ROY ROCKWOOD DER DSCHUNGELBOY (Bomba the jungle boy)
AWA-VERLAG MÜNCHEN 8
Der Originaltitel lautet:
BOMBA THE JUNGL...
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ROY ROCKWOOD DER DSCHUNGELBOY (Bomba the jungle boy)
AWA-VERLAG MÜNCHEN 8
Der Originaltitel lautet:
BOMBA THE JUNGLE BOY Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Hansheinz Werner Umschlaggestaltung: Herm. Schneider, München Gesamtherstellung: AWA-Druck Krüger & Co. München Non Profit Scan by: Wesir der Nacht & Brrazo 10/2005
Printed in Germany Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
AWA-VERLAG MÜNCHEN
1 Knapp entkommen Eine Menschengestalt glitt vorsichtig und geräuschlos auf dem Dschungelpfad dahin. Mit der Geschmeidigkeit und Anmut einer Wildkatze nahm sie ihren Weg über Baumwurzeln und wucherndes Gestrüpp, bis ein Sumpfloch den Schritt hemmte. Düster und unergründlich schimmerte das faulige, schwarze Wasser. Nur ein schmaler Baumstamm war als Brücke darübergelegt. Die Gestalt beugte sich vor und sah einen Augenblick ihr eigenes Gesicht auf dem dunklen Wasserspiegel. Bomba, der Junge aus dem Dschungel, lächelte sich selbst zu, als wollte er sich Mut zusprechen. Seine blanken Zahnreihen schimmerten und bildeten einen starken Gegensatz zu der gebräunten Haut. Schnell und sicher balancierte er über das Sumpfloch und trat auf den Pfad. Der Urwald umgab ihn mit seiner grünen Undurchdringlichkeit, Papageien kreischten in der Ferne, und in ihr mißtönendes Gekrächz mischte sich das aufgeregte Schimpfen der Affen. Etwas mußte ihren Unwillen erregen. Vielleicht huschten Kopfjäger mit ihrer gelben Kriegsbemalung unter den Bäumen dahin. Vielleicht glitt auch der Jaguar durch das Unterholz, obwohl seine Jagdzeit noch nicht gekommen war. Ein Laut ließ Bomba innehalten. Mitten in seinem geschmeidigen Wolfstrott blieb er lauschend stehen. Das Laubdach hielt die sengenden Strahlen der Sonne ab und 4
schuf ein geheimnisvolles Halbdunkel um Bomba. Er stand da – umgeben von spitzblättrigen Palmen, von den hochragenden Fächern der Farne, von uralten Baumriesen und vom grünen Gewirr der Lianen –, stand da im hitzedampfenden, feuchtwarmen Dschungel und lauschte. Da! Wieder dieser Laut! Dieser harte, kurze Knall! Zwei unauslöschliche Erinnerungen knüpften sich für Bomba an das Geräusch. In einer sekundenschnellen Rückschau erlebte Bomba alles noch einmal. Er sah wieder, wie sein alter Beschützer Casson den wilden Jaguar mit dem Eisenstock – den Casson ,Gewehr’ nannte – vom Baum heruntergeholt hatte. Unvergeßlich für Bomba. Auf einem Ast kauerte das Raubtier – auf jenem Baum, unter dem sich Bomba arglos zur Ruhe gesetzt hatte. Erst als er den Ausdruck von Entsetzen in Cassons Augen wahrnahm und seinen Warnruf hörte, ahnte Bomba etwas von der Gefahr, die über ihm schwebte. Geistesgegenwärtig sprang er auf – im gleichen Augenblick, als auch der Jaguar zum Sprung ansetzte. Er sah, wie Casson den Eisenstock an die Wange riß – da schoß eine Flamme aus dem Ende des Stockes und zugleich ertönte der peitschende Knall. Von einer unvorstellbaren Kraft mitten im Sprung aufgehalten, wirbelte das Raubtier in der Luft herum und fiel zu Boden. Eine ausgestreckte Pranke streifte Bomba und ritzte seine Haut. Noch einmal streckte sich der Körper, ehe er still auf dem Waldboden liegenblieb.
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Vorsichtig trat Bomba an das tote Tier heran. Von den Eingeborenen hatte er gelernt, das Wild mit Pfeilen zu erlegen. Nun suchte er nach einem Geschoß, das aus dem Tierleib ragen mußte. Nichts dergleichen war zu sehen. Nur mitten auf der Stirn, in einem der schwarzen Flecke, die das rötlich-gelbe Fell am ganzen Körper übertupften, war ein kleines Loch zu erkennen. Eine schmale Blutspur führte von der Stirn bis zum halb geöffneten Rachen, aus dem die Raubtierzähne spitz und drohend herausragten. Noch im Tode behielt der Jaguar seinen Ausdruck von gefährlicher Wildheit. Natürlich versuchte Bomba von Casson zu erfahren, was es mit dem seltsamen Sterben des Jaguars für eine Bewandtnis hatte. Sein Lehrer und Beschützer hatte aber einen seiner mürrischen Tage und gab keine Erklärung. Er zog Bomba in einer jähen Regung von Zärtlichkeit an die Brust, und nur daraus erriet der Junge, daß sein alter Freund von dem Zwischenfall erschüttert war. Diese Erinnerung glitt vorüberhuschend durch Bombas Sinn, während er dem Schall des fernen Schusses nachlauschte. Er dachte auch an das Erlebnis mit der Riesenschlange, deren Haupt sich plötzlich vor ihm erhoben hatte. Der Schuß hatte die riesige Anakonda damals erschreckt und vertrieben. Aber es gab eine donnerähnliche Explosion und der Eisenstock zersprang in viele Stücke. Casson fiel bewußtlos auf den Rücken, und Bomba mußte den schweren Körper in ihre Wohnhütte schleppen. Mit Heilmitteln, deren Anwendung er den Eingeborenen abgesehen hatte, pflegte er Casson. Schließlich hatte sich der alte Mann erholt, aber seine Gedächtnisschwäche war zu voll6
kommenem Gedächtnisschwund geworden. Wenn Casson sich an etwas aus der Vergangenheit erinnerte, gab es flüchtige Augenblicke der Freude und Gesprächigkeit. Meist hüllte sich der Alte jedoch in mürrisches Schweigen, und Bomba fühlte sich dann einsamer denn je. Dies waren die Erinnerungen, die Bombas Gedanken durchzuckten. Das geschah traumschnell, während er vorgebeugt dastand und jenem Schall nachlauschte, der diese Erinnerungen wachgerufen hatte. Fast waren die Vorgänge seinem Gedächtnis entschwunden. Nun wurde alles wieder lebendig. Wer konnte diesmal den geheimnisvollen Eisenstock benutzt haben? Der Knall war aus einer Entfernung von etwa einer halben Meile gekommen. Kein Eingeborener besaß eine Waffe dieser Art. Einsam und mit klopfendem Herzen stand Bomba in der düsteren Dschungelwelt, und die Gedanken jagten durch sein Gehirn. Da war eine Sehnsucht in ihm – unbewußt, aber mit einer drängenden Kraft. Er suchte insgeheim nach Menschen seiner Art – nach Wesen, die wie Casson und er hellhäutig waren. Niemand hatte mit Worten diese Sehnsucht erzeugt. Sie war da: ein Teil von ihm selbst – ein Instinkt der Zugehörigkeit zu einer fremden, großen Welt, die nichts zu tun hatte mit Bombas Leben im Dschungel. Er mußte wissen, wer den Eisenstock besaß. Der Wunsch war stärker als jener Instinkt, der ihn gelehrt hatte, die ungeschriebenen Gesetze des Dschungels streng zu beachten. Eines dieser Gesetze lautete: Kümmere dich nur um deine eigenen Angelegenheiten. Es ist gefährlich, sich
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in das einzumischen, was bei anderen geschieht, und du bist dabei nie willkommen. So hätte Bomba normalerweise einen weiten Bogen um den Ort geschlagen, von dem das Krachen herübergeschallt war. Er hätte sich tiefer in den Dschungel zurückgezogen, denn: wo die Stimme des eisernen Stockes ertönte, lauerte sicherlich Gefahr. Deutlich war in Bombas Gehirn die Erinnerung an den Eisenstock mit den Gedanken an beutegierige Raubtiere und Reptilien verbunden. Trotzdem machte sich Bomba auf den Weg. Er huschte über den moosigen Boden des Urwaldes dahin. Gedankenlos und mit mechanischer Geschicklichkeit räumte er kleine Hindernisse beiseite: Äste, die faulig und morsch herabhingen – das widerspenstige Netz von klammernden Lianen – und stechende Dornenranken, die seine nackten Waden verletzten. Um ihn her wogte und schwebte der dumpfe, warme Dampfatem des Dschungels. Immer noch zeterten die Affen irgendwo in der Ferne. Sie waren die Polizei des Dschungels. Sie kündigten den schleichenden Schritt der Wildkatzen an, und sie verrieten den Ort, an dem die Riesenschlange drohend lauerte: um einen Ast geringelt – verborgen im Blattwerk des Gezweigs. Bomba eilte weiter. Er balancierte über einen liegenden Baumstamm, benutzte mit Geschicklichkeit eine herabhängende Liane, um sich über ein Sumpfloch zu schwingen, und kam sanft und sicher auf beide Füße zu stehen. Die Sehnsucht beschwingte seinen Schritt. Vielleicht war auch ein wenig Neugierde dabei. Er wollte gern den Wunderstock wieder einmal in Tätigkeit sehen. Aber das war nicht das wichtigste. Viel schwerer wog dieses sanfte, drängende 8
Empfinden in seinem Innern. Was war es? Mehr als Sehnsucht – mehr als Neugierde. Er liebte etwas, das er noch nicht genau bestimmen konnte: ein Leben mit den Hellhäutigen, zu denen er gehörte. Bombas Aussehen hätte nicht so leicht verraten, daß er kein Eingeborener des Dschungels war. Er trug grobe, selbstgefertigte Sandalen an den Füßen, und um den Körper gewickelt ein primitives Lendentuch und ein Pumafell. Das war Geluks Haut – das Fell jenes Pumas, der versucht hatte, seine kleinen, zutraulichen Papageien Kiki und Woowoo zu fressen. Bei diesem Mordversuch hatte ihn Bomba überrascht und mit einem Pfeil erlegt. Das war Bombas Kleidung. Sie unterschied ihn nicht sehr von den Eingeborenen. Auch seine Haut war braun getönt. Er war ein Junge von vierzehn Jahren – groß für sein Alter, kräftig und doch mit den anmutig leichten Bewegungen einer Wildkatze. Sein braunes, welliges Haar war es vor allen Dingen, das seine Abkunft von Weißen verriet. In natürlichen Locken fiel es ihm in die Stirn, und wenn Bomba mitunter fröhlich lachte, waren zwei Reihen prächtiger weißer Zähne zu sehen. Dort, wo Bomba lebte, kamen sehr selten Weiße hin. Mit dem alten Naturforscher Cody Casson wohnte er im Herzen des Dschungels: am Amazonas. An seine eigene Vergangenheit hatte Bomba keine Erinnerung. Sein Beschützer Casson war in dieser Hinsicht auch sehr schweigsam. Früher hatte er ihm die Grundzüge einer Erziehung vermittelt, wie sie für das Leben weißer Männer nötig ist. Besonders in seinen Spezialgebieten Botanik und Naturgeschichte hatte Casson den Jungen unterrichtet. Doch 9
dieser Unterricht hatte schon vor Jahren aufgehört – damals, als die Geisteskräfte des Naturforschers bei der Explosion des Gewehres gelitten hatten. Allzuviel wußte also Bomba nicht von der weißen Rasse, zu der er gehörte. Mit den Indianern in ihrer näheren Umgebung traten die beiden nicht oft in Verbindung, denn die Indianer mieden ihre Nähe. In ihrer abergläubischen Furcht schlossen sie aus dem seltsamen Benehmen des Naturforschers, daß er „ein Mann des Bösen“ sein müßte. Das war Bomba: Kind einer zivilisierten Rasse – intelligent – aufgeschlossen – und doch das Leben eines Eingeborenen führend. Er wußte vieles, was die Kinder in den Großstädten Europas und Amerikas nie gesehen hatten und nicht ahnen konnten. Er kannte die Stimmen der Wildkatzen – die Warnungsschreie der flinken Baumaffen – die hellen und klagenden Vogelrufe. Aber er war jetzt von dem Wunsch besessen, den Besitzer des Eisenstockes kennenzulernen, und seine Aufmerksamkeit war nicht ganz so wach wie sonst. Er sah nicht die schmalen Augenschlitze, die seinen Schritt belauerten. Auf dem Eingeborenenpfad eilte er leichtfüßig dahin und achtete nicht auf die Farnblätter, hinter denen sich der zusammengerollte Körper einer Coonaradi verbarg. Langsam, wie von einem unhörbaren Takt beeinflußt, bewegte die Schlange den Kopf hin und her. Schillernd bunt lag der zusammengerollte Körper da, und nur die blitzschnellen Zungenbewegungen des aufgerichteten Kopfes verrieten etwas von der Tücke und der Angriffslust dieser schrecklichsten Schlange der Erde.
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Niemals ging die Coonaradi einem Kampf aus dem Wege. Nicht nur ihr tödliches Gift machte sie so gefährlich, sondern ihre Wildheit und Kampfeslust. Selbst einen fliehenden Feind verfolgte sie noch. Diesmal brauchte sie nicht einmal ihr Versteck zu verlassen. Ohne jedes Mißtrauen kam die Beute auf sie zugelaufen. Jetzt war das Opfer in Reichweite ihrer Giftzähne. Aus den Augenschlitzen glitzerten die unheimlichen Flammen von Bosheit und Mordgier. Dann sah Bomba die Schlange, als er nur mehr zehn Fuß von ihr entfernt war. Keine Zeit mehr, um einen Bogen zu spannen – keine Zeit, einen Pfeil auf den Bogen zu legen. Ehe er noch sein Buschmesser ergreifen konnte, schnellte sich die Schlange vorwärts. In diesem Augenblick warf Bomba seinen Körper herum. Um Haaresbreite entging er dem ersten Angriff. Der Schlangenkopf mit den nadelspitzen Giftzähnen schoß dicht an seinem Leib vorüber. Jetzt hieß es fliehen. Mit einem Satz sprang Bomba vorwärts und rannte – und rannte. Er wußte, daß er um sein Leben lief.
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2 Die Männer mit dem eisernen Stock Bomba war behende und leichtfüßig. Er eilte den Tretpfad entlang, bückte sich, um tiefhängenden Ästen und spitzen Palmblättern auszuweichen, streifte an wegsperrenden Lianen entlang und spürte in seiner Erregung nicht das scharfe Reißen von Dornenzweigen an seinen Beinen. Er brauchte sich nicht umzuschauen – er wußte, daß die Schlange ihn verfolgte. In Gedanken sah er das wellenartige Gleiten des vierzehn Fuß langen Körpers hinter sich – sah den schmalen, flachen Kopf – sah das angriffslustig geöffnete Maul und glaubte das Zischen zu hören: böse, drohend und todverkündend. Bomba lief um sein Leben. Die Füße bewegten sich mit wunderbarer Schnelligkeit. Gleichzeitig arbeitete der Verstand des Jungen mit ebensolcher Eile. Jede Einzelheit der Umgebung nahmen die braunen Augen wahr. Er kannte den Pfad genau und er erinnerte sich an jede Biegung und an die Besonderheiten – an niedrighängende Äste, an Baumhöhlen und an die Verstecke zwischen Riesenblättern und üppigem Farnkraut. Bomba hätte versuchen können, auf einen Baum zu klimmen. Ehe er jedoch die ersten Meter überwunden hätte, wäre die furchtbare Schlange bei ihm gewesen. Außerdem war die Schlange ein besserer Kletterer als er selbst.
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Auch ein Flußarm hätte keine Rettung bedeutet. Dem einen Ungeheuer wäre er vielleicht entgangen, um einem anderen zum Opfer zu fallen. Da lauerten die Kaimane im Uferschlamm, und Piranhas, diese gierigen kleinen Fische mit den nadelspitzen, rasiermesserscharfen Zähnen, glitten durch das Wasser. Ein Schwarm von ihnen konnte seinen Körper in wenigen Minuten in ein Skelett verwandeln. Immerhin hätte er im Wasser eine Chance des Entkommens gehabt, doch der Fluß war weit entfernt. Eine kleine Lichtung öffnete sich vor ihm. Bomba führte einen geschmeidigen, verwirrenden Sprungtanz aus, um seine Verfolgerin in die Irre zu führen. Sein Körper schnellte nach links und rechts, ehe er wieder in einen Dschungelpfad eintauchte. Das gab einen Vorsprung von einigen Metern – einen winzig kleinen Vorsprung, der aber die Rettung bedeuten konnte. Allmählich wurde Bombas Atem schwerer. Er rannte und keuchte dabei. Seine Füße waren noch schnell und beweglich, aber er spürte, daß seine Kräfte nachließen. Mut und Tatbereitschaft verließen ihn nicht. Plötzlich sah er etwas, das ihm neue Hoffnung gab. Vor ihm hing eine dick verfilzte Masse von Schlingpflanzen an einem Baum. Es war wie ein riesiger Fächer von Gewächsen, nur mit kleinen Zwischenräumen. Bomba sprang hinter diesen natürlichen Schutzschirm. Schnellatmend blieb er stehen und beobachtete seinen Feind durch eines der Löcher. Nicht weiter als sechs Meter war die Coonaradi von ihm entfernt. In ihren Augen glaubte Bomba das Funkeln der Wut zu erkennen. Während sie schnell auf sein Versteck zuschoß, faßte Bomba einen tollkühnen Entschluß. Im Ur13
wald siegte immer der, der schneller denken oder schneller handeln konnte. Bomba wußte es. Plötzlich steckte er seinen Kopf durch den Schirm von Schlinggewächsen. Er schrie laut auf und zog blitzschnell den Kopf zurück. Seine Hoffnung erfüllte sich. Die Schlange bäumte sich hoch und stieß nach dem Gesicht des Feindes. Durch das enge Loch im Gewächsvorhang fuhr der Schlangenkopf, und der aufgerissene Rachen packte das filzige Pflanzengeflecht. Die Coonaradi bekam den Kopf nicht wieder frei. Der Leib wand sich und peitschte den Boden. Bomba sprang aus seinem Versteck heraus. Er trat von hinten an die Schlange heran und begann mit fliegendschnellen Fingerbewegungen aus den grünen Stricken der Schlinggewächse ein Netz zu flechten. Geschickt wand er die Gewächsschnüre um den unruhigen Schlangenleib, bis es kein Entkommen mehr gab. Erst als er seiner Sache sicher war, hörte Bomba mit dem Netzknüpfen auf und senkte die Hände. Da war nun der Feind, der noch vor wenigen Minuten sein Leben bedroht hatte. Nichts mehr blieb übrig als eine hilflos zappelnde Masse in der unzerreißbaren Umschlingung der Pflanzenstricke. Bomba war erschöpft, und sein Herz klopfte dumpf gegen die Brust, aber er war auch ein wenig stolz über seinen Sieg. Seine Geschicklichkeit und List hatten einen schrecklichen Dschungelräuber überwunden. Nur seiner Schnellfüßigkeit und dem rasch arbeitenden Verstand hatte er diesen Sieg zu verdanken. Bomba wollte seinen Sieg damit krönen, daß er die Schlange tötete. Seine Hand griff zur Machete, jenem zweischneidigen Buschmesser, das scharf wie eine Rasier14
klinge war und dessen Klinge mehr als dreißig Zentimeter maß. Nach einer kurzen Überlegung schob Bomba die Waffe in den Gürtel zurück. Wenn er nach dem Kopf der Schlange hieb, würde er vielleicht die Schlinggewächse zerschneiden. Es könnte sein, daß er die Coonaradi nur verwundete und zugleich befreite. Mochte also der Dschungel selbst die Rache vollenden. Da gab es die Pekkaris, die gefräßigen Wildschweine, für die Schlangenfleisch einen Leckerbissen bedeutete. Sicherlich würden sie bald vorüberkommen. Als Bomba durch das Blattgewirr einen Blick nach oben warf, sah er am hellen Himmel einen Vogel kreisen. Die Geier waren schon zur Stelle. Ihr Instinkt lockte sie heran, noch ehe die Beute tot war. Das war auch nötig, denn wenn sie zu lange warteten, hatten Ameisenschwärme in kurzer Zeit das Reptil bis zum Skelett abgenagt. In den Stolz und die augenblickliche Genugtuung über seinen Sieg mischte sich plötzlich ein Gefühl des Erschreckens. Einen Augenblick lang schaute sich Bomba hilflos um, als suchte er einen Ratgeber. Der weiße Mann mit dem Eisenstock! Würde er ihn jetzt noch finden? Er hatte viel Zeit versäumt. Bevor er weitereilte, vergewisserte er sich, daß die Coonaradi der Fesselung nicht entkommen konnte. Er wählte auch einen anderen Pfad, weil er wußte, daß diese Schlangen meist paarweise jagten. Die Gesetze des Dschungels mußten eingehalten werden. Das hatte Bomba eben zu spüren bekommen. Trotzdem war er zornig, weil er einen weiten Umweg 15
machen mußte, um wieder in jene Richtung zu gelangen, aus der das Geräusch des Schusses gekommen war. Kummer und Angst trieben ihn zur Eile an. Es war schon spät am Nachmittag. Wenn er den Mann mit dem eisernen Stock bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht fand, mußte er alle Hoffnung aufgeben, ihn je zu sehen. Daran durfte er nicht denken. Er wollte an keinen Mißerfolg glauben. Bomba hätte nicht sagen können, warum das Auffinden des Mannes mit dem Eisenstock für ihn so wichtig war. Während er sich mit der Machete seinen Weg durch das Unterholz bahnte – während er keuchte und sich mühselig weiterarbeitete, spürte er unbestimmbar und beunruhigend das Vorgefühl einer wunderbaren Erkenntnis. Er wußte nicht, was es war: aber bald würde er etwas kennenlernen, von dem nur sein sehnsüchtiger Instinkt etwas ahnte. Fast eine Stunde verging, ehe der Geruch von bratendem Fleisch in Bombas Nase drang. Menschen mußten also in der Nähe sein. Sehr vorsichtig schlich er sich näher heran. Noch wußte er nicht, wem er begegnen würde. Aus der Verborgenheit seines Dschungelverstecks wollte er die Fremden erst beobachten, ehe er sich ins Freie wagte. Nach einigen Minuten verstohlenen Anschleichens vernahm Bomba Stimmen. Zuerst unterschied er die schnatternden kehligen Laute der Eingeborenensprache. Aber es waren noch andere Stimmen zu hören. Ein freudiger Schreck durchzuckte ihn. Er hörte Laute jener Sprache, die auch Casson und er redeten. Noch nie hatte er solche Worte von fremden Lippen vernommen. Nicht alles war ihm vertraut, aber er verstand vieles.
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Bomba kauerte still hinter einem Baum. Er war also nicht zu spät gekommen. Die Fremden, die seine Sprache kannten, waren noch da. Vielleicht durfte er selbst mit einem von ihnen sprechen. Er durfte ihn anschauen und Fragen an ihn stellen. Bomba wurde wieder unvorsichtiger und glitt näher an den Rand des Dschungels. Er ließ sich auf die Knie fallen, kroch nahe an den Baum heran und spähte durch das Unterholz. Vor seinen Augen breitete sich eine Lichtung aus. Im Hintergrund war wie eine grüne Mauer der Urwald. Im hellen Sonnenschein lag die Lichtung mit ihrem üppigen Graswuchs da. Vögel und Schmetterlinge schwirrten farbenprächtig bunt durch die Luft. Es gab Blumen mit riesigen, feuerfarbigen Kelchen, Blüten, die himmelblau zwischen großen Blattpflanzen hervorschimmerten, und Büsche mit bernsteingelben Früchten. Jetzt erschien es Bomba so, als läge eine Stimmung von Heiterkeit und Freude über der Landschaft. Er hatte noch nie bemerkt, wie schön es hier war. Alles war ihm gleichgültig und beinahe düster erschienen. Zum ersten Male nahm er mit Entzücken die Buntheit und Farbenpracht des Dschungels wahr. Die Hitze war nicht mehr so drückend wie im morastigen Urwalddunkel. Alle Aufregung und Gefahr der letzten Stunden waren vergessen, und Bomba lag da und schaute. Es dauerte nicht lange, bis er zwischen den Eingeborenen zwei Männer entdeckte, deren Gesichtszüge ihm vertraut vorkamen, obwohl er sie noch nie gesehen hatte. Der eine Fremde war groß und hager, der andere untersetzt und 17
muskulös. Die beiden saßen auf Baumstümpfen nebeneinander und unterhielten sich. Dabei beschäftigten sie sich mit verschiedenartigen Dingen. Bomba sah, wie der eine den geheimnisvollen eisernen Stock zerlegte. Es mußte so etwas Ähnliches wie ein Blasrohr sein, denn der Mann hielt das Vorderteil davon ab und zu gegen das Auge und blickte hindurch. Dann zog er immer wieder eine merkwürdige Kette mit Stoffetzen durch das Rohr. Zu gleicher Zeit häutete der andere ein Tier von der Größe eines Kalbes ab. An dem rauhen Haar und der schwarzbraunen Haut erkannte Bomba, daß es ein Tapir sein mußte. Obwohl die Gesichtshaut der Fremden dunkel gebräunt war, entdeckte Bomba am Halsausschnitt der offenen Hemden die gleiche helle Haut wie bei Casson und sich selbst. Er erschauerte und unterdrückte nur mit Mühe einen Freudenschrei. Sein Weg war nicht umsonst gewesen: er hatte Wesen entdeckt, die ihm glichen. Wenn er die scharfgeschnittenen, klugen Gesichter mit den Zügen der Eingeborenen verglich, erschienen ihm die Fremden wirklich wie Gäste aus einer anderen Welt. Bei alledem fühlte Bomba sofort Zuneigung und eine bezwingende Art von Neugierde. Die Fremden hatten freundliche Gesichter. Hier war nichts, was Furcht erregen konnte. Von seinem Gefühl der Verwandtschaft angetrieben, wollte Bomba sofort aufspringen und auf die Lichtung eilen. Doch er sank wieder zu Boden. Zu streng waren die Gesetze des Dschungels, und zu gefährlich war ihre Übertretung. Die beiden Empfindungen von Zuneigung und Vorsicht bekämpften einander in Bombas Herzen. Er
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brannte darauf, sich den Fremden zu zeigen, und er schreckte davor zurück. Es war nicht mehr nötig, daß er sich entschied. Im gleichen Augenblick, als er eine unvorsichtige Bewegung machte, wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Das scharfe Auge eines Eingeborenen hatte ihn entdeckt, und der Mann stieß sofort einen schrillen Warnungsschrei aus. Die beiden Fremden griffen nach ihren Waffen und sprangen auf. Nun gab es kein Zurück mehr für Bomba. Noch einmal atmete er tief ein, als müßte er seine ganze Kraft für die entscheidenden Schritte zusammenraffen. Dann stand er auf, strich mit einer schnellen Handbewegung das Haar aus der Stirn und trat durch den Farnvorhang auf die sonnenhelle Lichtung hinaus.
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3 Ein verstohlener Feind Mit erhobenen Handflächen trat Bomba aus dem Dschungel. Langsam kam er auf die Fremden zu, und sie erkannten, daß dies eine Geste der Freundschaft sein sollte. Die Gewehrläufe senkten sich. Zugleich ließ der eine von ihnen einen Ruf der Überraschung hören. „Kein Grund zur Aufregung“, sagte der andere lächelnd. „Ein gewöhnlicher Indianer junge, wenn mich nicht alles täuscht.“ „Solange man nicht genau hinschaut!“ unterbrach ihn der Größere. „Aber schau dir sein Haar an – diese hellbraunen Augen – die gerade Nase! Er ist so weiß wie du oder ich – oder ich heiße nicht Gillis! Habe ich recht?“ Jack Dorn war nicht streitsüchtig, und er mußte dem anderen auch recht geben. „Ich glaube, du hast dich nicht geirrt, Alter“, sagte er, indem er seinen Blick über das Gesicht des Jungen gleiten ließ. „Ein Wunder bleibt es trotzdem, wie er in diese verlassene Dschungelgegend kommt. Ich wüßte nicht, wo es hier im Umkreis von tausend Meilen Weiße geben sollte.“ „Ich auch nicht“, gab Ralph Gillis zu. „Scheint fast, wir hätten uns geirrt. Wahrscheinlich gehört er zu einem anderen Lager von Gummisuchern hier in der Nähe.“ „Dann würde er wohl nicht solche Kleidung tragen – wenn man das überhaupt so nennen kann.“ Dorn schüttelte
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verwirrt den Kopf. „Nur ein Tuch und ein Pumafell: wo hat ein weißer Junge jemals diese Art von Anzug getragen?“ „Wollen wir uns nicht den Kopf zerbrechen, sondern ihn fragen“, sagte Gillis entschlossen. Er machte eine Handbewegung, die freundlich und vertraulich auf Bomba wirkte. „Komm einmal her, Junge! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Vor Gillis und Dorn muß niemand Angst haben, der ein gutes Gewissen hat.“ Bomba näherte sich scheu. Immer noch war der Widerstreit der Gefühle in seinem Innern, und er wußte nicht, welcher der Empfindungen er mehr vertrauen sollte: der Angst oder der Zuneigung. „Wie heißt du?“ fragte Gillis. „Bomba!“ Gillis runzelte erstaunt die Stirn. „Bomba? Ein seltsamer Name für einen weißen Jungen. Oder bist du kein Weißer?“ „Doch“, erwiderte Bomba stolz. Er zog das Pumafell zurück und zeigte seine helle Körperhaut. „Gut“, sagte Gillis. „Und du verstehst auch, was ich sage. Also bist du ein Engländer oder ein Amerikaner.“ Gillis überlegte einen Augenblick. Verschiedene Fragen zugleich schwebten ihm auf der Zunge. Was für ein Ereignis! Hier im Dschungel war plötzlich ein Junge aus dem Urwald getreten, der wie ein Eingeborener mit Pfeil und Bogen bewaffnet war, und der zugleich eine helle Haut hatte und englisch verstand. Wie sollte er sich das erklären?
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„Du mußt noch einen anderen Namen haben“, forschte Gillis weiter. „Du kannst nicht nur Bomba heißen.“ Bomba schüttelte den Kopf, als betrübte ihn selbst das Fehlen eines weiteren Namens. „Ich habe keinen anderen Namen. Ich bin Bomba.“ Die Männer wechselten erstaunte Blicke. Jetzt übernahm Dorn die Rolle des Fragenden. „Wer sind deine Leute?“ fragte er. Mit diesen Worten wußte Bomba nichts anzufangen. Er überlegte schnell, weil er sich keine Blöße vor den Männern geben wollte. Dann mußte er aber zugeben, daß er den Sinn der Frage nicht verstanden hatte. Wieder schüttelte er betrübt den Kopf. „Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet“, murmelte er. „Was für eine merkwürdige Geschichte“, rief Gillis. „Manches versteht er und manches nicht.“ Er senkte die Stimme und wandte sich an Bomba mit freundlich fragendem Tonfall. Er wollte den Jungen nicht erschrecken. „Ich meine, du mußt doch einen Vater und eine Mutter haben. Das ist es, was wir unter ,deine Leute’ verstehen.“ „Ich glaube, ich habe keinen Vater und keine Mutter“, gab Bomba Auskunft. „Nie habe ich von ihnen etwas gesehen oder gehört.“ Den unerschütterlichen, breitschultrigen Dorn packte eine Regung von Mitleid. „Der arme Kerl“, murmelte er so leise, daß es Bomba nicht hören konnte. Gillis fragte weiter:
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„Hast du niemand, bei dem du lebst? Irgendwer muß doch für dich sorgen. Es ist doch unmöglich, daß du allein im Dschungel umherirrst wie ein Wilder.“ Bombas Züge hellten sich auf. Er war froh, daß er eine befriedigende Auskunft geben konnte. „Ich lebe bei Cody Casson“, sagte er. Bomba konnte sich nicht vorstellen, daß jemand seinen Lehrer und Beschützer Casson nicht kannte – aber den beiden Männern war der Name unbekannt. „Was ist das für ein Mann?“ erkundigte sich Gillis. „Wo wohnt er?“ Bomba wies nach Süden. „Dort wohnen wir. Casson ist ein guter alter Mann. Wir leben in einer Hütte – es ist ziemlich weit von hier.“ „Und der alte Mann ist ein Verwandter von dir?“ Wieder überlegte Bomba. Auch dieses Wort war ihm fremd, und er mußte es zugeben. „Ich weiß nicht, was das bedeutet.“ In einer Geste komischer Verzweiflung warf Gillis die Hände in die Luft. Die Eingeborenen standen herum und unterhielten sich aufgeregt über das neuartige Dschungelereignis. Die Mahlzeit war vergessen. Das Fleisch brutzelte unbeachtet weiter, und Bomba war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. „Du liebe Güte –“ Gillis machte noch einmal seine drollige Handbewegung. „Du liebe Güte: jetzt weiß er wieder nicht, was ,Verwandte’ bedeutet. Ich werde gleich aus der Haut fahren.“ 23
Bomba riß die Augen in ehrlichem Erstaunen weit auf. Jeden Augenblick erwartete er, das angekündigte Ereignis vor seinem Blick zu sehen. „Das muß schwer sein“, meinte er ehrfurchtsvoll. „Ich habe noch niemand gesehen, der aus der Haut fahren konnte.“ Zum ersten Male seit ihrer Begegnung lachten die Männer herzlich und laut. Der untersetzte Dorn wurde rot im Gesicht bei seinem Heiterkeitsausbruch, und auch der schmächtige, große Gillis grinste so vergnügt wie selten. Etwas verwirrt beteiligte sich Bomba an dem Gelächter. Es freute ihn, daß er die Fremden zum Lachen gebracht hatte. Sie waren so freundlich zu ihm. Er fühlte, wie die Woge von Zuneigung und Vertrauen von neuem durch sein Inneres zog und alle Gefühle von Furcht und Mißtrauen erlöschen ließ. Nach einer Weile strich Gillis über sein Gesicht, als wollte er das Lächeln fortwischen. Es lag ihm nichts daran, sich über den Jungen zu belustigen. Wenn dieser landläufige Ausdrücke der Umgangssprache nicht kannte und sie wörtlich nahm, so war das bei seiner einsamen Lebensweise nicht weiter verwunderlich. „Wann bist du in den Dschungel gekommen?“ forschte Gillis weiter. „Ich bin schon immer hier gewesen.“ In die hellen Augen von Gillis trat ein Ausdruck von Grübelei. Diese Begegnung wurde immer verwunderlicher.
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„Erinnerst du dich nicht?“ fragte er sanft. „Weißt du nicht mehr, ob du einmal woanders gelebt hast? Wahrscheinlich bist du über den Ozean gekommen –?“ Bomba legte die Stirn in Falten. Er sah jetzt wie ein Junge in der Schule aus, dem ein gütiger Lehrer eine schwere Frage vorgelegt hat und der brennend gern die Frage beantworten möchte. Aber wieder mußte er seine Unwissenheit bekennen. „Was ist das?“ fragte er leise. „Was bedeutet Ozean?“ Gillis lächelte geduldig. „Es ist wie ein Strom, wie ein riesengroßer Strom, dessen Ufer du tagelang nicht zu sehen bekommst, wenn du darüberfährst.“ Bomba schüttelte den Kopf. „Ich habe noch kein Wasser gesehen, das ich nicht durchschwimmen konnte.“ „Und du hast nie von England oder Amerika gehört?“ „Hier gibt es keine Tiere mit solchen Namen“, antwortete Bomba arglos. Die Männer tauschten Blicke miteinander, aus denen Mitleid und Bestürzung zu erkennen war. „Ein echtes Naturkind!“ sagte Gillis zu seinem Freund gewandt. „Keine Ahnung von irgend etwas außerhalb seiner Dschungelwelt. Wie erklärst du dir das?“ „Ich bin so schlau wie du“, murmelte Dorn. „Wir werden diesen Casson aufsuchen müssen, wenn wir mehr erfahren wollen. Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein, um das Rätsel zu lösen.“ Dorn überlegte einen 25
Augenblick. Dann schüttelte er in sanfter Empörung den Kopf. „Eine unmögliche Sache! Der Junge scheint gute Anlagen zu haben. Unbedingt sollte er in eine zivilisierte Gegend gebracht werden, damit man ihn zu einem vernünftigen Mann erziehen kann.“ „Das sollte er“, stimmte Gillis zu. „Allerdings weiß ich nicht, was wir dazu tun können. Unser Weg führt nach Norden, und wir sind schon mit der Zeit im Rückstand. Wenn wir nicht rechtzeitig an der Küste sind, versäumen wir unseren Dampfer. Wir können drüben den Behörden von der Begegnung berichten, und wir können uns bei unserer Rückkehr hierher selbst wieder mit der Sache befassen.“ Gillis schaute zur Seite und schnupperte in der Luft herum. „Übrigens dürften die Steaks fertig sein. Ich bin hungrig wie ein Wolf. Unser junger Gast mag mitessen, wenn er Geschmack an unserer Kochkunst findet.“ Die Einladung erfüllte Bomba mit neuer Hoffnung. Er fürchtete sich jetzt schon vor der Trennung, von der Gillis gesprochen hatte. Für jede Minute war er dankbar, die er in der Nähe der Fremden bleiben durfte. Außerdem machte auch ihm der Hunger zu schaffen, und er dankte freudig. Als die Männer aus ihrem Gepäck Messer und Gabeln hervorholten, brachten sie Bomba von neuem in Verlegenheit. Solche Werkzeuge hatte er noch nie gesehen. Er begann das Fleisch zu essen, indem er es nach seiner Gewohnheit mit Zähnen und Fingern zerriß. Dabei beobachtete er verstohlen und mit Bewunderung, wie geschickt seine neuen Bekannten das Tischgerät benutzten. Bald war es so weit, daß er sich seiner eigenen Ungeschicklichkeit schämte. Er gehörte zu diesen weißen 26
Männern, und er wollte so essen wie sie. Heimlich griff er nach Messer und Gabel und begann damit zu hantieren. Zuerst sah es nicht sehr geschickt und erfolgreich aus. Die beiden Fremden taten jedoch so, als sähen sie nichts von Bombas unglücklichen Versuchen. Sie wollten ihm die ersten Schritte in die Zivilisation nicht unnötig erschweren. Die Unterhaltung während des Essens wurde allmählich immer ungezwungener. Die Weißen fragten viel, und Bomba erzählte von seinen verschiedenen Dschungelabenteuern. Als er von der Gefangennahme der Coonaradi berichtete, warfen sie sich erstaunte Blicke zu. Wahrscheinlich hätten sie nicht die Hälfte von Bombas Erzählungen geglaubt, wenn seine schlichte Art des Berichtes nicht überzeugend geklungen hätte. Es war deutlich zu erkennen, daß Bomba nicht zur Prahlerei neigte. Er sprach von den Vorfällen, als wären es keine gefährlichen Abenteuer. Man konnte meinen, er berichtete nur von seiner Tagesarbeit im Dschungel. Mehr und mehr wurde Gillis vom Wesen und von der freundlichen Natürlichkeit des Jungen bezwungen. Oft lag ihm schon ein Vorschlag auf den Lippen, und plötzlich mußte er ihn doch aussprechen. „Warum nehmen wir den Jungen nicht mit? Das wäre der einfachste Weg, ihn in die Zivilisation zu bringen. Für uns wäre die Begleitung bestimmt auch nicht schlecht. Er weiß mit allen Dingen des Dschungels besser Bescheid als du oder ich. Es wäre also für beide Teile ein Glück.“ Dorn schien sich mit der gleichen Möglichkeit schon in Gedanken beschäftigt zu haben. Er stimmte sofort zu und wandte sich an Bomba. 27
„Und was sagt unser junger Freund dazu? Möchtest du mit uns kommen?“ Einen Augenblick lang war Bomba nahe daran, aufzuspringen und einen verrückten Freudentanz zu beginnen. Seine Augen wurden groß und strahlend. Aber er hatte noch nichts von der Falschheit und Verstellungskunst der Zivilisation kennengelernt, und so war deutlich zu sehen, wie sich im nächsten Moment sein Gesichtsausdrude verdüsterte. „Es ist nicht möglich“, flüsterte er leise und traurig. „Wenn ich Cody Casson in der Hütte allein lasse, muß er sterben. Er ist mein Beschützer gewesen. Ich darf ihm jetzt nicht davonlaufen.“ Gillis senkte den Kopf, und Dorn räusperte sich. Sie wollten nicht zeigen, wie sehr sie die Worte des Jungen bewegt hatten. Der größere beugte sich näher zu seinem Freund und sprach sehr leise zu ihm. „Wir dürfen den Jungen nicht in Versuchung führen“, sagte er. „Das ist ein guter Kerl, und er soll so bleiben. Früher oder später werden wir die beiden aufsuchen. Dann können wir sie aus dem Dschungel holen.“ Die Mahlzeit war vorüber, und Gillis griff nach seiner Pfeife und nach den Streichhölzern. Als er ein Hölzchen entzündete, machte Bomba unwillkürlich eine erschreckte Bewegung zur Seite. „Hast du das nie gesehen?“ fragte Dorn überrascht. „Nein“, gestand Bomba, „ich mache das Feuer anders.“ Er nahm einen Stock und eine zierliche Holzschüssel aus
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seinem Gürtel, ließ den Stock in dem Schüsselchen quirlen und erzeugte in wenigen Sekunden einen Funken. „Ausgezeichnet!“ rief Dorn bewundernd. Obwohl Bomba stolz auf das Lob war, hatte er doch schnell erkannt, daß seine neuen Freunde rascher und besser Feuer zu machen verstanden. Er konnte nicht anders, immer wieder mußte er mit verlangenden Augen auf die Streichholzschachtel schauen. Da sich in seinem Gesicht offen alle Regungen spiegelten, erkannte Gillis schnell, was er sich wünschte. Lächelnd suchte er aus seinem Gepäck eine neue Zündholzschachtel hervor und reichte sie Bomba. Der hätte vor Freude fast das Danken vergessen. Immer näher kam er seinen weißen Freunden. Jetzt konnte er schon auf ihre Art Feuer erzeugen. Auf der Lichtung im Dschungel war Leben und Bewegung. Die Eingeborenen beschäftigten sich damit, Zelte aufzurichten und Brennholz für das Lagerfeuer herbeizuholen. Jenseits des grünen Baumwalles versank die Sonne als glühender Ball. Der Himmel, der am Tage metallisch-hell schimmerte, tönte sich dunkler in Rosa und Grün. Die Dämmerung im Dschungel brach schnell herein. Bald würde es so weit sein. Aber dafür hatte Bomba jetzt keinen Blick. Endlich war es so weit, daß er in das Geheimnis des Eisenstockes eingeweiht wurde. Gillis zeigte ihm sein Gewehr. Es war viel schöner als der alte Eisenstock von Casson, der schließlich mit solchem großem Getöse zerplatzt war. Obwohl Bomba nicht wußte, auf welche Weise ein Gewehr seine tödliche Arbeit verrichtete, kannte er doch seine Kraft. Vor seinen Augen lag als Beweis dafür der tote Tapir, und dann gab es 29
noch die beiden Erinnerungen: der Jaguar, der sich im Sprunge in der Luft überschlagen und dann tot vor ihm gelegen hatte, und die Anakonda, die erschreckt in das Urwalddickicht zurückgeflohen war. „Möchtest du wissen, wie gut ein Gewehr jeden fernen Punkt trifft?“ fragte Gillis. Bomba nickte begeistert. Das hatte er sich gewünscht, als er durch den Urwald seinen Weg bis zu diesem Lager gesucht hatte. Nun schaute er zu, wie Ralph Gillis eine Spielkarte nahm und an einen etwa fünfzehn Meter entfernten Baum steckte. Gillis kehrte zurück und setzte das Gewehr an die Schulter. Da Bomba sich noch gut an das erinnerte, was Casson widerfahren war, wich er unwillkürlich ein Stück zurück. Das Gewehr krachte, und Bombas scharfes Auge bemerkte ein leichtes Zittern der Karte am Baum. Gillis winkte dem Jungen zu und führte ihn an den Baum. In der Karte war ein Loch, das Bomba zuvor nicht gesehen hatte. Verbrennungsspuren waren jedoch nicht zu entdecken. „Warum hat das Feuer nichts verbrannt?“ fragte er. Es dauerte eine Weile, ehe Gillis den Sinn der Frage begriff. In seiner Art lächelte er mit einem gutmütigen Zwinkern der hellen Augen. „Du meinst das Mündungsfeuer vorn am Rohr?“ Er sah, daß Bomba nickte. „Nein, das ist es nicht, was die Karte trifft. Es war eine Patrone wie diese hier.“ Er zog ein Geschoß aus dem Gürtel, und Bomba prüfte es neugierig. „Warum konnte ich das nicht sehen, als es aus dem Eisenrohr geflogen kam?“ erkundigte er sich. 30
„Ein Geschoß fliegt zu schnell, als daß du es mit dem Auge verfolgen könntest“, belehrte ihn Gillis. „Aber mein Pfeil ist zu sehen“, wandte Bomba ein. „Das ist etwas anderes. Ein Pfeil ist viel größer und fliegt nicht so schnell. Dafür trifft er auch nicht so genau wie eine Patrone.“ Es war nicht zu sehen, aber Bomba errötete unter seiner braunen Haut. Sein Jungenstolz fühlte sich gekränkt. „Mein Pfeil trifft genau“, erklärte er. Gillis schaute aufmerksam und etwas überlegen auf ihn herab. „Damit willst du doch nicht sagen, daß du auch die Karte treffen könntest?“ „Ich kann es“, sagte Bomba. „Jetzt schlägt’s dreizehn!“ rief Gillis und warf seinem Freund Dorn einen komisch-empörten Blick zu. „Wo schlägt es?“ fragte Bomba schnell. Die Männer mußten lachen, und der behäbige Dorn ließ sich erschöpft auf einen Baumstumpf zurücksinken. „Das ist nur so ein Ausdruck“, erklärte Gillis mit unterdrückter Heiterkeit. „Wir erklären dir das später einmal. Laß sehen, ob du die Karte triffst.“ Bomba nahm sofort einen Pfeil aus dem Gürtel und legte ihn auf die Sehne. Er zielte kaum, und der Pfeil schwirrte davon. Beide Männer stießen einen Ruf der Überraschung aus, als sie den Pfeilschaft mitten auf der Karte zittern sahen. „Der Junge ist ein Wunder!“ rief Gillis begeistert.
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„Robin Hood war nackt und arm dagegen!“ stimmte Dorn bei. Wieder waren Worte gefallen, die Bomba nicht begriff. „Wer war das?“ fragte er. „Und warum war er so nackt und arm?“ Dorn machte ein bekümmertes Gesicht und blickte zu seinem Freunde auf. „Ich glaube, wir müssen unsere Redensarten für uns behalten“, murmelte er. „Für den Jungen ist es sonst zu schwer, uns zu verstehen.“ Er wandte sich an Bomba. „Robin Hood war ein großartiger und berühmter Bogenschütze. Ich wollte vorhin nur sagen, daß du vielleicht noch besser zu schießen verstehst als er.“ Das war nun schon das zweite Mal, daß ihm die Weißen offenkundig Lob gespendet hatten. Für Bomba war das wie Musik in den Ohren. Alles andere um ihn her bemerkte er im Augenblick nicht. Er kümmerte sich auch nicht darum, daß jetzt sehr schnell die Dunkelheit hereinbrach, die den Dschungel gefährlich machte. Jetzt erwachten die stärksten Räuber: die Wildkatzen, die Jaguare und die Pumas. Sie verließen ihre Schlupfwinkel, und die schlanken Leiber streckten sich. Unhörbar glitt der Raubtierschritt durch die Dunkelheit. Die Augen schimmerten wie schmale, grüne Lichter. Dann ertönte von irgendwoher der Todesschrei eines harmlosen Dschungeltieres. Der Räuber hatte sein Opfer, gefunden. Der Tod war unterwegs. Jetzt erwachte auch Bombas Aufmerksamkeit. Das Lagerfeuer warf unruhige Lichtbewegungen in die Dunkelheit. Der Junge hob einige Male den Kopf und blickte
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dorthin, wo die düstere Mauer des Urwaldes begann. Alimählich wurde Gillis unruhig. „Was gibt es dort?“ „Jaguare“, erwiderte Bomba. Die Männer faßten unwillkürlich ihre Gewehre fester und versuchten die Dunkelheit mit den Blicken zu durchdringen. „Ich sehe nichts“, meinte Gillis nach einer Weile. „Aber sie sehen dich“, sagte Bomba mit warnender Stimme. Die Erregung der beiden Männer steigerte sich bei dieser nüchternen Feststellung. „Woran willst du erkennen, daß welche da sind?“ fragte Dorn. „Ich rieche sie.“ Gillis preßte die Lippen fester zusammen. „Auf welcher Seite des Lagers sind sie?“ Bomba machte eine schlichte Gebärde. „Auf allen Seiten –“
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4 Wie Bomba das Lager rettete Die Männer sprangen auf, als sie Bombas unheimliche Erklärung hörten. „Nette Sache, das!“ sagte Dorn aufgeregt. „Und der Junge spricht so ruhig, als hätte das nichts für uns alle zu bedeuten!“ „Vielleicht weiß er nicht genau, wovon er spricht“, versuchte sich Gillis selbst zu beruhigen. Er wandte sich an Bomba. „Wir sehen und hören nichts, und du willst wissen, daß Jaguare um uns herumschleichen. Woran erkennst du das?“ „Ich rieche und höre sie“, wiederholte Bomba. „Auf welche Weise?“ „Zuerst hörte ich sie noch weit entfernt“, begann Bomba zu erklären. „Sie haben geschrien. Dann sind sie näher gekommen, und ihr Schnauben war zu hören. Jetzt sind sie ganz nahe und schnurren. Ich höre sie deutlich.“ Die Männer kuschten angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Nur das leise Knistern des Feuers war zu vernehmen und dazu der verworrene, dunkle Chor von Geräuschen, der um sie her die Nacht erfüllte. Kein Laut von besonderer Art hob sich aus dem leisen Wirrwarr von Tonen heraus. „Vielleicht hört der Junge wirklich mehr als wir“, meinte Gillis nach einer Pause spannungsvollen Schwei34
gens. „Und wer lange im Dschungel lebt, bekommt einen besseren Geruchssinn als wir ihn haben. Wenn er recht hat, gibt es Kampf.“ Seine Hand preßte den Gewehrkolben, und er fragte Bomba grimmig: „Wann soll das kleine Tanzvergnügen stattfinden?“ „Ich kenne kein Tanzvergnügen“, antwortete Bomba. „Wann werden uns die Jaguare angreifen?“ mischte sich Dorn in das Gespräch. „Noch lange nicht. Es muß erst sehr dunkel werden, und sie werden warten, bis sehr viele kommen.“ „Das verspricht heiter zu werden“, stieß Gillis hervor. „Sie haben zuerst das Blut des Tapirs gewittert“, fuhr Bomba fort. „Dann sind sie gekommen und sehen viele Menschen. Gutes Fleisch für Jaguare.“ „Diese freundlichen, kleinen Einzelheiten wollen wir lieber nicht aussprechen“, murmelte Dorn erschaudernd. „Mir scheint, wir werden um unser Leben kämpfen müssen. Da stehen wir allein da, Gillis. Auf die Eingeborenen ist nicht viel Verlaß.“ „Ich werde helfen“, sagte Bomba. „Wirklich! Das wird der tapfere Bursche tun!“ rief Dorn aus. „Er sieht selbst aus, als wäre er zäh wie eine Wildkatze. Nur fürchte ich, Pfeil und Bogen werden gegen solche Bestien nicht viel ausrichten.“ „Meine Machete habe ich auch noch“, erinnerte sie Bomba und zog die Waffe halb aus der Lederscheide.
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„Ich fresse einen Besen, wenn der kleine Kerl nicht daran denkt, im Handgemenge auf Jaguare loszugehen!“ rief Gillis bewundernd. „Ich habe keine Lust dazu“, wandte Bomba ein. „Aber ich werde es tun, wenn es sein muß. Besser ist es, zu töten, als getötet zu werden.“ Sein Blick versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Er suchte die Bäume am Rande der Lichtung ab, bis er in der erlöschenden Dämmerung Zweige mit dreispitzigen Blättern entdeckte. Sofort wies er auf einen in der Nähe stehenden Eimer. „Gebt mir den“, sagte er. Dorn wollte eine Frage stellen, aber Gillis winkte ab. „Der Junge hat etwas im Sinn. Lassen wir ihm freie Hand.“ Er reichte Bomba den Eimer hin. „Und jetzt macht das Feuer groß“, befahl der Junge. „Die Jaguare fürchten das Licht. Wenn ich in den Wald gehen muß, möchte ich sie nicht zu nahe haben.“ Scharfe Befehlslaute hallten durch die Dunkelheit. Die schattenhaften Gestalten einiger Eingeborener tauchten in den Leuchtkreis des Lagerfeuers. Sie schleppten Zweige und warfen sie auf die Flammen. Knisternd fraß sich das Feuer an den Ästen hoch. Funken stoben in die Höhe, und bald loderte eine helle Feuerzunge auf. Die Bäume am Rande der Lichtung erschienen in einem schweflig grünen Glanz, und jedes Blatt war deutlich zu erkennen. Als Bomba sich auf den Weg machen wollte, erwachte eine väterliche Art von Besorgnis im Herzen des behäbigen Dorn.
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„Einer von uns – oder noch besser zwei – sollten mitgehen“, sagte er. „Es ist nicht gut, wenn du allein läufst.“ Bomba winkte stolz ab. „Diese Arbeit muß ich selbst tun. Auf alle Fälle könnt ihr die eisernen Stöcke bereithalten. Aber ihr werdet sie noch nicht brauchen.“ Er glitt zwischen dem hohen Gras dahin und tauchte am Rande des Urwaldes hinter dem Farnvorhang unter. Dann war der Junge wieder zu sehen, während er sich dem von ihm ausgesuchten Baume näherte. Die Männer im Lager sahen, wie Bomba den Eimer abstellte und seine Machete zog. Er trieb das Messer in die Rinde, so tief es ihm möglich war. Dann zog er einen langen, senkrechten Schnitt nach unten. Er hob den Eimer, zog die Klinge aus dem Baum und wartete. Nach einigen Sekunden sickerte ein klebriger Saft aus dem Stamm. Zuerst tropfte es langsam, dann träufelte es in einem dünnen Gerinnsel in den Eimer hinab. Für Bomba war diese einfach und harmlos erscheinende Arbeit nicht so harmlos. Überall umlauerte ihn das Flackern gelbgrüner Raubtieraugen. Das wußte der Junge, ohne sich umzuschauen. Nur der Feuerschein machte die Jaguare noch ängstlich. Sie konnten angreifen – aber sie würden es wahrscheinlich nicht tun. Aufrecht und unbeweglich stand er neben dem Baum und hielt den Eimer an die Wunde im Stamm. Geduld und Mut – die Tugenden des Dschungels – mußte er wieder einmal haben, um auf seinem gefährlichen Posten so lange auszuharren, bis der Eimer fast voll war. Die freie Hand hielt für alle Fälle den Griff der Machete umklammert.
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Die Männer atmeten auf, als sie die Gestalt des Jungen näherkommen sahen. Kein Wort fiel. Bomba neigte den Eimer am Rand des Lagers, bis ein dünner stetiger Strom der Flüssigkeit auf den Blätterteppich am Boden fiel. Langsam beschrieb Bomba einen großen Kreis rund um die Zelte. Die Augen der Männer verfolgten seinen Weg. „Was in aller Welt hat er da vor?“ fragte Dorn leise. „Sieht so aus, als wollte er einen Zauberkreis ziehen“, murmelte Gillis. „Wahrscheinlich hat er das von irgendeinem indianischen Medizinmann gelernt. Eine schauerliche Geschichte!“ Beide Männer vermochten einen Seufzer der Erleichterung nicht zu unterdrücken, als Bomba in den flackernden Lichtschein des Lagerfeuers zurückkehrte und den Eimer abstellte. Er ließ sich auf einen Baumstumpf sinken, und die Männer hockten sich an seine Seite. „Was hast du da für eine merkwürdige Arbeit verrichtet?“ fragte Gillis. Bomba wies auf den Eimer und sagte: „Fühlt nur, was darin ist.“ Als Gillis den Finger in den Eimer steckte, war dieser beim Herausziehen mit einer blaßgelben, klebrigen Masse bedeckt. Das Zeug fühlte sich unappetitlich an. Gillis versuchte, es mit einem Taschentuch abzureiben, aber er hatte nicht viel Erfolg damit. „Klebt besser als der teuerste Leim“, stellte er fest. „Ein merkwürdiges Zeug! Ich habe noch nie davon gehört.“ Bomba wies über die Lichtung hin auf jene Baumgruppe, bei der er vor kurzem so gefährlich lange hatte ausharren müssen. 38
„Steckst du dein Messer in jenen Baum dort, dann weint er“, begann er feierlich zu erklären. „Es sind die Tränen des Baumes, die ich gesammelt habe.“ „Du liebe Güte“, murmelte Dorn, dessen Gemüt immer leicht erregbar war. „Der Junge spricht wie ein Dichter. Die Tränen des Baumes – das klingt schön.“ Der nüchternere Gillis war mehr auf die Erklärung der Tatsachen gespannt, als auf poetische Ausschmückungen. „Der Junge will sagen, daß er den Baum angezapft hat und einen gummiartigen Saft erhielt.“ Er wandte sich an Bomba. „Aber warum hast du den Saft im Kreise rund um das Lager verschüttet?“ „Das ist für uns gut und für die Jaguare schlecht“, ließ sich Bomba etwas rätselhaft vernehmen. Die Männer schauten sich verwirrt an. „Bringst du heraus, was er meint?“ fragte Dorn. „Ist so gut wie chinesisch für mich“, meinte Gillis verdrossen. Seine nächste Frage an Bomba klang etwas schroff, als wollte er seine eigene Unwissenheit nicht zugeben. „Was heißt das nun eigentlich: es ist gut für uns und schlecht für die Jaguare?“ Bomba hatte seinen neuen Freunden nun schon viele Fragen beantwortet, ohne davon überheblich zu werden. Auch jetzt erklärte er ruhig und bescheiden die Zusammenhänge. „Wenn die Jaguare an das Lager schleichen, müssen sie irgendwo auf den Kreis des Baumsaftes treten. Das Laub bleibt dann an ihren Füßen kleben. Sie werden versuchen, es abzustreifen – wie Raubkatzen das tun: mit den Pfoten 39
am Kopf. Dann bleiben die Blätter an den Ohren und überall am Gesicht haften. Der Saft kommt in ihre Augen. Er ist beißend und blendet sie für eine Weile. Da sie nicht mehr wissen, wo sie gehen, bekommen sie Angst. Sie vergessen ihre Beute – das viele Fleisch. Sie brüllen und laufen davon. Das ist alles.“ Gillis ließ ein Lachen hören, an dem seine Verblüffung zu erkennen war. „Das ist alles“, wiederholte er Bombas letzte Worte. „Schlicht und einfach gesagt! Mir scheint, daß es eine ganze Menge ist.“ „Für einen jungen Mann von deinem Alter wirklich allerhand“, fügte Dorn hinzu. „Ich ziehe den Hut vor dir.“ Unwillkürlich schaute Bomba dorthin, wo Dorns spärlicher Haarwuchs im unruhigen Schein des Lagerfeuers zu sehen war. Ihm lag es auf der Zunge, zu sagen, daß Dorn keinen Hut auf hätte, den er ziehen könnte. Dann wurde ihm klar, daß dies wohl wieder eine von den Redensarten seiner neuen Freunde war, deren Sinn er nicht richtig begriff. Er wußte, daß es ein Lob sein sollte, und das Gefühl von Stolz zog wieder durch seine Brust. Allerdings hielt er es nicht für richtig, sich jetzt mit seinen persönlichen Empfindungen zu beschäftigen. Die Lage war zu ernst. „Trotzdem müßt ihr die Gewehre bereithalten“, sagte Bomba. Zum ersten Male hatte er das neue Wort ausgesprochen, und er war froh, daß es ihm so leicht über die Lippen kam. Er beschloß, nie wieder vom „Eisenstock“ zu sprechen. Das war ein dummes Wort, wie es Eingeborene benutzen durften, aber nicht ein Junge, der Männer wie
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Gillis und Dorn zu Freunden hatte. „Ihr müßt die Gewehre bereithalten“, wiederholte er, „weil wahrscheinlich nicht alle Jaguare von dem Saft aufgehalten werden. Zwei oder drei werden womöglich nicht auf die Blätter treten und ins Lager kommen.“ Gillis pfiff zufrieden durch die Zähne. „Klingt schon freundlicher“, sagte er. „Damit werden wir fertig werden. Dumm ist nur, daß wir zu wenig Buschwerk haben, um ein großes Feuer die Nacht über in Gang zu halten. Und jetzt kann es das Leben kosten, im Wald nach Reisig und trockenem Holz zu suchen.“ Die zwei Meter hohe Flammensäule kroch allmählich in sich zusammen. Die Ränder des Urwalds versanken im undurchdringlichen Dunkel. Wenn ab und zu eine Flammenzunge noch einmal aufloderte, glitten unheimliche Schatten an den Baumstämmen und Farnbüscheln entlang. Waren das schon die schleichenden Gestalten der Jaguare – die niedrigen, breitgebauten Raubtierkörper mit den kräftigen Pranken und den beutegierig glitzernden Augen? Im Schein der matt flackernden Flamme saßen die Männer mit Bomba eng zusammen. Die Eingeborenen kauerten am Boden und flüsterten miteinander. Speere und Bogen hielten sie bereit. Ab und zu tauchte ein brauner Arm in den Feuerschein. Ein Zweig wurde auf die Feuerstelle geworfen, und für kurze Zeit flackerte die Flamme höher. Tausende von Geräuschen belebten die Nacht. Der Urwald flüsterte, schrie und erzählte in seiner unheimlichen, vielsprachigen Stimme. Es waren viele Geschichten vom Leben und Sterben, die er erzählte. Die Abenteuer und Raubzüge der Jaguare waren nur eines von den vielen Geschehnissen, die sich im Dunkel des Urwaldes in einer ein41
zigen Nacht abspielten. Lange Zeit saßen die Männer da und lauschten. Es wurde Mitternacht, ehe auf der einen Seite des Lagers deutliches Zischen und Fauchen die nahende Gefahr ankündigten. Schwere Körper brachen durch das Dickicht. Die Flamme des Lagerfeuers reichte nicht aus, um die Bewegung der Raubtiere zu erkennen. Aber es war zu hören, wie sie sich dem Sperrgürtel des Baumleimes näherten. Noch schlichen die Riesenkatzen sich leise an. Die Hände der Männer krampften sich um die Gewehrkolben, und die Eingeborenen starrten mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinein. Plötzlich ging das vorsichtige Anschleichen in einen Tumult von Schnauben und Brüllen über. Es war eine wilde, schreckliche Musik von Urlauten. Die Eingeborenen zitterten und rückten noch enger zusammen. Aber Gillis und Dorn wußten, daß Bombas Zauberkreis nun seine Wirkung tat. Sie hatten keinen Grund, zu triumphieren. Es war so, wie Bomba es vorausgesagt hatte. Unhörbar hatte ein Jaguar den Kreis überschritten. Im hohen Gras näherte sich seine Gestalt fast auf dem Bauche kriechend. Ein Zusammenkauern – ein Sprung – ein dunkler Körper schießt durch die Luft und landet sechs Meter vor Gillis auf dem Boden. Schon duckt sich der Jaguar zum nächsten Sprung zusammen. Sein Rachen öffnet sich wie zu einem höhnischen Grinsen. Gillis sieht nur die schmalen, gelbfunkelnden Augenlichter vor sich – sieht nur dieses todbedeutende Glimmen und zielt mitten hinein – auf die Stirn.
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Der Jaguar springt, und zugleich knallen zwei Gewehre. Leise mischt sich das Schwirren von Bombas Bogensehne in den Schall der Explosionen. Wie es Bomba schon einmal erlebt hat, wird der Jaguar mitten im Sprung wie von einer unsichtbaren Dämonenhand ergriffen und hochgerissen. Der riesige Körper bäumt sich in der Luft auf und fällt zur Seite. Einige unvorsichtige Augenblicke lang erlahmt die Aufmerksamkeit der Männer. Sie schauen auf den Körper des toten Raubtieres und sehen nicht den Schatten, der einen Moment lang über ihnen schwebt – und dann mit dumpfem Geräusch zwischen ihnen zu Boden fällt. Instinktiv werfen sich Dorn und Gillis zur Seite. Sie schießen nach der ersten Schrecksekunde, und ihre Schüsse verfehlen beide das Ziel. Keine Zeit mehr, um zum zweiten Male abzudrücken! Sie springen zur Seite und packen die Gewehre als Keule beim Lauf. Auf wen wird sich die Bestie stürzen? Sie kauert nur drei Meter vor ihnen auf dem Boden, und die Eingeborenen sind weit zurückgewichen. Der Schwanz des Jaguars peitscht den Boden. Er scheint zu überlegen – er blinzelt –, und diese Sekunde des Zögerns wird ihm zum Verderben. Im gleichen Augenblick, als der Jaguar springt, hat Bomba blitzschnell seine Machete gezogen
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5 Abgeschlagen Wie ein Blitzstrahl fuhr die lange, rasiermesserscharfe Klinge durch die Luft und bohrte sich in die Kehle des Jaguars. Der Körper fiel zu Boden. Die Tatzen versuchten die Stelle zu erreichen, wo die Machete im Fell steckte. Wild und in ohnmächtigem Schmerz scharrten die Krallen über den Boden. Nur ein kurzer Todeskampf – dann streckte sich auch dieser Körper und blieb reglos dicht bei der anderen Tierleiche liegen. Nach den Minuten des Schreckens und der Erregung kam eine Erschlaffung über die Männer. Nur langsam näherten sie sich dem Jaguar. Mit dem Gewehrkolben berührten sie die Flanken und den Leib. Nichts bewegte sich unter dem gelblichen Fell mit den schwarzen Flecken. Die Machete hatte ganze Arbeit geleistet. Dorn sah als erster den Griff der Waffe und bückte sich. Als er zog, machte der Kopf eine schlaffe Bewegung, als wollte er sich mit hochziehen lassen. So fest steckte das Messer in der Kehle, daß Dorn mit beiden Händen am Griff ziehen mußte, um die Klinge aus der Wunde zu lösen. „Verstehst du das?“ fragte er Gillis. „Wie kommt das Messer in die Kehle der Bestie?“ Bomba trat näher heran. „Es gehört mir!“ „Deine Machete?“ fragte Dorn verwundert. „Ich habe dich nicht zustoßen sehen.“
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Bomba bückte sich, wischte die Klinge im Gras ab und steckte sie in die Lederscheide zurück. „Ich habe das Messer geworfen“, erklärte er. „Geworfen!“, wiederholte Dorn fassungslos. Er ließ sich ächzend auf den nächsten Baumstamm sinken und vergrub augenblickslang den Kopf in den Händen. Dann blickte er wieder auf. „Weißt du, was das bedeutet, Gillis? Weißt du, was der Junge getan hat?“ „Und ob ich das weiß“, murmelte Gillis mit unsicherer Stimme. „Der Junge wirft das Messer so sicher, wie er mit Pfeilen schießt. Er hat uns das Leben gerettet – mindestens einem von uns: soviel ist sicher!“ Wieder zog die Woge von Stolz und Freude durch Bombas Herz. Die Fremden hatten nicht viele Worte gemacht, aber er wußte, daß sie ihre Dankbarkeit nicht anders zeigen konnten. Für ihn war es genug. „Ich war froh, euch helfen zu können“, sagte er. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und im schwachen Licht des Lagerfeuers blinkten seine schönen Zahnreihen auf. „Jetzt müssen wir die toten Jaguare an den Waldrand schaffen, damit die anderen sie sehen.“ Gillis versuchte, Bombas Absichten zu erraten. „Nicht schlecht ausgedacht: die anderen Jaguare sollen ihre toten Gefährten fressen. Dann sind sie satt und haben keinen Appetit mehr auf Menschenfleisch.“ „Das wird nicht geschehen“, verbesserte ihn Bomba sanft. „Jaguare kämpfen miteinander, wenn sie böse sind, und sie töten sich sogar. Aber sie fressen einander nie. Wenn die lebenden Jaguare jetzt ihre Toten sehen, werden 45
sie allerdings wissen, daß hier kein guter Platz für sie ist. Sie erkennen die Gefahr und ziehen sich zurück.“ „Das klingt sehr vernünftig“, gab Gillis zu. „Ob es stimmt oder nicht – auf alle Fälle wird es so gemacht. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn der Junge nicht die Vorbereitungen für die Nacht getroffen hätte.“ Dorn saß noch immer auf dem Baumstumpf und starrte auf die toten Jaguare. „Ich kann mir gut vorstellen, was dann geschehen wäre“, fügte er mit dumpfer Stimme hinzu. Plötzlich sprang er auf die Beine und packte einen der Jaguare an. Die Eingeborenen eilten herzu und schleppten die Tiere bis dorthin, wo die Grenze von Licht und Dunkelheit sich verwischte. Dann kehrten sie schnell in den Schutzkreis des Lagers zurück. Die Geräusche des Dschungels waren zu voller Lautstärke erwacht. Da waren die singenden Töne der Insekten, das Zirpen der Zikaden, undeutliches Geschrei in der Ferne und hin und wieder ein scharfer, harter Laut, wie das Bellen eines Hundes. Über allem blinkten unerreichbar fern die silberschimmernden Muster der Sterne. Die Männer saßen mit Bomba dicht am Feuer, und jeder hing seinen Gedanken nach. In der Nähe waren keine verdächtigen Geräusche zu hören – nicht das gedämpfte Grollen und Schnauben der Riesenkatzen und auch nicht das fast unhörbare Tappen ihrer gepolsterten Pfoten. Nach einer Stunde reckte Bomba die Arme und gähnte. „Sie sind fort“, verkündete er. „Du bist sicher?“ fragte Gillis. 46
„Sie sind fort“, wiederholte Bomba, „und sie werden es auch den anderen mitteilen. Kein Jaguar wird zurückkommen. Ich möchte jetzt schlafen.“ Jetzt war es Gillis, in dem väterliche Besorgnis und Zärtlichkeit erwachten. Der große, ernste Gillis holte eigenhändig Decken herbei und wollte Bomba einwickeln wie ein Baby. Ein warmer Strom von Freude rann durch Bombas Herz, als er die Bemühungen sah. Trotzdem mußte er ein wenig lächeln. „Ich bin es nicht gewöhnt, mit Decken zu schlafen“, sagte er. „Sie würden mich stören. Ich danke sehr, aber ich möchte lieber so schlafen.“ Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er sich schon neben dem Feuer niederlegte und im nächsten Augenblick einschlief. Nur Gillis und Dorn konnten noch keinen Schlaf finden. Immer wieder zogen ihnen die Ereignisse der gefahrvollen Nacht durch den Sinn. Mit den Gewehren auf den Knien hockten sie so lange am Feuer, bis am östlichen Horizont das Silbergrau der Dämmerung den kommenden Morgen verkündete. Die Zeit der Gefahr war vorüber. Die beiden Männer stellten zwei Eingeborene als Wachen auf und wiesen sie an, das Feuer in Brand zu halten. Dann warfen sie sich müde auf die Decken und schliefen erschöpft ein. Bomba war der erste, der am Morgen erwachte. Er setzte sich aufrecht hin und schaute erstaunt um sich. Es dauerte eine Weile, ehe er sich in seiner Umgebung zurechtfand. Drüben im Gras erkannte er die Felle der toten Jaguare. Da
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kamen alle Geschehnisse des Abends und der Nacht in seine Erinnerung zurück. Sein Inneres war aufgewühlt. Er dachte daran, wie er seinen neuen Freunden geholfen hatte, und wie sie ihm Lob und Anerkennung gezollt hatten. Aber er hatte in den wenigen Stunden des Beisammenseins auch erkannt, wie weit er noch vom Leben jener hellhäutigen Männer entfernt war. Vieles fehlte ihm noch. Er beherrschte ihre Sprache nicht richtig, und er wußte nicht mit ihren Waffen und Gerätschaften umzugehen. Ein Traum hatte sich erfüllt. Er hatte die Kluft überschritten, die ihn von der eigenen Rasse trennte. Nun mußte er lernen. Er wollte Casson fragen – sich die fremden Dinge erklären lassen. Im nächsten Augenblick fiel ihm ein, daß Cassons Gedächtnis nicht in Ordnung war. Da war wenig Hilfe zu erwarten. Seine Grübelei wurde unterbrochen, als Gillis die Augen öffnete. „Wie fühlt sich unser Held heute?“ fragte der Große mit einem schelmischen Zwinkern seiner Augen. „Wer ist ein Held?“ erkundigte sich Bomba. „Es ist kein übertriebener Lobspruch, wenn man einen Jungen, wie dich, so nennt. Ein Held ist ein Mann oder ein Junge, der sich nicht fürchtet.“ Bomba errötete unter seiner dunklen Haut. „Aber ich habe mich letzte Nacht gefürchtet.“ Gillis nickte trübe. „Ich glaube, das haben wir alle getan. Dann sagen wir meinetwegen so: ein Held ist einer, der sich von der Furcht nicht überwältigen läßt, sondern kämpft und weiterkämpft, selbst wenn er seinen Tod vor Augen sieht.“ Er erhob sich 48
schnell, als wollte er den Eindruck der feierlichen Worte verwischen. „Auf jetzt!“ rief er mit veränderter Stimme. „Wir müssen bald weiter. Es ist schon spät.“ Dorn rieb sich schlaftrunken die Augen, als ihn sein Freund schüttelte. Er richtete sich gemächlich auf und gähnte herzhaft. Gillis ging zu den Eingeborenen und erteilte ihnen Befehle. Anders als in der Nacht herrschte jetzt wieder eine Stimmung der Fröhlichkeit und Geschäftigkeit. Die Eingeborenen schwatzten und lachten und bereiteten das Frühstück. Die Sonne erhob sich über der grünen Waldlinie. Noch war es nicht so drückend heiß wie am Mittag. Bei dem friedlichen Anblick der umhergaukelnden Schmetterlinge und bei dem neugierigen Geschnatter der kleinen Baumäffchen mochte man nicht glauben, daß diese bunte Waldlichtung vor wenigen Stunden ein Ort der Todesangst und Gefahr gewesen war. Bei dieser Mahlzeit hantierte Bomba sofort mit Messer und Gabel, und er fand, daß es ihm schon besser gelang, als beim ersten Mal. Dabei fühlte er die heimlich forschenden Blicke der Männer auf sich gerichtet. Nach dem Essen erfuhr er, warum ihn die beiden immer angeschaut hatten. „Wir müssen nun weiter“, begann Gillis zögernd. „Du weißt, Bomba, daß wir dich nur zu gern mit uns nehmen würden –“ „Ich möchte gern“, fiel ihm der Junge hastig ins Wort. Seine lebhaften, hellbraunen Augen verrieten mehr, als er aussprach. „Aber Casson ist alt und krank. Ich muß für ihn Nahrung beschaffen.“ Gillis winkte traurig ab.
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„Schon gut, mein Junge. Du wirst von uns nicht weiter gequält werden. Das ist nicht unser letztes Wort in dieser Sache. Eines Tages kommen wir selbst zurück, oder wir schicken jemand. Dein alter Casson und du, ihr werdet nicht mehr lange Gefangene des Dschungels sein.“ Er räusperte sich und wechselte einen Blick mit Dorn. „Da wäre noch etwas –“ begann er unsicher. „Noch etwas –“ Dorn fühlte, in welcher heiklen Lage sich sein Freund befand. Er wollte dem Jungen etwas als Geschenk anbieten, und er schämte sich, davon zu sprechen. Dorn hüstelte und blickte, während er zu reden begann, seitlich an Bomba vorbei. Auch ihm fiel es nicht leicht, sich dieser eigentlich nicht unschönen Aufgabe zu entledigen. „Mein lieber Junge“, sagte er mit etwas gekünstelt wirkender Heiterkeit. „Es ist unter guten Bekannten üblich, sich beim Abschied etwas zu schenken. Du hast uns sehr viel geschenkt: deine Hilfsbereitschaft und Tapferkeit. Wenn wir dir jetzt etwas anbieten, so ist das also nur ein Gegengeschenk, und du –“ Er sah, daß Bomba widersprechen wollte und winkte ab. „Du mußt es annehmen. Da gibt es keine Widerrede! Die Frage ist nur, was es sein soll? Essen kannst du dir selber besorgen, und für Geld wirst du keine Verwendung haben.“ „Was ist Geld?“ erkundigte sich Bomba. Das war natürlich für Männer, die aus der Zivilisation kamen, eine sehr lustige Frage. Sie lachten beide. „Eine der wichtigsten Sachen in der Welt außerhalb dieses Dschungels: das ist Geld.“ Dorn nahm ein Gold-
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stück aus der Geldbörse und ließ es auf dem Brett tanzen, das sie als Tisch verwendeten. „Oh“, rief Bomba entzückt, „es sieht hübsch aus!“ „Das finden viele“, meinte Gillis trocken. „Manche würden ihre Seele darum verkaufen.“ „Seele?“ Bomba wußte mit diesem so bedeutungsvollen Wort nichts anzufangen. Der Klang berührte ihn geheimnisvoll, ohne daß er einen Grund dafür angeben konnte. „Seele? Was ist das?“ „Du wirst dich zum Lexikon entwickeln“, murmelte Dorn spottlustig, zu Gillis gewandt. „Bei diesem lebenden Fragezeichen auf alle Fälle“, gab ihm Gillis recht. Dann wandte er sich in seiner halb ernsthaften, halb heiter spöttischen Art an Bomba. „Die Seele ist unser bester Teil, Bomba. Sie ist das, was den Menschen anständig, edel und uneigennützig macht. Wir ahnen nur ihr Vorhandensein, aber je größer unser Glaube an die wunderbare Kraft der Seele ist, desto gewisser spüren wir auch ihre Wirkung. Sie allein unterscheidet uns von den Tieren.“ Am Ende waren Gillis’ Worte immer ernster und feierlicher geworden. Als er schwieg, schaute Bomba nachdenklich vor sich hin – auf die verkohlten Reste des Lagerfeuers. „Habe ich eine Seele?“ fragte er leise. Gillis blickte ihm mit einem tiefen, durchdringenden Blick in die Augen. „Du hast eine Seele, Bomba, dessen bin ich sicher. Und ich glaube, daß du eine sehr anständige, tapfere Seele 51
hast.“ Er sprang wieder auf die Beine, als wollte er die Szene nicht zu feierlich werden lassen. „Wir sind vom Thema abgekommen“, rief er fröhlich, und begann in seinem Gepäck herumzusuchen. „Du sollst ein Geschenk erhalten. Ich will sehen, was dir am besten gefallen wird.“ Die beiden Männer führten in ihrem Gepäck allerlei Gegenstände mit, die als Tauschware für die Eingeborenen gedacht waren. Als Gillis eine Mundharmonika entdeckte, fiel ihm ein, wie gern er als Junge selbst darauf gespielt hatte. „Wie wäre es damit?“ fragte er und reichte Bomba das mit Nickelblech beschlagene Instrument hin. Bomba nahm es neugierig in die Hand. Das Ding fühlte sich glatt und schön an, und es glitzerte so herrlich. „Ich werde dir zeigen, wie man es macht“, sagte Gillis. Er nahm die Harmonika, setzte sie an die Lippen, und spielte eine einfache Volksliedmelodie. Zum ersten Male hörte Bomba diese Art von Musik. Für ihn in seinem Dschungelleben gab es keine andere Vergleichsmöglichkeit: er mußte an einen Vogel denken, der besonders schön und vielseitig zwitscherte und jubilierte. „Es singt“, rief er immer wieder. „Es singt – es singt! Wie ein Vogel!“ „Du kannst es selbst versuchen“, unterwies ihn Gillis. „Ziehe den Atem ein und blase ihn durch die Löcher zurück.“ Nun war es bestimmt keine großartige Melodie, die die Lippen des Jungen zum Tönen brachte. Ihm selbst erschien es jedoch, als hätte er wieder ein Stück von jener wunder52
samen, großen Welt erobert, aus der seine neuen Freunde kamen. Er konnte Musik machen wie sie. War das kein hinreißendes Ereignis? Gillis stand lächelnd da, und Dorn versuchte seine Rührung zu verbergen, indem er breit und verlegen grinste. Da stand dieser tapfere, kleine Mann, der sich in der Nacht wie ein Held benommen hatte, und er war gleichzeitig doch so jungenhaft, daß er sich rückhaltlos seiner Freude über eine Mundharmonika hingab. „Behalte sie“, murmelte Gillis schließlich. „Sie gehört jetzt dir.“ Bomba fand keine richtigen Worte. Es war das erste Geschenk, das er in seinem Leben erhalten hatte, und er ging nur immer von einem der Männer zum anderen und schüttelte ihnen die Hände so lange, bis sie vor Verlegenheit nicht mehr aus noch ein wußten. Gillis stürzte sich geradezu ins Zelt, als wollte er diesem Ansturm von Dankbarkeit entfliehen. Er kam mit einem neuen, fünfschüssigen Revolver hervor. „Eine Harmonika ist ein nettes Geschenk für einen Jungen“, sagte er zu Dorn. „Trotzdem habe ich das Gefühl, wir müßten dem Jungen auch etwas Nützliches für sein Leben im Dschungel geben.“ Dorn war sofort einverstanden. „Feuerwaffen scheinen seine große Leidenschaft zu sein“, sagte er. „Es ist gut, daß du daran gedacht hast.“ „Das Gewehr hat dir gut gefallen, nicht wahr?“ wandte sich Gillis an den Jungen. „Hier ist so etwas wie ein kleines Gewehr: ein Revolver. Es verrichtet den gleichen Dienst 53
wie die lange Waffe, wenn man richtig damit umzugehen versteht.“ Bomba war fassungslos vor Glück. „Ihr wollt ihn mir geben?“ fragte er leise und beinahe ängstlich. Er schien so leise zu sprechen, als wollte er sich selbst nicht aus einem schönen Traum aufwecken – aus einem Traum, dessen Einzelheiten zu schön waren, um Wirklichkeit zu sein. „Ja, wir wollen ihn dir geben“, bestätigte Gillis. „Und ich werde dir zuerst zeigen, wie er zu bedienen ist.“ Er zog die Patronenkammer heraus, und Bomba stöhnte auf, als erwachte er nun aus seinem schönen Traum. „Du hast ihn zerbrochen“, sagte er traurig. „Nichts dergleichen“, belehrte ihn Gillis und ließ die Patronenkammer mehrmals im Griff hin und her gleiten. „Ich muß dieses Stück herausziehen, wenn ich Patronen laden will.“ Langsam ließ er vor Bombas Augen fünf Patronen in die Kammer einschnappen. Dann schloß er die Waffe und suchte nach einem Ziel. Im Gras lagen noch die Jaguare, und er leerte die Waffe in einen der Kadaver. So schnell schoß er, daß es wie eine sich fortsetzende Explosion klang. „Wenn du dir jetzt den Jaguar anschaust“, sagte Gillis, „dann wirst du fünf Schußlöcher finden.“ Bomba lief durch das Gras, beugte sich nieder und fand auch bald die fünf Einschußstellen. Immer noch war für ihn eine Feuerwaffe mit der Gabe übernatürlicher Kräfte verbunden. In seine Freude über den Besitz des Revolvers 54
mischte sich Ehrfurcht und etwas Ängstlichkeit. Er traute sich die Fähigkeit nicht zu, mit dem Wundergerät umzugehen. „Laß mich auch fünf Löcher in den Jaguar schießen“, bat er Gillis. „Es ist ja dein Eigentum“, meinte der Mann lachend und lud den Revolver von neuem. Er zeigte ihm, wie er den Griff halten mußte, und in welcher Art er den Finger am Abzugshahn zu bewegen hatte. Trotzdem stellten sich die Männer vorsichtshalber hinter den jungen Schützen. Ein Revolver war schließlich kein Pfeil oder keine Machete. Ganz unrecht hatten sie auch nicht. Nur ein einziges Mal traf Bomba das Fell des toten Jaguars. Die anderen Patronen verfehlten ihr Ziel. Bomba hatte noch nicht gelernt, den Rückstoß der Waffe mit dem Armgelenk abzufedern. Gillis wollte ihm eine Enttäuschung ersparen und nickte anerkennend. „Ganz gut für den Anfang. Du wirst ein Meisterschütze werden, wenn du mehr Übung hast. Zu schade, daß ich dir keinen Unterricht geben kann. Du wirst deinen alten Freund Casson darum bitten müssen.“ Die Männer vergaßen nicht, Bomba auch viele Schachteln Patronen mitzugeben. Sehr sorgfältig verstaute er alles in seinem Beutel, und er kam sich dabei unermeßlich reich vor. Immer wieder nahm er die Waffe heimlich in die Hand und machte Zielübungen. Es war ein Gefühl, als deutete er mit einem Zauberstab überall hin. Dort saß ein großer Geier auf einem Zweig. Anscheinend wartete er schon auf seine Mahlzeit bei den toten Jaguaren. Bomba stellte sich vor, wie er den Vogel mit einem Schuß vom Baum 55
herunterholte. Mit einem Revolver wäre das auf diese Entfernung eine unmögliche Leistung gewesen. Doch diese Unwahrscheinlichkeit störte den Jungen nicht in seinem Glück. Dann kamen allerdings bange Minuten. Die Zelte waren bereits abgebaut und zusammengepackt. Die Eingeborenen hatten ihre Traglasten aufgeschnallt und nur die Feuerstelle, das niedergetretene Gras und die toten Jaguare zeugten noch von dem Biwak im Urwald. Dorn ging mit schwerfälligen Schritten hin und her und rückte fortwährend an seinem Gürtel herum, als paßte ihm irgend etwas an seiner Kleidung nicht. Der lange Gillis schielte von Zeit zu Zeit zu dem Jungen herüber und pfiff dann. Aber die Melodie klang alles andere als fröhlich. Schließlich war es doch so weit, daß sie nicht mehr verlegen und traurig umeinander herumschleichen konnten. Die Eingeborenen standen zum Abmarsch bereit da, und die Sonne stieg höher am hellen Tropenhimmel. Gillis war der erste, der dem Jungen die Hand zum Abschied hinstreckte. „Denke daran, daß du von uns hören wirst“, versuchte er Bomba und sich selbst zu trösten. „Wir kommen zurück oder wir schicken nach dir.“ Bomba nickte und schluckte dabei ein wenig. Er wollte etwas besonders Feierliches sagen. „Ich weiß, daß ihr wiederkommen werdet. Wenn es nicht so ist, will ich einen Besen fressen.“ Das war einer der Ausdrücke, die er von seinen neuen Freunden aufgeschnappt hatte. Er wußte, daß dies eine 56
besondere Bekräftigung für jede Behauptung war, und er nickte ernst dazu. Trotz ihres Kummers mußten die beiden Männer lächeln. „Du wirst keinen Besen zu fressen brauchen“, meinte Dorn leise, und er konnte nicht anders, er mußte einmal über die Locken des Jungen fahren. Dann drehte er sich aber sehr schnell um und schimpfte laut mit einem Eingeborenen, der sich das Gepäck nachlässig umgeschnallt hatte. Gillis legte nur einmal die Hand auf die Schulter, des Jungen und wandte sich dann ebenso schnell ab wie sein Freund. Bevor die Gestalten in das Dunkel des Dschungels eintauchten, wandten sie sich noch einmal zurück und winkten über die Lichtung herüber. Bomba winkte zurück und blickte ihnen nach, bis er nur noch das Knacken des Unterholzes und hin und wieder den Laut einer Indianerstimme hörte. Mit einem Male war die Welt sehr leer geworden für Bomba. Die Tränen, die er zuvor zurückgehalten hatte, rannen über seine braunen Wangen. Mit hängenden Armen stand er da. Die Dschungelwelt um ihn her war schön, üppig wuchernd und bunt – aber er hatte kein Auge dafür. Da waren die Silhouetten der schlanken Palmblätter, die sich scharf und spitz abzeichneten, da war das Schwirren der Kolibris, die libellenschnelle Bewegung ihrer Flügel. In der Höhe kreisten jetzt schon drei Geier. Ihr Flug war ein anmutiges, lautloses Spiel von Bewegung, von Fallen und Steigen, von Gleiten und langsamem Flügelschlag. Nichts davon sah Bomba jetzt.
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Erst nach längerer Zeit raffte er sich aus seiner kummervollen Trägheit auf. Er dachte mit plötzlich erwachendem Schuldbewußtsein an Casson. In Gedanken entschuldigte er sich bei seinem Beschützer. Lieber, alter Casson, dachte er, ich hätte dich beinahe vergessen. Und du bist doch immer noch der einzige, der mir bleibt. Bomba vergewisserte sich, daß er alle seine Geschenke verstaut hatte und machte sich auf den Heimweg. Der Schlaf und das gute Frühstück hatten ihn gekräftigt, und er kam in den ersten beiden Stunden gut voran. Wie am Tag zuvor bahnte er sich geschickt und behende seinen Weg. Streckenweit konnte er die oft begangenen Indianerpfade benutzen. Sein Schritt war lautlos und seine Augen nahmen alles wahr. Plötzlich stieß Bomba auf Asche. Dünne Rauchzungen stiegen noch von den verkohlten Zweigen auf, und Fleischreste lagen herum. Augenscheinlich hatten Indianer auf einem Jagdzug hier gerastet. Das geschah häufig genug und war für Bomba kein Grund zur Besorgnis. Wenn auch die Indianer in ihrer Nähe nicht besonders freundlich waren, so verhielten sie sich auch nicht feindselig. Die Anwesenheit der weißen Eindringlinge beunruhigte sie, und Casson und Bomba vermieden es, sich viel blicken zu lassen. Es war wie ein schweigendes Übereinkommen, sich zu dulden und sich nicht zu belästigen. Als ein Indianer Bombas Weg auf einem Querpfad kreuzte, fühlte sich der Junge zuerst nicht beunruhigt. Er sah den Eingeborenen näherkommen und traf mit ihm auf der Kreuzung zusammen. Der Indianer wandte sich um und starrte Bomba an. 58
Der Herzschlag des Jungen beschleunigte sich. Das Zeichen aus Ockerfarbe auf der Brust des Indianers leuchtete grell auf der dunklen Haut. Es war das Zeichen der Kopfjäger – des wilden Stammes vom Großen Wasserfall.
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6 In der Pumahöhle Kopfjäger! Der Name barg für Bomba die Ahnung von Tod und Vernichtung. Nie hatte er bisher selbst einem dieser gefürchteten Männer gegenübergestanden. Nun sah er den Indianer vor sich, und unwillkürlich glitt sein Blick zum Gürtel des Mannes. Da hing eine dieser schrecklichen Trophäen: ein Menschenkopf – auf die Größe eines Apfels zusammengeschrumpft – mit dem natürlichen, blauschwarzen Indianerhaar. Der Kopf eines Menschen, der einmal – wie Bomba selbst – lachen, singen und mit den Augen die Schönheit der Welt wahrnehmen konnte. Unwillkürlich glitt ein Schauder über die Haut des Jungen. Er mußte immer wieder auf diesen bräunlichen, winzigen Kopf mit der breiten Nase und den Wulstlippen blicken, dessen Augen ihn anzustarren schienen, obwohl kein Leben mehr in ihnen war. Als der Indianer eine Bewegung machte, pendelte der Kopf hin und her. Bomba ließ sich keine Erregung anmerken. Wer Furcht im Dschungel zeigte, war gleich verloren. Er lächelte freundlich und hob die Hände mit den Handflächen nach außen. Das war für die Urwaldbewohner das Zeichen für Friedlichkeit und Gutwilligkeit. „Gute Jagd, Bruder?“ Bomba benutzte einen der Eingeborenendialekte, die mit gewissen Abweichungen von allen Stämmen des Gebietes gesprochen und verstanden wurden.
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„Uff!“ brummte der Indianer ausdruckslos. Sein Blick ruhte hart, unfreundlich und glanzlos auf der Gestalt des Jungen. „Du bist ein weißer Junge?“ „Ja“, erwiderte Bomba. „Du lebst bei dem weißen Mann mit langem Haar, der mit dem Stock geht?“ fragte der Indianer mit seiner eigenartigen, halb quakenden, halb singenden Stimme weiter. Bomba nickte nur. „Weiße Männer sind schlecht“, sagte der Indianer. Die Hand, die den Speer hielt, machte eine drohende Gebärde. Die Spitze senkte sich langsam. „Dieser weiße Mann ist gut“, verteidigte Bomba seinen alten Beschützer. Der Indianer runzelte die Stirn. Er setzte den rechten Fuß in einer stampfenden Bewegung einen halben Schritt vor. Der Kopf an seinem Gürtel pendelte hin und her, und die toten Augen glotzten Bomba an. „Weißer Mann – böser Mann! Er ist gefährlich für unser Volk! Häuptling Nascanora ist zornig. Er fragte den großen Medizinmann, und der große Medizinmann sagte, daß viele Männer krank sein werden, solange der weiße Mann lebt.“ Das war es: die eingeborenen Medizinmänner fürchteten den alten Mann als Nebenbuhler bei ihrer Quacksalberei. Früher hatte Casson manchen Eingeborenen von Krankheiten und Wunden geheilt. Das sahen die Medizinmänner nicht gern, weil es ihnen einen Teil ihrer Macht raubte. Mit verzweifelter Beredsamkeit versuchte Bomba den Wilden von der Gutartigkeit des Alten zu überzeugen. Aber der Indianer wiederholte immer: 61
„Er ist ein böser Mann! Der Medizinmann sagt es, und der Medizinmann ist klug! Wir werden nicht Ruhe haben, bis der weiße Mann stirbt!“ Viele Gedanken huschten zugleich durch Bombas Sinn. Sollte er diesen Indianer töten, der seinem alten Freund Casson nach dem Leben trachtete? Worte hatten keinen Sinn mehr. Aber es war wohl ebenso sinnlos, einen der Kopfjäger umzubringen. Einige geschickte Fragen zeigten Bomba, daß der Mann nicht allein war. Ein Schuß aus seinem neuen Revolver würde überall gehört werden. Er mußte einen Kampf vermeiden und so schnell wie möglich zu dem schutzlosen Cody Casson zurückkehren. „Lebe wohl!“ verabschiedete er sich mit einem sorglos wirkenden Lächeln von dem Kopfjäger. „Gute Jagd!“ Der Indianer schaute verblüfft dem Jungen nach, der ihm den Rücken gewandt hatte und schnell auf dem überwachsenen Pfad seinem Blick entschwand. Die Hand, die den Speer hielt, holte zum Schwung aus. Aber es war zu spät. Vielleicht fürchtete er sich auch vor einem Kampf mit diesem unheimlichen und flinken jungen Weißen, der womöglich auch einen Zauber an sich hatte. Bomba begann zu eilen, sobald er außer Sichtweite des Kopfjägers war. Er mußte Casson so schnell wie möglich erreichen: das war sein einziger Gedanke. Die Sonne diente ihm als Wegweiser. Mitunter schaute er zu dem Baldachin von Blättern, Zweigen und Lianenschnüren empor, um die Richtung nicht zu verlieren. Kaum war Bomba einige Minuten gegangen, als er Schreie und Rufe im Urwald hörte. Sofort wußte der Junge,
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was geschehen war. Der Kopfjäger, mit dem er das Gespräch geführt hatte, rief jetzt seine Gefährten zusammen. Sie würden sich sammeln und wie ein Wolfsrudel seine Spur verfolgen. Immer ist im Dschungel der Vorteil auf der Seite des Verfolgers. Den Weg, den sich Bomba zum Teil erst mühselig mit seiner Machete bahnen mußte, fanden die Indianer fertig vor. Ihre scharfen Augen erkannten die Spuren an den gebrochenen Zweigen und abgeschlagenen Lianenstricken. Nur eine Frage der Zeit war es, wann ihn die Kopfjäger eingeholt haben würden. Die feucht-warme Dschungelluft trieb Bomba den Schweiß auf die Stirn. Der Arm, der die Machete führte, schmerzte ihn. Immer langsamer wurden seine Schläge. Er stolperte über eine Wurzel, fiel zu Boden und blieb sekundenlang liegen. Seine Widerstandskraft war fast am Ende. Dann dachte er an Cody Casson und sprang sofort wieder auf die Beine. Er mußte weiter – er mußte dem Alten helfen. Wie konnte er nur so eigennützig denken! Die kurze Rast hatte ihn etwas erfrischt. Ein Stück des Pfades war frei, und er lief zwischen bemoosten Baumstämmen dahin, bückte sich, um einen tiefhängenden Ast zu umgehen und glitt seitlich um ein Wasserloch herum. Die Stimmen seiner Verfolger waren jetzt deutlich zu hören. Wieder würde er eine List gebrauchen müssen, wenn er sich retten wollte. Er hielt Umschau und lauschte gleichzeitig. Lautlos huschte er dahin. Nur sein keuchender Atem verriet die Ermüdung. Er stellte sich vor, wie die Verfolger triumphierend aufheulen würden, sobald sie seine Gestalt erblickten. 63
In diesem Augenblick entdeckte er den Eingang zu einer schmalen Höhle. Das Loch war gut versteckt hinter Farnen und einem umgestürzten Baum. Wenn sich Bomba nicht zufällig gebückt hätte, wäre auch ihm die Höhle entgangen. Es war allerhöchste Zeit! Als Bomba sich erschöpft im Innern der Höhle auf den Boden sinken ließ, hörte er draußen die Schritte der Kopfjäger vorüberstampfen. Er atmete so leise wie es ihm möglich war und lauschte den Geräuschen nach. Sie entfernten sich und wurden leiser. Für eine Weile hatte er seine Verfolger getäuscht. Nicht lange – dann würden sie ihren Irrtum erkennen und zurückkehren. Der Eingang zur Höhle würde ihren scharfen Augen nicht entgehen. Bomba sah sich in der Höhle um. Sie hatte nur diesen Eingang und auf der Rückseite – von einem Felsen fast verborgen – einen schmalen Spalt. Es schien, als könnte kein Mensch dort hindurchgelangen. Bomba versuchte es. Sein schlanker, gewandter Körper zwängte sich seitlich durch den Spalt. Fast raubte es ihm den Atem. Dann stand er in einem schmalen Gang hinter dem Spalt und schöpfte Luft. Hier war er wie in einer natürlichen Festung. Von außen mußte die Höhle leer erscheinen, und kein Indianer konnte sich durch den Spalt zwängen oder einen Pfeil auf ihn abschießen. Nicht lange Zeit blieb Bomba für diese zufriedenen Überlegungen. Deutlich drang das Stimmendurcheinander der zurückkehrenden Kopfjäger an sein Ohr. Es war ein erregtes Streiten und Schelten. Sie waren unzufrieden mit der erfolglos verlaufenen Menschenjagd.
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Schritte näherten sich. Ein Kehllaut der Überraschung war vor dem Eingang der Höhle zu hören. Einen Augenblick lang schnatterten die Wilden laut durcheinander, dann trat Stille ein. Die Kopfjäger beratschlagten. Bomba wußte, daß sie sich von der Seite an die Höhle heranschleichen würden, weil sie seine Pfeile fürchteten. Sie konnten sich nun auch Zeit lassen: ihr Opfer war gefangen. In der Stille vernahm Bomba seinen dumpfen Herzschlag. Er saß zusammengekauert in der Dunkelheit des Höhlenganges und wußte, daß schwarze Augenpaare die Dämmerung im Vorderteil der Höhle zu durchdringen versuchten. Ein Zischen ertönte – und eine brennende Fackel fiel auf den Höhlenboden. Die Felswände wurden hell angeleuchtet, und der unruhige Feuerschein schimmerte in jeden Winkel. Es sah so aus, als wäre die Höhle leer. Anscheinend gab es doch einen Ausgang. Einige Indianer zwängten sich durch den Eingang, um nach dem vermeintlichen zweiten Ausschlupf zu suchen. Einer nahm die Fackel auf, um die Felswände abzuleuchten. In diesem Augenblick erschallte draußen ein Warnruf der Indianer. Seine Verfolger stürzten hinaus. Im Unterholz knackte es laut und an vielen Stellen. Bald war nichts mehr zu hören. Vorsichtig hob Bomba den Kopf und brachte ihn an den Spalt, durch den er hineingeschlüpft war. Vor dem Eingang der Höhle sah er eine schattenhafte Gestalt kauern. Jetzt wußte er, weshalb die Indianer in kopfloser Flucht in den Urwald hineingerannt waren. Dem einen Feind war Bomba entkommen, aber ein neuer war aufgetaucht. Dort draußen lag der Herr der Höhle. Bomba fühlte, wie die Furcht an sein Herz griff. Er war der Gefangene eines Pumas. 65
7 Belagerung Alle möglichen Gedanken zuckten durch Bombas Hirn. Was würde die Bestie tun? Sonnte sie sich vor der Höhle? Oder würde sie zum Schlafen in das Innere kommen? Dann war eine Entdeckung unvermeidlich. Ein Kampf mit dem Puma? Fast unmöglich in der Enge! Bomba konnte den Bogen nicht spannen, um einen Pfeil abzuschießen. Auch mit dem Revolver getraute er sich linkshändig nicht umzugehen, und mit der Rechten konnte er nicht durch die Öffnung feuern. Ein Trost war, daß der mächtige Körper des Pumas sich nicht durch die Spalte zwängen konnte. Der Puma würde also warten, bis Hunger und Erschöpfung seinen Gefangenen zum Ausbrechen treiben würden. In kurzer Zeit erwog Bomba alle Möglichkeiten eines jämmerlichen Todes. Plötzlich sah er, wie sich der Schatten vor der Höhle bewegte. Bomba zog seinen Kopf von der Spalte zurück und kauerte sich nieder. Sein Herzschlag ging so laut, daß er meinte, das Tier müßte dadurch allein auf ihn aufmerksam werden. Er hörte das patschende Geräusch der Tierpfoten auf dem Boden der Höhle, und der Raubtiergeruch drang scharf und beizend in seine Nase. Jetzt hatte das Tier die Nähe des Menschen gewittert. Die Nackenhaare sträubten sich und ein gefahrverkündendes, heiseres Knurren ertönte. Dann brüllte das Tier auf und sprang wütend gegen den Fels. Es versuchte, das Hin66
dernis beiseitezuschleudern und wiederholte den Ansturm mehrere Male. Endlich versuchte der Puma, sich durch die Spalte zu drängen. Zuerst schob und drückte er mit dem Kopf. Das mißlang. Jetzt schob er die Pranke durch die Öffnung. Die Krallen glitten am Fels entlang. So weit es möglich war, drückte sich Bomba eng an das Gestein. Dadurch entzog er sich mit knapper Not den Krallen. Noch einmal versuchte der Puma, ihn mit der Tatze zu erreichen. Dann ließ er davon ab und begann in der Höhle erregt auf und ab zu tappen. Allmählich beruhigte sich die Bestie. Sie tat das, was Bomba befürchtet hatte. Sie legte sich nieder und wartete. Die Zeit war ihr Verbündeter. Erbarmungslos und wachsam lauerte der Puma draußen auf das Opfer, das ihm nicht entgehen konnte. Sollte Bomba warten, bis das Tier einschlief? Unmöglich! Nie würde der Puma so fest schlafen, daß er sich ungesehen und ungehört an ihm vorbeischleichen könnte. Eine lange Zeit war schon vergangen ehe er sehr vorsichtig wagte, seine Augen an den Spalt zu bringen. Aber der Blick des Pumas war fest auf die Öffnung gerichtet. Doch bei diesem Anblick ließ Bomba unwillkürlich einen Laut der Freude und Überraschung hören. Ein Ausdruck von Erleichterung und von Entzücken verklärte sein Gesicht. Bomba öffnete den Mund. Von seinen Lippen kamen Laute, die wie Taubengurren klangen – sanft und schmeichelnd – eine seltsame Dschungelmelodie. Der Puma erhob sich sofort. Er kam näher und ließ ein friedliches Schnurren hören.
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„Polu!“ lockte Bomba leise. „Hier ist Bomba! Polu, dein Freund Bomba spricht zu dir!“ Das Schnurren wurde lauter. Der Puma rieb seinen Kopf an der Wand. Ohne zu zögern, zwängte sich Bomba durch den Spalt. Das wurde ihm von dem Puma erschwert, weil er mit zärtlicher Gewalt seinen Kopf an dem Körper des Jungen rieb. „Polu“, sagte der Junge immer wieder liebkosend. „Ich habe nicht gewußt, daß du es bist. Du hast mich sehr erschreckt.“ Noch lauter schnurrte Polu. Er rieb seinen Kopf so fest an Bomba, daß er ihn beinahe umgestoßen hätte. Dann legte sich der Puma auf den Rücken und wälzte sich wohlig vor Freude. Die Freundschaft zwischen Bomba und Polu bestand schon länger als zwei Jahre. Ein fallender Baum hatte damals das Tier getroffen, es festgeklemmt und eines seiner Hinterbeine gebrochen. Als Bomba den Puma entdeckte, wurde dieser von schrecklichen Schmerzen gequält. Er biß in wütender Qual nach dem Bein und versuchte, sich zu befreien. Ohne es zu wissen, besaß Bomba eine starke Einflußkraft auf Tiere. Manchen von ihnen konnte er sich furchtlos nähern; sie schienen seine Überlegenheit zu spüren – und ebenso sein Wohlwollen. Auch der Puma hatte das erkannt. Bomba brachte ihm Fleisch und Wasser und befreite ihn dann aus der Falle, die ihm die Natur selbst gestellt hatte. Das Tier ließ es sich gefallen, daß Bomba das verletzte Bein pflegte und verband. Noch viele Tage lang mußte
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Bomba Fleisch und Wasser zu der Stelle bringen, wo der verletzte Puma lag. Polu vergalt das dem Jungen später mit einer Zuneigung, die auch ein treuer Hund seinem Herrn gegenüber spürt. Wenn sich die Pfade der Beiden im Dschungel kreuzten, herrschte jedesmal Freude über die Begegnung. Es war mehr als einmal geschehen, daß Polu seinen menschlichen Freund vor wilden Artgenossen schützen konnte. Unmißverständlich und drohend trieb er jeden anderen Puma zurück, der Bomba etwas zuleide tun wollte. So war die Freundschaft des seltsamen Paares entstanden. In einer Aufwallung von Dankbarkeit mußte Bomba jetzt daran denken, daß sich die Hilfsbereitschaft, auch einem kranken und hilflosen Tiere gegenüber, gelohnt hatte. Immer wieder mußte er Polu über den Kopf streichen und ihn liebkosen. Es dauerte lange, ehe er sich mit einem zärtlichen Klaps verabschiedete und aus der Höhle kroch. Der Gedanke an den schutzlosen Casson trieb ihn zur Eile an. Polu, der Puma, schien von der schnellen Trennung durchaus nicht begeistert zu sein. Zutraulich wie ein Hund, der seinen Herrn beim Spaziergang gern begleiten möchte, lief er dem Jungen nach. Bomba mußte seine zärtliche Überredungskunst anwenden, um den vierbeinigen Freund von seinem Vorhaben abzubringen. Schließlich gehorchte Polu und kehrte bekümmert in die Höhle zurück. Nun hatte Bomba viel Zeit verloren. Der Aufenthalt in der Höhle hatte ihn etwas erfrischt, und er glitt schnell und leichtfüßig durch das Unterholz dahin. Bald blinkte der
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gewundene Lauf eines breiteren Flußes durch das Gebüsch. Bomba teilte es und verharrte am Ufer. Grünlich schimmerndes Wasser glitt an seinen Füßen vorüber. Wie schnelle Schatten huschten Fische unter der Oberfläche dahin. Am jenseitigen Ufer standen die Silhouetten mächtiger Bäume. Es war ein Bild von träumerischer Ruhe und Schönheit. So war es im Dschungel: Friede und Schönheit waren nur eine Täuschung. Dort drüben, die dunklen Striche auf der Sandbank im Fluß, das mußten Kaimane sein. Sie sonnten sich jetzt träge in der Mittagshitze. Bomba überlegte. Wenn er durch das Wasser schwamm, ersparte er sich einen weiten Umweg. Zu anderen Zeiten hätte er den Landweg gewählt, aber er dachte an Casson, der ihn brauchte. Er mußte es wagen, und er durfte hoffen, daß die Kaimane zu faul wären, ihn zu verfolgen. Lautlos schlüpfte Bomba in das Wasser. Er schwamm so ruhig, daß er kaum die Wasserfläche aufrührte. Sein Ziel war eine Landzunge schräg unterhalb. Dorthin trieb ihn die Strömung, wenn er geradeaus schwamm. Als er mehr als die Hälfte der Flußbreite überquert hatte, glaubte er sich schon in Sicherheit. Ein verdächtiges Plätschern hinter ihm ließ ihn den Kopf wenden. Ein Körper teilte die Oberfläche des Wassers. Breit und häßlich – mit den Stirnwülsten und tückischen Augen, mit dem zahnbewehrten Riesenrachen – tauchte das triefende Haupt eines Kaimans aus dem Wasser.
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8 Der Rachen des Todes Für kurze Zeit lähmte der Anblick des Kaimans Bombas Entschlußkraft. Wieder war er nahe daran, den Kampf aufzugeben – sich sinken zu lassen – in das grüne, gurgelnde Wasser hinein – sich dahintreiben zu lassen, bis ihn die Kiefer des Krokodils packten. Sein Selbsterhaltungstrieb erwachte schnell. Seine ganze Kraft legte er in den Abstoß der Beine und in den kräftigen Zug der Arme. Das Ufer war noch weit. Kaum eine Chance, es rechtzeitig zu erreichen. Trotzdem wollte Bomba bis zum letzten Atemzug um sein Leben kämpfen. Seine scharfe Machete, dieser treue Helfer in mancher Not, konnte ihm hier nichts nützen. Ein Biß des Kaimans würde ihm Arm oder Bein abtrennen, ehe er sich verteidigen konnte. Während Bomba mit schnellen, zügigen Bewegungen dahinschwamm, tauchte immer wieder das Ufer vor seinem wasserumflorten Blick auf. Das grüne, spitze Schilf bewegte sich im sanften Windzug hin und her – Wasservögel flatterten auf –, und aus dem Gezweig einer Araukarie leuchtete das bunte Gefieder eines Kakadus. Der Anblick prägte sich wie bei einem Sterbenden in Bombas Gehirn ein. Sein Leben zog an ihm vorüber – die Kämpfe und Freuden. Ein Gedanke der Sehnsucht und des Kummers glitt zu Casson hin, der nun allein sein würde.
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Bombas Armmuskeln schmerzten, und der Atem fuhr röchelnd durch die Kehle. Nie würde er das Ufer erreichen, dachte er. Nie wieder Gillis und Dorn sehen. Er durfte nicht weiter eindringen in das Wunderreich der Zivilisation. Als er einmal den Kopf wandte, sah er, daß der Kaiman nähergekommen war. Instinktiv zog Bomba die Beine näher an den Leib. Eine Hand suchte nach dem Messergriff. Auf alle Fälle wollte er sein Leben teuer verkaufen. Seitlich trieb etwas auf ihn zu, das sah er trotz seiner Erregung. Ein zweiter Kaiman? Etwas Dunkles ragte aus dem Wasser. Bomba änderte die Richtung und schwamm darauf zu. Was es auch sein mochte, vielleicht war es ein Rettungsring, den ihm das Schicksal – wie schon oft – zuwarf. Jetzt nahm er noch einmal alle Kräfte zusammen. Wenige Stöße, und er hatte den dahintreibenden Gegenstand erreicht. Es war das Wrack eines Floßes – an einer der höhergelegenen Stromschnellen zerschmettert und nun langsam flußabwärts treibend. Nur zwei Stämme hingen – mit Schlingpflanzen verbunden – noch aneinander. Er wollte sich hinaufschwingen und fiel kraftlos ins Wasser zurück. Seine Muskeln versagten den Dienst. Noch einmal ergriffen seine Hände das glitschige Holz. Hinter sich hörte er das leise Rauschen des Kaimans. Mit letzter Kraft zog sich Bomba hinauf und blieb einen Augenblick lang erschöpft auf den Baumstämmen liegen. Wütend schleuderte sich der Kaiman gegen das Wrack. Er wiederholte seinen Angriff, und Bomba mußte sich festhalten, um nicht ins Wasser abzurutschen. Jetzt versuchte die Bestie, selbst auf die Baumstämme zu klimmen. Unter 72
dem Gewicht des schweren Körpers tauchte das Wrack halbwegs ins Wasser ein. Ein dünner Querstamm war noch da, der nur lose befestigt schien. Bomba zerrte daran und bekam ihn frei. Jetzt hatte er eine primitive Waffe, um den Kaiman abzuschlagen. Mit aller Kraft schmetterte er beim nächsten Angriff die natürliche Keule auf die flache Stirn der Bestie. Der Kaiman schnaubte vor Wut und Schmerz und fiel in das Wässer zurück. Er schwamm noch um das treibende Wrack herum, als suchte er einen neuen Angriffspunkt, aber der Mut hatte ihn wohl verlassen. Langsam ließ er sich in die Tiefe sinken. Bomba sank auf die Baumstämme. Die Keule entglitt seinen Händen, rollte ins Wasser und trieb davon. Minutenlang kauerte der Junge tatenlos da. Auf seinem gebräunten Körper glänzten die Wassertropfen. Dieser kräftige, muskulöse Leib hätte ebensogut einem Eingeborenen gehören können. Vom Ufer aus wäre es jedem so erschienen, als ließe sich ein Indianer auf Baumstämmen flußabwärts treiben. Nur der träumerische, hellbraune Blick zeigte mehr als die primitive Daseinsbegierde eines Eingeborenen. Da war etwas in Bombas Inneren, das ihn immer wieder dazu antrieb, mit Sehnsucht an eine andere Welt zu denken. Jetzt begann das wieder – kaum daß er einer Todesgefahr entronnen war. Er hockte auf dem Wrack und war glücklich. Das Leben war ihm neu geschenkt. Er durfte nun doch Gillis und Dorn wiedersehen – er durfte törichte und gescheite Fragen an sie richten –, durfte ihr gutmütiges Lachen hören und ihr Lob, das sein Herz erwärmte.
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Auch das Pflichtgefühl kehrte zurück. Casson wartete auf ihn! Wie oft hatte er sich das heute schon vorsagen müssen, um seine erlahmenden Kräfte anzuspornen. Sein Blick verlor den Schimmer von Träumerei und wurde wach und klar. Er ruderte mit den Beinen auf jenen Vorsprung zu, den er als günstigen Landeplatz entdeckte. Bald fühlte er Grund unter den Füßen. Er sah den Sand am Boden des Flusses und ergriff einen überhängenden Zweig, um sich ans Ufer zu ziehen. Noch eine Gefahr galt es zu überwinden, bevor er die Hütte erreichen konnte. Vor ihm dehnte sich ein Ygapo, eine Sumpffläche, die viele Meilen breit war. Wieder ließ ihn die Eile jede Vorsicht vergessen, und Bomba beschloß, den Sumpf zu durchqueren, um sich einen großen Umweg zu ersparen. Er haßte den Sumpf. Ihm erschien er als ein Gebiet, das von bösen Geistern bewohnt war. Die Crabwood-Bäume standen wie große, unheimliche Gestalten in Gruppen da und warfen ihre Schatten auf das moorige Wasser. Farne, so hoch wie Bäume, ragten aus dem Sumpf und neigten sich, als wollten sie mit vielen klammernden Armen jeden ergreifen, der in ihre Nähe käme. Das tote Laub raschelte unter den Füßen. Trügerisch bedeckte es den Schlamm. Hier gab es kein schwatzhaftes Affenvolk, keine bunten Papageien, die sich auf den Zweigen wiegten. Es war wie eine Welt des Todes. Auf dem fast unsichtbaren Pfad eilte Bomba voran. Er hielt den Griff des Revolvers umklammert. Hier gab es zwar keine Raubtiere, die schattengleich von einem Baum
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herabspringen konnten; dafür mußte er aber gewärtig sein, in jedem Augenblick ein Reptil auftauchen zu sehen. Nichts hemmte seinen Schritt. Er suchte das braune Schlammwasser nach verdächtigen Blasen und Strudeln ab, ohne etwas zu entdecken. Fast hatte er den Ygapo durchquert, als ihm Brandgeruch in die Nase stieg. Bomba blieb stehen. Feuer! Lagerfeuer von Kopfjägern – oder was mochte es sein? Der Wind trieb ihm den Rauch entgegen. Die ganze Luft war erfüllt mit beißendem Qualm. Das konnte nie von einem Lagerfeuer kommen. Bomba hatte das Ende des Ygapo erreicht und eilte vorwärts. Er ahnte, daß Casson in Gefahr war. Irgend etwas brannte in der Richtung, in der die Hütte lag. Der Pfad war ihm vertraut, und Bomba rannte ihn entlang. Noch konnte er die Hütte auf der Lichtung nicht sehen. Aber der Qualm drang ihm in die Lungen, und Bomba wußte jetzt sicher, daß er von der Lichtung herübertrieb. Als er um die letzte Biegung des Pfades eilte, sah er die Flammen. Aus der Hütte loderten Feuerzungen empor.
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8 Aus den Flammen Bomba eilte auf die Hütte zu. Sehnsucht und Angst brachten ihn dazu, daß er im Laufen dauernd den Namen seines alten Lehrers ausrief. Als er nahe genug war, hörte er ein unterdrücktes Stöhnen. Es kam aus der Hütte. Nun hieß es rasch handeln. Bomba riß das Tuch vom Leibe. Es war noch naß vom Schwimmen, und er band es sich vor Nase und Mund. Von der Tür der Hütte leckten ihm Flammenzungen entgegen. Er sprang hindurch und drang in das raucherfüllte Innere. Seine Augen schmerzten und tränten. Er tappte wie ein Blinder umher und schrie dabei mit heiserer Stimme. Die Antwort war nicht zu hören, aber plötzlich berührte Bomba den Körper des Alten. Er griff blindlings zu und hob Cassons Körper auf. Keuchend, geblendet und taumelnd wankte er in die Richtung, in der er die Tür vermutete. Er prallte gegen die Wand und stolperte zurück. Über ihm fraß und knisterte der Brand im Gebälk. Die Füße tasteten sich vorwärts. Einmal riß er trotz der heftigen Schmerzen die Augen auf, und er erkannte im wogenden Qualm einen matten Lichtschimmer. Dort mußte die Tür sein. Er strauchelte, richtete sich wieder auf und sprang mit einem verzweifelten Satz mit seiner Last durch den Flammenriegel ins Freie. Trotz seiner Erschöpfung lief Bomba noch viele Meter von der Hütte fort. Dann legte er Casson sanft nieder, riß sich das versengte Tuch vom Gesicht und beugte sich über 76
den Alten. Die Augen waren offen und blickten ihn dankbar und bittend an. „Ich bin gesund“, flüsterte der Alte kaum hörbar. Er richtete sich auf den Ellbogen auf und deutete auf die Hütte. „Rette die Hütte“, bat er. „Ich helfe.“ Bomba zwang ihn mit sanfter Gewalt zum Liegenbleiben. „Ich werde löschen“, sagte er und versuchte mit seinem brandversengten Gesicht zu lächeln. „Bleibe ruhig liegen. Ich schaffe es allein.“ An einer Wand der Hütte und dem seitlichen Teil des Dachgebälks wütete der Brand am stärksten. Bomba eilte mit dem Eimer zum Bach, der wenige Meter hinter der Hütte vorbeifloß, und goß Wasser auf den vom Brande unberührten Teil der Hütte. Unermüdlich rannte er hin und her. Aber was waren ein paar Eimer Wasser gegen die Gewalt des Feuers! In den trockenen Stämmen fanden die Flammen gute Nahrung. Es sah so aus, als führte der hin und her rennende Junge einen hoffnungslosen Kampf gegen das flammende Element. Nicht nur die Hütte war in Gefahr – auch der Dschungel konnte Feuer fangen. Trotz seiner wahnwitzigen Hast fand Bomba noch Zeit, an die Gummibäume zu denken, die dort im Wald aufragten. Auch das hatte er gestern von Gillis und Dorn gelernt: sie besaßen einen großen Wert in der Welt der hellhäutigen Menschen. Bomba wußte nicht, daß Millionen von Gummibäumen im Amazonasgebiet wuchsen. In einer rührenden Art von Dankbarkeit wollte er etwas für seine weißen Freunde tun.
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Mit der Machete riß Bomba schließlich die brennende Wand nieder. Mit Palmlaubbesen versuchte er dann, das Feuer auszuschlagen. Ein Teil der Hütte war abgebrannt; das Feuer schwelte noch zwischen den Balken, aber allmählich hatten Bombas Bemühungen Erfolg. Unermüdlich arbeitete er weiter. Es galt den Rest der Hütte zu retten, das einzige Heim, das er bisher gekannt hatte. Nur noch dünne Rauchschwaden stiegen von halbverkohlten Balken auf, als Bomba sich endlich neben Casson auf den Boden sinken ließ. Er war so erschöpft, daß er nur mit einem schwachen Lächeln der Freude auf den Wald deuten konnte. „Was ist dort?“ fragte Casson. „Die Bäume“, flüsterte Bomba. „Ich habe die Gummibäume gerettet.“ Der Alte schaute ihn verwirrt an. „Gummibäume?“ fragte er. „Was nützen sie uns?“ „Die weißen Männer suchen Gummibäume. Mit den Caboclos sind sie unterwegs. Für sie habe ich die Bäume gerettet.“ Casson richtete sich auf und blickte den Jungen an. Die Worte hatten wohl etwas in ihm aufgerührt – eine verschüttete Erinnerung an das frühere Leben. Zugleich sah er, daß Bombas Haut an vielen Stellen verbrannt war. Das lenkte seine Gedanken ab. Fürsorglich wollte er aufstehen, aber er sank ächzend zurück. „Deine Haut“, murmelte er. „Du wirst Blasen bekommen.“
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Schmerzen verschiedener Art hatte Bomba schon kennengelernt. Gleichgültig betastete er mit den Fingerspitzen die Brandstellen an den Armen. Dann sah er, daß Casson selbst vom Feuer übel zugerichtet war, und er sprang auf die Füße. Ohne ein Wort eilte er zum Dschungelrand und kehrte nach kurzer Zeit mit einer Handvoll Flußschlamm zurück. Die breiige Masse schmierte er dick auf Cassons Arme und Gesicht. Der Alte hatte sich zurückgelegt und ließ sich die Behandlung ruhig gefallen. Einige Male seufzte er, als löschte der heilkräftige Schlamm sofort alle Schmerzen aus. Noch einmal ging Bomba zum Waldrand und holte Schlamm für die eigenen Wunden. Er ließ sich neben dem Alten zu Boden sinken und bestrich sorgfältig die Brandstellen. Nun fand er Ruhe, um die beschädigte Hütte zu betrachten. „Viel auszubessern“, sagte er. „Ich werde mich bald an die Arbeit machen.“ Cody Casson machte nur eine leise Handbewegung, die seine eigene Hilflosigkeit andeuten sollte. Tatsächlich war er auch viel zu schwach, um mit Bomba zu arbeiten. Wie er da im Gras lag, konnte er gut für einen siebzigjährigen Greis gehalten werden. Viel mochte an diesem Alter auch nicht fehlen. Früher einmal mußte Cody Casson ein gutaussehender Mann gewesen sein. In das edelgeformte Gesicht hatte freilich das Alter tiefe Furchen geschnitten. Die Züge hatten dennoch nichts von dem Ausdruck stiller Güte und Vornehmheit verloren. Nur die Augen, die einmal von einem leuchtendklaren Blau gewesen waren, schimmerten
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jetzt in dem matten, flackernden Glanz der Bewußtseinstrübung. Bombas Bemerkung von den Gummibäumen und den weißen Männern hatte etwas in Cassons Gehirn in Gang gebracht. Es war so, als hätte der Junge an die Tür der Erinnerung geklopft. Nun versuchte der Alte sie zu öffnen. Sein Blick war etwas lebhafter geworden, und er schaute Bomba mit einer Art bittender Neugierde ins Gesicht. „Vorhin –“ Der Alte suchte nach Worten. „Vorhin – hast du etwas gesagt. Was war es? Du sprachst von weißen Männern? Wie kamst du darauf?“ Widerstreitende Empfindungen waren in Bombas Herzen. Was konnte er seinem alten Lehrer von der Begegnung erzählen, ohne ihn zu kränken und unglücklich zu machen? Casson würde fürchten, daß ihn Bomba verlassen könnte. Diesen Kummer wollte ihm Bomba nicht bereiten. Worte drängten sich ihm auf die Lippen, ohne daß er sie aussprechen mochte. Als Kind der Wildnis war er mit der Sprache nicht vertraut genug. Andererseits waren seine Gefühle um so lebhafter und echter. Wie sollte er Casson erklären, daß er sich nach der Welt der Zivilisation sehnte – nach Männern wie Gillis und Dorn –, nach den Wundern, von denen ihm die Begegnung im Urwald eine Winzigkeit offenbart hatte? In seiner schlichten Art berichtete Bomba dem Alten nur die Tatsachen von der Begegnung auf der Urwaldlichtung. Er erzählte, wie ihn die Gewehrschüsse auf die Fährte der Weißen gebracht hatten – wie er zu ihnen geeilt war, ihnen geholfen hatte, die hungrigen Jaguare zu vertreiben, und
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wie ihn Dorn und Gillis am Morgen so reich beschenkt hatten. Voller Stolz zeigte er seine Schätze. Er entlockte der Harmonika einige melancholische Töne und lud dann den Revolver. Schüchtern hielt er ihn Casson hin. „Gillis und Dorn sagten mir, du würdest mir zeigen, wie ein Revolver zu benutzen ist. Sie haben mir auch viele Patronen geschenkt.“ Er holte die Patronenschachteln hervor und schichtete sie im Gras auf. Casson beobachtete seine Vorbereitungen mit einem Ausdruck von Begierde und Erregung. Sein Atem ging schwer, als bereitete ihm das Denken körperliche Schmerzen. Bomba beugte sich besorgt nieder. „Du bist krank“, sagte er. „Der Brand hat dich erschöpft. Ich werde im Ygapo Kräuter holen.“ Als er sich zum Gehen wandte, griff Casson nach seinem Arm und zog ihn nieder. Er blickte den Jungen durchdringend an, als wollte er ihm bedeutsame Dinge sagen. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, aber immer wieder schien er nicht die richtigen Worte zu finden. Er ließ den Blick umhergleiten. Dort drüben stand die rauchende Ruine der Hütte – dahinter erhob sich das grüne Dickicht des Dschungels. Überall, wo er hinblickte, sah er – wie Gefängnismauern – die wuchernden Pflanzenwände des Urwaldes vor sich. Ihm wurde klar, daß nicht nur er selbst, daß auch Bomba ein Gefangener des Dschungels war. Und er fühlte so etwas wie Schuldbewußtsein. „Ich bin nicht krank“, murmelte er. „Nein, Bomba, du mußt mich nicht pflegen. Und du hast recht: du bist ein 81
Weißer, du gehörst in eine andere Welt. Du solltest nicht im Dschungel lebendig begraben sein. Ich hätte längst daran denken müssen. Es ist gut, daß du mich daran erinnert hast – sehr gut –“ Der Alte versank in ein düsteres Schweigen, und Bomba wartete. Er hoffte, jetzt alle die Fragen beantwortet zu bekommen, die ihn schon lange beschäftigten. Da waren die vielen Worte, die Dorn und Gillis gebraucht hatten: Seele – das geheimnisvolle, hellklingende Wort! Amerika! Europa! England! Das Meer! So viele Worte – so viele wundersame Begriffe und Vorstellungen. Bomba wollte nun selbst mit Fragen beginnen, aber der Alte winkte ab und murmelte zuerst unverständlich und dann deutlicher. „– warte, warte – ich versuche, mich zu erinnern – zu erinnern. Da ist – da ist –“ Er stöhnte auf und verbarg den Kopf in den Händen. „Oh, diese Tür – die verdammte Tür in meinem Kopf! Ich kann sie nicht aufstoßen.“ Er holte tief Atem und starrte über den Dschungelrand hinweg zum Himmel. „Für dich will ich mich erinnern, Bomba“, flüsterte er aufgeregt. „Du sollst alles wissen. Ich schulde dir diesen Dank. Aber hilf mir, die Tür aufzustoßen – hilf! Da ist Bartow – Bartow! Und Laura! Oh, liebe Laura! Wohin – wohin? Nicht doch – nicht!“ Casson ließ den Kopf zurücksinken und stöhnte. Sein Blick war jetzt leer und stumpf. „Fort“, murmelte er. „Die Tür ist zu, Bomba!“
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10 Der Warnungsschrei Noch immer wartete Bomba auf eine Antwort. Sein Herz war voll, aber er wagte den Alten nicht zu stören. Lange saß er neben ihm, bis er erkannte, daß Casson zu matt und kraftlos war, um noch weiterzusprechen. Die Enttäuschung war groß für den Jungen, aber er zwang sie tapfer nieder. Aus Laub machte er ein Kissen für Casson und bettete seinen Körper in eine bequeme Lage. „Ruhe dich aus“, sagte er sanft. „Ich werde jetzt Kräuter holen.“ Casson war zu schwach, um zu widersprechen. Er lag erschöpft da und starrte vor sich hin. Vielleicht bemerkte er nicht einmal, daß Bomba in seinem leichten, schnellen Schritt davoneilte. Bomba ging bis zum Rande des gefürchteten Sumpfes und sammelte Kräuter, die auf der trügerisch dünnen Erdschicht über dem Moorgrund wuchsen. Als er zurückgekehrt war, legte er die Heilkräuter in einen Topf, goß Flußwasser dazu und stellte den Topf auf einen Haufen trockener Zweige, den er aus kreuzweise aufgeschichteten Ästchen errichtet hatte. Nun holte er die geschenkten Streichhölzer hervor und versuchte, eins zu entzünden. Mit einem Gefühl von Vorfreude strich er die Kuppe über einen Stein. Im Lager der Weißen war es für ihn ein immer neues Wunder gewesen – das Aufzischen der kleinen Flamme zu beobachten. Doch diesmal versagte das 83
Streichholz. Mehrmals wiederholte Bomba den Versuch. Schließlich setzte er sich nieder und starrte kummervoll auf die Hölzchen, die in seiner Hand nicht ihre Wunderarbeit verrichten wollten. Es blieb ihm nichts übrig, als erst einmal mit seinem bewährten Gerät eine Flamme zu erzeugen, damit er die Medizin für Casson kochen konnte. Aber er fand keine Ruhe. Was war los mit den Streichhölzern? Büßten sie ihren Zauber ein, weil ein unwissender Junge sie benutzte? War er doch noch nicht weit genug in die Welt der Zivilisation eingedrungen, um an ihren Wundern teilzuhaben? Bomba quälte sich selbst mit diesen törichten Gedanken, ohne die wahre Ursache des Versagens zu erraten. Gillis und Dorn hatten vergessen, ihm zu sagen, daß die Streichhölzer bei der Berührung mit Wasser für eine Weile unbrauchbar werden. Durch den Duft der kochenden Kräuter wurde Bomba von seinen kummervollen Gedanken abgelenkt. Er warf die Streichhölzer beiseite und beugte sich über den Topf. Von Candido, einem halbverrückten Caboclo, hatte Bomba etwas von der Geheimwissenschaft der Kräutermedizin gelernt. Candido pflegte ausgestoßen und einsam umherzuwandern und sich von Schildkröteneiern zu ernähren oder von den Fischen und dem Wild, das er mit seinem Pfeil erlegen konnte. Candido war der einzige Eingeborene gewesen, der zu Bomba wirklich freundlich gewesen war. Er hatte dem Jungen gezeigt, wo er am Flußufer und im Sumpf die Kräuter finden konnte und wie er sie zubereiten mußte.
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Diese primitive Kräutermedizin wandte Bomba seither als Allheilmittel an. Wirklich hatte das Kraut bemerkenswerte Eigenschaften. Es kräftigte und stärkte den geschwächten Körper. Seitdem Bomba es einmal als innerliche Medizin gegen einen Schlangenbiß verwandt hatte und genesen war, glaubte er unerschütterlich an die Wirkung des Trankes. Als der Sud genügend eingedickt war, machte Bomba eine Blättertasse und goß etwas von der dampfenden Flüssigkeit hinein. Er richtete Casson zu sitzender Stellung auf, hielt ihm die selbstgemachte Tasse an die Lippen und flößte ihm vorsichtig Schluck um Schluck des Getränkes ein. Er redete dem Alten dabei zu wie einem Kind, das bittere Medizin schlucken muß, und Casson trank gehorsam die Tasse leer. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sich der Alte sichtbar belebte. Er bestand darauf, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, aufrecht zu sitzen, und in dieser Stellung schaute er zu, wie Bomba die verkohlten Balkenreste wegräumte und den heißen Schutt beiseite schaffte. Die Hütte wollte er in den nächsten Tagen ausbessern. Für diese Nacht mußte es genügen, wenn er ein Bett für Casson errichtete. Dann hatte er noch für eine ausreichende Menge Holz zu sorgen, um bei der Nacht die Raubkatzen durch Feuer abzuschrecken. Als die Dämmerung kam, hatte Bomba seine Arbeit geschafft. Er schaute sich um, als wollte er prüfen, wieviel Zeit ihm noch bliebe, um Nahrung herbeizuschaffen. Er griff nach Pfeil und Bogen und wollte davoneilen. Hinter sich hörte er Cassons schwache Stimme, die ihn zurückrief. 85
„Du brauchst nichts zu jagen“, sagte der Alte. „Dort drüben in der Asthöhle sind Schildkröteneier. Ich fand sie am Nachmittag, als ich Ciganas beobachtete – du weißt doch: die großen, braunen Vögel mit der prächtigen Federkrone.“ Bomba setzte einen zweiten Topf mit Wasser auf das Feuer und warf die Schildkröteneier hinein. Dann war diese Mahlzeit fertig, und Bomba setzte sich neben seinen alten Freund am Boden nieder. Jetzt erst fühlte er, wie müde und hungrig er war. Schildkröteneier waren nach den Begriffen des Dschungels eine Delikatesse, und der Junge war dankbar, daß er nicht mehr auf Jagd gehen mußte. Er aß mit großem Appetit mehrere Eier. Nach Dschungelart schlug er die Spitzen ab und drückte dann die Schalen mit beiden Händen, bis Eidotter und Eiweiß durch die Öffnung glitten. Nach dem Essen fand Bomba zum ersten Male Zeit, mit Casson über den Hüttenbrand zu sprechen. Bisher hatte er nur arbeiten müssen, um die Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Jetzt fiel ihm ein, daß bisher noch kein Wort über die Ursache des Brandes gefallen war. „Du wärst in der Hütte verbrannt, wenn ich nicht gekommen wäre“, begann Bomba. „Warum hast du dich nicht ins Freie gerettet?“ Casson schüttelte betrübt und verwirrt den Kopf. Mit der Hand fuhr er sich über die Stirn, als wollte er irgendeinen Vorhang zur Seite schieben, der seinen inneren Blick beengte.
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„Wenn ich das wüßte“, murmelte er. „Ich bin am Tage weit durch den Dschungel gegangen. Als ich zurückkehrte, war ich sehr müde und mußte mich sofort zur Ruhe legen. Als ich aufwachte, war die Hütte voller Rauch. Ich wollte aufstehen, aber ich hatte keine Kraft dazu.“ „Der Rauch wird dich betäubt haben“, vermutete Bomba. Casson wiederholte die Geste der Verwirrung und Ungewißheit. „Das war es nicht. Ich konnte klar denken und auch genug sehen. Die Schwäche kam von innen her. Als ich so dalag, wußte ich, daß ich ohne deine Hilfe verbrennen würde.“ Bomba senkte das Gesicht, um dem Alten nicht zu zeigen, wie viele Sorgen er sich um ihn machte. Casson war kränker und schwächer, als er geglaubt hatte. In Gedanken schalt Bomba mit sich selbst und nahm sich das Versprechen ab, gut für seinen alten Freund zu sorgen. Er erinnerte sich an sein Abenteuer mit den Kopfjägern und ergriff beschwörend den Arm des Alten. „Du darfst nie mehr allzuweit in den Dschungel gehen“, sagte er warnend. „Die Kopfjäger vom Großen Wasserfall sind in der Nähe. Du bist in großer Gefahr, sobald ich nicht in deiner Nähe bin.“ Ein Lächeln der Gleichgültigkeit glitt über Cassons faltiges Gesicht. In seinem Alter kam ihm das Leben nicht mehr als besonders wertvoll vor. „Ich fürchte mich nicht“, sagte er schlicht.
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„Aber ich fürchte mich für dich!“ rief Bomba mit kummervoller Empörung. „Diese Kopfjäger sind Bestien. Weil einige ihres Stammes krank sind, meinen sie, du habest einen bösen Zauber auf sie ausgeübt. Erst wenn du tot bist – glauben sie – werden ihre Männer und Frauen nicht mehr krank werden.“ Wieder lächelte Casson schwach. Er war zu alt und weise, um wegen des Zauberglaubens und der Dummheit der Wilden in Empörung zu geraten. Er hatte in seinem langen Leben oft genug erfahren, wieviel Leid die Engstirnigkeit und der Aberglaube über die Menschen bringen können. „Die törichten Wilden“, murmelte er. „Keinem von ihnen habe ich ein Leid zugefügt. Wenn es in meiner Kraft läge, würde ich viel lieber Gutes tun.“ Bomba dachte an die flammende Verteidigungsrede, die er dem Kopfjäger gehalten hatte. Er sprach davon und erzählte Casson von den hartnäckigen Erwiderungen des Wilden. „Immer redete er davon, was sein Medizinmann erklärt hätte“, sagte der Junge empört. „Der Medizinmann ist seine Hauptperson gewesen. Keine andere Meinung wollte er gelten lassen. Und der Medizinmann hat erklärt, daß du sterben müßtest.“ Es war deutlich zu sehen, daß keine Todesfurcht in Cassons Herzen wohnte. Er hörte die erregte und angstvolle Schilderung an und strich dem Jungen hin und wieder beruhigend über das Lockenhaar. Jetzt waren die Rollen vertauscht: Bomba war der betrübte Junge und
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Casson sein kluger, alter Lehrer, der ihn tröstete und belehrte. „Diese Wilden sind wie Kinder“, klärte ihn Casson auf. „Heute denken sie an dieses und morgen an jenes. Als dich einer von ihnen sah, erinnerte er sich an die Worte des Medizinmannes. Vielleicht hat er das inzwischen längst vergessen. Sie kommen auch von weit her und kennen unseren Teil des Dschungels nicht. Monatelang könnten sie suchen, ohne unsere Hütte zu entdecken.“ Bomba war zu jung und impulsiv, um die Abgeklärtheit und den Gleichmut des Alten zu begreifen. Er konnte nicht verstehen, daß es einem Manne gleichgültig war, ob er weiterlebte oder ob der Tod ihn ereilte. „Wenn auch die Kopfjäger nicht wissen, wo wir sind“, gab der Junge zu bedenken, „die Caboclos kennen unsere Hütte. Sobald die Kopfjäger einen von ihnen fangen und ihn ausfragen, werden sie Bescheid wissen.“ „Und wenn sie es wissen“, murmelte Casson müde, „und wenn sie kommen? Wir werden versuchen, sie zu belehren und zu überzeugen. Sollten sie keine Belehrung annehmen, müssen wir kämpfen. Und wenn es das Schicksal so bestimmt hat, werden sie uns töten.“ Fatalismus war ein unbekannter Begriff für Bomba. Seine junge Lebenskraft war viel zu stark, als daß er nicht mit einem Schauder des Entsetzens an den Tod gedacht hätte. Er jedenfalls wollte kämpfen und sein Leben so lange wie möglich verteidigen. „Ich habe einen Vorschlag“, begann er seinen neuen Plan zu erläutern. „Unser Haus möchte ich so stark wie 89
möglich neu aufbauen. Ich werde dazu Felsstücke gegen die Wand häufen. Auf dem Bach hinter der Hütte liegt unser Boot. Sobald du verdächtige Geräusche hörst oder Spuren im Wald findest, steigst du in das Kanu und ruderst den Fluß hinunter. Die Kopfjäger besitzen keine Boote. Ich werde lernen, den Revolver zu gebrauchen. Wenn sie diesen Knall hören, werden sie erschrecken, vielleicht glauben sie dann wirklich an unsere Zauberkraft und laufen davon.“ Es schien so, als wollte der Alte nicht den Mut und die Zuversicht des Jungen erschüttern. Er stimmte ihm nachsichtig zu und versprach, sich nach seinen Anweisungen zu richten. Dann saßen sie lange Zeit stumm am Lagerfeuer und sahen, wie das Dunkel der Nacht über den Dschungel fiel. In dieser Nacht schlief Bomba nicht fest. Mehrere Male erwachte er und schürte das Feuer. Erst gegen Morgen wurde sein Schlaf tiefer. Ein lauter Schrei weckte ihn. Auf seiner Lagerstatt schrie Casson angstvoll und entsetzt auf. Noch einmal hörte der Junge den Notruf des Alten: „Bomba!“
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11 Die Vampyre greifen an Bomba war sofort hellwach. Er wollte auf die Füße springen, fühlte jedoch eine Lähmung, als läge ein schweres Gewicht auf seinem rechten Bein. Es dauerte eine Weile, ehe sich seine Augen an das nächtliche Halbdunkel gewöhnt hatten. Das verlöschende Lagerfeuer warf einen flackernden Schein in die halbzerstörte Hütte, und Bomba erkannte an seinen Füßen eine dunkle, vogelartig flatternde Gestalt. Vampyre! Mit einem Schrei des Schreckens wollte Bomba den Fuß an sich ziehen, aber das Bein blieb taub und schwer liegen. Im Dämmerlicht sah er die unheimliche Gestalt der blutsaugenden Fledermaus. Sie war so groß wie ein Falke, und die flatternden Flügel spannten sich über einen halben Meter weit. Wie gewöhnlich, hatte der Vampyr sein Opfer im Schlaf überfallen. Er hatte sich auf Bombas Füße gesetzt und zu saugen begonnen, während sich seine Flügel sanft fächelnd hin und her bewegten. Schwach und ruhig waren diese Flügelbewegungen, als wollte der Vampyr sein Opfer solange schlafend erhalten, bis er sein Mordwerk vollendet hatte. Bomba mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um sich auf die Füße zu stellen. Der Vampyr flatterte auf und umschwirrte ihn. Seine kleinen Augen glänzten wie dunkle Perlen auf, sobald ein Lichtschimmer des Feuers sie traf. Wenn ein Luftzug vom Flügelschlag des Vampyrs Bombas 91
Gesicht streifte, erschauerte er unwillkürlich. Er versuchte, seine Keule zu ergreifen, und stolperte dabei. Das rechte Bein versagte den Dienst und hing schlaff und wie gelähmt herab. Wieder ertönte Cassons Warnruf. Zwei neue Vampyre hatten Beute gewittert und flatterten ebenfalls in die Hütte. Bomba schwang die schwere Keule um seinen Kopf. Er schwankte, als müßte er jeden Augenblick zu Boden stürzen. Der Blutverlust hatte ihn so geschwächt, daß er farbige Kreise vor seinen Augen tanzen sah. Dazwischen schlug der Flügelschlag der drei Vampyre in sein Gesicht. Unwillkürlich rief Bomba seinen alten Lehrer zu Hilfe. Aber Casson saß hilflos und schwach auf seiner aus Palmblättern errichteten Lagerstatt, und seine mageren Arme fuchtelten durch die Luft, ohne die Vampyre abzuschrecken. Die Blutsauger griffen zu gleicher Zeit an. Flügelschläge trafen Bomba am Kopf und an den Armen. Das Blut brauste in seinen Ohren, und er war einer Ohnmacht nahe. Der Arm blutete, und Bomba mußte ihn senken. Dann griff er nach der Machete und führte einen Hieb durch die Luft. Einer der Vampyre war getroffen worden. Der Schlag war jedoch nicht stark genug gewesen, um das Tier ernsthaft zu verletzen. Als Bomba bei einem zweiten Hieb vorwärtssprang, stolperte er, fiel zu Boden, und die Machete entglitt seinen Händen. Hilflos lag er da – hilflos und waffenlos! In ohnmächtiger Raserei schlug Bomba im Liegen mit den Fäusten um sich. Die Vampyre stießen auf ihn herab und flatterten in halber Höhe an den Wänden der Hütte entlang. 92
Riesig und gespensterhaft huschten die Schatten der Blutsauger über die Holzwände hin. Ihr Flügelschlag erfüllte die Luft wie mit einem klatschenden Geräusch nasser, flatternder Tücher. Sonst herrschte bei diesem Kampf ein dumpfes Schweigen. Es war nicht wie der brüllende Angriff der Raubkatzen – nicht wie das böse Zischen der zustoßenden Schlange. Nur dieses Flattergeräusch – und dazu der Anblick der huschenden Riesenflügel, die auf und ab gaukelten und jedem Schlag geschickt auszuweichen verstanden. Bomba versuchte, sein Gesicht zu schützen. Er war zu schwach für jeden Angriff geworden. Ein Vampyr setzte sich auf seine Brust, und Bomba stieß ihn mit letzter Kraft von sich. Dabei berührte er den Revolverschaft, der aus seinem Gürtel ragte. Der Revolver! In seiner Erregung und Angst hatte er das Geschenk der neuen Freunde vergessen. Fast im gleichen Augenblick, als seine Finger den Griff umspannten, überkam Bomba ein Gefühl der Ruhe und Selbstsicherheit. Noch nie hatte er diese Waffe zu seiner Verteidigung benutzt. Aber von Generationen von jagenden, kriegführenden und abenteuernden Vorfahren her schien in seinem Blut das Bewußtsein von der Kraft und Macht der Feuerwaffe zu leben. Bomba rief Casson eine Warnung zu und hob die Waffe. Er schloß die Augen, hielt den Atem an und drückte die Mündung gegen den Vampyr, der blutgierig auf seiner Brust hockte. Er zog ab. Der Schuß krachte, und der Vampyr fiel mit einem erstickten Quieken zur Seite. Die Kugel hatte ihm die Brust zerrissen. 93
Die beiden anderen Vampyre flogen erschreckt dicht unter der Decke des Raumes dahin. Zuerst wagten sie nicht näherzukommen. Doch der Blutgeruch lockte sie an. Sie stießen herab, und Bomba wartete. Der Arm schmerzte ihn, und er war sehr erschöpft – aber ein Jubel erfüllte sein Herz. Die Kraft der Feuerwaffe gab ihm ein Gefühl unumschränkter Macht. Er wartete, bis einer der blutgierigen Räuber dicht über ihm war. Dann drückte er ab. Der Vampyr schlug wild mit den Flügeln. Unvermittelt war es damit zu Ende, und er fiel plump und schwer zu Boden. Nur noch ein Vampyr war da. Hartnäckig und wild wiederholte der Blutsauger seine Angriffe auf Bombas Kopf. In die Ecke seiner Lagerstatt gekauert, saß der alte Casson da und beobachtete, wie Bomba die Waffe zum dritten Male hob. Wieder zog der Junge den Abzug durch. Doch diesmal ertönte nur ein leises, metallisches Klicken. Verzweifelt und aufgeregt drückte Bomba von neuem ab – aber vergebens! Geistesgegenwärtig drehte er die Waffe um und schlug mit dem Kolben zu, als der Vampyr das nächste Mal auf ihn niederstieß. Er traf genau und gut. Das Tier fiel zu Boden, und Bomba ließ den Revolverschaft solange auf das Tier niederprasseln, bis kein Leben mehr in dem zerschlagenen Körper sein konnte. Erschöpft – voller Wut und Ekel – ließ sich Bomba auf sein Lager sinken. Minuten des Schweigens vergingen. Die Stimme der Dschungelnacht drang in die Hütte. Schräg über seinem Lager sah Bomba das funkelnde Sternbild des Orion am Tropenhimmel. Er kannte die Figuren nicht. In seiner Phantasie nahmen jedoch die einzelnen Muster von 94
funkelnden Sternpunkten Gestalt an, und viele dieser Figuren waren ihm lieb und vertraut. Nach einer Weile erhob sich Bomba und schaffte die toten Vampyre hinaus. Die Kadaver fielen in das Wasser des Baches. Er hörte das Aufklatschen und dachte daran, wie schnell die Blutsauger eine Beute von hungrigen Fischen sein würden. Als Bomba in die Hütte zurückkehrte, fiel ihm wieder ein, daß sein Revolver beim dritten Schuß versagt hatte. Mißmutig nahm er die Waffe zur Hand und zeigte sie Casson. Er war noch so wenig vertraut mit seinem Geschenk, daß er sich nicht mehr an die verschiedenen Hantierungen erinnerte, die ihm Gillis gezeigt hatte. „Ich bin jetzt wie Gillis und Dorn“, sagte Bomba stolz und gleichzeitig etwas verzagt. „Ich kann mit einem Revolver schießen.“ Er senkte den Lauf und drückte ab. Wieder nur das metallische Klicken – nichts weiter. „Was ist geschehen?“ fragte Bomba seinen Lehrer.
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12 Kiki, Woowoo und Doto Casson nahm die Waffe zur Hand und begann sie zu untersuchen. Früher war er ein guter Schütze gewesen. Der Anblick der Waffe gab ihm einen Teil seiner Erinnerungskraft zurück, und er fand den Fehler sofort. Nach der Art der Menschen, deren Geist verwirrt ist, kicherte er vor sich hin und deutete dann auf die Kammer der Waffe. „Da liegt der Kummer! Das ist es! Kann nicht schießen, wenn keine Patronen drin sind.“ Bomba stutzte. Jetzt erinnerte er sich an die Anweisung von Gillis. Aber er erinnerte sich auch daran, daß er vor dem Verlassen des Lagers der Gummisucher die Waffe voll geladen hatte. „Sie war voll geladen“, sagte er laut, „und ich habe nur zwei Schüsse abgegeben.“ Dann fiel ihm ein, daß er bei seinem Heimmarsch an einem Baum seine Schießkunst ausprobiert hatte. Das war des Rätsels Lösung. Er war sehr erleichtert, daß die Waffe keinen Fehler hatte, und lud von neuem. Nie wollte er sich mehr in der Hütte oder im Wald zur Ruhe legen, ohne die Waffe griffbereit bei sich zu haben. Das schwor er sich insgeheim. Casson kauerte noch immer schlaff auf seinem Lager. Wie Bomba ihn so liegen sah und dabei an den Kampf mit
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den Vampyren dachte, glaubte er, auch die Erklärung für die Schwäche seines alten Freundes gefunden zu haben. „Die Vampyre werden schon vor meiner Ankunft hier gewesen sein“, erklärte der Junge nachdenklich. „Sie waren hier, und der Platz ist ihnen in guter Erinnerung geblieben. Deshalb sind sie heute nacht zurückgekehrt.“ „Weshalb glaubst du das?“ erkundigte sich Casson erstaunt. „Du warst sehr schwach, als ich dich in der Hütte fand. Sicherlich hat ein Vampyr dein Blut unbemerkt im Schlaf gesaugt. Als das Feuer ausbrach, hat der Rauch ihn verscheucht. Aber du warst schon so geschwächt, daß du nicht mehr allein die Hütte verlassen konntest.“ Die Worte des Jungen beeindruckten Casson. Er dachte nach und nickte. „Dieser Gedanke ist mir noch nicht gekommen“, gab er zu. „Ich weiß nur, daß ich mich noch nie so schwach gefühlt habe wie gestern. Ich konnte weder Hände noch Füße bewegen. Bei dem Kampf mit den Vampyren vorhin war es genau so. Mein Leben hätte ich dafür gegeben, dir helfen zu können. Nichts konnte ich – nicht einmal aufstehen und mit den Armen um mich schlagen. Es ist gut möglich, daß mir Vampyre eine Menge von meinem Blut abgezapft haben.“ Er kicherte wieder. „Obwohl ich glaube, daß ihnen dein frisches Blut besser geschmeckt hätte.“ Bomba hatte jetzt keinen Sinn für Scherze. Trotz seiner Müdigkeit erhob er sich, ging zum Bach und wusch seine Wunden gründlich aus. Dann holte er eine Kräutersalbe und strich sie auf alle Bißwunden. Lang in den hellen Tag 97
hinein schlief er anschließend traumlos und in völliger Erschöpfung. Einige Tage vergingen. Auch Bombas gesunder, starker Körper brauchte Zeit, um sich von den Strapazen und Kämpfen zu erholen. Jagen und Fischen konnte Bomba in diesen Tagen nicht. Als er sich ein wenig kräftiger fühlte, begann er mit dem Wiederaufbau der Hütte. Dieses einfache Bauwerk verdiente kaum den Namen Haus. Kein Fenster war vorhanden. Der Türeingang war gleichzeitig der einzige Einlaß für Luft und Licht. Trotzdem erschien die Holzhütte als großartiges Bauwerk im Gegensatz zu den primitiven Hütten der Eingeborenen. Meist bestanden die Wohnbauten der Caboclos nur aus Dächern, die von Pfählen gestützt waren. Von allen Seiten hatten die Tropenstürme freien Zugang. Es gab noch primitivere Stämme im Herzen des Dschungels. Sie hatten nur Hängematten zwischen den Bäumen aufgespannt und als Schutz darüber einige große Palmblätter ausgebreitet. Vor Jahren, als Casson noch rüstig war, hatte er einen Holzfußboden in die Hütte gelegt. Damit machte er den Schlangen und Skorpionen vom Ygapo das Eindringen schwer. Als Lagerstatt waren zwei Hängematten in der Hütte gewesen, aber das Feuer hatte sie zerstört. Es gab noch einige alte Kisten mit unlesbar gewordenen Zeitschriften und eine Truhe, in der Casson die kostbarsten Stücke seiner Sammlung von Schmetterlingen und Blüten untergebracht hatte. In dieser Truhe befanden sich auch ein paar alte Kochgeräte und etwas beschädigtes Porzellan. So sah Bombas Heim aus.
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Ähnlich verhielt es sich auch mit der Kleidung. Sie war sehr schlicht, um nicht zu sagen: primitiv. Casson trug ständig eine alte, stark geflickte Hose und ein zerschlissenes Baumwollhemd. Gelegentlich wusch er diese einzigen Kleidungsstücke im Bach. Bomba hingegen hatte sich in der Kleidung mehr den Eingeborenen angepaßt. Er trug das ,Mundijeh’, das Lendentuch der Eingeborenen, und dazu das Pumafell. Dieses warme Tierfell leistete ihm besonders gute Dienste, wenn er die Nacht im Freien verbringen mußte. Nun arbeitete Bomba in den nächsten Tagen am Aufbau der Hütte. Ihm schwebte eine Befestigung des schwachen Bauwerks vor. Er wollte das Häuschen so stark bauen, daß es bei einem Angriff der Kopfjäger als kleine Festung dienen konnte. Im Dschungelwald suchte er sich dünnere Stämme vom Holz des Lebensbaumes. Das war das härteste und zäheste Holz im Amazonasgebiet. Zwischen die aneinandergefügten Baumstämme schmierte er eine Schlammsorte, die an der Sonne steinhart eintrocknete. Die Wände erhielten noch eine Umkleidung von Binsengeflecht. Mühselig schleppte Bomba schließlich noch Steine herbei und häufte sie gegen die untere Hälfte der Hütte. In der Verbindung mit dazwischengeworfenem Schlamm wurde daraus ein dickes, kräftiges Mauerwerk. In dieser Zeit der Arbeit und des Aufbaus beschäftigte sich Bomba oft mit den Vorgängen der jüngst vergangenen Zeit. Da waren die beiden Worte, die Casson ausgesprochen hatte, als er versuchte, sich zu erinnern. Bartow! Laura! Bezwingend war der Wortklang für Bomba. Für ihn besaßen die Silben eine geheimnisvolle Bedeutung. Er 99
ahnte, daß ein Zusammenhang bestand – eine Verbindung zu seinem eigenen Leben. Aber er vermied es, an Casson Fragen zu stellen. Zu sehr hatte sich der Alte vor wenigen Tagen gequält, als er versuchte, „die Tür aufzustoßen“, die seine Gedächtniskraft absperrte. Die Arbeit an der Hütte war bald vollendet, und die alte Unrast kehrte in Bombas Herz zurück. Das Leben an der Seite Cassons war wie das Zusammensein mit einem Geist. Kaum ein Wort wurde in vielen Stunden gewechselt. Alle Fragen des Jungen beantwortete Casson einsilbig oder er antwortete mit einem leeren Blick und einem einfältigen Kichern. So war es verständlich, daß Bomba sich nach dem Leben im Dschungel zurücksehnte. Dort hatte er Feinde zu befürchten, aber er besaß unter den Tieren des Urwaldes auch Freunde. Lange Zeit hatte er nichts von ihnen gesehen und gehört. Da waren Kiki und Woowoo, die geschwätzigen und zutraulichen Papageien. Doto, der riesige Affe, gehörte zu seinen Freunden und auch Tatuc, das Oberhaupt des Affenstammes. Mit diesen vierbeinigen und gefiederten Freunden verbanden Bomba enge Bande der Zuneigung und des Vertrauens. In Bombas Leben hatte das Zusammentreffen mit Gillis und Dorn einen bedeutsamen Wandel geschaffen. Deutlicher als zuvor war sich der Junge der Sehnsucht nach Menschen der eigenen Rasse bewußt geworden. Diese Sehnsucht zehrte als Schmerz in seinem Innern. Er floh instinktiv davor, indem er zu seinen Dschungelfreunden eilte und bei ihnen Ablenkung und Vergessen suchte.
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Um die Bewunderung und Neugierde von Kiki, Woowoo, von Doto und Tatuc zu erregen, nahm Bomba die Mundharmonika mit. Er war stolz auf seine Kunst, dem Instrument schrille oder melodische Töne zu entlocken, und er wußte, daß er bei seinen Urwaldfreunden mit dieser zauberhaften Fähigkeit Aufsehen erregen würde. Casson gegenüber benutzte der Junge eine Ausrede, um sich davonzustehlen. Sie brauchten Wildfleisch als Nahrung. Tagelang hatten sie jetzt von den Jaboty- oder Waldschildkröteneiern gelebt, und allmählich wurde diese Kost etwas eintönig. Außerdem wollte er sich von freundlicher gesinnten Eingeborenen neue Hängematten besorgen. Das waren Gründe, die Casson anerkennen mußte. Als ihm Bomba seine Absicht mitteilte, nickte der Alte nur geistesabwesend, ohne seine Beschäftigung mit getrockneten Blütenkelchen zu unterbrechen. So machte sich Bomba wieder auf den Weg in den Urwald. Er fühlte sich gestärkt und wohlauf. Machete und Revolver staken im Gürtel, die Harmonika war im Beutel, und in der Rechten schwang er den Bogen. Bei seinem Abschied hatte Bomba die Warnung vor den Kopfjägern wiederholt. Er hatte Casson gebeten, sofort das Boot zu besteigen und flußabwärts zu fliehen, falls er etwas Verdächtiges bemerken sollte. Eine halbe Stunde wanderte Bomba in der Dämmerung des Waldes dahin. Er war voll fröhlicher Erwartung. Von Zeit zu Zeit stieß er einen sanften Lockruf hervor. Lange Zeit erhielt er keine Antwort. Zwischen den Fächern der Palmen, den dicken Ästen der Urwaldriesen und auf den grünen Stricken der Lianen schaukelten sich Kolibris, 101
kleine Affen und Papageien. Aber seine Freunde waren nicht dabei. Endlich antwortete ein helles Kreischen auf seinen zärtlichen Ruf. Kiki und Woowoo flatterten heran. Zuerst schwatzten sie eifrig und flügelschlagend von einem niedrigen Ast auf ihn herab. Sie hielten die Köpfe schief und beäugten ihn mit aufgeregter Freude. Dann flogen sie auf seine Schulter und knabberten an seinen Ohren. Das war bei ihnen wahrscheinlich der Ausdruck größter Liebe und Zärtlichkeit. Zwischendurch zwitscherten sie ihm so schrill ins Ohr, daß er unwillkürlich zusammenschrak. Aber sie wollten ihm doch etwas erzählen. Das verstand Bomba. Die geräuschvolle Szene der Wiedersehensfreude hatte bald einen weiteren von Bombas Urwaldfreunden herangelockt. Dotos große Gestalt näherte sich in halber Höhe der Bäume. Schon von weitem ließ er Laute der Freude hören. Er wartete auf einem dicken Ast, lief aufgeregt hin und her und machte große Gesten mit seinen überlangen Armen. Es sah eher komisch als besonders feierlich aus, für Doto jedoch war das sicher eine sehr ernsthafte und festliche Art von Begrüßungsansprache, die er da – wie ein Hochzeitsredner – von dem Podium seines Baumsitzes herunter an Bomba richtete. Bomba dankte mit ebensolchen großartigen Gesten, und das schien Doto um den Rest seines Verstandes zu bringen. Er hüpfte mit solcher Begeisterung auf dem Ast hin und her, daß das Laub raschelte und alle Vögel in der Nähe aufflatterten. Sogar Kiki und Woowoo wurden ängstlich und rückten dicht an Bombas Gesicht heran. Die ungleiche Gesellschaft spazierte auf dem Dschungelpfad dahin. In 102
den Ästen begleitete Doto ihren Weg. Er streifte mit seinen geschickten Affenhänden Blätter von den Zweigen und streute sie in spielerischer Zärtlichkeit auf Bomba herab. Dabei schwatzte er unentwegt auf den Jungen herunter. Seine runden, braunen Augen leuchteten vor Freude, und aus seinem breiten Maul kamen immer wieder drollige, gutturale Laute. Nun war Bomba also bei seinen Freunden, und er hätte fröhlich sein müssen. Er hatte Vergessen gesucht, und er konnte es doch nicht finden. Die Wiedersehensfreude beschäftigte ihn nur kurze Zeit. Noch während er mit den Papageien und mit Doto schwatzte und ihre lärmende Freude mit lauten Zurufen beantwortete, machten ihm Gedanken der Sehnsucht zu schaffen. In der Nähe seiner Urwaldfreunde fühlte er am deutlichsten, daß er nicht in diese Welt gehörte. Er war kein Indianer, kein Caboclo, dem das Leben im Dschungel vielleicht Erfüllung aller Lebenswünsche bedeuten mochte. Aber wo gehörte er hin? Bartow! Laura! Wieder zogen diese geheimnisvollen Worte durch seinen Sinn. Gedankenvoll ließ sich Bomba auf einen Baumstamm sinken und holte die Harmonika hervor. Er wollte sich von seinen Grübeleien befreien, indem er seinen Urwaldfreunden auf dem fremdartigen Instrument etwas vorspielte. Nachdem er die Harmonika herumgezeigt hatte, setzte er sie an die Lippen und entlockte ihr einige Töne. Die Wirkung war stärker, als Bomba erwartet hätte. Plötzlich waren seine Freunde verschwunden. Er hörte nur noch das Flattern der Papageien an seinem Ohr und einen 103
schrillen Ruf von Doto, dann war der Urwald um ihn her einsam und leer. Bomba war sekundenlang sehr verblüfft. Dann mußte er lachen. Er pfiff leise und rief: „Doto! Dummkopf, Doto, komm herbei! Ist so groß und fürchtet sich vor einer kleinen Mundharmonika! Wo bist du, Doto?“ Es raschelte leise im Gezweig. Mit äußerster Vorsicht schob der Affe seinen braunen Kopf durch das Blattwerk. Tiefe falten auf der Stirn gaben seinem Gesicht den Ausdruck von Gekränktheit. Er ließ einige vorwurfsvolle Worte hören – in Bombas Ohren klangen die Laute jedenfalls so. Und er hatte bestimmt nicht unrecht. Doto beschwerte sich über den Streich, den ihm sein junger Freund gespielt hatte. Ihn so zu erschrecken! War das unter Freunden üblich? Die braunen Augen ruhten tadelnd und kummervoll auf Bomba. Nun war es nötig, etwas zur Versöhnung seines Freundes Doto zu tun. Er begann sanft und zuredend mit ihm zu sprechen und zeigte ihm noch einmal die nickelglänzende Harmonika. „Schau, Doto“, versuchte er, den Affen zu überreden. „Es tut nicht weh! Es ist nichts Böses. Macht nur hübsche Musik!“ Noch einmal setzte Bomba die Mundharmonika an die Lippen und entlockte ihr einige schauerliche Klagetöne. Niemand hätte die Antwort erwartet, die ebenso plötzlich wie unvermutet ertönte: ein lautes Gebrüll – Krachen im Unterholz – und die Gestalt eines Jaguars tauchte aus den Farnbüscheln.
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13 Ein Spiel ums Leben Einen Augenblick lang war Bomba durch den Anblick des Jaguars völlig verstört. In Sprungweite stand das Tier vor ihm – breit, muskulös, mit unruhigen, gelbgrünen Augen. In einer Art von Lähmung stierte Bomba den Jaguar an – wie ein Kaninchen eine Schlange. Die Mundharmonika hielt er noch am Mund, und als er den Atem erregt ausblies, gab es einen wimmernden, schrillen Ton. Der Jaguar hatte sich bereits zum Sprung zusammengeduckt – aber jetzt hielt er erschreckt inne. Der glitzernde Mund des Menschen war ihm neu und verwirrend, aber noch viel verwirrender waren die unheimlichen Tone, die dieser Mensch ausstoßen konnte. Alles Neue ist für die Bewohner des Dschungels ein Grund zum Mißtrauen. Sie sind Gewohnheitswesen, die auf Unbekanntes mit Mißtrauen und Furcht reagieren. Die Wirkung seiner unbeabsichtigten Musik blieb Bomba nicht verborgen. Die Augen des Jaguars blinzelten nervös, und der Schwanz machte unruhige Bewegungen. Während Bombas Hand sich vorsichtig zum Revolvergriff tastete, hielt er die Mundharmonika mit der freien Hand an den Mund und begann Töne in schneller Folge zu spielen. Das war wohl die merkwürdigste Tierbändigung, die je im Urwald vor sich ging. Auf einem Baumstamm saß ein Junge, spielte Mundharmonika, und ein Jaguar stand fünf oder sechs Meter von ihm entfernt und lauschte. Es dauerte 105
nicht lange, bis sich die große Raubkatze auf die Hinterpfoten setzte und wie eine aufmerksame Hauskatze der neuartigen Musik lauschte. Von Schlangenbeschwörung mit Flötentönen hatte Bomba früher einmal etwas gehört. Sein alter Lehrer Casson hatte ihm von solcher Zähmung berichtet. Das ging ihm jetzt durch den Sinn, während er dem Jaguar Mundharmonika vorspielte und dabei seinen Revolver fest in der Hand hielt. Ihm war nicht ganz wohl bei dieser seltsamen Beschwörung. Er fühlte, wie der Schweiß auf seiner Stirn ausbrach. Dabei mußte er den Jaguar ebenso fest und unerschrocken anblicken, wie das Raubtier ihn anschaute. Bomba versuchte es mit sanften Tönen und erkannte, daß der Jaguar dann ruhiger wurde. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte vielleicht zu schnurren begonnen. Wenn Bomba jedoch schnell den Atem einzog oder ausblies und heftige, schrille Töne hören ließ, wurde der Jaguar unruhig. Er schüttelte sogar den Kopf und kratzte sich mit der Pfote am Ohr, als wollte er die unschönen Töne herausschlagen. Für Bomba konnte die Harmonikamusik im Urwald ein Spiel ums Leben sein. Wie wirkten die zornigen Töne auf das Tier? Reizten sie seine Angriffslust? Bomba hatte keine Neigung, mit einem Jaguar zu kämpfen. Aber er konnte auch nicht stundenlang Mundharmonika spielen. Sein Herz klopfte jetzt schon wie rasend, und einmal würde ihm die Luft ausgehen. Dann war es vorbei mit der musikalischen Zähmung. Bomba machte sich zum Angriff bereit und blies wild und heftig in die Harmonika. Die Bestie sprang auf. Ihr Blick vermochte den des Menschen nicht mehr auszuhal106
ten. Die Raubtieraugen blinzelten unbehaglich und verwirrt. Einmal peitschte der Schweif den Boden, dann sprang der Jaguar in den Dschungel zurück. Mit wildem Eifer setzte Bomba seine Schauermusik fort. Es galt, den Jaguar endgültig zu vertreiben. Er ließ eine wahre Sintflut von schrecklichen Mißtönen in den Urwald hineinschallen. Dann versagte sein Atem. Matt und schweißbedeckt ließ er sich auf den Baumstamm zurücksinken und senkte die Harmonika. Wieder hatte er Grund, seinen neuen Freunden Gillis und Dorn dankbar zu sein. Ihr Geschenk mochte ihm das Leben gerettet haben. Auch von diesem kleinen, blitzenden Ding ging soviel Zauberkraft aus, daß gefährliche Jaguare Reißaus nahmen. Freilich ahnte Bomba nicht, daß kein Mensch bei der Herstellung oder Verwendung von Mundharmonikas an die Zähmung wilder Raubtiere gedacht hatte. Er sah nur diese wunderbare Wirkung und glaubte, daß den weißen Männern das auch bekannt sein müßte. Wie Bomba Gillis erschöpft und nachdenklich dasaß, hörte er einen zutraulichen Laut von oben. Da steckte Doto wieder seinen neugierigen Kopf durch die Blätter. Wie der Blitz war er zuvor mit seinem Affenvolk bei dem Erscheinen des Jaguars verschwunden. Bomba, der selbst genug Angst ausgestanden hatte, wollte die furchtsame und schnellfüßige Affengesellschaft nun auch ein wenig ärgern. Er setzte wieder die Harmonika an die Lippen und blies ein paar Tone. Diesmal verschwand Dotos Kopf nur für kurze Zeit. Mit zuredenden Worten lockte Bomba den Affen schließlich zu sich herab. Es dauerte nicht lange, bis Doto zu Füßen des Jungen kauerte. Als die Stammesgenossen 107
des Affen das sahen, wurden sie auch mutiger und kamen näher heran. Auch Kiki und Woowoo flatterten heran und ließen sich wieder auf den Schultern des Jungen nieder. Leise und nicht zu schrille Töne ließ Bomba jetzt erklingen, um die Tiere nicht zu erschrecken. Die umstehenden Bäume belebten sich mit Affen. Sie schwatzten miteinander und machten sich auf das Ereignis aufmerksam. Als Bomba seinem Freund Doto die Mundharmonika hinhielt, wurden sie aufgeregt wie Zuschauer in einem Zirkus, die bald Zeuge eines todesmutigen Trapezkunststückes sein sollen. Sie reckten die Hälse, hängten sich kopfüber an die Zweige, um nichts von den Vorgängen zu versäumen, und die Luft war erfüllt von ihrem Geschwätz wie ein Schulraum in der Pause. Doto, der Mittelpunkt dieser Aufregung, war sich seiner Rolle als Hauptperson wohl bewußt. Furcht, Neugierde und Eitelkeit kämpften in seiner Brust. Immer wieder streckte er die braunen Finger nach der Mundharmonika aus, um im letzten Augenblick den Arm zurückzuziehen. Dazwischen schwatzte er in seiner Affensprache, als wollte er sich selbst Mut einflößen. Endlich war es so weit. Ein herzhafter Griff – ein aufgeregter Gurgellaut aus Dotos Kehle – und er hielt die Harmonika mit beiden Händen fest. Nun saß er ganz still da und betrachtete das seltsame Ding aus der Nähe. Er wiegte den Kopf hin und her, als könnte er sich zu keinem Urteil entschließen. Gefiel ihm das Zauberding nun oder nicht?
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Es dauerte wieder lange, ehe Bomba den Affen dazu gebracht hatte, daß er die Harmonika an die Lippen hob. Der Junge blies den Atem deutlich aus, um Doto zu zeigen, wie er mit dem Instrument umgehen müßte. Der Nachahmungstrieb des Affen war so stark, daß er bald verstand, was von ihm verlangt wurde. Er blies in die Harmonika, und ein jämmerliches Signal schrillte durch den Wald. Natürlich hatte Doto diese Wirkung nicht erwartet, obwohl er die Töne der Harmonika nun bereits kannte. Er ließ das Instrument fallen, als hätte es ihm die Lippen verbrannt. Unverzüglich zog er sich in hohe Astregionen zurück und ließ aus dieser sicheren Entfernung eine Schimpfkanonade auf den lachenden Bomba herabprasseln. Einige seiner Gefährten waren Doto gefolgt. Es gab aber auch mutigere, die in Bombas Nähe blieben. Da war ein junger, dreister Affenboy, der ohne weiteres das Instrument an sich nahm. Das war allerdings zuviel für Dotos Ehrgefühl. Konnte er sich von einem jungen Springinsfeld so beschämen lassen? Mit höchster Geschwindigkeit kam Doto herabgehangelt und entriß dem jungen Affen das Instrument. Dazu gab es eine laute Strafpredigt und etwas, das eine fatale Ähnlichkeit mit dem hatte, was in der Menschensprache Maulschelle genannt wird und allenthalben bei der männlichen Jugend nicht sehr beliebt ist. Vorsichtig gab Doto anschließend das Instrument an Bomba zurück. Er selbst fand keine Freude an dem merkwürdigen Ding, in dem viele Töne wohnten. Aber er wollte auch nicht, daß es ein anderer als Bomba in die Hände bekam.
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Mit diesen Abenteuern war viel Zeit vergangen. Bomba erinnerte sich daran, daß er Casson nicht zu lange allein lassen konnte und verabschiedete sich von seinen Freunden. Das ging selbstverständlich nur mit viel Lärm und allen möglichen Ausdrücken des Bedauerns vor sich. Die Dschungelfreunde wollten Bomba nicht ziehen lassen, und er mußte immer wieder versichern, daß er zurückkehren würde. Anscheinend verstanden sie das, ohne die Worte zu kennen. Sie ließen ihn schließlich gehen. Bomba war noch nicht weit gekommen, als hinter ihm im Geäst aufgeregtes Kreischen und Rascheln ertönte. Etwas Außergewöhnliches mußte geschehen sein. Bomba griff nach einem niederen Ast und schwang sich auf den Baum. Das erregte Heulen und Schnattern der Affen näherte sich. Der Schwarm eilte durch das Geäst auf ihn zu, und Bomba glitt zum Boden zurück. Im Nu war er umgeben von schnatternden Affengesichtern, von fuchtelnden, behaarten Armen und runden, ängstlich blickenden Tieraugen. Gefahr mußte im Anzug sein. Die Affen suchten Bombas Hilfe.
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14 Die Geierwolke Im Gewühl der Affengesichter erkannte Bomba den Anführer Tatuc. Er zog ihn zu sich heran. Nun verstand wohl Bomba nicht die Affensprache, aber er vermochte doch mit Lauten und Zeichen die Frage an den Affen zu richten, was geschehen sei. Aus dem Geschnatter und den flatternden Armbewegungen hatte Bomba im Laufe vieler Jahre gelernt, so etwas wie eine Sprache zu entziffern. Auch diesmal gelang es Tatuc, dem Jungen verständlich zu machen, daß seine Affenherde von großen Vögeln angegriffen wurde. Das konnten nur Geier sein. Ein Schwarm hatte versucht, zwei Affenjunge zu entführen, und sie waren daran gehindert worden. Nun kehrten die Geier in großer Zahl zurück, um ihren Angriff zu wiederholen. Die Affen waren nicht sehr mutig. Wenn sie in die Enge getrieben wurden, suchten sie ihr Heil in der Flucht. In diesem Falle verließen sie sich auf Bombas Wunderkraft, von der sie anscheinend eine hohe Meinung hatten. In das Geschnatter der Affen drang unaufhörbar das Rauschen mächtiger Flügelpaare. Große Schatten verdunkelten das Licht, und ein Schwarm von Raubvögeln schwebte heran. In letzter Zeit hatten die Geier nur magere Beute gefunden. Sie liebten es, gemächlich bei einem Kadaver zu hocken und das verfaulende Fleisch hinunterzuschlingen. Nur wenn sie diese bequeme Nahrung nicht fanden, jagten sie auch Lämmer und Kleinwild. Als sie
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heute von ihrer Beute, den jungen Affen, verscheucht wurden, brachte sie ohnmächtige Wut und hungrige Gier dazu, in großer Schar zurückzukehren. Sie waren jetzt gereizt und angriffslustig wie selten. Für die Affen war es schwer, den Geiern zu entfliehen. Die Raubvögel würden sie überall aufstöbern, und ihr Flügelschlag brachte sie schneller voran als das eilige Dahinfliehen der Affen von Baum zu Baum. Sie scharten sich eng um Bomba. Bomba zog den Revolver und umspannte den Griff. Wieder durchzog ihn das Gefühl unbegrenzter Macht, als er die Waffe hob. Sein Blick war klar und furchtlos nach oben gerichtet. Breite Schwingen, scharfe Krallen und krumme Hackschnäbel – das alles jagte ihm keine Furcht ein. Er besaß die Macht, aus seiner Waffe den Blitz des Todes zu senden. Das gab ihm Ruhe und Selbstvertrauen. Bomba gab den ersten Schuß mitten in den Schwarm der herabflatternden Geier ab. Das Geräusch erschreckte die Affen mehr als die Aasvögel. Sie zogen sich aus Bombas Nähe zurück und kreischten wild. Während er den Geierschwarm im Auge behielt, rief Bomba den Affen beruhigende Worte zu. Er schoß von neuem in den Schwarm. Zwei Geier sanken mit verzweifeltem Flügelschlagen in das Unterholz und ein dritter flatterte matt zwischen den Bäumen dahin. Der erste Angriff der Geier war abgeschlagen. Das rauhe Krächzen der Raubvögel erfüllte die Luft. Sie flatterten verwirrt umher. Noch waren sie nicht entschlossen genug, den Angriff zu wiederholen. Die scharfen Geräusche der Schüsse hielten sie für eine Weile in respekt112
voller Entfernung. Nicht lange dauerte diese Pause des Zögerns. Von neuem stürzten sich die Geier herab. Die Krallen waren vorgestreckt – bereit zum schmerzhaften Zupacken. Im schnellen Sturzflug gelang es einem Geier, den Armen eines Affenweibchens das Junge zu entreißen. Dicht über Bombas Kopf flog der Angreifer wieder auf. Unwillkürlich hob der Junge schützend den linken Arm vor das Gesicht. Zugleich zielte er nach dem entfliehenden Geier. Er zielte sorgfältig, um das Affenjunge, das erbärmlich schrie, nicht zu verletzen. Dieser Schuß brach einen Flügel des Räubers. Er ließ mit einem schrillen Krächzlaut seine Beute fallen und flatterte unbeholfen mit dem gesunden Flügel davon. Das Affenweibchen sprang sofort hinzu und barg ihr Junges. Jetzt legte sie sich schützend darüber. Lieber wollte sie selbst von den scharfen Krallen ergriffen werden, als noch einmal ihr Junges preisgeben. Das war der Anfang des Kampfes gewesen. Bomba vermochte nicht zu zählen, wie viele Geier zwischen den Bäumen dahinschwebten. Ihm schien es, als wäre der Himmel dunkel vor Flügeln. Die Affen kämpften um ihr Leben. Sie hatten schon längst jeden Fluchtgedanken aufgegeben. In der Nähe von Bomba erwarteten sie den größten Schutz. Trotzdem fiel immer wieder ein Affe den Schnabelhieben und den zupackenden Krallen zum Opfer. Stöhnen und Wimmern ertönte rings um Bomba. Wenn er einen hastigen Blick zur Seite warf, sah er, daß neben den toten Vögeln auch die blutigen Körper von Affen am Boden lagen. Einige schrien 113
in ihrem Schmerz wie Menschen. Sie preßten die Hände an die aufgerissene Brust und starrten Bomba mit einem Ausdruck fassungslosen Jammers an. Das stachelte den Zorn des Jungen noch mehr an. Er schwang die Machete mit der Linken und schoß mit der Rechten, sobald sein Revolver ein nahes Ziel fand. Dann war die Kammer leergeschossen. Keine Zeit jetzt, neu zu laden. Bomba ließ die Waffe fallen und nahm Bogen und Pfeile. Auch diese Waffe war in seinen Händen todbringend für die Geier. Lautlos schwirrte der Pfeil von der Sehne und durchstieß den Körper eines Raubvogels. Keinen Augenblick dachte Bomba an Flucht. Es war wie ein stillschweigendes Gelöbnis für ihn. Seine Freunde hatten ihn zu Hilfe gerufen, und mit seinen Freunden würde er kämpfen – bis zum Ende. Er hätte leicht Schutz gefunden im undurchdringlichen Dickicht, und ihn hätten die Geier auch kaum angegriffen. Aber er blieb und holte einen der Raubvögel nach dem anderen herunter. Gab es kein Ende dieses Kampfes? Schließlich war auch der letzte Pfeil verschossen. Aber noch immer schien die Luft erfüllt zu sein vom Schwirren unzähliger Flügelpaare. Nur noch die Machete blieb Bomba als Kampfmittel. Von einem starken Arm geschwungen, war sie eine wirksame Waffe. Aber Bombas Kraft erlahmte allmählich. Mehrere tiefe Wunden bluteten an seinem Arm. Er konnte nur noch matte Hiebe mit der Machete führen. Die Elemente selbst retteten Bomba aus der Bedrängnis. Wie auf ein Zauberwort hob sich plötzlich die dunkle Wolke von Geierschwingen über die Bäume empor. Es wurde still um Bomba. Unsicher schaute er auf. Was hatte 114
das zu bedeuten? Sammelten sich die Raubvögel zum nächsten Angriff? Das Weinen und Wimmern der Affen drang an sein Ohr. Aber zugleich hörte er jetzt noch einen anderen Laut. Der Wind rauschte durch den Dschungel. Stärker und lauter als viele tausende Raubtierflügel fauchten die Vorboten des kommenden Sturmes ihre wilde Musik durch das Geäst. Bald brüllte es wie die vom Orkan aufgepeitschte Brandung des Meeres. In einer unwillkürlichen Bewegung der Abwehr hob Bomba die Hand gegen den Himmel. „Der große Wind!“ schrie er. Aber seine schwache Stimme verhallte ungehört im Toben des Sturmes.
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15 Sturmeswut Es gab nur einen Herrscher noch – einen großen, gewaltigen König in der Welt des Dschungels. Seine Stimme war Donner und seine Waffe war der Blitz. Es gab nur einen Herrscher noch, vor dem alle flohen – die großen Raubtiere, die flinken Affen, die Vögel und die Menschen. Das Dschungelgewitter! Der große Herrscher sandte seine Vorhut: das war der brausende Sturmwind. Er bog die hohen Bäume wie Farnkraut nieder. Er wirbelte das Laub vom Boden auf und knickte Baumwipfel ab, daß sie krachend zu Boden stürzten. Als der erste Windstoß durch den Dschungel fuhr, flogen die Papageien kreischend auf und flatterten davon. Die Raubkatzen suchten ihre Höhlen oder das schützende Unterholz auf. Die Erdlochbewohner verkrochen sich in den hintersten Gang ihres Schlupfwinkels. Selbst die großen Geier flohen, und das war in diesem Augenblick Bombas Rettung gewesen. Unter den Urwaldbäumen lauerte Verderben und Tod. Der Sturm schüttelte die Bäume, und die Castanha-Nüsse prasselten wie eisenharte, riesige Hagelkörner hernieder. Eines dieser Baumgeschosse war schwer genug, um einen Mann zu töten. Der erste Vorbote des Tropengewitters hatte die Geier vertrieben. Mit jäher Gewalt folgte der zweite Stoß des 116
Sturmwindes. Die Affen, die noch bei ihren Toten kauerten, blickten angstvoll empor und begannen wirr zu schnattern. Ein neuer Feind drohte. Trotzdem mochten sie sich nicht von den Leichen ihrer Jungen oder ihrer Gefährten trennen. Sie blickten Bomba an und berührten immer wieder die Toten, als wollten sie sie zum Mitfliehen veranlassen. Am meisten war der Junge erschüttert vom Anblick des alten Tatuc. Er lag tot in einer Blutlache da, aber seine Zähne waren fest in den Hals eines Geiers gegraben. Er hatte seinen Feind mit in den Tod genommen. Bomba mußte im Augenblick die Rolle eines Führers für die Affenherde übernehmen. Mit einigen scharfen Zurufen wies er die Tiere an, in den Baumwipfeln Schutz zu suchen. Sie rannten hin und her, schnatterten und wehklagten – aber einer nach dem anderen begann dann in die Baumkronen hinaufzuhangeln. Mancher hielt mitten in seinem Aufstieg inne und blickte auf die Toten hinunter. Die Gefahr störte ihn nicht in dieser Zeit der Trauer. Bomba mußte seinen Befehl mehrere Male wiederholen, um die unvernünftigen Tiere zur Flucht zu bewegen. Er wußte ebensogut wie die Affen, daß die zurückbleibenden Toten nach dem Sturm ein willkommenes Mahl für die Geier sein würden. Aber die Gesetze des Dschungels waren hart. Wer sein Leben retten wollte, durfte nicht an die Toten denken. Trotzdem handelte Bomba seinem eigenen Befehl zuwider und brachte sich nicht sofort in Sicherheit. Er wollte seinen Freund Tatuc nicht den Geiern überlassen. Da er ihm das Leben nicht hatte retten können, wollte er ihm auf 117
andere Art eine letzte Liebestat erweisen. Er warf sich den Körper des toten Affen über die Schulter und eilte weiter. Es war höchste Zeit. Der Sturm preßte wie mit unsichtbaren Riesenfäusten die Bäume nieder. Die Stämme ächzten, und Äste barsten. Ein Hagel von Castanha-Nüssen begann herabzuprasseln. Der metallisch schimmernde Tropenhimmel hatte sich mit fahlem Grau überzogen. Es wurde dunkel wie vor der nahenden Nacht. Dann zeigte sich der Herrscher selbst, der alle Macht im Urwald an sich gerissen hatte. Das Gewitter begann mit grellen Blitzen und einem erdbebengleichen Donnerschlag. Wie Peitschenschläge trafen die ersten Regentropfen auf Bombas Haut. Es war kein Regen – es war eine Sintflut, ein schwerer, atemraubender Wasserguß, der von der Gewalt des Sturmes durch das Blätterdach geschlagen wurde. Da der Sturmwind Bomba im Rücken traf, wurde er vorwärtsgeweht wie ein leichtes Blatt. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Er stolperte mit der Last auf seinem Rücken vorwärts und hielt den Kopf gesenkt. Mehr als auf seine Augen mußte er sich auf sein Gefühl und auf die Füße verlassen. In der Nähe wußte er eine verlassene Eingeborenenhütte, und zu ihr rannte und stolperte er hin. Donnerschlag um Donnerschlag verkündete die Gewalt der entfesselten Urkräfte. Die fahle, wolkendüstere Dämmerung wurde von Blitzen zerrissen. Bäume und Buschwerk wankten auf und nieder, als wollten sie fliehen. Als Bomba die Hütte erreicht hatte, erkletterte er den leiterartig eingekerbten Baumstamm, der zum Eingang führte, überschritt die schmale, schlüpfrige Holzbrücke und 118
legte seine leblose Last im Inneren der meterhoch über dem Erdboden errichteten Hütte nieder. Die Bretter waren morsch und halbverfault. Es war eine der üblichen Eingeborenenhütten im Dschungel. Sie mußte schon vor längerer Zeit von ihren Bewohnern verlassen worden sein. Nach Art der Pfahlbauten ruhte sie auf wenigen, aufrecht in den Boden getriebenen Stangen, die durch Querverbindungen zusammengehalten wurden. Der Bodenbelag war gespaltenes Palmenholz. An manchen Stellen neigte sich dieser Fußboden schon bedenklich. Von den vier Wänden standen nur noch zwei. Ein leichtes Gitterwerk aus Baumschößlingen trug das Dach. Blätter der Ubussu-Palme ersetzten die Schindeln und die Dachziegel. In der verlassenen Hütte wimmelte es von Insekten. Sie krochen überall im Dachbau herum. Einmal fiel Bomba ein Skorpion auf die Schulter. Er schleuderte das Tier sofort zu Boden und tötete es, ehe es ihm mit seinem Biß das Gift in die Adern jagen konnte. Dann saß Bomba eine Weile neben dem toten Tatuc und grübelte. Der Tropenregen rauschte prasselnd und dicht hernieder. Das Gewitter zog mit seinem Gefolge und seiner Vorhut weiter. Allmählich besänftigte sich der Aufruhr der Natur. Das Donnern verhallte in der Ferne als leises Grollen, und der Himmel über dem Wald klärte sich auf. Der bleigraue Wolkenvorhang zerriß. Die ersten Sonnenstrahlen funkelten über das nasse Laubwerk, und Bomba erhob sich. Mit der Machete und einem zugespitzten Stock grub er in der Nähe der Hütte ein Grab für seinen Freund Tatuc.
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Der Regen hatte die Erde aufgeweicht, und das erleichterte ihm seine Arbeit. Lange konnte der Junge sich nicht dazu entschließen, Erde auf den Leichnam zu werfen. Für ihn war ein Freund gestorben, und er trauerte mit verstohlen rinnenden Tränen. „Die Geier sollen dich nicht haben“, murmelte Bomba, als er begann, das Grab zuzuschütten. „Lebwohl, Tatuc – lebwohl“, flüsterte er, solange er noch etwas vom braunen Fellkleid seines Freundes sehen konnte. Dann häufte er einen Sockel aus schweren Steinen auf das Grab, damit keine Aasjäger die Erde aufscharren konnten. Als Bomba dann Abschied nahm, kam er sich verloren und sehr einsam vor. Was war er in der Welt? Niemand hätte sich darum gekümmert, wenn er selbst heute im Urwald den Tod gefunden hätte. Gillis und Dorn waren weit fort – wer weiß, ob sie sich noch seiner erinnerten. Casson liebte ihn zwar, aber er war selbst wie ein Kind geworden. Vielleicht würde er ihn vergessen, wenn er ihn einige Tage nicht mehr sähe? Und wieder glitt der Klang zweier Namen durch Bombas Sinn. Bartow! Laura! Oh – wenn er gewußt hätte, was die beiden Namen für eine Bedeutung bargen! Mit einem schluchzenden Lebewohl verabschiedete sich Bomba von seinem toten Freund und eilte davon. Die Luft war mild und duftend nach dem Regen. Der Schritt des Jungen trug ihn schnell weiter. Vielleicht wäre er nicht so leichtfüßig gelaufen, wenn er gewußt hätte, auf welche Gefahr er sich zubewegte.
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16 Gefangen! Überall auf seinem Wege traf Bomba auf die Spuren des Sturmes. Der Boden war besät mit Castanha-Nüssen und kleinerem Gezweig. An einer Stelle sah er einen Baum, der mittendurch gespalten war. Das Holz lag bleich schimmernd da wie die Haut eines Toten. Jenseits des Ygapo lag das Gebiet der Araos. Zu ihnen wollte Bomba, um sich Ersatz für die verbrannten Hängematten zu beschaffen. Dieser Stamm war einigermaßen gutartig, und Casson und Bomba hatten noch nie Streit mit ihnen gehabt. Unterwegs hoffte Bomba etwas zu finden, was er den Araos als Tauschobjekt anbieten konnte. Vielleicht gelang es ihm, einen Jaboty oder Aguti zu erjagen oder die Eier der Waldschildkröte zu finden, die von den Eingeborenen sehr geschätzt wurden. Er hoffte auch, bei dieser Gelegenheit etwas über die Pläne der Kopfjäger zu erfahren, von denen er seit der ersten Begegnung keine Spur mehr gefunden hatte. Es war wohl so, wie es Casson ihm erklärt hatte. Die Wilden waren wie Kinder. Unwissend und abergläubisch, konnte sie ein unvorhergesehener Zwischenfall von jedem Plan abbringen. Sie sahen darin eine Warnung der Götter. Das war eine Möglichkeit. Aber Bomba wußte, daß er sich nicht auf das Glück verlassen durfte. Ebensogut konnte es sein, daß sie gerade jetzt den Dschungel durchstreiften, um Casson zu finden. Dann würden sie nicht 121
ruhen, ehe sie auch ihn selbst getötet hatten, da sie auch bei ihm einen Teil des Zaubers vermuteten, über den der alte Casson nach ihrer Meinung verfügte. Wahrend seines Marsches malte sich Bomba aus, wie er mit den harmlosen Eingeborenen eine Art von Schutzvertrag abschließen könnte. Sie würden sich darüber einigen, im Notfall Casson und ihm zu Hilfe zu eilen oder wenigstens einen Läufer zu senden, wenn die Kopfjäger sich näherten. Allmählich zog Ruhe in Bombas bekümmertes Herz. Die Zukunft lag etwas rosiger vor ihm als bisher. Je weiter er sich vom Grabe Tatucs entfernte, um so sanfter wurde der Schmerz. Bomba hatte wieder Augen für seine Umgebung, und er nahm alle Einzelheiten mit seinem wachen, schönheitsdurstigen Blick wahr. Es war so, als hätte der Regen alle Farben der Natur verstärkt und mit einer schimmernden Glasur überhaucht. Der Himmel leuchtete türkisfarben durch das Geäst. Das war nicht mehr der kalte, grelle Glanz der heißesten Tageszeit – nicht das stumpfe Wolkengrau des nahenden Gewitters –, es war eine sanft strahlende Leuchtkraft, die Sehnsucht und Glück erweckte. Auf Blättern und Büschen lagen Regentropfen, die wie Diamanten funkelnd zu Boden glitten, wenn Bombas Arm sie abstreifte. Die „Vogel und Schmetterlinge hatten ihre Schlupfwinkel verlassen und tummelten sich in der klaren Luft. Da waren die Kolibris mit ihren grünen Rücken, der lilafarben Brust und der purpurnen Kehle. Sie glitten hin und her mit dem hellen, sirrenden Ton ihrer unsichtbar schwirrenden Flügel. Mitunter schienen sie still in der Luft 122
zu hängen, dann wieder huschten sie davon und kehrten zurück. Die Schmetterlinge waren langsamer, und ihr rastloses Auf- und Abflattern brachte Buntheit und Bewegung in die Urwaldruhe. An einer Stelle öffnete sich Bomba der Blick auf eine kleine Bucht des Flusses. Die Trogons, die Königsfischer segelten langsam im Gleitflug durch die Luft. Wie kleine rosafarbene Wolken standen die Körper der Flamingos über dem seichten Uferwasser. Nur ein dünnes Bein, das aus der blaßroten Federwolke ins Wasser ragte, verriet, daß es sich um Vögel handelte. Aber dann nahte sich Bombas Schritt, und die schlanken Hälse der Flamingos richteten sich auf. Das Bild des Flusses verschwand vor Bombas Augen, und er sah einen riesigen Morabaum vor sich. Seine scharlachroten Blüten erglühten in einem milden Feuerlicht. Die Federpalmen zeichneten graziöse Silhouetten gegen den Himmel und als Bomba die hellgelben Blüten der Trompetenblume sah, mußte er an die Indianerfrauen denken und an ihre Kinder, die diese großen Blüten sogar als Hüte trugen. Er kam vorüber an riesigen Fuchsien, die ihre purpurnen Glockenblüten niederhängen ließen. Heliotrope verbreiteten betäubenden Wohlgeruch, und Orchideen umschlangen in verderblicher Schönheit mit ihren wuchernden Ranken die Baumstämme. Die Schönheit der Tropenwelt erstarb jedoch beim Eintritt in das Sumpfgebiet des Ygapo. Wieder schauderte Bomba zurück – gewarnt von einem Instinkt, der klüger war als sein Verstand – gewarnt von jener Stimme des
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Inneren, die Gefahren erkennt, lange, ehe sie ihr Schreckensgesicht enthüllen. Wieder streckten sich Bomba die Zweige halb umgesunkener Bäume entgegen wie greifende Geisterarme. Die Moorlöcher starrten finster und glanzlos wie tote Augen. Bomba mußte Tümpel durchwaten, deren Schlammwasser mitunter bis zu seinen Hüften reichte. Dann kamen Wegstrecken, wo der Erdboden gefährlich unter seinem Schritt wippte, ohne ihn allerdings in die todbringende Umschlingung des Sumpfes hinabzuziehen.. Ein grauenerregender Anblick bot sich Bombas Blicken, als er etwa die Hälfte des Sumpfgebietes durchquert hatte. In einem seichten Schlammtümpel – nicht weiter als neun Meter entfernt – entdeckte er ein Geschlinge von Schlangenkörpern. Ihre verknoteten, verknäulten und umeinander gewundenen Körper hoben sich kaum vom schmutzigen Grau der Pfütze ab. Es war ein ekelerregendes Bild. „Sucurujus“, murmelte Bomba unwillkürlich, als könnte er mit dem Wort einen Bann über das Schlangengewühl aussprechen. Es mochten zwanzig Anakondas sein, die da zu einem unauflöslichen Gewirr von Schlangenleibern zusammengeschmolzen schienen. Jede von den Riesenschlangen mochte etwa zwei Meter messen, und es waren sicherlich auch solche von dreifacher Länge dabei. Sie sonnten sich. Bomba mußte daran denken, was geschehen wäre, wenn er zur Nachtzeit den Ygapo durchquert hätte. Ein Tritt in dieses Schlangennest hätte den sicheren Tod bedeutet. Mehr als alle anderen Dschungelbewohner haßte Bomba die Anakondas. Ihr Anblick war für ihn unauslöschlich mit 124
der Erinnerung an jenes furchtbare Abenteuer verbunden, als sich das breite, züngelnde Haupt einer dieser Riesenschlangen vor ihm erhoben hatte. Der Schuß aus Cassons Gewehr hatte ihm zwar damals das Leben gerettet, für Casson selbst aber hatte die Explosion der Waffe den Verlust der Erinnerungskraft bedeutet. Für Bombas Revolver wäre das Schlangengewirr ein lockendes Ziel gewesen. Er spielte mit dem Gedanken, in das Knäuel hineinzuschießen. Sein Zeigefinger krümmte sich – berührte den rundgebogenen Abzugshahn. Aber dann hielt sich Bomba doch zurück. Es war besser, die faulen Reptile nicht aufzuscheuchen. Jetzt würden sie ihn wahrscheinlich in Ruhe lassen, und er sparte außerdem wertvolle Patronen. Bomba bog nach rechts aus. Sein Blick war auf den schwankenden, trügerisch weichen Sumpfboden gerichtet. Von dort erwartete er eine Gefahr. Er vernachlässigte das schwärzliche Geäst der Sumpfbäume und sah nicht, wie ein seilförmiger Körper lautlos von einem Ast über seinem Kopf herabglitt. In dem Augenblick, als er unter dem Ast war, umschlang ihn das armdicke, glatte Tau des Schlangenleibes. Das muskulöse Band um Bombas Brust zog sich langsam, aber unaufhaltsam enger zusammen.
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17 In der Umschlingung einer Boa constrictor Die Ringe des Schlangenleibes hielten Bombas Körper zuerst nur schwach umspannt. Unwillkürlich versuchte der Junge, mit den Händen die Umklammerung zu sprengen. Das war ein erfolgloser Versuch. Ebensogut hätte Bomba sich abmühen können, einen Urwaldbaum zu entwurzeln. Die Boa hatte sich vorgeschnellt, um Bombas Leib ganz umschlingen zu können. Ihr wütender Eifer sollte für Bomba zum Vorteil werden. Das Reptil verlor seinen Halt mit dem Schwanzende am Ast, und es fiel mit dumpfem Geräusch zu Boden. Das bedeutete keine Befreiung für Bomba – es war nur ein Aufschub vor dem qualvollen Erstickungstod in der Umschlingung der Riesenschlange. Solange sie mit dem Schwanzende keinen festen Halt hatte, konnte sie die volle Kraft ihrer würgenden Leibringe nicht entfalten. Trotzdem hatte Bomba das Gefühl, daß seine Rippen zerdrückt wurden. Noch waren seine Arme frei, und er griff nach der Machete. Planlos und angsterfüllt hieb er auf den Schuppenleib ein, der seine Brust umspannte. Das Band des Schlangenleibes wurde für einen Augenblick noch enger. Das Reptil hob den Kopf und stieß in einer schnellen Bewegung nach dem Hals des Jungen. Soweit es möglich war, wich Bomba zur Seite, und die Zähne der Boa gruben sich in das Fleisch seiner Schulter.
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Der Schmerz entlockte Bomba einen Schrei. Wie rasend hieb er auf die Schlange los. Die Waffe verfehlte trotz der Erregung des Jungen nicht ein einziges Mal ihr Ziel. Er fühlte, wie seine Brust freier wurde und stach wieder zu. Noch einmal stieß der Kopf der Schlange steil in die Luft. Im gleichen Augenblick traf ein Hieb der Machete ihr Rückgrat und zerbrach es. Dicht vor Bombas Kopf wankte das Schlangenhaupt hin und her. Die Kraft verließ die Boa, und der breite Kopf sank langsam zu Boden. Sofort griff Bomba zu, faßte den Hals der Schlange mit der linken Hand und trennte mit einem scharfen Hieb den Kopf vom Leibe. Da erst löste sich die Umschlingung vollends. Der ringförmig gewundene Körper fiel zu Boden, und Bomba sprang aus der schuppigen Schlinge. Mit einer Geste des Ekels schleuderte er den Kopf der Schlange in den Sumpf. Dickes, rotes Blut quoll aus dem Rumpf. Der Leib lag jetzt still, und der Junge schaute auf das Schuppenmuster hinab. Es gab größere Schlangen als diese, doch ihr Leib war so dick wie Bombas Schenkel, und sie hatte eine Länge von dreieinhalb Metern. Die Wunde an der Schulter brachte sich nach der Erregung des Kampfes von selbst schmerzhaft in Erinnerung. So gut es ihm möglich war, untersuchte Bomba die Schulter. Die Schmerzen würden vergehen, sagte er sich, und die Wunde würde heilen. Da die Anakonda keine Giftzähne hatte, brauchte er sich nicht zu fürchten. Wieder hatte sich das harte Gesetz des Dschungels in Erinnerung gebracht. Nie durfte die Aufmerksamkeit erlahmen. Während Bomba weiterwanderte, suchte sein Bück jetzt ebenso das Geäst nach Feinden ab wie den 127
dunklen Sumpfboden. Der Rand des Sumpfgebietes war nahe. Bomba wußte es, als er das sanfte Rauschen eines Wasserfalles hörte. Schneller als zuvor eilte er vorwärts. Aus der brütenden Sumpfdüsternis trat er an das fließende, stürzende, brausende Wasser – wie aus dem Totenreich in das Leben. Tief atmete er den Geruch der aufstäubenden Wasserschleier ein. Das war wie ein erfrischendes Getränk für ihn, wie etwas, das die Jungen in der Zivilisation als Brauselimonade kannten und schätzten, wenn die Hitze ihre Zunge dörrte. Er stand dicht bei dem Wasserfall und lauschte auf das dumpfe Brausen. Ein weißer Gischtvorhang schien von der Felsenklippe herabzuhängen, über die sich der Fluß hinabstürzte. Die Wassermassen eilten weiter und beruhigten sich erst flußabwärts zu gemächlichem Fließen. Das Bild des Herangleitens, Herabstürzens und des wirbelnden, schäumenden Aufpralls fesselte Bomba so sehr, daß er minutenlang stehenblieb. Ein Blick auf die Sonne belehrte Bomba, daß er nicht länger am Wasserfall stehenbleiben durfte. Mit einem letzten Blick verabschiedete sich der Junge von dem dumpf dröhnenden Naturschauspiel der gleitenden und stürzenden Wassermassen. Seine Gestalt tauchte in den Dschungel und glitt schnell dahin. Er mußte die verlorene Zeit einholen. Obwohl er sich eilig seinen Weg suchte, vergaß Bomba nicht, auf die Zeichen rundum zu achten. Plötzlich stutzte er und blieb stehen. Auf seinem Pfad entdeckte er frische Pumaspuren.
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18 Am Wasserloch Bombas Hand glitt zum Griff des Revolvers, und zugleich suchten seine Augen das grüne Gewirr des Dschungels ab. Keine Bewegung – kein Geräusch, das auf die Nähe der gefürchteten Raubkatze hätte schließen lassen. Aber der Puma war ein ebenso verstohlener und leiser Feind, wie er wild und mächtig war. Sein Fell hob sich nur wenig von dem Hintergrund der Sträucher und des Unterholzes ab. Wenn er sich lautlos und angriffsbereit im Dickicht verbarg, war er fast unsichtbar. Es konnte auch sein, daß der Körper sich auf den Ast eines Baumes duckte. Irgendwo über Bombas Kopf mochte das Tier sprungbereit lauern. Besser war es jedenfalls weiterzueilen, als hier zu verharren. Mit schußbereitem Revolver glitt Bomba vorwärts. Doppelt vorsichtig streifte jetzt sein Blick über jeden Zweig. Eine halbe Stunde ging er dahin, ohne daß etwas geschah. Auch am Benehmen der harmlosen Waldtiere erkannte er, daß die Gefahr nicht in unmittelbarer Nähe lauern konnte. Vielleicht war der Puma hier vorübergewechselt, ohne die Anwesenheit des Jungen zu bemerken. Bombas Aufmerksamkeit entging nicht das Dahinkriechen einer Waldschildkröte, die sich vor dem herannahenden Schritt im Unterholz in Sicherheit bringen wollte. Er fing die Schildkröte, fesselte sie mit Lianen und hängte sie über seine Schulter. Das war etwas für die Araos. Nun 129
mußte er nur noch einen Aguti oder eine Capivara fangen, dann kam er nicht mit leeren Händen zu ihnen. Sie würden dann eher geneigt sein, die Bitte um zwei Hängematten zu erfüllen. Die frische Kühle nach dem Gewitter wich bald wieder der schwülen Urwaldhitze. Je weiter Bomba ging, um so mehr spürte er seinen Durst. Ein Kaktus wäre jetzt für ihn ein willkommener Anblick gewesen. Er hatte gelernt, die Stachelpflanze mit der Machete aufzuschlitzen, und das kühle, köstliche Wasser aufzufangen, das der Kaktus im Innern aufspeicherte. Manch einem hätte diese Kenntnis das Leben gerettet. Denn es hatte sicherlich Männer genug gegeben, die in der Nähe von Kakteen verdurstet waren, ohne zu wissen, wie nahe das lebenspendende Naß war. Jetzt aber war weit und breit kein Kaktus zu entdecken. Bomba mußte also weiterlaufen. Er wußte in der Nähe ein Wasserloch, das aus einer unterirdischen Quelle gespeist wurde. Dort hatte er schon mehr als einmal seinen Durst gelöscht. Bomba verließ den Urwaldpfad und bahnte sich seinen Weg durch das Dickicht. Auf diese Weise kürzte er den Weg ab. Der Wildwechsel lag noch ein Stück unterhalb. Einmal hielt er inne und lauschte. Was war das gewesen? Das Rascheln einer davonschleichenden Schlange? Oder doch der verstohlene Schritt eines Pumas? Das Rascheln verstummte, und Bomba eilte weiter. Wie eine Fata Morgana schwebte ihm das Bild der Quellmulde vor Augen. Bald würde er dort sein und seinen quälenden Durst löschen können.
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Als er nahe bei dem Wasserloch war, wurde Bombas Schritt vorsichtiger und leiser. Er wußte, daß Raubtiere die Quelle als Tränke benützten. Hinter einem Stamm verharrte er und schob lautlos das Blattwerk zur Seite. Er hatte sich nicht getäuscht: an der Quelle waren drei Pumas. Sie tranken ausgiebig, und Bomba fühlte die wütende Ungeduld eines Durstigen bei diesem Anblick. Er griff nach dem Revolver. Sollte er schießen? Das wäre unklug gewesen. Es war vernünftiger, solche mächtigen Feinde nicht zu reizen. Aber Bomba wollte auch trinken. Der Wunsch war übermächtig. Während er in durstiger Gier auf die Quelle schaute, hörte er ein Geräusch hinter seinem Rücken. Kampfbereit und mit gespannten Muskeln wandte er sich um.
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19 Ein königlicher Kampf Der leise, dumpfe Laut von Raubtierpfoten war zu hören. Es knisterte im Unterholz, und die Umrisse eines langen Körpers schimmerten undeutlich durch das Gebüsch. Es war das bräunliche Fell eines vierten Pumas. Allmählich fühlte der Junge Angriffslust und Gereiztheit, als wäre er selbst ein räuberisches Dschungeltier. Er wollte trinken! Und er mußte außerdem noch sein Leben gegen mehrere Feinde verteidigen. Sicherlich würden die Pumas nach dem Trank auch nichts gegen ein Fleischgericht einzuwenden haben. Aber er, Bomba, wollte nicht das Opfer sein! Fest packte er die Waffe und machte sich kampfbereit. Die Büsche teilten sich und der dunkle Kopf des Pumas wurde sichtbar. Die Mündung des Revolvers zeigte schon in die Richtung des Raubtierkopfes – da senkte sich die Waffe wieder. Im gleichen Augenblick ließ der Puma einen freudigen Laut des Erkennens vernehmen. Bomba steckte den Revolver in den Gürtel zurück und eilte vorwärts. „Polu!“ rief er freudig und umschlang den Hals des Tieres. Seine Hand streichelte über die Flanke des Pumas. Ohne es zu wissen, benahm sich Bomba wie ein Junge in der zivilisierten Welt, der einen großen Hund als Freund und Spielgefährten besitzt und ihn auf ähnliche Weise begrüßt.
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Der Puma rieb seinen Kopf am Körper des Jungen, und sie schritten zusammen auf die Baumgrenze zu. Noch ehe sie den Weiher überblicken konnten, hatte Polu seine Artgenossen gewittert. Dann sah er sie, und sein Schweif peitschte erregt die Büsche. Dazu drang ein gefahrkündendes Grollen aus seiner Kehle. So sanft Polu mit Bomba sein konnte, der sein Lebensretter war – so wild zeigte sich sein Wesen, wenn es galt, seinen königlichen Rang gegen die Stammesgenossen zu verteidigen. Wegen seiner Größe und Stärke wurde er von allen Bewohnern des Dschungels gefürchtet und geachtet. Er duldete keinen Nebenbuhler in seiner Würde. Wer diesen Anspruch zu bezweifeln wagte, wurde erbarmungslos von Polu bekämpft und getötet. Die drei Pumas erhoben sich und rückten aneinander als sie Polu sahen. Ein warnendes Knurren kam aus der Kehle des Herrschers. Aber ein dreifaches Grollen antwortete ihm. Die Pumas trotzten der Autorität. Zu dritt fühlten sie sich sicher und stark. Bomba hätte am liebsten seinen Freund zurückgerufen. Er überlegte noch, ob er einen Warnungsruf ausstoßen sollte, aber diese Entscheidung wurde ihm abgenommen. Polu war kampflustig geworden und hätte sich nicht mehr zurückrufen lassen. Er würde kämpfen – bis zum Sieg, oder bis er selbst bezwungen war und den Tod fand. Mit dem Kopf hin und her pendelnd, ging Polu vorwärts. Zähnefletschend zeigte er sein prächtiges Gebiß, und in den gelblichen Augen glühte das Feuer des Zornes und der Wildheit.
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Zögernd wichen die drei Pumas zurück. Je weiter sie an den Rand des Waldes zurückgedrängt wurden, um so gereizter klang ihr Grollen. Noch wußten sie nicht, was dieser Zornesausbruch ihres Königs zu bedeuten hatte. Sie waren eher verwirrt als wütend. Am Wasserloch herrschte im allgemeinen ein friedliches Beieinander der gleichgearteten Tiere. Die Vernunft sagte ihnen, daß an der Tränke eine neutrale Zone allen zugute kam. Um so mehr mußten die Pumas entrüstet sein, daß einer von ihnen dieses stillschweigende Übereinkommen verletzte. Auch ein König mußte Verträge innehalten. Je weiter Polu sie mit drohendem Knurren zurückdrängte, um so widerspenstiger gebärdeten sie sich. Jetzt war soviel Platz am Weiher, daß Bomba bequem trinken konnte. Das wollte wohl auch Polu zum Ausdruck bringen, als er den Kopf wandte. Bomba zögerte einen Augenblick lang. Noch waren die Pumas in gefährlicher Nähe. Wenn er sich zum Wasser niederbeugte, konnten sie ihn im Sprunge erreichen. Lieber hätte der Junge gewartet, bis die drei gefährlichen Burschen außer Sicht waren. Aber Bomba wußte, daß er jetzt zur Tränke gehen mußte. Für ihn hatte Polu seine Artgenossen zurückgetrieben. Der Puma würde gekränkt sein, wenn Bomba kein Vertrauen in seinen Schutz setzte. Rasch und mit antilopenschnellen Sprüngen eilte Bomba zum Rand des Wasserloches. Die Pumas waren so verblüfft, daß sie für kurze Zeit keine Bewegung machten. Bomba hatte sich niedergebeugt. Sein Spiegelbild schimmerte ihm entgegen, aber er hatte keine Zeit, sich mit seinem Ebenbild zu beschäftigen. In langen, durstigen Zü134
gen schlürfte er das klare Wasser. Er vergaß für einen Moment die Gefahr – er war nur ein erschöpftes, durstgequältes Lebewesen, das sich ganz dem Genuß des kühlen Trankes hingab. Inzwischen hatten die Pumas die neue Lage erfaßt. Da war ein Feind, der leichter zu bekämpfen war als der respekteinflößende Riese Polu. Dieses leichtfüßige, dünnhäutige Geschöpf am Weiher erinnerte die Pumas an das zarte Fleisch der Antilope. Ihre Nackenhaare begannen sich zu sträuben. Den Bauch dicht am Boden, krochen die Pumas in schlangenartigen Windungen näher an die Tränke heran. Gebieterisch brüllte Polu auf. Seine Pranke zerriß dem einem Puma die Schulter. Der Verwundete sprang seinen König an. Schneller als sein junger Gegner wich Polu dem Sprung aus und packte ihn im Gegensprung an der Kehle. Wild schlug der junge Puma um sich. Seine Hinterpranken rissen den Boden auf in dem vergeblichen Bemühen, dem tödlichen Biß in die Kehle zu entrinnen. Die beiden anderen Pumas krochen inzwischen näher an Bomba heran. In ihren Augen glomm Mordgier. Schleichend und langsam war ihr Angriff, doch im nächsten Augenblick konnte der Sprung folgen. Bomba hob den Revolver und zog ab. Einer der beiden Pumas sprang fast senkrecht in die Luft und fiel schlaff zu Boden. Durch das Auge war der Schuß mitten ins Gehirn gedrungen. Kaum hatte der Körper den Boden berührt, so blieb er bewegungslos liegen, als hätte nie die Kraft und Wildheit eines Raubtieres in dem Fellbündel mit den ausgestreckten Pranken gewohnt. 135
Das Schußgeräusch und der Todessprung des Gefährten raubten dem letzten Puma den Rest von Besinnung. Wutbrüllend sprang er Bomba ah. Der Junge wich zur Seite und entging dadurch dem schweren Körper um einige Zentimeter. Beim Ausweichen verfing sich Bombas Fuß in einer Wurzel, und er stolperte. Der Revolver entglitt seinen Fingern. Schon war der Puma herumgewirbelt und hatte sich zum nächsten Sprung zusammengeduckt. Da sprang ein mächtiger Körper an Bomba vorbei und warf sich auf seinen geduckt lauernden Feind. Polu hatte seinen ersten Gegner zur Strecke gebracht und eilte Bomba zu Hilfe. In dem Gewühl der beiden kämpfenden Körper war für den ersten Augenblick nichts zu unterscheiden. Die ungezügelte Kraft der Pranken, der muskelstarken Leiber und Raubtiergebisse war in einem grausig wilden Aufruhr entfesselt. Das Fauchen und Brüllen der Raubkatzen – die Erschütterung des Bodens beim Herumschnellen der Körper – allein das hätte jedem anderen den Mut genommen, in der Nähe dieser entfesselten Naturgewalten zu bleiben. In Bombas Seele lebte jedoch die Treue. Unbewußt war dieser edle Instinkt da. Für Bomba war es eine Selbstverständlichkeit, daß er nun seinerseits dem kämpfenden Polu beistehen mußte. Er ahnte, daß der alte König der Pumas vom ersten Kampf geschwächt war und für den frischen Gegner kein gleichwertiger Kampfpartner mehr sein würde. Mit dem Revolver in der Hand ging Bomba um die Kämpfenden herum. Er suchte nach einer Gelegenheit, einen Schuß anzubringen, ohne Polu zu gefährden. Bald sollte sich die Möglichkeit zeigen. Der junge Puma sprang 136
auf Polus Rücken. Sein Gebiß grub sich in das Nackenfell. Er suchte nach dem Halswirbel, um ihn mit einem tödlichen Biß zu zerbrechen. In einem verzweifelten Versuch, seinen Gegner abzuschütteln, wälzte sich Polu auf den Rücken. Er fiel zur Seite, und der Kopf des Gegners kam in Bombas Schußlinie. Jetzt war die Gelegenheit da, den Puma zu erlegen, ohne Polu zu gefährden. Bomba zog ab. Der Schuß ging durch die Stirn und betäubte den Puma. Der nächste Schuß war tödlich. Der Griff um Polus Körper löste sich. Der Puma fiel zur Seite, zuckte und blieb still liegen. Sofort eilte Bomba zu seinem Freund hin. Der alte Puma war erschöpft und blutete aus vielen Wunden. Trotzdem begann er zu schnurren, rieb seinen Kopf an der Schulter des Jungen und wollte ihm das Gesicht lecken. Bomba liebkoste den Hals des Tieres. „Du bist stark, Polu“, lobte er. „Du bist tapfer! Du bist der König aller Dschungeltiere!“ Es war, als verstände die Raubkatze Bombas Worte. Nicht anders war es zu erklären, daß sie in einer stolzen Bewegung den Kopf hob und ein triumphierendes Brüllen hören ließ. Es war wie ein Nachhall von Kampfeswut – wie ein Echo vieler Zorneslaute. Aber es war auch Genugtuung darin, die Eitelkeit des Siegers und die Freude über das Lob des Knaben, der an seiner Seite stand, und der ihn mit so schönen, sanften Tönen betörte. Polu war ein König unter seinesgleichen – aber er war auch stolz auf seinen aufrecht gehenden, schlanken, braunhäutigen Freund.
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20 Ein unerwarteter Empfang Friedlich lagerten die beiden ungleichen Freunde eine Weile am Weiher. Polu leckte seine Wunden, und Bomba holte die Schildkröte herbei, die er zuvor im Walde fallengelassen hatte. Über ihnen kreisten schon wieder hungrige Geier. Niemand vermochte zu sagen, woher sie so schnell die Kunde von Kampf und Tod erhalten hatten. Schließlich mußte Bomba aufbrechen. Der Tag ging zur Neige, und der Junge war ungewiß, ob er das Dorf der Araos noch erreichen und dann rechtzeitig in die heimische Hütte zurückkehren könnte. Bomba schritt deshalb rasch voran. An seiner Seite trabte Polu mit sanften, federnden Raubtiertritten. Kein Feind wagte sich in ihre Nähe, aber auch die Papageien und Affen nahmen Reißaus beim Anblick des grimmigen Wächters, den ihr Freund Bomba jetzt mit sich führte. Sie näherten sich schnell der Gegend, in der Bomba den gesuchten Stamm zu finden hoffte. Wie üblich wollte Polu vom Abschiednehmen nichts wissen. Die Worte, die Bomba sagte, verstand er wohl nicht. Wie sollte er auch begreifen, daß die Eingeborenen einen Besuch in Begleitung eines ausgewachsenen Pumas kaum als Liebenswürdigkeit betrachten würden! Aber er zeigte sich mit der Verabschiedung einverstanden und preßte zum Schluß noch seinen Kopf an Bombas Hüfte. Trotzdem kam es dem
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Jungen so vor, als schliche Polu heimlich irgendwo mit. Er kümmerte sich, jedoch nicht darum, sondern eilte vorwärts. Es bereitete Bomba Kummer, daß er kein weiteres Geschenk für die Araos mit sich führte als die Jaboty. Die Ereignisse des kampfreichen Tages hatten ihm keine Zeit gelassen, sich um die Jagd zu kümmern. Er hielt Umschau und entdeckte auch einen Tapir am Flußufer. Bevor er jedoch zur Waffe greifen konnte, hatte ihn der schlaue Bursche entdeckt. Mit einer Schnelligkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, verschwand er im Dschungel, und Bomba hatte das Nachsehen. Das war eine große Enttäuschung! Etwas Tapirfleisch wäre für die Araos eine kostbare Gabe gewesen. Mit solchen Geschenken würden ihn die Eingeborenen bestimmt freundlich aufgenommen haben. Doch diese Überlegungen waren jetzt nutzlos. Das rhythmische Dröhnen einer Trommel drang dumpf durch den Urwald. Bomba hob den Kopf und lauschte. Das indianische Lager konnte nicht mehr fern sein – soviel war sicher. Vermutlich schlug der Medizinmann des Stammes in feierlichem Takt die Trommel. Das war wie ein Gebet – eine Anrufung der Götzen, denen die Araos dienten. Oder war es ein anderer Stamm? – Bomba konnte sich keiner Landkarten und Meßgeräte bedienen. Er war auf seinen Ortssinn und sein Schätzungsvermögen angewiesen. Danach mußte er sich in der Gegend befinden, in der die Araos ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nun war es aber so, daß die Indianerstämme nicht sehr seßhaft waren. Sie wechselten ihre Wohnplätze je nach dem Wandern des Wildes, oder sie suchten bessere Fischplätze, wenn eine Gegend des Flußes sich als schlechtes 139
Jagdgebiet gezeigt hatte. Doch auch fremde Stämme bedeuteten keine Gefahr für Bomba. Zu fürchten waren nur die Kopfjäger: die einzigen menschlichen Feinde, die er im Dschungel bisher kennengelernt hatte. Da war wieder die mahnende Stimme des Instinktes, die Bomba zur Umkehr überreden wollte. Aber der Junge eilte weiter. Er fühlte zwar, daß eine Gefahr ihn umschwebte, da er jedoch keinen Grund zur Furcht entdecken konnte, schalt er sich selbst einen Feigling und näherte sich der Eingeborenensiedlung. Zahlreiche Fußspuren verrieten ihm die Nähe des Lagers. Da es nicht schicklich war, heimlich in ein Dorf einzudringen, machte sich Bomba schon von weitem durch Klatschen und Rufen bemerkbar. Er hielt im Laufen inne und wiederholte sein Rufen und Händeklatschen. Nichts rührte sich um ihn her. Das Echo seiner Rufe verhallte, und keine Antwort ertönte. Noch einmal wiederholte er seine Signale, und er erhielt wieder keine Antwort! Bomba begann zu ahnen, daß sein Instinkt ihn nicht getäuscht hatte. Gefahr lag in der Luft! Wären ihm die Indianer freundlich gesonnen, dann hätten sie einen Botschafter ausgeschickt, um ihn zu begrüßen und in der Maloca zu bewillkommnen. Statt dessen hatten seine Rufe nur den Erfolg gehabt, daß jetzt alle Geräusche von Geschäftigkeit und Leben im Lager erstorben waren. Der Dschungel um ihn her schien sich mit lautlos huschenden Gestalten zu füllen. Bomba sah es nicht, aber sein feines Wahrnehmungsvermögen verriet ihm die Nähe von Menschen. Er fühlte, daß sich hinter Bäumen und Büschen Ge140
stalten bewegten – daß ihn feindliche Augen beobachteten – und daß womöglich Bogensehnen sich spannten und Pfeile seinen Körper schon als Ziel suchten. Doch im Dschungel galt das Gesetz: keine Furcht zu zeigen! Unbeweglich stand er da, und er wandte sich erst um, als hinter ihm ein Rascheln im Gebüsch laut und deutlich die Annäherung eines Lebewesens verkündete. Ein Indianer von über sechs Fuß Länge ragte vor ihm auf. Kein Lächeln des Willkommens lag auf seinen Zügen. Er blickte düster und mit gerunzelter Stirn auf Bomba herab.
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21 Um Haaresbreite Bomba verlor die Nerven nicht. Er lächelte den Indianer an, als hätte ihn dieser in der freundlichsten Weise begrüßt. Mit der geballten Faust schlug er gegen seine Brust und rief laut und mit furchtloser Stimme: „Kari Katu Kama-rah!“ Damit erklärte er sich zum „guten, weißen Freund“. Der Indianer behielt seine finstere Miene bei und brummte nur: „Uff!“ Dann wies er auf die Jaboty, die über Bombas Schulter hing. Der Junge nahm die noch lebende Schildkröte und reichte sie dem Indianer hin. Wieder verriet der Eingeborene kein Zeichen von Freude oder Freundlichkeit. Er winkte dem Jungen nur zu und ging voran, dem Lager entgegen. Bomba folgte dem hochgewachsenen Mann. Um sich her wußte er verstohlene Begleiter – Augenpaare, die ihn beobachteten, Schritte, die seinem eigenen Schritt folgten. Doch nichts war zu erblicken. Kein Zweig knackte unter den geschickten Füßen seiner lautlosen Wächter. In wenigen Minuten waren sie bei der Maloca. Es war ein kleines indianisches Dorf mit etwa dreißig Hütten, die kreisförmig um eine Lichtung in der Mitte angeordnet waren. Die meisten Hütten bestanden nur aus Matten, die zwischen zwei Pfosten hingen. Palmblätter bildeten das Dach. Das alles bot keinen Schutz. Selbst der sanfteste Gewittersturm mußte diese primitiven Unterkünfte hin142
wegwehen. Stattlicher war die Behausung des Häuptlings. Sie glich mehr der Hütte, die Casson und Bomba bewohnten. Allerdings waren nur zwei feste Wände aufgerichtet. In der Mitte der Lichtung erwartete der Häuptling den jungen Gast. Ein Dutzend stämmiger Krieger umgaben ihn wie eine Leibwache. Der Häuptling war alt, zahnlos, und hatte eine braun verwitterte Gesichtshaut. Die kleinen Augen ruhten dunkel und unergründlich auf Bomba. Gesichter starrten Bomba an – überall nur feindselige, düstere Indianergesichter. Vergeblich suchte der Junge in irgendeinem der Gesichter nach Spuren von Freundlichkeit. Der Riese, der ihn im Wald abgeholt hatte, ging auf den Häuptling zu und legte ihm die mit Lianen gefesselte Schildkröte zu Füßen. Dann folgte eine kurze Beratung im Flüsterton. Bomba konnte kein Wort auffangen. Er sah nur, daß ihn anschließend der Häuptling zu sich heranwinkte. Ohne zu zögern, gehorchte der Junge. Er wußte, daß ihn jeder Schritt vorwärts tiefer in die Falle hineinführte, aber er durfte sich nichts anmerken lassen, sonst wäre er auf jeden Fall verloren gewesen. Die Beratung war wohl nicht zu Bombas Gunsten ausgegangen. Noch unfreundlicher starrten ihn die Augenpaare an. Die Männer scharrten unruhig mit den Füßen auf dem Boden, als wollten sie sich im nächsten Augenblick schon auf den wehrlosen, einsamen Jungen stürzen. Ein Murmeln kam von ihren Lippen – wie Donnergrollen vor dem aufziehenden Gewitter. Die Gedanken jagten einander in Bombas Gehirn. War es möglich, daß dieser Stamm ein Abkommen mit den Kopfjägern getroffen hatte? Wollten 143
sie sich an dem Versuch beteiligen, die Weißen in ihrem Gebiet zu töten? Das erschien dem Jungen fast unmöglich. Zwischen den beiden Stämmen bestand Todfeindschaft. Die Kopfjäger würden ebensogern die Araos zu ihren Opfern machen, wenn sie erst die weißen Feinde zur Strecke gebracht hätten. Viel wahrscheinlicher war nach Bombas Meinung, daß die Araos den Weißen zürnten, weil ihre Anwesenheit die gefürchteten und gehaßten Kopfjäger in diese Gegend gelockt hatte. Die Araos betrachteten Casson mit abergläubischer Scheu. Sie waren geneigt, die Meinung der Kopfjäger zu teilen, und den Alten für einen ,Mann des Bösen’ zu halten. Außerdem hofften sie, daß die gefürchteten Kopfjäger vielleicht freiwillig zum ,Großen Wasserfall’ zurückkehren würden, sobald sie wüßten, daß Casson und der junge Weiße tot waren. Das war die richtigste der Überlegungen, die durch Bombas Sinn huschten, während er vor den Häuptling trat. Tatsächlich legten die Indianer Casson und Bomba den Einfall der Kopfjäger zur Last. Und jetzt war ihnen einer der Störenfriede direkt in die Arme gelaufen. Sie konnten ihn mühelos beseitigen. Ein verstohlener Blick über die Schulter zeigte Bomba, daß der Fluchtweg abgeschnitten war. Zwanzig andere Indianer standen hinter ihm. Sicherlich war das die unsichtbare Wache gewesen, die ihn im Urwald bis zur Maloca begleitet hatte. An einem Ende des Lagers kauerten die Frauen und Kinder beieinander. Die völlige Lautlosigkeit zeigte Bomba, daß auch diese neutralen Beobachter auf ein besonderes Ereignis warteten.
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Bomba war kaum noch ein paar Schritte von dem Häuptling entfernt, als ihn auf ein leises Befehlswort hin viele Hände ergriffen. Er war jetzt ein Gefangener, und niemand wußte besser als Bomba, was es bedeuten konnte, Gefangener eines abergläubischen und gereizten Indianerstammes zu sein. Unversehens lösten sich die zupackenden Hände wieder, als ein Schrei von der Gruppe der Squaws und Mädchen her ertönte. Verblüfft ließen die Indianer die Arme sinken und schauten das kleine Mädchen an, das sich aus der Masse der kauernden Weibergestalten gelöst hatte und auf die Lichtung rannte. Das Mädchen war nicht älter als sechs oder sieben Jahre. Bomba war ebenso erstaunt wie die Indianer selbst. Die Kleine lief auf ihn zu, nahm seine Hand in ihre eigene und wandte sich dem Häuptling zu. „Kama-rah!“, rief sie mit dünner aber gebieterischer Stimme. „Kari Katu Kama-rah!“ Bei diesen Worten berührte sie Bombas Brust, nur viel leichter und zarter als er es selbst zuvor bei der Begrüßung des Sendboten aus dem Lager getan hatte.
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22 Das Blatt wendet sich Das Eingreifen des Mädchens zu Bombas Gunsten fand jetzt erst seinen Widerhall bei den verblüfften Männern. Ein Durcheinander erregter Zurufe kam aus den Kehlen der Männer. „Pirah!“ rief der Häuptling das Mädchen an. Zurechtweisung und Zärtlichkeit mischten sich in diesem Zuruf. „Da-rah!“ Pirah zeigte jedoch keine Neigung, sich dem Befehl zu beugen. Sie stampfte mit dem Fuß auf und faßte noch fester Bombas Hand. Der Junge schaute sie jetzt genauer an, und er erkannte in ihr die jüngste Tochter des Häuptlings Hondura. Mitunter war er auf seinen Jagdzügen an dem Dorf vorbeigekommen und hatte das Mädchen gesehen. Im allgemeinen sind die Frauen des Dschungels noch schweigsamer als ihre Männer. Pirah jedoch schien eine Ausnahme von dieser Regel zu bilden. Wie eine kleine Amazone liebte sie es bereits, bei der Jagd mitzuwirken. Sie schulterte einen Bogen von ihrer eigenen Körpergröße, und sie hatte gelernt, nach einem Ziel zu schießen, als ihre winzigen Hände noch kaum die Sehne spannen konnten. Ihr Mut, ihr feuriges Temperament und ihre spielerische Geschicklichkeit machten den alten Häuptling stolz auf seine Tochter. Ihr wurde kaum etwas verwehrt, und so war
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die kleine Pirah allmählich zum verzogenen Liebling des Stammes geworden. Nun war jedoch ein Unterschied zwischen Kinderspiel und dem Ernst des Lebens im Dschungel. Bomba war ein Wesen, das vielleicht den Stamm unter den Bann des bösen Mannes in der Hütte zwingen konnte. Auch ein zärtlicher Vater durfte in diesem Falle nicht nachgiebig sein. Die jungen Krieger streckten von neuem die Hände nach Bomba aus. Furchtlosigkeit und Entrüstung blitzten aus den Augen der kleinen Indianerin. Ihre Hand schob einen der Indianer fort, der dem Jungen zu nahe gekommen war. „Kama-rah!“ wiederholte sie ihren Freundschaftsruf. Aber ihr Vater, der alte Hondura, blickte sie so finster an, daß sie zu Bomba zurückwich und sich an seine Seite schmiegte. „Da-rah!“ befahl der Häuptling zum zweiten Male. Jetzt gehorchte das Mädchen. Sie ging weinend zu den Frauen und Mädchen zurück. Ihr kindlicher Verstand war weit genug entwickelt, um ihr zu sagen, daß mit dem Vater jetzt nicht zu spaßen war. Als die kleine Beschützerin fort war, faßten die Hände von neuem nach Bomba, und er fühlte sich in die Mitte gezogen – dorthin, wo die Krieger ihren Häuptling umstanden. Doch eine neue Unterbrechung befreite Bomba noch einmal. Wie im Traumzustand näherte sich Peto, der Medizinmann, der Gruppe. Die Hände vorgestreckt, mit geschlossenen Augen – wandelte er auf Bomba zu, und die Krieger ließen den Jungen los und wichen zurück. Die Finger des Medizinmannes tasteten den Leib und das Ge147
sicht des Jungen ab. Ein krampfartiger Anfall schüttelte dann Petos Körper. Er verdrehte die Augen, seine Glieder zitterten, und Schaum, trat auf seine Lippen. Nach Bombas Meinung konnte das unmöglich etwas Gutes bedeuten. Dennoch ließ er alles bewegungslos über sich ergehen. Der alte Medizinmann begann ein Geplapper, das wie das wirre Gerede eines Schlafenden klang. Mitunter schwoll seine Stimme bis zu einem schrillen Kreischen an. Der ganze Stamm beobachtete regungslos und gespannt das Verhalten des Medizinmannes – jener geheimnisvollen und gewichtigen Persönlichkeit, die mit den Göttern im Bunde war und vieles sah, was irdische Augen nicht erkennen konnten. Heftig bewegte Peto die Lider auf und ab. Die Gesichtsmuskeln zuckten und erzeugten grauenerregende Fratzen aus dem Gesicht des Alten. Er ging um Bomba herum und kniff ihn mehr als einmal so stark in die Beine, daß der Junge schmerzhaft Zusammenzuckte. Plötzlich hielt der Medizinmann inne und öffnete die Augen weit. Bomba dachte, daß er jetzt sein Todesurteil aussprechen würde. Der Alte schaute ihn starr an und schrie dann mit krächzender Stimme: „Kari Katu Kama-rah!“ Auf die Indianer wirkten die Worte wie ein Zauberruf. Es war so, als wäre ein Bann der Bösartigkeit und Finsternis von ihnen genommen. Ihre Mienen erhellten sich. Im Chor wiederholten sie die ‘Worte: „Kari Katu Kama-rah!“ Bomba wußte, daß er jetzt gerettet war. Peto hatte erklärt, daß der Junge ein Freund wäre, und Hondura ebenso 148
wie seine Leute nahmen die Entscheidung des allwissenden Medizinmannes widerspruchslos hin. Der Häuptling lächelte mit seinem zahnlosen Mund und winkte Bomba freundlich zu. Jetzt gestaltete sich der Empfang so, wie ihn sich der Junge vorgestellt hatte. Er kauerte sich an die Seite des alten Hondura, und die Männer des Stammes hockten sich um die beiden herum. Bomba glaubte noch zu träumen. Vergeblich suchte er jetzt in irgendeinem der Gesichter nach Spuren von Feindseligkeit. Die jungen Männer lächelten ihn zutraulich an. Sie schwatzten und lachten und wollten alle zu gleicher Zeit Fragen an ihn stellen. Sie waren wirklich wie gutartige Kinder – nur durften sie nicht irgendeinem bösartigen Aberglauben zum Opfer fallen. Dann waren sie unberechenbar und konnten großes Unheil anrichten. Noch konnte Bomba nicht begreifen, warum er Gnade unter den Augen des Medizinmannes gefunden hatte. Das war von großer Wichtigkeit für Casson und für ihn selbst. Mit den Araos als Verbündeten durfte er der Zukunft vertrauensvoller entgegenblicken. Der Häuptling kam von selbst auf die Kopfjäger zu sprechen. Bomba erklärte ihm, wie er einen des Stammes im Urwald getroffen hatte und wie die Unterredung ausgefallen war. Dann erfuhr Bomba, daß Nascanora und einige Leute den Häuptling der Araos besucht hatte. Dabei hatten die Kopfjäger ihre Freundschaft beteuert. Hondura wußte jedoch, was er davon zu halten hatte. Er erklärte dem Jungen, daß er den Kopfjägern mißtraute. Bei dieser Gelegenheit hörte Bomba auch, daß Nascanora tatsächlich nach Cassons Hütte gefragt hatte. Der 149
Kopfjäger wollte einen der Araos als Führer haben, um Casson aufzufinden. Hondura hatte jedoch erklärt, er kenne den Aufenthalt des weißen Mannes nicht. Daraufhin hätte Nascanora zwar ein wenig erfreutes Gesicht gezeigt, aber sich immerhin mit Freundschaftsbeteuerungen verabschiedet. Hondura erklärte lächelnd, daß er selbst im Zweifel gewesen wäre. Nun hätte jedoch Peto, der Medizinmann, gesprochen, und er würde nun niemals mehr die Pläne der Kopfjäger unterstützen. Bomba atmete auf, als er das hörte. Getränk und Speisen wurden jetzt angeboten, und der Junge hielt Umschau nach der kleinen Häuptlingstochter, die ihm vorhin so tapfer Beistand leisten wollte. Der alte Hondura lächelte nach seiner Art lautlos und zufrieden. Er winkte, und das Mädchen kam herbeigetrippelt. Zuerst wußte sie nicht, ob sie jetzt ein Ungewitter des väterlichen Zornes zu erwarten hätte. Aber als sie sah, daß eitel Freude und Zufriedenheit herrschten, ließ sie sich neben Bomba am Boden nieder und griff mit einer verstohlenen Bewegung nach seiner Hand. Was ging jetzt in Bombas Herz vor? Er fühlte die kleinen Finger in seiner Hand, und er sah die leuchtenden, braunen Augen des Kindes auf sich gerichtet. Das Lächeln der kleinen Pirah verschönte ihr Gesicht so sehr, daß Bomba glaubte, noch nie so etwas Hübsches gesehen zu haben. Die Kleine war auch wirklich wie ein graziöses, zartgliedriges Spielzeug in Mädchengestalt. Wenn sie plauderte und ihre kleinen, weißen Zähne beim Lächeln zeigte, wußte Bomba mit einem Male, daß es wohl noch andere Arten von Freundschaft gab – nicht nur die Kameradschaft 150
mit Affen, Pumas und Papageien im Dschungel. Es gab vielerlei, was Bomba nicht kannte und wußte. Dazu gehörten auch die Berührungen der winzigen Mädchenfinger an seiner Hand – ein Lächeln, das ihn bezauberte und für den Augenblick mit Glück erfüllte. Trotzdem mußte sich Bomba von den Araos trennen. Er durfte nicht auf das bittende Geflüster der kleinen Pirah hören und nicht auf das Zureden des Häuptlings, der an der Freundschaft Bombas mit seiner Tochter augenscheinlich Gefallen fand. Bevor er zum Aufbruch rüstete, brachte Bomba noch seine Bitte wegen der Hängematten vor. Bereitwillig ließ der Häuptling zur Auswahl einen ganzen Haufen herbeischleppen. Am liebsten hätte er Bomba ein halbes Dutzend davon mitgegeben. Der Junge mußte ihn erst überzeugen, daß ihm das Geschenk zu schwer werden würde, ehe sich Hondura dazu herbeiließ, für den Gast nur zwei Hängematten als leichtes Paket zusammenzupacken. Nichts entging dem wachen Blick des erfahrenen Alten. Er bemerkte, daß Bomba seine Pfeile verschossen hatte, und er bestand darauf, daß sich Bomba zum Abschied aus dem Besitz des Häuptlings ein Dutzend guter Pfeile aussuchte. Der Abschied von der kleinen Pirah wurde Bomba schwer. Er fand das merkwürdig, und er wollte nach Jungenart mit einer Handbewegung von dem Mädchen Abschied nehmen. Aber sie klammerte sich an ihn, und er mußte viele sanfte, zuredende Worte gebrauchen, ehe sie sich zögernd von ihm trennte. Hinterher war er selbst erstaunt, wie leicht ihm die schönen und lieben Worte über die Lippen gegangen waren. Was war wohl für ein Zauber 151
in einem so winzigen, braunhäutigen Ding mit dunklen Augen und hübschem Gesicht? Das wußte Bomba noch nicht – und das war gut für ihn! Von Hondura verabschiedete sich Bomba wie ein vollendeter Diplomat mit endlosen Höflichkeitsworten und mit dem Versprechen, recht bald mit Geschenken zurückzukehren. Der Häuptling ließ es seinerseits nicht an Gesten der Freundschaft fehlen. Einige junge Krieger mußten Bomba weit in den Dschungel hinein begleiten. Als sie ihn schließlich verließen, wiederholten sie die Worte: „Kari Katu Kama-rah!“ Nach den Freuden und der Geselligkeit der letzten Stunden fühlte sich Bomba im Dschungel mit einem Male sehr einsam. Der Urwald war ihm selten so still und leblos erschienen. Hier war keine kleine Pirah, die mit ihm lachte und ihm Scherzworte zurief. Hier gab es keine fröhlichen Indianerjungen, die ihn als alten Bekannten behandelten und Fragen an ihn stellten. Selbst das Schnattern der Affen drang nur gedämpft und von weitem an sein Ohr, und die Papageien verhielten sich auch stiller als gewöhnlich. Im Dahinwandern fiel Bombas Blick auf die Spur eines Tapirs. Sofort erwachte sein Jagdeifer. Das würde die richtige Beute für Casson und ihn sein – und eine Abwechslung nach den eintönigen Mahlzeiten von Schildkröteneiern. Als er ein kurzes Stück der Spur gefolgt war, stieß er unerwartet schnell auf das Tier. Beinahe hätte er seine Anwesenheit verraten. Der Wind stand jedoch gegen ihn, und der Tapir hatte ihn deshalb nicht wittern können. Der leise Schritt des Jungen war dem Tier entgangen. Es
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wühlte mit seiner drolligen, halblangen Rüsselschnauze im Boden herum auf der Suche nach etwas Freßbarem. Bomba legte einen von Honduras Pfeilen in den Bogen und zielte. Der Tapir bot ihm von der Seite das beste Ziel. Der Pfeil schwirrte davon und traf das Tier in den Schädel. Es fiel sofort um und starb ohne Zuckungen. In schnellen Sprüngen war Bomba bei seiner Jagdbeute. Er war froh, dem alten Casson etwas Gutes zum Essen mitbringen zu können. Mit der Machete schnitt er die besten Stücke aus dem Körper des Tapirs heraus. Er wickelte sie in große Blätter und umschnürte das Paket mit Lianen. Zusammen mit den Hängematten warf er sein Gepäck über die Schulter und wanderte fröhlich weiter. Nun war der Tag noch sehr gut geworden, dachte er zufrieden. Er hatte die Freundschaft der Araos gewonnen und seinem Feind Nascanora neue Hindernisse in den Weg gelegt. Außerdem hatte er zu seiner und Cassons Bequemlichkeit neue Hängematten erhalten und soeben noch das Glück gehabt, daß ihm ein schmackhafter Braten über den Weg lief. Der Gedanke an das Essen ließ Bomba schneller dahineilen. Beim Abschied hatte ihm Pirah noch einige geröstete Brasilnüsse in die Hand gedrückt. Das war seine ganze Nahrung seit dem Morgen gewesen. Jetzt hatte er Hunger wie ein Wolf. Es dämmerte bereits. Bomba mußte seine Augen anstrengen, um jede nahende Gefahr zu erkennen. Bald würden die Raubtiere aufbrechen zu ihren nächtlichen Jagden. Noch hörte er keinen der verdächtigen Rufe im fernen Dschungel, aber er nahm etwas anderes wahr. Sein Schritt wurde langsamer. Der Instinkt warnte ihn wieder, 153
und diesmal achtete Bomba auf die Warnung. Leise glitt der Junge weiter. Kein Zweig knickte unter seinen Tritten. Kein Farnblatt raschelte, nichts verkündete das Nahen eines Lebewesens, wenn Bomba durch das Unterholz schlich. Der Geruch von Feuer drang in die Nase des Jungen. Er hatte sich also nicht getäuscht. Bald sah er den Schimmer der Flammen durch das Gebüsch dringen. Vorsichtig kroch er so nahe wie möglich heran und lauschte. Er konnte die Stimmen noch nicht verstehen und mußte es wagen, auf dem Bauch näher heranzukriechen. Als er fast den Lichtkreis des Feuers erreicht hatte, blieb Bomba liegen und hob in einer fast unsichtbar langsamen Bewegung den Kopf. Dreißig Krieger kauerten um das Lagerfeuer. Da war auch der Mann dabei, den Bomba im Dschungel vor Tagen getroffen hatte. Kopfjäger! Auch ohne ihre gelbe Kriegsbemalung gesehen zu haben, wußte Bomba jetzt Bescheid. Das waren die Kopfjäger vom ,Großen Wasserfall’, die Casson und ihm den Tod geschworen hatten. Sie saßen in einer Beratung zusammen. Was hatten sie vor?
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23 Worte des Unheils Es war ein furchterregendes Bild in der Abenddämmerung des Dschungels: dunkle Gestalten, um ein Feuer kauernd und der Beschwörungsformel lauschend, die aus dem Munde des Medizinmannes kam. Der Schamane rührte in einem Topf, aus dem dichte Dampfschwaden aufstiegen. Wie ein Hexenmeister bewegte der Indianer die Hände, als wollte er aus dem Dampf Gestalten hervorzaubern. Unentwegt murmelten seine Lippen Worte, die Bomba nicht verstehen konnte. Das düstere Gemurmel gab der Szene den Anschein einer Höllenfahrt. Bomba vermochte einen Schauder nicht zu unterdrücken, als er jetzt das Gesicht des Häuptlings erkannte. Nascanora war riesengroß, und sein Gesicht war von Narben entstellt. Wie eine häßliche Maske wirkte es im Feuerschein, der flackernd die Züge erhellte. Plötzlich hielt der Medizinmann in seiner Beschwörungszeremonie inne. Mit erhobenen Armen verkündete er dem Häuptling den Willen seiner Götter. Nascanora nickte und wandte sich mit lauter Stimme an seine Krieger. „Wir haben die Götter gefragt über Cody Casson! Die Götter sind erzürnt! Er ist ein Mann des Bösen, sagen sie! Der weiße Zauberer wird dem Stamm immer Unglück bringen! Casson muß sterben!“ Die Krieger antworteten in einem dumpfen Chor der Zustimmung. Bomba fühlte seinen Herzschlag hoch in der Kehle. So mußte er also Zeuge sein, wie Cassons Tod be155
schlossen wurde! Aber sie sollten an seinem alten Lehrer nicht mühelos ihre Mordlust stillen. Instinktiv griff seine Hand nach der Machete, und er lächelte grimmig. „Wir wissen jetzt, wo wir den Mann des Bösen finden können!“ fuhr der Häuptling fort. „Die Götter haben uns einen Fingerzeig gegeben, und Morana hat den Ort gefunden. Es fügt sich gut, daß der Mann des Bösen allein ist. Der Junge, der bei ihm wohnt, ist fort, sagt Morana. „Wir werden jetzt Casson fangen. Wir werden ihn hierher bringen!“ Der Höllenchor der Kopfjäger antwortete mit einem erregten Gebrüll. Weit schallte das Geheul in das Urwalddunkel hinaus. „Wir laufen!“ schrien sie. „Wir eilen! Jetzt gleich!“ „Der Mann des Bösen wird gefangen!“ schrie Nascanora triumphierend. Seine Züge verzerrten sich zu einer Fratze, deren Scheußlichkeit allein für einen alten, schutzlosen Mann fast den Tod hätte bedeuten können. „Wir binden ihn an einen Baum!“ malte Nascanora mit quälsüchtiger Freude die Szene weiter aus. „Wir binden ihn mit dicken Lianen! Wir machen Feuer – ein großes Feuer – ein mächtiges Feuer!“ Der Häuptling lachte ein wahres Höllengelächter. Es fand sein Echo im Urwald, als lauerten rundum böse Dämonen, die ihre Freude an der Grausamkeit Nascanoras hatten. „Brennen wird der Mann des Bösen!“ Nascanoras Stimme steigerte sich zu einem Geheul triumphierender Vorfreude. „Brennen wird Casson! Schreien wird er – und
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die Götter werden zufrieden sein! Der Mann des Bösen wird dem Stamm Nascanoras kein Unheil mehr bringen!“ In dem Geschrei, das jetzt erschallte, fiel es Bomba leicht, sich zurückzuziehen. Er ließ keinen Laut hören. Alles hing davon ab, daß er rechtzeitig die Hütte erreichte. Die Kopfjäger durften seine Gegenwart nicht ahnen. Noch einmal drang das teuflische Geheul an Bombas Ohr, als er sich aufrichtete, um in schnellem Lauf seinem Ziel zuzustreben. Im ersten Augenblick dachte er, die Wilden hätten ihn trotz seiner Vorsicht entdeckt. Aber er sagte sich dann, daß dies wahrscheinlich bei den Kopfjägern das Zeichen zum Aufbruch war. Bomba eilte durch den Dschungel, als verfolgten ihn tatsächlich die blutrünstigen Krieger Nascanoras. Er mußte früher bei der Hütte sein: nichts anderes beschäftigte ihn jetzt. Wenn die Wilden Casson und ihm nach dem Leben trachteten, so sollten sie einen würdigen Empfang erleben! Die Dämmerung war jetzt schon so stark, daß nur Bombas katzengleiche Augen alle Hindernisse sofort sahen. Sein Weg führte auch über einen Bach. Als Brücke diente ein Palmenstamm, der noch schlüpfrig vom Regenguß des Tages war. Gewöhnlich zog Bomba seine Sandalen aus, um mit den Zehen beim Überschreiten der primitiven Brücke besseren Halt zu finden. Doch die Eile trieb ihn weiter, und er balancierte mit den Sandalen an den Füßen über den Stamm. Fast hatte er den breiten Bach überquert, als er ausglitt und ins Wasser fiel. Im Fallen stieß er mit dem Kopf, gegen den Baum. Das betäubte ihn ein wenig. Erst als er ins Wasser eintauchte, kam er wieder zu sich
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und arbeitete sich hustend und spuckend nach oben. Mit kräftigen Stößen strebte er dem Ufer zu. Ein Biß ins Bein erinnerte ihn schmerzhaft an die Anwesenheit der sägezahnigen Pirhanas, dieser nicht sehr großen, aber gefräßigen Fische, die in allen Nebenflüssen des Amazonas häufig zu finden sind. Für Bomba war es ein Glück, daß er dem Ufer nahe war. Noch ein paar letzte, kräftige Stöße – und er ergriff eine ins Wasser ragende Wurzel, um sich hochzuziehen. Im gleichen Augenblick packte aber auch ein zweiter Pirhana zu, der gern noch ein schmackhaftes Stück Menschenwade zu sich genommen hätte. Auf keinen Fall wollte der kleine Räuber seine Beute freigeben. Er ließ sich mit dem Bein aus dem Wasser ziehen, und erst das wütende Schütteln Bombas löste seine Kiefer. Platschend fiel der Pirhana ins Wasser zurück. Obwohl Bomba wußte, daß die Bisse der Raubfische schmerzhafte Schwellungen verursachten, kümmerte er sich nicht um die Wunde. Er war zornig auf sich selbst, weil er den Halt auf der Brücke verloren hatte. Das mußte ihm passieren –! Dieses Mißgeschick hatte ihn wertvolle Minuten gekostet, Minuten, die den Untergang für ihn und Casson bedeuten konnten! Er eilte weiter. Schwach vor Hunger und müde von den Abenteuern des Tages, kam er nicht so gut voran, wie er gehofft hatte. Der erste Fuß begann anzuschwellen. Stechende Schmerzen erschwerten jeden Schritt. Furcht und Besorgnis lähmten seine Widerstandskraft. Vielleicht waren alle seine Anstrengungen vergeblich – vielleicht hatten die Wilden die Hütte schon erreicht.
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Bomba stellte sich vor, wie sie den wehrlosen Casson zusammengeschnürt wie ein Bündel auf die Schultern luden und im Triumph zu dem wartenden Feuer schafften. Bei dieser gräßlichen Vorstellung raffte sich Bomba noch einmal zusammen. Er mußte die Hütte erreichen – er mußte rechtzeitig bei Casson sein. Endlich kam er in die vertraute Umgebung. Hier kannte er jeden Baum und jeden Strauch. Nichts verriet seinen Schritt. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch etwa achtzig Meter weit zu einer kleinen Anhöhe hinauf. Von hier aus konnte er genau auf die Hütte hinabsehen. Vorsichtig schoben seine Hände den Vorhang von Schlinggewächsen auseinander. Die Nacht war ruhig. Nur die üblichen Urwaldlaute durchdrangen die lastende Stille. Es war eine trügerische Ruhe. Das erkannte Bomba bald genug. Nahe der Hütte duckte sich eine schattenhafte Gestalt. Noch mehr dieser unheimlichen Schatten lauerten da. Es war wie ein Ring des Todes, der den ahnungslosen Casson umgab. Die Übermacht war zu groß! Auf den schwachen Casson konnte sich Bomba bei dem bevorstehenden Kampf kaum verlassen. Durch die eigene Unachtsamkeit war er nun auch noch zu spät gekommen, und er mußte sich den Eingang in die Hütte erkämpfen. Wie sollte er vorgehen? Gegen die Übermacht kämpfen? Sinnloser Selbstmord wäre das gewesen. Bomba kroch zu einem hohlen Baum in der Nähe. Hier war die Gegend seiner kindlichen Spiele gewesen. Der hohle Baum hatte ihm als Aufenthalt gedient, und er hatte dort auch einen Teil seiner Kinderschätze aufbewahrt. Die 159
Haut einer großen Anakonda, die Casson vor Jahren erschlagen hatte, mußte sich auch in diesem natürlichen Versteck befinden. Das war früher einmal ein beliebtes Spielzeug für Bomba gewesen. Er hatte sich in die Haut eingewickelt und Schlange gespielt. Bomba erinnerte sich daran, wie oft er seine Dschungelfreunde mit dieser ungewöhnlichen Maskerade erschreckt hatte. Doto und die anderen Affen waren entsetzt davongeflohen, wenn sich Bomba in der Schlangenhaut genähert hatte. Sogar die Papageien mit ihren scharfen Augen hatten den Betrug nicht entdeckt. Wenn Bomba dann die Haut abgestreift hatte, waren seine Freunde zuerst beleidigt gewesen. Sie hatten von weitem auf ihn geschimpft, weil er ihnen einen Schrecken eingejagt hatte. Auch Polu war auf den Betrug hereingefallen. Als Bomba auf ihn zutrat, hatte er die Zähne gefletscht. Seine Haare hatten sich gesträubt, und der Junge mußte schnell sein wirkliches Gesicht zeigen. Es hätte sonst geschehen können, daß Polu ihn ansprang. Heute sollte ihm die Maskerade zu einem ernsten Zweck dienen. Würden sich die Kopfjäger täuschen lassen? fragte sich Bomba, als er in die Haut schlüpfte. Der getrocknete Kopf mit den auseinanderklaffenden Kiefern war völlig erhalten. Bomba hielt sich die Schreckensmaske vor das Gesicht, als er sich anschickte, das Versteck zu verlassen. Nun brauchte er noch Licht zum vollen Erfolg seiner Kriegslist. Die Kopfjäger mußten die Schlangenmaske in voller Beleuchtung sehen, um wirklich erschreckt zu werden. Bomba erinnerte sich an Fichtenknorren, mit denen er früher seinen Spielplatz festlich beleuchtet hatte. 160
Er fand eines dieser harzigen Fichtenstücke und zündete die Fackel an, bevor er hinaustrat. Als die Fackel aufflammte, blieb keine Zeit mehr zum Zögern – keine Zeit mehr, um zu überlegen, ob er in seinen Untergang rannte – keine Zeit für Furcht oder Ungewißheit. Es galt, alles zu wagen! Mit einem entsetzenerregenden Kreischen verließ Bomba die Deckung und stürmte, die Fackel über dem Kopf schwingend und mit der freien Hand die Schlangenmaske vor das Gesicht haltend, den Abhang hinab. Hinter ihm scharrte und klapperte die Schlangenhaut, und um seinen Körper schlotterte die Schuppenhülle. Ein Jubel erfüllte Bombas Herz, als er erkannte, daß seine Kriegslist Erfolg hatte. Mit schrillen Angstschreien flohen die Wilden in die Dunkelheit hinein. Sie waren jetzt mehr denn je davon überzeugt, daß Casson mit bösen Geistern im Bunde war. Sahen sie es nicht deutlich vor sich, daß eine feuerspeiende, zweibeinige Schlange aus dem Gebüsch glitt und ihnen drohend entgegenkam? Hatten sie nicht den Kopf mit dem aufgerissenen Rachen gesehen und die Feuerkrone über dem schrecklichen Antlitz? Das mußte einer jener mächtigen, bösen Geister sein, die der Alte in der Hütte herbeigerufen hatte. Für Bomba war der Weg zur Hütte frei. Mit wenigen Sätzen hatte er den Eingang erreicht, und er warf sich gegen die Tür. Drinnen griff Casson mit einem erschreckten Ausruf nach einem an der Wand lehnenden Speer. Er schwang ihn hoch und starrte dem hereinstürmenden Fabeltier entgegen.
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„Bomba!“ rief der Junge. „Nicht zustoßen! Ich bin es!“ Er riß sich die Schlangenmaske vom Gesicht, damit ihn sein alter Lehrer erkennen konnte und blieb keuchend stehen.
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24 Gegen furchtbare Übermacht Mit einem Ausruf des Erstaunens und der Erleichterung ließ der alte Naturforscher den Speer sinken. „Bomba?“ murmelte er verwirrt. „Du machst dieses Geschrei? Wozu das? Wozu die Maskerade? Du hast mich sehr erschreckt damit! Fast hätte ich dich mit dem Speer verletzt!“ Bomba schlug die Tür zu und schob den schweren Riegel vor. Das war im Augenblick wichtiger als alle Erklärungen. Er schlüpfte aus der Schlangenhaut und trat die Fackel aus, die noch am Boden lag und weiterbrannte. „Das war kein Spaß, Cody Casson“, stieß der Junge atemlos hervor. „Ich mußte um mein Leben rennen, um zu dir in die Hütte zu kommen.“ Er machte eine weitausholende Gebärde in Richtung des Dschungels. „Nascanora und seine Kopfjäger haben unsere Hütte entdeckt. Sie sind hier! Hast du sie nicht schreien hören? Die Schlangenmaske hat ihnen Furcht eingejagt, deshalb ließen sie mich ungehindert in die Hütte laufen. Aber sie haben geschworen, dich zu töten. Ich bin auf dem Heimweg an ihrem Lagerplatz vorbeigekommen und habe alles gehört.“ Der Blick des Alten, der sonst stumpf und gleichmütig war, leuchtete auf. Vielleicht hatte der vorangegangene Schreck ihm einen kraftspendenden Schock versetzt. Mit einer Lebendigkeit, an die Bomba sich nur aus früherer
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Zeit erinnerte, hob Casson die Arme und schüttelte die Fäuste. „Fangen?“ rief der Alte aus. „Fangen wollen sie den alten Casson? Wie viele von diesen verdammten Wilden sind es? Sie werden mich nicht in ihre Gewalt bekommen! Es geht nicht um mich, Bomba! Aber sie dürfen uns nicht überwältigen, weil du am Leben bleiben mußt! Du darfst nicht meinetwegen sterben!“ Das war wieder der alte Casson – Bombas geliebter Beschützer, sein Vorbild und sein Held. Jetzt hatte der Junge nicht mehr die Besorgnis, daß der Alte ihm keine Hilfe im Kampf sein würde. Wenn auch nicht sicher war, daß dieser Aufschwung der Kräfte lange anhielt, so war allein schon die Begeisterung und der Mut Cassons mitreißend. „Ja, wir werden kämpfen!“ rief der Junge. „Aber es wird ein schwerer Kampf sein. Sie haben viele Krieger mitgebracht. Und sie wollen ihren Plan um jeden Preis ausführen. Der Medizinmann hat ihnen sonst den Zorn der Götter prophezeit. Du weißt, wie furchtsam diese Kopfjäger sind, wenn es sich um die Stimme ihrer Götter handelt.“ Casson nickte mit trübem Lächeln. „Kinder“, murmelte er, „arme, irregeleitete Kinder des Urwalds! Sie wissen nicht, was sie tun.“ Augenblicklich erinnerte sich der Alte jedoch daran, daß jetzt mit christlicher Sanftmut nichts zu erreichen war. „Wir werden uns vorbereiten, Bomba“, fuhr er mit klarer, fester Stimme fort. „Ob sie kommen oder nicht – sie sollen uns bereit finden!“
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Eine Zeitlang schien es so, als käme es zu keinem Kampf. Durch die Schießscharten konnte Bomba in die Dunkelheit hinausspähen. Er sah nichts, und wenn er das Ohr an die Öffnung legte, vernahm er nur das Raunen der Dschungelnacht – ferne Tierlaute und das Sirren der Insekten. Dazu murmelte leise und eintönig der Bach hinter der Hütte. So hatten die beiden genug Zeit, um ihre Vorbereitungen zu treffen. Casson verlor seine Tatkraft nicht, wie der Junge gefürchtet hatte. Mit wacher Aufmerksamkeit beteiligte er sich an der Bereitlegung der Pfeile. Er half Bomba, den Revolver zu laden und die Munitionsschachteln zu öffnen. Jetzt erinnerte sich Bomba daran, daß er Hunger hatte. Besser gesagt: sein Magen brachte sich schmerzhaft in Erinnerung. Der Junge nahm einige Handvoll rohen Reis und Mais zu sich und trank Wasser dazu. Es war ein kärgliches Mahl, aber er fühlte sich hinterher doch gesättigt und frischer als zuvor. Nach so langer Zeit der Ruhe schlich sich die Hoffnung in Cassons Herz. „Glaubst du, daß sie gegangen sind?“ fragte er Bomba im Flüsterton. Bomba war nicht so optimistisch und schüttelte den Kopf. „Sie kommen vom Großen Fall“, antwortete auch er flüsternd. „Das ist sehr weit von hier. Sie werden sich nicht so leicht von einer einzigen Kriegslist in die Flucht schlagen lassen. Ihr Vorhaben werden sie auf alle Fälle ausführen wollen. Die Worte Nascanoras waren zu deutlich.“ Bomba dachte an die grausame Freude des Häuptlings, als er die Verbrennungszeremonie des alten Casson beschrieb. Davon mochte er nicht sprechen, aber er wußte, 165
daß ein Mann, der sich mit solcher Begierde für den Mord eines hilflosen Menschen begeisterte, nicht so schnell von seinen Plänen abzubringen war. „Nascanora wird große Worte zu seinen verängstigten Kriegern sprechen“, murmelte Bomba, „und sie werden zurückkehren! Das ist meine –“ Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Ein Chor von Schreien drang in die Hütte. Füße stampften den Erdboden, und die Tür krachte und bog sich nach innen. Mit voller Wucht hatten sich mehrere Indianer gegen das Holz geworfen. Diesmal hielt der starke Riegel aus dem Holz des Lebensbaumes. Bomba nahm seinen Bogen und sprang zu einer der Schießscharten. Er legte einen Pfeil auf die Sehne, spannte und zielte auf eine der schattenhaften Gestalten dort draußen in der Dunkelheit. Ein Indianer schrie auf, warf die Arme hoch und stürzte auf sein Gesicht. Voller Eifer wollte Casson es dem Jungen gleich tun. Seine Hand zitterte jedoch zu sehr beim Abschuß, und der Pfeil verfehlte sein Ziel. Immerhin hatten die Kopfjäger eine ernste Warnung erhalten. Das schien sie auch einzuschüchtern, denn in Sekundenschnelle war der Platz vor der Hütte leer. Dafür drang vom Dschungel her der Schall von Axthieben. Die Wilden fällten einen Baum. Bomba und Casson schauten sich an. Was mochte das zu bedeuten haben? Bald zeigte sich ihnen die Lösung dieses Rätsels. Undeutlich sahen sie durch die Schießscharten, wie sich etwa ein Dutzend Krieger näherte. Sie schleppten den Baumstamm und gingen im Laufschritt voran. Offensichtlich wollten sie den schweren Stamm als Rammbock benützen, 166
und diesem Ansturm würde die Tür bestimmt nicht standhalten. Sobald die Kopfjäger die Tür erbrochen hätten, würden sie beide verloren sein: das war Bomba klar. Die Übermacht war im Handgemenge viel zu groß. Für den neuen Angriff war die Verteidigung mit Pfeilen zu langsam und wirkungslos. Jetzt griff Bomba zum Revolver – zu dem wertvollen Geschenk von Gillis und Dorn. Er wartete, bis die Indianer nahe genug waren und leerte dann alle fünf Kammern. Jeder Schuß forderte sein Opfer – mochte es ein Toter oder ein Verwundeter sein. Auch Nascanora war getroffen worden. Bomba hörte das Schmerz- und Wutgebrüll des Häuptlings und sah die riesige Gestalt in der Deckung zwischen den Büschen verschwinden. Der Balken fiel dicht vor der Tür zu Boden. Keine Hände waren mehr da, die ihn halten mochten. Alle Indianer waren in den Wald zurückgeflohen, und nur die Toten lagen reglos im Gras. Nicht die Wirkung des Revolvers allein vertrieb die Wilden, sondern auch das ungewohnte Krachen der Explosionen und das Mündungsfeuer, das wie eine Feuerzunge zwischen den Balken hervorschoß. Wahrscheinlich hatte noch keiner dieser Kopfjäger die Wirkung einer Schußwaffe kennengelernt. Sie waren nun noch mehr davon überzeugt, daß in der Hütte böse Zauberer wohnen müßten. Was beherbergte sie alles? Eine feurige Schlange, die auf zwei Beinen lief – einen alten Zauberer – und einen Blitz, der donnernd sprach und tötete! Dagegen fühlten sie sich mit ihren Pfeilen machtlos. Wieder hatten die beiden in der Hütte lange Zeit, um neue Vorbereitungen zu treffen. Casson lud den Revolver, 167
und Bomba legte einen neuen Pfeil auf die Sehne. Nichts rührte sich vor der Hütte. Zum ersten Male schöpfte auch Bomba Hoffnung. Die Verluste der Kopfjäger waren stark. Auch der Plan mit dem Rammbock war fehlgeschlagen. Vielleicht würden sie nun den Kampf doch aufgeben. Allerdings hatte Bomba nicht an die Hartnäckigkeit, Schlauheit und Rachsucht Nascanoras gedacht. Wenn sie schon in der Nähe nichts anfangen konnten, so wollten die Kopfjäger wenigstens aus der Ferne versuchen, ob sich nicht Tod und Verderben in die Zauberhütte senden ließe. Während Bomba noch an einer Schießscharte stand und Ausschau hielt, sah er etwas Leuchtendes durch die Luft schwirren. Es gab ein leichtes Geräusch an der Hüttenwand – und schon wieder flammte kometengleich eine Feuerbahn im Bogen durch die Luft. Am Boden vor der Hütte war der Widerschein von Leuchtstreifen zu sehen. Zuerst vermochte sich Casson den Vorgang nicht zu erklären, und er starrte ungläubig hinaus. „Was geschieht jetzt?“ fragte er verwundert. Für kurze Zeit fand auch Bomba keine Erklärung für diese seltsame Erscheinung. Der Anblick der nächsten heranschießenden Feuerbahn ließ ihn die Lösung erkennen. „Brennende Pfeile!“ rief er aus. „Was kann es anderes sein! Sie schießen mit brennenden Pfeilen! Die Hütte wollen sie abbrennen!“ Die beiden Gefangenen in der Hütte blickten sich mit Verzweiflung und Verwirrung an. Feuer! Das war etwas, wogegen es keine Abwehr gab. Im ersten Augenblick der Verzagtheit wollte Bomba ins Freie stürzen, um die bren168
nenden Pfeilschäfte aus der Hüttenwand zu ziehen. Diesen Plan gab er jedoch schnell wieder auf. Beim Hinausstürmen aus der Hütte wäre er sofort von vielen Pfeilen durchbohrt worden. Vor dem Flackerschein der Brandpfeile hätte sein Körper ein prächtiges Ziel für die Wilden geboten. Ein Knistern an der Wand verriet, daß die Umwicklung aus Bast und Lianenschnüren zuerst in Brand geriet. Bald würden auch die schweren Balken Feuer fangen. Wenn es erst so weit war, konnte nichts mehr den Untergang der kleinen Besatzung in der Hütte aufhalten. Bomba preßte die Zähne zusammen. Wenn es einen Kampf gegeben hatte, so war der Feind bisher immer sichtbar gewesen. Die Möglichkeit war geblieben, das Leben so teuer wie es ging, zu verkaufen. Hier blieb ihnen nichts weiter übrig, als zu warten, bis sie bei lebendigem Leibe geröstet wurden oder in Rauch und Qualm noch vorher zu ersticken. Die Kopfjäger setzten ihr erfolgreiches Unternehmen fort. Schwärme von brennenden Pfeilen schwebten wie ein Sternschnuppenregen durch die Luft. Für Augenblicke erhellte sich die Lichtung. Die Bäume am Rande waren deutlich zu sehen – und ab und zu eine dunkle Gestalt, die sich vorwagte, um das Vernichtungswerk des Feuers zu beobachten. Laut und stark knackte es jetzt im Gebälk. Die Stämme hatten Feuer gefangen. Durch die Ritzen züngelten die ersten kleinen Flammenzungen. Es wurde immer heißer in der Hütte, und der Raum füllte sich mit Qualm. Wenn die beiden versuchten, die züngelnden Flammen auszuschlagen, leckten sie inzwischen an einer anderen Stelle durch 169
die Balken. Jeder Löschversuch war ein klägliches, vergebliches Kraftverschwenden. Draußen mußten die Wände bereits lichterloh brennen. In der Hütte fehlte dem Feuer nur der Sauerstoff zur schnellen Ausbreitung. Eine Todesart stand ihnen bevor, wie sie sich selbst die grausame Phantasie Nascanoras nicht ausgemalt hatte. Bald würden ihre Augen zu tränen anfangen, Erstickungsanfälle würden folgen, und die Hitze würde ihnen langsam die Haut versengen. Viel qualvoller und mit wachen Sinnen würden sie ihren eigenen Tod herannahen sehen, viel schmerzhafter als bei einem offenen Kampf. In Gedanken nahm Bomba Abschied vom Leben. Eine Woge von Trauer und Schwermut zog durch sein Herz. Er sah sich durch den Urwald eilen – dem Schall der Schüsse nach. Dann erreichte er das Lager der Gummisucher. Er wurde freundlich empfangen und lernte ein wenig von den Geheimnissen der Zivilisation kennen – viel zu wenig für seinen wissensdurstigen Geist. Gillis und Dorn! Gestalten aus einer geheimnisvollen, fernen Welt! Europa! Amerika! Das Meer! Alle die fremden Worte und Begriffe: nichts mehr davon würde er je erfahren! Die Hitze wurde schmerzhaft. Bomba schrak aus der sekundenlangen, düsteren Grübelei empor. In die Verzweiflung mischte sich ein wilder, jäher Lebenswille. Nein! Er wollte nicht sterben! Gab es keine Freunde mehr, die ihnen zu Hilfe eilen konnten? Gab es niemand in der Dschungelwelt? Mit dem letzten Rest von Wasser tränkten sie Tücher und banden sie um das Gesicht. Zuvor preßte Casson den Jungen in einer Aufwallung von Zärtlichkeit an sich. 170
„Bomba! Mein Junge!“ murmelte er. „Ich bin ein alter Mann. Das Leben ist nicht mehr wertvoll für mich! Aber du sollst leben – sollst leben“ Die Worte des Alten gingen in einem unverständlichen Gemurmel unter. Du sollst leben! Die Worte wiederholten sich in Bombas Sinn. Was hatte der Zuspruch für eine Bedeutung, wenn weit und breit keine Rettung zu sehen war? Sollte er zum Bach eilen? Einen Ausfall wagen? Sinnlos! Rufen – schreien? Nach wem? Plötzlich sprang Bomba zu einer der Schießscharten. Ein letzter inbrünstiger Hoffnungsgedanke belebte ihn. Wenn es auch nutzlos war, er wollte den Versuch wenigstens unternehmen. Bomba legte den Mund an eine der Schießscharten, die vom Feuer noch nicht berührt waren und ließ einen langen, auf- und abschwellenden Ruf ertönen. Mit letzter Lungenkraft wiederholte er den Notschrei, den seine Dschungelfreunde alle kannten. Immer hatte dieser unheimliche, sirenenartige Ton ihr Ohr erreicht. Doto und der tote Tatuc, die Affen, die Papageien und Polu, sein starker, vierbeiniger Freund – alle waren sie gekommen, wenn Bomba so gerufen hatte. Aber würden sie sich jetzt in die Nähe des Feuers wagen? Würde sein schwächer werdender Ruf so weit dringen?
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25 Im letzten Augenblick Was ging im Dschungel vor? War es ein Wind, der sich erhoben hatte? Hatte die Stimme Bombas einen neuen Zauber erweckt? Die Kopfjäger lauschten und flüsterten ängstlich und erregt miteinander. Es begann sich rundumher zu regen und zu bewegen. Die Äste knackten – viele Flügel flatterten – und Pumagebrüll ertönte in der Ferne. War der ganze Dschungel jetzt von bösen Geistern besessen? Die Krieger Nascanoras konnten nicht ahnen, welche Zauberwirkung der Ruf Bombas hatte. Auch der schwache Laut seiner ersterbenden Stimme war an das Ohr der Freunde gedrungen. Einer hatte es dem anderen gesagt. „Gefahr!“ hatten sie gerufen. „Bomba ist in Gefahr! Hört es alle: Bomba ist in Gefahr!“ Durch den Dschungel hallte der Ruf in vielen Tiersprachen. „Bomba ist in Gefahr!“ schnatterten die Affen! „Wir müssen zu Bomba eilen!“ kreischten die Papageien! „Wer will es wagen, meinen Freund Bomba anzugreifen?“ brüllte Polu! In gewaltigen Sprüngen setzte er durch den Dschungel. Immer wieder ließ er sein Gebrüll ertönen. „Ich komme, Bomba! Ich komme!“ schien er zu rufen. „Harre nur noch einige Minuten aus! Dein Polu ist sofort bei dir! Ich komme – Bomba – ich komme!“ Es rauschte und brauste wie Sturm im Gezweig. Herden von Affen näherten sich der Lichtung. Ihr Geschrei erfüllte 172
die Luft – und die Wilden begannen kreischend zu fliehen. Es hagelte und regnete plötzlich Castanha-Nüsse. Die Tiere hatten sofort erkannt, wo die Feinde Bombas zu suchen waren. „Jagt sie fort!“ schrie Doto, und seine Herde stimmte in den Ruf ein. „Vertreibt sie! Werft ihnen die Köpfe mit Castanha-Nüssen blutig! Jagt sie fort! Sie haben Bombas Hütte in Brand gesteckt!“ Die Papageien konnten nun freilich keine CastanhaNüsse pflücken und sie den Kopfjägern nachschleudern. Aber sie stürzten sich todesmutig und mit entsetzlichem Kreischen auf die fliehenden Gestalten. Was half da alles Umsichschlagen und Bücken! Manch einer der Wilden bekam zu spüren, was es heißt, von wütenden Papageienschwärmen angefallen zu werden. „Beißt sie! Hackt ihnen die Augen aus!“ kreischten Kiki und Woowoo, und alle Papageien antworteten wie im Chor. „Wir stürzen uns auf sie! Wir hacken sie mit unseren Schnäbeln wund! Wir verfolgen sie, bis keiner mehr zu sehen ist! Auch wir helfen Bomba, unserem Freund! Auch wir sind Bombas Freunde und können ihm Hilfe bringen!“ So kam die Antwort aus den Kehlen von Kiki und Woowoo. Aber dann erschien der mächtigste Bundesgenosse auf der Bildfläche. Polu sprang brüllend auf die Lichtung und verfolgte den ersten Kopfjäger, dessen Witterung ihm in die Nase stieg. „Wer hat es gewagt, meinem Freund Bomba Leid zu bringen!“ schien sein Gebrüll zu bedeuten. Sein Schweif peitschte den Boden. Ein mächtiger Prankenhieb schleuderte einen Indianer zur Seite. Ohne sich um ihn 173
zu kümmern, stürzte Polu weiter. „Bombas Feinde sind auch meine Feinde!“ grollte seine tiefe Stimme. Der Puma jagte in gewaltigen Sprüngen den Flüchtenden nach, und das Schreckensgeheul der Indianer wurde leiser und erstarb in der Ferne. Der edle Wettstreit der Tiere war den Gefangenen in der Hütte nicht entgangen. Als Bomba die Stimme Polus hörte, wußte er, daß sie gerettet waren. Er schob den Riegel zur Seite und stieß die Tür auf. Luft! Balsamische, kühle Nachtluft! Er atmete sie in vollen Zügen. Dann eilte er in die Hütte zurück und holte den erschöpften Casson. Als er ihn weit von der Hütte entfernt ins Gras bettete, fühlte er Regentropfen auf seinen Armen. Sollte sich dieser Retter in der Not auch noch einstellen? Bomba hob den Kopf und ließ sein Gesicht von den kühlen Tropfen netzen. Ja, es begann zu regnen, und Bomba brauchte sich nicht mit dem Löschen des Hüttenbrandes abzumühen. Cassons Stöhnen zeigte ihm, daß der Alte aus der Ohnmacht erwacht war. Der Kampf und die Aufregung hatten ihm die letzten Kräfte geraubt. Nun lag er da und rührte sich kaum, als Bomba seinen Körper mit frischem Wasser aus dem Bach abrieb. Polu kehrte von der Vertreibung der Feinde zurück. Er rieb seinen Kopf an Bombas Hüfte und empfing die Liebkosungen des Jungen wie einen ihm zustehenden Tribut. Nun wagten sich die anderen hilfreichen Freunde nicht in Bombas Nähe. Und sie hätten doch auch so gern ein wenig von Bombas Dankbarkeit zu spüren bekommen. Der, Junge erkannte das, und er ging bis an den Rand des Waldes. Da
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hockten sie alle in den Zweigen und empfingen ihren Freund mit einem ohrenbetäubenden Geschrei. „Ich danke euch!“ rief er hinauf. „Allen danke ich, die Bomba geholfen haben! Ich werde euch nie vergessen – ihr meine Freunde aus dem Dschungel! Aber nun kehrt zurück zu euren Herden! Die Gefahr ist vorbei! Kehrt zurück und wartet, bis ich euch das nächste Mal besuche!“ Ein Abschiedschor aus Kreischen, Schnattern und Plappern ertönte, und dann belebte sich der Urwald wieder wie mit dem Rauschen und Brausen eines Windes: die Tiere des Dschungels kehrten zu ihren Herden zurück! Der Regen war noch heftiger geworden. Nur eine der Wände war stark in Brand geraten, und das Feuer erlosch bereits. Das Dach und die anderen Wände waren fast unbeschädigt. Bomba schaffte den alten Casson in die Hütte zurück und bettete ihn in eine Hängematte. Für sich selbst bereitete der Junge dann das zweite Lager. Er war müde und wie zerschlagen. Zuletzt wurde er sich vor dem Einschlafen noch bewußt, daß Polu in die Hütte getreten war und seine Riesengestalt quer vor den Eingang legte. Mit einem Seufzer der Zufriedenheit schloß Bomba die Augen. Wenn Polu wachte, war keine Gefahr zu befürchten. Als Bomba am nächsten Morgen erwachte, war der getreue Polu bereits verschwunden. Der Junge erhob sich und schaute nach Casson. Er erschrak, als er sah, daß der Alte hohes Fieber hatte. Wieder würde Bomba ihn lange pflegen müssen, bis er sich einigermaßen erholte. Es dauerte Tage, ehe Casson den Jungen wiedererkannte. In der Zwischenzeit lag er stundenlang wie gelähmt da.
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Manchmal kamen die Worte „Bartow“ und „Laura“ über seine Lippen. Wenn Bomba dann erregt lauschte, wurde er immer wieder enttäuscht. Er erhielt keine Aufklärung über die geheimnisvollen Namen. Als sich nach mehreren Tagen Cassons Zustand besserte, zeigte sich, daß auch sein Gemütszustand freundlicher geworden war. Der Alte verbrachte nicht mehr Stunden in mürrischem Schweigen. Er versuchte, „die Tür der Erinnerung aufzustoßen“ und zeigte auch viel mehr Interesse an seiner Umgebung. Nur wenn seine Bemühungen, in die Vergangenheit einzudringen, keinen Erfolg hatten, konnte er mitunter in verzweifeltes Weinen ausbrechen. Eines Tages jedoch rief er Bomba zu sich. Er war erregt und ergriff die Hand des Jungen. Seine blauen Augen forschten in den Zügen Bombas, und seine Lippen bewegten sich zitternd. „Bomba, mein Junge“, murmelte er. „Ich habe mich bemüht, mein Gedächtnis wiederzufinden. Ich wollte dir sagen, was du wissen mußt. Aber es ist wenig, was ich wiedergefunden habe. Manchmal glaube ich mich dem Ziel nahe – dann entgleitet alles wieder. Ein Name ist mir jedoch eingefallen: Jojasta!“ Bomba fühlte seinen erregten Herzschlag. Mit tonloser Stimme flüsterte er die Frage: „Wer ist das?“ „Merke dir den Namen“, sagte der Alte mit beschwörender Stimme. „Behalte den Namen Jojasta immer in Erinnerung.“ „Jojasta!“ wiederholte Bomba mit feierlicher Stimme. 176
„Ich werde es nicht vergessen. Aber wer ist das? Wo lebt Jojasta?“ „Er ist der Medizinmann des ,Gleitenden Berges’.“ Bomba hatte den Namen noch nie gehört. „Der ,Gleitende Berg’?“ fragte er. Casson nickte eifrig. „Das ist weit von hier und schwer zu erreichen. Doch ich kann mich jetzt erinnern! Ich weiß, wie du dorthin gelangst! Ich bin froh, daß ich dir das sagen kann. Nur von Jojasta wirst du mehr von dem erfahren, was du wissen mußt. Du sollst gehen – du sollst bald dorthin gehen, Bomba! Bald –“ Erschöpft sank Casson in die Hängematte zurück. Im Augenblick konnte Bomba von seinem alten Gefährten nicht mehr erfahren. Aber neue Hoffnung belebte sein Inneres. Sein Herz war so voll, daß er jemand davon Mitteilung machen mußte. Mit der Harmonika eilte Bomba in den Dschungelwald hinein. Im Dahinlaufen spielte er eine träumerische, klagende Melodie – ein selbsterfundenes Musikstück, das ihm gut gefiel. Bald hatten sich viele seiner Dschungelfreunde um ihn versammelt. Ihre dunklen Augen blickten erwartungsvoll und neugierig auf ihn herab. „Ihr wißt, daß ihr meine Freunde seid“, rief Bomba in freudiger Erregung. „Ihr habt mir geholfen, als die Männer mit den bösen Herzen mir und meinem Gefährten Casson nach dem Leben trachteten. Ich liebe euch alle, und ihr sollt als erste erfahren, daß ich jetzt fortgehen muß. Ich muß Menschen suchen, die mir nahestehen. Ich habe Sehnsucht nach Menschen, die meine Hautfarbe tragen.“
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Er zog das Pumafell zurück und deutete auf seine Brust. „Seht her: Kiki, Woowoo, Doto! Ihr alle schaut her! Ich habe eine helle Haut! Ich muß die Menschen finden, die von meiner Art sind! Deshalb werde ich euch jetzt verlassen! Aber ich komme zurück – ich komme wieder!“ Plötzlich mußte sich Bomba abwenden. Er rannte davon, weil ihm die Tränen in die Augen traten. Hinter ihm ertönte ein Klagechor des Abschiedsschmerzes und der Trauer. Bomba lief und lief, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, um nicht die herzzerreißenden Lock- und Klagerufe zu hören. Immer noch drangen sie an sein Ohr. „Komm zurück, Bomba!“ riefen die Affen. „Bleibe bei uns!“ „Du darfst uns nicht verlassen!“ kreischten die Papageien. „Du darfst nicht!“ Kiki und Woowoo flatterten dem Jungen ein Stück des Weges nach; als sie aber sahen, daß er nicht aufblickte, kehrten sie traurig zu den anderen zurück. Das war Bombas Abschied von seinen Freunden im Dschungel. Noch weiß er nicht, welche neuen Gefahren und Abenteuer ihm bevorstehen. Sehnsucht und Wissensdurst treiben ihn dazu an, die beschwerliche und aufregende Reise zum ,Gleitenden Berg’ zu unternehmen. Davon erfahrt ihr im nächsten Band:
BOMBA im Berg der Feuerhöhlen 178