Alexander Mejerow
Der fliederfarbene Kristall Aufzeichnungen des Alexej Kurbatow
Wissenschaftlich-phantastischer Roma...
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Alexander Mejerow
Der fliederfarbene Kristall Aufzeichnungen des Alexej Kurbatow
Wissenschaftlich-phantastischer Roman
Verlag Volk und Welt Berlin
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Titel der Originalausgabe: Сиреневый кристалл Aus dem Russischen von Otto Braun
Gescannt von c0y0te.
KLeser Pegasus37 3. Auflage Verlag Volk und Welt/Kultur und Fortschritt, Berlin 1971 L.N. 3-285/104/71 Printed in the German Democratic Republic Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Einband: Lothar Reher Vor- und Nachsatz: Irmhild und Hilmar Proft Satz: VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 ――――――――――――――――――――――――――――――――――――― nicht seitenkonkordante Version ―――――――――――――――――――――――――――――――――――――
An den Leser .................................5 Statt eines Vorworts Der Schatz der Sternenwelten ..........7 Ein erregendes Erbe Das unverwüstliche Gewebe........... 30 Die Sage von Rokomo und Lawuma 40 Professor Wudrums Entdeckung ..... 66 Der Besuch bei Parzet ................... 92 Herr Schirast ............................. 120 Boris Schorpatschew................... 137 Das goldene Schiffchen ............... 170 Der fliederfarbene Kristall ............ 198 Das Erscheinen der Biosiliziten Wudrums Versteck ..................... 241 Die lebende Substanz ................. 289 Herr Asquith .............................. 317 Baokars Leichnam ...................... 347 Der Duftgenerator ...................... 391 Die Schildkröte .......................... 420 Mr. Foorn .................................. 452 Die Rodbariden .......................... 487 Der Informationsstrom 70.355.653 361.664 ................... 536 Die Jusgoriden ........................... 590 Das erste Signal ......................... 633 Der Flug ins All .......................... 665
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Wir sollen wissen, daß es auf der Welt keine gewaltigere Kraft gibt als die des vernünftigen menschlichen Willens. Wunder wirkt auf Erden die Vernunft, sie allein, und sonst niemand. Maxim Gorki
An den Leser Meine Aufzeichnungen über den fliederfarbenen Kristall halte ich keineswegs für druckreif; ich hatte vor, sie zu überarbeiten. Doch nachdem ich sie letztes Jahr abgeschlossen hatte, traten unvorhergesehene Umstände ein, so daß ich sie nicht einmal mehr durchlesen konnte. Und jetzt, da das Problem des Fluges ins Weltall endgültig gelöst ist, fehlt mir ganz und gar die Zeit, sie auszufeilen. Bis zum Start sind es nun noch achtundvierzig Stunden. Es ist bereits zu spät, noch etwas zu ändern oder zu verbessern. Ich schicke mich an, ins Ungewisse zu fliegen, und glaube fest, daß ich nicht nur zurückkehren, sondern auch über die ferne Welt und die vernunftbegabten Wesen dort schreiben werde. Vorläufig aber verfüge ich nur über diese Aufzeichnungen, die, unter dem frischen Eindruck der Ereignisse entstanden, vom Erscheinen der Siliziten auf unserer Erde berichten. Sie zeichnen sich weder durch Vollständigkeit noch durch Vollkommenheit in Form und Stil aus, aber ich hoffe, sie werden dem Leser helfen, vieles von dem 5
zu verstehen, was in den wissenschaftlichen Berichten und Zeitungsmeldungen unklar geblieben ist. Alexej Kurbatow
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Statt eines Vorworts Der Schatz der Sternenwelten Bevor ich daranging, meine Notizen zu ordnen, überlegte ich lange, wie ich das ungeheure Material, das sich in den Jahren meiner Arbeit am Rätsel des Siliziums bei mir angehäuft hatte, möglichst verständlich und interessant darlegen könnte Ich stand vor der schwierigen Frage: Womit beginnen? Mit dem Bericht über die Geschehnisse vor einem Jahrtausend? Mit der Erzählung dessen, was sich am Ende des vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts zugetragen und was sich in unseren Tagen ereignet hatte? Jede dieser Varianten war möglich und schien legitim, aber keine befriedigte mich. Zuletzt entschloß ich mich, fast mit dem Ende zu beginnen, nämlich mit dem Augenblick, da ich den fliederfarbenen Kristall in Amsterdam zum erstenmal mit eigenen Augen sah. Warum entschloß ich mich dazu? Ich weiß es selbst nicht recht. Wahrscheinlich deshalb, weil dieses Phänomen sozusagen das Herzstück der ganzen, jetzt wohlbekannten Siliziumgeschichte ist. Zur Besichtigung des fliederfarbenen Kristalls verspätete ich mich etwas, allerdings nicht durch eigene Schuld. Der „Fliegende Holländer“, in den ich in Prag aus 7
unserer strahlgetriebenen Linienmaschine umstieg, landete auf dem Flughafen Schiphol am Sonnabend, dem 29. August. Die Auktion war für den 10. September angesetzt, und ich rechnete damit, in der verbleibenden Zeit den Auftrag des Forschungsinstituts, das mich nach Holland geschickt hatte , ausführen zu können. Es kam jedoch anders. Bereits auf dem Flughafen erfuhr ich von Sergej Wassiljewitsch Uschakow, dem Mitarbeiter der Handelsvertretung, der mich abholte, daß die Auktion vorverlegt sei. Sie finde morgen statt, sagte er, und ich könne die geplante Untersuchung des fliederfarbenen Kristalls nicht mehr vornehmen. Meine Stimmung sank. Uschakow tröstete mich: „Wir tun unser möglichstes, damit Sie die Erlaubnis erhalten, den Tresorkeller der Diamantenfirma zu betreten. Gegen zwölf Uhr mittags bekommen wir Bescheid. Lassen Sie den Mut nicht sinken! Wir werden das Kind schon schaukeln. Jetzt aber wollen wir, wenn Sie nichts dagegen haben, in die Stadt fahren. Ihr Gepäck ist bereits im Wagen. Ich bringe Sie zum ,Victoria’, einem erstklassigen Hotel am Prins-HendrikKade. Das ist in der Altstadt. Dort können Sie altehrwürdige Häuser und Hafenspeicher bewundern. Die Gebäude stehen alle unter Denkmalschutz, damit sich der Besucher in die Zeit zurückversetzen kann, in 8
der die Holländer erstmals dem Meer Boden abgewannen. Der Hafen ist gleich nebenan. Da können Sie moderne Ozeanriesen sehen und den Schreierstoren besichtigen, wo einstmals die Frauen von ihren Männern Abschied nahmen, die in winzigen Koggen weite und gefährliche Seereisen unternahmen. Unweit des Hotels liegt der historische Nieuwe Markt mit dem Rathaus. Unbedingt müssen Sie ins Rijksmuseum gehen. Dort hängen Rembrandts Meisterwerke die ‚Nachtwache’ und die ‚Staalmeesters’. Ich persönlich schwärme mehr für Van der Helsts ,Friedensmahl der Schützen’. Sie sollten nicht versäumen, sich dieses großartige Gemälde anzusehen. Es lohnt sich auch, in den Vondelpark zu gehen, die Diamantenschleifer in der Zwanenburgerstraat zu besuchen und, natürlich, nach Zaandam zu fahren, wo das Häuschen steht, in dem Peter der Erste gewohnt hat. Kurzum, es gibt hier eine Menge Sehenswürdigkeiten. Sie sind doch zum erstenmal in Holland?“ So redete Uschakow eifrig auf mich ein. Sein liebenswürdiges, heiteres Wesen tat mir wohl, dennoch wurde ich den ärgerlichen Gedanken nicht los, daß ich umsonst gekommen war. Bevor wir in den Wagen stiegen, kauften wir die neuesten Zeitungen. Das hatte zur Folge, daß ich auf dem Weg von Shiphol 9
nach Amsterdam blind für die Umgebung war. Die Blätter wimmelten von Schlagzeilen und Artikeln über den fliederfarbenen Kristall und seine bevorstehende Versteigerung. Uschakow übersetzte mir das Wichtigste. Darüber vergaß ich ganz, daß ich durch eine Gegend fuhr, die für mich neu und fremd war, und mich der Stadt näherte, die ich seit langem zu besuchen gewünscht hatte. Damals wußten die Journalisten noch nicht allzuviel über den fliederfarbenen Kristall und stützten sich daher mehr auf ihre Phantasie als auf Fakten. Die Zeitungen hoben besonders das starke Interesse der wissenschaftlichen Institutionen vieler Länder, vor allem aber der bekannten Chemiekonzerne Nome Chansnepp und Austin Cart, an diesem Phänomen hervor. Über den Kristall schrieben sie Wahres und Erdichtetes kunterbunt durcheinander, Hauptsache, es war wortreich, knallig und sensationell. Die Besitzer des Steins konnten sich die Hände reiben – je toller die Spekulationen, desto höher der Preis! Sogar die Namen aller Personen waren angeführt, die zur Auktion nach Amsterdam gekommen waren. Auch mich hatte man nicht vergessen: „Der berühmte sowjetische Gelehrte Alexej Kurbatow ist in Amsterdam eingetroffen, um an der Auktion teilzunehmen.“ Das waren drei Lügen in 10
einem Satz. Erstens war ich kein berühmter Gelehrter. Zweitens war ich noch gar nicht angekommen, als die Zeitungen gedruckt wurden. Und drittens hatte mich niemand bevollmächtigt, den Kristall zu ersteigern. Das Hotel „Victoria“ war überfüllt. Ringsum sprach man von nichts anderem als dem Kristall und der Auktion, Phantasiesummen wurden genannt und hohe Wetten abgeschlossen. Das Börsenfieber um den kostbaren Stein, von dem noch vor einem Monat in Amsterdam kein Mensch etwas gewußt hatte, war aufs höchste gestiegen. Die Geschichte vom Auftauchen des fliederfarbenen Kristalls in Holland erfuhr ich aus verschiedenen, durchaus glaubwürdigen Quellen und kann sie in allen Einzelheiten erzählen. Ungefähr einen Monat vor meiner Ankunft in der Stadt brachte ein gewisser Dagir, der von der fernen Inselgruppe Pautoo stammte, einen Edelstein, den er für unerhört kostbar hielt, in die „Brillantenmetropole“. Tagaus, tagein lief er von einem Juwelier zum andern, aber zu seinem Erstaunen zeigte keiner Lust, den Stein zu erwerben. Alle betrachteten den fremdartigen lumineszierenden Kristall mit unverhohlenem Interesse, ja Entzücken, aber kaufen – nein. Er glich keinem der ge11
wöhnlichen, allbekannten Edelsteine, und das schreckte sie ab. Als Kenner aller Kostbarkeiten, die menschliche Habgier in Jahrhunderten angehäuft hatte, konnten sie sich des Verdachts nicht erwehren, daß es bei diesem Wunder von Kristall nicht mit rechten Dingen zuging. Schließlich war in unserem Zeitalter der wissenschaftlichen Zauberei und technischen Fertigkeit ein Betrug nicht unmöglich. „Das ist nicht das Richtige für uns. Es tut uns sehr leid. Sie haben sich einen so weiten Weg gemacht, aber… Ja, wenn Sie einen Diamanten von dieser Größe hätten, oder einen Smaragd! Wenn Sie uns etwas Derartiges anbieten können, kommen Sie bitte wieder. Vergessen Sie unsere Adresse nicht. Hier – unsere Karte. Kommen Sie unbedingt wieder vorbei.“ Der Pautooaner besaß keinen Diamanten „von dieser Größe“. Auch einen Smaragd besaß er nicht. Er hatte nur den fliederfarbenen Kristall, den niemand kaufen wollte. Jedenfalls glaubte das Dagir, der nicht ahnte, daß die Agenten des Chemiekonzerns Chansnepp bereits hinter ihm her waren. Enttäuscht über seinen Mißerfolg in Holland, überlegte er, ob er sein Glück nicht in anderen Ländern versuchen sollte. Vor der Abreise wollte er jedoch, um ganz sicherzugehen, noch den berühmten Beiss aufsuchen. Als der alte Edelsteinfachmann 12
hörte, daß Dagir ein außergewöhnliches Juwel von Pautoo mitgebracht hatte, empfing er den Inselbewohner. Über den Kristall geriet er in helle Begeisterung und erklärte, auf der Erde gebe es nichts Ähnliches. Er nannte ihn einen „Schatz der Sternenwelten“, weigerte sich jedoch, den Wert des Steins zu schätzen. Herr Malbay, ein Agent Chansnepps, hielt nun die Zeit für gekommen, den Stein für einen Pappenstiel zu erwerben, und machte Dagir ein Angebot. Die Wirkung, die er damit erzielte, war verblüffend. Der schlaue und mißtrauische Pautooaner erfaßte sofort, daß man sich trotz allem für seinen fliederfarbenen Kristall interessierte. Um nicht übers Ohr gehauen zu werden, stimmte er dem Handel unter der Bedingung zu, daß einige stadtbekannte Juweliere den von Malbay genannten Preis für angemessen befänden. Für Herrn Malbay war es kein Kunststück, sich mit den Juwelieren zu verständigen. Viele fanden sich jetzt zu einer Schätzung bereit, für die eine hohe Vermittlungsgebühr zu erwarten war. Aber einige von ihnen teilten der angesehensten Diamantenfirma der Stadt brühwarm mit, daß der größte europäische Chemiekonzern Chansnepp-Kautschuk einen seltenen Edelstein, eben den fliederfarbenen Kristall, zu erwerben trachte. Die Firma beschloß, die günstige Gelegenheit 13
beim Schopf zu packen und in das Geschäft, das großen Gewinn verhieß, selbst einzusteigen. Um diese Zeit erlebte Dagir einen rätselhaften Überfall. Eines Abends stieg er am Bellamyplein aus dem Bus, um in den Gasthof zu gehen, wo er wohnte. In der schmalen Kinkerstraat, die selbst tagsüber wenig belebt ist, war es zu dieser Stunde fast menschenleer. Dagir wußte, daß niemand hinter ihm ging. Trotzdem spürte er plötzlich einen Stoß im Rücken. Als er sich rasch umdrehte, erblickte er einen länglichen dunklen Gegenstand, der an eine große, gerade Gurke erinnerte. Die „Gurke“ schwebte in der Luft, unbeweglich und bedrohlich. Erschrocken wich Dagir zurück. Die „Gurke“ näherte sich seiner Brust, auf der er, in einer kleinen Büchse verborgen, den Kristall wie ein Amulett trug. Er spürte eine warme Welle, die von dem geheimnisvollen dunklen Körper ausging, und einen zunehmenden Druck auf die Brust. Mit der Hand das kostbare Amulett an sich pressend, rannte er spornstreichs davon. Die wenigen Passanten wichen beim Anblick des Mannes, der in wilder Flucht durch die friedliche Straße hetzte, befremdet zurück. Einer von ihnen behauptete später sogar, er habe einen seltsamen Gegenstand bemerkt, der dem mit flattern14
dem Mantel davonrennenden Pautooaner nachgeflogen sei. Dagir rettete sich vor der Verfolgung in seinen Gasthof. Am nächsten Tag schien es ihm, als tauche die „Gurke“ abermals hinter ihm auf. Er sprang kurzerhand in ein Taxi und fuhr zum Büro der Diamantenfirma. Als er aus dem Wagen stieg, spürte er deutlich wieder einen Stoß in den Rücken. Aber diesmal wandte er sich nicht um, sondern lief schnurstracks ins Vestibül. Diese merkwürdigen Überfälle beschleunigten den Gang der Ereignisse. Dagir verkaufte den fliederfarbenen Kristall zu einem etwas höheren Preis, als ihm Malbay geboten hatte, an die Diamantenfirma. Sicherlich atmete er danach erleichtert auf. Für die Firma jedoch brach eine aufregende Zeit an. In den ersten Tagen blieb alles ruhig. Der fliederfarbene Kristall lag wohlverwahrt in den Räumen der Firma, und der Direktor maß der Erzählung Dagirs von den Überfällen der „Gurke“ auf ihn keinerlei Bedeutung bei. Ihn beschäftigte nur die Frage, wie er den einzigartigen Kristall so teuer wie möglich weiterverkaufen könne. Malbay, der die Gelegenheit versäumt hatte, den Kristall unmittelbar von Dagir zu kaufen, versuchte jetzt, ihn von der Diamantenfirma zu erwerben. Aber auch hier 15
hatte er kein Glück. Es sprach sich herum, daß sich der von Austin Cart geleitete Chemiekonzern, der mit dem ChansneppKautschuk-Konzern in scharfem Konkurrenzkampf stand, gleichfalls für den fliederfarbenen Kristall interessierte. Carts Agenten boten bereits einen höheren Preis als Malbay. Ein glänzendes Geschäft stand der Diamantenfirma in Aussicht. Der mit allen Wassern gewaschene Direktor verstand es, die Sache in großem Stil aufzuziehen. Er versandte eine Beschreibung des pautooanischen Phänomens an wissenschaftliche Institutionen in aller Welt. Dem folgte die höfliche Einladung, an der Untersuchung des Kristalls und, sofern der Wunsch bestehe, an seiner Versteigerung teilzunehmen. Ich machte mich mit den Forschungsergebnissen über den fliederfarbenen Kristall bekannt, studierte auch höchst aufmerksam die Protokolle und Aktennotizen, die auf die rätselhaften Überfälle Bezug nahmen, und überzeugte mich, daß Dagir in der Tat allen Grund gehabt hatte, sich raschestens seines kostbaren Schatzes zu entledigen. Heute, da wir schon eine ganze Menge über den fliederfarbenen Kristall wissen, lassen sich die Vorkommnisse, die sich um jene Zeit in Amsterdam abspielten, leicht erklären, damals jedoch… 16
Auf die Einladung der Diamantenfirma hin schickten einige wissenschaftliche Institute ihre Vertreter nach Amsterdam. Die Gelehrten stellten sogleich fest, daß der Kristall wirklich ein Rätsel darstellte und Eigenschaften besaß, die kein irdisches Gestein aufweist. Diese Nachricht verbreitete sich mit Blitzesschnelle, wie das in unserer Zeit bei sensationellen Neuigkeiten gang und gäbe ist. Für die Diamantenfirma war das die beste Reklame. Doch eines Tages geschah etwas Unerhörtes. Alarmsignale durchschrillten alle Räumlichkeiten der Firma. Sie gaben Kunde von einem Überfall, wie er in der achtzigjährigen Geschichte des Hauses einzig dastand, Ich eilte auf kürzestem Weg ins Gebäude der Firma und unterhielt mich mit vielen Augenzeugen des Vorfalls. So gewann ich ein ziemlich klares Bild. Im fünften Stock war ein geräumiges Zimmer als Laboratorium eingerichtet worden. Dort wurde der Kristall mit allen zu jener Zeit verfügbaren Hilfsmitteln untersucht. Am Sonnabend, dem 22. August, also genau eine Woche vor meiner Ankunft in Amsterdam, war für zwei Uhr mittags die fällige Zusammenkunft der Gelehrtenkommission angesetzt. Anwesend war auch der Direktor der Firma, Herr Jongel, der den Versammelten den Beschluß des 17
Verwaltungsrats mitteilte, die Auktion am 10. September stattfinden zu lassen. Bis dahin, versicherte er, würden die Gelehrten die Möglichkeit haben, die Untersuchung des Kristalls in aller Ruhe fortzusetzen. In diesem Augenblick klirrte zersplitterndes Glas, als kämen ein paar große Steine durch die Spiegelscheiben der riesigen Fenster geflogen. Im Zimmer erschienen plötzlich drei längliche dunkle Gegenstände. Sie schwebten über dem Tisch, um den sich die Sitzungsteilnehmer drängten. Langsam näherten sie sich einander und senkten sich gleichzeitig zu der Stelle herab, wo der fliederfarbene Kristall lag. Sobald sich die Entfernung zwischen ihnen und dem Kristall auf ungefähr anderthalb Meter verringert hatte, begann sich dieser, zusammen mit der Glasglocke, die ihn bedeckte, stetig zu heben, den bräunlichen Gegenständen entgegen, die über ihm in der Luft hingen und eine fühlbare Wärme ausstrahlten. Schwer zu sagen, was die Anwesenden bei diesem Anblick empfanden, sicher ist jedoch, daß sie alle fassungslos vor sich hin starrten. Nur zwei bewahrten ihre Geistesgegenwart: ein Zeitungsreporter und der Direktor. Der Reporter ließ sich die einmalige Chance nicht entgehen und knipste rasch entschlossen den Vorgang. 18
Herr Jongel bewies, daß er in seinem Beruf nicht weniger tüchtig war. Man hörte wieder das Klirren von zersplitterndem Glas – der Direktor hatte die Glasglocke beiseite geschleudert und umkrampfte den kostbaren Stein mit der Faust. Kaum war dies geschehen, bewegten sich die länglichen Gegenstände ratlos hin und her, schossen auf die Hand des totenbleichen Jongel zu, flüchteten dann in die fernen Ecken des Raums und verschwanden schließlich ebenso überraschend, wie sie erschienen waren. Wie und wohin sich die geheimnisvollen Gegenstände verflüchtigten, die seit kurzem auf der Jagd nach dem fliederfarbenen Kristall Amsterdam unsicher machten, wußte niemand zu sagen. Für die Diamantenfirma, die damit gerechnet hatte, sich an dem Pautooaner Phänomen ohne sonderliche Mühe zu bereichern, kamen unruhige Tage. Noch am selben Abend wurde der Verwaltungsrat einberufen. Seine Mitglieder beschlossen, die Auktion auf den 30. August vorzuverlegen, um das rätselhafte und gefahrvolle Kleinod so rasch wie möglich loszuwerden. Der Beschluß wurde einstimmig gefaßt, denn es gab jetzt genug Leute, die den Kristall in ihren Besitz bringen wollten. Einen solchen Reklametrick wie den gespenstischen Raubüberfall im Laboratorium hätte sich der gewiegte19
ste Werbefachmann nicht ausdenken können. So standen die Dinge bei meiner Ankunft in Amsterdam. Der fliederfarbene Kristall wurde jetzt im Tresorkeller der Diamantenfirma aufbewahrt. Uschakows Bemühungen, ihn durch mich untersuchen zu lassen, blieben erfolglos. Herr Jongel gab sich liebenswürdig und verständnisvoll, ja erbot sich sogar, mich in den Tresorkeller zu begleiten und mir den Kristall noch vor der Auktion zu zeigen. Ihn ins Laboratorium bringen zu lassen lehnte er jedoch strikt ab. Dieses Risiko wollte er nicht mehr eingehen. Ich mußte mich mit einer Besichtigung des Edelsteins begnügen. Im Tresorkeller der Firma waren alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um einen Raub des rätselhaften Kleinods zu verhindern. Wir gingen aus einer Stahlkammer in die andere, und jedesmal schloß sich hinter uns automatisch die Tür. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich bei dem Gedanken, die Automatik könne versagen und ich bliebe auf ewig hier eingeschlossen. Jede Kammer wurde eingehend daraufhin untersucht, ob vielleicht Kristallräuber eingedrungen seien. Erst dann öffnete sich auf ein von Herrn Jongel gegebenes Codesignal die nächste Stahltür vor uns. Diese „Schleusung“ nahm ziemlich 20
viel Zeit in Anspruch. Endlich betraten wir die letzte Stahlkammer. Dort erblickte ich zum erstenmal den fliederfarbenen Kristall, dem bestimmt war, in meinem Leben eine einzigartige Rolle zu spielen und der Sammelpunkt alles dessen zu sein, was uns Menschen den Vorstoß ins bisher unzugängliche Weltall ermöglichen würde. Doch davon ließ ich mir damals, in der schwach erhellten Stahlkammer, noch nichts träumen. Allerdings begriff ich schon in diesem Moment, daß ich tatsächlich etwas ganz Außergewöhnliches vor mir hatte. Der Kristall war etwa so groß wie ein Taubenei. Er strahlte ein sanftes fliederfarbenes Licht aus. Durchsichtig klar, spielte er in allen Schattierungen von Hellblau bis Dunkellila. Die Quelle des weichen, aber intensiven Lichts schien sich in ihm selbst zu befinden. Wie lebendig funkelte er nun in fliederfarbener Glut, durchsetzt mit blutroten Fünkchen, um dann plötzlich violett aufzuleuchten. Die fliederfarbenen Strahlen, die von seinen Facetten ausgingen, wurden bald kürzer, bald länger und bildeten eine Art Aureole um ihn. Ich gestehe, daß es mir, obwohl mich Edelsteine sonst gleichgültig lassen, nicht leichtfiel, den Blick von diesem zauberhaften Juwel loszureißen. Ich wünschte, ich könnte es in der ausgestreckten Hand halten und unablässig bewundern. 21
Doch dazu war keine Zeit. Die Diamantenfirma hatte es eilig. Die Auktion war auf den nächsten Tag angesetzt. So konnte ich den ungewöhnlichen Stein nicht näher untersuchen, sondern ihn nur flüchtig besichtigen. Den Verlauf der Auktion will ich nicht im einzelnen schildern. Es genügt, zu sagen, daß sie nicht nur Geschäftsleute und Gelehrte anzog, sondern auch eine Menge neugieriger Müßiggänger, sensationslüsterner Reporter und natürlich auch reicher Damen, die kostbaren Schmuck lieben. Die unsinnigsten Gerüchte liefen um über den zu versteigernden Kristall und über seine verlockenden und gefährlichen Eigenschaften. Man sprach davon, er sei, ähnlich dem berühmten Orlow, der das russische Zepter geziert und vorher einer Brahmastatue als Auge gedient hatte, ebenfalls einer Gottheit zugehörig und ein Auge des altpautooanischen „Himmlischen Gastes“ gewesen. Man erinnerte an andere weltberühmte Edelsteine, wie den Regent, den Stern des Südens und den Kohinoor (der übrigens in Amsterdam geschliffen worden war), erzählte einander von den Abenteuern, die die Besitzer dieser Steine erlebten, und von deren zuweilen blutiger Geschichte. Jemand streute das Gerücht aus, der Pautooaner Dagir, der den fliederfarbenen Kristall vor kurzem an die Diamantenfirma 22
verkauft habe, sei elendiglich umgekommen. Kurzum, die Erregung des Publikums stieg immer höher, die Leidenschaften entbrannten, Wetten über den Ausgang der Versteigerung wurden abgeschlossen. Dann trat erwartungsvolle Stille ein. Die Auktion begann. Sogar mir, einem in solchen Dingen gänzlich unerfahrenen Mann, wurde ziemlich bald klar, daß die Bemühungen der Vertreter wissenschaftlicher Institutionen, den Stein für Forschungszwecke zu erwerben, von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Genaugenommen wurde der Kampf ausschließlich zwischen den Agenten der beiden großen Chemiekonzerne ausgetragen, die nach Meinung der auf der Auktion anwesenden Gelehrten etwas über den Kristall wissen mußten, das sie veranlaßte, die Angebote wechselseitig hochzutreiben. In dem Wettlauf lag bald der eine, bald der andere vorn. Einen Augenblick lang schien es, als hätte der Konzern Austin Carts das Rennen gemacht, aber die Agenten Nome Chansnepps boten einen noch höheren Preis. Ein Hammerschlag. Gespannte Stille. Eine solche Stille, daß ich unwillkürlich dachte: Warum dringen in den Auktionssaal, wo der Kristall auf einem hohen Sockel unter einer doppelten Glasglocke liegt, nicht die geheimnisvollen und offenbar mächti23
gen Wesen ein, die ihm bisher nachgejagt sind? Was für eine ergötzliche Szene gäbe das hier, in dem überfüllten Saal! Ein zweiter, ein dritter Hammerschlag. Der fliederfarbene Kristall gehörte dem Chansnepp-Kautschuk-Konzern. Sofort nach der Auktion wurde das Kleinod unter außerordentlichen Vorsichtsmaßnahmen in ein gepanzertes Transportauto gebracht. Eine spezielle Wachmannschaft nahm in diesem „Panzersafe“ Platz. Acht bewaffnete Kradfahrer umringten den fahrbaren Tresor. Es war ein eindrucksvolles Bild. Uschakow mahnte zur Eile. Er machte geltend, daß uns andernfalls diese Prozession den Weg versperren würde. Wir fuhren also los, schlängelten uns geschickt zwischen den Autos durch, die vor dem Gebäude parkten, in dem die Auktion stattgefunden hatte, und befanden uns alsbald wenige Häuserblocks hinter der langsam fahrenden Eskorte, die auf die Utrechter Chaussee zuhielt, um den kostbaren Schatz schnellstens ins Ausland zu schaffen, ins Forschungsinstitut des Chansnepp-Kautschuk-Konzerns. Ich glaubte schon, die Abenteuer dieses Tages seien nun zu Ende. Aber mitnichten. Wir näherten uns eben erst dem Waterlooplatz, als wir schon die Sirenen von Polizeiautos hörten. Ein ganzer Schwarm von 24
ihnen raste zum Nieuwe Markt. Kein Zweifel: Auf Chansnepps Neuerwerbung war ein Überfall im Gange! Über die Mißlichkeiten des Straßenverkehrs in alten Großstädten ist schon viel geschrieben worden, mitunter Scharfsinniges und fast immer Nutzloses. Ich möchte mich um so weniger über dieses Thema verbreiten, als ich nicht weiß, ob Amsterdam die schmalsten Straßen der Welt hat. Soviel aber weiß ich, daß der Verkehrsfluß in der zentral gelegenen Altstadt äußerst gehemmt ist. Obwohl die Fußgänger mustergültige Ordnung halten, gibt es immer wieder Stockungen. Zu einer solchen Verkehrsstockung war es auch auf dem Nieuwe Markt gekommen, als die Prozession mit dem Kristall dort anlangte. Infolgedessen mußte ein Bus der Linie 11 anhalten, als er auf den Platz einbiegen wollte. Dahinter stauten sich andere Kraftwagen, und das Panzerauto war gezwungen, samt seiner Eskorte mitten auf dem Platz zu stoppen, nur zehn bis fünfzehn Meter vom alten Stadttor entfernt, in dem heute ein Archiv untergebracht ist. Und da geschah es! Wir wollten um jeden Preis zum Schauplatz der Ereignisse vordringen. Uschakow, der sich in den winkligen Gassen der Altstadt gut auskannte, lotste uns in wenigen Minuten, findig die Straßen vermeidend, 25
durch die die Streifenwagen der Polizei rasten, zum Nieuwe Markt. Vom Verdeck unseres Wagens aus übersahen wir den Platz, das Panzerauto, die ihn bewachenden Kradfahrer und die sich an die Häuserfront drückenden Menschen. Rings um den Nieuwe Markt, auf allen anliegenden Straßen und an den Kanalufern, ruhte der Verkehr. Auf der Brücke über den Gelderskanal standen Dutzende von Kraftwagen, auf deren Verdecks ebenfalls Neugierige die Hälse reckten. Bewaffnete Polizeiabteilungen rückten von allen Seiten an und bahnten sich mit Gewalt einen Weg durch die verstopften Zugänge. Selbstverständlich fehlten auch die Reporter nicht. Einer von ihnen hatte sich in den Ästen eines hohen Baums niedergelassen und schwenkte von dort aus seine Filmkamera über den ganzen Platz. Auf den ersten Blick konnten wir nichts Auffälliges feststellen. Wir waren uns völlig im unklaren über die Ursache dieses Chaos. Als wir den Nieuwe Markt erreichten, herrschte dort absolute Stille. Erst später erfuhren wir, wie und womit alles begonnen hatte. Als das Panzerauto, durch die Stauung aufgehalten, auf dem Platz hielt, attackierten es einige „Gurken“. Die Kradfahrer eröffneten das Feuer auf sie. Alarm wurde gegeben. Ohne auf das Feuer der Maschinenpistolen zu achten, versuchten 26
die Angreifer, in das Panzerauto einzudringen. Die Lage der darin sitzenden Wachmannschaft war schwierig. Auf die Angreifer konnten sie nicht schießen, wenn sie nicht riskieren wollten, Unbeteiligte zu treffen. Die Angreifer aber drangen immer hartnäckiger auf den Wagen ein. Sie prallten gegen die Stahlwände und krochen unters Fahrgestell, fanden aber nirgends eine Ritze oder Spalte. Schließlich versuchten sie, Löcher in die Panzerung zu brennen. Ein Feuerwerk gleißendvioletter Funken sprühte, und Schwaden fliederfarbenen Rauches hüllten das Panzerauto ein. All dies entnervte die MPi-Schützen. Die endlich eintreffende Polizei war ebenfalls machtlos. Aber alle schossen, meistenteils in die Luft, um sich selbst Mut zu machen. Der altertümliche Platz, einstmals der friedliche, von buntem Treiben erfüllte Fischmarkt der Stadt, verwandelte sich in ein Schlachtfeld. Eine heillose Verwirrung herrschte, denn noch niemand hatte jemals gegen so ungewöhnliche Räuber kämpfen müssen. Als wir auf das Verdeck unseres Wagens stiegen, befanden sich schon keine Angreifer mehr beim Panzerauto. Die Rauchschwaden verzogen sich und verschwanden irgendwo hinter dem Spitzturm der Neuen Kirche. Alles beruhigte sich. Aber jeder befürchtete im stillen, daß die Attak27
ke erneuert werden könnte. Die Polizei drängte die Menge der Neugierigen zurück, die bei der Schießerei wenig Angst gezeigt hatten, die Kradfahrer nahmen ihre Plätze wieder ein, und das Panzerauto fuhr an. In diesem Augenblick traf es aus blauem Himmel ein Hagel von „Steinen“. Das Panzerauto begann sich zu heben. Schon kreisten seine Räder hilflos in der Luft, schon schwebte es in Kopfeshöhe über den Platz. Immer mehr der rätselhaften dunklen Gegenstände flogen auf den Wagen zu, als kämen sie aus dem Nichts, und umschwärmten ihn von allen Seiten. Und er stieg unaufhaltsam in die Höhe. Nun schwebte er über den achtflächigen Pyramiden, die das niedrige Torgebäude krönen. Hier verhielt er für kurze Zeit reglos, schlug dann die Richtung zur Damrakstraat ein und wandte sich schließlich entschlossen nach Norden. Er flog über die Zeedijkstraat und näherte sich der St.Nicolaas-Kirche, die man vom Nieuwe Markt aus gut sieht. Einige Minuten vergingen, in denen das Panzerauto zusehends kleiner wurde. Jetzt erhob es sich schon über die silbergrüne Kuppel der Kathedrale. Hier drehte es nach Osten ab. Bald darauf war es nur noch ein kaum sichtbares Pünktchen und verschwand zuletzt mitsamt dem fliederfarbenen Kristall und der Wachmannschaft. 28
Auf dem Platz herrschte Totenstille. So still war es nicht einmal im Auktionssaal während des Zuschlags gewesen. Benommen kletterten wir vom Verdeck unseres Wagens und blickten um uns. Das Schweigen hielt an. Als erstes hörten wir den Ausruf eines fixen Bürschchens, das ebenso wie wir den ungewöhnlichen Vorfall beobachtet hatte: „Das ist ‘n Ding!“
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Ein erregendes Erbe Die Steine sind stumm, wenn der Mensch sie nicht zum Sprechen zwingt. Maxim Gorki
Das unverwüstliche Gewebe Ich habe meine Aufzeichnungen mit einer Schilderung der Umstände begonnen, unter denen ich den fliederfarbenen Kristall erstmals zu Gesicht bekam. Auf das Siliziumrätsel war ich schon viel früher gestoßen, etwa zwei Jahre vor meiner Reise nach Amsterdam. Das war rein zufällig gewesen. Ich arbeite damals am Leningrader Institut für kosmische Chemie und befaßte mich hauptsächlich mit der Erforschung von Meteoriten, vorwiegend solchen, bei denen sich Anzeichen organischer Einschlüsse nachweisen ließen. Als man unsere Gruppe beauftragte, einen Fund des Archäologieprofessors Mursarow zu untersuchen, waren wir erstaunt und verärgert. Das hieß, daß wir die Erforschung eines Meteoriten, in dem wir Mikroorganismen entdeckt hatten, zurückstellen mußten. Außerdem stand dieser Fund unserer Meinung nach in keinerlei Beziehung zu unserer Arbeit. Wahrscheinlich aber war Mursarows Wahl gerade auf mich gefallen, weil 30
er meine Vorliebe für alles Ungewöhnliche und meine Beschlagenheit in der Chemie organischer Siliziumverbindungen kannte. Jedenfalls setzte er es durch, daß unserer Gruppe die Untersuchung seines einzigartigen Fundes übertragen wurde. Gleich bei seinem ersten Besuch erzählte uns Hanan Borissowitsch Mursarow, bei den Ausgrabungen auf dem Gelände der alten Stadt Uraschtu in Zentralasien sei vor kurzem ein Stück ungewöhnlichen Stoffes gefunden worden. Offen gesagt, machte diese Mitteilung zuerst keinerlei Eindruck auf uns. Die meisten von uns dachten sogleich an einen Fetzen vermoderten, groben Gespinstes, das die Historiker aus Überlegungen heraus, die uns Chemikern verworren erschienen, für schrecklich aufregend und kostbar hielten. Doch als Hanan Borissowitsch in seiner Erzählung fortfuhr, ging mir ein Licht auf. Die meisten Archäologen sind in ihrem tiefsten Herzen phantasiebegabte Dichter. Sie können sich bildhaft vorstellen, wie das Leben in einer ausgegrabenen Stadt vor tausend Jahren pulsierte, und verstehen es, diese Stadt ihren Zeitgenossen plastisch vor Augen zu führen. In der Schilderung von Professor Mursarow gewannen die Ausgrabungen tatsächlich Leben. Es bedurfte nur einiger begeistert erzählter Episoden, und schon sahen wir die volkrei31
che alte Stadt vor uns, von grellem Sonnenlicht überflutet und von der Farbenpracht bunter Gewänder erfüllt. Wir malten uns aus, wie erschöpfte Karawanen zu dieser Oasenstadt zogen und von der Wüstenglut ausgedörrte Menschen in ihren schattigen Gärten Zuflucht suchten. Die Archäologen sehen und fühlen das alles, während sie Zoll um Zoll jahrhundertealten Flugsand abtragen und Gebäudereste, Geschirrscherben, Stoffund Teppichstücke davon säubern. Aus vermoderten Fetzen und verwitterten Trümmern setzen sie ein Mosaikbild längst vergangener Zeiten zusammen. So war es auch in Uraschtu. Die Ausgrabungen zeigten den Archäologen die alte Stadt bereits so, wie sie vor Jahrhunderten gewesen war, doch alles wurde in den Schatten gestellt von einem Stück Stoff, das den Forschern dabei in die Hände fiel. Es war ein erstaunlicher Fund. Die Farben sahen so frisch und das Gewebe so neu aus, als wäre die Zeit spurlos daran vorübergegangen. Hanan Borissowitsch öffnete eine Mappe und zog ein großes, dickes Stück Karton heraus, auf den sein Fund aufgespannt war. Hätten Mursarows Name und sein Ruf als Wissenschaftler nicht für die Wahrheit des Erzählten gebürgt, so hätte wohl keiner von uns geglaubt, daß dieses Gewebe 32
mindestens siebenhundertfünfzig Jahre in den Ruinen der Stadt Uraschtu lag. Es schien tatsächlich völlig unberührt von der Zeit und soeben erst aus der Werkstatt eines unübertroffenen Meisters hervorgegangen zu sein. Die klaren Farbtöne, die feine Zeichnung des Musters und die saubere Machart dieses zugleich weichen und festen, fast durchsichtigen und doch äußerst haltbaren Stoffes überzeugten uns davon, daß es sich wirklich um einen außergewöhnlichen Fund handelte. Vor uns lag ein unverwüstliches Gewebe. Kein Wunder, daß wir Chemiker, von höchster Achtung für die Archäologen erfüllt, nun alles daransetzten, um den Ursprung des erstaunlichen Erzeugnisses aufklären zu helfen. Dabei gingen die Meinungen sofort auseinander. Zwei Parteien bildeten sich, eine „irdische“ und eine „kosmische“. Die größten Heißsporne vertraten die Ansicht, der Stoff, der aus einer Art Glasfaser gewebt war, könne keinesfalls vor sieben oder acht Jahrhunderten hergestellt worden sein. Die Annahme, irgendwelche Völker des Altertums seinen imstande gewesen, derartige synthetische Fasern zu erzeugen, bezeichneten sie als absurd. Man müsse sich fragen, ob das Gewebe nicht von der Kleidung außerirdischer Wesen stamme, die in grauer Vorzeit 33
die Erde besucht hätten. Solle man nicht in der Umgebung von Uraschtu eingehendere Nachforschungen anstellen? Vielleicht könne man außer diesem kleinen Tuchfetzen weitere Beweise für die Landung vernunftbegabter kosmischer Lebewesen auf unserer Erde finden? Es sei nicht wichtig, daß bisher nur dieses winzige Belegstück aus dem Unbekannten vorliege. Jeder noch so lange Weg beginne mit dem ersten Schritt, nicht selten liege einer großen wissenschaftlichen Entdeckung eine kleine, an und für sich unbedeutende Tatsache zugrunde. Hanan Borissowitsch lächelte erfreut über den Enthusiasmus, den unsere vorwiegend aus jungen Leuten zusammengesetzte Gruppe seinem Fund entgegenbrachte, vertrat jedoch energisch den „irdischen“ Standpunkt. Sobald die erste Erregung etwas abgeklungen war, machten wir uns im Institut an die Untersuchungen. Je mehr wir das Gewebe erforschten, um so mehr Rätsel gab es uns auf. Die chemische Analyse ergab, daß es zu sechsundvierzig Prozent aus Silizium bestand. Unter dem Mikroskop war zu sehen, daß es sich bei den Fäden um Pflanzenfasern handelte, die aber durch irgendwelche unbegreiflichen Prozesse glasartig, durchsichtig und praktisch unverwüstlich geworden waren und auch die Frische der Farben bewahrt hatten. Das war 34
ein harter Schlag für die Verfechter einer kosmischen Herkunft des Gewebes. Aber sie steckten nicht auf, sondern führten ins Feld, daß es in der Welt, aus der die Gäste gekommen seien, logischerweise auch Pflanzenwuchs gegeben haben müsse. Wenn ich hier das Fürwort „sie“ gebrauche, so will ich damit ausdrücken, daß ich mich von der „kosmischen“ Partei abgrenzte. Bedeutete dies, daß ich Mursarows Standpunkt teilte? Durchaus nicht! Mir schien die Wahrheit in der Mitte zu liegen, ein rationeller Kern in der Hypothese sowohl Mursarows als auch in der seiner Gegner enthalten zu sein. Und so merkwürdig es klingen mag, gerade diese Vermutung kam, wie sich herausstellen sollte, der objektiven Wahrheit am nächsten. Der Fund der Archäologen erregte sehr bald die Aufmerksamkeit von Gelehrten verschiedener Fachrichtungen. Je mehr Menschen indessen das Rätsel zu lösen versuchten, um so verschiedenartigere und widerspruchsvollere Meinungen prallten aufeinander. Einmütigkeit bestand nur darin, daß das Gewebe auf eine Art hergestellt war, die niemand kannte. Wo, wann und von welchem Volk aber war es hergestellt worden? Das vor allem wollten wir herausfinden. Anhand des Musters bewiesen die Fachleute einwandfrei, daß das Gewebe nicht im alten Uraschtu hergestellt 35
sein konnte. Professor Mursarow bestritt das nicht. Er hielt es für wahrscheinlich, daß es aus einem anderen Lande eingeführt worden war. Doch auch diese Annahme brachte uns nicht weiter. Den Historikern war ziemlich gut bekannt, mit welchen Staaten die vor achthundert Jahren blühende Stadt Uraschtu Handel getrieben hatte. In keinem dieser Länder waren damals unverwüstliche Gewebe hergestellt worden, kein einziges Volk kannte zu jener Zeit das Geheimnis der Silifizierung von Pflanzenfasern. Die Aufgabe schien unlösbar zu sein. Die „kosmische“ Partei frohlockte. Was mich betraf, so hatte ich alles getan, was von mir abhing. Sämtliche chemischen Analysen lagen vor. Im Grunde genommen ging mich das Stück Stoff, das auf so wunderbare Weise hergestellt war, nichts mehr an. Aber ich wurde das Gefühl nicht los: Damit ist der Faden gerissen, der mich so verlockend mit dem Ungewöhnlichen verbunden hat, das in mein Leben eingedrungen ist. Seit ich das geheimnisvolle Gewebe in der Hand gehalten hatte, das durch die Jahrhunderte hindurch zu uns gekommen war, wußte ich, daß mich das Siliziumrätsel nicht mehr loslassen würde. Zunächst konnte ich nichts weiter tun, als mich so oft wie möglich mit Hanan Bo36
rissowitsch zu treffen. Unmerklich für mich selbst wurde ich zu seinem freiwilligen Helfer. Wir verbrachten jetzt viele Abende miteinander und zerbrachen uns die Köpfe über der selbstgestellten Aufgabe. Hanan Borissowitsch war ein Mensch, der geradewegs auf sein Ziel losging. Hindernisse störten ihn nicht, alles Überflüssige warf er beiseite. Und sein Ziel war, das Ursprungsland seines einzigartigen Fundes zu entdecken. Dazu mußten wir alle Gewebe, die es überhaupt gab, von Grund auf studieren. Wir reisten nach Moskau, wo zu dieser Zeit eine reichhaltige Ausstellung von Stoffen aller Art zu sehen war. Besonders faszinierten uns die dekorativen Seidengewebe des Orients, vor allem Indiens. Professor Mursarow wanderte unermüdlich an den Vitrinen entlang, in denen die Gewebe aus China, Indien, Persien und Korea, aus Pautoo, Vietnam, Japan und dem Vorderen Orient hingen. Er suchte und suchte. Immer wieder durchschritt er alle Säle, blieb oft stehen, setzte sich, schrieb und zeichnete. Nichts entging seinem scharfen Blick. Am häufigsten und längsten verweilte er vor den Vitrinen mit den Geweben aus dem alten Pautoo. Eines Tages, es war schon spät am Abend, und wir lenkten unsere Schritte dem Ausgang zu, machte er plötzlich mit 37
einem Ruck kehrt, ging auf die pautooanischen Stände zu und sagte leise, fast flüsternd: „Hier! Das ist die Heimat unseres Siliziumstoffes. Das Gewebe stammt von der Inselgruppe Pautoo. Davon bin ich jetzt fest überzeugt, und niemand wird mir das ausreden können. Jawohl!“ Keinem kam es jedoch in den Sinn, Mursarows Behauptung zu bestreiten. Alle Fachleute stimmten darin überein, daß die Musterung, die Farbzusammenstellung und sogar die Webart seines Fundstücks kennzeichnend für die Stoffe des alten Pautoo waren. Diese Entdeckung brachte die Reihen der „kosmischen“ Widersacher Mursarows ins Wanken. Aber im Grunde genommen war damit noch nichts bewiesen. Sicher, die Stoffe des alten Pautoo ähnelten dem Stück, das bei den Ausgrabungen in Uraschtu gefunden worden war. Doch keiner dieser Stoffe besaß die bemerkenswerte Eigenschaft der Unverwüstlichkeit. Und es gab in der Geschichte der materiellen Kultur Pautoos nicht den geringsten Hinweis, daß dieses Inselvolk jemals die Kunst der Silifizierung von Stoffen beherrscht hätte. Immer mehr Gelehrte – Historiker, Ethnographen, Archäologen, Biologen, Geographen und Chemiker – interessierten sich für Mursarows Fund. In dem Lenin38
grader Museum, wo das Gewebe zeitweilig ausgestellt war, gab ein Fachgelehrter dem andern die Türklinke in die Hand. Jeder wollte, von dem ungewöhnlichen Fund angezogen, dessen Geheimnis enträtseln. Endlos sprachen sie darüber, stritten sich und stellten die verschiedensten Hypothesen auf. Als das Interesse an dem Gewebe aufs höchste gestiegen war, verschwand es eines Tages spurlos. Es war gestohlen worden. Alle waren sich klar darüber, das das kein gewöhnlicher Diebstahl war. Aber weder der Dieb noch seine Hintermänner konnten gefaßt werden. Der Stoff war und blieb verschwunden. Eine Woche darauf traf Jusgor in Leningrad ein.
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Die Sage von Rokomo und Lawuma Jusgor kannte ich seit langem. Wir hatten zusammen an der Moskauer Universität studiert. Ich weiß nicht mehr, unter welchen Umständen ich diesen hochgewachsenen jungen Mann mit der goldbraunen Haut, dem gewellten dunklen Haar und den ausdrucksvollen, leicht schräg gestellten Augen, die stets kampflustig sprühten, aber manchmal auch schwermütig dreinblickten, kennenlernte. Näher kamen wir uns im Schachklub, den wir beide regelmäßig aufsuchten, von der Leidenschaft zum königlichen Spiel getrieben. Von dort gingen wir dann oft zusammen ins Studentenheim zurück. Dabei unterhielten wir uns gern und viel über seine ferne Heimat, den Südseearchipel, der meine Phantasie lebhaft beschäftigte. Doch die Universitätsjahre lagen nun weit zurück. Nach Beendigung des Studiums war ich nach Leningrad gefahren und Jusgor in seine Heimat zurückgekehrt. Das Alltagsleben ergriff von mir Besitz, neue Sorgen stürmten auf mich ein. So kam es, daß unser Briefwechsel allmählich einschlief. Und das war kein Wunder. Briefe konnten nie und nimmer den persönlichen Umgang ersetzen, die nächtlichen Spaziergänge auf den Uferstraßen der Moskwa,
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die heißen Dispute und kühnen Zukunftsträume. Nach dem Fund des Stückchens Stoff, für dessen Ursprungsland jetzt schon viele Gelehrte die Inselgruppe Pautoo hielten, erinnerte ich mich sogleich Jusgors, des einzigen mir bekannten Pautooaners. Nun machte ich mir Vorwürfe, daß ich ihm so lange nicht geschrieben hatte, und nahm mir vor, ihm einen ausführlichen Brief zu schicken. Zu meiner Schande muß ich jedoch gestehen, daß es bei dem guten Vorsatz blieb. Jusgor meldete sich eines Tages ganz von selbst bei mir. Wir erzählten einander alles, was wir in den langen Jahren der Trennung erlebt hatten. Aber das Gespräch kam nicht recht in Gang. Ich hatte den Eindruck, daß Jusgor darauf brannte, von etwas anderem zu sprechen, von etwas, was ihm sehr am Herzen lag. Und tatsächlich, sobald er es, von Natur aus taktvoll, für schicklich hielt, begann er, mich nach dem Fund von Uraschtu auszufragen. Ich war erstaunt über das große Interesse, das er an dem Siliziumgewebe zeigte. Wie sich herausstellte, hatte er alles gelesen, was in der Presse darüber erschienen war, und sich vorgenommen, an der Erforschung des Stoffes persönlich teilzunehmen. Als ich ihm von dem Diebstahl berichtete, entrüstete er sich zuerst, beruhigte sich aber bald, ja, seine Miene heiterte sich auf. „Wissen Sie, Aljoscha, das ist sogar gut.“ „Wieso?“ 41
„Es ist gut, daß der Stoff gestohlen worden ist.“ Meine Verblüffung war so unverkennbar, daß er sich beeilte, mir eine Erklärung zu geben. „Daß man ihn gestohlen hat, ist natürlich schlimm, kann aber ein gutes Zeichen sein. Um diese Zeit war gerade Foorn in Leningrad. Oh, wenn ich recht hätte, Aljoscha! Verstehen Sie, wenn wirklich Foorn dahintersteckt, dann sind auch sie der Meinung, daß der Fund von Uraschtu mit dem Geheimnis des Tempels Buatoo zusammenhängt, und sie wissen eine ganze Menge. Leider vorläufig mehr als wir!“ Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Wer waren „sie“, von welchem Tempel war die Rede, und wer war der des Diebstahls verdächtigte Foorn? Aber ich wappnete mich mit Geduld und wartete darauf, daß mir Jusgor alles erzählen würde. So kam es denn auch. Seinen Worten entnahm ich, daß er sich schon seit langem an der Pautooaner Universität mit dem Siliziumrätsel befaßte und daß das unverwüstliche Gewebe, das uns soviel Kopfzerbrechen machte, nur ein kleiner Teil dieses Rätsels war. Jusgor redete sich in Hitze. In seiner Erregung griff er, wenn ihm das notwendige russische Wort nicht einfiel, häufig zu dem entsprechenden englischen oder, was für mich schlimmer war, pautooanischen 42
Wort. Er sprach lebhaft, sein Gesicht zuckte, die Augen glänzten. Allmählich beruhigte er sich, seine Erzählung wurde zusammenhängender und ausgeglichener. „Das Geheimnis des Tempels Buatoo“, fuhr er fort, „ließ mir schon in meiner Jugend, als ich mich darauf vorbereitete, ein Priester des ‚Himmlischen Gastes’ zu werden, keine Ruhe.“ „Jusgor, Sie… Vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden. Sie waren ein Tempelpriester?“ Über sein Gesicht lief ein weiches Lächeln, und seine Augen blickten schwermütig drein wie ehedem. „Nein, das nicht! Aber jahrelang erzog man mich dazu, ein Priester des altehrwürdigen Tempels Buatoo zu werden. Diesen Abschnitt meines Lebens kennen Sie nicht. Ich spreche selten mit jemand darüber. Auch mit Ihnen habe ich nicht darüber gesprochen, aber jetzt… Jetzt hat sich vieles geändert. Ich werde Ihnen alles erzählen und Ihnen das von mir gesammelte Material zeigen. Da staunen Sie, Aljoscha, was? Sie kennen mich ja nur als den Biochemiker und als den Studenten, der von seiner fernen exotischen Inselheimat nach Moskau gekommen war.“ „Ich kenne Sie außerdem als einen fortschrittlichen Pautooaner“, unterbrach ich ihn. 43
„Und als einen Menschen, der für die Freiheit seiner Landsleute eintrat“, ergänzte Jusgor bescheiden, ohne jeden Anflug von Stolz. „Aber von meiner Kindheit und Jugend wissen Sie nichts. Ich werde Ihnen davon erzählen. Das hängt mit dem Siliziumrätsel zusammen.“ Er schwieg eine Weile und begann dann leise, offensichtlich bewegt: „Mein Vater war ein Weißer, meine Mutter eine Pautooanerin. An meine Mutter erinnere ich mich nicht. Genährt und großgezogen hat mich eine fremde Frau, die gütige und zärtliche Menama. Von meiner Mutter sprach sie immer sehr liebevoll, das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Obwohl meine Mutter… Vielleicht haben Sie zufällig einmal gelesen, daß die Europäer, die Pautoo beherrschten, bevor unser Land seine Unabhängigkeit erkämpfte, einem niederträchtigen Brauch frönten. Jeder Soldat der Kolonialarmee nahm sich, wenn ihm der Sinn danach stand, eine pautooanische Frau. Solange er sich in der Kolonie aufhielt, galt sie als seine gesetzmäßige Gattin, dann aber… Die Mädchen, die aus solchen ,Ehen’ hervorgingen, teilten in der Regel das Schicksal ihrer Mütter, während die Knaben meistenteils ,farbige’ Polizisten wurden. Derartige Ehen schlossen nicht nur einfache Soldaten, sondern auch hohe Beamte. Mein Vater war einer von ihnen. Ich 44
habe ihn nur einmal gesehen, unmittelbar vor seinem Tod. Man führte mich in seine schloßartige Villa, und er… Es fällt mir schwer, davon zu sprechen. Damals verstand ich zuwenig, später verstand ich zuviel…“ Jusgor verstummte wieder. Über sein gebräuntes Gesicht lief ein grauer Schatten. Er senkte den Kopf, fuhr dann aber mit klarer, deutlicher Stimme fort: „Bis zu meinem siebten Jahr lebte ich bei Menama in ihrer Palmenhütte, in einem kleinen Dorf am Meer. Ihr Mann, ein Fischer, und ihr Sohn behandelten mich gut. Ich habe mich niemals fremd in ihrer Familie gefühlt. Aber am meisten liebte ich die dicke, gutmütige, stets fröhliche Menama. Es war eine schöne Zeit. Ich war noch klein und deshalb frei von jedem Zwang. Die strahlende Sonne der heimatlichen Inseln, der goldene Sandstrand, der herbe Geruch des Meeres – ja, es war schön! Doch plötzlich wurde ich alles dessen beraubt und ins ferne Bergland geschickt. In einem unheimlichen, mir Angst einflößenden Tempel sollte ich in die Schule gehen. So hatte es mein Vater bestimmt. Mit fünfzehn Jahren beherrschte ich vollkommen die Sprache Altpautoos und kannte mich in vielen Kulthandlungen aus. Ich verstand bereits eine ganze Menge und 45
begann, mich dem eigenartigen Reiz eines Lebens der Zurückgezogenheit und Meditation hinzugeben. Immer noch sehnte ich mich jedoch nach dem Geruch der Fische und dem Lärm der Brandung. Die Jahre des stumpfsinnigen Büffelns gingen zu Ende. Ich konnte die alten Handschriften leicht und frei lesen und drang in den tiefen Sinn des Gelesenen ein. Nach und nach nahm ich aus den vergilbten Blättern die Weisheit des Altertums in mich auf. Es war, als lichte sich ein beklemmender Nebel. Viele meiner Altersgenossen bevorzugten, sobald sie sich das Grundlagenwissen angeeignet hatten, die rituelle Seite der religiösen Lehre. Sie ließen sich blenden von den Festen, die die Priester häufig veranstalteten, um den Glauben im Volk zu stärken. Mich dagegen zog die geheimnisvolle Weisheit der alten Überlieferungen an. Ich begann, mich immer mehr für die Geschichte unseres einstmals mächtigen Landes zu interessieren. Alle Jünglinge empfingen mit siebzehn Jahren die Priesterweihe. Erst dann wurden sie zum Studium der geheimen Bücher zugelassen. Ungeduldig wartete ich auf diesen Tag. Meine Lehrer ahnten nicht, daß es weder die prunkvolle schwarz-gelbe Priesterrobe war, die der Geweihte anlegen durfte, noch die Möglichkeit, die Tempelmauern nach langen Jahren der Klausur zu 46
verlassen, was mich veranlaßte, mich mit größtem Eifer auf das feierliche Ritual vorzubereiten. Mich lockte etwas anderes. Den alten Überlieferungen entnahm ich, daß es vor vielen Jahrhunderten auf unseren Inseln eine Ära des Schöpfertums gegeben hatte, eine segensreiche Zeit, in der, wie die alten Bücher behaupteten, die Götter den Menschen ein großes Geheimnis enthüllt und die Menschen Unerreichbares vollbracht hatten. Es entflammte meine jugendliche Phantasie, als ich erfuhr, daß die Götter die Priester Buatoos gelehrt hatten, Tempel und Paläste von märchenhafter Schönheit und Größe zu errichten, Brücken und Straßen zu bauen, ungewöhnliche Geräte und unverwüstliche Gewebe herzustellen. Ich dürstete danach, in dieses Geheimnis einzudringen und zu erfahren, wie die Völker Pautoos in jener legendären Zeit gelebt, wie und warum sie diese wunderbare Gabe des Schöpfertums verloren hatten. Als unreifer Jüngling träumte ich davon, den Jahrhunderten ihr Geheimnis zu entreißen und die Menschen aufs neue mit der Gabe des Schöpfertums zu beglücken. Ja, ich träumte davon, ein neuer Rokomo, ein neuer Held Pautoos, zu werden. Ich begriff indessen, daß ich dazu die heiligen Bücher studieren mußte, die sich auf die Zeit des Hohenpriesters Raomar bezogen. Um das 47
tun zu können, mußte man, so sagten die geistlichen Lehrer, die Weihe empfangen haben. Die geheimsten der heiligen Bücher waren nur den Würdigsten zugänglich. Ich wollte einer dieser Auserwählten werden. Aber kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag wurde ich aus dem Tempel verstoßen. In elende Lumpen gehüllt und ohne jede praktische Lebenserfahrung stand ich vor dem Tor Buatoos, mir selbst überlassen. Ich wanderte durch das Land, bat um Almosen und nächtigte am staubigen Straßenrand. Zum Meer wollte ich, zu meiner gütigen Menama! Was blieb mir sonst übrig? Die Priester, die mich verstießen, hatten mir gesagt, daß niemand mehr für mein Studium bezahle und ich deshalb nicht unterm Dach des Tempels bleiben könne. In der geistlichen Schule wurden nur Kinder reicher Eltern erzogen. Lang war der Weg zu Menamas Dorf. Erschöpft und hungrig schleppte ich mich mit letzter Kraft zum Meer, fand aber weder Menama noch ihre Familie, ja nicht einmal das Dorf. Kurz vorher war dort ein Aufstand ausgebrochen, und die Kolonialtruppen hatten alles vernichtet, was Kanonen und Brände vernichten konnten. So lernte ich die Welt kennen, die große, schöne und furchtbare Welt. Bald darauf erfuhr ich, daß den Aufstand mein Vater 48
niedergeschlagen hatte, der dabei schwer verwundet worden war und nun im Sterben lag. Ich ging zu ihm. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Wahrscheinlich wußte ich damals keinen anderen Ausweg. Man ließ mich vor zu ihm. Er maß mich lange mit einem stummen Blick, als wollte er jeden meiner Gesichtszüge erforschen und in der Sterbestunde sein Verhältnis zu dem Geschöpf, das ein Teil seiner Selbst und ihm dennoch in tiefster Seele verhaßt war, endgültig klären. Schließlich sagte er – es waren nur ein paar Worte, und ich werde sie mein Leben lang nicht vergessen: ,Geh! Geh zu deinesgleichen, zu der farbigen Mörderbande.’ Und ich ging zu meinen Landsleuten, ging für immer.“ An diesem Tag erzählte Jusgor nichts mehr über sich. Wir schlenderten die Uferstraße der Newa entlang und tauschten nur gelegentlich belanglose Bemerkungen aus. Ohne es zu merken, umschritten wir die Isaakkathedrale und erreichten das Hotel „Astoria“. Jusgor streckte mir seine große, kräftige Hand hin, drückte die meine etwas länger, als sonst üblich, und sagte zum Abschied: „Aljoscha, wenn Sie erlauben, komme ich morgen zu Ihnen. Ich werde die Übersetzung einer alten Aufzeichnung der Legende von Rokomo und Lawuma mitbringen.“ 49
Am nächsten Tag suchte mich der stets pünktliche Jusgor genau zur verabredeten Stunde auf. Unterm Arm trug er eine dicke Aktenmappe. Darin befand sich nicht nur die versprochene Legende; Jusgor zog außerdem die Fotokopien einiger Seiten alter heiliger Bücher heraus, eine Übersetzung von Liedern des pautooanischen Epos „Sebarao“, einen Packen dunkelgelber, mit verschnörkelter Zierschrift bedeckter Blätter und, wie er sagte, das einzige Originalexemplar einer heiligen Rolle des Tempels Buatoo. Ich war angenehm überrascht, zu hören, daß all dies – so meinte jedenfalls mein Freund – mit dem Siliziumrätsel zu tun habe In unbeschreiblicher Erregung machte ich mich, unterstützt von Jusgor, an das Studium dieses Materials. Jedes Blatt rief Mutmaßungen wach, eine kühner und gewagter als die andere. Die Dokumente verdienten, gründlich studiert zu werden, und das taten bald nicht nur wir, sondern auch Dutzende anderer Leute. Viele dieser Blätter sind bis heute Objekte der Forschung und Veranlassung zu hitzigen Streitgesprächen und weitreichenden Vermutungen. Ich will jedoch der Reihe nach erzählen. Gleich am ersten Tag, als ich die alte poetische Legende von Rokomo und Lawuma kennenlernte, begriff ich, daß sie wichtige Anknüpfungspunkte bot für 50
höchst interessante Untersuchungen über einen rätselhaften Abschnitt der alten Geschichte Pautoos. Bis zum heutigen Tag hat niemand den Originaltext der Legende entdeckt, der vor der Katastrophe aufgezeichnet wurde, als deren Folge die Insel Sebatu im Meer versank. Alle Aufzeichnungen, die den pautooanischen und europäischen Gelehrten bekannt sind, stellen lediglich mehr oder minder gelungene Niederschriften alter mündlicher Überlieferungen dar. Mit einer solchen Niederschrift machte mich denn auch Jusgor an diesem Abend bekannt. Er las ausdrucksvoll, in einem leichten Singsang, und wiegte dabei rhythmisch den Oberkörper hin und her. Ich blickte ihm ins Gesicht oder stellte mir mit geschlossenen Augen vor, wie er als Jüngling auf seinen heimatlichen Inseln zusammen mit abgerissenen Landstreichern gewandert war und an schattigen Plätzen gerastet hatte, wo ein von der Sonne ausgedörrter, fast schwarzbrauner Greis mit funkelnden Augen seinen um ihn sitzenden Landsleuten eindringlich vordeklamierte: „Wanderer! verweilst du am kühlen Quell, um im Schatten eines Pandanus die Mittagshitze abzuwarten, so laß dir Zeit, und leg dein Bündel ab. 51
Ist dein Weg lang, schwer und weit, so sammle Kräfte und Weisheit: Frag die andern und sag den andern, welche Straßen die Menschen schon gewandert sind. Triffst du am Rastplatz einen Greis, so zoll ihm Ehrfurcht und hör dir an, was er von der einstigen Größe des Landes erzählt. Das Gehörte merk dir, und erzähl es den jüngeren weiter. Solltest du am Rastplatz selbst der älteste sein, so vergiß nicht, von den alten Helden zu berichten, von der Liebe des unsterblichen Recken Rokomo und der schönen Lawuma. Hör zu, Wanderer! Niemand weiß, was damals war, als noch nichts war. Doch die Weisesten wissen, was nachher war. Nachher war das Licht. Es herrschte im ganzen Weltall, doch freudlos. Das Licht füllte alles aus und fand sonst nichts. In seinem ungestümen Glanz verschwand sogar das, was erschienen war, und was erscheinen sollte, erschien nicht. Hundert Jahrhunderte vergingen, aber das Licht traf auf nichts in seinem Reich, dem All. Es konnte nicht einmal sich selbst erkennen und begann, allmählich zu erlöschen. So entstand das Dunkel. 52
Dem Licht und Dunkel aber entsprang das Sein. Das Dunkel ergriff Besitz vom Weltall und erfüllte es mit Kälte. Für das Licht blieben nur noch kleine Inseln im Ozean des Dunkels. Doch dort, wo es Licht und Dunkel gab, sproß Leben hervor. An der Grenze von Licht und Dunkel ward die Erde geboren, von ihren Beherrschern geliebt. Das Licht wärmte sie, das Dunkel spendete Kühle, und die Erde füllte sich mit Leben. Auf der Erde wütete bald das Feuer, der Sohn des Lichts, bald das Wasser, die Tochter des Dunkels. Immer bekriegten sie sich, und dort, wo sie kämpften, entstanden Inseln. Niemand weiß, wann die Inseln Pautoo erschienen. Doch die Weisesten wissen, was nachher war. Nachher war der Mensch. Die ältesten Menschen sahen noch, wie das Feuer und das Wasser miteinander kämpften. Die allerältesten aber sahen, wie die heilige Insel Sebatu erschien. Sie tauchte aus den Tiefen des Ozeans auf, gehüllt in ein prunkvolles grünes Kleid, und schenkte den Menschen, die auf ihr lebten, Kokosnüsse und Taro, Bataten und Reis, Mangofrüchte und Bananen. Ihre Wälder waren voll von Tieren und Vögeln, und die Gewässer, die sie umspülten, 53
wimmelten von Fischen. Die heilige Insel Sebatu nährte und kleidete den Menschen. Von dieser Insel aus besiedelte der Mensch andere Inseln und ferne Länder, wo er die Größe und Freigebigkeit der dem Ozean Entstiegenen rühmte. So vergingen die Jahrhunderte, bis der Leuchtende zur Erde niederstieg. Hör zu, Wanderer! Die Menschen, die damals lebten, verfaßten über ihn Sagen. Die gesehen hatten, wie der Leuchtende inmitten der Nacht erschien, erzählten davon ihren Kindern, diese erzählten es ihren Kindern, und die weisesten der Kinder Pautoos zeichneten die Sagen in den heiligen Büchern des Tempels auf. Und dort steht es geschrieben. In jener Nacht war der Leuchtende klein und glitzerte wie ein Stern. Dann strahlte er heller und begann, die ganze Insel Sebatu in Licht zu tauchen. Die Nacht wurde hell wie der Tag. Der Strahlende ging zu den Menschen, von seinem fürstlichen Gefolge umringt. Die Bäume und Gräser verneigten sich tief vor ihm, die Tiere und Vögel aber verbargen sich in den Wäldern, Wiesen und Felsen. Ein Donnerschlag krachte, der Berg Sebarao spie Feuer, die Insel erbebte, der Ozean bäumte sich auf, und niemand weiß, was in jener Nacht weiter geschah. 54
Doch die Weisesten wissen, was nachher war. Nachher kam der Himmlische Gast auf die Erde. Er stand auf dem heiligen Berg Sebarao und erhellte die Nacht mit seinem strahlenden Blick. Die Menschen verneigten sich vor ihm und brachten ihm Blumen, Mollusken und Fische. Sie bauten dem Himmlischen Gast einen Tempel, und die Priester beteten zu ihm, damit er den Menschen Glück bringe, ihnen eine reiche Ernte und eine ergiebige Jagd beschere. Dem Himmlischen Gast dienten die schönsten Mädchen Sebatus, und jedes Jahr, wenn das Fest des Lichtes kam, wurde ein neues Mädchen seinem Dienste geweiht. So begann die Ära des Himmlischen Gastes. Die Jahre verstrichen, eins nach dem andern, bis die Ära des Schöpfertums anbrach. Hör zu, Wanderer, was man sich davon erzählt! Es gab im Fürstentum Sebatu keinen kühneren Jäger als Rokomo. Es gab im Fürstentum Sebatu kein schöneres Mädchen als Lawuma. Es gab in den Wäldern Sebatus kein Tier, das den Recken Rokomo nicht gefürchtet hätte. 55
Und es gab in den Dörfern Sebatus keinen Menschen, den die Schönheit Lawumas nicht bezaubert hätte. Am meisten aber wurde sie von Rokomo geliebt. Ihr zu Ehren vollbrachte er seine Taten. Ihr zu Ehren dichtete er seine Lieder. Alle Menschen auf Sebatu bewunderten seine Taten. Am meisten aber bewunderte sie Lawuma. Alle Menschen auf Sebatu freuten sich über seine herrlichen Lieder. Am meisten aber freute sich darüber Lawuma. Alle Menschen auf Sebatu erwarteten ungeduldig den Monat der Himmelsröte, in dem die glücklichen Hochzeiten gefeiert werden. Am ungeduldigsten aber erwarteten ihn Rokomo und Lawuma. Doch vor dem Monat der Himmelsröte fand das Fest des Lichtes, der Ankunft des Himmlischen Gastes, statt. Und das Los fiel auf Lawuma. Die Menschen auf Sebatu frohlockten, zufrieden damit, daß das vom Volk geliebte Mädchen auf ewig dem Dienste der Gottheit geweiht werden sollte. Doch ein großer Schrecken befiel Lawuma, und ein großer Zorn überkam Rokomo. Niemand sah, wie die Liebenden voneinander Abschied nahmen, aber alle verstanden ihren großen Schmerz. 56
Niemand sah, wohin Rokomo ging, aber die Weisesten wußten, daß er zurückkehren würde. Hör zu, Wanderer! Es gibt keinen unzugänglicheren Berg als den Sebarao, und es gibt kein uneinnehmbareres Heiligtum als den Tempel des Himmlischen Gastes, wenn ihn die kriegerischen Priester in der Nacht vor dem Fest des Lichtes bewachen. Es gibt keine stärkeren Gewitter als im Regenmonat, und es gibt keine furchtbareren Gewitter als in der Nacht der Ankunft des Himmlischen Gastes. In jener Nacht kam Rokomo, umringt von seinen Freunden, den Blitzen, zum Tempel. Von Furcht ergriffen, fielen die kriegerischen Priester zu Boden. Von den Blitzen getroffen, stürzte das Tempeltor ein. Da erblickte Rokomo Lawuma. Auf den Gipfeln aller Berge Sebatus hatte Rokomo seine Freunde gesammelt und war mit ihnen zum Tempel geeilt. Doch Lawuma war schon dem Himmlischen Gast geweiht. Sie stand im Widerschein der Blitze, und ihr schönes Antlitz war in Gram und Reue erstarrt. Mit allen Fibern zog es sie zum Geliebten, aber ihr ganzes Wesen war schon in Gott aufgegangen. ,Ihm gehöre ich jetzt, und ihm muß ich dienen’, sagte sie leise. 57
Da wurde Rokomo von gewaltigem Zorn erfaßt. Er zerschlug die Gottheit und schleuderte die Bruchstücke der Geliebten vor die Füße. ,Es gibt ihn nicht mehr! Du bist wieder mein!’ Seine Freunde, die Blitze, bohrten sich triumphierend in die Trümmer und zuckten noch blendender als zuvor. Seine Freunde, die Donnerschläge, krachten noch ohrenbetäubender als zuvor. Doch plötzlich ward ringsum alles still. Der Donner verstummte. Die Blitze verschwanden. In dem hereingebrochenen Dunkel leuchtete die erzürnte Gottheit auf, und ihre Glut versengte die Liebenden. Da wurden Rokomo und Lawuma zu Stein. Rasch mehrte sich die Streitmacht des beleidigten Gottes. Schon erhellten die gleißenden Ströme, die er ausschickte, den Wald rings um den Tempel. Alles Lebendige, das sie erreichten, verwandelte sich in jener schrecklichen Nacht zu Stein. In jener Nacht blieb der Priester Raomar auf seinem Platz vor dem Opferaltar. Und nur dort, wo der heilige Rauch emporstieg, wütete die Streitmacht des erzürnten Himmelsgesandten nicht. Niemand weiß, was in jener Nacht weiter geschah. 58
Doch die Weisesten wissen, was nachher war. Nachher kam die Ära des Schöpfertums. Hör zu, Wanderer! In der Nacht des großen Zorns erglänzte der Stern von Raomars Weisheit. Er befahl allen zu beten. Tag und Nacht rauchten die Opferschalen, und wo der aromatische Rauch mit der Gottheit in Berührung kam, ließ sie von ihrem Vernichtungswerk ab. So wurde der Zorn des Himmlischen Gastes besänftigt. So enthüllten die Götter Raomar das Geheimnis, wie der Zorn zu besänftigen ist. Und der Himmlische Gast enthüllte ihm das Geheimnis des Schöpfertums. Der Hohepriester aber lehrte die Weisesten, Tempel und Paläste von märchenhafter Schönheit und Größe zu errichten und noch nie gesehene Geräte, Matten und Gewebe herzustellen. Die Völker ferner Inseln und Länder kamen herbei und bestaunten die Weisheit der Söhne Sebatus. Die Steinfiguren von Rokomo und Lawuma wurden für heilig erklärt. Und die Götter segneten die Ära des Schöpfertums auf der heiligen Insel Sebatu. Hör zu, Wanderer! 59
Verweilst du am kühlen Quell, um im Schatten eines Pandanus die Mittagshitze abzuwarten, so laß dir Zeit, und leg dein Bündel ab. Ist dein Weg lang, schwer und weit, so sammle Kräfte und Weisheit: Frag die andern und sag den andern, welche Straßen die Menschen schon gewandert sind. Triffst du am Rastplatz einen Greis, so zoll ihm Ehrfurcht und hör dir an, was er von der einstigen Größe des Landes erzählt. Das Gehörte merk dir, und erzähl es den jüngeren weiter. Solltest du am Rastplatz selbst der älteste sein, so vergiß nicht, von den alten Helden zu berichten, von der Liebe des unsterblichen Recken Rokomo und der schönen Lawuma!“ Damit endete die Legende. Jusgor freilich befand sich, obzwar er in meiner Leningrader Wohnung saß, gleichsam noch auf den von aromatischen Düften und tropischer Glut erfüllten heimatlichen Inseln. Nicht mehr einen von der Sonnenhitze erschöpften Greis, sondern ihn, den nach Wahrheit dürstenden jungen Mann, stellte ich mir jetzt inmitten der Pautooaner vor, die auf dem Rastplatz im kühlen Schatten Kräfte und Weisheit sammelten. Es ist schwierig, ja unmöglich, nachträglich den ersten Eindruck zu schildern, den die Legende auf mich machte. Seither ist 60
viel Zeit vergangen, und ich mußte oft auf sie zurückkommen, da viele spätere Ereignisse mit ihr zusammenhingen. So kann ich jetzt nicht mehr sagen, was für Gedanken und Gefühle ich damals hatte und was ich beim ständigen Studium dieser alten Überlieferung später empfand. An diesem Abend las mir Jusgor nicht nur die Legende vor, sondern auch Auszüge aus den alten pautooaner Chroniken, den heiligen Büchern und Rollen, die er mitgebracht hatte. Er las, erklärte, ergänzte, und die Bilder der legendären Nacht, als der altpautooanische Held, von übergroßer Liebe getrieben, die Gottheit stürzte, wurden vor meinen Augen lebendig. Ich sah die Blitze in die Bruchstücke des steinernen Idols einschlagen und die Steine zu quellen beginnen. Die formlose, leichte, schäumende Masse nähert sich den vermessenen Liebenden. Rokomo verläßt die Geliebte nicht. In seinen Armen beschützt er sie vor dem auf sie zukommenden Unheil. Aber vergeblich. Der quirlende Schaum kriecht rasch auf die beiden zu und tötet sie bei der ersten Berührung. Ich blickte auf Jusgor und sah ihn im Geiste an der Stelle des schönen und starken Rokomo. Ich sah, wie er, gleichfalls ein Sohn des pautooanischen Volkes, stolz und kühn die Geliebte vor der entfesselten Naturgewalt schützt. Ja, Jusgor selbst 61
schien in jener schrecklichen Nacht in dem geheimnisvollen Tempel gewesen zu sein, so lebendig schilderte er das, was sich vor Jahrhunderten zugetragen hatte. „Stellen Sie sich vor, Aljoscha“, fuhr er fort, „plötzlich tritt Stille ein, nur zerrissen vom Todesschrei Rokomos und Lawumas. Der alte Priester hört den Schrei, sieht den gestürzten Gott, fällt auf die Knie vor der rauchenden Opferschale und hat nicht mehr die Kraft, von der Räucherpfanne zurückzuweichen. Durch den sich kräuselnden Rauchschleier sieht er, wie Rokomo und Lawuma erstarren, wie die sich ausbreitende Gottheit auf die Bäume zukriecht und wie die Bäume versteinern. Alles bedeckt die unaufhaltsam weiterfließende Schaummasse, die sich im Widerschein der Himmelsröte und Opferflamme bald violett, bald blutigrot färbt. Nach allen Seiten verteilen sich Bäche von diesem lebendigen Strom, und nur die Stelle, wo die Opferflamme brennt und wo der aromatische Rauch emporsteigt, bleibt von dem alles vernichtenden Ungeheuer verschont. Der Morgen bricht an. Rasch wird es hell. Am Horizont taucht die Sonne aus dem Ozean auf. Da wagen die am Leben gebliebenen Priester endlich das Heiligtum zu betreten. Sie sehen das zertrümmerte Götterbild, den versteinerten Wald, die zu Statuen erstarrten beiden jungen Menschen. Die 62
graugrüne, von der aufgehenden Sonne rosa gefleckte Masse bedeckt schon den ganzen Platz vor dem Tempel, und nur die Stelle vor dem Opferaltar, wo der Hohepriester die Nacht hindurch das Feuer geschürt hat, ist frei von ihr. Wie Sie sehen, hat schon damals, in den ältesten Zeiten, die menschliche Vernunft den Zweikampf mit dem unbekannten Element aufgenommen – und gesiegt!“ Zu viele Eindrücke stürmten auf mich ein. Wenngleich kein Skeptiker, konnte ich doch nichts Rechtes anfangen mit all dem, was mir Jusgor so abrupt vorsetzte. Die Legende, die Lobpreisung der alten Götter, die mythischen Helden und die strafende Gottheit! Das klang alles so unwirklich, so phantastisch! Natürlich war es verlockend, den Fund des unverwüstlichen Gewebes mit dem Mythos von der Ära des Schöpfertums in Verbindung zu bringen, aber ließ sich Jusgor nicht zu sehr hinreißen? Ich rief mir alles ins Gedächtnis zurück, was ich über ihn wußte, und stolperte sogleich über seine „priesterliche“ Vergangenheit. Wer weiß, vielleicht vermischte sich in seinem Kopf auf wunderliche Weise die Weltanschauung des Materialisten mit den mystischen Vorstellungen der pautooanischen Priester? Sollte sich die religiöse Lehre unausrottbar in ihn eingefressen haben? War es möglich, daß sich die in der Tempel63
schule von Buatoo verbrachten Jahre dergestalt auswirkten? „Es gibt unzählige Legenden, Jusgor“, bemerkte ich nachsichtig. „In vielen von ihnen haben Gelehrte einen rationalen Kern zu finden versucht. Aber Sie wissen doch, wie oft diese Versuche gescheitert sind! Was Sie sagen, klingt alles sehr überzeugend, besonders wenn Sie diese weit zurückliegenden Geschehnisse so plastisch schildern. Sie sind ein Dichter, Jusgor! Ihre Erzählung von dem versteinerten Liebespaar, von der erzürnten Gottheit, von der sich rasch ausbreitenden graugrünen Masse, die im Glanz der aufgehenden Sonne wütet, ist geradezu faszinierend. Sie kennen sogar die Farbe dieser Masse. Man könnte direkt annehmen, Sie glaubten das alles.“ „Ja, ich glaube es. Mehr noch, ich hoffe, daß auch Sie es demnächst glauben werden. Rokomo und Lawuma sind historische Persönlichkeiten.“ „Mag sein, ich kann es nicht bestreiten. Aber das heißt noch nicht, daß der Himmlische Gast sie in Statuen aus Stein verwandelt hat.“ „Doch, genau das hat der Himmlische Gast getan. Dafür gibt es Beweise. Sie spotten darüber, daß ich behaupte, die sich ausbreitende Masse sei graugrün gewesen. Bitte schön!“ Jusgor griff schnell in 64
die Aktenmappe und zog ein Holzschächtelchen heraus. Darin lag ein poröser, schmutziggrüner Klumpen, der ungefähr aussah wie Bimsstein. „Was ist das?“ „Die sterblichen Überreste des Himmlischen Gastes.“
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Professor Wudrums Entdeckung Der Klumpen harter, bimssteinartiger Masse liegt auch jetzt auf meinem Schreibtisch. Er ist formlos und häßlich. Aber wieviel hängt damit zusammen! Ich habe ihn auf einer polierten Rosenquarzplatte befestigt und betrachte ihn von Zeit zu Zeit. Über den legendären Himmlischen Gast wissen wir jetzt schon eine ganze Menge. Wahrscheinlich möchte ich deshalb noch mehr über ihn erfahren. Ganz anders lagen die Dinge damals, als Jusgor nach Leningrad kam. Auf der Weltkarte gibt es kaum noch „weiße Flecke“. In der Geschichte der Völker dagegen gibt es ihrer noch viele. Nach dem denkwürdigen Abend mit Jusgor begab ich mich, bildlich gesprochen, auf die Reise, um den großen „weißen Fleck“ in der Geschichte des alten Pautoo zu erforschen. Bereits damals war mir klar, daß die Reise lang, schwierig und mit keiner anderen Reise vergleichbar sein würde. Gerade das reizte mich, vielleicht deshalb, weil wir alle von Natur aus unstete Wanderer sind, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch den Weltraum rasen. Das Bewegungsgesetz liegt uns offenbar im Blut. Daher der immerwährende Drang des Menschen, ins Ungewisse vorzustoßen, seine Sucht, den Raum zu beherrschen. 66
Jusgor und ich begannen indessen damit, die Zeit zu erforschen. Das vermögen bisher nur Historiker, Paläontologen und Archäologen. Neues wird in der Regel dort entdeckt, wo sich verschiedene Wissensgebiete berühren. Das ist eine allgemein bekannte Formel. Die Entdeckungen, die uns bevorstanden, lagen im Grenzgebiet von Geschichte und Biochemie, also von Wissenschaften, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben. Der Biochemiker Jusgor mußte sich vor unserer Begegnung in Leningrad ernsthaft mit Geschichte befassen. Und auch mir, ebenfalls einem Biochemiker, blieb nichts anderes übrig. Einige Tage nach unserm Gespräch hielt Jusgor einen Vortrag im Leningrader Institut für kosmische Chemie. Hier wurde unser Disput um den Himmlischen Gast weiter ausgetragen. Jusgor las die Legende von Rokomo und Lawuma sowie Auszüge aus den von ihm mitgebrachten Chroniken vor. Dann zeigte er seine Beweisstücke. Zuerst neigten die Anwesenden dazu, die Legende für reine Erfindung zu halten. Die meisten verhielten sich äußerst skeptisch zu der Behauptung, der schmutziggrüne Klumpen poröser Schaummasse sei ein Sachbeweis für die seinerzeitige Existenz des Himmlischen Gastes. Als die Einwände allzu stark wurden, legte Jusgor – eine 67
Hand Lawumas vor uns hin. Jawohl, nicht mehr und nicht weniger als eine Hand der legendären Heldin! Oberflächlich betrachtet, war nichts Besonderes daran. Das Bruchstück einer Statue! In Erstaunen versetzte uns allerdings die unübertroffene Meisterschaft, mit der diese schöne Frauenhand gemeißelt war. Bald traten Zweifel auf: Ist die Hand wirklich aus Stein? Wir bewaffneten uns mit Lupen, und das Bruchstück ging von Hand zu Hand. Die Reihe kam auch an mich; was ich sah, erregte mich zutiefst. Auf dem Handrücken zeichneten sich deutlich nicht nur die Adern ab, sondern auch die Fältchen und Poren. Auf dem Handteller und an den Fingerkuppen konnte man die charakteristischen Linien erkennen, mit deren Hilfe die Chiromanten die Zukunft voraussagen und die Kriminalisten die Identität einer Person feststellen. Kein Bildhauer wäre jemals auf die Idee verfallen, eine Hand so haargenau, mit allen Feinheiten, zu modellieren, und sicherlich wäre auch keiner imstande gewesen, etwas Derartiges zu schaffen. Sollte der Glaube der Pautooaner an die Gottheit, die lebendige Menschen in Steinfiguren verwandelte, etwa auf Tatsachen beruhen? Wir umdrängten die Binokularlupe. Jusgor legte die steinerne Hand so unter ihre 68
Objektive, daß wir den glattgeschliffenen Querschnitt sehen konnten. Und wir erkannten die harten Knochenröhrchen, das weichere und dunklere Mark darin, die Nerven, Sehnen und Blutgefäße. Jusgor stellte ein Mikroskop ein, und wir sahen die Gewebezellen, den gleichsam verglasten inneren Aufbau. Kein Zweifel: Vor uns lag nicht eine Skulptur, sondern die versteinerte Hand eines vormals lebenden Menschen. „Erlauben Sie! Einen Augenblick!“ rief Professor Mursarow. „Das ist ja das gleiche Bild, das wir durchs Mikroskop sahen, als wir das in Uraschtu gefundene unverwüstliche Gewebe untersuchten! Hier wie dort haben die organischen Gewebezellen ihre Form unverändert bewahrt, obwohl sie seinerzeit der Einwirkung eines mächtigen und uns bislang völlig unverständlichen Faktors ausgesetzt waren. Nach allem zu urteilen, hängen diese beiden Erscheinungen irgendwie zusammen, sind sie auf ein und dieselbe Ursache zurückzuführen. Die Funde sind ungefähr gleich alt. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß die Menschen im alten Pautoo tatsächlich das Geheimnis der Unvergänglichkeit kannten.“ Damit war die Richtigkeit der von Jusgor gezogenen Schlüsse zum erstenmal anerkannt. Hanan Borissowitsch war früher als wir alle zu der Gewißheit gelangt, daß es 69
im alten Pautoo die Ära des Schöpfertums wirklich gegeben hatte. Zu einer geordneten Diskussion über den Vortrag kam es nicht. Die Aussprache glich eher einer stürmischen Studentenversammlung als einer würdevollen akademischen Beratung. Alle waren begierig, mehr und Genaueres über das pautooanische Rätsel zu erfahren. Als erstes wurde gefragt, wann und von wem die vorgelegten Funde gemacht worden seien. „Neunzehnhundertvierzehn von dem russischen Gelehrten Iwan Alexandrowitsch Wudrum“, erwiderte Jusgor. Vom Institut gingen wir zu Fuß nach Hause. Wir sprachen über die fernen Südseeinseln und über unsere künftigen Forschungspläne. Mit dem von der Institutsleitung gefaßten Beschluß war Jusgor nicht ganz zufrieden. Es leuchtete ihm ein, daß die Institutsleitung eine gewisse Zurückhaltung üben mußte. Trotzdem konnte er seine Ungeduld kaum noch zügeln. „Aljoscha, mich beunruhigt ein Umstand. Laut Plan sollen wir gemeinsam den Nachlaß von Wudrum erforschen. Das ist natürlich richtig. Gerade hier, wo er seine Arbeit begonnen hat, in dieser Stadt, von der er zu seiner Expedition aufgebrochen ist, müssen wir bemüht sein, soviel Material wie möglich über seine Entdeckung aufzustöbern. Aber das genügt nicht. Meiner 70
Meinung nach müßten wir schon jetzt, und zwar möglichst schnell, mit den experimentellen Arbeiten beginnen. Bei uns, an der Pautooaner Universität, aber mangelt es an Spezialisten, Apparaturen und Geldmitteln.“ „Eile mit Weile, Jusgor. Die Leute hier müssen erst all das Unerwartete und Ungewöhnliche, das Sie ihnen mitgeteilt haben, verdauen. Ich bin überzeugt, daß die Pautooaner Universität vielseitige und tatkräftige Hilfe erhalten wird.“ „Diese Hilfe werden wir mit größter Dankbarkeit annehmen, Aljoscha. Wir hoffen sehr auf die Unterstützung der Sowjetunion und wollen gern mit ihren wissenschaftlichen Institutionen zusammenarbeiten, besonders jetzt, da uns das starke Interesse, das unser einstiges sogenanntes Mutterland für das pautooanische Rätsel an den Tag legte, aufs äußerste beunruhigt.“ „Das ist mir neu.“ „Es ist aber so.“ „Merkwürdig, soviel ich weiß, hat Professor Mursarow in der einschlägigen Fachliteratur, obwohl er sie höchst aufmerksam verfolgt, nichts entdeckt, was ihm weiterhelfen könnte. Wenn Ihre Vermutung stimmt und es Leute gibt, die sich für das pautooanische Rätsel interessieren, dann 71
hätten in der Presse doch irgendwelche Veröffentlichungen erscheinen müssen.“ „Das Interesse dieser Leute ist von ganz besonderer Art. Ebendeshalb habe ich in meinem öffentlichen Vortrag nichts davon erwähnt. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über Foorn gesagt habe?“ „Ist das der Mann, den sie verdächtigen, das unverwüstliche Gewebe gestohlen zu haben?“ „Richtig. Derselbe. Dieser Mann wird uns noch einen Haufen Scherereien machen. Denken Sie an meine Worte. Er arbeitet für Austin Cart.“ „Jusgor, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer Cart ist.“ „Oh, entschuldigen Sie, Aljoscha! Ich überschütte Sie da mit einer Menge unbekannter Namen und Fakten. Setzen wir uns irgendwo hin.“ „Gehen wir lieber zu mir und trinken eine Tasse Kaffee.“ „Danke, Aljoscha. Ihre Einladung ehrt mich sehr, aber gerade jetzt… Ich bin so aufgeregt. Mir wird schwindlig bei dem Gedanken, was wir nun bald zuwege bringen werden. Ich möchte am Fluß bleiben. Hier fühle ich mich wohl. Welche Weite!“ Jusgor stützte sich mit den Ellbogen auf die Granitbrüstung der Uferstraße und blickte lange auf die Newa, die ein strahlendes Kollier heller, grünlicher Lichter trug. „Dort fährt 72
ein Motorboot. Woher kommt es so spät? Wohin strebt es so eilig? Es ist hell erleuchtet und vollkommen leer. Wird Ihnen nicht unheimlich zumute, wenn Sie auf die gurgelnden, dunklen Wellen der Newa schauen? Die Moskwa bemerkt man kaum, so klein und zahm ist sie. Unser Matuan dagegen… Schon wieder ein Eigenname! Wie ärgerlich für Sie!“ „Keineswegs. Den Matuan kenne ich aus Ihren Erzählungen. Das ist sozusagen die Newa der pautooanischen Hauptstadt Makimi.“ „Richtig! Und Sie werden ihn bald kennenlernen, Aljoscha. Wir werden zusammen nach Makimi fahren, und Sie werden den Ozean sehen.“ „Sie sind ein unverbesserlicher Träumer, Jusgor.“ „Ist Träumen schlimm?“ „Im Gegenteil, träumen ist immer gut!“ Wir gingen gemächlich die Uferstraße entlang, und Jusgor fuhr fort: „Was diesen Austin Cart betrifft, so ist er der Hauptkonkurrent von Nome Chansnepp. Die beiden Konzerne setzen gegenwärtig alles daran, Silikonkautschuk herzustellen, einen Kunststoff mit völlig neuen Eigenschaften, die alles in den Schatten stellen, was bisher auf dem Gebiet der organischen Synthese geleistet worden ist. Daher das große Interesse Chansnepps für 73
das altpautooanische Siliziumrätsel. Dieses Interesse reicht weit zurück. Gun Chansnepp, dem Vater von Nome Chansnepp, gehörten praktisch alle Kautschukplantagen auf den pautooanischen Inseln und einige große Werke im Mutterland. Alle Interessen auf Pautoo, ganz gleich, wer sie vertrat, waren somit identisch mit seinen Interessen. Seine Leute versuchten schon zu Beginn des Jahrhunderts, das pautooanische Siliziumrätsel zu lösen.“ „Interessant!“ „Ja, Aljoscha, der alte Gun Chansnepp hatte schon damals eine Nase dafür, daß es sich lohnte, das altpautooanische Geheimnis zu lüften, und scheute zu diesem Zweck weder Zeit noch Geld. Für uns ist es schwierig, ja fast unmöglich, an das Material heranzukommen, das im ehemaligen Mutterland vorhanden ist. Und es ist auch gar nicht nötig. Wenn wir das Expeditionsmaterial Wudrums auswerten, erfahren wir eine ganze Menge. Vielleicht sogar alles, was wir brauchen. Ich möchte schrecklich gern, daß es uns gelingt, diese ganze Geschichte aufzuklären. Das ist nicht nur reizvoll, sondern auch unerläßlich. Sie haben doch nichts dagegen, in den Archiven zu wühlen, die Dokumente der Vergangenheit zu sichten und die Leute ausfindig zu machen, die früher einmal mit diesen Dingen zu tun hatten? Oder?“ 74
„Es ist keine Kleinigkeit, sich zum Historiker zu mausern.“ „Dafür aber verdammt interessant. Nur hier, in Leningrad, kann man das verschollene Material aufstöbern und das aufdekken, was die Leute Chansnepps um jeden Preis geheimhalten wollen. Ich bin überzeugt, es wird uns gelingen, viel von dem auszugraben, was uns zur Lösung des Siliziumrätsels fehlt, und sogar manches zu erfahren, was Chansnepp nicht weiß. Seinem Vater ist einiges von der Ausbeute der Expedition in die Hände gefallen, aber er kam nicht dazu, es auszuwerten. Der erste Weltkrieg brach aus, und in Europa hatte man anderes zu tun, als den Geheimnissen des fernen Pautoo nachzujagen. Ein paar Jahre darauf aber starb Gun Chansnepp. Sein Sohn Nome erbte die Plantagen und Fabriken. Die Plantagen schrumpften allerdings ziemlich zusammen. In unserm, dem freien Teil Pautoos ist nämlich die Nationalisierung des Grund und Bodens schon beinahe abgeschlossen. Aber Nome Chansnepp besitzt immer noch ausgedehnte Plantagen in Westpautoo, wo, wie Sie wissen, noch die alte Kolonialmacht herrscht. Chansnepp ist klug, erfindungsreich und machtgierig. Er kann und will sich nicht abfinden mit der Unabhängigkeit Pautoos. Was er nicht diktiert, erkennt er 75
nicht an, und was er nicht beherrscht, existiert für ihn nicht. Er ist modern genug, um zu begreifen, daß die Methoden seines Vaters und seinesgleichen, die sich den Nationalreichtum Pautoos mit Waffengewalt aneigneten, veraltet sind, und energisch genug, um nach neuen Methoden zu suchen. Soviel ich verstehe, heißt seine Devise: Besitztum ist Verfügungsgewalt. Im freien Pautoo gehört Nome Chansnepp gegenwärtig so gut wie nichts, aber auf dem übrigen Archipel spürt man seinen Einfluß nach wie vor allenthalben. Jedes Mittel ist ihm recht, um seine Einflußsphäre nicht nur zu behaupten, sondern noch auszudehnen. Kunst und Wissenschaft, Presse und Religion, gar nicht zu reden von Bankgeschäft und Industrie, befinden sich so oder so unter seiner Kontrolle. Seine Leute mischen überall mit. Auch dem Siliziumrätsel schnüffelt er schon seit vielen Jahren nach. Natürlich nicht er persönlich, sondern seine Mittelsleute, vor allem Professor Asquith, der es fertiggebracht hat, auch einen unserer Gelehrten, nämlich Professor Kuan Rodbar, dafür einzuspannen. Chansnepp hat erstklassige Laboratorien eingerichtet. Was darin gezaubert wird, wissen wir vorläufig nicht.“ „Jetzt ist mir klar, warum Mursarow in der Fachliteratur nichts gefunden hat.“ 76
„Er wird auch nichts finden. Jedenfalls so lange nicht, bis… Keine Frage, das Geheimnis des Siliziums ist verlockend und zugleich gefährlich. Man muß alles tun, um zu verhindern, daß es Leuten in die Hände fällt, die es mißbrauchen werden. Wudrum hatte recht. Er traf jede erdenkliche Vorsorge, damit seine Entdeckung nicht…“ Jusgor verstummte jäh. Ich glaubte, er suche nach einem fehlenden Wort, und wollte ihm beispringen, aber wie sich gleich zeigte, ging es nicht darum. Er hatte ein grünes Licht gesehen, das vom Kutusowkai auf uns zukam, und rief, mit beiden Händen winkend: „Taxi! Taxi!“ Der Wagen hielt mit widerlich kreischenden Bremsen. „Aljoscha, fahren wir!“ „Wohin?“ „Zum Hafen.“ „Mitten in der Nacht? Wozu?“ „Aljoscha, ich kann nicht anders. Ich habe dagestanden und immerzu dorthin geschaut… Wo das Meer ist… Da sind mir Wudrums Aufzeichnungen, seine Tagebücher eingefallen… Und da hat es mich gepackt. Von hier ist der Dampfer mit seiner Expedition zu uns nach Pautoo ausgelaufen. Bitte, fahren wir!“ Wir setzten uns ins Taxi und fuhren zum Hafen. Man verwehrte uns den Zutritt. Doch das Meer war ganz in der Nähe. Ir77
gendwo hier, fast nebenan, war der Pier, von dem der Dampfer mit der Expedition abgelegt hatte. Über dieses Pflaster waren die Droschken gerollt, die die verwegenen Forscher zum Hafen gebracht hatten. In der Folgezeit besuchten wir den Hafen des öfteren, machten uns mit seiner Geschichte bekannt und malten uns aus, wie die Expedition im Herbst 1913 abgereist war. Aber diese Besuche verfolgten bereits sachliche Ziele. Sie prägten sich uns nicht so ein wie dieser erste nächtliche Besuch, bei dem Jusgor, von den Eindrücken des Tages, dem Erfolg seines Vortrags und den Zukunftsplänen überwältigt, seinen aufgestauten Gefühlen freien Lauf ließ. Damals umklammerte er nur die Eisengitter des Tores, starrte ins Dunkel und atmete begierig die feuchte Meeresluft ein. Nichts weiter, aber er schien entspannt und glücklich zu sein. Jedenfalls erinnerte er sich später oft und gern dieser zwecklosen Fahrt, die ihm sein inneres Gleichgewicht wiedergab. Über drei Monate verwandten Mursarow, Jusgor und ich unsere ganze freie Zeit darauf, alles Material ausfindig zu machen, das irgendwie mit Wudrum und seiner Familie sowie den Freunden und Gelehrten, mit denen er in Briefwechsel gestanden hatte, zusammenhing. Zuerst konnte ich Hanan Borissowitsch nicht verstehen. Sein 78
Bemühen, unsere Nachforschungen auf einen möglichst weiten Kreis auszudehnen und einen Haufen Dokumente auszugraben, die meiner Ansicht nach mit dem Problem, das uns beschäftigte, unmittelbar nichts zu tun hatten, betrachtete ich als bloße Zeitvergeudung. Die Schwierigkeit unserer Aufgabe bestand darin, daß Wudrum seine Arbeit nicht abgeschlossen und deshalb das von ihm gesammelte Material und seine Überlegungen dazu nicht einheitlich zusammengefaßt hatte. Seine Schlußfolgerungen waren derart kühn und eilten den Anschauungen seiner Zeitgenossen so weit voraus, daß er ihre Veröffentlichung für unzeitgemäß, ja abwegig hielt. Man braucht sich nur den Stand der Wissenschaft im vorrevolutionären Rußland vor Augen zu halten, um zu begreifen, in welcher Lage sich ein Gelehrter befand, der solche Hypothesen aufstellte. In einem Brief an seinen Freund und Lehrer, den berühmten Parzet, schrieb Wudrum: „Kaum hatte ich meine Vermutungen angedeutet, stieß ich auf eine Mauer nicht bloß von Unverständnis, sondern von Hohngelächter der Besserwisser aller Richtungen und Schattierungen. Ihre Ausfälle gegen mich steigerten sich bei einigen dieser Weisheitsapostel bis zu der Forderung, mich 79
gründlich auf meinen Geisteszustand untersuchen zu lassen.“ Wieviel Ironie und Bitterkeit sprachen aus diesen Zeilen des hochbegabten Gelehrten, der nicht einmal elementares Verständnis, geschweige denn Anerkennung fand! Wudrums unveröffentlichtes Material ist daher nur in Form von Notizheften und Rohentwürfen für einen Vortrag in der Akademie der Wissenschaften erhalten geblieben. Diesen Vortrag zu halten konnte er sich nicht entschließen. Ihm schien es zweckmäßiger zu sein, ihn bis zur Rückkehr von einer neuen Expedition nach Pautoo zu verschieben. Zum erstenmal war Wudrum 1891 auf Pautoo gewesen und hatte dort einige Jahre verbracht. Damals beteiligte er sich an den Arbeiten einer von Arns Parzet geleiteten holländischen Expedition. In die Heimat zurückgekehrt, wertete er das von ihm gesammelte Material aus und veröffentlichte seine fesselnden historischen und ethnographischen Arbeiten über Pautoo und die Pautooaner. Bald darauf wurde er als ordentlicher Professor an die Petersburger Universität berufen. Aus guten Gründen verlor er jedoch weder in seinen Schriften noch in seinen Vorlesungen auch nur ein Wort über die Funde, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen sollten. 80
Lange konnten wir nicht feststellen, wie Wudrum auf das altpautooanische Geheimnis gestoßen war und was ihn trieb, es unbedingt lüften zu wollen. Die Antwort auf diese Frage verdanken wir Hanan Borissowitsch, der mit der ihm eigenen Beharrlichkeit darauf bestand, eine vollzählige Liste aller Personen aufzustellen, die irgendwann mit Wudrum in Verbindung gestanden hatten. Es gelang uns, einen Brief von Wudrum an einen Berufskollegen, der gleichfalls die Südseeinseln besucht hatte, aufzustöbern. Darin erzählte er anschaulich, mit noch jugendlicher Keckheit und Entdeckerfreude, daß er im Dschungel einen seit Jahrhunderten verlassenen kleinen Tempel aufgespürt und dort einen erstaunlichen, geradezu einzigartigen Fund gemacht habe. Es handle sich um ein Altargefäß von feinster künstlerischer Arbeit. Dieses Gefäß sei nicht aus Stein gehauen, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, sondern ähnlich einem Flechtkorb aus den Stengeln und Blättern einer Pflanze hergestellt und auf unbekannte Weise versteinert worden. Dabei sei die natürliche Färbung erhalten geblieben. Eine genauere Untersuchung habe ergeben, daß die Versteinerung des Gefäßes durch die Lebenstätigkeit von sehr stark siliziumhaltigen Organismen herbeigeführt worden sein müsse. Diese seien in 81
alle Pflanzenzellen eingedrungen und dann unerklärlicherweise umgekommen. Das war eine Schlußfolgerung, die dem Gelehrten für immer die Ruhe raubte. Er wollte um jeden Preis ergründen, was das für geheimnisvolle Lebewesen waren und warum das aufgefundene Stück bisher das einzige seiner Art blieb. Das Studium der Notizhefte, Tagebücher und Manuskriptentwürfe Wudrums bereitete uns ein unsagbares Vergnügen. Von der ersten zaghaften Aufzeichnung bis zur endgültigen, durch ihre Kühnheit verblüffenden Schlußfolgerung verfolgten wir die Gedankengänge des Gelehrten, der unablässig nach einer Lösung des Rätsels gesucht hatte. Seine ersten Notizen waren verstreut und unzusammenhängend. Man sah, daß er, von der Tätigkeit an der Universität und in der Geographischen Gesellschaft voll in Anspruch genommen, nur selten dazu kam, an dem Problem zu arbeiten, das ihn so sehr beschäftigte. In den Notizheften der Jahre 1896 bis 1898 kehrte Wudrum immer wieder zu den pautooanischen Chroniken zurück, weil er hoffte, darin Hinweise auf einen ähnlichen Gegenstand wie das von ihm gefundene Gefäß zu entdecken. Seine Hoffnung trog ihn nicht. Auf einer halben Seite, datiert vom 30. Juni 1898 und mit Rotstift dick unterstrichen, stan82
den die triumphierenden Sätze: „Die Legende von Rokomo und Lawuma ist der Schlüssel zu allem! Prinzipiell ist damit die Lösung gefunden!“ Wudrum beeilte sich, die frohe Neuigkeit Parzet mitzuteilen. Aus dem Brief ersieht man, wieviel Mühe er darauf verwandte, die Legende zu studieren und zu dechiffrieren. Alle mythischen Beimengsel, die im Laufe der Jahrhunderte eingefügt worden waren, sonderte er aus und bemühte sich zu beweisen, daß der ursprünglichen Legende Vorgänge zugrunde lagen, die sich in der alten Geschichte Pautoos tatsächlich ereignet hatten. Legende und Geschichte sind miteinander verflochten. An dieses Wort Victor Hugos hielt sich Wudrum, der sehr wohl verstand, daß das Gefäß nur ein Tropfen im Meer der Rätsel war, die ihm die alte Geschichte der pautooanischen Inseln aufgab. Leider sind bei weitem nicht alle Briefe Parzets erhalten geblieben. Liest man jedoch die noch vorhandenen, so kommt man zu dem Schluß, daß sogar Arns Parzet, der die Legende lange vor Wudrum kannte, dem russischen Gelehrten keineswegs sofort beipflichtete. „Jetzt bin ich auf dem richtigen Weg“, schrieb Wudrum am 5. August 1898. „Die Brücke ist geschlagen: Altargefäß – Le83
gende! Das ist der Faden, der die wenigen Signale des Altertums, die in unserer Zeit noch vernehmbar sind, miteinander verbindet. Unsere Aufgabe ist es, diesen Faden so zu verstärken, daß er zu einem Tau wird, und endlich zu erkennen, was auf den pautooanischen Inseln vor vielen Jahrhunderten geschehen ist. Das Glück der Erkenntnis! Was ließe sich mit diesem herrlichen Gefühl vergleichen! Glauben Sie mir, mein lieber Parzet, ich bin weit davon entfernt, mich unbegründeten Hoffnungen hinzugeben, aber mir scheint, daß ich der Lösung der Hauptaufgabe schon nahe bin. Sie haben recht, die moderne Wissenschaft, die sich auf eine objektive Tatsachenanalyse stützt, kann noch nicht alles erklären, was die Legende aussagt, die das pautooanische Zeitalter des Schöpfertums poetisch besingt. Doch warum? Ich bin so frei und antworte Ihnen: Die Wissenschaft ist noch machtlos, und nicht für unsere Wissenschaft ist die Legende bestimmt. Sie werden indessen nicht bestreiten, daß die Menschen, die sie schufen, Forschergeist und Wagemut besessen haben. Die Legende ist durchdrungen von poetischer Huldigung für die schöne, gewaltige, geheimnisvolle Natur, aber zugleich von großem Stolz auf die Macht der Vernunft und die Schönheit menschlicher Impulse. Sie 84
besticht durch eine Authentizität, der die Zeit nichts anhaben konnte. Lieber Parzet, Sie schreiben, die Legende sei nicht historisch. Damit haben Sie nur insofern recht, als sie nicht historisch belegt ist. Im Grunde genommen wissen wir sehr wenig über die Vergangenheit der Menschheit, denn alle Geschichte ist Lüge. Ja, Lüge, vielleicht die unschuldigste aller Lügen, aber dennoch Lüge, denn alle Geschichte ist von einem bestimmten Standpunkt aus geschrieben. Wir können nicht immer unterscheiden, wann sich historische Zustände und wann sich die Ansichten darüber geändert haben. Die Geschichte des Himmlischen Gastes und der Ära des Schöpfertums auf Pautoo ist vom Standpunkt der Priester, der Nachfolger des legendären Raomar aus, geschrieben. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß wir, die wir an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts stehen, diesen Abschnitt der Geschichte von unserm, dem realistischen Standpunkt aus betrachten müssen.“ Der Schriftwechsel zwischen Wudrum und Parzet ist heute nur noch unvollständig erhalten. Immerhin ersieht man daraus, daß Parzet erst nach und nach den Standpunkt des russischen Gelehrten zu teilen begann, dann allerdings bald zu ei85
nem überzeugten Anhänger seiner Hypothese wurde. Das letzte Heft aus dem Jahre 1901 ist voll von Angaben über mikrobiologische Untersuchungen der versteinerten Lebewesen. Was waren das für Organismen, woher kamen sie, und warum verschwanden sie? Über diesen Fragen grübelte der Gelehrte Tag und Nacht. Dann kommt eine große Lücke in den Aufzeichnungen. Offenbar waren alle Versuche mißlungen, das Rätsel zu lösen. In einem späteren Notizheft von 1904 steht: „Die rätselhaften Organismen, die die Versteinerung des Gefäßes bewirkt haben, unterscheiden sich grundsätzlich von allen der Wissenschaft bekannten Lebewesen.“ Dieses Heft enthält umfangreiche Auszüge aus Abhandlungen: über die Kieselschwämme, die in großen Meerestiefen leben und mit ihren mehrachsigen Nadeln hübsche Geflechte bilden, ähnlich gläsernen Spitzenmustern; über die Radiolarien oder Strahlentierchen, die ein Skelett aus Kieselsäure haben und vorwiegend in silurischen Ablagerungen gefunden werden; über das Vorhandensein von Silizium im Bambus, in dessen Zwischenknoten sich Knollen bilden, die zu neunundneunzig Prozent aus Kieselerde bestehen, sowie im Mais, im Hafer, in der Gerste und im Ta86
bak; über die Haare der Brennessel, deren chemische Zusammensetzung völlig der des Glases entspricht. „In der irdischen Natur gibt es gar nicht so wenig Organismen, die Silizium enthalten, aber sie gleichen ganz und gar nicht jenen, die die Versteinerung des Altargefäßes bewirkt haben“, schrieb Wudrum. Schritt für Schritt erforschte er die Rolle des Siliziums in der Lebenstätigkeit der Organismen. Er untersuchte den Siliziumstoffwechsel und seinen Einfluß auf die Physiologie von Pflanzen und Tieren. Und als die Arbeit des Nottinghamer Collegeprofessors Frederic Stanley Kipping über organische Siliziumverbindungen erschien, vertiefte er sich in deren Studium. Charakteristisch sind Aufzeichnungen vom März 1904: „Die Analogie von Silizium und Kohlenstoff äußert sich darin, daß ihre ungesättigten Verbindungen mit Wasserstoff, Chlor und Sauerstoff die gleiche Struktur aufweisen… Silizium hat ebenso wie Kohlenstoff eine klar ausgeprägte Tendenz zur Polymerisation, das heißt zur Bildung von Verbindungen mit mehreren Siliziumatomen im Molekül… Eine Zusammenstellung der Haupttypen von organischen Siliziumverbindungen zeigt, wie groß die Analogie zwischen Kohlenstoffund Siliziumverbindungen ist… Es gibt Siliziumverbindungen, die nicht nur nach ein und 87
demselben Typus aufgebaut sind und ähnliche Formeln haben wie die analogen Kohlenstoffverbindungen, sondern diesen auch in vielen Fällen außerordentlich nahe kommen, was die chemischen und physikalischen Eigenschaften betrifft.“ Und schließlich die folgenden Aufzeichnungen: „Silizium kann ebenso wie Kohlenstoff eine riesige Anzahl verschiedener Verbindungen eingehen. Es kann zweiund vierwertig sein… Silizium hat ebenso wie Kohlenstoff die Fähigkeit, sich mit seinen Atomen zu langen Ketten zu verknüpfen… Daraus müssen sich Verbindungen ergeben, die ähnlich den Kohlenstoffverbindungen als organisch zu bezeichnen sind. Jawohl, müssen! Warum können wir also nicht annehmen, daß diese Verbindungen unter bestimmten Umständen immer komplizierter wurden (wie das auf unserem Planeten bei den Kohlenstoffverbindungen der Fall war) und diese Entwicklung schließlich zur Herausbildung von Substanzen nach Art der Eiweißstoffe, damit aber zur Entstehung von Leben führte?“ Der Weitblick Wudrums, der schon damals die stürmische Entwicklung der organischen Siliziumchemie voraussah, ist bewundernswert. Der Gelehrte hatte recht. Silizium bildet hochmolekulare organische Verbindungen. Wie froh wäre er gewesen, 88
hätte er erfahren, daß heutzutage organische Siliziumverbindungen von komplizierter Struktur als Plaste und Elaste, Klebstoffe und Wärmeträger, Silikonharze und -lacke, vor allem aber als Silikonkautschuk praktische Verwendung finden! Wudrum, der von alledem nichts wußte, ging noch viel weiter. Im Konzept zu einem Vortrag in der Akademie der Wissenschaften, das vom Oktober 1906 datiert ist, lesen wir: „Leben kann im Weltall überall dort entstehen, wo die notwendigen Bedingungen dafür vorhanden sind.“ Das ist nicht zu bestreiten. Auf unserem Planeten waren diese Bedingungen besonders günstig für die Entstehung von Leben, dessen einziger Träger Eiweiß aus Kohlenstoffverbindungen ist. Für die Herausbildung der Eiweißsubstanzen waren eine bestimmte, innerhalb sehr enger Grenzen schwankende Temperatur, eine dichte Atmosphäre mit hohem Feuchtigkeitsgehalt und dergleichen mehr erforderlich. Man kann sich jedoch unschwer vorstellen, daß es auch unter völlig anderen Bedingungen, als sie auf unserer Erde vorhanden sind, Leben gibt, das besondere, uns ungewohnte Formen angenommen hat, beispielsweise Formen des Siliziumlebens. Damit Eiweiß aus hochmolekularen Siliziumverbindungen entstand und sich daraus Leben 89
entwickelte, bedurfte es nicht so ungewöhnlicher Bedingungen wie bei der Entstehung des Lebens auf Grund von Kohlenstoffverbindungen. „Der Kosmos ist wahrscheinlich in unvergleichlich stärkerem Maße von siliziumhaltigem als von kohlenstoffhaltigem Leben erfüllt“, schrieb Wudrum. Welch kühne und hinreißende These! In der Tat ist anzunehmen, daß die Bedingungen, unter denen siliziumhaltiges Leben entsteht, weit härter sind als diejenigen, die für die Entstehung des kohlenstoffhaltigen Lebens auf der Erde erforderlich waren. Die Entdeckung siliziumhaltigen Lebens entscheidet den langjährigen Streit der Gelehrten über die Möglichkeit von Leben unter den (vom Standpunkt der Erdbewohner aus gesehen) ungünstigen Bedingungen auf dem Mars, und nicht nur dort. Da, wo kohlenstoffhaltiges Leben nur ein kümmerliches Dasein fristen könnte, ist ein stürmisches Wachstum siliziumhaltigen Lebens durchaus denkbar. Aber selbst diese den Auffassungen seiner Zeitgenossen weit vorauseilende These Wudrums klärte das altpautooanische Geheimnis noch nicht auf. Die Hauptsache aber, sie mußte erhärtet und bewiesen werden. Nahm man an, daß es auf der Inselgruppe Pautoo in der legendären Ära des Schöpfertums siliziumhaltiges Leben 90
gegeben hatte, so tauchte sofort eine Vielzahl von Fragen auf: Wie war es entstanden? Warum hatte es sich gerade auf diesen fernen Inseln entwickelt? Warum war nur in dem sagenhaften Fürstentum Sebatu auf seiner Grundlage eine unerhörte Kultur aufgeblüht? Warum war diese Kultur nicht zum Gemeingut der gesamten Menschheit oder zumindest einer größeren Völkergruppe geworden? Um diese Fragen beantworten zu können, hielt Wudrum es für unerläßlich, mit einer gutausgerüsteten wissenschaftlichen Expedition nach den pautooanischen Inseln aufzubrechen.
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Der Besuch bei Parzet Die Expedition bereitete Wudrum lange, mühselig und, wie sich zeigen sollte, in vieler Hinsicht erfolglos vor. Über diesen Abschnitt seines Lebens fanden wir ziemlich wenig Unterlagen. Die Erklärung dafür ist einfach. Er war von Natur aus ein bescheidener, umsichtiger Mann und wollte seine Schlußfolgerungen nicht vorzeitig in die Welt hinausposaunen, sondern sie erst mit gewichtigen Argumenten untermauern. Hindernisse, über die er stolperte, gab es genug. Das größte war das völlige Unverständnis für die meisten seiner Ideen und die abwartende, um nicht zu sagen feindselige Haltung der „offiziellen Wissenschaft“ im vorrevolutionären Rußland ihm gegenüber. Mursarow und ich blätterten alle russischen Zeitungen und Zeitschriften vom Oktober 1913 durch und fanden nirgends auch nur eine Zeile darüber, daß am 21. Oktober eine von einem russischen Gelehrten geleitete Expedition von Petersburg nach den pautooanischen Inseln abgereist war. Nicht viel besser steht es um die Anerkennung der wissenschaftlichen Leistungen Wudrums in unseren Tagen. Über das Siliziumproblem sind inzwischen Hunderte von Büchern und Tausende von Artikeln geschrieben worden. Die Namen des be92
deutenden Forschers sowie seiner Schüler und Assistenten werden jedoch nur gelegentlich am Rande erwähnt. Und selbst dann sind die Tatsachen nicht objektiv wiedergegeben, sondern häufig entstellt. Mursarow, Jusgor und ich hielten es für unsere Pflicht, diese Scharte auszuwetzen, und verwandten deshalb viel Zeit und Mühe darauf, das historische Material vollzählig zu sammeln und peinlich genau zu prüfen. Dabei beschränkten wir uns keineswegs auf Archivmaterial. Wir sprachen mit allen Leuten, die Wudrum persönlich gekannt hatten, soweit sie noch am Leben waren. Wir suchten die Wohnung im Leningrader Stadtbezirk Wassiljewski Ostrow auf, wo Wudrum von seiner Geburt bis zu seiner letzten Forschungsreise gelebt hatte. Wir sammelten alle Gebrauchsgegenstände, die er benutzt hatte, alle von ihm hinterlassenen Briefe, Tagebücher, Rohentwürfe, Notizen, Zeitungen, Fotos und Bücher, die wir fanden. So lebten wir uns in seine Zeit ein. Mit den Flügeln der Phantasie versetzten wir uns in das Petersburg zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, mit den Flügeln eines Düsenflugzeugs nach Pautoo. Jusgor hatte recht, als er sagte, ich würde den Ozean sehen! Und jetzt… Jetzt haben wir eine ziemlich klare Vorstellung von al93
lem, was dort in jener legendären Zeit geschehen ist. Es kostete Wudrum ungeheure Anstrengungen, die Expedition, zu deren Aufgaben auch archäologische Ausgrabungen auf dem Meeresgrund gehörten, auf die Beine zu bringen. Zusammenstöße mit feindlichen Mächten, die über das uralte Geheimnis wachten, standen bevor. Aus Wudrums Briefen an Parzet ersieht man, welch große Schwierigkeiten es bereitete, die nötigen Geldmittel aufzutreiben. Parzet unterstützte Wudrum damals auf jede Art und Weise. Und er war nicht der einzige. Auch in Rußland fand Wudrum verständnisvolle Freunde und Mitarbeiter. Wie immer erwiesen sich die jüngsten als die ergebensten und begeistertsten. Natürlich konnten sie an der Haltung der offiziellen Kreise gegenüber der von dem ruhelosen Gelehrten geplanten Expedition nichts ändern, aber sie halfen, soviel sie nur konnten. Die meisten boten ihre Dienste an, viele ihre kleinen Ersparnisse. Sie kamen auf verschiedenen Wegen, aber mit dem gleichen Motiv, an dem Außergewöhnlichen, Zukunftsträchtigen teilzuhaben. Und sie hielten ihrem Lehrmeister und älteren Kameraden die Treue, allen Schwierigkeiten und Rückschlägen zum Trotz. Die Tagebücher lassen erkennen, wie hoch Wudrum diese der fortschrittlichen Wissen94
schaft ergebenen jungen Gelehrten schätzte, mit welch väterlicher Güte er ihnen begegnete. Außerdem sagen sie aus, welch ein prachtvoller Mensch er selber war, zugleich naiv und weise, in dem sich Geringschätzung der Alltagssorgen mit strenger Sachlichkeit paarte. Ein paar Worte über die Tagebücher und den Briefwechsel Wudrums. In unserer schnellebigen Zeit, in der Funksprüche und Telegramme in Minuten den Erdball umfliegen, kommt es immer seltener vor, daß Tagebücher und besonders Briefe auf Details eingehen oder sich gelegentlich gar in Sprache und Bildern auf die Höhe eines literarischen Kunstwerks erheben. Vor noch nicht allzu langer Zeit war das anders. Wudrum hinterließ ein umfangreiches briefliches Erbe. Und seine Reisetagebücher sind meines Erachtens einfach großartig. Die Geschehnisse sind darin so vollständig und bisweilen plastisch geschildert, daß man beim Lesen alles miterlebt und mit den Menschen empfindet, die daran teilgenommen haben. Leider sind die Aufzeichnungen über den fliederfarbenen Kristall so umfangreich, daß ich sie hier nicht vollständig anführen kann. Ich werde sie daher nur zum Teil wörtlich wiedergeben, sonst aber den Inhalt nacherzählen, also die Schilderung der Ereignisse und Menschen zusammendrängen. 95
Zunächst kurz etwas über die Menschen, die Wudrum auf seiner Reise nach Pautoo begleiteten. Als die Expedition Rußland verließ, zählte sie nur sechs Mitglieder. Das war sozusagen der Stamm. Wudrum wollte sie noch durch zwei Taucher ergänzen, die für die Ausgrabungen und Dienstleistungen nötigen Arbeitskräfte aber an Ort und Stelle anwerben. Zu seinem unmittelbaren Assistenten und Stellvertreter bestimmte er Nikolai Nikolajewitsch Plotnikow. Von Beruf Ethnograph und Geograph, hatte dieser schon als Student mit einer Gruppe von Gelehrten eine Reise nach Ostasien gemacht, dort interessantes Material gesammelt und es nach seiner Rückkehr in den „Nachrichten der Kaiserlichen Gesellschaft für Freunde der Naturwissenschaft, Anthropologie und Ethnographie“ veröffentlicht. Als Schüler von Professor Wudrum spezialisierte er sich auf die Geschichte der Völker Pautoos und wurde, je mehr er in die von seinem Lehrer entwickelte Theorie der Entstehung des Siliziumlebens eindrang, zu einem leidenschaftlichen Anhänger dieser Hypothese. Als Biologe meldete sich Serafim Petrowitsch Otschakowski, ein junger Gelehrter, der bereits seit einigen Jahren mit Wudrum zusammen arbeitete. Die geschäftliche Leitung übernahm Wassili Afanasjewitsch Sherdnew, ein alter Seebär 96
mit goldenem Herzen und goldenen Händen. Innere Familienauseinandersetzungen gab es um die Teilnahme von Wudrums Sohn Alexander. Wie man aus dem erhaltenen Briefwechsel ersieht, wehrte sich Alexanders Mutter Natalja Sergejewna aus Leibeskräften dagegen, daß ihr Sohn den Vater auf seiner Reise begleitete. Sonst weichherzig, nachgiebig und, nach allem zu urteilen, nicht sehr resolut in Fragen des täglichen Lebens, blieb Iwan Alexandrowitsch in diesem Falle unbeugsam. Kein einziges Schriftstück bestätigt, daß Alexander an den geplanten Forschungen teilnehmen oder in exotische Länder reisen wollte. Der junge Wudrum hatte erst zwei Jahre vor dem Aufbruch der Expedition die Petersburger Universität absolviert und besaß zu dem Zeitpunkt, als die Gruppe aufgestellt wurde, bei weitem noch nicht soviel wissenschaftliche und praktische Erfahrung wie die übrigen Expeditionsmitglieder. Trotzdem bestand der besonnene, durchaus nicht unbedachtsame Wudrum auf der Teilnahme seines Sohnes an dem schwierigen, ja gewagten Unternehmen. Er hatte seine Gründe. Zu guter Letzt war die Expedition vollzählig. Iwan Alexandrowitsch Wudrums mehrjährige Bemühungen endeten also, was die Vorarbeiten betraf, mit einem Er97
folg. Der Tag der Abreise kam. Wer könnte besser als Wudrum selbst die ersten Tage der Schiffsreise schildern? Schlagen wir sein Tagebuch auf.
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3. November 1913 An Bord des Dampfers „Asalia“ Ein glücklicher, ermüdender und sehr aufregender Tag. Heute haben wir den Heimathafen verlassen. Wie viele Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet und ihn herbeigesehnt! Nun ist er gekommen. Ein Petersburger Herbsttag, kalt und windig, voller Unruhe und Sorgen, wie sie vor einer so langen Reise unausbleiblich sind. Der Dampfer lichtete um zwei Uhr mittags die Anker. Alexander und ich aber fuhren bereits um neun Uhr früh zum Hafen. Nikolai Nikolajewitsch war auch schon dort. Er beaufsichtigte das Verladen unseres umfangreichen Gepäcks. Auf die Reise hatten wir uns lange vorbereitet. Viele Abende stellten wir Listen von allem auf, was wir benötigten. Nicht die geringste Kleinigkeit wurde vergessen. Einige Male verschoben wir sogar den Abreisetermin. Je mehr wir indessen taten, um so mehr blieb noch zu tun, und in den letzten Tagen häuften sich die unerledigten Dinge derart, daß es schien, die „Asalia“ würde auch diesmal ohne uns in See stechen. Erst im Hafen erinnerte sich Alexander, daß eine Bestellung bei der Buchhandlung Ricker nicht ausgeführt worden war, und fuhr mit einer Droschke zurück in die Stadt. Eine neue Sorge gesellte sich zu den vielen anderen: Wird mein Sohn den 99
Dampfer auch nicht versäumen? Das Gepäck war noch nicht vollständig verstaut, da stellten sich schon unsere Reisegefährten ein, begleitet von ihren Familienangehörigen und Freunden. Auch Natalja kam mit ihrer Mutter. Nur Alexander ließ sich nicht sehen. Gegen ein Uhr hatten sich eine Menge Leute eingefunden. Mir krampfte sich das Herz zusammen: Wie viele Menschen haben mir doch ihr Schicksal anvertraut! Wie viele Angehörige werden warten, zagen und beten! Selbstverständlich hatten wir unsere Reisepläne nicht publik gemacht und über unsere Absichten niemand unterrichtet. Dennoch gaben uns mehr Menschen das Geleit, als wir erwartet hatten. Außer Verwandten und Bekannten waren auch viele gekommen, die ihre Sympathie für unser Unternehmen bekunden wollten. Das freute uns natürlich. Andrerseits konnte ich Nikolai Nikolajewitsch nicht verstehen, der offen bedauerte, daß keine Reporter anwesend waren. Um zwei Uhr kam endlich Alexander zurück, begleitet von einer Riesenschar junger Leute, die wir des öfteren bei uns zu Hause gesehen hatten. Man sah ihnen an, daß sie Alexanders bevorstehende Abreise feuchtfröhlich gefeiert hatten. Die bei Rikker bestellten Bücher brachte er nicht mit. 100
Die dumpfen Sirenentöne des Dampfers mahnten zur Eile. Unmerklich war die letzte Stunde auf heimatlicher Erde verstrichen. Ebenso unmerklich entfernte sich nun das Ufer vom Schiff, blieben die heiteren und traurigen Gesichter der Menschen zurück. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Große, nasse Schneeflocken erfüllten die Luft und legten sich auf alles an Bord. Wie ein herabgelassener Vorhang verhüllten sie unserm Blick die Freunde, den Hafen und die Stadt. Der Schneefall hörte ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Während wir durch die Fahrrinne zum Meer gelotst wurden, hellte sich der Himmel auf. Bald erblickten wir einen Wald von Masten vor uns. Wir näherten uns Kronstadt. Niemand verließ das Deck. Der Abschied von Petersburg ist erst dann unwiderruflich, wenn die Kuppel der Andreaskathedrale und die drohenden Forts Pawel und Alexander in der Ferne verschwinden. Bald darauf war auch der TolbuchinLeuchtturm nicht mehr zu sehen. Wir verließen das Deck, um uns in den Kajüten einzurichten. Zwanzig Jahre hatte ich fast jeden Tag an meine erste Reise nach Pautoo zurückgedacht. In der Heimat konnte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß alles, was ich gesehen und erlebt hatte, 101
Wirklichkeit war. Lange schien es mir, als wäre ich aus einem zauberhaften Traum erwacht, von dessen berückenden und erregenden Eindrücken ich mich nicht frei machen konnte und wollte. Und jetzt brennt der Wunsch in mir, das Erlebte wieder auferstehen zu lassen, die unvergleichliche Freude, die es mir gemacht hat, auf meinen Sohn Alexander zu übertragen und auch den anderen Expeditionsteilnehmern meine Eindrücke und Beobachtungen zu vermitteln. Lese ich jetzt die Tagebücher meiner ersten Reise mit Augen, deren Blick durch zwanzig Lebensjahre geschärft ist, so wird mir klar, wieviel damals von den jungen Augen gesehen und von dem jungen Herzen empfunden wurde und wie wenig davon und wie schlecht ich es niedergeschrieben habe. Wird es mir diesmal besser gelingen? 4. November 1913 Die Nacht war unangenehm. Die „Asalia“ schlingerte stark. Als ich am Morgen mein grünliches Gesicht im Spiegel betrachtete, sagte ich nicht ohne Schadenfreude zu mir selbst: Du hast es nicht anders gewollt! Am meisten litt unter dem hohen Seegang unser guter Serafim Petrowitsch. Den ganzen Tag lag er in der Kajüte, das Meer, mich und sogar seine Biologie verfluchend, die ihn verleitet hatte, an unserer Expedi102
tion teilzunehmen. Ich konnte ihn nicht einmal auf die Zukunft vertrösten, da ich nur zu gut wußte, daß wir unsere Ausgrabungen unter Wasser machen und uns dabei auf schwimmende Inseln stützen würden, die bei den Riffen nahe dem Ufer auch ganz schön schaukeln. Merkwürdigerweise fühlte sich Alexander, der sich nie durch robuste Gesundheit ausgezeichnet hat, außerordentlich wohl. Gegen Morgen ließ der Seegang etwas nach. Bereits vor Sonnenaufgang verließen wir den um diese Jahreszeit stets unfreundlichen Finnischen Meerbusen, der uns zum Abschied noch eine tüchtige Mütze feuchtkalten Windes nachschickte. Die Ostsee, hofften wir, würde gnädiger sein. Jetzt allerdings ist sie schwarz. Ebenso der wolkenverhangene Himmel. (Ich sah das, als ich nachts, bevor ich mich schlafen legte, noch einmal an Deck ging.) Um so freudiger begrüßt man in diesem schwarzen Einerlei jedes Lichtpünktchen, das auf den um die Fahrrinne verstreuten Sandbänken und Untiefen von Menschenhand angezündet ist. Man spürt die Fürsorge, mit der jede Gefahr aus dem Wege geräumt wurde, um eine glückliche Reise zu gewährleisten. Schiffslichter erblickten wir selten. Aber jedesmal leuchteten unsere Augen auf, denn die Dampfer hielten Kurs auf unsere 103
Heimat, auf Petersburg, Helsingfors oder Reval. Im Laufe des Tages umfuhren wir das niedrige Waldufer der Insel Dagö und steuerten fast genau nach Süden. Das Dagerort-Feuerschiff blieb hinter uns, und eine ganze Weile sahen wir nichts als Himmel und Wasser. Die Wellen sind grau und schwer. Schnell jagen sie einander, prallen wütend zusammen, branden manchmal hoch auf und fallen wieder kraftlos zurück, um sich im nächsten Augenblick aufs neue mit weißen Schaumkronen aufzubäumen. So geht es ohne Ende. Wieviel verschiedenartige Wellen, drohende und schmeichelnde, tintenschwarze und flaschengrüne, werden wir noch zu sehen bekommen, bevor wir in den stillen Hafen von Makimi einlaufen! Weniger als dreihundert Meilen trennen uns von den düsteren und doch dem Herzen so teuren Granitkais der Newa. Irgendwo in der Nähe muß die Insel Ösel sein, das letzte Stück russischer Erde. Noch sehen wir das erste fremde Land nicht, aber wir fühlen: Die Heimat haben wir längst und unwiderruflich verlassen. Es ist ein ungutes Gefühl, man darf ihm nicht nachgeben, muß immer daran denken, wieviel Wünsche und Hoffnungen vor uns liegen. 5. November 1913 104
Das Wetter ist besser geworden. Erfahrene Reisende sagen, um diese Jahreszeit sei die Ostsee selten so freundlich. Die Sonne guckt kurz hinter den Wolken hervor. Das heitert uns alle auf. Sogar Serafim Petrowitsch, der sich von der Seekrankheit erholt hat, kommt an Deck. Der Wind ist abgeflaut, die See hat sich beruhigt, und die „Asalia“ macht gute Fahrt. Wenn es so weitergeht, werden wir am Abend in Stettin, morgen in Lübeck und am Freitag, so Gott will, in Amsterdam sein. Sehr beunruhigt hat mich ein Gespräch mit Alexander. Natürlich konnte ich nicht erwarten, daß er seine Einstellung zum Leben ändern würde, sobald wir an Bord der „Asalia“ gegangen waren und eine interessante, vielversprechende Reise antraten. Immerhin aber… Im tiefsten Herzen hege ich die Befürchtung, daß der Entschluß, ihn mitzunehmen, nicht richtig war. Hatte vielleicht Natalja recht, die diesen Einfall für sinnlos, ja gefährlich hielt? Aber ich möchte ihn so gern aufrütteln, ihn herausreißen aus der Treibhauswelt lauer Gefühle, vager Wünsche und seelischen Unbefriedigtseins. Ich möchte ihn allen Seewinden aussetzen, ihn mit den Schwierigkeiten und Gefahren gewagter wissenschaftlicher Forschung konfrontieren und ihn die gesunde Romantik von Entdeckungen auskosten lassen. 105
Unbeschreiblich sind die Gefühle, die mich beherrschten, als mir bewußt wurde, daß wir uns dem Unbekannten jetzt leibhaftig nähern. Wie gern hätte ich ähnliches bei Alexander festgestellt und gesehen, daß auch ihn der frische Wind des bevorstehenden Abenteuers erquickt. Bedauerlicherweise hat er sich kein Jota geändert, wenn man von einer gewissen nervösen Zerfahrenheit absieht, die vielleicht davon herrührt, daß er die Bequemlichkeit der Petersburger Wohnung vermißt und keine Möglichkeit mehr hat, mit aufgeblasenen Schöngeistern über die „grundsätzliche Unerkennbarkeit der Welt“ zu schwätzen. Außer Alexander, der es vorzieht, in der Kajüte zu hocken und Nietzsche zu lesen, verbringen wir alle fast die ganze Zeit an Deck. Die meisten von uns fahren nicht zum erstenmal zur See. Weit gereist ist Nikolai Nikolajewitsch. Unser Biologe hat mehrere Jahre Forschungsarbeiten im Mittelmeer hinter sich. Den Rekord aber hält Wassili Afanasjewitsch. Als alter Seemann hat er sich überall in der Welt herumgetrieben. Mir scheint, sie alle sind, weit mehr als Alexander, froh über die Aussicht, Fremdes und Neues kennenzulernen. Die Ostsee ist um diese Jahreszeit, wie ich schon sagte, alles andere als einladend: ein niedriger grauer Himmel, kurze und flinke graue Wellen, felsige graue In106
selküsten, die in eintöniger Folge an uns vorbeiziehen. Nur die Leuchttürme auf den Inseln beleben das Bild etwas. An einigen der Inseln kommen wir so nahe vorbei, daß wir die kleinen Fischerdörfer mit den Kirchen und Windmühlen deutlich sehen können. Rasch bleiben sie hinterm Heck der „Asalia“ zurück. Neue Landschaftsbilder bieten sich unserm Blick. Nun ragen ziemlich hohe Berge auf. Das ist Gotland. Fast drei Stunden dauert es, bis wir daran vorbei sind. Schließlich bleibt auch diese Insel zurück. Die düstere Felswand von Kap Goborg an ihrem südlichen Ende verschwindet. Vor uns liegt das offene Meer. Bis Bornholm werden wir kein Land mehr sehen. Ich schleppte Alexander an Deck, um ihm das offene Meer zu zeigen, das er noch nie gesehen hat. Meine Absicht war, seine melancholische Stimmung zu verscheuchen, ihn aufzurütteln und aufzuheitern. Daher sprach ich von den Zeiten, als die Menschen das Meer noch für uferlos und bodenlos hielten, als sie in ihm eine unverständliche Zauberwelt sahen, hinter der sich exotische Länder verbergen, voller Poesie und wunderbarer Abenteuer. Von meinen eigenen Worten hingerissen, erzählte ich, wie in jenen längst vergangenen Zeiten kühne Männer davon träumten, aus dem kalten und nebligen Norden in die 107
unendliche Weite der warmen, gastfreundlichen Südsee zu segeln. Ich schwärmte von unserm Reiseziel, der herrlichen Inselwelt, von der uns noch viele Meere trennen. Alexander hörte zerstreut zu, lächelte skeptisch und erklärte schließlich, ich sei ein altmodischer Mensch und ein unverbesserlicher Romantiker. Dampf und Elektrizität hätten der Poesie längst den Garaus gemacht, und die Industrie habe keinen Raum gelassen für Träumerei und Schwärmerei. Wir führen auf einem Dampfer moderner Konstruktion, laut Fahrplan, und wüßten genau, wann wir wohin kämen. Nun, und das Meer… Das Meer sei weniger poetisch als bequem. Alexander bezeichnete es nach dem bekannten Ausspruch eines Engländers als eine vorzügliche Straße, die zwar hin und wieder schwanke, aber sich ständig selbst ausbessere. Und was die Entdeckungen betreffe, vor denen wir ständen, fuhr er fort, und die Erkenntnisse, die wir gewännen, was bedeute das schon im Vergleich zu der Schwierigkeit, sich selbst zu erkennen. Ja, so traurig es ist, Alexander gehört offenbar zu der Sorte von jungen Leuten, die an vorzeitigem und maßlosem Lebensüberdruß leiden. Sie haben zu gierig und zu hastig alles verschlungen, was wir früher tropfenweise bekamen und wofür wir teuer bezahlten – mit schwerer Arbeit, mit 108
der Freiheit und manch einer mit dem Leben. Wir erschlossen uns die Welt ehrfürchtig, denn wir sahen in ihr den Hort alles Schönen und Lichten. Jedes dem Leben abgerungene Körnchen Erkenntnis war ein begeistert aufgenommener Fund, und mit einem jeden solchen Körnchen festigte sich unser Glaube an die Allmacht der menschlichen Vernunft. Gewisse junge Leute, zu denen leider auch mein Sohn Alexander gehört, sind dagegen weder wissensdurstig noch auch nur neugierig. Sie haben sich die von den vorausgegangenen Generationen geschaffene Kultur überschnell angeeignet und glauben alles zu wissen. Übersättigt und erschlafft, wie sie sind, bleibt ihnen nichts als Selbstbespiegelung und „Selbsterkenntnis“ (welch abgeschmacktes Wort!) – eine nichtige Beschäftigung, die Pessimismus und Skeptizismus erzeugt. Ihre Gefühle sind abgestumpft, sie verachten die einfachen, frischen Eindrücke des nüchternen Tages und lechzen nach der überspannten Mystik widernatürlicher Nächte, nach immer raffinierteren Genüssen. Daher ihr Unbefriedigtsein, ihre Niedergeschlagenheit, ihr Weltschmerz – geradezu ekelhaft! 6. November 1913 Amsterdam, Hotel Victoria Unsere gesamte Gruppe hat sich im Hotel „Victoria“ einquartiert, dessen Fenster auf 109
der einen Seite zur Damrakstraat, auf der andern zum Prins-Hendrik-Kade hinausgehen. Das Hotel ist nicht billig (Zimmerpreis von drei Gulden aufwärts), liegt aber für unsere Zwecke sehr günstig: nur ein paar Schritte vom Hauptbahnhof, vom Hafen, von den Geschäften und den Ämtern entfernt, die wir aufsuchen müssen. So geben wir kein überflüssiges Geld für Droschken und Mietautos aus, die hier recht teuer sind. Überhaupt ist Holland eine der teuersten Gegenden Europas. Trotzdem wird das Land der Deiche, Windmühlen und Tulpen von vielen Touristen besucht. Jetzt ist die Saison zu Ende, und die Hotels stehen halbleer. Aber man trifft noch genug Reiselustige, die sich an der eigenartigen Schönheit des Landes ergötzen, dessen Einwohner dem Meer Zoll für Zoll ein Stück Boden nach dem andern abgerungen, sich darauf häuslich niedergelassen und den glitschigen Morast in ein fruchtbares Paradies verwandelt haben. Jahrhundertelang hat dieser Kampf mit der Natur gedauert, hat der Mensch das Wasser zurückgedrängt und den Grund trockengelegt. Die Eindrücke eines einzigen Tages reichen selbstverständlich nicht aus, um sich ein halbwegs vollständiges Bild von Amsterdam zu machen. Aber die reiche, alte Stadt gefiel mir auf den ersten Blick. Auf zweiundneunzig Inseln gelegen, ist sie ge110
wissermaßen eine Lagunenstadt. Zahllose Boote durchfahren Dutzende von Grachten, über die sich Hunderte schmucker Brücken spannen. Die dichten Kronen von Linden und Ulmen neigen sich über die stillen Gewässer. Hohe, schmale, ziegelgedeckte Backsteinhäuser, reich verziert mit weißen, rosaroten, hellbraunen und zartvioletten Kacheln, spitzen Dachreitern, Medaillons und Reliefs, schmiegen sich aneinander. All dies erfreut das Auge durch eine vorbildliche Ordnung und Sauberkeit und durch die frischen, satten Farben vor dem Hintergrund des dunstigen Himmels, an dem manchmal ein blasses Lasurblau durchschimmert. Gleitet dann plötzlich ein Sonnenstrahl über die vom Regen blank gewaschenen Schuppen eines Daches oder über die Kacheln eines verschnörkelten Glockenturms, so ist man überrascht und entzückt von dem herrlichen, durch die ewig feuchte Luft gedämpften Farbenspiel. Den stärksten Eindruck auf den Neuankömmling aber macht wohl der Zusammenklang der vielen Glocken, der die Stadt alle Viertelstunden erfüllt. Auf den Kirchen, am Rathaus und an der Börse vereinen sich die Glockenspiele zu einem harmonischen Chor. Überall ertönen die Melodien von Hymnen und Liedern. Die Klänge vermischen sich und fliegen über die Kanäle und Häuser, als fände ein Fest statt, das 111
sich alle fünfzehn Minuten wiederholt. Zuerst horcht man gespannt auf diesen ungewohnten, aber schönen Reigen der vielen bronzenen und silbernen Stimmen. Von Stunde zu Stunde gewöhnt man sich indessen an das feierliche Geläut, und bald scheint einem, wenn es aufhören sollte, würde das Leben in der Stadt stillstehen. Heute haben wir bereits die erste Stadtbesichtigung hinter uns. Nachdem wir uns im Hotel eingerichtet und die Formalitäten im Hafen betreffs unseres Expeditionsgepäcks erledigt hatten, waren wir gegen drei Uhr frei und gingen in ein Restaurant in der Warmoesstraat, unweit der Oude Kerk, der alten Kirche. Dort gab es, wie uns Wassili Afanasjewitsch versicherte, gut und billig zu essen. Das Mittagsmahl war wirklich reichlich und nicht teuer. Wir staunten, wie schon oft zuvor, über die Findigkeit des alten Seemanns, der sich, ohne die Sprache zu beherrschen und ohne jemals in Amsterdam gewesen zu sein, binnen wenigen Stunden so glänzend zurechtfand. Den Rest des Tages hatten wir nichts Unaufschiebbares vor. Unsere Gruppe teilte sich – die einen gingen ins Hotel zurück, um sich auszuruhen, die anderen machten einen Stadtbummel, um sich, jeder nach seinem Geschmack, an den Sehenswürdigkeiten zu erbauen. 112
Morgen werde ich in den Villenvorort fahren, wo Parzet wohnt. Auf diese Begegnung warte ich mit Ungeduld und nicht ohne Herzklopfen. In welcher Verfassung werde ich ihn vorfinden? Um seine Beine steht es sicher schlecht, so schlecht, daß er nicht zum Hafen fahren konnte, obwohl er sich vorgenommen hatte, uns dort bei der Ankunft des Dampfers zu begrüßen. Wie wird er mich aufnehmen, was wird er mir raten? Ein weises, gütiges Wort von ihm auf den Weg, sein Segen für das Unternehmen sind mir jetzt dringend vonnöten! Morgen bei Parzet, und übermorgen können wir weiterreisen. Am Sonntag sticht die „Lützow“ nach Singapur in See. – Wudrums Unruhe erwies sich als begründet. Der Besuch bei Parzet warf die bisherigen Reisepläne über den Haufen. Die Expedition blieb fast zwei Wochen in Amsterdam hängen. Die Absicht, am nächsten Sonntag mit der „Lützow“ weiterzufahren, mußte sich Wudrum aus dem Kopf schlagen. In dieser Zeit schrieb er besonders fleißig; außer den Tagebucheintragungen Briefe an seine Frau, an seinen Petersburger Freund und Sachwalter Jewdokimow und an Gun Chansnepp. Fast alle diese Briefe sind erhalten geblieben, so daß wir 113
ziemlich genau wissen, was damals in Amsterdam vor sich ging. Am frühen Morgen des 7. November fuhr Wudrum zu Parzet. Seiner Gewohnheit gemäß beschrieb er im Tagebuch ausführlich den Weg, den er vom Hotel „Victoria“ bis zu dem Vororthäuschen zurücklegte, das der berühmte Gelehrte bewohnte, seitdem er sich zurückgezogen hatte. Die Umgebung der Stadt, die etwas eintönige, ebene Marschlandschaft, der ruhige Ernst, der über ihr lag – all dies versetzte Wudrum in eine friedliche, leicht gehobene Stimmung. Hinter ihm lag das lärmerfüllte Amsterdam, vor ihm das saubere kleine Städtchen, umgeben von grünen Poldern mit weidenden Kühen und mit Windmühlen, die überall bis zum Horizont verstreut waren. Hier und dort wurde die Ebene von Reihen hoher Bäume unterbrochen und von Kanälen mit dunkel schimmerndem Wasser durchschnitten. Ein Fluß, über den sich eine Brücke wölbte, floß am altertümlichen Stadttor um einen kleinen Hügel. Der von verschiedenfarbig getönten Wolken verhängte niedrige Himmel darüber tauchte alles in taubengraues Licht, das sich nur manchmal, wenn die Sonne durchbrach, gelb und rosa färbte. Unwillkürlich denkt man bei solchen Landschaften an Bilder von Ruysdael und Potter. 114
Und da war auch schon das kleine, gemütliche, von einem winzigen Garten umgebene Haus mit den blitzblanken Fensterscheiben in den dunkel lackierten Rahmen. Parzet stand am Fenster. „Mein erster Eindruck“, schrieb Wudrum an seine Frau, „war der, daß Parzet entschieden nicht altert. Er ist ganz derselbe wie früher, ein gutmütiger Riese mit zierlichen, kleinen Händen, die seine langatmigen Sätze durch ausdrucksvolle Gesten ergänzen, dabei immer noch witzig und spöttisch. Und weißt du, Natalja, obwohl unsere langjährige Zusammenarbeit zu einem engen Freundschaftsverhältnis geführt hat, bin ich in seiner Gegenwart immer noch ein wenig schüchtern, genauer gesagt, etwas verwirrt und verlegen.“ Freudig waren nur die ersten Minuten des Wiedersehens. Schon nach kurzer Zeit kam eine gedrückte Stimmung auf. Wudrum verstand nach wenigen Worten, wie tiefunglücklich dieser äußerlich scheinbar unveränderte, quicklebendige, starrköpfige, leicht aufbrausende und dennoch von unheilbarem Siechtum gebrochene Mann war. „Die Zeit ist dahin, mein lieber Wudrum, als mir der Himmel noch voller Geigen hing und ich von hohen Idealen und kühnen Hoffnungen beschwingt war, als die Erde federte, wenn ich darüber hinschritt. Erin115
nern Sie sich an Sebarao? An die Nacht, als das Gewitter seinen Spaß mit uns trieb? Ach, war das eine schöne Zeit! Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Sie waren damals noch blutjung… Na, Schwamm drüber! Jetzt wollen Sie also mit Ihren Freunden und Ihrem Sohn wieder dorthin, von großen Hoffnungen und edlen Wünschen getrieben. Leider ohne mich! So gern ich die Mühsale des Feldzugs mit Ihnen teilen würde, ohne Beine… Ohne Beine kann man nicht ins Feld ziehen.“ Trotz allem schloß sich Parzet dem Feldzug an. Mit dem Kopf und dem Herzen. Seinen Verstand, seine Begabung, Erfahrung und Liebe zur Wissenschaft brauchte Wudrum jetzt nötiger denn je. Parzet begann damit, daß er sich eingehend nach der Ausrüstung der Expedition erkundigte. Über das, was er hörte, geriet er in helle Verzweiflung. Seiner Empörung gab er maßvoll Ausdruck, wie es einem Gelehrten geziemt, der jedes seiner Worte sorgfältig abwägt, aber ohne die Eigenliebe des Gesprächspartners zu schonen, nur darauf bedacht, die Dinge richtig einzuschätzen. Er verstand Wudrum, denn er wußte am besten, wieviel Mühe es seinen russischen Kollegen gekostet hatte, das Geld für dieses kühne und gefährliche Unternehmen aufzutreiben, aber er hielt es für zu riskant, ja schlechthin sinnlos, mit einer so 116
unzulänglichen Ausrüstung und so geringen Mitteln nach Pautoo aufzubrechen. Und er sagte das auch offen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Am nächsten Tag fuhr Wudrum wieder zu Parzet, diesmal begleitet von Plotnikow. Sie brachten alle Expeditionsunterlagen mit. Zu dritt saßen sie bis in die tiefe Nacht hinein beisammen, rechneten alles nach, überlegten jede Möglichkeit und bemühten sich, Zufälligkeiten auszuschalten. Zuletzt kamen sie zu dem Ergebnis, daß Parzet recht hatte. Das Risiko war zu groß. Von diesem Tag an entfaltete Parzet eine fieberhafte Tätigkeit. „Parzet ruiniert sich aus lauter Gutherzigkeit“, schrieb Wudrum an Jewdokimow. „Stellen Sie sich vor: Ohne zu überlegen, ohne abzuwägen, was ihm selbst binnen kurzem passieren kann, will er sein ganzes kleines Vermögen, alle seine bescheidenen Ersparnisse, die er als Gelehrter zurückgelegt hat, in unser unsicheres Unternehmen stecken. Ich sträube mich dagegen mit Händen und Füßen, denn dieses Opfer kann sich als völlig sinnlos erweisen. In letzter Zeit sind nämlich Ereignisse eingetreten (wir haben vorher nichts davon gewußt), die unsere Vorstellung von archäologischen Ausgrabungen unter Wasser von Grund aus verändert haben. Im Mittelmeer sind vor kurzem Arbeiten durchgeführt 117
worden, deren Ergebnisse beweisen, daß die von uns vorgesehenen Methoden bereits veraltet sind und überdies die damit betrauten Menschen gefährden können. Im Hinblick darauf sind wir gezwungen, in Deutschland die neueste Taucherausrüstung zu erwerben und Berufstaucher anzuheuern, die speziell mit dieser Ausrüstung vertraut sind. Das wird natürlich Ausgaben erfordern, die unsere Kräfte übersteigen. Parzet stimmte mir schließlich zu, daß sogar unsere gemeinsamen Anstrengungen nicht ausreichen werden, und sah sich sofort nach anderen Interessenten um. Bald darauf sprachen alle möglichen Geschäftsleute und Unternehmer bei uns vor. Lieber Jelisar Alexejewitsch, Sie können sich vorstellen, wie mich das alles bedrückt. Ich sorge mich um Parzets Gesundheit, aber ich muß ohnmächtig zusehen, wie er Raubbau damit treibt. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, eine Lösung zu finden, denn er ist überzeugt, daß ich die Sache zu einem guten Ende führen muß, ganz gleich, was für Schwierigkeiten sich auftürmen. Was mich einigermaßen damit aussöhnt, ist der Umstand, daß Parzet, seitdem er sich mit unseren Angelegenheiten befaßt, gleichsam verjüngt ist, daß er neuen Mut geschöpft hat und in der aufreibenden Arbeit ganz aufgeht. Er hat die 118
Lust am Tätigsein noch nicht verloren und anscheinend schon einen ersten Erfolg zu verzeichnen. Jedenfalls will er mich mit einem gewissen Schirast zusammenbringen. Sie wissen, Parzet verabscheut Übertreibungen und Schroffheit, er zeichnet sich durch Taktgefühl und Liebe zu den Menschen aus, er sieht das Gute in ihnen und freut sich darüber, erkennt aber auch das Schlechte in ihnen, versteht und verzeiht. Über Herrn Schirast äußert er sich zurückhaltend. Soviel ich weiß, ist das ein recht gescheiter junger Gelehrter, der aus einer vermögenden Familie stammt und wahrscheinlich über Kapital verfügt. Irgendwelche wissenschaftlichen Leistungen hat er nicht aufzuweisen. Er hat sich vor langem eifrig, aber ohne nennenswerte Ergebnisse oder Entdeckungen mit der Geschichte Pautoos befaßt. Parzet nimmt an, daß er sich für unser Vorhaben interessiert und vielleicht zur Finanzierung der Expedition beiträgt. Wir werden sehen. Ich weiß wahrhaftig nicht, wie das alles enden soll. Es ist schwer, mein lieber Jelisar Alexejewitsch, sehr schwer. Aber was tun? Nach Petersburg zurückkehren? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Dieser Tage soll Schirast in Amsterdam eintreffen.“
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Herr Schirast Die Stimmung der kleinen Gruppe war auf den Nullpunkt gesunken. Wudrum bemühte sich auf jede Art und Weise, seine Mitarbeiter aufzumuntern, aber ohne viel Erfolg. Alle waren sich im klaren über den Ernst der entstandenen Lage, dachten jedoch nicht im Traum an eine Rückkehr nach Petersburg. Plotnikow und Otschakowski suchten Wudrum zu überreden, die Reise mit den verfügbaren Mitteln und der vorhandenen Ausrüstung anzutreten. „Ich schätze den alten Parzet sehr“, sagte Plotnikow, „aber glauben Sie mir, Iwan Alexandrowitsch, das sind alles westliche Spitzfindigkeiten. Die Leute hier sind dermaßen an Komfort gewöhnt, daß sie nicht einmal eine Konservendose ohne hypermodernes Werkzeug aufmachen können. Dem entspricht auch die von Herrn Parzet aufgestellte Liste all der Dinge, die wir angeblich brauchen. Natürlich wäre es gut, wenn wir mit allem überreichlich und erstklassig eingedeckt wären, aber… Wir werden auch so zurechtkommen, Iwan Alexandrowitsch. Versuchen wir es. Wer nicht wagt, gewinnt nicht!“ Otschakowski putzte, noch verlegener als sonst, unaufhörlich seinen Zwicker, unterstützte Plotnikow jedoch ohne Zaudern. Sherdnew enthielt sich jeder Meinung, ob120
wohl er als erfahrener und gewissenhafter Mann instinktiv fühlte, daß Wudrum recht hatte, und beschränkte sich darauf, mit verdoppeltem Eifer für das leibliche Wohl aller Expeditionsteilnehmer zu sorgen. Was Alexander betraf, so griff er in die Auseinandersetzungen kaum ein. Er schien sich für das Schicksal der Expedition überhaupt nicht zu interessieren. Seine ganze Zeit verbrachte er damit, die Sehenswürdigkeiten der Stadt, insbesondere die nächtlichen, zu studieren. Am Tag vor der Ankunft Schirasts machte sich Iwan Alexandrowitsch allen Ernstes Sorgen, als er erfuhr, daß Alexander um vier Uhr morgens noch nicht ins Hotel zurückgekehrt war. Sherdnew, der stets über alles Bescheid wußte, grinste verstohlen und bemerkte, der Herr Sohn sei immer noch in der Warmoesstraat. Mit Wudrums Schlaf vor der entscheidenden Zusammenkunft war es vorbei. Er zog sich an und verließ das Hotel. Von der Damrakstraat überquerte er einen Kanal und erreichte überraschend schnell die Warmoesstraat, eines der Spelunkenviertel im Zentrum der großen Hafenstadt. Inmitten eines Labyrinths dunkler Gassen voller verdächtiger Gestalten gelegen, wimmelte es dort selbst zu dieser nächtlichen Stunde von Vergnügungssüchtigen. Aus Hunderten kleiner Tingeltangels mit marktschreieri121
schen Namen, wie „Palace Indiana“, „Eldorado“ oder „Walhalla“, lauter kuriosen, höchst zweifelhaften Etablissements, drang der Lärm kreischender Drehorgeln, Ziehharmonikas, Orchestrions und in allen Sprachen und Mundarten grölender, fluchender und röchelnder Stimmen. Seltsam, daß hier im Stadtzentrum, in unmittelbarer Nachbarschaft gutbürgerlicher, wohlanständiger und sauberer Wohnstraßen, die ganze Nacht hindurch ein so wüstes, zügelloses Treiben herrschen durfte! In einer dieser Räuberhöhlen amüsiert sich Alexander, dachte Wudrum. Was ist mit ihm los? Wonach sucht er, worauf hofft er? Er ist mir entfremdet, ein haltloser Mensch. Verstehe das, wer will! Am Morgen fand bei Parzet die erste Besprechung mit Schirast statt. Er machte keinen sehr angenehmen, vertrauenerweckenden Eindruck, wirkte jedoch überdurchschnittlich intelligent. „Ein gerissener Bursche ist das“, schrieb Wudrum an Jewdokimow. „Er schaut einen nicht an, sondern betrachtet dreist alles mit seinen flinken, leicht schrägen grünlichen Schlitzaugen, die er dabei zusammenkneift. Ich konnte seinen Blick nicht einfangen und nicht feststellen, ob er aufrichtig ist. Kaum sprachen wir jedoch zur Sache, da wurde sein Gesichtsausdruck klüger und ernster. Sogar seine Augen wurden dunkler und 122
wirkten nicht mehr so grün. Na schön, man muß die Menschen nehmen, wie sie sind. Es sieht so aus, als könnte er uns nützlich sein. Und das ist jetzt die Hauptsache. Zweifellos ist er sachverständig. Er stellte vernünftige Fragen, verriet ein solides Wissen und machte sich gründlich mit unseren Unterlagen bekannt.“ Schirast pflichtete Wudrums kühner Hypothese überraschend schnell bei. Er drang in alle Einzelheiten ein und ließ sich über die Zukunftspläne des russischen Gelehrten genauestens unterrichten, nahm jedoch nichts auf Treu und Glauben hin. Er widersprach, überlegte, ging Punkt für Punkt durch, einzig von dem Bestreben geleitet, sich ein eigenes objektives Urteil zu bilden. „Sie nehmen also an, Herr Professor, daß Siliziumleben aus dem Weltall auf die Erde gekommen ist?“ „Zweifellos. Sie wissen doch, in einigen Meteoriten wurden hochmolekulare Substanzen gefunden, die aller Wahrscheinlichkeit nach organischen Ursprungs waren. Ich bin überzeugt, daß lebensfähige Keime aus Siliziumverbindungen, die sich in Meteoriten befanden, auf unseren Planeten gelangen konnten. Sie wurden weder durch die Kälte des Weltraums noch durch die hohe Reibungstemperatur beim Eindringen des Meteoriten in die Atmosphäre 123
abgetötet. Nach den pautooanischen Überlieferungen erfolgte die Ankunft des Himmlischen Gastes Ende des achten, Anfang des neunten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Bemerkenswerterweise finden sich in den alten Chroniken der Chinesen, Inder und Koreaner ebenfalls Hinweise auf ein ungewöhnliches Leuchten am Himmel, auf einen hell strahlenden fliegenden Körper. Die Daten in diesen Handschriften fallen mit dem Datum der legendären Ankunft des Himmlischen Gastes zusammen.“ „Das klingt sehr überzeugend, Herr Professor. Lassen wir die mystischen Vorstellungen der alten Pautooaner beiseite, so können wir in der Tat annehmen, daß gerade um diese Zeit auf eine der pautooanischen Inseln ein Meteorit herabstürzte, dem die Eingeborenen dann göttliche Ehren erwiesen. Aber ich komme nicht dahinter, was für eine Verbindung zwischen diesem Meteoriten und dem von Ihnen aufgefundenen Altargefäß besteht. Angenommen, er beherbergt Keime siliziumhaltigen Lebens – Ihre mikrobiologischen Untersuchungen sind beeindruckend –, wie läßt sich dann die Verbindung herstellen zur Legende, zur Ära des Schöpfertums im Fürstentum Sebatu, das bis heute ins Reich der Mythologie verwiesen wird? Warum ist aus dieser an Ereignissen und an Werken der materiellen Kultur offenbar 124
so reichen Zeit nur ein einziges Altargefäß erhalten geblieben?“ „Ich war und bin der Auffassung“, mischte sich Parzet ins Gespräch ein, „daß ein Gelehrter bereits auf Grund eines einzigen Fundstücks die Pflicht hat, sich ein Bild von der Vergangenheit zu machen. Natürlich muß er sich darüber hinaus bemühen, neue Fakten aufzudecken, die seine Schlußfolgerungen bestätigen.“ „Aber wo?“ „Auf dem Meeresgrund, Herr Schirast“, erwiderte Wudrum. „Lange konnte ich keine Erklärung finden, aber dann las ich eine Schilderung des Vulkanausbruchs auf der Insel Krakatau im Jahre 1883 und überlegte mir, daß ähnliches auch auf Pautoo geschehen sein konnte. Wie Sie wissen, versank während dieses Vulkanausbruchs ein großer Teil der Insel Krakatau im Meer. Gleichzeitig wurde feinster vulkanischer Staub aufgeworfen, der hoch in die Atmosphäre aufstieg und den der Wind über riesige Entfernungen davontrug. Da dieser vulkanische Staub aus winzigen Teilchen bestand, konnte er sich jahrelang in der Luft halten. Davon nahm der Himmel eine rötliche Färbung an.“ „Oh, ich beginne zu verstehen – die Himmelsröte! Sie glauben, diese optische Erscheinung hätte man Hunderte von Meilen weit beobachten müssen?“ 125
„Absolut richtig! Und diese Schlußfolgerung ermutigte mich und zeigte mir, wo die weiteren Forschungen anzusetzen hatten. Ich las wieder in den alten Handschriften nach und fand darin tatsächlich Hinweise auf eine Himmelsröte, die in den dreißiger Jahren des zwölften Jahrhunderts beobachtet worden war. Sodann gelang es mir, festzustellen, daß um die gleiche Zeit auf Sebatu wirklich ein Vulkanausbruch stattgefunden hatte und daß infolge einer tektonischen Bodensenkung ein großer Teil der Insel im Meer versunken war. Das Fürstentum Sebatu kann und darf man nicht ins Reich der Mythologie verweisen. Es hat existiert und ist meines Erachtens ebenso wie Atlantis vom Ozean verschlungen worden.“ „Nehmen wir einmal an, daß die uns unbekannte Kultur auf diese Weise vernichtet worden ist. Doch was war vorher, in ihrer Blütezeit? Warum haben damals die silizierten Gegenstände keine Verbreitung gefunden? Warum sind sie bis zum heutigen Tage von niemand außer von Ihnen entdeckt worden?“ „Bis jetzt, Herr Schirast, bis jetzt sind sie nicht entdeckt worden. Ganz abgesehen davon, daß möglicherweise das eine oder andere Stück zwar gefunden, aber nicht gehörig untersucht worden ist. Und zwar deshalb, weil die Forscher bei ihren 126
Untersuchungen nicht von der Hypothese ausgingen, daß es siliziumhaltiges Leben gegeben haben kann. Ist es erst einmal nachgewiesen, so wird ein Fund auf den andern folgen, darauf können Sie sich verlassen.“ „Sie erklären also alles mit einer Naturkatastrophe?“ „Nicht nur eine Naturkatastrophe hat der Ära des Schöpfertums ein Ende gesetzt. Das war der erste Akt der Tragödie. Die pautooanische Kultur erlebte in der Zeit, als das Fürstentum Sebatu auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, einen großen Aufschwung. Und trotzdem war sie dem Untergang geweiht, weil sie keine Stütze im Volk hatte. Nur ein kleiner Kreis von Auserwählten, von ‚Geistesaristokraten’, verstand und liebte diese Kultur. Nach der Katastrophe konzentrierten die überlebenden Priester in ihren Händen alles, was die Menschen aus dem ihnen fremden Siliziumleben für sich nutzbar zu machen verstanden hatten. Sie hielten alle Verfahren, die schöpferische Kraft zu meistern und zu lenken, streng geheim. Denken Sie an die ägyptischen Priester! Das machte den Untergang dieser ungewöhnlichen Kultur unvermeidlich. Soziale Wirren und kriegerische Einfälle benachbarter wilder Stämme, die der Kultur Sebatus nicht teilhaftig waren, vernichteten sie endgültig. Sie hatte 127
im Volk keine festen Wurzeln geschlagen, war auf Sebatu nicht gewachsen wie ein mächtiger Affenbrotbaum, sondern aufgeblüht wie eine zarte, schöne Blume. Die Kriegswirren gingen vorüber, aber sie hatten auf ihrem Wege alles zerstört. Nur wenige aus dem Kreis der in die Geheimnisse Eingeweihten überlebten und machten Aufzeichnungen, vermutlich in der Absicht, den Nachkommen wenigstens eine allgemeine Vorstellung von der Ära des Schöpfertums zu vermitteln. Anhand dieser Legenden und Überlieferungen bemühe ich mich, ein Bild vom Aufschwung und Untergang der alten Kultur, die mit keiner anderen vergleichbar ist, zu zeichnen.“ Das Gespräch zog sich in die Länge. Schirast hieß Wudrums Plan gut, an der Küste Sebatus unterseeische Ausgrabungen vorzunehmen. Sein Interesse schien aufrichtig zu sein, die Energie, mit der er sich anheischig machte, die Expedition zu fördern, weckte Hoffnungen. Er bot jedoch keine finanzielle Unterstützung an, sondern riet Wudrum, sich an Gun Chansnepp, den Besitzer zahlreicher Kautschukplantagen auf Pautoo, zu wenden. Wudrum gefiel das ganz und gar nicht. Auch Parzets Miene verdüsterte sich, er paffte dicke Rauchwolken aus seiner kleinen Pfeife und bedachte Schirast, nachdem er gegangen war, mit drastischen, wenig schmeichel128
haften Ausdrücken. Schließlich aber kam er, seinen Ärger hinunterschluckend, trotz allem zu dem Schluß, daß es das beste sei, den Rat anzunehmen, besonders wenn man den kolossalen Einfluß des alten Plantagenbesitzers auf Pautoo berücksichtigte. „Glauben Sie mir, Herr Professor“, sagte Schirast, „wenn es uns gelingt, die Unterstützung Gun Chansnepps zu gewinnen, dann werden der Expedition alle Türen offenstehen, die andernfalls fest verschlossen bleiben.“ Über den Gang der Verhandlungen Wudrums mit Gun Chansnepp ist uns nichts bekannt. Wir wissen nur, daß er zusammen mit Schirast Holland auf ein paar Tage verließ und daß Chansnepp versprach, die Expedition zu finanzieren, dafür aber zwei Bedingungen stellte: 1. Alle Expeditionsberichte werden dem Chansnepp-Kautschuk-Konzern zugestellt. 2. Schirast schließt sich der Expedition als bevollmächtigter Vertreter Gun Chansnepps an. Wudrum akzeptierte beide Bedingungen. Von der Reise zu Chansnepp zurückgekehrt, versammelte er die Mitglieder seiner kleinen Gruppe um sich, stellte ihnen Schirast als neuen Mitarbeiter vor und weihte sie in die geänderten Pläne ein. Dann schlug er allen vor, sofort die Handelsund 129
Industrieausstellung zu besuchen. Seine gehobene Stimmung übertrug sich auf die übrigen. Gutgelaunt gingen sie, den sonnigen Tag genießend, zu Fuß längs der von Gärten eingesäumten Singelgracht durch breite Straßen mit modernen Bauten zum Industriepalast. Rings um das Gebäude liefen Galerien mit Geschäften, und die Reisenden machten ausgiebig von der Möglichkeit Gebrauch, alles Nötige zu bestellen und einzukaufen. So verbrachten sie den Tag geschäftig, angeregt und fröhlich. Zufrieden und müde setzten sie sich abends an kleine Tischchen in dem gemütlichen Gartenrestaurant neben dem Industriepalast und stießen mit grüngelbem Rheinwein auf das Gelingen der Expedition an. Nun hatten alle mehr als genug zu tun. Plotnikow und Schirast fuhren nach Deutschland, um dort mit einer Firma über die Lieferung von Schlauchtauchgeräten und die Anheuerung von Tiefseetauchern zu verhandeln. Wudrum und Otschakowski kauften Ausrüstungsgegenstände ein. Sherdnew bestellte nicht minder eifrig alles, was noch für die Wirtschaft fehlte. Alexander ließ die Warmoesstraat links liegen, nahm allerdings auch nicht sehr aktiv an den letzten Vorbereitungen teil. Er führte lediglich phlegmatisch, obzwar akkurat, einzelne Aufträge aus. Sobald Plotnikow 130
und Schirast aus Deutschland zurückgekehrt waren, nachdem sie erfolgreich ihre Käufe getätigt und Taucher angeheuert hatten, brach die Expedition zu ihrer weiten, schwierigen Reise auf. Amsterdam blieb zurück. Das nunmehr sehr umfangreiche Gepäck war glücklich verstaut, die Expeditionsmitglieder hatten sich in ihren Kajüten eingerichtet, und die recht komfortable, aber zunächst wenig interessante Seereise begann. Während der ganzen Überfahrt arbeiteten die Expeditionsmitglieder nach einem festen Plan Wudrums, bereiteten sich auf die bevorstehenden Forschungen vor, führten Tagebücher und lernten die pautooanische Sprache. Keiner blieb müßig, ungeachtet des Umstandes, daß es nicht wenig Zeit und Kraft erforderte, die schier endlose Zahl schmackhafter Gerichte zu bewältigen, die den Fahrgästen von der „Paketfahrtgesellschaft“ fünfmal am Tag vorgesetzt wurden, weil sie damit Touristen für ihre Ozeandampfer ködern zu können glaubte. Die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten der Expeditionsmitglieder traten auf dem engen Raum des Schiffes besonders klar zutage. Jeder verbrachte seine freie Zeit, wie es ihm gefiel, und erholte sich auf den mitunter ziemlich schwankenden Planken, die den festen Boden unter 131
den Füßen ersetzten, nach Lust und Geschmack. Wudrum und Schirast saßen, wenn sie nicht beschäftigt waren, abends meistens in bequemen Liegestühlen auf dem Oberdeck. Schirast vertiefte sich, ohne Zeit zu verlieren, in das Studium des ganzen Materials. Jede Minute nutzte er aus. In ihm bohrte die Frage: Warum gibt es praktisch keine historischen Dokumente über die Ära des Schöpfertums, und warum sind die vorhandenen so nebelhaft, unverständlich und widerspruchsvoll? Unablässig sann er über das Siliziumrätsel nach und gab eines Tages eine sehr interessante Erklärung, die Wudrum wie Honig einging, weil sie seine eigene Hypothese bestätigte und ergänzte. „Ich vermute, es handelt sich hier im Grunde genommen um einen Kampf religiöser Richtungen. Für die Anhänger des alten Glaubens war die Ankunft des Himmlischen Gastes ein schwerer Schlag. Sie stemmten sich aus Leibeskräften gegen den sich immer stärker durchsetzenden neuen Kult. Dann kam die Katastrophe, und der alte Glaube gewann wieder die Oberhand. Seine Priester taten, nachdem der Tempel des Himmlischen Gastes zerstört war, alles in ihrer Macht Stehende, um den Glauben an die Gottheit auszulöschen. Wahrscheinlich wurde jede Erinne132
rung an die Ära des Schöpfertums und an den großen Raomar als Lästerung verfolgt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die uns aus der pautooanischen Geschichte bekannten blutigen Kämpfe am Ende des zwölften Jahrhunderts ihrem Wesen nach Religionskriege waren. Damals wurde offenbar alles, was mit der Ära des Schöpfertums und dem Kult des Himmlischen Gastes zusammenhing, erbarmungslos ausgerottet.“ Iwan Alexandrowitsch nahm diesen Beitrag Schirasts mit Genugtuung zur Kenntnis. Beide unterhielten sich danach noch angeregt und lebhafter als vorher über die sie interessierenden Probleme. Gegen Ende Januar ging die Reise auf dem komfortablen Ozeanriesen zu Ende. In Singapur stiegen die Expeditionsteilnehmer in einen kleinen Küstendampfer um, der sie nach Makimi bringen sollte. An dieser Stelle dürfte es wieder angebracht sein, einige Seiten aus Wudrums Tagebuch wörtlich anzuführen. 26.Januar 1914 Wieder ist ein Tag vorbei. Einer der letzten Tage fast zwanzigjährigen geduldigen Wartens. Morgen früh müßten wir die Gipfel von Schonganou sehen. Das ist die erste Insel des pautooanischen Archipels. Was erwartet uns dort, auf den Inseln der Berge und Dschungel, der uralten Kultur und 133
ebenso alten Rätsel? Offensichtlich stellt sich ein jedes Mitglied unserer Gruppe so oder anders die gleiche Frage, und alle halten gespannt Ausschau nach diesem Land, das die meisten noch nie gesehen haben und das für uns alle soviel Neues, Verlockendes und Gefahrvolles birgt. Heute fühlen sich alle wie neugeboren. Die Eintönigkeit der langen Seefahrt liegt hinter uns. Trotz der drückenden, feuchten Hitze sind wir frisch und munter. Besonders die Jüngeren sehen ungeduldig der Ankunft in der Hauptstadt entgegen. Sie plätten sogar die in den Koffern zerdrückten Anzüge und Hemden. Die „Prinzessin Emma“ wird nach Schonganou noch einige Häfen kleiner Inseln des Archipels anlaufen, um Post aus Europa abzuliefern und Fahrgäste aufzunehmen. Erst übermorgen wird sie in Makimi Anker werfen. Mit der Arbeit will es heute nicht recht vorangehen. Je näher wir dem Ziel kommen, um so größer wird die Besorgnis, mit der ich an unser Vorhaben denke, um so stärker spüre ich die Verantwortung, die ich auf mich geladen habe. Nein, nicht an der Richtigkeit meiner Schlußfolgerungen zweifle ich. Daran glaube ich bis zum letzten Atemzug. Mich beunruhigt etwas anderes. Denke ich an die vielen Laufereien und Plackereien, die wir hatten, bis wir die für 134
die Expedition erforderliche Ausrüstung zusammenbekamen, so frage ich mich: Werden die Kräfte und Mittel ausreichen, um den Menschen und der Natur ihr Geheimnis zu entreißen? Vor fast zwanzig Jahren näherten wir uns gleichfalls diesen Inseln. Parzet war damals ungefähr so alt wie ich jetzt. Die Jugend erfreut sich unbekümmert des Lebens. Immer sieht sie weite Horizonte vor sich und glaubt an eine glückliche Zukunft. Parzet strahlte damals überlegene Ruhe aus, und doch wird er, ein Mann im vorgerückten Alter, sich um uns, die Jugend, sicher beunruhigt haben. Ich habe Parzet einen Brief geschrieben. Dann wollte ich gern wissen, was Alexander tat. Es drängte mich, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen. Er stand auf dem Oberdeck und blickte neugierig in die Richtung, in der morgen die pautooanischen Inseln auftauchen werden. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck froher Erwartung, aber aus seinen Augen sprach Trauer, als plagten ihn Heimweh und Furcht. Woran dachte er? An das, was er Tausende Meilen zurückgelassen hatte, oder an das, was vor ihm lag? Warum mischte sich Furcht in seine Erwartung des Unbekannten? War es eine Vorahnung? Mir bangte jetzt selbst davor, ihn weiter mitzunehmen. 135
Rasch brach die Nacht herein. Wir standen alle bei Alexander, Schulter an Schulter, jeder des andern Wärme fühlend, aber ohne ein Wort zu sagen. Der Südwestmonsun brachte Kühle. Das Meer wiegte sich in einer sanften Dünung. Noch lange erfreuten wir uns am Gefunkel des fremden Sternenhimmels, am Widerschein seines Glanzes auf den Wellen und an den im Wasser aufleuchtenden Lebewesen. Um zehn Uhr wünschte mir Alexander gute Nacht und ging in seine Kajüte. Ich blieb noch oben. Meine Gedanken weilten bei den Mühen und Freuden, die uns in dem Lande erwarteten, das ich seit langem liebte und nach dem ich mich solange gesehnt hatte, bei all dem Schönen und Furchtbaren, das es für uns bereithielt. –
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Boris Schorpatschew 27. Januar 1914 Nun liegen sie vor mir, die pautooanischen Inseln, die ich fast zwanzig Jahre nicht mehr gesehen habe. In aller Frühe weckte ich Alexander, und wir eilten an Deck. Die Gipfel von Schonganou waren noch frei von Wolken. Nur weiter unten, an den dichtbewaldeten Steilhängen, wogten rosa und lila getönte Nebelschwaden. Die aufgehende Sonne erhellte den schmalen Uferstreifen, dessen Hellgrün sich freundlich abhob von den strengen Konturen der darüber aufragenden Berge. Unser Dampferchen umschiffte den ziemlich ebenen Ostausläufer der Insel, und gegen zehn Uhr öffnete sich vor uns eine breite Bucht, in deren Hintergrund dünne Rauchfahnen zum Himmel aufstiegen. Bald darauf konnte man schon Hausdächer, vom Ufer abstoßende Boote und einzelne Menschen unterscheiden. Die Berge traten zurück, der Uferstreifen verbreiterte sich, und die großen grünen Blätter von Kokospalmen grüßten in den Strahlen der bereits stark wärmenden Sonne einladend zu uns herüber. – So erreichte Wudrums Expedition die erste der pautooanischen Inseln. Dort stieß ein 137
Mensch zu ihr, der auf die kommenden Ereignisse einen nicht geringen Einfluß haben sollte. Damals legte an der Insel Schonganou alle paar Monate einmal ein Dampfer an. Die Bevölkerung der Insel bestand aus einigen tausend Eingeborenen, die Kopra aufbereiteten, und einem Europäer, der den Gewinn davon einstrich. Auf der Insel floß das Leben unter der tropischen Sonne ruhig und gemächlich dahin. Nur wenn der Dampfer anlegte, geriet alles in Bewegung. Bevor die „Prinzessin Emma“ Anker werfen konnte, wurde sie schon von einer ganzen Flottille pautooanischer Boote attackiert. Ein munterer Lärm erhob sich ringsum. Lautstark priesen Verkäufer ihre Waren an: Bananen, Kokosnüsse, Mangofrüchte, getrocknete Fische, Matten und Schnitzereien aus Knochen oder Holz. Drei Stunden lang, während Frachten einund ausgeladen wurden, herrschte im Umkreis des Dampfers ein reges Leben, wie es die verträumte Insel sonst nicht kannte. Der Lärm schwoll noch mehr an, als die „Prinzessin Emma“ bereits abzulegen begann. Auf der Landungsbrücke kämpfte sich ein hochgewachsener weißblonder Bursche mit beneidenswerter Energie durch einen Haufen Pautooaner, die ihn umringten, zum Dampfer durch. Dort klammerte er sich an das Fallreep, verzweifelt bemüht, den tro138
pischen Wohlgerüchen der Insel zu entkommen. Doch seine Verfolger schienen damit durchaus nicht einverstanden zu sein und zerrten ihn gewaltsam zurück. Der dritte Offizier, der am Fallreep stand, ließ seinerseits den jungen Mann ohne Fahrkarte nicht an Bord. Die Lage des Burschen war aussichtslos. Gelangweilt und ziemlich teilnahmslos beobachteten die Fahrgäste den Vorgang, bis der Stimmenlärm von einer Flut so ausgesuchter und gepfefferter Flüche übertönt wurde, daß die Russen in dem verwegenen Burschen sofort einwandfrei einen Landsmann erkannten. Als erster mischte sich Sherdnew ein. Groß und stark, wie er war, schlug er sich ohne Mühe zu dem Landsmann durch. Der sagte, er heiße Boris Schorpatschew, man habe ihn von dem Dampfer abgeheuert, der diese Gewässer befahre, und ihn auf Schonganou zurückgelassen. Flehentlich bat er den alten Seemann, ihn wenigstens bis Makimi mitzunehmen. Der Wirtschaftsleiter unserer Expedition war ein gutmütiger, verständnisvoller, aber zugleich nüchtern rechnender Mensch. Als er erfuhr, daß es mit einer Fahrkarte für Schorpatschew nicht getan war, sondern daß man auch seine Schulden bezahlen mußte, schwankte er, ob er sich darauf einlassen solle. Da sprang Alexander Wudrum ein. Sonst im139
mer unschlüssig, melancholisch und keineswegs sehr hilfsbereit, zwängte er sich plötzlich mit einer Entschlossenheit, die ihm völlig wesensfremd war, durch die randalierende Menschenmenge und zückte seine Brieftasche, womit er sowohl die Pautooaner als auch den dritten Offizier besänftigte. An Bord des Dampfers eroberte sich der junge Mann bald die Sympathien der Expeditionsmitglieder. Fröhlich, arbeitsam und diensteifrig, aber nie kriecherisch und stets der eigenen Würde bewußt, gewann er auch rasch die Zuneigung Iwan Alexandrowitschs und wurde, natürlich ohne etwas davon zu ahnen, zum Anlaß für das erste Zerwürfnis zwischen Wudrum und Schirast. Wudrum entschloß sich, Boris Schorpatschew in Makimi nicht seiner Wege gehen zu lassen, sondern ihn in die Expeditionsgruppe aufzunehmen, da er der Meinung war, der energische, fähige und ergebene junge Mann werde der Sache bestimmt Nutzen bringen. Als Schirast davon erfuhr, drückte er sein Mißvergnügen aus und bedeutete dem Professor in zwar taktvoller, aber kategorischer Form, daß derartige Entscheidungen mit ihm abgestimmt werden müßten. Wudrum ging hoch. „Erlauben Sie, Herr Schirast, wollen Sie damit etwa sagen, daß ich kein Recht ha140
be, Anordnungen zu treffen, ohne vorher Ihre gütige Erlaubnis einzuholen? Einen Arbeiter für die Expedition darf ich nicht einstellen, das meinen Sie doch! Und wenn ich meine Schuhe zum Flicken gebe, muß ich Sie dann auch um Ihre Genehmigung bitten?“ „Bitte, beruhigen Sie sich, Iwan Alexandrowitsch! Wozu alles gleich auf die Spitze treiben? Ich wollte Sie doch nur warnen, vor einer Unüberlegtheit bewahren. Sie sind ein einfühlsamer, guter Mensch, der sich aber leider manchmal hinreißen läßt. Heute bedauern Sie diesen Vagabunden, und morgen…“ Wudrum flammte erneut auf. „Und morgen? Fahren Sie fort, fahren Sie fort! Wenn ich Sie recht verstehe, mein Herr, wollen Sie mich unter Kuratel stellen. Aber daraus wird nichts!“ „Ich denke gar nicht daran, Herr Professor, seien Sie unbesorgt. Ich wollte nur… Wie soll ich Ihnen das sagen? Verstehen Sie bitte, meine Lage ist sehr heikel. Sie wissen doch, ich habe die größte Achtung vor Ihnen, zugleich aber… Zugleich bin ich verpflichtet, Gun Chansnepps Auftrag auszuführen und viele Umstände in Betracht zu ziehen, die von Ihnen mitunter nicht beachtet werden. Die Expedition hat ihre Arbeit noch nicht aufgenommen, uns stehen die verschiedensten Schwierigkeiten 141
bevor, in erster Linie solche, die mit den Menschen zusammenhängen. Glauben Sie mir, unsere Arbeiten auf Pautoo werden nicht allzu gern gesehen. Wir müssen mit dem Widerstand der Priesterkaste rechnen, und auch der Gouverneur wird uns nicht ohne weiteres unterstützen. Er ist unentschlossen und konservativ. Was meinen Sie, wie es auf ihn wirkt, wenn in der Expeditionsgruppe plötzlich ein flüchtiger Sträfling entdeckt wird?“ „Ihre Vorsicht in allen Ehren! Ich erwarte auch nicht, daß uns die Priester mit offenen Armen aufnehmen, bin aber überzeugt, daß ich mit ihnen zu Rande kommen werde. Und der Gouverneur… Die Gouverneure sind offenbar überall gleich. Was nun diesen Burschen betrifft, so haben Sie ihn wohl etwas zu voreilig unter die ,Sträflinge’ eingereiht. Ich habe mit ihm gesprochen. Der junge Mann arbeitete in einer illegalen Druckerei und wurde zur Zwangsansiedlung nach Ostsibirien verschickt. Nun, und da versuchte er eben sein Glück in der Fremde. Wie Ihnen einleuchten dürfte, fand er das Glück nicht. Nirgends konnte er festen Fuß fassen, und es ging ihm hundsmiserabel. Die Not trieb ihn von Land zu Land. An regelmäßige Arbeit war nicht zu denken. Dazu die Sehnsucht nach der Heimat, die Einsamkeit! Ist es da ein Wunder, daß er, als er endlich 142
Landsleute traf, auflebte und neue Hoffnung schöpfte? Können Sie sich denn überhaupt vorstellen, in welcher Verfassung er war? Für uns wird er jetzt durch dick und dünn gehen!“ „Sie wollen also Ihren Entschluß nicht ändern, Herr Professor?“ „Auf keinen Fall. Ich habe versprochen, ihn mitzunehmen, und werde mein Versprechen halten. Klar?“ Wudrum setzte seinen Willen durch. Schirast mußte klein beigeben. Jeder verstand, daß es nicht nur um Schorpatschew ging und daß dieser erste Zusammenstoß nicht der letzte sein würde. Wudrums Freude über die Ankunft in Makimi wurde dadurch verdüstert. Der Zwischenfall veranlaßte ihn, noch einmal über die Lage nachzudenken, in die er geraten war, als er die Bedingungen Gun Chansnepps angenommen hatte. Schirast aber tat von nun an alles, um sich keine Blöße mehr zu geben und seine Stellung in der Expedition zu festigen. Boris Schorpatschew allerdings nannte er auch weiterhin nur den Sträfling. Makimi empfing, nach einem tropischen Wolkenbruch rein gewaschen, die Reisenden in strahlendem Glanz. Kurz nach der Ankunft schrieb Wudrum in sein Tagebuch: Die Möglichkeit, sich hier an der tropischen Natur zu erfreuen, hat mich seit je143
her angeregt, zur Feder zu greifen. Aber immer habe ich gefühlt, wie blaß die Worte und wie armselig die Versuche sind, ihre üppige Schönheit wiederzugeben. Indessen genügen einige wenige Worte, um sie zu charakterisieren: Die tropische Natur ist unendlich vielfältig und unerschöpflich reich. – Gleich darauf folgen ernste Befürchtungen über die Veränderungen im Lande: Ja, im Leben der Pautooaner hat sich vieles, eigentlich alles verändert. Und das, weil die Europäer mehr und mehr danach streben, um jeden Preis gerade das, was sich auf den Inseln grundlegend von den Sitten und Bräuchen der Europäer unterscheidet, nach ihrem eigenen Geschmack und Lebensstil umzumodeln. Das Gefühl der Besorgnis und Mitverantwortung wegen der oft gewaltsam eingeführten Neuerungen in diesem Gebiet, das meinem Herzen so lieb und teuer ist, verläßt mich nicht. Vor kurzem waren ihm das geschäftige Treiben und die nichtigen Aufregungen der sogenannten zivilisierten Welt noch fremd. Hätten wir nicht die Pflicht, den hiesigen Traditionen und Gewohnheiten Rücksicht und Achtung entgegenzubringen? Um wieviel älter, verfeinerter und eigenständiger ist doch die Kultur hier, verglichen mit der von Eisen und Elektrizität geprägten Zivilisation, die von 144
den überheblichen Europäern für die fortschrittlichste, ja einzige gehalten wird! – Nicht das allein betrübte indessen den russischen Gelehrten, der bald klar erkannte, daß Pautoo jetzt von den „Nichtigkeiten, Stänkereien und Aufregungen der zivilisierten Welt“ nicht mehr verschont blieb. Die Situation in der Kolonie war verworren und alarmierend. Sogleich nach seiner Ankunft in Makimi bemühte sich Wudrum um eine Audienz beim Gouverneur der pautooanischen Inseln. Es dauerte nicht lange, da wurde er in die Sommerresidenz des Gouverneurs eingeladen. Der Regent des Archipels empfing ihn sehr herzlich und gab ihm zu Ehren ein Essen, bei dem alles aufgetischt wurde, was die Tropen zu bieten vermochten. Das anschließende Gespräch unter vier Augen endete für Wudrum jedoch mit einer bitteren Enttäuschung. Der Gouverneur war äußerst zuvorkommend. Er lauschte aufmerksam den Plänen des russischen Gelehrten und erzählte ihm des langen und breiten von den Vorhaben, die auf Pautoo verwirklicht wurden. Das Mutterland unterstütze rückhaltlos die verschiedensten wissenschaftlichen Forschungen auf den Inseln. Es seien bereits einige Laboratorien, epidemiologische Stationen und ein prachtvoller botanischer Garten, der un145
weit der Hauptstadt liege, geschaffen worden. Aus aller Welt kämen Gelehrte hierher, und das ethnographische Museum werde ständig durch seltene und interessante, hauptsächlich von europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern gesammelte Ausstellungsstücke bereichert. „Ja, Herr Professor“, fuhr der Gouverneur fort, „die Zeiten haben sich geändert. Die europäische Industrie braucht immer mehr Rohstoffe. Viele Firmen finden sich bereit, Forschungsarbeiten in der Kolonie finanziell zu unterstützen. Die Kautschukgewinnung ist in diesen zwanzig Jahre um ein Vielfaches gestiegen. Nach Gewürzen, Zucker, Jute, Mangan, Blei und seltenen Hölzern besteht in Europa und Amerika eine starke Nachfrage. Das Land gedeiht, die Bevölkerung wächst rasch. Sie haben sicher bemerkt, daß der Hafen von Makimi modernisiert worden ist. Schienenwege wurden angelegt, Brücken gebaut und neue Hotels errichtet. Kraftwerke gibt es jetzt außer in Makimi auch in Poga und in Uinassa.“ „Das ist wirklich großartig, Herr Gouverneur!“ „Gewiß! Doch… Es gibt ein Aber dabei. Gleichzeitig damit gehen auf Pautoo Dinge vor sich, die der Regierung schwer zu schaffen machen. Die Rebellionen von Eingeborenen häufen sich, in den Städten 146
kommt es zu Streiks. Die pautooanischen Intellektuellen fordern immer dringender die Unabhängigkeit des Archipels, und sogar die Priesterkaste Pautoos beginnt sich solchen Forderungen anzuschließen, die das Mutterland keineswegs gutheißen kann. Ja, wir müssen zugeben, daß die Lage in der Kolonie gespannt ist. Und ausgerechnet da kommen Sie und bitten um die Erlaubnis, an der Küste Sebatus unterseeische Ausgrabungen vorzunehmen. Ich fürchte, wir können dieses Risiko nicht eingehen. Jeder Konflikt kann jetzt unabsehbare Folgen haben. Die Insel Sebatu gilt, wie Sie wissen, den Pautooanern als heilig. Sie glauben bis zum heutigen Tag, daß dort bei einem Vulkanausbruch der Tempel verschüttet wurde, in dem ein mystisches Wesen seinen Sitz hatte, dessen Ruhe niemand stören darf. Nein, nein, Herr Professor! Ausgrabungen zu Forschungszwecken sind gerade an dieser Stelle völlig unmöglich. Das könnte die Wut von Fanatikern hervorrufen, und wer weiß, ob die Ereignisse dann nicht eine sehr gefährliche Wendung für uns Europäer nehmen würden.“ Wudrum schickte die Droschke weg und ging zu Fuß von der Villa des Gouverneurs in die Stadt zurück. Unterwegs dachte er über das Gehörte nach und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Der Gedanke, 147
daß sein Vorhaben scheitern könnte, bevor es begonnen hatte, war ihm unerträglich. Wieviel Mühe hatte es ihn gekostet, die Expedition auf die Beine zu stellen! Und nun sollte das alles an einem unvorhergesehenen und anscheinend unüberwindlichen Hindernis scheitern? Am qualvollsten war ihm der Gedanke an die Rückkehr ins Hotel. Wie sollte er den Freunden beibringen, welcher Schlag die Expedition so unerwartet getroffen hatte? Er ging langsam, als wollte er die Zeit überlisten. Auf der ziegelroten, von einem Tropenregenguß blitzblank gewordenen Lateritchaussee spiegelte sich der schwache Schein der wenigen Straßenlaternen. Vom Meer unten grüßten die recht bescheidenen Lichter Makimis herauf. Wudrum liebte nächtliche Spaziergänge. Gewöhnlich beruhigten sie seine Nerven und halfen ihm, sich zu konzentrieren. Doch diese Tropennacht steigerte eher noch seine innere Erregung. Hell funkelten die Sternbilder des südlichen Himmels, der Sirius, der Zentaur und das Kreuz des Südens. Unruhig flimmerte die Milchstraße, gleichsam ein heller, aber gefährlicher Strom. Die großen, glatten, lederartigen, noch regennassen Blätter der Bäume warfen das Mondlicht zurück, als wollten sie mit den unzähligen Leuchtkäfern wetteifern, die unaufhörlich wie Sternschnuppen 148
das geheimnisvolle und unheimliche Schwarz des tropischen Dschungels durchschwirrten, der bis an den Straßenrand wucherte. Das unausgesetzte, aufdringliche Zirpen riesiger Zikaden vermischte sich mit den vielstimmigen Lauten nächtlicher Waldbewohner, und wurde nur übertönt von dem lauten, hellen Quaken der Laubfrösche. Über die Chaussee huschten ab und zu die dunklen Schatten riesiger Fledermäuse. Wudrum beschleunigte den Schritt. Nein, diese Nacht brachte ihm keine Ruhe! Er beeilte sich, diesen ermüdenden Weg hinter sich zu bringen, möglichst schnell in die Stadt, ins Hotel zurückzukehren. Am nächsten Morgen versammelte er alle Expeditionsteilnehmer und gab ihnen die Entscheidung des Gouverneurs bekannt. Ein langes, bedrückendes Schweigen folgte. Es wurde von Schirast unterbrochen. „Gestatten Sie, Iwan Alexandrowitsch, daß ich mich um diese Angelegenheit kümmere?“ Wudrum hatte nichts dagegen. Große Hoffnungen erweckte Schirasts Vorschlag indessen nicht. Zu aller Verwunderung kam dieser jedoch nach zwei Tagen mit der Genehmigung vom Gouverneur zurück, auf dem ganzen Archipel einschließlich der halbversunkenen heiligen Insel Sebatu archäologische Ausgrabungen vorzunehmen. 149
Für Wudrum war es klar, daß er ohne das Eingreifen des auf Pautoo allmächtigen Gun Chansnepp seine Absichten nie und nimmer verwirklichen könnte. In knapp zwei Wochen wuchs auf der Insel, die einige Meilen von Makimi entfernt lag, eine Siedlung empor. Die schwierige Alltagsarbeit der Expedition begann, begleitet von den Gefahren der archäologischen Ausgrabungen unter Wasser. Es wurde beschlossen, mit den Arbeiten an der Südostspitze der Insel zu beginnen, wo sich, nach den alten Chroniken zu urteilen, der versunkene Tempel des Himmlischen Gastes befinden mußte. Umkränzt von schwankenden Kokospalmen und einem gleißenden Strand, so weiß wie Schnee, lag dort eine Lagune mit durchsichtig klarem Wasser, die für die unterseeischen Ausgrabungen besonders geeignet erschien. Ziemlich rasch, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, wurden große Flöße gebaut, von denen sich die Taucher ins Wasser hinablassen sollten. Pautooanische Hilfskräfte wurden angeworben und Motorboote beschafft, um eine schnelle Verbindung mit Makimi sicherzustellen. Die Insel Sebatu belebte sich wie nie zuvor. Am Tage wimmelte es auf der Lagune von Kähnen, auf den Flößen und im Stützpunkt herrschte emsiges Treiben. An den langen, dunklen Abenden erklangen die langgezo150
genen, sehr melodischen Lieder der Pautooaner, die sich an ihren Lagerfeuern ausruhten, zum Takt des Petroleummotors, der die fahrbare Kraftstation der Expedition antrieb. Sobald die Vorbereitungen abgeschlossen und die Suchstellen in Quadrate eingeteilt waren, begannen die Taucharbeiten. Außer den aus Europa mitgebrachten Fachleuten, die mit den modernsten Schlauchtauchgeräten ausgestattet waren, wurden auch eingeborene Perlenfischer eingesetzt. Man wies ihnen die seichteren Abschnitte zu, während die Taucher mit der schweren Ausrüstung die tieferen absuchten. Binnen kurzem bildete sich in der Expedition ein gleichmäßiger Arbeitsrhythmus heraus, der zunächst durch nichts gestört wurde. Hier die Schilderung Wudrums: Die Arbeit geht gut voran. Alles ist bestens organisiert. Vom Sonnenaufgang, etwa um sechs Uhr früh, werken wir mit einer Pause in der heißen Mittagszeit bis zum Eintritt der Dunkelheit, die hier übergangslos hereinbricht und uns manchmal, wenn wir uns allzusehr festgebissen haben, unversehens überrascht. Ich muß mich um vieles kümmern, auch um Wirtschaftsangelegenheiten, obwohl sich Plotnikow und Wassili Afanasjewitsch von ihrer besten Seite zeigen und sehr bemüht sind, 151
mir eine Menge Alltagssorgen abzunehmen. Nur schade, daß bei Nikolai Nikolajewitsch die wirtschaftlichen Interessen eindeutig die Oberhand über die wissenschaftlichen gewinnen, so daß er die Forschungsarbeiten nur unlustig, langsam und oft zerstreut durchführt. Ich glaubte zuerst, das liege am Klima, bemerkte aber bald, daß er lebhaft und rührig wird, sobald er sich mit seiner geliebten Wirtschaft befaßt. Da vergißt er nicht die geringste Kleinigkeit und versteht aus allem Nutzen zu ziehen. Sollten in ihm wirklich die guten Anlagen zu einem fähigen Ethnographen verkümmern? Nun, wir werden sehen! Vorläufig empfinden wir die unablässige Sorge des stellvertretenden Expeditionsleiters um unser Wohlergehen als sehr angenehm. Kaum waren die von Schirast angeworbenen Pautooaner in unserer Siedlung eingetroffen, da wählte Plotnikow unverzüglich einige Männer aus, die sich für die Ausgrabungen weniger eigneten, jedoch für seine Zwecke vollauf genügten. Das Ergebnis war, daß uns schon am nächsten Tag vorzüglicher frischer Fisch zum Mittagsmahl vorgesetzt wurde. Jetzt können sich daran alle nach Herzenslust satt essen, auch die pautooanischen Hilfskräfte. Allerdings ziehen diese ihre eigene Küche vor und berei152
ten sich nach Arbeitsschluß, um ihre Lagerfeuer sitzend, selbst das Essen zu. Überhaupt werden unsere Vorräte dank dem Geschick Nikolai Nikolajewitschs, der mit Sachkenntnis und Hingabe einen schwunghaften Handel treibt, ständig aufgefüllt. Im Umgang mit den Lieferanten, so behauptet er, bereichere er auch seinen pautooanischen Wortschatz. Meinetwegen! Nur fürchte ich, die Kenntnis der pautooanischen Sprache wird ihm nicht viel nützen, wenn er nach der Rückkehr nach Rußland den Beruf des Ethnographen an den Nagel hängt und irgendwo im Gouvernement Simbirsk Gutsverwalter wird. Wie dem auch sei, das Leben der Expedition geht seinen geregelten Gang. Über Mangel an Arbeit kann sich keiner beklagen, und alles fügt sich zwanglos in die rasch entstandene Ordnung ein. – Das waren die letzten unbeschwerten Eintragungen in Wudrums Tagebuch. Bald vermerkte er, daß sich die Ergebnislosigkeit des vielhundertmaligen Tauchens ungünstig auf die Stimmung der Expeditionsmitglieder auswirkte und daß die schwere Arbeit in der feuchten Tropenhitze allmählich die Gesundheit vieler, besonders aber Otschakowskis, untergrub. Weitaus schlimmer war jedoch, daß die Expedition, obwohl sie unter dem Schutz des Gouverneurs stand, zunehmend die Feind153
seligkeit der Eingeborenen zu spüren bekam, die offensichtlich von jemand aufgehetzt wurden. Man sprach davon, daß die örtliche Bevölkerung durch die Tätigkeit der Gelehrten beunruhigt sei. Unter den Arbeitern verbreitete sich das Gerücht, über Pautoo werde, sobald das Heiligtum aufgefunden sei, eine Katastrophe hereinbrechen. Die aus ihrer Ruhe aufgeschreckte Gottheit werde wie vor tausend Jahren ihren Zorn an den Abtrünnigen auslassen – und wehe dem, der den Tempelschändern Vorschub geleistet habe! Die Fälle von Ungehorsam und Aufsässigkeit häuften sich. Die Perlenfischer tauchten immer widerwilliger ins Wasser hinab. Eines Nachts wurde Feuer ans Vorratslager gelegt. Am nächsten Tag sauste ein vergifteter Pfeil am Ohr eines deutschen Tauchers vorbei. Ein Pautooaner hatte ihn mit dem Blasrohr, einem typischen Jagdwerkzeug der Insulaner, abgeschossen. Die Lage spitzte sich zu. Wudrum widerstrebte es, den Gouverneur um Schutz zu bitten, aber schließlich blieb ihm nichts anderes übrig. Bald darauf rückte eine Abteilung Soldaten an, um das Lager zu bewachen. Doch ein Unglück kommt selten allein. Wie auf Verabredung desertierten eines Nachts alle Pautooaner, darunter auch die 154
Perlenfischer. Die Vermutung lag nahe, daß jemand sie angestiftet hatte. In dieser schweren Zeit empfand Wudrum besondere Genugtuung darüber, daß er Schorpatschew nicht nur bis Makimi mitgenommen, sondern ihn auch in der Expeditionsgruppe untergebracht hatte. Sein junger Landsmann erwies sich als klug und geschickt, unerschrocken und ergeben. Wudrum äußerte sich sowohl in den Tagebüchern als auch in den Briefen, die er an seine Frau nach Petersburg schickte, oft und nur lobend über ihn: „Dem Enthusiasmus dieses jungen Mannes liegt eine spontane, impulsive Kraft zugrunde. Alexander hat ihn offenbar ins Herz geschlossen. Unter seinem Einfluß verliert sich bei ihm die mir so widerliche Gefühlskälte und Arroganz gegenüber anderen Leuten, besonders solchen, die auf der sozialen Leiter unter ihm stehen. (Woher er das bloß hat?!) Es wäre nicht schlecht, wenn er sich mit Boris mehr anfreunden würde als mit seinen Petersburger ‚Übermenschen’. Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen und keine trügerischen Hoffnungen nähren, aber glaube mir, Natalja, alles wird sich zum Guten wenden. Du würdest Alexander jetzt nicht wiedererkennen. Nicht nur unsere Forschungsreise, sondern auch der Umgang mit diesem jungen Mann, der schon 155
soviel erlebt hat, gereicht ihm offensichtlich zum Nutzen.“ Die beiden nach Interessen, Erziehung und Bildung so verschiedenartigen jungen Leute fühlten sich noch enger verbunden durch einen Plan, den sie gemeinsam ausheckten und dessen Verwirklichung sie immer mehr Zeit widmeten. Sie fanden jetzt ihr größtes Vergnügen daran, lange Abende, ja ganze Tage miteinander zu verbringen. Alexander bat Plotnikow, ihnen ein großes Boot zu überlassen, das Schorpatschew so ausrüstete, daß man darin nicht nur Mahlzeiten zubereiten, sondern auch übernachten konnte. Bald wuchs im entferntesten Winkel der Bucht, durch eine weit ins Meer hinausragende Felsnase verborgen, ein zweiter Stützpunkt empor, von dem fast niemand etwas wußte. Eingeweiht war eigentlich nur der alte Wudrum. Er brummelte zwar der Form halber, gab aber das Geheimnis der jungen Leute nicht preis. Mit diesem Geheimnis hatte es seine eigene Bewandtnis. Gleich zu Beginn der unterseeischen Forschungen hatte Schorpatschew den deutschen Spezialisten vorgeschlagen, ihm das Tauchen mit ihrem Gerät beizubringen; sie hatten es jedoch kategorisch abgelehnt. Daraufhin hatte er dem Professor erklärt, man dürfe sich nicht nur auf die deutschen Fachleute verlassen, sondern 156
müsse selber mit den modernen Tauchgeräten umzugehen lernen. Wudrum hatte diesen Gedanken aufgegriffen, aber auch er konnte gegen den Starrsinn der beiden Berufstaucher nichts ausrichten; sie bestanden darauf, daß es ihr alleiniges Recht sei, die noch nicht serienmäßig hergestellte neue Ausrüstung zu erproben. Alexander und Boris beschlossen, dieses Monopol zu brechen. Insgeheim, sogar ohne Plotnikows Kenntnis, schafften sie eine komplette Reserveausrüstung in ihren „konspirativen“ Stützpunkt. Dort studierten sie die Gebrauchsanweisung, führten praktische Versuche durch, meisterten allmählich alle Seiten der schwierigen, gefährlichen und zugleich so reizvollen Taucherarbeit und drangen, sich ablösend und gegenseitig unterstützend, immer tiefer ins Reich des Meeres ein. Eine von wimmelndem Leben erfüllte, in ungewöhnlichen Farben prangende und von sanft-grünem Licht durchflutete neue Welt tat sich vor ihnen auf. Die beiden wurden nicht müde, die weitverzweigten, vielgestaltigen und farbenprächtigen Korallenriffe zu bewundern, die sie umgaben wie ein verzauberter Märchenwald. Schwärme noch nie gesehener phantastischer Fische schwammen bald langsam, bald blitzschnell hindurch. Zwischen den dicken, bewegungslosen Koral157
lenbäumchen saßen wie Orgelpfeifen hellschimmernde Seegurken, hingen die bläulichen Fäden von Haarsternen, streckten elegante Schlangensterne ihre Fühler aus. Hübsche Seesterne, mit schwarzen Stacheln bewehrte Seeigel und eine erstaunlich reiche Sammlung halb im Sand vergrabener, wunderlich geformter Muscheln bedeckten den Grund, untermischt mit roten, braunen und grünen Wasserpflanzen. All dies lebte und regte sich, verschlang sich gegenseitig, vermehrte sich und starb. Es füllte alles ringsum aus und verbarg vor den Augen der Forscher wie eine Schar treuer Wächter die Spuren der im Wasser versunkenen alten Zivilisation. Das Entzücken über die Schönheit der bis dahin nie gesehenen verwunschenen Meereswelt wurde durch die Erkenntnis gedämpft, daß dieses ganze wuchernde Leben, die vielen Pflanzen, Korallen und Muscheln den Tempel des Himmlischen Gastes, oder was davon übrig war, fast hermetisch von der Außenwelt abschlossen. Die jungen Leute trösteten sich indes damit, daß sie hier, in dem seichten Gewässer, nur trainierten. Der Erfolg würde sich dort einstellen, wo tiefes Wasser war und wo die Taucher Tag für Tag ein Quadrat nach dem andern absuchten. Doch die Tage vergingen, ohne daß sich ein Erfolg zeigte. Wudrums Laune ver158
schlechterte sich, Schirast äußerte sich immer skeptischer über die Idee der unterseeischen Ausgrabungen. In dieser kritischen Zeit traf die Expedition ein neuer Schlag. Eines Abends kehrten die nach den ergebnislosen Suchaktionen erschöpften deutschen Taucher vom Floß zum Stützpunkt zurück. Da es bis zum Abendessen noch gut eine Stunde war, machten es sich die beiden in Rohrsesseln auf der schattigen Veranda ihres Bungalows bequem. Eine leichte Brise wehte. Die Bambushütte stand inmitten hoher, weitverzweigter Bäume, deren dichtes, verfilztes Laub sogar einen Elefanten verborgen hätte. Keiner sah die im undurchdringlichen Tropendschungel versteckten Feinde. Man hörte nur einen Schuß. Der kurze, trockene Knall schreckte die ganze Siedlung auf. Einen Augenblick danach waren alle bei der Hütte der Taucher, von denen einer blutüberströmt und wachsbleich auf dem Bambusboden der Veranda lag. Otschakowski leistete ihm Erste Hilfe. Dann wurde er sofort mit einem Motorboot nach Makimi gebracht. Die Verwundung war nicht lebensgefährlich. Aber nach diesem Überfall brachen für die Expedition schwere Tage an. Der zweite Taucher weigerte sich strikt, die Arbeit auf Sebatu fortzusetzen, und sobald der Verwundete auf dem Wege der 159
Besserung war, reisten die beiden Deutschen unverzüglich nach Europa ab. Alles Leben erstarb in der kleinen Siedlung. Ohne die deutschen Berufstaucher und die pautooanischen Perlenfischer war an eine Weiterführung der unterseeischen Forschungsarbeiten nicht zu denken. Doch eines Tages sah Wudrum, als er von einem Besuch in Makimi zurückkam, daß das Lager zu neuem Leben erwacht war. Alexander und Boris hatten mit Erfolg die Plätze der deutschen Taucher eingenommen. Wieder tuckerte der Motor, und die Expeditionsmitglieder bedienten, einander ablösend, die Luftpumpen. An den Abenden versammelten sich alle auf der Veranda von Wudrums Bambushütte. Hier wurden die Pläne für den nächsten Tag besprochen und auftretende Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Die Stimmung besserte sich, obzwar alle wußten, daß sie ohne pautooanische Hilfskräfte auf die Dauer nicht auskommen würden. Schirast schlug vor, die Arbeiten zeitweilig einzustellen, auf abgelegenen Inseln Arbeiter anzuwerben und erst dann die Suche fortzusetzen. Sein Vorschlag wurde nur zur Hälfte angenommen. Alle stimmten ihm zu, daß man versuchen solle, Arbeiter an Orten anzuwerben, wo von den Provokationen der eingeborenen Fanatiker noch nichts bekannt war, aber niemand hielt es 160
für zweckmäßig, die Arbeiten zu unterbrechen. Sie wurden denn auch pausenlos fortgesetzt. Doch die Kräfte selbst der Widerstandsfähigsten ließen mit der Zeit nach. Alle warteten ungeduldig auf die Rückkehr Schirasts, der den Archipel bereiste. Eine Woche verstrich, die zweite ging zu Ende. Immer neue Abschnitte wurden untersucht, aber nirgends Spuren des alten Tempels gefunden. Jetzt bestritt niemand mehr, daß es notwendig sei, die Arbeiten einzustellen. Alle waren aufs äußerste erschöpft. Schorpatschew, der kräftigste und rastloseste, erbat von Wudrum die Erlaubnis, noch einen Abschnitt nahe der Stelle, wo er mit Alexander trainiert hatte, untersuchen zu dürfen. Wudrum stimmte widerstrebend zu, denn die von Boris ausgewählte Stelle der Lagune war praktisch noch nicht erforscht und konnte sich für den unerfahrenen Taucher als gefahrvoll erweisen. Langsam ließ sich Schorpatschew im Schlauchtaucheranzug an einer Strickleiter ins Wasser hinab. Durch die starke Glasscheibe des Taucherhelms grüßte zum letztenmal sein jungenhaftes Gesicht. Dann versank auch der Helm, den Luftschlauch und die Signalleine hinter sich herziehend. Schon sah man ihn nicht mehr durch die Wasserschicht darüber, der jun161
ge Taucher verschwand in der unergründlichen Meerestiefe. Unaufhörlich lösten sich die Männer an der Pumpe ab, die Boris Frischluft zuführte. Zehn, zwölf Minuten verstrichen. Wudrum gab Anweisung, „Auftauchen“ zu signalisieren. Boris antwortete mit dem Signal „Nein“. Der Professor stellte sich selbst an die Pumpe, um den von Hitze und Anstrengung entkräfteten Kameraden zu helfen. Qualvoll langsam verging die Zeit. Endlich kam das Signal! Das Aufholen erfolgte langsam, sehr langsam, um den Taucher vor der Caissonkrankheit zu bewahren. Diese schwierige und alle erregende Operation schien kein Ende nehmen zu wollen. Doch nun zeigte sich der blinkende Helm an der Wasseroberfläche. Hurtig faßten die bereitstehenden Männer Boris unter den Armen, zogen ihn aufs Floß und schraubten den Helm ab. Auf seinem verschwitzten Gesicht lag ein Ausdruck völliger Erschöpfung und zugleich unaussprechlicher Freude. Kraftlos ließ er sich auf die Taue fallen, die auf dem Floß lagen, und sagte nur das einzige Wort: „Dort!“ Alle Müdigkeit war vergessen. Tag und Nacht wurden jetzt die unterseeischen Forschungen betrieben. Auch Wudrum, der nach dem Vorbild der jungen Leute gelernt hatte, mit dem Tauchgerät umzugehen, 162
ließ sich manchmal ins Wasser hinab. Kein Zweifel, der alte Tempel des Himmlischen Gastes war gefunden! Er befand sich in geringerer Tiefe, als man angenommen hatte. Das erleichterte die Arbeit, aber neue Schwierigkeiten traten ein. Man mußte Beweisstücke für Wudrums Hypothese ans Tageslicht fördern, mußte etwas finden, was einwandfrei bestätigte, daß es die Ära des Schöpfertums tatsächlich gegeben hatte und daß die realistische Auslegung der Legende von Rokomo und Lawuma richtig war. Dazu mußte man ins Allerheiligste eindringen, in den eingestürzten Teil des Tempels. Er lag auf einer erhöhten Stelle des Grundes, was günstig war, andrerseits aber versperrte eine chaotische Anhäufung von Felstrümmern den Zugang zu ihm. Wudrum und Plotnikow fuhren nach Makimi, um einige europäische Arbeiter anzuwerben und Kräne und Winden zu kaufen. Jetzt, da das Ziel zum Greifen nahe war, gab der kleinste Mißerfolg, die geringste Schwierigkeit Anlaß zu Ärger und Gereiztheit. Es dauerte länger als eine Woche, bis es gelang, die erforderlichen Geräte zu beschaffen und Arbeiter zu gewinnen. Schließlich waren die Hebewerkzeuge auf Prahmen mit Plattformen aufgestellt. Mit ihrer Hilfe wurden die unter Wasser durch163
einanderliegenden, mit Korallen bedeckten Felsbrocken weggeschleppt, aber das ging viel zu langsam. Es blieb Wudrum nichts weiter übrig, als einen Teil der Felsbarriere zu sprengen. Die Anwendung von Sprengstoff zeitigte wirkungsvolle und zugleich unerwartete Ergebnisse. In das Felsenchaos wurde eine Bresche geschlagen. Doch gleich bei den ersten Sprengungen, die die stille Lagune aufwühlten, verließ die tapfere Schutzwache, die aus pautooanischen Soldaten bestand, fluchtartig das Lager. Dafür gab es nur eine Erklärung. Das erfolgreiche Vordringen der Forscher zu ihrem Ziel war nicht nach dem Geschmack der pautooanischen Priester. Es ließ sich leicht voraussehen, daß sie das Lager jetzt nicht mehr in Ruhe lassen würden. Nun, da sie die Soldaten zur Flucht veranlaßt hatten, mußte man sich auf das Schlimmste gefaßt machen. Und tatsächlich, schon am nächsten Tag wurden rund um das Lager Hinterhalte entdeckt, die auf einen bevorstehenden Überfall schließen ließen. Wudrum berief einen „Kriegsrat“ ein. Man beschloß, die Arbeiten nicht zu unterbrechen und durch die erfolgreich gesprengte Bresche möglichst rasch zum Tempel vorzudringen. Alle begriffen, daß man keine Zeit verlieren durfte. Ein Über164
fall auf das Lager konnte zu Verlusten führen, die jede Weiterarbeit unmöglich machten. Es blieb nur ein Ausweg: vor Anbruch der Nacht, dem wahrscheinlichen Zeitpunkt des Überfalls, das Heiligtum zu erreichen. Der „Kriegsrat“ tagte nur wenige Minuten. Dann ging man sofort an die Ausführung des einstimmig gefaßten Beschlusses. Schritt für Schritt wurde auf dem Meeresgrund der Weg zu der Stelle freigelegt, wo sich nach Wudrums Annahme die Statue des Himmlischen Gastes befinden mußte. Das gesprengte Gestein wegzuräumen war weit schwieriger, als er vermutet hatte. Der Abend nahte, aber das Heiligtum war immer noch nicht erreicht. Kurze Dämmerung, und die Nacht senkte sich auf die Lagune herab. Es gab einen Augenblick der Schwäche, da glaubten alle, die Ermüdung sei zu groß, die Wachsamkeit übertrieben und die Gefahr eines Überfalls eher eingebildet als real. Sogar Wudrum schwankte, ob man die Arbeiten nicht bis zum nächsten Morgen verschieben solle. Doch der gesunde Menschenverstand siegte über Müdigkeit und Zweifel. Man beschloß, den Durchbruch zum Heiligtum auch nachts fortzusetzen. Die Unterwasserscheinwerfer brannten, der Motor der transportablen Kraftstation tuckerte gleichmäßig, die Pumpen führten 165
den auf dem Meeresgrund arbeitenden Männern unaufhörlich Frischluft zu. Nicht eine Sekunde wurde untätig vergeudet. Alle arbeiteten hingebungsvoll und warteten ungeduldig darauf, was die mühevolle Suche ergeben würde. Dabei vergaß niemand die drohende Gefahr. Die Motorboote lagen bereit. Auf das erste Alarmsignal hin würde man die Taucher heraufholen und auf die offene See hinausfahren. Erst gegen zehn Uhr abends gelang es schließlich, die letzte Barriere abzutragen. Der Eingang zum Heiligtum lag frei. Wenn auch dort die Überreste des Himmlischen Gastes nicht gefunden wurden… Wudrum zog den Taucheranzug an und ließ sich, von Schorpatschew begleitet, auf den Meeresgrund hinab. Plotnikow schrieb hinterher in sein Tagebuch, die acht Minuten, die der Professor unter Wasser verbracht habe, seien die längsten und schwersten seines Lebens gewesen. Das glaubt man gern, wenn man weiß, was sich während dieser acht Minuten im Lager zutrug. Die Späher der Expedition beobachteten aufmerksam Ufer und Meer; dennoch entging ihnen, daß ein Pautooaner, vielleicht auch mehrere, lautlos den Prahm erklomm, auf dem sich die Hilfsgeräte für die Taucher befanden. In dem Augenblick, als Wudrum das Zeichen zum Aufholen gab, 166
verstummte der Motor, erloschen die Scheinwerfer und setzten die Pumpen aus. Ringsum wurde es dunkel. Eine lähmende Stille trat ein. Aber das dauerte nicht lange. Gleich darauf ertönten von allen Seiten die Kriegsschreie der Pautooaner, die in ihren leichten Booten dem schwimmenden Stützpunkt zustrebten. Schüsse durchblitzten die Nacht, ein Gefecht entspann sich. Plotnikow, Otschakowski und zwei Arbeiter beschleunigten, soweit es möglich war, das Aufholen von Wudrum und Schorpatschew. Sie durften sich nicht zu sehr beeilen, damit die Taucher nicht von der Caissonkrankheit befallen wurden, aber sie mußten auch mit jeder Sekunde geizen. Obwohl von den sich tapfer verteidigenden Forschern lebhaft beschossen, hatten sich die Angreifer bereits auf wenige Dutzend Meter dem schwimmenden Stützpunkt genähert. Gerade als die beiden Helme über dem Wasser auftauchten, durchbohrte ein Pfeil Otschakowskis Schulter. Er drehte die Kurbel der Winde mit der einen Hand weiter und rief Sherdnew zu Hilfe. Dieser gab aufs Geratewohl noch einige Schüsse ins Dunkel ab und lief dann zur Winde. Um diese Zeit wurde auch ein Arbeiter durch Pfeile ernsthaft verwundet. Die Lage der Forscher schien aussichtslos zu sein. Das laute Schreien der Angrei167
fer, das sich weniger nach Wehklagen als nach Siegesrufen anhörte, steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Nicht mehr lange – und der Prahm würde von den Fanatikern gestürmt werden, die bereit waren, die Menschen darauf in Stücke zu reißen, weil sie sich erkühnt hatten, in den versunkenen Tempel einzudringen. In diesem entscheidenden Augenblick ließ Sherdnew die Winde im Stich. Der verwundete Plotnikow mußte Wudrum allein heraufholen. Plötzlich ein ohrenbetäubender Krach – und das triumphierende Geschrei der Angreifer verstummte. Der alte Seemann hatte das einzig Richtige getan, als er die Winde in der alleinigen Obhut Plotnikows ließ. Hätte er nicht gerade noch rechtzeitig einen Sprengkörper mitten unter die Feinde geschleudert, wer weiß, wie das Nachtgefecht für die Forscher ausgegangen wäre. Zeit war gewonnen. Die Motorboote der Expedition erreichten glücklich das offene Meer. Die Verwundeten wurden selbstverständlich mitgenommen. Doch die ganze Ausrüstung mußte zurückgelassen werden. Das Unternehmen, das Wudrum so lange und so beharrlich vorbereitet hatte, war offensichtlich gescheitert. Der Professor aber frohlockte. 168
„Nach Makimi! Volle Fahrt voraus nach Makimi! Freunde, wir haben gesiegt!“ Noch niemand, nicht einmal Alexander, hatte ihn jemals so freudig erregt gesehen. Keinen Schritt wich er von dem Bruchstück, das er vom Meeresgrund geholt hatte. Es war ein Bruchstück der Statue des Himmlischen Gastes.
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Das goldene Schiffchen Makimi erreichten die Forscher erst gegen Morgen. Otschakowskis Verwundung stellte sich glücklicherweise als ziemlich harmlos heraus. Der sofort herbeigerufene Arzt verband ihn kunstgerecht und verordnete eine gehörige Dosis Chinin, mit dem Erfolg, daß sich sein Patient nach kurzer Zeit bereits bedeutend wohler fühlte. Die Verwundung des Arbeiters war ernster; man mußte ihn ins Krankenhaus einliefern. An Schlaf dachte an diesem Tag niemand. Die Erregung vom Abend vorher klang ab, die stürmischen und gefahrvollen Erlebnisse waren bald vergessen, der Verlust des Stützpunktes in der Lagune wurde kaum noch erwähnt – so stark war die Aufregung über den lang ersehnten Fund. Der interessanteste Teil der Arbeit begann: die sorgfältige Säuberung der „Gottheit“, die jahrhundertelang im Wasser gelegen hatte. Die Untersuchungen bestätigten, daß sie unzweifelhaft kosmischen Ursprungs war. Woraus sie bestand, konnten die Forscher freilich nicht sagen. Wahrscheinlich handelte es sich um das einzige Exemplar seiner Art auf der Erde. Der Untersuchungsbericht ist fast vollständig überliefert. Er wurde in vielen wissenschaftlichen Werken zitiert und beleuchtet, so daß ich darauf verzichten 170
kann, in diesen Aufzeichnungen näher darauf einzugehen. Nur schade, daß es uns nicht gelang, die von Professor Wudrum damals gemachten Fotografien des Fundstücks aufzustöbern. Nach den Eintragungen in seinem Tagebuch zu urteilen, hat er einen Teil der Fotos an Arns Parzet geschickt. Im Archiv des holländischen Professors, das die Nationale Akademie der Wissenschaften verwaltet, wurden die Bilder nicht entdeckt. Die Begleitbriefe sind jedoch erhalten geblieben, desgleichen ein Brief, den Wudrum an Professor Jewdokimow geschickt hat. Ich besitze eine Fotokopie dieses Briefes, der meines Erachtens höchst aufschlußreich ist, und möchte hier einige Stellen daraus zitieren. Wudrum konnte sich nicht erklären, warum seine Expedition auf so große Feindseligkeit gestoßen war, und machte sich Vorwürfe, weil er seine ganze Zeit und Kraft auf die Suchaktion und die Überwindung der dabei auftretenden Schwierigkeiten verwandt, es hingegen versäumt hatte, ein gutes Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung herzustellen. In dem Brief schreibt er: „Es ist sehr schade, daß wir keine Gelegenheit fanden, mit Vertretern dieses gesitteten, ausgesprochen höflichen und äußerst gastfreundlichen Volkes zusammen171
zukommen. Die Pautooaner sind in ihrer Mehrzahl schöne Menschen. Der golden schimmernde Bronzeton ihrer Haut, ihre wohlgestalten Körper, ihr gerader Blick und ihr würdevolles Auftreten erwecken Sympathie und Bewunderung. Die liebliche und zugleich gewaltige Natur der Inseln hat den Charakter dieser Menschen ihren Stempel aufgedrückt. Ihre Umgänglichkeit und Schlichtheit, wie sie bei uns nur intelligente und gebildete Leute auszeichnet, ist erstaunlich. Ihre Bewegungen, ihre Sprechweise, ihr tägliches Verhalten zeugen von einem starken Gefühl für Maß und Anstand. Und wohlgemerkt, Jelisar Alexejewitsch, das bezieht sich keineswegs nur auf die auserwählte oder privilegierte Klasse, sondern auch auf die breiten Schichten dieses ungemein sympathischen Volkes, das über eine alte Geschichte und Kultur verfügt. Zweifellos gehört das pautooanische Volk mit zu den begabtesten Völkern, und ich bin überzeugt, daß es eine bessere Zukunft zu erwarten hat, als seine gegenwärtige Abhängigkeit verspricht. Jetzt werden Sie verstehen, warum mich die von mir geschilderten Ereignisse, die alle unsere Absichten durchkreuzten, so schwer getroffen haben. Aber sie haben, das darf ich wohl sagen, meinen Glauben an die Anständigkeit und Hochherzigkeit der Pautooaner nicht im geringsten er172
schüttert. Nein und abermals nein! Hier war nicht Abscheu vor uns Europäern im Spiel, geschweige denn Mißtrauen oder Abneigung gegen uns Wissenschaftler. Ich bin sicher, es steckte etwas anderes dahinter. Hier war eine böse Macht am Werk, die Menschen, die uns überfielen, wurden von fremder, arglistiger Hand gelenkt. Mich beschäftigt jetzt nur die Frage: Wer kann der Anstifter, der Urheber des Überfalls gewesen sein, wer war an der Zerstörung unseres Stützpunktes interessiert?“ Wudrum dachte darüber nicht nur nach, er handelte auch. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit stattete er dem Oberpriester des Tempels Buatoo einen offiziellen Besuch ab, und wenige Tage darauf erfolgte mit orientalischem Pomp die feierliche Übergabe der großen pautooanischen Reliquie, des Bruchstücks der Statue des Himmlischen Gastes an den Tempel – ein Ereignis, das den ganzen Archipel in einen Freudentaumel versetzte. Die Folgen dieses Schrittes überstiegen alle Erwartungen. Für die weiteren Arbeiten bedurfte die Expedition nun nicht mehr des Schutzes von Soldaten des Gouverneurs. Die einflußreichen Tempelpriester sprachen ihr Machtwort, und die feindselige Haltung der Pautooaner zu den Forschern war wie weggeblasen. Mehr noch, den Gelehrten 173
stand jetzt alles zur Verfügung, was die Eingeborenen zu bieten hatten. Die Freude dauerte indessen nicht lange. Schirast kehrte von seiner Reise zurück, und neue Wolken zogen herauf. Zuerst freute er sich augenscheinlich ehrlich über die ersten Erfolge der Expedition und äußerte vernünftige, sachdienliche Gedanken über den weiteren Gang der Forschungen. Als er jedoch hörte, daß das Bruchstück der Statue bereits dem Tempel Buatoo übergeben worden war, schlug er plötzlich einen Ton an, der den Professor wiederum außer sich brachte. Wudrum erkannte den sonst so korrekten, bescheidenen und betont ehrerbietigen jungen Gelehrten nicht wieder. In höflichen, aber dem Sinne nach empörenden Ausdrücken gab ihm Schirast zu verstehen, daß er kein Recht habe, eine so einschneidende Entscheidung zu treffen, ohne sie vorher mit ihm, als dem bevollmächtigten Vertreter Gun Chansnepps auf Pautoo, abzustimmen. „Was erlauben Sie sich, Herr Schirast!“ entrüstete sich Wudrum. „Sie scheinen zu vergessen, mit wem Sie sprechen. Solange ich die Expedition leite, nehme ich mir das Recht, über die wissenschaftlichen Forschungen und alle damit zusammenhängenden Fragen allein zu entscheiden, ohne mich um Ihre Haarspaltereien zu kümmern. Und um keinen Irrtum aufkommen 174
zu lassen, Herr Schirast, ich verbitte mir ein für allemal den von Ihnen angeschlagenen Ton.“ „Leider muß ich auf meiner Meinung bestehen, Herr Professor. Sollte Sie der Ton meiner Äußerungen gekränkt haben, so bitte ich um Verzeihung. Es scheint, ich habe mich wirklich etwas hinreißen lassen, als ich von Ihrer unüberlegten Handlungsweise erfuhr, aber was den Kern der Sache betrifft…“ „Ich möchte Sie sehr bitten, sich zum Kern der Sache zu äußern, ohne abseitige Argumente ins Feld zu führen, die mit der Expedition nichts zu tun haben. Lassen Sie sich gefälligst nur von den Interessen unserer Forschung leiten.“ „Ich darf Sie daran erinnern, Herr Professor, daß diese Forschungen im Interesse der Firma Chansnepp-Kautschuk betrieben werden. Sie haben die Bedingungen des Herrn Gun Chansnepp angenommen. Und es steht Ihnen folglich nicht frei, über die Ergebnisse und die hier entdeckten Fundstücke nach Ihrem Ermessen zu verfügen.“ „Die Statue der pautooanischen Gottheit gehört dem pautooanischen Volk!“ „Oh, Herr Professor, Ihre extrem liberalen Ansichten in allen Ehren, aber mir scheint diese Frage so kompliziert und, möchte ich sagen, so delikat zu sein, daß 175
ich glaube, wir sollten sie lieber aus dem Spiel lassen.“ „Für mich ist diese Frage nicht kompliziert. Ich vergesse keinen Augenblick, daß wir uns auf pautooanischem Gebiet befinden.“ „Das faktisch Chansnepp gehört, Herr Professor.“ „Was?!“ „Nun ja, selbstverständlich nicht ihm allein. Es gibt noch ein paar große Firmen, die auf diesen Inseln geschäftliche Interessen haben und erhebliche Geldmittel für ihre Entwicklung aufwenden. Aber Chansnepp-Kautschuk dominiert. Von Chansnepp hängen alle diese Firmen mehr oder weniger ab, gar nicht zu reden von den Betrieben und Handelsunternehmen der vermögenden Pautooaner.“ „Wahrscheinlich ist das so. Um so schlimmer für die Pautooaner. Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann meinen Sie, auch wir, die Gelehrten der Forschungsgruppe, befänden uns in derselben Abhängigkeit wie die Pautooaner.“ „Wozu diese unnötige Schärfe, Herr Professor? Glauben Sie mir…“ „Genug des Herumredens! Sprechen wir ohne Umschweife. Wenn ich auf Ihre Forderungen nicht eingehe, was beabsichtigen Sie dann zu tun?“ 176
„Ich werde Anweisung geben, die Finanzierung einzustellen und die gesamte Gun Chansnepp gehörende Ausrüstung abzutransportieren.“ „Als ein solcher Erpresser hat sich Herr Schirast entpuppt“, schrieb Wudrum an Parzet. „Mir war er schon dort, im Mutterland, reichlich verdächtig, als wir diesen millionenschweren Finanzmagnaten aufsuchten, jetzt aber… Nichts zu machen, ich ahnte damals nicht, daß alles eine so scheußliche Wendung nehmen könnte. Ja, verehrter Lehrer, ich habe Schirasts dreisten Forderungen nachgegeben. Ich mußte darauf eingehen, weil wir mit den Hauptarbeiten faktisch noch gar nicht angefangen haben. Große Ausgaben stehen bevor, und deshalb hängen wir, ob es uns paßt oder nicht, völlig von der Gunst dieser Herrschaften ab. Chansnepp kann ich noch verstehen, aber diesen, mit Verlaub zu sagen… Wie man’s auch nimmt, immerhin ist er ein Wissenschaftler und, man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, ein fähiger Mann. Aus dem hätte, wenn nicht gerade ein hervorragender, so doch ein recht tüchtiger, vielleicht sogar beachtlicher Forscher werden können. Da soll sich einer auskennen! Soviel habe ich begriffen, daß ich in eine höchst peinliche Lage geraten bin. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, einen Ausweg zu finden, und wer weiß, ob 177
Herr Schirast nicht letzten Endes mit langer Nase abziehen wird. Vorläufig freilich, vorläufig fühle ich mich hundeelend. Das einzige, was mich im Gleichgewicht hält, ist der Umgang mit unserm prachtvollen Preoito. Übrigens soll ich Grüße von ihm ausrichten. Er denkt mit Vergnügen und freundschaftlicher Wärme an seine Begegnungen mit Ihnen zurück. Obwohl er weiß, daß seine Tage gezählt sind, ist er lebensfroh und ruhig wie immer. Man muß diesen weisen alten Mann einfach gern haben. Preoito ist jetzt an seinen Sessel gefesselt, und es bleibt ihm nur die stille Freude am beschaulichen Leben. Damit hat er sich abgefunden und verspürt daher keine Langeweile. Die Zeit steht für ihn schon still, aber sie ist ihm noch nicht lästig. Er ist so krank, daß er sich den schwer zu erlangenden Luxus erlauben kann, keine unerwünschten Pflichten mehr zu haben, und dennoch ist er körperlich und geistig so ungebrochen, daß er keiner demütigenden Pflege bedarf. Klar und sicher vermag er die ihn umgebende Welt zu beurteilen und ihre Schönheit, die andere oft nicht sehen, in sich aufzunehmen…“ In diesen Tagen weilte Wudrum oft in dem ebenerdigen weißen Haus, über dessen leichtes Ziegeldach Kokospalmen fürsorglich ihre schattenspendenden Blattschöpfe neigten. Das Haus war einfach und be178
quem. Eine breite Veranda umgab seine trotz der tropischen Hitze verhältnismäßig kühlen Innenräume. Des Abends saß Wudrum stundenlang neben dem Sessel des kranken Greises. Ohne sich durch das unaufhörliche, vielstimmige Konzert der zahllosen Vögel stören zu lassen, lauschte er Preoitos inhaltsreicher, bedächtiger Rede, sprach von den eigenen Plänen, die alte, rätselhafte Geschichte Pautoos zu erforschen, und nahm die Ratschläge des weisen Pautooaners dankbar an. Preoito stammte aus einem uralten, einflußreichen Geschlecht. In seiner Person paarte sich die hohe Kultur des einstmals mächtigen und ruhmreichen pautooanischen Volkes mit den besten Seiten der europäischen Zivilisation. Als einer der ersten Pautooaner hatte er in Europa eine glänzende Bildung erhalten. Sein Haus war zum Mittelpunkt der freiheitlich denkenden pautooanischen Intellektuellen geworden und stand seither unter scharfer Beobachtung der mißtrauischen Kolonialbehörden. Er hatte viel für seine Landsleute getan und war, obwohl weithin bekannt und geehrt, ein schlichter und selbstloser Mann geblieben, dessen Haus jedem offenstand. „Je näher ich ihn kenne, desto begeisterter bin ich von ihm“, schrieb Wudrum an seine Frau. „Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie bescheiden dieser seiner 179
Herkunft wie seinen Verdiensten nach hervorragende Mann lebt. Der Umgang mit ihm bereitet mir unvergleichliches Vergnügen. Seine sicheren, würdevollen Umgangsformen zeugen von Gedankenreichtum und innerer Ausgeglichenheit. Die Weisheit vieler Jahrhunderte verkörpert sich in ihm. In der Gegenwart dieses wahrhaft großen Pautooaners fühlt man sich beschämend naiv und unerfahren. Unser Herr Schirast betrachtet meinen Umgang mit Preoito ziemlich skeptisch, ja mißfällig. Ich aber besuche ihn gern, finde bei ihm innere Ruhe und teile nicht im entferntesten die Befürchtungen, die Schirast allein deswegen hegt, weil Preoito, Stolz und Vorbild der Pautooaner, den Kolonialbehörden ein Dorn im Auge ist. Seine Bemühungen um die Durchsetzung der Ideale von Wahrheit, Güte und Schönheit und seine Propagierung der Gerechtigkeit (er ist der Meinung, in der Welt müsse es ein einziges herrschendes Gesetz der Gerechtigkeit geben, kraft dessen niemand sein Glück auf dem Unglück anderer aufbauen dürfe) lassen die Behörden noch halbwegs gelten. Sie fürchten etwas anderes. Preoito genießt hohes Ansehen, das Volk hört auf ihn, er aber geht weiter als die meisten hiesigen Nationalisten. Er lehrt, man solle nicht danach streben, die europäischen 180
Machthaber durch pautooanische zu ersetzen, sondern müsse eine Verwaltung schaffen, die den Interessen des Volkes entspricht, dem Volke dient und die Armut in allen ihren Erscheinungsformen beseitigt. Diese Lehre können ihm die herrschenden Kreise nicht verzeihen. Weder die europäischen noch die pautooanischen…“ Jeder Besuch bei Preoito hob Wudrums Stimmung, erfüllte ihn mit Mut und Zuversicht. Danach fiel es ihm leichter, die schwierige Lage, in die er durch Schirasts Intrigen geriet, zu ertragen. Schirast warb ungeniert neue Leute für die Forschungsgruppe an. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine eigenmächtigen Handlungen vor Wudrum zu beschönigen. Ihm kam es nur darauf an, ihm genehme Leute um sich zu sammeln. Und ehe sie sich’s versahen, befanden sich die Russen eines schönes Tages in der Minderheit. Es gab keinen Zusammenhalt, keine Einigkeit mehr. Reiner Geschäftsgeist gewann in jeder Beziehung die Oberhand. Alexander war in dieser schweren Zeit nicht wiederzuerkennen, so lebhaft und rührig betätigte er sich. Zum erstenmal stieß er auf die Unbilden des Lebens und traf mit den verschiedensten Leuten zusammen, darunter auch skrupellosen, ja mitunter gemeinen. Und siehe da, er 181
schaltete sich aktiv in das Geschehen ein, erwies sich keineswegs als ein Schlappschwanz, sondern als ein standhafter und notfalls sogar verwegener Mitstreiter. Zweifellos dienten ihm Schorpatschew und sein unversiegbarer Optimismus als Vorbild. Die „russische Gruppe“, obzwar zahlenmäßig schwach, gab nicht klein bei. Der findige, aufgeschlossene Schorpatschew verstand es besser als die anderen Europäer, mit den pautooanischen Arbeitern Kontakt zu gewinnen und ihr Vertrauen zu erwerben. Er fand bald heraus, daß Schirast unter die neu Angeworbenen einen Priester des Tempels Buatoo eingeschmuggelt hatte. Als Schirast seinerseits dahinterkam, daß sein Geheimnis aufgedeckt war, verhielt er sich noch feindseliger zu dem jungen Mann und wartete nur auf einen geeigneten Vorwand, ihn an die Luft zu setzen. Wudrum und seine Freunde konnten sich keinen Reim auf das Doppelspiel Schirasts machen, der sich zuerst über das gute Einvernehmen mit den Priestern entrüstet hatte, nun aber selbst höchst verdächtige Verbindungen mit ihnen anknüpfte. Von seinen Intrigen in Kenntnis gesetzt, drohte Wudrum in seinem Unmut, er werde mit Schirast und Chansnepp brechen, komme, was da wolle. Doch bald vergrub er sich wieder in seine Arbeit, ohne sich zu einem 182
energischen Schritt aufzuraffen, und tat so, als bemerke er die sich zunehmend verschlechternde Situation in der Expeditionsgruppe nicht. Inzwischen jagte ein Erfolg den andern. Ein Teil des Platzes vor dem Allerheiligsten des Tempels war bereits frei geräumt und dabei das Stück eines Zweiges gefunden worden, von dem man mit Sicherheit sagen konnte, daß es aus dem seinerzeit versteinerten Wald stammte, den die Legende von Rokomo und Lawuma erwähnt. Die Trümmer der unteren Säulenhalle waren beiseite geschafft worden, und darunter hatte man die versteinerte Hand Lawumas gefunden. Die Taucher drangen immer weiter in die versunkene Tempelruine vor, und einem von ihnen glückte es, ein zweites Bruchstück der Statue des Himmlischen Gastes zu entdecken, das Wudrum für den Meteoritenkern hielt. Doch auch diese Freude vergällte ihm Schirast. Dieser verbrachte auffallend viel Zeit auswärts und besuchte von Zeit zu Zeit hohe Persönlichkeiten der Kolonie. Hinter Wudrums Rücken fanden irgendwelche Verhandlungen statt. Schirast setzte sich mit dem Mutterland in Verbindung, besuchte den Gouverneur und die Priester von Buatoo. Seine Geschäftigkeit erweckte den Verdacht Wudrums, der spürte, daß sich da etwas Garstiges zusammenbraute. 183
Sein Gefühl trog ihn nicht. Von einem Tag auf den anderen erklärte Schirast, die unterseeischen Ausgrabungen müßten eingestellt werden, und zwar unverzüglich. Die Arbeiten gingen trotzdem weiter. Wudrum ignorierte ganz einfach die Forderung des bevollmächtigten Vertreters Gun Chansnepps. Seine Gedanken kreisten um ganz andere Probleme. Immer seltener zeigte er sich an der Ausgrabungsstätte, wo er die Arbeiten seinem Sohn Alexander und Plotnikow anvertraute, und verbrachte fast die ganze Zeit im Hauptstützpunkt der Expedition in Makimi, wo er die Fundstücke genau untersuchte. All seine Aufmerksamkeit galt dem Meteoritenkern. Behutsam wie ein Juwelier säuberte er Millimeter um Millimeter das Herzstück des kosmischen Körpers, der aus fernen Sternenwelten auf die Erde herabgestürzt war. Das Studium der aus dem Meteoritenkern herausgelösten Körner, die Erdnüssen ähnelten, brachte ihn zu der Überzeugung, daß es sich nicht schlechthin um Teilchen eines auf der Erde unbekannten Minerals handle. Die Körner glichen einander aufs Haar, ihre Oberfläche wies immer das gleiche komplizierte Muster auf. Der Struktur nach mußten sie der organischen Welt angehören. Doch keine einzige kohlenstoffhaltige Substanz besaß ein derart hohes spezifisches Gewicht. Sollten das etwa 184
Keime, Samen oder Sporen eines fremden, aber offensichtlich siliziumhaltigen Lebens sein? Nächtelang saß Wudrum mit Otschakowski über dem erstaunlichen Fund. Sie wurden nicht müde, ihn zu untersuchen und abzuzeichnen, ihre Meinungen darüber auszutauschen und alle Erwägungen aufzuschreiben. Freude über die ungewöhnliche Entdeckung und zugleich Angst davor erfaßten den Gelehrten. Wenn nun die Keime noch lebensfähig waren und zu neuem Leben erwachten wie einstmals unter den Schlägen Rokomos? Wenn sich in den Keimen durch die Jahrhunderte hindurch eine unbekannte, vielleicht unvorstellbar gewaltige Kraft erhalten hatte? Wie würde das weitere Schicksal dieser Entdeckung sein? In wessen Hände würde diese Kraft geraten? Was würde dann auf dem Planeten geschehen? Mittwoch, den 13. Mai 1914 Gestern hat Preoito nach mir geschickt. Der Diener sagte, sein Herr bitte untertänigst, sofort zu ihm zu kommen. Ich ließ alles stehen und liegen und eilte zu meinem alten Freund. Er entschuldigte sich wegen der dringenden Aufforderung, schickte den Diener weg und lud mich zum Sitzen ein. Wie soll ich das nun folgende Gespräch wiedergeben, wie die Gefühle beschreiben, 185
die es in mir auslöste? Ich wüßte keinen traurigeren Tag als den gestrigen, es wäre denn jener, an dem ich den letzten Abschied von meiner Mutter nahm. Preoito war wie immer freundlich und ruhig. Doch schon beim Eintritt schien es mir, als hätten ihn besondere Umstände zu dieser kurzfristigen Einladung veranlaßt. Er war ernster und in sich gekehrter als sonst. Ein Ausdruck unendlichen Friedens lag auf seinem gütigen Gesicht, als wäre er schon der Welt entrückt. Gleich zu Beginn des Gesprächs sagte er: „Wir sehen uns heute zum letztenmal. Morgen werde ich die Schwelle des Unerkennbaren überschreiten. Widersprich nicht, mein Freund, und behalte deine Trostworte für dich, sie sind fehl am Platz, obzwar sie, ich weiß das, von Herzen kommen. Ich habe lange gelebt, habe nicht wenig Glück erfahren, aber auch viel Bitteres durchgemacht. So ist das Leben, und ich segne es, ohne über die Unvermeidlichkeit dessen, was uns alle erwartet, zu klagen. Wir wollen uns nicht der Verzweiflung und sinnloser Trauer hingeben, sondern die noch verbleibende Zeit lieber vernünftig anwenden. Ich möchte von längst vergessenen Dingen sprechen, hinter denen sich ein weiteres verlockendes Rätsel Pautoos verbirgt. Sieh genau nach, 186
mein Freund, ob uns niemand belauscht, und setz dich dann wieder zu mir. So ist es gut. Ich kenne dich seit langem und weiß, daß du das pautooanische Volk liebst. Deshalb möchte ich dir und keinem andern in meinen letzten Stunden ein streng gehütetes Geheimnis enthüllen. Es war vor sehr langer Zeit. Damals lebte unser Volk ein volles Leben, das wunderbar mit der Natur harmonisierte. Der Mensch blickte erstaunt und begeistert auf die Geheimnisse des Alls. Nach der Überlieferung waren Himmel und Erde näher beisammen als heute, die Menschen wurden manchmal zu Göttern, und die Götter mischten sich gern unter die Menschen. Was wir heute ins Reich des Wunderbaren, unserm Gefühl und Verstand unfaßbar verweisen, war nicht nur Auserwählten, sondern auch den einfachen Pautooanern durchaus verständlich. Doch sehr vieles von dem, was der Mensch in unseren Tagen gemeistert hat, war unsern Urahnen natürlich noch nicht erreichbar. Ich möchte mich mit dem Gedanken trösten, daß es dir vielleicht gelingen wird, die durch Jahrhunderte getrennten Kenntnisse von damals und heute miteinander zu verbinden und das Geheimnis des goldenen Schiffchens, wenn du erst seine Eigenschaften erforschst, zu enthüllen. 187
Wie du weißt, ist unser Geschlecht sehr alt. Die Familienüberlieferung besagt, daß auf Pautoo zur Zeit des großen Herrschers Nijon ein kühner und weiser Mann namens Preoito-Mou lebte. Dir ist bekannt, daß die Pautooaner auf weiten Fahrten und wagemutigen Reisen großen Unternehmungsgeist und wahrhaften Mut bewiesen haben. Von den pautooanischen Inseln fuhren bereits im Altertum gutausgerüstete Schiffe nach fernen Ländern. Schon damals verkehrten unsere Vorfahren mit Völkern, von denen die Europäer erst in jüngster Zeit erfahren haben. Will man der Überlieferung glauben, so war Preoito-Mou, den Forschergeist und Wissensdurst beseelten, der Schöpfer der pautooanischen Flotte. Er unternahm als erster kühne Seereisen und trug den Ruhm seiner Heimat in alle Welt. Der König Nijon zog ihn an seinen Hof und belohnte ihn fürstlich. Preoito-Mou wurde einer der ersten Männer im Staat. Und dann verliebte er sich in die schöne Königstochter Ragnaa. Der Sage zufolge segelten die Pautooaner schon in jenen Zeiten zu den Küsten der Inseln, die heute Neuseeland heißen. Preoito-Mou brachte von dort den Wundervogel Poë mit. Dunkelgrün, schillernd wie blanker Stahl und mit einem Büschel weißer Federn am geschwungenen Hals, die sich kräuselten wie der Schaum auf den 188
Meereswellen, besaß dieser Vogel eine Gabe zu singen, wie sie kein anderer seiner gefiederten Artgenossen besitzt. Unvergleichlich ahmte er alle gehörten Laute nach, besonders die Stimme des Menschen. Preoito-Mou sang auf dem langen Rückweg von der neuseeländischen Küste die Lieder seiner Heimat, und Poë lernte, mit seiner Stimme zu singen. Niemand konnte unterscheiden, ob Poë sang oder Mou, der ein ausgezeichneter Sänger war. Den Wundervogel schenkte er der Prinzessin Ragnaa. Seitdem war in dem herrlichen Schloßgarten häufig der Gesang PreoitoMous zu hören, und sie wurde dem berühmten Seefahrer von Herzen zugetan. Der König Nijon widersetzte sich dieser Liebe, denn er hatte seine Tochter dem Fürsten von Tansej versprochen. Doch Ragnaa wollte keinen anderen Mann als Preoito-Mou. Der allmächtige Beherrscher Pautoos konnte der über alles geliebten einzigen Tochter seinen Willen nicht aufzwingen. Er kannte ihr ungestümes Temperament, ihre Beharrlichkeit und Willensstärke und wußte, daß sie für den geliebten Mann alles hingeben würde, sogar ihr Leben. Daher griff er zu einer List. Er gab sein Einverständnis zu ihrer Vermählung mit Preoito-Mou, aber nur unter der Bedingung, daß der berühmte Entdecker ferner und reicher Länder seine Tochter erst 189
dann heirate, wenn er von einer Reise in das legendäre Land Anupau zurückgekehrt sei. Als Ragnaa von dieser Entscheidung erfuhr, lief sie verzweifelt zu ihrem Onkel, dem Oberpriester des Tempels Buatoo, und flehte ihn an, ihren Vater zu einer Änderung seines Entschlusses zu bewegen, denn sie fürchte, ihr Mou werde von der gefahrvollen Reise in das geheimnisumwitterte Land niemals zurückkehren. Der Priester, der seine schöne Nichte aufrichtig liebte, tröstete sie, indem er voraussagte, daß Preoito-Mou ungefährdet zurückkehren werde, wenn sie dem Geliebten sein Geschenk zurückgebe und wenn er diesen Wundervogel während der ganzen Reise stets bei sich habe, ihn hüte und pflege. Alle Tage und Abende verbrachte die Prinzessin nun in ihrem Garten zwischen Teichen und Springbrunnen, umgeben von seltenen Gewächsen und prachtvollen Gebäuden, die von den kunstreichen Meistern Pautoos geschaffen waren. Dort sang sie Abschiedslieder für den Geliebten, und der Vogel Poë lernte, mit ihrer Stimme zu singen. Rasch verflogen die Tage bis zur Abreise Preoito-Mous. Schon lagen die Schiffe für die tollkühne Seefahrt bereit, schon schlug die Stunde des Abschieds. 190
Prinzessin Ragnaa gab Mou sein Geschenk zurück. Die Schiffe nahmen Kurs auf die unbekannten, verlockenden und zugleich furchteinflößenden fernen Küsten. In vielen Ländern weilten die kühnen Seefahrer, überall fragten sie nach dem Weg zu dem geheimnisvollen Kontinent Anupau, aber niemand konnte ihnen etwas Bestimmtes sagen. Mehr als ein Jahr verging, und die Seeleute, die sich nach den heimatlichen Inseln sehnten, konnten immer noch nichts über das Ziel ihrer Reise erfahren. Sie verfielen in Schwermut, viele erkrankten, und manche starben, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben. Schwer hatte es Preoito-Mou, schwerer als alle andern, doch er hatte auch einen großen Trost, den Vogel Poë, der nicht aufhörte, mit der Stimme der Geliebten zu singen. Da Preoito-Mou das Land Anupau nicht fand, konnte er nicht in die Heimat zurückkehren. Die Hoffnung begrabend, mit der Geliebten jemals glücklich vereint zu sein, erkühnte er sich, den Großen Ozean zu überqueren. Viele Monate segelten die kleinen Schiffe über das zu jener Jahreszeit stille und friedliche Meer. Entgegen aller Erwartung erreichten die kühnen Männer das Ziel, wovon der aus dem fremdartigen Land mitgenommene und bis zum heutigen Tag auf Pautoo stehende 191
Obelisk mit dem Abbild eines kupfernen Mannes zeugt. Doch die Rückfahrt war fürchterlich. Stürme tobten auf dem Großen Ozean, zwei Schiffe sanken mitsamt ihren Besatzungen, und die übrigen irrten ohne Ziel und Richtung umher. Auch Preoito-Mou, fassungslos angesichts der unübersehbaren Wellenberge und erschrocken über die entfesselten Naturgewalten, wußte nicht, wie er die verbliebenen Schiffe zu den ersehnten heimatlichen Ufern zurückführen sollte. Da geschah ein Wunder. Der Vogel Poë verwandelte sich in das goldene Schiffchen, ein kleines Boot mit ebensolchen Flügeln, wie Poë sie hatte, und ebensolchem Schnabel. Und dieses Schiffchen, das an einem dünnen goldenen Kettchen hing, wies unentwegt die Richtung nach Pautoo. Die Prophezeiung des Oberpriesters ging in Erfüllung. Preoito-Mou ging auf dem uferlosen Ozean nicht zugrunde. Dank dem geflügelten Schiffchen fand er den Weg zu den heimatlichen Inseln und traf wohlbehalten in Makimi ein. Doch dort war mittlerweile nicht wiedergutzumachendes Unheil geschehen. In derselben Stunde, als Poë zu singen aufhörte und sich in das goldene Schiffchen verwandelte, war Prinzessin Ragnaa, ehe sie den Geliebten in ihre Arme schließen konnte, für immer verstummt. 192
Soweit unsere Familienüberlieferung“, schloß der alte Preoito, worauf er die Lider senkte und in seinen Sessel zurückfiel. Besorgt sah ich ihn an. Nur noch schwach glomm in seinem schlaffen Körper das Leben, und ich verstand nicht, warum er in diesen, nach seinen eigenen Worten letzten Stunden vor dem Tode soviel Kraft und Zeit darauf verwandt hatte, mich in die alte Familienüberlieferung einzuweihen. Es dunkelte rasch. Vom Meer kam erfrischende Kühle. Um die Veranda brandeten die vielfältigen Geräusche der nächtlichen Dschungelbewohner. Ich aber saß still neben dem Sessel Preoitos, um seine Ruhe nicht zu stören, und dachte über das Gehörte nach. Plötzlich öffnete er die Augen. Gelassen, als wäre er nicht aus langer Ohnmacht erwacht, winkte er mich näher heran und sagte mit klarer Stimme: „Sieh bitte nach, ob keine neugierigen Lauscher um das Haus herumschleichen.“ Ich durchsuchte das ganze Haus und seine Umgebung, allerdings nicht sehr gründlich, dazu war ich viel zu verwirrt und aufgeregt. Als ich auf die Veranda zurückkam, reichte mir Preoito ein Schlüsselbund. „Geh zu dem schwarzen Schränkchen, das in meinem Zimmer steht. Zu dem mit den Intarsien aus Türkis und Perlmutter. 193
Schließ es mit diesem Schlüssel auf. An der Rückwand wirst du eine Vertiefung sehen. Steck meinen Siegelring hinein, dann öffnet sich ein Geheimfach. Darin steht eine Schatulle aus geschnitztem Elfenbein. Nimm sie heraus und bring sie mir.“ Ich tat, wie er gesagt hatte. Die Hände zitterten mir dabei. Meine Nerven waren gespannt wie Saiten, und ich tadelte mich im stillen wegen meiner Unbeherrschtheit. Die geschnitzte Schatulle stellte ich auf ein niedriges Tischchen vor dem Sessel des Kranken. Preoito betrachtete sie zufrieden, ja wie mir schien, sogar vergnügt. Sein bronzefarbenes, fast kaffeebraunes Gesicht mit den einprägsamen strengen Zügen wirkte in diesem Augenblick geradezu majestätisch, während die ruhigen, weisen Augen verschmitzt funkelten. Als seine schmalen, nervigen Hände die Schatulle berührten, fiel sie auseinander; wie das geschah, entging mir. Vor mir erblickte ich das goldene Schiffchen, von dem Preoito soeben gesprochen hatte. Auf einem geschliffenen Rubinplättchen war ein Ständer mit einem Reifen befestigt. An der Oberseite des Reifens hing an einem hauchdünnen Kettchen, dessen Glieder man ohne Lupe kaum erkennen konnte, ein geflügeltes Schiffchen von kunstreicher Arbeit. 194
„Weißt du“, fragte mich Preoito, „in welcher Richtung sich der Tempel Buatoo befindet?“ Ich zeigte auf den östlichen Winkel der Veranda. „Richtig. Beobachte jetzt, wohin der Vogel zeigt.“ Der Bug des Schiffchens – oder war es der Schnabel des neuseeländischen Vogels Poë? – zeigte auf den östlichen Winkel der Veranda. „Wohin du dieses Schiffchen auch trägst“, fuhr Preoito fort, „es wird nie nach Norden zeigen wie der von den Chinesen erfundene Kompaß, sondern immer nach Buatoo. Schon in der Jugend, nachdem ich diese Familienreliquie von meinem Vater erhalten hatte, machte ich die Probe darauf. Ich fuhr auf ferne Inseln und wanderte um den Tempel herum, aber immer war die Schnabelspitze auf die Stelle gerichtet, wo der Tempel des Himmlischen Gastes steht. In Europa wies das goldene Schiffchen in die Richtung der Insel Pautoo. Diesen erstaunlichen Kompaß nahm ich nach Buatoo mit und beobachtete, unbemerkt von etwaigen Zeugen, wie er sich im Tempel selbst verhielt. Er stellte sich auf den Oberen Tempel ein, den die Priester bis zum heutigen Tag eifersüchtig bewachen, damit ihn ja kein Ungeweihter zu Gesicht bekomme.“ Preoito klappte die Wände der Schatulle mit einer geschickten Bewegung zusammen, so daß sie den Wundervogel wieder 195
umschlossen, und hielt mir das Kästchen mit seinen verdorrten, faltigen Händen hin. „Da, nimm! Die Schatulle gehört dir.“ Außerstande, meine Hand danach auszustrecken, blickte ich verdutzt auf das unverhoffte Geschenk. „Nimm sie! Du bist ihrer würdig. Du weißt ja, ich habe keine Erben. Es fällt mir schwer, die Schatulle zu halten. Nimm sie, bitte.“ Ich nahm die Schatulle. „Mir ist das bittere Los zuteil geworden, meine Söhne zu überleben, und das noch schwerere, keine Enkel zu haben. Gott erspare dir ein solches Los! Du bist in den besten Jahren. Dein Verstand ist klar und scharf. Du hast schon vieles getan, um in das alte Geheimnis Pautoos einzudringen. Möge dir auch weiterhin Erfolg beschieden sein. Ich weiß, du liebst unser Volk. Du kannst der Welt von seiner alten Geschichte berichten, den Menschen die Wahrheit über das sagen, was im Laufe vieler Jahrhunderte der Vergessenheit anheimgefallen ist. Vielleicht gelingt es dir, auch das Geheimnis des goldenen Schiffchens zu enträtseln, das so stetig zum Oberen Tempel strebt, und zu entdecken, was sich darin verbirgt, welche der Wissenschaft noch unbekannten Kräfte dieses Schiffchen für alle Zeit dorthin lenken. Wer wagt, gewinnt. Und nun entschuldige mich. Leb 196
wohl! Geh jetzt. Ich bin müde. Überlaß mich der stillen Meditation.“ Freitag, den 15. Mai 1914 Gestern um zwei Uhr mittags ist Preoito gestorben… Sonntag, den 17. Mai 1914 Preoitos Leichenzug scheint zu einer Volksprozession zu werden. Die Nachricht vom Tode des pautooanischen Weisen hat sich überall mit Blitzesschnelle verbreitet. Von fernen Inseln und aus anderen Ländern strömen Pautooaner nach Makimi. Die Erregung in der Hauptstadt wächst stündlich und beunruhigt ernsthaft die Behörden. Aus Poga und Uinassa sind starke Truppenkontingente eingetroffen. In der Mündung des Matuans haben zwei Kanonenboote Anker geworfen.
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Der fliederfarbene Kristall An dem Tag, für den die Beisetzung Preoitos festgesetzt war, traten Ereignisse ein, die das Schicksal der Expedition von Grund auf änderten. Wudrum fuhr am Morgen nicht zur Insel Sebatu, sondern blieb in Makimi, da er an den Trauerfeierlichkeiten teilnehmen wollte. Plötzlich kam atemlos und völlig erschöpft Schorpatschew ins Hotel gestürzt. „Iwan Alexandrowitsch, schnell, schnell nach Sebatu!“ „Wie siehst du aus, Boris? Was ist los?“ Schorpatschew zog den Professor am Ärmel und öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut hervor. Er war wie ein Irrsinniger vom Hafen zum Hotel gerannt, und jetzt blieb ihm einfach die Luft weg. W udrum begriff, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Er fragte nicht weiter, sondern begab sich ohne Zaudern zu der Droschke, die vor dem Hoteleingang hielt, half Schorpatschew einsteigen und rief dem Kutscher zu: „Zum Hafen! Schnell!“ Erst nach einiger Zeit, als sein Atem wieder etwas ruhiger ging, stieß Schorpatschew hervor: „Schirast will den Tempel sprengen.“ Während sie zum Hafen fuhren, kam der junge Mann wieder einigermaßen zu sich und erzählte Wudrum, wie es ihm gelun198
gen war, den Stützpunkt heimlich zu verlassen, und wie ihn befreundete Pautooaner mit einem schnellen Boot nach Makimi gebracht hatten. Was war an der Ausgrabungsstätte geschehen? Kleinere unterseeische Sprengungen wurden dort häufig vorgenommen. Das erleichterte den Tauchern, die Felstrümmer und Korallenriffe unter Wasser wegzuräumen. An diesem Morgen nun hatte Schirast seinen Leuten in der Gruppe Anweisung gegeben, eine so große Dynamitladung anzubringen, daß sie die Tempelruine auf dem Meeresgrund restlos zerstören würde. „Nun, und Nikolai Nikolajewitsch? Was hat er getan?“ „Iwan Alexandrowitsch, den Sprengstoff hat doch Schirast in Händen. Alexander Iwanowitsch und ich sind zu ihm gegangen, aber er hat gesagt: ,Keinen Schritt näher, sonst jag ich euch mit in die Luft!’ Nikolai Nikolajewitsch ordnete daraufhin an, daß alle den Prahm verlassen. Wir befürchteten, dieser Halunke könnte ihn mitsamt den Leuten darauf sprengen. Imstande wäre er dazu!“ „Na, na, Boris, nicht übertreiben. Und die Lastkähne? Was ist mit denen? Und die Ausrüstung?“
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„Nikolai Nikolajewitsch hat befohlen, die Kähne mit allem, was darauf ist, abzuschleppen.“ Von der Droschke zum Motorboot lief Wudrum, ungeachtet seiner zweiundfünfzig Jahre, so rasch, daß er keinen Schritt hinter Schorpatschew zurückblieb. So hatten ihn die Pautooaner noch nie gesehen. Sie waren gewohnt, daß die Europäer nicht gingen, sondern würdevoll schritten, nicht redeten, sondern gebieterisch sprachen und natürlich nie und nimmer rannten. Das Motorboot lief mit Höchstgeschwindigkeit auf die Insel zu. Schon war der nackte Felsgipfel des Sebarao zu sehen, und bald konnte man durch das Fernglas erkennen, was am Fuße des Berges und am Ufer geschah, wo die Lastkähne der Expedition vertäut lagen. Doch zum Eingreifen war es zu spät. Noch bevor der weiße Streifen der Brandung auftauchte, sahen Wudrum und Schorpatschew eine riesige Wassersäule über der Stelle hochsteigen, wo am Morgen noch gearbeitet worden war. Die Sprengung in der Lagune schreckte ganz Makimi auf. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Pautooaner bis zu einem gewissen Grade von den Vorgängen abgelenkt, die mit der Beisetzung Preoitos zusammenhingen. Das war eine ziemlich merkwürdige Geschichte. Am Montagmor200
gen, als die Menschenmassen zu Preoitos Haus strömten, gaben die Behörden bekannt, der Verstorbene werde gemäß seinem letzten Willen auf Biu, der abgelegensten Insel des Archipels, die von keinem Menschen bewohnt war, begraben werden. Wie und wann das geschehen sollte, verschwieg man. Die Erregung der Menge war ungeheuer, aber keiner wußte, was tun. Die Sprengung an der Küste Sebatus machte die Verwirrung noch größer. In der Menge tauchten Leute auf, die das Gerücht ausstreuten, die frevelhaften Wissenschaftler, die das pautooanische Heiligtum geschändet hätten, seien alle umgekommen. Jemand behauptete sogar, das in Buatoo befindliche Bruchstück der Statue des Himmlischen Gastes beginne, sich zu bewegen und anzuschwellen. Viele eilten zum Tempel, andere liefen zum Hafen. Kurzum, es herrschte ein grenzenloses Durcheinander, das sich fast bis zum Aufruhr steigerte, als nach Anbruch der Nacht die aktivsten Anhänger Preoitos verhaftet wurden. Wudrum traf Schirast in der Siedlung der Expedition an. Außer sich schrie er zornig: „Wer hat Ihnen das Recht gegeben, Herr Schirast, etwas so Ungeheuerliches zu tun?“ 201
„Setzen Sie sich, Herr Professor. Hier ist ein Glas Apfelsinensaft. Wir wollen vernünftig und ruhig miteinander sprechen.“ „Lassen Sie diese Faxen, Verehrtester! Ich frage Sie noch einmal: Was für ein Recht hatten Sie, die Sache, auf die wir soviel Mühe verwandt haben, eigenmächtig, ohne nach meiner Meinung oder der anderen Expeditionsmitglieder zu fragen, auf diese barbarische Weise zugrunde zu richten? Was soll das alles bedeuten? Heraus mit der Sprache!“ Wudrum setzte sich endlich und trank das leicht beschlagene Glas mit dem perlenden Fruchtsaft in einem Zuge leer. „Iwan Alexandrowitsch, ich habe Sie rechtzeitig gewarnt. Ich habe Sie davon in Kenntnis gesetzt, daß die unterseeischen Ausgrabungen eingestellt werden müssen. Sie aber haben unsere Forderungen in den Wind geschlagen und auf der Fortsetzung der Arbeiten bestanden.“ „Dazu hatten wir die Genehmigung des Gouverneurs.“ „Oh, seitdem hat sich vieles geändert. Und dabei hat Ihre unüberlegte Handlungsweise keine geringe Rolle gespielt. Entschuldigen Sie, Herr Professor, wenn ich das sage, aber in unserer Zeit darf man sich nicht in politische Angelegenheiten einmischen, ohne sich klar darüber zu sein, wohin das führen kann.“ 202
„Sie wissen ganz genau, daß ich mich in politische Angelegenheiten nicht einmische.“ „Und das Geschenk, das Sie dem Tempel Buatoo gemacht haben? Gerade das hat in der Politik Pautoos keine unwichtige Rolle gespielt. Sie wissen so gut wie ich, daß im Volk der Glaube an den Himmlischen Gast seit langem beinahe erloschen ist und daß die Priester dieses Kults ein recht kümmerliches Dasein gefristet haben. Jetzt, im Besitz ihres ‚Heiligtums’, heben sie wieder die Köpfe. Aus allen Gegenden des Archipels pilgern Tausende von Pautooanern zum Tempel Buatoo. Das unangenehmste aber ist, daß die Priesterkaste, die an und für sich schwach ist, sich mit der nationalen Partei verbündet hat. Und die nützt das aus, um ihren Einfluß auf das Volk zu verstärken und sich an die Spitze des Kampfes gegen das Kolonialregime zu stellen, was das Mutterland selbstverständlich nicht dulden kann. Wir leben in einer realen Welt, und, glauben Sie mir, sosehr mich auch die Perspektive lockt, historische Forschungen zu betreiben, ich muß wie jeder andere stets im Auge behalten, was in der uns umgebenden Wirklichkeit vor sich geht. So auch jetzt. Anstatt mich meiner geliebten Arbeit widmen zu können, war ich genötigt, den 203
von Ihnen ausgelösten Konflikt beizulegen.“ „Ach, so wollen Sie sich herauswinden! Sie wollen die Sache so darstellen, als sei ich an allem schuld?“ „Ob Sie es wollten oder nicht, Herr Professor – Tatsache ist, daß Sie mitgeholfen haben, die revolutionäre Glut auf Pautoo zu schüren.“ „Das ist hanebüchener Unsinn.“ „Durchaus nicht. So ist das Leben nun einmal. Religion, das werden Sie zugeben, ist immer auch Politik. Politik allerdings ist nicht immer Religion. Die pautooanischen Priester, ganz gleich, welchen Gott sie anbeten, können sich nur dann als Kaste behaupten und das Volk bei der Stange halten, wenn sie Stützen der Kolonialmacht sind. Gegenwärtig entziehen sie sich immer mehr der Kontrolle des Mutterlandes. Deshalb durfte man keinesfalls zulassen, daß die Tempelausgrabungen fortgesetzt wurden. Jetzt sind bereits solche Reliquien gefunden worden wie der Zweig aus dem heiligen Wald und die Hand Lawumas. Von den Nationalisten angestachelt, werden die Fanatiker ihre Herausgabe fordern, denn die Funde sind schon allenthalben bekannt. Was sollen wir dann Ihrer Meinung nach tun?“ „Sie herausgeben, das ist doch klar.“ 204
„O nein, verehrter Herr Professor! So einfach ist das nicht. Die Reliquien herausgeben hieße die Macht der pautooanischen Freiheitsbewegung stärken. Geben wir sie aber nicht heraus, so kann das zu einem allgemeinen Aufstand der Kolonie gegen das Mutterland führen. Den Tempel Buatoo muß man fest in der Hand haben. Wer den Tempel hat, der verfügt jetzt über eine kolossale Kraft.“ „Ihre Überlegungen sind vielleicht richtig, aber sie interessieren mich nicht. Ich befasse mich mit meinen Angelegenheiten und habe nicht die Absicht, mich in Ihre Machenschaften verstricken zu lassen. Ich betrachte mich als der Verpflichtungen, die ich Gun Chansnepp gegenüber eingegangen bin, frei und ledig.“ „Ach so!“ „Jawohl! Sie, sein bevollmächtigter Vertreter, haben als erster den Vertrag zerrissen, indem Sie die Ausgrabungen ohne meine Zustimmung einstellten.“ „Ich habe Ihnen aber doch die Gründe erklärt…“ „Das geht mich nichts an. Als wir unsere Absprache mit Chansnepp trafen, wurde die politische Lage auf Pautoo ausgeklammert. Mit keinem Wort war davon die Rede. Stimmt das?“ „Vollkommen richtig, Herr Professor. Aber versetzen Sie sich bitte in meine La205
ge. Ich bin verpflichtet, Chansnepps Interessen zu wahren, und kann gleichzeitig nicht auf die Möglichkeit verzichten, mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Ich habe außerordentlich viel von Ihnen gelernt. Die von Ihnen gemachten Entdeckungen und die Aussicht, völlig unbekannte Angaben über die Siliziumära des Schöpfertums auf Pautoo veröffentlichen zu können, das ist doch…“ „Das interessiert Sie offenbar weit weniger als die Einkünfte, die sowohl Chansnepp als auch Sie aus Pautoo herauspressen. Ihr Vater hat ja, wenn ich nicht irre, ein recht ansehnliches Kapital in den hiesigen Plantagen investiert.“ „Ich mache daraus kein Hehl. Mein Vater ist ein reicher Mann. Das gibt mir die Möglichkeit, mich den wissenschaftlichen Studien zu widmen, die mir besonders am Herzen liegen. Auch Sie, Herr Professor, brauchten doch erhebliche Mittel, um Ihre Pläne verwirklichen zu können. Auch Sie mußten sich wohl oder übel mit Finanzleuten an einen Tisch setzen.“ „Ja, und ich bedaure das sehr.“ „Nichts zu machen! Solche Beziehungen sind vonnöten, wenn sie auch nicht immer angenehm sind. Ich habe niemals zu den Gelehrten gehört, die des Glaubens sind, die Wissenschaft müsse über der Politik, dem Staat und den Parteien stehen, sie 206
habe damit nichts zu tun. Es ist mir unbegreiflich, warum dieser Irrtum so weit verbreitet ist. Die Wissenschaft war doch stets und immer der Politik untergeordnet. In unserer Zeit gilt das doppelt. Im zwanzigsten Jahrhundert verlangt die sich entwikkelnde Industrie von der Wissenschaft alles, was sie zu geben vermag, dafür bietet sie ihr aber auch Forschungsmöglichkeiten, wie sie sie nie zuvor gehabt hat.“ „Arme Wissenschaft! Übrigens sind wir vom Thema abgekommen. Mich reizt das alles nicht. Gehorsamsten Dank, mein Bedarf ist gedeckt. Was ich gefunden habe, genügt mir vollauf.“ „Entschuldigen Sie, aber das glaube ich nicht.“ „Was glauben Sie nicht?“ „Daß Sie sich von Ihren Plänen lossagen, von dem unbezähmbaren Drang nach neuen Ergebnissen und Entdeckungen, nach wissenschaftlichen Leistungen.“ „Da haben Sie recht. Davon sage ich mich auch nicht los. Aber von der Zusammenarbeit mit Ihnen, mit Chansnepp und Leuten Ihres Schlages sage ich mich los. Ganz entschieden. Ich kehre nach Rußland zurück.“ „Das sagen Sie nur, um mich irrezuführen. Bilden Sie sich wirklich ein, daß ich an Ihre Abreise glaube?“ 207
„Warum sollten Sie nicht? Die Ausgrabungen sind jetzt sinnlos geworden. Und außerdem haben wir das Wichtigste schon gefunden. Auf nach Hause! An die Laboratoriumsarbeit – wie man so sagt. Und Sie, werden auch Sie nach Europa zurückkehren?“ „Iwan Alexandrowitsch, solange Sie noch hier sind, werde ich nicht abreisen. Ich kann Ihnen noch nützlich sein.“ „Beim Verladen des Gepäcks? Das schafft Wassili Afanasjewitsch allein.“ „Nichts für ungut, Herr Professor, aber gestatten Sie mir, offen zu sprechen. Die Rolle des Diplomaten liegt Ihnen nicht. Ich kenne Ihre Beharrlichkeit, Ihre Hartnäkkigkeit und kann einfach nicht glauben, daß Sie Pautoo verlassen wollen, ohne versucht zu haben, in den Oberen Tempel zu gelangen und seine geheimnisvolle Anziehungskraft auf das goldene Schiffchen zu entschlüsseln.“ „Sie… Sie… Auch das haben Sie ausspioniert? Sie haben Ihre Fühler auch in das für mich sakrosankte Haus Preoitos ausgestreckt? Das ist doch die Höhe!“ Schweratmend vor Zorn und erfüllt von Abscheu über die Gemeinheit, die ihn umgab, stürzte Wudrum aus Schirasts Bungalow. Das war zuviel für ihn. Kraftlos schleppte er sich zu der kleinen Landungsbrücke. Dort holte ihn Alexander ein. Er 208
hatte auf der Veranda der Bambushütte auf seinen Vater gewartet und alles mit angehört. Still dasitzend, hatte er die Fäuste geballt und nichts sehnlicher gewünscht, als Schirast nach Strich und Faden durchzubleuen. Aber er hatte natürlich auch eingesehen, daß Schirast nur von anderen vorgeschoben und daher mit einer Prügelei nichts gewonnen war. „Nun, Vater, was wollen wir tun?“ Iwan Alexandrowitsch schwieg. „Mir tut es leid, daß du dich wegen dieses Schirast so aufregst. Jag den Schurken doch zum Teufel! Du mußtest ihn dulden, solange er die wichtigsten materiellen Hilfsmittel der Expedition, die wir für die kostspieligen unterseeischen Ausgrabungen brauchten, unter seiner Kontrolle hatte. Aber jetzt?“ Iwan Alexandrowitsch blickte seinen Sohn verwundert und erfreut an. „Für den Marsch zum Oberen Tempel brauchen wir keine Motorboote und keine Lastkähne, keine Kraftstationen und keine Taucherausrüstung. Wir schlagen uns auf eigene Faust mit einer kleinen Gruppe zu dem Heiligtum durch und bringen in Erfahrung, was für eine Bewandtnis es mit der Kraft hat, die das Schiffchen auf riesige Entfernungen anzieht. Und dann… Dann kehren wir nach Petersburg zurück.“ Iwan Alexandrowitsch drückte seinem Sohn nur stumm die Hand. Er drückte sie 209
fest wie einem guten und treuen Freund. Alexander wurde in diesem Augenblick gleichsam zum zweitenmal geboren. Und zwar so, wie er ihn sich immer gewünscht hatte. Am Morgen des 19. Mai brach die Expedition ihre Zelte ab. Alle arbeiteten fieberhaft. Eine Ausnahme machte nur Schirast. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Ständig scharwenzelte er um Wudrum herum und redete ohne Unterlaß auf ihn ein. Er habe nicht anders handeln können, er habe nur das Beste gewollt, er sei in erster Linie Wissenschaftler und selbstverständlich bereit, alle Schwierigkeiten des Marsches zum Oberen Tempel mit dem Professor und seinen Mitarbeitern zu teilen. Doch Wudrum blieb unbeugsam. Für ihn stand fest, daß Schirast bestenfalls den Entdekkerruhm mit ihm teilen wollte. Nachdem er sich von der materiellen Abhängigkeit frei gemacht hatte, wählte er jetzt für das gewagte, aber verheißungsvolle Unternehmen ihm ergebene Leute und nur das dringend Notwendige aus. Alles übrige sollte in Makimi zurückbleiben, um von dort nach der Rückkehr vom Oberen Tempel nach Europa eingeschifft zu werden. Die wertvollsten Funde – die Hand Lawumas, den Zweig aus dem versteinerten Wald und die Keime des Meteoritenkerns – 210
beschloß er, mit sich zu nehmen. Keine Minute wollte er sich von ihnen trennen. Sie wurden sorgfältig verpackt und in eine Blechbüchse eingelötet, die dänische Butter enthalten hatte. Schon lange hatte sich Wudrum nicht mehr so leicht und frei gefühlt wie während dieser Vorbereitungen zu dem neuen, vielversprechenden Unternehmen. Auch die anderen waren gehobener Stimmung; die Arbeit ging allen flott von der Hand. Schirast stand als einziger abseits, von keinem beachtet. Wudrum glaubte bereits, ihn endgültig los zu sein, aber er irrte sich auch diesmal. Als die Reisevorbereitungen so gut wie abgeschlossen waren, brachte Schirast gewichtige Argumente vor, um die Haltlosigkeit des geplanten Vorhabens zu beweisen. Im Vertrauen teilte er dem Professor mit, daß er, Schirast, die ganze Zeit mit den höchsten Priestern in Verbindung gestanden habe, sogar unter Umgehung der lokalen Behörden, und daß es ihm gleichzeitig gelungen sei, einen Priester zu bestechen und von ihm die Pläne der Tempelwächter zu erfahren. In Buatoo wisse man längst Bescheid über Wudrums Absicht, den Oberen Tempel aufzusuchen, und werde vor nichts zurückscheuen, um die Expedition daran zu hindern. Sie werde nicht höher als bis zum Abschiedsfelsen 211
kommen. Auf dem weiteren Weg seien bereits Hinterhalte gelegt. Jeder Versuch, sie zu überwinden, käme einem Selbstmord gleich. Die Priester würden auch diesmal nicht zulassen, daß Europäer in ihr verstecktes Heiligtum eindrängen. Schirast machte einen Gegenvorschlag. Man solle alles Gepäck und die Leute auf einen Dampfer schaffen, der dieser Tage nach Holland auslaufe, und sich feierlich verabschieden, damit alle des Glaubens seien, die Wissenschaftler hätten Pautoo wirklich verlassen. Das Expeditionsgut solle man jedoch teilen. Den einen, größeren Teil werde man tatsächlich nach Europa verfrachten, den anderen, kleineren, den man für den Marsch zum Oberen Tempel brauche, einzeln verpacken. Bekanntlich laufe der Dampfer Neresu an, die letzte Insel des Archipels, und nehme dann Kurs auf Europa. Auf Neresu solle die für den Marsch bestimmte Gruppe aussteigen und auf Umwegen, zuerst mit kleinen Küstendampfern und später mit pautooanischen Booten, von Insel zu Insel fahren, um schließlich auf der menschenleeren Westseite der Insel Seunor, die ein undurchdringlicher Dschungel bedecke, zu landen. Im Osten der Insel führe ein Weg von Buatoo zum Oberen Tempel. Dieser Weg sei jetzt unbegehbar, denn er werde von den Priestern bewacht, die überzeugt seien, 212
daß es keinen anderen Pfad zum Tempel gebe. Der Westhang gelte allgemein als unpassierbar, aber er habe einen Mann ausfindig gemacht, der einen geheimen Pfad kenne und bereit sei, eine kleine Gruppe bis unmittelbar zur Tempelruine zu führen. Schirasts Vorschlag gefiel Wudrum ganz und gar nicht. Andererseits konnte er sich seinen Argumenten nicht verschließen. Er wußte selbst, daß ihn die Priester nicht höher als bis Buatoo gehen lassen würden. Die Verhandlungen mit ihnen waren ergebnislos geblieben, und der Gouverneur, der Ausschreitungen befürchtete, hatte es entschieden abgelehnt, sich einzumischen. Alle Mitarbeiter Wudrums unterstützten ihn enthusiastisch bei dem Bemühen, die ungewöhnliche Erscheinung zu erforschen. Von moralischen Skrupeln wurde eigentlich nur der Professor selbst geplagt. Alle anderen meinten, wenn der seit vielen Jahrhunderten in der Wildnis zerfallene Tempel, der nur einmal im Jahr beim Fest des Himmlischen Gastes zum Leben erwache, etwas in sich berge, was die Wissenschaft noch nicht kenne, dann sei es ihre Pflicht und Schuldigkeit, ohne Rücksicht auf den Aberglauben der pautooanischen Priester in die Ruine einzudringen. Es kam zu heißen Wortgefechten, bei denen geschichtliche Beispiele angeführt wurden. Waren 213
nicht auch Europäer in Lhasa eingedrungen, die heilige Stadt, zu welcher der Dalai-Lama allen Andersgläubigen hartnäckig den Zutritt verwehrte? Hatten sie nicht auch die Schätze der ägyptischen Pyramiden und Pharaonengräber gehoben und sie allen Menschen zugänglich gemacht? Und hatten sie nicht in buddhistischen Klöstern tausend Jahre alte Reliquien ausgegraben, die jetzt ebenfalls in Museen zu sehen waren? Diese Beispiele beschwichtigten Wudrums Gewissen nur wenig. Er konnte sich lange nicht zu dem Schritt entschließen, der ihm sehr anfechtbar erschien, gab aber schließlich nach. „Meine Herren“, sagte er, „wir unternehmen diese Forschungsreise nur, wenn wir auf keinen offenen Widerstand stoßen. Keinerlei Gewaltanwendung, nichts, was Anstoß erregen könnte! Wenn unsere Informationen zutreffen, ergibt sich folgendes Bild: Der Tempel existiert im Grunde genommen nicht mehr. Erhalten geblieben sind nur zwei Mauern und halbgeborstene Säulen, dazwischen ein niedriger Sockel, auf dem etwas steht, was wir nicht kennen, was aber Gegenstand der Anbetung seitens jener Pautooaner ist, die noch an die göttliche Herkunft des Himmlischen Gastes glauben. In diesen Tempel auf dem höchsten Gipfel der Insel Seunor hat man vor siebenhundert Jahren irgendwelche 214
Reliquien gebracht, die gerettet wurden, als der heilige Hain und die Statue des Himmlischen Gastes im Meer versanken. Soviel ich weiß, ist das alles. Dorthin führt von Buatoo ein unbequemer, von den Priestern seit langem nicht mehr instand gehaltener Weg, auf dem einmal im Jahr Gläubige, die ein Gelübde abgelegt haben, zum Heiligtum pilgern. In der Regel wird der Weg zum Oberen Tempel von den Priestern nicht bewacht. Das ist auch verständlich. Wer sollte schon in Versuchung kommen, in das Heiligtum einzudringen und es zu erforschen? Ohne Preoitos Geschenk, nehme ich an, wäre es auch uns nicht in den Sinn gekommen, ausgerechnet diese Ruine genauer unter die Lupe zu nehmen. Gibt es doch in diesem erstaunlichen und noch so wenig erforschten Land nicht wenig solch uralter und rätselhafter Ruinen. Aber das goldene Schiffchen zeigt nun einmal zum Oberen Tempel, und das läßt uns keine Ruhe. Was wollen wir also tun, meine Herren?“ „Uns auf den Weg machen!“ „Um jeden Preis zur Ruine vordringen!“ „In Erfahrung bringen, wie sich das Schiffchen dort, beim Heiligtum, verhält.“ „Das ist ungefähr dasselbe, als wollte man einen Kompaß am Magnetpol erproben.“ 215
„Wir werden dort nichts finden als Eis und Schnee.“ Während dieses leidenschaftlichen Meinungsstreits hielt sich Schirast bescheiden im Hintergrund. Er fürchtete die gerechten Vorwürfe Wudrums, der ihm nicht verzieh, daß er Spione ins Haus des sterbenden Preoito geschickt hatte. Erst als der endgültige Beschluß gefaßt war und man an die Verwirklichung des von ihm vorgeschlagenen Plans ging, trat er wieder in Erscheinung. Zuallererst mußte über die Zusammensetzung der Gruppe, die zum Oberen Tempel vordringen sollte, entschieden werden. Alles sprach dafür, die Gruppe möglichst klein zu halten. Der Führer wollte unter keinen Umständen mehr als vier, höchstens fünf Personen mitnehmen. Eine günstige Gelegenheit abwartend, verlangte Schirast nachdrücklich, Schorpatschew zurückzulassen. Wudrum merkte, daß er sich wieder in Schirasts Netzen verheddert hatte, aber er konnte auch diesmal nichts dagegen tun. Er stand vor der Wahl, Schirast zu Willen zu sein und dem jungen Mann, dessen Nützlichkeit für ihn außer Frage stand, den Laufpaß zu geben oder auf den Führer zu verzichten, der den geheimen Pfad zum Oberen Tempel kannte. Schweren Herzens setzte er Schorpatschew davon in Kenntnis, daß er zurück216
bleiben müsse. Er schlug ihm vor, zusammen mit Sherdnew das Expeditionsgut nach Europa zu bringen, und versicherte ihm, sobald er nach Petersburg zurückgekehrt sei, werde er sich um sein weiteres Schicksal kümmern und ihm helfen, eine solide Bildung zu erwerben. Mit einem Wort, er sprach mit ihm liebevoll und fürsorglich wie ein Vater. Voll innerer Unruhe wartete er darauf, wie Boris, der sich bis zu diesem Augenblick als unbestrittenes Mitglied der Gruppe betrachtet hatte, dies aufnehmen würde. Zu seiner großen Verwunderung ließ sich der junge Mann keinerlei Verdruß anmerken. Nicht weniger unruhig dachte Wudrum nun daran, wie sich Alexander dazu stellen werde, daß er von Boris scheiden mußte, der ihm in der kurzen Zeit ein enger Freund geworden war und mit dem zusammen er so manches Wertvolle für die Expedition vom Meeresgrund heraufgeholt hatte, wobei beide mitunter Kopf und Kragen riskierten. Der von Boris an den Tag gelegte Gleichmut hatte den empfindsamen und sogar etwas sentimentalen Professor tief getroffen. Waren dieser Undank, diese Gefühlskälte etwa gar durch den Unterschied in der sozialen Stellung zwischen ihm und dem Burschen zu erklären? Jedenfalls wollte er seinen Sohn schonend vorbereiten, damit diesem die Enttäu217
schung erspart bliebe, die das Gespräch mit Boris ihm selbst bereitet hatte. Aber so taktvoll er ihm auch beizubringen versuchte, daß es notwendig sei, Boris zu entlassen, Alexander nahm sich die Nachricht sehr zu Herzen und erklärte, er werde immer zu seinem Freund stehen. Boris seinerseits gab sich unverzagt, munter und fröhlich wie immer. Den Vorschlag, Sherdnew nach Europa zu begleiten, wies er höflich, aber bestimmt zurück und sagte, er habe noch Verschiedenes in Makimi zu erledigen. Zum Abschied winkte er den Freunden vom Hafen aus mit dem Taschentuch nach, bis ihre Gesichter im Dunst verschwammen und der Dampfer hinter der Felsenküste verschwand. Die Reise ließ sich zunächst gut an. Anscheinend zweifelte niemand daran, daß die Forscher Pautoo endgültig verlassen hatten. Die Wissenschaftler waren sich zwar nicht sicher, ob man ihnen auf dem Dampfer nicht vielleicht doch nachspionierte, aber auch diese Möglichkeit hatte Schirast einkalkuliert. Die Landung der Forschungsgruppe auf Neresu war wohlüberlegt und baute für die Zukunft vor. Auf der dünn bevölkerten Insel konnte jeder Verfolger ohne Mühe festgestellt und abgeschüttelt werden. Die kleine Expedition, zu der außer Wudrum und Schirast noch Plotnikow, Ot218
schakowski und Alexander gehörten, landete unbemerkt an der Westküste Seunors. Dort begann der schwierige Fußmarsch, der so tragisch enden sollte. Der Dschungel reichte bis dicht ans Meer. Ein haushoher grüner Wall, der dem Auge nicht das kleinste Schlupfloch bot, versperrte dem unkundigen Wanderer den Weg. Es schien unmöglich, in diese ungeheuerlich wuchernde Pflanzenwelt auch nur einen Schritt einzudringen und sich durch das unheimliche Urwalddickicht, in dem das noch Lebenshungrige mit dem schon Abgestorbenen unentwirrbar verflochten war, einen Weg zu bahnen. Rings um die Baumriesen, deren Stämme hoch in den Himmel ragten, strebten Kokosund Rotangpalmen zur Sonne, und weiter unten drängten Sträucher und Moos ans Licht. Die Erfindungsgabe der Natur entlud sich hier in wahnwitziger Üppigkeit. Alles war so verschlungen und verfilzt, daß nur ausgezeichnete Ortskenntnis und geschickte Handhabung des Buschmessers dem Menschen ermöglichten, sich durch die grüne Hölle, die keinen Eindringling duldete, eine schmale Gasse zu bahnen. Maß muß Schirasts Führer Gerechtigkeit widerfahren lassen. Besonders zu Beginn des Marsches erwies er sich als gewandter und umsichtiger Pfadfinder. Sobald die für den Marsch angeworbenen Pautooaner die 219
Boote an einem sicheren Platz versteckt hatten, brach die Expedition mit dem Führer an der Spitze auf und drang rasch in den scheinbar unzugänglichen Dschungel ein. Der erste Tag war sehr ermüdend, verlief jedoch ohne Zwischenfälle. Vor Anbruch der Dunkelheit erreichten die Wanderer einen kleinen Bergbach und schlugen an dieser verhältnismäßig bequemen Stelle ihr Nachtlager auf. Am nächsten Morgen ging es in froher Stimmung weiter. Die Wanderung längs des Baches war unvergleichlich leichter als der Kampf mit den unerbittlichen, heimtückischen grünen Wächtern Seunors am Tage zuvor. Gegen Mittag war ein gutes Stück des Weges bewältigt. Eine Rast wurde eingelegt und über den weiteren Angriff auf den Dschungel beraten. Um diese Zeit ließ der Führer zum erstenmal Anzeichen von Unruhe erkennen. Er bestand darauf, möglichst rasch das offene Gelände zu verlassen, durch das sich der Bach schlängelte, im Dickicht unterzutauchen und den Aufstieg in die Felsen zu beginnen. Die Wissenschaftler verstanden nicht, warum er so zur Eile trieb und sich darauf versteifte, vom Bach wegzukommen, aber sie konnten ihn nicht dazu bewegen, eine Erklärung zu geben. 220
„Liebe Freunde“, sagte Wudrum, „hier bestimme nicht ich, das letzte Wort hat unser Führer. Was er sagt, ist für uns Befehl. Deshalb schlage ich vor, unverzüglich aufzubrechen. Bis zum Abend müssen wir die ebene Wegstrecke hinter uns haben.“ So blieb die Mittagsrast unbefriedigend. Ohne sich ordentlich ausgeruht zu haben, setzten sie den Marsch fort. Bis Sonnenuntergang gelangten sie zu der Stelle, die der Führer für das zweite Nachtlager vorgesehen hatte. Somit war der größere Teil des Weges glücklich zurückgelegt. Das Schwerste stand allerdings noch bevor, der Aufstieg über die Felshänge. Aber alle hatten den Eindruck, daß der Führer seine Sache verstand und die Gruppe sich auf ihn verlassen konnte. Das nahe Ziel vor Augen, richteten sich die Wanderer voller Zuversicht und frohen Mutes auf die Nacht ein. Ein Lagerfeuer anzuzünden erlaubte der Führer nicht. Das löste bei den Wissenschaftlern Befremden und bei den Trägern laute Proteste aus, aber der Führer ließ sich davon nicht beirren, und wieder mußten sich ihm alle unterordnen. Wie bei der Mittagsrast war er unruhig, schwieg sich aber über die Gründe aus. Schon im ersten Nachtlager hatte er verboten, Wasser aus dem Bach zu trinken. Jetzt schnitt er ein zwei Meter langes Stück von einer Liane 221
los und zapfte etwa anderthalb Liter Wasser daraus ab. Dieses Lianenwasser tranken von nun an alle, obwohl es keinem so recht schmeckte. Die müden Wanderer sanken bald in tiefen Schlaf. Aber gegen zehn Uhr abends zerriß ein Schrei die Nachtstille. Es war der langgezogene Schrei eines qualvoll sterbenden Menschen. Alle Bemühungen Otschakowskis, der über die meisten medizinischen Kenntnisse verfügte, blieben erfolglos. Einer der Träger wand sich zehn Minuten lang in Krämpfen, streckte dann die Glieder und erstarrte. Niemand fand mehr Ruhe in dieser Nacht. Überall schienen Gefahren zu lauern. Am Morgen wurde der Träger beerdigt. Das dauerte nicht lange. Die Pautooaner verfielen nicht in Panik, weil sie annahmen, ihr Landsmann sei von einer giftigen Spinne gebissen worden. Der Marsch wurde fortgesetzt. Der Pfad, sofern man das ausgetrocknete Bachbett als solchen bezeichnen konnte, führte stellenweise fast senkrecht aufwärts. Von einem Felsen zum anderen kriechend und sich an den glitschigen Kanten festklammernd, überwanden die Männer Meter um Meter die Hindernisse. Ihre Füße rutschten dauernd von den glatten Steinen ab oder glitten in dem zähen, röt222
lichen Schlamm aus. Von dem Steilhang, der aus grauen, gelben, roten und braunen Lavamassen bestand, sah man den gegenüberliegenden Hang der Schlucht. Der Abgrund, der die beiden Hänge voneinander trennte, war ein wahres grünes Ungeheuer, dessen dampfender, mit betäubenden würzigen Düften gesättigter Atem bis hierher, in ziemlich große Höhe, heraufdrang. Die Schlucht zog sich abwärts weit hin, und von einem überhängenden, von Kriechund Schlingpflanzen umwucherten und mit großen bunten Blumen übersäten Felsen konnte man den Großen Ozean sehen, der am Ufer in klarem Blau leuchtete und sich zum Horizont hin im milchigen Dunst der heißen Luft verlor. Der Aufstieg ging weiter, noch anstrengender als zuvor. Dann spürten die erschöpften Menschen eine belebende Kühle, die in angenehmem Gegensatz stand zu dem kräftezehrenden Dampfbad des Dschungels. Was konnte erfreulicher sein als diese Rast! Die schwierigste Wegstrecke lag hinter ihnen, die Luft war kühl und trocken. Die Insekten, die alle bis aufs Blut gepeinigt hatten, machten sich kaum noch bemerkbar, das ersehnte Ziel befand sich fast in Greifweite. Und dennoch konnte sich kein einziger Expeditionsteilnehmer eines unruhigen Gefühls erwehren. Der 223
Führer war auffallend besorgt und zerfahren. Wudrum, ebenso wie der Pautooaner in hockender Stellung, redete ihm freundschaftlich zu, kühlen Kopf zu bewahren. Aber der Mann beruhigte sich nicht. Er sah sich fortgesetzt nach allen Seiten um und erklärte schließlich, er gehe keinen Schritt weiter. Er wisse nicht genau, wo sich die Tempelruine befinde. Von hier aus, von diesem Felsplateau, müsse man noch etwas höher steigen, aber wohin, das könne er nicht sagen. Es gebe mehrere Wege zu dem zerstörten alten Tempel. Diesen hier, geradeaus, und den dort, nach links. Auch nach rechts könne man gehen. Zum Gipfel käme man auf jedem dieser Pfade. Doch in welcher Richtung sich das Heiligtum befinde, das wisse er nicht und wolle es auch gar nicht wissen. Wudrum holte die Schatulle mit dem goldenen Schiffchen hervor, und es wies die Richtung. Der Führer war darüber weder erstaunt noch erfreut. Er bestand nach wie vor darauf, umzukehren. Zugleich fürchtete er sich offenbar auch vor der Rückkehr, dermaßen verängstigt war er. Weshalb, sagte er nicht. Wudrum beriet sich mit seinen Freunden. Keiner konnte verstehen, was vor sich ging, aber alle spürten, daß etwas in der Luft lag. Otschakowski konnte nicht weiter, er fühlte sich schwach und krank. Wudrum schlug vor, die Rast auszudehnen 224
und abzuwarten, bis sich Serafim Petrowitsch erholt habe. Dieser aber putzte aufgeregt seinen Zwicker, noch eifriger als sonst, protestierte, widersprach und bat: „Das kommt gar nicht in Frage! Meinetwegen dürfen Sie keine Zeit verlieren. Wirklich, das hätte keinen Sinn, meine Herren. Wir brauchen nur noch den Felsen dahinauf, und dann steht oben, auf dem Gipfel, die Ruine. Stimmt doch, oder nicht? Na bitte. Schieben Sie es meinetwegen nicht auf. Iwan Alexandrowitsch, befehlen Sie aufzubrechen. Ich bleibe noch ein wenig liegen. Wenn alles bereit ist, schließ ich mich an. Ich bin ein zäher Bursche, das wissen Sie doch. Ich werde es schon schaffen. Nur mit Ihnen beisammen bleiben… mit allen zusammen… nicht zurückbleiben…“ Das waren die letzten Worte des tapferen Biologen. Das restliche Wegstück erwies sich als das leichteste. Aber was für moralische Kraft kostete es! Der Tod des Kameraden lag allen schwer auf der Seele. Wudrum krampfte sich das Herz zusammen, wenn er daran dachte, daß Otschakowski, dieser prachtvolle, nimmermüde, in seine Arbeit verliebte und der Wissenschaft grenzenlos ergebene Mensch nicht mehr unter den Lebenden weilte, daß seine Familie in Petersburg vergeblich auf ihn wartete. Er er225
innerte sich des kalten Oktobertages, an dem sie abgereist waren, des plötzlich eingeschneiten Hafens, des zahlreichen Geleits und des nagenden Gefühls der Verantwortung, das ihn damals ohne ersichtlichen Grund überkam. Als vor den Augen der Forscher eine halbkreisförmige Mauer auftauchte, die mit dem gewachsenen Felsen eins zu sein schien, blickten sie fast gleichgültig darauf, als wären sie nicht mit letzter Kraft zu ihr vorgedrungen, sondern hätten sie schon oftmals gesehen. Ein freier Platz vor der Ruine, davor eine Felswand von vier bis fünf Meter Höhe. Dort hinaufklettern! Und dann? Was wird dort sein? Eine merkwürdige Apathie hatte sich aller bemächtigt. Plotnikow fühlte sich matt und war zerstreut, aber er gab nicht auf. Als erster trat er an die Felswand heran und untersuchte sie auf Vorsprünge und Ritzen, die Händen und Füßen einen Halt bieten könnten. Es dunkelte rasch. Wudrum meinte, man solle erst am Morgen zur Ruine hinaufsteigen, aber Plotnikow wollte davon nichts hören. „Es ist unheimlich hier, Iwan Alexandrowitsch. Jeden Augenblick kann etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen. Wir dürfen jetzt nicht umkehren. Es sind nur noch ein paar Schritte, Iwan Alexandro226
witsch. Los, nehmen Sie das Schiffchen. Gehen wir.“ „Was fehlt Ihnen, mein Freund? Sie sind ja totenblaß! Fühlen Sie sich nicht wohl?“ „Iwan Alexandrowitsch, ich bitte Sie inständig, gehen wir… Gehen wir, wenn Sie können, sonst… sonst wird es für mich zu spät…“ Wie in einem Fieberwahn, einem Alptraum erkletterten die vier Wissenschaftler die Felswand. Voran Alexander, hinter ihm Plotnikow und Wudrum. Schirast beschloß den Zug. Er half dem Professor, stützte ihn, wenn er den Halt zu verlieren drohte. Keiner der Pautooaner wagte sich in die Nähe der Felswand. Sie schienen überhaupt nicht dazusein, so still und öde war es ringsum. Durch die schweren Gewitterwolken am Himmel lugte zuweilen der Mond und erhellte die Ruine. Dann konnte man den düsteren Halbkreis der Mauer sehen, die Säulen mit den abgebröckelten Kapitellen und den scharfkantigen Sockel, über dem sich ein seltsames Gebilde wölbte, ähnlich einer versteinerten Welle. Im Mondlicht war es durchscheinend und dunkelgrün, verbarg sich aber der Mond und war die rätselhafte Reliquie in Dunkel getaucht, so begannen auf dem Wellenkamm zwei fliederfarbene Funken zu sprühen. Sollte das Ziel jetzt wirklich erreicht sein? dachte Wudrum. Stehe ich in diesem 227
Augenblick leibhaftig vor den in tausend Jahren nicht verglühten Sendboten ferner Sternenwelten? Welche Kraft hat sie auf die Erde getragen? Von welchem Stern stammen diese in der Legende besungenen, des Nachts strahlenden „Augen der Gottheit“? Er trat als erster vor die „Welle“ hin. Keiner folgte ihm, denn alle waren sich einig, daß ihm das Recht zustand, die geheimnisvolle Erscheinung, der er schon so lange auf der Spur war, vor allen anderen zu betrachten. Der Professor ließ sich Zeit. Er vergaß, was sich drunten, im Dschungel, zugetragen hatte, er vergaß die Nachstellungen und Hinterhalte, es gab für ihn nicht mehr auf der Welt als die funkensprühenden Kristalle. „Kommt näher, Freunde“, sagte er endlich. „Hier sehen wir zwei fliederfarbene Kristalle. Nennen wir sie so. Sie sind durch den Weltenraum geflogen und auf die Erde gelangt, sie sind von den alten Pautooanern göttlich verehrt worden, und zu ihnen zieht es unwiderstehlich das goldene Schiffchen. Machen wir einen Versuch.“ Vorsichtig auf die von der Zeit abgeschliffenen Steinfliesen tretend, ging er vom Sockel zum äußersten Rand des Platzes. Das goldene Schiffchen zeigte mit dem schnabelähnlichen Bug auf die Kristal228
le, die ein mildes fliederfarbenes, bald verglimmendes, bald neu aufsprühendes Licht ausstrahlten. „Ja, meine Freunde, wir sind auf ein großartiges Phänomen gestoßen. Die Wissenschaft steht vor der Aufgabe, diese unbekannte Erscheinung zu erforschen, und wer weiß, vielleicht wird der Mensch, wenn er die ihr innewohnende Kraft erkannt hat, um vieles stärker sein, als er heute ist.“ Wudrum drängte es, gleich an Ort und Stelle mit seinen Helfern zu beraten, wie die Erscheinung am besten zu untersuchen sei, aber Schirast erinnerte ihn an die alarmierende Lage, in welche die Expedition geraten war. „Wir müssen uns beeilen, Herr Professor.“ „Ja, natürlich, Sie haben recht. Wir wollen ins Lager zurückkehren.“ „Und die Kristalle?“ rief Plotnikow. „Die Kristalle“, erklärte Schirast bestimmt, „müssen wir sofort herausklauben und mitnehmen.“ „Sie wollen sie stehlen? Sie schlagen vor, einen verabscheuungswürdigen Raub zu begehen, Herr Schirast? Niemals! Wir sind im Interesse der Wissenschaft hergekommen, deshalb haben wir unsere Skrupel zurückgestellt. Das läßt sich verantworten. Aber einen Anschlag auf das Heiligtum des pautooanischen Volkes ver229
üben? Nein und abermals nein! Wir werden diese Kristalle morgen bei Tageslicht untersuchen. Wir werden feststellen, welche Kräfte in ihnen wirksam sind. Wir werden diese Erscheinung beschreiben, abzeichnen, fotografieren. Aber die Kristalle herausreißen und wegschleppen? Auf keinen Fall! Vergessen Sie nicht, Herr Schirast, die Wissenschaft ist eines – außerdem gibt es aber noch so etwas wie Anständigkeit. Jawohl!“ Ein verzweifelter Schrei aus der Tiefe unterbrach den Streit. Im Lager erhob sich Lärm, Rufe der aufgeschreckten Pautooaner drangen herauf. Die Gelehrten kehrten eiligst ins Lager zurück. Eine Panik war dort ausgebrochen. Zwei Träger wanden sich in Krämpfen, die anderen warfen sich auf den Führer, der in den Büschen Schutz suchte. Schirast kam ihm zu Hilfe. Er vertrieb die Angreifer, zerrte den Führer aus seinem unsicheren Zufluchtsort und schleppte ihn in sein Zelt. Erst hier bekannte der Führer, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, daß er sich und alle Expeditionsteilnehmer für rettungslos verloren hielt. „Iwan Alexandrowitsch, wir müssen sofort wieder zur Küste hinabsteigen“, beschwor Schirast den Professor. „Vergessen Sie Ihre Skrupel, nehmen Sie die Kristalle, 230
und dann weg von hier, bevor wir alle umgekommen sind.“ „Darauf lasse ich mich nicht ein. Wenn der Führer recht hat und es jemand tatsächlich gelungen ist, uns alle zu vergiften, dann hat es ohnehin keinen Sinn mehr, Hals über Kopf wegzurennen.“ „Vollkommen richtig, Iwan Alexandrowitsch“, unterstützte Plotnikow den Professor. „Ich glaube, es ist tatsächlich schon zu spät.“ „Was ist zu spät?“ „Zum Weglaufen ist es zu spät. Wir müssen den Morgen abwarten. Wenn es uns schon gelungen ist, uns bis hierher durchzuschlagen, dann müssen wir das Phänomen auch gründlich erforschen. Ich werde das nicht mehr können, glaube ich… Ich habe Schmerzen, wissen Sie, mir tun alle Knochen weh. Ich will mich lieber hinlegen.“ „Nikolai Nikolajewitsch, wir wollen hoffen, daß das nur übermäßige Erschöpfung ist. Sie werden wieder gesund werden.“ „Iwan Alexandrowitsch, ich bestehe darauf, daß wir diesen Ort unverzüglich verlassen“, drängte Schirast. „Jetzt, mitten in der Nacht?“ „Ja.“ „Nikolai Nikolajewitsch wird nicht mitkommen können.“ 231
„Gehen Sie. Gehen Sie ohne mich. Für mich ist es jetzt schon zu spät.“ „Nein! Wir lassen Sie nicht im Stich. Sie aber, Herr Schirast, können tun, was Ihnen beliebt.“ „Iwan Alexandrowitsch, ich… ich…“ Die Nacht neigte sich dem Ende zu. Plotnikow krümmte sich vor Schmerzen, gab aber keinen Laut von sich. Von Zeit zu Zeit verlor er das Bewußtsein. Wudrum wich keinen Schritt von seiner Seite, doch er konnte nichts tun, um seine Qualen zu lindern. Erst gegen Morgen verfiel der Professor in einen bleiernen Halbschlaf. Da kam Alexander gelaufen. „Schirast ist getürmt!“ Als Wudrum aus seinem Zelt trat, sah er im Lager keinen Menschen mehr. Schirast war zusammen mit den von Todesangst gepackten Pautooanern, den Trägern wie dem Führer, geflohen. Die verlötete Blechbüchse mit den wertvollen Fundstücken und die Schatulle mit dem goldenen Schiffchen hatte er mitgenommen. Schweigend begruben Vater und Sohn den toten Plotnikow. Sie wußten, daß alles aus war, daß nur noch die Frage blieb, an wen die Reihe als letzten kam. Wudrum saß lange am Grabe seines treuen und bescheidenen Gehilfen. Er zerbrach sich den Kopf, was er unternehmen, was er sich ausdenken könnte, um seinen 232
Sohn, an dem er mit allen Fasern hing, zu retten. Absteigen? Zwecklos! Wütete die Krankheit schon in ihnen, so gab es keine Rettung mehr. Wie war das alles gekommen? Waren sie wirklich verfolgt und alle vergiftet worden? Alle? Eine leise Hoffnung durchzuckte ihn. Vielleicht ist Alexander verschont geblieben? Ach, wie recht hatte Natalja! Zuerst Otschakowski, dann die drei Pautooaner und jetzt Nikolai Nikolajewitsch. Nun kann er weder Ethnograph bleiben noch Gutsverwalter werden. Und mein Sohn? Vielleicht ist noch nicht alles verloren! Vielleicht hat das Gift nicht alle erreicht oder wenigstens nicht hei allen gleich stark gewirkt! Man darf den Kampf nicht aufgeben, man muß etwas tun. Aber was? „Gehen wir, Vater.“ Alexander faßte seinen Vater unter, und sie stiegen, einander stützend, Schritt für Schritt den Steilhang hinunter, obwohl sie wußten, daß sich das Gift in ihren Körpern ausbreitete. Gegen Abend erreichten sie das Lager, wo Otschakowski begraben lag. Iwan Alexandrowitsch zog sein Tagebuch heraus und machte die fälligen Eintragungen. Alexander packte den Rucksack aus, öffnete ungeachtet der Schmerzen, die ihn peinigten, eine Konservendose und reichte sie dem Vater. 233
„Iß etwas. Ich aber will… Ich will mich hinlegen.“ „Bitte, leg dich nicht hin.“ „Ich kann nicht mehr. Leb wohl, Vater. Mit mir geht es zu Ende.“ Nun war endgültig alles aus. Wozu noch die Schmerzen bei jeder Bewegung ertragen, wozu noch einem unerreichbaren Ziel zustreben? Es blieb nur eins: den Sohn begraben, die Kraft aufbringen, das Liebste, das er besessen hatte, in die Erde zu betten. Und er fand die Kraft. Die Schmerzen ließen nach. Die Glieder gehorchten wieder dem Befehl des Gehirns: Nicht so liegenlassen, mit Erde bedecken, die Kraft aufbringen, alle Kraft zusammennehmen! Und plötzlich durchfuhr ihn der schreckliche Gedanke: Wenn ich nun nicht so stark vergiftet bin wie die andern, wenn ich nicht sterbe, was dann? Soll ich alle überleben? Bleibt mir auch diese letzte furchtbare Prüfung nicht erspart? Entkräftet und völlig apathisch saß Wudrum am Grab seines Sohnes. Er konnte keinen Gedanken fassen, er wußte nicht einmal, ob er Schmerzen hatte. Da hörte er plötzlich ein Geräusch in den Büschen. Ausgezehrt und abgerissen kam auf unsicheren Beinen Schorpatschew auf ihn zu. Nach dem Abschied von Wudrum hatte sich Schorpatschew vorgenommen, den heimtückischen Schirast zu überlisten. Be234
reits in Makimi hatte er ausgekundschaftet, an welcher Stelle die Expedition insgeheim landen sollte, und sich auf dem Landweg dorthin begeben, während Wudrums Gruppe einen riesigen Haken auf dem Meer schlug. Er hatte sich nahe der Landungsstelle versteckt und beobachtet, wie die Boote anlegten, und die Forscher seitdem nicht aus den Augen verloren. Unbemerkt war er ihren Spuren durch den Dschungel gefolgt und hatte auf ihren verlassenen Lagerplätzen genächtigt, getrieben von der Gewißheit, daß die Freunde seine Hilfe brauchen würden. Daran zweifelte er keinen Augenblick. Als er Otschakowskis Grab entdeckte, wollte er sie einholen, ohne sich länger vor ihnen zu verbergen, denn ihm schwante Unheil. Doch der Verdacht, daß auch ihm jemand folgen könnte, hielt ihn zurück. Er überlegte: Verrate ich in diesem Fall den Verfolgern nicht die geheime Absicht der Gelehrten, die Tempelruine aufzusuchen? Kurz entschlossen machte er kehrt, um sich zu vergewissern, ob ihm jemand folge, besann sich aber bald eines andern, da er hinter der Gruppe nicht allzuweit zurückbleiben wollte, und eilte ihr wieder nach, so schnell er konnte. Seine Unruhe wuchs und wurde schier unerträglich, besonders des Nachts. Er schickte sich schon an, den Steilhang zum letzten Lagerplatz der Ex235
pedition zu erklettern, als er plötzlich vor sich Geräusche hörte. Rasch versteckte er sich im Dickicht und sah die hastig absteigenden pautooanischen Träger, in deren Mitte sich Schirast befand. Den felsigen Steilhang erkletterte Schorpatschew nur mit Mühe. Die Anstrengungen der letzten Tage und die zehrende Unruhe machten sich bemerkbar. Mit letzter Kraft lief er auf die Freunde zu. Aber er kam zu spät. Alexander war bereits tot. Schorpatschew erkannte Wudrum kaum wieder, so gramzerfurcht war das Gesicht, so gebleicht das Haar des Professors. Er versuchte erst gar nicht, ihn zu trösten. Was hätten Trostworte in diesem Augenblick schon ausrichten können? Stumm hielt er Wudrum die verlötete Blechbüchse hin. Nein, Schirast besaß sie nicht! Und Schorpatschew brauchte sie dem in panischer Angst fliehenden Wissenschaftler nicht einmal mit Gewalt wegzunehmen. Bereits in Makimi hatte er, als er die Fundstücke verpackte, zwei gleiche Blechbüchsen zugelötet. Die eine, mit dem wertvollen Inhalt, hatte er bei sich behalten, da er Schirast schon damals nicht traute und mutmaßte, dieser werde früher oder später versuchen, sie zu stehlen, wie es ja auch geschah. Als Schirast floh, 236
nahm er die andere Büchse mit, die mit wertlosen Bruchstücken gefüllt war. „Zwei gleiche Büchsen aufzutreiben war nicht schwer, Iwan Alexandrowitsch“, erklärte er dem Professor. „Schwieriger war es, ihnen dasselbe Gewicht zu geben, damit niemand den Unterschied merkte. Zum goldenen Schiffchen allerdings gibt es kein Gegenstück.“ Wudrum belebte sich etwas. Er wußte, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Das Gift breitete sich rapide in seinem Körper aus. Noch ein paar Minuten, und die unverhofft sich bietende Gelegenheit, seinen letzten Willen niederzuschreiben und Schorpatschew anzuvertrauen, war dahin. Die Vernunft siegte über das Gefühl. Der Gelehrte verdrängte den Vater. Er fand noch die Kraft zu einem Brief an Arns Parzet, worin er den Hergang der Ereignisse kurz schilderte. „Das ist alles, teurer Freund!“ schloß er. „Wenn dieser Brief Sie erreicht, wissen Sie, wie dumm alles ausgegangen ist, mit welcher Tragödie alles geendet hat. Jahrelang war ich bemüht, das Geheimnis des Himmlischen Gastes zu enträtseln. Jetzt, wo ich dicht vor der Lösung stehe, muß ich sterben. Meine letzte Kraft wende ich auf, um über das Wichtigste und Bedrohlichste, das wir entdeckt haben, zu verfügen. Der Gedanke an die Keime läßt 237
mir keine Ruhe. Wer weiß, wie großartig und zugleich gefahrvoll das ist, was sich in diesen Körnchen verbirgt! Vielleicht ist es der Untergang der gesamten Menschheit, vielleicht aber auch eine wahrhaft göttliche Schöpferkraft oder sogar etwas uns schlechthin Unfaßbares, weil wir noch nicht wissen, was in der unendlichen Sternenwelt vor sich geht. Ich gebe zu, mein Freund, daß mir angst und bange ist. Sie wissen, wie sehr ich an den Genius der menschlichen Vernunft und an seinen kommenden Triumph glaube. Sind wir aber jetzt schon bereit zu der großen Schlacht? Ich zweifle daran. Der Mensch formt sich erst. Eine Gesellschaft, die frei ist von Unterdrückung und Feindschaft, gibt es noch nicht. Eines Tages wird die Menschheit reif werden und dann imstande sein, den Kampf aufzunehmen mit der unbekannten, vielleicht gewaltigen und schrecklichen Kraft des Kosmos. Der Mensch wird diese Kraft nicht nur besiegen, sondern sie auch zwingen, ihm zu dienen, er wird sie zu seiner Helferin auf dem Weg in die Zukunft machen. Das glaube ich! Vorläufig aber… Lieber Parzet, nur Sie können meine Zweifel verstehen, aber Sie sind fern von mir. Gerade jetzt bedürfte ich Ihres weisen Rates, Ihrer freundschaftlichen Hilfe und 238
Unterstützung. Aber Sie sind weit weg. Uns trennen zehntausend Meilen, ja noch mehr, die ganze Ewigkeit. Meine Stunden sind gezählt, und ich muß einen Entschluß fassen. Im Geiste berate ich mich mit Ihnen. Dabei bemühe ich mich, so zu entscheiden, wie Sie entscheiden würden. Und ich komme zu dem Schluß, daß es zu früh ist, der Welt die Entdeckung zu eröffnen. Alles von uns Gefundene vergrabe ich und hinterlasse das Vermächtnis, daß das Versteck erst dann geöffnet werden soll, wenn meine Erben geistig imstande sind, die große Kraft des unbekannten Lebens zu meistern. Das Versteck kennt nur ein einziger Mann, Boris Jewgrafowitsch Schorpatschew. Ich vertraue ihm ebenso wie Ihnen. Damit ist alles gesagt. Ihm übergebe ich diesen Brief und meine Tagebücher. Wird der Brief Sie erreichen? Ich weiß es nicht. Aber es ist der einzige Weg, der mir bleibt. Mich quält der Gedanke an Natalja. Stehen Sie ihr nach Kräften bei. Sagen Sie ihr, daß ich bis zur letzten Minute an sie gedacht habe. Glauben Sie mir, lieber Parzet, ich habe alles für die Wissenschaft getan, wozu ich fähig war. Ihr Wudrum 10. Juni 1914 239
Insel Seunor, auf dem Felsen nahe der Ruine des Oberen Tempels“ Wudrum bat Schorpatschew, die Blechbüchse zu öffnen, entnahm ihr die Körner und legte sie mit seiner Hilfe in das Versteck. Dann reichte er ihm die Büchse mit der versteinerten Hand der legendären Lawuma, dem Zweig aus dem heiligen Hain und dem Stück des Meteoriten und bat ihn, alles dem pautooanischen Nationalmuseum in Makimi zu übergeben.
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Das Erscheinen der Biosiliziten Während der Mensch von der Natur abhängt, hängt sie wiederum von ihm ab. Sie hat ihn gestaltet, und er gestaltet sie um. Anatole France Die Menschen halten nie das für geheimnisvoll, was ihnen dient und Nutzen bringt, sondern nur das, wovon ihnen Gefahr droht oder was ihnen Schaden zufügt. Karel Čapek
Wudrums Versteck Je länger Mursarow und ich Wudrums Hinterlassenschaft durcharbeiteten, um so mehr erkannten wir, obwohl uns manches noch unfaßbar blieb, wie bedeutungsvoll und zukunftsträchtig seine Entdeckung war. Jusgor war uns insofern voraus, als er auf Grund des auf Pautoo und in Europa befindlichen Materials bereits vieles kannte, was für uns neu war. Jetzt richtete sich unser Hauptinteresse darauf, Wudrums Funde – die fliederfarbenen Kristalle, das goldene Schiffchen und die Keime – aufzuspüren und zu untersuchen. Mit einem Wort, wir wollten das Werk unseres großen Landsmanns fortsetzen und vollenden. Jahrzehnte trennten uns von der Zeit, als Wudrum versucht hatte, das Silizium241
rätsel zu lösen. Das Problem aber blieb genauso verlockend, geheimnisvoll und vermutlich auch gefährlich wie ehedem. Solche Probleme bleiben nicht ungelöst. Immer finden sich Forscher, wenn nicht wir, dann andere, die der Welt das heute noch Unbekannte erschließen. So ist es immer gewesen. Mit dem Siliziumrätsel hatte es noch eine besondere Bewandtnis, die unsere Aufgabe erschwerte. Wir hatten allen Grund anzunehmen, daß man uns zuvorkommen konnte, und wollten auf keinen Fall, daß andere den Geist aus der Flasche herausließen. Waren wir erfindungsreich und gewandt genug, um das verlockende und zugleich gewagte Experiment erfolgreich durchführen zu können? Waren wir fähig, diesen Geist in den Griff zu bekommen und ihn zu zwingen, uns, und nur uns, zu dienen? Selbstverständlich! Zumindest hofften wir, daß dem so sei. Das Material über Wudrums Expedition rief das leidenschaftliche Interesse der Gelehrten vieler Fachrichtungen hervor und wurde Gegenstand eingehenden Studiums. Mursarow, Jusgor und ich bildeten zu jener Zeit eine Art „Stoßtrupp“. Vorwärtsstoßen mußten wir hauptsächlich jene, die wir für die Verwirklichung unserer Absichten dringend brauchten, die sich aber noch ungläubig dazu verhielten. Das war alles 242
recht schwierig und umständlich. Gewiß, die Hand der versteinerten Lawuma machte Eindruck, und die von uns gesammelten Dokumente erregten lebhaftes Interesse, doch zuletzt wurden wir immer wieder gefragt: Was wollt ihr eigentlich? Was für Absichten, was für Pläne habt ihr? Unsere Pläne aber waren weitreichend und vermessen. Wir wollten erfahren, was die fliederfarbenen Kristalle darstellten, die das goldene Schiffchen Hunderte, ja Tausende Kilometer weit anzogen. Wir wollten die Keime siliziumhaltigen Lebens finden und erforschen. Ja, wir wollten (obwohl wir uns noch nicht entschließen konnten, darüber in offiziellen Beratungen zu sprechen) diese Keime zum Leben erwecken. Natürlich mußten wir zu diesem Zweck erst einmal die Keime besitzen. Bis jetzt war das nicht der Fall. Auch ihr Versteck war uns unbekannt. Wir hatten alles gesammelt, was die Forschungsreisen Wudrums betraf. Wir wußten, welche Lebensmittel in welchen Ländern zu welchen Preisen für die letzte Expedition eingekauft worden waren. Das Wichtigste wußten wir jedoch nicht: Wo befand sich das Vermächtnis des russischen Gelehrten, das er kurz vor seinem Tode im Juni 1914 auf der Insel Seunor geschrieben hatte? Die Tagebücher und einen Teil der Briefe Wudrums machten wir bei der Tochter des 243
Professors Jewdokimow ausfindig. Sie hatte sie sorgsam aufbewahrt und stellte sie, als sie von unserer Arbeit erfuhr, dem Institut für kosmische Chemie liebenswürdigerweise zur Verfügung. Von ihr erfuhren wir, daß ihr Vater sich bereits im vorgerückten Alter entschlossen hatte, alles einschlägige Material über Wudrums Forschungsreisen zu sammeln, zu sichten und in einem zusammenfassenden Werk über seinen so unverdient vergessenen Freund und dessen Entdeckungen zu veröffentlichen. Dazu war er jedoch nicht mehr gekommen, weil er 1920 starb. Auf Grund der von Professor Jewdokimow Ende 1919 begonnenen Manuskriptentwürfe konnten wir immerhin feststellen, wie die Dokumente über Wudrums Expedition nach Rußland gelangt waren. Schorpatschew hatte Wudrum neben seinem Sohn begraben und war dann vom Rastplatz unterhalb der Tempelruine, wo sich all das Furchtbare zugetragen hatte, nach Makimi zurückgekehrt. Man kann sich kaum vorstellen, wie schwer dieser Weg durch den Dschungel für den jungen Mann war, der eben erst seine Freunde verloren hatte. Mutterseelenallein, halbverhungert und ständig von der Furcht gepeinigt, daß die irgendwo im Dickicht verborgenen Feinde auch ihn vergiften könnten, schleppte er sich mühsam durch die fast 244
undurchdringliche Wildnis, nur von dem einen Gedanken geleitet, um jeden Preis den letzten Willen des Toten zu erfüllen und die Funde, die Tagebücher und das Vermächtnis in Sicherheit zu bringen. Seine Kräfte ließen nach, manchmal glaubte er schon, er könne die zahllosen Schwierigkeiten auf seinem gefährlichen Weg nicht überwinden, aber zu guter Letzt erreichte er trotz allem Makimi. Dort konnte er sich ausruhen und erholen, vor allem aber wenigstens einen Auftrag Wudrums erledigen, nämlich die Fundstücke dem Nationalmuseum übergeben. Der Kustos des Museums nahm die Blechbüchse ohne jede Begeisterung entgegen. Offenbar war er sich über den Wert des Inhalts überhaupt nicht klar. Von dieser Gleichgültigkeit betroffen, überlegte Schorpatschew einen Augenblick lang, ob er die Büchse nicht wieder an sich nehmen solle. Er unterließ es jedoch. Wudrums Wille war für ihn Gesetz. In Makimi erfuhr Schorpatschew, daß in Europa Krieg ausgebrochen war. Das Echo der Schüsse von Sarajevo drang sogar bis zu den pautooanischen Inseln. Eile tat not. Ohne Zeit zu verlieren, machte sich Schorpatschew, von den Leiden und Entbehrungen, die hinter ihm lagen, noch geschwächt, auf die langwierige, beschwerliche Reise nach Holland. Dort angekom245
men, erfuhr er, daß Parzet inzwischen gestorben war. Wem sollte er nun das Vermächtnis übergeben? Er schlug sich nach Rußland durch. Das war die letzte und vielleicht schwerste Etappe seiner Wanderschaft. Doch glücklich erreichte er die Stadt, von der Wudrums Expedition 1913 aufgebrochen war. In Rußland herrschten wirtschaftliche Zerrüttung, Bürgerkrieg und Hungersnot. Einen unfreundlichen Empfang bereitete ihm die Heimat, aber ihm war froh und leicht zumute. Den Sieg der Revolution begrüßte der junge Mann, der die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Welt draußen zur Genüge kennengelernt hatte, von ganzem Herzen. Nicht eine Sekunde schwankte er, wohin er gehörte. Er nahm ein Gewehr, um Petrograd gegen Judenitsch zu verteidigen. So sah ihn Professor Jewdokimow – mit umgehängtem Gewehr und voller Kampfentschlossenheit. Es war die erste und letzte Begegnung der beiden. Schorpatschew hatte in Petrograd niemand aus Wudrums Familie angetroffen. Natalja Sergejewna war Anfang 1918 gestorben. Verwirrt und ratlos fragte sich der junge Mann, wem er nun die Dokumente ausliefern solle. Er begriff, daß Wudrum ihm etwas enorm Wichtiges anvertraut hatte, ahnte die Tragweite der von dem russischen Gelehrten gemachten Entdeckung 246
und wußte nur zu gut, daß dieser sie geheimhalten wollte, da er befürchtete, sie könnte Leuten in die Hände fallen, die sie mißbrauchen würden. Wudrum hatte in Gesprächen mit ihm und in den Tagebuchaufzeichnungen oft den Namen Jewdokimow erwähnt. Also suchte er, bevor er an die Front ging, den Professor auf. Den ganzen Abend und die halbe Nacht saßen sie zu zweit im ungeheizten Zimmer beim Licht einer Petroleumlampe und tauschten Erinnerungen an die toten Freunde aus. Jewdokimow schildert in seinen Aufzeichnungen diese Begegnung sehr ausführlich und warmherzig. Er gibt seinen Eindruck von dem jungen Russen wieder, der um die halbe Welt gereist war, um ihm das Vermächtnis Wudrums zu überbringen, beschreibt genau, wie er ihm im Morgengrauen das Geleit an die Front gab, und bemerkt abschließend, daß er nie wieder etwas von ihm gehört habe. Auch wir erfuhren trotz aller Nachforschungen nichts weiter über Schorpatschew, diesen wackeren Burschen, der in Wudrums Heldenepos eine so bedeutsame Rolle gespielt hatte, der dann ehrenvoll das dem Professor gegebene Versprechen einlöste und schließlich sein Leben hingab für die Revolution, die er als die Wahrheit seines Lebens erkannte. 247
Und das Vermächtnis? Unter den Papieren Professor Jewdokimows fand es sich nicht. Wieder stöberten wir in den Archiven und gruben alles aus, was sich nicht nur auf Jewdokimow selbst, sondern auch auf seine Freunde und Bekannten, seine Mitarbeiter und Schüler bezog. Unsere Geduld und Ausdauer wurden belohnt. Im Brief eines seiner Mitarbeiter stießen wir auf einen Satz, der zu dem, was wir suchten, anscheinend in keiner Beziehung stand. „Von Jewdokimow fuhr ich, um seinen Auftrag unverzüglich auszuführen, direkt zu Kolessnikow.“ Der Brief war am Tag vor Jewdokimows Tod geschrieben. Wir dachten, bei diesem Auftrag müsse es sich sicher um etwas Ernstes gehandelt haben, und kämmten alle Kolessnikows durch, die Professor Jewdokimow möglicherweise gekannt hatte. Die mühselige Arbeit war von Erfolg gekrönt. Iwan Petrowitsch Kolessnikow, ein alter Bekannter von Jewdokimow, hatte damals im Archiv der Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Logischerweise vermuteten wir, Professor Jewdokimow könnte vor seinem Tode Wudrums Vermächtnis dem Archiv zu treuen Händen übergeben haben. Und tatsächlich, im Archiv der Akademie fanden wir einen Umschlag mit Dokumenten – der Ortsangabe des Verstecks, Briefentwürfen Wudrums, Kopien von Expediti248
onsberichten – kurzum mit alldem, was Professor Jewdokimow für wichtig gehalten hatte. Dieses Material legten wir unseren weiteren Nachforschungen zugrunde. Jusgor frohlockte am meisten. Seine Reise in die Sowjetunion war nicht vergeblich gewesen. Die Annahme, daß nur hier der Schlüssel zum Siliziumproblem zu finden sei, hatte sich glänzend bestätigt. Jetzt sah unser „Stoßtrupp“ ein ganz bestimmtes Ziel vor sich. Auf nach Pautoo! Schluß mit dem Durchwühlen von Archiven, das uns zum Halse heraushing! Wir dürsteten nach Taten, wollten die fliederfarbenen Kristalle und die Keime finden, wollten die Erforschung des rätselhaften Meteoriten fortsetzen. Jusgor hielt es für unerläßlich, mit der Suche möglichst bald zu beginnen. Als er von seinem Freund und Mitarbeiter, dem jungen Pautooaner Hudshub, einen Brief aus Makimi erhielt, drängte er uns noch mehr, zusammen mit ihm nach Pautoo zu reisen. Jusgor hatte sich über Hudshub immer sehr anerkennend geäußert und ihm eine große Zukunft vorausgesagt, nun aber befürchtete er, sein Freund könne sich zu unüberlegten, vielleicht sogar unvernünftigen Handlungen hinreißen lassen. Leicht entflammbar und hitzköpfig, war Hudshub das genaue Gegenteil des ausgeglichenen, nüchtern denkenden Jusgor, der den quicklebendi249
gen und hochanständigen jungen Gelehrten zwar außerordentlich schätzte und auf seine tatkräftige Hilfe baute, aber sein ungestümes Temperament nicht zu zügeln vermochte. Hudshubs Brief beunruhigte nicht nur Jusgor, sondern auch uns. Es ging daraus hervor, daß das Interesse am Siliziumrätsel kolossal zunahm. Hudshub hatte im Mutterland Westpautoos erfahren, daß ein gewisser Foorn, ein kluger, wendiger und dabei verschlagener, rücksichtsloser Mensch, der als Vertrauensmann Austin Carts galt, in dessen Auftrag in der Sowjetunion gewesen war, offenbar zu dem Zweck, für den Kautschukkonzern Carts alles Wissenswerte über Wudrums Arbeiten auszukundschaften. In dieser Beziehung konnte Jusgor seinen Freund beruhigen. Foorn hatte keinerlei Möglichkeit, an die Archive der Akademie der Wissenschaften heranzukommen. Doch allein die Tatsache, daß er dem Vermächtnis Wudrums nachspioniert hatte, stimmte uns nachdenklich. Wollten wir nicht, daß man uns im Mutterland Westpautoos zuvorkam, so mußten wir uns mit der Reise nach Pautoo beeilen. Daß wir die Ortsangabe des Verstecks in Händen hatten, versetzte unseren „Stoßtrupp“ sogleich in eine günstige Lage. Früher hatten wir nichts aufzuweisen außer unserm 250
Enthusiasmus, jetzt dagegen verfügten wir über beweiskräftige Dokumente und konkrete Forschungspläne. Das Institut für kosmische Chemie, das unseren Absichten am meisten Verständnis entgegenbrachte, setzte sich nun bei den zuständigen Stellen energisch dafür ein, eine kleine Gruppe sowjetischer Gelehrter nach Pautoo zu entsenden. Beratungen, Vorträge und Vorführungen der von Jusgor mitgebrachten Fundstücke jagten einander. Sie sollten beweisen, daß die Wissenschaft wirklich auf eine ganz außergewöhnliche und vielleicht äußerst bedrohliche Erscheinung gestoßen war. Wir machten nicht wenige Eingaben und Gesuche, wiegten uns in Hoffnungen und erlebten Enttäuschungen, bis endlich der Entschluß gefaßt war, Professor Mursarow und mich auf eine längere Dienstreise nach Ostpautoo zu schicken. Natürlich ließen wir die Zeit, die wir auf diese rein organisatorischen Dinge verwenden mußten, nicht ungenützt verstreichen. Wir setzten unsere Arbeit unablässig fort, indem wir vor allem den Meteoritensplitter (das Bruchstück von der Statue des Himmlischen Gastes) weiter erforschten. Die Zahl der Skeptiker schmolz dahin. Unsere im Institut für kosmische Chemie durchgeführten Untersuchungen zeigten eindeutig, daß der Mensch zum erstenmal, 251
seitdem Meteoriten, diese bisher einzigen Sendboten unbekannter Welten, überhaupt erforscht wurden, auf neue, völlig anders geartete Formen eines Lebens gestoßen war, von dem man mit Sicherheit sagen konnte, daß es sich auf Siliziumverbindungen gründete. Die modernen Hilfsmittel der Wissenschaft erlaubten uns, tiefer ins Siliziumproblem einzudringen, als das zu Wudrums Zeit möglich gewesen war. Endlich kam der Tag, an dem Mursarow und ich Moskau verließen. Natürlich gedachten wir Wudrums und seiner Freunde – jener Handvoll Russen, die an einem naßkalten Petersburger Herbsttag zu einer Tausende von Meilen entfernten Inselgruppe aufgebrochen waren, um eine großartige Entdeckung zu machen. Sie hatten in ihrer Heimat so gut wie gar keine Unterstützung gefunden und waren, nur auf sich allein gestellt, bald in Gun Chansnepps Netze geraten. Ja, Wudrum hatte gewußt, warum er sich damals an Bord der kleinen „Asalia“, die in die grauschwarze Ostsee hinausfuhr, so beklommen fühlte! Mursarow und ich hingegen bestiegen ein komfortables Düsenflugzeug, das uns in zwölf Stunden nach Makimi brachte. Doch nicht das neue technische Verkehrsmittel war es, das uns zuversichtlich stimmte. Wudrums Befürchtungen blieben uns vor allem deshalb erspart, weil in der Heimat 252
Gesinnungsgenossen zurückblieben und wir jederzeit von Dutzenden wissenschaftlicher Institutionen Hilfe erbitten konnten. Wir flogen also nach Pautoo. Die Stunden im Flugzeug waren trotz aller Bequemlichkeit, die es bot, ziemlich ermüdend. Uns durch die Betrachtung der Erde zu zerstreuen, die neuntausend Meter tief unter uns vorbeizog, hatten wir weder viel Gelegenheit noch auch rechte Lust. Fast auf der ganzen Strecke nahm uns eine Wolkendecke die Sicht. Nur hier und dort erkannten wir uns von den Landkarten her vertraute Meeresküsten, und manchmal stellten wir fest, welchen Punkt wir überflogen. Im allgemeinen aber blickten wir nur selten durch die kleinen Bullaugen, die sich wenig für Beobachtungen eigneten. Je näher wir den pautooanischen Inseln kamen, desto besorgter dachte ich an die bevorstehenden Suchaktionen und Forschungen in dem befreundeten Land, das wir so gut zu kennen glaubten, von dessen schwierigen inneren Verhältnissen wir aber in Wirklichkeit nur eine oberflächliche Kenntnis hatten. Die junge Republik war erst im Werden, die feudalen und religiösen Traditionen behaupteten sich noch. In Ostpautoo gab es neben der starken Zentralgewalt noch unabhängige Fürstentümer. Auch Banden trieben bald hier, bald dort ihr Unwesen. In Westpautoo, wo noch 253
die Kolonialmacht herrschte, führten Partisanenabteilungen einen unablässigen Kleinkrieg für die Unabhängigkeit und Wiedervereinigung des Landes. Kurzum, die Lage war kompliziert. Wir würden es schwer haben, das verstanden wir recht gut. Während dieser Flugstunden machte ich mir auch restlos klar, daß Mursarow und ich das Siliziumproblem unter ganz verschiedenen Gesichtswinkeln betrachteten. Mursarow, ein Draufgänger, um nicht zu sagen Dogmatiker, teilte offenbar viele meiner Zweifel nicht. Weder er noch Jusgor schienen sich, seitdem wir in Wudrums Fußtapfen getreten waren, jemals die Frage vorgelegt zu haben: Ist die Menschheit reif für die Berührung mit dem Unbekannten? Ich kannte jede Zeile des letzten Willens Wudrums auswendig, denn ich hatte seinen Abschiedsbrief, wenn ich abends allein war, immer wieder gelesen. War er doch von einem Manne geschrieben, der besser als jeder andere verstand, welch großes Unheil angerichtet werden konnte, wenn die Menschen die von ihnen auferweckte Kraft des Kosmos nicht zu meistern vermochten! Wudrum hatte geschrieben: „Zu früh!“ Und jetzt? Gewiß, in den Jahrzehnten seither hatte sich vieles geändert, eine neue Gesellschaftsordnung war entstanden, und die Kräfte waren erstarkt, die 254
nicht zulassen würden, daß man mit dem Siliziumleben Mißbrauch trieb, wie sie auch nicht zulassen, daß die Kernwaffen das Leben auf unserm Planeten vernichten. Nicht zulassen! Aber wie? Wenn nun die Leute, die noch nach dem Wolfsgesetz der Chansnepp lebten, das Versteck vor uns auffanden und das Ungeheure, das der Sendbote des Kosmos in sich barg, für ihre Zwecke ausnutzten? Es sah ganz so aus, als wären sie schon tüchtig am Werk und nicht gerade wählerisch in ihren Mitteln und Methoden. Also mußten auch wir handeln, und zwar so, daß wir ihnen den Rang abliefen und die Trümpfe in die Hand bekamen, dazu aber… Dazu mußten wir uns vor allem überlegen, wie wir die gewaltige Kraft in Besitz nehmen und unter Kontrolle halten konnten, nicht aber, wie sie zum Leben zu erwecken sei. Ohne sie wiederzuerwecken, konnten wir jedoch die Mittel und Wege nicht finden, um sie zu bändigen und zu unterwerfen. Eine verdammte Zwickmühle! Mir brummte der Schädel. Ich verstrickte mich in Widersprüche, zugleich aber war ich mir völlig klar darüber, daß wir eine Lösung finden mußten. Um jeden Preis! Aber wie? Die pautooanische Hauptstadt machte einen zwiespältigen Eindruck auf uns. Dank dem, was wir darüber gelesen und von Jusgor gehört hatten, wußten wir natür255
lich, daß sich seit der Zeit, als Wudrums Expedition hier gewesen war, im Lande und in der Stadt vieles von Grund auf geändert hatte. Doch gleichzeitig hatten wir uns dermaßen an das von Wudrum beschriebene Makimi gewöhnt und uns seine Häuser, Straßen, Märkte, Tempel und Hotels so plastisch vorgestellt, daß wir glaubten, wir würden uns darin wie in einer uns seit langem bekannten Stadt vorkommen und uns wohl fühlen. In Wirklichkeit war alles anders, sehr vertraut und zugleich bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Die Stille der im Grün ertrinkenden Straßen, die meist einstöckigen, weißgekalkten Bungalows, verborgen in Gärten und umgeben von schattigen Veranden, die langsam trottenden kleinen Pferde, vorgespannt vor Wägelchen mit gestreiften Markisen, die spärlichen Ketten trüber Laternen, die nur im Hafen und in den Hauptstraßen hingen, die bunten, ziemlich armseligen, bis in die tiefe Nacht hinein geöffneten Läden – wo war das alles geblieben? Wir befanden uns in einer brausenden Großstadt. Eine Vielzahl ultramoderner Hochhäuser, vollgestopft mit Büros, Banken, Redaktionen und prunkvollen Geschäften, davor fast überall asphaltierte Fahrdämme und Bürgersteige. Ein Verkehr, so lebhaft, daß er sich an den Straßenkreuzungen nicht selten staute. Ein endloser Strom verschiedenartiger Kraft256
wagen, von geländegängigen Jeeps bis zu flachen, schnellen Straßenkreuzern. Straßenbahnen, Omnibusse, Fahrradrikschas und dazwischen die guten alten Pferdedroschken mit den gestreiften Markisen. All dies wimmelte durcheinander und bewegte sich durchaus nicht mit „würdevoller orientalischer Gemächlichkeit“. Die farbenfroh, aber geschmackvoll gekleideten Menschen blickten freundlich drein. Rundum herrschte eine ungezwungene Fröhlichkeit, wie sie der Natur der Pautooaner entspricht. Des Abends flammten im Stadtzentrum Neonreklamen auf. In den nicht sehr menschenreichen Straßen der Außenbezirke aber, die noch ebenso grün bewachsen waren wie zu Wudrums Zeit, erwachte ein spezifisch pautooanisches Leben, das die alten nationalen Bräuche bewahrt und zugleich die Früchte der modernen Zivilisation genießt. Die Pautooaner ziehen es vor, nicht in geschlossenen Räumen zu leben, sondern im Freien, an der frischen Luft. Hier kann man sowohl Vorbereitungen zu jahrhundertealten Kulthandlungen wie auch im Schatten breiter Bananenblätter aufgestellte Fernsehempfänger sehen. Die Kühle des sternklaren Abends begünstigt das lebhafte Treiben, das bis in die späten Nachtstunden andauert. Von überallher dringen die Laute eines vielfältigen Lebens, 257
darunter auch unverständliche und geheimnisvoll lockende. Die Melodien eines kleinen Volksmusikorchesters ertönen, direkt auf der Straße tanzen junge Burschen und Mädchen. Langgedehnter Gesang ist zu hören. Gläubige haben sich zum Gebet versammelt. Und plötzlich erschallt aus einem Lautsprecher das Pausenzeichen eines Rundfunksenders, und danach wird der Wetterbericht durchgegeben. Kunterbunt vermengt sich so Altes und Neues. Wie das ganze Land, so pflegt auch die Hauptstadt die Tradition, während sie gleichzeitig einem neuen Leben zustrebt, in dem das Beste aus der Vergangenheit mit alldem verschmilzt, was den Pautooanern in der modernen Gegenwart das Dasein erleichtert. Das waren die ersten Eindrücke, die wir von Makimi gewannen. Jusgor hatte uns, wie verabredet, auf dem Flugplatz empfangen. Er war zwei Wochen vor uns aus Moskau abgereist und in der Zwischenzeit in der Hauptstadt des westpautooanischen Mutterlandes gewesen. Herzlich begrüßte er uns wie liebe Gäste und tat alles, um uns den Aufenthalt angenehm zu machen. Er wollte, daß wir von seinem Heimatland, von der Stadt und den Menschen die besten Eindrücke mit nach Hause nähmen. Sah er etwas Nachteiliges, so empfand er es wie eine persönliche Kränkung. Auf258
merksam beobachtete er, wie wir diesen oder jenen Brauch, die eine oder andere nationale Eigenheit der Pautooaner aufnahmen. Unablässig entschuldigte er sich wegen des Schlechten, das es im Lande hier und da noch gab, und war jungenhaft stolz auf alles Gute. Mit einem Wort, er empfing uns als Hausherr, als ein Mensch, der sein Land liebt, daran glaubt und dafür arbeitet. Wir bezogen Quartier in einem bescheidenen, aber gemütlichen Cottage auf dem Universitätsgelände. Dank der Fürsorge Jusgors und seiner Freunde fühlten wir uns bald wie zu Hause. Am ersten Morgen in Makimi stand ich, wie sich das in den Tropen gehört, schon um halb sechs auf, ohne abzuwarten, bis mich die Sonne mit allzuheißer Glut wekken würde. Ein Frühaufsteher, lobte ich mich im stillen und ging Mursarow wecken, aber er saß bereits auf der Veranda. In Shorts, eine Zeitung vor sich, wartete der Professor auf den kurzen, genauer gesagt, plötzlichen Sonnenaufgang. Nur wenige Minuten konnten wir den Gipfel des Sebarao, der in den ersten Sonnenstrahlen erglühte, bewundern. Rasch bezog sich der klare Himmel mit weißen Wolken. Gleich darauf war der Gipfel in Dunstschleier gehüllt, das schöne Landschaftsbild verblaßte, und Mursarow ver259
tiefte sich wieder in seine Zeitung. Wahrscheinlich gibt es nichts in der Welt, was ihn von seiner unvermeidlichen täglichen Zeitungslektüre ablenken könnte. Der Flug und die Ankunft in Makimi hatten ihn etwas aus dem gewohnten Gleis geworfen, und jetzt vertilgte er zwar lustlos, aber eifrig wie immer seine Vortagsportion Neuigkeiten. Bereits am Abend zuvor hatte er Jusgor gebeten, uns frühmorgens Zeitungen zu schicken, während ich hartgesottener Sünder nur auf Kokosmilch, den Morgentrunk der Tropen, versessen gewesen war. Selbstverständlich hatte Jusgor versprochen, uns beides zu besorgen. An diesem ersten Morgen auf Pautoo war ich in übermütiger Stimmung und zählte gewissermaßen an den Knöpfen ab, was man uns zuerst bringen würde, die Kokosnüsse oder die Zeitungen. Die Nüsse sollten bedeuten, daß ich auf die Fragen, die mich quälten, eine befriedigende Antwort finden würde. Die Zeitungen… Ach was, zum Kuckuck damit! Ich wollte an diesem herrlichen Morgen an nichts Ernsthaftes denken. Dazu fühlte ich mich viel zu wohl. Eine leichte Brise, noch kühl und erfrischend, trug den herben Geruch eines fremdartigen Strauches mit großen weißen Blüten, die Lilien glichen, und den zarten Duft roten Jasmins zur Veranda herüber. Vor uns breitete sich das ausgedehnte Ge260
lände der Universität aus. Man konnte es gut überblicken; die nackten, leicht geneigten Stämme der Palmen gaben den Blick frei auf die einstöckigen weißen Gebäude der Institute und Laboratorien. Sogar ein Zipfel des Ozeans, der einladend in der Ferne blaute, war zu sehen. Aru erschien auf der Veranda wie ein Geist. Weder ich noch Mursarow hatten diesen liebenswürdigen, athletisch gebauten jungen Mann kommen sehen. Doch beide errieten wir sogleich, daß es nur Aru sein konnte, ein Mitarbeiter Jusgors, von dem uns dieser nicht weniger erzählt hatte als von Hudshub. Aru brachte sowohl Zeitungen als auch Kokosnüsse. Seitdem ich als Junge Ernst Haeckel gelesen hatte, der die Tropen so wunderbar beschreibt, träumte ich davon, meinen ersten Tag in den Tropen mit dem Trinken von Kokosmilch zu beginnen. Aru verständigte sich mit uns, sehr geschickt und sehr falsch, auf englisch. Umgänglich und geistreich, eroberte er rasch unsere Sympathien, nicht nur meine, sondern auch die Mursarows, den man sonst nicht so leicht für sich einnehmen kann. Für unsere kleinen Launen bezeigte er wohlwollendes Verständnis. Mursarow erläuterte er witzig die verschiedenen politischen Richtungen der lokalen Zeitungen. 261
Mir aber kredenzte er mein Kokosmilchfrühstück so possierlich-feierlich, indem er dabei die Lippen spitzte und genießerisch schmatzte, daß ich unschwer begriff: Er kostet im voraus meine Enttäuschung aus. Danach hätte ich die Kokosmilch getrunken, selbst wenn es eine ätzende Säure gewesen wäre. Aber es kam schlimmer. Aus der gespaltenen Nuß floß eine trübe Brühe, die nach Seife roch und nach abgestandenem, schal gewordenem Kwaß schmeckte. Nie wieder machte ich den Versuch, mich am Morgen mit einer reichlichen Portion Kokosmilch zu erquicken. Mursarow dagegen versäumte, soviel ich weiß, während der ganzen Zeit seiner Anwesenheit auf Pautoo keine Gelegenheit, diese Flüssigkeit auf nüchternen Magen zu trinken. Die gute Stimmung wurde mir bald verdorben. Daran war indessen nicht die Kokosmilch schuld. Jusgor kam, begrüßte uns herzlich wie immer, mit einem strahlenden Lächeln, und lud uns liebenswürdig zu sich nach Hause ein. „Sewena erwartet euch um acht Uhr, liebe Freunde. Das ist meine Frau, und eine sehr gute Frau. Sie hat schon gelernt, im Laboratorium zu arbeiten, und noch nicht vergessen, wie man Atmau zubereitet. Oh, das wird ein echt pautooanisches 262
Mahl werden. Wir werden einen schönen Abend in unserm Häuschen verbringen. Keine Angst, es ist nicht so ärmlich wie seinerzeit die Hütte meiner guten alten Menama in dem elenden Fischerdorf.“ „Glauben Sie uns, Jusgor, wir würden Sie auch in einer Bambushütte besuchen.“ Er lachte. Natürlich glaubte er uns, daß wir ihn gerne besuchten, ganz gleich, in was für einer Hütte er wohnte, aber er zweifelte auch nicht daran, daß wir eine Wohnung mit Klimaanlage vorzogen. Seine Fröhlichkeit an diesem Morgen gefiel mir irgendwie nicht. Ich kannte ihn viel zu gut, als daß ich nicht gespürt hätte, daß ihn etwas ernstlich verdroß oder beunruhigte. „Ist etwas passiert, Jusgor?“ „Allerdings. Setzen wir uns ins Zimmer. Wir müssen miteinander sprechen.“ Wir verließen die Veranda zur rechten Zeit. Der fällige tropische Regenguß, der dort in regelmäßigen Zeitabständen „fahrplanmäßig“ kommt, setzte ein. Im Zimmer war es entschieden gemütlicher. „Gestern hatte ich keine Zeit mehr, Ihnen von meinem Besuch im Mutterland Westpautoos zu erzählen“, begann Jusgor. „Wissen Sie, unsere Angelegenheit nimmt eine – wie sagt man? – ergötzliche Wendung. Wir werden berühmte Leute. Wenn das so weitergeht, wird man bald mehr über uns wissen, als uns lieb sein kann. 263
Ich bin überzeugt, man hat mich seit meiner Ankunft dort beobachtet. Wie wäre es sonst möglich, daß ich gleich am ersten Tag eine Einladung erhielt? Raten Sie mal, von wem?“ „Vom Präsidenten höchstpersönlich?“ „Schlimmer.“ „Vom Filmstar Lilian Bartnay?“ „O lala!“ „Heraus mit der Sprache, Jusgor! Spannen Sie uns nicht auf die Folter!“ „Von Austin Cart.“ Ich pfiff durch die Zähne. Mursarow zog sein Notizbuch heraus und setzte die Hornbrille auf. „Ja, von Austin Cart persönlich.“ Jusgor erzählte uns ausführlich, wie ihn einer der reichsten Männer Europas empfangen hatte. Anschaulich schilderte er die näheren Umstände seiner Zusammenkunft mit diesem massigen, schon älteren, aber noch sehr beweglichen und energiegeladenen Mann, der nicht nur die Fähigkeit besaß, viel Geld zu scheffeln, sondern auch in Bereiche vorstieß, die seinem Interessenkreis auf den ersten Blick ganz fern lagen. Sein Gespräch mit Jusgor hatte fast anderthalb Stunden gedauert. Das allein zeugte schon davon, daß der Kautschukmagnat am Siliziumproblem stark interessiert war und ein Spiel mit hohem Einsatz spielte. Er äußerte sich sehr lobend über 264
Jusgors Tätigkeit an der pautooanischen Universität, verriet eine erstaunliche Kenntnis seiner Arbeitsergebnisse und prahlte mit den großen Möglichkeiten des von ihm geleiteten Konzerns. „Ich sah mich gründlich in seinem Institut um“, fuhr Jusgor fort. „Das ist eine wahre Pracht, liebe Freunde! Dort arbeiten offensichtlich Leute, die etwas von der Sache verstehen. Die Laboratorien sind einfach großartig, ihre Einrichtung erstklassig. Übrigens hatte ich nichts anderes erwartet. Sonst könnte Austin Cart ja nicht auf dem Weltmarkt mit dem Chansnepp-KautschukKonzern konkurrieren. Was mich überraschte, das war – wie soll ich mich ausdrücken? – das Ausmaß seines Zynismus! Wissen Sie, Cart nimmt auf seine Art für sich ein. Was gucken Sie so erstaunt? Ich meine, jeden von uns würde es reizen, nun, sagen wir, einen Säbelzahntiger zu sehen. Ich bin in einer sehr modernen und perfekten Raubtierhöhle gewesen. Das war sowohl interessant als auch unheimlich. Mir gegenüber war er äußerst zuvorkommend, wenn Sie wollen, sogar ausgesprochen liebenswürdig, aber… Ich weiß nicht mehr, welche Raubtiere es sind, die ihr Opfer liebkosen, bevor sie es fressen.“ „Menschen und Katzen, sonst wüßte ich keine“, stellte Mursarow trocken fest. Jusgor blickte ihn verdutzt an, anscheinend 265
noch in seine Erinnerungen versunken, und lachte dann schallend auf. „Ich weiß nicht, ob sich Cart gedacht hat, ich sei eine Maus. Jedenfalls legte er es darauf an, mir seine Zuneigung zu bekunden. Zuerst zeigte er mir eine abstrakte Skulptur, die in seinem Arbeitszimmer steht. Er erzählte mir, was für Mühe es ihn gekostet habe, dieses ,Meisterwerk’ zu erwerben, und versagte sich auch nicht das Vergnügen, nebenbei den Preis zu erwähnen. Eine geradezu phantastische Summe! Über all dies sprach er in einem leichten Plauderton und kam sich dabei offenbar unwiderstehlich vor. Nein, er machte sich nicht lustig über mich. Er war einfach fest davon überzeugt, daß er mich mit seinen schwindelerregenden Angeboten ködern und einfangen könnte. Mit dem gleichen Feuer, mit dem er über die Skulptur gesprochen hatte, erzählte er mir dann von Dingen, über die ich weit mehr staunte. Seine Offenheit war genau berechnet, er wollte damit Eindruck schinden. Von der Skulptur ging er zum Panzerschrank und nahm dort… Was meinen Sie, was er herausnahm?“ „Einen lebendigen Dinosaurier“, antwortete Mursarow todernst. „Nein, Hanan Borissowitsch, diesmal sind Sie auf dem Holzweg. Das silizierte 266
Gewebe, das Sie bei den Ausgrabungen in Uraschtu gefunden haben.“ Mursarow, der gerade etwas in sein Notizbuch schrieb, nahm die Brille ab und stierte Jusgor ungläubig an. „Sie brauchen sich gar nicht so zu wundern! Erinnern Sie sich, bereits in Leningrad habe ich den Verdacht geäußert, hinter dem Diebstahl des Gewebes aus dem Museum könnte Cart stecken. Das hat sich nun bewahrheitet.“ In der Tat, das konnte uns kaum noch überraschen. Es war uns nur ungewohnt und widerlich. Zu dieser Zeit wußten wir schon eine ganze Menge über Chansnepp und Cart und ihre mächtigen Konzerne. Die Beziehungen zwischen ihnen konnte man keineswegs feindselig nennen. Die Firmenhäupter waren eben unversöhnliche Konkurrenten, genauso wie vor ihnen ihre Väter und Großväter. Im Konkurrenzkampf mit Chansnepp, der riesige Kautschukplantagen auf Pautoo besaß, mußte Cart früher oder später unterliegen. Es gab nur eine Rettung für ihn: synthetischen Kautschuk. Und er brachte ihn auf den Markt. Die daraus hergestellten Erzeugnisse waren nicht nur billiger als die aus natürlichem Kautschuk, sondern vielfach auch von besserer Qualität. Für Chansnepp war das ein schwerer Schlag. Um ihn abzuwehren, wandte er sich ver267
stärkt Forschungsarbeiten zu, erweiterte sein Institut, zog qualifizierte Fachkräfte heran und brachte ebenfalls synthetischen Kautschuk heraus. Der Kampf um die Absatzmärkte verschärfte sich. Er wurde mit wechselndem Erfolg geführt. Die Nachfrage der Industrie stieg. Beide Firmen suchten nach neuen Produktionsmöglichkeiten und begannen, Silikonkautschuk aus organischen Siliziumverbindungen herzustellen. Auf dem Markt erschien fast gleichzeitig Silikonkautschuk mit den Fabrikmarken sowohl Chansnepps als auch Carts. Cart war der Meinung, es sei zwar notwendig und sogar lohnend, für die Ausarbeitung einer fortgeschrittenen Technologie Mittel aufzuwenden, noch billiger komme es jedoch, wenn man sie einfach bei seinem Konkurrenten ausspioniere. Nicht wenige Angestellte Chansnepps vermehrten ihr Einkommen dadurch, daß sie Cart rechtzeitig Betriebsgeheimnisse mitteilten. So war er ziemlich genau im Bilde über die Forschungen von Chansnepps Institut. Nur ein Laboratorium, präziser gesagt, eine streng geheime Abteilung dieses Laboratoriums, blieb für ihn eine uneinnehmbare Festung. Sie wurde nicht wie die anderen von einem Chemiker geleitet, sondern von dem bekannten Biologen Asquith, der mit dem pautooanischen Gelehrten Kuan Rodbar zusammen arbeitete. 268
Hier wurden Untersuchungen durchgeführt, die mit dem altpautooanischen Rätsel zusammenhingen. Welcher Art sie waren, blieb freilich ein Geheimnis. Der Versuch, in Asquiths Laboratorium einzudringen, mißlang. Die wenigen Mitarbeiter Rodbars, fast alle Pautooaner, erwiesen sich als absolut unbestechlich. Rodbar selbst führte das Einsiedlerleben eines Sonderlings. Gebürtiger Pautooaner und Sohn eines der reichsten Plantagenbesitzer Tansejs, war er als junger Mann ins Mutterland gekommen, hatte dort das College und anschließend in England die Universität von Cambridge besucht. Nach Abschluß des Studiums war er ins Mutterland zurückgekehrt und hatte bald darauf eine Professur an der hauptstädtischen Universität erhalten. Nebenbei bemerkt, er war damals der einzige Professor pautooanischer Nationalität. Vor einigen Jahren hatte er dann Professor Asquith kennengelernt, der sich zu dieser Zeit schon mit dem Siliziumproblem befaßte. Asquith schlug ihm vor, mit ihm zusammen zu arbeiten. Er stimmte zu, gab den Lehrstuhl an der Universität auf und zog nach Tarkor, wo er sich in Chansnepps Institut niederließ. Weiter war über Rodbars Vergangenheit und Familie, seine Neigungen und Verbindungen so gut wie nichts bekannt. Von Natur aus ein verschlossener Mensch, 269
zog sich der Biologe, ganz von seiner Idee beherrscht, wie in ein Schneckenhaus hinter die dicken Mauern des Geheimlaboratoriums zurück, wo er nicht nur arbeitete, sondern auch wohnte. „Was will Cart eigentlich?“ fragte ich Jusgor. „Offenbar lassen ihn die Lorbeeren Chansnepps nicht schlafen! Beabsichtigt er etwa, ein ebenso geheimnisvolles Laboratorium einzurichten und Ihnen die Leitung zu übertragen?“ „Interessant“, warf Mursarow ein. „Im Mutterland scheint es Mode zu werden, die Leitung derartiger Laboratorien pautooanischen Gelehrten anzuvertrauen. Dort Rodbar, hier Jusgor.“ „Das hat natürlich mit Mode nichts zu tun. Cart erlaubte sich den Luxus, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Er meinte, mir als einem Pautooaner, der noch dazu mit Professor Rodbar bekannt sei, werde es leichter fallen, in Tarkor festen Fuß zu fassen. Nun, und wenn ich mich erst im Laboratorium eingenistet hätte, dann… dann sollte ich den Cart-Konzern über die Arbeiten in der Geheimabteilung von Asquith und Rodbar informieren.“ „Dieser unverschämte Patron!“ „So ähnlich habe ich auch reagiert.“ „Und hat er befohlen, Sie aus seinem abstrakten Arbeitszimmer in hohem Bogen hinauszuwerfen?“ 270
„Durchaus nicht. Auf den Klingelknopf drückte er wirklich, aber daraufhin erschien nur sein Privatsekretär und brachte Whisky mit Eis. Und nun ließ er seine Verführungskünste spielen, indem er mir ein Angebot machte, das nur ein kompletter Idiot, wie er meinte, ausschlagen würde. Selbstverständlich lehnte ich sowohl den Whisky wie auch das märchenhafte Entgelt für die mir zugemutete Gemeinheit ab. Darauf stellte er mit einem geschickten Dreh die Sache so hin, als sei alles nur ein Scherz gewesen, und schlug mir vor, in seinem Laboratorium zu arbeiten, halbierte aber wohlweislich den zuerst genannten Betrag. Ich erwiderte, daß ich an der Universität in Makimi bleiben wolle. Mit unverminderter Liebenswürdigkeit versuchte er, mir den Unterschied zwischen den Arbeitsmöglichkeiten an der Universität und denen im Laboratorium seines Konzerns klarzumachen.“ „Was haben Sie ihm geantwortet?“ „Mit einem indonesischen Sprichwort: ,Mag es in der Fremde Gold regnen, bei uns aber Steine, in der Heimat ist es dennoch besser.’ Cart verstand und wurde merklich kühler. Wahrscheinlich habe ich mir in ihm jetzt einen gefährlichen Feind zugezogen.“ „Sind Sie sehr unglücklich darüber?“ 271
„Was soll ich Ihnen sagen, Hanan Borissowitsch? Nicht unglücklich, aber besorgt. Unsere Lage ist schwierig und kompliziert. Wir haben uns diesbezüglich zwar nie einer Täuschung hingegeben, aber können wir es angesichts der vielen Schwierigkeiten und unserer schwachen Kräfte auf einen Kampf mit Cart und vielleicht auch noch mit Chansnepp ankommen lassen? Offen gesagt, betrübt mich etwas ganz anderes. Die Niedertracht eines Feindes ist halb so schlimm. Daß ich aber einen Freund nicht von einem unehrenhaften Schritt zurückhalten konnte, das ist mehr als schlimm! Hudshub hat uns verlassen und ist zu Chansnepp übergelaufen.“ „Hudshub?“ „Ja, stellen Sie sich vor! In der Hauptstadt des Mutterlandes von Westpautoo hat er mehr ausgekundschaftet als alle Spione Carts zusammengenommen. In Tarkor, in Chansnepps Laboratorium, experimentiert Rodbar mit den von Wudrum entdeckten Keimen.“ „Das kann doch nicht sein!“ „Jusgor, sicher hat sich Hudshub geirrt. Wahrscheinlich hat man ihn auf eine falsche Fährte gelockt. Haben Sie ihm von unseren Nachforschungen in Leningrad erzählt?“ „Selbstverständlich. Ich zeigte ihm die von Ihnen aufgefundenen Dokumente und 272
eine Fotokopie des Vermächtnisses. Das überzeugte ihn jedoch nicht. Er bestand darauf, daß seine Information richtig sei.“ „Trotzdem muß sich Hudshub irren. Wie konnten die Keime nach Europa gelangen? Wir wollen uns einmal alles genau überlegen.“ Mursarow legte sein großes Notizbuch auf den Tisch und trug der Reihe nach fein säuberlich alle Erwägungen ein. Das Ganze hatte wenig Sinn. Der einzige Nutzen bestand darin, daß Mursarow sich ein wenig beruhigte, sobald seine Hand mit dem Füllfederhalter gewohnheitsmäßig über ein Blatt Papier glitt. Wir gingen alle Möglichkeiten durch, ohne indessen eine Antwort auf unsere Frage zu finden. „Jusgor, was ist Ihnen über das Schicksal Schirasts bekannt? Vielleicht führt von ihm eine Spur zu den Keimen?“ „Schirast? Er teilte das Schicksal aller anderen Mitglieder der Expedition Wudrums. Nur etwas später. Anscheinend war in seinem Körper weniger Gift. Immerhin erreichte er noch Makimi. Dort starb er im Städtischen Krankenhaus.“ „Er scheidet also aus. Übrigens hätte er gar nichts verraten können. Er besaß nur die Blechbüchse mit den wertlosen Bruchstücken, die ihm Schorpatschew untergeschoben hatte, und das goldene Schiffchen. Von Wudrums Absicht, die 273
Keime zu verstecken, konnte er demnach nichts wissen.“ „Völlig richtig, Aljoscha. Die Akten und Berichte der Expedition gelangten nach Schirasts Tod tatsächlich in die Hände Gun Chansnepps, von dem Nome Chansnepp sie erbte. Aber das Versteck mit den Keimen wird nur in Wudrums Vermächtnis erwähnt, dessen Inhalt außer uns niemand kennt.“ Der Tropenregen ließ nicht nach. Donnerschläge erschütterten von Zeit zu Zeit alles ringsum. Blitze durchzuckten die schweren Wolken, die über Makimi hingen. Ein triefender grauer Regenvorhang hatte sich über die ganze Umgegend gesenkt. Von den Fenstern des Cottage aus sahen wir schon nicht mehr die Universitätsgebäude, die in der Morgensonne so einladend weiß geblinkt hatten. Die hohen, biegsamen Palmen, denen der Wind große Blattwedel ausriß, schwankten hin und her, als wollten sie den auf sie herabstürzenden Güssen ausweichen. Es wurde dunkel, und Jusgor schaltete die Tischlampe ein. Die Schwüle machte das Atmen schwer. Soviel Kraft, Zeit und Geld aufzuwenden, mit unsäglicher Mühe die Ortsangabe des Verstecks aufzufinden, hierher zu fliegen und – alles umsonst! Sollte wirklich jemand durch schieren Zufall auf das Versteck gestoßen sein, ohne seine Beschrei274
bung zu kennen? Das schien uns ein Ding der Unmöglichkeit. Aber wie hatte man dann davon erfahren oder es aufgespürt? Eine Suche aufs Geratewohl war doch ungefähr dasselbe, als wollte man ein verlorenes Sandkorn an einem meilenlangen Strand suchen! In der tropischen Wildnis, in die jahrhundertelang keine Menschenseele kam, inmitten sich auftürmender Felsen, die von üppig wuchernden Pflanzen umrankt waren, eine in den Stein gemeißelte winzige Nische und darin eine Handvoll Körner ausfindig machen? Nein, das war ausgeschlossen! „Jusgor“, brach Mursarow das Schweigen, „was ist Ihnen über Hudshubs Absichten bekannt?“ „Ich habe Hudshub von unseren Plänen erzählt, aber er ist nicht mit ihnen einverstanden. Ungeduldig und aufrührerisch, wie er ist, lehnt er unsere Taktik rundweg ab und bezeichnet sie als Blindekuhspiel und Kleinigkeitskrämerei. Er dürstet nach sofortigen Taten, nach gewagten und eindrucksvollen Handlungen. Als ich ihm mein Gespräch mit Cart wiedergab, entschloß er sich, sein Glück selbst bei Rodbar zu versuchen.“ „Oho!“ „Ja, alles Zureden half nichts. Hudshub bestand auf seiner Absicht, sich bei Rodbar einzuschleichen. Ich kann sie nicht guthei275
ßen, mir widerstreben solche Methoden. Das alles führte schließlich dazu, daß wir unsere alten freundschaftlichen Beziehungen zueinander abbrachen.“ „Das ist natürlich betrüblich, aber trotzdem geht mir der Gedanke nicht aus dem Kopf: Was ist mit den Keimen geschehen?“ bemerkte Mursarow, von Jusgors Gefühlsausbruch befremdet. „Gestern abend, nachdem ich Sie hierher, in dieses Cottage, gebracht hatte, fuhr ich noch einmal zum Flugplatz um ein anderes Flugzeug zu erwarten; es kam aus Europa aus dem Mutterland Westpautoos. Man übergab mir eine Nachricht.“ „Von Hudshub?“ „Ja. Hier ist sie.“ Der Zettel enthielt nur ein paar Zeilen. „Jusgor! Ich hatte recht. Man muß entschlossen handeln und notfalls auch in die Höhle des Löwen eindringen. Die Keime hat Rodbar! Hudshub“ So komplizierte sich unerwartet unsere ohnehin nicht leichte Aufgabe. Sind, entgegen dem letzten Willen Wudrums, die Keime, die er um den Preis so unendlicher Mühen und Opfer entdeckt und erforscht hat, wirklich in die Hände von Leuten gefallen, denen man nicht über den Weg trauen darf? Was geschieht mit ihnen in 276
den geheimnisvollen Laboratorien von Tarkor? Wenn es nun Professor Rodbar gelingt, sie zum Leben zu erwecken? Darüber müßte man eher entsetzt als erfreut sein! Wie wird die Zukunft des Siliziumlebens aussehen, welcher Art ist die Kraft, die sich wahrscheinlich in den Keimen verbirgt? Diese und ähnliche Gedanken stürmten auf mich ein. Vielleicht hat sich der impulsive Hudshub doch geirrt, versuchte ich mich zu trösten. Alle diese Grübeleien hinderten uns indessen nicht, das Begonnene fortzusetzen. Für die pautooanische Universität waren nach den Plänen und unter der Leitung sowjetischer Fachleute neue Laboratorien gebaut und eingerichtet worden, und unsere Gruppe übersiedelte in Räume, die nichts zu wünschen übrigließen. Ungeachtet aller Zweifel trafen wir Vorbereitungen, das Versteck mit den Keimen und den Oberen Tempel aufzusuchen, wo sich nach den Angaben Wudrums die fliederfarbenen Kristalle befanden. Mittlerweile trieben wir die Untersuchung des Meteoritensplitters, der jetzt schon offiziell den Namen Sebarao trug, energisch voran. Wir nahmen an, daß die zusammengeschmolzene Hülle zwei Formen von Siliziumleben einschloß. Die eine, höhere, Form barg möglicherweise die von Wudrum versteckten Körner in sich, die 277
andere, niedere, war, nach der Legende von Rokomo und Lawuma zu urteilen, bereits im Altertum spontan in Erscheinung getreten. Durch Rokomos Schläge aus dem Meteoriten befreit, vielleicht auch von den elektrischen Entladungen des damals tobenden Gewitters getroffen, war diese Form zum Leben erwacht. Da sie günstige Bedingungen vorfand – eine Vielzahl siliziumhaltiger Substanzen, die ihr als Nährboden dienten –, entwickelte sie sich rapide. Diese niedere Form stellte vermutlich eine Art beweglichen Plasmas mit starker Reaktionsfähigkeit dar, wie sie viele auf der Erde bekannte Siliziumverbindungen aufweisen. Außerdem war es dermaßen giftig, daß es sofort alles Lebende tötete. Beweis: der Tod von Rokomo und Lawuma. Kohlenstoffhaltige Substanzen – irdische Pflanzen und Tiere – bildeten gleichsam Fermente für das Siliziumleben. Es verbreitete sich hauptsächlich in lebenden Organismen, drang in alle Gewebezellen ein, füllte sie aus und silizierte sie. Doch in der Natur geht ein ständiger Kampf gegensätzlicher Kräfte vor sich. Unter günstigen Bedingungen entwickelt sich diese oder jene Lebensform, aber andere Bedingungen wirken dahin, sie zu unterdrücken. Eine solche Rolle spielte Raomars Weihrauch. Einerseits tötete das Siliziumplasma augenblicklich die kohlenstoffhaltigen Sub278
stanzen, für die es reines Gift war. Andererseits wurden bei der Verbrennung von Harzen in den Räucherpfannen des alten Tempels Substanzen frei, die für das Siliziumplasma tödlich waren. Das ermöglichte es den alten Pautooanern, die Weiterentwicklung des artfremden Lebens in den davon befallenen Pflanzen aufzuhalten, und das Plasma darin versteinerte. So wurde im Altertum auf empirischem Wege die Gabe der Schöpfung entdeckt. Natürlich war das nur eine Arbeitshypothese, die aber bei den Gelehrten der ostpautooanischen Universität rasch Heimatrecht erwarb. Überhaupt bewiesen sie unserer Arbeit gegenüber wohlwollende Sachlichkeit und große Hilfsbereitschaft. In der Tagespresse pflegt man heute die Rolle der Universität von Makimi und die Bedeutung der von Wudrum gemachten Entdeckung totzuschweigen. Ich halte es daher für unbedingt notwendig, die Umstände, unter denen die ersten Erfolge bei der Lösung des Problems erreicht wurden, das dann die ganze Welt aufhorchen ließ, anhand des mir zur Verfügung stehenden Tatsachenmaterials objektiv darzulegen. Man darf auch nicht vergessen, daß die ersten praktischen Schritte in Makimi getan und die ersten Ergebnisse an der ostpautooanischen Universität erzielt wurden, nicht aber in Tarkor. Ja, noch mehr: 279
Nur gestützt auf diese Erfolge konnte das Laboratorium in Tarkor das verwirklichen, was es schließlich verwirklicht hat. Wir begannen also mit dem, was wir hypothetisch die niedere Form des Siliziumlebens nannten. Sie hatte im heiligen Hain beim Tempel des Himmlischen Gastes als „Schaum des Zorns“ gewütet. Entstanden war sie unter Rokomos Schlägen aus den organischen Einschlüssen, die wir bei der mikroskopischen Untersuchung des Meteoriten Sebarao entdeckten. Wahrscheinlich reichten die Bedingungen, die für die Stimulierung der niederen Form genügten, für die von Wudrum entdeckten Keime nicht aus, und sie blieben unverändert so erhalten, wie sie aus ihrer fernen Heimat auf die Erde gekommen waren. Nun träumten wir davon, Rokomos Tat zu wiederholen. Selbstverständlich auf höherem technischem Niveau, unter Anwendung modernster Apparaturen und neuester Untersuchungsmethoden; aber sie zu wiederholen, koste es, was es wolle! Und die Keime? Die vergaßen wir nicht eine Sekunde. Wir wollten für alle Fälle nachprüfen, ob sie noch in Wudrums Versteck vorhanden waren. Als erstes sahen wir uns nach einem geeigneten Hubschrauber um. Wir dachten nicht daran, zu Fuß loszuziehen und uns all den Unbilden auszusetzen, denen Wudrum und seine 280
Gefährten trotzen mußten. Die allgemeine Lage hatte sich geändert, und zwar zu unseren Gunsten. Nach dem Sieg des Volkes waren fast alle Tempelpriester Buatoos von Ostpautoo nach Westpautoo geflohen. Die verbliebenen fristeten ein kärgliches Dasein. Ein Überfall von Fanatikern, wie ihn seinerzeit Wudrum erlebt hatte, drohte uns nicht. Aber der Dschungel! Der Dschungel war derselbe geblieben, und wir hatten nicht die geringste Lust, Zeit und Kraft auf einen Fußmarsch durch die Wildnis zu verschwenden. Jusgor erreichte, daß man uns einen Hubschrauber zur Verfügung stellte. Der Tag des Abflugs stand bereits fest. Doch am Vorabend wurde Jusgor von Professor Asquith aus Westpautoo angerufen. Er kam aufgeregt und atemlos zu mir ins Laboratorium gelaufen. „Aljoscha, kommen Sie bitte schnell ins Arbeitszimmer des Laborleiters. Ein Telefongespräch aus Poga. Von Asquith. Sicher ein interessantes Gespräch!“ Wir rannten zum Telefon. Während die Telefonistin die Verbindung herstellte, reichte mir Jusgor den Hörer des Doppelanschlusses und holte ein paarmal tief Atem. „Hallo! Hallo! Ist dort Makimi? Hier spricht Professor Asquith. Holen Sie Herrn Jusgor an den Apparat.“ 281
„Ich bin am Apparat, Herr Professor.“ „Ah, Jusgor, guten Tag. Ich freue mich, Sie in Ihrer Universität begrüßen zu können.“ „Vielen Dank, Herr Professor. Guten Tag.“ „Jusgor, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem richtigen Entschluß.“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ „Sie haben gut daran getan, Carts Angebot auszuschlagen. Großartig haben Sie ihm den Mund gestopft. Wie war das doch gleich mit dem Goldregen? Ach ja, ich erinnere mich. Mag es in der Heimat Steine regnen… Glänzend pariert!“ Jusgor blickte mich vielsagend an. Asquith wußte nicht nur von seinem Gespräch mit Cart, er kannte auch alle Einzelheiten, als wäre er selbst dabeigewesen. „Mein lieber Jusgor“, fuhr Asquith fort, „stimmt es, daß Sie Wudrums alte Plätze aufsuchen wollen? Verdammt! Was ist das für ein lautes Geknatter? Hallo! Hallo, Makimi! Jusgor? Aha, jetzt ist die Verständigung wieder gut. Jusgor, mein Lieber, wollen Sie wirklich nach Seunor fliegen, um die Keime zu suchen? Dabei wird nichts herauskommen. Sie verschwenden nur Kraft und Zeit. Im Versteck werden Sie nichts mehr finden.“ 282
„Sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Professor, aber wir werden die Reise zum Versteck trotzdem antreten. Ihre Sorge ist geradezu rührend, doch wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben Sie sich stets dadurch ausgezeichnet, daß Sie es verstanden, Ihre Interessen über alles zu stellen. Woher dieser plötzliche Anfall von Altruismus?“ „Ich habe mich nicht geändert, Jusgor, und bin nicht traurig darüber. Sie haben recht, auch jetzt lasse ich mich ausschließlich von meinen eigenen Interessen leiten. Und deshalb möchte ich nicht, daß Sie nutzlos Zeit verlieren, indem Sie zu dem leeren Versteck hinaufsteigen. Mir nützt es viel mehr, wenn Sie die Arbeit fortsetzen, die in Makimi so witzig Rokomos Tat genannt wird. Nehmen Sie meinen Rat an: Pfeifen Sie auf das Versteck, und befassen Sie sich mit dem Plasma, da Sie nun schon einmal glücklicher Besitzer des Meteoritensplitters mit den organischen Siliziumeinschlüssen sind.“ Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Wer weiß, wie es um den Fortschritt stehen würde, wenn dieser Charakterzug nicht so ausgeprägt wäre. Jedenfalls gäbe es weniger Entdeckungen, Bücher und Filme. Auch Reisen nähmen keinen so großen Raum im Leben der Menschen ein. Sieht man von sprachlichen Feinheiten ab und 283
läßt die Frage beiseite, wo die Grenze zwischen Neugier und Wissensdurst ist, so kann man kühn behaupten, daß unsere Zeit ausgezeichnete Medien zur Befriedigung dieser Leidenschaft hervorgebracht hat. Ich denke besonders an das Fernsehen und an Hubschrauber. Zwar hatte ich schon des öfteren Gelegenheit, mit einem Hubschrauber zu fliegen, aber erst auf Seunor merkte ich, wie vorteilhaft das ist. Auf dem ganzen Flug, von dem schmalen Uferstreifen mit dem weißen Korallensand, den Nadelbäume flankierten, die von weitem wie unsere heimatlichen Tannen aussahen, bis zu den düsteren Schluchten unterhalb des höchsten Gipfels der Insel blickten wir unverwandt durch die Fenster. Unter uns brodelte der Dschungel – wild, unbarmherzig gegenüber dem Menschen und dennoch seine Phantasie in Bann schlagend. Die Felswände einer Klamm, die wir überflogen, stiegen fast senkrecht empor und ließen oben nur einen schmalen Spalt frei. Ein Wasserfall stürzte die Klamm hinab, tosend, schäumend und in Myriaden Tropfen zerstäubend, die in der Sonne regenbogenfarben sprühten. Beiderseits des Wildbaches standen auf den Kammhöhen der Steilhänge, von Lianen umwunden, hochstämmige Baumriesen mit zeltförmigen Wipfeln. Kein Mensch hatte wohl je284
mals diese an die achtzig Meter hohen Stämme erklettert. Wir taten das, allerdings nicht aus eigener Kraft. Langsam schwebten wir wie in einem sicheren Lift längs der grünen Wand in die Höhe, betrachteten die bizarren Verästelungen und bestaunten die großen leuchtenden Blüten, die manchmal direkt an den Stämmen saßen. Der Pilot ließ uns die Wunder des tropischen Urwalds nach Herzenslust genießen. Erst später kamen wir dahinter, daß er den Dschungel nicht nur deshalb so langsam durchkämmte, weil er uns Gelegenheit geben wollte, unsere Neugier zu befriedigen, sondern auch zu dem Zweck, einen geeigneten Landeplatz ausfindig zu machen. Wie sich zeigte, war das gar nicht so einfach. Unser Pilot war jedoch ein erfahrener Flieger, und wir landeten ohne Zwischenfall auf einem kleinen Felsplateau. Binnen einer halben Stunde erreichten wir die Stelle, die in Wudrums Vermächtnis genau beschrieben war, und fanden den Felsen mit der großen Steinplatte, unter der sich das Versteck befinden sollte. Jusgor und ich wollten den Stein schon zur Seite schieben, aber Mursarow bat uns, zunächst nichts zu berühren. Er besichtigte eingehend alles ringsum und erläuterte uns des langen und breiten, mit welcher 285
Schnelligkeit in dieser Gegend tropische Pflanzen nachwachsen. Wie es schien, wollte er nur unsere Geduld und Ausdauer auf die Probe stellen. Doch als er seinen botanischen Vortrag beendet hatte, erklärte er: „Die Nische werden wir unter der Platte wohl noch vorlinden. Was aber die Keime betrifft… Die sind nicht mehr da.“ „Hanan Borissowitsch, sind Sie unter die Wahrsager gegangen?“ „Wieso? Die Sache ist ganz einfach. Ich habe mir hier alles genau angesehen und überschlagen, mit welcher Schnelligkeit diese Schlingpflanze wächst. Sehen Sie, ringsum hat sie alles dicht bedeckt, nur bei dem Stein wächst sie spärlich, ihre Triebe sind noch nicht in die Ritzen eingedrungen. Daraus hab ich den Schluß gezogen, daß vor ungefähr einem Jahr jemand die Platte weggerückt hat und… Na schön, rücken wir sie auch weg.“ Mit vereinten Kräften schoben wir den Stein beiseite und entdeckten die Nische darunter. Darin befand sich eine Blechbüchse, die einstmals Kandiszucker enthalten hatte. Man konnte noch die halbverwischte Aufschrift „Bliken & Robinson, Sankt Petersburg“ entziffern. Von den Keimen jedoch keine Spur! Unser kleiner Trupp marschierte weiter, zu der Stelle, wo die mutigen russischen 286
Forscher gestorben waren. Wir mußten erst mühevoll das tropische Gestrüpp lichten, bis wir endlich die Gräber der so tragisch ums Leben gekommenen Expeditionsmitglieder fanden. Auch eine große Felsplatte legten wir frei, in die Schorpatschew einige schlichte, von Herzen kommende Abschiedsworte eingekratzt hatte. Wir säuberten den Platz, so gut wir konnten, damit das Gestrüpp die Gräber nicht aufs neue überwucherte, wenigstens so lange nicht, bis ein würdiges Denkmal errichtet war. Jetzt steht an dieser Stelle ein Obelisk aus Spezialstahl, gegen den der Dschungel machtlos ist. Nachdem wir die Gräber der Expeditionsteilnehmer halbwegs in Ordnung gebracht hatten, rasteten wir im Schatten großer Baumfarne, die uns hinreichend, obzwar nur kurzfristig, vor der Sonne schützten. Zur Kontrolle lasen wir noch einmal die Zeilen aus Wudrums Tagebuch, in denen er seinen letzten Standplatz beschrieben hatte. Alles stimmte genau: vor uns die vier bis fünf Meter hohe Felswand, die Plotnikow in jener verhängnisvollen Nacht als erster erstiegen hatte, und darüber die Tempelruine. Wir kletterten hinauf. Es war zwar heller Tag, aber sogar bei Tageslicht machte die Ruine einen faszinierenden, leicht unheim287
lichen Eindruck auf uns. Unter den Kämpfen um die Unabhängigkeit Pautoos hatte auch dieser alte Tempel gelitten. Zwei Bomben, von Fliegern der einstigen Kolonialmacht abgeworfen, waren in seiner unmittelbaren Nähe krepiert. Die Trümmer der Säulen, die zu Wudrums Zeit den mit Steinfliesen gepflasterten Platz mit dem Sockel umgeben hatten, lagen jetzt in wüstem Durcheinander umher, von üppigem Pflanzenwuchs bedeckt. Der Sockel selbst war heil geblieben, und darauf wölbte sich wie ehedem die steinerne Welle. Wir untersuchten sie eingehend und entnahmen ihr Proben für Analysen in den Laboratorien der Universität. Das grünlich durchscheinende Stück des keinem von uns bekannten Gesteins, das tatsächlich an eine erstarrte Welle erinnerte, hob sich von dem aus rötlicher Lava gehauenen Sockel deutlich ab. Die Ähnlichkeit mit einer versteinerten Welle wurde noch verstärkt durch eine etwas hellere Schaumkrone auf der glasartigen Masse. Doch die fliederfarbenen Kristalle, die Wudrum so anschaulich beschrieben hatte, waren spurlos verschwunden.
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Die lebende Substanz Alles gefiel mir in den Tropen – die Menschen, die Städte, das Meer und die Palmen. Alles war gut und schön außer der tropischen Hitze. Eigentlich war es nicht Hitze, die uns das Leben sauer machte. Die mittlere Temperatur in Makimi lag nicht viel höher als beispielsweise in Kiew. Aber die Luft auf Pautoo war dermaßen mit Feuchtigkeit gesättigt, daß man sich wie in einem Dampfbad vorkam. Der Atem ging schwer, der Kopf arbeitete schlecht, der Körper war schlaff und träge. Nur in den taufrischen Morgenstunden und in den sternklaren Nächten, wenn ein kühler Wind von den Bergen wehte, lebte ich auf. Das waren die besten Stunden, in denen die Arbeit flott vonstatten ging. Ich weiß noch, wie wir in einer solchen erquickenden Nacht, genauer gesagt, am späten Abend, unseren ersten Rechenschaftsbericht abfaßten. Das war keine leichte Aufgabe, denn zu berichten gab es im Grunde nichts. Zwar hatten wir schon viel Zeit vergeudet und eine Menge Geld verbraucht, aber das Ergebnis ließ sich, am Aufwand gemessen, nur durch einen unendlich kleinen Wert wiedergeben, wie die Mathematiker sagen. Nachdem Mursarow und ich weder die Keime noch die fliederfarbenen Kristalle gefunden hatten, war 289
unser weiterer Aufenthalt auf Pautoo strenggenommen sinnlos geworden. Rokomos Tat war das einzige, was unsere Anwesenheit in der Universität von Makimi noch bis zu einem gewissen Grade rechtfertigte. In Moskau war man indessen nicht ohne triftigen Grund der Meinung, die Untersuchungen des Meteoriten Sebarao und seiner organischen Siliziumeinschlüsse brauche man nicht unbedingt in Makimi fortzusetzen, das könne man ebensogut in sowjetischen Forschungsinstituten tun. Jetzt kam es darauf an, möglichst bald, noch bevor man uns abberief, einen Erfolg zu erzielen. Der aber blieb aus, obwohl wir in jenen Tagen unausgesetzt experimentierten und dauernd die Versuchsbedingungen änderten, um die kleinen, unbeweglich in dem Stück Stein liegenden Wesen zum Leben zu erwecken. Nacht. Stille. Durch die offenen Fenster dringen die starken Düfte der Blumen, hört man das ferne Grollen der Meeresbrandung. Der Mond übergießt die kleine Wiese vor unserem Laborgebäude mit milchigem, geisterhaftem Licht. Es ist kühler geworden, das Atmen fällt leichter. Aber wir haben keine Zeit, uns auszuruhen und an der friedlichen Natur zu ergötzen. Den verdammten Bericht haben wir beiseite gelegt. Die Zeit, das Essen und überhaupt alles auf der Welt vergessend, sind wir fie290
berhaft dabei, einen letzten Versuch zur Belebung der Mikroeinschlüsse zu machen. Uns scheint, wir hätten schon alle Möglichkeiten erschöpft, aber da fällt Jusgor wieder einmal etwas Neues ein. Er schlägt vor, die Bedingungen des Experiments abermals zu ändern. Wir greifen seinen scharfsinnigen Einfall auf und warten nun – zum wievielten Mal schon? – bange auf das Gelingen. Aru ist immer dabei. Seine Energie, Wißbegier und Heiterkeit sind unversiegbar. Am liebsten verließe er das Laboratorium überhaupt nicht. Ist er müde, so zieht er sich in eine Ecke zurück, kuschelt sich wohlig auf einer Matte zusammen, als wollte er sich ganz klein machen, und schlummert eine halbe oder eine ganze Stunde. Danach ist er wieder auf den Beinen, frisch und munter wie ein Fisch im Wasser. Sewena scheint an Ausdauer und Beharrlichkeit mit ihm zu wetteifern. Flink und geschickt, graziös und immer adrett, verschönt sie durch ihre Fröhlichkeit und hausfrauliche Fürsorge die Ungewissen, ermüdenden Stunden des Wartens, und ist das Ergebnis wieder einmal negativ, so hilft sie uns taktvoll und mit freundlichen Trostworten über den Mißerfolg hinweg und muntert uns auf. Der Versuch ist beendet. Ich beuge mich über das Mikroskop. In dem Meteoriten291
stückchen darunter rührt sich nach wie vor nichts. Stumm, ohne ein einziges Wort, setzen wir uns an die Tische und machen uns wieder an den lästigen Rechenschaftsbericht. Aru und Sewena verschwinden unbemerkt. Nach einer knappen Stunde kommt Sewena mit einem großen Bambuskorb zurück. Darin sind Holzschüsseln mit lecker gewürztem Huhn und Reis, gebackene Bananen, die mit ihrer appetitlich braunen Kruste an Piroggen erinnern, schneeweiße Mangofruchtscheiben und ein kunstvoll gearbeiteter, dickbäuchiger Krug mit Imschëu, einem köstlichen Getränk, von dem ich bis heute nicht weiß, woraus es hergestellt wird. Wieder schieben wir den schon so oft unterbrochenen Bericht beiseite. Während wir die schmackhaften Tropengerichte vertilgen, besprechen wir einen neuen „letzten“ Versuch und eilen, sobald wir mit dem Essen fertig sind, in den Apparateraum. Aru ist bereits dort. Er ist immer da, wo man ihn am nötigsten braucht. Auch jetzt hat er alles vorbereitet und wartet nur darauf, zu erfahren, was wir beschlossen haben. Was sollen wir schon beschließen? Einen neuen Versuch machen, immer wieder einen neuen Versuch! So vergehen die Tage. Sie vergehen viel zu rasch, ohne uns den leidenschaftlich 292
ersehnten Erfolg zu bringen. Enttäuschung folgt auf Enttäuschung. Unsere Unruhe nimmt zu. Aus Moskau und Leningrad treffen Briefe ein, amtlich trockene Schreiben, die uns schulmeisterlich mahnen, den Bericht einzusenden. Die versprochenen Apparate, auf die wir besonders große Hoffnungen gesetzt haben, bleiben aus. Am meisten aber beunruhigt uns der Umstand, daß der Meteorit dahinschmilzt. Wir verbrauchen ihn äußerst sparsam, zittern um jedes Bröckchen, aber er wird dennoch zunehmend kleiner. Wir können uns schon ausrechnen, wann das letzte Krümchen aufgebraucht sein wird und die Arbeit eingestellt werden muß. Ergebnislos und unrühmlich! Endlich ist der Bericht fertig. Breiten Raum nimmt darin der interessante Abschnitt ein, in dem wir beschreiben, wie die pautooanischen Chemiker am Tuaroke gearbeitet haben. Das freut mich am meisten, denn es läßt uns hoffen, daß wir im Erfolgsfall, wenn es uns also gelingt, die Siliziumorganismen zu beleben, ein Mittel an der Hand haben, sie zu bändigen. Sogar in jenen Tagen, da uns größere Erfolge versagt blieben, mußte ich unaufhörlich an ihre Kraft denken, an ihre Fähigkeit, alles Lebendige zu töten und sich mit rasender Schnelligkeit auszubreiten, und an das Tuaroke. Hier ist es angebracht, das Ver293
dienst Professor Mursarows zu würdigen, der auf dem Grenzgebiet zweier so verschiedenartiger Wissenschaften wie Geschichte und Chemie wesentlich zu einer wichtigen Entdeckung beitrug. Tuaroke ist ein anspruchsloser Strauch, der auf allen pautooanischen Inseln wächst und fast das ganze Jahr über mit unscheinbaren Blüten bedeckt ist. Es ist gewissermaßen das Unkraut des Archipels. Ein aufdringliches und bösartiges Gewächs, das überall emporschießt, weder Dürre noch übermäßigen Regen fürchtet und die dem Dschungel mühevoll abgerungenen Kulturpflanzungen überwuchert, wird Tuaroke von der einheimischen Bevölkerung seit jeher gehaßt und ausgerottet. Und gerade dieser Strauch, über den sozusagen das Todesurteil gefällt war, sollte bald zum Helden, zum Retter des Archipels werden. Doch davon später. Hier möchte ich nur erwähnen, daß sich Mursarow zu der Zeit, als wir uns erfolglos mit dem Meteoriten abplagten, aufs neue in die altpautooanischen Aufzeichnungen vertiefte und den Ursprung des Weihrauchs ergründete, der einstmals im Tempel des Himmlischen Gastes Verwendung gefunden hatte. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Harz, das aus Tuaroke gewonnen wurde. Die Chemiker schieden die Aromastoffe in reiner Form 294
aus, bestimmten ihre Zusammensetzung und erarbeiteten eine moderne Technologie der Gewinnung von Harz aus Tuaroke. Wir mußten nur noch ausprobieren, ob dieses Harz, wenn man es verbrannte, das Siliziumplasma ebenso bändigen würde wie in den legendären Zeiten. Doch o weh! Vorläufig gab es nichts zu bändigen. Wir arbeiteten viel und fleißig. Manchmal verzweifelten wir schier am Erfolg. Alle Versuche, Rokomos Tat zu wiederholen, führten zu nichts. Die strukturellen Gebilde, die wir für Mikroformen des Siliziumlebens hielten, blieben unverändert in ihrem ursprünglichen Zustand. Vergeblich mühte sich Jusgor, ein zweiter Rokomo zu werden, wobei er sich von dem legendären Helden freilich dadurch unterschied, daß diesem seine Freunde, die Blitze, geholfen hatten, während ihm moderne Geräte und wir Wissenschaftler zur Seite standen. Von Tag zu Tag erwarteten wir das Eintreffen einer mächtigen elektrostatischen Anlage zur künstlichen Erzeugung von Blitzen, die von einem Moskauer Werk an die ostpautooanische Universität abgeschickt worden war. Schließlich traf die riesige Anlage ein. Wir montierten sie eiligst, erprobten sie und setzten ihren Entladungen ein mikroskopisch kleines Stückchen des Meteoriten aus. Nichts geschah. Noch brauchten wir jedoch nicht zu verzweifeln. Es gab 295
eine Unmenge Kombinationen, die wir alle durchgehen mußten, um genau dieselben Bedingungen zu schaffen, unter denen sich vor fast einem Jahrtausend in dem geheimnisvollen Tempel des Himmlischen Gastes der „Schaum des Zorns und der Schöpfung“ gebildet hatte. Vielleicht hatte er sich aber gar nicht gebildet? Wenn die Legende nun die Frucht einer ausschweifenden Phantasie war? Aber der versteinerte Schaum? Die Hand Lawumas? Und das von Mursarow gefundene unverwüstliche Gewebe? Trotzdem schlichen sich immer wieder neue Zweifel ein. Angenommen, unsere Überlegungen waren richtig und der „Schaum des Zorns“ stellte eine niedere, äußerst beständige Form des Siliziumlebens dar, die damals tatsächlich aus dem Meteoriten zum Vorschein gekommen war. Wer konnte sich verbürgen, daß sie ihre Lebensfähigkeit ein weiteres Jahrtausend bewahrt hatte? Dennoch setzten wir die Versuche fort. Hunderte von Versuchen mit dem immer gleichen negativen Ergebnis. Der Meteorit wollte und wollte nicht zum Leben erwachen. Es war eine schwere Zeit. Knapp einen Monat später überschlugen sich die Ereignisse, damals aber konnten Jusgor und ich mit keinen Neuigkeiten aufwarten und beneideten im stillen Mursarow. Als Histo296
riker und Archäologe grub er in altpautooanischen Handschriften eine Menge interessanter Angaben über Vorgänge aus, die auf die eine oder andere Weise mit dem Siliziumrätsel zusammenhingen, und hatte bereits zwei sensationelle Artikel für die Fachpresse abgeschickt. Ja, Mursarow hatte es leichter als wir Biochemiker, besonders als ich. Noch immer konnte ich mich nicht an das Tropenklima gewöhnen. Aus Leningrad bekam ich Nachricht, daß meine Mutter ernsthaft erkrankt sei. Über der ostpautooanischen Universität lag wegen der endlosen Mißerfolge eine zunehmende nervöse Spannung. Zu allem Überfluß begann die Regenzeit, was meine Stimmung vollends auf den Nullpunkt sinken ließ. In jenen Tagen ertappte ich mich immer häufiger bei dem feigen Gedanken an Flucht: Nach Hause! Wie komme ich nach Hause? Doch als die Lage schon völlig hoffnungslos zu sein schien, trat plötzlich eine Wendung um hundertachtzig Grad ein. Unser Laboratorium stand etwas abseits, am äußersten Rand des großen Universitätsgeländes. Eines späten Abends, als ich in mein Cottage ging, verfluchte ich wieder einmal die ganze Welt und den Tropenregen. Da fielen mir die Worte aus der Legende von Rokomo und Lawuma ein: „Es gibt keine stärkeren Gewitter als im Re297
genmonat, und es gibt keine furchtbareren Gewitter als in der Nacht der Ankunft des Himmlischen Gastes.“ Ich schlug mir vor die Stirn. Trotz des Wolkenbruchs, der auf mich niederprasselte, lief ich zurück ins Laboratorium, zum Telefon. „Jusgor! Ich bin’s, Alexej. Jusgor, den Regen haben wir noch nicht ausprobiert!“ Ja, alles hatten wir ausprobiert außer dem Regen. Am nächsten Tag bauten wir unser ganzes, jetzt schon ziemlich kompliziertes Versuchsaggregat um. Die elektrostatische Anlage brachten wir in einem einzeln stehenden kleinen Betongebäude unter und rollten sie jeden Tag ins Freie, in den Tropenregen. So kombinierten wir die künstlichen Blitze mit den natürlichen Regengüssen. Das war nicht sehr vergnüglich und vermutlich nutzlos. Die Siliziumorganismen in dem Meteoritensplitter schienen sich rein gar nichts aus der täglichen Dusche zu machen. Allerdings vermochte sie auch unseren Eifer nicht abzukühlen. Unverdrossen setzten wir die Versuche fort, einen ausgeklügelter als den andern. Jedesmal, wenn die Arbeit beendet war, mußten wir die gesamte Anlage wieder unter Dach und Fach bringen. Erst dann gingen wir, natürlich im strömenden Regen, müde und verdrossen nach Hause, um uns auszuruhen. 298
Die Gewitterregen auf Pautoo versetzen die ganze Natur in Schrecken. Ein Sturm bricht los, der Blätter und Staub hochwirbelt. Donnerschläge krachen, violette Blitze durchzucken die schweren Wolken, und ihr greller Schein erhellt die Felshänge des Sebarao. Bald darauf wird alles von einer undurchdringlichen grauen Wasserlawine überschwemmt, die Blätter losreißt, Äste knickt, ja ganze Bäume fällt. Aber es braucht nur ein, zwei Tage kein Regen zu fallen, und die Natur verschmachtet vor Dürre. Die Blätter welken, alles wird von einer Staubschicht bedeckt und stirbt ab. Zwei Wochen ohne das belebende Naß bedeuten für die Insel eine Katastrophe, weil eine völlige Mißernte droht. In Makimi regnet es oft und reichlich. Während das Unwetter tobt, glaubt man, es sei unmöglich, in dieser Wasserwüste zu leben. Doch zum Glück dauert ein solcher Wolkenbruch nicht lange. Eine halbe Stunde, höchstens eine Stunde, und das Wasser fließt ab, versickert im Boden. Am nächsten Morgen ist alles von neuem verzaubert. Noch schweben Fetzen des nächtlichen Nebels um die Stämme der Palmen, aber schon dringt die Sonne durch ihre Kronen. Der Gipfel des Sebarao erstrahlt in einem märchenhaften Farbenspiel. Auf den großen, glänzenden Blättern, an denen noch unzählige glasklare Tropfen haften, 299
bricht sich das Licht millionenfach in den Regenbogenfarben. Alles glitzert und funkelt, alles wirkt frisch und feiertäglich. Es atmet sich leicht, die Blumendüfte steigen angenehm in die Nase, und es scheint, als werde dieses frohe und heitere Fest der Natur niemals ein Ende nehmen. An einem solchen prachtvollen Morgen gingen Jusgor und ich zu unserm Betonhäuschen und plauderten unbeschwert und ohne an unsere Sorgen, Mißerfolge und Grübeleien über den Meteoriten zu denken. Der Wächter zeigte uns die unverletzten Plomben an der Tür. Wie immer prüften wir sorgfältig die Riegel. Jusgor wollte aufschließen, doch er bekam den Schlüssel nicht hinein. Das Schlüsselloch war mit Mörtel oder etwas Ähnlichem fest verstopft. „So ein Unfug!“ „Und wenn es etwas Schlimmeres ist, Jusgor? Wenn es den Leuten, die unserm Meteoriten nachjagen, gelungen ist, hier einzudringen wie seinerzeit ins Museum?“ Wir holten den Verwalter. Die abgelösten Wächter der letzten Schicht kamen gelaufen. Einige Mitarbeiter des physikalischen Laboratoriums eilten herbei. Alle stritten und schrien gleichzeitig und so schnell durcheinander, daß ich, der pautooanischen Sprache nur leidlich mächtig, kein Wort verstehen konnte. Wer weiß, wie 300
das schließlich geendet hätte, wäre nicht aus einem kleinen Fenster ziemlich hoch über der Erde zersplitternd eine Glasscheibe geflogen. Alle Blicke richteten sich dorthin. Ein schmutziggrüner Schaumbach quoll aus dem Fenster und begann, sich im Gras auszubreiten. Stellenweise verhärtete sich der Schaum sogleich und bildete wie im Schlüsselloch eine mörtelartige Masse. An anderen Stellen aber zerteilte er sich in Rinnsale, die sich nun schon behende und flink in den Ritzen der Pflastersteine einen Weg suchten und auf die nächsten Sträucher zukrochen. Die Sträucher aber… Die Sträucher versteinerten. Zur gleichen Zeit, als es uns endlich gelang, dem Meteoritensplitter Leben zu entlocken, und wir alle Hände voll zu tun hatten, um das nach fast tausendjährigem Schlaf zügellose Siliziumplasma zu bändigen, war Mursarow damit beschäftigt, in der Lagune von Seunor Schwämme zu suchen. Er war um fünf Uhr morgens aufgestanden und, mit einem riesigen Sonnenschirm, einem Packen Zeitungen und einer Thermosflasche voll gutgekühlten Imschëus bewaffnet, zu dem kleinen Boot gelaufen, das an einem Bambussteg vertäut lag. Braungebrannt, in bunter Badehose und besticktem Mützchen, sah er wie ein Sommerfrischler aus. Im Boot machte er 301
es sich unter dem Sonnenschirm bequem und bewunderte die Meeresfauna. Das magere pautooanische Bürschchen, das ihn ruderte, lavierte das Boot geschickt zwischen den bald hier, bald dort über den niedrigen Wasserspiegel ragenden Korallenriffen hindurch und steuerte es zu verschiedenen Stellen der Lagune, die Mursarow angab. Von Zeit zu Zeit holte der Professor einen Schwamm vom Grund herauf, betrachtete ihn aufmerksam und warf ihn wieder über Bord. Der Wasserstand war außerordentlich niedrig, und infolgedessen lag das wie mit weißem Pulverschnee bestreute Korallenufer bereits in weiter Ferne, wenn das Boot über Stellen schaukelte, wo das Wasser während der Flut besonders tief war. Aber auch hier entzog sich der gesuchte Tiefseebewohner, der zierliche Gießkannenschwamm, dessen Kieselskelett einem Filigran aus feinstem Glas gleicht, Mursarows Zugriff. Andere Schwämme interessierten den Professor nicht. Er brauchte nur dieses eine zarte, tütenförmige Geflecht, das er einmal flüchtig in den Händen eines einheimischen Tauchers gesehen hatte. Schwämme dienen keinem einzigen Lebewesen zur Nahrung. Jene, die Mursarow suchte, eignen sich auch nicht als Badeschwämme. Und trotzdem wurden Kieselschwämme gefischt. Wer brauchte sie? 302
Wer kauft sie, und wozu? Als Mursarow versuchte, einen solchen Schwamm zu erwerben, stieß er auf ein unerwartetes Hindernis. Die Taucher, die zu den Ärmsten der Armen gehörten und ihre schwierige und gefährliche Arbeit für Groschen verrichteten, wichen vor ihm zurück wie vor einem Aussätzigen, sobald er bei ihnen solche Schwämme kaufen wollte. Da entschloß er sich, ihrer um jeden Preis habhaft zu werden, denn er nahm an, sie könnten uns schon in allernächster Zeit gute Dienste leisten, wenn es galt, das lebende Siliziumplasma unter Kontrolle zu bringen. Vor ebendieser Aufgabe standen wir jetzt, und es war weiß Gott kein leichtes Stück Arbeit. Von dem Augenblick an, da wir den porösen graugrünen Brei vor unserm Laboratorium auf uns zukriechen sahen, hatten wir keine ruhige Minute mehr. Entdeckerfreude und tiefe Besorgnis, die das Herz zusammenpreßte – das waren die Gefühle, die uns in jenen Tagen bewegten. Wieder hatte der Mensch, wie in alten Zeiten, diesmal jedoch bewußt, den Vertreter einer anderen, vielleicht feindlichen Welt auf den Plan gerufen. Dieser Vertreter sah, offen gesagt, recht unscheinbar aus. Doch gleich in den ersten Stunden nach der Belebung benahm er sich höchst aggressiv. Die graugrüne 303
Masse nahm mit einer Schnelligkeit zu, die uns zwang, unverzügliche Maßnahmen zu ergreifen. Vor allem wurde das Gebäude unserer Versuchsstation unter Bewachung gestellt. Zuerst bildete die Wache einen Ring in rund zehn Meter Entfernung von der Station, aber schon gegen acht Uhr morgens mußten wir sie zurücknehmen. Der „Schaum des Zorns“ rückte unaufhaltsam vor, wie zu Rokomos Zeiten. Aus allen Fenstern hingen schon grünliche Trauben. Der poröse Brei bedeckte den Platz vor dem Betongebäude und floß in kleinen Bächen, als suche er die günstigsten Angriffswege, in allen Richtungen weiter. Zwanzig Minuten nach acht zerbarst die Tür, und um drei Viertel neun sahen wir die Wände verschwinden. Das erinnerte an eine gelungene Trickaufnahme, bei der der Zuschauer auf der Leinwand sieht, wie ein soeben noch scharf gezeichnetes, exaktes Bild verschwimmt, sich auflöst, gleichsam dahinschmilzt, wie seine Konturen sich magisch verändern und es sich in etwas ganz anderes verwandelt, das dem eben noch gesehenen in nichts mehr gleicht. In knapp fünf Minuten hörten die glatten Betonwände auf zu bestehen. Wir beobachteten, wie die ebenmäßigen, weißgekalkten Mauern rauh, porig und graugrün wurden, zu Boden sanken, sich unfaßbar schnell in 304
Bewegung setzten und gleich darauf mit der triumphierend schäumenden Masse verschmolzen. Wie auf einer Brandstätte ragten jetzt an der Stelle des Gebäudes nur noch die Metallteile unserer Anlagen und Geräte empor und davor die stählernen Stäbe und Drähte, die den Betonmauern früher Festigkeit verliehen hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits mit allem Erdenklichen ausgerüstet. Ferngläser, Fotoapparate, Filmkameras, Dewargefäße mit flüssiger Luft, Ballons mit Chlor, Flaschen mit Schwefel- und Salpetersäure – was war bis neun Uhr nicht alles zum künftigen Schlachtfeld geschleppt! In unmittelbarer Nähe der Wachmannschaften, die inzwischen durch Studenten der höheren Semester verstärkt worden waren, ließen wir ein Zelt aufschlagen. Darin thronte wie ein Feldherr der Rektor der Universität, Dr. Jamsch. Die Situation hielt wirklich den Vergleich mit einem Großkampftag an der Front aus. Im Stabszelt trafen ununterbrochen Meldungen von der „Feuerlinie“ ein, jener Grenze, bis zu der das Siliziumplasma Dezimeter um Dezimeter auf dem Gelände der Universität vordrang. Dr. Jamsch wiederum schickte Anweisungen an den Mitarbeiter, der im Hauptgebäude das Telefon bediente. Außer Jusgor, dem Leiter des chemischen Laboratoriums und mir durfte nie305
mand die Absperrung der Wachmannschaft passieren. Nur wir drei hatten somit direkte „Feindberührung“. Wir gingen umsichtig vor, bemühten uns, rasch und exakt zu handeln, aber – wozu es verschweigen? – nicht die ganze Zeit über waren wir kaltblütig und entschlossen. Wir standen vor zwei Hauptaufgaben: unser Experiment nicht in einer Katastrophe enden zu lassen und zugleich den Kampf so zu führen, daß wenigstens ein kleiner Teil des Siliziumlebens für weitere Forschungen erhalten blieb. Eingedenk der traurigen Erfahrungen unserer Vorläufer zu Rokomos und Raomars Zeiten, näherten wir uns dem wieder freigesetzten „Schaum des Zorns“ unter Einhaltung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln. Wir wußten ja an jenem Morgen noch nichts Genaueres über das Wesen der von uns selbst hervorgerufenen Erscheinung, über ihre Eigenschaften und „Absichten“. Zuerst besaßen wir nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sich das Siliziumleben äußert, in welcher Form es auftritt, wie es sich der Umwelt anpaßt, wovon es sich ernährt, wie es sich vermehrt und ob es überhaupt von unserem irdischen Standpunkt aus als echtes Lebewesen zu betrachten ist oder ob es eine uns bisher unbekannte, ungewohnte und daher 306
unverständliche lebende Substanz darstellt. Die ersten Beobachtungen ergaben nicht viel. Jusgor und ich kamen, als wir die Schaummasse ganz nahe betrachteten, zu dem Schluß, daß sie stellenweise eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Korallen aufwies. Der sich ziemlich rasch verhärtende Schaum verzweigte sich zu kleinen Bäumchen oder klumpte sich zu Kugeln mit gefurchter Oberfläche, ähnlich Gehirnwindungen, zusammen, wie das auch einige Korallenarten tun. Er bildete Stämme, Pilze, schlangenförmige Triebe und bläschenartige Trauben. Nur der Teil bewegte sich, der mit dem Gebäude, dem Boden oder mit Pflanzen in Berührung kam. Diese Schaumfront schien alles zu verschlingen, was sie auf ihrem Weg antraf; dann hielt sie in der Bewegung inne und erstarrte. Wir konnten nicht verstehen, was hier das aktive, treibende Element war, bis wir auf der schwammigen grünlichen Oberfläche kleine Tropfen entdeckten. Durchsichtig und sehr beweglich, bedeckten sie wie Tautropfen die ganze Oberfläche des Schaums in der vordersten Linie, der unaufhaltsam vordrang und immer neues Terrain eroberte. Die Tropfen schluckten Sandkörnchen, Erdklümpchen und Grashalme. Sie drangen in die Stämme und Äste der Sträucher und in die Ritzen des 307
Steinpflasters ein. All dies verwandelten sie in quellenden, sich rasch verhärtenden Schaum. Bevor dieser erstarrte, sonderte er neue, in der Sonne glitzernde Tropfen aus, und diese setzten das Zerstörungswerk ihrer Vorgänger fort. Jetzt begriffen wir, daß wir unser Hauptaugenmerk auf diese glitzernden, beweglichen Teilchen der lebenden Substanz richten mußten. Dr. Jamsch, ein massiger, sogar in dieser außergewöhnlichen Situation gelassener Mann mit offenem dunklem Gesicht und klarem, kühnem Blick, erfüllte uns allein schon durch seine Anwesenheit mit Zuversicht. Er brachte Sinn und Ordnung in unser Tun. Nachdem er den Bericht über unsere Beobachtungen gehört hatte, hockte er sich selbst vor die Angriffsfront des Schaums hin und betrachtete durch eine große Lupe eingehend die Siliziumtropfen. „Diese fremdartigen Bestien können im Nu den ganzen Archipel auffressen. Wir dürfen nicht länger zögern!“ Wir traf en Vorbereitungen zur entscheidenden Schlacht. Sewena setzte sich mit drei Studenten in den Dienstwagen des Rektors und jagte in die Stadt, um Polyäthylenfolien zu beschaffen. Aru und zwei Aspiranten erhielten die Erlaubnis, das abgesperrte Gebiet zu betreten. Salpeter- und Schwefelsäure 308
wurden verspritzt, schienen jedoch auf die lebende Siliziumsubstanz keinerlei Eindruck zu machen. Der mit den Säuren bespritzte Schaum löste sich zwar teilweise auf, änderte Form und Farbe, aber sogleich krochen neue kristallklare Tropfen heraus, die mit verdoppeltem Appetit gierig alles in sich hineinfraßen. Alkalien und Chlor, Spiritus und Giftstoffe – buchstäblich alles, womit wir dem Feinde zuleibe rückten, störte ihn nicht im geringsten bei seinem erfolgreichen Angriff, spornte ihn sogar noch mehr an. Besonders gefiel den kleinen Siliziumräubern Fluorwasserstoffsäure. Auch Paraffin schienen sie zu lieben. Jusgor goß eine Halbliterflasche davon auf ein ganz dünnes Rinnsal des Schaums, und er belebte sich sofort, schwoll rapide an und bildete einen stattlichen Hügel. Nachdem die Wände unseres Laboratoriums endgültig verschwunden waren, konnten wir feststellen, was die lebende Substanz vertilgt hatte. Außer den Stahlteilen war praktisch alles von ihr geschluckt worden. Aluminium und Glas schienen ihr den größten Genuß bereitet zu haben. Die Sonne brannte so heiß, daß wir zunächst nicht auf die Hitze achteten, die von der Ruine des Laboratoriums ausging. Bald erkannten wir jedoch, daß sie auch in 309
dieser Hinsicht einer Brandstätte ähnelte. Wir spürten jetzt schon deutlich, daß die Temperatur um so höher stieg, je näher wir den geballten grünlichen Massen kamen. Was lag dieser Wärmeausstrahlung zugrunde? Dr. Jamsch befahl, Geigerzähler zu bringen. In unmittelbarer Nähe der „Brandstätte“ verzeichneten sie eine etwas erhöhte Radioaktivität. Flaschen mit Azetylen und Sauerstoff wurden zur „Hauptkampflinie“ geschleppt. Aspiranten entrollten die Schläuche, ich zog Fäustlinge an und wappnete mich mit einem Schutzschild. Dann ging ich, mit einem starken Gasbrenner bewehrt, zum Angriff über. Der Feind ergab sich nur dort, wo die Temperatur anderthalb- bis zweitausend Grad erreichte. Dafür entstand die Gefahr, daß die Tropfen durch den Gasstrahl zerstäubt wurden und sich noch mehr ausbreiteten. Deshalb mußte ich meine kühne Attacke mit der Azetylenflamme vorzeitig abbrechen. Mittlerweile war der Kraftwagen mit den Polyäthylenfolien zurückgekommen. Dr. Jamsch stellte eine Gruppe von etwa zwanzig Studenten zusammen, die sich, nachdem er sie kurz instruiert hatte, daranmachten, die Folien an Palmenstämmen zu befestigen und derart ei310
nen hohen Zaun um die „Brandstätte“ zu errichten. Dr. Jamsch befahl, noch zwei Lkws nach zusätzlichen Folien zu schicken. Die Entscheidungsschlacht mußte gründlich und allseitig vorbereitet werden. Wir hatten die schrecklichen Kräfte gerufen, wir mußten sie auch wieder bannen. Es galt einen Kampf auf Leben und Tod. Wie von Geisterhand an eine unsichtbare Wand geschrieben, sah ich plötzlich Wudrums Warnung deutlich vor Augen: Zu früh! Wenn nun auch das Tuarokeharz wirkungslos blieb, wenn es dieses wahnwitzige, in seiner endlich gewonnenen Freiheit maßlos überschäumende Leben nicht auszulöschen vermochte? Was dann? Eine Betonrinne, die ein paar Meter neben dem Laboratorium vorbeiführte, war vom nächtlichen Regen noch mit Wasser gefüllt. Der Schaumstrom aber rückte besonders aktiv darüber hinaus vor. Das Wasser störte ihn demnach nicht im geringsten. Folglich würde der Siliziumschaum, nachdem er eine der pautooanischen Inseln verschlungen hatte, sich leicht einen Weg unter Wasser, auf dem Meeresgrund, zu einer zweiten, einer dritten Insel bahnen und zuletzt den ganzen blühenden Archipel in eine Steinwüste verwandeln.
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Müde und zerschlagen ging ich ins „Stabszelt“ und ließ mich in einen Korbsessel fallen. „Gut, daß Sie gekommen sind“, wandte sich Dr. Jamsch an mich. „Die Zeit drängt, wir dürfen keine Minute verlieren. Trotzdem bitte ich Sie, das hier durchzusehen. Jusgor hat es schon gelesen. Wir müssen uns über den genauen Wortlaut der Telegramme einigen, die ich aufgesetzt habe, um sie an die UNO sowie an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und den Direktor des Instituts für kosmische Chemie in der Sowjetunion zu schicken.“ Ich überflog den vom Rektor entworfenen Text, hieß ihn gut und fragte dann: „Herr Dr. Jamsch, ist die Regierung schon über die Vorgänge hier unterrichtet?“ „Selbstverständlich. Ich habe den Minister angerufen. Er wird bald hier eintreffen. Wir müssen Unterlagen vorbereiten, damit er dem Präsidenten der Republik Bericht erstatten kann. Alexej Nikolajewitsch, was meinen Sie, wollen wir mit der Beräucherung anfangen, bevor die Studenten den Windschutz fertiggestellt haben, oder können wir riskieren, noch eine Weile zu warten? Ich bin soeben vom Hafen aus angerufen worden. Die Plastfolien werden direkt aus dem Laderaum der ‚Internatio312
nal’ auf unsere Lkws gehievt. In einer halben Stunde müssen sie hier sein.“ „Ich denke, wir sollten warten. Es ist natürlich riskant, aber jetzt ist alles riskant: zu warten ebenso wie ohne Windschutz anzufangen.“ Ich sprach abgerissen, immer noch erregt von der Vision der Wudrumschen Warnung: Zu früh! „Ich fürchte, wir haben nicht genug Tuarokeharz, und wenn der Rauch über das Gelände verweht wird, wenn er mit den aktiven Tropfen in Berührung kommt, ohne daß er dicht genug ist… Aber vielleicht hat das Harz sowieso keine Wirkung.“ „Wir werden sehen. Hoffen wir das Beste. Das ist unsere größte Chance.“ „Und wenn…“ „Wir müssen jetzt Ruhe und Geduld bewahren. Eine Probe aber… Schön, machen wir eine Probe!“ Vor dem Zelt wartete Aru auf mich. In den Händen trug er eine große Porzellanküvette, die mit einer Glasglocke bedeckt war. Darunter schimmerten in der Sonne kleine Tiegel. „Das sind Gold- und Platintiegel, Alexej Nikolajewitsch. Bei den Biologen habe ich mir ein Löffelchen besorgt. Wenn man es mit einer Pinzette anfaßt, besteht so gut wie keine Gefahr. Wir können damit eine ganze Menge Tropfen einsammeln.“ 313
Ich blickte Aru an, als sähe ich ihn zum erstenmal. Sein lächelndes, etwas knochiges braunes Gesicht war ruhig und freundlich wie immer. Nur die tiefliegenden schwarzen Augen schwammen in einem feuchten Glanz, ich wußte nicht, ob vor Unruhe oder Ungeduld. Straff und durchtrainiert, immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte, und nie im Wege, dachte er an alles. Es schien keine Situation zu geben, in der er nicht das Richtige tat. „Großartig, Aru! Gehen wir. Wir werden diese ziemlich riskante Arbeit gemeinsam durchführen.“ „Sie wollen mit mir…“, rief Aru erfreut. „Ja, mit Ihnen.“ Wir knieten uns direkt vor die angreifende Schaummasse hin und sammelten die darauf befindlichen leicht beweglichen und sich rasch vermehrenden Tropfen in die Gold- und Platintiegel. Wohl hundertmal streckten wir die Arme aus, aber die Tiegel waren erst zur Hälfte gefüllt. Hitze, Schwüle, gewitterschwangere Luft und dazu das Bewußtsein, daß eine einzige ungeschickte Bewegung genügt, damit einer dieser klaren, scheinbar harmlosen Tropfen deinen Körper berührt und dich in eine augenblicklich versteinernde Leiche verwandelt – du aber schöpfst Tropfen um Tropfen in die kleinen Metalltiegel. Hun314
dert, zweihundert mechanische Bewegungen… Zur selben Zeit handhabte Jusgor ein Gerät, das wie ein Blasebalg aussah. Ich hätte mich am liebsten zweigeteilt. Einerseits wollte ich möglichst viele Tropfen einsammeln, andrerseits drängte es mich unwiderstehlich, das in meinem Bewußtsein lauernde „Zu früh!“ auszutilgen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ließ Aru das Einsammeln der Tropfen allein fortsetzen und ging zu Jusgor hin. Aus dem Austrittsstutzen des Blasebalgs schoß ein aromatischer Rauchstrahl. Wo er die flinken Kristalltropfen der lebenden Substanz traf und einhüllte, trübten sie sich, nahmen die Farbe zuerst von Opalen, dann von Perlen an, rollten von dem sie nährenden Schaum, fielen zu Boden und rührten sich nicht mehr. Damit hatten wir den Staffettenstab übernommen, den uns die alten Pautooaner über Jahrhunderte hinweg zureichten. Die menschliche Erfahrung, die Grundlage und der Prüfstein alles Wissens, half uns, den Sieg über die kosmische Kraft zu erringen. Das konnte nur geschehen, weil die Anstrengungen von Menschen, die ein Jahrtausend voneinander trennte, sich vereinten. Sollte es da nicht möglich sein, heute alle auf der Erde Lebenden zum gemeinsamen Kampf zu vereinen? 315
„Jusgor!“ Ich fiel ihm um den Hals, wobei ich ihm in meiner Heftigkeit den Blasebalg wegriß, und er drückte mich fest an sich. Dr. Jamsch trat herzu und umarmte uns. „Meine Glückwünsche, Freunde! Jetzt bin ich sicher, der Archipel wird überleben. Übrigens stehen wir erst am Anfang des Kampfes.“
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Herr Asquith Der fällige pautooanische Regenguß war vorüber. An diesem Tag hatte er mehr als sonst gewütet. Wie eine Springflut hatte er die „Brandstätte“ überschwemmt und unseren Folienzaun an mehreren Stellen umgeworfen. Auf das Siliziumplasma allerdings hatte er nicht den geringsten Eindruck gemacht. Dessen siegreicher Vormarsch hielt an, sein Appetit verminderte sich nicht, es fraß alles auf seinem Weg und drohte bis zum Morgen die nächststehenden Universitätsgebäude zu erreichen. Es war höchste Zeit, den Kampf aufzunehmen. Die letzten Plastfolien wurden aufgerollt und alle Vorräte an Tuarokeharz zum Schlachtfeld getragen. Bereits am Morgen, als wir uns von der Unvermeidlichkeit des Kampfes überzeugt hatten, waren an die hundert Studenten aufs Land hinausgefahren, um möglichst viele der zähen, dornigen Tuarokesträucher abzuhacken und auf Lkws zu verladen. Jetzt kehrten sie mit ihrer Ausbeute in die Universität zurück und ergänzten damit unser „Waffenarsenal“‘. Die Sträucher hielten wir fürsorglich in Reserve, um sie zu verbrennen, falls das aufbereitete Harz nicht reichen sollte. Becken mit glühenden Kohlen darunter wurden in einem großen Halbkreis aufge317
stellt. In die Becken streuten wir Prisen des kostbaren mattgoldenen Harzes. Es zerschmolz auf dem Eisen, und aromatische Rauchwölkchen zogen langsam durch die feuchte Luft in den Plastpferch, der den Siliziumgegner einschloß. Es dunkelte rasch. Zum letztenmal leuchtete der Gipfel des Sebarao auf. Noch schimmerten die weißen Universitätsgebäude durch das Grün, in das sie eingebettet waren. Aber hier, unter den Palmen rings um das vom Siliziumplasma eroberte Gebiet, breiteten sich schon tiefviolette Schatten aus. Als warme orangerote Flekke glühten verheißungsvoll die Kohlenbekken in der dichter werdenden Finsternis, und darüber kräuselte sich zartrosa der rettende aromatische Rauch. Nun konnten wir nur noch eines tun – warten! Was mag jetzt dort an der Brandstätte unserer Versuchsstation, wo vor weniger als einem Tag diese unbegreifliche Erscheinung zum Leben erwachte, vor sich gehen? Wird der harmlos duftende Rauch, der sie weder wie die Säuren ätzen noch ihr mit Hitze oder Kälte zusetzen kann, die Oberhand behalten? Wird er der Tautropfen, in denen sich eine den Menschen unfaßbare Macht verbirgt, Herr werden, indem er sie sanft einhüllt? Auf dem Fleckchen Erde im Plastring sollen die Rauchwölkchen nun die Kristalltropfen befrieden 318
und sie dem Willen des Menschen ebenso unterwerfen, wie sie das vor fast einem Jahrtausend im heiligen Hain getan haben. Damals hatte Raomar kniend gebetet. Von uns beugte keiner das Knie. Doch im Laufe dieser langen, schwarzen Nacht blieb auch keiner gleichmütig, verließ niemand das Schlachtfeld. Im Zelt von Dr. Jamsch herrschte geschäftiges Treiben. Nicht einen Augenblick trat Ruhe ein. Anweisungen gingen hinaus, die aufdringlichen Reporter zu beschwichtigen, Telegramme trafen ein, die ersten Meldungen wurden abgefaßt, noch feuchte Fotoabzüge und die Ergebnisse von Analysen begutachtet, Pläne für die künftige Behandlung des Siliziumplasmas entworfen und besprochen. Bis zum Morgen verstummten die Stimmen nicht in dem von einer Windlaterne erhellten Zelt. Bei Tagesanbruch aber eilten wir wieder, so schnell uns die Füße trugen, zur Brandstätte. Im rosigen Widerschein der ersten Sonnenstrahlen erblickten wir eine formlose, graugrüne Masse, die sich nicht bewegte. Das Plasma war tot. Nun brachen Tage rastloser Arbeit an. Es kostete viel Mühe, die bimssteinartige Masse, die an dem Stahlgerippe unseres Laboratoriums haftete, unter strenger Einhaltung aller Vorsichtsmaßregeln wegzuräumen. Noch mehr Energie mußten wir 319
aufwenden, um die Versuchsstation neu aufzubauen. Vom Institut für kosmische Chemie kamen Gelehrte verschiedener Fachrichtungen nach Makimi geflogen. Aus dem pautooanischen Institut für chemische Technologie schlossen sich unserer Gruppe Vertreter der analytischen und der organischen Chemie an. Durch Sondererlaß des pautooanischen Ministeriums für Hochschulwesen wurden uns zusätzlich Arbeitsräume zur Verfügung gestellt. Überall und in allem spürte man den Pulsschlag fiebrigen Lebens. Nach wenigen Tagen stand die neue Versuchsanlage bereits fix und fertig da. Sie war ein genaues Ebenbild derjenigen, die das Siliziumplasma vor kurzem verschlungen hatte. Es gelang uns jedoch nicht, den Belebungsversuch zu wiederholen, obwohl wir mit größter Sorgfalt die gleichen Bedingungen schufen. Als schließlich der Rest des Meteoriten aufgebraucht war, bestand kein Zweifel mehr: Unsere Bemühungen waren gescheitert. Vielleicht war es gar nicht der Regen gewesen, der die Belebung bewirkt hatte. Vielleicht hatte eine zufällige, von uns nicht bemerkte Verkettung besonderer Umstände dazu beigetragen, daß die uns unbekannte Kraft zum Leben erwachte. Was das für Umstände waren, was für Bedingungen im einzelnen uns geholfen 320
hatten, konnten wir nicht mehr feststellen. Dieses Rätsel blieb ungelöst. Nun konzentrierte sich die Aufmerksamkeit unseres schon ziemlich zahlreichen Gelehrtenkollektivs auf die vier kleinen Tiegel, in denen die von Aru und mir gesammelte, quicklebendige, leicht grünliche Flüssigkeit aufbewahrt wurde. Seitdem sind einige Jahre vergangen. Über die Erforschung des Plasmas sind Dutzende dicker Bücher geschrieben worden. Jeder Schritt, den die Gelehrten bei der Bestimmung seiner Eigenschaften machten, wurde in Hunderten von Berichten und Dissertationen, in Tausenden von offiziellen Dokumenten geschildert. Hier möchte ich nur erzählen, wie wir das Plasma damals retteten. Ja, es gab eine Zeit, da erkannten wir, wie schwierig es ist, die lebende Siliziumsubstanz zu bewahren. Man kann sich leicht vorstellen, wie beunruhigt wir waren, als uns zum Bewußtsein kam, daß wir Rokomos Tat nicht wiederholen konnten, das Plasma aber langsam dahinsiechte. In den Platintiegeln büßte es überhaupt bald jede Aktivität ein. Nur in den Goldtiegeln hielt es durch, wurde aber auch hier zusehends passiver und begann seine charakteristischen Eigenschaften zu verlieren. Die Erklärung war einfach: Alles Lebende, ganz 321
gleich, ob Substanz oder Individuum, muß sich ernähren. Aber wie? Unsere Bemühungen, die Lebenstätigkeit des Plasmas in den Tiegelchen aufrechtzuerhalten, führten zunächst zu nichts. Der bei uns entstandene Eindruck, es sei anspruchslos und verschlinge unterschiedslos alles, erwies sich als falsch. In dem abwechslungsreichen Menü, das wir ihm vorsetzten, vermißte es offenbar etwas. Wahrscheinlich hatte es, als es auf seinem Wege alles zermahlte, sehr sorgfältig etwas ausgewählt, was es zum Leben unbedingt brauchte. Wenn es in den Tiegelchen die Nahrung verschmähte, so offenbar nicht, weil es mäkelig war, sondern weil darin das Allernotwendigste fehlte. Wie sollten wir diese einzig lebensnotwendige Nahrung ausfindig machen, wie verhindern, daß das Plasma in den Tiegelgefängnissen elend zugrunde ging? Man konnte es natürlich in Freiheit setzen und Jagd machen lassen auf die irdischen Pflanzen, Steine und Gebäude. Aber das erschien uns zu riskant, und außerdem verspürten wir keine große Lust, es immer wieder tropfenweise einzusammeln. Nein, wir mußten das Plasma stets in reiner Form zur Verfügung haben, um seine Eigenschaften und seine Verhaltensweise zu studieren, um festzustellen, wovon es sich 322
ernährte, wie es sich vermehrte, welcher Art seine Zusammensetzung und Struktur war. Deshalb mußten wir eine Antwort auf die Frage finden: Wie erhalten wir das Plasma am Leben? Das war schwierig, aber nicht aussichtslos. Immerhin war diese Aufgabe, wie wir wußten, im Altertum, in der pautooanischen Ära des Schöpfertums, schon einmal gelöst worden. An diesem kritischen Punkt kam uns Biochemikern der Historiker Mursarow zu Hilfe. Die Kenntnis der alten pautooanischen Kulthandlungen und Volksbräuche verhalf ihm zu einer wichtigen Entdeckung. Der Brauch, heilige Schwämme zu sammeln und aufzubewahren, geht in die graue Vorzeit zurück. Niemand, nicht einmal die Priester der noch verbliebenen Tempel, weiß heute, wie dieser Brauch entstanden ist und wozu die Schwämme gebraucht wurden. Dennoch besorgen sich die Gläubigen vielerorts Kieselschwämme, indem sie sie entweder selbst vom Meeresgrund heraufholen oder von Tauchern kaufen, und bringen sie einmal im Jahr, am Fest der Ankunft des Himmlischen Gastes, als Opfergabe in den nächstgelegenen Tempel. Professor Mursarow hatte recht, als er behauptete, die Tradition sei zählebiger als die Siliziumsubstanz. Das Geheimnis, das die Priester auf Pautoo in der Ära des Schöpfertums kannten, ist seit 323
langem verlorengegangen. Vor sieben Jahrhunderten verlernten die Pautooaner die Kunst, mit Hilfe von Siliziumplasma Tempel und Paläste von märchenhafter Schönheit und Größe zu bauen. Die Schwämme aber werden immer noch gewonnen, gepflegt und aufbewahrt. Mursarow sprach die Vermutung aus, daß Kieselschwämme, und zwar eine ganz bestimmte Art, nämlich Gießkannenschwämme, die bis auf den heutigen Tag von Tauchern unter großen Mühen und Gefahren vom Meeresgrund heraufgeholt werden, den Altpautooanern dazu dienten, die Lebenstätigkeit des Plasmas, das in goldenen Altargefäßen aufbewahrt wurde, aufrechtzuerhalten. Die in unserem Besitz befindliche Siliziumsubstanz mußte dringend wieder aufgepäppelt werden. Sie siechte vor unseren Augen dahin. Entweder nahm das Plasma nur in der Freiheit Nahrung zu sich, oder es verlangte nach einer ganz bestimmten Kost. Was tun? Wir wollten es zuerst mit den Kieselschwämmen versuchen, und wenn das nichts half, das Risiko eingehen, es wieder in Freiheit zu setzen. Schwämme von den Gläubigen zu erwerben war praktisch unmöglich. Der Verkauf von Tempelopfern an Ungläubige wäre eine Gotteslästerung gewesen, vor der alle zurückscheuten. Wohl oder übel mußten wir unsere Zuflucht zu Sporttauchern 324
nehmen. Das verursachte keine geringe Aufregung unter den armen einheimischen Schwammtauchern, die befürchteten, die mit Atemgeräten und Unterwasserharpunen ausgerüsteten Konkurrenten könnten ihnen den kärglichen Verdienst streitig machen. Das erwies sich indessen als grundlos. Soviel ich weiß, gehen sie heute noch ebenso ihrem schweren Gewerbe nach, wie das ihre Vorfahren durch Jahrhunderte hindurch getan haben, und holen für die Gläubigen heilige Schwämme aus dem Meer. Die Gläubigen legen die Schwämme auf die Opferaltäre, wo sie allmählich austrocknen. Die von den Sporttauchern gefundenen Tiefseeschwämme verwandten wir allerdings zu einem anderen Zweck. Das Experiment wurde von uns mit aller Sorgfalt, gewissermaßen mit angehaltenem Atem, vorbereitet und durchgeführt. Denn wenn die Schwämme dem Geschmack des Plasmas nicht entsprachen, verhundertfachten sich unsere Schwierigkeiten. Die neue Kost benagte dem Plasma. Kaum hatten wir vorsichtig ein kleines Stück des Schwammes in ein Goldtiegelchen gelegt, da wurde die schon leicht getrübte Flüssigkeit wieder durchsichtig und beweglich. Wir warfen noch ein paar Stückchen hinein. Das Plasma schäumte 325
rings um sie auf, verdaute sie ohne den kleinsten Rückstand und begann immer mehr anzuschwellen. Wir schütteten es in ein anderes Gefäß. Auch dort nahm es, während es sich von dieser Kost ernährte, stetig an Umfang zu. Man konnte es vermehren, soviel man wollte. Die Experimentatoren nahmen schon einzelne Tropfen heraus, trugen sie durch die Laboratorien, untersuchten ihre Eigenschaften und ihr Verhalten. Die Physiologen spritzten das Plasma Tieren ein, die sofort verendeten, aber bezeichnenderweise nicht versteinerten. Die Chemiker erforschten seine Zusammensetzung, die Physiker seine physischen Eigenschaften, die Biochemiker… Genug, alles kann ich nicht aufzählen. Sobald wir uns überzeugt hatten, daß man die lebende Substanz bei Beachtung der erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen ohne weiteres transportieren konnte, schickten wir ein paar Gramm mit einem Sonderflugzeug zur allseitigen Erforschung an das Institut für kosmische Chemie. Natürlich legten wir auch Kieselschwämme bei. Um diese Zeit erschienen die ersten Veröffentlichungen über unsere Entdekkung. Und kurz darauf kam Professor Asquith aus Poga nach Makimi. Asquith machte im großen und ganzen einen angenehmen Eindruck. Ein schmales, kluges Gesicht, eine ausgeprägte Ha326
kennase und von Fältchen umkränzte Augen, in denen Lachteufelchen saßen und deren Blick bald unschuldig und naiv, bald stechend und dreist war. Gut gebaut und sehr beweglich, sah er jünger aus, als er war, und besaß offenbar eine beneidenswerte Gesundheit. Auch das graumelierte Haar ließ ihn nicht alt erscheinen, sondern machte sein jugendliches Gesicht anziehend und bedeutsam. Alles an ihm, vom eleganten Anzug bis zur kultivierten Stimme, wirkte vornehm und gediegen. Nur die Hände mit den langen, kribbeligen Fingern paßten nicht dazu, als gehörten sie zu einem anderen, einem unsympathischen, gierigen Menschen. Ein Skeptiker und ausgesprochener Zyniker, von ungewöhnlich scharfem Verstand, findig, wendig und dabei rücksichtslos, nahm er leicht für sich ein und stieß gleichzeitig ab. Asquith schlug vor, gemeinsam einen Plan für die Lösung des Siliziumproblems auszuarbeiten. Doch die von ihm angebotene Mitarbeit schien uns allzu einseitig zu sein. Er wollte schnellstens Siliziumplasma von uns erhalten, hatte es aber keineswegs eilig, uns über die von ihm und Rodbar durchgeführten Arbeiten zu informieren. Bereitwillig und ausführlich erzählte er von den vergeblichen Versuchen, die Siliziumeinschlüsse des Meteoritensplitters, den er im Tempel Buatoo erlistet hatte, zu 327
beleben. Für uns war das jedoch ein Arbeitsgang, der bereits hinter uns lag. Uns interessierte etwas anderes – die Keime! Über die Arbeit mit ihnen aber schwieg sich Asquith aus und schilderte statt dessen weitschweifig, wie er Wudrums Versteck gefunden hatte. Nach seinen Worten begann alles damit, daß Nome Chansnepp unter der Hinterlassenschaft seines Vaters die Aufzeichnungen und Tagebücher Schirasts, die Berichte der Expedition Wudrums und die Schatulle mit dem goldenen Schiffchen entdeckte. Gun Chansnepps Erbe und Nachfolger, der gemäß der Tradition des Hauses die pautooanischen Inseln immer scharf im Auge behielt, interessierte sich verständlicherweise dafür. Das goldene Schiffchen zeigte ständig, wie schon vor vielen Jahren, die Richtung zum Archipel, woraus Nome Chansnepp den Schluß zog, daß die Inseln noch ein Rätsel bargen und die fliederfarbenen Kristalle sich nach wie vor dort befanden. Chansnepp beauftragte Professor Asquith, dem Siliziumgeheimnis nachzugehen. Er richtete dafür ein spezielles Laboratorium ein und schlug Rodbar vor, an seinem Institut zu arbeiten. Der hatte die pautooanischen Chroniken und das Material der russischen Expedition gründlich studiert. Er glaubte, daß es den Altpautooa328
nern gelungen war, das Siliziumleben für schöpferische Leistungen nutzbar zu machen, wie das aus der Legende von Rokomo und Lawuma hervorging, und wollte es ihnen nachtun. Der Konzern erzeugte zu dieser Zeit schon große Mengen von Silikonkautschuk, Thermoplasten und Elastomeren. Die organischen Siliziumerzeugnisse fanden überall reißend Absatz, die Nachfrage der Industrie stieg ständig; zudem sickerte durch, daß sie für die Außenhaut von Weltraumschiffen unentbehrlich seien. Die Gelehrten hielten es für möglich, das Plasma für Synthesen und Fusionen zu verwenden. Asquith träumte davon, mit Hilfe des Plasmas nicht märchenhafte Paläste und Tempel zu bauen, sondern Silikone herzustellen, deren die Industrie dringend bedurfte. Von dieser Aussicht begeistert, geizte Nome Chansnepp nicht mit Geld für das Laboratorium des energischen und unternehmungslustigen Professors. Als ihre Hauptaufgabe betrachteten Asquith und Rodbar die Erforschung der organischen Formen, die in dem Splitter des Meteoriten Sebarao eingeschlossen waren, und ihre Belebung, die Gewinnung lebender Siliziumsubstanz. Es gelang ihnen jedoch nicht, Rokomos Tat zu wiederholen und die Einschlüsse zu beleben. Doch Asquith warf die Flinte nicht ins Korn. Um Chansnepps In329
teresse wachzuhalten, entschloß er sich, nach Pautoo zu reisen. Um diese Zeit hatte sich die Lage auf dem Archipel etwas stabilisiert. Eine freie, unabhängige Republik war gegründet worden. Ein Teil der Inseln, nämlich Westpautoo, befand sich indessen noch unter der Knute der Kolonialmacht. Zeitweilig flaute der Bürgerkrieg ab und flammte dann wieder mit neuer Kraft auf. Trotzdem flog Asquith nach Poga. Hier zeigte das Schiffchen in die Richtung der Insel Sebatu, auf der sich, nach den Aufzeichnungen Wudrums und den Tagebüchern Schirasts zu urteilen, der Obere Tempel befand. Obwohl die Insel Sebatu immer noch umkämpft war und häufig den Besitzer wechselte, brachte es Asquith fertig, mit seinem pautooanischen Gehilfen Dagir in einem Hubschrauber zur Ruine des Oberen Tempels zu fliegen und unweit davon zu landen. Ganz in der Nähe waren Kämpfe im Gange, Geschosse schlugen ein; Dagir aber kroch, von Asquith beauftragt, auf allen vieren zur Ruine und polkte ein „Auge der Gottheit“ aus der steinernen „Welle“. Auf diese Weise gelangte einer der beiden fliederfarbenen Kristalle ins Mutterland Westpautoos, lange bevor Mursarow und ich nach Makimi flogen. Asquith war nach Makimi gekommen, um zu verhandeln. Er trat selbstsicher auf 330
wie der diplomatische Vertreter einer Großmacht und bestand nur auf der einen Forderung, man solle Chansnepps Institut eine kleine Menge des Plasmas überlassen. Wir befanden uns in einer peinlichen Lage. Dr. Jamsch hielt es für nötig, zu klären, ob Asquith einem Austausch von Informationen zustimmen werde, ob er auch über die Arbeiten in dem geheimen Laboratorium von Tarkor berichten wolle und ob er ferner bereit sei, uns einige der Keime zu überlassen. Zu diesem Zweck berief er eine Konferenz ein. Außer den Wissenschaftlern, die unmittelbar am Siliziumproblem arbeiteten, nahmen daran auch die Lehrstuhlinhaber der Universität und der Direktor des Instituts für chemische Technologie teil. Dr. Jamsch tat sein möglichstes, damit die Beratung keinen offiziellen Charakter trug, sondern eine zwanglose Zusammenkunft von Gelehrten darstellte, bei der beide Seiten interessierende Informationen ausgetauscht wurden. Wir versammelten uns daher nicht im Arbeitszimmer des Rektors, sondern im kleinen, kühlen Empfangsraum des Hauptgebäudes, wo wir uns um einen runden Tisch setzten, auf dem Flaschen mit Mineralwasser und Schalen mit Früchten standen. Asquith hatte sich offenbar auf einen längeren Vortrag vorbereitet, fand sich aber auch in diesem Milieu rasch 331
zurecht und nahm es wie etwas Selbstverständliches hin. Die großen Rollen mit Tabellen, die er mitgebracht hatte, legte er gleich beiseite und stellte lediglich das goldene Schiffchen vor sich auf den Tisch. Die Beratung verlief zunächst wirklich in Form einer zwanglosen Unterhaltung von Leuten, die zwar interessante Probleme von größter Bedeutung wälzen, die aber nicht wünschen, den Austausch von Informationen in einen Meinungsstreit ausarten zu lassen, der schon allein deshalb sinn- und zwecklos wäre, weil sich die beiderseitigen Ziele, Absichten und Methoden allzusehr voneinander unterscheiden. Asquith sprach als erster. Er hielt keinen Vortrag, dozierte auch nicht, sondern unterhielt sich in leichtem Plauderton. Humorvoll erzählte er von seinen Wanderungen auf Pautoo, inhaltsreich und zugleich anschaulich schilderte er seine Forschungsarbeiten in Tarkor. Nachdem er uns unterrichtet hatte, wie es ihm gelungen war, den fliederfarbenen Kristall zu erbeuten, ging er dazu über, von den in Chansnepps Institut durchgeführten Untersuchungen zu berichten. Zur Erforschung des Kristalls waren verschiedene Spezialisten herangezogen sowie alle möglichen Geräte und komplizierten Apparate verwandt worden, trotzdem war nichts Gescheites dabei herausgekommen. Nur ei332
nes stand zweifellos fest: Der fliederfarbene Kristall erzeugte eine Art Kraftfeld, auf das sich das goldene Schiffchen, das sich als ein äußerst empfindliches Gerät erwies, immer streng ausrichtete. Mit den herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden ließ sich weder der Charakter dieses Feldes bestimmen noch sein Vorhandensein rund um den Kristall nachweisen. Das einzige Gerät, das seit Jahrhunderten darauf reagierte, ohne jemals zu versagen, war das goldene Schiffchen. Es zeigte untrüglich auf den fliederfarbenen Kristall, selbst wenn dieser in einem schweren Bleipanzer steckte. Alle Versuche, das Feld zu isolieren, schlugen fehl, bis Asquith auf die Idee kam, mit Siliziumverbindungen zu experimentieren. Sogar in einer Glasglocke büßte der Kristall bis zu einem gewissen Grad seine Anziehungskraft ein, und als man einen Schild aus reinem Silizium davorstellte, ging die Rechnung auf. Es war keine Feldwirkung mehr zu beobachten. Man konnte den Kristall aus einem Raum in den anderen tragen, der Bug des Schiffchens, der ihm überallhin gefolgt war, blieb nun den Richtungsänderungen gegenüber gleichgültig. Was für ein Geheimnis verbarg sich im Inneren des goldenen Schiffchens? Aus dem Ornamentenstil ging eindeutig hervor, daß alle seine Teile – das Schiffchen 333
selbst, der Ring, an dem es hing, und der Rubinfuß – in Altpautoo hergestellt waren. Lange konnten sich die Forscher nicht entschließen, das Schiffchen zu öffnen, da sie befürchteten, dadurch die Möglichkeit zu verlieren, die auf der Erde bisher unbekannte, höchst interessante Erscheinung weiterhin zu beobachten, aber schließlich wagten sie es doch. Im goldenen Schiffchen befand sich ein kleiner Kern, ähnlich einer Erdnuß, wie die russischen Gelehrten ihn seinerzeit beschrieben hatten. Ein Samenkorn, ein Keim des Siliziumlebens! Der Keim wurde wieder in das Schiffchen gesteckt, das die altpautooanischen Meister für ihn gebaut hatten, und die simple Vorrichtung funktionierte ebenso einwandfrei wie vorher. Bald darauf entschloß man sich zu einem neuen Experiment. Statt des Keims wurde der Kristall in das Schiffchen gesteckt. Und siehe da, der Bug des Schiffchens mit dem Kristall zeigte nun einwandfrei auf den Keim. Dann aber geschah etwas Unverständliches. Alle glaubten, wenn man den Keim isoliere, ihn mit einer Siliziumhaube zudecke, werde das Schiffchen mit dem Kristall die Fähigkeit verlieren, sich im Raum auf ein Kraftfeld auszurichten. Das war aber nicht der Fall. Das Schiffchen mit dem Kristall zeigte wieder in eine ganz bestimmte Richtung. 334
Man trug das Schiffchen von einem Ort zum andern, brachte es aus einer Stadt in die andere. Dadurch gelang es, festzustellen, daß es auf die Inselgruppe Pautoo zeigte. Also befanden sich die übrigen Keime immer noch dort. Die Reise nach Pautoo verlief, wie Asquith schmunzelnd erzählte, ohne Zwischenfälle, und das Versteck mit dem Keimen wurde gefunden. Es ist nicht schwer zu erraten, welch widerspruchsvolle Gefühle die Mitteilungen Asquiths bei uns allen auslösten. Dr. Jamsch dankte ihm für die Information. Jusgor machte ihn seinerseits mit den Arbeiten und Plänen unserer Gruppe bekannt, wobei er hervorhob, daß die Beschäftigung mit dem Siliziumproblem gefährlich sei und eine systematische und behutsame Lösung erheische. Ich sprach nach Jusgor und entwickelte den Gedanken, daß man mit vereinten Kräften am Siliziumproblem arbeiten müsse. Professor Asquith unterstützte mich bereitwillig und sogar etwas hitzig. Das Gespräch wurde lebhaft, erinnerte aber immer noch eher an eine Zusammenkunft von Diplomaten als an eine Aussprache von Wissenschaftlern, die ein und dasselbe Problem zu lösen haben. 335
Die höfliche Liebenswürdigkeit, mit der die Verhandlungen geführt wurden, konnte nicht über das wachsende gegenseitige Mißtrauen hinwegtäuschen. Ohne selbst irgendwelche konkreten Vorschläge zu machen, versteifte sich Asquith darauf, von uns Plasma zu erhalten, damit er, wie er sagte, mit den Keimen weiterkomme. Er betonte noch einmal, daß es Rodbar in Tarkor bisher nicht gelungen sei, sie zu beleben. „Ich muß zugeben, meine Herren“, fuhr er mit einem verbindlichen Lächeln fort, „daß wir die Sache schon für aussichtslos hielten. Immer stärker plagten uns Zweifel, ob das Leben in diesen Keimen nicht endgültig erloschen sei. Wir wollten vor den Skeptikern und Kleingläubigen bereits die Waffen strecken. Doch die Nachrichten aus Makimi gaben uns neuen Mut. Ihr Erfolg, meine Herren, überzeugte uns, daß in den Siliziumsendboten aus dem Kosmos noch Leben glimmt. Ja noch mehr, Kollege Rodbar glaubt, daß aller Wahrscheinlichkeit nach gerade das Plasma, diese niedere Form des Siliziumlebens, der lebensnotwendige Nährboden für die Keime ist.“ „Sind Sie nicht der Meinung, Herr Kollege“, wandte sich Mursarow an Asquith, „daß die Belebung der Keime mit einem Risiko verbunden ist? Niemand weiß doch, 336
welche Art von Lebewesen entstehen wird, wenn Ihre Experimente gelingen.“ „Völlig richtig! In diesem Fall gehen wir offenbar das gleiche Risiko ein, das Sie eingingen, als Sie hier in Makimi die Meteoriteneinschlüsse belebten.“ „Da muß ich Ihnen widersprechen, Herr Professor“, mischte sich Jusgor ein. „Als wir an den organischen Siliziumeinschlüssen des Meteoritensplitters arbeiteten, konnten wir, wenn wir Erfolg hatten, nur Plasma erhalten, sonst nichts. Dank dem Studium der altpautooanischen Handschriften kannten wir ungefähr die Eigenschaften und die Verhaltensweise dieser Form des Siliziumlebens. Die Hauptsache aber, wir wußten, daß bereits im Altertum, wenn auch nur ganz zufällig, ein Verfahren zu ihrer Bändigung, ein Mittel zur Bekämpfung ihrer unglaublichen Aktivität gefunden worden war. Ich meine das Tuarokeharz.“ „Trotzdem sind Sie ein Risiko eingegangen“, entgegnete Asquith. „Das Tuarokeharz konnte sich ja als nicht genügend wirkungsvoll erweisen. Und Sie haben recht daran getan! Soviel ich weiß, wollten auch Sie die Keime aus Professor Wudrums Versteck bergen, nicht wahr? Sagen Sie ehrlich, wenn Ihnen das gelungen wäre, hätten Sie dann Belebungsversuche damit angestellt oder nicht?“ 337
„Gewiß, Herr Kollege“, erwiderte Professor Mursarow, „unsere Bemühungen gingen auch in diese Richtung. Ich muß jedoch hinzufügen, daß diese Versuche, wie überhaupt unsere gesamte Arbeit zur Erforschung des Siliziumlebens, so geplant waren und sind, daß dieses niemals, unter keinen Umständen zum Schaden der Menschheit mißbraucht werden kann.“ „Das ist eine sehr wichtige Zusicherung, Herr Kollege. Ich bezweifle nicht, daß sich die Regierung unseres Landes in einem ähnlichen Sinne äußern wird, sobald wir Gelehrten greifbare Ergebnisse in Händen haben. Allerdings halte ich die Politik nicht für etwas Verabscheuungswürdiges, wie das viele Gelehrte tun. Eine solche Haltung ist zumindest unklug. Heutzutage gibt es keine Wissenschaft außerhalb der Politik, wie auch die Politik nicht ohne die Wissenschaft auskommt. Ich gehöre nicht zu jenen Gelehrten, die nicht wissen, was sie schaffen, und deshalb vor dem, was sie geschaffen haben, erschrecken. Nein, ich bin ein nüchterner Denker und folglich ein Realpolitiker. Und ich bin mir klar darüber, daß wir mit den belebten Keimen möglicherweise eine unberechenbare, satanische Kraft auf unsere unruhige Erde loslassen. Dann wird… Selbstverständlich weiß ich nicht, was für ein Tanz losgehen wird, wie das auch die Atomphysiker nicht 338
wußten, die zum erstenmal eine Kettenreaktion auslösten. Und dennoch, trotz der Befürchtung, diese Reaktion könne sich über den ganzen Planeten ausbreiten, haben sie auf den Knopf gedrückt. Sie konnten einfach nicht anders. So wird es auch mit den Keimen des Siliziumlebens sein. Wenn überhaupt noch ein Funke von Leben in ihnen ist, dann werden die Menschen diesen Funken früher oder später entzünden. Unweigerlich! So ist der Mensch nun einmal, meine Herren. Und das ist gut so. Es wird einen Kampf geben. Vielleicht werden die irdischen Kräfte mit den kosmischen zusammenprallen. Es kann aber auch sein, daß die Erdbewohner, die es versäumt haben, sich in die Besucher aus dem Weltall zu teilen, nachträglich in Gastfreundschaft wetteifern werden. Alles ist möglich. So ist das Leben.“ Nach der herausfordernden Rede Asquiths trat eine längere Pause ein. Mir war klar, daß der Streit zwischen Asquith und Mursarow nicht geschlichtet werden konnte, weil die beiden extrem entgegengesetzte Ansichten vertraten. Deshalb benutzte ich das Schweigen, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. „Ich meine, man sollte die Begegnung mit dem fremdartigen Leben nicht in allzu schwarzen Farben malen. Und wenn sie 339
nun der Menschheit Nutzen bringt? Wer weiß, ob der Versuch dieses ersten Kontakts mit den Sendboten ferner Welten nicht zu segensreichen Ergebnissen führt, die dazu beitragen, diese Welten besser zu erkennen, als wir es heute vermögen. Müssen wir jetzt unbedingt von Kampf, und nur von Kampf, sprechen? Warum betrachten wir das Siliziumleben von vornherein als etwas uns Feindseliges? Natürlich ist es uns kohlenstoffhaltigen Lebewesen seiner Natur nach fremd. Aber dennoch sollten wir das Problem weiter fassen, es unter den verschiedensten Aspekten sehen und nicht nur zum Kampf, sondern auch zu Kontakten bereit sein. Die Hauptsache ist jetzt, daß die ganze Menschheit sich darauf einstellt, die außergewöhnliche Lage, die ziemlich bald eintreten kann, vernünftig zu beurteilen. Das aber bedeutet, und ich halte das für unabdingbar, daß alle Wissenschaftler, auf welcher politischen Plattform sie auch stehen und zu welcher Weltanschauung sie sich auch bekennen mögen, ihre Bemühungen vereinen.“ „Das ist richtig“, stimmte mir Asquith zu. „Das Hauptziel meiner Reise nach Makimi ist ja gerade die Herstellung eines schöpferischen Kontakts zwischen unseren Gruppen. Wir plagen uns doch mit ein und 340
derselben Aufgabe ab! Lassen Sie uns also gemeinsam arbeiten.“ Mursarow beugte sich zu mir herüber und sagte leise auf russisch: „Er lügt, er lügt das Blaue vom Himmel herunter. Ihm geht es nur um das Plasma, um weiter nichts. Die Keime aber, die wird er mit keiner Silbe erwähnen. Sie werden sehen!“ Dr. Jamsch rutschte unruhig hin und her, daß sein Sessel knarrte. Er war offensichtlich peinlich berührt von unserem undiplomatischen Geflüster und beeilte sich, den schlechten Eindruck zu verwischen. „Ich bin sehr froh, Herr Professor, daß Sie mit so guten Vorsätzen hierhergekommen sind. Was mich betrifft, so will ich Ihrem Wunsch, sachliche Kontakte aufzunehmen und eine beiderseitige Zusammenarbeit in die Wege zu leiten, gern entsprechen. Beispielsweise glaube ich, daß Sie Ihre außerordentlich interessanten Untersuchungen des fliederfarbenen Kristalls fortsetzen und vertiefen sollten. Wahrscheinlich wäre es zweckmäßig, zu diesen Forschungsarbeiten eine Reihe anderer wissenschaftlicher Institutionen, vor allem natürlich das Institut für kosmische Chemie, heranzuziehen. In der Sowjetunion – das ist allgemein bekannt – hat die Erforschung und Erschließung des Weltalls enorm große Fortschritte gemacht. Halten Sie es daher nicht für das beste, Herr Pro341
fessor Asquith, einen der beiden fliederfarbenen Kristalle, die Sie aus Pautoo weggebracht haben, anderen Organisationen für weitere Untersuchungen zu überlassen?“ „Ihre Gedanken, Herr Dr. Jamsch, sind zweifellos richtig. Das Phänomen muß unbedingt gründlich studiert werden. Gerade damit beschäftigt sich nach wie vor das Institut Chansnepps. Aber die Untersuchung abzubrechen, damit sie anderswo fortgesetzt werden kann, und den fliederfarbenen Kristall wegzugeben, das scheint mir doch recht unzweckmäßig zu sein.“ „Aber Sie haben doch zwei Kristalle.“ „Nein, Herr Doktor, wir haben nur einen Kristall. Zwei hat es nie gegeben.“ „Merkwürdig! In Wudrums Aufzeichnungen, die wir fast auswendig kennen, ist unmißverständlich von zwei Kristallen die Rede. Außerdem werden sie auch in den Tempelrollen Buatoos erwähnt. Es heißt dort, daß sie nachts strahlen wie die beiden Augen einer Gottheit.“ „Mir ist das gleichfalls bekannt. Dennoch kann ich Ihnen versichern, daß sich nur ein Kristall in unserm Besitz befindet, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich beim Besuch der Tempelruine nur einen Kristall vorgefunden habe.“ „Wir wären Ihnen sehr dankbar, Herr Professor, wenn Sie uns den Inhalt des goldenen Schiffchens, das einstmals un342
serm berühmten Landsmann Preoito gehört hat, zeigen würden. Keiner von uns hat jemals Siliziumkeime gesehen. Wir kennen sie nur auf Grund der Beschreibungen und Fotografien von Professor Wudrum.“ Asquith zog die Schatulle zu sich heran, nahm das goldene Schiffchen heraus und öffnete es, indem er auf einen unsichtbaren Knopf drückte. Alle beugten sich neugierig vor. Doch das Schiffchen war leer. „Ich konnte es nicht verantworten, meine Herren, eine so kostbare Reliquie zu gefährden, und ließ daher den Keim im Laboratorium von Tarkor zurück.“ „Noch eine Frage“, fuhr der Rektor, jetzt schon recht trockenen Tones, fort. „Halten Sie es nicht für angebracht, zwecks besserer gegenseitiger Information Mitarbeiter auszutauschen? Wir sind bereit, einen Ihrer Mitarbeiter in das von Jusgor geleitete Laboratorium aufzunehmen, wenn Sie zustimmen, daß einer unserer Wissenschaftler in das von Professor Rodbar geleitete Laboratorium eintritt.“ „Diese Frage muß ich mit Herrn Chansnepp besprechen.“ „Selbstverständlich, Herr Professor, selbstverständlich. Wir werden diese Entscheidung abwarten, und wenn sie positiv 343
ausfällt, Ihren Mitarbeiter bei uns in Makimi mit offenen Armen aufnehmen.“ Mursarow und ich tauschten einen vielsagenden Blick. Natürlich war Asquith am allerwenigsten daran interessiert, Mitarbeiter von uns nach Tarkor zu lassen. Schließlich wußte er über unsere Arbeiten erheblich mehr als wir über die seinen. Je länger sich der Meinungsaustausch hinzog, um so mehr überzeugten wir uns davon, daß Asquith fest entschlossen war, uns in keinem Punkt nachzugeben, und nur stur das Ziel verfolgte, für sein Laboratorium Plasma zu bekommen. Mursarow fragte ihn geradeheraus, ob man uns einige Keime überlassen würde, und der Vertreter Chansnepps antwortete, ohne sich erst darauf zu berufen, daß er seinen Chef fragen müsse, mit einem glatten Nein. Nach dieser Weigerung grenzte die Hartnäckigkeit, mit der Asquith weiterhin darauf bestand, ihm Siliziumsubstanz zu überlassen, schon an Unverschämtheit. Aber das brachte ihn keineswegs in Verlegenheit, im Gegenteil, er machte sich offen über uns lustig. „Soviel ich weiß, hat Ihnen die Sowjetunion keine Keime zur Verfügung gestellt. Trotzdem sind dem Institut für kosmische Chemie bereits einige Gramm des Plasmas übergeben worden. Ich sehe daher keinen 344
Grund, der Sie hindern könnte, unserm Land ebenfalls Plasma zu überlassen.“ „Was soll ich Ihnen darauf sagen, Herr Asquith?“ begann Dr. Jamsch langsam. „Vor allem erlaube ich mir zu bemerken, daß wir mit den wissenschaftlichen Institutionen der Sowjetunion schon seit langem zusammenarbeiten und daß diese gemeinsame Arbeit ihre Früchte trägt. Die an der pautooanischen Universität gemachte Entdeckung ist gleichermaßen sowjetischen wie pautooanischen Gelehrten zu verdanken. Entscheidend ist jedoch etwas anderes: Jeder von uns ist zutiefst davon überzeugt, daß die Sowjetunion das Siliziumplasma, das sie von uns erhalten hat, niemals mißbrauchen wird. Was dagegen Ihr Land betrifft… Ich bin ein alter Mann und habe die Wohltaten, mit denen das sogenannte Mutterland unsere Inseln so reichlich bedachte, als wir für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpften, am eigenen Leibe zu spüren bekommen.“ „Es fällt mir schwer, Ihren Argumenten zu folgen, Herr Rektor. Für eine sachliche Frage – und die Überlassung des Siliziumplasmas ist meiner Ansicht nach eine rein sachliche Frage – sind hochtrabende Erklärungen über Wahrheit und Gerechtigkeit in der Regel sehr hinderlich. Wahrscheinlich stellt sich mir das alles ganz anders dar, denn ich bin der Meinung, es gibt so viele 345
Wahrheiten, wie es Menschen gibt, die davon überzeugt sind, daß ihre Wahrheit die einzig wahre ist.“ Seit diesem Gespräch sind über zwei Jahre vergangen. Ich weiß nicht mehr, wie es geendet hat. Ich erinnere mich nur, daß die Wortgefechte noch lange dauerten und für beide Seiten gleich negativ verliefen. Asquith traf sich danach noch ein paarmal mit Jusgor, Dr. Jamsch, Mursarow und mir. Doch das waren Rückzugsgefechte. Bis zuletzt blieb er in diesem „kalten Krieg“ unverändert hartnäckig und unnachgiebig.
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Baokars Leichnam Ein Bienenstand. Abwechselnd werden von einer leichten Brise bald starke, würzige, bald zarte, frische Blumendüfte herübergetragen. Die Bienen sammeln Nektar in die Stöcke. Ringsum ist es heiß und still. Es ist eine ganz besondere Stille, erfüllt vom Summen unzähliger Insekten. Die Stille der friedlichen Natur. Sie macht das Herz froh und schenkt ihm unvergleichliche Ruhe, wie sie Menschen, die ständig in der Stadt leben, nur selten zuteil wird. Über allem liegt diese Ruhe, jeder Grashalm, die ganze duftende, erhitzte Erde strahlt sie aus. Alles kommt einem vertraut vor, sehr heimatlich, als wäre man früher schon einmal hier gewesen. Und wirklich, blickt man nicht zum Meer hin, an dessen Strand sich hohe Palmen versonnen wiegen, so kann man sich eine Zeitlang in die südrussische Steppenheimat versetzt wähnen. Doch bis dorthin ist es weit. Tausende von Kilometern. Bis Makimi sind es nur zwanzig. Jeden Morgen fahren Sewena und ich um fünf Uhr früh aus der Stadt heraus und verbringen Tag für Tag hier am Bienenstand. In der Universität gibt es so viel Arbeit, die Meisterung des Plasmas erfordert so viel Energie und Aufmerksamkeit, daß manche meiner Kollegen schon über meine „Begeisterung für die Imkerei“ zu murren 347
beginnen, aber ich lasse mich dadurch nicht beirren. In einer kleinen Bambushütte, die mit Blättern der Fächerpalme gedeckt ist, haben wir eine Außenstelle unseres Laboratoriums eingerichtet. Die Gedanken kommen hier rasch und leicht. Mit ihren schmalen, geschickten Händen, die mich an die eines erfahrenen Chirurgen erinnern, bereitet Sewena die Proben vor, und wir machen einen Versuch nach dem andern. Während ich mit dem Rücken zu ihr über ein wackliges Bambustischchen gebeugt sitze und über den Eintragungen im Laborbuch brüte, höre ich das melodische Klirren der Probiergläser, Küvetten und Kolben. In ihrer präzisen Arbeit spürt man einen gleichmäßigen, nie abreißenden Rhythmus. Ohne mich umzudrehen, weiß ich, daß sie in diesem Moment gerade eine Probe nimmt und titriert, wobei der kleine Erlenmeyerkolben im Takt der aus der Maßröhre fallenden Tropfen leise auf der Glasplatte des Tisches klirrt, daß sie nun die Probe abstellt und sich die nächste vornimmt. Genauso hat sie vermutlich im Freiheitskampf auch den im Dschungeldickicht kaum sichtbaren Kopf eines Gegners durchs Zielfernrohr anvisiert, den Abzug durchgedrückt und die nächste Patrone in den Lauf geschoben. So hat sie beim Aufspüren des Feindes nach und nach Geduld 348
und Ausdauer erworben. Der Ruhm der Scharfschützin, die in den Reihen der Partisanen kämpfte, war weiter geflogen als ihre Kugeln. In den Revolutionsjahren hatte man sie den kleinen Waldteufel genannt, und wäre sie dem Feind in die Hände gefallen… Doch sie fiel ihm nicht in die Hände. Das Zielfernrohr ihres Gewehrs hängt bis zum heutigen Tag auf der Wandmatte über Jusgors Couch. „Alexej Nikolajewitsch, die Proben sind fertig. Fangen wir an?“ „Natürlich. Wir machen weiter, Sewena.“ Und wir setzen die Arbeit fort. Immer wieder von neuem. Bald hoffen, bald verzagen wir. Sewena ist nicht nur zuverlässig, sie ist auch wißbegierig. Erst seit kurzem meistert sie die Technik der Laborarbeit, und schon strebt sie weiter, lernt unermüdlich, freut sich jeden Tag über das Neue, das sich jetzt so mannigfaltig vor ihr auftut, und nimmt, was für mich sehr wichtig ist, lebhaften Anteil an meinem Vorhaben und meinen Bemühungen, einen Duftgenerator zu erfinden. „Wird es was?“ fragt sie hoffnungsvoll. „Wie denken Sie darüber?“ „Klar wird es was!“ Zurückhaltend, bescheiden und fleißig, ist sie bestrebt, nicht nur ihre Arbeit tadellos auszuführen, sondern mir auch weiter349
zuhelfen. Dabei nimmt sie durchaus nicht alles blindgläubig hin. „Ich verstehe nicht recht, Alexander Nikolajewitsch, nach welchem Prinzip der Generator arbeiten soll. Jusgor hat mir das Protokoll der Beratung zu lesen gegeben, auf der unser Arbeitsprogramm bestätigt wurde. Aber da ist alles so kompliziert ausgedrückt. Ich weiß noch zuwenig und muß tüchtig lernen, um das im Dschungel Versäumte nachzuholen. Ich lerne ja auch, aber ich komme nicht so voran, wie ich gern möchte. Es ist schwer.“ „Lassen Sie den Mut nicht sinken. Alles kommt mit der Zeit. Nun ja, das Protokoll ist für Sie wirklich eine harte Nuß. Ich will Ihnen alles möglichst einfach erklären. Die große Schwierigkeit besteht darin, daß man wissen muß, was Geruch eigentlich ist. Die Gelehrten sind sich selbst noch nicht einig über die physikalische Beschaffenheit der Gerüche, und auch die Arbeitsweise der Riechorgane ist erst ungenügend erforscht. Die Versuche, die Gerüche mit der chemischen Struktur und den physikalischen Eigenschaften der Stoffe in Verbindung zu bringen, haben zu verschiedenen Hypothesen über die Art der Erregung bei den Geruchsempfängern geführt, aber keine einzige von ihnen hat allgemeine Anerkennung gefunden. Ich persönlich bin sehr beeindruckt von den Ar350
beiten Professor Frolows, der sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt und erstaunliche Resultate erzielt hat. Sehen Sie, Sewena, wenn Sie bei sich zu Hause, und sei es in einer lärmerfüllten Großstadt, ein wenig Honig ins offene Fenster stellen und sich auch nur einige wenige Bienen in diese Stadt verirrt haben, dann kommen sie todsicher zu Ihrem Fenster geflogen. Frage: Was zieht sie an?“ „Der Geruch natürlich.“ „Das ist der springende Punkt. Hier heißt es überlegen und entscheiden, was Geruch eigentlich ist.“ „Die durch die Luft schwirrenden Moleküle der Duftstoffe. Sie wirken auf unsere Riechorgane ein, und wir nehmen sie wahr.“ „Das ist die übliche Erklärung. Nun hat Professor Frolow aber neue Versuche angestellt. Er legte den Honig in ein Kästchen. Das Kästchen roch nicht nach Honig, darauf war sorgfältig geachtet worden. Dagegen hatte das Kästchen ein kleines Fenster, das elektromagnetische Wellen eines bestimmten Wellenbereichs durchließ. Und die Bienen flogen alle zu dem Kästchen hin, das keinen Geruch ausströmte, und drängten sich vor dem Fensterchen, um zu der Beute zu gelangen. Folglich orientierten sich die Bienen nach 351
den elektromagnetischen Wellen, die der Honig aussandte. Ist das verständlich?“ „Sogar mir“, sagte Sewena lächelnd. „Aber Sie haben wohl kein Vertrauen zu Professor Frolow, Alexej Nikolajewitsch? Warum sollten Sie sonst seine Versuche wiederholen?“ Die Frage war nicht ohne Arglist gestellt. „Natürlich habe ich Vertrauen zu Professor Frolow, aber Sie kennen doch den Grundsatz: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Übrigens geht es im Grunde genommen gar nicht um eine Kontrolle. Wir knobeln hier etwas Neues aus. Die flachen Küvetten, die bei unseren Versuchen als Fensterchen dienen, sind mit Flüssigkeit begossen. Mit denselben Flüssigkeiten, die Sie nach verschiedenen Rezepten zubereiten. Ich benutze diese Lösungen, um geeignete elektromagnetische Schwingungsfilter auszuwählen. Das ist weit einfacher, als passende Filter aus Feststoffen zu finden. Wir üben uns also in dem bereits bekannten Versuch mit dem Bienenhonig, um ihn dann mit Tuarokeharz zu wiederholen.“ „Jetzt verstehe ich“, erwiderte Sewena ernst und nachdenklich. „Sie wollen erreichen, daß man auch auf das Siliziumplasma, ein Lebewesen, das viel unruhiger und unberechenbarer ist als die Bienen, ein Lebewesen, dessen ,Stich’ tödlich ist, blitzschnell mit Wellen einwirken kann?“ 352
„Ganz recht. Wir müssen herausfinden, was für elektromagnetische Schwingungen das Tuarokeharz aussendet und wie das Plasma darauf reagiert. Und wenn es… O Sewena, dann wird alles in bester Ordnung sein! Ich gestehe, das Plasma läßt mir keine Ruhe. Bisher sind wir nur dank Raomars Geheimnis, dem Weihrauch, mit ihm fertig geworden. Dafür sind wir den Altpautooanern unendlich dankbar. Aber dürfen wir uns einzig und allein auf das Tuarokeharz verlassen? Nein, Sewena, das wäre ein zu großes Risiko. Ich komme von dem Gedanken nicht los, daß die lebende Siliziumsubstanz ungeheuren Schaden anrichten kann. Außer dem aromatischen Harz, das wir aus den unscheinbaren Sträuchern gewinnen, haben wir bisher nichts, was den Menschen Macht über diese Form des Siliziumlebens gäbe. Und wenn es nun eines Tages außer Kontrolle gerät, wenn es zu wüten und große Landstriche zu verwüsten beginnt? Womit sollen wir ihm dann entgegentreten? Mit dem altmodischen Weihrauch? Unsinn! Dazu brauchen wir mächtige Generatoren. Haben wir die Art der Ausstrahlung ermittelt, so müssen wir unverzüglich solche Generatoren bauen. Dann werden wir imstande sein, der lebenden Siliziumsubstanz, falls sie über die Stränge schlägt, das Handwerk zu legen, selbst wenn Bösewichte sie 353
sich dienstbar gemacht haben. Vielleicht wird uns eine solche Ausstrahlung sogar helfen, auch der neuen, noch unbekannten Lebensform Herr zu werden, die sich in den Keimen verbirgt.“ „Gut, setzen wir die Versuche fort!“ Und wir arbeiteten ohne Rast und Ruh, wohl wissend, wie wichtig es war, rechtzeitig zu einem Ergebnis zu kommen. Meine Idee gewann immer mehr Anhänger. Eine spezielle Gruppe von Kollegen studierte die Eigenschaften des Tuarokeharzes. Es gelang ihr, die Stoffe auszuscheiden, die eine Unterdrückung des Siliziumlebens bewirkten. Die aus dem aromatischen Opferharz gewonnene Substanz legten wir, wie früher den Honig, in ein Kästchen und wählten entsprechende Filter, um die Art der von ihnen ausgesandten Schwingungen festzustellen. Obzwar wir nur mit unvollkommenen physikalischen Instrumenten arbeiteten, reagierte das Plasma, das mit dieser behelfsmäßigen Vorrichtung „bestrahlt“ wurde, doch wie erwartet und ging zugrunde. Die leicht grünliche durchsichtige, sehr bewegliche Flüssigkeit schütten wir in eine innen vergoldete Metallschale. Mit äußerster Vorsicht, unter Benutzung von Manipulatoren, halten wir zwei Astokazweige mit großen orangeroten Blüten, die Tulpen ähneln, über das Plasma. Kaum berühren 354
die Bruchstellen der Zweige seine Oberfläche, da beginnt das Plasma zu brodeln, färbt sich einen Augenblick dunkel, und schon dringt ein Teil von ihm in die Zweige ein. Die Blüten flammen plötzlich auf wie Feuerzungen. Die Pflanzen schwellen von den fremden, todbringenden Säften. Die Blätter verlieren rasch ihre Farbe, verbleichen, nehmen allmählich die mattschimmernde Tönung von Perlen an und werden dann durchscheinend wie kunstreiche Arbeiten aus edlem Opal. Behutsam tragen die Stahlhände des Manipulators einen der beiden Zweige in den anstoßenden Raum. Hier wird das Fensterchen des Kastens, in dem sich das Harz befindet, auf ihn gerichtet, und binnen wenigen Stunden versteinert der Astokazweig. Jetzt ist er nicht mehr gefährlich; man kann ihn in die Hand nehmen, ohne das verheerende Plasma fürchten zu müssen, das durch die Ausstrahlung des Tuarokeharzes abgetötet worden ist. Wie Glocken aus feinstem Porzellan klingen die hellen Tulpenblüten. Schön und etwas unheimlich ist, was unsere Sinne wahrnehmen. Unwillkürlich muß ich daran denken, daß ein Rinnsal des Siliziumplasmas einen Baumriesen anschleichen könnte und dieser sich innerhalb weniger Stunden in solches klingendes Kunstwerk verwandeln würde, das den Menschen leider zu nichts nütze ist. 355
Und der unbestrahlte Zweig? Sein Schicksal ist traurig. Wie beim ersten Zweig ist das Plasma in seine Gewebezellen eingedrungen, hat die Blätter erreicht und sich augenblicklich auf das Chlorophyll gestürzt, das es als Leckerbissen schätzt. Die Blätter haben sich von saftigem Grün zu matter Perlentönung verfärbt, die Blüten sind hell aufgeflammt, aber das alles dauert nur einen kurzen Augenblick. Ohne Bestrahlung setzt das Siliziumplasma ungehindert sein Zerstörungswerk fort, und der Zweig verwandelt sich zusehends in eine formlose, graugrüne Masse. Genau dasselbe Schicksal würde auch die Urwaldriesen ereilen, die nicht durch Tuarokeharz oder durch unseren Strahler geschützt sind! Somit haben wir jetzt ein sicheres, zwar noch schwach wirkendes, aber nie versagendes Mittel in Händen. Wir machen die Probe aufs Exempel. Auf die innen vergoldete Metallschale mit dem Plasma legen wir das Strahlenmodell – das Kästchen mit dem Harz. Das Plasma schäumt auf und wird zu einer harten, bimssteinartigen Masse. Die Siliziumsubstanz ist tot. Sie ist nicht mehr gefährlich, aber auch nutzlos. Wir wollen jedoch erreichen, daß sie den Menschen dient. So machten wir die ersten Schritte. 356
Die Hauptaufgabe bestand nun darin, einen hochleistungsfähigen Generator zu konstruieren. Heute, wo sich Tausende von Menschen mit dem Siliziumproblem beschäftigen, wundert man sich, warum sowenig darüber bekannt ist, wie das alles angefangen hat. Mir aber sind gerade die Erinnerungen an jene Tage teuer. Damals ertasteten wir erst den Weg, ein Fehlschlag folgte dem andern, und die ersten Erfolge bereiteten um so größere Freude. Wie wir an das Problem herangingen, war natürlich in vieler Hinsicht unvollkommen, aber nie ließen wir müßig die Hände sinken. Freiwillig und frohgemut beschritten wir einen bisher unbegangenen steinigen Pfad, der steil aufwärts führte, und dieses Bewußtsein trieb uns an. Ja, das war eine verdammt schwere, aber schöne Zeit. Sie war noch nicht verdüstert durch das Unheil, das von brutalen, habgierigen Leuten später heraufbeschworen wurde, von Leuten, denen jedes Gefühl abging für den hohen Wert einer selbstlosen schöpferischen Leistung, die ihre Befriedigung in sich selbst findet. Physiker und Konstrukteure arbeiteten die technischen Entwürfe für den Generator aus, nach denen dann die Werkzeichnungen angefertigt wurden. Ein Teil der Aufträge war bereits an Betriebe vergeben, die elektronische Geräte herstellten. Es 357
ging vorwärts, für unser Empfinden freilich nicht schnell genug. Tausenderlei Dinge stürmten damals auf uns ein. Jeder Tag brachte neue Entdekkungen. Die pautooanische Universität glich einer belagerten Festung. Aus vielen Ländern reisten Gelehrte nach Makimi. Das schlimmste waren jedoch die Reporter. Auf jeden Wissenschaftler, der uns besuchte, kamen ungefähr zehn Zeitungsleute. Und die machten uns das Leben sauer. Erst als Professor Mursarow, der alles andere als einen weichen Charakter hatte, zum Pressechef ernannt wurde, bekamen wir wieder Ellenbogenfreiheit für die Arbeit. Die Reporter aber liefen umher wie verirrte Schafe. Am meisten setzten uns allerdings nicht die Überfälle von außen zu, sondern die Angriffe von innen. Sie waren erfreulicherer Art, und obwohl wir alle Hände voll zu tun hatten, konnten wir manchen von ihnen nicht widerstehen. Eine Gruppe Studenten der höheren Semester, die unserm Laboratorium zugeteilt war, überredete trotz allem die Leitung, einen „Palast von märchenhafter Schönheit und Größe“ zu bauen, ähnlich denen, wie sie in der Legende von Rokomo und Lawuma beschrieben waren. Die Aussicht, nicht in Probiergläsern, sondern in riesigem Ausmaß vor aller Au358
gen dem ganzen Volk die Macht der Siliziumsubstanz und die Herrschaft des Menschen über sie zu demonstrieren, kurzum, in unseren Tagen zu wiederholen, was vormals in der Ära des Schöpfertums geleistet worden war, schmeichelte und ängstigte uns zugleich. Immerhin mußten wir bis an die Grenzen des Möglichen gehen. Wir taten das furchtlos, ja freudig, denn wir sagten uns, daß das Experiment, wenn es gelang, die ruhmreiche Vergangenheit des pautooanischen Volkes unübertrefflich illustrieren werde und sich zu einem Fest seiner Einheit und geschichtlichen Tradition gestalten könne. Die treibende Kraft bei der Verwirklichung dieses Einfalls waren die pautooanischen Studentinnen. Das Stahlgerippe, das von unserer ersten Versuchsstation übriggeblieben war, nachdem das Siliziumplasma sie „aufgefressen“ hatte, wurde von ihnen mit Zweigen verkleidet und mit Blumengirlanden umwunden. Auf Hunderten von verschiedenen Gewächsen flochten sie kunstreich und geschmackvoll Türmchen und Torbögen, Gesimse und Erker. Schlanke Baumstämme dienten als Säulen, und die Blätter von Fächerpalmen füllten die Hohlräume dazwischen aus, so daß phantastisch durchbrochene Wände entstanden, deren Muster an Spitzenklöppeleien erinnerten. Das ganze Bauwerk krönte ein hoher Bambusturm, 359
durchwirkt mit Lianen und umwoben von riesigen Blumen, die einen Durchmesser bis zu einem halben Meter erreichten. Dann begann das Fest. Es wurde zu einem erregenden und fröhlichen Volksfeiertag. An das Bauwerk „Feuer zu legen“ fiel uns gar nicht so leicht. Dr. Jamsch hatte zwar dem Drängen der Jugend nachgegeben, nun aber befürchtete er, das Plasma könne den Gehorsam verweigern und Schaden anrichten. Laut schnaufend und immer wieder die Thermosflasche mit eisgekühltem Imschëu an die Lippen setzend, umkreiste er leichtfüßig wie ein Junger den Bauplatz, gab schreiend Anweisungen, warnte und beschimpfte alle und jeden. Er tat das aber so fröhlich und gutmütig, daß alle spürten, wie begeistert er selbst von diesem poetischen Einfall war. Es begann rasch zu dunkeln. Die frisch gebackenen Baumeister legten letzte Hand an ihr Werk. Der Platz rund um das binnen wenigen Stunden errichtete Phantasiegebäude wurde rasch von störenden Pflanzen gesäubert und mit einem Seil abgesperrt, hinter dem sich Hunderte von Zuschauern lagerten: Studenten und Professoren, ausländische Gelehrte und Reporter. Scheinwerfer flammten auf und tauchten den Palast in helles Licht. 360
Endlich war alles fertig. Jusgor, Aru und ich näherten uns von drei Seiten mit gewohnter Vorsicht dem duftenden Bauwerk und steckten es „in Brand“, indem wir je ein Tiegelchen Siliziumplasma an die Grundmauern gossen. Keine zehn Minuten vergingen, da erfaßte die unsichtbare Flamme schon das ganze Gebäude. Die Farben am Fuße der Säulen und Pfeiler leuchteten heller, die durchbrochenen Wände verblaßten. Auf dem unteren Gesims flammten purpurrot Blumen auf, um für immer zu versteinern, sich in nicht minder schöne, aber unvergängliche Kelche zu verwandeln. Nach zwei Stunden hatten auch die höchsten Blumen auf der Turmspitze ihre Farbe verändert. Das ganze Gebäude wurde durchscheinend, jeder seiner Teile schwoll leicht an, durchströmt von den Säften des lebenden Siliziums, alles verschmolz zu einem einheitlichen Gesamtgebilde. Von den Scheinwerfern beleuchtet, begann das Ganze in allen Regenbogenfarben zu spielen, nicht in grellen, scharf abgesetzten Kontrasten, sondern in zarten, weich zerfließenden Pastelltönen, ähnlich einer gigantischen Muschel. Wie Perlmutter schimmerten die Säulen und Pfeiler, die Ornamente und die netzartigen dünnen Wände. Jetzt kam es auf jede Minute an. 361
Die ganze Nacht hindurch starrten alle wie gebannt auf das sich vor ihren Augen vollziehende Wunder. Die ganze Nacht hindurch zog der Tuarokerauch über den Platz; bis Tagesanbruch dauerte der Zweikampf zwischen dem Siliziumbändiger und dem Plasma, das sich in den irdischen Tropenpflanzen so ungehemmt ausgebreitet hatte. Erst gegen sechs Uhr morgens atmete Dr. Jamsch erleichtert auf. Auch Jusgor und ich beruhigten uns. Es war kein Unglück geschehen. Das Plasma war im Zaum gehalten worden, und der opalisierende stolze Palast glühte rosig in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Den Feiertag leitete ein pautooanischer Nationaltanz ein. In ihren farbenprächtigen Gewändern boten die auf dem Platz um den Palast Tanzenden ein buntes Bild. Musikkapellen fanden sich ein, und das Universitätsgelände wurde von Neugierigen überflutet. Die Nachricht von der neuen Ära der Schöpfung war im Nu durch ganz Makimi geflogen, und die Menschen strömten herbei, um das versteinerte Blumenwunder zu sehen. In endloser Prozession zogen sie vorüber und bestaunten die nach einem Jahrtausend wiedererstandene Schöpfung. Den ganzen Tag hielten die Freudenbezeigungen an. Die ganze Stadt 362
schien sich beim Siliziumpalast ein Stelldichein zu geben. Immer höher stieg die Feststimmung. Die Tänzer lösten einander ab, an die Stelle der ermüdeten Musiker traten neue. Im Palmenhain um das Zauberschloß wimmelte es von Händlern, die Süßigkeiten und kalte Getränke, Knallbonbons und Bananen, Speiseeis und Sonnenschirme feilboten. Ihre Rufe gingen unter in dem allgemeinen fröhlichen Lärm, der sich bei Anbruch der Dunkelheit, als über dem Siliziumpalast ein Feuerwerk zu prasseln begann, noch mehr steigerte. Die feurigen Raketen zischten zu den glitzernden Sternen am südlichen schwarzen Himmel empor und fielen dann als bunter Funkenregen wieder zur Erde nieder. Immer neue Raketen stiegen hoch und führten ihren Reigen um das jetzt von innen erleuchtete Bauwerk auf. Um zehn Uhr abends ertönte ein Gong. Stille trat ein. Dr. Jamsch hielt eine kurze, herzliche Rede. Das Fest war zu Ende. Nach dem Festtag der Schöpfung setzte wieder der Alltag ein. Doch es war kein gewöhnlicher Alltag. Die Romantik neuer Entdeckungen und die gehobene Stimmung, die das Bewußtsein verleiht, im Mittelpunkt spannender, vielversprechender Ereignisse zu stehen, füllten ihn aus. In 363
dieser Zeit schmiedeten wir besonders verlockende Pläne für die praktische Nutzung des Siliziumlebens. Am lebhaftesten ging es des Abends zu, wenn selbst die Unermüdlichsten ihre Laboratorien verlassen hatten und sich in der großen, kühlen Halle neben dem Arbeitszimmer des Rektors einfanden, um ihre Gedanken auszutauschen. Dieser gemütliche Raum wurde bald zu einer Art Siliziumklub. Fast alle Mitglieder unserer Gruppe gingen mehr oder weniger regelmäßig dorthin. Wieviel hitzige Streitgespräche und kühne Vorschläge, die sich meistens bald als richtig erwiesen, gab es dort! Und doch, wie weit waren wir damals von der Wahrheit entfernt! Niemand konnte sich vorstellen, wie eigenartig die Erscheinung sein würde, der die Menschheit binnen kurzem gegenüberstehen sollte. Selbst die Scharfsichtigsten unter uns dachten nur daran, wie man das Siliziumplasma zwingen könne, für die Menschen zu arbeiten, was man tun müsse, um es für rein praktische Zwecke abzurichten. Die Seele des Siliziumklubs war Dr. Jamsch. Wie immer freundlich schnaufend, kam er gewöhnlich mit einem Packen soeben eingegangener Briefe. Sie wurden laut vorgelesen, gingen von Hand zu Hand, und alle besprachen sie angeregt. Sogar 364
Mursarow riß sich von den Zeitungen los und nahm an den Disputen teil. Um diese Zeit wurde schon an vielen wissenschaftlichen Forschungsinstituten mit dem Siliziumplasma experimentiert. Vom Fest der Schöpfung tief beeindruckt, mißachteten die pautooanischen Taucher nun das uralte Verbot der Tempelpriester und verkauften ihre Schwämme unterschiedslos an Gläubige und Ungläubige. Wir durften uns jedoch nicht einzig und allein auf die Kieselschwämme verlassen, die mit so großer Mühe und in so geringen Mengen erbeutet wurden. In Nowosibirsk fand man einen Weg, das Plasma mit einer weniger anspruchsvollen Kost zu ernähren, und es bewahrte nicht nur seine Lebensfähigkeit, sondern vermehrte sich auch weiter erfolgreich. Eines Abends brachte Dr. Jamsch nur einen einzigen Brief mit, der aber ein Dutzend froher Nachrichten aufwog. Im technologischen Institut von Pensa war eine Synthese von Siliziumderivaten gelungen. Ein Tropfen Plasma in den Reaktor – und eine Ausbeute wird erzielt, von der die Chemiker früher nicht einmal zu träumen wagten. Immer neue Erfolge wurden in den Briefen gemeldet. Das Chemiekombinat von Karakum befaßte sich mit der Gewinnung 365
von Plastmasse aus Sand, die sich für Straßendecken eignete. In Polen glückte es, Gewebe zu silizieren. Es gab bereits Musterproben von hochwertigen Stoffen, die sowohl für technische Zwecke als auch für die Herstellung von außerordentlich schönen, praktisch unverwüstlichen Mänteln, Schirmen, Futteralen, Kopftüchern, Umhängen und Zelten Verwendung finden konnten. In der Tschechoslowakei wurde neuartiger Silikonkautschuk produziert, und man ging daran, „ewige“ Reifendecken für Kraftwagen, Motorräder und Fahrräder herzustellen. Die pautooanischen Ingenieure arbeiteten Entwürfe für gewaltige Dämme aus, die einzelne Inseln des Archipels miteinander verbinden sollten. Für diese Projekte interessierten sich vor allem natürlich die Holländer, und schon trafen in Makimi Anfragen aus dem Lande ein, in dem ein gut Teil des Bodens dem Meere abgerungen ist. Doch der siegreiche Vormarsch des Siliziumplasmas bereitete uns nicht nur Freude, er brachte auch ernste Sorgen. Alarmierende Gedanken und begründete Zweifel, wie das Ganze ausgehen werde, plagten uns. Immer häufiger kam die Rede auf das, was gewisse Leute „Weltplasma“ nannten. 366
„Hier, lesen Sie das“, forderte uns Mursarow eines Tages auf und zeigte auf einen Zeitungsartikel. „Die Journalisten greifen uns nicht ohne Hintergedanken an. Ich hatte recht, als ich sagte, die Neugier spiele bei vielen von ihnen nicht die entscheidende Rolle. Nachdem jetzt bewiesen ist, daß man mit der Siliziumsubstanz nicht nur die ,Wunderwerke’ der Altpautooaner wiederholen, sondern auch praktische Dinge herstellen kann, haben die Zeitungen plötzlich eine Kampagne für die ‚Internationalisierung’ des Plasmas eingeleitet.“ „O Hanan Borissowitsch, das ist eine schwierige Frage! Sind wir moralisch berechtigt, das Monopol für das Plasma zu behalten?“ „Wäre es Asquith gelungen, die Siliziumeinschlüsse zu beleben, so zerbräche er sich darüber nicht den Kopf. Er verhielte sich genauso starrsinnig, wie er es hinsichtlich der Keime tut: Ihr kriegt sie nicht, und damit basta!“ „Asquith möchte ich mir am allerwenigsten zum Vorbild nehmen“, widersprach ich Mursarow. „Man muß sich die Sache ernsthaft überlegen. Das Plasmamonopol zu behalten ist gewiß unmoralisch, aber zuzulassen, daß es sich in der ganzen Welt verbreitet, halte ich auch für falsch. Hier gibt es nur einen Ausweg…“ 367
„Wir wissen, Alexej Nikolajewitsch: Karthago muß zerstört werden!“ „Absolut richtig! Ich werde nicht müde, zu wiederholen: Wir brauchen schnellstens einen leistungsfähigen Duftgenerator. Erst wenn wir ein zuverlässiges Mittel haben, um das Plasma zu bändigen, sind wir gegen alle Zufälligkeiten gewappnet. Es gibt ihrer viele, und wir können sie nicht voraussehen. Ich bin überzeugt, das Siliziumplasma wird uns noch zeigen, was in ihm steckt, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es uns noch gehörig zu schaffen macht. Vorläufig haben wir erst eine kleine Luke in die unbekannte Welt aufgestoßen. Wir wissen noch viel zuwenig. Das Plasma kann sich umwandeln, sich umbilden, sich ganz anders verhalten als bisher. Es können Umstände eintreten, denen wir völlig unvorbereitet gegenüberstehen. Und vergessen Sie nicht, die Menschen werden bedenkenlos versuchen, das Plasma für militärische Zwecke zu verwenden, wie sie das praktisch mit allem getan haben, was von der Wissenschaft entdeckt worden ist. Glücklicherweise erfindet der Mensch zum Gas auch immer gleich die Gasmaske.“ „Sagen Sie das nicht“, entgegnete Jusgor. „Kernexplosionen haben die Menschen bereits mit größtem Erfolg ausgelöst, aber bis jetzt ist weit und breit kein Gegenmittel zu sehen, das sowohl vor der Zerstörungs368
kraft als auch vor der radioaktiven Strahlung schützt.“ Der alte Streit entbrannte mit neuer Kraft. Ein Teil der Kollegen unterstützte mein Bemühen, möglichst bald einen Duftgenerator zur Verfügung zu haben, ein anderer Teil meinte, das Plasma eigne sich überhaupt nicht für Aggressionszwecke. Aber alle fanden es höchst vernünftig, die Siliziumsubstanz, die im Nu alles Leben auslöschen konnte, nicht aus den Händen zu geben. Dr. Jamsch kam und teilte uns die letzten Neuigkeiten mit: „Das Leningrader Institut für Elektronik hat die Montage des ersten Versuchsmusters des Generators beendet.“ Und: „Zwei Bürger Westpautoos, die Plasma aus unserem Laboratorium stehlen wollten, sind verhaftet worden.“ An diesem Abend saßen wir länger als sonst im Siliziumklub beisammen. Am nächsten Tag wurde Baokars Leichnam in die Universität gebracht. Den Sicherheitsorganen Ostpautoos war Baokar wohlbekannt. Er hatte schon oft die grüne Grenze überschritten, um Rauschgift von Westpautoo einzuschmuggeln. Diesmal hatte er die umgekehrte Richtung gewählt, sein Ziel jedoch nicht erreicht. Man fand ihn unterhalb der Paßhöhe, die die Grenze bildet, auf dem steinigen Grund liegend, unerklärlicherweise etwa dreißig 369
Zentimeter in den Boden hineingepreßt. Es sah aus, als sei der Boden unter ihm weggeschaufelt worden und er so immer tiefer eingesunken. Die Leiche herauszuziehen erwies sich als schwierig. Sie war steif und knochenhart. Sogar als man den Boden rings um sie aufgrub, gelang es nicht, sie vom Untergrund loszureißen. Sie hatte auf dem Rücken einen Auswuchs, der wie eine Pfahlwurzel tief in die Erde reichte und sie darin festhielt. Man mußte den Auswuchs abhauen, um den Körper aufheben zu können. Als bei der Bergung des Toten ein Arbeiter eine unvorsichtige Bewegung machte, brach ein Bein ab. Die Bruchstelle war glasartig. Danach konnte man beurteilen, welch große Veränderungen im Organismus des Toten vor sich gegangen waren. Alle Zellgewebe hatten sich in eine neue, harte und spröde Substanz verwandelt. Kein Zweifel, Baokar war versteinert, wie im Altertum Rokomo und Lawuma versteinert waren. All dies veranlaßte die Polizei, uns sofort über den erstaunlichen Fund zu unterrichten. Dr. Jamsch setzte sich mit den zuständigen Behörden in Verbindung, und die Leiche wurde statt in die Totenkammer in unser Labor geschafft. Wir wußten nicht, was mit dem Körper weiter geschehen würde, und befürchteten, es könnte eine 370
Art Seuche ausbrechen, das Plasma (und zweifellos war Siliziumplasma der Mörder Baokars) könnte sich weiter ausbreiten und das möglicherweise unübersehbare Folgen nach sich ziehen. Doch wie war es Baokar gelungen, sich das Plasma zu verschaffen? Damit befaßten sich die Sicherheitsorgane. Wir hatten andere Sorgen. Als erstes wurde eine Kommission aus Gelehrten mehrerer Länder gebildet – warum sollten wir ihre Anwesenheit in Makimi nicht ausnutzen? – und mit der Untersuchung der Leiche begonnen, die wir zu diesem Zweck in einem gepanzerten Isolierraum unterbrachten. Die Greifer des Manipulators, mit denen dieser „Sarkophag“ ausgerüstet war, gestatteten es, die Untersuchung mit aller Vorsicht zu führen, ohne daß jemand mit der Leiche in unmittelbare Berührung kam. Die Kommission verlangte, daß alle Personen, die mit Baokars Leichnam irgendwie zu tun hatten, von Fachärzten untersucht würden. Die Nachricht von der Versteinerung eines Menschen verbreitete sich mit Blitzesschnelle. Die Reporter, besonders diejenigen, deren Zeitungen den am Siliziumplasma interessierten Konzernen gehörten, schlachteten den Vorfall weidlich aus. Sie bauschten ihn auf, prophezeiten eine ent371
setzliche Katastrophe, überboten sich in Schwarzmalerei und behaupteten in jedem ihrer Artikel, die Siliziumsubstanz sei in unrechte Hände geraten. Unterdessen nahm die Untersuchung der Leiche ihren Fortgang. Ärzte, Biologen und Mikrobiologen, Chemiker und Biochemiker – alle bemühten sich, das Phänomen aufzuklären. Vor allem stellten sie fest, daß Baokar unvergänglich geworden war. Die chemische Analyse der Proben, die verschiedenen Körperteilen entnommen wurden, ergab einen Siliziumgehalt von dreißig bis vierzig Prozent. Die Zytologen erklärten, in allen Gewebezellen sei ein grundlegender Umbau erfolgt, sie seien mit einer festen glasartigen Masse ausgefüllt. Ich kann nicht sagen, daß die Stunden, die wir bei der Leiche des Schmugglers verbrachten, zu den angenehmsten unserer Arbeit am Siliziumproblem gehörten. Wir waren uns der kolossalen Verantwortung bewußt, die auf uns lastete, und bemühten uns peinlich, nichts zu übersehen. Die Baokars Leichnam entnommenen Proben spritzten wir Versuchstieren ein. Als sie nicht verendeten, atmeten wir erleichtert auf. Die schlimmste Befürchtung, nämlich, daß eine Siliziumepidemie ausbrechen könnte, war damit gegenstandslos. Wir brauchten uns nicht mehr um die 372
Menschen zu sorgen, die mit der Leiche zu tun hatten. Trotzdem hielten die Ärzte sie natürlich weiter unter Beobachtung. Wir aber setzten die Untersuchungen fort, hatten wir doch bisher nur die ersten Schritte getan, galt es doch, noch vieles zu untersuchen und zu entscheiden. Leider blieb uns damals der Erfolg versagt. Unerwartet begann Baokars Leichnam anzuschwellen. Der Körper, der zwölf Tage lang in einem ausgezeichneten Zustand gewesen war, änderte plötzlich rasch seine Form, er blähte sich auf, und Stücke einer schwammartigen Steinmasse fielen von ihm ab, ohne daß er irgendwelche Anzeichen von Verwesung aufgewiesen hätte. Die Untersuchungen gestalteten sich immer schwieriger. Der Körper wuchs ins Riesenhafte. Er drohte den „Sarkophag“ mitsamt dem Manipulator zu sprengen und allmählich das ganze Laboratorium auszufüllen. Auf einer eiligst einberufenen Beratung beschloß die Kommission, die Leiche zu vernichten. Bis in die späte Nacht hinein plagten wir uns ab, die Beräucherung mit dem Tuarokeharz so umsichtig vorzunehmen, daß jede Gefahr ausgeschlossen war. Am nächsten Morgen warteten zwei Neuigkeiten auf uns. 373
Jusgor erhielt einen Brief von Hudshub, der immer noch bei Rodbar arbeitete. Ins Allerheiligste hatte man ihn nicht hereingenommen, sondern ihn nur mit zweitrangigen Aufgaben betraut. Dennoch behauptete er steif und fest, Asquith und Rodbar hätten sich Siliziumplasma beschafft. Ja noch mehr, mit Hilfe dieses Plasmas sei es ihnen anscheinend gelungen, die Keime zu beleben. Übrigens war sich Hudshub dessen noch nicht ganz sicher. Um sich zu vergewissern, wollte er um jeden Preis ins Geheimlaboratorium eindringen. Die zweite Neuigkeit brachte Professor Asquith persönlich mit. Ohne Voranmeldung tauchte er bei uns auf, warf mit Bonmots um sich, machte uns Komplimente, die wie Bosheiten klangen, und sagte uns Bosheiten, die wie Komplimente klangen. Schließlich erklärte er, er habe uns etwas Sensationelles mitzuteilen. Keiner von uns ging auf seine Späße ein. Alle befleißigten sich eines offiziellen Tones, und Mursarow fragte ihn geradeheraus, auf welche Weise Chansnepps Institut in den Besitz von Siliziumplasma gekommen sei. „Meine Herren, ich habe niemals ein Hehl daraus gemacht, daß wir von einer recht tüchtigen Agentur beliefert werden. Rodbar und ich nehmen ihre Dienste fleißig 374
in Anspruch, natürlich ohne uns um Einzelheiten zu kümmern. Das ist Sache einer speziellen Abteilung Chansnepps.“ „Danke für die Offenheit, Herr Professor“, parierte Jusgor lachend. „Vielleicht geben Sie der Wahrheit vollends die Ehre und sagen uns, wer so vortrefflich für Chansnepps gelobte Agentur arbeitet, da sie offenbar auch in unserer Universität vertreten ist.“ „Wissen Sie, das geht mich ganz und gar nichts an. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, daß Sie in keinem Lande, auch nicht in einem, das sich von den hergebrachten Vorurteilen völlig frei gemacht hat, eine Institution mit dem Aushängeschild ‚Ankauf von Diebesgut’ finden werden.“ Jusgor überhörte die Witzelei geflissentlich und sprach in einem Ton weiter, der immer trockener und strenger wurde: „Sie leugnen also nicht, Herr Professor, daß Sie Siliziumplasma benutzen, daß Sie es schon vermehrt haben und daß Sie, nehme ich an, einen stattlichen Vorrat davon besitzen?“ „Nein, das leugne ich nicht“, erwiderte Asquith mit einem scheinheiligen Seufzer und wiederholte: „Das leugne ich nicht. Selbst die Götter können Geschehenes nicht ungeschehen machen, wie ein altes griechisches Sprichwort sagt. Das Leben 375
geht seinen Gang, Herr Jusgor. Die Industrie verlangt nach immer neuen Werkstoffen. In Chansnepps Institut wird erfolgreich eine Technologie ausgearbeitet, bei der das Siliziumplasma die Hauptrolle spielt. Es dauert nicht mehr lange, dann wird der Chansnepp-Kautschuk-Konzern Erzeugnisse auf den Markt werfen, die unter Teilnahme der Siliziumsendboten aus dem Weltall hergestellt sind. Das wird ein Schlager, meine Herren! Was für eine Reklame: Die kosmische Kraft im Dienste der weltbekannten Kautschukfirma!“ „Nicht schlecht! Das wird vermutlich Chansnepps Position stärken, und Cart kann den Bankrott anmelden“, meinte Mursarow. „Durchaus möglich, Herr Kollege, aber mich regt das nicht weiter auf.“ „Gewiß, Sie und Rodbar werden sich darüber nicht aufregen, dafür aber Tausende von Menschen, die ihre Arbeitsplätze verlieren.“ „Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Das bringt der Fortschritt nun einmal mit sich, den die Unternehmer durch ihre Initiative im Konkurrenzkampf vorantreiben.“ „Die Einwohner Ihres Landes müssen für diese Initiative einen hohen Preis bezahlen.“ „Darüber kann ich nicht urteilen, Herr Kollege.“ 376
Der Wortwechsel nahm an Schärfe zu. Mursarow ging zum Angriff über. Asquith setzte sich heftig zur Wehr und verlor ein paarmal die Selbstbeherrschung. Mursarow dagegen war die Ruhe selbst. Er brachte das Gespräch absichtlich auf Fragen der Moral, kam immer wieder auf den Diebstahl des Plasmas in Makimi zurück, variierte das Thema unter den verschiedensten Gesichtspunkten und schlug außerordentliche Maßnahmen vor, um die „Chansnepp-Agentur“ von der Arbeit am Siliziumproblem fernzuhalten. „Die Forschungen haben erst begonnen, und schon haben sie ein Todesopfer gekostet“, fuhr er fort. „Baokar hat dran glauben müssen. Ein heruntergekommenes Subjekt, ein Verbrecher, gewiß. Aber dieser Baokar ist nicht von Geburt an so gewesen. Zum Verbrecher wurde er in Westpautoo, im Land der ‚freien Initiative’, und sterben mußte er, weil er sich mit Chansnepps Spionageagentur eingelassen hatte. Wer kann sich verbürgen, daß dieses erste Opfer das letzte ist?“ „Ihre Angriffe auf Chansnepps Agentur sind in diesem Falle unberechtigt. Cart verfügt über ein nicht weniger gut funktionierendes Spionagesystem.“ „Daran zweifle ich nicht. Nun, und für wen Baokar gearbeitet hat, werden Sie besser wissen.“ 377
„Lassen wir das, meine Herren. Auch Ihr Heiligenschein ist nicht unbefleckt. Sie behaupten beispielsweise, daß Sie Ihre Arbeiten nicht geheimhalten und alles veröffentlichen. Aber auch Sie sind nicht frei von Sünde, denn Sie verschweigen, daß Sie mit dem fliederfarbenen Kristall experimentieren.“ „Es dürfte uns schwerfallen, über den fliederfarbenen Kristall etwas in der Presse zu veröffentlichen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil wir ihn nicht besitzen und auch niemals besessen haben.“ Asquith setzte eine ernste Miene auf. „Wenn Sie das offiziell erklären…“ „Das ist eine offizielle Erklärung.“ „Damit kompliziert sich die Angelegenheit, die mich hierherhergeführt hat, und nimmt eine recht unangenehme Wendung. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, mir ist die ganze Geschichte peinlich, und ich möchte einen Skandal vermeiden. Als ich nach Makimi flog, hoffte ich auf die beste Variante und erwartete jedenfalls, Sie würden Offenheit mit Offenheit vergelten. Ich rechnete damit, daß es Ihnen in der Zwischenzeit gelungen sein könnte, sich den zweiten Kristall zu verschaffen.“ „Sie wissen doch, Professor, daß wir im Oberen Tempel gesucht, aber nichts gefunden haben.“ 378
„Stimmt, aber vielleicht ist es Ihnen anderswo geglückt, des Kristalls habhaft zu werden.“ „Nein, wir haben diesbezüglich nichts unternommen.“ „Merkwürdig, sehr merkwürdig! Wie erklären Sie sich dann, daß sich ein fliederfarbener Kristall in Ihrer Universität befindet?“ Asquiths Hartnäckigkeit erboste Jusgor. Sich mühsam beherrschend, wiederholte er noch einmal, daß die Universität niemals einen fliederfarbenen Kristall besessen habe. Wir wollten das Gespräch an diesem Punkt abbrechen. Doch da teilte uns Asquith mit, der fliederfarbene Kristall sei aus Tarkor verschwunden. „Erinnern Sie sich, meine Herren, in meiner letzten Information machte ich Sie mit Arbeiten bekannt, die den Kristall betrafen. Es gelang uns, sein Kraftfeld zuverlässig abzuschirmen, und das goldene Schiffchen zeigte dann nicht mehr auf ihn. Wir setzten die Versuche fort, überzeugt davon, daß dem Kristall eine enorme Bedeutung für die Lösung des Siliziumrätsels zukommt. Und nun ist er spurlos verschwunden.“ „Wieso verschwunden?“ fragte Mursarow. „Wir wissen bis heute nicht, wie das gekommen ist. Vor drei Wochen haben Pro379
fessor Rodbar und ich noch mit dem Kristall experimentiert. Zu dem Laboratorium, in dem die Versuche angestellt wurden, hatten nur wenige Personen Zutritt, die unser volles Vertrauen besaßen. Und trotzdem… Das Verschwinden des Kristalls war ein Rätsel. Keiner von uns konnte verstehen, wohin er sich verflüchtigt hatte. Selbstverständlich unternahmen wir alles, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, aber wir tappten im dunkeln, bis uns die Idee kam…“ „Das goldene Schiffchen zu befragen“, platzte Jusgor heraus. Asquith lächelte. „Genau!“ „Und es zeigte…“ „Auf die pautooanischen Inseln.“ Wir begriffen immer noch nicht, worauf Asquith hinauswollte. Was er sagte, fesselte uns zunächst nur, weil es sich wie eine Kriminalgeschichte anhörte. „Interessant! Haben Sie das in Ihrem Land festgestellt?“ „Ja.“ „Meinen Sie nicht, die Ortsbestimmung könnte ungenau gewesen sein, wenn man die ungeheure Entfernung zwischen Europa und dem Archipel berücksichtigt?“ „Ganz ausgeschlossen, Herr Kurbatow, und zwar aus folgendem Grund. Da wir über eine ganze Anzahl von Keimen verfü380
gen, beschlossen Professor Rodbar und ich, noch zwei Vorrichtungen zu bauen, die sich in nichts von dem goldenen Schiffchen der Altpautooaner unterscheiden. Wir ließen nur die verschnörkelten Ornamente weg, mit denen die Priester seinerzeit diesen Wunderkompaß verziert hatten, und wählten für die Geräte eine moderne Industrieform. Hier sind Fotos davon. Diese Instrumente brachten wir an verschiedene Orte, die genügend weit voneinander entfernt waren, um jeden Irrtum auszuschließen, und Fachleute rechneten uns haarscharf aus, daß die durch die Längsachsen der Keime gezogenen Linien sich auf Pautoo kreuzten. Daraufhin flog ich nach Poga. Dort rüsteten wir eine Expedition hierher, auf diese Inseln, aus.“ Asquith entfaltete eine Landkarte und fuhr fort: „Das goldene Schiffchen befand sich in Poga, das eine der von uns angefertigten Geräte auf der Insel Biu und das andere auf Kap Teriges, am Südende von Seunor. Alle drei ,Kompasse’ zeigten auf Makimi.“ „Zeigten?“ „Sie tun es auch jetzt noch. Ich erhalte regelmäßig Berichte von meinen Beobachtern. Es ist mir gelungen, den fliederfarbenen Kristall anzupeilen, und ich kann ihn jetzt mit Hilfe der Geräte überallhin verfolgen. Ist das beweiskräftig, meine Herren?“ 381
„Vor wenigen Minuten, Herr Kollege, haben Sie behauptet, der Kristall befinde sich in der Universität“, präzisierte Mursarow, „jetzt dagegen sprechen Sie von Makimi. Bekanntlich ist Makimi eine große Stadt.“ „Das ist der springende Punkt“, hakte Asquith ein. „Darauf wollte ich hinaus. Wenn Sie nach wie vor behaupten, den fliederfarbenen Kristall nicht zu besitzen, dann können Sie doch nichts dagegen haben, daß wir gemeinsam feststellen, wo er sich befindet. Daran müßten meiner Meinung nach alle Forscher interessiert sein, die am Siliziumproblem arbeiten. Meine Herren, ich bin jederzeit bereit, alle drei Peilgeräte nach Makimi bringen zu lassen und sofort mit der Erkundung zu beginnen. Und ich bin überzeugt, wir werden den Kristall finden, vorausgesetzt, daß Sie nicht eine Glocke aus reinem Silizium darüberstülpen.“ Das war eine schamlose Unterstellung, aber wir mußten auch diese Pille schlukken. Unsere Lage war scheußlich. Asquith nicht zu glauben bestand keine Veranlassung. Anscheinend war er tatsächlich bereit, uns seine Geräte vorzuführen. Andrerseits wollte es uns nicht in den Kopf, daß sich der fliederfarbene Kristall in Makimi befinden sollte. Am meisten fürchteten wir jetzt, seine Schiffchen könnten versagen. In diesem Falle stand die Ehre 382
der Universität auf dem Spiel. Asquith würde sich nicht scheuen, den Diebstahl des Kristalls auszuposaunen, und dann… Nicht auszudenken! Natürlich konnten wir Asquiths Vorschlag ignorieren, aber offen gestanden reizte uns die Aussicht, den Kristall zu finden, wenn er nun schon einmal in Makimi war. Wir nahmen also Asquiths Herausforderung an und traten in Verhandlungen darüber ein, wie das Experiment durchzuführen und die Aufenthaltsgenehmigung für Asquiths Beobachtergruppe einzuholen sei. Dr. Jamsch erledigte ziemlich rasch alle notwendigen Formalitäten bei den Behörden, und wir gingen daran, Asquiths Feststellungen zu überprüfen. Alle drei Geräte wurden nach Makimi gebracht, auf verschiedene Stellen am Stadtrand verteilt, und die Vermessungen begannen. Jede der drei Gruppen setzte sich aus Leuten Asquiths, Mitarbeitern unseres Laboratoriums und unparteiischen Gelehrten anderer Länder zusammen. In gegenseitigem Einvernehmen wurde die Presse zunächst nicht zugelassen. Die von erfahrenen Landmessern vorgenommenen Berechnungen ergaben einwandfrei, daß die Geräte haargenau auf die pautooanische Universität zeigten. Sobald wir uns von der Richtigkeit der Messungen überzeugt hatten, schlugen wir von 383
uns aus vor, die Geräte auf das Universitätsgelände zu bringen. Noch am selben Tag wurden die Beobachtungspunkte gewechselt und neue Messungen angestellt. Gegen Abend stand fest, daß die Geräte übereinstimmend auf unser Laboratorium zeigten. Zum zweitenmal versammelten wir uns in der Halle unseres Siliziumklubs zu einem Gespräch mit Asquith am runden Tisch. Die Beratung ähnelte diplomatischen Verhandlungen darüber, wie man eine „Kontrolle ohne Spionage“ organisieren könne. Als unnachgiebigster Unterhändler trat, wie zu erwarten, wieder Professor Mursarow auf. Die Besprechung zog sich in die Länge, die Verhandlungen waren ermüdend, und die Nervosität aller Teilnehmer stieg. Wir wußten, daß sich der fliederfarbene Kristall weder früher noch jetzt in der Universität befand. Deshalb wollte keiner von uns auf Asquiths Vorschläge eingehen, die wir für demütigend hielten. Asquith aber gab uns spöttisch zu verstehen, daß er nun auch uns bei einer unredlichen Handlungsweise ertappt habe. Das brachte uns noch mehr auf. Sogar Dr. Jamsch, dessen ruhige Zurückhaltung und ausnehmende Höflichkeit sprichwörtlich waren und der sonst immer einen Ausweg aus schwierigen Situationen fand, fiel diesmal nichts ein, was die Lage geklärt 384
und zugleich erlaubt hätte, die Würde der Universität, die ihm so sehr am Herzen lag, zu wahren. Allen hing dieses unerquickliche Hin und Her zum Halse heraus, doch wir konnten die Entscheidung nicht bis zum nächsten Tag verschieben, wenn wir uns nicht einem äußerst peinlichen Verdacht aussetzen wollten. Die große Uhr in der Halle schlug elf. Da traf von den Beobachtungsposten an Asquiths Peilgeräten die Mitteilung ein, daß die Zeiger plötzlich in anderen Richtungen als bisher ausschlügen. Wir unterbrachen die Beratung, neue Beobachtungen und Berechnungen wurden angestellt. Die Peilgeräte zeigten nicht mehr auf unser Laboratorium. „Alles klar, meine Herren!“ Asquith lächelte nicht mehr, in seinen dunklen Schlitzaugen tanzten schadenfrohe Fünkchen. „Es scheint, Sie haben Ihr Ziel erreicht. Während wir hier berieten, hat einer Ihrer Mitarbeiter den Kristall aus dem Labor weggeschafft.“ „Herr Professor!“ Dr. Jamsch stand abrupt auf, und wir erkannten unseren sonst so gutmütigen Rektor nicht wieder. „Ihre Erklärung betrachte ich als eine Beleidigung. Alle Mitarbeiter des Laboratoriums sind hier anwesend, mit Ausnahme von Sewena und Aru, die heute mit Arbei385
ten im technologischen Institut von Makimi beschäftigt sind.“ „Entschuldigen Sie, Herr Rektor“, erwiderte Asquith gelassen und stand ebenfalls auf. „Es lag mir völlig fern, jemand kränken oder gar beleidigen zu wollen. Ich habe lediglich eine Tatsache festgestellt. Urteilen Sie bitte selbst! Die Geräte peilen nicht mehr das Labor an, wie das noch vor einer Stunde der Fall war. Und zwar alle drei. Das bedeutet, daß sich unser Beobachtungsobjekt, nämlich der fliederfarbene Kristall, ziemlich schnell vom Labor entfernt. Kann vielleicht einer der hier Anwesenden eine andere Erklärung für diese Erscheinung geben?“ Keiner von uns war dazu imstande. Zerschlagen nach dieser unruhigen Nacht, versammelten wir uns am Morgen aufs neue, diesmal im Arbeitszimmer des Rektors. Inzwischen waren neue Messungen vorgenommen und neue Berechnungen angestellt worden. Alle drei Peilgeräte zeigten nun in die Richtung Australiens. Die Beratung zog sich wie am Abend zuvor zähflüssig und ergebnislos hin, bis Mursarow, der Findigste von uns allen, den Vorschlag machte, sich zu erkundigen, welche Flugzeuge am Abend nach Australien gestartet waren. Das war ein Ausweg aus der Sackgasse, und alle atmeten erleichtert auf. Rasch zogen wir Erkundigun386
gen ein. Am Abend zuvor war um 22.35 Uhr eine große Linienmaschine, die die Strecke Makimi-Melbourne beflog, planmäßig gestartet. An Bord hatten sich sechsunddreißig Passagiere befunden. Dr. Jamsch rief den Flughafen noch einmal an, um sich die Namen der Passagierliste durchgeben zu lassen. Da kam sein Sekretär herein und überreichte ihm einen Zettel. Der Rektor las die Notiz, legte den Hörer auf und wandte sich an die Anwesenden: „Soeben ist uns mitgeteilt worden, daß die Polizei gegen den Laboranten Aru, der in Jusgors Laboratorium arbeitete, einen Haftbefehl erlassen hat. Er wird beschuldigt, mit dem Schmuggler Baokar in Verbindung gestanden und aus der Universität Siliziumplasma gestohlen zu haben.“ Wir sahen alle, wie Asquith erbleichte. Natürlich schlug diese Nachricht auch bei uns wie eine Bombe ein. Wir hatten Aru vertraut, von Anfang an mit ihm zusammen gearbeitet, und nun… Aru befand sich unter den Passagieren, die am Abend zuvor von Makimi nach Australien abgeflogen waren. Asquiths Peilgeräte funktionierten offenbar wirklich hervorragend, sonst hätten sie nicht so rasch und so genau in die Richtung Australiens gezeigt. Unverständlich blieb, wie Aru, der Pautoo niemals verlassen hatte, in den Be387
sitz des aus Tarkor verschwundenen fliederfarbenen Kristalls gekommen war. Übrigens war das, wie ich später erfuhr, für Asquith kein Rätsel. Sobald der offizielle Teil der Zusammenkunft mit Professor Asquith, der so erfolglos versucht hatte, uns einer unredlichen Handlungsweise zu überführen, beendet war, trat Mursarow auf ihn zu und fragte ihn ohne jeden Vorwurf, eher mit einem gewissen Mitgefühl: „Sind Sie betrübt, Herr Kollege?“ „Worüber?“ „Über den Verlust eines erstklassigen Spions.“ „Gestatten Sie, daß ich darauf nicht antworte.“ „Aber selbstverständlich! Mir ist auch so alles klar. Aru hat nicht nur uns gegenüber niederträchtig gehandelt, sondern auch Sie gehörig hinters Licht geführt. Trösten Sie sich, Herr Kollege, das ist ganz folgerichtig. Chansnepps Agentur kann eben nicht vollkommen sein, denn sie wirbt Leute, die vom Verrat leben. Nur schade, daß wir diesem Burschen nicht rechtzeitig hinter seine Schliche gekommen sind!“ „Ich werde ihn finden, wo er sich auch verstecken mag.“ Asquith sagte das ruhig, mit einem bösen Unterton in der Stimme. Es klang wie ein Todesurteil. 388
Mursarow freute sich wie ein Kind über das gewonnene Scharmützel. Auch unsere Mienen heiterten sich auf, allerdings nicht für lange. An diesem Tag traten Ereignisse ein, über denen wir Aru und Asquiths Vorschlag, den Räuber des fliederfarbenen Kristalls in Australien anzupeilen, rasch vergaßen. Auch Asquith selbst mußte seine Absichten einstweilen zurückstellen. Eine Katastrophe kündigte sich an, zu deren Bekämpfung man alle Kräfte brauchte. Um der drohenden Gefahr zu begegnen, entschlossen wir uns, sogar mit unseren Widersachern in Westpautoo und dessen Mutterland zusammen zu arbeiten. Dem riesigen, blühenden Archipel drohte der Untergang. Der Matuan, dessen Quellflüsse den Bergen Ostpautoos entspringen, bewässert ein großes, fruchtbares Tal mit unzähligen Reisfeldern. Er ist der Nil Westpautoos. Und das Wasser dieses lebenspendenden Stromes, der Millionen Menschen ernährt, begann auszubleiben. Es war ein doppeltes Unglück: Das Wasser, das keinen Abfluß mehr nach Westpautoo fand, strömte nun nach Ostpautoo und überschwemmte dort Felder und Dörfer. Auf dem Gebirgspaß, wo Baokars Leichnam gefunden worden war, begann das Siliziumplasma mit der Invasion des Landes. Schwer zu sagen, was damals mit 389
dem Schmuggler geschehen war, doch die Tatsache stand fest: Von dieser Stelle aus bahnte sich das Siliziumplasma seinen Weg, auf dem es alles Leben vernichtete, stellenweise versteinerte und die Wasserläufe verstopfte, das Land seiner Ernte beraubte und Viehherden wie Wohnstätten unter sich begrub.
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Der Duftgenerator Ein Morgen auf den Leningrader KirowInseln. Leichter Frost, rosiger Reif an den Bäumen und blauviolette Schatten hinter den Schneewehen. Bis zum Institut für Elektronik war es noch weit, doch ich ließ den Wagen zurück und ging zu Fuß. Die Zeit drängte, jede Minute war kostbar; trotzdem entschloß ich mich, zu Fuß zu gehen. Ich wollte die kalte Luft mit voller Brust einatmen und die unvergleichliche Schönheit der Landschaft, das von leichtem Morgennebel überzogene Bild der Allee, der altmodischen Datschen, der palastähnlichen Sanatorien und der über Flüßchen und Kanäle gespannten Brücken ganz in mich aufnehmen. Nicht mehr als drei Tage standen mir zur Verfügung. Für alles – für das Wiedersehen mit der Familie, die Spaziergänge durch Leningrad und die Abnahme des Generators im Institut. An diesem Morgen konnte ich nicht mit der Zeit geizen und ging zu Fuß, in trübe und frohe Gedanken versunken. Am Horizont tauchte die Sonne auf, und in den Kronen der Bäume, die das Ufer der Krestowka, eines schmalen Flüßchens, säumten, glitzerten Schneekristalle. Der graublaue Dunst, der über der JelaginInsel lag, löste sich auf. Schon stieg die Sonne über dem Jachtklub empor. Riesen391
groß, purpurrot und dabei lammfromm. War das wirklich dieselbe Sonne, die so erbarmungslos über Pautoo brannte? Es war kaum zu glauben, gerade jetzt, wo doch dort… Vergessen waren die funkelnden Spitzenmuster der vom Frost verzauberten Bäume an der Krestowka, ich dachte nur noch an den bei den Quellflüssen des Matuan wütenden Schaum. Im Geiste sah ich die versteinerten Baumriesen der Tropen, den vom Siliziumplasma abgetöteten Dschungel, und ich sprang auf den nächstbesten Autobus. Bereits in der Halle des Instituts, die groß und warm war (hier spürte ich erst, wie ich vor Kälte zitterte), wurde ich mit einer erfreulichen und einer beklemmenden Nachricht empfangen: Der Generator war fertig zur Abnahme durch die Staatliche Kommission. Auf dem ganzen pautooanischen Archipel war der Ausnahmezustand erklärt worden. Die drei Tage in Leningrad vergingen wie im Flug. Von Pautoo trafen unaufhörlich alarmierende Telegramme ein. Keiner, der mit dem Generator zu tun hatte, gönnte sich Ruhe. Wir aßen zwischendurch im Gehen, schliefen irgendwo ein bis zwei Stunden und verbrachten die ganze übrige Zeit am Prüfstand. Die letzte Feineinstellung, das Übergabeprotokoll mit den Prüfungsergebnissen. Neuerliche Erprobung des 392
Aggregats und schließlich der allerletzte, der entscheidende Versuch mit dem Plasma. Die Stämme, Äste und Wurzelstöcke der Fichten, die auf den Eisenplatten der Bühne vor dem Prüfstand aufgehäuft wurden, schmeckten dem in Freiheit gesetzten Plasma nicht weniger gut als die Kokosund Rotangpalmen auf Pautoo. Gierig fiel die Schaummasse über die ihr zum Opfer gebrachten Holzberge her. Doch dann schalteten wir den Generator ein, der etwa vierzig Meter entfernt stand, und der Angriff kam zum Stehen. Die Masse verhärtete sich und wurde leblos. Der tragbare, formschöne und leistungsfähige Generator vernichtete das auf uns zukriechende Ungeheuer mit seinen unsichtbaren Strahlen unerschrocken und zuverlässig. Die in der Nähe liegenden frisch gefällten Baumstämme blieben unbeschädigt, ihre Zweige blaugrün und mit Schnee gepudert wie zuvor. Dieser Erfolg erfüllte uns mit größter Genugtuung. Meine Unruhe freilich ließ keinen Augenblick nach. Zu unerfreulich waren die Nachrichten aus Pautoo. Am nächsten Morgen nahm ich Abschied von Leningrad. Gegen Mittag war der Generator in ein Sonderflugzeug verladen, 393
und zusammen mit dem Chefingenieur des Instituts flog ich nach Makimi. Blättere ich heute die abgegriffenen Notizbücher aus jenen Kampftagen durch, so wundere ich mich, wie es uns gelang, mit allem fertig zu werden, was damals so überraschend über uns hereingebrochen war. Von Leningrad flog ich am 18. Februar ab, und schon am 22. gingen wir an der wichtigsten Katastrophenstelle, beim Wasserfall Niktëu, zum Gegenangriff über. Die Lage in Makimi erinnerte an die heißesten Kriegstage. Die Regierung tagte fast ununterbrochen. Ein Komitee zur Bekämpfung der Siliziumgefahr war ins Leben gerufen worden. Dr. Jamsch und Jusgor forderten die gesamte Bevölkerung der Inseln mehrmals täglich durch Rundfunk und Fernsehen auf, Tuaroke zu sammeln. Die Zeitungen waren voll von Berichten über den „Vormarsch des Gegners“. Ja, das Plasma drang unaufhaltsam vor, eroberte immer neue Geländeabschnitte. Auf Pautoo wurde in dieser Zeit an allen Orten, die sich halbwegs für die Harzgewinnung eigneten, Tag und Nacht gearbeitet. Hunderttausende von Menschen trugen die Sträucher zusammen, hackten sie klein, kochten sie aus und verdickten den Saft zu Harz. Tausende von Feuern loderten rings um die lebende Siliziumsubstanz im Kanatur-Gebirge, und wo der Tuaroke394
rauch die Plasmaströme einhüllte, versteinerten sie, regten sich nicht mehr und verloren ihren Schrecken. Davon erfuhr auch die Einwohnerschaft Westpautoos, die daraufhin spontan ebenfalls Tuaroke zu sammeln begann. Das Tuarokeharz rettete bis zu einem gewissen Grade die Lage. Eine Vielzahl von Menschen nahm an der Beräucherung des Plasmas teil. Dennoch konnte der aromatische Rauch der Gefahr nicht völlig Herr werden. Ein Windhauch, eine leichte Verwehung der Rauchfahne, und schon blieb das Plasma unangetastet, fand es ein Schlupfloch, durch das es weiter vordrang und neue Abschnitte verheerte. Jedesmal, wenn Wolkenbrüche niedergingen, erloschen die Feuer sofort, und die lebende Siliziumsubstanz griff, erfrischt und aufgemuntert, besonders stürmisch und unwiderstehlich an. Alle unsere Hoffnungen setzten wir auf den Duftgenerator. In der Nacht vom 21. zum 22. Februar montierten wir ihn auf einen Hubschrauber, und im ersten Morgengrauen nahm ich zusammen mit Jusgor den Kampf auf. Wir waren beide so aufgeregt, daß wir nicht einmal das Dröhnen des Motors hörten. Unsere ganze Aufmerksamkeit galt dem höchsten Gipfel des Kanatur-Gebirges, der bereits am dunklen Himmel aufglühte. Was spielte sich dort 395
ab? Würde es uns gelingen, die Invasion aufzuhalten? Ich blickte gespannt auf den unheilschwangeren Berg, wartete ungeduldig auf den Augenblick des ersten Zusammentreffens mit dem Plasma und versuchte mir vorzustellen, was es dort schon angerichtet hatte. Im Tal unter uns sah alles friedlich aus, wie gewöhnlich. Nichts zeugte von der sich nähernden Katastrophe. Der Himmel im Osten erhellte sich rasch, und sobald der rotglühende Sonnenball emporstieg, erstrahlte alles in goldenem Glanz. Die Terrassen der Reisfelder leuchteten smaragdgrün auf, zwischen den spiegelglatten, hellblauen Teichen, die das Wasser speicherten, dunkelten verträumt die von der Axt noch unberührten tropischen Wälder. Das Land belebte sich allmählich. Von Waldlichtungen stieg Rauch auf, in den unter Kokospalmen, Bananensträuchern und Affenbrotbäumen verborgenen Dörfern zeigten sich Menschen. Auf der roten Lateritchaussee fuhren Lastkraftwagen, die Arbeiter zu Kautschukund Ananasplantagen brachten. Der Hubschrauber trug uns immer weiter landeinwärts. Die blühende, von Flüßchen und Kanälen durchschnittene Ebene blieb hinter uns, mit Lolang-Lolang bewachsene Hügel lösten einander ab, dann tauchte 396
der von Schluchten zerspaltene, undurchdringliche, dunkle Dschungel auf. Und schließlich zeichneten sich in der grellen Sonne deutlich die tiefen Risse im vulkanischen Felsmassiv des Sebarao ab. An den Fensterscheiben huschten die Schatten der über unseren Köpfen rotierenden Drehflügel vorbei. Der Hubschrauber senkte sich, wir näherten uns rasch den gewaltigen Urwaldriesen. Im ersten Augenblick starrte ich verständnislos auf sie hinunter. Ich glaubte mich plötzlich wie durch Hexerei aus den sonnenheißen Tropen in den hohen Norden versetzt. Der Dschungel war nicht wiederzuerkennen. Die von Lianen umwundenen Baumriesen, die gefiederten Blattwedel der schlanken Palmen, die baumartigen Farne und die wie Fontänen emporschießenden Bambushalme, die langbärtigen Moose und Flechten, die großen, schildförmigen Taroblätter – all dies prangte nicht mehr im üppigen Grün aller Schattierungen und Tönungen, es schien eingeschneit und frosterstarrt zu sein. Wie mit Salz oder feinstem Glimmerstaub bestreut glitzerte diese ganze perlmutterne, opalisierende Pflanzenwelt in der Sonne und spielte in allen Regenbogenfarben. Aber dieser Glanz wirkte irgendwie kalt, als befände man sich nicht nahe dem Äquator. Ein böser Zauberer hatte diese tote Schönheit hervorgebracht, 397
bei deren Anblick sich uns das Herz zusammenkrampfte. Im tiefsten Dschungel, wo die lebende Siliziumsubstanz schon seit längerer Zeit wütete, trat an die Stelle der beklemmenden Schönheit häßlich-graues Chaos. Dort waren die vom Plasma durchdrungenen und vom Tuarokerauch nicht vor seiner zerstörenden Kraft geschützten Pflanzen bereits aufgedunsen und zu formlosen Haufen nutzlosen Gesteins geworden. Wir ließen uns auf eine kleine Lichtung hinunter. Sie war noch grün, von dem alles verschlingenden Schaum unberührt. Hier atmete Leben, die Erde genoß friedlich die Sonnenwärme und strömte aromatische Düfte aus. Zehn, fünfzehn Meter vor uns lag die Hauptkampflinie. Eine geräuschlose Schlacht war dort im Gange. Millionen und aber Millionen durchsichtiger, silbersprühender Tropfen, die aus den unerforschten Weiten des Weltraums gekommen waren, griffen die saftstrotzenden Geschöpfe der irdischen Natur pausenlos an. Die Pflanzen versteinerten, bewahrten noch eine Zeitlang ihre Form, wurden leblos, glashart und spröde, schwollen dann an und verwandelten sich in eine formlose, häßlichgraue Masse. Diese poröse Steinmasse verstopfte alle Schluchten, versperrte den Quellbächen den Weg zu den Flüssen und diesen den Weg in die Täler, auf die 398
fruchtbaren Felder. Die Siliziumkolosse türmten sich immer höher auf, sie bedeckten die Felshänge der Berge, töteten alles ringsum ab und drohten das ganze blühende Land und die nächstgelegenen Inseln zu verwüsten, ja, auf dem Grunde der Ozeane und Meere auch zu den anderen Kontinenten vorzudringen. Auf dem Teil des Gebirgskamms, wo unser Hubschrauber gelandet war, griff das Siliziumplasma besonders erfolgreich an. Hier herrschten kalte Luftströmungen vor, die langsam in die Täler hinabzogen, und der Tuarokerauch erreichte die Kampffront nicht. Eine Katastrophe bahnte sich an. Als wir wieder starteten und die gastfreundliche Wiese unter uns ließen, bot sich unseren Blicken ein großartiges, aber bedrohliches Bild. Beide Hänge der riesigen Schlucht waren bereits vom Plasma erobert. Am Talausgang bildete es einen gewaltigen Damm, der die zahlreichen Gebirgsbäche zu einem See staute, dessen Spiegel stetig höher stieg. Das Wasser sikkerte bereits in kleinen Rinnsalen durch den Damm, und wir konnten uns leicht ausrechnen, was geschehen würde: Die Schlucht füllt sich bis zum Rande mit Wasser, der Damm hält dem Druck nicht mehr stand und birst auseinander, das Wasser strömt zu Tal und überflutet Dörfer und 399
Plantagen, Zuckerfabriken, Straßen und Vorratslager. An die zehn Minuten erkundeten wir die „Talsperre“ und ihre Umgebung. Dann kehrte der Hubschrauber zu seinem ersten Landungsplatz zurück. Eine halbe Stunde, höchstens vierzig Minuten waren vergangen, aber wir konnten auf der Lichtung, die uns so gut gefallen hatte, schon nicht mehr landen. Sie war vom Plasma besetzt. Unverzüglich funkten wir ans Komitee zur Bekämpfung der Siliziumgefahr in Makimi, um es von dem immer rapider fortschreitenden Angriff des Plasmas in Kenntnis zu setzen. Generatoren! Wir brauchten Generatoren. Probeweise schalteten wir den einzigen ein, den wir besaßen, und sahen, daß er den Feind erfolgreich zum Stehen brachte. Ja, das war eine wirksame Waffe! Aber was konnten wir mit einem einzigen Aggregat schon ausrichten? Systematisch bestrahlten wir, über der Hauptkampflinie schwebend, Abschnitt um Abschnitt. Das Angriffstempo des Gegners verlangsamte sich, die unsichtbaren Strahlen drückten ihn zu Boden. Das beruhigte uns indessen nur wenig. Das vom Plasma eroberte Gebiet war zu groß. Gegen zwei Uhr mittags schickte man uns noch einen Hubschrauber. Jetzt konnten wir den Kampf ohne Unterbrechung 400
führen, indem sich die beiden Hubschrauber ablösten. Abends teilten wir die Mechaniker zur Schichtarbeit ein und setzten die Bestrahlung auch die Nacht hindurch fort. Ich dachte nicht daran, die Front zu verlassen, und ruhte mich in dem rasch aufgeschlagenen Zeltlager aus. Doch am Abend des 23. Februar wurde ich nach Makimi zurückbeordert. Als „Oberbefehlshaber“ blieb Jusgor zurück. Am nächsten Morgen nahm ich an einer außerordentlichen Sitzung des Komitees zur Bekämpfung der Siliziumgefahr teil. Auf der Tagesordnung stand nur ein Punkt: der Beschluß der Regierung Westpautoos, zum Kampf gegen das Siliziumplasma Artillerie und Napalm einzusetzen. Die Sinnlosigkeit, um nicht zu sagen Unvernunft dieses Beschlusses lag für uns auf der Hand. Aber angesichts der fast feindseligen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen war eine Verständigung mit den Politikern in Poga so gut wie ausgeschlossen. In Telegrammen an die Organisation der Vereinten Nationen, bei der sich um diese Zeit bereits mit dem Siliziumproblem vertraute Berater der Sowjetunion und Ostpautoos befanden, darunter Dr. Jamsch und Professor Mursarow, machten wir zwar sofort darauf aufmerksam, daß ein derartiges Vorgehen Westpautoos zu einer Kata401
strophe führen könne, aber wir bezweifelten, ob die UNO imstande sein werde, rechtzeitig und wirksam einzugreifen. Ich schlug dem Komitee vor, die Vermittlung Professor Asquiths in Anspruch zu nehmen. Die Komiteemitglieder nahmen meinen Vorschlag keineswegs einmütig auf. Es kam zu heftigen Debatten. Die unversöhnlichsten Gegner Westpautoos wollten von einer solchen Zusammenarbeit nichts hören. Schließlich war aber doch die Mehrheit dafür, und Asquith wurde nach Makimi eingeladen. Um diese Zeit hatte ich das gemütliche Cottage der Universität schon aufgegeben und ein Zimmer im Hotel „Makimi“ bezogen. Es war weniger der Komfort, der mich dazu veranlaßte, als vielmehr die Nähe der Regierungsbehörden, die ich jetzt häufig aufsuchen mußte. Als ich erfuhr, daß Asquith angekommen sei, eilte ich sofort zu ihm, um mit ihm unter vier Augen zu sprechen, bevor er in der Komiteesitzung das Wort ergriff. Es war ein herrlicher Abend. Der Himmel war klar, der schwüle Tag ging zur Neige, und längst erwartete Kühle senkte sich auf die Stadt hernieder. Asquith und ich saßen auf der Hotelterrasse und genossen das Lichtermeer vor uns. Alles war wie früher, die farbigen Neonreklamen und das lärmende Leben der Hauptstadt, und doch 402
wieder anders. Eine unbestimmte Unruhe lag in der Luft. Das Bewußtsein, daß dort im Gebirge, kaum fünfzig Kilometer entfernt, das Siliziumplasma vorrückte, ließ keine Sorglosigkeit aufkommen. Entgegen seiner Gewohnheit lächelte Asquith fast gar nicht. Er stichelte und witzelte auch nicht. Zum erstenmal bemerkte ich eine gewisse Unsicherheit an ihm. Vielleicht war er müde, vielleicht aber bedrückten ihn auch schwere Gedanken. Sogar den eisgekühlten Imschëu, zu dem ich ihn einlud, schlürfte er ohne sichtlichen Genuß und ohne ihn wie sonst mit Rum zu mischen. „War das Ihr Einfall?“ Ich nickte stumm, denn er konnte nur die Einladung des Komitees meinen. „Wozu hatten Sie das nötig?“ „Ich oder das Komitee?“ „Sie.“ „Ich wollte sehen, ob wir wenigstens in dieser außergewöhnlichen Situation eine gemeinsame Sprache finden.“ „Interessiert Sie das?“ „Was soll ich darauf antworten? Ja und nein. Ich kann den Ausgang der morgigen Verhandlungen im Komitee voraussagen, wenn ich weiß, was für Instruktionen Sie von Herrn Chansnepp erhalten haben.“ „Sie erlauben sich ja allerhand! Aber bitte, nur weiter so! Mit mir kann man das machen. Ich liebe Leute, die kein Blatt vor 403
den Mund nehmen. Nur Heuchler kann ich nicht ausstehen.“ „Nehmen Sie Zitrone. Sonst schmeckt der Imschëu zu süßlich.“ „Danke! Ich bin heute zerstreut.“ „Unannehmlichkeiten?“ „Eher umgekehrt, gute Nachrichten.“ Ein Hoffnungsfunke glomm in mir auf, und ich fragte rasch: „Vom oberen Tal des Matuan?“ „O nein! Freuen Sie sich nicht zu früh. Dort steht es wirklich schlecht.“ „Wozu dann die ohnehin schwierige Lage noch verschlimmern? Sie müssen doch zugeben, Herr Professor, daß der Beschluß, Artillerie einzusetzen, barer Unsinn ist. Sie wissen selbst, daß die einschlagenden Granaten das Siliziumplasma weithin auseinanderschleudern werden, ohne ihm auch nur das Geringste anhaben zu können. Es wird sich nur noch intensiver ausbreiten. Das alles kann in der Tat mit einer Katastrophe enden.“ „Durchaus möglich.“ „Was wird also in Poga gespielt? Haben die Leute dort völlig den Kopf verloren? Begreifen sie nicht, wohin das führen kann?“ Die Situation ist kompliziert. Um das Siliziumproblem sind die Leidenschaften entbrannt. Gewisse Leute in Poga hätten nichts dagegen, die eingetretene Lage 404
auszunutzen und Ostpautoo aller Todsünden zu beschuldigen. „Um sich bei der Kolonialmacht lieb Kind zu machen?“ „Sie denken zu geradlinig, Herr Kollege. Die Dinge liefen nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Westpautoo verfolgt seine eigenen Ziele, der ChansneppKonzern die seinigen, und was Cart betrifft, so wartet er nur auf eine günstige Gelegenheit, Chansnepp ein Bein zu stellen. Cart weiß von unseren Arbeiten mit den Biosiliziten, und das läßt ihm keine Ruhe.“ „Und alle wollen ihre Rechnungen auf dem Rücken Pautoos begleichen. Aber hier leben doch auch Menschen! Millionen von Menschen. Herr Professor, können etwa auch Sie seelenruhig zusehen, wie sich eine Katastrophe anbahnt und möglicherweise sogar ein Krieg ausbricht?“ „Es fällt mir schwer, darauf zu antworten. Sie verlangen ja Offenheit. Nun gut, ich betrachte die Dinge nicht so gefühlsmäßig wie Sie. Das Schicksal des pautooanischen Volkes bereitet mir keine schlaflosen Nächte.“ „Haben Sie Kinder?“ „Aber natürlich!“ Asquith lächelte, der Blick seiner Augen wurde verschmitzt und fast gütig. „Zwei prachtvolle Schlingel, die 405
mir noch eine Menge Scherereien machen werden.“ Ich wußte nicht, wie ich das Gespräch fortsetzen sollte. Saß da ein Ungeheuer vor mir oder ein Mensch? Asquith füllte mein Glas, stieß mit dem seinen leicht an und fuhr milden Tones fort: „Sie idealisieren alles, mein Lieber. Die Ereignisse und die Menschen. Sie wollen, daß alle die Dinge mit Ihren Augen sehen. Das gibt es nicht. Natürlich sind wir alle Menschen, aber verschiedene Menschen. Natürlich bringt man uns in der Schule allen gleichermaßen bei, in linierten Heften schön sauber zu schreiben, aber dann wachsen wir heran, und siehe da, jeder von uns hat seine eigene Handschrift.“ „Leider hat mancher überhaupt keine.“ „Kommt auch vor. Aber wissen Sie, keine eigene Handschrift zu haben ist auch eine Art Handschrift.“ „Nein, das glaube ich nicht. Und Sie können unmöglich so denken. Entschuldigen Sie, aber mir scheint, daß Sie damit nur posieren. Sie sind doch ein kluger, energischer, nüchtern urteilender Mensch. Ein Gelehrter und Politiker, der ziemlich unabhängig ist. Ihnen droht beispielsweise keine Arbeitslosigkeit, nicht wahr? Wenn Sie sich mit Chansnepp überwerfen, brauchen Sie sich trotzdem nicht um Ihr täglich Brot zu sorgen. Was zwingt Sie also, auf 406
Ihre eigene Handschrift zu verzichten? Das Geld, der Gewinn? Das kann ich nicht glauben.“ „Damit haben Sie recht. Da Sie mich schon einmal zur Offenheit verleitet haben, will ich auch restlos offen sein. Das Siliziumproblem hat mich gepackt, und ich kann jetzt nicht mehr davon lassen. Ich bin ehrgeizig und halte das für keine Sünde. Ich möchte im Mittelpunkt der Ereignisse stehen, ich muß die Forschungen leiten, die mit den Biosiliziten zusammenhängen. Geld, Einkünfte, Profit! Das ist doch nicht Selbstzweck, verstehen Sie, sondern nur Mittel zum Zweck! Man kann nichts Großes vollbringen, keine wissenschaftliche Arbeit in großem Maßstab leisten, wenn man nicht über Mittel dazu verfügt. Wer Geld hat, der hat Verfügungsgewalt. Das ist ein Gesetz.“ „In Ihrem Land, ja. Auf Pautoo aber, davon bin ich überzeugt, wird das Volk, und nur das Volk, die Verfügungsgewalt haben.“ „Das Volk hat noch niemals etwas entschieden. Immer haben sich Männer gefunden, die das Volk entweder anführten oder antrieben. Die einen wie die anderen handelten dabei, wenn sie verständig genug waren, im Namen des Volkes. Die ganze bekannte Geschichte ist Kampf, und zwar nicht Kampf der Völker, sondern der407
jenigen, die sie beherrschten. Denken Sie an Talleyrands Worte, besser kann man es nicht sagen: ‚Eine Armee von Löwen, die von einem Hammel befehligt wird, ist schwächer als eine Armee von Hammeln, die von einem Löwen befehligt wird.’“ Asquith erhob sich und blickte auf die Uhr. Nein, es gab keine gemeinsame Sprache zwischen uns, er und seine Lebensauffassung waren mir zutiefst fremd. Mich ärgerte nur, daß meine diplomatische Mission so kläglich gescheitert war. Als wir uns bereits voneinander verabschiedeten, sagte Asquith noch: „Die Frage ist jetzt nur, wer die Oberhand gewinnt, Chansnepp oder Cart. Wer sich als der Stärkere erweist. Das ist der springende Punkt.“ „Und Sie möchten…“ „Ich möchte stärker sein als die beiden. Dafür bin ich zu allem bereit. Entschieden zu allem.“ Er setzte sich wieder an den Tisch, goß sich Rum ein, drehte das Glas lange in der Hand, stellte es hin, ohne getrunken zu haben, und fragte: „Die Sitzung ist um zehn Uhr?“ „Um neun.“ „Gut, ich werde kommen. Ich will Ihren Vorschlag unterstützen und alles tun, was von mir abhängt, damit dieser idiotische Einfall mit dem Artilleriebeschuß des Plas408
mas nicht zur Ausführung kommt. Das müßte ich durchsetzen können. In Poga hört man auf mich.“ „Und Chansnepp?“ platzte ich heraus. „Ich will das tun, weil ich überzeugt bin… Nein, nein, bilden Sie sich nichts ein, nicht, daß Ihr System überlegen ist. Ich bin überzeugt, daß die Siliziumepopöe erst ihren Anfang nimmt. Übereifrige Politiker wollen sich lieber heute als morgen des Siliziumplasmas für ihre Zwecke bedienen, ohne vorauszusehen, welche Wendung die Ereignisse in nächster Zukunft nehmen können, ohne eine Ahnung davon zu haben, was Biosiliziten eigentlich sind. Oh, die Siliziten werden von sich reden machen! Den Leuten werden noch die Augen übergehen.“ „Die Keime? Es ist Ihnen also trotz allem gelungen…“ „Oho, Sie sind nicht nur keck, sondern auch fix!“ „Sie haben die Keime belebt! Haben sie trotz allem belebt! Nun, wenn dem so ist, übermitteln Sie bitte Professor Rodbar, sobald Sie ihn wiedersehen, meine Glückwünsche. Und Ihnen darf ich hiermit persönlich gratulieren.“ „Für die Glückwünsche danke ich natürlich, nur… Kein Mensch weiß, wie das alles ausgehen wird. Bis morgen! Es war ein 409
sehr angenehmer Abend. Der Imschëu war wirklich gut.“ Mit Asquith bin ich in meinem Leben oft zusammengetroffen. Auch jetzt stehen wir durch die gemeinsame Arbeit am Vereinigten Siliziuminstitut ständig in Verbindung. Ich kenne ihn daher ziemlich gut. Aber ihn restlos zu durchschauen, ihn völlig zu verstehen scheint mir schlechthin unmöglich. Einen eben erst gefaßten Entschluß kann er nach kurzer Zeit in sein Gegenteil verkehren, ein gegebenes Wort mit größter Leichtigkeit zurücknehmen. Dabei kommt er fast immer mit heiler Haut davon und behält nicht selten recht. So auch damals in Makimi. Am Morgen klopfte ich an die Tür seines Hotelzimmers, um ihn zur Komiteesitzung abzuholen. Das Zimmer war leer. Als ich ins Vestibül zum Geschäftsführer eilte, erhielt ich die Auskunft, der Herr Professor sei noch in der Nacht nach Poga zurückgeflogen. Ich schäumte vor Wut. Eigentlich hätte ich mich längst an die Unberechenbarkeit dieses Menschen gewöhnen müssen, aber ich konnte es nicht. Wie sollte ich jetzt vor die Komiteemitglieder hintreten, was in der Sitzung sagen? Als ich bereits den Wagen bestieg, stürzte mir ein Hotelboy nach und übergab mir einen Brief von Asquith. 410
„Herr Kurbatow! Ich halte es für überflüssig, Zeit auf die Sitzung zu verschwenden, eingedenk des Grundsatzes, daß man jede Sache entweder gut oder überhaupt nicht machen soll. Führen Sie die Sitzung ohne mich durch. Inzwischen werde ich alles Erforderliche in Poga veranlassen. Ein Telegramm erhalten Sie spätestens um 10.30 Uhr. Nochmals vielen Dank für den Imschëu. Ihr Asquith“ Um 10.00 Uhr morgens ging beim Komitee die Nachricht ein, in Westpautoo sei das angreifende Plasma unter Artilleriebeschuß genommen worden. Um 10.30 Uhr wurde vom Rundfunk in Poga eine Regierungsmitteilung über die Evakuierung der gesamten Bevölkerung aus dem Matuan-Tal durchgegeben. Um 10.35 Uhr traf Asquiths Telegramm ein. Wir atmeten erleichtert auf. Mit diesem Augenblick begann der Umschwung. Natürlich verstanden alle Komiteemitglieder recht gut, daß noch ein langwieriger und schwerer Kampf bevorstand, aber die Zuversicht in den endgültigen Sieg wuchs. Ende Februar beschloß die UNO die Gründung einer Internationalen Kommission zur Bekämpfung der Siliziumgefahr. In dieser Kommission waren viele Länder ver411
treten, darunter Ostpautoo durch Dr. Jamsch und Jusgor, Westpautoo durch Asquith, die Sowjetunion durch Mursarow und mich. Die Kommission faßte sofort eine Reihe konkreter, sachlicher Beschlüsse. Die Wissenschaftler aus Kanada, Belgien, Indien und den USA, die ihr angehörten, beurteilten rasch und objektiv die eingetretene Lage. Zu Meinungsverschiedenheiten kam es jetzt verhältnismäßig selten, und – die Hauptsache – alle sprachen sich einmütig dafür aus, unsere Generatoren einzusetzen. Die Leningrader ließen uns nicht im Stich. Innerhalb einer Woche waren, wie die Arbeiter des Werkes, das die Generatoren herstellte, versprochen hatten, vier Prachtexemplare fix und fertig. Nun standen uns schon fünf Generatoren zur Verfügung. Die Bestrahlung erfolgte Tag und Nacht an der ganzen Front. Aber auch das war noch zuwenig. Die größte Gefahr drohte dem Archipel von den Westhängen des Kanatur-Gebirges. Es genügte nicht, den Angriff des Plasmas nur in Ostpautoo aufzuhalten, man mußte ihn überall zum Stehen bringen. Dazu aber bedurfte es einer Entscheidung der westpautooanischen Regierung, den Hubschraubern mit unseren Generatoren das Überfliegen ihres Territoriums zu gestatten. 412
Um einen solchen Beschluß zu erzwingen, mußte die Internationale Kommission ihr Machtwort sprechen. Ihre Sitzungen wurden nach Poga verlegt, die Erfolge im Kampf gegen das Plasma mit Hilfe unserer Generatoren demonstriert und nachgewiesen, daß der scheinbar unwiderstehliche Siliziumschaum auf dem Gebiet Ostpautoos praktisch bereits unter Kontrolle gebracht war. Wohl oder übel mußte sich die westpautooanische Regierung der Internationalen Kommission beugen und die „Invasion“ unserer Hubschrauber erlauben. Ich entsinne mich noch gut der ersten Einsätze auf dem fremden Territorium. Die Lage war hier unvergleichlich komplizierter als in Ostpautoo. Vom Tuarokerauch nicht blockiert, von den Generatoren nicht bestrahlt und von den Artilleriegeschossen in alle Richtungen auseinandergeschleudert, hatte sich das Siliziumplasma ungehemmt ausbreiten und weite Gebiete verheeren können. Das Matuan-Tal war völlig ausgebrannt. Des Wassers beraubt und von der Sonne versengt, hatte es sich innerhalb von zwei Wochen aus einem fruchtbaren grünen Acker- und Gartenland in eine von Menschen und Tieren verlassene gelbe Wüste verwandelt. Wer weiß, wie unser Feldzug geendet hätte, wären nicht rechtzeitig noch einige Generatoren eingetroffen. Quadrat um Quadrat bestrahlten wir 413
systematisch die Stellen, wo der unersättliche Schaum alles Leben vertilgt hatte. Nicht nur Lebendes war ihm zum Opfer gefallen – die Pflanzen waren für ihn würzige Leckerbissen, dienten ihm als Vitamine oder Fermente, die es für sein stürmisches Wachstum brauchte –, auch Mineralien verschmähte er nicht. Lateriterde, Basalt und Gneis, Ziegel und Lehm, Beton und Granit – alles fraß er in sich hinein. Wo das Gestein besonders viel Mangan oder Wolfram enthielt, feierte die lebende Siliziumsubstanz wahre Orgien. Das wurde freilich erst später festgestellt, als es gelang, das Plasma nicht nur zu bändigen, sondern seine Eigenschaften auch für praktische Zwecke nutzbar zu machen. Gegen Mitte März war das Siliziumplasma auf dem gesamten Territorium Westpautoos mehr oder minder unschädlich gemacht. Die von ihm verursachten Stauungen wurden beseitigt, und das Wasser floß wieder auf die Felder und Plantagen. Auch danach kämmten die Hubschrauber mit ihren Generatoren die erstarrten Schaummassen sorgfältig durch. Die Bestrahlung mußte mindestens noch einen Monat fortgesetzt werden, um jede Möglichkeit eines neuen Angriffs, jedes neue Aufflackern der Lebenstätigkeit des allzu aktiven Plasmas auszuschließen. Einzelne 414
Tropfen der lebenden Substanz konnten sich in Erdspalten, unter Wurzelstöcken und an anderen schwer zugänglichen Stellen verborgen haben, und die „Epidemie“ konnte unversehens von neuem ausbrechen. Diese Säuberungsaktion wurde überall, in West- wie in Ostpautoo, durchgeführt. Um diese Zeit hatten wir bereits für alle Hubschrauber und die darauf montierten Generatoren genügend Leute angelernt. Während ich diese Aufzeichnungen mache, ziehe ich die verschiedensten Dokumente heran, um mein Gedächtnis aufzufrischen und um zu präzisieren, wie der Ablauf dieser oder jener Vorgänge war, besonders solcher, bei denen ich nicht selbst anwesend sein konnte. Auch die Protokolle der Internationalen Kommission studiere ich aufmerksam. Sie sind höchst aufschlußreich, denn man ersieht daraus, wie sich der Charakter der Kommission und ihrer Verhandlungen allmählich änderte. Solange der Kampf gegen das Plasma im Gange und der Einsatz aller Kräfte vonnöten war, gab es so gut wie keine Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kommissionsmitgliedern. Die Beschlüsse wurden einmütig und rasch angenommen, die Protokolle lakonisch und sachlich abgefaßt und ohne Zeitverlust veröffentlicht. Doch sobald sich die Lage stabilisierte, 415
kam es zu endlosen, langweiligen Debatten und verschwommenen, bei weitem nicht immer einstimmig gefaßten Beschlüssen. Noch war die Invasion des Plasmas auf Pautoo nicht überall und endgültig abgeschlagen, da tauchte bereits die Frage auf, welche Vorsichtsmaßregeln bei der Nutzbarmachung des Siliziumlebens für praktische Zwecke zu beachten seien. Der belgische Vertreter und Vorsitzende der Kommission, Dr. Duviézard, brach eine heiße Debatte darüber vom Zaun, indem er den Vorschlag einbrachte, ein sofortiges und unbeschränktes Verbot der Anwendung von Siliziumplasma zu beschließen. Sein Vorschlag fand keine Unterstützung. Doch nun forderte der Vertreter Indiens, jederlei Anwendung des Plasmas einer strengen Kontrolle zu unterwerfen. Der Delegierte des Mutterlandes von Westpautoo griff diesen Vorschlag eifrig auf und ergänzte ihn durch die Forderung, daß zu ausnahmslos allen Unternehmungen, die sich mit der Erforschung oder Nutzbarmachung des Siliziumplasmas befaßten, Beobachter zugelassen werden müßten. Professor Mursarow wies seinerseits auf die Notwendigkeit hin, alle Arbeiten an den Siliziumkeimen unter Kontrolle zu stellen. Er betonte, es ließe sich schwer voraussehen, welche Folgen ihre Belebung nach 416
sich ziehen könne. Jusgor und ich unterstützten ihn. Dabei bezogen wir uns auf die mündlichen Informationen Professor Asquiths über das Ausmaß derartiger Arbeiten in den Geheimlaboratorien von Tarkor. Aber wir hatten wieder einmal Asquiths bodenlose Frechheit unterschätzt. Er meldete sich zum Wort und leugnete glattweg, daß in Chansnepps Institut Versuche mit den Keimen angestellt wurden, ja daß solche Keime überhaupt existierten. So sahen die ersten Schritte auf dem Wege aus, die Anstrengungen der gesamten Menschheit zum Kampf gegen die kosmischen Kräfte zu vereinigen. Sie begannen mit Zänkereien, kleinen und großen Meinungsverschiedenheiten, gegenseitigen Vorwürfen und allseitigem Mißtrauen. Die Verhandlungen der Internationalen Kommission verliefen im Sande. Am 21. April fand die letzte Plenarsitzung der Kommission statt. Viele Mitglieder waren bereits abgereist, darunter auch Professor Mursarow. Er war zum ständigen Vertreter unserer wissenschaftlichen Institutionen in einem Ausschuß der UNESCO ernannt worden und nahm die Arbeit am Siliziumproblem praktisch nie wieder auf. Nur wenige Kommissionsmitglieder setzten ihre Arbeit in Makimi noch eine Zeitlang fort. Diese Gruppe, an deren Spitze Dr. Duviézard stand, redigierte die Beschlüsse 417
der Kommission und verfaßte einen Rechenschaftsbericht über ihre Tätigkeit. Bald war auch diese Arbeit abgeschlossen. Am 28. April sollte ich nach Moskau fliegen, um mich endlich in der Heimat zu erholen. Doch da traten plötzlich schwerwiegende Ereignisse ein, die alle meine Pläne über den Haufen warfen. Von Chansnepp kam ein alarmierendes Telegramm, das Professor Asquith befahl, unverzüglich nach Europa zu fliegen. Asquith befand sich jedoch nicht mehr in Makimi. Wie ich später erfuhr, hielt er sich zu dieser Zeit in Australien auf, wo er dem Räuber des fliederfarbenen Kristalls nachjagte. Am Morgen des 27. April wurde bekannt, die Regierung der Kolonialmacht habe beschlossen, Tarkor zu zerbomben. Dr. Jamsch rief eiligst alle in Makimi verbliebenen Mitglieder der Internationalen Kommission zusammen. Die Sitzung dauerte lange und endete ergebnislos. Aus Europa trafen fragmentarische und unseres Erachtens völlig unglaubwürdige Nachrichten ein: Mitten im Frieden waren unweit der Hauptstadt des Landes Bomber erschienen und hatten Chansnepps Institut in Tarkor mit allen den Menschen zur Verfügung stehenden Zerstörungsmitteln dem Erdboden gleichgemacht. 418
Ich erhielt Anweisung, nach Europa, ins „Mutterland“ Westpautoos, zu fliegen.
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Die Schildkröte Als Mitglied der Internationalen Kommission nahm ich an der Untersuchung der Vorgänge in Tarkor und in den Propyläen teil, was mir Gelegenheit gab, mit vielen Augenzeugen zu sprechen und Bekanntschaft zu schließen. Zu den Propyläen kam ich allerdings erst, nachdem dort die „Schildkröte“ und der Panzer des Hauptmanns Ferrand ihr Zerstörungswerk vollendet hatten. Trotzdem will ich versuchen, sie zu beschreiben, und möglichst ausführlich schildern, was vom 25. bis 28. April im Lande vor sich gegangen war. Austin Carts Villa, die den nicht ganz zutreffenden, dafür, aber wohlklingenden Namen Propyläen trug, glich keiner einzigen anderen Vorortvilla der Hauptstadt. Die Sitte, Villen auf dem Lande zu bauen, geht bekanntlich auf die reichen Römer zur Zeit Julius Cäsars zurück. Viele dieser Villen sind seitdem aus Landhäusern, in denen sich die Besitzer erholten, zu Museen geworden. Was Carts Villa betraf, so diente sie ihm niemals als Erholungsstätte, sondern war von vornherein als eine Art Museum gedacht und gebaut. Austin Cart galt als ein Original, und nicht ohne Grund. Er war es jedoch nur insoweit, als er Nutzen daraus ziehen konnte. Der Gedanke, die Propyläen zu 420
bauen, war ihm in den dreißiger Jahren gekommen, also zu der Zeit, als die Weltwirtschaft nach einer beispiellosen „Prosperität“ eine tiefe Krise durchmachte. Die Rechnung des schlauen Unternehmers ging auf. Die Villa stellte einen in seiner Art einzigartigen Prunkbau dar, dessen Kosten so schwindelerregend hoch waren, daß bei niemand der Verdacht auftauchte, Cart könnte gerade zu dieser Zeit unmittelbar vor dem Ruin gestanden haben. Allein schon der Umstand, daß der berühmte Antonio Ulmaro als ihr Baumeister fungierte, mußte von den unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten des reichen Bauherrn zeugen. Ein erstklassiger Architekt und hochbegabter Bildhauer, hatte Ulmaro viele Jahre davon geträumt, eine Kunstgalerie größten Stils, eine „Enfilade der Künste“, zu schaffen. Aber er konnte seinen Traum nicht verwirklichen, denn er fand keinen Menschen, der diese Idee zu würdigen wußte und bereit war, genügend Geldmittel für ihre Umsetzung in Stein, Marmor und Gips zur Verfügung zu stellen. Erst als er Cart begegnete, ging sein Herzenswunsch in Erfüllung. In einer mit Pappeln, Buchen und Eschen bewachsenen Niederung unweit der Stadt begannen bald darauf Hunderte von Arbeitern Anlagen und Bauwerke zu errichten, die dem Architekten Ruhm 421
einbringen und dem Bauherrn neuen Kredit verschaffen sollten. Die Arbeiten gingen zunächst flott vonstatten. Herrliche Bauten entstanden, die sich mit Kunstwerken aus aller Herren Ländern füllten. Aber je mehr sich die finanzielle Lage Carts besserte, um so mehr schwand Ulmaros Hoffnung auf Ruhm. Immer seltener war von dem ungewöhnlichen Bauwerk die Rede, immer spärlicher flossen die Mittel aus Carts Tasche, und die Bauarbeiten zogen sich über ein Jahrzehnt hin. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, wurden sie gänzlich eingestellt. Ulmaro starb, ohne seinen Traum vollständig verwirklicht zu haben. Die Propyläen wurden für Cart zu einer lästigen Bürde. Die riesigen Summen, die darin angelegt waren, trugen keine Zinsen. Die unvollendete Anlage zu veräußern war weder möglich noch sinnvoll, denn immerhin trug der Besitz der einzigartigen Museumsvilla dazu bei, den Ruf Carts als eines der reichsten Männer des Landes zu festigen. Trug sich Cart mit einem wichtigen Vorhaben, so pflegte er auf kurze Zeit nach den Propyläen zu kommen. Dort schlenderte er durch die prachtvollen Höfe und Säle, in denen der Schöpfergeist vergangener Zeiten lebendig war, und fand in dem instinktiven Drang nach Schönheit die 422
innere Ruhe und Sicherheit, die er für die Börsenschlachten brauchte. Manchmal lud Carts Tochter ihre Freunde in die Propyläen ein. Dann erfüllte fröhlicher Lärm das römische Atrium. Der Duft von Rosen vermischte sich mit dem Aroma würziger Speisen, und Jazzmusik erklang. Doch sobald das Gelage zu Ende war und die schnittigen Autos die jungen Leute in die Stadt zurückgebracht hatten, versank die Villa wieder in stille Verträumtheit, und der Bildhauer und Kunsthistoriker Paul Ritam blieb ihr einziger Bewohner. Ich unterhielt mich oft und lange mit Ritam, besuchte ihn im Krankenhaus, als er nach den ungeheuerlichen Vorgängen in den Propyläen langsam von dem erlittenen Schock genas, und saß später mit ihm zusammen in seiner kleinen Wohnung, wo ich seine anspruchslosen und irgendwie rührenden Skulpturen betrachtete. Kurzum, ich lernte diesen schlichten und klugen Mann gut kennen und schätzen. Ritam, der sein Leben der Kunst geweiht hatte und ganz in ihr aufging, eignete sich wie kein anderer für die Verwaltung und Beaufsichtigung der Propyläen. Seitdem es Cart, der sich unablässig mit großen Geschäften herumschlug und es haßte, Zeit und Geld auf kleine zu verschwenden, eingefallen war, Ritam mit diesem Amt zu betrauen, brauchte er sich um seine Muse423
umsvilla keine Sorgen mehr zu machen. Ritam liebte selbstvergessen alles, was in den Propyläen zusammengetragen war, von der billigsten Gemme in der Glyptothek bis zu den von hervorragenden Meistern gemeißelten Monumentalstatuen. Jeden Morgen um halb zehn erschien Ritam pünktlich am massiven Tor der Propyläen. Freundschaftlich begrüßte er den alten Pförtner (den ich nicht weniger gut kennenlernte als Ritam, aber ich kann in diesen Aufzeichnungen nicht von allen Bekannten erzählen), bedauerte gewohnheitsmäßig, daß das gußeiserne Gitter Rost ansetzte, und legte ausführlich dar, wie er Herrn Cart beibringen wolle, daß er Geld für die Instandhaltung der Propyläen herausrücken müsse. Dürfe man ein so herrliches Bauwerk denn verkommen lassen? Das Gitter sei doch nach den Entwürfen des großen Cannboupeau von den besten Meistern Pierrons gegossen worden! Und nach dem ersten Guß… Der Pförtner kannte die Geschichte des gußeisernen Gitters in- und auswendig. Aber er hörte Ritam mit gespieltem Interesse zu, entrüstete sich gemeinsam mit ihm, hielt das Gespräch fleißig in Gang – schließlich war es seine einzige Zerstreuung im Laufe des langen Tages – und ging erst in sein Pförtnerstübchen zurück, wenn 424
Ritam hinter der Baumgruppe verschwand, die das Tor von der Museumsvilla trennte. So begann Ritam seinen täglichen Morgenrundgang. Jedesmal, wenn er den Buchenhain durchschritten hatte und die Flucht der Kunsthallen vor sich sah, blieb er ein paar Minuten stehen, immer wieder aufs neue entzückt von Ulmaros Werk. Von hier aus bot sich der beste Blick auf die Enfilade, die sich allmählich bis zur niedrigsten Stelle der weitläufigen Anlage senkte, wo sich ein düsteres Gebäude erhob, das der Baumeister „Mittelalter“ genannt hatte. Am Buchenhain begann der breite, mit großen Steinfliesen gepflasterte Weg der Sphinxe. Zu beiden Seiten zogen sich in geraden, trostlosen Reihen Sockel aus rotem Sandstein hin, auf denen Löwen mit Menschenkopf lagen. Gleichförmig, leidenschaftslos und rätselhaft, verkörperten sie gleichsam die geheimnisumwitterten Jahrhunderte, die der höchsten Blüte der ägyptischen Kunst vorangegangen waren. Langsam, mit der Beinprothese über die Steinfliesen auf diesem Weg des Schweigens schlurfend, wanderte Ritam zwischen den Sphinxen hindurch und näherte sich einem massiven Gebäude mit schrägen Mauern. Den Zugang zur Enfilade hatte Ulmaro gebaut, als ihm Cart noch freie Hand ließ, 425
und dem Architekten war es gelungen, den altägyptischen Baustil vollendet wiederzugeben. Die dunklen, geheimnisvollen Bauten bestanden aus mächtigen Steinquadern, die mit fast der gleichen erstaunlichen Präzision behauen waren, mit der seinerzeit die Sklaven der Herrscher Snofru und Cheops gearbeitet hatten. Der Weg mündete auf einen großen Platz. Dort hatte Ulmaro einen spitzen Obelisk mit eingemeißelten Hieroglyphen und eine sitzende Kolossalfigur aufgestellt, die mit den ruhigen Linien der Bauten vortrefflich harmonierte. Den Eingang zu den ägyptischen Sälen flankierten zwei völlig gleiche massive Türme mit ebenfalls schrägen Mauern, sogenannte Pylonen, deren Gewicht das Portal mit der ziemlich kleinen Tür schier erdrückte. Hatte Ritam die schwere Bronzetür geöffnet, so war er Jahrtausende zurück in die Frühzeit der Menschheit versetzt, ins Reich der erhabenen Starre ägyptischer Statuen und der monotonen Vielzahl gleichartiger Säulen, in die Welt einer kargen, geradansichtigen und rechtwinkligen Friedhofskunst. Den ägyptischen Innenhof hatte der Architekt so gestaltet, daß man bei jedem beliebigen Wetter unter der heißen Sonne Ägyptens zu sein glaubte. Geschickt getarnte Lichtquellen schickten ihre Strahlen 426
durch Deckenöffnungen über einem Wasserbecken. Doch sie vermochten den deprimierenden Gesamteindruck ebensowenig aufzulockern wie die klaren goldenen, blauen und roten Farben, die alle Wände, Säulen und Gesimse schmückten und nicht weniger rätselhaft wirkten als die Hieroglyphen oder als das satte Grün der Palmen, die sich um das Becken drängten, und die kühle Bläue des Wassers. Der ägyptische Sektor der Enfilade machte Ritam immer schwermütig. „Eine tote Kunst, eine Kunst für die Toten“, pflegte er zu sagen, sooft er die leblosen Basreliefs betrachtete. „Eine Kunst, geboren aus der Furcht vor dem Jenseits, geschaffen für das Leben nach dem Tod, bestimmt zur Besänftigung der Götter, die das Reich der Schatten beherrschen. Daher auch die Suche nach Formen der absoluten Ruhe und das geheimnisvolle Düster.“ Ritam beeilte sich stets, aus der ägyptischen Galerie in die Säle der beseelten Kunst des alten Hellas zu kommen, verhielt aber dennoch häufig den Schritt beim Krokodil. Ohne das geringste Lebenszeichen von sich zu geben, lag das Krokodil wie ein Balken auf einer Sandinsel in dem tiefen Wasserbecken. Es verhielt sich also genau so, wie man es von diesen wenig sympa427
thischen Tieren erwartet, und brauchte Ritam eigentlich nicht zu stören. Aber schon allein gegen seine Anwesenheit im Tempel der Kunst sträubte sich die Natur des Künstlers. Es war auf ausdrücklichen Wunsch Carts hierhergebracht worden. Darin hatte dessen einziger „schöpferischer“ Beitrag zu den Propyläen bestanden, und Ritam entrüstete sich immer wieder aufs neue über diese Verschandelung der künstlerischen Idee Ulmaros. Hatte der große Meister etwa den Geist des grauen Altertums nicht hinreichend wiedergegeben? Zeugten nicht jeder Stein, jede Säule und jedes Fresko von der wahren ägyptischen Kunst? Mußte man hier unbedingt dieses widerliche Kriechtier halten? Eine Laune, eine Schrulle des Besitzers, der wahre Kunst und echte Begabung nicht zu schätzen wußte! Wie eindrucksvoll und überzeugend waren doch Kolorit und Linienführung der altägyptischen Bauwerke nachgeschaffen, wie stark wirkten doch die majestätische Starrheit der Statuen und die Strenge der Linien, die ganz dem Bestreben der ägyptischen Künstler entsprachen, absolute Ruhe auszudrücken! Ruhe? Vielleicht hatte Cart trotz allem recht? Mühsam die Beinprothese ausstreckend, setzte sich Ritam auf den Rand des Wasserbeckens und betrachtete aufmerksam 428
den flachen Kopf mit der langen Schnauze, den aufgestülpten Nüstern und dem gebogenen Maul, das den Eindruck erweckte, als lache das Krokodil im Schlaf. Es lag völlig unbeweglich da, wie in Totenstarre, obwohl man irgendwie spürte, daß es lebte. Wahrhaftig, das Krokodil war die Fleisch gewordene Ruhe! Vielleicht hatten deshalb die alten Ägypter die lebenden Krokodile göttlich verehrt und die toten einbalsamiert? „Wie dem auch sei, ein widerliches Geschöpf“, schloß Ritam jedesmal und humpelte in die Säle des alten Hellas. Hier war alles hell und lebensfroh. In dem Bestreben, das Wesen der altgriechischen Kunst unverfälscht wiederzugeben, hatte Ulmaro die einzelnen Stilarten wunderbar miteinander in Einklang gebracht. Alles war auf verschiedenen Ebenen angeordnet, ohne jedes Bemühen um Symmetrie, und wirkte gerade deshalb harmonisch, wie auch die völlig unsymmetrische Natur harmonisch ist. Die Stufen, die vom ägyptischen Hof dorthin führten, endeten auf einem großen, mit Mosaik ausgelegten Platz. Zwischen den griechischen Statuen aus blendendweißem parischem Marmor, die darauf standen, plätscherten fröhliche Springbrunnen. Den Platz begrenzten niedrige 429
Gebäude mit Säulen und Karyatiden, zu denen wiederum Treppen führten, über die man in die Innenräume gelangte. All dies erfreute das Auge, denn es widerspiegelte die sorglose, festliche Lebensauffassung der Griechen und die Reinheit und Schönheit ihrer hohen Kunst. Wie bei den alten Baumeistern prangten die Gebäude in frohen, klaren Farbtönen: mennigrot, azurblau, ockergelb und grün. Vergoldete Giebelverzierungen und Traufen mit Löwenköpfen verliehen dem Ganzen etwas Heiter-Verspieltes. Ulmaro hatte alles getan, um die Schönheit der Athener Akropolis neu auferstehen zu lassen. Sein ganzes Talent hatte er aufgeboten, damit die Menschen jetzt, nach zweieinhalb Jahrtausenden, die hellenische Baukunst und ihre erstaunliche Harmonie ebenso unmittelbar auf sich wirken lassen konnten wie einstmals die alten Griechen. „Hat er sein Ziel erreicht?“ fragte Ritam des öftern, wenn er mit mir die Propyläen durchwanderte. „Wohl kaum! Die Hellenen, in deren schönen Körpern ein gesunder Geist wohnte, schufen einen lebensfrohen Stil, der mit der heiteren Natur harmonierte, weil sie selbst lebensfroh und heiter waren. Unser massiger, vom Konkurrenzkampf belasteter Herr Cart dagegen lächelt selten und freut sich seines Lebens nur, wenn er einen großen Börsensieg erfoch430
ten hat. Sie müssen wissen, Herr Kurbatow, daß die Propyläen Besuchern verschlossen sind. Alles, was unser teurer Antonio hier zusammengetragen und neu geschaffen hat, bleibt den Menschen daher fern, seine Schönheit ist kalt und tot. Der alte Ulmaro sah, daß sein Werk keine hohen Gefühle erweckt, daß es nicht erwärmt wird von den Blicken Tausender von Kunstbegeisterten. Das hat die letzten Lebenstage meines Lehrers sehr verdüstert. Er glaubte, die Menschen seien nicht mehr fähig, Schönheit leicht und froh zu empfinden. Es schien ihm, als wäre die Jugend der Menschheit mit Hellas zu Ende gegangen. Ist dem wirklich so? Oder sähe nicht alles ganz anders aus, wenn die Propyläen dem Volk offenstünden? Ich lausche oft der Stille, die in der Enfilade herrscht, und denke mir: Sehr viel muß noch geschehen, damit das Volk die Propyläen bewundern kann. Hab ich nicht recht?“ Was sollte ich Ritam antworten? Ich erzählte ihm von der Leningrader Ermitage, vom Sturm auf das Winterpalais, vom Moskauer Pionierpalast. So durchwanderte der bescheidene, arbeitsame Ritam Tag für Tag die ganze Enfilade, besichtigte alles mit Kennerblick, notierte sich, was repariert oder restauriert werden mußte, und begab sich erst dann in den Lagerraum, wo er bis zum späten 431
Abend die gespeicherten Kunstwerke registrierte und beschrieb. Von den Sälen des alten Hellas schied Ritam stets mit Trauer im Herzen. Er durchschritt das römische Atrium, stieg die Treppe hinab, die von einem Säulenhalbrund eingefaßt war, überquerte den Platz mit der Augustusstatue und blieb dann vor der „Einöde“ stehen, einer ausgedehnten Senke, die mit Unkraut und Gebüsch bewachsen und mit bemoosten Steinblöcken übersät war. Nach Ulmaros Idee sollte diese Stelle die Jahrhunderte nach dem Fall Roms symbolisieren. Er hatte befohlen, die Steine nicht wegzukarren und den Platz nicht einzuebnen, sondern alles in dem chaotischen Zustand zu belassen, wie er für die ästhetischen Vorstellungen während dieser Jahrhunderte typisch war. Lediglich in der Mitte der Einöde hatte er sein „Mittelalter“ geschaffen –einen Pavillon, der im kleinen sowohl an eine finstere Ritterburg als auch an eine klobige, düstere Kirche aus der Frühzeit des Christentums erinnerte, als dieses eben erst die Kunst für sich entdeckte. Alles, was am Mittwoch, dem 26. April, geschehen war, hatte sich Ritams Gedächtnis fest eingeprägt. Wie immer machte er seinen Kontrollgang durch die Propyläen. Diesmal konnte er ihn jedoch nicht beenden. Als er vor dem Krokodil stand, sich 432
zum tausendstenmal die Frage stellte, ob dieses garstige Tier das Recht habe, den ägyptischen Hof zu verunstalten, und sich zum ebensovielten Mal überlegte, wie sich wohl Ulmaro dazu gestellt hätte, kam ein Bote vom Pförtner zu ihm. Er müsse schnellstens zum Tor, ein Lieferwagen sei vorgefahren, und der Chauffeur verlange den Verwalter zu sprechen. Er habe auf persönliche Anweisung des Herrn Cart ein Tier mitgebracht. „Hoffentlich nicht noch ein Krokodil!“ Ritam humpelte, so schnell er konnte, zum Pförtnerhäuschen. Vor dem Tor hielt tatsächlich ein Lieferwagen, wie der Aufschrift auf dem mächtigen Aluminiumkasten zu entnehmen war, von der Großwäscherei Bartney. „Guten Tag, Herr Verwalter!“ „Guten Tag, Willy!“ „Nanu, woher wissen Sie, daß ich Willy heiße?“ fragte der Chauffeur mit einem breiten Lächeln, das seine starken, weißen Zähne entblößte. „Hierzulande heißen alle Neger Willy oder Tom. Aber Williams gibt es mehr. Was bringen Sie da? Wer hat Sie geschickt?“ „Ich hab einen Blechbehälter gebracht, mit einem Tier drin. Eine Schildkröte, glaub ich.“ 433
„Eine Schildkröte?“ wiederholte Ritam befremdet. „Na ja, eine Schildkröte. Was sollte es sonst sein?“ In dem vergeblichen Bemühen, nicht zu verraten, daß er unterwegs seine unbezähmbare Neugier befriedigt hatte, sprudelte der Chauffeur allerlei ungereimtes Zeug hervor. „Einen Augenblick! Sie schnurren zuviel auf einmal herunter. Berichten Sie der Reihe nach: Woher kommen Sie, wer hat Sie geschickt, und was soll diese Schildkröte? Wieso kommt sie mit einem Wäschereilieferwagen? Ich verstehe nicht, was Sie sagen. Sprechen Sie bitte langsamer.“ Willy faßte das als Aufforderung zu einem gemütlichen Plausch auf. Er setzte sich auf die Bank am Tor, steckte sich eine Zigarette an und begann, ausführlich zu erzählen, was er an diesem Morgen erlebt hatte. Ein ungewöhnlicher Tag sei das gewesen. Schon als er von zu Hause weggegangen sei, habe er gefühlt, daß etwas Außerordentliches passieren werde. Immer, wenn seine Nachbarin, die alte Metin, diese zanksüchtige Hexe, beim Aufstehen einen Streit vom Zaun breche… Ritam fiel dem redseligen Chauffeur ein paarmal ins Wort und mahnte ihn, zum Kern der Sache zu kommen, aber er hatte damit kein Glück. Jedesmal, wenn Willy unterbrochen 434
wurde, fing er brav und bieder wieder von vorne an. Ritam sah schließlich ein, daß er dagegen machtlos war, und wappnete sich mit Geduld. Und nur, weil Willy auch weiterhin wie ein Wasserfall redete, dauerte es nicht länger als eine halbe Stunde, bis Ritam sich ein halbwegs klares Bild machen konnte. Der Lieferwagen, mit dem der schwatzhafte Chauffeur regelmäßig die Wäschereikunden in der Stadt aufsuchte, fuhr jeden Donnerstag zu Chansnepps Institut in Tarkor. Dort wurden die sauberen Kittel abgeliefert und Ballen schmutziger Wäsche abgeholt. An diesem Morgen war Willy wie gewöhnlich auf das Institutsgelände gefahren. Der Wagen wurde entladen, und Willy wartete in aller Ruhe, bis die schmutzige Wäsche, die sich im Laufe der Woche angesammelt hatte, eingeladen würde. In diesen frühen Morgenstunden herrschte im Institut sonst immer Stille. Heute aber ging es hier zu wie in einem Taubenschlag. Durch das Haupttor fuhr ein Kraftwagen nach dem andern. Es waren keine gewöhnlichen Autos, sondern Feuerwehr- oder Armeefahrzeuge. Darunter befanden sich auch Plattenwagen, auf die riesige Kugeln montiert waren, von denen unausgesetzt Dampf aufstieg. Die Rohre aber, die davon abgingen, waren mit Reif bedeckt. Und das in der Aprilwärme! Bald darauf füllte sich 435
der Hof vor dem Hauptgebäude mit Menschen und Autos. Alles kam in Bewegung. Man merkte, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. Die Mitarbeiter des Instituts rannten aufgeregt hin und her. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf ein Haus, daß von einer hohen Mauer umgeben war. Von dort tönte ein sonderbarer Lärm herüber, ein lautes Pfeifen und Knallen, als ob Schüsse abgegeben würden. Vielleicht wurde dort wirklich geschossen. Willy konnte das nicht sagen. Das Haus hinter der hohen Mauer, erklärte er, sei immer gut bewacht, und er stecke seine Nase nicht in Dinge, die ihn nichts angingen. Er arbeite nun schon vier Jahre als Wäschereifahrer und habe noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Ritam kam rechtzeitig auf die Idee, Willy eine Zigarette anzubieten, und lenkte dadurch die Erzählung wieder in die richtige Bahn. Ja, es könne durchaus sein, daß eine Schießerei stattgefunden habe. Genau wisse er das nicht. Auch Sanitätsautos hätten massenhaft auf dem Hof gestanden, offenbar in Bereitschaft, Erste Hilfe zu leisten. Willy hatte seinen Lieferwagen keinen Augenblick verlassen. Er war lediglich auf den Kasten geklettert, von wo er alles gut sehen und auch besser als von unten hören konnte. Es sei interessant gewesen, alles zu sehen und zu hören, meinte er. 436
Die Menschen seien plötzlich durcheinandergewimmelt wie Ameisen, wenn man in ihrem Bau stochere. Unvermittelt hörte dann der Lärm auf, und aus dem Innenhof, der hinter der hohen Mauer versteckt lag, wurden in aller Eile eine Menge Sachen herausgetragen. Kisten, Tische, Schränke, Aktenbündel und verschiedene Geräte mit viel Lack, Glas und Nickel, die in der Sonne funkelten wie blitzblanke Autos. Unter den Geräten waren ganz kleine, nicht größer als ein Teekessel, aber auch welche, so groß wie ein Klavier. Die wurden von mehreren Männern geschleppt. Alles wurde rasch in die bereitstehenden Autos verladen und sofort auf der Chaussee in Richtung Stadt abtransportiert. In dem allgemeinen Durcheinander dachte niemand an Willy. Er wartete jedoch in aller Ruhe ab, denn er wußte, daß sein Kastenwagen den Leuten, wenn ihnen ein Unglück zugestoßen war, gute Dienste leisten konnte. Eine günstige Gelegenheit, nebenbei etwas zu verdienen! Nicht wahr? In der Großwäscherei Bartney sehe man ihnen diesbezüglich zwar streng auf die Finger, aber als vergangenes Jahr… Eine neue Zigarette, und Willy wandte sich der Hauptsache zu. Wie erwartet, wurden seine Dienste selbstverständlich 437
gebraucht. Durchs Tor kam ein langer, hagerer Mann mit gelbem Gesicht und beschmutztem weißem Kittel gelaufen. Er warf einen raschen Blick auf den Hof, sah Willys Lieferwagen und stürzte darauf zu. Ob Willy wisse, wo sich die Villa des Herrn Austin Cart befinde, fragte er. Willy wußte das natürlich. Erst vor kurzem habe er in jener Gegend Wäsche abgeliefert. Zwar nicht in der Villa des Herrn Cart selbst, aber er sei daran vorbeigekommen, als er nach Eno fuhr, wo ein Bekannter von ihm wohne. Der eilige Mann winkte ab – solche Leute brachten nie die Geduld auf, Willy bis zu Ende anzuhören – und verschwand hinter der hohen Mauer. Einige Minuten darauf schleppten ein paar kräftige Burschen einen mittelgroßen Blechbehälter zu seinem Lieferwagen und luden ihn ein. Nur diesen einzigen Behälter, während sie auf die anderen Wagen zu Dutzenden geladen wurden. Offenbar waren sie leer. Als der Behälter verstaut war, drückte ihm der eilige Mann einen großen Geldschein in die Hand. Oh, der würde eine Weile reichen! Mit dem Lieferwagen müßte er mindestens einen Monat durch die Gegend kutschieren und schmutzige Wäsche einsammeln, um so viel zu verdienen, bemerkte Willy und kam zum Schluß. Sobald die Arbeiter, die den Behälter eingeladen hätten, wieder in den Innenhof gelaufen seien, habe ihm der 438
eilige Mann befohlen, sofort zur Villa zu fahren. Das sei ja nun kein Kunststück gewesen. Nur sei der Behälter verdammt schwer, obwohl er bloß aus dünnem Eisenblech bestehe. Einfach nicht zu glauben, daß eine Schildkröte so viel wiege. „Schön, Willy! Jetzt ist mir fast alles klar. Richtiger gesagt, mir ist klar, was für ein großartiger Erzähler Sie sind. Denken Sie einmal scharf nach, vielleicht erinnern Sie sich, was dieser eilige Mann, wie Sie ihn nennen, noch zu Ihnen gesagt hat.“ „Er sagte, Herr Cart habe persönlich befohlen, die Kiste hierherzubringen.“ „Soso! Ausgezeichnet! Sehen wir uns die Schildkröte einmal an.“ Ritam war kein Reptilienkenner, aber das, was da auf dem Boden des Behälters lag, ähnelte nicht im geringsten einer Suppenschildkröte, die zu Festdiners gehört wie Fisch und Braten. Demnach hatte Herr Cart nicht die Absicht, seine Gäste mit dieser Delikatesse zu verwöhnen, sondern verfolgte irgendein anderes Ziel. Welches, war schließlich seine Sache. Er mußte wissen, was er tat. Bloß wohin mit dem Tier? Ritam blickte noch einmal in den Behälter, in dem ein großer Klumpen von etwa einem halben Meter Durchmesser lag, der wirklich sehr entfernt an eine Schildkröte erinnerte. Das Tier bewegte sich nicht. Offenbar hatte es Kopf und Beine unter den 439
Panzer zurückgezogen. Das verdammte Biest! Zur Sorge um das Krokodil kam nun noch die Plage mit diesem vor Angst halbtoten Geschöpf. Noch eine Verkörperung der Ruhe! „Laden Sie die Kiste aus.“ „Oh, Herr Verwalter, das ist nicht so einfach. Ich sagte Ihnen doch schon, daß sie sehr schwer ist!“ Der Behälter mit der Schildkröte ließ sich tatsächlich nicht anheben, und Ritam entschloß sich, den Lieferwagen durch das Tor in die Nähe der Einöde fahren zu lassen. Dort, in der mittelalterlichen Grotte, dachte er, würde die Schildkröte am besten aufgehoben sein. Es war darin kühl und feucht. Sicher behagte es ihr ebenso wie dem Krokodil, auf eine sandige Stelle zu kriechen und sich in der Sonne zu wärmen. Freilich gab es verschiedene Schildkrötenarten, und die hier sah keiner einzigen ähnlich. Er mußte unbedingt heute noch Herrn Cart anrufen. Das war zwar ziemlich umständlich, aber was blieb ihm weiter übrig? Ritam wurde immer gereizter. Heute würde er bestimmt nicht mehr zum Arbeiten kommen. Der Rundgang war nicht beendet, die Beschreibung der zyprischen Vasen stand noch aus, und dazu nun dieses widerwärtige Biest. Seine Gereiztheit hinderte ihn indessen nicht, sich um das 440
lästige Tier zu kümmern. Er war ein guter Mensch und überlegte vor allem, womit er es füttern könnte. Der Krokodilwärter hatte diesbezüglich von Fachleuten seinerzeit genaue Anweisungen erhalten und fütterte den „Ägypter“ pflichtgetreu mit Fischen, Vögeln, Fröschen und sonstigem Kleingetier. Was Schildkröten betraf, so wußte der Wärter auch nicht, wovon sie sich ernährten. Und Ritam wußte es noch weniger. Dunkel erinnerte er sich, daß sie lange ohne Nahrung auskommen konnten, aber besser war es natürlich, sie zu füttern. Er ging in die Bibliothek und las dort alles durch, was er über Schildkröten fand. Das verwirrte ihn jedoch vollends. Die einen Schildkröten waren fleischfressende Räuber, die anderen ernährten sich ausschließlich von Pflanzenkost. Zu welcher Art die von Cart geschickte gehörte, mochte der Himmel wissen. Ritam jedenfalls fand sich nicht mehr zurecht und gab kurzerhand Anweisung, sowohl einen Frosch als auch einen Kohlkopf in die Kiste zu werfen. Hätte er das nur nicht getan! Den ganzen übrigen Tag versuchte Ritam vergeblich, mit Cart zu telefonieren. Die Sekretäre antworteten jedesmal, ihr Chef sei verreist. Gewiß, Ritam war dem Chef mit seinen ewigen Bitten um Mittel für die Instandhaltung der Propyläen 441
schwer auf die Nerven gefallen. Kein Wunder, daß er sich verleugnen ließ! Aber was sollte mit der Schildkröte geschehen? Vielleicht war Cart tatsächlich in Geschäften unterwegs. Na schön, morgen war auch noch ein Tag! Er würde den Chef schon an die Strippe bekommen, und vielleicht schickte er inzwischen von sich aus Instruktionen, beruhigte sich der Verwalter. Bevor er nach Hause fuhr, wollte er im „Mittelalter“ eigentlich noch einmal nach dem Rechten sehen, aber nach dem aufreibenden und unproduktiven Tag brachte er nicht mehr die Kraft auf, so weit zu humpeln, und machte, zumal es schon spät war, Feierabend. Am nächsten Morgen kam es nicht zu dem üblichen Schwatz mit dem Pförtner über den beklagenswerten Zustand des gußeisernen Gitters. Der war nämlich so aufgeregt, daß er Ritam sogar zu grüßen vergaß, was noch nie vorgekommen war, und fragte sogleich: „Haben Sie schon gehört, was in der Stadt los ist?“ „Nein, was soll denn dort los sein?“ „Heute habe ich bei meinem Sohn übernachtet. Wir schliefen noch, da kam meine Schwiegertochter angerannt und schrie: ‚Krieg! Es ist Krieg!’ Wir schimpften, noch halb im Schlaf, sprangen aber dann doch aus den Betten. Wir hatten uns noch nicht 442
fertig angezogen, da hörten wir schon ohrenbetäubende Explosionen. Über das Städtchen – wie Sie wissen, Herr Ritam, lebt mein Sohn unweit von Pem – rasten Flugzeuge. Sie waren auf dem Flugplatz von Assui gestartet und flogen nach Tarkor, über dem eine riesige Rauchwolke hing. Die Flugzeuge hielten Kurs darauf. Von dort hörten wir auch das Krachen der Bomben.“ „Was Sie da reden!“ Ritam war, als er sein Haus verlassen hatte, nichts aufgefallen. In dem stillen Ort, wo er wohnte, hatte kein Sirenengeheul die Menschen aufgeschreckt und in Panik versetzt. Die wenigen Passanten waren geruhsam wie immer auf der von jungem Aprillaub beschatteten Straße gegangen. Niemand hatte Deckung gesucht oder war in den Keller gerannt. Der Rundfunk hatte mit leichter Musik gewürzte Werbetexte gesendet. „Vielleicht haben Sie sich geirrt? Ich jedenfalls habe nichts bemerkt.“ Der Pförtner lächelte selbstzufrieden und zeigte schweigend nach Osten, von wo sich rasch Flugzeuge näherten. Das ferne Dröhnen der Motoren schwoll zu einem Brüllen an, als die tief fliegenden Bomber über ihre Köpfe, hinwegbrausten. „Ist es schon wieder soweit?“ Das Lächeln war wie weggewischt vom Gesicht des Pförtners. Bekümmert und 443
verständnisvoll sah er den im Krieg verstümmelten Künstler an – er war selber schwerverwundet worden und hatte einen Sohn verloren – und schüttelte verneinend den Kopf. „Gott sei Dank, Krieg haben wir noch nicht wieder! Aber dort, im Park von Tarkor, muß die Hölle los sein. Letzte Nacht sind dort Truppen zusammengezogen worden. Sie kennen doch den See, der etwas abseits von der Straße nach Pem liegt? In meiner Jugend sind wir dort spazierengegangen und Boot gefahren. Sie sind jünger als ich und haben das nicht mehr erlebt. Jetzt ist diese ganze Gegend vom Chansnepp-Kautschuk-Konzern aufgekauft. Der hat am Ufer des Tarkor-Sees ein Institut gebaut. Ein chemisches. Da knobeln sie tolle Dinge aus. Man munkelt, sie können jetzt direkt aus Sand Stoffe machen. Auch Gummi, und wer weiß, was sonst noch. Aber darum geht es nicht. Seit der vorigen Nacht ist in dieser Gegend der Teufel los. Im Park von Tarkor ist keine Menschenseele geblieben. Alle Leute hat man von dort weggebracht. Die ganze Gegend ist von Truppen abgesperrt. Panzer und Flammenwerfer sind aufgefahren. Die Gebäude, in denen sich gestern noch Chansnepps Laboratorien befanden, werden in Brand gesteckt und aus der Luft bombardiert. Die 444
Flugzeuge greifen in Wellen an – eine nach der andern.“ Ritam ließ sich schwerfällig auf der Bank nieder, auf der er am Tag zuvor mit dem geschwätzigen Chauffeur gesessen hatte. Eine kalte Hand griff ihm ans Herz. Was ging hier vor sich? Wie hing das alles zusammen? Tarkor und die Schildkröte in dem Wäschereilieferwagen, die Bombardierung – und doch kein Krieg! Er mußte sofort Cart anrufen. Wahrscheinlich ließ er sich wieder verleugnen. Vielleicht sollte er persönlich hinfahren? Aber der Chef würde ihn natürlich nicht empfangen. Nein, um nichts in der Welt würde er ihn empfangen. „Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Haben Sie nicht doch etwas durcheinandergebracht?“ „O nein, Herr Ritam! Ich mußte ja machen, daß ich herkam, um Nisut abzulösen, aber mein Sohn ist sofort nach Tarkor getrabt. Er ist ein heller Bursche und muß seine Nase in alles stecken. Kurz bevor Sie kamen, ist er von hier wieder losgestiefelt; er hat mir mein Essen gebracht und mir alles erzählt, was er gesehen hat. Dann mußte er in seinen Betrieb. Er arbeitet dort in der zweiten Schicht. Weiter als bis zum Bahnübergang an der Strecke nach Pem ist er allerdings nicht gekommen; überall stehen Soldaten und lassen niemand durch. 445
Von der Endstation der U-Bahn mußte er zu Fuß laufen, weil der Verkehr in Richtung Tarkor gesperrt ist. Auf der Chaussee jagte ein Feuerwehrauto das andere. Es heißt, in der Hauptstadt waren nicht genug, so daß man welche aus Pem, Nuwa und sogar aus Lonar anfordern mußte. Die Feuerwehrleute sollen aufpassen, daß der Park nicht in Brand gerät. Das Feuer darf sich nicht ausbreiten. Nur in der Nähe des Sees wird alles vernichtet.“ „Das ist ja entsetzlich! Was wird denn vernichtet.“ „Das weiß kein Mensch. Mein Junge ist ganz nahe herangekommen. Er war Gott sei Dank nicht im Krieg und wollte sich die Sache einmal ansehen. Er sagt, schon am Bahnübergang kann man nicht mehr atmen. Der Rauch steigt nicht nur nach oben, sondern zieht in Schwaden durch den ganzen Park. Die Soldaten tragen Gasmasken. Die Flugzeuge stoßen in die Rauchschwaden wie in eine Tintenfontäne und werfen ununterbrochen Bomben ab Jedesmal färben sich dann die schwarzen Rauchwolken blutigrot.“ „Unheimlich ist das alles. Ich muß unbedingt Herrn Cart anrufen. Vielleicht weiß er Rat. Was bedeutet diese Sendung aus Tarkor? Und hier, in den Propyläen, wo soviel Wertvolles ist…“ 446
„Was beunruhigen Sie sich? Tarkor liegt doch am entgegengesetzten Ende der Stadt!“ Ritam stand auf, um zum Telefon zu gehen, doch da ertönte aus dem Zimmer das Pausenzeichen des Rundfunks, und der Pförtner zog ihn zum Radioapparat. Es war zehn Uhr morgens. Eine amtliche Verlautbarung der Stadtverwaltung wurde durchgegeben. Darin hieß es, aus technischen Gründen habe man Sofortmaßnahmen zur Zerstörung des Forschungsinstituts des Chansnepp-Kautschuk-Konzerns in Tarkor ergreifen müssen. Die Konzernverwaltung habe sich an die Regierung mit der Bitte um Hilfe gewandt, die auch unverzüglich gewährt worden sei. Es gäbe triftige Gründe für diese außerordentlichen Maßnahmen, da sie jedoch Produktionsgeheimnisse der Firma beträfen, könnten sie nicht öffentlich bekanntgegeben werden. Der Einsatz der erforderlichen Kräfte und Mittel erfolge unter der Leitung hochqualifizierter Offiziere und werde keinerlei Menschenleben kosten. Die Interessen der Aktionäre würden dadurch nicht beeinträchtigt. Die Bevölkerung solle Ruhe und Ordnung bewahren. Ruhe war ungefähr das letzte, was Ritam empfand. Er eilte in die Propyläen, um endlich Cart anzurufen. Um jeden Preis 447
wollte er Klarheit gewinnen und die Unruhe loswerden, die ihn quälte. Als er den Buchenhain durchschritten hatte und wie immer seinen Blick über die lange Enfilade schweifen ließ, erfaßte ihn Schrecken. Das „Mittelalter“ war verschwunden. Sogar von hier, aus der Ferne, sah er, daß an seiner Stelle ein stattliches, in der Sonne gleißendes Gebäude stand. Seitdem Ritam sein Bein verloren hatte, war er noch nie so schnell gelaufen wie jetzt. Durch die ganze Enfilade, nicht weniger als zweihundert Meter, rannte er, wenn man das hastige Humpeln und Hüpfen mit der Prothese so nennen konnte. Nach wenigen Minuten stand er vor der Einöde. Nein, er hatte nicht geträumt und kein Trugbild gesehen. Das „Mittelalter“, halb Burg, halb Kirche, existierte nicht mehr. An seiner Stelle erhob sich ein wunderbares Bauwerk, das wie Perlmutter schimmerte und in allen Regenbogenfarben spielte. Auf der Schattenseite leuchteten die Wände in einem milden Licht. Im Grunde genommen waren das gar keine Wände. Es war eher eine Anhäufung eng aneinandergereihter Säulen, kürzerer und längerer, dünnerer und dickerer, deren fremdartig schöner Aufbau majestätisch wirkte.
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Ritam war wie vom Donner gerührt. Er brachte keinen Laut hervor und konnte kein Glied bewegen, als wäre er gelähmt. Seine Erstarrung löste sich erst, als er die Schildkröte erblickte. Nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, bemerkte er, daß von dem schillernden Bauwerk ein Pfad in die Richtung des römischen Atriums führte. Wo am Tag zuvor noch Feldsteine durcheinandergelegen und Disteln, Kletten und Heidekraut gewuchert hatten, zog sich jetzt ein in den Boden eingedrückter, spiegelglatter, glänzender Streifen hin. Am Ende dieses Streifens, etwas näher zu der Stelle, wo Ritam stand, bewegte sich langsam ein anderthalb Meter hoher Hügel auf das Atrium zu. Hinter ihm blieb wie hinter einem Regenwurm, der über feuchte Erde kriecht, eine glasartige Spur zurück. Ein Surren ging von ihm aus wie von einem Transformator, die Oberfläche seines Körpers pulsierte, und er wälzte sich, einem gigantischen Quecksilbertropfen vergleichbar, der unter der eigenen Schwere plattgedrückt ist, auf die Stelle zu, wo Ritam stand. Es war die „Schildkröte“, ins Riesenhafte vergrößert. Je näher sie Ritam kam, um so deutlicher konnte er die kleinen sechseckigen Schilde oder Höcker auf dem Rücken unterscheiden, um so besser konnte er das 449
monströse Lebewesen betrachten. Weder Kopf noch Glieder waren sehen. Das Ungeheuer bewegte sich mit seiner ganzen Masse, indem es den Schwerpunkt innerhalb seines Körpers dauernd verlagerte. Ritam starrte es wie hypnotisiert an. Außerstande, den Blick von ihm loszureißen, wich er auf dem mit polierten Steinplatten ausgelegten Platz zurück. Sobald die „Schildkröte“ die Einöde hinter sich gelassen hatte und mit dem Vorderteil ihres riesigen Körpers, der an einen zähen Teigklumpen erinnerte, die ersten Granitplatten berührte, bewegte sie sich rascher vorwärts. Die Entfernung vom Rand der Einöde bis zur Augustusstatue legte sie in knapp zwei Minuten zurück. Ritam, der rückwärts auf die Stufen der Balustrade vor dem Atrium zuwankte, stolperte, fiel hin und blieb regungslos liegen. In diesem Augenblick zog sich die „Schildkröte“, die auf ihrem geradlinigen Weg auf die Augustusstatue gestoßen war, in die Länge; aus dem ovalen Hügel wurde eine lange Wurst, deren eines Ende den Sockel überlappte. Das andere blieb kurze Zeit unbeweglich, reckte sich dann gleichfalls hoch und verschmolz mit dem ersten. Es dauerte keine halbe Minute, da hatte sich die klumpige Schildkröte in einen riesigen Kringel verwandelt, der das Werk 450
des großen römischen Bildhauers umschlang. Das Surren verstärkte sich, der unaufhörlich vibrierend Ring dehnte sich aus und leuchtete immer heller. Er umschloß die Statue enger, wurde dünner und länger, bis er eine Art Gefäß um sie bildete. In zwei bis drei Minuten waren der Sockel und das Standbild vollständig von dieser Wand umgeben, so daß der immer noch auf den Stufen liegende Ritam sie nicht mehr sehen konnte. Das Surren schwoll zu einem durchdringenden Pfeifen an und verstummte dann plötzlich. Der Mantel, der die Statue eben noch umhüllt hatte, sank zu Boden. Das Standbild samt Sockel war verschwunden. An der Stelle, wo noch vor wenigen Minuten die vor zwei Jahrtausenden gemeißelte Statue des Kaisers Augustus gestanden hatte, lag ein Häuflein feinen Sandes. Entsetzt schrie Ritam auf, wild und unartikuliert wie ein weidwundes Tier.
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Mr. Foorn Auf Pautoo und in seinem ehemaligen Mutterland verbrachte ich insgesamt nicht weniger als zwei Jahre. In dieser Zeit lernte ich viele Leute kennen, die mehr oder minder mit dem Siliziumproblem zu tun hatten. Aber Pit Foorn, der eine so große, obzwar recht häßliche Rolle hierbei spielte, bekam ich niemals zu Gesicht. Er scheute die Öffentlichkeit und agierte lieber im dunkeln, weshalb er sich häufig eines fremden Namens bediente. In der umfangreichen einschlägigen Literatur wird Foorns Name kaum erwähnt. Insbesondere wird seine Rolle bei den Ereignissen, die zur Bombardierung Tarkors führten, geflissentlich verschwiegen. Auch im Bericht der Internationalen Kommission, die im Mutterland Westpautoos Untersuchungen über die Siliziten durchführte, findet sich kein Wort über seine Machenschaften. Erst viel später erfuhr ich dank einer Verkettung glücklicher Umstände, was die abstrakte Skulptur im Arbeitszimmer Carts mit den Tarkorer Ereignissen zu tun hatte. Vor drei Monaten, als diese Aufzeichnungen bereits druckfertig waren, unterhielt ich mich mit Asquith und gestand ihm, daß mir die Gründe, die zur Bombardierung von Tarkor geführt hätten, immer 452
noch unbekannt seien. Seine Antwort war typisch: „Schwer zu sagen, ob der Fisch anbeißt, wenn der Köder verkehrt ausgeworfen wird. Ihr tut alle, als wäret ihr Unschuldsengel, und habt Angst, euch die Hände zu beschmutzen. Ich aber mußte oft genug im Dreck wühlen und lernte in Chansnepps Spionageorganisation die niederträchtigsten, allerdings auch die interessantesten Kerle kennen. Das gehört nun der Vergangenheit an. Ich kann Ihnen also ruhig gestehen, daß wir von den Ursachen, die zu dieser Katastrophe führten, nur durch Nisem erfahren haben.“ Ich versuchte, mich zu erinnern, wo ich diesen Namen schon gehört hatte. Nisem? Nisem? „Ach ja, das ist doch der Privatsekretär von Cart!“ „Richtig! Ich kannte ihn schon, als er noch ein halbverhungerter, gefräßiger Nestling war. Bei Cart wuchs er sich zu einem großen, fetten Vogel aus.“ „Klar! Er ließ sich vom einen wie vom andern füttern.“ „Bravo! Sie machen Fortschritte. Ja, Nisem. Er war es, der Cart diese barbarische nicht rostende Skulptur unterschob, und zwar sehr geschickt. Sie wissen, Alexej Nikolajewitsch, ich liebe abgefeimte Halunken. Das sind interessante Typen, voraus453
gesetzt natürlich, daß sie nicht allzu abstoßend sind.“ Ich biß mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Zu ebendiesen interessanten und nicht allzu abstoßenden Typen gehörte auch Asquith. Aber darauf kam es jetzt nicht an; ich wollte möglichst viele Einzelheiten über Tarkor erfahren. Asquith hatte bereits mit Chansnepp gebrochen. Er arbeitete ebenso wie ich am Vereinigten Siliziuminstitut und konnte es sich daher leisten, mir gegenüber offener zu sein als früher. „Was hat es mit dieser Skulptur für eine Bewandtnis?“ fragte ich ihn. „Sie waren doch bei Cart und kennen sein hypermodernes Arbeitszimmer? Na also, seine Vorliebe für abstrakte Kunstwerke ist alten Datums und noch viel blödsinniger als sein Einfall mit der ,Enfilade der Künste’. Sie haben sicher den riesigen Schinken ,Triumph des Unvermeidlichen’ bemerkt, der die halbe Wand einnimmt? Damit fing sein Spleen an. Dann erwarb er diese, mit Verlaub zu sagen, Skulptur, bei deren Anblick der selige Ulmaro bestimmt einen Herzanfall bekommen hätte. Dieses Machwerk schwatzte ihm Nisem auf. Wie ich schon sagte, schlug sich Nisem damals mehr schlecht als recht durch. Zweifellos ist er ein fähiger, kenntnisreicher Mann, aber auch maßlos habgierig und skrupel454
los. Von dem Widerspruch zwischen Wollen und Können hin und her gerissen, kam er lange auf keinen grünen Zweig, bis er die recht einfache, gängige und praktische Wahrheit erkannte: Alles ist käuflich, und alles ist verkäuflich. Zuerst kaufte er für Cart Mitarbeiter meines ehemaligen Chefs, dann verkaufte er sich selbst mit Haut und Haaren an Chansnepp. Der rechnete damit, daß er mit seiner Hilfe auch etwas über Foorn erfahren werde, diesen leibhaftigen Mephisto. Aber die Rechnung ging nicht auf. Sogar Nisem durfte, als er bereits Carts Privatsekretär war, dessen Arbeitszimmer nicht betreten, wenn sich Austin mit seinem Pit dort eingeschlossen hatte.“ „Und die Skulptur kam ihnen hinter die Schliche?“ „Ja, Nisem brauchte nur zur rechten Zeit auf einen Knopf zu drücken und regelmäßig ein Tonband auszuwechseln. Leider kam er zu spät auf diese brillante Idee. Viel zu spät für unsere Zwecke. Eine verteufelte Geschichte! Bis heute kann ich es mir nicht verzeihen. Wäre ich damals nicht auf Pautoo und Chansnepp nicht in Nizza gewesen, so hätten wir früher von Foorns Streich erfahren. Im übrigen halte ich mich an die Devise: Eine Dummheit soll man nicht bereuen, aber auch nicht wiederholen.“ 455
„Eine ausgezeichnete Devise! Und wie stellen Sie es an, hier im Vereinigten Institut Tonbandgeräte einzubauen?“ Asquith lachte schallend. Nein, man konnte ihm nicht vorwerfen, daß er die Aufrichtigkeit zu weit trieb, obwohl es so aussah, als mache er in dieser Zeit nicht soviel Winkelzüge wie sonst. „Wissen Sie, Alexej Nikolajewitsch, Sie sind manchmal wirklich amüsant. Wollen Sie wissen, was in jener Nacht in Tarkor vor sich ging?“ Vermutlich blickte ich ihn an wie ein Junge, den man fragt, ob er eine Schreckschußpistole geschenkt haben wolle, denn er fuhr fort: „Kommen Sie heute zu mir. Wir wollen uns anhören, mit welchen Stimmen die Skulptur sprach. Aber das ist unwichtig. Die Hauptsache, wir werden Imschëu trinken, mit dem Flugzeug frisch aus Makimi gebracht.“ Natürlich fuhr ich zu Asquith. Wir hatten ein aufschlußreiches Gespräch und hörten die Tonbänder ab. Danach sah ich die Ereignisse von Tarkor in einem völlig neuen Licht. Um Genaueres über Asquiths und Rodbars Forschungsarbeiten zu erfahren, verschwendete Cart eine Menge Zeit und Geld. Doch alle seine Bemühungen blieben ergebnislos, bis ihm der Zufall zu Hilfe kam. 456
Schon seit langem hatte er den „Fall Rodbar“ Foorn anvertraut, der sich wie kein anderer für diese Aufgabe eignete. Ziemlich beschlagen in synthetischer Chemie und zudem versessen auf Abenteuer, von unversiegbarer Energie und keineswegs zimperlich, was Ehre, Gewissen und Anstand betrifft, nahm sich Foorn dieses „Falles“ mit der Waghalsigkeit eines Hasardspielers an. Wären ihm diese Eigenschaften abgegangen, so hätte Cart den „Fall Rodbar“ wahrscheinlich nicht einmal ihm übertragen. Gerade in dieser Waghalsigkeit sah der Kautschukmagnat das Unterpfand des Erfolgs. Da Foorn sich mehr aus sportlichem Ehrgeiz als aus Habgier damit befaßte, das Geheimnis zu lüften, stand weniger zu befürchten, daß er sich vom Gegner bestechen lassen würde. Cart pflegte keinem Menschen volles Vertrauen zu schenken, nicht einmal Foorn, zu dem er in nahen, fast freundschaftlichen Beziehungen stand. Auf den ersten Blick mochte das absonderlich erscheinen. Foorn war bedeutend jünger als Cart und durchaus nicht reich. Aber er verstand es, so aufzutreten, daß er seinem Chef nie lästig fiel. Das Geheimnis ihrer Freundschaft lag wohl auch darin, daß Cart, der notgedrungen allen Menschen mit Mißtrauen begegnete, im Grunde sehr einsam war. Den Ausschlag aber gaben natürlich Foorns Ver457
dienste, denn er hatte auf Pautoo mit List und Tücke vieles zuwege gebracht, was es Cart ermöglichte, seine Positionen sogar dort auszubauen, wo sein Konkurrent Chansnepp fest im Sattel saß. Je unverwundbarer Rodbar zu sein schien, um so stärker packte den rastlosen Foorn der Ehrgeiz und um so hartnäckiger ging er auf sein Ziel los. Dabei ließ er sich nicht zu Übereifer hinreißen. Er vermied sorgfältig jeden falschen Schritt und brachte trotz allen Tatendrangs die Geduld auf, eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Anderthalb Monate vor der Bombardierung Tarkors erklärte er seinem Chef, eine solche Gelegenheit habe sich endlich gefunden. „Unsinn, altes Haus, meine Geduld ist längst erschöpft, und ich glaube weder Ihnen noch dem Zufall. Trinken wir lieber!“ „Was? Sie glauben mir nicht?“ „Nein, nein, Pit, wir sind hier nicht im Dschungel. Ich wiederhole allen Ernstes: Trinken wir lieber.“ Die Anspielung auf den Dschungel behagte Foorn offenbar nicht. Cart wußte über seine Umtriebe in den Kolonien mehr, als ihm lieb war. „Na, erzählen Sie schon, worauf Sie Ihre Hoffnung setzen. Was meinen Sie mit der günstigen Gelegenheit, Pit?“ „Einen Unglücksfall.“ 458
„Können Sie sich nicht klarer ausdrükken?“ „Warum nicht? Dieser Tage ist ein Mann, der eben erst aus dem Ausland kam, tödlich verunglückt.“ „Bis jetzt weiß ich zwar nicht, worauf Sie hinauswollen, aber Sie haben mich neugierig gemacht. Wenn es mit Rodbar zu tun hat, dann legen Sie die Karten offen auf den Tisch.“ „Es hat mit ihm zu tun! Gestern rief mich der Polizeikommissar an und bat mich um einen Rat. Es ging um einen Chemiker, der vor zwei Tagen aus dem Ausland gekommen war. Als er die U-Bahn verließ und die Chaussee nach Pem entlangging, überfuhr ihn ein Auto. Eine Stunde später starb er im Sankt-AnnaKrankenhaus, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Die Polizei stellte fest, daß er ein Zimmer in einem zweitrangigen Gasthaus belegt hatte und fast kein Reisegepäck besaß. Die im Gasthaus beschlagnahmten Papiere waren in bester Ordnung. Man ersah daraus, daß er völlig allein stand.“ „Eine rührende Geschichte! Aber was hat das mit dem uns interessierenden Fall zu tun?“ „Sehr viel! Unter seinen Papieren befand sich ein Empfehlungsbrief.“ „Oh, ich beginne zu verstehen, Pit.“ 459
„Wir sind am Ziel, Austin!“ „Hoffentlich! Aber Eile mit Weile. Wir wollen alles gründlich und vor allem in Ruhe besprechen. Zunächst, was für eine Rolle spielt hier der Polizeikommissar, und warum hat er sich ausgerechnet an Sie gewandt?“ „Das war ein Zufall. Alles andere hängt davon ab, wie wir diesen Zufall ausnutzen. In dem Empfehlungsbrief ist kein Empfänger genannt. Ein Briefumschlag wurde nicht gefunden. Der Kommissar, der mich flüchtig kennt, fragte mich, ob ich nach dem Inhalt feststellen könne, zu welchem Wissenschaftler der Verunglückte habe gehen wollen.“ „Und Sie stellten das fest?“ „Selbstverständlich. Ich versicherte dem Kommissar, der Brief sei zweifellos für unsern Professor Nemit bestimmt, setzte hinzu, der Professor werde sicher sehr niedergeschlagen sein, wenn er erfahre, daß der Schützling seines Freundes umgekommen sei, und erbot mich, ihm diese traurige Nachricht selbst zu überbringen.“ „Und der Brief?“ „Hier ist er.“ Der Brief war kurz und herzlich. „Lieber Freund! Schon lange habe ich keine Nachricht mehr von Dir, und das beunruhigt mich allmählich. Ich arbeite immer noch an dem 460
Problem, das Dich so sehr interessiert, und glaube an einen baldigen Erfolg. Die Ergebnisse werde ich Dir berichten, wenn es soweit ist. Jetzt aber freue ich mich, Deine Bitte erfüllen und Dir einen zuverlässigen Menschen schicken zu können. Er ist der Sohn unseres verstorbenen P., und damit ist alles gesagt. Ohne Zweifel ist er begabt, dabei begeisterungsfähig und ehrlich. Du kannst Dich unbedingt auf ihn verlassen. Ich glaube an den Erfolg und an die Macht der Vernunft. Mit freundlichen Grüßen Dein A.“ Cart las den Brief, dessen Inhalt für einen Außenseiter kaum verständlich war, mehrmals durch und überlegte eine Weile. Hier bot sich in der Tat eine einmalige Gelegenheit. Gemeinsam arbeiteten die beiden nun einen „Angriffsplan“ aus. Dann zeigte Foorn, was in ihm steckte. Zuallererst sorgte er dafür, daß die Reporter, die ihr Brot mit der Ausschlachtung von Polizeiberichten verdienten, in den Zeitungen nichts über den Unglücksfall auf der Pemer Chaussee brachten. Er drückte jedem ein Mehrfaches des Honorars in die Hand, das seine Redaktion gezahlt hätte, und stopfte ihnen damit den Mund. Nur in einem kleinen Lokalblättchen erschien eine kurze No461
tiz, aber es bestand kaum Gefahr, daß der ominöse A., der den verunglückten Chemiker an Professor Rodbar empfohlen hatte, sie zu Gesicht bekommen würde. Hierauf reiste Foorn ins Ausland. In der alten Universitätsstadt, aus der der Chemiker gekommen war, fiel es ihm nicht schwer, in Erfahrung zu bringen, wer sich hinter dem unterzeichneten Buchstaben verbarg. Wie Foorn angenommen hatte, handelte es sich um den berühmten Professor Arnolds, der seit langem mit Rodbar in Briefwechsel stand. Foorn erkundete alles Wissenswerte über den Mann, den Arnolds seinem Freund Rodbar empfohlen hatte, und entschied, daß er das Spiel nun wagen könne. So schlich sich Foorn unter dem Namen des tödlich verunglückten Chemikers in Chansnepps Tarkorer Institut ein und bewarb sich bei Professor Rodbar um Arbeit. Dieser stellte ihn ohne weiteres ein. Er schien nicht den geringsten Zweifel, nicht den kleinsten Verdacht zu hegen. Aber für Carts Pläne genügte das nicht. Kein Mitarbeiter Rodbars, nicht einmal von jenen, die zu dem auf dem Institutsgelände abgesondert liegenden Hof Zutritt hatten, wußte, was in den Geheimabteilungen des Laboratoriums geschah. Rodbar beschäftigte dort zwei Gehilfen, die ihre Arbeitsstätte niemals verließen, auch nicht zum Essen und 462
Schlafen, und bis zum Abschluß der ihnen übertragenen Arbeiten nur mit dem pautooanischen Gelehrten zusammenkamen. Die übrigen Mitarbeiter kannten die beiden nicht und sahen sie niemals, weil Rodbar persönlich ihre Verbindung zur Außenwelt aufrechterhielt. Das hatte Foorn nicht erwartet, und es entmutigte ihn bis zu einem gewissen Grade. Er verwünschte Rodbar, wütend darüber, daß dieser sein Geheimnis vor ungebetenen Eindringlingen mit der weisen Voraussicht eines Orientalen absicherte, konnte aber nichts dagegen tun. Als Europäer von Natur aus ungeduldig, war Foorn nahe daran, das Spiel aufzugeben. Doch als ein Mann, der lange im Orient gelebt und das Warten gelernt hatte, sagte er sich immer wieder, daß ihn nur Geduld weiterbringen könne. Aus den Aufträgen, die Rodbar seinen Chemikern und Biologen gab, ließen sich keine Schlüsse ziehen, was im Allerheiligsten vor sich ging. Immerhin aber zeugten sie davon, daß Rodbar an etwas arbeitete, was zur sonstigen Tätigkeit des Instituts in keinerlei Beziehung stand. Das war zwar bemerkenswert, brachte Foorn seinem Ziel jedoch keinen Schritt näher. Sein überschäumendes Temperament fand sich nur schwer mit dem Zwang ab, Tag für Tag mühselige Kleinarbeit zu leisten, die zu463
dem überdurchschnittliche Kenntnisse erforderte. Er mußte sich an alles erinnern, was er an der Universität gelernt hatte, und alles vergessen, was ihm auf den Plantagen von Nutzen gewesen war. Des Abends, nach dem angespannten Arbeitstag – in Chansnepps Institut wurden gute Gehälter gezahlt, aber auch hohe Leistungen verlangt –, mußte er sich fleißig auf den Hosenboden setzen und gründlich die Fachliteratur studieren, um nicht als blutiger Laie dazustehen. Foorn war ein heller Kopf, wendig und findig. Wo sein Wissen nicht ausreichte, half er sich mit Mutterwitz und gebrauchte die Ellenbogen. Mitunter fesselte ihn die gestellte Aufgabe dermaßen, daß er vergaß, weshalb er hierhergekommen war. Dann aber packte ihn wieder unwiderstehlich die Gier nach einem Leben in Saus und Braus, voller Prasserei und Intrigen. Dabei mußte er die Rolle eines bescheidenen Chemikers spielen, der zwar ein ansehnliches Gehalt bezog, aber nicht über seine Mittel leben durfte. Am unerträglichsten war ihm der Gedanke, daß sich in dem Hof hinter der Mauer ein sorgsam gehütetes Geheimnis verbarg, in das einzudringen für ihn keine Möglichkeit bestand. Dennoch tat er einiges. Vorsichtig, ohne sich zu weit vorzuwagen, aber stets auf dem Sprung, versuchte er, sich seinem Ziel zu nähern. 464
Er verstand es, wenn nicht das volle Vertrauen, so doch die Zuneigung des Professors zu erwerben. Rodbar gefielen die Regsamkeit und Unternehmungslust des neueingestellten Chemikers, seine Fähigkeit, Wissenslücken auszufüllen und Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Charakterzüge besaß er selbst in hohem Grade, und wer weiß, ob er nicht manchmal überlegte, ob er Foorn ins Vertrauen ziehen und ihm einen Teil der geheimen Arbeiten übertragen sollte. Da Foorn begriff, daß übergroße Neugier nur schaden konnte, stellte er niemals Fragen, die den Professor stutzig gemacht hätten, und legte es darauf an, sich als ergebener, taktvoller Mitarbeiter zu erweisen, der auch in einer ungewöhnlichen Situation seinen Mann zu stehen weiß. Natürlich konnte Foorn nicht nur darauf bauen, daß Rodbar ihn eines schönen Tages in das Geheimnis einweihen werde. Wie immer vertraute er vor allem darauf, daß ihm der Zufall helfen werde, und hielt sich bereit, die erste günstige Gelegenheit beim Schopf zu packen. Doch diesmal kam es nicht dazu. Ende April wurde bekannt, daß Professor Arnolds beabsichtigte, nach Tarkor zu kommen. Warum Foorns Namenfälschung bis dahin unentdeckt geblieben war, ist schwer erklärlich. Vermutlich hatte Rodbar seinerzeit Arnolds geschrieben, daß er den 465
von ihm empfohlenen Mann eingestellt habe und mit ihm zufrieden sei, und sich danach nicht weiter um diese Angelegenheit gekümmert. Jetzt, da Arnolds’ Ankunft zu Foorns Entlarvung führen mußte, brachen seine und Carts Hoffnungen jäh zusammen. Um zu retten, was noch zu retten war, entschloß sich Foorn zu einem verzweifelten Schritt. In Einzelheiten seines Plans weihte er nicht einmal Cart ein. Er trank viel, wurde noch gelber im Gesicht und bereitete sich fieberhaft auf den Angriff vor. Bald verschwand er völlig aus Carts Blickfeld. Er argwöhnte, daß er beobachtet wurde, und ging deshalb mit äußerster Vorsicht ans Werk. Zugleich durfte er keine Zeit verlieren, denn Arnolds konnte jeden Tag eintreffen. Cart hatte keinerlei Nachricht von seinem Kundschafter. Am Morgen des 27. April aber begann die Bombardierung Tarkors. Was ist dort los? fragte sich Cart. Was macht Foorn? Warum läßt er nichts von sich hören? Was soll ich tun? Er schickte Leute nach Tarkor, die jedoch unverrichteterdinge zurückkamen. Die Truppen, die den Park umzingelten, ließen niemand durch. Von der amtlichen Verlautbarung der Stadtverwaltung erfuhr er zwar, bevor der Rundfunk sie durchgab, aber davon wurde ihm nicht leichter. Er 466
schickte sich schon an, selbst zum Rathaus zu fahren, aber in diesem Augenblick stürmte, fluchend und Nisem, der sich ihm in den Weg stellte, beiseite schiebend, ein Feuerwehrmann in schmutzverkrustetem Drillichzeug ins Arbeitszimmer, ließ sich erschöpft in einen der tiefen Klubsessel fallen und sagte heiser: „Whisky, Austin! Lassen Sie sofort Whisky bringen.“ „Foorn? Wo kommen Sie denn her?“ „Geradewegs aus der Hölle.“ „Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Pit! Sagen Sie kurz und bündig: Was ist in Tarkor los?“ „Kurz und bündig?“ Foorn brach in ein hysterisches Lachen aus. „Kriegen Sie es da nicht mit der Angst zu tun? Nein, ich will lieber der Reihe nach erzählen. Ich hatte schon eine Weile das Gefühl, daß ich beobachtet wurde. Vielleicht wurde ich wirklich beobachtet, ich weiß es nicht. Jedenfalls nahm ich mich verdammt in acht, um das Unternehmen nicht zu gefährden. Ich mußte mich beeilen. Jeden Tag konnte Arnolds eintreffen. Dann wäre alles verloren gewesen. Nicht ohne Mühe gelang es mir, einen Nachschlüssel zur ersten Tür anzufertigen. Tausendmal überlegte ich, wie ich sie öffnen könnte, ohne Alarm auszulösen. Und… und als ich sie aufsperren 467
wollte, war sie überhaupt nicht verschlossen. Wissen Sie, Austin, das ärgerte mich eher, als daß es mich freute. Ich hatte doch soviel Mühe auf die Anfertigung des Nachschlüssels verwandt! Aber ich eile voraus. Vor allem muß ich etwas über Hudshub sagen. Ich habe Ihnen einmal von ihm erzählt, aber damals wußte ich noch nicht, was für eine Rolle er bei unserm Unternehmen spielen würde. Gleich am ersten Tag meiner Arbeit in Rodbars Labor fiel mir dieser impulsive, hitzköpfige, dabei aber scharfsinnige und willensstarke Mann auf. Wegen seines freundlichen, umgänglichen Wesens genoß er allgemeine Wertschätzung, obwohl er seiner Stellung nach nicht höher stand als die andern. Rodbar übertrug ihm zwar verantwortlichere Arbeiten, zog ihn aber den übrigen Mitarbeitern sonst nicht vor. Trotzdem spürte ich in Hudshub etwas, was ihn über die andern erhob. Vielleicht bespitzelt er uns im Auftrag Rodbars, dachte ich. Immerhin ist er Pautooaner. Seitdem mir dieser Verdacht gekommen war, behielt ich Hudshub im Auge und kam bald dahinter, daß er mich seinerseits beobachtete. Warum? Entweder war er wirklich ein Spion Rodbars, oder er wollte selbst in das Geheimnis eindringen und nahm sich vor mir in acht, weil er merkte, 468
daß ich dasselbe vorhatte. Seitdem ich im Besitz des Nachschlüssels war, schien es mir, als beobachte er mich besonders scharf. In meiner Freizeit verschanzte ich mich, um keinerlei Verdacht zu erregen, in dem Cottage, in dem ich neben dem Institut wohnte. Der Bursche ließ sich nicht die geringste Unvorsichtigkeit zuschulden kommen, aber ich kannte ihn mittlerweile so gut, daß mir gewisse Einzelheiten, die mir verdächtig erschienen, nicht entgingen. Am Mittwoch, dem 25., war er sehr nervös. Außer mir bemerkte das wohl kaum jemand. Äußerlich gab er sich fröhlich wie immer, scherzte und lachte, aber damit konnte er mich nicht täuschen. Ich entschloß mich, alles auf eine Karte zu setzen. Es wäre unvernünftig gewesen, länger zu warten. An diesem Abend konnte ich mir keinen Vorwand ausdenken, um länger im Labor zu bleiben, und ging nach Hause. Um Mitternacht schlich ich mich ins Labor zurück. In Hudshubs Arbeitszimmer brannte Licht. Auf seinem Schreibtisch lag alles kunterbunt durcheinander, während er sonst immer aufräumte, bevor er wegging. Auch sein Kittel fehlte, und mehrere Gasbrenner sowie ein Soxhletapparat waren in Betrieb. Alles sprach dafür, daß er das Labor nicht verlassen hatte. Vielleicht war er bei Rodbar? Sollte er wirklich zur Nachtzeit Anwei469
sungen von ihm erhalten? Dessen wollte ich mich vergewissern. Am Ende des Ganges befand sich eine Stahltür. Durch diese Tür kam und ging Rodbar. Es war der Zugang zu seiner uneinnehmbaren Festung. Den Schlüssel besaß ich. Aber was erwartete mich dort, hinter der ersten Tür? Weitere Türen? Eine Alarmanlage? Immerhin war ich in einer günstigeren Lage als Hudshub, vorausgesetzt, er steckte mit Rodbar nicht unter einer Decke. Denn ich wußte, daß er hineingegangen war, ohne Alarm auszulösen. Und ich entschloß mich, ebenfalls hineinzugehen.“ „Und was war dort?“ fragte Cart ungeduldig. „Noch lange nicht das Schlimmste, Austin. Das Schlimmste kam nachher. Ich hatte einen Mikrolokator und eine Stablampe bei mir. Geräuschlos öffnete ich die Tür und betrat einen schmalen Korridor. Davon gingen vier Türen aus. Ich nehme an, sie führten zu den Wohnräumen Rodbars und seiner Gehilfen. Ein paar Schritte mit angehaltenem Atem – und ich befand mich in einem großen, hohen Saal. Vorsichtig leuchtete ich ihn mit der Stablampe ab. Durch den ganzen Saal liefen Schienen. Darauf standen Karren mit Blechbehältern. Die Karren waren so gebaut, daß man sie zusammen mit den Behältern in Apparate an einer Längswand des Saales 470
schieben konnte. Ob Sie’s glauben oder nicht, Austin, ich stand da wie der Ochse am Berg. Solche Apparate habe ich noch nie im Leben gesehen. Sie sahen aus wie Backöfen in einer Brotfabrik, in die Blechtröge mit Teig hineingeschoben werden. Ich vergaß völlig, daß ich jeden Augenblick entdeckt werden konnte, so brannte ich vor Neugier, zu erfahren, was hier gebakken wurde. Aber ich fürchtete mich, die Apparate zu berühren. Nicht einmal den Mikrolokator schaltete ich ein; wer weiß, was seine Strahlen bewirkt hätten. Ich blickte in die Behälter hinein, sie waren leer. Dann ging ich durch den ganzen Saal. An seinem Ende befand sich ein ebensolcher schmaler Korridor wie der, durch den ich gekommen war. Und plötzlich fiel das Licht meiner Stablampe auf Hudshub. Wissen Sie, Austin, das war das Schlimmste! Wundern Sie sich nicht! Was nachher kam, war so schrecklich, daß sogar einem Mann, der im Dschungel waffenlos einem Tiger gegenübergestanden hat, das Blut in den Adern gerinnen konnte. Aber wie gesagt, das war nachher. Da stumpfte sich das Gefühl schon ab, und die Nerven streikten. Ich empfand nicht mehr, wie man einen übermäßigen Schmerz nicht mehr spürt, weil der Schock zu groß ist. Doch in diesem Augenblick… Stellen Sie sich vor, Austin, Hudshub zappelte zwi471
schen zwei dicken Glasscheiben wie eine Fliege im Doppelfenster. Ich knipste die Lampe aus und überlegte mir, nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, daß er denselben Weg gekommen sein mußte wie ich. Dann betrat er diesen Korridor, und als er sich dem Ende näherte, schlossen sich vor und hinter ihm blitzschnell diese Glaswände. Jetzt zweifelte ich nicht mehr: Hudshub war gegen Rodbar! Großartig! Nun konnte ich, mußte ich ihn zu unserm Verbündeten machen. Ich beleuchtete ihn wieder mit der Stablampe. Lange blickten wir einander schweigend an. Schließlich sagte er etwas zu mir, aber ich konnte nichts verstehen. Das Glas war organisch und so dick, daß es keinen Laut durchließ. Und mir stand auch nicht der Sinn nach Worten. Ich wollte durch die Tat beweisen, daß ich zu Hudshub hielt, und versuchte, ihn zu befreien. Jetzt wagte ich auch, den Mikrolokator einzuschalten, und untersuchte damit, wie die in die Wand eingelassenen Drähte verliefen, die diese Teufelsfalle steuerten. Nicht weniger als eine Stunde plagte ich mich damit ab. Endlich glaubte ich hinter das Schaltbild gekommen zu sein. Begreifen Sie, Austin, die Lage war derart, daß sich das Risiko lohnte, und ich drückte auf einen Hebel.“ „Und?“ „Hudshub verschwand.“ 472
„Foorn!“ „Sie haben richtig verstanden: Hudshub verschwand. Die beiden Glaswände glitten zur Seite, der Durchgang war frei, aber zusammen mit den Wänden wurde auch er fortgezogen. Bis jetzt weiß ich nicht, wohin. Ich probierte nacheinander alle Hebel aus, richtete den Lokator bald hierhin, bald dorthin und vergaß völlig, daß ich ein Alarmsignal auslösen konnte. Aber was ich dann auslöste, war hunderttausendmal schlimmer. Auf der Suche nach den Schaltern für die Steuerung der Falle tastete ich die Wand Meter um Meter ab und bemerkte gar nicht, daß ich dabei den Korridor durchschritt und einen zweiten Saal betrat. Das war ein unheimlich düsterer Raum. Zuerst konnte ich überhaupt nichts Rechtes unterscheiden, und mir war auch nicht danach zumute. Ich bemühte mich immer noch, hinter das Steuerungsschema dieser höllischen Vorrichtung zu kommen. Natürlich hätte ich weglaufen und alles in dem Zustand lassen können, wie es war. Das lag durchaus im Bereich der Möglichkeit. Aber ich tat es nicht. Nein, Austin, und ich bedaure es nicht, trotz allem, was dann geschah. Ich berichte ausführlich, das ist nötig. Sie müssen alles ganz genau wissen. Also zurück zu diesen verdammten Schaltknöpfen. Ich fühlte schon, daß sich mein Hirn im Schädel ebenso abzappelte 473
wie Hudshub zwischen diesen Plexiglasscheiben. Immer noch hoffte ich ihn zu befreien und drückte zum soundsovielten Mal auf einen Knopf. Da versank in dem düsteren Saal eine Stahltür im Boden, und heraus kroch etwas Rundes, matt Leuchtendes und leise Surrendes. Es dauerte nur Sekunden, und ich kauerte unter der Decke. Wie ich die eiserne Feuerleiter an der Wand entdeckte, ist mir selbst ein Rätsel. Sie wissen, Austin, ich bin kein Angsthase, und wenn ich, was oft genug der Fall war, einem Raubtier begegnet bin, das auf unserm Planeten heimisch ist, bin ich ihm stets als ein Mann gegenübergetreten, als ein Wesen, das stärker ist als jedes Raubtier. Doch hier… Hätte das Ungeheuer glühende Augen, tödliche Krallen, scharfe Reißzähne oder riesige Hauer gehabt, wäre ich irgendwie damit fertig geworden. Aber nein, nichts dergleichen! Verstehen Sie, absolut nichts. Weder Augen noch Glieder – nichts. Und doch bewegte es sich, leuchtete, surrte, und ich fühlte: Das ist ein Lebewesen. In diesen ersten Minuten unserer Begegnung empfand ich deutlich, daß eine Kraft in ihm wirkte, die unser Verständnis, unser Begriffsvermögen weit übersteigt. Todesangst preßte mich an die Leiter. Meine Hände umklammerten die kalten Sprossen, und das beruhigte mich etwas. Ekel, wie 474
man ihn beim Anblick eines giftigen Reptils empfindet, beherrschte mich nun, als ich diesen Körper betrachtete, der sich langsam vorwärts wälzte und die ganze Zeit pulsierte. Doch Ekel läßt sich offenbar leichter überwinden als andere Empfindungen. Oben auf der Leiter fühlte ich mich sicher, und bald packten mich Neugier und Forscherdrang. Ich überlegte, wie ich mich dem seltsamen Lebewesen nähern und es genauer betrachten könnte, um seine Eigenschaften und Gewohnheiten kennenzulernen. Der Morgen brach an, und das verlieh mir Mut. Jetzt hatte ich nur den einen Wunsch, alles restlos zu erfahren, mich irgendwo zu verstecken und zu beobachten, zu erkunden. Ich sah mich um. Durch das Glasdach des Saals drang Dämmerlicht, und der düstere Raum erhellte sich ein wenig. Er machte jetzt nicht mehr einen so unheimlichen Eindruck wie bei Nacht. Die Leiter, auf der ich immer noch hockte, führte zu einer Tür. Ich hatte mich so weit in meine Lage hineingefunden, daß ich an einen Rückzugsweg dachte. Sie werden zugeben, es wäre unverzeihlich gewesen, so etwas zu erleben und dann keine Möglichkeit mehr zu haben, Ihnen davon zu erzählen. Die Tür war nicht verschlossen, und ich trat auf einen Balkon hinaus, der um den ganzen Laborsaal lief. 475
Jetzt konnte ich mich nach Wunsch in dem einen wie in dem andern Saal umsehen. Der Balkon befand sich etwa vier bis fünf Meter über dem Boden. Von hier aus konnte ich alles gut überblicken. Das Surren, das Rodbars Zögling von sich gab, verstärkte sich. Das Ungeheuer hatte bereits mehrere Meter zurückgelegt und im Betonfußboden eine tiefe Rinne hinterlassen. Als es sich der Wand zwischen den beiden Sälen näherte, schwoll das Surren zu einem lauten Pfeifen an. Knapp zwei Minuten – und es war in der Wand verschwunden.“ „Hören Sie, Pit, wenn ich nicht wüßte, daß Sie…“ „Austin, wir haben nicht viel Zeit. Unterbrechen Sie mich bitte nicht. Sie werden sich bald selbst überzeugen können, daß ich bei klarem Verstand bin. Also stellen Sie sich das einmal vor: Es verschwand mir nichts, dir nichts in der Wand! Drang in die Betonwand ein wie ein Messer in Butter! Und nach zwei bis drei Minuten kam es im Nachbarsaal wieder heraus. Dort bewegte es sich schneller, ohne auch nur einen Millimeter von seiner Richtung abzuweichen. Die Keramikfliesen, mit denen der Fußboden ausgelegt war, schienen dort, wo das Ungeheuer kroch, einfach zu verdunsten. Es fraß wahrhaftig alles in sich hinein und nahm immer mehr an Umfang zu. Jetzt erreichte es schon einen Durch476
messer von mindestens einem Meter. Auf dem Balkon lief ich näher zu ihm hin und überzeugte mich, daß ihm kein Hindernis widerstehen konnte. Einer der riesigen Apparate, von denen ich Ihnen eingangs erzählt habe, war das Ziel dieses Höllengeschöpfes. Es stieß an den massiven Betonsockel, auf dem der Apparat stand, und drang in ihn ein, als befände sich dort eine Öffnung. Das Pfeifen steigerte sich zu einem durchdringenden, klagenden Heulen, welches das Trommelfell dermaßen strapazierte, daß ich vor Schmerz fast taub wurde. Trotzdem hörte ich einen Schrei. Es war Rodbar, der da schrie. Er war auf den Lärm hin aus seinem Zimmer gestürzt und rief nach seinen Assistenten. Auf den Gedanken, daß er sich über meine Anwesenheit auf dem Balkon mehr empören könnte als über den Schabernack seines Pfleglings, kam ich überhaupt nicht. Mir war in diesem Augenblick alles gleich, Hauptsache, ich erfuhr, wie dieser Spuk enden würde. Und das rettete mich. Hätte ich zu fliehen versucht, so wäre ich entdeckt worden, so aber achtete niemand auf mich, und kurz darauf fand ich einen geeigneten Unterschlupf. So konnte ich eine Menge auskundschaften. Bald wurde mir klar, daß Rodbar über keine Mittel verfügte, um seinen Zögling 477
zu bändigen. Er schrie irgendwelche Anweisungen – wegen des Lärms konnte ich nicht alles verstehen –, und seine Assistenten liefen hin und her, konnten aber offensichtlich nichts ausrichten. Der Sockel unter dem Apparat zerfiel, die ganze Anlage stürzte ein, und das Heulen verstummte. Ich dachte, das Ungeheuer liege unter den Trümmern begraben. Aber mitnichten! Die Trümmer gerieten in Bewegung, und siehe da, heraus krochen zwei dieser Fabelwesen, wie kleine Panzer. Zu dem ersten Rodbariden, wie ich die Viecher bei mir nannte, hatte sich also schon ein zweiter gesellt. Deshalb war der Weg des von mir freigelassenen Exemplars auch so geradlinig gewesen. Auf unerklärliche Weise hatte es den von Rodbar in den Apparat gesetzten Artgefährten aufgespürt. Nichts vermochte diesen Drang der Rodbariden zueinander zu zügeln. Rodbar nahm selbst den Kampf gegen sie auf. Er versuchte alles menschenmögliche, um sie wenigstens daran zu hindern, das Laboratorium zu verlassen. Aber das stand nicht in seiner Macht. Als erstes befahl der Professor, die Blechbehälter wegzubringen. Wie ich später erfuhr, befanden sich darin ebensolche Lebewesen. Sie lagen als abgeplattete Kugeln von etwa einem halben Meter Durchmesser auf den Böden der Behälter – der478
selben, die in den Karren auf den Schienen befördert wurden. In diesen Behältern gaben sie keinerlei Lebenszeichen von sich. Sie waren tot oder schliefen. Der Kampf mit den ausgebrochenen Rodbariden dauerte den ganzen Tag. Ich verzog mich unbemerkt in mein Cottage. Im Institut herrschte eine unglaubliche Panik. Außer mir wußte keiner der Mitarbeiter, was sich in Rodbars Labor abspielte. Von Chansnepp kam die Anweisung, das Labor zu räumen. Um diese Zeit trafen die ersten Kraftwagen mit flüssiger Luft ein. Sie wurde mittels verschiedener Methoden in den Saal gespritzt, in dem sich die Rodbariden aufhielten. Aber auch das half nichts. Ebensowenig nützte Tuarokerauch, der das Plasma so erfolgreich gebändigt hatte. Die Rodbariden wühlten sich bereits in den Boden ein und konnten jederzeit an den unerwartetsten Stellen außerhalb des Instituts herauskriechen, in der Stadt auftauchen und Häuser, Brücken und Fahrdämme verzehren, wie sie die Betonsockel der Apparate und die Keramikfliesen des Fußbodens verzehrt hatten. Nun faßte Chansnepp den Entschluß, das ganze Institut zu evakuieren. Diese Gelegenheit, mich ins Vertrauen einzuschleichen, durfte ich nicht versäumen. Ich paßte einen günstigen Augenblick ab, trat auf Rodbar zu, äußerte meinen Verdacht 479
bezüglich Hudshubs und bot meine Hilfe an. Ich tat das so überzeugend, daß Rodbar an meiner Aufrichtigkeit nicht zweifelte. Anscheinend wußte er bereits etwas über Hudshub. Er drückte mir dankbar die Hand und gab Anweisung, mich zur Evakuierung der Geheimabteilung heranzuziehen. Ohnehin fehlte es an Leuten, und ich schien ihm der geeignete Mann zu sein. Ich schloß mich also seinen beiden dunkelhäutigen Assistenten an. Unsere Hauptaufgabe bestand darin, die konservierten Rodbariden zu retten, richtiger gesagt, zu verhindern, daß die ausgebrochenen sich ihnen näherten. Das war jedoch gar nicht so einfach. Eine kurze Ablenkung, eine kleine Unaufmerksamkeit – und schon tummelte sich nicht ein Paar, sondern ein halbes Dutzend dieser Ungeheuer in der Freiheit. Sie befreiten sich gegenseitig. Ich muß schon sagen, in Tarkor ging es ziemlich drunter und drüber. Keine Organisation und Disziplin! Aber es wäre sowieso unmöglich gewesen, die Rodbariden im Labor einzusperren. Gegen Abend war Tarkor völlig evakuiert. Chansnepp wandte sich an die Regierung um Hilfe, und heute früh wurde, wie Sie wissen, mit der Bombardierung des Instituts begonnen.“
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Foorn verstummte. Im Arbeitszimmer trat Stille ein. Durchs Fenster hörte man das ferne Krachen der Bomben. „Wie konnten sie nur!“ ächzte Cart schließlich. „Wie konnten sie nur! So etwas zu vernichten! Das ist ja nicht zu fassen, Pit! Lebewesen auszurotten, die Zement und Keramik verschlingen, die durch Beton kriechen und alles auf ihrem Weg zerstören!“ „Sie sind unverwundbar, Austin. Ich weiß nicht, was das für Geschöpfe sind, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie frisch und munter weiterlebten, als man sie mit flüssiger Luft begoß. Übrigens habe ich meine Zeit nicht vergeudet. Als Chansnepp…“ „Ein Dummkopf ist Chansnepp. Sich so etwas entgehen zu lassen!“ hörte Cart nicht auf zu stöhnen. „Als Chansnepp“, fuhr Foorn unbeirrt und gelassen fort, „die Anweisung gab, das Labor zu räumen, tat ich alles, was in meinen Kräften stand, um das Durcheinander noch zu vergrößern. Die Geheimabteilung durften nur wir drei betreten, und Rodbar natürlich. Wir schleppten alles hinaus, was er uns zeigte. Die übrigen Mitarbeiter übernahmen die Sachen draußen und luden sie auf Lkws. Sie luden unterschiedslos alles auf, Wertvolles und Nutzloses. Es war wie bei einem Brand. Da bringen die 481
Leute eine Suppenterrine in Sicherheit und lassen das Tafelsilber zurück. Zusammen mit der übrigen Einrichtung schleppten wir auch die Karren mit den Behältern hinaus. Diejenigen, in denen die kleinen Rodbariden waren, verstauten wir in Stahlcontainern; die leeren wurden zusammen mit den anderen Sachen verladen. In dem Tohuwabohu gelang es mir, einen vollen Behälter aus der Geheimabteilung beiseite zu schaffen.“ „Und was ist daraus geworden?“ „Geduld, Austin! Ich lief mit einem großen Stativ, das ich mir zur Tarnung unter den, Arm klemmte, in den Hof und sah dort einen Lieferwagen der Großwäscherei Bartney stehen. Sie wissen, es ist meine Gewohnheit, stets einen Packen Geld bei mir zu haben. Ein paar Worte zu dem Schwachkopf von Chauffeur, und er brachte den Behälter in die Propyläen.“ „Was? In die Propyläen?“ „Ja, das war der einzige Ausweg. Ich witterte Unrat. Anscheinend war Rodbar aufgefallen, daß ich alles verkehrt machte, sei es nun aus Dummheit oder mit Absicht. Ich weiß nicht, ob er meinen Trick mit dem Behälter bemerkte. Aber ich glaube nicht. Sonst hätte er sicher Alarm geschlagen. Für alle Fälle schickte ich den Behälter nach den Propyläen. Das konnte keinen Verdacht erregen. Ihn in unser Institut 482
bringen zu lassen wagte ich nicht. Dem Chauffeur trug ich auf, nach dem Verwalter zu fragen und ihm zu sagen, den Behälter habe Herr Cart geschickt. Sonst hätte der allzu pedantische und ängstliche Ritam ihn vielleicht überhaupt nicht angenommen. Der Neger hätte nicht gewußt, wohin damit, und wäre mit dem Teufelsvieh in aller Unschuld durch die Stadt kutschiert. Stellen Sie sich vor, was da hätte passieren können!“ Foorn lachte nervös, beruhigte sich aber rasch wieder und erklärte stolz: „Jetzt ist dieses Lebewesen in unserm Besitz. Begreifen Sie, was das bedeutet? Da haben sie sich nun wer weiß wie lange abgeschunden, um hinter die Geheimnisse Pautoos zu kommen, und wir… Austin, jetzt hängt alles von uns ab. Entweder wir bemächtigen uns dieser ungeheuerlichen Kraft, oder…“ „Immer mit der Ruhe, Foorn“, fiel ihm Cart erregt ins Wort. „Das ist alles sehr verlockend und zugleich beängstigend. Die Verantwortung ist zu groß. Wir wissen nicht einmal, was das für ein Lebewesen ist und was wir mit ihm anfangen sollen.“ „Das werden wir schon herauskriegen! Solange dieses Geschöpf wie eine verängstigte Schildkröte in dem Blechbehälter liegt, brauchen wir nichts zu befürchten. Ich habe einige sehr wichtige Dinge erfahren. Als wir uns mit den konservierten Vie483
chern abplagten, machte uns Rodbar eindringlich darauf aufmerksam, daß nichts Organisches in die Behälter geraten dürfe. Wahrscheinlich brauchen das die Rodbariden als eine Art Katalysator oder Ferment. Rodbar gab ihnen nichts dergleichen, deshalb konnten sie sich nicht entwickeln, blieben friedlich und waren absolut ungefährlich. Weil ich das wußte, entschloß ich mich auch, einen dieser Behälter nach den Propyläen zu schicken. Sobald sich die Panik in Tarkor gelegt hat, können wir selber anfangen zu experimentieren.“ „Sie gehen mir zu scharf ins Zeug, Foorn. Mir scheint, das ist alles nicht so einfach. Asquith und Rodbar haben schon eine Menge erreicht. Auch an der pautooanischen Universität sind mit Hilfe der Russen große Erfolge erzielt worden. Wir aber sind erst dabei, das Siliziumplasma zu meistern. Jusgor hab ich leider nicht gewinnen können. Wer soll also jetzt diese Arbeit leisten, die sicher sehr anziehend, aber auch gefährlich ist? Außerordentlich gefährlich! Ja, wenn Rodbar… Aber daran ist nicht im Traum zu denken.“ „Schon allein deshalb nicht, weil Rodbar aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr lebt.“ „Was ist ihm zugestoßen?“ „An allem ist nur diese verdammte Falle schuld. Na ja, und auch ich, weil ich mich 484
mit meinem Mikrolokator so heillos in dem Schaltbild verhedderte, daß ich die ganze Anlage gründlich versaute. Rodbar fürchtete, die Bombardierung würde einsetzen, während Hudshub noch in der Falle gefangen saß, und beeilte sich, seinen allzu neugierigen Assistenten zu befreien. Was dort im einzelnen vor sich ging, weiß ich nicht. Ich hörte nur, Hudshub sei mit heiler Haut davongekommen, Rodbar aber von dem Mechanismus eingequetscht worden. Einer seiner Assistenten wollte ihn retten und kam dabei selber ums Leben. Rodbar wurde mit schweren inneren Verletzungen ins Krankenhaus geschafft. Ich aber geriet in des Teufels Küche; meine Lage in Tarkor wurde unhaltbar. Offenbar hat Hudshub Zeit gefunden, mich bei Rodbars anderen Assistenten anzuschwärzen. Ich durfte das Laboratorium nicht mehr verlassen und stand unter ständiger Beobachtung. Nur der allgemeinen Panik und meiner Findigkeit verdanke ich es, daß ich entkam, ohne Schaden zu nehmen. Ich bestach einen Feuerwehrmann mit einer hübschen Summe und wechselte mit ihm die Kleider. In der Haut dieses Mannes möchte ich jetzt nicht stecken. Aber was schert es mich, was sie dort mit ihm machen?“ Das Telefon klingelte. Cart drückte auf einen Knopf, um das Gespräch umzulegen, aber der Apparat schrillte erneut. 485
„Ich habe doch gesagt, man soll mich nicht stören. – Wer hat angerufen? Ritam? Schicken Sie ihn zum Teufel! Mir hängen seine… Was?“ Cart plumpste in den Sessel. Der Hörer war seiner Hand entfallen und baumelte haltlos hin und her. Aus dem Mikrofon drang immer noch Nisems Stimme. „Foorn“, preßte der Besitzer der einzigartigen Museumsvilla hervor. „Foorn, die Propyläen gehen zugrunde!“
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Die Rodbariden Vieles von dem, was sich zu jener Zeit im Lande abspielte, verstand ich in seiner ganzen Tragweite erst, als mich das Schicksal mit Pounot Tavour zusammenführte, einem bekannten Journalisten von heiterem Gemüt und provozierendem, quecksilbrigem Wesen. Seine glänzenden, scharfsinnigen Artikel hatten ihm zwar Ruhm, jedoch keine gesicherte Existenz eingebracht. „Ein Journalist“, pflegte er zu sagen, „ist nicht nur ein Mensch mit Füllfederhalter, sondern auch einer mit Gewissen. Ein Füllfederhalter ist käuflich, aber ein Gewissen nicht.“ Und damit setzte er sich meist in die Nesseln. Allerdings stand er nicht nur mit den Herausgebern der Zeitungen, sondern häufig genug auch mit seinem eigenen Gewissen auf Kriegsfuß. Das gab er freimütig zu, obzwar er dabei nie versäumte, auf seinen ständigen und unermüdlichen Kampf mit den Zeitungen hinzuweisen: „Aus der Universität hat man mich einmal hinausgeworfen, aus den Redaktionen weitaus öfter.“ Wie dem auch sei, Tavour galt als ein Mann, der sich und seine Überzeugung zu behaupten wußte. Das Unglück war nur, daß er seine Überzeugung recht oft änderte. Treu blieb er, soweit ich das beurteilen kann, nur seiner Leidenschaft, jede Kor487
ruption anzuprangern und die Monopolherren und ihre Transaktionen zu entlarven. Als ich ihn traf, war er gerade dabei, mit dem Chansnepp-Kautschuk-Konzern abzurechnen, was ihm auch ganz gut gelang; vor allem wohl deshalb, weil seine Artikel in der „Tribüne“ erschienen, die von Cart finanziert wurde. Während Cart in seinem Arbeitszimmer von Foorn über die Vorgänge in Tarkor eingehend unterrichtet wurde, erfuhr der Chefredakteur der „Tribüne“, der zur gleichen Zeit mit Adjin, seinem Stellvertreter, sprach, rein gar nichts darüber. Der Chefredakteur befand sich in einer peinlichen Lage. Die seriöseste Zeitung des Landes, die sich der höchsten Auflage erfreute, besaß immer noch keine glaubwürdigen Informationen über das unwahrscheinliche Ereignis. In unmittelbarer Nähe der Hauptstadt fielen mitten im Frieden pausenlos Bomben – ein beispielloser Fall in der Geschichte des Landes –, und dem einflußreichsten Presseorgan war absolut nichts über die Gründe dieser Bombardierung bekannt. Unvorstellbar! Unerhört! In den hundertzwanzig Jahren ihres Erscheinens hatte die „Tribüne“ dergleichen noch nicht erlebt. Im Gegenteil! Während des Aufstands auf Pautoo beispielsweise wurden die Berichte der Sonderkorrespondenten schon zum Druck gegeben, bevor die 488
von ihnen berichteten Ereignisse überhaupt eingetreten waren. Der Chefredakteur hetzte seine Reporter los und setzte sich selbst telefonisch mit allen in Verbindung, von denen er glaubte erfahren zu können, warum Chansnepp genötigt war, sein eigenes Institut zu vernichten. Doch alles umsonst! Unterdessen nahm die Erregung und Unruhe in der Stadt zu. Die Redaktion wurde von Hunderten von Menschen belagert, die endlich erfahren wollten, was in Tarkor geschah. Die Korrespondenten der ausländischen Nachrichtenagenturen verbreiteten durch Funk- und Kabeltelegramme, über Fernsprecher und Fernschreiber in der ganzen Welt die sensationelle Neuigkeit, wobei sie nicht darauf hinzuweisen vergaßen, daß die Produktion des Chansnepp-KautschukKonzerns von großer militärischer Bedeutung sei. Um 9.30 Uhr veröffentlichte die Stadtverwaltung ihre nichtssagende amtliche Verlautbarung. Die Redaktion gab sofort ein Extrablatt heraus. Doch die Leser der „Tribüne“ waren damit nicht zufrieden. Sie verlangten hartnäckig genauere Einzelheiten. Die Telefonanrufe rissen nicht ab. „Ja, am Apparat. Jawohl, der Chefredakteur der ,Tribüne’. Ich weiß nichts und gebe keine Erklärungen… Nein, nein… Ver489
stehen Sie doch, ich kann mich nicht mit jedem einzelnen Bezieher unterhalten. Wir haben… Ach, Sie sind es! Guten Tag, Herr Torder! Ich war nicht darauf gefaßt, daß Sie persönlich… Verstehe, verstehe… Nein, nichts… Im Augenblick kann ich nichts weiter unternehmen. Glauben Sie mir, ich tue mein möglichstes, aber… Chansnepp? Mit dem kann ich mich nicht in Verbindung setzen. Sehen Sie, ich… Ich habe alles getan, was in meinen Kräften steht.“ Das Vollmondgesicht des Chefredakteurs lief rot an, seine Stirn bedeckte sich mit kleinen Schweißtropfen. Er schielte zu seinem Stellvertreter hinüber und sprach dann hinter der vorgehaltenen Hand leise in den Hörer: „Zu Chansnepp habe ich bereits den Leiter der Informationsabteilung geschickt. Vielleicht empfängt ihn Herr Chansnepp… Gut, ich werde selbst hinfahren.“ Der Chefredakteur legte behutsam den Hörer auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ist Ihnen heiß?“ Der hagere, stets etwas spöttisch grinsende Stellvertreter spitzte seelenruhig einen Bleistift an. „Drohen Ihnen die Felle wegzuschwimmen?“ „Lassen Sie die dummen Scherze, Adjin. Torder macht Börsengeschäfte, und die Börse… Wissen Sie, was sich dort heute 490
tut? Die Börse steht kopf! Die ChansneppKautschuk-Aktien fallen abgrundtief, trotz der beschwichtigenden Erklärung an die Adresse der Aktionäre. Auch die Papiere aller Firmen, die auf die eine oder andere Art mit Chansnepp liiert sind, haben Einbußen zu verzeichnen.“ „Dafür steigen – davon bin ich fest überzeugt – die Cart-Kautschuk-Aktien.“ „Selbstverständlich. Gerade deshalb müssen wir um jeden Preis Informationen über die Tarkorer Vorfälle bekommen.“ „Ich nehme an, Chansnepp wird nicht begeistert sein, wenn in der ‚Tribüne’ Artikel über diese Geschichte erscheinen.“ „Daran ist nichts zu ändern! Chansnepp hat unser Blatt niemals unterstützt, sondern unserer Konkurrenz den Vorzug gegeben. Und jetzt, wo sich die Möglichkeit bietet…“ „… ihn zu ruinieren und damit in der Gunst Carts noch höher zu steigen – das meinen Sie doch? Eine brillante Idee!“ „Sie sind ein Zyniker, Adjin.“ „Mag sein. Sie sind erst drei Jahre bei der ‚Tribüne’, ich aber schon zwölf. Das macht den ganzen Unterschied. Außerdem haben Sie Ihr Geld in Aktien der ,Tribüne’ und des Cart-Konzerns angelegt, während ich überhaupt keine besitze.“ „Trotzdem müssen wir über Tarkor etwas bringen.“ 491
„Natürlich müssen wir. Ich kann Ihnen einen Rat geben, wie wir Informationen bekommen.“ „Heraus mit der Sprache!“ „Wir müssen Tavour damit beauftragen. Wenn er nichts herauskriegt, dann bringt es keiner fertig.“ Der Chefredakteur konnte Tavour, diesen, wie Adjin sich ausdrückte, widerborstigen Burschen, der seine Unabhängigkeit zu wahren verstand, nicht ausstehen. Mit Wonne hätte er sich des unbequemen, allzusehr aus dem Rahmen fallenden Mitarbeiters entledigt. Leider hatte die Sache einen Haken. Tavour hinauszuwerfen war leicht, sich ohne ihn zu behelfen jedoch nicht. Brächten die „Neuesten Nachrichten“ seine Artikel, und das geschähe schon am nächsten Tag nach seinem Bruch mit der „Tribüne“, so würde ihre Auflage sofort steigen und, was Gott verhüte, höher werden als die der „Tribüne“. Nein, mit Tavour mußte man rechnen und seinen Hochmut ertragen. Das war man den Lesern schuldig, bei denen seine Artikel sehr gut ankamen. Vor allem lag das wohl daran, daß der begabte Journalist die Menschen richtig zu nehmen verstand. Wo Tavour auch erschien, in den Hafenkneipen, wo Schauerleute und Matrosen verkehrten, im Elendsviertel auf der Ostseite, wo bunt durcheinandergewürfelt die Ärmsten der 492
Armen hausten, in der City und in den eleganten Villenvororten, wo sich Geschäftsleute, Offiziere und Politiker trafen, überall war er gern gesehen. Mit allen Leuten sprach er wie mit seinesgleichen, humorvoll, freimütig und schlagfertig, und gewann durch seine fröhliche, offene Art ihre Sympathien. Er brauchte niemals nach einem Stoff für seine Artikel zu suchen, das Material bot sich ihm von selbst an, wie das Wild einem guten Jäger vor die Flinte läuft. Am Morgen des 27. April, als sich der Chefredakteur entschloß, Adjins Rat anzunehmen, war Tavour nirgends zu finden. Gut eine Stunde suchte man erfolglos nach ihm. Als Adjin schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, erschien er plötzlich selbst im Arbeitszimmer des Chefredakteurs. In der funkelnagelneuen Uniform eines Panzerleutnants marschierte er im Stechschritt zum Schreibtisch des Chefs, legte zackig die Hand an die Mütze, knallte die Hacken zusammen und nahm, ohne eine Einladung abzuwarten, in einem Sessel Platz. Unter der schwarzen Feldmütze, die keck auf einem Ohr saß, quoll sein strähniges rotblondes Haar hervor. Seine spöttisch zusammengekniffenen kleinen hellblauen Augen huschten vom Chefredakteur zu dessen Stellvertreter. „Gefällt Ihnen die Uniform nicht?“ 493
„Tavour, was soll das heißen? Wollen Sie sich wieder als Kriegsberichterstatter auf den pautooanischen Inseln etablieren?“ „Nein, zum Krieg ist es dort ja nicht gekommen. Die Uniform trage ich aus einem andern Grund: Ich bin eben furchtbar neugierig. Sagen Sie offen, warum machen Sie so erstaunte Gesichter? Gefällt Ihnen die Uniform wirklich nicht? Ich finde sie gut. Adjin, haben Sie keinen Spiegel bei sich? Schade.“ Mit jedem Wort, das Tavour sagte, wuchs die Gereiztheit des Chefredakteurs. In der Stadt überschlugen sich die Ereignisse, jede Minute war kostbar, dieser Bursche aber trieb hier seine idiotischen Späße. Der Teufel mochte wissen, wo er sich umhergetrieben hatte, als man ihn so nötig brauchte, und nun diese Uniform… „Tavour, wir haben Sie den ganzen Morgen gesucht. Wir brauchen schnellstens einen Bericht über Tarkor. Übernehmen Sie das?“ „Teurer Chef, mit Tarkor ist das so eine Sache. Entweder werden die Zeitungen der ganzen Welt voll sein von sensationellen Meldungen darüber oder… Oder niemand wird je Näheres davon erfahren. Allem Anschein nach wird das letztere eintreten. Chansnepp macht alle Anstrengungen, um zu verhindern, daß auch nur eine Zeile über Tarkor in der Presse erscheint.“ 494
„Chansnepp macht alle Anstrengungen! Was Sie nicht sagen! Unsere Aufgabe, Herr Tavour, besteht aber darin, alles zu erfahren und die Leser wahrheitsgemäß zu informieren.“ „Chansnepp wird einfach nicht zulassen, daß etwas veröffentlicht wird.“ „Sie vergessen, daß unsere Zeitung über alles berichtet, daß sie allseitig informiert, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob das gewissen Leuten paßt oder nicht. Die ‚Tribüne’ war einhundertzwanzig Jahre lang ein freies und unabhängiges Presseorgan, und sie bleibt es!“ „Oh, Herr Chefredakteur, ich freue mich, das zu hören. Meinen ergebensten Dank! Sie sind also bereit, in der ‚Tribüne’ einen Bericht über die gegenwärtigen Vorgänge in der Hauptstadt zu bringen?“ Tavour stand auf, strich die Feldbluse glatt und reckte sich zu voller Höhe auf. Seine kleine, ebenmäßige Gestalt wirkte jetzt nicht mehr so komisch wie zuvor. Jungenhaft übermütig blickte er abwechselnd den Chefredakteur und dessen Stellvertreter an. „Sie interessieren sich ernsthaft für die Gründe der Bombardierung?“ „Das versteht sich doch wohl von selbst.“
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„Ausgezeichnet! Und Sie geben mir Ihr Wort“, vergewisserte sich Tavour, „daß meine Artikel erscheinen werden?“ „Ja, ich gebe Ihnen mein Wort.“ „Sie tun mir leid, Chef. Spätestens heute abend werden Sie Ihr Wort zurücknehmen müssen.“ „Hören Sie, Tavour…“ „Sie regen sich ganz umsonst auf und verlieren nur Zeit, wenn Sie mir wieder einen Vortrag über die einhundertzwanzigjährige ruhmreiche und unabhängige Existenz der ‚Tribüne’ halten wollen. Offenbar sind Sie der Meinung, Cart sei an der Entlarvung seines Konkurrenten interessiert, und haben deshalb Ihr Wort so bereitwillig gegeben. Aber ich fürchte, Sie irren sich. Die Haltung Carts wird davon abhängen, wie die Geschichte in den Propyläen ausgeht.“ „Was haben die Propyläen damit zu tun?“ „Die Propyläen sind ebenso wie Tarkor von Truppen umzingelt. Löschzüge und Sanitätswagen, Polizei und Rettungsmannschaften werden dort zusammengezogen. Und ebenso wie nach Tarkor wird auch in die Propyläen kein einziger Reporter hineingelassen.“ „Adjin, was faselt er da?“ „Ich bin nun mal furchtbar neugierig, Chef, und tue alles, um als erster etwas 496
Neues zu erfahren. Deshalb trage ich auch diese Uniform, meine Herren. Adjin, Sie waren immer ein guter Kamerad, sagen Sie ehrlich, steht mir diese Uniform? Sie schweigen? Nun, das ist auch eine Antwort. Leider muß ich Sie jetzt verlassen, meine Herren. Ich werde erwartet. In einigen Stunden bringe ich Ihnen meinen Bericht, und dann setzen wir unser Gespräch über die Unabhängigkeit der ‚Tribüne’ fort. Auf baldiges Wiedersehen!“ Tavour hatte den Chefredakteur der „Tribüne“ richtig informiert. Die Propyläen waren ebenso wie Tarkor von Truppen umzingelt. Darüber hinaus hatte aber der weitblickende Foorn dafür Sorge getragen, daß über die Vorgänge in den Propyläen noch weniger nach außen drang als über die Geschehnisse in Tarkor. Sobald sich Cart einigermaßen von Ritams Hiobsbotschaft erholt hatte, empfahl ihm Foorn, unverzüglich Arbeiter und Angestellte aus der nahe gelegenen Gummifabrik nach den Propyläen zu schicken. Foorn hatte in Tarkor schon Erfahrungen gesammelt und ging daher weit umsichtiger vor, als das in Chansnepps Institut der Fall gewesen war. Wenige Minuten nach Carts und Foorns Ankunft in den Propyläen trafen dort Autobusse, Lastkraftwagen, Personenwagen und Motorräder mit Arbeitern und Angestellten des Cart-Konzerns 497
ein. Foorn sagte seinem Chef, wie er den Leuten die Situation erklären solle, und dieser hielt, auf dem Trittbrett seines Wagens stehend, eine eindringliche Rede, in der er alle Mitarbeiter aufrief, zu einer Sache, die der Wissenschaft größten Nutzen bringen könne, ihren persönlichen Beitrag zu leisten. Dann fuhr er fort: „Wir sind heute überraschend auf eine Erscheinung gestoßen, die der Wissenschaft bislang völlig unbekannt war. Euch zu erklären, liebe Mitarbeiter, worin das Wesen dieser Erscheinung besteht, wäre verfrüht, einmal, weil wir selbst noch zuwenig wissen, zum andern aber auch, weil sich unweigerlich Subjekte finden werden, die es darauf anlegen, unter den Bürgern unserer Stadt schlimme Gerüchte auszustreuen und Panik hervorzurufen.“ Cart besaß eine gewisse Rednergabe und verstand sich darauf, je nach Erfordernis, in langen Reden nichts zu sagen oder in wenigen Worten viel auszudrücken. Er betonte, daß von der Wachsamkeit der zum Schutz der Propyläen eingesetzten Mitarbeiter Wohlfahrt und Sicherheit der Bevölkerung nicht nur der Hauptstadt, sondern möglicherweise des ganzen Landes abhänge. Ferner teilte er mit, er fahre jetzt in die Stadt und kehre auf dem schnellsten Wege mit führenden Vertretern 498
der Nationalen Wissenschaftlichen Gesellschaft zurück. Tatsächlich fuhr er gleich darauf weg, allerdings nicht zu den Gelehrten, wie er angekündigt hatte, sondern zum Kriegsministerium. Foorn organisierte unterdessen die Bewachung der Propyläen. Er befahl den Leuten, außerhalb des eisernen Gitterzauns, dessen beklagenswerten Zustand sich der fürsorgliche Ritam immer so zu Herzen genommen hatte, mit etwa zwei Schritt Abstand voneinander eine Kette zu bilden. In einem Jeep fuhr er dann selbst die Postenkette entlang, überprüfte die Aufstellung, ernannte Aufsichthabende und Melder, erklärte im Namen Carts, für exakte Ausführung der Befehle würden Belohnungen ausgesetzt, und kümmerte sich darum, daß die improvisierte Wachtruppe rechtzeitig zu essen und zu trinken bekam. Die Posten vor Witterungsunbilden zu schützen erübrigte sich, denn es war ein windstiller, wolkenloser Apriltag. Gleichzeitig mit den Arbeitern und Angestellten waren auch von Foorn angeforderte Polizeiabteilungen eingetroffen. Längs des Eisengitters, aber etwas weiter entfernt, zogen sie sich zu einer weniger dichten, zweiten Kette auseinander. Den Polizisten wurde eingeschärft, die Zivilisten im Auge zu behalten und darauf zu achten, 499
daß sich kein Unbefugter dem Gitter nähere. Foorn bezweckte damit eine doppelte Kontrolle, die sich auf das gegenseitige Mißtrauen zwischen Polizisten und Zivilisten gründete. Und seine Rechnung ging auf. Schon gegen zwei Uhr nahmen die Polizisten einige Arbeiter fest, die ihre Posten verlassen und versucht hatten, über den Gitterzaun zu klettern, während die Angestellten zwei Reporter erwischten, die mehrere Polizisten bestochen hatten, um ungehindert auskundschaften zu können, was in den Propyläen vor sich ging. Bald darauf trafen auch Truppen ein. Sie lagerten sich am Rand des unter Naturschutz stehenden Buchenwaldes südöstlich von Carts Villa, in der Nähe des Flugplatzes von Assui, am Ufer des Eno-Sees und entlang der zur Stadt führenden Chaussee. Auf den Hügeln südwestlich der Propyläen wurden Geschützbatterien in Stellung gebracht. Im Süden, in Tuchfühlung mit den Truppen, die beim Buchenwald standen, bezogen motorisierte Einheilen mit taktischen Raketen und Spezialabteilungen des Innenministeriums Bereitschaftsstellungen. Aus der Stadt kamen Sanitätsautos und Löschzüge, aus den Bergwerken Lonars Rettungskolonnen und vom Hafen Taucher mit schwerem Gerät. Foorn wartete ungeduldig auf Carts Rückkehr. Er brannte darauf, Rodbars Zöglingen aufs neue, diesmal 500
besser gerüstet, gegenüberzutreten. Der Kampf versprach interessant zu werden. Als leidenschaftlicher Jäger erfüllte ihn die Einkreisung der Propyläen mit prickelndem Hochgefühl. Er gedachte seiner Jagdzüge auf den pautooanischen Inseln, wohl wissend, daß selbst die pompösesten Großwildjagden der pautooanischen Fürsten keinen Vergleich mit dem Kesseltreiben hier aushielten. Das Wild war umstellt. Durch das kunstvolle Gitter und das Laub der Bäume erspähte Foorn die Gebäude der Enfilade. Irgendwo dort lauerte das aus der Gefangenschaft ausgebrochene Ungeheuer. Er lauschte auf das ihm bereits vertraute Surren, hörte jedoch nichts. Ringsum herrschte eine fast unwirkliche Stille. Es war kaum zu glauben, daß Tausende von Menschen die Propyläen umringten. Und je mehr es wurden, desto tiefer und angespannter wurde die Stille. Alle wußten, etwas Ungewöhnliches war im Gange, und alle verharrten in stummer Erwartung, wie Soldaten vor einem Entscheidungskampf. Gegen drei Uhr brach in diese Stille der Motorenlärm vorfahrender Autos ein. Zusammen mit Cart kam der Kriegsminister, begleitet von drei Generalen. Die Stabsoffiziere, die sich am Tor versammelten, er501
hielten strengen Befehl, keine Menschenseele in die Propyläen hineinzulassen. „Außer Herrn Chansnepp“, setzte Foorn in einem Ton hinzu, der keinen Widerspruch duldete. Und der Offizier, der die Wache befehligte, legte gehorsam die Hand an den Mützenschirm. „Sie glauben, Chansnepp wird hierherkommen?“ „Davon bin ich überzeugt.“ „Sie haben recht, Foorn. Herrn Chansnepp bleibt gar nichts anderes übrig. Nun, ich würde mich freuen, wenn er an dieser etwas ungewöhnlichen Treibjagd teilnähme. Gehen wir hinein, meine Herren. Empfangen Sie die Gäste, Ritam!“ Cart verzog bei dieser halb scherzhaften Aufforderung den Mund zu einem Lächeln, das auf seinem bleichen Gesicht eher wie eine Grimasse wirkte. Ritam öffnete die Pforte. Cart bedeutete ihm mit einer Geste, als erster zu gehen, und die Prozession bewegte sich, geführt von dem Krüppel, auf die Enfilade zu. Foorn versuchte mehrmals, den an der Spitze humpelnden Bildhauer zu überholen, doch Cart hielt ihn jedesmal am Ärmel zurück. Den Weg des Schweigens durchschritten sie ohne ein Wort. Erst auf dem Platz vor den massiven ägyptischen Pylonen berieten sie über das weitere Vorgehen. Alle 502
sprachen abgerissen, mit gedämpften Stimmen, aus denen nervöse Erregung klang. Ritam war vor der „Schildkröte“ an der Stelle geflohen, wo noch an diesem Morgen die Augustusstatue gestanden hatte. Er war ans Telefon gestürzt, sobald er sich von seinem Entsetzen erholt hatte. Später war er nicht mehr in die Propyläen zurückgekehrt und wußte daher nicht, wo sich das Ungeheuer jetzt aufhielt. Es wurde beschlossen, die Gebäude nicht zu betreten, sondern sich parallel zur Enfilade durch Seitenalleen der Balustrade vor dem römischen Atrium zu nähern, wo Ritam das seltsame Lebewesen, das er nach wie vor als Schildkröte bezeichnete, zum letztenmal gesehen hatte. Die von der milden Aprilsonne erwärmten und von berauschendem Blütenduft und sorglosem Vogelgezwitscher erfüllten Alleen machten einen erstaunlich friedlichen Eindruck. Die Unruhe der Teilnehmer an dieser eigenartigen Rekognoszierung legte sich. Es erschien ihnen fast unwahrscheinlich, daß sich irgendwo hier, ganz in der Nähe, hinter wenigen Baumreihen, das gefürchtete Untier verbergen sollte. Die Allee, durch die sie gingen, führte zur Einöde. Ritam zeigte schweigend auf den Platz, wo der Architekt Ulmaro seinerzeit das „Mittelalter“ geschaffen hatte. 503
Jetzt stand dort, von einem unirdischen Architekten, einem grusligen Wesen, errichtet, ein Bauwerk, das ebenso schön wie rätselhaft war. „Beginnen wir die Besichtigung hier“, brach Foorn das Schweigen. Von allen Anwesenden hatte er als erster und, wenn man von Ritam absah, als einziger die Siliziumgeschöpfe gesehen und schon damals in dem düsteren Laborsaal begriffen, daß sie ungewöhnliche Eigenschaften besaßen und unwahrscheinlich zählebig waren. Jetzt überzeugte er sich von ihrer Fähigkeit, nicht nur zu zerstören, sondern auch aufzubauen. „Meine Herren, wir müssen feststellen, was es mit diesem Bauwerk auf sich hat. Sehen Sie nur diese phantastischen Strebepfeiler! Säulen, zu Liktorenbündeln vereinigt! Aber woraus bestehen diese Säulen? Meine Herren, wir müssen unbedingt näher herangehen.“ Weder der Kriegsminister noch seine Generale teilten Foorns Enthusiasmus, gar nicht zu sprechen von Cart, der zaghaft über die Schultern der anderen lugte. Was Ritam betraf, so stand er abseits, von den über ihn hereingebrochenen Ereignissen wie erschlagen, und blickte ziemlich teilnahmslos bald auf den begeisterten Foorn, bald auf die recht schweigsamen goldbetreßten Generale. 504
„Ich glaube“, sagte der Minister schließlich zögernd, „wir haben kein Recht, ein überflüssiges Risiko einzugehen. Unsere Pflicht ist es, diese unverständliche Erscheinung allseitig zu erforschen.“ „Gestatten Sie, Herr Minister“, mischte sich der alte Artilleriegeneral ehrerbietig ein. „Ich halte es für das beste, ein paar Granaten auf dieses Bauwerk abzufeuern.“ „Granaten? Granaten sind natürlich gut, General, sehr gut sogar, nur wissen wir nicht, was drauf folgen wird.“ „Wirklich, meine Herren, wir übertreiben die Gefahr“, gab Foorn nicht nach. „Wir haben es hier mit einem praktisch veranlagten Lebewesen zu tun, das offenbar, nachdem es die Freiheit erlangte, für sich oder, was ich eher glaube, für seine Jungen eine geeignete Unterkunft errichtet hat. Der Bau erinnert mich an die riesigen Termitenhügel, die ich in den Tropen gesehen habe. Die sind zwar nicht so hoch und schön, aber das ist schon Sache des Geschmacks und der Fähigkeiten. General, Sie haben mir eine glänzende Idee eingegeben“, wandte er sich an den Artilleristen, zog einen Revolver und ging mit dem zuversichtlichen und zugleich vorsichtigen Schritt des erfahrenen Jägers auf das Bauwerk zu. Knapp fünfzig Meter davor blieb er stehen, zielte und drückte ab. 505
Je mehr sich Foorn dem Bauwerk näherte, desto schneller entfernte sich die Gruppe davon, mit Ausnahme Ritams, der wie festgewurzelt stehenblieb. Man konnte ja nicht wissen, was geschehen würde! Hatte doch niemand die leiseste Ahnung, was sich in diesem rätselhaften Turmbau verbarg! Vielleicht hockte dort das Ungeheuer und stürzte, durch Foorns Schüsse aufgeschreckt, wutentbrannt heraus. Vielleicht aber lauerte es auch irgendwo in der Nähe, bereit, seine Nachkommenschaft zu verteidigen. Alles war möglich. Aber nichts geschah. Foorn gab noch einige Schüsse ab. Dabei ging er immer näher auf das Bauwerk zu und trat schließlich, kühn geworden, dicht heran. Einige Minuten vergingen, Foorn aber blieb heil und unversehrt. Nun betastete er schon die Säulenwände und winkte den in der Allee Zurückgebliebenen, näher zu kommen. Wohl oder übel mußten die anderen „Kundschafter“ seinem Beispiel folgen. Foorn lief um das Gebäude herum, vor Erregung außerstande, ein Wort hervorzubringen, und zeigte nur stumm auf die Einschlagstellen der Kugeln. Sie hatten in dem glasartigen, durchscheinenden, von innen heraus geisterhaft leuchtenden Material kaum sichtbare Spuren hinterlassen. Man gewann wahrhaftig den Eindruck, als bestünde es aus einer 506
wunderbaren Legierung von Stahl und Glas. Die meisten Kugeln, besonders die zuerst abgefeuerten, hatten die wie von Meisterhand glattpolierten Säulen überhaupt nicht beschädigt. Die Säulen wuchsen unmittelbar aus dem Boden empor und türmten sich in einer erstaunlich harmonisch wirkenden Unordnung hoch übereinander. Von dem Bauwerk führte ein schnurgerader, etwa anderthalb Meter breiter und leicht in den Boden eingedrückter Streifen zur Enfilade. „Hier ist die Schildkröte gekrochen“, sagte Ritam leise für sich. Sofort waren die eben noch gehegten Befürchtungen vergessen. Der massige Cart hockte sich als erster an den Rand des Streifens und betastete den glatten, wie aus schwarzem Glas gegossenen Pfad. Der Kriegsminister nahm einen Stein und hämmerte damit an dem Glasfluß herum. Die drei Generale mühten sich – der eine mit seinem Ehrendolch, der zweite mit dem Pistolenknauf und der dritte mit dem Taschenmesser – vergeblich, von der Masse, die hart und fest war wie Lava, ein Stückchen abzusplittern. „Und das ist das Werk einer einzigen Nacht!“ „Darf ich Sie fragen, meine Herren, was Sie hier tun?“ 507
Cart stand mit einer Geschwindigkeit auf, die man seiner plumpen Figur nicht zugetraut hätte. Auch der Minister und die Generale waren im Nu auf den Beinen und zogen verlegen ihre Uniformen glatt. „Ah, Herr Chansnepp!“ Cart lächelte gezwungen. „Ich freue mich, Sie auf meinem Landsitz begrüßen zu können. Die Herren hier kennen Sie, nehme ich an.“ Alle verbeugten sich höflich. „Ja, außer diesem Herrn hier.“ Chansnepp starrte Foorn unverfroren an. Er versuchte sich zu erinnern, wo er dieses Gesicht schon gesehen hatte. Ein Gesicht wie viele andere, und dennoch markant, kennzeichnend für einen Menschen von Format. Ritams Anwesenheit nahm Chansnepp erst gar nicht zur Kenntnis. Für ihn war das einfach ein Bedienter, ein Mensch zweiter Klasse, der bei einem Gespräch zwischen hohen Herren schön brav den Mund zu halten hatte. „Das ist ein alter Freund von mir. Ein Globetrotter und erstklassiger Jäger, Mr. Foorn. Er ist erst gestern von den pautooanischen Inseln gekommen.“ „Soso, erst gestern? Im übrigen ist das seine Sache. Herr Cart, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir, besonders in Anwesenheit dieser Herren“ – Chansnepp deutete mit einem Kopfnicken auf den Minister und die Generale –, „erklären 508
könnten, wieso sich ein unserm Konzern gehörendes Versuchstier auf Ihrem Besitztum befindet?“ „Die gleiche Frage wollte ich gerade Ihnen stellen, Herr Chansnepp. Ich bin froh, von Ihnen zu hören, besonders in Anwesenheit dieser Herren“ – jetzt deutete Cart mit einem Kopfnicken auf die Militärs –, „daß das Ungeheuer dem ChansneppKautschuk-Konzern gehört.“ „Ich bestreite das nicht.“ „Ausgezeichnet! Dann werden Sie hoffentlich auch nicht bestreiten, daß Sie durch die Freilassung dieses schrecklichen Geschöpfes den Frieden und die Sicherheit der Hauptstadt, ja vielleicht sogar des ganzen Landes in ernste Gefahr gebracht haben.“ „Wir wollen die Kirche im Dorf lassen, Herr Cart.“ „Beabsichtigen Sie etwa gar, zu behaupten, Sie trügen keine Schuld an dem Unglück, das über unser Land hereingebrochen ist?“ „Herr Cart, ich möchte…“ – Chansnepp blieb äußerlich ruhig, aber was er von seinem Konkurrenten gehört hatte, machte ihn innerlich zittern – „Ich möchte gern, daß wir uns in Ruhe unterhalten. Ich weiß nicht, von was für einem Unglück Sie sprechen.“ 509
„Halten Sie die Zerstörung der Propyläen für kein Unglück?“ „Zerstörung?“ „Jawohl. Ein großer Teil dieses hervorragenden, außerordentlich wertvollen Kunstwerkes ist bereits vernichtet, und wir wissen nicht, was noch geschehen wird.“ „Gut, ich verpflichte mich, Ihnen den Wert der Propyläen in vollem Umfang zu ersetzen.“ „Den vollen Wert?“ Cart witterte ein glänzendes Geschäft, von dem er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Er könnte die Kosten der Propyläen decken und seinen Erzkonkurrenten zu enormen Ausgaben nötigen. Angesichts der Verluste in Tarkor würde es Chansnepp, wenn er die riesige Summe bezahlte, die in den Propyläen investiert war, künftig nicht leichtfallen, den Konkurrenzkampf mit dem CartKonzern durchzustehen. „Ja, den vollen Wert“, wiederholte Chansnepp, Scheckheft und Füllfederhalter zückend, „allerdings unter einer Bedingung. Sie müssen die Propyläen umgehend verlassen und mir das Recht einräumen, die bevorstehende Operation allein zu leiten.“ Cart blickte auf den neuentstandenen Weg, auf das in einer Nacht errichtete Bauwerk und steckte die Hände in die Taschen. 510
„Ich glaube, Herr Chansnepp, in einem für unser Land so entscheidenden Augenblick ist es nicht angebracht, die Frage nach dem Wert der Propyläen zu stellen. Wir sollten lieber unsere Anstrengungen vereinen und uns gemeinsam bemühen, der bedrohlichen und, wie mir scheint, vielversprechenden Kraft Herr zu werden.“ „In diesem Fall“, erwiderte Chansnepp schmunzelnd, „wollen wir keine Zeit verlieren.“ „Meine Herren, als Mitglied der Regierung“, ließ sich der Kriegsminister nun vernehmen, „muß ich Sie vor allem an die Verantwortung erinnern, die Sie tragen, falls diese Lebewesen der Bevölkerung irgendein Leid oder materiellen Schaden zufügen. Sie haben recht gehandelt, Herr Chansnepp, als Sie sich entschlossen, das Tarkorer Institut zu vernichten, und wir haben Ihnen dabei geholfen. Wir sind auch jetzt bereit, die ganze Macht unserer Waffen und alle verfügbaren Zerstörungsmittel einzusetzen, damit ein Unglück, um nicht zu sagen eine Katastrophe, vermieden wird.“ „Die Zerstörungsmittel einzusetzen ist immer noch Zeit. Nicht wahr, Herr Cart?“ „Vollkommen richtig.“ „In Tarkor, Herr Minister, war die Lage viel komplizierter. Die Experimente befanden sich in einem Stadium, das uns nicht 511
erlaubte, das Verhalten dieser Lebewesen zu kontrollieren. Wir hatten sie konserviert, aber ein tückischerweise freigelassenes Tier entfaltete eine erschreckende Energie und begann, die anderen zu befreien. In Tarkor befanden sich mehrere Exemplare, und wir konnten mit ihnen nicht fertig werden. Hier befindet sich, soviel ich weiß, nur eines, und wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um seine unwahrscheinliche Kraft im Zaum zu halten und unter Kontrolle zu bringen. Damit würden wir der Menschheit ein bisher unvorstellbares Mittel des Aufbaus und, falls nötig, auch der Zerstörung in die Hand geben.“ „Gut, meine Herren, beginnen wir“, stimmte der Kriegsminister zu. „Womit?“ „Es berührt mich sonderbar, Herr Chansnepp, diese Frage von Ihnen zu hören. Sie müßten doch besser als jeder von uns wissen, wenigstens hoffe ich das, wie diese Geschöpfe beschaffen sind, die Professor Rodbar in Ihrem Institut zum Leben erweckt hat. Was meinen Sie, wäre es nicht zweckmäßig, die Professoren Rodbar und Asquith hierher einzuladen?“ „Professor Rodbar, meine Herren, ist letzte Nacht verstorben.“ Eine Minute des Schweigens trat ein. Dann fuhr Chansnepp fort: „Und mit Professor Asquith Verbin512
dung zu bekommen war sehr schwierig. Er war einige Tage vor den traurigen Ereignissen in Tarkor von Makimi nach Melbourne geflogen. Als das Unglück in Rodbars Labor passierte, schickten wir sofort ein Funktelegramm dorthin. Es erreichte ihn jedoch nicht mehr, weil er schon weitergereist war. Die Angestellten unserer australischen Vertretung konnten ihn erst gestern ausfindig machen und von dem Vorgefallenen unterrichten. Der Professor hat ein Sonderflugzeug von Australien hierher gechartert und wird heute noch eintreffen. Ich erwarte ihn ungeduldig, muß Sie, meine Herren, jedoch ausdrücklich noch einmal darauf aufmerksam machen, daß weder Rodbar noch Asquith, der zudem in letzter Zeit auf Pautoo zu tun hatte, über praktische Erfahrungen im Umgang mit Siliziumgeschöpfen außerhalb der Inkubationskammern verfügten. Sehen wir von den pautooanischen Erfahrungen mit dem Plasma ab, so kann man sagen, daß wir zum erstenmal mit in Freiheit befindlichen Siliziumgeschöpfen zusammentreffen. Die Erfahrungen mit der lebenden Siliziumsubstanz werden uns wahrscheinlich wenig nützen. Hier haben wir es mit anderen, uns völlig unbekannten Formen des Siliziumlebens zu tun. Jetzt, meine Herren, müssen wir entscheiden, ob wir das Risiko eingehen wollen und ob wir 513
stark und mutig genug sind, den Kampf gegen sie aufzunehmen.“ „Das Spiel lohnt den Einsatz. Wir müssen es versuchen. Wer wagt, gewinnt!“ „Aber wie?“ „Wir müssen handeln, gestützt auf unsere Vernunft und Lebenserfahrung.“ „Ich bin bereit, meine Herren“, polterte wieder der alte Artilleriegeneral, „den Feuerbefehl zu geben.“ „Ich fürchte, Herr General“, gab Chansnepp lächelnd zurück, „Sie zäumen das Pferd beim Schwanz auf.“ „Richtig, damit können wir die Operation nicht beginnen, sondern allenfalls beenden, wenn wir auf andere Weise nichts erreichen. Vor allem müssen wir herauskriegen, wo sich das Tier jetzt aufhält und wie wir es zähmen können.“ Damit war die ungewöhnliche Jagd beschlossen. Während die Generale und Industriellen beratschlagten, wie man sich der verheißungsvollen Kraft bemächtigen könne, handelte Foorn. Er ging von der Einöde längs des glasartigen Pfades bis zu der Stelle, wo die Augustusstatue gestanden hatte. Den weiteren Weg des geheimnisvollen Tieres zu verfolgen war nicht schwer. Nachdem es die Statue vernichtet hatte, war es geradeaus weitergewandert, ohne von der eingeschlagenen Richtung 514
auch nur einen Millimeter abzuweichen. Hinter der Balustrade war es auf die Wand des römischen Atriums gestoßen, hatte sich aber anscheinend auch hier nicht lange aufgehalten, sondern die Mauer kurzerhand durchbohrt. Das bewies ein Loch von etwa anderthalb Meter Durchmesser. Gleich daneben führte ein großes Rundbogentor ins Atrium, doch das Tier hatte diesen Zugang verschmäht und war durch die dicke Steinmauer in den Raum eingedrungen. Dann hatte es das Atrium bis zur Wand schräg gegenüber durchquert und diese abermals durchstoßen, ohne seine Richtung zu ändern, worauf es in den hellenischen Hof gelangt war. Foorn blickte durch die beiden Maueröffnungen, um zu erkunden, was das Tier jetzt tat. Es lag auf den Marmorfliesen des Hofes, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Foorn lief zur Einöde zurück, um über das Gesehene zu berichten, blieb aber auf halbem Weg stehen und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf den von dem seltsamen Lebewesen angelegten Pfad. Dann betrat er ihn – der erste Mensch, der seinen Fuß auf dieses fremdartige Pflaster setzte – und betrachtete aufmerksam die von hier aus gut sichtbaren Löcher in der Wand des römischen Atriums. Sie deckten sich genau, und am fernen Horizont dahinter stieg eine riesige 515
Rauchsäule empor. Dort lag Tarkor. Kein Zweifel: Das Tier wollte seinen Artgefährten auf dem kürzesten Weg zu Hilfe kommen. Warum hatte es haltgemacht und seinen Weg, auf dem es keine Hindernisse kannte, nicht fortgesetzt? War die Vernichtung seiner Mitgeschöpfe in Tarkor vollendet, oder hatte es aus irgendeinem Grund die Fähigkeit verloren, sich fortzubewegen? Foorn eilte zu dem silberglänzenden Turmbau, wo die Beratung immer noch im Gange war, und erzählte von seinen Beobachtungen. Sein Beispiel ermutigte die anderen, sich zum hellenischen Hof zu begeben. Das Tier lag tatsächlich unbeweglich da, und die Gruppe wagte es schließlich, sich ihm so weit zu nähern, daß sie es in Augenschein nehmen konnte, selbstverständlich benutzten sie Feldstecher. Da sie nur zwei bei sich hatten, rissen die vornehmen Herren sie sich, jede Rangordnung vergessend, gegenseitig aus den Händen, wie kleine Jungen, die sich zum erstenmal an einem Kaleidoskop ergötzen. „Es ist ja gar nicht so schrecklich!“ rief der Minister aus. „Aber nein, es ist ein liebes, harmloses Lebewesen“, spöttelte Cart, „das alles auf seinem Weg von Grund aus zerstört.“ „Ich bin der gleichen Ansicht wie der Herr Minister“, sagte Foorn selbstsicher. 516
„Dieses Lebewesen ist wirklich nicht schrecklich, ja, ich bin sogar fest überzeugt, daß es von Natur aus gutartig ist und nur das zerstört, was ihm auf dem Weg zu seinem Ziel hinderlich ist.“ Es wurde beschlossen, vor allem zu prüfen, warum das Tier sich nicht mehr bewegte. Vielleicht war es schon tot? Foorn entschloß sich, das schon einmal erprobte Mittel wieder anzuwenden. Er trat vor und zog seinen Revolver. Alle anderen wichen sicherheitshalber hinter die massiven Säulen zurück, die hinreichend Schutz boten. Cart meinte zwar, Foorn könnte das Tier erschießen; es wäre doch schade um das von Professor Rodbar gezüchtete Lebewesen. Aber er sah ein, daß es keinen anderen Ausweg gab. Die von Foorn abgefeuerten Kugeln verschwanden im Körper des Ungeheuers wie Steinchen, die man ins Wasser wirft, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Bei jedem Schuß lief ein Zukken durch den Körper, und er leuchtete etwas stärker. Somit war die Absicht erreicht. Das Tier gab Lebenszeichen von sich. Die Jagdteilnehmer faßten neuen Mut. Nun regnete es Vorschläge. Sie liefen alle darauf hinaus, das Tier in eine Art Pferch zu treiben. Darin äußerte sich die jahrtausendealte Erfahrung des Menschen, der schon in prähistorischen Zeiten riesige 517
Mammuts erlegte, indem er sie in Schluchten trieb, und andere wilde Tiere, die zehnmal stärker waren als er, in Netzen und Fallen fing. Niemand wußte indessen, wie man in diesem Fall vorgehen sollte. Steingelasse eigneten sich dafür nicht. Die Erfahrung hatte bereits gezeigt, daß Rodbars Pfleglinge Mauern mit Leichtigkeit durchdrangen. Vielleicht sollte man das Tier in das tiefe Wasserbecken treiben, das sich im ägyptischen Hof befand? Aber wie würde es sich im Wasser fühlen? Wenn es unterging und ertrank, was für einen Sinn hatte es dann, sich mit ihm abzuplagen und Menschen zu gefährden? Wenn es dagegen im Wasser leben konnte, dann würde es die Steinwände des Beckens durchbohren und herauskriechen, um nach Belieben weiterzuwandern. Chansnepp wußte, daß die konservierten kleinen Lebewesen in Professor Rodbars Laboratorium völlig ruhig in Blechbehältern gelegen hatten. Man konnte sie von Ort zu Ort tragen, wenn man Lust dazu hatte. Doch dieses Lebewesen hier, das dank der ihm zugeführten organischen kohlenstoffhaltigen Nahrung (der verhängnisvolle Kohlkopf!) aus dem Zustand der Anabiose erwacht war und seine Lebensfunktionen wiedererlangt hatte, würde sich wohl kaum zähmen lassen, selbst wenn man es in einen Metallbehälter lockte und darin einschloß. In 518
Tarkor hatte das freigelassene Exemplar seine konservierten Artgefährten auf unbegreifliche Weise aus den Stahlbehältern befreit. Die Lage schien hoffnungslos. Die Zeit verstrich. Wie würde sich das einstweilen noch ruhig daliegende Lebewesen weiter verhalten? Setzte es seinen Weg nach Tarkor fort, um seinen Mitgeschöpfen Hilfe zu leisten, so konnte das zu einer Katastrophe führen. Auf der Geraden zwischen den Propyläen und Tarkor lag ein dichtbesiedelter Stadtteil. Wie immer geartete Versuche, das Ungeheuer zu bändigen, konnten daher nur unternommen werden, solange es Carts Landsitz nicht verlassen hatte. Hier waren alle Vorbereitungen getroffen, nötigenfalls mit der Vernichtung zu beginnen und den Schaden an Gut und Leben auf ein Mindestmaß zu beschränken. Von allen Vorschlägen schien den Jagdteilnehmern die Idee, das Tier in Stahlnetzen einzufangen, die einzig annehmbare zu sein. Foorn ging bereits zum Tor, um entsprechende Anweisungen zu geben. Da begann sich das Tier plötzlich zu regen. Als erriete es die Absicht seiner Gegner, setzte es seine geradlinige Wanderung durch den hellenischen Hof fort. Auf seinem Weg stieß es auf ein hohes Geländer, dessen Pfeiler eng beisammen standen. Dieses Hindernis überwand es, ohne anzuhalten. 519
Sein abgeplatteter, kugelförmiger Körper zerteilte sich in mehrere Arme, die wie Schlangen zwischen den Geländepfeilern hindurchkrochen und sich auf der anderen Seite wieder zu einem festen Klumpen vereinigten. „Meine Herren“, rief Foorn, „das ist nicht nur ein Tier, das ist eine ganze Tierkolonie, ein gewaltiges Kollektiv von Lebewesen, die vielleicht sogar mit Vernunft begabt sind! Beachten Sie die Struktur dieses Klumpens, die sechseckigen Einzelteilchen – wahrhaftig, das sind elementare Rodbariden.“ „Was haben Sie gesagt? Rodbariden?“ „Nun ja, wie soll man sie sonst nennen? Schließlich hat Professor Rodbar sie erfunden.“ „Erfunden!“ Chansnepp überlegte. „Da hat Rodbar etwas Schönes angerichtet, als er die Siliziumkeime belebte. Übrigens tut das im Augenblick nichts zur Sache. Jetzt müssen wir diese ‚Erfindung’ um jeden Preis in unsere Gewalt bekommen, ganz gleich, ob es sich um ein einziges Lebewesen oder um eine ganze Kolonie handelt.“ Das Verhalten der Rodbariden brachte die Anwesenden auf den Gedanken, daß man sie vielleicht in ein geeignetes Gefäß „gießen“ könne. Wenn man rasch eine Grube aushob, einen Stahlkessel darin unterbrachte und das rätselhafte Lebewesen 520
hineintrieb, dann erschien es nicht ausgeschlossen, daß man seiner leichter Herr wurde. Dieser Vorschlag leuchtete allen ein. Man beschloß, ihn in die Tat umzusetzen. Cart befahl, unverzüglich vom Silikonkautschukwerk einen Stahlkessel von etwa drei Meter Durchmesser herbeizuschaffen und mit dem Ausheben einer Grube zu beginnen. Man mußte dafür eine Stelle aussuchen, die es ermöglichte, den oder die Rodbariden mit geringstem Kraftaufwand hinzutreiben. Darüber einigte man sich schnell. Allen sagte Foorns Vorschlag zu, die Grube auf der Geraden auszuheben, die das Lebewesen für seine Wanderung nach Tarkor ausgewählt hatte. „Ich glaube, Herr Minister, jetzt brauchen wir die Dienste des Hauptmanns Ferrand.“ „Sie haben recht, Herr Cart“, stimmte der Kriegsminister zu. „Ferrand soll mit seinem Panzer kommen.“ „Was, einen Panzer hierher, in die Enfilade der Künste?“ entrüstete sich Ritam, aber niemand nahm von ihm Notiz. Foorn war so vorausschauend gewesen, Cart während der Fahrt zum Kriegsminister zuzuflüstern, er solle Hauptmann Ferrand anfordern. Der Panzeroffizier, ein leidenschaftlicher Jäger und verwegener Abenteurer, der sich schon in den tollsten Si521
tuationen bewährt hatte, erklärte sich gern bereit, an der einzigartigen Jagd teilzunehmen. Er war ein alter Freund Foorns, der versicherte, man könne sich unbedingt auf ihn verlassen und ihm Zutritt zu den Propyläen gewähren, ohne Gefahr zu laufen, daß er das Gesehene in alle Welt hinausposaune. Keine zehn Minuten vergingen, da kam der Hauptmann mit seinem schweren Panzer durch das Tor der Propyläen gefahren. Er hatte schon seit einer Stunde ungeduldig darauf gewartet, daß man ihn endlich auffordern werde, in den Kampf einzugreifen, und erschien nun ohne Zögern vor dem hellenischen Hof. Das Panzerungetüm walzte auf seinem Weg Blumenbeete mitsamt den prächtigen Rosenbüschen und den kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen nieder, warf Sockel mit seltenen Vasen um und blieb mit heißgelaufenen Motoren vor dem schmucken Säulengang stehen, der den Hof auf der Südwestseite abschloß. Ein eleganter Offizier mit Wespentaille sprang aus dem Panzer und grüßte forsch die hohen Vorgesetzten. Der Kriegsminister erläuterte Ferrand in wenigen Worten die Lage. Er betonte dabei, daß der Kampf mit dem Lebewesen etwas völlig Neues sei und sich als gefährlich erweisen könne, aber das machte auf den abenteuerlusti522
gen Hauptmann nicht den geringsten Eindruck. „Leutnant Tavour und ich sind bereit, unsere Kräfte mit diesem Ungeheuer zu messen. Habe alles verstanden, Herr Minister. Unsere Aufgabe besteht darin, es mit dem Panzer einzuschüchtern und zu zwingen, die gewünschte Richtung einzuschlagen. Ausgezeichnet! Wird gemacht, Herr Cart. Mein Panzer kommt hier leider nicht durch, ohne diese hübsche Kolonnade anzukratzen.“ „Handeln Sie, Herr Hauptmann, ohne auf die Kolonnade oder sonst etwas, was Ihnen im Wege steht, Rücksicht zu nehmen.“ Der Panzer brüllte auf, ruckte an und fuhr auf den Säulengang zu. Einige Sekunden später riß er bereits, mit Staub und Trümmern bedeckt, den herrlichen Mosaikboden des hellenischen Hofes mit seinen Raupenketten auf und nahm Kurs auf die Rodbariden. Das Tier rührte sich nicht. Sein schwach leuchtender Körper pulsierte. Zehn Meter vor ihm blieb der Panzer stehen. Der General, der am Sprechfunkgerät saß, fragte Ferrand, was er weiter zu tun beabsichtige, und erhielt prompt die Antwort: 523
„Ich ziehe mich zurück, um anzugreifen!“ Der Panzer fuhr ein Stückchen zurück und dann wieder vorwärts, auf das Tier zu. Als wollte er es reizen und zum Kampf herausfordern, attackierte er es von allen Seiten, wobei er schonungslos die einzigartigen Mosaikplatten zerbrach, wertvolle Statuen umstieß und kristallklar sprudelnde Fontänen niederdrückte. „Kommen Sie ihm auf keinen Fall zu nahe“, warnte ihn der General. „Berühren Sie es nicht mit dem Panzer. Wir kennen seine Eigenschaften nicht. Es kann die Fähigkeit besitzen, Strahlen auszusenden oder elektrische Schläge auszuteilen!“ Hauptmann Ferrand verbiß sich in seine Aufgabe. Er wollte das Tier unter allen Umständen zu einer Lebensäußerung zwingen. Immer ungestümer griff er an. Durch den Schleier der Auspuffgase und des Trümmerstaubs sahen die Beobachter nur undeutlich, wie der Zweikampf verlief. Doch nun entfuhr allen, Ritam ausgenommen, ein Freudenschrei. Das Tier bewegte sich, es kroch vom Panzer weg. Der erste Sieg war errungen. Ein kleiner Sieg, der aber zu Hoffnungen berechtigte. Alle hatten den Eindruck, das Tier fürchte sich vor dem Panzer und weiche ihm aus. Demnach stand zu erwarten, daß es gelingen werde, 524
seinen Weg in die gewünschte Richtung zu lenken. Wieder brüllten die Motoren auf, kreischte die Panzerung, rasselten die Ketten. Ferrand ging aufs Ganze. Sein Jägerinstinkt war erwacht. Er versuchte, das Tier in den schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden im griechischen Stil zu treiben, wo bereits die Fallgrube ausgehoben war. Es schien, als suche das Tier nach einem Fluchtweg, um die Begegnung mit dem Stahlungetüm zu vermeiden. Es sah ganz so aus, als wollte es davonlaufen, so sehr beschleunigte es seine bis dahin ziemlich langsamen Bewegungen. Doch plötzlich blieb es stehen. Daraufhin blieb auch der Panzer stehen. Das Tier leuchtete intensiver, und sein Pfeifen steigerte sich zu einem Heulen, das sogar den Motorenlärm übertönte. Sein Körper pulsierte stärker. Es wurde flacher und begann sich rasch in den Boden einzugraben. Das hatte niemand erwartet. Selbst Ferrand verlor die Fassung. Er war bereit, jeden beliebigen Feind anzugreifen, und je größer das Wagnis, um so kühner sein Einsatz, aber hier… Nein, beim besten Willen konnte er mit seinem Panzer keinen Gegner unter der Erde verfolgen! Das stellte sich indessen als unnötig heraus. 525
In wenigen Minuten nahm das Tier, nachdem es eine Menge Erde in sich hineingefressen hatte, an Umfang zu. Dann näherte es sich dem Panzer, einen ziemlich großen Trichter hinter sich lassend. Der Panzer wich zurück. Das Tier rückte schneller vor. Ferrand gab im Rückwärtsgang Gas und riß den Panzer plötzlich entschlossen vorwärts. Das Weitere spielte sich mit atemberaubender Schnelligkeit ab. Jeder, der den Vorgang beobachtete, bildete sich eine eigene Meinung darüber, die sich mit der Meinung der anderen nur wenig deckte. Keiner konnte vernünftig erklären, wie es kam, daß der Panzer binnen wenigen Sekunden mit einer dunklen, schwach leuchtenden Masse wie mit einer riesigen Decke überzogen war. Die Funkverbindung riß sofort ab, die Motoren verstummten. Der Panzer stand unbeweglich auf einem Fleck, von den Rodbariden festgenagelt, die ihre Form verändert hatten: aus einer abgeplatteten Kugel zu einem dünnen, flachen Fladen geworden waren, der den ganzen Panzer verklebte. Das Heulen verstärkte sich noch mehr, und da jetzt nichts anderes zu hören war, beherrschte dieses Heulen alles und erfüllte die Luft mit etwas Dichtem und Grauenhaftem. Nachdem Ferrands Panzer gezwungenermaßen zum Stillstand gekommen war 526
und der von seinen Ketten aufgewirbelte Staub sich etwas gelegt hatte, konnte man besser sehen, was auf dem Kampfplatz geschah. Ritam machte als erster die bestürzten Beobachter darauf aufmerksam, daß die Rodbariden nach wie vor dem Ausgang des hellenischen Hofes zustrebten und sich den ägyptischen Sälen näherten. Nachdem das Ungeheuer die ganze Oberfläche des Panzers umfaßt, ihn mit einer offenbar sehr festen, durchscheinenden Masse überzogen und damit bewegungsunfähig gemacht hatte, schrumpfte es fast auf seinen früheren Umfang zusammen, nahm wieder die Form einer abgeplatteten Kugel an und bewegte sich ruhig weiter in der alten Richtung. Es pfiff jetzt nur noch leise, leuchtete weniger intensiv und kroch langsam, entweder müde von der Anstrengung oder sich überlegend, ob es die Wanderung fortsetzen solle. Alle Zeugen dieses Vorgangs standen da wie zu Salzsäulen erstarrt. Nur Ritam stürzte mit einer Behendigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, zum Kampfplatz. Über die Schutthaufen stolpernd und fallend, versuchte er, der „Schildkröte“ den Weg abzuschneiden. Der Hut flog ihm vom Kopf, er verlor den Stock und humpelte noch unbeholfener als sonst. Dennoch schaffte er es, dem Tier zuvorzukommen, lief auf eine niedrige Säule zu, auf der eine 527
von seinem Lehrmeister Ulmaro gemeißelte Marmorstatue stand, und bemühte sich aus Leibeskräften, sie herunterzuholen. „Der Mann ist wahnsinnig! Holt ihn zurück!“ „Es wird gleich über ihn hinwegkriechen und ihn zermalmen.“ „Ritam! Ritam! Kommen Sie zurück, Ritam!“ „Lassen Sie ihn, Austin, wir wissen noch nicht… Wir wissen noch nicht, wie es sich bei der Begegnung mit einem Menschen verhalten wird.“ Keiner wies Foorn zurecht, aber auch keiner rief mehr Ritam zurück. Unter Anspannung aller Kräfte zerrte der Bildhauer schließlich die Statue von der Säule und lud sie sich auf die Schulter. Dabei verlor er jedoch das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ohne das Werk seines Freundes und Lehrers loszulassen, versuchte er erfolglos, wieder auf die Beine zu kommen. Die Rodbariden näherten sich ihm bereits. Ohne ihre Richtung zu ändern, wälzten sie den pulsierenden dunklen Körper gleichmäßig vorwärts. Ritam begriff, daß er nicht mehr aufstehen konnte, und kroch, die Statue hinter sich herziehend, weiter. Ein greller Feuerstrahl, ein lauter Knall, als entlade sich ein mächtiger Kondensa528
tor, und eine unerklärliche Kraft schleuderte Ritam von den Rodbariden fort. „Das ist ja furchtbar! Meine Herren, das…“ „Das bedeutet, daß Infanterie an einem Frontabschnitt, der von Rodbariden gesichert ist, nie und nimmer durchbrechen kann! Das bedeutet…“ Die Worte des Generals gingen in einem Krachen unter. Hauptmann Ferrand hatte einen Kanonenschuß abgegeben. In der glasartigen Masse steckend, wie eine Fliege in eingetrocknetem Kleister, konnte sich sein Panzer nicht von der Stelle bewegen. Aber der Hauptmann hatte rasch erkannt, daß die Kanone noch zu feuern vermochte. Auf den ersten Schuß folgte eine ganze Serie von Schüssen, die den Panzer erschütterten. Bald darauf fiel die ihn festhaltende Masse stückweise ab. Ferrand schwenkte den Turm, tauchte aus der Luke auf und sprang zu Boden. In langen Sätzen, mit seiner eingeschnürten Taille an einen Grashüpfer erinnernd, lief er auf den Minister zu und meldete: „Herr Kriegsminister, mein Panzer ist durch Feindeinwirkung ausgefallen. Bin bereit, den Kampf zu Fuß fortzusetzen.“ Der Minister dankte dem Hauptmann und versprach ihm eine Auszeichnung. Der 529
Kampf, beschloß man, solle trotzdem fortgesetzt werden. Von einem Kampf im eigentlichen Sinne des Wortes konnte indessen keine Rede mehr sein. Allen war klar, daß keinerlei Aussicht bestand, die Rodbariden zu überwältigen. Es blieb nur übrig, die Aktion des geheimnisvollen Tiers weiter zu verfolgen und seine Verhaltensweise zu beobachten. Das Tier ließ den hellenischen Hof hinter sich und erreichte die ägyptische Halle. Hier setzte es seine Wanderung in immer derselben Richtung unbeirrt fort, vernichtete das Spalier der ehrwürdigen, düsteren Säulen, drückte 6 Palmen und Bambushalme zu Boden, die das Wasserbecken mit dem Krokodil umsäumten. Auch am Beckenrand machte es nicht halt oder verlangsamte sein Tempo, sondern plumpste sogleich ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche. Das Krokodil erwachte im Nu aus seiner dösigen Ruhe. Mit der Schnelligkeit, die diese meist trägen und unbeweglich daliegenden Tiere auszeichnet, wenn sie sich auf eine Beute stürzen, tauchte es in die Tiefe des Beckens hinab. Eine Sekunde darauf wurde es in einem wahren Sturzbach mit unheimlicher Wucht aus dem Becken geschleudert. Danach setzten die Rodbariden ihren Weg unter Wasser fort, kletterten aus dem Becken und gelangten zu der schweren 530
Bronzetür, die in das massive, aus riesigen Steinblöcken errichtete Bauwerk führte, das den Zugang zum ägyptischen Hof bewachte. „Die Tür schließen, die Tür schließen!“ schrie der Eigentümer der Propyläen. „Auf der anderen Seite ist eine ebensolche Tür; sie ist verschlossen. Dieses Gebäude hat keinen anderen Ausgang. Das Ungeheuer wird hier eingesperrt sein.“ Ohne lange zu überlegen und ohne zu fürchten, daß ihm das Los Ritams und des Krokodils zuteil werden könnte, eilte Hauptmann Ferrand zur Tür. Er war jedoch ebenso vorsichtig wie kühn und wartete genau die Zeit ab, die das Tier seiner Berechnung nach brauchte, um sich so weit zu entfernen, daß er sich keiner unmittelbaren Gefahr aussetzte. Sein Vorhaben glückte. Das Tier war hinter meterdicken Mauern eingesperrt. Aber niemand gab sich trügerischen Hoffnungen hin. Und wirklich, keine halbe Stunde verging, da drang den Jägern, die in stummer Erwartung dastanden, auch schon das ihnen wohlbekannte Heulen ans Ohr. Kein Zweifel, die Rodbariden schickten sich an, die dicken Steinmauern mit dem gleichen Erfolg zu durchbohren wie vorher die dünnen; nichts würde sie daran hindern, wieder zum Vorschein zu kommen, wo es ihnen beliebte. 531
Und sie kamen wieder zum Vorschein. Jetzt bildeten sie nicht mehr einen Klumpen, sondern vier. Sie hatten überreich Nahrung in Form der in den Granitquadern enthaltenen Silikate zu sich genommen und solche Ausmaße erreicht, daß sich die eine Kolonie in vier teilen konnte. Mit erstaunlicher Leichtigkeit verließen sie nun das Gefängnis, in dem die Menschen das Ungeheuer einsperren wollten. Die Rodbariden krochen in verschiedenen Richtungen auseinander, als wollten sie ein möglichst großes Gebiet besetzen. Das verhieß neues Unheil. Auf ihrem Weg würden sie viele Gebäude antreffen, die sich als Nahrung eigneten. Sie würden sich durch Teilung vermehren und immer weiter ausschwärmen, sich, ohne vor Hindernissen zurückzuscheuen und ohne auf ernstlichen Widerstand von Mensch oder Tier zu stoßen, auf einem immer größeren Gebiet ausbreiten. All dies erkannten die ersten Zeugen der furchtbaren Invasion erst später. In dem Augenblick, als die Rodbariden das Gebäude mit den ägyptischen Pylonen wieder verließen, konnte niemand, der diesen Vorgang beobachtete, einen klaren Gedanken fassen. Den Scharfsinnigsten allerdings ging ein Licht auf, daß alle weiteren Versuche, die unheimlichen Lebewesen zu bändigen, zwecklos waren und daß man am besten 532
tat, den Rat des alten Artilleriegenerals zu befolgen. Dieser Entschluß wurde denn auch ohne Zeitverlust gefaßt. Den Ausschlag hierfür gab die neue Verhaltensweise der Siliziumgeschöpfe. Sie bewegten sich nun etwas rascher. Zwei der Kolonien stürzten bereits die Sockel mit den Sphinxen um. Die beiden anderen eilten auf den Steinplatten, mit denen der Weg des Schweigens gepflastert war, zu dem flachen Sandhang vor dem Buchenhain. Dort gruben sie sich ein und entschwanden den Blicken. „Sie entkommen“, schrie Cart. „Sie verschwinden im Boden, graben unterirdische Gänge und können…“ „Bombardieren!“ „Alle unverzüglich vernichten!“ Jetzt, da beschlossen war, die hergebrachten, vertrauten Methoden anzuwenden, fühlten sich alle erleichtert. Foorn, Ferrand und Tavour, die mit Filmkameras ausgerüstet waren, erboten sich, bis zum letzten Augenblick in den Propyläen zu bleiben, um das weitere Verhalten der Rodbariden zu beobachten. Cart gab Anweisung, seine Arbeiter und Angestellten, die sein Besitztum bewachten, umgehend nach Hause zu schicken. Auch die Postenketten der Polizei zogen ab. Der Menschenring, der die Propyläen umgab, lichtete und weitete sich. Die Ret533
tungsmannschaften und die Taucher wurden zurückbeordert. Die meisten Sanitätsautos fuhren in die Stadt zurück. In den Bereitschaftsstellungen der Truppen dagegen trafen immer neue Verstärkungen ein, hauptsächlich Raketen- und Artillerieeinheiten. Es begann zu dunkeln. Der warme Apriltag neigte sich seinem Ende zu. Zu Ende gingen auch die Vorbereitungen der Menschen, die noch einmal, wie schon in Tarkor, beabsichtigten, fremde Lebewesen zu vernichten – Lebewesen, die das Begriffsvermögen des Menschen überstiegen und ihn schreckten, zugleich aber wegen ihrer unfaßlichen Leistungsstärke und unerhörten Zählebigkeit seinen rastlosen Geist beschäftigten. Auf einer Anhöhe nahe den Propyläen, unweit des Eno-Sees, versammelten sich die Teilnehmer der mißglückten Jagd im Stabszelt. Die Nachrichtentruppen hatten die nötigen Verbindungen hergestellt. Der Artilleriegeneral, in diesen Minuten aufgeblüht, gleichsam verjüngt, stand bereit, den Befehl „Feuer“! zu geben. Da hörten alle das Surren eines Hubschraubers, der vom Zentralflughafen der Hauptstadt kam. Der Hubschrauber landete dreißig Meter vom Stabszelt. Ohne Hut und Mantel 534
sprang Professor Asquith heraus und lief zum Zelt. „Nicht bombardieren, auf keinen Fall bombardieren! Es gibt einen Ausweg.“
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Der Informationsstrom Vergangenes hängt nicht mehr von uns ab, doch die Zukunft bestimmen wir. Tschaadajew
70.355.653 361.664 Dr. Duviézard und ich flogen am Morgen des 28. April, zwölf Stunden nach Asquith, in die Hauptstadt der Kolonialmacht. Auf dem Flughafen wurden wir als Mitglieder der Internationalen Kommission ziemlich pompös empfangen und sofort ins beste Hotel geleitet. Diese Aufmerksamkeit war schmeichelhaft, aber unsere Wünsche gingen in anderer Richtung. Wir hatten zwar nicht damit gerechnet, daß man uns wie Asquith auf dem schnellsten Weg zum Stabszelt bringen würde, aber auch nicht erwartet, in komfortablen Hotelzimmern eingeschlossen zu werden, ohne Aussicht, bald an die „Front“ zu kommen. Natürlich war unsere Lage etwas zwielichtig. Die Internationale Kommission war von den Vereinten Nationen für den Kampf mit dem Siliziumplasma auf Pautoo geschaffen worden, und wir sahen ohne weiteres ein, daß niemand die Behörden des Landes zwingen konnte, unsere Vollmachten anzuerkennen. Diese Einsicht beruhigte uns indessen nicht. Wir wollten schnellstens in das Ge536
schehen eingreifen und telefonierten unablässig, in dem Bestreben, aus der Isolierung herauszukommen, in die man uns auf die liebenswürdigste Art von der Welt gedrängt hatte. Als Retter in der Not erwies sich Asquith. Er rief aus den Propyläen an, entschuldigte sich, daß er uns nicht persönlich habe begrüßen können – man lasse ihn keinen Schritt vom Stabszelt fort –, und versprach, sofort alle Formalitäten zu erledigen Tatsächlich erhielten wir bald darauf die Genehmigung, das „Schlachtfeld“ zu betreten. Die Erklärung war einfach: Die Lage im Lande hatte sich dermaßen zugespitzt, daß die Regierung nicht wagte, allein die Verantwortung für die möglichen Folgen der Siliziteninvasion zu tragen. Mittags fuhren wir zu den Propyläen, die strenger bewacht wurden als ein militärisches Geheimobjekt. Asquith begrüßte uns herzlich. Er sah nicht gerade gut aus. Die Aufregung der letzten Tage, die schlaflose Nacht und das Bewußtsein der ungeheuren Verantwortung, die er sich aufgeladen hatte, standen ihm im Gesicht geschrieben. All dies konnte jedoch sein Hochgefühl nicht dämpfen. Hohlwangig und gealtert, gab er sich trotzdem sehr lebhaft. Sichtlich genoß er seine Sonderstellung und sonnte sich in dem Bewußtsein, im Mittelpunkt ungewöhnlicher Ereignisse zu stehen. Mit 537
einem Wort, er fühlte sich wie Napoleon bei Austerlitz. Am meisten freute sich Asquith darüber, daß er die Industriellen und Militärs überreden konnte, in den Propyläen keine solchen Zerstörungen anzurichten wie in Tarkor. Das gelang ihm offenbar deshalb, weil sich die erste Annahme der Rodbaridenjäger als falsch herausstellte. Wie sich bei näherer Prüfung zeigte, beabsichtigten die Rodbariden nämlich gar nicht, sich auszubreiten, unterirdische Gänge zu graben und in der Hauptstadt alles zu vernichten. Sie betätigten sich weit weniger kriegerisch. Einmal auf Sandboden, widmeten sie sich sogleich und ausschließlich dem Aufbau. Diesmal errichteten sie kein Perlmutterschloß mit hochragenden Prachtsäulen, sondern werkten an einer großen Schale, wobei sie den Sand als Baustoff benutzten. Nach wenigen Stunden war die Arbeit beendet und auf Carts Landsitz eine ideal glattpolierte Mulde von parabolischer Form entstanden, die einen Durchmesser von fünfzehn Metern hatte. Wofür? Wer hätte das damals ahnen können! Nachdem das Werk vollendet war, das die Menschen einen unerhörten Aufwand an Kraft und Zeit gekostet hätte, lagerten sich die Rodbariden friedlich um den Rand der Mulde und verharrten in regungsloser Erwartung. Weder surrten noch pulsierten 538
sie. So erblickte ich sie zum erstenmal. Wie aus sechskantigen Schilden zusammengeschweißt, hatten sie wirklich eine entfernte Ähnlichkeit mit Schildkröten. Nach unserer Ankunft wurde die Beratung darüber, was weiter geschehen, was man unternehmen solle, wieder aufgenommen. Die Furcht vor dem Unbekannten blieb, sie mahnte zur Wachsamkeit, und doch dachten die Menschen, nachdem sie sich von der Friedfertigkeit der Rodbariden überzeugt hatten, schon darüber nach, wie man es anstellen müsse, um dieser hurtigen, gewandten Baumeister nicht verlustig zu gehen. Ehrlich gesagt, quälte uns alle der eine kühne und verlockende Gedanke: Wie können wir sie zwingen, für uns zu arbeiten? Der von Asquith vorgetragene Rettungsplan fand sowohl Zustimmung als auch Ablehnung. Seit dem Augenblick, als er mit dem Ruf: „Es gibt einen Ausweg!“ ins Stabszelt gestürzt war, zog sich die Erörterung dieses Plans endlos hin. Auch Duviézard und ich trugen unser Scherflein dazu bei. Dann aber wurde eine Regierungskommission gebildet und die Entscheidung ihr übertragen. Ich verzichte darauf, die Sitzung, die zwei Stunden darauf stattfand, im einzelnen zu schildern. Nur soviel sei gesagt, daß die Leidenschaft, mit der Asquith seinen Vorschlag verteidigte, wir539
kungslos verpuffte. Seine verzweifelten Versuche, die Rodbariden in den Propyläen zu schützen, blieben ohne Erfolg. Die Regierungskommission beschloß, sie zu vernichten. Wir rückten bereits die Stühle und standen auf, von dem turbulenten Tag dermaßen erschöpft, daß wir nicht einmal die Kraft aufbrachten, den gefaßten Entschluß zu bedauern. Da erhielt der Kommissionsvorsitzende eine Nachricht, die ihn erbleichen ließ. Mit zitternder Stimme sagte er: „Meine Herren, das dürfte die Katastrophe sein!“ Vierundzwanzig Stunden lang waren ein Bombenhagel und ein Napalmregen auf Tarkor niedergeprasselt. Kanonen und Granatwerfer hatten keinen Augenblick geschwiegen. Alle denkbaren Zerstörungsmittel außer Kernwaffen waren so rücksichtslos und gekonnt eingesetzt worden, daß man füglich annehmen durfte, nichts und niemand habe überlebt. Die Rodbariden aber überlebten. Die Frage, ob man die Propyläen zerstören solle oder nicht, war damit gegenstandslos geworden. Alle begriffen, wie sinnlos die Versuche waren, etwas gegen die Siliziumgeschöpfe zu unternehmen. Jemand, ich glaube, Dr. Duviézard, schlug vor, unverzüglich nach Tarkor zu fahren. Man mußte sich wenigstens den 540
Anschein geben, als tue man etwas, und seine Idee fiel auf fruchtbaren Boden. Nach wenigen Minuten saßen er, Asquith, zwei weitere Mitglieder der Regierungskommission und ich bereits in einem Kraftwagen. Nie werde ich diese Fahrt vergessen. Es war tiefe Nacht. Die Scheinwerfer fetzten aus der dunklen Chaussee grelle Lichtflekke heraus. Die Bäume am Straßenrand schienen dem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Wagen entgegenzustürzen. Schläfrigkeit befiel mich. Seit dem Abflug von Makimi hatte ich mich nicht eine Stunde ausgeruht. Von Zeit zu Zeit döste ich ein. Doch der Gedanke an die hereinbrechende Katastrophe schreckte mich immer wieder auf, und die Müdigkeit war wie weggeblasen. Was spielt sich jetzt dort ab? grübelte ich. Was erwartet uns beim Zusammenstoß mit den Rodbariden? Nun, die Rodbariden, die eben erst der von Menschen künstlich geschaffenen Hölle entronnen waren, fühlten sich gar nicht so schlecht. Offenbar hat jedes Planetensystem seine eigene, andersgeartete Hölle. Ganz ohne Schaden waren die Siliziumgeschöpfe zwar nicht davongekommen. Wo Volltreffer von Bomben und Granaten zu verzeichnen waren, hatte der ungeheuerliche Explosionsdruck und die nach unseren Vorstellungen unerträgliche Entflam541
mungstemperatur den Rodbariden Verluste zugefügt. Doch wie groß waren sie? Wie wir schon bei unserer ersten Bekanntschaft mit ihnen angenommen hatten, stellten die Rodbariden Kolonien von Siliziumgeschöpfen dar. Der Bombenhagel zerfetzte die kugelförmigen Konglomerate, und die Einzelteile flogen nach allen Seiten auseinander; einige der elementaren Rodbariden kamen um, die meisten blieben jedoch am Leben. An Stellen, wo sich die Druck- und Hitzewellen schwächer auswirkten, warteten sie ab, bis der allzu heiße Empfang durch die Menschen vorbei sein würde. Nach dem Überfall gingen dann die unversehrt gebliebenen Individuen dazu über, sich von neuem zu gruppieren, sich zu vermehren und ihrem unbezähmbaren Tätigkeitsdrang zu frönen. Nachdem die vierundzwanzigstündige Bombardierung beendet war und sich der Rauch etwas verzogen hatte, beschlossen die für die Operation verantwortlichen Offiziere, die sich das Vergnügen nicht versagen wollten, die Früchte ihrer zünftigen Arbeit zu genießen, Tarkor aus der Vogelperspektive zu betrachten. Ihr Hubschrauber überflog mehrmals langsam die Stelle, wo am Tag zuvor noch Chansnepps Institut gestanden hatte. Das Bild der Zerstörung übertraf die kühnsten Erwartungen. Die Offiziere wollten schon einen Siegesbe542
richt ins Hauptquartier funken, als einer von ihnen beim Anblick eines sonderbaren Flecks in der Nähe des Tarkor-Sees stutzte. Ringsum bot sich das chaotische Bild des ersten Schöpfungstages (richtiger gesagt: des menschlichen Zerstörungswerkes), und nur hier, auf dieser Fläche von etwa zehn Meter Durchmesser, war der Boden auffallend sauber und eben. Der Hubschrauber ging tiefer. Als er ganz niedrig über dem glatten Platz schwebte, konnten die Offiziere besser sehen, was drunten vor sich ging. Sie erschraken: Zwei abgeplattete braune Kugeln bewegten sich gleichmäßig im Kreis. Zu der Zeit, als unsere Gruppe den Schauplatz der so ruhmlos ausgegangenen Schlacht erreichte, hatten die Rodbariden ihr Werk bereits vollendet. Im Morgengrauen sahen wir, daß diese fleißigen Arbeiter die Schuttberge zu Staub zermahlen und das ganze Tarkorer Gelände sorgfältig eingeebnet hatten. Dann waren sie, sehr viel umfangreicher geworden, zum TarkorSee aufgebrochen. Der spiegelglatte Riesenplatz, den sie hervorgezaubert hatten, glänzte in den ersten Strahlen der Morgensonne. Er ist heute einer der schönsten und besten Flughäfen in Europa. Ich habe nie an einem Krieg teilgenommen. Aber ich kann mich in die Lage von Heerführern versetzen, deren Pflicht es ist, 543
in kürzester Frist unter dem Druck des Feindes den einzig richtigen Entschluß zu fassen. Ich kann mir ausmalen, wie entsprechend den Angaben der Aufklärung auf den Karten die Gruppierungen des Gegners und die Richtungen der eigenen Gegenangriffe eingetragen, äußerst präzise Befehle gegeben und alle Vorbereitungen zum Kampf getroffen werden. Auch wir trafen unsere Vorbereitungen. Es gab keine Wahl mehr. Entweder verwirklichten wir ohne Zeitverlust Asquiths Plan, oder wir legten die Hände in den Schoß und ergaben uns auf Gnade und Ungnade den vorrückenden Rodbariden. Das zweite kam nicht in Frage. Der Mensch ist in seinem innersten Wesen ein Kämpfer, der stets den Sieg anstrebt, selbst über den mächtigsten Feind. Er hat Mammuts und Höhlenlöwen, Pest und schwarze Blattern besiegt. Er hat sich Feuer und Wasser Untertan gemacht, hat chemische Prozesse und Kernenergie gemeistert und in seinen Dienst gestellt. Jetzt stand uns der Kampf mit den Siliziumgeschöpfen bevor. Asquith hatte seinen Plan bereits in Melbourne erdacht, sobald er über die Aktionen der Rodbariden informiert worden war. Er wollte den keine Hindernisse kennenden Drang der Siliziumgeschöpfe zueinander ausnutzen, um sie zu bändigen. Sofort nach seiner An544
kunft in den Propyläen hatte er durch Landmesser Foorns Beobachtung überprüfen und die von Ritams „Schildkröte“ eingeschlagene Richtung genau bestimmen lassen. Die Verlängerung des glasartigen Weges, den die „Schildkröte“ so wunderbar in einer einzigen Nacht angelegt hatte, verlief nicht durch Tarkor, sondern wich etwas davon ab und durchschnitt das Städtchen Nelm, wo sich eine Zweigstelle von Chansnepps Institut befand. Dorthin waren bei der Evakuierung Tarkors die konservierten Rodbariden gebracht worden. Sie zogen offenbar ihre Artgefährten stärker an als die von Foorn in Freiheit gesetzten. Diese Schlußfolgerung wurde erhärtet, als man feststellte, daß sich die durch die Explosionen über das ganze Tarkorer Gebiet verstreuten, aber am Leben gebliebenen Rodbariden ebenfalls in Richtung Nelm in Marsch setzten, nachdem sie sich an den Ruinen des Instituts gehörig gestärkt hatten. Vor der Bombardierung waren es fünf, jetzt achtundvierzig. Auf dem Übersichtsplan der Hauptstadt und ihrer Vororte zeichneten wir wie auf einer Generalstabskarte rote Linien ein. Durch genaue Messungen ermittelten wir den Weg der Rodbariden. Die vier aus den Propyläen berührten auf ihrer Wanderung keinen Ort von Bedeutung. Doch das halbe 545
Hundert aus Tarkor drohte unterwegs einen am Rande der Hauptstadt gelegenen Industriebezirk zu verwüsten. In diesen Stunden setzten wir unsere ganze Hoffnung auf Asquiths Plan. Der Professor hatte sich in einen Diktator verwandelt. Seine Anordnungen wurden blitzschnell ausgeführt. Alle Befehle erteilte er nach reiflicher Überlegung und mit zwingender Autorität. Sah man ihn an, so erschien es unglaublich, daß er zwei Tage und Nächte kein Auge zugetan hatte. Die Rodbariden näherten sich dem Tarkor-See. Streng ihre Richtung beibehaltend, stürzten sie sich ins Wasser. Zu dieser Zeit befanden wir uns am jenseitigen Ufer und warteten, bis sie auf der vorgelagerten Sandbank auftauchen und ihren ungestümen Angriff fortsetzen würden. Noch eine kurze Weile, und wir standen dem mächtigen, aber anscheinend nicht bösartigen Feind Auge in Auge gegenüber. In unserem Rücken lag eine große Industriestadt. Würden die Rodbariden ihre Außenbezirke verheeren, oder würde Asquiths Plan Tausende von Menschen vor Not und Elend bewahren? Auf einer Wiese am See, ganz in unserer Nähe, landeten pausenlos Hubschrauber, die zwischen Nelm und dem Tarkor-See hin und her pendelten. Mit den untergehängten Containern, in denen sich die 546
Blechbehälter mit den konservierten Rodbariden befanden, sahen sie aus wie Adler mit Lämmern in ihren Klauen. Die Blechbehälter waren von derselben Art wie der von Foorn mit dem Wäschereilieferwagen aus Chansnepps Institut herausgeschmuggelte. Sie wurden zusammen mit den Containern auf den Anhänger eines Sattelschleppers geladen. Der letzte Hubschrauber landete. Fast zur selben Zeit, als der zwölfte und letzte Behälter auf dem Fahrzeug verstaut wurde, tauchten wie achtundvierzig Recken nacheinander die tropfnassen, leicht dampfenden Rodbariden aus dem See auf. Asquith sprang in seinen offenen Pkw. Dr. Duviézard und ich nahmen neben ihm Platz. Asquith blickte nicht zurück, er hielt sich mit beiden Händen an der Lehne des Fahrersitzes fest. „Haben Sie Angst?“ fragte ich ihn leise. „Im Gegenteil, ich lebe auf, denn Furcht und Hoffnung sind im Grunde genommen der Inhalt des Lebens. Los!“ befahl er und legte die Hände auf die Schultern des Fahrers. Langsam fuhr das Auto an. Hinter dem lack- und chromglänzenden Straßenkreuzer kroch in einem Abstand von genau zehn Metern der Sattelschlepper, auf dessen Anhänger sich die Container befanden. 547
In jedem von ihnen lag ein konservierter Rodbarid. Auf der Wiese, auf der wir fuhren, entschied sich mehr als das Schicksal eines einzigen Außenbezirks der Hauptstadt. Die achtundvierzig Rodbariden folgten dem Sattelschlepper, der ihnen immer ein Stückchen vorausblieb. So legten wir etwa hundert Meter zurück. Dann packte Asquith den Fahrer an den Schultern und drehte ihn nach links. Der krümmte sich unter dem harten Griff, wehrte sich jedoch nicht; in diesem Augenblick verzieh er dem Professor alles. Der Personenwagen und in seiner Spur der Sattelschlepper beschrieben im Schneckentempo eine große Kurve. Nachdem sie einen Viertelkreisbogen zurückgelegt hatten, wagte der kreidebleiche Asquith zwar immer noch nicht, sich umzusehen, aber er schielte über die linke Schulter. Die Rodbariden folgten dem Sattelschlepper gehorsam auf der Kreislinie. Asquith ließ den Fahrer los und rief: „Vorwärts!“ Die Fahrer gaben Gas, und die Rodbariden marschierten in der von uns gewünschten Richtung, die von der Stadt wegführte. Asquith plumpste auf seinen Sitz, sprang aber sofort wieder auf, zog seinem Fahrer 548
geschickt wie ein Spitzbube. eine Mundharmonika aus der Rocktasche und spielte im Stehen, aber entsetzlich falsch einen schneidigen Marsch. Dabei sah er dem Rattenfänger von Hameln zum Verwechseln ähnlich. Tavour gewann seine Wette mit dem Chefredakteur. In der Landespresse erschien nichts, was die Bevölkerung über die Vorgänge in Tarkor und in den Propyläen auch nur halbwegs aufgeklärt hätte. Vor kurzem habe ich die Zeitungen aus jener Zeit noch einmal durchgesehen. Was für knallige Schlagzeilen brachten sie, was für Sensationen saugten sich die Journalisten aus den Fingern, nur um die Aufmerksamkeit der Leser vom Siliziumproblem abzulenken! Bis zu einem gewissen Grade war diese Verschwörung des Schweigens sicherlich gerechtfertigt. Da wir über die Biosiliziten noch zuwenig wußten, hielten wir die Situation für mehr als bedrohlich. Es war daher durchaus vernünftig, alles zu tun, um einer Panik vorzubeugen. Seine Rolle als „Retter des Vaterlandes“ spielte Asquith nicht lange. Ohnehin wußte nur ein sehr enger Kreis über seine Großtat Bescheid. Die Zeitungen brachten sein Bild nicht, was den Professor zutiefst betrübte. Halb im Scherz, halb im Ernst drohte er, sich an der Stadt zu rächen, wie jener Rattenfänger von Hameln, als ihm 549
die Stadtväter den versprochenen Lohn vorenthielten. Natürlich dachte Asquith nicht daran, ein ähnliches Zauberkunststück zu vollführen. Tatsache aber ist, daß er drohte, er werde gewisse Leute zwingen, ihre Schuld zu begleichen, und daß er seine Drohung wahr machte. Das war jedoch bedeutend später. Damals lachten wir über ihn. Nur Asquith, in dem sich Kühnheit, Verstand und Phantasie mit jungenhafter Empfindlichkeit paarten, brachte es fertig, sich über die fehlende „publicity“ derart in eine künstliche Wut hineinzusteigern. Wir hatten andere Sorgen. Die achtundvierzig Rodbariden, die ihren konservierten Artgefährten getreulich folgten, wurden auf einen großen Truppenübungsplatz gelotst, der unweit des Städtchens Lonar, etwa fünfzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, lag. Das war eine kluge und richtige Entscheidung. Die Regierung brachte kein geringes Opfer, als sie sich entschloß, den Rodbariden einen der besten Schießplätze des Landes zur Verfügung zu stellen. Wir fuhren bereits auf das Gelände, während die Militärs noch dabei waren, eiligst ihre ganze Wirtschaft zu evakuieren. Die Unterstände, Bunker, Spezialgräben, Beobachtungsstellen, Laboratorien, Leitstände und Hilfsgebäude überließen sie den Leuten, die mit den so überraschend und bedrohlich in das gere550
gelte Leben des Landes eingebrochenen Lebewesen fertig werden mußten. Leicht gesagt: „fertig werden“. Damals hatte keiner von uns auch nur die geringste Vorstellung davon, wie man den Rodbariden beikommen könnte. In Tarkor hatten sich alle von der Nutzlosigkeit der verfügbaren Waffen überzeugt. Trotzdem wurde auch hier das ganze Gelände von Truppen umstellt, die mit allen modernen Zerstörungsmitteln ausgerüstet waren. Die Macht der Gewohnheit! Es schien sicherer so. Der Übungsplatz wurde eiligst mit den verschiedensten Übertragungsanlagen ausgestattet, mit Nachrichtenmitteln und Geräten für die Fernüberwachung und Fernaufzeichnung alles dessen, was auf einem riesigen Schießplatz vor sich geht. Die Furcht vor den Rodbariden war in jenen Tagen noch so groß, daß man mir, Duviézard und einigen weiteren eingereisten Mitgliedern der Internationalen Kommission, also Leuten, die im Grunde genommen Außenstehende waren, sofort und unter Umgehung der sonst in solchen Fällen üblichen Formalitäten zu einem der geheimsten militärischen Objekte Zutritt gewährte, allerdings nicht, ohne vorher alle Waffenmodelle wegzuschaffen. Wenn ich von der Furcht vor den Rodbariden spreche, so ist das keineswegs abfäl551
lig gemeint. Selbstverständlich konnte damals keiner von uns ahnen, was diese reizenden Geschöpfe noch alles anstellen würden. Nach ihrem triumphalen Einzug auf dem Übungsplatz saßen alle achtundvierzig Exemplare, auf einem Haufen zusammengedrängt, friedlich neben dem Sattelschlepper mit den Containern. Doch uns allen war klar, daß das nicht lange dauern konnte. Zu gut kannten wir ihre unbändige Arbeitslust und unglaubliche Vitalität. In den Propyläen hatte die „Schildkröte“ zwei Stunden gebraucht, um sich zu vervierfachen. Nach weiteren zwei Stunden hatten diese vier einen optimalen Umfang erreicht und sich in den Boden eingegraben. Was sie zu der rapiden Vermehrung trieb, war zwar noch unbekannt. Aber wenn die Rodbariden in diesem Tempo fortfuhren, dann ließ sich leicht ausrechnen, daß ein einziges Exemplar sich in zwölf Stunden (da es unter irdischen Bedingungen auf keinerlei Widerstand stieß und keine Kraft für den Daseinskampf mit anderen Lebewesen verausgabte) in tausend verwandeln konnte. Diese wiederum würden an einem Tag zu vier Millionen anwachsen, und in zwei Tagen würde deren Nachkommenschaft eine astronomische Ziffer erreichen, nämlich 70 355 653 361 664. 552
Auf dem Truppenübungsplatz gab es allein achtundvierzig! Vorläufig vermehrten sie sich nicht weiter. Aber wenn sie wieder damit anfingen? Über das Siliziumproblem besorgt, fügte sich die Regierung des Landes widerspruchslos einer internationalen Kontrolle. Damals wurde der Beschluß gefaßt, das Vereinigte Institut für die Erforschung der Biosiliziten zu gründen. Zur Arbeit in diesem Institut wurden Gelehrte aus den verschiedensten Ländern herangezogen. Gleichzeitig schufen die Vereinten Nationen ein mit weitreichenden Vollmachten ausgestattetes Siliziumkomitee, das seinerseits zahlreiche Ausschüsse und Kommissionen bildete. Beiden Körperschaften gehörten, ebenso wie früher der Internationalen Kommission auf Pautoo, Jusgor und ich an. Die organisatorischen Fragen wurden, was selten vorkommt, rascher gelöst als die praktischen. Wir besaßen ausgedehnte Befugnisse und verfügten über enorme technische Möglichkeiten, aber wir hatten keine Ahnung, was wir mit den Rodbariden anfangen sollten. Deshalb begnügten wir uns mit der Erörterung des Problems, ohne konkret etwas zu unternehmen. Glücklicherweise unternahmen auch die Rodbariden nichts. Eine Woche verging, die zweite brach an, und sie lagen immer noch unbe553
weglich neben den Behältern. Das ermutigte uns zu Experimenten, obzwar nur solchen, die wir für harmlos hielten. Professor Asquith machte die Gelehrten, die sich im neuen Institut zusammengefunden hatten, mit den Arbeiten des verstorbenen Professors Rodbar bekannt und erzählte von den Methoden, die angewandt worden waren, um die Siliziumkeime zu beleben und daraus Siliziten zu züchten. Bereits Rodbar hatte festgestellt, daß diese Lebewesen nur dann lebensfähig und überaus aktiv wurden, wenn man ihnen wenigstens geringe Mengen organischer Kohlenstoffsubstanzen zuführte. Solange das nicht geschah, lagen sie, relativ klein, mit einem Durchmesser von etwa vierzig Zentimetern, und bräunlich gefärbt, unbeweglich in den Blechbehältern. Man konnte sie nicht voneinander unterscheiden, da sie einander glichen wie ein Ei dem andern. Mit einer Ausnahme. Dieses eine Exemplar schien gleichsam aus bläulich schimmerndem Qualitätsstahl geschmiedet. Auf organische Stoffe reagierte es nicht. Alle zwölf konservierten Wesen, das bläuliche eingeschlossen, befanden sich noch in den Containern auf dem Sattelanhänger. Wir beschlossen, sie versuchsweise in einzelne Boxen aus Eisenbeton unterzubringen. Ich weiß nicht, warum wir ge554
rade diese Entscheidung trafen. Wahrscheinlich, weil wir eine Zusammenballung der Siliziumgeschöpfe nach Möglichkeit vermeiden wollten. Eines Morgens gaben wir den Befehl, die Container in die Boxen zu schaffen. Mit einem prickelnden Gefühl, gemischt aus Neugier und Angst, sahen wir den kommenden Ereignissen entgegen. Wenn die Rodbariden nun meuterten, weil sie sich nicht voneinander trennen wollten? Alles ging indes gut, bis die Reihe an den Behälter mit dem bläulichen Exemplar kam. Der funkgesteuerte Autokran hob auch ihn vom Anhänger. Wie beim Abtransport der anderen Individuen blieb zunächst alles ruhig. Doch als der Autokran in Richtung der Box davonfuhr, folgten ihm wie auf ein Kommando alle achtundvierzig Rodbariden. Wir ließen den Kran anhalten; da blieben auch die Rodbariden stehen. So machten wir eine wichtige Entdekkung. Es war dieses bläuliche Exemplar, das seine Mitgeschöpfe aus Tarkor weggeführt hatte. Es anzutasten erschien uns zu gewagt. Also ließen wir es in seinem Behälter unter freiem Himmel, mitten auf dem Übungsplatz stehen. Bisher hatten wir trotz allem Glück gehabt. Völlig in Unkenntnis über die Verhaltensweise der Rodbariden, waren wir oft 555
Risiken eingegangen, hatten aber Opfer vermeiden können. Auch an diesem Morgen gab es keine Opfer. Sobald der Autokran davongefahren war, trennten sich fünf Rodbariden von dem großen Haufen und begaben sich zu dem zurückgelassenen Behälter. Was sich im nächsten Augenblick tat, war kaum zu fassen und ist schwer zu beschreiben. Leider war der Beobachtungsposten damals noch nicht mit Filmkameras ausgerüstet, die jeden beliebigen Augenblick Aufnahmen machen konnten. Dieser Mangel wurde bald darauf behoben, und danach standen die Kameras stets bereit. Ich will versuchen, meine Eindrücke von dem an diesem Morgen Gesehenen frei aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Die fünf Rodbariden krochen hintereinander langsam auf den Behälter mit dem darin hockenden bläulichen Individuum zu und lagerten sich dann rund um ihn, wobei sie sich zu einem regelmäßigen Fünfeck anordneten. Nach etwa zehn Minuten streckten sich diese Rodbariden, bis sie einander berührten, und schlossen sich zu einem Ring zusammen. Im selben Augenblick erfolgte eine Explosion, den Behälter hüllte plötzlich so etwas wie eine Wolke ein, die sich aber sofort verflüchtigte, und – der Behälter war verschwunden. Keiner von uns bemerkte, wann die Rodbariden 556
wieder ihre alte Form annahmen und sich aus dem geschlossenen Ring in abgeplattete Kugeln zurückverwandelten. Wir starrten alle auf die Stelle, wo eben noch der Behälter gestanden hatte. Dort lag jetzt das bläuliche Individuum, das sich mit Hilfe seiner Artgenossen aus seinem Kerker befreit hatte. Die einwöchige Ruhepause der Rodbariden war damit zu Ende. Irgendein innerer Prozeß war abgeschlossen, und sie wurden wieder aktiv. Ich erinnerte mich alles dessen, was sie mit so überlegener Macht in Tarkor und in den Propyläen vollbracht hatten, und mir wurde, ich gestehe es freimütig, unheimlich zumute bei dem Gedanken, wozu ihre neue Aktivität führen konnte. An diesem Tag faßte die Institutsleitung nur einen einzigen Entschluß: Niemand darf sich dem von den fünf Rodbariden bewachten bläulichen Individuum nähern. Was konnten wir in dieser Situation tun? Praktisch nichts. Nur beobachten und abwarten. Das war demütigend. Wir wollten uns damit nicht abfinden, unsere Hilflosigkeit nicht zugeben. Doch die Vernunft siegte, und keiner ging ein sinnloses Risiko ein. Das änderte nichts daran, daß wir fest entschlossen waren, die mächtigen Lebewesen, die uns noch so viele Rätsel aufgaben, zu bezwingen. Übrigens stellten schon 557
damals, bei unserer ersten Bekanntschaft mit den Rodbariden, manche Gelehrte Hypothesen darüber auf, was diese Wesen eigentlich darstellten. Fast alle hörten sich, wenn sie vorgebracht wurden, interessant an, mitunter sogar recht überzeugend, aber dann wurden sie erörtert, analysiert und widerlegt, und an der eben noch so eifrig vertretenen Meinung blieb kein gutes Haar. Nur in einem Punkt waren sich die Gelehrten einig: Die Siliziumgeschöpfe unterscheiden sich grundsätzlich von allen der Wissenschaft bekannten irdischen Lebewesen. Das war wenig genug. Viele einigten sich darauf, daß offenbar auf einem rauhen Planeten, der nicht so reichlich erwärmt wurde wie unsere Erde, Leben entstanden war, das im Laufe einer langen Entwicklung Formen annahm, wie sie die bei uns erschienenen Geschöpfe aufwiesen. Auf diesem Planeten gab es wahrscheinlich nicht wie auf unserer Erde eine Atmosphäre, die alles Lebende zuverlässig schützt. Die Siliziumgeschöpfe paßten sich den niedrigen Temperaturen und der für unsere Biosphäre verderblichen Strahlung an. Einige Gelehrte vertraten die Ansicht, für diesen unbekannten Planeten müßten schroffe Temperaturschwankungen charakteristisch sein, da die Biosiliziten erstaunlich rasch „gelernt“ hätten, weder übermäßige Kälte noch eine für irdi558
sche Organismen unerträgliche Hitze zu fürchten. Man habe sie in Tarkor mit flüssiger Luft übergossen, ohne daß es ihnen etwas ausgemacht habe, und die Bombardierung sei zwar nicht nach ihrem Geschmack gewesen, aber viele von ihnen hätten das höllische Feuer unversehrt überstanden. Wir wußten einfach zuwenig über die Natur der Rodbariden, und wir wußten rein gar nichts über die Welt, in der sie geboren waren. Doch schon damals kamen wir zu dem Schluß, daß es auf ihrem Planeten keinen Sauerstoff geben könne. Die Biosiliziten brauchten keine Luft. Folglich hatten sie sich im Laufe ihrer Entwicklung Energiequellen erschlossen, die sich von den unseren unterschieden. Nicht der Photosynthese, der Grundlage alles irdischen Lebens, bedienten sich diese Wesen, sondern der Spaltungsenergie radioaktiver Stoffe, und das ermöglichte es ihnen, den raschen Wechsel der Umweltbedingungen zu ertragen. Mehr noch, es war nicht ausgeschlossen, daß auf ihrem Planeten überhaupt eine Gashülle fehlte und die Siliziten hervorragend ohne sie auskamen, indem sie ihren Körper aus siliziumhaltigen Substanzen aufbauten, den Stoffwechsel mittels bestimmter Metalle regelten und sich mit der Energie radioaktiver Stoffe aufluden. 559
Davon ausgehend, gelangten wir zu noch kühneren Schlüssen. Wenn den Siliziten das Fehlen einer Atmosphäre nichts ausmachte, dann brauchten sie vermutlich auch den kosmischen Raum nicht zu fürchten. Ihr hohes Energieniveau und die Eigenschaft, bei geringem Volumen eine kolossale Energie aufzuspeichern, ließen sie offenbar den Kosmos als durchaus erträglich empfinden. Hatten sie vielleicht gerade deshalb gewagt, das All zu erforschen, weil sie sich im Weltraum fast genauso wohl fühlten wie auf ihrem (von unserm Standpunkt aus gesehen) toten Planeten? War vielleicht auch der Flug zu uns für sie gar kein so schwieriges Unternehmen gewesen, wie es der Weltraumflug für den Menschen ist? Der Flug zu uns! Wieviel Streitgespräche und Mutmaßungen rief diese Behauptung hervor, wieviel Hypothesen eine kühner als die andere und manche davon recht vielversprechend! Die meisten von uns glaubten hier einen wunden Punkt der Biosiliziten gefunden zu haben. Irgend etwas war bei ihrer „Expedition“ schiefgegangen. Die Erde hatten sie zwar erreicht, aber ohne Hilfe des Menschen konnten sie sich nicht entwickeln und ihre Mission erfüllen. Demnach waren sie gar nicht so allmächtig, wie bisher angenommen. Der Mensch war imstande, ihnen Zügel anzulegen und natür560
lich auch zu verhindern, daß sie auf der Erde Unheil stifteten. Aber wie? Das blieb vorläufig unklar. In den Arbeitszimmern und Laboratorien redeten wir uns die Köpfe heiß und schwelgten in verlockenden Theorien. Doch auf unserm Versuchsgelände blieb alles beim alten. In den Rodbariden gingen irgendwelche uns unbekannte Prozesse vor sich; allem Anschein nach bereiteten sie sich auf eine neue Etappe ihres Daseins vor und schenkten uns nicht die geringste Aufmerksamkeit. Wir aber mußten uns wohl oder übel mit einem gutorganisierten Überwachungssystem begnügen. Einander in regelmäßigen Zeitabständen ablösend, machten wir Tag und Nacht Dienst auf dem Truppenübungsplatz, der sich mittlerweile in einen Naturschutzpark verwandelt hatte. Am 9. Mai hatte Professor Asquith Dienst. Um acht Uhr abends löste ihn Jusgor ab. Jusgor war die Pünktlichkeit in Person. Er verspätete sich niemals, erschien aber auch niemals vor der festgesetzten Zeit im Institut. Diesmal kam er aus irgendeinem Grund zwanzig Minuten vor Dienstantritt, ging ohne Aufenthalt in die Beobachtungszentrale und – traf Asquith dort nicht an. Verlegen sagten die Mitarbeiter, die mit Asquith zusammen Dienst hatten, der Professor habe sich entfernt. Das war eine ernste Verletzung der einge561
führten strengen Ordnung. Kein verantwortlicher Mitarbeiter des Instituts erlaubte sich eine solche Disziplinlosigkeit und überließ jemals die Beobachtungszentrale der alleinigen Aufsicht seiner Assistenten. Jusgor befand sich in einer peinlichen Lage. Den Direktor sofort von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen, wie das die Hausordnung vorschrieb, konnte er sich nicht entschließen. Er hielt das einem Menschen gegenüber, der so hohes Ansehen genoß wie Asquith, für unstatthaft. Andrerseits wollte er sich nicht selbst eines Verstoßes gegen die Regeln schuldig machen. Er wartete daher zehn, fünfzehn Minuten, doch Asquith war und blieb verschwunden. Erst als Jusgor schon zum Telefonhörer griff, kam er zurück. Er war sichtlich erregt und bot Jusgor sogleich an, für ihn weiter Dienst zu machen. „Fahren Sie in die Stadt, Jusgor, wenn Sie Lust haben. Die triste Siedlung hier ist Ihnen sicher schon längst über. Ich will gerne hier bleiben, bis Herr Kurbatow seinen Dienst antritt.“ „In der Stadt gibt es nichts, was mich verlocken könnte. Außerdem muß, wie Sie wissen, die Vertretung eines verantwortlichen Diensthabenden in jedem einzelnen Fall mit dem Direktor vereinbart werden.“ „Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Dr. Duviézard wollen wir deswegen nicht 562
belästigen. Gute Nacht, Jusgor! Beobachten Sie aufmerksam diese in einem Haufen beisammen hockenden Ferkel.“ „Nehmen Sie an, sie führen etwas im Schilde?“ „Wie soll ich Ihnen das sagen? Alles ist möglich, alles ist möglich. Also Jusgor, ich verziehe mich jetzt.“ Asquith verließ das Institut jedoch nicht, nachdem er sich von Jusgor verabschiedet und ihn allein in der Beobachtungszentrale zurückgelassen hatte. Mitten in der Nacht heulten die Alarmsirenen. Das bedeutete, daß die Rodbariden eine uns unbekannte Aktivität entfalteten. Das Signal- und Nachrichtensystem war so organisiert, daß jeder von uns, selbst wenn er sich in seinem Cottage in Lonar aufhielt, unverzüglich von allem erfuhr, was im Vereinigten Institut geschah. Alle verantwortlichen Mitarbeiter waren so ständig auf Posten und jederzeit bereit… Ja, wozu waren wir bereit? Das wußten wir selber nicht. Jedenfalls zur Selbstaufopferung. Als der Alarm ausgelöst wurde, sprach ich gerade mit Asquith. Ich war ins Institut gekommen, um Jusgor abzulösen, und traf Asquith, obwohl es schon auf Mitternacht zuging, zu meinem Erstaunen in der Halle des Hauptgebäudes. Wie schon Jusgor am Abend, so fiel jetzt auch mir auf, daß er 563
nervös war und auf etwas zu warten schien. Er wirkte blaß und zerstreut und zündete sich eine Zigarette an der andern an. „Ah, Herr Kurbatow! Kommen Sie schon zum Dienst?“ „Ja, um zwölf muß ich Jusgor ablösen.“ „Aha, um zwölf. Warum ausgerechnet um zwölf? Ach ja, richtig! Das ist übrigens nicht so wichtig. Sagen Sie bitte, natürlich nur, wenn es kein Geheimnis ist, unternimmt man in Rußland nichts, um in den Besitz des fliederfarbenen Kristalls zu kommen?“ „Mir ist nichts darüber bekannt.“ „Verstehe, verstehe. Eine diplomatische Antwort!“ „Was wollen Sie damit sagen, Herr Professor? Mir ist tatsächlich nichts darüber bekannt. Soviel ich weiß, befaßt sich keine einzige wissenschaftliche Institution in der Sowjetunion mit Nachforschungen nach dem Kristall. Und ehrlich gesagt, sehe ich auch keinen Grund, warum man sich bei uns dafür interessieren sollte.“ „Ja, ja, natürlich. Man interessiert sich dafür nicht, sagen Sie? Sicher haben Sie recht. Aber Chansnepp, der interessiert sich dafür.“ „Ist das so verwunderlich? Ihm gegenüber sind Sie, ein Mensch, der über den 564
Kristall mehr weiß als wir alle, wahrscheinlich offenherziger als uns gegenüber.“ „Ich habe mit Chansnepp gebrochen und beabsichtige nicht, jemals wieder für ihn zu arbeiten. Dahinter habe ich einen Schlußpunkt gesetzt.“ „ Soweit ich Sie kenne, Asquith, fällt es Ihnen nicht schwer, im Handumdrehen einen Punkt in ein Komma zu verwandeln.“ „Gewiß, Kurbatow, das kann ich. Aber das tue ich nur, wenn es für mich vorteilhaft ist. Merken Sie sich das. Von Chansnepp habe ich genug. Er will sich nichts durch die Lappen gehen lassen und reißt rücksichtslos alles an sich. Aber damit wird er eine Pleite erleben. Mit mir kann er das nicht machen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich widerstandslos berauben lassen.“ „Das hängt meistenteils nicht von den Wünschen der Beraubten ab. Was hat Chansnepp denn allein für sich behalten? Oder ist das ein Geheimnis?“ „Das Plasma.“ „Oho!“ „Der Konzern übersteht sogar den Verlust von Tarkor ziemlich leicht, weil die Synthese der Silikonerzeugnisse mit Hilfe des Plasmas riesige Profite abwirft. Ohne mich besäße Chansnepp das Plasma nicht.“ 565
Asquiths zynische Offenheit war einfach überwältigend. „Meinen Sie nicht, Herr Professor, daß es jetzt schon etwas zu spät ist, Chansnepp die lebende Siliziumsubstanz wieder abzujagen?“ „Daran denk ich ja auch gar nicht. Ich verlange die Hälfte des Gewinns, weiter nichts.“ „Ist das viel?“ „Weniger, als ich brauche.“ „Wofür?“ „Jedenfalls nicht, um eine Luxusjacht zu kaufen oder das Geld sonstwie zu verjubeln. Das können Sie mir glauben. Ich sagte Ihnen schon einmal, ich will, ich muß stärker sein als Chansnepp und Cart zusammen. Und dazu brauche ich Geld. Sehr viel Geld und – den fliederfarbenen Kristall!“ „Es ist Ihnen also nicht gelungen, Aru in Australien dingfest zu machen?“ „Aru? Was für einen Aru? Ach so, Dagir! Der Schurke ist spurlos verschwunden. Aber keine Sorge. Ich werde ihn finden.“ Damals maß ich dem Versprecher Asquiths keine Bedeutung bei und achtete nicht darauf, daß er Aru Dagir nannte. Überhaupt benahm er sich in dieser Nacht sehr sonderbar. Keiner von uns kam gleich dahinter, ob er etwas mit den Rodbariden 566
gemacht hatte und was. Als die Sirenen zu heulen begannen, schrie er: „Es hat angefangen!“ Wenige Minuten darauf waren wir bereits in der Beobachtungszentrale. Auf unserm Versuchsgelände gruben sich die Rodbariden wieder in den Boden ein. Alle außer den fünf Wächtern, die keinen Augenblick von der Seite ihres bläulichen Artgefährten wichen, werkten in einem dichten Haufen so intensiv, daß sie bis zum Mittag des nächsten Tages bereits eine Tiefe von zwanzig Metern erreicht hatten. Allmählich verbreiterte sich der Schacht bis zu einem Durchmesser von vierzig Metern. Die Rodbariden aber wühlten sich immer tiefer in den Boden. „Sie wollen einen Ausflug zum Mittelpunkt der Erde machen“, witzelte Asquith in seiner gewohnten Manier. Man sah ihm an, daß seine Nerven aufs äußerste gespannt waren. Uns aber plagte immer stärker eine unbezähmbare Wißbegier. Was geschah in dem Schacht? Auf welche Weise vollbrachten die Rodbariden diese gigantische Leistung? Was bezweckten sie damit? Wir wußten rein gar nichts. Wir hörten nur das ständige Pfeifen und Heulen, das aus der Tiefe drang, und sahen von den Beobachtungsstellen aus, wie sich über dem Schacht eine Rauchfahne kräuselte und wie es tief unten leuchtete. 567
Nachts aber stieg das Licht aus ihm in einer phosphoreszierenden Säule zum Himmel empor. Die „Grubenarbeiter“ warfen das Erdreich nicht an die Oberfläche. Die Wände des Schachtes bestanden, wie spätere Analysen zeigten, aus einer kompakten Schmelzmasse. Die Siliziumgeschöpfe vermochten das Gestein nicht nur in ihren Körpern zu verarbeiten, sondern es auch zu verdichten, indem sie einen intermolekularen Umbau vornahmen und die irdischen Mineralien als Energiebasis für sich auswerteten. Das sicherte ihnen eine dem menschlichen Verstand unfaßbare Leistungsfähigkeit. Am 12. Mai bemerkten wir, daß das unaufhörliche Pfeifen in dem riesigen Brunnenschacht etwas nachließ. Mittels Fernsehkameras, die wir mit Kränen in den Schacht hinabließen, beobachteten wir, wie „Todesrennen“ an der senkrechten Wand einsetzten. An diese Zirkusattraktion, bei der Motorradfahrer an der Innenwand eines zylindrischen Gerüstes im Kreis herumjagen, mußte ich unwillkürlich denken, als sich einzelne Rodbariden, einander mitunter überholend, an der Wand des Schachtes hinaufschraubten, bis sie die Erdoberfläche erreichten. Auf dem Rücken trugen sie metallisch glänzende kleine Zylinder. Jeder dieser Rodbariden kroch zu einem der fünf Wäch568
ter und lud den Zylinder blitzschnell auf dessen Rücken ab. Der Wächter verschlang das „Futter“, und der „Lieferant“ eilte wieder in den Schacht zurück. Diese Fütterung erfolgte ohne Unterbrechung. Die Rodbariden benötigten weder Ruhepausen noch Schlaf, wie sie allen Erdbewohnern unentbehrlich sind. Ihr Arbeitseifer nahm jedoch, wie wir bald feststellten, mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu und ab. Zu bestimmten Tageszeiten waren sie besonders aktiv. Merkwürdigerweise waren das die Stunden, in denen sich Asquith im Institut aufhielt. Diese Gesetzmäßigkeit bemerkten Jusgor und ich als erste. In der nächsten Besprechung erkühnten wir uns, darauf hinzuweisen. Außer Konfusion kam dabei indessen nichts heraus. Asquith machte sich über uns lustig – darauf verstand er sich großartig –, und danach war die von uns entdeckte Erscheinung nicht mehr zu beobachten. Die Rodbariden schleppten nun die Zylinder für die Wächter zu jeder Tages- und Nachtzeit mit gleichmäßigem Eifer herbei. Das überzeugte Jusgor und mich endgültig, daß Asquith etwas sehr Wesentliches vor uns allen geheimhielt, und wir beschlossen, den listenreichen Professor sorgfältig zu überwachen. 569
Am 15. Mai fand eine außerordentliche Sitzung der Institutsleitung mit den Mitgliedern des Siliziumkomitees der Vereinten Nationen und mit Regierungsvertretern des Landes statt. Auf der Tagesordnung stand ein Projekt des Institutsdirektors Dr. Duviézard. Der Schacht hatte zu diesem Zeitpunkt eine Tiefe von mindestens dreihundert Metern erreicht. In der Regel befanden sich alle Rodbariden darin. Dr. Duviézards Vorschlag ging dahin, einen Augenblick abzupassen, in dem sich keines der Siliziumgeschöpfe an der Erdoberfläche befand, und eine vorher in den Schacht hinabgelassene Atombombe zu zünden. Das Projekt kam zwar etwas überraschend, aber es beeindruckte uns. Die Meinungen der Gelehrten gingen auseinander. Einige verteidigten die Rodbariden, deren Vernichtung sie für verfrüht hielten, weil der Mensch die verheißungsvolle Kraft des Kosmos unter allen Umständen erforschen und meistern müsse. Die Mehrheit jedoch fand, durch die Ereignisse in Tarkor und in den Propyläen verängstigt, es sei richtig, möglichst bald mit der Liquidierung der Siliziten zu beginnen. Jusgor brachte einen Kompromißvorschlag ein. Er machte geltend, daß die konservierten Rodbariden ungefährlich seien und man sie leicht unter Kontrolle halten könne. Vernichten solle 570
man nur die Exemplare, die sich in Freiheit befänden und somit die Möglichkeit zu Überfällen und Zerstörungen hätten. Er befürworte eine planmäßige und zielstrebige Forschung. In dem Maße, wie man Erfahrungen sammle, könne man die konservierten Exemplare nacheinander aktivieren und sozusagen die ungelenkte Reaktion in eine gelenkte umwandeln. Seine Argumente wurden als richtig anerkannt. Dennoch wollte man vor allem klären, ob die in Freiheit befindlichen Rodbariden wirklich vollständig zu vernichten waren. Die Bombardierung der Tiere in Tarkor war nicht ganz nutzlos gewesen. Eine eingehende Untersuchung des „Schlachtfeldes“ ergab, daß die Rodbariden immerhin verwundbar waren. Dort, wo die Temperatur 1500 Grad Celsius erreicht hatte, waren sie geschmolzen, und wo der Explosionsdruck mehr als 800 Kilogramm pro Quadratzentimeter betragen hatte, waren sie zerstört worden. Darüber wunderten wir uns nicht, denn es ist unvorstellbar, daß es Strukturen geben sollte – selbst wenn es sich um energetisch sehr stabile molekulare oder gar atomare handelt –, die unter allen denkbaren Bedingungen unzerstört bleiben. Unter bestimmten Bedingungen kamen auch die Siliziten um. Es schien nur so, als könnte man ihnen nichts anhaben, weil in Tarkor ein Teil der Rodba571
riden von den Explosionswellen an Stellen geschleudert wurde, wo Hitze und Druck zu gering waren, um tödlich zu wirken. Diese Exemplare überlebten und nahmen sofort ihre Tätigkeit wieder auf. Ganz anders lagen die Dinge in dem tiefen Schacht. Auf einem verhältnismäßig kleinen Raum zusammengedrängt, konnten die Rodbariden nicht überleben. Bei der Explosion einer Atombombe mußten Hitze und Druck unbedingt ihren Tod herbeiführen. Kurzum, eine im Schacht gezündete Atombombe würde die Siliziumgefahr ein für allemal bannen. Daran zweifelte niemand. Uns beunruhigte etwas anderes: Wie sollten wir mit den übrigen Rodbariden verfahren? Die konservierten bräunlichen Exemplare interessierten ihre in Freiheit befindlichen Artgenossen offenbar nicht sonderlich. Wir hatten sie an die entlegensten Enden des Truppenübungsplatzes geschafft, und die Rodbariden waren darüber nicht im geringsten beunruhigt. Aber wie würden sie reagieren, wenn wir die von ihnen so eifersüchtig bewachte „blaue Schönheit“ antasteten? Wir beschlossen, einen praktischen Versuch zu machen. Alles, was wir für unsere Forschungsarbeit brauchten, stand uns umgehend, wie herbeigezaubert, zur Verfügung. Dutzende 572
von Staaten wetteiferten darin, das Vereinigte Institut mit den nötigen Geräten und Apparaten, Vorrichtungen und Materialien zu versorgen, ohne nach den Kosten zu fragen. Zwei Tage nach der Entscheidung für die „Atomvariante“ traf in unserm Naturschutzpark bereits eine ferngesteuerte Planierraupe ein. Am Morgen des 17. Mai stand alles bereit. Auf dem Versuchsgelände blieben nur die für das Experiment benötigten Mitarbeiter. Diese Vorsichtsmaßnahme war keineswegs überflüssig, niemand konnte wissen, wie der Versuch ausgehen würde. Eine letzte Überprüfung der Anlagen, und wir versammelten uns in dem Bunker, von dem aus die Planierraupe durch Funk gesteuert wurde. Asquith bekreuzigte sich, freilich weniger aus Frömmigkeit als spaßeshalber, und drückte auf einen Knopf. Daraufhin zeigte auf dem Schaltpult ein Lichtsignal an, daß das Fahrzeug einsatzbereit war. Der Professor griff nach den Steuerhebeln, die Film- und Fernsehkameras begannen zu surren, und wir starrten gebannt auf die Bildschirme. Langsam, aber sicher rückte die Planierraupe gegen den bläulichen Rodbariden vor. Alles stand zu erwarten: die sofortige Annihilation, wie sie vor kurzem der Behälter erlitten hatte, das Überziehen mit einer 573
harten Glasur, wodurch der Panzer in den Propyläen außer Gefecht gesetzt worden war, und wer weiß, was sonst noch. Sobald sich die Planierraupe dem fünfzackigen Stern der friedlich dahockenden Wächter mit der „blauen Schönheit“ in der Mitte näherte, wichen alle sechs Rodbariden vor ihm zurück. Das wunderte uns. Das bläuliche Exemplar, das sich sozusagen im Zustand der Konservierung befand, besaß noch nicht die Fähigkeit, sich, ähnlich seinen Artgenossen, selbständig fortzubewegen. Wie konnte es also seinen Platz wechseln? Wir nahmen an, daß die „Soldaten“, ohne die ein für allemal festgelegte Entfernung von dem Objekt, das sie so sorgsam bewachten, auch nur um einen Millimeter zu verringern, eine Art Kraftfeld bildeten und so ihren Schützling vor der ihnen verdächtigen Planierraupe in Sicherheit brachten. Aber das erschien uns im Augenblick nicht so wichtig. Uns interessierte, ob die Wächter die Planierraupe angreifen würden. Sie taten es nicht. Offensichtlich durften sie ihren Posten nicht verlassen. Das war ein erster Sieg. Allerdings blieb noch vieles unklar. Wenn es hart auf hart ging, konnten die „Grubenarbeiter“ den „Soldaten“ zu Hilfe kommen. Vielleicht würden sich die Rodbariden so lange zurückziehen, bis sie den Rand des Schachtes erreicht hatten, und sich dort zum Kampf stellen? 574
Der Möglichkeiten gab es viele, und unser Vorsatz, sie alle in den riesigen Schacht zu stoßen, konnte natürlich scheitern, aber dieses Risiko mußten wir in Kauf nehmen. Durch das gelungene Experiment ermutigt, entschlossen wir uns zu einem weiteren Versuch. Außer der Planierraupe hatten wir einen ebenfalls durch Funk ferngesteuerten Kran zur Verfügung, der unmittelbar am Rande des Schachtes stand. „Schlagen Sie ein Kreuz, und gehen Sie ans Werk“, forderte mich Asquith auf. Ich schaltete die Anlage ein und bediente die Hebel. In den Schacht, der mittlerweile die ansehnliche Tiefe von vierhundertfünfzig Metern erreicht hatte, wurde eine Atombombenattrappe hinabgelassen. Die Rodbariden schenkten unserm Manöver nicht die geringste Beachtung, sondern fuhren unverdrossen fort, ihre „Soldaten“ mit Zylindern zu versorgen. Sie taten uns beinahe leid. Asquith zweifelte wohl am meisten an der Richtigkeit des gefaßten Entschlusses und äußerte sich in geradezu rührenden Worten über die Siliziten: „Sie haben noch niemand gekränkt, niemand ein Leid getan. Meine Herren, Ritam ist auf dem Wege der Besserung. Ich meine das in vollem Ernst. Herr Kurbatow, Sie haben ihn doch gestern im Krankenhaus besucht und können es bestätigen. 575
Und das Krokodil? Ja, um das Krokodil steht es schlecht. Was aber Tarkor und die Propyläen betrifft – nun, zum Teufel damit! Chansnepp und Cart werden mit Hilfe des Siliziumplasmas noch größere Profite machen und neue Prachtbauten errichten. Wahrhaftig, meine Herren, die armen Rodbariden tun mir leid. Jetzt sind sie sehr lieb und ergötzlich. Jedenfalls brauchen wir uns nicht zu langweilen, und wenn wir sie uns dienstbar machen, können wir großen Nutzen aus ihnen ziehen.“ Wahrscheinlich teilten viele Mitarbeiter Asquiths Zweifel, aber keiner sprach das offen aus, und das Urteil über die Siliziten war gefällt. Wir mußten nur noch den Tag ihrer Vernichtung festsetzen. Doch mit des Geschickes Mächten… Ein wahres Dichterwort! Das Land besaß keine Atomwaffen. Verhandlungen mit den Atommächten begannen – und aus war es mit dem „Herbeizaubern“. Brauchten wir ein Gerät, das es einzig und allein in Japan gab, so bekamen wir es buchstäblich schon einen Tag, nachdem wir es angefordert hatten. Aber eine Atombombe! Die Verhandlungen über die Atombombe zogen sich hin. Ein Ende war nicht abzusehen, und die Zeit verging. Die Fütterung der „Soldaten“, die die „blaue Schönheit“ bewachten, konnte nicht endlos weitergehen. Sobald sie gesättigt waren, vermute576
ten wir, würden irgendwelche Metamorphosen stattfinden. Sosehr wir die Fähigkeiten der Biosiliziten bewunderten, angesichts der völligen Ungewißheit, was sie sich einfallen lassen würden, wenn sie satt waren, beunruhigte uns die verzögerte Lieferung der Bombe immer mehr. Während über diese Frage in den höchsten Kreisen entschieden wurde, wagten wir einen neuen Versuch. Der hervorragend funktionierende ferngesteuerte Kran ließ Asquith keine Ruhe. Ohne sich mit einem von uns zu verständigen, veranlaßte er, daß am Ende des Förderseils ein Manipulator angebracht wurde. Dr. Duviézard ahnte nichts von diesem Streich des unternehmungslustigen Professors. Auch wir erfuhren davon erst, als schon alles fix und fertig war. Von seinem höchst interessanten und nicht sehr riskanten Plan entzückt, überredeten wir den Direktor, ihn gewähren zu lassen. Dr. Duviézard, ein Wissenschaftler von echtem Schrot und Korn, konnte nicht widerstehen und erlaubte das Experiment. Asquith wollte sich vom Planierraupenfahrer in einen Kranführer verwandeln, aber ich dachte nicht daran, ihm den Kran abzutreten. „Wenn Sie der Meinung sind, Herr Professor, daß ich als Kranführer schlecht gearbeitet habe, als ich die Bombenattrappe 577
in den Schacht hinabließ, fordere ich Beweise und…“ „Was und?“ „Und werde auch Beweisen nicht glauben.“ „Richtig! Aber darum geht es gar nicht. Die Idee stammt von mir, und ich möchte sie selbst in die Tat umsetzen. Treten Sie mir den Kran ab. Ich bitte Sie herzlich darum. Und wissen Sie, warum? Aus einer rein praktischen Überlegung heraus: Für die Rolle des Diebes eigne ich mich besser als Sie.“ Gegen Asquith kam man einfach nicht auf. Alles war für den Versuch bereit. Die Scherze im Beobachtungsbunker verstummten. Alle, auch Asquith, wurden ernst, als das Bereitschaftssignal aufleuchtete. Der Manipulator, der anstelle des Hakens am Seil hing, senkte sich tiefer und tiefer. Wir stellten die Fernsehapparate auf maximale Vergrößerung ein. Ein „Lieferant“ kam aus dem Schacht. Auf seinem Rücken trug er einen in der Sonne glänzenden Zylinder. Asquith folgte ihm mit dem Kran, während er sich einem der Wächter näherte. In dem Augenblick, als er das Futter auf dem Rücken des Wächters ablegen wollte, griff Asquith beneidenswert geschickt mit dem Manipula578
tor zu. Das Seil schnellte hoch und entführte den Zylinder. Wir erstarrten in Erwartung, was nun geschehen würde. Der „Lieferant“ kehrte, ohne des Diebstahls zu achten, in den Schacht zurück. Im Bunker herrschte Totenstille. Lange blickten wir auf den vom Kran emporgehobenen Zylinder und bemühten uns, das Gesehene geistig zu verdauen. Schließlich brach ich das Schweigen: „Sind das etwa gar Roboter, meine Herren? Man kann sich nur schwer vorstellen, daß ein Tier, noch dazu ein so mächtiges, sich seine Beute derart gleichgültig wegschnappen läßt. Das tun nur Automaten. Sehen Sie, der Rodbarid hat seinen Auftrag ausgeführt, den Wächter erreicht, sich seiner Last entledigt und den Rückweg angetreten, um die nächste Lieferung zu holen. Er gehorcht blindlings einem höheren Befehl, vielleicht auch einem in ihm gespeicherten Programm oder aber einem uralten Instinkt.“ Einige pflichteten mir bei, andere widersprachen. Im allgemeinen aber erregte damals diese zum erstenmal ausgesprochene Vermutung die Gemüter nicht. Alle waren gespannt, was Asquith dem Rodbariden gestohlen hatte. Der Zylinder bestand aus reinem Germanium, das sowohl mit Kohlenstoff als auch mit Silizium nahe verwandt ist. 579
Soll ich schildern, wie daraufhin die Leidenschaften entbrannten? Der Manipulator angelte unermüdlich immer neue Zylinder. An einem Tag brachten wir es auf drei Dutzend. Das allein deckte bereits die Kosten für den Unterhalt des Vereinigten Siliziuminstituts. Die Rodbariden fütterten ihre „Soldaten“ ausgiebig und abwechslungsreich. Germanium herrschte vor, aber zwischendurch kamen auch Zylinder mit Iridium, Osmium, Rhenium, Wolfram und sogar mit reinem Polonium. Die Siliziten verarbeiteten die in der Erdkruste verstreuten Elemente zu Konzentraten, schieden allen „Müll“ aus, befestigten die Wände des Schachtes, bis diese, wie wir in der Folgezeit feststellten, so kompakt wurden, daß ihnen nichts von Menschenhand gleichkam, und verköstigten fleißig ihre auserwählte Fünfergruppe. Wozu? Das wußten wir noch nicht. Es fiel damals schwer, sich gleich in allem zurechtzufinden. Einerseits reizten uns die von den Rodbariden zutage geförderten märchenhaften Schätze, andrerseits lebten wir in ständiger Furcht vor dem Kommenden, fühlten wir unsere Verantwortung für die Wohlfahrt, ja die nackte Existenz der Menschheit. Einerseits konnten wir es kaum erwarten, daß über die Atombombe entschieden wurde, andrerseits hofften wir im stillen auf eine bessere 580
Lösung, die es den Menschen gestatten würde, sich die Biosiliziten, die wir nun recht anziehend fanden, dienstbar zu machen. Am meisten setzte sich Asquith für sie ein. Schon damals trug er sich mit einem ebenso verwegenen wie abscheulichen Plan. Seine Waghalsigkeit grenzte manchmal an Unvernunft. Er wollte die Rodbariden unbedingt näher kennenlernen und traf Anstalten, persönlich zu ihnen hinzugehen, um sich den Schacht, die „blaue Schönheit“ und ihre Wächter genauer anzusehen. „Das ist doch heller Wahnsinn, Asquith!“ Entgegen seiner Gewohnheit nahm er sich die Kränkung zu Herzen, schluckte seinen Ärger aber hinunter. Am nächsten Tag hielt der am Kran befestigte Manipulator in seinen geschickten und behutsamen mechanischen Händen einen Hund. Kaum sah Asquith, der jetzt wirklich unser bester Kranführer war, einen Rodbariden aus dem Schacht kriechen, ließ er das Versuchstier zu ihm hinab. Eine grelle Stichflamme – und der Hund war verschwunden. Enttäuscht gab der Professor fürs erste seine Absicht auf, die „Grubenarbeiter“ zu besuchen. Endlich klappte es mit der Bombe. Am 20. Mai sollte sie auf unser Versuchsgelände geschafft werden. Nun hatten wir keine Zeit mehr, uns auf Kosten der fleißigen 581
Rodbariden zu bereichern. In aller Eile wurden die Vorbereitungen für die Zündung getroffen. Doch das Schicksal (vielleicht auch die Siliziten) wollte es anders. In der Nacht zum 19. Mai heulten wiederum die Alarmsirenen. Dienst hatte Asquith. Als Jusgor und ich in die Beobachtungszentrale kamen, sahen wir gerade noch den letzten der dreiundvierzig Rodbariden aus dem Schacht kriechen, der zu diesem Zeitpunkt schon über einen Kilometer tief war. Binnen weniger Minuten stellten sie sich in einem doppelten Kreis um die „blaue Schönheit“ auf. Von ihren pfeifenden, pulsierenden Körpern schossen nadelfeine Strahlen empor und vereinigten sich zu einem flammenden Vorhang, ähnlich einem Polarlicht. Bald darauf kroch einer der Wächter zur „blauen Schönheit“ hin. Wir warteten, was nun geschehen würde, begriffen jedoch im ersten Augenblick überhaupt nichts. Der „Soldat“ verschmolz unmerklich mit der „blauen Schönheit“. Ihm folgte ein zweiter, ein dritter. Es dauerte keine halbe Stunde, und alle fünf Wächter waren verschwunden. Die von ihnen bisher bewachte Schöne aber leuchtete in einem violetten Strahlenkranz, der alsbald erlosch. Am meisten staunten wir darüber, daß sie ihre Gestalt fast unverändert bewahrte. Obwohl sie ihre Wachmannschaft verschlungen hatte, 582
war ihr Umfang kaum größer geworden. Folglich mußte ihre Dichte um ein Mehrfaches zugenommen haben. Jetzt war Jusgor am aufgeregtesten von uns allen: „Das muß unweigerlich zu irgendwelchen bedeutsamen Veränderungen bei den Biosiliziten führen. Ich bin überzeugt, meine Herren, daß wir Zeugen eines entscheidend wichtigen Vorgangs in ihrem Leben waren.“ Seitdem interessierte er sich nur noch für die „blaue Schönheit“. Nachdem sie ihre treuen Diener vertilgt hatte, lag sie unbeweglich da. Die verbliebenen dreiundvierzig Rodbariden öffneten den Kreis um sie und ordneten sich zu einer langen Reihe. So lagen sie auf dem Versuchsgelände, untätig und leblos. Schon damals nahm Jusgor an, daß diese Erstarrung nur zeitweilig sei. Er sagte, sie erinnere ihn an die bei unseren irdischen Insekten zu beobachtenden Metamorphosen. Aus einer „Raupe“ habe sich der bläuliche Rodbarid in eine „Puppe“ verwandelt. Zweifellos mache er jetzt irgendwelche inneren Prozesse durch, in deren Ergebnis eine neue Phase eintreten müsse. Dabei werde sich etwas anderes, vielleicht Vollkommeneres herausbilden. Aber was? Was für ein Schmetterling werde aus diesem unbeweglichen Klumpen herausflattern? 583
Wir lachten ihn aus und scherzten: Daraus wird unbedingt ein Jusgorid zum Vorschein kommen. Wir hatten jedoch an Näherliegendes zu denken. Die unerwartete Aktion der Rodbariden hatte unseren Vernichtungsplan durchkreuzt. Die Atombombe konnten wir nur gebrauchen, wenn sich alle „Feinde“ im Schacht befanden. Jetzt berieten wir aufs neue, hielten unermüdlich Wache und verzehrten uns in Erwartung. Ich weiß nicht, warum, aber seit dieser Zeit waren wir weniger ängstlich. Vielleicht trug dazu die Passivität der Siliziumgeschöpfe bei, vielleicht hatten wir uns auch schon an sie gewöhnt. Wie dem auch sei, wir wollten uns näher mit ihnen bekannt machen. Das Experiment mit dem Hund wurde wiederholt. Diesmal taten die friedlich in einer langen Reihe dahockenden Rodbariden dem Versuchstier nichts zuleide. Völlig unversehrt wurde es ins Laboratorium gebracht und dort von Biologen und Medizinern untersucht. Nach weiteren Flügen des Hundes in den Händen des Manipulators erklärte Asquith bestimmt: „Das sind keine Lebewesen. Sie haben recht, Herr Kurbatow. Das sind Roboter. Sie haben ihre Schuldigkeit getan und stehen nun herum, als hätten sie das in ihnen gespeicherte Programm vergessen oder 584
erledigt. Mir ist nur schleierhaft, was weiter mit ihnen geschieht. Je länger wir sie beobachten, um so klarer stellt sich heraus, daß unsere ursprüngliche und durchaus entschuldbare Annahme, es könnte sich um siliziumhaltige Lebewesen handeln, auf einem Irrtum beruhte.“ „Angenommen, es sind Roboter, so jedenfalls nicht elektronisch-mechanische nach Art unserer irdischen, sondern eben biosilizitische, mit einem höchst vollkommenen Energiesystem ausgestattete. Es ist nicht ausgeschlossen, daß diejenigen, die sie geschickt haben…“ Asquith packte mich an den Händen und glotzte mich an. „Was haben Sie da gesagt? Die sie geschickt haben? Die sie geschickt haben! Das ist der Schlüssel zu allem. Wenn das nun tatsächlich nicht zufällig auf die Erde geratene Wesen sind, die in einem Meteoriten eingeschlossen waren, sondern… Davon überzeug ich mich.“ „Das Risiko zahlt sich nicht aus.“ „Es zahlt sich aus! Im übrigen ist der Schlüssel nicht hier zu suchen. Mit dem wirklichen Schlüssel werden wir uns noch gehörig abplagen müssen. Die Mikroorganismen, aus denen wir auf Pautoo das Plasma gewannen, die Keime, die Rodbar belebte und aus denen er die Rodbariden züchtete – all dies paßt irgendwie zusam585
men. Nur eines fügt sich nicht ganz in dieses Bild ein.“ „Der fliederfarbene Kristall?“ Asquith nickte stumm und ließ hastig meine Hände los. In jener Nacht löste ich Asquith als Diensthabender im Institut ab. Auf dem Versuchsgelände war alles unverändert. Im Kontroll- und Leitstand leuchteten tröstlich die grünen Lämpchen der Geräte. Für alle Mitarbeiter galt ohne Ausnahme dieselbe strenge Regel: Wurden keine im Arbeitsprogramm vorgesehenen Experimente durchgeführt, so durfte niemand das Versuchsgelände betreten. Gegen Morgen fielen mir vor Müdigkeit fast die Augen zu. Da schien es mir plötzlich, als wäre über einen der Bildschirme ein dunkler Schatten gehuscht. Gewohnheitsmäßig warf ich einen raschen Blick auf das Schaltpult. Die Geräte waren auf die Rodbariden eingestellt. Das Überwachungssystem sah keine Kontrolle über Menschen vor, die unerwartet in der Nähe der Siliziten auftauchten. Ich stellte eine Fernsehkamera auf Nahaufnahme ein. Kein Zweifel: Auf dem Platz befand sich ein Mensch. Langsam, aber festen Schrittes, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern leicht vorgeneigt, überquerte er den mit Unkraut bewachsenen Abschnitt und näherte sich dem Rodbariden am äußer586
sten linken Ende der Reihe. Ich wollte schon Alarm auslösen, doch in diesem Augenblick kamen mir die Gestalt und der etwas watschelnde Gang des Mannes verdächtig bekannt vor. Ich stellte die Kamera auf maximale Vergrößerung ein. Tatsächlich, es war Professor Asquith. Ungefähr zwanzig Schritt vor dem Rodbariden blieb er stehen. Da bemerkte ich, daß der Rodbarid auf ihn zukam. Asquith wich zurück. Der Rodbarid rückte weiter vor. Die anderen blieben unbeweglich liegen. Ich drückte auf den Auslöser der Filmkamera, ohne hinzusehen. Mein Blick haftete am Bildschirm, auf dem ich deutlich unsern tollkühnen Professor sah. Er lief vor dem Rodbariden nicht davon. Ich wollte schreien, ihn instinktiv warnen, aber ich tat es nicht. Und zwar bestimmt nicht deshalb, weil Asquith meine Stimme ohnehin nicht gehört hätte. Nein, ich konnte ganz einfach nicht. Sekunden später erinnerte ich mich des Hundes, dem die Annäherung an die Rodbariden nicht im geringsten geschadet hatte. Im Manipulator am Kran hängend, hatte er die Ungeheuer sogar höchst unehrerbietig angebellt, aber selbst diese Freveltat war unbestraft geblieben. Vollends beruhigte mich dieser Umstand indessen noch nicht. Gut, den Hund hatten die Rodbariden nicht angegriffen, aber einen Menschen würden sie sicher angreifen. 587
Wieder streckte ich meine Hand nach dem Alarmknopf aus und hielt ratlos auf halbem Wege inne. Ich traute meinen Augen nicht. Asquith vollführte auf dem Versuchsgelände wahre Zirkuskunststücke. Er hielt etwas in der Hand und lockte damit den Rodbariden, indem er bald auf ihn zu-, bald von ihm wegging. Es sah aus, als giere der Rodbarid wie ein hungriger, schlecht erzogener Hund nach einem hingehaltenen Leckerbissen, während der Professor ihn wie ein mutwilliger Junge reizte, ohne ihm das so heiß Begehrte zu überlassen. Nun beschleunigte Asquith den Schritt, und der Rodbarid folgte ihm wie ein Schoßhündchen. Asquith wandte sich nach links, nach rechts, ging im Kreis und kehrte schließlich zu der Stelle zurück, wo das von ihm geneckte Wesen in den letzten Tagen neben seinen Artgefährten wie ein Tier gelegen hatte, das seinen Winterschlaf hält. Es nahm seinen Liegeplatz wieder ein, Asquith aber steckte den rätselhaften Gegenstand in die Tasche, lief rasch von dem Rodbariden weg, drohte ihm mit dem Finger und entfernte sich. Der erste Dressurversuch war beendet. Der Dompteur hatte ihn heil überstanden. Ich rieb mir die Augen und schüttelte den Kopf, um mich zu vergewissern, daß ich nicht träumte. Asquith verschwand vom Bildschirm. Ich schaltete die Fernseh588
kamera von Nahaufnahme auf Weitwinkel um und sah den Professor seelenruhig auf die Beobachtungszentrale zukommen. „Sie schlafen nicht? Soso.“ „Asquith, was haben Sie soeben mit dem Rodbariden gemacht?“ „Ich? Was fällt Ihnen ein? Ich bin den Viechern überhaupt nicht nahe gekommen. Sie haben also doch ein Nickerchen gemacht, mein Freund. Ei, ei! Und das während des Dienstes!?“ Ich schimpfte auf ihn, unwillkürlich ins Russische verfallend, und stürzte zur Filmkamera. Die Kassette war leer. Ich hatte umsonst auf den Auslöser gedrückt. Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß vor mir Asquith Dienst gemacht hatte, und natürlich war mir nicht im Traum eingefallen, bei der Ablösung nachzusehen, ob ein Film in die Kamera eingelegt war. Jetzt machte ich mir nicht mehr auf russisch, sondern auf englisch Luft und warf ihm die gepfeffertsten Schimpfwörter an den Kopf. Asquith grinste nur freundlich dazu. Mir aber war nicht zum Lachen. Ich wollte um jeden Preis erfahren, womit er sich den Rodbariden gefügig gemacht hatte.
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Die Jusgoriden Achtzig Tage herrschte in unserm Naturschutzpark ungetrübte Stille. Die Siliziumgeschöpfe gaben keinerlei Lebenszeichen von sich. Die Mitarbeiter des Instituts erholten sich von den vorausgegangenen stürmischen Ereignissen, stellten Forschungspläne auf, arbeiteten Projekte für die Zähmung der Biosiliziten aus oder überdachten in Ruhe alles von ihnen bisher Erlebte. Immer öfter wurde die Frage aufgeworfen: Wer oder was sind sie? Die Meinungen darüber gingen auseinander. Zwar neigte jetzt die Mehrheit der Gelehrten dazu, die Siliziten für fremdartige kybernetische Gebilde zu halten, die von vernunftbegabten Wesen künstlich geschaffen waren, aber es fanden sich auch Anhänger der Hypothese von ihrem natürlichen Ursprung. Selbstverständlich brannten alle darauf, zu erfahren, was das für eine Welt war, die sie hervorgebracht hatte. Sobald sich die Befürchtung, die Rodbariden würden sich in die irdischen Angelegenheiten einmischen, einigermaßen gelegt hatte, ergingen sich manche sofort in weitschweifigen Überlegungen, daß es ungerecht sei, die Siliziten auszurotten. Ihnen widersprachen natürlich jene Gelehrten, die es für unzulässig hielten, daß strukturell und energetisch völlig anders geartete und zu590
dem höher organisierte Wesen in unsere Biosphäre eindrangen. Mit jedem Tag mehrten sich die ungelösten Fragen. Nach wie vor lastete auf uns die Verantwortung für das, was bei uns vor sich ging. Sie wurde nur ein wenig erleichtert durch das Bewußtsein, daß die Biosiliziten an einem Ort konzentriert waren und anscheinend nicht beabsichtigten, sich in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen. Doch selbst diese relative Erleichterung hielt nicht lange vor. Seitdem auf Pautoo das Siliziumplasma entdeckt worden war, hatte es sich so weit in der Welt verbreitet, daß von einem Verbot seiner Anwendung keine Rede mehr sein konnte, obzwar internationale Organisationen darauf bestanden. Es gab zu viele Gegner eines solchen Verbots. Das Plasma stellte keine unmittelbare Gefahr für die Menschheit mehr dar, denn man hatte bereits gelernt, es unter Kontrolle zu halten, und es brachte überdies unermeßlichen Nutzen. Ein Verbot war unter diesen Umständen nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig. Schlimmer stand es um die Rodbariden. Knapp einen Monat nach ihrer Überführung auf den Truppenübungsplatz bei Lonar gingen Gerüchte um, es werde insgeheim Handel mit Rodbariden getrieben. Der Verdacht tauchte auf, jemand habe ein 591
vom Siliziumkomitee der Vereinten Nationen nicht kontrolliertes Gehege angelegt. Das rief starke Unruhe hervor. Niemand wußte, was die Rodbariden auf dem Versuchsgelände des Vereinigten Instituts tun würden, wenn sie aus ihrem „Winterschlaf“ erwachten. Aber noch mehr schreckte uns die Vorstellung, was geschehen könnte, wenn sich diese Wesen mit Hilfe gewissenloser Geschäftsleute auf der Erde ausbreiteten. In den Sitzungen des Siliziumkomitees wurde mehrfach über den Schwarzhandel mit Rodbariden gesprochen, aber zu einem Beschluß kam es nicht aus dem einfachen Grund, weil über diese Gehege offiziell nichts bekannt war. Tavour machte sich anheischig, inoffiziell Nachforschungen anzustellen. Ich kam mit diesem rastlosen, weltgewandten und hochanständigen Mann, der sich einen Sport daraus machte, die dunklen Machenschaften gewisser Leute ans Tageslicht zu bringen, ziemlich oft zusammen. Je näher ich ihn kennenlernte, um so weniger verstand ich, warum er sich so eifrig der mühseligen und undankbaren Aufgabe widmete, Spitzbuben zu entlarven. Einmal fragte ich ihn geradeheraus: „Wozu haben Sie das nötig? “ „Ich weiß es selber nicht. Wahrscheinlich kann ich nicht anders. Wie soll ich Ihnen das erklären? Vielleicht anhand eines Bei592
spiels. Es gibt Hunde, die sich ziemlich leicht an die Kette gewöhnen. Aber es gibt auch andere, die sich um nichts in der Welt mit diesem Los abfinden und bis zum Ende ihres kurzen Hundelebens kläffend an der Kette zerren. Ich kann auch nicht ruhig an der Kette liegen und fleißig bellen, wenn das Herrchen es wünscht. Ich weiß, daß mir meine Aufsässigkeit und die unbezähmbare Sucht, Schurken die Maske vom Gesicht zu reißen, oft selbst schaden, aber ich kann eben nicht anders. Niemals werde ich vergessen, wie ich diese Geschäftemacher, die den Journalisten den Zutritt zu den Propyläen verboten, hereingelegt habe. Der arme Ferrand mußte zwar für diesen Schelmenstreich büßen, aber das war nicht weiter schlimm. Die Auszeichnung, die ihm der Minister verlieh, war ein hübsches Pflaster auf die Wunde. Ferrand ist ein Mordskerl. Er ist immer mit von der Partie, wenn es darum geht, einen dieser schmutzigen Gauner zu überlisten und anzuprangern. Was kann mehr Spaß machen, als einem solchen Halunken hinter die Schliche zu kommen? Glauben Sie mir, das ist gar nicht so einfach. Nein, es ist nicht leicht, sich an diese Kerle heranzupirschen, und in der Regel gelingt es nur deshalb, weil keiner seine Geschäfte allein, ohne Mitwisser, tätigen kann.“ 593
Tavour verstand es, Schwierigkeiten zu überwinden. Er fand heraus, wer die Gehege angelegt hatte, und stellte überdies fest, daß es zwischen den Eigentümern zu schweren Zerwürfnissen gekommen war. Dieser letzte Umstand kam ihm denn auch trefflich zustatten. Die Sache nahm eine ernste Wendung. Jusgor hielt im Siliziumkomitee eine ausführliche Rede. Darin setzte er sich für Ordnung und Gerechtigkeit ein und verlangte im Interesse der allgemeinen Sicherheit, nicht zuzulassen, daß die Rodbariden von allzu geschäftstüchtigen Unternehmern zwecks persönlicher Bereicherung an verschiedenen Orten angesiedelt würden. Eine stürmische Debatte setzte ein. Bei weitem nicht alle Komiteemitglieder stimmten der Forderung unserer Delegation zu, eine wirksame internationale Kontrolle zu schaffen. Doch die Siliziumgefahr war zu dieser Zeit sehr real. Man konnte sich ihr nicht verschließen, und so kam trotz allem der Beschluß zustande, eine Kommission zu bilden, die alle Objekte, in denen Rodbariden gehalten wurden, untersuchen und prüfen sollte. Ein weiser Beschluß, nichts dagegen zu sagen! Ihn zu verwirklichen war indes nicht so einfach. Die Schwierigkeit bestand darin, in Erfahrung zu bringen, wo sich die zu untersuchenden Objekte befanden. 594
In diesen Aufzeichnungen will ich nur eine solche „Untersuchung“ schildern. Man ersieht daraus, von welch geringem Wert manchmal Beschlüsse angesehener internationaler Organisationen sind, wenn sie Leuten mißfallen, die auf ihre Überprofite nicht verzichten wollen. In der Kommission wurde des langen und breiten darüber geredet, daß man irgendwie feststellen müsse, wo sich die Rodbaridengehege befinden. Das ging so lange, bis Tavour eines Tages mitteilte, ihm sei ein solcher Ort bekannt. Die Kommission reagierte rasch und beschloß sogleich, eine Inspektionsreise dorthin zu unternehmen. Tavour erklärte sich bereit, die Kommissionsmitglieder zu begleiten, und wenige Tage später flogen wir von der Hauptstadt ab. Nach zwei Stunden landete das Flugzeug in der Nähe eines Städtchens, wo uns bereits telefonisch bestellte Kraftwagen erwarteten. Wir frühstückten schnell, bestiegen die Autos und fuhren los. Es war heiß. Kaum sichtbarem Nebel gleich, trübte feinster Staub die Luft. Die Straße zog sich weit nach Osten, während im Westen, in leichten Dunst gehüllt, die Gipfel des Monor-Gebirges aufragten. „Dort!“ rief Tavour siegesgewiß. Wir sahen einander zufrieden an und freuten uns schon auf die Überraschung, die unser Er595
scheinen in dem illegalen Gehege hervorrufen würde. Die Straße führte nach Nordwesten. Je näher wir dem Gebirge kamen, um so klarer und kühler wurde die Luft; die staubige Dunstschicht blieb zurück. Über eine neue Stahlbrücke fuhren die Wagen ins Tal der Irga. Der Aufstieg in die Berge begann. Das Irga-Tal wurde schmaler, die Straße wand sich am Gebirgsfluß entlang, abwechselnd an die Steilhänge geschmiegt und an den Uferrand gepreßt. An jeder Biegung wechselte das Bild der düsteren Schlucht. Bald verbreiterte sie sich, dann sah man in der Ferne die sich deutlich gegen den Himmel abzeichnenden Berggipfel, bald verengte sie sich wieder zu einer Klamm, die alles Licht aussperrte, und dann sah man nichts außer den rechts vorbeihuschenden Felswänden und dem linker Hand schäumenden Fluß. „Eine wilde Gegend haben sie sich ausgesucht“, bemerkte Jusgor und kauerte sich zusammen, in der kalten Bergluft fröstelnd, die unvermittelt die im Tal gestaute Hitze ablöste. „Ich hoffe, wir werden nicht bis zum Kamm hinaufklettern müssen.“ „O nein“, beruhigte ihn Tavour, „noch ein paar Biegungen, und wir sind am Ziel!“
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Die Wagen krochen ein steiles Wegstück hinauf. Die tosende, über Felsblöcke gischtende Irga blieb weit unter uns. Immer seltener wurden die Tannen und Kiefern, der nackte Fels trat hervor, nur hier und dort von niedrigem Gebüsch bedeckt. Die Berghänge rückten beiderseits näher zusammen und zwängten den immer wilder zu Tal stürzenden Fluß in einen schmalen, dunklen Spalt. Die Wagen verlangsamten die Fahrt und hielten schließlich an. Die Straße endete an einer hohen Felswand. Hier ragten die Felshänge der Klamm fast senkrecht auf und schlossen sich unmittelbar an die Felswand an, die uns den Weg versperrte. Aus der Wand schoß in weitem Bogen ein Wasserfall und stürzte in mächtigem Strahl herab, brach sich in der Tiefe tosend an den Steinen, sprühte als schneeweißer Fächer empor, sammelte sich wieder zu einem Schwall und strömte zu Tal. Der arme Tavour war dermaßen verdutzt, daß er im ersten Augenblick kein Wort herausbrachte. Sein rotblonder Schopf guckte gar nicht mehr so keck wie sonst unter der Mütze hervor. Seine selbstzufriedene Heiterkeit war wie weggeblasen. Unsicher fuhr er mit dem Finger 597
über eine handgefertigte Karte, die er bei sich trug, und sagte schließlich verlegen: „Hier, ganz bestimmt, hier muß es sein! Ich habe absolut zuverlässige Informationen. Ausgeschlossen, daß Ilt gelogen hat, mir konnte er nur die Wahrheit sagen. Er hat selbst in dieser verdammten Schlucht gearbeitet und mir diesen Lageplan übergeben.“ „Herr Tavour“, schnitt Jusgor seinen Redefluß ab, „es gibt ein orientalisches Sprichwort: ‚Nimm dich in acht, wenn du lügst, aber sieh dich doppelt vor, wenn du die Wahrheit sagst.’ Wollen Sie das Kommando zum Umkehren geben?“ Tavour nickte stumm. Die Rodbaridengehege waren, wenn sie überhaupt existierten, sicher versteckt. Der Mißerfolg der Reise zu den Quellen der Irga stachelte viele Mitglieder der Sonderkommission an. Wütend über seinen Reinfall als Führer, schwor Tavour, die Verbrecher (nicht anders mehr nannte er die illegalen Rodbaridenbesitzer) zu entlarven, koste es, was es wolle. Mit jedem Tag wuchs die Zahl seiner Verbündeten. Auch ich erlag der Versuchung, den Detektiv zu spielen. Dabei ging ich streng logisch vor. Das wichtigste schien mir zu sein, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es tatsächlich Gehege gab, in denen Rodbariden für irgendwelche Zwecke gehalten und 598
ausgebeutet wurden. Über direkte Beweise verfügte keiner von uns, aber es gab indirekte, und wir hielten sie für schwerwiegend. Die von Tavour gesammelten statistischen Angaben bewiesen eindeutig, daß in den letzten zwei Monaten das Angebot an Germanium, Iridium, Osmium und Polonium erheblich gestiegen war. Eine neu gegründete Firma, „Lux-Metall“ mit Namen, entfaltete eine rege Tätigkeit. Sie warf so große Mengen der seltenen, äußerst wertvollen Metalle auf den Markt, wie sie vor dem Erscheinen der Rodbariden auf der Erde schlechthin undenkbar waren. Gewisse Anhaltspunkte wiesen darauf hin, daß diese Firma mit den Konzernen Chansnepps und Carts in Verbindung stand. Damit wurde zur Gewißheit: Jemand hatte die Rodbariden gezähmt und beutete sie nun aus. Aber wer? Wer war dazu imstande? Kein anderer als Asquith! Ja, das konnte nur Asquiths Werk sein. Alle nach der Bombardierung unversehrt gebliebenen Rodbariden hockten mitsamt ihrer „blauen Schönheit“ immer noch friedlich auf dem Versuchsgelände des Vereinigten Instituts, ohne uns den geringsten Kummer zu bereiten. Wiederholte Versuche hatten gezeigt, daß sie sich völlig passiv verhielten, und wir konnten sie jetzt gründlicher studieren. Woher stammten aber die von eilfertigen Unternehmern 599
ausgebeuteten Exemplare? Diese Frage ließ sich nur beantworten, wenn man wußte, wieviel Keime sich in Wudrums Versteck befunden hatten. Ich nahm mir noch einmal die von uns in Leningrad aufgestöberten Unterlagen vor. Bis heute kann ich nicht verstehen, daß ein so gewissenhafter, ja pedantischer und zweifellos sehr gründlicher Mensch wie Wudrum die Anzahl der im Meteoriten aufgefundenen Keime nirgendwo erwähnt haben sollte. Natürlich ist es durchaus möglich, daß ein Dokument verlorengegangen war oder nicht in unsere Hände gelangte. Wie dem auch sei, jedenfalls konnten wir nicht in Erfahrung bringen, wieviel Keime es insgesamt waren. Ich entschied mich für einen Frontalangriff und suchte Asquith in seiner Villa „Benyus“ auf. Professor Asquith liebte die pautooanischen Inseln. Er war vernarrt in alles Pautooanische und hatte sogar die eine Hälfte seines Landhauses im pautooanischen Stil eingerichtet. Beispielsweise ging die Veranda dieses Flügels auf einen riesigen Wintergarten hinaus, der bei den auf der Veranda Sitzenden die Illusion erweckte, sie befänden sich inmitten einer tropischen Landschaft. Jusgor hatte mir erzählt, Asquith besitze auf Westpautoo ein ebensolches Haus, nur 600
mit dem Unterschied, daß den pautooanischen Flügel dort selbstverständlich nicht ein künstlich angelegter tropischer Wintergarten umgab. Dafür war der europäische Teil dieses Hauses so ausgestattet, daß die Besucher sich wie in nördlichen Breiten fühlten. Bei meinem ersten Besuch in der Villa „Benyus“ wunderte ich mich nicht so sehr über die Imitation der Tropen als über die Reaktion des Hausherrn auf meinen Frontalangriff. Er lud mich auf der Veranda zum Sitzen ein und ließ eisgekühlten Imschëu servieren. Nachdem wir einen Schluck getrunken hatten, fragte ich ihn: „Was sagen Sie zu den Gerüchten über illegale Rodbaridengehege?“ „Diese Gerüchte gehen meines Erachtens von Leuten aus, die absolut nichts wissen.“ „So? Wollen Sie damit sagen, daß es solche Gehege nicht gibt?“ „Nehmen wir an.“ „Soll ich Ihnen das Gegenteil beweisen?“ „Rein logisch?“ „Nun ja.“ „Versuchen Sie es.“ „Im Versteck befanden sich sechsunddreißig Keime, davon…“ „Im Versteck befanden sich achtunddreißig. Weiter.“ 601
Mir blieb die Spucke weg. Einen so leichten Erfolg hatte ich nicht erwartet. Als ich auf gut Glück eine Zahl nannte, rechnete ich nicht damit, daß Asquith sie berichtigen würde. Übrigens war das ganz seine Art. Um meine Verwirrung vor ihm zu verbergen, fuhr ich hastig fort: „Sechsunddreißig oder achtunddreißig, das tut nichts zur Sache.“ „O doch. Sie haben gar nicht gewußt, wieviel Keime es waren, und einfach auf den Busch geklopft. Fahren Sie fort.“ „Gern, wenn Sie gestatten. Professor Rodbar hat, soviel ich weiß, achtzehn Keime belebt. Zwölf Exemplare sind konserviert geblieben und befinden sich jetzt auf dem Versuchsgelände unseres Instituts, das dreizehnte tauchte in den Propyläen auf; und das eine, das in Rodbars Labor ausriß, befreite vier weitere aus den Inkubationsapparaten. Das sind zusammen achtzehn. Frage: Wo sind die anderen zwanzig Keime? Haben Sie sie mit Chansnepp geteilt oder alle für sich behalten?“ „Chansnepp waren sie zu nichts nütze. Ohne mich hätte er sowieso nichts damit anfangen können.“ „Und Sie verfügten darüber?“ „Natürlich.“ Ich verstand überhaupt nichts mehr. Da bemühte ich mich nun, Asquith mit List und Tücke sein Geheimnis wenigstens 602
teilweise zu entreißen, er aber öffnete mir, bildlich gesprochen, eine Tür nach der andern. „Lieber Alexej Nikolajewitsch, wozu zappeln Sie sich so ab? Sie sind doch ein ernster Mensch, und plötzlich erklären Sie sich bereit, in dieser – wie heißt sie doch gleich? – Sonderkommission mitzuarbeiten. Die reinste Affenkomödie! Was wollen Sie eigentlich? Gerechtigkeit, Wohlfahrt für die arme Menschheit? Lächerlich! Die Geschikke der Menschheit lenken diejenigen, die viel, sehr viel Geld haben. Wer viel besitzt, der hat über vieles Verfügungsgewalt, darunter auch über die Geschicke der Menschen. Sie aber wollen, gestützt auf internationale Organisationen, alles auf den Kopf stellen. Damit werden Sie kein Glück haben.“ „Meinen Sie?“ „Todsicher. Sie haben es schon versucht. Oder sind Sie etwa nicht zu den Quellen der Irga gefahren?“ „Das bin ich.“ „Und sind auf eine Wand gestoßen. Geschah Ihnen ganz recht. Sie hätten dieses Ding hier bei sich haben müssen.“ Asquith zog ein Futteral aus der Tasche, entnahm ihm ein Metallgehäuse mit mehreren Druckknöpfen und legte es vor mich auf den Tisch. „Mit dieser Vorrichtung läßt sich die Aufgabe sehr einfach lösen. Sie kom603
men zu dem Basaltfelsen und… Haben Sie darauf geachtet, daß der Wasserfall dort, wo er aus der Wand hervorbricht, einen Strahl von ziemlich regelmäßiger Form bildet? Das ist kein Zufall. Wenn Sie sich dieses Geräts hier bedienen und auf die entsprechenden Knöpfe drücken, dann versiegt der Wasserfall nach wenigen Minuten, und Sie erblicken ein Metallgitter. Sie drücken wieder auf ein paar Knöpfe, in einer bestimmten Reihenfolge natürlich, und das Gitter hebt sich. Dreißig, vierzig Meter durch einen noch feuchten Gang, ein steiler Aufstieg – und Sie befinden sich in einem riesigen Steinbruch.“ „Und dort?“ „Dort tagen weder Kommissionen noch Ausschüsse. Dort arbeiten Rodbariden. Wir haben alle Keime belebt. Ja, noch mehr, wir haben gelernt, sie zu vermehren, richtiger gesagt, sie zur Teilung anzuregen, wie sie das in den Propyläen von selbst gemacht haben. Wir brauchten keine zwei Monate, um dahinterzukommen, daß es ganz gut ohne die ‚blaue Schönheit’ geht. Die Rodbariden fressen Felsen, bohren sich unermeßlich tief in den Planeten hinein, graben Gänge und konzentrieren in sich die uns nötigen, ach so nötigen Metalle. Ihre Idee war richtig, Alexej Nikolajewitsch. Jetzt steht zweifelsfrei fest, daß die Rodbariden höchst vollkommene biosiliziti604
sche, kybernetische Gebilde sind. Ihre weitere Erforschung wird großen Nutzen bringen. Schon jetzt haben wir eine Menge erreicht, aber wir wollen noch mehr erreichen. Wir müssen alle ihre Fähigkeiten ausnutzen, dann werden wir mit ihrer Hilfe Tunnel bauen, Schächte bohren, Strecken vortreiben, Kanäle für Energiesysteme und Wasserwege ausheben. Wir werden die von ihnen ausgeschiedene glasartige Masse, die von einzigartiger Qualität ist, in weitestem Umfang und mit größtem Nutzeffekt verwenden. Man muß nur den Schlüssel zu dem in ihnen gespeicherten Programm finden. Einiges ist mir schon klargeworden.“ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, so perplex war ich. Eine solche Offenheit hatte ich von Asquith nicht erwartet. „Das ist verteufelt interessant, Herr Professor, aber das alles ist doch… Das alles steht doch nicht im Einklang mit den Aufgaben des Vereinigten Instituts. Wie können Sie derartiges unter Umgehung des Instituts tun?“ „Im Institut arbeite ich nicht weniger als die andern Mitarbeiter.“ „Aber wozu hatten Sie es nötig, zusätzlich Versuche anzustellen, noch dazu in einer Schlucht, die als ein modernes Sesam-öffne-Dich eingerichtet ist?“ 605
„Und die Einkünfte? ‚Lux-Metall’, ‚Chansnepp-Kautschuk’ und ‚CartKautschuk’ sind mir alle verpflichtet, sie werden alle von mir beliefert. In nächster Zeit wollen wir einen mächtigen Konzern gründen, der alle Arbeitsgebiete umfassen wird, auf denen Biosiliziten eingesetzt werden können. Und ich werde diesen Konzern leiten und von sämtlichen Unternehmungen, die Siliziten verwenden, Gewinnanteile erhalten.“ „Sie, Chansnepp und Cart? Sie ignorieren also die internationalen Organisationen und ihre Kontrollbeschlüsse?“ „Sollen sie Beschlüsse fassen, soviel sie Lust haben, wir aber werden handeln, schaffen, produzieren.“ „Und die Gewinne einstreichen?“ „Absolut richtig.“ „Was sind Sie eigentlich: Wissenschaftler oder Unternehmer?“ „Wissenschaftler. Und Sie kennen, soviel ich weiß, meine wissenschaftlichen Arbeiten. Nebenbei bemerkt, ist die Zähmung der Rodbariden auch eine wissenschaftliche Leistung. Sie vergessen nur, daß heutzutage der Wissenschaftler im Geschäftsleben zu Hause sein und der Geschäftsmann sich in der Wissenschaft auskennen muß. Das war im Grunde genommen immer so. Jetzt aber ist es einfach unumgänglich.“ 606
„Einverstanden, aber nur unter der Bedingung, daß die Errungenschaften der Wissenschaft nicht der persönlichen Bereicherung und nicht ausschließlich der Bereicherung dienen. Der Gelehrte ist vor allem ein Schöpfer. Frönt er der Habgier, vergißt er die Bedürfnisse der Gesellschaft, den Dienst an den Menschen, so hört er auf, ein Schöpfer zu sein.“ „Oh, welch erhabene Worte! Wollen Sie im Ernst, daß ich auf meine alten Tage noch ein Tugendbold werde? Nein, danke, das wäre langweilig und lästig. Man müßte sich immer als eine Art Modepuppe fühlen, die in einem Schaufenster zur allgemeinen Bewunderung und Nachahmung ausgestellt ist. Dazu bin ich nicht fähig.“ „Wollen Sie mich mit Witzeleien abspeisen? Nun gut, dann werde ich eben dafür sorgen, daß Sie allgemein verurteilt und ausgelacht werden.“ „Wie wollen Sie das denn machen, wenn ich fragen darf?“ „Ich werde in der Kommission auftreten und über Ihr geheimes Rodbaridengehege berichten. Ich werde alles wiedergeben, was Sie mir eben erzählt haben.“ „Das streite ich glattweg ab, und Sie stehen als der Blamierte da.“ Ich stand auf. Auch Asquith erhob sich aus seinem tiefen Sessel. Der Imschëu blieb ungetrunken, der Rum war verges607
sen. Ich zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Rocktasche und legte es mit gespielter Besorgtheit ans Ohr, als horchte ich. Dann sagte ich mit einem erleichterten Seufzer: „Es funktioniert einwandfrei.“ Asquith war sichtlich beunruhigt. „Was haben Sie da?“ „Ein Transistortonbandgerät, Herr Professor.“ Ich streckte ihm das Zigarettenetui hin, als wollte ich ihn auffordern, ebenfalls zu horchen. „Es läuft fast geräuschlos und hält alles fest. Wie Sie sehen, ist der Besuch bei Ihnen nicht umsonst gewesen.“ Asquith schnalzte mit den Fingern: „Bravo!“ Er lachte, aber es klang gar nicht so fröhlich. Offenbar war er auf alles gefaßt gewesen, nur nicht darauf, daß ich imstande wäre, seine eigenen Methoden anzuwenden. Ich hatte ihn mit einem ganz gewöhnlichen Zigarettenetui geblufft. Erst viel später, als keine Notwendigkeit mehr bestand, ihm mit Entlarvung zu drohen, klärte ich ihn darüber auf. Ende August flog ich nach Moskau. Gegen Asquith konnte ich vorläufig nichts unternehmen, denn ich hatte keine stichhaltigen Beweise in Händen. Um diese Zeit änderte sich die Situation in der 608
Kommission. Immer weniger Mitglieder wünschten Asquith zu entlarven, was sich damit erklären läßt, daß einige von ihnen insgeheim bereits kräftig mitmischten in dem großen Spiel, das die skrupellosen „Bergbauunternehmer“ ausgeheckt hatten. Auf dem Versuchsgelände des Vereinigten Instituts herrschte nach wie vor Stille. Es war daher die geeignete Zeit, nach Moskau zu reisen. Ich wollte einen Vortrag halten, in dem ich meine Gedanken über die Gründe für das Erscheinen der Siliziumgeschöpfe auf der Erde darzulegen gedachte. Material hatte ich genug, aber meine Schlußfolgerungen konnten Widerspruch hervorrufen, sie bedurften zusätzlicher Beweise, und so beschloß ich, hervorragende Fachleute in Moskau und im Leningrader Institut für kosmische Chemie zu konsultieren. Leider fehlte mir dann wieder einmal die Zeit, mich gründlich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Ich hielt mich knapp eine Woche in Moskau auf und war schon auf dem Sprung, nach Leningrad zu fahren, mußte aber statt dessen kurzfristig nach Amsterdam fliegen. In Moskau war von einer Diamantenfirma die Mitteilung, sie habe den fliederfarbenen Kristall käuflich erworben, sowie die Einladung eingegangen, an der Versteigerung teilzunehmen und vorher die Eigenschaften dieses Kleinods zu studie609
ren. Eine solche Gelegenheit durfte man sich nicht entgehen lassen. Ich wurde also mit allem Erforderlichen ausgestattet und nach Amsterdam geschickt. Was sich in der „Brillantenmetropole“ ereignete, habe ich bereits am Anfang meiner Aufzeichnungen geschildert. Vom Nieuwe Markt, wo der fahrbare Tresor auf so unwahrscheinliche Weise entführt worden war, begab ich mich, begleitet von Sergej Wassiljewitsch Uschakow, in unsere Handelsvertretung. Dort lag für mich ein Telegramm vom Vereinigten Institut. Sein Inhalt war alarmierend und zugleich von höchstem Interesse. Der „Winterschlaf“ der „blauen Schönheit“ war zu Ende, und allem Anschein nach hielten die Biosiliziten neue Überraschungen für uns bereit. Folgendes hatte sich während meiner Abwesenheit im Vereinigten Institut zugetragen. Wie schon erwähnt, leitete Jusgor eine kleine Gruppe meist jüngerer Wissenschaftler, die energisch und nicht vom Skeptizismus angekränkelt waren. Um die Flaute auf dem Versuchsgelände zu überbrücken und einer erneuten Forderung nach Vernichtung der Siliziten vorzubeugen, setzte er mit ihnen zusammen die Erforschung der „Puppe“ beharrlich fort. Ungeduldig wartete er darauf, was für ein 610
„Schmetterling“ ausschlüpfen werde. Mit aller Vorsicht, aber auch ohne Zeitverlust angestellte Beobachtungen führten ihn zu dem Schluß, daß in dem bläulichen Exemplar innere Prozesse vor sich gingen, die sich von den früher bei den Rodbariden beobachteten Prozessen grundlegend unterschieden. Für ihn gab es keinen Zweifel mehr: Eine bestimmte Inkubationsperiode ging zu Ende, auf der Erde mußte unweigerlich eine neue, bisher unbekannte Silizitenart erscheinen. Und er irrte sich nicht. Am Morgen des 6. April bezog Jusgor wie immer seinen Beobachtungsposten. Seit langem interessierte uns am meisten die Frage, was die Biosiliziten darstellten, wie ihre Struktur beschaffen war. Als eine der geeigneten Methoden, darauf eine Antwort zu finden, betrachteten wir die Röntgendurchleuchtung. An diesem Morgen begann Jusgor nach einem vorher festgelegten Programm mit entsprechenden Experimenten. Ein zu diesem Zweck besonders konstruierter ferngesteuerter Apparat wurde behutsam ganz nahe an die „blaue Schönheit“ herangeführt. Sie war auf dem Bildschirm deutlich zu erkennen. Ihr Körper hatte beträchtlich an Größe zugenommen – sein Durchmesser betrug jetzt anderthalb Meter – und war mit lauter kleinen Sechsflächnern bedeckt. Jusgor drückte auf den Auslöseknopf der 611
Filmkamera und schaltete die Fernsteuerung des Röntgenapparats ein. Im gleichen Augenblick schoß von der Oberfläche der bläulichen Kugel eine Stichflamme empor. Später stellten wir anhand der Filmaufnahme fest, daß sie von einem der Sechsflächner ausgegangen war. Knapp fünf Minuten verstrichen, dann bemerkte Jusgor, daß am Ausgangspunkt der Stichflamme ein etwa zwanzig Zentimeter langes, sechskantiges dunkles Stäbchen aus der Kugel herauskam. Er beriet sich mit seinen Kollegen, und es wurde beschlossen, das Experiment fortzusetzen. Der Röntgenapparat wurde zweimal eingeschaltet, und jedesmal gab es eine Explosion, und aus dem Körper der bläulichen Kugel kam ein Stäbchen zum Vorschein. Nach wenigen Minuten rundete sich das sechseckige Stäbchen, das als erstes erschienen war, wurde etwas dicker und fiel von der Kugel ab. „Hurra, es hat begonnen!“ schrie einer der Anwesenden. „Wenn das nun eine neue Siliziumart ist?“ „Dann wollen wir sie Jusgoriden nennen!“ Jusgor rief Dr. Duviézard an und teilte ihm das Geschehene mit. Der Institutsdi612
rektor verbot eine Wiederholung der Röntgenaufnahmen, da er mit Recht der Meinung war, man müsse erst klären, was hierbei das Licht der Welt erblickte. Das Signalsystem auf dem Versuchsgelände des Instituts funktionierte nach wie vor tadellos. Es dauerte keine Viertelstunde, da waren schon alle verantwortlichen Mitarbeiter über das neue Phänomen im Bilde. Eiligst wurde eine Beratung einberufen und beschlossen, den Überwachungsdienst zu verstärken und erhöhte Alarmbereitschaft anzuordnen, im übrigen aber abzuwarten und weiter zu beobachten. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt sagen, womit die Entwicklung der neuen Körper enden und welche Folgen ihr Erscheinen nach sich ziehen werde. Jusgor blieb den ganzen Tag im Beobachtungsstand. Gegen Abend entschloß er sich zu einem Experiment, das seine Gehilfen lebhaft begrüßten, mit dem Dr. Duviézard jedoch, hätte er davon gewußt, bestimmt nicht einverstanden gewesen wäre. Wahrscheinlich spielte Professor Asquith bei alledem keine geringe Rolle. Er war um vier Uhr nachmittags nach Lonar gekommen und sofort, als er von den Vorgängen auf dem Versuchsgelände erfuhr, zur Beobachtungszentrale geeilt. Ein ewig unruhiger Geist, unterstützte er selbstverständlich Jusgors Idee und empfahl ihm, „auf 613
die Obrigkeit zu pfeifen“. Das war Asquith, wie er leibte und lebte, mutwillig und tatendurstig. Gegen fünf Uhr lenkte Jusgor den ferngesteuerten Autokran, mit dem drei Monate zuvor die kleinen Metallzylinder „gestohlen“ worden waren, zu der bläulichen Kugel hin. Der Manipulator senkte sich zu dem ersten, bereits von der Kugel abgefallenen Jusgoriden hinab. Seine magischen Hände griffen nach ihm und – nichts geschah. Der Jusgorid wurde hochgehoben und weggetragen, ohne daß eine Reaktion erfolgte. Den ganzen langen Augustabend setzten die Experimentatoren, alles andere auf der Welt vergessend, ihre Arbeit fort und überzeugten sich schließlich davon, daß die Jusgoriden entweder tot oder von Natur aus unfähig waren, jemand ein Leid anzutun. Am späten Abend wurde der Jusgorid ins Laboratorium gebracht. Das geschah hinter dem Rücken Dr. Duviézards, der in die Stadt gefahren war. Hier ist weder der Ort noch die Zeit, den Arbeitskollegen nachträglich Vorwürfe zu machen, aber man muß schon sagen, daß ihre Dreistigkeit jedes vernünftige Maß überstieg. Einen Biosiliziten von ganz neuer Art im Laboratorium zu halten, ohne zu wissen, was für Eigenschaften er besaß und was er anrichten 614
konnte, war natürlich mehr als riskant. Aber sie taten es. Ja, sie trieben ihre Kühnheit so weit, daß sie ihn in die Hände nahmen, ohne an Schutzmittel, geschweige denn ferngesteuerte Vorrichtungen zu denken. Der Jusgorid war wirklich völlig harmlos. Es wurde sogar die Meinung geäußert, er stelle kein organisiertes System dar, sondern sei lediglich ein Stück toter Materie. Am liebsten hätten ihn die Experimentatoren zersägt, um in sein Inneres einzudringen und seine Struktur zu erkunden. Doch nicht einmal Professor Asquith, der Verwegenste unter ihnen, brachte den Mut dazu auf. Im Institut ging es heiß her. Die Wissenschaftler ließen den ins Laboratorium gebrachten Jusgoriden keine Sekunde aus den Augen. Andere beobachteten unablässig das Versuchsgelände. Jeder wollte gleichzeitig hier und dort sein. Sie vergaßen zu essen und zu schlafen. Bis zum nächsten Morgen verließ keiner das Institut. Alle warteten gespannt, was weiter geschehen würde. Aber es geschah nichts. Aus der bläulichen Kugel ragten immer noch die beiden nicht ausgeschlüpften Stäbchen heraus. Sie lösten sich nicht von der Kugel, rundeten sich nicht und fielen nicht zu Boden wie der erste Jusgorid. Jusgor versuchte sogar, sie mit dem Manipulator herauszuziehen, doch vergeblich. 615
Darauf kehrte er ins Laboratorium zurück und befaßte sich damit, die Wichte seines Zöglings zu bestimmen. Sie betrug weit über vierzehn. Asquith kam herein, und man teilte ihm das Ergebnis mit. „Unsinn, Jusgor! Während Sie im Bunker waren, habe ich bereits die Wichte dieses reizenden Exemplars bestimmt. Zweiundzwanzigkommaacht. Geradezu phantastisch! Seine Dichte ist größer als die des Iridiums, des schwersten Metalls, das es auf der Erde gibt. Woraus mag es wohl bestehen, meine Herren? Das ist doch…“ „Entschuldigen Sie, Herr Professor“, unterbrach Jusgor seine begeisterten Ausrufe, „die Wichte kann jedes Schulkind bestimmen, und zwar in der Regel fehlerfrei. Wir haben diese simple Operation sorgfältig vorgenommen und dabei vierzehnkommaneun errechnet.“ „Und ich wiederhole: Unsinn!“ Gemeinsam gingen sie nun daran, die Wichte zu überprüfen. Alle waren aufgeregt und nervös. Die Wichte betrug jetzt siebenkommadrei. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu!“ Alle schwiegen betroffen und betrachteten nachdenklich den länglichen dunklen Gegenstand. Dann beratschlagten sie, wie man bei der Erforschung des Jusgoriden vorgehen solle. Es kam zu einem heftigen 616
Meinungsstreit. Jeder schlug eine andere Variante vor. Die einen mahnten, an die Gefahr zu denken, die trotz allem in dem unbekannten Körper lauern könne, die andern wollten davon nichts wissen und bestanden auf gewagten Versuchen. Während die Meinungen aufeinanderprallten, wurde der Gegenstand des Streits für kurze Zeit vergessen. „Meine Herren, beachten Sie seine rauhe Oberfläche, die mit einem engmaschigen Netz von kleinen Buckeln bedeckt ist. Das ist doch…“ Asquith streckte die Hand nach dem Jusgoriden aus, doch der lag nicht mehr auf dem Tisch. Der Professor sah sich zerstreut um. Er entdeckte den Jusgoriden auf dem Fensterbrett und knurrte verdrossen: „Warum zum Teufel haben Sie ihn aufs Fensterbrett gelegt, Jusgor?“ „Ich habe ihn nicht aufs Fensterbrett gelegt.“ Eine Umfrage ergab, daß ihn niemand dorthin gelegt hatte. Jusgor trug ihn wieder zum Labortisch, Asquith beugte sich mit einer Lupe über ihn, und der Streit entbrannte mit neuer Stärke. Die Vorschläge wurden konkreter, und Asquith hielt es für das beste, sie schriftlich festzuhalten. Er ging mit seinem Notizblock zum Schreibtisch, der am Fenster stand. Als er zurückkam, konnte sich Jusgor nicht 617
verkneifen, ihn mit einem Kopfnicken zum Fenster hin zu fragen: „Warum zum Teufel haben Sie ihn aufs Fensterbrett gelegt, Asquith?“ „Ich habe ihn nicht aufs Fensterbrett gelegt.“ Bei dem, was weiter kam, verging den Anwesenden das Lachen. Keiner bemerkte, wie der Jusgorid vom Fensterbrett verschwand. Alle liefen durcheinander, um ihn zu suchen, und durchstöberten jeden Winkel des mit Apparaten vollgestopften Laboratoriums. Schließlich wurde der Flüchtling im offenen Schubfach eines Wandschranks hinter dem Kachelofen entdeckt. Asquith pirschte sich an den Schrank heran. Der Jusgorid stieg aus dem Schubfach langsam in die Höhe und schwebte durch die Luft direkt auf ihn zu. Der Professor bewahrte selbst in dieser Situation seinen Humor. „Jetzt getraue ich mich nicht mehr, seine Wichte zu bestimmen.“ Auch Jusgor blieb kaltblütig. „Getrauen Sie sich, ihn zu fangen?“ Mit einer für sein Alter erstaunlichen Behendigkeit warf sich Asquith auf den in der Mitte des Laboratoriums schwebenden Körper. Doch der segelte schon zum andern Ende des Raums und zog gleichmäßige Kreise über dem Spektrographen. 618
„Die Tür! Die Fenster! Die Ventilatoren! Alles schließen, alles dicht machen!“ Zu spät. Der Jusgorid war bereits entkommen. Am nächsten Tag kam Dr. Duviézard ins Institut zurück. Keiner wußte so recht, wie man ihm das am Vorabend Geschehene beibringen sollte. Die Vorgänge um den Jusgoriden waren so seltsam gewesen, daß die Wissenschaftler die Empfindung hatten, einer Massenhypnose erlegen zu sein. Auf dem Versuchsgelände hatte sich nichts geändert. Alle dreiundvierzig Rodbariden hockten nach wie vor in einer Reihe. Auch die bläuliche Kugel verhielt sich völlig ruhig. Aus ihrem Körper ragten noch immer die zwei länglichen, dunklen Gegenstände, die sich nicht in Jusgoriden verwandelt hatten. Zwei. Und der dritte? Wo mochte er jetzt stecken? Im allgemeinen konnte sich im Institut noch niemand einen Reim auf die neue Erscheinung machen. Sie war dermaßen unbegreiflich, daß Jusgor sogar mir keine näheren Einzelheiten über die Streiche seines Zöglings zu schreiben wagte, sondern lediglich in einem seiner Briefe nach Moskau andeutete: „Wenn Sie hierherkommen, werde ich Ihnen alles erzählen. Mir scheint, neue Überraschungen stehen uns bevor. Wir müssen uns auf noch tollere Streiche der Siliziten gefaßt machen.“ 619
Kein Mitarbeiter des Vereinigten Instituts ahnte auch nur, daß der am 6. August spätabends aus dem Laboratorium entwichene Jusgorid am 7. August in Amsterdam, auf der Kinkerstraat, den Pautooaner Dagir überfiel, der auf seiner Brust, in einer Büchse verwahrt, den fliederfarbenen Kristall trug. Achtzehn Tage lang blieb auf dem Versuchsgelände alles ruhig. Die Wissenschaftler des Vereinigten Instituts stritten sich noch immer über die neue Spielart der Biosiliziten. Jeder stellte seine eigene Theorie auf. Aber alle waren sich darin einig, daß die Jusgoriden vollkommenere Eigenschaften besaßen als ihre Vorgänger. Das Plasma hatten wir vom ersten Augenblick an als eine ziemlich primitive, wenngleich gefährliche Substanz erkannt, die mit einer ganzen Reihe erstaunlicher und nützlicher Eigenschaften ausgestattet war. Die Menschen wurden verhältnismäßig leicht mit ihm fertig und vermochten es sich bald dienstbar zu machen. Die Rodbariden wurden, als sie aus Rodbars Stahlbehältern ausbrachen, zunächst für fremdartige Lebewesen gehalten, noch dazu solche mit fast übernatürlichen Eigenschaften. Selbst als die Gelehrten immer stärker zu der Ansicht neigten, sie seien keine Lebewesen, sondern nach uns völlig unbekannten Prinzipien aufgebaute 620
kybernetische Gebilde, begegneten wir ihnen nach wie vor mit Staunen und Vorsicht. Zu groß waren ihre Möglichkeiten, zu frappant ihre Ähnlichkeit mit Lebewesen. Die Menschen verstanden es, aus ihnen Nutzen zu ziehen, aber es war ein weiter Weg zur Erforschung dieser Gebilde und ein noch weiterer zu ihrer Beherrschung. Die Jusgoriden hielt schon niemand mehr für Lebewesen. Alle stimmten jedoch darin überein, daß ihre Struktur noch vollkommener und komplizierter war als die der Rodbariden. Niemand dachte auch nur im Traum daran, diese neue Spielart der Biosiliziten „einspannen“ zu wollen. Ihre Fähigkeit, die Schwerkraft zu überwinden, sich frei und rasch im Raum zu bewegen, war ihnen offenbar verliehen worden, damit sie eine schwierige Mission auf unserem Planeten erfüllen konnten. Doch von wem? Und wozu? Was für Folgen würde ihr Erscheinen auf der Erde haben? Viele Fragen gab es damals, allzu viele, und sie waren dazu angetan, Beunruhigung hervorzurufen! In jenen Tagen nahm sich Professor Asquith vor, ein gewagtes Experiment durchzuführen. Die Wissenschaftler, die mit ihm zusammen Dienst machten, standen um diese Zeit vollständig unter seinem Einfluß. Sie widersprachen ihm in nichts und wagten es auch nicht, die Direktion von seinen 621
Versuchen, die im Arbeitsprogramm nicht vorgesehen waren, in Kenntnis zu setzen. Heute macht Asquith kein Hehl mehr daraus, daß er am Morgen des 22. August, als er Dienst hatte, unter Mißachtung des ausdrücklichen Verbots dreimal den Röntgenapparat einschaltete. Wie schon früher erfolgten auch diesmal drei Explosionen. Drei neue Jusgoriden lösten sich von der bläulichen Kugel, nahmen schneller Gestalt an als seinerzeit der erste und flogen davon. Um zwei Uhr mittags waren sie bereits in Amsterdam, zerschlugen bald darauf das Fenster im Arbeitszimmer des Direktors der Diamantenfirma und hingen in der Luft über dem fliederfarbenen Kristall. Dieser Streich Asquiths hatte ernstere Folgen, als man zunächst annahm. Daß drei weitere Jusgoriden das Licht der Welt erblickt hatten, wußte keiner der führenden Gelehrten des Instituts, von den Geschehnissen der nächsten Tage aber erfuhren alle. Die zwei Jusgoriden, die solange aus der Kugel herausgeragt hatten, trennten sich endlich von ihr, wahrscheinlich infolge der von Asquith vorgenommenen Bestrahlung, und lagen eine Zeitlang unbeweglich auf dem Boden. Wieder kam es zu Beratungen, Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen. Jusgor bestand darauf, daß man sich aktiver in die 622
Prozesse einmischen solle, die auf dem Versuchsgelände vor sich gingen. Er schlug vor, neuerdings den Autokran einzusetzen und die von der Kugel abgefallenen Jusgoriden einzufangen, um sie im Laboratorium gründlich zu untersuchen. Niemand schloß sich indessen seinem Vorschlag an. Der wissenschaftliche Rat des Instituts lehnte es ab, Untersuchungen anzustellen, die verhängnisvoll ausgehen konnten. Er hielt es nicht für ratsam, die Jusgoriden anzutasten. Daraufhin handelten die Jusgoriden selbständig. Am 29. August gegen Mittag heulten im Institut wieder einmal die Alarmsirenen. Den Beobachtern bot sich ein Anblick, bei dem ihnen die Haare zu Berge standen. Der Diensthabende hatte in dem Augenblick auf den Alarmknopf gedrückt, als sich die beiden Jusgoriden vom Boden abhoben und frei in der Luft schwebten. Etwa eine halbe Stunde blieben sie unbeweglich über der Röntgenanlage hängen, wie in ihr Studium vertieft. Dann stürzten sie sich abwechselnd darauf und schlossen die Kontakte derart, daß die Anlage ebenso funktionierte, als würde sie vom Schaltpult aus bedient. Dr. Duviézard, der diesmal auf das Alarmsignal hin rechtzeitig in der Beobachtungszentrale erschien, ordnete an, die Anlage vom Pult aus abzuschalten. Das 623
geschah, blieb jedoch ohne jede Wirkung. Die Explosionen dauerten an. Jedesmal flog ein Jusgorid aus der bläulichen Kugel. Sie fielen jetzt nicht mehr zu Boden, sondern rasten sofort durch die Luft davon. Wie eine Fontäne schleuderte die Kugel ganze Garben der länglichen, dunklen Körper hoch. Ringsum sprühte alles von Funken. Die Stichflammen wurden immer greller. In ihrem Feuerschein konnte man schon nicht mehr sehen, ob die beiden Jusgoriden den Röntgenapparat noch bedienten. Dr. Duviézard befahl, die Stromversorgung der Anlage zu sperren, aber auch das half nichts. Offenbar waren die Röntgenstrahlen nur anfänglich für die Geburt der Jusgoriden erforderlich gewesen, während der weitere Prozeß in der Kugel schon unabhängig davon ablief. Das Feuerwerk prasselte gut zwanzig Minuten. Als es erloschen war, existierte die „blaue Schönheit“ nicht mehr, und alle Jusgoriden waren verschwunden. Drei Stunden darauf tauchten sie in Amsterdam auf und entführten den Panzerwagen mit dem fliederfarbenen Kristall. Nachdem ich von Amsterdam in die Hauptstadt des Mutterlandes von Westpautoo zurückgekehrt war, erledigte ich rasch die unaufschiebbarsten Angelegenheiten im 624
Institut und suchte dann sofort Asquith auf. „Sie sind im Bilde, was mit Chansnepps Erwerbung passiert ist?“ „Natürlich.“ „Ist das Ihr Werk?“ „Gott behüte! So viel Macht habe ich noch nicht erlangt. Das haben die Jusgoriden getan. Sie waren ja selbst dabei und können bezeugen, daß der Panzerwagen nicht von mir, sondern von Jusgors Brut gestohlen worden ist.“ „Sie tun immer alles mit Späßen ab. Nicht danach frage ich. Sagen Sie mir klipp und klar: Haben Sie Chansnepp und Cart angestiftet, einander bei der Versteigerung des fliederfarbenen Kristalls zu überbieten?“ „Ich, Alexej Nikolajewitsch, natürlich ich. Hören Sie, was sind Sie bloß für ein Mensch! Aufdringlich und dabei nicht widerlich. Einen andern hätte ich längst zum Teufel geschickt, aber mit Ihnen…“ „Danke! Wollen Sie mir schmeicheln?“ „O nein. Mit Ihnen langweile ich mich nur nicht so wie mit den andern. Ich spreche mit Ihnen auch offener, und zwar nur deshalb, weil es mich interessiert, was Sie mir noch alles aus den Rippen schneiden wollen.“ „Das kann ich Ihnen sagen.“ „Immer heraus mit der Sprache!“ 625
„Ich will den fliederfarbenen Kristall, weil ich der Auffassung bin, daß er bei Ihnen in unrechten Händen ist. Er gehört ins Vereinigte Institut, und das Siliziumkomitee der Vereinten Nationen muß darüber verfügen. Sie haben selber gesagt, der Kristall sei der Schlüssel zu allem. Wenn sich in ihm tatsächlich eine Kraft verbirgt, die es gestattet, die Siliziten zu beherrschen und ihre Tätigkeit zu lenken, dann darf er nicht in Privatbesitz bleiben. Er muß zum Gemeingut der gesamten Menschheit werden!“ Asquith pfiff durch die Zähne. „Haben Sie bei Duviézard die letzten Telegramme gesehen?“ „Ich habe ihn nicht angetroffen. Er ist schon nach New York abgeflogen.“ „Ich rate Ihnen, sich die Telegramme von seinem Sekretär geben zu lassen. Und lesen Sie sie aufmerksam durch. Jetzt geht die Räubergeschichte erst richtig los. Die Jusgoriden haben das Panzerauto in die Karakum verschleppt.“ „In die Karakum?“ „Ja, Sie haben richtig gehört. Chansnepps fahrbaren Tresor haben die Jusgoriden in diese Sandwüste entführt und ihn ungefähr dreißig Kilometer nördlich der Stadt Barchaden abgestellt.“ Asquith lachte meckernd. „Oh, das gab eine Aufregung! Als das Panzerauto niederging, 626
glaubten die Leute dort an einen Spuk. Chansnepp tobt und wütet, er beschuldigt die Sowjetunion, sie habe ihn expropriiert, sich seinen Schatz angeeignet. Er beabsichtigt, die Regierung des Landes um ihre Intervention zu bitten, und die wird sich bestimmt an den Sicherheitsrat wenden.“ „Das hat noch gefehlt, daß die Siliziten einen internationalen Konflikt heraufbeschwören!“ Asquith wurde wieder ernst. Dieser plötzliche Übergang von Ausgelassenheit zu Reserviertheit war überhaupt charakteristisch für ihn. „Einen Konflikt, sagen Sie? Ich glaube nicht. Wissen Sie, Alexej Nikolajewitsch, jetzt wird die Sache erst interessant. Die Biosiliziten sind offenbar weit klüger, als wir dachten.“ „Klüger? Das ist wohl nicht das richtige Wort.“ „Legen Sie es nicht auf die Goldwaage. Unsere Worte und Begriffe können sich ohnehin schon bald als zu armselig und ungenau erweisen, um viele Aktionen dieser Geschöpfe zu definieren. Erinnern Sie sich an ihren Trick mit der Röntgenanlage und ihre Stimulation der ‚blauen Schönheit’? Einen Konflikt? Nein, den werden sie nicht zulassen. Das Panzerauto haben sie bereits zurückgebracht.“ „Wie zurückgebracht? Wem?“ 627
„Nach genau vierundzwanzig Stunden stand das Panzerauto wieder an der Stelle, von wo es entführt wurde: auf dem Amsterdamer Nieuwe Markt. Die Wache, vor Angst halbtot, aber völlig unversehrt, war noch darin. Der fliederfarbene Kristall natürlich nicht mehr. Nach den letzten Informationen soll er in der Karakum geblieben sein. Dort wird er von Dutzenden von Jusgoriden bewacht. Ja, so steht die Sache. Sie aber sagen: Asquith, rücken Sie den fliederfarbenen Kristall heraus, er wird von den Kämpfern für Gerechtigkeit dringend gebraucht. Versuchen Sie es doch, ihn den Jusgoriden wegzunehmen. Ich bin sicher, sie werden ihn nicht herausgeben. Keiner ist mächtig genug, den Biosiliziten den Kristall wegzunehmen.“ „Sie wissen ganz genau, daß ich nicht von dem Kristall spreche, der sich gegenwärtig in der Karakum befindet, sondern von dem, den Sie in der Nacht damals benutzten, um den Rodbariden zu gängeln. Sie bewahren den fliederfarbenen Kristall in einem Siliziumgefäß auf, so daß er kein Kraftfeld bilden kann, auf das sich die Biosiliziten orientieren. Dadurch geschützt, haben Sie gelernt, die Rodbariden zu beherrschen. Auch von den Jusgoriden haben Sie nichts zu befürchten. Sie sind vor ihren Überfällen sicher, weil Sie, zum Unterschied von Dagir und den Eigentümern der 628
Diamantenfirma, den fliederfarbenen Kristall in einer Hülle aus reinem Silizium aufbewahren. Mir sind jetzt alle Ihre Kniffe klar.“ „Alle?“ „Fast alle. Bitte schön, beginnen wir mit Ihrer ersten Mitteilung, die Sie liebenswürdigerweise in der pautooanischen Universität gemacht haben. Erinnern Sie sich? Sie schilderten uns ziemlich ausführlich, wie Sie mit Hilfe des goldenen Schiffchens den fliederfarbenen Kristall fanden.“ „Sie haben schon damals meine Offenheit zu würdigen gewußt, nicht wahr?“ „Aber natürlich! Wir hörten Ihnen aufmerksam zu und wunderten uns, daß Sie die ganze Zeit nur von einem einzigen Kristall sprachen. Es interessierte uns sehr, wohin der zweite Kristall geraten war.“ „Glauben Sie mir, dieser Umstand hat mir gleichermaßen Kopfzerbrechen verursacht.“ „Mag sein. Doch als Sie zum zweitenmal nach Makimi kamen, um uns zu beschuldigen, wir hätten den von Ihnen selbst versteckten Kristall geraubt…“ „Alexej Nikolajewitsch, wozu das alles? Es macht Ihnen wohl Spaß, die Rolle des grimmigen Anklägers zu spielen?“ „Was bleibt mir sonst übrig? Sie wollen ja bis jetzt nicht zugeben, daß Sie den flie629
derfarbenen Kristall besitzen, daß Sie ihn immer bei sich getragen haben.“ „Gut, ich hatte ihn, aber nur so lange, bis er in Tarkor plötzlich verschwand.“ „Wirklich? Nichts für ungut, Professor, aber das ist eine krasse Unwahrheit. Sobald Sie bemerkten, daß nach der Abschirmung Ihres Kristalls das goldene Schiffchen wieder in Richtung Pautoo zeigte, entschlossen Sie sich zu dieser Reise nach Makimi. Natürlich wußten Sie damals selber noch nicht, was im Oberen Tempel geschehen war. Als Ihr Spion dann nach Australien floh, kamen Sie dahinter. Ich habe mir den Hergang der Ereignisse erst vor kurzem zusammengereimt. In Amsterdam erfuhr ich nämlich, daß Dagir und Aru ein und dieselbe Person sind. Jetzt verstehe ich auch, was sich zu der Zeit abspielte, als Sie sich mit einem Hubschrauber auf die Suche nach dem fliederfarbenen Kristall machten. Dagir alias Aru begleitete Sie auf dieser kleinen Expedition. Wegen der Schießereien und einer Menge anderer Unannehmlichkeiten hielten Sie es für zweckmäßiger, ihn zur Ruine hinaufzuschicken. Dagir war gerissen genug, einen der beiden kostbaren Steine vor Ihnen zu verstecken. Er sagte sich, daß der andere für Sie vollauf genüge.“
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Meine Enthüllungen machten auf Asquith nicht den geringsten Eindruck. Ihn beunruhigte etwas anderes. „Wozu rühren Sie die alten Geschichten auf? Ich habe das alles längst vergessen. Dagir, den Oberen Tempel, die Auktion in Amsterdam. Wichtig ist jetzt etwas ganz anderes – die Jusgoriden!“ „Sie wollen ablenken von dem für Sie peinlichen Gespräch?“ „Keineswegs. Um Ihnen das zu beweisen, erkläre ich rundheraus: Ihre Schlußfolgerungen sind richtig. Ja, ich habe meine Chance wahrgenommen und mit dem fliederfarbenen Kristall recht erfolgreich experimentiert. Dann habe ich sowohl Chansnepp als auch Cart in meinen Naturschutzpark geführt und ihnen demonstriert, was der Kristall vermag. Einzig und allein mit seiner Hilfe konnte ich die Rodbariden zwingen, die höchst seltenen Metalle für uns und nicht für ihre ‚blaue Schönheit’ ans Tageslicht zu fördern.“ „Und was folgert daraus? Was hat das alles jetzt zu bedeuten?“ „Verstehen Sie doch, Alexej Nikolajewitsch! Mit der Entstehung der Jusgoriden hat sich die Lage von Grund auf verändert. Sie werden uns noch einen Haufen Scherereien machen. Augenblicklich aber schlage ich mich mit einem Problem herum, das mich unmittelbar angeht. Die Jusgoriden 631
haben den von Chansnepp gekauften Kristall entführt. Sie werden auch meinen Kristall entführen, wenn ich die Siliziumschutzhülle abnehme, und sei es auch nur für Minuten. Der Kristall bildet ein Kraftfeld, auf das sich die Jusgoriden nicht schlechter orientieren als der im goldenen Schiffchen verborgene Keim. Sie werden unverzüglich zum Steinbruch fliegen. Ich darf also die Schutzhülle nicht vom Kristall abnehmen. Wie soll ich aber nun die Rodbariden dirigieren und die Förderung der Metalle fortsetzen?“ „Das interessiert mich nicht im geringsten.“ „Selbstverständlich, denn Sie besitzen ja keine Aktien der ‚Lux-Metall’.“ „Aktien interessieren mich überhaupt nicht.“ „Leider. Ich weiß, Sie sind ja als Geldverächter erzogen worden. Und was bewegt Sie am meisten, wenn ich fragen darf?“ „Das Schicksal Ihres fliederfarbenen Kristalls. Er muß dem Vereinigten Institut übergeben werden.“ „O nein! Er wird mir selbst noch trefflich zustatten kommen. Ich beabsichtige, den Kampf mit den Jusgoriden aufzunehmen.“
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Das erste Signal In den Tagen nach dem Überfall der Jusgoriden auf Chansnepps Panzerauto trafen im Vereinigten Institut fast pausenlos Mitteilungen über die von ihnen entfaltete Tätigkeit ein. Wußte über die Rodbanden nur ein begrenzter Kreis von Menschen Bescheid, so erfuhr von der neuen Spielart der Biosiliziten bald die ganze Welt. Der Wunsch, über die Rodbariden in der Öffentlichkeit nichts verlauten zu lassen, war ganz natürlich. Denn über ihr Wesen und die möglichen Folgen ihres Erscheinens auf der Erde gab es nur sehr vage Vorstellungen. Es erschien zu gewagt, dieses kärgliche Wissen dem breiten Publikum zugänglich zu machen. Zu leicht konnten sich Leute finden, die Panik verbreiteten, und noch weit mehr, die der Panikstimmung unterlagen. Die Tätigkeit der Jusgoriden hingegen ließ sich beim besten Willen nicht verheimlichen. Sie verstreuten sich im Nu über den ganzen Erdball und handelten nach eigenem Gutdünken. Inzwischen ist über die Jusgoriden so viel geschrieben worden, daß es sinnlos wäre, dieses Thema noch mehr auszuwalzen. Ich berichte daher nur von Vorkommnissen, die meine Annahme, wir hätten es nicht mit irgendwelchen Formen von Silizi633
umleben zu tun, sondern mit kybernetischen Kundschaftern, anschaulich bestätigten. Es waren jedoch keine elektronischmechanischen Roboter. Vielmehr stellten sie hochorganisierte Gebilde dar, deren Struktur biologische Züge aufwies. Die Vorfälle, von denen ich hier berichten will, zwangen uns, über vieles nachzudenken, und erhärteten unwiderleglich die von mir aufgestellte Theorie. Ein solcher Vorfall ereignete sich in der Hauptstadt des Landes, einen Tag nach meiner Ankunft in Amsterdam. Ich staunte darüber nicht weniger als über den Raub des Panzerautos. In der Klinik von Professor Goorder war eine schwierige Thoraxoperation im Gange. Der blendendhelle weiße Operationssaal glänzte vor Sauberkeit, die verchromten Instrumente blinkten. Der Professor nahm die Operation selbst vor. Sie währte bereits die dritte Stunde. Da erschien plötzlich über dem Operationstisch, neben der Lampe, ein länglicher dunkler Gegenstand. Ohne den Blick vom geöffneten Brustkorb des Patienten abzuwenden, spürte der Chirurg deutlich, daß vor ihm ständig ein Schatten schwebte, der ihn bei der Arbeit störte. War das eine Sinnestäuschung? Machten sich die Müdigkeit, das Alter bemerkbar? Die Ligatur war angelegt, der Blutkreislauf unterbunden. Der Profes634
sor konnte Atem holen. Als er sich ein wenig aufrichtete, bemerkte er den entrüsteten Blick der Operationsschwester, der auf denselben rätselhaften Gegenstand geheftet war. In diesem Augenblick wurde sich Goorder der Tragweite seiner Beobachtung bewußt. Nicht er allein sah diesen Gegenstand, der so plötzlich erschienen war. Im vorbildlich sauberen Operationsraum befand sich tatsächlich ein Fremdkörper, der jederzeit Unheil anrichten konnte. Und die Infektionsgefahr? Das Leben des Patienten? Der Professor riß sich zusammen. Er ließ sich nicht mehr ablenken. Die geschickten Bewegungen seiner Hände wurden noch präziser. Endlich war die Operation beendet, die letzte Naht gesetzt. Der ungebetene Gast verhielt sich korrekt; er verschwand, ohne etwas berührt zu haben. Am selben Tag kam in den USA der Senator Hughes mit einer Beschwerde zum Direktor der Kongreßbibliothek. Seit fünfundzwanzig Jahren besuche er nun die Bibliothek und sei daran gewöhnt, daß sich im Lesesaal, Gott sei Dank, niemals etwas ändere. Und nun plötzlich die über den Tischen baumelnden albernen Vorrichtungen! Was solle das? Der Senator wandte sich entschieden gegen jederlei Neuerung und forderte kategorisch, diese störenden Dinger, wie er sich ausdrückte, aus dem 635
Lesesaal zu entfernen. Der Direktor sagte sich sogleich, der Verstand des alten Herrn müsse gelitten haben. Er beschwichtigte den, wie er meinte, an Wahnvorstellungen leidenden Politiker mit freundlichen Worten und überlegte dabei, wo er schnell einen erfahrenen Arzt herbekommen könne. Schließlich wußte niemand besser als er selbst, daß im Lesesaal keinerlei „Dinger“ angebracht waren. Die teilnahmsvolle Art des Direktors brachte indessen den Senator vollends in Harnisch: „Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen. Ich bin nicht verrückt. Sie dagegen scheinen wirklich an Gedächtnisschwund zu leiden, wenn Sie schon vergessen, was Sie in ihrer Bibliothek verfügt haben.“ Das peinliche Gespräch fand seinen Abschluß im Lesesaal. Dort schwebte über jedem besetzten Arbeitsplatz ein Jusgorid. Ich betone: über jedem besetzten Arbeitsplatz, über jedem aufgeschlagenen Buch, über jeder entfalteten Zeitung und Zeitschrift. Mit dem Erscheinen der Jusgoriden gewann die Hypothese von der Kundschaftermission der Siliziten, durch neue Tatsachen untermauert, erheblich an Beweiskraft. Die ursprüngliche Annahme, daß vor einem Jahrtausend ein Meteorit auf die Erde gestürzt sei, der Keime von Siliziumle636
ben enthalten habe, erwies sich nun als ebenso falsch wie der Glaube der alten Pautooaner, eine Gottheit sei zu ihnen herniedergestiegen. Ja, der auf Sebatu herabgestürzte Körper war weder eine Gottheit noch ein Meteorit, sondern unleugbar eine Rakete, eine Raumsonde, aus unbekannten Welten zu uns geschickt. In der Sonde befanden sich fremdartige biosilizitische, kybernetische Gebilde, die in der von ihnen zu erforschenden Welt, das heißt auf unserem Planeten, verschiedene Metamorphosen durchmachen, sich vermehren und ein bestimmtes Programm zu Informationszwecken erfüllen sollten. Doch bei der Landung schien das Programm durcheinandergeraten zu sein, und das so großartig erdachte System funktionierte augenscheinlich nicht. Nach den Schlägen des wutentbrannten Rokomo entstand dank dem Zusammentreffen günstiger Umstände – Blitz und Regen – nur Plasma, der unerläßliche Nährboden für die weitere Entwicklung der Biosiliziten. Erst in unseren Tagen hatten sich, durch wohlbedachte Einmischung des Menschen, außer dem Plasma auch vollkommenere Formen der Biosiliziten auf der Erde entwickeln können. Wahrscheinlich aber lief der ganze Prozeß bis heute nicht so ab, wie die vernunftbegabten Lebewesen, die die kyber637
netischen Kundschafter ausschickten, ihn programmiert hatten. Das Siliziumplasma entwickelte sich chaotisch, offensichtlich durch keinen Programmechanismus gesteuert. Die Rodbariden, Roboter mit einem durcheinandergeratenen Programm, errichteten plötzlich irgendwelche Bauwerke, um sich dann in den Boden einzugraben und parabolische Mulden auszuheben. Im Entwicklungsstadium der Jusgoriden hingegen ließ sich zu guter Letzt eine gewisse Zielstrebigkeit erkennen. Irdische Vernunft verhalf ihnen zum Leben. Das Plasma entstand vor unseren Augen, und zwar nicht dank zufälliger gewittriger Entladungen, sondern durch die Einwirkung von Menschenhand gesteuerter mächtiger elektrostatischer Generatoren. Der Belebung der Keime ging eine gewaltige Arbeit von Biochemikern voraus, an deren Spitze Rodbar stand. Es gelang ihnen, die Bedingungen zu finden, unter denen sich die Rodbariden im Siliziumplasma entwickeln. Schließlich wurde unter dem Einfluß kurzwelliger elektromagnetischer Bestrahlung durch die Röntgenanlage das Erscheinen der Jusgoriden stimuliert, die jetzt selbständig unseren ganzen Planeten umflogen. Die Frage war: Handeln sie entsprechend einem ihnen vorgegebenen Programm, oder ist ihre Ak638
tivität ebenso chaotisch wie die der ihnen vorausgegangenen Siliziten? Kaum „flügge“, machten sich die Jusgoriden sogleich auf die Suche nach dem fliederfarbenen Kristall, ohne ihre Kräfte zu schonen, und erbeuteten ihn. Aber war er wirklich der Schlüssel zu allem? Vielleicht war gerade in dem Kristall das Programm für die Tätigkeit der kybernetischen Kundschafter aus der uns unbekannten fernen Welt gespeichert? Der Kundschafter? Kein Zweifel! Das Verhalten der Jusgoriden bestätigte voll und ganz die Hypothese, sie seien Abgesandte des Kosmos, die zu einem bestimmten Zweck auf die Erde kamen und nicht zufällig aus dem Weltall herabstürzten. Die Jusgoriden wurden von Tag zu Tag aktiver. Sie drangen in Fabriken ein, in wissenschaftliche Institute, Schulen, Bergwerke, Kasernen und Kosmodrome. Man entdeckte sie in Nervenheilanstalten, Warenhäusern, Gefängnissen, U-Bahnen und Entbindungsheimen. Der uralte Traum der Menschheit, ins Weltall vorzudringen, ist zum Teil schon in Erfüllung gegangen. Der Start von Sputniks und anderen künstlichen Erdsatelliten, die ersten freien Flüge von Menschen im erdnahen Raum, die Entsendung von automatischen Sonden zu den nächsten Planeten und dergleichen mehr zeugen da639
von. Wissenschaftler und Ingenieure konstruieren Raumanzüge, in denen die Forscher, wenn sie auf einem unbekannten Planeten landen, unverwundbar sind und die sich vor ihnen auftuende fremde Welt untersuchen können. Mechanismen werden entworfen, die dem Menschen erlauben, auf Himmelskörpern zu weilen, die sich von unserm Planeten grundlegend unterscheiden, und andere, die selbsttätig, ohne Hilfe des Menschen, eingehende Informationen über diese Welten sammeln. Die Jusgoriden waren solche kybernetischen Kundschafter von vollendeter Konstruktion. Gestützt auf ein mächtiges Energiesystem und imstande, die Schwerkraft zu überwinden und unter beliebigen Umweltbedingungen zu funktionieren, waren sie unverwundbar und unangreifbar. Sie konnten jederzeit miteinander und wahrscheinlich auch mit einer Zentrale (dem fliederfarbenen Kristall?), die ihre Handlungen steuerte, in Verbindung treten. Überflüssig, zu sagen, wie groß die Versuchung war, die Struktur dieser Kundschafter zu erforschen, um zu erfahren, welche dem Menschen noch unbekannten Naturkräfte bei ihrer Schöpfung genutzt wurden. Das stellte sich jedoch als ein eitles Unterfangen heraus. Die Jusgoriden fügten den Menschen keinerlei Leid zu und 640
mischten sich in ihre Angelegenheiten nicht ein, aber sie duldeten auch keinerlei Einmischung in ihre Funktionen. Alle Versuche, sie genauer zu untersuchen, endeten mit einem Mißerfolg. Wurden die Menschen allzu aufdringlich, so vernichteten sich die Jusgoriden selbst. Zu der Zeit, als die Hypothese von den Abgesandten vernunftbegabter Lebewesen noch nicht allgemein verbreitet und anerkannt war, wurden über die Jusgoriden die wildesten Vermutungen angestellt. Manche gingen so weit, zu behaupten, sie seien mit höchster Intelligenz ausgestattete menschenähnliche Wesen. Den Anstoß hierfür dürfte ein Zwischenfall im Rechenzentrum Opning gegeben haben. Dort wurde eines Tages einer Datenverarbeitungsanlage ein Programm mit Angaben über die vermutlichen Eigenschaften der Biosiliziten eingegeben. Die Daten waren, wie sich in der Folgezeit herausstellte, äußerst ungenau und unvollständig. Der über dem Automaten hängende Jusgorid, an den man sich bereits gewöhnt hatte, streckte sich plötzlich, spitzte den unteren Teil seines Körpers zu, sprang dann auf die Tasten und berichtigte die eingegebenen Informationen. Was hätte die Hypothese, man müsse die Siliziten als vollkommene kybernetische Kundschafter betrachten, die von 641
vernunftbegabten Lebewesen aus einer uns unbekannten, fernen Welt geschickt waren, besser bestätigen können? Ich möchte noch bemerken, daß die Jusgoriden damals nicht nur Befürchtungen wegen ihres Eindringens in alle irdischen Angelegenheiten erweckten, sondern auch bewirkten, daß sich alle Menschen mehr zusammennahmen. Die meisten betrachteten die irdische Zivilisation nunmehr mit geschärften, kritischen Augen und schämten sich ihrer schlechten Gewohnheiten wie überhaupt der Unvollkommenheit der menschlichen Gesellschaft. Es ist unmöglich zu beschreiben, was sich um diese Zeit im Vereinigten Siliziuminstitut tat. Es wurde zu einem echten internationalen Zentrum für die Erforschung der Siliziten. Hier liefen alle Informationen über ihre Tätigkeit zusammen. Gelehrte der verschiedensten Fachrichtungen fanden sich ein. Alle großen Staaten der Welt waren vertreten. Als die Aktivität der Jusgoriden ihren Höhepunkt erreichte, unterstützten die meisten Regierungen das Institut, das mittlerweile zum ausführenden Organ des Siliziumkomitees der Vereinten Nationen geworden war, höchst wirksam. Die modernsten Transportmittel, Geräte und Apparate wurden ihm zur Verfügung gestellt, überhaupt alles, was es brauchte. Das Siliziumkomitee konnte im Bedarfsfall 642
auf praktisch sämtliche Energiequellen und Arbeitskräfte des Erdballs zurückgreifen. Damals stellte sich natürlich die ganze Menschheit die Frage: Wer hat die biosilizitischen kybernetischen Kundschafter auf unseren Planeten geschickt? Womit wird ihre Aufklärungstätigkeit enden? Ist sie als Appell zur Gemeinsamkeit oder als Auftakt einer Aggression zu deuten? Die meisten Gelehrten neigten nun zu der Auffassung, daß wir es mit den Abgesandten einer sehr hohen Zivilisation zu tun hätten, die keine niedrigen Ziele verfolgen könnten, weil eine derartige Zivilisation eine vollkommene soziale Ordnung voraussetze. Eine so hoch entwickelte Vernunft müsse, ganz gleich, welche Lebensformen ihr zugrunde lägen, zutiefst human sein. Am Vorabend meines Vortrags im Siliziumkomitee traf aus einigen unserer Beobachtungsstellen, deren Netz jetzt den ganzen Erdball umspannte, die Mitteilung ein, die Jusgoriden entfalteten auf einer sandigen Landzunge in der Tamaner Bucht eine rege Aktivität. Das war etwas Neues. Noch am selben Tag flog eine Sonderkommission nach Kertsch, auf die Krim. Über der Sandbank schwebten zahlreiche Jusgoriden, alle in ein und derselben Höhe, etwa fünf Meter über dem Boden. Bald nach unserer Ankunft begannen sie ein uns zunächst unverständliches Treiben, 643
das aber nach organisierter Tätigkeit aussah. Von Zeit zu Zeit bohrte sich bald der eine, bald der andere Jusgorid im Sturzflug in den Sand, und an der Aufschlagstelle wuchs ein Klümpchen empor. Jeder dieser Klumpen nahm so rasch an Umfang zu, daß wir schon nach zwei Stunden unsere alten Bekannten, die Rodbariden, erkannten. Sobald sie einen Durchmesser von anderthalb Metern erreicht hatten, hörten sie zu wachsen auf, fuhren jedoch fort, Sand zu vertilgen. Gegen Abend hatten sie ihre Arbeit beendet, und wir sahen, daß unter der Jusgoridenschicht, die unbeweglich in der Luft hing, eine Mulde entstanden war, die aufs Haar der von den Rodbariden in Carts Propyläen ausgehobenen glich, sie allerdings an Größe weit übertraf. Die Biosiliziten hinderten uns nicht, sie zu beobachten. Nicht einmal die lärmende Geschäftigkeit der Kameraleute, die mit einem Riesenaufgebot an Technik Filmaufnahmen machten, schien sie zu beunruhigen. Wie immer kümmerten sie sich nicht um das, was wir taten, solange wir sie nicht bei ihrer Arbeit störten. Übrigens konnten wir uns sehr bald davon überzeugen, daß wir sie bei der Ausführung ihres uns noch unverständlichen Vorhabens ohnehin nicht stören konnten, selbst wenn wir das gewollt hätten. Ein kleiner Zwi644
schenfall brachte uns das deutlich zum Bewußtsein. Am Abend, als die große rote Sonnenscheibe den Horizont berührte, flogen die Möwen zu ihren Schlafplätzen. Tagsüber hatten sie wie gewöhnlich schreiend über der Bucht gekreist, in dem stillen Wasser nach Nahrung gesucht und sich zwischendurch auf den vereinzelt aus dem Wasser ragenden Felsen niedergelassen, um sich auszuruhen und zu schnäbeln. Doch der Tag ging zur Neige, und die satte Vogelgesellschaft verließ die winzigen Inseln, um in den Uferfelsen zu nächtigen. Ohne der fieberhaften Tätigkeit der so plötzlich in ihrem angestammten Revier aufgetauchten Siliziten die geringste Beachtung zu schenken, flogen sie pfeilgerade auf ihr Ziel zu. Doch nicht alle erreichten es. Die unglücklichen Vögel, die zu der Stelle kamen, wo in angemessener Eile die Mulde ausgehoben wurde, stießen gegen eine unsichtbare Wand. Von einer geheimnisvollen Kraft zurückgeschleudert, stürzten viele sofort zu Boden, während andere sich zur Brandung retteten. Bald fanden die Möwen heraus, daß es gefährlich war, den gewohnten Kurs einzuhalten. Ihr Schreien, schon am Tage fast unerträglich, steigerte sich zu einem schier ohrenzerreißenden Kreischen. Sie waren sichtlich grenzenlos empört. 645
Wir schlossen daraus, daß das Bauwerk der Jusgoriden von einem mächtigen Kraftfeld umgeben sein mußte. In dieser Nacht machten die Kommissionsmitglieder kein Auge zu. Unablässig beobachteten wir die Biosiliziten. Die Kameraleute, die fast gleichzeitig mit unserm Stabskraftwagen gekommen waren, nutzten jede Gelegenheit, um die Vorgänge auf der Sandbank zu filmen. Auf den nächstgelegenen Felsen wurden starke Scheinwerfer aufgestellt, und als das Tageslicht nicht mehr ausreichte, erhielten die Kameraleute reichlich künstliches Licht. Sobald die riesige parabolische Mulde ausgehoben war und während wir noch über die Präzision und Schnelligkeit der geleisteten Arbeit staunten, gruppierten sich die Jusgoriden um. Hatten sie bis zu diesem Augenblick völlig unbeweglich in der Luft gehangen, wie erstarrt über der eifrig geschaffenen Vertiefung, so führten sie jetzt komplizierte Manöver durch. In den bläulichvioletten Lichtgarben unserer starken Scheinwerfer funkelten und sprühten sie in einem zauberhaften Feuerwerk. Ähnlich einem Mückenschwarm, der im Schein der untergehenden Sonne den Freudentanz erwachender Sinnenlust aufführt, drehten sie sich, von allen Seiten vom Schein Dutzender Lichtbögen angestrahlt, in einem kunstvollen Reigen. Doch 646
hier war nichts zu spüren von dem ausgelassenen, chaotischen Gewimmel der im Liebestaumel alles vergessenden, nur dem Augenblick hingegebenen Insekten. Die Jusgoriden ordneten sich zu einem weiträumigen Ornament, das sich abwechselnd auflockerte und verdichtete, dann aufs neue in Bewegung geriet und sich zu verzwickten Mustern verschlang, die das Auge bewundernd genoß. Daraus schraubten sich plötzlich einzelne Individuen hoch und schossen wie Raketen zum Himmel empor. Einige beschrieben in der Luft langgestreckte Ellipsen und formten sich zu blendendhellen Blütenblättern. Im Mittelpunkt dieser flirrenden Jusgoridenwolke bildete sich überraschend ein schön geflochtener Kern, gewissermaßen das Herzstück dieser gleißenden und flimmernden Blume. Als der bizarre Tanz seinen Höhepunkt erreichte, bemerkten wir, daß sich die Zahl der Jusgoriden stetig vermehrte. Unwiderstehlich angezogen von dem sich entfaltenden Blumenreigen, eilten sie von allen Enden der Welt hierher. Die neuangekommenen Jusgoriden bildeten einen unbeweglichen Ring hingerissener, verzückter Zuschauer um ihre tanzenden Brüder. Doch ihre Untätigkeit währte nicht lange. Gegen zwei Uhr nachts wurde uns klar, daß auch ihrer eine Menge Arbeit harrte. Nachdem sie sich etwa zehn Minuten in 647
stiller Betrachtung am Tanz „ergötzt“ hatten, begannen sie sich über der Mulde zu einer Art Gerüst zu verflechten, dessen Konturen an den Eifelturm erinnerten. An seinem Fuß ging der Tanz der Jusgoriden weiter, obzwar ihre Bewegungen sich allmählich verlangsamten und beruhigten. Man gewann den Eindruck, daß die Erbauer müde wurden und das Tempo ihres Raumreigens herabminderten. Um drei Uhr nachts kam alles zur Ruhe. Auch wir waren erschöpft, übersättigt von alldem, was wir miterlebt hatten. Der Turm stand unbeweglich. Der Jusgoridenschwarm darin zog seine Schnörkel immer träger. Über der Sandbank trat gespannte Stille ein. Die Zeit verstrich, nichts änderte sich, wir aber warteten, denn wir spürten: Jeden Augenblick kann etwas, muß etwas geschehen. Einer der nüchternsten Beobachter meinte, jetzt müßten wir vor allem erst einmal Kaffee trinken. Starken, schwarzen und natürlich kochendheißen Kaffee. Unsere Kommission war nicht nur gut organisiert, aufeinander eingespielt und beweglich, sie verfügte auch über eine ausgezeichnet funktionierende „Wirtschaftsabteilung“, deren Leiter letzthin eine neue Losung in Umlauf gebracht hatte: „Wir müs648
sen von den Jusgoriden lernen, operativ zu arbeiten.“ Wirklich erschien der Kaffee wie hergezaubert. Und wahrhaftig, wir hatten ihn bitter nötig. Die knisternde Erwartung nahm unterdessen immer noch zu. Der Kommissionsvorsitzende benutzte die Atempause, um uns zur Abfassung eines außerordentlichen Berichts an den Zentralen Internationalen Stab zusammenzurufen. Der Bericht war rasch geschrieben und nach New York gefunkt. Wenige Minuten später teilte uns der Zentrale Stab mit, er sei an die Regierungen aller Staaten, die dem Siliziumkomitee angehörten, weitergegeben worden. Zuerst dachten wir, im Stab habe man, von unserer Alarmstimmung angesteckt, des Guten zuviel getan. Doch dann stimmten wir der New-Yorker Entscheidung zu. Eine so massenhafte und zielstrebige Tätigkeit der Biosiliziten auf der Erde hatten wir schließlich noch nie beobachtet. Zwar hatten wir uns schon zur Genüge von ihrer „Loyalität“ gegenüber uns Erdenmenschen überzeugt und vertrauten auf ihr vernünftiges und gutartiges Verhalten, aber… Man konnte nicht wissen! Gegen Morgen wurde es kühl. Manche von uns dösten ein. Jusgor schien sogar, in einen warmen Plaid gekuschelt, in einer Ecke unseres geräumigen und bequemen 649
Stabskraftwagens friedlich zu schlummern. Asquith erklärte mürrisch, das Ganze beginne, ihn zu langweilen. „Was zum Teufel ist los? Eine hundsmiserable Regie! Die Handlung muß sich doch unablässig steigern. Nur keine Flaute! Die Kunst unterliegt nicht denselben Gesetzen wie die Wirtschaft. In der Kunst ist jede Flaute unzulässig. Meine Herren, ich habe die Nase voll von dieser allzusehr in die Länge gezogenen Schaustellung. Was meinen Sie, sollten wir uns nicht in den Zelten ein Stündchen aufs Ohr legen und Jusgor bitten, an unserer Stelle zu wachen? Er hat ja schon ein Nickerchen gemacht.“ „Ihre Unterstellungen, Asquith…“ „Meine Herren! Jetzt fängt es auch noch zu regnen an“, fiel Asquith, der einen Streit vermeiden wollte, Jusgor ins Wort. „Es regnet, meine Herren, es regnet! In die Zelte, marsch! – in die Zelte!“ Es begann tatsächlich zu regnen. Keiner von uns hätte sagen können, wann sich der Himmel mit niedrigen Wolken überzogen hatte. Große, kalte Tropfen klatschten auf das Wagendach. Wir fröstelten. Jemand schickte sich bereits zum Aussteigen an, doch da zirpte plötzlich das Funkgerät, und der Regen war vergessen. Dem Zentralen Stab war von unserem Beobachtungsposten in der Karakum mit650
geteilt worden, der fliederfarbene Kristall habe seine „Residenz“ verlassen und sich in Begleitung der ihn bewachenden Jusgoriden zur Tamaner Bucht aufgemacht. Daß er sich wirklich auf uns zubewegte, bestätigten Funksprüche anderer Beobachtungsstellen auf seinem Weg. Ja, der fliederfarbene Kristall näherte sich. Nach knapp zwanzig Minuten befand er sich bereits bei uns. Wir wunderten uns noch über die Schnelligkeit, mit der er die fast zweitausend Kilometer lange Strecke zurückgelegt hatte, da mußten wir unsere Aufmerksamkeit schon wieder der parabolischen Mulde zuwenden, in der sich neues Leben regte. Und das Weitere spielte sich in einem so atemberaubenden Tempo ab, daß Asquith sich nicht mehr über Mangel an Handlung in diesem ungewöhnlichen Schauspiel beklagen konnte. Die Jusgoriden, die den fliederfarbenen Kristall gebracht hatten, lagerten sich um ihn, und zwar so, daß sie seine Form in größerem Umfang wiederholten. Der Kristall strahlte heller als sonst, und auch die ihn umgebenden Jusgoriden leuchteten und pulsierten stärker und schillerten in allen Regenbogenfarben. Bald darauf ließ sich die ganze Gruppe in der Mulde nieder, der Kristall genau im Brennpunkt des hyperbolischen Paraboloids, und alles geriet in Bewegung. Die Wunderblume flammte 651
auf, die Jusgoriden, die das Turmgeflecht bildeten, leuchteten heller, ein Brausen erfüllte die Luft, das sogar den Lärm der mächtigen Stromaggregate übertönte, die den Scheinwerfern Energie zuführten. Die Kameraleute legten neue Filmrollen bereit und kurbelten, was das Zeug hielt. Plötzlich erloschen alle Scheinwerfer. Wir begriffen nicht gleich, was geschehen war. Erst als der Kommandeur der Truppenabteilung, die unsere Kommission sicherte, Meldung machte, ging uns ein Licht auf, und wir überlegten, was nun zu tun sei. Die Jusgoriden hatten sich bis dahin niemals in unsere Tätigkeit eingemischt. Jetzt aber hatten sie entschlossen eingegriffen und unsere Scheinwerfer ausgeschaltet. Die Scheinwerfer wurden von acht fahrbaren Kraftstationen mit Strom versorgt. Wenige Minuten, nachdem sich der fliederfarbene Kristall in dem Paraboloid niedergelassen hatte, hatten sich acht Jusgoriden an die Schalttafeln dieser Aggregate herangemacht und den Strom abgeschaltet. Die Militärtechniker ließen sich jedoch nicht ins Bockshorn jagen und legten die Hebel wieder um. Daraufhin sperrten die Jusgoriden erneut die Energiezufuhr. Dieses Katz-und-Maus-Spiel dauerte so lange, bis wir im Stabskraftwagen den Entschluß faßten, den Jusgoriden die Stirn zu bieten. Das war ein gewagter und vielleicht sogar 652
gefährlicher Schritt, wußten wir doch noch immer nicht, ob wir den Siliziumgästen, die den Menschen schon mehrmals ihre Macht bewiesen hatten, gewachsen waren. Doch der Entschluß war gefaßt, und die Schaltung wurde so abgeändert, daß die Jusgoriden die Stromzufuhr nicht mehr durch einen einfachen Hebeldruck unterbrechen konnten. Ungeduldig und aufgeregt warteten wir, was daraufhin erfolgen würde. Das Risiko, das wir eingingen, nahmen wir bewußt in Kauf. Es ging schließlich um unsere Ehre und Würde. Allzu beschämend war es, die Überlegenheit der Biosiliziten anerkennen zu müssen. In diesen Minuten war unser Zusammengehörigkeitsgefühl so stark wie nie zuvor. Dem Stab der Kommission gehörten Gelehrte der verschiedensten Anschauungen an, und dennoch wurde der Entschluß rasch und einmütig gefaßt. Nicht nachgeben! Einmal zeigen, wenn auch in einer geringfügigen Sache, daß wir die Herren des Planeten sind und ein Recht haben, wenigstens zu sehen, was die fremden Ankömmlinge hier tun. Wir wollen ihr Treiben beleuchten – und basta! Die Lektion, die uns die Biosiliziten erteilten, machte ungeheuren Eindruck auf uns. Bis auf den heutigen Tag breiten unsere Physiker ratlos die Arme aus, wenn 653
sie darauf zu sprechen kommen; ihnen sind die grenzenlosen Möglichkeiten der Abgesandten einer anderen Welt nach wie vor ein Rätsel. Offensichtlich hielten die Siliziten ihr Vorhaben durch die Lichtströme für gefährdet, die sich aus Dutzenden von Scheinwerfern über sie ergossen, und sie – krümmten die Strahlen in der Luft. Jetzt wissen wir, daß sie keine Minute verlieren durften. Ihr Experiment mußte auf Tag und Stunde genau durchgeführt werden. Sie hatten keine Zeit, unsere veränderten Schaltungen zu enträtseln, und zogen es vor, die Lichtströme zu verbiegen und abzulenken. Die Strahlen der Scheinwerfer stießen jetzt, wie vordem die Möwen, auf ein unsichtbares Hindernis, wichen ihm aus und stachen in den Himmel, wo sie die über der Sandbank hängenden Wolken erhellten. Aber auch in den Wolken bot sich uns ein unerhörtes Schauspiel. Die armen Jusgoriden rackerten sich in dieser Nacht weidlich ab. Nicht nur die Erdenmenschen behinderten ihr Werk, auch die irdische Natur stellte sich gegen sie. Doch sie nahmen den Kampf gegen beide auf und siegten. Über dem Turmgeflecht bildete sich scharfkantig, wie mit einem Messer herausgeschnitten, eine Öffnung in der Wol654
kendecke, und der Turm ragte nun mit seiner Spitze in den klaren Sternenhimmel, so daß er ungehindert nach dem richtigen Stern suchen konnte. Um diese Zeit schwoll das Brausen zu einem ohrenbetäubenden Getöse an. Bunte, schillernde Lichtwellen wurden in einer gewissen Entfernung von dem aus Jusgoriden gewirkten Turm sichtbar, und er begann, sich zu neigen. Seine Spitze vollführte kreisförmige Bewegungen, als orientiere sie sich tastend im Weltraum. Das Wolkenfenster folgte gehorsam seinen Bewegungen. Sie wurden allmählich ruhiger, langsamer und hörten zuletzt ganz auf. Nun stand der Turm still, in einem Winkel von sechzehn Grad zur Senkrechten geneigt, und ein greller Lichtstrahl ging von ihm aus. Nadelfein, ohne jede Streuung richtete er sich zuckend auf das Sternbild des Walfischs, wie wir später mit Hilfe von Präzisionsinstrumenten feststellten. Von dem phantastischen Anblick gefesselt, vermochten wir in diesem Augenblick diesen Vorgängen gar nicht so schnell zu folgen, geschweige denn, sie zu begreifen. Zum Glück kamen uns die vielen Apparate und Instrumente, die wir zur Tamaner Bucht mitgeschleppt hatten, zu Hilfe. Sie ergänzten zuverlässig unsere Sinnesorgane und unser Gedächtnis. Heute fällt es mir schon schwer, zwischen den unmittel655
baren Eindrücken jener Nacht und den Schlußfolgerungen zu unterscheiden, die wir nach einer eingehenden Analyse der unbestechlichen Aufzeichnungen aller dieser verschiedenartigen Geräte zogen. Sobald der Turm die erforderliche Richtung eingenommen hatte, hob in seinem Mittelpunkt, über der parabolischen Mulde, ein melodischer Reigen an, der alles übertraf, was wir am Vorabend gesehen hatten. Jetzt wurde uns endgültig klar, daß der fliederfarbene Kristall das Herz und die Seele dieses zauberhaften Tanzes war. Alles scharte sich um ihn, alles ordnete sich von selbst seinen Impulsen unter, und Dutzende von Jusgoriden, die nun in verschiedenen Farben leuchteten, zeichneten ihre verschlungenen Schnörkel im Raum, hielten eine Weile still und wirbelten dann aufs neue in rhythmischen, und wie uns schien, sehr sinnvollen Pirouetten durcheinander. Das ganze Turmgerüst vibrierte, leuchtete und strebte mit aller Kraft nach oben, offenbar dorthin, wo, Millionen Kilometer von der Erde entfernt, der heimatliche Stern funkelte. Und dann… Was geschah dann? Genau kann ich es nicht beschreiben. Ich erinnere mich nur, daß die von den Jusgoriden ohne Unterlaß getanzte Sinfonie den in den Kosmos gerichteten Licht656
strahl hinaufraste. Dann ein Wellenschlag, ein Windstoß, ein triumphaler Schlußakkord – und alles verblaßte. Wie läppisch wirkten jetzt die wieder geradeaus gerichteten Lichtgarben unserer Scheinwerfer! Plötzlich erblickten wir das von ihnen erhellte Paraboloid, das mit leblosen Jusgoriden gefüllt war. Die strahlende Raumblume und das phantastische Turmgeflecht waren verschwunden. Die Jusgoriden lagen, nachdem sie alle ihre Energie verbraucht hatten, unbeweglich in der riesigen Schale. Der Morgen graute. Das Licht der jetzt überflüssigen Scheinwerfer wurde fahl, aber in der allgemeinen Verwirrung dachte niemand daran, den Befehl zum Ausschalten zu geben. Die Rodbariden, die am vergangenen Abend die prachtvolle Mulde ausgehoben hatten und von uns völlig vergessen worden waren, wälzten sich von irgendwoher wieder auf die Sandbank. Sie krochen langsam und verrichteten diesmal mit gewohntem Fleiß das traurige Geschäft, das riesige Paraboloid, in dem randvoll die Jusgoriden lagen, mit der dunklen glasartigen Masse, die sie ausschieden, aufzufüllen und einzuebnen. Danach bestreuten die ordnungsliebenden Rodbariden das Ganze mit Seesand. Als sie damit fertig waren, erschien eine 657
neue Gruppe Jusgoriden und trug ihre Siliziumbauarbeiter in die Karakum. Auf der sandigen Landzunge, die weit ins Meer vorsprang, war alles wieder sauber und still wie am Morgen zuvor. Im goldenen Glanz der aufgehenden Sonne schlugen die glasklaren Wellen träge an den Strand, schäumten auf und flossen gelassen wieder zurück, um ihr jahrtausendealtes gleichförmiges Spiel endlos zu wiederholen. Als wäre nichts gewesen, saßen die schreilustigen Möwen auf ihren Felsen, flogen übers Meer und tauchten nach Fischen, ohne ihre am Vortag elend umgekommenen Artgefährten auch nur zu vermissen. Somit hatten die Biosiliziten das erste Signal in ihre Heimat geschickt. Was sie der unendlich fernen, uns unerreichbaren Welt mitgeteilt hatten, wußten wir natürlich nicht. Bald wurde uns indessen klar, daß sie ihren Auftraggebern nicht nur Informationen gesandt, sondern von ihnen auch Anweisungen für ihre weitere Tätigkeit erhalten hatten. Von der Tamaner Bucht kehrte ich einen Tag nach Asquith in die Hauptstadt seines Landes zurück. Sobald ich ins Vereinigte Institut kam, wurde mir mitgeteilt, er wünsche mich zu sprechen. 658
Asquith befand sich in einer merkwürdigen Stimmung. Eine heitere Wut beherrschte ihn. Als ich sein Arbeitszimmer betrat, starrte er mich an, als sähe er mich zum erstenmal, und stieß hervor: „Es ist schiefgegangen.“ „Was ist schiefgegangen?“ „Mein Zweikampf mit den Jusgoriden.“ So begrüßte er mich. Sein Gesicht war in den letzten Tagen eingefallen, er sah blaß und müde aus. Ich erinnerte mich seiner Drohung, den Kampf mit den Jusgoriden aufzunehmen, verstand aber zunächst nicht, was ihm widerfahren war und was er von mir wollte, bis er ein orangefarbenes Schächtelchen aus der Tasche zog und es mir hinstreckte. „Hier, nehmen Sie! Sie haben beharrlich und selbstlos danach getrachtet, ihn zu bekommen. Sie können ihn dem Siliziumkomitee übergeben. Eine Brosche für Ihre künftige Frau Gemahlin daraus machen zu lassen empfehle ich Ihnen nicht. Die Jusgoriden würden sie ihr wegnehmen. Übrigens sind sie machtlos, wenn der Kristall beispielsweise in der geballten Faust liegt. Wissen Sie noch, wie geschickt ihn Direktor Jongel seinerzeit packte?“ „Und ob! Diese Eigenschaft machten auch Sie sich zunutze, als Sie die Rodbariden auf dem Versuchsgelände neckten, 659
und nachher, als Sie sie in Ihren geheimen Gehegen dressierten.“ „Aber natürlich! Ich bin überzeugt, daß ihre Schöpfer, die Lebewesen einer uns fernen Welt, deren Vernunft zweifellos hoch entwickelt ist, das Siliziumsystem ihrer Kundschafter mit durchaus humanen Eigenschaften ausgestattet haben.“ Asquiths Anwendung des Begriffs „human“ behagte mir nicht, doch ich mußte ihm insofern recht geben, als die Siliziten aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich keinem Lebewesen Schaden zufügen durften. Daher sagte ich: „Damit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Professor. Das den fliederfarbenen Kristallen eingegebene Programm schreibt den Jusgoriden strengstens vor, die Lebewesen des von ihnen zu erforschenden Planeten unter allen Umständen zu schonen. Sie konnten den Kristall weder Dagir noch Jongel wegnehmen, und sie haben noch keinem Lebewesen auf der Erde ein Leid angetan.“ „Sie brauchen also keine Angst zu haben, nehmen Sie!“ Ich konnte es immer noch nicht fassen. Lag in der grellfarbigen Schachtel, die mir Asquith hinstreckte, wirklich der fliederfarbene Kristall? „Ist das Ihr Ernst?“ 660
„Hier, nehmen Sie! Zum Teufel, was zaudern Sie noch? Nehmen Sie ihn, sonst könnte ich es mir wieder anders überlegen.“ Ich nahm die Schachtel an mich. „Lassen Sie sich ja nicht einfallen, die Siliziumhülle abzunehmen! Die Jusgoriden würden in wenigen Minuten hier sein und alle Fensterscheiben einschlagen. Vernunftbegabte Wesen! Elende Schurken sind sie, weiter nichts.“ „Erzählen Sie zusammenhängend, was geschehen ist.“ Asquith reichte mir einige Telegramme. Ich durchflog sie, und mir wurde klar, warum er so wütend auf die Jusgoriden war. Nachdem sie die Verbindung mit ihrer Welt hergestellt und offensichtlich entsprechende Anweisungen erhalten hatten, waren sie an alle Orte geeilt, wo Rodbariden zum Nutzen der Menschen arbeiteten, und hatten sie schnellstens fortgetragen. Im Laufe des einen Tages, der nach der Absendung des ersten Signals verstrichen war, hatten sie den ganzen Erdball umflogen und überall das Siliziumplasma durch bloße Berührung seiner Aktivität beraubt. Das Plasma verkieselte sofort, es verlor seine erstaunlichen und gefährlichen Eigenschaften.
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„Ich verkaufe die ,Villa Benyus’. Kennen Sie zufällig jemand, der sie erwerben möchte?“ „Ist Ihre Begeisterung für die Tropen verflogen?“ „Schlimmer: Ich muß meine Schulden begleichen.“ Erst jetzt dachte ich an die finanzielle Seite dieser ganzen Angelegenheit und begriff endlich, daß Asquith, der davon geträumt hatte, mit Hilfe der Rodbariden die seltensten Metalle zu fördern und dadurch Geld und Macht zu gewinnen, wahrscheinlich bankrott war. In diesem Augenblick tat er mir sogar leid. „Sie sitzen gehörig in der Klemme?“ „Das ist noch milde ausgedrückt. Vor einer Woche glaubte ich schon, dem Ziel meiner Wünsche nahe zu sein. Zwei Tage vor dem Abflug zur Tamaner Bucht legte ich mein ganzes Vermögen bis auf den letzten Groschen in Aktien der ,Lux-Metall’ an. Und jetzt…“ Er zog einen Packen Papier aus dem Schreibtisch und fuchtelte damit in der Luft. „Jetzt sind sie keinen roten Heller mehr wert. Die ‚Lux-Metall’ ist total pleite und hat eine Menge anderer Firmen mit in den Abgrund gerissen. Die Vorräte an bereits gefördertem Metall decken nur einen winzigen Bruchteil der Investitionskosten, und die Jusgoriden haben jede weitere Produktion vereitelt. Ja, allen Ern662
stes, die ‚Villa Benyus’ wird verkauft. Denken Sie daran, falls Ihnen ein Interessent über den Weg laufen sollte.“ Asquith stand auf und ging zum Fenster, von wo aus man das Versuchsgelände sah. Die Rodbariden, die so lange in einer Reihe gehockt hatten, waren verschwunden. Nur der Kran mit dem Manipulator, mittels dessen Asquith den kybernetischen Siliziumgeschöpfen so geschickt den ersten Zylinder Germanium entwendet hatte, stand einsam und verlassen da. „Aus der Traum!“ sagte Asquith nachdenklich, ohne sich umzudrehen. „Alle Mühe war umsonst. Wie sagt doch der Dichter? ‚Geh dem Regenbogen entgegen, so lange du willst, nie wirst du sein buntes Gewölbe durchschreiten!’“ „Vielleicht war das nicht der richtige Weg, Professor“, versuchte ich ihn zu trösten, „und Sie sollten einen anderen wählen.“ Asquith drehte sich jäh um. „Wer kann denn sagen, welches der richtige Weg ist? Die Menschen tappen ja immer noch im dunkeln. Auch die Biosiliziten, richtiger gesagt, diejenigen, die sie geschickt haben, tappen im dunkeln. Davon bin ich überzeugt. Uns hier kommt es so vor, als wären sie unheimlich mächtig und weise, aber bei sich zu Hause suchen sie auch und stolpern dabei über Hinder663
nisse; das aber heißt – sie leben. Der richtige Weg! Es ist langweilig, den richtigen Weg zu gehen.“ „Dann klagen Sie nicht über das Verlorene!“ „Ich klage ja nicht. Ich bin niemals geizig oder verschwenderisch gewesen. Geiz und Verschwendungssucht laufen auf das gleiche hinaus: Beide machen den Menschen arm.“ Der Fernsprecher klingelte. Nachdem Asquith vernommen hatte, was ihm Dr. Duviézard sagte, lebte er sichtlich auf. „Alexej Nikolajewitsch, es hat angefangen!“ „Was hat angefangen?’“ „In der Karakum haben die Siliziten etwas Neues ausgeheckt. Wir müssen unbedingt sofort hinfliegen. Großartig, ein neuer Akt des Schauspiels beginnt. Fahren wir in die Stadt, wir müssen uns schnellstens versammeln.“ „Und die ‚Lux-Metall’?“ „Zum Teufel mit der ‚Lux-Metall’! Die wird auch ohne mich liquidiert.“
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Der Flug ins All Die letzte Wegstrecke zur „Residenz“ des fliederfarbenen Kristalls beschlossen wir in einem Geländewagen zurückzulegen. Einen Hubschrauber zu benutzen wagten wir nicht, weil wir befürchteten, wie die Möwen auf ein von den Siliziten errichtetes unsichtbares Hindernis zu stoßen. Zum erstenmal in meinem Leben durchquerte ich eine Wüste, noch dazu eine der größten der Welt. Den ganzen Tag fuhren wir langsam über eine sacht ansteigende Hochebene, die mit kleinen, fast schwarzen, in der Sonne glänzenden Steinen besät war. Gegen Abend rückte der Horizont, der uns immer so nahe erschienen war, plötzlich in weite, purpurne Ferne, und unserm Blick eröffneten sich unendliche, scheinbar allen Lebens bare Räume. Links hinter uns blieben, im rasch dunkler werdenden Dunst kaum noch sichtbar, Felsen zurück. Zu unseren Füßen türmten sich verwitterte Steine zu Haufen. Zur rechten Hand aber, im Norden, erstreckte sich ein unermeßliches Sandmeer. Dutzende von Kilometern zogen sich seine Wellen in ebenmäßigen Reihen hin, reglos und tot, als wären sie in Bann geschlagen von einem bösen, launischen Willen. Frühmorgens erreichten die Geländewagen, nachdem sie sich über steile Sichel665
dünen hinweggequält hatten, endlich eine Anhöhe, von der aus das neue Bauwerk unserer fleißigen, nimmermüden kosmischen Gäste gut zu sehen war. Sie hatten die Karakum nicht zufällig ausgewählt. Es ist die jüngste Wüste in der Geschichte unsres Planeten. Ihre Bodenzusammensetzung schien dem Geschmack der Biosiliziten entgegenzukommen, vor allem deshalb, weil sie außerordentlich verschiedenartig ist. Das Gestein ist noch nicht gänzlich verwittert, der Sand erst teilweise verweht. Er enthält einzelne eckige Steinchen, als wäre der Granit erst vor kurzem (in geologischen Zeiträumen gemessen) zermahlen und ausgewaschen worden. Feldspat gibt es in allen Schattierungen, rosaroten, gelblichen und olivgrünen. Überall liegen Glimmerplättchen, Quarzkörnchen, winzige Granat- und Turmalinsplitter verstreut. Und noch viel mehr kann man im Sand der Karakum finden, wenn man ihn gründlich durchsucht. Über vierzig verschiedene Mineralien sind hier zerkleinert, vermischt und aufgeschüttet in Dünenketten, die zuweilen eine Höhe von siebzig, hundert, ja hundertzwanzig Metern erreichen. Fürwahr, eine üppige Weide für die Rodbariden, ein unerschöpfliches Arsenal für ihren gigantischen Bau! Wir schlugen unser Lager auf einer sogenannten Pfanne – einer verkrusteten 666
kleinen Salztonebene in einer flachen Mulde – ganz in der Nähe dieses Baus auf und begannen von dieser natürlichen Plattform aus, auf der Hubschrauber landen konnten, unsere Beobachtungen. Ob uns die silizitischen Bauarbeiter noch näher heranlassen würden, wußten wir nicht. Deshalb begnügten wir uns für den Anfang damit, sie durch Feldstecher zu beobachten. Jusgor entdeckte als erster den fliederfarbenen Kristall. Wie in der Nacht, als die Siliziten das erste Signal aussandten, schwebte er, von Jusgoriden umgeben, frei in der Luft. Von Zeit zu Zeit schossen aus ihm nadelfeine, pfeilgerade Strahlen in die Richtung des Bauwerks. Wo diese grellblitzenden Lichtbündel aufprallten, werkten die Rodbariden mit verdoppeltem Eifer. Es sah ganz so aus, als gebe der fliederfarbene Kristall Weisungen und leite überhaupt die ganze Arbeit. Das wurde zur Gewißheit, als wir feststellten, daß die Rodbariden jedesmal, wenn der Kristall weniger intensiv strahlte, ihre Bewegungen verlangsamten, und wenn er besonders hell aufblitzte, emsiger schafften. Gearbeitet wurde Tag und Nacht ohne Unterlaß. Was hier entstand, blieb uns noch unverständlich. Das Bauwerk ähnelte dem, das Ritams „Schildkröte“ in den Propyläen errichtet hatte, nur war es unvergleichlich großartiger als jene erste Probe. 667
Am Tag unserer Ankunft erhob sich der Bau schon ungefähr zweihundertvierzig Meter über der ebenen Plattform, die von den Rodbariden auf dem Grund einer natürlichen Grube hergerichtet worden war. Wir organisierten rasch einen Beobachtungsstand, den wir mit allem Notwendigen ausstatteten. Auf der von der Natur selbst geschaffenen Plattform unseres Lagers, die eben und glatt war wie ein Tisch, landeten alsbald Hubschrauber. Sie unterhielten eine regelmäßige Verbindung mit den Städten Aschchabad und Tschardshou. Hier gedachten wir uns für lange Zeit festzusetzen, um die Siliziten keinen Augenblick aus den Augen zu lassen und ihre für uns neue Tätigkeit eingehend zu studieren. Gleich am ersten Tag gingen Jusgor und ich näher zur Baustelle hin. Wir wollten uns ansehen, was dort geschah. Diesen Fußmarsch hielten wir nicht für allzu riskant, denn wir hatten uns schon hinreichend davon überzeugt, daß die Siliziumgesandten des Weltalls keine bösen Absichten hegten. Trotzdem waren wir auf unserer Hut. Wir wollten nicht, daß es uns wie den Möwen in der Tamaner Bucht erginge. Von einer Sicheldüne kletterten wir zur andern, um möglichst gut sehen zu können, und hatten uns nach einer Stunde dem Bau so weit genähert, daß wir schon 668
Einzelheiten unterscheiden konnten. Nachdem wir noch zwei Dünenketten überstiegen hatten, sahen wir ziemlich genau, wie die Rodbariden, von denen sich einige ganz in unserer Nähe befanden, zu Werke gingen. „Ich möchte wissen, Aljoscha, ob die Rodbariden bei sich zu Hause gelernt haben, so flink im Sand zu verschwinden, oder ob sie es den rundköpfigen Schuppeneidechsen abgeguckt haben?“ Obwohl ich die Fauna erst jetzt kennenlernte, hatte ich doch schon gesehen, wie diese Eidechsen, die winzigen Hunden mit Ringelschwänzen ähnelten, auf der vom Wind leicht genarbten, nackten Sandfläche spurlos verschwanden. So ein Tier hockt friedlich auf einer Düne, aber man braucht es nur zu erschrecken, da zittert es schon am ganzen Körper und verbirgt sich flugs im Boden. Die Rodbariden reagierten genauso. Als wir ihnen zu nahe kamen, vibrierten sie und gruben sich blitzschnell in den Sand ein. Das Verfahren war genau dasselbe wie bei den Eidechsen, die Gründe dafür unterschieden sich allerdings. Die Rodbariden hatten vor nichts und niemand Angst. Sie setzten lediglich ihre gewohnte Tätigkeit fort und suchten vermutlich in der Tiefe der Dünen nach etwas, was sie für ihr immer höher aufragendes Bauwerk besonders nötig brauchten. 669
„Was meinen Sie, Jusgor, wozu haben sie das alles ausgeheckt?“ „Sie wollen nach Hause und haben es mächtig eilig. Sie fürchten den günstigsten Zeitpunkt zu verpassen. Offenbar können sie die Rückreise nur bei einer bestimmten Konstellation der Erde zu ihrem Stern antreten.“ „Da haben Sie sicher recht. Es sieht ganz so aus, als ob sie diesen gigantischen Turm errichten, um damit zum Sternbild des Walfischs zu fliegen.“ Jusgor nickte, und wir kehrten, ohne uns der Baustelle noch mehr zu nähern, weil es uns zu gewagt erschien, ins Lager zurück. Dort war inzwischen alles bestens für Arbeit und Erholung hergerichtet. Wie ich bereits erwähnte, kümmerten sich die Biosiliziten anscheinend nicht um unsere ziemlich zudringliche Aufmerksamkeit. Doch am fünften Tag gingen die gutnachbarlichen Beziehungen plötzlich in die Brüche und… Aber ich will der Reihe nach erzählen. Auf der Beobachtungsstelle in der Karakum wurden die Gelehrten ebenso wie seinerzeit auf dem Versuchsgelände bei Lonar zum ununterbrochenen Tag- und Nachtdienst eingeteilt. Wir verfügten über gut funktionierende Verbindungen, über alle erforderlichen Instrumente, Apparate und Geräte sowie über die verschiedensten 670
Transportmittel. Kurzum, wir waren „bis an die Zähne bewaffnet“. Die Gelehrten konnten sich bei ihren Beobachtungen auf alles stützen, was Wissenschaft und Technik nach dem neuesten Stand zu bieten vermochten. In der fraglichen Nacht war es so kalt, daß wir uns beinahe nach der Hitze zurücksehnten, die uns tagsüber schwer zugesetzt hatte. In den Zelten und Planwagen schalteten wir die von unseren Stromaggregaten gespeisten elektrischen Öfen ein, und fast alle tranken heißen, grünen Tee. Keiner schlief. Die auffallende Geschäftigkeit der Biosiliziten, die sich noch mehr sputeten als sonst, hielt uns wach. Der in der Nacht hell funkelnde Turm erreichte unserer Schätzung nach schon eine Höhe von dreihundert Metern. Wie aus leuchtendem Marmor gemeißelt, ragte er jetzt zum Himmel empor, umkreist von Hunderten von Jusgoriden. Sie flogen unaufhörlich darauf zu und nach allen Seiten wieder fort, worauf sie hinterm Horizont verschwanden. Der fliederfarbene Kristall pulsierte intensiver denn je, die Arbeit ging flink und glatt vonstatten, das Pfeifen und Heulen verstärkte sich dermaßen, daß wir es sogar auf unserer Beobachtungsstelle deutlich vernahmen. Stündlich berichteten wir die Beobachtungsergebnisse durch Funk nach Asch671
chabad. Von dort flogen sie weiter durch den Äther, nach Moskau, zum Zentralen Stab der Vereinten Nationen und zum Vereinigten Siliziuminstitut. Die Funkverbindung klappte wie immer vorzüglich. Doch gegen acht Uhr abends wurden die Funker nervös. Atmosphärische Störungen traten auf, und manchmal riß die Verbindung auf ein, zwei Minuten völlig ab. Um neun Uhr abends wurde uns aus Aschchabad mitgeteilt, man sei dort bestürzt über die Handlungsweise der Siliziten; sie hätten alle drei Hubschrauber, die auf dem Weg zu uns waren, zur Rückkehr gezwungen. Wir zerbrachen uns noch die Köpfe, wie sie dieses Kunststück wohl fertiggebracht hatten, da erwartete uns schon eine neue Überraschung. Gegen zehn Uhr abends wurde die Pfanne, auf der sich unser Lager befand, von Jusgoriden umzingelt. Sie hingen in der Luft wie ein Spitzengeflecht, das uns ringsum einhüllte. Zur gleichen Zeit rückten von allen Ecken und Enden der Wüste Rodbariden gegen uns vor. Mit Erstaunen sahen wir, wie gewaltig sie sich im Sand der Karakum vermehrt hatten. Sie krochen aus den Dünen, verließen den Bauplatz und griffen unsere Beobachtungsstelle von allen Seiten an. Um ihren Aufmarsch zu beschleunigen, packten die Jusgoriden vie672
le von ihnen und trugen sie rasch durch die Luft zur Pfanne hin. In knapp fünf Minuten schrieben wir eine Sondermeldung und befahlen den Funkern, sie unverzüglich an den Stab zu morsen, um ihn über das Vorgehen der Siliziten ins Bild zu setzen. Aber es war bereits zu spät. Die Sender arbeiteten nicht mehr. Der Jusgoridenvorhang rings um uns verhinderte jede Verbindung mit der Außenwelt. Die Rodbariden aber rückten weiter vor. Sobald sie den Rand der festen Tonplattform erreicht hatten, bohrten sie sich in den Grund hinein und krochen unter die Pfanne. Schon kribbelten Hunderte von ihnen unter unseren Füßen, aber immer noch eilten ihnen neue Hunderte aus der Wüste zu Hilfe. Es sah so aus, als hätten sich die Dünen in unzählige laut pfeifende und matt leuchtende abgeplattete Kugeln verwandelt. Die Rodbariden, die sich unter uns befanden, verloren keine Zeit. Nach knapp einer Stunde krochen sie wieder unter der Pfanne hervor, die am Rand bereits von einer harten, glasartigen Masse eingefaßt war. Wie sich später herausstellte, war das der Außenring einer großen, gerippten Plattform, mit der die Rodbariden die von uns besetzte Pfanne untermauert hatten. Sobald sie mit ihrer Arbeit fertig waren, gruppierten sich die Jusgoriden um, verlie673
ßen ihre Plätze in dem Rundvorhang und ordneten sich um den Außenring der Plattform an. Im nächsten Augenblick spürten wir einige leichte Stöße, wie bei einem Erdbeben von geringer Stärke. Soweit wir das beurteilen konnten, war kein einziger Jusgorid auf der Baustelle zurückgeblieben. Alle hatten sich um unsere Pfanne versammelt, und sie begann sich, wie seinerzeit der fahrbare Tresor Chansnepps in Amsterdam, vom Boden abzuheben. „Wir fliegen!“ schrie Asquith. „Man bittet uns höflich, aber nachdrücklich, uns wegzuscheren.“ Die riesige Pfanne mit allem, was darauf war – Zelten, Planwagen, Hubschraubern, Stromaggregaten und Geräten aller Art –, erhob sich in die Luft. Wir konnten absolut nichts dagegen tun. Übrigens legte sich die erste Verwirrung sehr rasch. Auch Furcht empfanden wir nicht. Wir hatten uns schon bis zu einem gewissen Grade an die Streiche der Biosiliziten gewöhnt und vertrauten auf ihre Gutartigkeit und Vernunft. Allerdings ärgerte es uns, daß sie uns so mir nichts, dir nichts umsiedelten. Wohin? Das wußten wir natürlich nicht. Die Pfanne kam nur langsam vom Fleck. Anscheinend war es auch für die Siliziten keine leichte Sache, eine so große und schwere Masse durch die Luft zu beför674
dern. Vielleicht aber achteten sie nur darauf, daß wir keinen Schaden nahmen. Der Flug ging in südwestlicher Richtung. Wir rätselten noch herum, ob sie uns schnurstracks nach Aschchabad bringen oder weiter westlich absetzen würden, da begannen wir bereits zu sinken. Sacht absteigend durchflogen wir noch etwa fünfhundert Meter und landeten dann mit einem leichten Stoß auf einem Felsplateau. Bevor wir noch so richtig zu uns kamen, waren die Jusgoriden schon verschwunden. Sie hatten es offenbar eilig. Nachdem sie uns ein gutes Stück von ihrer Baustelle weggebracht hatten, ohne uns der Möglichkeit zu berauben, sie aus der Ferne zu beobachten, waren sie sofort zum fliederfarbenen Kristall zurückgekehrt. Nun setzten wir alle unsere Hoffnungen auf die optischen Geräte. Feldstecher, Zielund Scherenfernrohre – alles wurde eingesetzt, aber es reichte nicht aus. Der Reihe nach hockten wir uns bald vor das eine, bald vor das andre Gerät. Alle wetteiferten, möglichst viel von dem zu sehen, was die Biosiliziten taten. Zwei Filmkameras mit Teleobjektiven machten pausenlos Aufnahmen, und da die Siliziten in dieser Nacht besonders hell leuchteten, erhielten wir ausgezeichnete Bilder. Wir betrachteten sie nachher viele Male, und ich kann heute ziemlich genau sagen, was auf dem 675
Bau vor sich ging. Nachdem uns die Jusgoriden, besorgt um unsere Sicherheit, weiter von ihrem Turm weggeschleppt hatten, bildeten sie sofort einen großen Rundvorhang um den ganzen Bau. Der fliederfarbene Kristall pulsierte so stark, daß wir sogar von unserer neuen Beobachtungsstelle aus sehen konnten, wie ständig nadelfeine Strahlen von ihm ausgingen. Der ganze Turm strebte zum Sternenhimmel empor, reckte sich gleichsam und sprühte Funken wie nie zuvor. Wir begriffen, daß er sich in wenigen Minuten vom Boden abheben würde. Aber zugleich tauchten Zweifel auf: Wird dieser Flug glücken? Sogar uns Außenseitern, die das Vorhaben der Siliziten noch nicht recht einzuschätzen wußten, fiel auf, daß der Turm nicht symmetrisch, daß er irgendwie unvollendet war. Dazu kam noch ein anderer Umstand. Die Jusgoriden hatten offensichtlich alle verfügbaren Informationen gesammelt, fuhren aber dennoch fort, hartnäckig nach etwas zu suchen, was sie anscheinend dringend brauchten. Wie wir später erfuhren, drangen sie bis ins Eis der Antarktis und Grönlands vor, tauchten in die Tiefen der Ozeane und in die Krater der Vulkane hinab, durchkämmten die Taiga und den Dschungel, durchforschten Wüsten und Städte. Besonders lange verweilten sie vor den Schaufenstern der Juwelie676
re und bei den Tresoren, in denen Edelsteine aufbewahrt wurden. Wir bangten mit ihnen: Wird ihre Suche von Erfolg gekrönt sein? Werden sie ihre Mission erfüllen und die ferne Sternenwelt, die sie ausgeschickt hat, wieder erreichen können? Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir in die gefahrlose Zone evakuiert worden waren, hob sich die Rakete, als die sich der Turm erwies, langsam vom Boden ab und neigte sich leicht in Richtung der Erdumdrehung. Doch sie war kaum einen Kilometer geflogen, da legte sich das gigantische, höchst komplizierte, aber nicht völlig symmetrische Raumschiff auf die Seite und stürzte, eine riesige Sandwolke aufwirbelnd, zu Boden. Auch über unsere Pfanne ergoß sich ein Sandregen. Als die Sicht wieder besser wurde, bemerkten wir, daß die Biosiliziten, als wären sie durch den Mißerfolg entmutigt, wie erstarrt dort geblieben waren, wo sie sich zur Zeit des Starts befunden hatten. Und fast auf der Erdoberfläche leuchtete der fliederfarbene Kristall, doch weit schwächer als früher. Einsam und allein! Um das Aktionsprogramm der Siliziten vollwertig zu verwirklichen, hatte etwas gefehlt – der zweite Träger dieses Programms, der zweite fliederfarbene Kristall. Alle werden sich gewiß noch erinnern, wie die Internationale Konferenz über Biosilizi677
tenprobleme in Moskau verlief. Die Presse berichtete ausführlich darüber, die Reden aller Teilnehmer wurden durch Rundfunk und Fernsehen verbreitet. Das war eine wahrhaft weltweite Beratung von Gelehrten, Regierungen und gesellschaftlichen Organisationen. Auf der Tagesordnung stand praktisch nur die eine Frage: den fliederfarbenen Kristall an die Biosiliziten ausliefern oder nicht? Der zweite Kristall befand sich zu dieser Zeit in der Obhut des Siliziumkomitees. Nachdem er mir von Professor Asquith anvertraut worden war, hatte ich ihn unverzüglich dem Komitee übergeben. Es waren Tage einer unerhörten Begeisterung und des Triumphes menschlichen Willens. Alle zollten den großen Möglichkeiten der Biosiliziten ihren Tribut, denn alle erkannten, daß die vernunftbegabten Lebewesen, die sie als Kundschafter ausgeschickt hatten, um unsern Planeten zu erforschen, eine sehr hohe Entwicklungsstufe der Zivilisation erreicht haben mußten. Doch alle waren sich auch darüber im klaren, daß das grandiose Experiment unserer kosmischen Freunde nur zu einem guten Ende geführt werden konnte, wenn menschlicher Verstand, Forschungsgeist und sozialer Fortschritt bei diesem Beginnen ihre hilfreiche Hand boten. 678
Infolge der mißglückten Landung der Abgesandten aus dem Kosmos hatte das gut ausgedachte System nicht funktionieren können. Es war den Menschen vorbehalten geblieben, das Plasma und die Keime zu beleben sowie die Entstehung der Jusgoriden zu stimulieren. Sie hatten sich in den Besitz des fliederfarbenen Kristalls gesetzt und ihn mit einer Schutzhülle gegen die Feldwirkung umgeben. Kurzum, auch die Menschen erwiesen sich als vernünftige Geschöpfe. Hätte es auf der Erde keine Menschen mit einem genügend hohen Entwicklungsstand gegeben, so wäre es der fremden Vernunft nie und nimmer gelungen, ihre Absichten zu verwirklichen. Nun standen die Menschen vor der neuen, im höchsten Grade fesselnden Aufgabe, mit dieser Vernunft, welches auch ihre Daseinsform sein mochte, Kontakt aufzunehmen. Ein Beweis größten Vertrauens zu dieser Vernunft war der Beschluß der Weltkonferenz, den Biosiliziten den fliederfarbenen Kristall auszuliefern. Von Moskau flogen wir in die Karakum zurück. Als wir die Siliziumhülle vom fliederfarbenen Kristall abnahmen, wurde dieser sofort von Jusgoriden fortgetragen, und die Bautätigkeit begann von neuem. 679
Jetzt wurden die Arbeiten bereits von beiden Kristallen geleitet. Auf den Flug ins All bereiteten sich nicht nur die Siliziten, sondern auch die Menschen vor. Auf der Moskauer Konferenz war beschlossen worden, in der Siliziumrakete eine mit wissenschaftlichen Instrumenten, Funk- und Fernsehgeräten ausgestattete Kapsel mitzuschicken. Auch Tiere sollten sich darin befinden, vor allem aber allseitige Informationen, aus denen man ein Bild über den Entwicklungsstand der Menschheit gewinnen konnte. Offen blieb vorläufig die Frage, wie sich die Jusgoriden dazu stellen würden. Der Bau der neuen Siliziumrakete erfolgte in rasendem Tempo. Die zwei fliederfarbenen Kristalle teilten sich in die Leitung, die nun reibungslos und äußerst präzis vor sich ging. Ihre Strahlen kreuzten sich in der Luft, und an den Schnittpunkten entstanden immer neue Sektoren des Raumschiffes, dessen strenge Konturen sich bald klar abzeichneten. Die Montage der Kapsel blieb hinter dem Bau der Rakete nicht zurück. Als wir die Informationen über die Erde hineinpackten, überlegten wir uns peinlich genau jede Einzelheit. Dabei ging es nicht ohne komische Zwischenfälle ab. Professor Asquith, der bei der endgültigen Füllung der Kapsel anwesend war, zählte vor den 680
Kommissionsmitgliedern überraschend seine Verdienste um die Erforschung des Siliziumproblems auf und bestand mit gespieltem Ernst darauf, eine weitere Probe der irdischen Zivilisation hineinzulegen. Es war eine grüne Dollarnote mit der schwungvollen Aufschrift: „Geld regiert die Welt!“ Doch dann kam der Tag, an dem Schluß war mit Asquiths Späßen und mit den Disputen darüber, was zu schicken sich lohnte und was nicht, wenn man sich von ethischen Grundsätzen leiten ließ. Nun galt es, die Hauptfrage zu lösen: Wie bringen wir die Kapsel in die Siliziumrakete? Die Jusgoriden ließen uns ganz nahe an die Baustelle herankommen. Aber in einem Umkreis von fünfzehn Metern hatten sie ein undurchdringliches Kraftfeld geschaffen. Alle Versuche, eine Attrappe der Kapsel bis unmittelbar an die Rakete heranzubringen, endeten mit einem Mißerfolg. Demnach bestand auch keinerlei Aussicht, die Kapsel selbst mit eigenen Kräften und Mitteln durchzuschleusen. Ärgerlich! Es schien beinahe, als wären die Biosiliziten an den Überraschungen, die wir für sie bereithielten, nicht interessiert, als dächten sie gar nicht daran, die irdischen Exponate mitzunehmen, als begnügten sie sich vollauf mit den vielen Informationen, die sie in sich aufgenommen hatten, als sie bis 681
in die letzten Winkel des Erdballs eingedrungen waren. Die Lösung kam völlig unerwartet. Als die Rakete eine Höhe von zweihundertvierzig Metern erreicht hatte, bemächtigten sich die Jusgoriden plötzlich unserer Kapsel und verstauten sie im Innern des gleißenden Kolosses. Alles machte sich zum Start bereit. Wir entfernten uns, diesmal ohne Nachhilfe der Siliziten, aus der Gefahrenzone. Unsere Hauptsorge war jetzt, wie wir mit den in unserer Kapsel befindlichen Geräten Verbindung herstellen könnten, denn Radiowellen vermochten die Wände der Rakete nicht zu durchdringen. Doch da ereignete sich wieder einmal ein „Wunder“. Zwanzig Minuten vor dem Start versammelten sich einige Dutzend Jusgoriden in nächster Nähe unserer Beobachtungsstelle. Sie ordneten sich in der Luft so an, daß sie ein Oval mit einer Längsachse von ungefähr fünfzehn und einer Querachse von etwa acht Metern bildeten. Wir verstanden nicht, was das bedeuten sollte, und offen gesagt stand uns in diesem Augenblick der Sinn nicht nach dem Oval. Die Zeit für den Start rückte näher, wir aber wußten immer noch nicht, wie wir die Verbindung zu unserer Kapsel herstellen sollten. Schneller und schneller schwirrten die Biosiliziten um die Rakete. Dann trat plötz682
lich Ruhe ein. Die Rodbariden krochen eiligst nach allen Seiten auseinander und gruben sich, auffallend stark vibrierend, in die Sicheldünen ein. Die Jusgoriden verflüchtigten sich, wie von einer Explosion auseinander geschleudert, unbekannt, wohin. Zurück blieben nur diejenigen, die das Oval bildeten. Der Rundvorhang um die Rakete zuckte und sprühte, als wäre er aus den Strahlen des Polarlichts gewebt, und die Rakete verschwand. Wenige Minuten darauf wurde sie von den Beobachtungsstellen geortet, die zu dieser Zeit überall auf dem Erdball eingerichtet waren. Die Signale dieser Stellen wurden unverzüglich ins Rechenzentrum gefunkt. Die Datenverarbeitungsanlagen stellten fest, daß die Siliziumrakete den Raum mit einer derartigen Beschleunigung durchraste, daß nach allen Naturgesetzen nicht nur die Tiere, sondern auch die Geräte in unserer Kapsel unweigerlich zu Brei zermalmt werden mußten. Wenig später konnten die Beobachtungsstellen den sich rasch von der Erde entfernenden Körper nicht mehr verfolgen. Mißmutig gestanden wir uns ein, daß unser Vorhaben gescheitert war. Die zwei fliederfarbenen Kristalle waren, wie immer von einer Jusgoridenleibwache umgeben, an Ort und Stelle geblieben. Die Biosiliziten enthielten sich jedoch, soviel 683
wir sehen konnten, jeder weiteren Tätigkeit. Die Rodbariden krochen nicht aus den Sicheldünen heraus, die Jusgoriden blieben verschwunden, die Kristalle leuchteten kaum noch. Die Wüste schien völlig ausgestorben zu sein. Doch da begab sich ein neues „Wunder“. Zuerst merkten wir gar nicht, wie sich das Oval der Jusgoriden vergrößerte. Sie gruppierten sich jetzt nicht mehr auf einer Ebene, sondern auf mehreren. Zu regelmäßigen Reihen geordnet, bildeten sie ein Netz, das den Raum in der Tiefe des Ovals allmählich ausfüllte. Hinter dem ersten Netz erschien ein zweites, ein drittes. Immer mehr Hintergründe taten sich auf, so daß schließlich eine Art dreidimensionales Gitter entstand. Nach einigen Minuten wurde das Oval durchsichtig. An seinem Rand hingen in der Luft, einander gegenüber, die fliederfarbenen Kristalle. Plötzlich wurden alle Jusgoriden unsichtbar, als hätte jemand das vielschichtige Oval aus dem Raum herausgeschnitten. Man gewann den Eindruck, in diesem Teil des Raums befinde sich überhaupt nichts. Absolut nichts! Wir konnten den Blick nicht losreißen von diesem Vakuum, das uns unwiderstehlich anzog. Was ringsum geschah, bemerkten wir nicht mehr. Wie hypnotisiert starrten wir nach oben und erblickten auf einmal – eine weiße Maus. Sie schnupperte neugie684
rig, bewegte die Ohren und schnüffelte herum, schien aber keineswegs besorgt oder verängstigt zu sein. Das ganze Oval war sekundenlang mit diesem putzigen Tierchen ausgefüllt. Dann wurde die Maus kleiner, als rücke sie in die Ferne, und neben ihr erschien eine andere. Schließlich sahen wir einen ganzen Käfig voller Mäuse. Daneben tauchte ein zweiter Käfig auf. Darin saß ruhig, den Kopf bald nach der einen, bald nach der anderen Seite wendend, als lausche er, ein Hund. Ein zottiger, possierlicher Hund, mit lustigen, neugierigen Augen. „Aber das ist doch unser Schnauz!“ rief Jusgor. Tatsächlich, das war unser Hund Schnauz, den wir zusammen mit einem Dutzend anderer behaarter und gefiederter Erdentiere auf die weite Reise ins All geschickt hatten. Jetzt sahen wir schon die ganze Menagerie, an ihrer Spitze das höchstentwickelte der von uns verfrachteten Lebewesen, ein Makak. Bald konnten wir das gesamte Innere der Kapsel betrachten, die wir als Geschenk für die vernunftbegabten Wesen auf dem fernen Stern mit so großer Sorgfalt vorbereitet hatten. In dem Oval erblickten wir abwechselnd die von uns eingebauten Geräte und die augenscheinlich recht munteren Tiere. Die Bildwiedergabe aus dem Raum685
schiff war einwandfrei, ohne Verzerrungen und Störungen. Auf dem Jusgoridenoval sahen wir alles in der Kapsel farbig, räumlich und unwahrscheinlich nahe. Unsere Kameraleute hielten das Gesehene eifrig fest. Die wichtigsten Funktionen der in der Kapsel befindlichen Tiere wurden tadellos registriert. Gehirn- und Herztätigkeit, Puls, Atmung, Blutdruck, Magensaftsekretion – alles bewies einwandfrei, daß in der Siliziumrakete optimale Bedingungen für irdische Tiere und Geräte geschaffen waren. Unwillkürlich tauchte der Gedanke auf: und Menschen? Die Beobachtungen setzten keine Sekunde aus. Es war eine Zeit größter Anspannung und höchsten Elans. So vollkommen indessen auch das Nachrichtensystem der Siliziten war, allmählich begann der Informationsstrom aus dem Raumkörper zu versiegen. Kein Nachrichtensystem, auch das vollkommenste, war offenbar imstande, die unvorstellbar weite Entfernung zwischen der Erde und der Rakete einwandfrei zu überbrücken. Verzerrungen traten auf, Störungen machten sich bemerkbar. Die fliederfarbenen Kristalle leuchteten noch intensiver und durchstachen das Oval mit ihren nadelfeinen Strahlen, aber auch das half nichts mehr. Bis zum letzten Augenblick sahen wir, daß in der Kapsel alles zum besten stand und un686
sere Abgesandten sich wohl fühlten. Doch das Bild wurde zusehends dunkler und schwächer. Der Faden, der uns mit dem durch das All fliegenden Raumschiff verband, schien endgültig gerissen zu sein. Aber da wurde das Oval für einige Sekunden aufs neue erhellt. Die Kristalle hatten eine letzte Anstrengung gemacht, uns Informationen zu vermitteln. Dann versank alles im Dunkel. In diesen letzten Augenblicken sahen wir die wahrhaft erstaunliche und schlechthin unbeschreibliche Vision einer anderen, fernen, noch unerforschten, aber schönen und verlockenden Welt. Überglücklich umfaßte Jusgor meine Schultern. „Aljoscha, genau das ist es, was uns die Möglichkeit geben wird, weit über das Sonnensystem hinaus in jene Welt vorzudringen, die wir bisher für unerreichbar gehalten haben. Jahrzehnte werden die Wissenschaftler und Techniker unserer Erde brauchen, bis es ihnen gelingt, ein Raumschiff zu konstruieren, das fähig ist, in einer dem Menschen zumutbaren Zeit zu den nächsten Sternen zu fliegen, während die Siliziten…“ „Richtiger gesagt, die Lebewesen, die sie gesandt haben“, verbesserte ich ihn. „Ja, natürlich, gerade diese Lebewesen, die bereits eine uns bisher versagt geblie687
bene Vollkommenheit erreicht haben, sind heute schon imstande, ungeheure Räume zu überwinden. Ihre hurtigen Abgesandten, die Biosiliziten, haben freudig unsere Idee aufgegriffen, einen Behälter mit Tieren dorthin zu schicken, und wenn…“ „Wenn…?“ Jusgor blickte mir offen in die Augen. Prüfend und zugleich hoffend und glaubend, daß er in mir einen leidenschaftlichen Anhänger seines kühnen und begeisternden Traums finden werde. Ich verstand ihn und drückte ihm kräftig die Hand. Jetzt wußten wir beide, daß wir so lange keine Ruhe finden würden, bis der Beschluß gefaßt war, in einer von den fliederfarbenen Kristallen gesteuerten Siliziumrakete eine Kapsel mit Menschen auf den fremden Stern zu schicken. Wir wußten, daß wir in der Hoffnung leben würden, zu denjenigen zu gehören, denen beschieden war, dereinst zu den uns geistesverwandten Lebewesen zu fliegen. Wir waren bereit zum Flug ins All.
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