Dragon - Söhne von Atlantis Nr. 7
Der Drachenreiter von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Urak – Ein Dunkler ...
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Dragon - Söhne von Atlantis Nr. 7
Der Drachenreiter von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Urak – Ein Dunkler Wächter wird zum Wegelagerer. Ibabt – Ein Barbar aus dem Süden. Dragon – Der Atlanter kämpft gegen einen Menschenfresser. Cnossos – Der »Gott der vielen Namen« läßt einen Hinterhalt legen. Amee – Gefangene des Cnossos. Hot-chi – Ein Jungdrache begegnet den »Zweibeinern«. Seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis, von Feuer, Lava und Erdbeben zerstört, fast zur Gänze in den Fluten des Meeres versank, sind rund zwei Jahrtausende verstrichen. Obwohl dies für die größtenteils primitiven und barbarischen Völker auf den übrigen Kontinenten der Erde eine lange Zeitspanne ist, lebt die Erinnerung an Atlantis noch fort. Legenden und Mythen gehen durch die Lande. Herren und Sklaven, Unterdrücker und Unterdrückte, Reiche und Arme wissen gleichermaßen vom »Goldenen Zeitalter« zu erzählen, in dem die Götter ihren »Himmelswagen« entstiegen und unter den Sterblichen wandelten. Selbst ein echter Atlanter existiert noch auf der Erde – Dragon, genannt der »Schlafende Gott«. Ihn erweckte Amee, Prinzessin von Urgor, zu neuem Leben und neuen Taten. Aber Dragon, der aufgrund seiner langen Hibernation noch nicht im Vollbesitz seiner Erinnerungen ist, hat es schwer, gegen den Belamiter zu bestehen. Denn Cnossos, Dragons alter Gegenspieler und Hauptverantwortlicher für den Untergang von Atlantis, hat während seines unfreiwilligen 2000jährigen Exils Zeit genug gehabt, sich an vielen Orten der Erde als mächtiger Herrscher zu etablieren. Dennoch läßt sich der Atlanter nicht entmutigen. Unerschrocken folgt er den Spuren Cnossos‘, der Prinzessin Amee in seine Gewalt brachte, und kämpft erbittert gegen die Helfer des Balamiters, die im Hinterhalt lauern. Schließlich wird Dragon DER DRACHENREITER …
1.
»Er ertrinkt, Nuthbal«, sagte der kleinere der beiden Männer, die hinter einem Gebüsch kauerten. »Ich wette, daß der Raxos ihn verschlingt.« »Er schafft es«, behauptete Nuthbal. »Ich setze einen Silberling auf ihn.« Die beiden Männer trugen zerschlissene, schwarze Umhänge und hatten die Kapuzen ins Genick geschoben. Von ihrem Versteck aus blickten sie gebannt auf den Raxos hinunter. Der Fluß war an dieser Stelle ziemlich tief, Stromschnellen machten ihn zu einem gefährlichen Gewässer. Der halbnackte, schwarzhäutige Mann, der verzweifelt gegen die Strömung um sein Leben kämpfte, mußte entweder unglaublich mutig sein – oder äußerst verzweifelt. Nuthbal und sein Begleiter hatten ihn dabei beobachtet, wie er mehr als hundert Mannslängen weiter oben am gegenüberliegenden Ufer auftauchte. Er schlug seine Streitaxt in einen herumliegenden Baumstamm und zerrte ihn an den Fluß. Dann ließ er sich, an den Baumstamm geklammert, von der Strömung in die Mitte des Flusses treiben. Dort nahm er die Streitaxt am Stiel zwischen die Zähne, stieß sich vom Baumstamm ab und versuchte, schwimmend das diesseitige Ufer zu erreichen. Einige Male schlug das Wasser über ihm zusammen, und Muthbal hielt den Atem an. Aber der dunkelhäutige Fremde war ein ausgezeichneter Schwimmer und dazu noch kräftig genug, der elementaren Gewalt des
reißenden Wassers zu trotzen. Er tauchte immer wieder auf. Als er das Ufer erreichte, besaß er keine Streitaxt mehr; die Strömung hatte sie ihm entrissen. Sein ganzer Besitz bestand aus einem Lendenschurz und einem Lederbeutel, den er an einem Riemen um den Hals trug. Er kletterte keuchend die Böschung hinauf und streckte sich erschöpft auf dem Boden aus. Sein mächtiger, nackter Brustkorb hob und senkte sich schnell. »Jetzt schuldest du mir einen weiteren Silberling«, sagte Nuthbal grinsend zu seinem kleineren Begleiter. »Insgesamt macht das sieben Silberlinge – eine heilige Zahl.« Der andere verzog das Gesicht. »Ob heilig oder nicht, ich verfluche diesen Fremden, weil er über den Raxos gesiegt hat.« Nuthbal kicherte. »Rufe Cnossos an. Vielleicht erhört er dein Flehen und füllt den Lederbeutel des Fremden mit Reichtum. Dann könntest du deine Schulden begleichen. Komm, wir stürzen uns auf ihn, bevor er wieder zu Kräften kommt.« Die beiden wollten gerade aus ihrem Versteck springen, als sie rasch näherkommendes Hufgeklapper vernahmen. Sie zogen sich schnell wieder hinter das Gebüsch zurück. Der halbnackte Fremde hatte das Hufgeklapper ebenfalls vernommen. Er sprang auf die Beine, blieb einen Atemzug lang unschlüssig stehen, blickte sich suchend um und wollte sich dann in die Büsche schlagen, die die Anhöhe bedeckten. Aber da tauchte auch schon der Reiter auf und schnitt ihm den Weg ab. Als der halbnackte Mann erkannte, daß er keine Möglichkeit zur Flucht mehr hatte, ver
harrte er auf der Stelle. Er duckte sich, sein Rücken war gekrümmt wie der eines sprungbereiten Raubtiers. Er starrte wachsam zu dem Reiter auf, der sein Pferd zügelte. »Das sind Todfeinde«, stellte Nuthbal mit Kennerblick fest. »Vielleicht bringen sie sich gegenseitig um«, sagte sein Begleiter hoffnungsvoll. Der Reiter saß hochaufgerichtet im Sattel. Er besaß eine so dunkle Haut wie der halbnackte Mann, aber er unterschied sich durch die Kleidung und seinen Schmuck von ihm wie ein König von einem Bettler. Sein Gesicht war mit roten Erdfarben bemalt, durch seine Nase war der hohle Knochen eines Geiers gesteckt, um den Hals trug er eine Kette mit Geierkrallen. Sein schwarzes Haar war hochgesteckt, verknotet, und wurde ebenfalls durch kleine Geierknochen zusammengehalten. Von der linken Schulter hing ein Raubtierfell, das über die Lenden hinabreichte und an der Hüfte durch Lederriemen zusammengehalten wurde. Seine Bewaffnung bestand aus einer übermannsgroßen Lanze, aus Pfeil und Bogen und einer Axt, wie sie der halbnackte Schwarze besessen hatte. Das Pferd war ohne Sattel. Dafür lag quer über dem Rücken des Tieres ein schwarzes Fell. Die vier Fesseln waren mit roten Tüchern umwickelt. »Das müssen beide Bawayis sein«, murmelte Nuthbal. »Ich frage mich nur, was sie so weit nach Norden getrieben hat.« Der Reiter im Kriegsschmuck starrte lange auf den halbnackten Mann hinunter, der sich um keinen Fußbreit von der Stelle gerührt hatte. Die glasartige Lanzenspitze aus Vulkangestein wies auf seine Brust. Ein Stoß hätte genügt, um ihn zu töten.
Aber daran schien der Reiter nicht zu denken. Statt dessen begann er zu sprechen. Seine Stimme klang hell, viel zu hell für einen solch muskulösen Krieger, und er sprach im Dialekt der Südvölker. »Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet, Ibabt«, sagte er. »Aber so sicher wie die Windgötter die Seelen der Sünder in die sturmgepeitschte Ewigkeit treiben, so sicher bliesen sie mir deine Spur entgegen. Ich wußte, daß du diesen Fluß überqueren würdest und tat es schon lange vor dir. Ich habe dich beobachtet, Ibabt, und flehte die Windgötter an, dich über Wasser zu halten, damit ich die Schande von meiner Familie nehmen und deinen Körper von der häßlichen Seele befreien kann.« Der halbnackte Mann verzog das Gesicht. »Du bringst noch mehr Schande über den Namen deiner Familie, wenn du einen wehrlosen Gegner tötest, Macimb«, schleuderte er dem Reiter ins Gesicht und reckte ihm die nackte Brust entgegen. »Hier ist mein Herz, durchbohre es. Aber das wird deine Schwester nicht erlösen. Ihre Seele wird bis in alle Ewigkeit von den Wirbelwinden im Tal der Geschändeten gefangengehalten werden. Töte mich, hier ist mein Herz!« Der geschmückte Reiter, der Macimb hieß, drehte die Lanze in seiner Hand, holte aus und warf sie dem halbnackten Mann entgegen. Sie bohrte sich einen Fingerbreit neben seinem Fuß in den Boden. »Wir werden kämpfen, wie es Männer tun«, sagte Macimb und deutete auf die Lanze. »Das ist deine Waffe. Der Windgeist wird aus ihr entweichen, wenn du sie berührst, und sich wie ein Schild vor mich stellen.« Nuthbal und sein Begleiter, die sofort einen Zweikampf auf Leben und Tod erwarteten, sahen, daß die
Kämpfer seltsame Vorbereitungen trafen, die wohl auf ihren Glauben zurückzuführen waren. Macimb schwang sich von seinem Pferd, nahm Bogen und Köcher von seinem Rücken und hängte beides an den breiten Tragriemen, der wie ein Gürtel um den Leib des Tieres geschnallt war. Er hängte noch die Streitaxt dazu und nahm dafür einen Lederbeutel an sich. Dann kniete er fünf Schritt von Ibabt entfernt, der bereits in die Knie gesunken war, auf den staubigen Boden. Ibabt nahm ebenfalls seinen Lederbeutel ab, löste die Verschnürung und schüttete den Inhalt in den Sand. Es kamen einige schwarze, verknotete Haarbündel und ein kleiner Haufen von menschlichen Finger – und Zehennägeln zum Vorschein – alles Beutestücke von getöteten Feinden. Die Bawayis glaubten, daß alle Kraft der Männer in den Nägeln und im Haar wohne. Man ließ sich die Fingernägel wachsen und färbte sie schwarz, um sie den Winddämonen entgegenzurecken, damit diese daran zerbrächen. Das Haar ließ man sich wachsen, damit die Windgeister darin spielen konnten. Wenn man in den Kampf zog, steckte man sich die Haare auf, denn die Winddämonen sollten sie den Kriegern nicht in die Augen wehen können. Mit den langen, scharfen Fingernägeln konnte man dem Feind die Augen auskratzen, wie es der Adler, der König der Lüfte, tat. Tötete man einen Feind, dann schnitt man ihm Haare und Nägel ab, um dessen Kraft auf sich selbst zu übertragen. Ibabt murmelte die zeremoniellen Worte der Beschwörung, während er die Nägel und Haarbüschel zusammenscharrte. Obwohl es schien, daß er in sein Ritual vertieft war, beobachtete er ständig sein Gegenüber.
Macimb merkte nichts davon. Er bereitete sich auf den ehrenhaften Zweikampf vor.
Ibabt dagegen dachte anders. Er wußte, daß er gegen den starken und ausgeruhten Macimb im Zweikampf nicht bestehen konnte. Wenn er überleben wollte, dann mußte er eine List anwenden. Er scharte mit den Handflächen Sand heran und türmte ihn zu einem Haufen über die heiligen Überreste seiner Feinde. Als der Haufen groß genug war, lud er ihn sich auf die Hände. »Macimb!« Macimb blickte hoch. In diesem Augenblick schleuderte ihm Ibabt den Sand in die Augen. Macimb fuhr mit einem Wutschrei hoch. Blind, wie er war, wirbelte
er herum, griff nach seinem Pferd und tastete nach der Streitaxt, die am Tragriemen hing. Dabei verfing er sich mit einer Hand im Zügel. Ibabt schrie und warf einen großen Stein nach dem Schädel des Pferdes, um es scheu zu machen. Das Pferd bäumte sich wiehernd auf, tänzelte auf den Hinterläufen rückwärts und verlor an der Uferböschung den Halt. Sich überschlagend stürzte es die Böschung hinunter, den im Zügel verfangenen Macimb mit sich schleifend. Pferd und Reiter verschwanden in den schäumenden Fluten. Ibabt stand am Ufer und schickte Macimb eine Reihe von Verwünschungen nach. Als Macimb wieder auftauchte, blutete er aus einer großen Kopfwunde, die entweder von einem spitzen Stein oder von den Hufen des wild um sich schlagenden Pferdes herrührte. Macimb klammerte sich mit letzter Kraft an den Hals des Pferdes, das nach ihm trat, um sich von der Umklammerung zu befreien. Ein Strudel erfaßte – sie und zerrte sie in die Tiefe. Als sie achtzig Mannslängen weiter unten in der Flußmitte wieder an die schäumende Oberfläche kamen, war kein Leben mehr in ihnen. Ibabt vollführte am Ufer einen ungestümen Tanz. Er hatte Macimb besiegt! Er reckte die Fäuste und warf sich in die Brust. »Die Winddämonen sind mir gut gesinnt«, schrie er über den rauschenden Raxos hinweg. »So wird es allen deinen Brüdern ergehen, die mir der Blutrache wegen auf den Fersen sind. Hörst du mich, Macimb! Vernimmst du meinen Fluch im Reich der ewigen Stürme, wo du jetzt bist! Ich schicke alle deine Brüder zu dir!« Als Ibabt ein Geräusch in seinem Rücken vernahm, wirbelte er herum. Zwei Männer in langen, schwarzen Kutten standen mit gezückten Schwertern vor ihm.
»Seid ihr von hier?« sagte Ibabt. »Seid ihr Urgoriten? Wenn ja, dann bin ich euer Freund.« »Du hast uns um reiche Beute betrogen, als du den Krieger in die Fluten stürztest«, sagte der größere der beiden in nördlicher Mundart. Ibabt schöpfte neue Hoffnung. »Wegelagerer! Dann seid ihr erst recht meine Freunde. Kein Dieb bestiehlt den anderen!« »Wir sind die Dunklen Wächter des Gottes mit den vielen Namen!« rief der kleinere der beiden Männer und hob sein Schwert. Ibabt konnte sich unter dem Schwerthieb hinwegducken. Es gelang ihm auch noch, dem zweiten Hieb ausweichen, doch dann war er geschlagen. Der größere der beiden Männer schmetterte ihm das Schwert mit der Breitseite gegen den Rücken, so daß er nach vorne fiel und in ganzer Länge auf dem Boden aufschlug. Halb benommen vernahm Ibabt die Stimme, die zu ihm sagte: »Komm auf die Beine und folge uns. Oder ist es dir lieber, wenn ich dir das Schwert zwischen die Rippen stoße?« Der Aufstieg war für Ibabt beschwerlich. Er war so geschwächt, daß er auf allen vieren kriechen mußte. Er klammerte sich an Grasbüscheln und Sträuchern fest, um nicht den Hang hinunterzurutschen. Wenn seine Kräfte ihn verließen und er zusammenbrach, wurde er von Nuthbal mit Fußtritten bedacht, bis er wieder auf die Beine kam. Endlich hatten sie die Anhöhe erreicht. Der Raxos zog sich zweihundert Mannslängen unter ihnen als breites, schmutziges Band dahin. Vor ihnen lag ein dichter Wald. Sie drangen in ihn ein und kamen auf eine Lichtung mit einem Lager. 10
Das Lager bestand aus einer Feuerstelle in der Mitte der Lichtung, einem Gehege für die Pferde und einer ärmlichen Hütte. Eigentlich war es nicht einmal eine Hütte. Die Männer, die hier hausten, hatten einfach zwischen den Bäumen am Waldrand aus den Stämmen von Jungbäumen, aus Ästen und Blättern ein Dach gespannt. Dann zogen sie Tierhäute und Decken auf selbstgezimmerte Rahmen auf und verwandten sie als Wände. Das war die einzige Behausung dieses Lagers. Ibabt zählte fünfundzwanzig Pferde in dem Gehege und schloß daraus, daß ebenso viele Männer anwesend waren. Im Augenblick waren jedoch nur halb so viele zu sehen. Sie lungerten im Gras herum, schliefen, unterhielten sich, schürten das Lagerfeuer; in dem ein halber Eber briet, oder gingen einfachen Arbeiten nach. Einige bauten aus Holz und Speerspitzen Tierfallen, andere arbeiteten an Wänden für eine zweite Behausung. Sie alle trugen die schwarzen Kutten, die nun ziemlich verschmutzt und zerrissen waren. Ibabt merkte sofort, daß diese Männer noch nicht lange das Leben von Wegelagerern führten und sich zudem nicht wie Waldbewohner benahmen. Sie waren Stadtmenschen, die vom Schicksal in die Wildnis verschlagen worden waren. Als sie Ibabts und seiner beiden Bewacher ansichtig wurden, erhoben sie sich von ihren Plätzen und kamen neugierig näher. »Was willst du mit diesem Wilden, Nuthbal?« fragten sie. »Ein Landstreicher! Was sollen wir mit ihm anfangen?« Bei der armlichen Hütte wurde ein Fell zur Seite geschoben, und ein Mann, der kleiner war als die meisten der anderen, trat heraus. 11
Seine Kleidung war noch gut erhalten. Obwohl er die Kapuze ins Gesicht gezogen hatte, konnte Ibabt zwei glühende Augen sehen. In ihnen spiegelten sich die Eigenschaften ihres Besitzers wieder – Verschlagenheit und Gerissenheit. Ibabt fürchtete sich vor diesem Mann, denn er wußte, daß er über Leben und Tod entscheiden konnte. An der Art, wie die anderen Männer zurückwichen, um ihm Platz zu machen, erkannte Ibabt, daß sie ihren Anführer nicht weniger fürchteten als er. Jetzt war er bis auf sechs Schritte herangekommen und blieb stehen. Ibabt blickte in ein Gesicht, das große Ähnlichkeit mit dem einer Ratte hatte. Der vergleichsweise kleine Mund war zu einem listigen Lächeln zusammengezogen, die kleinen, feurig blitzenden Augen musterten Ibabt. »Wen bringst du da?« fragte der kleine Mann mit dem Rattengesicht, ohne Ibabt aus den Augen zu lassen. »Er muß schon ein wertvolles Geheimnis in sich tragen, wenn du seinetwegen deinen Beobachtungsposten verlassen hast, Nuthbal.« Nuthbal, der um einen halben Kopf größer war als der Anführer, wurde unsicher. »Wir haben ihn beobachtet, als er den Raxos durchschwamm«, berichtete Nuthbal. »Als er auf unserer Seite ans Ufer kletterte, wurde er von einem Reiter gestellt und zum Zweikampf gefordert. Er überlistete den Reiter und trieb ihn in den Fluß. Der Reiter gehörte demselben Volk wie er an. Er nennt sich Ibabt. Er ist ein Bawayi.« »Das habe ich auch schon erkannt«, sagte der Mann mit dem Rattengesicht nicht ohne Spott. »Aber was sollen wir mit ihm? Warum hast du ihn nicht ebenfalls in den Raxos geworfen?« Ibabt schluckte. 12
»Wenn ich mir erlauben darf ...«, begann er. Die Ratte schlug ihm den Handrücken ins Gesicht. »Ich spreche nicht zu dir, Barbar! Ich warte auf deine Antwort, Nuthbal.« Nuthbal straffte sich. »Ich habe den Bawayi kämpfen gesehen. Zuerst gegen den Fluß und dann gegen seinen Feind. Er ist stark wie ein Ochse und wendig wie eine Schlange. Ich wollte ihn nicht töten, bevor du ihn gesehen hast, Urak.« Der Rattengesichtige, der Urak hieß und der Anführer dieser vierundzwanzig Männer war, kniff die Augen zusammen. Er sah jetzt Nuthbal an. »Du hast klug gehandelt«, sagte Urak. »Du hast klug gehandelt, aber nicht weise entschieden. Kannst du mir folgen, Nuthbal? Sicher nicht, denn dafür reicht dein Verstand nicht aus. Es war klug, mich vorher um Rat zu fragen, denn ich bin der Anführer. Es war aber nicht weise, den Barbaren am Leben zu lassen, denn wir haben keine Verwendung für ihn. Schaffe ihn fort!« Ibabt begann am ganzen Körper zu zittern. Er sank auf die Knie. »Laß mich nicht töten. Ich stelle mein Leben in deine Dienste. Ich werde ...« Nuthbal legte ihm von hinten den Arm um den Hals und zog ihn in die Hohe. Gleichzeitig hatte er mit der anderen Hand den gebogenen Dolch gezogen und setzte ihn Ibabt an die Brust. »Beruhige dich, Barbar«, sagte er. Ibabt wagte nicht zu atmen. Er warf Urak flehende Blicke zu. Urak zeigte keine Gefühlsregung, er lächelte nur vage. Nuthbal hielt Ibabt mit eisernem Griff fest und schickte sich an, rückwärtsgehend die Lichtung zu verlassen. Uraks Rechte schoß hoch. 13
»Halt!« rief er mit lauter Stimme. Die Männer wandten sich ihm verwundert zu. Nuthbal blieb überrascht stehen. Urak zeigte ein feines Lächeln, wobei er die Lippen kräuselte, und fuhr fort: »Ich habe mich anders entschieden. Der Barbar soll am Leben bleiben. Laß ihn los, Nuthbal!« Nuthbal gehorchte verblüfft. Auf einmal verzerrte sich sein Gesicht. Er stieß Ibabt von sich, der strauchelte und ins Gras fiel, dann zog er das Schwert. »Du treibst dein Spiel mit mir zu weit, Urak«, schrie Nuthbal haßerfüllt. »Ich bin nicht dein Sklave. Die Zeit des Dienens ist vorbei, seit wir aus Urgos flüchten mußten. Wir haben uns nach Obads Tod dir anvertraut, weil du als Achter Wächter in den Augen Cnossos‘ höher standest als wir. Aber du hast versagt. Jetzt hast du keine Macht mehr über uns.« Urak hatte die Beschimpfung ruhig über sich ergehen lassen. »Obad hat bei seinem Tod die Kraft des Gottes der vielen Namen auf mich übertragen«, sagte er, nachdem Nuthbal geendet hatte. »Ihr seid immer noch Diener des Cnossos. Und er spricht aus mir, deshalb soll mein Wort euer Gebot sein. Ich will an dir Gnade üben, Nuthbal, und deinen Frevel vergessen. Aber laß dich nicht noch einmal von deinem Übermut übermannen, sonst werde ich dich furchtbar strafen.« Urak wandte sich an den auf dem Boden liegenden Ibabt. »Komm jetzt mit mir in die Hütte.« Ibabt kam der Aufforderung schnell nach und machte, daß er aus dem Bereich von Nuthbals Schwert kam. »Drehe mir nicht den Rücken zu!« schrie Nuthbal mit sich überschlagender Stimme. 14
Urak beachtete ihn nicht und betrat zusammen mit Ibabt die Hütte. »Du mußt hungrig sein«, sagte Urak zu dem Bawayi. »Wenn dein Magen nicht warten kann, bis der Eber gar ist, dann greife dir einige Früchte aus den Schüsseln.« Ibabt ließ sich das nicht zweimal sagen. Urak fuhr, wie zu sich selbst, fort: »Ich habe Nuthbal verhöhnt und gedemütigt. Entweder habe ich jetzt seinen Willen endgültig gebrochen, oder sein Haß gegen mich wird endgültig zum Ausbruch kommen.« »Ich könnte ihn töten, wenn du das möchtest, Urak.« Der Achte Wächter schüttelte den Kopf. »Wenn es soweit kommt, dann muß ich es selbst tun, sonst würde ich vor meinen Leuten das Gesicht verlieren.« Er starrte den Bawayi an. »Es ist eine alte Weisheit, daß man sich treue Untertanen schafft, indem man sie tritt und ihnen dann anschließend auf die Beine hilft. So habe ich es auch mit dir getan. Ich habe dir das Leben geschenkt, obwohl es für mich keinen Wert zu haben schien. Bist du bereit, mir zu dienen?« »Du kannst über mein Leben verfügen, Urak«, sagte Ibabt zwischen zwei Bissen. Urak kräuselte spöttisch die Lippen. »Du bist mir nicht unähnlich«, sagte er und meinte damit, daß Ibabt nicht mehr zu trauen war als ihm selbst. »Erzähle mir von dir. Ich möchte mehr über den Mann erfahren, der sich mir zu ewigem Gehorsam verpflichtet hat.« Ibabt war noch nicht ganz bei Kräften, aber er fühlte sich satt. Er legte eine angebissene Frucht beiseite und erzählte: Er war bei seinem Volk ein angesehener Krieger gewesen. Die Feinde, die er getötet hatte, konnten nicht mehr an den beiden Händen eines Mannes abgezahlt 15
werden; in seinem Zelt türmten sich die Felle erlegter Raubtiere. Es sprach sich auch unter den Frauen herum, daß es sich in seinem Zelt weicher lag als in anderen; sie kamen in Scharen, um seine Liegestatt auszuprobieren. Er dachte nicht über die Kämpfe und die Frauen nach und auch nicht darüber, welche Kraft sie ihn kosteten. Denn er fühlte sich noch stark genug für tausend Kämpfe und für tausend Frauen. Er wich keiner Auseinandersetzung aus, er ging geradeaus durchs Leben und nahm die Frauen, die seinen Weg kreuzten. Und eine davon wurde ihm zum Verhängnis. Es war ein junges, unberührtes Wesen, das dem Häuptling eines befeindeten Stammes versprochen war. Sie war der Preis für den Frieden. Sie begegnete ihm in einer schwülen Dschungelnacht. Und sie forderte ihn heraus. Für sie war es Spiel, für ihn Ernst. Er nahm sie mit Gewalt. Jetzt war er vor ihren sechs Brüdern auf der Flucht. Drei von ihnen hatte er bereits in die Ewigkeit geschickt. »Ich wollte nach Urgor oder in eines der großen Reiche, wo man immer gute Krieger gebrauchen kann«, endete Ibabt. »Bleibe bei mir, und du wirst bald an meiner Seite in Urgor einreiten«, behauptete Urak. Er wollte nach der angebissenen Frucht greifen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. In die Hütte drang das Geräusch von Schritten und Stimmengewirr. Die Geräusche kamen näher. Ibabt blickte zu Urak. Dieser erhob sich langsam, sein Körper war angespannt, die Rechte lag locker am Schwertgriff. »Komm heraus, du Ratte«, erscholl draußen die erregte Stimme Nuthbals. »Wir rechnen jetzt ab!« Zum erstenmal entdeckte Ibabt, daß sich Uraks Gesichtsausdruck veränderte. Die dunkle Farbe seiner 16
Haut machte einer fahlen Blässe Platz, seine Gesichtszüge bekamen etwas Fratzenhaftes. Er stieß einen gurgelnden Schrei aus und stürzte mit gezogenem Schwert aus der Hütte. Nuthbal und die anderen Dunklen Wächter zuckten zurück, als er so plötzlich vor ihnen auftauchte. Nuthbal faßte sich schnell. Mit einer flinken Bewegung holte er sein Schwert aus der Scheide und sagte: »Wenn man die Ratte beim Namen nennt, dann beleidigt man sie tödlich!« »Ich hätte es wissen sollen«, erwiderte Urak. »Frevler darf man nicht begnadigen, man muß sie mit dem Schwert mundtot machen.« Nuthbal war siegesgewiß. Er wußte, daß die meisten der Dunklen Wächter hinter ihm standen. Sie waren unzufrieden mit Uraks Führung. Er hatte sie in die Wälder geführt und ihnen versprochen, durch Überfälle auf Händlerkarawanen zu Reichtum zu kommen und damit Söldner anzuheuern, um Urgor zurückzuerobern. Aber bisher hatten sie erst einige Überfälle auf die Schafherden der Umgebung unternommen. Sie hatten zu essen und zu trinken – das war auch schon alles. Urak war einfach zu unschlüssig, oder zu feige, wie Nuthbal behauptete, größere Raubzüge zu unternehmen. »Ich weiß, daß du feige bist, Urak«, sagte Nuthbal spöttisch. »Deshalb verlange ich nicht, daß du dich mir zum Zweikampf stellst. Ich will dir dein schäbiges Leben nicht nehmen. Du kannst mit deinem barbarischen Freund flüchten. Wenn du aber bleibst, mußt du entweder kämpfen oder dich meinen Befehlen beugen. Dann werden wir den Barbaren dem Gott der vielen Namen opfern. Entscheide dich, Urak!« Urak schüttelte drohend die Faust. Er hatte keine Wahl, er mußte kämpfen. 17
»Ich werde dich zerschmettern«, erklärte Urak und hob das Schwert. Da bemerkte er einen Schatten über sich und blickte in den Himmel. Hoch über ihnen flog ein mächtiger Geier dahin, der eine menschliche Gestalt in seinen Klauen hielt. In einer plötzlichen Eingebung schrie Urak: »Seht, Männer, ein heiliges Zeichen! Der Gott der vielen Namen kommt, um seinen treuen Söhnen zu helfen und den Verräter zu strafen!« Sie alle starrten in den Himmel. Als sie den Riesenvogel mit seiner menschlichen Beute erblickten, kam ein ehrfürchtiges Raunen über ihre Lippen. Nuthbal hatte gezögert, weil er eine List Uraks befürchtete. Aber jetzt blickte auch er empor, und die Hand mit dem Schwert senkte sich. Da stieß Urak blitzschnell und mit aller Kraft zu. Während Nuthbal leblos zusammenbrach, senkte sich der Riesengeier herab.
18
2.
Die Männer wurden durch Nuthbals Tod von dem Wunder abgelenkt, das sich abzuzeichnen begann. Sie starrten Urak an, der noch immer das blutige Schwert hielt. Ihre Hände umschlossen zögernd die Waffen, bereit, auf ein Zeichen den feigen Mord an Nuthbal zu rächen. Aber ihr Wortführer war tot, und die anderen waren nicht schnell von Entschluß. Urak nützte das für sich. »Nuthbal starb durch meine Hand, aber es war Cnossos‘ Wille«, sagte der Achte Wächter zu seiner Verteidigung. »Unser Gott kommt in der Gestalt des Geiers, um uns zu großen Taten zu rufen und uns zu belohnen. Seid ihm treu, dann wird er sich eurer wohlwollend entsinnen.« Ibabt verharrte geduckt neben Urak. Sein untrüglicher Instinkt sagte ihm, daß hier seltsame, übernatürliche Dinge im Gange waren, und davor fürchtete er sich wie alle Wilden. Wenn er eine Waffe in der Hand hatte und einen Gegner vor sich, den er damit bekämpfen konnte, dann scheute er keine Auseinandersetzung. Aber wenn er unbewaffnet war oder Dingen gegenübergestellt wurde, die er nicht mit seinem Verstand begreifen konnte, dann verließ ihn aller Mut, er war so hilflos wie das Opfer unter dem zwingenden Blick der Schlange. Er war in einer solchen Lage bereit, sich selbst fremden Dämonen zu unterwerfen. Ibabt wurde alles tun, um sein Leben zu bewahren. Gebannt verfolgte er den Flug des Geiers, der einen Menschen in den Klauen hielt. Ibabts scharfes Auge er19
kannte, daß es sich um ein Mädchen handelte, und er ahnte, daß sie schön sein mußte. Der Geier ging zwischen den Bäumen nieder und entschwand den Blicken der Männer. Einige Zeit herrschte unheimliche Stille auf der Lichtung und im Wald; es war, als hätten Geister und Dämonen die Tiere und den Wind zum Schweigen gebracht und den Männern mit magischer Kraft die Atemwege zugeschnürt. Es war eine Stille, als bliebe die Welt stehen. Und dann zerriß ein markerschütternder Schrei das Schweigen. Die Tiere erwachten aus ihrer Starre, überall im Busch raschelte es, Vögel stiegen von den Bäumen auf und stürzten sich in den Mittagshimmel. Der Bann war gebrochen, die Männer regten sich, atmeten schwer, versuchten mit unsicheren Blicken den Wald zu durchdringen. Ibabt schauderte und klammerte sich an Uraks Oberarm. Der Achte Wächter stieß ihn unwillig von sich. Ibabt zog sich wie ein getretener Hund zurück. Und dann sah er die Bewegung am Rande der Lichtung. Er wollte sich abwenden, aber etwas in ihm zwang ihn, das Bild aufzunehmen, das sich ihm bot. Zuerst erschien das Mädchen. Ihre Kleider waren von den Geierkrallen zerrissen, und eine helle, seidige Haut schimmerte hindurch. Ibabts Puls begann schneller zu schlagen. Er hatte noch nie eine schönere und noch nie eine größere Frau gesehen. Obwohl ihre Haut an vielen Stellen gerötet und zerschunden war, hielt sie den Kopf mit dem braunen Haar stolz wie eine Königin. Der Blick ihrer meergrünen Augen war ungebrochen. Sie wurde von zwei starken Händen an den Oberarmen festgehalten. Die Hände gehörten zu einer Gestalt, 20
die hinter ihr ging und von einer schwarzen Kutte und einer Kapuze eingehüllt war. Ibabt begann wieder zu zittern. Er fühlte es mit jeder Faser seines Körpers, daß diese Gestalt in Schwarz dem Riesengeier entsprungen war. Und es erschreckte ihn, einen viel mächtigeren Gott vor sich zu haben als es die Winddämonen waren. Denn die Winddämonen waren körperlos und unsichtbar, dieser Gott aber hatte einen Leib. Der Schritt des Mädchens war trotzig, ihre Haltung unbeugsam, obwohl der Schwarze sie mit seinem Zwang belegte. »Amee, älteste Tochter von Alac«, kam es über Uraks Lippen. Beim Klang dieser Stimme warf das Mädchen den Kopf in den Nacken. Der Schwarze in ihrem Rücken gab ihr einen Stoß, daß sie strauchelte und ins Gras fiel. »Faßt sie!« befahl er. Dabei rutschte ihm die Kapuze ins Genick. Die Männer, die sich auf das Mädchen stürzen wollten und nun in das Gesicht des Schwarzen blicken konnten, hielten mitten in der Bewegung inne. Einige wichen zurück; Staunen, Schrecken und Ehrfurcht stand ihnen in die Gesichter geschrieben. »Obad!« kam es gurgelnd über ihre Lippen. »Wahrhaftig!« schrie Urak. »Ich erkenne Obad vor mir, obwohl ich ihn mit eigenen Augen aus dem Himmel fallen und sterben sah.« Während die Männer vor Staunen noch immer keiner Bewegung fähig waren, stürzte sich Ibabt auf das Mädchen, das sich aus dem Gras erhoben hatte und flüchten wollte. Er sprang sie von hinten an, stieß ihr das Knie in den Rücken und zwang sie zu Boden. Sie lag mit dem Gesicht nach oben da, Ibabt saß ritt21
lings auf ihr. Er wollte ihr nicht weh tun und sie nicht verletzen, denn soviel Schönheit mußte beschützt werden – soviel Schönheit war einzigartig, sie konnte auf dieser Welt nicht noch einmal geboren werden. Ibabt spürte heißes Verlangen in sich aufkommen. Die Welt versank um ihn, er sah nur das Mädchen unter sich, blickte in ihre Augen und merkte die aufkommende Angst. »Fesselt sie an einen Baum!« befahl der Schwarze. Seine Stimme rief Ibabt in die Wirklichkeit zurück. Es war die Stimme seines neuen Gottes, der in jeden Körper schlüpfen, jede Gestalt annehmen konnte. Diesem Gott wollte er sich unterwerfen. Urak war nicht länger mehr sein Gebieter ... Urak entging die Erregung des Barbaren nicht, und da er nicht sogleich wieder den eben erhaltenen Sklaven durch Cnossos‘ Zorn verlieren wollte, lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich. »Der Gott der vielen Namen ist in der Gestalt des toten Obad zu uns gekommen, um uns seinen Willen zu verkünden!« rief er und richtete einen wütenden Blick auf Amee. »Und ich glaube, seinen Willen zu kennen, noch bevor er zu uns gesprochen hat. Er hat Amee zu uns gebracht, die das Erbe von Alacs Herrschaft in sich trägt, auf das wir ihr das Herz aus dem Leibe reißen und es ihm vorwerfen, wenn er sich uns wieder in der Gestalt des heiligen Geiers zeigt!« Der Schwarze in der Gestalt des toten Oberpriesters brachte Urak durch eine Handbewegung zum Schweigen. »Amee soll nicht sterben!« verkündete er mit donnernder Stimme. »Bindet sie an einen Baum, damit sie nicht fliehen kann. Aber wagt nicht, mehr als dies zu tun. Rührt sie nicht an!« 22
Urak erkannte sofort seinen verhängnisvollen Fehler. Er hatte eigenmächtig und unrichtig den Willen des Gottes der vielen Namen verkündet und mußte nun mit dessen Zorn rechnen. Er sah die einzige Rettung in vollkommener Unterwerfung. »Wir liegen dir zu Füßen, Gott der vielen Namen«, rief Urak und ließ sich zu Boden sinken; seine Männer taten es ihm gleich. »Du kannst uns nun zertreten, wenn du uns ungnädig sein willst, oder du kannst uns zu deinen Dienern ernennen, wenn du uns noch gnädig gesinnt bist.« »Steht auf und hört, was ich euch zu sagen habe.« Urak atmete auf. Er war bei seinem Gott noch nicht in Ungnade gefallen. Aber er würde von nun an vorsichtiger in seinen Äußerungen sein müssen, um sich die Gunst seines Gottes zu erhalten. Amee erzitterte bei jeder Berührung des schwarzhäutigen Barbaren, der das bis zu den Schulterblättern reichende Haar im Nacken zusammengebunden hatte. Er brachte sie mit sanfter Gewalt zum nächsten Baum, legte ihr die Hände nach hinten um den Stamm und fesselte sie mit Lederriemen daran. Der Barbar stand mit dem Rücken zur Lichtung, so daß die anderen nicht beobachten konnten, wie er Amee über den Körper strich. Sie hätte am liebsten geschrien, aber Entsetzen und Abscheu lahmten ihre Stimme. Ein Schlag des Barbaren hätte genügt, um sie zu töten! Die zweite Überlegung war, daß sich niemand in der Nähe befand, um ihr zu helfen. Sie war Cnossos hilflos ausgeliefert. Dragon und die anderen befanden sich, sofern sie noch lebten, im Lager von Zainus Stamm, viele Stun23
denritte von hier entfernt. Aber selbst wenn Dragon und ihre anderen Freunde wußten, in welcher Richtung sie nach ihr zu suchen hatten und bereits aufgebrochen waren, mußten sie noch fern sein. Denn Pferde waren lange nicht so schnell wie ein Vogel. Amee schüttelte sich in Erinnerung an die vergangenen Geschehnisse. Sie hatte sich von Cnossos täuschen lassen, der Dragons Gestalt angenommen hatte. Sie war im Sattel ihres Pferdes aufgewacht und erfuhr von dem vermeintlichen Geliebten, daß Vampire Zainus Lager überfallen und alle anderen getötet hätten. Cnossos, als Dragon verkleidet, gab an, nach Urgor reiten zu wollen, um eine Armee für den Feldzug gegen die Vampire zusammenzustellen. Amee befand sich immer noch im Glauben, an Dragons Seite zu reiten, als sie die Furt im Raxos überquerten und dort von Maratha, der Seherin, erwartet wurden. Sie entlarvte Cnossos, konnte Amee damit jedoch nicht helfen. Denn Cnossos verwandelte sich in einen Geier und flog mit Amee in den Klauen fort. Sein Ziel war die Felsenburg, wo er hauste und von wo aus er dieses ganze Land in Angst und Schrecken versetzte. Amee konnte sich nicht recht erklären, warum Cnossos diese Rast einlegte und sich zu dieser Gruppe von vertriebenen Dunklen Wächtern gesellte. Aber sicher geschah es nicht deshalb, um sich auszuruhen. Bestimmt verfolgte Cnossos irgendeinen dunklen Zweck. Sie hatte schreckliche Ahnungen, die mit Dragon, mit Partho, Agrion, ihrer Schwester Ada, ihrer Amme Iwa, dem Händler Nabib und deren Helfern zusammenhingen. Was war aus ihnen geworden? Stimmte es, daß sie alle von dem Vampiren getötet worden waren? Es schien naheliegend, denn sie mußten von den Vampiren 24
im Schlaf überrascht worden sein. Sie selbst hatte ebenfalls geschlafen und von den Geschehnissen überhaupt nichts bemerkt. Als sie aus ihren Träumen von Dragon erwachte, fand sie sich an seiner Seite reitend – doch war es in Wirklichkeit Cnossos, der die Gestalt des Geliebten angenommen hatte. Sie verspürte einen leichten Druck an ihrer Brust und fuhr aus ihren Gedanken hoch. »Ibabt tut dir nichts zuleide, Mädchen mit der hellen Haut«, sagte der Barbar und bedachte sie mit glühenden Blicken. Sie spürte die schwere Hand auf ihrer Brust und zerrte wild an ihren Fesseln. Dann begann sie aus Leibeskräften zu schreien. Ibabts Hand zuckte zurück. Er machte beschwichtigende Bewegungen und blickte sich nach den anderen um. »Nicht, Mädchen mit der hellen Haut ... ich ...«, begann er stockend. Als er sah, wie die Männer in den langen Umhängen sich ihm zuwandten, glaubte er, sich nur noch durch eine überstürzte Flucht retten zu können. Er hetzte in gewaltigen Sprüngen davon und wurde gleich darauf vom Wald verschluckt. Die Dunklen Wächter holten ihre Schwerter aus den Scheiden und wollten sich an seine Verfolgung machen. »Halt!« gebot ihnen Cnossos. »Laßt ihn laufen, das Leben eines Barbaren ist nicht so wichtig.« Die Dunklen Wächter blieben stehen, drehten sich um, einige streiften Amees entblößte Gestalt mit sehnsüchtigen Blicken. Vollkommen unerwartet brach die donnernde Stimme Cnossos‘ über sie herein. 25
»Wessen Wort gehorcht ihr, dem meinen, dem eures mächtigen Gottes, oder dem eines schwachen Weibes!« herrschte er die Dunklen Wächter an. »Ihr Schrei war ein Hilferuf, denn der Barbar hat sie belästigt. Und ihr wollt ihm daraufhin nachstellen und ihn in Stücke schlagen. Dabei hat der Barbar nur das getan, was ihr alle tun wollt. Ich kenne eure Gedanken, ihr könnt sie mir nicht verbergen, denn sie stehen euch deutlich ins Gesicht geschrieben. Wie lange habt ihr schon keine Frau gehabt? Dünkt es euch nicht schon viel zu lange? Dann kommt her und seht euch Amee an. Sie ist das Schönste, was Sterbliche je geboren.« Amee erstarrte unter den Blicken der Männer. Sie wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken, hätte sich am liebsten in den entferntesten Winkel verkrochen. Die Fesseln hinderten sie daran. Sie zerrte an ihnen, doch einzig mit dem Erfolg, daß sich die Riemen tiefer in ihre Handgelenke gruben. Cnossos, in der Gestalt Obads, erreichte sie, die anderen Männer umstanden sie in einem dichten Halbkreis. »Sie ist wirklich zu lieblich«, stellte Cnossos fest. Amee spuckte ihm ins Gesicht, doch verschwanden die Spuren davon augenblicklich. Cnossos schien es nicht zu merken. Er fuhr fort: »Wäre ich schwachen Fleisches, ich würde nur Amee haben wollen. Und ich kann Männer verstehen, die Amee begehren. O ja, ich verstehe Dragon sehr wohl. Doch seine Sehnsucht nach dir, schöne Amee, wird für immer unerfüllt bleiben. Er hat dich gekostet und wird den Geschmack deiner Lippen noch heute als letzte Erinnerung mit in den Tod nehmen.« Schlagartig waren die verzerrten Männergesichter ausgelöscht, und Amee sah nur das strahlende Bild Dragons vor sich. Über ihre Lippen kam ein befreites Schluchzen. 26
»Dann lebt Dragon wirklich?« Auf Obads Gesicht, das Cnossos gehörte, zeigte sich ein Ausdruck spöttischer Heiterkeit. »Er wird nicht mehr lange genug leben, um dich noch einmal zu schauen, schöne Amee«, erklärte er. »Denn in wenigen Stunden wird ihn an dieser Stelle des Raxos das Schicksal ereilen.« Einer der Dunklen Wächter schrie begeistert: »Wir werden den Schlafenden Gott in den ewigen Schlaf schicken!« Cnossos wirbelte herum und streckte dem vorlauten Mann die Rechte entgegen. Seine Hand löste sich, formte sich im Flug zu einem Klumpen und traf den Mann mit der Wucht eines Keulenschlags ins Gesicht. »Dragon ist nichts als ein erbärmlicher Wurm, ein Sterblicher, der den Götterberg erklimmen möchte«, sagte Cnossos. »Ihr, meine treuen Diener, werdet ihn heute aus seinem Höhenflug in die Tiefe stürzen. Und nenne mir nicht noch einmal einer diesen Emporkömmling Gott!« Der klumpenförmige Körperteil Cnossos, der dem Dunklen Wächter das Gesicht blutig geschlagen hatte, wurde wieder zur Hand, rannte auf den Fingern zurück zu Cnossos und fügte sich an den Armstummel an. Die übrigen Dunklen Wächter standen gänzlich im Banne dieses kleinen Wunders ihres Gottes der vielen Namen. »Bleibt jetzt von Amee fort«, ermahnte Cnossos die Dunklen Wächter nochmals. »Denn sonst wird eine furchtbare Krankheit jene Hand auffressen, mit der ihr sie berührt. Ihr habt euch an ihrer Schönheit sattgesehen, hört mir jetzt zu, was ihr tun müßt, wenn Dragon hier vorbeikommt. Seid gewiß, daß er kommen wird, denn nichts, außer euch, wird ihn davon abhalten, der Spur 27
seiner geliebten Amee zu folgen. Ihr werdet ihm einen gebührenden Empfang bieten ...« Während Cnossos zu den Dunklen Wächtern sprach, entfernte er sich mit ihnen von Amee. Obwohl sie ihr Gehör anstrengte, konnte sie bald nicht mehr alles verstehen, was Cnossos ihnen zu sagen hatte. Schließlich sonderte er sich von den anderen ab und verschwand mit Urak in dessen Behausung. Amee war verzweifelt, weil sie wußte, welche Gefahr hier auf Dragon wartete, und sie ihn nicht warnen konnte. Eben hatte sie noch Hoffnung geschöpft, weil sie erfuhr, daß er noch am Leben war. Doch jetzt hatte sich alles wieder zum Schlechten gewandelt. Wenn vierundzwanzig Bewaffnete Dragon hier auflauerten, dann war er verloren. Dragon führte eine geschickte Klinge, neun von zehn seiner Pfeile fanden ihr Ziel, doch wenn er noch so heldenhaft kämpfte und noch so vom Glück begünstigt war, konnte er gegen eine solche Übermacht nichts ausrichten. Neben diesen düsteren Überlegungen zehrte noch eine nagende Ungewißheit in ihr. Was war aus den anderen geworden, aus ihrer Schwester, aus Partho? Wo waren sie? Cnossos hatte gesprochen, als befände sich Dragon allein auf der Suche nach ihr. Amee wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Cnossos aus der Hütte kam. Er besaß immer noch das Aussehen Obads, wahrscheinlich um den Dunklen Wächtern vertraut zu erscheinen. »Ihr wißt alle, was ihr zu tun habt, meine treuen Söhne«, sagte Cnossos salbungsvoll. »Urak wird euch noch genau erklären, wie ihr vorzugehen habt. Es steht viel auf dem Spiel und es hängt viel von eurem Einsatz ab. Ihr wißt, daß ihr von mir, eurem Gott, für treue Dienste noch immer belohnt worden seid und daß Verräter ihre 28
verdiente Strafe erhalten haben. Ich werde auch diesmal meine Söhne nicht vergessen. Wenn ihr Dragon vernichtet habt, bringt mir seinen Kopf in die Felsenburg. Urak kennt den Weg. Ich werde euch belohnen, indem ich euch in meine Schatzkammer einlasse und jedem soviel Gold zugestehe, wie er tragen kann.« Die Begeisterung der Dunklen Wächter kannte keine Grenzen. Sie huldigten dem Gott der vielen Namen und scharten sich dann um Urak, um sich von ihm die Einzelheiten über den Hinterhalt für Dragon berichten zu lassen. Cnossos näherte sich Amee. Sie versuchte, seinen bohrenden Blicken auszuweichen, die Augen zu schließen und überhaupt nicht in seine Richtung zu sehen. Doch es gelang ihr einfach nicht, irgend etwas Unfaßbares zwang sie, Cnossos anzublicken. Sie mußte einfach zusehen, wie er näherkam und wie er sich verformte. Er verlor nach und nach seine menschliche gestalt. Sein schwarzer Umhang wurde vom Körper Stück um Stück aufgesogen, die Arme schrumpften, die Beine wurden sichtlich kürzer, Federn bildeten sich überall an seinem Körper ... Und dann, war die Verwandlung abgeschlossen. Vor ihr war ein riesiger Geier. Krächzend und mit seinen mächtigen Flügeln das Gleichgewicht haltend, schlug er mit seinem scharfen, gebogenen Schnabel auf ihre Fesseln ein. Als ihr die Lederriemen in Fetzen von den Handgelenken hingen, wurde sie von den eisenharten Krallen behutsam gepackt und emporgehoben. Ein heftiger Wind raubte ihr den Atem. Unter ihr wurde die Lichtung mit den vierundzwanzig Dunklen Wächtern immer kleiner und verschwand schließlich aus ihrem Blickfeld. 29
Cnossos brachte sie mit jedem Flügelschlag immer weiter von Dragon fort. Dragon – der nichts von der tödlichen Falle wußte.
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3.
Xando gönnte Dragon und seinem Pferd keine Rast. Marathas Hund hetzte unermüdlich den Pfad entlang des Raxos nach Westen, wo Urgor lag. Dragon erzwang nur einmal eine kurze Pause, um seine beiden Pferde zu tranken. Es war um die Mittagsstunde, einen halben Tagesritt von Marathas Hütte entfernt. Xando rannte unbeirrt weiter und verschwand hinter einer Biegung. Als er merkte, daß ihm Dragon nicht folgte, kam er nach einer Weile zurückgetrottet. Der große, zottige Hund mit der Wolfsschnauze ließ sich auf einer Bodenerhebung auf die Hinterläufe nieder und beobachtete von dort wachsam die Umgebung. Dann kam er herangelaufen, umsprang Dragon und scheuchte ihn bellend auf. Dragon, der gerade das schweißbedeckte Fell seines Pferdes mit einem Tuch abgerieben hatte, seufzte. »Schon gut, Xando«, sagte er und schwang sich in den Sattel. »Ich weiß selbst, das Eile geboten ist. Cnossos wird mit Amee schon längst die Felsenburg erreicht haben, wenn wir in Urgor sind, um eine Streitmacht gegen ihn auf die Beine zu stellen.« Sie preschten wieder davon. Xando übernahm die Führung. Den größten Teil der Strecke führte der Weg am Ufer des Raxos entlang. Nur gelegentlich versperrten ihnen Anhöhen den Weg, die auf einer Seite steil in den Fluß fielen, so daß sie ihnen landeinwärts ausweichen mußten. Die Stunden vergingen. Dragon kaute während des Reitens getrocknetes Fleisch aus seiner Satteltasche, 31
wenn er Hunger verspürte, und trank Wasser aus der Flasche, wenn er durstig war. Urgor lag noch weiter als einen Tagesritt entfernt, und Dragon fragte sich, ob er sinnvoll handelte, wenn er zuerst in die Stadt ritt, um Männer für den Feldzug gegen Cnossos zu sammeln. Von Maratha wußte er, daß Cnossos Geiergestalt angenommen hatte und mit Amee in westlicher Richtung davongeflogen war. Eines der beiden Pferde, mit denen er zusammen mit Amee aus Zainus Lager geflüchtet war, hatte er an Marathas Furt zurückgelassen. Dragon führte Cnossos‘ Pferd am Zügel mit sich; das andere Tier war verendet. Der Gedanke, daß Cnossos Amee bereits in seine Felsenburg gebracht hatte und ihr Schreckliches antun konnte, spornte ihn an. Er drückte seinem Pferd die Sporen in die Weichen, um es zu noch größerer Geschwindigkeit anzutreiben. Aber mehr konnte das übermüdete Tier nicht mehr hergeben. Dragon holte das zweite Tier am Zügel heran, und als es sich auf gleicher Hohe mit seinem Reittier befand, schwang er sich mit einem gewagten Sprung in den anderen Sattel. Indem er das zweite, ausgeruhtere Pferd für eine Weile ritt, verschaffte er seinem eigenen Tier Erleichterung, damit es sich erholen konnte. Cnossos war gefährlich, und wer wußte schon, welche schrecklichen Helfer er in seiner Felsenburg beschäftigte. Darum mußte Dragon nach Urgor, um Hilfe für sein Unternehmen zu holen. Er half Amee nicht, wenn er allein die Felsenburg zu erstürmen versuchte und dabei sein Leben einbüßte. Ihn quälte nur noch die Frage, ob Maratha ihm die volle Wahrheit gesagt hatte. Sie war bereit gewesen, ihm zu helfen, aber nur unter der Bedingung, daß er das Bett 32
mit ihr teilte. Er bereute dieses Zwischenspiel nicht, da Maratha sich als vortreffliche Liebeskünstlerin gezeigt hatte. Er konnte auch nicht umhin, Vergleiche zu Amee anzustellen ... Er ärgerte sich nur, daß Maratha durch ihre Eigennützigkeit Cnossos einige weitere Stunden Vorsprung verschafft hatte. Es zeigte ihm weiter, daß es Maratha gar nicht so sehr darum ging, Amee zu retten, sondern daß sie zuerst auf ihren eigenen Vorteil bedacht war. Aber was sollte es? Schließlich hatte sie ihm den genauen Weg zu Cnossos‘ Felsenburg beschrieben und ihm noch zusätzlich Xando auf den Weg mitgegeben. Ob eigennützig oder nicht, vielleicht waren die Frauen eben so. Dragon wußte es nicht genau. Er hatte zu lange geschlafen, um sich an die Frauen seiner Zeit noch deutlich erinnern zu können. In seinem Geist kreisten Namen – Mura, Tobos, Flotox und andere ... Er wußte einfach nicht mehr, ob es Freunde oder Feinde waren, die er einst gekannt hatte. Und er hatte auch so manches andere vergessen. Er hoffte immer noch, daß ihm die Weisen der Berge helfen konnten, seine verlorene Erinnerung zurückzugewinnen. Bisher war er immer wieder durch Zwischenfälle mit Cnossos davon abgehalten worden, den Ah‘rat aufzusuchen und die Weisen um Hilfe zu bitten. Amee war wichtiger als seine Erinnerung. Xandos Gebell holte Dragon in die Wirklichkeit zurück. Marathas Gefährte hatte sich in die Gebüsche am Wegrand geschlagen und durchwühlte dort das Unterholz. Dragon trieb sein Pferd durch die Büsche zu der Stelle, wo der Hund irgend etwas verbellte. Er winselte dabei und blickte zu Dragon hinüber. Dragon beugte sich aus dem Sattel, um besser sehen zu können. Xando nahm irgend etwas in die Schnauze 33
und warf es ihm zu. Dragon fing es auf. Es war ein frisch abgebrochener Ast, an dem sich einige gelbe, borstige Haare verfangen hatten. »Ein Eber?« fragte Dragon. Xando knurrte und fletschte die Zähne. Es schien Dragon fast so, als wolle er das Tier nachahmen, dem die gefundenen Haare gehörten. »Sie sind von einem Raubtier«, sagte Dragon. Xando bestätigte es, indem er seinen Wolfsschädel einige Male hob und senkte. Dragon zog sein Schwert. Er konnte sich nicht vorstellen, warum ihn Xando auf ein herumstreunendes Raubtier aufmerksam machen wollte. Er erfuhr es sofort. Xando hatte eine neue Spur gefunden und wies mit der Schnauze darauf. Als Dragon genauer hinsah, bemerkte er die Hufeindrücke eines Pferdes im weichen Boden. Die Spur verlor sich jedoch auf dem staubigen Pfad. Während Dragon noch nachdenklich auf die Raubtierhaare starrte, setzte Xando den unterbrochenen Weg bereits wieder fort. Dragon nahm das zweite Pferd am Zügel und folgte ihm. Der Anblick der Raubtierhaare in Zusammenhang mit den Pferdespuren brachte Dragon auf einen Gedanken. Ihm fiel ein, daß es im Süden der Welt Barbarenvölker gab, die sich in Raubtierfelle hüllten. Hatte Xando die Spur eines solchen Barbaren gefunden? Jedenfalls war Marathas Hund langsamer geworden. Er suchte die Umgebung ab und hielt die Schnauze während des Laufens dicht über dem Boden. Plötzlich zog er den Schwanz ein und knurrte ein Ding an, das auf dem Boden lag. Dragon ritt heran und sah, daß es sich um einen leeren, schmierigen Lederbeutel handelte. Rund um ihn herum lagen im sandigen 34
Boden verstreut Haarbüschel und schwarze Fingernägel verschiedener Größen. Dragon stieg nicht vom Pferd. Er hielt das Schwert fest in der Hand. Xando gebärdete sich wie verrückt. Er sprang in die Luft, riß das Maul auf, als schnappe er nach Luft, und rannte im Kreis herum, wie es Hunde tun, die sich in den eigenen Schwanz beißen wollen. Aber bei Xando hatte dieses Herumtollen eine andere Bedeutung. Er war viel zu klug, als daß er in einer solchen Situation an Spielereien gedacht hätte. »Hier hat ein Kampf stattgefunden«, stellte Dragon fest. Xando bestätigte es durch ein Nicken seines mächtigen Schädels. Er fuhr mit der Schnauze ins Gras am Wegrand und brachte einen zweiten Lederbeutel heran, dann rannte er zur Uferböschung und tat, als rutsche er ab. Dragon merkte, daß hier erst vor kurzem ein Erdrutsch stattgefunden haben mußte. »Einer der Kämpfenden ist in den Raxos gestürzt«, sagte Dragon, und Xando bestätigte die Richtigkeit seiner Vermutung abermals, indem er seinen Schädel hob und senkte. »Dann müßte sich der Überlebende noch in der Nähe befinden«, meinte Dragon nachdenklich. Er hatte bemerkt, daß in dem noch feuchten Erdreich Hufabdrücke waren. Demnach mußte der Unterlegene des Zweikampfes mitsamt seinem Reittier in den Raxos gestürzt sein. »Wie viele Pferde waren es?« fragte Dragon. Xando bellte einmal. Ein Pferd! Es konnte also leicht sein, daß der überlebende Barbar – oder um wen es sich sonst handelte – ihm hier irgendwo auflauern wollte. Dragon wurde noch vorsichtiger. 35
Xando setzte sich wieder in Bewegung. Dragon folgte ihm. Sie kamen nicht mehr weit. Hinter der nächsten Biegung versperrte ihnen ein Erdrutsch den Weg. Unter anderen Umständen hätte sich Dragon nichts weiter dabei gedacht, denn das Erdreich war von dem langanhaltenden Regen aufgeweicht. Wenn die Oberfläche auch schon trocken war, der Boden darunter war es nicht. Es konnte also zu Erdrutschen kommen. Doch hier wollte Dragon nicht an einen Zufall glauben. Es machte ihn noch mißtrauischer, daß ausgerechnet hier ein Hohlweg die Anhöhe hinaufführte und nach dreißig oder vierzig Mannslängen in einen dichten Wald mündete. Dragon starrte den Hohlweg hinauf. »Es wird uns trotz allem nichts anderes übrigbleiben, als den Erdmassen auszuweichen«, meinte er. Xando schien der gleichen Meinung zu sein, denn er stürmte bereits mit lautem Gebelle den steilen Hohlweg hinan. »Xando, warte!« schrie Dragon ihm nach. Das Bellen brach sich an den Wänden links und rechts des Hohlweges und klang so schaurig nach, daß Dragons Pferde scheuten. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die Pferde beruhigt hatte. Er wollte gerade in den Hohlweg einreiten, als Xando den Wald erreichte. Marathas Hund sprang hinter einen Baum und verbiß sich in etwas, das sich dort verborgen hatte. Er kam mit seinem Opfer zum Vorschein, und Dragon sah, daß es sich um einen Menschen in einer Kutte handelte. Ein Dunkler Wächter! Die beiden rollten einige Schritte den Hohlweg hinunter, dann blieb der Dunkle Wächter auf dem Rücken liegen. Xando ließ seine Kehle los, in die er 36
sich verbissen hatte. Der Dunkle Wächter war gestorben, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben. Dragon glaubte, daß damit die Gefahr beseitigt war, und trieb die beiden Pferde in den Hohlweg hinein. Xando begann wie von Sinnen zu bellen und hetzte eine der Steilwände hinauf. Dragon verstand nicht sofort und trieb seine Pferde weiter in den Hohlweg hinein. In diesem Augenblick lösten sich links und rechts der Steilwände gewaltige Felsblöcke und stürzten donnernd in die Tiefe. »Xando!« Aber Marathas Hund hörte Dragon nicht mehr. Er hatte das Ende der Steilwand erreicht und verschwand dahinter. Dragon trieb die Pferde rückwärtsgehend den Hohlweg hinunter. Er konnte mit ihnen nicht wenden, denn dafür war nicht genügend Platz. Und die Felsbrocken kamen mit urgewaltigem Getöse herangerollt. Dragon erkannte sofort, daß er sich nicht rechtzeitig mit seinem Pferd in Sicherheit bringen konnte. Bevor sie noch den Flußpfad erreichen würden, hatten die Felsmassen sie unter sich begraben. Dragon blieb keine andere Wahl, als Cnossos‘ Pferd, in dessen Sattel er saß zu opfern. Er sprang von seinem Rücken und zog sein eigenes Tier am Zügel auf den Flußpfad hinaus. Es bäumte sich auf, trat ihn schmerzhaft gegen die Schulter, strauchelte und stürzte mitsamt Dragon hintenüber. Das war ihre Rettung. Denn in diesem Augenblick donnerten die ersten Felsbrocken heran. Es gab ein dumpfes Geräusch, als sie gegen den Körper von Cnossos‘ Pferd trafen. Ihre Wucht war so groß, daß sie das Pferd einfach mit sich rissen. Dragon hörte das Wiehern 37
des tödlich verletzten Tieres über das Getöse hinweg, sah den dunklen Körper an sich vorbeifliegen und mitsamt den Felsmassen in den Fluß stürzen. Dragon brachte sein eigenes Tier auf die Beine und schwang sich in den Sattel. Der Weg nach Westen war ihm abgeschnitten. Er konnte den Hohlweg nicht benützen, weil er nicht wußte, wieviele Gegner dort noch lauerten. Deshalb mußte er den Pfad zurückreiten, bis sich eine Möglichkeit bot, den Hinterhalt zu umrunden. Über ihm ertönte ein Bellen. Xando! Er kam den steilen Hang heruntergerannt, seine Lefzen waren blutig. Als er den Pfad erreichte, übernahm er wieder die Führung und hetzte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er entwickelte eine Geschwindigkeit, der Dragons Pferd kaum folgen konnte. Dragon hieb ihm die Fersen in die Weichen und holte das letzte aus dem Tier heraus. Er wußte, daß es bald vor Erschöpfung zusammenbrechen wurde, wenn er es noch langer so hetzte. Aber er konnte es nicht schonen. Xando würde nicht grundlos eine so halsbrecherische Geschwindigkeit vorlegen. Er mußte das Ausmaß der Gefahr kennen. Sie waren vielleicht hundert Mannslängen weit gekommen, als ihnen zwei berittene Dunkle Wächter den Weg versperrten. Bei Dragons Anblick zögerten sie keinen Augenblick, sondern ritten ihm furchtlos entgegen, die Schwerter zum Schlag erhoben. Xando sprang den einen Reiter in vollem Lauf an. Er prallte mit solcher Wucht gegen ihn, daß er ihn formlich aus dem Sattel riß. Mehr brauchte Xando nicht zu tun. Der Dunkle Wächter fiel bei dem Sturz so unglücklich, daß er sich das Genick brach. Er lag in verrenkter Haltung da und gab kein Lebenszeichen von sich. 38
Dragon ritt dem anderen geduckt entgegen. Er hielt das Schwert in der abgewinkelten Hand geradeaus nach vorne. Für den Dunklen Wächter mußte es so aussehen, als wolle er hinter dem Kopf des Pferdes Schutz suchen. Das veranlaßte ihn dazu, seine Absicht zu ändern. Er wollte nicht mehr den Schlag von vorne fuhren, sondern warten, bis Dragon mit ihm auf gleicher Höhe war und dann von der Seite her zuschlagen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Er wartete zu lange. Dragon ließ sein Schwert unerwartet vorschnellen und spießte den Dunklen Wächter förmlich daran auf. Sein Aufprall war so stark, daß es Dragon den Arm nach hinten wegbog. Xando wartete bereits hechelnd. Er hatte nicht eingegriffen, weil es ihm nicht nötig erschienen war. Jetzt setzte er sich wieder in Bewegung. Einige hundert Mannslängenweiter, an der Stelle, an der er die Spur des Barbaren im Gebüsch gefunden hatte, bog er vom Pfad ab und schlug sich in den Wald. Dragon wollte ihm folgen, zögerte jedoch, als er sah, daß Xando wieder kehrtmachte, auf den Pfad zurückkehrte und weiter in östlicher Richtung davonrannte. »Xando!« rief er ihm nach. Doch der Hund schien ihn überhaupt nicht zu hören. Dragon fand nur eine Erklärung für sein seltsames Verhalten: er mußte Marathas »übersinnliche Stimme« gehört und auf diese Art einen Befehl von ihr erhalten haben. Das mußte der Grund für Xandos fluchtartiges Davonrasen sein. Dragon trieb ebenfalls sein Pferd wieder voran, aber an der nächsten Wegbiegung verlor er Xando aus den Augen. Es war müßig, ihn noch einholen zu wollen. Das Pferd war schon viel zu schwach, um Xandos Geschwindigkeit erreichen zu können; Dragon merkte, wie es immer langsamer wurde. 39
»Niederträchtige Hexe«, fluchte er und meinte damit Maratha, die ihren Hund zurückgepfiffen hatte und ihn, wie er meinte, nun im Stich ließ. Von links, aus dem Wald, der hier ziemlich eben verlief, ertönte Hufgeklapper, und als Dragon an einem in den Wald führenden Weg vorbeikam, sah er von dort an die zwanzig Reiter heranpreschen. Wenig später bogen sie in den Flußpfad ein. Dragon wußte, daß er ihnen nicht entkommen konnte, denn sie besaßen ausgeruhte Pferde, während seines der Erschöpfung nahe war. Gerade als er sich nach seinen Verfolgern umdrehte und er dem Weg vor sich keine Aufmerksamkeit schenken konnte, strauchelte sein Pferd. Dragon fiel aus dem Sattel. Er klammerte sich instinktiv an den Speer, der im Sattelschaft steckte und riß ihn mit sich. Er fiel weich in das Gras am Wegrand, überschlug sich und hörte Pfeile brechen, die aus dem Köcher rutschten. Er verspürte keinen Schmerz, als er wieder auf die Beine kam und vergewisserte sich durch einen Griff, daß der Bogen, den er um die Schulter trug, keinen Schaden genommen hatte. Das Pferd schien sich jedoch ein Bein gebrochen zu haben. Dragon griff nach der Lanze, die ihm während des Sturzes entfallen war, und wollte ihm den Gnadenstoß geben. Doch da preschten schon die Verfolger heran. Sie stimmten ein wildes Geheul an, als sie sahen, daß er sein Pferd verloren hatte. »Seid nur nicht so siegessicher!« schrie Dragon ihnen entgegen. »Bevor ich in die ewige Dunkelheit einkehre, werden mir viele von euch vorangegangen sein.« Dragon wog kurz den Speer in der Hand, dann warf er ihn mit voller Wucht. Der vorderste der Reiter schrie auf, als ihn der Speer vor die Brust traf. Seine Hände umklammerten den Schaft, um ihn herauszuziehen – und 40
in dieser Stellung kippte er seitlich vom Pferd und fiel dem nachfolgenden Tier vor die Hufe. Es konnte nicht mehr ausweichen und stürzte. Zwei, drei weitere Pferde rannten gegen das unerwartete Hindernis aus zuckenden und wild um sich schlagenden Leibern und warfen ihre Reiter ab, bevor die anderen anhalten konnten. Ohne die weitere Entwicklung dieses Durcheinanders abzuwarten, drang Dragon in den Wald ein. Er war hier nicht besonders dicht, so daß er mit einer weiteren Verfolgung zu Pferd rechnen mußte. Aber wegen der tiefhängenden Äste würden die Reiter nicht viel schneller vorankommen als er. Er nahm den Bogen in die Hand und legte während des Laufens einen Pfeil auf. Er wollte den Nahkampf solange wie nur irgendmöglich hinauszögern, denn die Übermacht war zu groß. Wenn er annahm, daß seine Verfolger zwanzig Mann stark gewesen waren, so standen immer noch neunzehn gegen ihn. Einen hatte er mit dem Speer erledigt, aber er konnte nicht hoffen, daß sich die anderen durch den Massensturz Verletzungen zugezogen hatten, die sie kampfunfähig machten. Neunzehn gegen einen! Dragon drang immer tiefer in den Wald hinein. Es entging ihm nicht, daß die Bäume immer weiter voneinander entfernt standen. Der Wald lichtete sich, und dann sah er sein Ende. Dahinter lag eine Geröllebene, die zu einer Felswand aufstieg. Wenn er die Felswand erreichte, dann würde das einen neuerlichen Zeitgewinn bedeuten. Wenn es ihm gelang, sie zu besteigen, würde er sich ausgezeichnet verteidigen können. Hinter ihm kamen die Verfolger immer näher. Einer hatte sich von den anderen abgesetzt und befand sich nur noch fünfzehn Mannslängen hinter Dragon. 41
Dragon wirbelte im Laufen herum und schoß den Pfeil ab. Aber er hatte zu überhastet gehandelt, der Pfeil bohrte sich nur in den linken Arm des Dunklen Wächters. Der Mann wurde durch die schmerzhafte Wunde zu noch größerer Wut angestachelt. Den verhaßten Gegner so nahe vor Augen, vergaß er alle Vorsicht und preschte, das Schwert über dem Kopf schwingend, ungestüm heran. Zu spät sah er, daß Dragon den Ast eines jungen Baumes ergriffen hatte und zurückbog. Als der Dunkle Wächter ihn fast erreicht hatte, ließ er den Ast los, der zurückschnellte und den Reiter vom Pferd schleuderte. Dragon rannte weiter. Er ließ den Wald hinter sich und stolperte die Geröllhalde hinauf. Drei Dunkle Wächter, die ihm auf ihren Pferden folgen wollten, wurden von den aufgescheuchten Tieren abgeworfen, kaum daß sie einige Schritte auf dem steilen Hang zurückgelegt hatten. Der Boden war locker, er bot den Pferden kaum Halt. Sie rutschten auf den Steinen aus und scheuten. Die nachfolgenden Dunklen Wächter erkannten, daß sie hier mit den Pferden nicht weiterkamen und saßen rechtzeitig ab. Sie trieben ihre Reittiere zusammen und banden sie an den Ästen eines entwurzelten Baumes fest. Inzwischen hatte Dragon die Felswand erreicht. Sie war lange nicht so steil, wie sie von weitem gewirkt hatte. Es gab überall Spalten, Risse, Vorsprunge und Vertiefungen, an denen er Halt finden konnte. Stellenweise existierten sogar natürliche Plattformen und Pfade. Als er sich fünfzehn Mannslängen über der Ebene befand, legte er eine Rast ein. Er zählte die Dunklen Wächter, die beisammenstanden und beratschlagten. Es waren achtzehn an der Zahl. Ursprünglich mußten es zumindest vierundzwanzig gewesen sein. Zwei oder 42
auch mehr hatte Xando im Hohlweg erledigt: zwei waren gefallen, als sie ihm und Xando den Rückweg versperrten; zwei weitere hatte er, Dragon, auf der Flucht zur Strecke gebracht. Es würden noch mehr werden, bevor sie ihn in die ewige Finsternis schicken konnten. Er blickte nach dem Stand der Sonne, die inzwischen eine rötliche Farbe angenommen hatte und sich nahe dem westlichen Horizont befand. Bald würde es Nacht werden. Er blickte wieder zu den Dunklen Wächtern hinunter. Es behagte ihm nicht, daß sie ihm nicht folgten. Waren sie so sicher, daß er ihnen nicht entkommen konnte? Mußten sie nicht damit rechnen, daß sie ihn nicht mehr einholen konnten, wenn er erst die Felswand hinter sich gelassen hatte und in das darüberliegende Hochland vordrang? Ihm gefiel die abwartende Haltung der Dunklen Wächter so wenig, daß er beschloß, sie aufzuscheuchen. Er spannte einen Pfeil in den Bogen ein und ließ ihn in Richtung seiner Feinde von der Sehne schnellen. Der Pfeil schoß mitten in sie hinein; ein Aufschrei, der sich an der Felswand brach, und einer der Dunklen Wächter brach zusammen. Sie stoben sofort auseinander. Zehn von ihnen rannten in Richtung des Waldes davon, die anderen begaben sich in den Schutz der Felswand. Dragon begann wieder mit dem Aufstieg. Er kam nun immer schwerer vorwärts. Zwar fand er immer noch Pfade vor, doch führten sie nicht in die Höhe, sondern verliefen eben an der Felswand entlang. Die zehn Dunklen Wächter, die im Wald verschwunden waren, kamen wieder zurück. Sie hatten den Stamm eines zähen, biegsamen Jungbaums bei sich, den sie der Äste beraubten. 43
Einer der Dunklen Wächter hob die Hände an den Mund und rief: »Komm herunter, Dragon, oder wir schicken dir Uhmäk.« Dragon, der annahm, daß dies der Name eines besonders kampfgeübten Dunklen Wächters sei, schrie zurück: »Uhm-äk soll kommen, ich werde ihm mein Schwert spüren lassen.« Der Dunkle Wächter lachte schallend und rief: »Denke daran, daß ich, Urak, dich gewarnt habe. Wenn wir Uhm-äk erst wecken, dann ist es zu spät für dich.« Da erst ahnte Dragon, daß »Uhm-äk« alles andere als ein Dunkler Wächter sein mochte. Und ihm fiel auf einmal auf, daß die Pfade viel zu gleichmäßig verliefen, um natürlichen Ursprungs zu sein, und die Vertiefungen waren viel zu sinnvoll angeordnet. Die Vertiefungen irn Fels mußten dazu geschaffen worden sein, um an ihnen Halt zu finden! Von wem? Von Uhm-äk? Dragon schauderte. Er kletterte dennoch weiter. Am Fuß der Felswand hatten die Dunklen Wächter inzwischen den Baumstamm mit seinem dickeren Ende schräg in den Boden geschlagen. Sie legten einen großen Felsblock unter ihn, so als wollten sie ihn als Hebel benutzen. Am dünneren, schräg in den Himmel ragenden Ende, befestigten sie einen kleinen Holzbottich. Darunter schlugen sie ein Schwert bis zum Schaft in den Boden. Dann banden sie ein dickes Seil um den Baumstamm, schlangen es um den, Griff des in den Boden gerammten Schwertes und zogen solange daran, bis der Baumstamm so durchgebogen war, daß der daran befestigte Bottich fast den Schwertgriff berührte. Ein Dunk44
ler Wächter brachte einen kopfgroßen Felsbrocken heran und legte ihn in den Bottich. »Ergibst du dich, Dragon?« rief der Dunkle Wächter, der Urak hieß. »Mit eurer Steinschleuder werdet ihr mich nie treffen!« schrie Dragon zurück. »Wie du meinst.« Urak zog sein Schwert und durchschlug mit einem Hieb das Seil. Der Baumstamm schnellte mit unglaublicher Wucht hoch und schleuderte den Felsbrocken in hohem Bogen gegen die Felswand. Er traf mit einem Donnerschlag auf und ließ die Wand erbeben. Das Geräusch war noch kaum verebbt, als von irgendwoher ein ohrenbetäubendes Gebrüll – ertönte. Es kam langsam, aber unaufhaltsam näher. Das mußte Uhm-äk sein, um welches Ungetüm es sich dabei auch immer handelte. Die Dunklen Wächter hatten ihre Steinschleuder inzwischen ein zweites Mal gespannt und einen noch größeren Felsbrocken in den Bottich gelegt. Urak hob das Schwert und durchschlug das Seil. Das Geschoß traf weitab von Dragon gegen die Felswand und erschütterte sie erneut. Die dunklen Wächter beabsichtigten gar nicht, Dragon zu treffen. Sie wollten lediglich Uhm-äk aufscheuchen und auf Dragon hetzen! In diesem Augenblick entschloß er sich, lieber gegen die Dunklen Wächter zu kämpfen und einige mit in den Tod zu nehmen, als sich einer unbekannten Bestie zu stellen. Er begann gerade mit dem Abstieg, als links von ihm ein Schatten in der Felswand auftauchte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor ein solch furchterregendes Geschöpf gesehen zu haben wie das, das sich ihm auf dem schmalen Pfad drohend näherte. 45
4.
Die vierundzwanzigköpfige Reiterschar kam nur langsam vorwärts. Denn die letzte Rast bei Marathas Furt lag schon fast einen Tagesritt zurück. Vor ihnen lag noch ein weiter Weg, und die Pferde mußten geschont werden. Zudem wollte man auf die drei Frauen Rücksicht nehmen. Doch waren es gerade sie, die ständig zur Eile trieben. »Schneller, Partho, schneller«, drängte Ada den ehemaligen Hauptmann der Palastwache ihres Vaters. »Amee befindet sich in Gefahr.« »Amee ist nicht geholfen, wenn wir unsere Pferde zuschanden reiten«, entgegnete Partho. Diese Worte fielen ihm nicht leicht, denn er war nicht minder um Amees Sicherheit besorgt, und alles in ihm drängte danach, seinem Pferd die Sporen zu geben. Doch siegte bei ihm die Vernunft. »Wir sollten trachten, Dragon einzuholen, der vorausgeritten ist«, ließ sich Iwa vernehmen. Die Amme von Ada und Amee versuchte ständig, die Männer zu einem schärferen Ritt zu bewegen. »Ich fürchte, daß er allein nichts gegen das Ungeheuer ausrichten kann, das seine Amee entführt hat.« Nabib, der Händler aus Sodok, warf Partho einen raschen Blick zu. Aber der Hauptmann zuckte mit keiner Wimper. War er bereits völlig über Amees Verlust hinweggekommen, hatte er sich damit abgefunden, daß sie sich für Dragon entschied? Oder hatte er Iwas Worte nur nicht gehört? Er blickte Agrion von der Seite an; das Mädchen ritt schweigend und konzentriert. 46
»Ich sorge mich nicht um Dragon, denn er ist Cnossos ebenbürtig«, sagte der Händler, der im Kerker von Urgor vom Fleisch gefallen war, inzwischen aber wieder etwas fülliger wirkte. Das war nicht zuletzt auf die reichliche Bewirtung in Zainus Lager zurückzufuhren. »Ich bin auch recht zuversichtlich, daß Cnossos Amee nicht so rasch ein Leid zuzufügen gedenkt«, fuhr er fort, um Ada zu beruhigen. »Warum sonst hätte er sie lebend entführt?« Ubali, der riesenhafte Schwarze aus Shi-but, war der einzige der Männer, der sich Adas und Iwas Meinung voll und ganz anschloß. Nachdem Dragon ihn in Zainus Lager im Zweikampf besiegt hatte, verschwor er sich ihm mit Leib und Seele. Er schalt sich nun, daß er sich von Xando hatte abbringen lassen, seinen neuen Herrn zu begleiten. Er bangte um dessen Leben und mußte sich eisern beherrschen, um nicht die Reiterschar zu verlassen und auf eigene Faust zu handeln. Trotzdem ging sein wildes Blut immer wieder mit ihm durch, und es bedurfte vieler geschickter Worte, ihn zurückzuhalten. Immer wenn die Sprache auf Dragon oder Amee kam, verkündete er entschlossen: »Ich verlasse euch jetzt, um meinem Herrn in der Stunde der Not beizustehen.« Die anderen riefen ihn dann zur Vernunft. »Du kennst dieses Land nicht, Ubali. Du würdest dich verirren und fändest Dragon nie.« Nabib, der zuversichtlicher war als die anderen, dachte nicht nur an die Befreiung Amees, sondern hatte auch noch ganz andere Dinge im Kopf. Er hatte sich an dem Feldzug gegen die Vampire beteiligt und sich in deren Höhlen reiche Beute erhofft. Er wußte, daß der Gott der vielen Namen unermeßliche Schätze gehortet haben mußte und glaubte, einen Teil 47
davon in den Höhlen der Vampire zu finden. Er wurde enttäuscht. Aber er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben und besaß nun Aussicht, sie bald erfüllt zu sehen. Nach der Vernichtung der Vampire hatte sich Nabib mit Ubali wieder in Zainus Lager eingefunden, wo Partho, Agrion, Ada und Iwa zurückgeblieben waren. Zusammen mit acht kampferfahrenen Söhnen Nuaks waren sie zu Dragons Unterstützung aufgebrochen, der sich an die Verfolgung Cnossos‘ gemacht hatte. Nachdem sie an Marathas Furt den Raxos überquert hatten, erfuhren sie von der Seherin, daß sowohl Cnossos mit Amee und später dann Dragon hier vorbeigekommen waren. Hier gesellten sich auch noch zehn abenteuerlustige Hirten zu ihnen, die ihnen ihre Unterstützung anboten. Die Hirten wollten sich durch ihre Hilfeleistung dafür bedanken, daß man die Vampire erschlagen hatte, die früher ständig ihre Herden heimgesucht hatten. Einer von ihnen, Elwor war sein Name, der das Land rund um Urgor kannte, wie kein anderer, hatte sich angeboten, sie auf dem schnellsten Wege zur Felsenburg des Gottes der vielen Namen zu bringen. Als Maratha die Felsenburg erwähnte und den Weg dorthin beschrieb, hatte Nabibs Herz höher geschlagen. »Wo soll Cnossos seine Schätze verbergen, wenn nicht in seiner Felsenburg«, äußerte er sich zu Iwa. »Es muß genug da sein, um uns alle reich zu machen, Iwa.« »Und das Leben der armen Amee kümmert dich überhaupt nicht, was, du goldgieriger Fettwanst?« »Doch, doch«, versicherte Nabib händeringend. »Setze ich nicht mein Leben für sie aufs Spiel? Aber was ist schon dabei, wenn ich mich nach vollbrachter Heldentat nach dem Gold bücke, das vor meinen Füßen liegt!« 48
»Du würdest in meinen Augen mehr gelten, wenn du zuerst die Heldentaten vollbringst und dann erst von Belohnung sprichst«, sagte Iwa gereizt. Agrion hörte aufmerksam zu. »Du glaubst doch nicht, daß es mich kümmert, was ich in deinen Augen bin«, sagte Nabib lachend und trieb sein Pferd voran, um sich vor weiteren Angriffen Iwas in Sicherheit zu bringen. Die Reitergruppe kam plötzlich zum Stillstand, als Elwor an der Spitze die Hand hob und sein Pferd zügelte. Nabib rückte auf, um sehen zu können, was die Ursache für den unerhofften Aufenthalt war. Er vernahm das aufgeregte Bellen eines Hundes und wußte, daß es sich um Xando, dem treuen Gefährten der Seherin Maratha handelte, noch bevor er ihn zu Gesicht bekam. Der Hund umsprang bellend Elwors Pferd, rannte einige Schritte davon, um dann umzukehren und das gleiche Spiel zu wiederholen. »Was ist mit ihm?« erkundigte sich Nabib bei Elwor. »Warum hat er Dragon verlassen?« Elwor hatte zu Xando gesprochen und von dem Hund als Antwort ein klagendes Bellen erhalten. »Es scheint so, als hatte Maratha Xando von Dragon fortgerufen und uns entgegengeschickt«, sagte Elwor, der Marathas Hund lange genug kannte, um sein Verhalten deuten zu können. »Er möchte, daß wir ihm folgen. Das kann nur bedeuten, daß Dragon sich in Gefahr befindet und Hilfe benötigt.« Partho war ebenfalls herangekommen; neben ihm ritt Agrion. »Worauf warten wir noch!« rief er und hieb seinem Pferd die Fersen in die Seiten. Xando raste bereits davon. Die Reiterschar folgte ihm. 49
Als die achtzehn Dunklen Wächter die Reiter aus dem Wald heranpreschen sahen, war es für eine Flucht zu spät. Nur einer von ihnen hatte sich nahe genug der Pferde aufgehalten, um sich in den Sattel schwingen zu können, bevor die Angreifer heran waren. Es handelte sich um Urak, den Achten Wächter. Er erkannte sofort, daß sie gegen diese Übermacht nichts ausrichten konnten und ließ seine Leute im Stich. Er dachte nur daran, wenigstens seine Haut zu retten. Einer der Hirten hatte den Fliehenden erspät und versuchte, ihm den Weg abzuschneiden. Als er sich mit Urak schon fast auf gleicher Höhe befand und das Schwert zum Schlag hob, stieß dieser mit einem Speer zu, den er hinter dem Körper des Pferdes versteckt gehalten hatte. Der Hirte konnte der heransausenden Speerspitze gerade noch ausweichen, verlor aber durch diese heftige Bewegung den Halt und stürzte aus dem Sattel. Urak aber konnte flüchten. Inzwischen tobte der Kampf zwischen den Dunklen Wächtern und Dragons Freunden. Die Dunklen Wächter hatten sich um die Steinschleuder geschart und hieben blindlings auf die sie umkreisenden Reiter ein. Der erste fiel durch einen von Elwor geschleuderten Dolch, der zweite wurde von Parthos Schwerthieb gefällt; drei weitere starben durch die Hände der Söhne Nuaks. Ein Dunkler Wächter konnte dem Schwerthieb Nabibs ausweichen, büßte dabei aber sein linkes Ohr ein. Er schrie auf, griff sich an die Wunde, Blut verklebte ihm die Augen, und er rannte blind in das Schwert eines seiner Kameraden. Ubali hatte einen der Dunklen Wächter getötet, dabei war ihm die Waffe entfallen. Kurz entschlossen sprang er aus dem Sattel und begrub im Flug zwei Feinde unter sich. Als er mit den beiden am Boden rang, sprang 50
ihn ein dritter von hinten an und wollte mit dem Dolch zustoßen. Aber gerade als er die Waffe zum tödlichen Stoß erhoben hatte, bohrte sich der Speer eines Hirten in seinen Rücken. Ubali stieß seine beiden Gegner mit den Köpfen zusammen und drehte sich dann nach seinem Retter um. Bevor er sich noch bei ihm bedanken konnte, sah er, wie er von einem großen Stein am Kopf getroffen wurde und aus dem Sattel fiel. Partho jagte einen Dunklen Wächter, der die am Waldrand zurückgelassenen Frauen erspäht hatte und sich ihnen nun mit drohend schwingendem Schwert näherte. Noch bevor Partho ihn einholen konnte, erreichte der Dunkle Wächter Ada und packte ihr Pferd am Zügel. Das Tier scheute, bäumte sich auf, aber Ada hielt sich tapfer im Sattel. Sie trat verzweifelt nach dem Dunklen Wächter, der sie am Bein gepackt hatte und an ihr zerrte. Da ging das Pferd durch und rannte in Richtung der Geröllhalde davon. Der Dunkle Wächter wurde mitgeschleift. Als er nach zwanzig Mannslängen endlich losließ, war kaum noch Leben in ihm. Partho holte Adas Pferd schließlich an der Geröllhalde ein und bändigte es. Er wollte sich gerade wieder ins Kampfgetümmel stürzen, als ihm ein Schrei Adas das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er wandte sich um. Sie saß gekrümmt im Sattel, barg das Gesicht in der einen Hand und wies mit der anderen zur Felswand. Partho folgte der Richtung ihrer Hand mit den Augen und erstarrte. Dort oben in der Felswand, etwa dreißig Mannslangen über dem Boden, kämpfte ein Mann gegen ein riesiges, schwarzbehaartes Ungeheuer. Und dieser Mann war niemand anderer als Dragon. 51
Partho blickte zurück zum Kampfplatz. Die Dunklen Wächter waren geschlagen. Nur noch zwei von ihnen, aus vielen Wunden blutend, kämpften Rücken an Rücken, den sicheren Tod vor Augen. »Hierher!« brüllte Partho und schwang sich aus dem Sattel. »Dragon ringt in der Felswand um sein Leben!« Ubali hörte den Ruf und wirbelte herum. Er blickte die Felswand hinauf und sah hoch oben Dragon von einem schwarzen Ungetüm bedrängt. Es war gut um fünf Köpfe größer als Dragon, besaß lange Arme und Beine und war am ganzen Körper behaart. Es stand aufrecht wie ein Mensch, hatte aber nichts Menschenähnliches an sich. Es sah eher aus wie ein Riesenaffe aus Ubalis Heimat. Aber als es den Kopf wandte, entdeckte Ubali, daß es nur ein Auge besaß und ein Maul so groß, daß ein Männerkopf hineinpaßte. Darin blitzten die scharfen Fänge eines Raubtiers. Dragon hatte sich in einen Felsspalt zurückgezogen und schlug mit dem Schwert auf das unter ihm befindliche Ungeheuer ein, das mit seinen großen Pranken nach ihm griff. Es zuckte bei jedem Treffer zurück und gab einen gequälten Schrei von sich. Aber ernsthaft schien es nicht verletzt zu sein, denn es griff immer wieder an. In seiner linken Brustseite steckten vier Pfeile. Jedes andere Geschöpf wäre allein davon getötet worden, aber Ubali wußte, daß bei diesem Scheusal das Herz dort saß, wo andere das Gehirn hatten – unter der Schädeldecke, hinter dem großen, glühenden Auge. Das war ein Menschenfresser! Ubali hatte nicht gewußt, daß es sie so hoch im Norden ebenfalls gab. In seiner Heimat Shi-but brachte man ihnen manchmal Menschenopfer dar. Das alles schoß ihm in einem einzigen kurzen Augenblick durch den Kopf. Gleichzeitig bückte er sich 52
nach einem vor ihm liegenden Speer und stürmte auf die Felswand zu. Dort wollte der unerschrockene Partho gerade mit dem Aufstieg beginnen. Ubali stieß ihn beiseite, nahm den Speer am Schaft zwischen die Zähne und erklomm die Felswand. Das ging schneller, als er erhofft hatte, denn es gab überall Vertiefungen, die wie Stufen in den Fels gehauen waren. Wahrscheinlich stammten sie von dem Menschenfresser, der hier hauste. Über ihm ertönte wieder das schaurige Gebrüll. Dragon mochte wieder die Arme des Scheusals mit Schwerthieben belegt haben, doch konnte er ihm damit nicht wirklich schaden. Irgendwann wurden seine Kräfte erlahmen – und dann wurde ihn der Menschenfresser zu fassen kriegen. Schnell stieg Ubali höher. Er schöpfte die Kraft aus einem schier unversiegbaren Quell seines Körpers, den die Angst um seinen Herrn und der Haß gegen den Menschenfresser speiste. Als er gut fünfundzwanzig Mannslängen über dem Boden war, blickte er hinunter und sah, daß Nuaks Söhne Pfeile in ihre Bogen einlegten und Aufstellung nahmen. »Nicht schießen!« schrie er aus Leibeskräften. »Ihr könntet Dragon treffen!« Ubali wartete nicht ab, ob man seiner Anordnung Folge leistete. Er hörte über sich wieder das schaurige Brüllen, nahm eine Bewegung wahr und sah eine mit Hornhaut versehene Ferse über den schmalen Felspfad ragen. Wenn er den Speer am hinteren Ende ergriff, konnte er die Ferse mit der Spitze bereits erreichen. Kaum daß der Gedanke sein Gehirn durchzuckte, führte er ihn auch schon aus. 53
Er stieß zu, die Speerspitze traf die Ferse des Ungeheuers und glitt daran ab Ubali hätte sich denken können, daß der in der Felswand lebende Menschenfresser an dieser Stelle unverwundbar war. Er mußte höher klettern, mußte dem Scheusal dicht auf den Pelz rücken, um seinen wunden Punkt mit dem Speer erreichen zu können. Der Menschenfresser besaß an seinem Körper eine einzige empfindliche Stelle, an der man ihn zwar nicht tödlich verletzen, aber ihm immerhin Schmerz zufügen konnte. Sie lag am Ende des Rückens, unterhalb des Schwanzaustritts. Ubali kam mit einem Klimmzug auf einen schmalen Grat hinauf. Wenn er sich zu voller Größe streckte, hatte er die Beine des Menschenfressers vor sich. Jetzt war er nahe genug. Der schmale Grat bot ihm ausreichend Bewegungsfreiheit, um mit dem Speer auszuholen. Er spannte die Muskeln seines Körpers an. »Halte aus, Herr!« rief er heiser und stieß mit dem Speer zu. Er spürte, wie die Spitze in weiches Fleisch eindrang. Der Menschenfresser gab ein so gewaltiges Gebrüll von sich, daß der Fels davon erbebte. Aber er verlor den Halt nicht, wie Ubali gehofft hatte. »Spalte ihm den Schädel!« rief er Dragon über das Gebrüll hinweg zu. Aber dieser Aufforderung bedurfte es erst gar nicht. Als Dragon sah, wie Uhm-äks zottige Arme plötzlich zurückzuckten und sich sein Körper wie unter Schmerzen wand, ergriff er das Schwert mit beiden Händen und ließ es auf den furchterregenden Schädel niedersausen. Die Schneide drang tief ein, das Schwert saß so fest, daß es Dragons Händen entrissen wurde, als Uhm-äk zuckte. Der Menschenfresser beugte sich zurück, bog seinen Rücken immer weiter durch, das eine Bein glitt haltsu54
chend nach hinten, trat ins Leere ... Uhm-äk stürzte, sich überschlagend, in die Tiefe. Dragon lehnte sich in der Felsspalte zurück und schloß die Augen. »Wirst du den Abstieg aus eigener Kraft schaffen können, Herr?« drang nach einer Weile die vertraute Stimme seines schwarzhäutigen Dieners an sein Ohr. Dragon nickte schwach. »Gib mir nur einige Augenblicke Zeit, damit ich mich erholen kann.« Dragon saß gegen einen Sattel gelehnt auf einer Decke und ließ seine Wunden von Iwa behandeln. Ada kniete vor ihm im Gras und starrte ihn mit unverhohlener Bewunderung an. Ubali blieb im Hintergrund und brachte auf Dragons Wink hin einen Becher Wein. »Es wird nicht lange dauern, dann sind die Wunden verheilt«, sagte Iwa und schmierte eine Salbe über eine offene Fleischwunde an Dragons Bein, die ihm Uhm-äk mit seinen Krallen zugefügt hatte. »Du solltest dir einige Stunden Ruhe gönnen, dann bist du morgen wieder bei Kräften.« »Ich fühle mich nicht mehr schwach«, behauptete Dragon. Er leerte den Becher. »Der Wein wirkt Wunder.« »Er benebelt deinen Geist«, erklärte Iwa und wandte sich ab, um auch die anderen Verwundeten zu behandeln. Elwor, der Sprecher der Hirten, kam heran. »Es wird bald Nacht«, sagte er. »Werden wir hier lagern?« Dragon schüttelte den Kopf. »Nur solange, bis wir gegessen und die Verwundeten und die Pferde versorgt haben«, sagte er und fügte schnell hinzu: »Aber es bleibt euch freigestellt, die Nacht 55
hier zu verbringen und uns am nächsten Morgen zu folgen. Ich will euch nicht Unmögliches zumuten.« »So war meine Frage nicht gemeint«, entgegnete der Hirte. »Es ging mir nicht um uns, sondern um euch. Wir halten bestimmt durch. Auf die Pferde brauchen wir keine Rucksicht mehr zu nehmen, denn wir können uns die Tiere der Dunklen Wächter bedienen. Sie sind frischer als unsere.« »Wie groß sind die Verluste unter den Dunklen Wächtern?« erkundigte sich Dragon. »Alle siebzehn sind tot«, antwortete Partho, der herangekommen war und Dragons Frage hört. Partho hielt Agrion am Arm. Elwor zog sich zurück. Dragon runzelte die Stirn. »Soviel ich weiß, waren es achtzehn«, sagte er. »Einer ist uns entwischt«, erklärte Partho. Dragon blickte Partho in die Augen. »Kennst du einen Dunklen Wächter mit Namen Urak? Er war ihr Anführer.« Partho verzog angewidert das Gesicht. »Ich kenne Urak. Er hat es mit Hinterlist und Heimtücke bis zum Achten Wächter gebracht. Er ist nicht unter den Gefallenen. Es sieht der Ratte ähnlich, die eigenen Leute im Augenblick einer Bedrohung im Stich zu lassen.« »Gibt es Ausfälle unter deinen Leuten, Partho?« »Die Männer unterstehen ab sofort deinem Befehl, Dragon«, erklärte Partho mit ausdruckslosem Gesicht. »Nein, wir haben keine Schwerverwundeten zu beklagen. Jeder der Verletzten könnte noch immer seinen Mann stellen, wenn es darauf ankommt. Iwa hat mit ihren Heilmitteln wahrlich Wunder an ihnen vollbracht.« »Komische Wunder!« rief Nabib von der Feuerstelle her, wo er noch immer Mahlzeit hielt, während die an56
deren schon satt waren. Seine obere Kopfhälfte war von einem dicken Verband umwickelt. »Seht euch an, welchen Kopfschmuck sie mir verpaßt hat, obwohl ich nur einen harmlosen Kratzer abbekommen habe. Das hat sie sicher nur getan, damit ich den jungen Mädchen nicht gefalle.« »Wo willst du zwischen Zainus Lager und Urgor junge Mädchen finden?« rief jemand. Die Stimmung der Männer wurde immer gelöster. Der Kampf, der hinter ihnen lag, war vergessen, an die kommende Auseinandersetzung dachten sie noch nicht. »Überseht mir nur Ada nicht«, warf Partho launisch in die Unterhaltung ein. »Sie ist schon lange kein Kind mehr.« Das trug ihm einen giftigen Blick Adas ein. Partho ging lachend darüber hinweg. »Du solltest Parthos Worte nicht tragisch nehmen«, sagte Dragon zu Ada. »Wenn Männer dem Tod ins Angesicht geblickt haben, dann vergessen sie nachher manchmal die guten Sitten. Das ist das Vorrecht der Helden.« »Du bist auch ein Held«, sagte Ada verträumt, »und doch vergißt du nie, wie man sich einer Frau gegenüber zu benehmen hat.« Ein Schatten huschte heran, fletschte die Zähne und knurrte Ada an. Sie zuckte mit einem Aufschrei zurück. »Xando!« rügte Dragon und fuhr dem Hund hinter dem Wolfsschädel ins Fell. »Du willst doch nicht auf diese Art beweisen, daß auch du zu den Helden gehörst. Du hast den Beweis dafür oft genug erbracht.« Der Hund sah ihn aus seinen klugen Augen von unten her an, und Dragon war auf einmal, als blicke ihn Maratha an. Die Augen schienen sagen zu wollen, daß sich nicht jedes weibliche Wesen das Recht herausneh57
men dürfe, ihm, Dragon, ihre Zuneigung zu zeigen. Dieser Eindruck verschwand aber sofort wieder, und Dragon sagte sich, daß er einer Sinnestäuschung aufgesessen war. Dragon kraulte Xando im Nacken und flüsterte ihm zu: »Ich habe dir und deiner Herrin Unrecht getan. Als die Dunklen Wächter hinter mir her waren und du davonliefst, dachte ich, daß Maratha und du mich verraten wolltet. Das war dumm von mir, ich hätte es besser wissen müssen. Sage Maratha, daß ich sie deshalb um Verzeihung bitte. Vielleicht kann ich meine Schuld bei dir auch gutmachen. Wie wäre es damit?« Dragon hielt Xando ein saftiges Stück Fleisch hin. Der Hund nahm es vorsichtig mit den Zähnen und kaute lustlos daran herum – es schien fast so, als wolle er Dragon nur einen Gefallen damit erweisen, daß er es annahm. Nachdem Xando den Happen gnädigerweise geschluckt hatte, wollte ihm Dragon wieder im Genick kraulen. Doch der Hund schüttelte seine Hand ab und trottete davon. Außerhalb des Lagers begann er zu laufen. Dragon blickte ihm solange nach, bis er in östlicher Richtung im Wald verschwunden war. Er wußte, daß Maratha, die blinde Seherin, ihren Gefährten zu sich gerufen hatte. Erst jetzt merkte er, daß Ada ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte. »Hast du eben an Amee gedacht?« fragte sie. Er hatte den Eindruck, daß sie sehr genau wußte, wo er eben mit seinen Gedanken gewesen war.
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5.
Fremdes Land. Große, blendende Scheibe dort oben, die langsam in die Tiefe sank und dabei matt wurde und eine rötliche Farbe bekam. Sie ließ ihn blinzeln, wenn er in sie sah. Er klagte leise zur Sonne, als hoffe er, daß sie als einzige ihn verstehen könne. Er sandte sein Klagen hörbar in die Luft und lautlos in die Ferne. Aber niemand würde ihn hören. In ihm war eine nie versiegende Unrast, geboren aus Hunger und Wehmut. Der Hunger nagte in seinen Gedärmen, die Wehmut zerfraß sein Herz. Er war der Herr dieses Tales. Er hatte es in Besitz genommen, als ein stürmischer Wind ihn abgetrieben und in ein fremdes Land entführt hatte. Hier in diesem abgelegenen Tal war er Herr über Leben und Tod. Er, ein kleiner, noch nicht voll entwickelter Drache. Hot-chi, ein junger Drache, der größer war als alle Tiere dieses Tales. Der stärker war und dennoch hilflos und verloren. Als der Wind ihn aus den Himmelsbergen entfuhrt und hierher verschleppt hatte, gab es noch viele Tiere in diesem fremden Tal. Doch er hatte einige gerissen und sich den Bauch vollgeschlagen – und plötzlich waren sie verschwunden. Sie fürchteten ihn. Sie hatten das Tal verlassen, in dem er Herr über Leben und Tod war. Die größer und röter werdende Scheibe dort oben, die ihn blinzeln ließ, wenn er in sie sah, sank nun rascher tiefer. Bald würde sie ganz verschwunden sein. Wie schon so oft. Wieviele Male hatte er sie von den Hügeln des Tales aus schon verschwinden gesehen! 59
Inzwischen hatten fast alle Tiere Zeit gefunden, das Tal zu verlassen und sich in sichere Gegenden zu flüchten. Nur er, Hot-chi, blieb. Er wagte sich nicht tiefer in das unbekannte Land hinaus. Hier, im Tal, fühlte er sich geborgen. Er kannte jeden Strauch, jeden Stein auf den Geröllhalden, jede Windung der Bäche, jeden Hügel. Von einem der Hügel aus konnte er den Platz in der Ferne sehen, an dem sich Zweibeiner niedergelassen hatten. Vor ihnen hatte er scheu, er fürchtete sie mehr als die Geier der Lüfte. Aber seltsam, er haßte sie nicht. Er fürchtete sie nur. Seltsam, die Tiere mit nur zwei Beinen waren schwach, ein Drache konnte es gleichzeitig mit einigen von ihnen aufnehmen. Dennoch hatten sie etwas an sich, das sie dem Drachen überlegen machte. Und ihrer gab es viele, das wiederum machte sie stark. Hot-chi hätte nie gewagt, den Platz, an dem die Zweibeiner hausten, aufzusuchen. Er war froh, daß sich bisher noch keiner von ihnen in dieses Tal verirrt hatte, in dem er Herr über Leben und Tod war. Er trottete auf seinen vier Beinen über die Kämme der Hügel, die sein Tal umsäumten, peitschte verdrossen mit dem Lanzenschwanz den Boden. Er blickte zu der großen, roten Scheibe hinauf, die auch in seiner Heimat in den Himmelsbergen zu sehen war, und schickte sein Klagelied zu ihr. Die Sonne war sein einziger Vertrauter in diesem fremden Land. Er spannte seine Flügel, breitete sie weit aus, streckte die Flügelkrallen und stieß sich mit den Beinen vom Boden ab. Einige kräftige Flügelschläge hoben ihn in die Lüfte empor. Er kreiste einige Male über seinem Tal. Sein weißer, schwarz gefleckter Körper schimmerte im Schein der untergehenden Sonne ölig. Er senkte im Fluge den Echsenkopf und biß mit seinen scharfen Zähnen das Jucken von seiner Bauchseite 60
hinweg und kratzte sich mit den Widerhaken der gespaltenen Zunge an dieser Stelle. Wann endlich wurde er die schwarzen Flecken verlieren und eine so schöne weiße Haut wie seine Eltern bekommen? Wann endlich wurde er so groß und stark wie sie sein, so daß er es mit allen Geschöpfen dieser Welt aufnehmen konnte? Der Hunger nagte in ihm, aber er entdeckte nirgends in seinem Tal Beute. Hungernder Herr über Leben und Tod! Der sinnlose Flug verdroß ihn. Er landete an einem Wasserlauf und begann, das kühle Naß mit der Zunge in sein ausgedörrtes Maul zu schöpfen. Als sein Durst gelöscht war, reckte er den Echsenschädel hoch in die Luft und rief lautlos nach Hotch und Hot-cha. Dann lauschte er in die grenzenlose Stille. Seine Mutter antwortete nicht. Sein Vater antwortete nicht. Sie waren zu weit fort und konnten ihn nicht hören. Wenn er größer gewesen wäre, keine schwarzen Flecken mehr am Leibe gehabt hätte, dann wäre sein Rufen stärker gewesen und wäre weiter in die Ferne gedrungen. Er konnte sein Leid nur dem leuchtenden Wanderer dort oben klagen, der sein einziger Vertrauter war. Hot-chi schreckte hoch. Der Wind hatte ihm den Geruch eines Feindes in die Nüstern geweht. Er ließ seinen Echsenschädel pendeln und witterte wieder. Da war er, der untrügliche Gestank eines Geiers! Und jetzt sah er ihn. Es war ein großer Geier, so groß wie Hot-chi selbst. Er flog in jene Richtung, in der bald der leuchtende Wanderer hinter der Welt versinken würde. Seine mächtigen Flügel schlugen die Luft. Sein Flug war sicher und geradlinig. Und er hielt eine Beute in den Klauen. 61
Von unbändigem Haß gegen den größten Feind der Drachen ergriffen, erhob sich Hot-chi in die Lüfte. Er stieg wie ein Pfeil in die Höhe. Er trompetete in den höchsten Tonen der Wut, um dem Feind den Kampf anzusagen. Er versuchte, seine Erregung in beißendem Qualm und stinkendem Rauch abzulassen, wie es sein Vater Hotch im Kampf immer tat. Aber durch seine Nüstern kam weder Qualm noch die Spur von Rauch. Er war noch zu jung, um das zu können. Aber er war mutig. Jetzt hatte ihn der Riesengeier erblickt. Aber statt sich zum Kampf zu stellen, tat er etwas Seltsames, mit dem Hot-chi nicht gerechnet hatte. Der Geier stürzte sich in die Tiefe. Er fiel wie ein Stein hinunter und breitete erst knapp über dem Boden die Flügel aus, um seinen Sturz abzufangen. Aber da war Hot-chi schon bei ihm und hieb ihm im Vorbeifliegen den Lanzenschwanz gegen den Körper. Der Geier wurde durch die Luft gewirbelt, bevor er noch den Boden erreicht hatte. Er flatterte verzweifelt mit den Flügeln, daß die Federn stoben. Aber er warf seine Beute nicht ab. Hot-chi verstand das nicht. Denn jeder andere Vogel hätte in Todesgefahr auf seine Beute verzichtet. Hot-chi hatte schon erkannt, daß der Geier einen Zweibeiner in den Fängen hielt, aber das änderte nichts daran, daß er sich seltsam verhielt. Noch bevor sich der Geier von dem ersten Schlag erholt hatte, war Hot-chi schon wieder bei ihm und holte erneut mit seinem Lanzenschwanz aus. Diesmal verletzte er den Geier am Körper. Hot-chi überschlug sich in der Luft und stieß nun von unten gegen den Feind vor. Er riß das Maul weit auf, bereit, nach dem Hals des Geiers zu schnappen und ihn zwischen den kräftigen 62
Kiefern zu zermalmen. Aber Hot-chi machte einen Fehler. Er war nicht kampferfahren genug, um sich rechtzeitig umzustellen, als der Geier auswich und seinerseits zum Angriff überging. Immer noch den Zweibeiner in den Klauen, hieb er plötzlich mit seinem spitzen Schnabel von der Seite her auf Hot-chi ein. Einmal, zweimal, dreimal, bis der Drache mit den Flügelkrallen den Geier am Hals packen konnte und ihm ein Stück Fleisch herausriß. Der Geier schrie gequält auf und fiel mit lahmen Flügelschlägen dem Boden zu. Hot-chi wollte ihm nachstellen, doch versetzte ihn ein unerklärlicher Zwischenfall so in Erstaunen, daß er nicht rasch genug handelte, um dem Geier den Todesstoß zu geben. Das Stück, das er dem Geier aus dem Halse gerissen hatte, wurde zwischen seinen Krallen zu einem kleinen Vogel, der mit ängstlichen Flügelschlag davonstob. Das war unfaßbar für den Drachen. Er war noch nie einem Geier begegnet, dessen abgetrennte Teile zu neuem Lebewesen wurden. Aber dann sah er wieder den Geier unter sich. Er vergaß den Zwischenfall. Der Haß in ihm wurde wieder übermächtig. Er stürzte sich auf den Gegner, der den Boden erreichte und seine Beute vorsichtig an einem Felsen absetzte. Hot-chi landete auf dem Rücken des Geiers, gerade als dieser den Zweibeiner losließ. Ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod entbrannte. Amee konnte sich nicht bewegen. Ihre Glieder waren steif. Cnossos hatte sie bald nach dem Aufbruch aus dem Lager der Dunklen Wächter an Händen und Füßen gefesselt. Als sich nun der Drache auf sie stürzte, glaubte sie, Cnossos würde sie einfach abwerfen, um für den 63
Kampf mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Aber offenbar wollte er sie um jeden Preis lebend, denn er kämpfte mit ihr in den Klauen. Bevor es Cnossos schließlich gelang, sie an dem Felsen abzusetzen, hatte sie tausend Ängste ausgestanden. Sie fiel mit dem Gesicht ins Gras und spürte einen dumpfen Schmerz im Kopf. Über ihr war Kampflärm, Schreie des Geiers und des Drachens vermischten sich mit hämmernden Schlägen und dem Geräusch wie von zerreißendem Stoff. Sie drehte sich auf den Rücken und schob sich rückwärts so weit an den Felsen, bis sie sich dagegen lehnen konnte. Vor ihr war ein Knäuel durcheinanderwirbelnder Körper. Drache und Geier hatten sich ineinander verbissen. Cnossos hieb blindlings mit seinem Schnabel um sich, verteilte Schläge mit seinen Fängen. Der Drache ließ seinen wie ein Speerblatt geformten Schwanz wirbeln, traf Cnossos damit etliche Male in die Flanke, so daß dieser gegen den Fels geschleudert wurde. Mit seinen krallenbewehrten Gliedern an den Flügelenden, zerfetzte er Cnossos‘ Federkleid und riß einen seiner Flügel ein, der schließlich gänzlich abfiel. So wie alle von Cnossos abgesonderten Teile verformte sich auch der abgetrennte Flügel. Er wurde zu einer kleinen Raubkatze, die den Drachen sofort ansprang und sich in seinem Genick verbiß. Es gelang dem Drachen, die Bestie aus Cnossos‘ Teilen abzuschütteln und unter seinen kräftigen Beinen zu zerstampfen. Sofort stoben die Überreste des Raubtieres auseinander. Amee schrie auf, als plötzlich Ratten, Spinnen und Schlangen über sie hinweghuschten. Sie spürte die haarigen Beine der Spinnen auf ihren Lippen, spuckte angeekelt und schlug in wildem Abscheu um sich. Dabei 64
stieß sie sich ihre auf den Rücken gefesselten Arme an dem scharfen Fels wund. Plötzlich hielt sie inne. Wenn sie die Schlingpflanze, mit der Cnossos ihre Hände zusammengebunden hatte, an dem Fels scheuerte, konnte sie sie vielleicht durchtrennen, bevor der Kampf beendet war. Ihre Panik schlug augenblicklich in kalte Überlegung um. Sie war nur noch von dem Wunsch beseelt, sich zu befreien und zu flüchten, noch bevor Cnossos ihr seine Aufmerksamkeit schenken konnte. Sie begann sofort damit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Während sie die Fesseln an einem spitzen Felsgrat zu scheuern begann, tobte der Kampf weiter. Blut spritzte gegen den Fels und ins Gras. Es war Drachenblut, mußte Drachenblut sein, denn es verwandelte sich nicht. Cnossos‘ Blut dagegen wurde nicht vom Fels und vom Boden aufgesaugt, die dicken Tropfen verwandelten sich bereits in der Luft zu fetten Fliegen, die summend davonflogen. Cnossos hatte schon viel von seiner Körpersubstanz eingebüßt. Dem Geier fehlte ein Flügel, auf seinem Rücken waren nur noch wenige Federn zu sehen. Er hatte eine kralle verloren und war kaum mehr in der Lage, dem Drachen mit seinen Klauen Wunden zu schlagen. Auch der Drache zeigte Ermüdung. Er blutete aus unzähligen Wunden. Er hinkte auf beiden Beinen der einen Seite. Von seinen Flügeln, die wie die der Fledermaus geformt waren, hingen die Fetzen. Der Schlag seines Speerschwanzes war lahm. Dennoch dachte er nicht daran, den Kampf zu beenden. Er würde bis zum letzten Atemzug weiterkämpfen. 65
Amee rieb währenddessen immer noch ihre Fesseln an dem Fels. Die Haut ihrer Unterarme war bereits bis zu den Ellbogen hinauf zerschunden, doch verspürte sie keinen Schmerz. Ihre Arme waren vollkommen gefühllos. Als ihre Hände plötzlich frei waren, ging sie sofort daran, ihre Beine von der Schlingpflanze zu befreien. Aber in ihren Fingern war nicht mehr die Kraft, um den festgezurrten Knoten aufzubekommen. Sie mußte einen spitzen Stein zu Hilfe nehmen, um die Fußfesseln zu durchtrennen. Dabei blickte sie immer wieder ängstlich zu den beiden Kämpfenden hinüber. Es sah so aus, als würde die Auseinandersetzung bald zu Ende sein. Cnossos, mit dem verbliebenen Flügel kläglich um sich schlagend, versuchte davonzulaufen. Der Drache hockte keuchend da, sein Körper hob und senkte sich in rascher Folge. Er stierte dem Flüchtenden mit gesenktem Kopf nach. Er schien viel zu ermattet, um sich von seinem Platz fortbewegen zu können. Amee sah den verstümmelten Cnossos auf sich zukommen. Sie zerrte verzweifelt an der Fußfessel. Aber noch hatte sie die Schlingpflanze nicht durchtrennt. Und Cnossos kam immer näher. Da raffte sich der Drache noch einmal auf. Er stieß sich mit den Beinen vom Boden ab, breitete seine zerfetzten Flügel aus und segelte durch die Luft. Als er sich über Cnossos befand, ließ er sich auf ihn herabfallen. Diesmal kam es nicht mehr zum Kampf. Cnossos hatte genug. Sein Körper zerfiel förmlich unter der Last des Drachen. Vögel stiegen aus seinen Teilen hoch, Mücken surrten davon, Schlangen wanden sich durchs Gras, Kleintiere und Insekten sonderten sich ab. Sie strebten alle der untergehenden Sonne entgegen. 66
Endlich hatte sich Amee von ihren Fesseln befreit. Sie kam schwankend auf die Beine. Sie mußte erst einige Schritte tun, um die Gefühllosigkeit in ihren Gliedern abzuwerfen. Sie umrundete den Drachen, der völlig ermattet und vor Schmerz kläglich trompetend im Gras lag. Er tat Amee leid, denn schließlich hatte er ihr zur Freiheit verholten. Aber sie konnte nichts für ihn tun. Sie mußte trachten, dieses Tal zu verlassen, noch bevor Cnossos sich gesammelt hatte. Sie wollte um keinen Preis der Welt mehr in die Klauen dieses Scheusals zurück. Sie begann zu laufen – in Richtung Süden, wo der Raxos lag.
67
6.
Amee kannte diese Gegend. Sie war hier aufgewachsen, hatte zu Pferd schon viele Streifzüge unternommen, sich an Jagden beteiligt. Ihr war hier jeder Flußlauf, jeder Pfad bekannt. Der Wald war ihr so vertraut wie das darunterliegende Hügelland und die Hochebene, von der sie vor Cnossos geflüchtet war. Doch als nun die Dämmerung hereinbrach, der die Nacht schnell folgte, war ihr der Wald plötzlich fremd. Die Bäume bildeten eine schwarze undurchdringliche Wand, und aus der Finsternis schienen sie unzählige glühende Augen anzustarren. Hinter jedem Baum konnte Cnossos lauern. Die Schreie der Nachtvögel konnten sein Siegesruf sein. Sie rannte weiter. Sie war außer Atem, gönnte sich aber kaum eine Rast. Sie strauchelte über Wurzeln, fiel in dornige Sträucher, raffte sich auf und stolperte weiter. Noch nie in ihrem Leben hatte eine Nacht so viele Schrecken für sie gehabt wie diese. Nicht einmal damals, als sich die Sonne verfinsterte, der Tag zur Nacht wurde und die Dunklen Wächter voraussagten, daß Cnossos die Sonne fressen würde, wenn man ihre Schwester Ada nicht opferte – nicht einmal damals hatte sie das nackte Entsetzen in diesem Ausmaß kennengelernt. Amee hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet. Aber diese Schwärze hatte sie mit eisigkaltem Griff gepackt. Sie mußte die Hütte des Einsiedlers erreichen, dann würde sie sich geborgener fühlen. Honag, der menschenscheue Honag, würde sie wiedererkennen und ihr 68
Wein und Brot geben. Sie mußte etwas Warmes haben, um ihre innere Kälte zu verscheuchen, dann würde es ihr besser gehen. Dann konnte sie ihren Weg zum Raxos fortsetzen. Honag war gut, obwohl die Leute anders von ihm sprachen. Man sagte, daß er vor langer Zeit Furchtbares getan hätte, worauf ihn Alac, ihr verstorbener Vater und Herrscher von Urgor, in die Wildnis verbannte. Aber zu ihr war er gut gewesen. Sie erinnerte sich noch genau an jenen Tag, als sie sich bei einem ihrer ersten Ausritte im Wald verirrt hatte. Sie war damals zwölf Sommer alt und ritt Partho auf und davon, um ihn zu necken. Plötzlich hatte sie sich in jenem Teil des Waldes wiedergefunden, wo er am dichtesten war. Man hatte ihr nie erlaubt, bis hierher vorzudringen, weil hier angeblich der fluchbeladene Graue Riese hauste. Durchfroren und vor Furcht zitternd war sie dann an eine Hütte gekommen. Ein unglaublich großer Mann in einer Braunen Kutte, einem fast bis zum Boden reichenden Bart und einem Hirtenstab in der Hand hatte ihr geöffnet. »Wer bist du, mein Kind?« fragte er. Sie dachte damals sofort, daß dies der Graue Riese sein müsse. Sie fürchtete, von ihm gefressen zu werden, wenn sie sich als Königstochter von Urgor ausgab, deshalb log sie. »Ich bin die Tochter des Hirten Cala.« Ihr war im ersten Augenblick nichts Besseres in den Sinn gekommen, als den Namen ihres Vaters umzudrehen. »So, so«, machte der Graue Riese. »Und ich bin Honag, der Einsiedler. Willst du in meine Hütte kommen? Ich habe im Kamin ein Feuer entzündet, dort ist es warm.« 69
Sie war wie gebannt von seinen großen, eisigen Augen und folgte ihm in die Hütte. Sie setzte sich dicht ans Feuer, er hockte sich neben sie und spielte mit einer langen Stange in den glosenden Holzscheiten. Sie fröstelte trotz der Wärme. Honag begann zu sprechen, ohne sie anzusehen. »Du bist Alacs Tochter Amee. Ich habe dich an deinem Gewand erkannt. Die Tochter eines Hirten würde nicht so kostbare Kleider besitzen und keinen so prächtigen Schimmel reiten. Du wolltest dich mir nur nicht zu erkennen geben, weil du glaubtest, ich würde dich dann auffressen ... Fürchte dich nicht, mein Kind! Ich fresse niemanden. Ich bin nur verbittert und habe gelobt, für alle Zeiten den Menschen fernzubleiben. Ich hasse die Menschen, aber ich tue Kindern nichts. Hat man dir gesagt, was ich vor Sommern und Monden verbrochen? Nein? So höre: Es war vor zwölf Sommern, da liebte ich eine Frau. Sie erwiderte meine Liebe, doch konnten wir uns nur heimlich treffen, denn sie lebte im Palast deines Vaters, und niemand durfte etwas von unserer Verbindung erfahren. Als ich eines Nachts wieder in den Palast einstieg, um meine Geliebte zu besuchen, stellte sich mir ein Dunkler Wächter in den Weg. Man wirft mir vor, daß ich ihn vergiftet hätte. Deshalb wurde ich verbannt. Aber so sage mir, warum hätte ich Gift bei mir tragen sollen, wo ich auf dem Weg zu der über alles geliebten Frau war?« »Und du hast den Dunklen Wächter nicht vergiftet?« fragte sie ungläubig. »Nein.« Er hatte die ganze Zeit über in die Flammen gestarrt, jetzt sah er sie an. »Glaubst du mir, mein Kind?« 70
Da fiel ihr auf, daß seine Augen nicht mehr eisig waren, sondern mehr Wärme ausstrahlten als das Feuer im Kamin. »Ich glaube dir.« Und sie bewies es, indem sie Speise und Trank von ihm annahm. Später, als sie fast schon eingeschlafen war, fragte sie: »Wenn du den Dunklen Wächter nicht vergiftet hast, dann sprach mein Vater ein falsches Urteil. Wie ist das möglich, da er doch von allem Volk als weise und gütig gepriesen wird.« »Vielleicht wirst du es eines Tages erfahren.« Amee erfuhr es einige Sommer später von Iwa unter dem Siegel der Verschwiegenheit, was in jener Nacht im Palast wirklich geschehen war. Es war Iwa, Amees Amme, zu der sich Honag heimlich geschlichen hatte. Er hatte zwei Dunkle Wächter belauscht, wie sie eine Verschwörung besprachen. Der eine war Obad, der spätere Erste Wächter. Er trug dem anderen auf, Iwa Tag für Tag von einem besonderen Gift etwas in ihre Speise zu tun. Iwa selbst würde daran nicht sterben. Aber die Milch, mit der sie die neugeborene Prinzessin, also Amee, säugte, würde vergiftet sein. Als Honag das hörte, lauerte er dem Dunklen Wächter auf und zwang ihn, alles Gift zu schlucken, das er bei sich hatte. In dieser großen Menge war es auch für einen erwachsenen Menschen tödlich, und der Dunkle Wächter starb unter Qualen, nicht ohne vorher Honag des Mordes an ihm beschuldigt zu haben. Honag schwieg, weil man ihm nicht geglaubt hätte, und um nicht Obad dazu zu verleiten, Rache an Iwa zu nehmen. So zog er lieber das Leben in der Einsamkeit vor. Er kehrte sich bald von allen Menschen ab, auch von Iwa ... 71
Das war die tragische Geschichte Honags, des Einsiedlers. Amee war der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen gewonnen hatte. Sie war oft zu ihm in die Klause gekommen und hatte ihm von ihren Träumen erzählt, in denen ihr der Schlafende Gott aus dem Schrein erschienen war. Aber nie hatte sie mit einem Wort zu erkennen gegeben, daß sie die Wahrheit über die Geschehnisse in jener Nacht kannte. Sie fürchtete, dann seine Freundschaft zu verlieren. Honag war ihr Freund. Und er würde ihr wieder helfen, wie schon zweimal zuvor. War da nicht ein Licht? Oder täuschte sie sich? Sie zwinkerte – und das Licht war verschwunden. Aber sie wußte, daß Honags Klause hier ganz in der Nähe sein mußte. Als sie weiterging, war ihr, als blinzle wieder ein Lichtschimmer zwischen den Bäumen hindurch. Und diesmal verschwand er nicht mehr! Je näher sie kam, desto heller wurde das Licht. Dann erkannte sie, daß es sich um ein erhelltes Viereck handelte. Ein Fenster, hinter dem eine Öllampe brannte oder ein Kaminfeuer flackerte. Jetzt wußte sie ganz sicher, daß sie Honags Behausung erreicht hatte. Mit einem Mal verlor der Wald seine Schrecken. Die Finsternis wurde von einem warmen, roten Schein durchdrungen. »Honag!« Sie begann wieder zu laufen. Sie wollte schnell an der Hütte sein, bevor sie sich in Nichts auflösen konnte wie ein flüchtiger Traum. »Honag!« Er antwortete nicht. Aber das machte ihr nichts aus. Vielleicht war er nur am Feuer eingeschlafen, oder er glaubte, daß ein Fremder gekommen war, um ihn zu verhöhnen. 72
Amee erreichte die Tür, lehnte sich dagegen und fiel mit ihr in die Hütte. »Honag!« Es war ein Seufzer der Erleichterung. Sie sah ihn neben der Feuerstelle am Boden hocken, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, wie er es oft tat, wenn er nachdachte. Er blickte sie an. Aber irgend etwas störte sie an diesem Blick. Warum nur waren seine Augen so starr. Erkannte er sie nicht? »Honag, ich bin es. Amee ...« Ihre Stimme erstarb. Denn jetzt erst sah sie, daß sein langer Bart rot gefärbt war. Aus seiner Brust ragte sein eigenes Messer. Amee öffnete den Mund zu einem Schrei. Aber da legte sich eine kräftige Hand von hinten über ihren Mund. Die Tür fiel krachend zu. Eine Weile rang Amee stumm mit ihrem Gegner. Sie spürte seinen heißen Atem im Nacken und den Druck seines muskulösen Körpers in ihrem Rücken. Die dunkelhäutige Hand auf ihrem Mund raubte ihr den Atem. Sie biß mit aller Kraft in die Hand auf ihrem Mund. Hinter ihr ertönte ein überraschter Aufschrei. Sie erhielt einen Stoß in den Rücken, der sie zu Boden warf. Als sie sich halb aufrichtete, sah sie den Wilden vor sich, der sie schon im Lager der Dunklen Wächter belästigt hatte. Er trug immer noch seinen Lendenschurz, das lange, schwarze Haar war im Nacken zusammengebunden. Er stand schwer atmend über ihr, die Blicke aus seinen lodernden Augen schienen sie verschlingen zu wollen. »Du sollst keine Angst vor Ibabt haben, Mädchen mit der hellen Haut«, sagte der Barbar. »Ich werde dein Leben nicht nehmen. Du bist viel zu schön.« 73
Amee blickte kurz in die Richtung, in der der tote Einsiedler lag und sagte: »Du hast meinen Freund getötet. Dafür werde ich dich vierteilen lassen.« In Ibabts Augen blitzte es auf. »Ich mag Raubkatzen, sie haben etwas Königliches an sich. Und ich mag Frauen, die wild sind wie Raubkatzen.« Amee versuchte ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Warum mußtest du Honag töten?« Ibabt breitete die Hände aus. »Ich wollte es nicht. Ich wollte ihn nicht töten. Aber als er sich weigerte, mir etwas zu Essen zu geben und dann noch mit dem Messer auf mich losging, blieb mir keine andere Wahl.« »Er war ein alter, schwacher Mann«, sagte Amee. Ibabt entblößte seine Zähne. »Ich weiß, ich konnte ihm das Messer mühelos entwinden. Er wird im windstillen Tal der friedlichen Seelen meiner nicht mit Groll gedenken, denn lange hätte sein Leben ohnehin nicht mehr gedauert.« »Du Scheusal!« Ibabt lachte. »Ich mag Raubkatzen.« Ohne Vorwarnung sprang er sie an. Aber Amee war darauf vorbereitet und konnte sich zur Seite retten. Seine Finger griffen ins Leere. Sie sprang schnell auf die Beine und rannte auf das offenstehende Fenster zu. Aber Ibabt war schneller. Er bekam Amee um die Mitte zu fassen, hob sie hoch und schleuderte sie in die Hütte zurück. Sie strauchelte und verlor den Halt. Noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, war Ibabt über ihr. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf ihn ein, kratzte ihn, biß ihn – aber ihre heftige Gegenwehr entlockte ihm nur ein Lachen. Amee gab auf. Sie war am Ende mit ihrer Kraft. 74
»Was ist mit dir, Mädchen mit der hellen Haut?« fragte Ibabt verwundert. Sie gab keine Antwort. Ibabt erhob sich. »Hast du Hunger?« fragte er, ohne sie anzusehen. »Ich bin hungrig und müde«, bestätigte sie. »Wenn das die Hütte deines Freundes ist, dann wirst du wissen, wo du Nahrung finden kannst«, sagte Ibabt. »Ich lehne den Kampf gegen kranke Raubkatzen ab.« Sie verstand, was er damit sagen wollte. Ohne es zu wissen, hatte sie das richtige Mittel gegen Ibabt gefunden. Hätte sie sich weiterhin gewehrt, wäre sie schon sein Opfer geworden. Aber als sie Teilnahmslosigkeit zeigte, lehnte er sie ab. Amee erhob sich, ging zum Schrank und bereitete sich eine einfache, aber kräftige Mahlzeit. Während sie noch damit beschäftigt war, hörte sie, wie Ibabt die Fensterläden und die Tür verschloß. Sie tat, als kümmere sie das nicht. Ohne Ibabt eines einzigen Blickes zu würdigen, ging sie zum Tisch und aß schweigend. Er stand mit verschränkten Armen am anderen Ende des Raumes. »Trinkst du keinen Wein?« fragte er. »Das bringt Feuer ins Blut.« »Nein.« Sie hoffte, daß er nicht auf den Gedanken kam, ihr gewaltsam Wein einzuflößen. Aber daran schien er nicht zu denken. Als Amee ihr karges Mahl beendet hatte, ging sie, die Augen von Honag abgewandt, auf die andere Seite der Feuerstelle und hockte sich in die Ecke. Ibabt beobachtete sie dabei. Er stampfte mit dem Fuß auf, wahrscheinlich um sie aufzuschrecken, doch sie ließ sich davon nicht beirren. Sie legte die Arme auf die abgewinkelten Knie und bettete den Kopf darauf. Sie tat, als sei sie eingenickt. 75
Ibabt tat alles Mögliche, um sie aufzuscheuchen, stieß Ton – und Kupferkrüge gegeneinander, öffnete und schloß die quietschende Tür des Schrankes, gab knurrende Laute von sich. Amee reagierte nicht. Nach einer Weile merkte sie, daß er am Tisch Platz nahm. Geräusche zeigten an, daß er mit Krug und Becher umging. Er schenkte eine glucksende Flüssigkeit ein und trank schlürfend. Amee wurde immer müder. Ihr fielen die Augen zu. Ein Poltern ließ sie hochfahren. Im selben Augenblick durchzuckte sie die Erkenntnis, daß sie eingeschlafen sein mußte. Erst das Geräusch hatte sie geweckt. Sie blickte zum Tisch und sah, daß Ibabts Kopf auf den Tisch gesunken war. Der Krug lag in Scherben auf dem Boden. Ibabt rührte sich nicht. Amee erhob sich vorsichtig und schlich auf leisen Sohlen zum Tisch. Ihr Herz hämmerte dabei so heftig in ihrer Brust, daß sie meinte, Ibabt müßte davon geweckt werden. Als sie ihn erreichte, griff sie blitzschnell in sein Haar, hob seinen Kopf und ließ ihn wuchtig auf den Tisch zurückfallen. Wieder und immer wieder. Amee ließ erst von ihm ab, als sie keine Kraft mehr im Arm hatte. Sie rannte zur Tür und hob den Balken aus der Halterung. Sie glaubte, daß sie Ibabt getötet hätte, aber als sie den Balken zu Boden fallen ließ und gleich darauf die Tür aufriß, bewegte sich der Barbar stöhnend. Sie sah noch sein blutverschmiertes Gesicht, dann rannte sie in die Nacht hinaus. Erst als sie fast außer Sichtweite war, wagte sie einen Blick zurück. Dort stand Ibabt schwankend in der vom Feuerschein erleuchteten Tür. 76
»Ich kriege dich, Mädchen mit der hellen Haut«, rief er mit schwerer Zunge und stolperte in den Wald. Amee rannte weiter. Sie fühlte sich ausgeruht, in ihren Beinen war Kraft. Sie konnte kräftig ausholen. Sie glaubte nicht, daß Ibabt sie noch einholen könnte, denn er war betrunken und angeschlagen. Sie hatte schon eine große Strecke zurückgelegt, hörte jedoch immer noch das Rascheln seiner Schritte hinter sich. Er folgte ihr beharrlich – und er verlor ihre Spur nicht. Als sie nach einer endlos scheinenden Zeit wieder einmal lauschte, hörte sie ihren Verfolger nicht mehr hinter sich. Dafür vernahm sie Geräusche, die seitlich von ihr kamen. Dort bewegte sich irgend etwas auf gleicher Höhe mit ihr durch den Wald. War es Ibabt, der sie überholen und ihr den Weg absperren wollte? Nein, sagte sie sich, das war unmöglich. Es mußte sich um irgendein Tier handeln. – Aber sie glaubte nicht so recht daran. Die Angst vor dem Barbaren saß ihr wieder im Nacken und trieb sie voran. Immer tiefer in den Wald hinein, immer näher an den Raxos heran. Was wollte sie am Fluß? Sie würde sich eher in die Fluten stürzen, als sich noch einmal von dem Wilden anfassen lassen. Sie hörte von irgendwo her ein Geräusch und drehte sich um, obwohl ihre Augen die Dunkelheit nicht durchdringen konnten. Gerade als sie nicht nach vorne sah, rannte sie gegen ein Hindernis. Es war etwas Weiches, das sich bewegte, atmete ... Arme umfaßten sie. Das war zuviel für sie. Die Sinne schwanden ihr. Gnädige Dunkelheit breitete sich über ihren Geist.
77
7.
Sie hatte einen wunderschönen Traum, der sie alle Schrecken vergessen ließ. Über ihr schwebte in der Dunkelheit Dragons Gesicht. »Du bist es«, hauchte sie. »Ja. Amee. Jetzt ist alles gut.« »Du darfst nie mehr von mir gehen. Dragon«, sagte sie ängstlich. Ihre Gesichtszüge glätteten sich; sie lächelte. »Aber ich weiß, daß uns nun nichts mehr trennen kann. Wir sind zusammen in der ewigen Dunkelheit. Hier ist Stille, hier herrscht Friede. Cnossos kann uns nichts mehr anhaben.« Er küßte sie zart. Sein Gesicht druckte Besorgnis aus. »Du brauchst Ruhe. Amee. Die letzten Stunden müssen für dich furchtbar gewesen sein. Niemand kann erahnen, was du durchgemacht hast.« »Ruhe?« fragte sie. »Ich habe die ewige Ruhe. Und du bist bei mir.« Dragon löste sich auf, und ein anderes Gesicht erschien. Zuerst war es verschwommen, dann wurden die Umrisse langsam klar und deutlich. »Ada!« rief Amee erfreut. Ihre Schwester küßte sie und drückte sie zärtlich an sich. »Ada – du auch hier?« Amees Stimme wurde belegt. »Wer noch?« »Alle«, sagte Ada. »Wir sind alle bei dir. Partho, Iwa, Agrion ... Du liefst Dragon geradewegs in die Arme.« »Ich verstehe nicht«, murmelte Amee. 78
Ada erzählte: »Wir waren auf dem Weg nach Urgor, um Verstärkung zu holen und Cnossos‘ Felsenburg zu stürmen. Wir glaubten, du seist dort gefangen. Wir wollten dich befreien. Dragon war vorausgeritten. Er hatte Xando, Marathas Hund, bei sich. Plötzlich erschien Xando bei uns und gab uns zu verstehen, daß Dragon in einen Hinterhalt geraten sei ...« »... und ihr folgtet ihm und wurdet alle von den Dunklen Wächtern niedergemacht«, vollendete Amee den Satz. »Was redest du da, Schwester«, sagte Ada besorgt. »Wir haben die Dunklen Wächter besiegt und Dragon gerettet. Dann ritten wir weiter, die ganze Nacht hindurch. Noch bevor der Tag graute, hörten wir aus dem Wald Geräusche. Dragon und Partho drangen in ihn ein, um nachzusehen. Dann kamst du und liefst Dragon in die Arme. Er hat dich kaum gehalten, da wurdest du besinnungslos.« Amee starrte ihre Schwester ungläubig an. Sie merkte, daß es heller geworden war. Ringsum wich die Finsternis einem neuen Morgen. »Dann bin ich nicht ... Dann hat Ibabt mich nicht eingeholt?« Sie lachte. Es war ein seltsames Lachen, in ihm lag eine Mischung all jener Gefühle, die sie in diesem Augenblick empfand. Dragon war wieder ganz nahe bei ihr. Er erkannte, wie sehr Amee verwirrt war. »Wie ist es dir ergangen?« fragte er. »Erzähle uns alles der Reihe nach, das wird dich erleichtern.« »Nachdem Cnossos mich aus Zainus Lager entführt hatte«, begann Amee stockend, »gab er sich für dich aus, Dragon. Aber Maratha, die Seherin hat ihn entlarvt. Da 79
verwandelte er sich in einen Geier und flog mit mir davon.« »Das wissen wir«, sagte Dragon. »Maratha erzählte es mir und dann den anderen. Aber Maratha sagte auch, daß Cnossos dich zu seiner Felsenburg bringen würde. Warum tat er es nicht?« »Er wurde aufgehalten«, erklärte Amee. Sie blickte an Ada und Dragon vorbei in einen Himmel, der sich langsam blau färbte. »Zuerst stieß er auf die vierundzwanzig Dunklen Wächter. Das heißt, es waren fünfundzwanzig, obwohl einer sein Leben gelassen hatte. Seine Stelle nahm Ibabt, ein Barbar aus dem Süden ein.« Sie schauderte. »Cnossos befahl den Dunklen Wächtern, dir einen Hinterhalt zu legen. Dann flog Cnossos mit mir weiter. Er hatte aber noch keine große Strecke zurückgelegt, als er von einem Drachen angegriffen wurde. Ich konnte flüchten – und jetzt bin ich hier.« Sie scheute sich, ihr Erlebnis mit Ibabt zu erzählen. Sie würde es später nachholen, wenn die Erinnerung nicht mehr so fest in ihrem Gedächtnis war. »Schon wieder ein Drache«, sagte Dragon. »Wir stehen tief in ihrer Schuld.« »Es muß ein noch junger Drache gewesen sein«, erklärte Amee. »Er war lange nicht so groß wie jener, der am Tage deiner Erweckung mit Cnossos kämpfte und dann Obad tötete. Er war viel kleiner und schien nicht besonders kampferfahren. Cnossos hat ihn furchtbar zugerichtet. Dragon!« Amee richtete sich steil auf; sie merkte erst jetzt, daß sie auf einer Decke im Gras gelegen hatte. Dragon umfaßte sie. »Was ist?« fragte er. »Der Drache liegt noch immer auf der Hochebene«, sagte sie. »Er blutet aus vielen Wunden und kann sich 80
kaum bewegen. Wenn ihm nicht geholfen wird, wird er sterben.« »Wir können doch nichts für ihn tun«, ließ sich Nabib aus dem Hintergrund vernehmen. »Ich bin auf meinen Reisen schon vielen Drachen begegnet. Sie würden sich eher selbst auffressen, als sich von einem Menschen helfen zu lassen.« Dragon erhob sich. »Wir werden es trotzdem versuchen«, sagte er. »Schließlich hat er Amee zur Freiheit verhelfen.« »Und unser Feldzug gegen Cnossos‘ Felsenburg?« erinnerte Nabib. »Er denkt nur an den Schatz!« behauptete Iwa mißbilligend. »Das hat Zeit«, erklärte Dragon. »Da sich Amee nicht mehr in Cnossos‘ Gewalt befindet, brauchen wir uns nicht zu beeilen. Kannst du reiten, Amee?« Sie kam auf die Beine. »Ich fühle mich nicht zu schwach dazu.« »Gut, dann wird Partho mit dir nach Urgor vorausreiten«, ordnete Dragon an. »Wir anderen folgen euch, wenn wir uns um den Drachen gekümmert haben.« »Nein, Dragon«, entgegnete Amee. »Ich bleibe an deiner Seite!« Er schwieg eine Weile, dann nickte er lächelnd. »Gut, wir werden alle beisammen bleiben. Ich hoffe nur, du übernimmst dich nicht, Amee.« Sie drängte sich wortlos an ihn. Er hatte die ganze Nacht über dagelegen, schwach und von Schmerzen gepeinigt. Die kalte, feindliche Dunkelheit hatte die letzten Reste seiner Kraft und seines Willens aus ihm gesaugt. 81
Jetzt begann sich die Welt wieder zu erhellen. Sein einziger Vertrauter, der leuchtende Wanderer tauchte wieder hinter den Hügeln auf. Seine Wärme taute Hotchi allmählich auf, die Kälte schwand aus seinem Körper, aber die Schmerzen blieben. Die entflohene Kraft kehrte nicht mehr zurück. Er leckte seine Wunden an Flügeln und Körper, das brachte eine kurze Linderung. Aber der pochende Schmerz setzte bald wieder ein. Selbst die Tiere, die ihn sonst fürchteten und vor ihm aus dem Tal geflohen waren, schienen zu merken, daß es mit ihm zu Ende ging. Sie kamen über die Hügel und durch die Schluchten zurück ins Tal und löschten an den Wasserläufen ihren Durst. Sie benahmen sich ganz unbefangen. Selbst als Hot-chi sie anfauchte, flohen sie nicht. Sie spürten, daß er sterben wurde. Sie wollten den Herrn über Leben und Tod durch ihre Anwesenheit verspotten. Das schmerzte ihn beinahe so sehr wie seine Wunden. Er starrte haßerfüllt und sehnsüchtig zu einem besonders stattlichen Tier hinüber, dessen zartes Fleisch er bei seinem Eintreffen in diesem Tal schon gekostet hatte. Er trompetete das schlanke Tier an. Aber es wackelte nur mit den Ohren und graste unbekümmert weiter. Plötzlich hob es den Kopf, wackelte wieder mit den Ohren und rannte in großen Sprüngen davon. Auch die anderen Tiere zeigten sich unruhig und flüchteten. Da sie vor ihm, Hot-chi, keine Angst gezeigt hatten, mußte sich dem Tal etwas anderes nähern, das sie als Gefahr erkannten. Kehrte der Geier zurück, der sich in viele andere Geschöpfe verwandeln konnte? Hot-chi kam mühsam auf die Beine. Er stand. Zwar unsicher, aber immerhin stand er. 82
Er würde sich dem unheimlichen Geier zum Kampf stellen. Auf einem der Hügel tauchten einige dunkle Gestalten auf, die ins Tal herunterrannten und rasch näher kamen. Hot-chi erkannte, daß es sich um Zweibeiner handelte, die auf den Rücken von Tieren saßen und sich von ihnen tragen ließen. Es waren ihrer viele, und sie kamen in einer breiten Reihe schnell heran. Er hatte von Hotch und Hot-cha schon viel über diese kümmerlichen Geschöpfe gehört, aber erst beim Kampf mit dem Geier selbst eines gesehen, obwohl er hier so nahe einer ihrer Plätze war. Sicher hatten auch sie gehört, daß nicht mehr viel Leben in ihm war und erschienen nun, um ihn endgültig zu vernichten. Sie wollten seine Schwäche ausnützen und sich dann brüsten können, einen Drachen erlegt zu haben. Aber so leicht sollten sie es nicht haben. Er würde auch gegen sie zum Kampf antreten! Sie hielten vier Drachenlängen vor ihm an. Hot-chi verhielt sich abwartend; besser gesagt, er tat so, als verhielte er sich abwartend und schätzte den Gegner erst einmal ab, bevor er ihn angriff. In Wirklichkeit war er gar nicht in der Lage, einen Angriff vorzunehmen. Er konnte sich kaum bewegen. Er würde die schwächlichen Zweibeiner an sich herankommen lassen müssen. Einer von ihnen sonderte sich aus der Gruppe ab, kam bis auf zwei Drachenlängen an Hot-chi heran. Vielleicht hätte er sich noch weiter genähert, doch sein Reittier gehorchte ihm nicht mehr. Er stieg von seinem Rücken und ging auf seinen zwei Beinen zu Hot-chi. Er wirkte furchtlos und siegessicher. Und er sah anders aus als der Zweibeiner in den Fängen des furchtbaren Geiers. Dieser Zweibeiner war größer, kräftiger, hat83
te nicht so fein geformte Arme und Beine. Noch etwas fiel Hot-chi besonders an ihm auf. Unter seinem Kopf hatte er an der Vorderseite ein stark funkelndes Etwas. Es sah aus wie ein Auge mit einem zwingenden Blick. Er hatte ein drittes Auge! Hot-chi wurde unruhig, weil der Zweibeiner immer noch unerschrocken näherkam. Hot-chi trompete aus Leibeskräften, aber auch das ließ den Schritt des Zweibeiners nicht stocken. »Fürchte dich nicht, von uns droht keine Gefahr!« sagte der Zweibeiner. Hot-chi schnaubte verächtlich. Fürchten? Vor einem Zweibeiner? Jeder Drache wußte, daß von einem Zweibeiner keine Gefahr drohen konnte. Selbst ein tödlich verwundeter Drache konnte einen Zweibeiner ohne Anstrengung vernichten. Er würde es ihm beweisen. »Wir sind Freunde!« sagte der Zweibeiner. »Ich heiße Dragon. Und wie willst du genannt werden?« »Hot-chi – der dich zermalmt«, erwiderte der junge Drache. »Wir sind Freunde«, kam es wieder von dem Zweibeiner. »Erkennst du es nicht daran, daß ich auf Drachenart mit dir spreche?« Hot-chi wurde durch diese Behauptung völlig überrascht. Er wußte von Hotch und Hot-cha, daß Zweibeiner nicht sprechen konnten. Sie gaben Laute von sich, die etwa dem Trompeten der Drachen entsprachen, aber nicht der Verständigung dienen konnten. Durch Laute drückte ein Drache seinen Haß, seinen Zorn, seine Angst oder seine Zuneigung aus. Aber mehr konnten Laute nicht besagen. Das war bei allen Tieren so und konnte auch bei den Zweibeinern nicht anders sein. Aber richtig 84
sprechen, so wie es Drachen taten, konnten Zweibeiner nicht. Das wußte er von seinen Eltern. Dieser Zweibeiner aber, Dragon genannt, konnte mit Drachen sprechen. Das war ihm im ersten Augenblick nicht so deutlich geworden. Seine Gedanken waren nicht mehr so klar, um alle Eindrücke sofort verarbeiten zu können. »Wieso kennst du die Drachensprache?« fragte Hotchi. Der Zweibeiner deutete auf das funkelnde Auge unter seinem Kopf. Siehst du das Amulett? Es macht es mir möglich, mich mit dir zu unterhalten.« »Ist es ein sprechendes Auge, wie es wir Drachen nicht sichtbar im Kopf haben?« wunderte sich Hot-chi. Lassen wir es dabei bewenden, dich es ein Zauberauge ist, das viel kann«, sagte der Zweibeiner auf Drachenart. Hot-chi faßte Zutrauen zu dem schwächlichen Geschöpf, aber er mißtraute ihm immer noch. »Warum sprichst du zu mir«, sagte er. »Wenn du kämpfen willst, dann tu es endlich.« »Wir sind gekommen, um dir zu helfen, nicht um dich zu töten!« »Ich brauche nicht zu kämpfen?« erkundigte sich Hotchi ungläubig. »Wir möchten deine Freunde sein, erklärte Dragon nochmals. »Dürfen wir uns nun dir nähern und uns deine Wunden ansehen?« Dragon wandte sich den anderen zu. »Ihr könnt herankommen«, rief er ihnen zu. »Ich habe mit Hot-chi Freundschaft geschlossen.« 85
Amee, Ada, Iwa, Partho, Agrion, Nabib und die Hirten kamen mit ihren Pferden näher. Ubali zögerte zuerst, überwand aber seine Scheu, als er merkte, daß Dragons Gefährten keine Furcht zeigten. Nur die acht Söhne Nuaks wollten nicht an die Friedfertigkeit des Drachen glauben. Nizak, ihr Sprecher, rief Dragon zu: »Wie willst du mit ihm Frieden geschlossen haben? Wir haben nicht gehört, daß du auch nur ein Wort zu ihm gesagt hättest« »Drachen verstehen unsere Sprache nicht«, erklärte Dragon. »Sie haben ihre eigene Art der Sprache, die für die Menschen nicht hörbar ist.« »Und das kannst du? Dich unhörbar mit einem Drachen unterhalten?« wunderte sich Nizak. »Ich habe es eben getan. Oder glaubst du mir nicht« »Doch, wir glauben dir«, versicherte Nizak. Er empfand neue Ehrfurcht vor dem Mann, der ableugnete, ein Gott zu sein, den man aber weit über die Grenzen Urgors hinaus als den »Schlafenden Gott« kannte. Nuaks Söhne zögerten nicht länger, als auch Nizak den anderen zu dem verwundeten Drachen folgte. Hot-chi hatte sich auf Dragons Geheiß auf den Rücken gelegt und die Flügel ausgebreitet. Iwa besah sich die Wunden, dann ordnete sie an: »Zündet ein Feuer und macht Wasser heiß. Amee und Ada, ihr kennt euch mit Pflanzen aus. Holt mir Wurzeln von jungem Windkraut und frische Blätter des Bitterstrauchs.« Noch während sie sprach, holte sie ihre Satteltasche und entnahm ihr Tiegel und Fläschchen mit Salben und Heilwässerchen. Dragon sprach beruhigend auf Hot-chi ein. 86
»Iwa kennt sich in den Heilkünsten aus«, sagte er. »Sie wird deine Wunden reinigen und schließen. Dann werden wir dich nach Urgor bringen. Dort kannst du bleiben, bis du wieder gesund bist. »Urgor?« fragte Hot-chi. »Das ist die Stadt an der weiten Ebene, die du von den Hügeln aus sehen kannst. Dort leben viele von uns Menschen.« »Zweibeiner?« Hot-chi zuckte zusammen, als ihm Iwa eine kühlende Salbe auf die Bauchwunden strich. »Ich möchte nicht unter die Zweibeiner. Sie würden sich vor mir fürchten.« »Nicht, wenn wir ihnen sagen, daß du unser Freund bist. Sie werden ihre Angst ablegen und dich willkommen heißen.« Amee und Ada kamen mit den von Iwa gewünschten Pflanzen zurück. Iwa warf die Spitzen der Windkrautwurzeln in den Kessel, in dem Wasser über dem Feuer kochte. Die großen, saftigen Blätter des Bitterstrauches beschmierte sie mit einer ihrer Salben und legte sie dann auf die Risse in Hot-chis Flügeln. »Bringe noch mehr Blätter des Bitterstrauchs, Ada«, verlangte Iwa, während sie Amee auftrug, in dem Kessel mit den kochenden Windkrautwurzeln zu rühren. Dragon hatte inzwischen den nicht verwundeten Männern befohlen, aus kräftigen Stammen der Jungbäume, aus Blättern und Reisig eine Rutsche zu bauen, auf die man Hot-chi legen konnte. Auf diese Art wollte er mit vier vorgespannten Pferden den jungen, bewegungsunfähigen Drachen nach Urgor befördern. Ada kam mit neuen Bitterstrauchblättern, und Iwa schloß damit alle Verletzungen an Hot-chis Flügeln. Dann prüfte sie die Brühe aus Wasser und Windkrautwurzeln, in der Amee fleißig rührte. 87
»Das genügt«, sagte Iwa, nachdem sie ihre Lippen mit dem Gebräu benetzt hatte. Sie ließ von Partho den Kessel vom Feuer nehmen, schüttete einige Flüssigkeiten aus ihren Fläschchen hinzu, kostete wieder und nickte dann zufrieden. »Schmeckt abscheulich«, stellte sie fest. »Aber den Drachen wird es vor dem Fieberwahn bewahren. Sage ihm, Dragon, daß er den Inhalt des Kessels schlürfen soll, wenn er abgekühlt ist. Es wird ihm helfen.« Dragon übermittelte Hot-chi diese Anordnung in der lautlosen Drachensprache. Hot-chi tauchte seine gespaltene Zunge in die Brühe, die Partho ihm zum Maul gestellt hatte, und zog sie sofort wieder zurück. Er stieß durch seine Nüstern Luft in den Kessel, um die heiße Flüssigkeit abzukühlen. »Kannst du mit deinem funkelnden Auge auch in die Ferne sprechen?« fragte Hot-chi. »Ja, nur weiß ich nicht, wie weit in die Ferne«, antwortete Dragon. Darauf erzählte ihm der Drache, daß er von den Himmelsbergen stamme und von heftigen Winden abgetrieben worden sei und sich hierher verirrt habe. »Vielleicht kannst du mit deinem funkelnden Auge Hotch und Hot-cha erreichen«, sagte er hoffnungsvoll. »Meine Stimme ist nicht kräftig genug.« Dragon erzählte von dem mächtigen Drachen, den er in Urgor angerufen und der Cnossos verjagt hatte. Er vermutete, daß es sich dabei um einen der Elternteile handelte, die nach Hot-chi suchten. »Vielleicht haben sie mich auch jetzt gehört und sind bereits auf dem Flug zu dir«, meinte Dragon. Ubali kam heran. Auf seiner dunklen Haut glänzte der Schweiß. Er grinste. »Fertig. Wir können den Kleinen verladen.« 88
Die Söhne Nuaks brachten die Rutsche heran. Sie waren noch zwanzig Schritt von Hot-chi entfernt, als auf einmal ein furchtbares Gekreische über das Tal hinwegstrich. Alle sahen sie auf und erblickten zwei gewaltige Schatten, die sich aus dem Himmel auf die Hochebene herabstürzten. Sie sahen Fledermäusen oder deren Vettern, den Vampiren nicht unähnlich, doch waren sie viel größer – so groß wie ein stattliches Haus. Zwei Drachen! Eben noch hatten sie ihre Flügeln weit ausgebreitet. Jetzt legten sie sie an ihre Körper an und stürzten sich in die Tiefe. Die Söhne Nuaks ließen die Trage für Hot-chi fallen und stoben fluchtartig auseinander. Die Hirten rannten zu ihren Pferden und wollten sich in die Sättel schwingen. Doch die aufgeschreckten Tiere warfen sie ab und galoppierten in alle Richtungen davon. »Zurück!« brüllte Dragon. Doch die Männer hörten ihn nicht. Die beherzteren unter den Hirten und den Söhnen Nuaks griffen zu ihren Waffen und gingen hinter Felsen in Deckung. Die anderen suchten sich durch Flucht vor den herniederstürzenden Ungetümen zu retten. Ubali hatte einen im Boden steckenden Speer ergriffen und baute sich schützend vor Dragon auf. Ada drängte sich schutzsuchend an Iwa. Amee saß reglos da und ergriff Nabib, der neben ihr hockte, instinktiv am Arm. Selbst Partho umspannte den Griff seines Schwertes, obwohl er wußte, daß er damit nichts gegen einen hausgroßen Drachen ausrichten konnte. »Kommt zurück!« schrie Dragon den Hirten und Söhnen Nuaks nach. »Hier droht keine Gefahr. Das sind die Eltern von Hot-chi!« 89
Dies allein reichte jedoch nicht aus, die Männer zu beruhigen. Wenn man ein Löwenjunges aufnahm und pflegte, konnte man dennoch nicht der Dankbarkeit seiner Eltern gewiß sein. Die Drachen bildeten hier sicher keine Ausnahme. Ihr Verhalten ließ leicht darauf schließen, daß sie nicht viele Umstände mit den Menschen machen würden, von denen sie annehmen mußten, daß sie ihr Junges bedrohten. Die beiden Drachen breiteten knapp über dem Boden ihre mächtigen Flügel aus und peitschten damit die Luft. Dabei entstand ein Wind, der Partho fast von den Beinen riß. Mit den Speerschwänzen trommelten sie ins Erdreich, daß faustgroße Brocken mannslängenweit davonstoben. Die Hirten und Söhne Nuaks bereiteten sich auf ihren letzten Kampf vor. Ubali wollte den Speer in das aufgerissene Drachenmaul vor ihm stoßen, doch Dragon umfaßte den Speer am Schaft. Fassungslos hörte Ubali, was Dragon sagte: »Empfängt man so einen Freund, Ubali?«
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8.
Schon als die beiden Drachen zum Sturzflug angesetzt hatten, sprach Dragon über sein Amulett auf ihre lautlose Art mit ihnen. Er versicherte ihnen, daß Hot-chi keine Gefahr drohe und daß er sich darüber hinaus in guten Händen befinde. Hot-chi, der seine Eltern sofort erkannt und freudig begrüßt hatte, stimmte dem vorbehaltlos zu. Dennoch glaubten die beiden Drachen noch immer, sie mußten ihr Junges gegen dreiste Zweibeiner schützen, die ihm schlimm zugesetzt hatten. Erst als Dragon zu erkennen gab, daß er es war, der einen der Drachen in Urgor in seiner Sprache angerufen hatte, beruhigten sich die Dracheneltern einigermaßen. Ihr Verhalten war immer noch furchteinflößend genug, um die Hirten und Söhne Nuaks in sicherer Entfernung zu halten. Hot-cha stapfte heran und machte Anstalten, die Wunden ihres Jungen zu lecken. Das brachte Iwa auf die Beine; das war etwas, das in ihren Bereich gehörte. Sie ging zu dem Drachen und stemmte sich furchtlos gegen seinen Schädel, als sei er ein zahmer Ochse. »Laß das«, sagte sie mit strenger Stimme. »Du schadest ihm nur, wenn du die Heilsalben abschleckst. Setze ihm das auseinander, Dragon!« »Es ist eine Sie«, erklärte Dragon schmunzelnd. Dann übertrug er den Sinn von Iwas Worten in die Drachensprache. »Wir haben Hot-chis Wunden mit Mitteln behandelt, die sie schneller heilen lassen«, sagte er in jener lautlo91
sen Art, die nur die Drachen hörten. »Ändere nichts daran, du hilfst Hot-chi damit.« »Es gibt nichts, was Wunden schneller heilt, als die Zunge der Mutter«, behauptete Hot-cha. »Das stimmt nicht«, widersprach Hot-chi. »Die Mittel der Zweibeiner haben mir Besserung gebracht. Sie wollen mir helfen. Sie sind meine Freunde – besonders Dragon mit dem Zauberauge. Du darfst sie nicht auffressen, Hot-cha.« »Wer frißt schon Menschen«, sagte das Drachenweibchen, und es schien Dragon, als schüttele sie sich vor Entsetzen. Ubali hielt immer noch den Speer in der Hand. Plötzlich ergriff der zweite Drache mit den Flügelkrallen den Speer, entriß ihn Ubali und trat darauf, daß er zersplitterte. »Die verlängerten Arme der Zweibeiner machen mich rasend«, verkündete Hotch und fauchte Ubali furchteinflößend an. »Hände weg von den Waffen!« rief Dragon seinen Männern zu. »Die Drachen haben unliebsame Erfahrungen damit gemacht. Legt also die Waffen weg.« Partho ließ den Knauf seines Schwertes los. »Man muß sich erst daran gewöhnen, solch fremdartige Kolosse zu Freunden zu haben«, meinte er entschuldigend. Nabib schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Das ist ein Gedanke!« rief er, als hätte er den Stein der Weisen entdeckt. »Ich werde mit den Drachen einen Pakt abschließen. Sie sollen von mir Fressen und alles, was sie zum Leben brauchen, bekommen. Als Gegenleistung werden sie mir als Lastenträger dienen. Ich werde Unmengen von Waren viel schneller als bisher von einem Ort zum anderen befördern können ...« 92
»Kannst du nur vom Geschäft reden?« schalt Iwa. Nabib war verstummt, weil sich Hotch ihm zuwandte. Der Drache brachte seinen Schädel ganz nahe an Nabibs Gesicht heran und beschnupperte ihn. Nabib saß stocksteif da und zitterte. Er sah, wie der Drache seine gespaltene Zunge herausstreckte und damit über seinen Kopfverband leckte. Der Verband verhing sich in den Widerhaken der Zunge und wurde ihm vom Kopf gerissen. »Dragon!« flehte Nabib. Dragon hatte Hotchs Tun bemerkt und schaltete sich ein. »Laß das, Hotch. Er fürchtet sich vor dir.« »Ich wollte ihm zeigen, daß ich sein Freund bin«, erwiderte Hotch. »Das kannst du später tun, wenn er sich an deine Nähe gewöhnt hat«, erklärte Dragon. Nabib, der nichts von der Verständigung zwischen Dragon und Hotch mitbekommen hatte, schielte zu Iwa hinüber. »Siehst du«, sagte er anklagend. »Sogar dieser Drache hat deinen Verband für abscheulich gehalten. Was hätten erst die Mädchen in Urgor gelacht! Ich trage ihn nicht mehr.« »Was meinst du mit später?« erkundigte sich Hotch währenddessen bei Dragon. »Wir wollten Hot-chi in die Stadt bringen, bis er gesund ist«, antwortete Dragon. »Ihr könntet solange in der Nähe bleiben.« »Ihr schwachen Geschöpfe wollt Hot-chi irgendwohin bringen?« wunderte sich Hotch. »Wie wollt ihr das anstellen?« Dragon ging zu dem großflächigen Geflecht aus Baumstämmen, Reisig und Blattwerk. »Damit können wir ihn mühelos befördern«, erklärte er. 93
Hotch starrte verständnislos auf das Gebilde – zumindest legte Dragon seinen Blick so aus. Hot-cha hatte sich Hot-chis Schilderung der Erlebnisse angehört. Jetzt wandte sie sich von ihm ab, ging zu dem Geflecht und sprang unvermutet mit ihrem ganzen Körpergewicht darauf. Sie trampelte solange darauf herum, bis nur noch Trümmer davon übrig waren. »Hot-chi soll nicht wie ein Beutestück befördert werden«, erklärte sie bestimmt. »Ich selbst werde das besorgen.« Sie hatten das Drachenjunge auf den Rücken seiner Mutter gebunden. Dragon überprüfte noch einmal den Sitz der Riemen, erkundigte sich bei Hot-chi, ob er gut gebettet sei und gab dann Hot-cha das Zeichen zum Aufbruch. Der Drache mit dem Jungen auf dem Rücken hob vorsichtig vom Boden ab und flog mit gleichmäßigem, sanften Flügelschlag davon. Dragon hielt den Atem an, aber als er sah, daß Hotchi sicher auf dem Rücken seiner Mutter lag, fiel die Spannung von ihm ab. »Wenn ich zurück zur Weißen Küste komme und über meine Erlebnisse in diesem Land berichte, wird man mich glatt für einen Lügner halten«, sagte Nabib. »Wer hörte jemals davon, daß jemand die Freundschaft von wild lebenden Drachen gewonnen hat!« »Für jemanden, der immer lügt, muß es besonders schmerzhaft sein, als Lügner bezeichnet zu werden, wenn er einmal die Wahrheit spricht«, meinte Iwa bissig. »Du ärgerst dich doch nur, weil ich meine Schönheit nicht mehr unter deinem Kopfverband verberge«, entgegnete Nabib. 94
Iwa wollte noch etwas erwidern, aber da zog sie Dragon bereits mit sich fort. Er brachte sie zu Hotch, der ausgestreckt im Grase lag und neugierig nach hinten blickte, wo Partho zwei Pferdesättel an seinem Rücken befestigte. Er hatte einige Mannslängen Lederriemen verbraucht, um die Sattel an dem Drachenleib festbinden zu können. Hotch hatte es geduldig mit sich geschehen lassen, doch jetzt begann er unruhig zu schnauben. »Schon gut«, sprach Partho beruhigend auf ihn ein. »Du kannst deiner Familie gleich nachfliegen.« Iwa erschien, und Partho hob sie hinauf in den Sattel. Er konnte ihr jedoch nur behilflich sein, die Steigbügel zu erreichen. Aber Iwa schaffte das letzte Stück von selbst. »Binde dich am Sattelknauf fest«, erinnerte Partho sie. »Aber um die Hüften, nicht um den Hals«, riet Nabib boshaft. Dragon war zu Amee geeilt und küßte sie flüchtig. »Wir werden uns in Urgor treffen«, tröstete er sie. »Ihr werdet nicht viel später als wir dort sein. Ich wäre bei dir geblieben, aber jemand muß die Urgoriten aufklären, wenn plötzlich die Drachen am Himmel erscheinen.« »Warum die vielen Worte, Dragon?« sagte Amee mit einem milden Lächeln. »Ich verstehe auch, daß du Iwa mit dir nehmen mußt, weil sie das Drachenjunge zu pflegen hat. Wir werden heute noch beisammen sein. Und dann kommen hoffentlich ruhigere Tage.« Er senkte den Blick und wandte sich ab. Seit er die Nacht bei Maratha verbracht hatte, konnte er ein Schuldgefühl nicht loswerden. Nicht daß er bereute, aber er fürchtete, daß Amee in seinen Augen wie in einem Buch lesen konnte. Und er wollte sie nicht wegen einer kurzen Episode verlieren. 95
Partho stand bei Hotch bereit. Dragon stieg mit einem Fuß in seine verschränkt aufgehaltenen Hände, zog das andere Bein nach auf Parthos Schulter und stieg von dort in den Steigbügel. Er zog sich in den Sattel hoch und band sich fest. »Fertig, Iwa?« »Mir ist ganz seltsam zumute.« »Möchtest du absteigen?« »Daß Nabib sich ins Fäustchen lacht? Nein, das kommt nicht in Frage!« Dragon rief Hotch an. »Du kannst losfliegen. Aber vergiß nicht, daß du eine zerbrechliche Last auf deinem Rücken hast.« Hotch kam behutsam auf die Beine. Als er seine weiten Flügel wie spielerisch schwang, wichen die Männer, die zu nahe gestanden waren, vor dem Luftstrom zurück. Dragon sah, daß Amee und Ada bereits auf ihren Pferden saßen. Er winkte ihnen zu. Hotch hob vom Boden ab und stieg nur langsam in die Höhe. Dragon sah zurück, die Menschen im Tal wurden so klein wie Ameisen. Als er wieder nach vorne blickte, mußte er die Augen zusammenkneifen. Der Wind schlug ihm Sandkörner ins Gesicht. Iwa legte von hinten die Arme um seine Mitte, den Kopf preßte sie fest gegen seinen Rücken, um sich vor dem stärker werdenden Luftzug zu schützen. Fliegen! Dragon war in diesem Augenblick, als habe er dieses Gefühl schon einmal kennengelernt. Vielleicht war er in einem früheren Leben ein Vogel gewesen. Oder – dieser Gedanke erschreckte ihn zutiefst – vielleicht hatte er früher eine ähnliche Fähigkeit wie Cnossos besessen und sich in einen Vogel verwandeln können. 96
Aber nein, das war unmöglich. Cnossos war ein Wesen, das für ihn vollkommen fremdartig war. Er glaubte auch nicht, daß er einem ähnlichen Geschöpf schon jemals begegnet war – oder etwa doch ...? Er hatte festgestellt, daß, wenn er mit Dingen zusammengebracht wurde, die er vor seinem langen Schlaf gekannt hatte, sich Teile seiner verlorenen Erinnerung einstellten. Das traf auf den Umgang mit Waffen zu und auch auf die Drachen. Selbst als er herausfand, daß er mit Hilfe seines leuchtenden Amuletts die lautlose Sprechweise der Drachen beherrschte, hatte ihn das nicht in Erstaunen versetzt. Er wußte nicht wieso, aber er wußte ganz bestimmt, daß er schon früher Umgang mit Drachen gehabt hatte. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto unzufriedener wurde er. Er wollte sich nicht mit Bruchstücken seines ehemaligen Wissens zufriedengeben, er wollte sein lückenloses Wissen zurückerhalten. Wer war er? Welches Leben hatte er geführt? Ihm waren nichts als Namen aus seinem früheren Leben geblieben, Begriffe, die kaum etwas aussagten. Aber unter all den Erinnerungssplittern ragte einer immer wieder heraus. Atlantis! Dieses Wort hatte eine magische Bedeutung für ihn. Er faßte erneut den Entschluß, die Weisen der Berge aufzusuchen. Er war ihnen schon sehr nahe gewesen, doch hatte das Schicksal die Begegnung mit ihnen verhindert. Das sollte nicht noch einmal geschehen. Hotch wurde immer schneller und schneller, dennoch war sein Flug gleichmäßig. Sein Körper lag ruhiger in der Luft als der eines Pferdes auf ebenem Gelände. Vor ihnen tauchte in der Luft ein Schatten auf: Hotcha mit dem auf den Rücken geschnallten Hot-chi. 97
Hotch überholte sie und ließ sie bald hinter sich. Dragon hatte dem Drachenjungen im Vorbeifliegen Mut zugesprochen, das trug ihm eine Rüge Hotchs ein. »Ein Drache ist in seinem letzten Atemzug noch mutiger als ein Mensch in der Blüte seines Lebens!« Dragon entgegnete nichts. Er sah Urgor auftauchen und bereitete sich innerlich auf die Begegnung der Urgoriten mit den Drachen vor. Es würde bestimmt einige Mühen kosten, sie von der Friedlichkeit der Himmelsgiganten zu überzeugen. Sie flogen über die Mauern der Stadt hinweg, und Dragon sah Menschen wie aufgescheuchte Ameisen herumlaufen. Er wies Hotch an, wo er zu landen hatte, und der Drache befolgte seine Anordnungen aufs Wort. Er setzte behutsam auf dem ehemaligen Tempelgelände der Dunklen Wächter auf.
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9.
Vorbei waren die schrecklichen Tage, da Tod und Verderben in Urgor gewütet hatten, vorbei die große Dürre und Trockenheit, die mit Ende des Mondes Adler begonnen und sich über Schlange, Vampir, Löwe, Hirsch und Wildeber hingezogen hatte. Der Mond Wildeber war der schrecklichste gewesen. Die Trockenheit hatte den Höhepunkt erreicht, die Seuche immer weiter gewütet und wahllos die Menschen dahingerafft, egal welcher Herkunft und welchen Standes sie waren. Im Mond Wildeber, als die Not am größten war, kam zu den übrigen Plagen noch die Verfinsterung der Sonne hinzu. Lodernder Feuerschein erhellte den Himmel über Urgor ... Die Opfer des Fiebers wurden in Karren aus der Stadt gebracht, weil es schon zu viele waren, um jedem einen ehrenvollen Abschied aus diesem Leben angedeihen zu lassen. Das Wasser wurde knapp, und Nahrung war kaum mehr zu beschaffen, weil die Händlerkarawanen einen weiten Bogen um Urgor machten. Und im Mond Wildeber starb König Alac an dem Gift, das ihm die Dunklen Wächter eingeflößt hatten. Aber im Mond Wildeber erwachte auch der Schlafende Gott aus seiner Starre und kam aus seinem Schrein zu den leidgeprüften Urgoriten. Und er besiegte Cnossos und vertrieb so die Fieberseuche und die Trockenheit aus dem Land. Vorbei waren die Tage des Schreckens, vorbei die Zeit des schleichenden Todes, vorbei der Hunger, der Durst.
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Die Überlebenden machten sich daran, das Leben dort fortzusetzen, wo es im Mond Adler geendet hatte. Sie bauten aus den Trümmern eine neue Stadt auf. Heute waren die Spuren der Seuche und des Feuers kaum mehr zu sehen. Man gedachte der Fieberopfer und des toten Königs. Doch den besinnlichen Augenblicken folgten Stunden der Ausgelassenheit. In Urgor wurde wieder gelacht und geliebt. Die Händler kamen wieder in die Stadt, und mit ihnen die Diebe und Betrüger, die Hetären und billigen Dirnen. Zur Erinnerung an das vergangene Leid hatte man den halbzerstörten Tempel stehengelassen, in dem einst die Dunklen Wächter gehaust und ihrem furchtbaren Gott der vielen Namen gehuldigt hatten. Er sollte zum Mahnmal werden, auf daß die Urgoriten nie vergäßen, welch düstere Heimsuchung von hier aus über sie gekommen war. Das Leben in Urgor ging weiter, erreichte eine neue Blüte – aber der Tempel der Dunklen Wächter blieb ein düsterer, gemiedener Ort. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile: Ein Drache war im Tempelhof der Dunklen Wächter gelandet! Viele Urgoriten hatten von den Straßen aus den mächtigen, dunklen Schatten am Himmel gesehen. Sie hatten zu ihm hinaufgestarrt, die Finger mahnend erhoben und Worte der Erlösung für sich und die Ihren gemurmelt. Wer den dunklen Schatten nicht gesehen hatte, der erfuhr es bald von den anderen, daß ein Drache nach Urgor gekommen war. »Im Tempel der Dunklen Wächter ist er niedergegangen?« »Ja, dort!« »Er wird den Geiergötzen vom Podest stoßen und sich selbst darauf erheben.« »Eine neue Heimsuchung!« 100
»Verherrlicht den Drachengott, auf daß er uns nicht noch einmal mit Fieberseuche und Dürre bestraft!« »Zwei Menschen haben ihn geritten!« »Den Drachen?« »Ich habe es genau gesehen, zwei Menschen saßen auf dem Rücken des Drachen in goldenen Sätteln.« »... in edelsteinbesetzten Sätteln und ganz in Gold gekleidet ...« »... Menschen mit goldener Haut!« »Der eine Drachenreiter ist Dragon, der Schlafende Gott!« »Dragon!« Die Nachricht griff wie ein Lauffeuer um sich. Sie eilte durch die winkeligen Straßen, über die prunkvollen Plätze, hinein in die dunklen Stuben der Häuser, die Treppen hinunter in schummerige Kneipen, erreichte den Marktplatz und sprang über die Stadtmauern hinweg. Jeder sagte es jedem: »Dragon ist auf dem Rücken eines Drachen zurückgekehrt!« Die Zecher verließen die Schenken, die Liebesdienerinnen eilten aus den Freudenhäusern herbei, die Handwerker ließen ihre Arbeit stehen und machten sich auf den Weg zum Tempel des Gottes der vielen Namen. Von überall kamen die Urgoriten in Scharen, staunend, voll innerer Zweifel. Ein Drache! Die Diebe, in den letzten Tagen ohne Beute geblieben, weil Damos wieder Ruhe und Ordnung in Urgor hergestellt hatte, machten sich auf den Weg. Sie lachten, klopften einander auf die Schultern, rieben sich die Hände: Beim Tempel des Gottes der vielen Namen wurde sie reiche Beute erwarten. Wo viele Menschen beisammen waren, gab es viel zu stehlen. Und die Bettler kamen in nicht minderer Zahl. 101
»Bitte, eine kleine Spende, Herr, Edler, Edelfrau, schönes Kind. Dragon wird es euch danken!« Verschmutzte Kinder krochen durch die Beine der Großen. Einen Drachen aus nächster Nähe zu sehen, daran hatten sie nur in ihren kühnsten Träumen zu denken gewagt, in denen sie unbesiegbare Helden waren. Der Fleischer stand da und starrte auf die riesigen Mengen Drachenfleisch im Tempelhof. Die vereinsamte Edelfrau betrachtete Dragons hochaufragende Gestalt; das käufliche Mädchen an ihrer Seite wetteiferte mit ihren sehnsüchtigen Blicken. Der ausgediente Soldat, der im Dienste Alacs seinen rechten Arm verloren hatte, sah nur Iwa, die mit Dragons Hilfe aus dem hohen Sattel stieg. Er dachte an die Zeiten zurück, als er noch ein strammer Kämpfer gewesen war und die heißblütige Tänzerin Iwa in seinen kräftigen Armen gehalten hatte. »Fürchtet euch nicht, Urgoriten, wenn ein zweiter Drache kommt!« rief Dragon. Der zweite Drache! Er kam kreisend herunter und setzte sanft neben dem ersten auf. Er trug keine menschliche Last auf dem Rücken, sondern ein Drachenjunges. »Welche Wunder uns heute beschert werden!« »Ein denkwürdiger Tag. Ich sage euch, dies ist ein denkwürdiger Tag.« Die Umstehenden nickten beipflichtend. Sie wichen zurück, als der zweite Drache sich auf die Seite wälzte, so daß das Junge auf seinem Rücken auf dem Boden zu liegen kam. Die Menge war unruhig, denn wenngleich sich die Drachen gegenüber Dragon auch zahm verhielten, so wußte man nicht, was ihnen beim Anblick so vieler fremder Menschen in den Sinn kam. Doch die Neugierde besiegte die Angst. 102
Die Menschen blieben, staunten, verspürten den wohligen Schauer des Abenteuers; hier kosteten sie die Gefahr, ohne wirklich gefährdet zu sein. Einzig die Diebe blieben unbeeindruckt, sie prüften mit geübtem Blick ihre Opfer, bevor sie mit flinker Hand Zugriffen. Die beiden ausgewachsenen Drachen erhoben sich wieder in die Lüfte und flogen davon. Das Drachenjunge blieb zurück. Es schien zu schwach zum Fliegen, es schien verwundet. Fast sein ganzer Körper war mit Salben beschmiert. Dragon stellte sich auf einen der Sattel, die er vom Rücken des Drachen genommen hatte. Seine große Gestalt überragte die Menge, und er verkündete: »Hört, Männer und Frauen von Urgor! Dieses mutige Drachenjunge heißt Hot-chi und büßte im Kampf gegen den Gott der vielen Namen beinahe sein Leben ein. Hotchi hat Prinzessin Amee aus den Fangen dieses Dämonen gerettet. Aus Dank dafür haben wir ihn in die Stadt gebracht, er soll in Urgor bleiben, bis er gesund ist und uns aus eigenen Kräften wieder verlassen kann.« Ein Jubel brach los, als Dragon Amees Namen nannte. Der Begeisterungssturm zeigte, wie beliebt die zukünftige Königin war. Eine Gasse bildete sich in der Menge, als Bruder Damos in Begleitung einiger Soldaten erschien. Er und Dragon umarmten einander. Im selben Augenblick brach erneut ungeheurer Jubel aus. Die meisten Urgoriten stimmten darin ein, ohne den Grund dafür zu kennen. Aber sie erfuhren ihn bald. Die Königin ritt in Urgor ein! Amee war eigentlich noch immer Prinzessin, denn sie hatte den Thron ihres Vaters noch nicht bestiegen. Aber das Volk von Urgor bereitete ihr den Empfang einer Königin. Sie kam in Begleitung ihrer Schwester und 103
einundzwanzig bunt zusammengewürfelter Reiter. Sie ritten durch das Nordosttor in Urgor ein und begaben sich geradewegs zum ehemaligen Tempel der Dunklen Wächter. Als sie erschien, in abgerissenen Kleidern, mit einer Hirtenjacke um die Schultern, aber hochaufgerichtet und lächelnd, da brach ein Begeisterungssturm los, wie ihn Urgor schon seit vielen Sommern nicht erlebt hatte. Selbst die Diebe vergaßen einige Augenblicke lang ihr Handwerk und ließen sich von dem allgemeinen Taumel mitreißen. Die Urgoriten hatten ihre Königin und den Schlafenden Gott, dem sie so viel zu verdanken hatten, wieder zurück. Hot-chi war Iwa in einen Raum des Tempels gefolgt, der zu ebener Erde lag; er war noch schwach auf den Beinen, aber diese kurze Strecke konnte er zurücklegen. Dragon, Amee, Ada, Agrion, Damos und Partho hatten sich ebenfalls in das Innere des Tempelgebäudes zurückgezogen, während die anderen zurückblieben und dem Volk von ihren Abenteuern erzählten. Damos erfuhr von Dragon in wenigen Worten, was sich auf ihrer Reise alles zugetragen hatte. Er endete: »Ich glaube, Cnossos hat für einige Zeit genug. Er wird sich in seine Felsenburg zurückgezogen haben und über die erlittenen Niederlagen nachdenken.« Amee fröstelte, als sie die vielen steinernen Standbilder des Tempelraumes erblickte, die alle Geier darstellten – das Sinnbild Cnossos‘. Dragon drückte sie an sich. »Und wie ist es dir ergangen, Bruder Damos?« erkundigte er sich. 104
Damos war während Amees Abwesenheit als Statthalter von Urgor eingesetzt worden. Mit seinen fünfundfünfzig Sommern war Damos ein alter Mann, aber sein Geist schien die ewige Jugend gepachtet zu haben. Er war ein scharfer Denker und schien die Natur aller Dinge zu kennen. Es gab nichts auf dieser Welt, für das er nicht eine vernünftige Erklärung gefunden hätte. Doch selbst ihm war es noch nicht gelungen, Dragon das Gedächtnis zurückzugeben. Er schickte ihn zum Ah‘rath, zur Burg der Weisen der Berge, denen er selbst angehörte. Er war vor zehn Jahren mit vierzehn Männern und sechs Frauen nach Urgor gekommen und hatte drei Wegstunden außerhalb der Stadt eine Schule eingerichtet, um den Urgoriten verlorengegangenes Wissen beizubringen. Damos war es auch, der den bescheidenen Tempel aus Holz errichten ließ. »Das Leben in Urgor hat wieder seinen gewohnten Lauf genommen«, berichtete er. »Wir haben die Fieberseuche aus der Stadt verdammt und mit dem Wiederaufbau begonnen. Es gibt wieder genügend Nahrung, denn die Händlerkarawanen, die uns während der Fieberseuche mieden, strömen nun aus allen Himmelsrichtungen zu uns. Auch über Wassermangel brauchen wir nicht zu klagen, denn der Regen hat die Brunnen gefüllt. Die einzige Sorge bereitet mir die Staatskasse. Wir müssen jeden Tag mit vollen Händen hineingreifen, um die Schäden wiedergutzumachen, die die Dunklen Wächter am Tage der Sonnenfinsternis angerichtet haben. Viel kostet es uns auch, die Streitmacht zu unterhalten. Wir müssen Tag und Nacht wachsam sein, denn wir haben rings um Urgor Feinde, die unsere Schwäche ausnützen könnten. Aber wir sind auf der Hut. In der Stadt gibt es viele Spione, die mit den Händlern kommen und 105
die Lage erkunden. Wir fassen sie nicht, sondern lassen sie erkennen, daß wir mit der Waffe in der Hand bereitstehen. Mit den Händlern kamen auch viele Abenteurer, Diebe und Betrüger zurück, die vom Fieber vertrieben worden waren. »Es wird Parthos Aufgabe sein, das in die Hand zu nehmen«, sagte Amee und blickte Dragon fragend an. Als sie sein zustimmendes Nicken gewahrte, fügte sie hinzu: »Du bist noch immer Hauptmann, Partho. Walte deines Amtes!« Partho nahm Haltung an. Amee winkte lächelnd ab. »Nicht so förmlich unter Freunden, Partho.« Partho erwiderte das Lächeln nicht. »Es wird Zeit, daß ich mich wieder der Zucht und Ordnung erinnere, die man mich gelehrt hat. Du bist meine Königin, Amee«, sagte er, lockerte aber gleichzeitig seine Haltung. »Du und Ada, ihr müßt müde sein«, sagte Dragon zu Amee. »Ihr solltet sofort den Palast aufsuchen und euch zur Ruhe begeben. Auf dich warten große Aufgaben und schwere Entscheidungen, Amee.« »Ich habe Bruder Damos, er wird mir die Sorgen abnehmen«, entgegnete sie. »Aber es stimmt schon, daß ich Ruhe und Schlaf benötige. Doch will ich, wenn ich aufwache, dich vor mir sehen, Dragon.« »Ich werde bei dir sein«, versprach Dragon. Als sie und Ada in Begleitung Parthos gegangen waren, fragte Damos: »Sie wird eine gute Königin sein. Aber wo ist dein Platz, Dragon?« »Ich gehöre zu Amee, das sagt mir mein Gefühl«, antwortete Dragon. »Aber ich weiß nicht, ob mein Platz 106
neben ihrem Thron ist. Ich kann das erst beantworten, wenn ich mich selbst gefunden habe, Bruder Damos.« »Bestimmt findest du am Ah‘rath eine Antwort, Dragon.« »Ich hoffe es.« Dragon kehrte dem Weisen und Statthalter von Urgor den Rücken und trat ins Freie. Er wollte noch nach Hot-chi sehen und dann selbst seine müden Knochen ausruhen. »Wie fühlst du dich, Hot-chi?« erkundigte er sich auf Drachenart. »Schwach, aber wohlauf. Ich werde mich schon noch an das Leben bei den Zweibeinern gewöhnen.«
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10.
Dieses Jahr hieß nicht umsonst das Jahr des Drachen. Es stand ganz im Zeichen dieser geheimnisvollen Himmelsgiganten aus einer längst vergangenen Zeit. Zuerst hatte Dragon mit Hilfe von Hotch Cnossos und Obads Dunkle Wächter in Urgor geschlagen. Dann hatte Hot-chi Amee aus Cnossos‘ Klauen gerettet. Und nun gab Damos Hot-chis zu Ehren ein Fest. Das Drachenjunge war wieder genesen und für den Flug zu den Himmelsbergen bereit. Hauptmann Partho klopfte einige Male an die große, mit kunstvoller Einlegearbeit verzierte Tür. Er wurde bereits ungeduldig, weil man ihn so lange warten ließ und entschloß sich schließlich, ohne Aufforderung einzutreten. Die beiden Wachen beiderseits der Türflügel rührten sich nicht, als Partho kurzerhand die Tür öffnete. Der Saal dahinter war unbeleuchtet. Er holte tief Atem und wartete, daß sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Dann blickte er sich um. Er konnte niemanden sehen. Aber er vermeinte, über den Lärm hinweg, der aus der Stadt zum Palast heraufscholl, leise Stimmen aus der Richtung der Terrasse zu hören. Er ging mit festem Schritt auf die Terrassentür zu, so daß seine Anwesenheit nicht überhört werden konnte. Als er ins Freie trat, sah er die Schatten der beiden Menschen durch das dichte Pflanzenwerk an der Brüstung lehnen. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie sein Kommen überhaupt nicht merkten. Erst als er sich 108
vernehmlich räusperte, wirbelte der Mann herum. In seiner Hand blitzte ein Schwert. »Partho!« rief Dragon erleichtert aus. »Das nächste Mal mußt du dich besser bemerkbar machen. Beinahe hätte ich dir aus Versehen das Schwert zwischen die Rippen gestoßen.« Partho lächelte anzüglich. »Mehr Lärm als ich eben kann nicht einmal ein Drache machen«, sagte er. »Mich trifft keine Schuld, wenn ich unverhofft in euer Liebesgeflüster hineinplatzte.« Amee blitzte ihn wütend an, in ihrem Haar spielte der ferne Fackelschein. »Hauptmann Partho«, sagte sie streng. »Ich glaube, du vergißt dich!« »Laß ihn, Amee«, meinte Dragon und legte ihr den Arm um die Schulter. »Du machst ihn noch ganz verlegen. Kamst du nur, um uns zu stören, oder hast du eine wichtige Nachricht für uns?« »Verzeih mir, Amee«, sagte Partho und verneigte sich in Amees Richtung. An Dragon gewandt fuhr er fort: »Es ist nichts Wichtiges, was mich herführt. Ich wollte nur Meldung erstatten, daß sich die Ausgelassenheit des Volkes in Grenzen hält.« »Hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt?« sagte Amee gereizt. »Morgen ist es vielleicht schon zu spät«, antwortete Partho. »Stimmt es, daß du uns wieder verlassen willst, Dragon?« »Es wird nicht für lange sein«, sagte Dragon. »Ich möchte zur Burg der Weisen der Berge. Diesmal soll mich nichts davon abhalten, nicht einmal du, meine Amee.«
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Da wußte Partho den Grund für ihre Reizbarkeit. Sie hatte ihn nur für wenige Tage bei sich gehabt und mußte ihn nun schon wieder ziehen lassen. Partho räusperte sich und brachte den eigentlichen Grund für sein Kommen vor. »Könntest du nicht einen guten Schwertkämpfer als Begleiter gebrauchen?« fragte er. »Der Weg ist beschwerlich und nicht ohne Gefahren. Cnossos ist noch nicht geschlagen und sinnt sicher auf Rache.« »Das schlage dir nur aus dem Kopf, Partho«, mischte sich Amee ein. In ihrem Gesicht blitzten die Zähne, als sie lächelte. »Du bist der Hauptmann meiner Streitkräfte und wirst dort bleiben, wo man dich braucht – hier in Urgor. Du sollst Bruder Damos dabei unterstützen, Ruhe und Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten. Zudem fällt dir noch eine besonders ehrenvolle Aufgabe zu. Du mußt eine Streitmacht für den Feldzug gegen Cnossos‘ Felsenburg ausbilden.« Dragon stimmte dem zu. »Amee hat recht, du wirst hier in Urgor gebraucht, Partho.« »Ich könnte ...«, begann Partho, aber Amee unterbrach ihn. »Du kannst keine Ausrede erfinden, um mit Dragon zu gehen«, sagte sie, immer noch lächelnd. »Ich dagegen bin in Urgor nicht unentbehrlich, denn Damos und du, ihr werdet mich vertreten. Ich werde Dragon begleiten, nicht wahr, Geliebter?« »Du hast von Partho gehört, daß das zu gefährlich wäre«, sagte Dragon unwirsch. »Hast du nicht von einem Plan gesprochen, den Ah‘rath schnell und ohne besonderes Wagnis zu erreichen, Dragon?« »Es ist möglich, daß sich dieser Plan gar nicht durchführen läßt.« 110
In diesem Augenblick beneidete Partho Dragon nicht. Er hatte Amee geliebt, aber er war nun nicht so sicher, daß er ihrer jemals Herr geworden wäre. Wenn einer sie zähmen konnte, dann war es Dragon. Jeder andere würde ihr unterliegen. »Hauptmann Partho!« Partho entschuldigte sich bei Amee und Dragon und ging durch den finsteren Saal zurück auf den Gang, von wo der Ruf gekommen war. Dort stand zwischen den beiden Wachen einer der Soldaten, die in der Stadt Streife gingen. »Was hast du mir zu sagen?« wollte Partho wissen. »Nabib, der Händler läßt dir ausrichten, daß du ihn aufsuchen sollst, Hauptmann Partho«, meldete der Soldat keuchend. Er mußte den ganzen Weg hierher gelaufen sein. »Es sei dringend, sagte er.« »Wo ist Nabib?« »Wenn du gestattest, werde ich dich zu ihm führen.« Der Soldat geleitete Partho in die Altstadt, wo die Gassen winkelig waren und schmutzig. Aber in dieser Nacht wirkte selbst diese üble Gegend freundlicher. Fackeln erhellten die Straßen, Kinder tollten umher, Frauen tanzten, Männer sangen und klatschten. Ein in weite Gewänder gehülltes Mädchen mit klirrenden Armreifen und riesigem Ohrgehänge versperrte Partho tanzend den Weg. Sie bog sich vor ihm und warf ihm eindeutige Blicke zu. Die Männer ringsum grölten. »Ihr müßt sie küssen, dann gibt sie euch den Weg frei«, riefen sie. Partho ging scherzhaft auf diesen Ton ein. »Wenn ich sie küsse«, rief er, »dann werde ich sie nicht mehr los.« 111
Die Männer brüllten vor Vergnügen, als Partho das Mädchen hochhob und sie einem Betrunkenen in die Arme legte, der unter dieser Last zusammenbrach. »Hier wartet der Händler auf euch«, sagte der Soldat und deutete auf den schmalen Eingang einer Schenke, neben dem eine rot bemalte Öllampe hing. Aus vergitterten Kellerfenstern, die mit der Straße auf gleicher Höhe lagen, drang Lärm. Partho bedankte sich und schickte den Soldaten fort. Er ging die ausgetretenen Stufen der Schenke hinunter und kam in den mit dichtem Qualm erfüllten Gastraum. Rußende Fackeln, Tabakrauch und Menschenleiber versperrten ihm die Sicht. Er fragte sich, was Nabib an diesem verrotteten Ort zu suchen hatte. Als er ihn dann in einer Ecke erspähte, erkannte er den Grund. Nabib hatte zwei dralle Mädchen bei sich am Tisch, die er abwechselnd umarmte und küßte. Als er der einen etwas ins Ohr flüsterte, lachte sie schrill. Die andere stieß Nabib an und forderte offensichtlich, daß sie ebenfalls etwas ins Ohr geflüstert bekäme. Nabib tat ihr den Gefallen, und dann lachte auch sie schrill. Partho bahnte sich einen Weg zu Nabibs Tisch. Als ihn der Händler erblickte, scheuchte er die Mädchen auf. »Daß ihr euch nicht den nächstbesten Söldnern an den Hals werft«, rief er ihnen nach. »Ich komme später wieder.« Partho blieb abwartend am Tisch stehen. »Setz dich«, forderte Nabib ihn auf. »Was trinkst du?« »Ich dachte, du hättest mir eine wichtige Mitteilung zu machen.« »Darf man etwa wichtige Mitteilungen nicht mit feuchter Kehle entgegennehmen?« 112
Partho setzte sich. Niemand beachtete ihn. Nabib zeigte dem Wirt den leeren Krug und bekam von dessen Tochter einen vollen aufgetischt. Nabib klatschte ihr die Hand aufs Hinterteil. »Also?« fragte Partho, nachdem er den Wein gekostet hatte. Er war überraschend gut gewürzt und wohlschmeckend. Nabib machte nicht viele Worte. »Ich glaube, ich habe den Barbar gesehen, von dem uns Amee erzählte.« »Wo?« »Hier.« Partho wollte aufspringen, doch Nabib hielt ihn zurück. Er deutete mit dem Daumen zur Decke. »Er ist mit einem Mädchen nach oben gegangen und noch nicht wieder heruntergekommen.« »Woran hast du ihn erkannt?« wollte Partho wissen. »Er trug zwar Kleider – wer weiß, wo er die gestohlen hat –, aber in Urgor trifft man nicht oft einen schwarzhäutigen Riesen, der das lange Haar im Nacken zusammengebunden hat«, erklärte Nabib. »Er konnte nicht verleugnen, daß er ein Barbar aus dem Süden ist. Und er wollte es auch nicht. Er zerbrach drei Krüge zwischen den Händen, um den Weibern zu zeigen, welche Kraft er hat. Ein unheimlicher Bursche.« Partho erhob sich. Er zog das Schwert. Seine Augen funkelten. »Gehen wir. Bist du bewaffnet?« Nabib zeigte seinen Dolch. Die Treppe war eng und unbeleuchtet. Partho ging voran. Sein Schwert klirrte leise gegen die Wand. Als sie um eine Biegung kamen, sahen sie einen schwach erhellten Gang vor sich. Sie legten die letzten Stufen zurück. 113
Die Fackel, die den Gang erhellte, war beinahe abgebrannt. Partho blickte um sich. Es gab fünf Öffnungen, die mit schweren Teppichen verhängt waren. Gedämpfte Geräusche drangen daraus hervor. Am anderen Ende des Ganges befand sich eine Tür. Der Riegel war geöffnet, die Tür wippte in ihren Angeln. Partho ging hin, das Schwert stoßbereit. Er sah eine Treppe, die zu einem engen Innenhof hinabführte. In einer Ecke stand ein kleiner, zweiräderiger Karren, auf dem reglos ein untersetzter Mann lag. Partho nahm an, daß es sich um den Torhüter handelte, der aufpaßte, daß niemand der Gäste durch die Hintertür entkam und den Wirt um seine Zeche prellte. »Kümmere dich um ihn«, raunte Partho dem Händler zu und deutete in den Hof. Er selbst schritt den Gang zurück, darauf bedacht, nur kein Geräusch zu verursachen. An einem der hängenden Teppiche blieb er stehen. Ihm war gewesen, als habe er dahinter ein Stöhnen vernommen. Er riß den Teppich beiseite und stieß mit dem Schwert in den dahinterliegenden Raum. Als er das Mädchen auf dem zerwühlten Lager erblickte, wurde ihm beinahe übel. Sie wälzte sich unter Schmerzen auf dem Bett. Überall am ganzen Körper hatte sie blutunterlaufene Stellen, ihre Augen waren verquollen. Als Partho neben sie hintrat, zuckte sie zusammen und preßte ihre Faust in den Mund, als Wolle sie ihren Schrei ersticken. »Keine Angst, er ist schon weg«, sagte Partho. »Dir wird gleich geholfen werden.« Aus den geschlossenen Augen des Mädchen brachen plötzlich Tränen hervor, ihr Körper wurde vom Schluchzen geschüttelt. »Es ist vorbei«, sagte Partho. 114
»Dieses Scheusal«, kam es über die Lippen des Mädchens. »Er hat mich wie ein Tier ...« »Es ist vorbei«, tröstete Partho sie. »Wenn ich ihn zu Gesicht bekomme, werde ich ihn töten ... Ich werde ihn für das, was er mir angetan hat, töten!« Partho legte die Decken über ihren Körper. »Wenn du mir sagen kannst, wohin er geflüchtet ist, wird er von mir seine Strafe erhalten«, sagte Partho. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich hätte nicht geglaubt, daß er so eine Bestie ist. Wir redeten über die Königin ...« »Er sprach von Prinzessin Amee?« »Ja«, bestätigte das Mädchen. »Er wollte alles über sie wissen, und ich sagte ihm, daß sie mit einem Drachen nach Urgor gekommen sei.« »Was hast du ihm sonst noch gesagt?« Nabib erschien in der Türöffnung. »Der Wirt wird sich nach einem neuen Leibwächter umsehen müssen.« Partho bat Nabib, Hilfe für das Mädchen zu holen, dann wiederholte er seine Frage. »Was ich ihm noch gesagt habe?« meinte das Mädchen. »Er wollte wissen, ob der junge Drache im Tempel auch ein Freund von Amee sei. Ich bejahte und erzählte ihm noch, daß der Drache den Gott der vielen Namen besiegt hatte, als er ihm in Geiergestalt begegnete. Dann begann er zu toben.« »Hat er nichts mehr gesagt?« »Doch.« Das Mädchen biß sich auf die geschwollenen Lippen und zuckte zusammen. »Als er mich schlug, hat er alle verflucht, die es wagen sollten, sich an einem Geier zu vergreifen. Es hörte sich an, als wolle er den Drachen töten, weil er den Geier besiegte ...« 115
»Gleich wird Hilfe kommen, Mädchen«, versicherte Partho und eilte auf den Gang hinaus. Er hatte genug gehört. Draußen stieß er mit Nabib und dem Wirt beinahe zusammen. »Wir müssen zum Tempel der Dunklen Wächter«, sagte er zu dem Händler. »Hot-chi ist in Gefahr. Es scheint, daß der Barbar vorhat, ihn zu töten.« Hot-chi war zu einem besonderen Anziehungspunkt in Urgor geworden. Die Leute kamen aus allen Teilen der Stadt und aus der Umgebung, um ihn zu sehen. Sie fürchteten sich nicht mehr vor seinem Aussehen, denn sein Verhalten entsprach mehr dem eines Haustiers als dem einer gefährlichen Bestie. Und Hot-chi hatte sich seinerseits an den Umgang mit den Menschen gewöhnt. Er hörte sogar schon darauf, wenn sie ihn in ihrer Sprache beim Namen riefen. Er führte verschiedene Kunststücke auf, die die Menschen von einem Drachen nicht zu sehen erwarteten, oder flog einige Kreise um den Tempel und heimste als Belohnung schmackhafte Fleischbrocken oder süße Früchte ein. Auf Süßes war er ganz versessen! »Sage mir einen Grund, warum der Barbar Hot-chi beseitigen möchte«, wollte Nabib wissen, als sie sich auf dem Tempelgelände einen Weg durch die Menschenmenge bahnten. »Ich denke es mir so«, sagte Partho. »Ibabt war von Cnossos Erscheinung so beeindruckt, daß er sich ihm sofort mit Leib und Seele verschrieb. Als er von dem Mädchen hörte, was Hot-chi Cnossos angetan hatte, beschloß er, Rache zu nehmen. Es kann aber auch sein, daß alles nur mit Amee zusammenhängt.« 116
»Möglich«, meinte Nabib. »Bleibt noch die Frage, wie der Barbar seine Absichten zu verwirklichen gedenkt. Egal welche Waffe er wählt, er wird gegen Hot-chi den kürzeren ziehen. Jetzt, da er wieder gesund ist, kann er es gegen eine ganze Abteilung schwerbewaffneter Soldaten aufnehmen.« »Ibabt wird sich irgendeine Hinterlist einfallen lassen«, vermutete Partho. Er deutete nach rechts. »Sieh dich dort um, ich nehme die andere Seite. Ich werde den Posten sagen, daß sie auf einen schwarzen Hünen achtgeben sollen. Wenn du Ibabt entdeckst, dann schlage Lärm. Versuche nur nicht, ihn herauszufordern.« »Ich werde mich hüten!« Sie trennten sich. Partho besah sich alle Leute genau, an denen er vorbeikam. Er drängte sich durch die Menge nach vorne und mußte eine Reihe von Verwünschungen über sich ergehen lassen. Erst als die Männer und Frauen merkten, wer er war, schwiegen sie. Partho erreichte die vorderste Reihe und blieb dort stehen. Er rief einen Soldaten heran und klärte ihn auf. Nachdem Partho geendet hatte, machte sich der Soldat daran, die anderen Posten zu unterrichten. Partho beobachtete die Leute in der vordersten Reihe scharf. Unter ihnen befanden sich viele dunkelhäutige Männer, Frauen und Kinder, aber niemand besaß die fast schwarze Hautfarbe des Barbaren. Auch paßte seine Beschreibung auf keinen von ihnen. Wie beabsichtigte Ibabt die Tat auszuführen? Zielte er von einem sicheren Versteck aus mit einem Pfeil auf Hot-chi? Das war nicht anzunehmen, denn Ibabt mußte sich sagen, daß er mit einem Pfeil gegen einen Drachen kaum etwas ausrichten konnte. 117
Es war unglaublich, welche Mengen ein Drache, der dazu noch nicht einmal voll ausgewachsen war, verschlingen konnte. Aus der Menge wurden ihm Fleischstücke zugeworfen, die so groß waren, daß sich ein Mann viele Tage daran sattessen konnte. Hot-chi verschlang sie reihenweise und auf einen Sitz. Das Fleisch verschwand mannslastenweise in seinem riesigen Echsenmaul – und er bekam nicht genug davon. Wenn er einmal einen Fleischbrocken verschmähte, dann nicht etwa, weil er satt war, sondern weil ihm von anderer Seite eine süße Frucht angeboten wurde. Daran zeigte es sich, daß Hot-chi trotz seiner gewaltigen Ausmaße immer noch im Kindesalter steckte. Er naschte gerne! Und vornehmlich die Menschenkinder hatten Verständnis dafür und streckten ihm furchtlos die verschiedensten Früchte entgegen. Für jede besonders schmackhafte Frucht bedankte sich Hot-chi, indem er trompetend in die Luft stieg, und sich dort einige Male überschlug, bevor er zurückkehrte. Die Kinder klatschten begeistert in die Hände. Sie streckten weiterhin ihre dünnen Arme zwischen den Beinen der Soldaten hindurch, die sich gegen die drängende Menge stemmten, und hielten Hot-chi ihre Gaben entgegen. Zwei dieser Arme waren jedoch nicht dünn, sondern kräftig. Die Muskelstränge zeichneten sich unter der dunklen Haut deutlich ab. Derbe Hände hielten eine besonders süße Vasai-Frucht. Gift! durchzuckte es Partho. Das war die einzige Waffe, mit der Ibabt gegen Hot-chi etwas ausrichten konnte. Der junge Drache hatte seine Lieblingsfrucht bereits entdeckt und marschierte darauf los. Partho hatte das Schwert aus der Scheide gezogen und hob es zum Schlag, während er losrannte. Er hätte Ibabt damit die 118
Frucht aus den Händen geschlagen. Aber Hot-chi war schneller als er. Der Drache nahm die Vasai vorsichtig zwischen die Zähne, um den Spender nicht zu verletzen, und hob den Kopf. Die kräftigen Arme wurden zurückgezogen. Parthos Schwertstreich traf nur den Boden. Aber Partho gab noch nicht auf. Er kümmerte sich nicht mehr um Ibabt, sondern wandte sich Hot-chi zu. Als er sah, daß der Drache die Vasai immer noch zwischen den Zähnen hielt, griff er ihm einfach ins Maul und zerrte die Frucht heraus. Partho strauchelte und fiel zu Boden, die Frucht fest umklammert. Hot-chi stampfte wütend auf und näherte sich Partho drohend. Die Menge hielt den Atem an, Entsetzen lahmte sie. Aber es passierte nichts. Hot-chi erkannte Partho und wich zurück. Er stieß sich vom Boden ab, flog steil in die Höhe und überschlug sich in der Luft. Die Menge atmete auf. Nabib erschien neben Partho. »Der Barbar ist uns entwischt«, sagte er.
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11.
Die Sonne ging über einer schlafenden Stadt auf. Die Urgoriten hatten bis in den frühen Morgen hinein gefeiert, bis sie vor Müdigkeit und vom Wein berauscht umgefallen waren. Mancher Unermüdliche war immer noch auf den Beinen und suchte weiterhin nach Stätten des Vergnügens. Aber Plätze der Ausgelassenheit und Fröhlichkeit waren zu dieser Stunde dünn gesät in Urgor. Die sittsamen Frauen und die braven Bürger beherrschten wieder das Stadtbild. Auf dem Gang zu ihren täglichen Einkäufen und zur Arbeit bekamen sie Gelegenheit genug, die Nase zu rümpfen, wenn sie über die schlafenden Nachtschwärmer hinwegsteigen mußten, die auf den Straßen lagen wie Leichen nach einer Schlacht. Und so manche brave Frau mußte eindeutige Aufforderungen über sich ergehen lassen von jenen, die in dieser Nacht enttäuscht worden waren und immer noch auf der Suche nach einer Gespielin waren. Kinder umtanzten die Betrunkenen, zogen sie an den Haaren, hielten ihnen die Nasen zu, bis sie wie Fische auf dem Trockenen nach Luft schnappten. Die Kinder rannten dann, was ihre Beine hergaben, um sich vor dem Zorn der Geneckten zu retten. Aber nicht nur die Kinder ärgerten die Burschen, die unter freiem Himmel ihren Rausch ausschliefen. Zuerst waren es die Nachtwächter, die den neuen Tag mit lautem Gebimmel einlauteten. Dann kamen die Soldaten. »He, aufwachen, Saufbold!« Ein Tritt, und der Schlummernde wurde aus seinen Träumen gerissen. Schlaftrunken stierte er in den neuen 120
Tag. Dann kam das jähe Erwachen. Er hörte keine Münzen in seinen Taschen klimpern. »Mein Geld! Wer hat mein Geld genommen!« Dann kam die Erinnerung an die Saufgelage und an die Mädchen, die er großzügig freigehalten hatte. »Wo ist meine Halskette? Ich bin bestohlen worden!« Irgendwo in Urgor lachte sich ein Langfinger ins Fäustchen. Oder aber der unsanft Geweckte erinnerte sich auf einmal mit Schrecken daran, daß zu Hause eine Frau und etliche Kinder warteten. Sollte er jetzt nach Hause gehen und sich seiner zänkischen Lebenshälfte stellen? Das konnte man einem Mann nicht zumuten. Es war schon besser, irgendeine Schenke aufzusuchen und sich zuerst Mut anzutrinken, bevor man den Weg in das Heim antrat. So kam es, daß die Unermüdlichen sich mit den trinkfreudigen Wiedererwachten trafen und sich zu neuem fröhlichen Tun zusammensetzten. Das Fest war zu Ende, ein neues begann. Ein Grund zum Feiern wurde sich schon noch finden. Gestern hatte man gefeiert, weil ... Ja, warum eigentlich? »Damos hat ein Fest gegeben«, sagte der Zecher, der diese Nacht noch kein Auge zugetan hatte. »Der Grund dafür war die Gesundung des Drachenjungen«, sagte der andere Zecher, der von den Soldaten Hauptmann Parthos von der Straße vertrieben worden war und Zuflucht in dieser Schenke gesucht hatte. »Nein«, wiedersprach der erste Zecher, »das Fest wurde zu Dragons und Prinzessin Amees Ehren gegeben.« »Nein, wegen des Drachen!« »Amee und Dragon haben wir es zu danken!« »Nein.« »Doch.« 121
Von hier an fehlte nicht mehr viel, und die beiden fielen übereinander her. Der Wirt beförderte sie auf die Straße, dort wurden sie von den Soldaten aufgegriffen und in den Kerker geworfen, der bereits gut besetzt war. »Ich glaube, wir haben beide recht«, sagte der Zecher, der diese Nacht noch keine Auge zugetan hatte und schlief im Sitzen ein. »Die Drachen kommen zurück!« »Sie holen ihr Junges!« Die beiden riesigen Schatten kamen aus der Richtung der aufgehenden Sonne nach Urgor geflogen. Die Händler und braven Bürger auf dem Marktplatz vergaßen für wenige Augenblicke das Feilschen und starrten gebannt zum Himmel empor. »Die Drachen sind unsere Freunde!« Die Leute liefen auf der Straße zusammen und strömten in Richtung des Tempels der Dunklen Wächter davon. Der Fleischer trat mit seiner Frau aus dem Laden. »Welche Menge Fleisch, Xiva«, sagte der Fleischer sehnsüchtig. »Welche Unmenge Fleisch die Drachen abgeben würden.« »Die Drachen kommen!« Der Ruf drang durch die geschlossenen Läden in das vornehm ausgestattete Zimmer der vereinsamten Edelfrau, die aufrecht in ihrem Bett saß und nachdenklich auf den Sklaven starrte, der die Fensterläden öffnete. »Komm her, Jachai«, sagte die Edelfrau. Der ausgediente Soldat, der seinen rechten Arm für König Alac gegeben hatte, dachte an diesem Morgen nicht an vergangene Zeiten zurück. Er hatte in dieser Nacht bewiesen, daß auch ein Mann mit nur einem Arm ein Mädchen festhalten konnte. 122
»Die Drachen kommen!« Als sie auf dem Tempelhof niedergingen, hatte sich bereits eine riesige Menschenmenge eingefunden. Soldaten bildeten eine dichte Kette, um die Menge im Zaum zu halten. Auf den Tempelstufen stand Hauptmann Partho mit einer Abteilung Lanzenträger. Davor standen Dragon, Amee, ihre Schwester Ada und etwas weiter entfernt, Iwa und Nabib. Dragon ging Seite an Seite mit Amee auf die Drachen zu. Das Amulett auf seiner Brust funkelte. »Ihr könnt Hot-chi mitnehmen«, sagte er auf Drachenart. »Er ist wieder bei Kräften und vollkommen gesundet.« »Er wirkt mir aber immer noch sehr kränklich«, ließ sich Hot-cha vernehmen, die sich fürsorglich an ihr Junges heranmachte. Dragon lachte, was die Drachen nicht hören konnten. Für sie verständlich, sagte er: »Das kommt sicher von den vielen süßen Früchten, die Hot-chi massenweise verschlungen hat.« »Wie oft soll ich dir denn noch sagen, daß du nicht zuviel Süßes zu dir nehmen sollst«, rügte Hot-cha ihr Junges. Hot-chi senkte den Kopf. »Die Zweibeiner waren so gut zu mir. Ich konnte ihre Gaben nicht einfach ablehnen. Sie sind meine Freunde.« Dragon unterrichtete Amee von dem ergötzlichen Gespräch der Drachen, das zu hören sie nicht in der Lage war. Amee verzog keine Miene. »Frage sie schon!« forderte sie Dragon auf. Dragon wandte sich an Hotch. Als der Drache merkte, wie Dragons Amulett aufzuleuchten begann, schenkte er ihm seine Aufmerksamkeit. 123
»Werdet ihr jetzt zurück zu den Himmelsbergen fliegen?« fragte Dragon. »Ja, unser Platz ist bei den Himmelsbergen«, antwortete Hotch. »Denn wir haben dort unsere Viehherden, die uns Nahrung liefern. Ihr wart uns gute Freunde, aber verlangt nicht, daß wir bei euch bleiben. Wir brauchen die rauhen Winde der Himmelsberge. In dieser Einöde würden wir es nicht lange aushalten.« »Ich würde mich hier schon wohl fühlen«, begehrte Hot-chi auf und bekam dafür von seinem Vater einen Klaps mit dem Lanzenschwanz. »Ich möchte dich um etwas bitten, Hotch«, sagte Dragon. »Es sei dir jetzt schon gewährt.« »Könntest du mich und meine Gefährtin ein Stück mitnehmen?« fragte er und deutete dabei auf Amee. »Wir müssen zu einem Berg, der genau auf eurem Weg liegt.« »Es wird mir Freude bereiten, wenn ich euch helfen kann«, versicherte Hotch. Dragon wandte sich an Amee. »Er nimmt uns mit«, sagte er zu ihr. Amee atmete auf. Sie schenkte ihm ein befreites Lächeln und preßte sich an ihn. Sie dachte, daß sie ihren Willen durch ihre Hartnäckigkeit und ihr zärtliches Umgarnen durchgesetzt hätte. Doch irrte sie. Sie wußte nichts von dem Gespräch, daß zwischen Partho und Dragon in der letzten Nacht stattgefunden hatte, nachdem sie eingeschlafen war. Partho erschien außer Atem bei Dragon und weckte ihn. »Ibabt, der Barbar, der Amee nachstellt, ist in der. Stadt«, berichtete er und erzählte Dragon davon, wie Ibabt versucht hatte, Hot-chi zu vergiften. 124
»Vielleicht war das gar nicht Ibabt«, meinte Dragon, der die Sorge des Freundes für übertrieben hielt. »Du hast selbst gesagt, daß du ihn nicht genau erkennen konntest. Es kann sich um einen Sklaven gehandelt haben, der Hot-chi etwas Gutes tun wollte.« »Ich habe die Vasai-Frucht zu Iwa gebracht«, erklärte Partho. »Sie hat festgestellt, daß die Frucht mit einem starken Gift durchtränkt war.« »Warum nur ließt ihr den Barbaren laufen«, sagte Dragon ärgerlich. »Ich werde keine ruhige Stunde finden, wenn ich Amee allein in Urgor zurücklasse.« »Der Barbar ist schnell wie ein Raubtier und ebenso stark«, erklärte Partho. »Er hat einem meiner Soldaten mit den bloßen Händen das Genick gebrochen, als er sich ihm in den Weg stellte. Und er wird sicher nicht eher ruhen, bis er Amee in seiner Gewalt hat.« »Was soll das Gerede«, fuhr Dragon den Freund an. »Statt beruhigende Worte für mich zu finden, sagst du mir Amees Schändung voraus. Willst du mich davon abhalten, die Weisen der Berge aufzusuchen, Partho?« Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nein, ich würde dir aber raten, Amee mitzunehmen. Sie ist an deiner Seite sicherer als hier in Urgor.« Dragon hatte das schließlich eingesehen. Er gab Amees Drängen nach, ohne ihr den wahren Grund für seine Sinnesänderung zu verraten. Sollte sie sich ruhig in dem Glauben wähnen, über ihn einen Sieg errungen zu haben. Sie sollte nicht wissen, daß der Barbar ihr immer noch nachstellte. Abseits all dieser Überlegungen hatte Dragon gar nichts dagegen, Amee bei dieser Reise an seiner Seite zu haben. Je mehr er sich damit abfand, desto besser gefiel ihm dieser Gedanke. Und da Hotch sie auf seinem Rücken mitnahm, war auch das Wagnis nicht mehr so groß. 125
Amee wurde in Urgor wirklich nicht gebraucht. Bruder Damos und Partho konnten sie würdig vertreten. Die Soldaten schnallten die beiden Sättel auf Hotchs Rücken. »Amee hat es also doch geschafft, dich herumzukriegen«, meinte Partho schmunzelnd zu Dragon. Es freute ihn diebisch, daß Amee keine Ahnung von der stillen Abmachung hatte, die die beiden Männer miteinander getroffen hatten und sich in dem vermeintlichen Sieg über Dragon sonnte. Partho warnte mit erhobenem Zeigefinger. »Du mußt achtgeben, Dragon, daß sie die Zügel nicht zu straff spannt.« Dragon lächelte wissend und küßte Amee. Dann wurde er ernst. »Denke daran, was du zu tun hast, Partho«, sagte er. »Wenn wir zurückkommen, wollen wir darangehen, Cnossos‘ Felsenburg auszuräuchern.« »Bis dahin habe ich eine kampfstarke Truppe zusammengestellt«, versprach Partho. »Ich werde meine besten Männer auswählen und für diesen besonderen Einsatz entsprechend ausbilden. Diesmal wird uns Cnossos nicht entgehen.« Dragon und Amee verabschiedeten sich von Ada, Iwa, Agrion und Nabib. Damos war nicht gekommen, weil es ihm die Regierungsgeschäfte nicht erlaubten. Er hatte sich bereits im Palast von Dragon und Amee verabschiedet. »Beeilt euch«, sagte Nabib, der unausgeschlafen wirkte, zu den beiden. »Mich juckt es in den Fingern, Cnossos den Hals umzudrehen.« »Er denkt nur an die Schätze, die Cnossos in der Felsenburg gehortet haben mag«, erklärte Iwa spöttisch. Nabib machte ein beleidigtes Gesicht. 126
»Es muß dort wirklich unermeßliche Schätze geben«, sagte Amee. »Ich habe gehört, wie Cnossos den Dunklen Wächtern viel Gold versprach, wenn sie Dragon besiegten.« Nabibs Augen wurden groß. »Erzähle, Amee! Erzähle mehr davon!« »Das erlaubt unsere Zeit leider nicht«, schaltete sich Dragon ein. »Die Drachen werden schon ungeduldig.« Er half Amee in den hinteren der beiden Sättel auf Hotchs Rücken und benutzte dann wieder Partho als Steigleiter, um selbst in den Sattel zu kommen. Hot-chi befand sich bereits in der Luft und vollführte dort zum Vergnügen der Menge halsbrecherische Kunststücke. Amee winkte dem Volk zu und erntete dafür ein Jubelgeschrei. Als Dragon in dem Sattel vor ihr saß, legte sie besitzergreifend die Arme um seine Mitte. Hotch stieg vorsichtig hoch und flog mit seiner menschlichen Last davon. Dragon war mit seinen Gedanken schon weit fort, bei den Weisen der Berge, jeder Flügelschlag Hotchs brachte ihn näher an sein Ziel, den Ah‘rath, heran. Mit Hilfe der Drachen wurde Prinzessin Amee aus der Gewalt des Cnossos befreit. Doch solange der Balamiter in der Nähe von Urgor die Felsenburg Koroshkyr als Stützpunkt besitzt, ist niemand seines Lebens sicher. Dragon weiß dies – und er handelt. Er führt ein Heer zum KAMPF UM DIE FELSENBURG ... KAMPF UM DIE FELSENBURG das ist auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Verfasser des Romans ist Hugh Walker. 127