Der Entertainer
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 122 von Jason Dark, erschienen am 14.05.1991, Titelbild: N. Smith
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Der Entertainer
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 122 von Jason Dark, erschienen am 14.05.1991, Titelbild: N. Smith
Man blickt auf die Slums wie auf eine Krankheit, eine Zyste, einen Fluch. Denn aus diesen Gettos, wo die Häuser an Abgründen hängen, kommen die Banditen und das Böse allgemein. Kommen der Schmutz, die Ratten und die Drogenkiller... So hatte eine brasilianische Soziologin ihre Stadt Rio beschrieben. Doch der Schrecken bekam die Spitze aufgesetzt. Er war böser als alles zusammen, er war der Entertainer. Und wir sollten einen dämonischen Massenmörder jagen!
Man blickt auf die Slums mit ihrer Millionenbevölkerung wie auf eine Zyste, einen Fluch. Denn aus diesen Gettos, wo die Häuser an Abgründen hängen, kommen die Banditen und das Böse allgemein. Kommen der Schmutz, die Ratten und die Drogenkiller ... So die brasilianische Soziologin Marilena Chaui. Das alles war grauenhaft, unfaßbar, gehörte in Rio zur Achterbahn des Lebens. Doch der Schrecken bekam die Spitze aufgesetzt. Er war böser als alles zusammen, er, der Entertainer. *** Der Tag war wie so oft eine Hölle gewesen, widerlich heiß, zersetzend wie Säure, und am Abend waren die kleinen Bestien gekommen, die verfluchten Insekten. In wahren Wolken waren sie auf der Suche nach Blut aus den Sümpfen gestiegen, um die Menschen zu überfallen. Sie hatten gestochen, sie hatten getrunken, und sie waren auch durch Spray nicht aufzuhalten, das eher die Menschen selbst umbrachte als die Insekten. Es gab keinen Schutz vor ihnen. Nicht in den primitiven Hütten, nicht in den Ecken und Winkeln, nicht in den Löchern oder Gruben, wo sie die Ermordeten hineinwarfen und darauf warteten, daß sie irgendwann abgeholt würden wie Abfall. Rio war die Hölle! Die schlimmste Stadt der Erde, mit durchschnittlich fünfundsechzig Morden täglich. Die Berge der Armut, Träume aus der Schnüf fei tüte, der Glaube an die Geister und die Masken der Angst, das alles bildete ein Potential, in dem viele Schwache auf der Strecke blieben. Selbst der lethargische Mensch, der immer seine Augen verschloß, war vor einer Kugel aus den Gewehren der Todesschützen oder Drogenkiller nicht sicher. In den Armenvierteln starb in jeder Stunde ein Kind, aber wen kümmerte das? Es wurde irgendwo hingelegt, zu all den anderen Toten, die sich ansammelten. Und weil Rio so ein heißes Pflaster war, bewaffneten sich viele. Auch Pozzo trug eine Waffe bei sich. Kein Gewehr oder einen Revolver, er verließ sich auf seinen alten Baseballschläger, den er einem Ami aus dem Norden gestohlen hatte und wie seinen Augapfel hütete. Auf den Müllkippen hatte er damit geübt und Typen, die ihm zu nahe gekommen waren, in die Flucht geschlagen. Einen hatte er sogar erschlagen. Die schwüle Luft hatte am Tage schwer über der Stadt gelegen. Sie roch nach verbranntem Gummi, nach Fett, nach Kloaken jauche, Urin und
Kot. Kein Wind brachte Kühlung, und aus den Sümpfen waren schließlich die Insekten gestiegen. Pozzo war den Wolken entkommen, und er wollte das tun, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Ein Bad nehmen! Er hätte sogar zum Strand hinunter gehen können, doch den Weg wollte er sich sparen. Es gab andere Möglichkeiten, um sich etwas Kühle zu holen. Längst war es dunkel geworden, und ein Teil der Stadt, da, wo die Reichen wohnten, strahlte in einem phantastischen Glanz. Die Kette aus Lichtern umgab in breiten Kurven den Verlauf des Strands. Sie war nah und doch so unendlich weit entfernt. Fast wie der Himmel über Rio, der seine blaue Kitschfarbe angelegt hatte, wobei das Millionenheer der Sterne als kostbares Geschenk funkelte, und den Glanz weit hinaus über das Meer schob, wo er sich schließlich verlor. Dafür hatte Pozzo keinen Blick. Wer sich wie er durch die Nacht bewegte, der mußte die Augen offenhalten, denn die Gefahren lauerten überall. Und es wurde nie ruhig. Aus dem Wirrwarr der fast fünfhundert Favelas, in denen drei Millionen Arme hausten, wehten die Geräusche, als wäre ein gewaltiger Magen dabei, die Schrek-ken des vergangenen Tages zu verdauen. Hin und wieder krachten Schüsse in den Elendsvierteln. Es klang wie ferne Botschaften, und Pozzo dachte daran, daß es Leute gab, die nicht einmal schrien, wenn sie starben. Wahrscheinlich waren sie sogar froh, sterben zu können. Jetzt waren die Todeskommandos wieder unterwegs, um ihre Hinrichtungen vorzunehmen. Polizisten der Nacht angeblich, um Rio sauberer zu bekommen. Tatsächlich aber waren es brutale Killer und Mörder, die tagsüber oft genug Polizisten spielten, sich in der Nacht dann in die Grausamen verwandelten. Es war ihnen egal, wen sie erschossen. Und Kinder starben in dieser verfluchten Stadt ebenfalls oft genug unter den Kugeln der Schützen. Man zählte die Toten in den Vorstädten nicht mehr, und die Reichen in Rio schauten nicht einmal hin. Selbst in den offiziellen Karten waren die Slums nur als weiße Flecke eingezeichnet, denn man wollte von ihnen Abstand nehmen. Pozzo lief in Richtung Strand. Den Baseballschläger hielt er locker in der rechten Hand. Er war fünfundzwanzig, hatte bisher überlebt, das ließ ihn hoffen. Am vergangenen Tag hatte er nichts gegessen, das mußte sich bald ändern. Er brauchte etwas, aus diesem Grunde wollte er sich auch am Strand aufhalten, wo die Touristen sich noch hintrauten. Ein schneller Griff, ein kurzer Schlag, alles war erledigt.
Nur hundert Meter von der weltberühmten Copaca-bana entfernt tauchte er in eine Seitenstraße, wo er seine Badestelle finden wollte. Daß sie besetzt und umlagert war, ärgerte ihn. Unwillkürlich faßte er seinen Schläger fester. Die Augen nahmen einen harten Glanz an, und es störte ihn auch nicht, daß er Kinder oder Halbwüchsige von der Badestelle vertreiben mußte. Sie hatten den Gullydeckel schon angehoben. Eine viereckige Eisenplatte, unter der sich ein mit dreckigstem Wasser gefüllter Schacht verbarg, nicht mehr als eine Kloake. Darin badeten die Ärmsten der Armen, und auch Pozzo hatte keinen Cruzeiro in der Tasche, aber die Abkühlung wollte er. An vorbeifahrenden Autos störte er sich nicht. Manchmal schauten die Insassen ängstlich nach draußen, denn oft genug kam es vor, daß Wagen überfallen wurden. Räuber stellten sich auf die Straße. Wer nicht anhielt, wurde aus dem Hinterhalt beschossen, die Gesetze der Straße waren eben hart und gnadenlos. Die Kinder hatten ihn gesehen. Ein Junge sprang auf ihn zu, zog eine Grimasse und machte mit seiner Hand eine international bekannte Bewegung. Er streckte den Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe. Dabei lachte er dreckig. Federnd schlug Pozzo zu. Der Schläger knallte gegen den Kopf des Jungen. Der taumelte zurück, fiel und blieb regungslos liegen, was den anderen Kindern nicht entgangen war. Sie drehten sich um und sahen Pozzo auf sie zuschlendern. Drei standen draußen, einer steckte in der Brühe. »Haut ab!« Die Kinder starrten ihn an. Sie wollten nicht gehen. Einer hatte ein Messer. Viel zu lang und groß für ihn, mit gebogener Klinge. Ihn schickten sie vor. Er kam, schrie und stach zu. Pozzo schlug zu. Ich oder sie, dachte er. Rios Gesetz war furchtbar. Die Kinder fluchten, aber sie rannten weg, vorausgesetzt, sie konnten es noch. Der Junge mit dem Messer kroch heulend davon. Aus der Kloake stieg der letzte. Pozzo schlug diesmal nicht. Er hatte seine barmherzige Sekunde und wartete, bis der Junge aus dem Gully gekrochen war. Als er stand, trat Pozzo ihm in den Rük-ken. Der plötzliche Schwung warf den Nackten aufs Gesicht. Er schnellte sofort wieder hoch und rannte weiter, hin zu den anderen. Sie würden sich einen anderen Gully suchen oder in den düsteren Gassen der Favelas verschwinden. Es war riskant, beim Bad die Kleidung abzulegen. Pozzo ließ sie deshalb an. >Erfrischen< konnte er sich auch angezogen.
Auch seinen Schläger legte er nicht ab. Der war für ihn so etwas wie eine Lebensversicherung. Dann stieg er in die Brühe. Sie stank nicht nur, sie war auch lauwarm, doch eine Idee kälter als die Sirupluft über den Straßen. Auf der Oberfläche hatte ein Ölfilm gelegen. Was sich noch alles in der Brühe herumtrieb, darüber dachte Pozzo nicht nach. Es hatte keinen Sinn, außerdem war er resistent gewesen. Ein Europäer hätte sich nach einem Bad im Gully erst eine Infektion und dann den Tod geholt. Den Schläger hatte er um seinen Hals gehängt. Ein Lederband sorgte dafür, daß er hielt. Bis zum Kinn tauchte er ein. Die Brühe schlucken wollte selbst er nicht. Das Bad dauerte bei ihm ungefähr eine Minute. Wenn er dann hervorkroch, fühlte er sich sogar erfrischt. Bei Regen allerdings schwemmte das Wasser den Deckel in die Höhe. Dann überflutete die Brühe die Straße, und auch die anderen Gullydeckel wurden durch den Druck hochgewuchtet. Er genoß die Erfrischung. Der Schläger hing um seinem Hals. Für einen Moment schloß Pozzo die Augen. Er stellte sich vor, in einem Pool mit herrlich klarem Wasser zu sein. Der Pool gehörte zu einem Haus in den Bergen, von dem aus der einen phantastischen Blick über Rio besaß und wo die verfluchten Favelas so weit entfernt waren wie die Sterne. Die Schritte hörte er zu spät. Er war einfach zu lange unachtsam gewesen und hatte sich in seinen Träumen verloren. Als er die Augen öffnete, sah er die Beine. Sie steckten in Stiefeln, die fast bis zu den Knien reichten. Die Männer trugen Tücher vor den Gesichtern und hielten Schnellfeuergewehre in den Händen. Pozzo schloß die Augen. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, etwas zu sagen. Die drei gehörten einer Todesschwadron an. Davon gab es zahlreiche Gruppen, die sich allesamt bestimmte Namen gegeben hatten. Ein verfluchtes Erbe aus der Hauptstadt Briasilia, wo sie zuerst aufgetaucht waren. »Der Junge ist tot, Bademeister. Du hast ihn und seine Freunde verjagt. Jetzt verjagen wir dich.« Er sprach nicht, er zitterte plötzlich. Obwohl er immer damit gerechnet hatte, daß auch er einmal an der Reihe sein würde, kam es doch für ihn überraschend, und er bewegte seine Füße, als könnte er dadurch tiefer tauchen und verschwinden. Die Sekunden dehnten sich. Einer der Killer ging zur Seite und schaute über die Straße hinweg. Er rauchte dabei. Im gleichen Augenblick spürte Pozzo den Biß!
Sein Mund öffnete sich, er schrie auf, dann zerrte etwas an seinem rechten Knöchel. Panik zeichnete sein Gesicht, das noch für einen Moment auf der schmutzigen Wasserfläche schwamm, bevor seine Hände vom Rand des Gullys abrutschten, denn der Biß und der gleichzeitige Zug waren einfach zu stark. Etwas riß seine Beine auf. Blut quoll aus den langen Wunden, die sich bis zu den Oberschenkeln in die Höhe zogen. Im nächsten Augenblick war er weg. Die Killer standen da und staunten. Einerdrückte ab. Eine kurze, trockene Garbe peitschte aus dem Lauf. Kugeln peitschten in die Drecksbrühe, ließen sie spritzen, und die Stiefel der Männer bekamen ein Muster aus nassen Flecken. Pozzo aber war verschwunden. Sie konnten es nicht fassen. Aus eigener Kraft konnte es'dem Mann nicht möglich gewesen sein, sich in den Schacht zu drücken. Da steckte etwas anderes dahinter. Das Wasser >kochte<. Schaum und Blasen stiegen an die Oberfläche, als wäre es von einem gewaltigen Quirl aufgerührt worden. Noch etwas anderes drang in die Höhe. Es war dunkel, es war ebenfalls schaumig, es bildete Schlieren, und es sah aus wie Blut. Einer der Männer hockte sich nieder. Die Flamme eines Feuerzeugs warf ihren Widerschein über das Wasser, das sich tatsächlich dunkelrot gefärbt hatte. Es war Blut! Der Mann schnellte wieder hoch. Gleichzeitig tauchte das Gesicht des Opfers auf. Nur für einen Moment, der aber reichte aus, um die Killer erkennen zu lassen, daß man dieses klumpige Etwas nicht als Gesicht bezeichnen konnte. Sofort verschwand es wieder. Der Körper wurde in dem engen Schacht gedreht, eine Hand erschien wie ein bleiches Zeichen, die Finger zuckten noch, dann war es vorbei. Einer der Killer bekreuzigte sich. Die anderen beiden hatten bleiche Gesichter bekommen. Keiner wußte, was es gewesen war, aber jeder von ihnen hatte plötzlich Furcht. Sie waren zurückgetreten, und das war auch gut so, denn aus der Tiefe stieg das Grauen... *** Es sah aus wie eine Maske, die jemand mit einer grünen Farbe bepinselt hatte. Ein Relief aus Runen, Falten und Kerben. Dazwischen die flache
Nase und ein gewaltiges Maul, das wie eine vorgezogene Schnauze wirkte. Blasses, nasses Haar klebte auf dem Schädel, die Augen leuchteten in einem kalten Glanz, der verwässert war. Neben dem Gesicht erschien noch eine Kranke, an deren Nägeln die Hautfetzen des Toten klebten. Die Fratze war einfach furchtbar, und sie sah aus, als würde sie auf der dunklen Brühe schwimmen. Aus den Augen strahlte ihnen Mordgier entgegen. Obgleich sie bewaffnet waren, traute sich keiner von ihnen, auf das Monstrum zu schießen. »DerTeufel!« keuchte einer der Killer. »Der Teufel ist aus der Hölle gestiegen ...« Er rannte weg. Seine Kumpane blieben noch, gingen aber mit vorsichtigen Schritten zurück, die Waffen schußbereit haltend und mußten mit ansehen, wie sich zwei Pranken aus dem Wasser schoben, sich an den Rändern des Gullys festklammerten, um sich abzustemmen. Schnell und elegant wie ein Fisch verließ das Monstrum den Gully. Die Killer flüchteten, so bekamen sie zuerst nicht mit, wie es aussah. Es wirkte nur wie ein gewaltiger Schatten, das erkannten sie, als sie an einer Ecke stehenblieben und zurückschauten. Groß, geduckt, behaart, wobei lange, graue Haarsträhnen bis tief in die Stirn hingen. »Schießen!« Nur einer traute sich. Das hämmernde Stakkato durchbrach die Stille. Die Kugeln tanzten über den Asphalt, einige davon hieben in den Körper der Bestie, die nur aufbrüllte, als wäre sie wütend geworden, von den Geschossen aber nicht gestoppt werden konnte. »Das ist der Teufel!« fluchte einer der Killer und drehte sich um. Wie von Dämonen gejagt, rannte er davon. Er wollte nichts mehr sehen und hören. Selbst er, der in einer Hölle lebte, mußte zugeben, daß es eine noch größere Hölle für ihn gab. Dann waren die drei Männer verschwunden. Das nächtliche Rio hatte sie geschluckt. Das aus dem Gully gestiegene Monstrum aber schüttelte sich, als wollte es das schmutzige Wasser loswerden. Es lief in langen Sprüngen über die Straße und spürte, daß sein Trieb noch lange nicht gestillt war. Es wollte neue Opfer. Nach Norden, in die Elendsviertel, lief es nicht. Es gab noch andere Ziele. Den Strand, zum Beispiel. Denn er befand sich nur eine Steinwurfweite entfernt... ***
Es war Ingram egal, ob das Geschöpf tatsächlich Mona hieß. Es war ihm auch egal, ob sie zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt war, und es war ihm ferner egal, wo die Kleine herkam. Sein Urlaub ging in die letzte Phase, und die wollte er genießen. Drei freie Tage nach dieser verdammten Woche, die nur aus Konferenzen und Besichtigungen bestanden hatte. In den wenigen Pausen hatte er nur immer Blicke auf die heißen Mädchen werfen können, die für ihn allesamt Schönheiten waren und wo er die englischen Frauen einfach vergessen konnte. Mona hatte er im Hotel kennengelernt. Ein Blick, ein Zwinkern, alles war in Butter. Sie war mit ihm gegangen und hatte ihn natürlich an den Strand geführt. Dort hatte sie einfach ihr Kleid abgestreift und gezeigt, was sie zu bieten hatte. Sie war nicht nackt, der gelbe Tanga aber hätte in einen Fingerhut gepaßt. Ingram war scharf geworden, doch Mona, dieses Biest, hatte ihn zappeln lassen. Erst nach dem Dinner - so hieß es im Hotel — war sie mit ihm auf sein Zimmer gegangen und hatte ihm gezeigt, was es heißt, schon auf Erden das Paradies zu erleben. Ansteckende Krankheiten hatte Ingram vergessen. Sein Verstand war bei diesem Weib einfach ausgeschaltet worden, und der Begriff AIDS, die neue Geißel der Menschheit, war in weite Fernen gerückt. Ingram bezeichnete sich als einen glücklichen Menschen, vor allen Dingen dann, als Mona ihm versprochen hatte, die letzten Tage an seiner Seite zu bleiben und ihm die Stadt zu zeigen. Davon würden sie wahrscheinlich nicht viel sehen. Für ihn waren der Strand und das Hotelzimmer wichtiger. Dort wollte er mit Mona die meisten Stunden verbringen. Nach dem Dinner aber hatte er Lust verspürt, den Copacabana bei Nacht zu erleben, und seine neue Freundin hatte sich einverstanden erklärt. Die Decke stammte aus dem Hotel. Auf ihr lag Ingram und spürte unter sich den noch warmen Sand. Sie hatten sich etwas abseits gelegt, denn Ingram wollte bei gewissen Dingen nicht gestört werden. Er mußte grinsen, als er daran dachte. In London drehte sich kaum eine Frau nach dem rotblonden Mann um, der im allgemeinen als langweilig und farblos verschrien war. Wenn er das den Kollegen später erzählte, was er in Rio aufgegabelt hatte, das glaubte ihm kein Mensch. Er mußte unbedingt Fotos haben, Beweise sozusagen. Mona war für einen Moment verschwunden, weil sie etwas zu trinken holen wollte. Kokosmilch mit einem kräftigen Schuß Rum angereichert.
Ein Getränk, das kühlte, den Durst löschte und gleichzeitig die Stimmung in ungeahnte Höhen schießen ließ. Ingram lag auf dem Rücken. Bisher hatte er nur davon gehört, doch hier in Rio konnte er persönlich erleben, daß die Fotos und die Beschreibungen nicht gelogen hatten. Der Himmel war einfach eine Wucht. Man konnte ihn kaum beschreiben, man mußte ihn gesehen haben. So dunkelblau, so samten und mit einem Heer von Sternen übersät, die auf der nördlichen Halbkugel nicht zu sehen waren. Nur den Kopf brauchte er zu drehen und den Blick zu senken, um ein Bild in sich aufnehmen zu können, das einfach irre war. Da wuchs der nachts angestrahlte Zuckerhut in die Höhe wie ein uraltes Fossil. Bisher hatte er dieses Bild nur von Bildern gekannt und eigentlich nicht so recht daran geglaubt, daß es tatsächlich der Wahrheit entsprach. Er mußte sogar zugeben, daß es in natura noch imponierender wirkte als auf den Fotos. Es war einfach einmalig, super und für ihn kaum zu beschreiben. Mona blieb ziemlich lange. Er vermißte sie, er wollte sie jede Sekunde um sich haben, und er dachte tatsächlich darüber nach, sie nach London mitzunehmen, denn diese Stadt war ebenfalls ein Schmelztiegel, wo Menschen aller Länder eine zweite Heimat gefunden hatten. Es war längst nicht mehr so heiß wie am Tag; der Wind brachte etwas Kühlung mit. Aus diesem Grunde hatte sich Ingram auch ein Hemd übergestreift. Ein weit geschnittenes weißes T-Shirt mit der Aufschrift >Rio is the best<. Da konnte er nicht widersprechen, denn von dieser Stadt hatte er bisher nur die besten Seiten kennengelernt. Zwar wußte er über die Favelas Bescheid, er hatte auch über das verfluchte Elend gelesen, doch das war nicht sein Problem. Er streckte sich wieder aus, schaute gegen den Himmel und hatte den Eindruck, immer etwas Neues zu entdecken. Diese Nacht war so traumhaft, daß es ihm nicht in den Sinn kam, an all die Überfälle zu denken, die auch am Strand stattfanden. Da hatte es ebenfalls Tote gegeben, und die Killer ließen die Leichen kurzerhand liegen. Musikklänge wehten an seine Ohren. Natürlich war es Lambada, dieser heiße Tanz, der in Brasilien bis zur Perfektion beherrscht wurde. Selbst die Slumkinder tanzten ihn. Während sie vom besseren Leben träumten, träumte Ingram von Mona und den Stunden im Hotelzimmer. Er merkte kaum, daß ihm die Augen dabei zufielen und um seine Mundwinkel ein Lächeln spielte. Den Schatten sah er nicht. Die Gestalt hatte den Einsamen schon eine Weile beobachtet und sich auf dem warmen Sand sehr flach gemacht.
Er hockte im Rücken des einsam liegenden Mannes und lauerte auf eine günstige Gelegenheit. Die Frau war verschwunden, der Kerl lag allein, und sein Körper entspannte sich. Der Schatten machte sich auf den Weg. Er ging sehr geduckt, beinahe kriechend, der Sand knirschte nur leise. Man mußte schon gute Ohren haben, um überhaupt etwas hören zu können. Blau war die Nacht, heller der feine Sand. Weiter entfernt standen die Verkaufsbuden, die kleinen Bars und Getränkestände. Da wurde die Nacht zum Tag gemacht. Ingram merkte nichts. Er zuckte nur zusammen, als er feststellte, daß er beinahe eingeschlafen war. Mit einem Ruck fuhr er hoch. Das sah auch der Schatten. Etwa zwei Schritte hinter dem Engländer fiel er flach in den Sand. Klauen krallten sich in das feinkörnige Mehl, als wollten sie sich daran festhalten. Sekunden vergingen. Der Mann blieb hocken. Ertrug eine Uhr und schaute darauf. So war er abgelenkt. Den Schatten hielt nichts mehr. Er stemmte sich hoch und wuchs zu einer monströsen Bestie an. Er kam mit der Geschwindigkeit eines Kurzstreckenläufers, so daß sein Opfer keine Chance mehr hatte, zu entwischen. Ingram merkte im letzten Augenblick, daß etwas nicht stimmte. Im Sitzen drehte er sich nach rechts. Schon traf ihn der erste Schlag. Er wuchtete ihn zur Seite, die Krallen rissen die Haut in seinem Gesicht auf. Sein Auge schmerzte, als hätte jemand eine Nadel hineingestochen. Er wollte schreien. Der nächste Prankenhieb ließ den Laut auf seinen Lippen ersticken. Ein zweiter Treffer schleuderte ihn herum und drückte sein Gesicht in den warmen Sand, wo er es nicht mehr schaffte, Luft zu holen. Der vierte Hieb löschte sein Leben aus. Mona kehrte wenig später zurück. Sie hielt zwei Gläser in der Hand, doch was sie vorfand, war furchtbar. Ihre Schreie zitterten durch die Nacht, die Gläser fielen auf den grausam zugerichteten Körper und verteilten die Flüssigkeit. Als die ersten Helfer eintrafen, war von Mona nichts mehr zu sehen. In dieser Stadt schloß man am besten beide Augen, besonders dann, wenn der Entertainer zuschlug... ***
Glenda Perkins war nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zur Kur geschickt worden, und sie würde auch über Weihnachten und den Jahreswechsel hinweg bleiben. So kam uns das Büro wieder einmal leer und verwaist vor, als wir es betraten. »Kein Kaffee«, sagte ich trübe. »Und auch kein Tee«, fügte Suko hinzu. Wir grinsten uns an. »Was machen wir jetzt, Alter?« Ich schaute nach draußen. Trübe war der Himmel. Sprühregen rann aus den Wolken. Zum Glück war es Regen, denn der Norden Englands hatte im Dezember einen Schneesturm erlebt wie lange nicht mehr. »Woran denkst du, John?« »An die Sonne, an den Strand, an einen herrlichen Sommer, an leichtbekleidete Mädchen, an sehr kühle Drinks . . .« »Nimm doch Urlaub.« Ich drehte mich wieder um. »Das sollte ich eigentlich. Mit einem LastMinute-Flug ab in die Karibik, das wäre einfach super.« »Kannst ja mal den Alten fragen, was er davon hält?« »Gar nichts.« »Das weiß du schon?« »Ja, er kann hellsehen, unser lieber Geisterjäger«-, hörten wir die Stimme unseres Chefs, der das Vorzimmer bereits hinter sich gelassen hatte und unser gemeinsames Büro betrat. Wir grüßten und sahen das Lächeln auf dem Gesicht unseres Chefs. Wenn es diesen Ausdruck trug, steckte zumeist etwas dahinter, und wir machten uns auf einiges gefaßt. Er setzte sich auf die Schreibtischkante, schaute mich an und nickte. »Sie wollen also in die Sonne, John?« »Ist das ein Fehler?« Sir James hob beide Hände. »Um Himmels willen, nein! Das ist kein Fehler. Sie auch, Suko?« »Ich würde nicht nein sagen. Sir James nickte fast betrübt. »Und ich muß hier im trüben, winterlichen London hockenbleiben.« »Wir ja auch.« »Meinen Sie, John?« Wir horchten auf. Sir James machte es wieder spannend. Er schenkte uns den Kelch der Wahrheit nur tropfenweise ein. »Es gibt natürlich zahlreiche Ecken auf der Welt, wo jetzt die Sonne scheint. Abgesehen von Australien, aber wie würde Ihnen denn Rio gefallen?« »Die schlimmste Stadt der Welt?« rief Suko. »Zum Beispiel.« »Weniger. Ich weiß nicht, wie John denkt, aber wenn ich mir das Elend vorstelle . . .« »Damit sollten sie fertig werden.« »Moment mal, Sir. Heißt das etwa, daß wir nach Rio fahren sollen?« »Nicht fahren, Inspektor, fliegen.« »Auch das.«
Sir James nickte. »Das heißt es in der Tat. Rio wartet auf Sie.« Er drückte seine Brille zurück. »Doch keinen vom Yard spendierten Urlaub!« »Nein, John, es ist dienstlich.« »Und worum geht es? Macumba? Tanzende Köpfe, irgendwelche Schleimwesen?« Ich zählte da einiges auf, was ich in Rio schon erlebt hatte, aber Sir James schüttelte den Kopf. »Es geht um Mord!« Das Gesicht des Superintendenten war mit einemmal sehr ernst geworden. Ein Zeichen, daß er jetzt direkt werden würde. »Kennen Sie den Kollegen Walter Ingram?« »Nein.« »Aber ich«, sagte Suko. »Er arbeitet in der Fahndung, die ausgebaut werden soll.« »Ja, deswegen ist er nach Rio gefahren. Zusammen mit anderen Kollegen aus mehreren Ländern. Nur sind die zurückgekommen, Walter Ingram leider nicht. Man brachte ihn um. Es traf ihn in einer wunderschönen Tropennacht am Strand.« »Wer tat es?« »Der Entertainer!« Diese Antwort überraschte uns beide, und Sir James gab eine Erklärung ab. »So wird die Bestie genannt, die Rio unsicher macht. Man hat mir Fotos vom Tatort geschickt. Bitte, schauen Sie genau hin, dann werden Sie wissen, was ich meine.« Er holte die Aufnahmen aus der rechten äußeren Jakkettasche und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Was Suko und ich zu sehen bekamen, war kaum zu beschreiben. Es war einfach fürchterlich, grauenhaft, schrecklich und brutal in seiner Schärfe. »Mein Gott«, sagte ich nur. »Wer tut so etwas?« »Der Entertainer.« »Das ist ja noch perverser.« Sir James hob die Schultern. »Was, zum Teufel, ist in dieser Stadt nicht pervers?« »Stimmt, wenn sie es so sehen. Es wird nicht der erste Mord der Bestie gewesen sein. Man kann bestimmt schon etwas sagen.« Sir James rieb sein Kinn. »Nur schwer. Aber man geht davon aus, daß es ein Monster ist.« Auch Suko hatte sich die Aufnahmen gründlich angeschaut. »Vielleicht ein Werwolf?« »Ja, genau.« Ich holte tief Luft. Sir James hatte sich kaum geirrt, denn solche und ähnliche Wunden kannten wir. Bill Werwolf konnte sie reißen, brauchte es aber nicht zu sein.
»Was sagen die Kollegen in Rio?« »Die sind nach dem zwölften Mord ebenso ratlos wie nach dem ersten.« »Zwölf Tote schon?« »So ist es, John. Doch in Rio wird es die Statistik der Verbrechen kaum nach oben treiben. Dazu ist die Zahl noch zu gering. Leider müssen wir so denken.« »Ich weiß, ich habe viel über Rio gehört.« »Dieser Fall wäre auf uns auch nicht zugekommen, wenn es sich bei dem letzten Opfer nicht ausgerechnet um Walter Ingram gehandelt hätte, einen englischen Polizisten. Das hat die Behörden aufgeschreckt. Wir mußten informiert werden, und ich habe den brasilianischen Kollegen bereits Amtshilfe zugesagt.« »Wir fliegen also«, murmelte Suko. »Nur würde mich interessieren, weshalb man den Killer als Entertainer bezeichnet. Können Sie mir da Auskunft geben, Sir?« »Es ist irre, er bringt eben noch mehr Unterhaltung in die schlimme Szene.« »Und eine Spur hat man nicht?« fragte ich. »Wie meinen Sie das?« »Sollte der Tater tatsächlich ein Werwolf sein, wird er sich nur bei Ausbruch der Dunkelheit verwandeln und ansonsten ein normales Leben führen. Das könnte noch jemandem aufgefallen sein, finde ich. Hat man in diese Richtung Forschungen betrieben?« Sir James hob die Schultern. »Das glaube ich nicht, John. Wenigstens habe ich nichts dergleichen gehört.« »Sieht nicht gut aus.« »Weiß ich. Sie werden trotzdem rüberfliegen. Ihre Zimmer sind bereits gebucht. Das Hotel liegt am Strand. Sie können sogar von ihren Zimmern den Tatort sehen, habe ich mir sagen lassen.« »Da wird es bestimmt schönere Ausblicke geben.« »Das ja.« »Wann starten wir?« fragte Suko. »Heute abend.« »Da haben wir ja noch einen Tag Urlaub.« Sir Jame war skeptisch. »Ich würde Ihnen raten, vorzuschlafen. In Rio stehen Ihnen bestimmt heiße Nächte bevor.« Wenn Sir James bisher nie recht gehabt hatte, in diesem Fall glaubte ich ihm jedes Wort. .. Auch in der schmutzigen kleinen Hütte war der Klebstoff zu riechen, obwohl die Kinder ihre Tüten versteckt hatten, aber jeder von ihnen hatte in den letzten Stunden geschnüffelt. Maria Falanga seufzte, als sie daran dachte. Wie die Kinder hockte auch sie auf dem schmutzigen Boden und schaute manchmal den Käfern oder Spinnen nach, die über den Boden krochen, um später in irgendwelchen Ritzen zu verschwinden. Maria war jung, gerade dreiundzwanzig, und sie besaß noch Idealismus, auch wenn ihr Job ein Kampf gegen eine Hydra mit zahlreichen Armen
war, die sie nie alle abschlagen konnte. Traf sie einen, wuchsen gleich drei neue nach. Die Hydra hieß Armut, Gewalt, Verbrechen! Damit war dieser Teil von Rio beschrieben, in dem Maria als Lehrerin und Fürsorgerin arbeitete. Sie ging als eine der wenigen Frauen in die Favelas, obwohl sie aus einem ziemlich reichen Haus stammte; ihre Eltern hatten sie studieren lassen. Daß sie danach den Weg ins Elend hinabgeschritten war, hatte keiner aus der Familie verstanden. Manchmal wurde sie sogar von den Mitgliedern wie eine Aussätzige behandelt. Wer sie beschreiben sollte, dem wäre sehr bald der Begriff glutäugige Schönheit eingefallen, obwohl sie kaum anders aussah als Tausende von Frauen in ihrem Alter. Die Brasilianerinnen waren eben etwas Besonderes, mit ihren äußeren Vorzügen hatte es der liebe Gott besonders gut gemeint. Große, dunkle Augen, ein fein geschnittenes Gesicht, ein naturbrauner Teint und ein wirrer Haarschopf, den sie nur mit Bändern oder Schleifen bändigen konnte. Wie immer trug sie Jeans und ein weit geschnittenes Leinenhemd aus bunten Farben. Es fiel bis zu den Hüften. Ihre Füße steckten in Turnschuhen. Da sie im Schneidersitz vor den Kindern hockte, konnte sie auf ihre schmutzigen Sohlen schauen. Die Kinder schwiegen. Es waren mehr Mädchen als Jungen, doch das spielte keine Rolle. Auch sie kannten den Tod, das Grauen, was sich auf ihren Gesichtern abzeichnete, denn sie alle wirkten sehr alt, als hätten sie sämtliche Schrecken der Welt gesehen. Jetzt allerdings lag in einigen Augen noch ein Glanz, der Maria Falanga überhaupt nicht gefiel. Die Nachwirkungen des Schnüffeins blieben noch Stunden bestehen, und sie fragte sich, ob sie überhaupt einen Unterricht abhalten konnte. Papier und Bleistifte mußte sie verteilen, die Kinder besaßen nur das, was sie auf der Haut trugen, und das war herzlich wenig. Die Luft im Raum stand. Durch die offene Tür zogen Schwaden hinein, die säuerlich rochen, als wären Schweiß und Urin zusammengekippt worden. Seit dem Anfang brannte die Sonne schon wieder gnadenlos auf die Elendsviertel nieder, und manch totes Fleisch begann zu faulen, wobei es von einem Meer von Fliegen überdeckt war. Die Kinder redeten kein Wort. Wahrscheinlich hatten die meisten ein schlechtes Gewissen. Sie wußten, daß ihre Lehrerin das Schnüffeln haßte, doch Maria sah auch ein, daß sie dagegen nicht ankämpfen konnte. Sie seufzte, als ihre Blicke über die Gesichter der Kinder glitten. »Wer von euch ist denn überhaupt in der Lage, mir etwas sagen zu können?« fragte sie. Ein Mädchen meldete sich. »Was denn?«
»Zum Beispiel über das Thema der letzten Stunde.« Sie schauten Maria an und brauchten nicht erst die Köpfe zu schütteln, um ihr zu zeigen, daß sie nichts wußten, gar nichts. Ein Junge aber meldete sich. »Was ist, Manheno?« »Ich weiß etwas.« »Bitte.« »Es hat wieder einen Toten gegeben. Der Entertainer hat zugeschlagen. Diesmal bei den Reichen. Der Entertainer hat die Leiche auf eine Mauer gelegt, direkt in die Glasscherben hinein.« »Na und? Findest du das gut?« Der Junge lachte. »Viele bewundern ihn, manche haben auch Angst. Ich aber nicht. Er hat noch keine Kinder getötet. Die Polizei kann ihn nicht fassen. Auch nicht die Todesschwadrone. Man erzählt sich, daß der Entertainer sogar ihnen entkommen ist, als er aus dem Gully kam.« Mochte die Stadt auch noch so groß und unübersichtlich sein, die Taten des Entertainers sprachen sich sehr schnell herum. Wurde mal wieder eine schrecklich zugerichtete Leiche gefunden, so verbreitete sich das wie ein Lauffeuer. Die Zeitungen berichteten in großen Lettörn. Der Entertainer war mittlerweile zu einem Held der Ärmsten aufgestiegen. Und jeder wartete gespannt auf eine neue Tat. Maria Falanga war ernst geworden. »Und du findest es gut, wenn Menschen getötet werden?« So direkt angesprochen, wollte der Junge keine Antwort geben. Er hob nur die Schultern. Für die Lehrerin war es Antwort genug. Sie wußte, daß den Kindern der Tod gleichgültig war. Er gehörte eben zum Leben wie die Dealer in die Favelas. »Nur sollte uns persönlich dieser grausame Mörder nicht interessieren, wir sind hergekommen, um zu lernen. Ich kann immer nur wiederholen, daß nur der eine Chance hat, aus dem Dreck hier herauszukommen, der auch Lesen und Schreiben kann. Wissen ist Macht, nicht die Waffe eines Killers. Das solltet ihr euch immer vor Augen halten, obwohl ich weiß, das es fast unmöglich ist.« Sie erntete nur Desinteresse und wußte, daß sie an diesem Tag keinen Unterricht mehr halten konnte. Ihre Schützlinge waren zu sehr abgelenkt und noch unter dem Einfluß der Droge. Einer der Jungen stand auf. Er hieß Peter. Wer ihm den Namen gegeben hatte, wuße er nicht. »Wo willst du hin?« »Ich muß weg.« »Warum?« »Sie werden mich holen.« »Wer will dich holen?« »Polizei.«
Er wollte gehen, aber Maria war schneller. An der Hand hielt sie den Jungen fest. »Darf ich erfahren, weshalb die Polizei dich holen will? Sag es mir.« »Nein!« »Hast du etwas getan?« Der Blick des Jungen flackerte. »Nein, ich . . .« »Du lügst.« »Laß mich los!« schrie er, aber Maria ließ ihn nicht los. Neben ihr sank Peter zu Boden. »Was ist genau geschehen?« »Sie ... sie kamen noch am frühen Morgen. Da haben sie meinen Bruder geholt, der ist drei Jahre älter.« »Und?« »Sie haben ihn zusammengeschlagen und weggeschleppt.« »Wohin?« »In das Schlachthaus.« Maria schluckte, als der Junge diesen fürchterlichen Namen aussprach. Das Schlachthaus war der Name für das Gefängnis. Und wer von der Drogenpolizei dorthin gebracht worden war, hatte kaum Freundlichkeiten zu erwarten. »Was hat dein Bruder getan?« »Ich weiß es nicht. Aber sie haben gesagt, daß sie wiederkommen würden.« »Zu euch?« »Ja.« »Gut, Peter.« Ohne den Jungen loszulassen, stand Maria Falanga auf. »Ich werde mit dir gehen. Dann schauen wir gemeinsam nach, ob die Polizei bei euch wartet.« »Danke.« Maria Falanga wandte sich an die anderen Schüler. »Ihr könnt gehen. Und morgen will ich euch alle hier wiedersehen, ohne daß ihr geschnüffelt habt!« Sie nickten, doch sie würden sich nicht an den Ratschlag halten. Es war das einzige >Vergnügen<, das Rios Kinder überhaupt besaßen. Maria ließ Peter nicht los, als sie aus der Hütte trat und umfangen wurde von einer dumpfen, schwülen, brütenden Hitze. Maria wußte nicht, wo Peter wohnte. Sich in diesem Wirrwarr aus Elend zurechtzufinden, mußte gelernt sein. Es war ein kaputtes Durcheinander von > Häusern < und Hütten. Über allem stand der Glutball der Sonne, und selbst die Vögel hingen fast bewegungslos am Himmel. Eine normale Straße oder ein Gehweg waren nicht vorhanden. Wenn es einmal so gewesen war, dann hatten die Bewohner dafür gesorgt, daß die Steine herausgerissen worden waren. An einigen Stellen hatte man versucht, die Straße zu asphaltieren, doch das Zeug war sehr schnell von der heißen Sonne aufgeweicht worden. Die Menschen hockten oder standen vor und neben ihren Elendsquartieren. Sie sahen apathisch aus, die leeren Blicke in irgendwelche Fernen gerichtet oder auf Ziele, die sie nur in ihren Träumen sahen. Daß fette Fliegen über ihre verschwitzten Gesichter krochen, bekamen sie kaum mit.
Weiter oben klangen Schreie auf. Dann fielen Schüsse, danach war es still. »Wohnst du dort? fragte Maria. Peter schüttelte den Kopf. »Ist es noch weit?« »Nein.« Sie mußten gehen. Wer einen fahrbaren Untersatz, ein Rad, zum Beispiel, besaß, der war ein König. Und als Kaiser galt der, der ein Auto fuhr. Das aber konnten sich nur die Dealer aus der Rauschgiftmafia leisten, die wahren Herrscher der Elendsviertel, die hin und wieder die Armen mit Geld beschenkten, um sich ihre Sympathie gegenüber der Drogenpolizei zu erkaufen. Verraten wurde deshalb nichts. Die Polizisten kämpfen einen aussichtslosen Kampf. In bestimmte Viertel trauten sie sich nicht mehr hin. Hinzu kam, daß viele von ihnen von den Bossen geschmiert wurden. »Hast du noch mehr Geschwister?« »Nein.« »Und dein Vater?« Peter hob die Schultern. »Er ist weg oder tot. Wir wissen das alles nicht.« Maria nickte nur. So war es oft in diesen Elendsvierteln. Da wurden Familien brutal auseinandergerissen von einem Leben, das eigentlich den Namen nicht verdiente. »Wohnt ihr allein in der Hütte?« »Nein, zwei Männer noch. Sie sind einfach gekommen. Mal verschwinden sie auch für Tage, dann sind sie wieder da. Meine Mutter hat immer Angst vor ihnen. Sie muß sich dann ausziehen, wenn sie da sind und ...« »Schon gut, Peter!« Maria schüttelte es innerlich. Obwohl sie in dem Viertel bekannt war und man ihr auch nichts getan hatte, konnte sie sich an das Grauen nicht gewöhnen. Es war einfach unfaßbar, zu unmenschlich, denn wo kein normales Leben möglich war, kam es eben zu diesen schlimmen Exzessen. Sie mußten von der schmalen Gasse ab und sich durch eine schmale Lücke winden. Hier zeigte der Untergrund eine feuchte Oberfläche, die widerlich roch. Die Hütte bestand aus dünnen Brettern. Bänderhielten sie zusammen. Beim nächsten Sturm würden nur Trümmer von ihr zurückbleiben, davon ging Maria aus. Eine Tür war nicht vorhanden, dafür bedeckte ein schmieriger Lappen den Eingang. Am Ende der schmalen Gasse stand, mit den Vorderrädern in einem Abfallhaufen steckend, ein Polizeiwagen. Ein Polizist hockte auf dem
Kotflügel und zeigte deutlich seine Maschinenpistole. Er kaute auf einem Streichholz und grinste dabei. »Sie sind schon da!« flüsterte Peter. Seine Stimme erstickte fast an der Angst. »Ich glaube auch.« Der Junge wollte auf die Hütte zurennen, weil er einen Schrei gehört hatte, aber Maria hielt ihn fest. »Nicht so hastig, Peter. Wir werden sie gemeinsam betreten.« Wütend zerrte sie den Lappen zur Seite. Zwei Beamte standen im Raum. Einer fuhr herum, den Finger am Abzug seines Revolvers. Er richtete ihn auf die Frau, die sich um die Waffe nicht kümmerte, sondern nur die Frau sah, die gekrümmt auf dem Boden lag und ihren Kopf mit beiden Händen schützte. Neben und über ihr stand ein bärtiger Beamter, der sein Gewehr umgekehrt hielt und schon mit dem Kolben zugeschlagen hatte. »Dein Gehirn wird bald . . .« »Es wird nichts geschehen!« Selten hatte Maria so scharf und hart gesprochen. Der Polizist schlug nicht zu. Er drehte sich um. »Was willst du?« »Ich werde Sie anzeigen.« Der Mann grinste. Peters Mutter wimmerte, der Junge weinte, und Maria mußte sich beherrschen, um diesem Kerl nicht zwischen die Beine zu treten. Plötzlich lachte er. »Sieh an, da ist ja Maria, der Engel der Armen. Wie schön.« Hin und wieder wurde sie so genannt. Früher war sie einmal stolz darauf gewesen, heute nicht mehr, denn Erfolge konnte sie kaum erringen. »Ja, ich bin es«, sagte sie trotzdem. »Und ich will verdammt noch mal wissen, was hier vorgeht.« Sie war bekannt. Die Polizisten wußten von ihr, daß sie blendende Beziehungen in die höchsten Etagen besaß. Sie war für die Offiziere so etwas wie ein Alibi, deshalb hütete sich der Mann auch, sie noch unhöflicher zu behandeln. »Wir suchen Dealer. Sie hat zwei Söhne. Der ältere hat Stoff verkauft.« »An wen?« Lachen klang ihr entgegen. »Woher soll ich das wissen? Er ist abgehauen, hat Angst gekriegt. Ein gutes Zeichen, daß wir auf der richtigen Spur sind. Und seine Mutter wird uns sagen, wo wir ihn finden können.« »Sie wird gar nichts.« »O doch, wir haben sogar ein Papier, daß uns berechtigt, sie mitzunehmen und zu verhören. Sie und diesen kleinen Stinker neben Ihnen.« »Darf ich das sehen?«
»Klar.« Der Polizist holte einen zerknitterten Bogen aus der Hemdtasche und faltete ihn auseinander. Maria schaute ihn an, nickte, hörte Peters Frage: »Stimmt das denn auch?« »Ja.« Der Junge bekam es mit der Angst zu tun. »Ich will da nicht hin, ich will. ..« »Keine Sorge, Peter, ich bin dabei.« Der Bärtige zeigte sich jovial. Er schob lässig seine Mütze nach hinten. »Alles klar, die können mit uns fahren. Wir haben genug Platz im Wagen.« Maria lächelte. »Ich werde auch bei den Verhören dabeisein. Darauf können Sie sich verlassen.« »Mal sehen.« Maria schob den Mann einfach zur Seite und beugte sich zu der weinenden Frau heran. Der Kolbenstoß hatte sie am Kinn getroffen. Die Spitze war blau angelaufen. Aus ängstlichen Augen schaute die Verletzte Maria an. »Du hast gehört, was man von dir will?« »Ja, aber . ..« »Du wirst mitfahren, und ich bleibe an deiner Seite. Das werden wir schon regeln.« »Aber ich weiß nichts.« »Das kannst du dem Offizier erklären. Keine Sorge, sie werden dich laufen lassen müssen.« »Ja, ich vertraue dir.« Maria half der Frau auf die Beine. Das Gesicht sah unförmig aus. Der Polizist hatte sich eine Zigarette angezündet und qualmte ein stinkendes Kraut. »Schauen Sie sich ihr Gesicht an!« sagte Maria. »Na und?« »Das waren Sie.« »Wen stört's?« »Mich«, erklärte die Lehrerin. »Mich stört es sogar gewaltig. Ich bin gespannt, was Ihre Vorgesetzten dazu sagen werden. So einfach kommen Sie nicht davon.« Der Bärtige blies ihr den Rauch ins Gesicht und beugte sich etwas vor. »Glauben Sie wirklich, daß diese Schlampe alles bestätigen wird, was Sie mir vorwerfen? Glauben Sie das wirklich?« Maria schwieg. Der Polizist hatte ein Problem angeschnitten, gegen das ein Häuflein Aufrechter vergeblich ankämpfte. Es war einfach die Angst vor der Rache. Dabei spielte es keine Rolle, auf welcher Seite die Männer standen. Zwischen der Polizei und den Killern war die Grenze fließend. Hin und wieder opferten die Bosse einige Dealer, um die Bullen nicht ganz mutlos werden zu lassen. Danach hatten sie dann wieder Ruhe und konnten ihren Geschäften störungsfrei nachgehen.
»Wir werden sehen«, sagte die Lehrerin . .. Der Polizist lachte. »Das ganz bestimmt.« Maria nickte ihren Schützlingen zu. »Kommt, ihr beiden.« Hand in Hand verließen sie die Hütte... *** Ich hatte es nicht glauben wollen, aber wir erlebten es am eigenen Leibe. In der City von Rio, weit weg von den Armenvierteln und sogar nahe des Polizeipräsidiums erwischte es uns. Die vier Halbwüchsigen waren wie Geister aus einer Einfahrt erschienen, hatten uns blitzschnell umringt und drückten uns die Spitzen ihrer Messer dicht über den Gürtelschlössern gegen den Bauch. Sogar einige Brocken Englisch sprachen sie. »Geld her — schnell, sonst wir stechen!« Suko und ich blieben ruhig. Die Hände hatten wir erhoben. Wir lehnten mit dem Rücken an einer Hauswand. Über uns schauten zwei Frauen aus dem Fenster und glotzten. Andere Passanten kümmerten sich nicht um uns. Die Menschen waren froh, daß es sie nicht erwischt hatte. Suko und ich blinzelten uns zu. Es war klar, daß diese Kerle unser Geld nicht bekamen, und gegen Messer konnten wir uns mit unserer Ausbildung wehren. »Los!« Vor mir stand ein Bursche von höchstens vierzehn. »Moment, sofort.« Ich drehte mich etwas zur Seite, weil ich mit einer Hand in meine hinteren Hosentasche greifen wollte. Er zog das Messer um eine Idee zurück. Plötzlich schrie er auf. Meine linke Hand erwischte sein Handgelenk wie ein Fallbeil. Ich drehte mich weg und sah den zweiten Messerhelden zusammenbrechen. Suko hatte ihm zum gleichen Zeitpunkt erwischt wie ich. Der erste hatte die Klinge fallen lassen müssen. Seine Kumpane wollten ebenfalls zu Waffen greifen, aber wir waren schneller. Raketenartig flogen sie in die Einfahrt zurück und landeten zwischen Dreck und Abfall. Suko und ich wollten sie mit Handschellen fesseln, aber sie schnellten wie Gummibälle wieder hoch und rannten einem düsteren Hinterhof entgegen, wo sie verschwanden. Auch ihre Freunde waren nicht mehr zu sehen. Nur die Frauen schauten aus dem Fenster. Eine von ihnen klatschte Beifall, die andere grinste nur müde. »Welcome in Rio«, sagte Suko, als er sich die Hände rieb. »That's life.«
Wir hatten uns ein Taxi genommen und in der Nähe des Ziels absetzen lassen. Die restliche Strecke wollten wir zu Fuß gehen, um einen ersten Eindruck von der Riesenstadt zu bekommen. Der lag ja mittlerweile hinter uns. »Man kann ihnen nicht einmal einen großen Vorwurf machen«, meinte Suko. »Wer in diesem Dreck aufwächst, der. ..« »Denk an die Messer.« »Glaubst du, daß die zugestochen hätten?« Ich hob nur die Schultern. Bis zum Präsidium passierte nichts mehr. Obwohl wir nicht viel gelaufen waren, klebte uns die Kleidung auf der Haut. Hitze und Schwüle übten einen Druck aus, der mir auch leichte Kopfschmerzen bereitete. In London hatten wir Winter. Ich sehnte mich sogar nach dem Nieselregen und dem vorweihnachtlichen Trubel zurück. Rio erstickte im Verkehr. Wir sollten uns bei einem Jorge Cavaldos melden. Er war ein Teniente, ein Leutnant. Die beiden Posten vor dem alten Gebäude mit der breiten ausgetretenen Steintreppe hielten uns auf. Unter den Helmen schauten sie uns scharf und böse an. Man war wohl auf Besucher nicht eingestellt. Wir wurden zu einer Anmeldung geführt und empfanden die Kühle in dem alten Bau mit den dicken Mauern als sehr wohltuend. Der Mann in der Kabine telefonierte mit Cavaldos, während wir auf einer Bank saßen und auf Auskunft warteten. Für viele war Rio die Weltstadt des Verbrechens. Ich hielt mich da raus, weil ich derartige Statistiken nicht mochte. Jedes Verbrechen war für mich zuviel. Beide kamen wir uns vor wie in einer alten Schule. Die breiten Gänge und das Treppenhaus lagen in einer unnatürlichen Ruhe. Es wurden auch keine Verbrecher angekarrt. Später erfuhren wir dann, daß es noch weitere Eingänge und auch bestimmte Anbauten, in denen so einiges ablief, gab. Jedenfalls hatten die Brasilianer Zeit genug. Beim Yard hätte kaum ein angemeldeter Besucher so lange gewartet. Schließlich erschien ein Beamter, der mich wegen seiner Bewaffnung mehr an einen Soldaten erinnerte, und forderte uns auf, mitzukommen. Mit einem quietschenden Lift fuhren wir in den zweiten Stock. Durch einen breiten Gang mußten wir gehen. Hier war es schon lebhafter. Wir hörten die lauten Stimmen, da knallten Türen, es rasselten Telefone, und immer wieder wurde geschrien. In den meisten Büros hockten mehrere Beamte zusammen. Auch in dem, durch das wir gingen. Eine sehr schöne Frau fiel mir auf. Sie hielt einen Jungen fest und redete mit einem stumpfsinnig auf ihren Busen glotzenden
Vernehmungsbeamten. Neben der schönen Frau saß eine andere und weinte. Jorge Cavaldos empfing uns wie ein Operettenfürst. In seiner sehn ieke sitzenden Uniform machte er auf uns >Eindruck<. Gepflegt schimmerte der dunkle Bart auf seiner Oberlippe. Das dunkle Haar war nach vorn gekämmt und zu einem Pony geschnitten. Sein Lächeln wirkte ebenso zackig wie die übrige Haltung, und er begrüßte uns mit einem militärischen Gruß, den wir nur locker erwiderten. Er sprach gutes Englisch und erkundigte sich nach unseren Flug, den wir ausgezeichnet und teilweise schlafend überstanden hatten. »Kaffee werden Sie sofort bekommen«, sagte er auf Besucherstühle deutend, »dann können wir reden.« »Über den Entertainer«, sagte Suko. Die Miene des Kollegen verdüsterte sich. »Ja, mittlerweile sind wieder Tote hinzugekommen.« »Sahen Sie so aus wie . . .?« Er nickte. »Ganz genau, Senor Sinclair. Man konnte kaum noch erkennen, daß es Menschen waren.« »Und noch immer keine Spur?« Ein junger Mann brachte heißen Kaffee. Wir schlürften ihn. »Eine Spur haben wir nicht. Er taucht plötzlich auf und killt. Dabei kümmert er sich nicht darum, zu welcher Bevölkerungsgruppe die Opfer gehören. Er ist da brutal und grausam, und er hinterläßt nie Spuren.« »Aber sie haben seine Beschreibung?« fragte Suko. »Ja!« erklärte Cavaldos voller Stolz. »Die haben wir tatsächlich. Sie ist uns überliefert worden, und ich muß Ihnen gestehen, daß wir es tatsächlich mit einem Monster zu tun haben. Ein schreckliches Wesen, ein affenartiges Geschöpf, das aus irgendeiner Höhle gekrochen sein muß . ..« »Kein Werwolf?« fragte ich. Der Kollege zögerte und wischte mit einem Tuch Schweißtropfen von der Stirn. »Sie meinen so einen Werwolf, wie man ihm aus Filmen kennt?« »Zum Beispiel.« Er mußte lachen. »Nein, Senhor, das ist nicht der Fall. Nein, das ist nicht die Wahrheit. Wir sind nicht im Film, sondern . . .« »Es gibt sie nicht nur im Film«, sagte Suko mit sehr sanft klingender Stimme. Cavaldos räusperte sich. »Ich bin Brasilianer«, sagte er uns, »und darauf bin ich stolz. Ich weiß, daß in diesem Lande nicht alles richtig ist, da mischt sich der Glaube mit dem Aberglauben. Hier gibt es Voodoo und Macumba, und über vielem steht segnend die katholische Kirche. Ich weiß das alles, aber an Werwölfe glaubt hier keiner. Da müssen Sie aus Europa kommen und mir erklären, daß ich nach einem Werwolf suchen soll?«
»Das hatten wir eigentlich vor.« »Trotzdem, ich kann Ihnen nicht folgen. Soll ich Ihnen mal meine Meinung sagen?« »Bitte.« Er beugte sich vor und hätte seine Tasse beinahe umgestoßen. »Ich glaube daran, daß sich jemand verkleidet hat. Einer, der nicht richtig im Kopf ist, verstehen Sie? Der rennt hier durch Rio und wird irgendwann einmal an den Falschen geraten, der ihn dann u mlegt.« »Hat man nicht auf ihn geschossen und ihn auch getroffen?« hakte ich nach. »Ja.« »Er flüchtete trotzdem.« »Es gibt kugelsichere Westen, Senhor Sinclair. Das sollten Sie doch wissen.« »Genau. Wir halten trotzdem an unserer Theorie fest.« Cavaldos lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und wippte mit dem linken Fuß. »Klar, es war unser Pech, daß ein Kollege von Ihnen umkam. Was muß er sich auch mit einer Nutte am Strand herumtreiben. Er ist gewarnt worden, das ist hier einfach zu gefährlich. Merken Sie sich das.« »Wir hatten nicht vor, uns am Strand die Sonne auf die Haut brennen zu lassen«, sagte Suko. »Schön. Was dann?« »Wir möchten den Killer finden.« Der Kollege seufzte. »Ja, das möchten wir auch. O verdammt, das wollen wir.« »Und wir möchten ferner, daß Sie uns dabei zur Seite stehen«, erklärte ich lächelnd. »Wie denn? Ich habe keine Spur. Ich kann nur die Akten führen und darauf warten, daß es neue Leichen gibt.« »Aber Sie haben Zeugen.« »Gehabt. Die sagen nichts. Wenn Sie die Leute heute noch einmal fragen, werden Sie erleben, wie sie die Schultern anheben und Ihnen dann erklären, daß sie alles vergessen haben. So und nicht anders sieht es aus. Jetzt sind Sie an der Reihe.« »Ich hatte gedacht, daß Sie uns unterstützen würden, Kollege. War wohl ein Irrtum.« »Ich kann nicht.« »Sie haben doch eine Akte.« Er winkte fast wütend ab. »Unsinn, darin stehen nicht einmal alle Namen der Opfer. Viele sind namenlos. Hier strömen sie aus dem Norden in die Stadt, weil sie aus den verfluchten Dürregebieten flüchten, und sie ahnen nicht, daß sie damit von einer Hölle in die andere kommen. Wir haben den Überblick verloren.« »Aber er tauchte stets in der Nacht auf!« Ich brachte das Gespräch wieder auf das Thema zurück.
Cavaldos nickte. »So ist es. Nur in der Nacht. Er kam wie ein Phantom, killte und verschwand. Ein böser Unterhalter. Eine Zeitung hat ihn mal Entertainer getauft. Ob Sie es glauben oder nicht. Er lenkt viele Menschen von ihren eigenen Problemen ab, die ihnen dann nicht mehr so schlimm vorkommen. Das ist wie die Droge Fußball. Ich sage immer folgendes: Wenn ihr die Kinder von der Straße wegbekommen wollt, dann schenkt ihnen Bälle. Sie werden beschäftigt sein, sie werden spielen und nicht mehr an Raub und Totschlag denken.« Dabei hob er die Schultern in einer resignierenden Geste. »Aber auf mich hört ja keiner.« Ich fragte ihn. »Verfolgen Sie denn den Fall oder die Fälle?« »Ja und nein. Ich fasse nur zusammen. Wir warten auf den nächsten Toten und hoffen darauf, daß uns der Entertainer einmal in die Falle läuft. Das ist alles.« »Und zuwenig.« »Stimmt.« »Geschahen die Morde in einem bestimmten Gebiet?« erkundigte sich Suko. »Überhaupt nicht. Die Plätze sind in der gesamten Stadt verteilt. Sogar im Gebiet der Reichen ist er erschienen«, berichtete uns der Kollege nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. »Da war dann der Bär los, aber Spuren gab es keine.« »Wenn ich das so höre, sieht das nicht gut aus.« »Stimmt, Senor Sinclair. Gehen Sie in Ihr Hotel und warten Sie auf meinen Anruf.« »Wann würde der uns erreichen?« »Heute, morgen, übermorgen. Ich würde Ihnen nur mitteilen, daß es eine neue Leiche gibt.« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn das so laufen soll, können wir wieder nach London fahren. Dort sind wir auch per Telefon erreichbar. So läuft der Fiase nicht.« »Dann kann ich Ihnen nur Glück wünschen, aber ich glaube nicht, daß Sie erfolgreicher sind als wir.« »Gut, wir werden sehen.« Ich schaute Suko an. »Hast du noch irgendwelche Fragen?« »Nein.« »Dann werden wir gehen.« Cavaldos rückte mit einem Vorschlag heraus. »Wenn Sie wollen, können Sie ja mit uns eine nächtliche Streife und Razzia mitmachen. Wird bestimmt interessant und lebensgefährlich. Aber Sie können kugelsichere Westen bekommen.« »Wir überlegen es uns noch«, sagte Suko. Der Kollege stand auf, hob die Schultern und bedauerte, daß er uns nicht helfen konnte.
»Geht schon in Ordnung.« »Finden Sie allein raus?« »Sicher.« Wir gingen den gleichen Weg zurück und waren beide ziemlich sauer. Unser Rio-Fall schien schon jetzt im Sande zu versickern, wo wir nicht einmal angefangen hatten. Die schöne junge Frau redete noch immer im Nebenraum. Sie stand bereits und hatte sich zum Gehen gewandt. Mit uns zusammen verließ sie das Büro. Im Gang blieb sie stehen, wischte über ihre Stirn und fluchte auf die Polizei. »Gehören Sie nicht dazu?« fragte ich sie. »Nein.« Sie antwortete in Englisch und schaute uns interessiert an. »Ich bin Lehrerin, Sozialarbeiterin und eine dumme Gans, weil ich hier noch so etwas wie Idealismus zeige. Aber man kann die Menschen in den Favelas nicht verrecken lassen.« »Das stimmt.« »Kommen Sie aus den Staaten?« »Nein, aus London.« »Auch Bullen?« »Scotland Yard.« Sie lachte. »Wieder einmal diese Informationsbesuche, von denen man immer liest?« »Überhaupt nicht. Wir suchen den Entertainer!« klärte Suko die Frau auf. Sie zuckte zusammen. »Wen oder was suchen Sie?« »Den Entertainer.« Da lachte sie. »Das ist doch Irrsinn. Zwei Fremde sollen einen Killer stoppen?« »Warum nicht?« »Weil Sie hier verloren sind. Sie kennen Rio nicht. Das ist die Hölle, verdammt.« Ich hatte eine Idee. »Würden Sie uns denn dabei helfen, Rio näher kennenzulernen.« Jetzt war sie perplex. »Meinen Sie das im Ernst? Oder wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Ich antwortete mit einem alten Kalauer. »Das täte ich zwar gern, aber nicht jetzt.« »Nun ja, ich habe erreicht, was ich erreichen wollte. Eigentlich hätte ich Zeit.« »Auch am Abend?« »Sicher«, lächelte sie. »Aber sagen Sie bitte, weshalb Sie aus London kommen, um einen Killer zu jagen. Das will mir einfach nicht in den Schädel.« »Weil wir daran glauben, daß bei diesen Taten nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.« Sie holte tief Luft. »Ach ja?« »So sehen wir es.« »Was ist denn Ihre Meinung?«
Diesmal antwortete Suko. »Hören Sie zu. Wir sind davon überzeugt, daß die Menschen von einer Bestie umgebracht worden sind. Und zwar von einem Wer-wolf. Wir haben Fotos gesehen . ..« Sie trat einen Schritt zurück. Wäre da nicht die Wand gewesen, sie wäre noch weiter gegangen, so aber blieb sie stehen und schaute uns an, als wären wir nicht richtig in der Reihe. »Glauben Sie das wirklich?« »Ja.« Die Frau nickte, starrte auf ihre Turnschuhe und streifte mit den gespreizten Fingern durch ihr Haar. »Ich heiße übrigens Maria Falanga. Sagen Sie Maria.« Auch wir stellten uns vor. Ich konnte mir nicht verkneifen zu fragen, woher ihr plötzlicher Umschwung kam. »Das kann ich Ihnen erklären. Selbst ich habe schon daran gedacht, daß eine ähnliche Bestie die Menschen überfallen und getötet hat. Das behielt ich natürlich für mich, aber . ..« »Haben Sie denn einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?« erkundigte ich mich. Sie fuhr mit einem Fingernagel über ihre Wange. »Nein, das habe ich leider nicht.« »Demnach auch keine Spur?« »Bestimmt nicht. Aber man könnte vielleicht eine Spur aufnehmen.« »Wie meinen Sie das?« Sie stand vor uns, nickte und bewegte dabei noch ihren ausgestreckten Zeigefinger. »Folgendes. Wenn Sie davon überzeugt sind, daß es sich um einen Werwolf handelt, dann ist diese Bestie etwas Schauriges und Böses. Stimmt das?« »Ja.« »Und das Böse strahlt Böses ab. Ist das auch richtig?« »Wir widersprechen nicht.« »Gut, gut.« Sie redete weiter, nickte auch dazu und bewegte ihren Zeigefinger. »Wenn Böses abstrahlt, müßte man es finden können. Man muß nur den richtigen Weg wissen.« »Stimmt auch.« Ich fragte weiter. »Kennen Sie den denn?« »Vielleicht.« »Dann raus damit!« forderte Suko sie auf. »Madame Oviano.« .»Wer ist das?« »Eine Voodoo-Königin, die angeblich auch die Toten beschwören kann. Das erzählt man sich.« »Hervorragend.« Suko lachte. »Und wo finden wir diese Madame?« »Auf dem Friedhof!« »Tot oder . . .?« »Nein, lebendig natürlich. Ich hoffe es zumindest. Oder in ihrem Haus. Keine Sorge«, sagte sie lächelnd. »Wir werden sie finden. Ich gehöre zu den wenigen Personen, die ihre Rufnummer besitzen.«
»Dürfen wir es dann als Glücksfall ansehen, Sie gefunden zu haben?« fragte ich. »Das steht noch nicht fest, John...« *** Die Kneipe war so trostlos wie eine Bushaltestelle in den frühen Morgenstunden bei Nebel. Freiwillig wären wir nicht dorthin gegangen, aber die Voodoo-Königin hatte es so gewollt, und wir mußten tun, was sie von uns verlangte. Suko und ich hockten an einem Tisch mit klebriger Platte. Da mischten sich eingetrocknete Bierreste, Fliegen und Dreck zusammen. Wir hatten auch etwas bestellt, und zwar irgendein Zeug aus der Dose, das wie Cola aussah, aber anders schmeckte. Angeblich sollte es Bakterien töten können. Es war für uns nur gut gewesen, daß unsere neue Verbündete es geschafft hatte, mit der Voodoo-Königin Kontakt aufzunehmen. Diese Madame Oviano hatte sich kooperativ gezeigt, uns in die Kneipe bestellt, wo wir warten sollten. Daß sie nicht selbst erscheinen würde, stand fest. Sie würde nach uns schicken lassen. Maria Falanga war verschwunden. Von uns hatte sie sich mit einem geheimnisvollen Lächeln verabschiedet und gemeint, daß sie sich noch etwas umhören müßte. Wohl fühlten wir uns in diesem Schlauch beide nicht. Was wir da an Luft einatmeten, verdiente den Namen nicht, obwohl sich unter der Decke ein lahmer Ventilator drehte. Auch einen Wirt gab es. Er hockte hinter dem Brett, das sich Theke nannte. Halt fand es auf zwei rostigen Tonnen. Die Flaschen dahinter standen auf Kisten. Bier gab es nur aus der Dose. Wer aus einem Glas trinken wollte, war selbst schuld, denn Spülwasser oder fließendes Wasser blieb ein Traum. Waren die Dosen leer, so warfen die Gäste sie in eine Tonne. Der Wirt las Zeitung. Hin und wieder lugte er hervor oder gab ein rülpsendes Geräusch von sich, was keinen Gast kümmerte. Und die waren stark. Außer uns hockten vier Typen in der Kneipe. Männer, die vergessen worden waren. Ein Weißer und vier Farbige, wobei der Weiße am schlimmsten aussah. Er wirkte wie der letzte Penner, war sogar Engländer, denn er berichtete hin und wieder von Manchester und von den tollen Tagen dort. In Rio mußte er hängengeblieben sein. Die Farbigen hörten seinen Reden kaum zu. Wenn sie nickten, war ich mir sicher, daß sie nichts verstanden hatten, und auch uns wurde es
allmählich langweilig. Suko schabte seine Dose durch den Dreck auf der Tischplatte. »Hoffentlich hat man uns nicht reingelegt, Alter.« »Du meinst Maria?« »Wen sonst?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Verläßt du dich da auf deine Menschenkenntnis?« »Zum Beispiel.« Suko hob die Schultern. »Ich weiß nicht so recht. Mir ging das jedenfalls ein wenig zu schnell. Wir kannten sie kaum und waren plötzlich von ihr eingenommen.« »Wenn diese Frau uns in der Hölle von Rio nicht helfen kann, auf wen willst du dich dann verlassen? Immerhin hat sie uns den Weg gezeigt. Madame Oviano.« »Wirklich eine Chance?« »Warum nicht? Sie wird versuchen, Kontakt aufzunehmen. Und mit Voodoo haben wir unsere Erfahrungen, das weißt du selbst. Da gibt es Menschen, die Tote erwecken können. Ich erinnere dich an New Orleans, als wir Voodoo-Land erlebten.«* »Stimmt alles.« Suko schob die Dose weiter. »Nur geht es hier nicht um lebende Tote, sondern um einen Killer, vielleicht einen Werwolf oder eine andere Bestie. Ob diese Madame es tatsächlich schafft, Kontakt aufzunehmen?« Suko verzog das Gesicht. »Also, da bin ich mir nicht so sicher. Ich weiß es nicht.« »Sie will das Böse finden.« »Ja, das wollen viele. Außerdem bin ich gespannt, wen sie schickt, um uns abzuholen.« Ich hob die Schultern. »Vielleicht kommt auch Maria. Hier ist man vor Überraschungen nicht sicher.« Wir befanden uns in einer Ecke von Rio, die wir nicht kannten. Nicht in den Favelas, aber auch nicht in den Bezirken der Reichen. Praktisch am Rande von beiden in einer Zone, die relativ ruhig war. Die Kneipe stand an keiner Straße, man hatte sie auf einen Hinterhof gebaut. Die kahlen Mauern waren im Laufe der Zeit von Salpeter zerfressen worden. An den Wänden zeigten sich Risse. Waren sie zu breit, schafften es nicht einmal die bunten Poster aus den Nacktmagazinen, sie zu verdecken. Zuerst raschelte die Zeitung, dann erhob sich der Wirt. Er war klein und fett, ein Koloß. Sein Hemd zeigte breite Schwitzflecken, in den Achselhöhlen klebte es fest. Mit der flachen Hand schlug er zwei fette Fliegen tot und rief etwas zu uns herüber. Da er portugiesisch sprach, hatten wir so unsere Schwierigkeiten und hoben die Schultern. »Americanos?« »Nein!«
* Siehe Sinclair-Paperback: »Voodoo-Land«
Da kamen sie. Wir wußten sofort, daß es die beiden Typen waren, die uns abholen wollten. Sie kamen rein und waren die Kings. Beide blieben nebeneinander stehen, die Arme leicht vom Körper herabhängend, die Finger dabei ausgestreckt und zitternd. Die beiden wirkten, als würden sie unter Strom stehen und erinnerten mich auch an irgendwelche Sambatänzer, die auf ihren Einsatz warteten. Dunkle Kleidung bedeckte ihre Haut. Fnge Hosen, weite Hemden mit tiefen Ausschnitten. Um ihre muskulösen Hälse hingen Ketten aus bleichem Gebein. An den schlanken Fingern glänzten schwere Ringe. Die Kerle sahen aus wie Zwillinge, denn auf ihren Schädeln wuchs kein einziges Haar. In ihrer Ahnenreihe mußten Schwarze und Weiße mehrmals Verbindungen eingegangen sein, es war nicht genau zu erkennen, welche Rasse bei ihnen überwog. Der Wirt sagte nichts. Er schaute zu, wie sich die beiden unserem Tisch näherten. Wir schauten hoch. Der billige Plastikstuhl, auf dem ich saß, klebte unter dem Hintern. »Ihr kommt mit.« »Zu Madame?« »Sie wartet.« Gezahlt hatten wir schon und standen gemeinsam auf. »Ist es weit?« fragte Suko. »Nein, wir fahren.« »Und wo ist Maria?« wandte ich mich an den Kerl, der in meiner direkten Nähe stand. »Welche Maria?« »Schon gut.« Sie nahmen uns in die Mitte. Als wir die alte Kneipe verließen, sah es aus, als würden wir abgeführt. Draußen empfing uns der Mief. Die Luft war einfach widerlich. Je länger ich mich in Rio aufhielt, um so schwerer fiel es mir, das Zeug einzuatmen. Wonach die Luft schmeckte, konnte ich nicht sagen. Darin war alles vorhanden. Bei jedem Atemzug hatte ich den Eindruck, auch eine verdünnte Säure zu schlucken. Maria Falanga sahen wir nicht. Wir konnten nur darauf vertrauen, daß sie uns den richtigen Weg gewiesen hatte. Als Fahrzeug benutzten die beiden Männer einen alten Jeep. Da er rot, grün und blau angestrichen worden war, fielen die Rostflecken an seiner Außenhaut nicht auf. Suko und ich mußten uns in den Fond quetschen. Die Sitzbank war zerfetzt. Damit jemand überhaupt sitzen konnte, war ein einfaches Brett darüber gelegt worden. Kinder umstanden den Wagen, aber keines hatte sich getraut, etwas abzumontieren. Auch eine Seltenheit in Rio, es sei denn, man genoß großen Respekt.
Die Kinder schauten auch zu, als wir fuhren. Scheiben besaß der Wagen nicht. Seine Räder wirbelten den gesundheitsschädlichen Staub auf, der ihn wie eine Wolke umgab. Wir rollten durch eine schmale Straße, und es gab nicht wenige Menschen, die sich bekreuzigten, als wir vorbeifuhren. Der Wagen schien bekannt zu sein. »Wo geht es denn hin?« rief ich. »In die Berge.« Eine gute Antwort. Die Berge umgaben Rio. Sie waren nicht sehr hoch, aber dicht bewachsen, denn der Tropenwald fraß sich immer weiter vor, vorausgesetzt, man holzte ihn nicht ab. An den Hängen und weit weg von den Favelas lebten auch die Reichen und Superreichen. Ihre Villen und Häuser standen in dem waldreichen Gelände, und dort existierte ein Luxus, der kaum vorstellbar war. Die Reichen wurden ständig bewacht. Sie bezahlten ihre Privatarmeen, damit es nur keinem Armen gelang, in ihr Gebiet vorzustoßen und sich dort umzuschauen. Die dicht besiedelte Stadt und der Moloch Rio lagen sehr bald hinter uns. Die Piste führte in die Höhe. Meistens geradeaus. Die Luft wurde auch besser. Zwar blieb die Schwüle, doch die widerlichen Dämpfe aus der Stadt drangen nicht mehr in unsere Nasen. Ich drehte mich um, schaute zurück und mußte der Postkartenidylle recht geben. Wer sich Rio aus dieser Perspektive ansah, konnte von der Armut kaum etwas erkennen. Selbst das Meer sah aus wie blau bepinselt und verlor erst seine Farbe, wenn die Wellen schaumig gegen den Strand anrollten. Über allem stand grüßend und mit ausgebreiteten Armen die Christus-Statue, als wollte sie die Menschen segnen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Genau das Gegenteil war der Fall. »Das ist auch Rio«, sagte ich. Suko hob nur die Schultern. »Ich mag die Stadt trotzdem nicht. Und ich will ihn haben.« »Wen?« »Den Entertainer.« »Würde mich freuen.« Die Häuser standen nicht mehr so dicht. Jetzt gab es Platz zwischen ihnen. Das hier war genau der Weg, der zu den Superreichen führte. Irgendwann würden wir die Villen erreicht haben, wobei ich mir kaum vorstellen konnte, was eine Voodoo-Königin dort zu suchen hatte. Sie gehörte eher zu den Armen. Wahrscheinlich hatte sie mit ihrem Zauber soviel Geld verdient, daß sie sich ein Haus in dieser Gegend leisten konnte. Wir irrten uns. Ob wir die halbe Höhe der Berge erreicht hatten, war nicht festzustellen. Jedenfalls blieben wir nicht auf der gut ausgebauten Straße und bogen in eine schmale ab, die von dichten >Waldwänden< eingerahmt wurde. Es ging in den Dschungel!
Wir befanden uns nicht zum erstenmal in dieser Stadt und hatten auch die Außenbezirke in den Bergen kennengelernt. Erinnern konnte ich mich daran nicht mehr so genau. Ich wußte auch nicht, welche Wege wir damals genommen hatten. Noch immer stand die Sonne am Himmel. Sie brannte hernieder, doch innerhalb des Dschungels war von ihr nicht viel zu sehen. Das dichte Blätterwerk schaffte es leicht, einen Großteil des Lichts zu filtern. Unter dem grünen Dach verteilte sich nur die stickige Schwüle, in der sich Insekten besonders wohl fühlten und sich gern uns als Ziele aussuchten. Der Untergrund bestand aus einer abwechslungsreichen Mischung aus Hügeln und Einschnitten. Dementsprechend wurden wir durchgeschüttelt. Manchmal war der Weg staubtrocken, dann gab es Flecken, wo sich die Feuchtigkeit gehalten hatte und die Reifen des Jeeps durch tiefen Matsch wühlten. »Zu Fuß möchte ich die Strecke nicht zurückgehen!« meinte Suko und verzog seine Lippen. »Mal schauen.« »Ich kann die beiden ja mal fragen, ob es der richtige Weg ist, den sie eingeschlagen haben.« »Laß es lieber.« Es war der richtige Weg, denn der Dschungel trat plötzlich zurück, und wir stoppten. Der Beifahrer drehte sich grinsend um. »Hier steigen wir aus, Senhores.« »Schön«, sagte Suko. »Und dann?« »Madame wartet.« »Hier?« »Weiter vor.« Wir kannten uns nicht aus, wir mußten tun, was man uns vorschlug. Unsere Füße versanken im weichen Gras, aber auch ein betäubender Duft umwehte unsere Nasen. Die Blüten gaben ihn ab, über die zahlreiche Insekten schwirrten. Der tropische Wald war nie ruhig. Jetzt, wo der laute Motor keine Geräusche mehr überdeckte, konnten wir sie hören. Die im Wald versteckten Tiere, die pfiffen, sangen oder kreischten. Die beiden Männer kümmerte das nicht. Sie deuteten nach vorn und nicht in den Dschungel, was mir schon sympathisch war. »Wie kann man hier leben?« fragte Suko. »Brauchst du ja nicht.« Wir gingen hinter den beiden Brasilianern her. Die Männer bewegten sich wie Tänzer, sie hatten Rhythmus im Blut wie so viele Brasilianer, und ich konnte mir vorstellen, daß es beim Karneval in Rio mehr als hoch hergehen würde.
Für uns war an Karneval nicht zu denken. Wir kämpften uns durch den Wirrwarr der tanzenden Insekten, atmeten den süßlich-faulen Duft ein und wurden an den von Leichen erinnert. Als hätte jemand eine große Sense genommen und in die Gewächse hineingeschlagen, so zeigte der dichte Bewuchs plötzlich Lücken, und wir sahen die ersten Menschen. Ich mußte schlucken, um mein Erschrecken zu verbergen, denn sie sahen mehr aus wie Tote. Abgemagerte Gestalten, die auf dem Boden hockten, eingehüllt in Lumpen und mit leeren Blicken in die Gegend starrend. Schnell hatte ich die beiden Männer vor uns erreicht. »Wer sind diese Leute?« »Sie hoffen.« »Auf wen?« »Madame wird ihnen helfen. Sie sind krank, sie sind fast tot. Sie wollen schon jetzt dort sein, wo die Toten liegen und sie vielleicht begrüßen. Deshalb warten sie.« »Dann müßte das hier ein Friedhof sein.« »Er ist es!« flüsterte der Sprecher, als wäre er mittlerweile vor Ehrfurcht erstarrt. Ich schaute mich ebenso um wie Suko. Wir beide entdeckten die alten Grabsteine, die aus dem Boden schauten. Manche standen schief, andere waren schon umgekippt. Eine unheimliche Gegend, für uns Europäer nicht begreifbar, denn es gab auch Menschen, die auf dem Boden knieten, die Hände zusammengelegt hatten, ihre Arme gegen den Himmel richteten und mit monotonen Stimmen alte Gebete sprachen. Hier mischte sich Glaube mit Aberglaube, was auch wieder typisch für das Land war. Rauch wehte als flache Wolke über eine bestimmte Stelle hinweg und kitzelte unsere Nasen. Er besaß einen besonderen Geruch, als würde etwas verbrannt, das zuvor mit einem Gewürz oder einer dicken Olschicht bestrichen worden war. Ein ungewöhnliches Land, mit dem wir als Europäer nicht zurechtkamen. Es war eine Welt für sich. Hier begegneten sich die Lebenden, um die Toten oder deren Gesichter zu treffen. Jetzt wußte ich, was das Feuer für einen Gestank verbreiteten. Einen süßlichen, fauligen Geruch, und ich mußte mich räuspern, als ich daran dachte, daß möglicherweise Leichen verschmorten. Von Madame Oviano hatten wir bisher nichts zu Gesicht bekommen. Sie hielt sich zurück, vorausgesetzt, wir fanden sie. Neben einer Frau, die in die Flamme einer Kerze starrte, blieben die beiden Männer stehen. »Ist Madame bereit?« »Ja.«
»Wann?« »Jetzt!« Ich konnte wenigstens das verstehen, was sie sagten, und so gingen wir weiter. Als stumme Zeugen grüßten die alten, verwitterten Grabsteine. Manchmal reckte sich auch ein schief stehendes Holzkreuz aus dem Untergrund, das allmählich verfaulte. Nein, das hier war keine gute Gegend. Hier ging man wirklich nur hin, um mit den Toten oder den Geistern Kontakt zu bekommen. Ansonsten mußte man sie vergessen. Um die Feuerstelle herum saßen Männer und Frauen. Es befand sich kein Weißer dazwischen. Ein Mann warf in unregelmäßigen Abständen Blattwerk in die kleinen Flammen, so daß sie Nahrung bekamen und sich wieder aufrichten konnten. Es war das Blattwerk, das so widerlich stank. Aber hier hatte alles seine Bedeutung. Ich schaute über das Feuer hinweg, weil ich nicht glauben konnte, was ich sah. Mitten in dieser Einöde stand ein Haus! Nein, eigentlich kein Haus, das war mehr ein Grabmal oder ein kleines Mausoleum. Im Grundriß gebaut wie eine Kirche, aberohneTurm und auch ohne Fenster. Man hatte es uns nicht zu erklären brauchen, aber jetzt wußten wir, wo wir Madame Oviano finden konnten. »Da also wohnt sie!« murmelte Suko. Ich gab ihm keine Antwort, denn unsere Führer drehten sich um. »Wir sind am Ziel.« »Und sie erwartet uns?« »Ich werde schauen.« Keiner der Anwesenden kümmerte sich um uns. Sie alle waren mit sich selbst beschäftigt, wobei ich mich fragte, ob sie tatsächlich hier hockten und beteten. Möglicherweise meditierten sie auch, dachten über den Tod nach und warteten darauf, daß ihnen die Voodoo-Königin half. Mir war schon die ganze Zeit über etwas aufgefallen, doch ich schaffte es erst jetzt, die Lösung zu finden. Es war keiner da, der die Trommel schlug. Die Stille kam mir unnatürlich und klebrig vor, sie schien sogar nach uns greifen zu wollen. Nur das Summen der Insekten umgab uns, hin und wieder auch das schwere Seufzen eines der Meditierenden. War das der ideale Nährboden für einen Werwolf oder eine andere Bestie in dieser Art? Unwillkürlich schaute ich zum Himmel, wo sich der Ball der Sonne abzeichnete und der Mond noch nicht zu sehen war. Und gerade er gehörte dazu, wenn sich ein Mensch in den Werwolf verwandelte und damit zur Bestie wurde.
»Seltsam«, murmelte Suko. »Es ist alles so verdammt seltsam. Ob wir hier eine Spur finden?« »Wir werden Madame fragen.« Der bei uns stehende Mann schaute uns streng an. Wahrscheinlich hatten wir mit unserer Unterhaltung die andächtige Stille gestört. Der zweite kehrte zurück. Wir hatten das schleifende Knarren einer Tür sehr deutlich hören können. Erging langsam und ließ seine Füße durch das hohe Gras schleifen. Nickend blieb er vor uns stehen. »Ist sie bereit?« »Ja, ich werde euch bringen. Sie befindet sich in einer sehr guten Phase.« »Was heißt das?« »Ihr werdet es selbst sehen können, deshalb stellt keine Fragen mehr.« Abrupt machte er kehrt und schaute nicht mehr zurück. Sein Freund blieb stehen. Grabkreuze umgaben die linke Seite des Mausoleums. Es bestand aus ehemals weißem Adobe, doch der Dschungel hatte auch an diesen Mauern seine Spuren hinterlassen und sie mit einem grünen Schimmern überzogen. Besser als unten in der Stadt, wo das Mauerwerk von Salpeter zerfressen war und Blasen warf. Die Tür sah aus, als würde sie jeden Augenblick zusammenfallen. Sie hing schief, und unser Führer mußte schon sehr kräftig zerren, um sie öffnen zu können. Wir hatten über seine Schulter hingeschaut und blickten in einen kalt wirkenden Raum, in dem zahlreiche Kerzen brannten. Manche steckten in Ständern, andere standen auf dem Boden. Sie alle warfen ihr Licht über zwei Personen. Einmal über Madame und zum zweiten über ein junges, nacktes, dunkelhaariges, Mädchen, das auf dem festgestampften Lehmboden lag und sich nicht rührte. Dort wo sich ihr Kopf befand, thronte Madame Oviano auf einem Sitzkissen. Sie winkte uns zu und flüsterte: »Kommt herein!« Als wir gingen, schloß sich hinter uns die Tür. Beide hatten das Gefühl, ein großes, unheimliches Grab zu betreten... *** Madame Oviano hatte bisher nicht aufgeschaut. Sie tat so, als würden wir sie überhaupt nicht interessieren, und so konnten wir uns in Ruhe umschauen. Es gab nicht viel zu sehen. Nur eben die brennenden Kerzen, deren Schein das Innere des großen Grabs nicht nur mit Licht, sondern auch mit Wärme erfüllte.
An den Wänden huschten die Schatten entlang wie Geister, die schon das Reich der Toten verlassen hatten. Das erinnerte mich wieder an das vor uns liegende Mädchen und an die junge Frau. Trotz ihrer Nacktheit spürte sie die Kälte des Bodens nicht, denn keine Gänsehaut legte sich auf die milchkaffeebraune Haut. Ihre Augen waren geschlossen, die Arme lagen neben dem Körper. Tot oder nicht? »Sie lebt noch«, hörten wir die Stimme der Madame, die sich erst nach diesen Worten bewegte und ihren Kopf anhob, damit sie uns auch anschauen konnte. Wir sahen ihr ebenfalls ins Gesicht! Madame Oviano war eine Schwarze, eine Negerin, und sie kam mir alterslos vor. Auf ihrer Gesichtshaut zeigte sich keine Falte, die Wangen sahen pausbäckig aus wie Halbkugeln, und zwischen ihnen drückte sich die fleischige Nase hervor. Madame Oviano hatte eine hohe Stirn. Möglicherweise auch deshalb, weil das tiefschwarze Haar glatt und ölig schimmernd zurückgekämmt worden war. Als Kleid konnte man das nicht bezeichnen, was ihren Körper umwallte. Es war eine Mischung aus Umhang und Poncho. Auch im Licht der Kerzen erkannten wir die dunkelrote Farbe, auf der die langen, goldenen Stickfäden ebenfalls auffielen. Sie sprach nichts, sie bewegte nur ihre rechte Hand und griff nach einem Gegenstand, der neben ihr gelegen hatte. Es war ein langer, dünner, bleicher Knochen, an dessen vorderem Ende bunte Federn befestigt waren, die leicht auseinanderfächerten. Als sie den Arm senkte, da senkten sich auch die Federn, und im nächsten Moment strichen sie wie ein zarter Hauch über den nackten Körper der jungen Frau hinweg. Sie sprach uns an, und wir wunderten uns über ihre tiefe Stimme, die beinahe schon einen männlichen Klang besaß. »Ich habe euch erwartet. Maria Falanga trat mit mir in Kontakt, und sie sprach sehr gut über euch.« »Danke.« Ich dachte darüber nach, wie es Maria wohl gelungen war, sie zu erreichen. Ein Telefon gab es hier bestimmt nicht. Na ja, es war nicht mein Bier. Die Voodoo-Königin zog den Knochenfächer langsam zurück. Die Federn strichen noch ein letztes Mal über das Gesicht, als wollten sie die junge Frau beruhigen. Und Madame beruhigte uns. »Sie ist nicht tot, Senho-res, denn sie ist eine sehr wichtige Persönlichkeit. Sie dient mir als Medium. Sie ist der Mittler zwischen den Welten. Sie heißt Corinna, aber wir nennen sie nur Coco.« »Dann sorgt sie dafür, daß Sie einen bestimmten Kontakt anzapfen können?« »Ja.«
»Sie wissen, wen wir suchen?« fragte Suko. Madame Oviano hob ihren Kopf ein wenig an, so daß wir die übergroßen, dunklen und jetzt im Schein der Kerzen geheimnisvoll leuchtenden Augen erkennen konnten. »Maria hat darüber gesprochen, und ich muß euren Mut bewundern, denn der Entertainer ist die gefährlichste Bestie, die Rio je heimgesucht hat. Es gibt noch andere Bestien, das sind bestimmte Menschen, doch er ist noch grausamer und sollte so schnell wie möglich vernichtet werden.« »Werverbirgt sich hinter ihm?« »Keiner weiß es.« »Ist es ein Werwolf?« Suko ließ nicht locker. »Es kann einer sein. Die Zeugen sind sich aber nie einig geworden. Vielleicht ist der Entertainer eine Mischung aus einem Werwolf und einem Kampfhund.« »Kann auch sein.« »Jedenfalls muß er gefunden werden, und ich habe das Gefühl, daß ihr beide es schaffen könnt.« »Wie kommst du darauf?« »Ich spüre es!« flüsterte Madame. »Ich spüre es genau. Ihr strahlt etwas ab, das es nur selten gibt, das müßt ihr mir einfach glauben. Manchmal sehe ich Dinge, die hinter den sichtbaren liegen, die sich gut verstecken und sich nur den Personen zeigen, die auch daran glauben, daß es anderen Welten gibt.« »Dimensionen, sagen wir.« Madame nickte. »Sehr richtig. Man hat verschiedene Namen. So wie es auch unterschiedliche Begriffe für den Teufel oder die Hölle gibt. Wir werden jetzt versu-chen, einen Weg zu finden, und zwar durch Coco, das Medium. Eine andere Chance sehe ich nicht.« »Einverstanden, Madame. Aber wird der Versuch auch gelingen?« »Ich weiß es nicht.« »Hast du ihn schon durchgeführt?« Sie schaute mich etwas spöttisch an. »Ja und nein. Ich habe noch nicht versucht, auf diesem Wege, der Bestie auf die Spur zu kommen. Ich wollte nur einen Blick in das Reich derToten werfen, um meine Kenntnisse über den geheimnisvollen Zauber des Voodoo zu vertiefen. Das ist mir auch teilweise gelungen, doch die gesamte andere Welt habe ich nicht begreifen können.« Sie spreizte Daumen und Zeigefinger, so daß eine Lücke zwischen beiden entstand. »Nur diesen winzigen Teil, mehr nicht.« War diese Person glaubwürdig? Oder gehörte sie zu den Scharlatanen, von denen es in diesem Gewerbe leider zu viele gab? Wir wußten es nicht und konnten uns nur auf unsere Eindrücke verlassen, die im Prinzip positiv waren, denn die Umgebung dieses
Grabmals hatte uns nicht den Eindruck einer Scharlatanerie gemacht. Da waren mir die Menschen sehr echt und auch ehrlich vorgekommen. »Ich möchte euch bitten, Platz zu nehmen und meine Seance nicht zu stören. Es ist ein Versuch, er wird schwer genug sein, denn so etwas habe ich noch nicht durchgeführt. Es dauert lange, bis ich mein Medium darauf vorbereiten konnte, und ich werde die anderen enttäuschen müssen, die draußen auf mich warten, vor den Gräbern ihrer Verwandten sitzen und darauf hoffen, eine Nachricht aus dem Reich der Toten zu empfangen. Ich muß mich später bei ihnen entschuldigen.« »Okay, fang bitte an.« Vielleicht waren es die falschen Worte, denn ihre Stirn umwölkte sich. Aber ich dachte an den verfluchten Entertainer und daran, daß jede Minute, die er länger existierte, zuviel war. Wir mußten ihn packen und vernichten. Madame Oviano legte ihren Kopf zurück und bewegte auch den Oberkörper nach hinten. Sie schaute gegen die Decke. Über das Gesicht floß der Widerschein des Kerzenlichts wie eine geheimnisvolle Botschaft aus dem Reich der Schatten. Madame verfiel in eine tiefe Konzentration, in eine Trance, und dies geschah übergangslos. Dabei beugte sie auch ihren Kopf wieder vor. Ob sie die Augen geöffnet hatte oder nicht, konnten wir nicht sehen. Vielleicht schaute sie in das Gesicht ihres Mediums. Coco lag da wie eine Statue. Nichts regte sich an ihr, sie zitterte nicht einmal, auch dann nicht, als Madame damit begann, beschwörende Worte zu sprechen und mit der Feder leicht über den nackten Körper hinwegstrich. Bei mir hätte die Berührung ein Kitzelgefühl hervorgerufen, nicht so bei Coco. Die Voodoo-Königin redete mit ihrer heiseren Flüsterstimme. Zunächst sehr leise und an einer uns fremden Sprache. Portugiesisch war es nicht, vielleicht ein Dialekt. Die Atmosphäre hier ging auch an uns nicht spurlos vorüber. Wir kamen uns vor wie Gefangene in unserer eigenen Psyche. Es war alles anders geworden, die eigentliche Welt rückte weiter von uns ab. Ich trug mein geweihtes Silberkreuz bei mir und rechnete damit, daß es sich >melden< würde, aber die Reaktion blieb aus. Dafür redete Madame. Ihre Tonlage hatte sich verändert. Die Ruhe darin war verschwunden, sie wollte jetzt etwas hören, und sie stellte die entsprechenden, leicht hektisch klingenden Fragen. Noch rührte Coco sich nicht. Madame gab nicht auf. Sie sprach weiter, sie zischte die Worte, sie drohte, sie beruhigte sich, sie weinte fast und lachte hin und wieder auf. Manchmal konnten wir etwas verstehen und hörten Begriffe wie Tod,
Jenseits und die Strömungen des Geistes, die beides durchdringen sollten. Ich zumindest hatte den Eindruck, als wollte Madame die Seele des jungen Mädchen unter ihre Kontrolle bringen. Coco zeigte eine Reaktion. Das klappte so schnell, daß selbst wir davon überrascht wurden. Plötzlich öffnete sie die Augen. Auch Madame hatte es gesehen und atmete tief durch. Sie strich noch einmal mit dem Knochenfetisch über den nackten Körper hinweg, und jetzt sahen auch wir eine Reaktion. Die Haut bekam einen Schauer .. . Er begann in Höhe des Bauches, zog sich über den Busen hinweg und erreichte das Gesicht. »Hörst du mich, Coco?« Zu unserer Beruhigung sprach Madame Englisch, und ein kleines Wunder geschah, als das Medium ebenfalls in dieser Sprache ihre Antwort gab und auch später dabei blieb. »Ja, ich höre dich .. .« »Das ist wunderbar, mein Kind, denn nur so habe ich es gewollt. Du läßt mich nicht im Stich, du kannst mich nicht im Stich lassen, und ich will von dir wissen, wo du dich befindest und was du alles auf deiner Reise siehst.« Wir hörten sie schluchzend atmen. »Viel«, flüsterte sie. »Ich .. . ich sehe sehr viel. . .« »Was?« »Die Welt ist anders. Ich ströme dahin. Ich sehe mich nicht mehr, aber ich kann in einer fremden Sprache reden, und bin da. Ja, mein Geist ist da, er ist es, der...« »Siehst du die Welt der Toten?« »Nein, nein«, sie sprach die Worte gequält aus, jetzt zuckten auch die Hände. »Ich komme nicht an sie heran, sie ist zwar nah, aber trotzdem so fern .. .« »Und wie nahe bist du dem Bösen?« Coco atmete röchelnd. Ihre Wangen zuckten, die Mundwinkel ebenfalls. Zudem hatten wir den Eindruck, als würden sich ihre Augen mit Tränen füllen. »Es ist sehr, sehr nahe, das Böse, aber ich kann es nicht fassen . ..« »Gut, du kannst es nicht fassen, aber dud hast gespürt, wie ich in deinen Geist eindrang und dir die Befehle gab.« »Ja, das hörte ich.« »Dann mußt du auch gemerkt haben, daß ich dich auf eine bestimmte Spur bringen wollte.« »Ja, ich habe .. .« »Die Bestie, Coco, wir suchen die Bestie. Sie wird der Entertainer genannt, er hat gemordet, und er wird noch weiter morden, wenn wir sie nicht vernichten. Nicht nur der Teufel strömt aus, auch das andere Böse
besitzt seine Schwingungen. Ich habe deinen Geist befreit, er mußt einfach auf die Reise gegangen sein . ..« »Ja . . . ja . . .« erklang es tonlos. »Er ... er ist auch auf die Reise gegangen .. .« »Wohin?« Coco sprach nicht, dafür hörten wir sie stöhnen. Das Geräusch drang aus ihrer Kehle, und wieder bekamen wir es fast mit der Angst zu tun. Denn gleichzeitig bäumte sich der Körper des Mediums auf, als hätte er einen elektrischen Stromstoß erhalten. Das Stöhnen wurde zum Schrei, die Augen bewegten sich, bis sie plötzlich starr wurden. Da sprang die Voodoo-Königin auf. Sie wirkte ängstlich und gleichzeitig unsicher. Hatte sie tatsächlich einen Fehler begangen? War sie zu weit gegangen, und hatte sie das Leben des jungen Menschen zerstört? Wir blieben sitzen, und ich mußte mich dabei zusammenreißen, obwohl es in meinen Adern kribbelte. Über meine Wangen rannen Schweißperlen. Ich spürte den Druck im Magen wie eine gewaltige Last, die Kehle war nur mehr trocken, und das Licht der zahlreichen Kerzen brannte auf meiner Gesichtshaut. Tot? Madame Oviano sprach Beschwörungen. Dabei bewegte sie ihre Hände kreisförmig über den nackten Körper hinweg. Ihr Mund zuckte, doch die beschwörenden Worte flössen so langsam hervor, als wären sie von einer Schleimspur begleitet worden. Diesmal konnten wir sie nicht verstehen. Die Sprache war nur für bestimmte Ohren gedacht, aber sie traf genau den Kern. Der wie eine Brücke aufgebäumte und halbhoch gestellte Körper brach plötzlich wieder zusammen. Auf dem Rücken blieb erliegen. Coco lebte! Sie weinte nicht, sie redete nicht, sie schnappte nur nach Luft und tat auch nichts, als ihr Madame Oviano mit einem Tuch den Schweiß aus Gesicht und Körper wischte. »Es ist gut, meine Kleine«, flüsterte sie dabei. »Alles wird wieder gut werden. Ja, es ist gut, du hast deine Sache ausgezeichnet gemacht. Ich habe dich verstanden . ..« Ohne uns zuvor abgesprochen zu haben, warfen wir uns einen Blick zu. In Sukos Augen stand der gleiche Ausdruck wie in den meinen. War tatsächlich schon alles gelaufen? Sollten wir uns derartig getäuscht haben? Das war doch nicht möglich. Es raschelte leise, als Madame sich bückte und nach einer Decke griff. Sie faltete sie auseinander und breitete sie wie ein großes Tuch über den nackten, verschwitzten Körper des Mädchens aus. Dann atmete sie
selbst einige Male tief durch und nickte uns beiden zu. »Das ist es gewesen«, sagte sie. Ich konnte erst sprechen, nachdem ich mir die Kehle freigeräuspert hatte. »War es das tatsächlich? Und war es auch erfolgreich?« »Ja.« »Dann hat sie einen Kontakt gehabt?« Die Voodoo-Königin nickte. »Sie fand die Spur des Bösen, sie fand die Aura des Entertainers .. .« »Wo denn?« »In der Nähe!« schrie Madame Oviano. »Hier ganz in der Nähe. Und sie sagte auch, daß es Tote geben würde. Tote und viel, viel Blut...« *** Die beiden Männer hatten nur den Auftrag gehabt, die Fremden zu Madame zu bringen. Ansonsten wollten sie mit dem alten Friedhof nichts zu tun haben, denn ihnen war er unheimlich, obwohl sie zu den Vertrauten der Voodoo-Königin zählten. Sie lebten in Rio, sie kannten die Stadt und waren dort so etwas wie ihre Beobachter. Hin und wieder gaben sie ihr die Botschaften durch und erhielten auch Antworten. Beide Männer hatten so lange gewartet, bis sich die Tür hinter den Fremden schloß. Dann waren sie gegangen. Mit keinem Blick schauten sie auf die in Trance sitzenden Menschen nahe der Grabsteine. Sie wollten in die hilflosen, bittenden und manchmal auch voller Hoffnung steckenden Gesichter nicht hineinsehen. Es war ihnen einfach peinlich, und sie bekamen gleichzeitig eine gewaltige Angst davor. Zwar standen beide mitten im Leben, an diesem Ort jedoch waren ihnen der Tod und das Jenseits näher. Vor allen Dingen den Tod kannten sie. Allerdings sein anderes Gesicht. Die Fratze der Angst, der Gewalt, der Trauer und der stummen Schreie vieler Hinterbliebener. Diese Maske schwebte Tag und Nacht über dem Moloch Rio und griff wahllos hinein in das Leben, um es zu vernichten. Daran hatten sie sich gewöhnt. Nicht aber an die Stille des Friedhofs, wo der Tod ein ganz anderes Gesicht zeigte. Da standen die schiefen Grabsteine, die verwitterten Holzkreuze, da hatten selbst die zahlreichen Vögel des Dschungels ihr Kreischen sehr reduziert, als wollten sie den Geistern aus dem Jenseits ihren eigenen Tribut zollen. Sie verließen fast fluchtartig das Areal und waren froh, als sie von der stickigen, schwülen Luft und dem Summen der Insekten umfangen wurden und die Türen des Jeeps öffnen konnten.
Der Fahrer schüttelte sich, als hätte er einen Regenguß erhalten. »Es ... es war widerlich«, sagte er. »Es war so verdammt widerlich.« Er schlug hastig ein Kreuzzeichen. »Du magst die Welt dort nicht?« »Nein, ich habe Angst.« Er drehte den Zündschlüssel. Bisher hatten sich beide Männer auf ihren Wagen verlassen können, er war stets angesprungen. An diesem Nachmittag hatte er seine Schwierigkeiten. »Das ist wie ein Fluch, der uns getroffen hat«, flüsterte der Beifahrer, »wie ein verdammter Fluch.« »Sei ruhig.« Das Geräusch des Motors hörte sich an, als wäre jemand dabei, mit einem Quirl in den technischen Eingeweiden herumzurühren. Fehlte nur noch, daß ihnen die Einzelteile um die Ohren flogen. So weit kam es nicht. Der Motor hielt und sprang schließlich an. Zwar lief er nicht so wie sonst, viel rauher, das machte den beiden Männern nichts aus. Viel wichtiger für sie war, daß sie endlich vom Fleck kamen. Die Reifen wühlten sich wie gierige Hunde durch das feuchte Erdreich und all seinem Bewuchs. Ein paarmal kurbelte der Fahrer am Lenkrad, bis er es endlich geschafft hatte, den Wagen zu wenden und den normalen Weg wieder zurückzufahren. Zwar mochten die Männer den Dschungel auch nicht, doch er war ihnen lieber als der alte Friedhof. Und wieder rollten sie durch die Welt mit dem grünen Blätterdach, das zahlreiche Sonnenstrahlen abhielt. Der Rest malte helle, zitternde Flecke auf den Boden. Die Männer hatten sich wieder beruhigt. Der Beifahrer griff zu den Selbstgedrehten und zündete sich ein Stäbchen an. Den Rauch blies er gegen die Wagendecke, schielte ihm nach und schaute zu, wie ersieh allmählich verteilte. Das unebene Gelände schaukelte den Wagen durch. Beide hüpften auf ihren Sitzen, schwitzten, rieben ihre Gesichter trocken, schwitzten wieder und waren froh, der stinkenden Hölle Rio entgegenrollen zu können. Sie gehörten nicht zu den Personen, die mit der Natur auf du und du standen. Gewisse Regeln aber kannten sie auch. Plötzlich wirbelte vor ihnen ein dunkelbunter Schwärm in die Höhe. Es waren unzählige Vögel, die eine flatternde und kreischende Wolke bildeten und zusahen, daß sie durch die Lücken an und in den Bäumen dem Himmel entgegenstoben. »Die hat was erschreckt«, sagte der Beifahrer. »Klar, wir.« »Glaube ich nicht.« »Wieso nicht?«
Der Mann auf dem zweiten Sitz vorn gab keine Antwort. Er verfolgte so gut wie möglich den Flug der aufgeschreckten Vögel, die allerdings bald aus seinem Blickfeld entschwanden. »Das muß, verdammt noch mal, etwas anderes gewesen sein.« »Was denn?« Der Beifahrer lachte scharf auf. »Hach, das weiß ich doch nicht, zum Teufel.« »Jedenfalls haben sie Angst bekommen.« »Weiß ich, fahr weiter.« Sie mußten in eine Rechtskurve hinein, um die Stelle zu erreichen, wo die Vögel geflüchtet waren. In der Kurve und auch noch ihrem Ende entgegen, wuchs der Wald dichter zusammen. Er kam von zwei Seiten. Die Pflanzen sowie kleinere Bäume streckten Zweige und Äste aus, als wollten sie jeden festhalten, der diese Stelle passierte. Der Beifahrer war nervös geworden. Unruhig rutschte er auf dem abgewetzten Leder hin und her. »Irgend etwas stimmt hier nicht. Da ist was faul, Carica.« »Und was?« »Ich habe keine Ahnung, ich ...« Das letzte Wort verwandelte sich bereits in einen Schrei, denn aus dem dichten Buschwerk an der Seite schoß jemand hervor. Es war kein Mensch, es war kein Tier, es war eine furchtbare Gestalt — ein Monstrum. Und es besaß die Kraft der Hölle, als es seinen Körper gegen den Jeep wuchtete. An der Seite bog sich der Kotflügel zusammen, auch die Beifahrertür bekam eine Beule, was alles nicht tragisch war, wäre der Jeep in der Spur geblieben. So aber kippte er weg. Beide Männer fluchten, als er auf den Dschungelrand zuglitt und eine Sekunde später in das Unterholz hineinrammte. Er riß dort eine regelrechte Schneise, rutschte weiter und wurde erst gestoppt, als mächtiges Wurzelwerk sich ihm entgegenstemmte. Es wuchs wie eine federnde Mauer aus dem Boden, denn der Baum, zu dem es gehörte, war zur Seite gekippt. Auf der Seite liegend und mit der Schnauze zuerst stieß der Jeep wie eine kantige Faust aus Metall in das Hindernis und blieb darin stecken. Der Motor lief längst nicht mehr, dafür drehten sich die beiden Außenräder, wurden aber müder und standen schließlich still. Keiner der Männer war angeschnallt gewesen. So etwas hatten sie nicht für nötig gehalten. Carica hatte sich am Lenkrad festgeklammert, was ein Fehler gewesen war. So hatte sich das Steuer gegen seine Brust drücken können. Als er Luft holte, wimmerte er vor Schmerzen auf, denn einige Kippen waren bei ihm zumindest angebrochen.
Seinem Freund erging es besser. Zwar hatte er Beulen abbekommen, doch den Kopf rechtzeitig genug schützen können und sich zudem so geduckt, daß er die Aufprallwucht hatte abfangen können. Er atmete keuchend, hörte das Wimmern und erkundigte sich, was los war. »Die Rippen, verdammt!« »Kannst du dich bewegen?« »Kaum.« »Ich krieche raus. Dann versuche ich, dich zu holen. Bleib liegen und rühr dich nicht.« »Klar doch, ich renne schon nicht weg. Aber weißt du, was das gewesen ist? Hast du es gesehen?« »Ja, Scheiße.« »Was denn?« »Hör auf!« Der Mann wollte nicht mehr daran erinnert werden. Er hoffte, einen Traum erlebt zu haben, doch tief in seinem Innern sagte ihm eine Stimme, daß es kein Traum gewesen war, sondern die blutige, verfluchte Realität. Um den zertrümmerten Wagen zu verlassen, mußte er über den Fahrer hinwegsteigen, was nicht einfach sein würde. »Reiß dich zusammen, Carica, wir packen das.« »Du packst es.« »Auch.« Er hatte sich gestreckt. Mit beiden Händen drückte er gegen die Tür und hoffte, daß sie nicht verbogen war. Sie war es. So sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht aus diesem Gefängnis heraus. »Nimm den anderen!« flüsterte der Verletzte. Es war der Weg durch den Fond. Wie eine Schlange wand sich der Dunkelhäutige durch schmale Lücken, erreichte den Fond, wo sich das Brett gelöst hatte und er es als Hilfsmittel einsetzen konnte, wenn er es auch hier nicht schaffte, die Tür aufzustoßen. Es klappte. Nachdem der Hebel gekippt war, konnte er die Tür mit der Schulter nach außen rammen. Natürlich fiel sie sofort wieder zurück, da sie keinen Halt besaß, aber das war kein Thema. Mit dem Kopf zuerst kroch er aus dem Wagen und war froh darüber, daß irgendwelches Benzin kein Feuer gefangen hatte. Dann hätten beide keine Chance gehabt. Keuchend, sich abmühend und aus jeder Pore schwitzend schaffte es der Mann. Er kippte nach vorn, streckte die Arme aus und drückte sich mit den Händen ab, die auf dem weichen Dschungelboden einen relativ sicheren Halt gefunden hatten.
Die Beine mußte er noch nachziehen, dann war es geschafft. Er fiel plötzlich zusammen, konnte sich aber abrollen und kam wieder auf die Beine. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz, der durch sein Knie schoß. Er hatte das Gefühl, eine Brandblase vorzufinden, und der Schmerz jagte hinein bis in seine Wade. Der Mann preßte die Lippen zusammen. Noch stand er, bückte sich und legte seine rechte Hand um das Knie, als könnte er so dafür sorgen, daß es geheilt wird. Das Rascheln überhörte er und auch die Schritte. Dann war es da! Es war sein sechster Sinn, der ihn warnte und gleichzeitig einen Eishagel über seinen Rücken laufen ließ. Der Schatten erschien vor ihm und war groß wie eine Wand. Er lebte! Begreifen konnte der Mann nichts. Er wußte nur, daß er als Opfer gedacht war. Da stand ein gewaltiges Etwas vor ihm, eine Mischung aus Wolf und Bär, wie ihm vorkam. Er sah die vorgeschobene Schnauze, die tiefen Falten und Runzeln in seinem Gesicht, das wirre, grünliche Haar und natürlich die mörderischen Zähne. Aus dem gekippten Jeep vernahm er Caricas Stimme. »Verdammt, was ist denn los? Warum holst du mich nicht raus?« Der Mann konnte nicht sprechen. Seine Kehle war wie zugestampft. Ihn würgte vom Magen die Säure hoch und erzeugte in seiner Kehle einen bitteren Geschmack. Das Gesicht der Bestie sah aus wie altes Leder, der Körper allerdings nicht. Auf ihm wuchs dichtes Haar, so braun und schwarz wie ein Pelz, in dem es keine Lücken gab. Hände besaß das Monstrum nicht, nur Pranken, die mit scharfen Nägeln versehen waren. Die fetzten, wenn sie einmal das Ziel getroffen hatten, alles auf. Egal, ob es Blech, Kunststoff oder Menschenhaut war. Und gerade vor letzterem hatte der Mann Angst. Der erste Schock war vorbei. Sein Gehirn bekam wieder genug Nachschub, um durchblutet zu werden, so daß sein Gedankenapparat ebenfalls anfing zu arbeiten. Er hatte ihn nie gesehen, aber genug davon gehört. Und jetzt wußte er, wer vor ihm stand. Es war der Entertainer! Der härteste und grausamste Killer Rios. Ein Töter, der auf nichts Rücksicht nahm, der eiskalt war und Leichen hinterließ, die kaum noch als Menschen zu erkennen waren. »Was ist denn?« schrie der eingeklemmte Mann im Jeep. »Verdammt, was ist los?«
Er bekam keine Antwort mehr, denn während seiner Frage griff die Bestie an. Die brauchte nicht viel Distanz zu überwinden, das schaffte sie mit einem Sprung. Und sie packte zu. Das Opfer schrie nicht einmal, denn etwas war genau auf seine Kehle gezielt und traf auch. Da er den Blick nach unten gesenkt hatte, konnte er den roten Schwall noch sehen, eine Sekunde später fiel er bereits auf den weichen Boden und merkte nichts mehr. Im Wagen aber hockte der Verletzte. Er wußte es nicht, er ahnte nur, daß sich ein paar Schritte entfernt etwas Furchtbares abspielen mußte. Schreie bekam er nicht mit, dafür andere Laute und Geräusche, über die er lieber nicht nachdachte. Statt dessen arbeitete er an seiner Befreiung, aber jede Bewegung verursachte in seiner Brust Schmerzen. Wie glühende Pfeile jagten sie durch seinen Körper bis hinauf in den Hals, wo sie sich wie Explosivgeschosse verteilten. Es war furchtbar, und der Mann erlitt Qualen wie nie zuvor in seinem Leben. Er weinte, jammerte und kämpfte vergeblich gegen die Tücken der eingeklemmten Tür. Es war für ihn unmöglich, sie zu öffnen. Blieb nur die Chance, auf den Rücksitz zu klettern. Bei gebrochenen Rippen darf man sich wochenlang nicht bewegen. Das wußte jeder, auch wenn er kein Arzt war. Der Mann tat es trotzdem. Er wollte in den schmalen Fond, wo auch das Sitzbrett hochkant stand, rutschte immer wieder ab und zurück und sah allmählich seine Felle schwimmen. Dagegen kam er einfach nicht an. Aus seinen Augen schössen Tränen, und seine Wangen sahen aus wie eine nasse Rutschbahn. Er fiel wieder, blieb geduckt hocken, war still und erlebte plötzlich das schleichende Grauen. Es kam von außen und näherte sich seinem Blechgefängnis. Was tun? Noch einmal schreien? Nein, der Fahrer drehte den Kopf und legte ihn gleichzeitig in den Nacken, damit er hoch zum Fenster schauen konnte, das nur aus Rahmen bestand und keine Scheibe besaß. Dahinter wippten die Zweige des umgekippten Baums. Sie waren mit einem schleimigen Moos bewachsen. Zwischen ihnen hatten auch Lianen ein Netz gewoben. In dieses Bild hinein schob sich von unten her ein anderes. Furchtbar und schrecklich. Dunkles Menschenblut umsprühte die vorgeschobene Schnauze einer widerlichen Bestie. Für den Fahrer war klar, wessen Blut das Maul näßte. Und es war ihm ferner klar, daß es für ihn kein Loch mehr gab, in
das er sich hätte verkriechen können. Wenn die Bestie es wollte, dann schaffte sie es sogar, den Körper durch das scheibenlose Fenster zu zerren. Es war seltsam, daß sich der Verletzte ausgerechnet davor am meisten fürchtete. Soweit kam es nicht. Zuerst drosch die Pranke gegen das äußere Türblech und beulte es noch stärker ein. Dann zerrte sie am Griff und riß ihn kurzerhand ab. Das gab dem Mann noch Sekunden, in denen er weiterleben konnte. Zwei Herzschläge später umkrallten die Pranken die Wagentür in Höhe des unteren Fensterholms. Hin kurzes Zerren, ein Ruck — und die Tür wurde abgerissen, als bestünde sie aus Pappe. Das Monstrum hatte sehr viel Kraft in diese Aktion gelegt. Es segelte zurück, die Tür noch umklammernd, rutschte auch aus, landete auf dem Rücken. Der Fahrer bekam freie Sicht. Er konnte seinen Freund sehen, von dem nur mehr ein dunkles, zusammengedrücktes Bündel zurückgeblieben war, das von wahren Fliegenschwärmen umschwirrt wurde. Der Entertainer schleuderte die Tür weg. Freie Bahn für ihn. Und er kam. Die Schreie des Fahrers gellten hinein in den tropischen Regenwald. Sie verscheuchten noch manche Vögel, die in einem Flatterschwarm flüchteten. Der Prankenschlag erstickte den Schrei. Stille breitete sich am Ort des Verbrechens aus. Tödliche Stille... *** Wir hatten Madame Oviano stützen müssen, als sie das große Grabmal verließ. Sämtliche Kraft schien aus ihrem Körper gewichen zu sein, und ihre Füße schleiften beim Gehen über den Boden. Sie hielt den Kopf gesenkt. Beide sahen wir, wie sie weinte. Draußen saßen noch immer die Menschen an den Gräbern ihrer Verwandten und warteten darauf, durch Madame Ovianos Hilfe mit den Toten in Kontakt treten zu können. An diesem Tag würde das nicht mehr möglich sein. Die Voodoo-Königin kam mir vor wie eine gebrochene Frau. Es war zwar nicht der richtige Sitzplatz, wir drückten sie trotzdem auf die obere Kante eines niedrigen Grabsteins nieder. »Bleib du bei ihr«, sagte ich. »Was machst du?« Mein Nicken galt dem Grabmal. »Ich möchte mich um das junge Medium kümmern.« »Denkst du, daß ihm etwas passiert ist?« »Ich weiß es nicht.« »Okay, John.«
Diesmal brauchte ich die Tür nicht aufzuziehen, als ich das kleine Haus betrat. Coco lag noch immer im Kerzenschein. Sie sah nicht mehr so starr aus und erinnerte mich jetzt an eine Schlafende. Auch ihr Atem ging ruhig und sicher. Ich schob mich an den Flammen vorbei und ging neben ihr in die Knie. Sie mußte mich bemerkt haben, weshalb hätte sie sonst die Augen aufgeschlagen? Wir schauten uns an. Sie sah gegen meinen lächelnden Mund. Ich hoffte, ihr Vertrauen erringen zu können. »Coco?« »Si . . .« Gut, sie konnte reden, aber leider nicht in meiner Sprache, wie mir ihre nächsten Worte bewiesen. Dafür verstand sie die Geste, als ich ihr meine Hand hinhielt, sie das Gelenk umfaßte und sich von mir in die Höhe helfen ließ. Schwankend stand sie da. Die Decke hatte sie zwar mitgenommen, sie war aber verrutscht, so daß ihr linker Busen freilag. Sofort zog sie das Tuch davor. Ich deutete auf die Tür. Coco aber bewegte den Kopf und fragte nach Madame Oviano. »Sie ist draußen.« Das Mädchen nickte, ging vor, ohne meine Hand loszulassen. Daß sie mit ihren Füßen durch die heiße Aura der Kerzenflammen streifte, machte ihr nichts aus. Vor dem großen Grabmal blieb sie für einen Moment stehen, um dann mit langen Schritten auf Madame Oviano zuzulaufen. Sie rief ihren Namen und warf sich der Frau an den Hals. Suko kam mir entgegen. Er hob die Schultern. »Ich habe versucht, etwas Konkretes herauszufinden, aber die Voodoo-Königin zeigte sich verschlossen.« »Will sie nicht reden?« »Das nehme ich fast an.« Suko wischte Schweiß von seiner Stirn und vertrieb Insekten. »Es ist möglicherweise zu viel für sie gewesen. Das Medium mußte die Nähe des Grauens gespürt haben.« »Hast du denn auch etwas bemerkt?« »Nein.« »Eben.« Suko hielt mich am Arm fest. »Hör zu, John, die Kleine hat von Taten und viel, viel Blut gesprochen, wie Madame sagte. Es kann nur bedeuten, daß der Entertainer in einen Amoklauf verfallen ist und nicht nur einen Menschen auf dem Gewissen hat.« Ich deutete über den alten Friedhof. »Hier tauchte er nicht auf.« »Stimmt.« »Und Rio ist weit.«
»Okay, da sprichst du was an. Stellt sich die Frage, wie wir wieder zurück in die Stadt kommen. Unsere beiden Begleiter haben das Weite gesucht.« »Frag Madame Oviano. Die weiß doch auf alles eine Antwort. Nur nicht darauf, wen es erwischt hat.« »Das wird uns Cavaldos dann sagen können.« Wir wurden abgelenkt, weil wir das Geräusch eines Motors hörten. Der Wagen schaukelte näher, passierte das ungewöhnliche Leichenhaus und kam dicht neben uns zum Stehen. Maria sprang hinaus. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt reißfeste Khakikleidung und einen IndianaJones-Hut auf dem Kopf. Allerdings war sie nicht bewaffnet. »Bin ich zu spät?« fragte sie. »Wofür?« Sie hob die Schultern. »Ich habe euch den Weg gewiesen und möchte nun erfahren, ob ich Erfolg hatte.« »Das steht noch nicht fest.« »Es war also nichts mehr mit dem Entertainer.« »Wir haben keine Ahnung«, sagte Suko und fragte weiter. »Wo kommen Sie her?« »Ich war bei meinen Eltern und habe mich umgezogen.« »Wohnen die hier in der Nähe?« »Ja«, sagte sie nur und lief auf Madame Oviano und das Medium zu. Coco kniete neben der Voodoo-Königin, die nach wie vor auf der Grabsteinkante saß. Das Medium hatte seinen Kopf auf den Oberschenkel der Frau gelegt, und diese streichelte mit ihrer rechten Hand automatisch Cocos Haar. An den anderen Grabsteinen hockten noch immer die bleichen Gestalten und warteten auf ein Zeichen aus dem Totenreich. Sie hatten wahrscheinlich nichts begriffen. Als Maria die beiden Frauen erreicht hatte, hob die Voodoo-Königin den Kopf. Was sie miteinander sprachen, verstanden wir nicht, rechneten allerdings damit, daß Maria einen genauen Bericht bekam. Ich war gespannt, wie sie darauf reagieren würde. »Und wir stehen hier herum und vergeuden unsere Zeit«, schimpfte Suko. »Dabei kann sich der verfluchte Entertainer frei bewegen und sich weitere Opfer holen.« »Stimmt leider.« Suko deutete auf den Wagen. »Wir sollten Maria fragen, ob sie uns nach Rio hineinfährt.« »Und dann?« »John, ich sage dir, wenn das Medium recht gehabt hat, dann ist zumindest einer gestorben, wenn nicht noch mehr Personen. Dann müssen sie auch gefunden worden sein. Da kannst du sagen, was du willst.«
»Und wir sind keinen Schritt weitergekommen. Coco hat uns nichts Genaues sagen können.« Ich hatte Maria Falanga nicht aus den Augen gelassen und schaute zu, wie sie sich langsam in die Höhe drückte. Sie schob ihren Hut zurück und kam auf uns zu. Ihren staksigen Schritten und ihrer Haltung nach zu urteilen, mußte sie alles erfahren haben. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Was tut Ihnen leid, Maria?« Sie schaute mich an. »Daß Ihr Besuch bei Madame Oviano nicht erfolgreicher gewesen ist.« Ich hob die Schultern. »Zumindest wissen wir jetzt, daß der Entertainer wieder unterwegs gewesen ist und es Tote gegeben haben soll. Sogar hier in der Nähe, aber ich kann Ihnen nicht sagen, an welchem Platz sich das abgespielt hat.« »Hier?« wiederholte sie. »So ist es.« »Ihr habt nichts gesehen?« »Wir können nicht durch den Dschungel schauen.« »Habt ihr denn etwas gehört?« »Nein.« »Ich auch nicht«, murmelte sie. »Dabei habe ich eine Abkürzung genommen.« Sie überlegte und kaute dabei auf der Unterlippe. »Ihr wollt zurück nach Rio, nicht?« »Natürlich«, sagte Suko. »Wenn etwas passiert sein sollte, dann muß es da unten in diesem verdammten Hexenkessel geschehen sein. Bisher wurde die Polizei nach den Leichenfunden noch immer alarmiert. Weshalb sollte es jetzt anders sein?« Maria nickte und strich dabei über ihren Hut. »Das stimmt. Ihr habt keinen Wagen.« »Wir hofften auf Sie«, sagte ich lächelnd. Die Frau hob die Schultern. »So etwas ist selbstverständlich. Als hätte ich einen Riecher gehabt. Mit dem Wagen traue ich mich natürlich nicht hinein in die Stadt, aber hier oben kann man damit schon fahren, und ich komme fast überall durch.« »Was ist mit Madame? Nehmen wir sie auch mit?« Maria schaute auf die Frau und deren Medium. »Nein«, sagte sie. »Madame Oviano wird hierbleiben wollen. Sie wohnt nicht weit entfernt, hat ihre Hütte im Dschungel, weil sie dort eins sein kann mit den Kräften der Natur. Und natürlich auch mit denen der Geister, wie sie mir oft versichert hatte.« Maria wechselte das Thema. »Es ist sehr schade, daß Coco nicht mehr herausfinden konnte. Sie hat ihn nur gespürt und weiß nicht, wie der Entertainer als Mensch oder als Bestie aussieht.« »Und wenn er nur Bestie ist?« fragte Suko.
»Das glaube ich nicht.« »Warum?« Maria Falanga blieb bei ihrer Meinung. Es muß jemand sein, der sich verwandelt. Einmal Dr. Jekyll und dann wieder Mr. Hyde. Für mich ist es ebenso furchtbar. Man hat mich schon gefragt, ob ich keinen Ausweg wüßte, aber ich konnte sie nur auf die Voodoo-Königin verweisen. Sie haben meinen Rat ja angenommen.« Ich nickte. »Okay, lassen Sie uns fahren.« Zuvor verabschiedeten wir uns von den beiden Frauen. Madame Oviano tat etwas Ungewöhnliches. Bevor sie Suko und mich entließ, gab sie uns ihren Segen. Über jedem von uns schlug sie das Kreuzzeichen und wünschte uns den Beistand des Guten. Beim Einsteigen sprach ich mit Maria Falanga darüber. Die Frau konnte nur lachen. »So sind die Brasilianer eben. Glaube und Aberglaube liegen dicht beisammen.« »Sie sind nicht gesegnet worden?« Lachend schlug Maria die Tür zu. »Das ist auch nicht nötig. Ich sehe sie öfter.« Wir starteten. Dieser Geländewagen, vorzüglich ausstaffiert, war kein Vergleich zu dem alten Jeep, der allerdings auch treu und brav seine Pflicht getan hatte. Nur Madame schaute uns nach, als wir über den Platz rollten. Sie winkte zudem etwas müde hinter uns her. Ich saß vorn und konnte sogar meine Beine einigermaßen gut ausstrecken. »Sie wohnen also hier oben«, sagte ich. »Das nicht. Weiter westlich.« »Aber priviligiert.« »Das stimmt. Meine Eltern sind vermögend. Meinem Vater gehört eine große Praxis.« »Ist er Arzt?« »Nein, Anwalt.« »Für die Reichen?« »In der Regel.« »Und Sie, Maria, was ist mit Ihnen?« Da lachte sie und schob den Hut weit in den Nacken. »Wissen Sie, John, ich sollte nach meinem Studium in die Praxis einsteigen und habe erstens kein Jura studiert und zweitens liebend gern auf den Job verzichtet. Ich hasse das Elend, ich versuche, es zu bekämpfen, nicht mit Geld, nein, das würde in falsche Kanäle laufen. Ich will den Kindern etwas beibringen. Nur wer dumm ist oder nichts gelernt hat, kann geknechtet werden. Wer aber etwas kann, der wird sich auch wehren können und möglicherweise versuchen, die Verhältnisse zu ändern.« »Eine gute Einstellung!« lobte ich. »Fragt sich nur, ob sie auch Ihrem Vater gefällt!« meldete sich Suko vom Rücksitz her. Sie lachte auf. »Natürlich nicht. Mein Vater hat getobt, als er merkte, daß ich ihm entfleuchte und nicht in seine Praxis wollte. Er hat nur noch
einen Sohn, der leider durch eine schwere Geisteskrankheit gezeichnet ist. Also ruhten seine Hoffnungen auf mir, aber ich habe ihn enttäuscht. Es hat natürlich lange Diskussionen mit meinem Vater gegeben, und wir haben uns dann auf einen Kompromiß geeinigt. Jeder geht seinen Weg, und ich habe ihm gesagt, daß ich es mir ja noch einmal überlegen könnte. »Werden Sie das?« »Weiß ich noch nicht.« Maria Falanga lenkte den Wagen sicher über den Dschungelpfad, als hätte sie nichts anderes zuvor getan. Es war eine Frau, die ihren Mann stand, und das in einer Hölle wie Rio. Hut ab ... Die Entspannung wollte bei mir nicht einsetzen, obwohl ich mich nicht anzustrengen brauchte. Irgendwie störte mich etwas. Vielleicht war es mein Gefühl. Maria Falanga konnte es nicht sein. Ich konnte ihr Profil mit der leicht gebogenen Nase und den schmalen Lippen sehen. Durch den Hut bekam ihr Aussehen etwas Wildes, auch Männliches. Und dann bremste sie. Zum Glück war ich angeschnallt. Ich fiel nach vorn in den Gurt, der mich festhielt. Den Grund der plötzlichen Bremsung erkannte ich erst, als Maria zur Seite deutete. »Schauen Sie?« Ein Wagen war von der Straße abgekommen und geradewegs in den Dschungel gerast. Er hatte eine Schneise hinterlassen, bevor ihn mächtiges Wurzelwerk auffangen konnte. »Kennen Sie den?« Ich nickte nur, aber Suko hinter uns gab die Antwort. »Das ist der Jeep, mit dem wir gekommen sind.« »Und weiter?« »Wahrscheinlich sind die beiden Führer mit ihm zurückgefahren.« Ich wollte die Tür öffnen und aussteigen, doch Maria hielt meinen Arm fest und sprach so laut, daß es auch Suko verstehen konnte. »Das Medium sprach von einer Tat, die sich nicht weit entfernt ereignet hat. Machen wir uns also auf das Schlimmste gefaßt.« »Okay!« flüsterte ich und öffnete die Tür. Diesmal hielt sie mich nicht auf. Ich hatte als erster den Rand der Dschungelpiste erreicht und schaute auf die Unglücksstelle. Sie war furchtbar anzusehen. Scheiben besaß der Wagen nicht, ich konnte in das Innere schauen, wo vieles von einer dunkelroten Farbe bespritzt war. Es fiel mir nicht leicht, nahe an das Fahrzeug heranzugehen. Maria blieb zurück, Suko begleitete mich, und auch er konnte das Erschrecken nicht verbergen. »Diese verfluchte Bestie!« keucht er nur. »Dieser verdammte Killer.« »Das ist nur einer«, flüsterte ich rauh.
»Warte.« Suko umging den Wagen. Ich schaute über die hochkant liegende Kühlerhaube hinweg und sah meinen Freund winken. Er stand neben einem zusammengerollt wirkenden Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war. Jetzt nicht mehr. Ich schloß die Augen. Plötzlich erfaßte mich der Schwindel. Die Dschungelwelt hier war zu einem Zerrbild des Schreckens geworden. Das Geräusch der summenden Schmeißfliegen ließ mich fast durchdrehen. Am liebsten hätte ich jede einzelne erschlagen. Ich drehte mich um, als auch Suko ging. Maria Falanga erwartete uns mit herabhängenden Armen. Sie stand regungslos wie eine Statue da und konnte kaum reden. »Haben Sie das erwartet?« fragte ich. »Nein, aber befürchtet.« Ich nickte. »Das Medium hatte recht, aber es wußte nicht, wo das Grauenvolle geschah. Stellt sich die Frage, was wir jetzt tun sollen.« Suko gab die Antwort. »Wären wir in London, würde ich die Kollegen anrufen, aber hier . . .« Maria griff seine Worte auf. »Sie haben recht, hier ist nicht London. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich unsere Polizisten bis hierher hochquälen werden. Zwei Tote mehr oder weniger, was macht das in dieser Stadt schon? Das ist zwar zynisch, doch es entspricht den Tatsachen.« »Haben Sie einen Vorschlag?« Maria schaute mich an. »Ja. Können wir davon ausgehen, daß sich der Entertainer noch hier in der Gegend aufhält, oder wird er sich auf den Weg in die Stadt gemacht haben?« »Beides ist möglich.« »Man müßte zumindest mit der Polizei telefonieren!« schlug Suko vor. Er war nicht davon abzubringen. Die junge Frau verzog die Lippen. »Telefonieren ist gut. Hier können Sie nur trommeln.« Sie trat gegen einen fauligen Baumstumpf. »Ich möchte davon trotzdem nicht abgehen.« »Inwiefern?« »Nicht allzu weit wohnen meine Eltern. Wir fahren dorthin und informieren Cavaldos. Er leitet ja die Kommission, die sich um die Fälle kümmern soll. Obwohl da nichts bei herauskommen wird und Cavaldos sich kaum auf den Weg hier in den Dschungel machen wird.« Ich konnte nicht widersprechen. Maria Falanga kannte die Verhältnisse besser als ich. »Haben wir denn weit zu fahren?« »Nein. Sie müssen sich nur auf mich verlassen. Ich kenne Abkürzungen.« »Einverstanden.« Auch Suko nickte, bevor er sagte: »Möglicherweise läuft uns der Entertainer sogar vor die Reifen. Dann werden wir ihm das Programm gestalten.«
Maria stieg noch nicht ein. »Da wäre noch etwas, das ich Ihnen sagen möchte.« Sie senkte den Blick und lächelte ein wenig sparsam. »Es geht um meine Eltern. Sie feiern heute, geben eine Party, ein Fest, wie immer Sie wollen. Stört Sie das?« »Warum?« »Es war nur eine Frage.« »Wir brauchen ja nicht mitzufeiern«, meinte Suko. »Außerdem sind wir dafür nicht angezogen.« Sie lachte. »Was interessiert schon die Kleidung eines Menschen, wenn sein Inneres nichts taugt?« »Das sagen Sie. Die Gesellschaft sieht es anders.« Wir nahmen die gleichen Plätze ein wie auf der Herfahrt. Ich schaute in den Außenspiegel. Der Jeep zeichnete sich darin ab, die beiden Toten entdeckte ich nicht. »Müssen wir quer durch den Dschungel?« »Ja.« »Und da gibt es Wege?« Ich war skeptisch. »Keine Sorge, John, die Strecke bin ich schon öfter gefahren. Es wird zwar eine Schaukelpartie, aber wir werden es überstehen.« »Ja, Unkraut vergeht nicht...« *** »Du mußt dich anziehen, Kind«, sagte Madame Oviano zu ihrem jungen Schützling. Coco saß neben ihr. Sie schaute hoch. »Warum soll ich das?« »Es gehört sich so.« »Gut.« Coco stand auf und ging mit schleppenden Schritten davon. Sie verschwand hinter dem Grabmal, wo sie ihre Kleidung zu Boden gelegt hatte. Das schlichte Kleid hob sie an, schüttelte es aus, streifte es über und raffte anschließend den Rock, um in die Jeans zu steigen. Ansonsten ging sie barfuß. Madame Oviano war nicht auf dem Grabstein sitzengeblieben. Sie schritt über den alten Friedhof und sprach mit den Menschen, die dort apathisch hockten und auf so etwas wie ein Wunder warteten. Es waren Leute, die manchmal lange Wege auf sich genommen hatten, um den Friedhof zu erreichen. Jetzt mußte die Frau sie wegschicken, und es tat ihr sehr leid, daß sie nicht anders handeln konnte. »Werden wir keinen Kontakt bekommen, Madame?« »Später.« »Warum nicht heute?« fragte ein alter Mann. Ich will mit meiner Frau reden.« »Die Sterne stehen nicht gut. Die Toten halten sich zurück. Sie wollen es einfach nicht.« »Wann kommst du wieder?«
Es tat ihr leid, die Menschen ohne einen Erfolg zurücklassen zu müssen, doch andere Dinge waren jetzt wichtiger. Es gab das Böse, und Coco hatte es greifbar gesehen. Das Mädchen war angezogen und wartete auf Madame. Es hielt sich im Schatten der Grabstelle und wollte von den Menschen nicht unbedingt gesehen werden. Die würden ihre Kerzen wieder einpacken und allmählich verschwinden. Die Voodoo-Königin schloß die Tür des Grabmals mit einem großen Schlüssel ab. Es würde sich zwar niemand trauen, das kleine Totenhaus zu betreten, doch niemand konnte vorhersagen, wer sich alles auf den alten Friedhof verirrte. »Können wir jetzt gehen?« fragte Coco. »Du willst zu mir?« »Dort bin ich doch sicher.« »Dann fürchtest du dich?« Coco überlegte. Sie ist noch immer unter den Nachwirkungen der letzten Meditation. »Es war einfach zu schlimm, Madame. Ich weiß nicht, ob es sich zurückgezogen hat.« »Du spürst Angst, wie?« »Ja, so ist es. Ich habe das Bohren in mir. Es war einfach furchtbar. Ich habe das noch nie erlebt.« »Und du konntest ihn nicht sehen?« Coco preßte die Hand gegen Stirn und Augen. »Nein, er ist mir entwischt. Ich spürte ihn nur. Sein Geist durchwehte meine eigene Aura, und ich weiß, daß er noch nicht verschwunden ist. Ich habe ihn später noch gespürt.« »Jetzt auch?« »Willst du die Wahrheit wissen?« Madame Oviano lächelte. »Das weißt du doch, mein Kind. Du sollst mir immer die Wahrheit sagen. Ich bitte dich darum.« »Gut, das werde ich. Sie sind noch da. Ich weiß es genau. Die bösen Strömungen haben sich zwar zurückgezogen, aber sie bleiben in der Umgebung. Sogar in diesen Augenblicken kann ich sie erfassen. Sie irren umher, bis sie wieder etwas Böses tun.« Madame Oviano streichelte ihren Schützling. »Du brauchst keine Angst zu haben, Kind. Ich werde bei dir bleiben, und ich werde dich beschützen.« »Eaß uns zu dir gehen, ja?« »Gern.« Coco schaute sich noch einmal um. Sie hatte ihre Arme um den Körper geschlungen, als würde sie frieren. Wenig später verschwand sie im dichten Grün des tropischen Regenwaldes. Die Sonne stand nicht mehr so hoch, besaß aber genügend Kraft, um den Dschungel weiterhin in eine Sauna zu verwandeln, in der die Luft
stand und unzählige Insekten summten. Sie waren diejenigen, die es auch noch geben würde, wenn längst keine Menschen mehr lebten. Madame Oviano wohnte versteckt im Wald, deshalb mußten sie eine Weile laufen, um das kleine Haus zu erreichen. Die Gedanken der Frau drehten sich noch immer um Cocos Aussagen. Sie dachte daran, was Coco gesehen hatte, und sie glaubte einfach nicht, daß sich das Medium geirrt hatte. Irgendwann verließen sie den dichten Regenwald und erreichten den schmalen Weg, der talwärts führte. »Warum tust du das?« fragte Coco. »Hast du es gespürt?« »Was soll ich gespürt haben?« »Die Ausstrahlung.« »Nein, aber ich habe eins und eins zusammengezählt. Ich glaube nicht, daß meine beiden Helfer noch am Leben sind. Sie haben Rio bestimmt nicht erreicht.« Coco nickte. Mit gesenktem Kopf schritt sie neben der Voodoo-Königin her. Lange brauchten sie nicht zu gehen, um die Stelle zu erreichen, wo der Jeep von der Fahrbahn abgekommen und in den Dschungel gefahren war. Er lag auf der Seite, aber das interessierte Madame nicht. Sie hatte nur Augen für den Inhalt. Den zweiten Mann entdeckte sie auch. Das Summen der Fliegen hatte ihr den Weg gewiesen. Zudem brütete ein dumpfer Blutgeruch über der Schreckensstelle. Coco war zurückgeblieben und hielt ihre Hand vor beide Augen, als könnte sie das Elend nicht sehen. Madame Oviano stellte sich dem Schrecken. Sie schaute genau hin, und sie schüttelte den Kopf, als sie das Ausmaß des Grauens wahrnahm. Sehr langsam und mit gesenktem Kopf hing sie zurück. »Du hattest recht gehabt, Coco. Sie sind gekommen und haben brutal zugeschlagen.« »Sie?« »Das Böse.« »Ja, Madame. Es hat keine Gestalt. Es ist einfach da, und es ist so furchtbar.« Die Voodoo-Königin räusperte sich. »Es hat keinen Sinn, wenn wir hier stehenbleiben, der Täter wird verschwunden sein. Oder spürst du noch etwas von ihm?« »Nein, die Aura ist weg.« »Das ist gut, Kind. Laß uns gehen.« Sehr bald schon hatte sie der Dschungel verschluckt. Auf engen, verschlungenen Pfaden gingen sie dorthin, wo sich die Hütte der Madame Oviano befand. Sie lebte wie eine Einsiedlerin, weil sie es nicht nötig hatte, auf die Menschen zuzugehen. Wer etwas von ihr wollte, der wußte genau, wo sie zu finden war. Zudem kannte sie Personen, die kontaktiert werden
konnten. Allerdings mußte sie nun auf ihre beiden Boten verzichten, das tat schon weh. Die Hütte der Frau duckte sich an den Hang. Sie stand sehr günstig, denn an dieser Stelle flössen bereits die Ströme der Zivilisation in den Regenwald hinein. Er stand nicht mehr so dicht, man hatte Lücken hineingeschnitten, weil man an den Bau einer Straße dachte, sich mit der Finanzierung aber nicht einig wurde. So kam es, daß Madame von ihrem Haus aus tief hinein in das Tal schauen konnte, wo die Höllenstadt lag. Sie sah auch das Meer und die hellen Barte der auslaufenden Wellen, wenn sie gegen den Strand leckten. Am Himmel hatte die Sonne an Höhe verloren und bereits eine andere Färbung angenommen. Langsam setzte die Dämmerung ein. Das Haus war klein. Es besaß eine schmale Tür und auch nur einen Raum. Als Madame die Tür öffnete und Coco in das Innere schieben wollte, stemmte sie sich dagegen. »Bitte, noch nicht.« »Was hast du?« Das Medium hob die Schultern. »Ich weiß nicht so recht!« flüsterte sie. »Aber ich habe den Eindruck, daß sich etwas Fremdes hier in der Nähe aufhält.« »Was Böses?« Madame dachte sofort an den Entertainer. »Nicht unbedingt.« Coco schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Es ist jemand anderer.« »Laß uns hineingehen.« Im Gegensatz zu ihrem Grabmal hielt sie die Hütte nicht verschlossen. Unten in der Stadt wäre ihr das nicht passiert, aber wer hier stehlen wollte, der mußte einen langen Weg hinter sich bringen. Zudem war Madame Oviano geachtet und sogar etwas gefürchtet. Deshalb würde sich kaum jemand trauen, ihr aus der Hütte etwas wegzunehmen. Wenig später erkannten beide, daß Coco recht gehabt hatte. In der Hütte wartete jemand. Er hockte im Schneidersitz auf dem Boden. Sein Haar hing ihm wirr in die Stirn. Die Augen bewegten sich unruhig, die Handflächen rutschten über die Oberschenkel, und um seine Lippen zuckte ein unnatürliches Lächeln. Der junge Mann trug eine helle Hose und ein dunkles Hemd. Er wirkte in dem mit zahlreichen Fetischen, Masken, Töpfen, Tiegeln, Teppichen und Trockenblumen überladenen Raum wie ein Fremdkörper. Coco hatte den jungen Mann schon gesehen, wußte aber im Moment nicht, wie sie ihn einschätzen sollte. Anders die Voodoo-Königin. Sie kannte ihn namentlich und begrüßte ihn auch entsprechend. »Du bist hier, Vasco?« Er nickte. »Wer ist das?« hauchte Coco. »Vasco Falanga, Marias Bruder.« »Aha .. .«
»Er ist etwas verwirrt. Es gibt Menschen, die ihn als geistesgestört bezeichnen. Von seiner Familie wird er nicht akzeptiert. Ich aber sehe das anders.« »Magst du ihn?« »Ich mag alle Menschen, die zu den Schwachen zählen und von den anderen getreten werden.« Coco hob die Schultern. »Dann war er es, den ich gespürt habe. Ja, so muß es gewesen sein.« »Ich werde ihn fragen, weshalb er zu uns gekommen ist. Er muß einen Grund gehabt haben.« »Sei vorsichtig.« Die Frau war bereits einen Schritt gegangen. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Was ist los?« »Ich traue ihm nicht.« »Keine Sorge, er ist wirklich harmlos.« »Wir werden sehen.« Vasco Falanga hob den Kopf, als er die Voodoo-Königin auf sich zukommen sah. Madame lächelte, sie wollte Vertrauen geben und Mißtrauen nehmen. Mit dem Fuß schob sie ein Sitzkissen heran und stellte eine dicke Kerze zwischen sie. Als der Docht Feuer gefangen hatte, zuckte der junge Mann zurück. »Du brauchst keine Sorge zu haben!« flüsterte Madame über die Flamme hinweg. »Es ist ein gutes Feuer.« Vasco nickte einige Male. Wieder strich er über den Hosenstoff. Er transpirierte stark. »Nun?« »Bitte, Madame, ich . . .« »Du bist zu mir gekommen. Du bist von zu Hause weggelaufen. Du wirst einen Grund gehabt haben, mich zu besuchen. Ich möchte dir sagen, daß du mir willkommen bist.« »Ja, ja!« stieß er hervor. »Ich lief auch von meinem Haus weg. Das mußte ich tun.« »Richtig.« »Denn ich konnte es nicht mehr aushalten.'Da . . . da war was. Sie haben gefeiert, aber sie wissen nichts.« »Weißt du denn mehr?« Sein Blick erstarrte. Er schaute gegen die Wand, atmete durch den offenen Mund und nickte wieder. »Was weißt du denn?« »Viel, sehr viel und gar nichts.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Vasco zuckte unter der Berührung zusammen. »Ich bitte dich, Junge, so kannst du nicht sprechen. Du mußt doch etwas wissen. Sonst wärst du nicht zu uns gekommen, stimmt es?« »Ich habe es gespürt.« »Was?« »Da ist etwas.« »Und wo?«
Vasco stieß die Worte schnell hervor. »Bei uns. Ja, bei uns zu Hause ist etwas.« »Wer sollte denn dort sein? Kannst du darüber etwas genauer sprechen?« »Das ist schwer. Es will mir keiner glauben. Sie feiern, meine Eltern lachen mich aus. Manchmal sperren sie mich auch ein. Ich sprach mit meinem Vater darüber.« »Was sagte er?« »Ich sollte meine Medizin nehmen, dann würde ich alles vergessen.« Vasco senkte den Kopf und schüttelte ihn. »Ich will die Medizin nicht nehmen, ich will es nicht.« Das konnte Madame Oviano sehr gut verstehen. Da hatten es sich die Menschen wieder einmal leicht gemacht. Man kümmerte sich nicht persönlich um den Kranken, sondern stellte ihn mit Tabletten ruhig. Sie haßte so etwas, aber es war kein Einzelfall. »Das brauchst du auch nicht, Vasco. Du bist jetzt bei uns, kannst dich ausruhen und . . .« »Nein!« schrie er und überraschte mit dieser Antwort selbst die Frau. »So ist es nicht. Ich ... ich kann nicht bei dir bleiben. Ich muß wieder zurück, denn ich will sie retten.« »Wen denn?« Fieber loderte in den Augen des jungen Mannes. »Sie alle, die bei uns sind. Keiner hat gespürt, daß sich das Grauen nähert, aber es umschleicht sie. Das Böse ist bereits da. Es wird Blut fließen, viel Blut, so glaubt mir doch.« »Hast du es gesehen?« »Weiß nicht. . .« »Bitte, Vasco, denke nach. Wie sah es denn aus? Das Böse hat ein Gesicht, wenn es ihm gelungen ist, Gestalt anzunehmen. Das wissen wir beide doch.« »Ja, ja. Ich habe es als Schatten gesehen. In der letzten Nacht huschte es um unser Haus. Dann war es plötzlich weg.« »Wohin?« »Ich konnte es nicht verfolgen.« »Wir glauben dir.« Vasco Falanga griff nach den Händen der Frau. Er schaute sie an, seinen Lippen zitterten. Die nächste Frage würde ihm schwerfallen. »Sei ehrlich zu mir. Glaubst du vielleicht, daß ich das Böse bin? Daß ich vor mir selbst weggelaufen bin?« Madame Oviano drehte den Kopf. Sie schaute ihr Medium an, doch Coco hob nur die Schultern. »Nein, mein Junge, ich glaube nicht daran, daß du das Btise bist. Du kannst es spüren, das ist alles. Aber du selbst bist ihm nicht verfallen. Oder zweifelst du daran?«
»Ich weiß wirklich selbst nicht, was ich davon halten soll. Ich . .. ich weiß es nicht.« Die Frau überlegte einen Moment und starrte in die Kerzenflamme, als würde sie dort die Lösung der Probleme finden. »Ich möchte dich fragen, wie es weitergehen soll. Bist du nur gekommen, um dich hier auszuruhen, oder willst du bleiben.« »Ich habe Vertrauen zu dir.« »Das finde ich auch toll. Noch einmal die Frage: Willst du bleiben oder gehen?« »Ich gehe.« »Wieder zurück?« Vasco umfaßte ihren Arm. »Ja, ich will zurück, aber ich möchte, daß du an meiner Seite bleibst. Ist das zuviel verlangt? Willst du mit mir gehen und aufpassen?« »Soll ich dich beschützen?« »Darum bitte ich dich!« Die Voodoo-Königin überlegte. »Du müßtest eigentlich einen Grund dafür haben.« »Es ist die Angst, die mich umklammert hält. Die reine Angst, verstehst du das?« »Nein . ..« »Doch, doch . . .« Er schüttelte sich. »Das ist einfach grauenhaft, wenn man spürt, daß irgend jemand lauert. Er umringt dich, er will dich irgendwann töten, aber er zeigt sich nicht. Ich fürchte mich wahnsinnig davor.« »Das kann ich gut verstehen. Aber weiter. Wir sollen also mit dir kommen.« »Genau.« »Wie wird es weitergehen? Was hast du dir vorgestellt?« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Bleibt immer in meiner Nähe, bitte, denn ich bin die Person, auf die es ankommt. Ich bin der Magnet, der das Böse anzieht. Ich glaube an das viele Blut, das sich über uns ergießen wird. Ich glaube fest daran, es gibt kein Zurück mehr.« Madame Oviano nickte. »Gut, Vasco, wir werden später darüber reden.« »Nicht zu lange warten, bitte nicht.« »Nein, keine Sorge.« Sie wollte mit Coco reden und schritt auf sie zu. Hinter ihr blieb Vasco Falanga starr hocken, den Kopf gesenkt und den Blick ins Leere gerichtet. Die beiden Frauen redeten sehr leise. »Du hast alles gehört, Coco, was sagst du dazu?« »Ich . . . ich weiß es nicht.« »Aber du hältst ihn noch immer nicht für den Killer?« »Das kann ich auch nicht sagen. Ich steh' in einem großen Zweifel. Ist er gespalten?« Die Voodoo-Königin nickte. »Daran habe ich ebenfalls gedacht. Eine gespaltene Persönlichkeit, die sich bei Anbruch der Dunkelheit in einen anderen verwandelt.« »In den Entertainer?«
»Hoffentlich nicht. Aber wir sollten mit ihm gehen und in seiner Nähe bleiben. Auch wenn er bei seinen Eltern nicht gern gesehen wird, er braucht sich nicht um sie zu kümmern. Das Haus der Falangas ist sehr groß. Es gibt genügend Räume, in die wir uns zurückziehen können. Einverstanden?« »Ja, ich vertraue dir.« Als Madame Oviano auf Vasco zuging und ihr Schatten über ihn fiel, hob er den Kopf. »Nun, hast du dich entschlossen?« »Das habe ich in der Tat, mein Junge. Wir werden deinem Wunsch nachkommen.« Er sprang auf. »Du willst mich begleiten?« »Nicht nur ich, auch Coco geht mit.« Vasco atmete auf, als wäre ihm eine große Last von der Seele gerutscht. »Das finde ich gut, sehr gut. Es wird bald dunkel. Da möchte ich nicht allein sein.« Er schaute zur Decke, obwohl er den Kopf eingezogen und eine Gänsehaut bekommen hatte. »Dann sind die Geister des Bösen wieder unterwegs. Sie gleiten um unser Haus und wollen mich fertigmachen. Ich habe Angst!« »Das brauchst du nicht, wir sind jetzt zu zweit.« Madame blies die Flamme aus. »Komm, wir wollen jetzt keine Sekunde mehr verlieren. Vielleicht wird die folgende Nacht sogar entscheidend«, fügte sie noch orakelhaft hinzu... *** Ich war schon öfter von Kollegen in London ausgelacht worden. Daß mich Cavaldos jedoch auslachte, ärgerte mich, denn so brauchte ich mich nicht behandeln zu lassen. »Sie haben Humor, Sinclair. Glauben Sie denn, ich könnte einfach hochfahren und nach Ihren Toten sehen.« »Warum nicht? Das gehört zu Ihren Pflichten, Mann.« »An die sie mich nicht zu erinnern brauchen, Sinclair.« »Anscheinend doch.« »Ach, lecken Sie mich. Ich will Ihnen was sagen, Mann. Ich komme hier nicht weg, verstehen Sie? Rio ist die Hölle. Ich werde in der folgenden Nacht eine Razzia leiten und bin damit voll eingespannt. Da kann ich mich um zwei weit enternt liegende Tote nicht kümmern.« Er lachte scharf. »Außerdem haben Sie es nicht geschafft, den Entertainer zu stellen, obwohl er sich in Ihrer Nähe befunden haben muß. Oder liege ich da falsch?« »Nein, liegen Sie nicht«, erwiderte ich frostig. »Na eben. Kümmern Sie sich um den Entertainer, ich mache hier meinen Job. Sie können mich morgen ja wieder anrufen. Aber später, ich muß noch schlafen.«
Damit war die Verbindung unterbrochen. Auch ich legte den Hörer auf und drehte mich um. Suko sah mir an, daß ich mich geärgert hatte. »Stehen wir wieder im Regen?« »So ist es. Cavaldos reagierte wie ein Stier auf ein rotes Tuch. Der ist nicht mehr ganz bei Sinnen.« Ich erzählte ihm, wie man mich hatte abfahren lassen. »Also keine Unterstützung.« »Nein.« »Gut, dann werden wir ihn allein suchen.« Ich grinste schief und ließ mich auf seinen Stuhl fallen, der aus hellem Holz bestand. Wir befanden uns in Marias Zimmer. Aber was heißt hier Zimmer — sie bewohnte eine Zimmerflucht, die schon mit einer großen Hotelsuite zu vergleichen war. Da konnte sie mehrere Räume benutzen und auch zwischen zwei Bädern wählen. Dieses Haus war ein Irrsinn, wenn man daran dachte, wie der Hauptteil der Bewohner Rios lebte. Maria selbst war nicht da. Sie wollte sich umziehen und eine Dusche nehmen. Das hatte sie uns auch angeboten, doch wir lehnten ab. Der Entertainer war wichtiger. Wie es sich für eine prachtvolle Villa gehörte, besaß sie auch mehrere Eingänge. Wir waren durch den rückseitigen gekommen und hatten die Vorbereitungen zur Party mitbekommen. Im Garten wurde eine große Bühne aufgebaut. Aus der Stadt rollten Wagen an, die Speisen und Getränke brachten. Mehrere Handwerker waren dabei, den Garten zu beleuchten, und eine Drei-Mann-Kapelle stimmte auf einem kleinen Podium ihre Instrumente ein. Um den breiten Pool herum sollte gefeiert werden, und dort war auch das große Büffet aufgebaut worden, natürlich abgedeckt, wegen der Insekten. Von Maria wußten wir, daß nur die Reichen und Schönen von Rio eingeladen worden waren, was uns nicht interessierte. Es war wichtig, den Entertainer zu fassen. Ich saß, Suko stand. »Was geht dir durch den Kopf, John? Ich sehe dir an, daß dich etwas quält.« »In der Tat. Ich denke darüber nach, ob es Sinn hat, hierzubleiben. Möglicherweise sind wir in Rio besser aufgehoben.« »Im Hotel, wie?« »Nein . . .« »Wo willst du hin? Durch die nächtlichen Gassen laufen und nach dem Entertainer suchen? Der wird dir nicht vor die Mündung laufen, das ist sicher.« »Was haben wir hier für einen Vorteil?« »Zumindest ist die Luft besser. Auch brauchst du keine Angst davor zu haben, dir eine Kugel
aus dem Hinterhalt zu fangen. Das kann dir in der Stadt leicht passieren.« »Stimmt auch.« Maria Falanga kehrte zurück. Frisch geduscht und auch umgezogen. Sie trug jetzt eine enge Hose aus schwarzer Seide. Dazu eine weit geschnittene Bluse. Sie hatte die Farbe von Ochsenblut. Im Dreieck des tiefen Ausschnitts schimmerte eine Goldkette. An ihrem Ende leuchtete ein schwarzer Stein. Das Haar hatte sie hochgesteckt, Spangen hielten es in Form. »Sie sehen nicht glücklich aus«, sagte sie. »Sind Sie das denn?« »Nein, ich denke an die Toten.« »Wir auch.« Maria hob die Schultern. »Vielleicht eine dumme Frage am Rande: Wo wollen Sie den Entertainer finden?« »Wir wissen es nicht.« »Dann können Sie auch bleiben. Ich werde Ihnen die Gästezimmer zeigen. Wenn Sie nicht wollen, fällt es meiner Familie nicht einmal auf, daß Sie im Haus sind.« »Klar«, murmelte ich. Suko fragte: »Was ist mit Ihrem Bruder?« Maria zuckte zusammen. »Wie kommen Sie gerade auf ihn? Was hat er mit dem Fall zu tun?« »Ich möchte ihn gern kennenlernen.« Sie trat mit dem Fuß auf. »Halten Sie ihn vielleicht für den Mörder? Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Auf Vasco wird schon genug herumgehackt, Sie . ..« »Nein, nein«, sagte der Inspektor schnell. »So ist das nicht. Das sehen Sie falsch.« »Dann klären Sie mich auf.« Suko winkte ab. Er sah ein, daß wir hier nicht weiterkamen. »Schon gut«, sagte er, »schon gut.« »Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, den Entertainer zu finden«, erklärte sie. Ich zog die Mundwinkel nach unten. »Auf einmal sind Sie so pessimistisch?« »Ich habe eben nachgedacht.« Ich nickte und schaute in den großen Raum, zu dem noch ein breiter Balkon gehörte, der auf Holzpfosten ruhte und in seiner Form an die großen Häuser aus dem Süden der Staaten erinnerte. »Wissen Sie was, Maria, wir werden fahren.« »Jetzt?« »Ja, es ist besser. Hier können wir nichts tun. Vielleicht werden wir uns Cavaldos anschließen und mit ihm die Razzia durchführen. Da bekommen wir zumindest ein Bild von der nächtlichen Stadt.«
»Es wird Ihnen nicht gefallen.« »Davon gehen wir sicher aus. Aber seien Sie ehrlich. Was sollen wir hier?« »Ich verstehe.« Auch Suko hatte nichts dagegen, daß wir fuhren, und Maria bot uns sogar ihren Wagen an. »Das ist nett. Nur — was ist, wenn er gestohlen wird?« »Stellen Sie ihn auf dem Hof des Polizeipräsidiums ab. Dort ist er sicher. Ich werde ihn mir morgen holen. Ein Fahrer kann mich dann in die Stadt bringen.« »Gut, wie Sie meinen.« »Warten Sie, ich bringe Sie noch zur Tür.« Gäste waren noch keine eingetroffen. Irgendwo im Haus wurde laut gesprochen. Dann lachte ein Mann. »Das war mein Vater«, erklärte Maria. »Grüßen Sie ihn von uns.« »Werde ich machen.« An der Tür reichte sie uns die Hand. »Sie wissen, wo der Wagen steht? Der Schlüssel steckt. Ich werde dem Personal Bescheid geben, daß man Sie durchläßt.« »Alles klar.« Sie wünschcte uns noch viel Glück, dann betraten Suko und ich allein den Garten und schlugen die Richtung zu den Garagen ein, wo die Fahrzeuge standen. »Beinahe hatte ich den Eindruck, als wollte sie uns loswerden.« Ich blieb stehen. »Meinst du das im Ernst?« »Ja.« »Den Eindruck hatte ich nicht.« Suko räusperte sich. »Na ja, man kann sich täuschen. Trotzdem komme ich mir vor wie eine Puppe, die man hin und herschiebt. Wir irren hier durch eine fremde Gegend und haben nicht den Hauch einer Chance, den Killer zu fassen. Das drückt mir aufs Gemüt.« Ich hob die Schultern. »Vielleicht werden wir unverrichteter Dinge wieder abreisen müssen.« »Das wäre ein Schlag.« »Was willst du machen?« Ich stieg ein und setzte mich hinter das Lenkrad. Wir fuhren wenig später los und erreichten dann den normalen Hauptweg, der an der Rückseite des großen Hauses einen Bogen schlug, um den Garten nicht durchqueren zu müssen, in dem gefeiert wurde. Das gesamte Grundstück war von einer hohen weißen Mauer umgeben, auf deren Krone noch eine unter Strom stehende Sicherheitsanlage aus feinen Drähten entlanglief. Private Wachtposten winkten uns durch. Die Männer hielten ihre Walkietalkies an die Ohren gepreßt. Sie waren alle mit Maschinenpistolen bewaffnet.
Lautlos öffnete sich das breite, weißlackierte Tor, so daß wir freie Fahrt hatten. Wir ließen eine für uns fremde Welt zurück und fuhren in eine Rechtskurve hinein, die dort endete, wo die normale Straße ins Tal begann. »Ich bin gespannt, wie unser Freund Cavaldos reagieren wird«, sagte Suko leise. »Er wird lachen.« »Kann sein.« Das Haus der Falangas war längst verschwunden und auch nicht mehr im Rückspiegel zu sehen, der dichte Wald hielt uns umfangen, aber er sah hier nicht mehr so wild aus. Es war zu sehen, daß Menschen Hand angelegt hatten. Und Menschen trafen wir auch. Ich hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, denn im grünlichen Licht war die Straße mit ihrer grauen Asphaltdecke doch nicht so gut zu erkennen. Im hellen Lichtteppich zeichneten sich plötzlich drei Menschen ab, die nicht schnell genug verschwinden konnten oder es auch nicht wollten, denn sie blieben nach dem ersten Zusammenzucken stehen. Suko und ich hatten große Augen bekommen. »Was wollen die denn hier? Das ist. . .« »Werden wir gleich haben.« Ich war schon ausgestiegen und sah, daß mir die Voodoo-Königin zuwinkte. Coco und ein junger Mann hielten sich im Hintergrund. »Ist das Zufall?« fragte ich. Madame Oviano lächelte nicht. Ihr Gesicht blieb starr. »Nein, das muß eine Fügung sein.« »Inwiefern?« Sie hob die Schultern. »Wahrscheinlich haben Sie nicht die geringste Spur gefunden.« »So ist es.« »Aber Vasco hat uns einen Tip gegeben.« »Vasco?« Ich überlegte und schnippte mit den Fingern. Damit kam ich einer Antwort zuvor. »Ist das nicht Maria Falangas Bruder?« »Richtig.« Ich schaute auf den jungen Mann. »Was habt ihr mit ihm zu tun?« »Das will ich dir sagen.« Sie war zum Du übergegangen. »Er hat bei mir in der Hütte gewartet und vom Bösen berichtet, das um das Haus der Falangas schleicht.« »Der Entertainer?« »Damit rechnen wir.« Suko war auch ausgestiegen. Die Frau sprach erst weiter, als er neben uns stand. »Das heißt, wir glauben, daß er sich in der folgenden Nacht Opfer holen wird.« »Wo sind die Beweise?« »Die gibt es nicht. Es ist das reine Gefühl, das uns treibt. Aber das kann ich euch nicht erklären.« Wir dachten nach, und Suko schloß sich der Voodoo-Königin an. »Sieh mal, John, was sollte den Entertainer auch nach Rio treiben? Er befindet sich einmal in dieser Gegend, und die Falangas feiert ein großes Fest.«
»Beute genug für ihn«, murmelte ich. »So sehe ich es auch«, sagte die Frau. »Was meint Coco?« fragte ich. »Sie ist ebenfalls der Ansicht.« »Und der junge Mann? Ich hörte, daß er geistesgestört sein soll. Was stimmt daran?« Madame Oviano verzog ihren Mund. »Wollen Sie mich lehren, die Menschen kennenzulernen?« »Also nicht?« »Nicht so schlimm, wie es gesagt wird. Vasco ist sehr sensibel. Er spürt genau, wenn sich etwas zusammenbraut. Er und Coco könnten ein Paar bilden.« »Und er ist auf diese Nacht fixiert?« »Richtig.« Suko nickte mir zu. »Wir sollten es wagen, John, und ) die Stunden doch bei den Falangas verbringen. Nur möchte ich dabei nicht auffallen und mich zurückhalten.« »Okay, wie kommen wir hinein? Das Grundstück wird bewacht und . . .« »Aber nicht wenn Vasco bei uns ist.« »Klar, stimmt.« Madame Oviano lächelte. »Den Wagen allerdings würde ich hier stehenlassen. Er wäre doch zu auffällig.« Sie erntete keinen Widerspruch. Ich fuhr ihn nur ein wenig in das Unterholz hinein, wo er nicht sofort entdeckt werden konnte. In Kurven wand sich die Straße der Stadt entgegen. Einige Fahrzeuge fuhren den umgekehrten Weg. Wahrscheinlich saßen in ihnen auch die Gäste, die zur Party der Falangas wollten. »Dann auf ein Neues«, sagte ich und ging zu Vasco Falanga, um ihn zu begrüßen. Er zeigte ein etwas scheues Lächeln, doch in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz. »Willst du das Monster stellen?« »Vielleicht.« Er lachte, wurde wieder ernst und sagte: »Ja, versuche es, ja, versuche es nur.« »Und dann?« fragte ich. Er trat dicht an mich heran, öffnete weit den Mund und keuchte: »Wird es dich zerreißen...« *** Der Tag verschwand, die Dunkelheit kam, und damit öffnete sich uns eine völlig andere Welt. Nacht oder Abend im Regenwald. Da öffnete die Natur noch einmal ihre Pforten und entließ ein völlig anderes Leben. Tausende von Stimmen durchschwirrten die Dämmerung. Der tiefe
Dschungel schien unter den zahlreichen Schreien zu zittern. Überall huschte und flatterte es, als wären unzählige Geister auf einmal wach geworden. Wir bekamen die Kulisse nur am Rande mit, weil wir in einem kleinen Haus hockten, das zwar noch zum Grundstück der Falangas gehörte, aber nicht als Wohnhaus benutzt wurde. Dort waren Gartengeräte abgestellt worden, und es war trotzdem noch so viel Platz vorhanden, daß wir es uns auch zu fünft noch hatten bequem machen können. Uns hatte keiner Fragen gestellt, als wir zu Fuß ankamen. Die Wächter waren zu sehr mit der Verteilung der Partygäste beschäftigt gewesen, als daß sie sich um uns hätten großartig kümmern können. In der dicken, schwülen Luft des Gartenhauses hockten wir zusammen und beratschlagten. Die Party war bereits im Gang. Wir hörten die Musik, die Stimmen und sahen hin und wieder einen Lichtreflex durch die Lücken zwischen den Bretterbohlen immer dann schimmern, wenn der Wind eine Girlande besonders heftig bewegt hatte. Ich hockte neben Suko. Die beiden Frauen saßen uns gegenüber, und zwischen uns hatte Vasco seinen Platz gefunden. Gut fühlte ich mich nicht. Mir gefiel einfach nicht, daß sich nichts tat. Wir saßen hier und warteten ab. Das sagte ich auch der Voodoo-Königin. Madame hob die Schultern. »Es ist noch nicht soweit«, flüsterte sie. »Und wann wird es das sein?« Sie bewegte ihre Finger, als wollte sie Geld zählen. »Man muß es spüren, verstehen Sie? Man muß genau spüren, wenn sich das Böse ausbreitet. Erst dann können wir etwas tun.« »Du verläßt dich auf dein Medium.« »Ja, das tue ich.« Ich nickte. »Hoffentlich wird sie uns diesmal den genauen Weg zeigen können und nicht den ungefähren. Ich will wissen, wann dieses Monstrum erscheint und ich endlich zuschlagen kann.« »Wer möchte das nicht?« »Was ist mit Vasco?« fragte Suko. »Er ist doch auch sensitiv. Spürt er denn nichts?« Mir gefiel der junge Mann nicht, der stumm neben uns hockte und den Kopf gesenkt hielt. Als er meinen Namen hörte, schaute er hastig auf. Im Dämmerlicht glänzte seine Gesichtshaut wie eine Speckschwarte. »Was wollt ihr von mir?« »Nichts, Vasco, nichts.« Madame legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wir wollen nichts von dir.« Er bewegte seine Augen und sah dabei schaurig aus. »Glaubt nur nicht, daß ich nicht weiß, weshalb wir hier sind. Glaubt es nur nicht. Ich weiß Bescheid.« »Das glauben wir dir.«
»Ihr sucht das Böse, nicht wahr?« »Ja.« »Ha, ha.« Er lachte völlig unmotiviert. »Das weiß ich alles, und ich kann euch auch sagen, wo ihr es finden werdet. Ich habe es gespürt, ich weiß, daß es uns bereits unter Beobachtung hält.« »Du bist gut, Vasco!« lobte ihn die Frau. »Jetzt brauchst du uns nur zu sagen, wo es sich befindet?« »Überall.« »Schön, alles richtig. Wenn wir jetzt nach draußen gehen, können wir es dann sehen?« Er überlegte, schüttelte den Kopf. »Nein, nur ich kann es spüren. Es lockt mich.« »Wohin?« »In mein Zimmer.« Plötzlich sprang er auf. Zwei in seiner Nähe stehende Harken kippten um. Ein Stiel prallte auf die Schulter der stumm dasitzenden Coco. »Ich gehe in mein Zimmer, denn dort hat es sich versteckt. Da werde ich es bekommen.« Ich wollte ihn zurückhalten, aber Madame Oviano schüttelte den Kopf. »Laß ihn gehen! Was soll ihm dort passieren?« »Ich weiß nicht. ..« »Glaube mir, er wird sich seinen Fetisch holen. Ich habe ihn ihm gegeben. Es ist eine kleine Puppe, die seine Gesichtszüge trägt. Sie soll ihn beschützen.« »Eine Puppe ohne Nadeln, nehme ich an.« »Richtig, kein Voodoo. Ich habe nur die guten Geister beschworen. Er vertraut der Puppe.« Sie wandte sich an Vasco. »Willst du deinen Wächter holen?« Der junge Mann stand mit gesenktem Kopf vor uns. »Ja, ja, ich habe ihn vergessen. Ohne ihn bin ich hilflos. Da habe ich Angst. Aber wenn er bei mir ist, kann mir nichts passieren.« »Gut, wir warten auf dich.« Seine Augen bekamen einen beinahe festlichen Glanz. »Und wenn ich zurück bin, verlassen wir das Haus hier und machen uns auf die Suche nach dem Bösen. Sollen wir das?« »Alles was du willst, Vasco.« Er sprach wie ein Kind, und wir mußten zu ihm sprechen, als wäre er ein Kind. Rückwärts ging er zur Tür und beobachtete uns. Es sah so aus, als würde er uns nicht trauen. Sehr bald drückte er die schmale Tür hinter sich zu. Ich hörte mich selbst laut atmen und sagte dann: »Wenn ich ehrlich sein soll, dann traue ich ihm nicht so recht.« »Warum nicht, John?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ständig das Gefühl, einen Fehler begangen oder etwas übersehen zu haben.« »Und was, bitte?« »Wenn ich das wüßte, Madame, wäre mir wohler...« *** Mit langen Schritten war er durch den Garten gehetzt und blieb schließlich schweißgebadet stehen. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen den Stamm einer Fächerpalme, die seine Eltern neben anderen Gewächsen hatten anpflanzen lassen. Er hörte die Musik, nahm die Stimme wahr, und der Drang, dorthin zu gehen, verstärkte sich in seinem Innern. Gleichzeitig kroch die Abneigung in ihm hoch, denn in seiner Brust kämpften wiederum zwei Seelen. Er war hin- und hergerissen, er dachte an seine Eltern und auch daran, daß es ihm jetzt gutgetan hätte, mit der Mutter einige Worte zu reden. Die aber ließ sich nicht blicken. Sie würde auch für ihn keine Zeit haben, denn sie gehörte zu den Menschen, deren Leben praktisch nur aus Feiern bestand. Für die normalen Probleme der Welt hatte diese Frau keinen Blick. Oft genug schämte sie sich ihres Sohnes, und das merkte Vasco sehr genau. Dabei hätte er sie früher so nötig gehabt, doch sie hatten ihn immer wieder zur Seite gestoßen. Ja, sie war böse und egoistisch! Aber war sie das Böse? Der Gedanke erschreckte ihn, und er spürte auf seinem Rücken die kalte Haut. Das Böse, der Tod — alles umgab ihn. Es war einfach furchtbar, und es wurde noch furchtbarer, wenn er daran dachte, daß seine Mutter auf der anderen Seite stand. »Ich muß ihn haben«, flüsterte er. »Ich muß meinen Wächter haben. Dann werde ich zu Mutter hingehen und sie fragen. Ja, vor allen Leuten werde ich sie fragen, ob sie das Böse ist. Niemand kann mich daran hindern, und der Wächter wird mich schützen.« Das Grundstück besaß gewaltiges Ausmaße. Da konnten hundert Gäste kommen und sich auf dem Gelände fast verlaufen. Es war zudem günstig eingeteilt worden, denn gefeiert wurde auf der von Vasco aus gesehen linken Seite. Da brauchte er glücklicherweise nichthin. Er hatte es eilig. Plötzlich fürchtete er sich vor der Dunkelheit, auch wenn sie von bunten Lichtreflexen unterbrochen wurde. Für ihn war es einfach schlimm, ohne seinen Wächter war er nur mehr ein hilfloses Bündel. Geduckt hetzte er über den weichen Boden und lauschte den Echos seiner eigenen Schritte nach, die dumpf klangen wie eine Trommel, die nur leicht angeschlagen worden war. Auch an der Rückseite des Hauses brannten Lichter. Sie sahen aus wie helle Pinselflecken, in deren Gelb zahlreiche Insekten tanzten. Die
breiten Strahlen der Suchscheinwerfer durchstießen den Garten nicht. Darauf konnte man an diesem Abend verzichten. Einer der Aufpasser stellte sich ihm in den Weg. Der Mann griff automatisch zur Waffe, löste seine Hand aber, als er den Sohn des Hauses erkannte. »Wollen Sie zur Feier?« »Nein, in mein Zimmer.« »Viel Spaß.« Vasco gab keine Antwort und lief weiter. Der Schweiß klebte in seinem Nacken fest und lag auch auf seinem Rücken. Er fühlte sich wieder verfolgt und fluchte selbst auf die in der Luft umherschwirrenden Insekten. Endlich hatte er das Haus erreicht. Schwer atmend fiel er gegen die weiße Mauer. Geschafft! Grillen zirpten in seiner Nähe. Ihre Geräusche übertönten auch sein heftiges Atmen. Die Tür war nicht verschlossen. Er brauchte nur die Klinke nach unten zu drücken. In diesem Teil des Hauses brannten weniger Lichter. Er stieg die breite Treppe hoch und traute sich nicht, das Licht einzuschalten, obgleich er sich auch vor der Dunkelheit fürchtete. Der breite Flur strahlte Ruhe aus. Ein dicker Teppich schluckte die Trittgeräusche. Manchmal blickte er durch eines der Fenster nach draußen. Die Leute feierten. Sie aßen, sie tranken, die Kapelle spielte. Einige Paare tanzten auch, und seine Mutter war mal wieder Mittelpunkt. Sie trug ihre neue Robe, ein traumhaftes Kleid, aus Europa importiert, und wahrscheinlich hatte sie die Feier nur wegen des neuen Kleides gegeben. Ihr war in dieser Hinsicht alles zuzutrauen. Die Gäste umschwärmten sie, und Senhora Falanga war in ihrem Element. Der einsame Beobachter ballte die Hände. Um ihn hatte sich die Mutter nie gekümmert, nein, nicht um ihn ... Er wandte sich ab. Mit schleppenden Schritten ging er weiter und fing plötzlich an zu weinen. Der Ausbruch erfolgte so plötzlich wie der eines Vulkans. Es gelang ihm nicht, die Tränen zu stoppen. Weinend ging er weiter, bis er sein Zimmer erreicht hatte und sich gegen die Tür lehnte. Sie alle da unten würden sich noch wundern. Sie würden noch jammern und klagen, wenn er einmal zurückschlug. Mit der Hand fiel er auf die glänzende Messingklinke und drückte die Tür nach innen. Auch er bewohnte mehrere Räume, obwohl er sie haßte. Am liebsten hätte er alles fortgeworfen und angezündet. Mit unsicheren Schritten
wankte er in das Zimmer. Die Tür trat er mit der Sohle wieder zu. Er war froh, als sie ins Schloß fiel. Dann blieb er stehen. Die hohen Fenster luden ein zum Blick nach draußen. In der Dunkelheit gab die teure Hi-Fi-Anlage einen matten Glanz ab. Unter der hellen Decke zeichneten sich die zylinderartigen Fassungen der schräg sitzenden Lampenstrahler ab. Sein Wächter lag im Schlafzimmer. Er besaß dort einen bestimmten Platz, damit ihn Vasco immer sofort fand. Im Dunkeln öffnete er die Tür und trat über die Schwelle. Das Bett zeichnete sich ebenso ab wie der schmale Schrank. Über der Liegestatt hing träge das helle Moskitonetz. Obwohl das Haus mit Klimaanlage ausgestattet war, konnte auf die Netze nicht verzichtet werden. Neben der rechten Bettseite wuchs an der Wand ein Regal hoch, das die Form eines Tannenbaums besaß. Nach oben hin verjüngte es sich immer mehr, und die Bretter waren mit Büchern vollgestopft. Sie kümmerten ihn nicht. Fr bückte sich und griff unter sein Kopfkissen. Kleine Kinder legen ihre Stofftiere oder ihre Puppen unter die Kissen. Da reagierte er ebenso. Endlich hielt er den Wächter fest. Diese kleine Holzpuppe, deren Gesicht seine Züge zeigte. Er preßte sie an die Brust, lächelte und freute sich wie verrückt. »Endlich habe ich dich. Endlich bist du bei mir. Jetzt kann mir nichts mehr passieren!« Er stieß die Worte hektisch aus, bewegte seine Augenlider und spürte wieder Tränen über seinen Wangen laufen. Dann drehte er sich um. Noch in der Bewegung hörte er das Quietschen, als die Tür zum Schlaf räum aufgedrückt wurde. Nur sehr langsam glitt sie in das Zimmer hinein. Die Öffnung vergrößerte sich immer weiter und schuf einen entsprechenden Raum, um der Person Platz zu geben, die das Zimmer betreten wollte. Vasco rührte sich nicht vom Fleck. Er wußte nicht, wer dort auf der Schwelle stand. Mann — Frau? Nein, dieses grüne Schimmern, dieses leichte Wehen der spinnwebenartigen Haare — so sah kein Mensch aus. Das war er, das war der Entertainer. Das war das Böse, das Vasco immer gespürt hatte. Plötzlich rutschte ihm der Wächter aus der Hand... *** In den folgenden Sekunden stand die Zeit still. Nichts war für Vasco zu hören, nicht einmal die Stimmen der Gäste und die Melodien der
Kapelle. Die Stille war wie Eis, das auch durch die Poren des jungen Mannes kroch und ihn erstarren ließ. Der Entertainer rührte sich ebenfalls nicht. Er wartete darauf, daß sein Gegenüber reagierte, doch Vasco stand unter einem zu großen Druck. Er konnte sich einfach nicht regen. Das Monster betrat den Raum. Erst jetzt war es besser zu erkennen, und Vasco sah, daß es den linken Arm zurückgeschoben und nach unten gedrückt hatte. Mit seiner Pranke umklammerte es das Handgelenk eines leblosen Körpers, den es hinter sich herschleifte. Selbst bei diesen schlechten Lichtverhältnissen sah er die dunkle Spur, die auf dem hellen Boden zurückgeblieben war. Blut. . . Vasco merkte, daß seine Angst nachließ. Er schloß die Augen, ließ sie für eine Weile zu und öffnete sie erst dan, um nachzusehen, was das Monstrum tat. Er ging weiter ... Die Leichen schleifte es hinter sich auch dann her, als es das Bett an seinem Fußende umrundete, um auf dem direkten Weg dem jungen Mann entgegenzugehen. Er erwartete den Entertainer! Seltsam — keine Angst kroch durch seinen Körper. Er fühlte sich entspannt und hatte gleichzeitig den Eindruck, daß sich ihm ein Freund näherte. Das Monstrum ließ den Arm des Toten los. Schwer und geräuschvoll fiel er auf den Boden. Vasco nickte. Er schaute hin. Der Mensch war noch zu erkennen, aber der Körper zeigte zahlreiche tiefe Wunden, und seine Kleidung bestand nur mehr aus Fetzen. Vasco erkannte den Mann. Es war der Wächter, auf den er kurz vor Erreichen des Hauses gestoßen war. Mitleid verspürte er nicht. Das Wesen war dicht vor ihm stehengeblieben, hob seine Pranken an und strich durch das Gesicht des jungen Mannes. Die Spitzen hinterließen auf der Haut Blutstreifen. Er schaute in das Gesicht, das eine Landschaft aus Runen, Falten und Furchen bildete, in dem die Nase so ähnlich wie eine Schnauze gewachsen war. Auch sie wurde von der lederartigen Haut überzogen, die bis zu den Lippen reichte. Dazwischen schimmerte das weiße Gebiß, gesprenkelt von Blutstropfen, die fast die gleiche Farbe hatten wie die Augen. Der Entertainer stöhnte ihn an. Noch einmal streichelte er über die Wangen des jungen Mannes, der es endlich schaffte, eine Frage zu stellen. »Was willst du von mir?«
Das Monster bewegte sein Maul. Schmatzende Geräusche erklangen. An den Seiten bildeten sich kleine Blasen, die stanken, wenn sie durch den Druck zerplatzten. »Willst du reden?« Der Entertainer nickte. Er versuchte es, doch aus dem Maul drangen keine Sätze, nicht einmal fertige Worte, sondern nur mehr Fragmente. Und Vasco spitzte die Ohren. Wahrscheinlich hätte ein normaler Mensch nichts verstanden, doch dieser junge Mann fühlte sich zu dem Monstrum hingezogen. Sie waren in gewisser Weise Schicksalsgenossen, und das schweißte zusammen. Zudem brauchten sie jetzt den körperlichen Kontakt. Vascos Hände lagen auf den Schultern des Entertainers, und dessen Pranken hatten ihren Platz auf seinen Schultern gefunden. Vasco nickte schließlich. Er hatte plötzlich alles verstanden. Aus einer Reflexbewegung hervor umarmte er den mehrfachen Mörder, der sich dies gern gefallen ließ. Danach zog er sich zurück. Im Zimmer blieben Vasco Falanga und der Tote. Allerdings nicht lange, denn er kannte seinen Auftrag und wußte auch, wie er ihn ungesehen durchführen konnte... *** Uns wurde die Zeit lang, und wir wußten auch, daß sie verflog, ohne daß wir etwas hätten erreichen können, weil wir eben in dem Gartenhaus hockten. Aber nicht mehrlange, denn ich stemmtemich hoch. »Was hast du, John?« »Ich will hier raus, Madame.« »Und warum?« »Weil ich draußen besser aufgehoben bin und ich ihn möglicherweise finden kann.« Die Voodoo-Königin schüttelte entschieden den Kopf. »Das glaube ich dir nicht.« Ich blieb neben der Tür stehen. »Was spricht dagegen?« »Sie.« Damit meinte sie Coco. »Solange sie nichts spürt, findet auch keine Veränderung statt.« »Nein, das ist mir einfach zuwenig und zuviel dieser ganzen Spürerei. Ich will endlich Erfolge sehen, und ich will, daß sie für uns greifbar werden.« »Das kommt noch, John. Der Abend ist noch jung. Vor uns liegt eine lange Nacht.« »Das weiß ich auch. Trotzdem will ich mich nicht nur immer auf andere verlassen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß sich der Entertainer hier auf
der Feier zeigen wird. Sorry, auch ihr habt nur einen vagen Verdacht und könnt nicht mit Tatsachen dienen.« Es kam mir vor, als hätte ich ein Stichwort gegeben, denn Coco rührte sich. Zuerst schreckte sie zusammen, senkte den Kopf, hob ihn an und schüttelte sich. »Sie spürte etwas«, sagte Madame Oviano. Tatsache, oder machte sie uns etwas vor? Ich konnte das Medium nicht einschätzen und mußte zunächst einmal warten, ob die willens und fähig war, eine Erklärung abzugeben. Noch blieb sie ruhig. Ihr Körper schien von der eigentlichen Kraft verlassen worden zu sein. Beinahe willenlos pendelte er von rechts nach links. Madame Oviano kümmerte sich um ihr Medium. Auf den Knien rutschte sie ihm entgegen. »Was hast du?« fragte sie leise. »Was spürst du?« Coco redete schnell, für uns nicht verständlich. Ihre Worte sprudelten nur so hervor. Jeder Satz war von einer wilden Handbewegung begleitet. Als sie mit ihrem Bericht fertig war, sackte sie zusammen, als wäre sie erschöpft. Ich wartete auf Ovianos Hrklärung. Sie ließ sich Zeit damit und säuberte zunächst das Gesicht ihres Schützlings vom kalten Schweißfilm. Schließlich drehte sie sich uns zu. Im dunklen Dämmerlicht wirkten ihre Augen übergroß und weiß. »Was hat sie gesagt?« »Es ist schlimm, sehr schlimm. Sie hat genau gespürt, daß die Bestie sich in der Nähe aufhält.« »Und wo?« fragte Suko. Madame zeichnete einen Kreis in die Luft. »Sie wird um das Haus herumschleichen. Sie ist einfach nicht zu bremsen, denn in ihr steckt das absolut Böse.« »Konkreter, bitte.« »Coco hat etwas gesehen«, flüsterte Madam. »Sie sah Blut, sehr viel Blut, das sich wie ein großer Teppich ausbreitete. Sie sah einen Toten, der in der großen Lache lag, und sie hörte das Schreien der geknechteten und gepeinigten Seelen. Es war eine furchtbare Folter, die sie erleben mußte, grauenhaft. . .« »Wer starb? Kennen wir den?« Die Voodoo-Königin schaute durch uns hindurch. »Ich . . . ich weiß es nicht. Wir sollten hinausgehen. Nein, ihr solltet gehen. Sucht alles ab, dann werdet ihr die Bestie finden.« Suko und ich schauten uns an. Mein Partner nickte. Es war das, worauf wir beide gewartet hatten. Nur wollte ich noch wissen, wo wir anfangen sollten. »Sucht selbst. Schaut auch im Haus nach. Die Bestie kann überall sein. Niemand ist mehr sicher, auch die Gäste nicht.«
Suko stand auf, ich schnellte ebenfalls hoch, und eine Sekunde später hielt uns nichts mehr... *** Es war ein Job geworden, um den uns keiner beneiden konnte. Mitten in ein Fest hineinzuplatzen und mit Erklärungen zu kommen, über die die Gäste nur lachen konnten, wie sollten wir das verantworten? Suko meinte: »Es ist besser, erst einzugreifen, wenn tatsächlich etwas passiert ist.« Ich runzelte die Stirn. »Du meinst, wenn der oder die Tote gefunden worden ist?« »So ähnlich.« Das klang schlimm, doch Suko hatte recht. Es brachte nichts, wenn wir schon jetzt die Pferde scheu machten. Wir mußten abwarten, ob sich das Medium nicht geirrt hatte. Es war alles möglich in diesem verdammten Fall. Noch standen wir in einer Ecke des Grundstücks, die von der Party ausgespart worden war. Eine dichte Hecke versperrte uns den Weg zum Ort des großen Amüsements, doch Stimmenklang und Musikfetzen drangen auch durch und über die Hecke hinweg. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich nahm mir vor, einen Drink zu nehmen. »Komm, ich habe Durst.« Mein Freund lachte. »Sind das deine ganzen Sorgen?« »Im Augenblick ja.« Wir gingen hintereinander. Zum Glück brauchten wir uns nicht durch die Hecke zu quälen, wir konnten sie an ihrem Ende umrunden. Ein schmaler Weg führte in den offiziellen Teil des Gartens. Ich ging vor Suko her, umrundete die Hecke — und sah den Schatten. Gleichzeitig spürte ich den Druck der Mündung. Schlechter Atem wehte in mein Gesicht, vermischt mit Worten, die ich auch nicht verstanden hätte, wenn der Mann sie nicht gezischt hätte. Der Mann meinte nur mich, Suko hatte er wohl nicht gesehen. Er trug die Uniform eines Wächters, und die MPi drückte unangenehm hart gegen meine Bauchdecke. Ich ging zwei Schritte zurück, der Kerl folgte mir sprechend und drehte der Hecke den Rücken zu. In ihrem Schatten richtete sich Suko lautlos auf. Dann folgte ein Schlag, wie ihn außer ihm nur wenige beherrschten. Die Handkante traf einen bestimmten Punkt. Innerhalb eines winzigen Augenblicks löschte sie sämtliche Reflexe aus, so kam der Kerl auch nicht mehr dazu, den Stecher seiner Waffe nach hinten zu ziehen. Er plumpste auf den Boden und blieb regungslos liegen.
Ich deutete ein Klatschen an, doch Suko winkte ab. Er entwaffnete den Mann. Die Maschinenpistole schleuderte er in die Hecke hinein, den Revolver entlud er. »Einer weniger.« »Leider nicht der Entertainer.« »Du willst auch alles haben.« »Mittlerweile bin ich es echt leid. Es widert mich einfach an, immer nachzulaufen.« »Okay, wie sollen wir vorgehen?« »Wir werden uns unter die Partygäste mischen.« »Einverstanden. Das heißt, wir könnten uns auch im Haus umschauen. Es ist sicherlich leer. Der Entertainer hätte dort genügend Platz, um sich austoben oder verstecken zu können.« Ich sprach dagegen. »Was will der in einem leeren Haus, Suko? Keine Menschen, keine Opfer, so geht er nicht vor. Der braucht das Leben, um es zerstören zu können.« Mein Freund gab mir recht. So blieb es dabei, daß wir gemeinsam an der Party teilnehmen würden. Eine Überraschung wie mit dem Wächter wollten wir nicht noch einmal erleben. Aus diesem Grunde gingen wir den Posten aus dem Weg, was nicht einmal schwierig war, denn die Männer nahmen ihre Aufgabe mehr als locker. An einer Stelle standen sie zu dritt beisammen, rauchten die Zigaretten in den hohlen Händen und ließen sogar eine Schnapsflasche kreisen. Diese Typen würde ich nicht engagieren. Helfer hatten Girlanden aufgehängt, die bestückt waren mit bunten Glühbirnen. Da hatte die Dunkelheit zwischen den Bäumen einen farbigen Schein bekommen, der auch über die Tanzfläche wehte sowie über die Oberfläche des Pools. Es war ein Bild wie im Film. Wir standen abseits, nur schauten wir nicht auf eine Leinwand, sondern auf das Leben vor uns. Die Gäste hatten schon ziemlich viel getrunken. Dementsprechend locker war die Stimmung. Auch das Büffet zeigte bereits eine gewisse Leere. Jemand nahm einen Hühnerbollen und warf ihn einfach weg. Ich biß die Zähne zusammen, weil ich daran dachte, wie einige Meilen talwärts die Menschen sich für ein Stück Brot fast totschlugen. »Wenn ich das sehe, kann ich schon zum Schwein werden!« flüsterte ich Suko zu. »Und ich zum Tier allgemein.« Wer die Hausherren waren, konnten wir leicht herausfinden. Eine dunkelharrige hochgewachsene Frau bildete so etwas wie den Mittelpunkt dieser Schau. In ihrer Nähe hielt sich ein weißhaariger Mann im eleganten Dinnerjackett auf, der bei den Damen Handküsse verteilte wie eine Marktfrau die angedrückten Tomaten nach Feierabend. »Siehst du unsere Freundin Maria?« fragte Suko.
»Nein.« »Und weshalb nicht?« »Die wollte sich doch zurückhalten.« Suko winkte ab. »Dabei hatte sie sich schon umgezogen.« »Nein, nein Maria ist ein anderer Typ. Ich glaube nicht, daß sie sich bei den Leuten wohl fühlen würde. Trotzdem werde ich mir meinen Drink holen.« »Wenn sie sich im Haus aufhält, ist sie möglicherweise allein.« Suko ließ nicht locker. Ich schaut ihn kurz an. »Du denkst natürlich an den Entertainer.« »Klar.« »Nicht schlecht.« Ich nickte und dachte über unsere Pläne nach. Sie umzuwerfen, dazu käme es nicht mehr, denn der weißhaarige Mann, der Hausherr wohl, lief dorthin, wo eine kleine Freilichtbühne aufgebaut worden war und ein Vorhang den Blick auf die Bretter verdeckte. Alle wandten ihm die Aufmerksamkeit zu. Wir konnten vorgehen und gerieten auch dorthin, wo das Personal stand und dmit seinen gefüllten Tabletts wartete. Ich griff nach einem Glas, in dem eine gelbliche Flüssigkeit schwappte. Es war Mangosaft mit einem Schuß Rum und noch irgendwelchem Likörzeug Suko trank das gleiche und verzog den Mund. Mit den Gläsern in der Hand wanderten wir in die Nähe des Geschehens. Wir waren sehr gespannt, was hier für eine Schau ablaufen würde. Ich brachte den Bogriff Entertainer mit der aufgebauten Bühne in einen Zusammenhang und konnte mir sehr gut vorstellen, daß er und sie zusammenpaßten. Der Hausherr redete sehr schnell und mit markiger Stimme. Wir verstanden so gut wie nichts, allerdings bekam ich schon heraus, daß es bei dem Schauspiel oder was immer es sein mochte, Frauen die Hauptrolle spielten. Der Begriff Night Show fiel auch. Suko hatte ebenfalls zugehört. »Das wird sicherlich ein Abklatsch aus irgendeinem Nachtclub«, sagte er. »Kann ich mir auch vorstellen.« »Willst du zuschauen?« »Sicher.« »Und der Entertainer?« »Vielleicht kommt seine Zeit erst um Mitternacht.« »Das dauert mir zu lange.« »Mir auch.« Beifall brandete durch den Garten, vermischt mitlaufen Schreien. Es waren besonders die Frauen, die sich auf die Darbietung freuten. Möglicherweise trat auch ein nackter Mann auf. Ich schüttelte den Kopf. Die Damen der Gesellschaft waren allesamt leicht high. Da ließen sie einiges an Hemmungen fallen, und manche zog ihren Ausschnitt noch tiefer.
Als ich das Glas wegstellte, hatte ich es nur bis zur Hälfte geleert. Auf uns hatte niemand geachtet, man schaute zur Bühne, und wir erreichten den Pool, wo wir einen besseren Blickwinkel besaßen. Die Scheinwerfer mußten an und in den Bäumen installiert worden sein. Jemand hatte sie eingeschaltet, und mächtige Lichtlanzen durchschnitten das Dunkel der Tropennacht. Sie alle waren auf die Bühne gerichtet, trafen dort zusammen und zeichneten auf den Vorhang einen scharfen hellen Kreis, sogar ziemlich groß. Es wurde still. Gerade so, als wäre mit dem Einschalten der Lampen ein bestimmter Befehl gegeben worden. Sekunden vergingen . . . Keiner der Gäste gab einen lauten Kommentar ab. Wenn gesprochen wurde, dann flüsternd. Wir konnten auf den Rücken eines Gigolos schauen, an dessen Armen gleich zwei Schöne hingen. Sie hatten sich bei ihm eingehakt. Eine trat ständig mit dem rechten Fuß auf, als wäre sie völlig nervös. Das Licht verschwand. Im letzten Schein hatte ich noch sehen können, daß sich der Vorhang öffnete. Wenn die Strahlen die Bühne trafen, würden sie die Bretter mit Helligkeit überschütten. Über uns rauschte ein leichter Windstoß hinweg und bewegte die Blätter der tropischen Gewächse. Der Vorhang hatte Falten geworfen, die wie Schatten in verschiedene Richtungen wanderten und im nächsten Augenblick eine Leinwand freigaben, auf der ein nacktes Pärchen im Großformat zu sehen war, das in ein Bett stieg. Jetzt wußten alle, welche Schau da ablief. Keine Tänzerinnen, es wurde ein Film gezeigt, ein Pornostreifen. Das Gelächter der Gäste brandete gegen den Himmel. Ich schaute Suko an, der sah auf mich, beide hoben wir die Schultern, dann jedoch spannten sich unsere Körper. Es war nicht der Film, der uns interessierte, sondern die Vorgänge auf der schmalen Bühne vor der Leinwand. Dort erschien ein schwarzhaariger Jüngling. Vasco, der Sohn des Hauses! Er zog eine Kiste oder eine Truhe hinter sich her, an deren Griff er ein Seil befestigt hatte, das über seiner Schulter hing und von seinen Händen festgehalten wurde. »Verstehst du das?« fragte Suko. »Noch nicht. Ich möchte wetten, daß dies nicht zum Programm gehört.« »Lieber nicht.« Der Film lief nicht mehr weiter. Dafür schrie der Hausherr mit überlauter Stimme nach dem Licht und hatte auch Erfolg damit, denn die Scheinwerferstrahlen knallten von zwei verschiedenen Seiten der Bühne
entgegen und bildeten um Vasco und dessen Kiste herum das blendende Zentrum. »Rinaldo, tu doch was!« rief die Schwarzhaarige. »Was soll denn unser Junge da auf der Bühne?« Sie fuchtelte mit beiden Armen herum. »Ist der denn total durchgedreht?« »Auf so eine Mutter kann ich verzichten!« hauchte Suko. »Ebenfalls.« Und Rinaldo tat etwas. Er stand unter der Kontrolle zahlreicher Blicke. Jeder Gast wollte sehen, wie er es schaffte, sich aus der Affäre zu ziehen. Mit langen Schritten lief er der Bühne entgegen, wo Vasco stand, seinen Vater trotz des Lichts gesehen hatte und hinter die Kiste sprang, als könnte sie ihm Dek-kung geben. »Bleib ja stehen!« schrie er. »Komm mir nicht zu nahe!« Rinaldo Falanga stoppte tatsächlich. »Verdammt noch mal, was willst du denn?« Soviel bekam ich von der Sprache mit. Oder konnte wenigstens einen Reim darauf machen. Die Reaktion des Jungen allerdings war international. Er stieß ein gellendes Gelächter aus, das wissend und triumphierend zugleich klang und auf meinem Rücken einen Schauer hinterließ. Ich machte mich auf etwas Schlimmes gefaßt, stieß Suko an und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Bühne. »Okay, schauen wir uns das mal an.« »Was willst du denn?« kreischte Rinaldo. Der junge Falanga lachte weiter. Dann bückte er sich und hob den Deckel der Kiste an. Seine Hände tauchten hinein, packten zu und zerrten im nächsten Augenblick den Inhalt hervor. Es war die blutüberströmte Leiche eines Wächters. *** Der Entertainer war wieder unterwegs! Fr fühlte sich gut, denn er hatte seinen Plan erfüllt, auch wenn sich inzwischen die Zahl seiner Gegner verdoppelt hatte. Mit ihnen würde er trotzdem fertig werden, denn in seiner großen, nächtlichen Schau sollten sie der Mittelpunkt sein. Die Bestie schlich durch das Haus, obwohl sich in den oberen Etagen niemand aufhielt. Der Tote lag in der Truhe, diese wiederum war abtransportiert worden. Die Gäste befanden sich in einer schon vorgerückten Stimmungslage, und das Grauen würde in den Pulk der Feiernden hineinschlagen wie ein Blitzstrahl. Der Entertainer fühlte sich gut, als er vor einem großen Fenster stehenblieb und in den dunklen Teil des Gartens schaute. Sehr schwach
malte sich sein Schädel in der Scheibe ab. Ein furchtbarer Kopf, der an einen Werwolf erinnerte, aber keiner war. Auf dem Schädel wehten die grauen Haare, im Gesicht wuchs auch kein Pelz wie auf den Stellen des übrigen Körpers. Die dicke Haut erinnerte an altes, rauhes, rissiges Leder, in dem die vorgeschobenen Lippen es kaum schafften, die gräßlichen Zähne zu verbergen. Das war ein Gebiß zum Töten. Und dieses Töten lastete wie ein nächtlicher Fluch auf der Bestie. Sie mußte es tun, denn sie war in einen Kreislauf hineingeraten, in dem ihr nichts anderes übrigblieb. Sie Warden Weg gegangen, sie hatte es so gewollt. Für den Entertainer waren die Welten interessant geworden, die anderen Menschen verborgen blieben. Er hatte einen Blick in fremde Reiche werfen wollen, was ihm auch gelungen war. Nur war seine Seele nach der Rückkehr grausam gespalten worden. Einmal Mensch, einmal Bestie ... Der Entertainer zog sich zurück. Wenn er sich bewegte, geschah dies sehr geschmeidig, leichtfüßig. Er konnte fast lautlos gehen, deshalb war es ihm immer wieder gelungen, die Menschen zu überraschen. Da war er über sie gekommen mit einer wahren Brachialgewalt und hatte der grausamen und menschenfeindlichen Stadt Rio einen weiteren Stempel aufgedrückt. Im Haus wollte der Mörder nicht mehr länger bleiben. Als er eine breite Treppe erreichte, blieb er vor der obersten Stufe stehen und schaute nach unten. Irgendwo brannte Licht. Die letzten Ausläufer des Scheins wischten vor dem Ende der Treppe vorbei, und das harte Geräusch schneller Schritte drang an die Ohren der Bestie. Kam jemand die Stufen hoch? Nein, die Schritte verklangen. Eine Tür fiel hörbar zu, danach trat Stille ein. Die Bestie hatte freie Bahn. Eine Pranke schleifte über den Handlauf des hellen Geländers, als der Mörder nach unten lief, durch die Dunkelheit glitt und eine Hintertür avisierte. Vorsichtig wurde die Tür aufgezogen. Ein erster Blick aus den kalten, leicht rötlich schimmernden Augen in die Finsternis. Nichts war zu sehen, nur der Lärm der Gäste drang über das Hausdach hinweg und breitete sich im Garten aus. Das war wichtig für die Bestie .. . Wenig später tappten die breiten Füße über den weichen Boden. Der Kopf bewegte sich, die Augen suchten nach irgendwelchen Gegnern oder Feinden. Kein Wächter ließ sich blicken. Die Männer nahmen ihren Job nicht so ernst. Sie standen zusammen, tranken, rauchten und erzählten sich Witze. Ideal für den Killer!
Und so huschte der Entertainer auf die dunkle Hecke zu, die das Grundstück abteilte. Hinter der Hecke lag sein Ziel, und er wußte, daß man ihn auch erwartete. Eine kleine Hütte, von der Familie Falanga vergessen, nur für die Gärtner wichtig. Ob er gesehen wurde, wußte er nicht. Jedenfalls erwartete man ihn, nur das zählte. Die Hecke hatte er sehr schnell überwunden. Er duckte sich zusammen und schaute für einen Moment gegen den nachtblauen Himmel über ihm, den ein Millionenheer aus Sternen zierte und wo auch der Mond als sattgelbe Scheibe stand. Das war sein Wetter ... Er huschte weiter. Für einen heimlichen Beobachter hätte es so ausgesehen, als würde ein Tier über die freie Fläche huschen. Die Bestie blieb dort stehen, wo sich die Umrisse des kleinen Gartenhauses abzeichneten. Die darin hockenden Menschen hatten kein Licht gemacht. Nicht der dünnste Schein durchdrang die Ritzen. Vor der Tür blieb der Killer stehen. Er bewegte seinen massigen Schädel, als wollte er sich noch einmal vergewissern, daß auch kein anderer in der Nähe herumgeisterte. Eine Pranke berührte den Griff. Es knarrte, als der Entertainer ihn nach unten drückte und an der Tür zerrte. Von innen hörte er die Stimme. »Ja, komm her, wir haben dich erwartet.« Und die Bestie betrat die Hütte... *** Manchmal kann das Leben grausam sein. Noch viel grausamer als ein Horrorfilm. Das erlebten Suko und ich in dieser Tropennacht, wo das kalte Grauen wie ein Hammer zuschlug und dabei jeden der völlig konsternierten Partygäste erwischte. Vasco Falanga stand noch immer leicht gebückt auf der Bühne, vor sich die Truhe, aus der er den Toten halb hervorgezerrt hatte. Durch die Konzentration der beiden Scheinwerferstrahlen auf einen bestimmten Punkt wurde jedes Detail überdeutlich hervorgehoben, als hätte es ein Maler auf die Bühne gepinselt. Der junge Mann fühlte sich in seiner Rolle wohl. Auch das Blut störte ihn nicht. Es rann aus den tiefen Wunden des Toten und benetzte seine eigenen Hände. Leicht fiel es ihm nicht, den Ermordeten zu halten. Er drückte ihn nach vorn, so daß der Tote außerhalb der Kiste zusammensackte und liegenblieb.
Dann richtete er sich wieder auf, breitete die Arme aus und drehte die Handflächen den Zuschauern zu. Bisher hatte sich keiner von ihnen gerührt. Ob Mann oder Frau, jeder Gast hatte unter einem Schock gestanden. Der ging vorbei. Die kurze Zeitspanne dauerte nur Sekunden, bis die ersten Menschen aus ihrer Erstarrung erwachten und ihre gellenden Schreie wie ein irres Geläut durch die Nacht peitschten. Es blieb nicht bei den Schreien. Ihnen folgte die Panik. Plötzlich wollte jeder weg. Auf einmal war ihnen kein Platz mehr sicher genug. Sie drehten sich, sie wollten rennen, und weil die Panik sie in den Krallen hielt, schauten sie nicht hin, welchen Weg sie nahmen. So kam es, daß sie kollidierten, sich dann gegenseitig auswichen, sogar in den Pool fielen, weiterrannten, einiges umrissen und auch die Reste des kalten Büffets nicht verschonten. Eine Frau war nicht weggelaufen. Ich sah, wie sie auf dem Fleck stand, die Hände in ihrer schwarzen Haarpracht verkrallte. Senhora Falanga stand da und schrie! Die Frau war wie von Sinnen. In ihrem Körper mußte sich eine Sirene befinden, die sich jetzt freie Bahn verschaffte. Ihr Mann wußte nicht, was er tun sollte. >Kopf-los< lief er umher, versuchte, seine Gäste anzusprechen, die nicht auf ihn hörten, ihn zur Seite stießen oder einfach nur anschrien. Suko stand ebenso günstig wie ich. Wir brauchten nur einen kleinen Bogen zu schlagen, um die Bühne von der Seite her erreichen zu können. Dort hockte Vasco auf dem Rand der Truhe. Vor ihm lag der Tote, er aber lachte in den Garten hinein, als wäre das alles nur ein gewaltiger Spaß. Der Inspektor war schneller als ich. Mit einem Sprung hatte er die Bühne erreicht und drang ein in den großen runden Kreis der Scheinwerfer. Ich folgte ihm einen Atemzug später, da hatte Suko bereits Vasco Falanga gepackt und auf die Beine gestellt. Er mußte ihn halten, sonst wäre der junge Mann zusammengebrochen. Sie starrten sich an. Vascos Gesicht zuckte. Er lachte, er schüttelte den Kopf, er tat, als wäre ihm alles egal. »Woher hast du ihn?« schrie Suko den jungen Mann an. »Verdammt noch mal, was ist passiert?« »Der Entertainer! Er ist hier! Er war bei mir! Ich habe ihn gesehen. Ich liebe ihn .. .« Suko ließ den jungen Mann los, der nach hinten kippte und in die Truhe rutschte. »Verstehst du das?« »Noch nicht.« »Fragt sich nur, ob wir aus ihm je ein vernünftiges Wort herausbekommen.«
»Eben.« Ich drehte mich um, weil ich hinter mir ein heftiges Keuchen gehört hatte. Rinaldo Falanga betrat die Szene. Sein weißes Haarstand jetzt wirr von seinem Kopf ab. In den Augen lag ein fiebriger Glanz. Anstatt sich um seinen Sohn zu kümmern, sprach er uns an. Seine Stimme kippte über. Wir verstanden ihn nicht. Als er nach uns schlagen wollte, hielten wir seine Arme fest. »Werden Sie vernünftig!« Mein Befehl, zudem in Englisch gesprochen, ließ ihn innehalten. Er drehte den Kopf und starrte uns an. Unter den Augen sprangen die beiden Wangenknochen scharf hervor. In den Blutgeruch mischte sich der Duft seines Parfüms. »Wer sind Sie?« »Wir suchen den Killer!« Falangas Augen bewegten sich. »Den was? Den Mörder des . . .« »Ja.« Er drehte den Kopf und starrte auf seinen Sohn. Mit dem Ärmel der Smokingjacke wischte er über die Nase. »Aber Sie werden meinen Sohn nicht mitnehmen.« Seine Stimme steigerte sich. »Das verbiete ich Ihnen, verdammt! Ja, ich verbiete es Ihnen. Sie können ihn nicht mit normalen Maßstäben messen. Er ist geistig verwirrt! Er ist krank, verstehen Sie das? Mein Sohn ist krank!« brüllte er. »Das wissen wir!« »Dann hauen Sie ab! Lassen Sie ihn in Ruhe! Ich werde mich mit der Polizei in Verbindung setzen.« »Wir halten Ihren Sohn nicht für den Killer!« erklärte Suko. Falanga brauchte eine Weile, um die Worte erfassen zu können. Er strich durch sein Haar, runzelte die Stirn und verengte die Augen. »Sie glauben wirklich nicht, daß er .. .?« »Nein, er ist nicht der Mörder!« »Woher wollen Sie das wissen?« »Es ist ein Spiel, Senhor Falanga. Ein verfluchtes, ein grausames und tödliches Spiel, in dem er nicht einmal der Joker ist, nur ein Mitläufer. Jemand hat ihn angestiftet.« Falanga ging einen Schritt zurück. Er konnte uns nicht begreifen und fragte: »Wer sonst?« »Der Entertainer!« Der Mann schloß die Augen, öffnete sie wieder, streckte uns seinen Finger entgegen und fragte flüsternd: »Meinen Sie die Bestie, die schon in der Stadt so viele Opfer gerissen hat?« »Genau die«, sagte Suko. »Das ist Wahnsinn, das kann gar nicht stimmen!« »Woher wissen Sie das?« »Weil ich . . . weil ich . . .«. Er redete nicht mehr mit Suko. Dafür wandte er sich an seinen Sohn. Den schrie er an. »Stimmt das, was hier erzählt wird, Vasco? Stimmt das, verdammt noch mal?« Der junge Falanga starrte ins Leere und lachte. Das gefiel seinem Vater nicht. Er umschlang die Schultern des anderen und schüttelte ihn heftig
durch. »Ob das stimmt, will ich wissen? Ich will wissen, ob die Männer die Wahrheit sprechen?« Vasco schaute hoch. Mit der Zunge leckte er über seine Lippen, bevor er breit grinste. »Ja, es war der Entertainer!« »Du kennst ihn?« Nicken. »Wo ist er?« »Hier.« Vasco bewegte seine Arme, als wollte er etwas wegscheuchen. »Er ist hier.« »Und weiter?« »Such ihn!« Rinaldo Falanga fuhr hoch und herum. Es sah so aus, als wollte er seinem Sohn die Faust gegen den Kopf schlagen. Ich griff ein. »Lassen Sie das, Senhor.« »Sie haben mir nichts zu sagen!« »In diesem Fall schon. Wir wollen eine Bestie fangen, und wir werden alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die sich uns entgegenstellen. Haben Sie verstanden?« »Sicher. Aber rechnen Sie auch damit, daß es Ihnen so ergeht wie meinem Personal?« »Das ist unser Risiko.« Falanga hatte begriffen. Er dachte sogar nach. »Wenn alles stimmt, dann muß sich die Bestie auf meinem Grundstück aufhalten. Vielleicht will sie noch mehr Opfer reißen.« Sein Blick glitt von der Bühne weg und hinein in den Garten, wo sich die Gäste zurückgezogen hatten. Nur wenige hielten sich noch in Sichtweite auf. Viele von ihnen waren auch zu ihren Autos gelaufen und verschwunden. Eine Frau fiel auf. Senhora Falanga taumelte mit langen Schritten auf die Bühne zu, die Arme halb erhoben, den Mund geöffnet, ohne daß ein Schrei ihn verließ. Sie erinnerte mich an eine Operndiva, die bald ihren großen Auftritt hatte. Ich wartete ab und schaute zu, wie sie nach ihrem Mann schrie. Die Worte verstand ich nicht, aber Falanga winkte wütend ab. Er kümmerte sich um uns. »Wenn Sie den Killer stellen wollen, müssen Sie ihn auch suchen. Oder etwa nicht?« »Deshalb sind wir hier!« »Gut, gut.« Er nickte. »Und wo wollen Sie ihn suchen? Wo kann er sich versteckt halten?« »Auf Ihrem Grundstück. Wir rechnen damit, daß er es noch nicht verlassen hat.« »Ach ja?« »Bleiben Sie bei Ihrer Frau und Ihrem Sohn. Der Rest ist unsere Sache, Senhor.« Falanga sagte nichts. Er kümmerte sich auch nicht um sein Wachpersonal, das sich nahe des Pools zusammengefunden hatte und auf die schaukelnden Wellen starrte, über deren Oberflächen bunte
Lichtreflexe huschten. »Gut«, sagte er, »gehen Sie. Tun Sie, was Ihre Pflicht ist. Oder tun Sie mehr. Ich bin überfragt.« Wir gingen. Senhora Falanga schaute uns an, ohne uns direkt zu sehen. Sie stand dicht vor einem Zusammenbruch, was sogar verständlich war, denn ihre heile Geldwelt hatte einen sehr tiefen Riß bekommen. Außer Hörweite sprach Suko mich an. »Wahrscheinlich denkst du das gleiche wie ich, John. Und wahrscheinlich gibt es nur eine Chance oder Möglichkeit, wo die Bestie sein könnte.« »Rede schon.« »Bei Madame Oviano!« »Genau. Sie werden wir besuchen...« *** Sie saßen nebeneinander wie zwei Figuren, und sie wußten beide Bescheid, denn die Voodoo-Königin hatte Coco in die eigentlichen Tiefen des Falls eingeweiht. So konnten sie nicht überrascht werden, auch nicht von der Unperson, die mit einem wuchtigen Griff die Tür aufzerrte, um den Wartenden einen >Besuch< abzustatten. »Komm ruhig her, Entertainer«, flüsterte Madame. »Wir haben auf dich gewartet.« Als Antwort drang ihnen ein Keuchen entgegen. Dann duckte sich die Gestalt des Schreckens, um nicht mit dem Schädel gegen die Decke zu stoßen. Nach einem weiteren Schritt hatte sie ihr Ziel erreicht und kauerte sich nieder. Ihr Keuchen war zu hören. Sie unterstrich es durch wilde Bewegungen ihrer Pranken, an denen noch das Blut in dicken Tropfen klebte. Madame Oviano zeigte keine Angst. Aus nächster Nähe schaute sie der Bestie in die Augen. Nur Coco rückte etwas zurück. Sie schauderte zusammen, denn die Ausstrahlung des Bösen war' für sie nicht mehr zu ertragen. Madame Oviano aber hob die Arme an und strich über das Gesicht des Monstrums. Sogar durch ihre Haare glitten die Finger, sie lächelte, und sie preßte das Monstrum an sich. »Du hast es geschafft. Du hast dich nach meinen Lehren gerichtet. Du bist diejenige Person gewesen, die den Weg in die anderen Welten gehen wollte, um mit den Geistern Kontakt zu finden. Ich habe dir den Kontakt hergestellt, ich habe dich in die Dimensionen des Schreckens geschickt, und du konntest einen Blick hineinwerfen in das Pandämonium, wo sie versammelt waren. Du bist der Faszination dieser Welt erlegen, du hast dich sogar entschieden. Der Geist einer Bestie nahm von dir Besitz. Er teilte sich, denn auch das Pandämonium fordert
seinen Tribut. Du bist tagsüber Mensch, aber in der Nacht bist du Bestie. Eine gespaltene Persönlichkeit, wie ich sie haben wollte. Ich haßte die Theorie, ich wollte die Praxis erleben, und ich habe sie erlebt. Es geht, es klappt, ich bin nicht nur stolz auf dich, auch auf mich. Mein Zauber hat dir die Welt geöffnet, wir haben allen Menschen etwas vorgespielt, und keiner wird dich stoppen. Du wirst weiter deiner Aufgabe nachgehen, und du wirst dir sicher sein können, das ich dich schütze. Geh jetzt wieder, für diese Nacht ist deine Aufgabe vorerst getan. Du mußt in die Stadt, du mußt neue Spuren legen, ich bitte dich darum.« Die Bestie lag lammfromm in den Armen der Voodoo-Königin, während Coco wie angeschnallt daneben saß und nichts anderes tun konnte, als zuzuhören. Sie hatte verstanden, sie hatte es endlich begriffen, und sie wußte auch, daß sie sich in großer Gefahr befand, denn sie würde das nächste Opfer der Voodoo-Königin werden. An ihr hatte Madame bereits einige Experimente durchgeführt, um den Geist unter Kontrolle zu bekommen. Das war Coco in diesen Augenblicken klargeworden, nur zeigte sie dies nicht und war stolz, auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Daß außerhalb der Hütte sich die Panik unter den Gästen wie eine große Woge ausgebreitet hatte, bekam sie nur akustisch mit. Madame Oviano interessierte sich einzig und allein für ihren Schützling, den sie zur Seite drückte und ihn bat, die Hütte endlich zu verlassen, wobei sie noch sagte, daß sie später zurückkehren möge. Der Entertainer gehorchte wie ein Rekrut seinem Spieß. Er stand brav auf, gönnte Coco nicht einen Blick, ging zur Tür und war wenig später verschwunden. Das junge Medium saß starr auf der Stelle. Es schaute auf Madame, sah gegen die Tür und hob die Schultern. »Begreifst du es?« »Nein, Madame.« Die Voodoo-Königin lächelte. »Es ist schwer, das weiß ich auch. Selbst ich habe Jahre meines Lebens gebraucht, um den Zugang zu bestimmten Welten zu finden. Ich habe mich offiziell mit Voodoo beschäftigt, aber ich wollte die alten Toten nicht aus den Gräbern holen. Ich habe immer davon geträumt, andere Wege zu gehen, und das ist mir auch ausgezeichnet gelungen. Ich habe den Kontakt zwischen dieser Welt und dem Pandämonium hergestellt, einen normalen Menschen in das andere Reich geschickt, um seine Psyche dort spalten zu lassen. Dr. Jekyll und Mr. Hyde. So ist es gewesen, und es klappte tatsächlich.« Coco nickte. Sie bewegte ihre Lippen, ohne zu sprechen. Erst nach einer Weile traute sie sich, eine Frage zu stellen. »Dann hast du den Kontakt zu mir gesucht.« »Das stimmt.«
Sie traute sich kaum, die entscheidende Frage zu stellen. »Und was hast du mit mir vor?« »Sehr viel.« Coco erschrak. Sie wußte selbst nicht, woher sie den Mut zur nächsten Frage nahm. »Soll ich auch so werden? Soll ich mein Inneres ebenfalls spalten?« »Ich denke nicht.« »Was wird dann mit mir geschehen?« »Für eine Frau wie mich gibt es unendlich viele Möglichkeiten, in die fremden Welten einzudringen, aber davon reden wir später. Ich habe dich so weit bekommen, daß du es schaffst, das Böse zu spüren. Du bist mein Anzeiger für das Grauen, und ich möchte dich so weit bringen, daß du selbst das Böse herlocken kannst und es auch wieder zurückschickst, wann immer du willst.« Coco fröstelte nach diesen Worten. Daß etwas Unheimliches auf sie zukam, wußte sie, nur traute sie sich nicht, nach den furchtbaren Einzelheiten zu fragen. »Alles verstanden?« »Nein, aber . . .« Madame Oviano legte einen Finger auf die Lippen. Coco verstand und stellte keine weitere Frage mehr. »Es bleibt alles unter uns, Mädchen. Zu keinem ein Wort.« »Si. . .« Dann hörte auch sie Schritte, die vor der Hütte stoppten. Eine Stimme fragte, ob alles in Ordnung wäre. »Ja, kommen Sie herein, Senior Sinclair...« *** Keine Panik, keine Angst, nichts schwang in der Einladung mit, die uns Madame entgegenrief. Ich schaute Suko an. »Ob die von nichts gewußt haben?« »Kann ich mir nicht vorstellen.« »Okay.« Ich zerrte die Tür auf und hörte das Geräusch, als ein Zündholz über eine Reibfläche rieb, aufflackerte und den Docht einer Kerze in Brand setzte. Im Schein erschien das lächelnde Gesicht der Voodoo-Königin. »So ist es gemütlicher«, sagte sie. »Darauf kommt es uns nicht an.« Wir betraten die Hütte, suchten sie mit unseren Blik-ken ab und fanden keine verdächtigen Spuren. Es sah so aus, als wäre das Geschehen an den beiden Frauen vorbeigelaufen. »Wir haben die Schreie gehört«, begrüßte uns die Voodoo-Königin. »Was ist passiert?« Suko und ich hockten uns nieder. Noch immer konnten wir nicht glauben, daß beide Frauen verschont waren. Die Luft in der Hütte hatte sich nicht
verändert. Weiterhin war sie zäh wie Sirup. Ich schnupperte sie und kam zu dem Entschluß, daß sich auch ein anderer Geruch hineingedrängt hatte. Leider gelang es mir nicht, ihn zu identifizieren. Madame stieß mich an. »Bitte, John, Sie müssen Schlimmes hinter sich haben .. .« »Wir nicht so sehr, aber einer der Wächter.« »Ist er tot?« »Ja«, sagte Suko, »er wurde zerfleischt. Die Bestie hat ihn brutal getötet.« Bei seinen Worten bekam Coco eine Gänsehaut und senkte den Kopf. Es sah so aus, als wollte sie etwas sagen, hielt sich aber zurück. »Und wie ging es weiter?« »Vasco spielte eine Hauptrolle!« Nach dieser Antwort erschrak Madame sehr heftig. Sie preßte ihre Hand vor den Mund, löste sie dann und flüsterte: »Das hätte ich nie gedacht, daß er der Entertainer ist.« Ich schob die Augenbrauen hoch. »Ist er das tatsächlich?« fragte ich. »Sie sagten doch . ..« »Nein, ich sagte nichts. Nur soviel, daß er eine der Hauptrollen spielte. Ob er der Entertainer ist, den wir jagen, kann keiner von uns wissen. Da fehlen einfach die Beweise.« Sie hob die Schultern und gab sich ratlos. »Dann weiß ich auch nicht mehr, was ich nehmen soll.« »Und Sie haben hier nichts erlebt?« fragte Suko. »Nein, wir sind hier in der Hütte geblieben. Wir hörten wohl die Schreie der Gäste und ahnten, daß sich etwas Furchtbares abspielen würde. Mehr ist uns nicht bekannt.« Coco nickte genau wie ein Automat. Ich hob die Schultern. »Dann lagen wir mit unserer Vermutung wohl falsch.« »Wie sah die aus?« »Wir dachten, daß Sie beide mehr gesehen hätten, Madame.« Ich blickte an ihr vorbei. Die Flamme bewegte sich langsam. Sie sorgte für Licht und auch für Schatten. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Wir saßen hier und spürten das Böse. Coco hatte eine furchtbare Angst davor, daß es zuschlagen würde. Glücklicherweise glitt der Kelch an uns vorbei. Wir haben nichts dergleichen erlebt.« »Da kann man wohl nichts machen.« »Haben Sie den Entertainer denn zu Gesicht bekommen?« »Leider nicht«, erwiderte ich. »Wir sahen nur das Opfer, daß Vasco aus einer Truhe holte.« Madame Oviano wehrte mit beiden Händen ab. »Himmel, nicht weiterreden. Das ist ja furchtbar.«
»Aber Realität.« »Und wie sehen Ihre Pläne aus?« »Wir werden den Entertainer so lange jagen,-bis wir ihn haben. Einmal muß er sich zeigen.« »Dann bleiben Sie hier?« »Wahrscheinlich nicht, denn wir müssen mit der Polizei unten in der Stadt reden.« »Das ist jetzt wichtig. Der Fall nimmt Ausmaße an, die . . .« Sie rollte mit den Augen. »Da kommt jemand.« »Hierher?« »Ja, John.« Ich sprang auf, auch Suko hielt es nicht mehr auf seinem Platz. Vor mir zerrte er die Tür auf. Wir mußten gestehen, daß Madame Oviano bessere Ohren besaß als wir, denn es stand tatsächlich jemand vor der Tür, den wir schon lange vermißt hatten. »Maria!« flüsterte ich. Auch die junge Frau schrak zusammen, als sie uns sah. Sie schüttelte leicht den Kopf und rieb dann ihre Augen. »Meine Güte, was ist denn geschehen?« »Sie wissen das nicht?« »Nein, ich habe oben in meinem Zimmer geschlafen wie eine Tote. Dann weckte mich der Lärm. Ich lief hinaus, sah meine Eltern und meinen Bruder, der vor . . .« ihre Stimme versagte. »Ich . . . ich kann es noch immer nicht fassen, daß er dieser grauenvolle Entertainer ist. Das . .. das will ich einfach nicht begreifen.« »Es steht noch nicht fest«, sagte Suko. »Aber ich sah ihn doch!« schrie Maria. Dabei ging sie in die Knie und streckte die Arme auas. »Ich habe ihn gesehen. Ich sah das Blut an seinen Händen, ich sah den furchtbar zugerichteten Körper vor der Truhe. Zwei Scheinwerfer strahlten alles überdeutlich an. Bitte, welche Zweifel haben Sie da noch?« »Wir wissen es nicht genau.« »Aha, es könnte aber sein.« »Ja und nein«, sagte ich leise. »Jedenfalls muß Caval-dos hier erscheinen und eine Untersuchung vornehmen. Mein Kollege und ich müssen so rasch wie möglich wieder in die Stadt, um .. .« »Ich auch!« »Was sagen Sie da?« Maria Falanga nickte heftig. »Ich bleibe nicht mehr hier. Ich will in die Stadt. Mit meinen Eltern ist nicht zu reden. Sie stehen beide unter einem Schock.« »Brauchen Sie nicht jetzt Ihre Hilfe?«
»Keine Sorge, ich kenne die beiden besser. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Die Nacht ist noch lang. Wenn Sie tatsächlich in die Stadt wollen, kann ich Sie mitnehmen.« »Wann fahren Sie?« »Sofort.« Sie räusperte sich. »Und wohin soll ich Sie bringen? Ins Präsidium?« »Nein, das wird keinen Sinn haben, denn Cavaldos ist unterwegs. Bringen Sie uns in unser Hotel.« Ich fügte den Namen hinzu, und die junge Frau nickte. »Darf ich mal vorbei?« »Bitte.« Ich machte ihr Platz. Maria Falanga betrat die Hütte. Sie beugte sich vor und legte beide Handflächen gegen das Gesicht der Voodoo-Königin. »Was ist mit dir? Willst du, daß ich dich auch mit in die Stadt nehme? Möchtest du das?« »Nein, ich bleibe.« »Wo willst du . ..?« »Ich habe hier oben meinen Platz und werde ihn nicht verlassen. Allerdings muß ich mich zurückziehen, innerlich, meine ich. Vielleicht kann ich einen Kontakt herstellen, denn die Bestie muß einfach gefangen werden. Das sind wir den Menschen schuldig.« »Stimmt!« Maria küßte die Voodoo-Königin auf beide Wangen, drehte sich um und nickte uns zu. »Kommt mit, meinen Wagen kennt ihr ja.« Wir verabschiedeten uns von beiden Frauen. Madame lächelte hintergründig, was mir nicht gefiel. Wußte sie doch mehr, als sie uns gegenüber zugeben wollte? Cocos Blick war starr, ängstlich und gleichzeitig warnend. Ich fragte sie aber nicht, denn Maria drängte zum Aufbruch. Auf dem Weg zu Wagen fragte ich sie. »Nun hat der Schrecken auch Ihre Familie erreicht. Darf ich fragen, wie Sie sich in Zukunft verhalten werden?« »Das wird schwer sein. Ich weiß es noch nicht. Ich bin mir einfach nicht sicher. Alles ist so schrecklich kompliziert geworden, denn ich rechne nach wie vor damit, daß mein Bruder sich hinter der Maske des Killers verbirgt.« »Haben Sie auch Vorschläge, wie es dann weitergehen könnte, immer vorausgesetzt, daß es zutrifft.« »Ja, man sollte ihn einsperren.« Sie zog die Fahrertür auf und blieb noch stehen. »Man sollte ihn in eine Zelle sperren und erst wieder herauslassen, wenn er gestorben ist.« »Ja«, sagte ich, »das wäre vielleicht eine Chance.« »Steigen Sie bitte ein.«
Wir taten es und waren auf der Fahrt sehr schweigsam. Beide hatten wir den Eindruck, irgend etwas übersehen zu haben. So einfach wie der Fall aussah, war er nicht. Irgendwo gab es einen Störfaktor. Aber wo...? *** Madame de Oviano ließ eine halbe Minute verstreichen, bevor sie sich rührte. Dabei blieb sie sitzen, nur die Handflächen rieb sie gegeneinander und nickte dazu. »Zufrieden?« erkundigte sich Coco. »Sehr sogar.« »Dann läuft alles nach deinen Plänen, nicht?« Die Voodoo-Königin lachte. »Und ob es danach läuft. Die nächsten Opfer auf der Liste sind die beiden Engländer. Ihre Leichen wird man unten in der Stadt finden. Was dann geschieht, kannst du dir vorstellen, Coco.« Coco nickte, bevor sie fragte: »Gibt es viele Menschen, die eine derartige Kraft und Macht besitzen, um Grenzen verschiedener Welten überwinden zu können?« »Denkst du da an mich?« »Natürlich.« Madame Oviano nickte. »Ich will mich nicht selbst loben, aber viele sind es nicht. Dieses Land ist groß, es steckt voller Geheimnisse, auch magischer, das weißt du selbst. Es treten viele Menschen als Zauberer und Macumba-Priester auf. Die meisten davon sind Scharlatane. Ich aber gehöre zu den wenigen, die den richtigen Weg tatsächlich gefunden haben. Darauf bin ich stolz.« »Das kannst du auch, Madame. Nur eines bist du wahrscheinlich nicht?« »Was denn?« »Unsterblich!« Die Voodoo-Königin wußte nicht so recht, was sie mit dieser Antwort beginnen sollte. »Kannst du dich genauer ausdrücken?« »Ich versuche es. Wenn ein Mensch stirbt, wird sein Leib in die kalte Erde gesenkt.« »So ist es. Weiter.« »Aber seine Seele kann nicht vernichtet werden, das meine ich. Sie existiert nicht.« »Sie geht auf Reisen, glaube ich . . .« »Um nicht mehr zurückzukehren.« »In den Körper, meinst du?« Das Medium nickte sehr ernst. »Leider bin ich nicht unsterblich, so wie du mich jetzt siehst. Doch es kann sein, daß ich wiedergeboren werde. Du kennst diesen Begriff der Reinkarnation.« »Ich hörte davon.« Madame schüttelte den Kopf. »Ich an deiner Stelle würde mir darüber noch keine Gedanken machen. Das können wir später tun, Coco. Wir werden noch viele Seancen durchführen.«
Coco schüttelte den Kopf. »Das, Madame, glaube ich nicht. Sie sind eine große Gefahr geworden.« »Wie redest du denn?« Coco weinte plötzlich, aber sie hob den rechten Arm an. Ihre Hand hatte sie bisher im Dunkeln versteckt gehalten. Jetzt kroch sie wieder hervor. »Was ist das denn?« Die Voodoo-Königin flüsterte die Worte. »Eine Schere, eine Gartenschere ...« Madame Oviano brauchte nicht mehr zu fragen. Ein Blick in die Augen des Mediums reichte aus. Da wußte sie genau, was dieses junge Mädchen vorhatte. »Das . .. das wirst du doch nicht tun, Kind.« Coco hörte die Worte. Sie drangen in ihr Innerstes ein wie eine scharfe Säure und begannen damit, die Seele zu zersetzen. Tränen füllten ihre Augen. Daß sie dicht vor einem Mord stand, wußte sie. Daß es für die Tötung eines Menschen eine Entschuldigung gab, das wußte sie auch. War die Voodoo-Königin überhaupt ein Mensch? Sie sah so aus, doch in ihrem Innern glich sie dem verfaulten Kern eines Apfels, bei dem nur das Äußere noch vorhanden war. Sie mußte sterben, allein das zählte. »Nein«, flüsterte sie, »nein, ich .. . ich . ..« »Leg die Schere weg!« Cocos Hand zitterte. Sie holte tief und zuckend Luft. Sie wußte auch, daß die Zeit drängte. »Ich kann nicht anders. Ich habe dir genau zugehört. Du hättest mir nicht sagen sollen, daß du es gewesen bist, der den Entertainer losschickte. Das alles hättest du verschweigen sollen, aber das hast du nicht getan. Mir hat sich nach deinen Worten die Seele geöffnet. Ich habe jetzt das Wissen. Ich weiß Bescheid, und ich weiß auch, daß noch mehr Menschen getötet werden sollen. Der verfluchte Entertainer wird sie umbringen, er wird sie zerfleischen, er wird sie .. .« »Was stört es dich?« »Es sind Menschen!« »Ja, es sind Menschen!« Madame lachte unmotiviert. »Es sind alles Menschen, aber ich will dir eines sagen, mein Kind. Wem sich andere Welten öffnen, der muß auch über seinen eigenen Schatten springen können, begreifst du das?« »Richtig.« »Schön, mein Kind. Deshalb lege die Schere zur Seite, und wir vergessen das Ganze.« Coco mied den direkten Blickkontakt mit dieser Frau. Sie wußte genau, daß Madame Oviano Macht über sie besaß, denn sie gehörte zu den Menschen, die die Kraft der Hypnose besaßen. Wenn sie die VoodooKönigin einmal so weit kommen ließ, war alles aus. »Ich bin über meinen eigenen Schatten gesprungen, Madame.« »Ach ja?« »Sehr wohl sogar, und ich . ..« »Dann leg die Schere weg!«
»Neiiinnnn ...!« brüllte Coco und schrie noch einmal so gräßlich. Sie machte sich selbst Mut. Dann stieß sie zu! Und sie weinte wie nie zuvor... *** Maria Falanga lächelte. »Dann darf ich Ihnen eine gute Nacht wünschen,« sagte sie, als wir den Wagen verließen. »Gute Nacht?« »Ja, was ist daran so schlimm?« Ich winkte ab. »Nichts, wahrscheinlich. Eine nette Floskel. Wann hören wir wieder voneinander?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Vom Meer her wehte ein sehr warmer Wind. »Wir bleiben natürlich in Kontakt, das versteht sich. Ich werde Sie anrufen.« »Hoffentlich nicht, wenn es zu spät ist.« »Wie meinen Sie das?« »Wenn die nächste Leiche gefunden wird.« Ihre Augen bekamen einen harten Glanz, einen völlig anderen Ausdruck. »Meinen Sie, daß ich dabei bin?« Suko sprach für mich. »Das nicht, aber man wird Sie bestimmt informieren.« »Das kann sein.« »Dann geben Sie uns Bescheid.« »Wollten Sie nicht Cavaldos anrufen?« »Das werden wir auch machen. Nur kann ich mich auf ihn nicht verlassen. Bei ihm habe ich das Gefühl, daß er immer nebenher geht. Sie wissen, was ich meine.« »Er ist wie diese Stadt.« »Und wie ist er?« »Vergiß es.« Sie stieg ein, startete und brauste davon. Wir blieben noch vor dem Hotel stehen und schauten ihm nach. Es war einer dieser Luxus-Kästen, die in unmittelbarer Nähe des Strands lagen. Sie reckten sich wie umgestülpte Streichholzschachteln in den Himmel und warben mit ihrer Lage und dem phantastischen Blick aufs Meer. Auch die Sicherheit der Gäste war garantiert. Private Schutztruppen sorgten dafür. Ein Boy riß uns die Tür auf, als wir die Lobby betraten. Gekühlte Luft umgab uns. Sie glitt über unsere Gesichter wie das Lächeln des Personals. Hier versuchte man, dem Gast jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Das war auch nötig, denn Rio hatte durch seinen schlechten Ruf in der Touristikbranche an Attraktivität verloren. »Du willst dich doch nicht hinlegen?« fragte Suko. Neben einem Sessel war er stehengeblieben.
Ich schaute gedankenverloren einer Frau im hautengen schwarzen Kleid nach. Was da unter dem Stoff wippte, war schon bewundernswert. »Nein, eigentlich nicht. Wir sollten uns zusammensetzen und noch einmal über den Fall reden. Zudem möchte ich auch mit Cavaldos zusammentreffen. Wir können wohl auf ihn nicht verzichten.« »Gehen wir in die Bar?« »Wohin sonst?« Wir waren nicht die einzigen Gäste in diesem tropisch eingerichteten Raum. Durch die großen Scheiben fiel der Blick über die breiten Strandboulevards hinweg bis hin zum Wasser, das in seiner langen Dünung gegen den Strand rollte und dort mit breiten, hellen Schaumstreifen auslief. An der Bartheke nahmen wir Platz. Unter anderem hatten sich auch dort drei glutäugige Schönheiten ausgebreitet, die uns nicht interessierten. Sollten sie sich andere Kunden angeln. Ein strahlender Keeper, schwarz wie Ebenholz, erkundigte sich nach unseren Wünschen. »Bacardi spezial«, bestellte ich. Suko nahm Mangosaft mit Angostura. Ich legte die Schachtel mit den Zigaretten auf die Theke und schaute gegen das Licht. »Es ist so, als hätten wir etwas übersehen, Alter. Oder denkst du anders darüber?« »Was denn?« »Ich weiß es nicht. Aber mich stört es, verflucht noch mal. Mich stört es echt.« »Keine Lösung?« »Nein.« Ich klemmte mir ein Stäbchen zwischen die Lippen, bekam Feuer vom Keeper, der auch unsere Drinks gemixt hatte und sie vor uns hinstellte. »Danke.« »Wie geht es weiter?« Ich blies Rauch in Richtung Decke. »Dieser Besuch bei der VoodooKönigin kam mir vor, als wäre er irgendwann einmal geprobt worden. Das wirkte wie einstudiert. Ich hatte das Gefühl, daß uns jeder der Anwesenden etwas vormacht.« »Auch Maria Falanga?« »Sicher, auch sie.« Suko wollte trinken, stellte das Glas aber wieder ab. »Darf ich fragen, was das bedeuten soll?« »Ich weiß es selbst nicht, ehrlich. Aber meine Gedanken kreisen ständig um sie und ihren Bruder.« »Du vergißt einen dritten, den Entertainer.« »Da hast du recht.« Suko lächelte. »Wie ich dich kenne, grübelst du über eine Lösung nach. Richtig?«
»Ja, auch das.« Ich rauchte und starrte mit schmalen Augen auf die zahlreichen Flaschen im Regal. »Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß du dir nicht ebenfalls Gedanken darüber gemacht hast. Wie bei mir, so werden sie sich um zwei Punkte drehen. Maria und ihr Bruder Vasco spielen dabei eine Hauptrolle.« »Dann ist einer von ihnen der Entertainer.« Ich trank, schaute Suko dabei an, schluckte, stellte das Glas weg und sagte: »Das habe ich nicht behauptet.« »Aber es stimmt.« »Vielleicht. ..« Suko räusperte sich. »Bleiben wir mal bei Maria Falanga. Kannst du dir vorstellen, daß sie sich in eine Bestie verwandelt und Menschen reihenweise umbringt?« »Vorstellen nicht, aber ich muß den Realitäten ins Auge sehen. Denk mal nach, Suko. Hast du sie gesehen, als wir den Auftritt ihres Bruders erlebten?« »Nein.« »Eben.« Suko zeichnete mit der Fingerspitze Kreise auf die polierte Thekenplatte. »Du gehst also davon aus, daß sie ihren Bruder vor den eigenen Karren gespannt hat?« »Ich könnte es mir sogar vorstellen. Sie hat uns wirken lassen und sich ins Fäustchen gelacht. Als alles vorbei war, kam sie zu Madame Oviano und erzählte, daß sie in ihrem Zimmer gewesen wäre und dort geschlafen hätte. Das will mir nicht in den Kopf. Ich . . . ich habe einfach das Gefühl, daß wir bisher den falschen Weg gegangen sind.« »Wo befindet sich der richtige?« »Wenn ich das wüßte. Es gibt niemand, der uns helfen kann. Kommen wir Cavaldos mit unserem Verdacht, so wird er uns auslachen. Nein, wir werden uns . . .« »Schau mal nach rechts, Alter, da kommt jemand.« Ich drehte den Kopf und glaubte an eine optische Täuschung. Maria Falanga war es nicht, aber eine andere Bekannte kam: Coco. Sie war außer Atem, sie zitterte am gesamten Körper, nahm auf einem freien Hocker Platz und fing an zu weinen. Ich bestellte ihr einen Drink. Erst nachdem sie den Rum getrunken hatte, ging es ihr wieder besser. »Es ist so schwer«, sagte sie. »Es ist. . . ich habe sie getötet.« Wir schauten uns an, bleich geworden, und Coco blickte ebenfalls zu uns. »Wen hast du getötet?« »Madame Oviano.«
Sie sprach ein sehr kümmerliches Englisch, und wir mußten uns schon anstrengen, um sie überhaupt verstehen zu können. Aber sie konnte auch etwas Spanisch, und damit kam ich viel besser zurecht. So erfuhren wir, was sich auf dem Grundstück und in der Hütte alles ereignet hatte. Sie klärte uns auch über die Hintergründe, auch über die Rolle, die die Voodoo-Königin dabei gespielt hatte, auf. »Schlecht war sie, bis tief in ihrem Herzen schlecht. Sie hat alle nur benützt, auch mich und den Entertainer.« Coco schaute uns während ihrer Worte nicht an. Sie redete einfach ins Leere hinein. »Und wie bist du hergekommen?« »Einer der Gäste nahm mit mit, John. Ihr habt ja davon erzählt, in welch einem Hotel ihr wohnt.« »Das stimmt.« »Jetzt bin ich hier.« »Und du gehst davon aus, daß Maria Falanga der Entertainer ist?« fragte Suko. »Davon gehe ich nicht nur aus, das weiß ich sogar. Sie ist der Killer, sie ist die Bestie.« »Was sagst du?« fragte ich Suko. »Ich gebe ihr recht.« »Okay, ich auch. Nun hocken wir hier an der Bar und wissen nicht, wo sich Maria aufhält. Rio ist ein gewaltiger Hexenkessel. Sie kann sich überall verbergen. Da suchen wir uns die Seele aus dem Leib ...« »Wenn ich mal etwas sagen darf«, meldete sich Coco. »Bitte.« »Maria und ich haben uns verstanden. Wir kannten uns zwar nicht gut, aber ich weiß etwas über sie. Auch hat mir Madame Oviano einiges über die Frau berichtet.« Ich kam zum Thema. »Weißt du, wo sie wohnt?« »Ja!« »Dann raus damit!« »Ihre zweite Bleibe befindet sich in einem hohen Haus. Es liegt nicht einmal sehr weit entfernt von hier.« »Aber nicht in den Favelas — oder?« Coco schüttelte entschieden den Kopf. »Da hat sie zwar mal hin und wieder übernachtet, das war auch alles. Ich werde euch gern hinführen, wenn ihr wollt.« Und ob wir wollten. Coco lächelte leicht. »Gut, daß ich gekommen bin. Vielleicht kann ich dazu beitragen, weiteres Unheil zu verhindern.« »Das hoffe ich doch. Müssen wir einen Wagen nehmen?« »Es wäre besser.« Suko rannte durch die Lobby, um ein Taxi zu bestellen. Ich starrte für einen Moment ins Leere. Maria Falanga also war der Entertainer. Ich wollte es nicht glauben.
»Bist du jetzt enttäuscht?« fragte Coco. »Nicht nur das. Ich bin auch schockiert. Weißt du, Mädchen, man kann so alt werden, wie man will, man lernt nie aus . . .« Suko winkte aus der Lobby, der Wagen stand bereit. Für uns würde es eine sehr schlimme Fahrt werden... *** Das Haus gehörte zu denen, die erst in den letzten Jahren errichtet worden waren. Es war nur drei Stockwerke hoch, dafür ziemlich breit, und mit der Front hin zum Meer gebaut worden. Balkon reihte sich an Balkon, aber niemand stand dort. Nicht hinter allen Fenstern brannten Lichter. Dort, wo es hell war, sahen wir die Umrisse der Bewohner. Bis zum Strand war es nicht weit. Eine nächtliche Brise streichelte unsere verschwitzten Gesichter. Die Kühlung tat gut. »Wo wohnt sie?« fragte ich. Coco hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Irgendwo in den oberen Etagen.« Suko befand sich bereits auf dem Weg zum Eingang, über dem bläuliches Licht strahlte. Auch hier stand ein Aufpasser, der einem größeren Schein nicht abgeneigt war und ihn so schnell verschwinden ließ wie ein Zauberer. Er öffnete uns die Tür und hatte uns das Stockwerk genannt. Sie wohnte im letzten. »Treppe oder Lift?« fragte Suko. »Die Treppe.« Das Haus war im Vergleich zu vielen anderen Geräuschen sehr sauber. Um die Insekten an den Wänden kümmerten wir uns nicht. Sie konnte man wohl auch nicht ausmerzen, obwohl Desinfektionsmittel verwendet worden waren, wie wir am Geruch feststellten. Jedes Stockwerk war zum Treppenhaus durch eine Glastür abgetrennt. Keine war geschlossen, auch die nicht in der dritten Etage, wo unser Ziel lag. Wir konnten es Coco ansehen, wie nervös sie war. Ständig kaute sie auf der Unterlippe oder rieb ihre Handflächen an der Kleidung trocken. »Angst?« fragte Suko leise. Sie nickte. »Die habe ich auch.« »Stimmt das?« »Klar.« Mein Freund lächelte. »Du mußt bedenken, daß auch wir nicht unsterblich sind.« Sie blieb stehen. Direkt neben der dunkel gebeizten Tür. Unter der Decke brannte eine kopfrunde Leuchte, die Außenseite beklebt mit toten Insekten. Sogar ein Namensschild hatte Maria Falanga anbringen lassen. Einen Klingelknopf sahen wir ebenfalls. Er leuchtete türkisfarben.
»Wollt ihr . . .« Suko ließ sie nicht zu Ende sprechen. Er antwortete, während ich meine Beretta überprüfte und zufrieden war. »Du wirst schellen, Coco.« Sie erschrak. »Und dann?« »Wirst du dich melden, sollte dich jemand fragen, wer draußen steht. Sage ruhig deinen Namen.« Das Medium nickte zögernd. »Aber was macht ihr inzwischen?« »Wir bleiben zunächst in Deckung. Sind aber bereit, sofort einzugreifen. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Ich erinnerte mich wieder an die Fähigkeiten des Mädchens und wollte wissen, ob sie etwas spürte. »Nein, nichts. Ich . . . ich bin sonst sehr sensibel. Ich habe das Böse immer gespürt. Nur jetzt nicht.« »Vielleicht ist sie nicht in der Wohnung.« »Es brannte aber Licht«, sagte Coco. »Das braucht nichts zu bedeuten.« Coco nickte. »Ich schelle dann — ja?« »Gut.« Wir lächelten ihr noch aufmunternd zu, bevor wir uns rechts und links der Tür aufbauten und uns mit den Rücken gegen die Wand preßten. Das Mädchen stand direkt davor. Angstschauer rannen über den Körper des Mediums. Sie spürte den Druck sehr deutlich. Mit dem Zeigefinger klingelte sie. Wir hörten in der Wohnung keine Klingel anschlagen und erlebten auch keine Reaktion. Nach einer halben Minute standen wir noch immer da, bis Suko sein >Besteck< hervorholte. »Können wir es wagen?« Ich winkte ab. »Hier immer.« Das Schloß sah nicht sehr stabil aus. Suko brauchte auch nicht lange, um es zu knacken. Lächelnd trat er zurück, gab mir die Gelegenheit, die Tür aufzudrücken. Ich hatte mich an die Seite gestellt und trat mit dem Fuß zu. Coco stand hinter Suko mir gegenüber. Sein breiter Körper gab ihr genügend Deckung. Die Tür schwang auf, und nichts passierte. Wir schauten in einen Flur, der mit einer Kokosmatte ausgelegt worden war. Kein Geräusch drang an unsere Ohren. Ich nickte Suko zu und drehte mich um die Türecke, die Beretta in der Hand haltend, wobei die Mündung nach oben wies. Der Flur war leer. Suko folgte mir, als ich auf eine Tür zuging, die offenstand und sich im Windzug leicht bewegte. Sie tat es deshalb, weil Durchzug herrschte, denn der Tür gegenüber stand das breite Balkonfenster weit offen, und es sah aus, als hätte
Maria Lunte gerochen und sich im letzten Augenblick noch davongemacht. Ich winkte Suko und Coco zu, die beide im schmalen Flur zurückgeblieben waren. Sie kamen sehr vorsichtig. Auf dem Teppich war kaum ein Laut zu hören. Als sie stehenblieben, deutete ich auf das offene breite Fenster. »Es gibt nur den Weg.« »Ob sie sich verwandelt hat?« fragte Coco leise. »Das kann ich mir schon vorstellen. Als normaler Mensch dort herumzuturnen, ist nicht ohne.« Ich blies für einen Moment die Wangen auf und betrat den Balkon. Suko folgte mir. Nebeneinander blieben wir an der Brüstung stehen und mußten achtgeben, daß uns der wunderbare Blick auf das Meer nicht zu sehr ablenkte. Herrlich stand der satte Mond über den Wellen. Er schwebte in der Luft, als würde er von einem Band gehalten. Unter ihm bewegte sich die dunkle Flut. Wie gezeichnet sahen wir auch den hell erleuchteten Umriß eines Schiffes. Suko beugte sich etwas vor, drehte den Kopf, um in die Höhe zu schauen. Sollte sich Maria verwandelt haben, mußten wir mit allem rechnen. Da konnte sie sogar auf einen anderen Balkon geklettert sein. Nichts war zu sehen. »Es ist. . .« Suko wurden die nächsten Worte von den Lippen gerissen, denn hinter uns krachte etwas zusammen. Zugleich wirbelten wir herum, die Waffen schußbereit Und mit einem Blick bekamen wir mit, was geschehen war. Der Entertainer hatte das Nebenzimmer nicht normal durch die Tür verlassen, er hatte mit seiner Attacke bewiesen, wie dünn die Wände in diesem Haus gebaut waren. Zusammen mit einigen Trümmern war er in den Wohnraum gefegt und hechtete auf die völlig überraschte und schreckensstarre Coco zu... *** Es stand fest, daß wir zu spät kommen würden. Auch eine Kugel wäre nicht schnell genug gewesen. So hörten wir nur noch den gellenden Schrei, dann brach das Medium über die Wucht des häßlichen, fellbedeckten Körpers zusammen. Das Blut spritzte plötzlich, bedeckte den Teppich, klatschte auch gegen die Wand, und ich dachte in diesem Bruchteil der Sekunde daran, daß der Entertainer kein Werwolf war. Irgendeine andere Mischung aus Dämon und Tier, aber ebenso gefährlich.
Sukos Waffe krachte, meine Beretta peitschte ebenfalls auf, und beide geweihten Silberkugeln hieben in den Körper hinein wie mächtige Faustschläge. Der Entertainer schrie und röhrte zugleich. Es waren Urlaute, wie ich sie noch nicht vernommen hatte. Gleichzeitig warf er seinen Körper hoch und schleuderte ihn zur Seite, wobei von den Pranken das Blut des Mädchens spritzte. Suko feuerte wieder, aber die Bestie war so schnell, daß es ihr gelang, in den Flur zu huschen. Sie raste hindurch. Suko nahm die Verfolgung auf. Ich kümmerte mich um Coco, die wimmernd und schwerverletzt am Boden lag. Dann rannte ich ebenfalls los. Der Entertainer hatte den Flur erreicht. Unsere Geschosse hatten bei ihm schon Wirkung gezeigt, denn er bewegte sich längst nicht mehr so geschmeidig wie sonst. Mit unsicheren Schritten taumelte das monströse Geschöpf breitbeinig auf die Glastür zu, weil es über die Treppe verschwinden wollte. Wir schössen beide nicht, denn jemand zerrte seine Wohnungstür auf, verließ den Raum und starrte in die blutverschmierte Fratze eines wilden Monstrums. Die Frau brüllte wie am Spieß, während der Entertainer sie an sich riß, um eine Deckung zu haben. Ich war an Suko vorbeigerannt, zielte auf den Kopf des Monstrums und sprang zur Seite, als die Frau mit angststarrem Gesicht durch den plötzlichen Stoß des Entertainers auf mich zusegelte. Sie war wie von Sinnen und wollte sich an meinen Armen festklammern. Ich drückte sie gegen die Wand, wo sie weiterschrie und in die Knie sackte. Diesmal war Suko schneller gewesen als ich. Die Glastür stand offen, die Scheibe selbst fehlte, denn der Entertainer war kurzerhand hindurchgesprungen, was ihm nichts ausmachte. Er wollte nur weg, obwohl zwei geweihte Silberkugeln in seinem Körper steckten. Bis zur letzten Treppenstufe kam er, da verließ ihn die Kraft. Er richtete sich auf. Suko, der diesmal mit der Dämonenpeitsche zuschlagen wollte, traute sich nicht, denn er erlebte die Verwandlung vom Monstrum zum Menschen mit. Maria Falanga — alias der Entertainer — fiel auf die Knie. Sie preßte ihre Hände gegen das Gesicht, denn Pranken waren es nicht mehr. Die langen Nägel bildeten sich zurück. Die Finger kamen zum Vorschein, weil die Pranken das dichte Fell verloren hatten. Sie schrie. Ich stand neben Suko und schaute zu. Es sah so aus, als wollte sie sich die Haut aus dem Gesicht reißen. Als ihre Hände nach unten fielen, sahen wir das Gesicht.
Eine entstellte, schlammig wirkende Fratze mit breiten Wunden, aus denen kein Tropfen normales Blut quoll, dafür eine graue, sirupartige Masse. »Er ist aus dem Pandämonium gekommen«, flüsterte Suko. »Es wäre am besten gewesen, er . ..« Da fiel sie. Wir taten auch nichts, um ihren Sturz zu bremsen. Ein Körper, mehr Mensch als Monster, rollte die Treppe hinunter. »Ich suche ein Telefon«, sagte ich und ging, während Suko sich den Entertainer anschaute. Die Bestie lebte nicht mehr. Zurückgeblieben war ein klumpiges, stinkendes Etwas, ein Wesen, das den Namen Körper kaum verdiente. Es war bedeckt mit grauem Schleim, der aus den zahlreichen Wunden quoll und sich wie eine seichte Schicht verteilte. Das Ende eines Monsters! *** Wir erlebten auch eine angenehme Überraschung, was die Stadt Rio anging, denn der Krankenwagen nebst seiner Besatzung war ziemlich schnell da, und so konnten sich die Sanitäter um Coco kümmern, die schwere Schürf- und Fleischwunden abbekommen hatte. Wir drückten ihr beide Daumen, daß sie durchkommen würde. Irgendwie war es uns auch gelungen, den Kollegen Cavaldos zu finden. Er kam ebenfalls, zusammen mit einigen . seiner Mitarbeiter, die allesamt bewaffnet waren. »Sie haben ihn?« »Ja.« »Wo?« Gemeinsam gingen wir ins Treppenhaus. Dort starrte der Polizist lange auf den Rest. »Soll ich das glauben?« »Sie müssen es.« Er lachte und drehte sich um. »Ich werde es auch, denn diese Stadt ist schon schlimm genug. Ich mag Entertainer auf der Bühne, aber nicht als mordende Bestien.« Er wandte sich an zwei seiner Mitarbeiter. »Packt das Zeug ein und verbrennt es am Strand.« Er griff in die Tasche und holte eine Flasche Schnaps hervor. »Das ist ein besonderer Rum. Wollen Sie einen Schluck?« Ich nickte, auch Suko war dafür. Wir tranken aus der Flasche. Als wir sie absetzten und nun zu zweit nach Luft schnappten, da grinste Cavaldos breit wie ein Honigkuchenpferd. »So reagieren alle, wenn ich Ihnen meine Freundschaft anbiete, Senhores. Machen Sie sich nichts daraus. Nach dem dritten Schluck fühlen Sie sich wie ein Engel auf Wolke sieben.«
»Oder wie ein Teufel aus der dritten Hölle, der langsam verbrennt«, erwiderte ich und hörte am Lachen des brasilianischen Kollegen, daß ihm diese Antwort gefallen hatte...
ENDE