STEPHEN LAWHEAD
DAS LIED VON ALBION
Der endlose
Knoten
Fantasy-Roman Ins Deutsche übertragen Von Christian Rende...
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STEPHEN LAWHEAD
DAS LIED VON ALBION
Der endlose
Knoten
Fantasy-Roman Ins Deutsche übertragen Von Christian Rendel
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH BAND 20317
Für Jan Dennis Da die ganze Welt nur eine Geschichte ist, tätest du gut daran, die dauerhaftere Geschichte zu erwerben statt der weniger dauerhaften. Das Urteil des St. Colum Cille (Hl. Columba von Schottland) Erste Auflage: August 1997 Zweite Auflage: November 1998 ©1993 by Stephen Lawhead Original edition published by Lion Publishing, England All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1997 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltext: The Endless Knot © Copyright der deutschsprachigen Übersetzung: Brendow Verlag GmbH, Moers, 1995 Lektorat: Stefan Bauer Titelbild: Rodney Matthews Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KSC GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Flèche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20317-8
Inhalt
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39.
Finstere Flammen ........................................................................... Drei Forderungen ........................................................................... Das Hochzeitsfest ........................................................................... Eine arbeitsame Nacht ................................................................... Guter Rat ........................................................................................ Cynan Zwei-Torcs ......................................................................... Die Rückkehr der Raben ................................................................ Cylchedd ........................................................................................ Alban Ardduan ............................................................................... Der Sohn des Großen Königs ........................................................ Keilerjagd ....................................................................................... Die Rückkehr des Königs .............................................................. Die Mühle des Aird Righ ............................................................... Eindringlinge .................................................................................. Kindersegen ................................................................................... Die Suche ....................................................................................... Nächtlicher Ritt .............................................................................. Das Geas des Treán ap Golau ........................................................ Tir Aflan ......................................................................................... Die Siabur ...................................................................................... Die Sluagh ...................................................................................... Gelbmantel ..................................................................................... Crom Cruach .................................................................................. Der hohe Turm ............................................................................... Der Nachtwald ............................................................................... Yr Gyrem Rua ................................................................................ Der Awen der Schlacht .................................................................. Auf fester Straße ............................................................................ Flieg, Rabe! .................................................................................... Tote Stimmen ................................................................................. Bwgan Bwlch ................................................................................. Die Fremden ................................................................................... Die Rückkehr des Wanderers ......................................................... Die Falle ......................................................................................... Tref-gan-Haint ............................................................................... Nächtlicher Zusammenprall ........................................................... Die Heldentat ................................................................................. Gleißende Flammen ....................................................................... Der endlose Knoten ........................................................................
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Die Prophezeiung der Banfáith von
Ynys Sci Höre, o Sohn Albions, das prophetische Wort: Kla ge und sei bekümmert, tiefe Trauer wird Albion dreifach zuteil. Der Goldene König in seinem Reich wird mit seinem Fuß an den Stein des Anstoßes stoßen. Der Wurm mit dem feurigen Atem wird den Thron von Prydain beanspruchen; Llogres wird ohne Herrscher sein. Doch glücklich wird Caledon sein; der Flug der Raben wird sich in seinen vielschattigen Tälern sammeln, und Rabengesang wird sein Lied sein. Wenn das Licht der Derwyddi erlischt und das Blut der Barden nach Gerechtigkeit schreit, dann sollen die Raben ihre Flügel über dem geweihten Wald und dem heiligen Hügel ausbreiten. Unter den Flügeln der Raben wird ein Thron errichtet werden. Auf dem Thron sitzt ein König mit einer silbernen Hand. Am Tag des Ringens tauschen Wurzel und Ast ihre Plätze, und die Neuheit wird als ein Wunder gelten. Die Sonne sei trübe wie Bernstein, der Mond berge sein Angesicht: Ein Greuel durchwandert das Land. Mögen die vier Winde in entsetzlicher Gewalt mitein ander ringen; möge ihr Klang zwischen den Sternen zu hören sein. Der Staub der Alten wird auf den Wolken aufsteigen; das Wesen Albions wird zerstreut und zerrissen von widerstreitenden Winden. Die Meere erheben sich mit mächtigen Stimmen. 5
Nirgendwo ist ein sicherer Hafen. Arianrhod schläft in ihrem seeumgürteten Festland. Obwohl viele sie suchen, wird sie nicht zu finden sein. Nur der keusche Kuß wird ihr wieder den Platz verschaffen, der ihr zukommt. Dann wird der Riese der Bosheit wüten und alle mit der scharfen Schneide seines Schwertes in Angst versetzen. Seine Augen werden Blitze schleudern; von seinen Lippen wird Blut tropfen. Mit seiner großen Streitmacht verwüstet er die Insel. Alle, die sich ihm entgegenstellen, werden von der Flut der Übeltaten hinweggespült, die aus seiner Hand hervorfließt. Die Insel der Mächtigen wird zu einem Grab werden. All dies ist durch den Ehernen Mann geschehen, der ebenso auf seinem Reittier aus Messing große und entsetzliche Not bewirkt. Erhebt euch, Männer von Gwir! Nehmt Waffen in die Hände und widersteht den falschen Männern in eurer Mitte! Der Klang des Schlachtengetümmels wird zwischen den Sternen des Himmels zu hören sein, und das Große Jahr wird seiner endgültigen Erfüllung entgegengehen. Höre, o Sohn Albions: Blut ist aus Blut geboren. Fleisch ist aus Fleisch geboren. Doch der Geist ist aus Geist geboren und bleibt immerdar beim Geist. Bevor Albion eins ist, muß die Heldentat getan werden, und die Silberhand muß herrschen.
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Finstere Flammen Ein Feuer wütet in Albion. Ein seltsames, verbor genes Feuer, für die Augen unsichtbar. Wabernd und lodernd brennt es und saugt die Flammen der Finster nis in sein heißes, schwarzes Herz. Ungesehen und unerkannt brennt es. Diese Flammen der Finsternis sind unersättlich; gierig greifen sie um sich, verzehren alles, vernichten alles. Obwohl die Flammen nicht zu sehen sind, versengt die Hitze alles und läßt alles verdorren, schwärzt Fleisch und Knochen; sie trocknet die Kräfte aus und läßt den Willen verwelken. Sie läßt die Tugend schmelzen und den Mut mürbe werden; sie verwandelt Liebe und Ehre in harte, schwarze Holz kohle. Das finstere Feuer ist ein böser und uralter Feind, älter als die Erde selbst. Es hat kein Gesicht, keinen Leib, keine Glieder, die man angreifen oder bekämp fen könnte, geschweige denn löschen und besiegen. Nur Flammen, heimtückische Zungen und verborgene finstere Funken, die umherfliegen und sich zerstreuen bei jedem Heulen des Windes. Und nichts kann dem finsteren Feuer standhalten. 7
Nichts kann dem erbarmungslosen, zerstörerischen Verderben der unsichtbaren Flammen widerstehen. Sie werden nicht erlöschen, bis alle Dinge in diesem Weltenreich zu toter, kalter Asche geworden sind. Die Ochsenhaut vor dem Eingang flatterte, als Te gid Tathal die Hütte betrat. Seine lebhaften Augen forschten in der Dunkelheit; er konnte wieder sehen. Seine Blindheit war geheilt, oder zumindest irgendwie in Sehen verwandelt durch das erneuernde Wasser des Sees. Denn er sah mich auf dem Boden im Stroh sitzen und fragte: »Was machst du gerade?« »Ich denke nach«, erwiderte ich, während ich nach einander die Finger meiner Silberhand beugte. Diese Hand! Schönheit, in edlem, makellosen Silber berühr bar gemacht. Ein über alle Maßen kostbarer Schatz. Ein Geschenk an mich - als Entschädigung für einen Krieger vielleicht - von einer Gottheit mit einem äußerst eigentümlichen Sinn für Humor. Einem äußerst eigentümlichen. Tegid versicherte mir, sie sei eine Gabe des Dagda Samildanac, der Schnellen Sicheren Hand selbst. Er sagte, sie sei die Erfüllung eines Versprechens, das uns der Herr des Hains gegeben hat. Durch ihren Boten schenkte die Schnelle Sichere Hand Tegid sein inneres Augenlicht und gab mir meine silberne Hand. Tegid beobachtete mich neugierig, während meine Gedanken abschweiften. »Und worüber denkst du nach?« fragte er mich endlich. 8
»Darüber.« Ich hob meine Metallhand. »Und über Feuer«, sagte ich ihm. »Dunkles Feuer.« Er nahm das hin, ohne Rückfragen zu stellen. »Sie warten draußen auf dich. Dein Volk will seinen König sehen.« »Ich mußte mich für eine Weile zurückziehen. Ich mußte nachdenken.« Draußen herrschte lauter, fröhlicher Lärm; die Sie gesfeier würde noch tagelang dauern. Der Große Hund Meldron war besiegt und seine Anhänger der Gerechtigkeit übergeben; die Dürre war vorbei und das Land wiederhergestellt. Die Freude der Überle benden kannte keine Grenzen. Ich jedoch teilte ihre Freude nicht. Denn genau das, was ihnen endlich wieder Sicherheit gab und ihrer Freude Flügel verlieh, bedeutete für mich, daß mein Aufenthalt in Albion zu Ende ging. Meine Aufgabe war erfüllt, und ich mußte gehen - wenn auch jeder Nerv und jede Sehne in mir dagegen aufschrien. Tegid kam näher und kniete sich hin, um nicht zu mir herab sprechen zu müssen. »Was ist los?« Bevor ich antworten konnte, wurde die Ochsenhaut erneut zur Seite geschoben, und Professor Nettleton trat ein. Er nickte Tegid ernst zu und wandte sich dann zu mir. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte er schlicht. Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Llew, wir haben darüber gesprochen, und wir waren uns einig. Es muß geschehen - je eher, desto besser. Durch Zögern wird es nur schlimmer.« 9
Tegid sah den kleinen Mann scharf an und sagte: »Er ist unser König. Als Aird Righ von Albion ist es sein Recht -« »Bitte, Tegid.« Nettleton schüttelte langsam den Kopf, den Mund zu einer straffen Linie zusammenge preßt. Er kam einen Schritt näher und starrte zu mir herab. »Es ist keinem Menschen erlaubt, in der Anderwelt zu bleiben. Du weißt das. Du bist gekom men, um Simon zu finden und ihn zurückzubringen, und das hast du getan. Deine Arbeit hier ist beendet. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.« Er hatte recht; ich wußte es. Dennoch schnitt mir der Gedanke an den Abschied tief ins Herz. Ich konnte nicht gehen. Dort, wo ich herkam, erwartete mich nichts; ich hatte kein Leben. Ein mittelmäßiger ausländischer Student, ein Doktorand, dessen mensch liche Grundbedürfnisse schmerzlich unerfüllt waren, dem die Freundschaft von Männern und die Liebe einer Frau fehlten; ein ewiger Akademiker ohne Ziel im Leben, außer diesem vielleicht, das nächste Stipendium herauszuschinden und sich den Tag der Abrechnung vom Leib zu halten und dem Leben jenseits der schützenden Mauern der Oxforder Col leges aus dem Weg zu gehen. Das einzige wirkliche Leben, das ich je gekannt hatte, war hier in Albion. Hier fortzugehen war wie der Tod, und ich konnte es nicht ertragen. »Aber ich habe hier noch etwas zu tun«, entgegnete ich fast verzweifelt. »Es muß so sein - warum wäre 10
mir sonst das hier gegeben worden?« Ich hob meine silberne Hand; das kalte Metallglied schimmerte matt in der Dunkelheit der Hütte, und das zierliche Muster seiner fein ziselierten Oberfläche hob sich golden glänzend von dem sanften Weiß des Silbers ab. »Komm«, sagte der Professor und bückte sich, um mich nach oben zu ziehen. »Mach es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist. Laß uns jetzt gehen, und zwar ohne Aufhebens.« Ich stand auf und folgte ihm aus der Hütte. Tegid kam schweigend hinterher. Vor uns prasselte das Festfeuer, dessen Flammen hoch in die heraufziehen de Dämmerung emporschlugen. Rund um das Feuer jubelten die Menschen; Liedfetzen drangen aus dem fröhlichen Durcheinander zu uns. Wir waren noch keine zwei Schritte weit gekommen, als Goewyn uns entgegentrat, einen Krug in der einen und einen Becher in der anderen Hand. Hinter ihr trug eine Magd eine Platte mit Brot und Fleisch. »Ich dachte mir, du wärst vielleicht hungrig und durstig«, erklärte sie rasch und begann das Bier in den Becher einzuschenken. Sie reichte mir den Becher und sagte: »Tut mir leid, aber mehr konnte ich nicht für dich aufheben. Es ist das letzte.« »Danke«, sagte ich. Als ich nach dem Becher griff, ließ ich meine Finger auf ihrer Hand ruhen. Goewyn lächelte, und ich wußte, daß ich nicht fort konnte, ohne ihr zu sagen, wie es in meinem Herzen aussah. »Goewyn, ich muß dir sagen -«, begann ich. Doch 11
bevor ich weitersprechen konnte, stürmte ein Haufen jubelnder Krieger auf uns zu und bedrängte mich mit lauten Rufen, zu ihnen zu kommen und mit zu feiern. Goewyn und die Magd wurden zur Seite gedrängt. »Llew! Llew!« riefen die Krieger. »Heil dir, Silber hand!« Einer von ihnen hielt mir eine Bratenkeule entgegen und ließ nicht locker, bis ich einen kräftigen Bissen davon genommen hatte. Ein anderer sah den Becher in meiner Hand und goß Bier aus seinem eigenen Becher in meinen. »Sláinte, Silberhand!« riefen sie, und wir tranken. Die Krieger schienen fest entschlossen zu sein, mich mit sich davonzutragen, doch Tegid ging dazwischen und erklärte ihnen, ich wolle selbst unter die Leute gehen, um mich an dem Fest zu freuen. Er bat sie, die Ruhe des Königs zu schützen, indem sie alle entfernten, die mich stören würden, angefangen bei ihnen selbst. Während die Krieger sich lärmend entfernten, er schien Cynan. »Llew!« rief er und ließ seine große Hand auf meine Schulter fallen. »Endlich! Ich habe dich gesucht, Bruder. Hier! Trink mit mir!« Er hob seine Schale hoch. »Wir trinken auf dein Königtum. Möge deine Herrschaft dauerhaft und ruhmreich sein!« Damit goß er Bier aus seiner Schale in meinen ohnehin schon vollen Becher. »Und mögen unsere Becher immer überfließen!« fügte ich hinzu, während mir das Bier über die Hände 12
rann. Cynan lachte. Wir tranken, und bevor er meinen Becher wieder auffüllen konnte, reichte ich ihn rasch an Tegid weiter. »Ich dachte, wir hätten schon lange kein Bier mehr«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung, daß noch so viel übrig ist.« »Das hier ist der Rest«, sagte Cynan und blickte in seine Schale. »Und wenn er getrunken ist, werden wir lange warten müssen, bis die Felder gepflügt sind und das Getreide gewachsen ist. Aber heute«, lachte er wieder, »heute haben wir alles, was wir brauchen!« Cynan, mit seinem feuerroten Haar und seinen blauen Augen, in denen die überschwengliche Freude und der Inhalt seines Bechers leuchteten, sprudelte über vor Lebendigkeit - und Glück darüber, daß es nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Tage so war -, daß ich mit ihm laut lachen mußte. Ich lachte, obwohl mein Herz sich anfühlte wie ein Stein in meiner Brust. »Noch viel besser, Bruder«, sagte ich zu ihm, »wir sind freie Männer und am Leben!« »Das sind wir!« rief Cynan. Er schlang seinen Arm um meinen Nacken und drückte mich an seinen verschwitzten Leib. Wir umarmten uns, und ich hauchte meinem Schwertbruder ein stummes, trauri ges Lebewohl zu. Dann kamen Bran und einige von den Raben zu uns, grüßten mich als König und schworen mir unverbrüchliche Treue. Und während sie noch dabei waren, näherten sich Calbha und Cynfarch, die beiden 13
Könige. »Ich grüße dich«, sagte Calbha. »Möge deine Herrschaft für immer andauern, wie sie begonnen hat.« »Mögen dir alle Dinge wohlgelingen«, fügte Cyn farch hinzu, »und möge jede deiner Schlachten vom Sieg gekrönt sein.« Ich dankte ihnen, und als ich mich abwandte, fielen meine Augen auf Goewyn, die sich entfernte. Calbha sah, wie mein Blick sie verfolgte, und sagte: »Geh zu ihr, Llew. Sie wartet auf dich. Geh.« Ich wandte mich rasch ab. »Tegid, mach mit Nett les ein Boot bereit. Ich bin gleich bei euch.« Professor Nettleton blickte zum dunkler werdenden Himmel hinauf und sagte: »Geh, wenn es sein muß, aber beeil dich, Llew! Die Zeit zwischen den Zeiten wartet nicht auf uns.« Ich holte Goewyn ein, als sie zwischen zwei Häu sern hindurchging. »Komm mit mir«, sagte ich rasch. »Ich muß mit dir reden.« Ohne zu antworten, stellte sie den Krug ab und reichte mir ihre Hand. Ich ergriff sie und führte sie zwischen den Hütten hindurch zum Rand des Cran nog. Wir glitten durch die Schatten an den Palisaden der Festung entlang und hinaus durch die unbewach ten Tore. Goewyn blieb schweigsam, während ich nach den Worten tastete, die ich ihr sagen wollte. Nun, da ich ihre Aufmerksamkeit hatte, wußte ich nicht, wo ich anfangen sollte. Sie beobachtete mich, ihre Augen 14
groß und dunkel im schwindenden Licht, ihr blondes Haar schimmernd wie gesponnenes Silber, ihre Haut weiß wie Elfenbein. Der Torc glänzte wie ein Kreis aus Licht um ihren Hals. Sie war wahrhaftig die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. »Was ist los?« fragte sie nach einem Moment. »Wenn es etwas gibt, das dich unglücklich macht, dann ändere es. Du bist jetzt der König. Es ist an dir, zu sagen, was geschehen soll.« »Mir scheint«, sagte ich traurig, »daß es manche Dinge gibt, die selbst ein König nicht ändern kann.« »Was ist los, Llew?« fragte sie erneut. Ich zögerte. Sie beugte sich näher zu mir und war tete auf meine Antwort. Ich sah sie an, wie sie in all ihrer Schönheit im verblassenden Licht vor mir stand. »Ich liebe dich, Goewyn«, sagte ich. Sie lächelte, und ihre Augen funkelten. »Und das ist es, was dich so unglücklich macht?« sagte sie heiter, trat näher, hob ihre Arme und verschränkte ihre Finger in meinem Nacken. »Ich liebe dich auch. So. Jetzt können wir zusammen unglücklich sein.« Ich spürte ihren warmen Atem auf meinem Gesicht. Ich wollte sie in die Arme nehmen und küssen. Der Drang dazu brannte in mir. Statt dessen wandte ich mein Gesicht ab. »Goewyn, ich würde dich bitten, meine Königin zu werden.« »Und wenn du mich bitten würdest«, sagte sie leise, »würde ich zustimmen - wie ich es in meinem Herzen 15
schon tausendmal getan habe.« Ihre Stimme ... ich hätte in dieser Stimme leben können. Ich hätte von ihr allein existieren, mich völlig darin verlieren können, zufrieden damit, nichts zu kennen außer der Schönheit dieser Stimme. Mein Mund wurde trocken, und ich versuchte, den Sandklumpen herunterzuschlucken, der mir plötzlich die Kehle verstopfte. »Goewyn ... ich -« »Llew?« Sie hatte die Verzweiflung in meiner Stimme bemerkt. »Goewyn, ich kann ... ich kann nicht König sein. Ich kann dich nicht bitten, meine Königin zu werden.« Sie straffte sich und löste sich von nur. »Wie meinst du das?« »Ich meine, daß ich nicht in Albion bleiben kann. Ich muß fort. Ich muß zurück in meine eigene Welt.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich gehöre nicht hierher«, begann ich - unge schickt das stimmt, aber nachdem ich einmal begon nen hatte, fürchtete ich mich davor, wieder aufzuhö ren. »Dies ist nicht meine Welt, Goewyn. Ich bin ein Eindringling; ich habe kein Recht, hier zu sein. Das ist die Wahrheit. Ich bin nur wegen Simon hierherge kommen. Er -« »Simon?« wiederholte sie den fremdartigen Na men. »Siawn Hy«, erklärte ich. »In unserer Welt ist sein Name Simon. Er kam hierher, und ich folgte ihm. Ich kam, um ihn zurückzubringen - und nun ist das 16
geschehen, und ich muß gehen. Jetzt, noch heute abend. Ich werde dich nicht mehr sehen, nachdem -« Goewyn sagte nichts, aber ich sah ihr an, daß sie kein Wort von dem verstand, was ich sagte. Ich holte tief Luft und stammelte weiter: »All die Probleme, alles, was hier in Albion geschehen ist - all der Tod und die Vernichtung, das Massaker der Barden, die Kriege, die Verheerung Prydains - all die schreckli chen Dinge, die hier geschehen sind, sie sind alle Simons Schuld.« »All diese Dinge hat Siawn Hy verursacht?« fragte sie ungläubig. »Ich erkläre das nicht sehr gut«, gab ich zu. »Aber es ist die Wahrheit. Frag Tegid, er wird dir dasselbe sagen. Siawn Hy hat Gedanken mitgebracht - Gedan ken, die so verschlagen und böse waren, daß er ganz Albion damit vergiftet hat. Meldron glaubte an Siawns Ideen, und was dabei herausgekommen ist, wissen wir.« »Ich kann das nicht beurteilen. Aber ich weiß, daß Albion nicht zerstört wurde. Und es wurde nicht zerstört«, wandte Goewyn ein, »weil du hier warst, um es zu verhindern. Wärest du nicht gewesen, so hätten Siawn Hy und Meldron über Albions Vernich tung geherrscht.« »Dann verstehst du auch, warum ich das nicht noch einmal geschehen lassen kann.« »Ich verstehe«, entgegnete sie fest, »daß du bleiben mußt, um zu verhindern, daß es noch einmal ge 17
schieht.« Sie sah mich zögern und drang weiter in mich. »Ja, bleib. Als König hast du das Recht und die Pflicht.« Sie hielt inne und lächelte. »Bleib hier und herrsche über Albions Heilung.« Sie kannte die Worte, die ich mich mehr als alle anderen zu hören sehnte, und sprach sie aus. Ja, ich konnte in Albion bleiben, dachte ich. Ich konnte König sein und mit Goewyn als meiner Königin herrschen. Professor Nettleton mußte sich irren; und Goewyn hatte recht: Als König hatte ich die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Heilung Albions weiterging, wie sie begonnen hatte. Ich konnte bleiben! Goewyn neigte ihren Kopf zur Seite. »Was sagst du, mein Geliebter?« »Goewyn, ich werde bleiben. Wenn es möglich ist, werde ich für immer bleiben. Sei meine Königin. Herrsche mit mir.« Sie fiel in meine Arme, und ihre Lippen lagen auf meinen, warm und weich. Der Duft ihrer Haare füllte meine Lungen und machte mich schwindelig. Ich drückte sie an mich und küßte sie; ich küßte ihren elfenbeinweißen Hals, ihre seidenen Augenlider, ihre warmen, feuchten Lippen, die nach Honig und Wildblumen schmeckten. Und sie küßte mich. Von diesem Moment hatte ich unzählige Male vol ler Sehnsucht geträumt. Ich hatte wahrhaftig keinen größeren Wunsch, als Goewyn zu lieben. Ich drückte ihren willigen, warmen Leib an mich und wußte, daß 18
ich bleiben würde - als hätte ich jemals daran zweifeln dürfen. »Warte auf mich«, sagte ich, löste mich aus der Umarmung und ging rasch davon. »Wo gehst du hin?« rief sie mir nach. »Nettles geht fort. Er wartet auf mich«, antwortete ich. »Ich muß ihm Lebewohl sagen.«
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2
Drei Forderungen Ich rannte an der Palisade entlang zu Tegid und Professor Nettleton, die bereits im Boot saßen. Ich gab dem Boot einen Stoß und sprang hinein; Tegid setzte sich an die Riemen und ruderte uns über den See hinaus. Die Wasserfläche schimmerte glatt wie Glas in der herabsinkenden Dämmerung und spiegelte das letzte Licht des tiefblauen Himmels über uns wider. Wir landeten unterhalb des Druim Vran und be schritten rasch den Pfad, der zu Tegids heiligem Hain führte. Bei jedem Schritt erfand ich ein neues Argu ment oder eine neue Ausrede, um meine Entscheidung zum Bleiben zu rechtfertigen. In Wahrheit hatte ich nie gehen wollen; ich empfand es als falsch. Goewyns Drängen war nur der letzte einer langen Liste von Gründen, warum ich Professor Nettletons Urteil zurückweisen mußte. Er würde meine Entscheidung einfach akzeptieren müssen. Im Hain war es still, und es herrschte ein trübes Licht, als wir das Heiligtum mit seinem Dach aus grünen Blättern betraten. Ohne einen Augenblick zu vergeuden, begann Tegid mit dem Ende seines Stabes 20
einen Kreis auf dem Boden zu markieren. Er ging rückwärts im Sonnensinn um den Kreis herum und sang dabei mit feierlicher, leiser Stimme. Seine Worte konnte ich nicht verstehen - sie stammten aus der Dunklen Sprache der Derwyddi, dem Taran Tafod. Während ich an Nettles' Seite wartete, brodelten in meinem Kopf Vorwürfe, Schuldgefühle und selbstge rechte Empörung durcheinander - ich war der König! Ich hatte diese Stadt erbaut! Wenn ich nicht das Recht hatte hierzubleiben, wer dann? - Doch ich brachte es nicht über mich, die Worte auszusprechen. So blieb ich in ratlosem Schweigen stehen und sah verbittert zu, wie Tegid unsere Abreise vorbereitete. Als der Barde die schlichte Zeremonie beendet hatte, trat er von dem Kreis, den er gezeichnet hatte, zurück und wandte sich an uns. »Alles ist bereit.« Während er sprach, sah er mich an. Ich sah die Trauer in seinen Augen, aber er sagte kein Wort des Ab schieds. Die Trennung war zu schmerzlich für ihn. Der Professor machte einen Schritt auf den Kreis zu, doch ich blieb wie angewurzelt stehen. Als er merkte, daß ich zurückblieb, schaute sich Nettleton über die Schulter nach mir um und sah, daß ich nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte, ihm zu folgen. »Komm, Lewis«, sagte er. »Ich gehe nicht mit«, sagte ich ausdruckslos. Das war es nicht, was ich hatte sagen wollen, aber die Worte waren heraus, bevor ich sie aufhalten konnte. »Lewis!« rief er entsetzt und drehte sich zu mir um. 21
»Überlege, was du tust.« »Ich kann nicht so einfach weg, Nettles. Es ist zu früh.« Er packte meinen Arm und umklammerte ihn fest. »Lewis, hör mir zu. Hör mir gut zu. Wenn du Albion liebst, dann mußt du gehen. Wenn du bleibst, kannst du nur bewirken, daß alles vernichtet wird, was du gerettet hast. Das mußt du begreifen. Ich habe es dir gesagt: Es ist keinem Menschen erlaubt -« Ich schnitt ihm das Wort ab. »Dieses Risiko gehe ich ein, Nettles.« »Es ist nicht an dir, dieses Risiko einzugehen«, erwiderte er scharf. Seine Stimme klang explosiv in der Stille des Hains. Empört blinzelten seine Augen hinter den runden Brillengläsern. »Überlege, was du tust, Lewis. Du hast das Unmögliche erreicht. Deine Aufgabe hier ist erfüllt. Mach nicht all das Gute, das du getan hast, zunichte. Ich flehe dich an, Lewis, überlege es dir.« »Die Zeit zwischen den Zeiten ist da«, sagte Tegid leise. »Ich bleibe«, murmelte ich schroff. »Wenn du ge hen willst, mußt du jetzt aufbrechen.« Da er sah, daß er mich nicht umstimmen konnte, wandte er sich frustriert ab und trat rasch in den Kreis. Sofort schien sein Körper zu verblassen und kleiner zu werden, als ob er in einen, langen Tunnel ginge. »Nimm Abschied, Lewis«, drängte er verzweifelt, »und komm nach, sobald du kannst. Ich werde auf 22
dich warten.« »Leb wohl, mein Freund«, rief Tegid. »Bitte, um aller Dinge willen, die dir lieb sind, schiebe es nicht zu lange auf!« rief Nettleton mit bereits verklingender Stimme. Sein Abbild zitterte, als stünde er hinter einer Wand aus Wasser. Sein Brillen gestell blitzte auf, als er sich abwandte, und dann verschwand er, während seine Worte noch als eine rasch verklingende Warnung in der stillen Luft hingen. Tegid trat neben mich. »Nun, Bruder«, sagte ich, »es scheint, als ob du meine Gegenwart noch ein wenig länger ertragen müßtest.« Der Barde starrte in den nun leeren Kreis. Er schien in die Leere der Unterwelt zu spähen; seine Züge waren verdunkelt und sein Blick in weite Ferne gerichtet. Ich dachte schon, er würde nicht sprechen, doch dann hob er seinen Stab: »Bevor Albion eins ist, muß die Heldentat getan werden, und die Silberhand muß herrschen.« Die Worte stammten aus der Prophezeiung der Banfáith, und sie hatten sich, wie er mich von Zeit zu Zeit erinnerte, bisher noch nicht als falsch erwiesen. Nachdem er diese Verkündigung losgeworden war, wandte er sich an mich. »Die Entscheidung ist getrof fen.« »Und wenn ich nun die falsche Entscheidung ge troffen habe?« »Dann kann ich dich immer noch zurückschicken«, 23
erwiderte er, und ich spürte seine Erleichterung. Tegid hatte sich ebensowenig gewünscht, daß ich ging, wie ich selbst es mir gewünscht hatte. »Das ist wahr«, sagte ich, und mir wurde etwas leichter ums Herz. Natürlich konnte ich zurückkehren, wann immer ich wollte, und ich würde auch gehen wenn die Arbeit, die ich begonnen hatte, vollendet war. Eines Tages würde ich gehen. Aber nicht jetzt; noch nicht. Ich verdrängte diesen Ausblick aus meinen Gedan ken und beschwichtigte mein rastloses Gewissen mit süßer Selbstrechtfertigung: Nach allem, was ich erduldet hatte, war es nur recht und billig, daß ich auch meinen kleinen Anteil an dem Glück bekam. Wer konnte mir das verwehren? Außerdem gab es immer noch eine Menge zu tun. Ich würde bleiben, bis ich Albion wiederhergestellt sah. Ja, und ich würde Goewyn heiraten. Die Nachricht von unserer Verlobung verbreitete sich schneller als der Schall in Dinas Dwr. Tegid und ich erreichten die Halle und kamen mitten in die andauernde Feier, die seit dem Einbruch der Dunkel heit von einer frischen, beinahe schwindeligen Euphorie durchsetzt war. Der große Saal schien von Licht und Lärm erfüllt zu sein; das Feuer brüllte, und entlang der Holzwände hingen Fackeln; Männer und Frauen saßen auf den Bänken und scharten sich in lärmenden Haufen um die Pfosten. 24
Nur an der Westseite, dem Kopfende der Halle, blieb es still und leer, denn hier hatte der Oberste Barde die Singenden Steine in ihrer Holzkiste auf einem massiven, eisernen Gestell aufgebaut - unter ständiger Bewachung: Drei Krieger hielten Tag und Nacht Wache über Albions kostbarsten Schatz. In regelmäßigen Abständen wurden die Posten durch andere Krieger ersetzt, so daß sich diese Aufgabe auf die gesamte Kriegsschar verteilte. Doch niemals, sei es am Tag oder in der Nacht, gab es einen Zeitpunkt, an dem die wundersamen Steine unbehütet blieben. Der Lärm schwoll an, als wir die Halle betraten, und den Grund dafür entdeckte ich rasch. »Der König! Der König ist hier!« schrie Bran und mobilisierte die Raben. Er hielt einen Becher empor und rief: »Ich trinke auf die Hochzeit des Königs!« »Auf die Hochzeit des Königs!« fiel Cynan ein, und ehe ich wußte, wie mir geschah, wurde ich umringt, gepackt und vom Boden emporgehoben. Sie trugen mich zurück über die Schwelle; zwei Krieger nahmen mich auf die Schultern und marschierten mit mir über die Pfade von Dinas Dwr, wobei uns eine anschwel lende Menschenmenge folgte. Sie nahmen einen weitverzweigten Umweg, damit das ganze Caer sah, was vor sich ging, und sich uns anschloß. In gleißendem Fackelschein und unter lautem Ge lächter erreichten wir endlich die Hütte, in der Goe wyn und ihre Mutter sich niedergelassen hatten. Hier hielt der Zug an, und Cynan nahm den weiteren 25
Verlauf in die Hand und rief, der König sei gekom men, um seine Braut zu holen. Scatha trat heraus und wandte sich an die Menge. »Meine Tochter ist hier«, sagte sie und deutete auf Goewyn, die hinter ihr aus der Hütte trat. »Wo ist der Mann, der sie beansprucht?« Scatha tat so, als suche sie in der Menge nach dem Narren, der es wagte, Anspruch auf ihre Tochter zu erheben. »Hier ist er!« rief alles gleichzeitig. Und plötzlich wurde mir an meinem luftigen Platz über dem Ge dränge klar, daß dies das Vorspiel zu einer Form der keltischen Hochzeit war, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Das an sich war nicht überraschend; das Volk von Albion kennt nicht weniger als neun verschiedene Hochzeitsarten, und ich hatte bisher nur wenige davon erlebt. »Der Mann, der meine Tochter zur Frau nehmen will, möge sprechen«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hier bin ich, Scatha«, antwortete ich. Daraufhin ließen mich die Krieger hinab, und die Menge teilte sich, um mir den Weg freizumachen. Ich sah Goewyn wie durch einen bewachten Gang hindurch auf mich warten. »Es ist Llew Silberhand, der vor dir steht. Ich bin gekommen, um deine Tochter als meine Frau zu beanspruchen.« Goewyn lächelte, machte jedoch keine Anstalten, zu mir zu kommen; und als ich näher kam, trat Scatha vor und stellte sich zwischen uns auf. Sie bot einen 26
wilden, abweisenden Anblick und musterte mich von Kopf bis Fuß - als ob sie das Stück eines mottenzer fressenen Stoffes inspiziere. Die Innenfläche meiner Hand aus Fleisch und Blut wurde feucht, während ich ihrem prüfenden Blick standhielt. Die Menge drängte näher heran und lenkte Scathas Aufmerksamkeit auf die verschiedenen - wirklichen oder imaginären wünschenswerten Eigenschaften, die ich besitzen mochte. Am Ende zeigte sie sich mit dem Brautwerber zu frieden und hob ihre Hand. »Ich finde keinen Makel an dir, Llew Silberhand. Aber du wirst kaum von mir erwarten, daß ich eine Tochter wie Goewyn aufgebe ohne einen Brautpreis, der ihrer würdig ist.« Ich kannte die richtige Antwort. »Du müßtest mich für wahrhaft niederträchtig halten, wenn ich dich einer so vorzüglichen Tochter berauben wollte, ohne dir eine angemessene Entschädigung anzubieten. Sag, was du willst, ich werde dir geben, was immer dir annehmbar erscheint.« »Und du mußt mich für beschränkt halten, wenn du denkst, daß ich einen solchen Wert in einem Augen blick ermessen kann. Dies ist eine Angelegenheit, die eine lange und sorgfältige Überlegung erfordert«, erwiderte Scatha hochmütig. Und obwohl ich ihre Antwort als einen Teil des rituellen Spiels akzeptierte, das wir spielten, ertappte ich mich dabei, mich allmählich über sie zu ärgern, weil sie mir im Weg stand. 27
»Das sei ferne, daß ich dir die Bedenkzeit verwei gere, die du brauchst. Nimm dir soviel Zeit, wie du willst«, antwortete ich. »Morgen bei Sonnenaufgang komme ich wieder, um deine Forderungen zu hören.« Diese Erwiderung wurde für angemessen befunden, und alle applaudierten nach meiner Antwort. Scatha neigte ihren Kopf und nickte langsam, als ob sie sich durch die Reaktion des Volkes widerstrebend um stimmen ließe. »So sei es. Komm bei Sonnenaufgang hierher, und wir werden herausfinden, was für ein Mann du bist.« »So sei es«, erwiderte ich. Daraufhin brachen die Leute in Hochrufe aus, und ich wurde erneut von einer Springflut des Jubels davongetragen. Wir kehrten in die Halle zurück, wo Tegid mich unter viel Gelächter und derben Ratschlä gen unterrichtete, was mich am Morgen erwarten würde. »Scatha wird ihre Forderungen stellen, und du mußt sie mit allem Geschick und aller Schlauheit erfüllen. Glaube nicht, daß es leicht sein wird«, warnte mich Tegid. »Ein kostbarer Schatz ist es wert, daß man große Schwierigkeiten auf sich nimmt, um ihn zu erringen.« »Aber du wirst doch da sein, um mir zu helfen, damit ich die Prüfung bestehe«, meinte ich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Llew, als Oberster Barde kann ich nicht eine Partei bevorzugen. Das ist eine Sache zwischen dir und Scatha allein. Aber da sie Goewyn zur Seite hat, darfst auch du dir einen deiner 28
Männer als Helfer auswählen.« Ich sah mich um. Bran stand grinsend in der Nähe zweifellos würde er eine gute Wahl sein, um mich durch diese Prüfung zu begleiten. »Bran?« bat ich ihn. »Würdest du mir diesen Dienst erweisen?« Doch der Anführer der Raben schüttelte den Kopf. »Herr, wenn es eine starke Hand am Schwertgriff ist, die du brauchst, bin ich dein Mann. Doch dies ist eine Sache, die über meine Fähigkeiten geht. Ich glaube, Alun Tringad wäre dir nützlicher als ich.« »Drustwn!« rief Alun, als er das hörte. »Er ist der richtige Mann für dich, Herr.« Er deutete über den Ring aus Gesichtern um mich her auf Drustwn, und ich sah, wie dieser sich außer Sicht duckte. »Ah, wo ist denn Drustwn jetzt hin?« »Wähle Fürst Calbha!« rief jemand. Bevor ich ihn fragen konnte, erwiderte ein anderer: »Es geht um eine Frau für Silberhand, nicht um ein Pferd!« Calbha antwortete: »Das ist wahr! Ich verstehe nichts von Bräuten; aber wenn du ein Pferd brauchst, wende dich an mich.« Als nächstes wandte ich mich an Cynan, der neben seinem Vater, Fürst Cynfarch, stand. »Cynan! Wirst du mir zur Seite stehen, Bruder?« Cynan warf sich ernst und wichtigtuerisch in die Brust und neigte zustimmend den Kopf. »Wenn auch alle Männer dir den Rücken kehren, Silberhand, so werde ich dir doch zur Seite stehen. Durch alle Dinge 29
- Feuer und Schwerter und die Schliche der Barden und Frauen - bin ich dein Mann.« Alles lachte, und selbst Cynan mußte lächeln, als er das sagte. Doch seine blauen Augen waren ernst, und seine Stimme war fest. Er leistete mir einen Schwur, der mehr enthielt, als ich erbeten hatte, und jedes Wort davon kam aus tiefstem Herzen. Ich verbrachte eine rastlose, schlaflose Nacht in meiner Hütte und erhob mich lange vor Sonnenauf gang, noch bevor sonst jemand sich rührte. Ich ging zum Seeufer, um zu schwimmen und mich zu wa schen; ich rasierte mich und wusch mir sogar den Schnurrbart. Im Osten wurde es schon hell, als ich zur Hütte zurückkehrte, wo ich lange Zeit damit verbrach te, mir die Kleider zurechtzulegen. Ich wollte mich für Goewyn von der besten Seite zeigen. Schließlich entschied ich mich für einen hellroten Siarc und ein Paar gelb-grün karierte Hosen. Dazu legte ich Meldryn Mawrs kostbaren Gürtel aus goldenen Scheiben und seinen goldenen Torc an und schnallte mir seinen goldenen Dolch um - all diese Dinge waren für mich aus Meldrons Habe wiederbe schafft worden. »Sie gehören dir als rechtmäßigem Nachfolger«, hatte Tegid mir gesagt. »Meldron hatte kein Recht darauf. Trage sie mit Stolz, Llew. Denn indem du sie trägst, gibst du ihnen ihre Ehre zurück.« Und so trug ich sie und versuchte zu vergessen, daß der Große Hund Meldron noch bis vor kurzem damit herausgeputzt und darin herumstolziert war. 30
Cynan kam zu mir, als ich gerade meine Stiefel anzog. Auch er hatte gebadet und seine besten Kleider angelegt, und seine roten Locken waren gekämmt und geölt. »Du siehst wahrhaftig aus wie ein König in seinem Hochzeitsstaat«, sagte er anerkennend. »Und du gibst einen prächtigen Sekundanten ab«, erwiderte ich. »Am Ende entscheidet sich Goewyn noch für dich.« »Hast du Hunger?« fragte er. »Ja«, antwortete ich. »Aber ich glaube nicht, daß ich auch nur einen Bissen herunterbekäme. Wie sehe ich aus?« Er grinste. »Das habe ich dir schon gesagt. Und es ziemt sich nicht für einen König, nach Lob zu gieren. Komm«, sagte er und legte mir seine große Hand auf die Schulter, »der Morgen graut.« »Tegid dürfte nicht weit sein«, sagte ich, »gehen wir ihn suchen.« Wir verließen meine Hütte und gingen auf die Halle zu. Die Sonne stieg empor, und der Himmel war klar - keine Wolke war zu sehen. Mein Hochzeitstag würde hell und sonnig sein, wie es sich für einen guten Hochzeitstag gehörte. Mein Hochzeitstag! Die Worte klangen so seltsam: Hoch zeit ... Ehe ... Ehefrau. Tegid war wach und erwartete uns bereits. »Ich wollte dich gerade wecken kommen«, sagte er. »Hast du gut geschlafen?« »Nein«, erwiderte ich. »Ich konnte die Augen nicht geschlossen halten.« 31
Er nickte. »Zweifellos wirst du heute nacht besser schlafen.« »Was geschieht jetzt?« »Iß etwas, wenn du magst«, antwortete der Barde. »Denn heute ist zwar ein Festtag, aber ich bezweifle, daß dir viel Zeit zum Essen bleiben wird.« Wir gingen zwischen den Pfosten hindurch und setzten uns an einen freien Tisch. Bran und die Raben standen auf und gesellten sich zu uns. Zwar war es noch zu früh für frisches Brot aus dem Ofen, doch war vom Mahl des vergangenen Abends noch etwas Gerstenbrot übrig, auf das sich die anderen stürzten. Die Raben brachen hungrig ihre Brote, stopften sich die Bissen hinein und drängten mich zwischendurch immer wieder zu essen, um bei Kräften zu bleiben. »Vor dir liegt ein langer Tag«, bemerkte Bran. »Und eine noch längere Nacht!« witzelte Alun. »Der Tag wird nicht kürzer davon, daß ich hier herumlungere«, sagte ich und erhob mich. »Bist du bereit?« fragte Tegid. »Bereit? Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben lang auf diesen Tag gewartet zu haben. Geh voraus, weiser Barde!« Mit einem wilden, überschwenglichen Jubelschrei taumelten die Krieger in rauhem Gedränge aus der Halle. Es war aussichtslos, so etwas wie Ordnung oder Würde zu wahren, geschweige denn Ruhe. Der Übermut der Truppe rief das ganze Crannog auf den Plan und signalisierte den Beginn der Festlichkeiten. 32
Wir erreichten Scathas Hütte mit der gesamten Bevölkerung von Dinas Dwr im Kielwasser. »Ruf sie heraus«, wies mich Tegid an, als wir uns dem Eingang näherten. »Scatha, Pen-y-Cat von Ynys Sci«, rief ich, »hier ist Llew Silberhand. Ich bin gekommen, um deine Forderungen zu hören und zu erfüllen.« Einen Augenblick später trat Scatha aus ihrer Hütte, schön geschmückt in einem scharlachroten Kleid mit einer milchweißen Robe darüber. Hinter ihr kam Goewyn zum Vorschein, und mein Herz setzte einen Schlag aus: Sie war ganz in Weiß und Gold gekleidet und von blendender Schönheit. Ihr langes Haar war gebürstet worden, bis es glänzte, dann mit goldenen Fäden durchwirkt und zu einem langen, dicken Zopf geflochten worden. Goldene Reife schimmerten an ihren schlanken Armen. Ihr Kleid war weiß; dazu trug sie einen weißen Umhang aus einem dünnen Stoff, der auf ihren bloßen Schultern lose zusammengerafft war und von zwei großen goldenen Broschen gehalten wurde. Zwei breite Streifen goldener Stickerei anmutige Schwäne mit langen Hälsen und phanta stisch verschlungenen Flügeln - schmückten den Rand ihres Umhangs und den Saum ihrer Robe. Ihr Gürtel war schmal und weiß, und daran hingen goldene Tressen, geflochten wie ein schimmernder Wasserfall, von ihrer schlanken Taille herab. Sie trug goldene Ohrringe und rotgoldene Ringe an ihren zierlichen, feingliedrigen Fingern. 33
Ihr Anblick nahm mir den Atem. Es war, als blickte ich in den Glanz der Sonne selbst - obwohl meine Augen verbrannt und geblendet wurden, konnte ich sie nicht abwenden. Ich hatte sie noch nie so schön gesehen, weder sie noch irgendeine andere Frau. Ja, ich hatte vergessen, daß es solche Schönheit geben konnte. Scatha hingegen begrüßte mich mit unverhohlener Mißbilligung und sagte: »Bist du bereit, meine Forderungen zu hören?« »Ich bin bereit«, sagte ich, ernüchtert durch ihre barsche Frage. »Drei Dinge verlange ich«, erklärte sie kurz. »Wenn ich alles bekommen habe, was ich erbitte, sollst du meine Tochter zur Frau haben.« »Erbitte, was du willst, und du sollst es bekom men.« Sie nickte langsam - schimmerte da etwa ein Lä cheln durch ihre einstudierte Strenge? »Die erste Forderung ist diese: Bring mir das Meer in vollem Schaum, mit einem silbernen Strand.« Die Leute warteten schweigend auf meine Antwort. Ich zuckte mit keiner Wimper und antwortete: »Das ist leicht zu erfüllen, auch wenn du es nicht glaubst.« Ich wandte mich an Cynan. »Nun, Bruder? Das Meer ist mehrere Tagesreisen entfernt, und -« Cynan schüttelte den Kopf. »Nein, das Meer will sie nicht. Es muß etwas anderes sein. Dies ist die unmögliche Aufgabe. Sie dient dazu, deine Fähigkeit 34
zu zeigen, auch das gewaltigste Hindernis zu über winden.« »Oh, du meinst, wir müssen symbolisch denken. Ich verstehe.« »Das Meer in vollem Schaum -« sinnierte Cynan und verstummte. »Was könnte das sein?« »Den Schaum hat Scatha besonders betont. Das könnte wichtig sein. ›Das Meer in vollem Schaum‹.« Ich hielt inne und überlegte fieberhaft. »›Mit einem silbernen Strand‹... Warte! Ich hab's!« »Ja?« Cynan beugte sich neugierig vor. »Es ist Bier in einer silbernen Schale!« erwiderte ich. »Bier schäumt wie das Meer, und die Schale umgibt es wie ein Strand.« »Ha!« Cynan schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Das ist die Antwort!« Ich wandte mich zu der Menge hinter mir um. »Bran!« rief ich laut. Der Anführer der Raben trat sogleich vor. »Bran, besorge mir etwas frisches Bier in einer silbernen Schale. Und beeil dich!« Er schoß sofort davon, und ich drehte mich zu Scatha um und wartete darauf, daß Bran mit der Schale voll Bier zurückkehrte. »Und wenn wir nun falsch geraten haben?« flüsterte ich Cynan zu. Er schüttelte ernst den Kopf. »Was ist, wenn er kein Bier finden kann? Ich fürchte, wir haben alles getrun ken.« Daran hatte ich gar nicht gedacht. Aber Bran war 35
einfallsreich; er würde mich nicht im Stich lassen. Wir warteten. Die Leute redeten fröhlich durchein ander. Goewyn stand kühl und gelassen da wie eine Statue; sie wollte mich nicht ansehen, so daß ich keine Ahnung hatte, was sie dachte. Bran kehrte im Laufschritt zurück, und wie das Bier über den silbernen Rand der Schale schwappte, sah es tatsächlich so aus wie die Brandung, die ans Ufer schäumt. Er gab mir die Schale in die Hand und sagte: »Das allerletzte Bier. Es ist alles, was ich finden konnte - und das meiste ist Wasser.« »Es wird reichen müssen«, sagte ich und brachte die Gabe mit einem letzten hoffnungsvollen Blick zu Tegid - dessen Gesichtsausdruck nichts verriet - zu Scatha. »Du hast um eine Gabe gebeten, und ich gebe sie dir: das Meer in vollem Schaum, umgeben von einem silbernen Strand.« Mit diesen Worten legte ich die Schale in ihre ausgestreckten Hände. Scatha nahm die Schale und hob sie empor, damit alle sie sehen konnten. Dann sagte sie: »Ich nehme deine Gabe an. Doch wenn es dir auch gelungen ist, die erste Aufgabe zu lösen, so denke nicht daß du auch meine zweite Forderung leicht erfüllen wirst. Bessere Männer als du haben es versucht und sind gescheitert.« Obwohl ich wußte, daß dies zum Ablauf des Ritu als gehörte, begann ich mich unterschwellig über diese anderen, besseren Männer zu ärgern. Doch ich 36
schluckte meinen Stolz hinunter und antwortete: »Dennoch will ich deine Forderung hören. Vielleicht wird mir gelingen, woran andere gescheitert sind.« Scatha nickte majestätisch. »Meine zweite Forde rung ist diese: Gib mir das Eine, das ersetzen kann, was du von mir nehmen willst.« Sofort wandte ich mich an Cynan. »Das wird schwierig«, sagte ich. »Goewyn bedeutet ihrer Mutter alles - wie können wir das symbolisieren?« Er rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn, aber ich merkte ihm an, daß er seine Rolle genoß. »Sehr knifflig - das zu ersetzen, was du von ihr nimmst.« »Vielleicht«, schlug ich vor, »müssen wir nur eine Eigenschaft herausgreifen, die Scatha als symbolisch für ihre Tochter akzeptieren wird. Etwa Honig für die Süße - etwas in der Art.« Cynan stützte seinen Ellbogen auf die Hand und das Kinn auf die Faust. »Süß wie Honig ... süß wie Met -«, murmelte er nachdenklich. »Süß und schmackhaft...«, überlegte ich. »Süße und Licht ... süß wie ein Kuchen...« »Was hast du gerade gesagt?« »Süß wie ein Kuchen. Aber ich glaube nicht...« »Nein, vor dem Kuchen. Was hast du davor ge sagt?« »Hm... Süße und Licht, glaube ich.« »Licht - ja!« nickte Cynan eifrig. »Verstehst du? Goewyn ist das Licht ihres Lebens. Du nimmst ihr das Licht, und das mußt du ersetzen.« 37
»Aber wie?« fragte ich. »Mit einer Lampe?« »Oder mit einer Kerze«, schlug Cynan vor. »Eine Kerze - eine duftende Bienenwachskerze!« Cynan grinste fröhlich. »Süße und Licht! Das ist die Antwort!« »Alun!« rief ich und wandte mich wieder zu den Raben um. »Suche mir eine Bienenwachskerze, und bring sie gleich her.« Alun Tringad schob sich durch die dicht gedrängte Menge und verschwand. Er mußte wohl gleich das nächste Haus überfallen haben, denn schon einen Augenblick später war er wieder da und hielt eine neue Kerze empor, die ich Scatha reichte mit den Worten: »Du hast um eine Gabe gebeten, und ich gebe sie dir: Diese Kerze wird dir das Licht ersetzen, das ich dir nehme, wenn ich deine Tochter fortführe. Sie wird die Schatten vertreiben und die Dunkelheit mit Duft und Wärme erfüllen.« Scatha nahm die Kerze. »Ich nehme deine Gabe an«, sagte sie und hob die Kerze hoch, so daß alle sie sehen konnten. »Doch wenn es dir auch gelungen ist, die zweite Aufgabe zu lösen, so denke nicht, daß du auch meine dritte Forderung leicht erfüllen wirst. Bessere Männer als du haben es versucht und sind gescheitert.« Ich lächelte zuversichtlich und wiederholte die erwartete Antwort. »Dennoch will ich deine Forde rung hören. Vielleicht wird mir gelingen, woran andere gescheitert sind.« 38
»So höre, wenn du willst, meine letzte Forderung: Gib mir das, was diesem Haus fehlt, die unermeßlich kostbare Gabe.« Ich wandte mich an Cynan. »Was ist es diesmal? Wieder die unmögliche Aufgabe?« überlegte ich. »Für mich klingt sie unmöglich.« »Könnte sein«, gab er zu, »aber ich glaube nicht. Die unmögliche Aufgabe haben wir schon hinter uns. Es muß etwas anderes sein.« »Aber was fehlt ihrem Haus? Das könnte alles mögliche sein.« »Nicht alles mögliche«, erwiderte Cynan langsam. »Das eine: die unermeßlich kostbare Gabe.« »Sie schien darauf besonderen Nachdruck zu le gen«, stimmte ich unsicher zu. »Die unermeßlich kostbare Gabe ... was ist die unermeßlich kostbare Gabe? Liebe? Glück?« »Ein Kind«, schlug Cynan nachdenklich vor. »Scatha will, daß ich ihr ein Kind gebe? Das kann es nicht sein.« Cynan runzelte die Stirn. »Vielleicht bist du das, was sie will.« Ich stürzte mich sofort auf die Idee. »Das ist es! Das ist die Antwort!« »Was?« »Ich!« rief ich. »Verstehst du? Was diesem Haus fehlt, ist ein Mann, ein Schwiegersohn. Die unermeß lich kostbare Gabe ist Leben.« Cynan grinste breit, und seine blauen Augen tanz 39
ten. »Ja, und indem du dein Leben mit dem Goewyns verbindest, erschaffst du einen Reichtum an Leben«, sagte er augenzwinkernd und fügte hinzu, »besonders, wenn du noch ein paar Babys drauflegst. Es stimmt, du bist es, worum sie bittet, Llew.« »Hoffen wir, daß wir richtig liegen«, sagte ich. Ich holte tief Luft und wandte mich an Scatha, die mich beobachtete und es genoß, wie sie mich ins Schwitzen brachte. »Du hast um eine unermeßlich kostbare Gabe gebe ten, um etwas, das dir fehlt«, sagte ich. »Mir scheint, deinem Haus fehlt ein Mann, und den Wert des Lebens kann niemand ermessen.« Mit diesen Worten ließ ich mich vor ihr auf ein Knie hinabsinken. »Darum, Pen-y-Cat, mache ich dir mich selbst zum Geschenk.« Scatha strahlte vor Freude, legte ihre Hände auf meine Schultern, beugte sich herab und küßte mich auf die Wange. Dann zog sie mich empor und sagte: »Ich nehme deine Gabe an, Llew Silberhand.« Sie erhob ihre Stimme, so daß alle sie hören konnten. »Ein jeder wisse, daß es für meine Tochter keinen besseren Mann gibt als dich, denn dir ist wahrhaftig gelungen, woran andere gescheitert sind.« Sie drehte sich um, winkte Goewyn zu sich und legte die linke Hand ihrer Tochter in meine, um dann unsere beiden Hände mit den ihren zu umklammern. »Ich bin zufriedengestellt«, verkündete sie zu Tegid gewandt. »Laß die Hochzeit beginnen.« 40
Sofort trat der Barde vor. Dreimal stieß er mit sei nem Eschenholzstab auf die Erde. »Der Oberste Barde von Albion spricht!« rief er laut. »Hört mich an! Seit undenklicher Zeit haben die Derwyddi Leben mit Leben verbunden, um unsere Rasse fortbestehen zu lassen.« Er sah uns an und fragte: »Ist es euer Wunsch, euer Leben in der Ehe zu verbinden?« »Das ist unser Wunsch«, antworteten wir gemein sam. Daraufhin holte Scatha die Schale hervor, die ich ihr gegeben hatte, und reichte sie Tegid. Er hob sie hoch und sagte: »In meinen Händen halte ich das Meer, umgeben von einem silbernen Strand. Das Meer ist Leben; das Silber ist die alles umgebende Grenze dieses Weltenreichs. Wenn ihr vermählt sein wollt, so müßt ihr dieses Weltenreich ergreifen und sein Leben miteinander teilen.« Mit diesen Worten legte er die silberne Schale in unsere Hände. Wir hielten sie gemeinsam. Goewyn trank zuerst daraus und bot dann mir die Schale. Auch ich nahm einige Schlucke von dem sehr wäßrigen Bier und hob dann den Kopf. »Trinkt!« drängte Tegid. »Es ist Leben, was ihr zwischen euch haltet, meine Freunde. Leben! Trinkt durstig, und leert es bis zum Grund.« Es war eine sehr große Schale, die Bran gebracht hatte. Ich holte tief Luft und hob die Schale erneut an die Lippen. Als ich keinen Tropfen mehr aufnehmen konnte, reichte ich die silberne Schale zurück an 41
Goewyn, die sie nahm, an die Lippen hob und trank so lange und durstig und gierig, daß ich schon dachte, sie würde nie wieder Luft holen. Als sie das Gefäß wieder sinken ließ, leuchteten ihre Augen hell. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und reichte die Schale mit einem Seitenblick zu mir an Tegid zurück. Tegid stellte die Schale beiseite und fragte: »Goe wyn, hast du ein Geschenk mitgebracht?« Goewyn sagte: »Weder Gold noch Silber bringe ich, noch irgend etwas, das gekauft oder verkauft, verloren oder gestohlen werden könnte. Aber ich bringe heute mein Leben und meine Liebe, und diese gebe ich von ganzem Herzen hin.« »Nimmst du die dargebotenen Gaben an?« fragte mich Tegid. »Ich nehme sie von ganzem Herzen an. Und ich werde sie stets als meinen kostbarsten Schatz hegen, und diesen Schatz werde ich beschützen bis zu meinem letzten Atemzug.« Tegid neigte seinen Kopf: »Was gibst du als Zei chen dafür, daß du die Gaben annimmst?« Ein Zeichen? Davon hatte mir niemand etwas ge sagt; ich hatte kein Zeichen, das ich hätte anbieten können. Cynans Stimme erklang in meinem Ohr. »Gib ihr deinen Gürtel«, schlug er hilfsbereit vor. Da ich keine bessere Idee hatte, nahm ich den Gür tel ab und breitete das schwere Goldband über Tegids ausgestreckte Hände. »Ich biete diesen Gürtel aus 42
feinem Gold dar«, sagte ich und fügte, einem plötzli chen Einfall folgend, hinzu: »Seine Kostbarkeit und sein Wert sollen ein kleines Zeichen für die hohe Wertschätzung sein, die ich meiner Geliebten entge genbringe, und er soll ihre schöne Gestalt mit glän zender Pracht umgürten wie meine Liebe, die sie für immer umgeben wird - treu, ohne Ende und unver brüchlich.« Tegid nickte bedächtig, drehte sich um und bot den Gürtel Goewyn dar, die ihren Kopf sinken ließ, als er in ihre Hände gelegt wurde. Sie nahm den Gürtel und preßte ihn an ihre Brust. Waren da etwa Tränen in ihren Augen? Zu Goewyn sagte Tegid: »Durch dieses Zeichen ist deine Gabe angenommen. Wenn du das Geschenk annehmen willst, das dir gegeben wurde, willst du das auch durch ein Zeichen bekunden?« Ohne ein Wort schlang Goewyn ihren Arm um meinen Hals und preßte ihre Lippen auf meinen Mund. Sie küßte mich voll und frei und mit solcher Leidenschaft, daß die Umstehenden in Hochrufe ausbrachen. Als sie mich losließ, war sie so atemlos, daß sie fast keuchte. Das Feuer in ihren klaren, braunen Augen trieb mir das Blut ins Gesicht. Breit lächelnd stieß Tegid wieder dreimal laut mit seinem Stab auf die Erde. Dann hob er den Stab hoch und hielt ihn waagerecht über unsere Köpfe. »Die Gaben der Liebe und des Lebens sind ausgetauscht und angenommen worden. Von nun an sollen alle 43
Menschen wissen, daß Llew Silberhand und Goewyn vermählt sind.« Und damit war es vorbei. Die Leute bejubelten die Hochzeit laut und mit großer Begeisterung. Sogleich waren wir von einem Wirbelwind der Glückwünsche umgeben. Die Hochzeit war zu Ende, möge das Fest beginnen!
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Das Hochzeitsfest Von einer Flutwelle des Jubels wurden Goewyn und ich durch das Crannog davongerissen. Ich verlor Tegid, Scatha und Cynan aus den Augen; auch von Bran oder Calbha sah ich nichts. Am Landungssteg wurden wir in ein Boot gesetzt und hinüber ans Seeufer gerudert, wo Scathas Feld rasch für die Spiele vorbereitet wurde. Zu Feiertagen und Festen gehören oft auch Ge schicklichkeitswettkämpfe und Glücksspiele. Ringen und Pferderennen sind dabei am beliebtesten, zusam men mit Schaukämpfen und Ballspielen. Am Ende des Feldes wurde ein Erdhügel aufgeschichtet, auf dem man zwei Stühle aufstellte. Einer der Stühle war aus einem Hirschgeweih gemacht und mit einem weißen Ochsenfell geschmückt - der war für mich bestimmt. Und von diesem Aussichtspunkt aus sollten Goewyn und ich die Spiele beobachten und die Preise verteilen. Die Spiele würden zuerst kommen, das Essen und Trinken folgte später - dadurch hatten die Köche genug Zeit, alles richtig vorzubereiten, während die Wettkämpfer und Zuschauer Gelegenheit bekamen, 45
sich einen reichlichen Appetit zuzulegen. Mit leerem Magen läßt es sich auch besser kämpfen als mit einem Bauch voll gebratenem Schwein. Und wer wäre nach ein paar Schalen starken Hochzeitsmets noch in der Lage, auf einem Pferd zu sitzen, geschweige denn darauf ein Rennen zu bestreiten? Als der hastig aufgeschichtete Hügel fertig war, stiegen Goewyn und ich hinauf zu unseren Stühlen und warteten, bis sich die Gesellschaft versammelt hatte. Viele hatten sich schon eingefunden, und etliche weitere kamen vom Crannog her über den See. Das Warten machte mir nichts aus. Ich war ein glücklicher Mann - vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben wirklich glücklich. Alle Freude, alles Leben, das ich je gekannt hatte, und nun auch alle Liebe, hatte ich hier in der Ander welt gefunden, in Albion. Der Gedanke berührte einen empfindlichen Nerv in meinem Gewissen, und ein Schuldgefühl ließ mich zusammenzucken. Aber ich war sicher, daß Professor Nettleton sich irrte. Er mußte sich irren; ich würde niemals zerstören, was ich liebte; er irrte sich, und ich konnte bleiben. Eher hätte ich mein Leben aufgegeben als jetzt Albion verlassen. Ich sah Goewyn an und erstickte mein Schuldge fühl mit dem Anblick ihres schimmernden Haars. Sie spürte meinen Blick und wandte sich mir zu. »Ich liebe dich, mein Leben«, flüsterte sie lächelnd. Und ich fühlte mich wie ein Mann, der sein ganzes Leben in einer Höhle zugebracht hat und nun hinaus ins 46
blendende Tageslicht tritt. Kurz darauf erschien Tegid, gefolgt von seinen Mabinogi unter Führung des Harfenträgers, Gwion Bach. Ein anderer Schüler trug ihm den Stab. »Ich habe Calbha die Verantwortung für die Preise über tragen«, berichtete uns Tegid. »Er ist gerade dabei, sie zusammenzutragen.« »Preise? Ach so, für die Spiele.« »Ich wußte, daß du nicht daran denken würdest«, erklärte er mir darauf heiter. Calbha führte seine Aufgabe mit Stil aus. Er traf an der Spitze einer Schar von Trägern ein, von denen jeder eine Armladung wertvoller Gegenstände trug manche schleppten sogar zu zweit schwere Körbe. Sie häuften ihre Gaben rund um unsere Stühle auf. Bald war der ganze Hügel knietief mit glitzernden, glän zenden Schätzen bedeckt: neue Speere mit verzierten Köpfen und Schäften, feine, mit Edelsteinen besetzte Schwerter, in Silber und Bronze gefaßte Schilde, Dolche mit Griffen aus Knochen... Wo immer ich hinblickte, waren Becher und Schalen - Schalen aus Kupfer, Bronze, Silber und Gold; mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Holzschalen; Becher aus Horn mit silbernem Rand, kleine Becher und große Becher, sogar Becher aus Stein. Es gab feine neue Umhänge und stapelweise flauschige, weiche Schaffelle. Armreife aus Bronze, Silber und Gold schimmerten wie Glieder einer kostbaren Kette, und dazwischen verstreut lagen Broschen, Armbänder und Ringe. Und 47
als ob das noch nicht genügt hätte, hatte Calbha es sich nicht nehmen lassen, noch drei gute Pferde hinzuzufügen. Ich starrte auf die glitzernden Schätze. »Wo hast du das alles her?« »Es gehört alles dir, Herr«, antwortete er fröhlich. »Aber mach dir keine Gedanken, ich habe für ein solches Fest wie heute nur die schönsten Sachen ausgesucht.« »Ich danke dir, Calbha«, erwiderte ich und beäugte die Schätze. »Du hast mir einen guten Dienst erwie sen. Ich wußte gar nicht, daß ich so reich bin.« Es waren so viele, so verschwenderisch kostbare Dinge da, daß ich Tegid fragte: »Kann ich mir das leisten?« Der Barde lachte nur und vollführte eine schwin gende Handbewegung in Richtung des glänzenden Haufens. »Je größer die Großzügigkeit, desto größer der König.« »Wenn es so ist, dann soll alles verschenkt werden - und noch mehr! Die Leute sollen sagen, daß es in Albion noch nie eine Hochzeitsfeier wie diese gege ben hat. Und alle, die in späteren Zeiten davon hören, sollen krank werden vor Neid, daß sie nicht dabei waren!« Cynan, der gerade mit einigen seiner Männer ein traf, betrachtete die Schätze und erklärte, er sei bereit, sich seinen Anteil daran zu erkämpfen. Gleich danach kamen Bran und die Raben und forderten lautstark, 48
die Spiele sollten beginnen. Alun forderte Cynan an Ort und Stelle heraus, sich jedes beliebige Ge schicklichkeits- oder Glücksspiel auszusuchen - er, Alun, werde ihn darin besiegen. »Du erstaunst mich, Alun Tringad«, krähte Cynan. »Kann es denn sein, daß du schon vergessen hast, was für eine Niederlage du erlitten hast, als du dich das letzte Mal mit mir messen wolltest?« »Niederlage?« rief Alun. »Soll ich meinen Ohren trauen? Der Sieg war mein, wie du wohl weißt.« »Mann, Alun - ich bin überrascht, daß du dich nicht an deinen Lügen verschluckst. Doch um dieses Festtags willen«, verkündete Cynan, »werde ich dir deine Frechheit nicht nachtragen.« »Es war deine Stimme, Cynan Machae, die um Gnade flehte, wie ich mich erinnere«, erwiderte Alun liebenswürdig. »Doch ebenso wie du bin auch ich bereit, um dieses Tages willen das Vergangene zu vergessen.« Sodann begannen sie eine Debatte über die Höhe ihrer Wette - wobei sie Preise verschacherten, die sie noch gar nicht gewonnen hatten - und zogen rasch eine Schar von Zuschauern an, die begierig waren, auf den einen oder anderen der beiden Meisterkämpfer zu setzen, um sich so ihren Anteil am Lohn zu sichern. Sie waren immer noch am Feilschen, als Goewyn sich zu mir herüberbeugte. »Wenn du die Spiele nicht bald beginnen läßt, werden wir uns noch den ganzen Tag lang ihr Geprahle anhören müssen.« 49
»Also gut«, stimmte ich zu und stand von meinem Stuhl auf, um zu den Leuten zu sprechen. Tegid sorgte für Ruhe, und als die Leute sahen, daß ich etwas sagen wollte, wurden sie still und hörten zu. »Genie ßen wir den Tag, der uns heute geschenkt wird!« sagte ich. »Bemühen wir uns mit allem Geschick, und nehmen wir Sieg oder Niederlage gutwillig an, damit wir uns nach den Spielen in gestärkter Freundschaft zum Festmahl niederlassen mögen.« »Wohl gesprochen, Herr«, verkündete Tegid. »So sei es!« Zuerst kam das Ringen, gefolgt von verschiedenen Wettrennen, darunter auch ein spektakuläres Pferde rennen, das alle in die Erschöpfung trieb, bis der Sieger - ein junger Mann aus Calbhas Clan - die Ziellinie überquerte. Ich belohnte ihn mit einem Pferd, und zur allgemeinen Erheiterung der Menge zog er sich sofort von den Spielen zurück, um seinen Preis nicht bei einer törichten Wette gleich wieder zu verlieren. Anfangs versuchte ich, jedem Gewinner einen Preis zu geben, der zu ihm paßte, aber ich gab es bald auf, verlor die Übersicht und nahm, was gerade zur Hand war. Als die Spiele ihren Lauf nahmen, bat ich schließlich Goewyn um Hilfe, so daß manchmal ich die Preise vergab und manchmal die Sieger ihre Trophäen von Goewyn erhielten - was die meisten vorzogen, wie mir schien. Ich bemerkte, daß viele, die zum Hügel kamen, um über die Preise zu staunen, 50
blieben, um ihre Blicke an Goewyn zu weiden. Immer wieder ertappte ich auch mich selbst dabei, wie ich ihr verstohlene Blicke zuwarf - wie ein Bettler, der ein Juwel von unschätzbarem Wert gefunden hat und sich ständig vergewissern muß, daß es nicht nur ein Traum ist, daß es tatsächlich existiert, und daß es ja ihm gehört. Ein kleiner Junge kam zum Hügel und fand einen Kupferbecher, den er, nachdem er ihn einmal in die Hand genommen hatte, einfach nicht wieder zurück legen konnte. »Dir gefällt dieser Becher«, sagte ich, und er wurde rot, denn er hatte nicht geahnt, daß er beobachtet worden war. »Sag mir, was würdest du tun, um ihn zu gewinnen?« Er dachte einen Moment lang nach. »Ich würde mit Bran Bresal selbst ringen«, antwortete er kühn. »Bran wird vielleicht nicht sehr erpicht darauf sein, seinen guten Ruf zu riskieren, indem er gegen jeman den kämpft, der noch so jung ist«, erwiderte ich. »Vielleicht könntest du dich auch entschließen, deine Kraft mit jemandem zu messen, dessen Größe mehr deiner eigenen entspricht?« Der Junge nahm meinen Vorschlag an, und ein passender Gegner wurde gefunden. Es ging gut aus, und ich überreichte ihm seinen Preis mit Freuden. So begann eine Folge von Spielen und Wettrennen für Kinder, die nicht weniger hitzig um ihre Trophäen kämpften als ihre Väter. Die Wettkämpfe nahmen ihren Lauf, und Stück für 51
Stück wurde der Haufen der Kostbarkeiten kleiner. Irgendwann während des Ablaufs verschwand Te gid, und ich war so vertieft in meine Rolle als Preis verteiler, daß eine lange Zeit verging, bevor ich ihn vermißte. Ich wandte mich an Goewyn und fragte sie: »Ich frage mich, wo Tegid steckt. Siehst du ihn irgendwo?« Bevor sie antworten konnte, stürzte etwas von dem Hügel hinter uns hervor. Ich hörte das rasche Nahen und sah eine undeutliche Bewegung aus dem Augen winkel. Noch während mein Kopf zu dem Geräusch und der Bewegung herumfuhr, sah ich, wie Hände nach Goewyn griffen. Im selben Augenblick, als ich aufsprang, wurde sie von ihrem Sitz gezerrt. »Llew!« rief sie noch; dann wurde sie von kräftigen Armen davongetragen. Ich wollte hinter ihr herstürzen, aber es herrschte zuviel Gedränge. Ich kam kaum von der Stelle. Mit gesenktem Kopf stürmte ich vorwärts durch die Menge. Hände packten mich. Ich wurde zurück in meinen Stuhl geschoben. Wieder hörte ich Goewyn schreien, doch jetzt war ihre Stimme weiter entfernt, und ihr Aufschrei brach abrupt ab. Ich riß mich von dem Stuhl los und schickte mich an, von dem Hügel herabzuspringen. Kaum war ich auf den Beinen, wurde ich von hinten niedergerissen, zu Boden geworfen und festgehalten. Seltsame laute Stimmen plapperten mir in die Ohren. Ich kämpfte gegen die Arme an, die mich niederhielten. »Laßt 52
mich!« schrie ich. »Laßt mich los!« Doch die Hände ließen nicht locker, und das Chaos der Stimmen löste sich in Gelächter auf. Sie lachten über mich! Ich wurde wütend und wand mich noch heftiger. »Tegid!« brüllte ich. »Tegid!« »Ich bin hier, Llew«, erwiderte Tegids Stimme gelassen. Ich blickte mich wütend um und sah Tegids Gesicht über mir auftauchen. »Laßt ihn los«, befahl der Barde. Das Gewicht der Hände fiel von mir ab; der Kreis der Gesichter zog sich zurück. Ich sprang auf die Beine. »Sie haben Goewyn verschleppt«, sagte ich zu ihm. »Wir haben hier gesessen, und sie -« Ringsum sah ich Leute lächeln und hörte vereinzel tes Lachen. Ich hielt inne. Tegid stand da, die Finger um seinen Stab verschränkt, und wirkte völlig unge rührt. »Was ist los?« fragte ich. »Hast du mir über haupt zugehört?« »Ich habe dir zugehört, Llew«, erwiderte der Barde schlicht. Ich war entsetzt über seine Gleichgültigkeit. Als ich den Mund aufmachte, um zu protestieren, hörte ich wieder das Gelächter. Ich starrte die Umstehenden an und sah, wie der Schalk aus ihren Augen blitzte. Erst dann begriff ich, daß man mir einen Streich spielte. »Also, Tegid, was ist los? Was habt ihr angestellt?« »Es ist nicht an mir, dir das zu sagen, Herr«, ant wortete er. Da fiel mir ein, daß dies wieder einmal einer jener 53
seltsamen keltischen Hochzeitsbräuche war. Ich mußte selbst herausfinden, was geschehen war. Nun, ob Streich oder Brauchtum, ich fand es nicht lustig. Ich wandte mich ab und rief: »Bran! Cynan! Folgt mir!« Ich machte einen Satz vom Hügel herunter, und vor mir öffnete sich eine Schneise in der Menge, als ich vorwärts eilte. »Bran! Cynan!« rief ich wieder, und als sie nicht kamen, drehte ich mich um und sah sie reglos dastehen. »Folgt mir!« rief ich. »Ich brauche euch!« Cynan trat grinsend einen Schritt vor, blieb jedoch dann wieder stehen und schüttelte leicht den Kopf. »Dann muß ich wohl allein gehen«, bemerkte ich. »So sieht es aus«, sagte Bran. »Na schön!« Meine Empörung verwandelte sich in Zorn, und ich rannte über das Feld in die Richtung, in der ich Goewyn zuletzt gesehen hatte. Es war ein dummer Scherz, und ich ärgerte mich darüber. Die Spur führte zum See, wo ich sie auf dem steini gen Ufer verlor. Sie konnten in beide Richtungen gegangen sein - ein Weg führte am See entlang in Richtung Dinas Dwr, der andere auf den Hang und hinauf zum Kamm des Druim Vran. Ich spähte in die Richtung des Crannogs, sah aber niemanden fliehen, also wandte ich mich in die andere Richtung und schritt auf den Hang und Tegids Hain zu. Ich erreichte den Pfad und begann den Aufstieg. Die Menge folgte mir und strömte fröhlich lärmend 54
am See entlang. Allmählich schlossen sich die Bäume um mich und dämpften die Geräusche des hinter mir folgenden Zuges. Es war kühl zwischen den stillen Bäumen, und die von Sonnenflecken durchbrochenen Schatten schienen frei von aller Unruhe. Doch von vorn hörte ich das Knacken eines Zweiges und wußte, daß meine Instinkte mich nicht getäuscht hatten. Ich beschleunigte meinen Schritt und stürmte rücksichts los vorwärts, duckte mich unter niedrigen Ästen hindurch und wich Baumstümpfen und Büschen aus. Tegids heiliger Hain lag direkt vor mir, ich lief genau darauf zu. Mit einem Endspurt legte ich das letzte Stück des Pfades zurück und erreichte den Hain. Ich sah, daß inmitten des Hains eine Laube aus Birken zweigen errichtet worden war. Und vor der Laube standen sieben Krieger, bewaffnet und kampfbereit. »Legt eure Waffen nieder«, befahl ich, doch sie rührten sich nicht. Ich kannte diese Männer; sie waren mir in die Schlacht gefolgt und hatten Seite an Seite mit mir gegen Meldron gekämpft. Nun standen sie gegen mich. Obwohl ich wußte, daß dies zum Ritual gehörte, durchfuhr mich für einen Moment wie ein Stich das durchaus echte Gefühl, verraten worden zu sein. Niemand würde mir helfen. Ich stand allein gegen sie. Ich straffte mich und ging näher heran. Die Krieger rückten drohend gegen mich vor. Ich blieb stehen, und sie blieben stehen und starrten mich grimmig an. Mit dem Grinsen und dem Gelächter war es nun vorbei. 55
Was, fragte ich mich, als ich da stand und sie anstarr te, sollte ich jetzt tun? Die ersten Zuschauer erreichten den Hain. Ich dreh te mich um und sah Bran, Cynan und Tegid hinter mir, und dahinter mein Volk, das den heiligen Kreis umringte. Niemand sprach, doch der Eifer in ihren Augen trieb mich vorwärts. Wenn dies eine vorgetäuschte Entführung war, dann würde ich wohl eine vorgetäuschte Schlacht ausfechten müssen, um meine Königin zurückzuge winnen. Ich hatte keine Waffe, doch ich packte die Aufgabe an, ging kühn vorwärts und trat dem ersten Krieger entgegen, als er die Speerspitze herabsausen ließ. Rasch tauchte ich unter dem herabschwingenden Schaft hindurch, packte ihn mit meiner silbernen Hand und zog kräftig daran. Zu meiner Überraschung ließ der Krieger den Speer los und fiel wie tot vor mir zu Boden. Ich nahm den Schaft und wandte mich dem nächsten Krieger zu, der gerade seinen Speer zum Wurf hob. Ich schlug mit der Speerspitze auf den Schild des Mannes; er ließ seine Waffe fallen und stürzte hin. Der dritte Krieger brach zusammen, als mein Speer ihn an der Schulter berühr te - der vierte und fünfte ebenso. Die beiden übrigen Krieger griffen mich gemeinsam an. Der erste schlug nach mir, indem er einen weiten, gemächlichen Bogen mit seinem Schwert zog. Ich duckte mich, als die Klinge über meinen Kopf hinwegfuhr, und stemmte mich dann mit dem Speer, den ich quer vor mich hielt, 56
gegen sie. Bei der leisesten Berührung brachen die beiden Krieger zusammen, fielen hin und blieben reglos liegen. Plötzlich erzitterte der Hain unter einem ungeheu ren Triumphgeschrei, als ich zum Eingang der Laube trat. »Komm heraus, Goewyn!« rief ich. »Alles ist in Ordnung.« In der Laube regte sich etwas, und Goewyn kam heraus. Sie sah genauso aus, wie ich sie noch vor wenigen Momenten gesehen hatte, und doch wieder nicht. Sie hatte sich verändert. Denn als sie aus dem tiefgrünen Schatten der Birkenlaube trat, fiel das Sonnenlicht auf ihr Haar und ihr Kleid, und sie wurde zu einem Geschöpf aus Licht, einem leuchtenden Geist aus Luft und Feuer: Ihr Haar loderte golden, ihr Kleid schimmerte wie weißer Meeresschaum. Die Menge, die eben noch so jubelnd gelärmt hatte, hielt den Atem an und verstummte. Blendend, strahlend, gleißend vor Schönheit er schien sie vor mir, und ich konnte nur dastehen und sie anstarren. Ich hörte eine Bewegung neben mir. »Wahrhaftig, sie ist eine Göttin«, flüsterte Cynan. »Geh zu ihr, Mann! Hol dir deine Braut - sonst tue ich es.« Ich trat vor und streckte meine silberne Hand nach ihr aus. Als sie sie ergriff, fiel das Sonnenlicht auf das Metall und ließ es aufblitzen. Und es schien, als ob eine Flamme aufloderte, wo unsere Hände sich berührten. Wenn es auch nur ein Spiel gewesen war, 57
schloß ich sie doch mit echter Erleichterung in die Arme. »Verlaß mich niemals, Goewyn«, hauchte ich. »Das werde ich nicht tun«, versprach sie. Die Sonne hatte ihren Abstieg im Westen begon nen, als wir zum Crannog zurückkehrten. Vor der Halle waren Tische aufgestellt worden, um genügend Platz für die größere Zahl der Gäste zu schaffen, die der König heute abend bewirrten würde. Ich wäre lieber draußen geblieben - nach dem strahlenden Tag würde die Nacht warm und hell sein - doch das Innere der Halle war mit Fackeln und Birkenzweigen ge schmückt, um die grüne Laube im Hain nachzustellen. Bei all diesen Vorbereitungen für uns wäre es un freundlich gewesen, die Ehre nicht anzunehmen und zu genießen. Mit beißendem Hunger und brennendem Durst riefen die Krieger laut nach Essen und Trinken, kaum daß sie über die Schwelle traten. Die Tische im Innern der Halle waren zu einem großen Quadrat angeordnet, so daß wir uns alle sehen konnten. Als die ersten ihre Plätze an der Tafel fanden, erschienen die Platten auf den Schultern der Diener getragen -, riesige Bretter, auf denen sich die besten Bratenstücke vom Rind, Schwein und Hammel hoch auftürmten, gefolgt von enormen Platten mit gekochtem Kohl, Rüben, Lauch und Fenchel. Am Ende jedes Tisches war ein stattliches Faß aufgestellt worden, so daß niemand weit gehen mußte, um seinen Becher oder seine 58
Schale wieder aufzufüllen. Leider war kein Bier mehr übrig, so daß die Fässer heute abend mit Wasser gefüllt waren, das mit Honig und Pflaumen aromati siert war. Auf den Tischen lagen kleine Laibe des mit Honig überzogenen Banys Bara, oder Hochzeitsbrotes - frisch gebacken und noch warm. Als die Platten herumgereicht wurden, wurden jedem Gast, ob Mann oder Frau, die saftigsten Stücke angeboten. Binnen kurzem sank der Lärm zu einem gedämpften Gemurmel herab, als die hungrigen Münder sich mit gutem Essen füllten. Das Vorrecht, zuerst zu essen, brachte die Pflicht zum anschließen den Bedienen mit sich; wer jetzt bediente, würde später Gast sein. So wurden Ordnung und Recht vorzüglich gewahrt. Die Krieger, die über die Singen den Steine wachten, waren die einzigen Ausnahmen. Sie mußten weder bedienen, noch durften sie essen, sondern sie standen abseits der Feier, so wachsam und argwöhnisch, als wären sie allein in einem feindlichen Land. Als ich mich in der voll besetzten Halle umsah, schwoll mir das Herz an vor Freude darüber, mein Volk so fröhlich und zufrieden zu sehen. Mir fiel ein, woran es lag, daß das Kennzeichen eines Königs etwas mit seinem Wohlwollen zu tun hatte: Sein Volk lebte davon und erwartete vom König Nahrung und Unterstützung; durch ihn lebten oder starben sie. Ich füllte meine Schüssel mit den leckeren Bissen, die mir gereicht wurden, und begann mit gutem Appetit zu 59
essen. Als jeder seinen Teil bekommen hatte, tönte eine laute, dumpfe Trommel durch die Halle, und acht junge Mädchen traten mit langsamen, feierlichen Schritten in das freie Viereck zwischen den Tischen. Sie zogen die Säume ihrer Kleider hoch, so daß ihre Beine bloß waren, und lockerten die Riemen ihrer Mieder. Dann ging jedes der Mädchen auf einen Krieger am Tisch zu und erbat sich dessen Schwert. Die Krieger erwiesen sich als eifrige Komplizen und stellten ihre Schwerter bereitwillig zur Verfü gung. Die Mädchen kehrten in die Mitte des Vierecks zurück, wo sie einen Kreis bildeten und jede ihr Schwert vor sich auf den Boden legte, so daß sich die Spitzen der Schwerter berührten. Tegid erschien mit der Harfe an der Schulter und begann zu spielen. Die Harfensaiten sangen, jeder Ton wurde mit einem deutlichen Akzent gezupft; und die Mädchen began nen mit gemessenen, langsamen Schritten zu tanzen. Sie tanzten um die Sonne aus Schwertern herum und traten dabei langsam über die Griffe und Klingen hinweg, die Augen geradeaus auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Immer wieder ging es herum, und bei jeder Runde kam ein Schritt dazu. Bei der sechsten Runde wurde das Harfenspiel schneller und das Schrittmuster komplizierter. Bei der zwölften Runde summte die Harfe, und der Tanz hatte eine phantasti sche Intensität angenommen. Doch die Mädchen tanzten immer noch mit derselben feierlichen Haltung, 60
die Augen starr geradeaus gerichtet, die Gesichter ernst. Die Musik steigerte sich zu einem Crescendo, und die Mädchen vollführten mitten in ihrer raschen Drehung ein kompliziertes Manöver mit ihren Armen. Dann, schnell wie der Blitz, blieben sie stehen, wirbelten herum, bückten sich, und jede packte ihr Schwert am Griff und richtete seine Spitze empor zu den Dachbalken, wobei sie in der gleichen Bewegung die Oberteile ihrer Kleider abstreiften. Langsam begann die Musik von neuem. Die Mäd chen ließen ihre Schwerter sinken und begannen den Tanz mit gemessenen und präzisen Schritten von vorn. Die Schwerter blitzten und beschrieben schim mernde Bögen um die herumwirbelnden, geschmeidi gen Gestalten. Das Tempo steigerte sich, und die Zuschauer begannen, mit den Händen auf dem Tisch den Rhythmus zu schlagen und die Tänzerinnen mit Rufen anzufeuern. Die jungen Frauen handhabten die Schwerter mit atemberaubendem Geschick; die Bewegungen ihrer Hände und Füße waren kunstvoll verflochten und anmutig: Hände webten rätselhafte Muster, Füße beschrieben komplizierte Figuren, während die Klingen der Schwerter schimmerten und glänzten. Das Licht der Fackeln und Scheite glitzerte auf der schweißglänzenden Haut der schlanken Arme, der gerundeten Schultern und Brüste. Der Harfenklang schwoll an; der Schwerttanz wirbelte seinem Höhe 61
punkt entgegen. Mit einem schrillen, lauten Ausruf sprangen die Mädchen in die Höhe und schlugen ihre Klingen gegeneinander wie beim Zusammenprall zweier Heerscharen. Einmal, zweimal, dreimal sangen die Waffen. Die Tänzerinnen erstarrten für einen Augenblick und traten dann zurück, und jede klam merte die bloße Klinge an ihre Brust. Sie knieten sich hin und legten sich zurück, bis ihre Köpfe den Boden berührten und die Schwerter flach auf ihren gespann ten Oberkörpern lagen. Langsam hoben sie die Schwerter an den Griffen an, erhoben sich wieder auf die Knie und schwangen die Schwerter hoch empor. Plötzlich schlug die Harfe einen durchdringenden Akkord an. Die Schwerter stürzten herab. Die Mädchen brachen mit einem Aufschrei zusammen. Einen Moment lang herrschte Stille: Wir saßen da und starrten hingerissen die Klingen an, die zitternd in dem gestampften Lehmfußboden steckten. Und dann erfüllten Hochrufe die Halle und bejubelten laut die Leistung der Tänzerinnen. Die Mädchen sammelten ihre Kleider ein und verließen das Viereck. Ich sah zu Goewyn hinüber und dann auf die Schüssel in meiner Hand. Jeder Gedanke an Essen verschwand aus meinem Kopf - wurde augenblicklich verdrängt von einem Hunger ganz anderer, wenn auch nicht weniger drängender Art. Sie spürte meinen Blick und lächelte. »Stimmt etwas nicht mit dem Essen?« fragte sie und deutete auf meine halbvolle 62
Schüssel. Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nur, daß ich etwas entdeckt habe, das mir noch lieber ist.« Goewyn beugte sich zu mir herüber, legte ihre Hand an mein Gesicht und küßte mich. »Wenn dir das lieber ist«, flüsterte sie, »dann komm zu mir, wenn du fertig bist.« Als sie sich von ihrem Platz erhob, ließ sie ihre Finger über meinen Kiefer gleiten. Ihre Berührung ließ einen köstlichen Schauder an meinen Rippen entlanglaufen. Ich sah ihr nach. Am Eingang hielt sie inne und warf einen Blick zu mir zurück, bevor sie ver schwand. Plötzlich wirkte die dicht besetzte Halle, die mir soeben noch so festlich erschienen war, zu laut und das Gedränge der Menschen bedrückend auf mich. Cynan bemerkte, daß ich nicht aß. »Iß!« drängte er mich. »Heute nacht wirst du mehr denn je das bißchen Kraft brauchen, das du hast.« Bran, der neben ihm saß, erwiderte: »Bruder, siehst du nicht, daß er nach einer anderen Art von Speise und Trank lechzt?« Noch andere steuerten ihre Ansichten darüber bei, wie man in solchen Umständen am besten seine Kraft und Energie bewahrte. Ich zwang mich, ein paar Bissen zu essen und ein paar Schlucke zu trinken, doch meine Freunde waren der Meinung, daß meinen Bemühungen die rechte Überzeugung fehle, und verdoppelten ihre Ermahnungen. Calbha füllte meinen 63
Becher aus seinem und bestand darauf, daß ich ihn mit einem Zug leerte. Ich nippte höflich daran und lachte über ihre Scherze, obwohl mein Herz nicht bei der Sache war. Das Fest und der Tanz würden noch die ganze Nacht lang andauern, aber ich konnte es keinen Moment mehr ertragen. Ich erhob mich von der Tafel und versuchte, unauffällig zu verschwinden, was sich jedoch als unmöglich erwies. Statt dessen mußte ich noch allerlei wohlgemeinte, weinselige Ratschläge über mich ergehen lassen, wie ich mich in meiner Hochzeitsnacht zu verhalten habe. Als ich an Tegid vorbeikam, drückte er mir einen Schlauch mit Met in die Hand, damit es meiner Hochzeitsnacht weder an Süße noch an Wärme fehle. »Im Met ist der Geschmack des Hochzeitsbettes. Doppelt gesegnet sind die Liebenden, die ihn in dieser Nacht miteinander teilen.« Die Unentwegtesten schienen erpicht darauf zu sein, mich zu der Hütte zu begleiten, in der Goewyn auf mich wartete. Doch Tegid kam mir zu Hilfe und drängte sie, sich zu setzen und das Glück des frisch vermählten Paares durch Gesang zu feiern. Er ergriff seine Harfe und begann, sie umständlich zu stimmen. »Fort mit dir«, murmelte er mir zu. »Ich werde hier für Ordnung sorgen.« Mit dem Metschlauch in der Armbeuge eilte ich über den Platz zu der nahen Hütte, die für uns vorbe reitet war. Das Haus war ebenso wie die Halle in eine 64
Waldlaube verwandelt worden, mit duftenden Kie fern- und Birkenzweigen an Wänden und Decken und Schilfkerzen, die wie rötliche Sterne glühten und ein angenehmes, sanft-rötliches Licht verbreiteten. Goewyn erwartete mich, begrüßte mich mit einem Kuß, zog mich hinein und nahm mir den Metschlauch ab. »Auf diese Nacht habe ich lange gewartet, mein Leben«, flüsterte sie und schlang ihre Arme eng um mich. Unsere erste Umarmung endete mit einem langen, leidenschaftlichen Kuß. Und da der Schlafplatz bereits vorbereitet war - hoch aufgeschichtete Schaffelle, mit Tüchern überdeckt - ließen wir uns einfach darauffal len. Ich schloß die Augen und füllte meine Lungen mit dem warmen Duft ihrer Haut als unsere Liebko sungen drängender wurden und Feuer fingen. Vertieft, wie ich war, weiß ich nicht, ob es der Ruf oder der Rauch war, der mich als erstes aufmerksam machte. Ich setzte mich abrupt auf. Goewyn streckte die Hand nach mir aus und wollte mich sanft wieder herabziehen. »Llew...« »Warte -« »Was ist los?« flüsterte sie. Der Ruf erklang wieder, rasch und alarmierend. Und mit ihm kam der scharfe Geruch von Rauch. »Feuer!« sagte ich und sprang auf. »Das Crannog brennt!«
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Eine arbeitsame Nacht »Das Feuer ist auf der Westseite«, sagte Goewyn, als sie die rostrote Verfärbung sah, die in den Nacht himmel aufstieg. »Der Wind wird es in unsere Rich tung treiben.« »Nicht, wenn wir uns beeilen«, sagte ich. »Geh zur Halle. Rufe Tegid und Bran. Ich komme wieder, sobald ich kann.« Noch während ich sprach, hörte ich einen weiteren Alarmruf: »Beeil dich, Llew!« Ich küßte sie auf die Wange und rannte davon. Der Rauch wurde dichter, je näher ich dem Feuer kam, und füllte meine Nasenlöcher mit der trockenen und muffigen Schärfe von versengtem Getreide: die Getreidespeicher! Wenn es uns nicht gelang, das Feuer rasch zu löschen, würde es einen mageren, hungrigen Winter geben. Als ich über den zentralen Steg, der die verschiede nen Inseln unserer schwimmenden Stadt miteinander verband, durch das Crannog rannte, sah ich die gelben Spitzen der Flammen wie Büschel von Blättern über die Dachfirste hinausflackern. Ich hörte das wütende Brüllen des Feuers und Stimmen: schreiende Männer, 66
rufende Frauen, jammernde und weinende Kinder. Und hinter mir kam aus Richtung der Halle der Schlachtruf der Carynx, die den Alarm gab. Die Flammen loderten immer höher und höher empor, orangerot und wütend vor dem schwarzen Himmel. Dinas Dwr, unsere schöne Stadt auf dem See, zeichnete sich grell in dem unheimlichen Glühen ab. Mir war schlecht vor Furcht. In meiner Nähe sah ich Leute hin- und herrennen und durch die Rauchwolken laufen, die Gesichter zu grimmigen, ernsten Masken erstarrt. Manche trugen Ledereimer, andere brachten Schüsseln und Kessel aus Holz oder Metall, doch die meisten schwangen nur ihre Gewänder, die sie sich vom Leib gerissen und mit Wasser getränkt hatten und nun wie Flegel benutzten, um auf die wabernden Flammen einzudre schen. Ich riß mir meinen eigenen Umhang von den Schul tern und beeilte mich, es ihnen gleichzutun. Mein Herz wurde schwer wie ein Stein. Die dicht beieinan der stehenden Häuser, deren trockene Strohdächer sich fast berührten, loderten auf wie Zunder, sobald die erste Flamme sie berührte. Wenn ich die Flammen an einer Stelle ausschlagen konnte, tauchten sie prompt an einer anderen wieder auf. Wenn nicht sofort Hilfe kam, würden wir alles verlieren. Ich hörte einen Ruf hinter mir. »Tegid! Hier!« rief ich und drehte mich um, als der Barde mich erreichte. König Calbha begleitete ihn mit 67
fünfzig oder mehr Kriegern und Frauen, und sie alle begannen, mit ihren Kleidern auf die Flammen einzuschlagen. »Wo sind Bran und Cynan?« »Ich habe Cynan und Cynfarch zur Südseite ge schickt«, erklärte Tegid. »Die Raben sind im Norden. Ich habe ihnen gesagt, ich würde dich zu ihnen schicken.« »Geh nur, Llew« sagte Calbha, während er den Flammen entgegentrat. »Wir kümmern uns hier um alles.« Ich überließ sie dem Kampf gegen das Feuer und rannte los, um den Raben zu Hilfe zu kommen. Die Dächer der Hütten, an denen ich vorbeikam, schwel ten bereits von den Funken, die auf sie herabregneten. Der Rauch wurde dichter, ätzend und schwarz vor Ruß. Dann stieß ich auf eine Gruppe fieberhaft arbeitender Männer. »Bran!« schrie ich. »Hier, Herr!« kam die Antwort, und aus dem Rauch tauchte ein Oberkörper auf. Bran hatte in einer Hand eine Heugabel und in der anderen seinen Umhang. Seine bis zur Hüfte entblößte Haut war schwarz vom Rauch; seine Augen und Zähne schimmerten weiß wie Splitter von einem Mondstein. Schweiß rann ihm über den Leib und wusch helle Streifen in den Schmutz. »Tegid meinte, ihr könntet Hilfe gebrauchen«, er klärte ich. »Wie steht es hier?« »Wir versuchen zu verhindern, daß sich das Feuer weiter nach Osten ausbreitet. Glücklicherweise steht 68
der Wind günstig für uns«, sagte er, »aber Cynan und Cynfarch werden es am schwersten haben.« »Dann werde ich zu ihnen gehen«, erwiderte ich und eilte wieder davon. Ich kam um eine Biegung und überquerte eine Brücke, auf der ich drei Frauen traf, von denen jede zwei oder drei Babys auf dem Arm trug und eine wirre Herde von kleinen Kindern vor sich hertrieb, die alle verängstigt jammerten. Eine der Frauen stolperte in ihrer Eile und trat auf ein Kind; sie fiel auf die Knie und ließ beinahe die Kleinen fallen, die sie so fest an sich klammerte. Das Kind fiel der Länge nach auf die Balken der Brücke und blieb schreiend liegen. Ich hob das Kind auf - so rasch, daß der Kleine vor Überraschung seine Angst vergaß und zu heulen aufhörte. Plötzlich tauchte Goewyn neben mir auf, bückte sich, um der Frau auf die Beine zu helfen, und nahm in derselben raschen Bewegung einen der Säuglinge auf die Schultern. »Ich bringe sie in Sicher heit!« rief sie mir noch zu, während sie bereits voraus lief. »Geh du weiter.« Ich rannte weiter. Cynfarch stand wie inmitten eines Aufruhrs und befehligte die Anstrengungen. Ich rannte zu ihm und warf meinen Umhang ab. »Ich bin hier, Cynfarch«, sagte ich. »Was ist zu tun?« »Diese Häuser werden wir nicht retten können, aber...« Er brach ab, um einer Gruppe von Männern, die gerade mit hölzernen Rechen und langen Eisenha ken an einem brennenden Dach zerrten, ein paar 69
Befehle zuzurufen. Ein Teil des Daches stürzte unter einer Funkenfontäne nach innen, und die Männer rannten zur nächsten Hütte weiter. »Diese Häuser sind ruiniert«, fuhr er fort, »aber wenn der Wind beständig bleibt, können wir vielleicht verhindern, daß es sich ausbreitet.« »Wo ist Cynan?« »Er war dort«, sagte der König mit einem Blick über die Schulter nach hinten. »Jetzt sehe ich ihn nicht mehr.« Ich rannte zu der Stelle, die mir Cynfarch bezeich net hatte, und kam zwischen brennenden Gebäuden hindurch in ein Tal voller Feuer. Flammen loderten überall um mich her. Ein glühend heißer Wind sengte durch die Gassen. Alles - die Häuser links und rechts, die Palisaden vor mir, der schwarze Himmel über mir - schimmerte in der Glut. Ich hörte den wilden Schrei eines Pferdes, und direkt vor mir brach plötzlich ein Mann aus einem Rauchschwaden hervor, der mit aller Kraft die Zügel eines sich aufbäumenden Pferdes festhielt. Der Mann hatte dem verängstigten Tier seinen Mantel über den Kopf geworfen und führte es vom Feuer weg. Direkt dahinter kamen vier weitere Männer mit bockenden, wiehernden, verängstigten Pferden, deren Köpfe allesamt mit den Umhängen der Männer bedeckt waren. Auf dem Crannog wurden nur wenige Pferde und Kühe gehalten; der Rest weidete auf der Grasfläche unterhalb des Bergkammes. Doch diejenigen, die in Dinas Dwr in Ställen standen, 70
konnten wir uns am wenigsten zu verlieren erlauben. Ich half den Männern dabei, die Pferde den schma len, von Flammen umzüngelten Pfad zwischen den brennenden Ruinen der Häuser und Hütten hindurch zu führen. Als wir den breiteren Weg erreichten, kehrte ich auf dem gleichen Weg zurück und eilte weiter. Ringsum verwehrten wabernde Rauchschwa den die Sicht. Ich bedeckte Mund und Nase mit dem unteren Teil meines Siarcs, stürmte weiter und stieß plötzlich auf einen freien Platz, auf dem es vor Menschen wimmelte. Ringsum tanzte das Feuer in einem dunstigen Schimmern. Ich fühlte mich, als wäre ich in einen Ofen geworfen worden. Cynan war mit zwanzig Kriegern und anderen Männern mit Äxten dabei, wild auf die Palisadenwand einzuschlagen. Sie versuchten, ein Stück als Feuer lücke herauszuschlagen, um zu verhindern, daß die Flammen die gesamte Palisade zerstörten. Drei Dutzend Männer schlugen mit ihren nassen Umhän gen auf die Holzoberflächen und den Boden ein und hielten die Flammen in Schach, während weitere Männer mit Eimern die schwelenden Überreste der Hütten ablöschten, die sie den Flammen entrissen hatten. Schwarze Rußfäden und graue Ascheflocken fielen vom Himmel wie schmutziger Schnee. »Cynan!« rief ich und rannte zu ihm. Als er meine Stimme hörte, drehte er sich um, ohne im Schlag seiner Axt innezuhalten. »Llew! Das ist ja eine schöne Hochzeitsnacht für dich«, sagte er und 71
hob kopfschüttelnd erneut die Axt. Ich betrachtete die zerfetzten, von den Flammen verheerten Palisaden. »Wird eure Feuerlücke halten?« »Och aye«, sagte er und trat von der Wand zurück, um seine Arbeit zu betrachten. »Sie wird halten.« Er erhob seine Stimme, um den Befehl zu geben. »Reißt sie nieder! Reißt sie nieder, Männer!« Seile wurden gespannt. Das Zaunstück wackelte und schwankte, wollte aber nicht fallen. »Zieht!« schrie Cynan und sprang zum nächsten Seil. Ich folgte ihm und legte mich mit ins Zeug. Wir zerrten an den Seilen, und die Stämme ächzten. »Zieht!« rief Cynan. »Jeder! Alle zusammen! Zieht!« Die Stämme ächzten und gaben dann mit einem markerschütternden Krachen nach. Wir standen da und starrten durch eine breite Lücke auf den See hinaus. »Als nächstes die Häuser da!« befahl Cynan und bückte sich nach seiner Axt. Augenblicke später brachten zwanzig Äxte die Dachstützen von drei Häusern zum Erzittern, die bisher von den erbarmungslos näher kommenden Flammen verschont geblieben waren. Ich ergriff einen der Rechen und machte mich daran, an einem nahe gelegenen Haus das schwelende Dachstroh herabzu zerren. Ich schleuderte den Rechen so hoch hinauf wie ich konnte, und dann zog ich, zog mit aller Kraft, verstreute das gebündelte Dachstroh und schlug dann die glimmenden Halme aus, als sie vor mir auf dem 72
Boden lagen. Als ich mit diesem Dach fertig war, rannte ich zum nächsten, und dann wieder zum nächsten. Meine Arme schmerzten, und meine Augen tränten. Der Rauch ließ mich fast ersticken. Glühende Späne fingen sich im Stoff meines Siarcs, so daß ich es abstreifte und lieber der Glut des herabfallenden Dachstrohs trotzte. Die Hitze versengte mir die Haare; es war ein Gefühl, als ob meine Haut verschmorte. Doch ich arbeitete weiter, manchmal mit jemandem zur Seite, der mir half, meistens jedoch allein. Jeder tat, was immer getan werden konnte. »Llew!« hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Gerade rechtzeitig sah ich ein Paar langer Hörner aus den Rauchschwaden hervorschwingen. Ich wich zur Seite aus, als das geschwungene Horn durch die Luft schnitt, wo ich stand. Ein Ochse hatte sich von seiner Leine losgerissen und wollte, völlig verängstigt wie er war, in seinen Stall zurück. Das Tier rannte wie wahnsinnig zwischen den brennenden Hütten hin und her und suchte nach seinem Stall. Ich riß meinen Siarc vom Boden hoch, winkte damit und schrie, um das Tier abzulenken. Es donnerte auf demselben Weg davon, auf dem es gekommen war, doch niemand setzte ihm nach. Wir hatten genug damit zu tun, der Flammen Herr zu werden. Wohin immer ich blickte, gab es neue Notfälle. Wir eilten rasch zu jedem neuen Unheil, doch jedesmal mit etwas weniger Energie als bei dem letzten. Die 73
Kräfte begannen nachzulassen - und schließlich zu versiegen. Meine Arme wurden schwer und taub. Meine Hand war wund vom Stiel des Rechens und von den Verbrennungen. Ich kam nicht mehr zu Atem; meine Lungen bäumten sich auf, und die Luft pfiff mir in der Kehle. Dennoch setzte ich störrisch einen Fuß vor den anderen und schleppte mich weiter. Und als ich anfing zu glauben, wir müßten all unse re Arbeit den Flammen überlassen, erschienen Bran und die Raben mit mehreren Dutzend Männern und Kriegern. Mit einem Schrei stürzten sie sich in die Arbeit. Sie waren erst wenige Augenblicke da, zumindest schien es mir so, und schon arbeiteten wir härter als je zuvor. Wir rechten Dachstroh, schlugen auf die Flammen ein, erstickten die Funken - Rechen, Schlagen, Ersticken, immer und immer wieder aufs neue. Die Zeit verging wie in einem Traum. Die Hitze leckte an meiner Haut; Rauch stach mir in die Nase, und meine Augen tränten. Doch ich mühte mich weiter ab. Allmählich begann das Gleißen des Feuers zu verblassen. Ich spürte kühlere Luft auf meiner versengten Haut und blieb stehen. Hundert Mann oder mehr standen um mich herum und umklammerten Werkzeuge, Gefäße und Umhän ge mit ihren gefühllosen Händen. Mit gebeugten Köpfen standen wir da, die Arme schlaff herabhän gend, oder wir knieten auf unsere Rechen gestützt. Und rings um uns her hörten wir das leise Zischen der 74
langsam ersterbenden Glut... »Eine arbeitsame Nacht«, grunzte Cynan mit einer Stimme, die ebenso zerfetzt klang wie die verbrannten Reste seiner Kleidung. Ich hob den Kopf und wandte meine geröteten Au gen dem Himmel zu, der im Osten grau zu werden begann. In dem bleichen, geisterhaften Licht sah Dinas Dwr aus wie ein riesiger Haufen verkohlter Holzscheite und rauchender Asche. »Ich will sehen, was noch übrig ist«, sagte ich zu Cynan. »Wir sollten auch nach den Verletzten sehen.« »Ich werde mich hier um die Leute kümmern«, sagte Bran. Er schwankte vor Müdigkeit auf den Beinen, doch ich wußte, daß er nicht ruhen würde, bis sich auch alle anderen niederließen. Also gab ich ihm den Auftrag, so zu handeln, wie er es für richtig hielt, und überließ ihn seiner Arbeit. In der trostlosen, grauen Dämmerung stolperten Cynan und ich langsam durch das verwüstete Caer. Die Schäden waren schlimm und schwerwiegend. Die westliche Seite der Festung war dem Erdboden gleich; kaum etwas war stehen geblieben, und das Wenige war von Flammen und Rauch versehrt. Calbha kam uns entgegen, als wir unseren Rund gang fortsetzten; er hatte für eine notdürftige Lage rung der geretteten Lebensmittel und Vorräte gesorgt und Pferche für Pferde und Vieh errichtet, bis sie auf die Weiden am Seeufer gebracht werden konnten. »Ist hier jemand verletzt worden?« fragte ich ihn. 75
Calbha schüttelte kurz den Kopf. »Ein paar Verbrennungen und so«, antwortete er, »aber keine ernsthaften Verletzungen. Wir hatten Glück.« Wir überließen ihn seiner Arbeit und bahnten uns weiter unseren Weg durch den rauchenden Schutt. In der Mitte eines kleinen Platzes zwischen den verkohl ten Überresten dreier Häuser fanden wir Tegid und einige Frauen, die sich um die Verletzten kümmerten. Der Barde, der von Rauch und Ruß fast völlig schwarz war, kniete über einer um sich schlagenden Gestalt, der er heilende Salbe aus einem Lehmtopf verabreichte. Rings um ihn lag ein Dutzend weitere Leiber auf dem Boden; manche keuchten und stöhnten oder versuchten aufzustehen; andere lagen unnatürlich still und waren von Kopf bis Fuß in Umhänge gehüllt. Einige von diesen zugedeckten Leichen waren nicht größer als ein Bündel Feuerholz. Bei diesem Anblick sank das volle Gewicht der Trauer auf mich herab, und ich geriet darunter ins Taumeln. Cynan ergriff meinen Arm und stützte mich. Scatha ging unter den Lebenden umher, gezeichnet wie jemand, der durchs Feuer gegangen ist - was sie auch tatsächlich getan hatte. Denn als der Alarm ertönte, hatte sie eine Durchsuchung aller Häuser an der Westseite organisiert Fast alle waren beim Hoch zeitsfest, doch einige wenige - besonders Mütter von kleinen Kindern - hatten sich schon schlafen gelegt. Scatha hatte sie geweckt und durch Rauch und 76
Flammen in Sicherheit gebracht, und sie war immer wieder zurückgekehrt, bis die Flammen zu heiß wurden und sie nichts mehr ausrichten konnte. »Wie viele?« Sie blickte kurz auf, als sie meine Stimme hörte, und fuhr dann fort, den verbrannten Oberarm eines jungen Mannes zu verbinden. »Hätten wir mehr Zeit gehabt«, erwiderte sie, »so hätten wir diese hier vielleicht retten können. Aber das Feuer breitete sich so schnell aus ... und diese Kleinen schliefen.« Sie deutete mit der Hand auf die winzigen Bündel. »Sie sind nie aufgewacht, und nun werden sie es auch nie mehr.« »Sag mir, Scatha«, sagte ich mit vor Müdigkeit und Trauer heiserer Stimme. »Wie viele?« »Dreimal fünf und drei«, erwiderte sie und fügte dann leise hinzu: »Zwei oder drei werden noch hinzukommen, bevor es Abend wird.« Tegid beendete seine Arbeit und trat zu uns. »Ein böser Verlust«, murmelte er. »Der Rauch erstickte sie im Schlaf. Zumindest war es ein barmherziger Tod.« »Wäre das Fest nicht gewesen«, warf Cynan ein, »so wäre es noch viel schlimmer gewesen. Fast alle waren in der Halle, als es anfing.« »Und wenn nicht fast alle in der Halle gewesen wären, hätte es überhaupt kein Feuer gegeben«, entgegnete Scatha. Ich hatte keine Lust auf Rätselspiele. »Willst du damit sagen, daß dies kein Unfall war?« fragte ich unverblümt. 77
»Diese Flammen sind nicht durch einen Unfall entfacht worden«, erwiderte Cynan mit fester Über zeugung. Tegid stimmte zu. »Ein Brand, der an drei Stellen gleichzeitig ausbricht - am Zaun, an den Häusern, an den Ochsenställen - entsteht nicht durch Nachlässig keit oder ein Mißgeschick. Dahinter steckt ein böser Wille.« Fürst Calbha, der in diesem Augenblick zu uns trat, hörte Tegids Beurteilung. »Jemand hat die Brände absichtlich gelegt - ist es das, was du sagen willst?« sagte Calbha entrüstet, widerwillig, zu glauben, daß so etwas in Dinas Dwr geschehen konnte. »Welcher Mann unter uns würde so etwas tun?« »Mann oder Männer«, erwiderte Cynan mit vom Rauch und vom Schreien heiserer Stimme. »Vielleicht war es mehr als einer.« Er betrachtete die rauchenden Ruinen genau. »Wer immer es war, er verstand sein Handwerk und leistete ganze Arbeit. Hätte der Wind sich gedreht, so hätten wir das Caer verloren - und außerdem erheblich mehr Menschenleben.« Der Schweiß auf meinem Rücken wurde kalt. Ich wandte mich an die Umstehenden und musterte schweigend ihre Gesichter. Falls tatsächlich ein Mörder unter uns war, konnte ich mir nicht vorstellen, wer es sein konnte. Ein Ruf von einer der Frauen zog Tegid fort. »Sprecht mit niemandem darüber«, schärfte ich den anderen ein, »bis wir mehr herausge funden haben.« 78
Scatha kehrte an ihre Arbeit zurück, und Cynan, Calbha und ich gingen zurück zu der Stelle, wo Bran und die Raben den Schutt eines Lagerhauses durch suchten. Als wir näher kamen, sah ich, daß sie gerade langsam und vorsichtig einen umgestürzten Dachbal ken von einem Körper hoben, der darunter einge klemmt war. Cynan und ich eilten hinzu, um mit anzufassen. Wir umschlangen den geschwärzten Balken und hievten ihn gerade hoch genug, daß der zerschmetterte Leib darunter hervorgezogen werden konnte. Der Mann wurde aus den Trümmern gezogen und aus der Ruine getragen. Dann legte man ihn vorsichtig auf den Boden und rollte ihn auf den Rücken. Bran hob langsam den Kopf und sah uns ernst an. Er blickte von mir zu Cynan. »Es tut mir leid, Cy nan...« »Cynfarch!« rief Cynan. Er fiel auf die Knie und hob den Oberkörper seines Vaters in den Armen an. Die Bewegung entlockte Cynfarch ein schwach wimmerndes Stöhnen. Der König der Galanae hustete, und ein dünnes Rinnsal aus Blut trat aus seinem Mundwinkel hervor. Calbha unterdrückte einen Fluch; ich legte dem Mann, der mir am nächsten stand, die Hand auf die Schulter. »Hol Tegid«, befahl ich ihm. »Beeil dich, Mann!« Kurz darauf kam Tegid herbeigeeilt, warf einen Blick auf die Gestalt am Boden und befahl allen 79
zurückzutreten. Der Barde beugte sich über Cynfarch und begann, den niedergestreckten König zu untersu chen. Behutsam tastete er den Leib nach Wunden ab und drehte den Kopf zur Seite. Unter der schmutzigen Kruste aus Asche war Cynfarchs Haut bleich und wächsern. Cynan ließ seine breiten Schultern hängen, um klammerte die Hand seines Vaters und starrte die erschlafften Züge an, als wolle er ihnen durch schiere Willenskraft wieder Leben einflößen. »Wird er überleben?« fragte er, als Tegid mit seiner Untersu chung fertig war. »Er hat innere Verletzungen«, erwiderte der Barde. »Ich kann es nicht sagen.« Die Worte waren kaum ausgesprochen, als ein an derer Ruf unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Penderwydd! Llew! Hilfe! Kommt schnell!« Wir drehten uns um und sahen einen Krieger auf uns zurennen. »Was ist los, Pebin?« rief ich ihm zu. »Was ist geschehen?« »Herr«, erwiderte Pebin, »ich bin in die Halle ge gangen, um meine Wache anzutreten...« Er hielt inne und sah sich rasch um. »Du solltest lieber sofort mitkommen.«
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Guter Rat »Ich werde mich um meinen Vater kümmern«, sagte Cynan. »Laßt mich allein.« »Bring Cynfarch in meine Hütte«, wies ihn der Barde an. »Sioned wird ihn dort pflegen.« Dann gingen Tegid, Pebin und ich zurück zur Mitte des Crannogs, vorbei an Scharen von Leuten, die zu den Brandstellen eilten. Die Balken rauchten noch, und die Asche war noch heiß, doch die Aufräumungs arbeiten begannen bereits. Diejenigen, die sich ans Seeufer gerettet hatten, kehrten jetzt zurück, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Nachdem wir die Brücke auf dem Hauptweg überquert hatten, erreich ten wir die Ansammlung niedriger, runder Häuser im Schatten der großen Halle. Bis auf den Rauchgeruch, der alles in der Festung durchdrang, waren die Häuser und die Halle vom Feuer unberührt geblieben. Alles schien sicher und unbeschädigt zu sein. Wir gingen rasch zwischen den Hütten hindurch und überquerten den Platz zwischen ihnen und der Halle. »Bleib hier, Pebin«, wies ich den Krieger an. »Laß niemanden hinein.« Dann folgte ich Tegid zwischen den massiven Türpfosten hindurch ins 81
Innere. Selbst in dem trüben Licht konnte ich sehen, daß das eiserne Gestell umgestürzt war. Die Holzkiste mit den Singenden Steinen war verschwunden. Als wir näher kamen, sah ich gegenüber an der Westwand zwei Gestalten kauern, und eine dritte lag mit dem Gesicht nach unten flach auf dem nackten Lehmfuß boden. Sie rührten sich nicht, als wir eintraten. Ich ging auf den ersten Mann zu, bückte mich und schüttelte ihn an der Schulter. Als er nicht reagierte, rollte ich den Mann zu mir herum. Sein Kopf hing ihm lose auf die Brust herab, und ich wußte, daß er tot war. »Einer von der Kriegsschar«, sagte ich. Ich hatte den Mann schon gesehen, doch seinen Namen kannte ich nicht. »Es ist Cradawc«, informierte mich Tegid, nach dem er sich vorgebeugt hatte, um das Gesicht des Mannes zu betrachten. Ich ließ den Leichnam vorsichtig zu Boden sinken und hielt dabei seinen Nacken fest, damit sein Kopf nicht auf den Boden aufschlüge. Als ich die Hand wieder hervorzog, war sie klebrig und feucht. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus, als ich die dunkle Substanz an meiner Hand betrachtete. »Sein Hinterkopf ist zerschmettert«, murmelte ich. Tegid ging zu dem zweiten Mann und drückte seine Fingerspitzen gegen seinen Hals. »Tot?« fragte ich. 82
Er antwortete mit einem Nicken und wandte sich dann sofort dem dritten Krieger zu. »Der hier auch?« »Nein«, antwortete Tegid, »dieser hier lebt noch.« »Wer ist es?« Der Mann stöhnte auf und hustete. »Es ist Gorew. Hilf mir, ihn nach draußen zu brin gen.« Vorsichtig trugen Tegid und ich den Mann aus der Halle und legten ihn draußen behutsam auf den Boden. Tegid streckte seine langen Finger über dem gefallenen Krieger aus und legte Gorews Kopf auf die Seite. Da sah ich die häßliche, blauschwarze Beule, die sich wie ein Ei über dem rechten Auge an der Schläfe hervorwölbte. Die Bewegung ließ ihn erneut aufstöhnen. »Go rew«, sagte Tegid laut und mit fester Stimme. Als er seinen Namen hörte, flatterten die Augenli der des Kriegers auf. »Ahhh...«, kam sein geflüstertes Stöhnen. »Nur ruhig, keine Sorge«, sagte Tegid zu ihm. »Wir sind hier, um dir zu helfen.« »Sie sind ... weg«, sagte Gorew, dessen Stimme nur noch ein schwaches Rasseln in der Kehle war. »Wer ist weg?« fragte Tegid, wie um Gorew mit seiner Stimme bei Bewußtsein zu halten. »Die Steine...« antwortete der Krieger. »Weg ... gestohlen...« »Das wissen wir, Gorew«, antwortete ich. Die Au 83
genlider des verletzten Kriegers flatterten. »Wer hat euch das angetan?« fragte ich. »Wer hat euch ange griffen?« »Ich, ahh ... habe jemanden gesehen ... ich dach te...« Gorew seufzte und schloß die Augen. »Den Namen, Gorew. Sag uns den Namen. Wer hat das getan?« Aber es hatte keinen Zweck; Gorew hatte wieder das Bewußtsein verloren. »Im Augenblick werden wir nichts mehr von ihm erfahren«, sagte Tegid. »Bringen wir ihn zu meiner Hütte.« Pebin, der zu Gorew hinabstarrte, rührte sich nicht, bis ich seinen Arm ergriff und ihn anwies, mitzuhel fen, den verwundeten Krieger hochzuheben. Wir trugen Gorew zu Tegids Hütte, wo Cynan und Bran uns inzwischen erwarteten. Drinnen wachte Sioned, eine Frau, die viel Geschick in der Krankenpflege hatte, über die Schwerstverwundeten. Sioned breitete für ihn eine Decke über eine Strohmatte, und wir legten Gorew neben Cynfarch. »Ich werde mich jetzt um ihn kümmern«, sagte sie. »Wer würde so etwas tun?« fragte Pebin, als wir aus der Hütte traten. Ja, wer? fragte ich mich. Zwanzig Tote hatten wir bisher gezählt - und wahrscheinlich würden noch weitere folgen - das halbe Caer lag in Schutt und Asche, und die Singenden Steine waren gestohlen. Der Schaden war ebenso schwer wie schmerzlich. Ich war entschlossen, die Diebe zu fassen, bevor die 84
Sonne unterging. Ich rief Bran und Cynan zu mir und informierte sie über den Diebstahl. »Die Diebe haben das Caer in Brand gesetzt und dann die allgemeine Verwirrung genutzt, um die Singenden Steine zu stehlen. Gorew und die anderen Wachen wurden angegriffen und überwältigt.« »Der Schatz von Albion gestohlen?« fragte Bran. »Und die Wachen?« »Zwei sind tot; Gorew lebt noch. Er wird uns viel leicht noch etwas sagen können.« Cynans blaue Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen. »Der das getan hat, ist ein toter Mann.« »Bevor wir die Spur aufnehmen, wissen wir nicht, wie viele beteiligt waren.« »Einer oder hundert«, murmelte Cynan, »das ist mir gleich.« »Bran«, sagte ich, während ich mich der Halle zu wandte, »ruf die Kriegsschar zusammen. Wir werden sofort mit der Suche beginnen.« Der Anführer der Raben rannte davon, und Cynan und ich machten uns auf den Weg zurück zur Halle. Als wir den Vorplatz erreichten, erklang das dröhnen de Schlachthorn, und wenige Augenblicke später folgten die Raben dem Ruf: Garanaw, Drustwn, Niall, Emyr, Alun. Auch Scatha kam, und kurz darauf erschien Bran mit zwanzig Kriegern. Alle sammelten sich um die kalte Feuerstelle. »Wir sind von Feinden angegriffen worden«, er 85
klärte ich und berichtete von dem Überfall während des Brandes. »Bisher haben wir zwanzig Tote, und andere sind schwer verletzt - darunter Cynfarch und Gorew. Die Singenden Steine sind gestohlen.« Auf diese Eröffnung folgte einspontaner Aufschrei. »Wir werden die Männer fassen, die das getan haben«, schwor ich, und ein Dutzend andere fielen in meinen Schwur ein. »Die Suche wird sofort beginnen.« Ich wandte mich an Bran Bresal, meinen Schlach tenführer, den Anführer des Rabenfluges. »Macht euch zum Aufbruch bereit! Wir reiten los, sobald die Pferde gesattelt sind.« Er zögerte und sah kurz zu Scatha hinüber; sie tauschten einen Blick aus, den ich nicht deuten konnte. »Nun?« »Es wird geschehen, wie du gesagt hast, Herr«, erwiderte Bran und berührte seine Stirn mit dem Handrücken. Dann rief er die Kriegsschar auf, ihm zu folgen, und sie eilten aus der Halle, um sich ihren verschiedenen Aufgaben zu widmen, und ließen mich allein mit Cynan und Scatha zurück. »Es tut mir leid, Cynan«, sagte Scatha und berührte den Arm des kräftigen Kriegers. »Die Blutschuld wird beglichen werden, Pen-yCat«, erwiderte er leise. »Zweifle nicht daran.« Der Schmerz in seiner Stimme war wie eine offene, blutende Wunde. Zu mir gewandt, sagte Scatha: »Ich möchte dir in 86
dieser Sache dienlich sein, Herr. Erlaube mir, die Kriegsschar zu führen und die Diebe zu fangen.« »Ich danke dir, Pen-y-Cat«, lehnte ich ab, »aber das ist meine Sache. Du wirst hier von größerem Nutzen sein. Tegid wird deine Hilfe brauchen.« »Dein Platz ist ebenfalls hier, Llew«, beharrte sie. »Es ist an der Zeit, daß du über dich selbst hinaus an die denkst, die von dir abhängig sind. Du brauchst Ruhe«, setzte Scatha nach. »Bleib hier, und herrsche über dein Volk.« Ihre Worte klangen bedeutungslos für mich. Zorn strömte heiß und mächtig durch meine Adern, und ich war nicht in der Stimmung, Rätsel zu entwirren. Nur eines sah ich ganz klar: Die Männer, die diese Schandtat an mir begangen hatten, würden gefaßt und verurteilt werden. »Ein Bad ist alles, was ich brau che«, brummte ich. »Das kalte Wasser wird mich wiederbeleben.« Mit Schmerzen in allen Gelenken schleppte ich mich zurück zu meiner Hütte, um zu baden und die Kleider zu wechseln, bevor wir aufbrachen. Ich stank nach abgestandenem Schweiß und Rauch, mein Haar war an Dutzenden Stellen angesengt, und meine Breecs und Stiefel sahen aus, als ob sie von feuerspei enden Insekten angegriffen worden wären. In der Hütte hielt ich mich gerade lange genug auf, um mir frische Kleider, ein Stück von der schweren Talgseife und den Leinenfetzen zu holen, den ich als Waschlap pen benutzte. Ich war gerade dabei, den Platz zu 87
überqueren, als Tegid aus seiner Hütte kam. Ich ging zu ihm. »Gorew wird sich vielleicht erholen«, sagte der Barde. »Ich werde mehr sagen können, wenn er aufwacht.« »Und Cynfarch?« fragte ich. »Der Tod ist stark, doch Cynfarch könnte sich als noch stärker erweisen«, erwiderte der Barde. »Die Schlacht wird entschieden sein, bevor der Tag um ist.« »So oder so, ich bin entschlossen, noch vor morgen um diese Zeit die Diebe zu fangen und die Steine zurückzubringen«, sagte ich. »Und du denkst daran, ihnen selbst nachzujagen?« fragte er scharf. »Natürlich! Ich bin der König. Es ist meine Pflicht.« Der Barde sträubte sich und machte den Mund auf, um Einwände zu erheben. Ich wollte sie nicht hören und schnitt ihm das Wort ab. »Spar dir den Atem, Tegid. Ich führe die Kriegsschar an, und damit hat es sich.« Ich drehte mich auf dem Absatz um und stapfte über den Platz davon, durchs Tor hinaus und hinunter zum Bootssteg. An einem Ende des Steges bildete das Felsfundament des Crannogs eine seichte Stelle, die von vielen als Waschplatz genutzt wurde. Aber außer mir war niemand dort. Ich streifte meine Kleider ab und glitt ins Wasser; 88
das eisige Prickeln auf meiner versengten Haut fühlte sich an wie Balsam. Dankbar ließ ich mich ins Wasser sinken und ließ mich auf dem Rücken treiben, bis auf Nase und Stirn völlig untergetaucht. Die Sonne stieg höher und brannte sich durch den dünnen, grauen Nebel, während ich mich mit der Seife zu schaffen machte. Ich wusch mir die Haare und schrubbte mit dem Tuch die Haut ab. Als ich wieder ins Wasser eintauchte, um mich abzuspülen, fühlte ich mich wie eine Schlange, die ihre alte, tote Haut abstreift. Ich schüttelte mir gerade das Wasser aus den Haa ren, als Goewyn kam. »Scatha hat mir gesagt, was geschehen ist«, sagte sie. Sie stand mit verschränkten Armen über mir auf dem Steg. Ihr Gesicht war mit Ruß verschmiert, ihr Haar zerzaust und voller Asche. Ihr ursprünglich weißes Kleid trug nun ein Leopardenmuster aus schwarzen und braunen Brandflecken. Ich wäre beinahe wie ein Lachs aus dem Wasser gesprungen, denn bis zu dem Augenblick, als ich sie erblickte, hatte ich vergessen, daß ich jetzt ein verheirateter Mann war und eine Frau hatte, die auf mich wartete. »Goewyn, es tut mir so leid, ich habe vergessen, daß -« »Sie sagt, daß du vorhast, mitzureiten«, fuhr sie kühl fort. »Wenn dein Volk oder das, was heute nacht hier geschehen ist, dir irgend etwas bedeutet, dann wirst du nicht gehen.« 89
»Aber ich muß gehen«, beharrte ich. »Ich bin der König, es ist meine Pflicht.« »Wenn du ein König bist«, sagte sie, jedes Wort einzeln betonend, »dann bleib hier und benimm dich wie ein König. Herrsche über dein Volk. Bau deine Festung wieder auf.« »Und die Singenden Steine? Und was ist mit den Dieben?« »Schicke deinen Schlachtenführer und deine Krie ger aus, um sie zurückzuholen. Das ist es, was ein wahrer König tun würde.« »Das ist mein Platz«, erwiderte ich und watete näher zu ihr hin. »Du irrst dich. Dein Platz ist hier bei deinem Volk. Du solltest dich nicht dabei sehen lassen, diese - diese Cynrhon zu jagen!« Sie benutzte ein Wort, das in Albion nur selten für einen anderen Menschen ver wendet wurde; ich hatte sie noch nie so wütend erlebt. »Stehst du über ihnen?« »Natürlich, Goewyn, aber ich -« »Dann zeige es!« fuhr sie mich an. »Sind diese Diebe Könige, daß es einen König braucht, um sie zu fangen?« »Nein, aber -«, begann ich, wurde jedoch sofort unterbrochen. »Hör mir zu, Llew Silberhand: Wenn du dich von deinem Feind daran hindern läßt, zu herrschen, dann ist er mächtiger als du - und ganz Albion wird es wissen.« 90
»Goewyn, bitte. Du verstehst das nicht.« »Ach nein?« fragte sie, ohne jedoch auf meine Antwort zu warten. »Wird dir Bran nicht bis zum letzten Atemzug dienen? Würde Cynan nicht auf dein Wort hin Berge versetzen? Würden die Raben nicht dir zu Gefallen die Sonne und die Sterne vom Himmel holen?« »Hör zu - wenn ich überhaupt ein König bin, dann nur, weil die Singenden Steine mich dazu gemacht haben.« »Du bist nicht nur irgendein König. Du bist der Aird Righ! Du bist Albion. Darum kannst du nicht gehen.« »Goewyn, bitte. Sei doch vernünftig.« Ich muß einen bedauernswerten Anblick geboten haben, wie ich so zitternd und triefend bis zum Nabel in kaltem Wasser dastand, denn sie wurde ein wenig milder. »Benimm dich doch nicht wie ein Mann ohne Rang und Macht«, sagte sie, und ich begann, ihren Gedan kengang zu begreifen. »Wenn du ein König bist, mein Geliebter, dann sei ein König. Zeige deine Autorität und Macht. Zeige deine Weisheit: Sende Bran und den Rabenflug. Ja. Sende Cynan. Sende Calbha und Scatha und hundert Krieger. Sende alle! Aber geh nicht selbst. Mach dich nicht selbst zu dem, was du zerstören willst.« »Du klingst genau wie Tegid«, erwiderte ich in einem - ungeschickten - Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern. Es erschien mir so absurd für uns beide, 91
wütend aufeinander zu sein. »Dann solltest du auf deinen weisen Barden hö ren«, erwiderte sie herrisch. »Er gibt dir einen guten Rat.« Immer noch stand Goewyn mit vor der Brust ver schränkten Armen da, betrachtete mich mit unerbittli chen Augen und wartete auf meine Antwort. Ich war geschlagen, und ich wußte es. Sie hatte recht: Ein wahrer König würde nie die Ehre seiner Herrschaft aufs Spiel setzen, indem er quer durch sein Reich hinter Verbrechern herjagte. »Meine Fürstin, ich beuge mich«, sagte ich und breitete die Arme aus. »Außerdem zittere und friere ich. Ich werde tun, was du sagst, nur laß mich aus dem Wasser kommen, bevor ich erstarre.« »Das sei ferne von mir, daß ich dich hindere«, sagte sie, und dabei schwangen sich kaum merklich ihre Mundwinkel nach oben. »So sei es.« Ich machte einen weiteren Schritt auf sie zu und kletterte aus dem Wasser. Sie bückte sich, schüttelte den Umhang und breitete ihn aus, so daß ich mich darin einhüllen konnte. Ich wandte ihr den Rücken zu, und sie legte mir den Umhang um die Schultern. Ihre Hände wanderten langsam an meinem Rücken hinab, und dann schlang sie ihre Arme um meine Taille. Ich drehte mich in ihren Armen um, legte meine Arme um sie und zog sie dicht an mich. »Du wirst ganz naß«, sagte ich. »Ich kann ein Bad gebrauchen«, erwiderte sie, und 92
dann, als ihr einfiel, wie zutreffend das war, was sie gerade gesagt hatte, stieß sie mich sofort von sich und hielt mich auf Armeslänge ab. »Ich habe mich gewaschen«, protestierte ich. »Aber ich nicht.« Sie tat einen raschen Schritt zu rück. »Warte -« »Komm nach Hause, Llew«, rief sie, »aber erst dann, wenn du Tegid gesagt hast, daß du in Dinas Dwr bleibst, und wenn du den Rabenflug ausgesandt hast, deinen Willen zu erfüllen.« »Goewyn, warte, ich gehe mit dir -« »Ich werde auf dich warten, Llew«, rief sie und verschwand durch das Tor. Ich zog meine Breecs an, steckte meine Arme in die Ärmel des Siarcs, ergriff meine Stiefel und eilte zurück zu Tegids Hütte, um ihn zu informieren, daß ich meine Pläne geändert hatte.
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Cynan Zwei-Torcs Ich rief Tegid aus seiner Hütte. Er sah alt und ge beugt aus, als er herauskam; sein dunkles Haar war grau vor Asche, und sein Gesicht wirkte ebenso farblos. Seine Augen waren vom Rauch und von der Erschöpfung blutunterlaufen. Er mußte ununterbro chen auf den Beinen gewesen sein. Ich fühlte mich sofort schuldig, weil ich ein Bad genommen und den anderen die Arbeit überlassen hatte. »Weiser Barde«, sagte ich, »ich habe meine Mei nung geändert. Ich bleibe in Dinas Dwr. Ich werde Bran und den Rabenflug senden, um die Diebe zu fangen und die Singenden Steine zurückzubringen.« »Eine kluge Entscheidung, Herr«, sagte Tegid mit einem knappen, befriedigten Nicken. »Ja, so hat man mir gesagt.« In diesem Augenblick rief mich Emyr Lydaw, der herbeigerannt kam, um mir zu sagen, daß die Kriegs schar bereit sei. »Versammelt euch am Steg«, befahl ich. »Tegid und ich werden euch dort treffen.« »Komm«, sagte ich zu Tegid, nahm ihn beim Arm und führte in auf die Halle zu, »wir werden etwas essen, bevor wir zu ihnen stoßen. Der König und sein 94
Barde dürfen nicht vor aller Augen vor Hunger in Ohnmacht fallen.« Mit dieser Einstellung zeigte sich Tegid sehr zu frieden - sie zeigte, daß ich anfing, wie ein König zu denken. Wir hielten uns lange genug auf für ein Stück Brot und einen Schluck von dem gesüßten Wasser, das noch von der Hochzeitsfeier übrig war. Erfrischt machten wir uns auf den Weg zum Landungssteg. Die Raben, versengt und abgerissen von den Mü hen der Nacht, waren gerade dabei, ihre letzten Vorräte in die Boote zu verladen. Cynan stand ein paar Schritte abseits, in jeder Hand einen Speer, und starrte auf das Wasser. Alun und Drustwn begrüßten mich, als wir näher kamen. Bran wandte sich von seiner Arbeit ab und sagte: »Alles ist bereit, Herr. Wir warten auf deinen Befehl.« »Ich werde hier gebraucht - ich werde euch nicht begleiten. Und ihr braucht meine Hilfe nicht, um diese niederträchtigen Verbrecher zu fangen«, erklärte ich. »Ich gebe euch den Auftrag, diese Arbeit rasch zu erledigen und in aller Eile zurückzukehren.« Bran, der sichtlich erleichtert darüber war, daß ich mein Vorhaben geändert hatte, erwiderte: »Ich habe es gehört und werde gehorchen, Herr.« Cynan, mit zusammengebissenen Zähnen und töd lich drohendem Gesicht, sagte nichts, sondern starrte über den See hinweg zum Ufer, wo Niall und Gara naw mit den Pferden warteten. »Gute Jagd, Bruder«, sagte ich zu ihm. 95
Er nickte kurz und stieg in eines der Boote. Die andern folgten ihm, und die Boote legten ab. Wir riefen ihnen Lebewohl zu, und die Boote entfernten sich. Doch die Ruderer hatten noch keine drei Schläge getan, als Sioned, die Krankenpflegerin, am Tor erschien. »Penderwydd!« rief sie und kam angerannt, als sie ihn sah. »Was ist, Sioned?« Mit sorgenvoller Unruhe in den Augen drehte sich Tegid zu ihr um. »Er ist tot«, sagte sie gehetzt. »König Cynfarch ist gestorben, Penderwydd. Eleri ist bei ihm. Er hat einfach aufgehört zu atmen, und dann - war es vor bei.« Tegid wollte davoneilen; er machte zwei rasche Schritte, hielt dann inne und sah sich nach den davon fahrenden Booten um. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch ich kam ihm zuvor. »Geh«, sagte ich ihm. »Ich werde es Cynan sagen.« Während der Oberste Barde auf das Tor zueilte, rief ich die Boote zurück. »Cynan«, sagte ich, als er in Hörweite war, »es ist dein Vater.« Er sah die Gestalten Tegids und der Frau davonei len und erriet das Schlimmste. »Ist mein Vater tot?« »Ja, Bruder. Es tut mir leid.« Bei meinen Worten stand Cynan so plötzlich im Boot auf, daß es beinahe gekentert wäre. Sobald die Ruderer das Gefährt nahe genug an den Steg gesteuert 96
hatten, sprang Cynan aus dem Boot und rannte auf das Tor zu. Ich packte ihn, als er an mir vorbei kam. »Cynan, ich schicke den Rabenflug ohne dich los.« Sein Gesicht verfinsterte sich, und er wollte prote stieren, doch ich blieb hart. »Ich weiß, wie du dich fühlst, Bruder, aber du wirst hier gebraucht werden. Dein Volk ist jetzt ohne König. Dein Platz ist bei deinen Leuten.« Er blickte von mir weg und focht in seinem Innern einen heftigen Kampf aus. »Laß sie gehen, Cynan«, drängte ich ihn. »Es ist Brans Sache, mir in dieser Sache zu dienen. Wir müssen bleiben.« Cynans Blick fuhr von mir zum Boot hin und wie der zurück. Ohne ein Wort drehte er sich um und eilte davon. Vom Boot aus rief Bran: »Sollen wir auf ihn war ten. Herr?« »Nein, Bran«, erwiderte ich und sandte den Anführer der Raben los. »Cynan wird euch jetzt nicht begleiten.« Ich beobachtete, wie die Boote am anderen Ufer landeten und die Packtiere rasch beladen wurden. Die Raben bestiegen ihre Pferde; Bran erhob seinen Speer, und die Krieger setzten sich entlang dem Ufer in Bewegung. Ich hob meine silberne Hand zum Ab schied und hielt sie erhoben, bis sie ein gutes Stück weit weg waren. Dann kehrte ich um und machte mich auf den Rückweg zur Halle. In Wahrheit war ich insgeheim froh, nicht mit ihnen zu reiten. Ich war 97
erschöpft bis auf die Knochen und sehnte mich nur noch nach Schlaf. Statt dessen kehrte ich zu Tegids Hütte zurück, wo Cynan seine Wache am Totenbett seines Vaters aufgenommen hatte. »Hier gibt es nichts zu tun«, sagte Tegid zu mir. »Du brauchst Ruhe, Llew. Geh jetzt, solange du kannst; ich werde dich rufen, wenn du gebraucht wirst.« Ich zögerte widerstrebend, doch der Barde legte seine Hand fest auf meine Schulter, drehte mich um und schickte mich weg. Ich setzte mich über den kleinen Platz hinweg in Richtung meiner Hütte in Bewegung, bis mir einfiel, daß ich jetzt ein anderes Zuhause hatte. Ich bog ab und ging zu der Hütte, die für Goewyn und mich vorbereitet worden war. Unsere Hochzeitsnacht schien schon eine Ewigkeit zurückzu liegen. Goewyn wartete drinnen auf mich. Sie hatte gebadet und ein frisches weißes Kleid angezogen. Ihr Haar hing immer noch feucht vom Waschen herab. Sie saß auf dem Bett und kämmte sich mit einem weitzahnigen, hölzernen Kamm die Knoten aus dem Haar. Als ich eintrat, lächelte sie, stand auf und empfing mich mit einem Kuß. Dann ergriff sie mit beiden Händen meine Silberhand, führte mich zum Bett, nahm mir den Umhang ab und drückte mich sanft auf die dick aufgeschichteten Felle hinab. Sie streckte sich neben mir aus. Ich legte meine Arme um sie und schlief sofort ein.
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Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. In der Hütte war es dunkel, und im Caer herrschte Stille. Bleiches Mond licht schimmerte unter der Ochsenhaut am Eingang durch. Meine Bewegung hatte Goewyn geweckt, und sie legte mir ihre warme Hand in den Nacken. »Es ist Nacht«, flüsterte sie. »Leg dich hin und schlaf weiter.« »Aber ich bin nicht mehr müde«, sagte ich und ließ mich auf einen Ellbogen nieder. »Ich auch nicht«, sagte sie. »Bist du hungrig?« »Wie ein Bär.« »Es ist noch etwas Hochzeitsbrot da. Und wir ha ben Met.« »Wunderbar.« Sie stand auf und ging zu der kleinen Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Ich beobachtete, wie sie sich anmutig wie eine Elfe im bleichen Mondlicht hinknie te. Nach ein paar Momenten flackerte eine gelbe Flammenknospe auf, und in dem Ring aus Steinen erblühte ein Feuer. Sofort war das Innere unserer Laube in ein golden schimmerndes Licht getaucht. Goewyn holte den Metschlauch und einen Becher und zwei kleine Laibe Banys Bara. Dann ließ sie sich wieder neben mir auf dem Bett nieder, brach das Brot und steckte mir den ersten Bissen in den Mund. Daraufhin brach auch ich ein Stück ab und steckte es ihr in den Mund. Wir aßen den ersten Laib, dann den zweiten; danach zogen wir den Korken aus dem Metschlauch und legten uns 99
zurück, um seine Süße und Wärme zu genießen und den goldenen Nektar in einer Serie von Küssen miteinander zu teilen, ein jeder leidenschaftlicher als der vorige. Ich konnte nicht länger warten. Ich legte den Metschlauch zur Seite, streckte den Arm aus und zog sie an mich. Sie kam in meine Arme, ganz weich und warm, und wir verloren uns in der schwindelerregen den Wonne unserer Körper. Da ich wußte, daß meine metallene Hand kalt sein mußte, tat ich mein Bestes, um sie nicht damit zu berühren - was mir nicht leicht fiel, denn ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihr Haar zu streicheln und ihre Haut zu liebkosen. Doch Goewyn mit ihrer Liebe nahm mir die Sorge. Sie kniete sich neben mir hin, öffnete ihr Kleid und ergriff meine Silberhand mit beiden Händen. »Sie ist jetzt ein Teil von dir«, sagte sie mit weicher, leiser Stimme, »darum soll sie auch ein Teil von mir sein.« Damit hob sie meine metallene Hand und drückte sie sich zwischen ihre herrlichen Brüste. Diese Zärtlichkeit erfüllte mich mit Staunen. Nun kannte meine Leidenschaft keine Schwelle mehr. Goewyn war mein ganzes Weltall, und sie war genug. Später gossen wir Met in einen goldenen Kelch und tranken ihn auf dem Bett. Unsere Hochzeitsnacht war, wenn sie auch frühzeitig unterbrochen worden war, so schön gewesen, wie wir es uns nur hätten erträumen können. 100
»Mir ist, als hätte ich bis jetzt nie gelebt«, sagte ich zu ihr. Goewyns Lippen kräuselten sich zu einem reizen den Lächeln, und sie hob den Becher an ihre Lippen. »Denke nicht, die Nacht wäre schon zu Ende«, sagte sie. Und so liebten wir uns noch einmal, voller Leiden schaft, gewiß, aber ohne die Hast unserer ersten Vereinigung; diesmal konnten wir es uns erlauben, einander gemächlicher zu genießen. Irgendwann kurz vor der Dämmerung schliefen wir eng umschlungen ein. Aber ich weiß nicht mehr, wie mir die Augen zufielen. Ich erinnere mich nur an Goewyn, ihren süßen Atem auf meiner Haut und die Wärme ihres Körpers neben mir. Jene Nacht war nur eine kurze Erholung vor den Sorgen und Mühen der folgenden Tage. Dennoch erhob ich mich am nächsten Morgen mit dem Gefühl, unbesiegbar und allem, was die Zukunft bringen mochte, mehr als gewachsen zu sein. Es gab Arbeit, und ich war begierig, damit anzufangen. Ich fand Tegid und einen ernsten Cynan in der Halle, wo sie beim Brot saßen und über Cynfarchs Begräbnis sprachen. Es war entschieden worden, daß Cynan mit seinen Leuten nach Dun Cruach zurück kehren sollte, um seinen Vater zu begraben. Sie mußten sofort aufbrechen. »Ich wünschte, es wäre anders«, sagte Cynan zu 101
mir. Seine Augen waren rot, und seine Stimme war heiser. »Ich hatte hierbleiben und mithelfen wollen, das Caer wiederaufzubauen.« »Ich weiß, Bruder, ich weiß«, antwortete ich und spürte seine Trauer. »Aber wir haben Hände genug für die Arbeit. Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen.« Wir wandten uns der Frage nach den Reisevorräten für seine Leute zu. Wegen des Feuers und der langen Trockenheit, die vorausgegangen war, waren unsere Vorräte nicht auf dem Stand, wie es wünschenswert gewesen wäre. Dennoch wollte ich sie nicht nur für die Reise ausreichend versorgen, sondern auch für einige Zeit danach. Fürst Calbha, der ebenfalls bald in seine eigenen Ländereien zurückkehren würde, beaufsichtigte das Beladen der Planwagen der Galanae. Nach einer Weile trat Calbha in die Halle, um zu verkünden, daß alles fertig sei; wir erhoben uns widerstrebend und folgten ihm hinaus. »Ich werde dich benachrichtigen, wenn wir die Diebe gefaßt haben«, versprach ich, als wir hinaus auf den Vorplatz traten. »Bis zu jenem Tag«, erwiderte Cynan ernst, »werde ich weder Bier noch Met trinken, und in der Halle des Königs wird kein Feuer brennen. In Dun Cruach wird es dunkel bleiben.« Einige der Krieger der Galanae, die in der Nähe standen, hörten Cynans Schwur und kamen näher. »Wir möchten, daß ein König uns nach Hause führt«, sagten sie. »Es wäre nicht richtig, wenn wir in unser 102
Land zurückkehrten, ohne daß ein König uns voraus zieht.« Als Tegid ihre Bitte hörte, verbarg er seinen Kopf in einer Falte seines Umhangs und sagte: »Eure Bitte ist ehrenwert. Habt ihr einen Mann von Stand, der würdig wäre, König zu sein?« Die Galanae antworteten: »Ja, den haben wir, Pen derwydd.« »Nennt mir diesen Mann, und bringt ihn zu mir.« »Er steht bereits neben dir, Penderwydd«, sagten sie. »Es ist Cynan Machae und kein anderer.« Tegid drehte sich um und legte seine Hand auf Cynans Schulter. »Gibt es etwas, das dich daran hindern könnte, den Thron deines Vaters zu bestei gen?« fragte ihn Tegid. Cynan fuhr sich mit der Hand durch das drahtige, rote Haar und dachte einen Moment lang nach. »Nicht, daß ich wüßte«, antwortete er schließlich. »Dein Volk hat dich erwählt«, sagte Tegid, »und ich glaube nicht, daß die Wahl auf einen Besseren hätte fallen können. Als Oberster Barde von Albion werde ich dir das Königtum übertragen, wenn du es annehmen willst.« »Ich werde es mit Freuden annehmen«, erwiderte er. »Es wäre besser, deine Herrschaft mit dem richti gen Zeremoniell zu beginnen«, erklärte Tegid. »Aber die Reise darf nicht aufgeschoben werden, darum werden wir dich jetzt gleich zum König machen.« 103
Cynans Krönung wurde mit dem geringstmöglichen Zeremoniell vollzogen. Scatha und Goewyn standen bei mir, Calbha sah zu, und die Galanae versammelten sich dicht um uns, während Tegid die Worte sprach. Es war eine schlichte Angelegenheit und rasch vorbei - die einzige Unterbrechung kam, als Tegid sich anschickte, Cynan den Torc abzunehmen und ihn durch den zu ersetzen, den Cynfarch getragen hatte. »Der goldene Torc ist das Symbol deiner Königs herrschaft«, sagte Tegid zu ihm. »Daran werden alle Menschen erkennen, daß du ein König bist und Achtung und Ehre verdienst.« Cynan stimmte zu, wollte aber seinen silbernen Torc nicht hergeben. »Gib mir den goldenen Torc, wenn du willst, aber den Torc, den mir mein Vater gegeben hat, werde ich nicht aufgeben.« »Dann trage ihn stets - und diesen dazu.« Mit die sen Worten legte der Barde Cynan den goldenen Torc um den Hals, hob seine Hände empor und rief: »Ich rufe dich zum König der Galanae in Caledon aus. Heil dir, Cynan Zwei-Torcs!« Alle lachten darüber - einschließlich Cynan, der von diesem Augenblick an seinen neuen Namen ebenso stolz trug wie seine beiden Torcs. Ich umarmte ihn - Scatha und Goewyn ebenso - und im nächsten Moment mußten wir Lebewohl sagen. Cynan war begierig, in den Süden zurückzukehren, um seinen Vater zu begraben und seine Herrschaft zu beginnen. Wir setzten zur Grasebene über und beglei 104
teten ihn zu Pferd bis zum Druim Vran, wo wir auf dem Bergkamm die Galanae an uns vorüberziehen ließen. Als der letzte Planwagen den Kamm erreicht und seinen langen, mühsamen Weg an der anderen Seite hinunter begonnen hatte, wandte sich Cynan zu mir und sagte: »Es tut mir jetzt schon leid, daß ich gehen muß, dabei bin ich noch nicht einmal weg. Die Last eines Königs ist wahrhaftig schwer.« Er seufzte tief. »Dennoch glaube ich, daß du überleben wirst.« »Du hast gut reden«, erwiderte er, »aber ich habe keine schöne Frau, die mich heiratet, und muß die Last alleine tragen.« »Ich würde dich ja heiraten, Cynan«, erbot sich Goewyn freundlich, »aber ich habe schon Llew zum Mann. Doch ich glaube, du wirst nicht lange unter dem Mangel zu leiden haben, daß du keine Braut hast. Ein König mit zwei Torcs muß als Ehemann doch sehr begehrt sein.« Cynan verdrehte die Augen. »Ach! Ich bin noch keinen ganzen Tag König, und schon schmieden gerissene Weibsbilder Pläne, wie sie mich um meine Schätze bringen können!« »Bruder«, sagte ich, »schätze dich glücklich, wenn du eine Frau findest, die dich heiraten will, zu wel chem Preis auch immer. Und wenn du zehn Torcs für eine Frau hergeben müßtest, wäre es nicht einer zu viel.« »Zweifellos hast du recht«, gab Cynan zu. »Doch 105
bis ich eine Frau finde, die ebenso würdig ist wie die, die du gefunden hast, werde ich meine Schätze behalten.« Goewyn beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange. Dann winkten wir ihm zum Abschied zu und sahen ihm nach, bis er das Tal unter uns erreicht und sich an die Spitze seiner Leute gesetzt hatte. Auf dem Weg zurück zum See ritt Goewyn schweigsam neben mir her. Ich wandte mich zu ihr und sagte: »Heirate mich, Goewyn.« Sie lachte. »Aber ich habe dich doch schon geheira tet, Geliebter.« »Ich wollte es dich nur noch einmal sagen hören.« »Dann höre mich an, Llew Silberhand«, sagte sie. Sie richtete sich im Sattel auf und hob stolz ihren Kopf. »Ich heirate dich heute, und morgen, und an jedem Tag, bis die Tage zur Neige gehen.«
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Die Rückkehr der Raben Zielstrebig und in flottem Tempo machten wir uns sofort daran, Dinas Dwr wiederaufzubauen. Das Volk schien besonders begierig darauf zu sein, alle Spuren des Feuers zu beseitigen. Das Volk, mein Volk - mein zusammengeflickter Umhang von einem Clan, bestehend aus verschiedenen Stämmen und Linien, Kriegern, Bauern, Handwerkern, Familien, Witwen, Waisen, jeder einzelne davon ein Flüchtling - arbeite te unermüdlich, um die Schäden am Crannog zu reparieren und alles wieder in Ordnung zu bringen. Während ich an ihrer Seite schuftete, begriff ich allmählich, daß Dinas Dwr für sie mehr war als nur eine Zuflucht; es war zu ihrer Heimat geworden. Die alten Bande waren entweder schon zerrissen oder im Begriff zu zerreißen, und eine neue Zusammengehö rigkeit wurde geschmiedet: Im Schweiß unserer gemeinsamen Mühe wurden wir zu einem einzigen Volk, einem Clan, der ebenso eigenständig war wie alle anderen Stämme in Albion. Bald begann das Leben im Crannog, das durch das Feuer und die Verwüstungen des Großen Hundes so grausam gebeutelt worden war, wieder zu seinem 107
alten Rhythmus zurückzufinden. Tegid rief seine Mabinogi zusammen und nahm den täglichen Unter richt in der Bardenkunst wieder auf. Auch Scatha sammelte ihre Schüler, und auf dem Übungsfeld hallten die Rufe der jungen Krieger und die Schläge hölzerner Schwerter auf lederne Schilde. Die Bauern kehrten zu ihren von der Sonne verbrannten Feldern zurück, in der Hoffnung, nun, da die Dürre zu Ende war, noch etwas von der Ernte zu retten. Die Hirten der Rinder und Schafe machten sich an die Arbeit, ihre Vorräte aufzustocken, als die Wiesen wieder zu grünen begannen. Als ich die Wiederaufbauarbeiten begutachtete, schien mir, daß alle entschlossen waren, die Schreck nisse der letzten Zeit so rasch wie möglich hinter sich zu lassen, und daß sie sich von den verhaßten Erinne rungen zu befreien versuchten, indem sie sich ins Zeug legten, um Dinas Dwr zu einem Paradies des Nordens zu machen. Doch die Wunden gingen tief, und trotz des fleißigen Eifers der Leute würde es sehr lange dauern, bevor Albion geheilt war. Das, sagte ich mir, war der Grund, warum ich bleiben mußte: Ich mußte dafür sorgen, daß das Land zu neuem Leben erstand und das Volk erlöst wurde. Ja, die Heilung hatte begonnen; zum ersten Mal seit Jahren konnten Männer wieder mit einem anderen Gefühl als tiefster Angst und Verzweiflung in die Zukunft blicken. Und so hielten wir alle es für ein günstiges Zeichen, als die Raben nur wenige Tage nach ihrem Aufbruch 108
mit ihrem Gefangenen zurückkehrten. »Seht ihr!« sagten die Leute zueinander. »Niemand kann gegen Silberhand bestehen! All seine Feinde werden am Ende überwältigt.« Wir bereiteten den Raben ein herzliches Willkom men und jubelten über den offensichtlichen Erfolg ihres Unternehmens: Mit ihnen ritt ein verdrossener, niedergeschlagener, einzelner Gefangener - er mußte mit dem Gesicht nach hinten im Sattel sitzen, und man hatte ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihm seinen Umhang um Kopf und Schultern gewickelt. »Seid gegrüßt, Rabenflug!« rief ich, als das Boot ans Ufer lief. Einige von uns waren vom Crannog hergerudert, um sie zu empfangen; wir kletterten ans Ufer, während die Raben von ihren Pferden stiegen. »Wie ich sehe, hattet ihr eine erfolgreiche Jagd.« »Die Jagd war kurz und die Beute groß«, bestätigte Bran knapp, »jedoch nicht ohne Opfer, wie Niall dir gleich berichten wird.« »Inwiefern?« fragte ich, drehte mich um und sah den blutgetränkten Verband unter Nialls Umhang. Der verletzte Rabe beschwichtigte mich mit einem Abwinken - obwohl schon diese kleine Bewegung ihn zusammenzucken ließ. »Der Übereifer hat mich unvorsichtig werden lassen, Herr«, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Das wird nicht wieder geschehen, das versichere ich dir. Doch ich hatte Glück; der Schwerthieb erwischte mich, als ich gerade 109
stürzte. Es hätte schlimmer sein können.« »Beinahe hätte sein Kopf seinem Hals die Freund schaft aufgekündigt«, informierte mich Alun Tringad. »Freilich, wer könnte entscheiden, ob das besser oder schlechter wäre?« Dies löste Gelächter in der kleinen Schar aus, die sich versammelt hatte, um die Raben für ihren Erfolg zu feiern und zu erfahren, wer der Übeltäter war, den sie gefangen hatten. »Ein äußerst unangenehmer Gefangener ist das«, bestätigte Bran. »Er wählte den Tod und bestand darauf, daß wir ihn dabei begleiten.« »Wir konnten ihn überraschen«, warf Drustwn ein, »sonst hätte er sicherlich zwei oder mehr von uns mit hinabgenommen.« Erst jetzt bemerkte ich, daß auch Drustwn und Emyr verletzt waren: Drustwn hielt seinen Arm dicht an den Leib gepreßt, und Emyrs Bein war kurz über dem Knie in einen dicken Verband gehüllt. Als ich mich nach ihren Verletzungen erkundigte, versicherte mir Drustwn, sie würden erheblich schneller heilen als der Stolz ihres Gefangenen, der seiner Meinung nach unwiederherstellbar gelitten hatte. »Wir hätten es schwerer gehabt, wenn er nicht auf dem feuchten Gras ausgeglitten und auf den Kopf gefallen wäre«, fügte Garanaw hinzu, wobei er den Ablauf mit einer Handbewegung veranschaulichte, was wiederum alle zum Lachen brachte. Freilich klang das Lachen alles andere als fröhlich; sie lachten 110
hauptsächlich aus Erleichterung, und auch, um den Gefangenen noch weiter zu demütigen. Keiner vergaß auch nur für einen Augenblick das abscheuliche Verbrechen, das uns angetan worden war. »Ich bin froh, daß keiner von euch ernsthafter ver letzt worden ist«, sagte ich ihnen. »Euer Opfer wird nicht unvergolten bleiben. Ihr alle«, sagte ich und hob meine silberne Hand zu ihnen hin, »habt euch eine stattliche Belohnung und die gestiegene Achtung eures Königs verdient.« Bran wollte sich mit dem letzteren zufriedengeben, doch Alun gestand offen, daß ihm sein Anteil am ersteren nicht unwillkommen sei. Der Gefangene, der bis dahin ein wütendes Schweigen gewahrt hatte, erwachte wieder zum Leben. Er drehte sich mühsam im Sattel um und schrie trotzig: »Laßt mich frei, ihr Hundesöhne! Dann werden wir sehen, wie ihr in einem gleichen Kampf abschneidet!« Bei diesen Worten erfaßte ein eiskalter Hauch mein Herz - nicht wegen des Gesagten, sondern wegen der Stimme selbst. Ich kannte diesen Mann. »Holt ihn herunter«, befahl ich. »Und nehmt ihm den Umhang ab. Ich will sein Gesicht sehen.« Die Raben zerrten den Gefangenen grob aus dem Sattel und zwangen ihn vor mir auf die Knie. Bran ergriff einen Zipfel des Umhangs, löste den Knoten und zog den Umhang weg. Darunter kam ein Gesicht zum Vorschein, das ich nie wieder in meinem Leben hatte sehen wollen. 111
Paladyr hatte sich nicht sehr verändert, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte: in der Nacht, als er Meldryn Mawrs Herz mit einem Dolch durchbohrt hatte. Sicher, ich hatte einen kurzen Blick auf ihn geworfen, als er auf Ynys Sci auf der Klippe gestanden und Gwenllian in den Tod geschleudert hatte, aber damals hatte ich ihn nicht richtig sehen können. Als er jetzt vor mir kniete, war ich von neuem erstaunt über seine ungeheure Größe - jedes seiner Gliedmaßen war gewaltig, und seine muskelbepackten Schultern lagen auf einem Oberkörper, der aussah wie aus dem Stamm einer Eiche gehauen. Selbst Männer wie Bran, Drustwn und Alun Tringad wirkten zierlich neben dem ehemaligen Meisterkämpfer Prydains. Freilich hatte er sich nicht kampflos ergeben, und die Raben waren nicht besonders zimperlich mit ihm umgegangen. Eine häßliche, purpurne Beule wölbte sich an einer seiner Schläfen, seine Nase war ge schwollen und seine Unterlippe aufgespalten. Den noch war er so umwerfend arrogant wie eh und je, und sein feuriger Trotz war ungetrübt. »Hol Tegid«, sagte ich zu dem Mann, der am näch sten bei mir stand, ohne Paladyr den Rücken zuzukeh ren. »Sag ihm, er soll sofort kommen.« »Der Oberste Barde ist bereits hier«, erwiderte der Mann. »Er kommt gerade.« Ich drehte mich um und sah Tegid und Calbha auf uns zueilen. Als sie Paladyr vor mir knien sahen, erstarrten beide. 112
Tegid betrachtete den trotzigen Gefangenen mit grimmiger Befriedigung. Als er den Obersten Barden von Albion sah, preßte Paladyr die Lippen zusammen, und Bosheit loderte in seinen haßerfüllten Augen. Nach einem Augenblick wandte sich Tegid an Bran. »Hatte er die Singenden Steine bei sich?« »Die hatte er, Penderwydd«, erwiderte Bran. Er winkte Drustwn, der einen ledernen Beutel hinter seinem Sattel hervorholte und zu uns brachte. »Wir haben ihn damit gefangen«, sagte Garanaw. »Und wir freuen uns, sie an ihren rechtmäßigen Platz in Dinas Dwr zurückzubringen.« Er öffnete die Kiste kurz, um uns zu zeigen, daß die Steine tatsächlich noch darin waren; dann übergab er die Kiste in Tegids Obhut. »War er allein? Habt ihr jemanden bei ihm gese hen?« fragte Fürst Calbha. Ich beobachtete Paladyrs Gesicht genau, doch er bewahrte eine versteinerte Miene, ohne auch nur das leiseste Anzeichen zu geben, daß das Gesagte ihn betraf. »Nein, Herr«, antwortete der Anführer der Raben. »Wir haben das ganze Gebiet durchsucht und den Pfad hinter uns gut beobachtet. Wir haben kein Anzeichen gesehen, daß jemand bei ihm war.« Ich wandte mich an einige der Männer, die sich mit uns versammelt hatten, und sagte: »Macht eines der Lagerhäuser hier am Ufer für unseren Gefangenen bereit, denn ich werde nicht zulassen, daß er noch einmal einen Fuß auf das Crannog setzt.« 113
Zu Fürst Calbha sagte ich: »Sende deinen schnell sten Reiter nach Dun Cruach. Laß Cynan ausrichten, daß wir den Mann gefangen haben, der für den Tod seines Vaters verantwortlich ist, und daß wir seine Rückkehr erwarten, damit der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann.« »Es wird geschehen, Silberhand«, erwiderte der König der Cruin. »Er ist erst vor wenigen Tagen aufgebrochen - vielleicht holen wir ihn noch ein, bevor er Dun Cruach erreicht.« Dann rief Calbha einen seiner Clansleute zu sich, und die beiden gingen sofort davon. »Was wirst du mit den Steinen des Liedes tun?« fragte Tegid, der den Beutel in der Hand hielt. »Ich weiß einen guten Platz für sie«, antwortete ich und tippte mit dem Finger auf den Beutel. »So leicht werden sie nicht wieder gestohlen.« Nachdem wir zwanzig Krieger zur Bewachung unseres Gefangenen abgeordnet hatten, kehrten Tegid, Calbha und die Raben mit mir zur Halle zurück, wo ich auf die Feuerstelle in der Mitte des großen Rau mes deutete. »Hebt den Herdstein an«, sagte ich, »und grabt die Singenden Steine darunter ein. Dann wird sie niemand mehr nehmen können, ohne daß es das ganze Crannog merkt.« »Gut gesprochen, Herr«, stimmte Bran zu. Man brachte Werkzeuge, und nach vielen Mühen wurde der gewaltige Herdstein in der Mitte der Halle ange hoben und gehalten, während darunter ein kleines 114
Loch gegraben wurde. Dann legten wir die Eichenki ste in das Loch und ließen den Herdstein wieder hinab. »Alle sollen unsere Zeugen sein!« erklärte Tegid und hob seine Hände zur Verkündigung. »Nun ist Dinas Dwr auf einem unerschütterlichen Fundament errichtet.« Ich entließ die Raben zu ihrer wohlverdienten Ruhe und rief dann Scatha und Goewyn in die Halle, um sie zu informieren, daß der Dieb, der für den Tod Cyn farchs, den Raub der Steine und die Brandstiftung am Caer verantwortlich war, gefaßt worden sei. »Es ist Paladyr«, sagte ich. Goewyn entfuhr ein kleiner Aufschrei; Scathas Gesicht verhärtete sich. »Wo ist er?« fragte sie mit spröder Stimme. »Er hatte die Singenden Steine bei sich. Es besteht kein Zweifel, daß er der Schuldige ist.« »Wo ist er?« fragte sie wieder, jedes Wort eine Scherbe gefrorenen Hasses. »Wir haben ihn in ein Lagerhaus am Ufer ge sperrt«, antwortete ich. »Er wird Tag und Nacht bewacht werden, bis wir entschieden haben, was mit ihm geschehen soll.« Sie machte sofort kehrt. »Scatha, warte!« rief ich ihr nach, doch sie ließ sich nicht aufhalten. Als ich sie einholte, stand Scatha vor dem Lager haus und herrschte die Wachen an, die Tür zu öffnen und sie hineinzulassen. Sie waren erleichtert, als sie 115
mich kommen sahen. »Komm weg hier, Pen-y-Cat«, sagte ich. »Du kannst hier nichts tun.« Sie drehte sich zu mir um. »Er hat meine Töchter ermordet! Die Blutschuld muß beglichen werden!« Sie hatte offensichtlich vor, die Schuld an Ort und Stelle einzutreiben. »Er wird nicht wieder entkommen«, beschwichtigte ich sie. »Laß es für den Augenblick bewenden, Pen-yCat. Ich habe Cynan benachrichtigen lassen, und wir werden zu Gericht sitzen, sobald er zurückkehrt.« »Ich will die Bestie sehen, die meine Töchter er mordet hat«, beharrte sie. »Ich will sein Gesicht sehen.« »Du wirst ihn sehen«, versprach ich. »Bald - warte nur ein wenig. Bitte, Scatha, hör auf mich. Wir können nichts tun, bis Cynan wieder da ist.« »Ich muß ihn sehen.« Der flehende Klang in ihrer Stimme überwand meine Bedenken. »Also gut.« Ich winkte den Wachen, die Tür zu öffnen. »Bringt ihn heraus.« Paladyr schlurfte ins Helle. Seine Hände waren gefesselt und seine Füße aneinandergekettet. Er wirkte etwas weniger unverschämt als zuvor und betrachtete uns wachsam. Schnell wie der Sprung einer Katze hatte Scatha ihren Dolch gezogen und an Paladyrs Kehle gesetzt. »Nichts würde mir größere Freude machen, als dich auszunehmen wie ein Schwein«, sagte sie und zog den 116
Dolch über die Haut seiner Kehle. Eine feine rote Linie folgte der Dolchspitze. Paladyr versteifte sich, gab aber keinen Laut von sich. »Scatha! Nein!« sagte ich und zog sie zurück. »Du hast ihn gesehen, nun laß es gut sein.« Paladyrs Lippen verzogen sich zu einem schwa chen, spöttischen Lächeln. Scatha sah die Grimasse, spannte sich und spie ihm voll ins Gesicht. Sofort flammte sein Zorn auf, und ich dachte schon, er würde sie schlagen, doch dann fing sich der einstige Mei sterkämpfer. Zitternd vor Wut, schluckte er schwer und funkelte sie mörderisch an. »Schafft ihn weg«, befahl ich den Wachen. Dann drehte ich mich zu Scatha um und sah ihr nach, wie sie davonging, unvergessene Tränen in den Augen. Als ein paar Tage später Cynan zurückkehrte, rief ich das erste Llys meiner Herrschaft zusammen, um über den Mörder zu richten. Urteile zu fällen war die Hauptarbeit, die auf dem Llys eines Königs zu tun war, und wenn jemand nach einem Urteil verlangte, dann war es Paladyr. Das Strafmaß stand von vorn herein fest: Tod. Mein Thron wurde am Kopf oder der Westseite der Halle aufgestellt. Mit Meldryn Mawrs Torc und der Eichenblattkrone des Großen Königs angetan, trat ich zum Thron und setzte mich darauf. Goewyn und Tegid nahmen ihre Plätze ein - meine Königin stehend neben mir, die Hand auf meine linke Schulter gelegt, 117
und mein Oberster Barde zu meiner Rechten. Als alle versammelt waren, ertönte die Carynx, und der Penderwydd von Albion trat vor. Er barg seinen Kopf in einer Falte seines Mantels, hob seinen Stab und hielt ihn waagerecht über sich. »Volk von Dinas Dwr«, sagte er laut, »höre auf die Stimme der Weis heit! Heute sitzt dein König zu Gericht. Sein Wort ist Gesetz, und sein Gesetz ist Gerechtigkeit. Höre mich jetzt: Es gibt keine andere Gerechtigkeit als das Wort des Königs.« Mit drei hallenden Schlägen seines Stabes auf den Stein vor meinen Füßen kehrte Tegid zu seinem Platz an meiner Seite zurück. »Bringt den Gefangenen!« rief er. Die Menge teilte sich, und sechs Krieger führten Paladyr nach vorn. Doch wenn ihn seine Gefangen schaft auch nur im geringsten entmutigt hatte, so ließ er es nicht erkennen. Prydains einstiger Meisterkämp fer erschien so hochmütig wie eh und je, lächelte selbstgefällig vor sich hin, hielt seinen Kopf hoch und zuckte mit keiner Wimper. Offensichtlich hatte er in der Gefangenschaft nichts von seiner Unverschämt heit verloren. Er stolzierte vor meinen Thron und baute sich breitbeinig und grinsend davor auf. Als Bran sah, wie frech sein Gefangener mich an starrte, zwang der Anführer der Raben Paladyr in die Knie, indem er ihm mit dem Ende seines Speers mehrere heftige Schläge in die Kniekehlen versetzte. An dem Verhalten des Gefangenen änderte sich 118
dadurch freilich nicht viel; er sah mich weiterhin mit einem seltsam verächtlichen Ausdruck an - vielleicht war das die Art eines Verurteilten, seinen Mut zu zeigen, dachte ich. In der Halle herrschte tödliche Stille. Jeder Mann und jede Frau unter den Anwesenden wußte, was Paladyr getan hatte, und nicht wenige brannten darauf, die Blutschuld beglichen zu sehen. Tegid betrachtete den Gefangenen kühl und hielt seinen Stab umklam mert, wie es ein Krieger mit seinem Speer tun würde. »Du stehst vor dem Gericht von Llew Silberhand, dem Aird Righ von Albion«, sagte er mit vollmächtig tönender Stimme. »Heute wirst du die Gerechtigkeit empfangen, der du lange entronnen bist.« Als Tegid mich als Hochkönig bezeichnete, fuhren Paladyrs Augen von Tegid zu mir. Er schien ein wenig überrascht darüber zu sein, und das brachte den ersten Anflug von etwas wie Furcht zum Vorschein, die ich nie an Prydains früherem Meisterkämpfer gesehen hatte. Oder war es etwas anderes? Der Oberste Barde, der mir als Stimme diente, fuhr ernst und streng fort: »Wer hat etwas gegen diesen Mann vorzubringen?« Mehrere Frauen - die Mütter der im Rauch erstick ten Kinder - fingen gleichzeitig an zu rufen, und andere - die Frauen der toten Krieger - fügten dem Chor ihre Stimmen hinzu. »Mörder!« schrien sie. »Ich klage ihn an! Er hat mein Kind umgebracht!« sagten manche, und andere: »Er hat meinen Mann getötet!« 119
Tegid ließ dem empörten Aufschrei für eine Weile seinen Lauf und gebot dann Schweigen. »Wir haben eure Anklagen gehört«, sagte er. »Wer hat noch etwas gegen diesen Mann vorzubringen?« Kalt und scharf wie die Klinge an ihrer Seite trat Scatha vor. »Wegen des Mordes an meiner Tochter Gwenllian, Banfáith von Ynys Sci, klage ich ihn an. Und wegen seines Anteils am Mord an meiner Toch ter Govan, Gwyddon von Ynys Sci, klage ich ihn an.« Diese Worte wurden mit eisiger Klarheit und großer Würde gesprochen; ich merkte, daß sie sie für diesen Tag unzählige Male eingeübt hatte. Bran Bresal meldete sich als nächster zu Wort und trat neben Scatha. »Weil er den Schatz von Albion gestohlen und die Männer getötet hat, die diesen Schatz bewachten, klage ich ihn an.« Dann trat Cynan vor und rief: »Weil er das Feuer gelegt hat, das meinen Vater und viele unschuldige Männer, Frauen und Kinder das Leben kostete, klage ich ihn an.« Seine Stimme schnitt wie ein Schwertstreich durch die vor angestauter Wut stickige Luft, und seine Worte lösten einen neuen Ausbruch aus, den Tegid geduldig gewähren ließ. Dann bat er wieder um Ruhe. »Wir haben eure Anklagen gehört. Zum dritten und letzten Mal: Wer hat etwas gegen diesen Mann vorzubringen?« Als niemand sonst antworten wollte, stand ich auf. Ich wußte nicht, ob es richtig von mir war, mich auf 120
diese Weise zu Wort zu melden, und es war mir auch gleichgültig. Ich hatte etwas vorzubringen, das weiter zurücklag als irgendeine der anderen Anklagen, und ich wollte es zu Gehör bringen. »Auch ich habe etwas gegen diesen Mann vorzubringen«, sagte ich und deutete mit dem Finger in Paladyrs Gesicht. »Es ist meine Überzeugung, daß du mit Hilfe von anderen, die nun tot sind, den Phantarchen aufgespürt und ermordet und damit die Vernichtung über Prydain gebracht hast.« Diese Eröffnung ließ ein dunkles Gemurmel durch die dicht gedrängte Menge gehen. »Da ich jedoch«, fuhr ich fort, »keinen Beweis für deinen Anteil an diesem unvorstellbaren Verbrechen besitze, kann ich deswegen keine Anklage gegen dich vorbringen.« Ich erhob meine silberne Hand und richtete meinen Finger direkt auf ihn: »Aber mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie du Meldryn Mawr ermordetest, der vor mir das Königtum innehatte. Während du so tatest, als wolltest du deine Untaten bereuen, nahmst du dem Großen König das Leben. Wegen dieses verräterischen Mordes klage ich dich an.« Ich setzte mich. Tegid hob dreimal langsam seinen Stab und ließ ihn wieder sinken. »Wir haben schwere Anklagen gegen dich gehört, Paladyr. Wir haben gehört, wie du mit eigener Hand deinen König Meldryn Mawr ermordet hast. Wir haben gehört, wie du mit eigener Hand Gwenllian, Banfáith von Ynys Sci, ermordet und das uralte Geas der Unantastbarkeit 121
verletzt hast, welches das Recht aller war, die sich auf dieser Insel aufhielten. Du hast geplant, den Schatz von Albion zu stehlen, und Flammen benutzt, um dein Verbrechen zu verbergen - Flammen, die zwanzig Männer, Frauen und kleine Kinder das Leben koste ten. Um den Schatz an dich zu reißen, hast du die Krieger niedergestreckt die sich verpflichtet hatten, ihn zu bewachen, und du hast den Schatz heimtük kisch aus Dinas Dwr fortgeschafft.« Der Oberste Barde fuhr mit peitschender Stimme fort, die in den Dachbalken widerhallte. »Immer und immer wieder hast du dein Volk verraten und Treue mit Verrat vergolten; du hast selbst den verraten, den mit deinem Leben zu schützen du geschworen hattest. Du hast versucht, dich durch Lug und Trug im Dienst eines falschen Königs zu bereichern; du hast deine Ehre für den Reichtum und den Rang verkauft, den man dir in Aussicht stellte, und deine Stärke vergeu det, um Böses zu tun. Aufgrund dieser Taten ist dein Name zu einem Fluch in den Mündern der Menschen geworden.« Niemand rührte sich; kein Laut war zu hören, als er fertig war. Die Leute standen da wie betäubt von der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen Paladyrs. Der Gefangene selbst dagegen gab sich zwar andeutungs weise reumütig, schien sich aber keine allzu großen Sorgen über seine Lage zu machen. Er starrte ledig lich mit gesenkten Augen vor sich hin - als betrachte er das Stück Fußboden zwischen ihm und meinem 122
Thron. Ich vermutete, daß er sich schon lange zuvor mit der Gefahr abgefunden hatte, die seine Untaten mit sich brachte. »Für diese Verbrechen, und nicht weniger für die Verbrechen, die du im Dienst des Großen Hundes Meldron begangen hast, bist du verurteilt«, erklärte Tegid. »Hast du noch etwas zu sagen, bevor du das Urteil deines Königs hörst?« Paladyr blieb reglos stehen, und ich dachte schon, er würde nichts sagen. Doch dann hob er langsam seinen Kopf und sah Tegid direkt in die Augen. Arrogant bis zum Ende sagte er: »Ich habe deine Worte gehört, Barde. Du verurteilst mich, und das ist dein Recht. Ich streite es dir nicht ab.« Dann fuhr sein Blick zu mir herüber, und ich spür te, wie sich mein Magen vor Spannung zusammenzog. Paladyr sah mich direkt an und sagte: »Aber nun sagst du mir, daß ich vor dem Hochkönig von Albion stehe. Wenn das so ist, laßt uns das Königtum, dessen er sich rühmt, auf die probe stellen. Hört mich an: Ich beanspruche Naud.« Einen Augenblick lang hingen die Worte in der Stille der Halle. Tegids Gesicht wurde weiß. Alle anderen starrten den knienden Paladyr in stummem, fast schwindeligem Erstaunen an. Unwillig, zu glauben, was wir alle ganz deutlich gehört hatten, fragte Tegid: »Du beanspruchst Naud?« Ermutigt durch die Wirkung seiner Worte erhob sich Paladyr von den Knien. »Ich stehe verurteilt vor 123
dem König. Darum beanspruche ich Naud für meine Verbrechen. Gewährt es mir, wenn ihr wollt.« »Nein!« rief jemand. Ich blickte auf und sah Scatha auf ihren Beinen schwanken wie von einem Speerstoß verwundet. Sie rief noch einmal, und Bran, der neben ihr stand, legte seine Arme um sie - ob zum Trost oder um sie davon abzuhalten, Paladyr anzugreifen, konnte ich nicht sagen. »Nein! Das darf nicht sein!« schrie sie mit wutverzerrtem Gesicht. »Nein...«, stöhnte Goewyn leise. Mit zitternden Lippen wandte sie das Gesicht ab und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Cynan wollte sich mit geballten Fäusten vorwärts stürzen und kämpfte wie ein Stier gegen Drustwn, Niall und Garanaw an, die ihre Arme um ihn schlan gen und ihn von der Kehle des Gefangenen fernhiel ten. Hinter ihnen drängte die Menge drohend vorwärts und verlangte Paladyrs Tod. Ernst und abweisend rief sie Tegid zur Ordnung. »Ruhe!« rief er. »Vor dem Thron hat Ruhe zu herr schen!« Die Raben nahmen es auf sich, die Menge zurückzuhalten, und nach einem Moment war die Krise vorbei. Nachdem die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war, wandte sich der Oberste Barde sichtlich erregt an mich. Er beugte sich herab, um sich mit mir zu beraten. »Ich werde ablehnen«, sagte ich. »Das darfst du nicht«, sagte er; obwohl er entsetzt und wie vor den Kopf geschlagen war, dachte er noch 124
klarer als ich. »Das ist mir gleichgültig. Ich werde ihn nicht ein fach davonkommen lassen.« »Du mußt«, sagte er schlicht. »Du hast keine ande re Wahl.« »Aber warum?« rief ich verbittert. »Ich verstehe das nicht, Tegid. Es muß doch irgend etwas geben, das wir tun können.« Er schüttelte ernst den Kopf. »Es ist nichts zu ma chen. Paladyr hat Anspruch auf Naud erhoben, und du mußt es ihm gewähren«, erklärte er, »sonst gehört die Königsherrschaft Albions einem verräterischen Mörder.« Was Tegid da sagte, traf in praktischem Sinn zu. Der Anspruch auf Naud war zum Teil eine Bitte um Barmherzigkeit - man lieferte sich der Gnade des Gerichts aus. Aber es steckte noch viel mehr dahinter, denn es ging über Gerechtigkeit hinaus, ging tiefer als Recht und Unrecht und reichte bis ins innerste Herz der Königsherrschaft selbst hinein. Ein Schuldiger, der diesen Anspruch geltend macht, appelliert nicht nur an die Gnade des Königs, sondern verlagert im Grunde die Verantwortung für das Verbrechen auf den König selbst. Natürlich hatte der König eine Wahl - er konnte das Naud gewähren oder verweigern. Wenn er den Anspruch gewährte, war das Verbrechen ausgelöscht: Die Strafe, die die Gerech tigkeit verlangte, würde die Gerechtigkeit selbst tragen. Natürlich konnte nur der König sich mit sich 125
selbst versöhnen. Verweigerte der König jedoch den Anspruch, so mußte der Schuldige die Strafe tragen, die die Gerech tigkeit über ihn verhängte. Keine sehr schwierige Entscheidung, könnte man meinen, nur daß der König, indem er das Naud verweigerte, sich im Grunde als dem Verbrecher unterlegen erklärte. Kein König, der seinen Namen verdiente, würde sich je so erniedrigen oder zulassen, daß sein Königtum so entehrt wurde. Aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, wird diese verdrehte Logik eigentümlich klar. In Albion ist Gerechtigkeit kein abstraktes Konzept, das mit der Bestrafung von Verbrechen zu tun hat. Für die Leute von Albion trägt die Gerechtigkeit das Antlitz eines Menschen. Wenn das Wort des Königs Gesetz ist für alle, die sich unter seinem Schutz bergen, dann wird der König selbst zur Gerechtigkeit für sein Volk. Der König ist die fleischgewordene Gerechtigkeit. Dieses persönliche Wesen der Gerechtigkeit bedeu tet, daß der Schuldige einen Anspruch an den König stellen kann, den zu stellen er eigentlich kein Recht hat: Naud. Und wenn er diesen Anspruch einmal gestellt hat, dann ist es am König, in seiner Rolle als Gerechtigkeit, seine Integrität zu demonstrieren. Gerechtigkeit ist also nur durch den Charakter des Königs begrenzt - das heißt, Gerechtigkeit ist nur dadurch begrenzt, wie der König sich selbst persön lich als König betrachtet. 126
Damit hängt der Anspruch auf Naud an dieser Fra ge: Wie groß ist der König? Paladyr hatte diese Frage richtig erraten und be schlossen, sie auf die Probe zu stellen. Wenn ich seinen Anspruch verweigerte, so wäre das gleichbe deutend mit dem Eingeständnis, daß meine Königs herrschaft in ihrer Breite und Macht begrenzt war. Mehr noch, alle Menschen würden die genauen Grenzen meiner Autorität kennen. Gewährte ich dagegen Paladyr seinen Anspruch auf Naud, so würde ich mich damit als über seine Verbre chen erhaben erweisen. Denn wenn meine Königs herrschaft sogar über Paladyrs Untaten hinausging, dann mußte ich wahrhaftig ein sehr großer König sein. Meine Macht und Autorität als Aird Righ würde für nahezu unendlich gehalten werden. Oh, aber es war eine sehr schwere Sache. Im Grun de war ich gefordert, das Verbrechen in mich selbst aufzunehmen. Wenn ich das tat, würde ein schuldiger Mann frei ausgehen. Tegid starrte mir finster ins Gesicht, als wäre ich der Grund seiner Verärgerung. »Nun, Silberhand? Wie lautet deine Antwort?« Ich sah Paladyr an. Seine Verbrechen schrien nach Strafe. Gewiß hatte kein Mensch den Tod je mehr verdient als er. »Ich werde ihm Naud gewähren«, sagte ich und fühlte mich dabei, als hätte mir jemand in den Magen getreten. »Aber«, fügte ich rasch hinzu, »darf ich 127
Bedingungen stellen?« »Du darfst Vorkehrungen zum Schutz deines Vol kes treffen«, warnte der Barde. »Mehr nicht.« »Also schön, dann schicken wir ihn an irgendeinen Ort, wo er niemandem mehr schaden kann. Gibt es einen solchen Ort?« Tegids graue Augen verengten sich in listiger Zu stimmung. »Tir Aflan«, sagte er. »Das Land der Fäulnis? Wo ist das?« In all der Zeit, die ich in Albion verbracht hatte, hatte ich von diesem Ort kaum jemals reden hören. »Im Osten, jenseits des Meeres«, erklärte er. »Für jemanden, der in Albion geboren ist, ist es ein freud loser, öder Ort.« Tegid gestattete sich ein grimmiges Lächeln. »Es könnte sogar sein, daß Paladyr sich wünschen wird, er hätte lieber den Tod gewählt.« »Dann soll es so geschehen. Das ist mein Urteil: Verbanne ihn nach Tir Aflan, wo er in seinem Elend verrotten mag.« Tegid richtete sich auf und wandte sich zu Paladyr um. Er hob seinen Stab und stieß ihn krachend auf den Steinboden hinab. »Höre das Urteil des Königs«, intonierte er. »Du hast Anspruch auf Naud erhoben, und dein Anspruch ist gewährt.« Diese Worte lösten sofort Aufruhr aus. Rufe tönten durch die Halle; einige schrien laut über die Entschei dung, andere weinten leise. Tegid hob seinen Stab und gebot Ruhe, bevor er fortfuhr. »Es ist des Königs 128
Urteil, daß du zum Schutz des Volkes von Albion aus allen Ländern unter seiner Herrschaft verbannt bist.« Paladyrs Gesicht verhärtete sich. Diese Entwick lung hatte er wahrscheinlich nicht vorausgesehen. Ich merkte ihm an, wie er fieberhaft darüber nachdachte, was das für ihn zu bedeuten hatte. Dann richtete er sich auf und fragte: »Wenn alle Länder unter deiner Herrschaft stehen. Großer König«, - die Worte waren ein Hohn in seinem Mund - »wohin soll ich dann gehen?« Eine gute Frage, die zeigte, daß Paladyr mitdachte. Wenn ich der Hochkönig war, dann erstreckte sich meine Herrschaft über ganz Albion. Offenbar gab es also keinen Ort auf der Insel der Mächtigen oder irgendeiner ihrer Schwesterinseln, wohin er gehen konnte. Doch Tegid hatte die Antwort bereit. »Nach Tir Aflan wirst du gehen«, erwiderte er ohne Umschweife. »Und wo immer du Menschen findest, die dich aufnehmen, da wirst du bleiben. Du sollst wissen: Von dem Tag an, da dein Fuß das Ufer von Tir Aflan berührt, ist es dein Tod, nach Albion zurückzukehren.« Paladyr akzeptierte sein Schicksal mit eiskalter Würde. Er sagte nichts mehr und wurde von Bran und den Raben aus der Halle geführt. Tegid erklärte das Llys für beendet. Und die Leute verließen nacheinan der mit grimmigen Gesichtern die Halle, erschüttert und voller Kummer.
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Cylchedd Als der nächste Morgen dämmerte, verließen die Raben und einige von der Kriegsschar Dinas Dwr, um Paladyr an die Ostküste zu bringen, wo er in einem Schiff über den Mór Glas gebracht und an dem verfluchten Ufer von Tir Aflan an Land gesetzt werden sollte. Cynan, bitter und voller Zorn, brach kurze Zeit später auf, um nach Dun Cruach zurückzu kehren. Insgesamt war es ein trostloser Abschied. Während der nächsten Tage ging die Arbeit an dem vom Feuer verheerten Caer weiter. Neue Stämme wurden geschlagen und vom Wald auf dem Berg kamm hinunter zum Seeufer geschleppt, wo sie geschnitten und geformt wurden, um zu Dachstütz balken oder Wänden verarbeitet zu werden. Schilf halme für die Dächer wurden reichlich geschnitten und zum Trocknen auf den Felsen ausgebreitet. Das verbrannte Holz wurde entfernt und der Boden für neue Behausungen und Lagerhäuser vorbereitet; Bootsladungen voll Asche wurden über den See gebracht und auf den Feldern verstreut. Ich wäre glücklich gewesen, diese Arbeit bis zur Vollendung zu beaufsichtigen - der Anblick des 130
rauchgeschwärzten Schutts schmerzte mich wie eine Wunde, und je eher Dinas Dwr wiederhergestellt war, desto eher würde der Schmerz aufhören. Doch Tegid hatte etwas anderes im Sinn. Als wir eines Abends, nachdem die Raben von ihrer Reise an die Ostküste zurückgekehrt waren, beim Essen saßen, erhob sich Tegid und stellte sich vor die Feuerstelle. Die Zuschauer nahmen an, er wolle singen, und begannen darum die Namen der Lieder auszurufen, die sie gerne hören wollten. »Die Kinder von Llyr!« verlangten einige. »Rhydderchs roter Hengst!« rief ein anderer unter allgemeinem Beifall. »Gruagachs Rache!« schlug wieder ein anderer vor, der jedoch überschrien wurde. Tegid schüttelte nur den Kopf und verkündete, er könne nicht singen, weder heute abend noch an irgendeinem anderen Abend. »Warum nicht?« wollten alle wissen. »Was hindert dich daran zu singen?« Der schlaue Barde antwortete: »Wie könnte ich ans Singen denken, wenn die Drei Edlen Reiche vonein ander getrennt sind, ohne daß ein König Harmonie zwischen ihren einzelnen Stämmen schafft?« Ich beugte mich zu Goewyn hinüber. »Ich rieche eine List.« Tegid wandte sich zu mir und erklärte, als Aird Righ hätte ich gewiß keinen dringenderen Gedanken im Sinn, als durch meine Länder zu reiten und meine 131
Herrschaft im Königreich zu festigen. »Sicher«, erwiderte ich leichthin, »früher oder spä ter wäre ich auf diesen Gedanken gekommen.« Goewyn flüsterte ich zu: »Jetzt kommt es.« »Und da du der Hochkönig bist«, verkündete er, wobei er seinen Stab mit großer Geste schwang, »wirst du die Herrlichkeit deiner Herrschaft auf alle ausdehnen, die Zuflucht unter deiner Silbernen Hand suchen. Darum wird die Cylchedd, an die du denkst, alle Länder in den Drei Edlen Reichen einschließen, so daß Caledon, Prydain und Llogres unter deine vollmächtige Herrschaft gebracht werden. Denn alle müssen dich als König anerkennen, und du mußt die Ehre und den Tribut der Insel der Mächtigen empfan gen.« Diese Rede wurde vor einem weitgehend ahnungs losen Publikum gehalten, das darum recht überrascht war. Auch ich war nicht darauf gefaßt gewesen, doch während er sprach, begann ich die Logik hinter Tegids hochtrabender Formalität zu begreifen. Ein so wichti ges Unternehmen verlangte ein gewisses Zeremoniell. Und die Leute von Dinas Dwr verstanden sofort die Bedeutung von Tegids Ansprache. Natürlich war dies nicht das erste Mal, daß der Oberste Barde den Titel Aird Righ auf mich ange wendet hatte. Doch es war eine Sache, diese Worte hier in Dinas Dwr vor meinen eigenen Leuten auszu sprechen, aber eine ganz andere, diesen Anspruch aktiv in der Welt jenseits des schützenden Bergkamms 132
von Druim Vran geltend zu machen. Ein Flüstern ging durch die Menge. »Aird Righ! Llew Silberhand ist der Hochkönig!« sagten sie. »Hast du das gehört? Der Oberste Barde hat ihn zum Aird Righ ausgerufen!« Es gab einen handfesten Grund für Tegids Ankün digung: Er war begierig, die Königsherrschaft Albions über allen Zweifel hinaus zu festigen. Ein lohnendes Unterfangen, wie mir schien. Dennoch wünschte ich, er hätte mich gewarnt. Genaugenommen teilte ich Tegids Begeisterung für das Amt des Hochkönigs nicht - was zweifellos der Grund war, warum er die Cylchedd auf diese Weise angekündigt hatte. Was auch immer ich für Bedenken haben mochte, Bran und der Rabenflug sowie der Rest der Kriegs schar stellten sich sofort auf Tegids Seite und brach ten regelrecht donnernd ihre Zustimmung zum Ausdruck. Sie schlugen ihre Becher zusammen und trommelten mit den Händen auf die Tafel; sie verur sachten einen solchen Lärm, daß es einige Zeit dauerte, bevor Tegid fortfahren konnte. Der Penderwydd stand mit einem ausgesprochen selbstzufriedenen Lächeln da und beobachtete den Aufruhr, den er ausgelöst hatte. Ich spürte die Berüh rung einer kühlen Hand in meinem Nacken und blickte auf. Goewyn stand neben mir. »Es ist nicht mehr als dein Recht«, flüsterte sie mir zu, so daß ich ihren warmen Atem am Ohr spürte. Als die allgemeine Begeisterung sich etwas gelegt 133
hatte, fuhr Tegid fort und erklärte, die Rundreise werde in Dinas Dwr damit beginnen, daß ich unter meinen eigenen Leuten Hof hielt. Und dann, wenn alle nötigen Vorbereitungen getroffen waren, würde ich zu einer langen Reise durch Albion aufbrechen. Tegid hatte noch eine Menge zu sagen, und er sagte es gut. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und fragte mich, ob die Rundreise, wie er behauptete, tatsächlich ein Jahr und einen Tag dauern würde - eine Schät zung, die ich eher als poetischen Näherungswert denn als wirkliche Berechnung auffaßte. Doch wie auch immer, ich wußte, daß es weder schnell noch leicht gehen würde, und ertappte mich dabei, wie ich über die Einzelheiten nachdachte, noch während Tegid sprach. »Hör zu, Barde«, sagte ich, sobald wir miteinander allein waren, »ich bin durchaus dafür, auf die Cyl chedd zu gehen, aber du hättest mir ruhig sagen können, daß du sie ankündigen würdest.« Tegid stand auf. »Bist du ungehalten?« »Ach, komm schon, setz dich wieder, Tegid. Ich bin nicht zornig. Ich will es nur wissen. Warum hast du es getan?« Er entspannte sich und setzte sich wieder. Wir be fanden uns zusammen in meiner Hütte; seit der Hochzeit hatten Goewyn und ich die Zurückgezogen heit der einräumigen Hütte dem geschäftigen Treiben in der Halle vorgezogen. »Dein Königtum muß vor den Leuten verkündet 134
werden«, sagte er schlicht. »Wenn ein neuer König den Thron besteigt, ist es üblich, daß er eine Cylchedd durch seine Länder macht. Ist es ein Aird Righ, so ist es auch notwendig, daß er sich zusätzlich zur Gefolg schaft seiner eigenen Häuptlinge und Clansleute auch die Ergebenheit anderer Könige und ihrer Völker erwirbt.« »Das verstehe ich. Wann werden wir Dinas Dwr verlassen?« »Sobald die entsprechenden Vorbereitungen getrof fen sind.« »Wie lange wird das dauern? Zwei Tage? Drei? Vier?« »Länger nicht.« Er hielt inne und sah mich ein dringlich an. »Es wird eine wunderbare Sache, Bruder. Wir werden die Ehre deines Namens aufrich ten und deinen Ruhm in ganz Albion vermehren.« »Ist dir der Gedanke gekommen, daß vielleicht noch ein paar von Meldrons Bastarden frei herumlau fen? Die würden sich deiner Meinung vielleicht nicht anschließen.« »Um so mehr Grund, die Cylchedd sofort zu begin nen. Alle, denen noch das richtige Verständnis fehlt, müssen überzeugt werden. Wir werden mit einer Kriegsschar reisen.« »Und wird es wirklich ein ganzes Jahr dauern? Ich bin frisch verheiratet, Tegid, und ich hatte gehofft, für eine Weile in der Nähe meines Hauses bleiben zu können.« 135
»Aber Goewyn wird dich begleiten«, sagte er rasch, »und jeder, den du sonst noch auswählst. Je größer das Gefolge, desto mehr Achtung werden dir die Leute entgegenbringen.« Ich merkte, daß Tegid in der Rundreise eine große Vorführung von Prunk und Macht sah. »Das wird ein gewaltiges Unternehmen«, sinnierte ich. »Und ob!« erklärte er stolz. »Dergleichen wird man in Albion seit der Zeit von Deorthach Varvawc nicht gesehen haben.« Ich merkte, daß ihm die Sache mehr bedeutete, als er zugeben wollte. »Warum nicht«, dachte ich, »laß ihm seinen Wil len.« Nach allem, was er mit Meldron durchgemacht hatte, hatte er es verdient. Vielleicht hatten wir es beide verdient. »Deorthach Varvawc«, bemerkte ich, »wer könnte einen solchen Namen vergessen?« Die Vorbereitungen gingen in großer Eile vonstat ten. Vier Tage später sah ich eine regelrechte Kara wane von Planwagen, Kampfwagen und Pferden vor mir. Es schien, als hätte die gesamte Bevölkerung von Dinas Dwr beschlossen, uns auf der Reise zu beglei ten. Ich hoffte nur, es würden genug Leute zurück bleiben, um sich um die Felder zu kümmern und den Wiederaufbau des Crannogs fortzusetzen. Es war ja gut und schön, ganz Albion zu durchwandern, aber es waren Ernten einzubringen und Herden zu hüten, und irgend jemand mußte diese Aufgabe übernehmen. 136
Am Ende einigten wir uns darauf, daß Calbha in Dinas Dwr bleiben würde, während wir fort waren. Meldron hatte die Festung des Königs der Cruin in Blár Cadlys zerstört, so daß Calbha noch einige Zeit brauchen würde, bis er genug Vorräte, Werkzeuge und Materialien für den Wiederaufbau gesammelt hatte. So war es naheliegend, ihn zurückbleiben zu lassen. So gern er uns begleitet hätte, stimmte er doch zu, daß er die Zeit am besten nutzen konnte, indem er sich um die Angelegenheiten seines Volkes kümmerte. Und da es junge Krieger auszubilden gab, beschloß Scatha ebenfalls, mit ihrer Schule zurückzubleiben. Drei Raben würden bei ihr bleiben, um ihr bei der Ausbildung der Jungen zu helfen, und genügend Krieger, um Dinas Dwr zu schützen. Am Tag vor unserer Abreise rief Tegid das Volk in die Halle. Als alle versammelt waren, nahm ich meinen Platz auf dem Thron ein, und als ich all die Gesichter sah, die sich mir erwartungsvoll zuwandten, spürte ich - nicht zum ersten Mal - wie sich das ungeheure Gewicht der Pflicht auf mich legte. Es wäre entmutigend gewesen, hätte ich nicht eine ebenso große Kraft der Tradition gespürt, die mir half, die Last zu schultern. Ich konnte das Gewicht tragen, weil andere es vor mir getragen hatten und ihr Ver mächtnis im Geist der Königsherrschaft selbst fortlebte. Als ich dort auf meinem Thron aus Hirschgeweih saß, kam mir der Gedanke, daß ich ein König, ja sogar ein Hochkönig sein konnte, nicht weil ich irgend 137
etwas vom Königsein verstanden hätte - noch viel weniger, weil ich irgendwie würdiger gewesen wäre als andere -, sondern weil das Volk an mein Königtum glaubte. Das heißt, das Volk glaubte an die Königs herrschaft und war bereit, um dieses Glaubens willen mich in diese Überzeugung einzuschließen. Zwar mochte der Oberste Barde die Macht haben, das Königtum zu verleihen oder vorzuenthalten, aber diese Macht wurde ihm vom Volk verliehen. »Ein König ist ein König«, sagte Tegid gern, »aber ein Barde ist das Herz und die Seele des Volkes; er ist sein Leben im Lied und die Fackel, die ihm auf den Pfaden des Schicksals voran geht. Ein Barde ist der innerste Geist des Clans; er ist das Kettenglied, die goldene Schnur, die die vielen Zeitalter des Clans vereint und alles Vergangene mit allem Kommenden verbindet.« Endlich fing ich an, die grundlegende Tatsache Albions zu begreifen. Ich verstand auch Simons tödlichen Plan: Indem er die Königsherrschaft angriff, hatte er das innerste Herz Albions getroffen. Wäre es ihm gelungen, das Königtum mit der Wurzel auszurotten, so hätte Albion zu existieren aufgehört. »Morgen«, verkündete der Oberste Barde, »wird Llew Silberhand von Dinas Dwr aufbrechen, um eine Cylchedd durch seine Länder zu machen und die Huldigung seiner Bruderkönige und der Stämme der Drei Edlen Reiche zu empfangen. Doch bevor er sich die Achtung anderer erwirbt, ist es nur recht, daß sein 138
eigenes Volk ihm die Treue schwört und ihm Ehre erweist.« Tegid erhob seinen Stab und stieß ihn dreimal auf den Boden. Dann rief er alle Häuptlinge - seien es Könige, Fürsten oder Krieger - auf, mir zu huldigen und mir Treueide zu leisten, die er ihnen vorsprach. Ich mußte nur ihre Verpflichtungen entgegennehmen und ihnen den Schutz meiner Herrschaft zusagen. Jeder der Häuptlinge sprach seinen Eid, kniete dann vor mir nieder und legte in einer Geste der Unterord nung und Liebe seinen Kopf gegen meine Brust. Einer nach dem anderen, beginnend mit Bran Bre sal, traten sie vor mich: Alun, Garanaw, Emyr, Drustwn, Niall, Calbha, Scatha, Cynan. Ihnen folgten etliche, die während der Verwüstungen durch Mel dron nach Dinas Dwr gekommen waren, und schließ lich die, die sich bei Meldrons Niederlage ergeben hatten. Die Ehrung dieser Männer entgegenzunehmen berührte mich tief. Ihr Eid band sie an mich, und mich band er ebenso fest an sie. Als die Zeremonie beendet war, war ich mehr als je zuvor ein König - und um so begieriger, die Länder Albions wiederzusehen. Wir überquerten den Druim Vran, als die Sonne gerade über den uns umringenden Bergen aufging. Als wir in den Weg einbogen, der auf dem Kamm entlangführte, hielt ich an, um zurückzublicken, und sah, daß das Ende des Zuges noch nicht einmal das 139
Seeufer hinter sich gelassen hatte. Wenn die Größe eines Gefolges, wie Tegid gesagt hatte, die Ehre eines Königs vermehren konnte, dann würde sich meine mindestens verhundertfachen. Insgesamt hatten wir sechzehn Planwagen mit Vorrä ten und Ausrüstung, dazu Vieh - eine Speisekammer auf Hufen - und zusätzliche Pferde für die etwa hundert Männer und Frauen, die uns als Köche, Lagerhelfer, Krieger, Boten, Jäger und Viehhirten begleiteten. An der Spitze der Prozession ritten mein Anführer der Raben Bran Bresal, Emyr Lydaw, der das große Schlachthorn, die Carynx, trug, und Alun Tringad auf hohen Rössern. Danach kam der Pender wydd von Albion mit seinen Mabinogi, und dahinter Goewyn auf einem Falben und ich auf einem Fuchs. Uns folgte die Kriegsschar, und dahinter kamen die Wagen in einem langen, langen rollenden Zug. Das Tal unter uns war von Licht durchflutet und leuchtete wie ein Smaragd, und mein Herz jubelte bei der Aussicht, durch dieses außergewöhnliche Land zu reisen - um so mehr, als ich Goewyn an meiner Seite hatte und liebenswerte Freunde mich begleiteten. Ich hatte vergessen, wie schön Albion sein konnte. Ein Lodern von Farben und Licht: das satte Grün der bewaldeten Täler und die fein gescheckte Vegetation der Hochmoore, das blendende Blau des sonnen durchströmten Himmels, die feinen Grautöne des Gesteins und das tiefe Braun der Erde, das funkelnde Silber des Wassers, das schimmernde Gold des 140
Sonnenlichts. Ich war auf meinen verschiedenen Wanderungen weit durchs Land gekommen, doch es hatte immer noch die Macht, mich in Erstaunen zu versetzen. Ein Blick auf weiße Birken, die sich vor einem Hinter grund grün glänzender Stechpalmen abhoben, oder ein blauer Wolkenschatten, der an einem fernen Hang hinabglitt, konnte mir vor Staunen den Atem stocken lassen. Es war wunderbar - um so mehr, als Albion durch Feuer, Dürre und einen endlosen Winter verwüstet worden war. Das Land hatte die Verhee rungen Fürst Nudds und seiner Dämonenhorde und die Plünderungen durch den Großen Hund Meldron durchlitten. Dennoch wirkte es wie neugeboren. Irgendeine unsichtbare Kraft mußte wohl am Werk sein, um eine ständige Erneuerung des Landes zu bewirken, denn es war nirgendwo eine Spur von Verwüstung zu sehen, keine zurückgebliebenen Narben, keine sichtbaren Erinnerungen an die erdul deten Qualen, die erst so kurze Zeit zurücklagen. Vielleicht wurde Albions Pracht unaufhörlich wie derhergestellt, oder vielleicht wurde es irgendwie mit jeder Dämmerung neu erschaffen. Denn es schien, als ob jeder Baum, jeder Hügel, jeder Bach und jeder Stein erst eben aus schier überschwenglicher Schöp fungsfreude ins Dasein gerufen worden wäre. Nach zwei solchen Tagen war ich geradezu be rauscht vom Dasein - nicht nur von meinem eigenen, sondern auch vom Dasein des ganzen Universums. 141
Meine Verzückung erstreckte sich bis zum Mond und zu den Sternen und in die dunkle Leere jenseits davon. Wäre ich ein Barde gewesen, so hätte ich gesungen, bis mir schwindelig geworden wäre. Als wir weiterritten, wurde ich langsam, aber sicher immer empfindsamer für die Schönheit des Landes um mich her. Ich begann eine überwältigende Herr lichkeit zu spüren, die von jeder Gestalt ausstrahlte, auf die mein Blick fiel - jeder Zweig, jedes Blatt, jeder Grashalm glänzte vor unaussprechlicher Pracht und Majestät. Und mir schien, daß die Welt, die ich vor mir sah, nur die äußere Erscheinungsform einer unendlich mächtigen, tiefgreifenden Wirklichkeit war, die ich nie ganz greifen konnte. Wenn es mir auch nicht möglich war, diese verschleierte Wirklichkeit direkt zu erkennen, so konnte ich doch ihre Auswir kungen wahrnehmen. Alles, was sie berührte, brachte sie zum Schwingen wie eine Saite an Tegids Harfe. Mir war, als könnte ich, wenn ich nur sehr angestrengt hinhörte, das Summen dieser himmlischen Schwin gung wahrnehmen. Manchmal bildete ich mir sogar ein, sie zu hören - wie den Widerhall eines Liedes, das gerade unterhalb der Hörbarkeit weiterklang. Die Melodie konnte ich nicht hören, nur den Widerhall. Der Grund für dieses Entzücken war zum Teil Goewyn. Ich war so berauscht von ihr, daß selbst Nudds Kerkergrube mir wie ein Paradies erschienen wäre, hätte ich sie dort neben mir gehabt. Während wir durch die wiedererstandene Pracht Albions 142
reisten, bemerkte ich allmählich, daß ich die Welt nun mit anderen Augen betrachtete. Ich war nicht mehr nur ein Durchreisender, ein Eindringling, der nur eine Welt besuchte, die nicht seine Heimat war, ich gehörte hierher; Albion war jetzt meine Heimat. Ja, ich hatte eine Frau aus der Anderwelt geheiratet. Ich war nun alles andere als ein Fremder, ich war ein König. Ich war der Aird Righ. Wer gehörte nach Albion, wenn nicht der Hochkönig? Der König und das Land waren auf eine enge, ge heimnisvolle Weise miteinander verbunden. Nicht nur auf eine abstrakte, philosophische Weise, sondern wirklich, körperlich. Die Beziehung zwischen dem König und dem Land war wie die zwischen Mann und Frau - die Leute von Albion bezeichneten sie sogar als eine Ehe. Und nun, da ich selbst verheiratet war, fing ich an, es zu verstehen - nein, zu fühlen: Der Gedanke ging immer noch weit über meinen Verstand, aber ich konnte spüren, wie die Weisheit in meinem Fleisch und meinen Knochen Gestalt gewann. Ich spürte eine uralte, ursprüngliche Wahrheit, die ich noch nicht in Worte fassen konnte. So nahm die Cylchedd allmählich den Charakter einer Pilgerreise an, einer Wanderung von unermeßli cher spiritueller Bedeutung. Wenn ich vielleicht auch die volle Bedeutung dieser Pilgerschaft nicht verstand, geschweige denn ihre feineren Aspekte, so konnte ich doch ihre unwiderstehliche, unerbittliche, unentrinn bare Macht wie die Schwerkraft spüren. Ich fand das 143
keineswegs lästig, dennoch wußte ich, daß ich mich wie eine in Fleisch gekleidete Seele nie wieder ohne dieses Gefühl bewegen würde. Bei Tage ritten wir durch eine Landschaft, verklärt durch das Licht einer gleißenden Sonne, die alles, was sie berührte, mit einem fast leuchtenden Glanz bekleidete und in allen Richtungen schimmernde Horizonte und strahlende Aussichten schuf. Nachts lagerten wir unter einer riesigen, von Sternen wim melnden Himmelskuppel und ruhten uns unter liebli chen Harfenklängen aus. Auf diese Weise erreichten wir unser erstes Ziel: Gwynder Gwydd, der Sitz des Clans der Ffotlae in Llogres. Es traf sich, daß auch einige Ffotlae mit uns reisten, die begierig waren zu erfahren, ob ihre Clansleute überlebt hatten. Wir schlugen unser Lager auf einer Wiese nahe eines Säulensteins auf, der Carwden, Krummer Mann, genannt wurde und den Ffotlae als Versammlungsort diente. Ein lebhafter Bach plätscherte durch die Wiese, die von Waldgebieten voller junger Bäume umgeben war. Sobald die Zelte errichtet waren, sandte Tegid den Rabenflug als Boten in die Gegend aus, und wir ließen uns nieder, um zu warten. Wir hatten meinen Hirschgeweih-Thron mitge bracht, und Tegid gab Anweisung, vor dem CarwdenStein einen kleinen Hügel zu errichten und den Thron darauf zu stellen. Am nächsten Morgen legten Goe wyn und ich auf Tegids Rat hin unsere besten Kleider 144
an - Goewyn ein weißes Kleid mit Meldryn Mawrs goldenem Fischschuppengürtel, den ich ihr geschenkt hatte, und einen himmelblauen Umhang; ich einen roten, golden umsäumten Umhang über einem grünen Siarc und blauen Breecs. Dazu trug ich einen Gürtel aus riesigen goldenen Scheiben, eine mächtige goldene Brosche und meinen goldenen Torc. Mit der Brosche mußte Goewyn mir helfen - ich hatte mich daran gewöhnt, ohne rechte Hand zurechtzukommen, war aber noch nicht ganz sicher im Umgang mit meiner Silberhand. Goewyn befestigte die Brosche für mich und trat dann rasch wieder zurück, um mich mit kritischem Blick zu mustern. Ihr gefiel nicht, wie ich den Um hang gefaltet hatte, und sie zog ihn geschickt zurecht. »Alles an Ort und Stelle?« fragte ich sie. »Hätte ich gewußt, daß du einmal einen so gutaus sehenden König abgeben würdest, so hätte ich dich schon vor langer Zeit geheiratet«, erwiderte sie, schlang ihre Arme um meinen Hals und küßte mich. Ich spürte die Wärme ihres Körpers und wurde plötzlich hungrig nach ihr. Ich zog sie dichter an mich ... und die Carynx ertönte. »Tegids Zeitplanung ist unfehlbar«, murmelte ich. »Der Tag ist noch jung, mein Geliebter«, flüsterte sie, dann richtete sie sich auf. »Aber jetzt ist dein Volk unterwegs hierher. Du mußt dich bereit machen, es zu begrüßen.« Wir traten aus dem Zelt und sahen einen stattlichen 145
Zug über die Wiese auf den Carwden-Stein zukom men. Die Leute von Gwynder Gwydd und aus den umgebenden Siedlungen hatten sich versammelt sechzig Männer und Frauen, der Überrest von vier oder fünf Stämmen. Die Ffotlae unter uns waren hoch erfreut, ihre Clansleute wiederzusehen, und begrüßten sie mit so jubelnder und tränenreicher Freude, daß es einige Zeit dauerte, bevor das Llys beginnen konnte. Dann befahl Tegid Emyr, noch einmal die Carynx zu blasen. Das Bellen des Schlachthorns signalisierte den Beginn der Hofversammlung; Goewyn und ich gingen zu dem Hügel und nahmen unsere Plätze ein: ich selbst auf dem Thron und sie daneben, wo man sie besonders gut sehen konnte. Tegid wollte, daß die Leute ihre Königin erkannten und ihr Ehre erwiesen. Die Leute von Gwynder Gwydd, begierig, dieses Wunder eines neuen Königs - und seiner hinreißend schönen Königin - mit eigenen Augen zu sehen, scharten sich dicht um den Hügel, um eine gute Aussicht zu haben. Das gab mir Gelegenheit, sie ebenfalls zu beobachten. Es war nicht zu übersehen, daß sie gelitten hatten. Manche waren verstümmelt, viele trugen Narben von Schlägen und Folter, und trotz der Erneuerung des Landes waren alle immer noch ausgemergelt von Elend und Hungersnot. Sie waren in ihren besten Kleidern gekommen, und die bestanden größtenteils aus frisch gewaschenen Lumpen. Meldron hatte ihnen einen hohen Preis für sein Königtum abverlangt, und sie waren gezwungen 146
gewesen, ihn zu bezahlen. Der Oberste Barde eröffnete die Versammlung auf die übliche Weise, indem er allen die bemerkenswerte Neuigkeit verkündete: Ein neuer Hochkönig habe sich in Albion erhoben und würde nun eine Cylchedd durch das Reich vollziehen, um seine Herrschaft zu festigen ... und so weiter. Die Ffotlae trugen den hoffnungsvollen, wenn auch nicht restlos überzeugten Gesichtsausdruck von Leuten, die sich daran gewöhnt hatten, von allen Seiten belogen und betrogen zu werden. Sie gaben sich respektvoll und schienen willens zu sein, uns Glauben zu schenken, doch mein Anblick allein reichte nicht aus, um ihre letzten Zweifel auszuräumen. Also schön, ich würde ihr Vertrauen gewinnen müssen. Also stand ich auf, als Tegid fertig war. »Mein Volk«, sagte ich, »ich heiße euch willkommen.« Ich hob meine Hände; das Sonnenlicht fiel auf das Silber und ließ es aufblitzen wie weißes Feuer. Das löste großes Staunen aus, und alle starrten mit großen Augen auf meine silberne Hand. Ich zeigte sie ihnen und krümmte die Finger, worauf sie zu meiner Überraschung allesamt niederfielen und sich flach auf den Boden legten. »Was soll das?« flüsterte ich Tegid zu, der zu mir auf den Hügel getreten war. »Sie haben Angst vor deiner Hand, glaube ich«, erwiderte er. »Nun, tu etwas, Tegid. Sag ihnen, daß ich ihnen 147
Frieden und Wohlwollen bringe - du weißt schon, was du sagen mußt. Mach es ihnen verständlich.« »Ich werde es ihnen sagen«, erwiderte Tegid weise. »Aber verständlich machen kannst nur du es ihnen.« Der Oberste Barde erhob seinen Stab und verkün dete der verängstigten Versammlung, was für eine gute Sache es sei, den König gebührend zu verehren und ihm von Herzen Achtung zu erweisen. Er sagte ihnen, wie erfreut ich sei, ihre Huldigung zu empfan gen, und daß sie nun, da Meldron besiegt war, nichts mehr zu fürchten hätten, denn der neue König sei kein wütender Tyrann. »Gib ihnen eine Kuh«, flüsterte ich, als er fertig war. »Zwei Kühe. Und einen Stier.« Tegid hob die Augenbrauen. »Eigentlich solltest du Geschenke von ihnen entgegennehmen.« »Geschenke von ihnen? Schau sie doch an; sie haben ja nichts.« »Es kommt ihnen zu, dir -« »Zwei Kühe und einen Stier, Tegid. Ich meine es ernst.« Der Barde winkte Alun zu sich und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Alun nickte und eilte davon, und Tegid wandte sich den Leuten zu und forderte sie auf, sich zu erheben. Der König wisse von ihrer Not am Tag des Ringens, sagte er, und habe ihnen ein Geschenk mitgebracht, als Zeichen seiner Freund schaft und als Symbol für den Wohlstand, den sie von jetzt an genießen würden. 148
In diesem Augenblick erschien Alun mit den Rin dern. »Diese Rinder werden euch aus der eigenen Herde des Aird Righ für den Aufbau eures Viehbe stands gegeben.« Dann forderte er ihren Häuptling auf, die Rinder im Namen des Stammes entgegenzu nehmen. Das rief einige Verwirrung unter den Ffotlae her vor; denn, so erklärte uns einer ihrer Clansleute aus unserem Zug rasch: »Unser Fürst wurde getötet, und unser Häuptling ist zu Meldron übergelaufen.« »Ich verstehe.« Ich wandte mich wieder an Tegid. »Es scheint, als ob wir ihnen auch einen Häuptling geben müssen.« »Das ist leicht getan«, erwiderte der Barde. Er stell te sich mit erhobenem Stab vor die Leute und sagte, es sei der Wille des Hochkönigs, ihnen einen neuen Herrn zu geben, der sie anführen und sich um sie kümmern solle. »Wer unter euch ist würdig, der Herr der Ffotlae zu werden?« fragte er. Es folgte eine kurze Verhandlung, in der verschiedene Vorschläge geäu ßert wurden, doch schließlich setzte sich ein Name durch, offensichtlich zur allgemeinen Zufriedenheit. »Urddas!« riefen sie. »Urddas soll unser Anführer sein.« Tegid sah mich an, um meine Bestätigung der Wahl einzuholen. »Gut«, sagte ich, »Urddas soll vortreten. Schauen wir ihn uns an.« »Urddas«, rief Tegid. »Komm und tritt deinem König gegenüber.« 149
Daraufhin teilte sich die Menge, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau kam auf den Hügel zu. Sie betrachtete uns mit einem durchdringenden, sarkasti schen Blick, und eine herausfordernde Miene lag auf ihrem hageren, ausdrucksvollen Gesicht. »Tegid«, sagte ich lautlos, »ich glaube, Urddas ist eine Frau.« »Möglicherweise«, flüsterte er zurück. »Ich bin Urddas«, sagte sie und beseitigte damit alle Zweifel. Ich sah Goewyn an, die unsere vorüber gehende Verwirrung sichtlich genoß. »Sei gegrüßt, Urddas, und willkommen«, sagte Tegid schließlich freundlich. »Deine Leute haben dich zu ihrer Anführerin bestimmt. Wirst du die Ehre annehmen, die dir dein Clan erweist?« »Das werde ich«, erwiderte die Frau - nur drei Worte, aber mit solcher Autorität gesprochen, daß ich sofort wußte, daß die Ffotlae eine gute Wahl getroffen hatten. »Es ist auch keine ungewohnte Ehre für mich«, fügte sie hinzu, »denn ich habe meinen Clan angeführt, seit sein Herr, mein Mann, von Mór Cù getötet wurde. Wenn ich jetzt diese Anerkennung empfange, ist das nur mein Recht.« Es lag eine gewisse Schärfe in ihrer Rede - und warum nicht? Schließlich war der Clan durch die Hölle gegangen - aber es war nicht Verbitterung oder Stolz, die sie so sprechen ließen. Ich glaube, sie wollte einfach, daß wir wußten, wie die Dinge mit ihnen standen. Zweifellos fand sie unverblümte Offenheit sachdienlicher als liebenswürdige Zweideutigkeit. Es 150
konnte nicht leicht gewesen sein, unter Meldrons grausamer Herrschaft einen Clan zu führen. »Hier nun ist dein König«, sagte Tegid zu ihr und fragte dann: »Wirst du seine Königsherrschaft aner kennen, ihm Gefolgschaft schwören und ihm den Tribut entrichten, der ihm zusteht?« Urddas antwortete nicht sofort - ich glaube, ich wäre sogar enttäuscht gewesen, wenn sie es getan hätte. Statt dessen bedachte sie mich mit einem ihrer kühlen, ironischen Blicke, als wäre sie aufgefordert worden, meinen Wert einzuschätzen. Dann, immer noch unentschlossen, blickte sie hinüber zu den Rindern, die ich dem Clan zum Geschenk gemacht hatte. »Ich werde ihn als König anerkennen«, erwiderte die Frau und machte kehrt. Doch ich bemerkte, daß sie Goewyn ansah, als sie antwortete - als ob jeglicher Mangel, den sie in mir sah, durch meine Königin mehr als wettgemacht würde. Vermutlich dachte sie, wenn ich eine so vorzügliche Frau wie Goewyn für mich gewinnen konnte, dann steckte vielleicht mehr in mir, als es unter ihrem kritischen Auge zunächst den Anschein hatte. Dann zelebrierte Tegid den Gefolgschaftseid, und als das beendet war, kam die Frau zu mir, kniete vor mir und legte ihren Kopf gegen meine Brust. Als sie wieder aufstand, brachen die Ffotlae in Jubel aus. Sie befahl einigen der jüngeren Männer, die Kühe und den Stier wegzubringen - damit ich nicht meine 151
Meinung noch änderte. »Urddas«, sagte ich, als sie sich anschickte, zu ihrem Platz zurückzukehren, »ich würde gern von dir hören, wie es euch in dieser unseligen Zeit ergangen ist. Bleibe noch hier, wenn das Llys beendet ist, und wir werden eine Schale miteinander trinken - falls nicht etwas anderes dir besser gefallen würde.« »Eine Schale mit dem Aird Righ wäre eine Freude für mich«, erwiderte sie unverblümt. Erst dann sah ich sie lächeln. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und sie trug ihren Kopf etwas höher. »Das war wohlgetan«, sagte Goewyn leise und strich mir sanft über den Nacken. »Ein schwacher Trost dafür, daß sie ihren Mann verloren hat«, sagte ich, »aber es ist immerhin etwas.« Es gab noch verschiedene langwierige Angelegen heiten zu verhandeln - größtenteils solche, die sich aus den unter Meldron vervielfachten Problemen ergaben. Diese wurden zufriedenstellend gelöst, worauf Tegid das Llys beendete und, nachdem er den versammelten Stämmen einen schlichten Gefolgschaftseid abge nommen hatte, den Clan der Ffotlae für unter dem Schutz des Aird Righ stehend erklärte. Um diese neue Gemeinschaft gebührend zu beginnen, gaben wir ein Festmahl für sie und sandten sie am nächsten Tag nach Gwynder Gwydd zurück, wo sie laut den neuen König priesen. Der Rest unserer Rundreise durch Llogres folgte demselben Muster. Leider waren manche Bezirke 152
oder Cantrefs, die früher dicht besiedelt gewesen waren, nun unbewohnt, entweder von den Bewohnern verlassen oder vernichtet. Unsere Kundschafter ritten weit in alle Richtungen, zu den Caers und Festungen und zu den verborgenen Orten im Land. Und überall, wo wir Überlebende fanden - in Traeth Eur, Cilgwri, Aber Archan, Clyfar Cnûl, Ardudwy, Bryn Aryen und anderswo, verkündeten unsere Boten die Neuigkeit: Der Hochkönig ist hier! Ruft eure Leute zusammen, sagt es allen, und kommt zum Versammlungsort, wo er alle empfängt, die ihn als König anerkennen wollen. Die Jahre unter Meldrons Grausamkeit hatten eine erschreckende Veränderung in den Leuten bewirkt. Aus dem schönen Volk Albions waren bleiche, dünne, ausgemergelte Gespenster geworden. Es zerriß mir das Herz, dieses edle Volk so erniedrigt zu sehen. Doch ich fand Trost darin, daß wir viele aus der Angst und Not befreien konnten, die sie so lange gebunden hatte. Faßt neuen Mut, sagten wir ihnen, ein neuer König regiert in Albion; er ist gekommen, um Gerech tigkeit im Land zu schaffen. Als die Cylchedd ihren Lauf nahm, wurden wir alle - jeder Mann und jede Frau unter uns - zu eifrigen Überbringern einer frohen Botschaft. Die Neuigkeit wurde überall mit solcher Freude und Dankbarkeit aufgenommen, daß das ganze Gefolge darum wettei ferte, wer mit der Botschaft vorausreiten durfte - nur um die Freude mitzuerleben, die die Nachricht 153
auslöste. Ja, es wurde meine größte Freude, die Veränderung in den Gesichtern der Zuhörer zu sehen, wenn sie endlich begriffen, daß Meldron tot und seine Streit macht besiegt war. Ich sah die Freude beinahe buch stäblich wie eine glänzende Wolke auf die Leute herabsinken, wenn ihnen die Wahrheit aufging. Ich sah, wie sich gebeugte Rücken wieder aufrichteten und tote Augen zum Leben erwachten. Ich sah, wie Hoffnung und Mut aus toter, kalter Asche neu ent facht wurde. Das Rad des Jahres drehte sich weiter, und die Jah reszeiten wechselten sich ab. Schon wurden die Tage kürzer, als wir unsere Reise durch Llogres beendet hatten und uns Caledon zuwandten. Unser Plan war, in Dun Cruach zu überwintern, bevor wir die Cyl chedd fortsetzten. Ich war dafür, nach Hause zurück zukehren, doch Tegid sagte, nachdem ich die Rund reise einmal begonnen habe, dürfe ich nicht nach Dinas Dwr zurückkehren, bevor ich sie vollendet hatte. »Der Kreis darf nicht durchbrochen werden«, beharrte er. So kam Cynan während des Sollen, der Jahreszeit des Schnees, in den Genuß unserer Gesell schaft.
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Alban Ardduan Wir erreichten Dun Cruach in Caledon gerade rechtzeitig, als das Wetter sich verschlechterte. Regen peitschte herab, und der Wind heulte, als wir durch die Tore ritten. Es war eine gute Reise gewesen, doch wir waren erleichtert, statt unserer Zelte wieder einmal die Wärme und das Licht einer freundlichen Halle zu sehen. Cynan und die Galanae rissen die Türen auf und holten uns herein. »Llew! Goewyn!« rief Cynan und umarmte uns heftig. »Mo anam! Aber wir haben euch schon vor Tagen erwartet. Habt ihr euch etwa verirrt?« »Verirrt! Goewyn, hast du das gehört? Ich lasse dich wissen, Cynan Zwei-Torcs, daß ich persönlich jede Straße, jeden Weg und jeden Fußpfad in Llogres und dem größten Teil Caledons inspiziert habe. Wirklich, die Rehe in den Tälern werden sich eher verirren als Llew Silberhand.« »Ach, Goewyn«, seufzte Cynan, und ich bemerkte, daß er immer noch seinen Arm um sie gelegt hatte. »Warum hast du nur einen so jähzornigen Mann geheiratet? Du hättest lieber mich heiraten sollen. Jetzt siehst du, was du erleiden mußt.« Er schüttelte 155
traurig den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Goewyn küßte ihn leicht auf die Wange. »Ach, Cynan«, seufzte sie, »wenn ich es nur gewußt hätte.« »All dieses Gerede vom Heiraten«, bemerkte ich. »Willst du uns damit irgend etwas sagen?« Der hünenhafte Krieger wurde plötzlich schüchtern. »Wenn du schon davon sprichst, Bruder, ich glaube, ich habe eine Frau gefunden, die mir gefällt.« »Damit ist freilich die Schlacht zur Hälfte gewon nen«, erwiderte ich. »Aber noch entscheidender ist, ob sie denn auch dich haben will?« »Nun«, gestand Cynan mit ungewöhnlicher Zu rückhaltung, »wir haben darüber gesprochen, und sie ist einverstanden. Es trifft sich so, daß wir heiraten werden, während ihr hier seid.« »Bei der Sonnenwende vielleicht«, schlug Tegid vor; er hatte alles mit angehört. »Das ist eine sehr günstige Zeit - der Alban Ardduan.« »Willkommen, Penderwydd«, sagte Cynan herz lich, packte Tegids Arme und umarmte ihn wie einen lange verschollenen Bruder. »Was ist dieser Alban Ardduan?« überlegte ich laut. »Ich habe nie davon gehört.« »Das ist«, erklärte der Barde langsam, »die eine von tausend Sonnenwenden, die mit einem Vollmond zusammenfällt.« »Und«, setzte Goewyn Tegids Erklärung fort, »die untergehende Sonne und der aufgehende Mond stehen gleichzeitig am Himmel und sehen sich an. So wird 156
am dunkelsten Tag die Dunkelheit selbst durchbro chen.« Wie ein Stich durchfuhr mich die Erinnerung, daß Goewyn, wie ihre Schwestern, einst eine Banfáith im Haus eines Königs gewesen war. Govan und Gwenlli an waren tot, und von den drei schönen Schwestern von Ynys Sci hatte nur Goewyn allein überlebt. »Darum«, nahm Tegid den Faden wieder auf, »ist dies ein höchst vielversprechender Tag - ein guter Tag, um ein Unternehmen zu beginnen.« »Ja, tut es dann«, drängte ich. »Wenn je ein Mann solcher Hilfe bedürftig war, dann du, Bruder.« Meine Augen suchten im Getriebe der Halle umher. »Aber wo ist sie, Cynan? Ich möchte die Frau kennenlernen, die dein Herz erobert hat.« »Und ich dachte schon, du würdest nie nach ihr fragen!« rief er fröhlich. Er drehte sich um und winkte jemandem, der ein Stück weit hinter ihm stand. »Ah! Hier kommt sie mit dem Willkommenskelch!« Wir alle drehten uns um und sahen eine gerten schlanke junge Frau mit milchweißer Haut und blassen blauen Augen, die mit einer großen, dampfen den Schale heißen Bieres in ihren langfingrigen, glatten Händen auf uns zukam. Es war leicht zu sehen, womit sie Cynans Aufmerksamkeit erregt hatte, denn ihr Haar war ebenso feuerrot wie seines. Sie trug es lang und offen, und es floß in einer solchen Kaskade von Locken um ihre Schultern, daß ein Mann sich darin verirren konnte. Sie ging mit forschem Schritt 157
und sah uns fest an; eine gewisse Kühnheit umgab sie. Insgesamt sah sie aus, als paßte sie perfekt zu Cynan. »Freunde«, sagte Cynan überschwenglich, »dies ist Tángwen, die vom Glück gesegnete Frau, die sich einverstanden erklärt hat, meine Frau zu werden.« Lächelnd bot sie mir die Schale dar und sagte: »Sei gegrüßt, Silberhand.« Ihre Stimme war tief und rauchig. Als sie mein überraschtes Gesicht sah, lächelte sie wissend und sagte: »Nein, wir sind uns noch nie begegnet. Du würdest dich sonst an mich erinnern, glaube ich. Aber Cynan hat mir so viel von dir erzählt, daß ich das Gefühl habe, dich wie einen Bruder zu kennen. Und wer sonst trägt eine Hand aus Silber an seinem Arm?« Sie reichte mir die Schale, und als ich sie aus ihren Händen nahm, ließ sie ihre Fingerspitzen über meine silberne Hand gleiten. Ich trank von der wärmenden Flüssigkeit und gab die Schale an Tángwen zurück. Sie reichte sie an Tegid weiter. »Ich grüße dich, Penderwydd«, sagte sie. »Dich würde ich sogar ohne den Ebereschenstab erkennen. Es gibt nur einen Tegid Tathal.« Tegid hob die Schale an die Lippen, trank und gab sie zurück, ohne die rothaarige Schönheit aus den Augen zu lassen. Als nächstes wandte sich Tángwen, die seinem Blick gelassen standhielt, zu meiner Königin. »Goewyn«, sagte sie leise, »dich heiße ich besonders herzlich willkommen. Seit ich nach Dun Cruach gekommen bin, habe ich nichts als Lob für Llews Königin gehört. Wir werden gute Freundinnen 158
sein, du und ich.« »Das wäre mir willkommen«, erwiderte Goewyn und nahm die Schale an. Obwohl sie lächelte, bemerk te ich, daß Goewyns Augen sich verengten, als ob sie irgendein Zeichen des Wiedererkennens bei der anderen Frau suchte. Dann hob Tángwen die Schale an ihre eigenen Lippen und sagte: »Seid gegrüßt und willkommen, Freunde. Möget ihr alles finden, was ihr euch von eurem Aufenthalt bei uns erhofft, und möget ihr lange bleiben.« Bei alledem sah Cynan voller Stolz zu. Offensicht lich hatte er sie gut vorbereitet. Sie erkannte uns alle und sprach frei und offen. Ihre unverblümte Art überraschte mich etwas, aber ich konnte mir vorstel len, daß Cynan sie reizvoll fand; er war kein Mann, der viel Geziertheit vertragen konnte. Nachdem sie uns willkommen geheißen hatte, ging Tángwen weiter, um Bran und die Raben zu begrü ßen, die gerade eingetreten waren. Wir sahen ihre geschmeidige Gestalt davongleiten. Cynan sagte: »Ah, sie ist eine Schönheit, findet ihr nicht? Die schönste Blume des Tales.« »Sie ist ein Wunder, Cynan«, pflichtete ich ihm bei. »Aber wer ist sie, und wo hast du sie gefunden?« »Sie ist nicht zum ersten Mal in der Halle eines Königs«, bemerkte Goewyn. »Ich habe den Eindruck, daß Tángwen schon früher die Willkommensschale gereicht hat.« 159
»Du triffst genau ins Herz«, erwiderte Cynan stolz. »Sie ist die Tochter von König Ercoll, der in der Schlacht gegen Meldron getötet wurde. Ihre Leute sind auf der Suche nach einem Unterkommen durch Caledon gewandert und kamen schließlich zu uns. Ich sah sofort, daß sie von edler Art war. Sie wird eine prächtige Königin abgeben.« Nach und nach hatte sich die Halle mit Menschen gefüllt. Köstliche Speisen waren schon in Erwartung unserer Ankunft vorbereitet worden, und als sie gebracht wurden, führte uns Cynan zu unseren Plätzen an der Tafel. Wir aßen und redeten bis spät in die Nacht und genossen die erste von vielen behaglichen Mahlzeiten rund um die Winterfeuerstelle. So verbrachten wir den Winter in Dun Cruach auf angenehme Weise. Wenn die Sonne schien, ritten wir über die dunstverhangenen Hügel oder wanderten über die feuchten Moore, glitten über die nassen Steine und scheuchten Moorschneehühner und Rebhühner auf. Wenn der Schneeregen am Dachstroh rüttelte oder Schnee mit dem kalten Nordwind heran gewirbelt kam, blieben wir in der Halle und spielten Brandub und Gwyddbwyll und andere Spiele -, wie wir es getan hatten, wenn wir auf Ynys Sci überwin terten. Jeden Abend erfüllte Tegid die Halle mit der ver zaubernden Musik seiner Harfe. Es war die pure Freude, in dieser Runde zusammenzusitzen und den Geschichten zu lauschen, die sich die Könige Albions 160
seit undenklicher Zeit angehört hatten. Jeder Augen blick erschien mir wie ein Segen. Als der Tag von Cynans und Tángwens Hochzeit näher rückte, gab Tegid bekannt, daß er zu diesem Anlaß ein besonderes Lied vorbereite. Obwohl viele ihn fragten, um welche Geschichte es sich handele, verriet er nur, daß es eine uralte und eindrucksvolle Erzählung sei, die allen, die sie hörten, großen Segen bringen werde. Indessen kümmerten sich Goewyn und Tángwen um die Vorbereitungen für die Feier. Sie waren oft zusammen und schienen es auch zu genießen. Ich fand die beiden umwerfend schön und hielt Cynan und mich für die glücklichsten Männer in ganz Albion, daß wir uns solcher Frauen rühmen durften. Cynan war sehr zufrieden mit seiner Wahl und erwähnte immer wieder die glücklichen Umstände, die sie zu seiner Schwelle geführt hatten. »Sie hätte überallhin wandern können«, sagte er, »aber es fügte sich so, daß sie hierher kam, zu mir.« Ich sah kaum mehr als einen schlichten Zufall dar in, aber was machte das schon? Wenn Cynan glauben wollte, daß irgendein außergewöhnliches Schicksal sie zusammengeführt hatte, warum sollte ich ihm widersprechen? Jedenfalls hatte sich Tángwen ihren festen Platz im Zentrum von Cynans Haushalt erobert. Sie neigte weder zur Furchtsamkeit noch zur Demut; sie war intelligent und geschickt und sah keinen Grund, eine 161
Sanftmut oder Bescheidenheit vorzutäuschen, die sie von Natur aus nicht besaß. Doch da war etwas an ihr etwas Getriebenes und doch auf eigentümliche Weise Gebändigtes. Sie stand oft abseits, wenn Tegid sang, und sah vom Schatten aus mit fast höhnischem, spöttischem Gesicht zu - als ob sie es verachte, sich zu uns zu gesellen, oder die Freude des Zusammenseins verschmähte. Zu anderen Zeiten schien sie sich zu vergessen und beteiligte sich eifrig. Ich hatte irgend wie das Gefühl, daß sie dem Diktat eines Plans folgte, nicht den Neigungen ihres Herzens. Und ich war nicht der einzige, der das bemerkte. »Da ist eine verborgene Stelle in ihrer Seele«, sagte Goewyn eines Abends, als wir uns in unser Schlaf quartier zurückgezogen hatten. »Sie ist verwirrt und unglücklich.« »Unglücklich? Meinst du? Vielleicht hat sie nur Angst, wieder verletzt zu werden«, meinte ich. Goewyn schüttelte leicht den Kopf. »Nein, sie möchte meine Freundin sein, glaube ich; aber da ist etwas Kaltes, Hartes in ihr, das es nicht zulassen will. Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach in ihr Herz hineingreifen und dieses Etwas herausreißen, und dann wäre alles in Ordnung mit ihr.« »Vielleicht ist das ihre Art, ihren Schmerz zu ver bergen.« Goewyn sah mich seltsam an. »Warum sagst du, sie sei verletzt worden?« »Nun«, sagte ich nachdenklich, »Cynan sagte, ihr 162
Vater sei in einer Schlacht gegen Meldron getötet worden. Ich glaube, ich habe einfach angenommen, daß Tángwen immer noch unter diesem Kummer leidet, wie so viele, denen wir unterwegs begegnet sind.« »Vielleicht«, räumte Goewyn stirnrunzelnd ein. »Aber du glaubst etwas anderes?« »Nein«, sagte sie nach einem Moment. »Das muß es sein. Ich bin sicher, daß du recht hast.« Die Tage schwanden und schrumpften auf Alban Ardduan und Cynans Hochzeit hin. Die Kriegsschar der Galanae und der Rabenflug hatten die Speise kammer mit Jagdbeute aller Art versorgt, und die Öfen wurden nicht kalt, während die Köchinnen die Speisen für das Fest vorbereiteten. Der Braumeister und seine Helfer, die eine starke Nachfrage nach den Früchten ihrer Arbeit voraussahen, arbeiteten uner müdlich daran, die Fässer mit Met und Bier zu füllen. Am Tag vor der Hochzeit wurden die gemästeten Schweine geschlachtet, und am nächsten Morgen erwachten wir bei Dunkelheit mit dem Duft von gebratenem Schweinefleisch in der Nase. Nachdem wir etwas Brot und Wasser zum Früh stück eingenommen hatten, legten wir alle unsere Festtagskleider an und versammelten uns in der Halle, begierig auf den Beginn der Festlichkeiten. Fackeln flackerten in Dutzenden von Halterungen und ver bannten die Dunkelheit auch aus der letzten Ecke. An 163
diesem Tag würden die Fackeln zur Feier des Alban Ardduan vom Morgengrauen bis zur Abenddämme rung nicht verlöschen. Cynan erschien zuerst, prächtig ausstaffiert in rot und orange karierten Breecs und einem gelben Siarc. Er trug einen blau-weiß gestreiften Umhang und die große Goldbrosche seines Vaters. Seinen langen roten Bart hatte er gebürstet und über die breite Brust ausgebreitet, und er hatte sich das drahtige rote Haar hinten zusammengebunden. Seine Torcs aus Gold und poliertem Silber glänzten wie Spiegel. Er lief rastlos hin und her, zupfte nervös an sich herum, klopfte auf seinen Gürtel und rückte seinen Umhang zurecht. »Ein königlicherer Bräutigam ist in Caledon noch nicht zu sehen gewesen«, sagte ich zu ihm. »Aber jetzt steh endlich still. Willst du, daß sie ihren Mann für einen Zappler hält?« »Wo bleiben sie nur so lange?« fragte er und schau te sich zum drittenmal in drei Sekunden nervös in der Halle um. »Ruhig Blut«, sagte ich. »Du hast dein einsames Leben lange ertragen, jetzt kannst du es auch noch ein wenig länger ertragen.« »Und wenn sie nun ihre Meinung geändert hat?« »Goewyn ist bei ihr«, beruhigte ich ihn. »Sie wird ihre Meinung nicht ändern.« »Wo bleiben sie nur so lange?« Er reckte seinen Hals, um noch einmal die Halle zu inspizieren. »Da kommen sie!« sagte er und machte einen Satz vor 164
wärts. »Immer mit der Ruhe - es ist Tegid.« »Ach, es ist nur Tegid.« Wieder begann er an sich herumzuklopfen, als ob er an sich etwas suche, das er verloren hatte. »Wie sehe ich aus?« »Gut genug für zwei Männer. Jetzt steh still, du trampelst ja ein Loch in den Boden.« »Nur Tegid?« wunderte sich der Barde. »Achte nicht auf ihn«, sagte ich zu Tegid. »Cynan ist heute nicht ganz er selber.« »Meine Kehle brennt«, beklagte sich Cynan. »Ich brauche etwas zu trinken.« »Später - nach der Hochzeit.« »Nur einen Becher.« »Keinen Tropfen. Wir wollen doch nicht, daß der König der Galanae während seiner Trauzeremonie aus den Stiefeln kippt.« »Ich sage dir, ich sterbe!« »Dann tu es leise.« Tegid unterbrach uns und sagte: »Da sind sie.« In diesem Augenblick ertönte eine kleine Welle von Stimmen vom anderen Ende der Halle. Cynan und ich drehten uns um und sahen Goewyn und Tángwen näher kommen. Cynans Braut war ein himmlischer Anblick - ein Lodern feuriger Schönheit: Zwei lange Zöpfe, mit goldenen Bändern verziert, zogen sich von ihren Schläfen nach hinten und verloren sich in dem reichen Wasserfall flammendroter Locken, der sich über ihre 165
Schultern ergoß. Sie trug einen purpurroten Umhang und einen aprikosengelben Mantel über einem lachs farbenen Kleid. Ihre Füße waren bloß, und an jedem Knöchel trug sie einen Reif aus dickem Gold, so daß es bei jedem Schritt glitzerte. Auf ihrer Brust trug sie eine herrliche Silberbrosche, rund um den Ring mit leuchtenden, roten Edelsteinen besetzt; die Nadel war mit einer winzigen Silberkette mit dem Ring verbun den, und am Kopf glitzerte ein leuchtend blaues Juwel. Zweifellos war das auffällige Schmuckstück der kostbarste Schatz ihres Vaters gewesen. Cynan konnte sich nicht länger zurückhalten. Er ging auf sie zu, zog sie in seine Arme und trug sie beinahe zu uns an die große Feuerstelle in der Mitte der Halle. »Umgeben von schlachterprobten Freunden in einer glänzend geschmückten Halle zu stehen«, krähte er, »mit einer schönen Frau in den Armen - das ist die größte Freude, die ein Mann erleben kann!« Er wandte sich zu Tángwen, küßte sie und verkündete: »Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens!« Daraufhin legte Tángwen ihre Hand an sein rötli ches Gesicht, drehte seine Lippen zu sich und küßte ihn leidenschaftlich und lange. »Komm, Tegid«, sagte Cynan, »die Braut ist da, die Halle ist gefüllt, und das Festmahl wartet. Vollziehe den Ritus und laß das Fest beginnen!« Mit erhobenem Stab und lauter Stimme rief Tegid die Versammlung auf, Zeugen der Vermählung von Cynan und Tángwen zu sein. Alles drängte heran, und 166
die Zeremonie begann. Cynans Hochzeit verlief ganz ähnlich wie meine eigene. Geschenke und Zeichen wurden ausgetauscht, und als sie die Schale teilten, spürte ich, wie Goewyn meine Hand ergriff. Sie legte ihre Lippen an mein Ohr, flüsterte mir ihre Liebe zu und biß mir leicht ins Ohrläppchen, als sie sich wieder zurückzog. Der Stab des Obersten Barden stieß dreimal scharf auf den Boden, und die Trauung war vorüber. Cynan stieß einen lauten Jubelschrei aus und hob seine Braut empor. Er trug sie zum Tisch und stellte sie darauf. »Clansleute und Freunde!« rief er. »Hier ist meine Frau Tángwen. Grüßt sie alle als Königin der Gala nae!« Der Raum erzitterte unter den Hochrufen, mit de nen die Galanae ihre Königin willkommen hießen. Tángwen stand auf dem Tisch, strahlend vor Schön heit und mit vor Glück glühendem Gesicht, und empfing lächelnd die Huldigungen des Volkes. Allmählich mischte sich etwas Triumphierendes in ihren zunächst bezauberten Gesichtsausdruck - als hätte sie einen Feldzug knapp gewonnen. Cynan streckte die Arme zu ihr empor, und Tángwen ließ sich an seine Brust fallen. Unter allge meinem lautem Jubel umarmten sie sich. Und dann befahl Cynan, Bier zu bringen, damit wir alle auf die Gesundheit des glücklichen Paares trinken konnten. Der Braumeister und seine Männer brachten das erste Faß zum Vorschein und stellten es neben der Feuer 167
stelle auf. Becher und Schalen wurden tief eingetaucht und schäumend wieder emporgehoben. Wir erhoben unsere Schalen und unsere Stimmen. »Sláinte! Sláinte môr!« Wir tranken auf Leben, Gesundheit und Glück. Wir tranken auf das Gedeihen der Herrschaft Cynans. Draußen begann es zu schneien. Ein kalter Wind zog über die Berge hinweg und peitschte den Schnee, der aus einem gebleichten Himmel herabfiel, vor sich her. In der Halle begann das Festmahl: Dampfende Bratenstücke von Reh und Schwein wurden an den Spießen hereingetragen; Platten mit verschiedenen Sorten süßen Brotes; gewaltige Räder blaßgelber Käse und Berge knackiger Äpfel. Wir aßen und tranken und redeten, und dann aßen und tranken wir wieder und verbrachten den Tag in der erleuchteten Halle umge ben von Gemeinschaft und Fülle. Und als wir uns endlich vollgestopft und zufrieden zurücklehnten, rief jemand nach einer Geschichte. Tegid griff nach seiner Harfe und trat vor uns an die Feuerstelle in der Mitte der Halle, angestrahlt vom Schein der Flammen. Er ließ die Finger über die Saiten der Harfe gleiten und wartete, bis jeder einen Platz gefunden und Ruhe in der Menge eingekehrt war. Allmählich fiel Stille auf die Halle. Der Barde erhob seine Stimme und verkündete: »Es ist gut und richtig, die Vereinigung eines Mannes und einer Frau mit Hochzeit und Festmahl und Liedern zu feiern - mehr noch als die Siege der Krieger und die Eroberungen der Könige. Es ist gut und richtig, den Erzählungen unseres 168
Volkes Aufmerksamkeit zu schenken, denn so erfah ren wir, wer wir sind und was von uns in diesem Leben und in dem Leben danach gefordert ist. An diesem Tag vor allen anderen, wenn das Licht des Alban Ardduan auf den Höhen brennt, ist es gut und richtig, uns dem Frohsinn zu überlassen, ist es gut und richtig, uns um das Feuer zu scharen und die Lieder unseres Volkes zu hören. Versammelt euch also und lauscht, alle, die ihr eine wahre Geschichte hören wollt - lauscht mit euren Ohren, Kinder von Albion, und lauscht mit euren Herzen.« Nach diesen Worten neigte er seinen Kopf und verstummte. Dann ließ er seine Finger über die Harfensaiten spielen, beschwor eine Melodie aus der Luft herauf, holte Atem und begann zu singen.
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Der Sohn des Großen Königs Die lieblichen Töne der Harfe fielen wie glitzernde Münzen von Tegids Fingern; oder wie helle Funken, die von einem knisternden Feuer emporgeschleudert wurden, wirbelten sie auf heißen Luftströmen empor zu den dunklen Schatten der Dachbalken. Die Stimme des Obersten Barden erhob sich und verband sich mit der Melodie der Harfe, und die beiden verschlangen sich zu einer unvergleichlichen Harmonie, als er die Erzählung, die er für Alban Ardduan vorbereitet hatte, zu singen begann. Und dies sind die Worte, die er sang: »In den ersten Tagen der Menschen, als der Tau der Schöpfung noch auf der Erde schimmerte, erhob sich ein großer König, der über viele Reiche herrschte und Macht über eine Vielzahl von Clans hatte. Der Name des großen Königs war Cadwallon, und er herrschte lange und mit Weisheit, so daß er den Wohlstand derer, die sich unter seinem Schild bargen, immer mehr steigerte. Es war seine Gewohnheit, abends auf den Ratshügel neben seiner Festung zu steigen und auf seine Länder hinauszublicken, um selbst zu sehen, wie die Dinge mit seinem Volk standen. Und es 170
geschah folgendes... Eines Abends in der Dämmerung, als Cadwallon auf seinem hohen Hügel saß und auf seine Länder hinausblickte, kam ihm der Gedanke, daß seine Ländereien unermeßlich groß geworden seien. ›Ich kann nicht mehr von einem Ende meines Reiches zum anderen sehen, und ich kann mein Volk nicht mehr zählen - allein um die Namen ihrer Stämme aufzuzäh len, würde mein Barde drei volle Tage brauchen. Welche Schande‹, dachte er, ›wenn eine Gefahr drohte und ich würde nicht rechtzeitig davon hören, um mein Volk vor Schaden zu bewahren. Doch das könnte leicht passieren, denn das Reich ist zu groß geworden, als daß ein König allein es regieren könnte. Darum muß ich jemanden finden, der mir hilft, mein Reich zu regieren und mein Volk zu beschützen.‹ Wie sich zeigte, herrschte kein Mangel an Möchtegern-Königen, die begierig waren, ihm beim Regieren zu helfen. Leider nahmen nicht alle von ihnen das Wohlergehen der Clans so wichtig wie Cadwallon, und der Gedanke beunruhigte den großen König, ein selbstsüchtiger Mann könnte auf seinen Befehl hin Macht gewinnen. So begab er sich auf seinen Gorserdd-Hügel, um die Sache zu durchdenken, und sagte: ›Ich werde nicht wieder hinabsteigen, bis ich einen Ausweg aus dieser mißlichen Lage gefunden habe.‹ Während drei Sonnenaufgängen und drei Sonnen untergängen rührte sich Cadwallon nicht von der 171
Stelle, dann drei und noch einmal drei, bis er in der Dämmerung des neunten Tages einen Weg fand, zu entscheiden, welcher seiner Edelleute am würdigsten war, sein Helfer zu sein. Er stand auf und ging voll Zuversicht hinab in seine Festung. Am nächsten Tag ritten Boten in die vier Richtun gen des Königreiches und überbrachten diese Bot schaft: Ihr Edelleute alle, der große König lädt euch ein, eine Jahreszeit lang bei ihm zu weilen und es euch in seiner Halle Wohlergehen zu lassen, wo es Festmahle und Spiele geben wird und die Metkelche nicht aufhören werden zu kreisen. Als die Häuptlinge diesen Ruf erhielten, eilten sie zu ihrem Herrn, Und als sie den Reichtum an Speisen und Trank sahen, der für sie bereitet war, freuten sie sich und riefen, daß von allen Herrschern Cadwallon sicherlich der großzügigste und wohlwollendste sein mußte, von dem man je gehört hatte. Nachdem sie ihrem Rang entsprechend ihre Plätze an der Tafel eingenommen hatten, begann das Fest mahl. Sie aßen, soviel sie zu fassen vermochten, und tranken, soviel sie zu fassen vermochten, und nach dem die scharfe Klinge des Hungers und des Durstes stumpf geworden war, begannen sie, wie es Männer tun, über die verschiedenen Abenteuer zu reden, die ihnen widerfahren waren. Einer nach dem anderen ergriff das Wort, und jeder erzählte seine beste Geschichte, um die anderen damit zu erfreuen. Der große König lauschte den Gesprächen rings um 172
ihn und starrte unglücklich in seinen Becher. Als sie ihn fragten, warum er so finster blicke, erwiderte der große König: ›Wir haben heute manche seltsame Geschichte gehört, aber keine ist seltsamer als die, die ich erzählen werde. Denn von allen Abenteuern ist meines das seltsamste. Bei meinem Leben, ich wünschte, jemand würde mir sagen, was es zu bedeu ten hat.‹ ›Glücklich bist du, o König, wenn das alles ist, das dir Sorgen macht‹, erwiderten die Edelleute. ›Wir sind bereit, zu tun, was du wünschst. Du mußt uns nur deine Geschichte erzählen, und schon bald werden wir deinem Herzen Ruhe verschaffen,‹ ›Dann hört mich an‹, sprach der König, ›aber denkt nicht, daß ihr den Sinn so leicht erkennen werdet, wie ihr meint. Denn ich bin überzeugt, daß diese Ge schichte euch allen keinen geringen Schrecken bereiten wird, bevor sie zu Ende ist.‹ ›Wisse, großer König, daß wir nichts fürchten. Ja, deine Worte wecken unsere Neugier wie nichts anderes, was wir bisher gehört haben. Sprich, wie du willst, du kannst uns nicht erschrecken.‹ ›Zweifellos wißt ihr, was am besten ist‹, sinnierte der König. Nach diesen Worten begann Cadwallon, von seinem Abenteuer zu berichten. ›Ich war nicht immer der König, den ihr vor euch seht‹, sprach er zu den Häuptlingen. ›In meiner Jugend war ich sehr hochfahrend und stolz und glaubte, niemand könne mich mit irgendeiner Waffe 173
schlagen. In der Meinung, ich hätte jede Heldentat gemeistert, die in diesem Weltenreich bekannt ist, rüstete ich mich und ritt in die Wildnis, weitab von den Feldern, die wir kennen. Mit meiner Geschick lichkeit Ehre und Ruhm zu erringen, war mein Ziel, meinen Namen in Liedern gepriesen zu hören, war mein Begehren.‹ ›Was geschah?‹ fragten sie. ›Was fandest du?‹ ›Ich fand das lieblichste Tal, das je ein Mensch gesehen hat. Bäume jeder Art wuchsen in den Wäl dern, und ein breiter Fluß strömte durch das Tal. Ich überquerte den Fluß, fand einen Pfad und ritt weiter, bis ich zu einer unermeßlichen Ebene kam, auf der alle Arten von Blumen blühten. Der Pfad führte weiter, also folgte ich ihm. Drei Tage und drei Nächte ritt ich, und schließlich kam ich auf eine strahlende Festung am Gestade eines blauen Sees. Ich näherte mich jener Festung, und zwei Jungen kamen mir entgegen - beide hatten so dunkle Haare, daß sie mich an die Flügel einer Krähe erinnerten, und beide waren fürstlich gekleidet, mit feinen grünen Umhängen und silbernen Torcs um den Hals. Jeder der Burschen hatte einen Bogen aus Horn mit Saiten aus Hirschsehnen und Pfeile aus Walroßelfenbein mit goldenen Spitzen und Adlerfedern. Ihre Gürtel waren aus Silber und ihre Dolche aus Gold. Und sie schossen ihre Pfeile auf einen Schild, der mit weißer Ochsenhaut bespannt war. Etwas weiter weg stand ein Mann, dessen Haar so 174
hell war, daß es mich an Schwanenflügel erinnerte. Sein Haar und Bart waren fein geschnitten, und um den Hals trug er einen goldenen Torc. Sein Umhang war blau, und sein Gürtel und seine Stiefel waren aus feinem braunen Leder. Ich ritt auf diesen Mann zu mit einem freundlichen Gruß auf den Lippen, aber er war so höflich, daß er mich grüßte, bevor ich etwas sagen konnte. Er lud mich ein, mit ihm in die Festung zu gehen, was ich gerne tat, denn sie war ein wunderbarer Anblick. In der Festung sah ich noch andere Leute, und ich erkannte sofort, daß sie ein wohlhabendes Volk waren, denn der Geringste unter ihnen war ebenso reich angetan wie der erste Mann, und der Größte unter ihnen zeigte nicht weniger als dreimal soviel Reichtum wie der Geringste. Fünf Knechte nahmen mein Pferd und versorgten es besser als die besten Knechte, die ich je gesehen hatte. Und dann führte der Mann mich in die Halle, deren Säulen aus Gold und deren Dach aus Federn gespren kelter Vögel war. Drinnen fand ich prächtige Männer und schöne Frauen - und sie alle unterhielten sich freundlich, sangen, spielten und ließen es sich wohl ergehen. Zwanzig Jungfrauen nähten am Fenster, und die am wenigsten liebliche Jungfrau unter ihnen war schöner als irgendeine Jungfrau auf der Insel der Mächtigen. Und als wir die Halle betraten, erhoben sich diese Jungfrauen, um mich zu begrüßen, und hießen mich auf das Angenehmste willkommen. 175
Fünf von ihnen zogen mir die Stiefel aus und nah men meine Waffen, und fünf streiften mir meine von der Reise abgenutzten Kleider ab und hüllten mich in saubere Kleider - Siarc und Breecs und einen Umhang von feinster Machart. Fünf Jungfrauen deckten den Tisch mit gutem Tuch, und fünf brachten Speisen auf fünf riesigen Platten. Und die fünf, die meine Stiefel und Waffen genommen hatten, brachten nun neue Schaffelle, damit ich mich darauf setzen konnte, und die fünf, die mich angezogen hatten, führten mich zum Tisch. Ich setzte mich neben den Mann, der mich herge bracht hatte, und bei uns saßen noch andere aus dieser erhabenen Gesellschaft. Es gab keinen Becher, keine Schale und keine Platte auf diesem Tisch, die nicht aus Gold oder Silber oder Horn gewesen wäre. Und die Speisen - was für Speisen! Ich habe nie etwas so Köstliches und Sättigendes geschmeckt, wie ich es in jener Halle inmitten dieser fröhlichen Gesellschaft schmeckte. Wir aßen, aber vom ersten bis zum letzten Bissen sprach niemand ein Wort zu mir. Nach einiger Zeit drehte sich der Mann neben mir, als er sah, daß ich mein Mahl beendet hatte, zu mir um und sagte: ›Ich sehe, daß du lieber reden als essen würdest.‹ ›Herr‹, sagte ich, ›es ist höchste Zeit, daß ich je manden habe, mit dem ich mich unterhalten kann. Selbst die besten Speisen sind nichts wert, wenn man sie schweigend verzehrt.‹ 176
›Nun‹, antwortete der Mann, ›wir wollten dich bei deinem Mahl nicht stören. Doch hätten wir gewußt, wie du es empfindest, hätten wir sicherlich früher zu dir gesprochen. Aber laß uns jetzt reden, wenn dich nichts daran hindert.‹ Und er fragte mich, was ich für ein Mann sei und was mich zu ihnen geführt habe. ›Herr‹, sagte ich, ›du siehst vor dir einen Mann von nicht geringem Geschick im Spiel der Waffen. Ich durchstreife die Wildnisse der Welt in der Hoffnung, jemanden zu finden, der mich vielleicht überwinden könnte. Denn ich sage dir die Wahrheit, es macht mir keine Freude, Männer von geringerem Geschick zu besiegen, und es ist lange her, daß ein Krieger in meinem eigenen Land mir die Herausforderung bieten konnte, nach der ich mich sehne.‹ Der edle Fürst lächelte und sprach: ›Mein Freund, ich würde dich mit Freuden zu deinem Ziel führen, wenn ich nicht glaubte, daß daraus Schlimmes er wachsen würde.‹ Bei diesen Worten trat traurige Enttäuschung in mein Gesicht. Als er das sah, sagte der Fürst: ›Doch da du ja Schlimmes und nicht Gutes erstrebst, werde ich es dir sagen. Mache dich bereit.‹ Darauf antwortete ich: ›Herr, ich bin immer bereit‹ ›Dann höre mich an, denn ich sage es dir nur ein mal. Verbringe die Nacht hier, und stehe morgen bei Tagesanbruch auf und schlage den Pfad ein, der dich zu dieser Festung brachte, bis du einen Wald er reichst. Nach kurzer Entfernung in diesem Wald wird 177
sich der Weg gabeln; nimm den linken Pfad, und folge ihm, bis du eine Lichtung mit einem Hügel in der Mitte erreichst. Auf diesem Hügel wirst du einen riesigen Mann sehen. Frage diesen Mann, wohin du gehen sollst, und ich glaube, obwohl er oft unfreund lich ist, wird er dir zeigen, wie du das findest, was du suchst.‹ Jene Nacht war endlos. Alle Zeitalter der Welt hintereinander würden nicht länger dauern als diese Nacht. Wann immer ich zum Himmel hinaufblickte, war der Morgen nicht näher als zu dem Zeitpunkt, an dem ich zuletzt hinaufgeschaut hatte. Endlich jedoch sah ich den Himmel im Osten grau werden und wußte, daß die Nacht zu Ende ging. Ich stand auf, legte meine Kleider an, ging hinaus, stieg auf mein Pferd und brach auf. Ich fand den Wald und auch die Weggabelung, folgte dem linken Pfad und stieß auf die Lichtung mit dem Hügel in der Mitte, genau wie es der edle Fürst mir beschrieben hatte. Auf dem Hügel saß ein Mann. Mein Gastgeber hatte mir gesagt, daß der Mann riesenhaft sei, aber er war noch viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte und viel häßlicher. Er hatte nur ein Auge in der Mitte seiner Stirn und nur einen Fuß; dichtes schwarzes Haar bedeckte seinen Kopf und wuchs auf seinen Schultern und Armen. Er trug einen eisernen Speer, an dem vier Krieger gut zu tragen gehabt hätten, doch dieser Mann schien das Gewicht in seiner Hand gar nicht zu spüren. Und rings um diesen Mann grasten 178
auf dem Hügel Hirsche und Schweine und Waldtiere aller Art - es waren Tausende! Ich grüßte diesen Hüter des Waldes und erhielt eine grobe Antwort. Doch ich hatte nichts anderes erwar tet, und so fragte ich ihn, welche Macht er über die Tiere besaß, die sich so eng um ihn scharten. Wieder gab er mir eine garstige Antwort. ›Kleiner Mann‹, höhnte er, ›du mußt der Dümmste deiner Art sein, daß du das nicht weißt. Doch ich werde dir zeigen, welche Macht ich besitze.‹ Der riesenhafte, haarige Mann ergriff seinen Speer und holte zu einem Schlag gegen einen nahebei stehenden Hirsch aus. Er traf das Tier mit dem Ende des Speers, worauf der Hirsch schrie. Und das Schrei en des Hirsches schüttelte die Bäume und ließ den Boden unter meinen Füßen erzittern. Wilde Tiere aller Art kamen auf den Laut hin herbeigelaufen und sammelten sich aus allen Himmelsrichtungen. Zu Tausenden, ja Zehntausenden kamen die Tiere, bis kaum noch Platz für mein Pferd war zwischen all den Wölfen und Bären und Hirschen und Ottern und Füchsen und Dachsen und Eichhörnchen und Mäusen und Schlangen und Ameisen und all den anderen. Die Tiere schauten zu dem riesigen Hüter auf wie gehorsame Menschen, die ihren Herrn ehren, und er rief sie und befahl ihnen zu grasen, und sie begannen sofort zu grasen. ›Nun, kleiner Mann‹, sagte er zu mir, ›jetzt siehst du, welche Macht ich über diese Tiere habe. Aber ich denke mir, daß du nicht hergekommen 179
bist, um dir Gewißheit über meine Macht zu verschaf fen, so groß sie auch ohne Zweifel ist. Was willst du?‹ Ich sagte ihm, wer ich war und was ich suchte, und er antwortete mir ungehobelt. Kurz, er sagte mir, ich solle weggehen. Doch ich blieb beharrlich, und er sprach: ›Nun, wenn du so dumm bist, nach derglei chen zu streben, dann werde ich dich nicht daran hindern.‹ Er hob seinen eisernen Speer, deutete damit in eine Richtung und sagte: ›Folge dem Pfad, den du am Ende der Lichtung findest. Nach einiger Zeit wirst du einen Berg entdecken; steige den Hang des Berges hinauf, bis du zum Gipfel kommst, und von dort aus wirst du ein riesiges Tal sehen, wie du noch nie eines gesehen hast. Und in der Mitte dieses Tals wirst du einen Eibenbaum sehen, der älter und größer ist als jeder andere Eibenbaum in der Welt. Unter den Ästen dieser Eibe ist ein Teich, und neben dem Teich ist ein Felsen, und auf dem Felsen steht eine silberne Schale mit einer Kette, so daß die Schale und der Felsen nicht voneinander zu trennen sind. Nimm die Schale, wenn du es wagst, und fülle sie mit Wasser, und gieße das Wasser auf den Felsen. Frage mich nicht, was als nächstes geschieht, denn ich werde es dir nicht sagen nicht einmal, wenn du mich tausend Jahre lang danach fragst.‹ ›Großer Fürst‹, sprach ich, ›ich bin kein Mann, der vor irgend etwas zurückweicht. Ich muß erfahren, was als nächstes geschieht, selbst wenn ich tausendundein Jahr hier stehe.‹ 180
›Hat es je einen unwissenderen und törichteren Mann als dich gegeben?‹ fragte der Hüter des Waldes. ›Dennoch werde ich dir sagen, was als nächstes geschieht: Der Felsen wird mit solcher Gewalt zu donnern beginnen, daß du glauben wirst, Himmel und Erde müßten von dem Lärm zerbrechen, und dann wird ein so heftiger und kalter Wasserschauer herab kommen, daß du es wahrscheinlich nicht überleben wirst. Hagelkörner, so groß wie Brotlaibe, werden herabfallen! Frage mich nicht, was als nächstes geschieht, denn ich werde es dir nicht sagen.‹ ›Großer Fürst‹, sprach ich, ›ich glaube, du hast mir genug gesagt. Den Rest kann ich selbst herausfinden. Ich danke dir sehr für deine Hilfe.‹ ›Ha!‹ sagte er. ›Was gilt mir dein Dank, kleiner Mann? Und was die Hilfe betrifft, die du bekommen hast, so wird sie dich wahrscheinlich das Leben kosten. Obwohl ich hoffe, daß ich nie wieder jeman den treffe, der so töricht ist wie du, sage ich dir Lebewohl.‹ Ich folgte dem Pfad, den er mir gezeigt hatte, ritt auf den Gipfel des Berges und erblickte das große Tal und den hohen Eibenbaum. Der Baum war noch viel höher und viel älter, als der Hüter des Waldes mir gesagt hatte. Ich ritt zu dem Baum und entdeckte den Teich und den Felsen und die silberne Schale mit der Kette - alles genau, wie er mir gesagt hatte. Begierig, meine Geschicklichkeit zu erproben, verlor ich keinen Augenblick, sondern ergriff die 181
Schale, füllte sie mit Wasser aus dem Teich und spritzte das Wasser auf den Felsen. Sofort erhob sich ein Donnern, viel lauter als der große Fürst es mir beschrieben hatte, und dann kam ein Wolkenbruch mit Hagelkörnern, so groß wie Brotlaibe. Meine Freunde, ich sage euch die Wahrheit - hätte ich mich nicht unter den Felsen gezwängt, wäre ich heute nicht hier, um diese Geschichte zu erzählen. Und selbst so war ich kurz davor, den Geist auf zugeben, als der Regen und der Hagel aufhörte. Nicht eine grüne Nadel war an dem Eibenbaum mehr übrig, doch das Wetter hatte sich wieder aufgeklart, und nun landete ein Vogelschwarm in den kahlen Zweigen und begann zu singen. Ich bin gewiß, daß noch nie zuvor und nie mehr seitdem ein Mann süßere und anrührendere Musik gehört hat, als ich sie damals hörte. Doch als mein Entzücken über die Musik am größten war, hörte ich ein unendlich trauriges Stöhnen, das anschwoll, bis es das ganze Tal erfüllte. Und aus dem Stöhnen wurden Worte: ›Krieger, was willst du von mir? Was habe ich dir je Böses getan, daß du mir und meinem Reich das angetan hast?‹ ›Wer bist du, Herr?‹ fragte ich. ›Und was habe ich dir Böses getan?‹ Die traurige Stimme antwortete: ›Weißt du denn nicht, daß durch den Wolkenbruch, den du so gedan kenlos ausgelöst hast, kein Mensch und kein Tier in meinem Reich mehr am Leben ist? Du hast alles 182
vernichtet.‹ Bei diesen Worten erschien ein Krieger auf einem schwarzen Pferd, ganz in Schwarz gekleidet; sein Speer war schwarz, und sein Schild war schwarz und schwarz das Schwert an seinem Schenkel vom Griff bis zur Spitze. Das schwarze Pferd schlug mit seinem schwarzen Huf auf den Boden, und ohne ein weiteres Wort griff der furchtbare Krieger mich an. Obwohl er plötzlich erschienen war, war ich bereit. Endlich würde ich mir ewigen Ruhm erwerben, dachte ich und hob rasch meinen Speer, um anzugrei fen. Ich jubelte über die Kraft des Pferdes unter mir und das rasche Näherkommen des großen Kriegers. Doch obwohl mein Angriff geschickter war als der beste Angriff, den ich je gemacht habe, wurde ich rasch von meinem Pferd geworfen und schmählich auf den Boden geschleudert. Ohne mich auch nur anzuse hen oder etwas zu sagen, steckte mein dunkler Gegner seinen Speerschaft durch den Zügel meines Pferdes und führte das Tier mit sich fort, so daß ich allein zurückblieb. Er hielt es nicht für der Mühe wert, mich gefangenzunehmen oder mir auch nur meine Waffen abzunehmen. So war ich gezwungen, auf demselben Weg zu rückzukehren, auf dem ich gekommen war, und als ich die Lichtung erreichte, erwartete mich der Hüter des Waldes, und es ist ein Wunder, daß ich nicht zu einer Pfütze zerschmolz über der Schande, die jener scharfzüngige Fürst über mich häufte. Ich ließ ihn 183
reden, und er tat es mit erlesener Beredsamkeit, dann seufzte ich und machte mich auf den langen, mühsa men Weg zurück zu der strahlenden Festung am Meer. Dort wurde ich noch freudiger begrüßt als zuvor, und man nahm mich noch herzlicher auf und reichte mir noch köstlichere Speisen - wenn das möglich ist -, als ich beim ersten Mal bekommen hatte. Ich konnte mit den Männern und Frauen an jenem wunderbaren Ort reden, soviel ich wollte, und sie redeten freundlich mit mir. Freilich erwähnte niemand meine Reise in das Reich des Schwarzen Fürsten, und auch ich selbst sprach nicht davon. So gewaltig zuvor mein Hochmut gewesen war, so groß war jetzt meine Schande. Ich verbrachte die Nacht dort, und als ich mich erhob, fand ich ein herrliches braunes Pferd mit rostroter Mähne. Ich ergriff meine Waffen und nahm meinen Abschied von dem Herrn der Burg, und dann kehrte ich in mein eigenes Reich zurück. Das Pferd habe ich heute noch, und ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich mich lieber von meiner rechten Hand trennen würde, als dieses Pferd aufzugeben.‹ Da hob der König seine Augen und sah sich in der Tischrunde um. ›Aber es ist die Wahrheit, wenn ich euch sage, daß ich die Hälfte meines Reiches dem Manne gebe, der mir die Bedeutung meines Abenteu ers erklären kann.‹ Damit beendete Cadwallon seine seltsame Erzäh lung. 184
Seine Edelleute waren erstaunt über die Demut ihres Königs, daß er ihnen eine solche, für ihn selbst nachteilige Geschichte erzählt hatte - wie auch über die Merkwürdigkeit der Geschichte selbst. Dann ergriff ein kühner Kriegerfürst namens Hy Gwyd das Wort. ›Ihr Edelleute alle‹, sagte er, ›unser Herr hat uns eine hörenswerte Geschichte erzählt. Und wenn ich mich nicht sehr irre, hat uns unser hochweiser König auch eine Herausforderung gestellt, und zwar diese: daß wir selbst den Sinn dieses seltsamen Abenteuers ergründen. Darum laßt uns handeln, wie es tapfere Männer tun sollten; laßt uns ausziehen, um die Herausforderung des Königs anzunehmen und den Sinn der Erzählung zu entdecken.‹ Und die Edelleute begannen die Angelegenheit untereinander zu besprechen. Sie redeten lange und ernsthaft, denn nicht alle stimmten mit Hy Gwyd überein. Am Ende kamen die Edelleute zu dem Schluß, daß nichts Gutes dabei herauskommen könne, sich in solche Geheimnisse einzumischen, und wollten die Sache lieber auf sich beruhen lassen. Damit wandten sie sich wieder ihrem Fest und den Speisen zu. Doch Hy Gwyd, der ebenso ehrgeizig wie klug war, wollte die Sache nicht ruhen lassen; er sprach weiter für seinen Plan und konnte schließlich seinen Freund, einen Krieger namens Teleri, auf seine Seite ziehen. Während also die anderen am Tisch aßen und tran 185
ken, schlichen sich die beiden Krieger aus der Halle. Sie sattelten ihre Pferde, holten ihre Waffen und ritten von Caer Cadwallon hinaus, gebannt von dem Rätsel, das ihr König ihnen gestellt hatte. Sie ritten weit, kreuz und quer auf der Suche nach den fremden Gegenden, die ihnen geschildert worden waren. Nach einiger Zeit erreichten die beiden Freunde den Wald und den Pfad und erkannten sie als denselben Wald und denselben Pfad, die Cadwallon beschrieben hatte. Sie folgten dem Pfad, erreichten das liebliche Tal und überquerten den breiten, glänzenden Fluß, an dessen Ufer sie den Weg fanden, der zu der endlosen Ebene führte, auf der alle Arten von Blumen blühten. Der Duft der Blumen erfüllte ihre Lungen, und die Lieblichkeit des Landes erfüllte ihre Augen, als sie über die Ebene ritten. Drei Tage und drei Nächte ritten sie, und schließlich kamen sie zu der schim mernden Festung am Ufer des rastlosen Meeres aus tiefstem Blau. Zwei Jungen mit silbernen Torcs und Bogen aus Horn schossen elfenbeinerne Pfeile auf einen weißen Schild - genau wie Cadwallon es geschildert hatte. Ein goldhaariger Mann stand da und sah den Jungen zu, und alle drei begrüßten die Reiter herzlich und luden sie ein, mit in die Festung zu kommen und dort zu speisen. Die Leute, die sie im Innern der Festung sahen, waren sogar von noch edlerer Gestalt und die Jungfrauen noch lieblicher, als sie geglaubt hatten. Diese schönen Frauen erhoben sich, um den Kriegern 186
zu dienen, wie sie auch Cadwallon gedient hatten, und das Mahl, das sie in dieser wundersamen Halle einnahmen, war köstlicher als alles, was sie bisher geschmeckt hatten. Als das Mahl beendet war, sprach der Fürst, der sie empfangen hatte, zu ihnen und fragte sie, was sie hergeführt habe. Hy Gwyd antwortete ihm und sprach: ›Wir suchen den Schwarzen Fürsten, der den Teich bewacht.‹ ›Ich wünschte, ihr hättet alles andere gesagt, nur nicht das‹, erwiderte der Fürst, ›doch wenn ihr ent schlossen seid, die Wahrheit dieser Sache selbst zu ergründen, dann werde ich euch nicht daran hindern.‹ Und er sagte ihnen alles, wie er es auch Cadwallon gesagt hatte. Im Morgengrauen ritten die beiden durch jenes schöne Reich, bis sie die Waldlichtung erreichten, wo der Hüter des Waldes auf seinem Hügel saß. Der Hüter der Tiere war sogar noch häßlicher und ein drucksvoller, als sie angenommen hatten. Sie folgten der widerwillig gegebenen Beschreibung des un freundlichen Fürsten und erreichten das Tal jenseits des Berges, wo der Eibenbaum wuchs. Dort fanden sie die Quelle und die silberne Schale auf dem Felsen. Teleri war dafür, auf demselben Weg zurückzukehren, auf dem sie gekommen waren, doch Hy Gwyd lachte ihn aus und verspottete ihn. ›Wir sind nicht so weit gekommen, um jetzt umzukehren‹, sagte er. ›Ich bin sicher, daß wir uns den Ruhm erwerben werden, den unser König sich nicht erwarb. Gewiß liegt es in 187
unserer Macht, größer zu werden, als es Cadwallon je war.‹ Mit diesen Worten ergriff er die Schale, füllte sie mit Wasser aus dem Teich und spritzte das Wasser über den Felsen. Sogleich begann es zu donnern, und ein Hagelge witter brach herein, viel schlimmer, als Cadwallon es geschildert hatte. Sie dachten, sie müßten gewiß sterben, und waren auch kurz davor, als der Himmel sich aufklarte und die Vögel in der nadellosen Eibe erschienen. Der Gesang der Vögel war schöner und angenehmer, als sie sich hatten vorstellen können, doch als der Gesang ihre Herzen mit Freude erfüllt hatte, begann das Stöhnen. Ja, so grauenvoll klang das Stöhnen, daß es schien, als versänke die ganze Welt in Elend und Tod. Die beiden Krieger blickten auf und sahen einen einzelnen Reiter auf sich zukommen: der Schwarze Fürst, den sie erwartet hatten. Der Schwarze Fürst sah sie bekümmert an und sagte: ›Brüder, was wollt ihr von mir? Was habe ich euch je Böses getan, daß ihr mir und meinem Reich das angetan habt?‹ ›Wer bist du, Herr?‹ fragten die beiden Krieger, ›und was haben wir dir Böses getan?‹ Die traurige Stimme antwortete: ›Wißt ihr denn nicht, daß durch den Wolkenbruch, den ihr so gedan kenlos ausgelöst habt, kein Mensch und kein Tier in meinem Reich mehr am Leben ist? Ihr habt alles vernichtet.‹ Die beiden Krieger sahen sich an und besprachen, 188
was sie tun sollten. ›Bruder, wir brauchen einen Plan‹, bemerkte Teleri. ›Denn es ist alles genau so, wie unser König gesagt hat, und wir sind der Lösung dieses Rätsels nicht näher als zuvor. Ich sage, laß uns jetzt zurückgehen, bevor etwas geschieht, das wir alle bereuen werden.‹ ›Soll ich meinen Ohren trauen?‹ rief Hy Gwyd voller Hohn. ›Wir sind so nahe daran, unermeßliche Ehre und Macht zu erringen. Binde dir einen Speer in den Rücken, wenn es sein muß, aber folge mir. Es gibt kein Zurück.‹ Damit hob Hy Gwyd seinen Schild und seinen Speer. Als der Schwarze Fürst sah, daß sie sich ihm stellen wollten, griff er an und schleuderte beide Krieger aus dem Sattel, so mühelos, als wären sie ungeschickte Kinder. Dann schickte sich der Furcht bare an, ihre Pferde zu nehmen; doch die beiden Krieger sprangen, durch das Beispiel ihres Königs gewarnt, sofort auf, packten den schwarzen Speer und zerrten ihren Gegner vom Pferd. Der Schwarze Fürst erhob sich auf die Knie, und seine Hand fand den Griff seines Schwertes. Doch Hy Gwyd war schneller. Hinauf sauste sein Schwert und wieder hinab: Der Kopf des Schwarzen Fürsten fiel von seinen Schul tern, und sein Leib stürzte zu Boden wie eine gefällte Eiche. Hy Gwyd stützte sich auf sein Schwert, keu chend, aber hochzufrieden mit sich. ›Wir haben es geschafft, Bruder‹, sagte er. ›Uns ist gelungen, woran unser König gescheitert ist. Nun gehört sein Ruhm 189
uns, und wir haben ihn übertroffen.‹ Teleri hatte immer noch nicht seine Sprache wie dergefunden, um zu antworten, als sich ein Stöhnen erhob, das noch viel grauenvoller war als jenes, das sie zuvor gehört hatten. Das Stöhnen schwoll zu einem scharfen Heulen an. Erbärmlich in seinem Elend und herzzerreißend in seinem Kummer hätte der Klang dieses Heulens selbst einem Stein noch Tränen entwinden können. Ja, wenn alles Elend der Welt in einem Augenblick eine Stimme erhielte, so könnte es nicht beklagenswerter klingen. Die beiden Krieger glaubten, den Ansturm solcher Trauer nicht lange überleben zu können. Sie sahen sich nach der Quelle dieses Weinens um und erblickten eine Frau, die auf sie zukam, und oh, sie war grausig anzusehen. Wenn alle Frauenschön heit der Welt mit einem Schlag ranzig und dem knochigen Rücken des abscheulichsten Weibleins aufgeladen würde, so wäre der Anblick dennoch bei weitem nicht so häßlich wie der, den die beiden Kriegerfreunde nun vor sich sahen. Ihr Gesicht war eine einzige Masse von Falten; ihre Zähne schwarz und schief hinter den klaffenden, aufgesprungenen Lippen. Ihr schlaffes Fleisch war eine einzige Masse aus madigen Geschwüren; Läuse und Würmer tum melten sich unaufhörlich in ihrem Haar. Einst hatte sie die feinsten Kleider getragen, doch nun hingen ihre Überreste in schmutzigen Fetzen an ihrem abscheuli chen Leib. 190
Das traurige Heulen kam aus der Kehle dieser ekel haften Frau und wurde mit jedem Schritt, den sie näher kam, trostloser. Als sie den Teich erreichte, sah sie auf den Leichnam des Schwarzen Fürsten hinab und heulte noch lauter als zuvor. Bei dem herzzerrei ßenden Klang fielen Vögel tot aus den Bäumen herab. ›Weh euch!‹ rief sie, und Tränen des Kummers strömten über ihre zerklüfteten Wangen. ›Schaut mich an! So häßlich ich jetzt bin, so schön war ich einst. Was soll aus mir werden?‹ ›Frau, wer bist du?‹ fragte Teleri. ›Warum flehst du uns so an?‹ ›Ihr habt meinen Mann getötet!‹ schrie das entsetz liche Weib. ›Ihr habt mir meinen Mann genommen und mich in einer trostlosen Einöde zurückgelassen!‹ Sie bückte sich zu dem Leichnam vor ihren Füßen hinab, hob den abgetrennten Kopf an den Haaren empor und küßte seinen Mund. ›Weh! Weh! Mein Herr ist tot. Wer wird nun für mich sorgen? Wer wird mein Trost und meine Stütze sein?‹ ›Beruhige dich, wenn du kannst‹, sagte Teleri. ›Was ist es, das du von uns willst?‹ ›Ihr habt den Wächter des Teiches getötet‹, sagte die abscheuliche Frau. ›Er war mein Mann. Nun muß einer von euch seinen Platz einnehmen. Einer von euch muß mich zur Frau nehmen.‹ Mit diesen Worten kam das unheimliche Weiblein auf die beiden Krieger zu. Ein Gestank ging von ihr aus, der ihnen die Knie weich werden und die Gedär 191
me erzittern ließ. Rotäugig vom Heulen, mit laufender Nase und von den Lippen rinnendem Speichel, breitete das Weiblein seine Arme zu ihnen aus; ihre Fetzen fielen auseinander und offenbarten einen Leib, der so abgezehrt und abstoßend war, daß beide Männer ihre Augen schlossen, damit es sie bei dem Anblick nicht würgte. ›Nein!‹ schrien sie. ›Komm nicht näher, sonst fallen wir in Ohnmacht.‹ ›Nun?‹ fragte das Schwarze Weib. ›Wer von euch soll es sein?‹ Sie wandte sich zuerst an Hy Gwyd. ›Wirst du mich umarmen?‹ Hy Gwyd wandte sein Gesicht ab. ›Bleib mir vom Leib, Weib!‹ rief er. ›Ich werde dich niemals umar men!‹ Darauf wandte sie sich an Teleri. ›Ich sehe, du bist ein Mann mit einem größeren Herzen. Wirst du mich umarmen?‹ Teleris Magen drehte sich um. Er spürte Schweiß auf seinen Handflächen und Fußsohlen. Er rang nach Luft, um nicht in Ohnmacht zu fallen. ›Frau, das ist das letzte, was ich tun werde‹, erwiderte Teleri. Daraufhin begann die Frau wieder zu heulen, und ihr Geschrei war so mächtig, daß der Himmel sich verdunkelte und der Wind heraufzog und Regen zu fallen begann und Donner über den Himmel rollte. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte, und die ganze Welt wankte, während krachend Bäume entwurzelt wurden und Berge mit mächtigem Getöse ins Meer 192
glitten. Der plötzliche Einbruch eines so mächtigen Sturms verängstigte die beiden Krieger. ›Laß uns sofort von hier verschwinden‹, rief Hy Gwyd. ›Wir haben alles erreicht, wozu wir hergekommen sind.‹ Doch obwohl ihm das Herz in der Brust verzagte, widerstrebte es Teleri, die Frau zu verlassen, wenn er irgendwie helfen konnte, die Sache in Ordnung zu bringen. ›Frau‹, sagte er, ›auch wenn sich mein ganzes Fleisch dagegen sträubt, werde ich dich umarmen.‹ ›Du bist ein Narr, Teleri!‹ rief Hy Gwyd. ›Du hast sie verdient.‹ Damit sprang er auf sein Pferd und ritt rasch davon, obwohl der Sturm rings um ihn tobte. Teleri raffte all seinen Mut zusammen und trat auf das Weib zu. Tränen traten in seine Augen - wenn er auch nicht wußte, ob es an ihrem Anblick oder an ihrem Gestank lag. Seine Arme zitterten, und seine Kraft floß aus ihm heraus wie Wasser. Er glaubte, sein armes Herz müsse zerspringen vor Schande und vor dem Abscheu in seinem Innern. Dennoch hob er seine zitternden Arme und legte sie um die Frau. Er spürte die Berührung ihrer Hände, kalt wie Eis, wie sie ihn packten und ihre knochigen Finger sich in seine Haut gruben. ›Frau‹, sagte er, ›ich habe dich umarmt, und es ist eine trostlose Umar mung. Der kalte Tote könnte nicht öder, noch das Grab grausiger sein.‹ ›Und nun mußt du bei mir liegen‹, sprach das Weib zu ihm, und er roch ihren fauligen Atem. Aus der 193
Nähe betrachtet war sie noch häßlicher - wenn das möglich war - und schauerlicher und abstoßender als zuvor. ›Bei dir liegen?‹ Teleri verlor beinahe den Verstand. Er dachte an Flucht, aber das Schwarze Weib hatte ihn in den Fängen, und da es kein Entrin nen gab, beschloß er, die Sache hinter sich zu bringen. ›Ich fürchte, das wird eine äußerst widerwärtige Paarung. Doch wenn dich das zufriedenstellt, werde ich es tun - nur um deinetwillen, denn der Gute Gott weiß, daß ich keine Freude daran haben werde.‹ Und so nahm Teleri das Schwarze Weib in die Arme und legte sich mit ihm nieder. Er legte seine Lippen auf ihren stinkenden Mund und küßte sie. Sie vereinten sich, festes Fleisch mit morschen Knochen, doch Teleri konnte es nicht ertragen und wurde ohnmächtig. Als er erwachte, lag er in den Armen des schönsten Mädchens, das er je gesehen hatte. Ihr langes Haar war gelb wie Blütenstaub, ihre Gliedmaßen fest und geschmeidig; ihre Brüste waren wunderschön geformt und ihre Beine schlank und lang. Mit einem er schrockenen Ausruf sprang er auf. ›Wo bin ich?‹ fragte er und hielt sich den Kopf. ›Was ist mit der anderen Frau geschehen, die hier war?‹ Das Mädchen setzte sich auf und lächelte, und es war, als hätte bis zu diesem Augenblick nie die Sonne auf Teleri geschienen. ›Wie viele Frauen brauchst du 194
denn, damit du zufrieden bist?‹ fragte sie, und oh, ihre Stimme war wie das Schmelzen süßen Honigs im Mund. ›Herrin‹, sagte Teleri, ›außer dir brauche ich keine Frau. Versprich mir nur, daß du bei mir bleiben wirst!‹ ›Ich werde bei dir bleiben durch alle Zeiten, Teleri‹, erwiderte die Frau. ›Denn wenn ich mich nicht irre, bin ich deine Frau, und du mein Mann.‹ ›Wie ist dein Name?‹ fragte Teleri, der sich töricht dabei vorkam, eine Frau zu haben, aber ihren Namen nicht zu kennen. Doch die schöne Frau antwortete beschwichtigend: ›Geliebter, mein Name ist das Wort, das deinem Ohr am angenehmsten ist. Du mußt es nur aussprechen, und von da an werde ich so genannt werden.‹ ›Dann werde ich dich Arianrhod nennen‹, sagte er, ›denn das ist der Name, der mir am besten gefällt.‹ Teleri nahm seine liebliche Arianrhod in die Arme und umarmte sie; ihre Haut war weich und glatt, und ihre Berührung erfüllte ihn mit Entzücken. Er küßte sie, und seine Seele stieg auf zu den Höhen der Verzückung. Seine Liebe kannte keine Grenzen. Dann legten sie kostbare Kleider an, wie sie Könige und Königinnen schmücken. Teleri fand sein Pferd nahebei grasend und stieg in den Sattel. Er nahm seine junge Frau vor sich in den Sattel und ritt von dem Teich fort, um auf demselben Weg in seine Heimat zurückzukehren, auf dem er gekommen war. Nach vielen Tagen kehrten Teleri und Arianrhod 195
nach Caer Cadwallon zurück, wo man sie begrüßte und willkommen hieß. Seine früheren Freunde riefen erstaunt durcheinander über Teleris Glück, eine so schöne und weise Frau gefunden zu haben. ›Willkommen daheim, Teleri‹, sagte König Cad wallon. ›Du bist endlich zurückgekehrt. Und ich dachte schon, ich würde mein Reich allein regieren müssen, weil ich niemanden finden konnte, der würdig gewesen wäre, mir zu helfen.‹ ›Was sagst du da, Herr?‹ fragte Teleri. ›Hy Gwyd brach vor mir von dort auf. Er war es, der den Schwarzen Fürsten tötete.‹ ›Ah, aber es ist nicht Hy Gwyd, den ich vor mir sehe‹, antwortete Cadwallon, ›und ebensowenig ist es Hy Gwyd, der angetan mit prächtigen Kleidern an der Seite einer so schönen und königlichen Frau vor mich getreten ist.‹ Der große König schüttelte langsam den Kopf. ›Der Mann, von dem du sprichst, ist nicht zurückgekehrt, und ich glaube, daß er nie mehr kommen wird. Darum soll niemand mehr von ihm sprechen. Denn ich habe den gefunden, der vor allen anderen würdig ist, meinen Thron mit mir zu teilen, und den ich aus diesem Grund über alle anderen Männer in meinem Reich erheben will. Von diesem Tag an bist du mein eigener Sohn, und als mein Sohn wirst du Anteil haben an meiner Macht und meinem Reichtum.‹ Mit diesen Worten nahm der große König den Torc von seinem eigenen Hals, legte ihn um Teleris Hals 196
und übertrug ihm damit eine Königsherrschaft, die nicht niedriger war als seine eigene, und auch nicht weniger ehrenvoll. Teleri konnte sein Glück kaum fassen. Cadwallon rief eine Festzeit im ganzen Reich aus und verursachte großen Jubel bei allen, die ihm Untertan waren. Dann gab er Teleri die Vollmacht über die Hälfte seines Reiches und zog sich selbst in die andere Hälfte zurück, von wo aus er mit großer Freude alles beobachtete, was Teleri tat. Denn Teleri erwies sich in allen Dingen als ein weiser und fähiger König, und je größer Teleris Ruhm wurde, desto größer wurde auch Cadwallons, und wenn Teleris Ehre im Volk wuchs, so steigerte sich auch das Ansehen des großen Königs mit dem seines Adoptivsohnes. Teleri seinerseits war hochzufrieden mit seinem Los und stets darauf bedacht, die Ehre des großen Königs unter den Menschen zu vermehren. Doch von Hy Gwyd hörte er nie wieder, und kein Mensch bekam ihn je wieder zu Gesicht. Es war, als wäre dieser Mann nie geboren worden. Teleri und Arianrhod regierten lange und mit gro ßer Weisheit und freuten sich stets an ihrem Glück. Und die Liebe, mit der sie einander liebten, wuchs, bis sie das ganze Reich des großen Königs mit einer mächtigen, alles durchdringenden Güte erfüllte. So endet die Erzählung vom Sohn des großen Kö nigs. Höre sie, wer mag.«
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Die Keilerjagd An einem klaren, sonnenhellen Tag zu Beginn des Frühjahrs verließen wir Dun Cruach. Die Höhen waren immer noch mit Schnee überzogen, doch ich war begierig, nach Dinas Dwr zurückzukehren. Die Notwendigkeit, zuerst die Rundreise durch Albion zu vollenden, erforderte einen längeren Aufenthalt in Prydain und Caledon. Im Süden gab es immer noch viele Clans und Siedlungen zu besuchen, und wahr scheinlich würde es noch einige Zeit dauern, bis wir unsere Schritte endlich wieder nach Dinas Dwr im Norden würden richten können. Mein Gefolge war seit unserem Aufbruch noch gewachsen. Es schien, als ob an jedem Ort, den wir besuchten, neue Mitglieder hinzukamen. Dun Cruach war keine Ausnahme - Cynan bestand darauf, uns auf unserer Reise durchs südliche Caledon zu begleiten, unter dem Vorwand, es sei schon zu lange her, daß ein König der Galanae dort die Runde gemacht hätte. Nun, da er König war, hatte er das Recht dazu; außerdem würde es sein Ansehen vermehren, wenn er in der Gesellschaft des Aird Righ gesehen wurde. Der wahre Grund, vermutete ich, war jedoch, daß er 198
mit seiner jungen Frau angeben wollte. Aber das störte mich nicht. Es gab uns die willkommene Gelegenheit, wieder einmal Seite an Seite zu reiten. Wie zuvor ritten uns Boten voraus und riefen das Volk zum Llys des Königs. Wir lagerten an den heiligen Orten - an Wegkreuzungen, an Säulensteinen und bei Gorsedd-Hügeln. Dort empfing ich die Gefolgschaftseide der caledonischen Stämme und stellte das Volk - wie in Prydain und Llogres - unter meine Vollmacht und meinen Schutz. Immer wieder wandten sich meine Gedanken Dinas Dwr zu, meiner herrlichen Wasserstadt. Ich fragte mich, wie es den Leuten dort wohl erging und wie die Herden und Getreidefelder gediehen. Ich vermißte mein Zuhause, vermißte meinen zusammengewürfel ten Stamm und fragte mich, ob sie auch mich vermiß ten. Ich sehnte mich nach meiner Feuerstelle und meiner Halle zurück. Die minimalen Freuden des Nomadenlebens verblaßten allmählich - ich fand es schon lange nicht mehr amüsant, in einem Zelt zu schlafen. »Im Süden sind nur noch vier oder fünf Stämme zu besuchen«, tröstete mich Tegid. »Und da zur Zeit immer noch nur wenige Menschen in Prydain leben, wird es nicht mehr lange dauern, bis wir uns wieder auf den Weg nach Norden machen.« »Wie lange?« fragte ich. »Zwanzig -«, erwiderte der Barde. »Zwanzig Tage!« rief ich. Meine Ungeduld ging 199
mit mir durch. »- oder dreißig«, fügte Tegid rasch hinzu. »Viel leicht länger. Sicher kann ich das nicht sagen, bevor wir alle Versammlungsorte im Süden besucht haben.« »Es wird Samhain sein, bevor wir wieder nach Hause kommen - falls überhaupt jemals.« »Keineswegs. Ich schätze, daß wir Druim Vran vor Lugnasadh wiedersehen - reichlich vor der Erntezeit.« Er hielt inne und strahlte zufrieden. »Wir haben unsere Sache gut gemacht. Die Stämme achten dein Königtum. Deine Bruderkönige nehmen dich mit offenen Armen auf. Das ist alles, was wir uns erhofft haben.« Es stimmte, die Rundreise war ein wahrer Triumph gewesen. Wie Tegid gesagt hatte: Die Leute akzep tierten mich als Aird Righ, und ich konnte jetzt schon einen unmittelbaren Nutzen daraus erkennen. Nach der Zeit, die wir gerade mit Siawn Hy und Meldron hinter uns hatten, bot das Hochkönigtum einen beträchtlichen Grad an Stabilität - von dem Frieden ganz zu schweigen. Wenn der alte Ritus der Cylchedd geholfen hatte, das zu bewerkstelligen, dann war ich bereit gleich noch einmal damit anzufangen. Ich würde alles tun, um Albion wieder zu dem zu machen, was es gewesen war, als ich kam. Wirklich alles. »Warum gehst du nicht mit Bran auf die Jagd?« schlug Tegid vor und riß mich damit aus meinen Gedanken. »Wir werden unser nächstes Ziel kurz nach Mittag erreichen. Bran und ein paar von den 200
anderen wollen ein wenig die Wildschneisen erkun den, von denen Cynan gesprochen hat. Du könntest doch mit ihnen gehen.« »Versuchst du mich etwa loszuwerden, Bruder Barde?« »Ja. Geh mit ihnen. Bitte.« Bran nahm mich nur zu gern in seine Jagdgruppe auf. Es war lange her, seit ich zuletzt mit ihm auf die Jagd geritten war, oder überhaupt mit irgend jeman dem. »Es schickt sich nicht, daß der Hochkönig seine Speerspitzen durch Vernachlässigung rosten läßt«, bemerkte er. Ich faßte das als nette Anspielung auf, daß er mich nicht verweichlichen sehen wollte, nachdem ich nun häufiger auf einem Thron als auf einem Schlachtroß saß. Er hatte nicht unrecht. Als wir unseren Lagerplatz für die Nacht erreich ten, holten wir unsere Speere und ritten zum Wald. Es war kurz nach Mittag, wie Tegid gesagt hatte, und es war ein warmer Tag. Kurz nachdem wir in den Wald eingeritten waren, stießen wir auf die erste Wild schneise, doch da wir es für unwahrscheinlich hielten, so nahe am Waldrand etwas zu finden, drangen wir tiefer in das Herz des Waldes vor. Unsere Gruppe bestand aus insgesamt sechs Mann, und als wir auf einen zweiten Pfad stießen, teilten wir uns in drei Gruppen und folgten dem Pfad jeweils zu zweit nebeneinander. Bran und ich ritten mit zwei bis drei Speerlängen Abstand zwischen uns in der Mitte; und obwohl ich die anderen durch den dichten Wald 201
nicht sehen konnte, wußte ich, daß sie in Rufweite waren. Wir ritten eine Weile schweigend und stießen schließlich auf eine Fährte von Wildschweinen. Bran stieg vom Pferd, um sich die Spuren genauer anzuse hen. »Wie viele?« fragte ich. Bran, der über der Fährte kniete, hob den Kopf und sagte: »Ein kleines Rudel. Mindestens vier - vielleicht auch mehr.« Er stand auf und spähte voraus auf die von Schatten durchbrochene Schneise. »Reiten wir noch ein Stück weiter und schauen wir, was wir finden.« Bran und ich ritten ein kurzes Stück weiter die Schneise entlang und blieben dann stehen, um zu lauschen. Die Luft war still in der Tiefe des Waldes; nur das rasche Tak-tak, Tak-tak eines Spechtes durchbrach das undurchdringliche Schweigen. Dann hörten wir ein Stück voraus ein leises, grunzendes Schnaufen - gefolgt vom Knacken eines Zweiges und dem Rascheln trockener Blätter. Bran senkte seinen Speer und deutete auf das dichte Unterholz links vor uns. Wir warteten regungslos, und einen Augenblick später trat eine stattliche Bache vor uns in die Schnei se hinaus, nur ein wenig außerhalb der sicheren Wurfweite. Schweine können nicht sehr gut sehen, aber sie haben ein scharfes Gehör und einen feinen Geruchssinn. Es war jedoch windstill, und wenn wir keinen Laut von uns gaben, bestand die Chance, daß sie näher kommen würden. 202
Wir warteten. Zwei kleine Frischlinge - sie konnten erst Tage zuvor geboren worden sein - folgten ihrer Mutter in die Schneise. Danach kamen noch drei weitere, und sie alle machten leise, miauende Geräusche und versuchten sich unter den Bauch der Bache und zwischen ihre Beine zu drängen, während sie mit gesenkter Schnauze die Schneise entlanglief. Bran schüttelte langsam den Kopf; wir würden nicht die Bache erlegen und die Jungen ohne Mutter zurücklassen. Daher schickten wir uns an, von der Schneise abzubiegen und einen weiten Bogen um sie zu machen - als frischgebackene Mutter, die ihre Jungen schützen wollte, würde sie äußerst empfind lich sein, und wir verspürten keinen Wunsch, sie zu beunruhigen. Doch gerade als wir uns zur Seite wenden wollten, raschelte es im Dickicht, und ein riesiger alter Keiler brach daraus hervor. Er schien eher erschrocken als wütend zu sein, denn er hielt in der Mitte der Schneise, wandte sich hierhin und dorthin - im Bestreben, die Quelle seiner Unruhe zu orten, vermute ich - bevor er sich sammelte, um dann in unsere Richtung zu stürmen. Das verschaffte uns Zeit, uns bereit zu machen, und wir ritten mit gesenkten Speeren vorwärts, als er angriff. Er über brückte die Entfernung zwischen uns mit überra schender Geschwindigkeit. Doch wir standen bereit und hatten uns schon geeinigt, wie wir ihn nehmen wollten; Bran würde das Tier hoch in der Schulter 203
treffen, während ich auf seine Rippen zielen würde. Der Keiler war ein wackerer alter Krieger, gerissen und stark. Sein erster Angriff war eine Täuschung; er warf sich im letzten Moment zur Seite, so daß wir gezwungen waren, unsere Pferde zu zügeln und zu wenden, damit wir ihn weiterhin zwischen uns hatten. Mit hochgewölbtem Rücken, die Borsten über den kantigen Schultern emporgestellt, verharrte er einen Moment lang mit schimmernden Hauern im Schatten, den Kopf gesenkt, und geiferte, während er mit einem Vorderhuf auf den Waldboden trommelte. Die Bache und ihre Brut hatten sich inzwischen kreischend in der anderen Richtung der Schneise davongemacht. Bran und ich machten uns auf den nächsten Angriff gefaßt. Der Puls schlug mir in den Schläfen. Ich spürte, wie sich mein Blut angesichts der Herausfor derung durch diesen alten Keiler erwärmte. Statt zu warten, daß das Schwein den nächsten Schritt be stimmte, trieben wir unsere Pferde vorwärts, um es in der Schneise zu erwischen. Das Tier rührte sich nicht von der Stelle, sondern blieb fest verwurzelt stehen und wartete. Unsere Speere berührten ihn schon fast, als er abrupt nach links ausbrach, auf mich zu - so daß mir seine massive Seite als leichtes Ziel für meinen Speer zugewandt war. Ich holte aus, um zu werfen. Der Keiler mußte die Bewegung gespürt haben, denn er fuhr herum und stürmte direkt auf mich zu. Seine Beine waren eine dunkle Masse und seine Hauer ein weißes Schimmern im Schatten, als er 204
grunzend auf mich zukam. Ich machte mich auf den Aufprall gefaßt, da ich bereits beschlossen hatte, ihn so nahe wie möglich herankommen zu lassen, bevor ich meinen Speer schleuderte. Bran eilte auf mich zu, um einen zweiten Wurf anbringen zu können, falls meiner fehlging. Plötzlich erhob sich ein gewaltiges Quietschen, und zwei weitere Schweine schossen in die Schneise hinaus. Ich sah sie nur als zwei dunkle Streifen, die im spitzen Winkel auf mich zu rasten. Bran schrie laut auf vor Überraschung. Ich riß hart an den Zügeln, und meinem Pferd wären beinahe die Beine eingeknickt, als es versuchte, in einem einzigen, schnellen Bewe gungsablauf zu halten und sich umzudrehen. Das erste Schwein schoß unter den emporgehobe nen Vorderhufen des Pferdes hindurch. Das andere konnte ich mit einem raschen Speerstoß abwehren, als es sich anschickte, seine Hauer in die Flanke meines Pferdes zu treiben. Es war ein junger Keiler, noch nicht völlig ausge wachsen, dünn im hinteren Bereich und leicht in der Brust. Doch was ihm an Masse fehlte, konnte das Tier durch Geschwindigkeit und Entschlossenheit mehr als ersetzen. Denn kaum war es an einer Seite an mir vorbei, griff es schon von der anderen an. Ich rief Bran eine Warnung zu und sah ihn aus dem Augenwinkel dem zweiten Schwein einen kurzen, hackenden Stoß mit dem Speer versetzen. Das Schwein stürzte, rollte mit in der Luft strampelnden 205
Beinen auf den Rücken und ergriff dann kreischend die Flucht. Das verschaffte Bran eine kurze Atempause. Er erhob sich im Sattel und rief mit hallender Stimme durch den Wald nach Hilfe. Ich wollte ebenfalls rufen, doch im nächsten Augenblick war ich schon zu beschäftigt. Der alte Keiler war an Bran vorbeigelau fen und befand sich jetzt hinter mir. Ich hörte ein schnüffelndes Grunzen, als er vorwärts stürmte. Ich ließ mein Pferd herumwirbeln und stieß den Speer hart und schnell hinab. Die Klinge erwischte das Tier auf dem Kamm des harten Muskelfleisches auf den Schultern. Der Speer bog sich, und dann kam ein lautes, split terndes Krachen, als der Schaft in zwei Teile zer brach. Ehe ich mich versah, war ich dabei, seitlich auf den Waldboden zu stürzen. Im Fallen warf ich mein Bein über den Sattel und landete hart auf der Seite. Aber wenigstens war mein Bein nicht unter dem Pferd eingeklemmt. Ich rappelte mich auf und bückte mich nach einem zweiten Speer das Bündel war hinter dem Sattel meines Pferdes festgeschnallt. Bran sah, daß ich in der Klemme war, und warf mir seinen eigenen Speer zu. Er fiel zwei Schritte von mir entfernt zu Boden. Ich sprang darauf zu, riß ihn empor und wirbelte dann zu meinem Pferd herum, ergriff die Zügel und zerrte es auf die Beine. Blut floß aus seinem Sprunggelenk, und ich hoffte, daß es nicht 206
ernsthaft verletzt war. »Llew!« schrie Bran. Ein Speer schoß an meiner Schulter vorbei, als ich mich umdrehte. Das Geschoß streifte den Keiler - gerade genug, um ihn abzulenken. Ich wirbelte herum und stieß mit meinem Speer zu, als er an mir vorüber kam, verfehlte ihn jedoch völlig, da das gerissene Tier zur Seite auswich. Flüssigkeit strömte aus seinen Nüstern, und die Hauer waren mit Schaum überzogen. In diesem Augenblick hörte ich hinter mir ein kra chendes Geräusch, und als ich mich umdrehte, sah ich Emyr und Alun, die uns zu Hilfe kamen. Beim Erscheinen der Neuankömmlinge machten die Schweine kehrt und stürmten durch die Schneise. »Sie fliehen!« rief Alun, trieb sein Pferd an und machte sich an die Verfolgung. Emyr und Bran setzten ihm nach. Ich legte meinen Arm über den Hals meines Pferdes und schwang mich in den Sattel. Einen Augenblick später jagte ich hinter ihnen her. Die Schweine hielten sich am Rande der Jagdschneise, unter die Äste geduckt, wo sie am schwierigsten zu erreichen waren. Unsere Hoffnung auf Wildschweinbraten hing davon ab, ob wir mit ihnen Schritt hielten und zuschlugen, sobald sie aus der Deckung hervor kamen und ins Freie rannten. Dementsprechend hielten wir unsere Speere bereit und ritten in Formation. Dann, als wir mit unserer flinken Beute auf gleicher Höhe lagen, machte die Schneise plötzlich eine Biegung, und wir befanden 207
uns auf einer sonnenbeschienenen, mit Brombeerbü schen bewachsenen Lichtung. In der Mitte der Lich tung stand ein Hünengrab: drei aufrecht gestellte Steine, über denen wie ein Dach eine einzige, gewal tige Felsplatte lag. Das Grab war von einem flachen, grasüberwachsenen Graben und einem ringförmigen Erdwall umgeben. Der alte Keiler senkte den Kopf und rannte quer über die Lichtung, umging das Hünengrab und verschwand auf der anderen Seite der Lichtung im Dickicht. Sein jüngerer Begleiter jedoch war nicht so umsichtig. Das Schwein sprang über den Graben und verschwand, dicht gefolgt von Emyr, hinter dem Hünengrab. Alun und ich bogen ab und eilten zur gegenüberliegenden Seite, um ihm den Fluchtweg abzuschneiden. Bran blieb am Eingang, um das verwegene Tier daran zu hindern, wieder durch die Schneise zu fliehen. Das Schwein kam hinter dem Grab hervor, sah uns und rannte weiter, ein zweites Mal um das Grab herum, Emyr heftete sich an seine Fersen, als es an ihm vorbei kam, und jagte hinter ihm her. Das war wiederum Aluns und meine Chance. Doch das flink füßige Tier schoß zwischen den Steinen hindurch und entging uns. Emyr schrie auf, als das Schwein wieder an seiner Seite auftauchte, und dann sah ich den braunen Fleck, als es um den Ring herum kam und zu seiner dritten Runde weiterraste. Alun hob einen Speer, als das Schwein wieder auf 208
tauchte. Der Speer traf den weichen Boden direkt vor den Vorderbeinen des jungen Keilers. Das Schwein gab ein erschrockenes Grunzen von sich und rettete sich in die Deckung der Grabsteine. Ich sah, wie es in den tiefen Schatten unter dem Dachstein rannte - ich sah seine Umrisse, die sich scharf von dem leuchtenden Grün dahinter abhoben. Und dann verschwand es. Das Schwein zerschmolz einfach vor meinen Au gen zu nichts. Ich sah es verschwinden. Oder besser, ich sah es, und dann sah ich es nicht mehr. Das Geschöpf hatte sich in Luft aufgelöst - mit Hauern, Schwanz, Borsten und allem - ohne auch nur ein Quietschen zurückzulassen. Ich sah es verschwinden, und mein Magen krampf te sich zusammen. Mein Herz sackte herab, und ich fühlte mich plötzlich schwach. Der Speer fiel mir aus den schlaffen Fingern; ich versuchte ihn ungeschickt aufzufangen, doch es gelang mir nicht. Der Speer fiel zu Boden. »Wo ist es hin?« rief Emyr. Er sah zu Alun hinüber, der vorgebeugt mit erhobenem Speer wurfbereit im Sattel lehnte. Keiner von beiden hatte das Schwein verschwinden sehen. »Das Vieh versteckt sich!« erwiderte Alun und deutete auf die Spalte zwischen den Steinen. Vorsichtig näherte sich Emyr dem Hünengrab und stieß mit dem Speer unter den Dachstein, um das Schwein hinauszutreiben. Mit zitternden Fingern 209
ergriff ich meine Zügel und wendete mein Pferd, um die Lichtung zu verlassen. Bran rief mich an, als ich an ihm vorbeiritt. »Haben sie es erlegt?« rief er mir zu. »Llew!« Ich gab keine Antwort. Überwältigt von der Unge heuerlichkeit der Situation, konnte ich nicht sprechen. Ich gab einfach meinem Pferd die Sporen und ritt davon. »Llew! Was ist geschehen?« rief Bran mir scharf nach. Ich wußte, was geschehen war: Das Gewebe zwi schen den Welten war nun so dünn geworden, daß ein verängstigtes Schwein am hellichten Tag die Schwelle überqueren konnte. Das Gleichgewicht zwischen den Welten war aus den Fugen geraten; der endlose Knoten war dabei, sich aufzulösen. Die Anderwelt und die manifeste Welt, die ich hinter mir gelassen hatte, stürzten ineinander. Das Chaos drohte. Ich hörte förmlich das Kreischen der Leere, als ich die Lichtung verließ. Die Kälte ergriff mein Herz und meine Hand: Meine silberne Hand hing kalt an meinem Armstumpf. Die Kälte breitete sich bis in meine Knochen aus. Die Ränder meines Gesichtsfel des wurden schwarz. »Bist du verletzt, Herr?« rief der Anführer der Ra ben mir nach. Ich nahm keine Notiz von Bran und ritt weiter... Goewyn war nicht da. Zweifellos war sie irgendwo mit Tángwen unterwegs. Ich setzte mich auf die rote 210
Ochsenhaut in der Mitte des Zeltes, kreuzte die Beine, verschränkte die Arme vor der Brust und beugte meinen Kopf hinab, bis er fast meine Knie berührte. Während ich wartete, spürte ich, wie eine kalte Flutwelle der Verzweiflung in mir aufstieg. Wenn ich nicht an das dachte, was ich gesehen hatte und was es bedeutete, dann konnte ich verhindern, daß die Flutwelle mich überwältigte. »Beeil dich, Tegid«, murmelte ich und schaukelte langsam vor und zurück. So hielt ich die Flutwelle auf Abstand und verhin derte, daß sie mich verschlang und davontrug. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, doch irgendwann hörte ich einen scharrenden Tritt am Eingang, und dann spürte ich, daß jemand bei mir war. Ich schlug die Augen auf und hob den Kopf. Tegid beugte sich mit sorgenvoll zerfurchter Stirn über mich. »Ich bin hier, Bruder«, sagte er leise. »War die Jagd gut?« Ich schloß die Augen wieder und schüttelte den Kopf. Als ich nicht antwortete, fragte er: »Was ist ge schehen?« Er wartete. »Llew, sag es mir. Was ist geschehen?« Ich hielt ihm meine silberne Hand entgegen. »Sie ist kalt, Tegid. Wie Eis.« Er bückte sich und berührte die metallene Hand nachdenklich. »Für mich fühlt sie sich an wie immer«, meinte er und richtete sich wieder auf. »Erzähl mir 211
von der Jagd.« »Drei Schweine«, begann ich stockend, »Sie liefer ten uns eine gute Jagd. Wir hetzten sie - tief in den Wald. Eines entkam. Zwei verfolgten wir auf eine Lichtung. Dort war ein Hünengrab mit einem Ring. Wir jagten eines der Schweine rund um das Hünen grab, und ... und dann verschwand es.« »Das Hünengrab?« Ich warf dem Barden einen raschen, angewiderten Blick zu, um zu sehen, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. »Das Schwein. Das Schwein ver schwand. Ich sah es verschwinden, und ich weiß, wohin es ging.« »Haben die anderen es auch gesehen?« fragte er. »Darum geht es hier wohl kaum, oder?« fuhr ich ihn an. Tegid sah mich eindringlich an. »Ich habe dieses Schwein schon einmal gesehen«, sagte ich. »Bevor ich nach Albion kam, habe ich dieses Schwein gesehen. Es ist genau wie mit dem Ur, verstehst du?« Tegid verstand nicht. Wie konnte er auch. Also erzählte ich ihm von dem Ur - dem Ur, den wir auf der Flucht nach Findargad gejagt hatten und der in einem Hügel verschwunden war, genau wie es mit dem Schwein geschehen war. »Aber wir haben ihn erlegt«, protestierte Tegid. »Wir haben sein Fleisch gegessen und sind satt davon geworden.« 212
»Es waren zwei da!« sagte ich. »Einer verschwand, und der andere wurde erlegt. Dieser Ur war es, der Simon und mich nach Albion gebracht hat; derselbe, den wir gejagt haben, hat uns auch hergebracht. Und das Schwein, das ich heute gejagt habe, war dasselbe, das ich gesehen habe, bevor ich herkam.« Tegid schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß, was du sagen willst, Bruder, aber ich verstehe immer noch nicht, warum du dich darüber so aufregst«, sagte er. »Es ist bedauerlich, aber -« »Bedauerlich!« Tegid sah mich einen Moment lang stehend an, dann setzte er sich mir gegenüber. Er atmete tief durch und sagte: »Wenn du willst, daß ich dich verstehe, mußt du mir sagen, was das bedeutet« Er sprach langsam, aber mit Schärfe. Es machte ihm sichtlich Mühe, sich zu beherrschen. »Es bedeutet«, sagte ich und schloß meine Augen wieder, »daß Nettles sich geirrt hat. Das Gleichge wicht ist nicht wiederhergestellt. Der Knoten - der endlose Knoten ist immer noch dabei, sich aufzulö sen.«
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Die Rückkehr des Königs Obwohl Tegid und ich lange miteinander sprachen, gelang es mir nicht, ihm begreiflich zu machen, was das Verschwinden des Schweins zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich konnte ich es nicht richtig erklären, zumindest nicht so, daß er es verstehen konnte. Am guten Willen schien es nicht zu fehlen, doch meiner Erklärung fehlte irgendein entscheidendes Element, um ihn überzeugen zu können. Ich konnte ihm die Gefahr nicht verdeutlichen. »Tegid«, sagte ich endlich, »es ist schon spät, und ich bin müde. Gehen wir etwas essen.« Tegid hielt das auch für das Beste; er erhob sich steif und verließ das Zelt. Trübsinnige Gedanken und die Drohung des Untergangs hatten mein Denken so durchdrungen, daß ich völlig verblüfft war, als ich draußen einen überwältigenden Sonnenuntergang vorfand - Rosa, Karmesin, Kupfer, Wein- und Fuchsi enrot waren in mächtigen Pinselstrichen auf den leuchtend hyazinthfarbenen Himmel aufgetragen. Ich blinzelte und stand einen Augenblick lang stumm da. Die Luft war immer noch warm; nur ein Hauch von Abendkühle war zu spüren. Bald würden die Sterne 214
herauskommen, die uns ein weiteres Schauspiel von umwerfender Großartigkeit darbieten würden. Trotz all seiner Plagen hatte Albion noch immer Bestand. Wie war das möglich? Was erhielt es am Leben? Was hielt es noch in den Zähnen des Zusam menbruchs und der Katastrophe aufrecht? »Was siehst du?« fragte Goewyn leise. »Ich sehe ein Wunder«, erwiderte ich. »Ich sehe es, und ich frage mich, wie solche Dinge Bestand haben können.« Als sie Tegid aus dem Zelt hatte kommen sehen, hatte Goewyn ihren Schritt beschleunigt, um mir entgegenzugehen. Sie hatte sich von dem Zelt fern gehalten, während Tegid und ich geredet hatten, doch nun war sie begierig zu erfahren, worüber wir gespro chen hatten. »Bist du hungrig?« fragte sie und ergriff meine Hand aus Fleisch und Blut. Sie sagte nichts davon, daß sie lange gewartet hatte; die Neugier in ihren dunkelbraunen Augen sprach für sich. »Es tut mir leid«, sagte ich zu ihr. »Ich wollte dich nicht ausschließen. Tegid und ich haben uns unterhal ten. Du hättest dich zu uns gesellen sollen.« »Wenn ein König und sein Barde sich beraten, darf niemand dabei eindringen«, erwiderte sie. Ihr Ton enthielt keinerlei Verärgerung, und ich merkte, daß sie trotz ihrer Neugier, die nur natürlich war, jeden bei dem Versuch, uns zu stören, gehindert hätte. »Das nächste Mal werde ich dich holen lassen, Goewyn«, sagte ich. »Es tut mir leid. Verzeih mir.« 215
»Du bist beunruhigt, Llew.« Sie hob ihre kühle Hand zu meiner Stirn und strich mir das Haar zurück. »Geh ein Stück. Entepanne dich. Ich werde etwas zu essen ins Zelt bringen lassen und dort auf dich war ten.« »Nein, geh mit mir. Ich will jetzt nicht allein sein.« Also gingen wir zusammen ein Stück. Wir sprachen nicht. Goewyns unaufdringliche Gegenwart war wie Balsam für meinen aufgewühlten Geist, und ich begann mich etwas zu entspannen. Als die Sterne am Himmel zu erwachen begannen, kehrten wir zum Zelt zurück. »Ruh dich jetzt aus. Ich werde für etwas zu essen sorgen.« Sie ging davon, und ich sah ihr nach. Mein Herz jubelte, als ich sah, wie sie sich bewegte. Ich liebte jede geschwungene Linie ihres Körpers. Meine Melancholie war wie fortgeblasen. Hier, vor meinen Augen, waren Liebe und Leben in Fülle und Freiheit. Hier war eine Seele, die leuchtete wie ein Signalfeuer, und sie leuchtete für mich. Ich wollte sie in die Arme nehmen und für immer festhalten. Verlaß mich niemals, Goewyn. Als ich wieder ins Zelt trat, erwarteten mich Tegid und Bran. Tegid hatte auch Cynan aus seinem Zelt gerufen und mitgebracht. Talgkerzen waren angezün det und auf Ständern entlang der Zeltwand angebracht worden und erfüllten das Innere mit einem rosigen Schein. Sie hörten auf zu reden, als ich erschien. »Das war nicht nötig, Tegid«, sagte ich zu ihm. »Du bist beunruhigt, Bruder«, erwiderte der Barde. 216
»Da ich dich nicht trösten konnte, habe ich deine Häuptlinge hergebracht, damit sie sich um dich kümmern.« Ich dankte ihnen allen, daß sie gekommen waren, beharrte aber darauf, daß es nicht nötig sei, sich um mich zu kümmern. »Ich habe Goewyn, die mich tröstet«, erklärte ich. »Es ist bedauerlich, daß das Schwein entkommen ist«, meinte Bran mitfühlend. »Aber wir können morgen ein anderes finden.« »Die Jagdschneisen sind voll von ihnen«, fügte Cynan hilfsbereit hinzu. Ich schüttelte den Kopf und versuchte noch einmal, es zu erklären. »Es geht nicht um das Schwein. Das Schwein ist mir egal. Es ist das, was das Verschwin den des Schweins bedeutet, was mich beunruhigt. Versteht ihr das?« Ich merkte ihren Gesichtern an, daß sie kein Wort verstanden hatten. Ich versuchte es noch einmal. »Es gibt Probleme«, sagte ich. »Es besteht ein Gleichgewicht zwischen dieser Welt und meiner Welt, und dieses Gleichgewicht ist gestört worden. Ich dachte, durch den Sieg über Siawn Hy und Meldron wäre das Gleichgewicht wiederhergestellt - Nettles glaubte das auch. Aber er hat sich geirrt, und nun...« Die verständnislosen Blicke brachten meinen Vor trag ins Stocken. Ich hatte sie schon wieder abge hängt. »Wenn es Probleme gibt, werden wir es bald wis 217
sen«, meinte Bran. »Und wir werden damit fertig werden.« Gesprochen wie ein Kämpfer. »Um diese Art von Problemen geht es nicht«, antwortete ich. »Wir sind jedem Feind mehr als ebenbürtig«, prahl te Cynan. »Sollen sie kommen. Es gibt keinen Feind, den wir nicht besiegen könnten.« »So einfach ist es nicht, Cynan.« Ich schüttelte seufzend den Kopf. »Glaub mir, ich wünschte, es wäre so einfach.« Tegid, der verzweifelt zu helfen versuchte, bemerk te: »Die Prophezeiung der Banfáith hat sich in allen Dingen als richtig erwiesen. Alles, was geschehen ist, und alles, was noch geschehen wird, ist in der Prophe zeiung enthalten.« »Da, siehst du?« stimmte Cynan befriedigt zu. »Es gibt nichts, worum wir uns Sorgen machen müßten. Die Prophezeiung wird uns leiten, wenn es Probleme gibt. Es gibt nichts, worum wir uns Sorgen machen müßten.« »Ihr versteht es einfach nicht«, sagte ich müde. Es war, als stünde eine Kluft zwischen uns - eine Kluft, die vielleicht so breit und tief war wie der Abgrund zwischen den Welten. Vielleicht gab es einfach keine Möglichkeit für sie, diese Kluft zu überqueren. Wenn Professor Nettleton dortgewesen wäre, so hätte er gewußt, was er sagen mußte, um es ihnen begreiflich zu machen. Nettles hätte gewußt, was das zu bedeuten hatte ... oder vielleicht nicht? Er hatte 218
sich bezüglich meines Verbleibens in Albion geirrt; offensichtlich gab es immer noch eine Arbeit, die ich beenden mußte. Andererseits hatte er vielleicht doch recht gehabt; vielleicht war es mein Bleiben, das die Störung verursachte. Ich stöhnte beinahe laut auf vor Anstrengung, mir einen Reim auf das Ganze zu machen. Warum, warum nur mußte es so schwierig sein? »Wenn es Verständnis ist, was uns mangelt«, mahnte der Barde, »dann laßt uns die Prophezeiung betrachten.« Er preßte die Handflächen zusammen, legte die Fingerspitzen an die Lippen und holte tief Atem. Dann schloß er die Augen und begann mit leiser Eindringlichkeit die Prophezeiung zu deklamie ren, die Gwenllian, die Banfáith von Ynys Sci, mir gegeben hatte. Ich brauchte keine Hilfe, um mich an die Prophe zeiung zu erinnern; ich kannte die Worte der Banfáith so gut, als wären sie mir ins Herz eingemeißelt. Dennoch spürte ich jedesmal, wenn ich diese ernsten, unerbittlichen Worte laut ausgesprochen hörte, das Zittern im Bauch. Diesmal jedoch war es mehr als ein Zittern; ich spürte deutlich, wie eine Macht, die ich nicht kannte, an mir zerrte und mich in eine bestimm te Richtung zog - das Schicksal vielleicht? Ich weiß es nicht. Doch es war, als stünde ich am Meeresstrand inmitten der Flut; ich spürte ihren unwiderstehlichen Sog. Ereignisse hatten sich gesammelt wie Wellen und bewegten sich nun und trugen mich mit sich. Ich 219
konnte widerstehen - ich konnte gegen die Strömung schwimmen - aber am Ende würde ich doch davonge tragen werden. Tegid erreichte das Ende seiner Rezitation: »Bevor Albion eins ist, muß die Heldentat getan werden, und die Silberhand muß herrschen.« Dieser letzte Satz schien Bran und Cynan ungemein zu gefallen. Bran nickte weise, und Cynan ver schränkte die Arme vor der Brust, als hätte er den Tag gerettet. »Die Silberhand herrscht!« erklärte er stolz. »Und wenn die Cylchedd vollendet ist, wird Albion wieder unter einem Aird Righ vereint sein.« »Genauso ist es«, rief Bran begeistert. Ich war immer noch nicht überzeugt, aber mir wa ren die Argumente ausgegangen. Dann erschien Goewyn mit einer ihrer Mägde und brachte unser Abendessen, und so beschloß ich, die Sache fürs erste auf sich beruhen zu lassen. Wenn ernsthaft etwas im argen lag, so würde Professor Nettleton sicher zu rückkehren, um es mir zu sagen, oder mir irgendwie eine Nachricht senden. »Hoffen wir, daß es so ist«, lenkte ich widerstre bend ein, und dann entließ ich sie in ihre eigenen Zelte zu ihrer wohlverdienten Ruhe. »Wir werden wachsam bleiben, Herr«, versprach Bran, als er ging. »Das ist alles, was wir tun können.« »Das ist wahr, Bran. Nur zu wahr.« Er und Cynan gingen hinaus, gefolgt von Tegid, der, obwohl es schien, als ob er mir dringend noch 220
etwas sagen wollte, nur noch einen Moment lang Goewyn ansah, ihr eine gute Nachtruhe wünschte und dann hinausging, um uns mit unserem Mahl und meiner Sorge allein zu lassen. »Iß etwas«, forderte mich Goewyn sanft auf. »Mit leerem Magen kann ein Mann weder denken noch kämpfen.« Sie hielt mir eine Schüssel unter die Nase. Der Duft von gekochtem Fleisch in dicker, salziger Brühe ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich nahm die Schüssel mit meiner Silberhand, tauchte meine Finger ein und begann zu essen. Meine Gedanken kehrten wieder zu den harten Verheißungen der Prophezeiung zurück, und ich aß schweigend, ohne auf Goewyn zu achten, die direkt vor mir saß. »Hier, mein Geliebter«, rief sie mich nach einiger Zeit aus meinen Gedanken. »Für dich.« Ich blickte auf und sah, wie sie einen kleinen Laib Brot in ihren Händen brach. Sie lächelte und reichte mir die Hälfte des Brotes. Eine kleine Geste: ihre zu mir ausgestreckte Hand als ob sie alle unerkannten Gefahren der Zukunft mit einem Stück gebrochenen Brotes vereiteln könnte - es schien so hilflos und schwächlich gegenüber der überwältigenden Ungewißheit. Doch in diesem Augenblick war es genug. Am nächsten Tag nahmen wir die Rundreise wieder auf, und alles ging weiter wie zuvor. Nichts Schreck liches geschah. Die Erde tat sich nicht vor unseren 221
Füßen auf, um uns zu verschlingen; der Himmel stürzte nicht auf uns herab; die Sonne wich nicht von ihrem vorbestimmten Pfad. Und wenn der Abend kam, stieg der Mond auf, um sein freundliches Licht über das Land zu werfen. Alles war, wie es sein sollte. Nach einigen solchen ereignislosen Tagen begann ich mir einzureden, das Verschwinden des Wild schweins sei nur eine Art Nachbeben der Störung gewesen, die durch Simon und Meldron entstanden war; ein einfaches, kleines, isoliertes Ereignis, das keine große Katastrophe ankündigte. Die Wunden Albions heilten, ja, aber es wäre unrealistisch, zu erwarten, daß alles über Nacht wieder wie früher wäre. Zweifellos würde der Heilungsprozeß noch lange andauern. Und schließlich war meine Herr schaft, wie Cynan und Tegid angedeutet hatten, ein wichtiges Element in diesem Heilungsprozeß. Wie konnte ich etwas anderes denken? Gyd, die lieblichste der Jahreszeiten, hatte ihren Lauf vollendet, und Maffar, die Jahreszeit der Sonne, war in vollem Gang, bevor wir unsere Wagen endlich wieder nach Norden wendeten. Ich war froh, die Rundreise gemacht zu haben, doch noch mehr freute ich mich, daß sie nun zu Ende war. Ich vermißte Dinas Dwr und all die Freunde, die wir zurückgelas sen hatten. Und ich wollte sehen, was in meiner Abwesenheit geleistet worden war. Nachdem der südliche Teil unserer Reise vollendet 222
war, verabschiedeten sich Cynan und Tángwen von uns, jedoch nicht, bevor ich ihnen das Versprechen abgenommen hatte, bei uns in Dinas Dwr zu überwin tern. »Schenkt uns die Gunst eurer Gesellschaft. Unsere Halle ist ein Kuhstall, verglichen mit der euren«, erklärte ich. »Und an der Feuerstelle ist es so kalt wie auf der Bergkuppe im tiefen Schnee. Aber das Elend ließe sich leichter ertragen, wenn ihr euch herablassen würdet, unsere magere Verpflegung zu teilen.« »Mo anam!« rief Cynan. »Glaubst du etwa, ich könnte ein so großzügiges Angebot ausschlagen? Sieh zu, daß die Becher gut gefüllt sind, Bruder - Cynan Machae steht vor deinem Tor, wenn der Wind durch die Dachbalken pfeift!« Er und Tángwen kehrten nach Dun Cruach zurück, und wir zogen weiter zum Sarn Cathmail. Als wir uns erst einmal in Richtung Heimat gewandt hatten, kannte meine Ungeduld keine Grenzen mehr. Wir konnten gar nicht schnell genug vorankommen. Tag für Tag ritten wir, ohne dem Ziel näher zu kommen zumindest schien es mir so -, doch meine Rastlosig keit nahm mit jedem Schritt zu; sie brannte in mir wie der Durst in einer ausgedörrten Kehle. Erst als das Gelände allmählich anstieg und ich die hohen Berge im blau schimmernden Dunst der heißen Luft erblickte, stellte sich bei mir das Gefühl ein, daß wir endlich nach Hause kamen. An dem Tag, als ich Môn Dubh erblickte, gab es kein Halten mehr für 223
mich. Ich ritt voraus, mit Goewyn an meiner Seite, und wahrscheinlich hätten wir die anderen weit hinter uns gelassen, wenn Tegid uns nicht daran gehindert hätte. »Du kannst nicht einfach so zurückkommen«, sagte er, als er uns eingeholt hatte. »Gib deinem Volk Gelegenheit, dir ein angemessenes Willkommen zu bereiten.« »Es ist mir schon Willkommen genug, nur Dinas Dwr wiederzusehen«, widersprach ich. »Wir könnten jetzt schon dort sein, wenn du uns nicht aufgehalten hättest. Wir werden vorausreiten. Laß die anderen in ihrem Tempo nachkommen.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nur noch ein Tag, dann wirst du deine Stadt betreten und das Willkommen empfangen, das einem König gebührt. Ich werde Emyr vorausschicken, damit er den Weg für dich bereitet.« Er stellte sich für all meine Ein wände taub und beharrte: »Wir haben den Ritus ohne Fehler befolgt. So laß es uns bis zum Ende halten.« Goewyn stellte sich auf seine Seite. »Tu, was dein weiser Barde dir rät«, drängte sie mich. »Es ist ja nur noch ein Tag, und dein Volk wird dankbar sein für die Gelegenheit, im voraus von der Rückkehr ihres Königs zu erfahren und dich auf eine Art und Weise zu empfangen, die deines Ranges würdig ist.« Also wurde Emyr Lydaw vorausgeschickt, um unsere Ankunft anzukündigen. Ich verbrachte eine weitere Nacht in einem Zelt auf dem Weg. Wie ein 224
Kind am Vorabend eines Festes war ich zu aufgeregt zum Schlafen. Ich lag im Zelt, wälzte mich hin und her und stand schließlich auf und ging hinaus, um mir in meiner Rastlosigkeit die Beine zu vertreten. Es war dunkel; der Mond stand hoch oben und leuchtete hell herab. Im Lager war alles still. Ich hörte einen Waldkauz schreien und kurz darauf den Ant wortruf seines Weibchens in geringer Entfernung. Bei dem Geräusch blickte ich auf und sah eine geisterhaf te Gestalt durch die Baumwipfel flattern. Die umste henden Hügel hoben sich sanft vor dem pechschwar zen, mit Silber besetzten Himmel ab. Alles war dunkel und still, wie es zu erwarten war - bis auf eine kleine Einzelheit: ein hell funkelndes Schimmern auf der Kuppe eines fernen Hügels. Ich sah einen Moment lang hin, bevor ich begriff, was es war: ein Signalfeuer. Im gleichen Augenblick spürte ich eine Kälte in meiner silbernen Hand; einen scharfen, kalten Stich. Ich drehte mich um und suchte die Bergkuppen hinter mir ab, doch ich sah nirgendwo ein antworten des Feuer. Ich fragte mich, was es wohl zu bedeuten hatte, und überlegte, ob ich Tegid aus dem Bett holen und es ihm zeigen sollte. Doch das Leuchtfeuer sank zusammen, und als es verschwunden war, war auch meine Gewißheit über das Gesehene dahin. Vielleicht war es nichts als ein Lagerfeuer von Jägern gewesen; oder vielleicht hatte Scatha Wachen auf dem Berg kamm aufgestellt, um unsere Ankunft zu beobachten. 225
Ich ging um das Lager herum und sprach kurz mit den Wachen am Pferdepferch, doch sie hatten nichts gesehen. Nachdem ich meinen Rundgang beendet hatte, kehrte ich zu meinem Zelt zurück. Ich legte mich auf die Felle, lauschte auf Goewyns tiefes, langsames Atmen und schlief schließlich ein. Früh am nächsten Morgen wachte ich auf, zog mich rasch an und machte mich allgemein unbeliebt, indem ich alle zur Eile antrieb. Wir waren nur einen Tages marsch von Druim Vran entfernt, und wenn wir uns beeilten, würden wir bei Sonnenuntergang den See erreichen und am Abend in Dinas Dwr speisen. Gegen Mittag konnte ich die dunkle Linie des Kammes der Raben erkennen, und ich dachte, wir würden ihn niemals erreichen. Doch als die Sonne im Westen tief hinabzusinken begann, betraten wir die weite Ebene, die sich vor der Bergwand ausbreitete. Der Schatten des Gorsedd-Hügels erstreckte sich lang über die Ebene, und darüber schwebte die abrupt aufragende Masse des Druim Vran. Oben auf dem Kamm stand das Volk, mein Volk, und wartete darauf, uns zu Hause willkommen zu heißen. Mein Herz machte einen Luftsprung bei dem Anblick. »Horch«, sagte Goewyn und legte den Kopf schief. »Sie singen.« Wir waren noch zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen, doch die Stimmen fielen wie ein feiner, frischer Regen aus der Höhe herab. Ich blieb stehen, 226
drehte mich im Sattel herum und rief Tegid zu: »Hörst du das? Was singen sie?« Er schloß zu mir auf und blieb stehen, um einen Moment zu lauschen; dann lächelte er. »Es ist Ari anrhods Gruß«, sagte er. »Das ist das Lied, das Arianrhod ihrem Geliebten zusingt, wenn sie ihn über die Wellen segeln sieht, um sie zu retten.« »Tatsächlich?« fragte ich. »Diese Geschichte habe ich noch nie gehört.« »Es ist eine schöne Erzählung«, sagte Tegid. »Ich werde sie dir bei Gelegenheit vorsingen.« Ich sah wieder zum Bergkamm hinauf und lauschte dem fröhlichen Gesang. Ich hätte nie geglaubt, daß der Anblick meines Volkes, wie es auf dem Kamm stand und sein Willkommenslied ins Tal hinabsang, mich so tief berühren könnte. Meine Augen verschlei erten sich vor Tränen, während ich lauschte; wahrhaf tig, ich war nach Hause gekommen.
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Die Mühle des Aird Righ »Hü! Hü!« rief Goewyn, als sie an mir vorbeiga loppierte. »Ich dachte, du hättest es eilig, nach Hause zu kommen«, rief sie mir zu. Ich trieb mein Pferd an und jagte hinter ihr her. Sie erreichte den Anstieg vor mir und flog stracks den Pfad hinauf, ohne langsamer zu werden. Ich folgte ihr durch den Hagel aus Staub und Kieselsteinen, den die Hufe ihres Pferdes aufwirbelten, doch ich konnte sie nicht einholen. Sie erreichte den Kamm zuerst, glitt aus dem Sattel und drehte sich um, um mich zu erwarten. »Willkommen zu Hause, o König«, sagte sie. Ich warf mein Bein über den Hals des Pferdes und glitt neben ihr zu Boden. »Fürstin, ich verlange einen Willkommenskuß«, sagte ich und zog sie an mich. Die Leute kamen auf uns zugerannt, und bald waren wir von allen Seiten von Leuten umringt, die uns freudig willkommen hießen. Was für eine fröhliche Begrüßung das war! Es herrschte ein herzliches, lautes Durcheinander, und der Empfang war überwältigend. Bald wurden wir von einem schwindelerregenden Wirbel des Will 228
kommens davongetragen. Scatha schob sich in den Vordergrund des Gedrän ges. Sie hob ihre Tochter in den Armen hoch und hielt sie fest; als nächstes umarmte Pen-y-Cat mich und drückte mich fest an sich, und dann ergriff sie meine und Goewyns Hand, sah uns mit leuchtenden Augen an und sagte: »Willkommen, meine Kinder, ich grüße euch.« Sie küßte uns beide und hielt uns zusammen vor sich, während ihre Augen den Anblick aufsogen. »Ich habe euch beide vermißt«, sagte sie. Dann fixierte sie uns nacheinander. »Ihr seid doch noch zu zweit?« »Immer noch nur zu zweit«, verriet meine Braut ihrer Mutter. Sie drückte meine Hand. »Nun«, lenkte Scatha ein, »deswegen seid ihr nicht weniger willkommen. Ich habe mich jeden Tag nach euch gesehnt.« Wir umarmten uns wieder, und ich sah das Crannog auf dem See liegen. »Wie ich sehe, hat Dinas Dwr während unserer Abwesenheit überlebt.« »Überlebt?« dröhnte Calbha, der durch die Menge auf uns zu watete und sich vor uns aufbaute. Die zurückgebliebenen Raben folgten ihm auf den Fersen. »Wir sind geradezu aufgeblüht! Willkommen zu Hause, Silberhand«, sagte er und ergriff meine Arme. »Ist es dir gut ergangen?« »Uns ist es außerordentlich gut ergangen, Calbha«, antwortete ich. »Die Rundreise durchs Land ist vollendet. Alles steht zum Besten.« 229
»Heute abend werden wir eure Rückkehr feiern«, verkündete Scatha. »In der Halle erwartet euch der Willkommenskelch.« Dank Tegids Weitblick hatten Scatha und Calbha Zeit gehabt, ein Festmahl anläßlich unserer Rückkehr vorzubereiten. Mit den Leuten im Schlepptau, die mich so begeistert empfangen hatten, traten wir unseren Weg hinunter zur Stadt auf dem See an; im goldenen Licht der untergehenden Sonne wirkte Dinas Dwr auf mich wie ein Edelstein, der in einem breiten, glänzenden Goldreif leuchtete. Am Seeufer stiegen wir in Boote und ruderten rasch zum Crannog hinüber, wo wir von denen empfangen wurden, die zurückgeblieben waren, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Der Duft von gebratenem Fleisch erreichte uns, kaum daß wir aus den Booten gestiegen waren. Zwei ganze Ochsen und sechs Schweine troffen vor Fett über den Holzkohlegruben; vor der Halle waren Bierfässer aufgestellt worden, und Met wurde aus Schläuchen in Schalen gefüllt. Als wir näher kamen, ergriff ein Dutzend junge Mädchen goldene und silberne Schalen und rannte damit auf uns zu. »Willkommen, Großer König«, sagte ein lächelndes Mädchen mit Grübchen in den Wangen und hob mir die Schale entgegen. »Zu lange bist du fern von deiner Feuerstelle gewesen, Herr. Trink und laß es dir wohl ergehen«, sagte sie reizend, und mir zerschmolz das Herz, als ich es hörte. 230
Ich nahm die Schale, hob sie an die Lippen und trank den süßen, goldenen Nektar. Er war mit Anis versetzt und wärmte mir die Kehle, als er seidenweich über meine Zunge glitt. Ich erklärte, dies sei der herrlichste Trunk, den ich je geschmeckt hätte, und reichte die Schale an Goewyn weiter. Nachdem der König getrunken hatte, konnten die übrigen Schalen, Becher und Krüge verteilt werden; das wurde sofort getan, und das Fest konnte beginnen. Niemand war glücklicher als ich, wieder zu Hause zu sein. Ich betrachtete lange die Halle und die fröhlichen Gesichter all derer, die ich zurückgelassen hatte. Sie waren mein Volk, und ich war ihr König. Ich fühlte mich wahrlich wie ein Heimkehrer, dessen Abwesenheit die Leute geschmerzt hatte und über dessen Rückkehr sie sich über alle Maßen freuten. Erst als ich vor meiner eigenen Halle stand, den mit Kräutern versetzten Met auf der Zunge schmeckte und die Hochrufe mir in den Ohren hallten, erkannte ich, wie weise es von Tegid gewesen war, die Rundreise vorzuschlagen. Indem ich wie ein König ausgezogen war, war ich wahrhaftig zu einem König geworden. Jetzt gehörte ich zum Land; mit Herz und Seele war ich ein Teil davon. Auf eine uralte, geheimnisvolle Weise hatte die Rundreise meinen Geist mit Albion und seinem Volk verschmelzen lassen. Ich spürte, wie sich meine Seele ausdehnte und alle anderen um mich her in sich einschloß, und ich erinnerte mich an all diejenigen, die ich im Laufe meiner Reise durch das 231
Land getroffen hatte. So wie ich diejenigen liebte, die jetzt um mich her standen, so liebte ich sie alle. Sie waren mein Volk, und ich war ihr König. Ich sah Tegid mit einer Schale an den Lippen ein wenig abseits stehen, umringt von seinen Mabinogi. Er spürte, daß ich ihn beobachtete, und ließ die Schale lächelnd sinken. Der gerissene Barde wußte, was geschehen war. Er wußte sehr gut, welche Wirkung die Rundreise und die Heimkehr auf meine Seele haben würden. Er lächelte mich über die Schale hinweg an und hob sie mir entgegen, dann trank er wieder. O ja, er wußte es. Goewyn drückte mir die Schale wieder in die Hän de, und ich hob sie zu Tegid hin und trank ihm zu. Dann teilten Goewyn und ich einen Trunk. Garanaw, der zurückgeblieben war, um Scatha bei der Ausbil dung der jungen Krieger zu helfen, kam und begrüßte mich wie einen Bruder. Wir tranken miteinander, und ich machte eine lange Runde, um all meinen lange entbehrten Freunden zuzutrinken und sie zu begrüßen. Später wurden Speisen gereicht. Berge von Brot und Kuchen und knusprige Stücke gebratenen Flei sches, große, dampfende Kessel voller Lauch, Kürbis se und Kohl. Es war ein herrliches Festmahl: Wir aßen im Fackelschein unter den Sternen, inmitten der dunklen und warmen Nacht. Nachdem wir gegessen hatten, holte Tegid seine Harfe hervor, und wir ließen uns auf den Flügeln des Gesangs davontragen. Unter seinem unvergleichlichen 232
Spiel wurde die Himmelskuppel zu einer gewaltigen Seherschale, gefüllt mit dem schwarzen Eichenwasser aller Möglichkeiten, jeder Stern eine schimmernde Verheißung. Im Osten kündigte sich schon der Morgen an, als wir endlich zu Bett gingen, doch wir schliefen in tiefer Zufriedenheit ein. Einige Tage später verabschiedeten wir uns von Calbha. Er war begierig, zu seinen eigenen Länderei en in Llogres zurückzukehren und sich mit seinem Volk dort niederzulassen, bevor der Sollen einsetzte. Ich beneidete ihn nicht um die Arbeit, die ihm bevor stand. Ich sorgte dafür, daß er eine große Ladung Saatgut und Mehl mitnahm, dazu die besten Schwei ne, Schafe und Rinder, um neue Herden heranzuzüch ten. Ich gab ihm alles, was er brauchen würde, um den ersten Winter zu überstehen, und wir trennten uns mit Schwüren immerwährender Freundschaft und dem Versprechen, einander oft zu besuchen. Er und der Überrest des Stammes brachen mit einem Dutzend hochbeladener Wagen voller Vorräte, Werkzeuge und Waffen auf. Dinas Dwr war es während unserer Abwesenheit wohl ergangen, wie Calbha gesagt hatte. Das Getreide und die Herden waren prächtig gediehen, die Leute hatten von allem genug und waren zufrieden. Das Grauen, das unter dem Großen Hund Meldron über das Land hereingebrochen war, verblaßte, und mit ihm die abscheulichen Nachwirkungen, die seine 233
Herrschaft hinterlassen hatte. Nachdem ich meine Cylchedd durch das Land voll endet hatte, war ich nicht zufrieden damit, auf mei nem Thron zu sitzen und den Lauf der Welt zu beobachten. Nein, ich war eifriger als je darauf bedacht, ein guter König zu sein. Während die war men Tage vergingen, dachte ich viel darüber nach, was ich tun könnte, um meinem Volk Nutzen zu bringen. Was konnte ich ihnen geben? Mein Barde schlug vor, daß ich ihnen eine weise Führung geben sollte, aber ich hatte etwas Faßbareres im Sinn: ein Bauwerk, eine Brücke oder eine Straße zum Beispiel. Doch keines von beiden schien ganz das Richtige zu sein. Wohin sollte eine Straße führen? Und welches Gewässer brauchte eine Brücke, die es überspannte? Ich wanderte ein paar Tage lang umher und ver suchte mir darüber klarzuwerden, welches Unterneh men dem Volk am meisten nützen würde. Und das Glück wollte es, daß ich eines Morgens zwischen den Baracken und Werkstätten am Seeufer hindurchging und das langsame, schwere Ächzen des Mahlsteines hörte. Ich drehte mich um und blickte vom Weg hinauf, wo zwei Frauen über ein mächtiges Doppelrad aus Stein gebeugt standen. Eine der Frauen drehte den oberen Stein mit einem Stab, während die andere getrocknetes Getreide in ein Loch in der Mitte schüt tete. Sie sahen, daß ich sie beobachtete, und grüßten mich. 234
»Macht weiter«, sagte ich, »ich möchte eure Arbeit nicht unterbrechen.« Sie nahmen ihre Arbeit wieder auf, und ich sah ihnen zu, wie sie sich abmühten. Ihre schlanken Rücken beugten sich, und ihre wohlgeformten Arme stemmten sich gegen den Stab, um den schweren Stein zu drehen. Es war harte Arbeit für eine Mahl zeit, die in einem Augenblick verzehrt werden würde, und morgen würde es wieder Getreide zu mahlen geben. Als sie fertig waren, sammelten die Frauen das Mehl ein, das um den Mahlstein herum lag, indem sie es mit einem Strohbesen bis zum letzten Krümel in ihren Sack fegten. Dann verabschiedeten sie sich von mir und gingen. Kaum war der Mahlstein jedoch frei, erschienen schon zwei weitere Frauen, holten sich Getreide aus dem Lagerhaus und begannen ebenfalls, ihr Korn zu mahlen. Dies war keine neue Aufgabe in Dinas Dwr. Ge nauso war es seit Menschengedenken gemacht worden, wahrscheinlich seitdem die erste Ernte eingesammelt und getrocknet worden war. Doch dies war das erste Mal, daß mir bewußt wurde, was für eine Schwerarbeit es war. Und so kam ich darauf, welche Gabe ich meinem Volk geben würde. Ich würde ihnen eine Mühle geben. Eine Mühle! So ein schlichtes Ding, im Grunde elementar. Und doch ein Wunder, wenn man keine hat. Und wir hatten keine. Auch sonst hatte niemand eine. Soweit ich wußte, hatte es in Albion noch nie 235
eine Kornmühle gegeben. Als ich daran dachte, wieviel Zeit und Mühe sich ersparen ließ, erschien es mir rätselhaft, wieso ich nicht schon früher darauf gekommen war. Und nach der Mühle würden mir noch andere, vielleicht noch erhabenere Unternehmen einfallen. Die Mühle war nur der Anfang, aber sie war ein gutes Vorhaben, um damit zu beginnen. Ich kehrte zum Crannog zurück und rief meinen weisen Barden zu mir. »Tegid«, sagte ich, »ich werde eine Mühle bauen. Und du wirst mir dabei helfen.« Tegid starrte mich skeptisch an und zupfte an seiner Unterlippe. »Du weißt doch«, erklärte ich, »eine Mühle - mit Steinen, um Getreide zu mahlen.« Er blickte etwas verwirrt drein, stimmte mir aber zu, daß der Bau einer Mühle, grundsätzlich betrachtet wenigstens, ein lohnendes Unterfangen sei. »Nein, ich meine nicht ein Paar Mahlsteine, die von Hand gedreht werden. Diese Steine werden viel größer sein.« »Wie groß?« fragte er und beäugte mich zweifelnd. »Riesig. Gewaltig! Groß genug, um das Getreide für eine ganze Jahreszeit in ein paar Tagen zu mahlen. Was hältst du davon?« Dies schien Tegid nur noch mehr zu verwirren. »Ein würdiger Plan, wahrhaftig«, erwiderte er. »Allerdings will mir scheinen, daß so große Mahlstei ne ziemlich schwierig zu bewegen sein dürften. Denkst du an Ochsen?« »Nein«, erwiderte ich. »Ich denke nicht an Och 236
sen.« »Gut«, bemerkte er mit einiger Erleichterung. »Ochsen müssen gefüttert werden und -« »Ich denke an Wasser.« »Wasser?« »Genau. Es wird eine Wassermühle.« Die Ratlosig keit in seinem Gesicht war köstlich. Ich mußte lachen, als ich ihn ansah. Er holte Luft, um zu protestieren, doch ich sagte: »Das ist eine einfache Erfindung aus meiner Welt. Aber es wird hier auch funktionieren. Komm, ich zeige dir, wie ich es meine.« Ich kniete mich hin und zog meinen Dolch. Nach dem ich ein paar Linien in die Erde gezogen hatte, sagte ich: »Das ist der Bach, der in den See fließt.« Dann zeichnete ich einen gewellten Kreis. »Das ist der See.« Tegid betrachtete die Kritzeleien und nickte. »Also...« Ich zeichnete ein Viereck auf dem Bach. »Wenn wir an dieser Stelle einen Damm errichten -« »Wenn wir an dieser Stelle einen Damm bauen, wird der Bach die Grasebene überschwemmen, und das Wasser wird den See nicht mehr erreichen.« »Stimmt«, nickte ich. »Es sei denn, das Wasser hätte eine Möglichkeit, an dem Damm vorbeizukom men. Siehst du, wir bauen ein Wehr mit einer ganz schmalen Öffnung und lassen das Wasser langsam hindurchfließen - durch ein sich drehendes Rad. Ein Rad, das aus Paddeln besteht.« Ich zeichnete grob ein 237
Rad mit flachen Paddeln und deutete mit der Hand an, wie das Wasser gegen die Paddel drücken und das Rad in Drehung versetzen würde. »So. Verstehst du? Und dieses sich drehende Rad wird mit dem Mühl stein verbunden.« Ich verschränkte meine Finger, um die ineinandergreifenden Zähne zweier sich drehender Zahnräder anzudeuten. Tegid nickte verstehend. »Und wenn sich das Rad dreht, dreht sich der Mühlstein mit.« »Genau.« Tegid runzelte die Stirn und starrte die Linien im Erdboden an. »Ich vermute, du weißt, wie das zu bewerkstelligen wäre?« sagte er endlich. »Sicher«, behauptete ich zuversichtlich. »Ich mei ne, ich glaube schon.« »Das ist ein Wunder, das ich gerne sehen würde.« Tegid sah die Zeichnung nachdenklich an und fragte: »Aber werden die Leute nicht dadurch faul werden?« »Keine Sorge, Bruder. Die Leute haben mehr als genug zu tun, ohne daß sie jedes einzelne Getreide korn von Hand mahlen müssen, glaube mir.« Tegid richtete sich auf. »Na, dann los. Wie willst du vorgehen?« »Als erstes werden wir die Stelle auswählen, wo wir das Wehr bauen wollen.« Ich stand auf und steckte meinen Dolch wieder in den Gürtel. »Dabei könnte ich deinen Rat gebrauchen.« »Wann willst du anfangen?« »Sofort.« 238
Wir verließen das Crannog und gingen am Seeufer entlang zu der Stelle, wo der Bach, der unterhalb des Bergkamms entlangfloß, in den See mündete. Dann folgten wir dem Bach auf die Bergwand zu. Wir gingen am Bach entlang und blieben hin und wieder stehen, damit Tegid sich umsehen konnte. An einer Stelle ungefähr auf halbem Wege zur Bergwand - wo der Bach zwischen tief eingeschnittenen Uferbö schungen aus den Bäumen hervortrat, die sich an den Hängen des Druim Vran erhoben - blieb der Barde stehen. »Hier«, sagte Tegid und klopfte mit seinem Stab auf den Boden, »ist meiner Meinung nach die beste Stelle für deine Wassermühle.« Der Ort erschien mir nicht gerade vielversprechend. »Hier ist kein Platz für ein Wehr«, wandte ich ein. Ich hatte an einen flachen, ruhigen Mühlteich gedacht, in dessen geschecktem Schatten sich braune Forellen tummelten - nicht an einen steilen Abhang am Berg. »Das Wehr wird sich hier leicht ausheben lassen«, erwiderte Tegid. »Holz und Steine sind leicht zu erreichen, und hier beginnt das Wasser seinen raschen Fluß zum See hinab.« Ich musterte den Fluß des Wassers einen Moment lang und blickte am Bachlauf entlang zurück; ich betrachtete die bewaldeten Hänge und die felsigen Uferböschungen. Tegid hatte recht, hier war eine gute Stelle für eine Mühle; anders, als ich es mir gedacht hatte, aber hier ließ sich die Schwerkraft viel besser 239
ausnutzen, um das Mühlrad zu drehen, und es war viel leichter zu verhindern, daß das Wasser die Grasebene überschwemmte. Ich fragte mich, was der scharfsin nige Barde wohl von Dingen wie Schwerkraft und Hydraulik verstand. »Du hast recht. Das ist die richtige Stelle. Hier werden wir unsere Mühle bauen.« Die Arbeit begann noch am selben Tag. Als erstes ließ ich die Stelle vom Unterholz befreien. Während das getan wurde, suchte ich nach einer Möglichkeit, einige von meinen Ideen aufzuzeichnen, und ent schied mich schließlich für einen angespitzten Kie fernzweig und eine Tafel aus gelbem Bienenwachs. Damit begann ich meinen Baumeister, einen Mann namens Huel Gadarn, über die Funktionsweise wassergetriebener Mühlen zu unterrichten. Er war ebenso schnell von Begriff wie geschickt; ich brauch te nur ein paar Striche auf die Wachstafel zu kratzen und schon hatte er nicht nur die Form dessen verstan den, was ich zeichnete, sondern auch die zugrunde liegende Idee. Der einzige Aspekt der Prozedur, der ihm zu schaffen machte, war es, wie die Bewegung des Wasserrades auf die riesigen Mahlsteine übertra gen wurde. Doch diese Schwierigkeit beruhte mehr auf meiner mangelnden Fertigkeit, ein Getriebe zu zeichnen, als auf irgendeiner Unzulänglichkeit seinerseits. Als nächstes bauten wir ein kleines Modell der Mühle aus Zweigen, Rinde und Lehm. Als das fertig 240
war, hatte ich die Gewißheit, daß Huel alle Elemente des Unternehmens fest im Griff hatte. Ich war völlig unbesorgt, daß der Baumeister Huel bei ausreichender Zeit und Neigung die Mühle selbst würde bauen können. Wir konnten anfangen. Sobald die Baustelle gesäubert war, würden wir beginnen, das Wehr auszugeben. Doch dann begann es zu regnen. Den ersten Tag verbrachte ich damit, verschiedene Getriebe zu zeichnen. Am zweiten Tag fing ich an, ungeduldig auf und ab zu gehen. Am vierten Tag, der ebenso grau und naß dämmerte wie die drei Tage davor, ging ich auf und ab und verfluchte das Wetter. Goewyn ertrug mich, solange sie konnte, verlor jedoch schließlich die Geduld und informierte mich, daß kein noch so riesiger Mahlstein den Ärger wert war, den ich verursachte. Damit schickte sie mich fort und meinte, ich könne woanders weiter herumstolzie ren, wie sie es nannte. Ich verbrachte einen feuchten, rastlosen Tag in der Halle, lauschte den trägen Gesprächen und fieberte danach, an der Baustelle zu sein. Glücklicherweise dämmerte der nächste Tag klar und hell, und wir konnten endlich - und mit Goewyns nachdrücklichem Segen - damit beginnen, das Fundament für Albions neues Wunder auszuheben: die Mühle des Aird Righ.
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Eindringlinge Maffars lange Tage voller Wärme und Seligkeit gingen dahin, und das Jahresrad drehte sich langsam weiter. Rhylla setzte mit einem glänzenden Leuchten ein, doch die goldenen Tage und die schneidend kalten Nächte trübten sich rasch ein. Die kräftigen Farben verblaßten, und das Land welkte unter dem windigen, grauen Himmel und dem kalten, alles durchtränkenden Regen. Unsere Ernte, die im Vorjahr so reichlich gewesen war, erbrachte aufgrund des Regens weniger als erwartet. Tag für Tag beobachteten wir den Himmel und hofften auf einen Wetterumschwung und ein paar sonnige Tage, um das Getreide trocknen zu können. Fäule setzte ein, bevor wir alles einbringen konnten. Dank der Fülle unserer letzten Ernte war es zwar keine Katastrophe, aber eine Enttäuschung war es dennoch. Die Fortschritte an der Mühle verlangsamten sich, und ich wurde unruhig. Da Sollen bereits seine eisigen Finger nach uns ausstreckte, war ich begierig, soweit wie möglich zu kommen, bevor der Schnee der Arbeit ein Ende setzen würde. Ich trieb Huel und seine 242
Arbeiter erbarmungslos an. Manchmal befahl ich ihnen, trotz des Regens zu arbeiten, wenn er nicht zu heftig war. Je kürzer die Tage wurden, desto rastloser und fordernder wurde ich. Ich ließ Fackeln und Kohlenbecken zur Baustelle bringen, damit wir nach Einbruch der Dunkelheit weiterarbeiten konnten. Tegid griff schließlich ein; er kam eines Abends auf mich zu, als ich zitternd von einem windigen Tag im Regen zurückkehrte. »Du hast viel geleistet«, bestätigte er mir, »aber du gehst zu weit. Sieh dich um, Silberhand; die Tage sind kurz, und das Licht ist nicht mehr gut. Wie lange, glaubst du, wird der Himmel den Schnee noch zurückhalten? Komm, es ist Zeit, zur Ruhe zu gehen.« »Und die Mühle im Stich lassen? Alles liegenlas sen, was wir getan haben? Tegid, du redest Unsinn.« »Habe ich gesagt, daß du irgend etwas liegenlassen sollst?« schnaubte er. »Du kannst wieder anfangen, sobald es Gyd ist und der Himmel wieder klar wird. Jetzt ist die Zeit, um sich auszuruhen und sich in der Halle mit angenehmeren Dingen zu beschäftigen.« »Nur noch ein paar Tage, Tegid. Das wird nieman dem weh tun.« »Es ist zu unserem eigenen Schaden, wenn wir die Jahreszeiten mißachten«, erwiderte er steif. »Wir werden noch reichlich Zeit haben, an der Feuerstelle zu faulenzen, keine Sorge.« Als ich früh am nächsten Morgen zur Baustelle hinaustritt, bedauerte ich meine Worte. Wir hatten 243
hart gearbeitet, sehr hart; aber der Bau der Mühle war spät im Jahr begonnen worden, und nun hatte sich das Wetter gegen uns gewandt. Es war absurd von mir, von den Männern zu erwarten, daß sie in Dunkelheit, Feuchtigkeit und Kälte arbeiteten, und ich war ein Narr, es von ihnen zu verlangen. Schlimmer noch, ich verwandelte mich in einen Tyrannen: selbstsüchtig, rücksichtslos, besessen und diktatorisch. Meine großartige, arbeitsparende Gabe hatte bisher allen nur einen Haufen zusätzlicher Arbeit gebracht. Mein weiser Barde hatte recht. Der altbewährte Rhythmus der Jahreszeiten von Arbeit, Spiel und Ruhe erfüllte den Zweck, in dem heiligen Muster des Lebens ein Gleichgewicht zu wahren. Ich hatte dieses Gleichgewicht zu sehr verschoben, und es war an der Zeit, dies wieder in Ordnung zu bringen. Der Tag war klar und frisch angebrochen, mit blas sem, aber hellem Sonnenlicht; der kühle Ostwind kitzelte mit dem frischen Duft von Schnee in der Nase. Ja, dachte ich, als ich die verlassene Baustelle erreichte, es war an der Zeit, die Arbeit für den Winter einzustellen. Ich stieg ab und machte einen Rundgang, um die Aushebungen zu begutachten, und wartete, bis Huel und seine Bauleute eintrafen. Trotz der ständigen Verzögerungen hatten wir an dem Bauwerk gute Fortschritte gemacht: Ein flaches Wehr war ausgehoben und mit Steinen ausgekleidet worden; das aus Balken und Steinen bestehende 244
Fundament für das Mühlhaus war errichtet. Im Frühjahr würden wir die riesigen Mahlsteine schlagen und an ihren Platz bringen - das Mühlhaus würde dann um sie herum erbaut werden. Dann würden wir das Rad bauen und die Deichseln und Getriebe anbringen. Wenn alles gutging, überlegte ich, würde die Mühle zur Erntezeit im nächsten Jahr ihr erstes Getreide mahlen können. Ganz in Gedanken an diese Pläne versunken, wan derte ich um die Aushebung herum und wurde allmählich auf ein eigenartiges Geräusch aufmerksam, schwach und weit entfernt, doch deutlich zu hören in der frischen Herbstluft: ein langsames, rhythmisches Schlagen - wie Steine, die in regelmäßigen Abständen auf die Erde fallen. Gleichzeitig wurde mir mit einem leisen Schrecken bewußt, daß ich es schon seit einiger Zeit gehört hatte. Ich blickte rasch zum Kammpfad empor, sah je doch niemanden. Ohne auch nur ein Glied zu rühren, stand ich still und lauschte. Doch das Geräusch war jetzt verschwunden. Neugierig geworden, stieg ich wieder auf mein Pferd und ritt den Hang hinauf und in den Wald. Ich blieb stehen und lauschte wieder. Nichts war zu hören außer dem Flüstern des Windes in den kahlen Zweigen. Als ich mich abwandte, glaubte ich, das leise Tap pen rascher Schritte auf dem Pfad vor mir zu hören nur eine Andeutung, dann wurde das Geräusch wieder vom Wind verschluckt. Ich erhob mich im Sattel und 245
rief: »Wer ist da?« Dann wartete ich. Keine Antwort. Ich rief noch einmal, diesmal lauter: »Wer ist da?« Ich hob die Zügel, ritt langsam vorwärts durch die dicht wachsenden Kiefern und stieß auf einen der vielen Pfade, die hinauf auf den Bergkamm führten. Ich folgte dem Pfad, erreichte den Kamm und ritt ihn entlang. Kurz darauf stieß ich auf einen Fußabdruck in der feuchten Erde. Der Abdruck schien frisch zu sein zumindest hatte ihn der Regen in der Nacht nicht verwaschen; nach einer raschen Suche entdeckte ich noch mehr Abdrücke, die in den Wald führten. Ich bog vom Pfad ab, näherte mich vorsichtig dem Außenrand des Kammes und fand sofort einen riesigen Holzhaufen: Abgefallene Äste und Stämme waren aus dem Wald geholt und am äußersten Rand des Kammes zu einem Haufen aufgeschichtet worden. Der Ort war gut gewählt, denn zum Pfad hin wurde er durch die Bäume abgeschirmt, doch zum Tal jenseits des Kammes hin lag er offen da. Weil niemand in der Nähe zu sein schien, stieg ich ab und ging auf den Holzhaufen zu. Dutzende von Fußabdrücken waren auf dem feuch ten Erdboden zu sehen, und bei näherem Hinsehen erkannte ich die Abdrücke von mindestens drei verschiedenen Leuten. Die gewaltige Größe des Haufens erstaunte mich. Es waren viele Tage notwen dig gewesen, um diese Arbeit zu leisten - oder viele Hände. So oder so gefiel mir die Sache nicht. Ein Eindringling hatte geradezu auf unserer Schwelle ein 246
Signalfeuer errichtet. Ich wandte mich abrupt von dem Scheiterhaufen ab und sprang in den Sattel. Mit einem Schlag der Zügel trieb ich mein Pferd zur Eile an, umrundete den Holzhaufen und galoppierte auf dem Kammweg entlang, bis ich eine Stelle erreichte, von der aus ich zu beiden Seiten des Kammes hinabblicken konnte: auf der einen Seite ins Tal mit seinen braunen Feldern und dem langen, schiefergrauen See mit dem Crannog in der Mitte; auf der anderen Seite zu dem Grabhügel am Fluß und der offenen Ebene, die sich jenseits davon erstreckte. Ich ließ durch zusammengebissene Zähne die Luft ausströmen. Halb hatte ich erwartet, Meldrons wie dererstandene Streitmacht ins Tal strömen zu sehen. Doch alles war still und unbewegt. Dennoch blieb ich eine Weile lang spähend und lauschend im Sattel sitzen. Wolken zogen auf, und das Licht wurde trüber. Ein kalter Nieselregen begann aus dem dunkler werdenden Himmel zu fallen. Der Wind erfaßte ihn und wirbelte ihn umher. Ich verließ den Kammweg und ritt auf dem Pfad, der zum See hinab führte, zurück. Fast hatte ich den Uferpfad erreicht, als ich den Arbeitern begegnete, die unterwegs hinauf zur Mühle waren. »Geht zurück zu euren Familien«, sagte ich ihnen. »Sollen hat begonnen; es ist Zeit, daß wir es uns wohl sein lassen.« Die Arbeiter hörten meine Worte mit großer Er 247
leichterung. So war ich sehr überrascht, als Huel sofort Einwände gegen die Entscheidung erhob. »Herr«, sagte mein Baumeister, »gib uns noch einen Tag, um die Baustelle gegen den kommenden Schnee zu sichern. Das wird uns viel Mühe ersparen, wenn die Sonne wiederkehrt und die Arbeit weitergeht.« »Gut«, stimmte ich zu. »Tu, was du für richtig hältst. Doch nach dem heutigen Tag wird nicht mehr gearbeitet, bis es Gyd wird.« Ich ließ sie ihren Weg fortsetzen und kehrte zum Crannog zurück. Tegid stand an der Feuerstelle in der Halle, und ich schickte Emyr los, um Bran zu holen. Der Barde bemerkte meine Unruhe sofort. »Was ist geschehen?« fragte er. Ich streckte meine Hände dem Feuer entgegen. An meiner Silberhand spiegelte sich der Schein der Flammen, und meine Hand aus Fleisch und Blut begann sich zu erwärmen. Ich betrachtete das schim mernde Silber, kalt und steif wie ein Klumpen Eis am Ende meines Armes. Warum war sie so kalt? »Llew?« Tegid legte mir seine Hand auf die Schul ter. »Auf dem Kamm steht ein Scheiterhaufen für ein Signalfeuer.« Ich wandte ihm mein Gesicht zu. Seine dunklen Augen blickten mich eindringlich an, doch sonst zeigte er keine Anzeichen von Beunruhigung. »Er steht am Kammweg oberhalb der Mühle.« »Hast du jemanden gesehen?« »Keine Menschenseele. Aber ich habe ein Geräusch 248
gehört - als Holz auf den Haufen geworfen wurde, denke ich. Und ich habe Fußspuren gesehen: minde stens drei Männer, vielleicht mehr. Jemand hat sich da eine Menge Arbeit gemacht, Tegid.« In diesem Moment erschien Bran, und ich wieder holte, was ich gerade Tegid erzählt hatte. Der Barde starrte in die Flammen und strich sich übers Kinn. Bran machte ein finsteres Gesicht, während er mir zuhörte, und als ich fertig war, sagte er: »Ich werde die Kriegsschar aufbieten und die Wälder und den Bergkamm durchsuchen. Wenn die Fußabdrücke frisch sind, können die Männer noch nicht weit sein. Wir werden diejenigen finden, die das getan haben, und sie hierher vor dich bringen.« Der Oberste Barde starrte immer noch in die Flammen. Bran wartete auf eine Antwort. »Ja«, sagte ich zu ihm. »Rufe die Kriegsschar sogleich zusam men. Wir werden an dem Scheiterhaufen beginnen -« Tegid hob den Kopf. »Es ist nicht deine Sache, mitzugehen«, sagte er leise. Ich wollte Einwände erheben, doch er schüttelte leicht den Kopf; er wollte mir nicht in Gegenwart Brans widersprechen. Da ich mich an unsere letzte Diskussion über Könige, die Verbrechern nachjagen, noch gut erinnern konnte, verstand ich sein Zögern und lenkte ein. »Rufe die Männer zusammen«, befahl ich und be schrieb Bran den Standort des Holzhaufens. »Ihr könnt dort anfangen.« Der Anführer der Raben nickte zustimmend und wandte sich ab. Ich hielt ihn am 249
Ärmel fest. »Findet sie, Bran. Spürt sie auf und bringt sie zu mir. Ich möchte wissen, wer das getan hat und warum.« Einen Augenblick später dröhnte Brans Stimme durch die Halle, als er die Männer auswählte, die ihn begleiten sollten. Eine Gruppe von etwa zwanzig Männern verließ sofort die Halle - was bei allen Zurückbleibenden erschrockene Spekulationen auslöste. Ich wandte mich wieder an Tegid und sagte: »Ich werde nur bis zum Signalfeuer mit ihnen reiten.« Der Barde wandte seinen Blick von den Flammen ab und sah mich skeptisch an. »Was denkst du?« fragte ich. »Du sagst, es ist ein Signalfeuer«, sagte er. »War um?« »Ich erkenne einen Scheiterhaufen für ein Signal feuer, wenn ich einen sehe, Bruder.« »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte er rasch. »Aber du gehst davon aus, daß ein Feind ihn aufge schichtet hat.« »Bist du anderer Meinung?« »Ich glaube, daß du mir noch nicht alles erzählt hast.« Er hatte seine Stimme nicht erhoben, aber sein Blick wurde scharf und vorwurfsvoll. »Wenn es noch etwas gibt, das ich wissen sollte, sag es mir jetzt.« »Ich habe dir alles erzählt, was ich weiß - genau so, wie es passiert ist«, begann ich, doch er schnitt mir mit einem ungeduldigen Zucken seines Mundes das Wort ab. Ich starrte ihn eindringlich an. Warum 250
benahm er sich so? »Denk nach!« »Ich denke nach, Tegid!« Meine Stimme hallte durch den Raum. Ich schluckte die Worte hinunter und biß die Zähne zusammen. Warum war ich von einem Feind ausgegangen? Ein Signalfeuer ist ein Zeichen, das aus weiter Ferne zu sehen sein soll; ein Signalfeuer ist... Mein Blick fiel auf meine silberne Hand, die fast die Flammen berührte, und ich spürte die Kälte, die immer noch darin pulsierte. Und dann erinnerte ich mich daran, wie ich zum letzten Mal eine solche Kälte verspürt hatte... Ich blickte auf und sagte: »Du hast recht, Tegid. Es ist schon so lange her, daß ich es ganz vergessen hatte. Ich habe es nicht für wichtig gehalten.« »Vielleicht hattest du damit recht. Sag es mir jetzt.« Daraufhin erzählte ich ihm von dem Signalfeuer, das ich in der Nacht gesehen hatte, als wir auf der Ebene unterhalb von Druim Vran gelagert hatten. »Es tut mir leid, Bruder«, endete ich. »Ich hätte es dir damals schon sagen sollen. Aber am nächsten Tag waren wir zu Hause, und ich glaube, ich habe wohl angenom men, das Signalfeuer sei anläßlich unserer Rückkehr entzündet worden, und ich habe es völlig vergessen bis jetzt.« »Das ist nicht der Grund, warum du es mir nicht gesagt hast«, behauptete er unverblümt. »Du hast dir deine Urteilskraft durch deine Ungeduld vernebeln lassen. In deiner Begierde, Dinas Dwr zu sehen, 251
wolltest du einfach nicht wahrhaben, daß irgend etwas nicht stimmen könnte, und so hast du diesen Vorfall vor dir selbst und vor mir verborgen.« Mein Oberster Barde war höchst scharfsinnig. »Es tut mir leid. Es wird nicht wieder geschehen.« Er fegte meine Entschuldigung mit einer ungedul digen Geste beiseite. »Es ist geschehen und läßt sich nicht mehr rückgängig machen.« »Dann meinst du also, daß wir seit unserer Rück kehr beobachtet werden?« »Was meinst du denn?« »Ich halte es für wahrscheinlich.« »Und ich halte es für sicher.« »Aber warum?« »Das werden wir erfahren, wenn Bran mit denen zurückkehrt, die uns beobachtet haben.« So ließen wir uns zum Warten nieder, und das War ten fiel mir unendlich schwer. Ich wollte draußen auf dem Pfad bei meinen Männern sein und mich direkt mit der Bedrohung auseinandersetzen, anstatt in der Halle zu sitzen und nichts zu tun. Ein Tag verging, dann noch einer. Ich behielt meine Befürchtungen für mich. Als der dritte Tag sich seinem Ende zuneigte und immer noch keine Nachricht von dem Suchtrupp eingetroffen war - sprach ich mit Tegid über meine wachsende Sorge. »Sie müßten längst wieder hier sein. Es sind jetzt schon drei Tage.« Er blickte nicht von dem Korb voller Blätter auf, die er gerade in eine Schüssel sortierte. »Hast du mich 252
gehört?« »Ich habe dich gehört.« Er unterbrach seine Arbeit, die Blätter zu sortieren, und hob den Kopf. Auch er war über Brans Ausbleiben beunruhigt, das merkte ich ihm an. »Was soll ich dazu sagen?« »Sie sind in Schwierigkeiten geraten. Wir sollten ihnen nachreiten.« »Es sind zwanzig bewährte Krieger«, wandte der Barde ein. »Bran ist jeder Begegnung mehr als gewachsen. Überlaß es ihm.« »Noch drei Tage«, sagte ich. »Wenn wir bis dahin nichts gehört haben, reite ich ihnen nach.« »Wenn wir in drei Tagen noch nichts gehört ha ben«, stimmte er zu, »dann kannst du ihnen nachrei ten. Und ich werde mit dir reiten.« Dennoch ritt ich schon am nächsten Tag auf den Druim Vran hinauf, nur um festzustellen, ob von der Höhe des Bergkamms aus etwas zu sehen wäre. Der Tag war zwar kalt, aber hell; weiße Wolken standen hoch am Himmel. Goewyn ritt mit mir, und obwohl wir ein gutes Stück weit auf dem Kamm nach Osten ritten, sahen wir nirgendwo irgendwelche Anzeichen von Problemen. Bevor wir den Rückweg antraten, hielten wir, um die Pferde ausruhen zu lassen. Wir setzten uns zu sammen auf einen Felsen, von dem aus wir das Tal überblicken konnten. Ein frischer Wind stach uns in Wangen und Kinn, und ich zog meinen Umhang um uns beide und drückte sie dicht an mich, während wir 253
zusahen, wie der Nebel an den Hängen hinabglitt und das Tal überzog. »Wir sollten uns auf den Heimweg machen«, sagte ich, »sonst schickt Tegid noch die Hunde nach uns aus.« Doch wir rührten uns nicht von der Stelle, sondern waren zufrieden, einfach nur dazusitzen und zu beobachten, wie sich das Tal mit dichtem, grauem Nebel füllte. Schließlich schwand das Licht, und obwohl ich Goewyns Nähe und Wärme genoß, zwang ich mich aufzustehen. »Es wird bald dunkel«, sagte ich. »Wir sollten nach Hause reiten.« »Mmmm.« Goewyn seufzte und zog die Beine an, stand aber nicht auf. Ich ging zu den Pferden, zog die Pflöcke aus dem Boden und griff nach den Zügeln. »Llew?« sagte Goewyn. In ihrer Stimme schwang etwas mit, das mich sofort herumfahren ließ. »Was ist los?« »Da unten bewegt sich etwas - am Fluß ... im Ne bel.« Mit drei Schritten war ich an ihrer Seite und spähte in das Tal hinab, das rasch immer undeutlicher zu erkennen war. »Ich sehe nichts«, sagte ich. »Bist du sicher?« Sie streckte ihren Arm aus, um auf die Stelle zu deuten. »Dort!« sagte sie, ohne ihre Augen von dem Punkt abzuwenden. Ich sah in die Richtung, in die sie wies. Der Nebel 254
teilte sich etwas, und ich sah undeutlich drei dunkle Gestalten, die sich am Flußufer entlang bewegten. Ob zu Fuß oder zu Pferd, konnte ich nicht erkennen. Ich sah nur drei schwärzliche, formlose Klumpen am Ufer ... und dann zog sich der Nebel davor zusammen, und sie entschwanden meinem Blick. »Sie kommen in unsere Richtung«, schloß ich. »Sie kommen auf Druim Vran zu.« »Meinst du, es ist Bran?« »Ich weiß nicht. Aber ich habe das Gefühl, daß es nicht Bran ist - auch keiner von den anderen.« »Wer denn?« »Das möchte ich gerne herausfinden.« Ich streckte meine Hand zu Goewyn hinab und zog sie auf die Beine. »Reite zurück nach Dinas Dwr und alarmiere Tegid und Scatha. Sag ihnen, sie sollen eine Kriegs schar zusammenstellen, und zeig ihnen, wohin sie kommen sollen.« Goewyn packte meine Arme. »Du wirst nicht dort hinuntergehen.« »Doch, aber nur, um unsere Besucher im Auge zu behalten.« Ich drückte beruhigend ihre Hand. »Keine Sorge, ich werde mich nicht mit ihnen anlegen. Geh jetzt - und beeil dich.« Es gefiel ihr nicht, mich allein zu lassen, doch sie tat, was ich ihr gesagt hatte. Ich kehrte zu unserem Aussichtspunkt zurück und spähte ins Tal hinab. Einen flüchtigen Moment lang konnte ich die Ein dringlinge sehen, wie sie sich am Fluß entlang beweg 255
ten; dann schloß sich der Nebel wieder vor ihnen. Ich saß auf und ritt auf demselben Weg über den Bergkamm zurück, auf dem wir gekommen waren; da der Pfad hoch oben lag, war es dort immer noch hell genug, um weit voraus zu sehen, doch Goewyn war bereits außer Sicht. Ich ritt weiter, bis ich den besten Pfad hinab zur Ebene erreichte und bog dort ab. Ungefähr auf halbem Weg abwärts ins Tal tauchte ich in den brodelnden Nebel ein. Ich ritt weiter - fast blind in dem wabernden, alles verhüllenden Dunst, bis ich den Talboden erreichte, wo ich hielt, um zu lauschen. Alles war totenstill, die neblige Suppe schien alle Geräusche zu schlucken und doch glaubte ich, daß ich, wenn etwas zu hören gewesen wäre, es auch deutlich gehört hätte. Absolut regungslos saß ich vorgebeugt im Sattel, um jedes verirrte Geräusch aufzufangen. Nach einer Weile hörte ich das leise Klingeln von Pferdezaum zeug und das hohle Klappern von Hufen, die sich langsam bewegten. Die Entfernung war nicht zu schätzen, aber es schien nicht sehr nah zu sein. Ich hob die Zügel an und trieb mein Pferd vorwärts, ganz langsam, ganz leise. Doch schon nach zehn Schritten wirbelte der Nebel zur Seite, und ich sah einen Reiter direkt vor mir. Eiswasser rann mir an Nacken und Wirbelsäule hinab. Wir waren nur einen Speerwurf weit voneinander entfernt. Ich blieb stehen. Vielleicht würde er mich nicht sehen. 256
Der Reiter kam näher; ich sah, wie er seinen Blick von dem Pfad vor ihm hob. Sein Gesicht war nur ein Schatten unter dem Umhang, den er sich über den Kopf gezogen hatte. Seine Hände rissen an den Zügeln, und sein dunkles Pferd blieb stehen. Er rief etwas über die Schulter zu seinen unsichtbaren Begleitern zurück. Ich hörte seinen Ruf, scharf und drängend, doch die Worte konnte ich nicht verstehen. Wieder schob der rastlose Wind den Nebel zwi schen uns, und der Reiter war meinen Blicken ent schwunden. Doch gerade in dem Augenblick, als der Nebel ihn meinem Blick entriß, glaubte ich zu sehen, wie er sein Pferd wendete und sich rasch vom Pfad entfernte. Ich zog mein Schwert unter dem Sattel hervor und holte tief Luft. »Halt!« schrie ich, so laut ich konnte. »Bleib, wo du bist!« Zur Antwort erhielt ich nur den raschen Hufschlag des davongaloppierenden Pferdes. Ich packte mein Schwert - wenn mir auch Speer und Schild lieber gewesen wären, wenn ich sie dabeigehabt hätte -, ritt vorsichtig vorwärts und hielt an der Stelle, wo der Reiter erschienen war. Natürlich war er nicht mehr dort, und ich konnte sowieso nur ein paar Schritte weit sehen. Ich wartete eine Weile, und als ich nichts mehr hörte, beschloß ich, zum Pfad zurückzukehren und auf Scatha und die anderen zu warten. Auf diese Weise konnte ich wenigstens den Pfad bewachen, falls die Reiter ihn zu erreichen versuchten, indem sie mich umgingen. 257
Ich ließ mein Pferd herumwirbeln und ritt zurück zu der Stelle, wo der Pfad zum Kamm hin anzusteigen begann, und ging dort in Stellung. Das Tageslicht war inzwischen geschwunden, und ein trübes Zwielicht hatte sich über das Tal gelegt. Bald würden Nebel und Dunkelheit es schwierig, ja vielleicht unmöglich machen, überhaupt noch zu reiten. Das war es zwei fellos, worauf die drei Eindringlinge rechneten. Ich tröstete mich ein wenig mit dem Gedanken, daß das, was die Sache für den einen schwierig machte, auch für alle anderen schwierig war. Alles, was mich behinderte, würde auch sie behindern; der Nebel schützte mich ebenso wie sie. Spähend und lauschend wartete ich ab. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß - der Nebel war dicht wie feuchte Wolle, brodelte und waberte und verschleierte und verwirrte alle Sinne - doch allmählich begann ich mir einzubilden, wieder das Geräusch von Pferden zu hören. Wegen des Nebels konnte ich noch nicht erkennen, aus welcher Richtung die Geräusche zu mir drangen. Es mochte vielleicht die Kriegsschar sein, die zu mir stoßen sollte, aber die konnte noch nicht einmal genug Zeit gehabt haben, um den Bergkamm zu erreichen, geschweige denn wieder hinabzusteigen. Wahrscheinlicher war, daß die Eindringlinge wieder vorrückten, nachdem sie glaubten, daß ich fort sei. Ohne zu atmen, lauschte ich mit jeder Faser meines Leibes in die dichter werdende Dunkelheit hinein 258
nach irgendeinem Geräusch, das mir verraten konnte, aus welcher Richtung sie kommen würden. Die Geräusche der Pferde wurden stetig lauter, je näher die Eindringlinge kamen. Ich drehte meinen Kopf hin und her, um keine Einzelheit ihrer Bewegung zu überhören. Dann kamen trübe schimmernde Lichtkreise aus dem Nebel herangeschwommen ... Fackeln, zwei davon, nicht mehr als zwanzig Schritte entfernt. Ich packte mein Schwert fester und schrie: »Halt! Keinen Schritt weiter!« Sofort blieben die Eindringlinge stehen. Die Fak keln hingen bewegungslos in der Luft; unter den schwebenden Lichtern konnte ich niemanden sehen, doch ich hörte das Atmen und Schnauben der Pferde und das Ächzen ihrer Sättel, wahrend sie reglos verharrten. Da ich mich noch nicht zeigen wollte, sprach ich von meinem Standort aus weiter. »Bleibt stehen, Freunde«, rief ich, »wenn ihr im Frieden kommt, dann ist euch ein Willkommen sicher. Doch wenn ihr auf einen Kampf aus seid, werdet ihr anderswo ein herzlicheres Willkommen empfangen. Steigt von euren Pferden.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, bevor einer der Eindringlinge antwortete. Ich hörte das ungeduldige Stampfen eines Hufs und dann eine Stimme. »Wir sind friedliche Leute. Aber es ist nicht unsere Art, Befehlen von einem Mann zu gehorchen, 259
den wir nicht sehen können.« »Und meine Art ist es nicht, Reisende mit dem Schwert zu begrüßen«, erwiderte ich ernst. »Vielleicht finden wir uns beide in einer ungewohnten Lage. Ich rate zur Besonnenheit.« Es trat ein weiteres Schweigen ein, in dem selbst das Zischen und Knistern der Fackeln zu hören war. Und dann sagte die Stimme: »Llew?«
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Kindersegen »Cynan?« Ich hörte einen gemurmelten Befehl und dann die Bewegung eines aus dem Sattel steigenden Reiters. Rasche Schritte kamen auf mich zu ... und dann tauchte Cynans vierschrötige, kräftige Gestalt aus dem Nebel auf. Sein Haar, sein Schnurrbart und sein Umhang waren von perlenden Nebeltröpfchen über zogen, und er hatte die Augen weit aufgerissen. »Clanna na cù!« murmelte er, während sich Er leichterung auf seinem rötlichen Gesicht ausbreitete. »Llew! Bist du das, Bruder?« Er sah sich um, ob noch andere in der Nähe waren. »Mo anam, Mann! Bist du allein hier draußen?« »Sei gegrüßt, Cynan!« sagte ich, steckte mein Schwert zurück und schwang mich aus dem Sattel. Mit zwei Schritten war ich in seinen Armen. »Ich bin froh, dich zu sehen.« »Ein seltsames Willkommen ist das - wenn man es ein Willkommen nennen kann.« Er wandte sich zu seinen Begleitern um, einer Gruppe von etwa zehn Leuten, die schweigend auf dem Pfad warteten. »Tángwen! Gweir! Es ist Silberhand selbst, der 261
gekommen ist, um uns zu begrüßen!« rief er ihnen zu. »Wenn ich gewußt hätte, daß ihr es seid, Cynan«, sagte ich zu ihm, »hätte ich tausend Fackeln anzünden lassen, um euch den Weg zu erleuchten.« »Was dachtest du denn, wer es wäre?« fragte er, während seine Sorge rasch der Verwirrung wich. »Und was denkst du dir dabei, hier draußen allein herumzureiten und Reisenden mit vorgehaltenem Schwert in den Weg zu treten?« Ich erzählte ihm von den Eindringlingen, die Goe wyn und ich im Tal bemerkt hatten, und fragte ihn, ob er auch jemanden gesehen habe. »Ob ich jemanden gesehen habe?« grinste er und machte eine ausladende Geste zu dem alles verschlei ernden Nebel hin. »Mann, ich habe nicht einmal mein eigenes Gesicht vor mir gesehen, seit wir das Tal erreicht haben. Meinst du, es lohnt sich, nach ihnen zu suchen?« »In dieser Suppe würden wir sie niemals finden. Kommt weiter.« Ich drehte mich um und ging auf mein Pferd zu. »Das Holz auf der Feuerstelle brennt hell, und der Willkommenskelch erwartet euch! Wärmen wir uns und trinken wir auf eure Ankunft.« Ich schwang mich in den Sattel. Cynan stand immer noch da und starrte vor sich hin. »Was? Hast du der Schale abgeschworen?« »Kein Wort davon!« rief er und eilte zurück zu seinem Pferd. Er rief seinen Begleitern einen Befehl zu, und ich wendete mein Pferd und ritt voraus den 262
Pfad hinauf. Wir waren jedoch noch nicht weit gekommen, als uns Scatha, Goewyn und eine Kriegs schar von dreißig Mann entgegenkamen, alle mit Fackeln. Wir hielten und erklärten, was geschehen war. Nachdem Goewyn und Scatha Cynan, Tángwen und ihr Gefolge begrüßt hatten, setzten wir unseren Weg fort. Der Nebel wurde dünner, als wir den Kamm erklommen, und war völlig verschwunden, als wir oben angekommen waren - wenn auch der Himmel verschleiert blieb. Es würde eine dunkle Nacht werden, ohne Mond und Sterne. Ich sprach kurz mit Scatha, und wir beschlossen, eine Wache von dreißig Mann in Dreiergruppen entlang des Kammweges aufzustellen, für den Fall, daß die Eindringlinge während der Nacht versuchen sollten, Druim Vran zu überqueren. Dann setzten wir unseren Weg zum Crannog und zur Halle fort. Tegid erwartete uns an der Feuerstelle. »Sei gegrüßt, Cynan Zwei-Torcs! Sei gegrüßt, schöne Tángwen«, rief er, als wir die Halle betraten. Ich ließ sofort die Schale bringen. In der Halle war viel Betrieb, und bei Cynans Erscheinen erhoben sich laute Begrüßungsrufe von allen Versammelten. Der Barde umarmte Cynan herzlich und wandte sich dann Tángwen zu. Sie neigte ihren Kopf und bot ihm nur ihre Hände dar. »Sei gegrüßt, Tegid Tathal«, sagte sie lächelnd, doch ihrem Lächeln wie ihrem Gruß fehlte die Herzlichkeit. 263
Die Reaktion machte mich stutzig, doch dann wur de die Schale gebracht, schäumend mit frischem Bier; ich ergriff sie und drückte sie in Cynans begierige Hände, und der Moment ging vorbei. Cynan trank durstig und reichte die Schale dann an seine Frau weiter, während er sich mit dem Ärmel den sahnigen Schaum aus dem Schnurrbart wischte. Sie trank und reichte die Schale an Gweir weiter, Cynans Schlach tenführer. »Danke«, sagte sie mit tiefer Stimme. »Ich habe dich vermißt, meine Freundin«, sagte Goewyn, während sie ihren feuchten Umhang abwarf. Sie nahm Tángwen in die Arme, und die beiden Frauen tauschten Küsse aus. »Und es ist schön, dich zu sehen«, erwiderte Tángwen. »Ich habe mich schon lange auf diesen Tag gefreut.« Sie streckte ihre Hände nach dem Feuer aus, doch ich bemerkte, daß ihre Körperhaltung noch immer so schien, als wäre ihr kalt. Zweifellos waren es die Strapazen der Reise - das kalte und ungemütli che Wetter hatte sie an den Rand ihrer Kräfte ge bracht. »Wir wären schon früher eingetroffen«, warf Cynan ein, »aber der Nebel hat uns aufgehalten. Trotzdem hatte ich nichts dafür übrig, noch eine Nacht auf dem Weg zu verbringen.« »Nun, jetzt seid ihr ja hier«, sagte Goewyn und nahm Tángwen den Umhang von den Schultern. »Komm, wir suchen ein paar trockene Kleider für dich.« 264
Die Frauen verschwanden und ließen uns zurück, damit wir uns an der Feuerstelle trockneten. »Ah, das tut gut«, seufzte Cynan. »Und ich dachte schon, wir würden niemals ankommen.« »Ich hatte ganz vergessen, daß du kommen woll test«, bekannte ich. Cynan warf den Kopf zurück und lachte. »Das habe ich wohl gemerkt. Da steht Silberhand, bewacht den Pfad mit seinem Schwert und tritt allen Ankömmlin gen in den Weg. Hast du nicht gesehen, daß ich es war, Mann?« »Wenn ich es gesehen hätte, Cynan«, erwiderte ich, »dann hätte ich dich natürlich im Nebel in die Irre gehen lassen.« »Der Nebel! Sprich bloß nicht von diesem Nebel!« sagte er mit rollenden Augen. »Er muß wirklich übel gewesen sein, wenn er den berühmten Zwei-Torcs so zur Verzweiflung gebracht hat«, bemerkte Tegid. »Habe ich das nicht gesagt? Dieser verfluchte Ne bel hat uns tagelang verfolgt. Ich wäre beinahe deswegen umgekehrt. Aber dann dachte ich an dein vorzügliches Bier, und da fragte ich mich: ›Cynan Machae, warum solltest du die Jahreszeit des Schnees in deiner eigenen, zugigen Halle verbringen, einsam und allein, wenn -‹« »Wenn du statt dessen Llews Bier trinken könn test!« beendete ich den Gedanken für ihn, worauf er mich mit einem tief verletzten Blick bedachte. 265
»Tch! Der Gedanke kam mir nicht im entfernte sten«, schimpfte Cynan. »Es ist deine Freundschaft, nach der ich mich sehne, Bruder, nicht die Nähe deines Fasses. Obwohl, da du schon davon sprichst, dein Braumeister ein ganz fabelhafter Mann ist.« Er hob die Schale noch einmal und tat einen langen, durstigen Zug. »Ahh! Nektar!« »Und ich habe dich auch vermißt«, sagte ich zu ihm. Ich hob die Schale in seine Richtung. »Sláinte, Cynan Zwei-Torcs!« Damit leerte ich die Schale - viel war ohnehin nicht mehr darin - und ließ sie neu füllen. Einer von Tegids Mabinogi eilte mit einem Krug herbei. »Ich würde gern ein gutes Wort über eure Ernte hören«, sagte Tegid, während die Schale neu gefüllt wurde. »Und ich würde gern ein gutes Wort darüber sagen, wenn ich könnte«, erwiderte Cynan und schüttelte langsam den Kopf. »Erbärmlich - das ist das einzig richtige Wort. Wir konnten das Getreide wegen des Regens nicht vom Feld bekommen. Und dann haben wir viel verloren. Hätten wir nicht den Überfluß des letzten Jahres, so würde uns eine magere Aussaat bevorstehen.« »Genauso ist es bei uns«, sagte ich. »Ein gutes Jahr, das schlecht endete.« Während wir die Schale herumgehen ließen, unter hielten wir uns über alles, was geschehen war, seit wir uns zuletzt gesehen hatten. Goewyn und Tángwen 266
kehrten zurück und gesellten sich zu uns. Tángwen war nun in saubere, trockene Sachen gekleidet, und ihr Haar war gekämmt und frisiert. Sie wirkte ent spannt; die angespannte Steifheit hatte sie verlassen, und sie schien wieder sie selbst zu sein. Wir gingen zu Tisch, wo das Essen aufgetragen worden war. Während wir zu essen begannen, be merkte ich, wie die beiden Frauen sich die ganze Mahlzeit hindurch fröhlich unterhielten. Wie sie miteinander redeten und lachten, erinnerte mich an Goewyn mit einer ihrer Schwestern. Goewyn, die in enger Gemeinschaft mit Govan und Gwenllian aufgewachsen war, hatte seit der Ermordung ihrer Schwestern keine enge Freundin mehr gehabt. Scatha betrat die Halle, während wir aßen, und näherte sich dem Platz, wo ich saß. Sie beugte sich zu mir herab, um leise mit mir zu sprechen. »Die Wache ist aufgestellt«, berichtete sie. »Wenn jemand den Bergkamm zu überqueren versucht, werden wir bald davon erfahren.« Dann war nicht weiter die Rede davon, und ich dachte auch nicht mehr daran. In der Halle war es warm und hell - um so mehr, als Cynan angekommen war - und die Gespräche waren lebhaft. Ich verbannte die Eindringlinge aus meinen Gedanken. Ich dachte mir auch nichts Böses dabei, als Goewyn und Tángwen am nächsten Tag zusammen ausritten. Die Wächter hatten die ganze Nacht hindurch ge wacht, und der Bergkamm war nach wie vor frei von 267
Nebel; sie hatten nichts gehört oder gesehen. Und als der Nebel im Tal sich lichtete, war keine Spur zu entdecken. So ließ ich die Sache auf sich beruhen. Bran und der Rabenflug kehrten noch am selben Tag zurück. Die Wächter auf dem Kamm sahen, wie sie ins Tal einritten, und benachrichtigten uns von ihrer Ankunft. Tegid, Scatha, Cynan und ich ritten ihnen entgegen und fanden sie zwar schmutzig und müde von der Reise, aber guter Dinge. »Sei gegrüßt, Bran Bresal«, rief ich, begierig auf seine Neuigkeiten. »Ich hoffe, ihr hattet eine gute Jagd.« »Die Jagd war vorzüglich«, erwiderte der Anführer der Raben, »aber es ist uns nicht gelungen, unsere Beute in die Enge zu treiben.« »Höchst bedauerlich«, bemerkte Tegid. »Was ist geschehen?« »Wir fanden die Spur, als sie aus dem Tal heraus führte«, erklärte Bran. »Es war nicht einmal schwie rig, ihr zu folgen. Doch obwohl wir ihr folgten, so weit und so schnell wir konnten, bekamen wir dieje nigen, die sie hinterließen, nie zu Gesicht.« »Wie viele habt ihr verfolgt?« fragte ich. »Drei Männer zu Pferd, Herr«, antwortete ein schlammverkrusteter Alun Tringad. »Erzählt uns jetzt gleich alles«, schlug Tegid vor. »Dann müssen wir in der Halle nicht mehr davon sprechen.« »Gern«, erwiderte Bran, »aber viel gibt es nicht zu 268
berichten.« Dann schilderte er, wie sie der Spur nach Osten gefolgt seien, bis sie sie an der Küste am felsigen Ufer verloren hatten. Eine Zeitlang hatten sie noch die Küste in nördlicher und südlicher Richtung abgesucht, ohne jedoch die Spur wiederzufinden oder einen Eindringling zu Gesicht zu bekommen, und so waren sie endlich umgekehrt. »Ich hatte gehofft, dir bessere Nachricht zu bringen, Herr«, sagte Bran zu mir. »Ihr seid sicher zurückgekehrt«, sagte ich. »Ich bin sehr zufrieden.« Die Tage wurden kürzer, kälter und dunkler, als ob Sollen sie mit seinem eisigen Griff packe und zusam menpresse. Doch in der Halle blieb es behaglich und warm, belebt vom Harfenklang und der fröhlichen Gemeinschaft. Wir spielten und lauschten den alten Erzählungen; wir aßen, tranken und ließen es uns wohl sein und erfüllten die langen, kalten Nächte mit Gelächter und Licht. Der See fror zu, und die Kinder des Crannogs spiel ten auf dem Eis. Es war an einem jener seltenen Tage, an denen die Sonne wie ein feuriges Juwel von einem blauweißen Himmel herabstrahlte, daß wir hinausgin gen, um den Kindern zuzuschauen. Etliche hatten sich aus Knochen Kufen geschnitzt und sie an ihre Stiefel gebunden. Diese einfachen Schlittschuhe funktionier ten ausgesprochen gut, und es gab allgemeinen Beifall, als wir die Späße dieser unerschrockenen 269
Eisläufer sahen. Cynan wanderte, fasziniert von den dahingleitenden Gestalten, hinaus auf den gefrorenen See und ließ sich beschwatzen, es mit den Kufen zu versuchen. Er gab dabei eine so komische Figur ab, daß auch andere sich auf das Eis hinauswagten, begierig, ihn zu übertreffen, wenn nicht in der Geschicklichkeit, so doch in der Lächerlichkeit. Wir glitten und schwebten über das Eis, stürzten übereinander und improvisierten alberne Tänze. Eine Traube kleiner Mädchen scharte sich um Goewyn und drang in sie, es auch mit den Schlittschuhen zu versuchen. Sie gab rasch nach und band sich die Kufen an die Füße; dann streckte sie ihre Hand nach mir aus und rief: »Nimm meine Hand! Ich möchte fliegen!« Ich ergriff ihre Hand und zog sie über die windige Eisfläche - lachend, die Lippen und Wangen rot von der Kälte, glitt sie dahin, daß ihr goldenes Haar und ihr blau karierter Umhang nur so flatterten. Ihr Lachen mischte sich mit dem der anderen Eisläufer, und der Klang sprudelte empor wie eine Fontäne, die in der Sonne glitzerte, eine Hymne an diesen Tag. Immer wieder wirbelten wir herum und hielten nur an, um Atem zu schöpfen und einander in die Arme zu fallen. Die Sonne schien hell auf den silbernen See hinab und brachte die schneeüberzogenen Bergkuppen zum Glitzern wie riesige Diamantenhaufen. Diese Schönheit, diese Freude - es tat einem das Herz weh, 270
sie zu sehen und zu spüren. Cynans Kapriolen, einschließlich seiner spektakulä ren Stürze, bildeten den Höhepunkt. Wir mußten so sehr lachen, daß uns die Tränen an den Wangen hinunterliefen. Dennoch bemerkte ich, daß von all denen, die zum Zuschauen herausgekommen waren, einzig und allein Tángwen sich nicht an dem fröhli chen Treiben beteiligen wollte. Statt dessen stand sie mit unter dem Umhang verschränkten Armen und einem schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht auf dem Bootssteg. »Es scheint, als ob da jemand unsere Späße nicht zu schätzen weiß«, flüsterte ich Goewyn zu, während ich sie nach ihrem letzten Sturz emporzog. Goewyn folgte meinem Blick, drehte sich um und sah ihre Freundin allein auf dem Steg stehen. »Nein«, sagte sie langsam, »es steckt etwas anderes dahinter.« »Weißt du, was?« Sie ergriff meine Hand und drückte sie. »Nicht jetzt. Später«, sagte sie und näherte ihr Gesicht dem meinen. Goewyn legte ihre Arme um meinen Nacken und zog mich an sich. »Komm her.« Eine gewisse Unverblümtheit in ihrem Tonfall weckte meine Neugier. »Was ist?« Ihre Augen funkelten, und ihre Lippen verzogen sich zu einem reizenden Lächeln. »Was ist los?« fragte ich argwöh nisch. »Was verbirgst du vor mir?« »Nun, es wird nicht lange verborgen bleiben. Der Reichtum des Königs wächst. Bald wird es jeder 271
wissen.« Sie ließ mich los und legte sich eine Hand auf den Bauch. »Reichtum? Kinderreichtum?« Sie lachte über mei ne Überraschung. »Ein Baby! Wir werden ein Baby haben!« Ich schlang meine Arme um sie und drückte sie dicht an mich - dann beherrschte ich mich und ließ sie los, um das winzige Leben, das in ihrem Innern wuchs, nicht zu zerquetschen. »Wann? Wie lange weißt du es schon?« »Schon lange genug«, sagte sie. »Ich wollte eigent lich auf den passenden Augenblick warten, um es dir zu sagen, aber ... ach, es ist so ein herrlicher Tag, daß ich einfach nicht länger warten konnte.« »Oh, Goewyn, ich liebe dich.« Ich legte meine Hand hinter ihren Kopf, hielt sie fest und küßte sie lange und heftig. »Ich liebe dich, und ich bin froh, daß du nicht gewartet hast. Ich werde es allen erzählen jetzt gleich!« »Pst!« sagte sie und legte ihre Fingerspitzen auf meine Lippen. »Noch nicht. Laß es für ein paar Tage unser Geheimnis sein.« »Aber ich möchte es weitererzählen.« »Bitte - nur noch eine kleine Weile.« »Dann bei der Sonnenwende«, schlug ich vor. »Wir werden ein Fest feiern wie letztes Jahr bei Cynans Hochzeit. Und mitten bei dem Festmahl werden wir die Neuigkeit bekanntgeben. Weiß schon jemand davon?« »Niemand«, versicherte sie mir. »Du bist der er 272
ste.« »Wann ist es soweit - die Geburt, meine ich? Wann wird das Kind geboren werden?« Goewyn lächelte, kam in meine Arme, küßte mich und legte ihre Wange gegen meinen Hals. »Deine Frau wird dir noch eine Weile erhalten bleiben. Das Kind wird im Maffar geboren werden - vor Lugna sadh, denke ich.« »Eine gute Zeit, um auf die Welt zu kommen!« erklärte ich. »Goewyn, das ist wunderbar! Ich liebe dich so sehr!« »Pst!« warnte sie. »Es werden dich noch alle hö ren.« Sie trat zurück und glitt auf den Kufen davon. Sie streckte mir die Hände entgegen und rief: »Komm mit, Geliebter! Ich bringe dir das Fliegen bei!« Wir flogen, und der Tag verflog mit uns. Kurz, aber strahlend vor Vollkommenheit, verblaßte er rasch: ein Funke, entfacht inmitten der heraufziehenden Dun kelheit. Er erleuchtete unsere Herzen mit seinem tapferen Licht und versank dann in der heranstürmen den Nacht. Als die Sonne hinter den Bergkuppen verschwand und den Himmel mit rosa und scharlachroten Girlan den schmückte, schimmerten im schwarzen Osthim mel bereits ein paar schwächliche Sterne. Nacht breitete sich über Albion. Geblendet von meiner Liebe zu Goewyn sah ich die Dunkelheit und erkannte sie nicht. An jenem Abend verließen wir die Halle frühzeitig. 273
Goewyn ergriff meine Hand und führte mich zu unserem Bett, das nun gegen die Kälte hoch mit Pelzen und Schaffellen bedeckt war. Sie löste ihren Gürtel und legte ihn ab; dann zog sie sich das Kleid über den Kopf und stand vor mir. Sie ergriff den Kelch, den sie neben der Feuerstelle abgestellt hatte, und trank, wobei sie mich unausgesetzt ansah. Ihr Blick wich nie von meinen Augen. Ihr Körper, geliebkost vom Licht der Talgkerze, war eine Vision sanft geschwungener, zärtlich ver schmelzender Linien, schwindelerregend, verwirrend in seiner feinen Glätte. Sie trat auf mich zu, streckte die Hand aus und löste das Ende meines Gürtels, öffnete ihn und ließ ihn fallen. Dann zog sie mich an sich; ich spürte die Wärme ihres Körpers, ergriff eine Handvoll von ihrem Haar, hielt ihren Kopf und küßte ihren offenen Mund. Ich schmeckte die sanfte Wärme des honigsüßen Mets auf ihrer Zunge, und Leiden schaft loderte in mir auf wie eine Flamme. Ich ließ mich in der Hitze versinken. In jener Nacht teilten wir den goldenen Met und liebten uns, um das Werden unseres Kindes zu feiern. Am nächsten Tag war Goewyn fort.
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Die Suche Ich erwachte früh, doch Goewyn war bereits auf und hatte sich angezogen. Sie kam zur Bettstelle, beugte sich über mich, küßte mich und sagte: »Ich wollte dich nicht aufwecken.« »Was hast du vor?« fragte ich, ergriff ihre Hand und zog sie zu mir herunter. »Kommt zurück ins Bett - alle beide.« »Ich habe Tángwen versprochen, mit ihr zu gehen«, sagte sie. »Oh«, gähnte ich. »Wohin wollt ihr?« »Ausreiten.« »Willst du deinen Mann in seinem kalten, einsamen Bett zurücklassen? Komm zurück und warte wenig stens, bis die Sonne aufgeht.« Sie lachte und küßte mich noch einmal. »Es wird ja gleich hell. Schlaf jetzt, mein Schatz, und laß mich gehen.« »Nein.« Ich hob meine Hand und strich über die Seite ihres Halses. »Ich werde dich niemals gehen lassen.« Sie kuschelte sich in meine Hand, nahm sie dann und küßte die Handfläche. »Tángwen wartet auf 275
mich.« »Paß auf dich auf, Liebling«, sagte ich, als sie ging. Ich blieb noch eine Weile in unserem Bett liegen, dann stand ich auf, zog mich rasch an und ging hinaus. Der nachtschwarze Himmel färbte sich blaugrau, und die Sterne waren trüb; drüben über den umgebenden Hügeln im Osten klafften blutrote Streifen im Himmel wie Wunden in blassem Fleisch. Auf dem Platz war niemand zu sehen; aus den Kü chenhäusern stieg Rauch in senkrechten, weißen Säulen auf. Ich schauderte vor Kälte und eilte über den Platz zur Halle. In der Halle war es still, doch ein paar Leute waren schon wach und rührten sich. Das Feuer war bereits angeschürt, und ich ging hin, um mich zu wärmen. Weder Goewyn noch Tángwen waren zu sehen; sicherlich wollten sie frühstücken, wenn sie von ihrem Ausritt zurückkamen. Garanaw erwachte und begrüßte mich, und wir unterhielten uns, bis die Haferwaffeln aus dem Ofen kamen und dampfend in die Halle gebracht wurden. Wir setzten uns an den Tisch, wo sich bald Bran und ein paar früh erwachte Raben zu uns gesellten, dazu auch einige aus Cynans Gefolge. Cynan selbst er schien kurze Zeit später, begrüßte alle lautstark und ließ sich auf der Bank nieder. Die Haferwaffeln waren heiß und schmackhaft; wir spülten sie mit schwerem, braunem Bier hinunter. Das Gespräch kam auf die Jagd, und wir wurden 276
uns schnell einig, daß der Tag am besten auf der Fährte eines Hirschs oder Keilers zu verbringen sei. »Nach der Jagd wird uns das Abendessen um so besser schmecken«, erklärte Cynan; worauf Alun rasch hinzusetzte: »Und die Jagd wird uns um so mehr Freude ma chen, wenn wir sie mit einer Wette verbinden.« »Trügen mich meine Ohren?« fragte Cynan laut. »Bietet mir da etwa Alun Tringad sein Gold an?« »Wenn du einen größeren Hirschen zurückbringst als den, den ich finden werde, dann gehört dir der Meisterkämpferanteil an meinem Gold.« »Ich wäre beschämt, dich so leicht deiner Schätze zu berauben«, frotzelte Cynan. »Und ich würde es auch niemals tun, wenn es nicht ratsam wäre, dir eine wertvolle Lektion in Demut zu erteilen.« »Dann schlag ein«, erwiderte Alun, »und laß uns die Männer wählen, die mit uns reiten sollen. Je eher wir aufbrechen, desto früher kann ich meine Beloh nung einfordern. Wahrhaftig, ich spüre schon das Gewicht deiner goldenen Armbänder an meinen Armen.« »Falls du nicht darauf hoffst, mich mit deinem leeren Geprahle in den Schlaf zu lullen«, sagte Cynan, »wirst du bald einen Jäger erleben, der seines Rufes würdig ist. Darum rate ich dir, noch einen letzten Blick auf deine Schätze zu werfen.« Alun stand auf und rief seinen Rabenbrüdern zu: »Brüder, ich habe genug von dem leeren Gerede 277
dieses hochmütigen Burschen. Zeigen wir ihm, was wahre Jäger zustande bringen, und laßt uns gleich beschließen, wie wir seine Schätze unter uns auftei len.« Auch Cynan erhob sich. »Llew, reite mit mir, Bru der«, sagte er und rief noch andere aus seinem Gefol ge mit Namen auf. »Kommt, Freunde, die Jagd liegt vor uns und dazu viel Gold für unsere Mühe.« Sie legten die Zeit für ihre Rückkehr fest: »Bei Sonnenuntergang werden wir uns auf dem Platz versammeln«, schlug Alun vor. Cynan war einverstanden. »Und der Penderwydd von Albion wird zwischen uns richten, wer bessere Beute gemacht hat - obwohl das nicht nötig sein wird, denn es wird für jedermann leicht zu sehen sein, wer von uns der bessere Jäger ist.« »Das ist wahr«, nickte Alun gelassen. »Das werden sie leicht erkennen können.« Ich blickte mich rasch um, aber Tegid war noch nicht in der Halle aufgetaucht. Es spielte keine Rolle; wir konnten noch später reden, wenn wir von der Jagd zurückkehrten. In der Halle schwirrte es vor eifrig durcheinanderredenden Stimmen, als Nebenwetten abgeschlossen, Quoten festgelegt und Einsätze ausgehandelt wurden. Wir schnappten uns die letzten Haferwaffeln, stürmten aus der Halle und eilten über den zugefrorenen See zu den Viehpferchen, um die Pferde zu holen. Nachdem wir sie gesattelt hatten, ritten wir unter viel gutgelauntem Wortgeplänkel am 278
Seeufer entlang. Cynan und ich ritten voraus und folgten den Huf spuren, die Tángwen und Goewyn im frischen Schnee hinterlassen hatten. Auf halbem Weg zum Wald entfernte sich die Spur vom Ufer und führte auf den Bergkamm zu. Wir dagegen ritten weiter um den See herum zu den Wildschneisen an den langen Hängen. Sobald wir im Wald waren, teilten wir uns auf diejenigen, die mit Alun ritten, in eine Richtung, und Cynans Gruppe in die andere. Die Sonne stieg über die Kuppen hinweg; es war ein schöner Tag. In den Wildschneisen lag Schnee, doch wegen der Bäume war er nicht sehr tief. Wir fanden die Spuren von Dutzenden von Tieren, doch da es seit mehreren Tagen nicht geschneit hatte, war es unmöglich zu unterscheiden, welche davon frisch waren und welche älter. Wir zogen uns über die Breite der Schneise ausein ander und drangen tiefer in das stille Heiligtum des Waldes ein, die Speere an die Schenkel angelegt, während wir uns durchs Unterholz schoben. Die Schatten der Bäume bildeten ein blaues Gittermuster auf dem verharschten Schnee. Die kalte Luft krabbelte mir an Wangen, Nase und Kinn. Ich hatte meinen Umhang um mich gebreitet, um die Wärme des Pferdes aufzufangen und mich daran zu wärmen. Mit der hellen, weißen Sonne, dem klaren blauen Himmel und tapferen Männern an meiner Seite war es ein herrlicher Tag für die Jagd. 279
Ich ließ die Eifrigsten vorausreiten und genoß ent spannt den Ritt. Wir folgten der langen Schneise, die allmählich zum Bergkamm hin anstieg; als wir einen kleinen Bach überquerten, scheuchten wir einen Rothirsch auf, der sich in einem Schwarzdorndickicht versteckt hatte. Die Hunde hätten sich an seine Fersen geheftet, doch Cynan hatte es auf ein größeres Beute tier abgesehen und zwang sie zurück auf den Pfad. Wenig später wurde seine Geduld belohnt, als wir auf die frische Fährte eines kleinen Hirschrudels stießen. »Sie ist noch warm«, verkündete einer von Cynans Männern, als ich aufschloß. »Gut«, sagte Cynan. »Also aufgepaßt. Die Beute ist nah.« Wir ritten in rascherem Tempo weiter und bekamen die Tiere bald zu Gesicht: Es waren drei Hindinnen und ein großer Hirsch. Die Hunde warteten nicht ab, bis sie ein zweites Mal zurückgerufen wurden, sondern stießen ihren Jagdruf aus und hetzten los. Der Hirsch warf den Hunden einen Blick aus seinen großen, undurchdringlichen, dunklen Augen zu, dann hob er seinen königlichen Kopf und bellte seinem kleinen Clan eine Warnung zu. Die Hindinnen hoben die Schwänze und waren mit einem Satz im Dickicht verschwunden. Erst als sie weg waren, folgte ihnen der Hirsch. Statt zu versu chen, einen Weg durch das Unterholz zu erzwingen, ließen wir die Hunde laufen und hefteten uns an ihre Fersen. 280
Ein herrlicher Ritt! Der alte Hirsch erwies sich als gewiefter Gegner und lieferte uns eine lange, ver schlungene Verfolgungsjagd - durch tiefe Wälder, oben auf dem hohen Bergkamm entlang und wieder hinab in die Kiefern. Wir erwischten ihn am Ende mit dem Rücken zu einem Felsvorsprung am Fuß des Bergkammes. Sein Rudel war entkommen, und er war fast tot vor Erschöpfung. Dennoch machte er kehrt und kämpfte bis zuletzt. Die Sonne war kaum noch mehr als ein Tages mond, bleich und schwach am Horizont, als wir damit fertig waren, den Hirsch auf einer Trage festzubinden und unsere Pferde nach Hause zu lenken. Wir waren müde und froren, wo der Schweiß unsere Kleidung durchnäßt hatte, und waren doch sehr zufrieden mit unserer Jagd und voller Hoffnung, die Wette zu gewinnen. Ein schönes, königliches Schauspiel des Himmels, der von einem strahlenden SollenSonnenuntergang mit blassem Lavendelblau und Gold überzogen war, begrüßte uns, als wir aus dem Wald ritten und den Weg am Seeufer entlang einschlugen. Alun Tringads Gruppe war schon vor uns zurück gekehrt, und sie erwarteten uns bei den Viehpferchen, als wir ankamen. Ihre Beute - zwei schöne Keiler mit borstigen Rücken - lagen vor dem Pferch auf dem Schnee. Beim Anblick unseres Hirsches brachen sie in laute Klagerufe über unseren Mißerfolg aus. »Ein einsamer Hirsch, nicht mehr?« rief Alun, der als erster nach vorn drängte. »Das armselige Ding 281
muß ja schon vor Furcht den Geist aufgegeben haben, als es euch kühne Reiter sah, wie ihr ihm die Speere entgegenschütteltet.« »So armselig er auch ist«, erwiderte Cynan, wäh rend er sich aus dem Sattel schwang, »wird unser Hirsch doch ausreichen, um dich um deine Schätze zu erleichtern.« Er betrachtete die Wildschweine mit trauriger, enttäuschter Miene. »Da hast du ja etwas Schändliches angerichtet, Alun, mein Lieber - diese beiden Frischlinge ihrer Mutter wegzunehmen. Ts! Ts!« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Warum gibst du mir dein Gold nicht lieber gleich und ersparst dir die Schande, deine Geschicklichkeit in einem so erbärmlichen Licht zu offenbaren?« »Nicht so schnell, Cynan Machae«, erwiderte einer von Aluns Jagdgenossen. »Es ist Sache des Obersten Barden, uns zu sagen, wer die Wette gewonnen hat. Wir werden auf seine Entscheidung warten.« »Ho!« rief Cynan und blies die Wangen auf. »Ja, unbedingt, holt Tegid. Ich wollte dir nur die schreck liche Demütigung ersparen, die ich auf dich zukom men sehe.« Alun hatte bereits, kaum daß er unsere Gruppe auf dem Uferweg erspäht hatte, einen Mann losgeschickt, um Tegid zu holen. Ein Ruf von einem der Männer Cynans lenkte unsere Aufmerksamkeit auf das Crannog. »Da kommt er schon!« rief Gweir. »Der Penderwydd kommt!« Ich drehte mich um und sah eine Schar von Leuten 282
vom Crannog her über das Eis auf uns zueilen. Ich hielt Ausschau nach Goewyn, da ich sie unter ihnen zu sehen erwartete, doch weder Goewyn noch Tángwen waren zu sehen. Zweifellos hatten sie sich entschieden, in der Wärme zu bleiben. Ich konnte es ihnen nicht verdenken; ich selbst sehnte mich auch schon lange danach, aus meinen durchnäßten Kleidern herauszukommen und mich mit einem warmen Krug ans Feuer zu setzen. Ein fröhlicher Tumult erhob sich, als die Schar ankam. Alles rief beim Anblick der Beute durchein ander und rühmte die Fertigkeit der Jäger und den Erfolg der Jagd - was nur recht und billig war, denn vom Lohn unserer Mühe würden wir viele Tage lang herzhaft essen. »Penderwydd!« rief Alun. »Die Jagd ist beendet. Hier ist das Ergebnis unserer Mühen. Wie du siehst, haben wir reiche Beute gemacht. Ja, wir haben Cynan und seine Gruppe übertroffen, was jeder deutlich sehen kann. Du brauchst nur noch zuzustimmen und die unausweichliche Entscheidung zu bestätigen.« Der Oberste Barde zog seine Hand unter dem Um hang hervor und hob sie hoch. »Das werde ich tun, Alun Tringad. Doch was dir klar erscheint, ist viel leicht nicht allen klar, denen es an deiner Gier nach Cynans Gold mangelt. Darum tritt zur Seite und laß jemanden, dessen Blick von Habgier ungetrübt ist, die Beute begutachten.« Tegid sah sich zuerst Aluns und dann Cynans Beute 283
an. Er stieß mit dem Zeh gegen die Tierleiber, unter suchte die Felle, Zähne, Hauer, Augen, Hufe, Schwänze und das Geweih. Die ganze Zeit über forderten die beiden Gruppen einander mit Frotzeleien und Pfuirufen heraus, während sie auf die Entschei dung des Barden warteten. Der Barde indes ließ sich Zeit, hielt hin und wieder inne, um über diesen oder jenen Punkt zu sinnieren, den er entdeckt zu haben vorgab oder auf den er durch die äußerst parteiische Menge aufmerksam gemacht worden war. Dann baute er sich auf halbem Weg zwischen dem Hirsch und den beiden Keilern auf und stützte mit mächtig gerunzelter Stirn in ernster Bedächtigkeit sein Kinn auf die Faust. All dies steigerte nur die Span nung; Wetten wurden verdoppelt und dann verdrei facht, als die eine oder andere Seite - aufgrund einer verzogenen Augenbraue oder gehobenen Lippe - sich einbildete, daß die Waage sich zu ihren Gunsten neigte. Endlich richtete der Oberste Barde sich auf, hob Ruhe gebietend seinen Stab und schickte sich an, seine Entscheidung bekanntzugeben. »Es ist das Vorrecht des Königs, als Richter für sein Volk tätig zu sein«, rief er allen ins Gedächtnis. »Doch da der König an der Jagd beteiligt war, erbitte ich seine Erlaubnis, ein Urteil zu fällen.« Er sah mich an. »Die gebe ich gern«, erwiderte ich. »Bitte, fahre fort.« Mit lauten Rufen forderte die Menge den Obersten 284
Barden auf, den Sieger zu nennen, doch Tegid ließ sich nicht hetzen. Er barg seinen Kopf in einer Falte seines Umhangs und sagte: »Ich habe die Angelegen heit sorgfältig erwogen. Seit der Zeit Dylwyn KurzDolchs« - an dieser Stelle stöhnten die Zuschauer ungeduldig auf, doch Tegid leierte langsam weiter »und der Zeit Tryffins des Großen hat es in der Natur der Dinge gelegen, das Leben eines Hirsches gleich zusetzen mit dem eines Bären, und das eines Bären mit zwei Keilern.« Das Stöhnen schlug von Ungeduld in Frustration um, als die Menge erriet, was jetzt kommen würde. »Daraus ergibt sich«, fuhr Tegid gelassen fort, »daß ein Hirsch gleichwertig ist mit zwei Keilern. Somit läßt sich die Sache nicht nach der Menge des Fleisches entscheiden, und wir müssen nach einer anderweitigen Lösung suchen.« Er hielt inne und ließ seinen Blick über den Kreis der Gesichter wandern. Es war zustimmendes, aber auch protestierendes Gemurmel zu hören. Er wartete, bis es wieder still wurde. »Aus diesem Grund habe ich die Tiere besonders sorgfältig begutachtet«, sagte Tegid. »Dies ist meine Entscheidung.« Die Menge hielt den Atem an. Wer würde gewinnen? »Der Hirsch ist ein würdiger Gegner und ein Fürst seiner Art...« Bei diesen Worten brach Cynans Gruppe in ein markerschütterndes Triumphgeheul aus. »Doch«, schränkte Tegid rasch ein, »die Keiler sind nicht weniger fürstlich. Und dazu kommt, daß es zwei sind. Wäre dem nicht so, so würde ich mich für den 285
Hirschen aussprechen. Doch da die Schwierigkeit, zwei solch edle und vorzügliche Tiere zu finden und zu erlegen, notwendigerweise eine schwerere Prüfung für die Geschicklichkeit des Jägers sein muß, erkläre ich, daß diejenigen, die die Keiler gejagt haben, den Wettkampf dieses Tages gewonnen haben. Ich, Tegid Tathal, der Penderwydd, habe gesprochen.« Es dauerte einen Moment, bis alle die Worte des Obersten Barden enträtselt hatten, doch dann fingen sie alle an, um die Entscheidung zu streiten. Cynan wies auf die Schönheit und verschiedene andere Vorzüge seiner Beute hin, doch Tegid ließ sich nicht beirren: Alun Tringad war der Sieger. Es half nichts, die Verlierer mußten den Preis an die Sieger entrich ten. Tegid stieß mit dem Stab dreimal auf die Erde, und damit war die Sache erledigt. Wir kehrten in die Wärme und ins Licht der Halle zurück, um uns mit Fleisch und Getränken zu erfri schen und uns an den Erzählungen von der Jagd aufzuheitern. Als ich die Halle betrat, ließ ich meinen Blick rasch über die Versammelten schweifen. Goewyn war nirgends zu sehen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und eilte zu unserer Hütte. Sie war dunkel und leer, die Asche auf der Feuer stelle kalt. Offensichtlich war sie seit einiger Zeit nicht dort gewesen, vielleicht seit dem frühen Morgen nicht mehr. Ich rannte zurück zur Halle und bahnte mir einen Weg zu Tegid hindurch; er stand an einer Seite der Feuerstelle und wartete darauf, daß der 286
Bierkrug bis zu ihm vordrang. »Wo ist Goewyn?« fragte ich ihn ohne Umschwei fe. »Sei gegrüßt, Llew. Goewyn? Ich habe sie nicht gesehen«, erwiderte er. »Warum fragst du?« »Ich kann sie nicht finden. Sie ist heute morgen mit Tángwen ausgeritten.« »Vielleicht ist sie -« »Sie ist nicht in der Hütte.« Mein Blick wanderte durch die lärmerfüllte Halle. »Tángwen sehe ich auch nicht.« Ohne ein weiteres Wort drehte Tegid sich um und winkte Cynan zu uns. »Wo ist Tángwen?« fragte der Barde. Ich sah Cynan besorgt an. »Hast du sie seit heute morgen gesehen?« »Sie gesehen?« fragte er und hob seinen Becher. Er trank und reichte den Becher dann weiter an mich. »Ich bin seit Tagesanbruch auf der Jagd gewesen, wie du sehr gut weißt.« »Goewyn und Tángwen sind heute morgen zusam men ausgeritten«, erklärte ich und bemühte mich, meine Stimme nicht zu erheben, »und wie es scheint, sind sie noch nicht zurückgekehrt.« »Nicht zurückgekehrt?« Cynan sah zum Eingang hinüber, als rechnete er damit, daß die beiden Frauen jeden Moment eintreten würden. »Aber jetzt ist es dunkel.« »Das ist unsere geringste Sorge«, sagte ich. »Wenn 287
ihnen etwas passiert ist -« »Falls sie hier sind, muß jemand sie gesehen ha ben«, unterbrach Tegid ruhig. Der Barde entfernte sich. Einen Moment später stand er mit erhobenem Stab auf dem Tisch. »Clansleute! Hört mir zu! Ich muß mit Goewyn und Tángwen sprechen. Rasch jetzt! Wer kann mir sagen, wo ich sie finde?« Er wartete. Leute sahen sich an und zuckten die Achseln. Einige befragten sich gegenseitig, aber niemand hatte eine Auskunft anzubieten. Offensicht lich konnte sich niemand erinnern, eine der beiden Frauen gesehen zu haben. Tegid fragte noch einmal, doch er erhielt keine Antwort. Er dankte den Leuten für ihre Aufmerksamkeit und kehrte zu Cynan und mir zurück. »Wir werden das Crannog durchsuchen«, sagte er. Obwohl er leise sprach, merkte ich dem Barden an, daß er beunruhigt war. Das trug nicht dazu bei, meine wachsende Sorge zu dämpfen. Und dann kam eine der Mägde, die in der Halle bedienten, auf uns zu. »Wenn ihr erlaubt, Herren«, sagte sie, ihren Bierkrug fest umklammernd, »ich habe Königin Goewyn gesehen.« »Wo?« Es war nicht meine Absicht barsch zu der jungen Frau zu sein. »Bitte, sprich frei heraus.« »Ich habe die Königin draußen auf dem Platz gese hen«, sagte sie. Ich wollte zur Tür stürmen. Tegid hielt mich am Arm fest. »Wann war das?« fragte er; die Magd 288
zögerte. »Sprich schon«, fuhr er sie an. »Wann hast du sie gesehen?« »Heute früh am Morgen«, sagte die Magd mit zit ternder Stimme. Ich glaube, sie merkte, daß das ganz und gar nicht das war, was wir zu hören hofften. »Sie gingen lachend über den Platz - beide, die Königin und Königin Tángwen. Ich glaube, sie waren dabei, das Crannog zu verlassen, um auszureiten.« »Es muß noch dunkel gewesen sein«, sagte Cynan. »Bist du sicher?« »Ja, Herr«, sagte die Magd. »Ich weiß, wen ich gesehen habe.« »Und Tángwen war bei ihr«, hakte Cynan nach. »Ja, Herr.« »Danke, Ailla«, sagte ich, nachdem ich die junge Frau endlich erkannt hatte; sie hatte oft als eine von Goewyns persönlichen Zofen gedient. Tegid entließ sie und sagte: »Jetzt werden wir das Crannog durchsuchen.« Auf dem Weg zum Ausgang winkte Tegid Gwion, seinen ersten Mabinog, herbei und flüsterte dem Jungen etwas ins Ohr. Gwion ruckte einmal und schoß vor uns zur Tür hinaus. Zu dritt durchsuchten wir das Crannog, jeder einen Teil davon. Es dauerte nicht lange. Ich rannte von Haus zu Haus, schlug mit meiner silbernen Hand an die Türpfosten, um die Bewohner aufmerksam zu machen, und steckte dann meinen Kopf hinein. Die meisten der Hütten waren leer - die Leute hatten sich 289
in der Halle versammelt - und in denen, wo jemand war, hatte keiner der Bewohner eine der Frauen gesehen. Auch in den Lagerhäusern sah ich nach. Als ich zurück zur Halle eilte, um mich wieder mit den anderen zu treffen, wußte ich, daß Goewyn nicht in Dinas Dwr war. Als ich die Halle erreichte, traf ich Tegid am Ein gang mit Gwion Bach an seiner Seite. »Es sieht nicht gut aus«, sagte Tegid mir rundheraus. »Ich habe Gwion zu den Ställen geschickt. Ihre Pferde sind nicht wieder dort.« Mir sank das Herz, und mein Magen zog sich zu sammen. »Dann ist ihnen etwas passiert.« Cynan kam, und an der Art, wie er ging - mit ge senktem Kopf und hängenden Schultern - merkte ich, daß er nichts entdeckt hatte und nun mehr als besorgt war. »Die Spur wird schwierig zu verfolgen sein«, sagte er, ohne Zeit zu verschwenden. »Wir werden einen Vorrat an Fackeln und frische Pferde brauchen. Ich werde meine Kriegsschar zusammenrufen.« »Die Raben werden mit uns reiten«, sagte ich. »Drustwn kann sogar im Dunkeln eine Spur verfol gen. Ich werde die Pferde fertig machen. Geh jetzt. Hol die Leute. Und beeil dich!«
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Nächtlicher Ritt Wir nahmen die Spur an der Stelle auf, wo ich sie vom Uferpfad hatte abzweigen sehen. Im hellen Fackelschein sahen die Hufabdrücke der Pferde aus wie eine gestaffelte schwarze Linie über der weiten Schneefläche. Über den Talboden galoppierten wir, dreißig Mann, darunter Cynan, ich selbst und der Rabenflug. Tegid blieb zurück. Er würde sich während unserer Abwe senheit um die Dinge in Dinas Dwr kümmern und uns bei unserer Suche den Rücken stärken. Ich wickelte die Zügel um meine silberne Hand und umklammerte mit der anderen die Fackel. Die Flam me flackerte über meinem Kopf im Wind und zog eine Spur roter Funken hinter mir her, während ich über die Schneeverwehungen jagte. Die kalte Luft stach mir in Wangen und Augen; meine Lippen brannten. Doch ich nahm mir nicht einmal die Zeit, um mir den Umhang vors Gesicht zu ziehen. Ich würde nicht stehenbleiben, bis Goewyn wieder sicher an meiner Seite war. Als wir die Höhe des Druim Vran erreichten, wurde die Spur dünn und war schwer zu erkennen. Der Wind 291
hatte den größten Teil des Schnees vom Bergkamm heruntergefegt, doch an geschützten Stellen lag noch etwas, und wir ritten langsam weiter von Schneefeld zu Schneefeld, wo wir Hufspuren finden konnten. Offenbar waren sie nach Osten auf dem Bergkamm entlanggeritten. Es war ein schöner Tag gewesen. Sie waren auf die aufgehende Sonne zugeritten. Ich stellte mir vor, wie die beiden Frauen fröhlich auf dem Druim Vran entlangritten, das silbrige Licht der Dämmerung in den Augen. Wir dagegen folgten ihnen in der tiefsten Dunkelheit des Sollen, über uns eine sternenlose Leere; kein Mond beschien unseren Weg. Wir hatten kein anderes Licht als das, welches in unseren Händen flackerte, und das war sehr unbestän dig. Drustwn legte ein erbarmungsloses Tempo vor. Er schien immer im voraus zu wissen, wohin die Spur führen würde, und fand sie, wo immer er sich Zeit nahm, nach ihr Ausschau zu halten. So folgten wir der Führung des Raben auf dem Kamm entlang - tief, tief in die Schwärze des Sollen auf unserem nächtlichen Ritt. Wir blieben auch nicht stehen, als die Spur zum Tal hinunter abzweigte. Der Hang war frei von Schnee, und obwohl wir uns über den mit Gestrüpp bewachse nen Abhang ausbreiteten, fanden wir die Spur im Dunkeln nicht wieder. Am Ende stiegen wir ab, um den Hang zu Fuß zu durchsuchen. »Vielleicht finden wir die Spur am Morgen wie 292
der«, schlug Drustwn vor, als wir am Fuß des Berg kammes zusammenkamen, um zu beraten. »Auf dem freien Boden ist sie zu leicht zu übersehen.« »Meine Frau ist weg. Ich werde nicht bis zum Mor gen warten.« »Herr«, sagte Drustwn, das Gesicht im Fackel schein voller tiefer Schatten, »es ist nicht mehr lange bis Tagesanbruch.« Bei diesen Worten hob ich meinen Kopf. Drustwn hatte recht, im Osten hellte sich der Himmel bereits auf. Die Nacht war in einem Nebel aus Fackelschein und glitzerndem Schnee an mir vorbeigezogen. »Was schlägst du vor?« fragte ich. »Es hat keinen Sinn, im Dunkeln herumzustamp fen. Wir könnten die Spur zerstören, ohne es zu merken. Laß uns hier rasten, bis es hell genug ist, um etwas zu sehen.« »Also gut«, stimmte ich zu. »Gib den Befehl. Ich rede mit Cynan.« Drustwns Ruf hallte hinter mir, während ich mein Pferd wendete und an unserer Reihe entlang zurück ritt. Cynan war rechts von mir geritten, als ich ihn zuletzt gesehen hatte. Einige seiner Männer eilten auf Drustwns Ruf hin an mir vorbei. Ich sah Gweir und fragte ihn, wo Cynan sei, und er deutete auf zwei Fackeln, die in einiger Entfernung schimmerten. Cynan und Bran redeten miteinander, während sie auf die Stelle zu ritten, wo Drustwn wartete. Ich zügelte mein Pferd neben ihnen. »Warum ist er stehengeblie 293
ben?« fragte Cynan. »Habt ihr etwas gefunden?« »Wir haben die Spur verloren«, antwortete ich. »Es hat keinen Sinn, vor Sonnenaufgang weiterzureiten.« »Dann sollten wir am besten hier haltmachen«, erwiderte Bran. »Nein«, entgegnete ich knapp. »Am besten wäre es, sie zu finden. Aber mehr können wir im Moment nicht tun.« »Es war eine kalte Nacht«, klagte Cynan. »Sie wa ren darauf nicht vorbereitet.« Ich gab keine Antwort, doch auf Cynans Bemer kung hin wurde mir klar, daß ich gar nicht daran gedacht hatte, daß die Frauen irgendwo draußen die Nacht verbrachten. Der Gedanke war mir nicht gekommen, weil ich keinen Augenblick daran ge glaubt hatte, sie könnten sich lediglich verirrt haben. Es war natürlich möglich, doch die Wahrscheinlich keit, daß Eindringlinge sich auf Druim Vran zu schaffen gemacht hatten, führte mich zu einer anderen Vermutung. Nun boten mir Cynans Worte einen Hoffnungs schimmer. Vielleicht waren sie einfach zu weit geritten und gezwungen gewesen, die Nacht über draußen zu lagern, statt zu versuchen, im Dunkeln den Weg nach Dinas Dwr zu finden. Vielleicht hatte sich eines der Pferde verletzt, oder ... alles mögliche konnte geschehen sein. Wir ritten weiter zu der Stelle, wo Drustwn und die meisten der anderen Reiter inzwischen warteten. Sie 294
hatten rasch etwas dünnes Holz vom Hang gesammelt und ein Feuer entfacht. Andere führten die Pferde zu einem nahe gelegenen Bach, um sie zu tränken. Ich stieg aus dem Sattel, gab mein Pferd in die Obhut eines der Krieger und setzte mich, in meinen Umhang gehüllt, auf einen rauhreifüberzogenen Stein. Als ich vor Kälte zitternd auf den Sonnenaufgang wartete, fiel mir das Signalfeuer ein. Ich stand sofort auf. »Alun!« rief ich. »Alun Tringad! Komm her!« Einen Augenblick später stand Alun vor mir. Er berührte seine Stirn mit dem Handrücken. »Herr?« »Alun«, sagte ich und legte ihm die Hand auf den Arm, »erinnerst du dich an den Scheiterhaufen, den wir auf dem Bergkamm gefunden haben?« »Ja, Herr.« »Reite hin. Jetzt gleich. Dann komm wieder und sag mir, was du gefunden hast.« Er machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg und ritt zurück den Hang hinauf zum Bergkamm. Ich kehrte zu meinem Felsen zurück und setzte mich wieder. Dämmerlicht sickerte in einen grauweißen Himmel. Über uns zogen niedrige, dunklere Wolken dahin, die an den Bergkuppen zerrissen, wenn sie darüber hinwegrollten. Weit im Norden ragten schneebedeckte Gipfel über die Wolken hinaus. Mit der Sonne erhob sich der Wind in kräftigen Böen aus dem Osten. Wahrscheinlich würde es Schnee geben, bevor der Tag um war, oder Schneeregen. Ich wurde unruhig, stand auf und stieg auf mein 295
Pferd. »Jetzt ist es hell genug zum Sehen«, sagte ich ohne Umschweife zu Drustwn. Bran, der bei ihm stand, sagte: »Fürst Llew, erlaube uns, die Spur ausfindig zu machen und dich zu rufen, wenn wir sie gefunden haben.« »Wir reiten gemeinsam.« Ich schlug mit den Zü geln und wandte mich wieder dem Hang zu. Wir waren immer noch auf der Suche nach der Spur, als Alun zurückkehrte. Cynan war bei mir, und Alun schien zu zögern, in seiner Gegenwart zu sprechen. »Was hast du gefunden, Mann?« drängte ich. »Herr«, sagte er, »der Scheiterhaufen ist in Brand gesteckt worden.« »Wann?« »Unmöglich zu sagen. Die Asche war schon kalt.« Cynans Kopf fuhr bei diesen Worten zu Alun her um. »Was für ein Scheiterhaufen?« Ich erzählte ihm rasch von dem Signalfeuer, das ich auf dem Kamm entdeckt hatte. »Es ist abgebrannt worden«, sagte ich. Sein Kiefer wölbte sich gefährlich hervor. »Clanna na cù.« zischte er durch zusammengebissene Zähne. »Signalfeuer auf dem Kamm und Fremde im Tal - und wir lassen sie allein ausreiten!« Er machte mir keinen Vorwurf wegen meiner man gelnden Wachsamkeit, aber das war auch nicht nötig; ich spürte den Stachel der unausgesprochenen Ankla ge dennoch. Wie hatte ich das zulassen können? 296
»Wir werden sie finden, Bruder«, sagte ich. »Ja, das werden wir«, brummte er und schlug mit den Zügeln gegen den Hals seines Pferdes. Damit ritt er allein davon. Wie zur Antwort auf Cynans grimmige Bestätigung ertönte in diesem Moment der Ruf der Carynx, Drustwn hatte die Spur gefunden. Wir eilten zu der Stelle und nahmen die Verfolgung wieder auf. Die Sonne war jetzt völlig aufgegangen, und der Morgen jagte dahin wie auf Flügeln. Die Spuren führten quer durch das Tal. Nachdem wir ihnen ein gutes Stück gefolgt waren, wurde deutlich, daß sie auf die gege nüberliegende Seite des Tals zugeritten waren. Warum? Hatten sie etwas gesehen, das sie dorthin gelockt hatte? Der Weg führte gerade durch das Tal und hinauf auf die flachen Hügel dahinter; sie waren stur gerade aus geritten, ohne zur Seite abzuweichen oder anzu halten. »Warum«, fragte ich mich. Vielleicht hatten sie ein Wettrennen gemacht. Ich stürzte mich auf diese Idee. Ja, sie waren um die Wette geritten. Das würde die entschiedene Zielstrebigkeit ihrer Spur erklären. Ich rechnete damit, daß wir vor Erreichen des Hügels die Stelle finden würden, wo sie angehalten hatten, um Atem zu schöpfen, bevor sie umkehrten. Als wir jedoch die Kuppe des ersten Hügels hinter uns hatten, schwand diese Gewißheit. Die Spuren veränderten sich nicht. Die Doppelspur führte den 297
Hang hinauf und darüber hinweg - ohne Änderung, ohne Halt. Auf der Kuppe hielt ich an, um kurz zurückzu schauen. Druim Vran ragte hinter uns auf wie eine Wand, fest und undurchdringlich, mit dem Tal flach wie ein Fußboden davor. Das Signalfeuer mußte von jedem Hügel im ganzen Reich aus sichtbar gewesen sein - nur nicht, überlegte ich, in Dinas Dwr selbst. Es konnte jederzeit gebrannt haben, ohne daß wir es gesehen hatten. Ich wandte mich ab und folgte Drustwn weiter, während in mir eine grimmige Entschlossenheit aufstieg. Erst im nächsten Tal stießen wir auf die Stelle, wo die Frauen gehalten hatten. Drustwn zügelte sein Pferd, erstarrte im Sattel und rief sofort Cynan und mich zu sich. Der Rest unseres Suchtrupps lag immer noch ein kleines Stück zurück. Die Augen des Raben waren zu Schlitzen verengt, als er die Spuren musterte. »Was hast du gefunden?« drängte ihn Cynan. »Sie haben hier gehalten, Herr«, sagte er und streckte eine Hand zu den Abdrücken am Boden aus. Ich sah hin und entdeckte, was ihn so beunruhigte. Mir sank das Herz. »Wie viele?« fragte ich mit mühsam beherrschter Stimme. »Wie viele waren hier?« »Ich komme auf drei oder vier. Höchstens fünf. Mehr nicht.« »Saeth du«, murmelte Cynan. »Fünf...« 298
Ich starrte gebannt auf den zertrampelten Schnee hinab. Das Gewirr von Spuren war undurchschaubar. Klar war nur, daß die Frauen jemandem begegnet waren. Niemand war abgestiegen; es gab keine Fußabdrücke zwischen den Hufspuren. »Sie sind in dieser Richtung weitergeritten«, sagte Drustwn und blickte nach Osten. Ich konnte sehen, daß er recht hatte. Ich sah auch, daß eine Entschei dung gefällt werden mußte. Ich wartete, bis die anderen sich um uns versam melt hatten, und zeigte ihnen, was Drustwn entdeckt hatte. »Garanaw!« rief ich den Mann an, auf den mein Blick fiel. »Du kehrst mit Niall und Emyr nach Dinas Dwr zurück. Berichtet Tegid, was wir hier gefunden haben, und sucht dann Vorräte und Ausrüstung zusammen. Cynan und ich werden vorausreiten. Beeilt euch, und holt uns ein, so bald ihr könnt.« Cynan begriff die Bedeutung meiner Worte als erster. Er befahl sofort Gweir und vier anderen Männern aus seiner Gruppe, mit den drei Raben zu reiten und zu helfen, die Vorräte zu transportieren. Offensichtlich glaubte er ebenso wie ich, daß wir durchaus länger unterwegs sein könnten, als irgend jemand beabsichtigt hatte. Ein deprimierender Gedanke. Doch keiner von uns sagte ein Wort darüber, und sobald die Reiter aufgebrochen waren, jagten wir weiter. Die verworrenen Spuren lösten sich bald auf: Zwei Pferde gingen dicht nebeneinander her - die beiden Frauen, wie ich vermutete -, mit je einem Reiter zu 299
beiden Seiten in etwas größerem Abstand; ein Reiter führte die Gruppe an, und einer folgte dicht dahinter. Damit waren vier Fremde ausgemacht. Wenn noch mehr da waren, sahen wir kein Zeichen von ihnen. Die Spur führte nach Osten, hielt sich in den Niede rungen und schlängelte sich durch die Senken zwi schen den Hügeln, anstatt direkt darüber hinwegzurei ten. Offensichtlich hatten sie es nicht eilig und achteten statt dessen darauf, außer Sicht zu bleiben. Ich zweifelte nun nicht mehr daran, daß die Spuren, denen wir folgten, bereits einen Tag alt waren. Ich wußte auch, daß wir Goewyn und Tángwen nicht irgendwo in der Heide finden würden, wo sie darauf warteten, daß wir sie abholten. Sie waren mitgenom men worden. Geraubt. Entführt. Was das bedeutete, mochte ich mir immer noch nicht eingestehen. Ich wies den Gedanken von mir, wann immer er an die Oberfläche drang, und konzen trierte mich statt dessen darauf, der Spur zu folgen. Die blasse Sonne verlor an Leuchtkraft, nachdem sie den Mittag überstiegen hatte und ihr flacher Sollenbogen sich der Dämmerung zuneigte. Wir ritten weiter - eine lange Zeit, glaube ich, denn als ich wieder zum Himmel blickte, war er ganz von Wolken überzogen, und der Schnee, der den ganzen Tag über hatte auf sich warten lassen, begann in vereisten Schrotkugeln zu fallen, die hüpften, wo sie aufschlugen. Ich stellte mir vor, wie dieser Schnee Goewyn traf und sich in ihrem Haar und ihren Wimpern fing. Ich 300
sah ihre Lippen blau und zitternd. Ich sah ihre Schultern zittern, während sie ängstliche Blicke zurückwarf in der Hoffnung, mich zu ihrer Rettung herbeieilen zu sehen. Wir hielten an einem Bach, um zu rasten und die Pferde zu tränken. Der Schnee fiel in wabernden Wellen auf uns herab. Ich kniete hin und schöpfte eiskaltes Wasser an meinen Mund; dann ging ich zu Cynan, der dastand und über den schmalen, schwar zen Wasserstreifen hinwegstarrte. »Die Spuren gehen auf der anderen Seite weiter«, sagte er, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden. »Sie haben nicht einmal zum Trinken angehalten.« »Nein«, sagte ich. »Dann sollten wir auch nicht anhalten«, schnappte er. Er machte sich Sorgen um Tángwen, und die Belastung begann, ihre Spuren an ihm zu hinterlassen. »Sie haben einen beträchtlichen Vorsprung vor uns, Bruder«, machte ich ihm klar. »Wir wissen nicht, wie lange wir reiten müssen, bis wir sie einholen. Wir müssen mit unseren Kräften haushalten.« Er hörte das nicht gern, wußte aber, daß ich die Wahrheit sagte. »Wie konnte das geschehen?« fragte er. »Die Schuld liegt bei mir. Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Ich habe nicht nachgedacht.« Cynan wandte mir sein Gesicht zu; seine blauen Augen funkelten fast schwarz. »Ich mache dir keinen Vorwurf, Bruder«, sagte er, obwohl sein Tonfall Vorwurf genug war. »Es ist geschehen. Das ist alles. Nun muß es ungeschehen gemacht werden.« 301
Kurz vor Sonnenuntergang hörte es auf zu schnei en, und im Westen klarte sich der Himmel etwas auf. Die untergehende Sonne flammte in einem grellen Orangerot auf und versank dann hinter den einsamen Hügeln. Der allzu kurze Wintertag war zu Ende, doch wir ritten weiter, bis es zu dunkel war, um etwas zu sehen. Wir kampierten in einem schmalen Tal im Windschatten eines breiten Hügels, dicht um unsere Feuer gedrängt. Da wir nichts zu essen hatten, verbrachten wir die Nacht hungrig. Es war am Mittag des nächsten Tages, als diejenigen, die umgekehrt waren, um Vorräte zu beschaffen, uns erreichten. Nur indem sie die ganze Nacht hindurch ritten, schafften sie es, uns vor Sonnenuntergang einzuholen. Wir machten Rast, um zu essen und die Pferde zu füttern, bevor wir weiterritten. Die Spur, der wir folgten, führte unbeirrbar nach Osten. Schon lange bevor ich das Tosen der Wellen hörte, die sich an der felsigen Küste brachen, wußte ich, daß die Spur an der Küste enden würde. Und als wir schließlich im Sonnenuntergang eines weiteren kalten Tages auf einer verwehten Düne standen und auf die eiskalte, schaumige Brandung hinabblickten, deren unaufhörliches Donnern in unseren Ohren dröhnte, schwand der letzte Zweifel daran, daß Goewyn nicht mehr in Albion war. Im rasch herabsinkenden Zwielicht durchkämmten wir den Strand und fanden Spuren im Sand. Einen Moment lang flammte helle Hoffnung auf, doch sie 302
erstarb, als wir eines der Pferde der Frauen fanden: Frei, mit leerem Sattel, zog es seine Zügel entlang der Küste hinter sich her. Es war Tángwens Pferd, und seine Entdeckung stürzte Cynan in einen Anfall von Verzweiflung. »Warum nur ein Pferd?« fragte er, während er die Zügel durch seine Faust zog. »Was bedeutet das?« »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Vielleicht hat sie versucht zu fliehen.« »Das ergibt keinen Sinn!« brodelte er. »Das ergibt doch alles keinen Sinn. Selbst wenn sie zu fliehen versuchte und man sie wieder eingefangen hat, warum sollten sie ihr Pferd hierlassen und die anderen mitnehmen?« Er starrte mich an, als ob ich ihm die Antworten auf seine Fragen vorenthielte. »Bruder, ich kann dir nicht sagen, was hier passiert ist. Ich wünschte, ich könnte es.« Zu erregt, um stillzustehen, trieb er sein Pferd an und galoppierte am Strand entlang. Ich wollte ihm gerade die Küste hinauf folgen, als Drustwn mich rief. Er hatte zwei lange, tiefe Rillen im Sand gefunden Rillen, die von den Kielen zweier Boote stammten, die oberhalb der Flutlinie gelegen hatten. Während zwei von Cynans Männern ihm nachrit ten, um ihren Herrn zu holen, stieg ich ab, stellte mich an eine der Kielspuren und spähte nach Osten über das Meer hinweg in Richtung Tir Aflan. Irgendwo jenseits dieser rauhen Wellen, hart und dunkel wie Schiefer, wartete meine Braut auf ihre Rettung. 303
Ich wandte mich von der leeren Fläche des Meeres ab, und das Gesicht brannte mir vor Wut und Frustra tion. Bran Bresal, der schweigend neben mir gestan den hatte, sagte: »Ich glaube, in Albion werden wir sie nicht finden.« »Und doch sage ich dir, wir werden sie finden«, verkündete ich. »Schicke zwei Männer zurück zum Crannog. Sie sollen Tegid holen; ich brauche ihn hier bei mir. Scatha wird auch mitkommen wollen, aber sie muß zurückbleiben, um Dinas Dwr zu schützen.« »Sogleich, Herr.« Der Anführer der Raben ließ sein Pferd herumwirbeln und galoppierte über den Strand kies davon. »Cynan!« rief ich. »Cynan, hier!« Einen Augenblick später war er bei mir. »Schicke ein paar Männer los, eure Boote zu holen. Wir werden hier lagern und auf sie warten.« Er zögerte, warf einen Blick zum Himmel empor und schien drauf und dran zu sein, Einwände gegen den Plan zu erheben. Doch dann sagte er: »Wird gemacht.« Cynan eilte davon und rief Gweir zu, ihm zu fol gen. Ich zog die Fellbedeckung von meinem Sattel und breitete sie auf dem feuchten Strandkies aus. Dann setzte ich mich hin, das Gesicht der anbranden den See zugewandt, und begann das lange Warten.
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Das Geas des Treán ap Golau Wir warteten drei Tage lang auf die Ankunft der Schiffe, und dann drei weitere. Jeder Tag war eine langsame, quälende Folter. Kurz nach Anbruch des siebten Tages trafen vier Schiffe aus ihrem Winterha fen in der Flußmündung im südlichen Caledon ein, wo Cynan sie liegen hatte. Er befahl den Männern, sich bereitzuhalten, und dann kehrten wir in unser Lager am Strand zurück, um Tegids Ankunft abzuwarten. Der Barde erschien kurz vor Sonnenuntergang; Scatha, die nicht hatte zurückbleiben wollen, ritt neben ihm. »Meine Tochter ist entführt worden«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Ich habe die Absicht, bei ihrer Befreiung zu helfen.« Das war ihr nicht abzuschlagen, und so antwortete ich: »Wie du wünschst, Pen-y-Cat, soll es geschehen. Möge deine Gegenwart für uns von Segen sein.« Tegid schaltete sich ein: »Da Scatha mit uns kom men wollte, habe ich Calbha gerufen, damit er über Dinas Dwr wacht. Darum konnten wir nicht eher kommen.« Ich war nicht erbaut über diese Entwicklung. »Hof 305
fen wir, daß deine gedankenlose Verzögerung nicht Goewyn oder Tángwen das Leben gekostet hat.« Ich wandte mich ab und eilte zu den Schiffen, um sie zum Auslaufen fertigzumachen, ließ die Fackeln anzünden und die Vorräte verladen. »Es wird bald dunkel, und heute nacht wird es kei nen Mondschein geben«, brach Bran das rastlose Schweigen der letzten Tage. »Wir sollten bis zum Morgen warten.« »Wir haben schon zuviel Zeit vergeudet«, entgeg nete Cynan. »Wir laufen sofort aus.« Tegid stieg von seinem Pferd und eilte zu mir. »Es gibt noch etwas, worüber wir reden müssen, Llew«, sagte er. »Das kann warten, bis wir Segel gesetzt haben.« »Du mußt es jetzt hören«, beharrte der Barde. Ich drehte mich zu ihm um. »Ich werde es hören, wenn ich es will! Ich habe sieben Tage lang in der Eiseskälte dieses Strandes ausgeharrt. Im Augenblick interessiert mich nur eine einzige Sache: Goewyn zu befreien. Wenn das, was du zu sagen hast, dazu beiträgt, daß uns das schneller gelingt, dann sag es. Wenn nicht, will ich es nicht hören.« Tegids Gesicht verhärtete sich; in seinen Augen loderte ein rasch entfachtes Feuer auf. »Und dennoch wirst du es hören, o mächtiger König«, fuhr er mich mühsam beherrscht an. Ich wollte ihm den Rücken kehren, doch er packte mich am Handgelenk meiner silbernen Hand und hielt 306
mich fest. Heißer Zorn flammte in mir auf. »Nimm deine Hand von mir weg, Barde, wenn du sie nicht verlieren willst!« Einige der Umstehenden sahen, was vor sich ging, und hielten inne, um uns zu beobachten - darunter auch Scatha und Cynan. Tegid ließ mich los und hob seine Hand hoch empor, wie es ein Barde tut, der etwas verkündet. »Höre mich, Llew Llaw Eraint!« spie er mir entge gen. »Du bist Aird Righ von Albion, und somit bist du mit vielen Geasa belegt.« »Mit Tabus? Spar dir deinen Atem«, grollte ich. »Das ist mir egal!« Mein Zorn verdoppelte sich. Er hatte meinen Befehlen zuwidergehandelt und uns viele Tage zurückgeworfen, und nun hatte er die Stirn, uns noch länger aufzuhalten und von irgendwelchen lächerlichen Tabus zu reden. »Meine Frau ist entführt worden! Cynans Braut ist fort! Was immer es kostet, ich werde sie zurückholen. Begreifst du das? Ich werde das ganze Königreich geben, um ihre Befreiung zu erreichen!« »Es steht nicht in deiner Macht, das Königreich zu geben«, erklärte der Barde unverblümt. »Es gehört dem Volk, das sich unter deinem Schutz birgt. Du besitzt nichts als die Königswürde.« »Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten, Bar de. Bleib hier, wenn es das ist, was du willst. Ich gehe.« Er hielt mich mit seiner Stimme fest und sagte: »Ich 307
sage, du kannst nicht gehen.« Ich starrte ihn an - sprachlos vor Zorn. »Der Aird Righ von Albion darf sein Reich nicht verlassen«, verkündete er. »Das ist das erste Geas deiner Herrschaft.« Hatte er den Verstand verloren? »Was sagst du da? Ich bin doch schon früher fort gewesen. Ich bin gereist -« Tegid schüttelte den Kopf, und ich begriff. Seit ich König geworden war, hatte ich noch keinen Fuß über Albions Grenzen gesetzt. Offenbar war mir das nun aus irgendeinem unbegreiflichen Grund verboten. »Erkläre es mir«, fuhr ich ihn an. »Aber beeil dich damit.« Tegid erwiderte schlicht: »Es ist dem Hochkönig verboten, die Insel der Mächtigen zu verlassen - in welcher Situation oder aus welchem Grund auch immer.« »Falls ich nicht eine bessere Erklärung zu hören bekomme«, entgegnete ich, »wirst du bald allein hier am Strand herumstehen. Ich habe das Auslaufen der Schiffe befohlen, und ich beabsichtige, an Bord des ersten Schiffes zu sein, wenn es ablegt.« »Die Schiffe mögen aufbrechen. Deine Männer mögen aufbrechen«, sagte er leise. »Aber du, o König, darfst nicht einmal einen Fuß über dieses Ufer hinaus setzen.« »Meine Frau ist da draußen! Und ich werde sie finden.« Ich wollte mich wieder abwenden. »Ich sage, du kannst nicht Albion verlassen und 308
dennoch Aird Righ bleiben«, beharrte er, jedes Wort einzeln betonend. »Dann bin ich eben nicht mehr König!« spie ich zurück. »So sei es! So oder so, ich werde meine Frau finden.« Wenn ich sie gegen mein Königtum eintauschen könnte, würde ich es tausendmal hergeben. Sie war mein Leben, meine Seele; ich hätte alles hergegeben, um sie zu retten. Scatha stand da und sah ungerührt zu. Ich verstand jetzt, warum sie gekommen war und warum Tegid meinem ausdrücklichen Befehl nicht gehorcht hatte. Sie wußte, daß ich Albion nicht würde verlassen dürfen, und ging davon aus, daß ich meine Meinung ändern würde, sobald ich das Problem verstand. Doch ich blieb hart. Ich sah Cynan an, der an seinem Schnurrbart zupfte und mich nachdenklich ansah. Ich hob meine Hand und deutete auf ihn. »Gib das Königtum Cynan«, sagte ich. »Er soll Aird Righ sein.« Doch Cynan grunzte nur. »Ich gehe.« »Dann gebt das Königtum Scatha«, sagte ich. Auch Scatha lehnte ab. »Ich gehe, um meine Tochter zu finden«, sagte sie. »Ich werde nicht zurückbleiben.« Sofort wandte ich mich an Bran, doch auch er lehn te das Angebot ab. »Mein Platz ist an deiner Seite, Herr«, war alles, was er dazu sagen wollte. »Will niemand das Königtum übernehmen?« fragte ich laut. Doch alle Augen wichen mir aus, und 309
niemand antwortete. Es wurde rasch dunkel, und ich verlor zusehends das bißchen Würde, das ich besaß. Ich wirbelte zu Tegid herum wie zu einem Angrei fer und sagte: »Du siehst, wie die Dinge liegen.« »Das sehe ich«, erwiderte der Barde eisig. »Und nun möchte ich, daß du siehst, wie die Dinge liegen.« Damit hielt er inne, schloß die Augen und holte tief Luft. Seine nächsten Worte kamen völlig überra schend für mich. »Treán ap Golau war ein König in Albion«, ver kündete Tegid. »Drei Dinge hatte er, die sein ganzer Ruhm waren; die Liebe schöner Frauen; Unbesieg barkeit in der Schlacht und die Treue guter Männer. Doch eine Sache hatte er, die ihm eine Last war: Das war das Geas seines Volkes, daß er niemals den Keiler jagen dürfe. Und es begab sich folgendes...« Ich starrte ihn an. Eine Geschichte! Er hatte vor, mir eine Geschichte zu erzählen. Ich konnte es nicht glauben. »Ich habe jetzt keine Zeit dafür, Tegid«, protestierte ich. Sein Kopf ruckte hoch, er riß die Augen auf und fixierte mich mit einem drohenden Blick. »Eines Tages«, intonierte er mit eisiger Stimme, »als der König mit seiner Kriegsschar draußen auf der Jagd ist, erhebt sich ein fürchterliches Grunzen und Grollen wie von einem wilden Tier. So gewaltig ist der Lärm, daß er die Bäume bis in die Wurzeln und gar die Berge von oben bis unten erzittern läßt, die Steine zum Zerspringen bringt und die Felsen spaltet. 310
Einmal, zweimal, dreimal erklingt das mächtige Grunzen, jedesmal lauter und schrecklicher als beim letzten Mal. König Treán ruft Cet, seinem weisen Barden, zu: ›Dieser Lärm muß zum Schweigen gebracht werden, sonst wird jedes lebendige Wesen im Land sterben! Laß uns das Tier suchen, das dieses Getöse verur sacht, und es sofort töten.‹ Darauf erwidert Penderwydd Cet: ›Das ist leichter gesagt als getan, mächtiger König. Denn diesen Lärm macht kein anderer als der Keiler von Badba, eine verwunschene Bestie ohne Ohren und Schwanz, aber mit Hauern, so groß wie die Speere deines Meister kämpfers und doppelt so scharf. Schlimmer noch, er hat heute schon dreihundert Menschen getötet und gefressen und ist immer noch hungrig. Darum grunzt und grollt er so, daß die Welt davon auseinanderbricht.‹ Als Treán ap Golau das hört, sagt er: ›Auch wenn es ein Keiler und ein Fluch ist - wenn ich dieses Tier nicht erlege, wird nichts mehr von meinem Reich übrigbleiben.‹ Damit reitet der König dem Monster entgegen und findet es, wie es seine Hauer an einer abgebrochenen Eibe wetzt. In der Absicht, ihn mit dem ersten Stoß zu erlegen, greift er den Keiler von Badba an. Doch das riesige Wildschwein sieht ihn kommen und stößt ein so schreckliches Grollen aus, daß das Pferd des Königs vor Angst auf die Knie fällt und Treán zu Boden geschleudert wird. Der verwunschene Keiler greift den gestürzten 311
König an. Treán legt den Speer an, zielt und schleu dert. Näher und näher stürmt der Keiler. Der Speer fliegt sicher und trifft das Wildschwein mitten auf der Stirn. Doch er verursacht nicht einmal einen Kratzer in der dicken Haut des Keilers und prallt ab. Der Keiler nähert sich dem König. Treán zieht sein Schwert und schlägt zu! Und noch einmal! Doch die feste Klinge zerspringt in seiner Hand in Stücke, während das Schwein unverletzt bleibt. Ja, nicht einmal eine einzige Borste ist geknickt. Hinab fährt der Kopf des Keilers, und hinauf wir belt der König. Er klammert sich für einen Moment an den Rücken des Schweines, doch das wütende Tier schüttelt ihn mit solcher Wucht ab, daß der König hoch in die Luft geschleudert wird. Der König landet direkt auf dem Eibenbaum: Der zersplitterte Stamm durchbohrt seinen Leib, und da hängt er, aufgespießt auf der Eibe. Und der König stirbt. Als er das sieht, beginnt der Keiler von Badba den König zu verschlingen. Das Tier reißt an den Gliedern des toten Königs. Er verschlingt den rechten Arm und die rechte Hand des Königs, die immer noch den Griff seines zersplitterten Schwertes umklammert. Die abge brochene Klinge bleibt in der Kehle des Tieres stecken, und der Keiler von Badba erstickt daran und stirbt. Die Begleiter des Königs eilen herbei, um dem König zu helfen, doch Treán ap Golau ist tot.« Tegid sah mich direkt an und sagte: »So endet die Erzählung von König Treán, höre sie, wer will.« 312
Ich schüttelte langsam den Kopf. Falls er gehofft hatte, mich zu entmutigen, indem er mir diese Ge schichte erzählte, würde er sich enttäuscht sehen. Meine Entscheidung war getroffen. »Ich habe deine Erzählung gehört, Barde«, sagte ich zu ihm. »Und es war eine höchst unheilschwange re Erzählung. Aber wenn ich dieses Geas brechen muß, dann muß es eben sein!« Seltsamerweise gab Tegid nach. »Ich wußte, daß du das sagen würdest.« Er hielt inne und fragte mich dann, wie um mir eine letzte Chance zum Umschwen ken zu geben: »Ist das deine Entscheidung?« »Ja.« Er bückte sich und legte seinen Stab vor sich auf den Boden; dann richtete er sich mit versteinertem Gesicht wieder auf. »So sei es. Das Tabu wird gebro chen werden.« Der Oberste Barde hielt inne und sah sich in dem Kreis der Gesichter um, die sich um uns drängten. Langsam und deutlich sagte er: »Der König hat seine Wahl getroffen; nun müßt ihr wählen. Wenn irgendein Mann umkehren möchte, muß er es jetzt tun.« Kein Muskel regte sich. Sie waren dem Mann treu, dem sie einmal Gefolgschaft geschworen hatten, und sie wichen nicht zurück. Tegid nickte, barg seinen Kopf in einer Falte seines Umhangs und begann, in der Dunklen Sprache zu reden: »Datod Teyrn! Gollwng Teyrn. Roi'r datod Teryna-Terynas! Gwadu Teryn. Gwrthod Teyrn. 313
Gollwng Teryn.« Zum Schluß wandte er sich in jede Himmelsrichtung: »Gollyngdod ... gollyngdod ... gollyngdod ... gollyngdod.« Er hob seinen Stab wieder auf und machte sich daran, einen Kreis um die ganze Versammlung auf dem Strand zu ziehen. Als er den Kreis geschlossen hatte, ging er in die Mitte zurück, zog eine lange senkrechte Linie und dann an jeder Seite davon eine schräg abfallende Linie, so daß sich eine Form wie eine Pfeilspitze ergab - die Gogyrven, wie er es nannte: die Drei Strahlen der Wahrheit. Dann hob er seinen Stab mit der rechten Hand hoch, rammte ihn in den Sand, nahm den Lederbeutel von seinem Gürtel und ließ etwas von der geheimnisvollen Aschemi schung, die er Nawglan nannte, in jede der drei Linien rieseln, die er gezogen hatte. Dann stand er auf und berührte meine Stirn mit den Fingerspitzen - er zeichnete das Zeichen der Gogyr ven darauf. Er hob seine Hände mit den Handflächen nach außen - eine über seinen Kopf, die andere in Schulterhöhe -, machte den Mund auf und deklamierte: Auf dem steilen Pfad unserer gemeinsamen Berufung, Sei er leicht oder schwer für unser Fleisch, Sei er hell oder dunkel, daß wir ihm folgen, Sei er steinig oder glatt unter unseren Füßen, Gib uns, o Gütig-Weiser, deine vollkommene Leitung Damit wir nicht fallen oder in die Irre gehen.
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Im Schutz dieses Hains
Sei unser Teil und unser Führer;
Aird Righ durch die Vollmacht der Zwölf:
Des Windes der Böen und Stürme,
Des Donners der drohenden Wolken,
Der Strahlen der hellen Sonne,
Des Bären der sieben Schlachten,
Des Adlers auf dem hohen Felsen,
Des Keilers im Wald,
Des Lachses im Teich,
Des Sees im Tal,
Der Blüten auf dem heidebewachsenen Hügel,
Der Kunst des Handwerkers,
Der Worte des Dichters,
Des Feuers der Gedanken in den Weisen.
Wer erhält das Gorsedd, wenn nicht du?
Wer zählt die Zeitalter der Welt, wenn nicht du?
Wer befiehlt dem Rad des Himmels, wenn nicht du?
Wer erweckt das Leben im Schoß, wenn nicht du?
Darum, Gott aller Tugend und Macht,
Segne uns und beschirme uns mit deiner Schnellen,
Sicheren Hand, Führe uns in Frieden bis ans Ende unserer Reise. Durch diesen Ritus hatte der Barde uns gesegnet uns geweiht und unsere Reise mit einem Segen versiegelt. Ich fühlte mich gedemütigt und beschämt. »Danke dafür«, sagte ich zu ihm. 315
Doch Tegid war noch nicht fertig. Er griff in eine Falte seines Gürtels, zog einen hellen Gegenstand hervor und reichte ihn mir. Ich streckte die Hand aus, und er gab mir den Gegenstand. Ich spürte das kühle Gewicht in meiner Hand und wußte, ohne hinzusehen, was es war: ein Singender Stein. Guter Tegid: Er hatte gewußt, daß ich mich entscheiden würde, das Geas zu brechen, um Goewyn zu retten, und er wollte tun, was er konnte, um mir zu helfen. »Ich danke dir noch einmal, Bruder«, sagte ich. Tegid sagte nichts, sondern zog zwei weitere Steine hervor und legte sie in meine Hände. Damit entließ mich der Barde in mein Schicksal. Ich verstaute die drei Steine sicher in meinem Gürtel, drehte mich um und befahl den Männern, die Schiffe zu besteigen. Jeder wollte als erster an Bord sein, und ich folgte ihnen dicht auf den Fersen. Ich hatte das Wasser fast erreicht, als Tegid mir hinterherrief: »Llew! Willst du etwa ohne deinen Barden gehen?« »Ich würde mit froherem Herzen gehen, wenn du mit mir gingest«, antwortete ich. »Aber ich werde nicht schlecht von dir denken, wenn du zurückbleibst.« Einen Moment später stand er neben mir. »Wir gehen zusammen, Bruder.« Wir wateten durch die eisige Brandung und wurden von denen, die bereits an Deck auf uns warteten, an Bord gehievt. Männer nahmen die langen Stangen auf und schoben uns in tieferes Wasser, bis die Segel flatterten, sich füllten und sich wölbten. Die Nacht 316
schloß ihre geballte Faust um uns, als der scharfe Bug die Wellen teilte und Salzwasser und Meerschaum auf unsere Gesichter und Kleider spritzten. In der tiefen Schwärze einer mondlosen Sollennacht ließ ich Albion hinter mir. Ich blickte nicht zurück. Die See war rauh, der Wind stürmisch und kalt. Regen und Schneeregen prasselten auf uns ein, und jede Welle schleuderte uns herum, als versuche die See, unser Durchkommen zu verhindern. Mehr als einmal fürchtete ich, wir würden unser Grab im Wasser finden, doch wir segelten unbeirrt weiter. Es gab kein Zurück. »Wie kommst du auf den Gedanken, daß sie in das Land der Fäulnis geflohen sind?« fragte Tegid. Ich stand am Bug und hielt mich an der Reling fest. Wir hatten die Sonne nicht zu Gesicht bekommen, seit wir aufgebrochen waren. »Paladyr steckt hinter der Sache«, erwiderte ich, schlug mit der Faust gegen die Reling und blickte starr auf die Wellen hinaus. »Wie kommst du darauf?« »Wer sollte es sonst sein?« gab ich zurück. Den noch rief seine Frage den Zweifel wach, den ich bisher unterdrückt hatte. Ich drehte meinen Kopf, um seinem Blick zu begegnen. »Weißt du irgend etwas?« Seine dunklen Brauen hoben sich etwas. »Ich weiß nur, daß niemand auf dem Meer eine Spur hinterläßt.« »Die Spur führt nach Tir Aflan. Dorthin haben wir 317
Paladyr verbannt, und dorthin hat er die Frauen verschleppt«, erklärte ich mit weit mehr Sicherheit in der Stimme, als ich im Augenblick empfand. Als ich noch am Ufer gestanden hatte, hatte ich nicht den geringsten Zweifel gehegt. Nun jedoch, nach zwei Tagen an Bord eines schwer rollenden Schiffes, war ich mir nicht mehr so sicher. Was war, wenn sie nun nach Süden gesegelt und in irgendeiner der tausend verbor genen, namenlosen Buchten an Land gegangen waren? Tegid dachte eine Weile schweigend nach. Dann sagte er: »Warum sollte Paladyr das getan haben?« »Das liegt doch auf der Hand: aus Rache.« Der Barde schüttelte den Kopf. »Rache? Dafür, daß du ihm sein Leben geschenkt hast?« »Dafür, daß ich ihn nach Tir Aflan geschickt habe«, antwortete ich barsch. »Warum? Was denkst du?« »Bisher hatte Paladyr in allen Situationen immer nur sich selbst und seinen eigenen Vorteil im Sinn«, entgegnete Tegid. »Ich glaube, er wäre jetzt damit zufrieden, seine Haut zu retten. Außerdem hat Paladyr bisher meines Wissens noch nie allein gehandelt.« Das stimmte. Paladyr war ein Krieger, der mit ei nem Speer mehr anzufangen wußte als mit listigen Machenschaften. Ich dachte darüber nach. »Es spielt keine Rolle«, schloß ich endlich. »Ob er allein gehan delt hat oder zusammen mit einem ganzen Heer heimtückischer Intriganten, macht keinen Unter schied. Ich würde dennoch gehen.« »Natürlich«, stimmte Tegid zu, »aber es wäre nütz 318
lich, zu wissen, wer mit ihm hinter dieser Sache steckt. Das könnte einen Unterschied machen.« Er schwieg einen Moment und betrachtete mich mit seinen scharfen, grauen Augen. »Bran hat mir von dem Signalfeuer erzählt.« Ich starrte finster in die schieferschwarze See. »Gibt es noch irgend etwas, das du mir noch nicht gesagt hast? Wenn ja, dann sag es mir jetzt.« »Es gibt noch etwas«, gab ich schließlich zu. »Und was?« fragte Tegid leise. »Goewyn trägt unser Kind unter dem Herzen. Nie mand sonst weiß davon. Sie wollte noch ein wenig warten, bevor sie es jemandem sagte.« »Bevor sie es jemandem sagte!« ereiferte sich Te gid. »Das Kind des Königs!« Kopfschüttelnd vor Erstaunen und Fassungslosigkeit wandte er sein Gesicht dem Meer zu und spähte hinaus über die wellenzerklüftete Tiefe. Es dauerte lange, bis er wieder sprach. »Ich wünschte, ich hätte das früher gewußt«, sagte er endlich. »Dieses Kind gehört nicht euch allein; es ist ein Symbol für die Fülle deiner Herrschaft und gehört dem Clan. Ihr hättet es mir sagen müssen.« »Wir hatten nicht die Absicht, es vor irgend jeman dem zu verbergen«, sagte ich. »Hätte es einen Unter schied gemacht?« »Das werden wir niemals wissen«, antwortete er trübe und verstummte. »Tegid«, sagte ich nach einer Weile, »Tir Aflan bist du jemals dort gewesen?« 319
»Nein, niemals.« »Kennst du jemanden, der schon dort war?« Er gab ein freudloses, heiseres Lachen von sich. »Nur einen: Paladyr.« »Aber du mußt doch irgend etwas über diese Insel wissen. Wie ist sie zu ihrem Namen gekommen?« Er schürzte die Lippen. »Seit undenklichen Zeiten wurde sie Tir Aflan genannt. Der Name ist wohl verdient, aber so war es nicht immer. In der Gelehrten Bruderschaft geht die Kunde, daß sie einst, vor langer Zeit, das gesegnetste aller Reiche war - damals hieß sie Tir Gwyn.« »Das Land der Schönheit«, wiederholte ich. »Was geschah dann?« Seine Antwort überraschte mich. »Auf der Höhe seiner Herrlichkeit fiel Tir Gwyn.« »Es fiel?« fragte ich. »Wie das?« »Es heißt, daß die Menschen dort den Pfad der Wahrheit verließen; Sie wandelten in Irrtum und Selbstsucht. Böses erhob sich unter ihnen, und sie erkannten es nicht mehr. Statt ihm zu widerstehen, nahmen sie es willig auf und gaben sich ihm hin. Das Böse wuchs; es verschlang sie - es verschlang alles Gute und Schöne im Land.« »Bis nichts mehr übrig war«, murmelte ich. »Der Dagda zog seine Schnelle Sichere Hand von ihnen zurück, und aus Tir Gwyn wurde Tir Aflan«, erklärte er. »Heute ist es nur noch von Tieren und Ausgestoßenen bewohnt, die in ihrer Qual und ihrem 320
Elend übereinander herfallen. Es ist ein Land, dem es an den nötigsten Dingen für die menschlichen Be dürfnisse mangelt. Suche dort keine Hilfe, keinen Trost, keinen Frieden. Du wirst sie nicht finden. Nur Schmerz, Trauer und Qual.« »Ich verstehe.« Tegid runzelte die Stirn und musterte mich aus dem Augenwinkel. »Ja, du wirst es schon bald selbst sehen«, sagte er und deutete mit dem oberen Ende seines Stabes über die See vor uns hinaus. Ich blickte auf und sah etwas, das wie eine trübe, graue Wolkenbank tief über dem Horizont aussah: mein erster Blick auf das Land der Fäulnis. »Wenn wir uns eine Weile dort aufge halten haben, sag mir, ob es seinen Namen verdient.« Ich spähte zu dem farblosen Klumpen Landschaft hinüber, der dort aus den Wellen herausragte. Es war ein trostloser Anblick, aber nicht trostloser als so manche andere Landmasse, wenn man sich ihr an einem sonnenlosen Tag durch Nebel und Nieselregen nähert. Ja, nach Tegids Beschreibung wunderte ich mich sogar, daß es nicht noch elender und öder aussah. Ich war gekommen, um Goewyn zu finden, und ich würde durch Erdbeben, Überschwemmungen und Flammen gehen, um sie zu retten. Kein Land, so feindselig es auch sein mochte, würde mir dabei im Weg stehen. Hätte ich nur geahnt, wie unfaßbar naiv dieser Irr glaube war.
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Tir Aflan Es wäre leichter gewesen, die Schiffe auf unseren Rücken über das Meer zu tragen, als sicher an der Küste des Landes der Fäulnis zu landen. Die zerklüf tete Küste war von zersplitterten Felsen umringt. Das Meer wogte gegen die scharfkantigen Stümpfe und zerfetzte sich daran mit einem betäubenden Getöse. Wir verbrachten den größten Teil eines Tages damit, entlang der Küste nach einem Ankerplatz zu suchen. Dann, als der Tag sich schon neigte, stießen wir auf eine Bucht, geschützt von zwei hoch aufgeschichteten Felsvorsprüngen, die einen schmalen Durchlaß bildeten. Trotz des Schutzes, den die Vorsprünge boten, gefiel Tegid die Bucht nicht. Er behauptete, sie verursache ihm Unbehagen. Dennoch kamen wir nach kurzer Beratung zu dem Schluß, daß dies der beste Ankerplatz war, den wir bisher gesehen hatten, und wahrscheinlich der beste, den wir finden würden. Ich gab den Befehl, und eines nach dem anderen segelten die Schiffe zwischen den hoch aufgetürmten Felswänden hindurch. Kaum waren wir im Schutz der Felsen, wurde das Wasser totenstill - und tiefschwarz, 322
noch dunkler als die See draußen vor der Bucht. »Horch«, sagte Tegid. »Hörst du?« Ich legte meinen Kopf schief. »Ich höre nichts.« »Die Möwen sind weg.« Ein ganzer Schwarm Seemöwen hatte uns ständig begleitet, seit die Reise begonnen hatte. Nun war kein einziger der Vögel mehr zu sehen und zu hören. Ich stand am Bug, als Cynans Schiff an uns vorbei zog und die Mitte der Bucht erreichte. Cynan rief uns an und deutete auf eine Stelle, an der wir landen konnten. Er stand immer noch mit ausgestreckter Hand an die Reling gelehnt, als ich sah, wie das Wasser vor seinem Schiff zu kochen begann. Innerhalb von drei Herzschlägen brodelte es wie wild. In keinem Kessel hat es je so geschäumt. Das Wasser hob und senkte sich; gasige Blasen brachen durch die Oberfläche und gaben einen blaßgrünen Dunst frei, der sich über dem sprudelnden Wasser kräuselte. Die Männer an Bord liefen zur Reling und spähten in das aufwallende Wasser. Verblüffte Ausrufe wichen Schreien der Angst, als sich aus dem aufge wühlten Wasser der schuppige Kopf einer riesigen Schlange erhob. Der Kiefer mit den langen Fangzäh nen klaffte auf, die gespaltene Zunge stieß vor wie ein doppelköpfiger Speer, und als die Kreatur zischte, klang es wie das Zerreißen eines Schiffsegels im Sturm. Von unserer Position etwas seitlich hinter Cynan 323
konnte ich das Monster mit der Deutlichkeit des Grauens sehen. Seine schleimglatte Haut war grün und grau wie die sturmkranke See; der Kopf war flach, die gelben Augen wölbten sich heraus; Schup pen, dick und schorfig wie Baumrinde, bildeten einen Kamm auf dem Rückgrat; ansonsten war der geblähte Leib glatt und schleimig wie der einer Schnecke. Ein stetiger Strom dünnen Schleims floß aus zwei gewal tigen Nüstern am Ende seiner Schnauze und aus einer Reihe kleinerer Öffnungen, die am unteren Ende des Halses begann und sich an der Mittellinie des ge schwungenen Leibes der Kreatur entlangzog. Wäre seine Erscheinung darauf angelegt gewesen, Abscheu hervorzurufen, so hätte man dieses Monster nicht besser gestalten können. Bei seinem Anblick schnürte sich meine Kehle zu, und mein Magen krampfte sich zusammen. Und dann traf uns wie ein Windstoß der Atem der Bestie, und der Gestank ließ mich würgen. »Llew!« Tegid tauchte neben mir am Bug auf. Er drückte mir einen Speer in die Hand. »Was ist das für ein Ding?« fragte ich und zog mir den Ärmel über den Mund. »Kennst du es?« Ohne den Blick von dem Geschöpf abzuwenden, erwiderte er mit vor Grauen hohler Stimme: »Es ist ein Afanc.« »Kann man es töten?« Er wandte mir sein angstbleiches Gesicht zu. Sein Mund öffnete sich, aber er gab keinen Laut von sich. 324
Seine Augen glitten von mir zurück zu der Kreatur. »Tegid! Antworte mir!« Ich packte ihn am Arm und drehte ihn zu mir herum. »Kann man es töten?« Er faßte sich ein wenig. »Ich weiß es nicht.« Ich drehte mich zu den Kriegern um, die hinter mir standen. »Haltet eure Speere bereit!« rief ich. In der Mitte des Bootes standen fünf Pferde, die bei dem plötzlichen Erscheinen des Monsters in Panik geraten waren. Sie bäumten sich wiehernd auf und versuchten, sich von ihren Leinen loszureißen. »Beruhigt die Pferde! Bedeckt ihnen die Augen!« Ein markerschütterndes Krachen hallte über das Wasser hinweg. Ich drehte mich wieder um und sah, wie Cynans Schiff erzitterte und sich seitwärts neigte. Dann begann es emporzusteigen, hochgehoben von einer riesigen, schleimigen Windung des Schlangen leibes. Männer schrien, als das Schiff in der Luft kippte und schwankte. »Näher heran!« rief ich dem Steuermann zu. »Wir müssen ihnen helfen!« Im selben Augenblick tauchte vor dem Bug ein aalähnlicher Buckel auf. Das Schiff stieß gegen den Afanc und kam mit einem Ruck zum Halten, so daß etliche Männer vornüber auf Hände und Knie fielen. Ich wickelte ein Seil um meine Metallhand, lehnte mich weit über die Reling hinaus, ergriff meinen Speer und trieb die Klinge in die schleimbedeckte Haut. Blauschwarzes Blut sickerte aus der Wunde. Ich zog den Speer wieder heraus und stieß noch 325
einmal zu, dann noch einmal tief hinein. Beim dritten Stoß trieb ich das Eisen mit all meiner Kraft nach unten. Ich spürte den Widerstand harter Muskeln; dann gab das Fleisch nach, und der Speerschaft versank. Der gewaltige, aufgeblähte Leib zuckte vor Schmerz und riß mir beinahe den Arm aus dem Gelenk. Unter mir schwärzte sich das Wasser; ich ließ den Speer los, und im selben Augenblick riß mich Tegid am Gürtel zurück ins Boot. Ermutigt durch mein Beispiel begannen auch ande re, mit ihren Waffen auf den Afanc einzuschlagen. An hundert Stellen brachen Wunden die glatte Haut auf. Bald verdickte sich das graugrüne Seewasser von dem finsteren Blutfluß. Ob das Monster den Stich unserer Waffen spürte oder sich lediglich im Wasser verlager te, um sich in Angriffsposition zu bringen, weiß ich nicht. Doch der Afanc zischte, und der verwundete Buckel senkte sich und verschwand. Die Krieger stimmten ein Kriegsgeheul über ihren Sieg an. Inzwischen klammerten sich Cynan und seine Männer an die Reling und führten einen wilden Angriff gegen den Kopf und den Hals der Bestie. Ich sah Cynan gefährlich auf dem schwankenden Bug balancieren. Er hob seinen Speer. Zielte. Und schleu derte. Er stöhnte vor Anstrengung, als der Schaft seine Hand verließ. Der Speer flog hinauf und traf mitten ins Auge des Afanc. Der riesige Schlangenkopf begann sich zu schütteln, um den Stachel loszuwerden. 326
Die Männer jubelten. Doch der Jubel verwandelte sich in Entsetzens schreie, als der Afanc sich aufbäumte und seinen abscheulichen Kopf hoch über das Wasser hinaushob. Sein Maul klaffte weit auf und offenbarte Reihe um Reihe nadelscharfer Zähne. Die Krieger liefen ausein ander, als der gähnende Rachen sich über ihnen öffnete. Doch einige Männer blieben standhaft und schleuderten ihre Speere in die bleiche, gelblichweiße Kehle. Zischend und speiend sank der entsetzliche Kopf wieder herab, aus dessen Hals nun Speere ragten wie Borsten. Das Schiff, das immer noch in der Leib schlinge des Afanc gefangen war, hob und senkte sich und zitterte. Wir waren zu weit entfernt, um ihnen zu helfen. »Näher heran!« schrie ich. »Bringt uns näher heran!« Cynan, der sich verzweifelt an die Reling klammer te, schrie nach einem neuen Speer, als sich der Kopf des Afanc wieder hob, um erneut anzugreifen. »Näher heran!« schrie ich. »Schnell!« Doch es gab nichts, was wir hätten tun können. Das Maul des Afanc traf den Mast des Schiffes. Das krachende Splittern von Holz drang über das Wasser zu uns. Der Mast brach, das Schiff legte sich auf die Seite und gab seine Mannschaft samt den Pferden den aufgeschäumten Wellen preis. Durch die Schreie der Männer hindurch hörte ich ein seltsames Geräusch, ein schreckliches, marker 327
schütterndes Geräusch - dick, heiser, würgend. Ich schaute hin und sah, daß die obere Hälfte des Schiffsmastes quer in der Kehle des Afanc steckte. Die schreckliche Kreatur arbeitete mit dem Kiefer und versuchte zu schlucken, doch der zersplitterte Balken hatte sich im weichen Fleisch verfangen und steckte fest. Unfähig, sich zu befreien, schleuderte der Afanc seinen unheimlichen Kopf hin und her und wühlte das Wasser auf wie mit einer Peitsche. Und dann, als es schon schien, als würden die Schiffe von dem um sich schlagenden Kopf in Stücke zerschmettert werden, hob sich der aufgeblähte Leib weit heraus, und das Tier verschwand mit einem letzten mächtigen Schlag seines flossenlosen Schwanzes in der Tiefe. Die beiden Schiffe, die ihm am nächsten waren, wurden vom Wasser überspült und wären beinahe gesunken, doch dann wendeten sie und steuerten aufs Ufer zu. Das letzte Schiff wäre unter der Flutwelle des schwe ren Schlages beinahe gekentert. Wir hielten auf Cynans Schiff zu und halfen denen, die wir erreichen konnten. Dennoch ertranken drei Pferde, und ein Dutzend Männer mußte eine lange, kalte Strecke bis zum Ufer schwimmen. Das beschä digte Schiff konnten wir retten, doch die Vorräte waren dahin. Als der letzte Mann ans Ufer gezerrt worden war, betäubt vor Schreck und halb erfroren, versammelten wir uns auf dem Strandkies und starrten stumm auf 328
die jetzt friedliche Bucht hinaus. Wir machten die Schiffe fest, so gut wir konnten, und zogen dann weiter die Küste hinauf, möglichst weit weg vom Bett des Afanc, um eine schlaflose Nacht lang vergeblich zu versuchen, uns an unseren flackernden Feuern zu wärmen. Schneeregen fiel in die unruhigen Flammen, und das feuchte Holz zischte. Wir bekamen wenig Wärme und noch weniger Bequemlichkeit für unsere Mühe, und als die Sonne wie ein schwächliches weißes Gespenst an einem trostlos grauen Himmel aufstieg, gaben wir den Versuch auf, uns zu wärmen, und begannen die Küstenlinie nach Anzeichen von Goe wyn, Tángwen und ihren Entführern abzusuchen. Da wir keine Spur von ihnen entdecken konnten, be schlossen wir, uns unseren eigenen Weg landeinwärts zu suchen. »Clanna na cù«, brummte Cynan, aus dessen drah tigem Haar und Schnurrbart die Nebeltröpfchen perlten. »Hier stinkt es. Riecht mal die Luft. Es stinkt.« Seine Nasenlöcher blähten sich, und er verzog das Gesicht vor Ekel. Die Luft war übelriechend und dick wie in einer Abfallgrube. Tegid stand in der Nähe, stützte sich auf seinen Stab und spähte mißmutig in das dichte Gewirr des Waldlandes, das sich von dem schmalen Strand steil wie eine graue Wand emporschwang. Der Strand selbst war mit scharfkantigen Feuersteinen übersät. Tote Bäume, deren vertrocknete Wurzeln in die Luft 329
ragten, lagen herum wie steife Leichname. »Wir sollten uns hier nicht aufhalten«, sagte er. »Unsere Ankunft wird bemerkt werden.« »Um so besser«, gab ich zurück. »Ich will, daß Paladyr weiß, daß wir hier sind.« »Ich habe nicht nur an Paladyr gedacht«, erwiderte der Barde. »Er ist vielleicht unsere geringste Sorge. Ich habe das Gefühl, daß uns noch weit Schlimmeres erwartet.« »Soll es kommen«, erklärte Alun. »Ich fürchte mich nicht.« Tegid grunzte und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Je weniger du jetzt prahlst, desto weniger wirst du es später bereuen.« Kurz darauf kehrte Garanaw von seinem Erkun dungsgang die Küste hinauf zurück und berichtete, er habe einen Bach gefunden, der uns als Weg landein wärts dienen könne. Cynan schlug vor, die Berge anzusteuern, die wir von den Schiffen aus gesehen hatten; von dort oben würden wir vielleicht die Beschaffenheit des Landes überblicken und etwaige Anzeichen des Unterschlupfs unserer Feinde ausma chen können. Die Hufabdrücke, die Signalfeuer und die Rillen von den Schiffskielen ließen wenig Zweifel, daß Paladyr Hilfe von anderen gehabt hatte. Aus der Höhe würden wir den Rauch eines Lagerfeuers oder eine Siedlung leicht ausmachen können. Es war eine äußerst schwache Hoffnung, die auf der geringsten 330
Wahrscheinlichkeit beruhte, aber sie war alles, was wir hatten. Also folgten wir ihr, als wären wir uns des Erfolges sicher. Drustwn kehrte von einer Erkundung der Küste in südlicher Richtung zurück. »Da unten werden die Klippen immer steiler. Ich habe nirgendwo einen Zugang entdecken können.« »Also schön. Dann gehen wir nach Norden. Geh voraus, Garanaw.« Wir setzten uns langsam in Bewegung und folgten Garanaws Führung. Bran und die anderen Raben gingen mit ihm, Cynan und seine Kriegsschar folgten ihnen in ungeordneten Reihen; dann kamen Tegid, Scatha und ich, gefolgt von sechs Kriegern, die die Pferde in einer langen Doppelreihe führten. Der Wald, der sich am Ufer entlangzog, war so dicht und un durchdringlich, daß Reiten keinen Sinn hatte. Wir würden zu Fuß gehen müssen, zumindest bis der Weg etwas offener wurde. Der Bach, den Garanaw entdeckt hatte, erwies sich als stinkendes Rinnsal gelben Wassers, das aus dem Wald heraus über den steinigen Strand floß und mit einer ockergelben Verfärbung ins Meer sickerte. Ich schnupperte einmal und kam zu dem Schluß, daß es sich um den Abfluß einer Schwefelquelle handeln mußte. Immerhin hatte das Wasser so eine Art Pfad durch das Gestrüpp und Unterholz gegraben: eine unebene, steilwandige Rinne. Mit einem letzten Blick zu dem totenbleichen 331
Himmel empor drehten wir ab und gingen entlang der Schlucht landeinwärts weiter. Unterspülte Bäume waren umgestürzt und lagen sowohl in als auch quer über der Rinne, wodurch wir nur äußerst mühsam vorwärts kamen. Den Himmel bekamen wir bald nicht mehr zu Gesicht; über uns war nur eine Masse inein ander verschlungener Äste, so dicht wie ein Dach. Mit quälender Langsamkeit schleppten wir uns durch ein trübes Zwielicht voran, und unsere Beine und Füße bedeckten sich mit übelriechendem Schlamm. Das einzige Geräusch, das unsere Ohren erreichte, war der kalte Wind, der durch die kahlen Baumwipfel fuhr, und das schleimige Plätschern des Baches. Die Pferde weigerten sich, in den Wald zu gehen, und wir waren kaum aufgebrochen, als wir schon wieder anhalten mußten, um zwanzig oder mehr Tieren die Augen zu verbinden. Solchermaßen beruhigt, gingen die Leittiere weiter, und die anderen ließen sich mitziehen. Wir schleppten uns durch den Tag und bemaßen unser Vorwärtskommen nach den Baumstümpfen der gefallenen Bäume, an denen wir vorbei kamen. Am Ende des Tages stiegen wir, erschöpft und abge stumpft vom vielen Ausrutschen und Stürzen gegen die Böschung der Rinne, aus dem Schmutz heraus, um unser Lager aufzuschlagen. Zumindest herrschte kein Mangel an Feuerholz, und bald loderten etliche Feuer und beleuchteten das Ende dieses trostlosen Tages. 332
Tegid saß ein wenig abseits über seinen Stab ge beugt. Seine Gedanken waren nach innen gerichtet, und er sagte zu niemandem ein Wort. Ich hielt es für das beste, ihn nicht in seinen Grübeleien zu stören, und ließ ihn in Ruhe. Nachdem wir uns ein wenig ausgeruht hatten, be gannen die Männer, sich leise zu unterhalten, und diejenigen, die für die Vorräte verantwortlich waren, schickten sich an, das Abendessen vorzubereiten. Ich saß mit Scatha, Bran und Cynan zusammen, und wir unterhielten uns über die Fortschritte des Tages - oder besser die mangelnden Fortschritte. »Morgen wird es besser gehen«, sagte ich ohne große Überzeugung. »Zumindest kann es nicht schlimmer werden.« »Ich hätte nichts dagegen, aus diesem fauligen Graben herauszukommen«, brummte Cynan. »Wahrhaftig, Cynan Machae«, sagte Alun, »wenn ich sehe, wie du dich durch den Dreck schleppst, kommen mir die Tränen.« Scatha, die ihr langes Haar zu dichten Zöpfen ge flochten und unter den Schlachthelm gesteckt hatte, kratzte sich gerade mit einem Stück Holz den Schlamm von den Stiefeln und bemerkte: »Es ist der Gestank, der mir die Tränen kommen läßt.« Unsere finstere Stimmung erhellte sich etwas, und wir richteten unsere Aufmerksamkeit darauf, die Männer unterzubringen und das Lager für die Nacht zu sichern. Wir nahmen - ohne großen Appetit - eine 333
kleine Mahlzeit ein, hüllten uns dann in unsere Mäntel und schliefen. Der nächste Tag dämmerte feucht. Ein scharfer Wind blies aus dem Norden. Und obwohl es kalt genug war, gab es keinen Schnee - nur eine elende, feuchte Kälte, die bis in die Knochen drang und sich dort einnistete. Der folgende Tag unterschied sich in nichts davon, auch nicht der nächste. Wir schlurften das Bett des Schmutzbaches entlang, bahnten uns unseren Weg über und unter den umge stürzten Stämmen und Ästen und an ihnen vorbei, rasteten oft, hielten aber erst zur Nacht an, wenn wir keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnten. Das Gelände vor uns stieg stetig an, und am Ende des dritten Tages begannen wir uns alle zu fragen, warum wir unser Ziel noch nicht erreicht hatten. »Ich verstehe das nicht«, gestand Bran. »Wir hätten schon längst auf der Kuppe dieses widerlichen Berges ankommen müssen.« Er stand auf seinen Speer gestützt, Schlamm und Schweiß auf der Stirn, Breecs und Umhang durchnäßt und schmutzig - und der Rest des edlen Rabenfluges sah nicht besser aus. Sie glichen eher Flüchtlingen aus dem Kerkerloch als einer königlichen Kriegsschar. Seit vielen Tagen hatte sich keiner von uns rasiert, und wir waren alle mit stinkendem Schlamm überzo gen. Ich hätte viel dafür gegeben, ein geeignetes Rinnsal oder einen Tümpel zu finden, um etwas von dem Dreck abzuwaschen. Doch das blieb uns ebenso 334
vorenthalten wie der Berggipfel. Ich wandte mich zu Tegid um und klagte: »Woran liegt das, Tegid? Wir kommen jeden Tag ein gutes Stück voran, doch die Bergkuppe ist immer noch nicht in Sicht.« Der Barde verzog wie unter Schmerzen den Mund und sagte: »Du weißt so viel wie ich in diesem verfluchten Land.« »Wie meinst du das? Stimmt etwas nicht?« »Ich kann hier nichts sehen«, murmelte er bitter. »Ich bin wieder blind.« Ich starrte ihn einen Moment lang an, und dann begriff ich, was er meinte. »Dein Awen, Tegid - ich hatte keine Ahnung...« »Es spielt keine Rolle«, sagte er bitter und wandte sich ab. »Es ist kein großer Verlust.« »Was stimmt nicht mit ihm?« fragte Cynan. Er hatte uns miteinander sprechen sehen und stieß zu mir, gerade als der Barde davonstürmte. »Es ist sein Awen«, erklärte ich. »Er kann ihn hier nicht gebrauchen.« Cynan runzelte die Stirn. »Das ist übel. Wenn wir je das Gesicht eines Barden gebrauchen konnten, dann hier in Tir Aflan.« »Ja«, stimmte ich zu. »Doch wenn die Weisheit fehlt, müssen wir uns eben auf Schlauheit und Kraft allein verlassen.« Cynan lächelte leicht. Solche Worte gefielen ihm. »Du gibst einen ganz passablen König ab«, erwiderte 335
er, »aber im Herzen bist du immer noch ein Krieger.« Wir lagerten im feuchten Wald und standen mit der Sonne auf, um unseren Marsch fortzusetzen. Der Tag war ein Kampf gegen Langeweile und Monotonie, aber zumindest war es nicht so kalt wie an den vorigen Tagen. Je höher wir kamen, desto wärmer wurde die Luft. Wir begrüßten diese unerwartete Gunst und hielten durch; am Ende wurden wir damit belohnt, daß wir die Kuppe des Berges erreichten. Obwohl die Sonne ihren Kampf schon lange aufge geben hatte, schleppten wir uns über den Rand des Hügels hinweg auf eine ebene, grasbewachsene Fläche. Ein trübes Zwielicht offenbarte uns eine große, flache Lichtung. Rasch sammelten wir Feuer holz aus dem Wald unterhalb und schichteten ein hohes Feuer auf. Bran warnte uns davor, da er meinte, das letzte, was wir gebrauchen könnten, sei ein Signalfeuer, um jeden Feind zu warnen, der zufällig in der Nähe war. Doch ich war der Ansicht, daß wir das Licht ebenso dringend brauchten wie die Wärme, und es war mir egal, ob Paladyr und seine Schurken es sahen oder nicht. Doch wie uns mein weiser Barde bereits gewarnt hatte, war Paladyr die geringste unserer Schwierigkei ten - wie uns die Alarmrufe von den Pferdepflöcken her bald bewiesen.
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Die Siabur In der Zeit zwischen den Zeiten, kurz vor der Dämmerung, begannen die Pferde laut zu schreien. Wir hatten sie gerade außerhalb der Hitze des Lager feuers angepflockt, damit die Flammen sie nicht ängstigten. Da wir uns in unbekanntem Gelände befanden, hatte Bran die Tiere und auch den ganzen Umkreis des Lagers unter strenge Bewachung gestellt. Doch die einzige Warnung, die wir bekamen, war das plötzliche Wiehern und Ausschlagen der Pferde rasch gefolgt von den panischen Rufen des Wächters. Ich hatte meinen Speer in der Hand und war auf den Beinen, noch bevor ich die Augen ganz offen hatte. Bran war nur einen Schritt hinter mir, und wir kamen gleichzeitig bei den Pferden an. Der Wächter, einer von Cynans Männern, stand mit dem Rücken zu uns, und sein Speer lag neben ihm auf dem Boden. Der Mann drehte sich mit einem Gesicht voll ver blüfften Grauens zu uns um. Schweiß stand auf seiner Stirn, und das Weiße in seinen Augen leuchtete. Seine Zähne waren zusammengebissen, und an seinem Hals traten die Adern dick hervor. Obwohl seine Arme schlaff an den Seiten herabhingen, zuckten und 337
zitterten seine Hände. »Was ist geschehen?« fragte ich, da ich kein Anzei chen von Gewalt entdecken konnte. Statt zu antworten, streckte der Krieger die Hand aus und deutete auf einen kantigen Haufen, der in der Nähe lag. Ich trat näher und sah etwas, das in dem kalten Licht nichts als ein Felsvorsprung zu sein schien... Bran schob sich nach vorn und kniete sich hin, um besser sehen zu können. Dann tat der Anführer der Raben einen langen, zitternden Atemzug. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er leise. Während er sprach, fiel mir ein süßlicher, ranziger Geruch auf - wie von verdorbenem Käse oder einer entzündeten Wunde. Der Geruch war nicht stark, aber wie der zitternde Wächter war ich von einer plötzlich aufwallenden Furcht überwältigt. Auf! Weg hier! schrie eine Stimme in meinem Kopf. Geh! Verschwinde hier, solange du kannst. Ich wandte mich an den Wächter. »Was hast du gesehen?« Einen Moment lang starrte er mich nur an, als hätte er mich nicht verstanden. Dann kam er zur Besinnung und sagte: »Ich sah ... einen Schatten, Herr ... nur einen Schatten.« Ich erzitterte bei den Worten, aber um meine eigene zitternde Hand zu festigen, bückte ich mich, hob den hinuntergefallenen Speer des Wächters auf und gab ihn ihm. »Hol sofort Tegid her.« 338
Einige andere waren von dem Aufruhr geweckt worden und hatten sich um uns versammelt. Manche murmelten unbehaglich, doch die meisten sahen schweigend zu. Cynan erschien, sah sich einmal um und fluchte tonlos. Er wandte sich an mich und fragte: »Wer hat es gefunden?« »Einer von deinen Männern. Ich habe ihn ge schickt, um Tegid zu holen.« Cynan bückte sich. Er streckte seine Hand aus, überlegte es sich anders und zog sie zurück. »Mo anam!« murmelte er. »Das ist eine unheimliche Sache.« In diesem Moment stieß Tegid zu uns. Ohne ein Wort trat er nach vorn. Scatha folgte ihm auf den Fersen. »Was ist geschehen?« fragte Scatha, als sie neben mich trat. »Was...« Ihr Blick fiel auf den seltsamen Haufen, und sie verstummte. Der Barde verbrachte lange Zeit damit, den mißge stalteten Haufen zu betrachten und ihn mit dem Ende seines Stabes zu betasten. Dann wandte er sich abrupt ab und kam auf Bran, Cynan und mich zu. »Habt ihr die Pferde gezählt?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Daran haben wir nicht ge dacht...« »Zählt sie jetzt«, befahl Tegid. Ich drehte mich um und nickte zwei Männern hinter mir zu; sie verschwanden sofort. »Was ist geschehen? Was könnte...« Ich rang nach Worten. »Was könnte so 339
etwas verursachen?« Bevor er antworten konnte, ertönte ein Ruf vom Hang unter uns. Wir liefen sofort hin und fanden einen zweiten Haufen, genau wie den ersten: den Kadaver eines Pferdes. Obwohl er wie der erste kaum noch Ähnlichkeit mit einem Pferd hatte. Das Fell des toten Tieres war feucht wie von Tau bedeckt, und das Haar ganz verklebt und stachelig. Ein seltsam farbloses Auge drang aus seiner Höhle, und eine bleiche, aufgedunsene Zunge ragte aus dem offenen Maul hervor. Doch der Rest sah aus wie ein verhungertes Geschöpf, dessen Kadaver in sich zusammengefallen war - kaum mehr als Haut, die sich über einen Haufen scharf herausragender Knochen spannte. Die Rippen, Schulterblätter und Flanken des Pfer des traten schroff hervor. Jede Sehne war leicht zu erkennen. Hätten wir das unglückliche Tier verhun gern und den Kadaver den ganzen Winter über auf der Bergkuppe liegen lassen, so hätte sein Anblick nicht erschreckender sein können. Doch als ich niederkniete und meine Hand an die knochige Kehle des Tieres legte, war das Gefühl so unheimlich, daß meine Hand zurückzuckte, als hätte ich mir die Finger verbrannt. »Der Kadaver ist noch warm«, sagte ich. »Es ist erst vor kurzem getötet worden.« »Aber ich sehe kein Blut«, bemerkte Scatha und zog ihren Umhang dichter um sich. »Es ist kein Tropfen Blut mehr übrig in dem Tier«, 340
warf Cynan ein. In meinem Entsetzen über das zusammenge schrumpfte Aussehen der Tiere hatte ich mich noch gar nicht gefragt, warum sie so aussahen. Jetzt dachte ich darüber nach. »Es sieht aus, als ob dem Kadaver das Blut ausgesaugt worden wäre«, sagte ich. »Nicht nur das Blut, glaube ich«, meinte Bran und sprach damit meine Gedanken aus. Mit diesen Worten hob er die Spitze seines Speers und schnitt in den Bauch des toten Pferdes. Es kam kein Blut - über haupt keine Körperflüssigkeit, welcher Art auch immer. Eingeweide und Muskelgewebe waren trocken und sahen steif und hölzern aus. »Saeth du«, grunzte Cynan und rieb sich den Nak ken. »Staubtrocken.« Tegid nickte grimmig und sah sich auf dem langge streckten Hang um, als ob er damit rechnete, einen geheimnisvollen Angreifer durch die Bäume entkom men zu sehen. Es war wenig zu sehen in dem schwa chen Licht des frühen Morgens; nur die nebelverhan genen Baumstämme und der dicke Rauhreif, der Gras und Äste und Zweige überzog und dem Land alle Farbe nahm, bis es aussah wie ... wie der steife und blutleere Kadaver vor uns. Das Pferd lag da, wie es gefallen war. Abgesehen von ein paar seltsamen, stengelartigen Spuren rund um den Kopf des Kadavers sah ich keinerlei Abdrük ke im überfrosteten Gras. Es führten auch keine Spuren von der Beute weg. 341
»Würde ein Adler so etwas fertigbringen?« überlegte ich laut, doch schon als der Gedanke über meine Lippen kam, wußte ich, daß er absurd war. Aber etwas anderes fiel mir nicht ein. »Kein natürliches Geschöpf«, sagte Bran; er hielt sein Kinn auf die Brust hinabgesenkt. Auch etliche andere schützten unbewußt ihre Kehle. »Nun?« sagte ich und sah Tegid fragend an. »Bran hat recht«, erwiderte der Barde langsam. »Es war kein natürliches Geschöpf.« »Was denn?« drängte Cynan, »Mo anam, Mann! Willst du es uns endlich sagen?« Tegid machte ein finsteres Gesicht und senkte den Kopf. »Es war ein Siabur.« Er sprach das Wort vorsichtig aus, so als könne er sich die Zunge daran verletzen. An der Art, wie er seinen Stab umklammer te, sah ich, daß er zutiefst erschüttert war. Die Männer, die die Pferde gezählt hatten, kehrten zurück. »Zweimal zehn und acht«, lautete ihr Ergeb nis. »Dreiunddreißig Männer«, bemerkte ich und fügte hinzu: »Und jetzt haben wir Pferde für achtundzwan zig. Großartig. Einfach großartig.« »Dieser Siabur«, wollte Scatha wissen, »was für eine Kreatur ist das?« Tegid verzog das Gesicht. »Es ist einer der Slu agh«, verriet er uns widerstrebend. Es gefiel ihm nicht, den Namen laut auszusprechen. Geist? Dämon? Ich versuchte, mir über die Bedeu 342
tung des Wortes klarzuwerden, aber weiter kam ich nicht. »Die Gelehrten nennen sie Siabur. Sie sind eine Art von Geistwesen, die ihre Nahrung aus dem Lebens blut der Lebendigen ziehen.« »Blutsaugende Geister?« ereiferte sich Cynan mit erzwungener Heiterkeit und überlauter Stimme. Er hielt seine Furcht in Schach, so gut er konnte, aber es gelang ihm nur halb. »Was erzählst du uns da, willst du uns erschrecken?« »Ich sage euch die Wahrheit.« Tegids Kopf fuhr trotzig herum, als wolle er alle warnen, ihm ja nicht zu widersprechen. »Sag uns mehr darüber, Bruder«, drängte ihn Bran. »Wir werden dich anhören.« »Also gut«, lenkte der Barde ein und warf noch einen warnenden Blick in Cynans Richtung. »Die Siabur sind Raubgeister - wie ihr mit eigenen Augen gesehen habt. Wenn sie ihre Beute finden, nehmen sie einen Körper an, mit dem sie das Tier angreifen können, und verschlingen das Blut, das aus der Beute fließt.« Ich konnte Cynan seine Ungläubigkeit nicht ver denken; Tegids Schilderung klang unglaublich. Wären die beiden toten Pferde nicht gewesen, die ausgesaugt und wie verdorrte, weggeworfene Hülsen waren, hätte ich es als pure Schrulligkeit abgetan. Doch so hatte es nicht im geringsten etwas Phantastisches an sich. Und Tegid stand ernst und streng vor uns. 343
»Etwas Derartiges ist in Albion unbekannt«, sagte Scatha. »Nichts dergleichen...« »Das ist nur so, weil die Insel der Mächtigen immer noch unter dem Schutz der Schnellen Sicheren Hand steht«, sagte Tegid. »In Tir Aflan ist es nicht so.« »Was können wir tun?« überlegte ich laut. »Licht ist ihr Feind«, erklärte der Barde. »Feuer ist Licht - sie mögen kein Feuer.« »Dann werden wir die Pferde heute nacht in den Lichtkreis des Lagerfeuers bringen«, schlug Cynan vor. »Besser noch«, erwiderte ich, »wir werden einen Kreis von Feuern rund um das Lager entfachen.« Tegid stimmte zu. »Das würde helfen. Aber es muß noch mehr geschehen. Wir müssen die Kadaver der Pferde verbrennen, und die Asche muß in fließendes Wasser gestreut werden, bevor die Sonne untergeht.« »Wird uns das von den Siabur befreien?« »Uns befreien?« Tegid schüttelte langsam den Kopf. »Es wird sie daran hindern, in den Leibern der Toten Wohnung zu nehmen. Frei werden wir nicht sein, bis wir wieder in Albion an Land gehen.« Niemand war bereit, die toten Pferde zu berühren, und ich mochte niemanden zwingen, etwas zu tun, wovor mir selbst graute. So häuften wir einen Hügel aus Feuerholz über die unglücklichen Tiere und verbrannten sie an Ort und Stelle. Die Kadaver gaben einen dicken, ölig schwarzen Rauch von sich, der denselben Geruch von ranzigem Käse verbreitete, der 344
mir schon zuvor aufgefallen war. Tegid sorgte dafür, daß auch der letzte Fetzen Haut und Knochen verbrannt wurde, rechte dann die Kohle zusammen und sammelte die Asche in zwei Lederbeu teln. Danach richteten wir unsere Aufmerksamkeit darauf, einen Bach oder Fluß zu finden, in den wir die Asche streuen konnten. Dies erwies sich als schwieriger, als irgend jemand erwartet hatte. Tegid betrachtete das dickliche Gesicker in dem Rinnsal als ungeeignet für unsere Zwecke, und wir mußten anderswo suchen. Nachdem ich Bran die Aufsicht über das Lager übertragen hatte, machten Tegid, Scatha, Cynan und ich uns im hellen Licht eines rauhen, windigen Morgens auf die Suche nach einem Bach oder Fluß. Bald jedoch entdeckten wir, daß die Bergkuppe, auf der sich unser Lager befand, überhaupt keine natürliche Erhebung war. Scatha wurde als erste auf die Tatsache aufmerk sam, daß die Ebene, auf der wir standen, für ein natürliches Hochplateau auffallend flach war, und dann bemerkte sie auch die seltsam gleichmäßige Krümmung des Horizonts. Wir ritten ein gutes Stück um die Ebene herum, um uns darüber zu vergewis sern, und stellten fest, daß der Rand des Plateaus, wie wir erwartet hatten, einen vollkommenen Kreis bildete. Trotz dieser Hinweise zögerte Tegid noch und be hielt sich sein Urteil vor, bis er die Mitte untersucht 345
hatte. Es kostete uns jedoch beträchtliche Mühe, diese auch nur zu finden; einen so großen Kreis zu viertei len, ist keine einfache Sache. Doch Tegid schlug einen Kurs vor, und wir folgten ihm. Nach einer längeren Erkundung fanden wir, was wir suchten: den abgebrochenen Stumpf eines massiven Säulensteins. So riesig war das Ding, daß wir den Hügel nicht als das erkannt hatten, was er war: ein gigantischer Erdhügel, unvorstellbar alt, aufgeschichtet von menschlichen Händen. Seine schiere Größe verschlei erte seine wahre Natur. Doch die Gegenwart der Steinsäule beseitigte die letzten Zweifel. Der Erdhügel war der Omphalos, das symbolische Zentrum von Tir Aflan. Nach der Größe der kreisförmigen Ebene zu urteilen, war er in der Größenordnung etwa zwanzigbis dreißigmal so groß wie der Heilige Hügel von Albion auf Ynys Báinail. Tegid war wie vom Donner gerührt. Er kniete sich ins hohe Gras, die Hände auf den Schenkeln, und starrte mit großen Augen den kahlen Stumpf aus verwittertem Fels an, der vor ihm vom Boden aufrag te. Cynan mähte mit seinem Schwert etwas von dem Gras ab, während Scatha und ich zusahen. Der Wind fegte rastlos um uns her, und die Pferde wieherten unruhig. Mir fiel auf, daß die Pferde nur ein paar Bissen von dem Gras nahmen, obwohl es lang und grün war. Cynan schnitt mit dem Schwert in den Boden und rollte Gras und Erde in einer dicken Matte zur Seite. 346
Dann grub er mit seinen Händen. Als er fertig war, hatte er einen Teil des grauen Steins freigelegt. In die flache, glatte Oberfläche waren tiefe, gleichmäßige Linien eingemeißelt - die Überreste der Segenssymbo le, mit denen der Säulenstein ursprünglich bedeckt gewesen war. Wir alle starrten die seltsamen Zeichen an und ver suchten uns vorzustellen, wie der große Säulenstein wohl für die ausgesehen haben mochte, die diesen Erdhügel erbaut und den Stein aufgerichtet hatten. Als ein Überbleibsel der fernen Vergangenheit, bevor das Land der Schönheit seinen Niedergang nahm, schien der zerbrochene Stein sich dem Verständnis zu entziehen, während er gleichzeitig Ehrfurcht gebot. Es war, als stünden wir vor einer Wirklichkeit, die uns gleichzeitig überwältigte und lockte. Niemand sprach. Wir standen nur da und sahen hin... Tegid war der erste, der die unnatürliche Faszinati on abschüttelte. Langsam erhob er sich, taumelte und beschrieb mit seinem Stab einen Bogen durch die Luft. »Genug!« sagte er mit belegter, schwerfälliger Stimme. »Laßt uns von hier fortgehen.« Als er sprach, verspürte ich eine plötzliche, bösarti ge Verärgerung über sein Ansinnen. Ich wollte nichts anderes, als daß man mich in Ruhe den zerbrochenen Säulenstein betrachten ließ. Tegids Stimme wirkte auf mich wie eine grobe Störung. »Llew! Cynan! Scatha!« rief er. »Wir müssen so 347
fort von hier fliehen.« Ein Bild von Tegid drängte sich in meinen Kopf, wie er auf dem Boden lag und aus Nase und Mund blutete; ich konnte seinen Stab in meinen Händen spüren. Mich überkam ein Drang, den Barden mit seinem eigenen Stab niederzuschlagen. Ich wollte ihn dafür bestrafen, daß er mich störte. Ich wollte ihn bluten und sterben lassen. »Llew! Komm, wir müssen -« Sein Gesicht schwebte vor mir, die Stirn besorgt gerunzelt. Ich spürte seine Hand nach mir greifen, krallen... »Llew!« Ich erinnere mich nicht daran, daß ich mich beweg te - nicht einmal, daß ich meine silberne Hand hob. Ich sah ein Schimmern aus dem Augenwinkel und spürte einen Ruck in meiner Schulter. Und dann Tegid - er taumelte zurück, fiel, umklammerte seinen Kopf... Hellrotes Blut auf grünem Gras, und Tegids Stab in meinen Händen ... und dann schlang Cynan seine Arme um mich, und ich kämpfte gegen seinen Griff an, während er mich vom Boden hochhob. »Llew! Hör auf!« drang Cynans Stimme laut an mein Ohr. »Beruhige dich, Bruder. Beruhige dich!« »Cynan?« sagte ich, und ich spürte, wie ich wie aus weiter Ferne zurückkehrte oder aus einem Tagtraum erwachte. »Laß los. Laß mich herunter.« Er hielt mich immer noch empor, aber ich spürte, wie sein Griff sich etwas lockerte. »Es ist vorbei, 348
Bruder«, versicherte ich ihm eindringlich. »Bitte, laß mich herunter.« Cynan ließ mich los, und gemeinsam beugten wir uns über Tegid, der benommen auf dem Boden lag und aus einer häßlichen Platzwunde über der Schläfe blutete. »Tegid?« sagte ich. Seine Augen rollten in den Höhlen umher und richteten sich schließlich auf mich. Er stöhnte. »Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß nicht, was mit mir los war. Kannst du aufste hen?« »Ahhh, ich glaube ja. Helft mir.« Cynan und ich hievten ihn zwischen uns hoch und stützten ihn, bis er sicher auf den Beinen stand. »Diese metallene Hand ist härter, als sie aussieht - und schneller«, sagte er. »Nächstes Mal werde ich besser aufpassen.« »Es tut mir leid, Tegid. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Es war ... ach, es tut mir leid.« »Komm«, erwiderte er und schüttelte sich, »laß uns jetzt nicht mehr davon reden. Wir müssen sofort hier weg.« Cynan reichte Tegid seinen Stab und warf mir ei nen argwöhnischen Blick zu. »Die Pferde haben sich aus dem Staub gemacht. Ich hole sie«, sagte er, doch es schien ihm nicht recht zu behagen, jetzt zu gehen. »Geh nur«, sagte ich. »Ich werde Tegid nicht noch einmal angreifen.« Immer noch zögerte er. »Wirklich, Cynan. Geh nur.« Wie Cynan gesagt hatte, waren die Pferde abge 349
wandert. Sie waren weit über die Ebene gestreunt und nun ein gutes Stück von uns entfernt. »Sie müssen durchgegangen sein«, bemerkte ich, während ich Cynan nachblickte. »Aber ich erinnere mich nicht daran.« Tegid wischte sich mit dem Saum seines Umhangs Blut vom Gesicht, blinzelte zum Himmel hinauf und sagte: »Wir haben uns hier länger aufgehalten, als wir gemerkt haben.« »Wie meinst du das?« fragte ich und folgte seinem Blick zum Himmel. Ich versuchte, den Stand der Sonne zu erkennen, doch der helle Morgen hatte sich eingetrübt, und nun sammelten sich dichte Wolken über uns. Wie lange hatten wir hier gestanden? »Der Tag ist an uns vorbeigegangen«, erklärte der Barde. »Es wird bald dunkel.« »Aber das kann nicht sein«, wandte ich ein. »Wir sind doch erst vor ein paar Augenblicken abgestie gen.« Er schüttelte ernst den Kopf. »Nein«, beharrte er, »der Tag ist vergangen. Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor der Dunkelheit das Lager erreichen wollen.« Er rief nach Scatha und setzte sich hinter Cynan her in Bewegung. Scatha machte keine Anstalten, sich uns anzu schließen. Ihr Speer lag auf dem Boden neben ihr. Ich hob die Waffe auf und legte meine Hand auf ihren Arm. »Scatha?« Die Haut war kalt und hart unter meiner Berührung - mehr wie Stein als wie lebendiges 350
Fleisch. »Tegid!« rief ich. Im nächsten Augenblick war er neben mir. »Scatha!« Er schrie ihr ihren Namen laut ins Ohr. »Scatha! Hörst du mich?« Immer wieder rief er ihren Namen, doch ihre Augen starrten unverwandt ins Leere - geweitet und mit einer unheimlichen Eindring lichkeit, als wäre sie gebannt von etwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Als sie nicht reagierte, stöhnte Tegid tief in seiner Kehle, ließ seinen Stab fallen, packte sie an den Armen und drehte die widerstandslose Pen-y-Cat von dem Stein weg. Er schüttelte sie, aber sie reagierte nicht. »Bringen wir sie hier weg«, schlug ich vor. »Viel leicht...« Die Hand des Barden zuckte vor und schlug ihr auf die Wange. Das Klatschen erschreckte mich, doch auf Scatha hatte es nicht die geringste Wirkung. Er schlug sie noch einmal und schüttelte sie heftig. »Scatha! Kämpfe dagegen an, Scatha. Leiste Widerstand!« Seine Handfläche traf sie, und ihr Kopf flog zurück. Ich konnte den Abdruck seiner Hand auf ihrer Wange sehen. Er schüttelte sie und hob die Hand, um sie erneut zu schlagen. »Nein!« sagte ich und packte sein Handgelenk. »Genug. Es ist genug. Es funktioniert nicht.« Auf einen plötzlichen Einfall hin schlug ich vor: »Komm, ich trage sie.« Ohne Tegids Zustimmung abzuwarten, nahm ich 351
Scatha auf die Arme und ging mit ihr von dem Stein weg. Ihr zunächst steifer Körper entspannte sich, sobald ich ihre Füße vom Boden hob und dem zerbro chenen Stein den Rücken zukehrte. Sie stöhnte leise und schloß die Augen. Einen Mo ment später traten Tränen unter ihren Lidern hervor und glitten seitlich an ihrem Gesicht hinab. Ich blieb stehen und setzte sie ab. Sie lehnte sich schwer gegen mich. »Scatha«, sagte ich, »kannst du mich hören?« »Llew ... oh, Llew«, sagte sie und holte zitternd Atem. »Was ist geschehen?« »Es ist alles in Ordnung. Wir verlassen diesen Ort. Kannst du gehen?« »Ich fühle mich so - verloren«, sagte sie. »Ein Ab grund öffnete sich vor meinen Füßen - ich stand am Rand und spürte, wie ich fiel. Ich versuchte mich zu retten, aber ich konnte mich nicht bewegen ... ich konnte nicht schreien...« Sie berührte ihre gerötete Wange mit den Fingerspitzen. »Dann hörte ich, wie jemand mich rief...« »Dieser Ort ist verflucht«, sagte Tegid. »Wir müs sen hier weg.« Wir stützten sie und gingen in die Richtung, wo Cynan sich abmühte, die Pferde einzufangen. Sie waren nervös, und er hatte Schwierigkeiten, nahe genug an sie heranzukommen, um die Zügel zu ergreifen. Wir beobachteten, wie er sich heranschlich, vorsprang, zugriff - und dann zusehen mußte, wie das Pferd scheute, sich aufbäumte und davonlief. Cynan 352
rappelte sich vom Boden auf und stampfte mit dem Fuß auf, während die Pferde noch weiter weg galop pierten. »Es hat keinen Sinn«, sagte er, als wir herankamen. »Die dämlichen Biester sind völlig verängstigt und fliehen vor jedem Schatten. Ich komme nicht an sie heran.« »Dann müssen wir zurück zum Lager laufen«, er widerte Tegid und ging davon. »Was ist mit den Pferden?« fragte ich. »Wir können sie nicht -« »Laßt sie hier.« »Wir brauchen zumindest unsere Waffen«, beharrte ich. Scatha hatte ihren Speer bei sich behalten, aber Cynan und ich hatten unsere unter dem Sattel gelas sen, als wir abgestiegen waren. »Laßt sie hier!« rief der Barde und drehte sich zu uns um. Seine Stimme hallte hohl über die Ebene. »Glaubt mir, ich sage euch, auf diesem Erdhügel sind wir nach Einbruch der Dunkelheit nicht sicher. Der einzig geschützte Ort für uns ist innerhalb des Feuer kreises.« Er wandte sich wieder ab und ging mit langen, ausgreifenden Schritten durch das Gras davon. Cynan, Scatha und ich folgten ihm. Tegid hatte recht; die weite Fläche der kreisförmigen Ebene bot keinerlei Erhebungen, die wir als Deckung oder dergleichen nutzen konnten. Es gab keine Bäume, keine Felsen, keine Senken, in denen man sich verstecken konnte. 353
Ich blickte zurück zu dem abgebrochenen Säulen stein hinter uns und sah, wie sich der Himmel im Osten unter der rasch herannahenden Nacht verdun kelte. Seltsam, dachte ich - ich hatte das Tageslicht noch nie so schnell schwinden sehen. Und mit der Dunkelheit zog ein fernes, klagendes Jammern herauf, wie das Heulen des Windes auf hohen Gipfeln - aber es gab keine Berggipfel in der Nähe, und es war nicht der Wind, den ich hörte.
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Die Sluagh Die Dunkelheit holte uns ein, noch während wir von dem zerbrochenen Säulenstein davoneilten. Ich glaube, nicht einmal mit unseren Pferden hätten wir das Lager vor Einbruch der Nacht erreichen können. Der Rückweg war länger, als ich ihn in Erinnerung hatte, und das unheimliche Zwielicht brach mit unnatürlicher Schnelligkeit über uns herein. Auch Pferde hätten davor nicht davonlaufen können. Dazu schwoll mit der rasch tiefer werdenden Nacht das geheimnisvolle Heulen an, als ob die Quelle des unheimlichen Geräusches erbarmungslos näher käme. Tegid beobachtete ständig mit einem Auge den Himmel, während wir dahineilten. Sobald er sah, daß wir das Lager nicht erreichen würden, bevor die Nacht uns einholte, sagte er: »Wir müssen auf den nächstge legenen Hang zuhalten. Dort können wir zumindest Holz für ein Feuer finden.« »Gute Idee«, stimmte Cynan zu. »Aber wo ist das? Ich sehe nichts in dieser Finsternis.« Tegids Plan war gut; die Hänge des Erdhügels wa ren dicht bewaldet und voller Feuerholz. Aber wie konnten wir sicher sein, in welche Richtung wir gehen 355
sollten, wenn wir nicht einmal zwei Schritte voraus sehen konnten? »Wir müßten nahe am Rand der Ebene sein«, sagte Tegid. »Der Säulenstein markierte die Mitte, und wir haben uns davon entfernt -« »Ja«, meinte Cynan, »falls wir nicht statt dessen im Kreis gelaufen sind.« Tegid ignorierte die Bemerkung, und wir hasteten weiter. Doch wir waren kaum hundert Schritte weit gekommen, als Scatha stehenblieb. »Horcht!« Ich blieb stehen, aber ich hörte nur das seltsame, klagende Geräusch, das sich abgesehen davon, daß es etwas lauter geworden war, nicht wesentlich verändert hatte. »Was ist?« »Hunde«, sagte sie. »ich dachte, ich hätte Hunde gehört.« »Ich höre nichts«, sagte Cynan. »Bist du sich -« Das Bellen eines Hundes - kurz, rasch, unverkennbar schnitt ihm das Wort ab. »Hier entlang! Schnell!« rief Tegid und stürmte los. Zweifellos dachte der Barde, wir wären direkt hin ter ihm und würden ihm auf den Fersen folgen. Doch als ich mich umdrehte, war er schon in der Dunkelheit verschwunden. »Tegid, warte! Wo bist du? Cynan?« Eine gedämpfte Antwort erreichte uns. »Hier ent lang ... folgt mir...« »Tegid?« rief ich und durchsuchte die Dunkelheit. »Tegid!« 356
»Wo sind sie hin?« fragte Scatha. »Hast du es ge sehen?« »Nein«, bekannte ich. »Sie sind einfach ver schwunden.« Der Hund bellte wieder - falls es ein Hund war. »Er kommt näher«, sagte Scatha, und das Bellen wurde sofort von einem zweiten beantwortet, ein wenig weiter weg und links von uns. »Ja, und es sind mehr als einer.« Ich spähte hin und her in die Dunkelheit, konnte aber in keiner Richtung etwas erkennen, das uns als Anhaltspunkt hätte dienen können. Dunkelheit hatte alles durchdrungen, alles ausgelöscht. »Wir sollten lieber gehen.« »In welche Richtung?« überlegte Scatha laut. »Jede Richtung ist besser, als hier stehenzublei ben«, erwiderte ich. Ich streckte meine Hand aus und erfaßte Scathas Umhang; sie nahm den Saum des meinen. »Wir werden zusammenbleiben«, sagte ich zu ihr. »Halte gut fest, und halte deinen Speer bereit.« Wir hielten einander an den Umhängen fest und liefen in die gestaltlose Dunkelheit. Ich gab mich keinen Augenblick lang irgendwelchen falschen Hoffnungen hin, wir könnten den Tieren hinter uns entkommen. Aber ich dachte, wir könnten zumindest einen Ort finden, an dem unsere Verteidigung mög lich war, wenn wir den Hang des Erdhügels erreich ten, bevor das Geschöpf uns auf unserer Fährte einholte. Wir liefen so schnell, wie wir es wagen konnten. Es 357
ist ein zermürbendes Gefühl, blind ins Dunkle hinein zurennen. Jeder Schritt wird zu einem Kampf gegen das Zaudern, gegen die Furcht. Und der Erfolg macht die folgenden Schritte nicht leichter. Statt dessen wächst die Furcht mit jedem Schritt, bis sie zur alles beherrschenden Macht wird. Wäre Scatha nicht an meiner Seite gewesen, hätte ich alle paar Schritte angehalten, um neuen Mut zu fassen. Doch ich wollte in ihren Augen nicht schwach oder kleinmütig erscheinen, also machte ich mich darauf gefaßt, mir bei einem Sturz alle Knochen zu brechen - und rannte weiter. Das Bellen der Hunde wurde unaufhörlich lauter und beharrlicher, je näher sie kamen. Auch ihre Zahl schien zugenommen zu haben, denn ich glaubte, mindestens fünf einzelne Stimmen unterscheiden zu können - zumindest waren es mehr als die zwei, die wir zuvor gehört hatten. Ob wir auf diese Weise jemals das Lager erreicht hätten, werde ich niemals wissen. Wahrscheinlich war es so, wie Tegid gesagt hatte - daß die Dunkelheit keinem Geschöpf Sicherheit bot, das sich allein auf dem Erdhügel befand, und daß ein Feuer den einzigen Schutz bot. Doch wir erreichten den Rand der Ebene und fielen kreuz und quer durcheinander, als plötzlich ohne Vorwarnung der Boden unter unseren Füßen abfiel. Ich fiel halb stolpernd, halb schlitternd den unsicht baren Abhang hinab und landete auf der Seite, so daß 358
mir die Luft aus den Lungen gepreßt wurde. Es dauerte einen Augenblick, bis ich wieder sprechen konnte. »Scatha!« »Hier, Llew«, antwortete sie nach Atem ringend. »Bist du in Ordnung?« Ich schwieg einen Moment, um meine Gliedmaßen zu zählen. Mein Kiefer schmerzte, aber das kam daher, daß ich im Laufen die Zähne so fest zusam mengebissen hatte. »Ich scheine noch aus einem Stück zu sein.« Plötzlich kam von der Ebene direkt über uns das behende Rascheln von Pfoten im Gras - wie von einem Tier, das zum letzten Ansturm auf seine Beute ansetzt. »Schnell!« schrie ich. »Hier herunter!« Hechtend, fallend, rollend glitten wir immer weiter den Hang hinab, bis wir in einem scharfdornigen Busch hängenblieben. Ich fing an, mich zu befreien, aber Scatha sagte: »Pst! Sei still!« Ich hörte auf, um mich zu schlagen, und lauschte. Ich konnte immer noch die Hunde hören, aber es klang so, als hätten wir es irgendwie geschafft, etwas mehr Vorsprung vor unseren Verfolgern zu gewinnen. Ich war dafür, weiterzugehen, solange wir die Chance hatten, aber Scatha sprach sich dagegen aus. »Laß uns einen Moment hierbleiben«, drängte sie und schob sich tiefer in das Dickicht. Ich folgte ihrem Beispiel, schlängelte mich in die stachelige Umarmung des Busches hinein und machte 359
es mir neben Scatha bequem. »Hast du deinen Speer noch?« fragte ich. »Ja.« »Gut«, sagte ich und wünschte mir noch einmal, ich hätte daran gedacht, meinen Speer mitzunehmen, als ich vom Pferd gestiegen war, Und dann wünschte ich mir zwei Feuersteine, um ein Feuer entfachen zu können - oder wenigstens einen einzigen Scheit anzuzünden, um uns den Weg zu beleuchten. Keiner dieser Wünsche hatte Aussicht darauf, in Erfüllung zu gehen. Doch als wir dort in der tintenschwarzen Finsternis saßen und warteten, ohne zu wissen worauf, während die verfluchte Nacht von dem Gebell der Hunde widerhallte, bildete ich mir ein, daß meine silberne Hand zu leuchten begann. Zu Anfang war es nur ein Glimmen, eine schwache Ahnung eines Schimmerns. Ich hob die Hand vors Gesicht ... das Schimmern verschwand. Ich ließ sie sinken, und das Schimmern war wieder da. Ich verdrehte den Hals, um nach oben zu schauen, und sah zu meiner Überraschung ein bleiches Auge zu mir zurückblicken: den Mond. Wolkenverhangen, ein kalter, blasser und wächserner Fleck am schwarzen Sollenhimmel und unstet wie ein Gespenst, machte er mir dennoch Mut, und ich versuchte, das Licht durch schiere Willenskraft festzuhalten. Die Hunde waren direkt über uns auf der Ebene. Sie hatten uns fast erreicht. Ich rechnete jeden Augen 360
blick damit, daß sie uns an die Kehlen springen würden... Scatha rührte sich. Das Schimmern ihrer Speerklin ge blitzte in der Dunkelheit auf, als sie vorwärts kroch, um dem Angriff zu begegnen. Ich tastete umher nach einem Stock, den ich als Keule benutzen könnte, fand jedoch nichts. Inzwischen war der Verfolgungslärm zu einem schrillen Getöse angeschwollen. Die Hunde waren überall um uns herum, und ihr Gebell war ohrenbe täubend. Ich holte ein letztes Mal tief Luft. Kommt schon, dachte ich, tut, was ihr wollt. Inmitten des Gebells machte ich das rasche Trappeln von Pfoten aus, die durch das Unterholz rasten, und dann, so schnell, wie es angeschwollen war, begann das Geräusch wieder leiser zu werden. Die Hände um klammert, lagen wir reglos da und wagten kaum zu glauben, daß wir entkommen waren. Erst als der Lärm zu einem fernen Widerhall herabgesunken war, atmeten wir auf. Der Mondschein wurde stärker. Ich konnte Scathas Augen schimmern sehen, als sie unverwandt den Hang hinauf zur Ebene hin spähte. Sie spürte meinen Blick, wandte mir ihr Gesicht zu und lächelte. In diesem Augenblick sah sie genauso aus wie Goewyn. Mein Herz krampfte sich zusammen. Sie mußte meine Qual gespürt haben, denn sie sagte: »Bist du ver letzt?« »Nein, ich mußte nur an Goewyn denken.« 361
»Wir werden sie finden, Llew.« In ihrem Tonfall lagen Gewißheit, Wärme und Zuversicht. Falls in ihrem Herzen oder ihrem Verstand überhaupt irgend ein Zweifel daran bestand, so vergrub sie ihn tief in ihrem Innern, denn in ihrer Stimme war nicht die geringste Spur davon zu hören. Es war nun hell genug, um grobe Umrisse auf dem Hang erkennen zu können. Wir warteten und lausch ten. Mir wurde kalt vom langen Stillsitzen. »Wir sollten weitergehen«, sagte ich endlich. »Sie könnten zurückkommen.« »Ich gehe als erste«, sagte Scatha und begann sich langsam von dem Dornengestrüpp zu befreien. Sie kroch aus dem Dickicht, und ich folgte ihr. Als ich aus den stacheligen Zweigen heraustrat, entdeckte ich, daß wir am Rande eines überwucherten Waldes standen. Im schwachen Mondschein konnte ich den Rand der kreisförmigen Ebene in geringer Entfernung über uns gerade noch ausmachen. »Der Himmel klart sich etwas auf. Vielleicht könn ten wir von dort oben das Lager sehen«, sagte ich, da ich mir dachte, wenn wir schon Tegid nicht fanden, könnten wir zumindest herausfinden, in welcher Richtung sich das Lager befand. Scatha stimmte zu, und wir kletterten langsam wie der den Hang hinauf, erreichten den Rand, standen auf und spähten über die Ebene hinweg. Ich hatte gehofft, den gelben Feuerschein des Lagers zu entdecken oder wenigstens den rötlichen Widerschein der 362
Flammen an den niedrigen Wolken - aber es war nichts zu sehen. Ich dachte daran, nach Tegid und Cynan zu rufen, überlegte es mir jedoch anders. Es war nicht ratsam, die Hunde auf uns aufmerksam zu machen. »Nun«, sagte ich, »wenn wir uns nahe am Rand halten, müßten wir irgendwann das Lager erreichen.« »Nötigenfalls können wir uns auch in den Wald zurückziehen.« Schnell und leise, wie zwei Schatten, die sich über die dunkelgraue Fläche stahlen, flohen wir. Scatha lief voraus, den Speer wurfbereit in der Hand, und ich sah mich hinter ihr ständig in alle Richtungen um und suchte die Ebene nach irgendeinem Zeichen des Lagers oder Tegids ab - ich hätte gejubelt, eins von beiden zu entdecken. Wir rannten ein gutes Stück, bis ich aus dem Augenwinkel auf ein geisterhaftes Flackern aufmerksam wurde. In der Meinung, das Lagerfeuer gesehen zu haben, blieb ich stehen und drehte mich um ... aber falls ich tatsächlich etwas gesehen hatte, war es jetzt jedenfalls nicht mehr da. Scatha blieb ebenfalls stehen. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, erklärte ich. »Jetzt ist es weg.« Einen Moment später war es wieder da. Wir hatten kaum einen Fuß vor den anderen gesetzt, als ich das seltsa me, flackernde Schimmern wieder sah - ganz am Rande des Gesichtsfeldes. Und wie zuvor blieb ich stehen und drehte mich um. »Da draußen ist irgend etwas«, sagte ich zu Scatha. 363
»Ich sehe nichts.« »Ich auch nicht. Aber es war da.« Und wieder kehrte das schimmernde Bild zurück, sobald wir uns wieder in Bewegung setzten. Diesmal blieb ich nicht stehen und sah auch nicht direkt hin. Statt dessen ließ ich das kaum sichtbare, wabernde Leuchten am Rand meines Gesichtsfeldes spielen und versuchte dabei, es zu beobachten und herauszufin den, was es sein könnte. Doch alles, was ich erkennen konnte, war ein unste tes Flimmern in der Luft - als ob das kalte Mondlicht selbst sich zu länglichen Streifen und durchscheinen den Glühfäden verdichtet hätte, die durch die nacht schwarze Luft strömten und dabei waberten und wogten wie Seetang unter Wasser. Doch jedesmal, wenn ich den Kopf drehte, um einen direkten Blick zu erhaschen, verschwanden die Erscheinungen. Dahinter mußte, dachte ich, ein Phänomen stecken, das dem unregelmäßigen Licht bestimmter Sterne ähnelte, die man deutlich erkennen kann, wenn das Auge in eine andere Richtung blickt, die aber völlig verschwinden, wenn man versucht, sie direkt anzusehen. Wir gingen weiter, und ich bemerkte bald, daß die gestaltlosen Erscheinungen sich nicht nur auf der Ebene befanden; sie durchschwärmten die Luft über uns und auf allen Seiten. Wohin immer ich meinen Kopf drehte, gewahrte ich wie am äußersten Rand meines Gesichtsfeldes die schwebenden, sich kräu 364
selnden Formen, die überall um uns her sich ver mischten, miteinander verschmolzen und umherweh ten. »Scatha«, sagte ich leise. Sie blieb stehen. »Nein geh weiter. Bleib nicht stehen.« Wir gingen weiter, und ich sagte: »Es ist nur, daß die Formen - diese Phantome sich zu sammeln scheinen. Es sind jetzt mehr geworden, und sie sind überall um uns her. Kannst du sie sehen?« »Nein«, sagte sie. »Ich sehe nichts, Llew.« Sie schwieg einen Moment und fragte dann: »Wie sehen sie aus?« Danke, Pen-y-Cat, dachte ich, daß du mich nicht für verrückt hältst. »Sie sehen aus wie - wie Nebelfetzen, oder wie Spinnweben, die im Wind wehen.« »Bewegen sie sich?« »Ständig. Sie wirbeln dauernd durcheinander und ändern ihre Form wie Rauch. Ich habe gemerkt, daß ich sie sehen kann, wenn ich sie nicht direkt ansehe.« Wir gingen weiter, und nach einer Weile bemerkte ich, daß die Phantomgestalten sich zu konkreteren Formen verdichteten. Immer noch mischten sie sich und verschmolzen miteinander, aber sie schienen allmählich an Substanz zu gewinnen. Gleichzeitig mit dieser Veränderung spürte ich, wie meine silberne Hand vor Kälte zu kribbeln begann - nicht die Hand selbst, sondern die Stelle, wo Metall und Fleisch sich berührten. Ich hielt das für eine Wirkung der kalten Nachtluft, 365
doch dann fiel mir ein, daß kaltes Wetter sich bei mir bisher noch nie auf diese Weise bemerkbar gemacht hatte. Im Gegenteil, meine metallene Hand schien bisher immer völlig unempfindlich gegen Hitze wie Kälte gewesen zu sein. Das heißt, immer bis auf einmal: als ich das Signalfeuer entdeckte. Ich rätselte darüber, während wir weiterliefen. Konnte es sein, daß mein metallisches Glied neben all seinen anderen Eigenschaften auch als eine Art Warnvorrichtung funktionierte? Angesichts der phantastischen Beschaffenheit der Hand selbst und der Art, wie sie an meinen Arm gekommen war, schien das noch die am wenigsten unglaubliche unter all ihren wundersamen Eigenschaften zu sein. Schließlich deutete alles an der silbernen Hand darauf hin, daß sie nicht nur entfernte Berührung mit ge heimnisvollen und seltsamen Kräften hatte. Wenn meine silberne Hand die Fähigkeit hatte, ihren Träger auf eine drohende Gefahr aufmerksam zu machen, was hatte dann, fragte ich mich, ihre jetzige Warnung zu bedeuten? Ich war so vertieft in diese Gedanken, daß ich auf gehört hatte, den wabernden Formen am Rande meines Gesichtsfeldes Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich sie wieder beobachtete, erstarrte ich mitten im Schritt. Die Phantome hatten sich verfestigt und hatten nun fast alle die gleiche Größe, wenn auch noch keine erkennbare Gestalt; sie erschienen wie riesige, durchscheinende Klumpen aus geronnenem 366
Nebel und Luft, etwa in der Größe von Bierfässern. Und noch etwas an ihnen hatte sich verändert. Und dies war es, glaube ich, was mich erstarren ließ: Ich hatte das deutliche Gefühl, daß sie Empfindungen hatten, ja beinahe ein Bewußtsein. Es war, als wären die Phantomgestalten voller Begierde oder Erregung oder vielleicht Ungeduld. Denn als ich eilig zu Scatha aufschloß, spürte ich eine gewisse Aufregung bei den unheimlichen Gestal ten - als ob meine Bewegung die Phantome irgendwie frustrierte und in Aufruhr stürzte. Da überkam mich ein seltsames, beunruhigendes Gefühl, denn es schien, als ob die Geister sich meiner Gegenwart bewußt und in der Lage waren, darauf zu reagieren. Inzwischen war das frostige Prickeln in meiner silbernen Hand zu einem deutlichen, kalten Pulsieren geworden, das in meinen Arm hinaufzog. Ich be schleunigte meine Schritte und schloß zu Scatha auf. »Bleib in Bewegung«, sagte ich zu ihr. »Die Phanto me wissen, daß wir hier sind. Sie scheinen uns zu folgen.« Folgen war nicht ganz das Wort, das ich brauchte. Die Dinger waren überall um uns her - in der Luft über uns und auf dem Boden rings um uns. Es war mehr so, als ob wir durch einen dichten, feindseligen Wald wanderten, in dem jedes Blatt ein Feind und jeder Ast ein Gegner war. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, erhob sie ihren Speer und deutete nach rechts vorne in die Dunkel 367
heit. »Ich sehe einen Feuerschein vor uns.« Ein trübes, gelbes Schimmern blinkte tief am Hori zont. »Das muß das Lager sein«, sagte ich, und dann überkam mich eine eisige Erkenntnis. Das erklärt ihre Aufregung, dachte ich. Die Phantome wollen nicht, daß wir das Lager erreichen. »Beeil dich! Wir können es schaffen.« Die Worte waren kaum aus meinem Mund, als Scatha ihren Arm vor meine Brust schleuderte, um mich aufzuhalten. Im gleichen Moment drang ein süßlich-fauliger Geruch an meine Nase - derselbe Geruch, der auch von den toten Pferden ausgegangen war. Meine Kehle schnürte sich zu. Auch Scatha erkannte den Geruch. »Siabur«, fluch te sie und erstickte beinahe an dem Wort. Ich hörte ein leises, plumpsendes Geräusch und sah ein paar Schritte vor uns eine bauchige Form zu Boden fallen. Der faulig-süße Gestank verstärkte sich und trieb mir die Tränen in die Augen. Der runde, blau-schwarze Klumpen blieb zitternd liegen, dann zog er sich zusammen wie ein Wassertropfen auf einer heißen Fläche. Gleichzeitig schien er sich zu verhärten, denn er hörte auf zu zittern und begann seine Beine zu entfalten, die um seinen gewölbten Bauch gewickelt waren. Dann bildete sich sein Kopf aus, mit zwei perlenartigen Augen oben und einem groben, zangenartigen Maul darunter. Da begriff ich, was ich gesehen hatte. Die geister haften Phantome waren jene Kreaturen, die Tegid die 368
Sluagh nannte. Und nun hatten diese Wesen durch irgendeine Macht, die sie besaßen, genug Kraft angesammelt, um als ein Siabur körperliche Gestalt anzunehmen. Das Körperlose hatte sich verfestigt, und die Gestalt, die es annahm, war die einer grotesk aufgeblähten Spinne. Aber eine solche Spinne hatte ich noch nie gesehen: grünschwarz wie eine Beule im Mondlicht, mit einem haarigen, aufgeblähten Bauch und langen, dünnen Beinen, die jeweils mit einer einzelnen Klaue endeten, und von widersinniger Größe - sicherlich so groß und dick wie ein kleines Kind. Der riesige Leib glänzte von einem schleimigen Ausfluß. Der Siabur machte ein schlabberndes Geräusch, als er seine abstoßende Gestalt über das Gras schleppte. »Grausig!« hauchte Scatha, und mit zwei raschen Schritten stand sie darüber, den Speer erhoben. Hinauf fuhr ihr Arm und dann hinab. Der Speer durchbohrte das Wesen hinter seinem grotesken Kopf und nagelte es säuberlich auf dem Erdboden fest. Der Siabur wand sich und gab ein blutleeres Krei schen von sich; seine Beine zuckten, und die Teile seines Zangenmauls klapperten gegeneinander. Scatha drehte den Speer herum; die zerbrechlichen Beine falteten sich zusammen, und das Ding fiel zu einem pulsierenden Haufen zusammen. Sie hob den Speer und trieb ihn in den geschwollenen Rumpf des Wesens. Ein giftiges Gas drang daraus hervor, und 369
das abscheuliche Ding schien zu schmelzen; sein Leib verlor seine feste Form und verflüssigte sich wieder zu einem Klumpen, der sich einfach auflöste und einen übelriechenden, glänzenden Fleck auf dem Gras zurückließ. Meine Beine waren bereits in Bewegung, als der Siabur verdampfte. Ich packte Scatha am Arm und zog sie mit mir davon. Gleich rechts von mir hörte ich einen weiteren weichen Körper zu Boden fallen, und noch einen dort, wo wir vor einem Moment noch gestanden hatten. Scatha fuhr zu dem Geräusch herum. »Laß es!« rief ich. »Lauf zum Lager!« Wir rannten. Rings um uns her vibrierte die Nacht von dem Geräusch jener abscheulichen, aufgeblähten, zu Boden plumpsenden Leiber. Es waren Dutzende, Hunderte von den widerwärtigen Dingern. Und es kamen immer mehr; sie fielen aus der Luft herab wie ein ekelerregender Schauer eitrigen Regens. Der Gestank vergiftete die Luft. Mein Atem ging krampfhaft keuchend und brannte mir in Kehle und Lungen. Tränen flossen an meinen Wangen hinab. Meine Nase floß reichlich. Das hohe Gras zerrte an unseren Füßen, als wollte es uns aufhalten. Die ganze Ebene wimmelte von kriechenden Siabur, die ihre feisten Gestalten über den Boden schleppten, krabbelten, kämpften, sich anstrengten, um uns zu erreichen. Ihre dünnen Beine arbeiteten, und ihre sabbernden Mäuler saugten. Sobald wir anhielten oder zögerten, würden sie auf 370
uns zuschwärmen. Und dann würden wir so sein wie die Pferde, die wir am Morgen gesehen hatten: ausgetrocknete Hülsen, denen das Lebensblut ausge saugt worden war. Unser Weg wurde beschwerlicher, und das Rennen wurde immer gefährlicher, da wir gezwungen waren, im Zickzack den krabbelnden Spinnen auszuweichen. Meine silberne Hand brannte vor Kälte. Ein Siabur tauchte direkt vor mir auf, und ich sprang darüber hinweg. Als meine Füße vom Boden abhoben, spürte ich plötzlich ein kaltes Gewicht zwischen den Schulterblättern - lange Beine tasteten nach meinem Hals. Es war die steife, kalte Berührung eines toten We sens. Ich ruderte mit den Armen, warf die Kreatur ab und schleuderte sie zu Boden, wo sie zappelnd und kreischend liegenblieb. Doch schon nahm die nächste ihren Platz ein. Das tote, kalte Gewicht klammerte sich an meine Schulter, und ich spürte einen scharfen, eisigen Biß im Nacken. Eine tödliche Kälte verbreitete sich durch meinen Körper, von Genick und Schultern den Rücken und die Seiten hinab bis in die Schenkel und Beine. Ich hörte auf zu rennen. Die Dunkelheit zog sich um mich zusammen und drohte mich zu ersticken. Mein Gesicht wurde taub; ich konnte meine Arme und Beine nicht mehr spüren. Die Augenlider fielen mir zu; ich sehnte mich nach Schlaf ... Schlaf und Verges sen ... nichts mehr wissen ... ich würde schlafen - wäre 371
da nicht diese leise Stimme, die von weit her nach mir rief. Bald würde diese Stimme verstummen... Als sie meinen Ausruf hörte, wirbelte Scatha herum und entfernte den Siabur mit einem gut gezielten Tritt aus meinem Nacken. Ein rascher Stoß ihres Speers durchbohrte den geschwollenen, sackähnlichen Leib der Spinne. Das widerwärtige Ding zappelte, löste sich in gallertartigen Schleim auf und schmolz dahin. Mein Blick klärte sich wieder, und meine Glieder begannen zu zittern. Ich spürte, wie Scathas Hände mich aufhoben. Ich versuchte, die Füße unter mich zu bekommen, aber ich spürte meine Beine nicht. »Llew, Llew«, raunte Scatha leise. »Ich habe dich. Ich werde dich tragen.« Sie half mir aufzustehen. Ich machte zwei wackelige Schritte und fiel vornüber zu Boden. Die Siabur waren sofort zur Stelle - sie konnten sich mit erschreckender Schnelligkeit bewegen. Ich trat aus und traf einen. Er quietschte auf und brachte sich außer Reichweite, doch dafür griffen mich zwei andere an. Ihre Klauenfüße hakten sich in den Stoff meiner Breecs, als ich auf dem Boden um mich schlug. Scatha durchbohrte den ersten, als er nach mir griff, und durchtrennte den zweiten mit einer schnellen Rückwärtsbewegung in zwei Teile. Dann wirbelte sie auf einem Fuß zur Seite herum und spießte zwei weitere auf, die gerade herankrabbelten. Ein dritter versuchte ihr auszuweichen, doch sie durchbohrte das dickwanstige Ding, hob es an der Speerspitze empor 372
und schleuderte es zischend durch die Luft. Mit aller Kraft riß mich Scatha vom Boden hoch und trieb mich weiter. Wankend wie ein alter Mann stolperte ich vorwärts. Die Bewegung half; ich bekam meine Gliedmaßen wieder unter Kontrolle und ging bald wieder rasch weiter. Wir stürmten auf den Rand der Ebene und die bewaldeten Hänge darunter zu, wo ich den Siabur leichter zu entkommen hoffte. Eine Schar von ihnen versuchte uns den Fluchtweg abzu schneiden, aber Scatha machte uns beherzt mit ihrem Speer den Weg frei, und wir erreichten den Hang unter einem Chor scharfer, wütender Schreie. Wir kamen an den Rand und stürzten uns den Hang hinab. Die Luft war sauber, und ich sog sie gierig ein. Mein Blick wurde wieder klar, und meine Nase und Lungen hörten auf zu brennen. Als ich die ersten Ausläufer des Waldes erreichte, blickte ich zurück und sah die Siabur in einer widerwärtigen, wogenden Flut über den Rand der Ebene quellen. Ich hatte zwar mit Verfolgung gerechnet, aber mir sank dennoch das Herz, als ich sah, wie viele es waren: Aus den Dut zenden und Hunderten waren Tausende und Zehntau sende geworden. Sie flossen in einer gewaltigen, pulsierenden Lawi ne kreischend den Hang hinab. Es gab keinen Weg, sie aufzuhalten, und keine Möglichkeit zur Flucht.
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Gelbmantel Mir sank das Herz. Die grauenhafte Kaskade der Siabur überflutete den bewaldeten Hang. Wir würden ihnen nicht mehr lange ausweichen können; es waren einfach zu viele. Scatha tauchte an meiner Seite auf. »Nimm das«, sagte sie und drückte mir einen kräftigen Ast in die Hand. Die stets findige Pen-y-Cat hatte mir eine Waffe verschafft - eine, die zumindest für Spinnen geeignet war. Ich ergriff den Ast und blickte zurück zum Hang. Die Spinnen rückten nicht mehr so schnell vor wie bisher. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, und sie hingen in einem unbeholfenen Gedränge zusammen. »Ich glaube, sie bleiben stehen.« »Sie werden müde«, bemerkte Scatha. »Wir können sie abhängen. Hier entlang! Schnell!« Scatha begann tiefer in das buschige Dickicht zu drängen. Ich machte zwei Schritte und schrie auf, als ein Schmerz durch meinen Arm zuckte und in meiner Schulter explodierte. »Aghh!« Sofort waren Scathas Hände an mir. »Bist du ver letzt, Llew?« 374
»Meine Hand - meine silberne Hand ... ahn, oh, sie ist so kalt.« Ich streckte ihr meine Hand entgegen. »Kannst du es fühlen?« Scatha berührte das Metall zunächst vorsichtig, dann ergriff sie es fest. »Sie ist überhaupt nicht kalt. Sie ist sogar so warm, als wäre sie lebendig.« »Für mich fühlt sie sich an wie Eis. Sie gefriert.« Als wir uns wieder zum Hang hin umdrehten, wa ren die Siabur zum Stehen gekommen und zogen sich zu wimmelnden, pulsierenden Haufen zusammen. Der Gestank drang an unsere Nasen wie ein Zug fauliger Luft. Obwohl das Mondlicht nicht sehr hell war, konnte ich ihre mißgestalteten Leiber in klumpigen Haufen glänzen sehen, als sie mit einem Geräusch wie dem Miauen und Schmatzen kleiner Katzen am Breinapf umherwimmelten. Und dann erhoben sich aus einem der wimmelnden Haufen der Kopf und die Vorderbeine eines Hundes eines riesigen, flachköpfigen Köters mit großen, spitzen Ohren und langen, zahnbewehrten Kiefern. Sein Fell war ein feuchtes Gewühl aus pechschwarzen Haaren, und seine Augen waren rot. Der häßliche Kopf warf sich hin und her, als ob er versuche, sich aus der Masse der Spinnen zu befreien, die zu einem schlammigen Sumpf aus zitternden Leibern und zuckenden Beinen geworden waren. Mit angewiderter Faszination beobachtete ich, wie das Tier sich in die Freiheit schleppte und seinen kurzen Rücken und sein Hinterteil aus dem stinken 375
den, wimmelnden Dreck hinauf- und hinauszerrte. Doch der Höllenhund floh nicht, er wurde geboren aus den abscheulichen Paarungen der Siabur. Noch während dieser Gedanke in meinem Kopf Gestalt annahm, sah ich einen weiteren Kopf entstehen und daneben einen dritten, und in geringer Entfernung davon die Schnauze und die Ohren eines vierten. »Lauf!« schrie Scatha. Der erste Hund hatte sich beinahe aus seinem ver haßten Schoß befreit, doch ich konnte meine Augen nicht von der widerwärtigen Geburt losreißen. Scatha riß an meinem Arm, zerrte mich davon und schrie mir ins Ohr: »Llew! Schnell!« Von oben hörte ich ein geiferndes Knurren und das Getrappel flinker Pfoten. Ich packte meinen Knüppel fester, senkte den Kopf und schoß, ohne mich umzu schauen, hinter Scatha her. Sie führte uns einen schwierigen Kurs, schlug Haken, sprang zur Seite, duckte sich, sprang über herabgefallene Äste hinweg und kurvte um hohe, stehende Stümpfe herum. Ich folgte ihr und staunte über die Schnelligkeit, mit der sie sich bewegte - sie glitt mit der Mühelosigkeit einer Flamme durch das Gewirr der Büsche und Bäume. Der zermürbende Klang ihres unheimlichen, gei sterhaften Gebells verriet mir, daß die anderen drei Hunde sich dem ersten angeschlossen hatten. Sie erhoben ihren Jagdschrei - grausam und wild, vernich tend, erbarmungslos - ein Laut, der einem die Knie schwach werden und den Mut wie Wasser aus den 376
Gliedern fließen ließ. Ich riskierte einen flüchtigen Blick nach hinten und sah die schwärzlichen Gestalten der Bestien durch das Unterholz gleiten und ihre Augen im Mondlicht wie glühende Kohlen leuchten. Wir konnten sie nicht abhängen, und mit nur einem Speer konnten wir auch nicht gegen sie kämpfen. Unsere einzige Hoffnung war es, unseren Vorsprung zu halten. Wir schienen eine Ewigkeit lang zu rennen. Hinter mir hörte ich die Dämonenhunde durch die Büsche hetzen. Aus dem Lärm, den sie machten, schloß ich, daß sie langsam näher kamen und daß es jetzt mehr waren als zuvor. Ich wagte noch einen Blick nach hinten und sah, daß die Höllenhunde tatsächlich sehr nahe gekommen waren. Drei oder vier weitere hatten sich der Meute angeschlossen, und zweifellos würden noch weitere dazukommen. Der Klang ihres wütenden Gebells schnitt mir durch den Leib und ließ mir die Haare zu Berge stehen. Als ich mich wieder umdrehte, war Scatha ver schwunden. »Scatha!« rief ich. War sie gestürzt? Ich rannte zu der Stelle, wo ich sie zuletzt gesehen hatte, aber dort war sie nicht, und auch sonst war sie nirgends zu sehen. Ich konnte nicht bleiben und nach ihr suchen, doch verlassen konnte ich sie auch nicht. »Scatha! Wo bist du?« »Hier, Llew!« kam die Antwort - ganz aus der Nä 377
he, doch ich konnte sie nicht sehen. Ein Heulen verwandelte sich in ein Fauchen, als der vorderste der Höllenhunde mich einholte. Ich fuhr zu der Bestie herum, stellte mich mit dem Rücken zum nächsten Baum und hielt meine behelfsmäßige Waffe schlagbereit vor mich. Ich konnte darauf rechnen, wenigstens zwei gute Schläge anbringen zu können, bevor die anderen Hunde herankamen. Was ich danach tun würde, wußte ich nicht. Die Kreatur griff mit atemberaubender Geschwin digkeit an. Ich stemmte meine Beine in den Boden, um das Gewicht der Bestie aufzufangen, wenn sie sprang... Das stumpfe Ende eines Speers senkte sich direkt vor meinem Gesicht herab. »Halt dich fest!« rief eine Stimme von oben. Ich ließ den Knüppel fallen, ergriff den Speer mit meiner Hand aus Fleisch und Blut, sprang empor und schwang meine Beine hinauf zu den Ästen über mir. Ich konnte mich mit einem Bein über einen Ast schwingen und erwischte einen anderen mit meiner Metallhand. Eine Haaresbreite unter mir schlossen sich die Kiefer des Hundes mit der Gewalt eines Falleisens. Ich klammerte mich verzweifelt an den Speer und spürte, wie ich weiter hochgezogen wurde. »Laß den Speer los, Llew«, sagte meine Retterin. »Neben dir ist ein Ast.« Doch ich konnte den Speer nicht loslassen - sobald ich das tat, würde ich zu Boden stürzen. Ein zweiter 378
Hund hatte den ersten erreicht, und beide sprangen mit schnappenden Kiefern und krachenden Zähnen zu mir empor. »Laß los, Llew.« Ich sah nach rechts und links. Wenn ich den Speer losließ, würde ich fallen und von den Hunden zerris sen werden. »Llew! Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht losläßt« Ich zögerte. Ich hing gefährlich nahe über den fau chenden Kreaturen unter mir. Ein dritter Hund sprang über die Rücken der anderen beiden hinweg und erwischte mit den Zähnen meinen Umhang, so daß er mich beinahe von dem Speer losgerissen und mit seinem Gewicht hinuntergezogen hätte. »Ich kann dich nicht halten!« In meinen Umhang verbissen, zerrte der Höllen hund wie wild und versuchte, mich aus meiner unsicheren Lage herauszureißen. Der Stoff meines Umhangs begann nachzugeben. Ein zweiter Hund erwischte eine Ecke des Umhangs und zerrte auf den Hinterbeinen stehend. Meine Hand glitt langsam von dem Speer ab, als ich noch tiefer hinabgezogen wurde. Weitere Hunde erreichten den Baum und sprangen zu mir hoch, um ein Stück meines herab hängenden Umhangs zu erhaschen. »Llew! Laß los!« Da mein Griff sich löste, meine Hand Stück für Stück nach unten glitt und mein Umhang sich um 379
meinen Hals zusammenzog, so daß ich beinahe erstickte, blieb mir nichts anderes übrig, als den Speer loszulassen und an dem unsichtbaren Ast einen sichereren Handgriff zu finden. »Ich kann dich nicht halten!« Ich ließ den Speer los und schleuderte meine Hand hinaus. Das Gewicht der Hunde riß mich nach unten. Doch meine Hand schloß sich sicher um einen Ast, und ich schlang rasch meinen Arm um das kräftige Holz und hielt mich fest. Scatha war neben mir, zitternd von der Anstren gung, mein Gewicht am Ende ihres Speers zu halten. »Ich hätte dich beinahe fallen lassen«, sagte sie. »Ich konnte den Ast nicht sehen«, erwiderte ich durch zusammengebissene Zähne. Scatha kniete sich auf den Ast neben mir, beugte sich hinab und stieß mit dem Speer nach unten. Das tollwütige Fauchen verwandelte sich in ein jammern des Kläffen, und das Gewicht an meinem Umhang verringerte sich um die Hälfte. Ein weiterer rascher Stoß mit dem Speer rief ein zweites Schmerzensgebell hervor, und ich war frei. Ich fummelte an der Bro schennadel herum, schaffte es auch irgendwie, die Brosche zu öffnen, und ließ den Umhang hinabfallen. Dann zog ich mich hoch und kletterte höher auf den Baum hinauf. Unten waren nicht weniger als acht Höllenhunde - einige sprangen wütend in die Luft, andere rannten wie wahnsinnig um den Baum herum, und mindestens zwei versuchten, den Stamm mit 380
ihren Klauen zu erklimmen. Einer davon schaffte es, eine beträchtliche Höhe zu erreichen, doch Scatha hielt sich mit einer Hand an dem Ast fest, beugte sich hinab und stieß dem Wesen mit dem Speer in die Kehle. Es fiel kläffend zu Boden, landete auf dem Rücken, schlug mit den Beinen um sich und biß sich in seinem Wahnsinn selbst, als das schwarze Blut aus seiner Halswunde schoß. Die Bestie verendete und löste sich ebenso wie die Spinnen einfach in eine formlose Masse auf, die rasch verdampfte und nur einen klebrigen Rückstand übrigließ. Doch inzwischen rannten ein Dutzend oder mehr Hunde unter dem Baum herum. Sie sprangen nach uns, schnappten mit den Zähnen und fauchten. Oft versuchte einer, den Baum zu erklimmen, worauf Scatha ihn mit dem Speer durchbohrte, so daß er entweder verwundet oder tot wieder hinabfiel. Die Toten lösten sich rasch auf und verschwanden, doch sie wurden ebenso schnell durch andere ersetzt. Wir saßen eindeutig in der Falle, und ich fing an zu denken, daß am Ende die Hunde den Baum durch ihre schiere Überzahl zu Fall bringen würden. Allein das wimmelnde, bösartige Chaos ihrer Raserei zu beo bachten machte mich mutlos und müde. Auch Scatha empfand die Sinnlosigkeit, gegen sie zu kämpfen; denn obwohl sie immer noch guten Gebrauch von ihrem Speer machte, wann immer sich die Gelegen heit bot, bemerkte ich, daß sie offenbar den Mut verlor. Allmählich wich aller Ausdruck aus ihren 381
Zügen, und ihr Kopf sank hinab. Ich versuchte sie zu ermutigen. »Wir sind hier si cher«, sagte ich zu ihr. »Das Lager ist nicht weit. Die Krieger werden die Hunde hören und ausrücken, um uns zu retten.« »Falls sie nicht selbst angegriffen werden«, erwi derte sie ausdruckslos. »Sie werden uns finden«, sagte ich, auch wenn Zweifel meine Worte untergruben. »Sie werden uns retten.« »Wir können nicht entkommen«, murmelte sie. »Sie werden uns finden«, beharrte ich. »Halte nur durch.« Dennoch sah es bald so aus, als ob Scatha recht hätte. Die monströsen Hunde ermüdeten nicht, und ihre Zahl stieg, soweit ich sehen konnte, weiter an. Schließlich hörte Scatha auf, mit ihrem Speer nach ihnen zu stoßen. Statt dessen kletterten wir höher in den Baum hinauf und starrten hohläugig zu der Raserei hinab, allmählich wie betäubt von der Kälte und dem ständigen Ansturm des bellenden, fauchen den, heulenden Getöses unter uns. Während ich den Schimmer des Mondlichts auf Zähnen und Klauen und das schwindelerregende Wimmeln der rotglühenden Augen beobachtete, begannen meine Gedanken abzuschweifen. Die durcheinanderwirbelnden schwarzen Leiber schienen sich zu einem wilden Strom wie ein tosender Wasser fall zu vereinigen, furchterregend in seiner Wut. Und 382
ich fragte mich, wie es wohl sein würde, sich in diesen wirbelnden Strudel hineinzuwerfen, ein Teil dieser grauenhaften Turbulenz zu werden. Keine Absicht mehr außer dem Chaos, kein Streben außer Vernichtung. Was für eine Herausforderung, was für eine Kraft, was für eine Selbstvergessenheit - mich einer solchen Raserei hinzugeben. Was würde mit mir geschehen? Würde ich sterben? Oder würde ich einfach einer von ihnen werden, urtümlich und frei? Keine Grenzen zu kennen, keine Zurückhaltung, ein Geschöpf der nackten Begierden, bestialisch, besessen von einer wilden und schreckli chen Schönheit - wie würde es sein, zu handeln, ohne zu denken, einfach zu sein - jenseits des Denkens, jenseits der Vernunft, jenseits des Gefühls, nur für die Sinne lebendig... Ein plötzliches Schwanken des Astes neben mir riß mich aus meiner entsetzlichen Träumerei. Scatha stand auf dem Ast, den Blick auf den Tumult gerich tet, der um den Baumstamm her tobte, und schwankte vor und zurück, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Sie hatte ihren Speer fallen lassen. »Scatha«, rief ich. »Sieh sie nicht an, Scatha! Schau woanders hin!« Ich redete weiter auf sie ein, wahrend ich vorsichtig auf dem Ast entlangkroch, bis ich neben ihr saß. Langsam stand ich auf und legte meinen Arm um ihre Schultern, um sie zu halten. »Setzen wir uns lieber 383
wieder, Pen-y-Cat«, sagte ich. Sie ging auf diesen Vorschlag ein und ließ sich zurück in eine sitzende Position auf dem Ast führen. »So ist es besser«, sagte ich. »Du hast mir angst gemacht, Scatha. Du hättest hinunterfallen können.« Sie wandte mir ihre leeren, ausdruckslosen Augen zu und sagte: »Ich wollte hinunterfallen.« »Scatha, hör mir zu: Was du fühlst, kommt von den Sluagh - sie geben uns das ein. Ich fühle es auch. Aber wir müssen widerstehen. Jemand wird uns finden.« Doch Scatha hatte ihren Blick wieder der heulen den, brodelnden Masse unter uns zugewandt. In meiner Verzweiflung, etwas zu finden, womit ich sie ablenken konnte, kämpfte ich gegen den Drang an, selbst zu meiner Betrachtung des Aufruhrs unter uns zurückzukehren, und suchte den umgebenden Wald nach einem Hoffnungszeichen ab. Zu meinem Erstaunen sah ich den schwachen Schein einer Fackel den Hang herabkommen. »Schau! Da kommt jemand. Scatha, sieh doch Hilfe ist unterwegs!« Ich sagte das hauptsächlich, um Scatha von den Hunden abzulenken, aber ich faßte auch selbst Mut. Freilich gab es keinen vernünftigen Grund, anzuneh men, daß tatsächlich die Rettung gekommen sei; eher eine Vielzahl von Gründen zu der Annahme, daß uns statt dessen irgendein neues Grauen eingeholt hatte. Tatsächlich wurden meine Hoffnungen nahezu ausgelöscht als Scatha sagte: »Ich sehe nichts. Da ist 384
keine Fackel.« Es stimmte - der Schein kam nicht von einer Fak kel. Was ich gesehen und was meine Hoffnung zu einer hell leuchtenden Flamme verstärkt hatte, schien nun nichts als ein trübes, gelbes Schimmern im Mondlicht zu sein. Doch es bewegte sich stetig durch den Wald auf uns zu, und allmählich nahm ich wahr, daß seine Bewegung von einem eigenen Geräusch begleitet wurde - schwierig zu hören durch das fauchende, knurrende Geheul der Höllenhunde hindurch, aber dennoch davon unterscheidbar. »Horch ... hörst du das?« Scatha lauschte einen Moment und wandte ihren Blick von dem Strudel unter uns ab. »Ich ... hm, ich höre ... Gebell«, meinte sie unsicher. »Das ist es«, bestätigte ich. »Gebell, genau - das selbe Gebell, das wir gehört haben, bevor die Siabur aufgetaucht sind.« Scatha sah mich skeptisch an; verständlicherweise, wenn man bedachte, wie wir entsetzt vor diesem Geräusch geflohen waren, als wir es gehört hatten. Seltsam, jetzt Trost darin zu finden. Und doch fand ich Trost darin. Ich spähte gebannt in den dicht gewachsenen Wald, während der gelbe Widerschein sich durch die Bäume schlängelte. Das Gebell wurde lauter, als der Schimmer auf uns zukam, und es konnte kein Zweifel bestehen, daß es dasselbe war, welches wir zuvor gehört hatten. Meine silberne Hand, die schon seit langem zu 385
einem Eisklumpen am Ende meines Armes geworden war, begann zu prickeln. Einen Augenblick später sah ich mehrere geschmeidige, weiße Gestalten durch das Unterholz auf uns zustürmen. »Da kommt etwas!« rief ich aus. Das wärmende Prickeln drang in meinen Arm, als drei behende, weiße Hunde durch das Dickicht brachen und sich geradewegs in den unvorstellbaren Tumult der Bestien unter unserem Baum stürzten. Weiß wie frischer Schnee von Schnauze zu Schwanz mit Ausnahme ihrer Ohren, die leuchtend blutrot waren - waren die Hunde kleiner und schlanker als die schwarzen Höllenhunde, aber flinker und ebenso wild. Ich rechnete damit, daß sie in einem Augenblick zerrissen werden würden, doch zu meinem Erstaunen reagierten die Höllenhunde, als wären sie bei lebendi gem Leib verbrüht worden. Sie bäumten sich auf den Hinterbeinen auf, sprangen in die Luft und versuchten übereinander hinwegzuspringen in einem verzweifel ten Bemühen, dem Ansturm der Neuankömmlinge zu entkommen. Und das hatte, wie bald offensichtlich wurde, seinen guten Grund. Die rotohrigen Hunde griffen wie rasend mit ge bleckten Zähnen an, jeder packte einen Hund an der Kehle, riß wild und sprang dann zu seinem nächsten Opfer. Die angegriffenen Hunde winselten und brachen zusammen, lösten sich zu formlosem Gallert auf und verschwanden innerhalb von wenigen Augen blicken. 386
Wie ein Blitz, der die Gewitterwolken zerreißt, schlugen die drei weißen Hunde unsere Angreifer in die Flucht und töteten rasch und methodisch einen Gegner nach dem anderen. Kaum waren sie ange kommen, waren schon Dutzende von ihren Gegnern tot, und überall versuchten Höllenhunde, sich in Deckung zu bringen und übereinander hinwegzu springen, um davonzukommen. Bald hallte der Wald von dem Triumphgeheul der Hunde wider, während sie die fliehenden Bestien durch den Wald hetzten. »Sie sind weg«, sagte Scatha und ließ die Luft aus strömen. Ich machte den Mund auf, um zuzustimmen, und dann sah ich ihn: Er stand direkt unter uns und blickte in die Richtung, in der die Hunde verschwunden waren. Er trug einen langen gelben Mantel mit Ärmeln und einen Gürtel. Es war dieser Mantel, den ich wie ein Irrlicht durch die Bäume hatte kommen sehen. Einen Moment lang stand er da, ohne sich zu rüh ren, und dann hob er den Kopf und blickte hinauf in die Äste, wo Scatha und ich uns versteckt hielten. Ich wäre beinahe hinuntergefallen. Der Mann, der da zu mir herauf spähte, mußte der häßlichste sein, den ich je in meinem Leben gesehen hatte: ein riesiges Gesicht, jeder Zug grob geschnitzt, eine lange Nase mit einem fleischigen Haken am Ende und der Mund ein breites, dicklippiges, klaffen des Froschmaul. Ohren wie die Henkel eines Kruges 387
ragten aus einem dichten Pelz wilder, schwarzer Haare hervor, und die großen, weit auseinanderlie genden Augen traten bedrohlich unter einer durchge henden, dicken schwarzen Braue hervor. Für einen winzigen Moment trafen sich unsere Blicke, doch lange genug, um sicher zu sein, daß er mich gesehen hatte. Tatsächlich hob er seine Hand zum Abschied, bevor er sich von dem Baum entfernte und wieder im Wald verschwand. Erst nachdem er weg war, konnte ich wieder spre chen. »Ich habe dieses Gesicht schon einmal gese hen«, murmelte ich. »Einmal, vor langer Zeit ... in einer anderen Welt.« Ich spürte eine zögernde Berührung an meinem Arm. »Llew?« »Es ist vorbei«, sagte ich zu ihr. »Die Hunde gehör ten ihm.« »Wem?« »Dem Mann im gelben Mantel. Er war gerade hier. Ich habe ihn gesehen; er -« Ich brach ab. Es hatte keinen Sinn, darauf zu bestehen. Offensichtlich hatte Scatha ihn nicht gesehen. Aus irgendeinem Grund überraschte mich das nicht. »Wir können jetzt gehen«, sagte ich zu ihr und begann mein Gewicht von dem Ast zu schieben. Ich ließ mich bis zum untersten Ast hinab und schickte mich an, mich zu Boden fallen zu lassen. Gerade als ich losließ, rief mir Scatha von oben zu: »Warte! Horch!« 388
Doch ihre Warnung kam zu spät. Ich landete unge schickt und rollte mich auf dem Rücken ab. Gleichzei tig hörte ich etwas Großes, Schweres durch das Unterholz brechen. Ich sprang auf und sah mich hastig nach Scathas Speer um. Hätte ich nur den Knüppel behalten, dachte ich. »Llew!« rief Scatha. »Dort - hinter dir!« Der Speer lag ein paar Schritte hinter mir. Ich rannte hin, hob ihn auf und wirbelte herum zu ... Bran und Alun Tringad mit gezogenen Schwertern und gefolgt von zwanzig oder mehr fackeltragenden Kriegern. »Hier drüben!« rief ich. »Scatha! Es ist Bran! Wir sind gerettet!« Bran und Alun kamen vorsichtig heran, als ob sie fürchteten, ich könne ein Geist sein. »Hier bin ich!« rief ich noch einmal, senkte den Speer und eilte auf sie zu. »Scatha ist bei mir.« »Llew?« fragte der Anführer der Raben und ließ langsam das Schwert sinken. Dann sah er Alun an, der ihm sagte: »Ich habe dir doch gesagt, daß wir sie finden.« »Wir waren auf dem Rückweg zum Lager und ha ben uns verirrt«, erklärte ich rasch. Dann eilte ich zurück zum Baum und rief Scatha. »Du kannst jetzt herunterkommen, wir sind in Sicherheit.« Scatha ließ sich von dem Baum fallen und landete wie eine Katze auf ihren Füßen. »Sind Cynan und Tegid auch bei euch?« fragte Alun und spähte hinauf in die Zweige. 389
»Wir wurden getrennt«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind.« »Sie sind gestern abend nicht ins Lager zurückge kehrt«, sagte Bran. »Woher wußtet ihr, wo ihr uns suchen müßt?« »Wir hörten die Hunde«, erklärte Bran. »Sie um kreisten das Lager, und Alun sah jemanden -« »Dreimal umkreisten sie das Lager«, warf Alun eifrig ein. »Der Bursche, der bei ihnen war, winkte uns, ihnen zu folgen.« »Ich habe niemanden gesehen«, behauptete Bran fest. »Ich habe nur die Hunde gesehen.« »Dieser Bursche«, fragte ich Alun, »was hatte er an?« »Einen langen Mantel mit einem breiten Gürtel«, antwortete Alun sofort. »Und der Mantel - welche Farbe hatte er?« »Nun, er war hellbraun. Oder gelb«, räumte Alun ein. »Im Dunkeln war das schwer zu sehen, und er hatte keine Fackel.« »Und die Hunde?« »Weiße Hunde -« sagte Bran. »Mit roten Ohren«, ergänzte Alun Tringad. »Drei Stück. Sie haben uns hierher geführt.« »Sonst habt ihr nichts gehört?« »Nein, sonst nichts, Herr«, antwortete Alun. »Das Gebell von anderen Hunden vielleicht?« hak te ich nach. »Genau aus dieser Richtung?« Bran schüttelte den Kopf. »Wir haben nur die Hun 390
de gehört«, erklärte er. »Und es waren nur drei.« »Und der Mann«, beharrte Alun. »Ja, da war ein Mann - der Mann im gelben Man tel«, bestätigte ich. »Scatha hat ihn nicht gesehen, aber ich.« »Ich habe auch nur die Hunde gesehen«, sagte Scatha erleichtert. »Aber das hat mir gereicht.« Ich bemerkte, daß sie nichts über die Höllenhunde oder die Spinnen sagte. Freilich tat ich das auch nicht.
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Crom Cruach Zu unserer Erleichterung waren Tegid und Cynan vor uns ins Lager zurückgekehrt und warteten auf unsere Ankunft. Die Sonne stieg gerade über dem grauen Horizont auf, als wir in den Kreis der immer noch schwelenden Schutzfeuer traten. Sobald ich über diese Schwelle aus Asche getreten war, überkam mich die Erschöpfung vollends. Meine Beine wurden schwer wie Blei, und mein Rücken schmerzte. Ich stolperte und wäre beinahe gestürzt. Tegid packte mich am Arm und führte mich zu einem Platz am Lagerfeuer. »Setz dich«, befahl er, und dann rief er einem in der Nähe stehenden Krieger zu: »Bring einen Becher!« Ich stand schwankend auf den Beinen, unfähig, die nötigen Bewegungen auszuführen. Der Erdboden schien sehr weit weg zu sein. Cynan, dem die schlaflose Nacht wenig ausgemacht zu haben schien, eilte an Scathas Seite, legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zu mir. »Setz dich, Bruder«, drängte mich der Barde. »Du bist ja halbtot im Stehen.« Ich beugte meine Knie und brach prompt zusam 392
men. Scatha, trübäugjg und bleich nach dieser Nacht der Prüfungen, sackte neben mir zusammen. Der Becher wurde gebracht. Tegid drückte ihn mir in die Hände und half mir, ihn an die Lippen zu heben. »Was ist mit euch passiert?« fragte er, wäh rend ich trank. Das Bier war kalt und gut, und ich hatte den Becher fast geleert, bevor mir einfiel, daß Scatha ebenfalls durstig war. Ich reichte ihr den Becher weiter und erwiderte: »Wir haben euch in der Dunkelheit verlo ren. Wir haben euch gerufen - wir können höchstens zehn Schritte voneinander entfernt gewesen sein. Warum habt ihr uns zurückgelassen?« »Aber wir haben nichts gehört«, erklärte Cynan verblüfft »Nicht einen Laut.« »Nein?« Es überraschte mich nicht im geringsten. »Nun, als wir euch nicht finden konnten, versuchten wir, zum Rand des Hügels zu kommen.« »Wir wurden von Hunden gejagt«, sagte Scatha, schaudernd bei der noch allzu frischen Erinnerung. »Dann kamen die weißen Hunde und vertrieben die anderen«, sagte ich schlicht. »Ein paar Augenblicke später tauchten Bran und Alun auf und brachten uns zurück.« »Erzähl mir mehr über die Hunde«, sagte Tegid und kniete sich vor uns nieder. »Es waren drei - langbeinig und schlank, mit wei ßem Fell. Sie kamen durch den Wald und vertrieben die anderen.« 393
Scatha ergänzte die Einzelheiten, die ich übergan gen hatte. »Die Hunde hatten rote Ohren, und ein Mann war bei ihnen. Ich habe ihn nicht gesehen, aber Llew sah ihn.« »Tatsächlich?« fragte der Barde und hob die Au genbrauen. Bevor ich antworten konnte, antwortete Alun auch schon: »Ja. Ich habe ihn auch gesehen. Er trug einen gelben Mantel und lief mit den Hunden.« Bran bestätigte Aluns Bericht. »Ich habe die Hunde gesehen; sie umkreisten dreimal das Lager und führten uns dann genau zu der Stelle, wo Llew und Scatha sich versteckten.« Tegid schüttelte leicht den Kopf. »Was war mit den anderen Hunden?« fragte er. Ich wollte nicht von ihnen sprechen. Ich sah keinen Sinn darin, noch mehr Furcht in die Herzen der Krieger zu pflanzen - sie hatten schon genug davon. »Nun«, sagte ich langsam, »da gibt es nicht viel zu erzählen. Es waren große, häßliche Biester. Wild. Wenn Bran und Alun nicht gekommen wären, wären wir jetzt nicht hier.« »Der Mann mit den weißen Hunden, meinst du. Er hat dich gerettet. Wir kamen erst danach«, rief uns Alun die Tatsachen ins Gedächtnis. »Wie auch immer«, sagte ich, »wir hätten nicht mehr viel länger überleben können.« »Diese Hunde«, hakte Tegid nach, »erzähl mir mehr von ihnen.« 394
»Na, es waren eben Hunde«, erwiderte ich. »Es waren Sluagh«, schaltete sich Scatha ein. Tegids Augen verengten sich. Er fragte nicht, wo her wir das wußten, sondern akzeptierte es anstands los. Dafür war ich ihm dankbar. »Dieselben, die unsere Pferde angegriffen haben?« fragte Cynan. »Dieselben«, erwiderte Tegid. »Die Sluagh verän dern ihre Körper je nach der Beute, auf die sie es abgesehen haben.« »Gestaltwandler!« Cynan schüttelte den Kopf und pfiff leise durch die Zähne. »Clanna na cú. Du bist ein glücklicher Mann, Llew Silberhand, daß du heute morgen noch im Lande der Lebenden atmest.« Tegid sagte nichts; sein Gesichtsausdruck war un durchdringlich. Ich konnte nicht erraten, was er dachte. Doch Cynan war begierig zu reden. »Nachdem Scatha und du in der Dunkelheit verschwunden wart«, berichtete er, »fanden wir eine grasbewachsene Senke und ließen uns dort nieder, um auf den Sonnenauf gang zu warten. Oh, aber was war das für eine schwarze Nacht! Ich hätte nicht weniger sehen können, wenn ich völlig blind gewesen wäre. Nach und nach wurde der Himmel grau, und die Sonne ging auf. Dann kehrten wir ins Lager zurück. Eigentlich waren wir gar nicht weit entfernt - aber haben wir je ein Feuer gesehen? Nein, nicht ein einziges Mal.« 395
Tegid stand abrupt auf. »Dieser Hügel ist verflucht. Wir können hier nicht noch eine Nacht verbringen.« »Einverstanden. Schicke Kundschafter aus - zwei Gruppen zu je vier Mann, eine nach Osten und eine nach Westen um den Hügel herum. Wenn sie irgend ein Zeichen von einem Lager entdecken, sollen zwei es weiter beobachten und zwei sofort hierher zurück kehren.« »Aber sie dürfen nicht zu lange dafür brauchen«, fügte Tegid hinzu. »Wir werden gegen Mittag aufbre chen.« »Wird gemacht«, sagte der Anführer der Raben und wandte sich zum Gehen. »Ich werde Gweir beauftragen, eine der Gruppen anzuführen«, erbot sich Cynan, »um so schneller werden sie zurückkehren.« Bran und Cynan gingen davon, um die Kundschaf tergruppen aufzustellen. Ich legte mich zur Ruhe, bis die Kundschafter zurückkehren würden. Aber das Warten fiel mir nicht leicht, denn ich fiel in einen sorgenvollen Tagtraum über Goewyn. Wo war sie? Was tat sie im Augenblick? Wußte sie, daß ich nach ihr suchte? Ich spielte mit dem Gedanken, ein riesiges Signal feuer zu errichten, um ihre Entführer wissen zu lassen, daß wir hier waren. Am Ende entschied ich mich jedoch dagegen. Solange sie es nicht wußten, konnten wir sie immer noch überraschen; und selbst falls Paladyr und seine Häscher es schon wußten, würde es 396
besser sein, sie über unsere Absichten im unklaren zu lassen. Gegen Mittag brachte mir Tegid etwas zu essen. Er stellte die Schüssel neben meinen Kopf und hockte sich neben mich. »Du solltest etwas essen.« »Ich habe keinen Hunger.« »Es ist nicht leicht, mit leerem Magen gegen Dä monen zu kämpfen«, beharrte er. »Wenn du schon nicht schläfst, könntest du zumindest essen.« Ich stützte mich auf einen Ellbogen und zog die Schüssel heran. Sie enthielt einen dicken Haferbrei mit Rüben und Pökelfleisch. Ich hob die Schüssel und schlürfte etwas von dem Brei. Tegid beobachtete mich genau. »Nun, was geht dir im Kopf herum, Barde?« »Wie fühlst du dich?« »Müde«, erwiderte ich. »Aber ich komme nicht zur Ruhe. Ich muß immer an Goewyn denken.« »Goewyn wird kein Leid geschehen.« »Wie kannst du da so sicher sein?« »Weil du es bist, auf den sie es abgesehen haben, nicht sie. Sie ist nur der Köder in der Falle.« Tegid sprach unverblümt. Seine gelassene Art machte es mir möglich, meine tiefste Furcht auszu sprechen. »Wenn das wahr ist, dann könnten sie sie schon getötet haben.« Mein Herz setzte bei dem Gedanken einen Schlag aus, aber nun war er ausge sprochen, und das tat mir gut. »Wir würden es nicht erfahren, bis wir in die Falle liefen, und dann wäre es 397
natürlich zu spät.« Tegid dachte einen Moment lang darüber nach und schüttelte dann langsam den Kopf. »Nein.« Sein Ton war direkt und zuversichtlich. »Ich glaube nicht, daß es so ist.« Er hielt inne, sah mich an, musterte mich - als wäre ich ein nach langer Abwesenheit zurückgekehrter alter Bekannter, und er versuchte, sich darüber klarzuwerden, inwiefern ich mich verändert hatte. »Was ist los, Barde?« sagte ich. »Du inspizierst mich, seit ich heute morgen das Lager betreten habe.« Seine Mundwinkel zuckten, und er lächelte verle gen. »Das stimmt. Ich möchte mehr über diesen Mann mit den weißen Hunden hören - den Mann mit dem gelben Mantel.« »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.« »Nicht alles.« Er beugte sich näher an mich heran. »Ich glaube, daß du ihn kennst.« »Ich kenne ihn nicht«, behauptete ich knapp. Te gids tadelnder Blick kam rasch und scharf. »Ich habe ihn schon einmal gesehen«, bekannte ich, »aber ich kenne ihn nicht. Das ist nicht dasselbe.« »Wo hast du ihn gesehen?« Zorn schoß mir wie Galle in den Mund. »Das hat nichts mit alledem zu tun. Laß mich in Ruhe damit.« Doch der Barde ließ nicht locker. »Sag es mir.« Tegids hartnäckige Fragen riefen mir mein Leben in der anderen Welt in Erinnerung, und dagegen wehrte ich mich. Ich starrte ihn finster an, gab dann 398
jedoch nach. »Es war nicht in diesem Weltenreich«, murmelte ich. »Es war vorher, als ich noch zusammen mit Simon - Siawn Hy - an dem anderen Ort war; er war in das Cairn gekrochen, und ich wartete darauf, daß er wieder herauskäme. Da sah ich den Mann in der Nähe.« »Beschreibe mir dieses Cairn«, sagte Tegid. Und als ich es getan hatte, fragte er: »Hast du auch die weißen Hunde gesehen?« »Ja, ich habe die Hunde gesehen - weiß, mit roten Ohren. Aber sie waren bei einem anderen Mann einem Bauern, glaube ich - ach, das ist alles so lange her, ich kann mich nicht mehr erinnern. Sie waren alle da, glaube ich.« Der Barde schwieg lange; dann endlich sagte er nachdenklich: »Es war derselbe.« »Wer war derselbe?« »Mit oder ohne die Hunde, das spielt keine Rolle«, erklärte Tegid rätselhaft. Als ich um eine Erklärung bat, sagte er: »Gelbmantel wird normalerweise mit den Hunden gesehen, das stimmt. Aber du hast die Hunde gesehen, und du hast ihn gesehen - ob zusam men oder getrennt, macht keinen Unterschied.« »Barde, drück dich klarer aus.« »Crom Cruach, Tuedd Tyrru, Crysmel Hen - er hat viele Namen und viele Gestalten«, sagte er mit etwas leiserer Stimme. »Doch in allem bleibt er der, der er ist: der Herr des Erdhügels.« Tegid sprach den Namen aus, und ich spürte eine 399
feuchtkalte Hand an meiner Kehle. »Ich erinnere mich an keinen Erdhügel«, sagte ich. »Wenn ein Krieger die Wäscherin an der Furt sieht«, sagte Tegid, »weiß er, daß der Tod nahe ist.« Ich hatte derartige Geschichten schon zuvor gehört. Meistens war es so, daß ein Krieger, der in die Schlacht zieht, an eine Flußfurt kommt und eine Frau sieht - manchmal wunderschön und manchmal abgrundtief häßlich -, die blutgetränkte Kleider im Wasser wäscht. Wenn er sie dann fragt, wessen Kleider sie da wäscht, sagt ihm die Frau, daß es seine eigenen sind. Daran erkennt der Krieger, daß sein Verderben nahe ist. Ich dachte darüber nach und fragte dann: »Ist es mit Gelbmantel genauso?« »Nur diejenigen, deren Angelegenheiten Crom Cruach betreffen, können ihn sehen«, erwiderte Tegid mit typisch bardischer Zweideutigkeit. »Bedeutet das den Tod?« fragte ich rundheraus. Er zögerte. »Nicht immer.« »Was bedeutet es dann?« »Es bedeutet, daß Crom Cruach von dir Notiz ge nommen hat.« Diese Erklärung konnte kein volles Licht auf die Sache werfen, und Tegid schien sich nicht weiter darüber auslassen zu wollen. »Hat das damit zu tun, daß ich mein Geas gebrochen habe?« fragte ich. »Ruh dich jetzt aus«, sagte Tegid und stand auf. »Wir reden später weiter.« Ich beendete mein Mahl und versuchte zu schlafen. 400
Doch Tegids dunkle Andeutungen und das Getriebe im Lager hielten mich wach. Nach einiger Zeit gab ich es auf und schloß mich den wartenden Männern an. Wir unterhielten uns über belanglose Dinge und vermieden dabei jede Erwähnung der beunruhigenden Ereignisse der vergangenen Nacht. Cynan versuchte, die Krieger für ein Ringkampfturnier zu begeistern, doch der erste Kampf war so halbherzig, daß das Spiel aufgegeben wurde. Der Vormittag zog vorüber. Die Sonne, fast schon warm, kletterte tief im Süden über den Himmel und zog graue Wolken wie morsche Grabtücher hinter sich her. Kurz vor Mittag kehrte die erste Kundschafter gruppe zum Lager zurück, um zu berichten, daß sie kein Anzeichen des Feindes entdeckt hatte. Die vier, die nach Osten geritten waren, kehrten jedoch nicht zurück. Wir warteten, solange wir es wagen durften, und länger, als klug war. Tegid ließ die Sonne nicht aus den Augen und murmelte vor sich hin, während er ungeduldig umherstapfte. Endlich sagte er: »Wir können nicht länger bleiben.« »Wir können sie doch nicht einfach im Stich las sen«, sagte Cynan. »Gweir ist ihr Anführer. Ich werde meinen Schlachtenführer und meine Krieger nicht einfach zurücklassen.« Der Barde machte ein finsteres Gesicht und brummte einen Moment lang wütend vor sich hin; dann sagte er: »Na schön, dann werden wir sie suchen 401
gehen.« »Und wenn das nun eine Falle ist?« warf Bran ein. »Vielleicht ist das genau das, was Paladyr von uns erwartet.« »Dann werden wir in seine Falle springen und es hinter uns bringen«, fuhr Tegid ihn an. »Es ist besser, Paladyr und seiner Kriegsschar gegenüberzutreten, als noch eine Nacht auf diesem verfluchten Hügel zu verbringen.« »Das ist wahr«, gab Bran zu. »Dann reiten wir nach Osten«, sagte ich. Wir ritten über die Ebene und folgten der Spur der vermißten Kundschafter durch das derbe Gras - wobei wir um den abgebrochenen Säulenstein einen weiten Bogen machten - und erreichten den östlichen Rand, als das Tageslicht zu schwinden begann. Dort hielten wir und blickten über die Baumwipfel hinweg auf das Land auf der anderen Seite: alles braun und nebelver hangenes Grau, soweit wir etwas davon unter den niedrigen Wolken erkennen konnten. »Hier endet der Pfad«, sagte Bran leise. »Endet?« Ich drehte mich zu ihm um. Sein dunkles Gesicht wirkte jetzt noch dunkler durch den dichten, schwarzen Bart, der ihm wuchs; er schien sich wahr haftig langsam in einen Raben zu verwandeln. Er deutete auf eine zertrampelte Stelle im Gras; der Schnee war voller Hufabdrücke, doch für einen Kampf oder dergleichen gab es keinerlei Anzeichen. »Die Kundschafter haben hier gehalten, und der Pfad 402
ist hier auch zu Ende. Vielleicht sind sie hinunter in den Wald geritten«, meinte er zweifelnd. »Aber du hast ihnen doch gesagt, daß sie das nicht tun sollen.« »Ja, gesagt habe ich es ihnen.« Wir setzten uns den langen, bewaldeten Hang hinab in Bewegung. Die dicht stehenden Bäume machten uns das Vorwärtskommen schwer. Wir waren jedoch noch nicht weit gekommen, als wir gezwungen waren, abzusteigen und den Pferden die Augen zu verbinden. Wie zuvor weigerten sich die Tiere störrisch, sich in den Wald hineinreiten zu lassen, so daß wir sie zu Fuß führen mußten, um unseren Weg fortzusetzen. Doch viel langsamer wurden wir selbst dadurch nicht, so dicht war das Unterholz und so undurchdringlich das Dickicht. Bran ging voraus und ließ die Raben zu beiden Seiten ausfächern, in der Hoffnung, die Spur der vermißten Kundschafter zu finden. Doch als die Dämmerung hereinbrach, hatten wir noch nicht einen einzigen Fußabdruck gesehen, geschweige denn ein Anzeichen eines Pfades. Wir bewegten uns mit quälender Langsamkeit und schlugen uns mit den Schwertern einen notdürftigen Pfad durch das Unterholz. Trotz dieser Anstrengung spürte ich, daß es immer kälter wurde, je weiter hangabwärts wir kamen - so daß wir, als es Zeit wurde, uns nach einem geeigneten Lagerplatz umzu schauen, alle vom Kinn bis zu den Fersen in unsere 403
Umhänge gehüllt waren und unser Atem uns in frostigen Wolken über den Köpfen schwebte. Wir schlugen unser Lager unter einer großen, knor rigen Eiche auf, unter deren verdrehten Ästen wir eine einigermaßen freie Fläche fanden. Ringsum fanden wir reichlich dürres Holz, das wir zu drei ansehnli chen Haufen aufschichteten, die als Brennstoff für drei schöne Feuer dienen würden. Tegid zündete jedes der Feuer selbst an und sagte: »Wenn bei drei Feuern eines ausgeht, haben wir immer noch zwei, um es wieder anzufachen.« »Glaubst du, daß die Feuer ausgehen werden?« fragte ich. »Ich glaube nur, daß es gefährlich wäre, nachts kein Feuer zu haben«, kam seine Antwort. Dementspre chend teilten wir Männer dazu ein, sich während der Nacht um die Feuer zu kümmern und sicherzustellen, daß sie nicht ausgingen. Die Nacht war zwar kalt, verging aber ohne beson dere Ereignisse, und wir wurden von nichts Ärgerem als einem dünnen Dauerregen geweckt. Der nächste Tag brachte keine Veränderung, auch nicht die folgenden. Wir kämpften uns durch eine endlose Folge dorniger Dickichte, so dicht wie Hecken, hievten über umgestürzte Bäume hinweg, wateten durch Schlamm und Sumpf, kletterten über große Felsen, wenn wir sie nicht umgehen konnten. Tags über trotteten wir in einem durchnäßten Zug hinter einander her; nachts taten wir unser Bestes, um wieder 404
trocken zu werden. Mit jedem Schritt wurde die Luft kälter, und am fünften Tag schlug der Regen in Schnee um. Das erleichterte uns zwar nicht gerade das Vorwärtskommen, aber die Abwechslung war uns dennoch willkommen. Wir wanderten schweigend. Scatha, grimmig und griesgrämig, sprach mit niemandem; auch Tegid hatte nicht viel zu sagen. Cynan und Bran redeten in barschen, schroffen Worten mit ihren Männern, und nur dann, wenn es unbedingt nötig war. Mir fiel nichts ein, das ich zu irgend jemandem hätte sagen können, und so schleppte ich mich so stumm und elend dahin wie die anderen. Der Hang lief so allmählich aus, daß wir gar nicht merkten, daß wir den Erdhügel endlich hinter uns gelassen hatten, bis wir an einen langsam fließenden Bach gelangten, an dessen Ufer hohe Kiefern und schlanke Birken standen, »Von hier an werden wir leichter vorankommen«, bemerkte Bran. Obwohl wir nicht noch einmal von den Sluagh angegriffen worden waren, überkam mich eine Welle der Erleichterung, als wir den Hügel hinter uns hatten. Ich spürte, daß uns auch seine mörderischen Geister jetzt nichts mehr anhaben konnten. Wir ruhten uns unter den Kiefern aus und folgten den ganzen näch sten Tag über dem Bach. Die Bäume waren alt, und die Äste hingen hoch; das Unterholz wurde erheblich lichter, was uns das Vorankommen erleichterte. Allmählich erweiterte sich der Bach zu einem schma 405
len, trüben Fluß, der sich zwischen schlammglatten Ufern und freigelegten Kiefernwurzeln hindurch schlängelte. Von Zeit zu Zeit bekamen wir durch Lücken in dem dichten Astwerk über uns eine ziellos dahingleitende Sonne zu Gesicht. Als das Tageslicht in einem trüben, ockergelben Dunst dahinschwand, erreichten wir endlich das Ende des Waldes und blickten auf ein weites Tal zwischen zwei langgestreckten, felsengekrönten Klippen hinaus. Der Talboden war schneebedeckt, doch der Schnee war nicht tief. Der Fluß wurde lebhafter, als er sich aus dem Wald heraus in ein felsiges Bett ergoß. Nur wenige Bäume waren zu sehen, so daß wir beschlossen, die Nacht am Waldrand zu verbringen, wo uns genügend Holz für die Feuer sicher war. Den ganzen nächsten Vormittag über sammelten wir Feuerholz und beluden die Pferde damit, soviel sie tragen konnten. Trotz des späten Aufbruchs kamen wir gut voran und hatten am Ende des Tages eine weitere Strecke zurückgelegt als an irgendeinem anderen Tag seit unserer Ankunft in Tir Aflan. Die Sonne blieb während der nächsten Tage hinter einer dichten Masse niedriger, schwarzer Wolken verborgen, als wir dem Flußlauf folgten und nur hielten, um die Pferde zu tränken, zu essen und zu schlafen. Das Wetter blieb kalt, doch es schneite nur selten und niemals lange. Wir bekamen weder Vögel noch sonstige Tiere zu Gesicht; auch fanden wir keinerlei Spuren außer unseren eigenen auf der 406
dünnen Schneedecke. Allem Anschein nach waren wir die einzigen Men schen, die je so tief in das Land der Fäulnis vorge drungen waren. Dieser Eindruck hielt lange Zeit an bis wir die ersten Ruinen sahen. Zuerst schien es, als ob der Klippenrand zur Linken des Tales nur zerklüfteter geworden sei und mehr zufällige Ansammlungen von Steinen und gezackte, scharfkantige Vorsprünge aufwies. Doch als wir weiter in das Tal vordrangen, wurden die Klippen niedriger und näherten sich dem Talboden schließlich so weit, daß wir die zerbröckelten Überreste einer Mauer erkennen konnten. Wir betrachteten die eingestürzte Mauer mit dersel ben Mischung aus Furcht und Faszination, die wir bei unserer Ankunft auf dem Hügel empfunden hatten. Ein Tag folgte dem anderen, und mit jedem Schritt wurde die Mauer höher und drohender: Dunkel schlängelte sie sich auf dem Klippenrand entlang, mit Lücken, wo die Steine eingebrochen, an den steilen Klippenwänden herabgerutscht und unten in Schutt haufen liegengeblieben waren. Am sechsten Tag kamen wir in Sichtweite der Brücke und des Turmes. Der Turm stand auf einem kahlen Felsbrocken an einer Stelle, wo das Tal sich verjüngte. Die Überreste einer Doppelreihe eingestürzter Säulen zogen sich quer über den Talboden und den Fluß bis hin zur gegenüberliegenden Klippe. Wir ritten weiter bis zu den riesigen, runden Segmenten, die zur Hälfte in die 407
Erde vergraben dalagen wie abgesägte versteinerte Baumstämme, eingesunken unter ihrer eigenen Masse und dem gewaltigen Gewicht der Jahre. Hier hielten wir an. Irgendwann in ferner Vergangenheit mußte der Fluß ein tosender Strom gewesen sein, den eine gewaltige Brücke überspannte - ein Werk von Riesen. Und als Wächter stand an einem Ende der Brücke ein kahler, finsterer Turm. Allen gingen dieselben Fragen durch den Kopf: Wer hatte den Turm errichtet? Was lag jenseits der Mauer? Was wollten ihre Erbauer sich vom Leib halten? Die Neugier wurde zu stark, um ihr zu widerstehen. Wir hielten und schlugen unser Lager zwischen den halb eingesunkenen Säulen auf. Und dann erklommen Cynan, Tegid, die Raben und ich die Klippenwand. Der Turm war aus Stein und bestand aus drei Ab schnitten, die stufenförmig übereinandergeschichtet waren. Er hatte seltsame, runde Fenster, die wie leere Augenhöhlen hinaus zur andern Seite des Tales starrten. Auf der untersten Ebene befand sich ein einziger Eingang mit einem Durchgang und einer Tür, wie ich sie noch nie gesehen hatte: rund wie die Fenster, und sie war ein gewaltiges Rad aus Stein, nicht aus Holz, das ringsum mit Eisen eingefaßt war und in einer breiten Rille saß. Die Oberfläche des Durchgangs und der Tür war mit eingemeißelten Symbolen bedeckt, die inzwischen zu verwittert waren, um sie zu entziffern. Aus dem Durchgang 408
kamen die Überreste einer mit Steinen gepflasterten Straße heraus, die bis zu der Stelle führte, wo die Brücke früher mit der Klippe verbunden gewesen war. Nach der Breite der Straße zu urteilen, war die Brücke breit genug für vier Reiter nebeneinander gewesen. Die Mauer setzte in Höhe der ersten Stufe an dem Turm an, reichlich dreimal mannshoch. Einen Ein gang gab es nicht, es sei denn, durch den runden Durchgang. Doch offenbar gab es keine Möglichkeit, die riesige Steintür von der Stelle zu bewegen. Alun und Garanaw wurden neugierig und begannen, das Tor zu untersuchen. Schon wenig später stemmten sie sich mit den Schultern dagegen und schafften es zu zweit tatsächlich, die Tür zu bewegen. »Sie läßt sich rollen«, rief Alun. »Helft uns, die Rille frei zu machen.« Die Spur, in der die Steinscheibe rollte, war mit Geröll verstopft. Mit Hilfe von Emyr, Drustwn und Niall hatten sie es in kürzester Zeit geschafft, den Schutt und die Steine beiseite zu räumen. Und dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit der Tür selbst zu. Die fünf Raben stemmten sich mächtig dagegen und schoben. Zur Verblüffung aller rollte der Stein mit Leichtigkeit zur Seite, und dahinter kam ein dunkler Raum zum Vorschein. Nachdem sie wachsam ihre Köpfe hineingesteckt hatten, berichteten sie, daß nichts zu sehen sei. »Wir brauchen Fackeln«, riet Tegid, und auf ein Nicken ihres Anführers hin kletterten Emyr und Niall die 409
Klippenwand wieder hinab, um jeder ein Bündel zu holen. Wir warteten ungeduldig, während Tegid sich daranmachte, sie anzuzünden. Bald waren die Fackeln entfacht und verteilt, und mit pochenden Pulsadern traten wir durch das mächtige Tor ins Innere des seltsamen Turms.
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Der hohe Turm Vorsichtig, mit hochgezogenen Schultern, auf Ze henspitzen schleichend wie Diebe, die auf keinen Fall die schlafenden Bewohner wecken wollen, betraten wir den dunklen Turm. Die Luft war feucht und roch nach Erde und nas sem Gestein wie in einer Höhle. Und selbst mit Fackeln war es auch so dunkel wie in einer Höhle. Allmählich jedoch, als unsere Augen sich an das flackernde Licht gewöhnten, begannen wir einzelne Merkmale in der Dunkelheit zu unterscheiden. Wir standen in einer einzigen, großen Kammer, soweit ich erkennen konnte, zwei- oder dreimal so groß wie die große Halle irgendeines Königs. Eine einzelne Reihe von Steinsäulen, die quer durch die Mitte des Raumes lief, stützte die Decke über uns ab. An den Säulen waren in unterschiedlicher Höhe riesige eiserne Ringe angebracht. »Hier!« rief Drustwn von vorn. »Schaut mal her!« In einem achtlosen Haufen, wie im Jähzorn zur Seite geschleudert, lagen etwa zwanzig bronzene Kampfwagen mit verzogenen Rädern und verbogenen oder abgebrochenen Deichseln, das Metall grün vor 411
Alter. Die hohen, kreisförmigen Seitenwände der Wagen sahen aus wie aus Weidengeflecht, bestanden aber in Wirklichkeit aus zusammengeflochtenen, dreieckigen Bronzestreifen, die bei verhältnismäßig geringem Gewicht einen ungemein starken Schutz boten. Etwas abseits von den Kampfwagen lag eine kleine Pyramide aus großen, aufeinandergestapelten Schei ben und daneben ein Haufen übergroßer Axtklingen die ungewöhnlicherweise aus einer kurzen, kräftigen Klinge auf der einen und einem stumpfen Stachel auf der anderen Seite bestanden. Es mußten mehrere Hundert davon sein und ebenso viele Scheiben, die sich bei näherem Hinsehen als bronzene Schilde erwiesen. Bran zog einen der Schilde aus dem Stapel und verursachte dadurch eine Staublawine. Er hob die runde Scheibe am Rand hoch und hielt sie vor sich; sie war riesig, viel größer als die Schilde, die die Männer von Albion verwendeten, und völlig glatt. Die einzigen Zeichen darauf befanden sich auf dem Höcker in der Mitte: einige seltsame Symbole in Bronzerelief, die einen Ring um das schlichte Bild einer merkwürdigen, dickleibigen Schlange bildeten. »Wer immer diesen Schild trug, war ein stärkerer Mann als ich«, bemerkte Bran, legte den Schild zurück und griff nach seiner Fackel. Wir setzten unsere Erkundung fort, doch abgesehen von einer säuberlich aufgestellten Reihe kurzer, 412
schwerer Wurfspeere aus Bronze fanden wir nichts weiter in der unteren Kammer und setzten unsere Suche fort, indem wir über eine steinerne Treppe zur nächsten Ebene emporstiegen. Die runden Fenster in der Mitte jeder der vier Wän de ließen ein wenig Licht in den großen, viereckigen Raum dringen, dessen Boden mit Metallkappen und Schlachthelmen bedeckt war - hoch aufgeschichtet und oben etwas spitz zulaufend, alle aus Bronze und alle mit einer bronzenen Schlange verziert, die sich um den Rand herumschlängelte und auf der Stirnseite ihren flachen Kopf hob. Alun hob einen der Helme auf und setzte ihn sich auf den Kopf, aber er war für einen Mann gemacht, der mindestens doppelt so groß gewesen war wie er. Es befanden sich vielleicht zweihundert oder mehr dieser Schlangenhelme auf dem Boden, doch sonst war der Raum leer. Auf der Ebene darüber entdeckten wir einen gro ßen, steinernen Tisch, auf dem riesige Schüsseln aus Silber und Bronze standen, dazu ein Gefäß aus Gold. Das Silber war schwarz und die Bronze grün, doch das Gold war so wie an dem Tag, an dem es ge schmiedet wurde; es schimmerte matt im Licht unserer Fackeln. Außerdem lagen auf dem Tisch drei Haufen von Münzen in den verrotteten Überresten von Lederbeuteln. Die Münzen waren aus Silber und Gold. Die Silbermünzen waren nur noch schwarze Klumpen, aber das Gold leuchtete hell. Wir nahmen einige davon in die Hand und betrachteten sie. 413
»Hier ist ihr König«, sagte Tegid und hielt sich eine Münze vor die Augen. »Seinen Namen kann ich nicht lesen.« Die Münze zeigte das Bild eines Mannes wie von einem frühreifen Kind eingeritzt. Der Mann hielt einen kurzen Speer in einer Hand und eine Stachelaxt in der anderen. Er trug keine Kopfbedeckung, und sein Haar fiel in langen Locken bis auf die Schultern; Bart und Schnurrbart waren fast ebenso lang. Seine Brust war nackt - er trug weder einen Torc noch sonstigen Schmuck - aber an den Beinen hatte er offenbar gestreifte Breecs und hohe Stiefel an den Füßen. Wörter in seltsamen Schriftzeichen schwirrten ihm wie Wespen um den Kopf, doch sie waren unmöglich zu entziffern. Jeder von uns nahm eine Handvoll von den Münzen mit, um sie den anderen zu zeigen, und Cynan nahm die goldene Schüssel. »Für Tángwen, wenn ich sie wiedersehe«, sagte er. Neben dem Tisch stand ein großes, eisernes Drei bein, an dem ein riesiger, bronzener Kessel hing. Unter dem Kessel befand sich ein Ring aus rußge schwärzten Steinen, und in seinem Innern die festge backenen, steinharten Überreste der letzten Mahlzeit. Doch es war die Außenseite des Kessels, die mir auffiel. Die Oberfläche war voller Aktivität: Krieger in Streitwagen stürmten mit erhobenen Speeren um den Boden des Kessels herum, daß ihre langen Haare im Wind wehten; auf der nächsten Schicht darüber 414
galoppierten schmaläugige Männer auf Pferden und schwangen Schwerter und Speere; darüber marschier ten Reihen von Kriegern zu Fuß, Schulter an Schulter, und trugen runde Schilde und Helme, wie wir sie in der unteren Kammer gesehen hatten; auf der obersten Lage rannte eine Anzahl geflügelter Männer, oder vielleicht flogen sie, und jeder von ihnen trug eine Schlange in der rechten Hand und einen belaubten Zweig in der Linken. Der Rand des Kessels war eine schuppige Schlange, die sich selbst in den Schwanz biß. »Die Männer der Schlange«, sagte Tegid und deutete auf die Krieger. »Weißt du etwas über sie?« »Ihre Geschichte ist den Derwyddi noch bekannt, wenn wir sie auch, wie das Lied von Tir Aflan, nicht singen.« Ich dachte schon, er würde nicht mehr sagen, doch dann fuhr er, den Blick starr auf den Kessel gerichtet, fort: »Es heißt, daß die Schlange erwachte und das Land mit einer gewaltigen Streitmacht unterwarf. Als es keine Feinde mehr zu besiegen gab, gerieten die Schlangenmänner untereinander in Streit und bekämpften sich gegenseitig. Sie zerstörten alles, was sie erbaut hatten, und als der letzte von ihnen gestorben war, kroch die Schlange zurück in die Unterwelt, um zu schlafen, bis sie wieder geweckt würde.« »Und was kann sie wecken?« »Ein sehr großer Frevel«, war seine einzige Ant 415
wort. Allerlei Gegenstände des täglichen Lebens lagen im Raum verstreut: weitere Becher und Schüsseln; viele kurze Schwerter mit Griffen aus Knochen, die in ihren Scheiden feststeckten; einige runde Schilde; eine Sammlung kleiner Töpfe, Flaschen und Truhen, die aus einem weichen, rötlichen Stein geschnitzt waren allesamt leer; mehrere lange, geschwungene löffel förmige Kellen und langstielige Gabeln, um Fleisch und Brühe aus dem Kessel zu holen; zahlreiche Axtklingen, Messer von unterschiedlicher Größe; eine bronzene Maske, die das finstere Gesicht eines bärtigen Kriegers mit langem, fließendem Schnurr bart, fein gelocktem Haar und einem Schlangenhelm auf dem Kopf zeigte, den Mund zum Schlachtruf geöffnet; vier sehr hohe Lampenständer, einer in jeder Ecke, auf denen aus Stein gehauene Öllampen stan den. Unter einem der Schilde fand Emyr einen seltsamen Gegenstand - einen Ring aus kleinen, schildähnlichen Scheiben, die miteinander verbunden um ein spitzes, kegelförmiges Horn herumliefen. Er drehte das Ding hin und her und verkündete schließlich: »Ich glaube, es ist eine Krone.« Wie die meisten anderen Gegen stände, die wir gesehen hatten, bestand sie aus Bron ze, und als er sie sich auf den Kopf setzte, zeigte sich, daß sie für einen viel größeren Kopf gemacht war. »Mo anam«, murmelte Cynan und probierte die Krone selbst auf, »diese Schlangenmänner waren 416
wahrhaftig Riesen.« »Schaut euch das an!« rief Garanaw und hielt seine Fackel vor die gegenüberliegende Wand. Wir gingen hinüber zu ihm und sahen ein Gemälde an der Wand. Es war eine gute Arbeit, und einst mußten die Farben hell und leuchtend gewesen sein. Und obwohl die Farben zu einem fast gleichförmigen Grau und Braun verblaßt waren, glotzte uns das Gesicht eines Schlangenmenschen an, die fleischigen Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzogen, die bleichen Reptilienaugen in eingefrorener Heiterkeit starrend, den Mund geöffnet und die gespaltene Zunge herausgestreckt. Eine Masse dicht geringelter Locken umkränzte das Gesicht, und unter dem Kinn waren noch der geflügelte Oberkörper und eine erhobene Hand zu erkennen, eine schwarze Schlange haltend, die sich um den Arm wand. Wir wandten uns von dem Gemälde ab, und Niall machte uns auf eine eiserne Leiter in einer Wandni sche aufmerksam. Die Leiter führte durch die steiner ne Decke aufs Dach. Er kletterte hinauf und rief dann zu uns herunter, daß wir ihm folgen sollten. Auf dem Dach war nichts, aber die Aussicht war atemberau bend. Als wir nach Süden blickten, sahen wir weit unter uns im Flußbett zwischen den umgestürzten Säulen unser Lager und die Männer und Pferde, die nahe dem grauen Faden des dahinfließenden Wassers warteten. Im Westen erhob sich der gewaltige Buckel des 417
Erdhügels, dessen Kuppe sich in den tiefhängenden Wolken verlor, und im Osten sah man nur den Fluß zwischen den Felsenklippen dahinfließen. Im Norden, hinter der hohen Steinmauer, die sich von Osten nach Westen erstreckte, lag eine endlose Reihe von flachen, schneebedeckten Hügeln, die stiegen und fielen wie Wellen in einem gefrorenen Ozean. Die Weite und Leere der Landschaft wie auch die Größe des dunklen Turmes und aller Gegenstände darin gaben uns das Gefühl, klein und schwach zu sein und töricht, weil wir hier eindrangen, wo wir nichts zu suchen hatten. Ich suchte die wogende Hügellandschaft nach irgend einem Zeichen einer Behausung ab, doch es war weder Rauch noch irgendein Weg zu sehen, an dem wir uns hätten orientieren können. »Was denkst du, Barde?« fragte ich Tegid, der neben mir stand. »Ich denke, wir sollten diesen Ort seinen grausigen Erinnerungen überlassen«, antwortete er. »Ganz meine Meinung, aber wohin gehen wir von hier aus?« »Nach Osten«, erwiderte er ohne Zögern. »Warum nach Osten? Warum nicht nach Süden oder Westen?« »Weil wir im Osten Goewyn finden werden.« Ich horchte auf. »Woher weißt du das?« »Erinnerst du dich noch, wie Meldron uns auf dem Meer aussetzte?« »Verstümmelt und in einem offenen Boot zum Sterben ausgesetzt - wie könnte ich das je vergessen?« 418
»Im Austausch für meine Augen wurde mir eine Vision gegeben.« Wie er das sagte, klang es, als hätte er nur ein Paar Breecs gegen ein anderes ausgetauscht. »Ich erinnere mich. Du hast ein Lied darüber ge sungen.« »Erinnerst du dich an die Vision?« »Undeutlich«, sagte ich. »Ich erinnere mich noch genau.« Er schloß seine Augen, als könne er sie von neuem sehen. Dann begann er zu singen, und ich lauschte, versunken in die Erinnerung an die schreckliche Nacht, in der er diese Vision empfangen hatte. Einiges erkannte ich: Druim Vran, Dinas Dwr, meinen Geweihthron; die goldenhaarige Frau in der Laube war Goewyn an unserem Hochzeitstag. Andere Dinge hingegen waren mir völlig fremd. Als er endete, schlug er die Augen wieder auf und sagte: »Dieses Land hier kam auch in meiner Vision vor. Ich wußte es nicht, bis wir zu diesem Turm kamen.« »Du hast nie einen Turm erwähnt - war da ein Turm?« »Nein«, bekannte er, »aber dies ist das Land. Ich erkenne es an der Atmosphäre, am Geschmack und Geruch.« Seine dunklen Augen wanderten über die fernen Hügel, die sich einer nach dem anderen bis zum Horizont und darüber hinaus erhoben. »In diesem Weltenreich wartet eine gewaltige Tat darauf, getan zu werden.« 419
»Die einzige gewaltige Tat, an der ich interessiert bin, ist die, Goewyn zu befreien, bevor -« Abrupt brach ich ab. Die anderen hörten zwar nicht zu, aber sie standen ganz in der Nähe. »Bevor das Kind geboren wird«, beendete Tegid den Gedanken für mich. »Bevor irgendeinem der beiden etwas geschieht.« »Wir werden uns voller Hoffnung auf den Weg machen und der Schnellen Sicheren Hand vertrauen, daß sie uns den Weg weist.« »Ein wenig Wegweisung wäre jetzt nicht unange bracht«, gab ich zu und spähte hinaus über die form lose Wüste aus Hügeln und Himmel. »Llew«, sagte er, »wir sind immer geführt wor den.« Wir verließen das Dach und stiegen durch den Turm zurück hinab zum Tor. Tegid riet uns, die Tür wieder zu verschließen, und so rollten wir den Stein zurück an seinen Platz. Dann kletterten wir die Klippenwand hinab, um zu unserer wartenden Kriegs schar zurückzukehren. Wir zeigten ihnen die Münzen, die wir gefunden hatten, und sie wollten zurück hinauf und den Rest holen, aber Tegid ließ es nicht zu. Eine weitere Störung würde nicht willkommen sein, meinte er. Sie ließen es dabei bewenden. Der Turm schien einen tiefen Schmerz in sich zu bergen, und selbst diejenigen, die nicht in seinem Innern gewesen waren, spürten die bedrückende Traurigkeit, die auf diesem 420
Ort lag. Außerdem wurde es bereits dunkel, und niemand wollte es riskieren, nach Einbruch der Nacht außerhalb des Feuerkreises angetroffen zu werden. In jener Nacht lauschten wir auf das flehende Rufen des Windes, der sich an den zerbrochenen Steinen der Mauer auf den Klippen hoch über uns brach. Ich schlief schlecht und träumte von geflügelten Schlan gen und Männern in bronzenen Rüstungen. Zweimal erwachte ich und stand auf, um zum Turm hinaufzuschauen - eine brütende, schwarze Silhouette vor einem noch schwärzeren Himmel. Er schien uns zu beobachten, wie er dort oben auf seinem hohen Felsen hockte wie ein Raubvogel, der nur darauf wartete, seine schwarzen Flügel zu entfalten und sich auf uns zu stürzen. Ich war nicht der einzige, der von schlechten Träumen geplagt wurde; die Pferde tänzelten und stampften die ganze Nacht über, und einmal stieß einer der Männer im Schlaf einen Schrei aus. Am nächsten Tag setzten wir unseren Weg fort und lauschten auf den Wind, der stöhnend und zischend durch das Tal zog. Der Schnee fiel stetig und wehte uns um die Füße; wir zogen die Umhänge über die Köpfe, legten uns unsere Sattelfelle um die Schultern, um uns zu wärmen, und schleppten uns mühsam durch den Tag. Die Landschaft veränderte sich ein wenig, aber nicht sehr - immer wenn ich meinen Kopf hob, waren da immer noch die steilen Klippen und die Mauer, die über uns zerklüftet und dunkel aufragte. 421
Fünf Tage lang blieb es immer dasselbe - Kälte und Schnee und tiefe, sternlose Nächte voller Windgeheul und morbider Träume. Wir kämpften uns durch jeden Tag, abwechselnd zu Fuß und zu Pferd, zitterten vor Kälte, und kauerten uns abends so nahe wie möglich an die Feuer. Und dann, als der sechste Tag sich seinem Ende neigte, bemerkten wir, daß die Klippen allmählich niedriger wurden und der Fluß breiter wurde, je weiter sich das Tal öffnete. Zwei Tage später erreichten wir die Stelle, wo die Klippen endeten und die Mauer eine Biegung machte, um ihre einsame Reise nach Norden über die endlosen Hügel fortzusetzen. Vor uns erhob sich die dunkle, borstige Linie eines Waldes. Es sah aus wie eine gewaltige Streitmacht, die am Horizont aufmarschiert war, und ich verzagte inner lich, als ich es sah. Tir Aflan war ein Ödland, dessen Größe jede Vorstellung überstieg. Wo war Goewyn? Wie sollten wir sie jemals in dieser Wildnis finden? »Hör mal, Barde, bist du sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« fragte ich Tegid, als wir hielten, um die Pferde zu tränken. Wir hatten die Mauer hinter uns gelassen und näherten uns dem Waldrand, doch es gab immer noch keinen klaren Hinweis darauf, daß wir in der richtigen Richtung unterwegs waren. Tegid antwortete nicht sofort, und als er es endlich tat, sah er mich nicht an. »Der Wald, den du vor dir siehst, ist älter als Albion«, sagte er und rollte seinen Eschenholzstab zwischen den Handflächen, während 422
seine dunklen Augen über die Baumlinie wanderten. »Hast du mich gehört?« fragte ich. »Ist dies der Weg, den wir gehen müssen?« »Bevor an Albions lieblicher Küste ein Mensch zu finden war, war dieser Wald bereits uralt. Unter den Gelehrten heißt es, alle Wälder der Welt seien nur Sämlinge dieser Bäume.« »Faszinierend. Aber was ich wissen möchte, ist, ob du auch nur die leiseste Vorstellung hast, wohin wir gehen müssen?« »Wir gehen in den Wald«, antwortete er. »Im Nachtwald werden wir alles finden, was wir suchen oder es wird uns finden.« Barden!
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Der Nachtwald Wir folgten weiter dem Fluß als einziger Richt schnur und gelangten schließlich in den Wald. Der Schnee, der im offenen Tal zu hohen Verwehungen angehäuft lag, war hier unter den Bäumen nur spärlich zu finden. Und was für Bäume! Es gab Bäume aller Art: Am Flußufer standen Gruppen silberner Birken, verschiedene Arten von Weiden und Holunder-, Schwarzdorn-, Hagedorn- und Stechpalmendickichte; und auf den weiten Wiesen standen große Haine von Eichen, Kastanien, Buchen, Linden, Ulmen, Bergahorn, Platanen, Walnußbäumen, Eschen, Lärchen und anderen Arten; auf den Höhen indes fanden sich immergrüne Bäume: Tannen und Kiefern und Fichten in Fülle, ebenso wie Zedern und Eiben. Flechten und Moos wuchsen überall und ließen jeden Stamm und Ast aussehen, als hätte jemand ihn dick mit graugrünem Gips bestrichen. Es fiel mir nicht schwer, zu glauben, daß dieser Wald uralt war. Die moosbewachsenen Äste waren krumm, und die Stämme beugten sich unter dem Gewicht unzähliger Jahre; über Äonen angesammeltes Laub bedeckte den Waldboden; trockenes Gras 424
schmiegte sich wie ungekämmte Haarsträhnen in alten Strängen zwischen mächtige, geschwungene Wurzeln. Die Bäume waren alt. Und groß! Der Fluß, der breit und tief in den Wald einströmte, schien unter diesen mächtigen Stämmen zur Größe eines Bächleins zu schrumpfen. Manche der größeren Äste streckten sich von einem Ufer quer hinüber zum anderen und schwangen sich über den Fluß wie gewaltige Schlangen aus Holz. Wir bewegten uns durch eine Welt der überdimen sionalen Proportionen. Und je weiter wir in den Wald eindrangen, desto kleiner und verwundbarer kamen wir uns vor - wir schrumpften in unseren eigenen Augen. In den Schatten dieser uralten Bäume waren wir keine Menschen mehr, sondern Insekten: bedeu tungslos, machtlos, sinnlos. So niederschmetternd es auch war, ein Insekt zu sein, noch viel beunruhigender war die Stille. Als wir den Wald betraten, verebbten alle Geräu sche der Welt draußen und wurden mit jedem Schritt leiser, bis wir nicht das geringste mehr hörten - nicht einmal den Wind. Kein fremdartiger Vogelruf drang an unsere Ohren, kein Knacken eines blattlosen Zweiges, kein Ächzen eines herabhängenden Astes. Selbst unsere Schritte wurden auf dem weichen Laubboden gedämpft, und der Fluß strömte stumm durch sein schleimglattes Bett. Ich dachte schon, die Kälte hätte mir das Gehör geraubt, als Cynan ausrief: »Mo anam, Brüder! Diese 425
Stille ist nicht natürlich unter Männern von edlen Clans. Was haben wir zu fürchten, daß wir es nicht wagen, eine fröhliche Melodie anzustimmen, wann und wo es uns gefällt?« Als niemand ihm antwortete, begann der rothaarige Held zu singen und brüllte die Worte hinaus, als wolle er Hufeisen damit verbiegen. Aus vollem Hals, mit zurückgeworfenem Kopf, sang er: Hü, auf! Auf mit euch, ihr wackeren Freunde! Die Sonne scheint rot auf den Ginster am Hang, und mein schwarzer Hund zerrt an seiner Leine. Hü, auf! Auf mit euch, ihr kräftigen Männer! Die Hirsche ziehn über die Heide entlang, und mein braunes Pferd beißt rastlos ins Zaumzeug. Hü, auf! Auf mit dir, du schwarzhaarige Schönheit Ein Kuß, bevor ich folge der Jagd. Ein Kuß, bevor ich fliege... Hü! Es war ein wackerer Versuch, und ich bewunderte ihn dafür. Vorübergehend gelang es ihm sogar, einige der Männer mitzuziehen, aber niemand hatte das Herz, bei der Sache zu bleiben. Das erzürnte Cynan, der eine Zeitlang aus purer Sturheit allein weitersang. Doch am Ende brachte die tiefe, alles verschluckende Stille des Waldes selbst Cynans kühnen Geist zum Verstummen. Danach zogen wir mit gedämpften Schritten, 426
stumpf und mutlos unseres Weges. Der Wald schien in unseren Geist und in unser Herz einzudringen, unsere Ängste zu wecken und Zweifel und Furcht an die Oberfläche zu zerren, wo sie mit ihrer aushöhlen den Macht auf uns einwirken konnten. Ich argwöhnte, daß wir beobachtet wurden, daß in dem Wald um uns her verborgen der Feind lauerte. In dem Flechtwerk der Äste hoch über uns, in der schattenbesetzten Dunkelheit jenseits des Flußpfades, hinter jedem Stamm und Stumpf spähten kalte Augen und warteten kalte Hände. Ich stellte mir eine Heer schar geflügelter Schlangenmenschen vor, die ihre kurzen, bronzenen Wurfspeere umklammerten und uns mit eisiger, reptilienhafter Böswilligkeit beäugten. Ich bildete mir ein, daß sie sich gleichauf mit uns bewegten, Schritt für Schritt an unserer Seite blieben und mit der Lautlosigkeit von Schlangen durch die Stille des Waldes glitten. Immer wieder sagte ich mir, daß meine Ängste nur Erfindungen meines Geistes waren, aber ich beobach tete die Schatten dennoch. Langsam hüllte die Nacht den Wald ein, und sie brachte kaum eine Veränderung. An diesem Ort war es stets so dunkel und unnatürlich still, daß das Tageslicht kaum zu spüren war und wie ein Fremd körper wirkte. Coed Nos, Nachtwald, hatte Tegid ihn genannt, und er hatte recht. Die Sonne mochte unge rührt ihrem Tageslauf folgen, mochte sich in blenden dem Licht, das die Außenwelt in Flammen setzte, 427
erheben und untergehen; aber wir hatten uns in die Domäne der Nacht begeben, und die Sonne hatte keine Macht an diesem Ort. Wir errichteten unser Lager am Ufer des tiefen Flusses und schichteten die Feuer hoch auf. Falls ich gehofft hatte, daß das Feuer uns Erleichterung ver schaffen würde, so hatte ich mich getäuscht. Der Wald schien den Flammen alle Wärme und alles Licht, ja das ganze Leben auszusaugen und ließ sie fahl und kraftlos erscheinen. Wir saßen mit den Gesichtern dicht an der lauwarmen Glut und spürten den Druck der tückischen Stille im Rücken. Ich kam nicht zur Ruhe. Ich konnte weder essen noch mit jemandem sprechen, sondern mußte alle paar Augenblicke den Kopf nach hinten drehen und über meine Schulter spähen. Ich hatte das starke Gefühl war mir geradezu sicher - daß wir beobachtet wurden. Auch andere hatten dieses Gefühl, glaube ich; es gab keine Unterhaltungen, keine freundlichen Frotzeleien rund ums Feuer wie sonst, wenn sich Männer nach einem langen Tagesmarsch niederlassen. Es schien, als ob wir es vorzögen, wenn wir schon nicht gegen die alles dämpfende Stille ankämpfen konnten, uns in ihr versinken, uns von ihr bedecken und vor den Dingen verbergen zu lassen, die in den Schatten umherschlichen. Es war eine erbärmliche Nacht. Niemand schlief; wir alle lagen wach und spähten in das dichte Gewirr von Zweigen und Ästen, auf das ein matter Schimmer 428
von unserem schwächlichen Feuer fiel. Das bedeutet freilich nicht, daß wir nicht träumten. Im Gegenteil. Ich glaube, jeder einzelne von uns wurde von unheim lichen, beängstigenden Alpträumen heimgesucht. Als ich dasaß, die Arme auf die Knie gestützt, und mit leerem Blick in die dunkle Wirrnis der Äste starrte, sah ich eine schwach schimmernde Erschei nung, die sich zu einer menschlichen Gestalt verfe stigte, als sie näher kam: eine Frau, schlank, gekleidet in Weiß. Goewyn? Ich sprang auf. Goewyn! Ich rannte zu ihr. Sie zitterte, ihre Arme waren bloß und kalt, und es war deutlich zu sehen, daß sie schon seit vielen Tagen durch den Wald irrte. Sie mußte ihren Entführern entkommen und in den Wald geflo hen sein. »Goewyn! Oh, Goewyn, du bist in Sicherheit«, sagte ich und ergriff ihre Hand, ohne zu bedenken, daß meine Metallhand sich auf ihrer Hand kalt anfühlen mußte. Ich berührte sie damit, und sie schrie auf. »Mir ist kalt, Llew«, wimmerte sie. »Hier, nimm meinen Umhang«, sagte ich und zog ihn mir von den Schultern. »Lege ihn um dich. Komm ans Feuer. Ich werde dich wärmen«, sagte ich und hielt meine Metallhand in die Flammen des Lagerfeu ers. Im Nu erwärmte sich das Metall, und ich drehte 429
mich um und ergriff wieder Goewyns Hand. Diesmal war das Metall zu heiß und verbrannte ihr die Haut. Beißender Rauch stieg auf und stach mir in die Augen. Goewyn schrie auf und fuhr zurück, aber die Haut klebte an dem Metall und löste sich ab, als sie ihre Hand aus meinem Griff riß. Und nicht nur die Haut - auch das verbrannte Fleisch blieb kleben. Schreiend vor Qualen hielt sie sich die Hand vors Gesicht, aber es waren nur noch Knochen übrig. Da ihnen die Muskel und Bänder fehlten, die sie zusam mengehalten hatten, lösten sie sich voneinander, fielen zu Boden und versanken im Schnee. Goewyn umklammerte ihren Armstumpf und schrie. Ich stand da in panischer Unentschlossenheit, woll te ihr helfen, wagte es aber nicht, sie zu berühren, aus Angst, meine Berührung könnte sie noch weiter verstümmeln. Tegid kam auf uns zugerannt. Er packte Goewyn an den Schultern und begann sie heftig zu schütteln. »Sei still!« schrie er. »Sei still! Sie werden dich hören!« Doch sie konnte sich nicht beherrschen. Tränen quollen aus ihren Augen, und sie schluchzte und hielt ihren Arm fest. Immer wieder schrie Tegid auf sie ein, sie solle still sein, sonst würde sie die Feinde auf uns aufmerksam machen. Dann kam Bran mit seinem Schwert angerannt. Ohne ein Wort zu irgend jemandem schlug er auf Goewyn ein. Sie drehte sich zu ihm, und er stieß ihr die Klinge ins Herz. Er zog sie wieder heraus, und ein 430
scharlachroter Fleck breitete sich auf ihrem weißen Kleid aus. Sie wandte sich zu mir und rief: »Llew! Rette mich!« Aber ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nichts tun, um meine Geliebte zu retten. Sie fiel, während eine Fontäne von Blut aus ihrer Wunde schoß. Als sie auf dem Rücken lag, streckte sie ihren Arm zu mir hinauf. »Llew...«, hauchte sie mit erster bender Stimme. Mein Name war das letzte Wort auf ihren Lippen. Ihr warmes Blut sickerte aus der Wunde und schmolz sich tief in den weiß verwehten Schnee hinein. Und der Schnee begann zu schmelzen - und schmolz immer weiter. Bald sah ich Grün durch den Schnee schimmern; Gras wuchs aus der Erde, wo das Blut den Schnee geschmolzen hatte. Ich hob meine Augen und sah mich um. Ich war nicht mehr im Wald. Tegid und Bran waren gegangen und hatten mich allein auf einer Bergkuppe oberhalb eines Baches zurückgelassen; um den Bach stand ein Hain aus schlanken, silbernen Birken. Ich sah zu, wie der Schnee auf den Hängen schmolz und Hunderte von gelben Blumen erschienen. Die Wolken teilten sich und offenbarten einen leuchtend blauen Himmel und eine wärmende Sonne. Als ich mich wieder umdrehte, war Goewyn ver schwunden, aber dort, wo sie gelegen hatte, erhob sich ein flacher Hügel - kaum mehr als ein grasbewachse ner Haufen Erde. Auf diesem Erdhügel wuchs ein 431
Beet weißer Blüten: eine Schafgarbe war empor gesprossen, wo Goewyn lag. Mit Tränen in den Augen wandte ich mich ab und stolperte den Hang hinab zu dem Bach, wo ich niederkniete und mein Gesicht in dem klaren, kalten Wasser wusch. Während ich noch dabei war, hörte ich eine Stimme aus dem Birkenhain - eine Melodie, leicht wie Vogel gesang. Ich stand auf, watete durch den Bach und trat in den Hain. Leise ging ich durch die grüngefleckten Schatten zwischen den schlanken, weißen Birken hindurch, immer dem Klang des Liedes nach. Schließlich kam ich zu einer Lichtung und blieb stehen. In der Mitte der Lichtung, in einem See aus goldenem Sonnenlicht, stand eine Laube aus Birkenzweigen; der Gesang kam aus dieser Laube. Meine Sinne belebten sich. Ich trat vorsichtig aus der Deckung der Bäume hervor und auf die Lichtung hinaus. Als ich näher kam, verstummte der Gesang. Ich sah eine Bewegung im grünschattigen Inneren der Laube und blieb ebenfalls stehen. Eine grün und gelb gekleidete Frau kam heraus. Ihr Haar schimmerte weich golden im Sonnenlicht und fiel ihr ums Gesicht, und da sie ihren Kopf geneigt hielt, konnte ich nicht sehen, wer sie war. Sie trat anmutig aus der Laube und hielt ihre Hände zu einer Schale geformt empor, als wollte sie die Sonnenstrah len auffangen wie Wasser. Und dann wandte sie sich, 432
obwohl ich mich nicht gerührt oder auch nur geatmet hatte, zu mir und sagte: »Llew, da bist du ja. Ich habe auf dich gewartet. Wo bist du so lange geblieben?« Mit diesen Worten strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Ich starrte sie ungläubig an. Sie lachte über meine Verblüffung und sagte: »Nun, wo bleibt mein Willkommenskuß?« Oh, ihre Stimme war süße Musik in meinen Ohren. »Goewyn?« Sie streckte mir ihre Arme entgegen. »Ich warte auf dich, mein Geliebter.« »Goewyn, du bist tot. Ich habe dich sterben sehen.« »Tot?« Sie sprach das Wort so sanft, daß es klang wie ein Schmetterling, der sich auf ein Blütenblatt setzt. Immer noch lächelnd - ihre Lippen bildeten eine liebliche Kurve, die sich bis in die Falte ihrer sanften Wange zog - hob sie das Kinn in gespieltem Trotz. »Ich bin fertig mit dem Sterben«, sagte sie. »Wo bleibt nun mein Kuß?« Ich ließ mich willig in ihre Arme fallen und spürte ihre warmen Lippen auf meinem Mund und einen Geschmack wie Honig auf meiner Zunge. Ich preßte sie an mich, küßte sie auf Mund, Wangen und Hals und hielt sie fest, damit sie mir nicht durch die Finger glitt wie das helle Sonnenlicht. »Ich dachte, ich hätte dich verloren«, sagte ich zu ihr, während mir Freudentränen aus den Augen flossen. Tief atmete ich ihren warmen, lebendigen Duft ein, als könnte ich sie selbst einatmen und zu 433
einem Teil von mir machen. »Verlaß mich niemals, Goewyn.« Sie lachte leise. »Dich verlassen? Wie könnte ich dich je verlassen? Du bist jetzt ein Teil von mir, wie ich ein Teil von dir bin.« »Sag es mir noch einmal. Bitte, sag mir, daß du mich niemals verlassen wirst.« »Ich werde dich niemals verlassen, mein Gelieb ter«, flüsterte sie. »Ich werde dich immer lieben ... immer...« »Llew? Was machst du da?« Es war Tegids Stimme. Verärgert drehte ich mich zu ihm um. »Siehst du nicht, was ich tue? Du bist hier nicht erwünscht. Geh weg.« »Llew, komm zurück ans Feuer. Du hast geträumt.« »Was?« Tegids Gesicht verblaßte, als wäre eine Wolke über uns hinweggezogen und hätte die Sonne verhüllt. »Komm mit mir zurück ins Lager«, sagte er. »Du bist geschlafwandelt.« Kaum hatte er das gesagt, war die sonnenbeschie nene Lichtung verschwunden. Ich schaute mich um und sah, daß es Nacht und ich wieder im Wald war. Die grüne Laube war fort, und Goewyn war nirgends zu sehen. Zwei ganze Tage lang mochte ich danach mit nie mandem sprechen. Niedergeschlagen, entmutigt und verlegen ging ich all meinen Freunden aus dem Weg. 434
Wenn ein Befehl erforderlich war, kümmerten sich Cynan oder Bran darum und gaben die nötigen Anweisungen. Wir drangen tiefer in den Wald ein. Die Bäume wurden immer größer, und ihre mächtigen, verschlun genen Äste und ihre verflochtenen Zweige fingen das Licht ein und hüllten unseren Weg ins Halbdunkel und in noch größere Stille, wenn das überhaupt möglich war. Wären wir in Ledersäcke eingenäht worden, so hätte es darin nicht enger oder stickiger werden können, als es in Coed Nos geworden war. Eine bösartige Erschöpfung strahlte von den knor rigen Wurzeln und Stämmen um uns her aus; Trägheit sickerte wie ein Ausfluß aus dem weichen, modrigen Laub unter unseren Füßen. Lethargie hing an unseren Gliedmaßen wie die grauen Flechten, die alles be deckten, und saugte uns bei jedem Schritt die Kraft aus. Wir ritten in einer langen Reihe, die Köpfe gesenkt, die Schultern gebeugt. Diejenigen, die zu Fuß unter wegs waren, gingen voraus, damit niemand zurück blieb. Tegid fürchtete, wenn jemand zurückfiele, würden wir ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Cynan und Bran wechselten sich in der Führung ab und tauschten jedesmal, wenn wir rasteten und die Pferde tränkten, die Plätze. Sie taten ihr Bestes, um ein gleichmäßiges Tempo vorzulegen und die Leute trotz ihrer Schlaffheit in Bewegung zu halten. Doch selbst so schienen wir weniger zu marschie 435
ren als vielmehr einen Pfad zu beobachten, der sich langsam unter uns dahindrehte. Wir bewegten uns, kamen aber nicht vorwärts; wir rückten vor, kamen aber niemals an. Wir taumelten stetig einem sich ständig vor uns zurückziehenden Zielort entgegen. Tag um Tag verging, und allmählich hörten wir auf, sie zu zählen. Wir schliefen wenig, redeten noch weniger und schleppten uns unerbittlich weiter. Die Lebensmittel wurden knapp. Wir hatten ge hofft, im Wald zu jagen - oder wenigstens auf Wild zu stoßen, das wir unterwegs erlegen konnten. Doch falls es überhaupt Wild in diesem Wald gab, so bekamen wir es nie zu Gesicht, und keine Tierfährte kreuzte unseren Weg. Das Dörrfleisch ging uns bald aus, und wir hielten uns mit altem Brot und Bier auf den Beinen, indem wir unsere Krusten in die Becher tauchten, um sie aufzuweichen. Als das Bier alle war, benutzten wir Wasser aus dem Fluß. Das Brot wurde schimmelig und ungenießbar, aber wir aßen es trotzdem. Etwas anderes hatten wir nicht. Und als wir schließlich auch kein Brot mehr hatten, kochten wir das wenige kostbare Getreide, das wir noch besaßen, zusammen mit Wurzeln und Rinden, die Tegid fand, zu einem dünnen Brei. Die Pferde fraßen die grauen Flechten, die wir mit Messern und Schwertern von den Baumstämmen ernteten und für sie zu Ballen bündelten. Es war ein armseliges Futter für so edle Tiere, aber zumindest war das Zeug reichlich verfüg bar, und sie fraßen es bereitwillig. 436
Uns wuchsen lange Bärte, und unsere Haut wurde bleich vor Mangel an Sonnenlicht. Doch wir badeten regelmäßig im Fluß - bis die Männer jedesmal, wenn sie in das langsam fließende Wasser stiegen, auf Blutegel stießen. Danach verzichteten wir ganz aufs Baden und begnügten uns mit Waschen. Cynan verlor allmählich die Geduld. Als die Tage vorbeizogen, drängte er uns, schneller zu gehen und beschwerte sich mit zunehmender Häufigkeit, daß wir uns nicht genug Mühe gäben, aus dem Wald herauszukommen. »Ruhig Blut, Bruder«, riet ihm Bran. »Wir gewin nen nichts damit, wenn wir uns zu sehr antreiben.« »Es dauert zu lange«, brummte Cynan. »Wir hätten schon längst durch diesen Wald hindurch sein müs sen.« »Verlier nicht den Mut«, sagte ich zu ihm. »Wir werden bald das Ende erreichen.« Cynan wandte sich gegen mich. »Meine Frau ist auch entführt worden! Oder hast du das vergessen? Ich sage dir, sie ist nicht weniger eine Königin als deine kostbare Goewyn!« »Ich weiß, Bruder!« sagte ich beschwichtigend. »Bitte, sei -« »Denkst du etwa, ich mache mir keine Sorgen um meine Frau?« fuhr er mich an. »Denkst du, nur weil ich nichts sage, daß ich nicht bei jedem Schritt in meinem Herzen ihren Namen spreche?« »Sicher tust du das, Cynan. Beruhige dich. Wir werden sie alle beide finden.« Ich legte meine Hand 437
auf seinen Arm. Er stieß sie weg, funkelte mich an und stürmte davon. Einige Zeit später - ob es zwei Tage waren oder zehn, konnte ich nicht mehr ermessen - traten wir aus dem Wald auf eine Lichtung, die von den hohen Felsklippen am Fluß begrenzt war. Und in der Mitte der Lichtung, am linken Ufer, stand eine Stadt, zerfallen und verlassen, eingegraben in die rote Steinböschung. Ich nenne es eine Stadt, obwohl sie sich beim näheren Hinsehen bald als ein einziges Gebäude erwies: Ein gewaltiger Palast mit Hunderten und Aberhunderten von Behausungen, Hallen, Mau ern, Säulen, Höfen und Tempeln, allesamt aufeinan dergehäuft in einem planlosen Durcheinander aus rotem Gestein. Wir stießen ganz plötzlich darauf und standen blin zelnd im Licht eines zur Neige gehenden Tages. Es war das erste Mal seit unzähligen Tagen, daß wir den Himmel zu Gesicht bekamen, und alles, was wir tun konnten, war, dazustehen und hinzustarren und mit unseren Händen die geblendeten Augen zu bedecken. Und dann, zitternd von dem plötzlichen Hereinbre chen der Sonne, des Himmels und der freien Luft, krochen wir vorsichtig vorwärts - als wäre der seltsa me rote Palast ein Traumbild, das verschwinden könnte, sobald wir unsere Blicke abwendeten. Doch der Bau war aus festem Stein, von den zahl losen Spitztürmen auf seinen hochgiebeligen Dächern bis hin zu den von vielen Kammern ausgehöhlten 438
Fundamenten. Die meisten Säulen waren zerbrochen und die Dächer eingestürzt; die runden Fenster starrten leer und dunkel wie Augenhöhlen. Der weitaus größere Teil des Palastes jedoch war noch intakt. An den Giebeln befanden sich gehauene Figuren von Vögeln und anderen Tieren, doch wir sahen keinerlei Darstellungen menschlicher Gestalten. Das Gebäude war direkt am Fluß errichtet worden. Es führte sogar ein einzelner runder Eingang wie der des Turms an der Brücke, jedoch weit größer, auf eine Terrasse mit einer breiten Treppenflucht hinaus, die direkt bis zu dem schwarzen Wasser hinabführte. Die aus dem Stein gehauenen Mauern hatten fließende, geschwungene Formen, die ohne Ecken und gerade Linien ineinander verliefen wie Gliedmaßen. Dies verlieh dem Gebäude ein beunruhigend orga nisches Aussehen, das Cynan sofort erkannte: »Seht euch das an - es liegt da wie eine Riesenechse, die sich am Flußufer sonnt.« »Wahrhaftig«, stimmte Alun Tringad zu. »Es ist eine schlafende Echse. Laßt sie liegen.« Nichts regte sich; kein Laut war in dem Geröll zu hören. Der rote Palast war so leblos und verlassen wie der Turm, den wir zuvor gesehen hatten, und ebenso alt. Und doch - welche Macht auch immer dieses Gebäude enthielt, sie hatte es noch nicht völlig verlassen. Denn der Palast übte eindeutig immer noch einen beherrschenden Einfluß auf den Wald aus, sonst wäre das rote Gestein schon vor langer Zeit überwu 439
chert worden. Irgend etwas war hier noch gegenwär tig, das die Vegetation daran hinderte, hier einzudrin gen und die Lichtung und das verlassene Gebäude mit Wurzel und Ast zurückzuerobern. Am anderen Ende der Terrasse führten die zerfalle nen Überreste einer breiten, steingepflasterten Straße in einem Winkel von der Stadt weg. Tegid betrachtete den roten Palast lange und riet uns dann weiterzuzie hen, indem er sagte: »Dieser Ort ist voll von Bösem. Hier werden wir nichts als Unheil finden.« Ach! Wir hätten auf seinen weisen Rat hören sol len.
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Yr Gyrem Rua In der kurzen Zeit, während wir die Ruine betrach tet hatten, hatte das Tageslicht zu schwinden begon nen; bald würde der Abend dämmern, und die Nacht würde rasch folgen. Wir mußten einen Platz für unser Lager finden, und ich war entschlossen, nicht noch eine Nacht im Wald zu verbringen. So beschlossen wir, an dem Palast vorbei zu der Straße zu gehen und zu sehen, wohin sie führte. In zwei dicht geschlossenen Reihen gingen wir auf die Terrasse hinaus. Es war merkwürdig, festen Stein unter den Füßen zu spüren, und noch merkwürdiger, nach der erstickenden Stille des Waldes den hohlen Klang der Hufschläge zu hören. Wir krochen langsam über die breite Terrasse, und jeder Schritt hallte in unseren Ohren und wurde von hundert verwinkelten Wänden zurückgeworfen. Bran, der dem Zug vorausging, erreichte die Mitte der Terrasse auf halbem Weg zwischen den Stufen zum Fluß hinab und dem klaffenden Eingang zum Palast. Ich sah, wie er zu diesem Tor hinüberblickte, sich umdrehte und stehenblieb. Er hob seine Hand, um die Nachfolgenden zum Halten zu bringen. »Ich 441
habe da drinnen etwas sich bewegen sehen«, erklärte er, als Cynan und ich zu ihm aufschlossen. Ich blickte zu dem Eingang hinüber - kreisrund, fünfmal mannshoch und finster wie eine Grube; ich konnte mir nicht vorstellen, wie er darin etwas gesehen haben konnte. »Laßt uns weitergehen«, sagte ich und blickte im mer noch zu dem gähnenden Durchgang hin, als wir den Schrei hörten: flehend, erbärmlich, das Jammern eines verirrten und verängstigten Kindes. »Mo anam«, murmelte Cynan, »da drinnen ist ein Baby.« Wir starrten einander einen Augenblick lang an und fragten uns, was wir tun sollten. »Wir können nicht einfach weitergehen und das arme Ding hierlassen«, sagte Cynan. »Das wäre nicht recht.« Sosehr es mir widerstrebte, ihm zuzustimmen, er klärte ich mich doch mit einer kurzen Suche einver standen. »Es muß aber schnell gehen«, warnte Tegid. »Es wird bald dunkel. Wir dürfen hier nicht verwei len.« Nachdem wir Scatha und die anderen beauftragt hatten, die Pferde zu bewachen, machten Bran, Emyr, Garanaw, Tegid, Cynan und ich Fackeln bereit und schlichen auf den roten Palast zu, ohne den dunklen Eingang aus den Augen zu lassen. Wir sahen nichts, und auch der Schrei war nicht wieder zu hören. An der Schwelle hielten wir, um die Fackeln zu entzünden, und betraten eine riesige, leere Halle. 442
Überraschenderweise war der Raum innen um ein Vielfaches größer, als er von außen erschien. Den Grund dafür entdeckte Tegid sofort. »Es ist alles ein Raum«, meinte er. »Es ist nur eine einzige Kammer.« Aberhunderte von Fenstern, die von außen in ver schiedene Räume zu führen schienen, warfen ihr Licht in diese einzige, riesige Halle. Selbst so war die Beleuchtung äußerst spärlich; sie reichte gerade aus, um zu sehen, daß wir auf einem Sims standen, von dem aus breite, flache Stufen hinab zu einem Boden irgendwo unter uns führten. Weder der Boden noch die Decke über uns waren von unserem Standpunkt aus zu sehen, und das Licht unserer Fackeln konnte der Finsternis dieses Ortes kaum etwas anhaben. Die Luft im Innern der Halle war klamm und kalt kälter als draußen. Wir standen da und lauschten, und unser Atem hing in Wolken um uns. Da wir nichts hörten, stiegen wir langsam, Schulter an Schulter, die Stufen hinab, die Fackeln hoch erhoben. Jeder Schritt löste ein Echo aus, das wie eine Fledermaus in die Dunkelheit davonflatterte. »Ein trostloses Haus ist das«, murmelte Bran, und seine Stimme hallte durch die riesige Leere. »Selbst mit einem Feuer wäre diese Feuerstelle kalt«, fügte Emyr hinzu. »Trotzdem wäre mir ein Feuer jetzt recht«, sagte Garanaw. »Die Finsternis hier ist wirklich finster.« Nach sechs Stufen erreichten wir einen breiten Absatz, dann kamen weitere sechs Stufen zu einem 443
weiteren Absatz und schließlich noch einmal sechs Stufen bis zum Boden, der mit sechseckigen, schwar zen Kacheln belegt war. Die Kacheln glänzten vor Feuchtigkeit und fühlten sich glitschig unter unseren Füßen an, als wir langsam auf die Mitte der Halle zugingen, wo die Feuerstelle sein mußte. »Deine Hoffnung auf ein Willkommensfeuer ist wohl vergeblich, Garanaw«, bemerkte Tegid. »Hier gibt es keine Feuerstelle.« Kein Herdstein, kein Feuerring, nicht einmal ein Kohlenbecken, wie wir es im Turm gesehen hatten. Soweit wir feststellen konnten, gab es in dem Raum überhaupt keine Möbel irgendwelcher Art. Statt dessen fanden wir dort, wo die Feuerstelle hätte sein müssen, ein Mosaik aus kleinen roten, weißen und schwarzen Steinchen, das dasselbe Emblem einer geflügelten Schlange darstellte, wie wir es schon im Turm gesehen hatten. Hier jedoch war die Schlange weniger stilisiert und etwas lebensechter: geschwun gene rote Windungen schimmerten im Fackelschein, rote Augen starrten uns an, und die reptilienhaften Flügel waren hinter dem flachen Kopf ausgebreitet. Und unter dem Mosaik war in roten Kacheln ein Wort geschrieben, das ich als den Namen der Kreatur auffaßte. Ich betrachtete das Bild auf dem Fußboden, und meine silberne Hand schickte ein warnendes Prickeln in meinen Arm hinauf. Inzwischen hatten sich meine Augen besser an die 444
Dunkelheit gewöhnt, und ich sah, daß der große Raum die Form eines Ovals hatte. Die vielen Giebel des Daches ruhten auf Reihen sich verjüngender Säulen, deren Spitzen sich in der Schwärze über uns verloren. Direkt gegenüber der Eingangsöffnung über die weite Fläche des Fußbodens hinweg führte ein zweiter runder Durchgang, fast so groß wie der erste - in den glatten Felsen der Flußböschung hinein. Wachsam gingen wir durch den Raum auf diesen zweiten Durchgang zu, der sich als die Öffnung einer Höhle erwies - außen aufwendig verziert mit fein behauenem Stein, doch innen nichts als ein grober Felstunnel. Mir kam der Gedanke, daß der ganze Palast nur eine Fassade war, um diesen einen Höhlen eingang zu verbergen, oder besser gesagt in ein Heiligtum einzufassen. »Nun«, sagte Cynan, der den Tunnel argwöhnisch beäugte, »bis hierher sind wir gekommen. Sollen wir umkehren, ohne zu sehen, was dahinter liegt?« Tegid ergriff das Wort. »Fragst du noch, was dahin ter liegt?« »Erleuchte uns, Barde«, sagte Cynan. »Ich kann es nicht erraten.« »Nein? Na schön, dann werde ich es dir sagen. Es ist die Kreatur, deren Bild wir immer wieder gesehen haben, seit wir in das Land der Fäulnis gekommen sind.« »Das Tier, das dort hinten im Boden abgebildet ist?« fragte Cynan und machte eine Handbewegung in 445
die leere Halle hinter uns. »Genau das«, sagte Tegid. »Ich denke, daß dieses Loch zu dem Lager dieses Tieres führt. Yr Gyrem Rua ist sein Name.« »Die Rote Schlange?« murmelte Cynan. Die Krie ger blickten sich wachsam um. »Kennst du etwa dieses Tier?« »Wenn ich mich nicht sehr irre«, erwiderte der Barde, »ist die Kreatur da drinnen dieselbe, die die Gelehrten die Rote Schlange von Oeth nennen.« Er zögerte. »Manche nennen sie auch Wyrm.« »Wyrm...«, murmelte Bran und schaute sich über die Schulter um. Betäubende Furcht brach wie eine Welle über mich herein; jetzt begriff ich, warum der Palast nur aus einem einzigen Raum bestand und warum die Bron zemänner aus dem hohen Turm das Bildnis der Schlange verehrt hatten: Sie war ihr Gott; sie brachten ihr Opfer dar. Und dies war Yr Gyrem Ruas Tempel und Heiligtum. »Laßt uns von hier verschwinden, solange wir noch können«, drängte Bran. Damit kehrten wir dem Eingang den Rücken und setzten uns in Bewegung, doch wir waren erst drei Schritte weit gekommen, als der Schrei wieder ertönte - das dünne, zitternde Wimmern eines verlassenen und verzweifelten Kleinkindes. »Das Kind hat sich dort hinein verirrt«, keuchte Cynan und eilte zurück zum Höhleneingang. Er 446
spähte hinein, legte die Hände an den Mund und rief nach dem Kind, wartete, und als er keine Antwort erhielt, trat er in den Tunnel. Ich erwischte ihn am Umhang und zog ihn zurück. »Du kannst da nicht allein hineingehen.« »Dann komm mit mir, Bruder.« Ich wandte mich zu den anderen. »Ihr bleibt hier«, sagte ich. »Wir werfen einen raschen Blick hinein.« An allen Gliedmaßen zitternd, gingen Cynan und ich in den Tunnel hinein. Das Licht unserer Fackeln flackerte auf dem feuchten, roten Gestein. Wir rückten behutsam vor, stießen jedoch auf nicht viel mehr als einen starken Geruch: muffig und ein wenig süß, aber mit einer kräftigen Wildnote, wie von ranzigem Öl oder Fett. Fünfzig Schritte weiter sah ich eine glänzende Masse auf dem Boden des Ganges liegen. Meine Metallhand wurde plötzlich kalt, und ich blieb wie angewurzelt stehen. »Was ist das?« flüsterte Cynan und deutete mit seiner Fackel hin. Ich trat näher heran und hielt meine Fackel über den Haufen. Mein Magen krampfte sich zusammen, und mein Mund füllte sich mit Galle. Ich würgte und rang nach Luft. In einem Teich von Erbrochenem auf dem Boden vor uns lag der unverdaute Kopf eines unserer vermißten Kundschafter. Die Haut war verwest und das Gesicht gräßlich entstellt; dennoch erkannte ich den Mann. 447
Mann. Cynan wollte sich an mir vorbeischieben, doch ich schwang zu ihm herum und legte meine Hand mitten auf seine Brust. »Bruder, nein ... es ist Gweir.« Er drängte sich nach vorn. Zorn, Trauer und Un gläubigkeit kämpften miteinander in seinem Gesicht. Er blickte über meine Schulter hinweg. »Saeth du!« fluchte er und wandte sich ab. Da für Gweir nichts mehr zu tun war, gingen wir weiter. Der Geruch wurde mit jedem Schritt stärker. Nach kurzer Zeit machte der Gang eine Biegung und wurde etwas breiter, so daß er eine niedrige Grotte bildete. Der Gestank traf mich mit voller Wucht, als ich in diese innere Kammer trat; ich taumelte auf den Fersen zurück, aber ich würgte die Galle herunter und zwang mich weiterzugehen. Cynan folgte mir rasch. In der Mitte der Grotte befand sich ein Loch im Felsboden. Die scharfen Kanten des Loches waren geradezu auf Hochglanz poliert. Es war nicht schwer zu erraten, wie der rohe Stein zu seinem glasigen Schimmer gekommen war. Verstreut auf dem Boden dieser grauenhaften Kammer lagen verschiedene Gliedmaßen unserer vermißten Krieger und ihrer Pferde: ein Fuß, der noch in seinem Stiefel steckte, ein zermalmter Pferdekopf und mehrere Hufe, Kieferknochen, Zähne von Men schen und Pferden, der abgenagte Brustkorb eines Pferdes samt Wirbelsäule. Es gab auch noch andere, ältere Gebeine, Schädel und gebrochene Schenkel 448
knochen, sauber abgenagt und braun vor Alter Menschenopfer aus einer fernen Vergangenheit. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und wandte mich ab. Wieder ertönte das unheimliche Kindsgejammer. Es stieg aus der Tiefe auf, und ich erkannte, daß es kein Kind, sondern der Wyrm selbst war, der den Schrei ausstieß. Ich packte meine Fackel fester und trat auf das Loch zu. Eine eisige Klinge stach hinauf in meinen Arm. Cynan packte mich an der Schulter. »Bleib zu rück«, bellte er mir in einem heiseren Flüstern zu, und riß mich grob zurück. »Wir können hier nichts ausrichten.« Wir kehrten auf demselben Weg in die große Halle zurück. Tegid sah unsere grimmigen Gesichter und fragte: »Nun? Habt ihr das Kind gefunden?« Cynan schüttelte den Kopf. »Das war kein Kind«, antwortete er mit einer kehligen, tief knurrenden Stimme. »Aber wir haben die Schlange gefunden ... und auch unsere vermißten Kundschafter.« Tegid schluckte schwer und neigte seinen Kopf, als wir schilderten, was wir gesehen hatten. »Die böse Macht, die für unzählige Zeitalter schlief, ist er wacht«, sagte der Barde, als wir geendet hatten. »Wir müssen diesen Ort sofort verlassen.« Inzwischen hatte der Himmel draußen alle Farbe und alles Licht verloren. Bran trieb die Männer an, ohne einen Augenblick zu verlieren. Wir eilten auf die Straße jenseits des Palastes zu. Die ersten Krieger 449
erreichten das andere Ende der Terrasse und hielten, um den Rest aufschließen zu lassen, bevor es weiter ging. In diesem Augenblick schlug der Wyrm zu. Der Angriff kam so schnell und lautlos, daß das erste, was wir davon bemerkten, der abrupt erstickte Aufschrei des Mannes war, den der Wyrm packte und davontrug. Als ich den Todesschrei des Mannes hörte, wirbelte ich gerade rechtzeitig herum, um eine gewundene Gestalt im dämmerigen Schatten ver schwinden zu sehen. Einen Herzschlag später rannten wir alle zurück über die Terrasse zu der Stelle, wo die anderen stehengeblieben waren. »Habt ihr gesehen?« schrien sie. »Der Wyrm! Er hat Selyf erwischt!« Ich schrie über das Getöse hinweg. »Hat jemand gesehen, wohin er gekrochen ist?« Der Wyrm hatte angegriffen und war wieder in den Schatten verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlas sen. »Wir können nicht dort entlang gehen«, schloß Bran und starrte in die Richtung der Straße. »Wir werden einen Umweg machen müssen.« Ich blickte mich zweifelnd um. Auf der einen Seite lag der Fluß, selbst so still und tödlich wie eine Schlange, auf der anderen Seite der rote Palast und sein heimtückischer Bewohner. Dahinter erhob sich der Wald wie ein schwerer, undurchdringlicher Vorhang. Widerwillig wandte ich mich dem Wald zu und sagte: »Hier entlang; wir werden versuchen, einen anderen Weg zu finden.« 450
»Was ist mit Selyf?« fragte Cynan. »Wir können ihn nicht einfach zurücklassen.« »Mit ihm ist es aus«, sagte Bran. »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Cynan wollte sich nicht von der Stelle rühren. »Er war ein guter Mann.« »Und wird es Selyf helfen, wenn wir ihm in den Abgrund folgen?« fragte Bran. »Wie viele gute Männer müssen wir noch an den Wyrm verlieren?« Meine Sympathie lag auf Cynans Seite, aber Bran hatte recht - Flucht war das Vernünftigste. »Hör auf ihn, Bruder«, sagte ich. »Was nützt es Tángwen, wenn du nicht mehr da bist, um sie zu befreien? Die Schlange kann jeden Moment zurückkehren. Laß uns von hier verschwinden, solange wir die Chance haben.« Wir verließen die Terrasse und traten wieder in den Wald, wo wir nur kurz hielten, um die Fackeln anzuzünden, bevor wir weitergingen. Unter Brans Führung, mit Cynan und mir dahinter, kehrten wir dem Fluß den Rücken. Wir arbeiteten uns durch das Unterholz, um einen Weg um den Palast herum zu finden. Doch je weiter wir uns vom Fluß entfernten, desto verfilzter und dichter wurde der Wald. Wir schlugen und hackten uns mit unseren Schwertern durch und bahnten uns Schritt für Schritt unseren Weg, bis wir eine Felswand erreichten, die senkrecht vom Waldboden aufstieg. »Das ist immer noch dieselbe Felsböschung, aus 451
der der Palast gehauen ist«, sagte Bran, während er mit seiner Klinge das Moos abkratzte und das rote Gestein darunter zum Vorschein brachte. Wir hoben unsere Fackeln und versuchten, die Hö he des Walles zu schätzen, aber sein oberer Rand verlor sich in der Dunkelheit, so daß wir ihn nicht sehen konnten. »Selbst wenn wir hinaufsteigen könnten«, meinte Cynan, »die Pferde können es nicht.« Mit der Felswand zur Rechten setzten wir unseren Weg fort, weg, immer weiter weg vom Palast. Wenn eine Fackel ausbrannte, ergriffen wir einen neuen Scheit aus dem Gewirr der Äste um uns her. Hin und wieder hielten wir, um den Wall abzusuchen, doch da wir weder eine Bresche noch einen gangbaren Weg fanden, gingen wir weiter. Schließlich erschien der spät aufgehende Mond und warf ein trübes Licht auf uns. Hin und wieder sah ich sein bleiches Gesicht durch das Flechtwerk der Äste flackern. »Ich sehe eine Lichtung vor uns«, rief Bran, der uns ein paar Schritte voraus war. »Endlich!« Es schien, als wären wir schon die halbe Nacht unterwegs, ohne einen Weg über die Felsbö schung hinweg gefunden zu haben. Ich gebot den anderen Männern stehenzubleiben, während Bran und ich vorausgingen, um die Lichtung zu untersuchen. Schulter an Schulter schlichen wir langsam vorwärts, dicht an der Felsböschung entlang. Wir traten auf die Lichtung hinaus und sahen den roten Palast direkt vor 452
uns, und rechts von uns in geringer Entfernung den dunkel schimmernden Fluß. »Wir sind im Kreis gegangen«, sagte ich. Tatsäch lich standen wir nur ein paar Schritte von unserem Ausgangspunkt entfernt. »Wie ist das möglich?« fragte Bran. »Wir haben uns wohl durch die Dunkelheit verwir ren lassen. Wir werden in die andere Richtung ge hen.« Wir machten kehrt, berichteten den anderen von dem Fehler und setzten uns wieder in Bewegung. Wieder hielten wir uns hart an der Felsböschung, um nicht nochmals in die Irre zu gehen. Der Mond erreichte den Zenit seiner Bahn und begann seinen Abstieg. Wir drängten unerbittlich vorwärts und erreichten nach einem langen Marsch eine weitere Lichtung. Bran und ich traten zusammen aus dem schützenden Waldrand ins Freie: Der Palast stand direkt vor uns, und rechts lag der dunkle Fluß. Ich warf einen Blick darauf und rief nach Tegid. »Sieh dir das an, Barde«, sagte ich und gestikulierte zu dem Palast hin. »In welche Richtung auch immer wir gehen, am Ende kommen wir wieder hier an. Was sollen wir machen?« Tegid warf einen Blick zum Nachthimmel empor und sagte: »Die Morgendämmerung ist nicht mehr fern. Laß uns jetzt rasten und es noch einmal versu chen, wenn es hell ist.« Wir sammelten uns am Rande der Lichtung nahe 453
dem Fluß und machten uns daran, ein notdürftiges Lager aufzuschlagen. Wir machten Feuer, stellten eine Wache auf und ließen uns nieder, um auf den Sonnen aufgang zu warten. Cynan hüllte sich in seinen Umhang und legte sich hin. Ich hatte mir gerade ein Sattelfell auf dem Boden ausgebreitet und mich im Schneidersitz darauf gesetzt, als Tegid aufsprang. Er erstarrte. Lauschte. Ein schwacher, plätschernder Laut erreichte mich. Es klang wie ein Boot, das gegen die Strömung fuhr. »Es kommt vom Wasser her«, flüsterte ich. »Aber was -« »Pst!« zischte Tegid. »Horch!« Schwach, wie aus weiter Ferne, hörte ich das ner vöse Wiehern eines Pferdes, rasch gefolgt von einem zweiten. Cynan kam mit einer rollenden Bewegung auf die Beine und rief: »Die Pferde!« Wir rannten durch das Lager auf die Pferdepflöcke zu. Ich spürte einen scharfen, eisigen Schmerz in meiner silbernen Hand, und im gleichen Moment sah ich vor dem schimmernden Wasser die Umrisse einer monströsen Schlange, die ihren Vorderleib weit über den Boden erhob und ihren großen, dreieckigen Kopf langsam hin- und herschwenkte. Der gewaltige. Leib glänzte im schwachen Mondschein; der Kopf, mit gehörnten Platten versehen, schwang über drei riesigen Windungen, jede davon so dick wie ein Pferd, und zwischen der ersten und der zweiten Windung ragte das steife Ende eines gespaltenen 454
Schwanzes hervor. Zwei lange, dicke, rückwärts geneigte Rückenkämme setzten direkt hinter dem grausigen, schwingenden Haupt an und liefen an beiden Seiten des Körpers entlang. Eine nasse Kriechspur führte vom Fluß herauf. Offensichtlich hatte die Kreatur mehr als einen Eingang zu ihrer Höhle. Sie war in der Nähe der Pferde vom Fluß heraufgekommen, zweifellos in der Absicht, ihren fürchterlichen Appetit mit Pferde fleisch zu stillen. Die verängstigten Pferde bockten und bäumten sich auf und rissen an ihren Pflockleinen und Haltestricken. Einige hatten sich losgerissen, und ein paar Männer versuchten sie einzufangen. Der Wyrm schien ausgesprochen fasziniert von dem Aufruhr zu sein; sein gehörnter Kopf schwang in der Luft umher, und die Augen schimmerten im Widerschein des Feuers. Ich sah die springenden Pferde und die Lagerfeuer... »Hilf mir, Cynan!« rief ich. Ich sprang vor, spießte einen der Flechtenballen, mit denen wir die Pferde fütterten, auf meinen Speer und rannte damit zum nächsten Feuer. Ich stieß den Ballen in die Flammen und hob den Speer. Dann rannte ich mit dem Mut der Furcht und Wut zu der Schlange und schleuderte ihr den brennenden Speer ins Gesicht. Das Geschoß traf die Knochenplatte unterhalb des Monsterauges. Der Wyrm zuckte vor dem Feuer zurück. Ich wirbelte herum und schrie den Umstehenden 455
zu: »Zündet die Ballen an!« rief ich. »Schnell! Wir können es vertreiben.« Cynan und zwei weitere Krieger rannten zu dem Futterstapel hin, spießten drei Ballen auf und setzten sie in Flammen. Dann stürmte Cynan dem Wyrm entgegen und stieß einen wilden Schlachtruf aus. »Bás Draig!« brüllte er. Die beiden Krieger an seiner Seite nahmen den Ruf auf. »Bás Draig!« Als ich kehrtmachte, um einen neuen Speer und Ballen zu holen, sah ich Scatha auf mich zurennen. »Alarmiere die Kriegsschar!« rief ich ihr zu. »Helft Cynan, die Schlange von den Pferden wegzutreiben.« Dann wandte ich mich an Tegid und befahl: »Bleib hier und zünde die Ballen an, wie wir sie brauchen.« Bran und Alun, die mir zugesehen hatten, erschie nen mit brennenden Ballen. Ich bewaffnete mich rasch erneut und folgte ihnen; gemeinsam griffen wir den Wyrm an. Scatha und die Kriegsschar waren auf der nächstliegenden Seite in Stellung gegangen, auf halbem Weg zwischen der Schlange und dem Fluß gefährlich nahe an der Kreatur, wie mir schien. Sie waren bereits kräftig dabei, zu versuchen, die Auf merksamkeit des Tieres auf sich zu lenken und es vom Lager fortzulocken. Ich steuerte auf die gegenüberliegende Stelle zu, da ich dachte, wir drei könnten von dort aus gut die blinde Seite angreifen, wenn die Schlange sich der Kriegsschar zuwandte. Als sie uns kommen sahen, erhoben die Raben, die mit brennenden Waffen auf 456
uns zustürmten, einen schrillen Schlachtruf, um die Schlange abzulenken. Scatha und ihre Gruppe erkann ten die Chance und preschten vor, die Waffen gesenkt und die Schilde hoch erhoben. Sie griffen die gewalti gen Windungen an und trieben ihre Klingen in die weichere Haut am Bauch zwischen den Schuppen. Der mächtige Schlangenkopf fuhr zu ihnen herum. »Jetzt!« rief ich und stürmte vor. Meine silberne Hand brannte vor eisiger Kälte. Scatha war mit ihrer Gruppe furchtlos an der Ar beit; sie stießen ihre Speere in die Seite des Wyrm. Das verärgerte Tier senkte seinen Kopf und stieß ein drohendes Zischen aus. Als sich das gräßliche Maul öffnete, schleuderte ich den Schaft mit aller Macht. Doch das unausgewogene Geschoß fiel kurz und traf die Unterseite des Mauls mit gewaltigem Funken sprühen, aber ohne der Kreatur irgendwelchen Scha den zuzufügen. Während mein erstes Geschoß harm los herabfiel, rannte ich bereits, um mir ein neues zu holen. Alun hatte mit seinem Wurf nicht mehr Glück. Doch Bran, der gesehen hatte, wie es uns ergangen war, schaffte es, die Kopflastigkeit des Speers mit einem wohlberechneten, großartigen Wurf abzuglei chen. Die Schlange, die durch unsere ersten unge schickten Versuche auf uns aufmerksam geworden war, schwang ihren Kopf in Brans Richtung und zischte böse. Sobald sich das große, breite Maul öffnete, flog 457
Brans Speer hinauf und hinein. Die Raben bejubelten ihren Anführer. Doch die Schlange schüttelte nur kurz den Kopf und schleuderte den Stachel und den Feuerballen von sich. Ich dachte, Bran würde, wie Cynan und ich es getan hatten, zurück zu Tegid laufen, um sich einen neuen Feuerballen zu holen. Statt dessen sprang er einfach vor und hob den Schaft auf, den ich geworfen hatte. Er spießte den brennenden Ballen auf und setzte zu einem neuen Wurf an. Vielleicht hatte das Tier Brans Verhalten vorausge ahnt. Wahrscheinlicher ist, daß Yr Gyrem Rua, erbost über unseren Angriff, blind nach der nächsten sich bewegenden Gestalt ausschlug. Ich blickte gerade rechtzeitig hin, um zu sehen, wie der riesige, gepan zerte Kopf sich mit atemberaubender Geschwindigkeit herabschwang, gerade als Bran zu seinem Wurf ausholte. Der Schlag der Schlange traf den Anführer der Raben an der Schulter. Er fiel und rollte sich ab, wobei er irgendwie seine Waffe festhalten konnte. Er kam auf die Knie, als der Wyrm erneut zuschlug, hob den Speer mit beiden Händen empor, als der Kopf herabfuhr, und fing den Schlag mit dem Schaft auf. Der Speer mit seiner flammenden Spitze fiel in eine Richtung, und Bran wurde in die andere geschleudert. Die Schlange zog ihren Kopf zurück und spannte sich zu einem neuen Schlag. Wie ein Mann preschten die Raben vor, um ihren 458
Anführer zu retten. Alun erreichte ihn als erster, hob die gefallene Waffe auf und schleuderte sie ins Gesicht der Schlange, während die anderen Bran in Sicherheit schleppten. »Alun! Verschwinde da, Mann!« schrie Cynan. Alun hechtete zur Seite, schlug auf dem Boden auf, rollte sich ab und kam rennend auf die Beine. Doch anstatt sich mit den anderen zum Lagerfeuer zurück zuziehen, bückte er sich, um den Speer aufzuheben, den Bran geschleudert hatte. Ich sah, wie er es tat, und schrie: »Nein! Alun!«
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Der Awen der Schlacht Der Wyrm schlug zu. Alun wirbelte herum und schleuderte gleichzeitig den brennenden Ballen. Der Wurf streifte den Kiefer der Schlange und prallte ab, als der Kopf niedersank, Alun von den Beinen riß und rücklings zu Boden schleuderte. Ich ergriff einen Speer, den Tegid bereitgemacht hatte, und rannte los, um Alun zu helfen. Garanaw und Niall hörten meinen Ruf, machten kehrt und eilten ebenfalls herbei. Scathas Krieger verdoppelten ihren Angriff. Sie kamen dicht heran und stachen furchtlos auf die Schlange ein. Durch schiere Ent schlossenheit gelang es Scatha, einen Speer in eine weiche Stelle zwischen zwei Schuppen an der Seite der Schlange zu zwingen. Mit einem mächtigen Stoß trieb sie die Klinge hinein. Ich sah den Schaft tief in das Fleisch des Tieres einsinken und hörte ihren triumphierenden Schrei: »Bás Draig!« Geifernd vor Wut zischte die rote Schlange, und der lange Hals versteifte sich; die beiden Hornkämme an den Seiten ihres Leibes wölbten sich heraus und verflachten sich dann zu einem immensen Nacken schutz, so daß zwei lange Schlitze an beiden Seiten 460
und zwei rudimentäre Beine mit Krallenfüßen sichtbar wurden. Die Beine entfalteten sich mit geöffneten Krallen, und plötzlich traten aus den Seitenschlitzen hinter den Beinen zwei große, durchscheinende Flügel hervor. Diese gewaltigen Fledermausflügel schüttelten sich und zitterten, entfalteten sich wie zerknittertes Leder und breiteten sich langsam zu einem riesigen Vorhang hinter dem Wyrm aus. Scatha stemmte sich noch einmal mit aller Macht gegen den eingesunkenen Speer. Die Schlange zischte wieder und fuhr mit dem Kopf herum, um zuzuschla gen, doch Scatha und ihre Gruppe von Kriegern zogen sich bereits in die Dunkelheit zurück. Inzwischen zogen Garanaw und Niall Alun fort. Und ich nutzte die kurze Unterbrechung, um mich für einen weiteren Wurf in Stellung zu bringen. Cynan kam zu mir gerannt, den flammenden Speer wie einen Kometen durch die Nacht ziehend. Als der tödliche Kopf zu uns herumfuhr, öffnete sich das Maul des Wyrm zu einem wütenden, heiseren, brodelnden Zischen. »Fertig?... Jetzt!« rief ich, und zwei Flammen schweife schossen hinauf in den Schlund des Mon sters. Cynans Speer schlug gegen den Gaumen der Schlange und prallte ab, ohne viel Schaden anzurich ten; meiner traf einen der langen Fangzähne und fiel zurück. Ich rannte zurück zum Lagerfeuer. »Gib mir noch einen Speer«, verlangte ich. »Schnell!« »Es funktioniert so nicht«, fing Tegid an. »Wir 461
müssen einen anderen Weg finden, um -« »Schnell!« schrie ich, riß ihm den brennenden Scheit aus der Hand und hielt ihn an das nächste Bündel. Dann ergriff ich einen Speer und steckte ihn in den Ballen. »Cynan! Mir nach!« Scatha hatte uns zurücklaufen sehen, um neue Bal len zu holen, und verstand, daß wir es noch einmal versuchen wollten. Als wir wieder zu unseren Stel lungen eilten, startete sie einen neuen Angriff gegen die Seite des Wyrm. Diesmal gelang es sowohl ihr als auch einem der Krieger bei ihr, Speere zwischen die dicken Schuppen zu treiben. Zwei weitere Krieger brachen ihren Angriff ab und sprangen zu Scatha, um ihr mit vereinten Kräften zu helfen, den Schaft tief in das Fleisch der Schlange zu treiben. Scathas Erfolg ermutigte die Raben, die herbeieil ten, um das gleiche auf der anderen Seite zu tun. Drustwn und Garanaw preschten nahe heran und stießen ihre Waffen in einen Spalt zwischen den Schuppen. Auch ihnen gelang es, das Tier zu verwun den. Yr Gyrem Rua schrie und wedelte mit den riesigen Flügeln; sein gespaltener Schwanz schlug um sich wie eine Peitsche. Cynan und ich gingen in Stellung. Ich setzte das Ende meines Speers auf die Handfläche meiner Metallhand und streckte meine andere Hand am Schaft entlang, so weit ich reichen konnte. Als der Kopf des Wyrm wieder zu mir herumfuhr, kauerte ich 462
mich mit wild klopfendem Herzen tief hinunter. Die Flammen loderten; Funken fielen mir ins emporge wandte Gesicht und versengten mir die Haare. »Komm schon, du aufgeblähte Schlange«, knurrte ich, »mach dein häßliches Maul auf!« Der riesige Nacken krümmte sich. Das grauenhafte Gesicht spannte sich hoch über mir. Ich sah den Widerschein des Feuers in einem harten, schwarz schimmernden Auge. Mit dem Ruf »Stirb, Drache!« nahm Cynan seinen Platz etwas links hinter mir ein. Die Schlange schrie, und das Geräusch war ohrenbetäubend; ihre schreck lichen Flügel bogen sich und zitterten, und die Kral lenfüße zerrissen die Luft. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich preßte die Zähne aufeinander, um mir nicht auf die Zunge zu beißen. »Schlag zu!« lockte ich. »Schlag zu, Wyrm!« Das riesige Maul öffnete sich - ein gewaltiger wei ßer Abgrund, umrandet von einer dreifachen Reihe aus unzähligen spitzen Zähnen. Zwei schlanke Fangzähne schoben sich aus ihren Taschen im Ober kiefer. Das blauschwarze Band einer Zunge krümmte und rollte sich unter einem entsetzlichen Kreischen. Und dann fuhr der grauenhafte Schädel herab. Ich sah, wie die Fangzähne nach mir schlugen. Mein Körper spannte sich. »Jetzt!« schrie Cynan. Sein Speer blitzte über mei ne Schulter hinweg hinauf und in das herabsinkende Maul hinein. »Llew!« 463
Ich zögerte noch einen kurzen Herzschlag länger und schleuderte dann mein flammendes Geschoß mit jedem Quentchen Kraft, das ich besaß. Meine Metall hand schoß hinauf und katapultierte das Geschoß in einen hohen, engen Bogen. Cynans Speer drang in das aufgedunsene, weiße Fleisch und blieb stecken. Mein Speer schoß zwischen den beiden Fangzähnen hindurch, über die Zähne hinweg und in den Rachen. Die rote Schlange fuhr zurück. Ihr Oberkiefer sank auf den Schaft von Cynans Speer hinab, trieb die Speerspitze noch tiefer in das weiche Fleisch hinein und hinderte die Kreatur so daran, das Maul zu schließen, um zu schlucken, was ihr ermöglicht hätte, die Flammen zu löschen, die ihr jetzt den Rachen versengten. Der Wyrm begann sich wild hin und her zu werfen. Mit gewaltigen, langsamen Schlägen wirbelten die schrecklichen Flügel die Luft auf. Brennende Flechten regneten auf unsere Köpfe herab. Der Schwanz schlug um sich wie ein gespaltener Blitz und bedeckte den Boden mit tödlichen Schlägen. »Lauf!« schrie Cynan und zerrte mich davon. Wir flohen zum Feuer, wo die Raben nun ein ju belndes Triumphgeheul erhoben. Bran lag am Boden und blutete aus einer seitlichen Kopfwunde. Alun saß zusammengesunken neben ihm, aschfahl und mit einem verständnislosen, verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht. 464
Blut sickerte aus Brans Kopf, und Aluns Augenli der flatterten, während er mit aller Kraft versuchte, bei Bewußtsein zu bleiben. Wut packte mich, und ich wirbelte herum. Ich sah die geflügelte Schlange ihren Kopf zu Boden rammen, als wollte sie in die Erde beißen. Die Gewalt des Schlages ließ den Speer zersplittern, der ihr das Maul offenhielt. Die gewalti gen Kiefer schlossen sich, der Schlund würgte, und zum Vorschein kam mein Speer mit dem schwelenden Ballen daran. Langsam hob die Schlange ihren flachen Kopf und ihren Vorderleib, schlug mit den Flügeln einen furchterregenden Rhythmus, entrollte ihre Windungen und begann sich halb fliegend, halb gleitend davon zumachen. Unser Lagerfeuer flackerte vom Luftzug ihrer Flügel. »Er flieht!« schrie Drustwn und hob triumphierend seinen Speer. »Hie-e-ya!« stieß Emyr einen Jubelschrei aus. »Yr Gyrem Rua ist besiegt!« »Der Wyrm ist geschlagen!« rief Cynan. Er packte mich und drückte mich an seine Brust. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte, aber seine Stimme war wie das lästige Summen eines Insekts. Sein Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten; Schweiß schimmerte im Feuerschein auf seiner Haut. Der Glanz jeder Schweißperle wurde zu einer Nadel stechenden Lichtes, einem nackten Stern im gefrorenen Univer sum der Nacht. Der Boden unter meinen Füßen 465
erzitterte, und die Erde verlor alle Festigkeit. Und ich spürte, wie sich mein Geist in mir ausdehn te; ich wurde ergriffen und emporgehoben, als wäre ich nicht mehr als ein Blatt, das von einem Zweig fällt und auf einem plötzlichen Windstoß davonsegelt. Das Blut pochte in meinen Ohren; mein Gesichtsfeld verhärtete sich zu einem scharfen, schmalen Streifen: Ich sah nur noch die geflügelte Schlange - die im flackernden Licht unseres Feuers blutrot schimmern den Schuppen, die steif schlagenden grotesken Flügel, die jenen gewaltigen Leib in die Freiheit des Nacht himmels emporhoben. Ich sah die Rote Schlange von Oeth entkommen; alles andere um mich her trübte sich ein, wich zurück, verschwand. Eine Hand packte mich an der Schulter, und dann ergriffen zwei weitere mich an den Armen. Doch in mir brannte Ollathirs Awen der Schlacht, und ich war nicht aufzuhalten. Kraft wallte in mir auf zu einem mächtigen Strom. Wie eine Feder auf einer Flutwelle, die leicht auf der Strömung dahintreibt und von ihr getragen wird, wurde ich zu einem Teil der Kraft, die mich durchfloß. Die Stärke der Erde und des Himmels war mein. Ich war pure Kraft, pure Wucht. Meine Gliedmaßen zitterten vor aufgestauter Energie, die sich entladen wollte. Ich machte den Mund auf, und ein Geräusch wie das Bellen des Schlachtenhorns drang aus meiner Kehle. Und dann rannte ich: schnell wie der Luftstrom auf den windumfegten Höhen, unbeirrbar wie der abge 466
schossene Pfeil auf dem Weg zu seinem Ziel. Ich rannte, aber meine Füße berührten den Boden nicht. Ich rannte, und meine silberne Hand begann in einem kalten und tödlichen Licht zu leuchten, und die fein ziselierten Gravuren schimmerten wie weißes Gold im läuternden Feuer der Schnellen Sicheren Hand. Meine Faust glänzte wie ein Lichtstrahl, scharf und hell. Hinter mir war ein Durcheinander von Stimmen zu hören, schwach und wirr. Aber ich war nicht zu halten oder abzulenken. Kann der Speer zu der Hand zu rückkehren, die ihn geschleudert hat? Ich war ein Lichtstrahl. Ich war eine Welle auf dem Meer. Ich war ein Fluß unter einem Berg. Ich war heißes Blut, in den Kammern des Herzens. Ich war das Wort, das bereits gesprochen wurde. Der Awen des Penderwydd lag auf mir, und ich war nicht aufzuhalten. Der Leib der Schlange erhob sich vor mir wie eine geschwungene, scharlachrote Wand, und ich sah Scathas Speer, der bis zur halben Länge in der Seite der Kreatur vergraben war. Ich packte den Schaft mit meiner silbernen Hand und zog mich hinauf. Meine Finger aus Fleisch und Blut fanden einen Spalt zwischen den Schuppen, und mein Fuß fand den Speerschaft. Ein rascher Klimmzug, und ich hatte den Rücken der Schlange erreicht. Fest unter meinen Füßen, wenn auch flüssig wie eine geschmolzene Straße, die sich langsam über das Land schlängelt, floh die rote Bestie mit langsamen 467
Schlägen ihrer widerwärtigen Flügel. Mit der Schnel ligkeit eines Schattens und der Behendigkeit einer lautlosen Katze tänzelte ich über das geschwungene Rückgrat, über Schuppen hinweg, die so groß waren wie Pflastersteine. Ein eingekerbter Kamm am Rückgrat der Kreatur bot einen guten Halt für die Füße, als der Boden unter mir wegsackte. Die scheuß liche Bestie hatte sich in die Luft geschwungen, aber ich achtete nicht darauf. Mit dem unheimlichen Geschick der Inspiration eines Barden kletterte ich zu dem Kopf der widerwär tigen Kreatur, zwischen den schlagenden Flügeln hindurch. Trotz der Dunkelheit bemerkte ich mit scharfem Blick eine Hautfalte an der Schädelbasis der Schlange, und darüber eine leichte Vertiefung, wo die Wirbelsäule mit dem Schädel verbunden war; dünne Haut, straff über weiches Gewebe gespannt. Der Leib des Wyrm versteifte sich unter mir, als er höher aufstieg. Ich kletterte zu dem gewölbten Mus kelberg zwischen den beiden Flügeln, setzte mich dorthin, hob meine silberne Hand hoch und ließ sie herabsausen, so hart ich konnte. Das Metall durchbrach die Haut und fuhr unter die Knochenkante an der Schädelbasis der Schlange. Ich benutzte meine Metallhand wie eine Klinge und bohrte sie tief hinein. Das kalte Silber glitt wie durch eine Scheide aus Fleisch und grub sich tief in das kalte Gehirn der roten Schlange. Ein Kreischen wie der Schrei des Windes in einem 468
Sollensturm zerriß die Nacht. Die Flügelschläge stockten, als die riesigen, ledrigen Flügel im stottern den Rhythmus einer plötzlich unterbrochenen Kadenz zuckten. »Stirb!« schrie ich mit einer Stimme, die wie der laute Schlachtruf einer Carynx klang. »Stirb!« Ich rammte meine Faust tiefer hinein und krallte die metallenen Finger zusammen. Mein Arm sank bis über den Ellbogen ein, und meine Finger schlossen sich um ein dickes, sehniges Band. Ich ergriff diesen Strang und riß hart daran, und meine Faust kam mit einem Blutschwall heraus. Der linke Flügel erschlaffte und blieb reglos hängen. Der Wyrm sackte zur Seite ab und stürzte aus der Luft herab wie ein Stein. Ich klammerte mich an den knochigen Rand der Schup pen und hielt mich fest, während die Erde auf mich zuraste. Mit einem plötzlichen, markerschütternden Schlag trafen meine Füße auf dem Boden auf. Ich rollte mich ab und stand ungerührt auf. Der Wyrm wälzte sich in Krämpfen hin und her, verknotete sich mit sich selbst und bot seine bleiche Unterseite in verdrehten Win dungen dar. Die Rote Schlange begann auf ihren Unterleib ein zuschlagen. Immer wieder schlugen die giftigen Fangzähne zu und sanken in das offene Fleisch ein. Ich lachte, als ich es sah, und hörte meine Stimme in der hohlen Tiefe des nahen Heiligtums widerhallen. Wieder spürte ich die Hände von Männern an mir. 469
Ich wurde von starken Armen umfaßt und hochgeho ben. Lachend wurde ich aus dem Weg der sich wälzenden Schlange weggeschleppt. Ich sah die Gesichter von Männern in der Dunkelheit, die mich mit vor Ehrfurcht geweiteten Augen und vor Schrek ken und Staunen offenen Mündern von dem um sich schlagenden Wyrm forttrugen und außer Gefahr brachten. Der Todeskampf von Yr Gyrem Rua war ein grau envoller Anblick. Die Schlange schrie - rollte sich, verdrehte sich, wälzte sich hin und her, zerquetschte sich selbst in ihren eigenen mörderischen Windungen, riß sich mit ihren Krallenfüßen den weichen Bauch auf und zerriß und brach sich die in Fetzen hängenden Flügel. Der gespaltene Schwanz peitschte und schlug um sich und trommelte in gewaltsamer Raserei auf die Erde. In seinen Krämpfen wälzte sich der Wyrm zum Portal des Palastheiligtums. Der Schwanz schlug gegen das Gestein, löste die uralten Säulen und stieß sie aus ihren Verankerungen. Steinbrocken begannen aus der verwitterten Fassade zu fallen. Die Schlange wand sich zu einem Knoten aus geballter Wut und zerschmetterte den Vorhof des abscheulichen Tem pels, der nach innen zu bröckeln begann wie ein vom Alter morscher Schädelknochen. Die sterbende Schlange wand sich und trommelte gegen die harte Schale ihres Höhlenheiligtums. Rotes Gestein stürzte ein, und roter Staub erhob sich wie ein Blutnebel im 470
Mondlicht. Allmählich ließ die Raserei nach, als die Lebenskraft verebbte. Die Bewegungen wurden träger und schleppender; die zischenden Schreie sanken zu einem erbärmlichen, erstickten Jammern herab, und der letzte Aufschrei war eine monströse Parodie auf den eines Kindes in Not. Langsam, langsam tat das eigene Gift seine tödliche Wirkung. Dennoch brauchte der rote Wyrm einige Zeit zum Sterben. Lange nachdem das wilde Um sichschlagen aufgehört hatte, zuckte noch der gespal tene Schwanz und regte sich noch der abgebrochene Stumpf eines Flügels. Während ich dastand und dies beobachtete, trübte sich mein Blick ein, und meine Glieder begannen zu zucken. Das Zittern nahm zu. Ich nahm meine Unter lippe zwischen die Zähne und biß hart zu, um nicht aufzuschreien. Ich schlang mir die Arme um die Brust und drückte sie kräftig zusammen, um das Zittern meiner Glieder zu verhindern. »Llew! Llew!« drang eine scharfe Stimme zu mir. Schmerz explodierte in meinem Kopf. Ich spürte Hände auf mir. Der Geschmack von Blut füllte mir den Mund; Worte brodelten von meiner blutenden Zunge, und ich redete in einer Sprache, die niemand in meiner Nähe kannte. Gesichter drängten sich dicht über mir, aber ich erkannte sie nicht - Gesichter ohne Identität, vertraute Fremde, die mich voller Sorge anstarrten. In meinem Kopf pulsierte ein wilder, gleichmäßig trommelnder Schmerz, und dann ver 471
schwamm mir alles vor den Augen zu undeutlichen Mustern aus Hell und Dunkel, zu Formen ohne klare Umrisse. Und dann taumelte ich über die Schwelle in die Bewußtlosigkeit. Ich spürte, wie Wellen warmer Dunkelheit über mein Bewußtsein schwappten, und überließ mich der Vergessenheit. Ich erwachte mit einem Ruck, als sie mich neben dem Feuer auf den Boden legten. Der Awen hatte mich verlassen - wie ein Sturm, der vorübergezogen ist und das regendurchtränkte Gras niedergewalzt zurückläßt. Ich versuchte mich aufzusetzen. »Bleib still liegen«, riet mir Tegid. Er legte mir die Hände auf die Brust und drückte mich zurück auf die Ochsenhaut. »Hilf mir aufstehen«, sagte ich; meine Worte klan gen etwas undeutlich, da meine Zunge mir wie ein Stück Holz im Mund lag. »Es ist alles gut«, beharrte der Barde. »Ruh dich jetzt aus.« Ich hatte keine Kraft, um mich zu widersetzen. Ich legte mich hin. »Wie geht es Bran?« »Bran geht es gut. Ihm tut der Kopf weh, aber er ist wach und kann umhergehen. Alun ist unverletzt - ein Kratzer; er wird heilen.« »Gut.« »Ruh dich jetzt aus. Es wird bald hell, und dann werden wir hier aufbrechen.« Ich schloß meine Augen und schlief. Als ich wieder 472
erwachte, spähte die Sonne vorsichtig über die Bäume hinweg. Die Männer hatten das Lager abgebaut und waren abmarschbereit. Sie warteten nur noch darauf, daß ich aufstand, was ich sofort tat. Meine Arme und Schultern waren steif, und mein Rücken fühlte sich an wie eine Holzplanke. Aber ich war immer noch aus einem Stück. Tegid und Scatha hielten sich in der Nähe auf. Ich ging zu ihnen, und sie begrüßten mich mit guten Neuigkeiten. »Wir haben die feste Straße jenseits des Heiligtums ausgekundschaftet«, berichtete Scatha, »und sie ist kürzlich benutzt worden.« Ein Hoffnungsfunke flammte in meinem Herzen auf. »Wie kürzlich?« »Es ist schwer, das genau zu sagen«, antwortete der Barde. »Wie kürzlich?« fragte ich noch einmal. »Ich kann es nicht sagen.« »Zeigt es mir.« »Gern.« Scatha, abgezehrt und der völligen Er schöpfung nahe, lächelte, und ihre Züge entspannten sich. »Alles ist bereit. Du brauchst nur noch den Befehl zu geben.« »Dann laßt uns hier verschwinden«, sagte ich. »Es ist ein grauenvoller Ort, und ich will ihn nie wieder sehen.« Wir gingen an dem eingestürzten Tempel vorbei, um zur Straße zu gelangen. Von dem Heiligtum war nicht mehr viel übrig. Kaum ein Stein war noch auf 473
dem anderen; alles war ein Haufen roten Gerölls. Seltsam verdreht zwischen dem Schutt lag der ver heerte Leib Yr Gyrem Ruas. Ein einzelner abgebro chener Flügel flatterte im Wind wie eine zerrissene Fahne. Das Gift seines Bisses hatte rasch gewirkt und be gonnen, das muskulöse Fleisch zu zersetzen; die Verwesung war bereits weit fortgeschritten. Der Gestank des verfaulenden Wyrm ließ uns die Augen tränen, während wir rasch vorbeiritten. Solange er noch gestanden hatte, hatte der Tempel einen Großteil der geraden und breiten Straße ver deckt, die jetzt gut zu sehen war. Sie führte weiter durch den Wald und vom Fluß weg. Es war, wie Scatha gesagt hatte, eine richtige befestigte Straße: gepflastert mit flachen Steinen, die so eng und ge schickt eingepaßt waren, daß in den Spalten kein Gras durchkam. »Zeig mir die Anzeichen, daß die Straße benutzt wurde«, sagte ich, als Tegid sein Pferd neben mich lenkte. »Die wirst du gleich sehen«, erwiderte er. Wir rit ten ein kurzes Stück weiter und hielten dann. Tegid stieg ab und führte mich zum Rand der Straße. Dort, eingenistet wie braune Eier im hohen Gras, lag der Kot von vielleicht drei oder vier Pferden. Ein Stück weiter war das Gras zertreten und flachgedrückt, wo ein Lager aufgeschlagen worden war. Für ein Feuer gab es keine Anzeichen, so daß wir nicht sagen 474
konnten, wie lange es her war, daß sich die Reisenden hier aufgehalten hatten. Dennoch schätzte ich, daß es nicht mehr als ein paar Tage sein konnten. Wir kehrten zu unseren Pferden zurück, stiegen wieder auf und ritten mit mehr Zuversicht, als wir seit unserer Ankunft im Land der Fäulnis je verspürt hatten, hinaus auf die befestigte Straße.
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Auf fester Straße Nun, da wir uns auf der festen Straße befanden, kamen wir endlich mit einer Geschwindigkeit vor wärts, die den Namen fast verdiente - was nicht nur angenehm war, denn dadurch wurde uns bald der Verlust unserer Pferde schmerzlich bewußt. Diejeni gen, die zu Fuß gehen mußten, konnten nicht Schritt halten, und wir mußten ständig die berittene Gruppe anhalten, um die Nachzügler aufschließen zu lassen. So wurde es unumgänglich, die Männer häufiger zwischen Reiten und Laufen abwechseln zu lassen, da das höhere Tempo seine Spuren zu hinterlassen begann. Am Ende des Tages hatten wir ein gutes Stück zurückgelegt. Da wir vorhatten, unser Lager direkt an der Straße aufzuschlagen, ritten wir weiter, bis es zu dunkel wurde, um mehr als ein paar hundert Schritte nach vorn zu sehen. Am Himmel leuchteten Sterne, und obwohl es immer noch kalt war, war die Luft nicht mehr so schneidend wie in den bisherigen Nächten. Das war ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Zeit verging. Das Wetter änderte sich; Sollen war auf dem Rückzug, und bald würde Gyd da sein. 476
Mir machte der Ablauf der Zeit zu schaffen - jeder Tag, der verging, war ein Tag ohne Goewyn und deshalb um so leerer. Ich spürte ein Drängen in mir, das durch nichts würde beschwichtigt werden können als durch das Licht in Goewyns Augen. Ich war rastlos und sehnte mich nach dem Anblick meiner Geliebten. Das Baby wuchs nun in ihr heran, und ich fragte mich, ob man schon etwas davon sah. Bei jedem Schritt sprach ich innerlich ihren Namen aus. Als Cynan und ich zusammen an der Reihe waren, zu Fuß zu gehen, fragte ich ihn: »Vermißt du Tángwen sehr?« Er hielt den Kopf gesenkt. »Mein Herz ist wund vor Sehnsucht, so sehr vermisse ich sie.« »Du sagst nie etwas«, spornte ich ihn sanft an. »Es ist mein Schmerz. Ich behalte ihn für mich.« »Warum? Wir teilen diesen Schmerz miteinander, Bruder.« Cynan schwang seinen Speerschaft nach vorn, schlug mit dem Ende hart auf die Steine, ließ jedoch seinen Blick starr auf die Straße gerichtet. »Ich behalte ihn für mich«, sagte er noch einmal, »weil ich dich nicht mit meinen Klagen belasten will. Es ist schlimm genug, daß Goewyn entführt wurde; du brauchst nicht auch noch meine Sorgen zusätzlich zu deinen eigenen.« Er wollte nicht weiter darüber sprechen, und so ließ ich die Sache auf sich beruhen. Seine Zurückhaltung demütigte mich. Daß Cynan darauf verzichtete, von 477
seiner eigenen Not zu sprechen, nur um meine nicht zu vermehren, beschämte mich; um so mehr, als ich an sein Leid kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Wie konnte ich solcher Loyalität würdig sein? An jenem Abend verbrauchten wir den Rest des wenigen Getreides, das uns geblieben war, und es war eine armselige Mahlzeit. »Je schneller wir aus diesem verfluchten Wald herauskommen, desto besser«, brummte Bran Bresal. Wir saßen ums Feuer und berieten uns, was wir tun sollten, während die Männer aßen. »Das kann ja nicht ewig so weitergehen.« »Wir auch nicht«, meinte ich. »Ohne Fleisch und Mehl werden wir bald zu schwach zum Reisen sein.« »Wir haben Fleisch auf Hufen«, deutete Scatha behutsam an. »Wenn auch jedes Pferd, das wir opfern, bedeutet, daß ein Krieger mehr laufen muß.« »Ich habe noch nie Pferdefleisch gegessen«, mur melte Cynan. »Ich habe nicht vor, jetzt damit anzu fangen.« »Ich habe schon Pferdefleisch gegessen«, sagte Tegid. »Und ich war froh darum. Es wärmte mir den Bauch und stärkte mir die Hand zum Kampf.« Ich erinnerte mich an die Zeit, von der Tegid sprach: die Flucht nach Findargad durch die Berge im Norden Prydains. Damals war es Winter gewesen, wie jetzt. Wir waren von den Coranyid verfolgt worden, Fürst Nudds Dämonenhorde, während wir versuchten, Meldryn Mawrs Festung in den Bergen zu erreichen. 478
Frierend und hungernd bahnten wir uns unseren Weg Schritt für Schritt in die Sicherheit der Festung. Diesmal froren wir nicht so sehr, aber das Hungern hatte begonnen. »Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, ein Pferd zu essen«, grollte Cynan und preßte sein Kinn auf die Brust. »Es ist einfach niederträchtig.« »Vielleicht«, stimmte Scatha zu. »Aber es gibt Schlimmeres.« Ich stand auf, als ich Hufschläge hörte, und sah Emyr herankommen, der sichtlich besorgt und unru hig war. Er sprach direkt zu Tegid. »Penderwydd, es ist wegen Alun. Ich glaube, du solltest mitkommen und ihn dir ansehen.« Ohne ein Wort stand Tegid auf und eilte davon. »Was ist los mit ihm?« fragte Cynan und sprang auf. Bran hatte sich schon bei Emyrs Herannahen erhoben und folgte ihm bereits. Wir gingen neben Emyr her. »Garanaw hat ihn dort hinten sitzend gefunden«, sagte der Rabe und deutete auf die Straße zurück, über die wir an diesem Tag gezogen waren. »Er war an der Reihe, zu Fuß zu gehen, aber er kam nicht nach, als wir anhielten, um das Lager aufzuschlagen. Garanaw ist zurückgeritten, um nach ihm zu suchen.« Alun saß zusammengesunken am Lagerfeuer. Die anderen Raben hielten sich in der Nähe auf und versuchten, ihre Unruhe zu verbergen. Sie sagten nichts, als wir zu ihnen kamen, scharten sich aber 479
dicht um uns, als Tegid sich über ihren angeschlage nen Schwertbruder beugte. »Was höre ich da, Alun?« begann der Barde. »Du machst es dir am Straßenrand gemütlich?« Alun hob lächelnd den Kopf, aber in seinen Augen glomm Schmerz, und seine Haut glänzte vor feinen Schweißtröpfchen. »Nun ja«, erwiderte er in tapferem Ton und sah sich in der Runde der Gesichter über ihm um, »ich habe in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen - aus diesen und jenen Gründen.« Scatha kniete sich neben ihm nieder. »Wo ist die Verletzung, Alun?« fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter. Die Berührung war zwar sanft, doch sie ließ den Raben scharf die Luft einziehen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Behutsam streckte sie die Hand aus, um die Bro sche zu öffnen, die seinen Umhang hielt. Alun ergriff ihre Hand und schüttelte leicht den Kopf. »Bitte...« »Laß uns dir helfen, Bruder«, sagte Tegid leise. Er zögerte, dann schloß er die Augen und nickte. Scatha öffnete geschickt die Brosche und löste den Siarc. Alun versuchte nicht noch einmal, sie zu hindern, und bald lag die Schulter frei. Ein zerklüfte ter Wulst zog sich über die Schulter hinweg zum Schulterblatt. »Holt mir eine Fackel«, befahl der Barde, und einen Augenblick später reichte Niall einen brennenden Scheit nach vorn. Tegid nahm die Fackel, trat hinter den sitzenden Alun und hielt das Licht über die 480
Schulter. »Oh, Alun!« seufzte Scatha. Einige der Raben murmelten vor sich hin, und Bran wandte die Augen ab. »Ihr seid mir ja schöne tapfere Krieger!« beschwer te sich Alun. »Habt ihr alle noch nie einen Kratzer gesehen?« Im Siarc war ein kleiner Riß und kaum Blut; auch der Kratzer selbst war bereits verschorft. Doch das Gewebe darunter war rot und geschwollen und häßlich grünschwarz verfärbt. Tegid untersuchte die Schulter sorgfältig, indem er die Fackel nahe daran hielt und vorsichtig mit den Fingerspitzen betastete. Dann legte er die flache Hand auf die geschwollene Schulter. »Die Wunde fühlt sich heiß an«, sagte er. »Sie ist mit Wundfieber infiziert.« Scatha streckte ihre Hand nach Aluns Kopf aus und legte ihre Handfläche auf seine Stirn. Fast sofort zog sie sie wieder zurück. »Du glühst, Alun.« »Vielleicht habe ich zu nahe am Feuer gesessen«, lachte er schwach. »Dabei dachte ich, mir wäre kalt.« »Ich werde dich nicht anlügen, Bruder«, sagte Te gid, reichte mir die Fackel und hockte sich wieder vor Alun hin. »Es sieht nicht gut aus. Die Wunde hat sich entzündet. Ich muß sie wieder öffnen und richtig säubern.« Alun verdrehte die Augen, aber seine Empörung war nur halbherzig und mit Erleichterung gemischt. »So ein Getue um einen Kratzer?« 481
»Mann, Alun, wenn das nur ein Kratzer ist«, sagte Cynan, der nicht länger an sich halten konnte, »dann ist mein Speer ein Zahnstocher.« »Holt frisches Wasser - und saubere Tücher, wenn ihr welche finden könnt«, befahl Tegid ungeduldig. Cynan ging sofort los und nahm Niall mit. »Ich brauche ein Messer«, fuhr der Barde fort, »aber es muß scharf sein.« »Meines wird scharf genug sein«, sagte Bran und schob sich nach vorn. Er zog die Klinge aus seinem Gürtel und reichte sie Tegid. Der Barde prüfte die Schneide mit dem Daumen und gab sie zurück mit den Worten: »Schleife es noch einmal. Es muß frisch geschliffen und scharf sein.« »Und halte die Klinge eine Weile ins Feuer, wenn du damit fertig bist«, wies ich ihn an. Bran zog darüber die Augenbrauen hoch, aber ich bestand darauf. »Mach du das«, sagte der Anführer der Raben und reichte das Messer Drustwn, der sich beeilte, den Auftrag auszuführen. Tegid wandte sich den übrigen Raben zu: »Sammelt Moos, und breitet Ochsenhäute und Schaffelle aus; bereitet ein Bett vor.« »Ich werde kein Bett brauchen, wirklich nicht«, brummte Alun unwirsch. »Wenn ich mit dir fertig bin«, erwiderte Tegid, »wird mindestens einer von uns froh um einen Platz sein, wo er sein Haupt hinlegen kann. Wenn du es 482
nicht benutzt, werde ich es tun.« Er nickte Garanaw und Emyr zu, die sich umdrehten und sofort ver schwanden. Scatha und ich zogen uns ein wenig zurück. »Mir gefällt nicht, wie das aussieht«, vertraute Scatha mir an. »Ich befürchte, das Gift der Schlange ist in ihm.« »Wenn er das Gift in sich hätte, wäre er inzwischen tot«, entgegnete ich. »Hilf Tegid, und komm hinterher zu mir.« So machte ich mich daran, mich und die Männer beschäftigt zu halten, bis Tegid und Scatha fertig waren. Die Pferde waren angepflockt und die Feuer hoch aufgeschichtet; Cynan und ich stellten die Wachen auf und sorgten dafür, daß alle einen Platz zum Schlafen hatten, bevor wir ans Feuer zurückkehr ten, um zu warten. Ich döste ein, und nach einer Weile stieß Cynan mich an. »Wach auf! Er kommt.« Ich gähnte und setzte mich auf. »Nun, Barde?« Tegid ließ sich schwer zu Boden sinken. Müdigkeit zerrte wie eine schwere Last an seinen Schultern. Cynan schenkte einen Becher voll Wasser ein und reichte ihn ihm. »Wenn ich einen Schluck Bier hätte«, sagte Cynan, »würde ich ihn dir geben. Sobald ich einen finde, gehört er dir.« »Und ich werde diesen Becher leeren«, erwiderte Tegid und starrte ins Feuer. Er trank und kniff die Augen zu, als er den Becher beiseite stellte. »Was ist mit Alun?« fragte ich. 483
Tegid ignorierte mich und sagte mit brüchiger Stimme: »Die Wunde war nur ein Kratzer - wie Alun sagte. Doch sie hat sich entzündet, und die Entzün dung hat sich in die Schulter und in den Arm ausge breitet. Ich habe die Wunde aufgeschnitten und viel Gift aus dem Fleisch herausgedrückt. Dann habe ich den Schnitt mit Wasser gewaschen und mit einem Umschlag verbunden, damit das Gift weiter herausge saugt wird.« »Aber er wird sich wieder erholen«, erklärte Cynan bestimmt, als könnte er seine Worte durch schiere Willenskraft wahr machen. »Er schläft jetzt. Scatha wird über Nacht bei ihm wachen. Sie wird uns rufen, wenn irgendeine Verän derung eintritt.« »Warum hat er die Wunde nicht versorgen lassen?« fragte ich. »Er hätte etwas sagen sollen.« Tegid rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Alun ist ein tapferer Mann. Er dachte, es wäre nur eine kleine Verletzung und wollte nicht, daß wir seinetwegen langsamer vorankämen. Bis er auf der Straße zusammenbrach, wußte er, glaube ich, selbst nicht, wie krank er war.« Ich stellte die Frage, die mir am dringendsten er schien. »Wird er morgen reiten können?« »Ich werde die Wunde morgen früh noch einmal untersuchen; vielleicht sehe ich bei Tageslicht mehr. Eine Nacht voll Schlaf kann viel bewirken.« Er rieb sich wieder das Gesicht, »Ich habe auch selbst vor, zu 484
sehen, was sie vermag.« Damit rollte er sich in seinen Umhang ein und legte sich schlafen. Tatsächlich setzten wir am nächsten Tag unseren Weg fort. Alun schien kräftiger zu sein und erklärte, es gehe ihm schon viel besser. Ich sorgte dafür, daß er nicht laufen mußte, und Tegid gab ihm einen heilenden Trank, den er aus dem Inhalt des Beutels an seinem Gürtel zubereitete. Insgesamt wirkte und verhielt sich Alun wie ein Mann, der auf dem Weg der Besserung ist. So zogen wir weiter - zwar wurden wir mit jedem Tag fußkranker und hungriger, aber auch entschlosse ner. Zwei Tage später bemerkten wir, daß der Wald etwas dünner wurde. Und wieder zwei Tage später erreichten wir das Ende des Waldes. Trotz des Hun gers jubelten wir innerlich. Allein der Anblick des blauen Himmels über uns war ein Segen. Und obwohl das Gelände jenseits des Waldes sich zu kahlen Hügeln mit felsigen und spärlich bewachse nen Torfmooren emporschwang - so weiträumig und leer, wie der Wald dicht und eng gewesen war -, begannen die Krieger zu singen, als wir aus dem Schatten des letzten Baumes heraustraten. Tegid und ich ritten an der Spitze unseres Zuges, und wir hielten an, um zu lauschen. »Sie haben endlich ihre Stimmen wiedergefunden«, bemerkte ich. »Ich frage mich, wie lange es wohl her ist, daß ein solcher Klang in Tir Aflan zu hören war?« Tegid legte den Kopf schief und beehrte mich mit 485
einem seiner borstigen Seitenblicke. »Was habe ich jetzt wieder gesagt?« Er richtete sich auf, holte tief Luft und drehte sich wieder zu der Straße vor uns um, die sich in die hügelige Ferne erstreckte. »All dies ist durch den Ehernen Mann geschehen«, intonierte er, »der ebenso auf seinem Reittier aus Messing große und entsetzli che Not bewirkt.« Das entstammte der Prophezeiung der Banfáith, und ich erkannte es. Mit dem Wiedererkennen kam ein Stich der Trauer um Gwenllians Tod. Ich sah wieder den dunklen Schimmer ihres Haars und ihre betörenden smaragdgrünen Augen; ich sah ihren anmutigen Hals und ihre Schulter in die Ausbuchtung einer Harfe geschmiegt, sah, wie ihre Finger über die Saiten glitten, als wollten sie aus der Luft Schönheit heraufbeschwören. »Erhebt euch, Männer von Gwir!« setzte ich das Zitat fort, nur um Tegid zu zeigen, daß ich mich erinnerte. »Nehmt Waffen in die Hände und wider steht den falschen Männern in eurer Mitte!« Tegid steuerte den letzten Abschnitt bei: »Der Klang des Schlachtengetümmels wird zwischen den Sternen des Himmels zu hören sein, und das Große Jahr wird seiner endgültigen Erfüllung entgegenge hen.« Worauf ich antwortete: »Nur zu. Ich bin bereit.« »Wirklich?« fragte der Barde. Bevor ich antworten konnte, hörten wir einen Ruf. 486
»Tegid! Llew! Hier!« Ich drehte mich im Sattel um und sah Emyr am Straßenrand auf uns zugerannt kommen. Ich schlug mit den Zügeln und trieb mein Pferd an, um ihm entgegenzureiten. »Kommt schnell!« sagte er. »Es ist Alun.« Wir eilten auf der festen Straße zurück und sahen schon von weitem zwei reiterlose Pferde warten. Ein Haufen Männer stand am Straßenrand, darunter die Raben. Wir schoben uns durch das Gedränge und fanden Alun auf dem Boden liegend. Bran und Scatha hockten über ihn gebeugt, und Cynan sagte: »Lieg still, Alun. Du bist krank, Mann. Es ist keine Schande, aus dem Sattel zu fallen.« »Ich bin eingeschlafen«, protestierte Alun. »Das ist alles. Ich bin eingeschlafen und heruntergerutscht. Es ist nichts. Laßt mich aufstehen.« »Alun«, sagte Tegid und kauerte sich neben ihn. »Ich möchte mir deine Schulter ansehen.« »Aber ich sage dir doch, es geht mir gut.« Aluns Beteuerungen fehlte die letzte Überzeugung. Ich winkte Cynan, der sich zu mir hinneigte. »Füh re die Männer weiter. Wir werden euch einholen, sobald wir hier fertig sind.« »Gut!« sagte Cynan laut. Dann stand er auf und begann die Männer an den Schultern herumzudrehen. »Für uns ist es Zeit weiterzugehen. Alun nützt es nichts, daß wir hier um ihn herumstehen wie ange wurzelte Bäume. Die Straße wird nicht kürzer vom 487
Rasten.« Widerstrebend gingen die Krieger weiter, während wir begannen, Aluns Wunde zu untersuchen. Tegid öffnete geschickt die Brosche und zog den Umhang zur Seite. Der Siarc darunter war mit getrocknetem Blut verkrustet. »Du hast geblutet, Alun«, bemerkte Tegid in trok kenem, gleichmütigen Ton. »Wirklich?« wunderte sich Alun. »Ich habe nichts bemerkt.« Tegid machte sich daran, den Siarc abzustreifen und vorsichtig von der Haut abzuziehen. Ein süßlicher Geruch ging von der Wunde aus, als das Tuch sich ablöste. Die ganze Schulter und der obere Teil des Rückens waren jetzt entzündet und verfärbt, und die Haut schimmerte in einem häßlichen Purpurrot mit einem grotesken, grünschwarzen Rand. Der Kratzer, den Tegid aufgeschnitten hatte, war offen, und eine dünne, gelbliche Flüssigkeit sickerte heraus. »Und?« sagte Alun und drehte seinen Kopf herum, um seine Verletzung sehen zu können. »Ich werde dich nicht anlügen, Alun«, sagte Tegid ernst. »Das gefällt mir nicht.« Der Barde drückte mit den Fingern auf das geschwollene Fleisch. »Tut das weh?« »Nein«, sagte Alun kopfschüttelnd. »Ich spüre nichts.« »Solltest du aber«, erwiderte Tegid. Dann wandte er sich an Bran. »Nimm Garanaw und Emyr mit, und 488
reitet zurück zum Wald. Schneidet ein paar lange Stangen und bringt sie her. Wir werden einen Cadarn für ihn machen.« Alun entwand sich seinem Griff und kämpfte sich hoch. »Ich lasse mich doch nicht in einem Kinderbett hinterherschleifen«, knurrte er. »Ich werde reiten oder gehen.« Der Barde runzelte die Stirn. »Also gut«, lenkte er schließlich ein, »wir werden dir das ersparen. Aber du wirst meine Medizin ertragen müssen, bevor ich dich wieder in den Sattel steigen lasse.« Alun lächelte. »Du bist ein harter Bursche, Tegid Tathal. Hart wie der Feuerstein unter deinen Füßen.« »Laßt uns die Pferde hier«, wies Tegid uns an. »Wir werden zu euch stoßen, wenn ich hier fertig bin.« Bran und ich verließen Tegid und Scatha und kehr ten zu unserem Zug zurück. »Tegid macht sich Sorgen«, bemerkte Bran. »Er will uns nicht wissen lassen, wie schlimm es ist.« Er schwieg einen Mo ment. »Aber ich weiß es.« »Nun«, erwiderte ich leichthin, um den Anführer der Raben nicht zusätzlich zu beunruhigen, »Tegid wird seine Gründe haben. Zweifellos ist es so am besten.« Wir nahmen unsere Plätze an der Spitze des Zuges neben Cynan ein. Und obwohl die Männer immer noch sangen, war das gute Gefühl für mich dahin. Der Tag endete in einem trüben, trostlosen Niesel 489
regen. Ein Kalter Wind heulte über die felsige Einöde und ließ uns froh sein über das Brennholz, das wir beim Verlassen des Waldes gesammelt hatten. So klagend und kalt der Wind auch war, bot er doch eine willkommene Abwechslung von der erstickenden, engen Stille und der toten Luft des Waldes. So beklagten wir uns nicht über die Kälte und Feuchtig keit. Wir aßen dünnen Brei, der größtenteils aus Wasser bestand, gekocht mit Büscheln eines groben, stacheli gen Grases, das wir am Straßenrand pflückten. Das Gras verlieh dem Gebräu ein anregendes Aroma und würzte es etwas, wenn es auch wenig Masse bot. Das Wasser, das wir aus kleinen Felsteichen schöpften, war viel besser als das aus dem Fluß. Einige der Krieger suchten die umliegenden Hänge nach Pilzen ab, fanden aber keine. Tegid und Scatha wachten die Nacht hindurch über Alun. Im Morgengrauen ging ich zu ihnen, um zu sehen, wie es dem Patienten ging. Der Barde kam mir entgegen, bevor ich in Aluns Nähe kam. »Ich glaube, er sollte heute lieber nicht reiten.« »Dann werden wir hier lagern«, sagte ich. »Wir könnten alle eine Rast gebrauchen, und Gras genug für die Pferde gibt es hier auch. Wie geht es ihm?« Tegid machte ein finsteres Gesicht; seine dunklen Augen zuckten von mir weg und dann wieder zurück. »Es steht nicht gut um ihn.« »Aber er wird sich doch wieder erholen«, sagte ich 490
rasch. »Er ist stark. Und er fürchtet keinen Kampf. Scatha und ich werden alles Menschenmögliche tun, um ihn zu heilen.« Er hielt inne. »Fleisch wäre dabei ebenso nützlich wie Ruhe.« »Sag nichts weiter. Ich kümmere mich darum.« Ich wählte eines der kleineren Pferde, wenn auch nicht das jüngste, dessen Fleisch vielleicht zarter gewesen wäre. Doch ich traf meine Wahl nicht nach dem kulinarischen Wert; ich wollte die erfahreneren Schlachtrosse so lange wie möglich erhalten. Bran befürwortete meine Wahl, und Garanaw half mir, das arme Tier zu schlachten. Cynan weigerte sich strikt, sich am Schlachten oder Essen von Pferden zu beteiligen. Immer wieder murmelte er: »Es gehört sich nicht für einen König von Caledon, sein gutes Reittier zu verschlingen, seinen Helfer in der Schlacht.« »Schön. Aber dann halt auch deinen Mund, wenn die Brühe zu brodeln beginnt und der Duft von bratendem Fleisch dich in den Nüstern kitzelt.« Trotz der Kälte legten Garanaw und ich unsere Umhänge, Siarcs, Breecs und Stiefel ab. Wir führten das Tier ein wenig abseits und führten den Schwert streich so rasch und schmerzlos wie möglich. Das Pferd stürzte ohne einen Laut zu Boden, rollte auf die Seite und starb. Rasch häuteten wir es und breiteten die Haut auf einem Felsen in der Nähe aus. Dann begannen wir mit der grausigen Arbeit, den Körper in 491
verwertbare Bratenstücke zu zerlegen. Wir waren von oben bis unten mit Blut bedeckt, als wir fertig waren, doch auf der Haut hatte sich eine beträchtliche Menge guten Fleisches angehäuft. Inzwischen bereiteten Niall, Emyr und Drustwn die Spieße vor, an denen das Fleisch gebraten werden sollte. Garanaw und ich verteilten das Fleisch an die Männer und behielten die besten Stücke zu Tegids Verfügung zurück. Als wir endlich fertig waren, knieten wir uns zitternd vor Kälte an einen torfigen Tümpel, wuschen das Blut ab, zogen uns wieder an und eilten ans Feuer, um uns zu wärmen, während das Fleisch garte. Bald trug der Wind den rauchig-süßen Duft durch das Lager und vertrieb alle noch verbliebenen Beden ken gegen unser Mahl. Als das Fleisch gar war, sah es nicht sehr viel anders aus als Rindfleisch und roch auch so ähnlich; die Männer verzehrten es fröhlich um nicht zu sagen gierig. Ich merkte Cynan an, wie seine Entschlossenheit ins Wanken geriet, doch ich wußte, wenn ich ihn noch einmal fragen würde, würde er wieder aus starrköpfi gem Stolz nein sagen. Scatha kam ihm zu Hilfe. Sie holte sich eine dop pelte Portion und setzte sich mit gekreuzten Beinen neben ihn. »Ich habe meinen Mabinogi immer ge sagt«, begann sie nachdenklich kauend, »daß es die wichtigste Aufgabe eines Kriegers ist, am Leben und kampffähig zu bleiben. Ein Krieger, der nicht alles tut, 492
um dieses Ziel zu erreichen, ist für seine Clansleute nicht die geringste Hilfe.« Cynan runzelte die Stirn und schob sein Kinn vor. »Ich erinnere mich.« »Ich habe euch gelehrt, Vogeleier und Seetang zu finden und« - sie hielt inne, um sich den Saft von den langen Fingern zu lecken - »und alles, was einem hungrigen Krieger fern von der Feuerstelle seines Herrn als Speise dienen kann.« Die breiten Schultern hoben sich zu einem knappen Achselzucken, doch das Stirnrunzeln blieb. »Darum habe ich es auch nie versäumt, all meinen Schützlingen Pferdefleisch zu servieren«, fuhr Scatha beiläufig fort. Der rote Schopf drehte sich langsam. »Du hast uns Pferdefleisch serviert?« »Ja. Ich finde, ein Bissen und -« Ein paar Männer, die in der Nähe saßen, hörten das Gespräch mit an und grinsten. Laut zu lachen wagte niemand. Cynans Verdruß war aufrichtig, aber von wundersamer Kurzlebigkeit. Scatha hob ein Stück gebratenes Fleisch hoch und bot es ihm an. Cynan nahm es in die Hände und starrte es an, als rechnete er damit, daß es ihn tadeln würde. »Niemand soll sagen können, daß Cynan Machae die Unterweisung seiner Jugend verschmäht.« Mit diesen Worten hob er das Fleisch an den Mund und biß hinein. Er kaute grimmig und schluckte, und das Thema kam nie wieder zur Sprache. In dieser 493
Nacht schliefen wir zufrieden ein, zum ersten Mal seit vielen Tagen mit vollem Magen. Doch mein Schlaf wurde unterbrochen. Tegid rüttelte mich wach. Während der Nacht war der Wind stärker geworden und blies nun kalt aus dem Norden. »Pst!« warnte er mich. »Komm rasch und leise mit.« Er führte mich zu der Stelle, wo er und Scatha für Alun eine Bettstatt zwischen zwei Feuern bereitet hatten, das eine am Kopfende, das andere am Fußen de. Bran stand neben ihr und stützte sich mit gesenk tem Kopf auf seinen Speer. Scatha hatte einen Lappen in der Hand und eine Wasserschüssel auf dem Schoß; sie wusch Aluns Gesicht. Seine Augen waren ge schlossen, und er lag ganz still. Tegid beugte sich über den fiebernden Krieger. »Alun«, sagte er leise. »Llew ist hier. Ich habe ihn geholt, wie du dir erbeten hast.« Aluns Augen öffneten sich zitternd, und er drehte den Kopf. Die böse purpurne Verfärbung der faulen den Wunde hatte den Ansatz seines Halses erreicht. »Llew«, sagte Alun, seine Stimme kaum mehr als ein geflüsterter Hauch, »ich wollte dir nur sagen, daß es mir leid tut.« »Leid? Alun, es gibt nichts, was dir leid tun müß te«, erwiderte ich rasch. »Es ist nicht -« »Ich wollte dir helfen, Goewyn zu befreien.« »Das wirst du auch, Alun. Du kommst wieder auf die Beine. Ich zähle auf dich.« 494
Ein trockenes, fiebriges Lächeln ging über sein Gesicht. Seine dunklen Augen waren glasig und hart. »Nein, Herr, ich komme nicht wieder auf die Beine. Es tut mir leid, daß ich dich mit einer Klinge weniger zurücklasse.« Er hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich hätte gern Paladyrs Gesicht gesehen, wenn du plötzlich vor ihm stehst. Es schmerzt mich, diesen Kampf zu versäumen.« »Sprich nicht so, Alun«, sagte ich und schluckte schwer. Meine Kehle tat mir weh, und mein Magen krampfte sich zusammen. »Ich bin zufrieden«, sagte der Rabe und streckte seine Hand nach mir aus. Ich ergriff sie und spürte die Hitze, die in ihm brannte. »Aber ich wollte dir noch sagen, daß ich nie einem besseren Herrn gedient oder einen König gekannt habe, den ich mehr geliebt hätte. Mein größter Kummer ist, daß ich nicht noch ein Leben habe, denn das würde ich dir mit Freuden auch noch geben.« Er schluckte, und ich sah, wie weh es ihm tat. »Ich war immer für einen Kampf zu haben, aber ich habe nie eine Klinge in böser Absicht erho ben. Wenn Männer später von mir sprechen, wünsche ich mir, daß sie sich daran erinnern.« Vor meinen Augen verschwamm plötzlich alles. »Ruh dich jetzt aus«, sagte ich mit brechender Stimme. »Bald ... ich werde mich bald ausruhen«, sagte er; seine trockene Zunge fuhr über die trockenen Lippen. Scatha hob seinen Kopf und ließ ein wenig Wasser in seinen Mund rinnen. 495
Verzweifelt umklammerte er meine Hand. »Und grüße Goewyn von mir. Sag ihr, daß es die größte Freude meines Lebens gewesen wäre, mit Paladyr um ihre Freiheit zu kämpfen. Sie ist ein Schatz Albions, Llew, und wenn du das nicht endlich begriffen hättest, hätte ich sie selbst geheiratet.« »Ich werde es ihr sagen, Alun«, sagte ich und er stickte fast an den Worten. »Sobald ich sie sehe.« Er schluckte und wurde von einem schmerzhaften Krampf geschüttelt. Als er die Augen wieder auf schlug, war etwas von der Härte daraus gewichen - er war dabei, seinen Kampf zu verlieren. Doch er lächelte. »Ahh, es ist genug. Es reicht.« Sein Blick wanderte von mir zu Bran. »Ich bin jetzt soweit, meine Schwertbrüder zu sehen.« Bran hob den Kopf, nickte und eilte davon. Alun, der immer noch meine Hand umklammert hielt, wenn auch nicht mehr so fest, wandte sich wieder mir zu. »Fürst Silberhand«, sagte er, »ich habe noch eine letzte Bitte.« »Was immer du bittest«, sagte ich, die Augen voller Tränen, »was immer du bittest, Alun; sprich es nur aus, und es ist dein.« »Herr, begrabe mich nicht in diesem Land«, sagte er leise. »Tir Aflan ist kein ehrenvoller Ruheort für einen Krieger.« »Ich werde tun, was du wünschst«, versicherte ich ihm. Doch er umklammerte verzweifelt meine Hand. 496
»Laß mich hier nicht allein zurück. Bitte!« beschwor er mich; und dann noch einmal, sanfter: »Bitte.« Er schluckte, und seine Züge verkrampften sich vor Schmerz. »Wenn ihr hier fertig seid, nehmt mich mit euch zurück. Laßt mich auf Druim Vran liegen.« Daß ein so edler Krieger so betteln mußte, brach mir das Herz. Tränen liefen an meinen Wangen hinab, und ich wischte sie mit dem Ärmel ab. »Es wird geschehen, Bruder.« Das munterte ihn etwas auf. »Mein Herz ist in Al bion«, flüsterte er. »Wenn ich dieses schöne Land schon nicht wiedersehen darf, fällt mir der Abschied leichter, wenn ich weiß, daß wenigstens meine Gebeine zurückkehren.« »Es wird geschehen, Alun. Ich schwöre es dir.« Seine Hand entspannte sich und fiel hinab. Scatha gab ihm noch etwas Wasser. Dann kehrte Bran zurück und brachte den Rest des Rabenfluges mit: Garanaw, Emyr, Drustwn und Niall. Einer nach dem anderen knieten sie an der Seite ihres Schwertbruders nieder und nahmen Abschied. Bran hatte auch Cynan ge weckt, der nun an Aluns Seite trat. Die ganze Zeit über stand Tegid mit gesenktem Kopf da und sah traurig zu, doch er sagte nichts. Bran sprach als letzter ernst und leise mit Alun; er legte seine Hand auf Aluns Stirn und berührte dann seine eigene zum Gruß. Als er wieder aufstand, sagte er: »Dieser Rabe ist davongeflogen.«
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Flieg, Rabe! Ernst stand Tegid in seinem braunen Umhang da und ließ seinen Blick über die weite Hügellandschaft wandern. Ockergelb, bis auf die weiß gebleichten Felsen, endlose Strenge und trostlose Leere - nichts als spärliches Heidekraut und Torfmoore um hin durchschimmernde Steine, die sich wie knochenkahle Inseln aus einem rostigen Meer erhoben - leer und verlassen erstreckte sich das Moorland, so weit das Auge reichte. Die Kuppen kahler Hügel, gebeugt wie Schultern, drängten sich in allen Richtungen bis zum Horizont. Er sah mich nicht an, als ich neben ihn trat. »Du hättest Alun nicht versprechen dürfen, ihn mit nach Hause zu nehmen.« »Ich habe einen Schwur getan, Barde. Ich habe vor, ihn zu halten.« Seine Lippen preßten sich zu einer dünnen, mißbil ligenden Linie zusammen. »Mit seinem Leichnam können wir nicht weiterreiten, und eine Möglichkeit, ihn zurück nach Albion zu bringen, haben wir auch nicht. Wir müssen ihn hier begraben.« Ich betrachtete die trostlose Moorwüste und erwi 498
derte: »Alun hat etwas Besseres verdient, und er wird es bekommen.« »Dann schlage ich vor, daß du dir etwas einfallen läßt.« »Wie wäre es, wenn wir den Leichnam verbrennen würden? Ich weiß, das ist nicht gerade die ehrenvoll ste Bestattungsart, aber man könnte es mit Würde und Achtung tun.« Tegid sah mich stirnrunzelnd und nachdenklich an. Ich verstand sein Zögern: Das Verbrennen eines Leichnams war eigentlich Feinden, Ausgestoßenen und Kriminellen vorbehalten. »Es ist nicht unbekannt in Albion«, gab er schließlich zu. »Es hat Zeiten gegeben, in denen solche Dinge notwendig waren.« »Könnte dies vielleicht eine solche Zeit sein?« fragte ich leichthin. »Die Not erfordert es.« »Ja«, lenkte der Barde ein, »die Not erfordert es, und wir sind durch den Schwur eines Königs gebun den. Dies ist eine solche Zeit. Aber das Feuer muß richtig geschürt werden, damit die Knochen nicht verbrennen. Denn die müssen gesammelt und aufbe wahrt werden. Ich werde mich darum kümmern.« »Und wenn wir nach Albion zurückkehren«, fügte ich hinzu, »werden wir sie auf Druim Vran begra ben.« »So soll es geschehen.« »Gut. Wir werden Holz sammeln, um den Scheiter haufen zu errichten.« Ich sandte acht Männer mit zusätzlichen Packpfer 499
den zurück zum Wald, um das erforderliche Holz zu sammeln. Sie ritten unter Brans Kommando, da der Anführer der Raben, nachdem ich erklärt hatte, was ich beabsichtigte, darauf bestand, die Gruppe selbst anzuführen. »Das ist nicht nötig, Bran. Diesen Dienst kann auch ein anderer versehen.« »Wenn Aluns Körper verbrannt werden soll«, erwi derte er steif, »dann werde ich das Holz selbst aus wählen. Alun hat mich vor dem Roten Wyrm gerettet; das ist das mindeste, was ich für ihn tun kann.« Da er es nicht anders wollte, ließ ich ihn gehen. Der Wald lag noch nicht weit hinter uns, und die Pferde waren gefüttert und ausgeruht; die Gruppe würde, so schätzte ich, am nächsten Tag gegen Morgen zurück sein. Der Tag war noch jung, und sie brachen auf, sobald die Pferde gesattelt waren. Wir brachten sie auf den Weg und gaben ihnen das wenige Pferdefleisch mit, das wir noch übrig hatten. Ich sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren, und wandte mich dann widerstrebend der Aufgabe zu, ein weiteres Pferd zum Schlachten auszuwählen. Früh am nächsten Morgen tauchten die Holzsamm ler aus einem feuchten Nebel heraus wieder auf. Das Moorland versank in einem klammen Nieselregen, herangetrieben von einer frischen Ostbrise, die in der Nacht den kalten Nordwind vertrieben hatte. Die feuchten Moore wirkten ausgesprochen öde und trostlos in dem bleigrauen Licht. Wir begrüßten sie und holten sie ans Feuer, damit 500
sie sich wärmten. Ich befahl anderen Männern, den Pferden die Last abzunehmen und sie zum Grasen freizulassen; dann trat ich zu Bran ans Feuer. Der Anführer der Raben gab einen knappen Bericht. »Das Land ist tot«, sagte er, während er seinen Umhang ausschüttelte. »Es ist alles noch so, wie wir es zuvor gesehen haben. Nichts hat sich verändert.« Ich ließ etwas von der Brühe bringen, die wir am Vortag zubereitet hatten, und ließ sie mit ihrem Mahl allein. Inzwischen machten Tegid und ich uns an die Arbeit, den Scheiterhaufen für Aluns Feuerbestattung vorzubereiten. Das Holz war in einem Haufen am Straßenrand abgeladen worden, und der Barde war dabei, es nach der Länge der Stücke zu sortieren, als ich zu ihm stieß. Als das getan war, trugen wir Armladungen ausgewählten Holzes zu einem großen, flachen Felsen in der Nähe und begannen, das Holz sorgfältig aufzuschichten. Ich konzentrierte mich auf unsere Aufgabe, und wir arbeiteten zusammen, ohne zu sprechen, trugen und stapelten das Holz und errichteten Ast für Ast ein robustes Gerüst. Es war eine gute Arbeit - wir beide bewegten uns in einem harmonischen Rhythmus - und es erinnerte mich an den Tag, an dem Tegid und ich begonnen hatten, Dinas Dwr zu erbauen. Ich hielt diese Erinnerung fest und badete in ihrem warmen Glanz, während wir Seite an Seite arbeiteten. Als wir fertig waren, stand der Scheiterhaufen auf seinem einsamen Felsen wie eine kleine Festung aus Holz. 501
Einige der Männer hatten sich um uns versammelt, während wir arbeiteten, und betrachteten nun voller Trauer den fertigen Scheiterhaufen. Tegid sah sie dort stehen und sagte: »Wenn die Sonne untergeht, werden wir das Feuer entfachen.« Der Nebel verzog sich, während der Tag an uns vorübereilte, der Himmel sich im Westen aufhellte und uns einen blendenden Anblick goldenen Lichtes gewährte, bevor sich die Dämmerung wieder über uns legte. Ich wandte mich von der untergehenden Sonne ab und sah die Krieger in Zweier- und Dreiergruppen über das Moor zu dem Felsen kommen, wo Tegid und ich warteten. Als alle versammelt waren, brachten die Raben Aluns Leichnam, der nach seinem Tod bedeckt und in eine Ochsenhaut eingenäht worden war, und legten ihn behutsam auf den Scheiterhaufen. Tegid entfachte in der Nähe ein Feuer und bereitete die Fackeln vor, die er an die vier übrigen Raben und Bran verteilte. Dann stieg der Barde auf den Felsen und nahm seinen Platz am Kopfende des Scheiterhaufens ein. Er hob seine Hände zur Verkündigung. »Clansleute und Freunde«, rief er laut, »Alun Tringad ist tot; sein Leichnam liegt kalt auf dem Scheiterhaufen. Es ist Zeit, die Seele unseres Schwertbruders zu entlassen, damit sie ihre Reise durch die Oberen Reiche antreten kann. Sein Leichnam wird verbrannt werden, aber seine Asche wird nicht in Tir Aflan bleiben. Wenn das Feuer seine Arbeit getan hat, werde ich die Gebeine 502
sammeln, und sie werden mit uns nach Albion zu rückkehren, um auf dem Druim Vran begraben zu werden.« Dann hüllte der Oberste Barde sein Haupt in eine Falte seines Umhangs, hob seinen Stab empor und schloß die Augen. Nach einem Augenblick begann er behutsam, ohne Melodie, einen Grabgesang zu intonieren: Wenn der Mund sich schließen muß,
Wenn die Augenlider fallen,
Wenn der Atem nicht mehr rasselt,
Wenn das Herz in der Brust nicht mehr pocht,
Wenn Herz und Atem ersterben;
Möge die Schnelle Sichere Hand dich tragen
Und dich vor allem Bösen beschirmen.
Möge die Schnelle Sichere Hand dich tragen
Und deinen Fuß auf dem Wege leiten,
Möge die Schnelle Sichere Hand dich tragen
Und dich über die Schwertbrücke führen,
Möge die Schnelle Hand dich beschirmen, leiten
und führen Über den schmalen Pfad, Auf dem du diese Welt verläßt; Und dich vor aller Not und Gefahr bewahren, Und das reine Licht der Freude vor dir erstrahlen lassen, Und dich auf die Höfe des Friedens führen Und in den Dienst für einen Wahren König 503
In den Höfen des Friedens,
Wo Herrlichkeit und Ehre und Majestät
Das Geschlecht der Edlen für immer erfreuen.
Möge das Auge des Großen Gottes
Ein leitender Stern vor dir sein,
Möge der Atem des Guten Gottes
Ein ebener Weg vor dir sein,
Möge das Herz des Königlichen Gottes
Eine reiche Segensgabe für dich sein.
Mögen die Flammen dieses Feuers
Dir den Weg erleuchten...
Mögen die Flammen dieses Feuers
Dir den Weg erleuchten...
Mögen die Flammen dieses Feuers
Dir den Weg erleuchten...
Mögen die Flammen dieses Feuers
Dir den Weg erleuchten in die andere Welt.
Nach diesen Worten winkte der Barde die Raben herbei. Einer nach dem anderen traten sie vor Garanaw, Emyr, Niall und Drustwn - jeder mit einer Fackel, die er in das Reisig am Grund des Scheiter haufens stieß. Als letzter kam Bran und fügte seine Fackel den anderen hinzu. Das Feuer flackerte im Wind, breitete sich aus und begann, zu Aluns Leich nam emporzuklettern, der so still auf seinem harten Bett aus Holz lag. Wie die anderen um mich her beobachtete ich, wie die gelben Flammen durch das Flechtwerk aus Holz 504
emporleckten, um über das kalte Fleisch meines Freundes zu streichen. Trauer empfand ich um meinetwillen: Nie wieder würde ich seine Stimme hören, wenn sie sich zum Singen erhob, nie wieder würde ich ihn in die Halle stolzieren sehen. Ich würde seine absurden Prahlereien und seine kühnen und törichten Herausforderungen vermissen - wie damals, als er Cynan herausforderte, einen Tag lang mit ihm um die Wette Land zu pflügen, Bäume zu fällen und zu transportieren und sich dabei vor Erschöpfung fast umbrachte, und das alles nur für ein goldenes Schmuckstück. Ich spürte die Tränen in meinen Augen aufsteigen, und ich ließ sie laufen. Es tat gut, sich zu erinnern und um das zu weinen, was verloren war und nicht mehr zurückkehren konnte. Leb wohl, Alun Tringad, sagte ich im stillen, wäh rend das Feuer zischend und knisternd höher stieg. Möge es dir auf deiner Reise wohl ergehen. Ein Stimme, heiser vor Kummer, zerriß die Stille. »Flieg, Rabe! Erprobe deine Flügel über neuen Feldern und Wäldern; laß deine laute Stimme in unbekannten Ländern hören.« Bran, dessen edles Gesicht im Feuerschein vor Tränen glänzte, holte mit dem Arm aus und schleuderte seinen Speer zum Himmel empor. Ich sah seine Spitze im kalten Ster nenlicht schimmern, und dann verschwand er in der Dunkelheit - ein treffendes Bild für den Geist eines Kriegers, der aus dieser Welt entlassen wurde. 505
Die Flammen wurden heißer; ich spürte die Hitze auf dem Gesicht, und mein Umhang dampfte. Das Knistern der Flammen schwoll zu einem Brüllen an; das Licht tanzte und schleuderte Schatten zurück in die Zähne der heranbrandenden Dunkelheit. Nach einer kleinen Weile sackte der Scheiterhaufen in sich zusammen, und der eingenähte Leichnam sank in das wilde, goldene Herz des Bestattungsfeuers hinab, wo er verzehrt wurde. Wir sahen lange zu - bis nur noch glühende Asche zurückblieb, ein rot leuchtender Haufen auf dem Felsen. »Es ist geschehen«, verkündete Tegid. »Alun Trin gad ist fort.« Darauf drehten wir uns um, machten uns auf den Rückweg ins Lager und überließen es Tegid, das Nötige zu tun, um die Gebeine aus dem Feuer herauszuholen. Ich ging neben Bran. Ich hatte seinen Abschied passend gefunden und sagte ihm das. »Es war ein gebührendes Lebewohl für einen Raben, der davonge flogen ist.« Bran legte seinen Kopf schief und sah mich an, als hätte ich behauptet, zu glauben, daß der Mond im Meer schlafen könne. »Aber Alun ist doch nicht davongeflogen«, bemerkte er sachlich, »er ist nur vorausgeflogen.« Wir gingen ein Stück weiter, und Bran erklärte: »Wir haben uns einen Eid geleistet, wir Raben, daß wir uns in der anderen Welt wieder treffen wollen. So erwartet uns immer ein Schwertbruder in der jenseiti 506
gen Welt, wenn einer von uns in der Schlacht fällt. Ob in dieser Welt oder in der nächsten, wir werden immer die Raben sein.« Sein Vertrauen auf diese Abmachung war schlicht und überwältigend. Und es war unerschütterlich. Nicht der Schatten eines Zweifels drängte sich hinein, kein Bedenken überschattete die strahlende Gewißheit seiner Zuversicht. Ich, der ich keine solche Gewißheit hatte, konnte über seinen Glauben nur staunen. Wir ritten in einer ungeordneten Doppelreihe, zit ternd unter unseren feuchten Umhängen. Die Pferde gingen mit gesenkten Köpfen, die Nüstern fast am Boden, und ihre Hufe klangen hohl auf dem steiner nen Straßenpflaster. Bis auf die Haut durchnäßt, mit an der Kopfhaut klebendem Haar, stapfte ich auf tauben Füßen dahin und sehnte mich nur danach, am Feuer zu sitzen und mir die kriechende Kälte aus den Knochen blasen zu lassen. So traf mich Tegids plötzliche Offenbarung völlig unerwartet. »Ich habe gestern abend ein Signalfeuer gesehen.« Mein Kopf fuhr herum, und ich starrte ihn an, fas sungslos, daß er nicht vorher davon gesprochen hatte. Er sah mich nicht an, sondern ritt mit hängenden Schultern im Sattel und blinzelte in den Nieselregen; durchnäßt, aber unbekümmert. Barden! »Als die Glut erloschen war«, fuhr er gleichmütig fort, »sammelte ich Aluns Gebeine ein.« Mein Blick flog zu dem ordentlich verschnürten Bündel hinter 507
seinem Sattel, das in Aluns Umhang gehüllt war. »Ich sah das Signalfeuer, als ich ins Lager zurückkehrte.« »Verstehe. Gibt es einen bestimmten Grund dafür, daß du mich jetzt darauf aufmerksam machst?« »Ich dachte mir, du könntest vielleicht eine gute Neuigkeit gebrauchen.« Bei diesen Worten wandte mein weiser Barde seinen Kopf und sah mich an. Ich starrte zu ihm hinauf, während mir Wasser an den Haaren entlang in die Augen rann. »Du bist wütend«, bemerkte er. »Warum?« Ich war durchgefroren bis ins Mark, hatte seit Ta gen nichts als Pferdefleisch gegessen und war nieder geschlagen über Aluns Tod. Das letzte, was ich erwartet hatte oder gebrauchen konnte, war, daß mein Oberster Barde mir wichtige Informationen vorent hielt. »Ach, nichts«, erwiderte ich und schob meinen Zorn mit Mühe beiseite. »Was, glaubst du, bedeutet das?« »Es bedeutet«, sagte er in einem Ton, als läge die Bedeutung auf der Hand, »daß wir uns dem Ende unserer Reise nähern.« Seine Worte erfüllten mich mit einem seltsamen Hochgefühl. Bald würde die letzte Auseinanderset zung kommen. Die gespannte Erwartung stachelte all meine Sinne an; mein Geist belebte sich. Die Trostlo sigkeit des Tages verflog, als in mir die Erwartung aufflammte. Das Ende ist nah: Nimm dich in acht, Paladyr! Immer tiefer drangen wir in die kahle Hügelland 508
schaft vor. Heidekraut und Ginster lösten die Torf moore ab. Ein Tag folgte dem anderen, und die Straße führte immerzu gerade und befestigt weiter; wir ritten vom trübgrauen Morgen bis zur bleigrauen Abend dämmerung und hielten nur, um die Pferde zu tränken und selbst zu trinken. Wir aßen nur nachts am Lager feuer, wenn wir das Fleisch eines weiteren Pferdes braten konnten. Wir aßen, und bei jedem Bissen reute uns der Verlust; aber es war Fleisch, und es wärmte uns den leeren Bauch. Niemand beklagte sich. Allmählich stieg das Gelände an. Die Hügel wur den höher und die Täler tiefer, die Abstiege schwieri ger, je weiter das Hügelland sich den Bergen entgegen hob. Als wir eines Tages einen langgezogenen Hang überquerten, sahen wir in der Ferne schneebedeckte Gipfel schimmern. Dann schlossen sich Wolken und Nebel wieder um uns, und der Anblick blieb uns für einige weitere Tage verborgen. Als wir sie wieder zu Gesicht bekamen, waren die Berge schon erheblich näher gerückt; wir konnten einzelne Gipfel unter scheiden, die sich spitz und zerklüftet über die dunkel dahinströmenden Wolken erhoben. Die Luft wurde klarer, und obwohl wir tagsüber immer noch blind durch den dichten Nebel zogen, waren die Nächte oft frisch und klar, die Sterne scharf und hell wie Speerspitzen in einem pechschwarzen Himmel. In einer solchen Nacht war es, daß Tegid zu mir kam, während ich neben einem niedergebrannten Feuer schlief. 509
»Llew...« Ich erwachte, als seine Hand mich an der Schulter berührte. »Komm mit.« »Warum?« Er gab keine Antwort, sondern winkte mir, ihm ein Stück vom Lager weg zu folgen. Der Mond hatte sich spät über den Horizont erhoben und warf ein schwa ches Licht über das Land. Wir stiegen auf die Kuppe eines hohen Hügels, und Tegid deutete nach Osten. Ich sah hin und erblickte ein Licht, das auf einem nicht allzu fernen Bergkamm brannte, und in einiger Entfernung dahinter ein weiteres. Noch während wir hinsahen, erwachte weiter weg ein drittes Licht zum Leben. Wir standen Seite an Seite in der Nacht, mein Bar de und ich, spähten in die Dunkelheit und warteten. Der Wind strich über den kahlen Felsen der Hügel kuppe wie ein jagendes Tier, das leise, rastlose Geräusche macht. Nach kurzer Zeit blinkte ein viertes Feuer auf wie ein Stern, der sich auf einem fernen Hügel niederließ. Ich sah die Signalfeuer durch die Nacht leuchten und wußte, daß mein Feind nahe war. »Ich habe das schon in meiner Vision gesehen«, sagte Tegid leise, und wieder hörte ich das Echo seiner Stimme, wie sie gesungen hatte, als die sturm gepeitschten Wellen unser zerbrechliches Boot gegen die tödlichen Felsen schleuderten. 510
Der Wind grollte leise und erfüllte die Dunkelheit mit einem gefährlichen Klang. »Alun«, sagte Tegid bedächtig und langsam, jedes Wort sorgfältig wäh lend, »war der einzige unter den Raben, der Crom Cruach sah.« Zuerst begriff ich nicht, was er damit sagen wollte. »Und nun ist Alun tot«, erwiderte ich als Antwort auf die unausgesprochene Frage des Barden. »Ja.« »Dann bin ich der nächste. Ist es das, was du sagen willst?« »Das ist meine Befürchtung.« »Dann ist deine Befürchtung unbegründet«, sagte ich ihm ohne Umschweife. »Das müßtest du eigent lich an deiner eigenen Vision erkennen. Alun und ich - wir beide haben Gelbmantel gesehen. Und wir beide haben gegen die Schlange gekämpft. Alun ist gestor ben, ja. Aber ich lebe. Ende der Geschichte.« Er deutete auf die Kette der Signalfeuer am östli chen Horizont und sagte: »Das Ende der Geschichte ist da draußen.« »Nur zu. Es ist mir willkommen.« Der Himmel färbte sich perlgrau, als wir kehrt machten, um den Hang hinab zurück zum Lager zu gehen. Bran war wach und wartete auf uns. Wir erzählten ihm von den Signalfeuern, und er nahm die Neuigkeit gelassen auf. »Wir müssen von jetzt an wachsamer vorrücken«, sagte er. »Ich schlage vor, daß wir Kundschafter vorausschicken.« 511
»Gut«, stimmte ich zu. »Kümmere dich darum.« Bran legte seinen Handrücken an die Stirn und entfernte sich. Wenig später ritten Emyr und Niall aus dem Lager. Ich bemerkte, daß sie nicht auf der harten Oberfläche der Straße ritten, sondern im hohen Gras am Rand. Sie würden nicht so schnell, aber dafür erheblich lautloser vorwärtskommen. Es geht also endlich los, dachte ich. Ich folgte ihnen vom Lager aus ein kurzes Stück und sah den Reitern nach, wie sie in der bleichen Dämmerung verschwanden. »Möge die Schnelle Sichere Hand mit euch gehen, Brüder!« rief ich ihnen nach; meine Stimme hallte zwischen den kahlen Hügeln wider und erstarb im Heidekraut. Fast schien es, als ob der Klang das Land in Unruhe versetze. »Die Schnelle Sichere Hand möge uns alle beschir men«, fügte ich hinzu und eilte ins Lager zurück, um mich den Forderungen des Tages zu stellen.
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Tote Stimmen Widerstrebend wichen die Hügel einer endlosen Wüste aus lauter scharfkantigen, bröckelnden, unsi cher liegenden Felsen, völlig kahl bis auf ein paar zähe, dornige Ginsterbüsche. Ringsum fiel das Land gefährlich ab, doch die Straße blieb fest und gut. Regen und Wind peitschten auf uns ein; Nebel nahm uns endlose Tage lang die Sicht. Und mit jedem Tagesmarsch rückten die wolken verhangenen Berge näher. Wir sahen die vom Wind zerklüfteten Gipfel aufsteigen, bis sie sich auf allen Seiten am Horizont drängten - Reihe um Reihe, Gipfel um Gipfel, bis sie sich in der dunstigen Ferne verlo ren. Brütend, wild und feindselig wirkten die Berge, nicht wie freundliche Höhen; sie türmten sich kahl und drohend über uns auf: weiß, wie Splitter von im Kampf zerschmetterten Knochen oder Zähnen. Am Straßenrand wuchs genug Gras, um den Pfer den Nahrung zu geben, und die Pferde gaben uns Nahrung. Das bedeutete, daß wir alle paar Tage ein weiteres Pferd verloren, aber das Fleisch hielt uns auf den Beinen. Wir tranken aus den Bergbächen und Tümpeln und betäubten den schmerzenden Hunger 513
mit kaltem Wasser. Gyd, die Jahreszeit des Taus, kam immer näher und schickte regnerische Stürme voraus. Der Schnee auf den niederen Hängen begann zu schmelzen und floß in die Schluchten, Spalten und Felsentäler ab. Tag und Nacht drang der Klang von gurgelndem und sprudeln dem Wasser auf uns ein, das dem nun weit hinter uns liegenden Flachland entgegenströmte. Nebel stieg aus tiefen Spalten auf, in denen Wasserfälle donnerten; Wolken hingen tief über Schluchten, in denen wilde Stromschnellen rauschten und brausten wie ein Zusammenprall kampflüsterner Kriegsscharen. Die öde Eintönigkeit der nackten Felsen und die Rauheit des Windes und des dröhnenden Wassers erinnerten uns ständig daran - falls das überhaupt nötig war -, daß wir in einem feindseligen Land unterwegs waren. Je höher wir zwischen den zerklüf teten Gipfeln aufstiegen, desto stärker wurde unser Bangen. Es war nicht der Wind, der kreischend zwischen den raunen Kronen und zerschmetterten Gipfeln einherfegte; es war Furcht, roh und wild. Im Morgengrauen machten wir uns schlecht ausgeruht und gereizt auf den erneuten Ansturm gefaßt. Zweimal während jedes Tagesmarsches trafen wir uns mit den Kundschaftern - einmal gegen Mittag und dann wieder, wenn sie in der Abenddämmerung zurückkehrten. Die Raben wechselten sich immer zu zweit in dieser Aufgabe ab, so daß jeden Tag ein anderes Paar vorausritt. Eines Tages kehrten Garanaw 514
und Emyr zurück, als wir gerade unter einer hohen, überhängenden Klippe unser Nachtlager aufschlugen. »Gleich hinter der nächsten Biegung ist eine bessere Stelle«, berichtete Emyr. »Es ist nicht weit, und dort würden wir viel besseren Schutz gegen Wind und Regen finden.« Da wir die Pferde noch nicht abgesattelt und noch kein Feuer gemacht hatten, waren wir einverstanden, noch bis zu der beschriebenen Stelle weiterzureiten. Garanaw ritt voraus, und als wir ankamen, sagte er: »Besseren Schutz werden wir zwischen diesen kahlen Knochen nicht finden.« Cynan hörte das und erwiderte: »Zerbrochene Kno chen, meinst du wohl. Ich habe seit Tagen nichts mehr gesehen, das nicht zu Splittern zerschlagen war.« So bekamen die Berge den Namen Tor Esgyrnau, die Zerbrochenen Knochen. Und Cynan hatte recht; indem wir ihnen einen Namen gaben, wirkten sie weniger bedrohlich, weniger beängstigend - wenn auch nur ein wenig. Zumindest begannen wir nun, sie mit weniger Sorge als bisher zu betrachten. »So ist das oft«, meinte Tegid, als ich ein paar Tage später eine Bemerkung darüber machte. »Unter den Derwyddi wird gelehrt, daß man eine Sache besiegt, indem man ihr einen Namen gibt.« »Dann mach dich an die Arbeit, Barde. Finde einen Namen, mit dem wir Paladyr besiegen können. Und ich werde ihn vom Gipfel des höchsten Berges hinabschreien.« Später, als sich Dunkelheit über die Höhen legte, 515
fand ich ihn, wie er dastand und in die Finsternis spähte, die bereits über das Tiefland hinter uns kroch. Ich starrte mit ihm einen Augenblick lang in die Ferne und fragte ihn dann: »Was siehst du?« »Ich dachte, ich hätte da unten auf der Straße eine Bewegung gesehen«, erwiderte er, ohne das ver schlungene Band aus den Augen zu lassen. »Wo?« Ich strengte meine Augen an, konnte aber in diesem Dämmerlicht nichts erkennen. »Ich werde jemanden zurückschicken, um nachzusehen.« Tegid riet davon ab und sagte: »Das ist nicht nötig. Es ist jetzt weg - falls überhaupt etwas da war. Vielleicht war es auch nur ein Schatten.« Er ging davon, doch ich blieb stehen, starrte in das trübe Zwielicht und durchsuchte die Dunkelheit nach irgendeinem Anzeichen einer Bewegung. Wir waren bereits ein gutes Stück in die Berge aufgestiegen, und obwohl die Tage jetzt etwas wärmer wurden, war es in den Nächten immer noch kalt, und schneidende Winde fegten von den schneebeladenen Gipfeln über uns herab. Oft erwachten wir mit Rauhreif auf unseren Umhängen, und die Schneeschmelze des Tages gefror während der Nacht und machte die Straße tückisch, bis die Sonne die Steine wieder erwärmte. Um uns zu wärmen, verbrannten wir die harten, knorrigen Bündel von Ginsterstämmen, die wir mit unseren Schwertern aus dem steinigen Boden hackten. Sie gaben einen üblen Geruch und einen stechenden, öligen Rauch von sich, wenn sie brannten, aber die Glut blieb 516
noch lange heiß, nachdem das Feuer erloschen war. Wir kamen an einen hohen Bergpaß und überquer ten die erste Schwelle des Gebirges. Ich blickte mich um und sah das Land trübe und formlos hinter uns liegen; ein ödes, baumloses, nebelverhangenes Moor, farblos, durchnäßt und trostlos. Es war gut, es endlich hinter uns zu lassen. Ich stand lange da und betrachte te die Straße, wie sie sich in die Ferne erstreckte. Seit Tegid angedeutet hatte, daß wir vielleicht verfolgt wurden, verbrachte ich einige Zeit damit zurückzu blicken, und diesmal schaffte ich es sogar, mich zu überzeugen, daß, ja, daß da hinten etwas war, oder jemand - ganz schwach zu sehen und weit entfernt. Oder war es nur ein vorüberziehender Nebelschwaden oder ein Wolkenschatten? Oben zwischen den kahlen Felsen winselte und heulte der Wind und fuhr auf uns herab, um mit eisigen Krallen an unserem Fleisch zu reißen. Der Sturm umfegte uns, wenn uns nicht gerade ein Felsen oder eine Felswand Schutz bot, während die Straße sich ihren verschlungenen, qualvollen Weg bahnte manchmal war sie nicht mehr als ein in den Berghang geschlagener Fußpfad, kaum breiter als eine Narbe. Wir alle gingen jetzt zu Fuß, denn niemand wollte es riskieren, auf einem so tückischen Pfad zu stürzen. Da wir nicht mehr reiten konnten, beluden wir alle Pferde mit so viel von dem harten, kratzigen Ginster, wie sie tragen konnten. Jedes der Tiere sah aus wie ein wandelnder Ginsterhügel. Wir kamen langsamer 517
vorwärts, als mir lieb war. Aber ohne die Straße hätten wir den Aufstieg schließlich überhaupt nicht schaffen können. Immer weiter gingen wir und schleppten uns zit ternd, mit blauen Lippen von einem Tagesmarsch zum nächsten, vornüber gebeugt, die Augen voller Tränen von Wind und Kälte, die uns das Fleisch von den Knochen zu schälen schienen. Wir wurden hart wie Leder und scharf wie Messer. Hungrig wurden wir auch, mit einer wilden, nagenden Gier, die kein Festmahl hätte stillen können. Es war eine Sehnsucht, die nicht nur erfüllt, sondern auch geheilt werden mußte, ein heißes Begehren, nach Albion zurückzu kehren und unsere wunden Herzen vom Anblick seiner schönen Hügel und Täler salben zu lassen. Dies war Taithchwant, der tiefe Hunger nach der Heimat. Doch ich konnte nicht nach Hause gehen. Eher hätte ich mein Leben gelassen als meine Geliebte. Der Kopf meines Feindes würde meinen Gürtel schmük ken, bevor ich meine Schritte wieder in Richtung Druim Vran richtete; meine Frau würde wieder neben mir stehen, bevor ich mein Angesicht Dinas Dwr zuwandte. Meine Königin würde mit mir nach Albion zurückkehren, oder es würde für mich überhaupt keine Heimkehr geben. In der Dämmerung des ersten Abends, nachdem wir die Schwelle des Gebirges überschritten hatten, spürten wir eine Veränderung in der Atmosphäre des Landes. Doch erst zwei Nächte später, als wir tief in 518
die Bergfestung vorgedrungen waren, machte sich die Veränderung deutlich bemerkbar. Waren die Moore im Tiefland öde und brütend gewesen, so waren die Berge bedrohlich; wo der Wald abweisend gewesen war, wirkten die Berge gefährlich. Und dahinter steckte nicht nur die Bedrohung, von der schmalen Straße abzustürzen und auf dem Felsen unter uns zerschmettert zu werden. Ein wachsamer, böser Wille schien sich zwischen den Gipfeln herumzuschleichen, eine dunkle Macht, die unsere Gegenwart als Eindrin gen auffaßte und entsprechend reagierte. In der dritten Nacht erkannten wir endlich das We sen unseres Gegners. Der Tagesmarsch war gut vonstatten gegangen; wir waren weit gekommen und hatten in einem tiefen Einschnitt zwischen zwei Gipfeln eine geeignete Zuflucht für die Nacht gefun den. Massive Felswände erhoben sich senkrecht vom Straßenrand, deren Oberfläche voller Kanten war, als wäre die Straße mit einem Dolch durch den Berg gehackt worden; die Gipfel verloren sich über uns in den Wolken. Hier konnte uns der Wind nicht leicht erreichen, und so verschaffte uns der Ort eine will kommene Atempause und bot uns soviel Schutz, wie man inmitten dieser kargen Felswüste nur finden konnte. Wir kauerten uns dicht um die Feuer, wie wir es immer taten, doch als in jener Nacht der Sturm zu seinem gewohnten Kreischen anschwoll, hörten wir in dem Windgeheul einen neuen, grausigen Unterton. Tegid, der immer einen Sinn für die feinen Verände 519
rungen und Schattierungen von Licht und Geräuschen hatte, bemerkte es als erster. »Horcht!« zischte er. Die gedämpften, leisen Gespräche rund ums Feuer erstarben. Wir lauschten, hörten aber nichts - außer dem eisigen Sturm, der sich an den nackten Gipfeln von Tor Esgyrnau zerriß. Ich beugte mich zu ihm hinüber. »Was hast du gehört?« »Ich habe es gehört und höre es immer noch«, sagte Tegid und legte seinen Kopf auf die Seite. »Da - da ist es wieder!« »Ich höre den Wind«, meldete sich Bran zu Wort, »aber sonst nichts.« »Das wirst du auch nicht, wenn du es ständig mit deiner eigenen Stimme übertönst.« Wir warteten lange. Als das Geräusch nicht wie derkehrte, fragte ich: »Wie klang es denn?« »Wie eine Stimme«, sagte er und zog die Schultern zusammen. »Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört. Das ist alles.« Die Art, wie er das sagte - barsch und abweisend machte mich neugierig. »Wessen Stimme?« Er schob einen abseits liegenden Holzscheit mit dem Ende seines Stabes zurück ins Feuer, antwortete aber nicht. »Wessen Stimme, Tegid?« Cynan und Bran, ebenso wie einige andere, die in der Nähe saßen, sahen mit wachsendem Interesse zu uns herüber. Tegid blickte sich um und wandte sich 520
dann rasch wieder dem Feuer zu. »Der Sturm nimmt zu«, sagte er. »Antworte mir, Barde. Wessen Stimme hast du gehört?« Er holte Luft und nannte dann den Namen, den ich am wenigsten zu hören erwartete. »Die von Ollathir. Ich dachte, ich hätte Ollathir gehört.« »Ollathir? Der ist doch seit Jahren tot. Er ist -« »Als ob ich das nicht wüßte!« »Aber -« »Du hast mich gefragt, wessen Stimme ich gehört habe«, fiel er mir wütend und leise ins Wort. »Und ich sage dir die Wahrheit. Ich dachte, ich hätte Ollathir gehört, den Obersten Barden von Albion, der seit langem tot und begraben ist.« Die Worte hingen immer noch in der Luft, als Bran aufsprang. »Ich habe es auch gehört!« Er stand über uns, das Gesicht von Schatten verborgen. »Da! Hört ihr es?« Er hielt inne. »Und jetzt wieder! Aber es ist nicht euer Ollathir - es ist Alun Tringad!« Cynan sah mich finster an. »Ich habe das Gefühl, hier ist etwas Unheimliches im Gange.« Seine Stimme war ein wachsames Flüstern, als fürchtete er, be lauscht zu werden. Das Feuer ächzte und knackte, und der Wind heul te. Dann stand Cynan selbst langsam auf und legte einen Finger vor seine Lippen. »Nein ... nein...« sagte er, seine Stimme kaum mehr als ein Seufzen, »es ist nicht Alun, den ich höre, es ist...« - Verblüffung 521
verwandelte seine Züge im Feuerschein - »Cynfarch ... mein Vater!« Bald darauf war das ganze Lager in Aufruhr, denn jeder glaubte, die geisterhafte Stimme eines toten Freundes oder Clansmannes zu hören. Das heißt, jeder außer mir. Ich hörte nur das wilde Geheul des Windes, und das war zermürbend genug. Denn je weiter die Nacht voranschritt, desto erbarmungsloser peitschte der Wind auf die unsichtbaren Gipfel ein und fiel kreischend von den Hängen herab. Uns blieb nichts, als uns näher an die Feuer zu kauern und uns die Ohren zuzuhalten. Und dann wurden uns selbst die Feuer genommen. Der Wind toste zwischen den Felswänden hindurch wie ein brausender Wasserfall. Die Flammen der Lagerfeuer legten sich flach, flackerten und gingen aus. Plötzlich in eine kalte Finsternis gehüllt, in der der Sturm und die Schreie ihrer toten Freunde und Verwandten lärmten, begannen die Männer hastig nach ihren Waffen zu suchen. »Tegid!« versuchte ich das Gebrüll des Windes zu übertönen. »Jemand wird sich verletzen, wenn wir nichts unternehmen.« »Ich fürchte, du hast recht«, bekräftigte Cynan. »Hier ist es sehr gefährlich im Dunkeln.« »Was schlägst du vor?« erwiderte Tegid. »Ich kann den Wind nicht aufhalten!« »Nein, aber wir können die Männer davon abhalten, Amok zu laufen.« 522
Sofort sprang Tegid auf einen nahen Felsen und hob seinen Stab. »Aros! Aros llawr!« befahl er, brüllend wie ein Stier. »Bleibt! Bleibt, wo ihr seid. Das sind nicht die Stimmen der Toten!« rief er. »Irgendein Trug treibt mit uns sein Spiel. Aber laßt euch nicht in die Irre führen. Faßt Mut!« »Sie rufen uns!« rief jemand. »Die Toten haben uns gefunden! Wir sind verloren!« »Nein!« erwiderte ich. »Hört auf unseren Weisen Barden: Wir alle haben Freunde und geliebte Men schen verloren. Unsere Gedanken sind bei ihnen, und darum bildet ihr euch ein, ihre Stimmen zu hören. Das ist ein Trug des Windes und Sturmes. Mehr nicht.« »Hörst du sie denn nicht selbst?« fragte eine andere Stimme. »Nein. Ich höre nur den Wind«, antwortete ich ernst. »Er ist rauh und wild, aber es ist nur der Wind. Setzt euch alle wieder hin, und wir werden gemein sam ausharren.« Das schien die Männer zu beruhigen. Sie strömten wieder zusammen, manche mit griffbereiten Waffen, und kauerten sich Schulter an Schulter zusammen, um zu warten. Und allmählich ließ der Sturm nach, und der unheimliche Angriff hörte auf. Wir entfachten die Feuer neu, entspannten uns langsam und ließen uns zum Schlafen nieder, in der Annahme, der Ärger sei vorbei. Wunschdenken, wie sich herausstellte: Die Prüfung begann erst.
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Bwgan Bwlch Wir hatten uns gerade zur Ruhe gelegt, als die un heimlichen Geräusche wieder begannen, aber diesmal waren es nicht Stimmen allein. Diesmal erschienen uns die Toten auch. Als der Wind sich legte, fiel Nebel von den eisigen Höhen herab - ein seltsamer, schmutziger Nebel, der in wabernden Wellen heranflutete, verebbte und wieder heranflutete. Grau wie der Tod und kalt kroch der undeutliche Dunst über die kahle Felswand und glitt über das Geröll am Wegesrand, tastend und sich schlängelnd wie Tentakel. Die Wächter sahen es als erste und gaben vorsichtshalber Alarm. Sie waren beunruhigt, aber unsicher, da keine klar erkennbare Gefahr bestand. »Nein, nein«, sagte ich zu Niall, der sich dafür entschuldigte, daß er mich geweckt hatte, »diese Nacht war nie zum Schlafen gedacht. Was ist los?« Seine Augen, tief umschattet im unruhigen Licht, zogen sich zu Schlitzen zusammen, als er an mir vorbei in die Dunkelheit spähte. »Ein Nebel ist aufgezogen«, sagte er, hielt inne und sah dann wieder mich an. »Er sieht irgendwie böse aus, Herr. Er gefällt 524
mir nicht.« Ich stand auf und sah mich um. Der Nebel kroch dicht heran und bildete jenseits des Lichtkreises, den unsere Feuer warfen, eine dichte Decke über dem Boden. Wäre er ein lebendiges Geschöpf gewesen, so hätte ich gesagt, daß es ihm zu widerstreben schien, ans Licht zu kommen. Wahrscheinlich war es nur die Hitze der Flammen, die um uns einen Freiraum schuf. Dennoch schien es fast, als ob der Nebel ein Bewußt sein hätte, wie er sich schlängelte und rollte, während er immer dichter wurde. »Er beobachtet uns«, flüsterte Niall. Er war nicht der einzige, der es so empfand. Schon bald hatte sich aus dem unnatürlichen Dunst rings um uns eine unheimliche Landschaft von nahezu Manns höhe gebildet. Seltsame Formen wölbten sich aus der Masse hervor, nur um sofort wieder darin zu ver schmelzen. Die Männer begannen in den grauen Schwaden Dinge zu sehen: schwebende Gliedmaßen, Köpfe, Oberkörper, geisterhafte Gesichter mit leeren Augen. Die Pferde mochten den Nebel nicht; sie verursach ten einen solchen Aufruhr mit ihrem Tänzeln und Kopfschütteln und Schnauben und Wiehern, daß ich befahl, ihnen die Augen zu verbinden und sie in den Feuerkreis zu holen. Das gefiel ihnen auch nicht viel besser, aber immerhin ließen sie sich beruhigen. Unsere Ängste jedoch ließen sich nicht so leicht zerstreuen. Ich befahl den Männern, sich zu bewaff 525
nen und sich Schulter an Schulter und Schild an Schild aufzustellen. So gut es ging, schöpften wir Trost aus dem Gewicht unserer Waffen und der Nähe unserer Schwertbrüder, während wir machtlos dem geisterhaften Schauspiel zusahen. Körperlose Köpfe formten mit den Lippen lautlose Worte; abgetrennte Arme gestikulierten, Beine zuckten, und andere Körperteile verschmolzen in monströsen Paarungen miteinander und lösten sich wieder voneinander. Greifende Hände reckten sich aus der Masse hervor und winkten uns heran, schmol zen und verwandelten sich in zahnlose, saugende Mäuler. Ich sah, wie sich ein riesiges, lidloses Auge zu lächelnden Lippen spaltete und dann in eine gerunzelte Fistel auflöste. »Clanna na cù!« brummte Cynan leise. Tegid, der in der Nähe stand, flüsterte: »Irgend etwas rührt sich hier, das seit Ewigkeiten geschlafen hat. Die uralte böse Macht dieses Landes ist erwacht, und ihre Häscher schleichen wieder durchs Land.« Cynan wandte sein trotz der Kälte schweißbedeck tes Gesicht ab. »Was könnte das bewirken?« »Könnte es Paladyr sein?« fragte ich. »Könnte er etwas getan haben, das diese - diese böse Macht heraufbeschworen hat, was immer es ist?« »Vielleicht«, räumte Tegid ein. »Aber ich glaube, dahinter steckt etwas Mächtigeres als nur Paladyr allein - irgendeine dämonische Macht vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich spüre es nur hier drinnen.« Er 526
preßte sich die Faust auf die Brust. »Es ist ein Gefühl abgrundtiefer Bosheit. Paladyr halte ich nicht für fähig zu solchem Haß und solcher Bosheit.« Er hielt nachdenklich inne und fügte dann hinzu: »Das hier kommt mir eher vor wie...« Die geisterhaften Formen bildeten sich und flossen ineinander und veränderten sich auf unauffällig suggestive Weise. Der Anblick dieses lautlosen, makabren Tanzes erinnerte mich an Fürst Nudds Dämonenstreitmacht bei der Schlacht von Dun na Porth bei Findargad. »Fürst Nudd«, sagte ich laut. »Herrscher von Uffern und Annwn.« »Der aus der Geschichte von Ludd und Nudd?« wunderte sich Cynan. »Genau der.« Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, begann ich eine beinahe hypnotische Wirkung zu spüren. Welche feindselige Kraft auch immer diesen Nebel beseelte, sie begann eine böse Macht auf uns auszu üben. Ich wurde von dem Nebel angezogen, gelockt, herbeigewunken. Fasziniert sehnte sich mein Geist danach, in dem wabernden Spektakel der sich ständig verändernden Formen zu versinken. Komm zu mir, schien der Nebel zu sagen. Komm in meine Arme und laß mich dich trösten. Dein Kampf kann jetzt vorbei sein; deine Mühen können jetzt ein Ende haben. Süße Befreiung. Oh, deine Befreiung ist nah. Die tückische Verführung dieser Suggestionen 527
verfehlte ihre Wirkung auf unseren Haufen geschun dener und erschöpfter Krieger nicht. Nach der langen Zeit unterwegs in einem rauhen und feindseligen Land gab es unter uns solche, deren Kräfte allmählich erlahmten. Ein junger Krieger auf der anderen Seite des Kreises warf seinen Schild zu Boden und taumelte vorwärts. Ich rief seinen Kameraden etwas zu, und sie zerrten ihn zurück. Kaum stand er wieder in der Reihe, als ein anderer Krieger, ein Mann namens Cadell, aufschrie, seine Waffen fallen ließ und sich auf den Nebel stürzte. Geistesgegenwärtig packten die beiden, die neben ihm standen, ihn an den Armen und hielten ihn zurück. Cadell wehrte sich. Er stemmte seine Füße in den Boden und schüttelte die beiden ab, die ihn festhiel ten. Dann drehte er sich um und schickte sich an, in den Nebel hineinzurennen. Einer der Krieger in der Nähe brachte ihn mit dem Ende seines Speers zu Fall. Im nächsten Augenblick waren seine Clansleute auf ihm und zerrten ihn zurück in die Reihe. Doch als hätte eine gewaltige Stärke plötzlich von ihm Besitz ergriffen, trat und schlug Cadell um sich und schleu derte die Männer, die ihn hielten, von sich. Mit einem schrecklichen Schrei kam er auf die Beine, drehte sich um und schleppte sich wieder auf den Nebel zu. Ich rief Bran zu, mir zu helfen, und stürmte hinter ihm her. Er hatte den Nebel erreicht, der wie zu einer Umarmung zu ihm zu kommen schien und sich um seine Handgelenke und Fußknöchel schlang. Ich 528
spürte einen kalten Hauch aus dem brodelnden Nebel kommen, als ich meine Hand auf die Schulter des Kriegers legte - es war, als ob ich feuchten Stein berührte. Cadell entwand sich meinem Griff und schleuderte mir seinen Arm entgegen. Sein Ellbogen erwischte mich genau in der Mitte des Kinns, und ich machte einen Satz und wurde zurückgeschleudert; ich dachte schon, mein Kopf wäre abgerissen. Ich wälzte mich auf die Knie, während schwarze Sterne in dunklen Wirbeln vor meinen Augen kreisten. Ich schüttelte heftig den Kopf. Mein Angreifer taumelte schon wieder auf den Nebel zu. Mit unsiche ren Beinen stand ich auf und stürzte mich auf ihn. Ich versuchte nicht noch einmal, ihn herumzudrehen oder ihn aufzuhalten; dazu war es zu spät. Ich sprang einfach auf ihn zu, hob meine silberne Hand und schlug sie ihm hart in den Nacken. Der Krieger erstarrte und ruderte mit den Armen. Er hob den Kopf und schrie auf, dann fiel er rückwärts um wie ein gefällter Baum. Nachdem er zu Boden gegangen war, blieb er still liegen. Voller Furcht, ihn getötet zu haben, beugte ich mich über Cadell und legte meine Fingerspitzen an seinen Hals. In dem Augenblick, als ich den Körper berührte, begann er zu zucken und zu zittern - überall, von Kopf bis Fuß, alles gleichzeitig - als ob er im Schlaf tanze. Seine Augenlider zuckten, und sein Mund klaffte weit offen; mit gekrümmten Fingern 529
klammerte er sich an mich und griff nach meiner Kehle. Ich schlug ihm mit meiner silbernen Hand hart gegen die Schläfe. Er krampfte sich zusammen, und ich hörte ein Gurgeln tief in seinem Hals. Der Atem fuhr aus seinen Lungen, und mit ihm noch etwas anderes: eine durchsichtige, formlose Erscheinung wie ein fliegender Schatten. Es streifte mich, als es floh, und ich spürte eine widerwärtige, schleimige Kälte und eine schmerzende, bohrende Leere - als ob alle Einsamkeit und alles Elend der ganzen Welt in einem rasch flüchtigen Destillat des Leidens versam melt wären. In dieser flüchtigen Berührung spürte ich die geistlose Qual der Kreatur und erkannte, wie es sein mußte, ein gefoltertes Tier zu sein, fähig, Schmerz zu fühlen, doch unfähig, eine Ursache oder einen Grund dafür zu erkennen. Mein Herz schien zu zerbersten unter der unvorstellbaren Trostlosigkeit dieses Gefühls. Und dann packten mich Hände und zerrten mich auf die Beine. Die Verzweiflung verging so rasch, wie sie gekommen war. »Ich bin bei Sinnen«, sagte ich ihnen und blickte auf den Körper vor mir hinab. Zu meiner Überraschung schlug der Mann die Augen auf und setzte sich auf. Eilig trieben die Krieger uns beide zurück in die Sicherheit des Kreises. Kaum war ich wieder an meinen Platz neben Tegid und Cynan zurückgekehrt, als mich die unheimliche Geisterstimme wieder zu locken begann: 530
Komm zu mir. Oh, komm und wirf deine Sorgen von dir. Laß mich dich halten und trösten. Laß mich deinen Schmerz von dir nehmen. Komm zu mir ... komm zu mir... »Haltet durch, Männer! Steht fest!« rief ich. »Hört nicht hin!« »Es wird stärker«, sagte Tegid und sah sich um. »Es zieht Kraft aus unserer Furcht, und unser Wille zum Widerstehen wird immer geringer.« Abrupt wandte er sich ab und zog mich mit sich. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit ... hilf mir!« »Cynan, übernimm du mit Bran das Kommando!« befahl ich, während ich ihm nacheilte. »Was immer geschieht, bleibt fest stehen.« Die knorrigen, verdrehten Stiele der Ginsterbüsche, die wir verbrannten, um uns zu wärmen, waren nicht groß genug für unsere Zwecke, aber unsere Speere waren aus Eschenholz. Rasch schnitten wir die Klingen von drei Schäften ab, und Tegid ließ mich sie halten, während er aus dem Beutel an seinem Gürtel die Nawglan holte, die Heiligen Neun, wie er sie nannte. Er nahm die besondere Aschemischung, sprenkelte etwas davon auf seine rechte Handfläche und rieb dann die klingenlosen Schäfte damit der Länge nach ein. »So«, sagte er, als er fertig war. »Jetzt laß uns se hen, ob wir sie zum Stehen bringen können.« Es war natürlich nicht möglich, die Holzschäfte in 531
die mit Steinen gepflasterte Straße zu rammen. Aber wir versuchten, die Enden in Spalten zwischen den Steinen zu verkeilen. »Das wäre einfacher gewesen, wenn die Klingen noch dran wären«, beschwerte ich mich. »An diesem Ritual darf kein Metall beteiligt sein«, entgegnete der Barde. »Nicht einmal Gold.« Doch wir versuchten es weiter, und schließlich gelang es uns, die drei Speerschäfte in Spalten zu treiben: einen so, daß er aufrecht stand, die anderen rechts und links davon leicht angewinkelt, so daß sich eine Form ergab, die einer Pfeilspitze ähnelte - ein Gogyrven. Dann sammelten wir glühende Kohlen auf der Innenseite eines Schildes und schichteten um jeden der aufragenden Schäfte einen kleinen Haufen davon auf. Tegid nahm den Saum seines Umhangs und fächerte damit rasch die Kohlen an, so daß sie aufflammten und die Flammen langsam an den schlanken Stangen emporzüngelten. Der Barde hielt seinen Stab mit beiden Händen hoch über den Kopf und begann rasch in Sonnenrich tung um das Feuer herumzugehen. Ich hörte, wie er tonlos etwas im Taran Tafod murmelte; was er sagte, brauchte ich nicht zu hören oder zu verstehen. »Beeil dich, Tegid!« drängte ich. Nachdem er die dritte Umrundung vollendet hatte, blieb der Barde stehen, stellte sich vor den brennen den Gogyrven und sagte: »Dólasair! Dódair! Bladhm dó!!« 532
Die Worte der Dunklen Sprache hallten durch den Paß und wurden von den glatten Felswänden zurück geworfen. Dann hielt Tegid seinen Stab waagerecht vor sich und begann, die Worte eines Segensrituals zu sprechen. Großer Geber! Du, dessen Namen für die, die ihn hören, das Leben ist, höre mich jetzt! Tegid Tathal ap Talaryant bin ich, Oberster Barde von Albion. Sieh mich an: Ich stehe im Kreis im Sonnensinn; Höre mein Flehen. Erde und Himmel, Felsen und Wind, seid meine Zeugen! In der Vollmacht der Schnellen Sicheren Hand bean spruche ich diesen Boden und segne ihn mit einem Namen: Bwgan Bwlch! Macht des Feuers habe ich darüber, Macht des Windes habe ich darüber, Macht des Donners habe ich darüber, Macht des Zornes habe ich darüber, Macht der Himmel habe ich darüber, Macht der Erde habe ich darüber, Macht der Welten habe ich darüber! Wie der Schwan auf dem See trampelt, wie das Pferd auf der Ebene trampelt, wie der Ochse auf der Wiese trampelt, 533
wie der Keiler auf dem Pfad trampelt,
wie die Waldschar der Hirsche und Hindinnen trampelt,
wie alle lebenden Dinge auf die Erde trampeln,
so trampele ich darauf und unterwerfe ihn
und vertreibe alles Böse von ihm!
Im Namen des Verborgenen,
im Namen des Lebendigen,
im Namen des Alles-Umgebenden,
im Namen des Einen Wahren Wortes heißt er Bwgan
Bwlch; so soll es bleiben, solange die Menschen leben, um den Namen zu hauchen. Nach diesen Worten ließ der Oberste Barde seinen Stab mit einem lauten Schlag auf die Steine nieder krachen. Er wandte sich zu mir. »Das wäre getan. Hoffen wir, daß es ausreicht.« Der wabernde Nebel schien zu erschauern und sich zusammenzuziehen, als ob er sich unter einem Hagel von Schlägen ducke; oder als wäre er ein Wesen, daß vom Feuer eingeschüchtert ist, aber doch seine Beute nicht entkommen lassen will. Die veränderlichen Formen wogten mit steigender Geschwindigkeit durch die brodelnde Masse. Als ich wieder an meinem Platz in der ersten Reihe stand, hob ich meinen Speer und rief laut: »Im Namen des Verborgenen, im Namen des Lebendigen, im Namen des Alles-Umgebenden, im Namen des Einen Wahren Wortes heißt dieser Ort Bwgan Bwlch!« 534
Bran, der neben mir stand, griff die Worte auf und rief sie mit klarer, kräftiger Stimme hinaus. Bald fielen auch die anderen ein und erhoben einen rhyth mischen Sprechgesang gegen den bösartigen Geist, der wie ein fauliger Schaum rings um uns brodelte. Wir sangen, und grausige, halb geformte Gestalten, deren Ursprung sich kaum erraten ließ, geisterten durch den Nebel. Ich sah ein augenloses Gesicht mit einer Schweine schnauze und Ziegenohren; eine greifende Hand wurde zu einer fünfköpfigen Katze, bevor sie die Form eines häßlichen, grinsenden Mauls annahm, der sich öffnete, um statt einer Zunge eine riesige, fette Kröte zu offenbaren. Ein Paar ausgemergelter Rinder schenkel verwandelte sich in eine zusammengerollte Schlange, bevor sie sich in einen Schwarm durchein anderlaufender Kakerlaken auflösten. Ich sah einen Pferdekopf auf dem Leib eines Säug lings; der Oberkörper des Säuglings dehnte sich zu einem Paar dünner, schorfiger Storchenbeine mit den langen, knochigen Füßen eines Nagetiers. Ein riesiger Bauch schwoll an und platzte auf, und heraus kam ein Schwarm blinder Echsen, die zu einem Haufen pulsierender Reptilieneier wurden, bevor sie zu zwei Hexenköpfen mit schlaff herabhängenden Kiefern wurden... »Lauter!« schrie ich, ermutigt dadurch, daß unser Sprechgesang eine gewisse Wirkung zu haben schien. »Segnet den Boden! Nehmt ihn in Besitz!« 535
Die Männer verdoppelten ihre Anstrengungen. Die Stimmen der Krieger, die so lange von Tir Aflans bedrückender Stille eingeschlossen gewesen waren, schwollen an und erfüllten den heimgesuchten Paß; ihre Stimmen stürmten an den steilen Felswänden empor und drangen bis zu den eisigen Höhen. Fast schien es, als könnten wir allein durch unser kraftvol les Rufen den bösartigen Bwgan-Geist von seinem Platz vertreiben. Mit verwirrender Schnelligkeit gingen die grausi gen Metamorphosen jetzt unaufhörlich vor sich. Bizarre Formen verschmolzen miteinander in einem phantastischen Strom ständig wechselnder Gestalten, die sich jetzt zu schnell veränderten, als daß man irgend etwas hätte erkennen können außer ver schwommenen Bildern undeutlicher menschlicher und tierischer Formen. Ich hörte Tegids kraftvolle Stimme, die sich über alle anderen erhob. Auf seinen Lippen lag ein Lied, die Worte des Segensrituals. Einer nach dem anderen fielen wir in Tegids Gesang ein, und das Lied schweb te stark und laut empor, und der Bwgan wich vor dem Gesang zurück. Wir sangen: Macht des Feuers habe ich darüber, Macht des Windes habe ich darüber, Macht des Donners habe ich darüber, Macht des Zornes habe ich darüber, Macht der Himmel habe ich darüber, 536
Macht der Erde habe ich darüber, Macht der Welten habe ich darüber! Der Segensgesang des Barden drang in den wider wärtigen Geist ein wie der Stoß eines flammenden Speeres, wie ein Gogyrven aus Gesang. Der Nebel begann zu verblassen und sich aufzulösen und vor unseren Augen zu verschwinden. Wie der Schwan auf dem See trampelt,
wie das Pferd auf der Ebene trampelt,
wie der Ochse auf der Wiese trampelt,
wie der Keiler auf dem Pfad trampelt,
wie die Waldschar der Hirsche und Hindinnen trampelt,
wie alle lebenden Dinge auf die Erde trampeln,
so trampele ich darauf und unterwerfe ihn
und vertreibe alles Böse von ihm!
Genau in dem Augenblick, als er verschwand, of fenbarte sich der Bwgan als ein riesiges, ungeschlach tes Ding, ein Monster mit dem gewaltigen, behaarten Körper einer Bärin, den Hinterbeinen eines Ochsen und den Vorderbeinen eines Adlers. Sein Schwanz war der lange, nackte, haarlose Fortsatz einer Ratte, doch sein Kopf und sein Gesicht sahen auf beunruhigende Weise menschlich aus - mit flachen Zügen, dicken Lippen, großen, pendelnden Ohren, runden, starren Augen und einer dicken, aus dem Maul ragenden Zunge.
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Im Namen des Verborgenen,
im Namen des Lebendigen,
im Namen des Alles-Umgebenden,
im Namen des Einen Wahren Wortes heißt er Bwgan
Bwlch; so soll es bleiben, solange die Menschen leben, um den Namen zu hauchen. Und dann, als der Nebel sich vollends auflöste, wurde der Bwgan durchsichtig und verschwand. Der Bergpaß erzitterte unter den widerhallenden Hochrufen der Krieger, die ihren Gesang in den Nachthimmel emporschleuderten, der plötzlich mit hell leuchtenden Sternen übersät war. »Wir haben es geschafft!« rief Cynan und schlug fröhlich auf jeden Rücken, der in seine Reichweite kam. »Wir haben dieses Bwgan-Vieh besiegt!« »Gut gemacht, Männer!« rief Bran. »Gut ge macht!« Wir waren alle so sehr damit beschäftigt, uns ge genseitig zu preisen, daß wir zuerst den dünnen Klageton nicht hörten, der von den Gipfeln zu uns herabdrang. Doch Tegid hörte ihn. »Ruhe!« rief er. »Ruhe!« »Ruhe!« schrie Cynan und versuchte, die Männer zum Schweigen zu bringen. »Unser Barde spricht!« »Horcht!« sagte Tegid und hob eine Hand zu den dunklen Gipfeln empor. Als der Jubel der Männer verklang, hörte ich ein 538
blutleeres, klagendes Kreischen - wie den Schrei eines großen Raubvogels - es war weit weg und entfernte sich rasch, als der unreine Geist aus der Welt der Menschen entwich. Ich sah Tegid an. »Barde?« »Das ist der Bwgan«, erklärte Tegid befriedigt. »Er sucht nach einer neuen Heimat zwischen diesen verwitterten Gipfeln. Wenn er bis zum Sonnenauf gang keine gefunden hat, stirbt er.« Dann warf er die Arme empor und rief: »Seht! Ein neuer Tag zieht herauf über Tir Aflan!« Wie ein Mann drehten wir uns um und sahen im Osten die Sonne aufgehen. Wir ließen sie nicht aus den Augen - wir hungerten danach wie Männer, die zu lange kein Licht gesehen haben. Bald berührte ein klarer Lichtstrahl den schmalen Paß, füllte ihn und vertrieb mit der Kraft seines Leuchtens die letzten Strahlen. Die Felsen erblühten rotgolden; die Gipfel leuchteten, jeder wie ein Edelstein. »Jener böse Geist wird nicht hierher zurückkeh ren«, fuhr der Barde fort. »Dieser Boden ist jetzt gesegnet und für die Menschen zurückgewonnen.« »Wir haben wahrhaftig gesiegt!« rief Bran Bresal. Es war ein glücklicher Augenblick, eine herrliche Erleichterung, diesen neuen Tag heraufziehen zu sehen. Doch selbst inmitten all der Fröhlichkeit spürte ich, wie sich die tiefe, melancholische Verzweiflung dieses Landes wieder bemerkbar machte. Wir moch ten einen Bergpaß unter unzähligen anderen zurück 539
erobert haben, doch als die unermeßliche Flut der Trauer wieder heranbrandete, begriff ich, daß ein schlichtes Segensritual nicht ausreichte, um die Qualen und das Elend ganzer Zeitalter zu verbannen. Es würde mehr als ein Lied nötig sein, dachte ich, um Tir Aflan zu erlösen. Wir bauten das Lager ab und setzten unsere Reise fort. Es dauerte nicht lange, bis sich dunkle Wolken zusammenzogen und die Sonne verhüllten. Der Tag, der so strahlend begonnen hatte, versank wieder in der Düsternis - einer Düsternis, die wir um so mehr bis in die Seele spürten, weil wir Zeugen seiner herrlichen Morgendämmerung gewesen waren. Ich spürte sie wie wir alle - wie eine Wunde in der Brust, ein Loch, durch das die Seele hinaussickerte wie Blut. Fünf Tage, zwei Pferde und drei Bergpässe später standen wir gemeinsam da, windzerzaust und in unsere zerfetzten Umhänge gehüllt, und starrten trübe auf ein seltsames, dunkles Wolkengebilde, das über einem weiten Talkessel tief unter uns hing. »Sieht sehr seltsam aus, diese Wolke«, bemerkte ich. »Das ist Rauch«, erwiderte Tegid. »Rauch und Staub und Furcht.«
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Die Fremden Ich starrte in das Tal hinab. Die Straße war als schmaler Streifen zu sehen, der sich am Berghang hinabschlängelte, bis er in dem Dunst aus Rauch und Staub verschwand. Mein ganzer Körper spannte sich angesichts dieses Zeichens vor Erwartung: ein unmit telbarer Hinweis auf die Gegenwart von Menschen. Das Ende unserer Reise war nahe. Ich spürte keine Furcht. »Warum sprichst du von Furcht?« fragte Cynan Tegid. »Sieh doch, wie sie auf Wolken von Rauch und Staub aufsteigt«, erwiderte der Barde und streckte seine Hände mit gespreizten Fingern aus, »sieh doch, wie sie ihren Schatten über dieses unglückliche Land breitet. Große Not liegt vor uns, und große Furcht.« Tegid ließ seine Hand und seine Stimme herabsinken. »Unsere Suche ist zu Ende.« »Ist Goewyn dort unten?« »Und Tángwen?« fragte Cynan mit begieriger Un geduld. »Mo anam, Brüder! Worauf warten wir noch? Beeilen wir uns und befreien wir sie sofort.« Er sah rasch von einem zum anderen. »Oder gibt es etwas, 541
das uns hindert?« Wäre es nach Cynan gegangen, so hätten wir an Ort und Stelle den Schlachtruf der Carynx erschallen lassen und das Tal mit Gewalt gestürmt. Doch Bran setzte sich mit seinem kühleren Kopf durch. »Paladyr rechnet sicher mit uns«, sagte er und erinnerte uns an die Signalfeuer, die wir gesehen hatten. »Wahrschein lich kennt er unsere Stärke, aber wir kennen nicht die seine. Es wäre gut, herauszufinden, mit wie vielen Feinden wir es zu tun haben, bevor wir die Schlacht beginnen.« »Dann komm«, sagte ich zu ihm. »Du und ich, wir werden das Gelände erkunden.« »Ich gehe mit euch«, bot sich Cynan rasch an und setzte sich sofort in Bewegung. Ich legte ihm meine silberne Hand mitten auf die Brust. »Halt, Bruder. Bran und ich werden gehen. Mach du die Kriegsschar bereit und warte, bis wir zurückkehren.« »Meine Frau ist auch entführt worden«, knurrte er. »Oder hast du das vergessen?« »Ich habe es nicht vergessen. Aber ich brauche dich, um die Männer vorzubereiten«, erwiderte ich, »und um sie zu führen, falls etwas passieren sollte und wir nicht zurückkehren.« Cynan machte ein finsteres Gesicht, aber ich merk te ihm an, wie er innerlich einlenkte. »Wir werden nicht lange fort sein, und wir werden hierher zurückei len, sobald wir erfahren haben, was wir wissen 542
müssen.« Cynan lenkte ein, wenn auch immer noch mit fin sterem Gesicht. »Dann geht. Ihr werdet uns bereit finden, wenn ihr wiederkommt.« Bran machte rasch zwei Pferde bereit, und als wir aufstiegen, ergriff Tegid die Zügel und hielt mich auf. »Du hast mich doch gefragt, was die alte böse Macht des Landes der Fäulnis geweckt haben könnte«, sagte er. »Weißt du jetzt die Antwort?« »Nein«, gab er zu, »aber eines weiß ich: Die Ant wort wird dort unten zu finden sein.« Damit deutete der Barde auf das vom Rauch verdunkelte Tal. »Dann werde ich gehen und dieses Geheimnis lüf ten«, erwiderte ich. Damit begannen Bran und ich unseren Abstieg in das weite Tal. Der Weg war auf der ganzen Strecke von riesigen Felsbrocken gesäumt. Wir hatten vor, bis zur Höhe der Rauchwolke zu reiten und die Pferde dort zurückzulassen, wo wir sie bei Bedarf wieder erreichen konnten. Von dort aus würden wir zu Fuß weitergehen, so weit wir konnten. Schweigend, alle Sinne hellwach, legten wir unse ren Weg zurück. Bran trug seinen Speer und ich mein Schwert entblößt am Schenkel. Doch wir hörten nichts außer dem hohlen Hufschlag unserer Pferde auf der Straße und sahen nur den Rauch, der wie eine schmutzige Meeresbrandung sanft wogte. Immer tiefer kamen wir auf dem scharfen Zickzackkurs der 543
Straße hinab ins Tal. Ich sah das Rauchmeer heran branden, als wir ihm entgegenritten. Nach kurzer Zeit stiegen wir ab und führten die Pferde von der Straße weg, um sie hinter einem Felsen anzubinden. Ein wenig Gras, das an der Basis des Felsbrockens wuchs, würde den Tieren die Zeit vertreiben, bis wir zurückkamen. Dann gingen wir zu Fuß weiter, fast blind in dem trüben Dunst. Der beißende Rauch brannte uns in den Augen, doch wir blieben wachsam, rückten mit aller Vorsicht vor und hielten alle paar Schritte an, um zu lauschen. Wir waren zu weit gekommen, um jetzt an einem Moment der Achtlosigkeit zu scheitern. Wir huschten von Felsen zu Felsen und beobachte ten stets die Straße unter uns, bevor wir weitergingen. Nach einer Weile hörte ich ein trommelndes Ge räusch, tief und leise, als ob unter der Erde ein irdenes Herz schlüge. Das rhythmische Donnern vibrierte durch meine Fußsohlen bis hinauf in die Magengrube. Bran hörte es ebenfalls. »Was ist das?« fragte er, als wir wieder anhielten. »Es kommt aus dem Tal.« Der Rauch wurde dün ner, je tiefer wir kamen, und ich sah, daß wir bald unterhalb der Rauchwolke sein würden. »Da unten.« Ich deutete auf einen großen, kantigen Felsbrocken, der am Straßenrand aufragte. »Von dort aus müßten wir besser sehen können.« Wir liefen die kurvige Straße entlang auf den Fel sen zu. Das vibrierende, trommelnde Geräusch wurde 544
lauter. Nach kurzer Zeit hatten wir den Felsen erreicht und blieben stehen, um zu rasten und das Gelände unter uns zu beobachten. Die Rauchwolke bildete eine dichte, dunkle Decke über uns. Und unter uns breitete sich ein Anblick der Verwüstung aus: Das gesamte Becken des weiten Tals war eine riesige, entblößte Grube; rostrote Haufen aus zermalmtem Gestein bildeten unstabile Gebirge, ragten über Schicht um Schicht zerklüfteter Gräben und Löcher in einem Gelände auf, das in einem tiefen, zornigen Rot schimmerte wie tiefe Wunden im Fleisch. Schwaden übelriechenden Rauches stiegen aus Dutzenden von Schächten und Löchern und von offenen Feuern auf, die an den Hängen der Halden berge brannten. Und mit dem Rauch mischte sich der Gestank menschlicher Exkremente, verdorbenen Fleisches und verfaulten Wassers. Der Gestank tat uns im Hals weh. Über diese Höllenlandschaft krochen Tausende von Männern und Frauen, schwärmten über die Halden und strömten durch die Gräben - sie marschierten im Gänsemarsch wie Termiten, gruben sich in die Erde wie Ameisen, rackerten sich ab wie unermüdliche Arbeiterbienen - mehr insektenhaft als menschlich. Halbnackt und bedeckt mit Staub und Schlamm und Rauch schleppten sich die Unglücklichen unter den gewaltigen Lasten dahin, die sie auf dem Rücken trugen; stumpfsinnig, aber zielstrebig kletterten sie an 545
baufälligen Leitern und Seilen empor, luden sich Ledersäcke und Weidenkörbe voller Erde auf und trugen sie davon. Das ganze Tal wimmelte von diesem unvorstellbar schmutzigen, brodelnden, pulsierenden Tumult. Als wir in das trostlose Tal hinabstarrten und uns abmühten, die methodische, sorgfältige Gründlichkeit seiner Verwüstung zu begreifen, konnten wir nur entsetzt die Augen aufreißen. Ich spürte Übelkeit und Abscheu über das entsetzliche Ausmaß der Zerstö rung. »Maden«, murmelte Bran tonlos, »Maden, die an einer verwesten Leiche fressen.« Einst war ein lebhafter Bach mitten durch das Tal geflossen. Doch nun war der Bach am anderen Ende des Tales gedämmt und das Wasser gestaut worden, um einen schmalen See zu erzeugen, der nun im Abschaum und in rostrotem Schlamm erstickte. Jenseits des Dammes stieg aus einem riesigen Schorn stein in Stößen nach dem Rhythmus des tiefen, pochenden Herzschlages eine Säule von orangerotem Rauch auf. Langsam, aber unaufhaltsam quoll der Rauch aus dem Schlot und verstärkte den schweren Baldachin aus Schmutz, der über dem ganzen Tal hing. Ich brauchte einige Zeit, bis mir klar wurde, daß das, was ich da vor mir sah, eine primitive Schürfmine war. Doch die Bagger und Tieflader, die diese Mine betrieben, waren Menschen: schlammverkrustete, 546
besudelte und durchnäßte Männer, Frauen und Kinder. »Es ist eine Mine«, stöhnte ich. Bran nickte steif. »Meinst du, sie graben nach Ei sen?« »Wahrscheinlich. Aber ich muß mir das näher an schauen.« Wir krochen aus unserem Versteck und setzten vorsichtig unseren Weg nach unten fort. Die Straße schwang sich von dem Tal weg und umrundete eine Einbuchtung des Gebirges. An einer Stelle stieg die Felswand zur Linken senkrecht auf und fiel zur Rechten steil ab. Von oben sickerte Wasser an der Klippe herab, sammelte sich in einem flachen Tümpel und floß über die Straße hinweg, um nach unten weiterzuplätschern. Dieser kleine Bach hatte Schlick und Schlamm von der Klippe über uns losgespült und so ein Bett geformt. Als wir den Bach überquerten, fiel mein Blick auf etwas in dem Schlamm, das mich mitten im Schritt erstarren ließ. Ich blieb stehen und streckte meine Hand nach Bran aus. Er erstarrte und sah sich mit dem Speer im Anschlag rasch nach irgendeinem Anzeichen von Gefahr um. Da er nichts sah, wandte er sich mir zu. Ich deutete auf das schlammige Bachbett vor meinen Füßen. Der Anführer der Raben betrachtete es lange und bückte sich dann, um es genauer zu untersuchen. »Weißt du, wovon dieser Abdruck stammt?« fragte er. 547
»Ja«, sagte ich ihm. Das Blut pochte mir in den Schläfen; mir war schwindelig und übel. »Es ist eine...« Ich hielt inne und suchte nach Worten, die er verstehen würde. »Es ist eine Radspur.« Bran kniete nieder und tastete mit den Fingerspit zen das verschlungene Flechtmuster im Schlamm ab. »So eine Radspur habe ich noch nie gesehen.« »Sie stammt von einem -« Bevor ich ein weiteres Wort sagen konnte, hörte ich ein seltsam vertrautes Rumpeln. »Schnell! Wir müssen von der Straße herunter.« Bran hörte das Geräusch, rührte sich aber nicht. Er runzelte die Stirn und legte lauschend den Kopf schief, ohne die Gefahr zu erkennen. Ich packte den Anführer der Raben am Arm und riß ihn hoch. »Schnell! Wir dürfen nicht gesehen werden!« Wir rannten über die Straße hinweg und stürzten uns den Hang hinab. Einen Augenblick später sah ich einen gelben Streifen und das dumpfe Schimmern von dunklem Glas, als das Fahrzeug mit einem Rauschen direkt über unseren Köpfen dahinrollte. Es verlang samte sich, als es den Bach erreichte; dann das Ächzen eines Getriebes, als es heruntergeschaltet wurde, der Motor heulte auf - ein fremdartiges Geräusch, das mir den Magen zusammenpreßte - und das Fahrzeug rollte weiter. Wir preßten unsere Gesichter flach auf den Boden und hielten uns totenstill. Das Fahrzeug fuhr weiter. Als es weg war, hob Bran den Kopf und machte ein 548
erschrockenes Gesicht. »Das war eine Art Wagen«, erklärte ich. »Es kommt aus meiner Welt. Davon stammen die Spu ren.« »Zweifellos ein böses Ding«, sagte er. »Es hat hier keinen Platz«, erwiderte ich und stand auf. »Komm. Wir müssen uns beeilen, bevor es zurückkehrt.« Wir kletterten zurück auf die Straße und eilten wei ter. Bran blickte immer wieder zurück, um zu sehen, ob noch mehr dieser seltsamen Wagen auf ihn zukamen. Doch die Straße blieb leer, und weiter unten konnte ich keine Bewegung darauf sehen. Das Auftauchen des Fahrzeugs schockierte und beunruhigte mich mehr, als ich sagen konnte. Aber ich hatte keine Zeit, mir zu überlegen, was das zu bedeuten hatte. Jetzt war es wichtiger als je zuvor, die Stärke und Position des Gegners in Erfahrung zu bringen. Ich rannte, so schnell ich konnte, die Straße hinab, kauerte mich hinter Felsen, um Atem zu schöpfen, und hastete weiter. Bran rannte hinter mir her, und schließlich erreichten wir den Talboden, wo wir uns hinter den Halden und Steinhaufen außer Sicht hielten. Ein verfärbter Regen begann zu fallen. Die Tropfen hinterließen schwarz umrandete Flecken, wo sie meine Haut trafen. Die Arbeiter nahmen keine Notiz davon. Langsam wurde der rote Staub zu rotem 549
Schlamm und verwandelte das Tal in einen riesigen, schleimigen Sumpf. Doch die Arbeiter schufteten weiter. Bran und ich krochen unter einen überhängenden Felsen und ließen uns nieder, um die Szenerie zu beobachten. Das erste, was mir auffiel, nachdem ich mich von dem Schock über die Verwüstung und die Anwesenheit der Dyn Dythri, der Fremden aus der Anderwelt, erholt hatte, war die unerbittliche Art, wie sich die Minenarbeiter abrackerten. Sie arbeiteten wie angetriebene Sklaven, doch ich sah nirgendwo jemanden, der Zwang auf sie ausübte. Soweit ich sehen konnte, gab es keine Aufseher oder Antreiber. Niemand leitete die hektische Plackerei. Wie Sklaven unter einer unsichtbaren Peitsche mühten sich die Schlammleute ab, versanken unter ihren Lasten, schwammen in einem dicken Brei aus Kot und Schlamm und Ruß. Wie die ahnungslosen Tiere, dachte ich und fragte mich, wer oder was sie so versklavt haben mochte. Auf der anderen Seite des Tales gab es einen Geh weg aus geschnittenen Balken, die über den Schlamm gelegt worden waren. Ich beobachtete, wie Männer sich aus den Gruben und Gräben hochkämpften und über diesen Weg auf den Damm zustolperten. Der Weg führte über den Damm hinweg und verschwand dahinter in Richtung Rauchschlot. Dies schien das Ziel der Arbeiter zu sein. Ich überlegte, ob der Anreiz für die Schufterei die 550
ser Unglücklichen vielleicht aus dem Zweck dieser Schufterei rühren mochte statt aus irgendeiner äuße ren Macht oder Bedrohung. Vielleicht waren sie durch irgendeine tiefe Leidenschaft in sich selbst versklavt. Vielleicht wollten sie wie Lasttiere arbeiten. Da mir keine andere Erklärung einfiel, kam ich zu dem Schluß, daß sie Gefangene ihrer eigenen Habgier waren. »Ich will sehen, was hinter diesem Damm liegt«, sagte ich zu Bran. Langsam und vorsichtig bahnten wir uns unseren Weg um die Halde herum. Wir waren noch nicht weiter als ein Dutzend Schritte gekommen, als wir plötzlich vor zwei Schlammleuten standen, die mit primitiven Holzschaufeln in dem Sumpf herum gruben. Sie sahen uns mit stumpfen Augen an, und ich dachte schon, sie würden beim Anblick von Eindring lingen laut aufschreien. Doch sie beugten lediglich ihre Rücken und arbeiteten weiter, ohne sich auch nur umzuschauen, als wir uns an ihnen vorbeischoben und unseren Weg fortsetzten. Anderswo ging es uns ebenso. Es waren so viele Sklaven da, daß es unmöglich war, nicht von einigen von ihnen gesehen zu werden; doch selbst wenn wir gesehen wurden, zeigte unsere Gegenwart keinerlei Wirkung. Meist nahmen sie gar keine Notiz von uns, oder wenn sie es taten, dann schien es ihnen egal zu sein. Sie zeigten keine Furcht, aber auch kein Interes se. Ihre Arbeit schien sie völlig mit Beschlag zu belegen; sie gaben sich ihr ganz und gar hin. 551
»Seltsam«, meinte Bran und schüttelte langsam den Kopf. »Selbst wenn sie Tiere wären, würde ich sie nicht so rackern lassen.« Als wir den Damm erreichten, umgingen wir den Balkenweg und hielten uns auf einem höher gelege nen Pfad, so daß wir den Talboden aus einiger Entfer nung beobachten konnten. Der Schornstein, den wir gesehen hatten, gehörte zu einem unübersichtlichen Gebäudekomplex. An dem größten dieser Gebäude war der rauchende Schlot angebracht, und von dort kam auch das unaufhörliche dumpfe Rumpeln schwe rer Maschinen. In dieses Hauptgebäude strömte eine endlose Reihe von Minenarbeitern, die ihre Lasten durch ein Tor hineintrugen und mit leeren Säcken und Körben aus einem anderen wieder herauskamen. Meine Stimmung, die schon auf einem Tiefpunkt angekommen war, sackte noch weiter ab. Denn wenn bisher noch eine Unsicherheit bestanden hatte, zerfiel nun angesichts des stickigen Rauchs und des Dröh nens schwerer Maschinen das letzte Körnchen Zwei fel zu nichts. Von Paladyr oder irgendwelchen Krie gern war nichts zu sehen; auch einen Ort, der groß oder sicher genug gewesen wäre, um dort Geiseln zu halten, gab es nicht - mit Ausnahme der Fabrik, und ich bezweifelte, daß wir sie dort finden würden. »Goewyn und Tángwen sind nicht hier«, sagte ich zu Bran. »Laß uns ins Lager zurückkehren. Ich sah seinem Gesicht die Frage an, die ihn beschäftigte, und beantwortete sie ihm, ehe er sie stellen konnte. »Die 552
Dyn Dythri sind in großer Zahl gekommen, um Tir Aflan zu plündern. Wir werden den anderen sagen, was wir gesehen haben, und unseren Schlachtplan entwerfen.« Bran und ich wandten uns ab und machten uns auf den langen Weg zurück zu der Stelle, wo unsere Kriegsschar wartete. Wir hatten schon beinahe die Deckung der Rauchschicht erreicht, als ich das verhaßte Rumpeln des Fahrzeugs zurückkommen hörte. Meine Gedanken überschlugen sich. »Dieser Felsen da!« Ich wirbelte herum und deutete auf eine Stelle an der Straße hinter uns. Ein großer Felsen markierte die Biegung: Dort konnten Bran und ich uns verstecken. Als wir die Stelle erreichten, preßten wir uns hinter dem Felsen flach auf den Boden und warteten, bis das Ding vorbeikäme. Ich hörte den Motor aufheulen, als der Fahrer vor der Kurve herunterschaltete. Nur ein paar Schritte von unserem Versteck entfernt spritzten die Reifen des Fahrzeugs über die feuchten Steine. Dann entfernte sich das Geräusch und wurde rasch leiser, während das Fahrzeug im Tal verschwand. Wir warteten, bis wir es nicht mehr hören konnten, und krochen dann zurück auf die Straße. Als wir die Pferde erreicht hatten, blieben wir stehen, um Atem zu schöpfen. Das Tal breitete sich weit hinter uns und unter uns aus, matt rötlich in dem trüben Regen wie eine Wunde, aus der Blut sickerte. 553
Bran stand auf und stieg auf sein Pferd. »Laß uns aus diesem, diesem Cwm Gwaed verschwinden«, sagte der Anführer der Raben finster. »Es macht mich krank.« »Cwm Gwaed«, murmelte ich, Tal des Blutes. »Der Name paßt. So soll es heißen.« Bran erwiderte nichts, sondern wendete sein Pferd zur Straße hin und kehrte dem Tal den Rücken zu. Als wir unser Lager erreichten, kamen uns zwei beunruhigte Krieger entgegen, Owyn und Rhodri, und begrüßten uns mit der Nachricht: »Es kommen Fremde!« Rhodri fügte hinzu: »Cynan und Garanaw sind ihnen entgegengegangen.« Ich glitt aus dem Sattel und blickte mich suchend im Lager um. »Wo ist Tegid?« »Der Penderwydd beobachtet die Fremden von der Straße aus«, sagte Owyn. »Er sagte, wir sollen dich zu ihm bringen, wenn du zurückkehrst. Ich zeige dir den Weg.« Rhodri übernahm die Pferde, und Owyn führte uns eine kurze Strecke vom Lager weg zu einem Aus sichtspunkt, von dem aus wir die Straße beobachten konnten. Wo sie zu dem Paß anstieg, auf dem sich unser Lager befand. Dort war Tegid, und Scatha bei ihm, und sie beobachteten, wie die Krieger gesagt hatten, eine Gruppe von Reitern, die aus der Ferne herankamen. Der Barde drehte uns den Kopf zu, als wir uns ne 554
ben ihn stellten. »Wer ist es?« fragte ich. »Weißt du es?« »Schau hin«, war alles, was er sagte. Binnen kurzem konnte ich die einzelnen Reiter unterscheiden, von denen zwei kleiner und zierlicher als die andern waren. Einer von diesen trug eine weiße Kappe oder Kapuze. Als sie näher kamen, sah ich, daß das Weiße in Wirklichkeit Haare waren. Der Mann sah zu der Stelle hinauf, wo wir standen, und das Sonnenlicht blitzte auf den Linsen auf, die er vor den Augen trug. »Nettles!« rief ich. Meine Beine waren bereits in Bewegung, um ihm entgegenzurennen.
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Die Rückkehr des Wanderers Professor Nettleton trieb sein Pferd zu größerer Geschwindigkeit an, als er mich den Hang hinab auf sich zulaufen sah. Er sah von seiner Reise hager und abgezehrt aus, und an seinem breiten Lächeln konnte ich ermessen, wie erleichtert er war. Ich streckte die Arme empor und riß ihn in einer wilden Umarmung aus dem Sattel. »Nettles! Nettles!« rief ich. »Was machst du hier? Woher wußtest du, wo wir zu finden sind?« Der alte Mann grinste, klopfte mir mit der flachen Hand auf den Arm und kicherte. »König Calbha hat mir drei wackere Krieger mitgegeben, und Gwion hat uns den Weg gezeigt.« Erst jetzt sah ich mir die anderen näher an. Flan kiert von Cynan und Garanaw standen drei Krieger da, denen die Reise nicht viel ausgemacht zu haben schien, jeder mit einem Packpferd, das er am Zaum zeug führte, und ein vierter, Tegids junger Mabinog Gwion Bach. »Wie habt ihr uns gefunden?« fragte ich und schüt telte voller Staunen den Kopf. »Ich kann gar nicht glauben, daß ihr hier seid.« 556
»Euch zu finden, war die leichteste Sache der Welt«, erwiderte der Professor. »Wir mußten nur nach Osten segeln. Nachdem wir an Land gegangen waren, brauchten wir nur noch eurer Spur zu folgen.« Er hob die Hand und deutete in die Richtung des jungen Mabinog. »Gwion hat eine besondere Gabe in dieser Beziehung«, erklärte er. »Ohne seine Führung hätten wir uns etliche Male verirrt« Ich drehte mich um, während die anderen sich um uns versammelten. »Stimmt das, Gwion? Du bist unserer Spur gefolgt?« »So ist es, Fürst Llew«, erwiderte der Junge. »Nun«, sagte ich zu ihnen, »wie es euch auch er gangen sein mag, nun ist eure Reise zu Ende. Ihr habt uns gefunden. Aber ihr müßt müde sein. Kommt, ruht euch aus und erzählt uns, was für Neuigkeiten ihr bringt. Wir sind alle neugierig, zu hören, wie es euch ergangen ist und was euch hierher bringt.« Gemeinsam kehrten wir zurück und unterhielten uns lebhaft über die Strapazen der Reise. »Seht her!« rief ich, als wir ins Lager kamen. »Der Wanderer ist zurückgekehrt.« Scatha und Tegid begrüßten die Reisenden mit staunender Bewunderung. Alle Krieger scharten sich um sie, um ihre Leistung zu loben, nicht zuletzt, weil sie die mit Vorräten beladenen Packpferde gesehen hatten und schon fast das Essen riechen konnten, das auf sie wartete. »Gwion ist unserer Spur gefolgt«, sagte ich zu Te 557
gid und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Der Mabinog richtete sich auf und antwortete mit sichtlicher Befriedigung: »Wo du gegangen bist, da ist eine Spur aus Licht. Ob es Tag war oder Nacht, wir brauchten nur dem Aryant Ol zu folgen. Der Leuch tende Weg führte uns zu euch.« »Gut gemacht, Junge«, sagte Tegid stolz. »Davon möchte ich später mehr hören.« Dann sah er die anderen an und sagte: »Ihr alle habt große Strapazen und Gefahren auf euch genommen. Es muß ein sehr dringender Anlaß sein, der euch hierhergebracht hat. Warum seid ihr gekommen?« Gwion und die Krieger sahen Nettles an, der ant wortete: »Es geschah auf mein Drängen hin, Pender wydd. Fürst Calbha warnte mich vor Tir Aflan. Bei jedem Schritt fürchtete ich, wir würden zu spät kommen.« Er hielt inne und wandte seine Augen hinter den Brillengläsern mir zu. »Es geht um Weston und seine Männer«, sagte er und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er war weit gereist, während die Nach richt in ihm brannte. »Es ist ihnen gelungen, einen regelrechten Durchgang von unserer Welt zu dieser zu schaffen. Sie haben gelernt, wie sie Maschinen durch die Bresche befördern können, und haben Pläne gemacht, um das Land auszubeuten - Diamanten oder etwas ähnlich Wertvolles.« »Diamanten sind es nicht«, berichtigte ich ihn. »Irgendein Edelmetall, glaube ich.« Rasch berichtete 558
ich von dem Schornstein und den Maschinen, die auf einen Schmelzprozeß hindeuteten. Dann erzählte ich Tegid und den anderen ausführlich, was Bran und ich im Tal entdeckt hatten. Nettleton hörte mit schmerzverzogenem Gesicht zu. Als ich fertig war, sagte er: »Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Ich hatte keine Ahnung...« Er ver stummte, fassungslos über das Ausmaß der Krise. »Kommt«, sagte ich, um es ihm leichter zu machen. »Setzt euch. Ruht euch aus, und wir reden.« Doch er widersetzte sich und legte mir eine Hand auf den Arm, wie um mich zurückzuhalten. »Da ist noch etwas, Llew. Siawn Hy ist am Leben.« Ich starrte ihn an. »Was sagst du da?« »Simon ist am Leben, Lewis«, sprach er mich mit meinem früheren Namen an, wie um seinen Punkt zu unterstreichen. »Er und Weston arbeiten zusammen. Das haben sie von Anfang an getan.« Als er die Worte aussprach, sank die Gewißheit wie ein totes Gewicht auf mich herab. Es war Siawn Hy, nicht Paladyr, der sich durch Goewyns Entführung zu rächen versuchte. Paladyr mochte an der Tat beteiligt gewesen sein, aber Siawn Hy steckte dahinter. Siawns heimtückischer Verrat war wieder am Werk in diesem Weltenreich. »Llew?« fragte der Professor und musterte mich eindringlich. »Hast du mich gehört?« »Ich habe dich gehört«, erwiderte ich stumpf. »Si awn Hy am Leben, das erklärt vieles.« 559
»Nach ihrem ersten Kontakt«, fuhr der Professor fort, »versorgte Weston Simon mit Informationen im Austausch gegen finanzielle Förderung, die durch Simons Vater arrangiert wurde. Es war Simons Ehrgeiz, sich zum König aufzuschwingen - er prahlte sogar damit. Aber du hast seine Pläne durchkreuzt. Ja, dir ist sogar gelungen, woran er gescheitert ist«, betonte Nettles. »Ich glaube nicht, daß er dir das verzeihen wird.« »Nein«, sinnierte ich, »das wird er wohl kaum.« Ich trat einen Schritt von ihm weg, erhob meine Stimme und rief den Kriegern zu: »Ladet die Vorräte ab und bereitet ein Willkommensmahl vor. Dann macht eure Waffen bereit. Heute bereiten wir uns vor und ruhen uns aus. Morgen treffen wir auf den Feind.« Während sich die Krieger an ihre verschiede nen Aufgaben machten, rief ich Cynan, Bran und Scatha zusammen und sagte: »Wir werden uns jetzt beraten und unseren Schlachtplan zurechtlegen.« Die Dunkelheit hatte schon lange das Lager einge hüllt, als wir fertig waren; wie spitze Nadeln aus Licht leuchteten die Sterne aus der schwarzen Himmels kuppel der Nacht herab. Wir hatten den Rest des Tages mit Beratungen verbracht, die wir nur unterbra chen, um an einem in der Tat höchst willkommenen Mahl aus Brot, gepökeltem Rindfleisch und Bier teilzunehmen, das aus den mitgebrachten Vorräten zubereitet worden war. In jener Nacht, während die Kriegsschar schlief, ging ich um das Lager herum, 560
und meine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Bedeutung der Neuigkeiten, die der Professor mitge bracht hatte. Simon war, schwer verwundet durch Brans Speer, über die Schwelle gefallen und von Westons Leuten gefunden worden. Sie hatten ihn sofort ins Kranken haus gebracht, wo er sich langsam wieder erholte. »Sofort nach seiner Entlassung«, erklärte mir Nettles, als wir einen Moment Zeit fanden, »verschwand Simon. Und kurz darauf begannen die Aktivitäten auf Hochtouren zu laufen.« »Wie hast du das herausgefunden?« »Ich habe die ganze Operation im Auge behalten. Außerdem hatte ich Unterstützung.« Er beugte sich vor. »Erinnerst du dich an Susannah?« Als er den Namen erwähnte, flackerte in meinem Gedächtnis ein Gesicht auf: Eine junge Frau mit scharfem Blick und Feuer in den Adern, die Hirn und Courage genug für jede Herausforderung besaß. Ja, ich erinnerte mich an sie. »Susannah hat mir der Himmel geschickt«, infor mierte mich Nettles ernst. »Ich habe ihr alles gesagt. Ich weiß nicht, wie ich es anders hätte schaffen können.« Er wurde noch ernster. Nach einem Augenblick sagte er: »Nachdem Simon erneut verschwunden war, begann ich, die Anzeichen zu bemerken. Da wußte ich, daß etwas geschehen mußte. Der Schaden ist fürchterlich.« 561
»Schaden?« »Der Schaden an der manifesten Welt. Es brechen«, zögernd suchte er nach dem richtigen Wort, »es brechen Anomalien durch. Beinahe jeden Tag tauchen irgendwelche Abweichungen auf. Der Knoten, der Endlose Knoten löst sich auf, verstehst du? Und die manifeste Welt schwindet dahin; die Wirkung ist...« Hilflos und eindringlich blickten mich seine Augen durch die runden Brillengläser an, wie um mich zu beschwören, mich durch schiere Willenskraft dazu zu bringen, ihn zu verstehen. »Und da hast du beschlos sen zurückzukommen«, half ich ihm. »Ja, und als Calbha mir sagte, daß Goewyn entführt und ins Land der Fäulnis verschleppt worden sei, fürchtete ich schon, ich sei zu spät gekommen.« Professor Nettletons Ton wurde ernst und beharrlich. »Sie müssen gestoppt werden, Llew. Sie manipulieren Kräfte, die sie nicht verstehen. Wenn ihre Machen schaften weitergehen, werden sie buchstäblich alles vernichten. Du kannst dir nicht vorstellen...« Während diese Warnung in meinem Kopf wider hallte, dröhnend wie eine Schicksalsglocke, stapfte ich durch die kalte Nacht um das Lager herum. Das Ende war nahe, ich spürte es kommen, so schnell wie die Morgendämmerung. Morgen würde ich meinem Feind gegenübertreten, und mit der Hilfe der Schnellen Sicheren Hand würde ich ihn besiegen. Oder sterben.
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Das Tal lag noch genauso da, wie Bran und ich es zurückgelassen hatten, eine rote Wunde im Leib des Landes. Über allem hing wie eine rußige Zimmerdek ke der Rauch und hielt das wenige Licht fern, daß die bleiche, kraftlose Sonne hätte spenden können. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie dieses Sonnen licht durch den Nebel drang und all den Schmutz und Verfall einfach wegbrannte. Ach, aber es war etwas Stärkeres nötig als Sonnenlicht, um die Verwüstung ungeschehen zu machen, die wir vor uns sahen. Der mit Abschaum bedeckte See lag tödlich still unter dem Rauchschleier da wie ein blinder Spiegel. Der Gestank des Sees und des verwundeten Landes schmerzte in unseren Lungen und stach uns in die Augen. Die Männer mußten sich erst daran gewöhnen, bevor sie näher herangingen. »Die Dyn Dythri sind dort«, sagte ich zu ihnen und deutete mit meiner Speerspitze auf den Damm und den Schornstein. Cynan, Bran, Scatha, Tegid und Nettleton standen bei mir; die Kriegsschar war hinter uns aufmarschiert. »Ich weiß nicht, wie viele Fremde gekommen sind, aber es kann sein, daß sie von unserer Anwesenheit wissen und auf unser Kommen vorbereitet sind.« »Gut«, brummte Cynan. »Dann wird wenigstens niemand sagen, wir hätten einen schlafenden Feind besiegt.« Scatha beobachtete das Tal und musterte es einge hend, die grünen Augen zu Schlitzen verengt, denen 563
keine Einzelheit entging. »Du hast es gut beschrieben. Aber es wird schwierig sein, an diesem Hang entlang zugehen. Ich glaube, wir sollten den Pfad benutzen«, sagte sie und deutete auf den Pfad an der linken Seite des Sees, den die Schlammleute benutzten, um ihre Lasten zu dem Gelände jenseits des Dammes zu schleppen. »Die Sklaven werden uns nicht hindern«, sagte ich. »Es ist nicht nötig, ihnen auszuweichen. Sie werden nicht kämpfen.« »Ich sehe keinen von den Fremden und auch nicht ihre Olwynog Tuthógi«, sagte Bran, und einige der Männer lachten. Aber es war ein nervöses Lachen; echte Fröhlichkeit lag nicht darin. Ich wandte mich zu ihnen und sprach die Worte, die ich mir während der langen, schlaflosen Nacht zurechtgelegt hatte. »Clansleute und Freunde, wir sind weit gereist und haben viel erduldet, das geringere Männer in die Knie gezwungen hätte.« Dies wurde mit einem allgemeinen zustimmenden Murmeln aufgenommen. »Heute«, fuhr ich fort, »werden wir einem äußerst trügerischen und heimtückischen Feind gegenübertre ten. Trügerisch, denn seine Waffen sind Waffen der Feigheit und List. Heimtückisch, denn er ist schlau in seiner Bosheit und verschlagen in seiner Feindselig keit. Er wird euch als ein schwacher und unwürdiger Gegner erscheinen, anders als alle, denen ihr bisher in der Schlacht begegnet seid. Seine Waffen werden 564
euch gering und minderwertig erscheinen, aber laßt euch nicht täuschen. Denn sie können über weite Entfernung hinweg töten, ohne Vorwarnung. Ihr müßt zu allen Zeiten wachsam sein - denn wenn der Feind weit entfernt steht, ist er am gefährlichsten.« Die Männer tauschten verwirrte Blicke aus, aber ich fuhr fort. »Ihr müßt das verstehen«, sagte ich zu ihnen. »Hört auf mich. Die Feinde, denen wir heute gegenübertreten, werden sich euch nicht entgegenstel len. Sie werden davonlaufen und fliehen. Sie werden aus dem Hinterhalt heraus kämpfen.« Dies rief Ausrufe höhnischer Verachtung hervor. »Hört mich an!« fuhr ich fort. »Ihr dürft euch nicht täuschen lassen. Rechnet nicht mit Geschicklichkeit, rechnet auch nicht mit Ehre. Sondern rechnet mit Verwirrung und Feigheit - denn dies sind starke Schilde für einen Feind, der weder Tapferkeit noch Mut kennt.« Die Krieger applaudierten und erhoben ihre Stim men in spöttischen Schmährufen. »Ihre Stärke liegt nicht in ihrer Anzahl, sondern in ihrer Habgier und ihrer Gier nach Zerstörung. Der Feind wird rasch zuschlagen, ohne Bedenken und Reue. Mitleid wird ihn nicht zurückhalten, und Barmherzigkeit wird seine Hand nicht zögern lassen. Er spürt keine Scham.« Wieder ertönten verächtliche Ausrufe über einen so unwürdigen Gegner, doch ich hob meine silberne Hand und gebot Ruhe. »Hört mir zu! Wir kämpfen 565
heute nicht um der Ehre willen; Ruhm gibt es heute nicht zu gewinnen. Wir kämpfen nur ums Überleben. Wir sind nur wenige, aber wir sind es, die zwischen diesem Feind und dem Untergang unserer Welt stehen. Wenn wir scheitern, wird Albion unter den Schatten des Bösen und der Verwüstung fallen, der Tir Aflan zugrunde gerichtet hat. Wir kämpfen heute für die Freiheit derer, die vom Feind gefangengehalten werden: für Goewyn und Tángwen, ja, aber genauso auch für diejenigen, die noch nichts von der Gefahr ahnen, in der sie schwe ben. Darum laßt uns mit Schlauheit und List vorrücken. Wir müssen die Heimlichkeit suchen, wo wir sonst das offene Schlachtfeld wählen würden, wenn wir uns durch Heimlichkeit und Verbergen, ja sogar durch Flucht retten können, um dann erneut zu kämpfen.« Das hörten die Krieger nicht gerne. Sie murrten gegen ein solch feiges Vorgehen, doch ich ließ mich nicht beirren. »Klammern wir uns an unseren Stolz, so sind wir verloren. Achten wir unsere Würde höher ein als alles andere, so werden wir sterben.« »Wir werden heute kämpfen«, sagte ich ihnen, »aber wir müssen den Kampf überleben. Denn wenn wir scheitern, wird Albion fallen. Und wenn Albion erst einmal gefallen ist, kann aller Stolz und alle Würde in diesem Weltenreich es nicht wiederherstel len.« Jetzt waren weder Rufe noch Murren zu hören. 566
Meine Worte hatten ihr Ziel gefunden und waren eingeschlagen. Ich machte eine Pause, bevor ich meine Rede been dete. »Hört mich an, Brüder. Wenn ich in der Zeit, die ich unter euch verbracht habe, eines gelernt habe, dann ist es dies: Wahre Ehre lebt nicht im geschickten Umgang mit den Waffen oder in der Stärke der Arme, sondern in der Tugend. Geschicklichkeit läßt nach, und Stärke erlahmt, nur die Tugend allein bleibt. Darum laßt uns alles ablegen, was falsch ist. Streben wir statt dessen nach der Tapferkeit der Tugend und dem Ruhm des Rechts.« Ich hatte gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, aber konnten sie mich überhaupt verstehen? Vielleicht hatte ich den falschen Moment gewählt. Die Krieger verstanden mich nicht; ich hatte sie verloren und mit ihnen vielleicht die Schlacht. Doch gerade als dieser Zweifel sich in mir einnisten wollte, hörte ich ein leises, klickendes Geräusch. Ich wandte mein Gesicht dem Geräusch zu und sah Bran, starr und hart geradeaus blickend, wie er mit dem Schaft seines Speeres gegen den Rand seines Schildes schlug. Klick, klick, klick... Der Rabenflug fiel sofort mit ein; Scatha und Cy nan schlossen sich an. Klick! Klick! Klick! Und dann folgte nach und nach der Rest der Kriegsschar. Klick! Klick! Klick! Das Geräusch wurde zu einem Rasseln und schwoll schließlich zu einem drohenden Donnern an, als die Eschenholzschäfte auf die Metallumran 567
dungen schlugen. KRACH! KRACH! KRACH! Der Lärm stieg zu einem ohrenbetäubenden Höhe punkt an und brach dann so abrupt ab, daß ich den letzten Widerhall durch das Tal davonziehen hörte. Und dann machten wir kehrt und stiegen hinab ins Cwm Gwaed, ins Tal des Blutes.
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Die Falle Gewunden wie eine Schlange wand sich die Straße ins Tal hinab. Obwohl ich es schon zuvor betreten hatte, spürte ich den Schock von neuem - wie einen Faustschlag in die Kehle. Es war noch früh am Morgen, doch die Schlammleute wimmelten bereits wie Maden über die Halden und schwärmten durch die Gräben. Jenseits des Dammes spie der hohe Schornstein zum dumpfen Trommelschlag der un sichtbaren Maschinen seine giftigen Abgase in die Luft. Meine Leute starrten mit glasigen Augen und sprachlos auf das verschlammte Elend um sie her. Unfähig, den stumpfsinnigen Eifer der unglücklichen Arbeiter zu begreifen, starrten die Krieger nur und marschierten weiter. Wir hatten die Kriegsschar in drei Abteilungen aufgeteilt, jede unter dem Kommando eines Schlach tenführers; Scatha, Cynan und ich leiteten je eine Gruppe zu Fuß. Nur der Rabenflug war beritten und sollte sich unter Brans Befehl frei auf dem Schlacht feld bewegen, wo immer die Not am größten war. Was die anderen anging, so war ich der Ansicht, daß 569
Pferde uns nicht helfen würden; ohne sie konnten wir besser die Deckung nutzen, die uns die Löcher und die Haufen zermalmten Gesteins boten. Tegid, Gwion und Nettleton waren zurückgeblieben, um sich um die restlichen Pferde zu kümmern. Wie in der Schlacht gegen Meldron wollte der Oberste Barde den Kampf überblicken und uns auf bardische Art den Rücken stärken. Cynans Kriegsschar stieg zum Talboden hinab und arbeitete sich am Ufer des vergifteten Sees entlang auf den Damm zu; ich führte meine Leute auf der oberen Straße; Scatha und ihre Krieger rückten auf dem Pfad der gegenüberliegenden Seite des Sees vor und taten ihr Bestes, mit der fleckigen und scheckigen Land schaft zu verschmelzen. Bran blieb hinter uns außer Sicht; wann immer ich stehenblieb, um mich umzuse hen, konnte ich den Rabenflug nirgends entdecken. Der erste Schuß kam ohne Warnung. Ich hörte das Pfeifen einer Kugel und den trockenen Aufschlag auf dem Hang unterhalb von uns. Einen Moment später erreichte uns der Knall von unten wie das Knacken eines sich spaltenden Baumstamms. Übereifrig und undiszipliniert, hatte unser Feind es nicht erwarten können, bis wir in Schußweite waren, und das Feuer vorzeitig eröffnet. Das gab uns eine gute Gelegenheit, die Position und Stärke des Feindes zu ermitteln, ohne selbst ein Risiko einzugehen. Kleine weiße Rauchwolken von den Schußwaffen verrieten die Stellung des Feindes entlang dem Kamm 570
des Dammes. Ich blickte suchend über das Tal hinweg und zur anderen Seite des Sees und sah, daß Scatha und Cynan stehengeblieben und ebenfalls auf die Stelle aufmerksam geworden waren... Der Feind hatte uns auf der Straße entdeckt, wie ich beabsichtigt hatte, jedoch hatte er nicht daran gedacht, auch noch an derswo zu suchen. »Solche Dummheit sollte belohnt werden«, mur melte ich zu dem Mann, der mir am nächsten stand. »Dann laß uns großzügig dabei sein, Herr«, erwi derte der Krieger trocken. Eine Zeitlang schlugen die Kugeln harmlos in der Felswüste unter uns ein, dann verebbten die Schüsse allmählich. Ich signalisierte den Männern, sich geduckt zu halten, und wir rückten langsam weiter vor, immer nach dem Heulen von Kugeln lauschend und nach dem verräterischen weißen Wölkchen Ausschau haltend, das uns einen feindlichen Schützen anzeigte. Ich schöpfte Zuversicht aus dem Umstand, daß die Schützen bisher ihre ganze Aufmerksamkeit auf uns richteten; bisher hatten sie weder Scatha noch Cynan bemerkt, die sich unterhalb von ihnen immer näher an sie heranarbeiteten. Wenn ich den Feind nur noch ein wenig länger beschäftigt halten konnte, würden die anderen aus einer geschützteren Position weiter vorrücken können. Ich hob meine Hand und brachte meine Krieger zum Stehen. Inzwischen waren wir fast in Reichweite der Schußwaffen. »Bleibt unten!« sagte ich zu meinen 571
Leuten. »Und wartet auf meinen Befehl.« Dann stand ich auf, erhob meinen Speer und mei nen Schild und begann zu schreien. »Feiglinge!« rief ich. »Kommt heraus aus euren Verstecken und laßt uns kämpfen wie Männer!« Natürlich wußte ich, daß die Feinde mich nicht verstehen würden. Nur um meine eigene Kriegsschar zu ermutigen, rief ich die Herausforderung in der Sprache Albions. »Warum verkriecht ihr euch wie Würmer in euren Löchern?« höhnte ich. »Kommt heraus! Laßt uns miteinander kämpfen!« Meine simple List funktionierte. Die Feinde eröff neten das Feuer. Die Kugeln schlugen in den mit Abraum bedeckten Hang unter mir ein und wirbelten Staub und Splitter auf - ohne ihrem Ziel auch nur nahe zu kommen. Sie benutzten kleine Waffen - Handfeu erwaffen und kleine Gewehre. Waffen mit höherem Kaliber hätten weiter und erheblich treffsicherer geschossen. »Wo ist euer Schlachtenführer?« rief ich laut, so daß meine Stimme von der glatten Wand des Dammes zurückhallte. »Wo ist euer Feldherr? Er soll heraus kommen und mir von Angesicht zu Angesicht gege nübertreten!« Das zog eine weitere hitzige und nutzlose Salve vom Damm her nach sich. Meine Krieger lachten, als sie es sahen. Ich winkte ihnen, aufzustehen, nachdem ich nun wußte, daß es ungefährlich war. Und sie folgten meinem Beispiel und forderten ebenfalls die 572
Feinde heraus, hervorzukommen und wie echte Krieger zu kämpfen. Die Kugeln tätowierten den Hang in einem wilden Stakkato, und hinter dem Damm stieg der weiße Rauch empor. »Wie viele hast du gezählt?« fragte ich den näch sten Krieger. »Dreimal fünf«, erwiderte er. Ebenso viele hatte auch ich gezählt. Ich hätte ge dacht, daß fünfzehn Mann mit Schußwaffen in der Lage sein müßten, mit sechzig Speerträgern fertigzu werden - und wir waren bei weitem nicht so viele. Doch wenn diese fünfzehn nicht über mehr Schlach tenkunst verfügten, als sie bisher bewiesen hatten, würden ihre Waffen ihnen nicht den Sieg verschaffen. Scatha, so gewitzt, wie die Klinge in ihrer Hand scharf war, zögerte nicht, unser Ablenkungsmanöver auszunutzen. Mit zwei raschen, zügigen Vorstößen brachten sie und ihre Krieger die Entfernung bis zum Damm hinter sich, überquerten ihn und stiegen auf der anderen Seite wieder hinab. Cynan folgte ihrem Beispiel und verschwand hinter dem Damm, während wir höhnten und herumtänzelten wie die Verrückten, um das Feuer der Feinde auf uns zu ziehen. Während all dieses Aufruhrs arbeiteten die schlammbedeckten Sklaven vor sich hin und hoben kaum ihre Köpfe, wenn die Kugeln über ihnen hinwegpfiffen. Waren sie schon so heruntergekom men, daß sie nicht mehr merkten oder merken woll ten, was um sie her geschah? 573
Schließlich wurde das Feuer eingestellt. Doch da war die Falle schon zugeschnappt. »Jetzt müssen wir einen Weg finden, um sie aus ihrem Versteck zu locken, damit Scatha und Cynan zuschlagen können«, überlegte ich laut. »Die Kampflust ist über sie gekommen«, sagte der Krieger neben mir. »Sie gieren danach, zu töten.« »Dann laß uns sehen, ob ihre Gier sie töricht wer den läßt. Wir werden eine Schildreihe bilden.« Ich gab den Befehl, und die Krieger nahmen ihre Plätze neben mir ein. Schulter an Schulter bildeten wir eine Reihe und rückten langsam entlang der Straße vor. »Hebt die Schilde!« rief ich, und wir hielten die Schilde mit überlappenden Rändern vor uns. Wir gingen weiter. Die feindlichen Schützen hielten ihr Feuer zurück. Wir waren so weit vorgerückt wie wir es wagen konnten, und sie schossen immer noch nicht. »Halt!« Ich hob meine silberne Hand. Der Bluff hatte nicht funktioniert; wir hatten den Feind nicht aus seinem Unterschlupf gelockt. Wenn wir noch näher gingen, würde ein gut gezielter Schuß leicht unsere Schilde aus Eichenholz und Eisen durchdringen können. »Feiglinge!« schrie ich zum Damm hinab. Wir waren jetzt nahe genug, um die flachen Löcher sehen zu können, die die Männer entlang dem Kamm des Dammes gegraben hatten. »Ihr falschen Männer! Hört 574
mich an! Wir sind die Gwr Gwir! Kommt heraus aus euren Löchern, und wir werden euch zeigen, was ein wahrer Krieger vermag!« Nach diesen Worten begannen die Krieger an ihre Schilde zu schlagen und den verborgenen Feind zu verhöhnen. Das Trommeln der Speere auf die Schilde schwoll zu einem rasselnden Dröhnen an. Solch sicheren Zielen konnten die Schützen nicht widerste hen: Sie begannen wieder zu feuern. Die Kugeln schlugen mit erlahmender Wucht vor unseren Füßen in die Felsen ein. Ich befahl der Reihe, zwei Schritte zurückzuweichen. Die Versuchung erwies sich als zu stark - endlich hatten wir sie aus ihrer Deckung gelockt, und alle fünfzehn stürmten laut rufend ins Freie. Die erste Salve schlug ein paar Schritte vor uns in die Felsen ein. Ein Krieger konnte einem Querschlä ger vom Straßenpflaster ausweichen; ein anderer traf den unteren Rand meines Schildes. Ich spürte, wie das Holz zitterte, als die Kugel durchschlug. Es war Zeit, sich zurückzuziehen. »Zurück!« rief ich. »Noch einmal drei Schritte.« Die Reihe wich zurück und blieb dann wieder ste hen; die verächtlichen Hohnrufe gingen weiter. Da sie sahen, daß wir nicht näher kommen wollten, griffen die Schützen an. Kaum waren sie aus ihren Schlupflöchern hervor gekommen, da erschienen auch schon Scatha und Cynan aus den Rauchwolken hinter ihnen. Die 575
Schützen saßen in der Falle. In plötzlicher Panik wirbelten sie herum und schossen wild um sich. Zwei von ihnen gingen zu Boden - Opfer ihrer eigenen Unfähigkeit. Einer von Cynans Männern wurde von einer Kugel erwischt, die seinen Schild durchschlug, und stürzte zu Boden. Der Schütze bezahlte für seine letzte Tat, als ein heranfliegender Speer sich in seinen Bauch versenkte. Der Mann fiel und wälzte sich schreiend am Boden. Schon bei diesem ersten Verlust verloren die ande ren allen Kampfgeist, ergaben sich schreiend und warfen ihre Waffen zu Boden. »Es ist vorbei!« rief ich. »Gehen wir zu unseren Schwertbrüdern!« Wir eilten die Straße hinab zum Kamm des Dam mes. Ich sah mich rasch nach den Raben um, aber sie waren immer noch nirgends zu sehen. Was konnte sie aufgehalten haben? »Hervorragend, Pen-y-Cat! Gut gemacht, Cynan!« rief ich. Als ich die Schar der Krieger betrachtete, sah ich zu meiner Überraschung den Mann, der ange schossen worden war, wieder in der ersten Reihe stehen. Aus der oberen linken Ecke seines Schildes war ein Stück herausgerissen worden, und er war blaß und blutete aus einer Wunde dicht unterhalb der Schulter, aber sein Blick war klar und ungebeugt. Der verwundete Schütze hatte weniger Glück ge habt. Der Speer hatte seine Arbeit getan. Der Mann lag jetzt schweigend und reglos da. 576
Ich wies meine Krieger an, die Waffen der Feinde zu entfernen. »Sammelt ihre Waffen ein«, befahl ich ihnen. »Werft sie in den See.« Scatha und Cynan hatten die zwölf verbliebenen Schützen in einer Reihe antreten lassen. »Wo ist Weston?« fragte ich sie in ihrer eigenen Sprache. Niemand wagte zu antworten. Ich nickte Cynan zu. Er trat rasch vor und versetzte dem erstbesten Mann mit dem Ende seines Speers einen Schlag auf die Brust. Der Mann fiel wie ein Stein und wälzte sich auf dem Boden, Augen und Mund vor Schmerz weit aufgerissen, unfähig zu atmen. »Ich frage noch einmal: Wo ist der Mann, der We ston heißt?« Die Gefangenen tauschten ängstliche Blicke aus, gaben aber keine Antwort. Cynan ging an der Reihe entlang. Er blieb stehen und hob wieder seinen Speer. Der Mann vor ihm duckte sich. »Warten Sie! Warten Sie!« schrie er und wedelte mit den Händen. Cynan hielt inne, den Speer immer noch erhoben. »Nun?« fragte ich. »Sprechen Sie.« »Weston ist an der Mühle«, sprudelte der Mann hervor und gestikulierte wild in Richtung des Schlotes hinter ihm. »Sie bewachen die Mühle.« »Wie viele sind bei ihm?« fragte ich. »Drei oder vier, glaube ich«, erwiderte der Mann. »Mehr nicht.« »Ist sonst noch jemand da?« Der Mann wurde wieder zugeknöpfter. Cynan zielte 577
erneut mit dem Ende seines Speers. »Nein!« erwiderte er rasch. »Sonst niemand. Ich schwöre es!« Ich sah zu der Ansammlung von Gebäuden unter halb des Dammes hinunter. Weston hatte sich also mit drei oder vier Schützen in der Mühle verkrochen. Sie dort auszuheben, konnte sich als schwieriges und kostspieliges Unternehmen erweisen. Ich hob meine silberne Hand und befahl vier Kriegern, die Schützen wegzubringen. »Fesselt sie gut«, befahl ich. »Bewacht sie aufmerksam. Sie dürfen nicht entkommen.« Dann rief ich Scatha und Cynan zu mir und berich tete ihnen, was ich in Erfahrung gebracht hatte. »Was schlagt ihr vor?« fragte ich. Cynan sprach als erster. »Diese Fremden sind es wahrhaftig nicht wert, ihretwegen das Leben edler Krieger zu riskieren«, sagte er voller Verachtung. »Trotzdem, wir haben diese Männer gefangenge nommen. Wir können ihren Anführer nicht einfach laufen lassen.« Ich wandte mich an Scatha. »Was sagst du, Pen-y-Cat?« Scatha sah nachdenklich zu dem rauchenden Schornstein hinüber. »Mit Rauch gart man Fisch. Vielleicht bekommen wir auch unsere Feinde damit weich.« Es war nicht sonderlich schwierig, an dem Schorn stein emporzuklettern und oben ein paar Umhänge hineinzustecken, um den Abzug zu verstopfen. Binnen kurzem quoll Rauch aus jedem Spalt in dem 578
primitiv konstruierten Gebäude. Wir rückten vor und überquerten wachsam das Gelände. Als wir näher kamen, hörte ich, wie eine Tür zugeschlagen und ein Motor angelassen wurde, und einen Augenblick später brach ein Lieferwagen aus seinem Versteck hinter dem Gebäude hervor und schoß an uns vorbei. Die erschrockenen Krieger rissen entsetzt die Augen auf, als das gelbe Fahrzeug mit den Reifen Sand und Kies aufwirbelte und davonjagte. Einige Krieger, die nahe genug standen, schleuderten Steine dagegen, als es vorbeifuhr, und zerbrachen zwei Seitenfenster, doch der Wagen kam bis auf die Straße, bog ab und raste auf einer anderen Route aus dem Tal hinaus. »Zu Fuß holen wir sie nie ein«, bemerkte ich und sah dem Fahrzeug nach, wie es zwischen den Hügeln verschwand. Dann wandte ich mich an Cynan und befahl: »Schicke ein paar Männer los, die Pferde zu holen.« Zu Scatha sagte ich: »Wir werden ihnen folgen. Wenn Nettles recht hat, werden sie uns zu Siawn Hy und Paladyr führen.« Wir eilten weiter und folgten der Spur des Fahr zeugs. Es wurde bald offensichtlich, daß die Strecke viel befahren wurde. Da mit einem Hinterhalt zu rechnen war, sandte ich zu beiden Seiten der vorrük kenden Kriegsschar Kundschafter voraus. Wir eilten den aufsteigenden Pfad entlang, der bald von Cwm Gwaed abzweigte und sich wieder in die Berge hinaufschwang. 579
Auf einer Hügelkuppe nahe einem kleinen Bach befahl ich anzuhalten. »Wir werden hier rasten und auf die Pferde warten«, sagte ich zu den anderen. Als wir uns anschickten, das Tal zu verlassen, dreh te ich mich ein letztes Mal um und blickte zurück. »Wo ist Bran?« überlegte ich laut. »Was kann ihm zugestoßen sein?« »Um Bran brauchst du dir keine Sorgen zu ma chen«, sagte Scatha. »Der wird da sein, wo er am meisten gebraucht wird.« »Du hast recht, Pen-y-Cat«, stimmte ich zu. »Aber mir wäre es lieber, wenn mein Schlachtenführer mit mir ritte.« Die Worte waren kaum aus meinem Mund heraus, als wir von der anderen Seite des Hügels her Schüsse hörten. Wir eilten auf die Kuppe, blickten hinab und sahen den gelben Lieferwagen, der in einem schmalen Engpaß eingeschlossen und auf halbem Wege durch einen flachen, mit Felsen übersäten Bach liegenge blieben war. Rund um das gestrandete Fahrzeug kreisten Bran und die Raben auf ihren Pferden, laut rufend und ihre Speere schwingend. Zwei Männer feuerten ungezielt aus den zerbrochenen Scheiben des Fahrzeugs heraus. Wir eilten den Raben zu Hilfe und riefen ihnen zu, sich zurückzuziehen. Mit den vier Leuten in dem Lieferwagen würden wir leicht fertigwerden, aber ich wollte vermeiden, daß einer meiner Krieger von einer verirrten Kugel getroffen wurde. Die Raben entfernten 580
sich von dem Fahrzeug und zogen sich bis zu unserer Stellung zurück, gerade außerhalb der tödlichen Reichweite der Gewehre. Nach ein paar weiteren Schüssen wurde das Feuer eingestellt. »Ich habe euch nicht aus dem Tal herausreiten se hen«, sagte ich zu Bran. »Ich habe mir schon Gedan ken gemacht, was aus euch geworden sein mag.« »Paladyr hat das Lager angegriffen, sobald wir weg waren«, informierte mich der Anführer der Raben. »Wir sind zurückgeritten, um Tegid zu helfen, und haben die Feinde vertrieben. Dann haben wir sie verfolgt, aber wir haben sie in diesen Hügeln verloren. Als wir die Tuthógar-Rhodau fliehen sahen, beschieß ich, ihnen den Weg abzuschneiden.« Der Motor des Wagens heulte auf, es ertönte das ächzende Knacken des Schaltgetriebes, und dann holperte das Fahrzeug mit durchdrehenden Rädern über den Bach hinweg und floh aus dem Tal. »Folgt ihnen«, sagte ich zu Bran, »und bleibt in Sichtweite, aber versucht nicht, sie zu stoppen, und geht nicht zu nahe heran. Ihre Spur ist deutlich; sie können nicht entkommen. Ich habe Männer nach den Pferden geschickt; wir werden zu euch stoßen, sobald sie kommen.« Der Rabenflug stürmte davon, um den Wagen zu verfolgen, und als wir wieder auf den Hügel stiegen, um die Ankunft unserer Pferde zu erwarten, begrüßte uns das dumpfe Trommeln von Hufschlägen, das von 581
der anderen Seite des Hügels herankam. »Da kommt Tegid mit den Pferden«, sagte ich zu Cynan, und einen Augenblick später erschien der erste Reiter auf der Hügelkuppe direkt über uns. Doch es war nicht Tegid, der dort erschien und seinen Speer hob, als er die Kuppe erreichte; und die berittenen Krieger hinter ihm waren Fremde. Wir waren in eine Falle gelaufen.
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Tref-gan-Haint »Paladyr!« rief ich und blieb abrupt stehen. Der Feind zögerte und verharrte auf der Hügelkup pe. Dann kam der klare Ruf des Schlachtenhorns, laut und stark. Und dann galoppierten sie den Hang hinab wie eine Lawine aus trommelnden Hufen und wir belnden Klingen. Uns blieb nur ein Lidschlag Zeit, unsere Waffen zu heben, da waren sie schon bei uns. Scatha erfaßte die Situation sofort. »Hier können wir nicht gegen sie kämpfen!« rief sie und wirbelte herum. Sie schoß auf den Bach zu: »Folgt mir!« Cynan, den Speer hoch erhoben, bellte seinen Krie gern zu, ihm zu folgen, als er Scathas Beispiel folgte. Ich tat dasselbe, und wir rannten auf das höhere Gelände auf der anderen Seite des Baches zu, verfolgt von dem lauten Dröhnen des Schlachtenhorns in unseren Ohren und dem dumpfen Donnern der Hufe unter unseren Füßen. Zwei unserer Krieger wurden von hinten niedergeritten, und einen weiteren verloren wir an einen feindlichen Speer. Doch unsere vorge täuschte Flucht war nicht vorausgesehen worden, und es gelang uns, das höhere Gelände zu erreichen, bevor Paladyr, der allzu erpicht auf einen leichten Sieg war, 583
uns aufhalten konnte. Obwohl wir zu Fuß gegen eine Überzahl berittener Krieger standen, waren wir jetzt in einer überlegenen Position: Die Reiter mußten bergauf auf steilem, tückischem Gelände kämpfen. Scathas unfehlbares Gespür in der Schlacht hatte uns nicht nur gerettet, sondern uns sogar einen leichten Vorteil verschafft. »Sie hungern nach einem Kampf!« rief Cynan, während er beobachtete, wie die Pferde sich über den losen Kies des Berghanges emporkämpften. »Komm, Bruder, laß uns unsere ungestümen Gäste bewirten!« Er duckte sich unter seinen erhobenen Schild und schoß vorwärts, schlug mit der Klinge seines Speers eine weite Schneise vor sich und schlug dem nächsten Pferd die Beine unter dem Leib weg. Das Tier schrie, stürzte und warf seinen glücklosen Reiter zu Boden. Rasch stieß Cynan seinen Speer hinab, bevor der Feind sich von seinem um sich tretenden Reittier fortwälzen konnte. Cynan warf seinen Kopf zurück und stieß einen wilden Schlachtruf voll schrecklichen Jubels aus. Zwei weitere feindliche Reiter fielen seinem behen den Speer zum Opfer, bevor sie ausweichen konnten. Ich brachte mit Cynans Taktik einen weiteren zu Fall, und als ich mich umblickte, sah ich, daß es Scatha mit drei raschen Vorstößen gelungen war, ebenso viele Reiter aus dem Sattel zu holen. Der erste Zusammenprall dauerte nur ein paar Herzschläge lang. Da er mit seinen Bemühungen 584
nichts gewann, signalisierte Paladyr seinen Männern bald, den Angriff abzubrechen. Sie zogen sich auf die andere Seite des Baches zurück, um sich neu zu formieren. »Dieser Paladyr ist kein Narr«, bemerkte Cynan. »Wenigstens weiß er, wann er sich zurückziehen muß.« Ich spähte über den Bach hinweg und sah Paladyr, nackt bis zur Taille, Gesicht und Brust mit blauer Kriegsfarbe bestrichen und die Muskeln an Rücken und Armen glänzend vor Schweiß. Er hielt einen Speer und einen Schild aus Bronze in den Händen, schrie seine Männer an und stauchte sie wegen ihrer Unvorsichtigkeit und Unfähigkeit zusammen. Von Siawn Hy war unter ihnen nichts zu sehen, aber das überraschte mich nicht. »Er ist kein Narr«, stimmte ich zu, »aber er ist im pulsiv. Das könnte ihm zum Verhängnis werden.« »Wer sind die Leute bei ihm?« wunderte sich Cy nan. Ich musterte Paladyrs Kriegsschar. Es waren rohe Kerle, bewaffnet mit alten Bronzewaffen wie denen, die wir in dem verfallenen Turm gesehen hatten. Ihre Schilde waren klein und schwer, ihre Speere kurz, mit schweren Spitzen. Manche trugen Helme, die meisten jedoch nicht. Und nur wenige trugen außer ihren Speeren auch Schwerter. Sie bewegten sich unbehol fen - als ob sie ans Reiten nicht gewöhnt seien und sich unsicher fühlten. Zweifellos hatten sie erwartet, 585
uns mit dem ersten Ansturm zu überrennen; nun aber standen sie einem Gegner gegenüber, der entschlosse ner war, als sie vorausgesehen hatten. Mir wurde klar, daß dies nicht so sehr eine ausge bildete Kriegsschar als vielmehr eine Bande disziplin loser Wegelagerer war. Es waren Söldner, die viel leicht aus der Menge der unten im Tal schuftenden Arbeiter ausgewählt worden waren. Obwohl sie Pferde hatten, war es offensichtlich, daß sie nicht daran gewöhnt waren, zu Pferd zu kämpfen: Der katastrophale Verlauf ihres ersten Angriffs hatte das bewiesen. »Llew!« rief Scatha und eilte auf mich zu. »Hast du ihn gesehen?« »Nein«, erwiderte ich. »Siawn Hy war nicht bei ihnen. Aber wie denkst du über die anderen?« »Mir scheint Paladyr hat versucht, sich aus ziem lich schlechtem Tuch eine Kriegsschar zusammenzu nähen«, erwiderte sie. »Genau das dachte ich auch«, sagte ich. »Und bald werden sich die Nähte unter seinen Händen auflösen.« »Eine Prahlerei? Aus Llews Mund?« krähte Cynan, der gerade wieder den Hang emporgestapft kam. »Bruder, fühlst du dich auch wohl?« »Ich habe mich nie wohler gefühlt«, gab ich zu rück. Das Gellen der Carynx kündigte einen zweiten Angriff an, und die Feinde setzten erneut über den Bach. Diesmal hatte Paladyr seine Männer in einer 586
Linie formiert, und sie rückten gemeinsam vor, um unsere dünne Abwehrlinie auseinanderzuziehen und uns zu spalten. Doch Scatha hatte andere Vorstellungen. Sie rief die Kriegsscharen zusammen und formierte sie zu einem spitzen Keil. Da sie nicht schnell genug den steilen Hang heraufkamen, um uns von den Flanken her anzugreifen, blieb den Reitern keine Wahl, als direkt auf die Spitze dieses Keils loszustürmen. Schreiend und brüllend ritten sie uns entgegen und taten ihr Bestes, um uns einzuschüchtern und zu zerstreuen. Doch wir hielten unsere Formation und schlugen sie aus den Sätteln, sobald sie in unsere Reichweite kamen. Acht Feinde gingen zu Boden, bevor sie auch nur ihre Pferde zum Rückzug wenden konnten. Und Paladyr war erneut gezwungen, den Angriff abzubrechen. Als der Feind kehrtmachte und wieder über den Bach floh, rief ich die Schlachtenführer zu mir. »Offenbar fehlt ihnen die rechte Entschlossenheit, den Angriff durchzuziehen.« »Clanna na cù, was für ein armseliger Überfall«, höhnte Cynan und stieß sein Kinn nach vorn. »Ich würde mich schämen, so erbärmliche Krieger anzu führen.« »Ja, und Paladyr ist eigentlich ein zu guter Schlach tenführer, oder zumindest war er es einmal. Ich verstehe das nicht.« »Ihre Unerfahrenheit behindert sie«, bemerkte ich. 587
»Sie wagen es nicht, uns in einen offenen Kampf zu verwickeln, also versuchen sie, uns immer wieder anzugreifen, bis uns die Kräfte ausgehen.« »Da werden sie eine Enttäuschung erleben«, sagte Scatha und ließ ihren Blick rasch über den Hang wandern. »Wenn sie keinen wirksameren Angriff führen als bisher, können wir unsere Stellung gegen sie den ganzen Tag lang halten.« »Wir müßten überhaupt nicht hier stehen, wenn wir unsere Pferde hätten«, sagte Cynan. »Dann laßt uns ihre nehmen«, schlug Scatha vor. »Wir könnten besseren Gebrauch von ihnen machen als sie.« Rasch dachten wir uns einen Plan aus, wie wir beim nächsten Zusammenprall so viele Pferde der Feinde wie möglich befreien könnten. Aber gerade in dem Augenblick, als Paladyrs Kriegsschar den Bach überquerte, um uns ein weiteres Mal anzugreifen, trafen die Raben ein. Ein flüchtiger Blick auf den Rabenflug, wie er mit vollem Kriegsgeschrei den Berghang hinabstürmte, reichte aus, um die feigen Feinde in alle Richtungen zu zerstreuen. Sie spritzten durch den Bach zurück und verschwanden auf der anderen Seite des Hanges. Bran hätte sie verfolgt, doch ich rief ihn zurück. »Mir wäre es lieber, wenn ihr bei uns bliebet«, sagte ich zu ihm. »Was habt ihr da vorne gefunden?« Ein seltsamer Ausdruck ging über das Gesicht des Anführers der Raben. »Dort ist eine Siedlung, Herr«, 588
sagte er. »Aber ganz anders als alle, die ich bisher gesehen habe.« »Ist es ungefährlich?« überlegte Cynan. »Es könnte eine weitere Falle sein.« »Vielleicht«, räumte der Anführer der Raben ein. »Aber ich glaube es nicht.« »Warum sagst du das?« fragte Scatha. Statt zu antworten, erwiderte Bran: »Ich werde es euch zeigen. Es ist nicht weit.« Ich rief Drustwn und Garanaw herbei und sagte zu ihnen: »Tegid und die Pferde müßten eigentlich inzwischen hier sein. Reitet ihnen entgegen und bringt die Pferde zur Siedlung. Wir werden euch dort erwarten.« Dann wandte ich mich wieder an Bran. »Zeig uns diesen Ort, den ihr gefunden habt.« »Hier entlang«, sagte Bran, wendete sein Pferd und ritt uns voraus den Berghang hinauf und auf einem Kammpfad entlang. Die übrigen Raben ritten zum Schluß, um zu verhindern, daß Paladyr und seine Schar zurückkehrte und uns von hinten überraschte. Doch die Feinde kamen nicht wieder. Nach einer kurzen Strecke auf dem Kamm machte der Pfad eine Biegung und führte in ein steilwandiges Tal hinab. Ein schlammiger Fluß wand sich gemäch lich den Talboden entlang, und am hiesigen Ende, hart gegen den Berghang gepreßt, war eine primitive Siedlung errichtet worden. Die wenigen größeren, festeren Gebäude waren aus unbearbeitetem Holz gebaut; der Rest wirkte grob zusammengezimmert, 589
ein Flickwerk aus beliebigen Fundstücken. In geringer Entfernung jenseits der Siedlung schimmerte ein schmaler See matt im schmutzigen Licht. Wir stiegen in das Tal hinab und betraten das Dorf auf der einzigen Straße, die aus festgestampfter Erde bestand, gingen zwischen den zusammengewürfelten, baufälligen Baracken hindurch, die übereinanderge schichtet worden waren und sich in allen Richtungen neigten. Auf einem weiten Platz vor einer der größe ren Behausungen blieben wir stehen. Eine Reihe wackeliger, hastig zusammengezimmer ter Marktstände stand auf der dem Gebäude gegenü berliegenden Straßenseite und dazwischen ein schlammverkrusteter gemauerter Brunnen. Dort hielten wir, um auf Tegid und die Pferde zu warten. Wir hatten seit unserer Ankunft keinen Menschen zu Gesicht bekommen, und wäre nicht der Abfall und der Kot gewesen, der überall herumlag, so hätte ich die Ortschaft für seit langem verlassen gehalten. Doch sobald offensichtlich wurde, daß wir vorhatten hierzubleiben, begannen die unsichtbaren Einwohner aus ihren Verstecken zu kommen. Wie Würmer, die aus ihren Rissen und Spalten hervorkriechen, kamen sie heraus, zuerst zögernd, dann immer kühner. Humpelnd, stolpernd, mit zerschlagenen und defor mierten Gliedmaßen, schleppten sie sich auf den Platz. Binnen kürzester Zeit waren wir alle von einem Haufen abgerissener Bettler umlagert. Sie umringten uns mit ausgestreckten Händen und 590
offenen Mündern und miauten wie kranke Tiere nach Essen und Abfällen - aber wir hatten nichts, das wir ihnen hätten geben können. Wie die Schlammleute, die in den Minen arbeiteten, blickten sie stumpf drein, mit trüben Augen und ausdruckslosen Gesichtern. Mehr tierisch als menschlich standen sie schiefbeinig und mit hängenden Schultern da in ihrem tiefen Elend. Bettler sind in Albion unbekannt, so daß die Krie ger zunächst nicht verstanden, was die Menge von ihnen wollte. Sie wichen vor den ausgestreckten Händen zurück oder schoben sie von sich, wodurch sich das Flehen jedoch nur steigerte. Cynan und Bran beobachteten das Gedränge wach sam und mit wachsendem Unbehagen, sagten jedoch nichts. »Wir sollten weitergehen«, meinte Scatha schließlich, »sonst gibt es noch Ärger.« »Wenn sie sehen, daß wir nichts haben, das wir ihnen geben könnten«, erwiderte ich, »werden sie uns in Ruhe lassen.« Aber ich irrte mich. Die Bettler wurden immer beharrlicher und fordernder. Schließlich wurden sie aggressiv. Einige der Frauen stolzierten auf die Krieger zu und rieben ihre Leiber an den Rüstungen der Männer. Die Krieger reagierten mit vorhersehba rem Abscheu und Ärger. Doch die Huren waren ebenso beharrlich wie abstoßend. Mit schrillen Stimmen schmeichelten sie und klammerten sich an die Krieger. 591
»Llew«, flehte Scatha, »laß uns dieses ... dieses Tref-gan-Haint sofort verlassen.« »Du hast recht«, gab ich nach. »Wir werden weiter bis zum See gehen und dort auf die Pferde warten.« Als wir uns in Bewegung setzten, begannen die Bettler laut zu jammern und gräßlich zu schreien. Die Frauen, verschmäht und rundheraus abgelehnt, folgten uns und schleuderten uns Beleidigungen und Spott hinterher. Eine von ihnen, kaum mehr als ein Mäd chen, sah meine silberne Hand und rannte zu mir. Sie fiel vor mir auf die Knie, ergriff meine Hand und begann sie zu liebkosen. Behutsam versuchte ich, meine Hand ihrem Griff zu entziehen, doch sie klammerte sich an mich, zog an meinem Arm und zerrte mich hinab. Sie stöhnte und schmollte und rieb ihre Lippen über meine Metall hand. »Ich habe nichts für dich«, sagte ich in bestimmtem Ton zu ihr. »Bitte steh auf. Erniedrige dich nicht so.« Aber sie machte keine Anstalten, mich loszulassen. Schließlich ergriff ich ihr Handgelenk, zog ihre Hand von meiner ab und schickte mich an, über sie hinweg zusteigen. Als sie sah, daß ich sie zurücklassen wollte, sprang sie mich mit einem weit ausholenden Hieb ihrer Fingernägel an. Ich riß meinen Kopf zurück, und sie fiel zu Boden, wo sie sich wälzend und jammernd liegenblieb. Ich stieg über sie hinweg und ging weiter. Sie trat um sich und verfluchte mich, und erst allmäh lich ging ihre scharfe Stimme in dem allgemeinen 592
Aufruhr um uns her unter. Ich ging durch die Menge und führte die Kriegs schar fort. Hände grabschten nach meinen Armen und Beinen. Stimmen wimmerten und schrien. Ich drängte mich vorwärts und blickte starr geradeaus. Was konnte ich ihnen geben? Was wollten sie von mir? Wir kamen wieder auf die enge, stinkende Straße und folgten ihr bis zum Ende, wo die Abfallhaufen des Barackendorfes schwelten und brannten und einen giftigen Rauch von sich gaben. Auch hier waren Bettler, die im Müll und Schmutz herumwühlten, um irgendwelche übersehenen Krumen zu finden. Magere, langbeinige Hunde schnüffelten im Dreck herum. Ein Mann lag nackt, die Haut vom Rauch geschwärzt, halb im Abfall vergraben; er stützte sich mühsam auf einen Ellbogen und schrie uns einen obszönen Gruß zu, als wir vorbeigingen. Seine Beine waren mit unzähligen offenen Geschwüren übersät. Die widerlichen Hunde lungerten um ihn herum und sprangen hin und wieder auf den Mann zu, um an seinen eiternden Wunden zu lecken. Kaum wandte ich mich von diesem grausigen Anblick ab, trafen meine Augen auf den nächsten. Ich sah zwei Hunde, die sich um einen Kadaver stritten - kaum mehr als ein Fetzen fauligen Fleisches, der an einem verfallenden Skelett hing. Mit einem kalten Schrecken begriff ich plötz lich, daß es menschliche Überreste waren. Ich mußte würgen und wandte mein Gesicht ab. Tref-gan-Haint hatte Scatha das Dorf genannt, Stadt 593
der Pestilenz, Ort des Schmutzes. Es war ein wider wärtiger Anblick, voller Krankheit und Tod, und es erfüllte die Luft mit dem Gestank einer faulenden Wunde. Dies, überlegte ich, war das Schicksal, das die Sklaven erwartete, wenn die Zeit ihrer Nützlich keit vorbei war. Sie beendeten ihre Tage als Bettler, die sich um Fetzen von Abfall stritten. Der Gedanke bekümmerte mich, aber was konnte ich tun? Ich schluckte schwer und ging weiter. Jenseits des Dorfes war es noch ein kurzes Stück bis zu dem flachen See, aus dem der Bach hervorfloß, und dort fanden wir es etwas erträglicher. Obwohl das Ufer mit scharfen Feuersteinscherben übersät war, war das Wasser einigermaßen sauber. Niemand folgte uns aus dem Dorf heraus, so daß wir den See für uns hatten und uns auf dem scharfkantigen Ufer niederlie ßen, um zu warten. Ich döste ein und fiel in einen leichten Schlaf, in dem ich träumte, daß Goewyn uns gefunden hatte und nun über mir stand. Ich erwachte und sah statt dessen Bran neben mir sitzen. Von den Pferden war noch nichts zu sehen. Ich stand auf, und Bran und ich gingen an dem steinigen Ufer entlang zurück. Eine schmutzig-gelbe Sonne sank über den Gipfeln im Westen herab und zog unsere Schatten auf dem Kiesstrand in die Länge. »Wo mag Tegid stecken?« überlegte ich laut und spähte zu dem verpesteten Dorf und dem dahinterlie genden Bergkamm. »Glaubst du, er ist Paladyr in die 594
Arme gelaufen?« »Möglich. Doch Drustwn und Garanaw wissen, wo sie uns finden«, meinte Bran. »Wenn es Schwierigkei ten gäbe, hätten sie uns gerufen.« »Trotzdem, mir gefällt das nicht«, sagte ich zu ihm. »Sie müßten längst hier sein.« »Ich werde gehen und sehen, was passiert ist«, erbot sich Bran. »Nimm Emyr und Niall mit. Schicke einen von beiden mit einer Nachricht zurück, sobald ihr irgend etwas findet« Bran eilte zu seinem Pferd, stieg auf und rief die übrigen Raben zu sich, und die drei ritten sofort los. Ich sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren, und rief dann Scatha und Cynan zu mir. »Ich habe Bran losgeschickt, um zu sehen, was aus Tegid und den anderen geworden ist.« »Es wird spät«, sagte Scatha. »Vielleicht sollten wir versuchen, anderswo einen besseren Unterschlupf zu finden.« »Die Dunkelheit wird heute nacht unser einziger Unterschlupf sein, fürchte ich.« Ich drehte mich zum Bergkamm um und suchte die Hänge ab, doch es war kein Anzeichen zu sehen, daß jemand zurückkehrte. Was konnte mit Tegid und Nettles geschehen sein? Die Sonne versank in einem häßlichen braunen Dunst, und ein düsteres Zwielicht zog sich um uns zusammen. Sobald die Sonne verschwunden war, war alle Wärme dahin; ich spürte, wie die Bergkälte aus 595
der Luft sickerte und aus dem Boden hervorkroch. Nebel stieg aus dem See auf, und nächtliche Schwa den zogen wie gewundene Bäche an den Hängen hinab. Die Männer hatten auf den karstigen Hängen rund um den See nach Holz gesucht, und das wenige, das sie gefunden hatten, wurde in Brand gesetzt, als die Nacht hereinbrach. Es reichte für ein paar kleine Feuer, die unstet brannten und wenig Licht gaben. Wir waren hungrig, da wir seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatten, doch außer dem Wasser des Sees hatten wir nichts, um den Hunger zu stillen. Es schmeckte schal und metallisch, aber es war kalt und löschte unseren Durst. Die Dämmerung im Tal nahm zu. Am Himmel war noch ein schwacher Schimmer des ersterbenden Tageslichts zu sehen, und der vom See aufsteigende und von den Hängen herabziehende Dunst verdichtete sich zu Nebel. Ich wanderte rastlos über den steinigen Strand und lauschte in die Dunkelheit nach einem Anzeichen für die Rückkehr unserer Pferde. Doch außer dem Plätschern der Wellen und dem gelegentli chen Bellen eines Hundes in der Ferne war nichts zu hören. Lange Zeit stand ich da, wartend, lauschend. Ein roter Mond schwebte niedrig über den Bergen, spähte wie ein Auge durch den Nebel herab und warf einen trostlosen, rötlichen Lichtschein über den See und die Hänge. 596
Schließlich machte ich kehrt und ging zurück zu den Lagerfeuern, die weich durch den Nebel schim merten. Ich kam an dem ersten Feuer vorbei und hörte die Männer leise reden, ihre Stimmen ein sanftes Murmeln im Nebel. Doch ich hörte noch etwas anderes. Ich blieb stehen und hielt den Atem an... Ein stampfendes Geräusch, leise und rhythmisch wie Herzschlag, klang durch die Dunkelheit - bumm ... bumm ... bumm. Wegen des Nebels schien das Geräusch aus allen Richtungen gleichzeitig zu kom men. Cynan hörte es ebenfalls und kam zu mir. »Was kann das sein?« fragte er leise. »Pst!« Wir standen reglos da. Allmählich wurde das Ge räusch lauter und deutlicher - ba-lumm ... ba-lumm ... ba-lumm ... und löste sich schließlich in den langsa men, ausgreifenden Galopp eines Pferdes, das über das steinige Ufer näher kam. »Wir bekommen Besuch«, sagte ich zu Cynan. Die Schritte wurden schneller, als das Pferd heran nahte. Es kam vom anderen Ende des Tales, gegen über von Tref-gan-Haint. Mein Puls beschleunigte sich mit dem Galopp des Pferdes, und meine silberne Hand sandte ein eisiges Prickeln in meinen Arm hinauf. »Ich hole eine Fackel«, sagte Cynan und schoß sofort davon. Ich ging ein paar Schritte weiter am Ufer entlang auf das Geräusch zu. Meine Metallhand brannte mit 597
einer eisigen Kälte. Der Reiter war schon näher, als ich ahnte. Plötzlich sah ich ihn: Aus den wirbelnden Schwaden stürmte ein Reiter auf einem Pferd, so fahl wie der Nebel selbst, und die eisenbeschlagenen Hufe schlugen im Galopp Funken aus den Feuersteinen. Der Reiter war von Kopf bis Fuß in eine bronzene Rüstung gehüllt; sie schimmerte matt im rötlichen Mondlicht. Auf dem hochgewölbten Helm trug er einen Helmbusch, und sein Gesicht war mit einer seltsamen Kampfmaske bedeckt. Er trug einen langen Bronzespeer; an seinem Schenkel lag ein kleiner, runder Bronzeschild. Seine Füße steckten in bronze nen Kampfstiefeln, und die Hände waren in Hand schuhe gehüllt, die mit bronzenen Fischschuppen bedeckt waren. Der hochkantige Sattel war mit runden, gewölbten Bronzescheiben verziert. Auch das Pferd war gepanzert; auf seinem Kopf saß ein bronze ner Kopfschutz mit langen, geschwungenen Hörnern. Bronzene Brustpanzer und Beinschützer kleideten Pferd und Reiter. Obwohl ich den Reiter noch nie zuvor gesehen hatte, wußte ich, wer es war. Die Banfáith hatte mich schon vor langer Zeit vor ihm gewarnt, und ich erkannte ihn selbst in dieser tiefen Nebelnacht: Es war der Eherne Mann.
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Nächtlicher Zusammenprall Der Eherne Mann kam direkt auf mich zu. Ich wich im letzten Augenblick zur Seite aus, und er riß hart an den Zügeln. Das Pferd bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen durch die Luft. Der Mann hob seine Hand, und ich hielt mich bereit, einen Schlag abzu wehren. Doch dann sah ich, daß er kein Schwert in der Hand hielt, sondern einen zugeknoteten Sack. Er wandte mir sein bronzeverhülltes Gesicht zu, das mich ausdruckslos anstarrte; und obwohl ich hinter seiner polierten Maske seine Augen nicht sehen konnte, spürte ich die Kraft seines Hasses wie einen Hitzestrom auf meiner Haut. Meine silberne Hand brannte vor gefrorenem Feuer. Der geheimnisvolle Reiter schwang sich den Sack einmal um den Kopf und ließ ihn los. Der Beutel schlug auf den Boden auf und rollte mir vor die Füße. Dann ließ der Reiter mit einem wilden, triumphieren den Schrei sein Pferd herumwirbeln und galoppierte zurück, woher er gekommen war. Cynan rannte mit einem brennenden Scheit, den er aus dem Feuer gezogen hatte, auf mich zu. »War das Paladyr?« 599
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, erwiderte ich. »Ich glaube nicht, daß es Paladyr war...« »Wer dann?« Ich blickte auf den zugeknoteten Sack hinab, der auf dem Ufer vor mir lag. Cynan bückte sich und hob ihn auf. Ich nahm ihn aus seiner Hand. Drinnen war etwas Rundes, Dickes, aber nicht allzu Schweres. Ich löste den Knoten, öffnete den Sack und schaute hinein, aber ich konnte den Inhalt nicht deutlich sehen. »Hier«, sagte ich, legte den Sack auf den Boden und zog die Öffnung weit auf. Cynan hielt seine Fackel näher heran. Ich sah wieder hin und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan. Professor Nettletons bleiches, blutleeres Gesicht starrte mir entgegen. Seine Brille fehlte, und sein weißes Haar war mit geronnenem Blut verklebt. Ich schloß die Augen und schob den Sack von mir. Cynan nahm ihn mir ab. Scatha kam mit dem Schwert in der einen und einer Fackel in der anderen Hand eilig auf uns zu. »Ist es...?« Sie stockte. »Es ist der Weißhaarige«, sagte Cynan zu ihr. »Llews Freund.« »Es tut mir leid, Llew«, sagte sie nach einer Pause. Ihre Stimme war ernst, aber ich spürte ihr die Erleich terung an, daß es nicht ihre Tochter war. »Was soll ich damit machen?« fragte Cynan. »Leg ihn fürs erste zu Aluns Asche«, sagte ich ihm, 600
innerlich voller Schmerz. »Ich werde ihn nicht an diesem Ort begraben.« »Aluns ... die Asche ist bei Tegid«, erinnerte mich Scatha. Ich hörte sie, erwiderte jedoch nichts. Mein Kopf brodelte vor Fragen. Warum hatte man das getan? War es eine Herausforderung? Eine Warnung? Wer konnte so etwas tun? Wie war er gefangengenommen worden? Was hatte das zu bedeuten? Ich starrte in den wabernden Nebel als erwartete ich, daß die Antworten daraus hervorkommen würden wie der Reiter in der bronzenen Rüstung. Der Eherne Mann! Die Worte schossen mir wie Pfeile direkt ins Herz. Wieder hörte ich die Stimme der Banfáith, wie sie die entsetzliche Prophezeiung aussprach: All dies ist durch den Ehernen Mann geschehen, der ebenso auf seinem Reittier aus Messing große und entsetzliche Not bewirkt. Erhebt euch, Männer von Gwir! Nehmt Waffen in die Hände und widersteht den falschen Männern in eurer Mitte! Der Klang des Schlachtengetümmels wird zwischen den Sternen des Himmels zu hören sein, und das Große Jahr wird seiner endgültigen Erfüllung entgegengehen. »Llew?« sagte Cynan und berührte mich vorsichtig am Arm. »Was ist mit dir, Bruder?« Ich sah ihn an. »Ruf die Männer zusammen. Schnell!« Scatha stand da und sah mich an, die Stirn in be 601
sorgte Falten gelegt. Im flackernden Flammenschein sah sie aus wie Goewyn. »Bewaffne dich, Scatha«, sagte ich. »Heute nacht kämpfen wir um unser Leben.« Cynan alarmierte die Männer mit einem Ruf, und Emyr blies einen langen, markerschütternden Stoß auf der Carynx. Innerhalb von zwei Herzschlägen war das Lager ein Durcheinander von rennenden und schrei enden Männern, die sich bewaffneten, um den Fein den zu begegnen, die bereits ans Seeufer schwärmten. Wie Phantome erschienen sie aus dem Nebel - Reihe um Reihe, Dutzende, eine feindliche Streitmacht in bronzenen Rüstungen. Jemand drückte mir einen Speer in die Hand. Da ich keinen Schild finden konnte, packte ich einen brennenden Scheit und rannte an meinen Platz in der vordersten Reihe der Krieger, Scatha zu meiner Rechten, Cynan zu meiner Linken. Wir stellten uns mit dem Rücken zum See und stürzten uns in den Kampf. Sie fielen wie eine Welle über uns her, als wollten sie uns mit einem einzigen gewaltigen Ansturm in den See treiben. Doch unsere Krieger waren schlachter probte Männer, geschickt im Nahkampf; jeder von ihnen hatte gegen den Großen Hund Meldron ge kämpft. Nachdem der erste Schock der Überraschung verflogen war, stürzten sie sich mit wilder Freude in die Schlacht. Bis auf den letzten Mann waren sie Tir Aflan leid, waren die Entbehrungen und Strapazen 602
leid und begierig, auf den Feind einzuschlagen, der ihnen all dieses Elend verursacht hatte. Wie schon zuvor waren die Feinde zwar wohlgerü stet, aber kaum in der Lage, gegen echte Krieger zu kämpfen. Doch diesmal waren es mehr als die Schar, der wir früher am Tag begegnet waren, viel mehr. Nachdem der erste Ansturm aufgefangen war, lo derten die Krieger von Albion auf wie eine Stich flamme, schlugen rasch und heiß zu und schnitten eine Schneise in die Flut der heranstürmenden Feinde. Der Zusammenprall ließ die Angreifer zurücktaumeln. Ermutigt durch diesen ersten Erfolg ließ Emyr einen markerschütternden Stoß des Schlachtenhorns hören, und die Krieger von Albion beantworteten das Signal mit einem aufrüttelnden Schlachtruf, der am ganzen steinigen Strand widerhallte und dem Feind entgegen schlug wie eine Faust. Mit wehenden Haaren und fliegendem Umhang stürzte sich Scatha in die feindliche Linie; das Schwert in der einen Hand, die Fackel in der anderen wie Morrigan, die Kriegsgöttin, in der Schlacht! schlug sie um sich, und bei jedem ihrer Schläge sprühten Funken und sank ein Mann tot zu Boden. Die Feinde flohen vor ihr wie vor einem flammenden Wirbelsturm. Cynan rief die besten der Krieger Caledons zu sich und begann, eine Schneise durch die Feinde zu schlagen, die breit genug war, daß man einen Kampf wagen vom Seeufer bis zum oberen Ende des Stran 603
des hätte fahren lassen können. Ich warf mich in das Gewirr zwischen den beiden Schlachtenführern und schlug und stieß mit meinem Speer um mich. Die Speerklinge blühte im Fackel schein rot auf, und ich durchsuchte die wimmelnde Masse der Feinde nach dem Ehernen Reiter. Doch meine silberne Hand hatte ihre unheimliche Kälte verloren, und daran erkannte ich, daß er nicht in der Nähe war. Zwei bronzegepanzerte Feinde sprangen mir in den Weg und schwangen ihre Schwerter über den Köpfen. Ihre Augen schimmerten unter den gehörnten Helmen, und über den Rändern ihrer Schilde blitzten ihre Zähne auf, als sie einen höhnenden Schlachtruf erhoben. Ohne auf ihre Klingen zu achten, zerschnitt ich die Luft vor ihren Nasen mit meiner Speerklinge, und sie blieben stehen. Ich wirbelte den Schaft meines Speeres herum und schlug erst ein Schwert, dann das andere zur Seite. Dann... Krach! Krach! Zwei scharfe Stöße mit dem Ende des Speers, und beide Helme fielen zu Boden, als die Köpfe nach hinten knickten und die Feinde umstürzten wie Statuen. Schritt für Schritt kämpften wir uns den Kiesstrand empor und vom See fort, indem wir über die Leiber der gefallenen Feinde hinweg vorrückten. Wir kämpf ten gut. Wir kämpften wie Meisterkämpfer. Und ein grimmiger, verzweifelter Rhythmus legte sich über die Schlacht. Wir kämpften die ganze Nacht hindurch. Manchmal 604
gelangten wir bis zum oberen Rand des Strandes und hielten uns dort. Manchmal preschte der Feind vor, und wir wurden zurückgetrieben. Einmal standen wir bis zu den Knien im Wasser und hackten mit von der Schlacht abgestumpften Klingen auf unsere gepanzer ten Gegner ein. Doch Scatha, die sich mit der Anmut und Geschicklichkeit einer Tänzerin durch das Chaos bewegte, bohrte sich mit einer kleinen Gruppe von Kriegern tief in das Herz der feindlichen Formation hinein. Anstatt sich ihrem fürchterlichen Zorn zu stellen, fielen die Feinde lieber zurück, und der Vorstoß brach zusammen. Als die Nacht vorrückte, verließ die Feinde der Mut. Erschöpfung setzte ein. Sie bewegten sich in ihren schweren Bronzerüstungen mit einem seltsam taumelnden Gang. Ihre Schilde und Waffen schwank ten hin und her, gehalten von zitternden Armen; unfähig, die Füße zu heben, stolperten sie auf dem steinigen Strand hin und her. Verzweifelt stürzten sie sich auf uns. Wir schlugen zu. Sie fielen unter unseren treffsicheren Schlägen. Die Leiber der Verwundeten und Toten begannen sich wie gefälltes Holz rings um uns zu stapeln, und dennoch wollten sie sich nicht zurückziehen. »Was immer es ist, das sie antreibt«, bemerkte Cynan und wischte sich mit einer blutigen Hand über sein schweißnasses Gesicht, »sie fürchten es mehr, als sie uns fürchten.« Wir hatten innegehalten, um Atem zu schöpfen, 605
und stützten uns auf unserer Speere, während sich unsere Schultern hoben und senkten vor Anstrengung, Luft in unsere Lungen zu ziehen. »Sie fürchten ihren Herrn«, erwiderte ich. »Und wer ist das?« »Der Eherne Mann.« »Ein eherner Feigling, wenn du mich fragst«, knurrte Cynan verächtlich. »Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen, seit die Schlacht begonnen hat.« »Das stimmt. Er ist noch nicht auf dem Feld er schienen.« »Noch nicht? Noch nicht? Seine Streitmacht wird dahingemetzelt. Wenn er etwa vorhat, uns in die Erschöpfung zu treiben, hat er sich falsche Hoffnun gen gemacht.« Es stimmte; rings umher fielen die erschöpften Feinde der Geschicklichkeit und Erfahrung unserer weit überlegenen Krieger zum Opfer. Dunkelheit und Überraschung hatten gegen uns gestanden, und doch hatten wir die Oberhand behalten; nun machten wir auch ihre Überzahl zunichte, indem wir sie langsam und unerbittlich dezimierten. Mir kam der Gedanke, daß sie keinen Schlachten führer brauchten, weil der Feind keinen anderen Plan gehabt hatte, als uns durch die zahlenmäßige Über macht zu überwältigen. Sie versuchten uns einzukrei sen, zu umzingeln und zu erdrücken; oder, wenn das scheiterte, uns durch die schiere Übermacht der Zahl in den See zu drängen. Wir kämpften gegen einen 606
Gegner, der keinerlei Raffinesse oder Geschick besaß, einen Gegner, dessen einzige Hoffnung darin lag, uns durch brutale Gewalt allein niederzuwerfen. Der Eherne Mann scherte sich nicht darum, wie viele seiner Männer uns zum Opfer fielen, denn seine Männer waren ihm völlig egal. Sie waren nichts als Futter für unsere mähenden Klingen. Er sandte sie rücksichtslos in die Schlacht, eine Welle nach der anderen, und vertraute darauf, daß die zermürbende Schlacht uns schließlich aufreiben würde. Wenn wir schließlich zu wenige waren, um noch Widerstand zu leisten, würde er sich von seinem verborgenen Sitz auf uns stürzen und den Sieg an sich reißen. Als ich sah, wie die unglücklichen Feinde sich abmühten, ihre Waffen zu erheben, drängte sich Mitleid mit ihnen in mein Herz. Sie waren blind, unwissend und verwirrt; blutend und sterbend stolper ten sie durch die Dunkelheit. Und das Grausamste war, daß sie nicht einmal wußten, warum, und es auch nie erfahren würden. Diese Männer waren nicht unsere wahren Feinde; sie waren nur Marionetten, Schachfiguren in der Hand eines unbarmherzigen Meisters. Ihr Tod war sinnlos. Das Massaker mußte aufhören. Ich ließ meinen Speer sinken, richtete mich auf und sah mich um. Der Himmel im Osten begann grau zu schimmern; rote Streifen deuteten auf einen unverhangenen Sonnenaufgang hin. Wir hatten die ganze Nacht gekämpft, ohne irgendein Ziel oder einen Vorteil zu 607
erreichen. Es war Wahnsinn, und es war Zeit, damit aufzuhören. Als ich mich wieder der Kampflinie zuwandte, sah ich die bronzenen Krieger mit schwe ren Gliedern dastehen, die Köpfe unter dem Gewicht ihrer Helme gebeugt, unfähig, ihre Arme zu heben. Mit langen, entschlossenen Schritten ging ich auf sie zu. Die stumpfen Speere in ihren Händen kamen mühsam hoch, während sie rückwärts stolperten. »Llew!« rief Cynan und rannte hinter mir her. Ich streckte die Hand aus, packte den nächsten Speer und riß ihn aus den tauben Fingern des Ge gners. Ich schleuderte den Speer zu Boden und packte den nächsten. Der dritte feindliche Krieger stach unbeholfen mit dem Schwert nach mir. Ich fing die Klinge mit meiner silbernen Hand auf und drehte sie ihm mühelos aus der Hand. Es war nicht schwerer, als Kinder zu entwaffnen. »Genug!« rief ich laut. »Es ist vorbei.« Überall am Seeufer hielten Männer inne, drehten sich um und starrten mich an. Ich entwaffnete zwei weitere Krieger, indem ich ihnen die Waffen aus den schlaffen Händen riß. Ich schwang meinen Speer empor und erhob meine Stimme. »Männer von Tir Aflan!« rief ich, und meine Stimme hallte über den Strand. »Legt eure Waffen nieder, und euch wird kein Leid geschehen.« Ich spähte an der Kampflinie entlang. Die Kämpfe waren zum Stillstand gekommen, und die Männer starrten mich verständnislos an. Dutzende von er 608
schöpften Feinden schwankten auf ihren Beinen und konnten ihre Waffen nicht mehr heben. »Hört mich an! Die Schlacht ist vorbei. Ihr könnt nicht gewinnen. Werft eure Waffen nieder und ergebt euch. Hört auf zu kämpfen - ihr habt nichts zu be fürchten.« Die Feinde sahen mich dumpf an. »Ich glaube nicht. daß sie dich verstehen«, sagte Cynan, der hinter mir auftauchte. »Vielleicht verstehen sie das hier«, erwiderte ich. Ich erhob meinen eigenen Speer und warf ihn auf dem steinigen Strand zu Boden. Dann winkte ich Cynan, seine Waffe ebenfalls fallen zu lassen. Er zögerte. »Tu es«, drängte ich ihn. »Sie schauen zu.« Cynan warf seinen Speer zu meinem, und wir stan den unbewaffnet nebeneinander, umringt von verwirr ten Kriegern. Ich erhob meine silberne Hand und sagte: »Hört mir zu! Ihr habt gekämpft und gelitten, und viele von euch sind gestorben. Aber ihr könnt nicht gewinnen, und das Kämpfen muß jetzt ein Ende haben. Werft eure Waffen nieder, damit das Leiden und Sterben aufhören kann.« Meine Stimme hallte über den Strand. Sie sahen mich an, aber niemand antwortete. »Ihr kämpft um euer Leben«, fuhr ich fort. »Män ner von Tir Aflan! Ergebt euch! Werft eure Waffen nieder, und ich schenke euch euer Leben. Ihr könnt als freie Männer von hier fortgehen.« Das rief eine Reaktion hervor. Sie starrten mich 609
staunend an und tauschten murmelnd ihre Verblüf fung aus. »Ist das wahr?« fragten sie. »Kann das sein?« Ich streckte meine Hand aus und winkte einen in der Nähe stehenden Krieger heran. »Komm«, sagte ich zu ihm. »Ich schenke dir dein Leben.« Der Mann sah sich verlegen um, zögerte und stol perte dann vorwärts. Er machte zwei Schritte auf mich zu, aber seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, und er fiel vornüber zu meinen Füßen hin. Ich bückte mich, ergriff ihn unter den Armen und zog ihn hoch. Dann nahm ich das Schwert aus seiner Hand und warf es zur Seite. »Du bist in Sicherheit«, sagte ich zu ihm. »Niemand wird dir jetzt mehr etwas tun.« Ich hörte ein Klappern auf den Steinen, als ein Schild einem Krieger aus der Hand fiel, der es nicht mehr halten konnte. Der Mann sank auf die Knie. Ich ging auf ihn zu, richtete ihn auf und sagte: »Du bist in Sicherheit. Stell dich hier neben deinen Clansmann.« Der Mann stellte sich neben dem ersten auf, und die beiden standen zitternd im trüben Morgenlicht da und konnten ihr Glück noch nicht recht glauben. Vielleicht hatten die Zuschauer erwartet, daß ich die Kapitulierenden töten würde. Doch als sie sahen, daß ich den ersten beiden nichts getan hatte, beschieß ein Dritter, das Risiko einzugehen, mir zu vertrauen. Ich empfing ihn, und zwei weitere traten vor und legten mir ihre Waffen zu Füßen. Auch sie hieß ich willkommen und sagte ihnen, sie sollten sich zu den 610
anderen stellen. Ein weiterer Krieger trat vor, und dann noch drei. »Cynan! Scatha!« Ich drehte mich um und winkte ihnen, mir zu helfen, »Haltet euch bereit! Die Flut kommt!« Überall am See entlang klapperten Waffen und Rüstungen auf den steinigen Strand; die schlachtmü den Feinde konnten das Zeug gar nicht schnell genug loswerden. Nach ihrem anfänglichen Zögern ergaben sie sich willig und mit großer Erleichterung. Einige waren so überwältigt, daß sie angesichts ihres unvor stellbaren Glücks zu weinen anfingen. Ihr langer Alptraum war vorüber; sie waren gerettet und befreit. Als wir den letzten Gegner entwaffnet hatten, wandte ich mich meinen eigenen Kriegern zu, die schweigend hinter mir standen. Ich sah ihre einst so feinen Umhänge an, die nun abgetragen von der Reise und schmutzig um sie hingen; ich sah in ihre einst so gutaussehenden Gesichter, die nun hager und grimmig waren, gezeichnet von Entbehrung und Kampf. Sie hatten auf Gesundheit und Glück verzichtet, hatten Frauen, Kinder, Clansleute und Freunde aufgegeben, hatten aller Behaglichkeit und Freude entsagt. Standhaft bis zum Ende hatten sie mich durch alle Dinge hindurch begleitet und standen immer noch da, bereit, mir zu dienen, mir ihr Leben zu geben, wenn ich sie dazu aufforderte. Zerschlagen und blutend standen sie da wie ein Mann, die Waffen in der Hand, und warteten darauf, erneut in den Kampf gerufen zu 611
werden. Wahrhaftig, sie waren die Gwr Gwir, die Wahren Männer von Albion. Ich hob meine silberne Hand und berührte in einem schweigenden Salut mit dem Handrücken meine Stirn. Die Krieger antworteten mit einem Triumphschrei, dessen Widerhall über den See hinweg und die Hänge hinaufzog. Ich entließ sie zu ihrer Rast, worauf sie sich dem See zuwandten, um zu trinken und zu baden. Ich stand einen Moment lang da und sah meinen geschundenen Kriegern zu, wie sie ihre erschöpften Leiber ins Wasser tauchten. »Seht sie euch an«, sagte ich, während Stolz mich durchströmte wie ein Jubelge sang. »Mit solchen Männern, die ihn unterstützen, könnte jeder Mann König sein.« Cynan stützte sich auf seinen Speer und schob sein Kinn nach vorn. »Sie würden aber nicht jeden beliebi gen Mann unterstützen. Ich auch nicht«, sagte er und berührte mit dem Handrücken die Stirn. Der See erwies sich als ein Segen. Wir wateten in das kühle, nebelbedeckte Wasser hinein und badeten unsere schmerzenden Glieder. Das Wasser belebte und erfrischte uns und wusch das Blut und den Schmutz der Schlacht von uns ab. Ich spürte das kalte Prickeln des Wassers auf meiner Haut und erinnerte mich, wie ich nach meiner ersten Schlacht ebenso gebadet und mich wie neugeboren gefühlt hatte. Doch das gute Gefühl erwies sich als kurzlebig. Bran und die Raben waren noch nicht wieder aufge 612
taucht, als die Sonne sich schon hoch über die umge benden Hügel erhoben hatte. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte ich offen zu Cynan und Scatha. »Es muß ihnen etwas passiert sein, sonst wären sie schon längst wieder hier.« »Ich fürchte, du hast recht«, stimmte Scatha zu. »Wir sind hier fertig«, sagte Cynan. »Wir können nach Cwm Gwaed zurückgehen und nach ihnen suchen.« Ich blickte zu den gepanzerten Männern hinüber, die mit gespreizten Beinen auf dem Strand hockten. »Wir werden uns mit einigen von denen unterhalten.« Ich deutete auf die kauernden Männer. »Vielleicht können sie uns etwas sagen.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Cynan. »Aber ich werde es tun, wenn du es für gut hältst.« Ich wandte mich Scatha zu, die, nachdem sie den Ruß und das Blut abgewaschen hatte, nun nicht mehr so sehr wie Morrigan aussah als vielmehr wie Mo dron, die Trösterin. Sie hatte ihr Haar geflochten und ihren Umhang abgebürstet, und die Art, wie die kapitulierenden Krieger ihr mit den Blicken folgten, brachte mich auf den Gedanken, daß es ihr vielleicht leichter fallen würde, die eine oder andere widerwilli ge Zunge zu lösen. »Ich werde diese Aufgabe dir anvertrauen, Pen-yCat«, sagte ich zu ihr. »Ich bin sicher, daß sie zu dir eher Zutrauen fassen als zu Cynan Zwei-Torcs.« 613
So sahen wir zu, wie sie unter den ehemals feindli chen Kriegern umherging, hier und da stehenblieb, sich zu einem hinabbeugte oder neben einen anderen kniete, ernst mit ihnen sprach und ihnen in die Augen sah, während sie antworteten. Ich bemerkte, wie sie ihnen die Hand auf die Schul ter legte, wie es eine Ehefrau oder Mutter tut, und durch ihre Berührung ebenso zu ihnen sprach wie mit ihrer Stimme. Nach kurzer Zeit kam Scatha zurück. »Hier in der Nähe ist ein Caer. Einige von ihnen sind dort gewe sen. Sie sagen, daß der Eherne Mann dort Gefangene hält.« »Sind Tángwen und Goewyn dort?« fragte Cynan begierig. Scatha wandte sich mit grimmigem Gesichtsaus druck zu ihm. »Das wissen sie nicht. Aber es ist bekannt, daß die Dyn Dythri oft dorthin gehen und daß die Rhuodimi von dort kommen.« »Die brüllenden Dinger?« fragte Cynan. Die Fahrzeuge und Maschinen, dachte ich. »Dann ist das der Ort, wo Siawn Hy uns erwartet, und dort werden wir auch Goewyn und Tángwen finden. Und«, fügte ich rasch hinzu, »falls ich mich nicht sehr irre, ist das auch der Ort, an dem Tegid und die Raben jetzt gefangengehalten werden.« Scatha nickte. »Aber da ist noch etwas: Sie sagen, das Caer sei durch einen mächtigen Zauber geschützt. Sie haben schreckliche Angst vor diesem Ort.« 614
»Dies hier hat sich also der Eherne Mann zu seiner Festung auserkoren«, sagte Scatha. Wir waren stehen geblieben, um das Land jenseits des Passes zu erkun den, aber abgesehen von der verfallenen Festung und ein paar verstreuten Steinhütten, in denen die Krieger untergebracht gewesen waren, gab es dort nichts zu sehen. Die Krieger hatten den Ort gut beschrieben. Dennoch näherten wir uns der Festung langsam und hielten Ausschau nach jeglicher Bewegung auf den zerklüfteten Mauern. Ich ging voraus, und Scatha und Cynan führten die Gwr Gwir; da sie nicht zurückge lassen werden wollten, folgten uns die besiegten Feinde in einigem Abstand. Als wir die Landzunge erreichten, sah ich die Spu ren schwerer Fahrzeuge im Erdboden. Viele Rhuodi mi waren hier entlanggefahren. Der Eingang zu dem besonderen Tor, von dem Professor Nettleton gespro chen hatte, mußte irgendwo in der Nähe liegen, aber ich konnte ihn nicht sehen. Das Meer wogte und ächzte um die Wurzeln der Landzunge herum; der Wind fuhr stöhnend über die Ruinen hinweg. Große herabgefallene Steinbrocken waren unterhalb der einst hoch aufragenden Befesti gungen tief in das dicke, grüne Moos eingesunken. Wir standen da, starrten zu den eingestürzten Mauern empor und suchten nach irgendeinem Lebenszeichen. »Arianrhod schläft in ihrem seeumgürteten Fest land«, sagte ich laut denkend, als ich das zerbrochene Tor betrachtete, das vom Alter geschwärzt war und 615
schief in seinen Angeln hing. Worauf Scatha antwortete: »Nur der keusche Kuß wird ihr wieder den Platz verschaffen, der ihr zu kommt.« Cynan warf uns einen Seitenblick zu. »Nun?« frag te er ungeduldig. »Sollen wir den ganzen Tag hier stehen und warten?« »Nein, aber zuerst müssen wir nachsehen, ob es noch einen anderen Eingang zu dieser Festung gibt«, sagte ich. »Wird gemacht.« Cynan winkte Owyn und drei weiteren Kriegern zu, die sofort im Laufschritt um die nächste Ecke des steinernen Vorhangs verschwanden. Wenig später tauchten sie auf der anderen Seite wieder auf. »Es gibt keinen anderen Eingang«, sagte Owyn. »Habt ihr jemanden gesehen?« fragte Scatha. »Nein, niemanden«, antwortete der GalanaeKrieger. »Dann werden wir hineingehen.« Ich hob meinen Speer als lautloses Zeichen, und die hinter mir aufge stellte Kriegsschar bewegte sich auf das Tor zu. Als wir in den Schatten der Mauer traten, rief eine Stimme: »Halt! Keinen Schritt weiter!« Mein Kopf fuhr zu der zerklüfteten Befestigung empor. Links über uns stand der Eherne Mann, die höhni sche Bronzemaske vor dem Gesicht und den Speer in der Hand, und blickte zu uns hinab. 616
»Deine Streitmacht ist besiegt!« rief ich ihm zu. »Wirf deine Waffen nieder und laß deine Gefangenen frei. Tu es sofort, oder du wirst gewiß sterben.« Der bronzene Krieger warf den Kopf zurück und lachte. Es war ein häßlicher, verhaßter Laut. Ich hatte ihn schon einmal gehört. Das Gelächter brach abrupt ab. »Du hast hier nichts zu sagen!« rief er wütend zurück. Dann milderte er seinen Ton fast im selben Atemzug und sagte: »Wenn du deine Braut willst, dann komm und hol sie dir. Aber komm allein.« Er verschwand von der Mauer, bevor ich antworten konnte. »Das gefällt mir nicht«, brummte Cynan. »Ich wüßte nicht, daß wir eine andere Wahl ha ben«, sagte ich. »Ich werde allein hineingehen.« Scatha erhob Einwände. »Das ist ein törichtes Risi ko.« »Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber es ist ein Risiko, daß wir um Goewyns willen auf uns nehmen müs sen.« Sie nickte, steckte ihre Hand unter ihren Umhang und zog ein schmales Messer hervor. Dann trat sie nahe zu mir heran, griff hinter mich und steckte es in meinen Gürtel. »Ich habe dir einmal Waffen gegeben, und jetzt tue ich es wieder, mein Sohn. Rette meine Tochter.« »Das werde ich tun, Pen-y-Cat«, erwiderte ich. Sie umarmte und küßte mich und wandte sich dann rasch 617
ab, um ihren Platz an der Spitze der Kriegsschar einzunehmen. Ich machte zwei Schritte auf das Tor zu. »Warte!« Cynan kam und stellte sich neben mich. »Du wirst nicht allein gehen, solange Zwei-Torcs noch atmet«, sagte er entschlossen. »Meine Frau ist ebenfalls hier gefangen, und ich gehe mit dir.« Er machte einen Schritt auf die Tür zu. »Wir kön nen uns um die Angelegenheit streiten, oder wir können gehen und unsere Frauen retten.« Es war sinnlos, es ihm ausreden zu wollen, und so stimmte ich zu, und wir gingen zusammen durch das Tor und traten in den Innenhof. Trockene Gräser zwängten sich durch die Spalten des gepflasterten Hofes; sie wiegten sich im Wind wie lange, weiße Barthaare. Überall lagen herabgestürzte Steine. Torbögen führten vom Hof in schwarze, leere Gänge. Am anderen Ende des Hofes, gegenüber dem Tor, stand ein spitzgiebeliges Gebäude; das Dach war eingestürzt, und geschwungene Dachziegel übersäten den Hof wie Drachenschuppen. Eine kurze Steintrep pe führte hinauf zu einer schmalen Holztür. Die Tür, die doppelt so hoch war wie ein Mann, stand offen. Ein kalter Hauch drang durch meine silberne Hand herauf. »Er ist in der Nähe«, flüsterte ich Cynan zu. Wir stiegen zielstrebig, aber lautlos die Stufen hin auf, hielten inne und schoben dann die Tür weit auf. Sofort drang uns der Gestank von faulendem Fleisch entgegen, der sich mit Urin und Exkrementen mischte. 618
Die Außentür führte in eine dunkle Kammer, die dick mit Schmutz übersät war. Die abgeschlagenen Köpfe zweier unglücklicher Männer waren am Türsturz über einer niedrigeren Innentür angenagelt. Die Türpfosten waren mit Blut beschmiert. Wir traten vorsichtig durch die niedrige Tür und kamen in die Halle, die dahinter lag. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte eine Stimme. »Wir alle haben auf dich gewartet.«
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Die Heldentat Fackeln beleuchteten den großen, offenen Saal und spendeten ein dünnes, trübes Licht, das die tief beschattete Dunkelheit kaum zu vertreiben vermochte. In der Mitte der Halle stand der Eherne Mann. Der Fackelschein, der sich in den Facetten seiner bronze nen Maske spiegelte, erweckte den Eindruck, als ob seine Züge ständig schmolzen und sich neu bildeten. Hinter ihm waren zwei Türen, verriegelt und mit Eisen eingefaßt Während ich hinsah, erschien Goe wyns Gesicht am kleinen Fenster der einen Tür und Tángwens am anderen. Keine der Frauen schrie auf, doch beide standen, die Gitterstäbe ihres Gefängnisses umklammernd, mit dem erstaunten und doch furcht samen Ausdruck von Gefangenen da, die schon lange die Hoffnung auf Befreiung aufgegeben hatten, und nun plötzlich feststellen, daß die Hoffnung sie noch nicht aufgegeben hat. Mein erster Gedanke war, zu Goewyn zu rennen und jenes Gefängnis mit meinen bloßen Händen auseinanderzureißen. Ich wollte sie in meine Arme nehmen und sie aus diesem stinkenden Höllenloch forttragen. Ich trat auf den Ehernen Mann zu. 620
»Laß sie frei«, sagte ich. »Du bist nicht allein gekommen«, sagte der Mann drohend. »Meine Frau ist auch gefangen«, fuhr Cynan ihn an. »Wenn du ihr Schaden zugefügt hast, werde ich dich töten. Laß sie frei.« »Deine Frau?« fragte der bronzegepanzerte Krieger. »Sie mag vielleicht dein Bett mit dir geteilt haben, aber Tángwen war nie deine Frau, Cynan Machae.« »Wer bist du?« fragte Cynan und schob sich an mir vorbei in den Raum hinein. Sein Schwert zitterte in seiner geballten Faust, so fest umklammerte er es. »Ihr wollt, daß sie frei werden?« rief der Eherne Mann plötzlich und machte einen raschen Schritt zur Seite. »Dann befreit sie selbst.« Er streckte die Hand aus und deutete mit einem bronzebewehrten Finger auf eine Stelle auf dem Boden, die von brennenden Fackeln umringt war. »Tut, was ihr wollt.« Ich schaute in die Richtung, in die er deutete, und sah zwei Schlüssel an einem eisernen Ring auf dem mit Steinplatten gepflasterten Boden liegen. Ein rascher Blick zu den Zellentüren verriet mir, daß sie kürzlich mit neuen Messingschlössern ausgestattet worden waren. Ich nickte Cynan zu, und wir gingen vorsichtig vorwärts. Meine silberne Hand begann kalt zu pulsie ren und scharfe Stiche in meinen Arm hinaufzusen den. Ich biß die Zähne zusammen und trat näher, den Speer stoßbereit in der Hand. Die Schlüssel waren in 621
die Mitte eines Knotenmusters gelegt worden, dessen Linien auf dem Boden aus feiner schwarzer Asche und Knochensplittern bestanden - es war die Asche verbrannter Opfertiere, vermutete ich. Die Kohlen becken gaben einen bitteren Rauch von sich. »Was ist das?« fragte Cynan. »Weißt du es?« Das Zeichen war eine primitive Parodie des Môr Cylch, des Lebenslabyrinthes, doch es war verzerrt und durchbrochen, die Linien planlos angeordnet und unregelmäßig. Alle Eleganz und Schönheit des Originals waren absichtlich verdorben worden. »Es muß eine Art Zauberzeichen sein«, sagte ich zu Cynan. »Ich habe keine Angst vor einer Zeichnung auf dem Fußboden«, höhnte er. Bevor ich ihn aufhalten konnte, schob sich Cynan an mir vorbei und bückte sich, um die Schlüssel aufzuheben. Doch kaum war er in den Kreis getreten, da packte ihn plötzlich eine Lähmung, so daß er erstarrte und sich nicht mehr rühren konnte. »Llew!« rief er durch festgebissene Zahne in einem eingefrorenen Kiefer. »Hilf mir!« Ich sah den bronzegepanzerten Mann an. Seine Augen glitzerten hart und schwarz hinter der ehernen Maske. »O ja, hilf ihm.« Die eherne Schlange zischte beinahe. »Unbedingt, du mußt ihm helfen.« Dann lachte er. Ich kannte dieses Lachen. Ich hatte es schon zu oft 622
gehört, um es jetzt nicht zu erkennen. Er lachte wieder und beseitigte jedes letzte Körnchen Zweifel, bestätig te allen Argwohn. »Genug, Simon!« rief ich. »Laß ihn frei.« Der Mann griff sich mit einem seiner bronzenen Handschuhe ans Kinn, hob die metallene Maske an und nahm den Helm ab. Das Gesicht war bleich, totenbleich, und hager, ausgemergelt. Die Haut schien fast durchsichtig; blaue Adern schlängelten sich unter seinen Augenlidern und der Haut an seinem Hals. Er sah aus wie ein Geist, wie ein Gespenst, aber das vorgereckte Kinn und der Haß, der in seinen Augen schwelte, waren nicht zu verkennen. »Siawn Hy«, berichtigte er mich und trat näher. Meine silberne Hand pulsierte; eisige Stacheln fuhren mir ins Fleisch. »Ich habe das da für dich gemacht«, sagte Siawn und deutete auf den Kreis auf dem Boden. »Doch so gefällt es mir noch besser. Nur du und ich. Von Angesicht zu Angesicht.« Er stand vor mir und zog den Kettenhandschuh von seiner linken Hand, die er dann langsam mit der Handfläche nach außen an seine Stirn legte. Es war eine bardische Geste - ich hatte sie oft bei Tegid beobachtet - doch als er seine Hand umdrehte, sah ich auf der Handfläche, in die Haut eingegraben, das Bild eines Auges. Siawn deklamierte eine Reihe von Worten in einer Sprache, die ich nicht kannte. Ich konnte meinen 623
Blick nicht von dem Symbol abwenden, das in die Haut seiner Handfläche gegraben war. Die Haut war dick vernarbt, doch die Schnitte waren noch frisch, und aus der Wunde sickerte ein wenig Blut. Er sprach wieder, und die Muskeln in meinen Ar men und Beinen versteiften sich. Mein Rücken und meine Schultern fühlten sich an wie Holzblöcke. Gefangen in dieser seltsamen Starre, konnte ich mich nicht mehr rühren. Der Speer entglitt meinen Fingern und fiel klappernd zu Boden; meine Gliedmaßen erstarrten augenblicklich. Noch mehr Worte strömten aus Siawns Mund, ein schwindelerregender Strom, der allen Widerstand ertränkte, ein finsterer Singsang voll böser Macht. Der Atem entfloh mir aus Mund und Lungen. Cynan, der reglos neben mir stand, gab einen erstickten, wimmernden Laut von sich. Jemand schrie meinen Namen - Goewyn, glaube ich. Doch ich konnte sie nicht sehen. Ich konnte weder meine Augen schließen noch den Blick abwen den. Das böse Auge sog all meine Gedanken und meinen Willen in sich ein; es schien sich in meinen Geist einzubrennen, während Siawn Hys Worte mich umschwirrten, in einem Augenblick summend wie Insekten, im nächsten krächzend wie Krähen. Mein Atem ging immer mühsamer und stockender; doch mein Blick wurde klar. Die alte böse Macht von Tir Aflan ... so hatte Siawn Hy sie geweckt, und nun benutzte er sie als Waffe. Doch es gab eine Macht, die viel stärker war, als er je 624
ahnen würde. Gütig-Weise ist der Große Geber, dachte ich, der allen beisteht, die ihn anrufen. Steh mir jetzt bei! Im selben Moment spürte ich, wie der heilige Awen des Penderwydd in mir zum Leben erwachte. Wie ein Segel, das entrollt wird, ließ mein Geist seine binden den Fesseln fallen. Ein Wort, ein Name bildete sich auf meiner Zunge, und ich sprach ihn aus: »Dagda ... Samildanac...« Aus der Tiefe meiner Kehle kam es herauf und sprang in einem Aufschrei von meiner Zunge. »Dagda Samildanac!« Schneidende Blitze aus eisigem Feuer schossen aus meiner silbernen Hand empor in meinen Arm bis in meine Schulter. Woher immer auch die Macht stam men mochte, die Siawn besaß, sie konnte nicht das kalte Feuer löschen, das in meiner silbernen Hand brannte: Die glatte silberne Oberfläche leuchtete weiß auf; das fein verflochtene Labyrinthmuster des Lebenstanzes erstrahlte in einem feurigen, goldenen Licht. Siawns Stimme dröhnte in meinen Ohren, als er näher kam und mir die Worte entgegenbellte. Ich sah das unheimliche Auge in die Haut seiner Handfläche gegraben, als er die Hand ausstreckte, um mich damit zu berühren, mich mit diesem abscheulichen Symbol zu zeichnen. »In der Kraft der Schnellen Sicheren Hand wider stehe ich dir«, sagte ich, hob meine silberne Hand und 625
preßte meine Handfläche flach gegen die seine. Er schrie auf und riß seine Handfläche von meiner los. Rauchfäden stiegen von der Wunde an seiner Hand empor. Die Luft strömte zurück in meine Lungen, und mit ihr der Geruch von verbrannter Haut. Siawn Hy taumelte stöhnend rückwärts und wiegte seine verletzte Hand im Arm. Die rote Wunde auf seiner Handfläche war ausgelöscht, das obszöne Zeichen ausgebrannt; statt des bösen Auges war darauf jetzt das Môr Cylch eingebrannt, das Labyrinth des Lebens. Plötzlich frei, sprang ich Cynan zu Hilfe, kniete neben ihm nieder, holte tief Luft und blies die schwarze Asche fort, so daß die Macht des Zaubers gebrochen war. Cynan fiel vorwärts auf seine Arme und sprang rasch auf die Beine. »Bruder, das war eine mächtige Tat!« Ich griff nach den Schlüsseln. »Bewache ihn!« befahl ich Cynan. »Mit Freude!« Cynan hob sein Schwert, ging auf den angeschlagenen Siawn zu und preßte ihm die Klinge gegen die Halsbeuge. Ich rannte zu den eisenbeschlagenen Türen hinüber, stieß einen Schlüssel in das erste Schloß und drehte ihn herum. Das Schloß gab widerstrebend nach, und ich zog mit aller Macht; die Angeln ächzten laut auf, aber die Tür schwang auf. Goewyn stürmte aus ihrem Gefängnis, fiel mir um den Hals und erdrückte mich schier. Ich küßte ihr Gesicht, ihre Lippen und ihren 626
Hals und spürte, wie ihre Lippen über mein Gesicht sprangen. Immer wieder nannte sie meinen Namen, während sie mich küßte. »Du bist frei, Geliebte«, sagte ich zu ihr. »Es ist vorbei. Du bist jetzt in Sicherheit. Du bist frei.« Ich drückte sie noch einmal an mich, und sie schrie leise auf und zog sich zurück. Ihre Hände wanderten zu ihrem Bauch hinab, der sich nun merklich unter ihrem fleckigen, schmutzigen Kleid wölbte. Ich legte meine Hand auf den sanft geschwungenen Hügel, um das Leben darin zu fühlen. »Geht es dir gut? Hat er dich verletzt?« Ich hatte den Gedanken, daß sie gelitten haben könnte, so lange aus meinem Kopf verbannt, daß die verspätete Sorge mich nun schier überwältigte. Goewyn lächelte; ihr Gesicht war blaß und abge spannt, doch ihre Augen waren klar und leuchteten vor Liebe und Freude. »Nein«, sagte sie und legte mir ihre Hände ans Gesicht. »Er hat mir Dinge erzählt grauenhafte Dinge.« Tränen quollen plötzlich in ihren Augen empor und flossen an ihren Wangen hinab. »Aber er hat mir nichts getan. Ich glaube, auch Tángwen ist unverletzt.« Cynan, der Siawn Hy mit vorgehaltenem Schwert bewachte, drehte sich um, als der Name seiner Frau erwähnt wurde. Die Schwertspitze wankte, als sein Blick zur Tür ihrer Zelle wanderte. Von Goewyns Armen umschlungen, blickte ich über ihre Schulter hinweg und sah, wie die Tür aufging. Cynans erste 627
Reaktion war Begeisterung. Und dann ging ihm die volle Bedeutung der unverschlossenen Zellentür auf. Die Freude auf seinem Gesicht verwitterte und erstarb. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Verrat!« schrie er. Die Tür zu Tángwens Zelle flog auf, und bewaffne te Männer stürmten aus dem dunklen Raum in die Halle. Im selben Moment bewegte sich Cynan mit erhobenem Schwert auf sie zu. Siawn reagierte mit blitzartiger Schnelligkeit: Sein Fuß schoß vor, und Cynan stürzte vornüber. Er schlug der Länge nach mit einem Krachen auf den Boden; die Klinge entglitt seiner Hand und schlitterte über den Boden. Einen Herzschlag später waren vier Mann auf ihm, und vier weitere mit Paladyr an der Spitze kamen auf mich zu. Ich schob Goewyn hinter mich, schirmte sie mit meinem Körper ab und zog das Messer, das Scatha mir gegeben hatte. Aber es war zu spät. Sie hatten mich umringt. Paladyrs Klinge stach in die Haut an meiner Kehle. Zwei weitere Feinde packten Goewyn und hielten sie an den Armen fest. In diesem Augenblick trat Tángwen aus ihrer Zelle, voller Selbstgefälligkeit über den Sieg. »Man sollte immer aufpassen, wen man heiratet«, sagte Siawn, als Tángwen sich neben ihn stellte. »Was ich tat, tat ich für meinen Vater und meine Brüder«, jubelte Tángwen. »Sie ritten mit Meldron, und ihr mähtet sie nieder. Nun wird die Blutschuld 628
beglichen werden.« Siawn, der immer noch seine gebrandmarkte Hand im Arm wiegte, stolzierte lachend vorwärts. Er baute sich vor mir auf, und sein Gesicht war das schreckli che, verzerrte Gaffen eines Dämonen. Er warf einem seiner Lakaien einen Befehl zu, und der Mann ver schwand irgendwo hinter mir in den Schatten. »Nun fängst du also endlich an zu begreifen.« »Laß die anderen gehen, Siawn«, sagte ich. »Ich bin es, den du haben willst. Nimm mich und laß die anderen gehen.« »Ich habe dich bereits, mein Freund«, höhnte er. »Ich habe euch alle.« In diesem Augenblick drangen Geräusche aus der anderen Ecke des Raumes. Hinter mir öffnete sich eine Tür - ich konnte sie nicht sehen, aber ich hörte das Knarren der Angeln - und herein schlurften Tegid, Gwion, Bran und die Raben, allesamt an den Händen gefesselt, mit Ketten an den Füßen und von je einem Mann bewacht. Tegids Gesicht war übel zugerichtet, seine Kleidung an mehreren Stellen zerrissen; Bran und Drustwn konnten nicht aufrecht stehen, und Garanaws Arm baumelte schlaff an seiner Seite. Mein stolzer Rabenflug schien blutig geprügelt worden zu sein, bis ihr Widerstand erlahmt war. Hinter ihnen kamen Weston und vier weitere Fremde, die veräng stigt und sehr verwirrt aussahen. Als er mich sah, schrie Bran auf und riß sich los; auch die anderen Raben schrien und wandten sich 629
gegen ihre Bewacher, doch alle wurden mit Sperren den geschlagen und in die Reihe zurückgetrieben. »Siehst du?« triumphierte Siawn Hy. »Du hast mich nie richtig zu schätzen gewußt, nicht wahr? Nun, du hast mich zum letzten Mal unterschätzt, mein Freund.« Das Wort war wie ein Fluch in seinem Mund. »Hört mir gut zu«, sagte ich laut, bemüht, mit fester Stimme zu sprechen. »Meine Kriegsschar wartet am Tor. Sie ist unbesiegbar. Wenn uns etwas geschieht, werdet ihr sterben. Das ist eine Tatsache.« Falls Siawn Hy davon beeindruckt war, ließ er es nicht erkennen; einige seiner Krieger dagegen zeigten eine Reaktion. Der Druck von Paladyrs Schwert ließ etwas nach. »Es ist wahr, Herr«, sagte er. »Wir können nicht hoffen, sie zu besiegen.« Siawn fegte die Bemerkung beiseite. »Aber ich bin gar nicht daran interessiert, sie zu besiegen«, erwider te er beiläufig. »Ich bin nur daran interessiert, Silber hand zu besiegen.« »Dann laß die anderen gehen«, sagte ich wieder. »Sobald sie frei sind, werde ich der Kriegsschar befehlen, euch unbehelligt ziehen zu lassen. Ohne mein Wort wird keiner von euch diesen Ort lebend verlassen.« »Hör auf ihn, Herr«, sagte Paladyr; ein unsicherer Unterton schwang in seiner Stimme. »Was hat er gesagt?« fragte Weston, dessen Stim 630
me in meinen Ohren fast wie unzusammenhängendes Gelalle klang. Er machte einen Schritt vorwärts. »Ich verlange, zu erfahren, was hier vor sich geht! Sie sagten, es würde keinen Ärger geben. Sie sagten, es sei alles unter Kontrolle.« »Zurück mit Ihnen!« fauchte Siawn in der Sprache des Fremden. »Ich habe Ihnen gegeben, was Sie wollten. Jetzt bin ich an der Reihe. So war unsere Abmachung.« »Einige meiner Männer sind getötet worden«, jammerte Weston. »Was soll ich Ihrer Meinung nach desw -« »Halten Sie den Mund!« knurrte Siawn und schnitt ihm mit einer abrupten Handbewegung das Wort ab. Dann wandte er sich wieder zu mir. »Wenn ich die anderen freilasse, gibst du uns allen sicheres Geleit, um abzuziehen - ist das richtig?« »Ich gebe dir mein Wort«, schwor ich. »Aber zuerst müssen sie draußen sein.« »Nein, Llew«, flehte Goewyn leise. »Ich werde dich nicht verlassen.« Siawn lachte leise. »Oh, wie ich das genieße.« »Die Kriegsschar wartet«, sagte ich zu ihm. »Sie wird nicht für immer warten.« »Glaubst du, das kümmert mich auch nur im ge ringsten?« höhnte er. »Ich werde mich nicht von meinem eigenen Gefangenen herumkommandieren lassen.« Er trat dicht an mich heran, schwer atmend. An seinem Hals und seiner Stirn traten die Adern 631
hervor. »Dein Wort bedeutet mir nichts! Du bedeutest mir nichts. Du hast mir nichts als Ärger gemacht, seit du hierhergekommen bist. Aber das wird jetzt ein Ende haben, alter Freund.« Er trat von mir zurück. »Tu es!« rief er. »Was soll ich tun, Herr?« fragte Paladyr. »Töte ihn!« schrie Siawn. Paladyr zögerte. »Tu es!« rief Siawn wieder. Paladyrs Kopf fuhr herum; er funkelte Siawn an. »Nein.« Er ließ die Klinge sinken und trat zur Seite. »Laß die anderen frei, sonst werden sie uns töten.« »Paladyr!« Es war Tegids Stimme; der Barde hatte genau diesen Moment abgewartet, um zu sprechen. »Hör mich an! Du hast Naud beansprucht, und Llew hat es dir gewährt«, sagte er, um Paladyr daran zu erinnern, daß er mir sein Leben verdankte. »Er hat dich damals nicht belogen, und er belügt dich auch jetzt nicht. Laß uns alle frei, und dir wird kein Leid geschehen.« »Bringt ihn zum Schweigen!« brüllte Siawn Hy. Ich hörte ein krachendes Geräusch, und Tegid sackte zu Boden. »Ich habe dir dein Leben geschenkt, Paladyr«, sagte ich. »Er lügt!« beharrte Siawn. »Töte ihn!« Paladyr schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Er sagt die Wahrheit.« »Siawn Hy!« sagte ich. »Nimm mich und laß die 632
anderen gehen.« Um zu zeigen, daß ich es ernst meinte, drehte ich das Messer in meiner Hand um, faßte es an der Klinge und hielt ihm den Griff entge gen. »Also schön«, fauchte Siawn Hy. Er riß mir das Messer aus den Fingern und wandte sich halb zur Seite. Dann stürzte er sich mit einer raschen, katzen haften Bewegung auf mich. Die Klinge sauste scharf auf mich zu und traf mich mitten in der Brust, direkt unterhalb der Rippen. Ich spürte nicht einmal, wie sie eindrang. Goewyn schrie auf und riß sich los. Sie rannte zwei Schritte auf mich zu, doch Paladyr drehte sich um, packte sie am Arm und hielt sie fest. Ich blickte hinab und sah, wie die scharfe Klinge sich in mein Fleisch grub. Mit einem Freudenschrei stieß Siawn das Messer tiefer hinein. Ich spürte ein Brennen unter den Rippen, und dann sackte meine Lunge zusammen. Luftblasen und Blut spritzten aus der Wunde. Siawn trieb die Klinge noch tiefer hinein und ließ sie dann los. Die drei Männer, die mich festhielten, traten zurück. Meine Beine wurden plötzlich schwach und schwammig. Ich hob einen Fuß, um einen Schritt nach vorn zu machen, und der Boden kam mir entgegen und krachte gegen meine Knie. Meine Hände fanden den Messergriff, packten ihn und zogen. Es fühlte sich an, als ob ein Signalfeuer in meiner Brust entfacht worden wäre und sich nun nach außen brannte. 633
Heißes, dunkles Blut quoll aus der Wunde und floß über meine Hände. Ein dunkler Nebel sammelte sich am Rand meines Gesichtsfeldes, doch ich registrierte alles, was um mich her vorging: Siawn, der mich voll bösartiger Freude anstarrte; Cynan, der mit aller Macht gegen Siawns Männer ankämpfte, die ihn immer noch auf dem Boden festhielten; Paladyr, der grimmig schweigend Goewyns Arm festhielt. In meiner Kehle kitzelte es, und ich öffnete den Mund, um zu husten, aber ich konnte es nicht. Der Atem rasselte mir in der Kehle. Mein Mund war trocken - als ob das Feuer in meiner Brust mich von innen her verzehrte. Ich rang nach Atem, aber ich konnte keine Luft bekommen. Ein seltsames, saugen des Geräusch kam aus meiner Kehle. Ich streckte meine Hand aus, um mich abzustützen, aber mein Ellbogen knickte ein, und ich rollte auf die Seite. Goewyn riß sich von Paladyrs Hand los und rannte zu mir. Sie nahm mich in die Arme. »Llew! Oh, Llew!« weinte sie, und ihre warmen Tränen fielen auf mein Gesicht herab. »Llew, mein Leben...« Ich schaute hinauf in ihr Gesicht. Es war jetzt das einzige, was ich noch sehen konnte. Obwohl sie weinte, war sie schön. Eine Flut der Erinnerungen überspülte mich. Es schien, als ob alles, was ich während der Suche nach ihr erlitten hatte, nichts gewesen wäre - weniger als nichts - im Vergleich zu ihr. Ich liebte sie so sehr, daß ich danach lechzte, es ihr zu sagen, doch ich konnte nicht. Das Brennen 634
hörte auf, und statt dessen spürte ich eine kühle Taubheit in meiner Brust. Ich versuchte, mich aufzu setzen, doch meine Beine wollten sich nicht bewegen. Statt dessen hob ich meine Hand zu Goewyns Gesicht und streichelte ihre Wange mit zitternden Fingerspit zen. »Goewyn, meine Geliebte«, sagte ich; meine Stimme war nur noch ein trockenes Flüstern. »Ich liebe dich ... leb wohl...« Goewyn senkte ihr tränenüberströmtes Gesicht zu mir herab. Ihre warmen und lebendigen Lippen, die mir eine letzte, süße Liebkosung schenkten, waren das letzte, was meine Sinne spürten. Dunkelheit senkte sich auf mich herab. Obwohl meine Augen noch immer geradeaus starrten, sah ich nichts vor schwarzem Nebel, der über mir und um mich herum aufwallte und mich immer tiefer in sich hineinsog. Es war ein Gefühl, als ob ich gleichzeitig schwebte und fiel. Ich hörte Goewyn weinen und meinen Namen rufen, und dann hörte ich ein don nerndes Krachen wie eine Meeresbrandung, die sich an einem fernen Ufer bricht. Das Geräusch schwoll an, bis ich sonst nichts mehr hören konnte. Es wurde so laut, daß ich schon dachte, mein Kopf würde unter dem Druck des Lärms zer springen. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich, das Geräusch würde mich verschlingen, mich auslöschen. Ich widersetzte mich, doch wie ich mich widersetzte, weiß ich nicht. Ich konnte mich 635
nicht bewegen und weder sprechen noch sehen. Doch als ich schon glaubte, es nicht länger ertragen zu können, brach das Geräusch plötzlich ab, und der dunkle Nebel verzog sich. Ich konnte wieder sehen und hören, sogar deutlicher als je zuvor. Ich konnte sehen, aber jetzt sah ich alles von etwas oberhalb und außerhalb meines normalen Gesichtsfeldes. Ich sah Goewyn, die über mich gebeugt dasaß und meinen reglosen Körper auf ihrem Schoß wiegte, sah, wie ihre Schultern sich hoben und senkten, während sie weinte. Ich sah Siawn und Tángwen dabeistehen und zuschauen, die Gesichter von einem unheimlichen, hämischen Stolz erleuchtet. Ich sah Paladyr etwas abseits stehen, bedrückt, die Arme schlaff herabhän gend. Ich sah die Raben und Tegid, benommen und wie vor den Kopf geschlagen von der abscheulichen Tat, die sie nicht hatten verhindern können. Ich sah Cynan auf dem Boden liegen und gegen meinen Tod wüten, niedergehalten von den Feinden, die auf seinem Rücken knieten. Er tat mir leid. Seine Frau hatte uns alle an Siawn verraten, hatte uns von Anfang an getäuscht; an der Last dieser Schande würde er für den Rest seines Lebens tragen - ein Schicksal, das er nicht verdient hatte. Durch all die Jahre war er mir ein guter Freund gewesen; ich hätte ihm gern Lebewohl gesagt. Friede sei mit dir, Bruder, sagte ich, aber er hörte mich nicht. Siawn drehte sich um und befahl seinen Männern, Cynan zu fesseln. Dann wandte er sich an Paladyr. 636
»Nimm die Leiche und trag sie nach draußen«, befahl er. Paladyr trat vor, doch Goewyn umklammerte mich fester und schrie. »Nein! Nein! Rühr ihn nicht an!« »Es tut mir leid«, murmelte er, als er sich über sie beugte. »Holt sie da weg!« rief Siawn. Zwei seiner Lakaien sprangen vor, packten Goewyn und rissen sie von mir los. Schreiend und weinend kämpfte sie gegen sie an, aber sie hielten sie fest und zerrten sie fort. Paladyr kniete nieder und nahm meine Leiche auf die Arme. Mühsam hob er meinen schlaffen Körper hoch und hielt ihn fest. »Mir nach!« bellte Siawn Hy. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Im Vorbeigehen nahm er eine Fackel aus ihrem Halter. Im Vorraum blieb Siawn stehen und ließ Paladyr vorbei. »Sie warten auf ihren König«, feixte er. »Sie sollen ihn haben.« Paladyr trug mich aus der Halle, über den leeren Innenhof hinweg und zum Tor hinaus, wo die ver sammelte Kriegsschar wartete. Hinter ihm kamen Siawn und Tángwen, gefolgt von Cynan und Goewyn, beide mit je einem Bewacher an jedem Arm, obwohl Cynan der Sinn fürs Kämpfen vergangen war und die Bewacher Goewyn stützen mußten, um sie aufrecht zu halten. Tegid und die Raben hatten rasch einen Teil ihrer Würde und ihres Rückgrates wiedergefunden und marschierten mit festen Schritten vorwärts. 637
Zuletzt kamen Weston und seine angeheuerten Helfer, die furchtsam und unsicher vorwärts trippelten. Das Erscheinen der Prozession rief einen raschen Aufschrei der wartenden Krieger hervor, doch der Anblick meines leblosen Körpers brachte sie zum Verstummen. Scatha machte Anstalten, zu ihrer Tochter zu laufen, doch Siawn schrie: »Halt! Keiner rührt sich!« Dann befahl Siawn Paladyr, meinen Leichnam auf den Boden zu legen. Die Fackel hoch erhoben, stand er über mir. »Er ist euer König!« krähte er, und seine Stimme grub sich wie ein Rechen in die Herzen der erschütterten Krieger. »Siawn Hy!« schrie Scatha. »Dafür wirst du ster ben! Du und all deine Männer.« Doch Siawn lachte nur. »Wollt ihr ihn? Ich gebe ihn euch. Kommt! Holt ihn euch!« Scatha und zwei Krieger traten langsam vor. Siawn ließ sie herankommen, und als sie nahe waren, zog er eine Flasche hinter seinem bronzenen Brustpanzer hervor und bespritzte mich rasch mit dem Inhalt. Und dann, als sie sich bückten und ihre Hände nach mir griffen, senkte Siawn die Fackel hinab und berührte damit die Flüssigkeit, die auf meiner Haut glänzte. Mit einem Fauchen blähte sich ein hellgelber Feu erball aus. Intensive Hitze schlug den Umstehenden entgegen. Rasch breitete sich das Feuer überall dort aus, wo die Flüssigkeit vorgedrungen war. Meine Kleidung verbrannte zuerst, dann mein Fleisch. 638
Goewyn schrie und riß sich von ihren Bewachern los. Sie hätte sich in die Flammen geworfen, doch sie fingen sie wieder ein und zerrten sie zurück. Siawn betrachtete meine brennende Leiche mit einem Ausdruck ungeheurer Befriedigung. Er hatte seine Rache seit langer Zeit geplant, und er kostete den Augenblick voll aus. Cynan, stumm und reglos, sah nicht die Flammen an, sondern seine verräterische Braut, die hochmütig neben Siawn stand. Schicht um Schicht verbrannte die Kleidung an meinem Leib. Die Haut auf meinem Gesicht und Hals wurde runzlig und begann zu rauchen, als die Flam men darüber züngelten. Das Feuer knisterte und zischte, als sich das Fett unter meiner Haut entzünde te. Mein Haar verbrannte, dann mein Siarc und meine Breecs. Mein Gürtel brauchte länger, weil er in mehreren Lagen um meinen Leib geschlungen war. Doch als die ersten beiden Lagen meines Gürtels verzehrt waren, erschienen darunter drei runde Klumpen. Siawn blickte hinab, sah die Klumpen und spähte genauer hin. Ein seltsames Licht trat in seine Augen, als er die Steine erkannte, die Tegid mir gegeben hatte, um sie mit nach Tir Aflan zu nehmen. Singende Steine, drei an der Zahl, leuchteten weiß wie kleine Monde im Feuer. Drei Singende Steine, zum Greifen nahe.
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Gleißende Flammen Siawn Hy konnte ihnen nicht widerstehen. Trotz der Flammen trat er näher heran und riß, schnell wie eine zupackende Schlange, einen der Steine heraus. Mit einem wilden Triumphschrei hob er ihn hoch, »Mit diesem Stein werde ich siegen!« Der Stein war heiß, und während er ihn hochhielt und sein Aufschrei noch durch die Luft hallte, wurde das milchweiße Gestein durchsichtig wie Eis und schmolz in seiner Hand. Siawn starrte hin, als der flüssige Stein wie Wasser durch seine Finger und an seinem erhobenen Arm herabrann. Er bückte sich, um den Flammen noch einmal zu trotzen und einen weiteren Stein herauszuholen. Seine Finger zuckten vor und schlossen sich um einen weiteren der kostbaren Steine; doch als er ihn heraus ziehen wollte, entzündete sich der flüssige Stein. Flammen umloderten seine Hand und schossen entlang der geschmolzenen Spur des einstigen Steins an seinem Arm empor. Siawn fuhr zurück, immer noch den zweiten Stein umklammernd. Er hielt sich seine brennende Hand vors Gesicht. Mit einer Explosion aus purem weißem 640
Licht zerbarst der Stein in seiner Faust in tausend Stücke und verstreute seinen flammenden Splitter weit und breit in einem Regen aus gleißendem, weißem Feuer. Jedes der Fragmente schmolz und begann mit einer wunderbaren Weißglut zu brennen. Der dritte Stein, der immer noch auf meinem Bauch lag, schmolz, und die Flüssigkeit begann wie silberner Honig, wie leuchtendes Wasser zu zerfließen. Sie bedeckte meinen brennenden Leichnam und sickerte rasch hinaus in den Boden um mich her. Wie eine Quelle floß sie, dehnte sich immer weiter aus, quoll aus meinem Leib empor und floß und floß in hell glänzenden Wellen. Und immer, wenn das geschmol zene Gestein eines der brennenden Bruchstücke berührte, loderte es mit blendend weißen Flammen auf. Männer wichen vor dem Feuer zurück, und viele rannten davon. Doch es gab kein Entrinnen. Die Flammen waren ebenso schnell wie hell. Sie rasten vor dem Wind ihrer eigenen Hitze dahin, mit immer größerer Geschwindigkeit, als das Feuer weitere Feuer entfachte und emporstieg und dem Himmel entgegen sprang. Das Gras brannte und die Erde und die Felsen. Selbst die Luft schien sich wie Zündpapier zu entzün den. Nichts blieb verschont, nichts entkam dem alles verzehrenden weißen Feuer. Alle, Freund und Feind gleichermaßen, fielen den alles einhüllenden Flammen zum Opfer. Siawn, der 641
am nächsten stand, war der erste, den es erwischte; er brach zu einem zuckenden Haufen zusammen. Tángwen stürzte auf ihn zu, und die Flammen rasten ihr entgegen und ließen ihren Umhang und ihr Kleid auflodern; ihr Haar wurde zu einem feurigen Schweif. Als die Wachen das sahen, ließen sie ihre Waffen fallen und rannten davon, doch das Feuer war schnel ler als ihre Beine. Cynan und Goewyn gingen in Flammen auf. Cy nan, lodernd von den Füßen bis zu den Haaren, taumelte auf Goewyn zu, um sie zu schützen, doch sie sackte zu Boden, bevor er sie erreichen konnte, und nach ein paar weiteren Schritten hauchte auch er sein Leben aus. Bran und die Raben wurden gleichzeitig mit Tegid und Gwion von den Flammen erfaßt. Da ihre Füße angekettet waren, konnten sie nicht rennen, und so drehten sie sich um und schauten dem Feuer ohne Furcht entgegen. Nicht so die feindlichen Krieger, die sie bewachten. In ihrer Hast zu fliehen stolperten sie übereinander. Doch das Feuer schoß wie der Blitz über den Boden und setzte sie in Brand. Zuerst heulten sie auf in ihrer Furcht und Qual, doch ihre Stimmen versanken rasch im Brüllen des dahinjagen den Flammenmeeres. Immer weiter breitete es sich aus und überspülte schließlich ganz Tir Aflan in einer tosenden Flut gleißenden, silberweißen Feuers, die alles verzehrte, was sie mit ihren sengenden, strahlenden Flammen 642
berührte. Gras und Felsen loderten auf. Und als die Feuersbrunst immer höher emporstieg und in blen denden Lohen dem Himmel entgegensprang, so daß die Luft selbst sich entzündete, erklang ein Laut wie ein kristallklarer Glockenschlag. Es war die Stimme der Feuersbrunst, die klar und rein ertönte. Und sie ließ ein Lied erklingen, das unvergleichliche Lied von Albion: Sonnenherrlichkeit! Sternenglanze im Juwelenhimmel!
Licht vom Licht, ein Hohes, Heiliges Land.
Das hell erstrahlt, gesegnet von dem Gaben-Reichen;
Ewige Gabe für das Volk Albions!
Hoch hinaufgetragen auf den Flügeln des Windes, zog das reinigende Feuer über den Himmel, entfachte die Wolken und die brütenden Dämpfe und scheuerte den Himmel rein. Grau und Schwarz verwandelten sich in leuchtendes Blau und dann in Weiß. Das luftige Firmament erstrahlte in einem Licht, glänzender als Sternenlicht, heller und gleißender als die Sonne. Das Lied hallte durch die Höhen und jagte weiter: Ein Reichtum vieler Wasser! Blausprudelnde Tiefe,
Weißumbrandeter Strand, geweiht das Firmament,
Groß in der Macht des Einen,
Sanft im Frieden eines großen Segens:
Ein Reichtum an Wundern für die Clansleute Albions!
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Als es das Ufer erreichte, eilte das Feuer weiter über die See. Von Wellengipfel zu Wellengipfel sprang es in flüssigen Zungen und breitete sich über die Fläche des Meeres aus. Die See begann zu kochen, und ihre Farbe verwandelte sich von trübem Grün zu Jade und dann zur Farbe weißen Goldes im Schmelz tiegel. Das Wasser verwandelte sich in geschmolzene Flammen, und die gewaltige, glühende See ertönte wie eine Glocke mit dem Lied und mischte ihr tiefes Läuten mit den hohen Tönen des Himmels. Und das Lied eilte weiter: Blendend das Grün in seiner Reinheit!
Wie das köstliche Feuer der Smaragde
Glüht es in den tiefen Tälern,
Glänzt es auf den sanften Feldern;
Ein kostbarer Edelstein für die Söhne Albions!
Entlang der breiten Landzunge flog das gleißende Feuer, eine aufragende Wand aus Gluthitze und blendender Helligkeit, und pflügte über die ausgezehr ten Täler von Tir Aflan hinweg, und die wüste Weite des Moorlandes ging darin unter. Das schmutzverkru stete Dorf explodierte bei der ersten Berührung der Flammen; die Schlammleute in den Minen sahen die Flammen auf sich zurasen und stürzten sich in ihre Gruben. Doch die listigen Finger der Flammen drangen bis in die dunklen, engen Stellen und setzten 644
sie in Brand, strichen über den Schlamm hinweg, versengten die Erde und verwandelten jeden Fels brocken in Cwm Gwaed in eine Säule aus Feuer. Und das Lied jagte weiter: Die weißgekrönten Gipfel, die unermeßlichen Türme,
Die Festung der kühnen Berge!
Erhabene Höhen - voll dunkler Wälder und Roter
Rehe in vollem Lauf -
Verkünden weithin den hochgerühmten Glanz Albions!
Aus den Berggipfeln ringsum sprossen Kronen aus silberweißen Flammen, die loderten wie titanische Signalfeuer. Jeder Berg wurde zu einem feurigen Vulkan; Felsen und Schnee, Moos und Eis nährten das hungrige Feuer. Hitzewellen breiteten sich in allen Richtungen aus. Die steinerne Haut der Berge wurde glasig, steinerne Herzen erglühten weiß. Flammen zungen tanzten zwischen den Sternen. Und das Lied jagte weiter: Flinke Pferde auf weiten Wiesen! Anmutige Herden
Auf den goldblumigen Auen,
Starke Hufe trommeln
Ein donnerndes Lob an den Gütig-Weisen.
Einen Segen der Freude im Herzen Albions!
Golden die Kornkammern des Großen Gebers,
Überfließend der Reichtum der strahlenden Felder;
Das rote Gold der leuchtenden Äpfel,
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Die Süße der goldenen Honigwabe,
Ein Wunder der Fülle für die Stämme Albions!
Silbern der Fang im Netz, wimmelnd der Schatz
Aus dem glücklichen Wasser; braun gesprenkelt die
Hänge, Seidige Herden dienen Dem Herrn des Festmahls; Überfluß häuft sich auf den Tischen Albions! Entlang der Flüsse und Bäche, die unzähligen Was serwege in Brand setzend, flogen die gleißenden Flammen, streckten ihre feurigen Finger über das Land der Fäulnis aus, bis tief in den Kern von Tir Aflan, und entfachten die Felder und Wiesen. Sumpf gebiete begannen zu dampfen und dann zu schwelen, um sich danach in Seen aus Feuer zu verwandeln. Schilf und Gras. Ginsterbüsche und knorrige Baum stämme, ganze Wälder blühten in Flammen. Halm um Halm und Zweig um Zweig verschlang das Feuer das wüste Kernland. Und das Lied eilte weiter: Weise Männer, Barden der Wahrheit, sprechen kühn
Aus Herzen, flammend mit dem Lebendigen Wort;
Reich an Wissen,
Klar an Einsicht,
Ein Glanz der Wahrhaftigkeit für die Wahren Menschen
Albions! An himmlischen Flammen entzündet, dem 646
Alles verzehrenden Feuer der Liebe, Brennend aus reiner Leidenschaft, Lodernd im Herzen des Schöpfer-Königs. Eine Pracht des Segens erleuchtet Albion! Silberweiße Feuersäulen tanzten und sprangen hoch, hoch empor; sie brannten mit der Intensität von zehntausend Sonnen, verzehrten das Land ebenso wie den Himmel darüber und erfüllten die schwarze Leere der Nacht mit gleißendem Licht. Und das Lied eilte weiter: Edle Fürsten knien in Rechter Verehrung,
Leisten auf ewig unsterbliche Schwüre,
Umarmen die Brust der Gnade;
Ein ewiger Tribut dem Herrscher aller Herrscher;
Leben über den Tod hinaus für die Kinder Albions!
Ein Königtum, geschmiedet aus unerschöpflicher Tugend,
Geschliffen von der Schnellen Sicheren Hand;
Voll kühner Rechtschaffenheit,
Voll tapferer Gerechtigkeit,
Ein Schwert der Ehre verteidigt die Clans Albions!
Gebildet aus den Neun Heiligen Elementen,
Geschaffen von dem Herrn der Liebe und des Lichts;
Gnade aus Gnade, Wahrheit aus Wahrheit,
Berufen am Tag des Ringens.
Ein Aird Righ, der für immer herrsche in Albion!
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Niemand vermochte dem wilden Zorn des Feuers zu widerstehen. Die zerbrechliche Menschengestalt verdampfte in der Hitze, Fleisch und Gebeine lösten sich auf und verstreuten ihre Moleküle in die flam mende Atmosphäre. Das alles umschließende Lied jagte weiter und weiter in immer größeren Kreisen aus reinigendem Feuer. Und alle Dinge, die das heilige Feuer berührte, wurden blankgescheuert, verzehrt, geschmolzen, in ihre kleinsten Bestandteile und dann noch weiter in ihre Atome zerlegt. Die befreiten Atome zerfielen, verschmolzen und verbanden sich zu neuen Elemen ten des Seins. Tief im weißglühenden Herzen des Feuers sah ich, wie sich die Schnelle Sichere Hand bewegte, ungeformte Materie sammelte und in reinen, neuen Formen modellierte. Ich allein sah all dies, und ich sah es mit dem Auge des Wahren Aird Righ, des heiligen, ewig sich selbst opfernden Königs. Ich sah es mit dem niemals blin zelnden Auge des Ewig Lebendigen, dessen Berüh rung die leblose Seele erwachen läßt und dessen Leben den Tod in sich verschlingt. Ich sah, wie das Land der Fäulnis aus der schmelzenden Hitze heraus umgearbeitet, umgeformt und aus Feuer neu geboren wurde. Nichts entging dem läuternden Feuer seines unwi derstehlichen Willens: Alle Unvollkommenheit alles Häßliche, alles Schwache und Deformierte, alles Zerbrechliche, alle Krankheiten, Gebrechen, Unzu 648
länglichkeiten und Schäden, jeder Fehler und jedes Versagen, jeder Mangel und jeder Makel, jeder Fleck wurde ausgelöscht, geläutert und gereinigt. Und als die letzte Narbe verschwunden war, ließ das reinigen de Feuer nach und schwand dahin. All dies mochte ganze Äonen gedauert haben oder in einem Augen blick geschehen sein; ich kann es nicht sagen. Doch als die Flammen sich endlich senkten, war Tir Aflan verzehrt, und all seine Elemente waren in einer feineren, edleren Empfängnis verwandelt worden: neu erschaffen in einer Großartigkeit, die so weit über seine frühere Verwüstung erhaben war, als wäre ein altes Kleidungsstück abgerissen und nicht nur wieder hergestellt, sondern durch ein Gewand von ungekann ter Herrlichkeit ersetzt worden. Es war keine Verän derung, sondern eine Verwandlung; keine Umgestal tung, sondern eine Neuschöpfung. Die Schlammleute, Huren, Sklaven und Gefange nen - all die unglücklichen Bewohner des Landes der Fäulnis - waren verschwunden, und an ihrer Stelle standen Männer und Frauen von schöner Gestalt und Anmut. Die leeren Felder und Wälder waren nicht mehr leer; Tiere von aller Art - Hirsche und Schafe, Wildschweine, Bären, Füchse, Otter, Biber, Kanin chen, Eichhörnchen und Mäuse, ebenso auch Rinder und Pferde - erfüllten die Wiesen und Täler, durch streiften die Waldschneisen und liefen zwischen den Hügeln und Auen; Forellen und Lachse, Hechte und Barsche tummelten sich in den Seen und Bächen; der 649
strahlend blaue Himmel war voller Vögel, und in den Baumwipfeln jubelte der Vogelgesang; die verlasse nen Berghänge, Moore und öden Heideflächen trugen ihre eigene, neue Herrlichkeit in Form von Wildblu men in allen Farben und Schattierungen; die Flüsse strömten sauber und unverdorben dahin, das Wasser war kristallklar und rein. Tir Aflan existierte nicht mehr; an seiner Stelle lag nun Tir Gwyn. Tegid Tathal war der erste, der wieder zum Leben erwachte. Er öffnete die Augen, stand auf und sah sich um. Scatha lag in der Nähe, nun in ein stechpalmen grünes Kleid mit kornblumenblauem Gürtel und einen grün und golden umsäumten roten Umhang gekleidet. Gwion lag zu Tegids Füßen, daneben Bran und rings um Bran die Raben, wie Tegid sie in Erinnerung hatte - doch nun waren die Umhänge der Raben mitter nachtsblau, und jeder trug einen Torc aus dick ge flochtenen Silbersträngen. Cynan lag ein wenig abseits davon, seine Hand nach Goewyn ausgestreckt. Und sie alle, auch Tegid selbst, waren neu in die kostbarsten Gewänder gekleidet - von so erlesenem Material und feiner Verarbeitung, solch leuchtenden Farben und vorzüglicher Qualität, wie man sie noch nie gekannt hatte. Tegid, Scatha, die Raben, jeder einzelne von den Gwr Gwir und ihren Gefangenen sie alle waren mit Kleidern von herrlichster Farbe und Verarbeitung geschmückt. 650
Auch die Waffen der Krieger hatten sich verändert. Der leuchtende Glanz von Gold und hell schimmern dem Silber erstrahlte im Licht einer Morgendämme rung, so klar und frisch wie am ersten Schöpfungstag. Die Speere, Schaft und Spitze, waren aus Gold, und golden war auch jede Schwertklinge samt Griff. Die Ränder der Schilde, die Schildbuckel und Ringe glänzten in einem silbernen Licht. Tegid wandte seine staunenden Augen von den Kriegern und ihren Waffen ab. Er blickte zum Him mel empor und sah das strahlende Blau, das von einem lebendigen Licht erfüllt zu sein schien. Er sah, daß das Land der Fäulnis sich zu unaussprechlicher Schönheit gewandelt zu haben schien, und fing an zu begreifen, was geschehen war. Am ganzen Leib zitternd, kniete er neben Bran Bresal nieder und berührte ihn sanft. Der Anführer der Raben erwachte, und Tegid half ihm aufzustehen. Als nächstes weckte er Scatha, dann Cynan; Bran weckte die Raben, die sich sodann gemeinsam mit Cynan und Tegid daranmachten, die Gwr Gwir zu wecken. Scatha rannte mit wild klopfendem Herzen zu ihrer Tochter und kniete neben ihr nieder. Goewyns Haar war glänzend gebürstet und mit winzigen weißen und gelben Blumen verflochten. Sie trug ein hyazinthen blaues Kleid mit einem perlweißen Mantel darüber, dazu einen hennafarbenen Umhang, der mit pflaumen farbenen Figuren bestickt war. Scatha legte ihre Hand an Goewyns Wange und drehte behutsam den Kopf 651
ihrer Tochter zu sich. Goewyn holte tief Atem und erwachte. »Llew?« fragte sie. Dann brach die Erinnerung über sie herein. »Llew!« Sie sprang auf und rannte zu mir. Mein Körper lag da, wo Paladyr ihn hingelegt hatte. Geschmückt wie ein König in Siarc, Gürtel und Breecs von tiefem Scharlachrot, mit scharlachroten Stiefeln an den Füßen, lag ich in einen scharlachroten Umhang gehüllt; in den Umhang war mit silbernem Faden das Môr Cylch gestickt, der Tanz des Lebens. Goewyn hob ihre kühle Hand zu meiner Stirn und berührte mein Gesicht. Tränen quollen aus ihren Augen, als sie meine kalte, leblose Haut fühlte. Scatha trat neben sie, und Cynan; Bran und der Rabenflug versammelten sich ringsum. Als Tegid zu ihnen stieß, hob Goewyn ihre tränennassen Augen. »Oh, Tegid, ich dachte...« Sie begann zu weinen. »Er ist tot, Goewyn«, sagte Tegid leise und kniete sich neben sie. Der Barde legte seine Hand auf meine reglose Brust. »Er wird nicht zurückkommen.« »Schaut«, sagte Bran. »Seine silberne Hand ist nicht mehr da.« Sie hoben meinen rechten Arm und sahen, daß meine silberne Hand tatsächlich fort war; das Metall war durch eine Hand aus Fleisch und Blut ersetzt worden. Goewyn nahm die Hand und zog sie an sich. Sie drückte das gefühllose Fleisch an ihre warmen Lippen 652
und küßte es, dann legte sie die Hand über mein Herz. »Wo ist Siawn Hy?« fragte Cynan plötzlich. »Wo sind Tángwen und Paladyr?« Bis zu diesem Augenblick hatte niemand daran gedacht, nach ihnen zu suchen, und jetzt, als sie damit anfingen, konnten sie sie nicht finden. Die Übeltäter waren verschwunden, wenn auch nicht völlig. »Hier!« rief Cynan, der gerade die Stelle, wo Siawn zuletzt gesehen worden war, genau untersuchte. »Ich habe etwas gefunden.« Die anderen traten zu ihm und betrachteten mit ihm den seltsamen Fleck auf dem Boden. »Was ist das?« fragte er und deutete auf ein kleines Häufchen eines pulverigen Rückstandes. Tegid bückte sich und untersuchte es. »Das ist al les, was von Siawn Hy übriggeblieben ist«, verkünde te der Barde schließlich. Ebenso war es mit Paladyr und Weston und allen, die Siawn freiwillig gefolgt waren. Das läuternde Feuer hatte alle Schlacke verbrannt, und als es seine reinigende Arbeit beendet hatte, war nichts mehr davon übrig. Das heißt, nichts außer einer Handvoll Asche, weich und weiß wie Schneeflocken. Cynan wollte die Asche sammeln und ins Meer streuen, doch Tegid riet davon ab. »Laßt sie liegen«, meinte er. »Soll der Wind sie mitnehmen. Für diese hier wird es keinen Ort der Ruhe geben.« »Was ist geschehen?« fragte Bran, fassungslos angesichts der Veränderungen, die an ihnen und an 653
der Welt um sie her vorgegangen waren. Er sprach die Frage aus, die vielen anderen auf dem Herzen lag besonders den Überläufern, die dadurch, daß sie sich mir ergeben hatten, dem Schicksal ihres Herrn ent gangen waren. Als neugeschaffene Menschen starrten sie nur in stummem Staunen ihre verwandelten Leiber und die neu erstandene Welt um sie her an, unfähig, das Geschehene oder ihr eigenes Glück zu begreifen. Tegid hob die goldene Stange, die er nun anstelle seines Ebereschenstabes trug. Die andere Hand hoch über seinen Kopf erhoben, sprach er zu der verwirrten Menge: »Der Klang des Schlachtengetümmels wird zwischen den Sternen des Himmels zu hören sein, und das Große Jahr wird seiner endgültigen Erfüllung entgegengehen. Hört, o Söhne Albions: Blut ist aus Blut geboren. Fleisch ist aus Fleisch geboren. Doch der Geist ist aus Geist geboren und bleibt immerdar beim Geist. Bevor Albion eins ist, muß die Heldentat getan werden, und die Silberhand muß herrschen.« Er ließ den Stab sinken und hielt ihn der Länge nach über meinen Körper. »So wurde es prophezeit, und so ist es geschehen«, sagte Tegid. »Das Große Jahr ist zu Ende; die alte Welt ist vergangen, und eine neue Schöpfung ist errichtet worden.« Er deutete auf meinen scharlachrot gekleideten Leib und fuhr fort: »Der Aird Righ von Albion ist tot. Die Heldentat zu der er erwählt war, ist vollbracht. Seht! Er hat Tir Aflan zurückgewonnen und unter seine souveräne 654
Herrschaft gebracht. So sind nun alle Länder unter einem König vereint: Von diesem Tag an ist Albion eins. Dies ist die Herrschaft der Silberhand. Die Prophezeiung ist erfüllt.« Zurück durch die Berge, die nun neu erschaffen waren: glitzernde, mit Silber gekrönte Riesen, die die weite, reingefegte Himmelskuppel auf ihren starken Schultern trugen. Leuchtend weiße Wolken um schmeichelten die Hänge wie königliche Kleider und Gewänder; funkelnde Bäche sandten plätscherndes Gelächter durch die Täler, und dunstverhangene Wasserfälle schmückten die Höhen mit Regenbogen. Die Straße gab es nicht mehr; statt dessen schlängelte sich ein grasbewachsener Pfad durch das Hochland und verband es mit dem Tiefland dahinter... Zurück durch die Moore, die sich in weiträumige Grasflächen verwandelt hatten, vereinzelt mit Bäumen bestückt und voller funkelnder Quellteiche. Hirschru del und Herden wilder Schafe grasten auf der grünen Fläche; Vögel zogen in schnatternden Schwärmen darüber hinweg oder trillerten ihre Lieder in einen Himmel, der so hell und blau war, daß der Anblick einem ins Herz stach... Zurück durch die Hügel und Täler, nun neu ge macht: sanft geschwungene Erhebungen, die zu großartigen Kuppen emporstiegen und wieder in schattigen, einsamen Tälern versanken. Die grünen Farben der Hügel und Täler waren so üppig und 655
vielfältig wie die wechselnden Töne des goldenen Lichtes, das auf den wolkenumhangenen Gipfeln spielte... Zurück durch den Wald, nun neu erstanden: hoch aufragende Säulen gewaltiger Stämme, die sich zu einem Kuppelgang aus unzähligen ausgebreiteten Ästen unter einem fein gewirkten Baldachin aus Laub emporschwangen - das Heiligtum der Natur selbst, erleuchtet von einem weichen, diffusen Licht. Am Tage fiel eine endlose Folge von Sonnenstrahlen auf den grasbewachsenen Pfad hinab; bei Nacht übergos sen Mond und Sterne die runden Stämme und schlan ken Äste mit Silber und verliehen jedem Blatt und jedem Zweig ein fein ziseliertes Muster... Zurück am Fluß entlang, der nun ein edler Wasser lauf war, herrlich in seinen weit geschwungenen, gemächlichen Biegungen, mit tiefer Stimme sein klangvolles Lied singend. Schwäne und Gänse und andere Wasservögel niste ten an seinen schilfgesäumten Ufern; ein Reichtum an Fischen tummelte sich in seinen kühlen Untiefen, und sie sprangen in den von der Sonne gewärmten Strö men reinen, klaren Wassers... Zurück durch eine wiedergeborene Welt: schöner, als ein liebendes Herz sie sich hätte erträumen kön nen, herrlicher als die Freude selbst, anmutiger als die Hoffnung. Zurück durch Tir Gwyn trugen sie meinen Leichnam, zurück zu dem Ort, wo drei schnelle, schlanke Schiffe am Strand warteten. Und dann 656
zurück über die weißen Schaumkronen einer See voll leuchtenden Farben und klarem Wasser. Zurück über dieses leuchtende, ständig sich verän dernde Firmament aus flüssigem Licht trugen sie mich nach Albion. Und obwohl es viele Tage lang dauerte, zeigte mein Leichnam nicht das geringste Anzeichen von Verfall oder Verwesung. Es war, als ob ich nur schliefe; doch kein Atem regte sich in meiner Brust, und mein Herz war still und kalt. Mein Leichnam lag auf einer Bahre aus den silber nen Schilden der Gwr Gwir, die an goldenen Speer schäften befestigt worden waren. Mein scharlachroter Umhang bedeckte mich, und Goewyn ritt oder ging oder stand stets neben mir. Sie wollte keinen Augen blick lang von meiner Seite weichen. Wenn der Zug nachts haltmachte, schlief sie sogar neben der Bahre. Sie erreichten Albion und trugen meinen Leib in einer Prozession durch ein Land, das vertraut und doch zu einer höheren Vision seiner selbst emporge hoben war. Albion war verwandelt in ein Wunder, das die Seele vor Freude anschwellen und den Atem im Halse steckenbleiben ließ, als wäre seine frühere Schönheit nur ein Spiegelbild der Wirklichkeit gewesen. Denn auf Albion lag nun ein Glanz, der reiner und feiner war als Harfenklang und köstlicher als Musik, und ihre Herzen sangen, als sie es sahen. Die Prozession trug meinen Körper nach Caledon, über die Berge und über die Ebene, den Druim Vran hinauf und hinab nach Dinas Dwr, wo Fürst Calbha 657
und mein Volk warteten. Als sie von meinem Tod erfuhren, gaben sich die Leute einer tiefen, untröstli chen Trauer hin. Die Gebeine von Alun Tringad wurden im Hünengrab auf dem Heldenhügel am Fuße des Druim Vran begraben. Auch Professor Nettletons Kopf wurde dort beerdigt. Mein Körper dagegen wurde bis zum Begräbnis in der Halle des Königs aufgebahrt, denn Tegid hatte entschieden, daß ich in einem besonderen Grab bestattet werden sollte, das er errichten würde. Inzwischen lag ich auf meiner goldenen Bahre in der Halle des Königs, und Goewyn, die untröstlich war, blieb Tag und Nacht bei mir, während das Gorsedd vorbereitet wurde. Eines Abends kam Tegid in die Halle und kniete sich neben Goewyn. Sie verbrachte die Nacht, wie jede andere auch, sitzend auf dem Geweihthron neben meinem leblosen Körper. »Es ist Zeit, ihn loszulassen, Goewyn«, sagte der Barde zu ihr. »Ihn loslassen? Das werde ich niemals«, erwiderte sie mit einer Stimme, die vor Kummer zu einem Flüstern gedämpft war. »Ich sage nicht, daß du ihn vergessen sollst«, beschwichtigte sie Tegid. »Aber es ist Zeit - hohe Zeit - daß Llew seine Reise antritt. Du hältst ihn hier bei dir fest.« »Ich halte ihn fest?« wunderte sich Goewyn. »Wenn es so ist«, sagte sie und ergriff meine kalte Hand, »dann werde ich ihn für immer festhalten, und 658
er wird für immer hier bei mir bleiben.« »Nein«, sagte Tegid sanft. »Laß ihn gehen. Es ist falsch, ihn hier so gefangenzuhalten.« Er ergriff ihre Schultern, hielt sie auf Armeslänge vor sich und sah sie eindringlich an, so daß sie seinem Blick nicht ausweichen konnte. »Goewyn, hör mir zu. Alles ist gekommen, wie es kommen sollte. Llew wurde zu einem bestimmten Zweck zu uns gesandt, und dieser Zweck wurde erreicht. Es ist Zeit, ihn loszulassen, damit er seine Reise fortsetzen kann.« »Das kann ich nicht«, jammerte Goewyn, von fri schem Kummer überwältigt. »Dann wäre ich ganz allein!« »Wenn du ihn nicht losläßt, wird deine Liebe in dir zu faulen beginnen; sie wird dein Leben und das Leben des Kindes stehlen, das du in dir trägst«, entgegnete Tegid fest. Tranen stiegen ihr in die Augen. Sie barg ihr Ge sicht in den Händen und begann zu weinen. »Oh, Tegid, es tut so weh«, rief sie mit tränenüberströmtem Gesicht. »Es tut mir so weh!« »Ich weiß«, sagte er leise. »Dieses Leid wird nicht schnell heilen.« »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Ich werde dir sagen, was du tun mußt«, antwortete der weise Barde und legte seine Arme um sie. »Du wirst das Kind zur Welt bringen, das er dir gegeben hat, und du wirst das Kind lieben und in der Erinne 659
rung an ihn großziehen.« Er ergriff ihre Hände. »Komm mit mir, Goewyn.« Sie stand auf und ging nach einem letzten liebevol len Blick mit Tegid hinaus. Scatha und der Rabenflug warteten am Eingang der Halle. Sobald Goewyn und Tegid herauskamen, gingen die Raben in die Halle und kamen zur Bahre. Sie hoben die Trage aus Schilden und Speeren auf ihre Schultern und trugen sie nach draußen; dann zogen sie langsam durch das Crannog zu einem Boot und ruderten mit dem Boot über den See, wo Cynan am Ufer mit Pferden und einem Wagen wartete. Drei Pferde - ein Fuchs, ein Schimmel und ein lebhafter Rappe an der Spitze zogen den Wagen; die Hufe der Pferde und die Räder des Wagens waren mit schwarzen Tüchern umwickelt. Neben Cynan stand, einen Schild und einen Speer in den Händen und ebenso in Schwarz gehüllt, Fürst Calbha, und hinter ihm kamen die Leute von Dinas Dwr mit Fackeln, die nicht angezündet waren. Der Leichnam wurde auf den Wagen gelegt, und langsam zog die Prozession am Seeufer entlang zu der Stelle, wo Tegid im Innern des heiligen Hains, den er für seine Mabinogi geweiht hatte, das Heldengrab errichtet hatte. Die Menge zog den langgestreckten Hang zu dem Hain hinauf, vorbei an der Mühle, die während meiner Abwesenheit von Fürst Calbha und dem Baumeister Huel vollendet worden war. Als wir vorbeikamen, segnete ich die Mühle, damit sie gute Arbeit leisten sollte. 660
Der Trauerzug erreichte den schattigen Hain, der dunkel unter dem tiefblauen Himmel der Abenddäm merung lag. Das Gorsedd war in der Mitte des Hains errichtet worden - eine hohle Steinkammer, überwölbt von einem Erdhügel und mit Grasnarbe bedeckt, umgeben von einem Ring aus schlanken, silbernen Birken. Jemand hatte neben dem Cairn einen Schild abgestellt, und als wir in den Hain kamen, hörte ich das Krächzen eines Raben. Über uns glitt ein großer Vogel mit schwarzen, glänzenden Federn herab und ließ sich auf dem Rande des Schildes nieder. Alun, denke ich, hatte einen Boten gesandt, um mir Lebe wohl zu sagen. Die goldene Bahre wurde am Fuß des Grabhügels vor der schweigenden Menge abgestellt. Der Oberste Barde stellte sich hinter den Leichnam und barg seinen Kopf in einer Falte seines Umhangs. Er hielt seinen goldenen Stab über mich und sagte: »Heute abend begraben wir unseren König. Heute abend sagen wir Lebewohl zu unserem Bruder und Freund - zu einem Freund, der für uns tat, was wir nicht für uns selbst tun konnten. Er wandelte für eine Zeit unter uns, doch wie Meldryn Mawr, der vor ihm das Königtum innehatte, diente Llew dem Lied von Albion. Sein Leben war das Leben des Liedes, und das Lied hat das Leben zurückgefordert, das es für kurze Zeit gewährte. Der König ist tot, niedergemäht auf schändliche und widerwärtige Weise. Er ging bereitwillig in 661
seinen Tod, um das Leben seiner Braut und seiner Freunde zu retten, deren Befreiung er erstrebte und erreichte. Niemand soll je sagen, daß er nach Ruhm gierte; alle sollen sich erinnern, daß er sich demütigte, indem er sein Geas brach, um den Feldzug nach Tir Aflan anführen zu können. Und weil er sich nicht an seinen hohen Rang klammerte, ist diesem Weltenreich viel Gutes wider fahren. Denn in Llews Tod ist das Lied von Albion wiederhergestellt worden. Höre, o Albion! Das Große Jahr ist zu Ende, ein neuer Kreislauf hat begonnen. Von nun an wird das Lied nicht mehr verborgen sein; von nun an wird es nicht mehr Sache der Phantarchen und Könige sein, es zu bewahren, denn nun trägt jede Frau und jeder Mann das Lied im Herzen, und alle Männer und alle Frauen werden seine Hüter sein.« Dann ließ Tegid Tathal, Penderwydd von Albion, seine Hand sinken und sagte: »Nun ist es Zeit, unse ren Bruder freizugeben und auf seinen Weg zu schicken.« Er entfachte ein kleines Feuer und entzündete eine Fackel daran. Das Feuer wurde von Hand zu Hand weitergereicht, bis alle Fackeln wie Sterne in dem nachtdunklen Hain leuchteten. Dann wies er die Raben an, die Bahre wieder hochzuheben. Drustwn, Emyr, Niall und Garanaw, mit Bran an meinem Kopfende, schickten sich an, unter Tegids Anleitung meinen Körper langsam im Sonnensinn um den Gorseddhügel herumzutragen. Das Volk, geführt von 662
Tegid und Goewyn direkt hinter ihm mit Scatha zu ihrer Rechten und Cynan zu ihrer Linken, folgte dem Leichnam - und alle begannen zu singen. Ich war dort mit ihnen in dem Hain. Ich sah den Widerschein der Fackeln auf ihren Gesichtern leuch ten und in ihren Tränen glitzern; ich hörte ihre Stim men singen, zuerst leise, dann kräftiger, als sie ihrer Trauer freien Lauf ließen. Sie sangen das Klagelied der Königin, und es durchbohrte mir das Herz, es zu hören. Auch Goewyn sang mit hocherhobenem Haupt, die Augen überquellend vor Tränen, die an ihren Wangen und ihrem Hals hinabströmten. Ich spürte, wie das Gewicht ihres Kummers ihre Seele hinabzerrte, und ich näherte mich ihr. Goewyn, Geliebte, du wirst für immer in meiner Seele leben, flüsterte ich ihr ins Ohr; treues Herz, deine Trauer wird vergehen. Tegid Tathal führte den Begräbniszug einmal um den Erdhügel ... und dann ein zweites Mal ... und ein drittes. Nachdem sie die dritte Runde vollendet hatten, bildeten die Leute eine lange Doppelreihe und hielten ihre Fackeln hoch empor. Sie bildeten den Aryant Ol, den Leuchtenden Weg, über den der Leichnam eines Königs zu seiner Ruhe getragen wird. Und in der Zeit zwischen den Zeiten wurde ich in mein Grab getra gen. Die Raben, hoch aufgerichtet und ernst, schulterten die Bahre und setzten sich mit langsamen, gemesse nen Schritten über den Leuchtenden Weg zum Grab 663
hügel in Bewegung. Tegid, mit Goewyn und Cynan hinter ihm, hob seine Fackel empor, und die drei folgten den Raben den Aryant Ol hinauf und in das Cairn. Sie stellten die Bahre auf einen niedrigen Steintisch in der Mitte der Kammer und nahmen einer nach dem anderen Abschied, indem jeder neben dem Leichnam niederkniete und den Handrücken zu einem letzten Gruß an die Stirn legte. Schließlich blieben nur Cynan, Goewyn und Tegid zurück. Cynan, an dessen Wimpern Tränen hingen, griff an seine Kehle und zog sich den goldenen Torc vom Hals. Er legte das Schmuckstück auf meine Brust und sagte: »Leb wohl, mein Bruder. Mögest du alles finden, was du suchst - und nichts, das du nicht suchst - an dem Ort, wohin du gehst.« Bei den letzten Worten brach seine Stimme, und er wandte sich ab und rieb sich mit den Handballen die Augen. Goewyn, deren Augen im Fackelschein vor Tränen glänzten, bückte sich und küßte mich auf die Stirn. »Lebe wohl, Geliebter«, sagte sie tapfer mit zittriger, leiser Stimme, »du gehst, und mein Herz geht mit dir.« Tegid reichte Cynan seine Fackel und griff in den ledernen Beutel an seinem Gürtel. Er zog eine Prise von den Nawglan hervor, den Heiligen Neun, und legte sie sich auf die linke Handfläche. Dann nahm er etwas von den Nawglan auf die Spitze seines Mittel fingers und zog damit eine senkrechte Linie in der 664
Mitte meiner Stirn. Wieder drückte er seine Finger spitze in die Nawglan und zog eine zweite und dann eine dritte Linie rechts und links von der ersten beide zur Mitte hin geneigt. Er zeichnete die Gogyr ven, die Drei Strahlen der Wahrheit, mit der Asche der Heiligen Neun auf meine Stirn. »Leb wohl, Llew Silberhand. Möge es dir auf dei ner Reise wohl ergehen«, sagte der Barde. Dann steckte er rasch seine Fackel ans Kopfende der Bahre und wandte sich ab, um vor Goewyn und Cynan das Grab zu verlassen. Die Raben, die draußen warteten, begannen den Eingang mit Steinen zu verschließen. Ich sah zu, wie die Öffnung des Cairns kleiner wurde, Stein um Stein, während ich drinnen war und hinausblickte. Ich sah die Gesichter derer, die ich geliebt hatte: Scatha, Peny-Cat, königlich, tapfer und schön; Bran Bresal, Anführer der Raben, unerschrockener Feldherr; der Rabenflug: Drustwn, Emyr Lydaw, Garanaw Langarm und Niall, meine wackeren Gefährten, Männer, auf die ich mich in allen Dingen hatte verlassen können; Fürst Calbha, mein großzügiger Verbündeter; Cynan, standhafter Schwertbruder und Herzensfreund; Goewyn, Schönste der Schönen, Ehefrau und Gelieb te, für immer Teil von mir; und Tegid, der weise Penderwydd, Oberster Barde von Albion, treuester aller Freunde - dessen Liebe sogar über den Tod hinaus reichte, um mir den Weg zu ebnen. Ich sah das Volk, mein Volk, von Hand zu Hand 665
entlang dem Aryant Ol die Steine weitergeben, mit denen mein Grab versiegelt wurde. Und dann hörte ich Tegids Stimme, die sich klar und stark zu einem Lied erhob, das ich als einen Segensgesang erkannte. Die Harfe an der Schulter, strich er mit den Fingern über die lieblich erklingenden Saiten und sang: Auf dem steilen Pfad unserer gemeinsamen Berufung,
Sei er leicht oder schwer für unser Fleisch,
Sei er hell oder dunkel, daß wir ihm folgen,
Sei er steinig oder glatt unter unseren Füßen,
Gib, o Gütig-Weiser, unserem königlichen Freund
Deine vollkommene Leitung,
Damit er nicht falle oder in die Irre gehe.
Im Schutz dieses Hains
Sei sein Teil und sein Führer;
Aird Righ durch die Vollmacht der Zwölf:
Des Windes der Böen und Stürme,
Des Donners der dräuenden Wolken,
Der Strahlen der hellen Sonne,
Des Bären der sieben Schlachten,
Des Adlers auf dem hohen Felsen,
Des Keilers im Wald,
Des Lachses im Teich,
Des Sees im Tal,
Der Blüten auf dem heidebewachsenen Hügel,
Der Kunst des Handwerkers,
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Der Worte des Dichters,
Des Feuers der Gedanken in den Weisen,
Wer erhält das Gorsedd, wenn nicht du?
Wer zählt die Zeitalter der Welt, wenn nicht du?
Wer befiehlt dem Rad des Himmels, wenn nicht du?
Wer erweckt das Leben im Schoß, wenn nicht du?
Darum, Gott aller Tugend und Macht,
Segne uns und beschirme uns mit deiner Schnellen,
Sicheren Hand, Führe uns in Frieden bis ans Ende unserer Reise. Die Öffnung des Cairns war nun nur noch ein klei ner Spalt zwischen den Steinen. Und dann wurde auch dieses kleine Loch gefüllt, und ich war allein. Tegids Stimme, als er vor dem versiegelten Grabhügel stand, war das letzte, das ich hörte. »In einer Welt zu ster ben, heißt, in einer anderen geboren zu werden«, rief er dem Volk von Dinas Dwr zu. »Ein jeder höre und bewahre es.« Das flackernde Knistern der Fackel erfüllte das Grab, doch auch das verklang allmählich, als die Fackel niederbrannte. Schließlich erstarb die letzte Flamme und ließ ein rotes Glühen zurück, das noch eine Weile blieb, bis es ausging. Und dann hüllte mich endgültig die Dunkelheit ein. Wie lange ich in der satten, stillen Finsternis stand, weiß ich nicht. Doch dann hörte ich einen Laut wie den Wind in kahlen Ästen, ein Knistern, Ächzen, 667
Flüstern. Ich drehte mich um und sah hinter mir wie durch einen überschatteten Durchgang hindurch die undeutlichen Umrisse einer weißen Hügellandschaft, die in einer blaugrauen Morgendämmerung violett schimmerte. Instinktiv bewegte ich mich darauf zu, nur um besser sehen zu können. In dem Augenblick, als ich mich vorwärts bewegte, hörte ich ein Rauschen, und mir schien, als ginge ich rasch durch einen langen, engen Gang. Und ich spürte einen Luftstrom, einen gewaltigen, heraufwallenden Wind wie einen Ozean aus Luft über mich hinweg fließen. Im selben Augenblick verdunkelte sich die blaßviolette Hügellandschaft vor mir und verschwand dann ganz. Blind auf den dunklen Pfad vor meinen Füßen ver trauend, ging ich vorwärts. Die wirbelnde Luft umtoste mich mit einem hohlen Meeresrauschen. Leere auf allen Seiten, und unter mir der Abgrund, tastete ich mit dem Fuß auf der Schwertbrücke entlang und trat hinaus auf diesen schmälsten aller Stege. Im Brüllen des Windes hörte ich den rastlosen Widerhall unbekannter Mächte, die in der dunklen, unendlichen Tiefe tobten und aufeinanderprallten. Alles war Dunkelheit - tiefste, alles durchdringende Dunkelheit - und schneidendes Schweigen. Und dann erhob sich kreischend aus dem Nichts der fürchterlichste Sturm und traf mich mit voller Wucht von vorn. Es fühlte sich an, als ob mir die Haut langsam abgeschält und mein Fleisch zerfetzt und bis 668
auf die Knochen abgelöst würde. Schmerz begann in meinem Kopf zu pulsieren, und ich merkte, daß ich nicht atmen konnte. Meine leeren Lungen schmerzten, und in meinem Kopf pochte ein eingebildeter Herz schlag. Ohne auf den Schmerz zu achten, hob ich meinen Fuß und tat einen weiteren Schritt. Mein Fuß traf ins Leere und ich fiel. Ich warf die Arme nach vorn, um den blinden Sturz aufzufangen; meine Handflächen trafen auf eine glatte, feste Oberfläche, und ich landete auf allen vieren vor dem Cairn in der dünnen, grauen Dämmerung im Schnee. »Llew...?« Es war Goewyns Stimme.
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Der endlose Knoten Ich hob meinen Kopf und blickte mich suchend nach ihr um. Die Anstrengung setzte irgend etwas in mir frei, und kalte Luft schoß in meine Lungen. Die Luft war rauh und scharf; sie brannte wie Feuer, aber ich konnte nicht genug davon bekommen. Gierig sog ich sie ein, als würde der nächste Atemzug mein letzter sein. Meine Augen tränten, und meine Arme und Beine begannen zu zittern. Das Herz pochte mir wild in der Brust, und der Rhythmus vibrierte in meinem Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und zwang mein Herz, ruhiger zu schlagen. »Lew...«, kam die Stimme wieder, besorgt, teil nahmsvoll. Ich spürte ein leichte Berührung an der Schulter, und sie war neben mir. »Goewyn?« Ich hob meine Augen und erblickte eine wehende Strähne rötlichen Haars - nicht Goe wyn, sondern ihre Schwester Gwenllian, die Banfáith von Albion. »Gwenllian!« »Lew ... Lewis?« Mein Blick wurde langsam klarer, und ihr Gesicht tauchte vor mir auf. »Gwenllian, ich...« »Ich bin es, Susannah, Lewis. Bist du in Ordnung?« 670
Von irgendwoher in meinem Geist stieg eine un deutliche Erinnerung auf. »Susannah?« »Hier, laß mich dir helfen.« Sie legte ihren Arm unter meine Achseln und half mir aufzustehen. »Du erfrierst ja«, sagte sie. »Was ist mit deinen Kleidern passiert?« Ich blickte an mir hinab und sah, daß ich nackt in etwa einem Zoll tiefem Pulverschnee stand. Der Wind seufzte durch die kahlen Äste der Bäume, und ich stand vor dem schmalen Eingang zu einem bienen korbförmigen Cairn, schwindelig vor Verwirrung, hin- und hergeworfen von Wellen der Verzweiflung, die mich unter Wasser zerrten und zu ertränken drohten. »Zieh das hier an«, sagte Susannah, »sonst holst du dir noch den Tod.« Sie legte ihren langen Mantel um meine Schulter. »Ich habe einen Wagen dabei - er steht oben an der Straße. Wir werden zu Fuß gehen müssen, fürchte ich. Nettles hat mir nicht gesagt, daß ich Kleider mitbringen soll, aber ich habe ein paar Decken. Schaffst du es?« Ich machte den Mund auf, aber es wollten keine Worte kommen. Höchstwahrscheinlich gab es über haupt keine Worte für das, was ich empfand. Also nickte ich statt dessen nur. Susannah stützte mich mit ihrem Arm unter meinen Achseln, legte sich meinen Arm um den Nacken und begann mich von dem Cairn wegzuführen. Wir gingen durch hohes Gras einen 671
verschneiten Hügel hinauf zu einem Tor, das offen stand. Ein kleines grünes Auto mit vereisten Scheiben wartete am Straßenrand. Susannah führte mich zur Beifahrerseite des Wa gens und öffnete die Tür. »Warte hier«, sagte sie. »Ich hole eine Decke.« Ich stand da, starrte in die Welt, in die ich gekommen war, und versuchte mir darüber klarzuwerden, was mit mir geschehen war, während Trauer wie ein körperlicher Schmerz in meinem leeren Herzen brannte. Nachdem Susannah eine Decke über den Sitz ge breitet hatte, wickelte sie eine zweite um mich und nahm ihren Mantel wieder an sich. Dann half mir Susannah in den Wagen und schloß die Tür. Sie glitt auf den Fahrersitz und ließ den Wagen an. Der Motor protestierte, zündete aber schließlich und fing an zu surren. Susannah drehte die Heizung auf und stellte den Ventilator auf volle Leistung. »Es wird gleich warm werden«, sagte sie. Ich nickte und blickte durch die beschlagene Wind schutzscheibe hinaus. Es kostete mich alle Konzentra tion, die ich aufbringen konnte, zu fragen: »Wo sind wir?« Die Worte klangen schwerfällig und unbeholfen in meinem Mund; meine Zunge war wie ein Stück Holz. »Weiß der Himmel«, antwortete sie durch das Rau schen des Ventilators. »Irgendwo in Schottland. Nicht weit von Peebles.« Der Ventilator hatte bald ein Stück der Wind 672
schutzscheibe freigelegt, das Susannah mit der Handkante vergrößerte. Sie legte den Gang ein und rollte auf die Straße hinaus. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Lehn dich einfach zurück und entspann dich. Falls du Hunger hast, ich habe Sandwiches dabei, und in der Thermosflasche dort ist Kaffee. Zum Glück ist heute ein Feiertag, und es wird nicht viel Verkehr sein.« Wir fuhren den ganzen Tag durch und hielten nur zweimal an, um zu tanken. Ich betrachtete die Land schaft, die an den Fenstern vorbeirauschte, und sagte kein Wort. Susannah räusperte sich immer wieder und sah mich an, als ob sie fürchtete, ich könnte plötzlich verschwinden - aber sie hielt den Mund und versuchte nicht, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Dafür war ich zutiefst dankbar. Es war schon spät, als wir Oxford erreichten, und ich war erschöpft von der Fahrt. Ich saß in meine Decken gehüllt und starrte stumpf von der Ringstraße aus in die Lichter der Stadt, und ich fühlte mich völlig am Boden zerstört. Wie hatte mir das widerfahren können? Was hatte es zu bedeuten? Ich wußte nicht, wohin ich sollte. Doch Susannah hatte sich alles schon genau überlegt. Sie steuerte den Wagen durch die nahezu leeren Straßen und hielt schließlich irgendwo in dem Kaninchenbau der Oxforder Innenstadt. Sie half mir aus dem Wagen, und ich sah, daß wir vor einer niedrigen Tür standen. Auf einem Messingschild neben der Tür stand »D. M. 673
Campbell, Tutor«. Susannah zog einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche, steckte einen Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum. Die Tür schwang auf, und sie ging vor mir hinein und machte das Licht an. Ich trat in den Raum und erkannte ihn wieder. Wie viele Leben waren vergan gen, seit ich zuletzt in diesem Zimmer gestanden hatte? »Professor Nettleton sagte mir, ich solle dir die Schlüssel geben«, sagte Susannah. Sie drückte mir den Schlüsselbund in die Hand. »Er ist nicht hier -« fing sie an, stockte und fügte dann hinzu: »Aber vermutlich weißt du das ja.« »Ja«, erwiderte ich. Nettles würde wohl nie zurück kehren, dachte ich. Aber warum war ich zurückge kehrt? Warum ich? Und warum hierher? »Jedenfalls«, sagte sie, während ihre scharfen, dunklen Augen in meinem Gesicht nach der leisesten Regung von Interesse suchten, »ist etwas zu essen in der Speisekammer und Milch im Kühlschrank. Ich wußte nicht, für wen oder für wie viele ich einkaufen sollte, darum ist ein bißchen von allem da. Aber wenn du sonst noch etwas brauchst, ich habe meine Num mer neben dem Telefon hinterlassen, und -« »Danke«, unterbrach ich sie. »Ich bin sicher, es ist...« Mir gingen die Worte aus. »Es ist alles be stens.« Sie sah mich eindringlich an, und ich merkte, daß die Fragen auf ihrer Zunge brannten. Doch statt 674
dessen wandte sie sich zur Tür. »Sicher. Äh ... okay.« Sie legte ihre Hand auf den Türknauf und öffnete die Tür. Zögernd wartete sie ab, ob ich sie zurückhalten würde. »Ich sehe dann morgen wieder nach dir.« »Bitte, mach dir keine Mühe«, sagte ich. Mein Mund widersetzte sich der früher vertrauten Sprache. »Es macht keine Mühe«, erwiderte Susannah rasch. »Mach's gut.« Sie war zur Tür hinaus und weg, bevor ich sie noch weiter abweisen konnte. Wie lange ich da wie eine Souvenir-Indianerfigur in meine Decke gehüllt stand, wußte ich nicht. Lange Zeit tat ich nichts, als den Geräuschen von Oxford zu lauschen, einem tosenden Lärm, den die schwere Holztür und die dicken Steinmauern des Hauses kaum fernzuhalten vermochten. Ich fühlte mich innerlich taub, leer, vollkommen ausgehöhlt. Immer wieder dachte ich: Ich bin tot, und das hier ist die Hölle. Irgendwann muß ich in einen von Nettles' dick gepolsterten Lehnsesseln gefallen sein, denn ich hörte ein Kratzen an der Tür, und als ich die Augen auf schlug, sah ich Susannah ins Zimmer kommen, die Arme beladen mit Päckchen und Tüten. Sie versuchte leise zu sein, da sie mich im Bett schlafend glaubte. Doch dann, als sie sich umdrehte, um ihre Pakete auf dem Tisch abzuladen, sah sie mich im Sessel sitzen. »Oh! Guten Morgen«, sagte sie mit einem raschen, heiteren Lächeln. Ihre Wangen waren rot von der Kälte, und sie rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. »Bitte sag mir, daß du nicht die ganze Nacht in 675
diesem Sessel zugebracht hast.« »Ich glaube doch«, erwiderte ich langsam. Ich hatte Mühe, mich an die Worte zu erinnern, und meine Zunge wollte mir immer noch nicht recht gehorchen. »Ich bin seit dem frühen Morgen auf den Beinen«, verkündete sie stolz. »Ich habe ein paar Sachen zum Anziehen für dich gekauft.« »Susannah«, sagte ich, »das hättest du nicht tun müssen. Wirklich, ich -« »Kein Problem.« Sie rauschte an mir vorbei in die Küche. »Ich mache erst einmal Frühstück, und dann zeige ich dir, was ich gekauft habe. Danken kannst du mir später noch.« Mir fehlte die Willenskraft zum Aufstehen, und so blieb ich im Sessel sitzen. Ein paar Augenblicke später tauchte Susannah wieder auf und begann, die Päckchen auf dem Tisch herumzuschieben. »Okay«, sagte sie und zog ein dunkelblaues Etwas aus einer Tüte, »mach die Augen zu.« Ich starrte sie an. Warum tat sie das? Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe? Konnte sie nicht sehen, daß ich litt? »Was ist los, Lewis?« fragte sie. »Ich kann nicht.« »Du kannst was nicht?« »Ich kann das nicht machen, Susannah!« fuhr ich sie an. »Begreifst du das nicht?« Natürlich begriff sie es nicht. Wie konnte sie auch? Wie konnte irgend jemand auch nur den kleinsten, 676
winzigsten Teil all dessen begreifen, was ich erlebt hatte? Ich war König in Albion gewesen! Ich hatte in Schlachten gekämpft und Feinde getötet und war meinerseits selbst getötet worden. Nur war ich, statt in eine andere Welt überzugehen, in die zurückgeschickt worden, aus der ich gekommen war. Nichts hatte sich verändert. Es war, als wäre überhaupt nichts geschahen. Alles, was ich getan hatte, alles, was ich erlebt hatte, bedeutete nichts. »Es tut mir leid«, sagte Susannah mit aufrichtigem Mitgefühl. »Ich wollte nur helfen.« Sie biß sich auf die Lippe. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich. »Es hat nichts mit dir zu tun.« Sie kam auf mich zu und hockte sich neben den Sessel. »Ich möchte gerne verstehen, Lewis. Ehrlich. Ich weiß, daß es sehr schwer sein muß.« Als ich nicht antwortete, sagte sie: »Nettles hat mir eine Menge von dem erzählt, was passiert ist. Zuerst habe ich ihm nicht geglaubt Ich bin immer noch nicht sicher, daß ich es glaube. Aber er sagte mir, ich solle nach gewissen Dingen Ausschau halten - Zeichen der Zeit, wie er sie nannte -, und wenn ich sie sah, sollte ich zu dieser Stelle fahren - er gab mir sogar eine Karte - und auf jemanden warten, der dort auftauchen würde.« Sie hielt nachdenklich inne. »Ich wußte nicht, daß du es sein würdest.« Das Schweigen zwischen uns breitete sich aus. Sie wartete darauf, daß ich etwas sagte: »Hör zu«, brachte 677
ich endlich heraus, »ich weiß zu schätzen, was du getan hast. Aber ich brauche...« Ich schwitzte beinahe vor Anstrengung, »ich brauche einfach etwas Zeit, um alles zu verarbeiten.« Sie warf mir einen verletzten Blick zu und stand auf. »Das verstehe ich. Aber ich möchte gerne helfen.« Sie hielt inne und wandte ihr Gesicht ab. Als sie mich wieder ansah, lächelte sie ein wenig verloren. Sie gab sich Mühe. »Ich lasse dich jetzt allein. Aber ruf mich später an, ja? Versprich es mir.« Ich nickte und ließ mich zurück in den weichen Sessel sinken, zurück in meine Trauer und meinen Schmerz. Sie ging. Doch früh am nächsten Morgen war sie wieder da. Susannah warf einen Blick auf mich, schaute sich einmal im Zimmer um und flammte auf wie eine gezündete Rakete, »Steh auf, Lewis. Du kommst mit mir.« Ich hatte keinen eigenen Willen mehr, und ihrer schien stark genug für zwei Leute zu sein, so daß ich gehorchte. Sie wühlte in den unberührten Paketen auf dem Tisch herum. »Hier«, sagte sie und drückte mir ein Paar Boxershorts in die Hand. »Die ziehst du jetzt erst einmal an.« Ich stand da, immer noch in die Decke gehüllt wie in einen Umhang. »Was hast du vor?« »Du mußt hier heraus«, erwiderte Susannah bissig. »Heute ist Sonntag. Ich nehme dich mit in die Kir 678
che.« »Ich will nicht mitgehen.« Sie zuckte die Achseln, nahm ein neues Hemd her aus und hielt es mit abschätzendem Blick vor mich. »Zieh das an«, befahl sie. Mit unerbittlicher Zielstrebigkeit kleidete sie mich ein: Hosen, Socken, Schuhe und Gürtel - und dann erklärte sie sich mit dem Ergebnis zufrieden. »Du müßtest dich eigentlich rasieren«, sagte sie stirnrun zelnd. »Aber lassen wir das jetzt. Fertig?« »Ich gehe nicht mit, Susannah.« Sie lächelte mit süßer Unaufrichtigkeit und hakte sich bei mir ein. Ihre Hände waren warm. »Doch, doch, du kommst mit! Ich werde dich nicht den ganzen Tag hier schmachten lassen wie einen sterben den Geier. Nach dem Gottesdienst darfst du mich zum Essen einladen.« »Ich weiß, was du damit erreichen willst Susannah. Aber ich will nicht mit.« Die Kirche war gerammelt voll. In all der Zeit, die ich in Oxford zugebracht hatte, hatte ich noch nie so viele Leute in einem Gottesdienst gesehen. Es waren mindestens tausend. Die Leute saßen dicht gedrängt auf den Bänken und standen in den breiten Fensterni schen rings um den Raum. Zusätzlich aufgestellte Stühle nahmen hinten allen verfügbaren Raum ein. Die Kniebänke waren hervorgezogen und im Mittel gang aufgestellt worden, um dem Überschuß der 679
Kirchgänger Sitzplätze zu bieten. Als auch das nicht mehr reichte, wurden die Türen geöffnet, damit die Leute, die draußen standen, mithören konnten. »Was ist hier los?« fragte ich, verwirrt von all dem Lärm und Stimmengewirr. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Na, es ist Gottesdienst«, sagte Susannah, verdutzt über meine Frage. Der Gottesdienst zog in einem Nebel an mir vorbei. Ich konnte mich nicht länger als eine oder zwei Sekunden konzentrieren. Mein Geist - mein Herz, meine Seele, mein Leben! - war in Albion, und für jene Welt war ich tot. Ich war von ihr abgeschnitten und konnte niemals zurückkehren. Susannah stieß mich an. Ich blickte mich um. Alles kniete, und der Geistliche - oder Priester, oder was auch immer - hielt einen Laib Brot in der Hand und sagte: »...dies ist mein Leib, für dich gebrochen...« Ich hörte die Worte - ich hatte sie schon oft gehört; ich war mit ihnen aufgewachsen und hatte ihnen doch nie einen Gedanken gewidmet, wenn ich nicht gerade in einer Kirche war. Dies ist mein Leib, für dich gebrochen... Uralte Worte, Worte, die von jenseits der Schöp fung der Welt stammten. Worte, die alles erklärten, was mir widerfahren war. Wie ein Stern, der in der eiskalten Leere des Weltalls explodiert, detonierte die Erkenntnis in meinem Gehirn. Ich wußte, wußte, was es zu bedeuten hatte! 680
Ich fühlte mich schwach und schwindelig; vor mei nen Augen verschwamm alles. Ein freudiges Entzük ken, so stark, daß ich schon glaubte, ohnmächtig zu werden, packte mich und hob mich empor. Ich sah die Gesichter der Menschen um mich her: vertieft in echte Hingabe. Ja! Ja! Sie waren nicht dieselben; sie hatten sich verändert. Natürlich hatten sie das. Wie hätten sie sich nicht verändern können? Albion war verwandelt worden - und auch diese Welt war nicht mehr dieselbe. Obwohl sie hier nicht so deutlich zu sehen war, hatte die große Veränderung bereits stattgefunden. Und ich würde sie an unzähli gen Stellen verborgen finden: unauffällig wie Hefe, die still ihre Wirkung tut, ungesehen und unerkannt, und doch sanft, machtvoll, radikal alles verändert. Ich wußte, so wie ich die Bedeutung der Worte der Eucharistie des Heiligen Königtums kannte, daß die Wiedergeburt Albions und die Erneuerung dieser Welt ein und dasselbe waren. Die Heldentat war vollbracht. Der Rest des Gottesdienstes ging in einem Nebel an mir vorbei. Meine Gedanken eilten voraus; ich konnte es nicht erwarten, nach draußen zu kommen, und schoß aus der Kirche, kaum daß der Segen gesprochen war. Susannah erwischte mich am Arm und drehte mich zu sich herum. »Du elender Wurm! Du hättest wenigstens so tun können, als ob du aufpaßt.« »Tut mir leid, es ist nur, daß ich -« »Ich habe mich noch nie in meinem Leben so ge 681
schämt. Wirklich, Lewis, du -« »Susannah!« Das bremste sie. Ich packte sie an den Schultern und drehte sie herum, so daß sie mich direkt ansah. »Hör zu, Susannah, ich muß mit dir reden. Jetzt gleich. Es ist wichtig.« Nachdem ich einmal angefan gen hatte, sprudelten die Worte in einem schwindeler regenden Schwall aus mir heraus. »Ich habe es bisher nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich es. Es ist unglaublich! Ich weiß jetzt, was geschehen ist. Ich weiß, was es alles zu bedeuten hat. Es ist -« »Was was alles zu bedeuten hat?« fragte sie, um klammerte meinen Arm und sah mich aufmerksam an. »Ich war König in Albion!« rief ich. »Weißt du, was das bedeutet, Susannah? Kannst du dir das vorstellen?« Ein paar Leute, die in der Nähe standen, drehten sich nach uns um. Susannah sah mich leicht beunru higt an und biß sich auf die Unterlippe. »Sieh mal«, versuchte ich es auf einem anderen Weg, »würde es dir etwas ausmachen, wenn wir nicht ausgehen? Wir könnten zurück zu Nettles gehen und reden. Ich muß es jemandem erzählen. Würde es dir etwas ausmachen?« Sie lächelte erleichtert und hakte sich bei mir ein. »Aber gerne. Ich mache uns dort etwas zu essen, und du kannst mir alles erzählen.« Wir redeten auf dem ganzen Heimweg und wäh rend des ganzen Essens. Ich steckte Bissen in meinen 682
Mund, aber ich schmeckte nicht das geringste davon. Ich brannte in der Gewißheit der Wahrheit, die ich hatte aufblitzen sehen. Ich hatte die Sonne ver schluckt, und nun quoll sie durch jede Pore aus mir heraus. Ich redete wie ein Wahnsinniger, füllte Stunde um Stunde mit Worten und mehr Worten und noch mehr Worten, doch ich schaffte es nie, auch nur das kleinste Bruchstück meiner Erlebnisse zu schildern. Susannah hörte sich alles an und schlug nach dem Essen sogar vor, daß wir einen Spaziergang am Fluß machten, damit sie wach bliebe und noch mehr hören könnte. Wir gingen spazieren, bis die Sonne in einer fri schen, ersten Frühlingsdämmerung zu versinken begann. Der Himmel leuchtete in einem hellen, polierten Blau; rotgoldene Wolken zogen über sma ragdgrünen Hügeln und Feldern dahin. Paare und Familien schlenderten friedlich über die Wege, und Schwäne durchpflügten den Fluß wie gefederte Galeonen. Wohin ich auch blickte, sah ich sichtbar gewordene Friedlichkeit - eine wahre Sabbatruhe. »Du hattest recht«, sagte sie, als mir endlich der Atem ausging. »Es ist unglaublich.« Es gab noch mehr, viel mehr zu sagen, aber mein Kiefer schmerz te, und meine Kehle war trocken. »Einfach unglaub lich.« Sie schmiegte sich näher an mich und legte ihren Kopf an meine Schulter, als wir unsere Schritte wieder Nettles' Haus zuwandten. »Ja, das ist es. Aber du bist die einzige, die je da 683
von wissen wird.« Sie blieb stehen und sah mich an. »Aber du mußt den Leuten davon erzählen, Lewis. Es ist wichtig.« Ich machte den Mund auf, um Einwände zu erheben, doch sie kam mir zuvor. »Ich meine es ernst, Lewis. So etwas kannst du nicht für dich behalten. Du mußt es den Leuten sagen - das ist deine Pflicht.« Schon beim Gedanken an die Zeitungen krampfte sich alles in mir zusammen. Reporter, die mir mit Mikrofonen und klickenden Kameras vor dem Gesicht herumfuchtelten, Fernsehen, Radio - eine endlose Schar von Skeptikern, Spöttern und höhnenden Ungläubigen ... niemals. »Wer sollte mir das glauben?« fragte ich hoffnungslos. »Wenn ich das jemandem erzählen würde, wäre das meine Fahrkarte in die Gummizelle, einfache Strecke.« »Vielleicht«, räumte sie ein, »aber du müßtest es den Leuten ja nicht buchstäblich erzählen.« »Nicht?« »Du könntest es niederschreiben. Mit einer Tastatur kennst du dich ja aus«, meinte Susannah, die sich allmählich für ihre eigene Idee erwärmte. »Du könn test in Nettles' Wohnung wohnen, und ich könnte dir helfen. Wir könnten es zusammen machen.« Sie hob herausfordernd ihre Augenbrauen, und ihre Lippen kräuselten sich spitzbübisch. »Komm schon, was sagst du dazu?« Und so kam es, daß ich an Nettles' Schreibtisch vor 684
einer altersschwachen Schreibmaschine saß, neben mir einen gewaltigen Stapel frischen weißen Papiers, während Susannah in der Küche herumklapperte und Tee und Sandwiches machte. Ich spannte einen Bogen Papier ein und streckte meine Finger über den Tasten. Es kam nichts. Wie fängt man eine solche Ge schichte an? Mein Blick wanderte über den Schreibtisch und fiel auf einen Fetzen Papier mit einer Zeichnung in farbiger Tinte darauf. Ich nahm den Zettel. Es war ein keltisches Knotenmuster - genau das, das Professor Nettleton mir einst gezeigt hatte. Ich starrte das schwindelerregende, augenverdrehende Muster an: zwei verschlungene Linien, alle Elemente ausgewo gen, die sich für immer in vollkommener Harmonie umeinander drehen. Der endlose Knoten. Sofort begannen die Worte zu fließen, und ich fing an zu tippen: Alles begann mit dem Ur...
ENDE
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