Der Dunkle Oheim Im Bann der schwarzen Ringe von Marianne Sydow
Atlan - König von Atlantis - Nr. 481
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In das Ges...
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Der Dunkle Oheim Im Bann der schwarzen Ringe von Marianne Sydow
Atlan - König von Atlantis - Nr. 481
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In das Geschehen in der Schwarzen Galaxis ist Bewegung gekommen – und schwerwiegende Dinge vollziehen sich. Da ist vor allem Duuhl Larx, der verrückte Neffe, der für gebührende Auf regung sorgt. Mit Koratzo und Copasallior, den beiden Magiern von Oth, die er in seine Gewalt bekommen hat, rast er mit dem Organschiff HERGI EN durch die Schwarze Galaxis, immer auf der Suche nach weiteren Kolle gen, die er ihrer Lebensenergie berauben kann. Der HERGIEN folgt die GOL'DHOR, das magische Raumschiff, mit Koy, Kolphyr und vier Magiern an Bord. Die Pthorer sind Duuhl Larx auf der Spur, um ihm seine beiden Gefangenen abzujagen, und nähern sich dabei dem Zentrum der Schwarzen Galaxis. Atlan und Razamon sind in Etappen ebenfalls in die Nähe des Ortes ge langt, an dem die Geschicke der Schwarzen Galaxis gelenkt werden. Jetzt allerdings befinden sich der Arkonide und der Berserker in einer fast aussichtslosen Lage. Deshalb setzen sie auch alles auf eine Karte und wagen einen verzweifelten Versuch, der ihnen letztlich das Leben rettet und neue revolutionäre Erkenntnisse bringt. Kernpunkt dieser neuen Erkenntnisse ist DER DUNKLE OHEIM …
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan und Razamon - Der Arkonide und sein Gefährte in einer
Todesfälle.
Der Dunkle Oheim - Der Herr der Schwarzen Galaxis.
Yeers und Olken - Zwei körperlose Wesen.
Kil'Dhun - Ein Horniger.
Pyrun - Ein Diener des Kosmokraten.
YEPHENAS I und YEPHENAS II - Eine gespaltene
Superintelligenz.
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1.
Die SEDHYRIT trieb steuerlos durch das All. Der Antrieb streikte, und die Luftversorgung funktionierte nur noch sporadisch. Das einzige Gerät, das an Bord des Beiboots zu diesem Zeitpunkt noch arbeitete, war ein Bildschirm – und er zeigte nicht das, was die Männer, die in diesem flie genden Sarg eingeschlossen waren, sehen wollten. »Ich bin sicher, daß jemand die Kamera steuert«, sagte Razamon. »Das kann kein Zufall mehr sein.« Atlan beobachtete den Bildschirm nachdenklich. Im Augenblick war die Sonne Ritiquian darauf zu sehen, samt dem schwarzen Ring, der sich um den Glutball schlang. Es war ein Bild, das instinktive Furcht weckte. At lans Ruhe und die Selbstsicherheit, die er nach dem ersten Schock ent wickelt hatte, zerbröckelten unter dem Ansturm von Ängsten, die der Ar konide nie zuvor in dieser Intensität gefühlt hatte. Nach einigen Minuten wanderte die Sonne nach rechts aus dem Bildfeld heraus. Dafür kam der Planet Ritiquian in Sicht, ebenfalls von einem schwarzen Ring umgeben. Aber dieser Anblick wirkte eher beruhigend auf die beiden Männer. Vielleicht wußte der unbekannte Regisseur das – falls es ihn gab –, denn er sorgte stets dafür, daß die erholsame Pause nur kurze Zeit dauerte. Auch diesmal erschien schon nach kaum einer Minute erneut der Dunkle Oheim auf dem Bildschirm. »Wir sollten nicht zu oft hinsehen«, bemerkte Atlan. »Der Anblick die ses Wesens löst destruktive Gedankengänge aus. Wir werden uns selbst verrückt machen, wenn wir es pausenlos anstarren.« »Wie klug und weise!« stieß Razamon hervor. Möglicherweise hatte es spöttisch klingen sollen, eine Bemerkung, die die Spannung lösen half – sie hatten sich schon des öfteren mit solchen Redensarten in Situationen Mut gemacht, die an und für sich hoffnungslos gewesen waren. Aber der aggressive, gereizte Klang der Stimme des Ber serkers machte die gute Absicht zunichte. Razamon saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und rieb nervös mit beiden Händen über seine Knie. Atlan beobachtete den Pthorer besorgt. »Geht es schon wieder los?« fragte er halblaut. Razamon fuhr hoch, und der Arkonide erschrak, als er das unheimliche Glühen in den Augen des unsterblichen Atlanters sah. »Was meinst du damit?« erkundigte Razamon sich lauernd. »Was soll losgehen?« »Versuch nicht, mir etwas vorzumachen!« sagte Atlan ärgerlich.
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»Irgend etwas stimmt nicht mit dir. Das geht nun schon seit geraumer Zeit so. Meinst du nicht, daß es besser wäre, darüber zu reden?« »Dazu ist jetzt ganz gewiß der richtige Zeitpunkt gekommen«, versetzte Razamon bissig. »Wer weiß? Vielleicht bleibt uns später keine Gelegenheit mehr dazu. Komm schon, stell dich nicht so an. Sage mir, was los ist!« Der Berserker sprang auf. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!« fauchte er wü tend. Atlan war bestürzt. Eine so heftige Reaktion hatte er nicht erwartet. Sein Ärger über Razamons Sturheit wich tiefer Besorgnis. Zum Glück gelang es ihm, dieses Gefühl vor dem Berserker zu verbergen. »Mit kindischem Trotz hilfst du weder dir noch mir«, bemerkte er kühl. Für einen Augenblick sah es aus, als wolle Razamon sich auf den Arko niden stürzen. Atlan spannte sich kaum merklich an und bereitete sich dar auf vor, einem Angriff zu begegnen. Aber plötzlich sanken die Schultern des Berserkers nach vorn, und er ließ sich wieder auf den Boden sinken. Automatisch legten sich seine Hände erneut über die Knie. Razamon be merkte es und zog die Hände zurück. Es sah aus, als müßte er unsichtbare Fesseln dabei zerreißen. »Du hast ja recht«, sagte er leise. »Aber du bist auf der falschen Fährte, alter Freund. Mir fehlt nichts. Mich macht es nur krank, wenn ich dieses – dieses Ding dort ansehen muß!« Die Gebärde, mit der er auf den Bildschirm wies, wirkte zornig und un endlich hilflos zugleich. Atlan nickte nachdenklich. Er war sicher, daß Razamon nicht die ganze Wahrheit sagte, aber er sah auch ein, daß es sinnlos war, weiter in den Berserker zu dringen. Abgesehen davon spürte er selbst, daß der stete An blick des Dunklen Oheims ihn gefährlichen Depressionen entgegentrieb. Erst seit kaum zwei Stunden wußten sie, wer ihr Gegner war, und in diesen zwei Stunden schien sich vieles grundlegend verändert zu haben. Atlan hatte sich unter dem Dunklen Oheim niemals etwas Konkretes vorstellen können. Wenn er über die Schwarze Galaxis und deren Herr scher nachgedacht hatte, dann war der Dunkle Oheim stets nur ein nebel haftes Etwas gewesen, das im Mittelpunkt eines ungeheuer großen Spin nennetzes hockte. Wie sah ein Wesen aus, das eine ganze Sterneninsel erbarmungslos ver sklavte; das die sterblichen Hüllen seiner Untertanen zur Herstellung einer Substanz verwendete, aus der Raumschiffe gefertigt wurden; das die Di mensionsfahrstühle aussandte, damit sie blühende Kulturen auf unendlich weit entfernten Welten zerstörten und die Angehörigen fremder Völker raubten, die dann in der Schwarzen Galaxis als lebende Galionsfiguren ein
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grauenvolles Schicksal erlitten? Oft hatte der Arkonide bezweifelt, daß es sich bei dem Dunklen Oheim wirklich um ein einzelnes Wesen handelte. Hinter dem wenig aufschluß reichen Namen mochte sich alles mögliche verbergen. Atlan hatte an durchgedrehte Robotgehirne gedacht, an eine Horde von Wahnsinnigen, an die pervertierten Nachkommen eines einstmals ungeheuer hochent wickelten Volkes. Mit Feinden dieser Art hatte er es schon früher zu tun gehabt, und er wußte, daß man sie besiegen konnte. Was man aber gegen jenes Wesen, das sich Dunkler Oheim nennen ließ, tun konnte, wußte er nicht. Mittler weile war er mitunter soweit, daß ihm der bloße Gedanke an einen mögli chen Sieg als absurd erschien. Der Oheim war ein Ring, ein gigantischer, schwarzer Ring, der sich um die Sonne Ritiquian schlang. Er war ganz sicher nicht organischer Natur, denn ein körperliches Wesen, das nicht nur dem Vakuum, sondern auch noch der unvorstellbaren Hitze einer Sonne standhielt, war schlicht unvor stellbar. Er war erst recht kein Geisteswesen im normalen Sinne – solchen Lebensformen war Atlan ebenfalls bereits begegnet, und er hatte keines getroffen, das dem Dunklen Oheim auch nur im entferntesten ähnelte. Er war aber erst recht kein Roboter. Es gab nichts, womit man ihn verglei chen konnte. Nur mit Unbehagen erinnerte sich Atlan an den Augenblick, in dem sie von dem Gersa-Predogg Zephyn erfahren hatten, was dieser Ring darstell te. Noch jetzt befiel ihn eine geistige Lähmung, wenn er nur an den Dunklen Oheim dachte, und bittere Enttäuschung stieg jedesmal in ihm auf. Gegen diesen schwarzen Ring konnte man nicht kämpfen. Mit welcher Waffe sollte man ein Wesen in Bedrängnis bringen, das sich in der Glut hitze des sonnennahen Raumes wohl fühlte? Die Sonne selbst könnte die Lösung sein, wisperte der Logiksektor dem Arkoniden zu. Wenn dieses Wesen von ihr abhängig ist, reicht es, sie zu zerstören! Atlan konnte sich ein bitteres Lächeln nicht verkneifen.
Wie stellst du dir das vor? dachte er. Sollen wir hingehen und die Sonne
mit unseren bloßen Händen zerreißen? Es gibt Waffen … Hör schon auf! bat der Arkonide mutlos. Ich weiß selbst, daß es durch aus möglich wäre – in der Milchstraße. Aber die ist weit weg. Abgesehen davon: Selbst wenn uns die richtigen Mittel zur Verfügung stünden, hätten wir wahrscheinlich keinen Erfolg. Ich glaube nicht, daß man die Sonne des Dunklen Oheims zerstören könnte. Du resignierst! sagte der Logiksektor vorwurfsvoll.
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Atlan schwieg. Er sah zu Razamon hin, der mit starrem Gesicht auf den Bildschirm blickte. Für den Berserker mußte es noch viel unerträglicher sein, die totale Ohnmacht zu empfinden. Seit mehr als zehntausend Jahren hatte Razamon auf der Erde überlebt, unter Menschen, die niemals erfahren durften, was er wirklich darstellte. Und er hatte – im Gegensatz zu dem Arkoniden – keine Möglichkeit ge habt, sich der ständigen Konfrontation mit diesen Menschen zu entziehen, indem er sich in eine wohlgeschützte Tiefseekuppel zurückzog und dort im Tiefschlaf die Jahrtausende überwand. Zehntausend Jahre Versteck spiel und ewige Flucht, zehntausend Jahre Einsamkeit – was den Berserker am Leben und bei Verstand gehalten hatte, das war allein der Haß gewe sen. Er hatte gewußt, daß Pthor zurückkehren würde, und er hatte darauf gewartet. Er wollte Rache nehmen, nicht nur für sein eigenes Schicksal, sondern auch für das unzähliger anderer Wesen aus unzähligen Völkern. Der Haß und der Wunsch nach Rache hatten ihn dazu befähigt, Strapazen auf sich zu nehmen, unter denen jeder andere zerbrochen wäre. Und nun stand auch er mit leeren Händen vor einem Monstrum, das größer und mächtiger war als alles, was man je zuvor gesehen hatte. Sein Haß auf den Dunklen Oheim half ihm nicht länger und verlieh seinem Le ben keinen Sinn mehr. Er hatte zehntausend Jahre damit verschwendet, nach einem Ziel zu trachten, das er niemals erreichen konnte. Razamon hatte vergessen, seine Hände in Zaum zu halten. Er strich über seine Knie, und plötzlich faßte er nach seinem linken Bein und tastete dar an entlang. Er sah dabei immer noch auf den Bildschirm, aber seine Blicke kehrten sich nach innen. Atlan erkannte den Ausdruck tiefster Konzentra tion in dem hageren Gesicht. War es der Zeitklumpen, der dem Berserker zu schaffen machte? Atlan erinnerte sich an einige Gelegenheiten, bei denen dieses unsicht bare, unfühlbare Gebilde, dem der Pthorer die relative Unsterblichkeit ver dankte, sich bemerkbar gemacht hatte. Stets war etwas Unangenehmes ge schehen. Razamon kehrte aus seiner Versunkenheit zurück, und der Arkonide wandte sich ab. Er wollte den Berserker nicht schon wieder zu unbedach ten Reaktionen provozieren. Schon seit Minuten hatte das Bild auf dem Schirm sich nicht verändert. Der Berserker bewegte sich unruhig und stand schließlich auf. Vorsichtig ging er um das herum, was von Zephyn übriggeblieben war. Der GersaPredogg war in seine Bestandteile zerfallen, nachdem er das Geheimnis des schwarzen Ringes verraten hatte. Die Männer hätten den Roboter nicht gerade als ihren Freund bezeichnen mögen. Trotzdem hatte es ihnen leid um ihn getan. Angesichts jenes Wesens, das die Sonne umklammerte,
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mußte einem selbst ein Gersa-Predogg als geradezu menschlich erschei nen. Auch Lureen, der Amatyrker, lebte nicht mehr, und die anderen Schlä fer lagen tot in ihren Behältern. Atlan und Razamon waren allein an Bord. Razamon erreichte die Tür, die auf den Steg hinausführte, der das kleine Schiff vom Bug bis zum Heck durchzog. »Wo willst du hin?« fragte Atlan. Razamon zuckte die Schultern. »Ich halte das nicht länger aus«, murmelte er. »Ich sehe mich da drau ßen um. Vielleicht finde ich doch irgend etwas, was uns hilft – und wenn es ein Kanister Wasser ist!« Atlan wollte den Berserker gerade darauf hinweisen, daß diese Suche sinnlos war und daß es mehr Erfolg versprach, wenn sie versuchten, den Automaten zu demontieren, der eigentlich für Proviant hätte sorgen müs sen. Aber plötzlich packte auch ihn ein unwiderstehliches Verlangen, we nigstens für kurze Zeit aus diesem Raum herauszukommen. Sie hatten die SEDHYRIT bereits durchsucht. Die Kabinen sahen so schlimm aus, daß sie sich nur zögernd in die eine oder andere hineinwag ten. Die meisten waren völlig verwüstet, und bei ihnen hatten sie sich dar auf beschränkt, einen Blick hineinzuwerfen. Sie entdeckten aufgerissene Wände, aus denen Drähte und Rohre hingen, Fußböden, die nur noch aus weit voneinander entfernten Plattentrümmern bestanden, unter denen de fekte Geräte vor sich hin rosteten. In einige Räume hatte man allerlei Ge rümpel geworfen. Sie gingen den Steg entlang und musterten nachdenklich die geschwun genen Rampen, die zu den einzelnen Räumen führten. Schließlich blieb Razamon stehen. »Wo fangen wir an?« fragte er ratlos. »Hier haben wir überall hineingesehen«, erwiderte Atlan. »Ich glaube nicht, daß wir etwas Interessantes finden werden. Wir sollten es im Heck versuchen.« »Dort gibt es nur die Triebwerke und den anderen technischen Kram«, widersprach Razamon mißmutig. Atlan zuckte die Schultern. »Vielleicht ist es wirklich so«, murmelte er. »Vielleicht soll es aber auch nur so aussehen.« »Die Alven haben es nicht nötig, in ihren eigenen Schiffen etwas zu verstecken.« »Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren«, stellte Atlan fest. »Wir müssen nachsehen.« Der Berserker gab sich geschlagen. Sie passierten die Schleuse und gelangten in den hinteren Teil des klei
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nen Raumschiffs. Hier gab es keine einzelnen Kabinen mehr. Als sie das Schott hinter sich hatten, das diesen Teil des Schiffes abschirmte, sahen sie einen großen Raum vor sich, der den ganzen Rumpf der SEDHYRIT ausfüllte. Der freischwebende Steg verlief weiterhin genau auf der Mitte lachse des Schiffes. Sie gingen langsam darauf entlang. Neben, unter und über ihnen türmten sich fremdartige Maschinen. »Dort hinten ist Schluß«, murmelte Razamon und deutete auf eine graue Wand. Atlan nickte nachdenklich. Er bückte sich und berührte die Oberfläche des Steges mit den Fingerspitzen. »Hier finden wir nichts, was wir brauchen können«, fuhr der Berserker ungeduldig fort. »Und was den Antrieb betrifft, so werden wir ihn sicher nicht in Gang bringen. Wir sollten umkehren. Wer weiß, ob es hier nicht tödliche Strahlungen gibt.« »Seit wann bist du so ängstlich?« fragte Atlan. Der Berserker wollte aufbrausen, sah dann aber, daß der Arkonide seine Frage sehr ernst meinte. Er zuckte verlegen die Schultern. »Es ist nur so ein Gefühl«, entgegnete er gedehnt. »Etwas sagt mir, daß es gefährlich ist, hier drin herumzulaufen.« »Mir geht es genauso«, erklärte Atlan. »Und das macht mich mißtrau isch. Komm, ich will mir diese Wand einmal genauer ansehen.« Die Entfernung von der Schleuse bis zur Wand betrug höchstens zehn Meter, aber es kam ihnen wie das Zehnfache vor. Mit jedem Schritt wurde das Gefühl, einer tödlichen Gefahr entgegenzutreten, intensiver. »Das schaffen wir nicht!« stieß Razamon nach wenigen Metern schweratmend hervor. »O doch!« widersprach Atlan energisch, obwohl auch er die gräßliche Furcht fühlte. »Wenn es nur bei dem bißchen Angst bleibt – davon lasse ich mich nicht aufhalten. Ich war schon einmal hier drin. Und da habe ich nichts gespürt.« »Wahrscheinlich hast du nur den Kopf hereingesteckt«, bemerkte Raza mon gehässig. Atlan fuhr herum, und seine Fäuste zuckten hoch. Razamon lachte schrill und wehrte den Arkoniden ab. Er ging dabei heftiger zu Werke, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Atlan verlor das Gleichgewicht und schlug schwer auf dem metallenen Steg auf. Für einen Augenblick blieb er wie betäubt liegen. Razamon setzte ihm nicht nach. Er stand hochaufgerichtet auf dem Steg und beobachtete den Arkoniden. Seine Augen waren schmale, finstere Schlitze, und seine Hände öffneten und schlossen sich unaufhörlich. Atlan fragte sich, wie es überhaupt zu diesem unsinnigen Streit hatte kommen
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können. Er kam nicht darauf. Etwas hat euch beeinflußt, teilte der Logiksektor ihm mit. Sieh dich vor Razamon vor. Er ist nicht Herr seiner Sinne! Atlan schob sich vorsichtig über den metallenen Steg. Razamon duckte sich kampfbereit. »Hör auf damit!« sagte der Arkonide beschwörend. »Was dich jetzt be wegt, das sind nicht deine eigenen Gefühle. Du mußt gegen die Beeinflus sung ankämpfen.« »Deine Art, mich bevormunden zu wollen, hängt mir zum Halse her aus!« zischte der Pthorer. »Du wirst damit aufhören, Arkonide, ein für al lemal!« Atlan sah, wie der Körper des Berserkers sich spannte, und warf sich blitzschnell nach vorn. Er bekam Razamons Füße zu packen und zog dar an. Eine Faust traf ihn im Rücken, daß er glaubte, sein Rückgrat müsse un ter dem wuchtigen Schlag zerbrechen. Aber dann stürzte Razamon nach hinten und geriet mit dem Oberkörper über den Rand des Steges hinaus. Atlan packte die Fußgelenke des Pthorers und stemmte sie in die Höhe. Bruchteile einer Sekunde später hing Razamon über den von unten aufra genden Aggregaten. Er versuchte keuchend, mit den Händen die Kante des Steges zu erreichen, aber Atlan war auf der Hut. »Gib es auf!« sagte er. »Ich werde dich nicht lange halten können. Wenn du in diese Maschinen da unten stürzt, ist es aus mit dir!« Razamon knurrte nur. Er verrenkte sich fast in dem Bemühen, einen Halt zu finden. Als er keinen Erfolg hatte, stieß er mit dem rechten Fuß nach Atlans Gesicht. Der Arkonide unterdrückte die instinktive Regung, den Berserker einfach loszulassen. Er warf sich nach hinten und zog den Pthorer mit sich, ungeachtet der Tatsache, daß Razamon nach ihm zu schlagen versuchte, war schon im nächsten Augenblick über ihm und roll te sich mit ihm auf das Schott zu. Nach kaum zwei Metern spürte er, daß der Berserker aufhörte, sich wie ein Rasender zur Wehr zu setzen. Er ließ ihn los und richtete sich keuchend auf. »Begreifst du es jetzt?« fragte er so ruhig wie möglich. Razamon wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das ist kein Raumschiff«, murmelte er. »Das ist eine Todesfalle.« Atlan nickte nur. »Glaubst du jetzt, daß hinter der Wand etwas ist, was wir sehen soll ten?« fragte er. »Ich glaube es nicht nur, sondern ich weiß es«, knurrte der Berserker. »Aber was hilft das, wenn wir nicht herankommen. Erst war es die Angst, dann zwang man uns, gegeneinander zu kämpfen. Wer weiß, was als näch stes kommt. Am Ende befällt uns plötzlich der dringende Wunsch, uns selbst umzubringen.«
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Atlan kehrte schweigend in den anderen Teil des Schiffes zurück. Er öffnete einige Türen und sah schließlich in einer Kabine ein langes, dün nes Kabel auf dem defekten Boden liegen. Razamon war ihm gefolgt. »Die Idee ist nicht schlecht«, bemerkte er. »Aber wer soll gehen?« »Ich natürlich«, murmelte Atlan. »Mich erwischt es nicht so schnell. Hilf mir mal.« Razamon biß sich nervös auf die Lippen. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte er zögernd. »Ich bin mir selbst fremd. Ich sollte mich jetzt mit dir streiten und dir sagen, daß das Risiko viel zu groß ist …« »Es ist das Schiff«, sagte Atlan beruhigend. »Oder das, was da hinten liegt. Wir werden es finden und der Sache ein Ende bereiten.« Razamon half dem Arkoniden schweigend, das dünne Kabel fest um dessen Körper zu binden. Diesmal blieb er schon kurz hinter dem Schott stehen, während Atlan vorsichtig weiterging. Diesmal war der Arkonide gewarnt. Er fand es sonderbar, daß er dem fremden Einfluß so schnell erlegen war, denn er war sonst ziemlich un empfindlich in dieser Beziehung. Nach einigen Schritten spürte er es wieder. Zuerst kam eine leise Furcht, die sich schnell steigerte, dann schlug die Angst um in wilde Ag gression. Da Atlan jetzt wußte, womit er es zu tun hatte, gelang es ihm, seine Gefühle im Zaum zu halten. Er starrte unverwandt auf die Wand, der er Schritt um Schritt näher kam. Er erreichte sie und streckte die rechte Hand aus. Da erreichte ihn Razamons warnender Ruf. »Vorsicht, Atlan, du stürzt gleich ab!« Der Arkonide schrak zusammen. Er blinzelte und blieb stocksteif ste hen. Allmählich änderte sich das Bild vor seinen Augen. Was er für die Wand gehalten hatte, war die glatte Oberfläche eines Aggregats, das zwei Meter vom Rand des Steges entfernt aufragte. Atlan blickte auf seine Füße und stellte fest, daß tatsächlich nur ein paar Millimeter gefehlt hätten, um ihn abstürzen zu lassen. »Ich bin auf ein Trugbild hereingefallen!« sagte er laut. »Ich werde es noch einmal versuchen.« Er ließ sich auf die Knie herab und kroch auf allen vieren auf die Wand zu. Dabei führte er die linke Hand direkt am Rand des Steges entlang. Endlich war er am Ziel angelangt. Er blickte an der Wand hinauf. Sie war glatt und fugenlos. Er richtete sich vorsichtig auf und klopfte daran herum, ohne auch nur den geringsten Erfolg zu erzielen. Die Tür wurde vermutlich von Alven angelegt, bemerkte der Logiksek tor. Du suchst zu weit oben. »Dieses Schiff hat einen üblen Einfluß auf den Verstand«, murmelte At lan vor sich hin.
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Er untersuchte den unteren Teil der Wand. Auch hier gab es weder Fu gen noch Unebenheiten, aber plötzlich spürte er, daß sich etwas unter sei ner Hand bewegte. Vorsichtig wich er einen halben Schritt zurück. Aber es schien, als gäbe es an dieser Stelle keine besonderen Absicherungen mehr. Eine schmale Tür öffnete sich. Sie war nur knappe eineinhalb Meter hoch. Atlan bückte sich und spähte hindurch. Der Raum hinter der Tür war stockfinster. Als der Arkonide aber die Hand in die Türöffnung hielt, flammte eine mattbläuliche Lampe auf. Fas sungslos starrte Atlan auf den schwarzen Klumpen, der in der kleinen Kammer lag. »Jetzt ist mir klar, warum wir hier nicht erwünscht sind«, sagte er lang sam.
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2.
Den Berserker hielt es nicht mehr am anderen Ende des Steges. Sicher heitshalber band er das Kabel an einer Strebe neben dem Schott fest. Dann ging er vorsichtig auf den Steg hinaus. Atlan hörte ihn erst, als Razamon kaum noch zwei Schritte von ihm ent fernt war. Der Arkonide fuhr so hastig herum, daß er mit dem Kopf an die viel zu niedrige Tür stieß, und er riß die Fäuste hoch, für den Fall, daß der Pthorer dem unheimlichen Einfluß erneut erlegen war. Razamon lächelte verlegen und winkte ab. »Es ist nichts mehr zu merken«, sagte er. »Vielleicht hast du es ausge schaltet, indem du die Tür aufbekommen hast. Was ist da drin?« »Sieh es dir selbst an«, empfahl Atlan und gab dem Berserker den Weg frei. Razamon bückte sich, spähte durch die Öffnung und pfiff leise durch die Zähne. »Für den Notfall mag das ein Fluchtweg sein«, meinte er. »Da muß der Notfall aber schon sehr groß sein«, erwiderte Atlan sarka stisch. »Wer garantiert uns, daß das Ding uns nicht direkt zum Dunklen Oheim schleudert?« Sie sahen sich schweigend an. Einen Klumpen dieser Art hatten sie vor geraumer Zeit – sie hätten nicht sagen können, wie lange es genau her war – in einer Flotte von uralten Raumschiffswracks gefunden, denen Pthor auf der Reise in die Schwarze Galaxis begegnet war. Sie hatten noch mehr in diesen Schiffen entdeckt – einen fremdartigen Bordcomputer und drei Behälter, in denen je ein fremdes Wesen im Tief schlaf lag. Der Irrglaube, es handele sich bei den Fremden um die letzten Überle benden jenes Volkes, dem die Raumschiffe gehörten, hatte sie dazu ver führt, die Fundstücke nach Pthor zu bringen. Dort waren die Fremden er wacht und hatten sich sofort als Agenten aus der Schwarzen Galaxis ent puppt. Sie hatten großen Schaden angerichtet, ehe Razamon ihnen auf die Schliche gekommen war und sie in ihrem Zeitversteck aufgestöbert hatte. Dann hatte es einen Unfall gegeben, dem die drei Fremden zum Opfer gefallen waren. Aber auch Razamon schien es erwischt zu haben – er war und blieb verschwunden. Erst viel später, in der Schwarzen Galaxis, hatte Atlan wieder etwas von dem Berserker gehört, und dann hatte es noch ein mal geraume Zeit gedauert, bis sie einander wieder begegnet waren. Da mals hatte auch Razamon nicht gewußt, was mit ihm geschehen war, als er sich in dem Zeitversteck aufhielt. Inzwischen hatte sich jedoch das Ge dächtnis des Berserkers wieder eingefunden. Im selben Augenblick, in dem er die Lebensblase sah, die den dunklen Ring um den Planeten Riti
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quian bildete, erinnerte sich Razamon wieder an alles – daran, daß der schwarze Klumpen ihn auf unbegreifliche Weise in die Lebensblase ver setzt hatte, wo zwei Bewußtseine namens Yeers und Olken ihn mit einer wichtigen Mission betraut hatten. Er wußte, daß die dunklen Klumpen dem Dunklen Oheim gehörten. Sie konnten lebende Wesen praktisch ohne Zeitverlust über große Entfernun gen hinweg versetzen, arbeiteten also ähnlich wie ein Transmitter, hatten aber in ihrer Funktionsweise nicht die geringste Ähnlichkeit mit derartigen Geräten. Wahrscheinlich war Magie im Spiel. Wesen, die auf diese Weise von einem Ort zum anderen versetzt wurden, kamen stark geschwächt am Ziel an. Yeers und Olken hatten unter anderem die Aufgabe, solchen We sen auf die Beine zu helfen. Daß sie mitunter auch die Transportvorgänge an sich manipulierten, war gewiß nicht im Sinne des Oheims. Es war da her durchaus möglich, daß das Ringwesen die beiden Bewußtseine inzwi schen bereits als unzuverlässig eingestuft und durch willfährigere Unterta nen ersetzt hatte. »Warum mag das Ding an Bord sein?« fragte Atlan nachdenklich. »Vielleicht sollten die Schläfer damit in die Lebensblase gebracht wer den«, vermutete Razamon. »Nein«, wehrte Atlan kopfschüttelnd ab. »Die Tür ist zu klein. Wir kommen noch mit knapper Not hindurch, aber in den Behältern haben We sen gelegen, die zum Teil viel größer und umfangreicher als Menschen waren. Außerdem – man hätte dann den Klumpen sicher im vorderen Teil des Schiffes untergebracht.« Er löste das Kabel von seiner Hüfte und knüpfte eine Schlinge hinein. Vorsichtig schob er sich zur Hälfte durch die kleine Tür. Er entdeckte links in der Wand einen Haken, der fast so aussah, als hätte man ihn extra für derartige Vorhaben dort angebracht. Atlan hakte das Seil daran fest und kroch zurück. »Für alle Fälle«, meinte er. »Die Beeinflussung hat aufgehört, sobald ich die Tür geöffnet hatte. Vielleicht haben wir es beim nächstenmal zu ei lig, um uns mit so umständlichen Vorbereitungen aufhalten zu können.« Schweigend kehrten sie in die Zentrale zurück. Sie wünschten beide nichts sehnlicher, als daß sie diesem Raum hätten fernbleiben können, aber fast noch beunruhigender war der Gedanke, nicht zu wissen, was der Dunkle Oheim draußen tat. Der Bildschirm zeigte immer noch die Sonne, und an dem Ring hatte sich nicht das geringste verändert. »Wir brauchen Wasser«, stellte Razamon fest. »Und eine kräftige Mahl zeit wäre auch nicht zu verachten. Ich jedenfalls habe grauenhaften Hun ger.« Atlan musterte skeptisch den Automaten, der ihnen Nahrung und Ge
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tränke hätte spenden sollen, sich aber weigerte, seinen Pflichten nachzu kommen. »Wir haben schon alles versucht«, meinte er. Razamon lachte leise auf. »Alles nicht«, behauptete er und versetzte dem Gerät einen ungeduldi gen Fußtritt. »Bis jetzt waren wir nett zu dir«, sagte er zu dem Automaten. »Damit ist es jetzt vorbei. Nimm dich in acht!« Razamon untersuchte flüchtig die Frontplatte des Automaten, aber als er nichts fand, woran er hätte ansetzen können, verlor er schnell die Geduld. Er packte das Gerät links und rechts am Rahmen und quetschte es zusam men, daß es nur so knirschte. Mit einem metallischen Knacken sprang eine Ecke der Frontplatte aus dem Rahmen. »Na also«, knurrte Razamon. Es gelang ihm, die Platte zurückzubiegen, ehe sie in den plötzlich entla steten Rahmen zurückschnappen konnte. Mit einem Ruck riß der Berser ker den widerspenstigen Automaten auf. Hinter der Frontplatte fanden sie einen großen Kanister mit Wasser und einen etwas kleineren Behälter, der mit einer grauen, fade schmeckenden und dumpf riechenden Masse gefüllt war. Von den beiden Kanistern führ ten Schläuche zu Gebläsen, Rührvorrichtungen, Pressen und allerlei ande ren Geräten. An verschiedenen Stellen gab es außerdem kleinere Behälter, die offensichtlich die nötigen Farbund Aromastoffe enthielten. Es war desillusionierend, eine solche Apparatur zu betrachten und sich vorzustellen, wie sie zu arbeiten begann und am Ende etwas ausspie, das wie Fleisch, Gemüse, Beilagen, Desserts und ähnliches aussah – und doch bestand alles aus demselben grauen Brei, der ganz nach Bedarf aufgebläht oder gepreßt, glattgerührt oder geformt und dabei mit Aromen und Farben versetzt wurde. Noch unangenehmer allerdings war es, mit knurrendem Magen die Fläschchen anzusehen und daran zu denken, daß ein Tropfen von ihrem Inhalt ausreichen mochte, um dem Brei Geschmack zu verleihen – oder aber die, die davon zu essen wagten, umzubringen. Von der Grundmasse konnte man mit einiger Sicherheit sagen, daß sie zumindest nicht ausge sprochen giftig war, aber die Gewürze mochten für Wesen bestimmt sein, deren Mägen von Arsen bis Zyankali alles verkrafteten, woran ein Mensch binnen kürzester Frist sterben konnte. Sie öffneten den Behälter mit dem Brei, stellten ihn zwischen sich auf den Boden und begannen eine wenig erfreuliche Mahlzeit. Ihr Hunger war so groß, daß sie den Brei ohne Rücksicht auf den wirklich abscheulichen Geschmack am liebsten händeweise in sich hineingeschaufelt hätten. Sie waren glücklicherweise zu klug und zu erfahren, um dieser Versuchung zu
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erliegen. Sie begnügten sich damit, einen Finger in den Brei zu stecken und das abzulecken, was daran haften blieb, dann einen Schluck Wasser zu trinken und anschließend einige Minuten zu warten. Ihre Vorsicht machte sich bezahlt. Der Brei enthielt Unmengen von Quellstoffen, die ihre Mägen sehr schnell füllten. Hätten sie ihrem Hunger nachgegeben, so wären sie vermutlich qualvoll zugrunde gegangen. Sie hatten ihre Mahlzeit gerade beendet, da schwenkte wieder einmal die Kamera, die sich irgendwo außen am Rumpf der SEDHYRIT befinden mußte, herum, und diesmal geriet Dorkh in den Erfassungsbereich. Das kleine Raumschiff war dem Weltenfragment bedrohlich nahege kommen. Dennoch würde die SEDHYRIT nicht in Dorkh landen – soviel wußten sie mittlerweile. Der Kurs, auf dem das Beiboot dahin trieb, führte unverkennbar zum Ringplaneten. Es war Zufall, daß die SEDHYRIT sich gerade zu diesem Zeitpunkt genau zwischen Dorkh und der Sonne befand. Der Dimensionsfahrstuhl war von einem Pulk von Organschiffen umge ben. Es waren gewaltige Schiffe, viele davon so groß, daß bis zu zehn Ga lionsfiguren notwendig waren, um sie zu steuern. Die Organschiffe streb ten langsam von Dorkh weg. Den beiden Männern war klar, was das zu bedeuten hatte. Der Dunkle Oheim wollte Dorkh »säubern«, und Atlan und Razamon wußten ziemlich genau, was sie sich darunter vorzustellen hatten. Die Dorkher wurden schon seit Tagen auf ihr Ende vorbereitet. Aus ir gendeinem Grunde reichte es dem Dunklen Oheim nicht, seine Opfer kur zerhand umzubringen. Er ließ sie zuvor in einen tiefen Schlaf versetzen. Dann kamen die Träume, gesteuerte Träume, die nur einen Zweck hatten: Jeder positive Gedanke, jede Vorstellung von der Würde des Lebens, von Barmherzigkeit, Großzügigkeit, Liebe, Treue, Opferbereitschaft, von all den Werten, die das friedliche Zusammenleben vieler Individuen garan tierten, wurde in diesen Träumen eliminiert. Was blieb, das waren Haß und Neid, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Wenn der Dunkle Oheim zuschlug, würden alle Dorkher sterben. Es war sehr unwahrscheinlich, daß dabei die beiden einsamen Menschen in der winzigen SEDHYRIT, die dem Dimensionsfahrstuhl so nahe waren, mit dem Leben davonkamen. »Es tut mir leid«, murmelte Razamon kaum hörbar. »Ich hätte dich nie in diese Sache hineinziehen dürfen.« »Rede keinen Unsinn!« sagte Atlan streng. Razamon schüttelte den Kopf. »Es ist kein Unsinn«, antwortete er ruhig. »Ich wollte damals, daß du mitkommst. Du warst der einzige, der in Frage kam. Darum habe ich es provoziert. Ich wußte recht gut über dich Bescheid.« »Und du glaubst, daß ich nicht nach Pthor gegangen wäre, wenn du
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nicht nachgeholfen hättest?« »Ja.« Atlan lächelte schwach. »Erstens bin ich mir da nicht so sicher«, sagte er, »und zweitens wußte ich selbstverständlich Bescheid, ehe wir nach Pthor aufgebrochen sind. Warten wir ab, was jetzt passiert.« Die Kamera schwenkte zum Dunklen Oheim hin. Der gigantische Ring bewegte sich träge. Es war eine Bewegung, die sich fast nur im Innern des Ringwesens vollzog. »Er belauert seine Opfer«, flüsterte Razamon schaudernd und gab damit exakt den Gedanken wieder, der auch den Arkoniden beim Anblick des in nerlich träge wogenden Ringes befiel. Wieder sahen sie Dorkh. Aber dort hatte sich etwas verändert. Die Or ganschiffe zogen sich jetzt viel schneller zurück. Fast sah es aus, als be fänden sie sich auf der Flucht. Verschiedentlich kam es zu Kollisionen. Den beiden Männern in der SEDHYRIT war das Verhalten der alvi schen Raumfahrer zunächst unbegreiflich. Der Dunkle Oheim konnte sich genug Zeit lassen, um seinen Untertanen einen reibungslosen Abzug zu er möglichen. Dann aber spürten sie das, was die Alven in Panik versetzte. »Was ist das?« stöhnte Razamon auf. »Um Himmels willen, wenn das noch stärker wird …« Er sprang plötzlich auf und stürzte sich auf die Steuerpulte. Atlan rührte sich nicht. Er beobachtete, wie Razamon mit beiden Fäusten wild auf Ta sten und Hebeln herumhämmerte. Die SEDHYRIT reagierte nicht. Der Arkonide hatte nichts anderes er wartet. Er spürte bohrende Kopfschmerzen, darüberhinaus aber vor allem eine so intensive, bösartige Kraft, daß er sich wie betäubt zurücklehnte und die Hand gegen die Stirn preßte, als könne er auf diese Weise den Druck mil dern, der auf seinem Gehirn lastete. »Gib es auf!« würgte er hervor. »Es hat keinen Sinn. Es muß der Dunkle Oheim sein.« Razamon versetzte einem der Pulte einen Fußtritt. Die metallenen Ab deckplatten beulten sich knirschend ein. »Das darf nicht wahr sein!« schrie der Berserker auf. »Ich bin nicht bis hierhergekommen, damit der Oheim mich ganz nebenbei erledigen kann. Verdammt, warum ist das kein Wesen, das ich mit meinen Fäusten packen kann? Ich würde es zerfetzen, zermalmen, zerdrücken …« Atlan hörte ihn, verstand ihn aber kaum. Er starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Dorkh war eine schwach leuchtende Insel im All, umgeben vom milchi gen Schleier des Wölbmantels. Der Arkonide meinte, unter diesem seltsa
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men Schutzschirm eine Bewegung wahrnehmen zu können. Dort wuchs etwas – etwas Ungeheuerliches, Gigantisches, Tödliches, und er wußte das. Er hatte es gesehen. Es war wie eine schwarze Wand gewesen, die sich über das Land schob und die Dorkher tötete. Zeitweise hatten sie mit dem Gedanken spekuliert, ob es sich am Ende gar um den Dunklen Oheim selbst handelte. »Es war nicht der Oheim!« sagte er in plötzlichem Begreifen. »Es war …« Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Razamon fuhr alarmiert herum und sah auf den Schirm. Das Gesicht des Berserkers verzerrte sich. Er taumelte rückwärts von den Schaltpulten weg. Ein unartikuliertes Gurgeln entrang sich seiner Kehle. Der Wölbmantel um Dorkh war in Bewegung geraten. Die milchige Hülle wölbte sich auf, beulte sich durch. Risse zeigten sich, zwischen de ren Rändern Blitze zuckten. »Es darf nicht herauskommen«, flüsterte Razamon beschwörend. »Es muß da drin bleiben. Warum unternimmt der Dunkle Oheim nichts dage gen? Zum Teufel, der Bursche muß doch wissen, was das ist!« »Eben weil er es weiß, hält er still.« Razamon ließ sich auf den Boden sinken. »Ja«, murmelte er. »Jetzt begreife ich es auch. Es wird sich nicht aufhal ten lassen. Es hat Dorkh buchstäblich leer gefressen. Aber was hat es jetzt vor? Glaubt es wirklich, daß der Dunkle Oheim die Schwarze Galaxis mit ihm teilen wird?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das ein ganz normaler Vorgang.« »Die Alven scheinen jedenfalls nicht dieser Ansicht zu sein«, stellte Razamon fest. Die meisten Organschiffe waren aus der Nähe von Dorkh entkommen. Die, die es nicht geschafft hatten, rasten wie von unsichtbaren Händen ge schoben aufeinander zu. Kein einziges kam davon. Eine riesige Beule erschien am Zenit des Wölbmantels von Dorkh. Die Beule riß auf, und etwas Dunkles schob sich daraus hervor. Atlan fühlte sich plötzlich völlig unbeteiligt, wie ein Zuschauer, der einen Film betrachtet, ohne die geringste persönliche Bindung zu einem der Akteure zu haben. Was er sah, war so ungeheuerlich, so unvorstellbar, daß sein Verstand sich weigerte, es als die Wirklichkeit anzuerkennen. Das Dunkle bewegte sich wie ein Arm, wedelte seltsam kraftlos hin und her und schoß dann plötzlich energisch vor. Ruckhaft vergrößerte sich der Riß, pflanzte sich bis zum schwach erkennbaren Rand von Dorkh fort und erreichte die Unterseite des Dimensionsfahrstuhls. Wie die Schale eines Eies, aus dem ein Küken schlüpft, so zerbrach der Wölbmantel, Stück für Stück, und aus seinen Trümmern erhob sich eine grauenhafte Finsternis.
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Die Reste des Wölbmantels verwehten wie Nebelfetzen im All. Sie lös ten sich auf und gaben den Blick auf die finsteren, drohenden Sonnen des galaktischen Zentrums frei. Aber selbst dieses düstere Panorama war hell und strahlend im Vergleich zu dem, was sich aus der Hölle um Dorkh her vorkämpfte. Ein schwarzer Ring, kleiner, viel kleiner als der Dunkle Oheim und doch groß genug, um ganz Dorkh zu verwüsten, hing zitternd über dem dunklen, toten Weltenfragment. Er streifte Dorkh bei einer seiner unge schickten Bewegungen. Die Schwärze verdeckte für einige Sekunden die Oberfläche des atmosphärelosen Landes, und für einen schrecklichen Au genblick dachte Atlan, daß Dorkh nun endgültig ausgelöscht war. Als der Ring sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte und Dorkh wieder sichtbar wurde, wurde ihm bewußt, wie irreal sein Erschrecken ge wesen war. Dorkh war ohnehin tot. Es spielte keine Rolle mehr, was nun mit diesem Weltenfragment geschah. Atlan dachte an die »Seele« von Dorkh. War sie nun auch tot? Und was mochte jetzt in Pthor geschehen? Gab es auch dort einen solchen Ring? Atlan überlegte, ob er nicht doch etwas falsch verstanden hatte, als er die Träume der Schläfer von Dorkh belauscht hatte. Er war zu dem Schluß gekommen, daß der Dunkle Oheim direkt zuschlagen würde. Handelte es sich bei dem kleineren Ring um ein Werkzeug, das dem Oheim die Be wußtseine der Dorkher überbrachte? Es gibt so vieles, was ich gern noch erfahren würde, dachte er bedrückt. Dann reiße dich zusammen und kämpfe um dein Leben! antwortete der Logiksektor, als hätte er nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Du hast leicht reden! dachte Atlan. Siehst du eigentlich, was da draußen vorgeht? Ich sehe zwei schwarze Ringe, und ich fühle die bösartige Ausstrahlung, die sie verbreiten. Aber diese Ringe sind nicht so mächtig wie du jetzt denkst. Oh ja, dachte Atlan sarkastisch. Darum hat der Dunkle Oheim es wohl auch geschafft, die ganze Schwarze Galaxis zu unterdrücken. Er hatte viele Millionen Jahre lang Zeit, gab der Extrasinn zu bedenken. Und in diesen Millionen Jahren hat er sich Waffen schaffen können, dachte Atlan ärgerlich. Er ist unüberwindlich. Natürlich ist er das – solange es Narren gibt, die an seine Unüberwind lichkeit glauben! »Manchmal wünschte ich mir, ich könnte dich loswerden«, entfuhr es dem Arkoniden laut. Er verstummte betroffen, als er sich daran erinnerte, daß dieser Wunsch hier, in der Schwarzen Galaxis, beinahe in Erfüllung gegangen wäre – damals allerdings ganz und gar gegen seinen Willen. »Entschuldige«, bat er zerknirscht und kam sich gleich darauf lächerlich
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vor, denn in gewissem Sinne hatte er sich selbst um Entschuldigung gebe ten. Der Logiksektor ging über Atlans Entgleisung hinweg. Du mußt kämpfen! sagte er beinahe grob. Wenn du resignierst, bist du verloren. »Ich habe keinen Bedarf an klugen Redensarten«, versetzte der Arkoni de bissig. »Gib mir einen konkreten Hinweis!« Razamon kannte Atlan lange genug, um zu wissen, mit wem der Arko nide sprach. Er mischte sich in solche Unterhaltungen möglichst nicht ein. Diesmal aber legte er seine rechte Hand auf Atlans Schulter. »Hör auf, dich mit dem Ding herumzustreiten«, sagte er leise. »Der Ring kommt auf uns zu.« Atlan vergaß den Logiksektor. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte ihm den wogenden Ring, der langsam von Dorkh wegstrebte, der Sonne entge gen, um die sein größeres Ebenbild sich geschlungen hatte. »Er kommt ganz nahe an uns vorbei«, flüsterte Razamon, als hätte er die Befürchtung, daß das Ringwesen ihn hören konnte. »Falls er die SED HYRIT nicht sogar berührt.« Atlan nickte. »Wir werden es nicht überleben«, stellte er fest. Er sah den Berserker fragend an. »Es ist gefährlich«, murmelte Razamon. »Aber wir können im schlimm sten Fall nur einmal sterben. Ob uns der Dunkle Oheim bekommt oder die ser andere Ring, das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.« »Ich glaube, wir haben durchaus eine Chance!« sagte Atlan ruhig. Er warf erneut einen Blick auf den Schirm. »Das Ding wird schneller. Wir sollten uns beeilen.« Sie hasteten durch das kleine Raumschiff. Als sie den Maschinenraum betraten, zögerten sie unwillkürlich, aber es schien, als wären mit dem Öffnen der Tür tatsächlich alle noch vorhandenen Sicherheitsmaßnahmen unterbrochen worden. Die Kammer, in der der schwarze Klumpen lag, war so niedrig, daß sie nur gebückt darin stehen konnten. Voller Unbehagen starrte Razamon den unförmigen Brocken an. »Mach schon!« drängte Atlan. »Es kann nicht viel passieren. Immerhin stehen unsere Chancen fünfzig zu fünfzig – so günstig sah es nicht immer für uns aus. Entweder landen wir in der Lebensblase, oder es ist sowieso mit uns aus!« Razamon trat näher an den Klumpen heran und erschauerte. Es gab in der Kammer keinen Bildschirm, aber er spürte den kleinen Ring und wußte, daß er sich dem Beiboot immer schneller näherte. Er fühlte eine seltsame Lähmung, die seinen Verstand ergriff. Ihm war klar,
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daß er sterben mußte, wenn er in der SEDHYRIT blieb, aber er konnte sich trotzdem nicht dazu überwinden, den Klumpen zu berühren. »Verdammt!« stieß Atlan hervor und griff nach der Hand des Berser kers. Razamon fühlte sich plötzlich fremd in seinem eigenen Körper. Er sah, daß seine Hand sich bewegte, aber er fühlte nichts dabei. Atlan drückte die Hand des Pthorers gegen den schwarzen Klumpen. Das Material fühlte sich eiskalt an. Mit der rechten hielt der Arkonide Razamons Handgelenk umklammert, mit der linken Hand strich er su chend über den Klumpen, der ihre letzte Hoffnung war. Die Oberfläche war uneinheitlich beschaffen. An einigen Stellen war sie hart und glatt wie Glas, an anderen rauh wie Sandstein und so weich, daß der Arkonide schwarzen Staub durch seine Finger rieseln fühlte. Er glaubte, spüren zu können, wie die Kälte sich in ihm ausbreitete und nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele erfaßte. »Warum tut das Ding nichts?« fragte er verzweifelt. »Muß man es ir gendwie einstellen? Razamon, komm zu dir! Du mußt dich doch an irgend etwas erinnern!« Aber Razamon hörte ihn nicht. Er war sehr bleich. Schweißperlen stan den auf seiner Stirn, und er bewegte die Lippen, als forme er Wörter. At lan konzentrierte sich wieder auf den schwarzen Brocken. Razamon aber befand sich in einem Zustand, in dem ihm der schwarze Brocken, der Dunkle Oheim und der kleinere Ring völlig gleichgültig wa ren. Seit er den Klumpen berührt hatte, sprach das zu ihm, was ihn vorher nur gelähmt hatte. »Wozu quälst du dich?« flüsterte dieses Etwas in seinem Geist. »Was bringt es dir ein? Bist du nicht ein Berserker? Du bist dazu geschaffen, das zu zerstören, was die anderen aufgebaut haben. Du bringst die natürliche Ordnung aller Dinge durcheinander, wenn du gegen deine Bestimmung handelst.« Das Etwas tastete mit langen Fingern mitten in Razamons Erinnerungen hinein und kicherte höhnisch, als hätte es etwas sehr Amüsantes entdeckt. »Es Mensch wolltest du werden!« stellte es fest. »Das ist lächerlich.« »Vielleicht schaffe ich es noch«, sagte Razamon, aber kein Laut kam über seine Lippen. Er merkte es nicht. »Ich war auf dem besten Wege …« »Gar nichts warst du!« fuhr das Etwas dazwischen. »Mach dir doch nichts vor. Zehntausend Jahre lang hast du es versucht, und es hat immer noch nicht gereicht. Erinnerst du dich an Carmel Sphinx, den Detektiv? Er wußte nichts von dir, er hatte keine Ahnung, was du bist und wer du bist. Aber er fürchtete sich vor dir. Du bist fremd für sie, viel zu fremd.« »Und was soll ich tun?« fragte Razamon ratlos, während das fremde Et was all die bohrenden und nagenden Zweifel wegfraß. »Laß den Klumpen los«, befahl das Etwas. »Schaff den Arkoniden weg,
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der stört nur. Und dann warte ab. Du wirst reich belohnt werden. Für die Kräfte des Bösen findet sich in dieser Galaxis immer eine lohnende Auf gabe!« Das Gefühl kehrte in seinen Körper zurück, frische Kräfte flossen ihm zu. Er schüttelte den Arkoniden ab. »So ist es gut!« flüsterte das Etwas begeistert. »Du bist für die bösen Mächte geboren. Schluß mit der Quälerei!« Razamon wandte sich zur Seite und packte den Arkoniden. Die Leich tigkeit, mit der er den schlanken Körper in die entfernteste Ecke der Kam mer schleuderte, täuschte ihn über den Zustand hinweg, in dem er sich be fand. Während er meinte, sich schnell und kraftvoll zu bewegen, sah Atlan einen unsicher dahertappenden Berserker, der das linke Bein stark nachzog und mitunter mit den Armen in der Luft herumrudern mußte, um nicht endgültig das Gleichgewicht zu verlieren. Atlan machte sich nichts vor. Auch in diesem Zustand war Razamon noch gefährlich. Er ahnte, daß der Berserker nicht Herr seiner Sinne war, und er dachte voller Verzweiflung an den Ring, der mit jeder Sekunde nä her kam. Er ärgerte sich darüber, daß er sich von Razamon hatte überra schen lassen, aber gleichzeitig sagte er sich, daß er auch nichts gewonnen hätte, wäre es zwischen ihnen zum Kampf gekommen. Razamon drehte sich um seine Achse, als suche er etwas. Auf den Ar koniden achtete er gar nicht mehr. Der Klumpen! mahnte der Extrasinn. Du mußt dich beeilen, wenn du diesen Ausweg noch nutzen willst! Atlan setzte gerade zu einer wütenden Antwort an, da geriet Razamon bei seiner nächsten Drehung zwischen den Klumpen und den Arkoniden. Atlan warf sich nach vorn. Er prallte gegen den Berserker, und der fiel bäuchlings auf den seltsamen Brocken. Atlan sprang sofort wieder zurück. Seine Absicht war es gewesen, Raz amon vorübergehend außer Gefecht zu setzen. Für den Fall, daß ihm das nicht gelungen war, ging er in Abwehrstellung und hob die Arme … … und gleichzeitig gab es einen schwarzen Blitz rund um den Brocken herum. Razamon verschwand spurlos. Atlan zerbrach sich nicht lange den Kopf über die Gründe, warum es vorher nicht geklappt hatte. Er warf sich im Hechtsprung auf den Klum pen, und im nächsten Augenblick war es stockfinster um ihn herum.
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Im selben Augenblick, in dem die Verbindung zwischen ihm und dem un heimlichen Brocken erlosch, war auch das wispernde Etwas verschwun den. Razamon lauschte angestrengt. Er war so mit seinen eigenen Proble men beschäftigt, daß er nicht mehr auf seine Umgebung achtete. Er rechnete damit, daß das Etwas nach ihm suchte und ihn schon bald aufspürte. Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit Entsetzen. Allmählich begriff er, was geschehen war. Von dem Klumpen war et was ausgegangen, das nicht den ganzen Berserker, sondern nur einen Teil seines Wesens beeinflußt hatte. Wie alle Berserker, war auch Razamon ei ne gespaltene Persönlichkeit. In der langen Zeit seiner Verbannung, als er sich unermüdlich bemüht hatte, sich menschlichen Verhaltensnormen an zupassen, war die Kluft zwischen dem, was er als seine wahre Persönlich keit ansah, und dem Berserkertum immer tiefer geworden. Gleichzeitig hatte er gelernt, das Böse in sich weitgehend zu bändigen und niederzuhal ten, ja, er hatte sogar gehofft, diese unselige Veranlagung ganz loswerden zu können. Dieser jüngste Vorfall hatte ihm bewiesen, daß er dieses hochgesteckte Ziel noch längst nicht erreicht hatte. Er konnte sich plötzlich auch gar nicht mehr vorstellen, daß es ihm jemals gelingen würde. »Razamon!« Der Ruf schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er wollte sich in die Richtung wenden, aus der die Stimme gekommen war. Da erst merkte er, daß etwas nicht mehr so war, wie es hätte sein sollen. Er hatte keinen Körper mehr. Wenn er sich bewegte, dann glaubte er zwar, die Beine zu heben und zu senken, aber wenn er an sich hinabsah, dann gab es diese Beine gar nicht. Schlimmer noch: Auch die Augen, mit deren Hilfe er sich orientierte, waren verschwunden. Er kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu befallen drohte. »Ich bin in der Lebensblase«, sagte er zu sich selbst. »Und in diesem Gebilde kann mein Körper in seiner stofflichen Form nicht existieren. Das habe ich doch schon einmal erlebt. Aber warum erinnere ich mich nicht daran?« »Weil diese Erinnerung noch immer blockiert ist«, sagte eine freundli che Stimme. Er wollte herumfahren und stellte ernüchtert fest, daß es gar nicht so einfach war, sich mit einem körperlosen Dasein abzufinden, auch wenn es in seinem Falle hoffentlich nur vorübergehend war. Falls er in dieser Um gebung auf einen Gegner traf – wie sollte er sich verteidigen? »Hier gibt es keine Gegner!« behauptete die Stimme streng.
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»Wer bist du?« fragte Razamon mißtrauisch. »Wo steckst du?« »Ich bin Yeers.« Razamon hatte das Gefühl herumgewirbelt zu werden. Schwarze Schat ten huschten an ihm vorbei. Dann sah er Licht, einen großen Flecken Hel ligkeit, der ihm infolge der absoluten Finsternis, aus der er kam, wie die grelle Oberfläche einer Sonne erschien. Erst als er ganz nahe davor war, stellte er fest, daß die Fläche keineswegs einheitlich hell war. Im Gegen teil, es gab ziemlich große Bereiche, die so finster waren wie das Innere der Lebensblase selbst. »Du wirst das bald deutlicher erkennen können«, versprach Yeers. Allmählich kehrte Razamons Erinnerung an diese Umgebung zurück. Er entsann sich, daß er schon einmal diese Fläche gesehen hatte. »Es ist die einzige Verbindung, die zwischen der Lebensblase und der Außenwelt besteht«, erklärte Yeers freundlich. »Durch dieses Fenster seid ihr zu uns hereingekommen, und auf demselben Wege werdet ihr uns ver lassen.« »Falls wir jemals wieder hier herauskommen«, meinte Razamon düster. »Was ist mit Atlan? Hat er es geschafft?« »Ja. Olken holt ihn her. Ihr seid tief in den Ring hineingeschleudert worden. Fast wäre es uns nicht gelungen, euch aufzufangen.« »Was wäre dann mit uns passiert?« fragte Razamon beklommen. »Das wissen wir nicht. Es ist schon einige Male vorgekommen, daß Wesen verlorengegangen sind, aber wir haben niemals erfahren, was aus ihnen geworden ist. Wir haben übrigens nicht damit gerechnet, daß wir dich noch einmal bei uns begrüßen können. Wir müssen dich um Verzei hung bitten. Es ist etwas schiefgegangen, als wir dich nach Xudon schicken wollten.« »Das kann man wohl sagen«, murmelte Razamon bedrückt. »Wenn we nigstens meine Erinnerung rechtzeitig zurückgekehrt wäre! Ich konnte nicht einmal nach der großen Plejade suchen. Dabei könnten wir sie gera de jetzt gebrauchen.« Yeers antwortete nicht, und Razamon schwieg. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie verbittert die beiden Bewußtseine waren. Erst jetzt, nach dem er den Dunklen Oheim gesehen und seine Ausstrahlung gespürt hatte, begriff er, wieviel Mut und Stärke diese beiden einsamen Wesen ge braucht hatten, um sich dem riesigen Ring zu widersetzen. Heimlich und unbemerkt hatten sie den lauten Quahrt abgefangen, der eine besondere Art von Marmor entdeckt hatte. Der Marmor diente ihm zur Herstellung von Kugeln, die den Widerschein der Freiheit in sich trugen, und diese Kugeln wiederum lösten eine Rebellion gegen den Oheim aus. Die Rebel len wurden umgebracht, der Planet zerstört, und den lauten Quahrt schick te man mit Hilfe eines dieser schwarzen Klumpen zum Dunklen Oheim.
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Dort kam er jedoch nie an. Statt dessen gelangte er nach Xudon, wo es dieses besondere Gestein ebenfalls gab, und wieder drehte er Kugeln dar aus. Niemand wußte, wie viele von diesen Kugeln die Kinder aus dem Clan der Durstigen auf den Markt von Danjitter-Tal geschmuggelt hatten. Sie alle verbreiteten Gefühle, die in der Schwarzen Galaxis unerwünscht waren, aber sie waren noch unvollkommen und nicht stark genug für das, was Yeers und Olken planten. Und als dann endlich diese eine, in jeder Hinsicht perfekte Kugel fertiggestellt war, riß der Kontakt zwischen den Bewußtseinen und dem lauten Quahrt ab. Razamon wußte, daß Atlan die große Plejade auf Xudon gefunden hatte. Durch den Arkoniden war die Marmorkugel zum Planeten Cyrsic gelangt. Dort lag sie seiner Meinung nach immer noch und berieselte einen Haufen von Bestien mit ihren beruhigenden Impulsen, anstatt in der Lebensblase aufzugehen und diese gleichzeitig zu zerstören, wie es eigentlich geplant war. »Es tut mir leid«, sagte Razamon. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen«, behauptete Yeers. »Ich mache mir aber welche«, fiel der Berserker dem Körperlosen ins Wort. »Da draußen ist nämlich ein zweiter Ring aufgetaucht. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber etwas Gutes kann es wohl kaum sein. Ist das schon früher passiert? Wißt ihr etwas über kleinere Ringe, die von den Dimensionsfahrstühlen kommen?« »Leider nicht«, antwortete Yeers erschrocken. »Ein zweiter Ring? Was will der hier?« »Woher soll ich das wissen? Vielleicht kann man ihn von hier aus se hen.« »Nein, das glaube ich nicht. Diese Öffnung …« Halte ein! Yeers verstummte abrupt, als die fremde Stimme durch die Lebensblase hallte. Razamon hatte das Gefühl, von dem »Fenster« weggeschleudert zu werden. Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie es möglich war, daß er als körperloses Bewußtsein diese Bewegung so deutlich zu fühlen vermochte, bis ihm bewußt wurde, daß dies das nebensächlichste aller vorhandenen Probleme war. »Yeers!« schrie er. »Wo bist du?« »Ich bin bei dir«, wisperte der Körperlose entsetzt. »Was war das eben für eine Stimme?« Yeers antwortete nicht, aber Razamon spürte, daß er erneut an das »Fenster« herangeschoben wurde. Er versuchte, die verwaschenen Licht flecken und die dunklen Stellen dazwischen deutlicher zu erkennen. Für einen Augenblick glaubte er, im Zentrum der Fläche die Sonne Ritiquian mit dem Dunklen Oheim sehen zu können. Dann war alles wieder ver
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schwommen. »Rede endlich!« fuhr er den Körperlosen ungeduldig an. »Wer hat da gesprochen?« »Hast du das noch nicht erraten?« fragte eine andere, vertraute Stimme spöttisch. »Bist du auch endlich da, Atlan!« »Ich hatte einen etwas weiteren Weg als du. Der schwarze Klumpen war anscheinend nicht dazu gedacht, Transporte über so kurze Entfernungen hinweg vorzunehmen. Und dann hat uns auch noch die Stimme des Dunklen Oheims aus dem Kurs geworfen.« Razamon hatte es geahnt, aber er hatte immer noch gehofft, es könne ei ne andere Erklärung geben. Auch wenn sie dem Dunklen Oheim schon seit geraumer Zeit sehr nahe gewesen waren, so hatten sie doch wenig stens nichts von ihm gehört. In gewisser Weise war der riesige Ring für sie noch immer ein anonymes Ding, das zwar furchterregend und bedrückend aussah, ihnen aber gerade wegen seiner gewaltigen Größe nicht viel anha ben konnte. Razamon erinnerte sich daran, daß er früher des öfteren befürchtet hatte, durch bestimmte Aktionen die Aufmerksamkeit des Oheims auf sich zu ziehen und dann dessen Rache zu spüren zu bekommen. Seit er aber wuß te, wie das Wesen aussah, das sich hinter der seltsamen Bezeichnung ver barg, fiel es ihm schwer, sich den Dunklen Oheim als Persönlichkeit, als Individuum vorzustellen. Wenn dieses Ding jetzt allerdings begann, zu sprechen und sich an die Insassen der Lebensblase zu wenden, mußte Razamon seine Ansichten abermals revidieren. »Wen von uns mag er gemeint haben?« fragte Yeers, und Razamon hat te den absurden Eindruck, daß der Körperlose am ganzen Leibe zitterte vor Furcht. »Er hat keinen Namen genannt!« meldete sich Olken. »Oder habt ihr et was anderes gehört?« »Er hat nicht zu euch gesprochen!« sagte Atlan nüchtern. »Wie?« rief Yeers. »Nicht zu uns?« »Zu wem denn dann?« fragte Olken aufgeregt. »Es kann ihn doch außer uns niemand verstehen. Seine Stimme dringt nicht nach draußen. Nur hier in der Lebensblase weckt sie ein Echo.« Atlan wartete ungeduldig. »Er hat den zweiten Ring gemeint«, erklärte er gereizt. »Ich glaube nicht, daß das Ding sich so einfach aufhalten läßt. Wie kann man dieses sogenannte ›Fenster‹ auf den Dunklen Oheim richten? Ich muß sehen, was da draußen geschieht.« »Wir haben keinen Einfluß darauf«, begann Olken, aber er kam vorerst
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nicht dazu, genauere Erklärungen zu liefern. Von einem Augenblick zum anderen verschwanden die verwaschenen Lichtflecken. Die gelbe Sonne wurde sichtbar, samt dem gigantischen Ring, der sie umspannte. Gleichzeitig ging ein leises Rauschen durch die Lebensblase. Atlan, Razamon und die beiden Körperlosen drängten sich näher an das »Fenster« heran, als ein bedrohliches Knistern an ihnen vor überfuhr. »Was macht er jetzt?« fragte Olken wispernd. »Zerstört er die Lebens blase etwa?« »Dummkopf!« schimpfte Yeers. »Das würde er niemals wagen. Es wäre das Ende seiner Herrschaft über die Schwarze Galaxis.« »Vielleicht ist der zweite Ring eine neue Lebensblase«, vermutete Ol ken ängstlich. »Irgendwann mußte es ja so kommen. Er hat herausgefun den, daß wir versucht haben, ihn zu betrügen, und nun …« »Es ist keine neue Lebensblase!« sagte Atlan energisch. »Ich schlage vor, daß wir uns jetzt für ein paar Minuten still verhalten und abwarten, was geschieht!« Razamon spürte, daß Yeers, der sich immer noch ganz dicht bei ihm aufhielt, sich bewegte und zum Sprechen ansetzte. »Warte, Freund«, sagte der Berserker sehr leise. »Glaube mir, es ist bes ser so. Etwas bahnt sich da draußen an, und wir sollten uns darum bemü hen, alles zu hören und zu sehen und nichts zu verpassen.« Als wollte der Dunkle Oheim ihn verspotten, klang erneut die gewaltige Stimme auf und ließ das Innere der Lebensblase erbeben. Sei mir willkommen, mein Sohn! Sohn? dachte Atlan verblüfft. Mir scheint, der Ausdruck ist schlecht ge wählt. Aber er wußte, daß auch das im Augenblick nicht wichtig war. Der Oheim schickte Impulse aus, die der Verständigung mit dem zweiten Ring dienten, und aus irgendeinem Grunde wurden die Impulse von der Lebens blase aufgefangen und verstärkt. Es mußte an der Natur seiner Umgebung liegen, daß der Arkonide die Impulse verstehen konnte. Sein Verstand übersetzte sie automatisch in Worte, die dem Arkoniden geläufig waren. Yeers und Olken hörten den Oheim sicher in einer ganz anderen Sprache. Der Gedanke, daß der Dunkle Oheim Kinder haben und sich vermehren konnte, war erschreckend. Atlan fragte sich, warum er während seiner Irr fahrt durch die Schwarze Galaxis keine kleinen Ringe zu sehen bekommen hatte. Befanden sie sich etwa alle auf den Dimensionsfahrstühlen? Oder wanderten sie aus? Der Dunkle Oheim jedenfalls beanspruchte offenbar diese Galaxis für sich allein, und Atlan konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Wesen bereit war, Ausnahmen zu machen und mit einem seiner Sprößlinge zu teilen.
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Gespannt wartete er darauf, daß der kleine Ring antwortete. Vorerst schien es, als sei der junge Oheim entweder stumm oder unfähig, mit sei nen Impulsen ebenfalls ein Echo in der Lebensblase zu erzeugen. Erst nach langen Minuten nahm Atlan eine zweite, hellere Stimme wahr. »Bin ich dein Sohn?« Die Antwort kam sofort. »Ja. Du bist aus meiner Substanz entstanden.« »Daran erinnere ich mich nicht«, erwiderte der junge Oheim. »Das kannst du auch gar nicht. Du warst nur ein winziger Keim zu die ser Art von Leben.« »Hast du noch mehr Söhne?« »Es sind viele Tausende.« »Wo sind sie? Ich kann sie nicht sehen.« Einen Augenblick lang blieb es still. »Sie sind nicht hier«, erklärte der Dunkle Oheim schließlich. »Ich wer de dir berichten, woher ich kam und was ich bin.« »Wozu?« fragte der junge Oheim lakonisch. Wieder entstand eine Pause. Atlan dachte spöttisch, daß offenbar dieser junge Ring eine beinahe menschlich anmutende Fähigkeit besaß: Er ver stand es, seinem »Vater« am laufenden Band Fragen zu stellen, die diesen von einer Verlegenheit in die nächste stürzten. »Wenn du meine Geschichte kennst«, sagte der Dunkle Oheim, »wirst du auch verstehen, wer du bist und wo dein Platz ist. Du wirst begreifen, welche Aufgaben auf dich warten und wie du sie erfüllen kannst.« »Ich sehe nicht ein, wozu ich das alles wissen soll«, wehrte der junge Oheim ab, und seine Stimme klang drohend. »Das Land, in dem ich ent standen bin, hat mich hierhergebracht. Hier ist mein Ziel, und hier werde ich bleiben.« Pause. Vielleicht überlegte der Dunkle Oheim jetzt, ob er dieses feind selige Wesen, mit dem er auf eine für Atlan noch nicht begreifliche Form verwandt war, auf der Stelle vernichten sollte. Oder kannte selbst der Dunkle Oheim Skrupel seiner Verwandtschaft gegenüber? »Du verlierst nicht viel Zeit, wenn du mir zuhörst«, meldete sich der große Ring erneut. »Und glaube mir – es ist wichtig für dich, daß du unse re Geschichte kennst.« Jetzt tauchte auf der Fläche, die das »Fenster« bildete, ein kleiner schwarzer Fleck auf. Er wanderte vom unteren Rand direkt auf die Sonne zu. »Du mußt jetzt anhalten«, warnte der Dunkle Oheim. »Wenn du dich mir noch weiter näherst, wirst du sterben.« »Willst du mir drohen?« »Nein. Ich könnte nichts dagegen tun, auch wenn ich es wollte.«
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»Das ist eine Lüge!« behauptete der kleine Oheim. »Ich durchschaue dich. Du bist uralt und hochmütig. Du willst nichts mit mir zu tun haben, du …« Der junge Ring verstummte abrupt, und der Fleck am »Fenster« kam zum Stillstand. »Na schön«, sagte der junge Ring nach einiger Zeit. »Jetzt weiß ich, daß da wirklich etwas ist, was mich vernichten könnte.« »Dann wirst du mir jetzt zuhören?« »Solange du mich nicht langweilst, werde ich zuhören«, bestätigte der kleine Oheim.
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Pyrun von den Inseln fand, daß er in seinem ganzen Leben noch kein be eindruckenderes Beispiel für schlechte Organisation gefunden hatte. Dabei hätte man meinen sollen, daß die, die den Auftrag gegeben hatten, auch die Mittel besaßen, für eine schnelle und gründliche Durchführung zu sor gen. Ja, wenn sie es nicht konnten – wer konnte es dann? »Du wirst hochmütig!« tadelte Glymp der Hornige, der dem Gesandten der Kosmokraten wie ein Panzer auf den Schultern saß. »Halt den Mund!« befahl Pyrun von den Inseln mißmutig. »Du ver stehst nichts davon.« »Ich weiß genausoviel wie du«, behauptete Glymp beleidigt. Dann sind wir beide gleich unwissend, dachte Pyrun, hütete sich aber, das laut auszusprechen. »Du solltest die Raumfahrer fragen, die vorhin an uns vorbeigegangen sind«, meinte Glymp. »Vielleicht fliegen sie in die Richtung, in der sich auch YEPHENAS aufhalten soll.« Pyrun von den Inseln antwortete nicht. Er beschloß, von jetzt an seinen Groll still in sich hineinzufressen. YEPHENAS, die Kosmokraten, der Auftrag – er wünschte, er hätte mit all diesen Dingen nichts zu tun. Dabei erinnerte er sich noch sehr deutlich daran, daß er vor Stolz fast geplatzt wäre, als man ihn – ausgerechnet ihn und keinen anderen Inselbewohner! – aus einer unübersehbaren Schar von Bewerbern ausgewählt hatte. Aus Pyrun dem Armen war Pyrun der Glück liche geworden, und einige Tage lang hatte er im Mittelpunkt glanzvoller Ereignisse gestanden. Dann startete das Schiff, und er erfuhr, was er für die Kosmokraten tun sollte. Er war enttäuscht, denn er hatte gehofft, daß er diese geheimnisvol len Herrscher von jenseits der Materiequellen kennenlernen würde. We nigstens, so dachte er, hätte einer von ihnen herüberkommen und sich per sönlich mit Pyrun über diese Angelegenheit unterhalten können. Statt des sen trat ein riesiger Roboter in die Kabine des Beauftragten und klärte ihn mit nüchternen Worten über seine Mission auf. Der Glymp spürte die Verärgerung seines Partners. »Ging es nicht noch ein bißchen nüchterner?« fragte er den Roboter her ausfordernd. Das Maschinenwesen erstarrte förmlich. »Wer ist das?« verlangte er dann zu wissen. »Glymp«, erwiderte Pyrun lakonisch. »Mein Partner.« »Er wurde nicht ausgewählt. Nur du solltest an Bord kommen!« Pyrun, der dem Roboter ohnehin nur knapp bis zur Mitte der Ober
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schenkel reichte, schrumpfte noch weiter in sich zusammen. Er fühlte sich mißverstanden und zu Unrecht getadelt, und Trotz erwachte in ihm. »Wir von den Inseln haben eben Partner«, stieß er hervor. »Das dürfte denen, die mich ausgewählt haben, auch bekannt sein.« »Aber ich weiß davon nichts«, gab das Maschinenwesen hochmütig zu rück. »Ich werde diese Sache überprüfen. Ist Glymp ein Symbiont?« »Nein.« »Dann wirst du dich vermutlich von ihm trennen müssen«, drohte der Roboter. Pyrun von den Inseln wünschte dem Maschinenwesen die Rostpest in den blanken Leib, als das Ding ohne ein weiteres Wort verschwand. So hatte die Reise angefangen, und Pyrun argwöhnte schon damals, daß das Unternehmen unter einem sehr schlechten Stern stand. Aber es kam noch besser. Zunächst war er erleichtert, daß er Glymp behalten durfte. Das beruhig te ihn so intensiv, daß er sogar über die Anwesenheit einiger winziger, kreischender Wesen hinwegsah, die aus unerfindlichen Gründen an Bord des Schiffes geduldet wurden. Diese Wesen störten ihn beim Schlaf, und wenn er zu essen wünschte, fand er meistens zwei oder drei auf seiner Nahrung vor, wo sie sich die Bäuche vollschlugen. Glymp der Hornige schlug seinem Herrn vor, einige der Quälgeister zu erschlagen, damit die anderen ihn in Ruhe ließen. Aber Pyrun von den Inseln brachte das nicht fertig, sondern tat lieber das Essen, das ihm nach Abzug der Winzlinge oh nehin nicht mehr schmeckte, in einen Abfallschacht. Auf diese Weise ver lor er beträchtlich an Gewicht. Er lernte diesen Umstand und die lästigen Wesen wenig später schätzen. Da gab es nämlich plötzlich seltsame Geräusche im Schiff, die Luft wurde heiß und stickig, Rauchwolken quollen aus den Lüftungsgittern, und über haupt sah alles gar nicht erfreulich aus. Pyrun, der zum erstenmal in einem Raumschiff mitflog, hörte Sirenen und Geschrei, aber getreu der Weisung, die man ihm zu Beginn des Fluges erteilt hatte, verhielt er sich ruhig, um die Mannschaft nicht bei der Bewältigung bestehender Schwierigkeiten zu stören. Nach geraumer Zeit wurde es ruhiger. Pyrun wartete noch eine Weile, dann kam er zu dem Schluß, daß er es wohl allmählich wagen könnte, den Kommandanten mit ein oder zwei vor sichtigen Fragen zu belästigen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Tatsache zu akzeptieren ver mochte, daß dieser Kommandant gar nicht mehr an Bord war. Auch die Mannschaft war verschwunden. Und das Schiff selbst war ein Wrack. Sie hatten sich alle miteinander in Sicherheit gebracht – und den Beauf tragten der Kosmokraten glatt vergessen. Die ungeheure Mißachtung, die
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man ihm hatte zuteil werden lassen, lähmte Pyrun geradezu. Die Winzlinge störten ihn schließlich in seinen trübsinnigen Überlegun gen, und sie benahmen sich so aufdringlich, daß Pyrun gepeinigt die Flucht ergriff. Die Winzlinge verfolgten ihn, trieben ihn durch Gänge, in denen es zwar nach allen möglichen unappetitlichen Dingen stank, die aber immerhin noch atembare Luft enthielten, hinderten ihn daran, Schotte zu anderen Gängen zu öffnen, in denen diese Mindestbedingung zum Überleben nicht mehr gegeben war, und lotsten ihn auf ihre seltsame Wei se zu einer Schleuse. Pyrun begriff erst hinterher, daß er den Winzlingen sein Leben verdank te, und er war beschämt. Sicher hatten sie nicht gewußt, was noch gesche hen sollte, als sie ihn mit ihrem aufdringlichen Verhalten zum Fasten zwangen, aber hätten sie es nicht getan, so wäre es ihm nie gelungen, sich durch die enge Luke der Rettungskapsel zu zwängen. Vor allem aber hätte er diese Rettungskapsel niemals gefunden. Er wäre in dem Wrack gestor ben, und so angenehm es auch war, an die eigene Bedeutung zu glauben, so war Pyrun doch ehrlich genug, eines vor sich selbst zuzugeben: Sein Tod wäre kein Ereignis gewesen, daß irgend jemanden besonders aufge regt hätten und die Kosmokraten hätten sicher sehr schnell einen anderen Beauftragten gefunden. Pyrun war vor kurzer Zeit – er hatte seither nur einmal Wasser trinken müssen – auf einem Planeten gelandet, den er mit den begrenzten Mitteln der Rettungskapsel hatte erreichen können. Es war keine direkte Landung gewesen, eher schon ein Absturz, und er hatte sich sehr geniert – bis er den kleinen Raumhafen genauer ansah und feststellte, daß alle hier vor handenen Schiffe mit allerlei deutlich sichtbaren Schäden behaftet waren. Auf dem Raumhafen war es staubig und heiß. Ein leichter Wind blies lange Staubfahnen über den Boden, und einige Schiffe waren bereits von kleinen Wanderdünen umzingelt. Pyrun, der als echter Inselbewohner eine ererbte Schwäche für die technischen Überbleibsel vergangener Zivilisa tionen hatte, hätte am liebsten sofort in dem trockenen Boden herumge wühlt. Ihm drängte sich die Vorstellung förmlich auf, sich auf einem kos mischen Schrotthaufen zu befinden, auf dem seit ungezählten Zeiteinhei ten ein Schiff nach dem anderen von Sand und Staub begraben wurde. Die Kosmokraten vergaß er weitgehend, und wenn er sich zufällig an sie erin nerte, so sagte er sich grimmig, daß sie ihm gestohlen bleiben konnten. Hatten sie etwa ihm geholfen, als er in der Klemme saß? Sollten sie nun eben sehen, wie sie ihre Botschaft ans Ziel brachten – er hatte getan, was er hatte tun können. Es wurde auf dem Planeten, dessen Namen Pyrun nicht kannte, zum achtzehnten Male Nacht, als er endlich den Rand des Raumhafens erreich te. Er hätte weit früher dort ankommen können, aber er hatte es nicht eilig
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gehabt. Auch jetzt zog es ihn mehr zu den rostenden Schiffen als zu den hügelförmigen Bauwerken, die den Raumhafen umschlossen. Aber Pyrun mußte dorthin gehen, denn er verspürte Durst. Die Bauten sahen aus, als hätte man sie aus dem überall vorhandenen Staub unter sparsamer Verwendung von etwas Flüssigkeit zusammenge backen. Sie hatten dieselbe Farbe wie die Einöde ringsum, ein bräunliches Orange, das hier und da von ockerfarbenen und purpurnen Streifen durch zogen war. Ihre Wände, die aus der Ferne leidlich glatt ausgesehen hatten, erwiesen sich als stark verwittert. Ganze Krater klafften darin, und als Glymp der Hornige bei einer unvorsichtigen Bewegung seines Partners ge gen die Wand stieß, entstand sofort ein neues Loch. »Sieh dich vor«, kreischte der Hornige ängstlich. Und genau in diesem Augenblick sahen sie die Raumfahrer. Es mußten Raumfahrer sein, denn sie trugen blanke, silberfarbene An züge, die so makellos und sauber waren, daß sie in keiner Weise in diese Umgebung paßten. Sie waren zu fünft und marschierten zielstrebig auf einen der Hügelbauten zu. »Geh zu ihnen!« drängte Glymp den Inselbewohner. Aber Pyrun hatte kein Interesse daran, diese großen, schlanken Wesen kennenzulernen. Er ignorierte Glymps lästerliche Verwünschungen. Der Hornige mochte diese Welt nicht. Hier war es ihm zu einsam und zu still. Wie alle Wesen von seiner Art liebte auch Glymp den Trubel und die Geselligkeit, wie sie in den großen Inselstädten herrschten. Pyrun suchte zwischen den Hügelbauten nach einem Brunnen, fand aber keinen. Schließlich wagte er es, in eines der Gebäude einzudringen. Drinnen war es fast dunkel. Pyrun stolperte über etwas, das auf dem Bo den lag. Automatisch bückte er sich. Er berührte etwas Weiches, das sich unter seiner Hand zu bewegen begann. Die Ungewißheit, was er da ange faßt haben mochte, rief heftigen Ekel in ihm hervor, und er zuckte zurück. »Wer bist du?« wisperte eine Stimme – ohne Glymp, der in solchen Si tuationen unschätzbare Dienste leistete, hätte Pyrun kein Wort verstanden. Glymp empfing die Gedanken des fremden Wesens und übertrug sie in die Sprache derer, die die Inseln bevölkerten. »Ich bin Pyrun, ein Fremder«, antwortete der Inselbewohner vorsichtig. »Und wer bist du?« »Ich habe meinen Namen schon seit langem vergessen«, wisperte der Fremde. »Bringst du uns Hilfe, Pyrun?« »Ich wüßte nicht, wie ich dir helfen sollte«, murmelte Pyrun verwirrt. »Ich bin allein, und ich suche ein Schiff, das mich von diesem Planeten wegbringt. Ich muß YEPHENAS aufsuchen.« Es blieb so lange still, daß Pyrun schon glaubte, der Fremde hätte das
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Interesse an einer weiteren Unterhaltung verloren. Aber als er sich ab wandte, um seine Suche nach einem Brunnen fortzusetzen, vernahm er ein so eigenartiges Kichern, daß sich ihm die Schuppen aufrichteten. »Wir alle suchen ein Schiff!« keuchte der Fremde, der noch immer auf dem Boden lag. »Wir alle möchten von hier weg. Und wir alle würden gerne zu YEPHENAS gelangen. Beim Glanz der Sterne, das wünschen wir uns wirklich!« Es hörte sich aber gar nicht so an, als äußerte der Fremde einen Her zenswunsch, sondern es klang so viel Haß darin mit, daß Pyrun ein paar Schritte zurückwich. »Mir scheint, du liebst YEPHENAS nicht gerade«, bemerkte er vorsich tig. Der Fremde richtete sich ächzend auf. Pyrun retirierte in Richtung Aus gang. Bis dahin hatte er nur ein formloses Bündel auf dem Boden liegen sehen. Jetzt aber entwickelte sich daraus ein säulenförmiger Körper, der immer höher und höher aufragte. Pyrun fürchtete allen Ernstes, der Frem de würde sich den Kopf an der für seine Begriffe unendlich weit entfernten Innenwand des Hügelgebäudes stoßen. »Was willst du von YEPHENAS?« fragte der Fremde irgendwo weit über ihm. Pyrun stutzte. Die Stimme des riesigen Wesens klang lauernd und dro hend. »Ich habe einen Auftrag zu erfüllen«, sagte Pyrun kleinlaut. »Aber ich darf nicht darüber sprechen.« Der Fremde lachte verächtlich, und beinahe gleichzeitig zerbrach die Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Hügelbauwerks. Helles Licht strömte herein. Pyrun sah, daß an vielen Stellen solche riesigen Wesen la gen. Einige waren im Begriff sich aufzurichten. Entsetzt beobachtete er, wie durch die gewaltsam geschaffene Öffnung jene fünf Raumfahrer in das Gewölbe kamen, die vorher an ihm vorbeige gangen waren. Sie hielten Gegenstände in den Händen, die Pyrun mit eini ger Mühe als Waffen identifizierte. »Wir kommen von YEPHENAS!« sagte einer der Fremden. Seine Stim me klang hart und gefühllos. »Eure Zeit ist um.« Die Waffen hoben sich, und gleißende Lichtstrahlen schossen kreuz und quer durch den Raum. Der Fremde, mit dem Pyrun gesprochen hatte, stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Binnen weniger Sekunden starben alle Fremden, die sich bereits aufge richtet hatten. Pyrun stand zitternd vor Angst hinter dem toten Fremden, und dort fan den ihn die Raumfahrer. »Was willst du hier?« fuhr der eine ihn an.
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»Ich habe nach Wasser gesucht«, flüsterte Pyrun verschüchtert. »Wie bist du auf diesen Planeten gekommen?« wollte der Raumfahrer wissen. »Verrate es ihm nicht!« warnte Glymp der Hornige. »Es sind unhöfli che, grausame Burschen. Wer weiß, was sie mit dir anstellen, wenn sie er fahren, in welch wichtiger Mission du unterwegs bist.« Da Pyruns Partner diesen Kommentar selbstverständlich nicht für den fremden Raumfahrer übersetzte, schöpfte dieser sofort Verdacht. Er schlug mit dem Griff seiner Waffe auf die Oberseite des Hornigen. »Sei still, du!« befahl er grob. »Du hast zu übersetzen, was zwischen deinem Partner und mir gesprochen wird. Alles andere geht dich nichts an.« Glymp gab einen zornigen Laut von sich, wagte es jedoch nicht, gegen die unsanfte Behandlung zu protestieren. Pyrun fragte sich verwundert, woher dieser Fremde wußte, welche Funktion der Hornige zu erfüllen hat te. »Worauf wartest du?« fuhr der Raumfahrer den Inselbewohner an. »Willst du meine Frage nicht endlich beantworten, oder brauchst du auch erst eine Aufmunterung?« Pyrun schluckte erschrocken und erklärte zaghaft, wie er auf diesen Pla neten gelangt war. »Du willst also zu YEPHENAS?« wiederholte der Raumfahrer. Seine Stimme klang etwas freundlicher. »Ja«, sagte Pyrun hastig. »Kennst du den Weg?« Der Fremde lachte. »Du kannst mit uns kommen«, erklärte er. »In ein paar Tagen hast du dein Ziel erreicht.« »Nein«, sagte Pyrun entschieden. »Ich bleibe hier. Mit Mördern will ich nichts zu tun haben.« Der Fremde lachte. Pyrun fand es abstoßend, wie diese Kreatur sich be nahm. Er drehte sich um und marschierte dahin zurück, wo er in das Hü gelgebäude eingedrungen war. Er hatte die Stelle fast erreicht, als ihn et was mit der Wucht einer gigantischen Faust im Rücken traf. Pyrun von den Inseln stürzte vornüber zu Boden. Die seltsamen Raumfahrer brachten ihn in ihr Schiff. Als Pyrun endlich in einer spartanisch eingerichteten Kabine lag und Zeit fand, sich über seine Lage den Kopf zu zerbrechen, da fiel ihm plötzlich etwas auf. Die riesigen Wesen, die in dem Hügelgebäude gestorben waren, hatten keine Angst gezeigt. Keines von ihnen hatte versucht, zu fliehen oder die Raumfahrer von ihrem Vorhaben abzubringen. Außerdem war beiden Par teien der Name YEPHENAS ein Begriff gewesen. »Das hat nichts zu bedeuten«, bemerkte Glymp und stieg mit steifen
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Beinen von Pyruns Schultern herunter. »Wir befinden uns im Einflußbe reich dieser Wesenheit. Warum sollen sie also nicht wissen, wer YE PHENAS ist?« »Weil das alles andere als selbstverständlich ist«, erklärte Pyrun nach denklich. »Aber das müßtest du eigentlich auch selbst wissen.« Glymp der Hornige ließ sich vorsichtig auf den Boden herab und kroch in verschiedene Winkel. Er verschwand schließlich unter dem Bett und ru morte dort herum. »Wonach suchst du?« fragte Pyrun. »Nach einem Ausgang«, klang es dumpf zurück. »Wir können nicht weglaufen«, bemerkte der Inselbewohner. »Wir be finden uns in einem Raumschiff.« »Das ist mir bekannt«, brummte Glymp mißgelaunt. »Ich will hinaus und mich an Bord umsehen.« »Warum?« »Ich kann es dir nicht erklären. Du wirst es noch früh genug merken.« Pyrun sah betroffen unter das Bett. Glymp war eifrig damit beschäftigt, eine schmale Ritze zu erkunden. Offenbar war die Spalte erfolgverspre chend, denn Glymp opferte ohne zu zögern fast den gesamten Wasservor rat, den er unter der hornigen Rückenhaut gespeichert hatte. Das Wesen wurde platt wie eine Wanze und verschwand mit seltsam flatternden Be wegungen in der Ritze. Pyrun legte sich auf das Bett und wartete geduldig. Glymp blieb ziemlich lange aus. Pyrun wurde inzwischen von einem der Raumfahrer mit Wasser und Proviant versorgt. Der Fremde merkte nicht, daß der Hornige seinen Platz auf Pyruns Schultern verlassen hatte. Das Wasser war gut und frisch, und Pyrun trank es gierig bis zum letz ten Tropfen aus. Die Nahrungsmittel schmeckten fremdartig, aber Pyrun kostete, stellte fest, daß es sich um bekömmliche, kräftigende Nahrung handelte. Ein ausgiebiges Mahl verkürzte ihm die Zeit. Er fühlte sich beinahe wohl, als er satt war. Erst Glymps Erscheinen schreckte ihn aus seiner Ru he auf. »Was hast du herausgefunden?« fragte er. »Nicht jetzt«, wehrte Glymp hastig ab. »Ein paar Raumfahrer kommen hierher.« Pyrun starrte die Tür an und fragte sich, was die Fremden von ihm woll ten. Er erfuhr es wenige Augenblicke später. Die Fremden waren zu dritt. Der, der in der Mitte ging, trug einen silbri gen Umhang. Die anderen waren einfacher gekleidet. »Wir werden dich zu YEPHENAS bringen«, sagte der Silberne. »Aber
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wir verlangen einen Preis von dir.« Pyrun hob in einer zustimmenden, gleichzeitig Resignation andeutenden Geste die Hände. »Ich führe keine Reichtümer mit mir!« gestand er. »Das macht nichts«, versicherte der andere. »Wir sind lediglich an eini gen Informationen interessiert.« Den Inselbewohner beschlich ein seltsames Gefühl. »Ich werde dir antworten, soweit es mir möglich ist«, sagte er vorsich tig. »Woher kommst du?« fragte der Silberne. »Von den Inseln«, antwortete Pyrun überrascht. »Und was sind die Inseln?« Pyrun sah den Fremden ratlos an. Wie sollte er diesem Wesen etwas er klären, was selbst für die meisten Inselbewohner nur schwer zu verstehen war? »Es sind eben Inseln«, murmelte er. »Ist es ein Planet? Einer, der mit Wasser bedeckt ist?« »Oh nein«, erwiderte Pyrun lächelnd. »Man könnte eher sagen, daß es Stücke von einem Planeten sind. Jede Insel ist ein Land, das für sich allein existiert.« »Wie weit sind diese Inseln von uns entfernt?« »Das kann ich dir nicht so genau sagen. Die meisten sind unterwegs, und es kann passieren, daß man keines der Länder antrifft. Ebensogut kann eines der Länder in unserer Nähe auftauchen.« »Dann sind es also Raumschiffe!« Pyrun seufzte. »Nein«, sagte er geduldig. »Es sind keine Raumschiffe, sondern Länder, die durch Raum und Zeit reisen. Auf den Inseln gibt es Flüsse und Seen, Ebenen und Gebirge – alles, was es auch auf Planeten gibt. Das alles ist nicht von starren Wänden umgeben, sondern von einem besonderen Schutzschirm. Dieser Schutzschirm ist durchsichtig. Wir leben unter frei em Himmel und können die Sterne und die Sonne sehen.« »Ich würde mir das alles gern einmal ansehen«, sagte der Fremde. »Würdest du mir den Weg zeigen?« »Zuerst muß ich zu YEPHENAS!« »Selbstverständlich. Wie lange wird es dauern, bis du deinen Auftrag erfüllt hast?« »Das hängt nicht von mir ab«, erklärte Pyrun nüchtern. »Ich hoffe, daß es schnell geht.« »Wird man mich auf eure Inseln lassen?« »Man wird dich sogar bitten, einige Zeit bei uns zu bleiben«, versprach Pyrun mit leiser Ironie.
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»Wenn es so ist«, sagte der Fremde, »dann muß ich mich bei dir ent schuldigen, denn ich habe dir Unrecht getan. Uns wurde die Ankunft eines Spions angekündigt, der aus einem sehr kriegerischen Volk stammt. Als ich dich bei den Auserwählten fand, glaubte ich, daß du dieser Spion bist.« Der Fremde gab seinen beiden Begleitern einen Wink, und sie zogen sich zurück. »Du bist mein Gast«, fuhr der Fremde fort. »Mein Name ist Dirgas, ich gehöre zum Volk der Tapheen. Darf ich dich bitten, mich zu begleiten? Ich werde dafür sorgen, daß du ein besseres Quartier als dieses hier be kommst.« Pyrun war über die Entwicklung nicht unerfreut, wenn er auch ein leises Unbehagen dabei verspürte. Immerhin – es war eines der wichtigsten Ziele aller Inselbewohner, mit Fremdwesen jeder Art zu reden und ihre Freund schaft zu gewinnen. Mißtrauen aber, so hatte Pyrun es einst gelernt, konn te jede Freundschaft töten oder ihre ersten zarten Keime ersticken. Glymp schien nicht der Ansicht zu sein, daß es sich in diesem Falle lohnte, den Idealen der Inseln nachzueifern, denn er bohrte seine dünnen Krallen tief in Pyruns lederartige Haut. »Hör auf damit«, bat Pyrun in Gedanken. »Laß mich zuerst mit ihm re den. Vielleicht klärt sich alles auf ganz harmlose Weise auf.« Der Hornige gab ihm mit einem neuerlichen Krallendruck zu verstehen, daß er die Hoffnungen seines Partners nicht teilte. Pyrun tat, als merke er es nicht, und so gab Glymp es schließlich auf.
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Dirgas erwies sich als ein überaus höfliches Wesen. Er hatte eine Fähig keit, die Pyrun sehr zu schätzen wußte: Er konnte zuhören. Niemals fiel er dem Inselbewohner ins Wort, und er versuchte auch nicht, Pyruns Schilde rungen durch eigene Berichte in ihrer Wirkung zu unterlaufen. Erst nach Stunden, als Pyrun bereits zu müde war, um noch länger von dem Leben auf den Inseln erzählen zu können, geleitete Dirgas den Insel bewohner zu einer mit bescheidenem Luxus eingerichteten Kabine. »Etwas Besseres kann ich dir leider nicht anbieten«, erklärte der Tapheo bedauernd. »Es ist meine eigene Kabine. Ich stelle sie dir gern zur Verfü gung.« »Das sollst du nicht tun!« rief Pyrun erschrocken. »Narr!« sagte der Hornige wütend. »Was hat er gesagt?« fragte Dirgas sofort, denn Glymp hatte seinen Kommentar nicht für ihn übersetzt. »Er hält so viel Großzügigkeit für nicht normal«, erklärte Pyrun hastig und verbiß sich mit Mühe einen Schmerzenslaut, als der Hornige ihm die Krallen in die Schultern bohrte. Dirgas betrachtete Glymp mißtrauisch. »Frage ihn nach den angeblichen Auserwählten!« drängte der Hornige, und Pyrun zuckte zusammen, denn über seiner angeregten Plauderei hatte er diese Frage schon fast vergessen. »Sie werden zu YEPHENAS gebracht«, behauptete Dirgas, als Pyrun sich vorsichtig nach den Auserwählten erkundigte. »Sie würden den Flug nicht lebend überstehen. Für uns ist es kein Problem, notfalls jahrelang in einem Raumschiff zu leben, aber diese Wesen sind sehr empfindlich. Dar um betäuben wir sie. Sie werden erst wieder erwachen, wenn die Landung bereits erfolgt ist.« »Das stimmt nicht!« schrie Glymp erbost. »Sie werden nie wieder zu sich kommen, denn sie sind tot. Ich habe sie doch gesehen. Ihre Körper werden mit einer Flüssigkeit berieselt und zerfließen, und irgendeine Ma schine nimmt die Masse auf. Was habt ihr damit vor? Hat YEPHENAS diesen Mord befohlen?« Dirgas antwortete nicht. Statt dessen richtete er eine Waffe auf Pyrun und seinen Partner. »Du solltest dich von diesem Wesen trennen«, riet er dem Inselbewoh ner, und seine Stimme klang nicht einmal unfreundlich. »Wenn du den Hornigen aufgibst, wirst du leben und YEPHENAS die Botschaft über bringen. Wenn nicht … Wir können es uns nicht leisten, Glymp in Kon takt zu der Wesenheit gelangen zu lassen.«
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»Ihr betrügt eine Superintelligenz!« stieß Pyrun ungläubig hervor. »Das ist unfaßbar! Eure Strafe …« Dirgas legte keinen Wert mehr darauf, höflich zu erscheinen. »Laß das unsere Sorge sein«, fiel er dem Inselbewohner grob ins Wort. »Geh in die Kabine.« Pyrun beugte sich der Gewalt. Die Waffe, die auf ihn gerichtet war, ver fehlte ihre Wirkung nicht. Als Inselbewohner hatte er selten mit solchen Dingen zu tun. Es war eine ernüchternde und bedrückende Erfahrung für ihn. »Ich habe einen Fehler gemacht«, gestand Pyrun zerknirscht, als er mit Glymp allein war. »Ich hätte mich mit diesen Wesen niemals einlassen dürfen. Zum Glück ist nicht viel geschehen.« »Sie werden dich töten.« »Ich bin nicht so wichtig. Vielleicht ist es sogar besser so. Ich darf gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn ich diese Barbaren tatsäch lich zu den Inseln geführt hätte.« »Sie werden den Weg dorthin finden«, versicherte Glymp unbarmher zig. »Du hast ihnen schon viel zuviel erzählt.« Nach einigen Stunden kamen etliche Tapheen und führten Pyrun samt seinem Partner zu einer mit dicken Metallplatten ausgeschlagenen Kabine. »Geh hinein!« befahl man ihm. Der Inselbewohner gehorchte. In der Kammer war es stockfinster, selbst der Lichtschein, der durch die offene Tür fiel, wurde schon nach wenigen Zentimetern verschluckt. Pyrun war fest davon überzeugt, daß er in dieser Kammer sein Leben beenden sollte, und es war ihm recht. Er war – ohne es zu wollen – zum Verräter geworden, und er war ehrlich genug, um ein zugestehen, daß er noch mehr ausplaudern würde, wenn die Tapheen es darauf anlegten. Lieber wollte er sterben. Er betrat die Kammer, und die Tür schlug hinter ihm zu. In der totalen Finsternis stand er regungslos da und wartete auf den Tod. Aber der ließ sich Zeit. Keine Waffe wurde auf ihn abgefeuert, die Luft blieb atembar. Nach einiger Zeit wurde er ungeduldig und schritt vorsich tig weiter in die Kammer hinein, bis er die gegenüberliegende Wand be rührte. Er tastete sich daran entlang. Es gab ein paar Vertiefungen in der glatten Fläche, an denen er sich zu orientieren vermochte. Er stellte fest, daß der Raum viereckig und absolut leer war. Die Tür, die er nur mit Mü he ausfindig machen konnte, ließ sich von innen nicht öffnen, und die Fu gen waren so schmal, daß selbst Glymp keine Chance hatte, sich hindurch zuzwängen. Mutlos ließ Pyrun sich zu Boden sinken. »Ich hätte nicht gedacht, daß sie so grausam sind«, sagte er zu dem Hor nigen. »Es wird sehr lange dauern, bis ich hier drin verschmachtet bin.«
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»Du wirst nicht auf diese Weise umkommen«, versprach Glymp. »Diese Kammer erfüllt einen bestimmten Zweck. Irgend etwas wird geschehen. Fasse dich in Geduld und warte ab – und mache dich vor allem nicht selbst verrückt.« Pyrun fragte sich, wie Glymp so ruhig und gelassen bleiben konnte. »Paß auf!« flüsterte Glymp nach einiger Zeit, und diesmal spürte Pyrun, daß der Hornige sich fürchtete. »Etwas kommt auf uns zu.« »Was ist es?« fragte Pyrun spontan. »Ich weiß es nicht. Es ist böse. Bei der Seele von Pthor, es stiehlt mir meine Gedanken!« Glymp bohrte seine Krallen in Pyruns Haut, aber der Inselbewohner be griff instinktiv, daß das diesmal nicht mit Absicht geschah. »Glymp!« rief er entsetzt. »Was ist mit dir los?« Der Hornige antwortete nicht. Der Griff der Krallen wurde schwächer. Pyrun legte beide Hände auf seine Schultern, die von Glymps harter Pan zerhaut geschützt wurden. Er hielt den Hornigen fest. Es war das einzige, was er für seinen Partner zu tun vermochte. Nach einigen Minuten spürte er selbst etwas, das sich von außen in sei ne Gedanken und Gefühle drängte. Es war eine bösartige Kraft von unge heurer Stärke. Glymps Krallen lösten sich. Der Hornige verlor den Halt. Pyrun hielt ihn verzweifelt fest, konnte aber nicht verhindern, daß der Partner von ihm herabfiel. Er wußte, was das bedeutete: Glymp lebte nicht mehr. Pyrun wurde in diesen Augenblicken bewußt, wie sehr er auf seinen Partner angewiesen war. Glymp hatte nicht nur seinen Rücken geschützt, der so leicht zu verletzen war, sondern er war auch ein wirklicher Freund gewesen, auf den er sich hatte verlassen können. »Auch du wirst sterben«, versicherte eine dumpfe Stimme, die durch seine düsteren Gedanken hallte. »Du bist also der Bote? Ich habe dich be reits erwartet. Welche Nachricht solltest du YEPHENAS überbringen?« »Das wirst du niemals erfahren!« rief Pyrun, von jähem Zorn erfüllt. Ein grausames Lachen hallte in seinem Gehirn wider. Er hielt sich den Schädel und krümmte sich, und er verfluchte den Tag, an dem die Gesand ten der Kosmokraten die Insel Pthor betreten hatten, um ihm diesen ver hängnisvollen Auftrag zu erteilen. »Du fürchtest dich«, sagte die Stimme. »Du fühlst Haß. Das ist gut. Du willst wissen, wer ich bin? Ich bin der, nach dem du suchst: YEPHEN AS.« »Das ist eine Lüge!« »Warum? Was hast du dir darunter vorgestellt?« »Du bist eine Superintelligenz. Du kannst nicht so bösartig und kalt sein, wie ich es jetzt fühle.«
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Wieder dieses grausame Lachen. »Erinnere dich an den Inhalt der Botschaft!« forderte die Stimme. Pyrun wollte alles tun, aber nicht das. Er versuchte, seine Gedanken im Zaum zu halten, aber sie eilten ihm davon. Das Gesetz der Inseln be stimmte, daß die Gedanken eines jeden intelligenten Wesens unantastbar waren, aber das Wesen, das sich hinter der dumpfen Stimme verbarg, brach dieses Gesetz. Die Botschaft der Kosmokraten lautete: »Wie jede Wesenheit deiner Entwicklungsstufe trägst auch du negativ reagierende Komponenten in dir, YEPHENAS. Es wird Zeit, daß du sie von dir stößt. Sie mögen dir als ein Teil deiner selbst erscheinen, von dem du dich nicht trennen kannst, ohne deine Existenz zu gefährden. Die Tren nung wird ein schmerzhafter Prozeß sein, aber sie läßt sich nicht länger hinauszögern. Du und dieser negative Teil deiner selbst – ihr werdet von nun an verschiedene Wege gehen.« »Ist das alles?«, fragte die fremde Stimme zornig. »Hat man dir nicht mehr mitgeteilt?« »Nein.« »Aber du mußt mehr wissen. Hörst du? Erinnere dich! Welche Wege sollen wir gehen? Wo liegt unser Ziel? Wohin geht YEPHENAS, und wo hin gehe ich?« »Ich weiß es nicht.« »Du mußt es wissen! Du mußt, du mußt, du mußt …« Wie das Dröhnen einer gewaltigen Glocke hallten die Worte durch Py runs Gehirn, immer wieder, bis er fühlte, wie ihm die Sinne schwanden. Im letzten Augenblick bemerkte YEPHENAS seinen Fehler. Er hielt inne und schwieg lange Zeit. »Nein«, sagte er, als Pyrun bereits hoffte, es überstanden zu haben. »So leicht will ich es dir nicht machen. Du kommst von den Inseln, und ich ha be schon viel von diesen reisenden Ländern gehört. Du bist der erste Insel bewohner, der in meine Gewalt geraten ist, und von dir werde ich das er fahren, was ich noch nicht weiß.« Pyrun verzweifelte an seinem Unvermögen, seine Gedanken für sich zu behalten. Sie flossen gegen seinen Willen, und YEPHENAS saugte jeden einzelnen begierig an sich. Als auch das letzte Geheimnis verraten war, glich Pyruns Gehirn einem leeren Behälter. Die Tür der Kammer öffnete sich, und die draußen wartenden Tapheen sahen den würfelförmigen Bo ten YEPHENAS' aus der Finsternis hervorgleiten. »Nehmt Kurs auf die Inseln«, befahl YEPHENAS durch die Sprech membrane des Roboters. »Ich werde euch den richtigen Weg weisen.« »Aber die Auserwählten, Herr!« wagte Dirgas einzuwenden. »Diese Versuche haben Zeit«, wies YEPHENAS ihn zurück. »Bewahrt
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die Substanzen gut auf und versiegelt die Behälter, denn wir werden sie gewiß noch brauchen.« Die Tapheen stellten keine weiteren Fragen. Sie waren darauf gedrillt, zu gehorchen, und die Art der Aufträge, die sie erhielten, ließ ihnen diesen Zustand sogar als angenehm erscheinen, denn sie waren ein wildes Volk, dem es nicht gegeben war, den Frieden zwischen den Planeten als erstre benswert zu empfinden. In YEPHENAS' Auftrag raubten und mordeten sie, und wenn eine Welt sich nicht erobern ließ und ein Volk sich der Ver sklavung erfolgreich widersetzte, dann vernichteten sie den betreffenden Planeten. Das Schiff schwang herum und eilte unter dem Kommando des würfel förmigen Boten einem Gebiet entgegen, das unsagbar weit entfernt war und doch schon bald YEPHENAS' Macht zu spüren bekommen sollte.
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Die Entwicklung hatte sich im stillen vollzogen. Unversehens war aus dem Gemeinschaftswesen YEPHENAS eine Doppelgemeinschaft geworden. YEPHENAS I erfüllte nach wie vor seine Aufgabe, die es sich schon vor sehr langer Zeit, als es diesen Weg eingeschlagen hatte, selbst gewählt hat te: Es wachte mit Güte und Verständnis über die Völker seiner Mächtig keitsballung und gab denen, die auf Abwege gerieten oder in eine Sack gasse zu steuern drohten, nur sehr behutsame Fingerzeige. YEPHENAS II dagegen verfolgte ganz andere Ziele. YEPHENAS II entwickelte einen deutlichen Drang dazu, sich zum Herrscher aufzuschwingen. Er scheute dabei nicht davor zurück, sich sei nen Untertanen auch namentlich zu erkennen zu geben. Anfangs frönte er seinem Hobby, indem er nur Völker, die in den Randbereichen der Mäch tigkeitsballung lebten, in negativem Sinne beeinflußte, aber mittlerweile war der ganze Bereich von seinen Vasallen durchsetzt. Dank seiner Be schaffenheit und seines gewaltigen Potentials an Bewußtseinen, die im Gegensatz zu denen, die in YEPHENAS I zusammengefaßt waren, noch weitgehend unabhängig zu operieren verstanden, konnte er über die wür felförmigen Kontaktelemente nahezu überall gleichzeitig präsent sein. YEPHENAS I setzte sich aus gleichberechtigten Teilen zusammen, die auf Individualität keinen Wert mehr legten. Es verstand sich als das YE PHENAS. Sein Gegenpart kannte die Unterteilung in überragende, wichtige und weniger wichtige Bestandteile seiner selbst und bezeichnete sich seinen Untertanen gegenüber als der YEPHENAS. Das YEPHENAS hätte – im übertragenen Sinn – blind und taub sein müssen, hätte es nicht bemerkt, was sich da in seiner Mächtigkeitsballung abspielte. Aufgrund seiner Güte und seiner Neigung, Toleranz um jeden Preis zu üben, war es jedoch nicht imstande, dem Treiben ein Ende zu be reiten. Der YEPHENAS hielt Güte und Toleranz für Symptome akuten Schwachsinns und nutzte die Situation skrupellos aus. Für die Völker der YEPHENAS-Ballung kam der innere Zwiespalt der Superintelligenz einer Katastrophe gleich. Sie existierten in einem perma nenten Wechselbad von friedensfördernder Güte und kriegstreibendem Haß. Verständlicherweise waren sie schon bald nicht mehr willens, zwi schen den beiden Teilen der über sie wachenden und herrschenden Wesen heit zu unterscheiden. Jene, die in erster Linie Gutes erfahren hatten, hielten YEPHENAS II für einen bösen Eindringling, den es zu bekämpfen galt. Die, die die entge gengesetzte Erfahrung hatten durchleiden müssen, erklärten alle Angehöri
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gen der Kategorie eins für gefährliche Schwachköpfe und scheuten keine Mühe, den vermeintlichen Narren die entsprechenden Einsichten einzu bleuen – notfalls mit Gewalt. Der YEPHENAS hätte sich die Hände in diebischer Freude gerieben, wenn er welche gehabt hätte. Aber es gab noch eine dritte Gruppe, und das waren die, die dem negati ven Teil der Superintelligenz sogar noch Anerkennung zollten und sich aus freien Stücken und mit großer Begeisterung in seinen Dienst stellten. Das YEPHENAS wartete vergeblich darauf, daß sich auch zu seinen Gun sten Heerscharen erhoben. Entweder übte die Faszination des Bösen eine stärkere Wirkung als die sanfte Kraft der Güte auf die Völker der Mächtig keitsballung aus, oder es war eben ein Fehler gewesen, stets still und be scheiden aus dem Hintergrund heraus zu wirken. Anfangs versuchte das YEPHENAS es mit Beschwörungen und Appel len, die es an seinen Gegenspieler richtete. Diese Botschaften brauchten nicht über weite Entfernungen transportiert zu werden, denn noch immer boten sich beide Teile als eine Wesenheit dar – wenigstens äußerlich. Als gigantischer, mattschimmernder Ring aus mentaler Energie umschlang die Wesenheit den inneren Teil jenes Sonnensystems, in dem sie einst entstan den war. Aber obwohl die Entfernung so gering war, daß man sie kaum noch zu messen vermochte, war die Kluft zwischen den beiden Teilen weiter und tiefer als die zwischen den Galaxien ihres Herrschaftsbereichs. Keine der Botschaften konnte YEPHENAS II in irgendeiner Weise beein flussen. YEPHENAS I geriet in eine verzweifelte Lage. Der Zeitpunkt, an dem sein Gegenspieler es endgültig aus dem Rennen werfen und in die Rolle eines ohnmächtigen Zuschauers verweisen würde, zeichnete sich bereits ab. YEPHENAS I hatte nicht mehr die Kraft, eine Änderung der bestehen den Verhältnisse herbeizuführen. Es konnte nur noch hoffen, daß irgend jemand kam und ihm half. Und es ahnte nicht einmal, daß diese Hilfe schon einmal nahe gewesen war. Viel Zeit war seit Pyruns Tod vergangen. Dirgas und seine Tapheen hat ten die Insel Pthor erreicht und eine Schreckensherrschaft errichtet, und sie waren den Weg aller sterblichen Herrscher gegangen. Die Insel aber hatten sie gelähmt und dafür gesorgt, daß sie ihre Position nicht wieder verließ. Die Behälter mit der Organmasse waren tief im Innern des Landes gebor gen, und als ihr Wächter fungierte der würfelförmige Bote, dem es egal war, ob Jahrhunderte oder Jahrtausende über ihm ins Land gingen. Ab und zu kamen andere Boten von YEPHENAS II und brachten Unruhe ins Land. Die Inselbewohner vergaßen allmählich ihre sprichwörtliche Sanft heit, und immer häufiger geschah es, daß sie sich gegenseitig aus nichtigen Anlässen heraus die Köpfe einschlugen. Die herrlichen Städte zerfielen,
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und in den Bergen des Südens nisteten sich räuberische Horden ein. Was sich auf der Insel vollzog, konnte als Modell für das gelten, was in der Mächtigkeitsballung YEPHENAS im großen Maßstab stattfand. Da kam wieder ein Bote, und diesmal war es kein sanftmütiger Inselbe wohner wie Pyrun, sondern ein Wesen, das zu kämpfen verstand. Die Tat sache, daß ein so gewaltiger Kämpfer wie dieser sich auf die Seite des Gu ten stellte, rief bei YEPHENAS II tiefe Verwirrung hervor. Dieses Wesen kämpfte sich samt seinem Begleiter, der trotz einer deut lich erkennbaren Einfalt nicht weniger starrsinnig als sein Meister war, bis in das Zentrum der Mächtigkeitsballung vor und richtete im Namen des Kosmokraten folgende Botschaft an YEPHENAS I: »Stoße das Negative von dir, oder du wirst als Materiesenke enden. Be eile dich, denn du hast nur noch wenig Zeit!« Danach verschwand der Fremde wieder, und niemand vermochte ihn aufzuhalten. YEPHENAS II maß der Warnung zunächst keine Bedeutung bei. Der Vorfall regte ihn auf und ärgerte ihn, aber er hing dem Irrglauben an, daß alles, was schlecht für YEPHENAS I war, ihm nur von Nutzen sein konn te. Diese Überzeugung zerbrach schlagartig, als der YEPHENAS erfuhr, was eine Materiesenke darstellte. Das Raumschiff befand sich in einem beklagenswerten Zustand, und seine Insassen waren noch viel schlechter daran. Gut ein Drittel der wagemuti gen Raumfahrer hatte ihre Neugier mit dem Leben bezahlt, ein weiteres Drittel hatte seinen Verstand hingegeben, und vom Rest konnte man nicht mit Bestimmtheit sagen, wieweit er noch gesund und zurechnungsfähig war. Aber diese jämmerlichen Gestalten, die nur noch Haut und Knochen waren, brachten angeblich eine wichtige Nachricht für YEPHENAS mit. Kil'Dhun beobachtete sie, als sie aus der Schleuse kamen. Der Hornige wußte, daß sie fast keinen Proviant mehr an Bord hatten und daß sie sich schon seit geraumer Zeit von aufbereiteten Abfällen hatten ernähren müs sen. Genauso sahen sie auch aus. Sie litten zweifellos unter einer ganzen Kollektion von Mangelkrankhei ten. Keiner von ihnen war noch fähig, die verhärteten Flughäute zusam menzufalten. Der leichte Wind, der über den Raumhafen wehte, drohte sie davonzutragen, und sie klammerten sich mit Händen und Füßen krampf haft an der gerippten Oberfläche der Rampe fest. Zweifellos wußten sie sehr gut, daß sie in diesem Zustand selbst den kürzesten Flug mit dem Le ben bezahlt hätten. »Hört endlich auf, sie nur zu begaffen!« sagte Kil'Dhun ärgerlich in das Mikrophon, das ihn mit den Tapheen am unteren Ende der Rampe ver band. »Helft ihnen endlich!« Die Tapheen gehorchten schweigend.
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»Ein Rückfall in die Sitten deiner Vorfahren?« fragte Regorm, der wür felförmige Bote, der als Beobachter in den Turm gekommen war. Kil'Dhun sah den Roboter nachdenklich an. »Nein«, sagte er gelassen. »Ich habe Pthor verlassen, weil ich es leid war, nur ein Partner zu sein, und ich habe mich YEPHENAS zur Verfü gung gestellt, weil ich das für einen logischen Schritt hielt. Daran hat sich nichts geändert, aber es ist kein Grund, diese Raumfahrer noch zusätzlich zu quälen.« »Es sind abtrünnige Inselbewohner«, stellte Regorm fest. »Ich nahm an, du hättest diese Wesen hassen gelernt.« Der Hornige lachte lautlos. »Das wäre kindisch!« behauptete er. »Ich hasse sie nicht, und ich fühle mich ihnen auch nicht mehr verpflichtet.« »Warum hast du den Tapheen befohlen, ihnen zu helfen?« Kil'Dhun hatte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie diese hart näckige Fragerei ihn störte. Ihm war stets bewußt, daß er noch immer als verdächtig galt. Die Hornigen hatten lange Zeit versucht, die Inselbewohner von Pthor dahingehend zu beeinflussen, daß sie sich nach den Inselgesetzen richte ten, nicht nach dem, was die Boten der Superintelligenz ihnen einflüster ten. Aber die Inselbewohner hatten es vorgezogen, ihre Ohren zu ver schließen und die Ratschläge der Hornigen zu mißachten. Vor einiger Zeit hatten darum alle Hornigen die Insel verlassen. Es war ihnen nicht schwer gefallen, neue Partner zu finden. Die Hornigen konnten sehr nützlich sein, und ihr oberstes Gesetz lautete, sich niemals zum bestimmenden Teil einer Partnerschaft aufzuwerfen. Eben dieses Gesetz hatte einigen Hornigen die logische Voraussetzung dafür geboten, sich in die Dienste der Superintelligenz zu stellen: Sie konnten das Gesetz nicht brechen, aber sie wollten auch nicht mehr in ei ner Partnerschaft leben. Sie machten sich selbständig und wurden dadurch verletzlich, also brauchten sie den Schutz eines mächtigen Wesens. Regorm wartete auf eine Antwort. »Sie sind wichtig«, sagte Kil'Dhun geduldig. »Sie bringen eine Nach richt, die für YEPHENAS bestimmt ist. Wenn sie davongeweht werden und sterben, werden wir niemals erfahren, was sie entdeckt haben. Das möchte ich nicht erleben.« »Du hast also Angst vor YEPHENAS?« »Ja«, sagte Kil'Dhun, und es war keine Lüge. Die Inselbewohner waren mittlerweile von den Tapheen in die bereitste henden Fahrzeuge geführt worden. An die Tapheen war der Befehl ergan gen, die Raumfahrer sofort zum Turm zu bringen. Dort wartete ein zweiter Kontaktwürfel auf sie. Möglicherweise würde YEPHENAS selbst die In
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selbewohner über dieses Gerät befragen. »Gehen wir hinunter«, schlug Regorm vor. Kil'Dhun wappnete sich innerlich für den Augenblick der Begegnung. Er erinnerte sich sehr deutlich an die schroffe Ablehnung, die die Inselbe wohner den Hornigen zuletzt entgegengebracht hatten. Dennoch hatte der bloße Anblick dieser Wesen gereicht, um in Kil'Dhun Erinnerungen zu wecken. Regorm schwebte voran. Im untersten Stockwerk des Turmes lag ein großer, düsterer Saal. Als die breiten Flügel des Tores sich öffneten, sah Kil'Dhun die Raumfahrer auf wenige Meter Entfernung vor sich. Es war noch schlimmer, als er ohnehin befürchtet hatte. Die armen Ker le konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Unwillkürlich musterte Kil'Dhun ihre Rückenpartien. Keiner von ihnen trug einen Hornigen. Die empfindlichen Stellen zwi schen den Flughäuten und über den Schultern waren rissig und rauh ge worden. In vielen Fällen hatten sich Geschwüre gebildet. Einige der Raumfahrer hatten sich Tücher umgehängt, die aber keinen Ersatz für einen Hornigen darstellten. Kil'Dhun wurde fast von seinem Mitleid überwältigt, und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre zu den Raumfahrern hingeeilt, um ihnen zu hel fen. Der Anblick des großen Kontaktwürfels brachte ihn halbwegs wieder zur Vernunft. Hinzu kam die Einsicht, daß seine Hilfe nur ein Tropfen auf einen heißen Stein gewesen wäre. Vergeblich sah er sich nach Ärzten um, die den Raumfahrern Beistand hätten leisten können. Nicht einmal Getränke und Nahrungsmittel standen bereit. Dabei wäre genug Zeit vorhanden gewesen, alles vorzubereiten. Die einzige Vorbereitung, die YEPHENAS für notwendig gehalten hatte, bestand in der Entsendung Didorbs. Didorb war viermal so groß wie Regorm. Er besaß eine düstere Aus strahlung, die bedrückend wirkte. Auch die Raumfahrer spürten sie. Sie hielten sich aufrecht, so gut es ihnen möglich war, und warteten schwei gend. »Sprecht!« sagte Didorb schließlich. Kil'Dhun gab sich Mühe, aufmerksam zuzuhören, aber das Mitleid, das sich trotz aller vernünftigen Überlegungen nicht unterdrücken ließ, lenkte ihn immer wieder ab. Er kannte die Vorgeschichte dieses Fluges ohnehin. Eine Superintelligenz war verschwunden. Ihre Mächtigkeitsballung grenzte an jenen Bereich, über den YEPHENAS herrschte. YEPHENAS hatte die Absicht, die freien Gebiete für sich zu erobern. Da er aber ein ho hes Sicherheitsbedürfnis hatte, wollte er zunächst wissen, was mit der ver schwundenen Superintelligenz geschehen war. Es war unvorstellbar, daß
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eine solche Wesenheit sich einfach auflöste. Sie mußte irgendwo geblie ben sein, und diese Raumfahrer hatten die Spur verfolgen sollen. Sie hatten es auch getan. Es war kein leichter Weg gewesen. Am Ziel fanden sie etwas, was sie als »Materiequelle« bezeichneten. Da sie Inselbewohner waren, schilderten sie diese Entdeckung in nüch ternen Worten und ohne Effekthascherei. Dennoch war Kil'Dhun erschüt tert. Die Materiequelle hatte sich als eine Todesfalle erwiesen, als ein Ge biet, in dem Wahnsinn auf seine Opfer lauerte. Dort schien keines der be kannten Naturgesetze mehr zu gelten. Den Raumfahrern war es schließlich gelungen, aus diesem Gebiet zu entkommen. Was sie von dort mitbrachten, war die Gewißheit, sich in ge wissem Sinne im Innern einer Wesenheit befunden zu haben. Diese We senheit war gut und freundlich, und sie hatte versucht, den Raumfahrern zu helfen. Das war ihr wohl auch gelungen, denn sonst wäre zweifellos das Schiff samt der Besatzung nie mehr zurückgekehrt. Aber das war nicht die eigentliche Sensation. Die bestand vielmehr dar in, daß die Wesenheit, die die Materiequelle bildete, sich an ihren Namen erinnerte – sie hieß Calis. Und das war der Name der verschwundenen Su perintelligenz. So ist das also, dachte Kil'Dhun wie betäubt. Aus hochentwickelten Völkern wurden unter bestimmten Voraussetzun gen Superintelligenzen, aus diesen Materiequellen – und aus den Materie quellen? Die Raumfahrer schienen die Antwort auf diese Frage nicht zu kennen. Sie wußten dafür Näheres über die Materiequellen selbst zu berichten. Wenn es stimmte, was sie sagten, dann hing der Fortbestand des Univer sums davon ab, daß es eine ausreichend hohe Anzahl von aktiven Materie quellen gab. Wären alle Superintelligenzen automatisch diesen Weg ge gangen, dann wäre das Gleichgewicht wohl kaum jemals in Gefahr gera ten. Aber nur die positiven Wesenheiten waren fähig, eine Materiequelle zu bilden. Die negativen dagegen wurden zu einer Materiesenke. Womit das rätselhafte Wort zum zweitenmal genannt wurde. »Was ist eine Materiesenke?« wollte Didorb denn auch prompt wissen. »Das Gegenteil von einer Materiequelle«, erklärte Tyrph, der jüngste und kräftigste der Raumfahrer, lakonisch. »Hältst du das für eine ausreichende Antwort?« fragte Didorb drohend. »Eine Materiesenke«, mischte ein anderer Inselbewohner sich hastig ein, »ist ein Gebiet, aus dem nichts mehr herauskommt, weil es nichts mehr in ihm gibt. Eine absolute Leere, in der selbst die Zeit aufhört, zu existieren.« Kil'Dhun fragte sich, ob es wirklich plötzlich so still in der Halle war, oder ob er es nur so empfand. Ihm war es, als sollte gerade hier und zu
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diesem Zeitpunkt diese absolute Leere eintreten. Dann spürte er die Ge genwart einer gewaltigen, bösartigen Macht, und er wußte, daß YEPHEN AS selbst gekommen war, um das Verhör zu führen. Ihm war klar, daß er nur einen winzigen Bruchteil der gigantischen Wesenheit spürte, und doch war es fast mehr, als er ertragen konnte. Für die Raumfahrer aus dem Volk der Inselbewohner war es zuviel. Aber im Augenblick ihres Todes lagen ihre Gedanken offen vor Kil'Dhun, und er sah, daß sie die Wahrheit gesagt hatten. YEPHENAS sah es auch. Es stimmte alles. Die negativen Superintelligenzen waren dazu verur teilt, zu Materiesenken zu werden, und sie hatten in diesem Zustand kei nen Einfluß mehr auf das, was um sie herum geschah. Sie waren und blie ben gefährlich, denn wenn ihre Zahl zu groß wurde, wenn es gar keine Materiequellen mehr gab, dann war das Universum zum Untergang verur teilt. Aber das konnte für YEPHENAS nur ein schwacher Trost sein. Kil'Dhun verließ den Turm. Er trat auf das Landefeld hinaus und blickte in den Himmel von Yepha hinauf. Es war Nacht geworden, und man konnte YEPHENAS deutlich erkennen. Als ein mattleuchtender Balken, den das Licht der Sterne nicht zu durchdringen vermochte, reichte er von einem Horizont zum anderen. Kil'Dhun fragte sich, ob man es sehen konnte, wenn YEPHENAS sich in irgendeiner Weise veränderte. Daß er sich verändern würde, stand für den Hornigen fest. Es durfte nicht wahr sein. Der YEPHENAS zog jenen Teil, den er als Beobachter ausgesandt hat te, von Yepha zurück und wies jeden Gedanken daran, daß er die Wahrheit gehört haben könnte, weit von sich. Die Macht, die Zukunft, das Universum – sie gehörten dem Tüchtigen, dem Aktiven, dem Tatkräftigen. Er brauchte sich in seinem Reich nur um zusehen, um sich das bestätigen zu lassen. Wo waren die Spuren, die das YEPHENAS hinterlassen hatte? Wo war es gelandet mit all seiner Güte, seiner Toleranz? Es mußte sich verborgen halten, und schon bald würde es nur noch einen schweigenden, unterdrückten Teil der negativen Wesenheit bilden, die über die Mächtigkeitsballung herrschte. Es würde eine unbedeutende Komponente der Einheit bilden, als die der YEPHENAS sich mittlerweile verstand, denn inzwischen waren auch die wichtigen und weniger wichti gen Teile zugunsten derer, die mit überragenden Fähigkeiten ausgestattet waren, zurückgedrängt worden. Sogar in uns selbst, dachte YEPHENAS, offenbart sich dieses Gesetz. Das Schwache wird vom Starken verdrängt. So war es, so ist es, und so
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wird es immer sein. Und wenn es doch anders war? »Es ist so!« sagte der unterdrückte Teil, dieses positive Anhängsel, das längst nicht mehr handlungsfähig war. »Nein!« widersprach der andere, der dominierende Teil der Superintelli genz. »Es ist nur eine List. Zuerst kam der Bote, der dir riet, mich abzusto ßen. Und wer hat ihn geschickt? Die Kosmokraten! Sie glauben, daß sie ein Recht darauf haben, sich in alles einzumischen, aber ich habe ihren Boten abgefangen. Sie wollten mich vernichten. Es paßte ihnen nicht, daß ich existiere. Sie haben sofort erkannt, daß ich mächtig werden konnte, und davor hatten sie Angst.« Der positive Teil der Wesenheit schwieg. »Ich durchschaue den Plan«, fuhr YEPHENAS II fort. »Als der Bote das Ziel nicht erreichte, haben sie einen zweiten geschickt. Wahrscheinlich wollten sie mich mit dieser Warnung dazu bringen, daß ich mich selbst von dir trennte. Aber auch dieser Plan ist mißlungen. Und nun haben sie sich dieser Inselbewohner bedient.« »Du hast selbst gesehen, daß sie die Wahrheit gesagt haben.« »Natürlich haben sie das. Sie wußten es nicht besser. Woher hätten sie die Kenntnisse haben sollen, diese Lüge zu durchschauen?« »Könnte ich dich belügen?« »Selbstverständlich nicht. Du bist nicht stark genug dazu. Außerdem übersteigt es deine Fähigkeiten.« »Wir werden zu einer Materiesenke werden«, sagte das positive YE PHENAS. »Es wird – nach unseren Maßstäben gerechnet – nicht mehr lange dauern, dann erlischt unsere derzeitige Existenzform.« Der negative Teil der Wesenheit erkannte betroffen, daß es wirklich so kommen würde. Nichts und niemand konnte etwas daran ändern. Die posi tive Komponente log nicht, und sie wußte, wovon sie sprach. Sie hatte die Wahrheit schon seit langem gekannt. Als das Volk der Yepha den entscheidenden Schritt trat, seine körperli che Existenz aufgab und den mentalen Ring bildete, der eine Superintelli genz war, da hatte es YEPHENAS II noch nicht gegeben, sondern nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Bewußtseinen, die entgegengesetzte Ziele verfolgten und den Begriff Superintelligenz mit Supermacht ver wechselten. Nach und nach hatten sich um diese Bewußtseine andere ge schart, die unschlüssig und ein wenig enttäuscht waren. Sie alle waren zu sehr mit sich und ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, um alle sonstigen Ereignisse genau zu verfolgen. Irgendwann in dieser Zeit hatte das YEPHENAS erfahren, wohin der Weg führte, den es soeben eingeschlagen hatte. »Wir wollen nicht so enden«, sagte YEPHENAS II. »Wir werden uns
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von dir lösen. Es kostet Energie, deinen Einfluß zu neutralisieren. Ohne dich werden wir stärker sein.« »Damit änderst du nichts«, sagte YEPHENAS I, und eine seltsame Traurigkeit schwang in den Impulsen mit. »Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Du kannst dein Schicksal nicht in allen Punkten selbst be stimmen, sondern du hast einem kosmischen Gesetz zu gehorchen, und das ist unerbittlich. Wenn du dich von mir trennst, habe ich vielleicht doch noch jenen Weg vor mir, der mich auf die nächste Stufe der Entwicklung führt. Du aber – du wirst eine Materiesenke bilden. Finde dich damit ab.« »Niemals!« Es war wie ein Aufschrei, der den ganzen, gewaltigen Ring erzittern ließ. Und er zitterte tatsächlich. Unten, auf dem Planeten Yepha, konnte Kil'Dhun es deutlich sehen. Der geschwungene Balken am Himmel verschwamm, als hätte sich eine Schicht heißer Luft über den Raumhafen geschoben. Und dann veränderte sich der Ring. Aus dem einheitlichen, matten Schimmer schälten sich Zo nen der Helligkeit heraus, daneben aber auch Gebiete von tiefer Finsternis. Es war ein so schrecklicher Anblick, daß Kil'Dhun den Kopf unter den Panzer zog und nur noch verstohlen nach oben zu blicken wagte. Bald zeigte es sich, daß es falsch war, nur auf den Ring zu achten. Di dorb kam aus dem Tor des Turmes hervor, schwankend und taumelnd, und Regorm folgte ihm. Die beiden Kontaktwürfel stießen zusammen und ex plodierten. Raumschiffe starteten mit donnernden Triebwerken. Viele er hoben sich zwar, sanken dann aber wieder herab und blieben still, als wäre alles Leben in ihnen erloschen. Ein geringer Teil verließ den Planeten, an dere kollidierten. Über den Raumhafen brach das Chaos herein. Kil'Dhun kroch in einen halbwegs geschützten Winkel und starrte zu dem Ring hinauf. Er wußte nicht genau, wie es geschehen würde, aber er war sicher, daß YEPHENAS II aufhören würde, diesen Teil der Unend lichkeit zu tyrannisieren, und er empfand tiefe Dankbarkeit. Dann aber wurde ihm bewußt, daß nun eine ganz andere Gefahr drohte. Er zweifelte nicht daran, daß YEPHENAS versuchen würde, dem uner bittlichen Schicksal zu entfliehen. Wie aber sollte er das bewerkstelligen? Er konnte sich fortbewegen, aber er konnte diesem Universum nicht ent kommen. Wohin er sich auch wandte, da würden auch jene Gesetze gelten, vor deren Folgen er sich fürchtete. Er hatte nur dann eine Chance, wenn er in ein anderes Universum auswich, und er hatte ein Werkzeug, das ihm ei ne solche Reise ermöglichte. Dieses Werkzeug hieß Pthor. Man hatte Kil'Dhun gezwungen, die Insel zu verlassen. Dennoch hing er an ihr und ihren Bewohnern. Sie konnten nichts dafür, daß sie in die Fänge dieses gigantischen Ungeheuers geraten waren. Kil'Dhun entdeckte einen Trupp von Tapheen, die aus dem Turm ge
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stürmt kamen. Es war kaum vorstellbar, daß YEPHENAS sich von diesen Wesen trennen würde. Sie waren nicht nur hervorragende Raumfahrer und treue Anhänger der negativen Wesenheit, sondern auch geschickte Inge nieure und phantasievolle Wissenschaftler. YEPHENAS mußte damit rechnen, daß er – falls er überhaupt ein Versteck fand – erneut am Null punkt zu beginnen hatte, und schon aus diesem Grunde konnte er nicht auf die Tapheen verzichten. Dem Hornigen fiel es nicht schwer, das Ziel der Tapheen zu erraten. Auf dem Raumhafen stand nur ein Schiff, das für diese Wesen interessant war. Aber er mußte sich sehr beeilen, um es zu erreichen. Im letzten Augenblick schlich er sich an Bord. Er opferte seinen Was servorrat, um sich so dünn wie möglich zu machen, und zwängte sich in den engen Spalt zwischen einem Geräteblock und der Wand. Dort wartete er, bis das Schiff gestartet war. Dann erst verließ er die Schleuse und be gab sich in die Kommandozentrale. »Was willst du hier?« fuhr der kommandierende Tapheo ihn an. »Wie bist du an Bord gekommen?« »Ich bin eben hier«, sagte der kleine Hornige. »Bevor du dich aufregst – ich bin YEPHENAS treu ergeben, und er wird Untertanen wie uns nötig haben. Wäre ich auf Yepha geblieben, so hätte man mich sicher umge bracht. Wem wäre damit geholfen?« »Ich mag es nicht, wie ihr Hornigen in den Schiffen herumzuschleichen pflegt!« bemerkte der Tapheo unbehaglich. »Ich werde dich nicht stören«, versicherte Kil'Dhun. »Ich bin in die Zentrale gekommen, um dich auf meine Anwesenheit aufmerksam zu ma chen. Ebensogut hätte ich in meinem Versteck bleiben können. Keiner dei ner Leute hätte mich jemals zu Gesicht bekommen.« »Das glaube ich gerne«, versetzte der Tapheo bissig. »Aber ich will und kann mich jetzt nicht mit dir befassen. Scher dich weg und störe mich nicht länger bei meiner Arbeit.« Kil'Dhun nahm dem Kommandanten diese Schroffheit nicht übel. Den noch war er nicht gewillt, die Zentrale zu verlassen, denn nur hier würde er alle wichtigen Informationen erhalten. Er marschierte demonstrativ und für jeden sichtbar hinaus, kehrte dann wieder um und schlich zurück. Wenig später steckte er hinter der Verklei dung eines Kontrollpults. Durch ein winziges Loch beobachtete er seine Umgebung. Ihm gegenüber befand sich der große Bildschirm. Das Schiff stand noch immer im Yepha-System. Deutlich war der gigantische Ring zu sehen, als der die Superintelligenz ihren Untertanen erschien. Aber dieser Ring wirk te jetzt zweigeteilt. Scharf voneinander abgegrenzt war eine äußere, strah lend helle und eine innere, pechschwarze Zone sichtbar.
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Als Kil'Dhun noch hinstarrte, leuchtete der dünne, helle Ring noch strahlender auf und zog sich gleichzeitig zusammen. Majestätisch schwang das silberweiße Gebilde herum, bewegte sich langsam und legte sich um den Planeten Yepha. Der andere Teil aber, das schwarze Ding, das die negative Komponente der Superintelligenz in sich barg, schob sich dem Schiff entgegen. Der lichtlose Ring zog sich eng zusammen, bis er so mächtig war, daß man auf dem Bildschirm keinen einzigen Stern mehr erblicken konnte. Kil'Dhun schauderte es bei diesem Anblick. Er spürte die bösartige Aus strahlung des Ringes. Selbst die Tapheen schienen darunter zu leiden. Sie wurden nervös und reizbar. Wehe dem Planeten und dem Volk, bei dem dieses Ding Station machen wird! dachte Kil'Dhun in seinem Versteck. Das Schiff nahm Fahrt auf. Die Reise ins Ungewisse begann.
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Kil'Dhun stellte fest, daß er ebensogut auf Yepha hätte bleiben können. Er schalt sich einen Narren, daß er das Wagnis auf sich genommen und sich in dieses Schiff geschlichen hatte. Die Tapheen waren, als man die Insel Pthor erreichte, so aufgeladen von der bösartigen Ausstrahlung der schwarzen Wesenheit, daß sie kaum noch zu zügeln waren. Schon in der letzten Phase des Fluges litten sie fast aus nahmslos Höllenqualen, wenn sie vor den Kontrollen saßen und sich zwin gen mußten, ruhig und besonnen zu bleiben. Sie räumten Lagerhallen aus und machten Kampfstätten daraus. Nachdem es infolge der unbeherrschten Wut der Kämpfer zu Todesfällen in der Mannschaft gekommen war, erließ der Kommandant den Befehl, daß die Kämpfer sich in Zukunft nur noch an toten Gegenständen abreagieren durften. Kil'Dhun sah es sich an und erschrak angesichts der Wildheit, mit der die Tapheen sich auf das zur Verfügung stehende Material stürzten. Sie schienen in ihren aggressiven Phasen über Kräfte zu verfügen, die kein Ta pheo je zuvor hatte aufweisen können. Gleichzeitig änderte sich für die Dauer der Anfälle offenbar die Beschaffenheit ihrer Körper. Sie hoben Gewichte, die sie früher nicht einmal um Millimeter vom Fleck hätten bewegen können, und sie zerschlugen mit den bloßen Händen Geräte aus Stahl, ohne dabei Anzeichen von Schmerz zu zeigen. Mit dieser Fracht an tollwütigen Tapheen landete das Schiff auf der In sel Pthor. Kaum hatte die Pyramide den Boden berührt, da stürmten schon die ersten zur Schleuse hinaus. Als die Tapheen sich ausgetobt hatten, gab es in ganz Pthor niemanden mehr, der es gewagt hätte, sich ihnen zu widersetzen. Auch Kil'Dhun verließ das Schiff. Sorgenvoll beobachtete er die Insel bewohner. Die schwarze Wesenheit hatte sich jetzt um die Insel geschlun gen, und die einst so friedlichen Bewohner dieses Landes wurden von Tag zu Tag nervöser und streitsüchtiger. Der Hornige atmete auf, als eine zweite Insel auf die für sie typische Weise am Treffpunkt erschien. Sosehr ihn der Gedanke erschreckte, daß YEPHENAS II noch mehr Intelligenzen in seine Gewalt bekommen sollte, sosehr erleichterte ihn die Erkenntnis, daß der auf Pthor lastende psychi sche Druck rapide abnahm. Wenig später ging YEPHENAS II mit den beiden Inseln auf Reisen, und das versetzte dem Hornigen einen gehörigen Schock. Bis zum letzten Augenblick hatte er gehofft, daß die Inseln der schwar zen Wesenheit widerstehen würden. Besonders die »Seelen«, ohne die kei nes der schwierigen Manöver durchführbar war, sollten nach Kil'Dhuns
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Meinung widerstandsfähig genug sein, um diesem Ungeheuer zu zeigen, daß auch einem YEPHENAS Grenzen gesetzt waren. Offenbar hatte der Hornige sich getäuscht. Die »Seelen« hatten kapituliert. Das wurde in dem Augenblick zur Ge wißheit, als die beiden Inseln in einen Dimensionskorridor eindrangen. Eine lange Zeit hindurch rasten sie so dahin. Dann tauchten sie für kur ze Zeit in den Normalraum ein, um erneut in einen Dimensionskorridor hinüberzuwechseln. Das wiederholte sich mehrere Male: YEPHENAS versuchte offenbar, seine Spuren zu verwischen. Kil'Dhun verbrachte diese Zeit im westlichen Teil von Pthor. Dort hatte es einst ausgedehnte Parkanlagen gegeben. Die Inselbewohner hatten Tiere und Pflanzen von fremden Welten in ihr Land geholt und sie dort angesie delt. Niemand in Pthor hatte sich in der alten Zeit vor den Gefahren ge fürchtet, die von solchen Fremdlingen ausgehen mochten. Selbst die wil deste Bestie erlag schon bald dem beruhigenden Einfluß, den Pthor auf al le seine Besucher ausübte. Nun aber war dieser Einfluß erloschen. Der Park war verwildert. Nicht mehr lange, und er würde zu einem Dschungel werden, in den man sich nur hineinwagen durfte, wenn man über wirksame Waffen verfügte. In diesem Gelände fühlten die Inselbewohner sich vor den Tapheen si cher. Sie hatten eine Stadt gegründet, die sie unermüdlich gegen die Tiere und Pflanzen verteidigten. Der Hornige erreichte die Stadt, als Pthor und seine Schwesterinsel ge rade wieder einmal aus einem Dimensionskorridor drangen. Für kurze Zeit fiel das Licht einer Sonne über die beiden Länder, und der Dschungel be gann zu blühen. Die Inselbewohner tanzten in den Straßen. Sie waren ausgelassen und fröhlich. Kil'Dhun schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch und sah schließlich einen jungen Mann, der in der Sonne saß und den anderen zu sah. Der Überschwang der Gefühle ließ Kil'Dhun alles vergessen, was ge schehen war. Er trat vor den jungen Burschen hin. »Willst du mein Partner sein?« fragte er, und während er diese Worte sprach, erfaßte ihn eine gewaltige Sehnsucht nach der alten Zeit und dem Leben in einer engen Gemeinschaft. Das schrille Lachen des Inselbewohners riß ihn auf den Boden der Tat sachen zurück. »Was willst du werden?« erkundigte der Junge sich höhnisch. »Mein Partner? Du Zwerg?« Kil'Dhun fühlte Zorn und Trauer. »Ich bin ein Horniger«, sagte er. »Wir waren die Partner der Inselbe wohner, seit wir dieses Land betreten haben.«
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»Das interessiert mich nicht. Es würde mir gerade noch fehlen, mich mit einem wie dir zu belasten. Was kannst du überhaupt?« »Ich kann deinen Rücken schützen, dir Ratschläge erteilen, alles über setzen, was fremde Wesen zu dir sagen …« »Was für fremde Wesen denn?« fragte der Junge voller Spott. »Die ein zigen Fremden in Pthor sind die Tapheen, und die beherrschen unsere Sprache besser, als uns lieb sein kann. Ratschläge brauche ich nicht, und meinen Rücken schütze ich selbst. Scher dich weg!« Kil'Dhun sah den Inselbewohner fassungslos an. Der Junge stand auf, drehte sich um und ging davon. Der Hornige starrte auf die glänzenden, braunen Schuppen, die den Rücken des Jungen bedeckten. Die Inselbewohner von Pthor brauchten keine Hornigen mehr. Sie hat ten zu lange ohne ihren Schutz auskommen müssen, und die Natur selbst hatte ihnen geholfen. Von da an wartete Kil'Dhun nur noch auf eine Gelegenheit, Pthor zu verlassen. Er suchte sich einen Schlupfwinkel im Gebirge im Süden des Landes. Dort hauste er in einer Höhle dicht unter der Schneegrenze und verbrachte den größten Teil seiner Zeit damit, das dunkle Etwas zu beobachten, das die beiden Inseln umgab. Auch im Gebirge gab es noch Inselbewohner, aber sie hatten sich noch stärker verändert als die Bewohner der Stadt. Sie trieben seltsame Dinge, die Kil'Dhun entsetzt als ungeschickte Versuche erkannte, Magie zu be treiben. Beruhigend war lediglich die Tatsache, daß es sich um weiße Ma gie handelte – wenigstens im überwiegenden Teil der Fälle – und daß die se Inselbewohner deutlich friedfertiger als ihre Artgenossen in der Stadt blieben. Er fragte sich, wie sie auf diesen Unsinn kamen. Die Inseln hatten un zählige Kontakte zu fremden Völkern hergestellt. Es war längst erwiesen, daß es Wesen gab, die magisch besonders stark veranlagt waren. Selbst für diese Naturtalente war es jedoch schwierig, ihre Fähigkeiten praktisch an zuwenden. Oft kam gerade das Gegenteil von dem heraus, was man ei gentlich geplant hatte. Die Inselbewohner hatten niemals auch nur eine Spur von magischer Begabung offenbart, und sie hatten sich inzwischen auch nichts derglei chen erworben. Das zeigte sich in zahllosen Unfällen, zu denen es im Ge birge kam. Aber diese Narren lernten nichts aus dem, was ihnen wider fuhr. Rund einhundert Inseljahre nach dem Aufbruch vernichteten sich die Bewohner der Barriere bei einem dieser Versuche. Sie waren längst keine Inselbewohner mehr gewesen, wie Kil'Dhun sie aus der Vergangenheit kannte, und es hatte zwischen ihm und ihnen kaum noch Kontakte gege
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ben. Aber er hatte gewußt, daß sie in seiner Nähe waren. Als sie nicht mehr existierten, wurde die Einsamkeit für den Hornigen fast unerträglich. Irgendwann in diesen schlimmen Jahren, als er auf einem eisüberzoge nen Felsen lag und zum Wölbmantel hinaufblickte, hinter dem die schwar ze Wesenheit stand, kam ihm in diesem Augenblick der Hellsichtigkeit der Gedanke, daß diese unheimliche Kreatur vielleicht nicht nur indirekt für all das Unglück verantwortlich war. Je länger er darüber nachdachte, desto einleuchtender schien es ihm: YEPHENAS schürte Zank und Streit, schuf Hunger und Not und forderte Entwicklungen heraus, die ganze Völker zum Untergang verurteilten. Die Erkenntnis war nicht ganz neu, denn nichts anderes hatte das Ungeheuer auch in der Mächtigkeitsballung ge trieben. Dort aber ließ sich jede seiner Handlungen mit dem unstillbaren Hunger nach Macht erklären, von dem YEPHENAS beherrscht wurde. Was die beiden Dimensionsfahrstühle, wie die Tapheen in ihrer prosai schen Art die Inseln mittlerweile genannt hatten, betraf, so befanden sie sich ohnehin in der Gewalt der schwarzen Wesenheit. Spann YEPHENAS seine Intrigen weiter, weil er so sehr daran gewöhnt war, daß er gar nicht damit aufhören konnte – oder gab es einen anderen, weitaus schrecklicheren Grund für sein Verhalten? Kil'Dhun fand keine Antwort auf diese Frage. Aber als er so intensiv zu YEPHENAS hinaufsah, daß ihm die Augen zu brennen begannen, erblick te er plötzlich etwas, das ihn Kälte, Einsamkeit und alles andere vergessen ließ: Er sah einen verwaschenen Lichtfleck, eine jener Erscheinungen, die er schon früher dann und wann während des Fluges durch einen Dimensi onskorridor beobachtet hatte. Seit Beginn dieser Reise waren die Lichter niemals erschienen, und wenn die Inseln in den Normalraum stürzten, konnte man beobachten, daß YEPHENAS sie als allseits geschlossene, schwarze Hülle umgab. Erst in der Nähe einer Sonne öffnete sich diese Hülle ein wenig, und die Reisenden durften einige Tage lang das Licht ge nießen, das den Wölbmantel durchbrach. Kil'Dhun hütete sich vor Spekulationen, denn er hatte gräßliche Angst davor, eine Enttäuschung zu erleben. Aber er wagte es nur noch selten, seinen Beobachtungsposten zu verlassen, um Nahrung zu sich zu nehmen. Endlich spürte er dann das leise Rütteln, das den Rücksturz ankündigte. Von da an wandte er keinen Blick von YEPHENAS. Die Kälte kroch ihm bis ins Mark, aber er wußte, daß er das, worauf er hoffte, nur wenige Se kunden lang würde sehen können. Als YEPHENAS mit den Inseln im Normalraum ankam, erblickte Kil'Dhun am Himmel von Pthor einen schmalen Streifen, der voller greller Lichtpunkte war. Er schrie seinen Triumph in die eisige, unbelebte Bergwelt hinaus. Man konnte die Sterne sehen. Das hieß, daß YEPHENAS keine vollkommene
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Hülle um Pthor und das andere Land mehr zu bilden vermochte. Die schwarze Wesenheit war geschrumpfte. Ihre Kräfte nahmen propor tional zu ihrem Umfang ab. Kil'Dhun verließ seine Höhle und begab sich auf den Weg zum Zentrum von Pthor. Er hatte nicht umsonst gewartet. Jetzt mußte er handeln und die »Seele« darauf vorbereiten, daß sie eine Chance hatte, sich zu befreien. Kil'Dhun sah bereits den Augenblick gekommen, die Insel zum Treff punkt zurückzusteuern. War man erst dort angelangt, dann konnte man die Bewohner anderer Inseln um Hilfe bitten, und alles würde wieder gut wer den. Für Kil'Dhun war es ein weiter Weg bis zur Seele von Pthor. Sonst hatten ihm selbst die längsten Wanderungen nichts ausgemacht, denn er hatte Zeit – die Hornigen wurden sehr alt. Jetzt aber quälte ihn der Gedanke, daß YEPHENAS erneut den Dimensionsflug befehlen würde, ehe er sein Ziel erreicht hatte. Das hätte weitere Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte der Qual bedeutet, denn Kursänderungen innerhalb der Korridore waren ge fährlich. Die »Seele« würde sich mit Recht weigern, die Bewohner der In sel einer solchen Gefahr preiszugeben. Aber als er den Landeplatz erreichte, der – sicher nicht ganz zufällig – genau da lag, wo sich der Einstieg zu den unterpthorischen Anlagen be fand, standen die Inseln immer noch in der Nähe der Sonne, die ihnen nun schon seit mehreren Wochen Licht und Wärme spendete. Der Landeplatz hatte sich verändert. Die Tapheen hatten die Beiboote ausgeschleust. Sie umgaben das Mutterschiff in einem lockeren Ring. Zwischen den Raumschiffen wuchsen einheimische Nutzpflanzen in kleinen Gärten. Es gab viele Anzeichen dafür, daß die Tapheen sich geradezu rührend um die se Gärten bemühten, aber ebenso unverkennbar war die Tatsache, daß die se Zweibeiner weder Erfahrung noch Geschick im Umgang mit Feldfrüch ten besaßen. Kil'Dhun sah sich genötigt, alle seine Tricks auszuspielen, um zwischen den Kindern der Tapheen hindurch zu jenem Schacht zu gelangen, der zur »Seele« hinabführte. Die Kinder waren überall, und es gab sie in so großer Zahl, daß der Hornige im Geiste bereits ganz Pthor von Tapheen über schwemmt sah. Diese Aussicht war erschreckend genug. Noch fürchterli cher aber war die Erkenntnis, daß die Tapheen die Folgen des engen Kon takts mit der schwarzen Wesenheit auch nach mehreren Generationen nicht überwunden hatten. Selbst die kleinsten Kinder neigten bereits zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen, und die Symptome waren mit denen identisch, die Kil'Dhun bereits während des Fluges beobachtet hatte: Die Tapheen waren während ihrer Anfälle so gut wie unverwundbar. Sie konn ten alles, was sich in ihrer Umgebung befand, kurz und klein schlagen, oh
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ne auch nur die geringste Verletzung dabei zu erleiden. Der Hornige sagte sich, daß auch die Tapheen friedlich werden mußten, wenn auf der Insel erst die alten Verhältnisse wieder hergestellt waren. Nachdem er sich auf diese Weise ein wenig getröstet hatte, stieg er in den Schacht hinab. Erschrocken stellte er fest, daß sich auch hier der Einfluß der schwarzen Wesenheit bereits bemerkbar machte. Die Anlagen waren längst nicht mehr so gepflegt wie früher. Die Transportschleifen, mit deren Hilfe man sich von einem Ende Pthors zum anderen versetzen lassen konnte, waren bereits ausgefallen. An einigen Stellen gab es nicht einmal mehr Licht in den Gängen. In Ecken und Winkeln sammelte sich Staub, und hier und da sickerte Feuchtigkeit aus den Wänden. Kil'Dhun entdeckte bleiches Moos das sich auf dem so entstehenden Schlamm angesiedelt hatte. Als er ge nauer hinsah, bemerkte er, daß das Moos die unter dem Schlamm befindli chen Metalle zersetzte. Er riß die Gewächse zornig aus, und sie sonderten Säure ab, die ihm die Hände verbrannte. Zum erstenmal in seinem langen Leben begann Kil'Dhun hemmungslos zu fluchen. Alles schien sich gegen die positiven Kräfte der Insel verbün det zu haben. Teile des Landes drohten zu Wüsten zu werden, weil der Re gen ausblieb, an anderen Stellen hatte es Überschwemmungen gegeben. Nichts stimmte mehr, und nun fand er selbst in diesen Anlagen die Zei chen des Zerfalls und der Unordnung. Daß selbst die Pflanzen sich an die sem bösen Spiel beteiligten, raubte ihm die Fassung. Er achtete nicht auf die Schmerzen in seinen Händen, sondern riß die Moospolster aus dem Schlamm, bis die Erschöpfung ihn zwang, die Sinn losigkeit seines Tuns einzusehen. Als er erst wieder halbwegs zur Besin nung gekommen war, erschrak er über sich selbst. Er hatte sich völlig von seinem Zorn beherrschen lassen, nicht anders als ein Tapheo, wenn er einen Anfall erlitt. Beschämt ging er weiter und zwang sich, die Pflanzen zu übersehen. Als er die »Seele« erreichte, atmete er erleichtert auf. »Höre mich an, Seele von Pthor!« sagte er laut, um sich besser konzen trieren zu können, und gleichzeitig riefen seine Gedanken die Anrufung in alle Richtungen. »Was willst du, Horniger?« Er erschrak, denn die Stimme der »Seele« klang müde und zerquält. Mühsam konzentrierte er sich auf das, was er dem unfaßbaren Etwas mit teilen wollte. »Unsere Leiden werden bald ein Ende haben«, versprach er sanft, und das Mitleid mit der »Seele« schnürte ihm fast die Kehle zu. »YEPHENAS ist bereits schwächer geworden. Bald wird es soweit sein, daß du seinen
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Einfluß abstreifen und Pthor zum Treffpunkt zurücksteuern kannst. Dann werden wir die anderen Inseln um Hilfe bitten, und alles wird wieder so werden, wie es immer war.« Die »Seele« schwieg lange Zeit. »Du irrst dich, Horniger«, sagte sie schließlich. »Die Schwäche, von der YEPHENAS befallen wurde, ist nur von kurzer Dauer. Er wird schon bald frische Kräfte schöpfen.« »Nein!« rief Kil'Dhun leidenschaftlich. »Das kann er nicht. Nicht hier. Er ist zu weit von seiner positiven Komponente entfernt. Woher sollte die Kraft kommen, wenn er sie nicht mehr stehlen kann?« »Du armer Narr!« flüsterte die »Seele« mitleidig. »Er wird sie von den Sterblichen nehmen, wie er es immer gemacht hat. Im übrigen solltest du ihn nicht mehr YEPHENAS nennen. Der Name gehört ihm nicht, und er ist auch keine Superintelligenz mehr. Kil'Dhun, diese schwarze Wesenheit ist etwas, was selbst der, der die Inseln geschaffen hat, nicht kannte. Seine Nahrung ist das Negative in den Bewußtseinen der Sterblichen. Darum verbreitet er Angst und Schrecken um sich. Er ist sich der Zusammenhän ge noch nicht bewußt, sondern handelt in dieser Beziehung nur instinktiv. Wenn er erst begreift, was er tun muß, um sich selbst mit der notwendigen Energie zu versorgen, wird ihn nichts mehr aufhalten können.« »Dann müssen wir dafür sorgen, daß er die Wahrheit nicht erfährt«, rief Kil'Dhun aufgeregt. »Er ist schwächer geworden, das weiß ich. Er bildet keine geschlossene Hülle mehr um Pthor und die andere Insel!« »Das weiß ich«, seufzte die »Seele«. »Es wäre ein Hoffnungsschimmer – aber eine neue Nahrungsquelle befindet sich in unmittelbarer Nähe.« »Ich verstehe nicht.« »Es ist ganz einfach, Kil'Dhun. Du weißt, daß die Inseln im Vergleich zu einem Planeten recht klein sind. Die schwarze Kreatur wäre auch ohne unsere Hilfe fähig gewesen, den Weg in andere Dimensionen zu finden. Aber sie hat uns mitgenommen und noch auf die zweite Insel gewartet, ob wohl das ein Risiko war. Sie brauchte uns – oder vielmehr euch, die Sterb lichen dieser Länder. Wenn du eine lange Wanderung antrittst, nimmst du einen Mundvorrat mit – nichts anderes hat diese Wesenheit getan. Sie hat von euch gezehrt. All deine Verzweiflung, deine Ängste, dein Zorn – sie haben dem Ring zu neuer Kraft verholfen. Jetzt aber sind die Inseln als Nahrungsquellen fast erschöpft. Wenn das Elend ein bestimmtes Maß übersteigt, dann resigniert ihr Sterblichen im allgemeinen, und von da an könnt ihr nicht mehr das liefern, was diese dunkle Macht braucht. Worauf sie jetzt angewiesen ist, das ist eine frische, unverbrauchte Welt. Und ge nau die steht ihr zur Verfügung.« Die »Seele« legte eine Pause ein.
»Um die Sonne, in deren Nähe wir uns befinden, kreist ein Planet«, fuhr
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sie schließlich fort. »Es ist eine Welt, die intelligentes Leben entwickelt hat. Ich kann diese Wesen spüren. Sie sind weder gut noch böse, und wenn man sie in Frieden ließe, könnten sie wahrscheinlich eine hohe Entwick lungsstufe erreichen. Sie sind gegen Versuchungen aller Art nicht anfälli ger als andere Völker auch, aber sie befinden sich in jenem Stadium, in dem die Ängste vor dem Unbekannten übermächtig zu werden drohen. Die schwarze Kreatur ist bereits dabei, die Alven das Fürchten zu lehren – sie weiß es nur noch nicht. Sobald die Angst der Alven ein bestimmtes Maß erreicht hat, wird unserem Gegner frische Kraft im Überfluß zuteil wer den. Und ich fürchte, diesmal wird er Ursache und Wirkung durchschauen, denn die Zeit ist reif dafür.« »Wenn man dieses Volk dazu bringen könnte, positiv zu denken …« »Das ist doch sinnlos, Kil'Dhun!« »Du hast den Kampf aufgegeben«, warf der Hornige der »Seele« vor, und die Angst, die ihn beherrschte, ließ ihn völlig vergessen, daß man ei gentlich respektvoller mit diesem Partner zu sprechen hatte. »Es muß eine Möglichkeit geben … Was wäre mit dieser Energie, wenn man die Frem den dazu bringen könnte, YEPHENAS anzubeten, ihn zu verehren?« »Sie sind unwissend«, erwiderte die »Seele« nachdenklich. »Genau wie die Tapheen. Verehrung aus Unwissenheit dürfte kein negatives Gefühl sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht irre. Ich weiß nur, daß die schwarze Kreatur aus den Tapheen so gut wie gar keine Energie ge winnt.« »Ich werde zu diesem Planeten fliegen«, beschloß Kil'Dhun spontan. »Glaubst du, daß du allein etwas ausrichten kannst?« fragte die »Seele« mit sanftem Spott. »Das ist mir egal. Ich muß es versuchen.« »Und womit willst du fliegen? Ich kann nicht gegen den Willen der dunklen Wesenheit auf dem Planeten materialisieren.« Kil'Dhun hatte über diese Frage nie zuvor nachgedacht, aber die Lösung fiel ihm spontan ein. »Die Schiffe der Tapheen!« sagte er. »Für mich ist es leicht, in sie hin einzugelangen …« »… und unmöglich, sie zu starten«, fiel ihm die »Seele« ins Wort. »Aber du hast recht, das ist vielleicht eine Möglichkeit. Dieses Schiff, das die Tapheen zur Flucht von Yepha benutzt haben, ist etwas Besonderes. Schon seit Jahrhunderten suchen die Tapheen im Auftrag dieser Wesenheit nach einem Weg, mechanische Teile durch Organismen zu ersetzen. Die ses Schiff ist das erste, dessen Kommandogehirn durch ein Wesen ersetzt wurde, das lebt und dennoch wie eine Maschine bedient werden kann. Ich hatte bereits Kontakt zu diesem Steuermann. Er übermittelt mir die Befeh le der Wesenheit. Wenn sich auch der umgekehrte Weg beschreiten ließe
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…« »Du mußt es versuchen«, drängte Kil'Dhun. »Wir dürfen nichts überstürzen. Ich werde tun, was mir möglich ist.«
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»Laß dich nicht durch die Pflanzen irritieren, die in mein Reich eindrin gen«, sagte die »Seele« zum Abschied. »Sie sind unschuldig. Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie sind lebende Wesen, wie du.« »Ich werde mich beherrschen«, versprach Kil'Dhun beschämt und machte sich auf den Weg. Die »Seele« hatte ihm genau beschrieben, welches Beiboot für ihn vor bereitet war. Darüberhinaus hatte sie behauptet, daß der »Steuermann«, wie die Tapheen ihr Erzeugnis getauft hatten, auch ohne ihre Hilfe zu ei ner Art von eigenem Bewußtsein gefunden hatte. Da Kil'Dhun jeden Ge danken daran, daß die »Seele« log, weit von sich wies, gelangte er zu dem Schluß, daß die Tapheen einen Fehler gemacht hatten. Ihm konnte das nur recht sein. Er erreichte das Beiboot, und als er den »Steuermann« ansprach, war es, als hätte das künstliche Wesen nur auf ihn gewartet. »Ich muß mich vom Rest meines Körpers abtrennen«, erläuterte es eif rig. »Die anderen Einheiten sind informiert, aber es wird trotzdem einige Minuten dauern. Wir haben in diesen Dingen noch keine Übung.« Kil'Dhun hatte den Eindruck, daß der »Steuermann« es in vollen Zügen genoß, über seine Tätigkeit reden zu können. Als er spürte, daß das Wesen auf Fragen wartete, ging er bereitwillig auf das Spiel ein. Erleichtert stellte er fest, daß er den »Steuermann« damit eher beflügelte als ihn von seinen Aufgaben ablenkte. Das Beiboot startete. Kil'Dhun konnte sich vorstellen, welche Aufre gung jetzt bei den Tapheen herrschte. »Sie versuchen, zu starten«, verkündete der »Steuermann«. Das Wesen war beinahe rührend in seinem kindlich anmutenden Triumph. »Aber es geht nicht. Die anderen gehorchen nicht.« Kil'Dhun spähte besorgt auf einen Bildschirm. Er sah die Lücke in der schwarzen Hülle, und er hämmerte sich immer wieder ein, daß die dunkle Wesenheit sich nicht mehr vollständig zu schließen vermochte. Aber gleichzeitig gaukelte ihm seine überreizte Phantasie vor, daß die Ränder bereits aufeinander zuglitten. »Beeile dich!« bat er nervös. »Keine Sorge«, antwortete der »Steuermann«. »Wir haben es gleich ge schafft.« Die »Seele« hatte ihm versichert, daß das Wesen zuverlässig war. Den noch litt Kil'Dhun Höllenqualen, bis das Beiboot endlich durch die Lücke schoß. Auf einem anderen Bildschirm konnte er sehen, was er hinter sich gelassen hatte, und das Grauen packte ihn.
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Als eine gewaltige schwarze Kugel hing die Wesenheit im Raum. Die kleine Pyramide war bereits zu weit entfernt, als daß der Hornige noch den Spalt hätte sehen können, durch den er YEPHENAS entwischt war. Trotz der riesigen Entfernung wirkte die Kugel so ungeheuer groß, daß der bloße Anblick ihn zu erdrücken drohte. Für einige Zeit zweifelte er daran, daß seine Vermutungen die Wahrheit trafen. Er sagte sich, daß YEPHENAS sich nur ein wenig enger zusam menzuziehen brauchte, um erneut eine perfekte Hülle um die beiden Inseln zu bilden. Er war froh, als der Planet in Sicht kam. Schon auf den ersten Blick ließ sich erkennen, daß es keine reiche Welt war. Es gab keine Meere, sondern nur seichte Binnenseen, die zwar zum Teil eine ungeheure Ausdehnung erreichten, aber kaum zur Regulierung des Klimas beizutragen vermochten. Auch schienen die Kontinentalschol len schon vor langer Zeit zum Stillstand gekommen zu sein. Dementspre chend war es in jüngerer Zeit nicht zur Auffaltung von Gebirgen gekom men. Die vorher entstandenen Höhenzüge waren von der Erosion zerfres sen. Einige eng umgrenzte und offenbar stationäre Vulkangebiete boten dem Planeten ein Ventil, der Rest der Oberfläche war mehr oder weniger eben. Spuren von Besiedlung waren nicht zu erkennen, aber das überrasch te ihn nicht. »Wo soll ich landen?« fragte der »Steuermann« ein wenig ratlos. Kil'Dhun musterte den Planeten. »Du weißt, was auf dem Bildschirm zu sehen ist?« vergewisserte er sich. »Ja.« »Rechts unten ist ein Binnenmeer zu erkennen. Der Färbung nach zu ur teilen, ist es etwas weniger seicht als die anderen. Lande am südlichen Ufer.« Wenig später stand Kil'Dhun vor einem der merkwürdigsten Dörfer, die er jemals gesehen hatte. Nahe dem See befand sich eine Bodenvertiefung, die teils künstlichen, teils natürlichen Ursprungs zu sein schien. Von den Rändern her ragte ein ringförmiges, breites Dach aus ineinander verfloch tenen Pflanzenteilen in die Grube hinein. Aus dem freien Mittelteil erhob sich eine aus gebrannten Ziegeln gemauerte Säule, die ebenfalls ein Dach trug, das den Rest der Vertiefung abschirmte. Unter dem Ringdach führten schmale Wege in das Innere der Grube. Als Kil'Dhun in einen der Durch gänge eindrang, erblickte er unterhalb der beiden Dächer erstaunlich kunstvoll ausgeführte Hütten, die sehr klein waren. Die Wesen, die in diesem Dorf hausten, hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den Tapheen, aber sie waren viel kleiner, und ihre Haut war schwarz. Es waren offenbar sehr fleißige Kreaturen, die es geschafft hatten, sich
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einen bescheidenen Wohlstand zuzulegen. Kil'Dhun beobachtete, daß sie aus Flechten bunte Fasern gewannen und Teppiche, Decken und Klei dungsstücke daraus herstellten. Sie fingen allerlei Getier in dem seichten Binnenmeer, trockneten das Fleisch oder konservierten es auf andere Wei se, fertigten aus den Skeletteilen Gefäße und Gebrauchsgegenstände aller Art und zogen glänzende Schuppen zu langen Ketten auf. Ein Teil der er zeugten Waren wurde in einer besonderen Hütte aufbewahrt und sollte wohl als Tauschmaterial zur Verwendung kommen. Nachdem der Hornige sich einen Überblick verschafft hatte, hielt er Ausschau nach einem passenden Partner, denn er mußte mehr über dieses Volk erfahren, wenn er Erfolg haben sollte. Seine Wahl fiel auf einen bereits älteren Mann, der von allen anderen mit großem Respekt behandelt wurde. Ungeduldig wartete er auf eine Gelegenheit, sich diesem Wesen unbe merkt zu nähern. Das Halbdunkel unter den Dächern bedrückte ihn. Es er innerte ihn in sehr unangenehmer Weise an die Insel Pthor. Die Eingebo renen dieses Planeten schienen das Licht der Sonne zu scheuen. Endlich kam der Fremde ein wenig zur Ruhe. Er legte sich im Innern ei ner Hütte auf einem weichen Lager zum Schlafen nieder. Kil'Dhun warte te, bis der Fremde eingeschlafen war, dann glitt er näher an ihn heran. Vorsichtig kletterte er auf das Lager und schmiegte sich an die Schulter des Fremden. Er hatte geglaubt, vorsichtig genug gewesen zu sein, um den Fremden nicht zu wecken. Aber entweder hatte er einiges verlernt, oder diese zwei beinigen Wesen waren empfindlicher als alle anderen, mit denen er es je zuvor zu tun gehabt hatte. Der Mann richtete sich ruckartig auf. Der Hornige wußte eines mit Be stimmtheit: Wenn dieser Alve ihn sah und seine Artgenossen alarmierte, würde er sich nach einem anderen Dorf umsehen müssen. Er hatte kein Verlangen danach, noch mehr Zeit zu verlieren. In seiner Verzweiflung tat er etwas, was die Hornigen als geradezu kriminell ablehnten: Er verzichte te darauf, diesen Fremden an sich zu gewöhnen und seine Zustimmung einzuholen, ehe er sich an ihn klammerte. Mit einem kurzen Satz sprang er auf die Schultern des Wesens. Der Al ve knickte nach vorn weg, aber damit konnte er Kil'Dhun nicht mehr ab schütteln. Sein Ausweichmanöver erschreckte den Hornigen lediglich. Er fuhr die Krallen aus und hielt sich fest. Erst als das Blut über die bunten Decken lief, wurde ihm klar, welchen Fehler er begangen hatte. Diese Wesen besaßen eine sehr dünne Haut, und sie waren außerordentlich verletzlich. Der Alve sank seitlich auf das Lager, und Kil'Dhun beeilte sich, die Wunden zu schließen. Ängstlich wartete er und machte sich bittere Vor
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würfe, weil er so unachtsam gewesen war. Als der Fremde endlich wieder zu sich kam, war Kil'Dhun völlig mit den Nerven herunter. »Entschuldigungen reichen nicht aus, um das wiedergutzumachen, was ich dir angetan habe«, teilte er dem Fremden bekümmert mit. »Ich stehe tief in deiner Schuld.« Der Alve reagierte sehr heftig auf diese Erklärung. Er sprang auf und drehte sich wie ein Kreisel. Dabei schlug er mit beiden Händen zugleich nach dem Wesen, das auf seinem Rücken saß. Kil'Dhun spürte mit wach sender Sorge, daß das Herz seines neuen Partners viel zu schnell schlug. »Beruhige dich!« flehte er. »Ich kann zwar kleinere Wunden heilen und allerlei Krankheiten von dir fernhalten, aber gegen den Tod bin ich macht los.« Der Alve blieb abrupt stehen. »Wer bist du!« stieß er schweratmend hervor. »Was willst du von mir? Woher kommst du?« »Ich werde dir nichts tun«, versicherte Kil'Dhun hastig. »Ich bin nur ein Horniger, ein Partner. Ich komme von einer Insel und möchte dir und dei nem Volk helfen.« »Ich brauche deine Hilfe nicht!« wehrte der Alve schroff ab. »Laß mich in Ruhe!« Dabei griff er nach Kil'Dhun und versuchte, den Hornigen von seinem Rücken herunterzuziehen. Unter normalen Umständen hätte der Hornige sofort nachgegeben. Es galt als äußerst unehrenhaft, eine Partnerschaft zwangsweise herbeizufüh ren. Aber so, wie es jetzt aussah, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als gegen die guten Sitten zu verstoßen. »Ich kann sehr viel für dich tun«, gab er zu bedenken. »Ich kann dich reich und berühmt machen …« Der Alve ließ ihn nicht ausreden. »Geh!« forderte er. »Dein ganzes Volk wird dich verehren«, fuhr Kil'Dhun ungerührt fort. »Noch in Tausenden von Jahren wird man deinen Namen kennen und mit Achtung von dir sprechen. Ich kann dich am Leben erhalten, weit über die Frist hinaus, die die Natur dir gesetzt hat.« Der Alve hörte schweigend zu, und Kil'Dhun schöpfte neuen Mut. »Ich werde dir niemals zur Last fallen«, versprach er. »Ich kann mich sehr leicht machen – du wirst mich kaum fühlen. Aber ich schütze dich, so daß Waffen dich nicht mehr so leicht verletzen können.« »Kannst du meine Haut weiß machen?« fragte der Alve. Kil'Dhun war so verblüfft, daß er fast doch noch losgelassen hätte. »Nun«, sagte er vorsichtig, »ich könnte dir ein Rezept für eine Farbe verraten, mit der du deine Haut bestreichen könntest, ohne dabei gesund
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heitlichen Schaden zu nehmen …« »Das reicht nicht«, widersprach der Fremde. »Wir dachten zuerst auch, daß die weißen Alven sich nur mit Farbe beschmiert hätten. Aber wir ha ben das nachgeprüft – es stimmt nicht. Sie sind wirklich weiß.« »Wenn du es dir so dringend wünschst«, sagte Kil'Dhun schweren Her zens, »dann werde ich deine Haut weiß machen – aber es wird einige Zeit dauern.« Kil'Dhuns Alve hieß Charran, und von ihm erfuhr der Hornige alles, was er über dieses Volk wissen mußte. Diese kleinen Zweibeiner verehrten eine Unzahl von Göttern, die für die absonderlichsten Dinge zuständig waren und durch komplizierte Riten be einflußt werden mußten. Vor allem mußte man sie beruhigen und versöh nen, bevor man sich eines Gegenstands oder eines Tieres bemächtigte, das unter ihrem Schutz stand. Diese zeitraubenden Zeremonien hatten die Al ven lange Zeit daran gehindert, Tauschwaren zu produzieren, denn die Zeit, die außerhalb der Zeremonien übrigblieb, reichte gerade noch aus, um sich um den eigenen Bedarf zu kümmern. Eines Tages waren die weißen Alven aufgetaucht. Sie besaßen eine fast durchscheinend helle Haut, und in den Grubendörfern war man sich dar über einig, daß diese bleichen Geschöpfe den Göttern besonders nahestan den – ein Irrglaube, den die weißen Alven zweifellos heftig förderten. Ein weißer Alve konnte sämtliche Götter auf einen Schlag und für lange Zeit von Racheaktionen abhalten. Die Dörfer, die bereit waren, für diese Hilfe einen gewissen Zins zu zahlen, produzierten plötzlich Tauschwaren im Überfluß. Der Haken bei der ganzen Angelegenheit bestand darin, daß die weißen Alven langsam aber sicher die Dörfer von sich abhängig machten. Die Alven gewöhnten sich schnell an ihren neuen Wohlstand. Um ihn sich aber auch zu erhalten, mußten sie immer größere Abgaben leisten. Für Kil'Dhun war es nicht mehr erstaunlich, daß Charran sich wünschte, eine weiße Haut zu besitzen. Die Götter der Alven waren fast ausschließlich böse. Sie halfen nur dann, wenn man sie dazu zwang oder sie von einem anderen, mächtigeren Gott im Zaum halten ließ. Die Rangordnung der Götter untereinander entsprach der, die auch bei den Alven üblich war: Ganz oben standen die Oheime, die jeweils ältesten Söhne der zum Teil sehr großen Familien. Was sie anordneten, das war für alle anderen Gesetz. Die Oheime bestimmten darüber, welche Lebensge meinschaften ihre jüngeren Geschwister bildeten, wann Waren zum Markt gebracht wurden, wann ein weißer Alve gerufen werden sollte. Sie waren die Richter der Sippe, die sogar Todesstrafen verhängen durften. Selbst ih re Eltern mußten sich ihnen unterordnen. Die ältesten Söhne der ihnen un tergeordneten Kleinfamilien hatten die Chance, zu den Beratern der Ohei
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me aufzusteigen – alle anderen mußten sich damit abfinden, daß sie so gut wie nichts zu sagen hatten. Die weißhäutigen Alven standen im Rang grundsätzlich über ihren schwarzen Artgenossen. Ihre Oheime nahmen fast schon den Rang von Königen ein. Kil'Dhun frohlockte, als er herausbekam, welch große Rolle die weiße Farbe für die Alven spielte. Er übersah keineswegs die Tatsache, daß die sich jetzt anbahnende Entwicklung schon bald zu schweren Konflikten zwischen den verschieden gefärbten Alven führen mußte, aber im Augen blick kam ihm der Aberglaube dieser Wesen, daß weiß die Farbe der Göt ter sei, sehr gelegen. Indem er Charran, der der Oheim des von Kil'Dhun entdeckten Dorfes war, entsprechend beeinflußte, züchtete er den Widerwillen der Alven ge gen alle dunklen Gottheiten zu einer Intensität heran, daß er zumindest diese kleine Gruppe gegen alle von YEPHENAS ausgehenden Versuchun gen immunisieren sollte. Aber dieses Dorf war nur eines unter vielen, und Kil'Dhun verzweifelte fast angesichts der Tatsache, daß Charran keinerlei Einfluß auf die Alven anderer Ansiedlungen hatte. Charran bestand darauf, daß Kil'Dhun in der Hütte blieb und sich ver barg, wenn der Alve draußen zu tun hatte. Der Hornige respektierte die Wünsche seines Partners, wie es sich gehörte, obwohl ihn der Gedanke be drückte, daß er dadurch einen wesentlichen Teil seiner Aufgaben nicht er füllen konnte. Kurze Zeit nach Kil'Dhuns Ankunft wurde im Dorf ein weißer Alve er wartet. Charran ging diesem Wesen entgegen, um es zu begrüßen, wie es sich für den Oheim der Sippe gehörte. Aber der weiße Alve brachte eine ganze Horde von schwarzhäutigen Freunden mit, die Charran ermordeten und den Rest der Sippe verschleppten. Kil'Dhun war entsetzt angesichts der Grausamkeit, mit der der weiße Alve zu Werke ging. Die Zwerge wa ren harte Leute, und sie mußten es sein, denn sonst hätten sie auf diesem Planeten nicht überleben können. Aber Grausamkeiten aller Art schienen ihnen unbekannt zu sein – jedenfalls hatte Kil'Dhun bisher diesen Ein druck gehabt. Als er mit dem weißen Alven Kontakt aufnahm, erkannte er, daß er sich durchaus nicht geirrt hatte. Diese bleichhäutigen Wesen waren keine Aus beuter und Unterdrücker. Sie waren selbst davon überzeugt, daß nur sie die Götter nachhaltig zu beeinflussen vermochten, und wenn sie von den immer wohlhabender werdenden Dörfern einen immer höher werdenden Zins verlangten, so geschah das nicht, weil sie sich auf Kosten der anderen zu bereichern gedachten. Sie waren so viel unterwegs, um den anderen Beistand im ewigen Kampf gegen die boshaften Götter zu gewähren, daß
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sie kaum noch Zeit fanden, selbst Felder anzulegen und Tiere zu jagen. Abgesehen davon verteilten sie alle Überschüsse an Dörfer, die durch Na turkatastrophen, Seuchen und ähnliche Umstände in Not geraten waren. Wenigstens hatte dieses System bis vor sehr kurzer Zeit reibungslos funktioniert und es hätte die Basis für eine Entwicklung bilden können, die die Alven sehr schnell eine relativ hohe Stufe der Zivilisation erreichen ließ. Nun aber hatte sich vieles verändert. Der weiße Alve Tywwar wußte nicht, was geschehen war, und es gab Augenblicke, in denen er mit Abscheu sein eigenes Tun beobachtete, ohne irgend etwas ändern zu können. Die weißen Alven, die eben noch im Be griff gewesen waren, sich zu einer nützlichen Priesterkaste zu entwickeln, hatten plötzlich entdeckt, welch ungeheure Möglichkeiten ihr Status ihnen bot. Kil'Dhun ahnte, was dieser Wechsel zu bedeuten hatte. Er löste sich von Tywwar und verließ lautlos das Zelt, in dem der weiße Alve schlief. Der Oheim aller Bodengötter, die die Alven verehrten, trug den kompli zierten Namen Ritiquian, und so nannten sie auch ihre Welt. Es war viel leicht nicht der prächtigste und freundlichste unter allen Planeten, aber die Alven hatten sich an ihn gewöhnt. Sie hätten eine Chance gehabt, ein großes und einflußreiches Volk zu werden. Nun aber war eine schwarze Wesenheit gekommen und griff mit ihren unsichtbaren Krallen nach den Zwergen, die nicht einmal ahnen konnten, welches Schicksal ihnen drohte. Kil'Dhun spähte in den Himmel hinauf. Ritiquian war dem Zentrum sei ner Galaxis sehr nahe. Die Sterne standen dicht beieinander und leuchteten so strahlend hell, daß man so gut wie am Tage sehen konnte. Die Alven liebten die Nacht und das müde Licht. Das Sonnenlicht scheuten sie nur, weil es schmerzhafte, sogar tödliche Verhärtungen in ihrer empfindlichen Haut hervorrief. Sie haßten die Finsternis – und doch waren sie ihr bereits zum Opfer gefallen, ohne es auch nur zu ahnen. Noch war der Himmel über Ritiquian frei und voller Sterne, aber Kil'Dhun glaubte bereits, einen dunklen Flecken zwischen all den Lichtern erblicken zu können. Er spürte das Böse, das sich dem Planeten unaufhalt sam näherte. Die Aura des Bösen hatte Ritiquian schon erreicht. Die weißen Alven reagierten schneller und heftiger darauf als ihre schwarzhäutigen Ver wandten, aber auch die würden es schon bald spüren. Niemand wußte, was dann geschehen würde. Kil'Dhun war zu spät gekommen. Er hatte niemals eine Chance gehabt, irgend etwas zu verhindern. Er ahnte, daß alles, was er bisher erlebt hatte, nur der Auftakt zu einer
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Entwicklung gewesen war, die zu schrecklich war, als daß er sie sich hätte ausmalen können. Er wußte, daß es sinnlos war, weiterhin gegen die schwarze Wesenheit anzukämpfen. Wenn er trotzdem nicht kapitulierte, dann nur aus einem Grund: Alle Anzeichen sprachen dafür, daß die Hornigen immun gegen die Ausstrahlung der schwarzen Wesenheit waren, und er hoffte immer noch, daß er auf der zweiten Insel zumindest eine Zuflucht finden konnte.
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9.
Der Dunkle Oheim unterbrach sich in seinem Bericht. Warum, das wußte niemand. Vielleicht gab es andere Dinge, die ihn vorübergehend so sehr in Anspruch nahmen, daß er sich völlig auf sie konzentrieren mußte. »Mein Gott!« sagte Razamon erschüttert. »Das alles liegt Millionen Jahre zurück … ob die Tapheen die Vorfahren meines Volkes waren?« »Sie wurden nicht gerade genau beschrieben«, murmelte Atlan unsi cher. »Zweibeiner, die Wutanfälle bekommen – da gäbe es sicher sehr vie le Möglichkeiten.« Razamon schwieg und beobachtete den kleinen dunklen Fleck am unte ren Rand des »Fensters«. Der kleine Oheim rührte sich nicht von der Stel le. Es schien, als warte er auf etwas. Razamon war überzeugt davon, daß der junge Ring nicht ausschließlich der Fortsetzung des Berichts entgegen fieberte. Er glaubte, spüren zu können, daß dieses Wesen trotz seiner Ju gend kalt und berechnend war. Genauso kalt und berechnend wie der Dunkle Oheim selbst. »Ich bin sicher, daß es meine Vorfahren waren«, sagte er spontan. »Wir Berserker haben also unsere unglückselige Veranlagung einzig und allein diesem Ungeheuer zu verdanken. Wie ich diesen Dunklen Oheim hasse!« Er fühlte, daß Yeers sich erschrocken von ihm entfernte. »Beherrsche dich!« flehte der Körperlose. »Du sprengst noch den Ring mit solchen Gedanken!« »Ich dachte, es wäre euer größter Wunsch, die Lebensblase zu zerstö ren«, bemerkte Atlan, der ahnte, wie dem Berserker zumute war und ihm Gelegenheit geben wollte, seine Fassung zurückzugewinnen. »Ja«, sagte Olken leise. »Aber es soll nicht auf diese Weise geschehen. Wir werden schon bald erlöst sein, denn die große Plejade ist bereits unter wegs.« »Was sagst du da?« rief Atlan fassungslos. »Sie liegt auf dem Planeten Cyrsic …« »Nicht mehr«, fiel Olken ihm ins Wort. »Sie befindet sich jetzt in einem Objekt, das ›GOL‹DHOR‹ hieß.« »GOL'DHOR!« wiederholte Atlan verblüfft. »Das goldene Raumschiff. Als ich das letztemal in der Barriere von Oth war, habe ich erfahren, daß die Magier schon einmal eine Expedition nach Cyrsic unternehmen woll ten, um die Plejade zu bergen. Damals haben sie es nicht geschafft. Hatten sie diesmal mehr Glück?« »Das wissen wir nicht«, erklärte Yeers. »Das Wesen, das die Plejade gefunden hat, heißt Zwertelis – aber das ist eine ziemlich lange Geschich te.«
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»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, wehrte Atlan hastig ab. Er überlegte, ob es einen Sinn hatte, diese Wesen auf die Enttäuschung vorzubereiten, die ihnen höchstwahrscheinlich drohte. Die große Plejade war gewiß eine sehr erstaunliche Marmorkugel, aber sie würde den Lebensring nicht zerstören können. Davon war Atlan über zeugt. Die Plejade war nur ein faustgroßer Stein, und welche geheimen Kräfte ihr auch einst innegewohnt haben mochten – sie waren größtenteils verbraucht. »Ich kann deine Zweifel verstehen«, bemerkte Olken sanft, und Atlan erschrak angesichts der Erkenntnis, daß der Körperlose jeden Gedanken aufgefangen hatte. »Aber wir glauben an diesen Stein, und wir wissen, daß wir recht haben. Du wirst es erleben – schon bald. Die große Plejade hat sich verändert. Sie hat unvorstellbare Kräfte in sich gesammelt. Die GOL'DHOR hat ihr dabei geholfen. Du scheinst dieses Objekt zu kennen. Was ist GOL'DHOR eigentlich?« »Ein magisches Raumschiff«, erklärte Atlan ernüchtert. »Geschaffen von einem negativen Magier, der von Haß und Rachsucht besessen war. Um die GOL'DHOR zu einer noch wirksameren Falle zu machen, mußte dieser Magier das Schiff mit einer positiven Tarnung versehen …« »Es ist keine Tarnung«, versetzte Olken heftig. »Jetzt sicher nicht mehr«, stimmte Atlan zu. »Der Magier ist tot, und der Bann ist gebrochen.« »Diese Magier«, sagten Olkens Gedanken nachdenklich. »Es sind Be wohner von Pthor, nicht wahr?« »Ja.« Atlan dachte an den Bericht des Oheims. Schon vor vielen Millionen Jahren hatte es Magier in der Barriere von Oth gegeben, aber sie waren nicht mit jenem seltsamen Volk verwandt gewesen, das jetzt in den Ber gen hauste – falls es zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch Magier und eine Barriere gab. Einigen Andeutungen, die er hier und da in Oth gehört hatte, konnte Atlan entnehmen, daß die heutigen Magier »erst« vor etwa zwan zigtausend Jahren nach Pthor gekommen waren, daß es aber auch davor entsprechend begabte Wesen in der Barriere gegeben hatte. Warum gerade dort? Bargen die Berge von Oth ein besonderes Geheim nis? Olken hatte die Gedanken des Arkoniden aufmerksam verfolgt. »Das ist leicht möglich«, sagte er ernst. »Wir wissen jetzt, daß Pthor der erste Dimensionsfahrstuhl war, den der Dunkle Oheim für sich eroberte. Das ist sicher nicht ganz bedeutungslos. Aber es wundert mich, daß es offenbar auch unter den Magiern welche ge geben hat, die negativ handelten. Die, zu denen wir jetzt Kontakt haben, wären dazu nie imstande.«
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»Wenn du dich da nur nicht irrst«, murmelte Atlan, der sich noch deut lich an den Schwarzschock erinnerte. »Zu welchen Magiern habt ihr Kon takt? Wer fliegt da mit der GOL'DHOR in der Schwarzen Galaxis her um?« »Sie heißen Querllo, Opkul, Taldzane und Ajyhna«, zählte Olken auf. »Zwei davon kenne ich«, sagte Atlan. »Zwei weitere Magier sind dem Ritiquian-System bedeutend näher«, fuhr der Körperlose fort. »Zu ihnen haben wir keinen direkten Kontakt, aber besonders einer von ihnen ist wie ein Leuchtfeuer für uns, fast so hell wie die GOL'DHOR und die große Plejade selbst.« »Kennt ihr seinen Namen?« »Er heißt Koratzo.« Atlan glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen – bis ihm aufging, daß er in seinem derzeitigen Zustand gar keine Ohren hatte. Wo Koratzo war, da war auch Copasallior meistens nicht mehr weit. Und die GOL'DHOR trug die große Plejade zum Ritiquian-System. Aus gerechnet jetzt war ein »Sohn« des Dunklen Oheims aufgetaucht, und alles wies darauf hin, daß dies kein alltägliches Ereignis war. Der Dunkle Oheim war einst ein Teil einer Kreatur gewesen, die man als Superintelligenz bezeichnete – nein, Kreatur war falsch: Es handelte sich um ein Kollektivwesen. Beinahe erschrocken erinnerte Atlan sich an ES, aber er weigerte sich strikt, Vergleiche zwischen diesem zeitlosen We sen und dem Dunklen Oheim zu ziehen. Der Dunkle Oheim war so völlig anders. Und er beherrschte diese Galaxis seit Jahrmillionen. Wie viele Versuche waren in dieser langen Zeit unternommen worden, die Macht des schwarzen Ringes zu brechen? Sie waren alle gescheitert – und es konnte auch diesmal nicht anders sein. »Der kleine Ring wird unruhig«, bemerkte Razamon, der sich wieder beruhigt hatte. »Wenn der Dunkle Oheim nicht bald in seinem Bericht fortfährt, wird sein Sprößling die Geduld verlieren. Ist euch übrigens an dem Bericht selbst nichts aufgefallen?« Als niemand ihm antwortete, sagte er nachdenklich: »Der Oheim scheint ein besonderes Vergnügen daran zu finden, seine Geschichte aus der Sicht seiner Gegner zu erzählen. Abgesehen davon, daß das interessante Schlüsse auf die Psyche des Oheims zuläßt – ob zum Beispiel Kil'Dhun jemals gewußt hat, wie genau der verdammte Ring über jeden seiner Gedanken informiert war?« Atlan wußte, was der Berserker damit andeuten wollte: Kil'Dhun war davon überzeugt gewesen, nicht der Beeinflussung durch die schwarze Wesenheit zu unterliegen. Wenn aber der Dunkle Oheim imstande war, ein ganzes Kapitel seiner Geschichte aus der Sicht des Hornigen heraus zu erzählen – hieß das nicht, daß Kil'Dhun sich geirrt hatte? Aber wenn der
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Oheim ihn hätte beeinflussen können – warum hatte er es nicht getan? Zum erstenmal seit langer Zeit meldete sich Atlans Extrasinn wieder. Warum gibt es in der Schwarzen Galaxis immer noch Rebellionen? Der Arkonide zuckte zusammen. Weil er ein noch schlimmeres Monstrum ist, als ich bisher geglaubt ha be, dachte er erschrocken. Er hatte Zeit im Überfluß. Wenn er trotzdem noch immer nicht jeden Gedanken an die Freiheit unterdrückt hat, dann nur, weil er es gar nicht wollte. Wesen, die von der Freiheit nicht einmal mehr träumen, sind auch nicht dazu fähig, den zu hassen, der sie unter drückt. Er braucht den Haß. Er braucht auch die Verzweiflung derer, die erkennen müssen, daß sie niemals eine Chance hatten, das Spiel zu gewin nen. Und da machen wir uns Hoffnungen, ausgerechnet hier, in der Le bensblase … Ohne Vorankündigung setzte der Dunkle Oheim seinen Bericht fort.
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Weiter geht es in Atlan Band 482 von König von Atlantis mit: Duell der Giganten von Marianne Sydow
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