, und kurz darauf landete auch Leichenfresser neben mir. Er preßte die Hände auf die Ohren und beschwerte sich mit bleichem Gesicht bei mir: »He, die schießen ja! Könnten Sie denen nicht sagen, daß…« Ich sollte nie erfahren, was er als Verhandlungsbasis vorgeschlagen hätte, denn schon war ich wieder auf den Beinen und arbeitete mich wie eine Sprungfeder zu der Grube vor. Es gab zwar ein paar Salutschüsse, aber am Aufklatschen der Kugeln hörte ich genau, daß sie nur als Warnung gedacht waren. Dann war ich bereits mit einem Sprung in der offenen Grabkammer verschwunden. Obwohl genug Licht in die Kathedrale vordrang, erschien es mir jetzt doch als etwas zu wenig. Es wurde zwar ein wenig besser, nachdem ich mir den nassen Schlamm aus den Augen gewischt hatte, dennoch konnte ich die Gestalten auf dem Geländer nur als schemenhafte Schatten ausmachen. Ihre Größe machte die Identifizierung zum Glück etwas leichter. Meos. Mal lag auf dem Boden, dicht bei einem Soldaten, und wagte es nicht, den Kopf zu heben. Ich kroch zu ihr und umarmte sie. »Bist du verletzt?« Sie schüttelte nur stumm den Kopf. Ich schaute hoch, und mein Blick traf auf den eines Tonsoldaten; er schien zu lächeln, gar nicht wie ein Krieger, sondern eher mit einem gütigen, weisen und auch etwas müden Gesichtsausdruck. Ich nahm Mals Hand und zerrte sie mit ins Innere der Tonfigurensammlung. Zu meiner größten Überraschung wartete dort bereits Hardy auf uns und zielte gerade mit seinem Revolver auf die Brüstung. 397
Ich legte die Hand auf den Lauf. »Noch nicht!« flüsterte ich. Er nickte und ließ die Waffe sinken. Im selben Moment schallte uns aus der Höhe eine Stimme entgegen. »Lawrence!« Es war Vang Pin. Ich steckte meinen Kopf hinter einem der lächelnden Tonsoldaten heraus. »Was wollen Sie?« »Ergeben Sie sich! Sie haben keine Chance zu entkommen!« »Was heißt hier ergeben?! Wir haben die Tonsoldaten gefunden, und fertig! Wenn ich mich richtig erinnere, wollten Sie heute mittag nicht einmal an die Legende glauben…!« Er lachte auf, mit einem Hyänengekreische, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Blöder Idiot!« fällte er sein Urteil und vertrieb damit endgültig das Bild des zuvorkommenden, höflichen Gastgebers. »Von wegen nicht glauben… Seit gut vierzig Jahren interessiert mich nichts anderes mehr als die Tonarmee! Was wissen Sie verfluchter Idiot schon, was ich denke? Los, kommen Sie sofort da raus!« »Ich wäre wirklich dumm, wenn ich das machen würde!« erwiderte ich und rätselte, wo wohl Leichenfresser abgeblieben war. »Ich fühle mich sehr wohl in diesem Graben!« »Ich gebe gleich Feuerbefehl!« »Dann werden Sie aber auch die Soldaten zerschießen müssen!« Er antwortete nicht. Ich konnte förmlich spüren, wie er vor ratloser Wut fast in die Luft ging. Die erste Runde hatte ich also für mich entschieden. Mal drehte ihr Gesicht zu mir und schaute mich in panischer Angst an. »Ist … er das?« »Vang Pin.« »Woher wußte er, daß wir hierherkommen?« 398
»Er war uns die ganze Zeit über auf den Fersen…« »Und du warst dir darüber die ganze Zeit im klaren?« Ich nickte. Und dann merkte ich, daß ich die Sache nicht so einfach auf sich beruhen lassen konnte. Ich nahm ihr Gesicht in die Hand und küßte sie auf die Stirn. »Hör zu, Mal! Ich habe euch mehrmals gewarnt, mit unter die Erde zu kommen … aber glaub mir, wenn ich auch nur die geringste Chance dafür gesehen hätte, daß ihr den Mekong in Sicherheit erreichen würdet, hätte ich euch sogar mit der Waffe gezwungen, ohne mich loszumarschieren. Aber Vang Pins Meos waren in der Gegend, und sie hätten euch bereits nach den ersten hundert Metern ermordet. Nur deswegen ließ ich mich darauf ein, euch mit hier runter zu nehmen. Aber bitte Mal, glaub bitte nicht, daß ich dich auf dem Altar der Tonarmee opfern wollte, nur um leichter an die Beute zu kommen! Ich schwöre, hätte ich eine andere Möglichkeit gesehen, müßtest du jetzt nicht hier mit mir im Kugelhagel hocken…!« Sie drückte mir die Hand und streichelte meine Wange. »Lawrence! Hören Sie mich!« »Natürlich.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag!« »Ich bin ganz Ohr!« »Sie kommen da raus und ergeben sich!« »Das klingt aber nicht besonders gut…« »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie freien Abzug bekommen werden! Wenn Sie hervorkommen, lasse ich Sie von meinen Meos bis zum Mekong begleiten. Nun? Abgemacht?« Er nahm mich ungefähr für so voll wie einen zweijährigen Buben. Ich hatte keine Sekunde lang Zweifel daran, daß er uns sofort erschießen würde, wenn wir erst einmal aus dem wertvollen Graben heraus waren. Oder wenn nicht hier, dann oben im Wald. Den Mekong jedenfalls würde keiner von uns je erreichen. »Glauben Sie ihm ja nicht!« warnte mich auch Hardy. Natürlich hatte ich nichts dergleichen vor. Trotzdem tat ich vorerst so, als würde ich über das Angebot nachdenken. 399
»Ihr Vorschlag hat einen Haken, Mr. Vang Pin«, rief ich schließlich. »Es gibt keine Sicherheiten. Was, wenn Sie sich doch noch entscheiden, daß Sie keine Zeugen brauchen können?! Ich meine, wir haben die Tonarmee gesehen, wissen, wo sie versteckt ist… Was sollte uns daran hindern, es bei der nächsten Behörde zu melden?!« »Sie müssen mir vertrauen!« versuchte er, mich weichzukochen. »Wieso sollte ich nach Ihrem Leben trachten? Ich bin doch kein Mörder! Mir geht es nur um die Tonsoldaten. Ich habe noch nie jemanden umgebracht…!« Ein erneuter Lacher zerriß die Stille, diesmal noch fürchterlicher als der von Vang Pin. Das schreiende Gackern schien gar nicht von einem Menschen zu stammen und wurde von jeder Wand unwillig zurückgeworfen. Es schallte noch über uns, als Leichenfresser, die Gunst der Minute ausnutzend, neben mir auf einen freien Fleck plumpste. »Verdammt«, begrüßte er mich, »was zur Hölle ist das?« In diesem Moment wurde das Innere der Kathedrale in glühend helles Licht getaucht, was sofort von einer erschrocken verwirrten Maschinenpistole mit einer kurzen Salve quittiert wurde. Ich riß die Arme vor die Augen, und es dauerte mindestens dreißig Sekunden, bis ich wieder einigermaßen die Umrisse unterscheiden konnte. Auf dem Gerüst gegenüber Vang Pins Stellung, in genau derselben Höhe, nur eben von hundertfünfzig luftigen Metern getrennt stand eine neue Gruppe von Bekannten. Das beunruhigendste an der Sache war, daß wir genau zwischen den beiden Parteien saßen und das beste Ziel der Welt abgaben. Allerdings nur, wenn die da oben in Kauf nahmen, daß bei einem Schußwechsel auch die meisten Tonsoldaten zu Bruch gehen könnten.
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ls ich endlich wieder klar sehen konnte, stellte ich zufrieden fest, daß meine Rechnung aufgegangen war. Die Leute auf dem Gerüst waren allesamt Bekannte, und zwar gute Bekannte! Allerdings hatten sie leider eine Veränderung durchgemacht, die mir bei guten Bekannte gar nicht gefällt! Ganz vorne stand Großvater, nur eben etwas anders, als bisher. Der Strahler neben seinem Kopf umhüllte ihn – vielleicht gar nicht mal so ungewollt – mit einem Glorienschein. Keine Spur mehr von dem unscheinbaren, hilflosen Alten, als den wir ihn kannten. Die Krücke, auf die er sich bis jetzt immer gestützt hatte, hielt er nun ausgestreckt nach vorne, als handelte es sich dabei um irgendeine Waffe. Und bei näherem Hinsehen konnte ich auch das Hörgerät nicht mehr entdecken. Neben ihm, fast schon an ihn angelehnt, stand Wilhelmina von Rottensteiner. Auch sie hielt ihren Regenschirm drohend nach vorne gerichtet. Die kleine Baskenmütze war locker zur Seite gerutscht, und wer es nicht mit eigenen Ohren gehört hätte, wäre gar nicht auf die Idee gekommen, daß sie so einen fürchterlichen Schrei von sich geben konnte. Denn daß dieser unheimliche Lacher von ihr stammte, stand außer Frage, wenn man erst einmal in ihr Gesicht schaute. Direkt hinter den beiden stand Van Broeken und hielt eine Pistole mit Schalldämpfer in der Rechten, genauso wie Lisolette. Letztere hatte das freundliche Lächeln und die nervöse Unruhe abgelegt, die sie uns in den letzten Tagen abwechselnd vorgeführt hatte. Listig und vorsichtig schielte sie hinter den beiden Älteren hervor wie eine argwöhnische Großkatze. Plötzlich wurde irgendwo eine Kugel abgefeuert, die versehentlich einen der Tonsoldaten traf, dort abprallte und gar nicht einmal so weit an uns vorbeipfiff. »Nicht schießen … meine Soldaten! Neiiiin…!« Die Kathedrale verstärkte und verlängerte Huan-Tis schmerzvol401
len Aufschrei. Frau von Rottensteiner lachte erneut mit dieser furchterregenden, fast schon hysterischen Stimme auf. Leichenfresser setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Mein Gott! Ein unterirdisches Irrenhaus! Verstehen Sie das, Lawrence?« Als der kreischende Lacher verstummt war, brach Mals vorwurfsvolle Stimme das neu einsetzende Schweigen. »Lisolette!« Das Mädchen schaute von ihrem Podest zu uns herunter. Ich glaube, sie konnte uns nicht sehr gut sehen, denn die Tonfiguren warfen zum Glück ihren wohlwollenden Schatten auf uns. Dennoch schien sie zusammenzuzucken, als die Stimme ihrer Freundin sie erreichte. Der kleine Hinweis auf einen inneren Zwiespalt blieb mir nicht verborgen. Wer weiß, wozu dieses Wissen noch gut sein konnte. Sicherlich war sie kein Profikiller, obwohl ich schon lange geahnt hatte, daß sie mit in der Sache drin steckte. Erneut meldete sich Vang Pin zu Wort, mit unendlichem Haß in der Stimme. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich will es auch nicht wissen. Ich will nur die Tonarmee! Sie gehört mir! Sie hat schon immer mir gehört. Und Sie… Sie sind nur einfache Räuber! Jawohl! Sie haben bestimmt irgendwo erfahren, daß ein paar verfluchte Wissenschaftler sie hier versteckt haben! Aber das ist mir egal! Nun kann sie mir niemand mehr wegnehmen!« Zweifellos vibrierte auch in seiner Stimme der Wahnsinn. Am Ende behielt Leichenfresser doch noch recht: ein unterirdisches Irrenhaus… Dann folgte Großvaters Auftritt. Er sprach mit einer alten, krächzenden und dennoch sehr lebendigen und harten Stimme, als er den Stock hob und damit in Vang Pins Richtung deutete. Nichts an ihm erinnerte mehr an den Mann, den wir in Erinnerung hatten. »Du weißt nicht, wer wir sind?! Ahnst du es nicht einmal in den Tiefen deiner dunklen Seele? Die Geister der Vergangenheit sind erwacht … wir sind hier unter der Erde zusammengekommen, um mit 402
dir endgültig abzurechnen; hier, neben den Tonsoldaten, die du dein ganzes Leben lang vergeblich gesucht hast und für die du getötet, gemordet hattest… Ahnst du wirklich nicht, wer wir sind, Lei Tshungtao?!«
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al schluckte laut und sah mich erschrocken an. »Dieser Mann? Unser … Gastgeber?« Ich nickte. »Der Geheimdienstchef von Chang Kai-shek. Oberst Lei Tshungtao.« »Mein Gott…« Lei Tshung-tao wurde bleicher und krächzte etwas, das ich nicht verstand. Vielleicht war es auch nur ein Laut der Überraschung gewesen. »Ich dachte mir bereits, daß wir uns irgendwann noch einmal begegnen würden«, sagte er dann eine Weile später, nachdem er sich beruhigt hatte. »Vielleicht haben Sie recht, Mr. …?« »Egal, oder?« meinte Großvater. »Ja, egal…«, wiederholte Lei Tshung-tao. »Nun, ich habe vielleicht sogar geahnt, daß es bald zu unserer privaten kleinen Abrechnung kommen würde. Ich hätte Sie alle schon längst beseitigen lassen sollen. Leider habe ich viel zu spät erfahren, daß der verfluchte Franzose und die drei deutschen Archäologen entkommen sind. Ich dachte schon, ich würde die Tonarmee nie mehr finden! Ach! Was heißt denken … ich zitterte bei dem Gedanken, daß sie für immer verschwunden sein könnte … und habe den Moment verflucht, in dem jeder einzelne von Ihnen auf die Welt gekommen ist… Sie hatten dieses Wunder ausgegraben und es lieber wieder unter die Erde ge403
bracht, als es mit mir zu teilen… Aber nun wird dieser Schatz mir gehören, jeder einzelne Soldat! Und ihr … ihr werdet verrecken. Alle zusammen! Es ist sogar ganz praktisch, daß Ihr hier seid … jetzt werdet ihr dem Tod nicht mehr entkommen!« Im nächsten Moment passierte etwas Unerwartetes. Etwas, das weder wir noch die vier auf dem Gerüst erwartet hatten. Aus Lei Tshungtaos Richtung ertönte ein weiblicher Schrei, dann erschien über dem Geländer das Gesicht einer ziemlich verzweifelten Judy. »Ich habe das Mädchen!« rief Lei Tshung-tao, und im grellen Scheinwerferlicht konnten wir gut beobachten, wie er aus der Tasche seines Kimonos eine Pistole hervorzog und sie dem Mädchen an die Schläfe setzte. »Wenn Sie die Waffen nicht sofort niederlegen, ist sie tot! Das schwöre ich!« Großvater verlor die Nerven. Er hob den Stock, als ob er damit Lei Tshung-tao erschlagen wollte. Statt dessen trat hinten eine kleine Flamme aus, irgend etwas zischte durch die Luft, jemand schrie auf, und ein Körper fiel mit einem dumpfen Aufprall zwischen die Tonsoldaten. Es gab zwar als Reaktion ein paar MP-Salven, aber alle wurden von Vang Pins Schrei übertönt. Er schrie auf die Meos in ihrer eigenen Sprache ein. Als sich Staub und Aufregung legten, hatten sich die Kopfjäger zurückgezogen, und nur der kleine Chinese stand hinter der Brüstung, diesmal ohne das Mädchen. Vang Pin alias Lei Tshung-tao grinste schadenfroh den erschrockenen und verkrampften Großvater an. »Was denn, du willst deine eigene Enkelin umbringen? Ich habe sie gerettet, und mein bester Mann mußte dran glauben. Aber egal! Ich will die Soldaten, und ich werde sie auch bekommen! Ich will auch, daß ihr jetzt alle die Waffen niederlegt und schön langsam, einer nach dem anderen, zu den Tonsoldaten runterkommt. So werde ich vielleicht euer Leben verschonen. Andernfalls… Ihr wißt schon. Übrigens! Jemand hat einmal versucht, sich bei mir einzuschleichen. Ich dachte, sie will mich, dabei ging es ihr einzig und allein um die Tonarmee. Und wißt Ihr, wer das war? Meine verehrte Frau, Paj Mi404
ang! Die dreckige Hure des Roten Drachen! Pfui! Dieses hirnverbrannte Ding hatte sich vorgenommen, aus mir den Fundort der Tonarmee herauszukriegen. Dabei wußte ich den selbst nicht einmal! Aber mir war klar, daß ich es irgendwann herausfinden würde; und auch sie merkte mit der Zeit, daß ich alles in Bewegung setzen würde, um hinter das Geheimnis von Huan-Tis Grabstätte zu kommen. Tja, und dann habe ich all jene zusammengebracht, die mir dabei behilflich sein konnten, hehehe! Die sehr verehrte Paj Miang diente die ganze Zeit über treu ihrem blöden Drachen und glaubte, ich würde da nicht durchblicken… Am Ende mußte ich sie töten, damit sie nicht die wunderbarste Entdeckung der Menschheitsgeschichte verhinderte. Und aus dem selben Grund mußte ich auch den Roten Drachen umbringen.« »Er … er hat seine Frau umgebracht?« stammelte Mal ungläubig. »Er … er hat diese Frau … selbst ermordet?« »Und nun ist für noch jemanden die Zeit der Bestrafung gekommen. Der Rote Drachen hatte noch eine andere Bettgefährtin, die zusammen mit meiner Frau in mein Haus kam. Und die sich dann – mein Gott, welch lächerliche Farce – als der Schwarze Prinz verkleidete und die Gegend unsicher machte. Es hat Monate gedauert, bis mir klar wurde, wer sich hinter der Identität meines Nachbarn verbarg. Dann ließ ich sie weiter gewähren, sollte sie von mir aus doch einen Teil der Arbeit leisten und auch ein wenig nach den Tonsoldaten graben. Wer weiß, vielleicht hätte sie sie ja gefunden… Aber du wirst eben doch nur deinen Tod finden, Ho Ling!« Er lachte wieder mit der krächzenden Stimme auf, die mir schon vorher einen gehörigen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Ich erhob mich ein wenig, um besser sehen zu können, was dort vor sich ging, obwohl ich in Wirklichkeit eigentlich überhaupt nicht darauf aus war, mit anzusehen, was nun anscheinend kommen sollte. Ho Ling, inzwischen als der Schwarze Prinz bekannt, erschien mit zusammengebundenen Händen am Rand des Geländers und blickte auf uns hinunter. Als ob sie Hilfe von uns erwarten würde. 405
Leichenfresser starrte entgeistert zu ihr hoch. »Dieser Kerl ist verrückt! Am Ende knüpft er sie ja noch auf…!« Einer der Meos warf Ho Ling in der Tat blitzschnell einen Strick um den Hals und knotete das andere Ende an dem Holzgerüst fest. Die Frau fiel auf die Knie, faltete die Hände zusammen und winselte irgend etwas zu Vang Pin. Der Chinese spuckte sie an und beförderte sie dann mit einem einzigen Tritt in die Tiefe. Eher wir so richtig zu uns kamen, hing sie bereits über uns und strampelte mit immer schwächeren Zuckungen. Ich wollte instinktiv hochspringen, um ihr zu helfen, aber dann wurde mir klar, daß ich mich nur unnötiger Gefahr aussetzen würde. Kein Mensch konnte Ho Ling noch helfen… Mal schrie wie am Spieß, Hardy preßte das Gesicht auf den Boden, nur Leichenfresser verlor seine Geistesgegenwart nicht. Er richtete sich auf den Knien auf und schüttelte Lei Tshung-tao seine Faust entgegen. »Ich werde dich noch kriegen, du Schweinepriester, und dann mache ich Senf aus deinen Eiern!« Ich glaube nicht, daß der Angesprochene die Drohung des Musikers vernahm. Er beugte sich über das Geländer und schaute zu uns hinunter. »Lawrence! Haben Sie alles gut mitgekriegt? Ich hoffe, es war Ihnen eine Lehre!« Ich antwortete nicht, dachte dafür um so angestrengter nach. Lei Tshung-tao schien nun aber endgültig die Initiative ergriffen zu haben. »Lawrence! Was ist?« »Was wollen Sie hören?« »Sie sind ein kluger Mann! Sagen Sie ihnen, daß es keinen Sinn hat, Widerstand zu leisten. Wenn Sie die Waffen niederlegen, können Sie gehen, wohin Sie wollen!« Ich stand auf und lehnte mich an einen der Tonsoldaten. »In Ordnung! Schicken Sie das Mädchen runter!« »Hier gebe ich die Befehle, ja?! Zuerst ergeben Sie sich alle mal 406
schön, und dann sehen wir weiter.« Ich blickte über die lange Reihe der Soldaten und ließ meine Augen so lange hin und herschweifen, bis ich auf der Hand eines bärtigen Bogenschützen ein eingeritztes W entdeckte. Ich dachte eine Weile angestrengt nach, dann hockte ich mich wieder neben die anderen. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß auch Großvater und Wilhelmina von Rottensteiner zur Besprechung der Lage die Köpfe zusammensteckten. Ich ergriff Hardys Arm und blickte ihm in die Augen. »Nehmen Sie die zwei mit hinter die vierte Reihe! Klar?!« Er sah mich an, als würde auch ich inzwischen zu den Bewohnern dieses Irrenhauses zählen. »Ich soll was?!« »Was ich gesagt habe! Los jetzt!« Und um meine Worte zu untermauern, gab ich ihm gleich einen richtungsweisenden Stoß. Etwas schien seinen Füßen leider im Weg gewesen zu sein, denn er torkelte, fiel gegen einen der Tonsoldaten, der daraufhin heftig ins Schwanken geriet und dann kurzerhand auf den Reporter knallte. Hardy stöhnte auf, kam keuchend wieder zum Vorschein und blickte mich noch entgeisterter an. »Mein Gott, Lawrence, hier ist ja alles verk…« »Mund halten! Und jetzt gehen Sie schon!« Er sprang auf, nahm Leichenfresser und Mal bei den Händen und zog sie mit sich in die besagte Reihe. »Lawrence!« Lei Tshung-taos Stimme klang ziemlich ungeduldig, man könnte sogar sagen, hysterisch. Ich zog die MP hinter den Tonsoldaten hervor. »Ich höre!« »Ich gebe Ihnen zwanzig Sekunden. Wenn Sie sich bis dahin nicht entschieden haben, wird die Kleine neben der anderen baumeln! Sie haben ja gesehen, daß ich nicht scherze. Also, ich wiederhole, Sie haben zwanzig Sekunden!« 407
»Warten Sie! Wenn dem Mädchen irgendwas passiert, werden Sie Ihre Tonarmee niemals kriegen! Darauf können Sie Gift nehmen!« »Das überlassen Sie lieber mir.« »Das ist kein Scherz, Lei Tshung-tao! Ich werde jetzt ebenfalls bis zwanzig zählen, und wenn das Mädchen bis dahin nicht hier unten ist, können Sie sich von ihren Soldaten verabschieden! Für immer! Haben Sie mich verstanden?!« »Sie bluffen, Lawrence!« Ein Meo schob das Mädchen an den Rand des Geländers. Das Mädchen hatte Tränen in den Augen und streckte die Hand verzweifelt nach ihrem Verwandten auf der Gegenseite heraus. Der alte Mann war in sich zusammengesunken, hatte den Stock auf den Holzboden fallengelassen und saß nun gekrümmt, mit dem Gesicht in den Händen da. »Großvater! Ich will nicht sterben!« Lei Tshung-taos Stimme kam wie aus einer anderen Welt. »Vierzehn!« Ich sprang wieder in meine Reihe zurück und hechtete zu dem Bogenschützen mit der Markierung. Dort fiel ich auf die Knie und grub so lange am Fundament herum, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte. Eine Art Pedal, auf das man wahrscheinlich nur kurz drauf zutreten brauchte. »Achtzehn!« Ich hatte keine Zweifel, daß es Lei Tshung-tao ernst meinte. Jetzt sollte er aber endlich lernen, daß auch ich keine Lust zum Scherzen hatte. »Neunzehn!« Judy schrie auf, Leichenfresser warf sich mit einem Satz über die Kante der Grube und rannte ungeachtet der Lebensgefahr, in die er sich begab, auf das Gerüst zu. Irgendwo wurde eine Maschinenpistolensalve abgefeuert, und im selben Moment, als ich das Pfeifen der Kugeln vernahm, trat ich auf das kleine Pedal. Ich hörte einen ohrenbetäubenden Knall, dann riß mich eine gewaltige Kraft in die Luft. Ein paar Sekunden später fiel ich auf den 408
Boden der Tatsachen zurück, geradewegs neben Leichenfresser. Der Musiker lag wie ich keuchend im Sand und versuchte, die Erde in seinem Mund mit heftigen Würgern wieder loszuwerden. Ich blickte zu den Tonsoldaten zurück. Die mit W markierte Reihe war buchstäblich wie vom Erdboden verschwunden. Judy stand immer noch reglos da oben, mit dem Strick um den Hals und den Tränen auf den Wangen. Den Chinesen konnte ich vorerst nicht entdecken. Ich griff mir Leichenfresser und zerrte ihn, so sehr er sich auch sträubte, mit mir in die Mitte unserer beschützenden Tonarmee zurück. Er verlor vollends die Kontrolle, fiel in sich zusammen, seine Stimme bebte. »Mein Gott! Judy…« »Ruhig Blut!« meinte ich. »Es wird ihr nichts passieren. In wenigen Minuten ist sie hier unten…« »Was … was haben Sie … angestellt?« »Ein kleiner Scherz. Als Zeichen, daß der Glaube manchmal Berge versetzen kann, oder in diesem Fall Tonsoldaten.« Ich verstummte, denn im selben Augenblick erschien Lei Tshungtaos Gesicht oben auf der Brüstung. Dann folgte der ganze Mensch, und er beugte sich so weit nach vorne, daß ich schon glaubte, er würde herunterfallen. Mit zitternder Hand schob er die immer noch vor sich hinbaumelnde Ho Ling zur Seite, und versuchte durch die Staubwolke einen Blick auf das Szenario hier unten zu erhaschen. Als er sich überzeugt hatte, daß eine ganze Reihe Soldaten verschwunden war, fiel er gegen das Geländer und fing an zu schluchzen. Ich war furchtbar stolz auf mich. Am liebsten hätte ich auch geweint, allerdings vor Zufriedenheit. Das einzige, was mich im Moment daran hinderte, war die Frage, wie wir nun letztendlich aus dieser Falle herauskommen sollten. Sofern wir es überhaupt schafften.
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ei Tshung-tao schrie auf. Eine ganze Weile hielt er sogar den Ton, als würde man ihm die Haut abziehen. Pausenlos prasselten die gemeinsten Schimpfwörter auf mich herab. »Was haben Sie getan, Sie verdammter Bastard?! Sie Dreckschwein! Meine Soldaten… Verflucht seien Sie, bis in alle Ewigkeit! Lassen Sie ja die Finger von meiner Armee! Kommen Sie sofort hier hoch! Sofort! Ich werde Sie töten… Sie alle! Verfluchter Bastard!« Ich hielt es für besser, ihn sich austoben zu lassen. Schnell drehte ich mich zum Gerüst mit Großvater und dessen Truppe um. Sie betrachteten mich, als würden sie einem Hauptdarsteller von einem ziemlich unbeliebten Film zuschauen müssen. Ihre Blicke waren nicht sehr freundlich, und das gefiel mir nicht. »Lawrence!« meldete sich Lei Tshung-tao. »Ich höre.« »Wenn Sie noch einem … einem einzigen etwas antun … werde ich Sie töten! Mehr noch, ich werde Sie foltern, daß Sie schreien und heulen werden wie ein kleines Kind, und betteln, daß ich Sie endlich umbringe…! Ich kenne Tausende von Foltermethoden, die…« »Strengen Sie sich nicht so an!« sagte ich und schielte immer noch mit einem Auge zu Großvater hoch. »Schicken Sie das Mädchen runter, oder die nächste Reihe wird dran glauben!« »Was haben Sie gemacht, Sie dreimal verfluchter Teufel?!« Ich grinste freundlich und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach … sehen Sie, Mr. Vang Pin, oder besser gesagt, Lei Tshungtao, ich habe etwas Erfahrung mit Typen wie Ihnen. Ich dachte mir, am besten suche ich die Tonarmee, noch bevor Sie sie finden. Heute nacht habe ich einen ausgedehnten Spaziergang unternommen … und, was soll ich sagen, ich hab' sie, wie Sie gemerkt haben, gefunden!« »Sie verfluchter Hundesohn! Also wußten Sie es schon gestern?!« 410
»Sie sagen es. Meine Freunde behaupten immer, ich wäre ein trickreicher Zeitgenosse. Diesmal bestand der Trick darin, die Soldaten zu finden und sie zu verminen. Ich hab' mir vorgestellt, was für ein tolles Feuerwerk das abgeben würde, wenn ich auf die Knöpfchen drücke. Wissen Sie, ich dachte mir – und meine Freunde sagen immer, ich wäre nicht bloß trickreich, sondern auch sehr vorausschauend –, also ich dachte mir, was, wenn unser lieber netter Hausherr doch nicht so lieb und nett ist? Was, wenn Sie sich entscheiden sollten, daß Ihnen die Tonsoldaten doch ein klein wenig wichtiger sind als unser Wohlergehen? Na ja, Sie wissen schon, die Menschen sind halt immer so mißtrauisch… Ich gebe zu, es war nicht die feine englische Art, hier herunterzukommen und jede Reihe einzeln zu verminen … aber wie schon gesagt, bin ich erstens kein richtiger Engländer und zweitens sowieso ein Barbar. Das sagen viele von mir, die mich kennen, und sie wissen, daß mir auch Weltruhm nichts bedeutet … oder diese Tonfigürchen hier. Ist das alles klar? Also, hier noch einmal mein Angebot: Sie lassen das Mädchen zu uns runterkommen, und dann können wir weiterreden. Sie bekommen noch einmal zwanzig Sekunden. Wenn nichts passiert, fliegt die nächste Reihe in die Luft. Und so weiter … es gibt ja ein paar von ihnen. Ach, und wenn dem Mädchen irgendwas zustoßen sollte, lasse ich hier alles in Staub aufgehen!« »Dann werden Sie selbst auch verrecken, Lawrence!« »Woher sind Sie sich da so sicher? Vielleicht habe ich mir ja auch dafür etwas einfallen lassen. Sie haben gesehen, eben ist mir auch nichts passiert!« »Das ist eine verdammte Finte, Sie Schweinehund!« »Das können Sie nicht wissen, Lei Tshung-tao. Also? Soll ich drücken, oder kommt die junge Dame zu uns runter?« Sein Kopf verschwand, was ganz gut war, denn vielleicht hätte er selbst aus der Höhe meinen Schweiß gesehen. Ich muß zugeben, daß ich es nach allen Regeln der Kunst gemacht hatte. Dennoch war es natürlich genau das, wonach es auch aussah: ein gefährlicher Bluff. 411
Endlich tauchte der Chinese oben wieder auf. »Das Mädchen ist unterwegs, Lawrence … aber Sie werden das noch tausendfach bereuen!« Leichenfresser ließ sich nicht mehr zurückhalten. Er sprang aus der Grube und rannte auf Judy zu, die in dem Höhleneingang auftauchte. Ich versuchte, so gut es ging, ihn mit der Maschinenpistole zu decken, konnte aber eigentlich nur darauf hoffen, daß Lei Tshung-taos Habgier größer sein würde als seine Wut und er keinen unüberlegten Feuerbefehl gab. So war es dann auch, und bald darauf rangen die beiden Liebenden gemeinsam neben mir nach Atem. Sie zogen sich hinter die Soldaten zurück, und ich schaute diskret in eine andere Richtung. Dabei nahm ich wieder die bisher merkwürdig ruhige gegnerische Seite aufs Korn. Wie groß war jedoch meine Überraschung, als ich neben den vier Akteuren meinen alten Freund Dr. Camus entdeckte! Und zwar in Begleitung eines ziemlich professionell wirkenden Zielfernrohrgewehrs. Erneut kletterte ich hinter den Soldaten hervor und versuchte nun, eine meiner wichtigsten Karten auszuspielen. Ich fühlte mich wie eine Maus, die sich vor zwei rivalisierenden Katzen zu verstecken versucht. »Frau von Rottensteiner…!« Sie sah zu mir herunter, mit dem Regenschirm in der Hand. »Was willst du, Käfersammler?« »Ich glaube, wir haben gewonnen!« »Ach … das glauben Sie?« Ihre Stimme war so voller Herablassung, daß ich es unmöglich nicht merken konnte. »Sie können machen, was Sie vorhaben … obwohl so etwas gegen meine Prinzipien verstößt. Ich glaube, kein Individuum hat das Recht, über ein anderes zu urteilen. Das muß die Gesellschaft machen…« Sie hob den Regenschirm und zeigte damit in meine Richtung. Ich glaube, ich ahnte die Stichflamme mehr, als daß ich sie sah. Ge412
rade wollte ich in Deckung springen, als das Projektil knapp vor meinen Füßen in die Erde einschlug. »Wenn Sie weiter solchen Unsinn reden, werde ich beim nächsten Mal besser zielen! Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gebeten! Hier entscheide einzig und allein ich, was passiert! Verstanden?! Ich hab' Sie nicht hierhergerufen, genausowenig wie die anderen. Ich kann nichts dafür, daß Sie hier sind! Das Opfer muß gebracht werden, und keiner darf und wird jemals erfahren, was sich hier abgespielt hat… Keiner, niemals! Die Erde wird uns alle begraben, zusammen mit den Tonsoldaten. So wollten wir es, und so wird es auch sein!« Ich richtete mich auf und sprach nun den alten Mann an: »Haben auch Sie den Verstand verloren, Großvater? Wollen Sie tatsächlich Ihre eigene Enkelin für das Hirngespinst einer Wahnsinnigen opfern? Was wollen Sie noch, nach so vielen Jahren? Rache?! Dann schnappen Sie sich Lei Tshung-tao, aber nur ihn! Ich warne Sie! Sie sind um keinen Deut besser als er, wenn Sie Unschuldige in Ihren Vergeltungszug mit hineinziehen…! Und Sie, Lisolette…« Als ich das Mündungsfeuer sah, warf ich mich automatisch in Deckung. Noch während des Falls sah ich, wie Van Broeken und Dr. Camus nach Lisolette griffen. Das Mädchen wehrte sich, wand sich in ihrem Griff und verschwand plötzlich aus meinen Augen. »Lei Tshung-tao!« Es war Frau von Rottensteiners Stimme. »Was wollen Sie?« »Erkennen Sie mich?« »Eine der sechs Frauen … die blonde Deutsche? Also sind auch Sie diesem idiotischen Kao Fan-tschung entwischt… Was wollen Sie? Einen Handel?« »Ich will Ihren Tod, Lei Tshung-tao!« »Sie sind verrückt! Genau wie dieser Lawrence… Stoppen Sie ihn am besten, bevor er noch meine Tonarmee in die Luft jagt!« »Bevor wir alle sterben, Lei Tshung-tao, muß ich Ihnen noch etwas erzählen. Sie verfluchter Mörder, Sie Scheusal! Jahrelang habe 413
ich diesen Tag herbeigesehnt… Wenn ich an Gott glauben würde, müßte ich ihm jetzt für diesen Augenblick danken. Sehen Sie diese Leute hier? Van Broeken … und Ihr Freund, Dr. Camus.« Der Doktor trat hervor und starrte den Chinesen haßerfüllt an. Lei Tshung-tao zuckte zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ja, ja, Lei Tshung-tao…!« fuhr die Professorin fort. »Dr. Camus ist niemand anderer als Leutnant La Coster. Genauso wie ich hat auch er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Sie zu finden und zu töten. Mein Gott, wie oft, wie oft hatte er die Möglichkeit dazu! Aber Sie sollten Ihr Leben dort beenden, wo Sie so gerne sein wollten! Unter der Erde. Bei Ihren geliebten Tonsoldaten! Mit einer riesigen Enttäuschung im Herzen…« »Enttäuschung? Sie sind ja verrückt, Rottensteiner…« »Das will ich nicht noch einmal hören!« drohte sie kalt. »Lassen Sie mich lieber etwas erzählen, das Ihr dreckiges kleines Herz hoffentlich in Rage bringt, Lei Tshung-tao. Die Tonsoldaten … HuanTis Tonsoldaten … existieren gar nicht! Das Ganze ist nur ein dummes Märchen, Lei Tshung-tao! Wir haben sie niemals gefunden!« »Unsinn!« »O doch, so ist es! Wir haben sie nicht gefunden. Und was nicht da ist, kann man vor Ihnen auch nicht verstecken, nicht wahr?!« »Was reden Sie da für ein wirres Zeug?! Schauen Sie doch mal nach unten!« »Das da unten, Oberst, ist nichts weiter als eine Falle, in die Sie hineingetappt sind. Nicht Sie haben uns entführt, sondern wir haben Sie reingelegt! Jede Minute meines Lebens habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, Ihr zuckendes Gesicht neben den … Tonsoldaten zu sehen. Wofür Sie gelebt haben, Lei Tshung-tao, die Tonarmee … sie existiert nicht, hat auch niemals existiert! Das alles hier unten habe ich angefertigt, um Sie in die Falle locken zu können. Sie dämliches, dreckiges Schwein!« »Stimmt das?« flüsterte Mal überrascht. Ich nickte. 414
»Sie sind alle aus Plastik, schau sie dir genauer an…« »Und du hast das die ganze Zeit gewußt?!« »Sagen wir, geahnt. Später erzähle ich dir alles. Die kleinen Figuren waren ebenfalls aus Plastik. Wilhelmina von Rottensteiner ist auch als Künstlerin nicht zu verachten. Zum Glück hat Mr. Hardy mal erwähnt, daß er in Bangkok eine ihrer Ausstellungen besucht hat.« »Verdammt«, murmelte der Reporter. »Das hätte mir auch auffallen sollen… Und was jetzt?« Ich hatte noch ein paar verborgene Asse im Ärmel, wußte nur nicht, welches ich wann ausspielen sollte. Dann sah ich Judys verstörtes Gesicht und fand, daß sie für die nächste Runde genau das Richtige wäre. Ich schälte sie aus Leichenfressers Geborgenheit verheißenden Armen und gab ihr ein paar Instruktionen. Zuerst verstand sie nicht, doch am Ende nickte sie nur noch, also ließ ich sie aus der Deckung hervortreten. Sie streckte ihre Arme flehend nach oben aus. »Großvater! Ich will noch nicht sterben! Hilf mir, Großvater!« Der Alte nahm die Hände von seinem gequälten Gesicht. »Es … es geht nicht, Judy! Ich habe einen Schwur geleistet!« »Aber meiner Mutter hast du doch auch geschworen, daß mir nichts passieren würde!« »Es … es wird nicht weh tun, Judy … und dort drüben, in der anderen Welt, sehen wir uns bald wieder!« »Großvater … lieber Großvater… Bitte, laß nicht zu, daß diese Verrückte uns alle mit ins Grab nimmt! Bitte, Großvater…« Ich riß sie gerade noch rechtzeitig hinter einen Soldaten zurück. In der Hand der Professorin hatte der Regenschirm wieder einmal Feuer gefangen, und wenn ich auch nur eine Zehntelsekunde später dort gewesen wäre, hätte sich Großvater keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchen. Der nächste Moment gehörte wieder Lei Tshung-tao, der einen heftigen Jauler ausstieß. »Neiiin…! Ich werde Sie alle umbringen! Glauben Sie etwa, ich würde auf so einen Blödsinn reinfallen?! Die Armee ist echt! Los, Jungs, Feuer!« 415
Ein paar Salven durchquerten den unterirdischen Tempel, dann merkten die Meos, daß sie nichts mit einem Gegner anfangen konnten, der sich bei Gefahr seltsamerweise ständig hinter einer dicken Holzbrüstung versteckt. »Lei Tshung-tao!« »Was wollen Sie?« »Keiner wird diese unterirdische Kammer lebend verlassen…!« »Verfluchte Hexe…« »Wir haben eine Sicherheitsschaltung installiert. Hier, sehen Sie? Dieser Schlüssel wurde umgedreht, als wir diesen Raum betreten haben. Alle Eingänge werden in etwa zehn Minuten einstürzen, wenn die Bomben explodieren. Wir werden für immer hier unten bleiben, Oberst! Wir und die falsche Tonarmee!« Ich fühlte, daß ich mich noch einmal in den Lauf der Dinge einmischen sollte. »Und was ist mit uns?« Sie drehte sich zu mir um und zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, es tut mir leid… Mit Ihren Leuten hatte ich eigentlich keine offene Rechnung. Mal abgesehen von Ihnen und den Käfern in Hamburg…« »Dann lassen Sie uns gehen!« »Ich kann nicht, Lawrence! Ich will nicht, daß irgend jemand unsere gemeinsame Ruhe hier unten stört. War das richtig so, Lei Tshung-tao? Vielleicht werden wir in einigen Jahrhunderten mal von erstaunten Archäologen gefunden… Die Minen sind scharf, die Uhr tickt. Unter anderem auch in der Höhle, die nach oben führt. Sie wären genau dort, wenn sie hochgeht.« Ich gab den anderen einen Wink und sprang aus der Grube. Eine Salve feuerte ich in Lei Tshung-taos, eine der Symmetrie halber in von Rottensteiners Richtung ab. Es tat gut mit anzusehen, wie sie alle hinter den Deckungen verschwanden. Leider waren wir alle etwas langsamer als erhofft. Wir hatten den Tunneleingang noch nicht erreicht, da prasselten auch schon die ersten Kugeln hinter uns nieder. Eine zischte ziemlich dicht an mei416
nem Ohr vorbei, kurz darauf schrie Hardy neben mir auf, und preßte die Hand an seine Schulter. Ich gab noch ein paar Gegenschüsse zum besten, dann hatte uns endlich die Ausgangshöhle verschluckt. Nur Hardy war leicht verletzt, die anderen waren davongekommen. Mal umarmte mich, und ihre warmen Tränen flossen mir bis unters Hemd. »Werden wir es schaffen?« Hardy schüttelte den Kopf. Zwischen seinen Fingern tropfte Blut auf den Boden. »Wenn diese wahnsinnige Frau tatsächlich alle Ausgänge präpariert hat, haben wir keine Chance. Wir brauchen mindestens zwanzig Minuten bis zur Oberfläche … und in zehn Minuten kracht hier angeblich alles zusammen. Nein, ich glaube nicht, daß wir es diesmal schaffen…« »Vielleicht doch«, erwiderte ich. »Was?! Wie denn? Worauf hoffen Sie denn jetzt noch?!« »Auf einen Buchstaben. Das W.« Er sah mich argwöhnisch an, als hätte ich seiner Meinung nach wie unsere Gegner ebenfalls meinen Verstand verloren. »Was zum Teufel soll das bedeuten?« Noch bevor ich den dazugehörigen magischen Namen aussprechen konnte, in dem sich all meine Hoffnungen bündelten, tauchte ein dunkler Schatten im Gang auf. »Sind Sie alle okay?« erkundigte sich ein typisch amerikanischer Akzent. »Leider konnte ich nicht früher da sein. Verdammte Kacke, die haben hier alles vernetzt! Selbst mit meinem Metalldetektor dauert es Stunden, bis ich eine Mine finde … als ob die das mit Absicht machen würden. Was ist? Warum schauen Sie so bedeppert? Hallo, Jungs, Mädels! Ich bin es! Seit vierundzwanzig Stunden bin ich auf den Beinen und entschärfe in diesen engen Schächten eine Bombe nach der anderen…« Es war natürlich Wimmer, der so wortreich vorstellig wurde.
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udy und Mal umringten ihn von zwei Seiten. Sie nahmen ihn in die Arme, tanzten mit ihm, es gab sogar den einen oder anderen Kuß. Wimmer griff nach seiner bis zur Unkenntlichkeit verdreckten Seemannsmütze und rief in gespielter Verzweiflung: »Hilfe, Terroristen!« Wer weiß, wie lange sie noch so herumgetollt hätten, wenn ich nicht dazwischengetreten wäre. Ich befreite den Terroristenjäger und baute mich vor ihm auf. »Alles in Ordnung?« Er schaute mich an, und auf einmal verflog die gute Laune aus seinem Gesicht. Er sah aus, als hätte er plötzlich in eine Zitrone gebissen. Irgendwie bekam ich davon ein ungutes Gefühl. »Wimmer…?« »Ja?« »Alles in Ordnung?!« »Ähm, ich … äh … ich fürchte…« »Was denn, Mann?!« schrie ich ihn an und schob die Mädchen unnötig hart zur Seite. »Was ist los?!« Sein Gesicht war jetzt ein Abbild unendlicher Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. »Es ist so… Die Bombe, die bei dem Eingang dafür sorgen soll, daß er für immer verschlossen bleibt… Die konnte ich nicht entschärfen! Tut mir leid, es ging einfach nicht… Das System war mir vollkommen unbekannt. Sie wird hochgehen.« »Wann?« Der Navysoldat lehnte sich an die Höhlenwand, und erst in dem Moment merkte ich, daß sein Eröffnungsgerede nur die Oberfläche war. Der junge Mann war in Wirklichkeit zu Tode erschöpft und hatte höllische Angst. 418
»Wann, um Gottes willen?!« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß nicht, Mr. Lawrence. Den Auslöser habe ich gar nicht gefunden, nur die Uhr. Zuerst wollte ich das Kabel durchschneiden, aber das war in einem Stahlrohr verlegt worden. Ich konnte nichts weiter tun, als die Uhr zurückzudrehen.« »Wieso haben Sie sie nicht zerstört?« »Es ist eine Automatik drin. Es hätte nichts genützt, denn wenn die Uhr nicht mehr funktioniert, übernimmt diese Automatik das Ganze, und da war es schon besser, die Uhr zurückzustellen. Das habe ich dann auch getan.« Langsam, aber sicher fühlte ich mich wie in einem Karussell. »Auf wann … ich meine, wie lange…?« Meine Sätze waren auch nicht viel zusammenhängender als seine, soviel stand fest. »Man kann die Uhr dreißig Minuten zurückschrauben. Ich hab' sie natürlich auf Minus Dreißig gestellt, also heißt das, von dem Moment an blieben uns dreißig Minuten…« »Und … wann…?« keuchte Leichenfresser und zog Judy an sich. Wimmer schaute auf seine Uhr. »Nun ja … vor genau fünfzehn Minuten«, meint er trocken. Er war sicher kein schlechter Marinesoldat, seine Nerven zumindest schienen aus Stahl zu sein. »Können wir den Ausgang erreichen?« keuchte Hardy. Anstelle einer Antwort schnappte ich mir Mal und rannte los. »Kommen Sie! Wir müssen es versuchen!« Leichenfresser stützte Judy, ich Malgorzata und Wimmer hin und wieder die Wand. »Kommen Sie, Soldat!« trieb ihn Hardy immer aufs neue an, obwohl er selbst mit seiner Wunde auch nicht in allzu guter Verfassung war. »Sind Sie denn so erschöpft?« »Todmüde«, krächzte der Marinemann und gab dabei Töne von sich wie eine leckgeschlagene Dampfmaschine. »Den ganzen Tag über in diesem blöden Loch…« 419
Ich schaute auf meine Uhr. Uns blieben noch zwölf Minuten.
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ch sah schon eine ganze Milchstraße von Sternen vor den Augen, Mal stützte sich mit einem unglaublichen Gewicht bei mir ab, fiel dann trotzdem immer wieder hin, so daß ich sie ständig aufzerren mußte. Judy schlug in einem hysterischen Schreianfall vor, sie dazulassen, weil sie es sowieso nicht schaffen würde. Wimmer fluchte daraufhin bloß, während Hardy und Leichenfresser sie weiter vor sich herschoben. Aber die Treppen schienen immer mehr zu werden. Manchmal hatte ich sogar das dumme Gefühl, wir würden nach unten rennen und uns in der letzten Minute wieder bei den Tonsoldaten einfinden. »Wieviel?« keuchte Wimmer. »Fünf Minuten. Ich hoffe, Sie haben die Zeiger richtig abgelesen…?« »Soll das ein Scherz sein? O verdammt, wie ich alle Terroristen dieser Welt hasse! Zum Teufel mit ihnen, sie alle müßten jetzt da unten in der Grube auf ihr Schicksal warten… Dann wären sie für immer begraben.« Es wurde zunehmend heller. Noch zwei Ecken, noch eine Kurve, noch… Zwei Minuten. Judy stolperte und blieb dann störrisch sitzen. Leichenfresser wollte sie hochheben, aber sie schrie nur herum und schlug auf den Boden ein. »Nein, laß mich…! Ich will sterben! Großvater…!« Wir waren wohl alle an unseren Grenzen angelangt. Physisch wie psychisch. Mal gab der Kleinen eine Ohrfeige. Das schien wohl so eine Art 420
Spezialität von ihr zu sein. Leichenfresser griff seiner Flamme unter die Arme und hob sie hoch. »Komm schon, Baby, wir werden das durchstehen, echt cool durchstehen! Glaub mir, Baby … immer mit der Ruhe…!« Nach der letzten Biegung sahen wir endlich das Tageslicht. Einen Spalt des Himmels hatten die Bäume über dem Ausgang frei gelassen. Noch ein paar Sekunden. Ich weiß nicht mehr, wie wir aus der Höhle hinauskletterten. Ich kann mich nur noch erinnern, daß ich mit Mal Hand in Hand auf die Bäume zutorkelte. Und dann noch daran, wie Wimmer einen spitzen Schrei ausstieß und gleich darauf die Zweige hinter uns knacksten. Ich drehte mich um und wünschte mir im selben Moment, ich hätte es nicht getan. Es waren die Meos mit ihren hübschen, breiten Buschmessern.
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ie Bäume drehten sich um mich herum, als wäre ich in einen tranceähnlichen Tanz verfallen. Wimmer fluchte ohne Pause, der völlig erschöpfte Hardy plumpste auf den Boden, und Mal hielt sich an meinem Arm fest. »Ist das … das Ende, Leslie?!« Ich konnte nicht mehr antworten. Selbst in diesem verstörten, abgehetzten Zustand hätte ich an die Meos denken müssen. In diesem Urwald mußte man mit ihnen immer rechnen. Aber was, wenn ich es gewußt hätte? Was hätte ich dagegen unternehmen können? Trotzdem würde man uns abschlachten, wir könnten uns höchstens länger verteid… Ich schlug mir auf die Stirn. Ich Idiot! Ich hatte doch noch mei421
ne Maschinenpistole! »Tötet sie!« vernahm ich eine bekannte Stimme. Es war die von Dr. Camus. Der ehemalige Leutnant La Coster war wohl durch einen Hintereingang entwischt. Und zeigte dieselben Symptome des Wahnsinns wie seine Gefährten unten in der Höhle. Ich stellte die MP auf Dauerfeuer und machte mich bereit. O nein, Freunde, einen Leslie L. Lawrence werdet Ihr nicht so einfach erwischen, besonders, da eine Maschinenpistole immer noch ziemlich gute Chancen gegen ein Dutzend scharfer Messer hatte. Aber zum Abdrücken kam ich nicht mehr. Mit weit geöffneten Augen sah ich zu, wie die Angriffslinie der Meos zusammen mit dem ihnen hinterherstolzierenden Dr. Camus in die Luft flog. Leider konnte ich das seltene Schauspiel nicht weiter verfolgen, da mich eine heiße Luftwelle erfaßte und ebenfalls davonschleuderte. Alles verdunkelte sich vor meinem Gesicht, und der Boden tat sich unter mir auf. »Verdammt, Mann«, vernahm ich nach einer Ewigkeit eine Stimme, »können Sie nicht aufpassen?!« Ich spürte, daß mein Mund mit Erde, Gras und Holzstückchen voll war und daß ich außerdem jemandem auf dem Magen lag. Leichenfresser versuchte verzweifelt, mich wegzustemmen. »Wo sind die … Kerle hin?« »Wer?« stöhnte ich. »Die Meos?« »Wo sind sie hin?« Genau, wo waren sie abgeblieben? Ich drehte mich um, konnte aber niemanden entdecken. »Warum fragen Sie?« Ein schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Weil ich … ihnen in die … Eier treten will!« meinte er, wurde dann schön langsam käseweiß und fiel in Ohnmacht. Soweit das Auge reichte, lagen entwurzelte Baumstämme in der Gegend herum. An der Stelle, wo sich bis vor kurzem noch der Eingang zur unterirdischen Höhle befunden hatte, gähnte eine gewaltige Schlucht. Als ob wir in einen Steinbruch gekommen wären, sah 422
ich überall spitze Felsreste aus dem Boden lugen und einen gleichmäßigen Steinteppich, der an manchen Stellen sicher ein paar Dutzend Zentimeter dick war. Erst in diesem Moment wurde mir klar, daß wir wahrscheinlich davongekommen waren. Und daß ich keinen blassen Schimmer hatte, wo sich Mal im Moment befand. Ich versuchte, ihren Namen zu rufen, schaffte aber nur ein heiseres Krächzen. Leichenfresser kam langsam wieder zu sich. »Wo … sind denn die … Mädels?« Dann fielen die ersten Napalmbomben.
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ie darauffolgenden Minuten sind aus meinen Erinnerungen verschwunden. Ich sehe nur ein paar verschwommene Bilder vor mir, wenn ich versuche, an die Situation zurückzudenken. Ich sah, wie Leichenfressers Kimono in Flammen aufging, er sich herausschälte, während ich immer noch versuchte, seine Kleidung mit Schmutz und Dreck zu löschen. Dann sah ich uns selbst, wie wir einen Berghang hinunterrannten und dabei pausenlos die Namen der anderen riefen. Die Bomben fielen immer noch, als wir bereits den Wald verlassen hatten. Wo immer wir auch hinsahen, alles stand in Flammen. Als würde die ganze Welt in der verdienten Hölle brennen. Dann rannte aus dem Rauch irgend jemand auf uns zu und landete kurz darauf heulend in Leichenfressers Armen. Ich weiß nicht mehr, wie wir die anderen gefunden haben und ob es nur ein Traum war oder ich tatsächlich persönlich der fast nackten Mal meinen zerfetzt-verbrannten Kimono über die Schul423
tern legte. Keuchend und hustend vor dem Rauch der brennenden Welt zogen wir uns hinter einen breiten Felsen zurück, wo wir dann fest aneinandergekuschelt auch die Nacht verbrachten. Am nächsten Tag, als die Sonne bereits hoch über uns stand, machten wir uns auf den Weg zum Mekong.
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ie Sonne brannte immer noch mit unverminderter Energie, aber diesmal in Bangkok, als ich vor der Polizeiwache aus dem Taxi stieg. Ich wollte gerade bezahlen, als ein Rothaariger neben das Fahrzeug trat und dem Chauffeur das Geld in die Kabine reichte. »Diese Fahrt geht auf Kosten der Presse!« Es war Hardy. Wir umarmten uns herzlich und grinsten dabei breit. »Mal?« Er zwinkerte mir zu. »Sie wartet bereits!« Das tat sie wirklich. Ich fand allerdings nicht dieselbe Mal vor, die ich erwartet hatte. Sie war mir immer noch als das schutzbedürftige Wesen in Erinnerung geblieben, das in einem dünnen Kimono, später im Hemd eines Eingeborenen, bis zum Mekong spazierte, dort krank wurde, und die ich dann auf meinen Armen ins nächste Dorf trug. Noch bevor wir diese Reise unternommen hatten, war natürlich ein Besuch in Vang Pins Residenz fällig gewesen, um die beiden doch recht hysterischen Tennismädchen und einige Kleidungstücke samt Verpflegung einzusammeln. Gegen letzteres hatten die Bediensteten zwar einiges einzuwenden, verstumm424
ten aber immer wieder, sobald ich meine Hand lässig auf der Maschinenpistole abstützte. Als die Tür aufschwang und ich eintrat, blieb ich stehen, als hätte mir ein Meo mit seinem breiten Messer gegenübergestanden. Dabei kam nur Mal zu mir und hauchte mir einen Kuß auf die Stirn. Dann fiel mein Blick auf die anderen Bekannten. Judy war da, ganz in Schwarz; Leichenfresser, mit neu gefärbter, lilafarbener Haarpracht; und Wimmer, der überschwenglich salutierte. Alles wirkte so übertrieben feierlich und gestellt. Als ob es gar nicht wir gewesen wären, die vor wenigen Wochen die Geschichte mit den Tonsoldaten gemeinsam durchlebt und überlebt hatten… Während die Minuten dann verstrichen, wurde die Atmosphäre gelöster, was nicht einmal die anwesenden Offiziellen ändern konnten, die mit zufriedenem Grinsen hinter einem langen Tisch saßen und dem bunten Treiben beiwohnten. Der Chef des Sicherheitsdienstes war ein kleiner, krummbeiniger Mann mit ehrlichem Lächeln, der hart zupackte, als wir die Hände schüttelten. »Wie geht es Ihren Pandas?« »Danke, wir konnten einige Schmuggler dingfest machen.« »Ich gratuliere! Sie schlagen sich wohl anscheinend überall durch, was…?« »Oder aber meine Freunde helfen mir aus der Patsche.« Ich zeigte galant auf die Anwesenden. Wir genossen noch eine Weile das unverbindliche Beisammensein, dann wurden die Reporter hereingelassen, und jeder nahm Platz. Als die Aufnahmegeräte eingeschaltet waren, fing ich an: »Erst einmal muß ich Sie um Verzeihung bitten, daß ich nicht jedes Detail des Falles aufklären konnte, der unter dem Namen ›Der Fluch des Huan-Ti‹ oder ›Die Tonarmee-Legende‹ in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Wie Sie sicher wissen, war ich in den letzten Wochen in China unterwegs.« »Wegen der Pandas?« »Ja, ganz richtig, wegen der Pandas. Die UNO und einige andere Organisationen haben mich gebeten, der chinesischen Regierung 425
bei der Bekämpfung internationaler Tierschmuggler behilflich zu sein. Zum Glück hatten wir Erfolg und konnten einige der Schurken festnageln. Die Pandas sind also vorerst in Sicherheit…« »Und die Tonarmee?« »Ich wäre selbst am meisten überrascht, wenn sich die Legende als wahr erweisen sollte. Wissen Sie, es gibt so viele Mythen und Legenden auf der Welt… Die Tungusen zum Beispiel…« Ich wollte gerade in meine eigene Welt versinken, als mich der strenge Polizeichef in die Wirklichkeit zurückholte. »Sie sollten vielleicht von vorne anfangen, Mr. Lawrence…« Ich lächelte verschämt, da ich wußte, daß mich mein wissenschaftlicher Eifer wieder einmal gepackt hatte und ich drauf und dran gewesen war, Leute mit Dingen zu langweilen, die sie gar nicht interessierten. Mal zwinkerte mir ermunternd zu, also räusperte ich mich und kam zur Sache: »Sie alle wissen inzwischen, daß die Vorgeschichte zu unseren Abenteuern mehrere Jahrzehnte zurückliegt. Oder noch länger, wenn man auf Huan-Ti selbst zurückkommen möchte.« Ich sah, wie der Sicherheitschef leicht zusammenzuckte, also ließ ich diese Variante schnell außer acht. »Aber lassen wir das jetzt. Genau wie die Legende der Tonsoldaten. Über die deutsch-amerikanische Expedition, die zu deren Erforschung zusammengestellt worden war, sollten wir allerdings schon ein paar Worte verlieren. Obwohl auch diese Dinge aufgrund der Nachforschungen der letzten Tage hinlänglich bekannt sein dürften, könnte es nützlich sein, ein paar Details noch einmal aufzurollen. Vor allem könnte von Interesse sein, was ich damals auf der Hochebene in Laos dachte und was ich hier und heute denke. In vielen Dingen handelt es sich nämlich durchaus nicht mehr um die selben Ansichten. Nicht wahr, Mal?« »Ja, genau«, meinte sie, aber an ihrem zaghaften Lächeln und dem verschwommenen Blick sah ich, daß nur ihr Körper anwesend war. Ihre Seele wanderte immer noch irgendwo im Dschungel herum, auf der Jagd nach Tonsoldaten. 426
»Also… In den Zwanzigern und Dreißigern, einer ziemlich stürmischen Zeit, arbeitete eine Expedition in China. Verschiedene Institutionen und Stiftungen hatten das Geld für diese Forschungsreise zusammengetragen, und die meisten Zeitungen berichteten sogar darüber. Da sich in den letzten Wochen einige die Mühe gemacht haben, diverse Archive zu durchstöbern, kennen wir auch die Namensliste der ehemaligen Mitglieder. Da aber mir persönlich damals in Laos überhaupt keine Einzelheiten bekannt waren, erlauben Sie mir bitte, daß ich alle bei dem Namen nenne, unter dem ich sie in Laos kannte. Also Van Broeken, Wilhelmina von Rottensteiner und Großvater. Sie werden sowieso wissen, um wen es sich in Wirklichkeit handelt. Es war klar, daß Lei Tshung-tao, Chang Kai-sheks Geheimdienstchef, für die Sicherheit der Expeditionsmitglieder verantwortlich war. Nach einer gewissen Zeit hatte ihn die Begeisterung der Archäologen für das Thema angesteckt, so daß er bald selbst an die Legende glaubte. Wieso sollte sie nicht wahr sein, und wenn dem so war, warum sollte nicht er sich den Schatz unter den Nagel reißen? Aber das alles ist Ihnen bekannt. Ich selbst wußte davon in Laos natürlich nur wenig – oder anders ausgedrückt: Anfangs tappte ich eigentlich völlig im dunkeln. Als ich die Papiere von Mr. Hardy gesichtet hatte, eröffnete sich mir folgendes Bild: Lei Tshung-tao hatte erfahren, daß die Archäologen die Tonarmee entdeckt haben, und versuchte sie für sich selbst zu vereinnahmen. Später, bereits im Dienste der Japaner, mußte er die Forscher umbringen lassen. Drei der Mitglieder konnten aber zusammen mit Leutnant La Coster entkommen und verschwanden in den riesigen Weiten Asiens. Natürlich ist inzwischen klar, daß vieles davon so nicht stimmt. Die Dokumente, die Mr. Hardy in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen hat, können nur einen Bruchteil der ganzen Geschichte beleuchten. Denn worum ging es eigentlich in Wirklichkeit? Nun, über die Arbeit der Expedition selbst brauche ich keine Worte zu verlieren, genausowenig wie über das politische Umfeld. Wichtig ist dabei nur, daß die Tonarmee am Ende doch nicht gefunden 427
wurde. Die Expedition hatte keinen Erfolg. Wie hätte sie auch, wenn die Tonarmee unseres Wissens gar nicht existiert? Sicherlich haben die Forscher viele verschiedene Dinge ausgegraben, aber eben nichts, was mit Huan-Ti zu tun gehabt hätte. In den dreißiger Jahren schließlich verschwanden die Forscher für eine ganze Weile von der Bildfläche, wobei ich natürlich annahm, daß sie in dieser Zeit die Tonsoldaten in ein neues Versteck brächten. Auch damit lag ich falsch; viel wahrscheinlicher ist, daß sie in irgendeinem Internierungslager saßen, wo sie all die Kunstschätze katalogisieren und bewerten sollten, die Lei Tshung-tao bei seinen Beutezügen zusammengetragen hatte. Auch mit der Außenwelt konnten sie nur über den Chinesen Kontakt aufnehmen, was aber natürlich von vornherein aussichtslos war. Die Welt war inzwischen an einem Punkt angelangt, wo sie sich nicht mehr für das Schicksal einer einzelnen Expedition im entfernten China interessierte. In Europa bereitete man sich auf Krieg vor, in Japan und in China auf die Invasion in der Mandschurei. Lei Tshungtao hatte sich inzwischen mit Herz und Seele den Japanern verschrieben. Den Eroberern gefiel allerdings die offensichtliche Hingabe des Chinesen für Kunstgegenstände wohl kaum. Noch weniger, daß er eine ganze Forschertruppe in seiner Gewalt hielt. In dem Punkt waren meine Vermutungen richtig; Japan hatte keine Lust, wegen der deutschen Mitglieder bei Hitler in Schwierigkeiten zu geraten. Die Aufforderung, die Sache zu beenden, kam wohl sicherlich von höchster Stelle, der sich Lei Tshung-tao auf jeden Fall fügen mußte. Nur tat er es eben nicht so, wie man es beabsichtigt hatte. Er beauftragte seinen Komparsen und Haupthenker, Kao Fan-tschung, alle umzubringen. Doch irgend etwas ging schief: Entweder war der Hauptmann diesmal ungeschickt, oder aber die Japaner hatten noch rechtzeitig von der Sache Wind bekommen. Die Deutschen entkamen diesem Massaker zusammen mit Leutnant La Coster. Über den Krieg brauche ich nicht weiter zu reden. Inzwischen wurden auch alle informiert, wie sich der Briefwechsel zwischen der jun428
gen Volksrepublik und dem Roten Kreuz gestaltete. Die Chinesen fanden schließlich auch das Massengrab und stellten fest, daß die Japaner die Morde begangen hatten. Damit hatte sich der Kreis geschlossen, die Angehörigen konnten endlich letzten Abschied nehmen, und die Sache wurde buchstäblich ein für allemal begraben. Nur gab es da einige, die weder fähig noch willens waren, zu vergessen. Diejenigen, deren Leben Lei Tshung-tao zerstört hatte. Jene, die sich die Gedanken an ihre ermordeten Kollegen nicht so einfach aus dem Kopf treiben konnten. Selbst nach Jahrzehnten, auf einem ganz anderen Kontinent. Ich spreche von den Leuten, die dem Blutbad entkommen waren. Meines Wissens gibt es, wie gesagt, keine Aufzeichnungen über ihre Flucht. Ich weiß nur, daß Großvater nach Amerika ging, von Rottensteiner in Deutschland zu einer anerkannten Professorin avancierte und Van Broeken sich in Holland niederließ. Über ihren weiteren Lebensweg und die Verbindungen zwischen ihnen könnte man einen eigenständigen Roman schreiben. Großvater, damals in seinen Dreißigern, eröffnete einen Antiquitätenladen und nahm sich nur selten wissenschaftlicher Fragen an. Vielleicht hatten ihn die Geschehnisse in China so sehr geschockt, daß er nie wieder etwas mit der Tonarmee zu tun haben wollte? Wer weiß. Er gründete eine Familie und lebte sein alltägliches Leben … an der Oberfläche. Denn daß er in Wirklichkeit keinesfalls der dumme, taube Opa war, für den er sich ausgab, wird auch Ihnen bald klar sein. Frau von Rottensteiner allerdings hatte sich zu den anerkannt Größten ihrer Zunft hochgekämpft. Auch sie verlor nie allzuviel Worte über ihre Vergangenheit, aber wer wollte das einer alternden Professorin schon übelnehmen? Kein Mensch ahnte, daß sie in ihrer Jugend nur mit knapper Not dem schrecklichen Tod entgangen war. Den seltsamsten Weg schlug der jüngste von ihnen ein: Van Broeken. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde er Mitglied der Amsterdamer Polizei. Ich will nicht pietätlos erscheinen, aber Van Broeken merkte schon bald, daß man auf der anderen Seite des Gesetzes etwas mehr Geld verdienen kann, und so wurde er schließlich 429
in gewisser Hinsicht auch selbst zu einem Verbrecher. Da das alles nicht unbedingt hierher gehört, möchte ich mit Ihrer Erlaubnis nicht weiter darauf eingehen.« »Sehr gut«, nickte der Sicherheitschef. »Es bleibt also nur noch eine Person übrig, die…« »La Coster«, warf Mal dazwischen. »Richtig. Der französische Leutnant, der zusammen mit den drei anderen der Hinrichtung entkommen war. Von ihm wissen wir lediglich, daß er als Arzt in China gewesen war, bis er sich der Expedition anschloß und dann diesem fürchterlichen Blutbad entrinnen konnte. Er verließ natürlich Asien wie auch die anderen. Danach wuchs Gras über die Sache, genau wie über das Massengrab. Als dann Jahre später die Exhumierung vorgenommen wurde, schien es, als wäre die Tragödie endgültig vorüber.« Ich hielt kurz inne, stopfte meine Pfeife und genoß ein paar Züge. »Irgend etwas war mit den vier Leuten, die gemeinsam China verlassen konnten, passiert. Ich für meinen Teil glaube, daß sie eine Art Schwur geleistet hatten, niemals zu vergessen, was ihren Kameraden angetan wurde, und sie hatten sich vorgenommen, sie irgendwann einmal zu rächen. Wenn es sein mußte, wollten sie ihr ganzes Leben dieser Aufgabe widmen: Lei Tshung-tao finden und töten. Es ist keine dankbare Sache, Vermutungen aufzustellen, aber diesmal habe ich keine andere Wahl. Ein paar Dinge müssen wir nämlich ganz klarstellen: zum Beispiel, wer diese Menschen überhaupt waren, die Rache geschworen hatten. Ich sehe schon, Sie halten diese Frage für seltsam oder überflüssig. Wer waren sie schon … ein Amerikaner, eine Deutsche, ein Holländer, ein Franzose… Aber mich interessiert etwas anderes. Was waren das für Menschen, als sie diesen Schwur besiegelten? Sie verstehen immer noch nicht? Gut… Ähm, die Frage ist, meiner Meinung nach, inwiefern diese Menschen nach den unmenschlichen Qualen noch dieselben waren? Sie kennen doch die Problematik der sogenannten Lagerpsychose. Stellen Sie sich vor, 430
daß diese Leute wohl Jahre unter schier unsagbaren Entbehrungen gelitten haben, abgeschottet von der Welt, und manchmal sicherlich schlimmer als die Tiere hausen mußten; und da ist dann die Annahme, daß sie sich unter diesen Bedingungen vielleicht auf eine ganz bestimmte Art und Weise veränderten, gar nicht so abwegig oder gar beleidigend. Ihre Persönlichkeit veränderte sich in einem Maße, daß man es schon als krankhaft bezeichnen könnte, obwohl es sicherlich eine grobe Vereinfachung wäre, sie als verrückt abzustempeln. Auf jeden Fall waren sie von Rachegefühlen derart besessen, daß dies ihren ganzen Lebensinhalt ausmachte. Wie oft sie sich diesbezüglich trafen, können wir nicht wissen. Aber als sie China verließen, nahmen sie sich vor, irgendwann Lei Tshung-tao zu schnappen, wo immer er sich auch verstecken mochte. Vielleicht wählten sie ihre späteren Tätigkeitsbereiche sogar bewußt aus… Großvater mischte im Kunsthandel mit und hätte sicherlich gemerkt, wenn Lei Tshung-tao aufgetaucht wäre. Denn es war durchaus anzunehmen, daß der in Kunstschätze vernarrte Chinese nach dem Krieg wieder seiner alten Leidenschaft nachgehen würde.« »Einen Moment mal!« unterbrach mich ein Reporter. »Woher wußten sie überhaupt, daß Lei Tshung-tao den Krieg überlebt hatte? Ich meine, wir wissen es heute im nachhinein, aber diese vier Leute damals…? Er hätte schließlich auch zwischenzeitlich sterben können…« »Sie haben vollkommen recht. Nun ja, sicher konnten sie sich natürlich nicht sein, dafür aber ahnten sie, daß solch windige Schufte wie Lei Tshung-tao wahrscheinlich nicht auf einem Schlachtfeld sterben würden. Wie es in solchen Fällen halt ist, ging man davon aus, daß er sich ein ruhiges Plätzchen zum Überwintern ausgesucht hatte. Außerdem haben sie nach dem Krieg sicherlich die Archive der Japaner und Amerikaner durchforstet und nirgends seinen Namen gefunden. Daß er namenlos in irgendeinem Massengrab lag, nahm man, wie gesagt, nicht an. Eher glaubten sie schon an die Variante, daß der ehemalige Geheimdienstchef noch rechtzeitig vom japanischen Dampfer gesprungen war und nun unter einem neu431
en Namen, mit einem neuen Gesicht ein dementsprechend neues Leben angefangen hatte. Aber lassen Sie mich noch für einen kurzen Moment zu den Flüchtlingen zurückkommen. Großvater war also im Kunsthandel tätig, Frau von Rottensteiner kontrollierte das Forschungswesen und Van Broeken die dunklen Kanäle des Schwarzmarktes.« »Wollen Sie etwa sagen, Van Broeken trat nur deswegen bei der Amsterdamer Polizei ein, um Lei Tshung-tao auf die Spur zu kommen?« fragte der Sicherheitschef überrascht. »Das ist sehr wohl möglich. Obwohl ich keine Ahnung habe, welche Arbeit Leutnant La Coster zugeteilt wurde, täusche ich mich wohl kaum, wenn ich behaupte, daß die Truppe ein äußerst engmaschiges Netz um den Kunstmarkt gespannt hatte, in dem – ihrer Hoffnung nach – bald der dicke Fisch zappeln würde.« »Doch er zappelte nicht…« »Genau. Lei Tshung-tao biß nicht an… Die Jahre vergingen, und so sehr sie auch sowohl den offiziellen als den auch den Schwarzmarkt kontrollierten, Lei Tshung-tao wollte nicht aus der Versenkung auftauchen. Ich denke, sie hatten viele schlaflose Nächte seinetwegen. Der Gedanke, daß er durch einen einfachen Tod ihrer Rache entgangen sein könnte, war genauso frustrierend wie die Vorstellung, daß er irgendwo reich und nichtsahnend das Leben genoß, das er auf dem Tod ihrer Kameraden aufgebaut hatte. Nach einiger Zeit nahmen sie sich bei einem Treffen ein altes arabisches Sprichwort zu Herzen: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, geht eben Mohammed zum Berg. Wenn Lei Tshung-tao kein Lebenszeichen von sich gab, mußten sie den ersten Schritt tun. Der einzige Weg war, ihm eine Falle zu stellen, der er nicht widerstehen konnte. Ich weiß nicht, wie lange es von der Idee zum endgültigen Projekt dauerte. Wahrscheinlich Jahre; Jahre, in denen Großvater, sicherlich auf Anraten von Wilhelmina von Rottensteiner, langsam, aber sicher zu einem bemitleidenswerten, alten Kauz wurde. Er steckte sich ein Hörgerät in die Ohren, und auch seine Auffassungsga432
be wurde zusehends schlechter. Natürlich besuchte er hin und wieder einen Kongreß, meistens mit Hilfe seiner Enkelin Judy, man konnte ja nie wissen, wo der Feind auftaucht… Es war, wie gesagt, durchaus anzunehmen, daß Lei Tshung-tao unter einem anderen Namen in irgendeiner versteckten Ecke Asiens lebte oder sogar aus seinem Wissen Profit schlug und ein renommierter Kunstforscher geworden war. Der Plan, den die vier nun zusammenbastelten, war wohl sicherlich ihr letzter verzweifelter Versuch, Lei Tshung-tao dingfest zu machen. Möglicherweise sprachen sie sich ab, daß dies der letzte Vorstoß sein würde, den sie gemeinsam unternahmen. Ganz ausschließen konnten sie es schließlich nicht, daß ihn während des Krieges nicht doch eine verirrte Kugel getroffen hatte. Wer den vier die Sache finanziert hat, ist im Moment noch unklar. Vielleicht haben sie alle das Geld zusammengelegt. Nun, der Plan stand fest, er brauchte nur noch ausgeführt zu werden. Bevor ich zu den Einzelheiten komme, ein paar Worte zu Van Broeken: Ich glaube, der Holländer wollte aussteigen. Er hatte die ewige Hetzerei satt, die Jahre in China bedeuteten ihm inzwischen nichts mehr. Und er hatte immer mehr Dreck am Stecken und daher ständig Probleme mit der Polizei. Womit ihn von Rottensteiner doch noch auf den Weg der Gemeinsamkeit zurückführen konnte, weiß ich nicht … vielleicht hatte sie ja eine geheime Trumpfkarte gegen ihn in der Hand. Van Broeken kam allem Anschein nach dagegen jedenfalls nicht an. Der geniale Plan baute auf die Tonarmee und Lei Tshung-taos diesbezügliche krankhafte Obsession. Die vier erinnerten sich nur zu gut, mit welcher Vehemenz der Chinese sie zur Suche angetrieben hatte, nachdem sie ihn damals mit den Geheimnissen Huan-Tis vertraut gemacht hatten. Für ihn war es logischerweise also ein ähnlich frustrierendes Erlebnis, daß die Archäologen die Soldaten nicht gefunden hatten, wie für die Beteiligten selbst. Nun war von Rottensteiner aber auch klar, daß sich der Chinese gar nicht so sicher sein konnte, daß die Forscher nicht doch Erfolg gehabt hatten. 433
Schließlich hatte es Jahre gegeben, in denen sie ihn höchstens alle Monate einmal gesehen hatten. Was also, wenn die vier ihn glauben machen würden, daß sie die Tonarmee damals doch gefunden und sie lediglich vor ihm in Sicherheit gebracht hatten? Wenn man ihm diese Geschichte verkaufen könnte, würde er mit Sicherheit auftauchen, wo auch immer er sich aufhielt. Lei Tshung-tao würde dem Lockruf nicht widerstehen können. Tja, aber wo war die benötigte Tonarmee? Nun, Frau von Rottensteiner, die nebenbei eine exzellente Bildhauerin war, stellte sie selbst her! Sie benutzte irgendeine Plastikmasse, die ziemlich schnell härtet und den Experten unter Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte. Das größte Hindernis allerdings bedeutete China selbst. Es schien absolut unmöglich zu sein, diese Falle vor Ort aufzubauen. Man vermag ja kaum, in das Land einzureisen… Plötzlich hatte irgend jemand die geniale Idee, Laos mit ins Spiel zu bringen. Zu Zeiten des Vietnamkrieges nämlich wurde dieses Land unkontrollierbar. Außerdem konnte man so Lei Tshung-taos spätere Vorstellung untermauern, die Archäologen hätten ihn damals übers Ohr gehauen und die Tonarmee vor seinem Zugriff außer Landes gebracht. So wurde ein Detail nach dem anderen zusammengetragen. Von Rottensteiner kaufte im Namen einer buddhistischen Organisation eine der drei Spitzen des Berges und achtete peinlich genau darauf, für einen späteren Käufer auch noch attraktive Ländereien übrigzulassen. Sie ließ auf ihrem Grundstück ein Kloster restaurieren, und dann fing die Arbeit erst richtig an. Sie fertigte die Tonsoldatenfiguren, hob die riesige unterirdische Grube aus und plazierte und präparierte alles so, wie wir es dann vorgefunden haben. Ich denke, daß es sie mindestens fünf Jahre gekostet haben dürfte. Das scheint zwar im ersten Moment viel zu sein, aber bedenken Sie, sie hatte ihr ganzes Leben der Rache gewidmet … was zählt da schon ein halbes Jahrzehnt! Als die Vorarbeiten fertig waren, ging man zum zweiten Teil des Plans über… Zu der Zeit dürfte die Schizophrenie der Professorin 434
bereits gewaltig vorangeschritten gewesen sein, und die Vorstellung wurde in ihr immer stärker, daß sie in der Grabstätte mit Lei Tshungtao und den Tonsoldaten zusammen den Tod finden mußte. Und nicht nur sie, sondern auch die anderen Überlebenden. Sie stellte sich wohl eine Art abschließendes, endgültiges Ritual vor, bei dem Jäger und Gejagter gemeinsam in den Tod gehen… Ob die anderen dieselbe Vorstellung von Rache hatten? Wer weiß; vielleicht ja, vielleicht nein… Wie wir wissen, war Großvater durchaus bereit, seine eigene Enkelin zu opfern.« Judy schluckte und fing leise an zu weinen. Leichenfresser umarmte sie. »Großvater wurde nämlich die Aufgabe erteilt, den rätselhaften Chinesen zu spielen. Ja, so sehr Sie sich auch wundern…!« Ich wandte mich an das Mädchen. »Miss Judy, vielleicht erinnern Sie sich noch, daß Ihr Großvater vor etwa fünf Jahren, als er sich noch bester Gesundheit erfreute, eine Zeitlang ständig unterwegs war?« Sie nickte. »Seine Ärzte hatten ihm geraten, sich mehrmals jährlich zu einer Kur in ein Sanatorium oben in den Bergen zurückzuziehen. Er bestand immer darauf, daß ich ihn nicht besuchen komme. Damals lebten Vater und Mutter nicht mehr…« »Demnach benutzte er diesen Vorwand, um in der Welt herumzureisen. Als von Geheimdiensten gejagter chinesischer Kunsthändler besuchte er die wichtigsten Antiquitätenläden aller Kontinente und benahm sich absichtlich ziemlich merkwürdig. Nirgends verkaufte oder kaufte er etwas, zu guter Letzt erschien er sogar in seinem eigenen Laden… Es macht scheinbar keinen Sinn, nicht wahr?« »Nicht nur scheinbar«, brummte ein Journalist und knallte seinen Kugelschreiber frustriert auf den Tisch. »Dabei ist es eigentlich ganz logisch. Er wollte auf diese Art Lei Tshung-taos Interesse wecken, falls dieser überhaupt noch am Leben war.« »Aber wieso mußte er denn diesen Zirkus in seinem eigenen Heim veranstalten?« fragte der Reporter verständnislos. 435
»Sie dürfen nicht vergessen, daß auch Miss Judy an den Konferenzen teilnahm… Sie war viel mit ihrem Großvater unterwegs und sollte natürlich kräftig dazu beitragen, die Geschichte des merkwürdigen Chinesen unter das Volk zu bringen. Und nun versetzen Sie sich in die Lage von Lei Tshung-tao! Unser Mann lebt seit Jahrzehnten in seinem Versteck, wohlbehütet, in gewissem Wohlstand – schließlich konnte er die Kunstschätze, die er während der Besatzungszeit zusammengetragen hatte, noch rechtzeitig außer Landes schaffen. Er lebt in Hongkong oder Singapur, von mir aus auch in Thailand. Und denkt womöglich gar nicht mehr an die Tonarmee. Warum sollte er auch? Die Expedition hat er sicherlich auch schon vergessen. Er glaubt die Mitglieder unter der Erde, und was war, ist schließlich alles nur noch Vergangenheit, wozu also sich Sorgen machen? Er ist stark und reich, schlechtes Gewissen ist nur eine Strafe der Schwachen. Keine Zeit für Sentimentalitäten. Vielleicht ist er nur dann ein wenig betrübt, wenn er an die legendäre Tonarmee denkt. Was wäre das für ein Coup gewesen…! Und dann, plötzlich, schlägt der Blitz ein. Einer seiner Agenten meldet ihm, daß rätselhafte Dinge in Europa und Amerika vor sich gehen. Ein unbekannter Chinese klappert alle einschlägigen Geschäfte ab und redet wirres Zeug über alte Geldstücke, den Dreispitzberg und die Tonsoldaten des Huan-Ti. Lei Tshung-tao weiß nicht, wie ihm geschieht. Was ist das? Eine Falle? Aber wer sollte ihm nach so vielen Jahren eine Falle stellen? Die Forscher waren doch alle tot! Sie können sich bestimmt vorstellen, was er gefühlt haben muß, als dieser ihm unbekannte Chinese auftauchte. Ein paar Nächte grübelt er über den Sinn des Ganzen und entscheidet sich dann, der Sache auf den Grund zu gehen, koste es, was es wolle. Ihm wird übel, wenn er nur daran denkt, daß die Tonarmee doch noch existieren könnte. Und in denselben Nächten grübelt er zum ersten Mal über die Frage nach, ob die Archäologen damals nicht doch die Soldaten gefunden haben könnten. Zuerst verneint er die Frage mit ruhigem Gewissen, doch dann muß er sich mit immer größerem Entsetzen eingestehen, daß es durchaus im Bereich des Möglichen liegt. 436
Sie hätten Huan-Tis Grab finden und ihn dann so übers Ohr hauen können, wie man es in einem Jahrtausend nur einmal sieht. Diese Verfluchten – mögen sie in ihrem Grab verrotten – haben es tatsächlich gewagt, ihn, den großen Lei Tshung-tao, zu umgehen! Sie haben die Tonsoldaten ausgegraben und dann vor ihm versteckt, dabei gehören sie ihm, nur ihm allein! Er muß sie zurückbekommen, um jeden Preis! Die Rechnung der vier Verschwörer ging auf. Lei Tshung-tao war wie sie besessen, und diese Besessenheit verstärkte sich exponentiell, wann immer das Thema Huan-Ti auf den Tisch kam. Lei Tshungtao legte seine Vorsicht ab wie ein schmutziges Hemd. Die Zeit drängte, er mußte sich beeilen, damit nicht jemand anders noch vor ihm ›seine‹ Tonarmee findet! Immer und immer wieder muß er sich die Frage gestellt haben, was sich in jenen unheilvollen Tagen in China abgespielt haben konnte. Er konnte es sich nur so vorstellen, daß damals jemand eine Skizze gemacht haben mußte, die später einem rätselhaften Chinesen in die Hände fiel, welcher seinerseits nun versuchte, Kapital aus seinem Wissen zu schlagen. Lei Tshung-tao wird halb wahnsinnig vor Sorge: Wer ist dieser Kerl, und was hat er vor?! Dann machte er dasselbe wie unser Freund Hardy: Er zeichnete den imaginären Weg des Chinesen nach. Und erfuhr, daß Großvater die letzte Station auf dessen Reise war. Von dem Moment an verlor sich die Spur, und der seltsame Chinese tauchte nie wieder auf. Verstehen Sie? Lei Tshung-tao glaubte nun zu wissen, daß der Chinese Großvater und niemand anderen gesucht hatte. Und daß nun seine Reise, nachdem er ihn gefunden hatte, logischerweise beendet war. Aber warum, warum? Was konnte er von dem Alten in den Vereinigten Staaten wollen? Sicherlich etwas, das mit der Tonarmee zusammenhängt, eine Skizze oder eine genaue Karte… Wer war Großvater? Sicherlich ein ganz normaler Händler, der einfach nur ein paar wichtige Informationen besaß. Die nächste Nachricht mußte Lei Tshung-tao getroffen haben wie 437
eine linke Gerade. Jemand publizierte in einer halbwissenschaftlichen Zeitschrift einen Artikel darüber, daß man Huan-Tis Geld in China gefunden hatte. Später fing Lei Tshung-tao an, die Arbeiten von der Verfasserin, einer gewissen Wilhelmina von Rottensteiner, genauer zu verfolgen, und bald wurde ihm klar, daß die Professorin die Beste auf dem Gebiet der Tonsoldaten war. Lei Tshung-tao zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluß, daß die Tonarmee Wirklichkeit ist. Sie schläft nur irgendwo, verborgen unter der Erde. Er war sich seiner Sache inzwischen vollkommen sicher. Die Expedition hatte seiner Meinung nach damals die Tonarmee gefunden, geborgen und an einem unbekannten Ort wieder vergraben. Sicherlich gab es auch eine Art Karte von der neuen Fundstelle, die nach dem Tode der Archäologen jemandem in die Hände gefallen sein mußte. Dieser Jemand würde nun versuchen, die Soldaten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Auf dem Schwarzmarkt, weil bei einem offiziellen Verkauf der chinesische Staat sicherlich seine Rechte geltend machen würde. Keine Frage, Lei Tshung-tao mußte diese Tonsoldaten haben! Und zwar auf die Art, wie er schon immer an seine Schätze gekommen war! Dann schlug die nächste Bombe ein. Die Tonsoldaten tauchten tatsächlich auf. Sie wurden zuerst in Deutschland, dann in Amerika den örtlichen kunstverständigen Journalisten vorgeführt. Hätte Lei Tshung-tao noch einen letzten Rest seiner Würde und Zurückhaltung gehabt, wären ihm diese Umstände sicherlich merkwürdig vorgekommen. Aber durch seine Besessenheit verlor er jedes Gefühl für Gefahr und wurde magisch von den Tonsoldaten angezogen wie die Motte vom Licht. Es war nur eine Frage der Zeit, daß er sich verbrannte. Und genau darauf hatte von Rottensteiner gewartet. Sie ließ anonym immer mehr Informationen über Huan-Tis Schatz durchsickern, und Lei Tshung-tao ›kombinierte‹ aus ihnen die Wahrscheinlichkeit heraus, daß die Tonarmee unter dem Dreispitzberg verborgen war. Er wußte zwar immer noch nicht, wer die Soldaten dorthin geschafft 438
hatte, aber das war ihm im Grunde auch egal. Er wollte sie einfach haben, basta! Stellen Sie sich die riesengroße, fast schon krankhafte Freude vor, als Frau von Rottensteiner erfuhr, daß sich ein Chinese neben ihrem Grundstück in Laos eingekauft hatte…! Sie war sicher, daß Vang Pin, der neue Nachbar, in Wirklichkeit der gesuchte Henker Lei Tshung-tao war. Aber dann passierte etwas, das ihre Glückseligkeit etwas zügelte. Ein dritter Käufer tauchte auf und erstand die mittlere Bergkuppe. Wer es war? Nun, Sie wissen es bereits: der Schwarze Prinz, alias Ho Ling. Und an dieser Stelle tritt ein neues Element in die Geschichte ein, meine Damen und Herren.« Da sich mein Hals ziemlich trocken anfühlte, trank ich eine halbe Flasche Cola und ordnete meine Gedanken. Die Sonne schien, und das Geräusch der Straßenverkäufer wurde immer lebhafter. »Die Falle war also gestellt. Nur gab es von Anfang an ein Problem, mit dem von Rottensteiner rechnen mußte. Nämlich die Möglichkeit, daß auch noch andere den Köder schlucken könnten. Die Legende der Tonsoldaten war – zumindest in gewissen Kreisen – wohlbekannt, und nicht wenige Kunsthändler würden ein Vermögen dafür zahlen, solch eine Reliquie in ihrem Besitz zu haben. Ganz zu schweigen davon, daß alleine schon die anderen Schätze in HuanTis Grab den Entdecker zum Millionär gemacht hätten. Als die von der Professorin angefertigten Tonfiguren der Presse präsentiert wurden, gab es eine rege Diskussion in den verschiedenen Foren, ob diese Soldaten echt waren oder nicht. Viele zweifelten daran, daß es Originale waren, andere wiederum schworen darauf. Wilhelmina von Rottensteiner, eine profunde Kennerin der Materie und zugleich begabte Bildhauerin, hatte überhaupt keine Probleme, einige authentische Figuren aus Huan-Tis Zeit nachzubilden. Und vergessen Sie nicht, daß nur sehr schwach belichtete Fotos oder unzuverlässige Skizzen existierten, die die Echtheit der Figuren unter Umständen untermauern, keinesfalls aber widerlegen konnten. Die Sache wurde noch mysteriöser durch den Tod einiger der involvierten Reporter, was natürlich sofort der Legende oder speziell einem Fluch 439
– ähnlich dem der Pharaonen – zugeschrieben wurde. Die Nachricht über das Auftauchen der Tonarmee breitete sich also wie ein Lauffeuer aus. Sie wissen bestimmt, daß es eine Organisation gibt – das heißt, inzwischen muß man sagen: gab –, die ganz Südostasien in der Tasche hatte. Ähnlich wie die Mafia, nur würden hier weitaus modernere Methoden eingesetzt. Sicherlich könnte man stundenlang über die Bande, oder besser gesagt die Privatarmee des Roten Drachen sprechen, die nach jüngsten Erkenntnissen mehrere zehntausend Menschen wie Puppen nach eigenem Gutdünken tanzen ließ. Die Palette ihrer Aktivitäten war riesig: Rauschgift, Prostitution, Glücksspiel, Menschenhandel, Sklaverei und ganz nebenbei auch der Kunsthandel auf dem Schwarzmarkt. Ich glaube, an gewissen Punkten überstieg die Macht des Roten Drachen sogar die eines Staatsoberhauptes… Nun, eine ganze Zeitlang war man der Überzeugung, der Rote Drache wäre ein Chinese oder zumindest ein Asiate. Aber nur die eingeweihten Gefolgsmänner wußten, daß es sich um einen Europäer handelte. Ein netter, jovialer Herr, ehemals Offizier der Kolonialstreitkräfte, der sich vor Ort all das Wissen angeeignet hatte, das er später zum Aufbau seines Imperiums benötigte. Nach dem Zusammenfall der französischen Kolonien nahm er sich vor, eine gewaltige Organisation aufzubauen, an deren Spitze er dann die Fäden zog. Nicht viele dürften gewußt haben, daß dieser Rote Drache in Wirklichkeit General Villalobos war, der Leiter der Pandakommission, honorables Mitglied mehrerer internationaler Organisationen und Kuratorien. Diese Eingeweihten wußten, daß Schweigen in dem Fall sprichwörtlich Gold wert war, denn in dieser Münze bezahlte sie der Rote Drache. Und falls jemand doch zu aufmüpfig wurde, fand er sich schnell auf dem Grund des Indischen Ozeans wieder. Da sich Villalobos auch für Kunstschätze interessierte und er sicherlich schon von der Legende der Tonarmee gehört hatte, war er nicht wenig überrascht, als er mitbekam, daß jemand das Grab des Huan-Ti offenbar gefunden hatte und die Schätze nun auf dem 440
Schwarzmarkt verscherbeln wollte. Eine simple Kalkulation führte zu dem Schluß, daß die Tonarmee sein ohnehin nicht geringes Vermögen vertausendfachen könnte…! Selbstverständlich folgte der Schluß, daß der Schatz ihm gehören mußte. Also beauftragte er ein paar Leute, sich umzuhorchen und weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Der Rote Drache hatte bisher noch nie etwas von Lei Tshung-tao gehört. Woher auch? Vor dem Weltkrieg war er ganz woanders stationiert und hatte sich auch nicht für Archäologie und Expeditionen in China interessiert. Deswegen war ihm alles neu, was seine Agenten berichteten. Und sie berichteten umfassend, denn es waren fähige Agenten. Unser Freund wußte bald darauf alles, was wir heute und hier wissen. Er hatte die Zeitungsausschnitte mit den Fotos der Tonsoldaten, er besaß die Aufzeichnungen über den Massenmord an den Expeditionsmitgliedern und die Bluttaten des Lei Tshung-tao. Mit geübter Hand fügte er die Steinchen zu einem kompletten Mosaik zusammen und kam zu dem Schluß, daß es für ihn ein Kinderspiel sein würde, sich die Tonarmee unter die Nägel zu reißen. Sofern es sie überhaupt gab, natürlich. Inzwischen wußten also schon zwei Leute, wer Vang Pin in Wirklichkeit war: von Rottensteiner und der Rote Drache. Lei Tshungtao selbst hingegen fühlte sich vollkommen sicher … und sah sich natürlich als strahlenden Sieger. Aber der Rote Drache war es nicht gewohnt, seine Beute mit jemandem zu teilen, selbst dann nicht, wenn der Gegner ein so gerissener und blutrünstiger Mensch war wie der ehemalige Geheimdienstchef. Die Dinge wurden noch komplizierter. Inmitten der Vorbereitungen traf Dr. Camus in Südostasien ein. Wir glauben inzwischen, daß Leutnant La Coster genauso wie Frau von Rottensteiner sein Leben der Rache gewidmet hatte. Da die Professorin inzwischen zu wissen glaubte, daß Vang Pin ihr Mann sei, wollte sie den Feind nicht mehr aus den Augen lassen. Sie wollte über jeden seiner Schritte informiert sein, damit er ihnen nicht mehr durch die Lappen ging. Genau deswegen schickte sie den Doktor nach Asien. Wie sich 441
Camus letztendlich bei dem sehr vorsichtigen und mißtrauischen Vang Pin eingeschlichen hat, weiß ich nicht. Vielleicht trafen sie in Kunstsammlerkreisen zusammen, vielleicht wurden sie einander von einem verläßlichen gemeinsamen Freund vorgestellt … wer kann das schon sagen? Auf jeden Fall waren sie schon im ersten gemeinsamen Jahr Partner. Außer dem Geschäft gab es aber noch andere Verbindungspunkte zwischen den beiden. Nämlich die Tatsache, daß Dr. Camus ein Arzt war und Lei Tshung-tao durchaus Grund hatte, sich nicht von jedem dahergelaufenen Doktor untersuchen zu lassen. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine. Ähm … hier in Asien ist es gewissermaßen Tradition, sich tätowieren zu lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß auch Lei Tshung-tao sich in jungen Jahren ein paar interessante Motive in die Haut brennen ließ. Sagen wir: einen hübschen Drachenkopf oder den Namen eines Kaisers oder vielleicht Zeichen eines Glückbringenden Dämons … alles Dinge, die ihn hätten verraten können. Als Kollaborateur und Mörder stand er natürlich auf der Kriegsverbrecherliste. Er hatte also allen Grund, seinen Körper nicht irgendwelchen Leuten herzuzeigen. Aber im Alter wird man schwach, und häufig folgt dann irgendeine Krankheit. Und mit der Zeit, als die Häufigkeit und die Anzahl der Krankheiten anstieg, mußte Lei Tshung-tao sich nach einem vertrauenswürdigen Arzt umschauen. Was lag wohl näher, als seinen Freund Dr. Camus als Leibarzt einzustellen? Sicherlich, die Akupunktur und all die anderen fernöstlichen Heilmethoden haben auch etwas für sich, dennoch kann ich mir gut vorstellen, daß die westliche Medizin mit all ihren modernen Gerätschaften einem alten Mann etwas mehr Erfolg versprach. Dr. Camus konnte also alleine durch die einfache Tatsache, daß er Lei Tshung-taos Leibarzt wurde, dessen Vertrauen erlangen.« »Und das hast du alles rausgefunden?« flüsterte Mal ehrfürchtig. Ich wuchs schnell ein paar Zentimeter vor Stolz und fuhr dann fort. »Dem Roten Drachen wurde klar, daß sein größter Gegner bei diesem Unterfangen Vang Pin sein würde. Das Lustige an der Sache 442
war, daß eigentlich keiner der beiden genau wußte, wo er die Tonsoldaten suchen sollte. Nur der Dreispitzberg schien als Hinweis zu existieren. Weiterhin ist es nicht verwunderlich, daß auch der Drache über jeden Schritt seines Feindes informiert sein wollte, genau wie Wilhelmina von Rottensteiner. Ich glaube, es durfte anfangs für den Roten Drachen nicht einfach gewesen sein, jemanden in Vang Pins Residenz einzuschleusen, doch dann bot sich durch Zufall die ideale Gelegenheit: Der Rote Drache und Dr. Camus hatten einen gemeinsamen Freund, dessen Tochter der Doktor unter die Fittiche nehmen sollte… Dieser stellte das Mädchen dann bei der erstbesten Gelegenheit Vang Pin vor. Die Sache lief von Anfang an gut, obwohl sich der Rote Drache in einem Punkt wohl doch verschätzt hatte. Er war nämlich der festen Überzeugung gewesen, daß Vang Pin seine besten Jahre hinter sich hatte. Gut, Lei Tshung-tao war in der Tat nur noch ein alternder Löwe, besaß aber noch genügend Zähne, um am Ende die herumschleichenden Schakale selbst zu zerfetzen. Obwohl er Paj Miang zur Frau genommen hatte, war ihm bereits nach kurzer Zeit klar, daß er eine Geliebte des Roten Drachen geheiratet und auch seine sogenannte Schwägerin etwas mit dem Boß der Unterwelt zu tun hatte. Er erfuhr es natürlich erst nach der Hochzeit, als es bereits zu spät war. Fraglich ist, ob er überhaupt etwas unternommen hätte. Er war ein erfahrener Mann, und er wußte, was eine junge Frau sich wünscht. Daß sie früher einmal mit dem Roten Drachen zusammen gewesen war, kümmerte ihn vielleicht gar nicht. Er konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, daß sich sein Rivale ebenfalls für die Tonarmee interessierte und Paj Miang nur deswegen hatte gehen lassen. Außerdem hatte Vang Pin noch einen Trumpf im Ärmel: Er besaß ziemlich gute Kontakte zu den Drogenbaronen der Umgebung und konnte so das ganze Tal und den Berg ohne viel Aufheben kontrollieren. Vielleicht unterstützte er die Barone regelmäßig, wer weiß… So konnte er sich dann auch in das Anwesen beim Dreispitzberg einkaufen. Und warum er nicht auch noch die dritte Kuppe gekauft 443
hat? Nun, wozu? Was er brauchte, war eine Basis, und die hatte er gefunden. Wer konnte schon genau wissen, unter welcher der drei Kuppen des Berges die Tonarmee verborgen war…! Dann aber geschah etwas, das für ihn sicherlich wie ein kleiner Weltuntergang wirkte: Jemand hatte sich die dritte und letzte Bergspitze unter den Nagel gerissen! Und zwar ein rätselhafter Kerl, den die Meos in der Umgebung nur den Schwarzen Prinzen nannten. Stellen Sie sich seine Wut vor, als er erkennen mußte, daß noch ein anderer auf seine Tonsoldaten scharf war! Vang Pin setzte alles in Bewegung, um zu erfahren, wer sich hinter der schwarzen Maske verbarg. Am Ende ließ wohl einer der Kokainprinzen, Boun Oum, der dem Roten Drachen eins auswischen wollte, die Information durchsickern, daß es sich bei dem geheimnisumwitterten Nachbarn um eine Frau handelte. In Lei Tshungtao traten an dieser Stelle wieder die uralten Agenten-Instinkte auf, und bald schon kombinierte er, daß die beiden Frauen ausschließlich und allein zu seiner Täuschung in sein Haus geschickt worden waren. Er hatte keine Zweifel mehr, daß er in eine Falle gelockt werden sollte. Der Rote Drache hatte ihm eine seiner Konkubinen als Frau untergejubelt, damit er auf die Weise jeden seiner Schritte kontrollieren konnte. So konnte der Drache, nachdem Vang Pin in Laos sein Grundstück gekauft hatte, schnell nachziehen. Der König der Unterwelt hoffte also, daß der Chinese ihn zu den Tonsoldaten führen würde. Natürlich war auch von Rottensteiner ein wenig überrascht, als sich ein zweiter Käufer einfand, auf dessen Grundstück kurz darauf heftig gebaut wurde. Vorerst aber gab es für sie noch keinen Grund zur Sorge, denn sie wußte, daß keiner jemals den Gang nach unten finden würde. Aber um die Sache noch mehr zu komplizieren, tauchten außerdem einige europäische Gangster auf… Vor kurzem erst erhielt ich einen Bericht der Polizei in Palermo, wo man einiges über Tarantelli und seine Bande zusammengetragen hat. Aber das ist ein derart unbedeutender Nebenstrang der Geschehnisse, daß wir ihn gerne außer 444
acht lassen können.« »Genau«, nickte der Sicherheitschef. »Wenn wir mal zusammenfassen, sah die Situation wie folgt aus: Von Rottensteiner, Großvater, Van Broeken und Dr. Camus standen bereit, das Todesurteil an Lei Tshung-tao zu vollstrecken. Inzwischen waren sie sich wohl einig geworden, daß auch sie würden sterben müssen. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, wie ernst es Van Broeken damit in Wirklichkeit war. Die Tonarmee stand bereit, die Minen waren gelegt und warteten nur noch darauf, gezündet zu werden, und die unterirdische Kathedrale war so gebaut worden, daß sie alle unter sich begraben würde. Dann reisten die Verschwörer nach Hause, mit Ausnahme natürlich von Dr. Camus. Vang Pin und der Schwarze Prinz versuchten zwischenzeitlich, das Grab des HuanTi zu finden, natürlich erfolglos. Der Chinese hatte es sich mit dem Vorwand, sich von der lauten, wirren Welt zurückziehen zu wollen, endgültig am Dreispitzberg gemütlich gemacht. Es war ihm klar, daß innerhalb weniger Jahre die Sache auf die eine oder andere Art zu einem Ende kommen würde. Entweder fand er die Tonsoldaten, oder jemand anderes schnappte sie sich vor ihm. Letzteres wollte er natürlich mit allen Mitteln verhindern. Ho Ling lebte inzwischen ihr Doppelleben. Tagsüber war sie die Schwägerin, nachts der Schwarze Prinz. Nun, so ungefähr sah es in Laos aus, als von Rottensteiner die Zeit für gekommen hielt, den letzten Akt anzuläuten. Ich habe Ihnen eben dieses arabische Sprichwort zitiert: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, geht Mohammed zum Berg. Von Rottensteiner wollte, daß sich alle, die etwas mit der Tonarmee zu tun hatten, auf der Hochebene in Laos einfinden. Es war ein berechnender, unbarmherziger Plan, und es war überaus schwierig, ihn auszuführen. Mit welcher List konnte man wohl einen Lei Tshungtao unter die Erde locken, um dort das Urteil an ihm zu vollstrecken? Ich sehe, einige von Ihnen schütteln den Kopf. Sie meinen also, nichts leichter als das? Nun, an sich schon, aber Sie vergessen dabei einen wichtigen Faktor: Die Meos! Vang Pin gab ganzen Dörfern Arbeit, er hätte nichts weiter tun müssen, als den Befehl 445
zu geben, und jeder Bauer hätte das Leben seines Patrons mit dem eigenen bis zum letzten geschützt. Der einzige, der es möglicherweise geschafft hätte, Lei Tshung-tao zu der Tonarmee zu locken, wäre Dr. Camus gewesen, aber selbst das ist nicht sicher. Von Rottensteiner dachte alle Möglichkeiten durch und warf dann den Köder aus. Sie verstehen nicht? Einen Moment, ich stopfe nur die Pfeife, dann geht es weiter… So. Nun, von Rottensteiner hatte mit Großvaters Hilfe ja mächtig Staub um Huan-Ti aufgewirbelt. Also bereitete sie in Laos alles vor, fuhr zurück und … unternahm schlicht und einfach nichts mehr. Wie ein Angler, der den Fisch zappeln läßt, nachdem dieser den Köder geschluckt hat. Erinnern Sie sich: Vang Pin glaubt zu wissen, daß die Expedition damals die Tonarmee doch noch gefunden und sie vor seiner Nase irgendwo versteckt hat… Er glaubt zu wissen, wo er ungefähr zu suchen hat, kauft sich in Laos einen halben Berg, nur um bald darauf zu erkennen, daß ihm der Rote Drache eine Frau an den Hals gehängt hat, die es kaum abwarten kann, ihrem Liebhaber über den Fund zu berichten. Also wartet er, daß die andere Partei den nächsten Schritt tut … und dieser Schritt wird eben nicht getan! Nachdem die Pressekonferenzen in Deutschland und Amerika abgehalten worden waren, verschwanden die mysteriösen Verkäufer im Nichts. Selbst Großvater sitzt ruhig daheim in seinem Stübchen, dabei schien er doch eine Schlüsselfigur des Falles gewesen zu sein. So glaubt es jedenfalls Vang Pin. Immer verzweifelter versucht er zu verstehen, was vor sich geht. Hat man die Armee etwa schon ausgegraben, und wird sie gerade auf dem Kunstmarkt verkauft? Nein, beruhigt er sich selber, das kann nicht sein. Erstens kann niemand ohne sein Wissen in der Nähe seiner Residenz Ausgrabungen durchführen, zweitens würde man ihn sofort informieren, wenn die Tonarmee auf dem Schwarzmarkt angeboten würde. Also müssen die Schätze noch an Ort und Stelle sein. Will man vielleicht die Spannung erhöhen, damit man mehr Geld für die einzelnen Soldaten bekommt? Oder gibt es geheime 446
Verhandlungen über einen größeren Handel? Möglicherweise direkt mit dem Roten Drachen? Vang Pin ist schon drauf und dran, in seiner Verzweiflung seine Frau auszuquetschen, aber er kann sich noch rechtzeitig zurückhalten. Erst einmal vergewissert er sich, daß wenigstens Dr. Camus nicht für den Roten Drachen arbeitet. Dann zieht er sich für Tage zurück, und ein wahnwitziger Plan nimmt in seinem Kopf Gestalt an. Ein Plan, der in Wirklichkeit von Wilhelmina von Rottensteiner ausgeht. Sie wissen doch: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt…« »Ja, ja, das hörten wir bereits«, meinte der Polizeichef recht ungeduldig und unfreundlich. In den meisten Fällen stört es mich, wenn man meine Belesenheit mit Füßen tritt. Diesmal sah ich davon ab, es mir anmerken zu lassen. »Vang Pin stellte eine Liste mit allen Experten zur Materie zusammen. Ja, aber auf dem Papier standen am Ende nur zwei Namen: Großvater und Professor von Rottensteiner! Gut, ich weiß, die Sache mit Großvater ist klar: Er war das letzte Glied in der Kette der Besuche des rätselhaften Chinesen, und somit war der alte Mann gewissermaßen eine Schlüsselfigur. Aber wie kam Frau von Rottensteiner auf diese Liste? Nun, ganz einfach. Die Professorin tat nämlich alles, um sich selbst und Van Broeken verdächtig zu machen… Als jene ominösen Pressekonferenzen über die Tonsoldaten stattgefunden hatten, publizierte Frau von Rottensteiner in rascher Folge mehrere Artikel zu dem Thema, die ich natürlich leider erst jetzt, nach Abschluß der Ermittlungen, lesen konnte. Sie war zweifelsfrei eine geübte Schreiberin und berichtete ziemlich wortgewandt und bunt aus der Welt der Tonsoldaten. Dabei benutzte sie jedoch Beschreibungen der Figuren, bei denen selbst ein vollkommen Blinder gemerkt hätte, daß sie nur von jemandem stammen konnten, der den genauen Fundort kannte. Schließlich verwickelt sie auch noch einen ›in den Ruhestand versetzten‹ Amsterdamer Polizisten in die Sache, einen gewissen Van Broeken, der ihr einige, die Originale betreffende Informationen zugespielt haben soll. Vang Pins 447
Leute beobachteten natürlich nicht nur den Schwarzmarkt, sondern auch die einschlägigen Zeitungen und Magazine. Als Lei Tshungtao zufrieden seufzte, merkte er nicht, daß er in eine ausgeklügelte Falle spazierte. Er glaubte, er wäre der listenreiche Fuchs, doch in Wirklichkeit manipulierten die anderen ihn nach Strich und Faden. Er glaubte nun, alles zu wissen. Allem Anschein nach hatte von Rottensteiner Großvater durch den alten Chinesen ausfindig gemacht, und irgendwie hing auch dieser Van Broeken mit in der Sache.« »Sie reden ja, als wären Sie dabeigewesen, Mann…!« bemerkte ein Reporter spitz. Ich ließ ein paar elegante Kringel zur Decke schweben. »Ich muß nicht überall dabei sein, um die Dinge richtig zu sehen«, antwortete ich. »Ich bin kein Reporter. Manchmal benutze ich auch meinen Verstand…« Der Mann grinste und zwinkerte mir zu. »Okay, okay, Mr. Lawrence! Erzählen Sie schon weiter!« »Gerne. Also, nachdem sich von Rottensteiner überzeugt hatte, daß Vang Pin sie beschatten und jeden ihrer Schritte beobachten ließ, beorderte sie die beiden anderen zu sich. Manchmal schlossen sie sich für mehrere Tage in das Hamburger Haus der Professorin ein, und Vang Pin wurde davon natürlich augenblicklich unterrichtet. Auch darüber, daß sich eben nichts tat. Dabei war er halb krank vor Erregung und Ungeduld. Ihm war klar, daß er praktisch auf den Soldaten draufsaß, und er wußte auch, daß den dreien der genaue Ort bekannt sein mußte. Nur zeigten sie überhaupt keine Anstalten, zum Dreispitzberg zu kommen, um ihn auf die richtige Spur zu bringen, ihn, der sein ganzes Leben nach diesen verfluchten und doch so geliebten Tonfiguren gesucht hatte… Er hatte keine Ahnung, wer die drei in Wirklichkeit waren, und es ist fraglich, ob es ihn noch gekümmert hätte. Er wollte nur noch die Armee besitzen, alles andere war unwichtig! Langsam kam ihm der Gedanke, daß möglicherweise er jetzt einen Schritt tun mußte. Er nahm sich also vor, die drei zu entfüh448
ren. Wenn sie ihm den Fundort nicht aus freien Stücken verrieten, dann würden sie es halt unter Zwang tun. Und wenn er das Grab gefunden hatte, würde er sie schon irgendwie beiseite schaffen. Von dem Moment an klügelte er einen raffinierten Plan nach dem anderen aus. Es war nicht einfach, eine Entführung in die Wege zu leiten, noch dazu aus der Ferne… Obwohl ihm genug Leute zur Verfügung standen, wollte er die Gefahr nicht auf sich nehmen. Schließlich kam er zu jenem Schluß, den man ihm so geschickt suggeriert hatte, daß er die Manipulation gar nicht bemerkte: Er gelangte zu der Überzeugung, daß der einzige Weg darin bestand, diese Leute nach Asien zu locken und sie dann zu entführen! Ehrlich gesagt, hatte er es überhaupt nicht schwer. Es ist bekannt, daß den wissenschaftlichen Organisationen wenig Geld zur Verfügung steht und sie sich alle Finger nach so reichen Finanziers lecken, wie Vang Pin es war. Er brauchte nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, daß die Gelder den richtigen Organisationen zuflossen, und als Bedingung zu fordern, daß man die nächste Konferenz in Bangkok abhält. Als Hauptthema arrangierte man die Legende um Huan-Ti und seine Tonarmee, was sich natürlich genau mit Großvaters Gebiet deckte. Somit stand die Falle offen. Dachte zumindest Vang Pin, denn er konnte ja nicht ahnen, daß er nur von Rottensteiners Plan befolgte. Er hielt sich bestimmt für sehr schlau, als er die beiden mit falschen Telegrammen nach Bangkok ›lockte‹. Und seine Freude war wohl noch größer, als er unter den Besuchern auch noch den mysteriösen Mr. Van Broeken entdeckte. Der erste Teil seines Plans wurde also hundertprozentig umgesetzt; die Hüter des Geheimnisses waren alle in Bangkok, nur ein paar Flugstunden von der Tonarmee entfernt. Die Flugzeugentführung war gut organisiert. Es war gar nicht schwierig, wenn man bedenkt, wie viele Leute für ihn unter anderem auch auf dem Flugplatz in Bangkok arbeiteten. Doch auch in diesem Punkt waren die Verschwörer ihm ständig um einen Schritt voraus… Mit Hilfe von Lisolette nämlich.« 449
»Mein Gott«, stöhnte Malgorzata und griff nach meiner Hand. »Das arme Mädchen…!« »Ich weiß nicht viel über sie. Vielleicht wird Interpol da noch ein wenig Licht ins Dunkel bringen können. Sie war vielleicht die Tochter eines ermordeten Expeditionsmitglieds…« »Aber…« »Ja, ich weiß, was du sagen willst. Nein, Mal, auch ich glaube nicht, daß Lisolette von alleine auf diesen gefährlichen Weg geraten ist. Vielleicht hat von Rottensteiner sie entdeckt und zum Kopiloten ausbilden lassen, genau für diese Aufgabe… Nun, Lisolette erhielt also den Auftrag, Vang Pins Aktionen am Flughafen zu verfolgen. So konnte sie schon Stunden, wenn nicht sogar Tage vorher sagen, wie und für wann die Entführung geplant war. Es war alles blendend inszeniert, nicht? Sowohl Vang Pin als auch von Rottensteiner arbeiteten daran, eine Maschine vom Bangkoker Airport zu entführen… Es bestand aber noch die Gefahr, daß die Pilotin der Maschine, Miss Malgorzata, im letzten Moment etwas merkt. Also sorgte Lisolette mit einem Anruf beim Weckdienst in Malgorzatas Namen dafür, daß ihre Kollegin zu spät kam und keine Zeit mehr fand, die Fracht zu kontrollieren, wie sie es sonst immer tat. Denn es wäre ihr sicherlich aufgefallen, daß statt der zehntausend Frösche einige Touristen an Bord waren. Nicht wahr?« »Natürlich«, nickte Mal. »Eine weitere Frage ist natürlich, wie es Lisolette arrangieren konnte, daß Vang Pins Leute gerade ihre Boeing entführten… Kannst du dich noch erinnern, Mal, ob an diesem Tag Flüge getauscht wurden?« »Ich glaube … ja… Obwohl Lisolette immer für diese Dinge verantwortlich war…« »Deine Kopilotin ließ dreimal euren Flugplan ändern, mit der Begründung, du wärst krank…« »Ich?« »Genau. Sie spielte so lange mit dem Plan herum, bis Vang Pins 450
Männern nur noch eure Boeing als einzige Alternative blieb. Als dann der bewußte Morgen anbrach, war jeder, der etwas mit dem Fall zu tun hatte oder zu tun haben sollte, auf dem Flughafen und wartete auf seine Maschine. Und da hier ein neues Kapitel anfängt, würde ich gerne eine kleine Pause machen…« Ich stopfte meine Pfeife neu, zündete sie an und dachte dabei darüber nach, wie ich die Geschichte abkürzen konnte. Da alle Anwesenden jede meiner Bewegungen mit sichtlicher Ungeduld in den Augen verfolgten, konnte ich es nicht lange hinausschieben. Ich netzte mir die Kehle erneut mit Cola und räusperte mich. »Glauben Sie mir, es wird jetzt nicht einfach! Die Geschehnisse verliefen von dem Moment an in so viele Richtungen, daß es eine Meisterleistung wäre, sie alle aufzuzeichnen.« »Aber Sie werden diese schon vollbringen, nicht wahr…?« erkundigte sich der Sicherheitschef mit genüßlichem Lächeln. »Ich werde mich zumindest bemühen. Also, an diesem Morgen bereiteten sich mehrere Leute auf das große Ereignis vor. Ich gehörte leider nicht zu ihnen, aber dazu komme ich noch. Vang Pins Leute rissen sich die Maschine von Mal und Lisolette unter den Nagel und stellten sie an eine Gangway, die an dem Tag nicht für den Betrieb vorgesehen war. Keine Anzeige leuchtete, keine Flugnummer wurde angezeigt. Nicht wahr, Mr. Hardy?« »Leider konnte ich das nicht so genau sehen…« »Nun, auf jeden Fall verhielt es sich meinen Kenntnissen nach so. So konnte keiner erkennen, wohin das Flugzeug flog. Verstehen Sie? Fast jeder einzelne wurde von einer netten Stewardeß an Bord begleitet, und jeder nahm an, auf seiner eigenen Maschine zu sein. Judy war fest davon überzeugt, auf dem Flug nach Boston zu sein, Wimmer glaubte sich an Bord einer Militärmaschine, und ich selbst nahm an, auf dem besten Weg nach Nanking über Peking sein. Einige allerdings wußten sehr wohl, wo das wahre Ziel dieses Fluges lag.« »Der Rote Drache zum Beispiel…« 451
»Genau. Der Rote Drache oder, besser gesagt, General Villalobos war über alles informiert. Seine Männer hatten spitzgekriegt, was Vang Pins Leute vorhatten. Nach anfänglichem Zögern kam ihm der Gedanke, das Spiel einfach mitzuspielen. Er konnte nicht zulassen, daß jemand anderes die Tonarmee findet, und dies war ihm jedes Risiko wert. Als die Maschine zur Gangway gerollt wurde, stand er bereit, um mit den ersten an Bord zu gehen. Sogar den Pandakongreß hatte er damit abgeschrieben, obwohl er ja der Präsident dieser Organisation war.« »Ein waghalsiges Abenteuer!« meinte einer der Journalisten. »Zweifellos. Aber er war ja auch nicht dafür bekannt, ein Waschlappen zu sein. Außerdem hatte er dafür gesorgt, daß ständig ein paar Leibwächter um ihn herumschwirrten. Erinnern Sie sich? Die beiden Stewardessen…! Es waren seine Leute, die noch vor den Passagieren an Bord gegangen waren. Kurz darauf ging Vang Pins Feuerwerk der Ereignisse los. Eine von Vang Pins hübschen Damen holte jeden von uns einzeln in der Abflughalle ab und brachte uns an Bord.« »Und Sie? Warum gerade Sie?« erkundigte sich eine junge, ganz ansehnliche Japanerin mit großen Augen. »Dazu komme ich ebenfalls später… Vorher möchte ich noch ein paar Worte über die anderen Opfer verlieren… Vang Pin nahm an, daß es jemandem vom Bangkoker Bodenpersonal durchaus auffallen könnte, daß eine Boeing nur mit wenigen Passagieren besetzt wurde. Also brauchte er zusätzliche Fluggäste oder, wenn man so will, etwas Watte, um den Inhalt sicher zu verpacken. Die ›Aufgabe‹ dieser Fluggäste war also nur, von dem wahren Vorhaben, nämlich die Wissenschaftler zu entführen, abzulenken. Jeder Mensch hätte sein Mißtrauen abgelegt, wenn er mit angesehen hätte, wie unter anderem ein lilahaariger Musiker, ein Marinesoldat oder zwei Tennisspielerinnen an Bord gehen. Es sollte alles aussehen wie ein ganz normaler Charterflug, wobei eher die Qualität als die Quantität bei der Auswahl der ›Watte‹ zählte.« »Danke … das hat mich jetzt wieder beruhigt. Ich wollte gerade 452
fragen, was Sie an meinen Haaren auszusetzen haben…«, meinte Leichenfresser und schüttelte ebendiese nachdrücklich. »Die Frage, wie der Mafioso auf das Flugzeug aufmerksam geworden ist, bleibt weiterhin offen. Ich glaube langsam, daß jeder auf diesem verfluchten Flughafen alles wußte und jeden beobachtete, nur ich spielte wieder einmal Blindekuh… Tarantelli war wohl Villalobos auf den Fersen, da er wußte, daß dieser der Rote Drache und gerade in Tonarmee-Sachen unterwegs war. Von Rottensteiner und Vang Pin waren ihm sicher unbekannt. Ist es nicht seltsam, daß jeder anscheinend nur ein eigenes kleines Segment der ganzen Sache kannte und kontrollierte? Über die Gesamtsituation war sich eigentlich keiner so richtig im klaren… Also gut, kommen wir zu meiner Wenigkeit zurück. Ich wurde natürlich mit Absicht entführt, wenn mir der Grund dafür vorerst auch schleierhaft war. Ich konnte mir anfänglich absolut keinen Reim darauf machen. Nach meinem ersten richtigen Gespräch mit Mr. Hardy sah ich dann schon etwas klarer. Er hatte mich öffentlich so hingestellt, als ob ich mit den Leuten in Verbindung stehen würde, die die ominösen Pressekonferenzen abhielten. Vang Pin vernahm diese Meldung natürlich und setzte mich prompt auf die Liste der ebenfalls zu Entführenden. Er organisierte einen kleinen Pandakongreß und sorgte dafür, daß ich genau zur richtigen Zeit am Flughafen wartete. Der Rest war dann einfach, und so kam ich an Bord der Maschine. Alles, was Hardy und seine Mitarbeiterin zu tun hatten, war, mir ständig auf den Fersen zu bleiben. Es war wie in einem Spiel, wo eigentlich jeder jedem nachrennt und keiner wirklich weiß, was das genaue Ziel ist… Welcher Plan war nun erfolgreich? Der von Vang Pin? Oder der von Frau von Rottensteiner? Eventuell der von Mr. Hardy? Bevor ich zu den weiteren Geschehnissen komme, möchte ich kurz zusammenfassen: Außer mir und den unschuldigen Opfern gab es demnach fünf Gruppen an Bord: Villalobos alias der Rote Drache mit seinen zwei Stewardessen; die zwei Leute von Vang Pin; der Mafioso; Mr. Hardy und die arme Kalima, seine Partnerin; und natürlich 453
Frau von Rottensteiners Truppe. Ein schöner Mischmasch, was?« »Zweifellos«, meinte der gesprächige Journalist von eben. »Ein Wunder, daß Sie sich da zurechtgefunden haben!« »Tja, leider gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht so viel zum Zurechtfinden… Ich war mir sicher, daß die Maschine demnächst in Peking landen und von dort aus nach Nanking weiterfliegen würde. Das glaubte ich um so mehr, da auch Villalobos, der Präsident und Leiter der Veranstaltungsserie, sowie Leichenfresser als Repräsentant seiner musikalischen Begleittruppe anwesend waren. Unser freundschaftliches Gespräch wurde ziemlich abrupt beendet, da Vang Pins Leute in ihren Pandakostümen in Aktion traten. Woher sie die Verkleidung hatten, wissen Sie inzwischen alle: aus den Gepäckstücken für den Pandakongreß. Vang Pins Leute dachten, daß sie auf diese Weise sicher sein konnten, später in der Residenz ihres Herren nicht wiedererkannt zu werden. Sie konnten natürlich nicht ahnen, daß sie diesen Flug nicht überleben würden. Woher auch? Die Boeing wurde also entführt. Und wir saßen seelenruhig in unserer Kabine und gaben uns den Freuden eines guten Tropfens hin. Villalobos tat ganz geschickt so, als hätte er keine Ahnung, was an Bord vor sich ging. Innerlich aber war er ziemlich unruhig. Er wollte natürlich nicht, daß die Sache für ihn ungünstig oder gar tödlich endete. Die beiden Stewardessen hatten für alle Fälle die Aufgabe, ihn zu beschützen. Also saß ich in der Maschine in Gedanken versunken da, als mir Kalima zuzwinkerte. Ich wußte im ersten Moment nicht, was ich davon halten sollte, ich dachte, es wäre ein Auftakt zu einem kleinen Flirt. Dabei wollte mich das arme Mädchen lediglich warnen, mir Bescheid geben, daß im Frachtraum betäubte Menschen herumlagen. Und ich dummer Kerl hab' sie nicht verstanden… Ich dachte wirklich, sie will etwas von mir… Das passiert doch dauernd auf solchen Flügen, nicht wahr?« »Du mußt es ja wissen«, raunte mir Mal zu. »Trotzdem ließ mir dieses Zwinkern keine Ruhe. Es war, als würde mich die Unbekannte ausdrücklich und eindringlich zu einem 454
Treffen auffordern. Also machte ich mich auf den Weg in den Frachtraum. Fragen Sie nicht, wieso, ich weiß darauf keine Antwort. Dann fand ich die Schlafenden und die aufgehängte Tonfigur. Weder mit dem einen noch mit dem anderen konnte ich etwas anfangen. Ich hatte bis dato kaum etwas über Huan-Ti und seine Tonsoldaten gehört. Wie zum Teufel also hätte ich da einen Zusammenhang finden sollen? Trotzdem störte mich an der Sache einiges. Da war zum Beispiel diese kleine Tonfigur, die bis aufs Haar meiner inzwischen verschwundenen Stewardeß ähnelte. Von Rottensteiner hatte einige Figürchen in voraus gegossen und brauchte nur das Gesicht fertig zu modellieren. Sie hatte großes Talent… Schade, daß sie es so vergeudete. Vielleicht waren die kleinen Figuren ja Teil das Plans, Vang Pin an der Nase herumzuführen. Dann machte ich eine weitere Entdeckung, die sich in ein Rätsel verwandelte: Die beiden anderen Stewardessen kannten ›meine‹ nicht, also diejenige, die mir zugezwinkert hatte. Die beiden Mädchen stritten sogar ab, sie gesehen zu haben. Erst im nachhinein wird dieses Verhalten verständlich, waren sie es doch, die Kalima umgebracht hatten! Vielleicht entdeckten sie eine Waffe bei ihr und dachten, sie gehöre zum Sicherheitspersonal des Flughafens. Auf jeden Fall schnappten sie sich Kalima, ermordeten sie und packten den leblosen Körper dann in den Lastenaufzug. Sie nahmen wohl an, daß bis zur Ankunft niemand mehr den Aufzug verwenden würde. Währenddessen ging es oben ziemlich lebhaft zu. Von Rottensteiner hatte sich mit ihrer Truppe so plaziert, daß sie mit niemandem das Abteil teilen mußten. Die Tennismädchen zählten nicht. Einige Minuten nach dem Start, als die Pandabären bereits das Cockpit übernommen hatten, bemerkte Frau von Rottensteiner etwas, das nicht ins Bild paßte. Die besagten zwei Stewardessen nämlich, die nicht an Bord hätten sein dürfen. Der Flug war als Frachtlinie deklariert worden, so wußte sie es auch von Lisolette. Also machte sich die Professorin auf den Weg, und beim Herumschnüffeln fand sie anscheinend die Leiche von Kalima. Die drei Verschwörer gerieten in 455
Panik. Was zum Teufel war plötzlich los? Auch ihnen fiel nichts Besseres ein, als daß es sich bei den Stewardessen um Sicherheitsleute des Bangkoker Flughafens handelte. Ja, gut, aber wer hatte Kalima umgebracht? Für alle Fälle versteckten sie die Leiche vorsorglich unter einem der Sitze in ihrem Abteil. Von Rottensteiner wußte für kurze Zeit nicht weiter. Ihr großer Plan, ihr ganzes Lebensziel geriet in Gefahr. Wenn die vermeintlichen Sicherheitsleute die Maschine zurückerobern und Vang Pins Leute erwischen würden, wäre alles verloren! Es könnte Jahre dauern, bis sich erneut solch eine Chance bieten würde. Und wer weiß, ob sie das noch erleben würde? Bei dem Gedanken, daß sie früher sterben könnte als Vang Pin, wurde ihr buchstäblich schlecht! Diese Bestie durfte einfach nicht ungeschoren davonkommen! Er mußte endlich seine gerechte Strafe erhalten! Das Servicepersonal war bereits wie vom Erdboden verschluckt. Wie wir inzwischen wissen, hatten die Pandaleute Darcy niedergeschlagen, weil sie von ihr überrascht wurden, und Sikara spürte wohl, daß etwas faul war, und hielt sich versteckt. Als Darcy wieder zu sich kam, wurde ihr klar, daß sie große Probleme hatte. Sie sollte Villalobos beschützen, statt dessen ließ sie sich einfach niederschlagen. Sie können sich vorstellen, wie sie sich gefühlt haben muß, als sich ausgerechnet ihr eigener Chef als erster über sie beugte! Aber eins muß man ihr lassen, sie hatte wirklich Geistesgegenwart und uns so übers Ohr gehauen, daß ich nur sagen kann, Hut ab! Mir fiel nicht im Traum ein, daß sie eventuell nicht die Wahrheit sagte. Sie spielte ihre Rolle perfekt. Danach folgte eine weitere rätselhafte Szene. Leichenfresser wurde klar, daß nicht seine Musiker unter den Decken ruhten, sondern einige ihm völlig unbekannte Leute. Ich fragte mich natürlich sofort, wie sie dahin gekommen sein könnten, eine Antwort darauf gab es aber damals noch nicht. Woher sollte ich auch ahnen, daß von Rottensteiner es vorzog, so wenig Leute wie möglich oben in den Abteilen zu lassen. Sie wollte keine Komplikationen, wenn sich herausstellte, daß die Maschine entführt wurde. 456
Also kümmerte sich Van Broeken um Wimmer – in Form eines kräftigen Schlages auf den Hinterkopf. Judy wurde betäubt, und Van Broeken und Großvater legten sich neben die beiden. Ich weiß nicht, wessen Idee es gewesen war, Gin in der Gegend zu verschütten, aber es war ein cleverer Schachzug. Jeder Gast, der sich versehentlich in den Frachtraum verirren würde, mußte annehmen, daß ein paar Besoffene in den bequemen Feldbetten ihren Rausch ausschliefen. Ach ja, und da war dann noch Kao Ven, Vang Pins Mann, der ebenfalls von Van Broeken eine übergebraten bekam. Er hätte schon vorher an der Entführung teilnehmen sollen, aber da man ihn ebenfalls für einen normalen Fluggast hielt, fiel er eben dem Holländer zum Opfer.« »Na, und die Waffen?« erkundigte sich Leichenfresser. »Wenn ich mich nicht täusche, purzelten die Ballermänner nur so aus den Decken heraus…« »Ja, anfänglich konnte auch ich mir keinen Reim darauf machen. Es war Großvaters Arsenal, das er unter seiner Decke versteckt hatte. Haben Sie nicht bemerkt, Miss Judy, daß er bestückt war wie ein überreifer Apfelbaum?« »Nein, überhaupt nicht.« Judy schüttelte schniefend den Kopf. »Tja, so ist es, wenn man keinen Grund hat, argwöhnisch zu sein. Nun, versetzen Sie sich in die Lage der beiden, die wohlbestückt mit Waffen aller Art unter ihren Decken lagen, als wir plötzlich in Scharen im Treppenabgang auftauchten. Sie wollten den Flug abgeschieden und in Ruhe verbringen und auf die ohnmächtigen Fluggäste aufpassen, als auf einmal alles ganz anders kam. Das Herz muß ihnen fast stehengeblieben sein, als sie zuerst eine Leiche im Lastenaufzug baumeln sahen und dann eine zusammengeschnürte Stewardeß herauskullerte. Sie konnten sich nicht vorstellen, was da oben passiert sein könnte, und wären am liebsten sofort hochgerannt, um von Rottensteiner zu helfen, falls es notwendig sein sollte. Wegen uns konnten sie sich aber nicht bewegen, also blieb nichts anderes übrig, als ›aufzuwachen‹, und zwar sozusagen zusammen mit den Waffen. Sie spielten es jedenfalls nicht schlecht, als sie behaupteten, 457
daß ihnen im Schlaf jemand die Sachen zugesteckt haben mußte. Warum ich darauf reingefallen bin? Nun, ich verstand schlicht und einfach gar nichts mehr! Ich torkelte herum wie ein Besoffener nach der Schließstunde. Während wir uns darüber Gedanken machten, was mit uns passiert sein könnte, saßen nicht nur Großvater und Van Broeken, sondern auch der inzwischen erwachte Kao Ven auf heißen Kohlen. Sein Kumpan hatte die Maschine entführt, und er war außerstande, ihm zu Hilfe zu eilen. Es war nur natürlich, daß er daraufhin die erstbeste Gelegenheit wahrnahm, sich abzusetzen, und großzügig anbot, nach oben zu gehen, um nachzusehen, was denn nun Sache sei. Die immer nervöser werdende von Rottensteiner hingegen war auf dem Weg nach unten, weil sie nach ihren Gefährten sehen wollte. Währenddessen fanden wir die Leiche der armen Kalima, die wieder einmal mit dem Aufzug zu uns gekommen war. Wie dieser Wechsel zustande kam? Als Frau von Rottensteiner herunterkommen wollte, um nach Großvater und Van Broeken zu sehen, hatte sie vor, den Lastenaufzug zu benutzen. Als sie dann aus dem Schlitz schielte und sah, daß wir alle in ein relativ friedliches Gespräch verfallen waren, fuhr sie zurück und legte die Leiche in den Aufzug. Sie schickte sie runter und erhoffte, dadurch ihren Freunden unten die nötige Ablenkung zu verschaffen, damit sie sich davonstehlen konnten. Als Kao Ven uns verließ, zog er schnell die Pandauniform über und ging geradewegs in die Pilotenkanzel. Als er wieder rauskam, um sich umzusehen, erschoß ihn von Rottensteiner. Ich kann es mir nur so vorstellen, daß sie einfach … durchdrehte. Vergessen Sie nicht, so entschlossen sie sich auch gab, sie war nur eine Wissenschaftlerin, keine Profikillerin! Vielleicht erschrak auch der Panda, als sie unvermittelt vor ihm auftauchte, und zückte eine Pistole … und das reichte, damit sie ihn mit ihrem ›Regenschirm‹ erschoß. Genauso erging es auch dem anderen Pandabären, als er seinem Freund zu Hilfe eilen wollte. Von Rottensteiner erledigte auch ihn. 458
Zu ihrer Entscheidung trug sicherlich mit bei, daß nach ihren Berechnungen die Maschine nur noch über wenig Treibstoff verfügte. Von Rottensteiner nahm also an, daß der Entführer seine Instruktionen bereits gegeben hatte, wo der Pilot die Boeing runterbringen sollte. Kaltblütig erschoß sie also den zweiten Panda und holte, um uns die Lust am Detektivspiel endgültig zu nehmen, Kalimas Leiche aus dem Aufzug, versteckte sie unter einer der Sitzreihen und plazierte dafür den maskierten Toten in der Kabine. Ich könnte schwören, daß dies der Zeitpunkt war, wo ihr Verstand endgültig aussetzte. Nichts interessierte sie noch, nur der Gedanke, sicher auf Vang Pins Grundstück zu landen. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt hätte sie jeden umgebracht, der ihr diese Absicht streitig machen wollte. Ganz interessant ist auch die Verhaltensweise des dritten Hauptdarstellers, Villalobos. Der Rote Drache konnte nichts weiter tun, als sich treiben lassen. Ihm wurde klar, daß die Situation eskalierte und die Sache weitaus gefährlicher wurde, als er es erwartet hatte! Außerdem waren auch noch seine Leibwächter verschwunden! Er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen und auf sein Inkognito vertrauen. Er benahm sich genau so, wie man es in einer solchen Lage von einem Leiter der Pandakommission erwartet hätte. Inzwischen arbeitete von Rottensteiner weiter. An ihrem Platz angekommen, fertigte sie weitere Tonfigürchen an. Eine hatte sie bereits vorher im Treppenaufgang plaziert. Vielleicht konnte sie auf die Art ihre Nervosität abbauen, wer weiß? Als es langsam zum Landeanflug kam, fuhr sie schnell noch einmal mit dem Aufzug runter, um Großvater und Van Broeken zu warnen, daß Sicherheitsleute mit an Bord seien. Sie fand zu ihrer größten Überraschung die Kabine des Aufzuges leer vor – schließlich hatten wir unten kurz zuvor Kao Vens Leiche herausgezogen. Also schickte sie mir Kalima runter, sollte ich doch damit machen, was ich wollte…« Ich verstummte, öffnete eine neue Flasche und fuhr fort. »Der Plan war also erfolgreich, wenn auch etwas komplizierter in 459
der Ausführung, als vorgesehen. Wessen Plan? In erster Linie der von Wilhelmina von Rottensteiner, aber man kann ihn auch ruhig Vang Pin zuschreiben, da er ja die Leute tatsächlich entführen konnte, die ihn zur Tonarmee lotsen sollten. Ich hingegen saß bis zum Hals in einem Schlamassel, den ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Das einzige, was mir sicher erschien, war die Tatsache, daß man mich hier nicht brauchte und deshalb ziemlich bald ebenfalls umbringen würde. Allzu glücklich war ich darüber nicht, glauben Sie mir! Was dann passierte, sollte inzwischen jedem klar sein. Von Rottensteiner tötete die Stewardessen, die sich abzusetzen versuchten, weil sie, wie gesagt, annahm, es würde sich bei ihnen um Sicherheitsleute des Flughafens handeln. Inzwischen interessierte es sie nicht mehr, wie oft oder wen sie tötete. Sie befürchtete, die beiden könnten Hilfe holen, was sie an ihrem Plan und vor allem an ihrer Rache gehindert hätte. Sie erledigte die Stewardessen, und der Rote Drache durfte darüber nachgrübeln, wer da seine Leute dezimierte.« »Wann hat Frau von Rottensteiner Sie denn erkannt?« »Wahrscheinlich sofort nach der Landung. Sie können sich vorstellen, wie sehr sie das beunruhigte. Sicherlich hatte sie schon hier und da vernommen, daß ich mich oft nicht nur um Käfer kümmere, wie die anwesende Presse immer so gerne betont. Sie nahm also an, daß ich irgendwie ebenfalls mit von der Partie sei. Kaum hatte sie die vermeintlichen Sicherheitskräfte unschädlich gemacht, tauchte ein neues Problem auf. Was folgt daraus?« »Sie mußten ebenfalls umgebracht werden«, lächelte mich die Japanerin an. »Genau. Sie wissen ja, wie es ist … ein Mord zieht den nächsten nach sich. Von Rottensteiner konnte sich allerdings erlauben, vor meinem Tod noch ein wenig mit mir zu spielen. Sie erzählte mir lebhaft, wie sie entführt worden sei, was ja teilweise auch stimmte, und gab mir somit die Gelegenheit, noch ein wenig mein Köpfchen zu benutzen. Ich setzte die Steinchen zusammen und kam zu dem 460
Schluß, daß alles, was mit uns geschah, irgendwie mit den Tonsoldaten zusammenhing.« Danach erzählte ich ihnen noch ausführlich von Hardys Annäherungsversuchen, Tarantellis Aktionen gegen uns und wie mir jemand das Leben gerettet hatte. »Die Meos?« erkundigte sich der Sicherheitschef. »Die müssen ziemlich viel Angst vor Ihnen gehabt haben. Sie dachten wohl, so eine Art Sturmkommando wäre gelandet, um ihre Cannabisfelder zu vernichten.« »Unwahrscheinlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Meos gehörten zu Vang Pins Leuten. Sie sollten nachschauen, ob wir ohne Probleme gelandet sind. Wenn sie überrascht waren, dann eher davon, daß die Passagiere scheinbar selbst Jagd aufeinander machten. Sie linsten aus den Büschen und sahen plötzlich, wie ein dicker Kerl einen hochgewachsenen Typ mit Igelschnitt in die Mangel nahm. Der Atem muß ihnen gestockt haben, schließlich hatte man ihnen keinerlei Anweisungen für den Fall erteilt, daß die Fremden sich gegenseitig an die Gurgel gingen.« »Sie wollen doch wohl nicht behaupten, von Rottensteiner hätte Ihr Leben gerettet, mit diesem Dingsda … dem Raketenschirm?« fragte die japanische Reporterin. »Doch, genau das!« »Aber ich sehe keinen Grund, warum sie so etwas hätte tun sollen?« »Um ehrlich zu sein, sie wollte mein Leben auch gar nicht verschonen. Es ging ihr wohl eher darum, den dicken Profikiller zu erledigen. Tarantelli schien ihr viel gefährlicher, denn was wäre gewesen, wenn er auch noch ins Spiel um die Tonfiguren eingegriffen hätte? Ich wäre natürlich der nächste auf dem Salatteller gewesen.« »Aber sie hat Sie nicht erschossen!« »Es blieb ihr keine Zeit mehr dazu. Die Meos waren da, sie mußte verschwinden. Sie hatte gerade noch Zeit, dem Italiener eine Tonfigur um den Hals zu hängen. Sie hielt sich für die Rachegöttin persönlich, die überall ihr Markenzeichen hinterlassen mußte. Als ob 461
sie die Tat in Huan-Tis Namen verüben würde. Ich bin kein Psychologe, aber ich denke, von Rottensteiner identifizierte sich immer mehr mit dem Kaiser oder der Frau, die, einer uralten Legende zufolge, bösartigen Gutsherren Tonpüppchen als letzte Warnung an die Haustür hängte. Vielleicht war sie sogar davon überzeugt, eine Reinkarnation beider Seelen gleichzeitig zu sein. Und in Lei Tshungtao sah sie alle ehemaligen Feinde der beiden gleichzeitig verkörpert. Dies wäre auch eine Erklärung dafür, weshalb sie unbedingt mit dem Feind und der Tonarmee zusammen unter der Erde begraben werden wollte. Sie war Huan-Ti, und wir alle waren die potentiellen Opfer!« »In Anbetracht dessen, was Sie sagen, hatte sie sich aber ziemlich normal verhalten…!« »Natürlich. Das gehört wohl mit zu dem Erscheinungsbild. In gewissen Dingen war sie sogar noch normaler als normal. Aber das zu beurteilen ist nicht meine Sache. Kurz danach, als der Mafioso umgebracht wurde, hielt Frau von Rottensteiner und ihr Trupp einen kleinen Kriegsrat im Aufzug des Flugzeuges ab. Wir waren mit Mr. Hardy gerade in der Maschine und konnten das meiste davon verstehen. Sie sprachen von einigen Dingen, vor allem der Rache, aber mich interessierte vor allem ein anderes Detail… Man hatte mich nämlich zum Tode verurteilt!« »Was wundern Sie sich so?« fragte die Japanerin. »Einen Supermann will schließlich jeder einmal umbringen…« Ich wußte nicht, ob sie mich provozieren wollte oder ob das hämische Grinsen zu einem speziell asiatischen anzüglichen Lächeln gehörte. Also schenkte ich der Bemerkung keinerlei Beachtung. »Das war wohl weniger der Grund. Von Rottensteiner hatte Angst, daß ich der Sache auf den Grund kommen könnte, noch bevor sie ihren Plan zu Ende gebracht hatte. Langsam fing es an, ihr leid zu tun, daß sie nicht schon an Bord der Boeing die Reihen der Passagiere ein wenig gelichtet hatte. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, also wurde ich zum Tode verurteilt, sie verließ das Flug462
zeug und schickte ein Raketengeschoß in meine Wolldecke.« »Mit dem … Regenschirm?« »Genau. So lächerlich es auch klingen mag, der Schirm war in Wirklichkeit eine unbarmherzig genaue Waffe. Und das wichtigste: Er arbeitete geräuschlos! Ein leises Klicken, und schon ist das Opfer hinüber. So wäre es auch mir ergangen, wenn ich nicht mit der ausgestopften Decke vorgesorgt hätte. Was bis zu dem Zeitpunkt geschehen war, hatte ausgereicht, damit ich mir so ungefähr einen Reim auf die Dinge machen konnte. Schon in der Nacht hatte ich mir vorgenommen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich machte mich nicht einfach auf den Weg zum Mekong, wie es auf den ersten Blick wohl das beste gewesen wäre, sondern ließ mich weiter von den Geschehnissen treiben. Dabei achtete ich allerdings peinlich genau darauf, daß ich meine heile Haut behielt. Mein Grab sollte nicht in Laos stehen… Aber egal. Inzwischen war mir vieles klar, unter anderem, daß ein gewisser Lei Tshung-tao das eigentliche Ziel war. Ich wußte nur nicht, wer das war… Bald sollte ich aber auch das erfahren. Nun ja. Die Vierergruppe im Lastenaufzug bekam mit, daß man sie belauschte, und machte sich davon. Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als ich den Aufzug herunterholte und in der Kabine nur noch die Leiche der Stewardeß fand. Von Rottensteiner mußte die Leichen, die ihren Weg pflasterten, gut verbergen. Sie wußte, daß die Leichenfabrik in Gang gehalten werden mußte, wollte die Endprodukte aber dennoch nicht in den Schaufenstern präsentieren.« »Sie sprechen davon, als ob es um … Kaugummis gehen würde!« bemerkte einer der Journalisten süffisant. »Meinen Sie?« herrschte ich ihn an und versuchte, meinen Ärger hinunterzuschlucken. »Ich versuche lediglich, sachlich zu bleiben. Diese Leute hätte niemand retten können! Nicht einmal Sie!« »Ruhig Blut!« mahnte der Sicherheitsbeauftragte und machte dabei eine kleine Notiz. »Erzählen Sie weiter!« »Wo soll ich fortfahren? Vielleicht bei den Waffen. Inzwischen war 463
mir klar geworden, daß wir einer Verschwörung zum Opfer gefallen waren und unser Leben an einem seidenen Faden hing. Ich hatte keine Ahnung, daß die Tonsoldaten nicht existieren, im Gegenteil, ich war mittlerweile selbst davon überzeugt, daß die Expedition sie damals gefunden und irgendwo unter dem Dreispitzberg vergraben hatte. Und ich glaubte, daß die Überlebenden sich jetzt an dem Schlächter von damals rächen wollten. Nur gab es zwei Störfaktoren: Erstens war Lei Tshung-tao nirgends zu sehen, und zweitens verstand ich den Zusammenhang zwischen den einzelnen Morden nicht so recht. Ich glaubte, weiterzukommen, wenn ich die Mordwaffe entdeckte. Da ich eine Garrotte nur schwer suchen konnte – ein Drahtseil kann jeder leicht in seiner Hosentasche verstecken – , konzentrierte ich mich auf die Feuerwaffe für das Raketengeschoß. Nachdem ich mich gründlich umgesehen hatte, kam ich zu folgendem Schluß: Entweder war Wimmer der Mörder, denn der Kampftaucher hatte so viel Erfahrung mit Druckluftwaffen, daß er die Kugeln sogar aus dem ausgestreckten Zeigefinger hätte abschießen können, oder aber es war jemand anderes, der über eine entsprechend zielgenaue Waffe verfügte. Und da kamen nur zwei Leute in Betracht, die einen länglichen Gegenstand mit sich herumführten, der unter Umständen zu einem Druckluftgewehr umgebaut sein könnte: Großvater mit seinem Stock und Frau von Rottensteiner mit dem Regenschirm. Folglich waren sie zwei mögliche Kandidaten für die Überlebenden der damaligen Expedition. Wofür übrigens auch ihr Alter sprach. Aber wo zum Teufel sollte ich Lei Tshung-tao suchen? Bald wurde auch diese Frage beantwortet. Vang Pin traf nämlich mit seinen Meos ein. Und dann schlug bei mir die Erkenntnis wie der Blitz ein – nein, ich meine nicht, als ich ohnmächtig wurde. Mir wurde vielmehr schlagartig klar, worum es eigentlich ging! Ich erkannte, daß dieser unglückselige Vang Pin – oder Lei Tshung-tao, denn inzwischen war ich mir ziemlich sicher, daß die beiden ein und dieselbe Person waren … daß er also glaubte, die besten Wissenschaftler der Welt entführt zu haben, die ihn zu der Tonarmee führen würden. Und in Wirklichkeit war er selbst das Opfer! Er tat 464
genau das, was man ihm unbemerkt eingeflößt hatte! Und ich saß nun inmitten dieses Zweikampfes zwischen Vang Pin und Wilhelmina von Rottensteiner. Ich glaubte inzwischen auch, daß Lisolette mit in der Sache hing. Zum einen wegen der Stimmen im Aufzug; eine davon schien ihre gewesen zu sein. Miss Malgorzata hat dann meine letzten Zweifel beseitigt. Mal?« Plötzlich richtete sich aller Aufmerksamkeit auf die Pilotin. In ihrer schmucken Uniform sah sie genauso betörend aus wie in einem Badeanzug … oder ohne. »In der Nacht … als wir neben der Boeing schlafen mußten … da merkte ich, daß sie sich davonstahl. Aber vorher beugte sie sich noch über mich und schaute, ob ich schlief. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich tat so als ob. Ihr Blick … ihr Blick war irgendwie anders … ganz anders, als ich sie gekannt hatte. Es war, als ob … sie töten könnte…!« Eine Weile war es still, Judy und Mal wischten sich die Tränen von den Wangen. »Dann gab es da noch eine weitere Frage, der ich nachgehen mußte. Wer war der Schwarze Prinz? Der Eigentümer der dritten Bergspitze…? Ich ahnte bereits, daß das rätselhafte Kloster von Rottensteiners Leuten als Stützpunkt diente und diese den Part der gütigen Klosterbrüder gespielt hatten. Aber wer konnte sich hinter der schwarzen Maske verbergen? Eine weitere Partei schien an dem Spiel teilnehmen zu wollen. Vielleicht die Mafia? Die Frage blieb vorerst unbeantwortet. Auf jeden Fall mußte ich aufpassen, daß ich dabei nicht unter die Räder kam, man machte ja immer noch Jagd auf mich. Inzwischen war aber etwas passiert, von dem ich nichts wissen konnte: Frau von Rottensteiner hatte ihren Plan dahingehend geändert, daß sie mich jetzt nicht mehr töten wollte, sondern für ihre eigenen Zwecke auszunutzen gedachte. Sollte ich doch ruhig meine Nachforschungen anstellen … ich hatte nämlich keine Sekunde lang verheimlicht, daß ich einen Zusammenhang zwischen den rätselhaften Vorfällen und der Armee 465
des Huan-Ti sah. Auch Vang Pin entdeckte sein Interesse an mir, ich wurde auf dieselbe Stufe gestellt wie von Rottensteiner und Großvater. Könnte es sein, daß ich ihn auf die Spur brachte? Daß ich die Tonsoldaten fand? Wilhelmina von Rottensteiner nahm an, daß Van Pin von nun an seine ganze Energie auf mich konzentrieren würde, und das wollte sie für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Mit anderen Worten, sie verschob meinen Tod für kurze Zeit und führte mich Schritt für Schritt – mit Hilfe der Tonfigürchen – zur unterirdischen Kathedrale. Und warum sie meine Hilfe für so wichtig hielt? Sie nahm an, daß Vang Pin sie erkennen könnte. Obwohl mehrere Jahrzehnte vergangen waren, konnte sie sich nicht sicher sein, ob nicht doch ein paar Züge in ihrem Gesicht Lei Tshung-tao verdächtig vorkommen würden. Wenn das passiert wäre, hätte die ganze Geschichte einen ganz anderen, wahrscheinlich viel dramatischeren Ablauf nehmen können. Deswegen hielt sie es für weiser, wenn ich Vang Pin zu den Tonsoldaten führte. Das bedeutete aber auch, daß diejenigen, die nach unserer verschwundenen Maschine forschten, diese nicht finden durften! Und daß gesucht wurde, das war mir – und allen anderen – klar. Die chinesischen Behörden hatten sich sofort mit Bangkok in Verbindung gesetzt und sie informiert, daß ein Charterflug irgendwo, wahrscheinlich in Laos, vom Radar verschwunden sei. Was mußte Vang Pin also unternehmen? Dafür sorgen, daß die Boeing buchstäblich vom Erdboden verschluckt wird. Ich dachte mir, bevor das passiert, täte ich gut daran, mich noch einmal beim Flugzeug etwas umzusehen. Vielleicht fand ich ja noch irgendwelche Hinweise. Ich möchte hier nicht in der Rolle des Besserwissers glänzen, aber es kam genau so, wie ich vermutet hatte. Die Maschine war von der Piste verschwunden. Vang Pin hatte sie im Laufe des Tages von seinen Meos abtransportieren lassen, nachdem sie die Boeing in Einzelteile zerlegt hatten. Trotzdem war es nicht unnütz, daß ich mich in der Nacht hinausgeschlichen hatte. An der Landebahn entdeckte ich nämlich den entscheidenden Faktor, mit dem ich das Spiel schließlich für uns entscheiden konnte…« 466
Ich ließ sie darüber ein wenig nachgrübeln und zeigte ihnen währenddessen mit meiner Pfeife, was für tolle Kringel ich hauchen konnte. »Ich sah unseren Freund Wimmer, wie er seine im Vorfeld in Sicherheit gebrachte Tasche versteckte. Am liebsten hätte ich geweint vor Freude! Denn wenn ich in dieser verrückten Geschichte jemanden wirklich benötigte, dann war das ein Sprengstoffexperte, ausgerüstet mit dem nötigen Sprengstoff und Zündern. Ich ahnte schon damals, daß die Höhle der Tonsoldaten entsprechend ihrer Aufgabe präpariert worden war, und Wimmer war das größte Geschenk, das mir der Himmel zum Entschärfen der Sprengladungen geschickt haben könnte. Blieb nur noch übrig, ihn für mich zu gewinnen, was nach einigem … ähm, guten Zureden … auch geklappt hat.« Wimmer senkte den Kopf und wurde ein wenig rot. Dann grinste er mich zaghaft an. »Vorher aber passierte mir noch so einiges. Zum Teufel, mich erwischte doch tatsächlich ein Meo! Und obwohl er für Vang Pin arbeitete, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, mich im Sumpf zu ertränken. Und jetzt halten Sie sich fest: Frau von Rottensteiner hat mir das Leben gerettet! Ihr war inzwischen klar geworden, daß sie mich brauchte, und sie wollte nicht, daß ich – in Vang Pins Augen spurlos – verschwinde. Zum Glück war sie in der Gegend auf einem kleinen Spaziergang und hatte mit angesehen, wie mich der Meo abmurksen wollte. Also zog sie wieder einmal die Garrotte aus der Tasche und spielte Huan-Tis Geist. Sie erzählte mir mit Grabesstimme, wo ich den Eingang zu Huan-Tis Höhle finden würde. Sie hatte aus Plastik eine Art Trichter geformt, mit dem sie die ›übersinnlichen‹ Töne von sich geben konnte. Es war eine erschreckende Szene, trotzdem auch irgendwie lächerlich.« »Wie man es nimmt…«, meinte Mal. »Damals hast du jedenfalls anders darüber gesprochen.« »Gut möglich… Die Nacht war schließlich auch die Nacht der Abrechnungen… Vang Pin merkte, wer Villalobos in Wirklichkeit war, und brachte ihn um. Vielleicht hatte er Paj Miang vor ihrem Tod 467
noch ausgequetscht, und sie mußte es ja gewußt haben. Lei Tshung-tao hatte sich nämlich gesagt, daß es langsam zu viele Faktoren und Gegner gab. Eine Weile fragte er sich noch, ob der Rote Drache nicht doch der Schwarze Prinz ist, doch dann erinnerte er sich an die Aussage seines Vertrauensmannes und erkannte plötzlich, daß es nur seine Schwägerin sein konnte, die sich hinter der Maske verbarg. In aller Ruhe brachte er daraufhin Villalobos um, der ihn schlicht und einfach unterschätzt hatte. Seine Frau mußte ebenfalls dran glauben. Lei Tshung-tao bewies sogar noch Sinn für schwarzen Humor, als er die Leiche des Roten Drachen an der Pagode des Schwarzen Prinzen aufhängte. Offensichtlich war ich von lauter humorvollen Menschen umgeben…« Gott weiß warum, aber keiner lächelte bei meiner Bemerkung. »Wo Vang Pin Villalobos nun erwischt hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hatte der General vorher meinem Zimmer noch einen Besuch abgestattet, und zwar in Pandauniform. Ich habe es, glaube ich, noch nicht erwähnt, daß Villalobos vorher ebenfalls bei der Piste aufgetaucht war, um nach der Maschine zu schauen. Bei der Gelegenheit hatte er wohl die Pandakostüme mitgenommen und eines auch gleich nach seiner Ankunft in Vang Pins Residenz angezogen. Er wußte nämlich, daß ich all die kleinen Tonfiguren vorsorglich in meiner Tasche verstaut hatte, und glaubte, daß sie eine besondere Bedeutung hätten. Womöglich waren ja seltsame, geheimnisvolle Symbole darauf eingekratzt, die er, mit seinem Wissen über Asien, besser deuten zu können glaubte als ich. Wer die Figuren hinterlassen hatte, kümmerte ihn nicht. Vielleicht Vang Pin, vielleicht jemand anders … ihn interessierte nur noch die Tonarmee, er war inzwischen genauso besessen wie sein Rivale. Also machte er sich daran, mir die Figürchen zu klauen. Dazu brach er in mein Zimmer ein und betäubte Mal, dann nahm er alle Tonfiguren mit – mit einer Ausnahme…« »Was machte denn Miss Malgorzata in Ihrem Zimmer, Mr. Lawrence?« fuhr die Japanerin anzüglich grinsend dazwischen. »Was wohl«, meinte Leichenfresser auf seine typisch flapsige Art. 468
»Sie hat die Brösel unter der Bettdecke gezählt…« Ich zog es vor, schnell fortzufahren: »Viel konnte er mit den Dingern nicht anfangen, denn kurz darauf wurde er von Vang Pin ermordet – von ihm oder einem seiner Meos. Wie vieles andere auch, kann dieses Detail nicht mehr rekonstruiert werden. Wie gesagt, mir blieben trotzdem noch Figürchen übrig; einmal jenes, das Villalobos übersehen hatte, und ein neues, das ich beim Sumpf neben der Leiche des Meos gefunden hatte. Vang Pin tat natürlich so, als wüßte er nicht, wer seine Frau ermordet hatte. Er versuchte, den Verdacht auf Dr. Camus zu lenken, später auf den Roten Drachen. Doch mich konnte er inzwischen nicht mehr täuschen. Ich ahnte die Wahrheit und wußte, daß sich das Spiel seinem Ende näherte. Damals entschied ich, alles auf eine Karte zu setzen. Und zwar auf Wimmer. Ich erwähnte ja bereits, weshalb. Nachdem der Schwarze Prinz auch noch Leichenfresser und Mr. Hardy im Dschungel beim Spazierengehen erwischt hatte, blieb mir sowieso nicht mehr viel übrig.« Dann erzählte ich, wie mir von Rottensteiner noch einmal das Leben gerettet hatte, als sie mich vor den Pavianen beschützte. Sicherlich hatte ihr in diesem Fall auch Großvater geholfen, denn wie wir nachträglich von Judy erfahren hatten, unternahmen die beiden manchmal einen Spaziergang, um sich angeblich über die Tonarmee zu unterhalten. Über das Ende brauchte ich nicht viele Worte zu verlieren. Jeder wußte, wie die Geschichte der Tonarmee ausging. All jene, die sich so sehr nach der Entdeckung des Schatzes gesehnt hatten, waren nun so leblos wie die Tonsoldaten. Nur Lisolette tat mir ein wenig leid, die letztendlich nichts für das Ganze konnte. Ich verstummte, packte meine Pfeife wieder weg und die Aufzeichnungen ein. Nur die Japanerin mit dem seltsamen Lächeln sah etwas verstört aus. Schließlich stellte sie die letzte Frage: »Mr. Lawrence…«, meinte sie zaghaft, »Sie haben noch nicht gesagt, wer die Napalmbomben auf Sie geworfen hat…« 469
»Ich habe wohl noch nicht erwähnt«, nickte ich ernst, »daß Mr. Hardy und Mr. Leichenfresser in dem Brunnen, in dem sie vom Schwarzen Prinzen gefangengehalten wurden, ein Gespräch zwischen den Meos mitbekommen hatten, wonach man sich auf einen Bombenabwurf vorbereiten solle. Leider – oder zum Glück – wußten wir damit nichts so richtig anzufangen. Wenn wir es verstanden hätten, wären wir womöglich davongerannt, und dann hätte dieser Fall nie zu einem glücklichen Ende gebracht werden können. Die Behörden in Laos haben sich nämlich vorgenommen, die Rauschgiftplantagen der Meos zu vernichten. Dazu werfen sie regelmäßig Brandbomben über den betreffenden Gebieten ab, warnen vorher allerdings die Bevölkerung, daß sie sich davonmachen soll. Wir konnten das selbstverständlich nicht wissen. Und so kam es, daß die Bomben zwar unerwartet, aber genau zur rechten Zeit fielen und uns damit womöglich das Leben retteten. Gibt es noch Fragen?« Die gab es nicht.
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ir flogen tief und ganz dicht über den Wellen. Direkt unter uns spielte selbstvergessen eine Gruppe von Delphinen, als jage sie dem Schatten des Flugzeugs hinterher. Mal änderte die Schräglage etwas, und wir zogen in weitem Bogen über die Bucht. Die Sonne brannte mit glitzernden Strahlen, die Palmen winkten uns vom Strand aus glücklich zu. Mal verringerte die Geschwindigkeit, das Motorengeräusch wurde schwächer, und wir flogen wie eine riesige Möwe lautlos über dem Ozean. Noch ein Schwenker, und wir waren über einem Wald, und etwa fünf Minuten später näherten wir uns einer kleinen Berg470
kuppe mit einem großen, weißen Hotel. Unten war ein riesiger blauer Pool, und einige der Badenden winkten uns zu, als sie uns entdeckten. Mal blickte mich von der Seite her an. »Na? Wie findest du es?« »Wunderbar«, seufzte ich und lächelte dann. »Weißt du, was ich am liebsten machen würde?« »Was?« »Einen Monat hier mit dir alleine verbringen…«, antwortete ich und deutete hinunter auf das Hotelschwimmbecken und die blitzenden Fenster, hinter denen kühle Zimmer mit großen, französischen Betten auf die müden – oder gestärkten – Gäste warteten. »Wirklich?« »Natürlich!« Sie lächelte und hob die Nase der Maschine. »Was hält dich zurück?« »Die Pflicht«, stöhnte ich verbittert. »In zwei Tagen ist eine Konferenz in Barcelona…« Mal lächelte immer noch, als sie unter ihren Sitz griff und mir ein kleines Bündel überreichte. »Dann hier … ein Abschiedsgeschenk!« »Was ist das?« Ihr Lächeln wurde jetzt sehr rätselhaft – wie das einer thailändischen Liebesgöttin. »Öffne es!« Ich tat wie geheißen, und fuhr dann vor Überraschung laut auf. Es war eine etwa dreißig bis vierzig Zentimeter große Plastikfigur, jenen ähnlich, mit denen mich noch kurz zuvor Wilhelmina von Rottensteiner beglückt hatte. »Was … ist das?« stöhnte ich und sah abwechselnd zur Figur und zu Mal hinüber. »Schau es dir genau an!« Ich tat es. Und es gab einiges zu sehen. Es war Mal, ohne jeden Zweifel. Nur die Haare fielen etwas altmodisch aus, wie auf den Skulp471
turen, die vor Jahrhunderten angefertigt worden waren. Damit war es dann mit dem Altmodischen aber auch schon vorbei. Von der Bekleidung konnte man nämlich nur schwerlich dasselbe behaupten. Eigentlich hatte die kleine Figur überhaupt nichts an… Trotzdem war es Mal. Mit jeder verlockenden, verheißungsvollen Rundung, die ich an ihr kannte – und schätzte. Sie tat, als würde sie mir gar nicht zusehen, spielte nur mit dem Steuer. Schließlich zwinkerte sie mir verstohlen zu. »Na?« Ich dachte an Barcelona, an die vielen Vorlesungen, Unterhaltungen, die schweißtreibenden Sitzungen… Ich streckte den Zeigefinger aus und schob ihn ihr in die Seite. »Hände hoch! Diese Maschine wird entführt! Sofort landen!« Als wir auf dem kleinen Flughafen des Hotels landeten, sprang sie mir vor aller Augen in die Arme und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Und ich konnte nur hoffen, daß wir genügend Ausdauer für den nächsten Monat hatten. Ich und die Pandas. Während wir Hand in Hand zum Haupthaus schlenderten, dachte ich mir, daß wir es nach so vielen Morden und etlichen Abenteuern verdient hätten – sowohl wir als auch die Welt –, daß die Legende des Huan-Ti sich als wahr erweisen würde. Ich hoffte aus vollem Herzen, daß irgendwann einmal Archäologen das Grab mit den Tonsoldaten finden würden, vielleicht irgendwo in der Nähe der Großen Mauer. Dort, wo die Kämpfer dieser Zeit gelebt hatten. Und daß auch Huan-Ti dann seine Ruhe in dem freigelegten Grab fand, bewachten seine Soldaten ihn doch schließlich auf chinesischem Boden. Ein gutes Jahrzehnt später ging mein Traum in Erfüllung.
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