Ken Conagher
Der eiserne Colonel Ronco Band Nr. 300/41
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1...
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Ken Conagher
Der eiserne Colonel Ronco Band Nr. 300/41
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Landet wieder bei der Armee, von der er sich hatte trennen wollen. Charles Warwick – Colonel der Unions-Armee, den seine Männer »den Eisernen« nennen. Henry Jeffers – Ein Südstaatler, der angeblich für Ouantrill geritten sein soll. Frederic Warwick – Sohn des Colonels, Lieutenant, der verwundet in Gefangenschaft geriet. John Willard – Adjutant des Colonels. Er hat ein besonderes Interesse an den Brieftauben des kleinen Corporals Gibbons.
Der eiserne Colonel 11. Juli 1881 Lobo und ich reiten südwärts. Montemorelos liegt hinter uns – Montemorelos, dieses verdammte Fischernest, das beinahe zu meiner letzten Station geworden wäre. Wir waren auf der Fährte Maridos, des Samurais, geritten, der mit meinem Sohn Jellico geflohen war, um ihn zu einem für mich unbekannten Ziel zu bringen. Aber dann waren wir in einen wilden Strudel, von Ereignissen geraten, die alle mit den Bewohnern dieses unglückseligen Fischernestes Montemorelos zusammenhingen, den Indios, die noch in einer Welt wie vor Hunderten von Jahren zu leben schienen, befangen in einem mörderischen Aberglauben, der jedes Jahr ein Menschenopfer verlangte, um die Götter des Meeres gnädig zu stimmen. Und zuletzt hatte ich diesen Göttern geopfert werden sollen. Sie hatten mich an einen Felsen gekettet – über dem Horst eines Seeadler-Pärchens. Ich hatte wieder einmal überlebt, aber keiner fragte mich, wie ich mich fühle. Es gibt keine Stelle an meinem Körper, die nicht zerschunden ist, die nicht schmerzt. An diesem Abend kampieren wir in einem Canyon. Um mich abzulenken, habe ich mir mein Tagebuch vorgenommen, um weiter von meinem Leben zu berichten …
1. Dämmerung fiel über das Land, und es wurde Zeit, daß ich mich nach einem Camp für die Nacht umsah. Es war Ende August. Vor zwei Tagen hatte ich die Grenze nach Texas überschritten, Louisiana lag hinter mir. Ich verließ den Trail, der auf Longview zuführte und ritt südwärts, bis ich auf einen Creek stieß, der vermutlich zum Sabine River floß.
Mein Bastardhund Shita war bereits vorausgelaufen. Er stand bis zum Bauch im Wasser und soff. Auch meinen Grauen zog es mächtig zum Wasser. Links aus dem Schilf strich empört eine Wildente ab. Mit pfeifendem Flügelschlag verschwand sie nach Osten. Shita starrte ihr nach und leckte sich die Schnauze. »Die schnappst du nicht mehr«, sagte ich. Er drehte den Kopf zu mir und wackelte mit dem Schwanz. Ich rutschte aus dem Sattel. Genau in diesem Moment peitschten nördlich von uns auf dem Trail nach Longview Schüsse – Karabinerschüsse, wie ich wußte. Shita war mit einem Satz aus dem Wasser. Aus dem Schilf links flatterte noch eine Wildente hoch und flog ostwärts. Ich lauschte und hörte hämmernden Hufschlag, der sich nach Nordosten entfernte und schließlich verstummte. Shita blickte hechelnd zu mir hoch, als erwarte er meine Aufforderung, sich dort oben beim Trail ein bißchen umzusehen. Ich zögerte und versuchte mir einzureden, daß mich das alles nicht interessierte und nichts anginge. Manchmal – das hatte ich schon erfahren – war ein zuviel an Neugier höchst ungesund. Aber das hatte ich noch nicht zu Ende gedacht, da saß ich bereits wieder im Sattel und ritt auf meinen eigenen Spuren zurück zum Trail. Fast automatisch auch hatte ich meinen Spencer-Karabiner aus dem Scabbard gezogen. Shita lief dem Wallach und mir ein paar Schritte voraus. Als wir den Trail erreichten, wandte sich Shita nach links und verschwand aus meinen Augen. Kurz darauf gab er Laut. Er hatte etwas gefunden. Ich trieb den Grauen an. Die Dämmerung begann in Dunkelheit überzugehen. Jetzt hatte der Wallach wieder die Wagenstraße unter den Hufen. Ich ritt in der Mitte. Links und rechts hatten die Räder unzähliger Wagen tiefe Furchen in den Boden gedrückt. Ich spähte voraus. Shita hockte bei einer Gestalt, die regungslos in der rechten Wagenspur lag. Ich zügelte den Wallach, stieß den Spencer-Karabiner zurück in den Scabbard und glitt aus dem Sattel. Langsam ging ich auf die Gestalt zu und ahnte, was ich finden würde
– einen Toten. Es war ein Mann. Er lag etwas verkrümmt auf dem Bauch, ein Bein noch angezogen, als sei er gekrochen. Er war gekrochen. Trotz der einsetzenden Dunkelheit sah ich es. Er war in den Rücken geschossen worden. Eine Schleifspur verriet, daß er sich zwei, drei Yards auf dem Bauch weitergeschoben hatte, ich biß die Zähne zusammen. Mehrere Patronenhülsen lagen herum. Ich trat näher an den Mann heran, kniete nieder und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Ich blickte in ein hohlwangiges, bärtiges Gesicht. Das Grauen packte mich, als sich die Lippen des Mannes plötzlich bewegten. Die Lider flatterten, dann starrten mich brechende Augen an. »Caddo …« murmelte der Mann. Dann fiel sein Kopf zur Seite. Sie hatten ihn voll Blei gepumpt – von hinten. Und nun hatte er es hinter sich. Erst jetzt fiel mir auf, daß der Tote eine zerschlissene Uniformjacke trug, eine Uniform der Unionstruppen mit den Rangabzeichen eines Captains. Ich drückte dem toten Captain die Augen zu. Auf der rechten Wange, verdeckt durch den Bartwuchs, hatte er eine Narbe. Sie sah ganz so aus, als stamme sie von einem Säbelhieb. Einen Hut hatte er nicht mehr. Er war barhäuptig gewesen. Sein Haar war grau. Dieser Captain war jetzt tot, aber ich hatte ganz den Eindruck, als sei er auch als Lebender nicht sehr Weit vom Grab entfernt gewesen. Sein Gesicht trug die Spuren von Entbehrungen, Hunger und Not. Am 9. April hatte General Lee bei Appomatox Court House vor Grant kapituliert. Und am 27. April hatte General Johnston mit dem Rest der konföderierten Truppen bei Durham's Station die Waffen gestreckt. Der Krieg war vorbei. Aber hier war ein Unions-Captain von hinten niedergeschossen worden. »Caddo …« hatte er noch gesagt. Was, verdammt, bedeutete das? Die Caddo-Indianer waren Ackerbauern hier im östlichen Texas. Wenn sie von den weißen Eindringlingen nichts hielten, so bedeutete das noch lange nicht, daß sie deswegen auch einen Weißen von
hinten abknallten. Nein, das Wort »Caddo« mußte eine andere Bedeutung haben. Sollte ich den Captain hier am Trail begraben und meiner Wege reiten? Ich schüttelte den Kopf, während ich in das hagere, jetzt zu Stein gewordene Gesicht blickte. Vielleicht kannte ihn jemand, vielleicht wurde er gesucht. Für mich war er ein Namenloser, aber nicht für andere, für seine Familie oder Freunde. Ich hatte nicht das Recht, diesen mir unbekannten Offizier in die Liste der Verschollenen einzureihen – wie es im Kriege geschehen war, wenn man Freund oder Feind irgendwo verscharrt hatte, ohne sich weiter um ihre Identität zu kümmern. Ich dachte an deren Angehörige und ihre Hoffnung, der Krieg möge den Vater, den Bruder, den Sohn, den Mann nicht verschlungen haben. Verschollen – das war eine trügerische Hoffnung, aus der erst in langen, qualvollen Jahren des Wartens dann die harte Gewißheit wurde, daß der Verschollene nie wieder zurückkehren würde. Das war der eine Grund. Der andere war der Meuchelmord an dem Captain. Ein paar Meilen nördlich von diesem Trail nach Longview mußte Marshall liegen. Vielleicht befand sich dort eine Besatzungstruppe der Unions-Armee wie in vielen größeren Orten der Südstaaten. Dorthin würde ich den Captain bringen. Ich beugte mich über den Toten und hob ihn auf. Überrascht stellte ich fest, wie leicht er war. Noch während ich mich zu meinem Wallach umdrehte, flatterte etwas Helles an mir vorbei zu Boden – ein Stück Papier. Es mußte sich von dem Toten gelöst haben. Ich legte den Captain quer über den Rücken des Grauen, trat zurück und hob das Papier auf. Es war zusammengefaltet. Ich faltete es auseinander und strich es glatt. Ja, da stand etwas Geschriebenes. Ich kramte aus meinen Taschen ein Schwefelholz und riß es an. Was ich da las, klang ziemlich mysteriös. Auf dem Papier stand: Yankees! Wenn ihr nicht zahlt, legen wir den nächsten um! Jede Woche einen! Ich faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in meine Brusttasche. Über meine Kopfhaut kroch ein Kribbeln, das sich über
den Nacken fortsetzte. Das Grauen des Krieges, wie ich ihn erlebt hatte, stand vor meinen Augen. Hier schien es sich erneut zeigen zu wollen – in einem widerlichen Ausbruch des Hasses. Ich band den toten Captain fest, nahm den Wallach am Zügel und marschierte nordwärts. * Es war wieder wie im Krieg. Unter dem Schatten eines Schuppendaches am Rande von Marshall wurde ein Gewehr repetiert. Eine Stimme rief mich an: »Halt! Wer da?« Was sollte ich darauf antworten? Falls hier nach einer Parole gefragt wurde, so kannte ich sie nicht. Und einer Einheit der UnionsArmee gehörte ich auch nicht an. Wütend erwiderte ich. »Was soll der Quatsch? Wird hier Krieg gespielt oder was?« Eine andere Stimme sagte: »Mann, Sergeant, der hat 'ne Leiche über seinem Gaul liegen.« »Richtig«, erwiderte ich. »Der Tote ist ein Captain der UnionsArmee. Er wurde südlich von hier auf dem Trail nach Longview erschossen. Ich fand ihn. Wo soll ich ihn hinbringen?« Sie flüsterten. Ich sah sie nur undeutlich. Mondlicht lag über der Stadt, aber sie befanden sich im Schatten. Ich stand mit meinem Pferd, dem Toten und Shita mitten auf der Straße wie auf einem Präsentierteller. »Schnall ab!« sagte die Stimme, die mich zuerst angerufen hatte. Das mußte der jenige sein, den der andere mit Sergeant angesprochen hatte. »Ich denke gar nicht daran«, sagte ich scharf, »und zwar deswegen nicht, weil du mir gar nichts zu befehlen hast, Sergeant. Hier ist ein toter Offizier, und ich frage noch einmal, wo ich ihn hinbringen soll.« »Wer bist du?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig? Gut, mein Name
ist Ronco. Ich könnte genausogut Smith oder Johnson oder Abraham Lincoln heißen. Was soll's also?« Der Sergeant knurrte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Geh geradeaus weiter. Ich bleibe hinter dir. Wenn du Mätzchen versuchst, jag ich dir 'ne Kugel ins Kreuz, klar?« Ich wurde stinksauer. »Klar, wohin denn sonst? Einem Mann Kugeln ins Kreuz zu schießen, scheint in dieser Gegend so üblich zu sein. Der Captain wurde auch von hinten erschossen, allerdings war er unbewaffnet. Ich bin's nicht. Du wirst neben mir gehen, Sergeant, aber nicht hinter mir. Ich bin kein Bandit, den man vor sich her treibt. Ist das klar?« Schweigen. Dann sagte die andere Stimme: »Verdammt, Sergeant, ich freß meinen Hut, wenn das kein Rebell ist. Der will unser Stabsquartier in die Luft sprengen. Das mit dem toten Captain ist nur ein Trick. Wetten, daß der Kerl unter dem Toten lauter Dynamitstangen versteckt hat?« Mir platzte der Kragen. »Wetten, daß du ein Vollidiot bist, Mann? Im übrigen bin ich kein Rebell, sondern im Krieg unter General Sherman geritten. Euer Stabsquartier interessiert mich allerdings. Schließlich habe ich keine Lust, noch nächste Woche mit dem toten Captain herumzuziehen. Danke für die Auskunft.« Ich setzte mich einfach wieder in Marsch und kümmerte mich einen Dreck um das Palaver hinter mir. Einer der beiden feuerte sein Gewehr in den Nachthimmel ab. Und der Sergeant brüllte: »Alarm! Rebellen greifen an! AlarmAlarm!« Diese beiden Unions-Soldaten waren noch blöder, als ich dachte. Jetzt schossen sie auch beide, aber nicht auf mich, sondern weiter in die Luft. Mir wurde auch klar, warum das so war. Sie hatten Angst, das angebliche Dynamit unter dem toten Captain zu treffen. Ihre idiotische Überzeugung war meine Lebensversicherung. Der Krach hinter mir beim Schuppen war unvorstellbar. Die Stadt wurde aus ihrem Mitternachtsschlaf gerissen, kein Wunder. Mein Grauer wurde nun doch etwas nervös, und ich mußte ihn kürzer nehmen. Shita befahl ich; doch verdammt das Maul zu halten. Er erregte sich und kläffte den Mond an.
Da war ich nun durch die Nacht marschiert, mit einem toten Captain auf dem Pferd, und das hatte ich davon. Das war so eine Situation, wie sie verrückter nicht sein konnte. Der Krach zeigte Wirkung. Fenster wurden aufgerissen, Lichter flammten auf und warfen helle Bahnen über die Straße. Aus den Fenstern ertönten verwirrte Fragen und wütende Flüche. Fürwahr, ein feiner Empfang. Nach den Schüssen und dem Alarmgebrüll des Sergeanten mußte ja nun allmählich die Armee auf dem Plan erscheinen. Ich war zwar weder Rebell, noch hatte ich die Absicht, das Stabsquartier in die Luft zu sprengen, aber wäre jetzt tatsächlich noch Krieg, dann hatte ich eine solche Aktion ohne weiteres schaffen können. Erst in der Mitte der Stadt etwa wurde die Verteidigung gegen die »Rebellen« aufgebaut. Aus einem Hof rechts vor mir huschten Gestalten quer über die Straße und warfen sich auf einen Befehl hin in den Dreck. Metall klirrte, Gewehrmündungen wurden auf mich gerichtet. Wenn die diesen Wahnsinn jetzt auf die Spitze trieben, dann war ich innerhalb der nächsten Sekunden ein toter Mann – so tot, wie der Captain auf meinem Grauen. Ich blieb stehen und sagte laut und vernehmlich: »Ich suche das Stabsquartier und möchte betonen, daß ich ein friedlicher Mensch bin. Über meinem Pferd hier liegt ein toter Captain, den ich auf dem Trail nach Longview, gefunden habe. Vielleicht ist jemand so freundlich, mir zu sagen, wo ich ihn hinbringen soll. Die beiden Posten hinter mir am Stadtrand waren leider zu dämlich, mir darauf eine vernünftige Antwort zu geben.« Hinter mir hörte ich Laufschritte. Rechts vor mir löste sich eine schlanke Gestalt aus der Hofeinfahrt, ein Offizier, den Colt in der Faust. »Sir!« keuchte jemand hinter mir. Es war der Sergeant. »Sir, das ist ein Rebell! Und er hat Dynamitstangen unter dem Toten auf seinem Pferd versteckt! Um Gottes willen, geben Sie keinen Befehl zum Schießen, Sir, oder wir fliegen alle mit in die Luft!« Der schlanke Offizier zuckte sichtlich zusammen und trat hastig ein paar Schritte zurück.
»Ergeben Sie sich, Rebell!« rief er schrill. Hysterie schwang in seiner Stimme. »Hier sind wohl alle übergeschnappt, wie?« sagte ich wütend. »Ich habe diesem idiotischen Sergeant bereits auseinandergesetzt, daß ich kein Rebell bin. Dynamitstangen pflege ich auch nicht mit mir herumzuschleppen. Bitte sehr, Sie können sich selbst davon überzeugen.« »Nicht, Sir! Das ist eine Falle!« stieß der Sergeant hinter mir hervor. Ich drehte mich zu ihm um, und jetzt lief mir die Galle über. »Halt's Maul, du Hampelmann!« fauchte ich ihn an. »Hast du überhaupt im Krieg jemals einen Rebellen gesehen oder nur in der Etappe Kartoffeln geschält? Wahrscheinlich letzteres, denn so schwach im Gehirn kann nur einer sein, der hinten beim Troß herumgehangen hat. Also misch dich nicht in Sachen, die für dein Hühnergehirn ein paar Nummern zu groß sind. Geh zurück zum Schuppen und schieb weiter Wache, aber paß auf, daß dir die Rebellen nicht die Ohren abschneiden, die sind nämlich ganz scharf auf die Ohren gehirnrissiger Sergeanten!« Zuvor, im Schatten des Schuppendachs, hatte ich das Gesicht des Sergeanten nicht sehen können – aber jetzt. Jawohl, sein Gesicht war der getreue Spiegel seiner läppischen Verdächtigungen, die er noch dazu dem anderen Idioten nichts weiter als nachgeplappert hatte. Seine Stirn hatte die Höhe von knappen zwei Fingerbreiten. Dafür aber hatte der liebe Gott in seiner Schöpferlaune dem Kinn des Sergeanten mehr Aufmerksamkeit geschenkt und ihm ein Ding hingezaubert, das einem Hauklotz nicht unähnlich war. Auf dem konnte man Holz spalten. Mir fiel der Vergleich mit einem Nußknacker ein, aber dieser Vergleich hinkte, denn gegen diese Visage hatte ein Nußknacker das Gesicht eines Engelchens. Jetzt allerdings sah der Kopf des Sergeanten aus, als sei er künstlich aufgepustet worden und stehe kurz vorm Platzen. »Vorsicht«, sagte ich höhnisch, »denk an die Dynamitstangen, Sergeant, wenn du jetzt losballern willst.« Et hatte nämlich seinen Karabiner angehoben und den Finger am Abzug. Er senkte die Waffe wieder und ruckte zu dem Offizier
herum. »Das ist der Beweis!« stieß er hervor. »Er hat eben selbst gesagt, daß er Dynamitstangen bei sich hat. Der ist ausgekocht, Sir, so ausgekocht wie eine Speckschwarte in der Erbsensuppe.« »Mahlzeit«, sagte ich. Es hatte keinen Zweck, mit diesem Irren noch weiter zu diskutieren. Ich wandte mich zu meinem Grauen um, band den toten Captain los, wuchtete ihn vom Sattel und legte ihn behutsam auf die Straße. Was sonst sollte ich tun? »Bitte sehr«, sagte ich zu dem Offizier, »vielleicht überzeugen Sie sich jetzt selbst, daß hier keine Dynamitstangen versteckt sind. Mein Sattel ist leer, wie Sie sehen. Und dem toten Captain habe ich auch kein Dynamit in die Taschen gepackt.« Der Offizier, es war ein Lieutenant, trat etwas näher, reckte den Hals, beäugte meinen Sattel und dann den Toten. Dann starrte er mich unschlüssig an und räusperte sich. »Wer ist der Tote?« fragte er schließlich. »Weiß ich nicht.« »Hm.« Das war alles. Dieser Lieutenant schien ein Mann langwieriger Entscheidungen zu sein. Er rückte noch einen Schritt näher und nahm Sattel, den toten Captain und mich erneut in Augenschein. Wieder das Räuspern. »Erschossen, wie?« »Ja, von hinten.« Ich blickte auf den toten Captain hinunter und bat ihn im stillen um Verzeihung, daß ich ihn hier niedergelegt hatte. Ich sagte: »Diese Straße hier scheint mir kein sehr würdiger Platz für einen toten Offizier der Unions-Armee zu sein, Sir. Wollen wir hier noch lange herumstehen?« »Natürlich nicht – äh.« Der Lieutenant gab sich einen Ruck. »Sergeant Maddox, veranlassen Sie, daß der tote Captain ins Stabsquartier gebracht wird.« Sergeant Maddox war mein Freund, der Super-Nußknacker. Jetzt sah er ziemlich verstört aus. »Ins Stabsquartier, Sir?« fragte er blöde. »Ins Stabsquartier«, erwiderte der Lieutenant.
»Und – und wo da, Sir?« »Wo? Ach so, ja, natürlich.« Der Lieutenant blickte mich an, als erwarte er von mir eine Antwort auf die Frage des Sergeanten. Die hätte ich ihm gern gegeben, um endlich diesen Alptraum der Übergabe eines toten Captains an die Armee loszuwerden. Aber ich kannte das Stabsquartier nicht. Also schwieg ich und gelangte dabei zu der Überzeugung, daß dieser Lieutenant nicht nur entscheidungsschwach, sondern auch noch ein Holzkopf war. Aber beides lief auf das gleiche hinaus. »Äh«, sagte der Lieutenant und schien sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben, »bringen Sie den Toten in den Keller unter der Küche, Sergeant.« »Jawohl, Sir. Toten in den Keller unter der Küche bringen.« Der Sergeant reckte die Brust heraus, vollführte eine abgehackte Kehrtwendung und brüllte: »Vier Mann!« Stille, Schweigen, es erschienen keine »vier Mann«. Das war eben so bei der Armee. Denn auf Befehl des Lieutenants hatten die Krieger bei dem »Alarm«-Ruf das Stabsquartier verlassen, waren auf die Straße gestürmt und hatten sie abgeriegelt, indem sie sich dort in den Dreck geworfen hatten. Dort lagen sie immer noch, die Gewehre in den Fäusten und bereit, die »Rebellen« mit einer Salve wegzuputzen. Befehl war Befehl, und der Lieutenant hatte ihn noch nicht aufgehoben. War das ein Theater! Der Lieutenant – als Schnelldenker – schien das auch begriffen zu haben. »Vier Mann!« schrie er. Sieben standen auf, drei zuviel. »Vier, sagte ich!« schrie der Lieutenant. Sieben warfen sich wieder hin. Ich schuldete dem Toten, den ich hierhergebracht hatte, meinen Respekt. Darum verschluckte ich mein Grinsen. Als ich es geschafft hatte, stieg wieder Wut in mir hoch. In meinem achtzehn Jahre währenden Dasein hatte ich noch keine Situation erlebt, in der Komik und Tragik und militärischer Schnickschnack so seltsam miteinander vermischt gewesen waren.
Das war ein kompletter Zirkus, der sich hier abspielte. Der Lieutenant fluchte, stelzte an mir vorbei, schritt die im Dreck liegende Front der Schützen ab und fauchte: »Sie – und Sie – und Sie – und Sie da!« Jedes Mal zuckte sein Zeigefinger wie ein niederstoßender Spieß auf den Betreffenden hinunter. »Auf marschmarsch! Bringen Sie den Toten in den Keller!« Die vier Soldaten flitzten hoch und bewegten sich wie Marionetten zu dem toten Captain. Bei der Armee war alles eckig. Ich kannte das. Nur hier, in Marshall, schienen sich die Prototypen des Drills versammelt zu haben. Mit dem toten Captain gingen sie aufgrund der gebellten Befehle des Sergeanten Maddox um, als gelte es, eine Haubitze aus der vordersten Stellung ins Hinterland zu transportieren. Inzwischen hatten sich, wie ich bemerkte, auch die Bewohner von Marshall vor und hinter uns auf beiden Seiten der Straße versammelt und sahen zu. Es waren Texaner – und sie grinsten. Mir war das Grinsen vergangen. Ich hätte heulen können. Der Lieutenant sah das Grinsen natürlich auch. Statt es zu übergehen, nahm er es zum Anlaß, sich abzureagieren und zu demonstrieren, daß man hier nach der Pfeife der Armee zu tanzen hätte. Er stemmte die Fäuste in die Hüften, den Colt hatte er bereits im Halfter verstaut, stellte sich in jene arrogante Positur, wie sie auf Exerzierplätzen üblich ist, und brüllte: »Innerhalb von fünf Minuten ist die Straße geräumt, oder es wird scharfgeschossen!« »Mach bloß nich so'n Wind mit deinem kurzen Hemd, Yankee!« rief eine Stimme links von uns im breiten Texanisch. Der Lieutenant fuhr herum. »Wer war das?« Rechts von uns rief jemand: »Das war der liebe Gott, Mistah Yankee!« Wieder rückte der Lieutenant herum, nestelte an seinem Armeehalfter und riß die Waffe heraus. Er richtete sie auf eine Gruppe von fünf Männern, die rechts stand und aus deren Mitte der letzte Zuruf erfolgt war. Die Männer drehten dem Lieutenant einfach den Rücken zu und schlenderten davon, bevor der sich weiter ereiferte.
»Verdammte Rebellenbande«, murmelte der Lieutenant. Immerhin war die Straße innerhalb von fünf Minuten geräumt. Ich hatte indessen darüber nachgedacht, ob ich den Lieutenant über den Zettel, den ich bei dem toten Captain gefunden hatte, und sein letztes Wort, dieses mysteriöse »Caddo …«, informieren sollte. Aber ich unterließ es. Denn es war zu befürchten, daß dieser Gimpel dann total überschnappte, zumindest wäre er völlig überfordert worden. Als Offizier der Unions-Armee mußte er einen Vorgesetzten haben, an den ich mich zu wenden gedachte. Ich fragte ihn. Sofort wurde er mißtrauisch. »Was wollen Sie von Colonel Warwick?« fragte er spitz. »Mit ihm sprechen«, erwiderte ich. »Über was?« Ich musterte diesen Holzkopf von oben bis unten. Er war schlank, eine Handbreite kleiner als ich, trug einen dunklen Oberlippenbart und hatte sonst ein Dutzendgesicht. Jedenfalls konnte ich nichts Markantes oder ein hervorstechendes Merkmal erkennen. Ich sagte, ziemlich kühl: »Ich wüßte nicht, daß Sie das etwas anginge, Lieutenant. Also, ist er hier in Marshall, oder wo kann ich ihn erreichen?« »Hier bin ich der Kommandant!« raunzte der Lieutenant. »Wie schön für Sie«, sagte ich, »aber damit ist meine Frage nicht beantwortet.« »Beschwerden sind mir vorzutragen«, erklärte der Lieutenant. »Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Wer sind Sie überhaupt?« Idiot, dachte ich, drehte mich um und setzte den Fuß in den Steigbügel, um mich in den Sattel zu schwingen. Hinter mir hörte ich jenes vertraute Geräusch, das ich schon so gut kannte, das mir aber keineswegs sehr angenehm war. Der Hammer vom Colt wurde gespannt. Ich nahm den Fuß wieder aus dem Steigbügel und wandte mich langsam um. »Keine falsche Bewegung!« schnarrte der Lieutenant. »Sie sind verdächtig, den Captain hinterrücks erschossen zu haben. Betrachten Sie sich als festgenommen. Wie war doch Ihr Name?« Ich seufzte. »Ronco.«
»Ronco? Was noch?« »Nichts weiter. Meine Eltern waren Schotten.« »Wieso Schotten?« »Sie waren zu geizig, mir noch einen Namen zu geben.« Selbst diesen blöden Witz kapierte er nicht. »Wollen Sie einen Offizier der Unions-Armee für dumm verkaufen?« pfiff er mich an. »Geht das überhaupt noch?« fragte ich höflich zurück. »Was wollen Sie damit sagen?« schnappte er. »Ich wollte damit sagen«, erwiderte ich, »daß Ihre Dummheit wohl nicht mehr zu überbieten ist, höchstens von Ihrem noch dümmeren Sergeant Maddox, dem der Schöpfer aller Dinge zwar ein gewaltiges Kinn, jedoch ein um so kleineres Gehirn geschenkt hat. Überlegen Sie mal, Sie genialer Offizier der Unions-Armee, wie blöd einer sein muß, wenn er einen Unions-Captain von hinten abschießt und sich dann der Mühe unterzieht, den Toten auf sein Pferd zu laden und vier bis fünf Stunden mit dieser Last durch die Nacht zu marschieren, um sie beim nächsten Armee-Posten abzuliefern. Für so blöd kann mich doch nur einer halten, der statt Verstand Hafergrütze oder Pflaumenmus oder Sirup im Gehirn hat – oder?« Jetzt konnte der Lieutenant lostoben oder schießen! Beides verhinderte der SuperNußknacker Maddox, der meldete: »Leiche wie befohlen in den Keller unter der Küche gebracht, Sir.« »Wie? Ach so, gut wegtreten! Nein, hierbleiben! Diesen Mann ins Stabsquartier exkortieren!« Der Lieutenant deutete mit dem Kinn auf mich – deutete ist übertrieben, er ruckte mit dem Kinn. Das war die große Stunde für Sergeant Maddox. Er pumpte Luft in seinen Brustkasten und brüllte mich an: »Vorwärts, marsch!« Ich schüttelte den Kopf und sagte so sanft wie möglich: »Hör auf, mich anzubrüllen, Sergeant, ich gehöre nicht zu diesem Haufen. Ich bin Zivilist. Du darfst mich allenfalls bitten, dich ins Stabsquartier zu begleiten. Und wenn überhaupt, dann gehe ich freiwillig mit, aber nicht unter Zwang.« Ohne mich weiter um seine verbiesterte Miene oder den Lieutenant zu kümmern, marschierte ich, meinen Wallach am Zügel, in den Hof, in den sie den toten Captain getragen hatten, und steuerte auf ein Gebäude zu, vor dessen Eingang ein Posten stand.
Hinter mir hörte ich, wie der Lieutenant seine Krieger hochscheuchte, die ja nun lange genug im Dreck gelegen hatten, und einem Corporal befahl, einen Kurier zu Colonel Warwick zu schicken, denn er, der Lieutenant, habe »ein verdächtiges Subjekt sichergestellt«. Er erwarte weitere Order vom Colonel. Außerdem habe das »verdächtige Subjekt« einen erschossenen Captain abgeliefert, den er »zur Einsichtnahme« und zwecks Identifizierung im Keller »aufbewahre«, dessen Kühle – »äh« – ein vorzeitiges Verwesen der Leiche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindere. Soweit der Lieutenant. Ich hörte mir das an, während ich meinen Grauen an einem Eisenring in der Mauer des Gebäudes festband. Ich weiß heute noch genau, was ich damals dachte. Ich dachte: Hoffentlich ist dieser Colonel Warwick nicht genauso ein Holzkopf wie dieser Lieutenant.
2. In dem Dienstraum des Stabsquartiers waren fünf Minuten später der Lieutenant, Sergeant Maddox, ein Private als Posten, ein junger Second Lieutenant, ein Schreiber, Shita und ich versammelt. Shita war der Anlaß zum weiteren Krach, weil der Lieutenant verlangte, daß »der Köter« zu verschwinden habe. Dieser Einfaltspinsel von Offizier schien doch glattweg der Ansicht zu sein, der Hund könne von mir benutzt werden, geheime Botschaften an die Rebellen-Guerillas zu übermitteln. Zweifelsohne spielte dieser verdammte Lieutenant Krieg und stürzte sich dabei in Aktivitäten, die er allem Anschein nach in West Point aufgeschnappt hatte, die aber bei dieser Gelegenheit so fehl am Platze waren wie Schmierseife zum Versüßen von Kaffee. Ich sagte: »Der Hund bleibt bei mir.« Der Lieutenant sagte: »Der Köter muß raus!« »Jawohl«, sagte Sergeant Maddox, obwohl ihn keiner nach seiner Meinung gefragt hatte, »der Köter muß raus!« »Nein«, sagte ich. »Sergeant!« schrie der Lieutenant – er hatte übrigens blaßblaue
Augen, wie ich jetzt feststellen konnte. »Bringen Sie das Vieh nach draußen!« »Vieh nach draußen bringen«, wiederholte der Sergeant und zirkelte – er stand links neben der Tür – eine Ehrenbezeugung, stampfte durch den Raum zu mir – ich saß auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch, – Shita hockte an meiner Seite –, bückte sich und wollte Shita am Genick packen. Er brüllte, und ich grinste. Er fuhr hoch und hielt dem Lieutenant, der hinter dem Schreibtisch saß, das rechte Handgelenk hin. Es blutete. »Das Mistvieh hat mich gebissen!« schrie er und schlenkerte die Hand. Ein paar Blutspritzer flogen auf den Schreibtisch. Der Lieutenant stierte sie wie hypnotisiert an und wechselte die Farbe. Ich schloß daraus, daß er kein Blut sehen konnte. »Sanitäter!«. schrie er. Ich lehnte mich im Stuhl zurück und kraulte Shita den Nacken. Um mich herum war allerlei los. Nun denn, dachte ich, in diesem Haufen der Unions-Armee sitzt der Wurm, die haben nie die Front gesehen, geschweige denn einen scharfen Schuß gehört. Mit denen hat der Norden den Krieg nicht gewonnen, mit diesen Pappsoldaten bestimmt nicht. Der Sergeant tat so, als stünde er kurz davor, über den Jordan zu gehen – dabei hatte Shita noch nicht einmal richtig zugebissen –, und der Lieutenant rang, o Himmel, die Hände, weil der Sanitäter noch nicht erschienen war. Der Schreiber zitterte, der Posten war weg, um den Sanitäter zu holen, und der Second Lieutenant sah aus, als ringe er mit den Tränen. Er war noch nicht sehr alt, dieser Second Lieutenant, vielleicht etwas älter als ich. Aber Pulverdampf hatte er bestimmt noch nicht gerochen, und der Anblick vom Blei zerfetzter Leiber, verstümmelter Gliedmaßen oder entstellter Leichen war ihm bisher wohl auch erspart geblieben. Eine Feuertaufe in diesem Stabsquartier war das weiß Gott nicht, aber sie führten sich so auf. Nur ein Hund hatte ein bißchen zugeschnappt, das war alles. Die Tür prallte auf, der Sanitäter und der Posten stürzten herein. Shita verzog sich unter meinen Stuhl, legte sich auf den Bauch, die
Schnauze auf den Vorderpfoten, und beäugte das Drama. Nun wurde ich doch mit einem Veteranen konfrontiert. Dieser Sanitäter entpuppte sich als handfestes Rauhbein bester Qualität. »Du Ochse!« fauchte er den Posten an, nachdem er das Handgelenk des Sergeanten kurz in Augenschein genommen hatte. »Wegen dieser Piß-Verletzung holst du mich aus dem tiefsten Schlaf? Spinnst du? Seid ihr hier alle verrückt?« »Dieser Mann ist schwer verletzt!« schnarrte der Lieutenant. »Tun Sie Ihre Pflicht, Sanitäter!« Der Sanitäter drehte sich gemütlich zu dem Lieutenant herum. »Was ist der? Schwerverletzt? Einen Scheiß ist der, Lieutenant, Sir. Den hat eine Mücke gebissen, mehr nicht.« »Was erlauben Sie sich!« brüllte der Lieutenant. »Fehlt Ihnen was?« fragte der Sanitäter sanft. »Haben Sie die Übersicht verloren, Sir?« Und jetzt grinste er. »Haben Sie schon mal einen Mann gesehen, der schwer verletzt ist? Der steht nicht mehr auf den Beinen, Sir, der liegt! Und wie er liegt – daraus sehen Sie, wie schwer es ihn erwischt hat. Einer mit 'nem Bauchschuß liegt da wie im Leib der Mutter, zusammengekrümmt, verstehen Sie? Der sieht zu, daß ihm die Gedärme nicht weiter rausrutschen, der …« »Schluß!« Die Stimme des Lieutenants überschlug sich. »Hören Sie auf! Ich kann das nicht mehr hören! Gehen Sie!« »Bitte sehr, mit Vergnügen, Sir, ich frag mich nur, warum Sie mich erst aus der Furzmulde hochscheuchen lassen, wenn ich dann wieder gehen soll. Ist das hier 'n Puff, oder was ist das? Rein – raus, fertig! Mit mir nicht, Sir, mit mir nicht. Wissen Sie, was Sie können? Sie können mich mal sonstwo!« Der Sanitäter redete sich so richtig in Wut. »Drei Jahre habe ich vorne die Jungs aus dem Dreck geholt und versucht, zusammenzuflicken. Hunderte sind mir unter den Händen verreckt, haben nach ihren Müttern geschrien und den Krieg verflucht! Und da soll ich mich von Ihnen noch anbrüllen lassen, nur weil dieser Sack von Sergeant 'ne Schramme hat?« Der Sanitäter richtete sich auf, salutierte und sagte: »Ich melde mich ab, Sir! Ich hab die Schnauze voll! Ich mach 'n Barber-Shop auf, da tanzt mir wenigstens keiner auf der Nase rum!« Zack! Kehrtwendung, und damit war der Sanitäter verschwunden.
Der Lieutenant saß sprachlos und kreidebleich hinter seinem Schreibtisch. Der Sergeant starrte tiefsinnig auf sein Handgelenk, auf dem das Blut bereits geronnen war. Der Schreiber und der Posten hatten das Maul offen und Gesichter wie Mondkälber. Und der Second Lieutenant kämpfte nicht mehr mit den Tränen, sondern mit Schluckauf. Er hatte einen mageren Hals, und ich sah, wie sein Adamsapfel auf und nieder stieg. Eigentlich hatte ich hier nichts mehr zu suchen. Es war barer Unsinn von mir gewesen, freiwillig ins Stabsquartier zu gehen. Der tote Captain, jawohl. Aber was sich daraus entwickelt hatte, war völlig absurd und grotesk. Der Second Lieutenant hustete und sagte: »Entschuldigung, Lieutenant Morley, Sir, gestatten Sie mir einen Hinweis?« »Bitte sehr!« »Der Sanitäter hat sich soeben verschiedener Delikte strafbar gemacht, als da sind: Insubordination, Beleidigung eines Offiziers und damit unserer glorreichen Armee, Widersetzlichkeit, unmilitärisches Verhalten – was sich in dieser ordinären Sprech- und Ausdrucksweise kundtat – und schließlich«, das Bürschchen von Second Lieutenant plusterte sich empört auf, »Meuterei und Ankündigung, die Truppe zu verlassen. Das ist Fahnenflucht, Sir! Der Mann muß sofort festgenommen werden, denn eine gelungene Desertion untergräbt die Moral der Truppe und leistet dem Feind Vorschub, ja, sie gefährdet die Sicherheit der Nation!« Du lieber Gott, war dieser Milchbart denn von allen guten Geistern verlassen? Hatte die Armee aus Mangel an Freiwilligen die Insassen eines Irrenhauses in Uniform gesteckt? Ich starrte den Second Lieutenant entgeistert an und hätte ihm gern gesagt, was ich von auf dem Mist krähenden Jung-Gockeln hielte, aber mir hatte es glatt die Sprache verschlagen. Dafür schnarrte der Lieutenant: »Sehr gut, mein Lieber, sehr gut. Nehmen Sie den Deserteur sofort fest, bei Widersetzlichkeit gehen Sie rücksichtslos vor – rück-sichts-los, verstanden?« »Verstanden, Lieutenant, Sir! Rücksichtslos vorgehen! Werde sofort alles abriegeln lassen. Erhöhte Alarmbereitschaft. Subjekt wird unter Arrest gestellt.«
Der Knabe salutierte wie eine Marionette und stelzte aus dem Raum. Draußen krähte er Befehle und entfesselte Aktivitäten, als gelte es, ein feindliches Fort im Sturm zu nehmen. Der Lieutenant lehnte sich befriedigt zurück und fixierte mich mit seinen blaßblauen Augen. »Name, Alter, Beruf?« Ich faltete die Hände über dem Bauch und drehte Däumchen. »Geburtsort fehlt noch«, sagte ich und war entschlossen, mich von diesem Narrenspiel nicht mehr in Rage bringen zu lassen. Ich gähnte. Es war weit nach Mitternacht. »Lassen Sie das!« fuhr mich der Lieutenant an. »Ich gähne, wenn es mir paßt«, sagte ich. »Und ich wiederhole, daß ich Zivilist bin, woraus folgt, daß Sie mir nichts zu befehlen haben, Mister Morley. So heißen Sie doch, nicht wahr? Vorgestellt hatten Sie sich nämlich noch nicht. Wenn Sie es an der üblichen Höflichkeit mangeln lassen, brauche ich mich wohl auch nicht daran zu halten. Sagen Sie, was Sie von mir wollen, aber hören Sie auf, mich anzuschreien, und ersparen Sie sich Ihre läppischen Fragen über Alter, Beruf oder sonst was. Meinen Namen wissen Sie ja. Ich möchte Ihnen zu meiner Person noch etwas verraten, bevor Sie wieder haltlose Verdächtigungen aussprechen. General Sherman wird Ihnen ja wohl hoffentlich ein Begriff sein. Nun, ich habe unter ihm als Kurier und Zivilscout im Krieg gearbeitet, also auf der Seite der Union. Wenn Sie mir das nicht glauben, steht es Ihnen ja frei, sich beim Stabe des Generals danach zu erkundigen. Das war's. Also, was wollen Sie von mir?« Jetzt hatte ich ihn doch geschafft. »Sie haben unter General Sherman gedient?« fragte er konsterniert. »Gedient ist nicht der richtige Ausdruck, Lieutenant, denn ich habe in keiner Uniform gesteckt. Ich war also nicht Soldat, wenn Sie das meinen. Aber ich wurde bei sogenannten Himmelfahrtskommandos eingesetzt – in der Tarnung des Zivilisten.« »Das ist ja ungeheuerlich. Unsere Armee hat so etwas nicht nötig gehabt. Das sind ja Guerillamethoden!« Ich grinste ihn an. »Ihre Unkenntnis, Lieutenant, ist noch lange
kein Beweis für die Unrichtigkeit meiner Aussage. Natürlich haben wir auch Guerillamethoden angewendet, genauso wie die Konföderierten. Ich habe den Eindruck, daß Sie nicht richtig im Bilde sind. Haben Sie überhaupt bei der kämpfenden Truppe Dienst getan?« Er räusperte sich und verzichtete auf eine Antwort. Also hatte dieser verdammte Hund während des Krieges weitab vom Schuß gesessen, das war mir jetzt klar. Und hier in Texas, als Angehöriger der Besatzungsarmee, spielte er sich auf wie ein übergeschnappter Napoleon. »Zur Sache«, erklärte er und räusperte sich wieder. »Es muß ein Protokoll angefertigt werden. Schildern Sie den Vorgang, äh, die näheren Umstände dieser mysteriösen Angelegenheit betreffs des erschossenen Captains. Der Schreiber wird Ihre Aussage protokollieren. Ich habe die Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, nichts zu verschweigen oder etwas hinzuzufügen, was nicht den Tatsachen entspricht.« »In Ordnung«, sagte ich und berichtete. Allerdings verschwieg ich ihm das letzte Wort des Captains, und den Zettel behielt ich auch bei mir. Als ich geendet hatte, stand er auf, legte die Hände auf den Rücken und ging hinter dem Schreibtisch auf und ab, ganz der Feldherr, der nunmehr über Strategie und Taktik nachzudenken hat. Schließlich blieb er stehen und drehte sich zu mir um. »Wie viele Schüsse haben Sie gehört?« »Ich habe sie nicht gezählt. Aber ihre Anzahl wird den Einschüssen im Rücken des Captains entsprechen.« »Hm. Zeigen Sie mir hier auf der Country-Karte die Stelle, wo Sie den Captain gefunden haben.« Er deutete auf eine große Karte, die rechts von mir an der Wand aufgehängt war. Ich erhob mich, trat zu der Karte und studierte sie. Dann tippte ich auf die Stelle. »Hier«, sagte ich. Der Lieutenant nahm ein kleines, rotes Fähnchen aus einem Kasten auf seinem Schreibtisch und steckte es auf die Stelle. Es sah sehr schön aus, das rote Fähnchen, nur steckte es dort einsam und
allein – ohne seine Kollegenfähnchen blauer, grüner, gelber oder schwarzer Farbe, mit denen die Strategen höheren Orts auf ähnlichen Karten Regimenter, Bataillone, Schwadronen, Korps, Armeen, Stellungen, Gräben, Kampflinien, Frontabschnitte und was weiß ich für Kriegszeug markierten und dem Schachbrett des Todes damit ihren nüchternen, seelenlosen Stempel aufdrückten. Das kleine rote Fähnchen stand für den Tod eines hinterrücks erschossenen, unbekannten Captains. Der Lieutenant trat zwei Schritte zurück und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen und etwas schräggeneigtem Kopf sein Werk, als erwarte er neue Erkenntnisse oder Inspirationen. Genauso hätte er in den Kaffeesatz seiner Frühstückskanne stieren können. »Hm, hm«, sagte er. »Soso.« Ich unterdrückte mein Gähnen und sagte: »Brauchen Sie mich noch, Lieutenant? Ich hätte nämlich nichts dagegen, mich jetzt irgendwo schlafen zu legen.« Der Lieutenant schreckte aus tiefen, bedeutsamen Überlegungen auf. »Wie? Was?« Ich wiederholte meine Frage und wurde in Gnaden entlassen, nachdem ich das Protokoll gelesen und unterschrieben hatte. Einquartiert wurde ich in einer Arrestzelle, weil sonst kein Raum frei war. Mir war das gleichgültig. Ich hatte schon in schlechteren Quartieren übernachtet. Ich brachte meinen Grauen in die Stallungen und versorgte ihn, schnallte meine Satteltaschen und die Deckenrolle ab und ließ mich von Sergeant Maddox in meine Zelle verfrachten. Shita begleitete mich natürlich. Als wir drin waren, knallte der Super-Nußknacker die Gittertür dicht, schloß ab und grinste tückisch. Daß ich hier eingeschlossen wurde, war gegen die Vereinbarung, aber es störte mich nicht weiter. Maddox hatte mir weder den Waffengurt mit dem Navy-Colt noch die Spencer abgenommen. Und im rechten Stiefelschaft hatte ich ein Messer. Wenn Maddox gedacht hatte, mich zu ärgern, so sah er sich getäuscht. »Verschwinde, du Enkel eines Gorillas«, sagte ich freundlich zu
ihm. »Melde dich zum Frühstück wieder. Ich wünsche einen starken Kaffee sowie Spiegeleier auf Speck gebraten.« »Ich auch«, sagte der Sanitäter. Er saß links neben mir in der Zelle. Wir beiden waren die einzigen Bewohner dieses Armee-Hotels, das, wie ich später erfuhr, der Sitz des Country-Sheriffs gewesen war. »Ihr kriegt höchstens was vor die Schnauzen«, sagte Sergeant Maddox, ballte die Rechte und streichelte die Faustknöchel, »und zwar damit!« Er zeigte uns seine geballte Rechte. Ich gähnte wieder und legte meine Sattelrolle auf die Pritsche. Der Sanitäter, er war Corporal und hieß Matt Dickens, sagte zu dem Sergeanten: »Hau ab, du Affenarsch! Mit solchen Würstchen wie dir haben wir schon bei Gettysburg Fangen gespielt. Morgen wird euch der Colonel den Marsch blasen, ihr abgebrochenen Etappenhengste!« »Morgen wirst du an die Wand gestellt und erschossen, du Deserteur!« brüllte Sergeant Maddox mit hochroter Visage. »Ha!« höhnte Matt Dickens. »Ihr könnt doch gar nicht schießen! Ihr wißt ja noch nicht mal, wo bei 'nem Schießprügel vorn und hinten ist! Und wenn ihr schießen sollt, pißt ihr euch in die Hosen! Und wenn ihr Blut seht, fangt ihr an zu kotzen, ihr miesen Krücken!« Dem Super-Nußknacker ging der Gaul durch. Wie irre fummelte er an dem Schlüsselbund herum, fluchte, fand den Schlüssel zu Dickens' Zelle, rammte ihn ins Schlüsselloch, drehte den Schlüssel herum und riß die Gittertür auf. »Komm her!« brüllte er. »Komm her, du Karbolhengst! Dich nehm ich auseinander, daß du die Englein flöten hörst …« Ich stieß die Spencer durch die Gitterstäbe, repetierte und sagte: »Jetzt ist Schluß, Maddox! Laß uns zufrieden und hau ab! Ich geb dir genau dreißig Sekunden Zeit. Wenn du dann nicht verschwunden bist, hast du ein Loch in deinem Holzkopf!« Ich begann zu zählen. Maddox prallte zurück, hatte plötzlich Schweiß auf seiner zweifingerbreiten Stirn, schloß hastig die Zelle von Matt Dickens wieder ab und hatte bei »einundzwanzig« das Feld geräumt. »Danke, Mister«, sagte Matt Dickens nebenan. Ich konnte ihn
nicht sehen. »Aber das wäre nicht nötig gewesen. Mit dem Ochsen wäre ich so oder so fertig geworden.« »Das hätte nur Komplikationen gegeben«, sagte ich. »Ich heiße übrigens Ronco.« »Dickens, Matt Dickens«, erwiderte er. »Hat dein Hund Maddox gebissen?« »Hat er. Er mag es nicht, wenn ihn ein Fremder anfaßt.« Matt Dickens kicherte. »Recht so, schade, daß er dem Blödmann nicht die Kehle durchgebissen hat. Warum haben sie dich eingesperrt?« »Das hat Maddox von sich aus getan. An und für sich hatte mir der Lieutenant die Zelle als Schlafstelle für diese Nacht zugewiesen. Das ist alles. Wolltest du wirklich von der Fahne gehen?« »Unsinn. Ich wollte Morley nur ärgern. Die haben alle den ganzen Krieg oben im Norden in irgendwelchen Garnisonen oder Forts verbracht – mit Ausnahme von Colonel Warwick. Das ist ein Kerl, sag ich dir. Bei der Truppe hieß er ›der Eiserne‹. Ich kenne ihn jetzt seit vier Jahren und weiß, wovon ich spreche. Ha! Was meinst du, was morgen los ist, wenn der alte Warwick hört, daß die Idioten mich eingesperrt haben? Wegen Fahnenflucht! Dabei hab ich in der Furzmulde gelegen, als der Grünschnabel von Second Lieutenant mit zehn Mann hoch anrückte, um mich festzunehmen.« Matt Dickens kicherte wieder. »Der alte Warwick wird sich halbtot lachen und dann diesen Scheißstab zusammenstauchen, daß denen kein Hut mehr paßt.« »Was hat er für eine Funktion? Ich meine, untersteht ihm dieses County als Militärbefehlshaber?« »So könnte man es nennen. Er hat vor vier Wochen plötzlich seinen Vorgänger abgelöst. Das war auch so ein Vollidiot wie Lieutenant Morley und Second Lieutenant Bixbee. Als er hier aufkreuzte und mich sah, sind wir uns fast in die Arme gefallen. Man munkelt, daß er noch einen Sonderauftrag habe und deswegen in dieses County versetzt worden sei.« Ich hörte ihn gähnen. »Noch 'ne Frage, Kumpel?« »Nein, Matt. Schlaf gut!« »Danke, gleichfalls.«
Shita schlief bereits – am Fußende meiner Pritsche hatte er sich zusammengerollt. Ich haute mich ebenfalls in die Falle.
3. Ich schlief tief und traumlos und wurde von Stiefelgepolter und Stimmengewirr geweckt. Außerdem leckte mir Shita das Gesicht ab, was ich gar nicht so gern hatte. Aber das hatte ich ihm nie abgewöhnen können, und ich respektierte es als Zeichen seiner Zuneigung. Mein Gott, wie lange hatte er es jetzt schon an meiner Seite ausgehalten und alles mit mir geteilt! Dieser Hund war ein Teil von mir geworden, und oft genug hatte er sein Hundeleben für mich in die Schanze geschlagen. Ich übernahm also meinen Part der morgendlichen Begrüßungszeremonie und kraulte ihm den Kopf, den Hals und den Nacken. Vor der Zelle von Matt Dickens war die Armee versammelt – Lieutenant Morley, Second Lieutenant Bixbee, Sergeant SuperNußknacker, fünf Soldaten unter Gewehr und ein Colonel. Ich besah mir den Colonel. Er überragte die anderen, war schlank und breitschultrig, hatte ein markantes Gesicht, ein kräftiges Kinn, graublaue Augen und eine gerade Nase. Ein eisgrauer Bart bedeckte seine untere Gesichtshälfte. Jetzt grinste er und hatte hundert und mehr Fältchen in den Augenwinkeln. »Hallo, Matt«, sagte er mit einer vollen, kräftigen Stimme. »Wie ich hörte, hattest du doch die Absicht, einen Barber-Shop zu eröffnen. Ich brauche mal wieder einen guten Bartschnitt!« »Dieses Subjekt ist ein Deserteur, mit Verlaub, Colonel, Sir«, sagte der Second Lieutenant Bixbee indigniert. »Jawohl!« echote Lieutenant Morley. »Ein Deserteur.« Auch der Super-Nußknacker Maddox bestätigte das und sagte: »Jawohl, ein Deserteur. Und heute nacht wollte er sogar noch hier aus der Zelle ausbrechen.« Das war ja doch wohl die Höhe. Jetzt log dieser krumme Hund
von Sergeant auch noch. Der Colonel sagte gar nichts. Er blickte den Second Lieutenant Bixbee an, bis der den Blick senkte, dann wiederholte sich das bei Lieutenant Morley und zuletzt bei Maddox. Als diese drei Krieger nach unten schauten, sagte der Colonel: »Stellen wir doch bitte folgendes fest, Gentlemen: erstens habe ich keinen von Ihnen um seine Meinung gefragt, zweitens kenne ich Corporal Dickens länger als zum Beispiel Sie, Gentlemen, und weiß daher unter anderem, daß er mehrfach und unter Einsatz seines Lebens verwundete Kameraden im schwersten Feuer versorgt und dann nach hinten auf den Hauptverbandsplatz geschleppt hat – Situationen Gentlemen, die Sie alle drei wohl höchstens vom Hörensagen kennen. Corporal Dickens als Subjekt zu bezeichnen, Mister Bixbee, steht Ihnen nicht zu. Drittens: ein Deserteur ist doch wohl erst ein solcher, wenn er auch tatsächlich desertiert ist. Sie, Mister Bixbee, haben mir gerade vorhin auf meine diesbezügliche Frage hin erklärt, Sie hätten den Corporal Dickens aus dem Bett heraus verhaftet.« Jetzt wurde die Stimme des Colonels eisig. »Wenn Ihrer Meinung nach, Mister Bixbee, Soldaten, die in ihren Betten liegen, Deserteure sind, dann, mein junger Freund, muß ich an Ihrem Geisteszustand zweifeln und mir überlegen, ob Sie nicht bei einem Psychiater besser aufgehoben wären als bei der Armee. Möchten Sie sich dazu äußern, Lieutenant Bixbee?« »N-nein, Sir, entschuldigen Sie bitte, Sir.« Bei Bixbee flatterten die Hosen, und sein Adamsapfel am mageren Hals veranstaltete Kletterübungen. »Viertens«, sagte der Colonel und wandte sich dem SuperNußknacker Maddox zu, »höre ich erst jetzt, Corporal Dickens habe heute nacht versucht, aus der Zelle auszubrechen. Das sagten Sie doch, nicht wahr, Sergeant?« Maddox schwitzte. Er hatte den bulligen Quadratschädel eingezogen und schwitzte, daß ihm das Wasser nur so auf das klotzige Kinn lief und von dort hinuntertropfte. »Er – er hat mich angepöbelt, Sir«, stieß er hervor. »So? Er hat Sie angepöbelt? Überlegen Sie genau, Sergeant. Könnte es nicht sein, daß Sie ihn dazu gereizt haben?«
»Die haben mich gereizt!« fauchte der Sergeant. »Der da«, er deutete mit dem Daumen auf meine Zelle, »wollte zum Frühstück einen starken Kaffee und Spiegeleier mit Speck. Und der da«, sein Daumen wies auf die Zelle von Matt Dickens, »wollte genau das gleiche. Und da bin ich wild geworden.« »Sehr schön«, sagte der Colonel, »und wie ging's weiter?« »Da, Sir«, sagte der Sergeant, »hab ich den beiden meine Faust gezeigt, diese hier!« Er hob seine rechte Pranke und ballte sie zur Faust. »Und ich habe ihnen verkündet, daß sie mit dieser Faust allenfalls was vor die Schnauzen kriegen könnten, jawohl. Und daraufhin hat mich Dickens angepöbelt. Affenarsch hat er mich genannt, und einen abgebrochenen Etappenhengst. Und er hat gesagt, bei Gettysburg hätten sie mit Männern wie mir Fangen gespielt. Und da hab ich rot gesehen, hab die Zelle von Dickens aufgeschlossen, um – um …« »Na?« »Um ihm die Schnauze einzuschlagen, Sir. Das hätte ich auch getan, wenn mich nicht dieser blonde Lümmel da«, sein Daumen deutete auf meine Zelle, »daran gehindert hätte. Der hat mich mit seiner Spencer bedroht, dieser Rebell, und hat verlangt, ich solle verschwinden, sonst würde er mir ein Loch in meinen – in meinen …« »Holzkopf«, sagte ich. »… in meinen Holzkopf schießen«, vollendete der SuperNußknacker. »Und da habe ich den Rückzug angetreten.« Der Colonel blickte zu Boden, und ich sah, daß er Mühe hatte, ernst zu bleiben. Dann schaute er wieder auf und sagte ruhig: »Der Ausbruchsversuch, Sergeant. Darüber haben Sie noch nichts gesagt. Wollte Corporal Dickens nun ausbrechen oder nicht?« »Äh – vielleicht.« »Ja oder nein?« »N-nein, Colonel, Sir.« »Nun, Sergeant«, sagte der Colonel ruhig, »ich stelle fest, daß Sie sich geirrt haben. Und ich stelle noch etwas fest. Beide Insassen dieser beiden Zellen hätten – nach Ihrer Schilderung – durchaus die Möglichkeit gehabt, zu fliehen, zumal der Mann dort in der Zelle«, er
nickte zu mir hin, »den Sie als ›blonden Lümmel‹ bezeichneten, bewaffnet war. Sie haben es nicht getan, sondern sind in ihren Zellen geblieben. Nun ist es doch sehr eigentümlich, daß ein Mann in eine Zelle eingesperrt wird und, wie ich sehe, noch seine Waffen hat. Haben Sie dafür eine Erklärung, Sergeant?« Maddox hatte keine Erklärung. Er zerfloß in seinem Schweiß und wünschte sich, nie geboren worden zu sein. »Fünftens«, sagte der Colonel, »stelle ich fest, daß in Ihrem Stabsquartier, Lieutenant Morley, die linke Hand allem Anschein nach nicht weiß, was die rechte tut. Sie erklärten mir, daß der Zeuge, ein gewisser Mister Ronco, von Ihnen einen Schlafplatz, ich betone Schlafplatz, im Zellentrakt erhalten habe. Ich sehe, daß dieser Zeuge eingeschlossen wurde.« Jetzt wurde der Colonel wütend. »Noch dazu mit seinen Waffen!« Seine Stimme tönte ätzend. »Was wohl wäre alles passiert, Lieutenant Morley, wenn dieser Mann, nunmehr und mit Recht seine Waffen tatsächlich eingesetzt hätte? Sergeant Maddox wäre als erster mit einem sauberen Kopfschuß zur großen Armee abgetreten, und Sie, Gentlemen, wären ihm aller Wahrscheinlichkeit, nachgefolgt. Jedoch dieser Mann in der Zelle neben Corporal Dickens hat seine Beherrschung nicht verloren, sondern lediglich zum Frühstück einen starken Kaffee sowie Spiegeleier mit Speck gewünscht. Sein gutes Recht, nachdem er, wie ich aus dem Protokoll ersehen konnte, die Mühe auf sich genommen hatte, in einem mehrstündigen Fußmarsch in der letzten Nacht den toten Captain hierherzubringen. Für diese Mühe also wird er in die Zelle gesperrt – wie ein Schwerverbrecher!« Da wehte frische Luft durch den Zellentrakt, da verschwanden mit einem Male Borniertheit, Arroganz, Dummheit. »Schließen Sie die beiden Zellen auf Sergeant«, sagte der Colonel ruhig, und dennoch klirrte in seiner Stimme verhaltene Wut, »diese beiden Männer sind keine Verbrecher oder Deserteure oder Rebellen oder sonst was. Und Ihnen Lieutenant Morley, gebe ich nur einen Rat: Denken Sie nach, bevor Sie mir einen Kurier schicken, in dessen Meldung von einem ›verdächtigen Subjekt‹ und ›Sicherstellung‹ die Rede ist. Aus dem späteren Protokoll geht etwas ganz anderes hervor. Ohne auf weitere Details einzugehen, Gentlemen: Sie alle
haben gehandelt, als hätten Sie ein Brett vor dem Kopf gehabt. Wir befinden uns im besetzten Texas. Ich wage nicht, mir auszumalen, was passiert, wenn Sie hier aufgrund Ihrer vorgefaßten Meinungen, Ihrer Sturheit, Ihrer ekelhaften Überheblichkeit als Sieger die Bevölkerung so verprellen, daß sie sich in die Notwehrsituation gedrängt fühlt und tatsächlich rebelliert. Was Ihren Köpfen abgeht, Gentlemen, das ist Menschlichkeit. Sie haben hier nicht die Peitsche zu schwingen, sondern nichts weiter als menschlich zu sein. Wer den Feind, der ehrenhaft kapituliert hat, in den Dreck tritt, hat unter meinem Kommando nichts zu suchen. Ich habe nicht die Möglichkeit, Sie ständig zu kontrollieren. Aber das garantiere ich Ihnen: wenn solche Dinge wie in dieser letzten Nacht noch einmal passieren, dann stelle ich Sie vors Kriegsgericht, einen wie den anderen. Haben Sie mich verstanden?« »Jawohl, Sir«, sagten sie nahezu im Chor. Ob sie begriffen hatten, was ihnen der Colonel hatte sagen wollen, bezweifelte ich. Solche Typen wie Morley, Bixbee und Maddox begriffen nie. »Ich möchte Sie sprechen«, sagte der Colonel zu mir. Shita tigerte auf ihn zu, nachdem Maddox meine Zelle aufgeschlossen hatte, und ließ sich den Nacken kraulen. Mein Hund hatte also den eisernen Colonel bereits akzeptiert. Die Gesichter von Morley, Bixbee und Maddox waren so sauer wie gepfefferte Zitronen mit Essig. Matt Dickens grinste mich an, als ich an ihm vorbeiging. »Na? Ist das ein Kerl, der Alte?« flüsterte er. »Glaub schon«, sagte ich und grinste zurück. * Der Hauptsitz der Besatzungsgruppe in diesem County war Longview. Dort auch hatte Colonel Warwick sein Quartier aufgeschlagen. Das hätte ich wissen sollen, dann wäre mir das ganze nächtliche Theater erspart geblieben. Hier in dem früheren Sheriffsgebäude hatte der Colonel ein Zimmer, das ihm zur Verfügung stand, wenn er seine Inspektionen
unternahm. In diesem Zimmer saßen wir jetzt, und der Colonel sah mir zu, wie ich die Spiegeleier mit Speck vertilgte. Shita war mit einem Knochen versorgt worden, den er zwischen seinen kräftigen Zähnen zerknackte. Nach der Brüllerei und dem zackigen Hokuspokus der vergangenen Nacht war die Atmosphäre direkt wohltuend. Den Colonel zeichnete eine gestraffte Lässigkeit aus. Die Lässigkeit war ihm angeboren, das Gestraffte hatte die Armee besorgt. Beides zusammen hatte sich günstig ergänzt. Ich gab Matt Dickens recht. Dieser Mann war eine imponierende Persönlichkeit – in der Armee, wie ich sie kennengelernt hatte, weiß Gott eine Seltenheit. »Hat's geschmeckt?« fragte der Colonel, als ich den Teller leergeputzt hatte. »Jawohl, Sir. Besten Dank.« Eine Ordonanz räumte das Geschirr ab. Dann waren wir allein. Der Colonel lächelte. »Lieutenant Morley hat mir von Ihnen berichtet, mein Junge. Der Witz ist, daß ich Sie bereits kenne, jedenfalls dem Namen nach. Ich wurde nämlich für kurze Zeit der Nachfolger von Colonel Miller als Stadtkommandant von Sedalia in Missouri, wo Sie ja, bevor Sie der Armee den Abschied gaben, nahezu im Alleingang eine Guerilla-Bande ausgehoben hatten. Erinnern Sie sich?« Und ob ich mich erinnerte. Bei diesem Job hatte ich mit mehr als einem Bein bereits im Grabe gestanden. »Na, sehr fröhlich sehen Sie aber jetzt nicht gerade aus«, sagte der Colonel und blinzelte mir heiter zu. »Sie dachten wohl gerade an die Beschwerde des Sergeant Molley, wie? Sie wurde mir vorgelegt, aber da waren Sie bereits weg. Also wanderte sie in den Papierkorb.« Jetzt mußte ich doch grinsen. Dieser Molley war ein ähnlicher Blödmann wie Maddox gewesen. »Na also«, sagte der Colonel. »Ich weiß, Sie hatten damals einen ziemlichen Piek auf die Armee. Dennoch haben Sie sich jetzt um einen erschossenen Captain gekümmert und ihn hierhergebracht. Sie hätten ihn ja auch an Ort und Stelle begraben und weiterreiten können. Damit wären wir also beim Thema. Morley sagte, daß Sie
mich sprechen wollten. Daraus schließe ich, daß es mit dem toten Captain zusammenhängt. Ist das richtig?« Ich nickte. »Jawohl, Sir. Ich habe dem Lieutenant zwei Dinge vorenthalten, und zwar deswegen, weil ich den Eindruck von ihm hatte, daß er dann völlig die Übersicht verlieren würde. Daß er mich verdächtigte, den Captain erschossen zu haben, wissen Sie ja. Sein sonstiges Verhalten war auch nicht gerade dazu angetan, zu ihm Vertrauen zu haben. Aber lassen wir das jetzt. Zwei Dinge stehen nicht im Protokoll, das heute nacht angefertigt wurde. Das eine ist das letzte Wort, das der Captain sagte, bevor er starb. Er sagte: ›Caddo …‹ Mehr nicht. Der Tod unterbrach ihn.« Ich griff in die Hemdtasche, holte den zusammengefalteten Zettel heraus und überreichte ihn dem Colonel. »Und diesen Zettel«, fuhr ich fort, »entdeckte ich, als ich den toten Captain über mein Pferd legte. Das Papier flatterte zu Boden. Die Mörder mußten es ihm zugesteckt haben.« Der Colonel strich den Zettel glatt und las ihn. Als er aufblickte, war sein Gesicht so hart wie Granit. Er sagte: »Die Armee der Konföderierten hatte in Texas zwei Gefangenen-Camps. Beide wurden nach der Kapitulation natürlich aufgelöst. Unsere Kriegsgefangenen konnten nach Hause zurückkehren. Nach ihren Berichten geschah etwa einen Monat vor Kriegsschluß etwas sehr Seltsames. Bestimmte Offiziere von Rang und Namen, die im Laufe des Krieges in die Hände der Konföderierten gefallen und in eines dieser beiden Camps gebracht worden waren, verschwanden plötzlich und wurden nie wieder gesehen.« Er schwieg einen Moment und sah mich an. Dann sagte er: »Den ersten haben Sie gebracht, Ronco. Es ist Captain John Campbell. Ich habe ihn identifiziert. Von den vermißten und auf so merkwürdige Art verschwundenen Offizieren liegen uns genaue Beschreibungen vor. Captain Campbell geriet am 4. Mai 1863 bei Chancellorsville verwundet in Gefangenschaft. Aus den Unterlagen wissen wir, daß er in eins der beiden Gefangenen-Camps hier in Texas gebracht wurde. Es existieren im übrigen einige Briefe von ihm aus diesem Camp an seine Frau, sogar noch einer vom Januar dieses Jahres.«
»Sie sind sehr gut informiert, Sir«, sagte ich etwas verwundert. »Mir wurde die schöne Aufgabe anvertraut, mich näher mit dieser mysteriösen Angelegenheit der verschwundenen Offiziere zu beschäftigen«, erwiderte der Colonel grimmig. »Denn wir erhielten vor etwa zwei Monaten das Schreiben eines Verrückten – wie wir dachten, weil uns der Inhalt geradezu ungeheuerlich erschien. Das Schreiben enthielt die Namen von dreißig Offizieren der UnionsArmee samt detaillierter Angaben ihrer Geburtsdaten, letzter Truppenteile, Ort und Datum ihrer Gefangennahme, Verwundung und so weiter. Das Verblüffende war – wir stellten das durch Recherchen fest –, daß es sich bei den dreißig Offizieren um jene handelte, die aus den beiden Lagern hier in Texas verschwunden waren. Der unbekannte Absender schrieb, man habe sich leider gezwungen gesehen, die dreißig kriegsgefangenen Offiziere an einen sicheren Ort zu verbringen, um der guten Sache des Südens einen Gefallen zu tun. Kurz und gut, da der Norden die Südstaaten mit Reparationen erpresse und aussauge, sehe man sich zu Gegenmaßnahmen genötigt und biete die dreißig in Gewahrsam genommenen Offiziere dem Norden zum Rückkauf an, pro Stück, so heißt es in dem Schreiben, für eine Million Dollar, also dreißig Millionen Dollar. Höhnisch wird in dem Brief gesagt, das sei doch ein glattes, rundes Geschäft nach Art der Yankees, die ja bereits auch Niggersklaven freigekauft hätten. Jetzt habe der Norden die einmalige Chance auch einmal Weiße, und noch dazu Offiziere, freizukaufen. Über die Modalitäten der Geldübergabe beziehungsweise ›Auslieferung der Ware‹ werde man Anfang September nähere Einzelheiten bekanntgeben. Eins stehe natürlich von vornherein fest: erst das Geld, dann die Ware. Soweit das Schreiben.« Der Colonel beugte sich in seinem Stuhl vor und tippte auf den Zettel, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Das ist die erste Nachricht, die uns jetzt über diesen Fall erreicht. Sie ist, wie man bei der Marine sagt, der Warnschuß vor den Bug. Bevor wir überhaupt unsere Bereitschaft zur Zahlung der geforderten Summe bekunden konnten, hat die Gegenseite einen der dreißig Offiziere brutal ermordet und weitere Morde bereits angekündigt, um die unnachgiebige Härte
ihrer Forderung zu demonstrieren. Ich wurde zum Stab nach Washington zitiert und erhielt den Auftrag, diesen Fall zu übernehmen und wenn möglich aufzuklären sowie die Verhandlungen mit der Gegenseite zu führen. Ich habe dazu sämtliche Vollmachten, einschließlich der Zahlung der geforderten Summe. Die Armee verlangt von mir äußerste Diskretion und Geheimhaltung dieser Angelegenheit. Nur mein Adjutant in Longview ist darüber informiert – und jetzt Sie! Ich habe es getan, weil ich Sie bitten möchte, mir zu helfen.« Ich saß da, wie vom Donner gerührt. Zwar hatte ich so etwas Ähnliches fast schon geahnt, aber nun rundheraus von dem Colonel um Hilfe gebeten zu werden, da mußte ich doch erst einmal schlucken. Ich hatte mit der verdammten Armee nichts mehr zu tun haben wollen, und schon hatte sie mich wieder beim Wickel. Konnte ich den Wunsch des Colonels, ihm zu helfen, ablehnen? »Verdammt«, sagte ich wütend, »haben Sie niemanden anderes für diesen Job, Sir? Wissen Sie überhaupt, wie viele heiße Kartoffeln ich für Ihre Armee schon aus dem Feuer geholt habe?« Der Colonel grinste. »Gerade deswegen habe ich mich ja an Sie gewandt, Ronco.« »Das ist ein Job für die Pinkerton-Leute oder für den Geheimdienst, Sir, aber nicht für den kleinen Ronco …« »… der schon heiße Kartoffeln aus dem Feuer geholt hat, nicht wahr, mein Junge?« Ein unbändige Willenskraft strahlte aus den graublauen Augen des Colonels. »Sie haben sich bereits engagiert, als Sie Captain Campbell nicht im Dreck liegen ließen. Welches Motiv hatten Sie denn da?« O ja, er wußte genau, an welcher Stelle er mich zu packen hatte, dieser dreimal verdammte, eiserne Colonel. »Ich will es Ihnen sagen«, fuhr der Colonel fort. »Ich vermute, daß Sie sich darüber empörten, auf welche niederträchtige Weise ein wehrloser Mann von hinten niedergeschossen wurde. Nun wies die Uniform den toten Mann als Captain der Unions-Armee aus, und ich schätze, daß Sie da auch an seine Angehörigen dachten, als Sie sich entschlossen, den Captain hierherzubringen. Ein menschliches
Motiv, das mir beweist, daß der dreckige Krieg, den wir hinter uns haben, Sie nicht verroht hat. Jetzt geht es um das Leben von neunundzwanzig Menschen.« Er seufzte. »Einer von ihnen ist mein Sohn, Lieutenant Frederic Warwick, der im Mai 1864 bei den blutigen Gefechten gegen Lee in der Wilderneß in Gefangenschaft geriet.« Der Colonel starrte auf den Zettel. »Er ist jetzt einäugig, der Junge.« Er sagte es leise. Sein Gesicht blieb aber weiter so hart wie Granit. »Ich wundere mich, daß nicht er, sondern der Captain Campbell hier unten im Keller liegt. Er war der einzige Lieutenant auf der Liste der dreißig Offiziere. Wenn ich ein verbrecherisches Gehirn hätte, wäre nicht der Captain, sondern zuerst der Lieutenant erschossen worden. Je höher der Rang, desto wertvoller sein Wert zur Erpressung. Warum also Campbell und nicht Warwick? Ich begreife das nicht.« Dann trat etwas Bitterkeit in die Stimme des Colonels. »Die Burschen in Washington haben genau gewußt, warum sie den alten Warwick auf diesen Job ansetzten. Der paukt seinen Sohn heraus, haben sie gedacht. Diese Mistkerle haben dabei nur vergessen, daß alle dreißig Offiziere für mich Warwicks sind. Darum habe ich diese verdammte Aufgabe übernommen.« Ein paar Minuten herrschte Schweigen zwischen uns. Dann sagte ich: »In Ordnung, Colonel, Sir. Ich werde sehen, was ich tun kann. Meine einzige Bedingung lautet: niemand erfährt, wofür und daß ich für Sie arbeite. Niemand! Weder ihr Adjutant noch die Armee noch sonstwer. Ich werde die Spuren dort aufnehmen, wo ich den Captain gefunden habe. Die Mörder sind nach Nordosten geritten. Ich möchte eine Karte des Gebiets haben. Irgendwo haben die Kerle einen Schlupfwinkel, und zwar in diesem County. Dort sind die Offiziere verborgen. Vielleicht finde ich ihn. Dann gebe ich Ihnen Nachricht. Entscheiden Sie, wohin. Hierher oder nach Longview?« »Sie wollen auf eigene Faust los?« »Ja.« »Das ist verdammt riskant, mein Junge. Angenommen, Sie stoßen auf eine heiße Spur oder gar das Camp. Dann brauchen Sie
jemanden, der dranbleibt, und jemanden, der mich benachrichtigt, und zwar in Longview, nicht hier.« »Wenn ich richtig informiert bin«, erwiderte ich, »hat die Armee für solche Zwecke Brieftauben, oder?« Der Colonel starrte mich an. »Brieftauben? Mann, auf die Idee wäre ich nie verfallen. Brieftauben! Natürlich! Die hab ich in Longview, betreut von einem Spinner im Range eines Corporals. Bis jetzt haben die nur Fettlebe gehabt und ständig für Nachkommenschaft gesorgt.« »Ich brauche nur eine«, sagte ich, »die beste und schnellste. Ist der Corporal zuverlässig?« »Gibbons? Den kenne ich seit Bull-Run Ende August 1862, als wir ganz verdammt was auf den Hut kriegten. Eine seiner Tauben hat meinem Haufen das Leben gerettet, als wir eingekesselt waren. Gibbons schickte sie los. Fünf Stunden später wurde der Kessel gesprengt, und wir waren frei.« »Und wie hieß diese Wundertaube?« »Warum? Wollen Sie die haben? Meinen Sie, die lebt noch?« »Könnte doch sein. Eine Taube mit Kriegserfahrung ist mir lieber als eine, die in der Etappe Fett angesetzt hat.« Und dann sagte ich sehr brutal: »Die Taube, die den alten Marwick aus dem Feuer geholt hat, sollte doch wohl das gleiche auch für den jungen Warwick tun, oder?« Jetzt schaffte ich es doch endlich einmal, den »Eisernen« zu erschüttern. »Eine Logik haben Sie«, sagte er und schüttelte den Kopf. Er war sichtlich irritiert. »Wie hieß denn das Luder, verdammt!« Plötzlich strahlte er: »Ich hab's! Die Taube hieß Victoria!« »Sieg. Nicht schlecht. Ein Narne, der etwas verspricht. Wenn Victoria noch existiert und unter dem Kommando von Corporal Gibbons steht, dann möchte ich sie haben.«
4. Der Corporal Dave Gibbons war klein, häßlich und so biestig wie ein Giftzwerg. Wir trafen uns zwei Meilen westlich von Longview. Der
Colonel war dabei. Victoria hockte gurrend in einem geschlossenen Körbchen, das man mittels Schlaufe ans Sattelhorn hängen konnte. Ja, es war tatsächlich Victoria. Sie hatte den Krieg überstanden und sich einige Orden verdient. Was sag ich! Laut Gibbons hatte sie den Krieg entschieden und hätte Präsident der Vereinigten Staaten sein müssen. Da mir der Colonel gesagt hatte, Corporal Gibbons sei ein Spinner, bestätigte ich, daß ich mir Victoria auch sehr gut als unser aller Präsident vorstellen könne. Bitte sehr. Dem Corporal ging das runter wie Honig. Wahrscheinlich hatte ihm noch niemand gesagt, daß er davon überzeugt sei, Victoria sei zu Höherem berufen. Da ich es tat, wurde der Giftzwerg zu einem liebenswürdigen Menschen. Und so erfuhr ich alles über Victoria, einer nun etwas betagten Tauben-Lady, die, wenn ich das richtig mitkriegte, als Kriegerwitwe zu betrachten war, weil ihren Gatten ein verdammtes Schrapnell zerstäubt und sie allen späteren Bewerbern heroisch widerstanden hatte. Das war natürlich ein herbes Schicksal, aber es hatte Victoria allem Anschein nach, so behauptete Gibbons, zur besten Brieftaube der Armee reifen lassen. Nun gut. Ich hörte mir das geduldig an, ließ mich belehren, wie ich die winzige Hülse mit der Nachricht an ihrem rechten Bein – nicht dem linken! – zu befestigen und Victoria mit trostreichen Worten »aufzulassen« hatte, welche Speisen sie bevorzugte – ich erhielt ein Säckchen mit Maiskörnern – und erfuhr im besonderen, daß es Victoria bei Einbruch der Dunkelheit gewohnt sei, mit einem Küßchen den Schlaf anzutreten. Colonel Warwick saß wie erstarrt im Sattel seines Pferdes. Ich schloß daraus, daß er vom Zubettbringen einer Brieftaube nicht die geringste Ahnung hatte. Ich ja auch nicht. Jetzt lernte ich es. Corporal Gibbons führte es mir vor. Das heißt, er wollte es. Ich wehrte nur deshalb ab, weil ich die Befürchtung hatte, Victoria könne jetzt, am frühen Nachmittag, daraus die verkehrten Schlüsse ziehen und mit ihrem Schlafrhythmus durcheinandergeraten. Das leuchtete dem Corporal ein. Also ließ er Victoria im Körbchen und nahm statt dessen einen rundlichen Stein von der
Größe einer Taube auf, umschloß ihn mit beiden Händen, gurrte wie ein verliebter Täuberich, spitzte die Lippen und gab dem Stein ein Küßchen. Nur eins, wohlgemerkt! »Sie müssen dabei deutlich einen Schmatz ausstoßen, Mister Ronco«, sagte der Corporal und gab einen Schmatzer von sich. »So etwa! Haben Sie gehört?« Ich hatte gehört. Es klang nach jungem Ferkel. »Fehlt nur noch, daß Ronco ihr auch noch ein Schlafliedchen singen soll«, knurrte der Colonel, womit er bewies, daß es ihm an dem nötigen Feingefühl für den Umgang mit Tauben mangelte. Im Taubenzüchterverein wäre er bei einer Wahl zum ersten Vorsitzenden mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Gibbons schoß ihm einen giftigen Blick zu und brummelte: »Victoria ist keiner von Ihren milchbärtigen Rekruten, die nur pennen können, wenn ihnen abends der Zapfenstreich geblasen wird – Sir!« Der Colonel lachte lauthals. Ich schaute in eine andere Richtung und verbiß mir das Grinsen. Dann sagte der Colonel: »Ist nun mit Victoria alles klar? Noch irgendwelche Fragen, Ronco?« Ich nickte ernsthaft und blickte Gibbons an, der zutiefst beleidigt war. »Bitte, Corporal«, sagte ich höflich, »muß Victoria auch den ganzen Tag über im Körbchen bleiben? Braucht sie nicht Bewegung? Ich meine, Stunden um Stunden in dem engen Korb zu hocken, das ist doch fürchterlich, nicht wahr?« Der Zwerg strahlte wieder. »Eine sehr gute und kluge Frage, Mister Ronco«, sagte er. »Ich sehe schon, Sie haben für die Welt der Tauben mehr Verständnis als – ähm – gewisse Ignoranten, die zwar jedem Kavalleriegaul morgens und abends bei der Musterung ins Maul und in den Hintern schauen, aber von einer Brieftaube der Armee höchstens wissen, daß sie fliegen kann.« Der Kleine starrte kampflustig zu dem Colonel hoch. Ich hustete und sagte hastig: »Heute morgen hat mir der Colonel in allen Farben vorgeschwärmt, daß Victoria seinem Haufen im August zwoundsechzig bei Bull-Run das Leben gerettet hätte.
Deswegen wollte ich sie ja haben.« »Was? Hat er das? Da soll doch gleich das Donnerwetter …« Der Corporal brach ab und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. »Entschuldigung, Sir.« Der Colonel lächelte. »Das geht schon in Ordnung, Dave. Ohne unsere Brieftauben wären wir beim Übermitteln von Nachrichten arm dran. Das mit dem Schlafliedchen sollte auch nur ein Scherz sein. Vergiß es. Aber Ronco hat dich etwas gefragt.« »Jawohl, Sir, danke, Sir. Nun zu Ihrer Frage, Mister Ronco. Ich pflege mit meinen Tauben regelmäßig Übungen abzuhalten, dadurch bleiben Sie in Bewegung, wobei ich natürlich im Laufe der Zeit die Entfernung zwischen Auflaßort und Heimatschlag steigere. Victoria macht es also nichts aus, wenn sie jetzt für ein paar Tage im Körbchen sitzt. Sie weiß, daß irgendwann ihr Einsatz erfolgen wird, und zwar dann, wenn Sie die kleine Hülle an ihrem rechten Bein befestigt haben und sie auflassen. Sie wird dann zwei, drei Runden fliegen, um die Orientierung zu finden, und schon ist sie weg.« »Auch bei Nacht?« »Natürlich.« »Danke, Corporal, ich glaube, das war's dann.« Ich übernahm das Körbchen und schnallte es am Sattelhorn fest. Shita gebärdete sich wie verrückt und mußte von mir energisch zur Ordnung gerufen werden. Von da an spielte er erst einmal die beleidigte Leberwurst. Von dem Colonel hatte ich eine Karte der Armee erhalten, auf der das Gebiet in Planquadrate eingeteilt war. Das erleichterte natürlich Ortsangaben bei der Nachrichtenübermittlung mit der Brieftaube. »Viel Glück, mein Junge«, sagte der Colonel. »Danke, Sir, ich werd's schon schaffen.« Ich tippte an die Hutkrempe, zog den Grauen herum und ritt auf dem Trail ostwärts. Mit Shita war überhaupt nichts los. Er hoppelte seitlich hinter uns her und tat so, als gehöre er nicht zu uns. Dieser Hund war wegen Victoria eingeschnappt – so was albernes! * Zwei Stunden später hatte ich die Mordstelle erreicht. Es war bereits
jemand da – ein Einspänner. Der Mann dazu stand abseits seines Wagens, und zwar genau dort, wo die leeren Patronenhülsen noch lagen. Natürlich hatte er den Hufschlag gehört und sah mir entgegen. Ich hatte den Eindruck, daß er sich ein wenig in der näheren Umgebung umgesehen hatte. Wenn er ein guter Spurenleser war, mußte er Shitas, des Grauen und meine Spuren entdeckt haben, die vom Trail abzweigten und Richtung Marshall führten. Ein paar Schritte vor ihm zügelte ich den Wallach und fragte: »Hallo, Mister! Etwas nicht in Ordnung? Kann ich Ihnen helfen?« Meine Fragen wurden ignoriert. »Was suchen Sie hier?« fragte der Mann scharf. Er war hager, trug einen Knebelbart und sah ziemlich hart aus. Unter seiner Jacke befand sich ein Halfter, aus dem der Griff eines Colts ragte. Ich tat harmlos. »Ich? Ich suche hier gar nichts, suchen Sie denn etwas?« »Wieso?« »Weil Sie von Ihrem Wagen gestiegen sind, darum.« Wie zufällig starrte ich auf die Patronenhülsen und rief erstaunt: »He! Da liegen ja leere Hülsen herum. Haben Sie schon gesehen?« »Interessiert mich doch nicht«, erklärte der Mann schroff. »Ich möchte wissen, was Sie hier zu suchen haben?« »Nichts, wie ich bereits sagte. Aber auch wenn ich etwas suchte, dann würde Sie das einen Dreck angehen, Mister. Ich habe Sie höflich gefragt, ob Sie Hilfe brauchen. Das ist alles. Statt dessen stellen Sie Gegenfragen, und zwar in einem Ton, von dem ich nicht behaupten könnte, daß er mir gefällt. Oder suchen Sie Streit? Bitte sehr! Ich kann auch anders.« Der Mann biß sich auf die Lippen, wandte sich brüsk um, ging zu seinem Einspänner, stieg auf und fuhr an mir vorbei in Richtung Longview. Er würdigte mich keines Blickes. Hier war was faul. Der Kerl hatte sich so auffällig benommen, daß es ein Blinder merken mußte. Wie gesagt, sein Ton hatte mir nicht gefallen, sein Gesicht noch weniger. Ich dachte an die Spuren der Mörder, die ich verfolgen sollte. Andererseits war da nun dieser Kerl aufgetaucht, ausgerechnet genau
da, wo Captain Campbell erschossen worden war. Zufall? Nein. Ich entschloß mich, an dem Kerl dranzubleiben. Der Einspänner war um eine Biegung verschwunden. Die Geräusche der Wagenräder wurden leiser. Ich trieb meinen Wallach an, ritt etwa zweihundert Yards weiter auf dem Trail ostwärts, bog nach rechts ab, wo ein Wildpfad allem Anschein nach zu dem Creek führte, an dem ich gestern hatte campieren wollen, ritt noch ein Stück wieder nach Westen und glitt dann aus dem Sattel. Ich band den Wallach an ein Gebüsch, befahl Shita, der mich immer noch beleidigt anstarrte, bei ihm zu bleiben und huschte in der Deckung des Buschwerks zurück zum Trail. Hinter dem aus dem Erdreich gebrochenen Wurzelwerk eines vom Sturm gefällten Cottonwoods hockte ich mich nieder und beobachtete den Trail. Ich hatte richtig getippt. Der Kerl mit dem Einspänner kehrte zurück. Er stieg vom Bock, blieb stehen und sah sich lauernd nach allen Seiten um. Er befand sich wieder an der Stelle, wo die leeren Patronenhülsen lagen. Eine hob er auf und ließ sie, immer wieder fangend, auf der Hand tanzen. Gleichzeitig schritt er an der äußeren Wagenfurche entlang – und blieb dort wieder stehen, wo ich mit dem Toten auf meinem Wallach den Trail verlassen hatte. Er warf die Hülse fort und verfolgte meine Spur etwa fünfzehn Schritte. Dann bewegte er sich nach rechts, stutzte und beugte sich nieder. Er hatte Shitas Spuren entdeckt. Dort war Sandboden. Ich hätte etwas darum gegeben, jetzt Gedanken lesen zu können. Vorhin hatte er Shita gesehen. Brachte er ihn und mich jetzt mit den Spuren in Verbindung? Wahrscheinlich, denn es war keineswegs alltäglich, hier auf Schritt und Tritt Reitern zu Begegnen, die von einem Hund begleitet wurden. Im Gegenteil. Ich versuchte, die Gedankengänge dieses Kerls da vorn nachzuvollziehen. Er hatte festgestellt, daß meine Fußspuren, die Trittsiegel des Grauen und Shitas Pfotenabdrücke eindeutig nordwärts nach Marshall wiesen. Ich aber war ihm soeben von Longview heranreitend begegnet. Genau in dem Moment, als ich das dachte, fiel mir siedendheiß etwas
ein. Ich hatte vor etwa zehn Tagen drüben in Mansfield, Louisiana, den rechten Hinterhuf meines Grauen neu beschlagen lassen. Dieses Trittsiegel mußte sich scharf und deutlich von den drei anderen abheben. Ja, er hatte es gemerkt. Er lief zum Trail zurück und beschäftigte sich mit meinen neuen Spuren. Er wußte genau, wo ich meinen Grauen gezügelt hatte. Er umkreiste die Trittsiegel, beäugte sie von allen Seiten, lief wieder zu den alten Spuren zurück, prüfte sie – und dann hörte ich ihn fluchen. Ich hätte am liebsten ebenfalls laut geflucht. Meine Anonymität war im gewissen Sinne aufgehoben, fragte sich nur, was der Kerl für Schlüsse daraus zog. Jetzt wußte er – wenn er mit den Mördern zusammenhing, und davon ging ich aus –, daß ich die Leiche des Captains gefunden und allem Anschein auf dem Rücken meines Pferdes nach Marshall gebracht hatte. Und von dort mußte ich dann nach Longview geritten sein, dann hierher, und hier waren wir uns begegnet. Betrachtete er mich als harmlosen Reisenden, oder hatte er Verdacht geschöpft, daß ich mich näher mit der Sache befaßte? Bei unserem kurzen Wortwechsel vorhin war ich zum Schluß ziemlich scharf geworden. Ich hätte es nicht tun sollen. O verdammt! Wenn er mich richtig einschätzte und die Art meiner Bewaffnung einzuordnen wußte, dann mußte ihm jetzt klar geworden sein, daß auch an mir einiges verdächtig war. Er versetzte einer Patronenhülse einen wütenden Fußtritt. Aufblinkend flog sie davon. Dann kletterte er auf seinen Einspänner, wendete ihn auf dem Trail und fuhr mit ziemlichem Tempo Richtung Longview. Ich lief zu meinem Grauen zurück, schwang mich in den Sattel und ritt westwärts, parallel zum Trail nach Longview. Es war jetzt Spätnachmittag. Die Sonne im Westen begann sich zu neigen. Zehn Minuten später sah ich rechts vor mir die wandernde Staubfahne des Einspänners. Ich behielt sie in Sichtweite und folgte ihr. *
Es dunkelte, als der Einspänner Longview erreichte. Ich schloß weiter auf, so weit, daß ich den Mann auf dem Bock erkennen konnte. Er schaute sich nicht um. Da ich ihn nicht aus den Augen verlieren wollte, trieb ich den Grauen noch mehr an, hielt mich aber immer abseits des Trails. Er bog in einen Hof ein und verschwand dort. Es war ein Mietstall. Ich entdeckte am Stadtrand eine verfallene Hütte, rutschte aus dem Sattel und band den Wallach an der Rückfront an einen Balken. Shita sah zu mir hoch, nicht mehr ganz so ablehnend. Er wackelte ein bißchen mit dem Schwanz, Zeichen seiner Bereitschaft, die Versöhnung einzuleiten. Ich beugte mich zu ihm hinter, kraulte ihm den Nacken und sagte leise: »Hör zu, Alter. Diese Victoria ist ein liebes Vögelchen, und es könnte sogar sein, daß wir sie sehr dringend brauchen – falls es der Teufel so will und unsere Mägen leer sind, wird sie sogar am Spieß gebraten, und du kriegst beide Beinchen. Einverstanden?« Shitas Schwanz schlug bestätigend hin und her, mit Wucht. Er war nicht mehr eingeschnappte Leberwurst. Im Körbchen gurrte Victoria. Mir fiel ein, daß es jetzt Zeit für ihr Gute-Nacht-Küßchen war, verdammter Mist. Hoffentlich ging mir der hagere Kerl nicht durch die Lappen. Ich lüftete den Deckel des Körbchens, gluckste betörend, wie es auch Corporal Gibbons getan hatte, umfaßte die Holde mit beiden Händen, hob sie heraus und gab ihr den obligaten Schmatz. Shita begann zu knurren. »Pst!« zischte ich. »Halt's Maul, Alter! Das muß so sein! Stell dich nicht so blöd an!« Victoria blinzelte mich verträumt an, plusterte sich ein bißchen auf und zog ihren Kopf dann so weit zurück, daß er fast ganz im Nackengefieder verschwand. Ich bettete sie in das Körbchen zurück und verschloß den Deckel. Ich schaute zu Shita hinunter, tippte an das Körbchen und sagte: »Hier ist unser Braten drin, verstanden? Paß ja auf ihn auf, Alter, sonst werde ich ungemütlich. Das Küßchen kannst du vergessen. Ist das klar?«
Shita zeigte verstanden. Sein Schwanz bewegte sich hin und her. Ich nickte ihm zu, glitt um die Hütte herum und lief an einem Lattenzaun entlang auf die ersten Häuser zu. Rechts vor mir, über die Straße hinüber, befand sich der Mietstall. Ich hätte keine Viertelstunde später hier sein dürfen. Der hagere Mann verließ den Hof des Mietstalls und marschierte stadteinwärts. Er hielt sich weiter rechts, wo der Bohlenstieg begann. Seine Stiefel klopften über das Holz – nicht nur seine. Ein paar Unionssoldaten schlenderten über den Gehsteig. Der hagere Mann wich ihnen aus. Dann steuerte er einen Saloon an, stieß die Schwingtüren auf und verschwand hinter den pendelnden Flügeln. Ich huschte auf den Gehsteig, erreichte ebenfalls den Saloon und riskierte einen Blick über die Schwingtüren. Der Hagere stand an dem Tresen rechts und zog gerade ein Whiskyglas zu sich heran. Der Keeper stand schon wieder am Zapfhahn und ließ ein Glas mit Bier vollaufen, das er einem Unionssoldaten zuschob. Noch ein paar Kerle standen an dem Tresen, nahmen aber von dem Hageren keine Notiz. An einem Tisch wurden Karten gespielt. An anderen Tischen saßen Unionssoldaten, Biergläser vor sich, und palaverten. Mehr konnte ich nicht sehen, weil sich ein Mann an mir vorbeidrängte und in den Saloon wollte. Ich trat nach links, um ihm Platz zu machen. Dann schaute ich hinter ihm her. Er ging nach links und begrüßte zwei Männer, die allein an einem Tisch saßen. Er setzte sich zu ihnen. Der Hagere stand am Tresen, immer noch, mit dem Rücken zu mir. Er hielt sein Whiskyglas fest und beschrieb mit ihm Kreise auf der Tresenplatte. »Na, da laust mich doch der Affe«, sagte hinter mir eine Stimme. Ich fuhr herum. Corporal Gibbons schaute zu mir hoch, die Augen aufgerissen, den Mund halboffen. Er kniff die Augen wieder zu, öffnete sie. »Tatsächlich«, sagte er, sichtlich verdattert. Ich packte ihn am rechten Arm und zog ihn von der Schwingtür weg. »Was …« protestierte der Corporal.
»Pscht! Kommen Sie!« unterbrach ich ihn und bugsierte ihn in eine dunkle Türnische. Ich blickte mich hastig um. Nein, niemand hatte etwas bemerkt. »Also …« begann der kleine Corporal, und wieder unterbrach ich ihn. »Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Es ist alles in Ordnung. Sie wissen, daß mir der Colonel einen Sonderauftrag gegeben hat?« Er nickte. »Wissen Sie Näheres?« »Nein.« »Gut. Vorweg: Victoria schläft in ihrem Körbchen. Bitte fragen Sie mich nicht, warum ich wieder umgekehrt bin. Es hat sich etwas ergeben, was meinen ursprünglichen Plan umgeworfen hat. Sie müssen mir vertrauen. Tun Sie das?« »Ja«, sagte der kleine Corporal schlicht und schaute aufmerksam zu mir hoch. Konnte ich ihm auch vertrauen? »Was wollten Sie in dem Saloon?« fragte ich. »Mann«, sagte er prompt, »ein Bier gurgeln, was sonst?« Ich grinste. »Das Bier werden Sie auch gurgeln, nur habe ich eine Bitte. Am Tresen steht ein hagerer Mann mit einem Knebelbart. Können Sie beobachten, was er tut, mit wem er spricht, wohin er eventuell geht?« »Klar«, sagte der kleine Corporal. »Seien Sie vorsichtig. Dieser Mann ist gefährlich, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Wo finde ich den Colonel?« »In der Schule von Longview. Es ist ein Backsteinbau, Sie können ihn gar nicht verfehlen. In der ehemaligen Schule sind unser Stab und die Wachkompanie untergebracht.« »Brauche ich eine Parole?« Der kleine Corporal schüttelte den Kopf. »Nein. Fragen Sie nach dem Colonel.« »Danke, Dave. Sie erreichen mich bei ihm.« Ich wartete, bis er im Saloon verschwunden war. Dann wandte ich mich nach rechts und marschierte zu dem Backsteingebäude.
5. Da war ich also wieder bei der Armee, jener militärischen Organisation, die ihren unverwechselbaren Habitus hatte. Alles war genau und exakt geregelt – und was nicht in der Dienstvorschrift beschrieben und im einzelnen festgelegt war, das gab es nicht. Vielleicht waren aus diesem Grunde so viele Ignoranten bei der Armee versammelt. Ich jedenfalls hätte nie nach Vorschrift leben können. Vor dem Haupteingang vertrat mir ein Posten unter Gewehr den Weg. Richtig, dazu stand er ja da. »Ich möchte Colonel Warwick sprechen«, sagte ich. »In welcher Angelegenheit?« Ich fixierte den Burschen. Er mochte etwa drei, vier Jahre älter sein als ich. Ich seufzte. »Sagen Sie ihm, daß Victoria eine Meldung für ihn hätte.« Er runzelte die Augenbrauen und wurde vertraulich. »Du spinnst wohl«, sagte er. »Zisch ab, sonst hat's gebumst, klar?« »Gebumst hat es, wenn der Colonel erfährt, daß Sie mich hier abgewiesen haben, mein Freund. Und dann möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken.« Er blieb stur und griff zu der dümmsten Ausrede, die es gibt, um jemanden abzuwimmeln. Er sagte: »Der Colonel ist heute morgen nach Tyler geritten.« »Ist er nicht«, sagte ich. »Er war zum Beispiel heute morgen noch in Marshall, und ich weiß zufällig, daß er heute mittag hierher zurückgekehrt, dann noch einmal weggeritten und am frühen Nachmittag endgültig zurückgekommen ist.« Er wurde wütend. »Der Colonel empfängt keine Zivilisten!« stieß er hervor. »Das sollten Sie ihn entscheiden lassen. Also vorwärts, ich habe keine Lust, hier Wurzeln zu schlagen, und die Sache, um die es geht, ist auch zu wichtig, um von Ihnen in der Form entschieden zu werden, daß sie dem Colonel vorenthalten wird. Rufen Sie einen Mann, der den Colonel benachrichtigt, daß ihn jemand zu sprechen
wünsche.« »Sergeant!« brüllte der Posten. Ich schaute mich um. Das war mal wieder heiter. Aufsehen war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Ein paar Leute auf der Straße waren bereits stehengeblieben und starrten neugierig zu uns herüber. »Was gibt's?« fragte eine Stimme. Ich drehte mich wieder um. Ein stämmiger Sergeant war erschienen und musterte mich. »Dieser Kerl will den Colonel sprechen«, sagte der Posten, »und quatscht was von Victoria und wichtiger Sache und …« Der Sergeant winkte ärgerlich ab. »Ich habe den Fremden gefragt, nicht dich, Myers. Also, was gibt's, Mister?« »Ich habe eine Meldung für den Colonel«, erwiderte ich. »Aus bestimmten Gründen kann ich darüber nicht mehr sagen, Sergeant. Nur soviel: es ist wichtig und brandeilig …« Der Sergeant kniff die Augen zusammen. »Ich will doch verdammt sein, wenn ich Sie nicht kenne, Mister. Waren Sie nicht in Sedalia bei Colonel Miller als …« »Ja«, unterbrach ich ihn, »aber das braucht hier niemand zu wissen, Sergeant, bitte.« »Geht klar. Kommen Sie, ich bringe Sie zum Colonel.« Er warf dem Posten einen funkelnden Blick zu. »Und dir reiß ich nachher noch den Arsch auf, Myers«, sagte er. »Du bist sogar zum Postenstehen zu dämlich.« Ich grinste still vor mich hin. Das war nun wieder die bessere Seite der Armee. Zwei Minuten später stand ich vor dem Colonel, der mit keiner Miene verriet, was er dachte. Dieser Mann hatte eine bewunderungswürdige Selbstbeherrschung. Er dankte dem Sergeant knapp. Dann waren wir allein. Wir befanden uns in seinem Dienstzimmer, einer ehemaligen Klasse mit zwei Fenstern zur Mainstreet. Nur an der hinteren Wand standen noch ein paar Schulbänke. Vorn hing auch noch die schwarze Tafel. Vor ihr befand sich jetzt der Schreibtisch des Colonels. Wir setzten uns, der Colonel hinter den Schreibtisch, ich auf den Stuhl davor.
»Na?« fragte der Colonel. Ich berichtete von dem hageren Mann und meinen Beobachtungen und sagte abschließend: »Jetzt beobachtet ihn Corporal Gibbons, Sir. Ich bin überzeugt, daß dieser Mann mit den Mördern und Erpressern unter einer Decke steckt. Sein ganzes Verhalten läßt keinen anderen Schluß zu. Jetzt fragt sich nur: Hat er hier in Longview einen Kontaktmann, oder ist er nur hier, um zu beobachten, was nach der Auffindung der Leiche des Captains seitens der Armee unternommen wird? Vielleicht aber auch ist er derjenige, der Ihnen nach dem blutigen Auftakt mit dem Mord die Modalitäten der Geldübergabe und so weiter zuspielen soll.« »Könnte alles sein«, sagte der Colonel nachdenklich. »Ich überlege, ob wir den Kerl verhaften und in die Mangel nehmen sollten.« »Und wenn er eisern schweigt? Nein, Sir, wir haben noch zu wenig in der Hand. Er kann sich jederzeit herausreden. Daß er dort, wo der Captain erschossen wurde, herumgeschnüffelt hat, macht ihn für uns verdächtig. Das ist aber auch alles. Wenn Sie ihn verhören, wird er sagen, er habe dort nach Pilzen oder was weiß ich gesucht. Schließlich können Sie ihn nicht foltern lassen, um mehr aus ihm herauszukriegen.« Der Colonel nickte. »Das ewige Dilemma im Kampf zwischen Gut und Böse. Die einen setzen die mörderischsten und brutalsten Mittel für ihre Ziele ein, und die anderen sind gelähmt, weil sie ein Gewissen haben und Gesetz und Recht respektieren. Aber da hilft kein Lamentieren. Gut, wenn wir ihn nicht verhaften, müssen wir ihn rund um die Uhr beobachten; Und da beginnt das Problem.« Er grinste freudlos. »Meine besten Soldaten müssen nicht unbedingt auch gute Pinkertons sein. Außerdem müßte ich sie in Zivil stecken, damit sie unauffälliger aussehen. Dann müßten sie natürlich aufgeklärt und informiert werden, was es mit dem Kerl auf sich hat, um sich dementsprechend verhalten und reagieren zu können. Nein, sie müßten alles erfahren, um zu wissen, daß sie es mit skrupellosen Killern zu tun haben. Aber, verdammt, wen habe ich für einen solchen Job, der Intelligenz, Spürsinn, gute Beobachtungs- und Kombinationsgabe, Mut, unauffälliges Verhalten und so weiter
verlangt? Sie fallen aus, weil der Kerl sie kennt.« Ich unterbrach ihn. »Außerdem will ich die Spur der Mörder aufnehmen. Die Sache mit dem hageren Mann ist jetzt Ihr Job, Sir. Ich sehe die Dinge so: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat sich einer der Kerle demaskiert – der Hagere. Durch seine Person ist der Gegner nicht mehr anonym oder in totaler Deckung. Seine Tarnung hat einen Riß erhalten. Wir tappen nicht mehr im dunkeln. Das ist immerhin schon etwas. Weiter: Ob ich mit im Spiel bin, darüber kann der Hagere nur Spekulationen aufstellen. Nachdem er herausfand, daß ich mit demjenigen identisch bin, der Captain Campbell nach Marshall gebracht hat, hat er mich allerdings nicht verfolgt, sondern ist sofort hierhergefahren. Daraus folgere ich, daß ich für ihn keinen allzu hohen Stellenwert habe. Vielleicht stuft er mich als einen Mann ein, der aus purem Zufall in die Sache hineingeraten ist. Stimmen meine Überlegungen, dann habe ich noch freien Spielraum.« »Richtig, alles richtig«, sagte der Colonel, »nur weiß ich immer noch nicht, wen ich zur Beobachtung des hageren Mannes abstellen soll.« »Einen haben Sie bereits, Sir. Corporal Gibbons. Ich glaube, daß er ein guter Mann ist. Und der Sergeant, der mich zu Ihnen geführt hat, dürfte auch nicht schlecht sein.« »Matthews? He! Der war doch auch in Sedalia, der müßte Sie doch auch kennen …« »Tut er auch«, sagte ich und grinste. »Wenn er nicht gewesen wäre, säße ich jetzt noch nicht hier, weil mich der Posten abwimmeln wollte. Sehen Sie, Sir, da hatten Sie bereits zwei gute Männer. Einen dritten werden Sie auch noch finden.« Ich stand auf. »Sie sind jetzt informiert, Sir. Corporal Gibbons wird Ihnen weiter Bericht erstatten. Ich glaube, daß ich aufbrechen sollte, um die Mörderspur zu verfolgen. Oder brauchen Sie mich noch?« Der Colonel stand ebenfalls auf. »Nein, mein Junge«, sagte er. »Danke für das, was Sie bisher schon getan haben. Es ist bereits mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich bin froh, daß Sie mir helfen. Werden wir es schaffen?« »Sir«, sagte ich, »haben Sie vergessen, wie die Truppe Sie nennt?«
»Ach du lieber Gott«, sagte der Colonel, »hören Sie bloß auf mit der Legende vom Eisernen. Ich bin auch nur ein Mensch. Vorhin wollte ich gerade einen Brief an meine Frau schreiben und wußte keinen Anfang.« »Wissen Sie ihn jetzt?« Der Colonel nickte. »Ich glaube schon. Der Anfang hat etwas mit Hoffnung zu tun. Fast hatte ich sie verloren – als ich in der gestrigen Nacht nach Marshall ritt, um einen Toten zu identifizieren.« Er dachte an seinen Sohn, Lieutenant Frederic Warwick, er dachte an alle »Warwicks«. Er stand sehr gerade und aufrecht, ein Mann, der nie aufgab und immer wieder aufstehen würde, wenn man ihn niedergeschlagen hatte. Still verließ ich den Raum. * Ich spähte über die Schwingtür des Saloons. Der hagere Mann stand nicht mehr am Tresen. Corporal Gibbons konnte ich auch nicht entdecken. Ich zog meine Hutkrempe über die Augen und betrat den Saloon. Mit einem schnellen Blick sah ich, daß sich weder Gibbons noch der Hagere in dem Saloon befanden. Ein paar Sekunden später war ich wieder draußen. Es mochte jetzt etwa neun Uhr abends sein. Aus den Fenstern der Häuser auf der Mainstreet fiel Licht auf die Fahrbahn. Ich wandte mich nach links, hielt mich im Schatten der Vordächer und marschierte zu dem Mietstall, in den der Hagere mit seinem Einspänner eingebogen war. Das Hoftor stand noch offen. Ich schaute mich um. Niemand beachtete mich von den paar Leuten, die sich noch auf der Mainstreet befanden. Wo war Corporal Gibbons? War der Einspänner noch da? Ich huschte in den Hof und blieb hinter einem abgestellten Frachtwagen stehen. Rechts von mir befand sich ein langgestrecktes Stallgebäude. Daneben ragte eine Mauer auf. Links schloß sich ein Haus an. Ein Fenster im Untergeschoß war erleuchtet. Der Einspänner war verschwunden. Vor dem Stallgebäude bewegte sich etwas Dunkles. Ich blickte
genauer hin und hatte plötzlich Eisklumpen im Magen. Dort versuchte jemand; auf dem Boden weiterzukriechen, auf mich zu, nein, auf den Frachtwagen zu, der mich verbarg. Ich umrundete ihn und war mit ein paar Sätzen bei der Gestalt, die mir merkwürdig klein erschien. Es war Corporal Gibbons. Aus seinem Rücken ragte der Griff eines Messers. Ich berührte seine Schulter und sank neben ihm in die Knie. »Dave …« Er drehte den Kopf nach links, und ich beugte mich ihm entgegen. »Ronco?« Er ächzte, sein Kopf sackte etwas tiefer. »Er – er hat sich – mit diesem – Scheißkerl – getroffen …« Sein Kopf sank weg. »Mit wem, Dave? Dave?« Ich nahm seinen Kopf und drehte ihn zu mir. Er blickte mich an und bewegte die Lippen. »Dave!« schrie ich. Seine Augen brachen. Sein Kopf lag plötzlich schwerer in meinen Händen. Der kleine Corporal Gibbons, David Gibbons, dessen Brieftaube Victoria bei Bull-Run dem Colonel Warwick und seinen Männern das Leben gebracht hatte, war tot. Ich starrte auf den Messergriff, der dicht vor mir aufragte. Haß kochte in mir hoch. Von hinten niedergestochen. Sie mordeten aus dem Hinterhalt. Sie mordeten, weil sie Geld haben wollten. Menschenleben bedeuteten ihnen einen Dreck – oder Geld, je nachdem, pro Stück eine Million Dollar. Pro Stück! Und ich war schuldig. Die Gedanken rasten und wirbelten durch meinen Kopf. Du hast den kleinen Corporal auf dem Gewissen! Du hast ihm gesagt, er solle einen Mörder beobachten! Du hast ihm etwas übertragen, was du selbst hättest tun müssen. Du hättest vielleicht eine Chance gehabt – er nicht. Er liebte Tauben. Was wußte er von Killern, menschlichen Bestien, Erpressern! Nichts wußte er, gar nichts. Ich hockte an der Seite des toten Mannes, dessen Kopf ich in beiden Händen hielt, und ging mit mir zu Gericht. Ja, ich war schuldig geworden. Er hatte nur »ein Bier gurgeln« wollen, so hatte er gesagt – und ich hatte ihn zu einem Mörder geschickt. Ich hatte über jemanden entschieden, über ihn verfügt – und dazu
hatte ich weder ein Recht gehabt, noch war ich dazu legimitiert gewesen. Er hatte mir vertraut. Er hatte mir blindlings vertraut. Ich biß die Zähne zusammen, ließ seinen Kopf los, drehte seinen Körper, hob ihn unter der Schulter und den Kniekehlen auf und trug ihn aus dem Hof, über die Mainstreet und zu dem Backsteingebäude. Er war nicht schwer. Die Leute, denen ich begegnete, wichen mir scheu aus. Ich hörte, wie sie hinter mir tuschelten. Der Posten, es war derselbe, der mich bereits einmal hatte kommen und dann wieder gehen sehen, erstarrte zur Salzsäule, als ich den toten Corporal an ihm vorbeitrug. In seinen Augen stand das blanke Entsetzen. Dieses Mal hatte ich freien Zutritt zum Stabsgebäude. Ein Offizier tauchte im Flur, an dessen linker Seite das Dienstzimmer des Colonels lag, vor mir auf. »Sind Sie wahnsinnig?« schrie er mich an. Dieser Offizier war ein Captain, ein schlanker Mann mit einem schmalen Gesicht und dunklen, glühenden Augen. Er breitete die Arme aus und schrie: »Keinen Schritt weiter! Wo wollen Sie hin?« »Zu Colonel Warwick!« fauchte ich ihn an. »Und, bei Gott, wenn Sie nicht augenblicklich zur Seite treten, renne ich Sie nieder!« Er wich zur Seite und drückte sich an die Flurwand. Ich ging langsam an ihm vorbei und starrte ihn an. Als ich an ihm vorbei war, drehte ich mich wieder um. »Captain, Sir«, sagte ich, »können Sie mir verraten, was daran wahnsinnig sein sollte, einen ermordeten Corporal Ihrer Truppe zu Colonel Warwick zu bringen?« Er blickte auf den toten Corporal in meinen Armen und sagte tonlos: »Entschuldigen Sie, ich habe das im ersten Moment nicht richtig erkannt. Das ist Corporal Gibbons, nicht wahr?« »Richtig, ein Corporal«, sagte ich. »Wie er heißt, weiß ich nicht. Heißt er Gibbons?« »David Gibbons. Er betreut unsere Brieftauben.« Ich nickte ihm zu, drehte mich wieder um, ging weiter und blieb
stehen, weil mir etwas eingefallen war. Über die Schulter sagte ich: »Verdammt, wo ist denn nun das Zimmer des Colonels? Der Posten sagte, hier im Flur. Wo? Links oder rechts?« Der Captain ging an mir vorbei, klopfte an die Tür des Colonels, öffnete sie und sagte zu mir: »Bitte sehr.« Und so betrat ich das Dienstzimmer des Colonels, das ich vor knapp einer Viertelstunde verlassen hatte. »Sind Sie Colonel Warwick?« fragte ich. Er zögerte nur einen kurzen Augenblick. Dann sagte er: »Ja.« Er stand hinter seinem Schreibtisch auf und blickte mich aufmerksam an. »Sie bringen einen Toten? Das ist doch Corporal Gibbons! Wer sind Sie? Was soll das?« Er hatte begriffen. Ich sagte: »Morris, Frederic Morris. Ich fand diesen Mann hier im Hof des Mietstalls – mit dem Messer im Kreuz. Ein bißchen Leben hatte er noch.« Ich zuckte mit den Schultern. »Er murmelte etwas von jemandem, der sich mit einem Scheißkerl getroffen hätte. Das habe ich genau verstanden, Sir. Und dann war er auch schon tot. Ich brachte ihn hierher, weil er ein Unionssoldat ist, Sir. Kann mir jemand den Toten vielleicht abnehmen?« Ich drehte mich zu dem Captain um, der hinter mir stand. Der zuckte zurück und rief: »Wache!« Die ganze Wache stand im Flur, bereits alarmiert, nachdem ich mit dem toten Corporal den Posten Myers passiert hatte. Sergeant Matthews sprang auf mich zu und nahm mir den Toten ab. Er wollte etwas sagen, aber ich schüttelte unmerklich den Kopf und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Die Krankenstube ist leer«, sagte hinter mir der Captain. »Bringen Sie ihn dorthin, Sergeant. Das Messer muß sichergestellt werden.« »Jawohl, Captain, Sir.« Ich sah ihm nach und dachte, daß der Colonel nun niemanden mehr abzukommandieren brauchte, um den Hageren beschatten zulassen. Wir tappten wieder im dunkeln. »Mister Morris?« sagte der Colonel.
»Sir?« Ich drehte mich zu ihm um. »Bitte, würden Sie Platz nehmen und diese Geschichte noch einmal erzählen? Captain Willard, bitte bleiben Sie auch hier. Ich möchte, daß Sie später über diese Angelegenheit ein Protokoll anfertigen. Nehmen Sie Platz, Gentlemen.« Ich setzte mich wieder vor den Schreibtisch. Captain Willard schloß die Tür und holte sich einen Stuhl heran. Er setzte sich rechts neben mich. »Nun, Mister Morris?« Die Augen des Colonels waren sehr wachsam. »Viel kann ich nicht berichten, Sir«, sagte ich. »Ich ging an dem Mietstall vorbei, der am Ostrand der Stadt liegt. Aus dem Hof hörte ich ein Stöhnen. Ich lief in den Hof und fand den Corporal. Er lag auf dem Bauch und versuchte, aus dem Hof zu kriechen. Seine letzten Worte waren: ›Er hat sich mit diesem Scheißkerl getroffen …‹ Mehr hat er nicht gesagt. Da ich nicht verstand, was er meinte, fragte ich ihn noch einmal, aber da war er bereits tot. Mehr ist nicht zu berichten.« »Merkwürdig«, murmelte der Colonel. Er blickte den Captain an. »Kriegen Sie in die letzten Worte des Corporals einen Sinn hinein, Willard?« »Nein.« Der Captain schüttelte den Kopf. Er wirkte etwas arrogant, aber das lag vielleicht an der maßgeschneiderten Uniform. Es gab bei der Armee solche Snobs, die auf die Uniformstücke der Kleiderkammer verzichteten und sich statt dessen bei einem guten Schneider einkleideten. Der Colonel sagte: »Lassen Sie feststellen, wo Corporal Gibbons sich heute abend überall aufgehalten und wer ihn gesehen hat, Captain. Das ist alles. Ich brauche Sie nicht mehr.« »Jawohl, Sir.« Der Captain stand auf, salutierte und verließ den Raum. Als wir allein waren, beugte sich der Colonel vor. »Warum das Versteckspiel, Ronco?« fragte er. »Captain Willard ist mein Adjutant und in die Angelegenheit eingeweiht.« »Reine Vorsicht, Sir«, erwiderte ich, »oder Mißtrauen, wenn Sie so wollen.«
»Geht das nicht ein bißchen zu weit?« »Nein«, sagte ich schroff. »Niemand darf erfahren, daß ich für Sie arbeite, niemand. Sergeant Matthews kennt mich von Sedalia her. Bitte vergattern Sie ihn, daß er das Maul hält. Das ist das eine. Das andere bezieht sich auf die letzten Worte des Corporals. Der Wortlaut besagt eindeutig, daß sich der Hagere mit jemandem getroffen hat, den Gibbons kannte. Er nannte diesen Betreffenden einen ›Scheißkerl‹. Jetzt liegt es an Ihnen, herauszufinden, wen er gemeint haben kann. Ich vermute, daß es ein Mann aus Ihrer Truppe ist, ein Mann, auf den Gibbons – aus welchen Gründen auch immer – einen Pik hatte, vielleicht ein Vorgesetzter. Für den Hageren war Gibbons ein unbekannter Soldat, nicht aber für den Mann, mit dem sich der Hagere getroffen hat.« »Das ist ja ungeheuerlich«, stieß der Colonel hervor. »Aber logisch, Sir. Der Einspänner ist übrigens auch aus dem Hof des Mietstalls verschwunden. Als ich Sie vorhin verließ, schaute ich noch einmal in den Saloon. Der Hagere war nicht mehr da, Gibbons auch nicht. Da ich sowieso an dem Mietstall vorbei mußte, sah ich nach. Und so fand ich den Corporal. Das bedeutet: Gibbons ist dem Hageren gefolgt – bis zum Mietstall. Dort, so könnte es gewesen sein, hat sich der Hagere mit dem Unbekannten getroffen – dem ›Scheißkerl‹. Vielleicht hat Gibbons das Gespräch der beiden belauscht, wurde entdeckt und niedergestochen. Glauben Sie immer noch, der ›Scheißkerl‹ ist eine x-beliebige, dem Corporal unbekannte Person? Aber weil dieser Kerl unerkannt bleiben wollte, mußte der Corporal sterben. Verdammt, Sir, es ist meine Schuld. Ich hatte nicht das Recht, dem kleinen Corporal eine Aufgabe anzutragen, der er gar nicht gewachsen sein konnte. Für diesen meinen Fehler mußte ein harmloser, unschuldiger, liebenswürdiger Mann büßen. Deshalb ist es jetzt an mir, den oder die Schuldigen zu finden, und deshalb ist jeder für mich verdächtig, der sich hier unter Ihrem Kommando befindet, verstehen Sie?« »Ja, das verstehe ich, aber zum Beispiel Willard zu verdächtigen, das ist absurd, mein Junge.« Der Colonel schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn jetzt seit einem Vierteljahr. Er war Jahrgangsbester und hat glänzende Beurteilungen. Aber ich werde mir meine anderen
Offiziere, die Sergeants und Corporale nacheinander vornehmen, unauffällig natürlich. Vielleicht weist irgend etwas auf jenen Mann, den Gibbons gemeint hat. Wie sind Ihre Pläne jetzt? Meinen Sie, daß es Zweck hat, nach dem Kerl mit dem Einspänner zu suchen? Oder wäre es besser, die Spuren der Killer zu verfolgen?« »Letzteres, Sir, es geht um die neunundzwanzig Offiziere. Wo sie sind, dürfte auch der Hagere nicht allzu weit weg sein.« »Gut, einverstanden.« Wir wechselten einen kräftigen Händedruck. Dann verließ ich das Stabsquartier des Colonels.
6. Zum zweiten Male an diesem Abend betrat ich den Saloon und steuerte auf den Tresen zu. Ich bestellte ein Bier und baute mich links am Tresen auf, wo ich keine Nachbarn hatte. Als der Keeper das Glas vor mich hinstellte, bezahlte ich und spielte dann mit einer meiner mexikanischen Goldmünzen aus der Schatulle Kaiser Maximilians von Mexiko. Der Keeper kriegte Stielaugen. Ich sagte: »Haben Sie ein gutes Gedächtnis und scharfe Augen, Mister?« »Schätze ja. Um was geht's denn?« »Zwischen acht und neun an diesem Abend hat an diesem Tresen ein hagerer Mann einen Whisky getrunken. Er trug einen Knebelbart, hatte unter der Jacke einen Colt und wirkte insgesamt ziemlich hart. Was sagt Ihr Gedächtnis?« Der Keeper grinste. »Mein Gedächtnis bestätigt das.« »Hat der Mann sich hier mit jemandem getroffen?« Der Keeper schüttelte den Kopf: »Er hat mehrere Male seine Taschenuhr herausgezogen und nach der Uhrzeit gesehen. Punkt halb neun ist er abmarschiert.« »Sehr gut. Und nun meine wichtigste Frage: Kennen Sie den Mann?« »Könnte sein.« »Was heißt das?«
»Hm.« Der Keeper kratzte sich am Hinterkopf. »Wissen Sie, Mister, dieser Scheißkrieg ist noch nicht allzu lange zu Ende. Da gibt es bei den Leuten im Süden Heißsporne, denen noch das Fell juckt, und andererseits sind da die Besatzer aus dem Norden, die zwar gesiegt haben, aber manchmal hier doch ihre Schnauze etwas zu weit aufreißen. Ich sitze also zwischen zwei Stühlen und muß mich bemühen, nicht unten zu landen. Ich will es mit niemandem verderben, verstehen Sie? Andererseits haben Sie da so eine schöne Goldmünze. Nun, ich werde Ihnen die Frage beantworten, aber Sie müssen mir versprechen, mich aus dem Spiel zu lassen und zu verschweigen, daß Sie von mir eine Auskunft erhalten haben. Sie sehen aus wie ein Mann, der zu schweigen versteht.« »Ich werde schweigen«, sagte ich und rollte die Münze über den Tresen zu ihm hin. Sie verschwand blitzschnell in seiner Hand. Er sagte: »Man munkelt hier, daß der Hagere unter Quantrill geritten sei. Sie wissen, was das heißt?« Ich nickte. Und ob ich es wußte. Dieser Quantrill war einer der berüchtigsten Guerillaführer der Südstaaten gewesen. Gerüchtweise hatte ich gehört, daß er nicht mehr am Leben sei. Aber dessen ungeachtet, die Kerle, die unter ihm geritten waren, galten so ziemlich als das Übelste, was jemals eine Uniform getragen hatte. Unter dem Mäntelchen der Uniform hatten sie gemordet, geplündert und gebrandschatzt. »Wie gesagt«, fuhr der Keeper fort, »das mag stimmen oder nicht. Sicher weiß ich jedoch, daß er nach dem Krieg oben am Big Cypress Creek auftauchte und dort eine herabgewirtschaftete Ranch kaufte. Er heißt Henry Jeffers. Ob das sein richtiger Name ist, kann ich natürlich nicht beurteilen. Er hat hier in Longview schon einige Male eingekauft, Viehfutter, Werkzeuge und so weiter. Angeblich will er groß ins Rindergeschäft einsteigen. Das ist alles, Mister. Zufrieden?« Zufrieden? Mehr als das. Ich hatte einen Volltreffer gelandet. Ich bedankte mich, trank mein Bier aus und verließ den Saloon. Einen kurzen Moment dachte ich daran, den Colonel zu informieren, aber dann wischte ich diesen Gedanken beiseite. Das war jetzt mein Kampf. Jeffers oder der Unbekannte – einer der beiden hatte dem
kleinen Corporal das Messer in den Rücken gestoßen, aber beide würden sie dafür büßen müssen. Im Laufschritt trabte ich zu der verfallenen Hütte zurück. Shita begrüßte mich schwanzwedelnd, mein Grauer schnaubte. Die Lady Victoria schlummerte in ihrem Körbchen, wie ich feststellte. Ich holte die Armeekarte aus der Satteltasche, hockte mich in die Bruchbude, entzündete einen Span und studierte bei dem spärlichen Licht die Karte. Der Big Cypress Creek lag etwa fünfundzwanzig Meilen nördlich von Longview und floß bei Jefferson in den Caddo Lake. Ich zuckte zusammen. Caddo Lake? Ich starrte auf den See, der sich auf der Karte in bizarren Windungen darbot. Außer dem Big Cypress Creek mündeten noch drei andere Flüsse in den See. Da war zum Teil Sumpfgebiet, dann waren Inseln und Halbinseln angedeutet – die ideale Gegend, um dreißig beziehungsweise neunundzwanzig Menschen zu verstecken. »Caddo …« murmelte ich und setzte »Lake« hinzu. War es das gewesen, was der sterbende Captain noch hatte sagen wollen? Die Killer waren nach Norden davongeritten. In Gedanken zog ich von der Stelle, wo ich den Captain gefunden hatte, zum Caddo Lake eine Linie. Ja, sie ergab die Richtung nach Nordosten. Ich pfiff vor mich hin und hatte das bestimmte Gefühl, mit meinen Überlegungen richtig zu liegen. Was sollte ich tun? Die Killerspuren aufnehmen oder versuchen, mich an Jeffers zu hängen? Wenn er zu seiner Ranch zurückgekehrt war, hieß das ja nicht, daß er dort tagelang hocken blieb. Irgendwann würde er jenen Platz aufsuchen, wo die Offiziere gefangengehalten wurden. Wenn ich ihm dabei folgte, dann hatte ich das Versteck, ohne selbst lange im Sumpfgebiet herumirren zu müssen. Ich entschloß mich, zuerst Henry Jeffers aufzuspüren. Von Longview führte ein Trail nordwärts zum Big Cypress Creek, das verriet mir die Karte. Ich faltete sie zusammen, verlöschte den Span, verließ die Hütte, steckte den Plan in die Satteltasche zurück und schwang mich in den Sattel, nachdem ich den Grauen losgebunden hatte. Fünf Minuten später hatte mein Grauer den Trail unter den Hufen.
* Gegen Mitternacht durchfurtete ich abseits des Trails jenen Fluß, der südlich des Big Cypress Creeks zum Caddo Lake floß. Ich hätte die Holzbrücke benutzen können, die den Fluß überspannte, aber an der Holzbrücke stand ein Gebäude, aus dessen Fenstern Licht fiel. Ich hatte keine Lust, jemandem zu begegnen, deshalb zog ich den Umweg vor. Zwei, drei Meilen weiter nördlich kehrte ich auf den Trail zurück. Es war eine mondhelle Nacht, nicht zu kalt und nicht zu warm. Ab und zu zügelte ich den Grauen, um zu lauschen. Im übrigen pirschte vor uns wie gewohnt Shita, der ein hervorragender Scout war. Victoria bewies, das sie ein echtes Mitglied der Armee war. Das Schaukeln des Pferdeleibs störte sie nicht. Sie schlief weiter. Etwa um vier Uhr morgens stießen wir auf den Big Cypress Creek. Hier lag eine Fährstation. Vom Trail führte ein schmaler Fahrweg nach rechts, also ostwärts. Ohne lange zu zögern, bog ich rechts ein und ließ die Fährstation hinter mir. Auf und am Fluß wallten jetzt Nebelschwaden. Ich ritt noch zwei, drei Meilen, verließ dann den Fahrweg und trieb den Grauen zum Fluß. Dort rutschte ich aus dem Sattel, ließ den Grauen saufen, hobbelte ihn dann an, löste die Sattelgurte, setzte das Körbchen mit Victoria neben einen Felsbrocken, packte den Sattel daneben und breitete meine Decken aus. Ich rieb den Grauen noch ab, dann haute ich mich für zwei, drei Stunden hin. Shita wärmte mir den Rücken. Er war es auch, der mich weckte, als die Sonne aufgegangen war. Er weckte mich, weil Victoria in ihrem Körbchen gurrte und gluckste. Er hatte sie jetzt wohl akzeptiert und schien der Ansicht zu sein, daß nunmehr die Fütterung fällig sei. Gut, ich stand auf, reckte mich, betrachtete die Umgegend, die aus einer Wildnis moosbehangener Zypressen bestand, holte das Säckchen mit den Maiskörnern und begrüßte Victoria. Ich ließ den Deckel offen. Der kleine Corporal hatte mir zwar nichts darüber gesagt, aber ich war doch der Ansicht, daß Victoria das Recht hatte, sich auch einmal umsehen zu dürfen.
Sie tat es. Sie zischte aus dem Körbchen, flatterte auf einen Zypressenzweig, schaukelte dort und ruckte den Kopf in alle Himmelsrichtungen. Shita starrte zu ihr hoch und sah aus, als feixe er. Dann blickte er mich an und feixte weiter. Geschieht dir ganz recht, schien er zu sagen. Victoria begann inzwischen ihr Gefieder zu säubern, vorn, hinten, links, rechts, unten. Ihr Hals beschrieb Verrenkungen, denen ich nicht so ganz folgen konnte. Das war eben ein Taubenhals. Er war übrigens von einem stählernen Grün, während das übrige Federkleid eine graublaue Färbung zeigte. Ich ignorierte die Lady und versorgte den Grauen. Dann erhielt Shita ein paar Wurstscheiben, ich genehmigte mir Speck und einen Brotkanten, trank dazu kalten Kaffee, den ich noch in meiner zerbeulten Armeeflasche hatte und beschäftigte mich dann mit dem Körbchen Victorias, das eine Reinigung nötig hatte, wie ich feststellte. Ich wusch es am Creek aus. Neben mir landete Victoria, beäugte mein Tun, stippte den Kopf ins Wasser, trank, ruckte und zuckte herum – und trippelte hinter mir her, als ich zurückging und das Maissäckchen öffnete. Shita saß auf dem Hintern, die beiden Vorderpfoten aufgestützt, und reckte den Hals. Jetzt grinste ich ihn an. Victoria pickte mir die Maiskörner aus der offenen Hand, gurrte, plusterte sich auf, schielte mich an, klapperte mit den Augen – und futterte. Der Hund, das Pferd, der Vogel – ich, na, das schien sich zu einer Art Familie zu entwickeln. Victoria verzehrte dreizehn Maiskörner, dann stoppte ich das Frühstück, schnürte das Säckchen wieder zu und sagte zu ihr: »Marsch, ins Körbchen.« Ich zeigte ihr den Weg. Victoria warf mir schmelzende Blicke zu und schien zu zögern. Also nahm ich sie sanft, ohne daß sie ausbüxte, und beförderte sie ins Körbchen zurück. Sie knabberte zärtlich an meinem rechten Zeigefinger.
Ich hatte eine Geliebte. Oder wie sollte ich das nennen? Ich dachte an den kleinen Corporal, der zur großen Armee aufgerückt war. Mein Gott, würde Victoria merken, daß er nicht mehr da war? Wie viele Jahre waren die beiden zusammen gewesen? Sie war nur eine Taube. Keine Kriegsgeschichte würde über sie berichten, nur Ronco, der einmal geächtet war, erzählt von ihr, und auch das nur so am Rande. Auch von dem Corporal David Gibbons würde kein Militärhistoriker wissen. Er gehörte in die Kategorie des unbekannten Soldaten. Weinten Angehörige um ihn, wenn sie seinen Tod erfuhren? Mich erbitterten diese Gedanken, und ich hatte Mühe, sie zu verscheuchen. Da waren neunundzwanzig »Warwicks«, deren Leben vielleicht von einem knapp achtzehnjährigen jungen Mann namens Ronco abhingen. Jawohl, achtzehn Jahre alt; aber ein paar Höllen hatte er schon kennengelernt, und darum war er nicht mehr jung. Und manchmal, wenn er einmal das Glück hatte, in einen Spiegel zu schauen, dann starrte er in ein Gesicht, das er nicht erkannte, weil sich dort Unverwischbares eingegraben hatte. Shita stieß mich winselnd an, und ich sagte: »Schon gut, Alter, man wird ja wohl mal nachdenken dürfen, nicht wahr?« Drei Minuten später war das Camp geräumt. Ich ritt ostwärts und blieb auf dem Fahrweg. * Narren haben Glück oder auch nicht, wie man's nimmt. Eine Stunde später stieß ich auf die Ranch von Henry Jeffers. Sie war es, weil der Einspänner im Hof stand. Was heißt hier Hof? Das Anwesen sah aus, als habe der Zahn der Zeit Stück um Stück herausgenagt. Das war eine Geisterranch, die dennoch Leben hatte. Denn hinter mir – ich befand mich noch gar nicht auf dem Hof, sondern vor einem verrotteten Gatter – knackte ein Gewehrhahn, vermutlich von einer Schrotflinte, und eine Stimme sagte: »Reite schön langsam weiter, Freundchen, bis zu dem Brunnen, den du sicherlich siehst, und dort hältst du, ohne dich zu mucken. Wenn du muckst, fliegt dein Kreuz auseinander, ich habe Gehacktes in der
Kanone.« Diese Stimme war so übel, daß mir fast schlecht wurde. Shita war verschwunden. Eigentlich hätte er mich warnen können. Aber er war weg. Der Kerl, der mich überrascht hatte, mußte hinter einem Geröllhaufen rechts von mir gelauert haben. Ich gab dem Grauen sanft die Hacken und steuerte auf den Brunnen zu, ein Bruchdings von Brunnen, dessen Umfassung aus Zacken und Unkraut bestand. Links von dem Brunnen stand der Einspänner. Zwanzig Schritte vor mir befand sich das, was einmal das Ranchhaus gewesen sein mußte. Es sah zum Gotterbarmen aus. Das Dach eingesackt, leere Fenster, ein Sack vor der Tür, schiefe Mauern, die nicht mehr lange dem Druck von oben standhalten würden – kurz, wenn hier jemand »groß ins Rindergeschäft einsteigen« wollte, dann hätte ich auf der Stelle meinen Hut gefressen. Von Rindern war nämlich auch nichts zu sehen, nichts, gar nichts. Hier hauste allenfalls der Tod, und das in der Person des Mister Henry Jeffers, der laut dem Keeper einmal für Quantrill geritten war. Und dann hauste hier noch die Ratte, die sich hinter mir befand und »Gehacktes in der Kanone« hatte. Am Brunnen zügelte ich den Grauen. »Sehr schön«, sagte die Stimme hinter mir, »und nun darfst du aus dem Sattel steigen, aber bleibe auch dabei brav, denn ich kenne die Tricks und würde es zutiefst bedauern, wenn dein Kreuz doch noch auseinanderfliegen sollte.« Das ist auch ein ehemaliger Quantrillmann, dachte ich, denn der ist mit den miesen Spielregeln echt vertraut und weiß Bescheid, aus welcher Ecke der Wind wehen könnte. Also rutschte ich aus dem Sattel und hütete mich, meine Hände dabei zu bewegen. »Henry!« brüllte der Kerl. »Wir haben Besuch!« Er reagierte erstaunlich schnell, dieser Mister Jeffers. Knapp zehn Sekunden später schoß er unter dem Sack hervor wie ein Teufelchen aus der Kiste. Ich lächelte ihn an und sagte: »Siehe da! Kennen wir uns nicht, Mister?« Mir war alles andere als nach einem Lächeln zumute.
Er prallte zurück, als er mich erkannte, faßte sich wiederum sehr schnell und brachte sogar ebenfalls ein Lächeln zustande: Bei diesem Lächeln gefror mir allerdings das Blut in den Adern. Es war auch kein Lächeln, sondern ein Grinsen, ein böses und gemeines Grinsen. Er sagte: »Das ist aber eine Überraschung.« »Das freut mich«, sagte ich heiter. »Aber dieser Mensch hinter mir scheint darüber gar nicht fröhlich zu sein. Ist das hier so üblich, harmlose Besucher zu empfangen?« »Hier ist noch ganz was anderes üblich«, sagte Jeffers kalt und zauberte seinen Colt unter der Jacke hervor, sehr schnell, sehr gekonnt. Er schien ein Profi zu sein. »Ich schlage vor, daß wir uns drinnen weiter unterhalten. Da ist es gemütlicher.« »Kracht das Dach nicht zusammen?« fragte ich aus reiner Höflichkeit und hielt nach Shita Ausschau. Aber der blieb verschwunden. Er hatte es gemerkt. »Wo ist denn Ihr Köter?« fragte er. »Das ist kein Köter«, erwiderte ich beleidigt, »allenfalls ein Streuner. Und als solcher ist er mir auch abhanden gekommen.« Am Sattelhorn im Körbchen begann dafür meine Geliebte zu gurren und zu glucksen. Dieses verdammte Vieh! »Oh«, sagte Henry Jeffers, »was haben wir denn da? Das klingt wie ein Täubchen. Dieser Korb fiel mir gestern schon auf, hat verdammte Ähnlichkeit mit den Körben, in denen die Yankee-Armee ihre Brieftauben befördert.« »Sie müssen es ja wissen«, sagte ich erbost. »Ich habe die Taube samt Körbchen von einem Kerl gekauft, der zwar eine YankeeUniform trug, aber nichts dagegen hatte, Armee-Eigentum zu verscherbeln. Ist das vielleicht in Ihren Augen verdammenswert? Ich habe jedenfalls zugepackt. Die Taube samt Körbchen hat mich zehn Cents gekostet. Sie wird die Stammutter meiner Taubenzucht. Jetzt brauche ich nur noch einen Mann wie sie. Sie haben nicht zufällig einen Täuberich zu verkaufen, Mister?« Er starrte mich an, als ob ich irre sei. »Ich biete gleichfalls zehn Cents«, sagte ich. »Überlegen Sie mal, so schnell können Sie gar nicht Dollars verdie …«
»Schnauze!« pfiff er mich an. »Jetzt reicht's. Wo ist Ihr Köter? Was haben Sie hier zu suchen?« »Nichts, allenfalls einen Täuberich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Und was meinen Hund betrifft, auf den Sie geradezu verrückt zu sein scheinen, der ist abgehauen. Bitte sehr, ich betrachte den Besitz eines Hundes nicht als absolut. Ich würde auch nie einen Hund an die Kette legen. Wenn ein Hund, der geneigt war, mit mir zusammenzuleben, eines Tages …« »Henry«, sagte der Kerl hinter mir, »wenn du mich fragst, dieser Bursche ist komplett irre. Der hat nicht alle. Bei dem krabbeln Ameisen im Gehirn. Der ist blöd, verstehst du?« Ich trat etwas zurück und drehte mich zu ihm um. »Wie reden Sie denn über mich? Das ist ungehörig, Mister!« Er grinste mich herablassend an. Und dann senkte er die Schrotflinte. »Halt's Maul, Freundchen«, sagte er lässig. Ich tat zweierlei gleichzeitig. Ich warf mich hin und zog. Und beim Ziehen tat ich ein Drittes und konzentrierte mich auf Henry Jeffers. Seine Kugel raste über mich weg und sengte meine Kopfhaut. Ich prallte auf und feuerte. Meine Kugel wirbelte ihn herum. Seine Arme griffen in die Luft, sein Colt flog irgendwohin. Ich zuckte herum wie eine Schlange und warf einen Schnappschuß auf den anderen Kerl. Er hüpfte hoch und feuerte seine Schrotflinte in den Himmel ab. Er hüpfte deswegen, weil sich Shita in sein rechtes Bein verbissen hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Shita wieder losließ und dem Kerl an die Kehle sprang. Ein Blick nach links – und ich schnellte zur Seite. Ein Messer zischte über mich weg und stieß in den Sand. Henry Jeffers hatte es geworfen. Er taumelte, hatte aber plötzlich noch ein zweites Messer in der Hand, jetzt in der Linken. Ich dachte an den kleinen Corporal und schoß. Sein Kopf flog zurück, er kippte rücklings zu Boden, das Messer löste sich aus seiner Hand. Der Schrei rechts neben mir erstarb in einem Gurgeln. Ich konnte nichts mehr tun. Meine Tiere taten es. Denn Shita wich
zur Seite, weil die Hinterhufe des Grauen niederkrachten – auf den Kopf des Mannes. Ich schaute nicht hin, als ich den tobenden Grauen wegzerrte. Shita hatte dem Kerl die Kehle durchgebissen. Alles andere war überflüssig gewesen. Ich begrub die beiden Männer. Vielleicht waren sie für Quantrill geritten. Es war bereits Vergangenheit. Fest stand, daß ich nicht mehr lebend von dieser verfallenen Ranch weggekommen wäre. Jetzt hatte ich die Spur zum Caddo Lake selbst zerstört. Aber ich hatte es tun müssen, um zu überleben. In der verfallenen Ranch entdeckte ich ein Waffenlager und in den noch recht gut erhaltenen Kellerräumen Vorräte, die für eine Kompanie ausgereicht hätten. Ich ergänzte meine Munition und gleichfalls meinen Proviant. Aus einem notdürftig geflickten Schuppen trieb ich drei Pferde und jagte sie davon. Irgend jemand würde sich ihrer annehmen. Ich umging die Ranch und fand an ihrer Ostseite einen Pfad mit Pferdespuren sowie den Furchen von Wagenrädern. Sie entsprachen der Achsenbreite des Einspänners. Diesem Pfad folgte ich.
7. Jetzt waren die Dinge in Bewegung geraten, und ich hoffte, sie noch steuern zu können. Einiges war mir klar geworden. Diese Ranch diente als eine Art Außenlager, in dem man Lebensmittel und Waffen deponiert hatte. Das war aber nur sinnvoll, wenn das Camp, wo man die gefangenen Offiziere verborgen hielt, in erreichbarer Entfernung lag. Ich mußte verdammt vorsichtig sein. Links von dem Pfad floß der Big Cypress Creek in südöstlicher Richtung zum Caddo Lake. Nach meiner Karte mußte der See etwa acht bis zehn Meilen von der Ranch entfernt sein, das heißt, die Westspitze des Sees. Jetzt konnte ich wieder froh sein, den Grauen zu haben, der bereits im Sumpfgebiet des Mississippi seine Fähigkeit bewiesen hatte, trittsichere Pfade zu finden. Denn am Caddo Lake stand mir einiges
bevor, was das betraf. Sich durch eine unbekannte, tückische Sumpfwildnis zu tasten und gleichzeitig aufzupassen, nicht unversehens auf jene Killer-Bande zu stoßen, das waren schon zwei Stiefel, die mir etwas zu groß erschienen. Vielleicht hatte Henry Jeffers bei den Kerlen eine Art Führungsrolle gespielt. Wenn das so war, dann fehlte er jetzt, und das konnte ich als Teilerfolg verbuchen. Aber wer war der Kopf der Bande? Und wie groß war sie? Ich hatte genug 'Selbstvertrauen, meinen Part zu spielen. Und dennoch blieb ein gewisses mulmiges Gefühl. Die Gegend wirkte gottverlassen. Aber war sie es tatsächlich? Ich holte meine Spencer aus dem Scabbard und legte sie quer vor mich. Gleichzeitig lauerte ich nach allen Seiten, bereit, sofort zu reagieren, falls etwas Unvorhergesehenes passierte. Nach etwa einer Stunde bog der Pfad nach Süden ab, und ich begriff, daß er um Jefferson herumführte. Und dann befand ich mich in den Ausläufern des Caddo Lake, in einem Dschungel aus verfilzten Bäumen, Schlingpflanzen, Gestrüpp und modrigem Boden. Ich stieg aus dem Sattel und überließ mich der Führung des Grauen. Shita trottete hinter uns. Der Graue blieb auf dem Pfad, der keineswegs mehr deutlich zu erkennen war. Eine halbe Stunde verging, dann blieb der Graue stehen und schnaubte verhalten. Der Pfad war zu Ende, das heißt, ein umgestürzter Baumriese versperrte den Weitermarsch – und die Sicht. Ich kletterte über ihn weg, bog Äste, Zweige und Schlinggewächse zur Seite – und starrte auf den See. Das gegenüberliegende Ufer mochte drei, vier Meilen entfernt sein. Es war, von hier aus gesehen, eine drohende, undurchdringlich erscheinende graugrüne Mauer. Hier war, mir fiel nichts anderes ein, der Arsch der Welt. Dann schaute ich nach links und entdeckte die Insel. Es mußte eine Insel sein, denn sie schien nicht mit dem weitentfernten Ufer zusammenzuhängen. Und dann sah ich ganz schwach aus der Mitte der Insel, wirklich kaum wahrnehmbar, eine hauchdünne Rauchfahne aufsteigen. Unwillkürlich duckte ich mich. Dabei blickte ich vor mir aufs Wasser hinunter. Keine drei Yards von mir entfernt war im
Ufergestrüpp ein Boot vertäut. Ich stieß pfeifend die Luft aus. Mein Glück ließ mich nicht im Stich, noch nicht. Auf dieser Insel dort drüben mußte sich das Camp der gefangenen Offiziere befinden – ein raffiniertes Versteck. Das wurde mir in dem Moment klar, als zwei rissige Baumstämme etwa dreißig Yards rechts von mir im Wasser lebendig wurden, auf den See hinausschwammen und plötzlich wegtauchten. Alligatoren! Keine Baumstämme. Wer versuchte, schwimmend die Insel zu verlassen, der gelangte nicht weit, dann landete er im Rachen dieser fürchterlichen Ungeheuer. Die Insel war etwa hundertfünfzig bis zweihundert Yards von mir entfernt. Bei Tage konnte ich unmöglich hinüber blieb also nur die Nacht. Ich rutschte vorsichtig zurück, nahm den Grauen am Zügel und blickte mich um. Hier konnte ich mich zwar verbergen, aber nicht der Graue. Wie war das überhaupt? Wo hatten die Kerle ihre Pferde? Doch sicher nicht auf der Insel. O verdammt – das Boot hinter dem umgestürzten Baumriesen lag da für jemanden, der zur Insel wollte, umgekehrt war es ja sinnlos. Die hatten dort sicherlich auch ein Boot. Aber die Pferde, wo befanden sich die? Und wurden sie bewacht? Das mußte ich herausfinden, bevor ich mich näher mit der Insel beschäftigte. Ich führte den Grauen auf dem Pfad zurück und fand nach knapp fünf Minuten einen zweiten Pfad, der nach links abzweigte. Vorhin war ich an ihm vorbeigetappt, ohne ihn bemerkt zu haben. Da hatte ich mich zu sehr auf den Weg vor mir konzentriert. Ich schwitzte aus allen Poren und schickte Shita voraus. »Vorsicht, Alter!« flüsterte ich. »Paß höllisch auf, sonst geht's uns an den Kragen, verstanden?« Er wedelte mit dem Schwanz und tigerte los. Ich blieb mit dem Grauen etwa zwanzig Schritte hinter ihm und beobachtete jede seiner Bewegungen. Nach etwa achtzig Yards blieb er stehen, etwas geduckt, den Kopf vorgereckt. Dann schlich er weiter – wie ein Kater, der durch hohes Gras pirscht und vorsichtig Pfote vor Pfote hebt und niedersetzt.
Dann blieb er endgültig stehen und schaute sich zu mir um. Ich schloß zu ihm auf und konnte erst jetzt sehen, was er entdeckt hatte. Rechts vor uns war das Dickicht gerodet und ein Korral angelegt worden. Etwa zwanzig Pferde befanden sich darin. Wiederum rechts vom Korral stand eine Blockhütte. Ich ließ den Grauen stehen und schlich, den Spencer-Karabiner in den Fäusten, an die Hütte heran. Nichts rührte sich darin. Sie war leer – bis auf die Sättel, die Satteldecken und das Zaumzeug sowie zwei Futterkisten. Ich holte den Grauen, umrundete den Korral, fand einen Wildpfad und kurz darauf ein geeignetes Versteck, wo ich den Grauen zurücklassen konnte. Natürlich blieb auch Victoria bei ihm. Dann kehrte ich zusammen mit Shita zum Caddo Lake zurück. * Ich fand abseits des umgestürzten Baumriesen im Uferdickicht eine Stelle, die mir nach allen Seiten gute Deckung bot, und von der aus ich die Insel beobachten konnte. Ich hatte mein Armeeglas mitgenommen, hockte mich hin und betrachtete durch das Glas Stück für Stück des gegenüberliegenden Inselufers. Es war jetzt Mittag, und die Sonne stand hinter mir. Die Gläser würden nicht reflektieren. In einer kleinen Bucht da drüben hatten sie einen Steg gebaut. Auch dort war ein Boot vertäut, wie ich feststellte. Die dünne Rauchfahne war verschwunden. Der Caddo Lake lag unbewegt vor mir, nur ab und zu entstanden auf ihm größer werdende Kreise, wenn ein Fisch die Oberfläche durchstieß, um nach einer Mücke zu schnappen. Im Uferschlamm drüben entdeckte ich außerdem Alligatoren. Sie lagen träge da und schienen zu dösen. Ich wartete, schmiedete Pläne, was ich tun würde, wenn es Nacht geworden war, suchte mir eine Anlegestelle rechts von der Bucht aus, die ich mit dem Boot ansteuern würde, und prägte mir die Stelle ein, um sie auch im Dunkeln finden zu können. Hinter ihr ragte ein klotziger Baumriese in den Himmel. Außerdem schien nur an dieser
Stelle des Inselufers Sand zu sein. Er leuchtete gelb zu mir herüber. Links und rechts davon war wieder die Schlammzone. Stunde um Stunde verging. Die Mücken setzten mir zu und hielten mich in Bewegung. Shita schnappte ab und zu nach einer, nahm die Quälgeister aber gelassener hin als ich. Bei ihm mußten die Biester ja auch erst durch sein dickes Fell durch, während sie bei mir an den Händen und im Gesicht sofort zur Quelle vorstoßen konnten. Aber dann war die Warterei vorbei. Ich zuckte regelrecht zusammen, als drüben an dem Steg ein Mann auftauchte, dann noch einer und noch ein dritter. Einer sprang in das Boot und legte die Riemen in die Dollen. Die beiden anderen schienen auf etwas zu warten. Ja, noch zwei Männer erschienen. Sie stießen einen Mann in zerschlissener blauer Uniform vor sich her. Der Mann hatte eine Binde um den Kopf. Außerdem waren seine Hände auf den Rücken gefesselt. Das rohe Lachen der Kerle schallte zu mir herüber, als der Mann stürzte. Sie waren mit Karabinern bewaffnet und setzten die Kolben ein, um den gestürzten Mann wieder hochzuprügeln. Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg. Der Mann wurde in das Boot gestoßen, drei Kerle sprangen hinterher. Der Kerl am Land löste die Bootsleine und warf sie ins Boot, dann stieß er es ab. Der Kerl auf der Mittelducht begann zu rudern. Ich verließ kriechend mein Versteck und richtete mich erst auf, als ich sicher sein konnte, von drüben nicht gesehen zu werden. Dann lief ich über den Pfad zurück, umrundete den Korral und kroch hinter einen der gefällten Bäume. Ich konnte den Korral von hier aus gut überblicken und war nicht allzu weit vom Versteck meines Grauen entfernt. Knapp zehn Minuten später tauchten sie auf – drei Kerle und ihr Gefangener. Also ruderte einer jetzt das Boot wieder zurück zur Insel. Die Rangabzeichen wiesen den Gefangenen als Lieutenant aus. Ich erstarrte. Es mußte Lieutenant Frederic Warwick sein. Die Binde, die er um den Kopf trug, verbarg das linke Auge.
»Er ist jetzt einäugig, der Junge«, hatte der Colonel gesagt. Außerdem war er der einzige Lieutenant unter den neunundzwanzig gefangenen Offizieren. Ja, er mußte es sein. Wollten die Schweinehunde jetzt auch ihn ermorden? Jede Woche einen, hatten sie geschrieben. Aber die Woche war noch lange nicht um. Ich saß in der Zwickmühle: hierbleiben oder den drei Kerlen und ihrem Gefangenen folgen! Denn sie holten jetzt die Satteldecken, Sättel und Zaumzeug aus dem Blockhaus, fingen vier Pferde ein und begannen sie zu satteln. Ich beschloß, ihnen zu folgen. Denn jetzt war der Lieutenant gefährdet, nicht die achtundzwanzig Offiziere auf der Insel. Die Kerle planten einen neuen Schurkenstreich, und ihr Opfer würde zweifellos Lieutenant Warwick sein. Ich betrachtete ihn genauer. Er lehnte mit zusammengebissenen Zähnen am Gatter. Sein Gesicht war grau, hager und von Entbehrungen gezeichnet. Aber er trug den Kopf aufrecht, und das bewies, daß sie ihn noch nicht gebrochen hatten. Dieser Lieutenant schien ganz der würdige Sohn seines eisernen Vaters zu sein. Ein zäher, harter Bursche. Sein gesundes Auge wanderte umher, als suche er nach einer Möglichkeit, abzuhauen. Dann entdeckte er meine Stiefelspuren. Sehr langsam drehte er den Kopf und schaute zu mir herüber. Ich war überzeugt, daß er mich nicht sehen konnte. Oder hatte er einen sechsten Sinn? Ich bewegte ganz kurz und knapp einen beblätterten Ast rechts von mir. Er nickte unmerklich, drehte sich gleichgültig wieder um und mir den Rücken zu. Ich sah, daß er sich über meine Spuren bewegte und sie verwischte, indem er die Absätze schleifen ließ. Er tat das sehr geschickt. Die drei Kerle merkten nichts. Sie waren sich ihrer Sache zu sicher. Als sie gesattelt hatten, brüllte einer von ihnen, ein schnauzbärtiger Gorilla, den Lieutenant an: »He, Yankee, steig in den Sattel! Es wird dein letzter Ritt sein, du gottverdammter Hurensohn!«
»Da müssen Sie mir schon helfen«, sagte der Lieutenant ruhig. Seine Stimme klang so ähnlich wie die seines Vaters. »Mit auf den Rücken gefesselten Händen dürfte wohl noch keiner auf ein Pferd gestiegen sein.« »So? Hier noch schlaue Reden führen, wie, unsereinen belehren wollen, was?« Der Gorilla schlug von unten herauf gemein zu. Seine Faust prallte in den Magen des Lieutenants. »Setzt ihn auf den Gaul«, sagte der Gorilla zu den beiden anderen Galgenvögeln. »Oder soll ich das vielleicht tun?« Sie rissen den Lieutenant hoch, schleppten ihn zu dem Pferd und stemmten ihn in den Sattel. Seine Füße wurden unter dem Pferdeleib zusammengebunden. Ich hätte die drei Kerle bequem einzeln abschießen können. Aber die Schüsse wären auf der Insel gehört worden. Noch waren auch mir die Hände gebunden. Außerdem hatte ich Skrupel, aus dem Hinterhalt zu feuern. Sie kletterten auf ihre Pferde und ritten hintereinander über einen Pfad, der am Blockhaus vorbei nach Südwesten zu führen schien. Ich wartete, bis ich ihren Hufschlag nicht mehr hörte, lief zu meinem Grauen, schwang mich in den Sattel und folgte den Kerlen.
8. Sie campierten abseits des Trails nach Langview in einer Mulde, die von Buschwerk umstanden war. Vielleicht war es für den Mord an dem Lieutenant noch zu früh, vielleicht wollten sie sogar in der Nacht noch nach Longview reiten, um die Leiche vor dem Stabsquartier abzulegen. Jetzt jedenfalls hatten sie erst einmal ein kleines Feuer entfacht und brühten in einem Kessel Kaffee auf. Ich hatte den Grauen zurückgelassen und mich zusammen mit Shita an die Mulde herangepirscht. »He, Yankee!« sagte der Gorilla – er saß mit dem Rücken zu mir. »Was meinst du, zahlt dein Alter, wenn wir ihm deine Leiche frei Haus liefern?« Das war es also. Ich hatte richtig vermutet. Und sie wußten, daß
der Colonel für die Zahlung zuständig war. Von wem? Der Lieutenant lag abseits des Feuers. Er schwieg. Was sollte er auch sagen? »Ich hab dich was gefragt, du Bastard!« stieß der Gorilla hervor. »Und wenn ich etwas frage, wird gefälligst geantwortet, ist das klar?« »Ich wüßte nicht, was ich auf Ihre Frage antworten sollte«, sagte der Lieutenant. »Wie ich meinen Vater kenne, wird er Ihnen was pfeifen. Wahrscheinlich hat er längst begriffen, daß Sie gar nicht die Absicht haben, bei Zahlung des Lösegeldes die Offiziere freizugeben.« »Weißt der Teufel, das haben wir auch nicht.« Der Gorilla lachte. »Wir werden sie an die Alligatoren verfüttern. Wie findest du das, Yankee?« »Typisch für Dreckskerle wie euch. Ihr habt bei Quantrill eine Menge gelernt, wie?« »Der reißt schon wieder die gottverdammte Offiziersschnauze auf«, sagte einer der beiden anderen. »Wenn wir ihn hinmachen, sollten wir ihm das Maul voll Pulver stopfen und dann anzünden.« »Gute Idee«, sagte der Gorilla. »Das hätten wir schon bei Campbell tun sollen.« Er stocherte mit einem Ast in dem Feuer, ließ ihn anbrennen und zog ihn zurück. Als er nur noch glühte, stand er auf und trat zu dem Lieutenant. »Los, Männer«, sagte er zu den beiden anderen, »haltet ihn mal fest, ich will ihm noch ein Brandmal verpassen, einen Stern auf die Brust, nein, vier! Und dann ernennen wir ihn zum Vier-Sterne-General!« Grölend lachte er über seinen gemeinen Witz. Die beiden anderen sprangen auf. Ich stieg die Mulde hinunter und sagte: »Das würde ich nicht tun.« Alle drei wirbelten zu mir herum. Ich blieb stehen und wartete. Neben mir knurrte Shita. Der Gorilla duckte sich. »Hast du uns belauscht, Freundchen?« »Ja«, sagte ich, »aber schon oben am Korral beim Caddo Lake.« »Und nun bist du lebensmüde, wie?« sagte der Gorilla. Seine Rechte kroch langsam zum Holster. »Das hatte Henry Jeffers auch gedacht, aber jetzt ruht er mit einem
Loch im Kopf drei Handbreiten unter der Erde. Der andere, der auf der Ranch bei ihm war, übrigens auch. Wenn Sie ziehen wollen, bitte sehr. Ich stehe zur Verfügung. Besser wäre es für Ihre Gesundheit, aufzugeben und abzuschnallen.« Ich zermürbte ihn, und er wurde unsicher. »Der blufft doch nur«, sagte einer der beiden anderen. »Probiert's aus!« sagte ich kalt. Als die Augen des Gorillas aufglühten, wußte ich, daß es soweit war. Shita wußte es auch. Er flog wie ein Schatten an mir vorbei über das Feuer weg und sprang wild knurrend einen der Kerle an. Ich warf mich zur Seite, zog und schoß. Der Gorilla brach zusammen und feuerte durch sein Halfter in die Erde. Shita hatte seinen Mann, den er angesprungen hatte, zu Boden gerissen. Ich schwenkte den Colt auf den dritten und zog durch. Der Kerl stolperte und kippte ins Feuer. Da er nicht brüllte, mußte er tot sein. Seine Rechte zuckte, aber das auch nur, weil sie in der Glut lag und die fünf Patronen in der Kammer entzündet wurden. Es krachte wie Trommelfeuer. Ich stand auf und hatte wieder einmal überlebt. Die drei Kerle nicht. Bei dem einen hatte Shita zugebissen – wie bei dem Kerl auf der Ranch: »Mein Gott«, murmelte der Lieutenant, »so was habe ich noch nicht gesehen. Wer sind Sie? « »Ronco«, sagte ich und erneuerte die Patronen in meinem Colt. »Ich arbeite für Ihren Vater, Lieutenant.« Ich stieß den Colt ins Halfter, holte mein Messer aus dem Stiefelschaft, trat zu dem Lieutenant und zerschnitt seine Fesseln. »Alles klar bei Ihnen?« »Denke schon.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Jetzt ist der Kaffee hin. Meinen letzten habe ich vor über einem Jahr getrunken – bevor ich in Gefangenschaft geriet.« »Ich bereite neuen. Bitte sammeln Sie die Waffen der Kerle ein, dort die Spencer-Karabiner und die beiden Colts. Ein Colt ist wohl hinüber.« Er nickte und stand auf. Ich zog den Kerl aus dem Feuer und schleppte ihn die Mulde hoch, die beiden anderen auch. Am Rande der Mulde grub ich sie ein. Dann holte ich den Grauen und kümmerte
mich um das Feuer, um neuen Kaffee aufzubrühen. Als er zog, nahm ich die Karte, aus der Satteltasche, breitete sie aus und verglich die Entfernungen von unserem ungefähren Standort hier zum Caddo Lake und nach Longview. Die Strecke nach Longview war weiter als bis zum Caddo Lake. Das war entscheidend, und jetzt würde ich Victoria einsetzen. Heute abend gab's kein Gutenachtküßchen. Ich schnitt einen winzigen Zettel zurecht, nahm einen Bleistift und schrieb in kleinen Druckbuchstaben auf den Zettel: »Caddo Lake – Planquadrat 13, links unten – Insel – Ronco.« Ich faltete den Zettel zusammen, stopfte ihn in die Hülse, holte die Lady aus ihrem Körbchen, befestigte die Hülse an ihrem rechten Bein, streichelte das Tier und sagte: »So, und jetzt zisch ab, Victoria! Zeig, was du kannst!« Ich warf sie aus den gewölbten Händen hoch, sie stieg flattern weiter, flog über uns einen Kreis und strich mit pfeifendem Flügelschlag nach Westen ab. Die Richtung war richtig. Lieutenant Warwick hatte mir schweigend zugeschaut. Ich goß heißen Kaffee in eine Blechtasse und reichte sie ihm. Außerdem erhielt er Brot, Wurst und Speck aus meinem Proviantsack. Ich aß gleichfalls etwas. Sein eines Auge macht mich etwas nervös. »Lieutenant«, sagte ich und unterbrach unser Schweigen, »ich stecke in der Sache drin, seit Captain Campbell erschossen wurde. Ich fand ihn sterbend und brachte ihn nach Marshall. Dort traf ich auf Ihren Vater. Er kannte mich vom Hörensagen – ich war bei der Unionsarmee Zivilscout gewesen. Er erzählte mir diese ganze Geschichte und bat mich, für ihn zu arbeiten. Mehr Details jetzt zu erzählen, würde zu weit führen. Ich hatte Glück, daß ich die Insel entdeckte. Ich will noch in dieser Nacht hinüber und die achtundzwanzig Offiziere herausholen.« »Wahnsinn«, sagte er, »das schaffen Sie nie.« »Lieutenant«, sagte ich sanft, »halten Sie mich bitte nicht für überheblich oder übergeschnappt. Aber ich stehe jetzt unter dem Zwang, handeln zu müssen, und zwar deswegen, weil diese drei Kerle tot sind. Man wird sie in dieser Nacht zurückerwarten. Aber, wie gesagt, sie sind ja tot. Spätestens im Laufe des morgigen
Vormittags wird man auf der Insel daraus schließen, daß etwas schiefgelaufen ist. Und dann werden die Kerle eine Hölle entfesseln. Aus diesem Grunde muß ich noch in dieser Nacht handeln, denn noch ahnen die Kerle nicht, daß ihr Schlupfwinkel entdeckt wurde. Ich habe vorhin mit der Brieftaube Ihrem Vater die Nachricht geschickt, in welchem Planquadrat die Insel genau liegt. Er wird also auch noch in dieser Nacht mit der Truppe aufbrechen und zum Caddo Lake reiten. Allerdings hoffe ich, bis zum Zeitpunkt seines Eintreffens die Offiziere bereits befreit zu haben.« »Ich begleite Sie«, sagte der Lieutenant. »Noch ein Wahnsinniger, wie?« Ich grinste ihn an. »Ihr Wahnsinn hat Methode«, sagte er. »Außerdem kenne ich die Insel, also braucht der Scout einen Scout, nicht wahr?« »Das ist richtig, aber Sie könnten mir andererseits auch helfen, indem Sie Ihrem Vater entgegenreiten und ihn dann zum Caddo Lake führen. Was halten Sie davon?« Er überlegte nur einen Moment und sagte dann knapp: »Nein, ich lasse meine Kameraden nicht im Stich.« Das war eine feine Antwort, das gleiche hätte »der Eiserne« auch gesagt. Ich nickte ihm zu. »Gut, in Ordnung, Lieutenant. Fühlen Sie sich stabil genug für die nächsten Stunden?« »Ihr Kaffee weckt Tote, Ronco«, sagte er. Der Blick seines einen Auges wanderte zu den drei Spencer-Karabinern. »Mit den Dingern war meine Einheit vor einem Jahr noch nicht ausgerüstet. Ein Repetiergewehr, nicht wahr?« Ich holte einen Karabiner und erklärte ihm die Waffe. Dann sagte ich: »Wie viele Kerle bewachen die Insel?« Er dachte kurz nach und erwiderte: »Jetzt noch fünfzehn.« »Wer ist der Boß?« »Das haben wir auch überlegt«, sagte er, »denn keiner der Kerle hat das Format, eine solche Erpressung zu starten. Irgendein Mann im Hintergrund zieht die Fäden und hat diesen Coup geplant. Zuerst hatten wir nur gedacht, wir würden in ein anderes Camp verlegt. Dann trat Jeffers auf und verhörte uns nach allen Regeln der Kunst. Dabei ließ er dann im Laufe der Zeit durchblicken, um was es
wirklich ging. Als der Krieg zu Ende war, wußten wir, daß der Erpressungsplan nunmehr in die Tat umgesetzt würde. Nein, den Mann im Hintergrund kennen wir nicht. Jeffers kommandierte zwar die Kerle und war deren Boß, mehr aber nicht.« »Wie sind die Offiziere auf der Insel untergebracht?« »In Erdhütten.« »Gefesselt?« »Nein, das nicht. Aber wir hätten nie eine Chance gehabt, die Kerle zu überrumpeln. Von den jetzt noch achtundzwanzig Offizieren sind mindestens fünfundzwanzig so entkräftet oder laborieren noch an ihren Verwundungen, daß es unmöglich gewesen wäre, mit Fäusten und Knüppeln eine Rebellion zu entfesseln. Campbell und ich als der Jüngste waren noch die Kräftigsten. Aber gegen bisher achtzehn schwerbewaffnete und zu jeder Schandtat bereite Verbrecher und Killer zu kämpfen, das hätten wir auch nicht gewagt. Unsere einzige Chance lag im Durchhalten und Hoffen. Einige haben Sumpffieber, alle sind unterernährt.« Er schüttelte den Kopf. »Es wäre Selbstmord gewesen. Und eine Flucht von der Insel schied wegen der Reptilien aus.« »Werden die Erdhütten bewacht?« »Lediglich von einem Posten, der alle vier Stunden abgelöst wird. Die Kerle hausen in einem Blockhaus, das wir errichten mußten. Das Ding ist eine kleine Festung.« Ich dachte nach, weil mich etwas störte. Dann fiel es mir ein. »Was ist mit dem Boot am Steg? Das wäre doch eine Fluchtmöglichkeit gewesen.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Das ist nachts angekettet. Der Schlüssel befindet sich in der Blockhütte.« »Mist«, murmelte ich, »das Boot brauchen wir unbedingt, um alle Offiziere an Land zu bringen. Läßt sich die verdammte Kette nicht irgendwie sprengen? Ist sie an einem Pfahl oder am Steg befestigt?« »An einem Pfahl«, erwiderte der Lieutenant. »Dann müssen wir eben den Pfahl aus dem Untergrund wuchten«, sagte ich grimmig. »Irgend etwas wird mir schon einfallen. Wann lösen die Posten ab?« »Acht Uhr, zwölf Uhr um Mitternacht, vier Uhr und wieder acht
Uhr.« »Dann werden wir um halb vier landen, den Posten ausschalten und um vier auch seine Ablösung ins Reich der Träume schicken«, sagte ich. »Für Sie gibt's wohl nie Schwierigkeiten, wie?« »Lieutenant«, sagte ich, »einen Teil meiner Jugend, einen entscheidenden Teil wohlgemerkt, verbrachte ich bei den Apachen. Bei ihnen lernte ich das, was ein Mann braucht, um überleben zu können.« »Und wo lernten Sie das Schießen aus der Hüfte?« »Bei einem Eisenfresser von Marshal, der wildgewordene Städte zähmte, aber dann von hinten erschossen wurde.« »Wie alt sind Sie?« »Raten Sie mal.« »Fünfundzwanzig etwa. Vielleicht älter.« »Achtzehn«, sagte ich erbittert und stand auf. »Der Zahn der Zeit, Lieutenant. Ich habe bisher immer um mich schlagen müssen, um zu überleben. Für mich war mein ganzes bisheriges Leben die Insel, auf der Sie und die anderen Offiziere im Dahinvegetieren Ihre einzige Chance sahen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich alt aussehe oder mal eben aus der Hüfte Männer erschieße, verdammt, auch ich habe meine Hölle und wünschte mir nichts anderes als Frieden und noch einmal Frieden. Aber da mußte ich Ihrem Alten ausgerechnet in die Quere laufen – Scheißdreck!« Ich wandte mich ab, zertrat das Feuer, sammelte meine Sachen auf und ging zu meinem Grauen. »Sie sind ein feiner Kerl, Ronco«, sagte der Lieutenant hinter mir. »Wie immer hat sich mein Alter den Richtigen ausgesucht, um Unmögliches zu schaffen. Ich bin froh – entschuldigen Sie dieses läppische Wort –, daß er mich nicht als Leiche zu sehen braucht. Dafür möchte ich Ihnen danken.« Ich drehte mich zu ihm um und starrte in sein eines Auge. Dieses eine fürchterliche Auge zwinkerte mir zu und ließ meine Wut zerfließen. Ich hatte noch beide Augen, und an mir war alles heil – bis auf die Empfindlichkeit. »Schon gut, Lieutenant, Sir«, murmelte ich, wandte mich wieder
um und zog die Sattelgurte dicht. Über die Schulter sagte ich: »Sie haben vier Pferde zur Auswahl, suchen Sie sich eins aus, wenn möglich das zäheste, denn ich habe nicht die Absicht, auf diesem Ritt herumzutrödeln.« »Aye, aye, Sir«, sagte dieser verdammte Lieutenant und erinnerte mich dabei an den alten Kapitän Harvest, bei dem ich mir meine Seebeine geholt hatte. »Ich nehme das Pferd des Kerls, der wie ein Gorilla ausgesehen hat.« Das war eine gute Wahl. Der Lieutenant hatte Pferdeverstand, alles, was recht ist. Und dann jagten wir los.
9. Die Brieftaube Victoria erreichte um neun am Abend Longview und fiel in ihren Heimatschlag ein. Es war Sergeant Matthews, der zunächst in provisorischer Vertretung die Tauben des kleinen Corporals übernommen und zu betreuen hatte. Und genau zu dieser Zeit befand er sich in dem Taubenschlag, den Corporal Gibbons auf dem Dachboden der ehemaligen Schule eingerichtet hatte. Er sah, wie die Taube Victoria durch das Dachfenster huschte und in ihren Schlag schlüpfte. Er öffnete die hintere Klappe und holte Victoria heraus. Victoria gurrte und blinzelte zu dem Sergeant hoch, der ja nun nicht der Corporal Gibbons war. Und da wurde sie etwas unruhig. »Ruhig, alte Tante«, sagte der Sergeant, »ganz ruhig. Laß mal sehen, was du zu melden hast.« Er wußte, daß diese Taube als einzige von den fünfzehn Brieftauben im Schlag dem Scout Ronco mitgegeben worden war. Und jetzt hatte sie offensichtlich eine Meldung gebracht – der Colonel hatte ihn darauf hingewiesen, daß er über Victoria eine Nachricht des Scouts erwarte. Er löste die Hülse von dem rechten Bein Victorias und schob sie in den Schlag zurück. »Eine Nachricht?« fragte hinter dem Sergeant eine Stimme.
Der Sergeant drehte sich um. In der Tür des Dachbodens stand Captain Willard und lächelte freundlich. »Jawohl, Sir«, erwiderte der Sergeant. »Geben Sie her«, sagte der Captain und streckte die rechte Hand aus. Der Sergeant starrte ihn an. »Sir«, sagte er steif, »haben Sie den Befehl des Colonels vergessen? Er ordnete an, daß ihm Nachrichten der Brieftaube Victoria nur persönlich auszuhändigen wären.« »Genau das wollte ich tun«, sagte der Captain. »Ich auch«, sagte der Sergeant, »also brauchen Sie sich nicht zu bemühen, Sir. Der Colonel erwartet auch gar nicht, daß sich sein Adjutant um die Brieftauben kümmert, das ist meine Aufgabe, und die nehme ich wahr, wie sie mir der Colonel befohlen hat.« »Und was hat er befohlen, mein Lieber?« Der Sergeant runzelte die Stirn. »Er hat befohlen, daß ich, der Sergeant Matthews und kein anderer, ihm die Nachrichten zu übergeben habe. Sie waren in seinem Befehl nicht erwähnt, Captain, Sir. Tut mir leid, aber ich halte mich an den Befehl des Colonels.« »Dann sind Sie ein gottverdammter Narr!« zischte der Captain und zauberte eine Derringer-Pistole hervor, die er auf den Sergeant richtete. »Her mit der Hülse, oder Sie sterben eines plötzlichen Todes!« »Wie Gibbons, wie?« Der Sergeant blieb völlig ruhig, »Der Colonel hatte also doch seine Gründe, daß er Sie unerwähnt ließ. Ich hatte ihn sogar noch danach gefragt, ob ich Ihnen eventuell eintreffende Nachrichten der Brieftauben aushändigen dürfte. Aber das hatte er verneint. Vielleicht weiß er sogar schon, daß Sie Dreck am Stecken haben, Captain, Sir.« Der Captain Willard war schneeweiß im Gesicht. »Treten Sie zurück, Sie gottverdammter Narr, zurück an die Taubenschläge.« »Und dann?« fragte der Sergeant, während er zurückwich. Der Captain lächelte kalt und griff nach einer der Zeltbahnen, die von den Dachbalken hingen und mit denen die Taubenschläge während der Nacht abgedunkelt wurden. Er knüllte mit der Linken die Zeltbahn zusammen.
»Dann«, sagte er höhnisch, »erhalten Sie ein Stückchen Blei. Dabei wird die Zeltbahn den Schuß dämpfen. Keiner wird etwas hören, mein lieber Sergeant, das funktioniert nahezu lautlos …« »Wie mit einem Messer, nicht wahr, Sie Scheißkerl?« Der Captain kicherte. »Ah, Sie spielen auf die letzten Worte dieses dummen, kleinen Idioten an, nicht wahr? Aber zu Ihrer Kenntnis – den übernahm mein Freund, während ich den Zwerg zur Rede stellte, warum er hinter mir herspioniere. Schließlich führt es ja doch wohl etwas zu weit, wenn kleine Corporale sich anmaßen, hinter einem Captain herzuschnüffeln, mein Lieber.« »Der Teufel ist ihr Lieber«, knurrte der Sergeant und warf sich zu Boden. Über ihn weg krachte der Schuß der Derringer. Und dann krachte noch ein Schuß, und der Captain flog vornüber und landete auf dem Sergeant. Der wälzte sich herum und schlug dem Captain die Faust ins Gesicht. Dieses Gesicht war verzerrt, und die Augen in diesem Gesicht waren schon blind, denn der Tod hatte sie gelöscht. »Bist du in Ordnung, Sergeant?« fragte der Colonel und beugte sich zu ihm hinunter. In der Rechten hatte er einen SpencerKarabiner, aus dessen Lauf eine sich kräuselnde Pulverfahne stieg. Der Sergeant ächzte und sagte: »Sie haben Nerven, Colonel, Sir. Hätten Sie diesem verdammten Hund nicht eher eine verplätten können? Ich sah Sie in der Bodentür, als der Kerl auf mich zurückte und die Plane vom Dachbalken angelte. Und dann dachte ich, verdammt noch mal, daß ich zweimal erschossen werde – von dem Captain und von Ihnen.« Der Colonel grinste. »Du hast dich doch hingeworfen, Junge. Meinst du vielleicht, ich hätte geschossen, als du dich in der Schußlinie befandest? Da kennst du mich schlecht.« Der Colonel wuchtete den Toten weg und half dem Sergeant hoch. »Sir«, sagte der Sergeant, als er stand, »woher wußten Sie eigentlich, daß hier auf dem Dachboden etwas fällig war?« Der Colonel seufzte. »Aus den Papieren.« Sergeant Matthews riß die Augen auf. »Aus den Papieren? Aus was für Papieren?«
»Aus den Personalakten, mein Junge. Den besten Riecher hatte Ronco, dieser verdammte Himmelhund. Der sagte, ich solle alle Offiziere, Sergeants und Corporale aus meinem Haufen überprüfen. Also fing ich mit den Offizieren an – und wurde bereits bei Willard stutzig, weil aus dessen Personalakte hervorging, daß er in Montgomery, Alabama, geboren wurde. Und Zufall oder nicht Zufall, genau zu Kriegsbeginn trat er als Lieutenant auf die Seite der Nordstaaten über, was damals viele Offiziere taten. Wahrscheinlich werden wir nie ergründen, ob er in den Kriegsjahren für oder gegen uns gearbeitet hat. Aber eins steht fest: zum Kriegsende hin muß er ein Bombending geplant haben – hier auf dem Dachboden hat er sich demaskiert. Ich wurde aufmerksam, als ich an einem Fenster zum Hof stand und sah, daß er plötzlich wie ein Verrückter – er hatte sich auf dem Hof befunden – hochstarrte, hier in die Schule stürzte und die Treppen zum Dachboden emporraste. Ich folgte ihm und hörte alles mit.« »War der Captain ein Spion?« fragte der Sergeant entsetzt. »Wahrscheinlich, mein Junge. Und nun gib mir mal die Hülse von der alten Victoria. Ronco muß etwas entdeckt haben.« Der Sergeant überreichte dem Corporal die kleine Metallhülse. Der Colonel öffnete sie und fischte das Zettelchen heraus. Er entfaltete es und las. Dann starrte er den Sergeant an, murmelte: »Dieser Teufelsbraten!« und fegte wie ein geölter Blitz vom Dachboden weg hinunter in sein Dienstzimmer. Fünf Minuten später sattelten zwanzig ausgesuchte Kavalleristen ihre Pferde, empfingen scharfe Munition und verließen unter der Führung des Colonels Longview. Sie ritten ostwärts. Der Sergeant Matthews war auch dabei, der Soldat Myers allerdings nicht. Und der Sergeant Matthews dankte seinem lieben Herrgott, daß es einen Colonel Warwick gab, der ihm an diesem Abend das Leben gerettet hatte – und eben nur schoß, wenn sich kein Soldat der Unions-Armee in der Schußlinie befand. Und in einem solchen Falle sorgte dann der Colonel, den sie den »Eisernen« nannten, für einen sauberen Blattschuß. *
In der dritten Morgenstunde erreichten der Lieutenant und ich den Korral am Caddo Lake. Die Pferde der drei toten Guerillas hatten wir mitgenommen, ihre Waffen natürlich auch. Unter Umständen brauchten wir sie. Drüben auf der Insel war alles ruhig. Etwas Dunst lag über dem schlafenden See. Das war günstig für uns, wenn wir übersetzten. Ich beschloß auch, nicht bei der Stelle zu landen, die ich mir gemerkt hatte, sondern direkt an den Steg heranzufahren, und setzte das dem Lieutenant auseinander. »Mann«, sagte er, »ist das nicht verdammt riskant?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht riskanter, als wenn wir woanders landen würden, im Gegenteil. Falls der Posten zufällig beim Steg ist, wird er uns sehen und denken, daß zwei von seinen Kumpanen zurückkehren. Wenn wir dagegen eine andere Stelle ansteuern, wird er mit Recht mißtrauisch. Ist doch klar, oder?« »Sie denken an alles, wie?« »Das hoffe ich.« Wir kletterten zum Boot hinunter, verstauten die Waffen, ich hob Shita hinein, der nicht fehlen durfte, half dem Lieutenant ins Boot, löste die Leine, stieß ab und jumpte hinterher. »Soll ich rudern?« flüsterte der Lieutenant. »Nein, halten Sie einen Karabiner bereit. Ich übernehme die Riemen.« Ich setzte mich auf die Mittelducht, legte leise die Riemen in die Dollen und ruderte los. Der Lieutenant saß auf der Heckducht mir gegenüber. Sein Gesicht war noch hagerer geworden. Ich starrte auf sein eines Auge und dachte, hoffentlich sieht er auch was, falls es hinter mir Stunk gibt. Und wenn es Stunk gab und die Kerle auf das Boot feuerten, dann war das unsere letzte Kahnfahrt. Ich spähte nach links und rechts, sah aber keine »Baumstämme«. Vielleicht pennen die, dachte ich, und hoffte das gleiche von dem Posten. Um diese Zeit waren Posten nie sehr wachsam, damit tröstete ich mich. Ich warf einen Blick über die Schulter, korrigierte den Kurs und ruderte gleichmäßig weiter.
Vier Minuten später glitt das Boot an den Steg. Ich hielt es fest, während der Lieutenant die Waffen auf den Steg legte, Shita hinaushob und selbst das Boot verließ. Er schlang die Vorleine um einen Pfosten. Ich stieg aus, ging zu dem anderen Schloß, bückte mich und betrachtete die Kette. Sie war mit einem dicken, stabilen Schloß abgesichert. In diesem Moment hatte ich die Idee, sagte aber nichts zu dem Lieutenant. Ich drehte mich zu ihm um. »Wo pflegt sich der Posten aufzuhalten?« flüsterte ich. Er winkte mir zu, ihm zu folgen. Jetzt übernahm er die Führung. Wir huschten an Buschwerk und Bäumen vorbei über einen Trampelpfad, der ins Innere der Insel führte. Er endete an einer Lichtung, auf der ich undeutlich vereinzelte Buckel sah – die Dächer der Erdhütten. Der Lieutenant deutete nach halbrechts. Abseits der Lichtung, ganz hinten, zwischen den Bäumen entdeckte ich die Umrisse der Blockhütte. Sie lag auf einem Hügel und hatte schießschartenähnliche Fenster. Und dann entdeckte ich den Posten, diesen verdammten Hund. Er hockte an einem Baumstamm rechts von uns, den Karabiner über den Knien, den Kopf auf der Brust, Er tat das, was ein Posten nicht tun sollte – er schlief. Ich stieß den Lieutenant an, grinste und deutete zu dem schlafenden Kerl. »Bleiben Sie hier«, sagte ich. »Den übernehme ich. Wenn ich ihm ein Schlafmittel verpaßt habe, huschen Sie zu den Erdhütten und holen Ihre Leute heraus. Geben Sie den Kräftigsten die Waffen. Dann schleichen Sie sofort zu den Booten. Ich übernehme solange Ihre Deckung und sichere Sie zu dem Blockhaus ab, klar?« Er nickte. O Gott, sein eines Auge glühte direkt. »Wer von Ihnen Krach verursacht, dein schlage ich die Zähne ein«, flüsterte ich grimmig, »sagen Sie das Ihren Leuten, verstanden?« Wieder nickte er und schluckte. Ich zog meinen Colt, huschte zu dem Posten und schlug ihm den
Griff auf den Hut. Es klappte reibungslos. Er kippte im Sitzen vornüber und blieb so liegen. Ich winkte dem Lieutenant, aber der flitzte bereits zu den Erdhütten und verschwand in einer. Dann hörte ich das Tuscheln bis zu mir und knirschte mit den Zähnen. Aber das Tuscheln brach abrupt ab, und ich atmete auf. Beim Blockhaus rührte sich nichts. Mann, waren diese Kerle leichtsinnig. Sie wollten dreißig Millionen Dollar kassieren, aber dafür taten sie herzlich wenig – bis auf die beiden Morde. Das Morden war für sie wohl leichter, als eine Insel zu bewachen. Ich blickte wieder zu den Erdhütten. Fünf Männer huschten zu dem Trampelpfad. Wenigstens jetzt waren sie leise, die nächsten folgten – und noch mehr. Der Posten stöhnte und bewegte sich. Ich beugte mich zu ihm nieder und hielt ihm das Maul zu. »Was …« brabbelte er. Ich riß ihn hoch und drückte ihm den Colt in den Magen. Er klapperte mit den Augen und öffnete sie. Entsetzt stierte er mich an. »Wenn du schreist, ziehe ich durch, und du hast ein Loch im Bauch!« zischte ich ihn an. »Dreh dich um!« Er drehte sich um. »Vorwärts, zur Blockhütte! Wir holen jetzt den Schlüssel für die Bootskette. Vergiß nicht, daß du ein toter Mann bist, wenn du Zicken versuchst. Ab jetzt!« Ich stieß ihn mit dem Colt an. Er marschierte los, und ich folgte ihm. Es war verwegener Wahnsinn, was ich da tat, aber es war die schnellste und einfachste Möglichkeit, an den Schlüssel zu gelangen. Das war mir vorhin auf dem Steg eingefallen. Es war wirklich ganz einfach. Die Kerle in der Blockhütte schnarchten um die Wette. Der Schlüssel hing an einem Haken links neben der Tür. Ich übernahm ihn. »Weck deine Ablösung!« flüsterte ich dem Kerl ins Ohr und stieß wieder mit dem Colt zu, um ihn zu ermuntern.
Er tappte zu einer Pritsche, während ich mich an die Tür drückte. Notfalls würde ich die ganze Bude zusammenschießen. »Mac!« sagte der Kerl. »Du bist dran, steh auf!« Der Kerl kehrte tatsächlich zu mir zurück. Ich sah, daß er am ganzen Körper zitterte. Viel Mumm hatte der nicht. Ich winkte ihm zu, das Blockhaus zu verlassen. Er schlich an mir vorbei nach draußen. Ich lehnte die Tür an, folgte ihm, stieß ihn nach rechts und schlug ihm jetzt mit aller Kraft den Coltgriff an den Schädel. Als er umkippte, fing ich ihn auf und schleifte ihn seitwärts ins Gebüsch. Das geschah alles innerhalb von Sekunden. Ich mußte etwa vier Minuten warten. Dann erschien Mac in der Tür, gähnte, murmelte etwas Unverständliches, klemmte sich den Karabiner unter den Arm und setzte sich in Bewegung. Da war ich schon hinter ihm und schlug wieder zu. Ihn packte ich unter ein anderes Gebüsch, zog ihm den Gürtel aus den Schlaufen und fesselte ihn. Das gleiche tat ich auch mit dem anderen Posten. Außerdem erhielten beide beste Knebel. Gut, das war erledigt. Ich lief zu den Erdhütten. Der Lieutenant tauchte vor mir auf, den Karabiner in den Fäusten. Neben ihm erschien ein anderer Offizier, ein Major, gleichfalls mit einem Karabiner bewaffnet. »Mein Gott«, flüsterte der Lieutenant, »ich hab's gesehen. Sie waren in der Hütte, sind Sie wahnsinnig?« »Ich hab den Schlüssel geholt«, sagte ich. »Sind alle Offiziere beim Steg?« Er nickte. »Dann vorwärts, hier ist der Schlüssel. Lassen Sie übersetzen, dalli-dalli. Aber überladen Sie die beiden Boote nicht. Wenn Sie die ersten drüben abgesetzt haben, kehren Sie sofort zurück, um den Rest zu holen. Sie, Major, bleiben bei mir!« »Geben Sie hier die Befehle?« fragte er. »Allerdings. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann verschwinden Sie!« »Ich bleibe«, sagte er leise. »Gut. Nehmen Sie dort hinter der Erdhütte Deckung und behalten Sie das Blockhaus im Auge. Falls dort einer der Kerle auftauchen sollte, schießen Sie sofort. Können Sie mit dem Karabiner umgehen?
Es ist ein neues Modell.« »Ich bin Soldat«, sagte er beleidigt. »Das hatte ich angenommen«, sagte ich, »sonst wären Sie ja wohl auch nicht hier, nicht wahr?« Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, sondern lief zum Steg hinunter. Der Lieutenant war schon vorausgeeilt. Das erste Boot legte bereits ab. Bei dem anderen wurde gerade das Schloß aufgeschlossen. Im ersten Boot saßen acht Offiziere. In das andere stiegen ebenfalls acht. Na, das klappte ja ganz gut. Eine halbe Stunde später waren wir alle drüben. Jetzt saßen die Guerillas auf der Insel fest – in ihrem eigenen Gefängnis. So schnell würden sie es nicht schaffen, sich Flöße zu bauen, um zu verschwinden. * Als die Sonne durchbrach ritten wir auf den Trail zu, der nach Longview führte. Colonel Warwick ritt uns entgegen. Sage ja keiner was gegen unsere glorreiche Armee. Das Zeremoniell nahm seinen Verlauf. Das Krückengeschwader, das ich im Korral notdürftig verpflegt hatte, baute sich in einer Front auf, die hohen Dienstgrade am rechten Flügel, ganz links der Lieutenant. Sie standen alle kerzengerade – diese gottverdammten Offiziere mit ihren hohlwangigen, bleichen, bärtigen Gesichtern, einarmig, einbeinig, vernarbt. Ich marschierte auf den Colonel zu. »Sir«, sagte ich, »neunundzwanzig Millionen sind angetreten, neunundzwanzig Warwicks, keine Verluste!« Er salutierte eckig, glitt vom Pferd, ging an mir vorbei und schritt die Front ab, langsam, bedächtig, manchmal nickte er. Dann stand Warwick, der Eiserne, vor Warwick, dem Einäugigen. Er starrte in das eine Auge, und ich sah, wie sich die Wangenmuskeln des Colonels bewegten. Der Colonel ruckte wieder herum, kehrte zurück vor die Mitte der
Front und sagte: »Gentlemen, die Gefangenschaft ist für Sie zu Ende. Daß es so ist, verdanken Sie diesem Manne dort!« Er deutete mit dem Kopf zu mir. »Er, nur er hat das Leben von neunundzwanzig Offizieren gerettet. Sie stehen in seiner Schuld, Gentlemen, denn er hat für Sie sein Leben riskiert.« Das war mal eine feine Rede. Aber die Tränen kamen mir trotzdem nicht. Scheiß Armee, dachte ich …
ENDE
Vorschau Ronco stieß einen scharfen Schrei aus, glitt zur Seite und warf das Messer. Er bewegte sich blitzschnell, er mußte es, um zu überleben. El Indio, das Halbblut, erschrak für einen Moment. Wie ein silberner Blitz raste das Wurfmesser auf ihn zu. Die Colts El Indios krachten. Seine ersten beiden Schüsse verfehlten Ronco. Roncos Messer aber bohrte sich bis zum Heft in El Indios Halsansatz. Aber der Mann fiel nicht. Seine Revolverläufe schwangen herum. Ronco hechtete zu seinem Colt, der vor ihm auf dem Boden lag. Sein Daumen spannte den Hammer, er sah El Indios Mündungsfeuer auf sich zuzucken … Die Jagd auf Ronco geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 301 dieser großen deutschen Western-Serie:
El Indio