Als Geschenk - Der eigene Mann Catherine George
Julia Weihnachten 1/96
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von spacey
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Als Geschenk - Der eigene Mann Catherine George
Julia Weihnachten 1/96
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von spacey
Ein Jahr nach ihrer Trennung treffen sich Judith und Nick zu Weihnachten wieder. Werden sie endgültig auseina ndergehen oder sich versöhnen? Als Judith endlich erneut in Nicks Armen die Liebe genießt, weiß sie: Ihr Mann ist das schönste Geschenk!
1. KAPITEL Dunkelheit, heftiger Regen und zähflüssiger Verkehr. Und das einen Tag vor Weihnachten. Judith kniff die Augen zusammen. Das Spritzwasser der entgegenkommenden Lastwagen sprühte an die Windschutzscheibe und erschwerte die Sicht zusätzlich. Es wäre besser gewesen, sie wäre nicht zu der Weihnachtsfeier im Büro gegangen und schon gestern nach Longhope gefahren. Aber gestern hatte sie noch nicht die Absicht gehabt, das Weihnachtsfest bei ihrem Bruder und seiner Familie zu verbringen. Allein der Gedanke daran hatte fast unerträglich geschmerzt, weil die liebevolle, warme Atmosphäre auf der Farm ihr doch nur immer wieder die eigene Einsamkeit vor Augen führte. Dann, mitten in der fröhlich-hektischen weihnachtlichen Betriebsamkeit im Büro, hatte sie sich auf einmal unendlich einsam gefühlt. Daran war nur dieser Brief schuld gewesen. Die Sehnsucht nach der Geborgenheit im Schoß der Familie war so übermächtig geworden, daß sie ganz spontan ihre Schwägerin angerufen und sich für die Weihnachtstage angemeldet hatte. Margaret hatte sich über ihren Anruf gefreut und ihr gleich gestanden, daß sie und Hugh sich schon große Sorgen um sie gemacht hätten. „Das tut mir leid." Judith spürte, wie es ihr schon wieder ein klein wenig besser ging. „Aber ihr habt ohnehin schon genug zu tun, und eine zusätzliche Esserin ... Bist du ganz sicher, daß ich euch nicht störe?" „An Weihnachten auf einer Farm?" fragte Margaret ungläubig zurück. „Außerdem hilfst du mir ja bei der Arbeit." Es war der niederschlagreichste Dezember seit Jahren, und ganze Gebiete von Gloucestershire waren überflutet. Die Straße war zwar noch passierbar, aber an manche n Stellen, wo sie direkt neben dem Severn verlief, drohte unmittelbare Überschwemmungsgefahr. Es hieß, auf alles gefaßt zu sein. Aber Judith wollte sich nicht selbst verrückt machen. Zwar fiel der Regen in Strömen und machte das Fahren ziemlich unangenehm, aber ihr Kleinwagen war zuverlässig, und sie fuhr grundsätzlich vorsichtig. Die Fahrt würde einfach ein wenig länger als vorgesehen dauern. Sie hatte ja schon über eine Stunde gebraucht, bis sie die dreizehn Kilometer aus der Stadt hinaus hinter sich gebracht hatte. Die Autos bewegten sich vor dem letzten Kreisverkehr nur noch zentimeterweise vorwärts. Bald erkannte Judith auch den Grund dafür. Verkehrspolizisten in grellfarbener Regenbekleidung hielten jeden einzelnen Autofahrer an, um ihn nach seinem Fahrtziel zu fragen. „Tut mir leid, Miss", sagte der Beamte, als Judith Chepstow angab. „Die Straße dorthin steht teilweise unter Wasser. Mit dem Wagen kommen Sie auf keinen Fall durch. An Ihrer Stelle würde ich mit dem Zug fahren." Judith steuerte den Bahnhof an. Nachdem sie nun einmal den Entschluß gefaßt hatte, die Feiertage in Longhope zu verbringen, setzte sie auch alles daran, diesen Entschluß in die Tat umzusetzen. Und so war eine halbe Stunde später ihr Wagen in einem Parkhaus untergebracht, und sie hatte auch schon ihren Bruder Hugh angerufen, damit er sie am Bahnhof von Chepstow abholte. Der Regen fiel noch immer wolkenbruchartig vom Himmel, und Judith ging in die Snackbar, um die zwanzig Mi nuten Wartezeit bis zur Abfahrt ihres Zuges zu überbrükken. Ankunfts- und Abfahrtzeiten und die jeweils erwarteten oder tatsächlichen Verspätungen wurden auf einem Monitor angezeigt. Sie stellte sich für eine Tasse Kaffee an und setzte sich dann mit einer schreiend aufgemachten Boule vardzeitung, die jemand liegen gelassen hatte, auf einen Mauervorsprung. Der nächste Blick auf die elektronische Anzeigetafel ergab, daß der Zug nach Chepstow sich um zwanzig Minuten verspäten würde. Judith ergab sich in ihr Schicksal. Im nächsten Augenblick erstarrte sie. Die Tür unter der Zuganzeige schwang auf, und eine nur zu vertraute hochgewachsene schlanke Gestalt erschien darunter. Sie sah sich,
einer Panik nahe, nach einem Versteck um, aber zu ihrer Erleichterung ging Nicholas Campion geradewegs zur Bar, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu verschwenden. Sie stand leise auf, um unauffällig zu verschwinden, aber genau in diesem Moment drehte Nick sich - eine Tasse Kaffee in der Hand - um. Sein Blick blieb am auffälligen Rot ihres Regenmantels hängen, und einen kurzen Moment lang leuchteten seine Augen auf, nur um sofort wieder hart zu werden. Er kam zu ihr. „Na, so etwas", meinte er und hob ironisch die Augenbrauen. „Judith. Lange nicht gesehen. Was bringt dich denn hierher?" Judith schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Hallo, Nick. Nett, dich zu sehen. Ich versuche, mich nach Hause durchzuschlagen." „Nach Hause?" fragte er überrascht. „Ja. Nach Longhope." Nicks blaugrüne Augen wurden schmal. „Ich dachte, dieses Jahr wolltest du an Weihnachten nicht zur Farm fahren." Er wies auf zwei freie Stühle in der Ecke. „Wollen wir uns nicht setzen? Ich warte auch auf den Zug nach Chepstow. Es sieht so aus, als hätte er ziemlich viel Verspätung." Die Aussicht, Nicks Gesellschaft auch noch während der ganzen Zugfahrt ertragen zu müssen, kam wie ein Schock. Aber Judith setzte sich trotzdem gehorsam. Sie hatte immer schon getan, was Nick wollte - bis sie ihn verlassen hatte. „Ich wollte eigentlich mit dem Auto fahren", sagte sie, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen. „Aber die Straße steht unter Wasser, und es ist unmöglich durchzukommen. Deshalb habe ich mich entschlossen, den Zug zu nehmen." „Mir ging es genauso." Nick hatte mehr graue Strähnen in seinem schwarzen Haar als bei ihrem letzten Zusammentreffen, stellte Judith fest. „Ic h habe mir offenbar den denkbar ungünstigsten Tag für meinen Besuch in Pennington ausgesucht." „Wolltest du Weihnachtseinkäufe machen?" erkundigte Judith sich höflich. „Nein. Ich wollte zu dir", erwiderte Nick nach einer kleinen Pause. Judiths Herz setzte einen Schlag lang aus, aber ihre Miene blieb unbewegt. Warum? hätte sie ihn am liebsten gefragt. Was wolltest du von mir? Aber statt dessen sagte sie nur scheinbar mäßig interessiert: „Wann war das?" „Ungefähr um halb fünf Uhr." „Dann mußt du mich nur um ein paar Minuten verpaßt haben." Sie sahen sich an und dann wieder voneinander fort, bis Judith es nicht länger aushielt. „Warum wolltest du zu mir?" „Um dir schöne Weihnachten zu wünschen. Warum wohl sonst?" gab Nick sarkastisch zurück. Seine Antwort ärgerte Judith. Sie warf einen Blick auf die Zuganzeige. Noch zehn endlose Minuten bis zur Abfahrt. „Du hast dir die Haare schneiden lassen'", bemerkte er nach einer Weile. „Mir haben sie lang besser gefallen." Genau das war der Grund, warum sie sich für die neue Frisur entschieden hatte." „Und deine sind grauer geworden", sagte sie. „Das ist ja wohl kein Wunder", entgegnete er bitter, und wieder breitete sich angespanntes Schweigen zwischen ihnen aus, das von der lärmenden Betriebsamkeit der Bar merkwürdig unberührt blieb. „Wie geht es dir, Judith?" fragte Nick dann unvermittelt. „Ehrlich?" Sie sah auf die schwarzen Wildlederstiefel hinab, die sie sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte. „Gut. Ich bin inzwischen befördert worden." „Gratuliere." „Danke. Und du? Jettest du immer noch ständig in der ganzen Welt herum?" „Nicht mehr lange. Du weißt ja, daß Dad bald in Pension geht. Dann werde ich hier gebraucht." Judith sah ihn ein wenig spöttisch an. „Dann bist du also doch am Schreib-
tisch gelandet? Du überraschs t mich." „Ich wundere mich selbst. Aber ich glaube, im Grunde war mir immer klar, daß es so kommen würde." „Schade, daß du davon nie ein Wort gesagt hast." „Findest du?" gab er zurück und sah ihr in die Augen. „Was finde ich?" „Daß das schade ist. Hätte es denn etwas geändert, wenn ich meine Auslandsreisen früher aufgegeben hätte?" „Wahrscheinlich nicht." Judith wandte sich von ihm ab und sah auf den Anzeigemonitor. „Ich gehe schon einmal nach draußen. Der Zug muß jeden Moment kommen." Auf dem Bahnsteig war es zugig, die Luft war naß und kalt. Als der Zug endlich einfuhr, war Judith halb erfroren. Sie wußte, daß sie erbärmlich aussah. Ihr hellbraunes Haar rahmte ihr Gesicht normalerweise in einer weichen Linie ein, aber jetzt klebte es durch den Regen auf Stirn und Wangen, und ihr Make-up hatte sich längst aufgelöst. Wenn sie gewußt hätte, daß sie Nick begegnen würde, hätte sie mehr Sorgfalt auf ihre äußere Erscheinung verwandt, bevor sie die Wohnung so hastig verlassen hatte. Sie runzelte die Stirn. Warum sollte es sie auch nur im geringsten kümmern, was Nick für einen Eindruck von ihr hatte? Es interessierte sie längst nicht mehr, was er dachte und glaubte. Diese Zeiten waren vorüber, ein für allemal. Sie hoffte nur, daß sie im Zug nicht auch noch neben Nick sitzen mußte. Aber es kam schlimmer als das. Der Zug war so überfüllt, daß es überhaupt keine Sitzplätze gab, und so standen sie in einer dichtgedrängten Menschenmenge, die es unmöglich machte, den körperlichen Kontakt zu vermeiden. Bei jeder leichten Kurve, bei jedem kleinen Ruck stießen sie aneinander, bis Judith einem Schreikrampf nahe war. Am Ende legte Nick wie selbstverständlich den Arm um sie und drückte sie an sich. Ihre wütenden Blicke ignorierte er ganz einfach. „Sonst haben wir morgen alle beide blaue Flecken", sagte er ihr ins Ohr. Sein warmer Atem strich über ihre Haut, und seine Lippen berührten ihr Ohrläppchen. Judith preßte den Mund zusammen. Nie wieder, schwor sie sich, werde ich irgendeinem Impuls nachgeben. Sie könnte jetzt warm und trocken in ihrer Wohnung auf dem Sofa sitzen, fernsehen und einen gemütlichen Abend zu Hause genießen. Allein. Aber sehr tröstlich war diese Vorstellung auch nicht. „Entspann dich", riet Nick ihr. „Wir sind uns ja schließlich nicht ganz fremd." Judith hielt den Kopf gesenkt, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. In den Tagen, Wochen und Monaten nach ihrer Trennung hatte Nick ihr ganz unglaublich gefehlt, nicht zuletzt auch körperlich. Ihre Wangen brannten, als sie jetzt daran dachte, wie sie sich auf dem ha rten Bett in ihrer kleinen Wohnung in Pennington hin- und hergeworfen und nach ihm gesehnt hatte. Aber das war am Anfang gewesen und längst vorbei. Bis vor wenigen Minuten hatte sie auch noch felsenfest geglaubt, daß sie die Trennung von ihm überwunden hatte. Sie trugen beide Trenchcoats, sie darunter einen dicken schwarzen Pullover und schwarze Wollhosen, Nick, soweit sie das erkennen konnte, ein Tweedjackett mit einem dünnen Pulli und Cordhose. Und doch empfand sie die körperliche Berührung mit ihm so intensiv, als wären sie beide nackt Judith wagte einen verstohlenen Blick und sah mit Genugtuung, daß Nicks Mundwinkel zuckte. Offenbar ging es ihm nicht besser als ihr. Ohne Vorankündigung hielt der Zug mitten auf der Strecke an. „Was ist los?" Judith versuc hte, das allgemeine Stimmengewirr zu übertönen. Nick verschob sie ein wenig in seinen Armen. „Das werden wir vermutlich bald erfahren." Der Lautsprecher knarzte, dann informierte eine Stimme die Fahrgäste darüber, daß der Zug nicht weiterfahren könne, da eine Eisenbahnbrücke unterspült und nicht mehr passierbar sei. Wer seine Fahrt fortsetzen wolle, werde mit dem Bus abgeholt und,
soweit die Straßen es erlaubten, weiterbefördert. Alle anderen werde der Zug wieder mit zurück nach Gloucester nehmen. Nick und Judith stiegen mit den meisten anderen Fahrgästen aus. „Es sieht so aus, als müßten wir laufen - oder schwimmen." „Und der arme Hugh wollte mich in Chepstow abholen und hat keine Ahnung, was passiert ist", meinte Judith unruhig, als Nick ihr auf den Bahndamm hinunterhalf. „Am Bahnhof dort gibt es kein Personal. Er wird sich Sorgen machen." „Ich habe mein Handy dabei. Du kannst ihn anrufen, während wir auf den Bus warten." Es hatte einmal eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in der Judith dieses Handy gehaßt und regelrecht als Eindringling in ihr Eheleben betrachtet hatte. Jetzt war sie froh darüber. Hugh versprach, ihnen so weit wie möglich entgegenzufahren. Nick nahm Judith den Hörer ab. Hugh war nicht nur sein Schwager, sondern ein alter lieber Freund. „Aber fahr erst los, wenn ich dich anrufe, Hugh. Wer weiß, wie lange das hier dauert oder wie weit wir kommen. Und mach dir keine Sorgen um deine kleine Schwester. Ich passe gut auf sie auf." Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis die Busse eintrafen und die nassen, verfrorenen Fahrgäste aufnahmen. Judith hatte ihren Widerstand gegen Nick längst aufgegeben und war dankbar für die Wärme, die von ihm auf sie überging. „Hoffentlich wirst du nicht krank", meinte er mit einem besorgten Blick in ihr Gesicht. ,,Ich bin ziemlich zäh", gab sie munter zurück. „Ich bin selten krank." „Ich kann mich noch sehr gut an die wenigen Male erinnern", sagte Nick in einem Ton, der ihr die Röte ins Gesicht trieb. Es war ihrer beider kleines Geheimnis gewesen, daß sie immer, wenn sie Antibiotika bekam - was selten geschah -, besonders sinnlich auf ihn reagierte. Nick hatte das jedesmal ausgenützt. „Ich finde es richtig spannend, wie weit wir kommen", meinte Judith nach einer Weile. Der Regen strömte über die Busfenster. „Wenn das so weitergeht, brauchen wir eine Arche, um nach Hause zu kommen." „Ich möchte nicht, daß Hugh unterwegs liegenbleibt, nur weil er uns helfen will. Er hat auf seiner Farm genug zu tun, ohne daß er auch noch gegen diese Sintflut kämpfen muß." „Das stimmt." Judith seufzte. „Ich hätte Weihnachten in Pennington bleiben sollen, so wie ich es ursprünglich vorhatte." „Wolltest du mit Freunden zusammen feiern?" Judith war in Versuchung, einfach ja zu sagen. Aber sie hatte Nick noch nie anlügen können. „Nein", erwiderte sie nach einer kleinen Pause. „Ich wollte mir allein einen friedlichen Abend zu Hause machen. Die Geschenke für die Familie habe ich schon letzte Woche nach Longhope gebracht." Nick sah sie forschend an. „Und warum wolltest du Weihnachten ursprünglich nicht nach Longhope fahren, Judith?" Weil sie letztes Jahr, so kurz nach der Trennung, die fröhliche Atmosphäre in dem großen, lebhaften Kreis, den Margaret immer um sich versammelte, kaum ausgehalten hatte. Sie hatte sich zwar gut gehalten, aber es war doch ziemlich anstrengend gewesen. Und sie hätte es einfach nicht noch einmal ertragen. Aber dann waren heute die Scheidungspapiere gekommen, und auf einmal war ihr alles besser erschienen, als Weihnachten allein zu verbringen. „Wir hatten im Büro viel zu tun", antwortete sie jetzt aus weichend. „Deshalb war mir nach Ruhe. Du weißt ja, wie die Jungen sind, und nachdem das Baby inzwischen laufen kann, wird das Chaos schlimmer sein als je. Aber", fügte sie gespielt munter hinzu, „dann habe ich mich auf das uralte Privi leg der Frauen besonnen und es mir anders überlegt.
Und deshalb stecke ich jetzt in dieser Situation. Es geschieht mir vermutlich recht." „Keine Angst", versprach Nick. „Ich werde dafür sorgen, daß du sicher und heil nach Longhope gelangst - selbst wenn Hugh uns mit seinem Traktor holen muß." Judith brachte ein Lachen zustände. „Na, gut. Was machst du denn an Weihnachten?" Nick zögerte nur ganz kurz. „Ich fahre nach ,Friar's Hea-ven'." Judith war überrascht. „Aber deine Eltern sind doch in der Karibik. Ich - ich habe am Sonntag vor ihrer Abreise mit ihnen gegessen." „Du brauchst deshalb kein schlechtes Gewissen zu haben", meinte Nick. „Ich weiß, daß ihr euch öfter seht." „Es ist ja auch kein Geheimnis. Meine Beziehung zu Lydia und deinem Vater hat nichts mit unserer Trennung zu tun. Ich bin sehr froh darüber, denn ich mag deine Eltern beide sehr und besuche sie gern." „Du bist ihnen auch immer sehr willkommen, wie meine liebe Mutter mir in schöner Regelmäßigkeit mitteilt." Nick stieß ein freudloses Lachen aus. „Wenn man sie hört, könnte man denken, daß ich dich verlassen hätte, nicht umgekehrt." Der Bus hielt an, um Passagiere aussteigen zu lassen. Judith lehnte sich zurück und schloß die Augen. Jetzt setzte die Reaktion auf den Schock ein, den das unerwartete Zusammentreffen mit Nick ausgelöst hatte. Das letzte Mal hatte sie ihn vor zehn Monaten gesehen, als er nach Longho pe gekommen war und verlangt hatte, mit ihr zu sprechen. Es war eine erbitterte und stürmische Auseinandersetzung geworden. Und jetzt hatte das Schicksal sie auf diese profane Weise wieder zusammengeworfen. Judith warf heimlich einen Blick auf das so vertraute Profil ihres Mannes und sah dann wieder in die Dunkelheit hinaus, die nur manchmal ein wenig erhellt wurde, wenn sie durch einen Ort fuhren. Der Bus hielt in Abständen, um Fahrgäste aussteigen zu lassen, bis schließlich außer ihnen beiden niemand mehr übrig war. Judith dachte daran, wie sie Nick zum erstenmal bewußt wahrgenommen hatte. Hugh hatte ihn unangemeldet mit zum Essen nach Hause gebracht, in der aus Erfahrung geborenen Überzeugung, daß Margaret einen zusätzlichen Gast bestimmt mit verpfle gen konnte. Hugh und Nick hatten zusammen die Schule besucht, dann war Hugh aufs landwirtschaftliche College nach Cirencester gegangen, und Nick hatte auf der Universität von Edinburgh ein Ingenieurstudium angefangen. Aber seine wahre Begabung lag im Marketing, und er reiste viel herum, um die verschiedenen elektronischen Artikel des Familienunternehmens zu verkaufen. An diesem ersten Abend, beim Essen in der großen gemütlichen Küche der Farm, auf der sie geboren war, war Nicholas Campion Judith wie ein strahlender Held von einem anderen Planeten erschienen. Natürlich hatte sie ihn flüchtig gekannt, so wie viele von Hughs Freunden. Seine Eltern lebten nur wenige Kilometer entfernt in einem der schönsten Häuser der Gegend. George Campion war ein erfolgreicher Geschäftsmann, und seine Frau Lydia war sehr rührig in allerlei Wohlfahrtsorganisationen. Aber Nick war, wie Hugh, zehn Jahre älter als Judith, und bis zu diesem schicksalhaften Abend waren sie noch nie bei irgendwelchen gesellschaftlichen Gelegenheiten aufeinandergetroffen. Sie war gerade erst vom College heimgekommen, den Abschluß in Buchhaltung frisch in der Tasche, und hatte eine nicht besonders gute Stelle bei einem konzessionierten Buchprüfer in Pennington angetreten. Irgendwann, davon war sie überzeugt, würde sie etwas Besseres finden. Jedenfalls fühlte sie sich im Augenblick ganz wunderbar. An diesem Abend hatte sie besonders gut ausgesehen. Ihr Haar war noch länger gewesen und hing ihr schwer und glänzend auf die Schultern, und der gelbe Pullover brachte die Goldpünktchen in ihren haselnußbraunen Augen zum Leuchten. Sie spürte sofort, daß sie Eindruck auf den unerwarteten Gast machte. Hugh freute sich einfach
darüber, daß sein Freund so warm aufgenommen wurde, aber Margaret registrierte die Spannung zwischen dem dunkelhaarigen, gutaussehenden Nick Campion und ihrer jungen Schwägerin von Anfang an. Damals verbrachte Nick gerade einige Zeit in der Stammfirma in Gloucester, und Judith fühlte sich mehr als geschmeichelt, als er anfing, sie zu umwerben. Er tat es so entschlossen, daß sie eigentlich nie eine Chance ihm gegenüber hatte. Nach ihrem dritten gemeinsamen Abend war sie hoffnungslos in ihn verliebt. Und wie durch ein Wunder, so erschien es ihr wenigstens, erwiderte Nick ihre Gefühle voll und ganz. Nick lebte in einem kleinen Häuschen aus dem achtzehnten Jahrhundert im begehrtesten Teil von Pennington, das sich vor über zweihundert Jahren zum eleganten Badeort entwickelt hatte. Judith teilte ihre Wohnung mit zwei anderen jungen Frauen ihres Alters, so daß sie wenig Privatsphäre hatte. Und so war sie bald immer öfter in Nicks Haus anzutreffen. Ihr erster Kuß hatte sie beide in ihren Grund festen erschüttert, so unerwartet heftig war ihre körperliche Reaktion aufeinander gewesen. Aber trotz dieser gegenseitigen Anziehung wollte Judith nicht mit Nick zusammenleben. „Nein", sagte sie fest. „Ich werde erst dann mit einem Mann zusammenziehen, we nn ich weiß, daß es auf Dauer sein wird." „Das soll heißen, wenn du verheiratet bist?" „Nein, nicht unbedingt. Sondern ich meine, bis ich mir meiner und seiner Liebe einigermaßen sicher sein kann." Sie wand sich aus Nicks Armen, auch wenn es ihr noch so schwer fiel. „Es ist noch zu früh - es geht mir alles zu schnell." Zu ihrer Überraschung hatte Nick nicht versucht, sie zu überreden. Die nächsten ein oder zwei Wochen gab er sich mit Küssen und Liebkosungen zufrieden, die Judith ganz verrückt vor Verlangen nach ihm machten. Nie versuchte er, sie zu verführen, oder brachte das Thema Zusammenleben wieder zur Sprache. Wäre er weniger aufmerksam gewesen, hätte Judith Angst bekommen. Aber er schickte ihr Blumen, die den Neid ihrer Mitbewohnerinnen hervorriefen, kaufte ihr kleine Geschenke, Bücher, ihre Lieblingsplatte oder ein schönes altes Stück Porzellan aus einem der Antiquitätenläden, für die Pennington bekannt war. Er führte sie ins Theater, zum Essen in teure Restaurants und fuhr mit ihr am Sonntag zum Mittagessen nach Longhope zu Hugh und Margaret. Sehr geschickt hat er das gemacht, dachte Judith jetzt, als sie mit dem Bus durch die verregnete Nacht fuhren. Nick hatte ihr keine große Wahl gelassen, als er eines Abends verkündete, daß es so nicht weitergehen könne. Sie seien beide volljährig, und entweder müßten sie jetzt auch eine sexuelle Beziehung beginnen oder sich trennen. Er mußte ihrer Reaktion sehr sicher gewesen sein. Denn die Vorstellung, auf ihn verzichten zu müssen, hatte sie nicht ausgehalten, und so war sie natürlich mit ihm ins Bett gegangen. Die Leidenschaft überwältigte Judith so sehr, daß sie gar nicht mehr dazu kam, Nick zu beichten, daß sie noch Jungfrau war. Es war für sie auch nicht weiter wichtig. Als Nick es merkte, konnte er sich schon nicht mehr beherrschen. Aber anschließend machte er ihr Vorwürfe. Sie war immer noch ganz im Erlebnis ihres ersten Liebesabenteuers gefangen, das für sie viel zu schnell zu Ende gegangen war. „Warum ist das denn so schlimm?" Nick hob sich auf einen Ellbogen und sah auf sie hinunter. „Weil ich in dem Fall entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätte! Ich hätte aber auch wirklich selbst auf die Idee kommen können, dich zu fragen." „Ich vertrage die Pille nicht", erklärte ihm Judith. „Margaret fand, ich sollte sie nehmen, als ich ins College ging, sicherheitshalber. Aber ich bekomme davon Migräne. Außerdem sind damit ja auch einige Risiken verbunden. Und bis jetzt habe ich noch niemanden kennengelernt, der mir das Risiko wert war." Daraufhin nahm Nick sie wieder in die Arme und fing an, sie voller Leidenschaft zu
küssen. Und diesmal führte er sie zu solchen Höhen der Lust und Erfüllung, daß sie anschließend kein Wort mehr hervorbrachte. „Willst du nie wieder mit mir reden?" fragte Nick einige Zeit später zärtlich, Judith lächelte verträumt. „Wenn ich gewußt hätte, wie schön das ist, hätte ich mich diesem sündigen Leben viel früher hingegeben." Nick ließ mit einem langen besitzergreifenden Kuß keinen Zweifel daran, daß es ab jetzt keinen anderen Mann mehr in ihrem Leben geben würde. Einen Monat später heirateten sie, genau acht Wochen nach dem Abend, an dem Hugh Nick mit zum Essen nach Hause gebracht hatte. Aber die Ehe war nicht ganz so paradiesisch, wie Judith sie sich vorgestellt hatte. Da sie zum einen vo r dem Fliegen Angst hatte und zum anderen auch ihren Beruf nicht aufgeben wollte, konnte sie Nick auf seinen Flügen in alle Welt nur selten begleiten. Das bedeutete, daß sie sehr viel allein war, auch an ihren beiden Hochzeitstagen. Den zweiten Jahrestag verpaßte Nick nach einer Japanreise um einen Tag. Als er nach Hause kam, waren seine Frau und mit ihr der größte Teil ihrer persönlichen Habe verschwunden. „Ich gehe fort", hatte sie ihm geschrieben. „lch bin es leid, die liebe kleine Ehefrau zu spielen, die zu Hause brav darauf wartet, bis ihr Herr und Meister kommt und ihr ein wenig seiner kostbaren Zeit widmet. Versuch bitte, mich zu verstehen. Aber ich bin auch noch ich, nicht nur Mrs. Nicholas Campion. Einen anderen Mann gibt es nicht. Seit ich, dich kenne, hat es nie jemand anderen für mich gegeben. Trotzdem kann ich so nicht weiterleben. Es tut mir leid." Sie hatte den Brief nicht unterschrieben. „In Liebe, Judith" wäre einfach unpassend gewesen. Jetzt wollte sie, sie hätte es getan. Sie hatte es niemandem gestanden, aber der einzige Zweck ihres Auszugs war gewesen, Nick auf die Probe zu stellen und ihm deutlich zu machen, daß auch sie ein Wörtchen bei der Gestaltung ihres gemeinsamen Lebens mitzureden hatte. Und sie war sich so sicher gewesen. Er würde, er mußte verstehen, daß sich etwas ändern mußte, wenn ihre Ehe weiterbestehen sollte. Aber Nicholas Campion hatte seinen Stolz. Und dieser Stolz erlaubte es ihm nicht, einer Ehefrau, die ihn verlassen hatte, „nachzulaufen". Und später war dann Judith zu stolz gewesen, um zu ihm zurückzukehren. Er hatte keinen einzigen Versuch gemacht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, so verzweifelt sie sich auch danach sehnte. Sie lebte nicht mehr in dem hübschen, eleganten kleinen Haus im Zentrum des kleinen Badeortes, sondern in einer winzigen kleinen Dachwohnung am anderen Ende der Stadt. Mehr konnte sie sich von ihrem Gehalt nicht leisten. Sie wußte, daß Hugh und Margaret sie nicht verstanden. Hugh wollte dauernd wissen, ob Nick sie schlecht behandelt hatte, und Margaret fragte sofort, ob eine andere Frau mit im Spiel sei - oder ein anderer Mann. Trotz allem konnte Judith sich nicht vorstellen, daß es irgendeinen Mann auf der Welt gab, den sie Nick vorziehen würde. „Wenn Nick von mir wissen will, wo du jetzt wohnst, soll ich ihm dann deine Adresse geben?" erkundigte Hugh sich einigermaßen hilflos. „Ja, natürlich", erwiderte sie gespielt gleichgültig. „Ich verstecke mich schließlich nicht vor ihm." Aber hätte sie es getan, es hätte sich nicht viel geändert. Denn Nick schien einfach von der Erde verschluckt worden zu sein. Dann sah sie ihn eines Tages in der Stadt, als er ein Geschäft verließ, in dem er immer einzukaufen pflegte. Und dieser flüchtige Blick auf ihn machte ihr klar, wie trostlos ihr Leben ohne ihn geworden war - und daß ihre Ehe endgültig gescheitert war. Mit der Zeit gewöhnte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung daran, allein zu leben. Aber sie weigerte sich, irgendwelche Einladungen von Männern anzunehmen. Durch Nicks Mutter war sie ständig darüber informiert, was er unternahm. Ihre Schwiegereltern waren sehr unglücklich über diese Trennung und davon überzeugt, daß ihr Sohn die
Schuld daran trug, obwohl Judith sich alle Mühe gab, es ihnen auszureden. Aber Lydia Campion traute ihrem Sohn nicht, und es kostete Judith viel Überzeugungskraft, sie umzustimmen. Denn die genauen Gründe, warum sie Nick verlassen hatte, gingen schließlich nur sie und Nick selbst etwas an, fand sie.
2. KAPITEL „Das war aber ein tiefer Seufzer", sagte Nicholas und nahm Judiths Hand. „Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, daß du heil nach Longhope kommst." „Ja, natürlich", erwiderte Judith leicht. Sie zog ihre Hand zurück und bereute es sofort, als sie spürte, wie Nick sich versteifte. „Notfalls können wir ja immer noch schwimmen." „So schlimm wird es hoffentlich nicht werden." Nick setzte sich auf und sah nach vorne auf die Straße, als der Bus langsamer wurde. „Es sieht so aus, als würden wir halten." Er stand auf und ging zum Fahrer, als der Bus stehenblieb. Die Tür schwang auf, und ein Polizeibeamter stieg ein. Nick sprach kurz mit ihm und kam dann zu Judith zurück. Er holte seinen Aktenkoffer und Judiths Tasche aus der Gepäckablage. „Endstation", verkündete er. „Ab jetzt müssen wir uns allein durchschlagen." Judith hatte sich ihren Humor bewahrt. „Vielleicht leiht uns jemand sein Boot", meinte sie, als der Polizist ihr aus dem Bus auf die Straße half. „Das sollten Sie auf keinen Fall riskieren, Madam!" gab der Polizist entsetzt zurück. „Der Severn ist ein Gezeitenfluß, und .es könnte passieren, daß Sie bis Bristol abgetrieben werden. Das wäre viel zu gefährlich." „Keine Angst", beruhigte Nick ihn. „Meine Frau hat nur Spaß gemacht. Sie ist aus der Gegend und kennt die Gefahren." „Dann ist es ja gut." Der Polizist lächelte beruhigt. „Wir haben schließlich schon mit den liegengebliebenen Autos alle Hände voll zu tun. Da würde uns ein abgetriebenes Boot gerade noch fehlen." Nick versicherte ihm noch einmal, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche, hängte sich Judiths Tasche über die Schulter und zauberte wunderbarerweise eine Taschenlampe aus seinem Aktenkoffer hervor, die er Judith in die Hand drückte. So machten sie sich auf den Weg. „Vor uns steht die Straße unter Wasser", berichtete Nick. „Angeblich kann man aber bis Barnford durchwaten. Der Ort liegt etwas erhöht, dort dürfte es also keine Probleme geben." „Wir hätten doch mit dem Zug nach Gloucester zurückfahren sollen", meinte Judith düster. „Das hättest du wahrscheinlich auch getan, wenn ich nicht gewesen wäre." „Ja", gestand Nick ehrlich und blieb stehen, als die Straße vor ihnen im Wasser verschwand. „Ich hätte mir einfach ein Hotelzimmer genommen und dort übernachtet." „Soll das heißen, daß du dich selbst in diese lächerliche Lage gebracht hast, nur weil ich unbedingt heute abend noch nach Longhope wollte?" fragte Judith ungläubig. „Ja. Ich lerne dazu, auch wenn es eine Weile dauert. Früher hätte ich darauf bestanden, daß du mit mir kommst, und ich hätte mich durchgesetzt. Aber ich hatte inzwischen genug Zeit zum Nachdenken. Also dachte ich, ich richte mich nach dir." „Mit dem Ergebnis, daß du bis auf die Haut durchnäßt und vermutlich halb verhungert bist. Und es sieht auch nicht so aus, als bekämen wir so bald etwas zu essen oder ein Dach über dem Kopf. Hugh mit seinem Traktor kann uns im Moment auch nicht viel weiterhelfen." Judith mußte lachen. „Darf ich fragen, was daran so komisch ist?" wollte Nick wissen und umfaßte ihren Arm. „Eigentlich nichts." Aber sie konnte trotzdem nicht aufhören zu lachen. „Ich habe mir nur so oft vorgestellt, wie wir uns zufällig über den Weg laufen. Aber nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich mir eine Situation wie diese ausdenken können." Er stimmte in ihr Lachen ein, und einen Augenblick lang vergaßen sie trotz Kälte und strömendem Regen, in welch unangenehmer Lage sie sich befanden. Dieses ganze Abenteuer war einfach zu absurd. Nick nahm Judith die Taschenlampe aus der Hand und ließ ihren Schein über die Wasserfläche vor ihnen wandern. Dann sah er Judith an. „Was meinst du? Sollen wir versu-
chen, uns da durchzuschlagen? Oder sollen wir zurückgehen und hoffen, daß wir irgendwo ein trockenes Pub finden?" „Und uns geschlagen geben?" gab Judith kampflustig zurück. „Bestimmt nicht. Ein Jammer, daß ich ausgerechnet heute meine schönen neue n Stiefel anziehen mußte. Aber es hilft nichts. Ich plädiere dafür, daß wir weitergehen." „Was immer du sagst. Stürzen wir uns also in die Fluten." Sie begannen zu waten. Zuerst war das Wasser noch ziemlich flach, aber allmählich wurde es immer tiefer. Wie tief, konnten sie mit Hilfe einiger gestrandeter Autos am Straßenrand abschätzen. Wind und Regen fegten peitschend durch die Bäume an den Seiten, vor ihnen war alles schwarz und undurchdringlich. Bald fühlte Judith sich merkwürdig orientierungslos. Sie konnte nicht mehr sagen, wo die Straße endete und der Fluß anfing. Nick ging voraus, und Judith hielt sich krampfhaft an seinem Gürtel fest. Sie biß die Zähne zusammen, entschlossen, durchzuhalten. Ihre Füße und Beine waren durch das eiskalte Wasser längst gefühllos geworden. Aber ein orangefarbener Schimmer - offenbar von der Straßenbeleuchtung - in nicht allzu großer Ferne bedeutete, daß es nicht mehr weit nach Barnford war. Das Wasser erreichte inzwischen ihre Oberschenkel. Judith geriet plötzlich in Panik. Was, wenn der Fluß sie fortschwemmte? Nick blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Alles in Ordnung?" wollte er wissen. „Ja, wunderbar", behauptete sie. Ihre Zähne schlugen aufeinander. „Naja, vielleicht nicht gerade wunderbar, aber es geht schon." „Jetzt können wir nicht mehr zurück", meinte er. Er atmete schwer. „Aber es sind nur noch ein paar Meter, dann steigt die Straße an, und wir haben es geschafft." „Dann weiter, mein Ritter." Sein Lachen wurde vom Winde verweht. Er setzte sich wieder in Bewegung. Das Wasser reichte Judith inzwischen zur Hüfte. Nick blieb wieder stehen. „Kann ich dich vielleicht ein oder zwei Minuten allein lassen, Judith?" „Warum?" wollte sie erschrocken wissen. „Ich wollte deine Sachen ins Trockene tragen. Dann komme ich wieder und hole dich." „Du darfst mich nicht allein lassen! Die Tasche ist mir egal!" Auf einmal spürte sie, daß sie mit den Nerven am Ende war und kurz vor einem hysterischen Anfall stand. Nick leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht und überließ die Tasche ohne weitere Formalitäten den Wasserfluten. Dann drückte er Judith die Lampe in die Hand und hob sie auf die Arme. „Du leuchtest, und ich kümmere mich um den Rest." „Aber, Nick ..." Judith versuchte einen schwachen Protest. Er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. „Diesmal wird gemacht, was ich will", bestimmte er. „Und jetzt halt den Mund, damit wir es bald hinter uns haben." Ein paar Minuten später setzte er sie unter einer Straßenlaterne ab. Ein Holzgeländer grenzte den Gehweg vom schlammigen Ufer ab, und sie lehnten sich beide erschöpft dagegen. Judith schlotterte am ganzen Körper, ihre Zähne klapperten unkontrolliert. Nick keuchte schwer, und es dauerte ein, zwei Minuten, bis sein Atem wieder ruhiger ging. Er nahm Judith am Arm und zog sie hinter sich her die ansteigende Straße hinauf in den völlig verlassen wirkenden Ort mit seinen alten Läden, die mit ihren verzierten Holzrahmen und ausbuchtenden Schaufenstern noch aus der Zeit von Dickens zu stammen schienen. „Es ist so unnatürlich ruhig hier", fand Judith. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es ihr je wieder warm werden könnte. „Weil kein Verkehr ist", gab Nick, immer noch schwer atmend, zurück. „Die Stadt ist völlig abgeschnitten." Auf einmal tauchte wie eine himmlische Erscheinung eine große Gestalt mit einem hohen Helm auf dem Kopf vor ihnen auf. „Guten Abend." Der Bobby betrachtete Judith
besorgt. „Wo kommen Sie denn her?" „Wir sind mit dem Zug gestrandet und über die Straße hierhergewatet. Wir wollten eigentlich nach Little Mynd, zur Longhope Farm", berichtete Nick. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Sir. Die Straßen sind derzeit unpassierbar." „Ich muß meinen Bruder anrufen", drängte Judith. Sie betrachtete Nicks Aktenkoffer, den sie immer noch trug. „Ich fürchte, ich habe dein Telefon ertränkt", sagte sie dann unglücklich. „Vielleicht kommen Sie mit zum Revier, Madam. Sie können Ihren Bruder gern von dort anrufen. Ich werde mich darum kümmern, daß Sie vielleicht im ,Bull' unterkommen können." „Danke, Constable, aber das wird nicht notwendig sein." Nick lächelte, und Judith sank das Herz. Der Gedanke, noch einmal durch das eiskalte Wasser waten zu müssen, war ihr unerträglich. Lieber wollte sie sterben. „Gibt es hier vielleicht ein Taxi?" hörte sie Nick dann fragen. „Ja, natürlich, Sir. Aber ich weiß nicht, ob das etwas helfen wird." „Ich würde gern nach Upper Highfield fahren", erklärte Nick. „Es liegt ziemlich hoch, und die Straßen sind bestimmt frei. Meine Eltern leben dort." Der Constable nickte. „Das ist etwas anderes, Sir." Im Polizeirevier bekam Judith heißen Tee und ein trockenes Handtuch und wurde in eine warme Decke gehüllt. Bald ging es ihr besser. Allerdings hatte sie ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil sie Nick mit ihrer Dickköpfigkeit in diese mißliche Lage gebracht hatte. Nick verständigte Hugh und versprach, ihn von Friar's Heaven wieder anzurufen. Bald darauf saßen sie im Taxi und waren zu Nicks Elternhaus unterwegs. Nick sperrte die Haustür auf, machte Licht und schob Judith vorsichtig, in die niedrige Eingangshalle mit ihrer dunklen Holztäfelung und den Ölgemälden an den Wänden. Neben der Treppe stand ein großer, bunt geschmückter Weihnachtsbaum. Aber für Judith zählte in diesem Moment nur die Wärme. „Mir war gar nicht bewußt, daß wir so nahe an Friar's Heaven waren", sagte sie ein wenig verwundert. „Du gehst am besten gleich ins Badezimmer meiner Mutter und läßt dir heißes Wasser in die Wanne laufen", riet Nick. „Such dir unter ihren Sachen etwas zum Anziehen aus." „Danke. Bist du so nett und bringst meinen Mantel und die Stiefel zum Trocknen in die Küche?" „Ja, natürlich." Nick zog seinen Mantel aus. „Dann runter damit." „Ich fürchte, ich kann nicht..." Judiths Stimme war schwach und schien merkwürdig losgelöst von ihrem Körper. „Ich..." Nick warf ihr einen schnellen, forschenden Blick zu und bekam sie gerade noch rechtzeitig an den Armen zu fassen. „Jetzt mach nur nicht schlapp!" befahl er. Judith biß die Zähne zusammen und schluckte mühsam. Mit schier übermenschlicher Kraft nahm sie sich zusammen. „T-tut mir leid", brachte sie hervor. „Es muß die Wärme sein. Ich - mir ist ein bißchen übel." „Sobald du die nassen Sachen ausgezogen hast, wird es dir bessergehen." Nick fing an, ihren Mantel aufzuknöpfen, und zog ihn ihr aus. Dann schob er sie zu einer Bank. „Setz dich, damit ich dir die Stiefel ausziehen kann." Judith fiel zum erstenmal auf, daß auch er völlig erschöpft war. Wenn er schon so blaß war, wie mußte sie dann erst aussehen! Er legte viel Wert darauf, sich mit Sport in Form zu halten, während sie, von dem kurzen Weg zum Büro und einem gelegentlichen Tennisspiel im Sommer abgesehen, so gut wie gar keine Bewegung hatte. Von jetzt ab, schwor sie sich insgeheim, werde ich täglich joggen und turnen und nicht mehr soviel fernsehen. Der nächsten Flut würde sie gewappnet und in körperlicher Höchstform begegnen. „Fertig." Nick hatte ihr mit einiger Mühe die Stiefel ausgezogen und half ihr jetzt auf die Füße. Aber dann ließ er sie zu früh los, und Judith sackte ohne Vorwarnung in sich
zusammen. „Entschuldige", sagte sie verlegen, als er sie wieder hochzog. „Meine Beine sind noch ganz gefühllos." „Kein Wunder." Nick betrachtete mißbilligend ihre hochhackigen engen Stiefel. „Dein Schuhgeschmack war schon immer viel zu frivol." Er hielt sie an den Oberarmen fest. „Ich bringe dich jetzt nach oben." Und ohne Vorwarnung hievte er sie wie einen Sack Kartoffeln auf die Schulter und schleppte sie schweratmend die Treppe hinauf, dann den Korridor entlang und ins Schlafzimmer seiner Eltern. Im Vorbeigehen machte er das Licht an. Als er sie schließlich im Bad absetzte, keuchte er wie ein Langstreckenläufer. Ohne ein Wort drehte er den Warmwasserhahn an der Badewanne auf. „Schaffst du es allein?" „Ja, ja", erwiderte Judith hastig. „Vielen Dank. Kümmer dich jetzt lieber um dich." Nick zögerte noch einen Moment und verließ sie dann. Die Tür fiel hart hinter ihm ins Schloß. Lydia Campion liebte ganz offenbar den Luxus. Auf einem kleinen Regal über der Wanne standen mehrere Fläschchen mit Badeöl, und Judith entschied sich für den Duft von Frühli ngsblumen. Sie zog sich die durchnäßten Sachen aus und ließ sich dann mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit und einem wohligen Seufzer ins heiße, duftende Badewasser gleiten. Offenbar hatte durch die Strapazen auch ihr Denkvermögen gelitten, denn in all der Zeit war sie nicht einmal auf die Idee gekommen, daß sie nach Friar's Heaven ausweichen konnte, wenn sie es nicht bis Longhope schaffte. Prickelnd kehrte das Gefühl in Armen und Beinen zurück, und sie spürte, wie die Wärme sie durchdrang und sie sich entspannte. Es war ein paradiesisches Gefühl. Sie wollte jetzt nicht daran denken, wie es weiterging, wenn sie die Badewanne verlassen und Nick wieder gegenübertreten mußte. Das überforderte sie. Außerdem, dachte sie und gähnte unwillkürlich, wird das Problem so groß nicht sein. Am nächsten Morgen würde sie vermutlich, auf welche Weise auch immer, nach Longhope weiterfahren. Mit diesem Gedanken döste sie ein und wachte erst wieder von einem lauten Hämmern an der Tür auf. „Lebst du noch?" rief Nick. „Ich komme gleich", erwiderte Judith hastig. „Ich wasche mir nur noch schnell die Haare." Kurz darauf tauchte sie, in Lydias weißen Frotteebademantel gehüllt und das nasse Haar unter einem Handtuch versteckt, aus dem Bad wieder auf. Nick wartete auf sie. Er trug einen dicken Pullover und bequeme alte Cordhosen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. An diese Haltung erinnerte Judith sich nur zu gut. „Alles in Ordnung?" wollte er wissen. „Ja", antwortete sie ein wenig atemlos. Auf einmal wur de sie verlegen unter seinem Blick, und die Röte stieg ihr heiß ins Gesicht. „Ich - ich wollte mir nur etwas zum Anziehen suchen." „Ich habe mir Sorgen gemacht. Du hast wie ein Geist ausgesehen." „So habe ich mich auch gefühlt." Judith zwang sich zu einem Lächeln. Die Kumpelhaftigkeit, die sie auf dem Weg hierher miteinander verbunden hatte, war mit einem Mal weggefallen. „Ich besorge uns etwas zu essen", brummte Nick und wandte sich zur Tür. „Nick", sagte Judith schnell. „Warte. Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt. Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Einmal war ich regelrecht einem hysterischen Anfall nahe." Er drehte sich zu ihr um. „Ja, ich habe es gemerkt. Aber wahrscheinlich wärst du lieber ertrunken als zuzugeben, daß du nicht mehr kannst!" „Das ist nicht wahr! Außerdem kann ich schwimmen."
„Das hätte ich sehen wollen. Du warst völlig erschöpft." „Ich weiß. Du hast völlig recht." Sie ging zu ihm und berührte ihn am Arm. „Du machst es mir nicht sehr leicht, mich zu bedanken", meinte sie mit einem Lächeln. Nick stand ganz still. Dann schüttelte er mit einer abrupten Bewegung ihre Hand ab, und Judith wich unwillkürlich zurück. Dabei rutschte ihr das Handtuch vom Kopf, und sie griffen beide danach. Sie stießen aneinander, und Nick knurrte etwas Unverständliches und zog Judith ohne Vorankündigung in die Arme und begann, sie mit aller Leidenschaft zu küssen. Und sie erwiderte seinen Kuß ganz von selbst, ohne nachzudenken, und öffnete ihm mit einem Aufstöhnen den Mund. Aber als er mit der Zunge vorstieß, kam sie wieder zu sich und riß sich von ihm los. Ihr war, als brenne sie am ganzen Körper. „Jetzt erwartest du wahrscheinlich, daß ich mich entschuldige", brachte Nick gepreßt hervor, aber Judith schüttelte den Kopf. „Nein. Es war - ich meine, ich weiß ja, daß du nicht - ich meine, wir haben einen anstrengenden Abend hinter uns, und..." „Das ist kein Grund. Es tut mir leid", sagte Nick. Seine Stimme klang kalt. „Ich mache uns etwas zu essen." Judith hob den Kopf und sah ihm in die Augen. „Das ist sehr nett", sagte sie höflich. „Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen." „Seit wann frühstückst du überhaupt?" wollte er wissen. „Seit ich dich verlassen habe", gab sie hart zurück. „Seit damals hat sich viel in meinem Leben geändert." „Nur eines nicht." Er ging zur Tür. Seine ganze Körperhaltung strahlte Arroganz aus. Er drehte sich noch einmal zu ihr um, und sein Lächeln ging ihr durch und durch. „Du reagierst noch genauso auf mich wie früher." „Nur genauso?" fragte Judith milde nach. „Ich hatte gehofft, daß ich besser geworden bin. Seit unserem letzten Zusammentreffen habe ich mich bemüht, meine diesbezüglichen Fähigkeiten zu verbessern, Nicholas. Ich habe viele Tröstungsangebote." Wenn sie auf eine Reaktion gehofft hatte, wurde sie enttäuscht. Nicholas Campion war schon immer ein Meister im Verbergen seiner Gefühle gewesen. „Kein Wunder", meinte er ausdruckslos. „Beeil dich, damit wir bald essen können. Ich mache uns eine Suppe warm." Judith sah ihm nach. Sie hätte sich die Zunge abbeißen können. Warum mußte sie sich so kindisch aufführen, nur um ihm diesen Kuß heimzuzahlen? Es stimmte zwar, daß etliche Männer sie nur zu gern über ihre gescheiterte Ehe hinweggetröstet hätten, aber sie hatte sie alle abgewiesen. Nur: Nick hatte ihren Schlag nicht so ungerührt hingenommen, wie es scheinen sollte. Das nervöse Zucken an seinem Mundwinkel, das Judith so gut kannte, verriet ihn.
3. KAPITEL Bevor George Campion Friar's Heaven gekauft hatte, hatte es ein Jahrhundert lang als Kloster gedient. Zwar war heute die Atmosphäre durchaus weltlich, aber es wehte noch immer ein Hauch von Stille und Frieden durch die Räume. Das Haus strahlte eine sehr warme, herzliche Atmosphäre aus, an der vor allem Lydia Campion großen Anteil hatte. In der modern eingerichteten Küche, die von Lydias Liebe zum Kochen kündete, waren Stille und Frieden allerdings weniger spürbar, als Judith sich schließlich zu Nick gesellte. Sie blieb zögernd unter der Tür stehen. In den geborgten Kleidern fühlte sie sich unsicher. Lydia war größer und breiter als sie, und so war es nicht einfach gewesen, etwas Passendes zu finden. Schließlich hatte sie sich für einen dicken roten Pullover ihres Schwiegervaters und einen schmalen schwarzen Jerseyrock von Lydia entschieden. Er reichte ihr bis zu den Knöcheln, aber er war weich und bequem. Dazu trug sie offene schwarze, mit Federn verzierte Samtpantöffelchen. „Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat", sagte sie verlegen, als Nick von seinem Topf aufsah. Er betrachtete sie von oben bis unten und lächelte. Sein Blick blieb an ihren Füßen hängen. „Die müssen ein Geschenk meines Vater sein." Auch Judith lächelte ein wenig. „Kann ich dir irgendwie helfen?" „Du könntest Kaffee kochen. Hier im Haus ist nur Mutter in der Lage, die Geheimnisse der Kaffeemaschine zu durchschauen." „Wir könnten auch Pulverkaffee nehmen", schlug Judith mit einem skeptischen Blick auf die Kaffeemaschine vor. „Mein Geschmack hat sich leider nicht geändert - entweder trinke ich richtigen Kaffee oder gar keinen." Nick füllte die Suppenteller. Ihre Blicke trafen sich, und Judith wandte sich schnell ab. „Als Ingenieur wirst du doch so eine Maschine bedienen können." „Nach dem heutigen Abenteuer bestimmt nicht mehr." Er brachte die vollen Teller zum Tisch und stellte einen Korb Brot dazu. Butter und Käse vervollstä ndigten die Auswahl. Judith war viel zu hungrig, um sich noch mit irgendwelchen Kaffeemaschinen abzugeben. „Ich mache uns nachher einen Tee", erklärte sie und setzte sich. „Hm. Das riecht gut. Was ist das?" „Zwei Dosen dicke Gemüsesuppe und ein bißchen Stilton." Nick setzte sich Judith gegenüber und sah sie an. „Du mochtest Stilton immer sehr gern." „Es ist immer noch mein Lieblingskäse. Daran hat sich nichts geändert." Judith nahm sich eine Scheibe Brot und begann zu essen. Sie schwiegen beide. Nick teilte eine zweite Portion aus. „Du siehst schon wieder viel besser aus", stellte er dann fest. „Da merkst du, was ein bißchen Essen ausrichten kann. Vor allem, wenn man den ganzen Tag nichts gegessen hat." „Ich dachte, du hättest gefrühstückt." „Da habe ich dich angelogen. Bis auf Kaffee, Tee und einen Schluck billigen Sekt hatte ich heute noch nichts im Magen." „Kein Wunder, daß du mir fast ohnmächtig geworden wärst", meinte Nick. Seine Augen wurden schmal. „Und warum der Sekt?" „Wir hatten eine Weihnachtsfeier im Büro." Judith ließ den Löffel sinken und sah auf. „Auf einmal hielt ich den Trubel nicht mehr aus und beschloß, nach Longhope zu fahren. Ich rief Margaret an und machte mich auf den Weg. Den Rest kennst du." „Hast du unterwegs denn nicht den Verkehrsfunk abgehört?" fragte Nick mit leisem Vorwurf. „Mein Autoradio ist kaputt. Ich wollte auf die Sonderangebote nach Weihnachten warten, bis ich mir ein neues kaufe."
„Wenn du so knapp bei Kasse bist, warum hebst du dann nicht einen Teil von dem Geld ab, das ich dir jeden Monat überweise?" wollte Nick wissen. Judith war schon drauf und dran, ihm eine unfreundliche Antwort zu geben, hielt sich dann aber zurück. „Ich bin nicht knapp bei Kasse. Aber es kommt mir einfach dumm vor, für ein Radio den vollen Preis zu bezahlen, wenn man es kurze Zeit später billiger bekommen kann. Außerdem weißt du sehr gut, daß ich dein Geld nicht anrühre!" schloß sie dann heftig. „Nur um mir zu beweisen, wie gut du allein zurechtkommst und wie wenig du mich brauchst - oder mein Geld?" Seine Augen waren kalt, aber Judith hielt seinem Blick stand, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. „Es wäre ja wohl reichlich absurd, wenn ich große Töne spucke, wie selbständig ich bin und wie wichtig es mir ist, mein eigenes Leben zu führen, und dann ausgerechnet Geld von dem Mann annehme, dem ich das alles beweisen will!" Judith wandte den Blick ab und bediente sich großzügig mit Käse. Nick sah ihr eine Weile schweigend zu und tat es ihr dann gleich. „Das ist kein sehr nahrhaftes Essen, wenn man den ganzen Tag nichts zu sich genommen hat", meinte er schließlich. „Mir genügt es. Oder hast du noch Hunger?" fragte Judith. „Dann könnte ich dir noch ein Omelette machen. Lydia hat sicher Eier da." „Ja, natürlich. Du weißt ja, daß ich unser - das Haus in Bath ve rmietet habe. Die Mieter ziehen erst nächsten Monat aus, deshalb war eine Weile unklar, was ich an Weihnachten machen würde. Ich konnte meine Mutter zum Glück davon überzeugen, daß das kein Grund war, ihre Urlaubsplä ne aufzugeben. Aber natürlich konnte sie es nicht lassen, Eisschrank und Tiefkühltruhe bis zum Rand zu füllen, bevor sie abreiste. Ich habe das Brot einfach in der Mikrowelle aufgebacken." „Früher warst du nicht so häuslich", bemerkte Judith und nahm sich noch eine Scheibe Brot. Früher hätte das winzigste Anzeichen einer Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen ihr den Appetit verschlagen, aber offenbar hatte sie einiges dazugelernt, wie sie befriedigt feststellte. „Ich habe dir auch nie versprochen, daß ich ein begnadeter Küchenmeister bin", meinte er und lächelte sie an. „Aber das habe ich im Bett doch wieder wettgemacht, oder?" „Das Leben besteht nicht nur aus Sex", gab Judith ungerührt zurück und stand auf, um den Wasserkessel zu füllen. Dann durchsuchte sie den Küchenschrank, bis sie eine Dose mit Trockenmilch fand. Nick nahm ihr das Tablett aus der Hand. „Wollen wir den Tee hier trinken oder lieber in Mutters kleinem Heiligtum?" „Laß uns hier bleiben, das ist einfacher." Judith hatte das Gefühl, daß sie mit dieser ganzen Situation besser in der Küche als in Lydias kleinem, kuscheligem Morgenzimmer umgehen konnte. „Jon kommt Weihnachten wohl nicht nach Hause?" Jonathan Campion war zehn Jahre jünger als Nick, die kleinere, respektlosere Ausgabe seines großen Bruders, und studierte derzeit in Harvard, mit dem Ziel, nach dem Abschluß in das Familienunternehmen einzutreten. „Jon verbringt die Feiertage bei seiner Freundin", erzählte Nick. „Sonst wären meine Eltern womöglich doch nicht weggefahren. Es gelang mir ja kaum, sie davon zu überzeugen, daß ich durchaus in der Lage bin, für mich selbst zu sorgen", schloß er trocken. „Was hast du denn letztes Jahr gemacht?" wollte Judith wissen und wünschte im selben Augenblick, sie hätte nichts gesagt, so verächtlich war der Blick, den sie von Nick erntete. „Seit wann interessiert dich das? Außerdem nehme ich doch an, daß meine Eltern dir von meiner Australienreise erzählt haben. Auf das sogenannte Fest des Friedens konnte ich gut verzichten. Besonders friedlich war mir nämlich nicht zumute, wie du dir
vielleicht vorstellen kannst." Judith sagte nichts darauf, sondern trank nur schweigend ihren Tee. Nick stand auf und holte eine Flasche Malzwhisky vom Schrank. „Die haben sie mir heute in der Firma in die Hand gedrückt", sagte er. „Wir hatten nämlich auch eine Weihnachtsfeier, und nachdem weder Dad noch Jon da sind, mußte ich einspringen und mich eine Weile sehen lassen. Wie wäre es mit einem kleinen Schluck?" Judith mochte Whisky nicht, aber unter diesen Umständen konnte er nicht schaden und würde ihr sicher guttun. „Ja, bitte", sagte sie zu Nicks Überraschung. „Ich trinke einen Schluck im Tee." „Im Tee? Du erwartest im Ernst, daß ich diesen wunderbaren Whisky mit Tee verderbe?" „Warum nicht?" Nickt lachte unerwartet und war auf einmal wieder der Mann, in den Judith sich damals verliebt hatte. „Warum nicht! Du hast recht. Sag, wenn es genug ist." Der Alkohol wirkte wunderbar beruhigend. Nick hatte nie viel getrunken, und Judith auch nicht. Ihre große Schwäche war Nick gewesen und jetzt, seit sie sich von ihm getrennt hatte, war es ein gelegentlicher Heißhunger nach Schokolade. Sie hatte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken. Wie langweilig! Nicht einmal eine klitzekleine Orgie hatte sie im letzten Jahr gefeiert. Aber so etwas lag ihr ganz einfach nicht. Sie sah Nick neugierig an. „Bist du seit unserer Trennung eigentlich mit vielen Frauen zusammen gewesen?" wollte sie wissen. „Nein!" fuhr er sie unerwartet heftig an. „Das bin ich nicht. Und wir haben uns auch nicht getrennt, Judith, sondern du hast mich verlassen. Das ist ein gewaltiger Unterschied." „Ja, das stimmt." Sie gab ihm recht. „Ich hätte es dir nicht übelgenommen, wenn du dir andere Frauen gesucht hättest." Sie spürte, wie ihr von dem ungewohnten Alkohol warm wurde. „Sehr großzügig", erwiderte er bissig. „Dann erzähl mir doch einmal von all diesen Männern, an denen du bisher deine sexuellen Künste erprobt hast." „Da habe ich dich angelogen", gestand sie ohne den Hauch eines schlechten Gewissens. „Weil du mich geärgert hast." „Das ist eine meiner schlechten Angewohnheiten." Seine Augen wurden schmal. „Soll das heißen, daß es gar niemanden gegeben hat?" „Und bei dir?? Ihre Blicke trafen sich. „Ich habe es versucht", beichtete Nick ehrlich. „Wenn du die Wahrheit hören willst: Ich habe mir die allergrößte Mühe gegeben." „Wobei?" „Mich in eine andere Frau zu verlieben und dich zu vergessen - zu vergessen, wie gut wir zusammengepaßt haben, wie sehr ich dich zurückhaben wollte." Er hob die Schultern und schob das Kinn vor. „Unglücklicherweise - lach nicht! - funktionierte es nicht. Meine Lust ließ mich ganz einfach im Stich. Ich bin mit einer Reihe von Frauen ausgegangen, aber es lief nichts. Ich machte mir allmählich richtige Sorgen, daß mit mir etwas nicht stimmen könnte. Und das war ja natürlich auch so. Ich hatte dich verloren und konnte nicht den Funken von Interesse an anderen Frauen aufbringen." Er lachte freudlos. „Wirklich sehr komisch." „Nein, das finde ich gar nicht", sagte Judith weich. Ob es wohl der Whisky war, der dieses Gefühl der Wärme in ihr auslöste? „Und du?" Nick sah sie durchdringend an. „War es bei dir auch so?" „Nicht ganz", meinte sie. Sie schenkte sich eine frische Tasse Tee ein, um etwas Zeit
zu gewinnen. Ohne Aufforderung beugte Nick sich vor und schüttete einen Schuß Whisky hinein. „Willst du mich betrunken machen?" erkundigte sie sich. „Nein, bestimmt nicht. Aber nach unserem Abenteuer tut uns ein bißchen Medizin gut. Es ist ja nicht viel." Judith sah zu, wie er sich selbst noch einen kleinen Whisky einschenkte. „Als im Büro bekannt wurde, daß ich... naja, daß ich von dir getrennt war, bekam ich ziemlich viele Einladungen. Aber ich habe nicht eine einzige angenommen. Die Männer wollten doch alle nur mit mir ins Bett gehen, das war ziemlich offensichtlich." „Und das wolltest du nicht." Nick wirkte deutlich entspannter. Judith trank einen großen Schluck Tee. „Nein. Nachdem du so ehrlich warst, kann ich dir auch sagen, daß mir dieser Teil unserer Ehe sehr gefehlt hat - und nicht nur der Teil. Du hast mir gefehlt, Nick. Damit hatte ich nicht gerechnet." Er sprach ganz vorsichtig. „Und du bist wohl nicht auf den Gedanken gekommen, mir mitzuteilen, daß ich dir fehle?" Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Als du nach unserem letzten Treffen so wütend davongefahren bist, dachte ich, daß du mich nicht mehr willst." „Kannst du mir sagen, warum sie dich befördert haben?" wollte Nick wissen. „Soviel Dummheit ist doch nicht zu fassen!" „Ich bin nicht dumm! Wenn du mich zurückhaben wolltest, warum hast du mir das dann nicht gesagt?" „Judith, schließlich warst du es, die gegangen war. Und deshalb hättest du den ersten Schritt tun müssen. Das verlangte ganz einfach mein Stolz." Nick leerte sein Glas mit einem Schluck und sah sie böse an. „Du hast offenbar vergessen, daß ich dreimal versucht habe, dich zu überreden..." „Überreden!" wiederholte sie. Ihre Augen blitzten gefährlich. „Du wolltest nur, daß ich meine Arbeit hinwerfe und die treusorgende Ehefrau spiele. Vielen Dank!" Sie schob das Kinn vor. „Und falls du es vergessen hast: Ich war sogar dazu bereit. Nur eben zu meinen Bedingungen. Aber davon wolltest du ja nichts hören." „War es denn so unverständlich, daß ich dich noch ein bißchen länger für mich allein haben wollte?" gab er zurück. „Du warst noch viel zu jung, um eine Familie zu gründen." Ihr Blick erlosch. „Nur für dich." Judith lehnte sich zurück und sah ihn ruhig an. „Ich verstehe es heute noch nicht, Nick. Wir hatten doch genug Geld. Und ich wäre bereit gewesen, meine Arbeit aufzugeben." „Aber es war dir offenbar nicht genug, mit mir verheiratet zu sein", sagte er bitter. „Nein. Schließlich warst du oft wochenlang weg. Was hätte ich denn mit mir anfangen sollen, während du in der Welt herum gejettet bist?" Judith sah ihn vorwurfsvoll an. „Mit einem Kind hätte ich wenigstens Gesellschaft gehabt." „Meine Mutter hat es ja auch geschafft!" „Ich bin nicht deine Mutter, ich bin ich!" Judith atmete tief durch. „Ich weiß überhaupt nicht, warum wir schon wieder damit anfangen müssen. Aber ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Du warst nicht ganz ehrlich, bevor wir heirateten. Ich war so sehr in dich verliebt, daß Kinder gar kein Thema für mich waren. Ich dachte, ein Kind wäre ganz natürlich, so wie wir füreinander empfanden." „War die Bitte um ein wenig Zeit nur für uns denn so abwegig?" gab er zurück. „Du hast nicht gebeten", sagte sie bitter. „Du hast einfach die Regeln festgelegt. Ich sollte meinen Beruf aufgeben, um nur noch Mrs. Nicholas Campion zu sein und meinen Kinderwunsch in eine nebulöse Zukunft aufzuschieben. Du hast dich benommen wie ein Pascha, Nick. Irgendwann hielt ich die ewigen Streitereien einfach nicht mehr aus. Ich gebe zu, es war feige wegzugehen, während du gerade auf Geschäftsreise warst." „Vermutlich hast du erwartet, daß ich eine Kehrtwendung mache und hinter dir herlaufe, so nach dem Motto: Alles vergeben und vergessen, wir werden es in Zukunft so machen, wie du willst", meinte er hart.
Judith nickte. „Genau das habe ich wirklich erwartet. Lächerlich, nicht? Daran sieht man, wie nötig ich es hatte, endlich erwachsen zu werden." Nick sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. „Ich bin ja auch gekommen", erinnerte er sie dann. „Dreimal. Zweimal war ich in dieser trostlosen Wohnung, die du dir genommen hast, und dann war ich noch einmal in Longhope. Eigentlich hatte ich gehofft, daß Hugh mich unterstützen würde, damit du endlich einsiehst, daß ..." „Einsehen?" wiederholte Judith sarkastisch. „Es ging dir doch nur darum, daß ich tue, was du willst." „Wie auch immer. Hugh war ohnehin keine Hilfe." Nick wich aus. „Im Ernstfall war er dann doch eher der große Bruder als mein alter Freund. Und Margaret lauerte ja förmlich darauf, daß sie sich auf mich stürzen konnte." „Ja", erwiderte Judith trocken. „Ich habe wirklich Glück mit meiner Familie. Sie fanden es zwar nicht richtig, daß ich dich verlasse, aber beide waren der Meinung, daß ich mein Leben nach meinen Vorstellungen leben müsse. Deshalb waren sie noch lange nicht damit einverstanden, was ich da angerichtet hatte." Nick sah sie eine Weile an und lächelte dann ein wenig. „Du weißt natürlich, daß ich regelmäßig mit Hugh telefo niere?" Judith sah ihn ungläubig an. „Nein, das wußte ich nicht. Ich höre es zum erstenmal. Warum?" „Weil ich wissen möchte, wie es dir geht und was du tust. Ich bin ziemlich genau über dich im Bilde." Ihre Augen blitzten plötzlich auf. „Soll das etwa heißen, dass du mir nachspionierst?" „Natürlich nicht! Ich interessiere mich ganz einfach dafür, wie es meiner Frau geht." „Ich bin vielleicht nicht mehr lange deine Frau!" Als Judith Nicks Gesichtsausdruck sah, hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. „Und was, wenn ich fragen darf, hat das zu bedeuten?" fragte er drohend. Sie hob kämpferisch und angriffslustig das Kinn. „Ich war beim Rechtsanwalt wegen einer Scheidung. Heute morgen habe ich einen Brief von ihm bekommen mit - mit einigen Informationen." „Informationen", wiederholte Nick ausdruckslos und sah sie unverwandt an. Judith senkte den Blick. Sie kämpfte um ihre Fassung. „Wir leben doch ohnehin getrennt." „Ich verstehe." Nicks Stimme klang eisig. „Und welchen Scheidungsgrund hättest du angegeben? Wie wolltest du mich gern loswerden?" Sie sah ihn wieder an. „Soweit hatte ich noch nicht nachgedacht ..." „Dann darf ich dich daran erinnern, daß du mich verlassen hast und ich mein Bestes getan habe, dich zur Rückkehr zu bewegen." Er stand unvermittelt auf. „Wer ist es, Judith?" Sie sah verständnislos zu ihm auf. „Der Rechtsanwalt, meinst du?" „Nein! Dein Liebhaber. Der Grund, warum du dich scheiden lassen willst." „Ich habe keinen Liebhaber!" gab sie hitzig zurück. „Und das soll ich gla uben?" „Ja. Es ist nämlich zufällig die Wahrheit." Sie war plötzlich schrecklich wütend auf ihn. „Ist es denn so schwer zu glauben, daß ich einfach nicht mehr mit dir verheiratet sein will?" Der Ärger wich aus seinem Ausdruck. Plötzlich sah er müde aus. „Nein. Schließlich hast du das im letzten Jahr ja mehr als deutlich gemacht." Sie sahen sich wortlos an, bis Judith hätte schreien können. „Unter diesen Umständen kann ich hur hoffen, daß ich morgen irgendwie nach Longhope komme", meinte sie schließlich. Nicks Augen verdunkelten sich. „Keine Angst", stieß er hervor. „Ich werde dich da hinschaffen, egal wie."
Judith trank ganz langsam ihren Tee aus. Sie wünschte sich, daß Nick recht hatte. Lange hielt sie diese Spannung nämlich nicht mehr aus, bevor sie einen Nervenzusammenbruch bekam. Mit oder ohne Nicks Hilfe, morgen brach sie auf jeden Fall nach Longhope auf, und wenn sie dorthin schwimmen mußte!
4. KAPITEL Nick, der nie etwas im Haushalt getan hatte, erstaunte Judith damit, daß er darauf bestand, ihr beim Aufräumen und Saubermachen zu helfen. Sie arbeiteten schweigend nebeneinander. So vieles blieb ungesagt, und die Stimmung zwischen ihnen wurde immer gespannter. Judith war einem Schreikrampf nahe, als die Küche endlich wieder makellos blitzte. Lydia Campion wäre begeistert gewesen - weniger allerdings von der eisigen Höflichkeit, mit der ihr Sohn sich bei seiner Frau erkundigte, ob sie noch etwas brauche. „Ich hätte deine Tasche doch mitnehmen sollen", sagte er ohne erkennbare Gefühlsregung. „Aber ich weiß, daß Mutter für alle Fälle irgendwo neue Zahnbürsten hat. Bedien dich einfach, wenn du etwas brauchst." „Auch wenn ich die Tasche hätte, würde sie mir nicht viel helfen", gab Judith ebenso kühl zurück. „Mach dir um mich keine Gedanken. Ich komme schon zurecht." „Ach, stimmt ja. Du bist ja neuerdings so selbständig und auf niemanden mehr angewiesen. Das hätte ich fast vergessen." Judith blieb auf ihrem Weg aus der Küche noch einmal stehen. „Heute abend hätte ich es ohne dich nicht geschafft", sagte sie und sah Nick ruhig an. „Vielleicht habe ich nicht deutlich genug gemacht, wie dankbar ich dir dafür bin." „Keine Ursache", erwiderte Nick unbewegt. „Das hätte ich für jeden getan." Ein scharfer Schmerz durchfuhr Judith, aber sie versteckte ihn tief in ihrem Inneren, wie sie es auch früher immer getan hatte. Sie gingen nebeneinander die Treppe hinauf. Damals, in glücklicheren Zeiten, hatten sie sich das Gästezimmer in der rückwärtigen Hälfte des Hauses geteilt und sich lieber in einem schmalen Bett aneinander gekuschelt als in zwei getrennten Betten geschlafen. „Du findest mich in meinem alten Zimmer, wenn du etwas brauchst", sagte Nick jetzt. Seine Stimme klang rauh, und Judith wußte, daß er wie sie an die Vergangenheit gedacht hatte. Sie hatten immer gewußt, was der jeweils andere gerade dachte. An Einfühlungsvermögen hatte es ihnen nie gefehlt, sie waren nur nie zu einer Einigung gekommen. Am Kopf der Treppe blieb Nick stehen. „Jedenfalls wirst du bestimmt gut schlafen nach dieser Anstrengung." „Ja, bestimmt. Wie ein Murmeltier", gab Judith zurück, obwohl sie alles andere als davon überzeugt war. Sie schenkte ihm ein etwas unsicheres Lächeln. Nick machte unwillkürlich eine Bewegung auf sie zu und hielt dann abrupt inne, als er sah, wie sie erstarrte. Die Luft schien zu knistern, und die Spannung zwischen ihnen war fast mit Händen greifbar. Judith hielt unwillkürlich den Atem an, dann hob Nick die Schultern und trat einen Schritt zurück. „Gute Nacht, Judith." „Gute Nacht." Sie mußte sich zu einer normalen Gangart zwingen. Als sie endlich die Tür hinter sich schließen konnte, sank sie von innen kraftlos dagegen. Aber dann nahm sie sich zusammen. Es war wirklich lächerlich, wie sie sich anstellte. Sie fand Lydias Vorrat an neuen Zahnbürsten und bediente sich an den vielen Kosmetika im Badezimmerschränkchen, bevor sie nach einem Nachthemd suchte. Ihre Schwiegermutter hatte einen ganz bemerkenswert frivolen, geradezu aufreizenden Geschmack, und Judith verzichtete lieber darauf, sich einer dieser Kreationen zu bedienen. Sie schob die Schublade hastig wieder zu und zog nur ein rosa Satinunterhemd mit Slip an. Normalerweise trug sie im Bett überdimensionale T-Shirts oder schlief gleich nackt. Aber heute kam das nicht in Frage - selbstverständlich nur, weil es dafür zu kalt war, wie sie sich fest einredete. Das große Bett war sehr bequem, aber Judith lag noch lange, nachdem sie das Licht ausgemacht hatte, wach. Sie konnte immer nur an Nick denken. Es war dumm von ihr
gewesen, das Wort Scheidung überhaupt in den Mund zu nehmen. Sie hatte sich aus einem Impuls heraus an einen Rechtsanwalt gewandt, und ihre Reaktion auf seinen Brief hatte sie nur davon überzeugt, daß sie alles andere als eine Scheidung wollte, auch wenn sie sich noch so einzureden versuchte, daß es ihr ohne Nick besser ging. Das war eine schmerzliche Erkenntnis. Judith wälzte sich im Bett. Ob Nick wohl schon schlief? Aber warum interessierte sie das überhaupt? Oder wollte sie vielleicht hinübergehen und ihn fragen, ob er noch Lust hatte, sich ein bißchen mit ihr zu unterhalten? Judith setzte sich auf und machte die Nachttischlampe an. Sie konnte ja doch nicht schlafen. Aus Lydias Buchstapel auf dem Nachttischchen suchte sie sich einen Roman aus, der im Flandern des Mittelalters spielte, und war gerade bis zur zweiten Seite gekommen, als es an die Tür klopfte. „Herein", rief sie mit einer ihr selbst völlig fremden Stimme. Nick erschien unter der Tür und blieb dort stehen. „Alles in Ordnung?" fragte er. „Ich habe noch Licht bei dir gesehen und dachte, es geht dir vielleicht nicht gut." Er trug einen alten Morgenmantel aus Seide, den Judith nur zu gut kannte. Sie lächelte ein wenig unsicher und widerstand mit Mühe dem Bedürfnis, sich die Decke bis unter das Kinn zu ziehen. „Ich konnte komischerweise nicht schlafen. Dabei bin ich eigentlich todmüde." „Soll ich dir etwas Warmes zu trinken machen?" Judith mußte ein Lächeln unterdrücken. Das wäre ihm früher nie eingefallen. Er hatte ihr zwar manchmal Champagner ans Bett gebracht, aber nie heiße Milch. „Nein, danke. Es tut mir leid, daß ich dich gestört habe." „Glaubst du denn, daß ich unter diesen Umständen hätte schlafen können?" stieß er mit unerwarteter Heftigkeit hervor. Judith hielt einen Augenblick den Atem an. „Aber du mußt doch nach unserem Abenteuer auch ganz erschö pft sein." „In mehr als einer Hinsicht." Nick verzog den Mund. „Vielleicht hilft es, wenn wir uns noch ein wenig unterhalten." „Ja, vielleicht." Judiths Kehle war wie zugeschnürt. „Dabei Will ich eigentlich etwas ganz anderes", gestand er dann leise, und sein Ton verursachte Judith eine Gänsehaut. „Ich will dich küssen und in den Armen halten und dich lieben, bis du es nicht mehr aushältst und mich anflehst, dich zu erlösen - so wie früher." Judith starrte ihn fassungslos an. Sie konnte nur hoffen, daß er ihr Herz nicht klopfen hörte. „Tut mir leid. Das habe ich mir inzwischen abgewöhnt." „Vielleicht ist es an der Zeit, daß ich dich einmal um etwas anflehe." Er hatte sich nicht bewegt, sondern stand einfach nur da. Judith hätte sich ihm am liebsten in die Arme geworfen. Aber irgend etwas sagte ihr, daß dies einer der wichtigsten Augenblick in ihrem Leben war und sie nicht gut daran tat, Nick mit offenen Armen in ihrem Bett zu empfangen. Früher hatte sie seinen Avancen hilflos nachgegeben. Die körperliche Liebe war sein Allheilmittel für alles gewesen, und es hatte ja auch gewirkt. Aber das war vorbei. Wenn Nick etwas wollte, würde er darum kämpfen müssen. „Es hätte keinen Sinn", sagte sie endlich. „Wenn man erst um etwas flehen muß, nützt es ohnehin nichts. Das habe ich auf ziemlich drastische Weise gelernt." Nicks Kinn trat schärfer hervor. „Du hast dich verändert." „Das hoffe ich. Ich bin älter geworden - und hoffentlich ein bißchen klüger." „Das heißt also, daß du nicht mit mir schlafen willst?" „Nicht unbedingt", gab sie ehrlich zu. Ein Triumphgefühl blitzte in seinen Augen auf, und er war mit zwei langen Schritten bei ihr. Er zog sie in die Arme und hielt sie ganz eng an sich gedrückt. „Liebling, Liebling ...
Merkst du nicht, daß ein Wunder geschehen ist? Diese Überschwemmung hat uns zusammengebracht. Ich will dich, Judith." „Warum?" fragte sie, ohne den Blick von ihm zu wenden. „Weil wir füreinander bestimmt sind. Das weißt du auch!" Er neigte den Kopf und küßte sie auf diese alte selbstbewußte, aufreizende Weise, die sie so gut kannte. Sie wehrte sich nicht, aber sie reagierte auch nicht. Nach einer Weile hob er den Kopf. Ein fast drohender Glanz stand in seinen Augen. „Keine Antwort?" „Es ist lange her, Nick", erwiderte Judith ruhig. „Beim erstenmal hast du mich überrum pelt. Aber seitdem hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Stellst du dir im Ernst vor, daß mich ein oder zwei Küsse aus dem Gleichgewicht bringen?" Er ließ sie los und stand auf. „Ich möchte dich lieber nicht mit meinen Vorstellungen schockieren. Im Grunde wollte ich dich ja in Ruhe lassen, aber dann sah ich das Licht und... Zum Kuckuck, Judith, zählt es denn überhaupt nicht für dich, ,daß du die einzige Frau in der Welt bist, die mir etwas bedeutet?" fragte er rauh. „Laß doch diesen ganzen Unsinn mit der Scheidung!" „Gut, daß du nie als Diplomat Karriere machen wolltest." Judith sah Nick ungerührt an. „Ich sehe, daß sich nichts geändert hat. Alles leeres Gerede. Von wegen, du willst deine Einstellung überdenken. Du hast dich kein bißchen geändert, Nicholas Campion." Rote Zornesflecken zeichneten sich in seinem Gesicht ab. „Welch erschöpfende Antwort. Gute Nacht, Judith. Keine Angst, du kannst in Ruhe schlafen. Ich werde dich nicht mehr belästigen." Er schloß die Tür mit übertriebener Sorgfalt hinter sich. Judith sah ihm wie erstarrt nach. Ihr war kalt geworden. Es war, als hätte Nick all die Wärme mit sich genommen. Sie machte das Licht aus und rollte sich zusammen. Aber die Kälte breitete sich aus, und bald zitterte sie am ganzen Körper. Ihr wo llte einfach nicht warm werden. Das Satinhemd fühlte sich auf einmal wie eine Eisschicht an, und sie fing an zu husten. Der Durst wurde fast unerträglich, aber sie brachte die Energie nicht auf, das Bett zu verlassen. Endlich machte sie das Licht doch wieder an und tappte auf unsicheren Füßen zum Bad. Da ging die Tür auf, und Nick stürzte auf sie zu. „Judith! Genau das hatte ich befürchtet! Sofort zurück ins Bett mit dir." „Ich habe Durst!" krächzte sie. Er packte sie unter die Decke und brachte ihr ein Glas Wasser. Judith trank hustend und prustend und verschüttete dabei einen Teil des Inhalts. Nick betrachtete ihr dünnes Hemd mit offenkundiger Mißbilligung und kramte dann aus der Kommode seines Vaters einen gestreiften Schlafanzug hervor. „Der ist dir zwar zu groß, aber er ist wenigstens warm. Ich mache dir inzwischen eine Wärmflasche." Unter einem Hustenanfall zog Judith ihr Hemd aus und schlüpfte in George Campions Pyjama. Sie sah ziemlich lächerlich darin aus, aber das kümmerte sie nicht im geringsten. Sie rollte die Ärmel hoch und verkroch sich wieder im Bett. Kurz darauf kam Nick mit einem vollen Tablett und einer in Flanell gehüllten Wärmflasche zurück. „Fühlst du dich besser?" wollte er wissen und stellte das Tablett ab. Die Wärmflasche steckte er unter die Bettdecke neben ihre Füße. „Ich habe Tee gemacht", verkündete er dann. „Es wäre vielleicht gut, wenn du ihn wieder mit einem Schuß Whisky trinkst. Aber paß auf, daß du nichts verschüttest." ' Judith trank ihren Tee, so schnell sie konnte. Nick nahm ihr bei jedem Hustenanfall die Tasse aus der Hand und stellte sie schließlich auf das Tablett zurück, als sie leer war. Dann ging er noch einmal ins Bad und kam triumphierend mit einer Flasche Hustensaft zurück. „Mutter bekommt im Winter immer Husten, deshalb hat Vater darauf bestanden, dieses Jahr mit ihr irgendwohin zu fahren, wo es warm ist." Er maß Hustenmittel in einem kleinen Becher ab und gab ihn Judith. Sie schluckt den Saft gehorsam, legte sich dann wieder hin und zog die Decke bis unters Kinn.
„Danke", flüsterte sie ein wenig heiser. „Jetzt geht es mir schon viel besser." „Aber du zitterst immer noch!" „Das geht bestimmt bald vorbei. Mir ist schon viel wärmer - ehrlich." Aber ihre Zähne schlugen dabei heftig aufeinander. „Ich rufe den Arzt an", erklärte Nick und streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus. „Nein." Judith schüttelte heftig den Kopf. „Sobald es mir richtig warm ist, ist wieder alles gut." Nick legte ihr die Hand auf die Stirn. „Wenigstens scheinst du kein Fieber zu haben." Sie brachte ein etwas zittriges Lächeln zustande. „Geh wieder ins Bett, Nick. Ich bin..." Der Rest des Satzes war unverständlich, weil sie wieder zu schlottern anfing. Mit einem unterdrückten Laut zog Nick die Bettdecke weg und legte sich neben sie. „Betrachte das als Therapie", sagte er rauh und zog sie eng an sich. „Wehr dich nicht ich will nur, daß du nicht mehr frierst." Judith hatte gar nicht die Absicht, sich zu wehren. Sie schmiegte sich gehorsam an ihn, dankbar für die Wärme, die von ihm auf sie überging. Ihr Kopf lag in seiner Schulterbeuge, und ihr Körper paßte sich ganz von selbst seinem an. Bald spürte sie, wie sie sich entspannte. Es war ein wundervolles Gefühl. Eine Weile lagen sie ganz still, nur ihr beiderseitiger Atem war zu hören. Dann änderte sich langsam, fast unmerklich, etwas. Nicks Arme umfaßten sie nachdrücklicher, und sein Atem ging schneller. Aus der Wärme wurde Hitze, und Judith versuchte erschrocken, sich von ihm zu lösen. Aber er hielt sie fest. „Ach, Judith, ich sehne mich so nach dir", stöhnte er dicht an ihrer Wange und ließ die Lippen darüber gleiten, bis er ihren Mund gefunden hatte. Seinem Hunger konnte sie nichts entgegensetzen. Was als einfaches Wärmen und Trösten begonnen hatte, verwandelte sich in Feuer, in Lust, gegen die sie beide nach den langen, einsamen Monaten ohne einander machtlos waren. Blindes Verlangen löschte jeden rationalen Gedanken in Judith aus. Nick küßte sie voller Leidenschaft und streichelte und liebkoste sie am ganzen Körper und drängte sich an sie. Sie barg das Gesicht an seinem Hals, und er zog ihr mit unsicheren Händen den geliehenen Schlafanzug aus und streifte sich dann selbst den Morgenmantel ab. Judith drängte sich an ihn, und als Nick sie wieder zu küssen begann, nahm sie seine suchende, drängende Zunge nur zu willig auf. Als er ihre Brust gefunden hatte, bewegte sie aufreizend die Hüften an seinen, und er ließ den Mund über ihren Hals wandern und nahm eine harte Brustknospe zwischen die Lippen, während er die andere mit der Hand liebkoste. Judith warf den Kopf hin und her. Ihr ganzer Körper schien zu brennen, und ihr war, als müßte sie unter seinen Berührungen schmelzen. All das aufgestaute Verlangen dieses einsamen, endlosen Jahres ohne Nick brach sich Bahn, und als er die Hand über ihren Körper nach unten wandern ließ und den Beweis für dieses Verlangen fand, stieß sie einen unterdrückten Schrei aus. Nicholas Campion hob sich über seine Frau und sah einen Augenblick lang in ihr gerötetes Gesicht hinab, bevor er ihre Hüften ein wenig anhob und tief in sie eindrang. Judith hielt den Atem an. Dann grub sie die Finger in Nicks Schultern und zog ihn näher zu sich. Und Nick stieß einen heiseren Laut aus und begann, sich zu bewegen. Judith nahm seine Bewegungen in vollkommenem Gleichklang auf. So war es immer zwischen ihnen gewesen. Nicks Gesicht war angespannt. Judith wußte, daß er sein Verlangen noch zurückhielt, daß er sich beherrschte, um dieses wundervolle Gefühl hinauszudehnen, bis sie endlich beide die Beherrschung verloren und gleichzeitig zum überwältigenden Höhepunkt kamen. Danach lagen sie erschöpft eng beieinander und schliefen, die Arme umeinander geschlungen, schließlich ein. Nick hielt Judith so fest, als wollte er sie nie
wieder gehen lassen. Als Judith später aufwachte, hielt Nick sie immer noch fest, und bevor sie sich noch klarmachte, was da geschah, reagierte ihr Körper bereits wieder auf seine Nähe. Ein Zittern durchlief sie, als er die Hände über ihren Körper gleiten ließ und sie küßte. Und wieder versanken sie in diesem umfassenden, traumhaften und wortlosen Miteinander. Diesmal streichelte Nick Judith in den Schlaf. Es war taghell, als Judith das nächste Mal aufwachte. Sie war allein. Das Blut stieg ihr heiß ins Gesicht, als ihr auf einmal zum Bewußtsein kam, daß sie nackt war. Sie setzte sich mit einem Ruck auf. Das Bett war völlig zerwühlt. Sie floh ins Bad und unter die Dusche und kramte dann mit schlechtem Gewissen in Lydias Kleiderschrank, um passende Unterwäsche zu finden. In einem Plastiksack mit gebrauchten Kleidern, die offenbar zum Weggeben gedacht waren, fand sie eine alte Jerseyhose. Der Bund war ihr ein wenig zu weit, und die Beine waren viel zu lang, ließen sich aber hochkrempeln. Mit einem Paar Socken von ihrem Schwiegervater und seinem geräumigen roten Pullover fühlte sie sich bald für die kommenden Ereignisse gewappnet. Sie cremte sich noch schnell das Gesicht ein und bürstete die Haare, aber sie vermied es, sich dabei im Spiegel anzuschauen. Wie trat man einem Ehemann, von dem man sich getrennt hatte, nach einer solchen Nacht gegenüber? Judith machte sich gar nicht erst vor, daß Nick an allem schuld war. Die Leidenschaft war beiderseitig gewesen, so wie früher schon immer. Vielleicht war ihre Begegnung nach der langen Zeit sogar noch intensiver gewesen. Ihr gemeinsam überstandenes Abenteuer, der vereint geschlagene Kampf gegen die Elemente hatte sie wehrlos gemacht. Und als sie dann in Sicherheit und in der Geborgenheit und Wärme von Nicks Elternhaus waren, hatte sie wohl ein ganz primitives Bedürfnis nacheinander alles andere vergessen lassen. Aber diese Nacht würde nichts ändern. Nick war und blieb Nick, und Judith hatte nach wie vor nicht die geringste Absicht, nach seiner Pfeife zu tanzen. Judith sah in tödlicher Verlegenheit auf die Stätte ihrer Lust hinunter und zog dann hastig die Wäsche ab. Anschließend machte sie sich widerstrebend auf die Suche nach Nick. Sie hörte ihn im Arbeitszimmer seines Vaters telefo nieren und ging hastig weiter in die Küche und den dahinterliegenden Arbeitsraum, um die Bettwäsche in die Maschine zu stecken. Sie war froh über die wenigen Minuten Schonzeit, die ihr noch blieben. Als sie in die Küche zurückkam, sah sie, daß Nick bereits Frühstück gemacht hatte das erste Mal, seit sie sich kannten. Der Tisch war für zwei gedeckt, Butter, Marmelade und Honig standen darauf. In der Kaffeemaschine brodelte der Kaffee, und im Toaster steckten schon die Brotscheiben und warteten darauf, daß jemand sie röstete. Das alles wirkte so häuslich und gemütlich, daß Judith sich schon längst in Abwehrstellung befand , als Nick in die Küche kam. Er wirkte sehr selbstbewußt, ganz der große Held. „Guten Morgen, Liebling", sagte er und lächelte. Dieses Lächeln hatte früher ihre Knie weich werden lassen. „Guten Morgen", gab sie kühl zurück. „Ich muß sagen, du verblüffst mich. Du hast die Kaffeemaschine offenbar doch bezwungen." Nicks Lächeln erlosch. Er sah Judith eine Weile forschend an, dann wurden seine Züge hart. „Ich verstehe. Vermutlich hat deine Laune zu bedeuten, daß du die letzte Nacht bereust. Ich nehme also an, daß wir wieder da sind, wo wir angefangen haben." „Wenn du damit meinst, daß diese Nacht nichts zwischen uns verändert hat, dann hast du recht", bestätigte Judith. Aber als Nick nur die Achseln zuckte und den Toaster in Gang setzte, spürte sie doch einen scharfen Schmerz in ihrem Inneren. Seine Miene war undurchdringlich, als er die heißen Brotscheiben und die Kaffeekanne auf den Tisch stellte. „Wir können aber doch wohl wenigstens noch
zusammen frühstücken, bevor unsere Wege sich wieder trennen." „Ja, natürlich." Judith setzte sich. Es ärgerte sie, daß Nick ihr ein schlechtes Gewissen einflößte. „Ich habe dich telefonieren hören. Hast du herausgefunden, ob es eine Möglichkeit gibt, nach Longhope zu kommen?" „Ich habe Hugh angerufen. Das heißt, ich habe nur mit Margaret gesprochen, weil Hugh draußen war. Ich habe ihr gesagt, daß du heute im Laufe des Tages kommst, wie auch immer. Du kannst sie nach dem Frühstück anrufen und ihr sagen, daß du rechtzeitig zum Mittagessen da bist." Er bestrich seinen Toast mit Butter und Honig und bat Judith dann, den Kaffee auszuschenken. Er benahm sich, als hätte es die vergangene Nacht nie gegeben. „Willst du nichts essen?" fragte er nach einer Weile, als sie nur an ihrer Tasse nippte. Judith nahm sich eine Scheibe Toast, nicht weil sie Hunger hatte, sondern um ihre Hände zu beschäftigen. „Und wie soll ich nach Hause kommen?" „Damit meinst du vermutlich Longhope. Die Straßen ste hen zwar noch unter Wasser, aber ein Freund von mir, der in Pennington lebt, hat sich bereit erklärt, dich mit dem Hubschrauber hinzubringen. Er kann hier auf der Wiese landen, und in Longhope gibt es auch genug freie Fläche." Judith sah ihn fassungslos an. „ Mit dem Hubschrauber? Das kostet doch bestimmt ein Vermögen!" „Betrachte es als Weihnachtsgesche nk", meinte Nick mit einem nachlässigen Heben der Schultern und hielt Judith seine leere Kaffeetasse zum Nachschenken hin. Dann nahm er sich eine neue Scheibe Toast. „Du mußt ziemlich großen Hunger haben", stellte Judith fest. „Soll ich dir ein Omelette machen?" „Ich pfeife auf dein Omelette!" Nick verlor plötzlich die Geduld und sah Judith böse an. „Nach dieser wunderbaren Nacht - zumindest ich fand sie wunderbar, du offenbar we niger - dachte ich, daß zwischen uns wieder alles in Ordnung ist. Aber, nein. Heute morgen sitze ich wieder einem Eisklotz gegenüber. Ich möchte mein restliches Leben mit dir verbringen, und du bietest mir ein Omelette an!" Judith wurde wütend. „Und du glaubst, eine wunderbare Nacht würde alles andere wieder ungeschehen machen? Du hast dich nicht im geringsten geändert, Nicholas Campion. Wenn etwas nicht stimmt, fällt dir immer nur das Bett als Allheilmittel ein. Aber dieses Mal funktioniert es nicht." Sie versuchte, gerecht zu sein. „Diese Nacht war wundervoll, und der Sex mit dir war noch nie so schön. Das gebe ich ja zu. Aber ich möchte mehr vom Leben. Ich möchte eine Ehe, in der beide geben und nehmen, eine Partnerschaft, in der der eine auf die Bedürfnisse des anderen eingeht. Bei uns ging es immer nur um deine Wünsche und Bedürfnisse." Nicks Augen waren eiskalt. „Wenn das, was letzte Nacht passiert ist, für dich nichts weiter als guter Sex war, können wir uns jede weitere Diskussion sparen. Ich dachte, es wäre Liebe gewesen. Aber da ich mich anscheinend irre, brauchen wir das Thema nicht weiter zu verfolgen." „Das ist mir nur recht", gab Judith bissig zurück. „Wann kommt dieser Hubschrauber?" „Ungefähr um elf Uhr. Deine Sachen sind noch nicht trocken. Du wirst also so bleiben müssen, wie du bist." „Das macht nichts. Es ist mir egal, wie ich aussehe, solange ich nur möglichst bald in Longhope bin. Ich schicke deiner Mutter die Sachen, sobald sie aus dem Urlaub zurück ist." Judith stand mit einem Ruck auf und begann mit heftigen Bewegungen, das Geschirr zusammenzustellen. Nick sah ihr eine Weile dabei zu, dann trank er seinen Kaffee aus, stand auf und verließ wortlos die Küche. Judith hielt in ihrer hektischen Betriebsamkeit inne. Ihr war zum Heulen zumute. Aber dann nahm sie sich zusammen. Sie biß sich auf die Lippen, als sie daran dachte, daß Nick
Weihnachten allein sein würde. Dabei brauchte es nur ein Wort von ihr, und sie würden das Fest hier gemeinsam feiern. Aber dann konnte sie genauso gut gleich wieder in ihr altes Leben zurückkehren, in dem Nick das Sagen gehabt hatte. So sehr sie ihn noch immer liebte, so sehr war ihr auch klar, daß sie das nicht wollte. Sie wollte mehr. Viel mehr. Als die Küche blinkte und blitzte, holte sie ihren noch immer feuchten Mantel und die Stiefel, steckte sie in eine Plastiktüte und sammelte dann ihre restlichen Sachen ein. Nachdem sie das Schlafzimmer aufgeräumt hatte, ging sie zum Arbeitszimmer hinunter und klopfte an die geschlossene Tür. „Was willst du?" fragte Nick unfreundlich, als sie eintrat. Er stand, mit dem Rücken zu ihr, am Fenster. „Lydias Schuhe sind mir zu groß", erwiderte Judith kühl. „Ich wollte dich fragen, ob ich mir ihre Gummistiefel aus leihen kann. Bitte. Meine Stiefel sind immer noch nicht ganz trocken." Nick wandte sich zu ihr um. „Nimm dir, was du brauchst", sagte er. „Bist du fertig? Der Hubschrauber müßte jeden Moment hier sein. Ich habe Margaret schon angerufen und dich angekündigt." Judith schluckte. Allein der Gedanke an den Hubschrauber verursachte ihr Übelkeit. „Nick?" begann sie vorsichtig. Er betrachtete sie mit eine m Stirnrunzeln. „Gibt es noch etwas?" „Vielleicht hast du vergessen, daß ich Angst vor dem Fliegen habe." „Da dich diese Angst daran gehindert hat, mich auf meinen Reisen zu begleiten, habe ich natürlich daran gedacht." Ein ironischer Glanz trat in seine Augen. „Außerdem mußte ich dich auf unserem Flug in die Flitterwochen mit Brandy beruhigen. Weißt du noch?" Judith wurde rot. „Und das war ein Flugzeug und kein Hubschrauber. Es tut mir ja leid, wenn ich dir zur Last falle, aber ich sterbe vor Angst, wenn ich nur an diesen Hubschrauber denke." „Ich dachte, du würdest alles auf dich nehmen, nur um nach Longhope zu kommen weg von mir", gab er böse zurück und seufzte dann. „Hättest du das nicht gleich sagen können? Inzwischen ist Dan sicher schon auf dem Weg." „Würdest du - würdest du dann vielleicht mitkommen?" fragte Judith, der Verzweiflung nahe. Seine Augen verengten sich. „Würde das denn einen Unterschied machen?" „Ja", gestand sie und sah ihn flehend an. „Bitte, Nick." Er hob die Schultern. „Na, gut. Ich kann Dan ja wohl kaum eine Passagierin zumuten, die von einem hysterischen Anfall in den nächsten fällt. Ich hole mir nur schnell eine Jacke und sperre ab, und dann warten wir draußen auf dem Rasen. Hoffentlich kann Dan mich wieder mit zurücknehmen." „Ich beteilige mich natürlich an den Kosten", bot Judith an, als sie nebeneinander auf der Wiese standen. Der Hubschrauber war bereits zu sehen. „Das ist nicht nötig", gab Nick mit gepreßter Stimme zurück. „Schließlich hast du den Hubschrauber nicht bestellt. Also brauchst du ihn auch nicht zu bezahlen. Ich habe dir doch gesagt, daß es mein Weihnachtsgeschenk an dich ist Und jetzt keine weiteren Debatten mehr. Du wirst es überleben." Seine letzten Worte gingen im Lärm der Rotoren unter. Der Hubschrauber tauchte jetzt wie eine riesige Libelle über dem Dach von Friar's Heaven auf, schwebte über den Rasen und drückte dabei mit seinen Luftwirbeln das Gras flach auf den Boden. Dann setzten die Kufen auf .Nick lachte und winkte dem Piloten zu, dann duckte er sich und zog Judith in gebückter Haltung hinter sich her. Er schob sie in die Maschine und erklärte Dan Abbott die Änderung des Plans. Dann schnallte er Judith, die wie erstarrt neben ihm saß, fest und setzte sich neben sie. Judiths Magen drehte sich um, als der Hubschrauber abhob und ratternd über den Baumwipfeln in die Wintersonne entschwebte. Eine glitzernde Wasserfläche breitete sich
unter ihnen aus. Aus der Luft war das ganze Ausmaß der Überflutung deutlich zu erkennen. Aber Judith brachte es nicht über sich, aus dem Fenster zu schauen. Sie saß starr und steif, den Blick ins Leere gerichtet, und klammerte sich wie eine Ertrinkende an Nicks Hand. Es sind ja nur ein paar Minuten, versuchte sie sich zu beruhigen. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, daß sie so feige und ängstlich war. Wahrscheinlich hielt der Pilot sie für eine undankbare dumme Gans. Zehn Minuten später setzte Dan Abbott die Maschine sanft auf der Brachwiese unterhalb der Longhope Farm auf, aus sicherer Entfernung von der Familie Long und einigen Farmarbeitern bewundert. Während die Rotorblätter langsam zu einem Halt kamen, löste Nick Judiths Sicherheitsgurt und half ihr dann beim Hinausklettern. Die Zuschauer kamen angelaufen, allen voran Judiths zehnjährige Zwillingsneffen Jack und Charlie, die sich von ihrer Tante gebührend beeindruckt zeigten. Margaret Long, eine hochgewachsene, gut aussehende Frau in Cordjeans, dickem Pullover und erdverschmierten Gummistiefeln, warf nur einen Blick auf Judith und nahm sie dann wortlos in die Arme und hielt sie ganz fest. Dan Abbott schlug die freundliche Einladung zum Kaffee aus, weil er nach Yeovilton weiterfliegen mußte. Judith drehte sich mit einem Ruck um. „Nick? Heißt das, daß du nicht mehr zurück nach Hause kommst?" „Ich könnte ihn heute nachmittag wieder abholen, Mrs. Campion", schlug Dan vor. „Um vier Uhr werde ich in Gloucester erwartet. Ist dir drei Uhr recht, Nick?" Judith spürte die Mißbilligung ihrer Familie und wurde rot, als Nick sich einverstanden erklärte. „Tut mir leid, daß ich dir diese Mühe mache, Dan. Ich wäre auch gar nicht mitgekommen, wenn Judith mich nicht mehr oder weniger dazu gezwungen hätte. Du hast ja gesehen, was mit ihr los ist. Also habe ich mich einfach mit eingeladen." „Das möchte ich dir auch nicht anders geraten haben", sagte Hugh jetzt mit unerwarteter Heftigkeit und sah seine Schwester düster an. „Margaret hat reichlich gekocht - sind Sie sicher, daß Sie nicht bleiben wollen, Abbott? Sie wären uns mehr als willkommen." Aber zu Jacks und Charlies großer Enttäuschung ließ Dan Abbott sich nicht überreden. Hugh zog seine Söhne aus der Gefahrenzone, Und kurz darauf hob der Hubschrauber wieder ab und verschwand im südlichen Himmel über dem Severn. Judith fühlte sich wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, als Hugh und die Jungen zusammen mit Nick zum Haus zurückgingen. Ihr Bruder war ganz offensichtlich über den Besuch seines alten Freundes sehr glücklich. Margaret war bei ihr geblieben und sah sie jetzt besorgt an. „Was ist los, Judith? Du siehst wie ein Geist aus. Und versuch nicht, den Hubschrauber vorzuschieben. Da steckt mehr dahinter." Judith spürte entsetzt, daß ihr die Tränen hochstiegen. Margaret packte sie am Arm und zog sie mit sich zur Scheune. „Komm, ich zeige dir, was ich für morgen vorbereitet habe", sagte sie so laut, daß die Männer sie hören mußten. „Vielleicht könntest du mir noch ein wenig helfen." Die Scheune war ein wunderschönes Gebäude mit einer Balkendecke, Backöfen und einem großen Tisch. Früher hatte man nach der traditionellen Fasanenjagd hier gegessen und gefeiert. Aber heute wurden nur noch Tontauben geschossen, und die Scheune wurde nur noch an Weihnachten, wenn die ganze Familie zusammenkam, und zu gelegentlichen anderen Feiern und Festen genutzt; „So." Margaret schloß mit Nachdruck die Tür. „Brütest du vielleicht nach eurem feuchten Abenteuer eine Grippe aus? Oder ist sonst etwas passiert? Was hat dich überhaupt zu diesem unerwarteten Besuch bei uns veranlaßt?" Judith sah Margaret unglücklich an und schniefte. Dann sprudelte sie - fast - alles
heraus: angefangen mit dem Brief des Rechtsanwalts über das zufällige Zusammentreffen mit Nick bis hin zu der Erkenntnis, daß sie ihn immer noch liebte. „Und geht es Nick genauso?" wollte Margaret wissen und ging zum Tisch. „Komm, setz dich. Das Essen kann noch ein bißchen warten. Hugh wird Nick in der Zwischenzeit schon unterhalten." Judith ließ sich auf einen Stuhl sinken und holte tief und zittrig Luft. „Er möchte, daß ich zu ihm zurückkomme." „Das wollte er immer", meinte Margaret. Judith seufzte. „Ach, ja, das hatte ich vergessen. Hugh und Nick waren ja ständig in Verbindung." „Nick macht sich Sorgen um dich." Margaret verzog das Gesicht. „Wir mußten sehr auf ihn einreden, damit er nicht zu dir rennt und eine Versöhnung erzwingt." „Typisch Nick - wie kann man eine Versöhnung erzwingen!" Judith hob die Schultern. „Außerdem soll sich überhaupt nichts ändern, wenn es nach ihm geht." „Hat er das denn gesagt?" Judith dachte nach. „Naja - eigentlich nicht." „Dann hör dir doch erst einmal an, was er zu sagen hat, Liebes. Vielleicht irrst du dich ja." „Aber er hat letzte Nacht ziemlich klargemacht..." Judith unterbrach sich abrupt und wurde dunkelrot. „Ich meine..." „Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was du meinst." Margaret lachte. „Ich nehme an, Nick hat die Situation schamlos ausgenutzt." Judith hob die Hände. „Er hat immer geglaubt, mit Sex könnte er alles wieder zurechtbiegen. Aber das allein ist nicht genug, Mag. Ich habe mich im letzten Jahr sehr daran gewöhnt, daß ich selbständig bin und tun kann, was ich will." „Aber das könntest du doch auch, wenn du zu Nick zurückgingst." „Du fandest es immer falsch, daß ich ihn verlassen habe, nicht wahr?" „Vor allem deshalb, weil ich glaube, daß ihr beide wie füreinander geschaffen seid. Oder willst du behaupten, daß du seit eurer Trennung glücklich bist?" Margaret ließ sich nichts vormachen. Judith sah ihre Schwägerin eine Weile schweigend an. Dann putzte sie sich geräuschvoll die Nase und stand auf. „Kommen Sie, Mrs. Long. Es wird Zeit zum Essen. Außerdem habe ich meine Nichte noch gar nicht begrüßt. Paßt deine wunderbare Nancy auf sie auf?" Margaret hob die Hände. „Gut, gut, ich habe verstanden: Ich soll mich um meinen eigenen Kram kümmern. Laß uns gehen. Du kannst Tabitha füttern, wenn du willst. Meine wunderbare Nancy ist heute unterwegs, um noch die letzten Weihnachtseinkäufe zu tätigen."
5. KAPITEL Am Vorweihnachtstag war das Mittagessen auf der Longhope Farm fast so festlich wie am großen Tag selbst. Judith bewunderte ausgiebig die noch wackligen Gehversuche ihrer kleinen Nichte Tabitha, die diese mit begeistertem Krähen begleitete. In erstaunlich kurzer Zeit war Nicks Gegenwart für sie zur Selbstverständlichkeit geworden, und auch er schien sich wie zu Hause zu fühlen. So war es immer gewesen. Die Zwillinge bestürmten ihn mit Fragen zu der Überschwemmung und vor allem zu dem Hubschrauberflug, so daß er kaum dazu kam, sich mit Hugh zu unterhalten - geschweige denn mit Judith. Judith hatte Tabithas Hochstuhl neben sich stehen und fütterte das kleine Mädchen. So konnte Nancy Margaret beim Auftragen des Essens helfen. Judith war froh darüber, daß sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf Tabitha konzentrieren konnte. Und auf einmal merkte sie, daß sie so glücklich war wie schon lange nicht mehr. „Das Essen war hervorragend, Margaret", lobte Nick, als er sich nach dem letzten Bissen zufrieden zurücklehnte. „Ich hatte schon ganz vergessen, was für eine fantastische Köchin du bist." Hugh lachte. „Kochen war noch nie eine von Judiths Stärken." Er fuhr zusammen, als Margaret ihn unter dem Tisch anstieß. Nick lächelte. „Stimmt", meinte er nur und beschäftigte sich dann wieder mit den Zwillingen. „Dann erzählt ihr beiden mir doch einmal, was ihr euch zu Weihnachten gewünscht habt." Die Liste war endlos, und die beiden Jungen sprachen aufgeregt durcheinander. Margaret und Nancy teilten Kuchen aus, der mit Himbeeren aus eigener Ernte belegt war. Judith lehnte ab. Sie nahm die kleine Tabitha aus ihrem Stuhl und setzte sich mit ihr in den alten Schaukelstuhl am Kamin. Das kleine Mädchen lehnte sich an sie und legte einen kleinen runden Arm um ihren Hals. Langsam wurden ihr die Augenlider schwer, und sie schlummerte ein. Als Judith nach einer Weile den Kopf hob, sah sie mitten in Nicks Augen. Eine schiere Ewigkeit sahen sie sich so an. Judith war die erste, die den Blick senkte. Sie strich zärtlich über Tabithas weiche Locken. i „Wo bringt dein Freund dich eigentlich nachher mit seinem Hubschrauber hin, Nick?" wollte Margaret wissen. „Zurück nach Friar's Heaven." Hugh wunderte sich. „Ich dachte, deine Eltern seien in der Karibik. Das hat Judith uns jedenfalls erzählt." „Dass stimmt auch." „Du hast doch wohl nicht vor, Weihnachten allein zu Hause zu verbringen?" fragte Margaret schockiert. Sie warf Judith einen vorwurfsvollen Blick zu, als wäre ihre Schwägerin dafür verantwortlich. „Ich werde es überleben", antwortete Nick belustigt. „Aber du mußt hier bleiben!" forderte der kleine Charlie energisch, und sein Zwillingsbruder nickte heftig dazu. „Kannst du Mr. Abbott erreichen?" erkundigte Margaret sich. Judith war längst klar, worauf ihre Schwägerin hinaus wollte. Sie seufzte resigniert. „Doch, das kann ich", meinte Nick jetzt. Er mied Margarets Blick. „Warum?" „Das ist ja wohl nicht schwer zu erraten", erklärte Hugh. „Ruf deinen Freund an und sag ihm, daß du nicht mit ihm zurückfliegst. Wir bestehen darauf, daß du Weihnachten hier bleibst und mit uns feierst. Dann sind auch sicher die Straßen wieder passierbar, und ich fahre dich hin, wo immer du hinwillst." Nick schien ausnahmsweise einmal nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er räusperte sich. „Das ist wirklich sehr nett von euch, aber..." „Nichts, aber", gab Margaret in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, zurück. „Und erzähl mir nicht, du wolltest mir nicht noch mehr Arbeit machen. Wir sind morgen
einundzwanzig Leute beim Essen, da macht ein einzelner nicht den allergeringsten Unterschied." „Die Entscheidung liegt nicht allein bei mir", meinte Nick zögernd. Alle Blicke bündelten sich auf Judith. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, und hob scheinbar gleichgültig die Achseln. „Ja, natürlich mußt du bleiben, Nick, wenn du willst." „Und ob ich will", bekräftigte er. „Ich möchte sehr gern hierbleiben." Ein kurzes Schweigen entstand, dann sprang Margaret entschlossen auf. „So, an die Arbeit, Leute. Judith kümmert sich um Tabitha, alle anderen helfen Nancy beim Abwaschen und Aufräumen. Ich muß noch backen." Judith hatte mit dem schlafenden Kleinkind auf dem Schoß gar keine andere Wahl, als in ihrem Schaukelstuhl sitzen zu bleiben. Nancy wollte mit Hugh, der die Zwillinge bei einer Geburtstagsparty abliefern mußte, nach Chepstow fahren, um noch einige Einkäufe zu erledigen, und zu Judiths Überraschung wollte Nick ihn begleiten. Eine halbe Stunde später waren Margaret und Judith mit dem Baby allein in der Küche. „Stört es dich, wenn Nick bleibt?" fragte Margaret, während sie Kreise aus ihrem Pastetenteig ausstach. „Nein", antwortete Judith, die damit beschäftigt war, die Kräuterfüllung für die beiden riesigen Truthähne herzustelle n, die über Nacht in den Scheunenöfen gebraten werden sollten. „Einfach nur ,nein'?" „Wie stünde es mir an, mich in deine Gästeliste einzumischen, liebe Schwägerin?" fragte Judith ein wenig süffisant. „Glaubst du, daß das genug Petersilie ist?" „Die Petersilie interessiert mich nicht. Ich wollte nur wissen, ob ich dir mit der Einladung Weihnachten verdorben habe." „Da mein ursprünglicher Plan darin bestand, Weihnachten allein in meiner Wohnung zu verbringen, ist Longhope in jedem Fall eine Verbesserung", versicherte Judith fröhlich. „Die Sache hat in meinen Augen allerdings nur einen Haken: Ich Habe praktisch nichts anzuziehen, bis meine Sachen trocken sind. Und die sind leider auch nicht gerade besonders festlich." „Heute abend sind sie trocken, und wenn nicht, kannst du dir etwas von mir borgen und mit einem Gürtel von Hugh zusammenhalten." Margaret lachte. „Und wenn du dir über die Bettenverteilung Gedanken machst: Ich stecke Nick in Tabithas Zimmer und stelle ihr Bettchen zu uns ins Schlafzimmer." Judith hatte den Blick unverwandt auf den Truthahn unter ihren Händen gerichtet. „Nein, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Deine Eltern schlafen sicher in dem einen Gästezimmer. Wer hat das zweite?" Margaret erklärte ihr das ziemlich komplizierte System. Der Bruder wurde mit Frau und Söhnen, die bei Charlie und Jack schlafen wurden, ebenfalls erwartet. Sie lachte. „Ich wage noch gar nicht daran zu denken, was die vier zusammen in einem Zimmer alles anstellen werden! Sonst kommen noch Nancy und ihre Eltern und die Petersons mit ihren Kindern, aber nur zum Essen. Ach ja, und meine Schwester Charlotte mit ihrem Mann Tom." Nachdem die Pasteten gebacken und die Truthähne gefüllt waren, fütterte Judith Tabitha mit Käsebrot und Joghurt, zog ihr den Schneeanzug an und setzte sie in den Buggy. Dann fuhr sie mit der Kleinen in die Scheune hinüber, um Margaret bei ihren Festvorbereitungen Gesellschaft zu leisten. Rote Laternen und Mistelzweige hingen von den Deckenbalken. Die lange Tafel war mit einem grünen Tischtuc h und roten Servietten gedeckt, Efeu und Stechpalmen sorgten für festlichen Schmuck. Judith verteilte Kerzen, Geschirr und Gläser auf dem Tisch, jeder Gast bekam ein Knallbonbon mit weihnachtlichem Motiv. Margaret schlang inzwischen grüne Girlanden um Pfosten und Balken und sah dann nach, ob genug Holz für den Kamin da war, damit ihnen auch nicht kalt wurde.
Anschließend betrachtete sie ihr Werk kritisch. „Glaubst du, daß das genug Mistelzweige sind?" „Mehr als genug! Wie geht es weiter?" Margaret sah auf ihre Armbanduhr und stieß einen Pfiff aus. „Ich schlage vor, daß wir Tabitha in die Badewanne stecken und uns dann in aller Ruhe eine Tasse Tee gönnen, bevor die Bande zurückkommt." Kurz darauf saß die frisch gebadete Tabitha auf Judiths Schoß und nuckelte zufrieden an ihrer Flasche. Die vordere Haustür ging auf, und Margaret und Judith tauschten einen vielsagenden Blick. Normalerweise benützten alle den hinteren Eingang. Nach einigem geräuschvollem Hin und Her kamen schließlich Nick und Hugh in die Küche, offensichtlich sehr zufrieden mit sich. „Wir haben Nancy noch nach Hause gebracht", erklärte Hugh und gab seiner Frau einen Kuß. Sie lachte und lud Nick ein, sich zu setzen. „Hugh, sei ein Engel und mach Nick frischen Tee und gib ihm etwas zu essen. Dann kannst du deine Tochter nehmen und Judith eine kleine Pause gönnen." Judith lächelte Nick an. „Wie war euer Ausflug nach Chepstow?" „Schön. Ich habe viele Leute getroffen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe." „Und alle wollten sich unbedingt mit ihm unterhalten", warf Hugh ein. „Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir unsere Einkäufe erledigt hatten." „Ach, was?" fragte Margaret. „Ich dachte, nur Nancy wollte einkaufen." „Mir fehlte auch noch das eine oder andere." Nick lächelte. „Schließlich hatte ich nicht damit gerechnet, daß ich Weihnachten hier feiere." Er sah Judith an. „Und was hast du alles gemacht, abgesehen davon, daß du Miss Long unterhalten hast?" „Beim Schmücken der Scheune geholfen, die Truthähne gefüllt, Riesenberge Gemüse geschält und geschnipselt." Judith übergab Tabitha ihren Vater und sah betrübt auf ihre Hände hinunter. „Ich hoffe, der Weihnachtsmann bringt mir einen Vorrat an Handcreme." „Da fällt mir ein..." Margaret sah sie besorgt an. „Ich hoffe, du hast unsere Geschenke für dich nicht auch im Wasser verloren?" „Nein. Ich habe sie zu Hause gelassen. Ich bin dermaßen überstürzt aufgebrochen, daß ich gar nicht daran gedacht habe, sie mitzunehmen", antwortete Judith schuldbewußt. „Ein Glück", meinte Hugh und lächelte sie über den Kopf seiner Tochter hinweg an. „Hauptsache, du bist hier. Alles andere ist nicht wichtig." Judith erwiderte sein Lächeln. Auf einmal drang von draußen eine wunderschöne klare Jungenstimme zu ihnen herein, die ein Weihnachtslied sang. Bald fielen andere mit ein. Margaret ging zur Tür und öffnete sie. Ein halbes Dutzend Jungen aus dem Kirchenchor standen vor ihr. „Haben Sie einen besonderen Wunsch, Mrs. Long?" erkundigte der älteste Junge sich, als das Weihnachtslied verklungen war. „Auf einer Farm hören die Leute immer gern etwas Rustikales." Alle lachten, dann fingen die Kinder wieder an zu singen. Nach dem letzten Lied kamen sie alle in die warme Küche und fielen über den inzwischen bereitgestellten Kuchen und die heißen Getränke her. Nick verteilte unauffällig Ge ld, während Judith die Becher nachfüllte und Tabitha vor Begeisterung über soviel Besuch in die Hände klatschte. Zum Schluß bedankten sich alle, und im Weggehen sangen die Jungen noch eine Strophe von ,Stille Nacht, Heilige Nacht'. Sie waren kaum verschwunden, als ein Motorengeräusch zu hören war, und Minuten später trafen Margarets Eltern auf der Farm ein und wurden begrüßt wie längst verloren geglaubte Angehörige. Daß Nick auch da war, nahmen sie als
selbstverständlich hin. Er half, das Gepäck und die vielen Päckchen auszuladen, während die Großeltern sich nach den Zwillingen erkundigten und die kleine Tabitha umarmten und küßten. „Ist die Kleine aber groß geworden!" rief Mrs. Slater. Margaret lachte. „Du hast sie doch erst vor vier Wochen gesehen, Mutter." Aber das kümmerte Mrs. Slater gar nicht. Sie wies die Einladung zu einer Tasse Tee ab und bestand darauf, ihre kleine Enkeltochter persönlich ins Bett zu bringen. Hugh sah auf die Uhr. „Ich sollte die Jungen allmählich abholen", stellte er fest. „Vielleicht kann ich mich ein bißchen nützlich machen", bot Nick an. „Wenn du mir deinen Landrover anvertraust, hole ich sie." Hugh bedankte sich. „Dann kann ich mit meinem Schwiegervater noch in Ruhe ein Gläschen trinken, bevor die beiden Rabauken über ihn herfallen. Nimm doch Judith mit", meinte er. „Nein, danke", wehrte diese schnell ab. „Ich wollte vor dem Essen eigentlich noch baden." Nick schenkte ihr einen langen Blick und fing dann die Wagenschlüssel auf, die Hugh ihm zuwarf. Er ging ohne ein Wort. Hugh machte Judith Vorwürfe, weil sie Nick gegenüber so abweisend und feindlich sei, wo er sich doch solche Mühe gebe, zwischen ihnen wieder alles in Ordnung zu bringen. Bevor sie noch Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen, kam Margarets Vater zu ihnen, und Judith überließ die beiden Männer nur zu gern sich selbst. Oben hörte sie aus Margarets und Hughs Schlafzimmer eine quengelige Kinderstimme, und im nächsten Augenblick tauchte Margarets Mutter auf. Sie lächelte. „Ich wollte dich gerade suchen, Judith. Tabitha besteht darauf, daß du ihr noch gute Nacht sagst. Sonst will sie nicht einschlafen. Ist sie nicht ganz entzückend? Was ich dir übrigens noch sagen wollte, Liebes: Ich bin ja so froh, daß du und Nick wieder zusammen seid." Sie gab Judith einen Kuß und ging dann nach unten. Dabei summte sie ein fröhliches Weihnachtslied. Judith fühlte sich nicht in der Lage, ihr zu widersprechen. Sie ging zu ihrer kleinen Nichte und erzählte ihr eine Geschichte, während Margaret sich umzog. Als sie nebeneinander auf den Gang hinaustraten, sah Judith ihre Schwägerin kriegerisch an. „Hast du deiner Mutter erzählt, daß Nick und ich wieder zusammen sind?" „Natürlich nicht." „Sie scheint es jedenfalls zu glauben." „Das schließt sie vermutlich daraus, daß ihr beide hier seid." Margaret strich ihr über die Wange. „Spiel einfach mit, Judith. In zwei Tagen ist alles vorbei, dann kannst du wieder weiterleben wie bisher. Bis dahin versuch einfach, die Feiertage bei uns zu genießen." Judith umarmte sie. „Das werde ich, danke. Tut mir leid, daß ich manchmal so eine Spielverderberin bin." Eine halbe Stunde später hatte sie wieder ihre eigenen Sachen an. Pulli und Hose hatten unter der rauhen Behandlung zwar ein wenig gelitten, aber sie paßten wenigstens im Gegensatz zu den geliehenen Kleidern. Sie bürstete ihre frisch gewaschenen Haare, bis sie glänzten, schminkte sich ein wenig und schlüpfte dann in ihre alten Cordpantoffeln, die in Longhope immer auf sie warteten. Als sie nach unten kam, waren alle anderen schon um den Küchentisch versammelt und warteten voller Appetit auf das Abendessen aus heißem Schinken, Salat und Kartoffeln. Nick stand auf und schob Judith den Stuhl neben sich zurecht. Sie saß kaum, als die Zwillinge sie mit einer lebhaften Schilderung der Party, auf der sie gewesen waren, und vor allem der Preise, die sie bei allen möglichen Spielen gewonnen hatten, überfielen. „Schade, daß Onkel Nick uns nicht im Hubschrauber abgeholt hat", meinte Charlie mit
ehrlichem Bedauern, und alle lachten. Dann machten sie sich hungrig über ihre gefüllten Teller her. Judith war so sicher gewesen, daß sie in der emotionsgeladenen weihnachtlichen Stimmung Schwierigkeiten mit Nick haben würde. Und jetzt stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß ihre Befürchtungen grundlos gewesen waren. Es gab soviel zu tun, ständig war etwas los, und sie und Nick waren nicht einen Augenblick allein. Sie hätten flüchtige Bekannte sein können, so problemlos gingen sie miteinander um. Judith mußte sogar zugeben, daß Nick in dem ganzen Trubel eine große Hilfe war. Er unterhielt sich mit Jim Slater über seine Reisen und lauschte geduldig den Kriegserzählungen des alten Mannes. Hugh hatte alle diese Geschichten schon hundertmal gehört und war dankbar, daß jemand ihm die Rolle des Zuhörers abnahm und er seine beiden Söhne ins Bett bringen und später Margaret beim Füllen der Weihnachtsstrümpfe helfen konnte. „Glauben die Zwillinge eigentlich noch an den Weihnachtsmann?" wollte Judith wissen. „Nein, natürlich nicht." Hugh lachte. „Aber sie haben vor einiger Zeit einstimmig beschlossen, daß sie Tabithas wegen, die ja noch so klein sei, freundlicherweise noch so tun würden." „Und natürlich, weil sie nicht auf ihren Strumpf verzichten wollen!" Mrs. Slater lachte. „Kann ich dir noch irgend wie helfen, Margaret?" Aber die Arbeit war größtenteils getan. Alle Geschenke waren unter dem großen Baum in der Halle aufgebaut, das Essen war so weit wie möglich vorbereitet, und jetzt mußten nur Hugh und Nick noch die beiden Riesentruthähne zur Scheune tragen und in die Öfen schieben. Margaret und Judith begleiteten sie. „Du siehst müde aus", sagte Margaret zu Judith, als sie zum Haus zurückschlenderten. „Am besten gehst du schon einmal ins Bett. Ich muß in einer halben Stunde die Hitze herunterdrehen." „Geh einfach mit, Nick", sagte Hugh, ohne nachzudenken. „Du hast für einen Abend genug von den alten Geschichten gehört. Nach dem, was ihr beide durchgemacht habt, müßt ihr ja todmüde sein." Er bekam keine Antwort. Aber Judith merkte auf einmal, daß ihr Bruder und seine Frau recht hatten. Sie war wirklich sehr müde, und der nächste Tag würde früh anfangen. Gewöhnlich hielt es die Zwillinge schon in der Dämmerung nicht mehr im Bett, weil sie es nicht erwarten konnten, bis sie sich auf ihre Geschenke stürzen durften. Jetzt lächelte sie strahlend, ohne Nick dabei anzuschauen. „Ich glaube, ich werde wirklich schon ins Bett gehen. Gute Nacht allerseits, bis morgen früh." Sie winkte zum Abschluß in die Runde und floh dann förmlich aus der Küche und schloß die Tür mit Nachdruck hinter sich. Sie ging zum Baum und überprüfte schnell die Geschenkanhänger. Hoffentlich ertappte niemand sie dabei! Sie fand ihren eigenen Namen auf mehreren Päckchen, geschrieben in Nicks unverwechselbarer Handschrift. Genau damit hatte sie nach seinem Einkaufsnachmittag mit Hugh gerechnet. Judith ging, tief in Gedanken versunken, die Treppe hinauf in das vertraute Zimmer, das in den letzten Jahren Schauplatz so vieler Emotionen gewesen war: von Trauer beim Tod ihrer Eltern, Kummer über Pickel und ein paar Pfund zuviel als Teenager, von überschäumender Freude, als sie ihre Prüfungen bestanden hatte, dem Glück mit Nick. Und ihrer Verzweiflung. Sie setzte sich auf das Doppelbett und betrachtete sich in dem hohen Drehspiegel, der einmal ihrer Mutter gehört hatte. Dann zog sie kurz entschlossen die untere Schublade der altmodischen Mahagonikommode auf, in der sie immer ein paar Kleidungsstücke für den Notfall aufbewahrte. Unter einem alten Sweatshirt fand sie ein kleines in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen, das seit genau einem Jahr dort lag. Seit dem
letztjährigen Weihnachtsfest. Sie war sich so sicher gewesen, daß zwischen ihr und Nick wieder alles in Ordnung kommen würde, daß sie Überstunden gemacht hatte, um ihm ein kostbares Geschenk machen zu können. Aber er war über Weihnachten in Australien geblieben, und so hatte sie, davon überzeugt, daß er nichts mehr von ihr wissen wollte, das Geschenk für ihn unter den Kleidern versteckt. Seitdem war sie allein. Judith nahm das Geschenkpäckchen heraus, schrieb Nicks Namen auf einen kleinen Anhänger und schlich sich schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte, die Treppe hinunter und versteckte es unter dem Weihnachtsbaum hinter den anderen Geschenken. Dann schaute sie noch schnell nach Tabitha. Das kleine Mädchen hatte die Decke abgeschüttelt und schlief auf Armen und Knien. Judith legte sie vorsichtig auf die Seite, deckte sie zu und sah dann noch eine Weile in das gerötete kleine Kindergesicht. Da hörte sie ein Geräusch von der Tür und drehte sich um. Nick stand da und beobachtete sie. Sie ging auf Zehenspitzen zu ihm, und er nahm ihre Hand und zog sie auf den Gang hinaus und zu seinem Zimmer. „Ich würde dich gern sprechen", erklärte er und schob sie durch die Tür. Er knipste die kleine Nachttischlampe an und drehte sich dann zu ihr um. „Worum geht es?" fragte Judith, als er sie nur schweigend ansah. „Darum", erwiderte er und nahm sie ohne Ankündigung in die Arme und küßte sie so hart, daß sie sich nicht wehren konnte. Judith kämpfte gegen ihre Reaktion an, aber dann gab sie auf und erwiderte Nicks Kuß mit Hingabe, bis er sich schließlich von ihr löste und das Gesicht in ihrem Haar verbarg. Judith trat einen Schritt zurück, und er ließ die Arme fallen. Sein Atem kam unregelmäßig, seine Miene war undurchdringlich. „Ich wollte dir nur unter vier Augen gute Nacht sagen." Ihre Blicke trafen sich. „Bist du mir böse, weil ich mich hier eingeschlichen habe?" „Einschieichen kann man das wohl kaum nennen", meinte Judith, immer noch atemlos. „Wenn ich mich wegen des Hubschraubers nicht so angestellt hätte, hättest du mich ja wohl gar nicht erst begleitet." „Ich hätte mich immerhin weigern können zu bleiben." Er verzog den Mund. „Hoffentlich habe ich dir jetzt die Feiertage nicht verdorben." Judith schüttelte den Kopf. „Nein, das hast du nicht." Sie lächelte verschmitzt. „Sie wären mir eher verdorben gewe sen, wenn du allein nach Friar's Heaven zurückgeflogen wärst. Margaret und Hugh hätten mir die Hölle heiß gemacht, wenn ich darauf bestanden hätte." „Wolltest du deshalb, daß ich bleibe?" „Natürlich. Weswegen sonst?" Sie lächelte, um ihrer Antwort die Schärfe zu nehmen, und gähnte dann unfreiwillig. „Aber jetzt muß ich wirklich ins Bett gehen. Weihnachten fängt hier früh an." Sie tauschten einen langen Blick, dann lächelte auch Nick. „Dann ab mit dir. Gute Nacht." Judith war davon .überzeugt, daß dieser Kuß sie doch nicht schlafen lassen würde. Aber sie hatte sich kaum zugedeckt, als ihr die Augen zufielen. Irgendwann nachts wachte sie mit einem Ruck auf, als die Tür zu ihrem Zimmer sich leise öffnete. Jemand trat geräuschlos an ihr Bett und blieb dort stehen. Es war dunkel, aber Judith brauchte kein Licht, um den Besucher zu erkennen. Sie lag ganz still und atmete flach, um ihm vorzumachen, daß sie schlief. Sie hoffte halb, daß Nick zu ihr kommen würde - und wollte gleichzeitig, daß er wieder ging. Und als er sie dann so geräuschlos, wie er gekommen war, verließ, war sie enttäuscht. Sie drehte sich um und versteckte das Gesicht in ihrem Kopfkissen.
6. KAPITEL Es dauerte lange, bis Judith nach Nicks nächtlichem Besuch wieder einschlafen konnte. Und als dann beim ersten Lichtstrahl Jack und Charlie, mit ihren Weihnachtsstrümpfen beladen, in ihrem Zimmer auftauchten, war sie noch nicht ganz bei sich. „Können wir hereinkommen, Tante Ju?" erkundigte Jack sich im Flüsterton. „Dad hat gesagt, wir sollen dich schla fen lassen, aber mit dir macht es viel mehr Spaß, die Strümpfe aufzumachen." „Natürlich dürft ihr hereinkommen." Judith gähnte und rieb sich die Augen. „Jack, gib mir doch bitte den Pullover vom Stuhl, die Heizung ist noch nicht an. Mach das Licht an, Charlie." „Wir dürfen nicht so laut sein, damit wir Tabitha nicht wecken", warnte Charlie und hüpfte direkt neben Judith ins Bett. „Komm, Jack. Was treibst du da eigentlich so lange?" Jack grinste von einem Ohr zum anderen. „Was ist denn los?" wollte Judith wissen, als sie ihren Pullover über den Kopf zog. Jack ging zum Fußende des Bettes zurück, bückte sich und hob einen Weihnachtsstrumpf hoch - eine elegante gelbe Wollsocke, ganz anders als sein eigener, von Margaret selbst gestrickter ziemlich geräumiger Strumpf. „Mensch", sagte Charlie beeindruckt. „Du hast ja auch einen Strumpf bekommen." „Ja, es sieht so aus." Judith wußte nicht, was sie davon halten sollte. „Offenbar hat der Weihnachtsmann mitbekommen, daß ich die große Flut überlebt habe." Jack kratzte sich am Kopf und betrachtete sie zweifelnd. „Du glaubst doch nicht wirklich an das Zeug?" Judith lächelte ein wenig. „Ich fürchte, dieses Jahr bleibt mir gar nichts anderes übrig." Trotz des Drängens ihrer Neffen bestand sie darauf, daß die beiden ihre eigenen Strümpfe zuerst leerten. Die Schokolade und die Mandarinen wurden gleich vertilgt, die anderen Schätze gebührend bewundert, dann drängten Jack und Charlie Judith, endlich auch ihre eigenen Geschenke zu öffnen. Sie wäre dabei viel lieber allein gewesen, aber das konnte sie ihren Neffen nicht antun. Unter ihren gespannten Blicken förderte sie ein Paar auffallende Ohrringe aus bunten Glasperlen, eine kleine Schachtel mit Trüffelpralinen, einen Schlüsselanhänger mit ihren Initialen, ein Stück teurer Seife, den zweiten gelben Strumpf und schließlich, statt der traditionellen Schokoladenmünzen, ein in glänzendes Goldpapier gewickeltes Schokoladenherz zutage. „Ich glaube nicht, daß das alles vom Weihnachtsmann ist", meinte Charlie sachlich. „Von wem es auch ist, es war eine wunderbare Idee", brachte Judith ein wenig heiser hervor. Sie räusperte sich. „Ah! Ich glaube, ich höre Miss Tabithas klangvolle Stimme." „Soll ich sie holen?" schlug Jack vor. „Dann kann sie ihren Strumpf auch hier auspacken." „Ja, warum nicht?" Judith lächelte. Sie hätte die ganze Welt umarmen können, so glücklich war sie mit einem Mal. „Bring doch auch ihre Sachen mit, dann ziehen wir sie gleich an. Eure Mutter hat heute genug Arbeit." Die Zwillinge zogen los, um ihre kleine Schwester zu holen, und Judith betrachtete noch einmal ausgiebig ihre Geschenke. Nicks Geste rührte sie so, daß sie ihn mit offenen Armen empfangen hätte, wäre er in diesem Augenblick in ihrem Zimmer aufgetaucht. Als er dann ein paar Minuten später tatsächlich kam, bemerkte sie ihn zunächst gar nicht. Sie saß mit Tabitha in den Armen im Bett, die Zwillinge zu ihren Seiten, und zusammen halfen sie der Kleinen, ihre Sachen aus dem Strumpf zu ziehen und auszuwickeln. Das Bett quoll vor lauter Geschenken fast über. Irgendwann sah Judith auf und entdeckte Nick. Sie lächelte, als seine Augen aufleuchteten und er zu ihr kam. „Fröhliche Weihnachten", wünschte sie ihm strahlend. „Schau, was uns der
Weihnachtsmann gebracht hat." Charlie und Jack wetteiferten darum, wer Nick seine Geschenke zuerst zeigen durfte, und Tabitha hob die Arme und wollte hochgenommen werden. Mit einem komisch nervösen Gesichtsausdruck hob Nick sie aus dem Bett und hielt sie einen Moment, bevor er sie auf den Boden neben ihren neuen bellenden Plüschhund setzte. „Du liebe Güte, was ist denn hier los?" fragte Margaret, als sie kurz darauf ebenfalls in Judiths Zimmer kam. „Wahrscheinlich wünschst du dir glühend, du wärst doch nach Hause gefahren", sagte sie dann zu Nick. Er nickte. „Unbedingt. Statt mich hier so prächtig mit deinem wilden Haufen zu unterhalten, könnte ich jetzt ganz allein meine Ruhe und meinen Frieden genießen." „Das meinst du nicht so!" behauptete Jack erschüttert, und Nick lächelte ihm zu. „Nein, Jack. Ganz bestimmt nicht. Ich habe nur Spaß gemacht. Ich bin sehr froh darüber, daß eure Mutter mich eingeladen hat." Judith hüstelte. „Ich könnte euch wohl nicht dazu überreden, mich ein paar Minuten allein zu lassen? Nachdem ich schon Tabitha angezogen habe, würde ich mich jetzt gern auch salonfähig machen." Margaret lachte und hob ihre kleine Tochter hoch. „Los, raus mit euch. Das Frühstück ist in ein paar Minuten fertig, Nick." Statt den anderen zu folgen, trödelte Nick noch ein wenig herum. „Guten Morgen", wünschte er Judith mit einem Lächeln, als sie endlich allein waren. In seinen neuen Hosen und dem dunkelroten Pullover, die er beide am Tag zuvor in Chepstow gekauft hatte, sah er sehr elegant aus. „Guten Morgen. Danke für den Weihnachtsstrumpf. Ich... ich habe mich sehr darüber gefreut", sagte Judith ein wenig unsicher. „Wirklich sehr." Nicks Augen waren so blau wie Enzian an diesem sonnigen Wintermorgen. „Das war ein Friedensangebot. Vielleicht könnten wir wenigstens für heute unseren Streit vergessen und Weihnachten zusammen genießen." Judith nickte. „Ich genieße es jetzt schon." Sie lächelte und schob sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. „Das mit dem Strumpf war eine ganz wunderbare Idee. Aber jetzt würde ich mich gern anziehen, wenn du mir fünf Minuten gibst." „Nachdem heute Weihnachten ist, will ich großzügig sein und gebe dir zehn!" Als Judith wenig später in der Küche auftauchte, fütterte Hugh gerade seine Tochter, und Margaret stellte das Frühstückstablett für ihre Eltern zusammen. Nick und die Zwillinge saßen am Tisch bei Schinken und Ei. „Ich bringe das Tablett hinauf", erbot Judith sich sofort. „Du willst bestimmt nach den Truthähnen schauen." „Das habe ich schon erledigt. Sie werden genau richtig." Margaret stellte einen Toastständer auf das Tablett. „Aber du kannst das Frühstück trotzdem hinauftragen. Ich würde nämlich jetzt ganz gern selbst frühstücken." Nick sprang auf. „Ich kann das auch übernehmen." Hugh lachte. „Meine Schwiegermutter bekommt einen Anfall, wenn du hereinplatzt und sie in Lockenwicklern siehst. Überlaß das lieber Judith." „Wenn du zurückkommst, ist dein Frühstück fertig", versprach Margaret und kehrte an den Herd zurück. „Nick, iß auf, solange es noch warm ist." „Sie ist nicht glücklich, wenn sie andere Leute nicht herumkommandieren kann", meinte Hugh resigniert. Nick lachte. „Einen Befehl zum Essen kann ich gut aushalten." Judith lieferte ihr Tablett ab, wünschte Jim und Betty Slater ein frohes Weihnachtsfest und lief dann wieder in die Küche hinunter. An ihrem Platz stand ein Teller mit Rührei. „Oh. Aber, Mag..." „Nichts, aber", entgegnete Margaret fest und setzte sich ebenfalls. „Heute morgen
wird anständig gegessen. Ich habe uns geräucherten Lachs gegönnt." „O je", sagte Judith beeindruckt. „Wie soll ich da widerstehen?" „Warum haben wir keinen Räucherlachs bekommen?" beschwerte Charlie sich und machte gehorsam den Mund auf, als seine Tante ihm eine Gabel voll anbot. Dann verzog er das Gesicht. „liih! Schinken und Eier schmecken besser." „Siehst du?" erwiderte Margaret. „Das wußte ich vorher scho n." „Willst du auch probieren?" fragte Judith Nick nach einem kleinen Zögern. Nick schüttelte den Kopf. „Nicht, daß ich Charlies Meinung wäre, aber iß deinen Lachs nur selbst. Es ist selten genug, daß du dir ein anständiges Frühstück gönnst." „Gegen Margaret komme ich nicht an", erklärte Judith fröhlich und widmete sich ihren Eiern. „Hm, köstlich." „Eigentlich gehört zu Lachs doch Champagner", warf Hugh hoffnungsvoll ein. „Kommt überhaupt nicht in Frage!" gab seine Frau streng zurück. „Wann dürfen wir endlich unsere Geschenke auspacken?" wollte Jack wissen. „Das fragst du jedes Jahr." Margaret schüttelte den Kopf. „Und die Antwort ist jedes Jahr dieselbe: Nach dem Frühstück, wenn der Weihnachtspudding aufgesetzt ist." Sie ignorierte den klagenden Augenaufschlag ihres Sohnes, schenkte Kaffee aus und hob Tabithas neuen Plüschhund vom Boden auf. Dann setzte sie sich mit einem Seufzer. „Ich liebe Weihnachten", behauptete sie strahlend. Hugh ging nach oben, um das Frühstückstablett von Margarets Eltern zu holen. Sie selbst würden in fünf Minuten kommen, informierte er die anderen, als er zurückkam. Die Jungen liefen schon einmal voraus in die Halle und setzten sich auf die Treppe, damit die große Zeremonie ohne weitere lästige Verzögerung anfangen konnte, wenn ihre Großeltern endlich erschienen. Schließlich war es soweit. Margarets Eltern saßen auf der Polsterbank in der Halle, Judith hatte Tabitha auf dem Schoß und ihre beiden Neffen neben sich, Nick lehnte am Treppenpfosten, und Margaret und Hugh hatten sich vor dem Baum aufgestellt und verteilten die Päckchen. Die Zwillinge waren als erste an der Reihe, damit ihre Seelen endlich Frieden hatten. Judith wußte, daß ihr Hauptgeschenk draußen wartete, und war gespannt darauf, was sie für Augen machen würden, wenn sie es sahen. Bevor die Erwachsenen also an der Reihe waren, strömte alles nach draußen in die kalte Wintersonne. Zwei funkelnde Mountainbikes lehnten an der Wand, und die Zwillinge stürzten sich mit einem Jubelschrei darauf. „Halt!" schrie Judith, als sie davon sausen wollten. „Bevor ihr losfahrt, müßt ihr unbedingt noch meine Geschenke auspacken! Die braucht ihr dazu." Als Charlie und Jack mit den Helmen und Radlerhosen, die Judith ihnen gekauft hatte, ausstaffiert waren, waren sie so aufgeregt, daß ihr Vater sie erst beruhigen mußte, bevor er sie fahren ließ. Nach einer Weile überließen die Erwachsenen sie ihrer Begeisterung und gingen zurück in die Wärme, um ihre eigenen Geschenke in Empfang zu nehmen und auszupacken. Nicks Einkaufsbummel war sehr erfolgreich gewesen, stellte Judith fest. Für sie hatte er ein Paar braune Cordjeans, flache braune Wildlederschuhe, eine honigfarbene Seidenbluse und eine Weste in weichem braunem Handschuhleder erstanden. Ihre hochroten Wangen und ihr gestammelter Dank gingen in all den Freudenbekundungen und gegenseitigen Küssen und Umarmungen, mit denen alle ihre Geschenke öffneten, völlig unter. Für Hugh hatte Nick eine Kiste Wein und für Margaret eine wunderschöne Porzellanschüssel gekauft. Als ein wenig Ruhe eingekehrt war und Tabitha zufrieden in einem Wust von Geschenkpapier saß und die Slaters sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten, holte Judith das kleine Päckchen für Nick aus seinem Versteck unter dem Baum hervor und drückte es ihm in die Hand. „Fröhliche Weihnachten, Nick", sagte sie mit rauher Stimme, und das Blut stieg ihr ins Gesicht, als er sie forschend ansah. Er entfernte die Schleife und das
Geschenkpapier aufreizend langsam und sorgfältig, bis endlich ein kleines Lederetui zum Vorschein kam. Judith versteifte sich unwillkürlich, als er es öffnete. Ungläubig betrachtete er die goldenen Manschettenknöpfe mit seinen eingravierten Initialen und sah zu ihr auf. Sein Schweigen war so auffällig, daß Margaret aufmerksam wurde. „Zeig her", forderte sie ihn, auf. „Oh, sind die schön! Schau doch, Hugh!" Hugh betrachtete die Manschettenknöpfe eine Weile und sah dann seine Schwester an. Sie war hochrot im Gesicht. „Wo sind die denn her?" Sie zuckte nachlässig die Achseln. „Ach, die habe ich noch gehabt." Sie bückte sich, um Tabitha auf den Arm zu heben. „Ich glaube es wird Zeit, daß wir etwas tun. Nick, vielleicht hast du ein Auge auf die beiden Rennfahrer da draußen, während ich Margaret helfe. Die Gäste werden bald da sein." „Alles der Reihe nach", erwiderte Nick und nahm sie mitsamt dem Baby in die Arme und küßte sie. Tabitha lachte entzückt, als er sie an sich drückte. „Danke, Judith. Ich weiß nicht, wie ich zu der Ehre komme, aber es sind die schönsten Manschettenknöpfe, die ich je gesehen habe." Der Rest des Tages verlief ziemlich hektisch. Judith begrüßte zusammen mit den anderen Familienmitgliedern die Gäste, half Margaret bei der Arbeit und schlichtete einen Streit zwischen den Zwillingen und ihren Cousins und Freunden. Als Hugh schließlich den ersten Truthahn tranchierte, war sie in einem fast euphorischen Zustand, wie sie ihn seit ihrer Hochzeit nicht mehr erlebt hatte. Sie hatte die Sachen, die Nick ihr geschenkt hatte, gleich angezogen und die Ohrringe angesteckt. Sie reichte die Soße, den Rosenkohl und die Kartoffeln herum, während Nick Teller brachte und forttrug, den Wein ausschenkte und immer wieder Holz im Kamin nachlegte. Es herrschte eine fröhlich festliche Stimmung. Alle hatten guten Appetit mitgebracht, und es blieb so gut wie nichts übrig. Nach dem Essen durften die Kinder zum Spielen nach draußen gehen, während die Erwachsenen den neuesten Klatsch und sonstiges Wissenswertes austauschten. Nick sah Judith an. „Wie geht es jetzt weiter?" „Wir machen Kaffee, Hugh serviert den Portwein, und irgendwann gehen die Nachbarn nach Hause. Dann ruhen sich alle ein bißchen aus, am Abend gibt es wieder etwas zu essen, und dann wird gespielt - ich warne dich nur vor." Nick lachte. „Und was wird gespielt?" „Ach, Charaden und ähnliches, eher alberne Spiele. Aber sie machen Spaß." Ein Schatten flog über Judiths Gesicht. „Was ist los?" wollte Nick wissen. „Nichts." Judith lachte, und der Schatten verflog. Sie hatte an das Weihnachtsfest vor einem Jahr denken müssen, als es so schwer gewesen war, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen. Aber sie hatte es irgendwie geschafft. Als Judith später den Kaffee ausschenkte, kamen die Jungen herein und berichteten begeistert, es habe angefangen zu schneien. „Schnee!" stieß Margarets Schwester Charlotte hervor und fuhr erschrocken hoch. „Keine Angst", sagte Hugh und schob sie auf ihren Stuhl zurück. „Ihr übernachtet einfach hier. Dann kann Tom auch ein Gläschen Port trinken." „Aber..." „Wunderbare Idee", befand Margaret sofort. „Ihr werdet bei dem Wetter doch ni cht zurückfahren wollen! Wir bringen euch schon irgendwo unter. Und unseren Spielen tut es nur gut, wenn so viele wie möglich mitmachen." Charlotte war schnell überredet, und erst, als das letzte Spiel vorüber war und alle sich nach ihrem Bett sehnten, fragte sie, wo sie und Tom schlafen sollten. Margaret zögerte, und da sagte Judith: „Wie wäre es mit Tabithas Zimmer?" Margaret sah Judith nur forschend an, während sich alle für die Nacht
verabschiedeten. Dann kam Nick, der mit Hugh noch einmal nachgesehen hatte, ob das Feuer in der Scheune gelöscht war, zurück und schüttelte sich den Schnee ab. „Was ist los?" fragte er und sah von Margaret zu Judith. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus", sagte Judith wie ne benbei, „aber ich habe deine Sachen aus Tabithas Zimmer geräumt. Charlotte und Tom sollen dort schlafen." „Kein Problem", erwiderte Nick prompt. „Ich mache es mir auf irgendeinem Sofa bequem." „Das ist nicht nötig", meinte Judith im selben nachlässigen Ton. „Du kannst bei mir schlafen." Nick sah sie etwas verwirrt an, während Margaret sich hastig verabschiedete und ihren fassungslosen Mann mit sich zog. „War das dein Ernst?" fragte Nick rauh. „Es wäre doch ziemlich dumm, bei diesem Wetter auf einem Sofa zu schlafen. Das Haus kühlt ziemlich schnell ab und ich möchte doch nicht, daß du dir eine Lungenentzündung holst." Judith sah sich um. „Hier scheint alles in Ordnung zu sein. Ich glaube, ich gehe hinauf. Kommst du?" Er nickte nur stumm und folgte ihr in die Halle und die Treppe hinauf bis in das Zimmer, in dem sie ihr Leben lang, bis zu ihrer Heirat mit Nick, geschlafen hatte. „Das Zimmer hat leider kein eigenes Bad", sagte sie ein wenig atemlos. „Aber ich glaube, die anderen sind alle schon mit dem Zähneputzen fertig." „Soll ich zuerst gehen?" fragte Nick mi t unnatürlicher Stimme. Judith nickte und drückte ihm seine Waschsachen, die er am Tag zuvor in Chepstow gekauft hatte, in die Hand. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, zog sie sich schnell aus und holte ein gewagtes Nachthemd, das sie einmal vor Jahren geschenkt bekommen und nie getragen hatte, aus einer Schublade hervor. Dann schlüpfte sie in einen alten Frotteebademantel und sah sich im Spiegel an. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen glänzten. Nick kam zurück, und sie lief schnell an ihm vorbei ins Bad. Er war noch immer angezogen, als sie zurückkam. „Ich war mir nicht ganz sicher, welche Verhaltensregeln in diesem Fall gelten", erklärte er. Seine Miene war undurchdringlich. „Es erschien mir ein wenig anmaßend, mich ohne Einladung einfach in dein Bett zu legen." Judith biß sich auf die Unterlippe und kicherte. Und dann konnte Nick sich plötzlich entspannen und lachte mit. „Du mußt zugeben, daß das nicht ganz einfach für mich ist. Ich wußte gar nicht, wie mir geschieht, als du mich so ohne Vorwarnung bei dir einquartiert hast." „Tut mir leid, daß Hugh und Margaret dabei waren. Das war dir sicher etwas peinlich." Sie hob die Schultern. „Aber du kannst dir gern ein kaltes Sofa irgendwo suchen, wenn dir das lieber ist." „Du weißt genau, daß es das nicht ist!" Mit einem schnellen Schritt war er bei ihr. Aber er faßte sie nicht an, sondern sah ihr nur ins Gesicht. „Eine solche Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, Judith Campion. Da müßte ich ein Idiot sein. Außerdem", fuhr er fort und zog sich den Pullover aus, „gibt es mir die Möglichkeit, endlich in Ruhe mit dir zu reden. Ja, du hast richtig gehört - ich will mit dir reden", wiederholte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Judith fröstelte plötzlich. „Könnten wir das vielleicht im Bett tun? Mir ist kalt." Nick schlug wortlos die Bettdecke zurück, streifte Judith den Bademantel ab und steckte sie ins Bett. Dann zog er sich schnell aus und schlüpfte neben sie. Er legte sich auf den Rücken und machte keinen Versuch, sie zu berühren. Nur ihre Hand nahm er. Dann drehte er den Kopf zu ihr. „Ich würde dir gern etwas sagen", flüsterte er ihr ins Ohr. „Ja, bitte. Margaret hat mich schon ermahnt und mir eingeschärft, daß ich dir endlich
einmal richtig zuhören soll." „Da bin ich Margaret aber sehr dankbar", meinte Nick trocken. „Also, um gleich mit dem Wichtigsten anzufangen: Ich will ganz bestimmt keine Scheidung. Für mich bist du meine Frau, und ich möchte, daß du es bleibst. Und wenn du wissen willst, warum, kann ich nur einen Grund anführen: Ich liebe dich." „Aber liebst du mich auch genug?" wollte Judith wissen. „Viel zu sehr für meinen Seelenfrieden, wenn du mich fragst! Also, wenn du deine Stelle behalten, nie in deinem Leben ein Flugzeug besteigen und ein Dutzend Babys haben willst - meinen Segen hast du, solange du zu mir zurückkommst und ich der Vater bin." Er lachte ein wenig gepreßt. „Das wollte ich dir schon sagen, als ich dich besuchen wollte." Judith drehte sich zu ihm um. „Ist das wahr?" „Ja. Ich mag meine Fehler haben, aber ich lüge nicht, Judith." Ihr wurde von innen her warm. Und das hatte nichts mit seiner körperlichen Nähe zu tun. „Es muß nicht gerade ein Dutzend sein", meinte sie nach einer Weile. Nick lag ganz still. Dann zog er sie langsam, als wäre sie unendlich kostbar und zerbrechlich, in die Arme und küßte sie. „Heißt das Ja?" flüsterte er dann. „Ja, natürlich", gab sie zurück. „Und warum, wenn ich fragen darf, warst du dann gestern in Friar's Heaven so schrecklieh abweisend beim Frühstück?" wollte er wissen und schüttelte sie leicht. Judith fühlte die Wut wieder. „Weil du es da für vollkommen selbstverständlich gehalten hast, daß eine Nacht voller... voller..." „Glück?" fragte er hilfreich und schloß die Arme fester um sie. „Ich wollte eigentlich sagen ,Sex'! Aber daran hast du dich ja so gestört." „Mit Recht!" gab er grimmig zurück. „Du hast kein Wort über meine Arbeit oder Kinder gesagt." „Das wollte ich ja. Ich war bereit, auf jede Bedingung einzugehen, wenn du es genau wissen willst. Aber nachdem ich gerade die schönste Nacht meines Lebens mit dir verbracht hatte, war deine eiskalte Abfuhr am Morgen wie ein Schlag ins Gesicht!" „Ich war einfach verlegen", gestand sie leise. „Ich war so entschlossen gewesen, kühl und ungerührt zu bleiben, als wir im Haus deiner Eltern gestrandet waren. Da habe ich es einfach übertrieben. Und dann war mir kalt, und du mußtest mich wärmen, und irgendwie konnte ich dann nicht widerstehen!" „.Mußte?" wiederholte Nick und lachte. „Ich habe einfach die Gelegenheit ergriffen." Er machte eine kleine Pause. „An die Folgen habe ich gar nicht gedacht." „Ah! Deshalb willst du mich also zurück - falls es ,Folgen' gehabt hat!" erklärte Judith gespielt betrübt. „Das Kind soll deinen Namen haben. Darum geht es dir." „Den hätte es sowieso, ob du zurückkommst oder nicht", sagte Nick düster und schüttelte sie wieder. „Aber du kommst doch zu mir zurück, Liebling?" Sie nickte und wandte ihm das Gesicht zu, so daß er sie küssen konnte. „Warum bist du dir da auf einmal so sicher?" „Ich war mir von dem Moment an sicher, in dem ich dein Geschenk gesehen habe. Das kam nicht nur aus einem Impuls heraus. Du mußt die Manschettenknöpfe schon vor einiger Zeit gekauft und gravieren haben lassen. Wann wolltest du sie mir schenken?" „Letztes Jahr an Weihnachten." Nick verspannte sich. „Letztes Jahr?" Judith stieß einen langen, etwas zittrigen Seufzer aus. „Ja. Ich war so davon überzeugt, daß wir wieder zusammenfinden, daß ich Überstunden gemacht habe, um dir etwas ganz Besonderes schenken zu können. Aber du bist in Australien geblieben." Das kam vorwurfsvoll. „Ich kam mir furchtbar dumm vor." Nick barg das Gesicht in ihrem Haar. Seine Arme hielten sie wie Stahlklammem. „Und
ich bin nicht nach Hause gekommen, weil ich es Weihnachten ohne dich einfach nicht ausgehalten hätte! Was waren wir doch für Dummköpfe!" Er berührte ihr Gesicht. Es war naß von Tränen. „Nicht weinen, Judith. Ab jetzt wird alles anders werden - sicher nicht vollkommen, aber ganz bestimmt anders. Ich kann mich zwar nicht über Nacht ändern, aber ich habe schon vor langer Zeit damit angefangen. Als ich zu dir wollte, war ich bereit, mich auf alles einzulassen, solange wir nur Zusammensein konnten." „Als ebenbürtige Partner?" fragte Judith. „Ja, als richtige Partner. Aber auch als Liebende - und als Freunde." Judith schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn hingebungsvoll. „Oh, Nick, ich bin ja so glücklich," Auf einmal mußte sie kichern. „Nur vor dem Frühstück morgen fürchte ich mich ein wenig. Du weißt ja, was sie alle denken werden." „Das kümmert mich herzlich wenig", meinte Nick mit belegter Stimme und ließ den Mund an ihrem Hals hinunterwandern, „Aber wenn sich ohnehin schon alle ausmalen, wie leidenschaftlich unsere Nacht war, dann wäre es doch ein Jammer, sie zu enttäuschen." „Da hast du recht", erwiderte Judith atemlos, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als seine Hände sich auf Wanderschaft begaben. „Sobald das Wetter besser ist, werde ich Hugh bitten, uns nach Friar's Heaven zu fahren. Und dann schließe ich die Tür zu, um dich nur für mich zu haben. Wenn du willst", fügte er schnell hinzu. „Ich finde, das ist eine wunderbare Idee", erwiderte Judith verträumt. Nie hätte sie gedacht, daß man so glücklich sein konnte. „Wir haben ja soviel nachzuholen. Ich liebe dich so sehr, Nick. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben." Nick stieß einen langen Atemzug aus und hielt Judith ganz fest. „Deine Manschettenknöpfe sind wunderbar, Liebling. Aber daß du mich liebst, ist mein schönstes Geschenk." Er rieb zärtlich die Wange an ihrer. „Diese Trennung war die Hölle. Jetzt habe ich das Gefühl, als wäre ich in einem sicheren Hafen gelandet." „Das hast du schön gesagt", flüsterte Judith mit unsteter Stimme. „Und ganz gleich, was ist, du stehst für mich immer an erster Stelle, Babys oder nicht!" Sie zog ihn ganz fest an sich. „Ach, ich weiß nicht", meinte Nick nachdenklich. „Wenn wir eine kleine Tochter hätten wie Tabitha, könnte mich das schon ein bißchen ablenken." „Herzlichen Dank", erwiderte Judith entrüstet. „Aber dann wirst du mich auch teilen müssen." „Das ist wahr. Deshalb ist es nur vernünftig, wenn wir uns ausschließlich aufeinander konzentrieren, solange wir noch die Chance dazu haben. Meinst du nicht? Ist das meiner wunderschönen, unwiderstehlichen Partnerin recht?" „Voll und ganz", erklärte Judith mit Nachdruck und überließ sich dann an diesem schönsten Weihnachtstag ihres Lebens ganz und gar und ohne jeden Vorbehalt den zärtlichen Liebkosungen ihres Mannes. -ENDE –