Buch Unheil gärt unter der scheinbar friedlichen Oberfläche im Königreich Crothenien: In den tiefen Wäldern des Landes ...
27 downloads
252 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch Unheil gärt unter der scheinbar friedlichen Oberfläche im Königreich Crothenien: In den tiefen Wäldern des Landes zieht der Gryffin, ein schreckliches Untier aus fast vergessenen Legenden, eine Schneise aus Tod und Vernichtung. Ein wandernder Mönch entdeckt, dass die Kirche sich schreckliche und unheilige Texte zu Eigen macht. Und am Königshof drohen Intrigen und Zwistigkeiten die Herrscherfamilie zu entzweien. Als ein bislang äußerst loyaler Ritter der Königin plötzlich versucht, seine Herrin zu ermorden, wird offenkundig, dass es nirgends mehr Sicherheit vor der schwelenden magischen Bedrohung gibt, die das ganze Land ins Unheil reißen könnte. Eine Bedrohung, die sich durch das Erwachen des mythischen Dornenkönigs aus seinem Jahrhunderte währenden Schlaf zu bestätigen scheint... Autor Greg Keyes lernte schon als Kind die Kultur und Sprache der Navajo-Indianer kennen und entwickelte hierdurch eine große Faszination für Sprache, Rituale und Mythen. Nach einem Anthropologie-Studium veröffentlichte er unter dem Namen J. Gregory Keyes seinen ersten Fantasy-Roman »Aus Wasser geboren«, mit dem er sofort in die Riege der jungen Erneuerer des Genres aufstieg. Weitere Bände sind in Vorbereitung
Greg Keyes
Der Dornenkönig Die verlorenen Reiche 1 Ins Deutsche übertragen von Marie-Luise Bezzenberger BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Briar King. The Kingdoms of Thorn and Bone« (Book One) bei Del Rey, Ballantine Publishing Group, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2004 Copyright © der Originalausgabe 2003 by J. Gregory Keyes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Schluck/Alison Eldred Artists (Crabb, Gordon) Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck Verlagsnummer: 24260 Redaktion: Alexander Groß UH • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24260-6 www.blanvalet-verlag.de
Für meinen Bruder Timothy Howard Keyes Wisse, o stolzes Herz der Furcht, dass es in jenen Tagen keine Könige und Königinnen gab, keine Fürsten und Vasallen. In den unzähligen Jahrtausenden vor Everon, auch bekannt als das Zeitalter der Menschen, gab es nur Herren und Sklaven. Die Herren waren uralt und so geübt in Grausamkeiten, wie die Sterne es im Scheinen sind. Sie waren mächtiger als Götter, und sie waren keine Menschen. Ihre Sklaven waren ohne Zahl, doch all unsere Mütter und Väter waren unter ihnen. Menschen waren ihr Vieh und ihr Spielzeug. Doch selbst Sklaven der tausendsten Generation mögen mit Herzen geboren werden, die hell genug leuchten, um zu hoffen, und finster genug sind, um zu tun, was getan werden muss. Selbst ein Sklave mag
sich aus dem Staub erheben, seinen Blick zu einem Messer schleifen und seinem Herrn sagen: »Du wirst mich niemals besitzen.« Zeugnis des Heiligen Anemlen am Hofe des Schwarzen Narren, kurz bevor er der Folter überantwortet wurde Präludium Die Geborene Königin Der Himmel riss auf, und Blitze stürzten zwischen den gezackten Rändern herab. Mit ihnen kam schwarzer Hagel, der nach Rauch, Kupfer und Schwefel schmeckte. Mit ihnen kam ein Geheul wie ein Höllensturm. Carsek richtete sich auf. Er presste die Hand gegen den blutigen Verband und hoffte, dass er seine Eingeweide an ihrem Platz halten würde, bis er das Ende dieser Geschichte erlebte, auf die eine oder andere Weise. »Sie muss bald den Befehl zum Angriff geben«, knurrte er und stemmte sich mithilfe seines Speerschafts auf die Beine. Eine Hand riss an Carseks Knöchel. »Bleib unten, du Narr, wenn du bis zum Angriff am Leben bleiben willst.« Carsek sah seinen Gefährten an, einen Mann in zerrissenem Kettenhemd und ohne Helm. Blaue Augen flehten durch den verfilzten Wust seines nassen, schwarzen Haares. »Duck du dich ruhig, Thaniel«, brummte Carsek. »Ich habe mich lange genug geduckt. Vierzehn Tage hocken wir jetzt schon in diesen Rattenlöchern, schlafen in unserer eigenen Scheiße, in unserem eigenen Blut. Hörst du das nicht? Da vorn wird gekämpft, und das werde ich mir ansehen, jawohl, das werde ich.« Er spähte durch den peitschenden Regen und versuchte zu erkennen, was sich dort abspielte. »Du wirst sehen, wie der Tod dir zur Begrüßung zuwinkt«, meinte Thaniel. »Das ist alles, was du sehen wirst. Unsere Zeit kommt noch früh genug.« »Ich habe es satt, in diesem Dreck auf dem Bauch zu kriechen. Ich bin dazu ausgebildet worden, auf meinen Füßen zu kämpfen. Ich will 11 einen Gegner, einen mit Blut, das ich vergießen, mit Knochen, die ich ihm brechen kann. Ich bin ein Krieger, bei Taranos! Man hat mir einen Krieg versprochen, nicht dieses Gemetzel, keine Wunden, die uns von Gespenstern zugefügt werden, die wir nie zu Gesicht bekommen, von Geisternadeln und eisernen Winden.« »Wünschen kannst du nach Herzenslust. Ich wünsche mir, dass ein dralles Mädchen, das Alis heißt oder Gunsthild oder Wie-kann-ich-Euch-erfreuen, auf meinem Schoß sitzt und mich mit Pflaumen füttert. Ich wünsche mir zehn Krüge Bier. Ich wünsche mir ein Bett mit Schwanendaunen. Und trotzdem stecke ich immer noch hier im Schlamm, mit dir. Was nützt dir dein Wünschen? Siehst du deinen Feind?« »Ich sehe rauchende Felder, die sich bis zum Horizont erstrecken, sogar in diesem Pissregen. Ich sehe diese Leichengräben, die wir uns selbst gegraben haben. Ich sehe die verdammte Festung, so groß wie ein Berg. Ich sehe -« Er sah eine Wand aus Schwärze, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit größer wurde. »Mordwind!«, brüllte er und warf sich wieder in den Graben. In seiner Hast landete er mit dem Gesicht im Schlamm, der nach Ammoniak und Wundbrand stank. »Was?«, fragte Thaniel, doch schon war die rauchig-graue Sonne über ihnen verschwunden und ein Geräusch wie von tausendmal tausend Klingen auf tausendmal tausend Schleifsteinen schabte an der Innenseite ihrer Schädel. Zwei Männer, die sich nicht rasch genug geduckt hatten, fielen geköpft in den Schlamm; Blut spritzte aus ihren Hälsen. »Wieder so eine verdammte Skasloi-Zauberei«, sagte Thaniel. »Ich hab's dir ja gesagt.« Carsek heulte vor Wut und Hilflosigkeit. Thaniel packte ihn am Arm. »Halt durch, Carsek. Warte. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern. Wenn sie kommt, wird die Magie der Skasloi wie leere Luft sein.« »Sagst du. Ich habe noch keine Beweise dafür gesehen.« »Sie hat die Macht.« Carsek schob Thaniels Hand von seiner Schulter. »Du bist einer 12 der ihren, ein Geborener. Sie ist deine Königin, deine Zauberin. Natürlich glaubst du an sie.« »Oh, sicher«, erwiderte Thaniel. »Wir glauben alles, was man uns sagt, wir Geborenen. Wir sind nun mal so blöd. Aber du glaubst auch an sie, Carsek, sonst wärst du nicht hier.« »Sie hatte die richtigen Worte. Aber wo ist der Stahl? Deine Geborene Königin hat uns alle geradewegs in unseren Tod hineingeredet.« »Wäre der Tod nicht besser als die Sklaverei?« Carsek schmeckte Blut im Mund. Er spuckte aus und sah, dass sein Speichel schwarz war. »Siebenmal sieben Generationen meiner Väter haben als Sklaven der Skasloi-Herren gelebt und sind als ihre Sklaven gestorben«, höhnte er. »Ich weiß nicht mal all ihre Namen. Ihr Geborenen seid erst seit zwanzig Jahren hier. Die meisten von euch wurden woanders geboren, ohne die Peitsche, ohne die Herren. Was wisst ihr schon von Sklaverei? Du oder deine rothaarige Hexe.« Einen Augenblick lang sagte Thaniel nichts, und als er schließlich sprach, war von seinem üblichen spöttischen Tonfall nichts zu bemerken. »Carsek, ich kenne dich noch nicht lange, aber wir haben zusammen die VhomarRiesen an der Furt des Schweigens niedergemacht. Wir haben so viele getötet, dass wir eine Brücke aus ihren Leichen gebaut haben. Du und ich, wir sind über die Gorgonen-Ebene marschiert, wo ein Viertel unserer
Kompanie zu Staub zerfallen ist. Ich habe dich kämpfen sehen. Ich kenne deine Leidenschaft. Du kannst mich nicht täuschen. Dein Volk lebt schon länger in der Sklaverei, ja, aber es ist dasselbe - Sklave ist Sklave. Und wir werden siegen, Carsek, du rothändiges Ungeheuer. Also trink das und sei froh, dass wir überhaupt so weit gekommen sind.« Er reichte Carsek eine Feldflasche. Darin war etwas, das wie Feuer schmeckte, aber die Schmerzen linderte. »Danke«, sagte Carsek und gab die Flasche zurück. Er zögerte, dann fuhr er fort: »Tut mir Leid. Es ist nur die verdammte Warterei. Wie damals in meinem Käfig, bevor die Herren mich zum Kampf rausgeschickt haben.« Thaniel nickte, nahm seinerseits einen Schluck aus der Feldflasche 13 und stöpselte sie wieder zu. Ganz in der Nähe kreischte Findos der Halbhändige, tief in seinem Fieber versunken, wie in irgendeinem Albtraum oder einer Erinnerung auf. »Ich habe mich übrigens schon immer über etwas gewundert, aber nie gefragt«, sagte Thaniel nachdenklich. »Wieso nennt ihr Vhiri Croatani uns eigentlich die Geborenen?« Carsek wischte sich mit dem Handrücken den Regen aus den Augen. »Seltsame Frage. So nennt ihr euch doch selbst, oder? Vhiri Genians. Und eure Königin, die Erstgeborene eures Volkes, heißt sie nicht Genia, >Die Geborene« Thaniel sah ihn blinzelnd an, dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Was ist denn daran so komisch?« Thaniel schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich. In eurer Sprache klingt es tatsächlich so. Aber eigentlich -« Er verstummte, denn unter den Männern hatte sich plötzlich Lärm erhoben, ein einstimmiger Ausruf der Furcht und des Entsetzens, der von der Front her zu ihnen weitergetragen wurde. Carsek stützte die Hand auf den Boden, um sich hochzustemmen, und stellte fest, dass der Schlamm sich merkwürdig warm anfühlte. Eine zähe, süßlich riechende Flüssigkeit rann zwei Fingerbreit hoch durch den Graben. »Bei allem, was heilig ist!«, fluchte Thaniel. Es war Blut, ein Strom aus Blut. Mit einem lauten Schrei kam Carsek wieder auf die Beine. »Das reicht! Genug!« Er schickte sich an, aus dem Graben zu klettern. »Halt, Krieger!«, befahl eine Stimme. Die Stimme einer Frau, und sie ließ ihn ebenso erstarren wie die Spektralpeitsche eines Herrn. Er drehte sich um und erblickte sie. Sie trug eine schwarze Rüstung, und ihr Gesicht darüber war weißer als gebleichte Gebeine. Ihr langes, kastanienbraunes Haar hing herab, durchnässt von dem stinkenden Regen, doch sie war schön, 14 wie keine irdische Frau es sein konnte. Ihre Augen funkelten wie Blitze im Herzen einer schwarzen Wolke. Hinter ihr standen ihre Recken, fast genauso gekleidet wie sie; ihre blanken Todesklingen glühten wie heißes Messing. Groß und furchtlos standen sie da. Sie sahen aus wie Götter. »Große Königin!«, stammelte Carsek. »Du bist bereit zu kämpfen, Krieger?«, fragte sie. »Das bin ich, Majestät. Bei Taranos, das bin ich!« »Wähle fünfzig Mann aus und folge mir.« Die Gräben weiter vorn waren voller Fleischfetzen; ein paar Stücken sah man noch an, dass sie menschlichen Ursprungs waren. Carsek versuchte, nicht auf das schmatzende Geräusch zu achten, das seine Füße verursachten; irgendwie war es anders, als durch gewöhnlichen Schlamm zu marschieren. Sein Versuch, den Gestank aufgerissener Gedärme und frischer Innereien zu ignorieren, war weniger erfolgreich. Was hatte sie getötet? Ein Dämon? Ein Zauberbann? Es kümmerte ihn nicht. Sie waren tot, er jedoch würde kämpfen, beim Zwilling und beim Bullen! Als sie im vordersten Graben Halt machten, anderthalbmal so tief, wie Carsek groß war, konnte er die schwarzen Mauern der Festung über sich aufragen sehen. Das also war es, was ihnen fast ein Monat und zweitausend oder mehr Opfer eingebracht hatten - ein Loch am Fuße der Festung. »Und jetzt nur noch ein rascher Fußmarsch zur Mauer, die nicht niedergerissen, und zum Tor, das nicht aufgebrochen werden kann«, bemerkte Thaniel. »Die Schlacht ist beinahe gewonnen.« »Wer ist jetzt der Zweifler? Dies ist eine Gelegenheit, Ruhm zu erwerben und im Stehen zu sterben«, sagte Carsek. »Das ist alles, was ich verlange.« »Ha«, wehrte Thaniel ab. »Ich für meinen Teil habe nicht vor, mich mit Ruhm zu bedecken, sondern einen zu trinken, wenn alles vorbei ist.« Er streckte die Hand aus. »Nimm meine Hand, Carsek. Lass uns ein Abkommen treffen - wir treffen uns zum Trinken, wenn es vorü15 ber ist. Über der Arena, wo du einst gekämpft hast. Und dort werden wir entscheiden, wer mehr Ruhm erworben hat. Und das werde ich sein.« Carsek ergriff Thaniels Hand. »Auf dem Platz des Herrn.« Die beiden Männer ballten die ineinander
verschlungenen Fäuste. »Also abgemacht«, sagte Thaniel. »Du wirst ein Versprechen nicht brechen, und ich auch nicht, also bleiben wir gewiss beide am Leben.« »Gewiss«, bekräftigte Carsek. Laufplanken wurden gebracht und angelegt, damit sie aus ihren eigenen Gräben klettern konnten. Dann bedachte Genia Dare, die Königin, sie alle mit einem wilden Lächeln. »Wenn die Sonne sinkt, sind wir alle frei oder alle tot«, verkündete sie. »Ich habe nicht vor zu sterben.« Damit zog sie ihre Todesklinge und wandte sich an Carsek. »Ich muss das Tor erreichen. Verstehst du? Bis das Tor fällt, sind fünftausend nicht besser als fünfzig, denn ich kann nicht mehr als zweimal zwanzig und zehn vor dem Schlachtzauber der Skasloi schützen, wenn sie uns mit ihren tödlichen Augen ansehen und wir nichts tun können, als in ihrem Blick auszuharren. Ist das Tor erst gesprengt, können wir hindurchstürmen, zu schnell, als dass sie uns niederstrecken könnten. Dies wird ein schwerer Angriff, meine Helden — aber kein Zauberbann wird euch berühren, das schwöre ich. Es sind nur Schwert und Schaft, Fleisch und Knochen, gegen die ihr antreten müsst.« »Fleisch und Knochen sind Gras, und ich bin eine Sichel«, erwiderte Carsek. »Ich bringe Euch zum Tor, Majestät.« »Dann geh und tu es.« Carsek spürte seine Wunden kaum noch. Sein Bauch war leicht und sein Kopf voller Feuer. Er war der Erste auf der Laufplanke, der Erste, dessen Füße die schwarze Erde betraten. Blitze zuckten auf ihn hernieder, Mordwinde gellten, doch diesmal teilten sie sich und rasten rechts und links an ihm, Thaniel und all ihren Männern vorbei. Er hörte Thaniel vor Freude johlen, als die tödlichen Zauber sie verfehlten, ohnmächtig wie der Geist eines Eunuchen. 16 Heulend stürmten sie über die rauchende Erde, und Carsek sah durch den roten Schleier der Wut, dass er endlich einen echten Feind vor dem Speer hatte. »Es sind Vhomar, Jungs!«, brüllte er. »Bloß Vhomar!« Thaniel lachte. »Und nur ein paar!« Ein paar, in der Tat. Ein paar Hundert standen in sechs Reihen vor dem Tor. Jeder von ihnen überragte den größten Mann in Carseks Truppe um Haupt und Schultern. Carsek hatte in der Arena gegen viele Vhomar gekämpft und sie dort respektiert, so wie es jedem würdigen Gegner gebührte. Jetzt hasste er sie, wie er sonst nichts Sterbliches hasste. Von allen Sklaven der Skasloi hatten nur die Vhomar sich dafür entschieden, Sklaven zu bleiben und gegen die zu kämpfen, die sich gegen die Herren erhoben hatten. Hundert Vhomar-Bogen surrten auf einmal, und schwarz gefiederte Schäfte summten und schlugen in den Reihen seiner Männer ein, sodass jeder Dritte von ihnen fiel. Eine zweite Salve schmolz im Regen und erreichte sie nicht, und dann war Carsek an der vordersten Reihe der Feinde angelangt, sah sich einer Mauer aus Riesen in eisernen Brustharnischen gegenüber und brüllte zu ihren tierischen, unmenschlichen Gesichtern hinauf. Der Augenblick dehnte sich träge und stumm in Carseks Verstand. Viel Zeit, um Kleinigkeiten zu bemerken, die Speere und die mit Metallstacheln besetzten Schilde, sogar die Maserung des Holzes, schwarzer Regen, der von den Augenbrauen der vor ihm aufragenden Kreatur tropfte, die Narbe auf ihrer Wange, ihre Augen, ein blaues und ein schwarzes, das Muttermal über dem schwarzen ... Die Geräusche setzten wieder ein wie ein Hammerschlag, als Carsek zu einer Finte ansetzte. Er tat, als wolle er dem Riesen seinen Speer ins Gesicht stoßen, duckte sich jedoch stattdessen unter den gewaltigen Schild, als dieser hochfuhr, und trieb seine Waffe unter die überlappenden Panzerplatten. Aus voller Kehle stieß er seinen Kriegsschrei aus, als Leder, Stoff und Fleisch zerrissen. Als der Krieger zusammenbrach, riss er an dem Speer, doch der Schaft brach ab. Carsek griff nach seiner Axt. Das Gedränge der Leiber wurde dich17 ter, als die Vhomar vorrückten und Carseks Männer, begierig darauf zu töten, von hinten gegen ihn krachten. Er erstickte fast in dem Schweißgestank, klemmte zwischen Schild und gepanzertem Bauch; es war kein Platz, um die Axt zu schwingen. Etwas schlug mit solcher Wucht gegen seinen Helm, dass er dröhnte, und dann wurde ihm die Stahlkappe vom Kopf gerissen. Dicke Finger krallten sich in Carseks Haar, und plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Er trat in der Luft um sich, als das Ungeheuer ihn an der Kopfhaut hochhob und ihm in die Augen starrte. Mit dem mächtigen Schwert, das er in der anderen Hand hielt, holte der Vhomar aus, um ihm den Kopf abzuschlagen. »Du verdammter Narr!«, schrie Carsek ihn an und zerschmetterte die Zähne des Riesen mit der Schneide seiner Axt, riss ihm dann mit dem nächsten Hieb den Hals auf. Brüllend ließ der Vhomar ihn fallen und versuchte, seinem verströmenden Lebensblut mit den Händen Einhalt zu gebieten. Carsek schnitt ihm die Kniesehnen durch und drängte weiter. Sie kämpften weiter blutig Mann gegen Mann, er wusste nicht, wie lange. Für jeden Vhomar, den Carsek tötete, tauchte stets ein neuer auf, wenn nicht gar zwei oder drei. Er hatte sogar vergessen, dass das Tor sein Ziel war,
als es plötzlich vor ihm aufragte. Durch das Gewühl sah er Todesklingen glitzern, erhaschte einen Blick auf kastanienbraunes Haar und Funken bleichen Viridians. Dann wurde er zurückgedrängt, bis das Tor wieder aus seinem Blickfeld und aus seinen Gedanken verschwand. Der Regen hörte auf, doch der Himmel verfinsterte sich noch mehr. Alles, was Carsek hören konnte, war sein eigener keuchender Atem; alles, was er sah, war Blut, war das Heben und Senken von Eisen, wie die Kronen von Meereswellen, die sich über ihm brachen. Er konnte den Arm kaum noch heben, um weiter zu töten, und von seinen fünfzig Männern waren jetzt noch acht übrig und bildeten zusammen mit ihm einen Kreis. Thaniel war unter ihnen. Und immer noch rückten die Riesen vor, eine Angriffswelle nach der anderen. Dann jedoch erhob sich ein Lärm, als schrien alle Götter auf ein18 mal. Eine neue Flut rauschte von hinten heran, eine Mauer aus brüllenden Männern; Hunderte strömten aus den Gräben, brachen in die Reihen ihrer Feinde ein, und zum ersten Mal blickte Carsek vom Tod auf und wurde Zeuge des Unmöglichen. Die gewaltigen Stahltore der Zitadelle hingen fast bis zur Unkenntlichkeit verbogen in ihren Angeln, und unter ihnen flammte weißes Licht. Die Schlacht tobte an ihnen vorbei, und als Carseks Beine nachgaben, fing Thaniel ihn auf. »Sie hat's geschafft«, stieß Carsek hervor. »Deine Geborene Hexe hat es geschafft!« »Ich hab doch gesagt, dass sie es schaffen würde«, erwiderte Thaniel. »Ich hab's dir doch gesagt.« Carsek war nicht dabei, als die innere Zitadelle fiel. Seine Wunden waren wieder aufgebrochen und mussten neu verbunden werden. Doch als die Wolken aufrissen und die sterbende Sonne am Horizont blutete, kam Thaniel, um ihn zu holen. »Sie will, dass du dabei bist«, sagte er. »Du hast es verdient.« »Das haben wir alle«, brachte Carsek hervor. Gestützt von Thaniel, erklomm er die blutverschmierten Stufen des mächtigen Mittelturms und dachte daran, wie er sie das letzte Mal hinaufgestiegen war, in Ketten, auf dem Weg in die Arena, um zu kämpfen. Wie die vergoldeten Balustraden und die seltsamen Statuen im Skasloi-Hexenlicht geschimmert hatten! Es war wunderschön und schrecklich zugleich gewesen. Selbst jetzt, zerschmettert und geschwärzt, weckte der Turm immer noch Furcht. Furcht aus der Kindheit und noch fernerer Vergangenheit, vor der Macht des Herrn und der Peitsche, die man nicht sehen konnte, die jedoch bis in die Seele hinein brannte. Selbst jetzt schien es, als müsse dies alles ein Trick sein, ein weiteres ausgeklügeltes Spiel, eine neue Methode der Herren, sich an den Schmerzen und der Hoffnungslosigkeit ihrer Sklaven zu weiden. Doch als sie die Große Halle erreichten und Carsek Genia Dare er19 blickte, die ihren Stiefel auf die Kehle des Herrn gesetzt hatte, wusste er tief in seinem Innern, dass sie gewonnen hatten. Der Skasloi-Lord war noch immer in Schatten gehüllt. Carsek hatte sein Gesicht nie gesehen, und er sah es auch jetzt nicht. Doch er erkannte das Gelächter des Herrn, als es unter dem Fuß der Königin hervordrang. So lange er lebte, würde Carsek dieses spöttische, gespenstische Sterbenslachen niemals vergessen. Genia Dares Stimme übertönte das Gelächter. »Wir haben Eure Festung aufgebrochen, Eure Streitkräfte und Armeen in alle Winde zerstreut, und jetzt werdet Ihr sterben«, verkündete sie. »Wenn Euch das belustigt, hättet Ihr sehr viel einfacher Grund zum Lachen finden können. Wir hätten Euch mit Freuden schon vor langer Zeit getötet.« Der Herr hörte auf zu lachen. Er sprach Worte wie Spinnen, die aus dem Mund eines Leichnams hervorkriechen, zart, tödlich. Ein Laut, der einen unvermutet überfällt und einem das Herz in die Kehle springen lässt. »Ich bin belustigt«, sagte er, »weil ihr glaubt, ihr hättet etwas gewonnen. Ihr habt nichts als Verfall gewonnen. Ihr habt die Macht der Sedos angewendet, törichte Kinder. Dachtet ihr, wir hätten nichts über die Sedos gewusst? Ihr Narren. Wir hatten gute Gründe, die Pfade ihrer grausamen Macht zu meiden. Ihr habt euch selbst verflucht. Ihr habt die Generationen verflucht, die euch folgen werden. Am Schluss wird das Ende meiner Welt sauberer gewesen sein als das Ende der euren. Ihr habt keine Ahnung, was ihr getan habt.« Die Geborene Königin spuckte ihn an. »Das für Euren Fluch!« »Es ist nicht mein Fluch, Sklavin«, entgegnete der Herr. »Es ist euer eigener.« »Wir sind nicht Eure Sklaven.« »Ihr wurdet als Sklaven geboren. Ihr werdet als Sklaven sterben. Ihr habt lediglich einen neuen Herrn heraufbeschworen. Die Töchter eures Samens werden sich dem gegenübersehen, was ihr geschaffen habt, und es wird sie auslöschen.« 20 Zwischen einem Wimpernschlag und dem nächsten zuckte ein Blitz wie von einem Hitzegewitter hinter Carseks Augen auf, und dann sah er. Er sah grüne Wälder zu fauliger Ödnis verrotten, eine giftige Sonne in einer unfruchtbaren See versinken. Er schritt durch Schlösser und Städte, deren Boden mit einem Teppich aus menschlichen Gebeinen bedeckt war, fühlte die Knochen unter seinen Sohlen zerbröckeln. Und über all dem sah
er die Geborene Königin stehen, Genia Dare, und sie lachte, als bereite es ihr Freude. Dann war es vorüber, und er kauerte am Boden wie fast alle anderen im Saal, die sich stöhnend und schluchzend die Köpfe hielten. Nur die Königin stand noch aufrecht; weißes Feuer troff von ihren Händen. Der Herr war verstummt. »Wir fürchten Euren Fluch nicht!«, rief Genia. »Wir sind nicht länger Eure Sklaven. In uns ist keine Furcht. Eure Welt, Eure Flüche, Eure Macht, all das ist jetzt dahin. Jetzt ist es unsere Welt, eine menschliche Welt.« Als Antwort zuckte der Herr nur. Er sprach nicht wieder. »Einen langsamen Tod für ihn«, hörte Carsek die Königin mit leiser Stimme sagen. »Einen sehr, sehr langsamen Tod.« Und für Carsek war es damit zu Ende. Sie brachten den Herrn fort, und er sah ihn nie wieder. Die Geborene Königin drehte sich um, das Kinn in die Höhe gereckt, und betrachtete sie alle. Carsek fühlte, wie ihr Blick einen Moment lang den seinen berührte. Wieder fühlte er ein Aufblitzen, wie eine Flamme, und beinahe wäre er vor ihr auf die Knie gefallen. Doch er würde nie wieder niederknien, vor niemandem. »Heute beginnen wir, die Tage und Jahreszeiten neu zu zählen«, verkündete sie. »Heute ist der Tag der Tapferen; es ist der Vhasris Slanon! Von diesem Augenblick, diesem Tag, diesem Monat, dieser Jahreszeit und diesem Jahr an zählen wir in unserer eigenen Zeitrechnung!« Trotz aller Wunden und aller Erschöpfung war das Geschrei, das die Halle erfüllte, beinahe ohrenbetäubend. 21 Carsek und Thaniel gingen wieder hinunter, wo das Fest gerade begann. Was ihn betraf, so wollte Carsek nur schlafen, vergessen und nie wieder träumen. Doch Thaniel erinnerte ihn an ihre Abmachung. Und so kam es, dass sie Thaniels Branntwein tranken, während ihre Wunden verkrusteten, und dass Carsek auf einem Thron aus Sardonyx saß und auf die Arena hinabblickte, wo er so viele Mitsklaven im Kampf getötet hatte. »Ich habe hundert Mann getötet, vor dem Tor«, brüstete sich Thaniel. »Ich hundertfünf«, hielt Carsek dagegen. »Du kannst gar nicht bis hundertfünf zählen«, entgegnete Thaniel. »Kann ich doch. So viele Male hab ich's mit deiner Schwester getrieben.« »Nun ja«, meinte Thaniel bedächtig. »Dann muss meine Schwester für dich gezählt haben. Ich weiß, dass ich nach zwei Händen und zwei Füßen anfangen musste, für deine Mutter zu zählen.« Daraufhin hielten beide Männer inne. »Wir sind richtige Spaßvögel, nicht wahr?«, knurrte Carsek. »Wir sind Männer«, erwiderte Thaniel um einiges nüchterner. »Und am Leben und frei. Und das ist genug.« Er kratzte sich am Kopf. »Das Letzte, was sie gesagt hat, habe ich nicht verstanden. Diesen Namen, nach dem wir die Jahre zählen sollen.« »Sie erweist uns große Ehre«, erklärte Carsek. »Der Name stammt aus der alten Sprache der Vhiri Croatani, der Sprache meiner Väter. Vbasris heißt Dämmerung. Slanon heißt... hmm, ich glaube, ich weiß nicht, welches Wort ihr dafür benutzt.« »Dann versuch's mit mehreren.« »Es heißt schön, und heil, und gesund. Wie ein neugeborenes Kind, vollkommen, ohne Makel.« »Du hörst dich an wie ein Dichter, Carsek.« Carsek fühlte, wie sein Gesicht rot anlief. Um das Thema zu wechseln, zeigte er auf die Arena. »Von hier oben habe ich sie noch nie gesehen«, brummte er. »Sieht sie anders aus?« 22 »Ganz anders. Kleiner. Ich glaube, das gefällt mir.« »Wir haben es geschafft, Carsek«, seufzte Thaniel. »Wie die Königin gesagt hat, die Welt gehört jetzt uns. Was sollen wir damit anfangen?« »Das wissen die Götter allein. Ich habe nie darüber nachgedacht.« Ein plötzlicher Schmerz in seinem Bauch ließ ihn zusammenzucken. »Carsek?«, fragte Thaniel besorgt. »Wird schon wieder.« Carsek trank einen weiteren Schluck von dem flüssigen Feuer. »Sag mal«, fuhr er fort, »wo wir gerade beim Sprachunterricht sind: Was hast du vorhin gesagt, da hinten im Graben? Dass deine Leute gar nicht die Geborenen sind?« Thaniel lachte leise. »Ich dachte immer, ihr nennt uns so, weil wir erst vor kurzer Zeit in dieses Land gekommen sind, weil wir die Letzten waren, die die Skasloi zu Sklaven gemacht haben. Aber ihr habt uns ganz einfach missverstanden.« »Du drückst dich nicht besonders klar aus«, knurrte Carsek. »Ich liege vielleicht im Sterben. Solltest du dich da nicht klar ausdrücken?« »Du stirbst nicht, du Stinktier, aber ich werde trotzdem versuchen, mich klar auszudrücken. Als mein Volk hierher kam, dachten wir zuerst, wir wären an einem Ort namens Virginia. Im alten Land war er nach einer Königin benannt worden, glaube ich. Ich weiß es nicht, ich bin hier zur Welt gekommen. Aber unsere Königin
ist auch nach ihr benannt - Virginia Elizabeth Dare, so lautet ihr richtiger Name. Als wir Virginia gesagt haben, habt ihr blöden Croatani gedacht, wir würden eure Sprache sprechen und uns Vhiri Genian nennen - die Geborenen. Siehst du, es war ein Missverständnis.« »Oh«, sagte Carsek, und dann brach er zusammen. Als er vier Tage später erwachte, war er froh, dass er zumindest nicht geträumt hatte. Dies war der vierte Tag der Epoche, die als Eheron Vhasris Slanon bekannt ist. 23 Prolog n dem Tag, an dem die letzte Skasloi-Festung fiel, begann das Zeitalter, das in der Sprache der älteren Cavarum als Eberon Vhasris Slanon bekannt war. Als die Sprache selbst, außer bei ein paar zurückgezogen lebenden Gelehrten der Kirche, in Vergessenheit geriet, blieb der Name jener Zeit als Everon in den Sprachen der Menschen erhalten, genau wie Slanon in seiner lierischen Form Eslen weiter als Name für den Ort des Sieges selbst verwendet wurde. Everon war ein Zeitalter der Menschen in all ihrer Glorie und all ihrer Schwäche. Die Kinder der Rebellion vermehrten sich und überzogen das Land mit ihren Königreichen. Im fahre 2223 E. fand das Zeitalter Everon ein jähes und schreckliches Ende. Es mag sein, dass ich der Letzte bin, der sich daran erinnert. Anonymus, Der Kodex Tereminnam Im Monat Etramen, im Jahre 2215 von Everon, kauerten zwei kleine Mädchen im dunklen Gewirr eines Heiligen Gartens in der Stadt der Toten und beteten darum, nicht entdeckt zu werden. Anne, die mit acht Jahren die Altere war, spähte vorsichtig durch die dicht miteinander verwobenen Zweige und Ranken, die sie umgaben. »Ist es wirklich ein Scaos?«, wollte Austra, die Jüngere, wissen. »Psst!«, flüsterte Anne. »Ja, es ist ein Scaos, und ein ungeheuerlicher noch dazu, also bleib unten, sonst sieht er dein Haar. Es ist zu gelb.« A 25 »Deins ist zu rot«, entgegnete Austra. »Fastia sagt, das ist Rost, weil du deinen Kopf nicht oft genug benutzt.« »Ich pfeife auf Fastia. Sei leise und geh da entlang.« »Da ist es aber dunkler.« »Ich weiß. Aber er darf uns nicht sehen. Er wird uns umbringen, aber nicht sofort. Er wird uns auffressen, Stückchen für Stückchen. Aber er ist zu groß, um uns bis nach dahinten zu folgen.« »Er könnte eine Axt nehmen oder ein Schwert und die Äste abschlagen.« »Nein«, widersprach Anne. »Hast du denn überhaupt keine Ahnung? Das hier ist ein Horz, nicht einfach nur irgendein alter Garten. Deswegen wuchert hier auch alles so wild. Niemand darf hier etwas abschneiden, nicht mal er. Wenn er es doch tut, verfluchen die heilige Fessa und der heilige Sehfan ihn.« »Werden sie uns nicht auch verfluchen, weil wir uns hier verstecken?« »Wir schneiden ja nichts ab«, wandte Anne durchaus vernünftig ein. »Wir verstecken uns bloß. Und wenn der Scaos uns zu fassen kriegt, sind wir doch viel schlimmer dran, als wenn wir verflucht werden, oder? Dann sind wir tot.« »Du machst mir Angst!« »Gerade habe ich gesehen, wie er sich bewegt hat!«, quiekte Anne. »Er ist gleich da drüben! Bei den Heiligen und wenn dir etwas an deinem Leben liegt, geh schon!« Austra stöhnte auf und taumelte vorwärts; sie stolperte über die verschlungenen Wurzeln alter Eichen, drängte sich durch Dornengestrüpp, Nachtkerzen und wilde Weinranken, die so alt waren, dass sie dicker waren als Annes Beine. Graugrünliches Licht war alles, was die Schichten aus Blättern und Zweigen von der hellen Sonne durchließen. Dort draußen, in den breiten, bleigepflasterten Straßen der Stadt der Geister, war es Mittag. Hier herrschte Dämmerung. Sie kamen auf eine kleine Lichtung, wo nichts wuchs, obwohl sich das Grün darüber wölbte, als hätten die Phay hier ein kleines Gemach gebaut, und dort kauerten sie sich einen Augenblick zusammen. 26 »Er ist immer noch hinter uns her«, keuchte Anne. »Hörst du?« »Ja. Was sollen wir tun?« »Wir-« Sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Etwas knackte, ein Geräusch wie von einem zerbrechenden Teller, und dann glitten sie in den offenen Schlund der Erde hinein. Mit einem Plumps landeten sie auf einem harten Steinboden. Mehrere Augenblicke lang lag Anne auf dem Rücken, blinzelte zu dem trüben Licht über ihnen empor und spuckte Staub aus. Austra atmete schnell und gab merkwürdige kleine Laute von sich. »Hast du dir wehgetan?«, fragte Anne das andere Mädchen. Austra schüttelte den Kopf. »Nein. Aber was ist passiert? Wo sind wir?« Dann wurden ihre Augen riesengroß. »Wir sind begraben! Die Toten haben uns geholt!«
»Nein«, beschwichtigte Anne, deren eigene Angst langsam nachließ. »Nein, sieh doch, wir sind nur in eine alte Gruft gefallen. Eine sehr alte, weil der Horz schon seit vierhundert Jahren hier steht, und das hier liegt darunter.« Sie deutete auf das Licht, das denselben Abhang aus Erde herabfiel, den sie hinuntergerutscht waren. »Der Boden war hier bestimmt ganz dünn. Aber wir können wieder raus, siehst du?« »Dann lass uns verschwinden«, drängte Austra. »Schnell.« Anne warf ihre roten Locken zurück. »Schauen wir uns erst mal ein bisschen um. Ich wette, hier war seit tausend Jahren niemand mehr.« »Ich glaube nicht, dass das eine Gruft ist«, sagte Austra. »Grüfte sehen doch aus wie Häuser, aber dies hier nicht.« »Vielleicht haben die Häuser vor tausend Jahren so ausgesehen«, wandte Anne ein. »Vielleicht ist das eine Scaosen-Gruft!«, stieß Austra hervor. »Vielleicht ist es seine« »Die hatten keine Grüfte«, entgegnete Anne. »Sie haben geglaubt, sie wären unsterblich. Komm schon, ich will mir das da mal ansehen.« »Was ist das?« 27 Anne erhob sich und ging zu einem steinernen Kasten hinüber. Der Kasten war länger, als er breit oder hoch war. »Ich glaube, das ist ein Sarkophag«, sagte sie. »Nicht so verziert wie die, die wir heute benutzen, aber er hat die gleiche Form.« »Du meinst, da ist ein Toter drin?« »Mm-hm.« Sie fuhr mit der Hand über den Deckel und fühlte Kerben im Stein. »Hier steht irgendwas geschrieben.« »Was denn?« »Es sind nur Buchstaben, V, I, D, A. Das ergibt kein Wort.« »Vielleicht ist es eine andere Sprache.« »Oder eine Abkürzung. V-« Sie hielt inne, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. »Austra! Virgenya Dare! V-I für Virgenya und D-A für Dare.« »Das kann nicht stimmen«, meinte Austra. »Doch«, flüsterte Anne. »Es muss so sein. Schau doch, wie alt diese Gruft ist. Virgenya Dare war die Erstgeborene meiner Familie. Das muss sie sein.« »Ich dachte, deine Familie regiert Crothenien erst seit hundert Jahren?«, sagte Austra. »Stimmt«, gab Anne zu. »Aber sie könnte ja hergekommen sein, während der Zeit der ersten Königreiche. Niemand weiß, wo sie nach dem Krieg hingegangen ist oder wo sie begraben liegt. Das ist sie. Ich weiß es irgendwie. Sie muss es sein. Hilf mir mal, den Deckel abzunehmen, damit ich sie sehen kann.« »Anne! Nein!« »Komm schon, Austra. Sie ist meine Ahnin, sie hat bestimmt nichts dagegen.« Anne zerrte an dem Deckel, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Als sie die widerstrebende Austra endlich überredet hatte, ihr zu helfen, bewegte sich der Deckel anfangs immer noch nicht. Doch als die beiden Mädchen sich mit aller Kraft dagegen stemmten, verrutschte die schwere Steinplatte einen Fingerbreit. »Ja! Er bewegt sich!« Doch sosehr sie sich auch bemühten, sie konnten ihn nicht weiter zur Seite schieben. 28 Anne versuchte, in den Spalt zu spähen. Sie konnte nichts sehen, doch es roch merkwürdig da drin. Nicht schlecht, nur seltsam, wie unter einem Bett, wo schon sehr lange nicht mehr sauber gemacht worden war. »Lady Virgenya?«, flüsterte sie in den Kasten und hörte, wie ihre Stimme im Innern summte. »Ich heiße Anne. Mein Vater ist William, der König von Crothenien. Ich bin sehr erfreut, Euch kennen zu lernen.« Es kam keine Antwort, doch Anne war sich sicher, dass der Geist sie gehört hatte. Nachdem sie so lange geschlafen hatte, brauchte sie wahrscheinlich eine Weile, um aufzuwachen. »Ich bringe Kerzen, die ich für Euch anzünden werde«, versprach sie. »Und Geschenke.« »Lass uns gehen«, flehte Austra. »Ja, schon gut«, gab Anne nach. »Mutter oder Fastia wird uns sowieso bald vermissen.« »Verstecken wir uns immer noch vor dem Scaos?« »Nein, auf das Spiel habe ich keine Lust mehr«, erwiderte Anne. »Das hier ist besser. Das hier ist echt. Und es ist unser Geheimnis. Ich will nicht, dass jemand anders die Gruft findet. Deshalb müssen wir hier weg, sofort, ehe sie hier nach uns suchen. Fastia ist vielleicht klein genug, sich bis hierher durchzuquetschen.« »Wieso muss es denn ein Geheimnis sein?« »Muss es eben. Komm.« Es gelang ihnen, aus dem Loch zu klettern und durch das dichte Unterholz zu kriechen, bis sie schließlich an der verfallenen Steinmauer herauskamen, die den Horz umgab. Dort stand Fastia, mit dem Rücken zu ihnen; ihr langes braunes Haar wallte über ihr grünes Kleid. Sie drehte sich um, als sie sie kommen hörte. »Wo wart -« Sie verstummte und stieß ein empörtes Lachen hervor. »Oh! Jetzt schau sich einer euch beide an. Völlig verdreckt! Was im Namen der Heiligen habt ihr denn angestellt?« »Tut uns Leid«, sagte Anne. »Wir haben bloß gespielt, dass ein Scaos hinter uns her war.«
»Du wirst dir wünschen, dass es nur ein Scaos wäre, wenn Mutter 29 dich zu Gesicht bekommt. Anne, überall um uns herum ruhen unsere würdigen Vorfahren. Wir sollen Tante Fiene ehren, ihren Leichnam dem Haus des Jenseits übergeben. Das ist eine sehr feierliche Angelegenheit, und du sollst dabei sein und nicht im Horz spielen.« »Wir haben uns gelangweilt«, begehrte Anne auf. »Tante Fiene macht das bestimmt nichts aus.« »Wegen Tante Fiene brauchst du dir keine Sorgen zu machen, sondern wegen Mutter und Vater.« Fastia wischte an dem Schmutz auf Annes weißem Kleid herum. »Und wir kriegen dich auch nicht mehr sauber«, klagte sie. »Jedenfalls nicht, bevor Mutter das sieht.« »Du hast doch früher auch hier gespielt«, wandte Anne ein. »Das hast du mir erzählt.« »Vielleicht«, erwiderte ihre große Schwester, »aber ich bin jetzt fünfzehn und werde bald vermählt. Ich darf nicht mehr spielen. Und ich darf euch auch nicht spielen lassen, zumindest nicht jetzt. Ich sollte auf euch aufpassen. Jetzt bekomme ich euretwegen Ärger.« »Es tut uns Leid, Fastia.« Ihre große Schwester lächelte und strich ihr dunkles Haar zurück, das dem ihrer Mutter so ähnlich war, so ganz anders als Annes roter Schopf. »Schon gut, Schwesterchen. Diesmal nehme ich es auf meine Kappe. Aber wenn ich verheiratet bin, bin ich für euch Kleine verantwortlich, also gewöhne dich lieber daran, auf mich zu hören. Üb schon mal. Versuch, wenigstens jedes zweite Mal zu gehorchen, ja? Du auch, Austra.« »Ja, Erzgrefftin«, murmelte Austra und knickste. »Danke, Fastia«, fügte Anne hinzu. Einen Moment lang hätte sie ihrer Schwester beinahe erzählt, was sie gefunden hatten. Doch sie tat es nicht. Fastia war in letzter Zeit seltsam geworden. Ernster, nicht mehr so lustig. Erwachsener. Anne liebte sie, doch sie war sich nicht mehr sicher, ob sie ihr vertrauen konnte. Als sie an diesem Abend nach der Schelte in ihrem breiten Federbett lagen und die Kerzen gelöscht worden waren, kniff Anne Austra in den Arm. Nicht so fest, dass es wehtat, aber immerhin fast. »Au!«, empörte sich Austra. »Was soll das denn?« 30 »Wenn du jemals irgendwem erzählst, was wir heute gefunden haben«, warnte Anne, »dann kneife ich dich noch viel fester!« »Ich hab doch gesagt, ich erzähl's niemandem.« »Schwöre es. Schwöre es bei deiner Mutter und deinem Vater.« Austra schwieg einen Moment. »Sie sind tot«, flüsterte sie. »Umso besser. Die Toten hören Versprechen besser als die Lebenden, sagt mein Vater immer.« »Zwing mich nicht dazu«, flehte Austra. Sie klang traurig, fast als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Schon gut«, lenkte Anne ein. »Es tut mir Leid. Morgen denke ich mir etwas anderes aus, worauf du schwören kannst. Abgemacht?« »Abgemacht«, sagte Austra. »Gute Nacht, Austra. Möge die Schwarze Mary sich fern halten.« »Gute Nacht«, erwiderte Austra. Und bald zeigte ihr ruhiges Atmen, dass sie eingeschlafen war. Anne jedoch konnte nicht schlafen. Ihr Kopf füllte sich mit Geschichten, heldenhaften Mären vom großen Krieg mit den Scaosen, von Dämonen und von Virgenya Dare. Und sie dachte an jenen dunklen Spalt unter dem Sargdeckel, an den schwachen Seufzer, den sie ganz sicher gehört zu haben glaubte. Sie hütete ihr Geheimnis, ihren Schatz, und glitt schließlich lächelnd hinüber in einen Traum voller dunkler Felder und düsterer Wälder. Teil 1 Der Gryffin Im Jahre 2223 von Everon Im Monat Terthmen Oh, was hat eines Löwen Gestalt Doch des Adlers stolzes Gesicht? Und wessen Blut hat Giftgewalt? An wessen Aug' jedes Leben zerbricht? aus einem ostcrothenischen Rätsellied Das Königliche Blut wird strömen wie ein Fluss. So ertrinkt die Welt. Übersetzung aus den Tafles Taceis, oder dem Buch des Raunens 1. Kapitel Der Waldhüter Aspar White roch Mord. Mord roch wie eine Hand voll Herbstblätter, vom ersten Frost gekräuselt und in seiner Handfläche zerdrückt. Schmutz-Jesp, die Sefry-Frau, die ihn aufgezogen hatte, hatte ihm einmal erzählt, seine seltsamen Fähigkeiten kämen daher, dass er von einer sterbenden Mutter unter dem Galgen geboren worden sei, wo der Wüterich sich seine Opfer holte. Doch Schmutz-Jesp hatte sich mit Lügen durchgebracht, und es war ohnehin nicht wichtig. Alles, worauf es Aspar ankam, war, dass seine Nase für gewöhnlich Recht hatte. Irgendjemand war im Begriff, jemand anderen umzubringen oder es zumindest zu versuchen. Aspar war eben erst nach einer harten Woche in den Walham-Vorgebirgen in das Wirtshaus Zur Sauzitze eingekehrt. Seine Muskeln brannten vor Erschöpfung, und seit Tagen hatte er von der honigdunklen, süßen Kühle eines Kruges Dunkelbier geträumt. Er hatte gerade ein einziges Mal daran genippt, hatte es einen Augenblick auf der Zunge tanzen, seine Lippen sacht von dem Schaum küssen lassen, als der Geruch heranwehte
und alles verdarb. Mit einem Seufzer stellte er den groben, irdenen Krug auf die zerschrammte Eichenplatte seines Tisches und sah sich in dem düsteren, überfüllten Schankraum um. Dabei stahl sich seine Hand an den geglätteten Knochengriff seines Dolches, und er fragte sich, wo der Tod wohl herkam und wo er hinwollte. Er sah nur die üblichen Gäste - hauptsächlich Köhler, die Gesichter geschwärzt von ihrem Handwerk, die lachten und scherzten, während sie sich den Rußgeschmack von den Zungen spülten. Dichter bei 35 der Tür, die offen stand, um die Abendluft hereinzulassen, gestikulierte Loth, der Sohn des Müllers, in seinem sauberen, mit Spitzen besetzten Hemd heftig mit seinem Bierkrug, und seine Freunde johlten, als er ihn in einem einzigen langen Zug leerte. Vier Kaufleute aus Hornladh, in karierten Wämsern und roten Beinkleidern, standen neben dem Kamin, wo ein Keiler am Spieß briet und das Fett zischend auf die Kohlen tropfte. Um sie herum drängte sich eine Schar junger Burschen, deren hingerissene Gesichter im Feuerschein rötlich schimmerten, und bettelte um Geschichten aus der weiten Welt jenseits ihres winzigen Dorfes Colbaely. Nichts sah danach aus, dass es gleich Streit geben würde. Aspar griff wieder nach seinem Krug. Vielleicht war heute irgendetwas mit dem Bier nicht in Ordnung. Doch dann sah er, von wo der Mord kam. Er kam durch die offene Tür herein, begleitet vom ersten zögernden Trillern der Ziegenmelker und einem schwachen, feuchten Geruch nach Regen. Es war nur ein Knabe, vielleicht fünfzehn Jahre alt. Nicht aus Colbaely, das wusste Aspar genau, und wahrscheinlich nicht einmal aus der Grefftschaft Holtmarb. Der Neuankömmling ließ einen hastigen, verzweifelten Blick durch den Raum huschen und versuchte blinzelnd, seine Augen an das trübe Licht zu gewöhnen. Ganz offensichtlich suchte er jemanden. Dann erblickte er Aspar, allein an seinem Tisch, und taumelte auf ihn zu. Der junge Bursche trug Hosen aus gegerbtem Hirschleder und ein Hemd aus selbst gesponnenem Leinen, das schon bessere Tage gesehen hatte. Sein Haar war verfilzt, schlammverklebt und voller Blätter. Aspar sah, wie sein Adamsapfel krampfhaft hüpfte, als er ein ziemlich großes Schwert aus einer Scheide auf seinem Rücken zog und seine Schritte beschleunigte. Der Waldhüter trank noch einen Schluck von seinem Bier und seufzte. Es schmeckte noch schlechter als vorher. In der plötzlichen Stille schlurften die Schuhe des Jungen laut über die Steinfliesen. »'r seid d'r Waldhüter«, sagte er mit schwerem almanischem Akzent. »D'r Mann d's Koniges.« 36 »Ich bin der Waldhüter des Königs«, bestätigte Aspar. »Das ist leicht zu erkennen, ich trage seine Farben. Ich bin Aspar White. Und Ihr seid ... ?« »'ch bin d'r Mann, d'r 'ch toten wird«, verkündete der Junge. Aspar hob den Kopf ein wenig, sodass er den Burschen mit einem Auge ansah. Dieser hielt das Schwert ungeschickt umklammert. »Warum?«, fragte er. »'r wisst genau, w'rum.« »Nein. Wenn ich es wüsste, hätte ich nicht gefragt.« »'r wisst's bei allen verdammten Heiligen sehr gut - 'r seid d'r Mann, d'r mein F'milie getötet hat -« »Sprich die Sprache des Königs, Junge!« »Grim soll d'n Konige holen!«, schrie der junge Bursche, »'s is' nicht sei« Wald!« »Nun, das musst du mit ihm ausmachen. Er glaubt, es ist seiner, weißt du, und er ist der König.« »D's werd 'ch auch. Gleich wenn 'ch's mit Euch ausgemacht hab. D's hier geht bis nach Eslen zurück, ehe 'ch fertig bin. Ab'r mit Euch fängt es an, Morderer.« Aspar seufzte erneut. Er hörte es in der Stimme des jungen Mannes, sah es in der Haltung seiner Schultern. Reden hatte keinen Sinn mehr. Rasch erhob er sich, trat an der Schwertspitze vorbei und schlug dem Jungen seinen Bierkrug an die Schläfe. Der gebrannte Ton zersprang, und der Bursche schrie auf, ließ seine Waffe fallen und presste die Hand gegen sein aufgeplatztes Ohr. Ruhig zog Aspar seinen langen Dolch, packte den Jungen am Kragen, zog ihn mit einer rauen, schwieligen Hand mühelos in die Höhe und drückte ihn grob auf die Bank, die gegenüber der seinen auf der anderen Seite des Tisches stand. Trotzig starrte der Junge ihn durch eine Maske aus Blut und Schmerz an. Die Hand, die er auf sein Ohr drückte, glänzte schwarz im trüben Licht. »Seht 'r?«, krächzte der junge Bursche, »'r alle seid Zeugen! 'r wird m'ch umbringen, so wie 'r meine F'milie getötet hat.« 37 »Junge, beruhige dich erst mal«, fuhr Aspar ihn an. Er hob das Schwert auf und legte es neben sich auf die Bank, sodass der Tisch zwischen der Waffe und dem Jungen war. Seinen eigenen Dolch hielt er griffbereit. »Armann, bring mir ein neues Bier.« »Ihr habt gerade einen von meinen Krügen zerschlagen!«, schrie der Wirt. Sein fast kreisrundes Gesicht war tiefrot angelaufen. »Her damit, sonst zerschlage ich noch was anderes.« Ein paar der Köhler lachten, und dann schlössen sich fast alle anderen an. Das Stimmengewirr setzte erneut ein. Aspar betrachtete den Jungen, während er auf sein Bier wartete. Die Finger des Burschen zitterten, und er vermochte den Blick nicht zu heben. Sein Mut schien ebenso aus ihm herauszuströmen wie sein Blut.
Das war oft so, dachte Aspar. Lass einen Mann ein bisschen zur Ader, und er ist gleich viel weniger heldenhaft. »Was ist mit deiner Familie passiert, Junge?« »Als ob 'r das nicht wüsst'!« »Willst du noch eine Schelle? Grim soll dich fressen, ich verprügle dich, bis du mit der Sprache herausrückst! Ich mag keine Drohungen, und ich mag es nicht, wenn man mich einen Mörder nennt, es sei denn, ich habe den Mord auch begangen. Und letzten Endes ist es mir egal, was mit einem Haufen Wildsiedler passiert ist - nur, wenn sich irgendetwas Schlimmes im Wald ereignet hat, dann ist es mein Beruf, darüber Bescheid zu wissen, verstehst du? Denn selbst wenn du mich nicht kümmerst, so kümmert mich doch der Wald und des Königs Gesetz. Also heraus damit!« »'ch habe nur - ich - sie sind tot!« Und plötzlich brach er in heftiges Schluchzen aus. Als die Tränen durch das Blut auf seinem Gesicht zum Kinn hinunterrannen, sah Aspar, dass auch fünfzehn noch zu hoch geschätzt gewesen war. Der Junge war wahrscheinlich nicht älter als dreizehn; er war nur groß für sein Alter. »Sceat auf all das«, knurrte er. »Aspar White!« 38 Er blickte auf und sah Winna Rufoote, die Wirtstochter, auf sich zumarschieren. Sie war noch nicht einmal halb so alt wie er, erst neunzehn, und hübsch dazu, mit ihrem ovalen Gesicht, den grünen Augen und dem hellen Flachshaar. Und willensstark. Ein Bündel Schwierigkeiten auf der Suche nach einer Bleibe. Aspar ging ihr nach Möglichkeit aus dem Weg. »Winna -« »Kommt mir ja nicht mit >Winna<. Ihr schlagt dem armen Bengel fast den Schädel ein - und zertrümmert einen unserer Krüge -, und jetzt sitzt Ihr einfach so da und wollt Bier trinken, während er hier alles voll blutet?« »Schau -« »Ich will nichts hören. Nicht von Euch, angeblich ein Mann des Königs. Zuerst helft Ihr mir, den Jungen in ein Zimmer zu schaffen, damit ich ihn waschen kann. Und dann macht Ihr Euer Zeichen auf eine von diesen königlichen Schuldmarken oder bezahlt gutes Kupfer für unseren Krug. Danach bekommt Ihr noch ein Bier, aber nicht eher.« »Wenn das hier nicht das einzige Wirtshaus im Ort wäre -« »Es ist aber das einzige, nicht wahr? Und wenn Ihr hier weiterhin willkommen sein wollt -« »Du weißt genau, dass du mich nicht hinauswerfen kannst.« »Nein. Einen Mann des Königs hinauswerfen? Gewiss kann ich das nicht. Aber Ihr würdet vielleicht bald feststellen, dass Euer Bier nach Pisse schmeckt, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn finster. Plötzlich wurden ihm die Knie ein wenig weich. In seinen fünfundzwanzig Jahren als Waldhüter hatte er es mit Bären, Löwen und mehr Gesetzlosen zu tun gehabt, als er zu zählen vermochte. Doch er hatte nie gelernt, sich einer schönen Frau gegenüber zu behaupten. »Er ist doch hier hereingekommen und wollte mich töten, der kleine Sceat«, wandte Aspar verlegen ein. »Und was ist daran merkwürdig? Ich war auch schon versucht, das zu tun.« Sie zog ein Tuch aus der Tasche und reichte es dem Jungen. »Wie heißt du?«, fragte sie. 39 »Uscaor«, murmelte der Angesprochene. »Uscaor Fraletson.« »Dein Ohr ist nur ein bisschen aufgeplatzt, Uscaor. Das wird schon wieder.« Aspar stieß langsam den Atem aus und erhob sich wieder. »Komm, Junge, richten wir dich ein wenig her. Damit du anständig aussiehst, wenn du kommst, um mich im Bett zu töten.« Doch als der Junge schwankend auf die Beine kam, roch Aspar erneut den Geruch des Todes, und zum ersten Mal fiel ihm die rechte Hand des Jungen auf. Sie war violett und schwarz angelaufen, und bei dem Anblick schoss ihm ein Kribbeln das Rückgrat hinauf. »Wie ist denn das passiert, Junge?«, wollte er wissen, »'ch weiß nicht«, erwiderte Uscaor leise, »'ch erinnere mich nicht.« »Komm, Uscaor«, sagte Winna. »Suchen wir dir ein Bett.« Stirnrunzelnd sah Aspar den beiden nach. Der Bursche hatte ihn wirklich töten wollen, obgleich er seinem Ziel nicht sehr nahe gekommen war. Aber diese Hand - vielleicht war es das, was seine Nase ihm die ganze Zeit zu sagen versucht hatte. Beunruhigt wartete er auf ein neues Bier. »Er schläft«, berichtete Winna Aspar einige Zeit später, nachdem sie eine Weile allein mit dem Jungen verbracht hatte. »Ich glaube, er hat seit zwei oder drei Tagen weder geschlafen noch gegessen. Und seine Hand - sie ist so geschwollen und so heiß. Ganz anders als jede Wunde, die ich je gesehen habe.« »Ja«, pflichtete Aspar ihr bei. »Ich habe so etwas auch noch nie gesehen. Vielleicht sollte ich sie ihm abhacken und sie zum Apotheker in Eslen bringen, damit er sie sich ansieht.« »Ihr könnt mich nicht zum Narren halten, Aspar. Außen seid Ihr rauer als eine Ulme, aber in Eurem Herzen ist weicheres Holz.« »Rede dir das bloß nicht ein, Winna. Hat er gesagt, warum er meinen Tod will?« »Genau das, was er auch Euch gesagt hat. Er glaubt, Ihr hättet seine Familie getötet.« »Und wieso glaubt er das?« 40 »He, Winna!«, schrie jemand von der anderen Seite des Schankraums. »Lass den Bären des Königs, komm her
und mach mich nass!« Der Rufer knallte einen leeren Krug auf die Tischplatte. »Mach's wie immer, Banf - mach dich selber nass. Du weißt ja, wo der Zapfhahn ist. Wie viel du schuldig bist, erkenne ich dann daran, wie viel dir wieder hochkommt.« Diese Worte wurden mit höhnischem Gelächter auf Kosten des Zechers bedacht, während Winna sich Aspar gegenübersetzte. »Er und seine Familie haben unten beim Taffbach ein Lager errichtet«, fuhr sie fort. »Ein paar Meilen von der Stelle entfernt, wo er in den Magierfluss mündet -« »Also Wildsiedler, genau wie ich's mir gedacht habe.« »Sie haben sich also ohne Erlaubnis im königlichen Wald angesiedelt. Das machen viele. Heißt das, dass sie den Tod verdienen?« »Ich habe sie nicht dafür getötet. Bei den Zähnen des Wüterichs! Ich habe sie überhaupt nicht getötet.« »Uscaor sagt, er hätte des Königs Farben an den Männern gesehen, die es getan haben.« »Nein. Ich weiß nicht, was er gesehen hat, aber das jedenfalls nicht. Keiner meiner Waldwarte ist weniger als dreißig Meilen von hier entfernt.« »Seid Ihr sicher?« »Verdammt sicher.« »Wer hat sie dann getötet?« »Ich weiß es nicht. Im Königswald ist viel Platz für alle möglichen gesetzlosen Gesellen. Aber ich werd's wohl herausfinden.« Er trank noch einen Schluck. »Beim Taffbach, hast du gesagt? Das sind ungefähr zwei Tagesreisen. Ich breche beim ersten Morgenlicht auf, also sag Paet, er soll meine Pferde bereithalten.« Er leerte den Bierkrug in einem einzigen langen Zug und erhob sich. »Auf bald.« »Wartet. Wollt Ihr denn nicht noch einmal mit dem Jungen reden?« »Wozu? Er kann sich nicht an das erinnern, was passiert ist. Wahrscheinlich hat er nicht einmal jemanden gesehen. Ich wette, das mit den Farben des Königs war eine Lüge.« 41 »Woher wollt Ihr das wissen?« »Merk dir meine Worte, Winna. Wildsiedler leben in Furcht vor dem Gesetz des Königs. Sie glauben alle, dass man sie hängen oder köpfen oder zur Strecke bringen wird, und sie halten mich für einen zweiköpfigen Uttin. Ich unternehme nichts gegen solche Geschichten; ich verbreite sie sogar selbst. Irgendjemand hat die Familie dieses Jungen umgebracht, und er hat nicht gesehen, wer es war. Er denkt, ich war es. Den Rest hat er erfunden, als er langsam angefangen hat, sich blöd vorzukommen.« »Aber irgendjemand hat sie getötet.« »Ja. So viel von der Geschichte glaube ich ihm.« Er seufzte. »Gute Nacht, Winna.« »Ihr wollt doch nicht allein gehen?« »Alle meine Männer sind zu weit weg. Ich muss aufbrechen, solange die Spur noch nicht kalt ist.« »Wartet auf ein paar von Euren Männern. Benachrichtigt Dongal.« »Keine Zeit. Warum so nervös, Winna? Ich weiß schon, was ich tue.« Sie nickte. »Nur so ein Gefühl. Dass diesmal irgendetwas anders ist. Die Leute, die aus dem Wald gekommen sind, waren ... anders.« »Ich kenne den Wald besser als jeder andere. Er ist genau wie immer.« Widerstrebend nickte sie. »Nun, wie gesagt, gute Nacht.« Ihre kleine Hand fing die seine ein. »Seid vorsichtig«, murmelte sie und drückte leicht seine Finger. »Sicher«, erwiderte er und wandte sich rasch genug ab, dass sie nicht sehen konnte, wie er errötete. Aspar erhob sich beim ersten Hahnenschrei, als das Licht vor seinem Fenster noch zum größten Teil ein Kind der Sterne war. Als er sich Wasser aus dem irdenen Becken ins Gesicht gespritzt, sich die grauen Stoppeln, die dort wuchsen, abrasiert und seinen Gürtel festgezogen hatte, färbte sich der Osten rosig. 42 Nachdenklich betrachtete er seinen Harnisch aus gehärtetem Leder. Heute würde es heiß werden. Trotzdem legte er ihn an. Lieber heiß als tot. Er schnallte den Dolch mit dem Knochengriff um und hängte seine Wurfaxt in die Schlaufe am selben Waffengurt. Dann holte er seinen Bogen aus der Hülle aus Ölhaut, überprüfte das Holz und die Ersatzsehnen und zählte seine Pfeile. Schließlich schob er den Bogen wieder in die Hülle und ging hinunter. »Beim ersten Morgenlicht, wie?«, bemerkte Winna, als er durch den Schankraum ging. »Ich werde alt«, knurrte Aspar. »Nun, gönnt Euch ein Frühstück, immerhin seid Ihr dafür nicht zu früh dran.« »Da fällt mir ein, ich brauche noch -« »Ich habe Euch Wegzehrung für eine Woche eingepackt. Paetur lädt sie gerade für Euch auf.« »Oh. Danke.« »Setzt Euch.« Sie brachte ihm Schwarzbrot mit Knoblauchwurst und Bratäpfeln. Er aß alles bis auf den letzten Bissen auf. Als er fertig war, war Winna nirgends zu sehen, doch er konnte sie irgendwo in der Küche rumoren hören. Einen Augenblick lang dachte er daran, wie eine Frau in seiner eigenen Küche rumort hatte, in seinem eigenen Haus. Vor langer Zeit, und es schmerzte noch immer. Winna war jung genug, um seine Tochter zu sein. Leise verließ er das Wirtshaus, damit sie es nicht bemerkte, und kam sich ein wenig feige vor. Einmal draußen, ging er auf
kürzestem Wege zum Stall. Paetur, Winnas jüngerer Bruder, war mit Engel und Unhold beschäftigt. Paet war hoch aufgeschossen, blond und schlaksig. Er war jetzt - wie alt? Dreizehn? »Guten Morgen, Sir«, grüßte Paet, als er Aspar erblickte. »Ich bin kein Ritter, Junge.« »Ja, aber hier in der Gegend seid Ihr das, was einem Ritter am nächsten kommt, abgesehen vom alten Sir Symen.« 43 »Ein Ritter ist ein Ritter. Sir Symen ist einer, ich nicht.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf seine Pferde. »Sind sie abmarschbereit?« »Unhold sagt Ja, Engel sagt Nein. Ich finde, Ihr solltet Engel hier bei mir lassen.« Er tätschelte der Rotschimmelstute den Hals. »Ach, wirklich?«, brummte Aspar. »Vielleicht ist sie ja müde von dem wüsten Galopp, den du gestern mit ihr hingelegt hast.« »Ich hab sie doch gar nicht -« »Lüg mich an, und ich verpasse dir eine ordentliche Tracht Prügel, und dein Vater wird mir dafür danken.« Paet wurde rot und betrachtete eingehend seine Zehen. »Na ja ... sie musste sich die Beine vertreten.« »Frag das nächste Mal, hörst du? Und versuch um aller Heiligen willen nicht, Unhold zu reiten.« Der Braune suchte sich genau diesen Moment aus, um laut zu schnauben, als teile er die Ansicht seines Herrn. Paet lachte. »Was ist denn daran so komisch?« »Tom hat's gestern versucht. Unhold zu reiten.« »Wann begraben sie ihn?« »Er hat sich zwei Schneidezähne ausgeschlagen, das ist alles.« »Glück gehabt. Der Bengel ist ein Glückspilz.« »Ja, Master White.« Aspar tätschelte Unholds Nase. »Sieht aus, als hättest du sie schön gleichmäßig beladen. Willst du noch meinen Köcher und meinen Bogen festschnallen?« »Darf ich?« Die Augen des Knaben funkelten vor Eifer. »Ich denke schon.« Er reichte Paet die Waffen. »Stimmt es, dass Ihr damit sechs Uttins getötet habt?« »Es gibt keine Uttins, Junge. Und auch keine Gryffins, keine Alven, keine Basilisken und keine Steuereintreiber mit einem Herzen in der Brust.« »Das hab ich meinen Freunden auch gesagt. Aber Rink sagt, sein Onkel habe mit eigenen Augen einen Uttin gesehen -« »Wahrscheinlich hat er sich betrunken und sein eigenes Spiegelbild gesehen.« 44 »Aber den Schwarzen Wharg und seine Wegelagerer habt Ihr getötet, nicht wahr? Alle zehn.« »Ja«, antwortete Aspar knapp. »Eines Tages tue ich auch so etwas.« »Es ist lange nicht so großartig, wie die Leute glauben«, sagte Aspar. Damit stieg er in Unholds Sattel und ritt los. Engel folgte ihm gehorsam. Ebenso wie Paet. »Wo willst du denn hin?«, wollte Aspar wissen. »Runter zum Magierfluss. Gestern Nacht ist eine Sefrykarawane dort angekommen. Ich will mir die Zukunft weissagen lassen.« »Halt dich lieber von ihnen fern«, riet ihm Aspar. »Seid Ihr nicht bei den Sefry aufgewachsen, Master White? Hat Euch nicht Schmutz-Jesp aufgezogen?« »Ja. Ich weiß also, wovon ich rede.« Die Sefry hatten sich ein hübsches Fleckchen ausgesucht, eine von Veilchen gesprenkelte Wiese am Fluss, die rundum von dicken Wassereichen umgeben war. Sie waren noch dabei, ihre Zelte aufzuschlagen. Ein großer Pavillon in verblichenem Purpur und Gold stand bereits; das Clan-Wappen - drei Augen und eine Mondsichel wehte im trägen Sommerwind. Pferde grasten mit lose zusammengebundenen Vorderbeinen auf der Wiese, wo zehn Männer und doppelt so viele Kinder Pflöcke einschlugen, Leinen abwickelten und Zeltbahnen ausrollten. Die meisten waren nackt bis zur Taille, da die Sonne noch nicht hoch genug stand, um ihre milchweiße Haut zu verbrennen. Anders als die meisten Menschen wurden die Sefry durch die Sonne nicht dunkler. Im vollen Sonnenlicht verhüllten sie sich von Kopf bis Fuß. »Hallo«, rief einer der Männer, ein schmalschultriger Bursche, dessen Gesichtszüge auf dreißig Lenze schließen ließen, jedoch, wie Aspar wohl wusste, um mindestens fünfzehn Jahre logen. Er hatte Afas gekannt, als sie beide noch Kinder gewesen waren, und Afas war der Altere. »Sehe ich da den Schmutz-Bastard?« Der Sefry richtete sich auf, sein Hammer schwang neben seinem Körper hin und her. 45 Aspar stieg ab. Schmutz-Bastard. Ein Spitzname, den er nie hatte leiden können.
»Hallo, Afas«, erwiderte er und ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. »Freut mich auch, dich zu sehen.« »Bist du hier, um uns davonzujagen?« »Wozu? Ich würde euch nur einem anderen Dorf auf den Hals hetzen, wahrscheinlich in meinem Revier oder zumindest in der Nähe davon. Außerdem will ich gerade aufbrechen.« »Nun, das ist großzügig.« Der Sefry neigte den Kopf. »Sie hat gesagt, du würdest hier sein. Fast hätte sie sich geirrt, nicht wahr?« »Wer ist >sie« »Mutter Cilth.« »Bei Grim! Sie lebt noch?« »Die sterben fast nie, diese alten Weiber.« Aspar blieb ein paar Schritte von Afas entfernt stehen. Die beiden Männer waren gleich groß, doch damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Aspar hatte die zu seiner Größe passende Statur, eine Eiche, während Afas eine Weidenrute war. Von nahem gesehen glich Afas' Haut einer Landkarte; die blauen Flüsse, Ströme, Bäche und Rinnsale seiner Adern waren deutlich zu erkennen. Er hatte sechs blasse Brustwarzen, die wie die Zitzen einer Katze auf einem schmalen, drahtigen Brustkorb aufgereiht waren. Sein Haar war nachtschwarz und mit einem goldenen Band zurückgebunden. »Woher kommt ihr gerade?«, erkundigte sich Aspar. »Aus dem Süden.« »Seid ihr durch den Wald gekommen?« Afas' indigoblaue Augen wurden groß und unschuldig. »Aber Ihr wisst doch, Waldhüter, wir würden niemals ohne Erlaubnis durch König Randolfs Wald ziehen.« »König Randolf ist vor dreizehn Jahren gestorben. Es heißt jetzt König William.« »Trotzdem.« »Na schön. Ich reite zum Taffbach. Gestern Abend ist hier ein Junge aufgetaucht und hat erzählt, seine Familie wäre da unten ermordet 46 worden. Ich wäre dankbar, wenn ihr irgendetwas gehört hättet, das es wert ist, wiederholt zu werden. Ich würde auch nicht allzu genau nachfragen, wo ihr es gehört habt.« »Nett von dir. Aber ich will damit nichts zu tun haben. Aber eins kann ich dir sagen - wenn ich im Wald gewesen wäre, wäre ich jetzt wieder draußen. Und ich würde ihn weit hinter mir lassen.« »Wo wollt ihr hin?« »Wir werden hier ein paar Tage Kessel flicken, um genug für neue Vorräte zu verdienen. Danach? Weit weg. Tero Galle vielleicht, oder Virgenya.« »Warum?« Asaf deutete mit dem Kopf auf das größte Zelt, das bereits aufgestellt war. »Weil sie es sagt. Mehr weiß ich nicht, und ich will auch gar nicht mehr wissen. Aber du kannst sie fragen. Sie hat sogar gesagt, du würdest sie fragen wollen.« »Hmm. Nun, dann sollte ich das wohl tun.« »Das wäre vielleicht am gesündesten.« »Stimmt. Bleibt anständig, ja? Ich habe genug Sorgen, auch ohne später euren Spuren folgen zu müssen.« »Sicher. Für dich tun wir doch alles, Schmutz.« Mutter Cilth war schon alt gewesen, als Aspar noch ein Knabe gewesen war. Jetzt hätte sie ein Geist sein können, der über den Abgrund des Todes herüberschaut. Im schwarzen Gewand und mit schwarzer Haube saß sie auf einem Haufen Kissen. Nur ihr Gesicht war zu sehen, eine Elfenbeinmaske, überzogen von einem feinen Saphirnetz. Ihre Augen, blassestes Gold, beobachteten jede seiner Bewegungen. Jesps Augen hatten diese Farbe gehabt. Und Qerlas auch. »Da bist du ja«, krächzte Mutter Cilth. »Jesperedh hat gesagt, dass du hier sein würdest.« Aspar verkniff sich ein Bemerkung darüber, wie lange Jesp schon tot war. Es würde keine Rolle spielen. Ihm war nie wirklich klar gewesen, ob das alles nur ein Mummenschanz war oder ob die Sefry ihre eigenen Lügen glaubten. Es war auch nicht wichtig, denn ihr ständi47 ges Gerede darüber, dass sie mit den Toten sprächen, war so oder so nichts als lästiger Blödsinn. Die Toten waren tot, sie sprachen nicht. »Du wolltest mich sehen?« Er machte einen halbherzigen Versuch, seine Gereiztheit nicht in seinen Worten durchklingen zu lassen, doch das war etwas, das er nicht besonders gut konnte. »Sehen tue ich dich jetzt schon. Ich will mit dir reden.« »Ich bin hier, Mutter. Ich höre.« »Immer noch ungehobelt. Immer noch ungeduldig. Ich dachte, meine Schwester hätte dich besser erzogen.« »Vielleicht hätten ihre Lektionen mehr gefruchtet, wenn ihr anderen ihr ein bisschen geholfen hättet«, erwiderte Aspar. Es gelang ihm nicht, die Bitterkeit in seiner Stimme zu unterdrücken. »Nimm mich so, wie du mich findest, oder lass es ganz bleiben. Ich war nicht derjenige, der mit dir reden wollte.« »Doch.«
Das stimmte in gewisser Hinsicht, doch es brauchte ihm trotzdem nicht zu gefallen. Er machte auf dem Absatz kehrt und schickte sich zum Gehen an. »Der Dornenkönig erwacht«, flüsterte Cilth. Aspar hielt inne; ein scharfes Prickeln kroch wie ein Tausendfüßler sein Rückgrat entlang. Sehr langsam drehte er sich wieder zu der alten Frau um. »Was?« »Der Dornenkönig. Er erwacht.« »Das ist doch Sceat«, wehrte Aspar schroff ab, obgleich einem Teil von ihm zumute war, als hätte sich die Erde unter seinen Füßen aufgetan. »Ich bin mein ganzes Leben lang durch den Königswald gewandert. Ich war in seinem allertiefsten, schwarzen Herzen, und ich war an Orten in den Hasenbergen, die selbst die Hirsche nie gesehen haben. Es gibt keinen Dornenkönig. Das ist doch bloß wieder so ein Sefry-Unsinn.« »Du weißt, dass das nicht stimmt. Er hat geschlafen und ward nicht gesehen. Jetzt erwacht er. Es ist das erste Zeichen. Jesp hat dich das doch gewiss gelehrt.« 48 »Sie hat es mich gelehrt. Sie hat mich auch gelehrt, beim Würfeln zu betrügen und bei ihren spirituellen Sitzungen die Geisterstimme zu mimen.« Das Gesicht der Greisin wurde noch härter, als es ohnehin schon gewesen war. »Dann solltest du den Unterschied kennen«, zischte sie. »Du solltest den Unterschied zwischen kalt und heiß kennen, zwischen der Brise und dem Sturmwind.« Sie beugte sich noch weiter vor. »Schau in meine Augen. Schau.« Aspar wollte nicht, doch ihre Augen hatten ihn bereits gepackt, wie eine Schlange, die sich anschickt, eine Maus zu verschlingen. Das Gold und Kupfer ihrer Iris schien sich auszudehnen, bis er nichts anderes mehr sehen konnte, und dann ... Ein Wald verwandelte sich in ein Galgenfeld, verfaulende Leichname hingen an jedem Ast. Die Bäume waren knorrig und krank, von schwarzen Dornen bedeckt, und statt Laub trugen die Zweige Aasvögel, Raben und Geier, voll gefressen und fett. In der Tiefe des Waldes bewegten sich die Schatten zwischen den Bäumen, als schliche etwas Großes dort umher. Aspar versuchte, es zu erkennen, doch die Bewegung hielt sich am äußersten Rand seines Gesichtsfeldes und hörte jedes Mal auf, wenn er direkt auf die Stelle starrte. Dann fiel ihm die am nächsten hängende Leiche auf. Das Seil, an dem die Tote hing, war verrottet, und es hingen fast nur noch Knochen und geschwärztes Fleisch daran, doch die Augen waren noch immer lebendig, lebendig und blassgolden ... Dieselben Augen, in die er jetzt hineinstarrte. Mutter Cilths Augen. Mit einem lauten Keuchen wandte Aspar den Blick ab. Mutter Cilth lachte krächzend auf. »Siehst du«, murmelte sie. »Sceat«, brachte er hervor, obgleich seine Knie zitterten. »Ein Trick.« Cilth lehnte sich zurück. »Genug. Ich dachte, du wärst der Vorhergesagte. Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht hast du doch nichts gelernt.« 49 »Das will ich doch hoffen.« »Eine Schande. Wahrhaftig. Denn wenn du nicht der Vorhergesagte bist, dann ist er noch nicht geboren. Und wenn er noch nicht geboren ist, wird deine Rasse - und die meine - von der Erde getilgt werden, als hätte es uns nie gegeben. An diesem Teil der Prophezeiung kann niemand zweifeln, außer einem Narren. Aber vielleicht bist du ja ein Narr. Meine Schwester ist umsonst gestorben.« Sie hob die Hand und zog sich einen Schleier über das Gesicht. »Ich träume«, sagte sie. »Geh.« Aspar gehorchte und kämpfte gegen den ungewohnten Drang an loszurennen. Erst als das Sefry-Lager eine Meile hinter ihm lag, atmete er wieder ruhiger. Der Dornenkönig. Was für ein Sceat, dachte er. Doch am äußersten Rand seines Gesichtsfeldes bewegte sich noch immer etwas. 2. Kapitel In einem anderen Wirtshaus Die Königin muss natürlich als Erste sterben. Sie stellt die größte Gefahr für unsere Pläne dar.« Die zischelnde Stimme des Mannes klang kultiviert; er sprach die Königssprache, mit der Andeutung irgendeines südlichen Akzents. Seine Worte ließen eine Schlange an Lucoths Rücken hinaufkriechen, und plötzlich fürchtete er, das Pochen seines Herzens sei für alle laut zu vernehmen, wie ein Trommelwirbel. Ich bin eine Maus, sagte er sich. Eine Maus. So nannten ihn alle. Sein richtiger Name war Dunhalth Mayp Hinthgal, doch nur seine Mutter hatte ihn jemals Dunhalth gerufen. 50 Für alle anderen in der kleinen Stadt Odhfath war er Lucoth, »die Maus«. Trockenes Schweigen folgte der Ankündigung des Mannes. Von seinem Versteck aus konnte Lucoth keines ihrer
Gesichter sehen, nur dass es drei waren, den Stimmen nach zu urteilen, alles Männer. Er wusste, dass sie Wirt MaypCorgh dafür bezahlt hatten, dass sie das Hinterzimmer der Schenke zum Schwarzen Gockel benutzen durften, was nach Lucoths Erfahrungen bedeutete, dass sie wahrscheinlich irgendwelche geheimen Geschäfte zu besprechen hatten. Lucoth hatte schon öfter bei solchen Zusammenkünften gelauscht. Er hatte eine Abmachung mit Wirt MaypCorgh, der es ihn wissen ließ, wenn der Raum benutzt wurde. Bisher hatte er meistens Schmuggler und Wegelagerer belauscht und oft Dinge erfahren, aus denen MaypCorgh Profit schlagen konnte, von dem er Lucoth dann einen Teil zukommen ließ. Dies hier jedoch waren keine Schmuggler oder Straßenräuber. Lucoth hatte schon früher Mordkomplotte mit angehört, doch noch nie war es dabei um eine Königin gegangen. Erregung verdrängte die Furcht, und er spitzte die Ohren, als ein anderer Mann das Wort ergriff. »Die Königin«, seufzte er. Dieser hatte eine tiefere Stimme, sie klang ein bisschen rau. »Ist die Prophezeiung so eindeutig?« »In jeder Hinsicht«, antwortet der erste Mann. »Wenn er kommt, darf es keine Königin der Blutlinie in Eslen geben.« »Was ist mit den Töchtern?«, wollte der dritte Mann wissen. Seine Aussprache klang fremdartig, selbst für Lucoth, der schon viele seltsame Akzente gehört hatte. In Odhfath kreuzten sich zwei Landstraßen: Die Straße nach Osten führte nach Virgenya. Im Westen lag der Hafen von Paldh. Der Weg nach Norden brachte einen nach Eslen und schließlich nach Hansa. Die südliche Route mündete auf die Große Vitellianische Landstraße, auf der die farbenfrohen Handelskarawanen dahinzogen. »Die Töchter werden die Thronfolge vielleicht nicht antreten«, meinte der zweite Mann. 51 »Es gibt Bestrebungen, sie als Thronfolgerinnen anzuerkennen«, entgegnete der erste Mann. »Also müssen sie natürlich alle sterben. Der König, die Königin, ihre weiblichen Nachkommen. Nur dann werden unsere Pläne Aussicht auf Erfolg haben.« »Das ist ein bedeutsamer Schritt«, sagte der dritte Mann widerstrebend. »Ein Schritt, der nicht rückgängig gemacht werden kann.« Die Stimme des ersten Sprechers wurde leise und sanft. »Der Dornenkönig erwacht. Das Zeitalter der Menschen ist zu Ende. Wenn wir den Schritt jetzt nicht tun, gehen wir zusammen mit allen anderen zugrunde. Das wird nicht geschehen.« »Einverstanden«, stimmte der zweite ihm zu. »Ich bin dabei«, sagte der dritte. »Aber Vorsicht ist geboten. Große Vorsicht. Die Stunde kommt, aber noch hat sie nicht geschlagen.« »Gewiss«, pflichtete der erste Mann ihm bei. Lucoth leckte sich die Lippen und überlegte, wie hoch wohl die Belohnung dafür war, eine Königin zu retten. Oder eine ganze königliche Familie. Er hatte schon immer davon geträumt, die weite Welt zu sehen und sein Glück darin zu suchen. Doch er war klug genug, um zu wissen, dass ein Vierzehnjähriger, der sich ohne eine Münze in der Tasche auf den Weg machte, ein schlimmes Ende finden würde, und zwar wahrscheinlich eher früher als später. Seit Jahren hatte er gespart - fast genug, dachte er, um es zu wagen. Aber das hier - er sah das Gold fast vor sich, ganze Haufen davon. Oder eine Baronie, oder die Hand einer Prinzessin. All so was. Wirt MaypCorgh würde nichts davon erfahren, o nein. Das Risiko, dass er die Männer da unten im Zimmer erpressen würde, war zu groß. So konnte man das nicht angehen. Stattdessen galt es, sich vom Dachboden zu schleichen, bis morgen zu warten und sich die Männer genau anzusehen, damit er sie beschreiben konnte. Dann würde er seine Ersparnisse nehmen, einen Esel kaufen und nach Eslen aufbrechen. Dort würde er um eine Audienz bei König William bitten und ihm erzählen, was er gehört hatte. Plötzlich bemerkte er, dass die Männer unter ihm verstummt wa52 ren, und er wandte sich von seinen Träumen ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. Der Kopf des ersten Mannes hatte sich bewegt, und obgleich Lucoth keine Augen erkennen konnte, fühlte er seinen Blick brennend auf sich ruhen. Was völlig unmöglich war. Er hielt den Atem an und wartete darauf, dass die Illusion verging. »Du hast ein lautes Herz, Junge«, sagte der Mann. Seine Stimme war wie Samt. Lucoth schoss los, doch es war, als bewege er sich in einem Albtraum. Er kannte die Dachbalken des Wirtshauses so gut wie seine Handfläche, doch plötzlich erschienen sie ihm vollkommen fremd, und die paar Ellen, die er zurücklegen musste, um sich in Sicherheit zu bringen, kamen ihm wie Meilen vor. Trotzdem sagte ihm der Teil seines Verstandes, der noch denken konnte: Über die Mauer, spring hinunter. Sie müssen außen herumgehen, durch die Tür, das verschafft dir einen Vorsprung, reichlich Zeit für eine Maus, um sich in ihrer Geburtsstadt ein Versteck zu suchen. Irgendetwas traf ihn seitlich im Gesicht, nicht allzu fest. Er fragte sich, was sie wohl nach ihm geworfen hatten, war jedoch erleichtert, dass es nichts Tödliches gewesen war.
Dann merkte er, dass es noch immer da war, an seiner Wange, was immer es auch war. Doch er hatte keine Zeit dafür. Er schwang sich über die Mauer - sie reichte nicht ganz bis zu den Dachbalken empor - und ließ sich in den nächsten Raum hinunterfallen. Ihm war schwindlig, und er schmeckte etwas Seltsames. Aus irgendeinem Grund verspürte er einen Würgereiz. Erst als er die Straße erreicht hatte, fasste er hin, um zu sehen, was da an ihm hing, und dann begriff er nicht ganz, denn es war der Griff eines Dolches, was überhaupt keinen Sinn ergab ... Dann wurde ihm klar, dass es doch einen Sinn ergab, wenn nämlich die Klinge in seinem Hals steckte. Was sie auch tat. Er konnte die Spitze in der Kehle spüren. Nicht rausziehen, dachte er. Wenn du den Dolch rausziehst, fängt es an zu bluten ... 53 Er rannte die Straße hinunter, doch er konnte die Hand ebenso wenig von dem Ding in seinem Hals lösen, wie er erfassen konnte, was mit ihm geschah. Es wird alles gut, dachte er. Das Messer muss die Adern verfehlt haben. Das wird schon wieder. Ich bitte einfach den alten Pferdeheiler, es rauszuziehen. Er wird die Wunde zunähen. Es wird alles gut. Etwas landete hinter ihm auf der Straße. Er drehte sich um und erblickte einen Schatten von menschlicher Gestalt. Der Schatten kam auf ihn zu. Er rannte weiter. Jetzt konnte er seinen Puls im Hals spüren, und irgendetwas gerann in seiner Kehle zu einem Klumpen. Er übergab sich, und das ließ heftige Schmerzen aufflammen, die seine linke Körperhälfte einhüllten. Er taumelte noch ein paar Schritte weiter. Bei allen Heiligen, bitte, lasst mich, ich werde kein Wort sagen, versuchte er herauszubringen, doch der Dolch hatte seine Stimme in seinem Innern festgenagelt. Dann traf ihn etwas Kaltes in den Rücken. Dreimal, dachte er, aber vielleicht auch viermal. Die letzte Berührung war nur schwach, wie ein Kuss, genau an der Schädelbasis. »Schlaf gut, Junge«, hörte er jemanden sagen. Es klang wie ein Heiliger, und er fühlte sich dabei ein klein wenig besser. 3. Kapitel Der Knappe Nächtgeflügelte Wolken wischten den Mond fort, und ein eisiger Wind machte die Finsternis bitter. Neil hatte kaum noch Gefühl in den Fingern und Zehen. Er roch nichts außer Salz und hörte nichts außer dem Wind und den Wellen, die ans Ufer brandeten. Vorstellen 54 konnte er sich jedoch umso mehr: den Atem des Feindes, irgendwo da draußen in der Nacht. Das Klirren von Stahl, das die Morgendämmerung begrüßen würde. Das lang gezogene Klagen der ruhelosen Draugs unter den Wogen, tot und doch lebendig, die haifischgezahnten Rachen weit aufgerissen in Erwartung des Fleisches der Lebenden. Neil MeqVrens Fleisch. »Der Morgen bricht gleich an«, sagte sein Vater leise und streckte sich neben Neil auf dem Boden aus. »Halt dich bereit.« »Sie könnten überall sein«, sagte jemand. Wahrscheinlich Onkel Odcher, dachte Neil. »Nein. Es gibt nur zwei Stellen, wo sie mit ihren Schiffen landen können. Hier oder am Milchstrand. Wir sind hier. Sie müssen dort sein.« »Es heißt, die Weihand-Männer können bei Nacht marschieren. Sie können im Dunkeln sehen, genau wie die Trolle, die sie anbeten.« »Die können bei Nacht nicht besser marschieren als wir«, entgegnete Neils Vater. »Wenn sie nicht auf ihren Schiffen sind, dann tun sie genau das Gleiche wie wir - sie warten auf die Sonne.« »Ist mir egal, was sie tun«, brummte eine andere Stimme. »Die haben nicht damit gerechnet, dass sie es mit den Männern vom Clan der MeqVrens zu tun kriegen.« Was noch von uns übrig ist, dachte Neil. Er hatte zwölf gezählt, als die Sonne das letzte Mal untergegangen war. Zwölf. Am Morgen davor waren sie dreißig gewesen. Er rieb sich die Hände, um sie zu wärmen, als sich eine Faust um seine Finger schloss. »Bist du bereit, mein Sohn?«, flüsterte sein Vater. »Ja, Fah.« Er konnte das Gesicht seines Vaters nicht sehen, doch was er in seiner Stimme hörte, ließ seine Kopfhaut prickeln. »Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen.« »Ich war schon früher im Krieg, Fah.« »Ja. Und stolz bin ich auf dich gewesen. Kein MeqVren - und kein anderer Mann von keinem Clan, von dem ich je gehört habe - hat seinen ersten Feind erschlagen, als er erst elf Winter gesehen hatte, und das ist jetzt ein Jahr her. Aber das hier -« 55 »Wir werden verlieren, Fah? Wir werden sterben?« »Wenn es das ist, was die Heiligen wollen, nun, verdammt sollen sie sein.« Er räusperte sich und sang sehr leise:
»Zum Kämpfen und Sterben geboren sind wir, Schreit nur, ihr Raben, bald schwelget ihr.« Neil schauderte, denn dies war ein Teil des Totengesangs der MeqVrens. Doch sein Vater gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Ich habe nicht vor, uns sterben zu sehen, Junge. Wir werden sie überrumpeln.« »Und dann wird der Lord Baron uns ein hübsches Sümmchen bezahlen, nicht wahr, Fah?« »Es ist sein Krieg. Er ist ein Mann, der Wort hält. Und jetzt sei still, der Morgen bricht an.« Der Himmel wurde heller. Die zwölf Männer des MeqVren-Clans kauerten regungslos hinter der Düne. Neil fragte sich, warum der Baron diese elende Insel überhaupt haben wollte, wo sie doch so felsig und unwirtlich war, dass hier nicht einmal Schafe leben konnten. Er drehte sich zum Meer um. Es war hell genug geworden, dass er den Bug ihres Langbootes erkennen konnte, die Silhouette eines Pferdekopfes. Und ein Stück weiter den Strand hinunter noch eins. Und noch eins. Aber die MeqVrens hatten nur ein Schiff. Er zupfte seinen Vater am Ärmel. »Fah -« Genau in diesem Augenblick zischte etwas heran und schlug gegen den Rücken seines Vaters, und sein Vater seufzte merkwürdig. In diesem Augenblick begann das Geschrei, und die MeqVrens erhoben sich in einem Pfeilhagel und sahen sich einer dreifachen Übermacht gegenüber, die vom Strand her auf sie zustürmte. Neil schloss die Augen, dann sprang er mit den anderen auf; seine Hand war zu kalt, um den Speer zu spüren, doch er konnte sehen, wie er ihn mit beiden Händen umklammerte. 56 Dann traf ihn ein Pfeil. Er machte das gleiche Geräusch wie der, der seinen Vater getroffen hatte, nur ein wenig höher. Neil fuhr aus dem Schlaf und stellte fest, dass er die Hände in seine Brust gekrallt hatte, zwei Fingerbreit unter dem Herzen, und dass er keuchte, als sei er eine Meile gerannt. Ihm war, als würde er fallen. Wo bin ich? Die Verwirrung hielt nur ein paar Herzschläge lang an, dann erkannte er das Schaukeln eines Schiffes, die Einrichtung seiner Kabine. Sein Atem wurde langsamer, und er betastete die kleine, aufgeworfene Narbe. Acht Jahre, doch in seinen Träumen war sie nicht im Mindesten verheilt. Acht Jahre. Ein paar Minuten saß er still da und lauschte der Mannschaft oben an Deck. Statt sich noch einmal dem Schlaf zu überlassen, stand er auf, um sich zu rasieren. Heute wollte er so gut aussehen wie nur irgend möglich. Er zog sein Rasiermesser am Riemen ab, legte die Schneide an seine Wange und ließ sie an seinem kantigen Kinn entlanggleiten, entfernte die Stoppeln mit ruhigen, sicheren Bewegungen. Ohne sich auch nur einen einzigen Kratzer zuzufügen, rasierte er sich fertig und stutzte dann mit derselben Klinge sein weizenblondes Haar, sodass es ihm nicht mehr in die Augen fiel. Die Schwarze Mary jenes Tages am Strand verblasste, und seine Aufregung wuchs. Heute! Heute würde er Thornrath sehen! Er wusch sich das Gesicht, blinzelte das Wasser aus seinen blauen Augen und ging hinauf an Deck. Am Nachmittag erreichten sie das Kap von Rovy und segelten daran entlang, die Alabasterklippen zur Linken. Dann umrundeten sie die Landspitze und fuhren in die Schaumbrecherbucht ein, ein großer natürlicher Hafen von der Form eines zu zwei Dritteln vollen Mondes; im Norden grenzte er an das Kap von Rovy und im Süden an die 57 Craigs von Ale. Im Westen lag die offene See, und im Osten, wohin der Bug der Salzspeer sich jetzt wandte, lag ein so unglaubliches Wunder, dass Neil glaubte, sein Herz müsse zerspringen. Fast wäre es ihm recht gewesen, erfüllt von so viel Staunen zu sterben. »Heilige der See und des Donners«, brachte er schwach heraus. Sein aufrichtiges Dankgebet wurde beinahe vom Wind fortgerissen, der über das Deck der Salzspeer fegte, doch der alte Mann, der neben ihm stand, Fail de Liery, hörte es und zeigte ein wildes Grinsen. Während sein Haar wie ein Banner aus Rauch hinter ihm wehte, warf Fail Neil einen Blick zu, und obwohl sein Gesicht von mehr als sechzig Lebensjahren zerfurcht, vernarbt und gekerbt war, wirkte er doch irgendwie jugendlich, wenn er schmunzelte. »Da ist sie, mein Junge«, verkündete der Altere. »Das ist Thornrath. Entspricht sie deinen Erwartungen?« Neil nickte stumm, während das Kap weiter hinter ihnen zurückblieb. Der östliche Himmel hinter Thornrath war kohlschwarz, und oberhalb des dunkelsten Zentrums türmten sich gischtgraue Wolken auf, die bis zum Zenit reichten. Doch aus dem wolkenlosen Westen schickte die sinkende Sonne goldenes Licht herüber, das die Bucht und die gewaltigste Festung der Welt vor dieser vom Sturm gefärbten Leinwand aufflammen ließ. »Thornrath«, wiederholte er. »Ich meine, ich habe gehört - Ihr habt mir erzählt -« Er hielt inne und versuchte zu begreifen, was er vor sich sah, die Größe zu erfassen. War die Schaumbrecherbucht ein zu zwei Dritteln voller Mond, so wurde das ganze östliche Drittel - ungefähr vier Meilen - von einer Mauer eingenommen, deren Farbe der von Elfenbein glich. Sieben große Türme aus dem gleichen Stein stießen in den Himmel empor; der in der Mitte lief zu einer so hohen, dünnen Spitze aus, dass
einem fast schwindlig wurde. Vor Neils Augen fuhr ein Kriegsschiff durch eine von sechs Öffnungen in der Mauer. Seine Masten mussten mindestens zwanzig Ellen hoch sein, und es bestand keine Gefahr, dass sie die Decke des Torbogens streiften. Und dieser war nur halb so hoch wie die Mauer selbst. 58 »Bei allen Heiligen!«, hauchte Neil. »Das da haben Menschen gebaut? Nicht die Echsel?« Er kreuzte die Finger und berührte seine Stirn, ein Zeichen, welches das Böse dieses Namens abwehren sollte. »Menschen haben es gebaut, ja. Sie haben die Steine in den Eng-Fear-Bergen gebrochen, zweihundert Meilen flussaufwärts. Sechzig Jahre hat es gedauert, die Festung zu errichten, heißt es, aber nun kann niemand mehr Crothenien von der See her angreifen.« »Es ist ein Wunder«, sagte Neil. »Ich bin stolz darauf, ihm zu dienen.« »Nein, mein Junge«, wehrte Fail sanft ab. »Du dienst keinem Ding aus Stein, wie prächtig es auch sein mag. Niemals. Du wirst Crothenien dienen, und seinem König, und dem Königlichen Haus von Dare.« »Das habe ich gemeint, Chever Fail.« »In der Sprache des Königs nennt man einen Ritter Sir, Junge.« »Sir Fail.« Das Wort klang unbeholfen, so wie jedes Wort in der Sprache des Königs. Irgendwie fehlte ihr die Melodie. Doch es war die Sprache seines Lords, und er hatte sie gelernt. Hatte sie ebenso gründlich geübt, wie er mit Schwert, Lanze und Streitkolben geübt hatte. Nun ja, beinahe ebenso gründlich. »Sir Fail«, wiederholte er. »Und schon bald Sir Neil.« »Das kann ich nicht glauben. Wie kann der König mich zum Ritter machen? Es ist nicht wichtig, ich werde stolz darauf sein, ihm zu dienen, sogar als Lakai. Solange ich ihm nur dienen darf.« »Junge, ich habe die Lanze gegen Sir Seimon af Harudhrohsn eingelegt, als ich gerade erst im achtzehnten Winter war. Ich habe in der Schlacht von Ravenamrh Wold an der Seite aller fünf Cresson-Brüder gekämpft, und ich habe Sir Duvgal MaypAvagh - der selbst mehr als zwanzig Ritter erschlagen hatte - vor den Toren von Cath Valk in die Schattenstadt geschickt, zusammen mit seinem engsten Gefolgsmann. Ich habe Ritter gekannt, mein Junge, und ich sage dir, in meinen sechsundfünfzig Jahren habe ich niemals einen Burschen gesehen, der die Rose mehr verdient hätte als du.« 59 Die Liebe und Dankbarkeit, die er für diesen zähen alten Mann empfand, ließen Neils Kehle noch enger werden. »Ich danke Euch, Sir Fail. Ich danke Euch - für alles.« »Das mit deinen Augen da, mein Sohn, das sollte besser vom Wind kommen. Ich halte nichts von diesem höfischen Geflenne, das weißt du ganz genau.« »Das kommt vom Wind, Chev... Sir.« »Gut. Sorg dafür, dass es so bleibt. Und lass dich von keinem dieser Laffen am Hof auf einen anderen Kurs bringen. Du bist ein Krieger der Marschen, wurdest von einem guten Vater aufgezogen und dann von meiner eigenen Hand. Vergiss das nicht, und du wirst bleiben, was du bist. Es ist der Stahl in den Marschen, der das weiche Gold hier in der Mitte schützt. Gold ist hübsch, aber man kann kaum Butter damit schneiden. Sorg dich nicht ums Hübschsein junge. Sorg dich um deine Schneide. Der Hof ist für einen echten Krieger gefährlicher als tausend Weihand-Piraten.« »Ich werde daran denken, Sir. «Er versuchte, sich noch höher aufzurichten. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr stolz auf mich sein könnt.« »Komm mit nach unten. Ich habe etwas für dich.« »Eigentlich wollte ich das hier aufheben, bis der König dich zum Ritter ernannt hat, aber deine Rüstung hat bei Darkling Mere eine Menge abbekommen. Und schließlich ist es die Pflicht eines Lords, dafür Sorge zu tragen, dass seine Krieger auch kriegerisch aussehen, nicht wahr?« Neil konnte nicht antworten. Genau wie in dem Moment, als er Thornrath zum ersten Mal erblickt hatte, war er sprachlos, als sein Dienstherr das Bündel aus Seehundfell aufschlug, um den Glanz geölten Stahls zu enthüllen. Neil hatte seit seinem zehnten Lebensjahr Rüstungen getragen. Zuerst aus gehärtetem Leder, wie damals, an jenem unglückseligen Morgen, als sein Vater gefallen war, dann eine Stahlkappe und eine Brünne mit Beinschienen, und schließlich das Kettenhemd, das er jetzt trug, mit dem zerschrammten, aber durchaus brauchbaren Brustharnisch. 60 Doch von dem, was Fail ihm jetzt präsentierte, hatte er immer nur geträumt - eine Vollrüstung aus Herrenstahl, mit beweglichen Gelenken aus einander überlappenden Stahlstreifen. Gute, schlichte Arbeit, ohne überflüssige Schnörkel oder unnützen Zierrat. Sie musste ein kleines Vermögen gekostet haben. »Sir Fail, das ist mehr, als ich mir je hätte erträumen können. Wie kann ich je - ich könnte das niemals annehmen. Nicht nach allem anderen.« »Sie ist nach deinen Maßen gearbeitet«, sagte der alte Mann. »Ich habe damals bei dir Maß nehmen lassen, als dir das letzte Mal Wams und Hose geschneidert wurden. Niemand sonst könnte sie tragen. Und wie du weißt, bin
ich sehr gekränkt, wenn meine Geschenke zurückgewiesen werden.« »Ich -« Neil grinste. »Ich würde Euch niemals kränken, Sir Fail.« »Willst du sie mal anprobieren?« »Bei allen Heiligen, ja!« So kam es, dass Neil MeqVren stolz auf dem Deck der Salzspeer stand, als sie unter dem gewaltigen Torbogen von Thornrath hindurchfuhr, seinen Überrock in den Farben des Hauses de Liery straff über der vollkommensten Rüstung gegürtet, die je geschmiedet worden war. Er fühlte sich strahlend und tödlich, ein Mensch gewordenes Schwert. Die Wunder nahmen kein Ende. Als sie durch den großen Torbogen fuhren, teilte ein hohes, hügeliges Eiland das Wasser vor ihnen. »Hier fließen zwei Flüsse zusammen«, erklärte ihm Fail. »Der blutrünstige Magierfluss aus dem Südosten und der Taufluss, der von den Barhs im Norden herunterkommt.« »Dann ist diese Insel also das Königliche Ynis?« »So ist es. Die Flüsse treffen fünf Meilen vor uns aufeinander, teilen sich erneut und fließen hier wieder zusammen.« »Ynis! Und wo ist dann Eslen? Wo sind die Flüsse, die über dem Land fließen?« »Geduld, mein Junge. Eslen liegt weiter im Osten. Bei Sonnenun61 tergang werden wir dort sein. Aber was die Flüsse betrifft - du wirst schon sehen.« Ynis erhob sich aus einer flachen Ebene, eine Hügelgruppe mit zierlichen, von Türmchen gekrönten Schlössern, Dörfern mit roten Ziegeldächern, Wiesen und Wäldern. Die Ebene um die Insel herum bestand hauptsächlich aus sehr grünen Getreidefeldern. Hütten waren zu sehen und Männer, die die Felder bestellten, und seltsame Türme, auf denen sich mächtige Räder drehten. Kanäle führten vom Fluss in die Felder; manche waren so lang, dass sie in der dunstigen Ferne aus dem Blick verschwanden. Und tatsächlich wurde Neil mit wachsender Erregung klar, dass er auf die Landschaft hinunterblickte. Deiche waren am Ufer aufgeschüttet worden und ließen den Fluss höher fließen als das umgebende Land. »Als unsere Vorfahren hier gegen die letzten Festungen der Echsel angetreten sind, war dies eine Ebene, jedenfalls behaupten das die Legenden«, sagte Sir Fail. »Ynis war der Hügel, den sie für ihren Palast aufgeschüttet hatten. Doch nach ihrer Niederlage, und nachdem Schloss Eslen dort gebaut wurde, versank hier alles im Sumpf, Marschland bis zum Horizont. Die Echsel hatten sich irgendeiner Zauberei bedient, um das Wasser fern zu halten, und mit ihrem Untergang verschwand auch diese Magie. Die Menschen, die hier lebten, hätten die Gegend verlassen und besseres Land suchen können, doch das wollten sie nicht. Sie haben geschworen, stattdessen dem Wasser das Land wieder abzuringen.« »Sie haben das Geheimnis der Echsel-Zauberei ergründet?« »Nein. Sie haben hart gearbeitet. Sie haben Deiche errichtet. Sie haben diese Pumpen gebaut, die du hier siehst, die vom Wind angetrieben werden, um das Wasser abzupumpen. Zweitausend Jahre langen, zähen Kampfes mit dem Wasser, aber du siehst ja das Ergebnis.« Er legte Neil die Hand auf die Schulter. Und schließlich, hoch über dem Land segelnd wie Figuren in einem Phay-Märchen, kamen sie in Sichtweite von Eslen der Drei Mauern. Der Palast erhob sich auf dem höchsten Hügel; seine sieben Türme 62 aus kreideweißem Stein waren vom Abendlicht blutrot gefärbt, lange Banner flatterten schwarz vor den rosigen Wolken. Von dort aus floss die Stadt hügelabwärts, wie Wasser, das einen Abhang hinuntergegossen wird, jeweils kurz von einer der Mauern eingedämmt, die den Palast in immer größeren Ringen umgaben, jedoch nie wirklich aufgehalten. Schiefergedeckte Gebäudewogen strömten über die kleineren Hügel, bis sie das Ufer erreichten und sich an gemauerten Kais und festen Holzstegen stauten. Schleier aus Nebel und Holzrauch hingen über den tiefer gelegenen Teilen der Stadt, und Kerzenlicht verwandelte die Fenster hier und dort bereits in Augen. »Es ist alles so prächtig«, murmelte Neil. »Wie eine verwunschene Stadt der Querven aus den alten Geschichten. Ich traue mich gar nicht wegzuschauen, aus Angst, dass es verschwindet.« »Eslen ist keine Stadt aus Mondstrahlen und Spinnweben«, versicherte ihm der alte Ritter. »Sie ist durchaus echt, du wirst schon sehen. Und wenn du all dies so prächtig findest, dann warte nur, bis du den Hof siehst.« »Ich kann es kaum erwarten.« »Oh - das Warten wirst du lernen, mein Sohn, daran besteht kein Zweifel.« Die Salzspeer erreichte eine Art Platz auf dem Wasser, umgeben von Stegen, an denen Schiffe und Boote in allen Größen festgemacht waren. Eines davon ragte über den anderen auf, ein fünfmastiges Schlachtschiff, neben dem die Salzspeer und jedes andere dort ankernde Schiff klein wirkten. Neil bewunderte das Schiff gerade, als er plötzlich die Flagge erkannte, unter der es segelte, und instinktiv nach seinem Schwert griff. Fail berührte seinen Arm. »Nein, mein Junge. Dazu besteht kein Anlass.« »Das ist ein hansisches Kriegsschiff.« »So ist es. Das ist nichts Ungewöhnliches. Vergiss nicht, wir haben Frieden mit Hansa und den Reiksbaurgs.« Neil blieb der Mund offen stehen, dann klappte er ihn wieder zu und öffnete ihn erneut. »Frieden? Wenn sie
Weihand-Piraten hartes 63 Silber für Liery-Ohren bezahlen und ihre Freibeuter unsere Handelsschiffe versenken?« »Es gibt die Welt der Wirklichkeit«, erwiderte Fail, »und es gibt den Hof. Der Hof sagt, wir haben Frieden mit ihnen. Also zieh nicht blank, sobald du einen Reiksbaurg siehst, und halte deine Zunge im Zaum, hörst du?« Neil war, als habe er gerade etwas Unerfreuliches verschluckt. »Ich höre, Sir.« Noch während sie anlegten, sank die Dunkelheit herab wie ein Axthieb. In höchst unvertrauter Nacht setzte Neil den Fuß auf das Kopfsteinpflaster von Eslen. Die Docks wimmelten von Männern und Frauen, die im Lampenlicht nur halb zu sehen waren. Gesichter kamen und gingen - schön, finster, unschuldig, brutal -, alle nur flüchtige Eindrücke; sie tauchten auf und verschwanden wieder wie Geister, unterwegs zu oder von den Schiffen, begrüßten und verabschiedeten einander, schlichen dahin, trugen Lasten. Fisch, heißer Teer, brennendes Lampenöl und faulende Abfälle schwängerten die Luft mit Gerüchen. »Die oberen Stadttore sind um diese Zeit geschlossen, also werden wir in einem Gasthaus übernachten«, sagte Fail, als sie sich durch die Menge auf dem Dock drängten und einen lang gestreckten Marktplatz überquerten, wo junge Mädchen und Frauen mit harten Gesichtern ihnen aufreizende Blicke zuwarfen, wo blinde oder verkrüppelte Bettler in den Schatten hockten und um milde Gaben flehten und wo Kinder sich zwischen den Beinen der Fußgänger und den Rädern der Karren spielerische Schlachten lieferten. Drei- und vierstöckige Häuser drängten sich an den Rändern des Platzes wie Schulter an Schulter geduckte Riesen beim Würfelspiel und entließen freundliches Licht, Holzrauch und den Duft von gebratenem Fleisch in die kalte Nachtluft. Zu einem dieser Riesen lenkten sie ihre Schritte; laut einem vergoldeten Schild über der Tür war es das Wirtshaus Zum Mondfisch. »Sei ein guter Junge und kümmere dich darum, dass unsere Pfer64 de hier untergebracht werden«, wies Fail ihn an. »Gib dem Stallknecht ein Kupferstück für jedes Pferd, nicht mehr und nicht weniger. Dann zieh deine Rüstung aus und komm zu mir in die Schankstube.« »Darauf könnt Ihr Euch verlassen, Sir Fail«, versicherte ihm Neil. Die Pastete aus Kabeljau und Bierteig war gut, viel besser, als die Verpflegung an Bord es gewesen war, doch Neil bemerkte es kaum. Er war zu sehr mit Schauen beschäftigt. Noch nie hatte er so viele fremdartige Gesichter und Trachten gesehen oder ein solches Gewirr aus verschiedenen Sprachen vernommen. Zwei Tische weiter redete eine Gruppe dunkelhäutiger Männer in farbenfrohen Gewändern gutturalen Unsinn. Als die Schankmagd ihnen ihr Essen brachte, verzogen sich ihre Lippen unter den Schnauzbärten zu Grimassen, die Abscheu auszudrücken schienen, und sie machten hinter ihrem Rücken seltsame Zeichen mit den Fingern, ehe sie zu essen begannen. Hinter ihnen saßen an zwei Tischen Männer von ähnlicher Hautfarbe, die abwechselnd pompöse Ansprachen zu halten schienen und mit leichtsinniger Hast Wein tranken. Sie trugen dunkle Wämser und blutrote Beinkleider und hatten lange Schwerter umgeschnallt, die ziemlich albern aussahen. Es gab auch Gäste, die er einordnen konnte - blondschopfige Schildings mit ihren derben Fischerhänden und ihrem fröhlichen Gelächter, Seefahrer von den Inseln von Terna-Fath, ein Ritter aus Hornladh mit seinem Gefolge, der den gelben Hirsch und die fünf Winkel des Hauses MaypHal trug. Neil erkundigte sich nach ihm. »Sir Ferghus Lonceth«, sagte Sir Fail. »Und der da?« Neil zeigte auf einen großen Mann mit kurz geschorenem rotem Haar, sauber gestutztem Bart und schwarzem Überwurf. Sein Wappen war geviertelt - ein goldener, steigender Löwe, drei Rosen, ein Schwert und ein Helm. Sechs Männer, die alle wie Nordländer aussahen, saßen an seinem Tisch. Ein paar von ihnen hätten als Weihands durchgehen können, und Neil verspürte fast augenblicklich eine instinktive Abneigung gegen sie. 65 »Den kenne ich nicht«, gab Sir Fail zu. »Er ist zu jung. Aber sein Wappen ist das der Wishilms von Gothfera.« »Also hansisch. Bestimmt von dem Schiff.« »Ja. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe«, ermahnte ihn der Ältere. In diesem Moment trat einer der Männer vom Tisch des Ritters aus Hornladh zu ihnen. »Chever Fail de Liery, mein Herr, Sir Ferghus Lonceth, bittet um die Gunst Eurer Gesellschaft.« »Seine Gesellschaft wäre mir sehr angenehm«, erwiderte Fail. »Wir werden uns zu euch begeben, einverstanden?« »Ist es nicht angemessener, wenn mein Herr sich zu Euch begibt? Schließlich seid Ihr ihm an Jahren und an Ruhm gewisslich überlegen, und es steht Euch zu, die Tafel auszuwählen.« »Das mag ja sein, mein Junge«, entgegnete Fail. »Aber wir sind nur zu zweit, und ihr seid zu acht, und ihr habt mehr Platz an eurem Tisch. Jahre und Ruhm sind schön und gut, aber lasst uns im Wirtshaus doch lieber praktisch denken, oder?« Er erhob sich, dann wandte er sich an Neil. »Neil, sei ein guter Junge und bitte den Wishilm-Ritter, sich zu uns zu gesellen.« »Sir«, meldete sich der Knappe aus Hornladh zu Wort, »ich habe ihn auf Wunsch meines Herrn bereits gebeten, und er hat die Einladung ausgeschlagen.« »Und die meine wird er vielleicht ebenfalls ausschlagen. Aber man soll nicht sagen, dass es mir an der nötigen
Gastlichkeit gemangelt hätte, ihn zu uns zu bitten«, entgegnete Fail. Neil nickte und ging zum Tisch des hansischen Ritters hinüber. Dort angekommen, blieb er höflich einen Moment lang stehen, doch die Männer am Tisch beachteten ihn nicht und lachten und scherzten in ihrer Sprache. Schließlich räusperte sich Neil. »Um Vergebung«, sagte er auf Hansisch. »BeiTyw! Es kann sprechen!«, rief einer der Knappen, ein Riese von einem Mann mit gebrochener Nase. Er richtete streitlustige blaue Augen auf Neil. »Noch einen Krug Bier, Schankmagd, und zwar schnell!« Alle anderen lachten über seine Worte. 66 Neil atmete langsam tief durch und lächelte. »Mein Herr, Sir Fail de Liery, bittet um die Gunst Eurer Gesellschaft.« »Fail de Liery«, sagte der hansische Ritter plötzlich grüblerisch. »Ich kennen keinen solchen Ritter. Es gibt einen alten Tattergreis dieses Namens, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der nie ein Ritter war. Du, Bursche. Als was dienst du ihm?« »Ich bin sein Knappe«, antwortete Neil ruhig. »Und wenn Ihr noch nichts vom Ruhm Sir Fail de Lierys vernommen habt, so habt Ihr keine Ohren, um zu hören, oder keinen Verstand, um zu erfassen, was Ihr hört.« »Herr! Das klang wie eine Beleidigung«, rief einer der hansischen Knappen. »Wirklich?«, erwiderte Wishilm. »Für mich klang es wie der Furz einer Küchenschabe.« Blauauge drohte ihm mit dem Finger. »Ich versichere dir, mein Herr wird sich nicht die Hände an dir schmutzig machen. Er kämpft nur gegen ehrenwerte Ritter, zu denen du ganz offensichtlich nicht gehörst. Deine Beleidigungen sind ihm einerlei.« »Aber uns nicht«, fügte ein anderer Hanser hinzu. »Ich habe meinem Herrn versprochen, dass ich weder die Klinge ziehen noch den Frieden dieses Hauses stören werde«, sagte Neil zu dem letzten Sprecher. »Der Kerl hier ist ein Feigling!«, brüllte der Mann laut genug, um sämtliche Gespräche in der Schankstube verstummen zu lassen. Neil spürte eine Art Zittern in den Händen. »Ich habe Euch eine Einladung überbracht, Ihr habt sie nicht angenommen. Unsere Unterhaltung ist beendet.« Er drehte sich um und ging zu dem Tisch, an dem sein Herr und der Hornladh-Ritter saßen. »Kehr mir nicht den Rücken, Bursche!« Neil beachtete ihn nicht. »Gut gemacht, mein Junge«, lobte Sir Fail und bot ihm einen Platz neben sich auf der Bank an. »Es würde uns beiden Schande bereiten, wenn du dich in einem Wirtshaus prügelst.« »Ich werde Euch nie Schande bereiten, Sir Fail.« 67 »Lass mich dich vorstellen. Sir Ferghus Lonceth, dies ist mein Schützling Neil MeqVren.« Lonceth ergriff seine Hand. »Ich habe ihn für Euren Sohn gehalten, Sir! Ist er das nicht?« »Er ist mir wie ein Sohn, aber diese Ehre kann ich nicht in Anspruch nehmen. Sein Vater war ein Krieger in meinen Diensten.« »Es freut mich, Euch kennen zu lernen«, sagte Sir Ferghus, der immer noch Neils Hand umfasst hielt. »MeqVren. Ich fürchte, dieses Haus ist mir nicht bekannt. Sind sie mit dem Clan Fienjeln verbündet?« »Nein, Sir. Mein Clan hat kein Haus.« Ein Augenblick des Schweigens folgte, während die Männer sich höflich mit der Vorstellung von einem Knappen ohne Geburtsanrecht auf die Ritterwürde abmühten. »Nun«, brach Sir Ferghus das Schweigen. »Ihr seid in unserer Gesellschaft hochwillkommen. Die Empfehlung Sir Fail de Lierys ist mehr wert als das Blut zehn edler Häuser.« Während sie tranken, dachte Neil, dass einige von Lonceths Knappen vielleicht anderer Meinung waren, doch sie waren zu höflich, um etwas zu sagen. »Sagt, Sir Ferghus«, erkundigte sich Sir Fail, nachdem der Trinkspruch ausgebracht worden war, »ich habe nur wenig von Eurem berühmten Onkel gehört. Wie ergeht es ihm in Paldh?« Die beiden Ritter unterhielten sich eine Weile, und die Knappen blieben stumm, wie es sich schickte. Die meisten von Lonceths Männern sprachen dem Wein ausgiebig zu. Neil hielt sich zurück, wie es seine Gewohnheit war. Als das Gespräch einen Augenblick lang verstummte, tippte er seinem Herrn auf die Schulter. »Ich würde gern nach den Pferden sehen, Sir Fail«, sagte er. »Hurrikan und Sonnenspringer haben sich beide schwer damit getan, plötzlich wieder auf festem Boden zu laufen.« Mit einem leicht misstrauischen Lächeln sah Fail ihn an. »Dann kümmere dich darum. Aber komm gleich zurück.« 68 Die beiden Pferde waren wohlauf, wie er es nicht anders erwartet hatte. Und der riesige Hanser mit den blauen Augen wartete mit zwei weiteren hansischen Knappen auf der Straße auf ihn - wie er es ebenfalls nicht anders erwartet hatte.
4. Kapitel Der Novize Aspar erwachte im sicheren Griff eines Tyrannen und hörte Musik. Es war eine wilde Musik - das Trommeln eines Spechts, die trillernde Melodie einer aufsteigenden Lerche, der wogende, schwirrende Chor der Zikaden unter ihm. Er rieb sich Traumsand aus den Augen, stützte die Hände auf die schmale hölzerne Plattform und setzte sich vorsichtig auf, um die erwachende Morgendämmerung zu begrüßen. Der Wind seufzte durch die Tyrannen, als diese dem Morgen ihre uralten, knarrenden Glieder entgegenstreckten, raschelte in ihren dünneren Ästen und zerdrückte ein paar Blätter, sodass sie ihren scharfen, grünen Duft verströmten. Unter ihm wieherte Unhold leise. Aspar beugte sich über den Rand des Hochsitzes, um einen Blick in die Tiefe zu werden. Beide Pferde waren noch da, wo er sie gestern Abend zurückgelassen hatte. Von hier oben wirkten sie nicht größer als Hunde. Der Specht trommelte weiter, während Aspar seine Gelenke lockerte und sich für den Abstieg bereitmachte. Diesmal hatte er absichtlich lange geschlafen. Er war gern in den Bäumen, wenn das erste Bronzelicht der Sonne schräg einfiel und der Wald summend und murmelnd zum Leben erwachte. Dieses uralte Gehölz, dass er die Tyrannen nannte, war einer der wenigen Orte, wo ihm dies möglich war. Andernorts hatten Jahrhunderte der Brände, des Rodens und der 69 Krankheiten höchstens eine oder zwei der alten Eiseneichen übrig gelassen, die hoch über den anderen Bäumen aufragten. Hier erstreckten sie sich stolz und unangefochten über Meilen; uralte, titanische Ringkämpfer, die muskelstrotzenden Arme ineinander verschlungen - sie umklammerten einander und trugen eine eigene Welt. Ein Mann konnte hier oben geboren werden, leben und sterben, konnte den Tau trinken, der sich in moosigen Höhlen sammelte, konnte sich von Pilzen und Eichhörnchen ernähren, oder von den flugunfähigen Baumwachteln, die piepsend über die riesigen Äste huschten. Die Welt unter ihm - die Welt der Menschen und Sefry - bedeutete hier oben nichts. Oder jedenfalls hatte er das als Knabe geglaubt, als er diesen Ort entdeckt und seine ersten Plattformen gebaut hatte. Damals hatte er gedacht, er würde wirklich hier leben. Doch selbst die Tyrannen konnten gefällt oder niedergebrannt werden. Selbst das Ewige konnte von einem hungrigen Köhler oder um der Laune eines Edelmanns willen getötet werden. Er hatte es mit angesehen, der Junge, der Aspar einst gewesen war. Es war eines der wenigen Male in seinem Leben gewesen, dass er geweint hatte. In diesem Augenblick hatte er gewusst, dass er Waldhüter werden wollte. Der Königswald, pah! Zumindest was das anging, hatte der junge Bursche im Wirtshaus Recht gehabt. Der König kam ein- oder zweimal im Jahr her, um zu jagen. Dies war Aspars Wald. Er stand unter seinem Schutz. Und irgendetwas geschah hier draußen. Die Sefry waren Lügner, ja, und man konnte ihnen nicht trauen. Doch wenn sie tatsächlich aus dem Wald mit seinen tiefen, sonnenlosen Schatten und seinen Myriaden von Höhlen flohen, dann musste es einen Grund dafür geben. Die Sefry traten nicht leichtfertig ins Sonnenlicht hinaus. Also vergewisserte er sich widerstrebend, dass er nichts liegen gelassen hatte, und begann, Astgabel um Astgabel hinabzusteigen, dorthin, wo die mächtigsten Äste, zu schwer, um ihr eigenes Gewicht zu tragen, sich in verworrenen, knorrigen Pfaden zur Erde neigten, um dort neue Wurzeln zu schlagen. 70 Deshalb nannte Aspar sie Tyrannen; im Schatten unter ihren wuchernden Ästen konnte kein anderes Grün gedeihen, außer Moos und ein paar Farnarten. Rehe und Hirsche jedoch konnten dort leben, von den knöchelhoch daliegenden Eicheln, und auch die Fleckenkatzen, die sie jagten. Wie das geschmeidige Exemplar dieser Rasse, das ihn aus seiner Lauerstellung heraus ein paar Äste weiter wachsam beobachtete. Die Katze war klein, nur dreimal so groß wie eine normale Hauskatze. In den Hasenbergen fand man noch Löwen, und hier gab es ein paar durchaus ernst zu nehmende Panter. Aber ihn würden sie in Ruhe lassen. Unhold bedachte ihn mit einem missmutigen Blick, als er den Fuß auf den schwarzen Humus setzte. Engel warf zur Begrüßung den Kopf hoch. »Schau mich nicht so an, du Schindmähre«, knurrte Aspar an Unhold gewandt. »Du hattest die ganze Nacht Zeit, dich herumzutreiben. Soll ich vielleicht anfangen, dich anzubinden oder dir die Vorderbeine zu fesseln?« Unhold blickte immer noch finster, doch er ließ Aspar aufsitzen, und in gemächlichem Schritt suchten sie sich zwischen den Wurzeln hindurch, die den Pferden manchmal bis an die Schulter reichten, einen Pfad zurück zur Alten Königsstraße, einem breiten Weg, der sich an einer Reihe niedriger Hügelketten entlangzog. Hier und dort war sie gepflastert und erhöht, sodass sie oberhalb der Wurzeln lag. Niedrig hängende Äste waren weggeschnitten worden, damit Wagen darunter hindurchfahren konnten. Für Aspar war die Alte Königsstraße eine Beleidigung, eine meilenlange Wunde im lebenden Wald. Doch es schien unwahrscheinlich, dass die Tyrannen eine so winzige Verletzung überhaupt zur Kenntnis nahmen. Gegen Mittag bekam er Durst. Er saß ab und stieg eine Böschung hinunter, wo, wie er wohl wusste, eine Quelle sprudelte. Wozu das Wasser in seinen Feldflaschen verschwenden? Außerdem war Quellwasser klar und kalt, besser als das abgestandene Regenwasser aus dem Dorf. Er fand das Wasser, das aus einem sandigen kleinen Becken unter einer Spalte im zerbröckelnden Fels hervorquoll. Von dort
71 aus rann es weiter in den Edwinsbach. Er kniete neben dem Quellbecken nieder und formte eine Schale mit den hohlen Händen; dann hielt er still wie eine Statue und versuchte zu begreifen, was er vor sich sah. Das natürliche Bassin war etwa so breit, wie sein Unterarm lang war, und das Wasser plätscherte wie gewöhnlich fröhlich hinein. Doch das Becken brodelte vor kleinen Schwarzfröschen, die bei seinem Auftauchen auseinander stoben. Ein halbes Dutzend von ihnen lag mit dem Bauch nach oben im Wasser. Und sie waren nicht allein. Ein Bachaal, eine gute Elle lang, lag verfaulend da, die Augen von einem blauen Film überzogen. Auch ein paar große Brummfrösche hockten dort. Sie waren alle am Leben, doch sie sahen nicht gesund aus und machten auch keinerlei Anstalten zu fliehen. Mit einem seltsamen Gefühl im Magen wich Aspar von der Quelle zurück. In all seinen Jahren im Wald hatte er so etwas noch nie gesehen. Nach einem Moment schritt er an dem Rinnsal entlang, dorthin, wo es in den Bach mündete. Bis zur Mündung war es voller toter Frösche, und weiter unten trieben auch tote Fische. Auch im Bach selbst lagen tote Fische, größere Tiere, die an die farnbewachsenen Ufer getrieben oder in natürlichen Wehren aus Zweigen und Wurzeln hängen geblieben waren. Das Frösteln in seinen Knochen wurde stärker; er holte seinen Bogen und hängte die Sehne ein. Dann ging er bachaufwärts. Irgendetwas hatte irgendwie den Bach vergiftet, und die Geschöpfe darin waren auf der Suche nach sauberem Wasser zu der Quelle gestrebt. Es gab Menschen, die die Wurzel des Sägedorns benutzten, um Fische zu betäuben, damit sie leichter zu fangen waren, doch das funktionierte nur in kleinen, stillen Gewässern. Um einen ganzen Bach zu töten, wären mehr Sägedornwurzeln nötig, als es auf der ganzen Welt gab. Hundert Schritte weiter bachaufwärts fand er immer noch tote Fische, ebenso nach weiteren hundert Schritten. Er wollte gerade kehrtmachen und zu seinen Pferden zurückkehren, als er sah, dass der Bach wieder rein dahinf loss. Um sicher zu sein, ging er noch ein Stück wei72 ter, kehrte dann um und bemerkte dabei etwas anderes. Ein Büschel Farn am Bachufer war deutlich gelb verfärbt, als sterbe es genauso wie die Fische und Frösche. Neben dem Farn fand er den Abdruck. Auf dem dichten Blätterhumus des Waldbodens blieben kaum Spuren zurück, aber am schlammigen Rand des Baches entdeckte er den Abdruck einer Tatze. Obgleich er voll Wasser gelaufen war, sodass die Ränder aufgeweicht waren, sah er im Großen und Ganzen aus wie der einer Katze. Doch es war nicht die Pfote einer Fleckenkatze gewesen, die ihn hinterlassen hatte, nicht einmal die eines Panters. Aspars Hand konnte den Abdruck kaum bedecken. Nicht einmal die Löwen aus den Hasenbergen wurden so groß. Wenn dieser Pfotenabdruck von einer Katze stammte, war sie größer als ein Pferd. Er zog die Kontur des Abdrucks mit dem Finger nach, und sobald er ihn berührte, schmeckte er Metall auf der Zunge, sein Magen krampfte sich zusammen und versuchte, seinen Inhalt von sich zu geben. Fast unwillkürlich stolperte er hastig vom Bach zurück und blieb fünfzehn Schritte entfernt stehen. Er zitterte, als hätte er Fieber. Vielleicht hätte er noch länger dort gestanden, doch er hörte Stimmen in der Ferne. Auf der Straße. Wo seine Pferde standen. So schnell und geräuschlos, wie er es vermochte, rannte er zurück; die Übelkeit verging so rasch, wie sie gekommen war. Sie waren zu viert, und sie hatten Unhold und Engel bereits entdeckt, als er die Straße erreichte. »Die tragen das Zeichen des Königs«, sagte einer, ein hoch aufgeschossener, schlaksiger junger Mann, dem ein Schneidezahn fehlte. »Wir sollten sie hier lassen, 's kommt nichts Gutes bei raus, wenn wir sie mitnehmen.« Das war ein älterer Mann; er war untersetzt, wurde langsam fett und hatte eine große Nase. Der Dritte, ein stämmiger Rotschopf, schien keine Meinung zu haben. Der Vierte hatte ganz offensichtlich sehr wohl eine, konnte sie jedoch, gefesselt und geknebelt, wie er war, nicht äußern. 73 Dieser Vierte schien nicht älter als sechzehn Jahre zu sein. In seinem unpraktischen Wams und den engen Beinkleidern sah er wie ein Städter aus. Seine Handgelenke waren vor dem Körper gefesselt und am Sattel einer alten Falbstute festgebunden. Sie hatten noch zwei weitere Pferde, einen braunen Wallach und eine Fuchsstute. Der Rotschopf musterte den Wald. Er hatte zweimal direkt dorthin geschaut, wo Aspar im Farn kauerte, doch er gab durch nichts zu erkennen, dass er ihn gesehen hatte. »Ein Mann des Königs würde seine Pferde doch nicht einfach so zurücklassen«, gab Schlaksig zu bedenken. »Entweder ist er tot, oder die beiden sind durchgebrannt. Seht ihr? Sie sind nicht angebunden.« »Solche Pferde braucht man nicht anzubinden«, meinte Großnase. »Wahrscheinlich ist er nur mal pissen gegangen.« »Dann ist er aber weit weggegangen«, schnaubte der Rotschopf. »Will er nicht, dass seine Pferde ihm beim Pissen zuschauen?« Aspar hatte die Kerle noch nie gesehen, doch er war sich ziemlich sicher, wer sie waren. Auf die drei passte die Beschreibung einiger Wegelagerer, die kürzlich von Wisgarth herübergekommen waren, um gelegentlich Händlern auf der Königsstraße aufzulauern.
Er wartete ab, was sie tun würden. Wenn sie seine Pferde nicht mitnahmen, würde er ihnen lediglich eine Weile folgen. Tatsächlich hatte er möglicherweise seine Mörder bereits gefunden; Schlaksig trug einen blutroten Mantel mit brauner Kante. Die Farben ähnelten dem königlichen Rot und Gold. »Wir nehmen sie mit«, beschloss Schlaksig. »Ich sage, wir schnappen sie uns. Selbst wenn er hier irgendwo in der Nähe ist, können wir mit all den Gäulen leicht einen Tag Vorsprung rausholen, während er zu Fuß gehen muss.« Er ging auf Unhold zu. »Ganz ruhig, du Klepper.« Aspar seufzte und legte einen Pfeil an die Sehne. Er konnte es sich nicht leisten, diesen dreien gegenüber großzügig zu sein. Selbstverständlich nahm Unhold ihm den ersten Teil der Arbeit ab. Sobald Schlaksig nahe genug war, bäumte sich das gewaltige Tier auf und versetzte ihm mit den Vorderhufen einen krachenden Schlag ge74 gen die Brust. Als Schlaksig auf dem Boden landete, starrte Großnase bereits den Pfeil an, der aus seinem Oberschenkel ragte. Rotschopf war schneller, als Aspar gedacht hatte, und er hatte ein schärferes Auge. Aspar schoss als Erster, doch er war noch immer ein wenig zittrig von jener geheimnisvollen Übelkeit, die ihn am Bach befallen hatte. Er verfehlte sein Ziel, und Rotschopfs Bogen sang. Der Waldhüter sah den Pfeil genau auf sich zukommen und sich dabei um die eigene Achse drehen, täuschend langsam, ein Streich, den ihm sein Verstand spielte. Er würde nie rechtzeitig ausweichen können. Doch der Pfeil streifte eine knorrige Ranke, glitt ab und wisperte an seiner Wange vorüber. »Beim Wüterich!«, fluchte Aspar. Das war knapp gewesen. Er rannte los, und Rotschopf tat es ihm gleich. Beide legten Pfeile an die Sehnen, während sie sich zwischen den Bäumen hindurchwanden. Rotschopf befand sich auf höherem Gelände. Er war leichtfüßig und ein wirklich guter Schütze. Die beiden Männer rannten zwischen den Bäumen nebeneinander her, allerdings näherten sie sich einander allmählich. Nach fünfzehn Ellen schoss Rotschopf seinen zweiten Pfeil ab. Er traf Aspar hoch an der Brust und prallte von seinem Lederharnisch ab. Aspar verfehlte seinen Gegner mit dem nächsten Schuss, und dann trennte sie ein Dickicht junger Bäume, das zu dicht war, als dass man hätte hindurchsehen können. Sechs Ellen voneinander entfernt kamen sie auf einer Lichtung heraus. Aspar blieb stehen, drehte sich zur Seite und ließ seinen Pfeil von der Sehne schnellen. Rotschopfs Geschoss schwirrte an ihm vorbei und verfehlte ihn fast um eine Drittelelle. Aspars Schaft durchbohrte Rotschopfs rechte Schulter. Der Mann schrie, als hätte man ihm den Bauch aufgeschlitzt, und ließ seinen Bogen fallen. Mit fünf raschen Schritten hatte Aspar ihn erreicht. Der Kerl griff nach seinem Dolch, doch Aspar trat ihm hart gegen den Arm, direkt am Ellenbogen. »Lieg still und bleib am Leben«, knurrte er. 75 Rotschopf schrie erneut auf, als ihm Aspar sowohl den verletzten als auch den gesunden Arm auf den Rücken bog, die Sehne vom Bogen des anderen schnitt und ihm damit die Hände fesselte. Aus einer langen Schnur, die er aus seiner Gürteltasche zog, knüpfte er eine Schlinge und legte sie Rotschopf um den Hals. »Geh voran«, befahl er, wobei er die Umgebung immer noch wachsam nach weiteren Feinden absuchte. Schlaksig lag nach wie vor am Boden, als sie die Pferde erreichten, und Unhold war noch nicht fertig mit ihm. Die Vorderbeine des Braunen hoben und senkten sich, und er war bis zum Widerrist hinauf mit Blut bespritzt. Großnase lag auf dem Boden und starrte die scharlachroten Lachen an. Als sie bei ihm ankamen, gaben Rotschopfs Beine nach, und er brach zusammen; seine Augen waren geschlossen, und er atmete schwer und keuchend. Aspar schnitt die Zügel vom Zaum der Falbstute und verschnürte Großnase damit. Um Schlaksig kümmerte er sich nicht; seine zerschmetterten Rippen waren ihm in die Lunge getrieben worden, und er war an seinem eigenen Blut erstickt. Während all dem hatte der junge Bursche auf dem Pferd alle möglichen erstickten Grunz- und Quietschlaute von sich gegeben. Erst als er sich vergewissert hatte, dass die Räuber sicher gefesselt waren, wandte Aspar sich ihm zu und zog den Knebel herunter. »Tech thanka üb, meanfroa«, begann der Junge in etwas unbeholfenem Almanisch. »Mikel tanks. Ya Ih bida üb, unbinda mih.« »Ich spreche die Sprache des Königs«, brummte Aspar, obwohl er den Burschen ohne weiteres verstehen konnte. »Oh«, erwiderte dieser, »ich auch. Ich dachte nur, Ihr seid bestimmt von hier.« »Bin ich auch. Und da ich nicht blöd bin, habe ich die Sprache des Königs gelernt, genau wie jeder andere in seinen Diensten«, entgegnete Aspar gereizt. »Außerdem liegt Virgenya gleich auf der anderen Seite der Berge, deshalb ist Virgenyanisch hier genauso gebräuchlich wie jede andere Sprache.« 76 »Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte Euch nicht kränken. Was ich sagen wollte, war, vielen Dank, und könntet Ihr bitte auch meine Hände losbinden?« Aspar warf einen Blick auf den Knoten. Besonders kompliziert war er nicht. »Wahrscheinlich«, sagte er.
»Und? Wollt Ihr es dann nicht tun?« »Warum haben sie Euch gefesselt?« »Damit ich nicht weglaufen kann. Sie haben mich ausgeraubt und gefangen genommen. Ihr habt mir wahrscheinlich das Leben gerettet.« »Wahrscheinlich.« »Wofür ich, wie gesagt, dankbar bin.« »Wieso?« Der junge Mann blinzelte. »Nun ja - äh - weil ich glaube, dass mir im Leben noch viel zu tun bleibt, viele wertvolle -« »Nein«, wehrte Aspar ab; er sprach langsam, als rede er mit einem Kind. »Warum haben sie Euch gefangen genommen, nachdem sie Euch ausgeraubt hatten?« »Sie wollten wohl Lösegeld für mich verlangen.« »Warum sollten sie denken, dass sich das lohnen würde?« »Weil ich -« Misstrauisch hielt der junge Bursche inne. »Ihr seid genau wie die, nicht wahr? Ihr seid auch nur ein Wegelagerer. Deshalb wollt Ihr mich nicht losschneiden. Ihr glaubt auch, dass Ihr etwas aus mir herausholen könnt.« »Junge«, sagte Aspar, »seht Ihr denn nicht an meinen Farben und Abzeichen, dass ich der Waldhüter des Königs bin? Ja, nun, das ist eine Art von Blödheit. Aber einen bewaffneten Mann zu beleidigen, wenn man selbst gefesselt ist, ist eine andere.« »Ihr seid der Waldhüter?« »Normalerweise lüge ich nicht.« »Aber ich kenne Euch nicht. Woher soll ich das wissen? Ihr könntet den echten Waldhüter getötet und seine Sachen gestohlen haben.« Aspar spürte, wie ein Lächeln an seinen Lippen zupfte. Er widerstand ihm. »Na ja, da ist was dran«, gab er zu. »Aber ich bin ein Mann 77 des Königs, und ich habe nicht vor, Euch um Eures Pelzes willen oder aus anderen Gründen zu verkaufen. Wer seid Ihr?« Der junge Mann richtete sich stolz auf. »Ich bin Stephen Darige. Von den Chavelkap-Dariges.« »Ach ja? Ich heiße Aspar White, von den Aspar-White-Whites. Was führt Euch in den Königswald, ChavelkapDarige? Habt Ihr Euch verfahrigt?« »Oh, sehr gut«, erwiderte der Junge sarkastisch. »Ein überaus gelungener Reim. Ich bin auf der Durchreise, auf der Königsstraße, die jedermann offen steht.« »Nicht wenn Ihr Händler seid. Dann kostet es Wegezoll.« »Mein Vater ist Händler, aber ich nicht. Ich bin unterwegs zum Kloster d'Ef ... ich war dorthin unterwegs, als diese Strauchdiebe mich überfallen haben. Ich soll dort ins Noviziat eintreten.« Aspar betrachtete den Jungen einen Moment lang, zog dann seinen Dolch und schnitt seine Fesseln durch. »Danke«, sagte Stephen und rieb sich die Handgelenke. »Wieso habt Ihr es Euch anders überlegt? Seid Ihr ein frommer Mann?« »Nein.« Aspar deutete auf die am Boden liegenden Männer. »Ein Priester, wie? Versteht Ihr etwas vom Heilen?« »Ich war auf der Akademie in Ralegh. Ich kann Wunden verbinden und gebrochene Knochen richten.« »Dann zeigt mal, was Ihr könnt. Zieht die Pfeile aus den beiden heraus und sorgt dafür, dass wenigstens einer von ihnen nicht verblutet. Ich muss mit ihnen reden.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Treiben sich noch mehr von den Kerlen hier herum, oder ist das die ganze Bande?« »Das sind alle, die ich zu Gesicht bekommen habe.« »Gut. Ich bin gleich zurück.« »Wo wollt Ihr denn hin?«, fragte Darige. »Angelegenheiten des Königs. Bin gleich wieder da.« Aspar kundschaftete die Straße hinter ihnen eine halbe Meile weit aus, nur um sicher zu sein, dass ihnen keine weiteren Banditen folgten. 78 Auf dem Rückweg ritt er den Edwinsbach hinauf und suchte nach weiteren Spuren des Wesens, das den Pfotenabdruck hinterlassen hatte, doch er konnte nichts finden. Vermutlich war die Kreatur im Bach weitergewatet. Hätte er genug Zeit gehabt, so hätte er die Fährte wahrscheinlich finden können, doch er hatte keine Zeit. Der Junge schien ehrlich genug, aber man konnte nie sicher sein. Und er bekam allmählich das Gefühl, dass es sehr wichtig war herauszufinden, was für ein Massaker es genau am Taffbach gegeben hatte. Als er zurückgeritten kam, erhob sich Stephen gerade auf unsicheren Beinen. Er hatte über etwas gekniet, das sehr nach einer Pfütze Erbrochenem aussah. »Nun, Chavelkap-Darige, wie sieht's aus?« Stephen zeigte auf Schlaksig. »Er ist tot«, verkündete er schwach. Aspar konnte sich nicht beherrschen; er lachte laut auf. »Was - was ist daran so komisch?«
»Ihr. Natürlich ist er tot. Bei Grims Augen, seht ihn Euch doch an!« »Jetzt hört mal -« Stephens Augen quollen hervor und begannen zu tränen; er krümmte sich, als wolle er sich erneut übergeben, dann jedoch richtete er sich wieder auf. »Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Nicht so.« »Nun, es gibt sehr viel mehr Tote als Lebende, wisst Ihr?«, entgegnete Aspar. Dann erinnerte er sich an seinen ersten Toten und fuhr mit freundlicherer Stimme fort: »Habt Ihr sie versorgt?« »Ich - ich habe mit einem angefangen ...« Stephen sah ihn betreten an. »Ich hätte sie Euch nicht einfach so überlassen sollen. Es war mein Fehler.« »Ich versuche es ja! Es ist nur, nun ja, das Blut -« »Wie gesagt«, wiederholte Aspar schroff, »mein Fehler. Ich hätte mir denken können, dass Ihr so etwas noch nie wirklich gemacht habt. Ich mache Euch keine Vorwürfe.« »Oh«, sagte Stephen. »Glaubt Ihr, die beiden da sind auch tot?« »Das bezweifle ich sehr. Ich habe sie in die Muskeln getroffen, versteht Ihr? Nicht dort, wo die Organe sind.« 79 »Warum? Töten scheint Euch nicht viel auszumachen.« »Ich habe Euch doch gesagt, dass ich sie verhören muss.« »Oh.« »Fangen wir noch mal von vorn an. Könnt Ihr Verbände schneiden ? Wenigstens das?« »Das habe ich schon mal gemacht.« »Gut. Schauen wir also, ob ich diese Kerle nicht vor Mutter Tod bewahren kann, damit Ihr Eure nächste Mahlzeit bei Euch behalten könnt, einverstanden?« »Ja«, murmelte Stephen. Aspar kniete neben Rotschopf nieder, der zwar bewusstlos war, aber noch atmete. Der Pfeil saß im Schulterknochen fest, also musste er herausgeschnitten werden. Aspar machte sich an die Arbeit, und Rotschopf stöhnte. »Was wollt Ihr denn von ihnen wissen?«, brachte Stephen hervor. »Ich will wissen, wo sie vor zwei Tagen waren«, knurrte Aspar, packte den Pfeilschaft und bewegte ihn vor und zurück. »Da haben sie mich entführt.« »Wo?« »Vor zwei Tagen.« »Nicht wann - wo?« Der Pfeil kam mitsamt der Spitze unversehrt heraus. Aspar presste das Stück Stoff, das Stephen zurechtgeschnitten hatte, in die Wunde. »Haltet das mal«, befahl er. Stephen gab ein würgendes Geräusch von sich, tat jedoch, wie ihm geheißen. Aspar griff nach einem neuen Stoffstreifen und begann ihn um Rotschopfs Schulter zu wickeln. »Wo?«, wiederholte er. »Fest drauf drücken.« »Auf der Königsstraße, zwei Tagesreisen hinter uns«, antwortete Stephen. »Und wo war das? Näher bei Wexdal oder bei Forst?« »Ich weiß es nicht genau.« »Nun, hattet Ihr die Eulengruft schon überquert, als sie Euch geschnappt haben?« »Ist das ein Fluss? Ich bin mir nicht sicher.« 80 »Ja, die Eulengruft ist ein Fluss. Ihr hättet ihn nicht übersehen können. Eine kleine Steinbrücke führt darüber hinweg. Jetzt könnt Ihr loslassen.« Stephen hob die Hände und starrte das Blut darauf an; seine Augen waren ein wenig starr. »Ach. Ihr meint den Pontro Oltiumo.« »Ich meine, was ich sage. Was ist denn das für ein Kauderwelsch?« »Altvitellianisch«, erklärte Stephen. »Die Sprache der Hegemonier, die diese Brücke vor tausend Jahren errichtet haben. Die Straße hier haben sie auch gebaut. Eule muss eine Verballhornung von Oltiumo sein.« »Wie kommt Ihr denn darauf?« »Ich habe mir Landkarten angeschaut, ehe ich aufgebrochen bin. Karten der Hegemonier.« »Wieso habt Ihr geglaubt, dass Euch Landkarten, die vor tausend Jahren gezeichnet worden sind, irgendetwas nützen würden?« »Die Hegemonier haben bessere Karten gezeichnet, als wir es tun. Genauere Karten. Ich habe Kopien dabei, wenn Ihr sie sehen wollt.« Aspar starrte ihn einen Moment lang an, dann schüttelte er den Kopf. »Priester«, brummte er, als wäre es ein Schimpfwort. »Nehmen wir uns den anderen vor.« Großnase war ein weniger schwieriger Fall. Der Pfeil war glatt durch den Oberschenkelmuskel gedrungen, ohne den Knochen auch nur zu streifen. Wenn Schlaksig und seine Bande Darige östlich der Eulengruft überfallen hatten, hätten sie unmöglich auch nur in der Nähe des Taffbachs sein können. Damit schied diese Möglichkeit aus. Also hieß es wohl weiter zum Taffbach, nachdem er sich überlegt hatte, was er mit diesen Kerlen machen sollte. Was immer er auch beschloss, es würde ihn auf jeden Fall mindestens eine Tagesreise weit von seiner Route
abbringen. Das war nicht zu ändern, wenn er die Männer nicht töten und den Priester allein weiterschicken wollte. Der Gedanke war verlockend. »Helft mir, die Kerle auf ihre Pferde zu setzen«, knurrte er, als sie fertig waren. 81 »Wo reiten wir denn hin?« »Das werdet Ihr schon sehen.« »Ich meine, ich komme zu spät ins Kloster.« »Wirklich? Ich werde versuchen, die Tränen zurückzuhalten.« »Wieso - wieso seid Ihr so wütend auf mich, Waldhüter? Ich habe Euch doch nichts getan. Es ist nicht meine Schuld.« »Schuld? Was soll das heißen, und was macht das schon? Ihr seid allein von Virgenya aus aufgebrochen, nicht wahr? Nur Ihr und Eure Karten, hab ich Recht?« »Ja.« »Warum? Welches Buch hat Euch diese Flause in den Kopf gesetzt?« »Presson Manteo hat das auch getan, vor fast hundert Jahren, als er das Anvionnom verfasst hat. Er hat gesagt -« »Es ist doch gleich, was er gesagt hat, oder? Euch hat es jedenfalls überhaupt nichts genützt.« »Nun ja, jetzt weiß ich auch, dass das dumm war«, erwiderte Stephen. »Das erklärt trotzdem noch nicht, warum Ihr wütend auf mich seid.« Eigentlich nicht. Aspar holte tief Atem. Der Junge schien kein übler Bursche zu sein, er war einfach nur eine Last, die Aspar im Moment nicht gebrauchen konnte. Und dieser überhebliche Tonfall und der Flachland-Akzent machten ihn nicht gerade liebenswerter. »Ich bekomme jedes Jahr ein paar von Eurer Sorte zu Gesicht«, erklärte er. »Jüngelchen aus adligem Hause, die in der Wildnis herumtollen. Was ich meistens zu sehen bekomme, sind ihre Leichen.« »Ihr meint, ich bin Euch eine Last.« Aspar zuckte mit den Schultern. »Kommt. Ich bringe Euch an einen sicheren Ort.« »Zeigt mir den Weg, ich gehe allein. Ihr habt mir das Leben gerettet; ich will Euch nicht länger behelligen.« »Ich muss sowieso die Gefangenen mitnehmen«, sagte Aspar. »Reitet mit mir.« Er schickte sich an, in den Sattel zu steigen. 82 »Begraben wir ihn denn nicht?«, fragte Stephen und deutete auf Schlaksig. Aspar dachte nach, dann ging er zu dem toten Wegelagerer hinüber. Er schleifte den Leichnam etwa drei Schritt weit vom Weg herunter und kreuzte ihm die Arme über der Brust. »So«, verkündete er mit übertriebener Fröhlichkeit. »Ein Waldhüterbegräbnis. Möchtet Ihr ein paar Worte sprechen?« »Ja. Es gibt da eine angemessene Liturgie -« »Dann sagt sie im Reiten auf. Wir müssen vor der Dunkelheit ankommen.« Wie die meisten Priester - und Knaben - konnte Darige anscheinend nicht aufhören zu reden. Binnen eines Glockenschlages hatte er aufgehört, wegen der Zurechtweisung zu schmollen, und begann, in einem fort über die nichtigsten Dinge zu plappern: über die Verwandtschaft der almanischen und der hansischen Sprache, über die verschiedenen Dialekte Virgenyas, über die guten Eigenschaften bestimmter Sterne. Er bedachte Bäume, Vögel und Hügel mit Namen, die ellenlang, vollkommen unaussprechlich und vollkommen falsch waren, und hielt sich für schlau. Und er wollte immer wieder anhalten, um sich irgendetwas anzusehen. »Da ist noch einer«, rief er zum fünften Mal innerhalb von zwei Glockenschlägen. »Könntet Ihr einen Moment warten?« »Nein«, erwiderte Aspar. »Wirklich! Nur einen Moment.« Stephen saß ab, zog eine Rolle Papier aus seiner Satteltasche, die wieder mit seinen Habseligkeiten gefüllt war, und löste ein Blatt ab. Aus einem Beutel an seinem Gürtel fischte er ein Stück Holzkohle. Dann eilte er zu dem halb mannshohen Stein hinüber, der am Straßenrand stand. Entlang der Alten Königsstraße gab es eine Menge davon; sie sahen alle aus wie dieser -viereckige Säulen, jede Seite zwei Handspannen breit. Die meisten waren von den darunter wuchernden Wurzeln aus dem Boden gedrückt worden wie kranke Zähne. »Auf dem hier steht noch etwas!« 83 »Und?« Stephen presste das Blatt Papier gegen den Stein und begann, es mit der Kohle einzuschwärzen. »Was in Grims Namen macht Ihr da?« »Einen Abrieb - den kann ich dann später genau untersuchen. Seht Ihr? Die Schrift kommt durch.« Er hielt das Blatt hoch, und Aspar sah, dass neben der Körnung des Steins und den Abdrücken der Flechten tatsächlich einige eckige Runen zu erkennen waren. »Altvitellianisch«, erklärte Stephen triumphierend. »Der hier kennzeichnet die Grenze zwischen zwei Medixschaften und gibt an, wie weit es zum nächsten Wachturm vor uns und zum letzten hinter uns ist.« Er kniff
die Augen zusammen. »Aber hier wird die Straße als die Blutige Fährte bezeichnet. Ich frage mich, was das heißt. Auf den Landkarten heißt sie immer Vio Caldatum.« »Wieso ist Euer Kopf voll von solchem Zeug?«, wollte Aspar wissen. »Das ist meine Berufung - alte Sprachen, Geschichte.« »Klingt ja sehr nützlich.« »Wenn wir keine Vergangenheit haben, haben wir auch keine Zukunft«, entgegnete Stephen fröhlich. »Die Vergangenheit ist tot, und die Blutige Fährte ist ein alter Aberglaube.« »Ah! Ihr habt den Namen also schon einmal gehört. Eine hiesige Legende? Was hat es damit auf sich?« »Das interessiert Euch bestimmt nicht.« »Ich habe doch gerade gesagt, dass es mich interessiert.« »Sollte es aber nicht. Ist nur Altweibergeschwätz.« »Vielleicht. Aber manchmal bewahrt sich das gemeine Volk eine Art primitiver Weisheit, die die Gelehrten vergessen haben. Bruchstücke echter Geschichte, verpackt in simple Gepflogenheiten und unterhaltsam dargestellt, sodass gewöhnliche Leute es verstehen können, hier und da durch Missverständnisse verzerrt, aber immer noch mit einem gewissen Wahrheitsgehalt für die, die den nötigen Verstand und die nötige Bildung besitzen, um sie zu entschlüsseln.« 84 Aspar lachte. »Da bin ich doch stolz darauf, zum >gemeinen Volk< zu gehören«, erklärte er. »Ich wollte damit nicht sagen, dass Ihr schlichten Verstandes wärt. Bitte, könnt Ihr mir nicht davon erzählen? Von der Blutigen Fährte?« »Wenn Ihr auf Euer verdammtes Pferd steigt und weiterreitet.« »Oh - ja, gewiss, natürlich.« Behutsam rollte er das Blatt Papier zusammen, verstaute es in einem Leinenbeutel und saß wieder auf. »Da gibt's wirklich nicht viel zu erzählen«, meinte der Waldhüter, als sie wieder losritten. »Es heißt, vor langer Zeit, als die dämonischen Scaosen die Welt regierten, hätten sie sich Menschen gehalten wie Windhunde und sie auf dieser Straße Rennen laufen lassen, immer hinauf und hinunter, bis ihre Füße bis auf die Knochen durchgelaufen waren. Sie haben Wetten abgeschlossen und sie immer weiterlaufen lassen, bis alle tot zusammengebrochen waren. Es heißt, die Straße war von einem Ende zum anderen rot vom Blut ihrer wund gelaufenen Füße.« »Scaosen? Ihr meint wohl die Skasloi?« »Ich erzähle bloß eine Geschichte.« »Ja, aber seht Ihr, mit einem Körnchen Wahrheit darin! Ihr nennt sie Scaosen, während sie im Lierischen als Echsel bekannt sind. In Hornladh nennt man sie Shasl. Die alte Bezeichnung lautet Skasloi, und es hat sie wirklich gegeben. Die Geschichte zweifelt nicht im Mindesten daran. Es waren die ersten Virgenyaner, die die Schlacht gegen sie angeführt haben, mit Hilfe der Heiligen.« »Ja, ich kenne die Geschichte. Ich selbst habe noch nie einen Scaos gesehen.« »Nun ja, sie sind ja auch alle tot.« »Dann ist es doch nicht weiter wichtig, ob ich an sie glaube oder nicht, oder?« »Also, das ist nicht gerade eine sehr aufgeklärte Denkweise.« Aspar zuckte die Schultern. Stephen rieb sich das stoppelige Gesicht. »Ob dies wirklich eine Straße der Skasloi gewesen sein könnte, ehe sie von den Vitellianern benutzt wurde?« 85 »Warum nicht? Wenn Ihr an so etwas glaubt - angeblich treiben auf diesem ganzen Stück Alvs ihr Unwesen. Die Alten sagen, die Alvs erscheinen als weißer Nebel oder als Gespenster von solch schrecklicher Schönheit, dass es den Tod bedeutet, ihrer ansichtig zu werden. Die Sefry behaupten, sie seien die hungrigen Geister der Scaosen. Die Menschen lassen Sachen für sie zurück. Manche bitten sie um Gefälligkeiten. Die meisten versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen.« »Was tun diese Alvs sonst noch?« »Sie stehlen Kinder. Bringen Krankheiten. Verderben die Ernte. Bringen Menschen dazu, Böses zu tun, indem sie ihnen böse Worte ins Ohr raunen. Sie können Euer Herz stillstehen lassen, indem sie einfach ihre Nebelfinger hineinstecken. Natürlich habe ich noch nie einen Alv gesehen, also -« »- glaubt Ihr nicht an sie. Ja, Waldhüter, ich glaube, ich fange an, Euch und Eure Philosophie zu verstehen.« »Werlic? Gut. Könntet Ihr nun bitte eine Weile mit dem Geplapper aufhören? Damit ich es hören kann, falls sich Alvs oder Uttins oder Booghins an uns anschleichen wollen.« Wundersamerweise schwieg Stephen nach diesen Worten tatsächlich; während sie weiterritten, studierte er eingehend seinen Kohleabrieb. Nach einer Weile wünschte Aspar sich fast, dass er wieder losschwatzen möge, denn die Stille ließ in ihm unliebsame Erinnerungen an die Quelle, die toten Frösche und den Tatzenabdruck aufsteigen, der die Erde so verletzt hatte. Sie gemahnte ihn daran, dass es wirklich Dinge im Wald gab, die er noch nie gesehen hatte, in all den Jahren nicht, die er nun schon darin umherstreifte. Und wenn es hier ein unbekanntes Tier gab, warum nicht auch den Dornenkönig? Ein Lied kam ihm in den Sinn, das sie als Kinder gesungen hatten, als er noch bei den Sefry gelebt hatte. Es
gehörte zu einem Ringelreihen, der damit zu enden pflegte, dass sich alle tot stellten, doch er wusste die Einzelheiten nicht mehr. An das Lied erinnerte er sich jedoch. 86 Plappernd und plaudernd Taler, musst wandern Der Dornkönig schreitet von ein'm Ort zum andern. Wispernd und raunend Hoch über ihm Zieh'n Gry ff ins und Mantikore dahin. Zaudernd und trödelnd Siehst du's Gesicht Des Dornkönigs, so frisst er dich. Lirum, larum Ein bei ein Spuckt er dich aus, und der Himmel stürzt ein. »Was war das?«, fragte Stephen. »Was?«, brummte Aspar und fuhr aus seinen Erinnerungen auf. »Ihr habt gesungen.« »Nein, hab ich nicht.« »Ich dachte, Ihr hättet gesungen.« »Es war nichts. Vergesst es.« Stephen zuckte die Achseln. »Wie Ihr wollt.« Aspar schnaubte und nahm die Zügel in die andere Hand. Er wünschte, er könnte auch so leicht vergessen. Stattdessen fiel ihm eine Strophe eines anderen Liedes ein, eines Liedes, das Jesp immer gesungen hatte. Wenn gellend schmettert und lauthals schallt Das Hörn vom Hügel, wie Gebein hell und alt Der Dornige Herrscher von Bach und Wald Wandelt wie damals, als die Welt still und kalt. 87 5. Kapitel Die Prinzessin Sie haben uns gesehen!«, keuchte Austra. Anne beugte sich hinter dem Stamm der Eiche hervor, die Finger fest in die raue Rinde gekrallt. Hinter ihr wieherte ihre Schimmelstute leise und stampfte mit dem Huf auf. »Psst, Windschnell«, flüsterte sie. Die beiden Mädchen standen im Schatten des Waldes am Rand der Wiese, die als die Schleppe bekannt war. Drei Reiter trabten durch das von Veilchen gesprenkelte Gras und drehten die Köpfe dabei hierhin und dorthin. Die Männer trugen die dunkelorangefarbenen Überwürfe der leichten Reiterei des Königs, und das Sonnenlicht glitzerte auf ihren Rüstungen. Sie waren vielleicht noch einen halben Bogenschuss weit entfernt. »Nein«, wandte Anne sich an Austra. »Haben sie nicht. Aber sie suchen nach uns. Ich glaube, das da vorn ist Hauptmann Cathond.« »Glaubst du wirklich, dass sie ausgeschickt worden sind, um nach uns zu suchen?« Austra duckte sich noch tiefer ins Gebüsch. »Ganz sicher.« »Dann lass uns tiefer in den Wald gehen. Wenn sie uns sehen -« »Ja, was dann?«, überlegte Anne laut. »Das hab ich doch gerade gesagt. Ich -« Austras blaue Augen wurden so rund wie goldene Reytoirtaler. »Nein. Anne!« Grinsend zog sich Anne die Kapuze über ihr rotgoldenes Haar. Dann griff sie nach Windschnells Zügeln, packte den Sattel und schwang sich hinauf. »Warte, bis wir außer Sicht sind. Wir treffen uns in Eslen-des-Schattens.« »Kommt überhaupt nicht in Frage!« Austra bemühte sich, die Stimme nicht zu heben. »Du bleibst hier!« Anne presste die Schenkel gegen die Flanken ihres Pferdes. »Vorwärts, Windschnell«, befahl sie. 88 Die Stute brach in vollem Galopp aus dem Wald hervor, und ein paar Blätter wirbelten im Luftzug hinter ihr her. Vielleicht zehn Herzschläge lang war nur das gedämpfte Hämmern der Hufe auf dem feuchten Boden zu vernehmen. Dann brüllte einer der Reiter los. Anne warf einen Blick über die Schulter und sah, dass sie Recht gehabt hatte: Das dort hinter dem Geschrei war Hauptmann Cathonds rotes Gesicht. Die Männer warfen ihre weißen Wallache herum, um die Verfolgung aufzunehmen. Anne schrie vor Freude, während der Wind ihr ins Gesicht blies. Die Schleppe war genau das Richtige für ein Wettrennen, lang, grün und wunderschön. Zu ihrer Rechten hatte sich der Wald in Frühlingslaub, Hartriegel- und Wildkirschenblüten gehüllt. Zur Linken senkte die Schleppe die Schulter steil zu dem Marschland hinunter, das den breiten Magierfluss säumte, der honiggolden ans Ufer plätscherte. Windschnell war der leibhaftige Donner, und Anne war das gleißende Auge des Blitzes. Sollten sie doch versuchen, sie zu fangen! Sollten sie doch. Die Schleppe krümmte sich um den Südrand der Insel herum und wandte sich dann nach rechts, um zu den
Zwillingshügeln Tom Woth und Tom Cast anzusteigen. Anne wartete die Biegung jedoch nicht ab, sondern ließ Windschnell mit einem leichten Zupfen an den Zügeln eine scharfe Wendung vollführen, sodass Grasklumpen und schwarze Erde hinter ihnen auf stoben, und ritt wieder in den Wald hinein. Sie duckte sich unter niedrigen Ästen hindurch und hielt sich fest, als das Pferd über einen kleinen Wasserlauf setzte. Ein schneller Blick zurück - die Reiter waren bereits weiter hinten in den Wald abgebogen; sie hofften, ihr den Weg abschneiden zu können. Dort jedoch war das Gehölz voller junger Schösslinge, und sie würden nur langsam vorankommen. Sie dagegen war in eine Schneise hineingeritten, die vor ein paar Jahren in den Wald gebrannt worden war. Das war eine ihrer Lieblingsabkürzungen, denn hier gab es nicht viel Unterholz, und Windschnell konnte blitzschnell um die gewaltigen Eschen und Eichen herumflitzen. Anne krähte, als sie unter einem umgestürztem Baum 89 hindurchfegten, der schräg an einem anderen lehnte, dann einen Hügel hinauf, nach rechts und wieder hinaus auf die Schleppe, dort, wo sie sich in einem weiten Bogen zu Tom Woth und Tom Cast hinaufzog. Als sie an Höhe gewannen, tauchten die höchsten Türme und Zinnen von Eslen über den Bäumen auf. Wimpel flatterten in der Brise. Als die Männer wieder aus dem Wald hervorkamen, waren sie doppelt so weit hinter ihr wie zu Beginn der Verfolgungsjagd, und es waren auch nur noch zwei. Zufrieden mit sich bog Anne um den Fuß von Tom Woth und hielt wieder auf den Südrand der Insel zu. Jetzt war das Ganze keine Herausforderung mehr; wenn sie die Schlange erreichte, würden sie ihre Darbietung gar nicht mitbekommen. Wirklich schade. »Braves Mädchen, Windschnell«, lobte sie und verlangsamte das Tempo ein wenig. »Jetzt verlier mir bloß nicht die Nerven, hörst du? Du musst tapfer sein, aber dann kannst du dich ausruhen, und ich besorge dir auch etwas Gutes zu fressen. Ich verspreche es.« Dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung und schnappte nach Luft. Der dritte Reiter war durch irgendein Wunder soeben auf die Schleppe herausgekommen, fast auf gleicher Höhe wie sie. Und schlimmer noch, ein vierter Mann in einem roten Umhang auf einem dunkelbraunen Pferd erschien dicht hinter ihm. Überraschung zuckte heiß über Annes Gesicht. »Heda! Halt!« Sie erkannte Hauptmann Cathonds Stimme. Ihr Herz pochte, doch sie trieb Windschnell energisch voran, um den Hügel herum. Zusammen sahen Tom Woth und Tom Cast aus wie die üppigen Brüste einer Frau. Anne ritt ihr genau in den Ausschnitt. »Langsam, verdammte Närrin!«, brüllte Cathond. »Da ist nichts mehr auf der anderen Seite!« Er irrte sich. Es gab eine Menge auf der anderen Seite - eine überwältigende Aussicht auf die grünen Marschen und tief unten den Fluss und die Südmoore. Wenn man zwischen den Hügeln hervorkam, schien es einen schrecklichen, wunderbaren Moment lang so, als läge die ganze Welt vor einem ausgebreitet. 90 »Los geht's, Windschnell!«, schrie Anne, als sie über den Rand des Nichts hinausschössen und die Stute mit allen vier Beinen in der Luft war. Jetzt, wo es zu spät war, verspürte sie einen Stich der Furcht, so wirklich, dass sie sie fast schmecken konnte. Ein Augenblick dehnte sich zur Ewigkeit aus. Anne streckte sich flach über den Pferdehals und krallte die Hände in Windschnells Mähne. Der warme Pferdedunst, der Geruch des Sattels nach Öl und Leder und der rauschende Luftzug waren ihr ganzes Universum. Ihr Bauch war voll kitzelnder Federn. In köstlichem Schrecken kreischte sie auf, und dann landeten die Hufe ihres Pferdes in der Schlange, einer schmalen Schlucht, die sich den Steilhang hinunterwand. Windschnell überschlug sich fast, und ihre Hinterhand scherte unbeholfen zur Seite aus. Dann fasste sie Tritt und sprang am Rand der Schlange hangabwärts, hin und her, glitt einmal fast haltlos dahin, dann raffte sie sich wieder auf und setzte zum nächsten Sprung an. Die Welt wirbelte vorbei, und Annes Angst war so sehr mit einem schwindelnden Hochgefühl vermischt, dass das eine nicht mehr vom anderen zu unterscheiden war. Die Stute stolperte so heftig, dass sie beinahe kopfüber gestürzt wäre, und wenn das geschah, wäre es ihrer beider Ende. So sei es denn, dachte Anne. Wenn ich sterbe, sterbe ich eben, und zwar glorreich! Nicht wie ihre Großmutter, die wie ein kranker Hund im Bett dahingesiecht war, ganz gelb geworden war und schlecht gerochen hatte. Nicht wie ihre Tante Fiene, die im Kindbett verblutet war. Dann jedoch wusste Anne, dass sie nicht sterben würde. Windschnell hatte einen sanfteren Abhang unter den Hufen und fand leichter Halt. Die riesigen Trauerweiden am Fuße der Schlange winkten sie zu sich heran, doch ehe sie in ihrem schützenden Schatten verschwand, warf sie einen letzten Blick den Weg hinauf, den sie gekommen war. Sie konnte die Silhouetten ihrer Verfolger sehen, die immer noch am Rand des Steilhangs verharrten. Natürlich wagten sie nicht, ihr zu folgen. Fürs Erste war sie entkommen. Mit ein bisschen Glück sogar für den ganzen restlichen Tag. 91 Windschnells Flanken zitterten, deshalb saß Anne ab, um sie ein Stück im Schritt zu führen. Die Wachen würden ewig brauchen, um auf einem der üblichen Wege hier herunterzugelangen, und sie mussten dabei zwischen zwanzig verschiedenen Routen wählen. Lächelnd schaute sie zu dem Dach aus knorrigen Weidenästen hinauf, orientierte sich und machte sich in östlicher Richtung auf den Weg nach Eslen-des-Schattens.
»Das war fantastisch, Windschnell«, sagte sie. »Die haben nicht mal daran gedacht, uns zu folgen!« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Jetzt suchen wir Austra und verstecken uns den ganzen Tag in den Grüften. Dort werden sie nicht nach uns suchen.« Das Rauschen ihres Blutes und Windschnells Keuchen klangen ihr so laut in den Ohren, dass Anne den anderen Reiter erst hörte, als er bereits um die Biegung hinter ihnen kam. Sie wirbelte herum, blieb stehen und starrte ihn an. Es war der Mann auf dem Dunkelbraunen, der mit dem roten Umhang - der Neuankömmling. Er war groß und blond, hatte aber dunkle Augen; ein junger Mann, vielleicht neunzehn Jahre alt. Sein Pferd atmete ebenso schwer wie Windschnell. »Beim heiligen Tarn, was für ein Ritt!«, rief er. »Völlig verrückt. Du, mein Junge, bist -« Er stockte und starrte Anne blinzelnd an. »Ihr seid ja gar kein Junge«, stellte er fest. »Ich war auch noch nie einer«, erwiderte Anne kalt. Sein Blick hing jetzt wie gebannt an ihr, und seine Brauen hoben sich. »Ihr seid Prinzessin Anne!« »Ach ja? Und was kümmert Euch das?« »Nun, ich weiß nicht genau. Ich habe geglaubt, die Königliche Reiterei sei hinter einem Dieb oder einem Wilderer her. Also dachte ich, ich helfe ihnen ein bisschen, nur so zum Spaß. Jetzt bin ich ganz durcheinander.« »Bestimmt hat meine Mutter sie geschickt. Wahrscheinlich habe ich irgendetwas Sterbenslangweiliges vergessen, das ich hätte tun sollen.« Sie schob den Fuß in den Steigbügel und schwang sich wieder in den Sattel. 92 »Wie? So schnell?«, fragte der Mann. »Aber ich habe Euch doch gerade erst erwischt. Bekomme ich nichts dafür?« »Ich kann Euch jederzeit wieder abhängen«, sagte Anne. »Ihr hattet mich nicht abgehängt«, wiedersprach er. »Ich bin gleich hinter Euch da heruntergekommen.« »Nicht gleich. Erst habt Ihr da oben ein wenig darüber nachgedacht.« Er zuckte die Achseln. »Ihr seid da bestimmt schon einmal heruntergeritten. Ich reite heute zum ersten Mal in Eslen.« »Dann habt Ihr es gut gemacht.« Damit wandte sie sich ab und wollte losreiten. »Wartet. Wollt Ihr denn nicht einmal wissen, wer ich bin?« »Wieso sollte mich das kümmern?« »Ich weiß es nicht, aber wer Ihr seid, kümmert mich sehr wohl.« »Na schön«, lenkte sie ein. »Wie heißt Ihr?« Er stieg vom Pferd und verneigte sich. »Roderick von Dunmrogh«, sagte er. »Schön, Roderick von Dunmrogh. Ich bin Anne Dare, und Ihr habt mich heute nicht gesehen.« »Also, das wäre wirklich ein Jammer gewesen«, erwiderte er. »Ihr seid schrecklich kühn, wie?« »Und Ihr seid schrecklich hübsch, Prinzessin Anne. Eine Reiterin Tarns, möchte ich wetten. Aber wenn Ihr sagt, dass ich Euch nicht gesehen habe, dann habe ich Euch nicht gesehen.« »Gut.« »Aber ... äh ... warum habe ich Euch nicht gesehen, wenn ich fragen darf?« »Das habe ich Euch doch gesagt. Meine Mutter -« »Die Königin.« Sie funkelte ihn zornig an. »Ja, die Königin, mögen die Heiligen sie bewahren. Und mich vor ihr.« Sie kniff die Augen zusammen. »Woher wisst Ihr, wer ich bin?« »Ich habe Euch gesehen. Bei Hofe. Ich habe erst vor neun Tagen die Rose der Ritterschaft erhalten.« 93 »Oh! Dann heißt es also Sir Roderick?« »Ja. Aber Ihr wart auch da, mit Euren Schwestern.« »Ach. Ja, ich falle wohl auf, das Entlein unter den Schwänen.« »Es war Euer rotes Haar, das mir aufgefallen ist«, erwiderte Roderick. »Ja, und die Sommersprossen, und dieser Bootskiel von einer Nase.« »Ihr braucht keinen Haken zu ködern, um meine Komplimente zu fangen«, entgegnete er. »Mir gefällt Eure Nase. Sie hat mir vom ersten Augenblick an gefallen, und das sage ich mit allergrößter Freude.« Anne verdrehte die Augen. »Ihr habt mich für einen Jungen gehalten.« »Ihr seid gekleidet wie ein Junge! Und Ihr reitet wie einer. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes aus der Nähe, um diese Täuschung zu beenden.« Er runzelte die Stirn. »Wieso tragt Ihr überhaupt Hosen?« »Habt Ihr schon einmal versucht, im Kleid zu reiten?« »Ladys reiten immer im Kleid.« »Ja, natürlich - im Damensattel. Was glaubt Ihr, wie lange ich oben geblieben wäre, wenn ich versucht hätte, die Schlange im Damensattel hinunterzureiten?« Er schmunzelte. »Ich verstehe.« »Sonst versteht das keiner. Als ich klein war, war es ihnen gleich; der ganze Hof fand es drollig. >Den kleinen Prinzen Anne< haben manche mich genannt. Als ich dann ins heiratsfähige Alter gekommen bin, ist alles anders
geworden, und jetzt kann ich nur noch heimlich so reiten. Mutter sagt, mit fünfzehn sei man viel zu alt für kindische Gewohnheiten. Ich -« Sie hielt inne, und ein misstrauischer Ausdruck machte sich plötzlich auf ihrem Gesicht breit. »Man hat Euch doch nicht etwa hergeschickt, um mir den Hof zu machen?« »Was?« Er schien aufrichtig verblüfft. »Mutter wäre nichts lieber, als mich vermählt zu sehen, am liebsten mit jemandem, der alt, langweilig und fett ist.« Sie betrachtete ihn. »Aber Ihr seid nichts dergleichen.« 94 Zum ersten Mal sah Roderick verärgert aus. »Alles, was ich getan habe, Prinzessin, war, zu versuchen, Euch ein Kompliment zu machen. Und ich bezweifle sehr, dass Eure Mutter einen Gemahl aus unserem Hause für Euch wünscht. Wir sind nicht wahnsinnig reich, und wir sind auch keine schmeichlerischen Speichellecker, deshalb stehen wir an Eures Vaters Hof nicht gerade in hoher Gunst.« »Also, Ihr nehmt wirklich kein Blatt vor den Mund, nicht wahr? Ich entschuldige mich, Sir Roderick. Wenn Ihr eine Zeit lang bei Hofe zugebracht habt, werdet Ihr sehen, wie wenig Ehre und Wahrhaftigkeit dort zu finden sind, und vielleicht werdet Ihr mir verzeihen.« »Lächelt, und ich verzeihe Euch sehr schnell.« Zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie sich ihre Lippen ganz von allein verzogen. Einen Augenblick lang fühlte sich ihr Bauch ganz leicht und merkwürdig an, als rase sie immer noch die Schlange hinunter. »Genau. Besser als eine königliche Begnadigung«, sagte er und schickte sich an, wieder aufzusitzen. »Nun ja, es war nett, Euch kennen zu lernen, Prinzessin. Ich hoffe, wir können uns bald wieder unterhalten.« »Ihr wollt fort?« »Das wolltet Ihr doch, oder? Außerdem ist mir gerade klar geworden, was es für einen Aufruhr geben würde, wenn man uns zusammen entdecken würde, im Wald und unbeaufsichtigt.« »Wir tun doch nichts Verwerfliches«, wandte Anne ein. »Und wir werden auch nichts Schlechtes tun. Aber wenn Ihr Angst habt -« »Ich habe keine Angst«, wehrte Roderick ab. »Ich habe an Euren guten Ruf gedacht.« »Das ist sehr gütig von Euch, aber ich kann selbst auf meinen guten Ruf achten, vielen Dank.« »Und das heißt?« »Ich traue Euch nicht. Ihr könntet jemandem erzählen, dass Ihr mich gesehen habt. Ich glaube, ich muss Euch für den Rest des Tages in meine Dienste pressen, als meinen Leibwächter.« »Das nenne ich Glück. Da wandle ich gerade erst neun Tage unter der Rose, und schon eskortiere ich eine Prinzessin des Reiches. Es 95 wäre mir ein Vergnügen, Lady, doch ich kann nicht den Rest des Tages verweilen. Ich habe Pflichten, versteht Ihr?« »Tut Ihr immer, was Ihr sollt?« »Nicht immer. Aber in diesem Falle schon. Ich habe nicht das Glück, eine Prinzessin zu sein.« »Das ist kein Glück«, sagte Anne und trieb ihr Pferd voran. »Kommt Ihr jetzt mit oder nicht?« »Wo reiten wir denn hin?« »Nach Eslen-des-Schattens, wo meine Großväter schlafen.« Eine Zeit lang ritten sie schweigend dahin. Dabei warf Anne ihrem Begleiter hin und wieder einen verstohlenen Blick zu. Er saß aufrecht im Sattel, gelöst und stolz. Seine Arme, von der Reitweste fast bis zu den Schultern entblößt, waren schlank und muskulös. Sein Profil erinnerte ein wenig an einen Falken. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob er wirklich der war, als der er sich ausgab. Was, wenn er ein Meuchelmörder war, ein Dieb, ein Schurke -oder gar ein hansischer Spion? Sein Akzent war seltsam, und er hatte etwas Nordländisches an sich. »Dunmrogh«, sagte sie. »Wo genau ist das?« »Im Süden. Es ist eine Grefftschaft im Königreich von Hornladh.« »Hornladh«, wiederholte sie und versuchte sich die Landkarte des Reiches in der Galerie ins Gedächtnis zu rufen. Das war tatsächlich im Süden, jedenfalls glaubte sie sich daran zu erinnern. Sie ritten über die Steinbrücke, die den Cer-Kanal überspannte, und erduldeten den verwitterten Blick der Steingesichter, die in die Brückenpfeiler gehauen worden waren. Wieder senkte sich Schweigen herab, und obgleich Anne das Gefühl hatte, dass sie etwas sagen sollte, war ihr Kopf, was Gesprächsthemen betraf, ziemlich leer. »Eslen ist größer, als ich dachte«, bemerkte Roderick schließlich. »Das ist nicht Eslen. Eslen heißen nur die Stadt und der Palast. Die Insel heißt Ynis. Im Augenblick sind wir gerade in den Marschen, im Tiefland zwischen Ynis und dem Magierfluss.« »Und Eslen-des-Schattens?« 96 »Wartet einen Moment - dort.« Sie deutete auf eine gewölbte Öffnung, die sich zwischen den Bäumen auftat. »Bei der Faust des heiligen Tarn!«, keuchte Roderick und starrte hinab auf die Stadt der Toten. Die Außenbezirke waren bescheiden, sie bestanden aus Reihen von Holzhäusern mit Dächern aus Stroh oder Schindeln, die auf die unge-pf lästerten Straßen hinausgingen. Manche waren gut erhalten, mit gepflegten
Gärten, die von den Familien in Ordnung gehalten wurden. Weitaus mehr ähnelten den Skeletten, die in ihrem Innern ruhten; verzogene Balkengerüste waren unter Schlingpflanzen, Dornenranken und dem gefallenen Laub der Jahre begraben und zu Boden gezwungen worden. Aus manchen Gebäuden wuchsen Bäume hervor. Es gab fünf Kanäle innerhalb der Grenzen der Nekropolis, die konzentrische Kreise bildeten. Nachdem sie den ersten überquert hatten, wirkten die Häuser stabiler; sie waren aus behauenen Steinen erbaut und mit Schieferdächern und Eisenzäunen versehen worden. Hier waren die Straßen und Alleen gepflastert. Aus ihrem Blickwinkel konnten Anne und Roderick nicht viel mehr erkennen, außer dass die Stadt zur Mitte hin, wo die Kuppeln und Türme standen, an Höhe und Pracht immer mehr zunahm. »In Dunmrogh haben wir Königsgräber«, sagte Roderick, »aber nichts wie dies hier! Wer ist denn in den äußersten, ärmsten Häusern begraben?« Anne zuckte mit den Schultern. »Die ärmsten Leute. Jede Familie in Eslen-auf-dem-Hügel hat hier ein Quartier, je nach ihrem Vermögen. Was sie errichten und wie gut sie es erhalten, ist ihre Sache. Wenn sich ihr Glück wendet, können sie die Gebeine ihrer Vorfahren vielleicht weiter nach innen verlegen. Wenn jemand innerhalb des dritten Kanals sein Vermögen einbüßt, muss die Familie vielleicht weiter nach draußen ziehen.« »Wollt Ihr damit sagen, ein Mann kann in einem Palast beerdigt werden und sich hundert Jahre später in einer Armenhütte wieder finden?« »Gewiss.« 97 »Das scheint mir aber nicht gerecht.« »Es ist auch nicht gerecht, dass einem die Würmer die Augen wegfressen, aber das gehört eben zum Totsein«, erwiderte Anne trocken. Roderick lachte. »Da habt Ihr Recht. «Er verlagerte sein Gewicht im Sattel. »Nun, ich habe die Stadt gesehen. Und jetzt muss ich gehen.« »Schon?« »Brauche ich mehr als einen Glockenschlag, um zur Burg zurückzukehren?« »Auf jeden Fall.« »Dann sollte ich schon längst unterwegs sein. Welches ist der kürzeste Weg?« »Ich denke, den solltet Ihr allein finden.« »Nicht, wenn Ihr mich wiedersehen wollt. Mein Vater wird mich auf eines unserer kleineren Besitztümer schicken, hundert Meilen von hier, wenn ich meine Pflichten vernachlässige.« »Wie im Namen des heiligen Loy kommt Ihr darauf, dass ich Euch wiedersehen will?« Als Antwort ließ er seinen Dunkelbraunen nahe an sie herantänzeln und fing ihren Blick mit seinen stahlblauen Augen ein. Sie verspürte ein plötzliches Aufwallen von Panik, zugleich aber auch eine Art Lähmung. Als er sich zu ihr herüberbeugte und sie küsste, hätte sie ihn nicht daran hindern können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Und sie wollte es nicht. Es dauerte nicht lange - nur eine kurze, wunderbare, verwirrende Berührung der Lippen. Es war gar nicht so, wie sie sich das Küssen vorgestellt hatte, überhaupt nicht. Ihre Zehen kribbelten. Sie blinzelte und sagte leise: »Reitet diesen Kanal entlang, bis ihr zu einer Straße kommt, die mit Bleiziegeln gepflastert ist. Biegt nach links ab. Die Straße wird Euch den Hügel hinaufführen.« Er deutete mit dem Kopf auf Eslen-des-Schattens. »Irgendwann würde ich mir gern einmal den Rest davon ansehen.« »Kommt in zwei Tagen wieder, um die Mittagsstunde. Vielleicht findet Ihr mich dann hier.« 98 Er lächelte, nickte und ritt ohne ein weiteres Wort davon. Benommen saß sie auf ihrem Pferd, starrte das schwarze Wasser des Kanals an und dachte an das Gefühl seiner Lippen auf den ihren, versuchte, es nicht entfliehen zu lassen, studierte es, jede Nuance seiner Worte und Bewegungen, bemühte sich zu verstehen. Sie kannte ihn doch gar nicht. Sie vernahm nahende Hufschläge, und ihr Herz schlug schneller; sie hoffte und fürchtete gleichzeitig, er könnte zurückgekommen sein. Doch als sie aufschaute, erblickte sie Austra. Ihre goldenen Locken hüpften auf ihren Schultern, und ihre Miene war ziemlich verärgert. »Wer war denn das}«, wollte Austra wissen. »Ein Ritter«, antwortete Anne. Austra schien einen Augenblick darüber nachzudenken, dann richtete sie erneut wütende Augen auf Anne. »Warum machst du so etwas? Du bist die Schlange hinuntergeritten, nicht wahr?« »Hat dich jemand gesehen?«, fragte Anne. »Nein. Aber ich bin deine Zofe. Und ich kann von Glück sagen, dass ich das bin, schließlich bin ich nicht von edlem Blut. Wenn dir etwas passiert -« »Mein Vater hat deinen Vater geliebt, Austra, edles Blut hin oder her. Glaubst du, er würde dich jemals fortschicken?« Plötzlich wurde ihr klar, dass Austra Tränen in den Augen hatte.
»Austra? Was ist denn?«, fragte Anne. »Deine Schwester Fastia«, antwortete Austra mit fester Stimme und blinzelte die Tränen weg. »Du verstehst einfach nicht, Anne.« »Was verstehe ich nicht? Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir teilen dasselbe Bett, seit wir fünf Jahre alt waren, als deine Eltern gestorben sind und Vater dich als meine Zofe aufgenommen hat. Und wir haben solche Spiele mit den Wachen gespielt, so lange ich zurückdenken kann. Warum weinst du denn jetzt?« »Weil Fastia gesagt hat, ich dürfte nicht mehr deine Zofe sein, wenn man dich nicht zähmen kann. >Ich werde ihr jemanden mit mehr Vernunft zuteilen<, hat sie gesagt.« 99 »Meine Schwester versucht nur, dir Angst zu machen. Außerdem teilen wir das Risiko doch, Austra.« »Du verstehst wirklich nicht. Du bist eine Prinzessin. Ich bin eine Dienerin. Deine Familie zieht mich fein an und tut so, als würde sie mich wie eine Lady behandeln, aber Tatsache ist, dass ich für jeden anderen ein Nichts bin.« »Nein«, wehrte Anne ab. »Das ist nicht wahr. Weil ich niemals zulassen würde, dass dir etwas zustößt, Austra. Wir werden immer zusammen sein, wir beide. Ich liebe dich mehr als jede Schwester.« »Sei still«, sagte Austra schniefend. »Sei einfach still.« »Komm. Wir reiten zurück, sofort. Wir schleichen uns hinein, während sie noch suchen. Diesmal werden wir nicht erwischt, ich verspreche es dir.« »Die Ritter -« »Die konnten mich nicht kriegen. Sie werden nichts sagen, aus Scham, es sei denn, Mutter und Fastia fragen sie direkt. Und dich haben sie sowieso nicht gesehen.« »Fastia ist es egal, ob ich mitgemacht habe oder ob du mich hereingelegt hast.« »Pfeif auf Fastia. Sie hat nicht so viel Macht, wie du glaubst. Und jetzt komm mit.« Austra nickte und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. »Aber was ist mit dem Ritter, der dich erwischt hat?« »Der wird auch nichts sagen«, erwiderte Anne. »Nicht, wenn er seinen Kopf behalten will.« Dann runzelte sie die Stirn. »Wie kann Fastia es wagen, so mit dir zu reden? Ich sollte etwas dagegen unternehmen. Ja, und ich weiß auch schon, was.« »Und was?« »Ich gehe Virgenya besuchen. Ich werde es ihr erzählen. Sie wird etwas tun, da bin ich ganz sicher.« Austras Augen wurden wieder riesengroß. »Ich ... ich dachte, du hast gesagt, wir reiten zurück, den Hügel hinauf?« »Es geht ganz schnell.« »Aber -« 100 »Ich tue es für dich«, erklärte Anne. »Komm schon. Sei tapfer.« »Können wir in einem Glockenschlag zurückreiten?« »Natürlich.« Austra reckte das Kinn. »Dann los.« Sie ritten weiter und überquerten die inneren Kanäle, bis sie zum Quartier der Königsfamilie kamen, wo die Straßen mit Bleiziegeln gepflastert waren, wo steinerne Heiligenfiguren flache oder schräge Dächer trugen und alles dicht von rosaroten Nachtkerzen und Ajisterdorn umrankt war und wo die Türen der Gebäude mit Siegeln und Schlössern aus solidem Stahl verschlossen waren. Dieser innerste Kreis war von einer Mauer aus Mitternacht und Sternen umgeben, einer Bastion aus schwarzem Granit, mit Glimmer gesprenkelt und von schmiedeeisernen Spitzen gekrönt. Über die Tore wachten der Heilige Under mit seinem Hammer und dem langen, grimmigen Gesicht und die Heilige Dun mit ihren in Tränen schwimmenden Augen und der Rosenkrone. Außerdem wurde das Tor noch von einem hoch gewachsenen Mann mittleren Alters bewacht, der die schmucklose graue Uniform der Scathomen trug, der Ritterpriester, die Wache über die Toten hielten. »Guten Abend, Prinzessin Anne«, sagte der Mann. »Auch Euch einen wunderschönen Abend, Sir Len«, erwiderte Anne. »Wieder einmal ohne Erlaubnis hier, nehme ich an.« Sir Len nahm den Helm ab und enthüllte braune Flechten, die ein Gesicht umrahmten, das ebenso gut in einen Ziegel hätte gemeißelt sein können, so streng, kantig und ausdruckslos war es. »Wieso sagt Ihr das? War Mutter oder Fastia hier und hat nach mir gefragt?« Der Ritter lächelte flüchtig. »Ich kann ihnen nicht mehr über Euer Kommen und Gehen sagen, als ich Euch über das ihre erzählen kann. Das verstößt gegen meinen Eid. Wer hierher kommt, was die Leute hier tun, über diese Dinge kann ich nicht sprechen. Wie Ihr sehr wohl wisst, darum kommt Ihr ja her, um Eure Possen zu treiben.« »Weist Ihr mich ab?« 101 »Ihr wisst genau, dass ich auch das nicht tun kann. Passiert, Prinzessin.« »Ich danke Euch, Sir Len.« Als sie durch das Tor ritten, läutete Sir Len die Messingglocke, um die königlichen Toten wissen zu lassen, dass
sie Besuch bekamen. Anne spürte ein leichtes Flattern im Bauch, ein sicheres Zeichen, dass die Geister die Augen auf sie gerichtet hatten. Wir werden sehen, Fastia, dachte sie selbstzufrieden. Wir werden ja sehen. Anne und Austra saßen ab und banden ihre Pferde vor dem kleinen Hof an, wo die Toten des Hauses Dare zu Hause waren. Dort stand ein kleiner Altar, auf dem frische und verwelkte Blumen lagen, außerdem Kerzen manche halb heruntergebrannt, andere nur noch formlose Wachslachen - und Krüge, die nach Met, Wein und Eichenbier rochen. Anne zündete eine der Kerzen an, und beide Mädchen knieten einen Augenblick lang nieder, während Anne ein Gebet sprach. Die Bleiziegel unter ihren Knien waren hart und kalt. Irgendwo in der Nähe zeterte ein Häher im Streit mit einem Raben, ein plötzlicher, schriller Missklang. Anne betete: »Heilige, die ihr meine Väter und Mütter behütet, Heiliger Under, der wehrt; Heilige Dun, die umsorgt, Lasst meinen Schritt hier leicht sein, Lasst sie schlafen oder erwachen, wie es ihnen beliebt, Segnet sie, bewahrt sie, Lasst sie mich erkennen, und sei es nur als Traum. Sacaro, Sacaraum, Sacarafum.« Sie ergriff Austras Hand. »Komm«, flüsterte sie. Sie umgingen das große Haus, wo die Gebeine ihrer Großeltern und Urgroßeltern lagen, wo ihre Onkel und Tanten mitternächtlich Hof hielten und ihr jüngster Bruder Avieyen mit den Spielzeugen in seiner Marmorwiege spielte, und huschten um den Innenhof mit den 102 roten Marmorsäulen und den bronzenen Flügeltüren, die den breiten Torbogen verschlossen, herum. Vorbei an dem kleineren Haus, wo ihre entfernteren Vettern und Basen zweifellos Intrigen spannen, so wie sie es zu Lebzeiten getan hatten, um einen Platz unter ihren erhabeneren Verwandten zu ergattern. Weiter zu den verfallenen Steinmauern und den ungezähmten, wuchernden Bäumen des Horz. Im Laufe der Jahre hatten Anne und Austra einen richtigen Pfad zu der Gruft gebahnt, hatten mit dem Heranwachsen ihrer Körper den verborgenen Weg verbreitert - natürlich nicht, indem sie Zweige oder Gestrüpp abgeschnitten hätten, sondern nur, indem sie sich hindurchgeschoben und -gedrängt hatten. Die Wilden Heiligen hatten sich nicht beklagt, hatten sie nicht mit Fieber geschlagen oder verunstaltet, und so hielten sie diese kleine Abweichung für ungefährlich. Ebenso wie die Schritte, die sie unternommen hatten, um ihr Geheimnis zu verbergen - geschickt platzierte Matten aus grob zusammengeflochtenen Ranken, den einen oder anderen verschobenen Felsblock. Was das Versteck letztendlich geheim hielt, dessen war Anne sich sicher, war Virgenyas Wille. Seit zweitausend Jahren hatte sie sich vor allen Menschen versteckt, außer vor Anne und Austra. Sie schien es auch weiterhin so halten zu wollen. Und so stand Anne, nach ein paar Momenten auf Händen und Knien, erneut vor dem Sarkophag. Es war ihnen nie gelungen, den Deckel weiter zurückzuschieben, nicht einmal mit einem hölzernen Hebel, und nach einer Weile war Anne zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht hineinsehen sollte, also hatten sie aufgehört, es zu versuchen. Der schmale Spalt war jedoch noch da. »Also los«, sagte sie. »Hast du den Griffel und das Bleiblatt?« »Bitte verfluch Fastia nicht meinetwegen«, flehte Austra. »Ich werde sie nicht verfluchen«, erwiderte Anne. »Nicht wirklich. Aber sie ist unerträglich geworden! Dir zu drohen Sie verdient es, bestraft zu werden.« »Früher hat sie mit uns gespielt«, erinnerte Austra sie. »Sie war un103 sere Freundin. Sie hat uns Schürzen aus Vergissmeinnicht und Butterblumen geflochten.« »Das ist lange her. Jetzt ist sie anders, seit sie verheiratet ist. Seit sie unsere Herrin geworden ist.« »Dann wünsch dir, dass sie wieder so wird wie früher. Beschwör nichts Schlimmes auf sie herab. Bitte.« »Ich will ihr nur ein paar Eiterbeulen verpassen«, erwiderte Anne. »Oder ein paar Pockennarben in ihrem hübschen Gesicht. Na schön, meinetwegen. Gib her.« Austra reichte ihr eine kleine, papierdünne Bleiplatte und einen eisernen Stift. Anne drückte die Bleiplatte gegen den Sargdeckel und schrieb: Ahnin, bitte überbringt dieses Gesuch der Heiligen Cer, legt Fürsprache für mich ein. Bittet sie, meine Schwester Fastia davon abzubringen, meiner Zofe Austra zu drohen, und zu bewirken, dass Fastia wieder so ist wie damals, als sie jünger war. Nachdenklich blickte Anne auf das Blatt. Ganz unten war noch Platz. Und lasst Roderick von Dunmrogh sein Herz an mich verlieren. Lasst ihn nicht schlafen, ohne dass er von mir träumt. »Was? Wer ist Roderick von Dunmrogh?«, rief Austra. »Du hast mir über die Schulter geschaut!« »Natürlich. Ich hatte Angst, du würdest Fastia Eiterbeulen wünschen.«
»Habe ich aber nicht, du Naseweis.« Anne scheuchte ihre Freundin weg. »Nein, aber du hast darum gebeten, dass sich irgendein Junge in dich verliebt«, wandte Austra ein. »Er ist ein Ritter.« »Der, der dich die Schlange hinunter verfolgt hat? Dem du gerade erst begegnet bist? Wie, bist du denn verliebt in ihn}« 104 »Natürlich nicht. Wie könnte ich? Aber was kann es schaden, wenn er mich liebt?« »Solche Sachen gehen in den Phay-Märchen nie gut aus, Anne.« »Na ja, wahrscheinlich kümmert sich Cer sowieso nicht um dieses Gesuch. Sie mag Flüche.« »Sich in dich zu verlieben könnte durchaus ein Fluch sein«, erwiderte Austra. »Sehr witzig. Du solltest Hof narr werden, anstelle von Hundehut.« Anne schob das Bleiblatt durch den Spalt unter dem Sarkophagdeckel. »So. Erledigt. Jetzt können wir gehen.« Als sie sich erhob, traf sie ein jäher Schwindel zwischen den Augen, und einen Augenblick lang wusste sie nicht mehr, wo sie war. Irgendetwas erklang in ihrer Brust hell wie eine goldene Glocke, und der Stein unter ihren Fingern schien sehr weit weg zu sein. »Anne?« Austras Stimme klang besorgt. »Es ist nichts. Mir war nur einen Moment schwindlig. Es ist schon vorbei. Komm, wir sollten zum Schloss zurückreiten.« 6. Kapitel Der König Also, erlaube, dass ich mich vorstelle«, sagte der große Hanser zu Neil. »Ich bin Everwulf af Gastenmarka, Knappe von Sir Alareik Wishilm, den du beleidigt hast.« »Ich bin Neil MeqVren, Knappe von Sir Fail de Liery, und ich habe ihm versprochen, dass ich nicht die Klinge gegen euch ziehen werde.« »Sehr günstig, aber das macht nichts. Ich reiße dir den Kopf mit bloßen Händen ab, dafür braucht's keinen Stahl, und ich verlange auch keinen.« Neil holte tief und langsam Luft und entspannte seine Muskeln. 105 Everwulf ging auf ihn los wie ein angreifender Stier; trotz seines massigen Körperbaus war er schnell. Neil war schneller; er wirbelte im letzten Augenblick zur Seite und brach dem großen Kerl mit der Faust ein weiteres Mal die Nase. Der Hanser fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und taumelte zurück. Neil trat dicht an ihn heran, rammte dem Knappen den Ellenbogen in die Rippen und spürte das Knacken; zum Schluss versetzte er ihm noch einen heftigen Haken in die Achselhöhle. Die Luft entwich aus Everwulfs Körper, und er brach zusammen. Die anderen Knappen kämpften nicht ehrenhaft. Aus dem Augenwinkel sah Neil etwas auf sich herabzischen. Er duckte sich, trat zu und traf jemandes Füße. Ein Mann ging zu Boden und ließ das hölzerne Übungsschwert fallen, das er in den Händen gehalten hatte. Neil ergriff es, rollte sich herum und versetzte dem nächsten Angreifer einen Schlag gegen die Schienbeine. Dieser schrie auf wie ein Pferd unter dem Todesstoß. Neil sprang auf. Der Kerl, dem er die Füße weggetreten hatte, zog sich hastig zurück. Everwulf lag keuchend am Boden, und Schienbein stöhnte. Lässig lehnte sich Neil auf das Holzschwert. »Sind wir hier fertig?«, erkundigte er sich. »Wir sind fertig«, antwortete der Einzige der drei, der noch sprechen konnte. »Dann euch allen eine gute Nacht«, sagte Neil. »Ich freue mich schon darauf, euch Burschen auf dem Feld der Ehre wiederzusehen, wenn wir erst alle die Rose erhalten haben.« Er ließ das Übungsschwert fallen und strich sich das Haar zurück. Hoch über sich konnte er die mondbeschienenen Türme des Schlosses erkennen. Der Hof! Morgen würde er den Hof sehen! William II. von Crothenien umklammerte das steinerne Sims des hohen Fensters und fühlte sich einen Augenblick lang so leicht, dass ein Windstoß ihn hätte hinauszerren können. Alvnadeln stachen in seine Kopfhaut, und ein Grauen schien hinter seinen Augen aufzuwallen, 106 so grell, dass es fast heller war als die Sonne. Das Gefühl ließ ihn taumeln. Die Toten sprechen meinen Namen, dachte er. Sterbe ich? Einer seiner Onkel hatte so sein Leben ausgehaucht; eben hatte er noch dagestanden und gesprochen, und einen Herzschlag später hatte er erkaltend am Boden gelegen. »Was ist denn, Bruderherz?«, erkundigte sich Robert von der anderen Seite des Gemachs her. So war Robert Schwäche zog ihn an wie Blut die Haifische. William biss die Zähne zusammen und holte langsam tief Atem. Nein, sein Herz schlug noch - schlug sogar wie wild. Der Himmel draußen war klar. Jenseits der Türme und Giebel konnte er das grüne Band der Schleppe und den fernen Breuen-Try sehen. Der Wind weht von dorther, von Osten, und ein köstlicher Salzgeschmack lag darin.
Er war nicht des Todes, nicht an so einem Tag. Das konnte nicht sein. »William?« Er wandte sich vom Fenster ab. »Einen Moment, Bruder, einen Moment. Warte draußen auf mich, in der Halle der Tauben.« »Werde ich etwa der Gemächer meines Bruders verwiesen?« »Tu, was ich sage, Robert.« Tiefe Furchen erschienen auf Roberts Stirn. »Wie du wünschst. Aber lass mich nicht lange warten, William.« Als sich die Tür schloss, gestattete es sich William, in seinen Sessel zu sinken. Er hatte schon befürchtet, seine Knie würden ihm den Dienst versagen, während Robert noch im Raum war, und das durfte nicht geschehen. Was war bloß los mit ihm? Einen Augenblick lang saß er ruhig da, atmete tief und fingerte an den elfenbeinernen Einlegearbeiten im Eichenholz der Armlehnen herum. Dann erhob er sich mit unsicheren Beinen und ging zur Waschschüssel hinüber, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Im Spiegel starrte ihm ein triefendes Gesicht entgegen. Sein sorgfältig gestutzter Bart und das lockige rotbraune Haar wiesen nur wenig Grau 107 auf, doch unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, die wie Blutergüsse aussahen, seine Haut war fahl, und die Falten auf seiner Stirn waren so tief wie Gletscherspalten. Wann bin ich so alt geworden?, fragte er sich. Er war erst fünfundvierzig, doch er hatte schon jüngere Gesichter an Männern gesehen, die zwanzig Winter mehr erlebt hatten. Er wischte das Wasser mit einem Leinentuch fort und läutete eine kleine Glocke. Kurz darauf erschien sein Kammerdiener, ein rundlicher Mann von sechzig Jahren mit beginnender Glatze, gekleidet in schwarze Strümpfe und ein Wams in Scharlachrot und Gold. »Sire?« »John, sorgt dafür, dass mein Bruder etwas Wein bekommt. Ihr wisst, was ihm mundet. Und schickt Pafel, damit er mich ankleidet.« »Gewiss, Sire. Sire -« »Ja?« »Fühlt Ihr Euch wohl?« In Johns Stimme lag echte Besorgnis. Er war seit fast dreißig Jahren Williams Kammerdiener. Im ganzen Königreich war er einer der wenigen, denen William vertraute. »Die Wahrheit, John? Nein. Ich hatte gerade eine Art ... ich weiß nicht, was es war. Ein Grauen, eine Schwarze Mary am helllichten Tag. So etwas habe ich noch nie empfunden, nicht einmal in der Schlacht. Und was noch schlimmer ist, Robert war hier und hat es mit angesehen. Und jetzt muss ich gehen und mit ihm über dies oder jenes reden, wer weiß, worüber. Und dann der Hof. Manchmal wünsche ich mir -« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Sire. Kann ich irgendetwas tun?« »Ich bezweifle es, John, aber ich danke Euch.« John nickte und schickte sich zum Gehen an, wandte sich dann jedoch noch einmal um. »Es gibt eine bestimmte Furcht, Sire, die sich nicht erklären lässt. Wie die Panik, die man empfindet, wenn man fällt; sie überkommt einen einfach.« »Ja, es war ganz ähnlich. Aber ich bin nicht gefallen.« »Es gibt viele Arten zu fallen, Sire.« William starrte ihn einen Moment lang an, dann schmunzelte er. »Geht, John. Bringt meinem Bruder seinen Wein.« 108 »Die Heiligen mögen Euch bewahren, Sire.« »Euch auch, alter Freund.« Pafel, ein junger Mann mit rosigem Gesicht und dem Akzent der Provinz, traf wenige Augenblicke später ein, zusammen mit seinem neuen Gehilfen Kenth. »Nicht den vollen Ornat«, wies William sie an. »Noch nicht. Etwas Bequemes.« Er breitete die Arme aus, damit sie ihm den Morgenmantel ausziehen konnten. »Wie Ihr wünscht, Sire. Wenn Ihr erlaubt? Heute ist Tiffstag, also sind natürlich die Farben des heiligen Tiff angemessen, aber wir haben auch die Zeit des Equinox, die von der heiligen Fessa beherrscht wird ...« Sie steckten ihn in schwarze, mit goldenen Ranken bestickte Beinkleider, ein rotes Seidenwams mit Stehkragen und goldenem Blumenmuster und einen Mantel aus schwarzem Hermelin. Nach der vertrauten Routine des Ankleidens - ergänzt durch Pafels unaufhörliche Erläuterungen - fühlte William sich besser. Schließlich war dies doch nur ein ganz gewöhnlicher Tag. Er würde nicht sterben, und es gab keinen Grund zur Furcht. Als er fertig angekleidet war, hatten seine Hände und Beine aufgehört zu zittern, und er verspürte nur noch jene ferne Vorahnung, die er schon die letzten Monate mit sich herumgetragen hatte. »Vielen Dank, Ihr Herren«, wandte er sich an seine Diener. Als sie gegangen waren, sammelte er sich mit ein paar tiefen Atemzügen und ging in die Halle der Tauben hinüber. Die Halle war so leicht und luftig, wie ein aus Stein erbauter Raum es nur sein konnte, aus behauenem Alabaster gemauert und mit Vorhängen und Wandteppichen in hellem Grün und Gold geschmückt. Die Fenster waren breit
und offen; sollte eine Armee das Marschland, drei Stadtmauern und den inneren Burgfried erstürmen, wäre ohnehin alles verloren. Ein schwacher, rostfarbener Fleck auf dem ansonsten makellosen Marmorboden erinnerte William daran, dass dies schon einmal geschehen war. Thiuzwald Fram Reiksbaurg, der Wolfspelz, war hier ge109 fallen, die Leber durchbohrt vom ersten William Dare, der in Eslen regiert hatte, vor über hundert Jahren. William schritt an dem Fleck vorbei. Robert blickte von einem Sessel - Williams Sessel - auf, wo er vorgab, ein Gebetbuch zu lesen. »Du hättest dich meinetwegen nicht so herausputzen müssen.« »Was kann ich für dich tun, Robert?« »Für mich tun?« Robert erhob sich und reckte seinen schlanken, hoch gewachsenen Körper. Er war erst zwanzig, Jahrzehnte jünger als William, und um dies zu unterstreichen, trug er den kleinen Schnurrbart, das Kinnbärtchen und den kurzen Haarschnitt, der gegenwärtig bei den Gecken am Hof in Mode war. Ein spöttisches Grinsen verunstaltete seine ebenmäßigen Züge ein wenig. »Es geht darum, was ich für dich tun kann, Wilm.« »Und was könnte das sein?« »Ich habe gestern Abend einen Spaziergang mit Lord Reccard gemacht, dem Botschafter der Salzmark.« »Einen Spaziergang?« »Ja. Erst sind wir ins Gasthaus Zum Bart des Keilers spaziert, dann in die Schenke Zum Sprechenden Bären, dann über den Kanal ins Wirtshaus Zur Tochter des Geizhalses -« »Ich verstehe. Der Mann ist doch nicht tot, oder? Du hast keinen Krieg mit der Salzmark vom Zaun gebrochen, nicht wahr?« »Tot? Nein, er ist am Leben, wenn auch ein wenig zerknirscht. Krieg ... nun, warte einfach, bis ich fertig bin.« »Nur weiter.« William versuchte, eine unbewegte Miene beizubehalten. Er wünschte sich, er könnte seinem Bruder mehr vertrauen. »Du erinnerst dich vielleicht an Reccards Gemahlin, ein liebreizendes Geschöpf namens Seglasha?« »Gewiss. Sie stammt aus Herilanz, nicht wahr?« »Und sie ist eine wahre Tochter dieses barbarischen Landes. Ihren letzten Ehemann hat sie zum Eunuchen gemacht, und der davor wurde von ihren Brüdern in Stücke gehackt, weil er sie in aller Öffentlichkeit gekränkt hatte. Reccard lebt in Angst und Schrecken vor ihr.« »Anscheinend nicht ohne Grund«, bemerkte William. 110 Robert zog die Augenbrauen hoch. »Das musst du gerade sagen, der du mit diesem de Liery-Weib verheiratet bist! Sie ist mindestens -« »Sag nichts gegen meine Frau, Robert«, warnte William. »Das höre ich mir nicht an.« »Nein? Nicht einmal von deinen Geliebten? Ich habe von Lady Berrye ein paar sehr gewählte Bemerkungen über deine Gemahlin gehört, Worte, von denen ich nicht glaube, dass sie sie selbst erfunden hat.« »Robert, ich hoffe, du bist nicht hier, um mir einen Vortrag über sittliches Betragen zu halten. Das hieße, dass der Bock den Widder haarig schimpft.« Robert lehnte sich gegen eine Alabastersäule und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein, liebster Bruder, ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du weißt, dass Hansa dreißig Kriegsgaleeren und tausend Mann in die Salzmark geschickt hat.« »Was?« »Wie gesagt, der arme Reccard hat Todesangst vor seiner Frau. Ich habe zu Recht angenommen, dass er nicht wünscht, dass sie von den Spielchen erfährt, die wir gegen Ende der Nacht mit den Damen im Palast der Lerche gespielt haben. Also habe ich ihn davon überzeugt, dass er ... freundlich zu mir sein sollte.« »Was bist du nur für ein Ränkeschmied, Robert. So etwas ist eines Dare nicht würdig.« »Wer hält jetzt wem einen Vortrag über Moral? Du bist auf mein >unwürdiges< Betragen angewiesen, William. Es gestattet dir, die Rüstung deiner Rechtschaffenheit rein und glänzend zu halten und gleichzeitig dein Königreich zu behalten. Willst du diese Neuigkeiten ignorieren, weil ich sie auf diese Weise in Erfahrung gebracht habe?« »Du weißt, dass ich das nicht tun kann. Du wusstest, dass ich das nicht tun könnte.« »Genau. Halt mir also keine Vorträge, Wilm.« William seufzte schwer und blickte wieder zum Fenster hinüber. »Wer weiß alles davon? Von diesen hansischen Schiffen.« 111 »Hier bei Hof? Du und ich, und natürlich der Botschafter.« »Wieso sollte Hansa in der Salzmark einfallen? Wieso sollte die Salzmark das zulassen?« »Sei nicht töricht. Was für einen anderen Grund gibt es denn? Sie führen etwas im Schilde, und die Salzmark ist auf ihrer Seite.« »Was führen sie im Schilde?« »Reccard weiß es nicht. Aber wenn ich raten soll, würde ich sagen, sie haben es auf die Kummerinseln abgesehen.« »Die Kummerinseln? Warum?«
»Ohne Zweifel um uns zu reizen. Hansa hat Männer und Schiffe im Überfluss, Bruder. Der Herrscher von Hansa ist ein alter Mann; er wird sie bald einsetzen wollen, solange er es noch kann. Und es gibt nichts unter der Sonne, was er mehr begehrt als die Krone, die du auf dem Kopf trägst.« Marcomir Fram Reiksbaurg ist nicht der Einzige, der meine Krone begehrt, dachte William verdrossen. Oder hältst du mich für so beschrankt, dass ich das nicht weiß, teurer Bruder? »Du könntest wohl einfach beim hansischen Gesandten nachfragen«, sagte Robert. »Sein Schiff hat gestern angelegt.« »Ja, das macht das Ganze noch komplizierter, nicht wahr? Oder einfacher. Vielleicht sind sie gekommen, um uns persönlich den Krieg zu erklären.« Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Auf jeden Fall ist vor übermorgen keine Audienz mit dieser Gesandtschaft geplant, also erst nach dem Geburtstag meiner Tochter. Daran werde ich nichts ändern; das würde Verdacht erregen.« Er hielt inne und überlegte. »Wo ist Reccard jetzt?« »Schläft seinen Rausch aus.« »Setz Spione auf ihn an, und auf die Hanser auch. Wenn sie irgendwelche Botschaften austauschen, will ich davon erfahren. Wenn sie sich treffen, lass sie, aber sorg dafür, dass sie belauscht werden. Unter keinen Umständen darf einer von ihnen eine Nachricht aus der Stadt herausbringen.« Er verschränkte die Finger und betrachtete sie. »Und wir schicken ein paar Schiffe zu den Kummerinseln. Unauffällig, immer nur wenige auf einmal, über die nächste Woche verteilt.« 112 »Alles weise Maßnahmen«, sagte Robert. »Willst du, dass ich in dieser Angelegenheit als dein Seneschall auftrete?« »Ja, bis ich dir etwas anderes sage. Ich setze noch heute Nachmittag die offizielle Bestallungsurkunde auf.« »Danke, William. Ich werde versuchen, mich deiner und des Familiennamens würdig zu erweisen.« Falls in diesen Worten Sarkasmus mitschwang, so war er zu gut getarnt, als dass man ihn hätte entdecken können. Was nichts zu bedeuten hatte. William kannte seinen Bruder erst seit dessen Geburt. Nicht lange genug. Aus dem Gang erklang das schwache Läuten einer Glocke. »Herein!«, sagte William. Die Tür öffnete sich knarrend, und John trat ein. »Es ist der Prai-fec, Sire. Er ist soeben aus Virgenya zurückgekehrt. Und er hat eine Überraschung mitgebracht.« Der Praifec. Wunderbar. »Natürlich. Führt ihn herein.« Kurz darauf betrat der Praifec Marche Hespero in seiner schwarzen Robe die Halle. »Euer Majestät«, grüßte er und verneigte sich vor William. Dann verbeugte er sich vor Robert. »Erzgrefft.« »Wie schön, Euch zu sehen, Praifec«, sagte Robert. »Ihr seid unversehrt aus Virgenya heimgekehrt.« »Fürwahr«, bestätigte der Geistliche. »Ich nehme an, Ihr habt festgestellt, dass unsere Verwandten ebenso starrköpfig sind wie wir?«, fuhr Robert fort. Nicht zum ersten Mal wünschte William, Robert möge den Mund halten. Doch Hespero lächelte. »Sagen wir, sie scheinen in vielerlei Hinsicht ebenso unbeugsam zu sein, sogar, was die Ketzer betrifft, was Besorgnis erregend ist. Aber die Heiligen walten, nicht wahr?« »Gewiss tun sie das«, meinte William leichthin. Hesperos Lächeln blieb unverändert. »Die Heiligen verrichten ihr Werk auf mancherlei Art, doch ihr liebstes Werkzeug ist die Kirche. 113 Und es steht geschrieben, dass das Königreich der Ritter der Kirche sein soll, ihr Recke. Wärt Ihr betrübt, König William, wenn Eure Ritter Euch im Stich ließen?« »Das haben sie niemals getan«, erwiderte William. »Praifec, was kann ich Euch bringen lassen? Wein und Käse? Die Jadebirnen sind herangereift, während Ihr fort wart, und sie schmecken köstlich mit dem blauen Tero-GalleKäse.« »Ein Becher Wein würde mir trefflich munden.« John schenkte einen Kelch für Hespero ein, der stirnrunzelnd daran nippte. »Wenn der Wein Euch nicht zusagt, kann ich Euch einen anderen Jahrgang bringen lassen, Praifec«, bot William an. »Der Wein ist ausgezeichnet, Sire. Das ist es nicht, was mich bedrückt.« »Bitte, sprecht aus, was Ihr auf dem Herzen habt, Eminenz.« Hespero zögerte, dann stellte er den Kelch auf einem Sockel ab. »Ich habe noch nicht mit meinen Amtsbrüdern vom Comven gesprochen. Sind die Gerüchte wahr? Habt Ihr Eure Töchter als Thronfolgerinnen anerkannt?« »Ich nicht«, entgegnete William. »Der Comven hat es getan.« »Aber es war Euer Vorschlag, der Vorschlag, über den wir gesprochen haben, als Ihr ihn zu Papier gebracht habt?« »Ich glaube, wir haben in der Tat darüber gesprochen, Praifec.« »Und Ihr erinnert Euch, dass ich der Ansicht war, dass die Lehre der Kirche es verbietet, den Thron auch für weibliche Erben zugänglich zu machen?«
William lächelte. »Einer der Geistlichen im Comven dachte genauso. Der andere hat für die Reform gestimmt. Es scheint, diese Frage ist nicht ganz so eindeutig zu beantworten, wie manche glauben, Eminenz.« In Wirklichkeit war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, wenigstens einen der Priester dazu zu bewegen, für Williams Vorschlag zu stimmen - noch mehr von Roberts schmutzigen, jedoch höchst wirksamen Intrigen. 114 In Zeiten wie diesen - das musste er zugeben - war Robert manchmal tatsächlich sehr nützlich. Zorn verdüsterte einen Augenblick lang das Gesicht des Geistlichen, dann glätteten sich seine Züge. »Ich verstehe Eure Sorge um die Thronfolge. Charles, wenngleich ein wundervoller Sohn, ist fürwahr von den Heiligen berührt, und -« »Mein Sohn wird nicht Teil dieses Gesprächs sein«, sagte William sanft. »Ihr steht in meinem Hause, und ich verbiete es.« Hesperos Miene wurde strenger. »Sehr wohl. Dann setze ich Euch lediglich davon in Kenntnis, dass ich, wenn auch widerstrebend, den Hohen Senaz der Kirche ersuchen muss, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen.« »Ja, ersucht ihn darum«, stimmte William zu. Und lasst ihn nur versuchen, einen Entschluss des Comven rückgängig zu machen, dachte er hinter seinem Lächeln. Lasst die Kirche diese streitbare Meute kleiner Herrscher davon überzeugen, dass sie die falsche Entscheidung getroffen haben. Nein. Eine meiner Töchter wird regieren, und Charles, die Heiligen mögen ihn segnen, wird sich mit seinen Spielsachen und seinem SefryHofnarren vergnügen, bis er ein alter Mann ist. Er wird nicht Euer König Ohneverstand sein, Hespero. Käme es dazu, würde ich den Thron lieber Robert hinterlassen, wenn er eheliche Nachkommen hätte. »Bei allen Heiligen!«, ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. »Ihr drei wollt euch doch wohl nicht den ganzen Tag über Staatsangelegenheiten streiten, oder?« Robert war der Erste, der sich der soeben Eingetretenen zuwandte. »Lesbeth!« Mit einem Satz schoss er quer durch den Raum, umarmte sie und hob sie hoch. Sie kicherte, als er sie herumwirbelte; ein Kamm fiel aus ihrem roten Haar, das sich wie ein Fächer hinter ihr ausbreitete. Als Robert sie absetzte, küsste sie ihn auf die Wange, löste sich dann von ihm und warf sich ungestüm in Williams Arme. »Praifec!«, rief Robert. »Gesegnet sei der Mann, der meine geliebte Zwillingsschwester aus ihrem ländlichen Exil heimführt!« William hielt seine kleine Schwester auf Armeslänge von sich weg, 115 um sie zu betrachten. »Beim heiligen Loy, du bist groß geworden, Mädchen!« »Mutters Ebenbild«, fügte Robert hinzu. »Ihr zwei!« Lesbeth schüttelte den Kopf. »Wie ich euch vermisst habe!« »Du hättest uns benachrichtigen sollen«, schalt William. »Wir hätten eine prächtige Feier veranstaltet.« »Ich wollte euch überraschen. Außerdem ist morgen doch Elsenys Geburtstag, nicht wahr? Ich wollte keinen Schatten darauf werfen.« »Du könntest nie einen Schatten werfen, süße Schwester«, wehrte Robert ab. »Komm her, setz dich, erzähl uns alles.« »Wir sind unhöflich zum Praifec«, mahnte Lesbeth. »Und das, nachdem er so gütig war, mich den ganzen weiten Weg zu geleiten. Und dabei so ein trefflicher Reisegefährte war! Praifec, ich kann meinen Dank nicht in Worte fassen.« »Auch ich nicht«, fiel William rasch ein. »Praifec, vergebt mir, falls meine Worte harsch gewesen sind. Obwohl es noch früh ist, war dies doch schon ein anstrengender Tag. Jetzt jedoch habt Ihr mir Freude bereitet, und ich stehe in Eurer Schuld dafür, dass Ihr meine Schwester heil und unversehrt heimgeleitet habt. Ich war stets ein Freund der Kirche und werde Euch dies gewiss beweisen.« »Es war mir ein Vergnügen«, versicherte der Geistliche und verbeugte sich. »Und jetzt hoffe ich, dass Ihr mich entschuldigen werdet. Meine Schreiber sind ohne mich ein wenig hilflos, und ich fürchte, es wird Wochen dauern, meine Amtsräume wieder in Ordnung zu bringen. Nichtsdestotrotz wäre es mir eine Ehre, Euch zu beraten, wenn Ihr Hof haltet.« »Mir wäre es eine Ehre, Euch an meiner Seite zu haben. Ich musste Eure Weisheit zu lange entbehren, Praifec.« Der Priester nickte und zog sich zurück. »Wir brauchen mehr Wein!«, verkündete Robert. »Und Zerstreuung! Ich will alles erfahren.« Er wirbelte auf dem Absatz herum. »Ich kümmere mich darum. Lesbeth, kommst du in einem halben Glockenschlag zu mir auf die Galerie?« 116 »Ohne jeden Zweifel, teurer Bruder«, erwiderte sie. »Und du, Bruderherz?« »Ich werde kurz vorbeischauen. Dann muss ich Hof halten.« »Schade.« Robert drohte Lesbeth mit dem Finger. »In einem halben Glockenschlag. Verspäte dich nicht.« »Nicht einmal im Traum würde mir das einfallen.« Robert eilte davon. Als sie allein waren, ergriff Lesbeth Williams Hand und drückte sie. »Geht es dir gut, Wilm? Du siehst müde
aus.« »Das bin ich auch, ein wenig jedenfalls. Nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest.« Er erwiderte den Händedruck. »Es ist schön, dich zu sehen. Du hast mir gefehlt.« »Du mir auch. Wie geht es Muriele? Und den Mädchen?« »Es geht allen gut. Du wirst nicht glauben, wie groß Anne geworden ist. Und Elseny, verlobt! Aber du wirst sie ja morgen bei ihrem Geburtstagsfest sehen.« »Ja.« Sie schlug fast schüchtern die Augen nieder. »Wilm, ich habe ein Geheimnis zu offenbaren. Und ich muss für etwas um Erlaubnis bitten. Aber du musst mir versprechen, dass es sich nicht auf Elsenys Geburtstagsfeier auswirkt. Versprichst du mir das?« »Gewiss. Ich hoffe doch, es ist nichts Ernstes.« Ihre Augen funkelten sonderbar. »Ich glaube doch. Zumindest hoffe ich es.« Muriele Dare, die Königin von Crothenien, trat von dem Guckloch zurück. Was immer Lesbeth William zu sagen hatte, Muriele würde die Geschwister unter vier Augen miteinander sprechen lassen. Leise schlich sie den engen Gang entlang und tappte auf Strümpfen über den glatten Steinboden, durch eine geheime Öffnung in der Täfelung aus Roteiche in den kleinen Raum dahinter und die Treppe hinter der Statue der heiligen Brena hinab. Schließlich erreichte sie die verborgene, verschlossene Tür zu ihren Gemächern. Dort hielt sie in der fast vollständigen Finsternis inne, um ein paarmal tief Atem zu holen. 117 »Du warst wieder in den Mauern.« Beim Klang der Frauenstimme fuhr Muriele zusammen. Auf der anderen Seite des Raumes konnte sie einen Schatten im langen Kleid ausmachen. »Erren.« »Warum hast du angefangen, meine Arbeit zu tun? Ich bin die Spionin. Du bist die Königin.« »Ich habe mich gelangweilt, du warst nicht da, und ich wusste, dass der Praifec zurückgekehrt ist. Ich wollte wissen, was er sagt.« »Und?« »Nichts von besonderem Interesse. Er hat die Neuigkeit, dass meine Töchter zu Thronerbinnen ernannt werden, so aufgenommen, wie wir es erwartet hatten. Andererseits - hast du etwas von hansischen Truppen in der Salzmark gehört?« »Nicht direkt«, erwiderte Erren. »Aber in Hansa geschieht zurzeit eine Menge. Sie werden bald handeln.« »Und wie?« »Crothenien wird sich noch in diesem Jahr im Krieg befinden, dessen bin ich mir sicher«, antwortete Erren. »Doch es gibt weniger ferne Dinge, die ich mehr fürchte. Gerüchte machen die Runde unter denen, die im Dunklen Konvent unterrichtet wurden.« Das ließ Muriele aufhorchen. Erren war eine ganz besondere Attentäterin, eine Assassine, von der Kirche geschult, um adligen Familien zu dienen. »Du fürchtest um unser aller Leben?«, fragte sie. »Wäre Hansa so tollkühn, Konventjüngerinnen auf uns anzusetzen, um uns zu ermorden?« »Nein - und ja. Nein, sie werden meine Schwestern nicht einsetzen, denn das brächte den Zorn der Kirche über sie. Doch es gibt noch andere, die für Könige töten, und in Hansa denkt man, dass es hier in Crothenien einen König gibt, der getötet werden sollte. Das weiß ich.« Sie hielt kurz inne. »Aber es liegt noch etwas anderes in der Luft. Gerede von neuartigen Morden, von Nekromantie und Seelenwanderung, die unter den Schwestern des Dunklen Konvents unbekannt 118 sind. Manche sagen, dass vielleicht Assassinen aus Hadam oder irgendeinem anderen fernen Land dafür verantwortlich sind. Vielleicht haben sie auf der anderen Seite des Meeres Fähigkeiten, die wir nicht kennen.« »Und du hast Grund zu befürchten, dass diese unbekannten Mörder auf meine Familie angesetzt werden?« »Ich fürchte es«, antwortete Erren. In ihrer Stimme war keine Spur von Unsicherheit zu hören. Muriele durchquerte den Raum. »Dann ergreife alle Vorsichtsmaßnahmen, die du für nötig erachtest, besonders, was die Kinder betrifft«, sagte sie. »Ist das alles, was du mir im Moment berichten kannst?« »Ja.« »Dann zünde ein paar Kerzen an und schick nach Würzwein. Die Gänge sind kühl heute.« »Wir könnten in dein Sonnengemach hinaufsteigen. Draußen scheint die Sonne warm.« »Im Augenblick ziehe ich es vor, hier zu bleiben.« »Wie du wünschst.« Erren ging ins Vorzimmer, flüsterte dem Dienstmädchen dort etwas zu und kam mit einer brennenden Kerze zurück. Das Licht schmeichelte ihrem Gesicht, löschte die Jahre gründlicher aus, als Wangenrot es je vermocht hätte. Beinahe sah sie aus wie ein Mädchen, mit zarten Zügen unter dem glatten, dunklen Haar. Nur ein paar silberne Strähnen darin straften das Bild Lügen. Sie entzündete die Kerze neben dem Schreibpult, und als sich das Licht im Raum verdoppelte, erschienen Krähenfüße, die von ihren Augenwinkeln fortstrebten, und auch andere Furchen des Alters zeigten sich widerstrebend - unter dem Kinn, in der Haut ihres Halses und ihrer Stirn.
Auch eine Ecke von Murieles Gemach tauchte aus der Dunkelheit auf. Das Porträt ihres Vaters an der Wand, die Augen streng, aber doch gütig, vom Maler mit Blattgold gesprenkelt, nicht annähernd so warm, wie sie es in Wirklichkeit gewesen waren. 119 Erren zündete eine dritte Kerze an, und eine rote Ruhebank löste sich aus den Schatten, ein Tisch, ein Nähkästchen, die Ecke von Murieles Bett - nicht das, welches sie mit dem König teilte, das stand im ehelichen Schlafgemach, sondern ihr Bett, gezimmert aus dem Holz der weißen Zedern des lierischen Hochlands, mit einem Himmel aus schwarzem Tuch mit silbernen Sternen, das Bett ihrer Kindheit, wo sie jede Nacht in Träume hinübergeglitten war. Die vierte Kerze jagte alle Schatten unter die Möbel, wo sie hingehörten. »Wie alt bist du, Erren?«, fragte Muriele. »Wie alt genau?« Erren neigte den Kopf zur Seite. »Wie nett von dir zu fragen. Willst du auch wissen, wie viele Kinder ich habe?« »Ich kenne dich, seit du den Konvent verlassen hast. Ich war acht. Wie alt warst du damals?« »Zwanzig. Und nun rechne es aus.« »Ich bin achtunddreißig«, erwiderte Muriele. »Also bist du fünfzig.« »Fünfzig stimmt«, bestätigte Erren. »Man sieht es dir nicht an.« Erren zuckte mit den Schultern. »Das Alter kann einem weniger anhaben, wenn man von Anfang an keine besondere Schönheit war.« Muriele runzelte die Stirn. »Ich habe dich niemals unscheinbar gefunden.« »Du bist eine schlechte Richterin, was solche Dinge angeht. Du behauptest oft, du wüsstet nicht, dass du schön bist, und doch ist dein Liebreiz seit deinem dreizehnten Lebensjahr berühmt. Wie kann man von solcher Bewunderung umgeben sein und ihr nicht erliegen?« Muriele lächelte sarkastisch. »Man kann es nicht, Base, wie du bestimmt weißt. Man kann sich nur den Anschein der Bescheidenheit geben. Wenn man diesen Schein lange genug aufrechterhält, wer weiß, vielleicht wird es eines Tages wahr? Und hier ist das Alter eine Hilfe, denn, wie du sagst, die Zeit stiehlt die Schönheit, und wenn man alt genug ist, muss aus falscher echte Bescheidenheit werden.« 120 »Um Vergebung, Majestät, Lady Erren«, ließ sich ein dünnes Stimmchen von der Tür her vernehmen. Es war Unna, ihre Zofe, ein zierliches Mädchen mit aschblondem Haar. »Euer Wein.« »Bring ihn herein, Unna.« »Ja, Majestät.« Das Mädchen stellte den Krug in die Mitte des kleinen Tisches und rückte rechts und links davon einen Becher zurecht. Der Duft von Nelken und Orangenblüten erhob sich mit dem Dampf. »Wie alt bist du, Unna?«, fragte Muriele. »Elf, Euer Majestät.« »Ein süßes Alter. Sogar meine Anne war in diesem Alter reizend, auf ihre Art.« Die Zofe verneigte sich. »Du darfst gehen, Unna.« »Danke, Euer Majestät.« Erren schenkte sich Wein ein und kostete ihn. Einen Moment später nickte sie und schenkte auch Muriele etwas ein. »Was soll all das Gerede über das Alter?«, wollte Erren wissen. »Hast du wieder deinem Mann und seinen Geliebten zugesehen? Ich hätte dir nie die Geheimgänge zu seinem Gemach zeigen sollen.« »So etwas habe ich noch nie getan!« »Ich schon. Armer japsender, keuchender, schwitzender Mann. Er kann mit der kleinen Alis Berrye nie Schritt halten.« Muriele hielt sich die Ohren zu. »Das will ich nicht hören!« »Und um es noch schlimmer zu machen, hat auch noch Lady Gramme angefangen, sich über die Aufmerksamkeit zu beklagen, die er Alis schenkt.« Muriele ließ die Hände sinken. »Was? Die alte Hure beschwert sich über die neue?« »Was erwartest du denn?«, erwiderte Erren. Muriele stieß ein tonloses Lachen aus. »Mein armer ungetreuer William. Beinahe tut er mir Leid. Meinst du, ich sollte auch anfangen, mich zu beschweren? Über Grammes Bastarde?« »Das könnte das Ganze interessanter machen. Alis laugt seinen 121 Leib aus, Gramme jammert ihm die Ohren voll, und du reibst auf, was noch von ihm übrig ist. Das sollte nicht schwierig sein.« Muriele zuckte mit den Schultern. »Ich könnte es ihm schwer machen. Aber es scheint... Als ich ihn heute in der Halle der Tauben beobachtet habe, dachte ich einen Moment lang, er würde gleich zusammenbrechen. Er sah nicht nur erschöpft aus, er sah aus, als hätte er den Schatten des Todes erblickt. Und wenn es wirklich zum Krieg mit Hansa kommt... nein. Es ist besser, wenn ich diejenige bin, auf die er zählen kann.«
»Das warst du immer«, meinte Erren. »Ambria Gramme möchte Königin werden und ist einmalig ungeeignet dafür. Alis und die weniger edlen Jüngeren hoffen auf eine Stellung mit ... sagen wir gesichertem Altenteil... wie Gramme sie genießt. Aber du - du bist Königin. Du versuchst dir keine Vorteile zu erkämpfen.« Muriele spürte, wie das Lächeln aus ihrem Gesicht floh. Sie blickte auf ihren Weinbecher hinab, auf das Licht der am nächsten stehenden Kerze, das darin zappelte wie ein Fisch. »Ich wünschte, es wäre so«, murmelte sie. »Aber ich will doch etwas von ihm. Von diesem Bastard.« »Liebe?«, spottete Erren. »In deinem Alter?« »Das hatten wir einst. Nicht als wir geheiratet haben, aber später. Es gab einmal eine Zeit, da waren wir wahnsinnig ineinander verliebt, glaubst du nicht?« Widerstrebend nickte Erren. »Er liebt dich immer noch«, gab sie zu. »Meinst du, mehr als Gramme?« »Tiefer.« »Aber weniger fleischlich.« »Ich glaube, er hat ein schlechtes Gewissen, wenn er zu dir kommt, deshalb tut er es nicht mehr so oft.« Muriele fand irgendwo ein kleines Lächeln. »Er sollte auch ein schlechtes Gewissen haben.« Erren zog die Brauen hoch. »Hast du je daran gedacht, dir einen Liebhaber zu nehmen?« 122 »Woher weißt du, dass ich das nicht getan habe?« Erren verdrehte die Augen. »Bitte. Beleidige mich nicht schon wieder. Du hast bereits von meinem fortgeschrittenen Alter Notiz genommen. Das reicht für einen Abend.« »Oh, na schön. Ja, ich habe daran gedacht. Ich denke immer noch daran.« »Aber du wirst es nicht tun?« »In solchen Fällen macht es wohl mehr Spaß, daran zu denken, als es wirklich zu tun.« Erren nippte an ihrem Wein und beugte sich vor. »Wen hattest du im Auge? Sag schon. Den jungen Baron von Breu-n'Avele?« »Nein. Genug davon«, wehrte Muriele ab, deren Wangen zu brennen begannen. »Erzähl du mir etwas. Was haben meine Töchter heute angestellt?« Erren seufzte und straffte die Schultern. »Fastia war eine vollendete Prinzessin. Elseny hat viel mit ihren Zofen gekichert, und sie haben einige ziemlich unwahrscheinliche Mutmaßungen darüber angestellt, wie ihre Hochzeitsnacht wohl verlaufen wird.« »O weh. Es ist wohl an der Zeit, dass ich mit ihr rede.« »Das kann doch Fastia tun.« »Fastia erledigt schon zu viel von dem, was eigentlich ich tun sollte. Was noch? Anne?« »Wir ... haben Anne wieder einmal verloren.« »Natürlich. Was glaubst du, was sie treibt? Ein Mann?« »Vor einem Monat, nein. Da hat sie sich einfach davongeschlichen, wie üblich. Ist reiten gegangen, hat sich betrunken. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Sie könnte jemanden kennen gelernt haben.« »Dann muss ich auch mit ihr reden.« Muriele seufzte. »Ich hätte die Dinge nicht so lange schleifen lassen sollen. Sie wird es schwer haben, wenn sie erst vermählt ist.« »Sie braucht sich nicht zu vermählen«, sagte Erren leise. »Sie ist die Jüngste. Du könntest sie zu Schwester Secula schicken, zumindest für ein paar Jahre. Bald braucht dein Haus eine neue ...« Sie ließ den Satz unvollendet. 123 »Eine neue Erren} Hast du vor zu sterben?« »Nein. Aber in ein paar Jahren werde ich die ... schwierigeren Aufgaben nicht mehr bewältigen können.« »Aber Anne, eine Assassine?« »Sie hat bereits viele der notwendigen Talente. Immerhin kann sie mir entwischen. Selbst wenn sie nie den Eid ablegt, die Fähigkeiten sind immer von Nutzen. Die Disziplin wird ihr gut tun, und Schwester Secula wird sie sorgfältig von jungen Männern fern halten, das kann ich dir versichern.« Muriele nickte. »Ich muss darüber nachdenken. Ich bin mir nicht sicher, ob eine so drastische Maßnahme wirklich notwendig ist.« Nun war es an Erren zu nicken. »Anne war schon immer dein Liebling.« »Ist das so offensichtlich?« »Für manche. Ich weiß es. Fastia auch. Anne weiß es ganz bestimmt nicht.« »Gut. Sie sollte es auch nicht wissen.« Sie hielt kurz inne. »Sie wird mich hassen, wenn ich sie fortschicke.« »Eine Zeit lang. Aber nicht für immer.« Muriele schloss die Augen und ließ den Kopf an der Rückenlehne ihres Stuhles ruhen. »Ach. Ich hasse so etwas«, flüsterte sie. »Ich werde darüber nachdenken, Erren. Ich werde gründlich darüber nachdenken.« »Und was nun? Noch etwas Wein?« »Nein. Du hattest Recht. Lass uns ins Sonnengemach gehen und Karten spielen.« Sie lächelte. »Bitte doch Alis Berrye, sich uns anzuschließen. Ich will ein bisschen zusehen, wie sie sich windet.« 7. Kapitel
Tor Scath Wahrend sie dahinritten, verfasste Stephen Darige im Geiste eine Abhandlung mit dem Titel Das wunderliche und vulgäre Betragen der gemeinen Waldhüter-Bestie. Diese stachelrückige Waldkreatur ist von jähzorniger Wesensart, und Männer von Anstand oder erlesener Empfindsamkeit sollten ihr auf keinen Fall zu nahe kommen. Höflichkeit erbost das Geschöpf zivilisierte Umgangsformen versetzen es in Wut, und Vernunft ruft Zornesausbrüche hervor wie bei einem Bären, dem beim Honigstehlen eine Biene in den »Haltet einen Moment an«, befahl der Waldhüter schroff. Es verständigt sich hauptsächlich mit Grunz- und Knurrgeräuschen sowie trompetengleichen Fürzen. Letztere sind die verständlichsten Laute, sollten jedoch nicht mit sprachlichen Äußerungen verwechselt werden »Ich habe gesagt, Ihr sollt anhalten.« Aspar hatte sein eigenes Pferd zum Stehen gebracht, ebenso die der Gefangenen. »Warum?« Dann sah Stephen, warum. Der Waldhüter horchte ganz offensichtlich auf irgendetwas. »Was ist denn?« »Wenn Ihr still seid, finde ich es vielleicht heraus.« Stephen lauschte seinerseits angespannt, hörte jedoch nichts außer dem durch das Laub seufzenden Wind und raschelnden Zweigen. »Ich höre nichts.« »Ich auch nicht«, ließ sich Pol, einer der Männer, die Stephen entführt hatten, vernehmen. »Halt's Maul«, sagte Aspar White zu Pol und trieb sein eigenes Pferd zum Trab an. »Kommt. Ich will vor Sonnenuntergang in Tor Scath sein.« 125 »Tor Scath? Was ist das?«, fragte Stephen. »Der Ort, wo ich vor Sonnenuntergang sein will.« »Ein Ort, wo du's mit einem Bären treiben kannst?«, erkundigte sich Pol. Dafür handelte er sich eine Ohrfeige und, nach kurzem Halt, einen Knebel ein. Stephen mochte Pferde. Zu seinen schönsten Erinnerungen gehörten Finder, das Pferd, das er als Kind gehabt hatte, und die Ausritte mit seinen Freunden über die Ländereien seines Vaters, wenn sie so getan hatten, als wären sie Virgenyas Ritter, die die Festung der Skasloi erstürmten. Er liebte Pferde, wenn sie dahinrannten, den Rausch des vollen Galopps. Es gefiel ihm, wenn sie gemessen voranschritten. Traben hasste er. Es tat weh. Während der nächsten zwei Glockenschläge wechselten sie zwischen Schritt und Trab. Mittlerweile hatte Stephen seiner Abhandlung etliche Seiten hinzugefügt. Außerdem hatte er begonnen, etwas zu hören, so wie es der Waldhüter vorausgesagt hatte, und sich zu wünschen, dass dem nicht so wäre. Der Wald wurde dunkel, und er bildete sich bereits ein, dass sich in jedem Schatten etwas regte. Jetzt bekamen die Schatten auch noch Stimmen, hohl und fern, kehlige Klagelaute, gerade noch vernehmbar und dann wieder verschwunden. Er versuchte, sie nicht zu beachten und sich stattdessen auf das vierte Kapitel seiner Abhandlung zu konzentrieren, »Die höchst abstoßende Lebensweise der Waldhüter-Bestie«, doch die Laute krochen tiefer und tiefer in seinen Kopf, wurden zu einem Geheul oder Gebell, das sich geradezu unirdisch anhörte. »Waldhüter - was ist das?«, wollte er wissen. »Jagdhunde«, antwortete Aspar White in seiner aufreizend kurz angebundenen Art. »Ich habe doch gesagt, Ihr würdet sie schon hören.« Stephen hatte schon oft gehört, wie Jagdhunde anschlugen. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie sich jemals so angehört hätten. »Wessen Jagdhunde? Dies ist doch der Wald des Königs! Hier wohnt doch niemand! Oder sind es wilde Hunde?« 126 »Wild sind sie nicht, nicht so, wie Ihr meint.« »Sie klingen gefährlich. Und unheimlich.« Stephen drehte sich stirnrunzelnd im Sattel um. »Wie meint Ihr dass, >nicht so, wie ich meine Sind sie jetzt wild oder nicht?« Der Waldhüter zuckte die Achseln. In diesem Augenblick nahm das Geheul einen neuen, besonders grauenhaften Tonfall an; es klang jetzt viel näher als vorher. Stephens Magen zog sich zusammen. »Werden sie aufhören, wenn es Nacht wird? Sollten wir auf einen Baum klettern, oder -« »Bei der Pisse der Heiligen!«, japste Aiken, der rothaarige Wegelagerer. »Das ist Grim, nich' wahr? Grim und seine Jagd!« »Still!«, befahl Aspar. »Du machst dem Jungen noch Angst.« »Was meinst du damit, Aiken?«, wollte Stephen wissen. Der Strauchdieb war so bleich geworden, dass sogar seine Sommersprossen verschwunden waren. »Der einäugige Grim! Er jagt die verlorenen Seelen, die im Wald umherwandern! O ihr Heiligen, haltet ihn mir vom Leib! Ich wollt doch nie jemand was zuleide tun!« Stephen wusste nicht genau, wer Grim war, doch sein Großvater hatte Geschichten von einem Heer nächtlicher Geister und Dämonen erzählt, die von einem Geschöpf angeführt wurden, das halb Mensch und halb Bestie war
und der heilige Hörn der Verdammte genannt wurde. Stephen war nie dazu gekommen, zu überprüfen, ob der Heilige Hörn von der Kirche anerkannt war oder ob es sich nur um eine volkstümliche Legende handelte. Jetzt wünschte er sich aufrichtig, er hätte es getan. »Wovon redet er eigentlich? Hat er etwa Recht?«, wandte sich Stephen an den Waldhüter. Aspar zuckte mit den Schultern und sah beinahe nervös aus. »Könnte sein.« »Bei der Pisse der Heiligen!«, heulte Aiken. »Macht mich los!« »Willst du auch einen Knebel?«, fuhr der Waldhüter ihn an. »Ihr glaubt doch gar nicht an solche Geschöpfe«, sagte Stephen vorwurfsvoll und wedelte mit dem Finger vor Aspars Gesicht herum. »So gut kenne ich Euch inzwischen.« 127 »Werlic. Stimmt, tue ich auch nicht. Reitet schneller.« Einen Moment lang sah der Waldhüter fast so aus, als habe er Angst, und das ließ ein Frösteln aus der Tiefe von Stephens Knochen aufsteigen. Noch nie war er jemandem begegnet, der so nüchtern und ungerührt war wie Aspar White. Wenn der dachte, dass es Grund zur Furcht gab ... Aspar schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit leiser Stimme: »Ich habe die Hunde wüten gehört, aber ich habe sie noch nie gesehen. Einmal sind sie geradewegs auf mich zugekommen, und ich dachte, jetzt würde ich sie endlich zu Gesicht bekommen. Ich habe einen Pfeil an die Sehne gelegt und gewartet. Und da habe ich sie gehört - hoch über mir, in der Nachtluft. Ich schwöre, das ist der einzige Ort, wo sie sein konnten ... Horcht - sie kommen auf uns zu. Wir werden ja sehen, nicht wahr? Seid still.« »Das ist doch völliger Unsinn«, zischte Stephen. »Ich denke nicht -« »Erbarmen, lasst mich runter«, stöhnte Aiken. »Wenn es der Wüterich ist, müssen wir uns flach auf die Straße legen, sonst holt er uns!« »Wenn er es wirklich ist, hätte ich nicht übel Lust, ihm die Arbeit abzunehmen«, knurrte Aspar und fingerte am Knochenheft seines Dolches herum. »Die verdammten Seelen mag er schließlich am liebsten, und auch die, die nicht mehr so viel Haut und Knochen mit sich herumschleppen. Klapp die Zähne über dieser Sickergrube da zu, sonst mache ich dich von deinem eigenen Leichnam los.« Daraufhin verstummte Aiken und wimmerte nur noch leise; sie warteten, und die Hunde kamen näher und näher. Stephens Hände, die die Zügel hielten, fingen an zu zittern. Er zwang sie zur Ruhe, versuchte, seine Furcht durch schiere Willenskraft dazu zu bringen, mit dem kühlen Wind davonzutreiben. Der Himmel, den er durch die Baumkronen erkennen konnte, war bleidunkel und der Wald so düster, dass er kaum zehn Ellen weit sehen konnte. Etwas Riesenhaftes, Schwarzes brach aus dem Unterholz neben der 128 Straße, und Stephen schrie auf. Sein Pferd sprang zur Seite, und Stephen erhaschte einen albtraumhaften Blick auf glänzende Augen und ein gebogenes Geweih. Wieder schrie er, riss an den Zügeln, und sein Pferd drehte sich um sich selbst wie ein Welpe, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Dann sprangen die Hunde auf die Straße, riesige Doggen mit glitzernden Zähnen; ihr Geheul war so laut, dass ihm die Ohren schmerzten. Die meisten rasten weiter und folgten ihrer entsetzlichen Beute, doch drei oder mehr begannen, die Männer und Pferde geifernd und jaulend zu umkreisen. »Ihr Heiligen, steht uns bei!«, brüllte Stephen, ehe er den Halt verlor und schmerzhaft auf dem mit totem Laub bedeckten Waldboden landete. Als er aufblickte, kam ein neuer Reiter unter den Bäumen hervorgaloppiert. Er war von menschlicher Gestalt, doch sein Antlitz war das eines Tieres, mit hell funkelnden Knopfaugen und verfilztem Haar. »Ihr Heiligen!«, wiederholte Stephen, dem der Heilige Hörn der Verdammte wieder einfiel. »Grim!«, kreischte Aiken. »Hallo, Aspar«, sagte der Tier-Mann klar und verständlich in der Sprache des Königs. »Ich hoffe, Ihr seid jetzt zufrieden. Wahrscheinlich habt Ihr mich um den Hirsch gebracht.« »Nun, Ihr hättet die Welt beinahe um einen Priester gebracht. Schaut Euch den jungen Burschen da an; Ihr habt ihn fast zu Tode erschreckt.« »Sieht ganz so aus. Was habt Ihr denn geglaubt, wer ich bin, Junge? Haergrim der Wüterich?« »Gah?«, würgte Stephen hervor. Jetzt wusste er, wie es sich anfühlte, wenn einem das Herz bis zum Halse schlug, etwas, das er bisher immer für eine übertriebene literarische Redewendung gehalten hatte. Der Reiter war jetzt näher gekommen, und Stephen sah, dass er doch ein menschliches Gesicht hatte, fast verdeckt von einem buschigen, ungepflegten Bart und langem, verfilztem Haar. 129 »Na ja, er ist ein gebildeter junger Mann«, fuhr Aspar fort. »Seine tausend Jahre alten Karten behaupten, im Königswald wohne niemand; wer sonst könntet Ihr also sein als der Wüterich?« Die bärtige Gestalt verbeugte sich leicht im Sattel. »Symen Rookswald, zu Euren Diensten«, sagt der Mann. »Sir Symen«, ergänzte Aspar. »Vor langer Zeit«, sagte Sir Symen betrübt. »Vor langer Zeit.« Auch Tor Scath war nicht auf Stephens Karte verzeichnet, doch es war so wirklich, wie es ein schwarzer
Schatten in der Nacht nur sein konnte. »König Gaut hat es erbaut, vor fast fünfhundert Jahren«, erklärte Sir Symen in melancholischem Ton, als sie den gewundenen Pfad zu der Hügelfestung hinaufritten. »Es heißt, Gaut sei verrückt gewesen und habe seine Festung nicht gegen sterbliche Feinde, sondern gegen Alvs und andere tote Wesen befestigt. Jetzt ist es ein königliches Jagdhaus.« Stephen konnte im Mondlicht nur die Umrisse ausmachen, doch nach dem, was er erkennen konnte, schien das Gebäude in der Tat von einem Verrückten errichtet worden zu sein. Es war nicht groß, doch seltsame Zinnen und Giebel ragten ohne erkennbaren Zweck daraus hervor. »Allmählich fange ich an, mich zu fragen, ob Gaut nicht doch klaren Verstandes war« fügte Rookswald mit leiserer Stimme hinzu. »Was meint Ihr damit?«, wollte Aspar White wissen. »Was soll mit den beiden da geschehen?«, erkundigte sich Sir Symen, ohne die Frage zu beachten. »In eine Zelle mit ihnen«, knurrte der Waldhüter, »wo sie auf des Königs Gerechtigkeit warten können. Wann kommt er? Nächsten Monat?« »Wir sind unschuldig!«, behauptete Aiken schwach. Sir Symen schnaubte. »Bis dahin muss ich sie durchfüttern.« »Das ist mir ziemlich einerlei. Ich hätte sie ja den Wölfen überlassen, aber ich denke, man kann sie vielleicht dazu bringen, Fragen zu ein paar anderen Angelegenheiten zu beantworten.« 130 »Andere Angelegenheiten?«, fragte Sir Symen. »Ja, ich bin froh, dass Ihr gekommen seid, Aspar. Ich bin froh, dass Euch meine Bitte erreicht hat.« »Eure was?« »Brian. Ich habe Brian ausgeschickt, um Euch zu holen.« »Brian? Den habe ich nicht gesehen. Wann habt Ihr ihn denn losgeschickt?« »Vor zehn Tagen. Ich habe ihn nach Colbaely geschickt.« »Hmm. Dann hätte er mich finden müssen.« Sie betraten das Gebäude durch einen schmalen Turm und überquerten einen kleinen, stinkenden Hof, wo Symen die beiden Gefangenen und die Pferde einem ungeschlachten Riesen namens Isarn übergab. Stephen bemerkte, dass nur jeder vierte oder fünfte Fackelhalter bestückt war. Ein ergrauender Mann in weißgrüner Livree begrüßte sie. »Wie war die Jagd, Sir?«, erkundigte er sich. »Sie wurde unterbrochen«, erwiderte Sir Symen. »Allerdings von einem alten Freund. Kann Anfalthy irgendetwas auftreiben, womit man diese alte Tafel zieren könnte?« »Das kann sie gewiss. Master White, es ist schön, Euch wiederzusehen. Und auch Ihr, junger Herr, willkommen auf Tor Scath.« »Gleichfalls, Wilhilm«, sagte Aspar. »Danke«, brachte Stephen mühsam hervor. »In der Zwischenzeit hole ich Euch ein wenig Käse.« »Danke, Wil«, sagte Sir Symen, und der Mann ging. Symen wandte sich wieder an Stephen. »Willkommen in König Williams Jagdhaus und in der verarmtesten, undankbarsten Baronie des ganzen Reiches.« »Unser Gastgeber ist bei Hofe ein wenig in Ungnade gefallen«, erklärte Aspar. »Und der Himmel ist ein wenig blau«, erwiderte der verwahrloste Ritter. Bei Licht besehen war er gar nicht Furcht erregend; er sah verhärmt, alt und traurig aus. »Aspar, ich habe Euch Dinge zu berichten. Die Sefry haben den Wald verlassen.« 131 »Ich bin in Colbaely auf Mutter Cilths Bande gestoßen. Sie haben mir das Gleiche erzählt.« »Nein. Nicht nur das Fahrende Volk. Alle.« »Sogar die Halafolk?« »Alle.« »Nun ja. Ich versuche seit zwanzig Jahren, die Halafolk aus dem Wald zu vertreiben, und jetzt verschwinden sie einfach? Das glaube ich nicht. Wie könnt Ihr Euch so sicher sein?« »Sie haben es mir gesagt. Sie haben auch mich gewarnt und mir geraten fortzugehen.« »Wovor haben sie Euch gewarnt?« Misstrauen huschte über Sir Symens Züge. »Wenn Brian Euch nicht erreicht hat, wieso seid Ihr dann gekommen?« »Ein Knabe ist nach Colbaely gekommen und hat behauptet, seine Familie sei von Männern in den Farben des Königs getötet worden, unten am Taffbach. Als ich mich aufgemacht habe, um dem nachzugehen, bin ich unterwegs auf das Priesterlein und seine Entführer gestoßen. Ich konnte sie schließlich nicht den ganzen Weg mitschleppen, also habe ich sie hierher gebracht.« »Am Taffbach auch? Davon wusste ich nichts.« »Was soll das heißen, >auch« »Zwei Meilen südlich von hier sind die Bewohner eines Holzfällerlagers bis auf den letzten Mann niedergemacht
worden. Wir haben sie vor zwanzig Tagen gefunden. Ein paar Kesselflicker auf dem Weg nach Virgenya, genauso abgeschlachtet. Fast ein Dutzend Jäger.« »Irgendjemand davon mit einem königlichen Freibrief?« »Kein Einziger. Alle haben sich ohne Erlaubnis im Wald aufgehalten.« »Dann erledigt jemand meine Arbeit für mich.« Stephen konnte es nicht mehr ertragen. »Das ist also Eure Arbeit? Holzfäller zu ermorden?« »Es ist nicht mein Gesetz, Junge, sondern das des Königs. Wenn der Wald für jeden zugänglich wäre, was glaubst du, wie lange würde er dann noch stehen? Bei all den Fallenstellern, Köhlern, Holzfällern 132 und Siedlern hätten die Angehörigen der königlichen Familie bald keinen Ort mehr, wo sie jagen könnten.« »Aber Mord?« »Ich bringe keine Holzfäller um, Junge, es sei denn, sie versuchen, mich umzubringen, und manchmal nicht einmal dann. Ich verhafte sie. Ich sperre sie irgendwo ein, wo sie die Gerichtsbarkeit des Königs erwarten. Meistens verscheuche ich sie. Was ich gemeint habe, war, dass jemand diejenigen tötet, die von vornherein nicht hier sein sollten. Das freut mich nicht, es macht mich wütend. Dieser Wald ist mein Amt, mein Territorium.« »Aber Brian ist verschwunden«, sagte Rookswald. »Und er war mein Mann. Auch wenn ich der ungeliebteste unter des Königs Rittern bin, ich habe immer noch einen Freibrief, hier zu sein, und mein Haushalt auch.« In diesem Augenblick kam Wilhilm mit einer Steingutplatte voll Käse, einem großen Krug Met und Trinkkrügen für alle zurück. Plötzlich fiel Stephen auf, dass er hungrig war, und als er in den streng riechenden Käse biss, der fast so weich und fett wie Butter war, änderte er diese Einschätzung in >völlig ausgehungerte Der Met war süß und schmeckte nach Nelken. Auch Aspar White langte zu. Nur der bärtige Ritter schien das Essen gar nicht zu bemerken. »Ich glaube nicht, dass sie von Menschen getötet worden sind«, sagte Rookswald leise. »Von was dann?«, fragte der Waldhüter mit vollem Mund. »Bären? Wölfe?« »Ich glaube, der Dornenkönig hat sie getötet.« Der Waldhüter starrte ihn einen Moment lang an, dann schnaubte er. »Ihr habt den Sefry zugehört, das ist mal sicher.« »Wer ist der Dornenkönig?«, wollte Stephen wissen. »Eine von Euren Volkslegenden«, höhnte der Waldhüter. »Früher habe ich das auch einmal gedacht«, sagte Sir Symen. »Jetzt - ich weiß es nicht. Die Toten, die wir gefunden haben -« Er hielt einen Moment lang inne, dann blickte er auf. »Es waren zwei 133 verschiedene Arten von Toten, bei den Holzfällern. In der Senke, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, sind sie einfach umgefallen, völlig unversehrt. Keine Wunden von Schwerthieben, Krallen oder Pfeilen. Genauso wenig waren sie nach ihrem Tod von Tieren oder Vögeln angenagt oder zerhackt worden. In dem Lager war nichts mehr am Leben. Hühner, Hunde, Eichhörnchen, die Fische im Bach - alle tot. Aber habt Ihr gewusst, dass es dort in der Nähe einen Seoth gibt, einen Hügel mit einem alten Schrein? Dort haben wir den Rest von ihnen gefunden, oder vielmehr das, was von ihnen übrig war. Sie waren auf grauenvolle Weise getötet worden, zu Tode gefoltert, und zwar sehr langsam.« Stephen sah, wie etwas über die Züge des Waldhüters huschte, etwas, das rasch wieder unterdrückt wurde. »Spuren?«, fragte Aspar. »Habt Ihr Spuren gefunden?« »Es gab Spuren. Wie von einer Katze, nur größer. Und auch Spuren von Männern.« »Habt Ihr eine davon berührt? Eine der Spuren?« Eine merkwürdige Frage, fand Stephen, doch der alte Ritter nickte. »Ich habe eine der Leichen berührt.« Er streckte die Hand aus. Sie war frisch verbunden; zwei Finger fehlten. »Ich musste sie abschneiden, sonst hätte sich die Fäulnis bis zu meinem Arm ausgebreitet.« Er zog ein finsteres Gesicht. »Aspar White, ich kenne Eure Miene. Ihr wisst etwas darüber. Was?« »Ich habe ein solche Spur gefunden«, sagte Aspar. »Das ist alles, was ich weiß.« »Die Sefry sind alt, Aspar, besonders die Halafolk. Sie wissen eine Menge. Sie sagen, die Gryffins seien zurückgekehrt. Und der Herr der Gryffins, der Herr aller unheiligen Wesen, die in diesem Wald ihr Unwesen treiben, ist der Dornenkönig. Wenn sie erwacht sind, ist er ebenfalls wach oder wird es bald sein. Sie tun, was er will, die Gryffins.« »Gryffins«, wiederholte Aspar White. Sein Tonfall ließ das Wort irgendwie absurd klingen. »Könnt Ihr mir nicht mehr darüber erzählen?«, fragte Stephen. »Vielleicht könnte ich helfen.« 134 »Ich brauche Eure Hilfe nicht«, entgegnete der Waldhüter barsch. »Morgen reitet Ihr nach d'Ef weiter. Spielt dort Eure Landkarten- und Legendenspiele, wenn Ihr wollt.« Stephen lief rot an, seine Zunge war vorübergehend von hilflosem Zorn gelähmt. Wie konnte ein Mensch nur so hochmütig sein? »Der Dornenkönig war schon immer hier«, flüsterte Sir Symen. »Vor der Hegemonie, vor den Magierkriegen, sogar vor den mächtigen Scaosen selbst war er hier. Zeitalter vergehen, und er schläft. Wenn sein Schlaf unruhig genug wird, erwacht er.« Er richtete gerötete, tränende Augen auf Stephen. »Das ist der wahre Grund dafür, dass
es den Königswald gibt, obwohl die meisten es vergessen haben. Nicht als riesiges Jagdrevier für die Familie, die gerade in Eslen regiert. Nein. Sondern damit der Dornenkönig nicht verstimmt ist, wenn er erwacht.« Er packte Aspar am Arm. »Wisst Ihr nicht mehr? Die alte Mär? Es war ein Abkommen, geschlossen zwischen dem Dornenkönig und Vlatimon dem Handlosen, als die Scaosen niedergemacht wurden und das Königreich von Crothenien gegründet wurde. Der Wald sollte für ihn erhalten werden, vom Flusse Ef bis zum Meer, von den Hasenbergen bis zum grauen Magierfluss. Das Abkommen sah vor, dass Vlatimon und seine Nachkommen den Rest bekommen sollten, wenn der Wald unberührt bliebe. Aber wird das Abkommen gebrochen, dann wird jedes Lebewesen zugrunde gehen, so wie schon einmal, und der Dornenkönig wird einen neuen Wald aus unseren Gebeinen und unserer Asche erstehen lassen. Seht Ihr, wenn wir vom Königswald reden, dann meinen wir nicht den König von Crothenien. Wir meinen seinen wahren Herrscher, den unsterblichen, den Herren der Gryffins.« »Symen -«, begann Aspar. »Wir haben Vlatimons uraltes Gelübde gebrochen. Allenthalben werden die Grenzen übertreten. Allenthalben werden Bäume niedergehauen. Er erwacht, und er ist nicht erfreut.« »Symen, die Sefry haben Euch den Verstand verwirrt. Das sind alte Märchen, nicht besser als die Geschichten von sprechenden Bären und magischen Schiffen, die über Land segeln. Etwas Seltsames geht 135 um, ja. Etwas Gefährliches. Aber ich werde es finden, und ich werde es töten, und damit wird diese Angelegenheit ausgestanden sein.« Symen antwortete nicht, sondern schüttelte nur stumm den Kopf. Das Gespräch wurde durch das Abendessen unterbrochen, das von einer fröhlichen Frau mittleren Alters und zwei Mädchen aufgetragen wurde. Sie stellten zwei dampfende Pasteten, eine Platte mit gebratenen Tauben und Schwarzbrot auf den Tisch. Die Mädchen eilten ohne ein Wort davon, doch die Frau stemmte die Hände in die Hüften und musterte die drei Männer. »Also, hallo, Aspar, und hallo, junger Herr, wer immer Ihr auch sein mögt. Mein Name ist Anfalthy. Wir waren nicht auf Besuch vorbereitet, aber ich hoffe, dies hier wird Euch munden. Falls etwas fehlt, das Ihr gern hättet ganz gleich, was -, sehe ich, was ich tun kann. Versprechen tue ich nichts, aber ich werde es versuchen.« »Lady, alles, was Ihr bringt, wird uns munden«, versicherte Stephen, dem seine guten Manieren wieder einfielen. »Das Wild ist knapp«, brummte Symen. »Er hat doch nicht schon wieder über das Ende der Welt geredet, oder?«, fragte Anfalthy »Schaut, Sir Symen, Ihr habt Euren Wein noch nicht einmal angerührt. Trinkt! Ich habe Kräuter hineingemischt, um Eure Stimmung zu heben.« »Ohne Zweifel.« »Kümmert Euch nicht um sein düsteres Gemurmel, Ihr zwei. Er redet jetzt schon seit Monaten davon. Eine Reise, das ist es, was er braucht, aber ich kann ihn nicht davon überzeugen.« »Ich werde hier gebraucht«, beharrte Symen. »Nur um Schwermut zu verbreiten. Esst, Ihr beiden, und ruft nach mehr, wenn es nötig ist.« Die Pastete aus Wildbret, Wildschweinbraten und Holunderbeeren war für Stephens Geschmack ein wenig zu herb, die mit Rosmarin, Majoran und Schweineleber gefüllten Tauben jedoch waren köstlich. »Morgen reite ich zum Taffbach«, versprach Aspar. »Und jetzt tut, was Anfalthy sagt. Trinkt Euren Wein.« »Ihr werdet es ja sehen, wenn Ihr hinreitet«, knurrte der alte Rit136 ter, doch er nippte an seinem Wein und trank erst lustlos, dann in größeren Schlucken. Während sich der Abend hinzog, gesellte sich der Rest des Haushalts zu ihnen; anscheinend lebten etwa zwanzig Menschen in dem Turm. Innerhalb eines Glockenschlags drängten sich die Tafelnden um den Tisch, der von einem Ende zum anderen von Pasteten, Wildschweinbraten, Wachteln und Enten bedeckt war. Stephen fragte sich, wie sie hier wohl speisten, wenn das Wild nicht knapp war. Die Gespräche wurden laut und ausgelassen, Kinder und Hunde tollten zwischen ihren Füßen herum, und die unheilvolle Prophezeiung des alten Ritters trat in den Hintergrund. Trotzdem ließ es Stephen keine Ruhe, und noch mehr trieb ihn um, wie schroff der Waldhüter alles, was Stephen vielleicht hätte hinzufügen können, abgetan hatte. Also beugte er sich, als ihn schließlich der Mut des Metrausches überkam, zu Aspar White hinüber. »Wollt Ihr wissen, was ich denke?«, fragte er. Der Waldhüter runzelte die Stirn, und einen Moment lang dachte Stephen schon, der Altere würde ihn erneut schweigen heißen. Er beschloss, ihm keine Gelegenheit dazu zu geben. »Hört zu«, fuhr er hastig fort. »Ich weiß, Ihr haltet nicht viel von mir. Ich weiß, Ihr denkt, ich bin nutzlos. Aber das bin ich nicht. Ich kann helfen.« »Tatsächlich? Eure tausend Jahre alten Landkarten können mir hierbei helfen?« Stephen kniff die Lippen zusammen. »Ich verstehe. Ihr habt Angst, dass ich mehr weiß als Ihr. Dass ich verdammt noch eins irgendetwas weiß, das von Nutzen sein könnte.« Noch während die Worte aus seinem Mund kamen, erkannte Stephen, dass der Met ihm einen üblen Streich gespielt hatte. Aber der Waldhüter war so verflucht eingebildet, und Stephen war zu betrunken, um Furcht anders wahrzunehmen denn als fernes Flüstern eines Heiligen. Dann lachte der Waldhüter zu seiner unermesslichen Überraschung bitter auf. »Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht weiß«, gestand er. »Nur zu. Sagt mir, was Ihr von all dem haltet.«
Stephen blinzelte. »Was?« 137 »Ich sagte, nur zu. Was haltet Ihr von Sir Symens Geschichte?« »Oh.« Einen Augenblick lang saßen zwei Aspars da, dann wieder nur einer. »Ich glaube nicht daran«, verkündete Stephen, wobei er jedes Wort betonte. Der Waldhüter zog eine Braue hoch. »Tatsächlich.« »Tatsächlich. Erstens stimmen zu viele Details nicht. Vlatimon zum Beispiel. Er hat Crothenien nicht gegründet, hat nicht einmal zu den Croatani gehört, dem Volksstamm, nach dem das Land benannt wurde. Vlatimon war ein Bolgoi, und er hat ein kleines Königreich in den Midenlanden erobert, und das hat nur ein halbes Jahrhundert bestanden, ehe es im ersten Magierkrieg vom Schwarzen Narren geschluckt wurde. Schwei... Zweitens widerspricht die Vorstellung von einem alten Walddämon, der solche Macht hat - die Macht, die ganze Welt zu bestrafen -, in jeder Hinsicht der Doktrin der Kirche. Es gibt Mächte, ja, und die Kirche nimmt es hin, dass sie als Heilige oder als Engel oder als Götter bezeichnet werden, wie es jeweils den örtlichen Sitten frommt - aber sie sind alle dem Einen-der-Alles-ist unner... unnerschtellt... sie alle dienen ihm. Ich will jetzt nicht zu spitzfindig werden, aber -« »Und doch wart Ihr es, der behauptet hat, diese Legenden enthielten ein Körnchen Wahrheit. Ist das nur der Fall, wenn die Wahrheit nicht gegen die Lehren Eurer Kirche verstößt?« »Es ist auch Eure Kirche.« Plötzlich jedoch zweifelte Stephen daran. Könnte der Waldhüter gar ein Ketzer sein? »Dann eben der Kirche.« »Die Antwort lautet ja und nein. Jetzt fällt mir wieder ein, dass wir in Virgenya ein Phay-Märchen von einem Baron Grünblatt haben, von dem es heißt, er schliefe ebenfalls an einem verborgenen Ort und würde erwachen, um Übeltaten zu rächen, die dem Wald angetan wurden, gantsch ... gantsch ... wie dieser Dornenkönig. Baron Grünblatt und der Dornenkönig sind vermutlich auf ein und dieselbe wirkliche Person zurückzuführen - auf einen der frühen Magierkönige vielleicht, oder sogar auf einen Skaslos, der die anderen überlebt hat. Oder vielleicht ist er die Verkörperung eines Missverständnisses. 138 Schließlich lehrt die Kirche, dass der Alwalder ein Gleichgewicht zwischen bestelltem und unberührtem Land verlangt. So wie jedes Dorf einen heiligen Horz haben muss, wo die Dinge wild wachsen, so muss auch die Welt Orte der Wildnis haben. In der Vorstellung des Volkes ist dieser Wald vielleicht der Horz der Welt, und der Dornenkönig verkörpert die Strafe dafür, ihn zu schänden.« »Und die Toten? Dieses Gerede von Gryffins?« Stephen zuckte mit den Schultern. »Mörder, die mit Gift töten? Ich weiß es nicht, aber es könnte viele Erklärungen dafür geben.« »Und das von einem Burschen, der erst vor ein paar Tagen für alle möglichen Geister und Untoten gesprochen hat? Der heute zusammengeschreckt ist, als er dachte, Grim der Wüterich käme, um ihn zu holen?« »Ich spreche aus dem Wissen der Kirche heraus, aus dem, was der Alwalder als möglich zulässt. Die Toten haben tatsächlich Geister, und es gibt Geister auf der Welt, Geschöpfe aus Licht und Dunkelheit. Sie alle sind von der Kirche anerkannt, aufgelistet, benannt. Euer Dornenkönig nicht. Gryffins - ich kann es nicht sagen. Möglicherweise. Die Skasloi - und nach ihnen die Magierkönige - haben alle möglichen Arten von grausamen, unnatürlichen Kreaturen hervorgebracht, die ihnen dienten. Einige davon könnten in manchen Winkeln der Welt noch existieren. Es ist möglich.« »Und diese Geschichte, von der Sir Symen gesprochen hat, von den Opfern bei dem Seoth? Ich weiß, dass die Kirche Schreine auf den Seoths errichtet hat.« »In der Kirche verwenden wir die uralte Bezeichnung Sedos. Sie sind der Sitz der Macht der Heiligen auf Erden. Indem sie die Sedoi aufsuchen, halten die Priester Zwiesprache mit den Heiligen und sammeln auch um sich selbst Heiligkeit, deshalb haben wir Schreine darauf errichtet, ja, um sie zu kennzeichnen und sicherzugehen, dass diejenigen, die sie besuchen, sich in einer angemessenen geistigen Verfassung befinden. Aber die Kirche unterhält nur auf den lebenden Sedoi Schreine, nicht auf den toten.« »Wie meint Ihr das, tot?« 139 »Ein Sedos ist eine Stelle, wo ein Heiliger etwas von seiner Macht zurückgelassen hat, etwas von der Wirkung seines Wesens. Mit der Zeit vergeht das. Ist die Heiligkeit ganz vergangen, erhält die Kirche den Schrein dort nicht länger. Die meisten im Königswald sind tot. Aber tot oder nicht, ich habe noch nie von Menschenopfern auf einem Sedos gehört - nicht einmal bei den Ketzern. Jedenfalls seit Jahrhunderten nicht mehr.« »Moment. Also habt Ihr doch schon einmal davon gehört?« »Die schwärzesten unter den Zauberern der Magierkriege haben den Neun Verdammten Menschen geopfert. Aber das hier kann nichts damit zu tun haben.« Aspar rieb sich das Kinn. Er blickte auf. »Wieso nicht?« »Weil es damit mit dem Ende der Kriege ebenfalls vorbei war. Die Kirche hat sorgsam nach solchen Gräueltaten Ausschau gehalten.« »Ah.« Aspar trank einen weiteren Schluck Met und nickte. »Danke, Chavelkap-Darige«, sagte er. »Ausnahmsweise habt Ihr mir etwas zum Nachdenken gegeben.«
»Wirklich?« »Ich habe viel Met getrunken.« »Trotzdem danke ich Euch fürs Zuhören.« Der Waldhüter zuckte mit den Schultern. »Ich habe dafür gesorgt, dass Ihr morgen nach d'Ef aufbrechen könnt.« »Ich könnte noch ein wenig bleiben und mit Euch zu diesem Bach reiten -« Der Waldhüter schüttelte den Kopf. »Damit ich zusehen kann, wie euch dieses Mahl wieder hochkommt, wenn wir die Leichen finden? Nein, danke. Ich komme sehr gut allein zurecht.« »Ganz bestimmt sogar«, brauste Stephen auf und griff nach dem Metkrug. Irgendwie verschätzte er sich jedoch dabei, und gleich darauf ergoss sich der Trank in einer honigbraunen Flut über den Tisch. »Anfalthy!«, brüllte Aspar. »Könntet Ihr diesem jungen Burschen seine Schlafkammer zeigen?« »Ich bin kein Kind«, murmelte Stephen. Doch der Raum hatte be140 gönnen, sich zu drehen, und plötzlich wollte er nicht mehr in der Nähe des hochmütigen Waldhüters oder des schwermütigen Ritters sein, oder in der Nähe irgendeines dieser Bauern. »Kommt mit, mein Junge«, sagte Anfalthy und nahm ihn bei der Hand. Stumm nickte er und folgte ihr. Licht und Lärm blieben hinter ihm zurück. »Er hat Recht«, hörte Stephen sich sagen. Seine ferne Stimme klang zornig. »Wer hat Recht?«, fragte Anfalthy. »Der Waldhüter. Ich versteh nichts von Waffen un' so was. Wenn ich Blut seh, wird mir übel.« »Aspar ist ein anständiger Mann, und er verrichtet sein Amt sehr gut«, sagte Anfalthy »Aber er ist kein geduldiger Mann.« »Wollt doch nur helfen.« Anfalthy führte ihn in ein Zimmer, wo sie mit ihrer Kerze eine zweite entzündete, die bereits in dem Halter an der Wand steckte. Schwer setzte er sich auf das Bett. Anfalthy blieb einen Moment lang über ihm stehen; ihr breites, tröstliches Gesicht blickte auf ihn herab. »Aspar hat schon zu viele Geister, die ihm auf dem Fuße folgen, mein Junge. Er will bestimmt nicht, dass Ihr Euch zu ihnen gesellt. Ich glaube, er mag Euch.« »Er hasst mich.« »Das bezweifle ich«, erwiderte sie leise. »Es gibt nur einen einzigen Mann auf der Welt, den Aspar White hasst, und das seid nicht Ihr. Und jetzt schlaft; morgen brecht Ihr auf, nicht wahr?« »Ja«, sagte Stephen. »Dann sehe ich Euch beim Frühstück.« Als Stephen sich am nächsten Morgen mit hämmerndem Schädel erhob, war Aspar White bereits fort. Sir Symen gab Stephen zwei frische Pferde, teilte ihm einen jungen Jäger als Führer zu und wünschte ihm alles Gute. Anfalthy reichte ihm ein Bündel mit Brot, Käse und Fleisch und küsste ihn auf die Wange. Als seine Kopfschmerzen nachließen, hob sich Stephens Stim141 mung. Schließlich, so wurde ihm klar, würde er in zwei Tagen endlich in d'Ef sein, wo er mit seiner Arbeit beginnen würde. Wo man sein Wissen schätzen, es in Ehren halten und belohnen würde. Das Seriftorium in d'Ef war eines der vollständigsten der Welt, und er würde Zutritt dazu haben! Der Eifer, den er vor mehr als einem Monat bei seinem Aufbruch vom Chavelkap verspürt hatte, begann zurückzukehren. Wegelagerer, Entführungen und ein ungehobelter Waldhüter hatten ihre Schatten darauf geworfen, und er hatte sein gerüttelt Maß an Schwierigkeiten gehabt. Was konnte jetzt noch geschehen? 8. Kapitel Schwarze Rosen Anne spürte ein ganz leichtes Zittern im Bauch und fühlte, wie sie eine Gänsehaut bekam, obgleich der Nachtwind von der See her wehte - warm, schwer, feucht und salzig. Das Bedürfnis, den Regen, der darin lag, loszuwerden, schien die Luft förmlich niederzudrücken, und der Mond kam und ging unruhig am von Wolken gefleckten Himmel. Um sie herum schwankten und raschelten Apfelbäume in ordentlichen Reihen im Wind. Oben auf der Burgmauer hörte sie zwei Wachen reden, doch sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie fühlte sich ein wenig schwach, ein leichter Schwindel, der in dem Monat seit ihrem Besuch in Eslen-desSchattens immer wieder aufgetreten und wieder vergangen war. Leise trat sie unter einen der Bäume und lehnte sich gegen den Stamm; vom Duft der Blüten schwirrte ihr der Kopf. Dann hob sie das kleine Stück Papier, das ihr der Stallknecht gegeben hatte, als sie Windschnell in den Stall gebracht hatte. 142 Seid um den zehnten Glockenschlag im Obstgarten heim Westtor. R. »Ihr tut Euer Werk rasch, Virgenya«, flüsterte sie. Allerdings schien ihr Gesuch an die Heilige Cer keinerlei Wirkung auf Fastia gehabt zu haben. Gewiss war es doch inzwischen Zeit für den zehnten Glockenschlag. Hatten sie vergessen zu läuten? Sie sollte das hier nicht tun. Und überhaupt, wenn er nun nicht kam? Und wenn er doch kam, und das Ganze war nur ein gemeiner Scherz, etwas, worüber er mit den anderen Rittern und den Pferdeburschen lachen konnte? Töricht. Was wusste sie denn schon über diesen Mann?
Gar nichts. Nervös wischte sie an ihrem Kleid aus vitellianischem Brokat herum und kam sich mit jedem Moment alberner vor. Plötzlich stellten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Ein Strahl des wankelmütigen Mondlichts ließ die Silhouette von etwas Großem erkennen, das sich im Geäst des ihr am nächsten stehenden Apfelbaumes bewegte. »Sie ist wie ein Traum, wie ein Nebelstreif, wie die Phay-Tänzerinnen, die nur aus des Auges Winkel auf Waldeslichtungen zu schauen sind«, flüsterte eine Stimme. »Roderick?« Sie schreckte auf, als hoch oben im Augustturm die Glocke den zehnten Schlag zu läuten begann, und dann fuhr sie noch einmal zusammen, als der lange Schatten vom Baum fiel und mit einem leisen Geräusch auf dem Boden landete. »Zu Euren Diensten.« Der Schatten verneigte sich. »Ihr habt mich erschreckt«, sagte Anne. »Wart Ihr ein Dieb, bevor Ihr Ritter geworden seid? Ein Dichter seid Ihr ganz sicher nicht.« »Das trifft mich tief, Prinzessin.« »Dann geht zu einem Feldscher oder einer Bachhexe. Was wollt Ihr, Roderick?« 143 Er trat ins Mondlicht. Seine Augen waren Schatten in einem Schnitzwerk aus Elfenbein. »Ich wollte Euch in etwas anderem sehen als in Reitsachen.« »Ihr habt doch gesagt, Ihr hättet mich bei Hofe gesehen.« »Das stimmt auch. Aber jetzt seht Ihr liebreizender aus.« »Weil es dunkler ist?« »Nein. Weil ich Euch jetzt kenne. Das ist ein großer Unterschied.« »Ihr wollt mich wohl wieder küssen, nehme ich an.« »Nein, ganz und gar nicht. Ich will, dass Ihr mich küsst.« »Aber wir sind uns doch gerade erst begegnet!« »Ja, und das war ein guter Anfang.« Jäh streckte er den Arm aus und ergriff ihre Hand. »Ihr seid die Lady, die wie eine Verrückte die Schlange hinuntergeritten ist. An Euch ist nichts Vorsichtiges, Prinzessin. Ich habe Euch geküsst, und ich habe oft genug geküsst, um zu wissen, dass es Euch gefallen hat. Wenn ich mich irre, sagt es, und ich gehe. Wenn ich Recht habe ... warum versuchen wir es dann nicht noch einmal?« Sie verschränkte die Arme, neigte den Kopf zur Seite und versuchte, sich eine gute Antwort darauf auszudenken. Er ließ ihr keine Zeit dazu. »Ich habe Euch das hier mitgebracht.« Er hielt ihr etwas hin. Sie griff danach und hatte den Stiel einer Blume in der Hand. »Ich habe für Euch die Dornen abgeschnitten«, sagte er. »Es ist eine schwarze Rose.« Aufrichtig überrascht schnappte sie nach Luft. »Wo habt Ihr die denn gefunden?« »Ich habe sie einem Kapitän abgekauft, der sie aus Liery mitgebracht hatte.« Anne atmete den eigenartigen Duft ein, Pflaume und Anis. »Sie wachsen nur in Liery«, erklärte sie. »Meine Mutter redet andauernd davon. Ich habe noch nie eine gesehen.« »Nun ja«, sagte er und trat ein wenig näher, »ich habe sie mitgebracht, um Euch eine Freude zu machen, nicht um Euch an Eure Mutter zu erinnern.« 144 »Psst! Nicht so laut.« »Ich habe keine Angst«, beteuerte Roderick. »Das solltet Ihr aber. Wisst Ihr denn nicht, was mit Euch geschieht, wenn man uns hier erwischt?« »Man wird uns nicht erwischen.« Seine Hand fand die ihre, und plötzlich fühlte sich ihr Kopf ganz seltsam an. Sie konnte nicht denken. Ihr war, als sei sie erstarrt, als begreife sie gar nichts mehr, als er sie an sich zog. Sein Gesicht war so nahe, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spüren konnte. »Küss mich«, flüsterte er. Und das tat sie. Ein Geräusch wie das Tosen der See brauste in ihren Ohren. Sie fühlte Rodericks harte Rückenmuskeln durch sein Leinenhemd hindurch und eine kribbelnde, juckende Hitze. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und streichelte sie sanft hinter den Ohren, während sich seine Lippen auf die ihren pressten, nun ein wenig knabberten, um sich dann wieder gierig zu öffnen. Er flüsterte irgendetwas, doch sie hörte es kaum. Alles Verständnis für Worte löste sich auf, als seine Lippen ihren Hals hinabkrochen, und sie dachte, sie würde gleich laut aufschreien, und dann würden die Wachen es hören, und dann - nun, wer wusste schon, was dann passieren würde. Etwas Schlimmes. Sie konnte ihre Mutter schon fast hören ... »Anne. Anne!« Jemand rief nach ihr. »Wer ist das? Wer ist da?«, keuchte Roderick. »Meine Zofe Austra. Ich -« Er küsste sie erneut. »Schick sie weg.« Er sprach die Worte direkt gegen ihr Ohrläppchen. Es kitzelte, und
plötzlich kicherte sie. »Ah ... nein, das kann ich nicht. Meine Schwester Fastia wird demnächst in meinem Bett nachsehen, und wenn ich nicht darin liege, wird sie Alarm schlagen. Austra achtet auf die Zeit; wenn sie ruft, muss ich gehen.« »Das kann nicht sein. Noch nicht!« »Doch, doch. Aber wir können uns wiedersehen.« »Nicht bald genug für mich.« 145 »Morgen hat meine Schwester Geburtstag. Ich denke mir etwas aus. Austra wird dir eine Nachricht überbringen.« »Anne!« »Ich komme, Austra.« Sie wandte sich zum Gehen, doch er fasste sie um die Taille, wirbelte sie wie ein Tänzer herum und küsste sie erneut. Sie lachte und erwiderte den Kuss. Als sie sich schließlich umdrehte und davonlief, verspürte sie einen dumpfen Schmerz unter der Brust. »Schnell!« Austra packte ihre Hand und zog sie energisch mit. »Fastia ist vielleicht schon da!« »Pfeif auf Fastia. Fastia kommt nie vor dem elften Glockenschlag.« »Es wird gleich zum elften Mal schlagen, du Hohlkopf!« Austra zerrte Anne mehr oder weniger die Treppe hinauf, die sich zur Krone der Mauer hinaufwand, welche den Obstgarten umgab. Als sie oben ankamen, warf Anne einen letzten Blick in den Garten hinunter, doch sie sah nur den tiefschwarzen Schatten der auf der anderen Seite aufragenden Festung. »Komm schon!«, befahl Austra. »Hier hindurch.« Anne klammerte sich an die Rückseite von Austras Kleid, während sie durch die Finsternis eilten. Wenige Augenblicke später stolperten sie eine weitere Treppe hinauf und kamen in einen breiten Gang, der von langen, brennenden Kienspänen erleuchtet war. Vor einer hohen, schmalen Tür löste Austra den Schlüssel von ihrem Gürtel und steckte ihn in das Messingschloss. Gerade als sie ihn herumdrehte, tönten Schritte aus dem Treppenhaus am Ende des Ganges herauf. »Fastia!«, zischte Anne. Sie huschten durch die Tür ins Vorzimmer ihrer Gemächer. Austra drückte die Tür zu und schloss sie ab, während Anne ihre Schuhe abstreifte und sie in die leere Vase auf dem Tisch neben dem Diwan warf. Sie ließ sich rücklings auf die kleine Ruhebank fallen und riss sich beide Strümpfe auf einmal herunter, dann rannte sie barfuß durch die mit einem Vorhang verhüllte Tür in ihr Schlafzimmer. Sie warf die Strümpfe hinter das Himmelbett und tastete nach den Hakenverschlüssen ihres Kleides. »Hilf mir doch mal!« 146 »Dazu ist keine Zeit«, protestierte Austra. »Zieh einfach dein Nachthemd drüber.« »Dann sieht man doch die Schleppe!« »Nicht wenn du im Bett liegst, unter der Decke.« Inzwischen zerrte Austra sich ihr eigenes Kleid über den Kopf. Anne unterdrückte ein belustigtes Aufkreischen, denn Austra trug weder Unterrock noch Korsett; sie war nackt wie eine Muschel ohne Schale. »Sei bloß still!«, befahl Austra, wand sich in ihr Nachthemd und schob ihr Kleid mit den Füßen unter das Bett. »Lach mich ja nicht aus!« »Man sollte meinen, du hättest dich draußen mit jemandem getroffen.« »Psst! Sei nicht eklig! So geht es leichter, und es ist ja nicht so, als hätte jemand gemerkt, dass ich kein Korsett anhatte. Unter die Decke!« Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Austra quiekte, zeigte auf Anne und machte wilde Gebärden, als löse sie ihr Haar. Anne riss das Netz von ihren Locken, warf es in die ungefähre Richtung des Kleiderschranks und war mit einem Satz unter der Bettdecke. Eine Haarbürste in der Hand, landete Austra fast im selben Moment neben ihr auf der Matratze. »Au!«, quietschte Anne, als sich der Vorhang teilte und die Bürste in einer wirren Strähne hängen blieb. »Hallo, ihr beiden.« Anne blinzelte. Es war nicht Fastia. »Lesbeth!«, rief sie, sprang aus dem Bett und eilte auf ihre Tante zu, um sie zu umarmen. Lachend schloss Lesbeth sie in die Arme. »Beim heiligen Loy, wir sind ja fast gleich groß, wie? Wie konntest du in zwei Jahren nur so sehr wachsen? Wie alt bist du jetzt, vierzehn?« »Fünfzehn.« »Fünfzehn. Und nun schau sich einer dich an - durch und durch eine Dare.« 147 Tatsächlich, stellte Anne fest, sie sah Lesbeth wirklich ähnlich. Was nicht gut war, denn Lesbeth war zwar sehr hübsch, doch Elseny, Fastia und ihre Mutter waren wunderschön. Sie schlug der falschen Seite der Familie nach. »Du bist ganz warm«, sagte Lesbeth. »Dein Gesicht glüht ja. Hast du Fieber?« Das entlockte Austra ein unterdrücktes Kichern. »Was ist?«, fragte Lesbeth, und in ihrer Stimme lag plötzlich Misstrauen. Sie trat zurück. »Ist das ein Kleid, was
du da unter dem Nachthemd anhast? Um diese Zeit? Du warst draußen!« »Sag's bitte nicht Fastia. Oder Mutter. Es war wirklich alles ganz harmlos -« »Ich brauche es ihnen gar nicht zu sagen. Fastia ist auf dem Weg hierher.« »Obwohl du hier bist?« »Natürlich. Du glaubst doch nicht, dass sie mir vertrauensvoll ihre Pflichten überlässt.« »Wie viel Zeit habe ich?« »Sie trinkt noch ihren Wein aus. Ihr Glas war halb voll, als ich gegangen bin, und ich habe gebeten, einen Augenblick mit dir allein sein zu können.« »Den Heiligen sei Dank. Hilf mir aus diesem Kleid raus!« Einen Moment lang machte Lesbeth ein strenges Gesicht, dann lachte sie. »Na schön. Austra, könntest du ein feuchtes Tuch holen? Wir sollten ihr das Gesicht waschen.« »Ja, Herzogin.« Kurz darauf hatten sie Anne das Kleid ausgezogen, und Lesbeth machte sich daran, ihr das Korsett aufzuschnüren. Anne stöhnte erleichtert auf, als sich ihre Rippen wieder so wölbten, wie die Natur es in ihrer Verstocktheit vorgesehen hatte. »Das war ja ganz schön eng«, bemerkte Lesbeth. »Wer ist er denn?« Anne befürchtete, dass ihre Wangen gleich in Flammen aufgehen würden. »Das kann ich dir nicht verraten.« »Ah. Jemand Unziemliches. Ein Pferdebursche vielleicht?« 148 »Nein! Nein. Er ist von edler Geburt - bloß jemand, der Mutter nicht zusagen würde.« »Also in der Tat unziemlich. Komm schon, erzähl es mir. Ich sag's auch nicht weiter. Außerdem muss ich dir ein großes Geheimnis verraten. Es ist nur gerecht.« »Na ja ...« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Er heißt Roderick von Dunmrogh.« »Dunmrogh? Nun, da haben wir dein Problem ja schon.« »Wieso?« Das Korsett löste sich, und Anne stellte fest, dass ihr der Unterrock an der verschwitzten Haut klebte. »Staatsangelegenheiten. Die Grefften von Dunmrogh haben Reiks-baurgblut.« »Na und? Unser Krieg mit den Reiksbaurgs ist doch schon vor hundert Jahren zu Ende gegangen.« »Ach, wieder so jung und naiv zu sein! Dreh dich um, damit ich an dein Gesicht herankomme, Liebes. Annie, der Krieg mit den Reiksbaurgs wird nie zu Ende sein. Es gelüstet sie nach dem Thron, mit tausendfachem Begehren für jedes Jahr, das vergangen ist, seit sie ihn verloren haben.« »Aber Roderick ist doch gar kein Reiksbaurg.« »Nein, Annie«, fuhr ihre Tante fort und wischte Anne mit dem kühlen Tuch Gesicht und Hals ab, »aber vor fünfzig Jahren haben sich die Dunmroghs auf die Seite eines Reiksbaurgs gestellt, der den Thron für sich beansprucht hat. Sie haben nicht zu den Waffen gegriffen, deswegen haben sie auch ihre Ländereien behalten, als alles vorbei war - aber sie haben ihn im Comven unterstützt. Deshalb haben sie immer noch einen schlechten Namen.« »Das ist ungerecht.« »Ich weiß, Liebling, aber wir sollten später darüber reden. Zieh ein neues Unterkleid an, und dann nichts wie ins Nachthemd.« Anne rannte zu ihrem Kleiderschrank hinüber und tauschte das feuchte Unterkleid gegen ein frisches aus. »Wann hast du denn so viel über Staatsangelegenheiten gelernt?«, wollte sie wissen, während sie wieder in ihr besticktes Nachthemd schlüpfte. 149 »Ich habe gerade zwei Jahre in Virgenya verbracht. Das ist alles, worüber sie da unten reden.« »Das muss ja schrecklich langweilig gewesen sein.« »Oh - vielleicht würdest du dich wundern.« Anne setzte sich auf die Bettkante. »Du wirst doch niemandem von Roderick erzählen? Auch wenn es eine Staatsangelegenheit ist?« Lesbeth lachte und küsste sie auf die Stirn. Dann kniete sie nieder und ergriff Annes Hand. »Ich bezweifle sehr, dass es für ihn eine Staatsangelegenheit ist. Wahrscheinlich ist er einfach nur jung und töricht, so wie du.« »Er ist genauso alt wie du, neunzehn.« »Ich bin zwanzig, kleine Wiesenlerche.« Sie strich Anne eine lockige Strähne aus dem Gesicht. »Und wenn deine Schwester kommt, versuch, die linke Seite deines Gesichts von ihr abgewandt zu halten.« »Wieso denn das?« »Du hast da einen Liebesfleck, dicht unter dem Ohr. Ich glaube, sogar Fastia weiß, was das ist.« »Oh, gnädige -« »Ich bürste dir das Haar, so wie eben, als die Herzogin hereingekommen ist«, erbot sich Austra. »Ich kann es über die Stelle hängen lassen.« »Ein guter Plan«, stimmte Lesbeth beifällig zu. Wieder lachte sie leise. »Wann ist unserer kleinen Lerche denn das passiert, Austra? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie noch die Sachen des Stallburschen getragen, damit sie nicht im Damensattel reiten musste. Wann ist sie denn zu so einer Dame geworden?« »Ich reite immer noch«, erklärte Anne.
»Das ist wahr«, bestätigte Austra. »So hat sie diesen Burschen ja kennen gelernt. Er ist ihr hinterhergeritten, die Schlange hinunter.« »Also kein Hasenherz.« »Roderick ist alles andere als ein Hasenherz«, sagte Anne. »Und was ist dein großes Geheimnis, Lesbeth?« Ihre Tante lächelte. »Ich habe deinen Vater schon um Erlaubnis gebeten, also erzähle ich es dir. Ich werde heiraten.« 150 »Heiraten?«, wiederholten Anne und Austra im Chor. »Ja.« Lesbeth runzelte die Stirn. »Das hat sich aber gar nicht nett angehört! Ihr scheint es kaum glauben zu können.« »Es ist nur - in deinem Alter -« »Oh, ich verstehe. Ihr habt mich für eine alte Jungfer gehalten. Nun, ich hatte eine Menge Schwestern, und sie alle haben sich gut vermählt. Ich war die Jüngste, deshalb konnte ich mir etwas leisten, was sie nicht konnten. Ich konnte wählerisch sein.« »Und wer ist er?« »Ein wunderbarer Mann, gütig und tapfer. Wie dein Roderick, alles andere als ein Hasenherz. Er hat ein prachtvolles Schloss und Besitztümer, die sich bis -« »Wer?« »Fürst Cheiso von Safnien.« »Safnien?«, wiederholte Anne. »Wo ist Safnien?«, wollte Austra wissen. »Am Ufer des Südmeeres«, antwortete Lesbeth verträumt. »Wo Orangen und Limonen im Freien wachsen und bunte Vögel singen.« »Ich habe noch nie davon gehört.« »Kein Wunder, wenn du deinen Lehrern noch immer nicht besser zuhörst als damals, als ich noch hier gelebt habe.« »Du liebst ihn, nicht wahr?«, fragte Anne. »Ja, das tue ich. Von ganzem Herzen.« »Dann ist es also keine Staatsangelegenheit?« Lesbeth lachte erneut. »Alles ist immer eine Staatsangelegenheit, kleine Wiesenlerche. Es ist ja nicht so, dass ich einen Kuhhirten hätte heiraten können, weißt du? Safnien, auch wenn ihr Ladys noch nie davon gehört habt, ist ein ziemlich wichtiges Fürstentum.« »Aber du heiratest aus Liebe!« »Ja.« Sie drohte Anne mit dem Finger. »Aber lasst euch dadurch nicht auf dumme Gedanken bringen. Lebt in dem wirklichen Königreich, nicht in dem, das es eigentlich geben sollte.« »Nun«, ließ sich eine etwas frostige Stimme vernehmen, während der Vorhang zwischen Schlaf gemach und Vorzimmer sich erneut teil151 te, »das ist ein besserer Ratschlag für sie, als ich es dir zugetraut hätte, Lesbeth.« »Hallo, Fastia.« Fastia war älter als sie alle, fast dreiundzwanzig. Ihr Haar war wie dunkelbraune Seide, die jetzt von einem Netz zusammengehalten wurde, und ihre zarten Züge waren ernst und vollkommen. Sie war nicht größer als Anne oder Austra und eine Handbreit kleiner als Lesbeth. Doch ihr Auftreten gebot Respekt. »Liebe Fastia«, sagte Lesbeth, »ich habe unserer süßen Anne gerade meine Neuigkeiten erzählt.« »Von der Verlobung, nehme ich an?« »Du weißt es schon? Aber ich habe meinen Bruder William doch erst vor ein paar Glockenschlägen um seine Erlaubnis gebeten.« »Ich fürchte, du hast vergessen, wie schnell sich Neuigkeiten in Eslen herumsprechen. Meinen Glückwunsch. Ich glaube, du wirst Freude in der Ehe finden.« Ihr Tonfall schien irgendwie das Gegenteil auszudrücken. Anne verspürte einen schwachen Stich des Mitleids mit ihrer älteren Schwester. »Das glaube ich auch«, erwiderte Lesbeth. »Also«, fuhr Fastia fort, »ist hier alles in Ordnung? Habt ihr beiden Mädchen eure Gebete gesprochen und euch das Gesicht gewaschen?« »Ich glaube, sie haben gerade gebetet, als ich ins Zimmer kam«, sagte Lesbeth voller Unschuld. Anne nickte. »Wir schlafen fast schon«, fügte sie hinzu. »Du siehst aber gar nicht schläfrig aus.« »Weil ich mich so freue, Lesbeth wiederzusehen. Sie hat uns alles über Safnirien erzählt, wo ihr Verlobter regiert. Es hört sich wirklich wunderbar an -« »Safnien«, verbesserte Fastia. »Eine der ursprünglichen fünf Provinzen der Hegemonie. Natürlich ist das über tausend Jahre her. Einst ein mächtiges Reich, und nach allem, was ich gehört habe, immer noch recht malerisch.« 152
»Ja, das stimmt«, pflichtete Lesbeth ihr bei, als hätte sie Fastias herablassenden Ton nicht bemerkt. »Es ist sehr malerisch.« »Ich finde, es klingt wundervoll und exotisch«, sagte Anne. »Das ist mit den meisten Orten so, bis man einmal da gewesen ist«, entgegnete Fastia. »So. Ich will ja nicht den Troll spielen, aber aus irgendeinem Grund ist es an mir, dafür zu sorgen, dass diese Mädchen hier ins Bett kommen. Lesbeth, kann ich dich noch zu einem belebenden Trunk überreden?« Ha, dachte Anne, mich kannst du nicht täuschen. Du spielst gerne den Troll. Was ist bloß mit dir geschehen? »Aber wir können doch bestimmt noch ein bisschen aufbleiben. Wir haben Lesbeth seit zwei Jahren nicht gesehen.« »Dafür habt ihr morgen auf Elsenys Geburtstagsfeier noch reichlich Zeit. Jetzt ist Plauderstunde für Frauen.« »Wir sind Frauen«, entgegnete Anne. »Wenn du verlobt bist, wirst du eine Frau sein«, erklärte Fastia. »Gute Nacht, oder, wie Lesbeths safnischer Fürst sagen würde, dena nocha. Austra, sorg dafür, dass ihr beide in einer Stunde schlaft.« »Jawohl, Erzgrefftin.« »Gute Nacht, ihr Süßen«, sagte Lesbeth und warf ihnen eine Kusshand zu, als die beiden durch den Vorhang ins Vorzimmer traten. Kurz darauf hörten sie die äußere Tür zufallen. »Warum muss sie nur so sein?«, brummte Anne. »Wenn sie nicht so wäre, würde deine Mutter jemanden finden, der so ist«, erwiderte Austra. »Wahrscheinlich. Es ärgert mich bloß.« »Eigentlich«, fuhr Austra fort, »bin ich ganz froh, dass sie weg sind.« »Wieso das denn?« Ein Kissen traf Anne genau ins Gesicht. »Weil du mir noch nicht erzählt hast, was passiert ist, du niederträchtiges Weibsstück!« »Ach ja! Austra, es war wirklich unglaublich. Er war so - ich meine, ich dachte, ich gehe gleich in Flammen auf! Und er hat mir eine Rose geschenkt, eine schwarze -« Sie stockte. »Wo ist meine Rose?« 153 »Du hattest sie noch, als wir hereingekommen sind.« »Na, jetzt habe ich sie aber nicht mehr! Ich muss sie unbedingt pressen oder was immer man mit Rosen macht...« »Ich glaube, zuerst findet man sie«, sagte Austra. Doch die Rose war weder im Empfangszimmer, noch lag sie auf dem Boden oder unter dem Bett. Sie konnten sie nirgends finden. »Bestimmt sehen wir sie morgen früh, wenn es heller ist«, sagte Austra. »Ja, gewiss«, stimmte Anne zweifelnd zu. Im Traum stand Anne in einem Feld voller tiefschwarzer Rosen. Sie trug ein schwarzes Satinkleid mit Perlenstickerei, die matt im knochenbleichen Licht des Mondes schimmerte. Die Luft war so schwer vom Duft der Blüten, dass sie zu ersticken glaubte. Sie nahmen kein Ende, erstreckten sich in einer Reihe flacher, ansteigender Hügel bis zum Horizont; ein wispernder Wind bog die Stiele. Langsam drehte sie sich und sah, dass sich ihr in jeder Richtung das gleiche Bild bot. Hinter ihr endete das Feld abrupt an einer Mauer aus Bäumen; wahre Ungetüme mit schwarzen Stämmen, von spitzen Dornen bedeckt, länger als ihre Hand, die so hoch aufragten, dass sie ihre Wipfel in dem schwachen Licht nicht erkennen konnte. Dornenranken, so dick wie ihr Arm, bildeten ein undurchdringliches Gewirr zwischen den Bäumen und krochen über den Boden. Zwischen den Bäumen, hinter den Dornenranken, war nichts als Dunkelheit. Eine gierige Finsternis, das fühlte sie, eine Dunkelheit, die sie beobachtete, sie hasste, sie holen wollte. Je länger sie die Finsternis anstarrte, desto mehr graute ihr vor den Gestalten, die sich dort bewegen mochten oder auch nicht, vor den leisen Geräuschen, die von Schritten oder Schwingen herrühren mochten. Und dann, als sie dachte, ihr Entsetzen könne nicht noch größer werden, drängte sich etwas durch die Dornen und kam auf sie zu. Mondlicht schimmerte auf einem schwarz gepanzerten Arm und den Fingern einer sich öffnenden Faust. 154 Und dann kam der Helm zum Vorschein, ein hoher, spitz zulaufender Helm, von dem geschwungene Hörner aufragten und der auf den Schultern eines Riesen saß. Das Visier war offen, und dort sah sie etwas, das ihrer Kehle einen hohen Klagelaut entriss, der fremder klang als alles, was sie bisher gekannt hatte. Sie drehte sich um und rannte durch die Rosen, und die kleinen Dornen blieben an ihrem Kleid hängen, und der Mond sah jetzt aus wie ein verfaultes Fischauge ... Sie erwachte und schlug immer noch um sich wie auf der Flucht, wusste nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein, und sie setzte sich auf, die Arme fest um den Körper geschlungen. »Ein Traum«, sagte sie zu dem dunklen Gemach und wiegte sich vor und zurück. »Nur ein Traum.« Doch der Duft von Pflaume und Anis lag noch immer schwer in der Luft. Im blassen Mondlicht, das durch das Fenster fiel, sah sie schwarze Blütenblätter, die auf ihrer Bettdecke verstreut waren. Sie fühlte sie in ihrem Haar. Etwas Nasses rann ihr das Gesicht hinunter, und sie spürte den scharfen Geschmack von Salz auf den Lippen. Anne schlief in dieser Nacht nicht mehr, sondern wartete auf den Hahnenschrei und die Sonne.
9. Kapitel Auf der Schleppe Neil erwachte früh und untersuchte seine neue Rüstung auf irgendwelche Kratzer, die sie durch das einmalige Tragen vielleicht abbekommen haben könnte. Dann überprüfte er seinen Überwurf und zog schließlich Krähe, sein Breitschwert. Er vergewisserte sich, dass die lange, scharfe Klinge so blank war wie Eis. Leise zog er seine Halbstiefel an und schlich aus dem Zimmer, die 155 Treppe hinunter und zum Gasthaus hinaus. Draußen begann sich der Morgennebel gerade zu heben, und auf den Kais herrschte bereits reges Treiben. Fischerboote strebten zu den Sandbänken in der Mitte des Flusses hinaus, Tagelöhner, Meeresbeschwörer, Räucherer und Huren boten ihre Dienste an, Möwen und Fischraben zankten sich um Abfälle. Neil hatte die Kapelle des heiligen Lier schon am Vortag bemerkt; an der mastförmigen Turmspitze war sie leicht zu erkennen. Es war ein bescheidenes Holzgebäude, das dicht am Wasser auf einem erhöhten Steinfundament errichtet worden war. Als er näher kam, traten gerade ein paar Seeleute von derbem Äußeren heraus. Er grüßte sie, indem er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, das Zeichen des heiligen Lier. »Möge seine Hand Euch beschirmen«, sagte er zu ihnen. »Danke, Junge«, erwiderte einer der Männer schroff. »Und dich ebenso.« Das Innere der Kapelle war dunkel und schmucklos, ganz aus Holz, wie es auf den Inseln Brauch war. Das einzige Ornament war eine schlichte Statue des Heiligen über dem Altar. Sie war aus Walrosszahn geschnitzt und zeigte ihn aufrecht in einem kleinen Boot aus mit Häuten überzogenem Weidengeflecht stehend. Behutsam legte Neil zwei Silbermünzen in den Kasten und kniete nieder. Er begann zu singen. Schaumvater, Wellenbeschreiter Du fühlst unsere Kiele und hörst unsere Gebete Gewähre uns sichere Fahrt auf deinem breiten Rücken Bring uns ans Ufer, wenn der Sturm über uns kommt Ich bitte dich jetzt Gewähre meinem Lied sichere Fahrt Windmeister, siebente Woge Du kennst die Linie meiner Väter Hieltest sie in Fingern aus Gischt Sahst sie auf den breiten Straßen des Meeres kämpfen und sterben. 156 Neil, Sohn des Fren Bittet dich, sein Gebet zu erhören. Er betete für die Seelen seines Vaters und seiner Mutter, für Sir Fail und seine Lady Fiene, für die hungrigen Geister der See. Er betete für König William und Königin Muriele und für Crothenien. Am innigsten betete er darum, dass er sich als würdig erweisen möge. Dann, nach ein paar Augenblicken des Schweigens, erhob er sich. Eine Frau in einem dunkelgrünen Mantel stand hinter ihm. Er fuhr zusammen, denn er hatte sie, völlig in sein Gebet versunken, nicht hereinkommen hören. »Es tut mir Leid, Lady«, sagte er leise. »Ich wollte Euch nicht den Weg zum Altar versperren.« »Es ist reichlich Platz«, erwiderte sie. »Ihr habt mir den Weg nicht versperrt. Es ist nur lange her, dass ich jemanden so wunderschön habe beten hören. Ich fürchte, ich wollte zuhören, und daher bin ich es, die um Entschuldigung bitten muss.« »Warum?«, fragte Neil. »Ich schäme mich nicht für meine Gebete. Es ist eine Ehre für mich, wenn Ihr in ihnen etwas gefunden habt. Ich ...« Ihre Augen hielten ihn fest. Seegrün waren sie. Schwarze Locken drängten sich unter ihrer Kapuze hervor, und ihre Lippen bildeten einen rubinroten, geschwungenen Bogen. Er konnte ihr Alter nicht erraten, hätte sie aber zur Not auf Mitte dreißig geschätzt. Sie war zu schön, um menschlich zu sein, und mit jähem Schwindel schoss es Neil durch den Sinn, dass dies keine irdische Frau war, sondern eine Vision, vielleicht eine Heilige oder ein Engel. So stark und gewiss war dieses Gefühl, dass ihm die Zunge am Gaumen klebte und er nicht mehr wusste, was er noch hatte sagen wollen. »Die Ehre ist ganz meinerseits, junger Mann«, sagte sie und neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ihr sprecht mit dem Akzent der Inseln. Seid Ihr aus Liery?« »Geboren wurde ich auf Skern, Mylady«, brachte er hervor. »Aber 157 ich habe einem Lord von Liery die Treue gelobt, genau wie mein Vater.« »Ist dieser Lord am Ende der Baron Sir Fail de Liery?« »Ja, Mylady«, antworte er und kam sich vor wie in einem Traum. »Ein guter, edler Mann. Ihr tut wohl daran, ihm zu dienen.« »Lady, woher konntet Ihr wissen -«
»Ihr vergesst, dass ich Eure Gebete mit angehört habe. Sir Fail ist bei Euch? Er ist hier?« »Ja, Lady In dem Gasthaus, gleich dort drüben. Wir sind gestern angekommen; er besteht darauf, mich heute bei Hofe vorzustellen, so unwürdig ich auch sein mag.« »Wenn Sir Fail Euch vorstellen will, ist das einzig Unwürdige an Euch Euer Zweifel an ihm. Er weiß, was er tut.« »Ja, Lady Gewiss.« Sie senkte den Kopf. »Ihr solltet wissen, dass der ganze Hof heute auf dem Hügel Tom Woth sein wird, um Prinzessin Elsenys Geburtstag zu feiern. Vielleicht weiß Sir Fail das nicht, da er gerade erst eingetroffen ist. Nehmt das nördliche Tor und reitet die Schleppe hinauf. Sir Fail wird wissen, wo das ist. Sagt ihm, er soll zum Steinkreis reiten und dort warten.« »Euer Wunsch ist mir Befehl, Lady.« Sein Herz schlug donnernd, und er konnte nicht sagen, warum. Er wollte sie nach ihrem Namen fragen, doch er fürchtete sich vor der Antwort. »Ob Ihr mich jetzt wohl entschuldigen würdet?«, fragte die Lady »Meine Gebete sind weniger anmutig als die Euren. Der Heilige wird mir meine Ungeschicklichkeit vergeben, ich weiß, aber es wäre mir lieber, wenn niemand sonst sie hört. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal hierher gekommen bin. Zu lange.« Sie klang unendlich traurig. »Lady, wenn es irgendetwas gibt, das ich für Euch tun kann, so sagt es bitte.« Ihre Augen schimmerten in der Düsternis. »Nehmt Euch in Acht am Hof«, sagte sie leise. »Bleibt Euch selbst treu. Bleibt, wer Ihr seid. Das ist... schwierig.« 158 »Ja, Lady Wenn Ihr darum bittet, so soll es geschehen.« Mit diesen Worten ließ er sie in der Kapelle zurück; seine Füße fühlten sich auf dem Kopfsteinpflaster merkwürdig schwer an. »Wahrhaftig ein Anblick, nicht wahr?«, sagte Fail de Liery Neil konnte den Kopf nicht stillhalten. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich hab noch nie solche Kleider gesehen, so viele Farben und so viel Seide.« Hunderte von Angehörigen des Hofes ritten die Wiese hinauf, zusammen mit Zwergen, Riesen, Narren und Lakaien, alle in fantastischen Kostümen. »Davon wirst du noch mehr sehen. Komm, dort vorn sind die Steine.« Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und hielten auf den kleinen Kreis aus aufrecht dastehenden Steinen dicht am Waldrand zu. Eine große Gruppe wartete dort, zu Pferde und zu Fuß. Neil bemerkte Ritter unter ihnen, die alle bronzegesäumte Überwürfe in Schwarz und dunklem Seegrün trugen. Er wusste nicht, wessen Farben das waren, und sie trugen keine Wappen. »Sir Fail!«, rief ein Mann, als sie sich näherten. Die Hand zum Gruß erhoben, kam er aus dem Kreis geritten. Er trug keine Rüstung und war in mittleren Jahren; sein rotbraunes Haar wurde von einem einfachen goldenen Reif zurückgehalten. Ganz offensichtlich war er jemand von Bedeutung. Sir Fail stieg ab, und Neil tat es ihm gleich, als sich der andere ebenfalls von seinem Pferd schwang, einem wunderschönen Gallean-Schimmelhengst mit ein paar kleinen schwarzen Flecken um Nase und Widerrist. »Altes de Liery-Schlachtross! Wie geht es Euch?« »Ausgezeichnet, Euer Majestät.« Neil wurden plötzlich die Knie weich. Majestät? »Nun, es freut mich ungemein, Euch hier zu sehen«, fuhr der Mann ungezwungen fort. »Wirklich ungemein.« »Ich bin froh, dass ich Euch gefunden habe! Ich würde just in die159 sem Moment zu einem leeren Palast hinaufreiten, wäre nicht mein junger Knappe hier gewesen. Darf ich ihn Euch vorstellen?« Die Augen des Königs richteten sich jäh auf Neil, Lampen, deren Licht zugleich brennend hell und erschöpft wirkten. »Unbedingt.« »Euer Majestät, dies ist Neil MeqVren, ein junger Mann, der über zahlreiche Talente verfügt und auf große Taten zurückblicken kann. Neil, dies ist König William IL von Crothenien.« Neil dachte rechtzeitig daran, ein Knie zu beugen, und er verbeugte sich so tief, dass sein Kopf beinahe den Boden berührte. »Euer Majestät«, brachte er krächzend heraus. »Erhebt Euch, junger Mann«, sagte der König. Neil kam wieder auf die Beine. »Ein ansehnlicher Bursche«, meinte der König. »Knappe, sagt Ihr? Ist das derjenige, von dem ich so viel gehört habe, der Junge aus der Schlacht von Dar kling Mere?« »Das ist er, Sire.« »Nun, Neil MeqVren, über Euch wird wohl noch zu reden sein.« »Aber nicht jetzt«, wandte eine junge Frau mit spröder Miene ein, die auf einem zierlichen Braunen herbeigeritten kam. Sie nickte Neil zu, und er hatte das seltsame Gefühl, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Irgendetwas an ihren braunen Augen war vertraut, oder doch fast vertraut. Sie war eine strenge Schönheit, mit hohen Wangenknochen und glänzendem Haar, dessen Braun um einige Schattierungen dunkler
war als das einer Kastanie. »Dieser Tag gehört Elseny, und nur ihr«, fuhr sie fort. »Aber ich wünsche Euch einen guten Tag - Neil MeqVren, nicht wahr?« Neil starrte sie einen Moment lang mit offenem Mund an, ehe ihm klar wurde, dass sie die Hand ausgestreckt hatte. Er ergriff sie, wenn auch verspätet, und küsste den königlichen Siegelring. »Euer Majestät«, sagte er. Gewiss war sie die Königin. Gelächter erhob sich unter den anderen, und Neil begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Dies ist meine Tochter Fastia, nunmehr vom Hause Tighern«, erklärte der König. 160 »Hört auf zu lachen, ihr alle«, befahl Fastia streng. »Dieser Mann ist unser Gast. Außerdem ist es ganz offensichtlich, dass er zumindest königliches Blut erkennt, wenn er es sieht.« Ihr Lächeln währte nur kurz, war eigentlich mehr ein Zucken. In diesem Moment eilte eine andere junge Frau herbei und warf sich in Sir Fails Arme. Er schwang sie herum, und sie jauchzte vor Vergnügen. »Elseny, was bist du für ein schöner Anblick!«, sagte der alte Mann, als es ihm gelungen war, sich von ihr loszumachen. Neil musste ihm Recht geben. Sie war jünger als Fastia - ungefähr siebzehn -, und ihr Haar war nicht braun, sondern rabenschwarz. Während Fastias Schönheit etwas Hartes an sich hatte, hatte dieses Mädchen Augen, die so groß und arglos waren wie die eines Kindes. »Es ist so wunderbar, Euch heute zu sehen, Großonkel Fail! Ihr seid zu meinem Geburtstag gekommen!« »Das war das Werk der Heiligen«, erwiderte Fail. »Ganz gewiss lächeln sie auf dich herab.« »Und wer ist dieser junge Bursche, den Ihr da mitgebracht habt?«, wollte Elseny wissen. »Er ist jedem vorgestellt worden, nur mir nicht.« Neils Gesicht wurde angesichts von so viel Aufmerksamkeit wärmer und wärmer. »Dies ist mein Schützling, Neil MeqVren.« Elseny war fremdartig gekleidet; sie trug ein buntes Seidengewand, das über und über mit Blumen und verschlungenen Ranken bestickt war, und auf ihrem Rücken war etwas befestigt, das tatsächlich wie ein Paar Insektenflügel aussah. Ihr Haar war in komplizierten Stufen hochgesteckt, und jede davon war mit einer anderen Sorte Blumen geschmückt: Hunderte winziger Veilchen auf der ersten, roter Klee auf der nächsten, dann blassgrüne Saflilien und am Schluss eine Krone aus weißen Lotusblüten. Genau wie Fastia streckte sie die Hand aus. »Großonkel«, entrüstete sie sich, während Neil ihren Ring küsste. »Also wirklich! Heute bin ich nicht Elseny, das solltet Ihr doch wissen! Ich bin Meresven, die Königin der Phay!« 161 »O weh! Ich hätte es wissen müssen. Gewiss bist du das.« »Seid Ihr hier, um Ritter zu werden?«, wandte sich Elseny ziemlich unvermittelt an Neil. »Ah - das ist mein sehnlichster Wunsch, Prinzessin - ich meine, Euer Majestät.« »Nun, kommt an meinen Hof, und ich ernenne Euch ganz sicher zum Ritter von Elphin.« Sie ließ die Lider flattern und schien ihn dann plötzlich wieder zu vergessen; sie wandte sich Fail zu und nahm seinen Arm. »Und jetzt, Onkel«, sagte sie, »müsst Ihr mir erzählen, wie es meinen Basen in Liery geht! Fragen sie nach mir? Wisst Ihr schon, dass ich verlobt bin?« »Und dies hier ist mein Sohn Charles«, sagte der König, als klar war, dass Neil Elseny nunmehr hinlänglich vorgestellt worden war. Neil hatte Charles bereits flüchtig bemerkt, als sie auf die anderen zugeritten waren. Er hatte schon früher solche Menschen gesehen, erwachsen in Wuchs und Kraft, doch mit dem Wesen eines Kindes. Die Augen waren ein sicheres Zeichen - unstet, neugierig, merkwürdig leer. Im Augenblick sprach Charles gerade mit einem Mann, der von Kopf bis Fuß in ein knallbuntes Gewand gehüllt war, das aussah, als seien verschiedene Kleidungsstücke zerrissen, durcheinander geworfen und wieder zusammengenäht worden. Auf seinem Kopf saß ein breitkrempiger Schlapphut, mit silbernen Glöckchen besetzt, die beim Gehen klingelten. Die Kopfbedeckung war so groß, dass der Mann aussah wie ein wandelnder Hut. »Charles?«, wiederholte der König. Charles war ein großer Mann mit lockigem, rotem Haar. Neil verspürte ein leichtes Frösteln, als der von den Heiligen berührte Blick sich auf ihn richtete. »Hallo«, sagte Charles. »Wer seid Ihr denn?« Er klang wie ein Kind. »Ich bin Neil MeqVren, Mylord.« Neil verbeugte sich. »Ich bin der Prinz«, erwiderte der junge Mann. »Das ist klar, Mylord.« 162 »Heute hat meine Schwester Geburtstag.« »Ich habe es vernommen.« »Das ist Hundehut, mein Hofnarr. Er ist ein Sefry« Ein Gesicht spähte unter dem Hut hervor zu ihm hinauf, ein Gesicht weißer als Elfenbein, mit Augen von
blassem Kupfergold. Verblüfft starrte Neil es an. Er hatte noch nie einen Sefry gesehen. Es hieß, sie führen niemals aufs Meer hinaus. »Einen guten Tag wünsche ich Euch«, sagte Neil und nickte dem Sefry zu. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Der Angesprochene schenkte ihm ein boshaftes kleines Lächeln. Er begann zu singen und ein wenig herumzuhüpfen, sodass der riesige Hut wackelte. Euch guten Tag, Sir! Oder doch gar kein Sir. Denn ich seh Keine Rose in Eurer Näh'. Tut Ihr vielleicht in Eurem Land Oder an weitfernem Strand Ein gar ritterlich Schläfchen Im Pferch bei den Schäfchen? Wird zum Krieger man so dort? Belehrt uns, Reisender, mit Eurem Wort. Das Lied des Narren wurde mit dem brüllenden Gelächter der Menge belohnt. Am lautesten lachte Charles, der dem Sefry entzückt auf den Rücken schlug. Der Schlag warf den Narren um; er überschlug sich grotesk, packte die Ränder seines gewaltigen Hutes und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Wenn er den Umstehenden nahe kam, traten diese nach ihm, und er rollte johlend in eine andere Richtung. Innerhalb weniger Augenblicke lenkte ein aus dem Stegreif entstandenes Fußballspiel, angeführt vom Kronprinzen, die Aufmerksamkeit aller von Neil ab, doch seine Ohren brannten noch immer von ihrem Gelächter. Sogar der König, Fastia und Elseny hatten über ihn 163 gelacht, wenn auch Sir Fail dankenswerterweise nur die Augen verdreht hatte. Neil kniff den Mund zusammen und sperrte eine Erwiderung an den Hofnarren darin ein. Er wollte Sir Fail nicht mit dem Mundwerk Schande bereiten, mit dem er sich schon mehr als einmal Ärger eingehandelt hatte. »Macht Euch nichts aus Hundehut«, sagte Fastia zu ihm. »Er macht sich lustig, über wen auch immer er kann. Das ist seine Berufung, versteht Ihr? Hier, bleibt neben mir. Ich werde Euch belehren, was den Hof angeht. Ganz offensichtlich habt Ihr es nötig.« »Vielen Dank, Mylady.« »Uns fehlt eine Schwester - die Jüngste, Anne. Sie schmollt dort unten - seht Ihr, das ist sie, mit dem roten Haar. Und seht, dort kommt meine Mutter, die Königin.« Neil folgte ihrem Blick. Sie trug keine Kapuze mehr, doch Neil erkannte sie augenblicklich, an ihren Augen und an dem schwachen Lächeln des Wiedererkennens. Und jetzt verstand er auch, warum ihm Fastia und Elseny so bekannt vorgekommen waren. Sie waren die Töchter ihrer Mutter. »Ihr habt den alten Fail also wachbekommen«, bemerkte die Königin. »Majestät. Ja, Majestät.« Diesmal berührte sein Kopf tatsächlich den Boden. »Ihr kennt euch bereits?«, fragte Fastia. »Ich bin zur Kapelle des heiligen Lier gegangen«, erklärte die Königin. »Dieser junge Mann war dort und hat gebetet wie ein Dichter. So lehren sie einen das Beten nur auf den Inseln. Ich wusste, dass er zu Fail gehören musste.« »Euer Majestät, bitte vergebt jegliche Frechheit, die ich vielleicht -« Der König unterbrach Neil. »Du warst ohne Eskorte unterwegs? Zu den Kais}« »Meine Wache war in der Nähe, und Erren stand draußen, und ich war mit einer Kapuze verhüllt. Verkleidet, sozusagen.« »Das war töricht, Muriele, besonders in diesen Zeiten.« 164 »Es tut mir Leid, wenn ich dir Sorge bereitet habe.« »Sorge? Ich wusste nichts davon. Das ist es, was mir nachträglich Sorge bereitet. Von nun an gehst du nicht mehr ohne Eskorte aus. Bitte.« Er schien zu bemerken, dass seine Stimme scharf geworden war, und mäßigte seinen Ton. »Wir reden später darüber«, sagte er. »Ich möchte Fail und seinen jungen Gast nicht mit einem Familienstreit begrüßen.« »Wo wir gerade von Streit reden«, entgegnete Königin Muriele, »ich hoffe, ihr alle entschuldigt mich einen Moment. Ich sehe da jemanden, mit dem ich reden muss. Junger MeqVren, ich entschuldige mich für meine Täuschung, aber es hat sich gelohnt, schon allein um jetzt Euer Gesicht zu sehen.« Sie schaute zu ihrem Gemahl hinüber. »Ich reite nur bis dort drüben«, sagte sie. »Falls du es wissen wolltest.« Neil war froh, dass sie so rasch das Thema gewechselt hatte, denn er hatte nichts darauf zu erwidern. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen etwas, das er nicht benennen konnte. »Es muss Fastia gewesen sein«, sagte Anne zu Austra, während die beiden Mädchen im Schritt die von Veilchen übersäte Schleppe hinaufritten. Die Düfte des Frühlings hingen schwer in der Luft, doch Anne war zu erregt, um
sie zu genießen. »Fastia ist für gewöhnlich direkter«, wandte Austra ein. »Sie hätte dich nach der Rose gefragt und dich nicht damit geärgert.« »Nicht, wenn sie bereits alles wusste.« »Sie weiß aber nicht alles«, erwiderte Austra. »Das kann sie doch gar nicht.« »Wer hat es dann getan? Lesbeth?« »Sie hat sich verändert«, gab Austra zu bedenken. »Kümmert sich mehr um Staatssachen. Vielleicht hat sie sich genauso sehr verändert wie Fastia, und wir wissen es einfach noch nicht.« Anne dachte einen Moment lang darüber nach, während sie sich ein wenig zurechtrückte. Sie verabscheute es, im Damensattel zu reiten -im Abrutschsattel, wie sie es nannte. Andauernd hatte sie das Gefühl, 165 jeden Augenblick vom Pferd zu rutschen. Wären sie und Austra allein gewesen, hätte sie sich sofort so aufs Pferd gesetzt, wie es sich von Natur aus gehörte, Unterrock hin oder her. Doch sie waren nicht allein. Die Hälfte aller Edlen des Königreiches ritt die sanft ansteigende Wiese hinauf. »Das kann ich nicht glauben. Lesbeth würde mich genauso wenig verraten wie du.« »Du verdächtigst mich}«, fragte Austra empört. »Still, du dummes Mädchen. Natürlich nicht. Das habe ich doch gerade gesagt.« »Oh. Nun, wen dann? Wer hat einen Schlüssel zu unserem Zimmer? Nur Fastia.« »Vielleicht hat sie vergessen, die Tür abzuschließen.« »Das bezweifle ich«, sagte Austra. »Ich auch. Trotzdem -« »Deine Mutter.« »Das stimmt. Mutter hat ganz sicher einen Schlüssel. Aber -« »Nein. Da kommt deine Mutter.« Anne blickte auf und sah mit einem plötzlichen, entsetzten Kribbeln, dass Austra Recht hatte. Muriele Dare, geborene de Liery, die Königin von Crothenien, löste sich auf ihrer vitellianischen Rappstute von ihrem Gefolge und kam auf Anne und Austra zugetrabt. »Guten Morgen, Austra«, sagte Muriele. »Guten Morgen, Euer Majestät.« »Ob ich wohl ein paar Minuten mit meiner Tochter reiten dürfte? Allein.« »Natürlich, Euer Majestät.« Augenblicklich nahm Austra die Zügel auf, trabte davon und ließ nur einen um Verzeihung heischenden, besorgten Blick zurück. Wenn Anne Ärger bekam, war es sehr gut möglich, dass auch Austra in Schwierigkeiten war. »Ihr Mädchen scheint euch heute Morgen über irgendetwas aufzuregen«, stellte Muriele fest. »Und ihr reitet nicht mit dem königlichen Gefolge.« »Ich hatte einen schlechten Traum«, erklärte Anne, was zumindest 166 ein Teil der Wahrheit war. »Und niemand hat uns gesagt, dass wir mit dem königlichen Gefolge reiten sollen.« »Ein Jammer, das mit dem Traum. Ich bitte Fastia, dir heute Abend etwas Fennage-Tee zu bringen. Es heißt, er hält die Schwarze Mary-fern.« Anne zuckte die Achseln. »Ich glaube allerdings, es geht um mehr als um einen schlechten Traum. Fastia denkt, dass deine Erregung eine tiefere Ursache hat.« »Fastia kann mich nicht leiden«, erwiderte Anne. »Im Gegenteil. Deine Schwester liebt dich, wie du sehr wohl weißt. Sie heißt nur nicht immer gut, was du tust, und das sollte sie auch nicht.« »Alle möglichen Leute heißen nicht gut, was ich tue«, murmelte Anne. Ihre Mutter musterte sie prüfend mit ihren jadegrünen Augen. »Du bist eine Prinzessin, Anne. Das musst du irgendwann ernst nehmen. Als Kind wird einem das verziehen - eine Weile. Aber du bist jetzt im heiratsfähigen Alter, und es ist allerhöchste Zeit, dass du dein kindisches Betragen endlich aufgibst. Deinem Vater und mir war der Zwischenfall mit dem Grefft von Austgarth schrecklich peinlich -« »Er ist ein widerlicher alter Mann. Du kannst nicht von mir erwarten -« »Er ist ein feiner Herr, und außerdem ist seine Gefolgschaftstreue für uns von äußerster Wichtigkeit. Dir ist das Wohlergehen von deines Vaters Königreich also widerlich? Weißt du, wie viele unserer Vorfahren für dieses Land gestorben sind?« »Das ist ungerecht.« »Ungerecht? Wir sind nicht wie normale Leute, Anne. Viele unserer Entscheidungen werden ausschließlich durch unsere Geburt für uns getroffen.« »Lesbeth heiratet aus Liebe!« Muriele schüttelte den Kopf. »Ach, genau das hatte ich befürchtet, und Fastia auch. Lesbeth geht eine glückliche Verbindung ein, aber von Liebe versteht sie genauso wenig wie du.« 167
»Ach ja, Mutter, als ob du auch nur das Geringste von Liebe verstündest!«, fuhr Anne auf. »Ganz Eslen weiß, dass Vater mehr Zeit mit Lady Gramme verbringt, als er je in deinen Gemächern zugebracht hat.« Manchmal konnte sich ihre Mutter sehr schnell bewegen. Anne sah den Schlag erst kommen, als ihre Wange bereits brannte. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Muriele. Ihre Stimme klang leise, tonlos und gefährlicher, als Anne sie jemals gehört hatte. Tränen stiegen Anne in die Augen, und die Kehle wurde ihr eng. Ich werde nicht weinen, sagte sie sich. »Jetzt hör mir zu. Heute sind drei junge Männer hier, alle mehr oder weniger ansehnlich. Hörst du mir zu? Es sind Wingaln Kathson von Avlham, William Fullham vom Baronet Winston und Duncath MeqAvhan. Jeder von ihnen wäre eine gute Partie. Keiner ist ein widerlicher alter Mann. Ich erwarte von dir, dass du dich mit jedem von ihnen unterhältst, hast du verstanden? Sie sind nur hier, um dich kennen zu lernen.« Mürrisch schweigend ritt Anne weiter. »Hast du mich verstanden?«, wiederholte Muriele. »Ja. Woher soll ich wissen, wer sie sind?« »Du wirst ihnen vorgestellt werden, keine Angst. Es ist alles arrangiert.« »Sehr schön. Ich verstehe.« »Anne, das alles geschieht nur zu deinem Besten.« »Ein Glück, dass jemand weiß, was das Beste für mich ist.« »Sei kein verzogenes Balg. Heute hat deine Schwester Geburtstag. Mach ein fröhliches Gesicht - wenn nicht mir, dann ihr zuliebe. Und lass uns um meinetwillen mit unseren Streitereien aufhören. Bitte.« Muriele lächelte jenes kalte kleine Lächeln, dem Anne nie traute. »Ja, Mutter.« Tief in ihrem Innern jedoch fühlte sich Annes Herz leichter an, trotz der Ohrfeige, von der ihr Gesicht immer noch brannte. Ihre Mutter wusste nichts von Roderick. 168 Aber irgendjemand wusste Bescheid, oder? Irgendjemand hatte ihre Rose gefunden. Einen Moment lang fragte sie sich, ob das alles überhaupt etwas mit Roderick zu tun hatte. Er war in dem Traum nicht vorgekommen. »Was ist denn das?«, ließ sich eine Männerstimme von der Seite her vernehmen. »Die beiden hübschesten Frauen im ganzen Reich reiten ohne Eskorte?« Anne und Muriele drehten sich um, um den Neuankömmling zu begrüßen. »Hallo, Robert«, sagte Muriele. »Guten Morgen, liebe Schwägerin. Wie schön du bist! Die Morgendämmerung hat heute lange gezögert, weil sie den Vergleich mit dir gescheut hat.« »Wie nett von dir, das zu sagen«, erwiderte Muriele. Ohne auf ihren kühlen Ton zu achten, wandte Robert seine Aufmerksamkeit Anne zu. »Und du, meine teure Nichte. Was für ein atemberaubendes Geschöpf du geworden bist. Ich fürchte, diese Geburtstagsfeier wird zu einem Schlachtfeld werden, auf dem junge Ritter mit der Lanze um deine Gunst wetteifern, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten.« Anne wäre beinahe rot geworden. Onkel Robert war ein stattlicher Mann, kräftig, mit breiten Schultern und schlanker Taille. Für einen Dare war er dunkel, mit schwarzen Augen und einem kleinen Schnurr- und Kinnbart, der sehr gut zu seiner spöttischen Art passte. »Mach dir lieber Sorgen wegen Elseny«, erwiderte sie. »Sie ist bei weitem die Schönere, und schließlich ist es ihr Geburtstag.« Robert trabte heran und ergriff Annes Hand. »Lady«, sagte er, »Eure Mutter hat drei liebreizende Töchter, und Ihr seid keineswegs die geringste unter ihnen. Wenn ein Mann Euch etwas anderes gesagt hat, so nennt mir seinen Namen, und ich sorge dafür, dass die Raben seine Augen auspicken, noch ehe die Nacht sich herabsenkt.« »Robert«, sagte Muriele; ein Hauch von Gereiztheit schwang in ihrer Stimme mit. »Schmeichle meiner Tochter nicht so erbarmungslos. Das ist nicht gut für sie.« 169 »Ich spreche nur die Wahrheit aus, liebste Muriele. Wenn sie wie Schmeichelei klingt, nun, so hoffe ich, man wird es mir vergeben. Aber im Ernst, wo ist eure Leibwache?« »Dort«, antwortete Muriele und deutete mit einer Handbewegung nach vorn, wo der König und sein Gefolge ritten. »Ich wollte allein mit meiner Tochter reden, doch sie sind da, und sie sind sehr wachsam, das versichere ich dir.« »Ich hoffe, ich habe euch nicht gestört. Ihr schient ein sehr ernstes Gespräch zu führen.« »Eigentlich«, erwiderte Anne - fröhlich, wie sie hoffte -, »haben wir darüber gesprochen, dass bald Lesbeths Hochzeit stattfinden soll. Ist das nicht aufregend?« Zu spät sah sie den warnenden Blick ihrer Mutter. »Wie war das?« In Roberts Stimme war plötzlich eine gewisse Kälte zu bemerken. »Lesbeth«, sagte Anne ein wenig unsicher. »Sie hat Vater gestern um seine Erlaubnis gebeten.« Robert lächelte kurz, doch auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Furchen. »Wie seltsam, dass sie nicht um meine gebeten hat. Meine Güte! Es sieht so aus, als ginge dieser Scherz auf meine Kosten.«
»Sie wollte es dir heute sagen«, beschwichtigte Muriele. »Nun ja. Vielleicht sollte ich sie lieber suchen und ihr Gelegenheit dazu geben. Wenn die Ladys mich entschuldigen?« »Gewiss«, sagte Muriele. »Erinnere Lesbeth daran, dass sie versprochen hat, mich heute zu besuchen!«, rief Anne, als ihr Onkel davonritt. Eine Zeit lang ritten sie schweigend weiter. »Vielleicht solltest du etwas besser darauf Acht geben, was du so dahinsagst«, meinte Muriele schließlich. Doch irgendwie klang sie nicht länger zornig. »Ich - das ganze Schloss weiß es doch inzwischen. Ich dachte, sie hätte es ihrem eigenen Bruder erzählt.« »Robert hat schon immer sehr auf Lesbeth aufgepasst. Schließlich sind sie Zwillinge.« 170 »Ja. Deswegen dachte ich ja, er wüsste es.« »So verläuft so etwas nicht immer.« »Das sehe ich. Darf ich jetzt mit Austra reiten?« »Du solltest dich zum königlichen Gefolge gesellen. Dein Großonkel Fail ist hier - oh, es sieht aus, als wäre er mit deinem Vater weitergeritten. Na schön, du kannst dich unnahbar geben, wenn du willst. Aber heute Abend musst du gesellig sein. Und beim Fest deiner Schwester musst du dich liebenswürdig zeigen.« Sie nahm die Zügel auf und ritt davon. »Und bleib ja anständig auf deinem Pferd sitzen, hörst du?«, rief sie über die Schulter zurück. »Wenigstens heute.« Die Schleppe wand sich allmählich zum breiten Gipfel von Tom Woth empor. Vom Hügel aus blickte man nach Osten auf die Stadt hinunter und nach Westen auf seinen Zwilling Tom Cast. Dort war ein nach allen Seiten hin offener Pavillon aus gelber Seide errichtet worden, über dem ein Banner mit einer Biene und einer Distel flatterte, die imaginäre Standarte Elphins. Ein gewaltiges Blumenlabyrinth umgab den Pavillon. Die Wände bestanden aus dicht an dicht gepflanzten Sonnenblumen und perlweißen Nickblumen. Zwischen den kräftigen Stielen rankten sich scharlachrote Trompetenblumen, Prunkwinden und Erbsenblüten empor. Überall stiegen bereits Höflinge und ihre Begleiterinnen von den Pferden und suchten sich lachend und kichernd einen Weg in das Labyrinth hinein. Irgendwo in dessen Innerem erklangen liebliche Töne von Oboen, Lauten, einer großen Harfe und Glöckchen. Austra klatsche in die Hände. »Es sieht wunderschön aus, findest du nicht?« Fest entschlossen, sich zu amüsieren, rang Anne sich ein Lächeln ab. Schließlich hätte alles noch viel schlimmer sein können, und die festliche Stimmung war tatsächlich ansteckend. »Ja, wirklich«, stimmte sie zu. »Diesmal hat sich Mutter selbst übertroffen. Elseny platzt bestimmt beinahe vor Glück.« »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Austra fast schuldbewusst. 171 »ja. Ich glaube, Mutter weiß auch nichts von Roderick. Vielleicht habe ich die Blume selbst zerpflückt, im Schlaf.« Austra riss die Augen auf. »So etwas hast du wirklich schon öfter gemacht. Manchmal bist du herumgelaufen und hast es überhaupt nicht gemerkt, wenn man versucht hat, mit dir zu reden. Und du hast die ganze Zeit vor dich hin gemurmelt.« »Dann muss es so gewesen sein. Ich glaube, wir sind nicht in Gefahr, liebste Freundin. Und jetzt brauche ich nur noch drei junge Männer zu unterhalten, und jeder wird sehr angetan von mir sein.« »Mit Ausnahme von Roderick.« »Das mache ich später wieder gut. Du leitest alles in die Wege?« »Natürlich.« »Nun denn! Wagen wir uns nach Elphin hinein?« »Ich denke, wir wagen es!« Sie stiegen ab und gingen auf einen Torbogen zu, der am Eingang zum Labyrinth errichtet worden war. Zu beiden Seiten des Bogens standen Männer in aus Gänseblümchen geflochtenen Kettenhemden. Anne erkannte sie; es waren Mimen aus der Truppe des königlichen Haushalts. »Liebwerte Ladys«, begrüßte einer von ihnen sie hochmütig. »Was sucht Ihr hier?« »Nun, eine Audienz bei der Königin von Elphin, denke ich«, erwiderte Anne. »Mylady, zwischen Euch und jener ruhmreichen Königin liegen die Distelhöfe der Phay, voller Schönheit und tödlicher Gefahren. Ich gestehe aufrichtig, ich kann Euch keinen Zutritt gewähren, wenn Ihr nicht von einem wahren Ritter begleitet werdet. Ich bitte Euch, erwählt einen.« Anne folgte seinem zeigenden Finger mit dem Blick dorthin, wo ein paar als Ritter verkleidete Knaben standen. Sie trugen eigenartige Rüstungen aus Papier, Stoff und Blumen. Ihre Helme waren zu Masken geformt, sodass man nur schwer erkennen konnte, wer sie waren. Anne schritt zu ihnen hinüber, und sie stellten sich in einer Reihe 172 auf. Sie brauchte nur ein paar Momente, um sich zu vergewissern, dass Roderick nicht darunter war. »Welchen nehmen wir?«, sagte sie laut und klopfte sich mit dem Finger ans Kinn. »Was meinst du, Austra?«
»Ich finde, sie sehen alle sehr tapfer aus.« »Nicht tapfer genug. Ich denke an jemand anderen. Ihr dort, Sir Ritter der Grünen Lilien, leiht mir Euer Schwert.« Gehorsam reichte der junge Mann ihr seine Waffe, die aus einer mit Goldfarbe bemalten Weidenrute bestand, mit einer Parierglocke aus lackierten Magnolienblättern. »Sehr schön. Und nun Euren Helm.« Jetzt zögerte er einen Augenblick, doch sie war schließlich eine Prinzessin. Er nahm den Maskenhelm ab, unter dem ein recht schlichtes Gesicht zum Vorschein kam, das sie nicht kannte. Anne beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Ich danke Euch, Sir Ritter von Elphin.« »Mylady -« »Darf ich Euren Namen erfahren?« »Äh - William Fullham, Mylady« »Sir Fullham, Ihr werdet doch einen Tanz für mich freihalten, wenn wir den Hof der Königin erreichen?« »Selbstverständlich, Mylady!« »Wunderbar.« Und damit setzte sie den Helm auf und marschierte zurück zu den Torwachen. »Mein Name ist Sir Anne«, verkündete sie. »Vom Clan der Bitterbienen, und ich werde die Lady Austra zur Königin geleiten.« »Wohlan, Sir Anne. Aber habt Acht. Es heißt, der Dornenkönig geht um.« Als er das sagte, geschah etwas in Annes Bauch, als wäre sie von etwas herabgestiegen, das höher gewesen war, als sie erwartet hatte, und das Bild aus ihrem Traum blitzte vor ihrem inneren Auge auf - das Feld mit den schwarzen Rosen. Der dornige Wald, die Hand, die nach ihr griff. Einen Augenblick lang taumelte sie. »Was ist denn?«, fragte Austra. 173 »Gar nichts«, erwiderte Anne. »Es ist nur die Sonne.« Damit betrat sie das Labyrinth. 10. Kapitel Der Tafflbach Aspar verließ Tor Scath noch vor dem Morgengrauen. Er bog von der Königsstraße ab und ritt querfeldein über das Hochland des Brogh y Stradh, durch Wiesen, auf denen roter Klee, Lavendel und Goldlack leuchteten. Dann erreichte er den Oberlauf des Taffbachs, wo er auf eine kleine Herde Auerochsen stieß, die das Bachufer zu einem nach Moschus stinkenden Sumpf zertrampelten. Sie beobachteten ihn misstrauisch, als er, Engel und Unhold sich vorsichtig einen Weg durch das verschlungene Gewirr der alten Weiden suchten, die ihre Wasserstelle umgaben und vor der Sonne schützten. Der Geruch der Wildrinder folgte ihm stromabwärts, auch als das Gebrüll der Bullen schon lange verklungen war. Alles schien in Ordnung zu sein, doch es war nicht in Ordnung. Jetzt war er sich dessen sicherer als je zuvor. Es war nicht nur das, was Symen ihm erzählt hatte. Ja, er glaubte einiges von dem, was der alte Mann gebrabbelt hatte. Letzten Endes war der Ritter vertrauenswürdig, wenn es darum ging, zu berichten, was er gesehen hatte. Die Leichen, die Verstümmelungen, das seltsame Fehlen jeglicher Wunden, all das war zweifellos wahr, obgleich Aspar sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollte. Der Rest - Gryffins, der Dornenkönig und all so etwas -, das war der Teil, dem er misstraute. Obwohl auf Symens Mutmaßungen nicht gerade Verlass war, machte Aspar sich Sorgen wegen etwas, das ihn selbst betraf. Am 174 Abend zuvor, als er auf der Straße versucht hatte, dem kleinen Priesteranwärter einen Schrecken einzujagen, hatte er beinahe selbst Angst bekommen, hatte beinahe geglaubt, die Wilde Jagd nach Verlorenen Seelen sei tatsächlich über sie gekommen - obgleich er im Innern stets gewusst hatte, dass es nur Symen und seine Hunde waren. Irgendetwas war dort draußen, und er wusste nicht, was es war. Trotz all seines Geschwätzes von Gryffins und Dornenkönigen wusste Symen es ebenfalls nicht. Und genau das war das Beunruhigende, es nicht zu wissen. Unhold war nervös und scheute zweimal - Unhold und scheuen -ohne jeglichen Grund. Und so machte sich Aspar nach und nach auf das gefasst, was er am Taffbach finden würde. Die Toten lagen da wie ein Vogelschwarm, der von einem seltsamen Wind zerschmettert und um seine angefangenen Nester herum verstreut worden war. Er band seine Pferde in sicherer Entfernung an und ging zu Fuß zu den Leichen hinüber. Natürlich waren sie schon seit Tagen tot. Ihr Fleisch hatte sich schwarz und violett verfärbt, und die starren Augen waren tief in den Schädel gesunken, als wären sie in Wirklichkeit aus Kürbissen geschnitzt gewesen, und man hätte sie dann zu lange in der Sonne liegen lassen. Das sollte nicht so sein. Die Raben hätten die Augen eigentlich längst ausgepickt haben müssen. Würmer und Verwesungsgestank müssten allenthalben zu bemerken sein. Stattdessen roch es nur nach Herbstlaub. Es war genau so, wie Symen es beschrieben hatte, sie waren einfach tot umgefallen. Was bedeuten könnte ... Er sah sich um.
Seothen - Sedoi hatte das Priesterlein sie genannt - befanden sich für gewöhnlich auf höher gelegenem Gelände, allerdings nicht immer. Wenn die Kirche Schreine auf ihnen errichtete, gab es dort auch Pfade, doch wie der Junge gesagt hatte, wurden nur wenige der Sedoi im Königswald von der Kirche benutzt, obgleich Aspar sich bis gestern Abend nie Gedanken darüber gemacht hatte, weshalb das so war. Er 175 hatte nur gewusst, dass sich die Kirche um die meisten der Sedoi nicht weiter kümmerte. Irgendwer jedoch kümmerte sich darum. Er fand die Stelle auf einer kleinen Anhöhe unweit des Baches; der Geruch verfaulenden Fleisches und das Krächzen der Raben waren ihm dabei behilflich. Der Schrein selbst war fast völlig verschwunden, nur ein paar Steine zeigten noch die Form einer uralten Mauer und eines Altarblocks. Doch an die Stämme der umstehenden Bäume waren Männer, Frauen und Kinder an Händen und Füßen festgenagelt worden. Man hatte sie von der Brust bis zur Scham aufgeschlitzt und ihre Eingeweide wie Seile um den Schrein gezogen, sodass sie eine Art Abgrenzung bildeten. An den großen Muskeln der Arme und Beine war die Haut abgezogen worden. Der Gestank brachte ihn beinahe zum Würgen. Anders als die Toten unten auf der Wiese verwesten diese Leichen hier sehr wohl, und die Bäume waren voller vom Menschenfleisch gemästeter Raben. Einige Leichname hatten sich bereits von ihren Gliedmaßen gelöst und die grauenvolle Baukunst der Mörder zerstört. Am Fuße des Hügels wieherte Unhold und schnaubte dann. Aspar erkannte den Tonfall, wandte dem grausigen Bild den Rücken zu und eilte zurück. Als er sich den Pferden näherte, blieb er plötzlich stehen und erblickte im Unterholz ein Auge von der Größe einer Untertasse. Der Rest ließ sich nur erahnen, verlor sich im Schattenmosaik des Waldes. Doch es beobachtete ihn, dessen war er gewiss. Und es war groß, groß genug, um jenen Pfotenabdruck hinterlassen zu haben, den er am Edwinsbach gefunden hatte. Größer als Unhold. Leise atmete er aus, und während er erneut Luft holte, griff er nach dem Köcher auf seinem Rücken, packte mit drei schwieligen Fingern einen der schwarz gefiederten Pfeile und zog ihn heraus. Er legte ihn an die Bogensehne. Das Auge bewegte sich, und ein paar Blätter erbebten. Er sah einen Schnabel, schwarz, gebogen und scharf, und fragte sich, ob er bereits tot war, allein dadurch, dass der Blick des Wesens auf ihn gefallen war. 176 Er wusste nicht viel über Gryffins. Es gab keine, und Aspar White hatte sich nie besonders um Dinge geschert, die es nicht gab. Doch hier stand einer. Und er hatte die Wildsiedler getötet, ohne sie anzurühren. Irgendwie. Warum war er noch hier? Oder war er verschwunden gewesen und nun wieder zurückgekehrt? Er hob die Waffe, als der Gryffin auf die Lichtung trat. Der Kopf der Kreatur ähnelte entfernt dem eines Adlers, genauso wie in den alten Geschichten, obgleich er flacher war. Er war nicht gefiedert, sondern schwarz und leuchtend grün geschuppt. Eine Mähne, die aussah, als bestünde sie aus grobem Haar, begann oben am Hals. Seine Vorderbeine waren dick bemuskelt, so stark wie die eines Ochsen, aber dennoch geschmeidig. Das Wesen bewegte sich ruckartig, wie ein Vogel, dabei jedoch rasch und sicher. Er hatte nur einen Schuss. Und er bezweifelte sehr, dass das genügen würde. Er zielte auf das Auge. Der Gryffin legte den Kopf schief, und jetzt erkannte er etwas in dem Geschöpf, das er bisher noch nie bei einem Tier gesehen hatte. Überlegung, Berechnung. Verachtung. Er zog die Sehne zurück. »Na, dann komm, du zu groß geratenes Hähnchen«, grollte er. »Komm oder geh, mir ist es einerlei, tu einfach eins von beidem.« Der Gryffin duckte sich wie eine Katze vor dem Sprung. Alles wurde still. Die Bogensehne schnitt ihm in die Finger, und ihr Harzgeruch kitzelte ihn in der Nase. Er roch Humus, Kastanienblüten und Holzrauch - und ihn. Tiergeruch, ja, aber auch etwas wie Regentropfen auf den heißen Steinen um ein Lagerfeuer. Die Kreatur schnellte hoch wie eine zubeißende Schlange, sprang auf und davon, ein verschwommener Schemen. Trotz ihrer Größe war sie das schnellste Lebewesen, das er je gesehen hatte. Im rechten Winkel zu seinem Standort schoss der Gryffin nach Süden über die Wiese. Innerhalb von zwei Lidschlägen war er verschwunden. Einen langen Moment stand er staunend da und fragte sich, ob er 177 das Geschöpf hätte treffen können. Er war froh, dass es nicht dazu gekommen war. Froh, dass der Blick des Gryffin nicht ausreichte, um zu töten. Dann gaben die Füße unter ihm nach. Der Waldboden kam ihm entgegen, schlug ihm ins Gesicht, und er glaubte, Schmutz-Jesp irgendwo lachen zu hören, ihr seidiges, herablassendes Lachen. Als er erwachte, spürte er Finger, die über sein Gesicht strichen, und vernahm leises Gemurmel. Er griff nach seinem Dolch. Oder versuchte es zumindest - seine Hand wollte sich nicht bewegen. Ich bin gefesselt, dachte er. Oder an einen Baum genagelt. Doch dann öffnete er die Augen und erblickte Winna, die Tochter des Wirts aus Colbaely. »Was?«, nuschelte er. Seine Lippen fühlten sich ganz dick an.
»Habt Ihr einen von ihnen angefasst?«, fragte sie. »Ich kann keine Anzeichen finden, aber -« »Wo bin ich?« »Dort, wo ich Euch gefunden habe, am Taffbach, genau dort, wo die ganze Familie dieses armen Jungen tot daliegt. Habt Ihr eine der Leichen angefasst?« »Nein.« »Was fehlt Euch dann?« Ich habe einen Gryffin gesehen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. Jetzt konnte er die Hände wieder bewegen, jedenfalls ein wenig. Sie kribbelten. »Der Junge ist gestorben«, sagte sie. »Diese violett angelaufene Hand - sein ganzer Arm ist schwarz geworden. Es war kein blauer Fleck. Es hat angefangen, nachdem er versucht hat, seine Mutter wachzurütteln.« »Ich habe keinen von ihnen angerührt. Kannst du mir helfen, mich aufzusetzen?« »Seid Ihr sicher?« »Ja.« Sie hielt ihre Hände hoch, zeigte rote, entzündete Male auf Fingern 178 und Handflächen. »Die habe ich mir geholt, als ich seine Wunden ausgewaschen habe. An dem Abend hat es wehgetan, aber ich habe nicht weiter darauf geachtet. Am Mittag, nachdem Ihr aufgebrochen wart, hatte ich Blasen.« Kälte kroch Aspars Rücken hinauf, als er an Symens fehlende Finger dachte. »Wir müssen einen Heiler für dich finden.« Winna schüttelte den Kopf. »Ich war bei Mutter Cilth. Sie hat mir eine Salbe gegeben und gesagt, das Gift sei zu schwach, um mir wirklich zu schaden.« Sie hielt inne. »Außerdem hat sie gesagt, dass Ihr mich braucht.« Letzteres wollte er abstreiten, doch eine Welle des Schwindels überkam ihn. Winna trat hinter ihn, schob ihre zierlichen Arme unter die seinen und hob ihn hoch. Er fühlte sich schwach, doch mit vereinten Kräften gelang es ihnen, ihn zu einem Baum hinüberzuschieben, sodass er sich anlehnen und aufrecht sitzen bleiben konnte. Sie fühlte sich weich an, und sie roch gut. Sauber. »Ich dachte, Ihr wärt tot«, sagte sie mit leiser Stimme. »Du bist mir hierher gefolgt?« »Nein, Ihr Tölpel, ich habe Euch mit meinem Alvenbesen nach Colbaely zurückgezaubert. Ja, natürlich bin ich Euch gefolgt. Ich hatte Angst, Ihr würdet die Leichen anfassen und Euch den bösen Zauber einfangen, der sie getötet hat, was immer es auch für einer war.« Er sah zu ihr auf. »Sceat. Du bist mir allein hierher gefolgt? Weißt du, wie gefährlich das war? Sogar an guten Tagen gibt's hier Wegelagerer und wilde Tiere, aber jetzt - warst du nicht diejenige, die mich gewarnt hat, der Wald wäre anders?« »Und wart Ihr nicht derjenige, der mich dafür verspottet hat? Seid Ihr jetzt bereit zuzugeben, dass ich Recht hatte?« »Darum geht es doch gar nicht«, fuhr Aspar sie an. »Du hättest getötet werden können, darum geht es.« Winnas Brauen senkten sich bedrohlich. »Aspar White, Ihr seid nicht der Einzige, der sich im Königswald ein bisschen auskennt, zumindest hier in der Gegend. Und wer von uns ist beinahe getötet wor179 den? Es hätte genauso gut ein Wolf oder ein Straßenräuber sein können, der Euch gefunden hätte, und dann hättet Ihr Euren eigenen Tod verschlafen.« »Derselbe Wolf hätte auch dich finden können.« Sie lachte kurz auf. »Ja, und er wäre viel zu voll gefressen gewesen von all dem Waldhüterfleisch, um mich zu kriegen. Aspar White, seid das wirklich Ihr, der seinen Atem hier an Dinge verschwendet, die längst geschehen sind?« Er wusste eine Antwort darauf, dessen war er sich ganz sicher, doch dann spülte eine neue Welle der Übelkeit über ihn hinweg, und er schaffte es nur mit äußerster Mühe, sich nicht zu übergeben. »Ihr habt doch eine der Leichen berührt!« Ihre Gereiztheit verwandelte sich schlagartig in Besorgnis. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe in Tor Scath Halt gemacht. Sir Symen hat ein paar Tote wie diese gefunden und hat zwei Finger verloren, weil er einen davon angefasst hat. Warum - warum hast du niemanden geschickt? Du hättest nicht selbst kommen sollen, Winna, ganz gleich, was diese alte Hexe Cilth dir erzählt hat.« Sie betrachtete ihn eine Weile. »Ihr seid ein Narr, Aspar White«, sagte sie schließlich. Und dann küsste sie ihn. »Das ist genug Brennholz, glaube ich«, sagte Winna, als Aspar mit dem vierten Arm voll zurückkehrte. »Wahrscheinlich schon«, erwiderte er. Verlegen stand er einen Moment lang da, dann deutete er mit einem Kopfnicken auf die Kaninchen, die auf Spießen über dem kleinen Feuer brieten. »Die riechen gut.« »Ja, das tun sie.« »Nun ja. Ich sollte -« »Ihr solltet Euch dorthin setzen und mir erzählen, was passiert ist. Ich habe Euch noch nie so gesehen, Aspar. Ihr
scheint... na ja, nicht gerade Angst zu haben, aber doch dichter daran zu sein, als ich es bei Euch je erlebt habe. Erst finde ich Euch dort ausgestreckt wie einen 180 aufgebahrten Leichnam, und dann wollt Ihr in halsbrecherischem Tempo weiterreiten, bis es fast dunkel ist. Was hat diese Leute getötet, Aspar? Glaubt Ihr, es ist hinter uns her?« Du hast da etwas ausgelassen, dachte Aspar und erinnerte sich an die Berührung ihres Atems mit dem seinen. Etwas, das meine Gedanken ganz erheblich durcheinander bringt. Er blieb noch einen weiteren Herzschlag lang stehen, dann ließ er sich ihr gegenüber am Feuer nieder. »Ich habe etwas gesehen.« »Etwas? Irgendeine Art Tier?« »Etwas, das es nicht geben sollte.« Sie breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern, ein schweigendes Und weiter? »Die Sefry haben Kindermärchen davon erzählt. Vielleicht hast du sie auch gehört. Von Gryffins.« »Gryffins? Ihr glaubt, Ihr habt einen Gryffin gesehen? Einen Löwen mit einem Adlerkopf und Flügeln und allem Drum und Dran?« »Nicht ganz so. Ich habe keine Flügel oder Federn gesehen. Aber jemand, der das gesehen hat, könnte es so beschreiben. Er war wie eine große Katze, und er hatte einen Schnabel. Hat sich so ähnlich benommen wie ein Vogel.« »Also, es heißt, sie hassen Pferde. Und legen goldene Eier, glaube ich. Und gab es nicht einmal eine Geschichte von einem Ritter, der einen gezähmt hat und auf ihm geritten ist?« »Erinnerst du dich noch an irgendetwas über Gift?« »Gift? Nein.« Ihre Miene hellte sich auf. »Könnte es vielleicht ein Basilnix gewesen sein? Die waren angeblich giftig, wisst Ihr noch? So giftig, dass sie sich in einem Baum verstecken konnten, und die Früchte des Baumes haben jeden umgebracht, der davon gegessen hat.« »Das ist es. Das war's, woran ich mich zu erinnern versucht habe. Winna, was immer ich auch gesehen habe alles, was es berührt, stirbt.« »Und alles, was etwas anrührt, das dieses Wesen berührt hat, auch, scheint es.« Plötzlich verzog sie entsetzt das Gesicht. »Er hat Euch doch nicht berührt, oder?« 181 »Nein. Er hat mich angesehen, das ist alles. Aber sogar das hat seinen Tribut gefordert. Oder vielleicht war es auch ein giftiger Dunst in der Luft. Ich weiß es nicht. Deshalb hatte ich auch solche Eile, von dort zu verschwinden, dich von dort wegzubringen.« »Was glaubt Ihr, wo er hergekommen ist?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht aus den Bergen. Wie haben sie in den Geschichten solche Wesen getötet?« »Aspar. Nein.« »Ich muss ihn finden, Winna. Das weißt du doch. Ich bin der Waldhüter. Lass es gut sein.« »Lasst es doch selber gut sein! Wie kann man etwas töten, das man nicht einmal anschauen kann? Woher wisst Ihr, dass man ihn überhaupt töten kann}« »Man kann alles töten.« »Das ist wieder mal typisch für Euch. Vor drei Tagen habt Ihr noch nicht einmal geglaubt, dass es ein solches Geschöpf überhaupt gibt. Und jetzt wisst Ihr genau, dass man es töten kann.« »Ich muss es versuchen«, beharrte er. »Natürlich müsst Ihr«, sagte sie angewidert. Sie drehte die Kaninchen ein wenig. »Tut es Euch Leid, dass ich Euch geküsst habe?«, fragte sie plötzlich. Sie wurde rot, als sie es aussprach, aber ihre Stimme klang fest. »Äh ... nein. Ich habe nur -« Er erinnerte sich daran, wie sich ihre Lippen angefühlt hatte; ihr warmer Geschmack, die Berührung ihrer Wange an der seinen, ihre Augen so nahe. »Ich werd's nicht wieder tun«, fuhr sie fort. »Nein, das hatte ich auch nicht erwartet.« »Nein, das nächste Mal müsst Ihr mich küssen, Aspar White, wenn überhaupt noch weiter geküsst werden soll. Ist Euch das klar?« Klar? Nein, kein verdammtes bisschen!, dachte er. »Werlic, es ist mir klar«, log er. Hieß das, sie wollte, dass er jetzt kam und sie küsste, oder dass sie fand, das Ganze sei ein Fehler gewesen? Eins war sicher - im weichen Licht des Feuers sah sie aus, als wäre es sehr leicht, sie zu küssen. 182 »Die Kaninchen sind fertig«, verkündete sie. »Gut. Ich habe Hunger.« »Dann kommt.« Sie reichte ihm einen der Spieße. Das Kaninchen brutzelte noch, als er hineinbiss. Eine Weile hatte er eine hervorragende Ausrede, nicht zu reden, zu küssen oder irgendetwas anderes mit seinem Mund zu tun, als zu kauen. Als er jedoch bei den fettigen Knochen angelangt war, wurde das Schweigen langsam unbehaglich. »Winna, kennst du den Weg nach Tor Scath? Es liegt weniger als einen Tagesritt östlich von hier.«
»Ich weiß, wo das ist.« »Schaffst du es allein bis dorthin? Ich bitte dich nicht gern darum, aber wenn ich dich den ganzen Weg dorthin bringe und dann zurückkomme, fürchte ich, die Fährte des Gryffin zu verlieren.« »Ich gehe nicht nach Tor Scath.« »Bis zurück nach Colbaely ist es zu weit, wenn sich solche Biester im Wald herumtreiben. Genau gesagt -« Er verstummte. Der Gryffin hatte keine Hände gehabt, oder? Wie sollte er also Menschen an Bäume nageln und Zäune aus ihren Eingeweiden errichten? »Genau gesagt, denke ich nicht ganz klar. Ich bringe dich nach Tor Scath. Die Fährte des Gryffin kann warten.« »Aspar, wenn Ihr mich nach Tor Scath bringt, stehle ich mich bei der erstbesten Gelegenheit davon und folge Euch. Wenn Ihr mich den ganzen Weg zurück nach Colbaely bringt, tue ich dasselbe. Wenn Ihr nicht wollt, dass ich allein im Wald herumstreife, müsst Ihr mich mitnehmen, und damit hat es sich.« »Dich mitnehmen?« »Wenn Ihr töricht genug seid, dieses Wesen zu jagen, dann lasse ich es Euch nicht allein jagen.« »Winna -« »Darüber gibt es nichts zu streiten«, wehrte sie ab. »Es bleibt dabei.« »Sceat! Winna, dieses Ungeheuer ist die gefährlichste Kreatur, die ich je gesehen habe. Wenn ich mir nicht nur um mich selbst Gedanken machen muss, sondern auch noch um dich -« 183 »Dann werdet Ihr umso vorsichtiger sein, nicht wahr? Ihr werdet gründlicher nachdenken, ehe Ihr etwas Dummes tut.« »Ich habe Nein gesagt.« »Und ich habe gesagt, dass es darüber nichts zu streiten gibt«, behielt Winna das letzte Wort. »Also - wir können über etwas anderes reden, oder wir können ein wenig schlafen und morgen früh aufbrechen. Entscheidet Euch.« Aspar stocherte mit der Spitze des fettigen Bratspießes im Feuer herum. Ganz in der Nähe brummte Unhold vor sich hin. »Willst du die erste Wache oder lieber die in der Frühe?«, fragte er schließlich. »In der Frühe«, antwortete sie sofort. »Werft mir eine Decke her. Und vergesst nicht, mich zu wecken.« Wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Aspar schulterte seinen Bogen und trat aus dem Lichtkreis des Feuers. Er hatte sie zurück zum Brogh y Stradh geführt, und nicht weit von ihm war eine der vielen Hochlandwiesen zwischen den Bäumen zu erkennen. Er ging zum Rand der Wiese und betrachtete den aufgehenden Mond. Er war riesengroß und orange, zu drei Vierteln voll. Ein Nachtvogel rief zu ihm empor, und Aspar erschauderte. Er hatte den Wald bei Nacht geliebt, Blätter waren ihm stets das weichste Bett der Welt gewesen. Jetzt fühlte sich die Dunkelheit an wie eine Höhle voller Schlangen. Er dachte an das Auge des Gryffin, an die tiefe Verachtung darin. Wie tötete man so etwas? Hätte der junge Priester es gewusst? Wahrscheinlich nicht, und selbst wenn, es war zu spät. Inzwischen würde er eine Tagesreise weit entfernt sein. Wäre Winna doch auch weit weg. Hätte sie ihn doch nie gefunden. Ganz gleich, wie ernsthaft er sich das sagte, es fühlte sich immer noch an wie eine Lüge. Angewidert wandte er sich von dem böse aussehenden Mond ab und kehrte zurück zum Rand des Feuerscheins und zu Winnas tiefen, gleichmäßigen Atemzügen. 184 11. Kapitel Verkehrt herum Als sie schließlich den Festplatz erreichten, hatte Fastia Neils Kopf so gründlich mit den Namen so vieler Lords, Ladys, Gefolgsleute, Greffte, Erzgreffte, Markgreffte, Marschälle, Seneschalle, Grafen, Herzöge, Landfroas, Andvate, Barone und Ritter gefüllt, dass er befürchtete, er würde jeden Augenblick platzen. Einen Großteil der Zeit verbrachte er damit, zu nicken und Geräusche von sich zu geben, um zu zeigen, dass er ihr zuhörte. Mittlerweile entfernte sich Sir Fail, nach wie vor im Gespräch mit dem König, immer weiter von ihm. Der Rest des königlichen Gefolges überholte sie nach und nach, bis nur noch er, Fastia und ein paar der wappenlosen Ritter übrig waren. Als sie die Hügelkuppe mit der bunten, seltsamen Ansammlung von Zelten, Pflanzen und kostümierten Bediensteten erreichten, entschuldigte auch Fastia sich. »Ich habe etwas mit meiner Mutter zu besprechen«, erklärte sie. »Einzelheiten der Feier. Versucht, Euch gut zu unterhalten.« »Das werde ich tun, Erzgrefftin. Meinen aufrichtigen Dank für Eure Erläuterungen.« »Es war wenig genug«, erwiderte Fastia steif. »Es kommt nicht oft vor, dass wir hier an diesem Hof einen frischen Luftzug verspüren, und es lohnt sich, ihn einzuatmen, wenn es doch einmal geschieht.« Sie schickte sich an davonzureiten, hielt dann jedoch inne, wendete ihr Pferd erneut und beugte den Kopf zu ihm hinüber, so nahe, dass er das nach Zimt duftende Parfüm riechen konnte, das sie trug. »Es gibt noch andere am Hofe, die Ihr noch nicht kennen gelernt habt. Ich habe Euch doch meinen Onkel Robert gezeigt? Den Bruder meines Vaters? Mein Vater hat auch noch zwei Schwestern. Lesbeth, die Herzogin von Andemeur, und Elyoner, die Herzogin von Loiyes. Ihr werdet feststellen, dass Erstere von freundlicher Wesensart und eine an-
185 genehme Gesprächspartnerin ist. Elyoner rate ich Euch zu meiden, zumindest bis Ihr Euch besser auskennt. Sie kann für junge Männer wie Euch gefährlich sein.« Neil verbeugte sich im Sattel. »Ich danke Euch noch einmal, Prinzessin Fastia, für Eure Begleitung und für Euren Rat.« »Und noch einmal war es mir ein Vergnügen.« Diesmal ritt sie davon, ohne sich umzusehen. Er blieb allein zurück, sodass er Zeit hatte, all dies zu erfassen, einen Sinn in dem scheinbaren Chaos um ihn herum zu erkennen. Und sich mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass er wirklich und wahrhaftig einem König vorgestellt worden war. Nein, nicht nur einem König, sondern dem König, dem Amrath, dem Ardrey - dem Herrscher Crotheniens und aller Königreiche, die ihm dienten, dem größten Reich der Welt. Er begann ein kurzes Dankesgebet an den heiligen Lier. »Seht nur, wie Sir Bauerntölpel auf seinem Pferd sitzt«, sagte jemand hinter ihm. »Betet Ihr darum, im Sattel zu bleiben, Sir Bauerntölpel?« Ein zweiter Mann prustete zur Antwort vor Lachen. Neil beendete sein Gebet und drehte sich dann um, um zu sehen, wer wohl »Sir Bauerntölpel« sein mochte. Er sah sich zweien der schwarzgrün gekleideten Ritter gegenüber, die ihn musterten. Der, der gesprochen hatte, hatte eine Hakennase und einen kleinen schwarzen Bart. Sein Kamerad hatte ein pockennarbiges Gesicht, schartige Zähne und Augen wie blaues Eis. Nicht weit von ihnen entfernt kam ein weiterer Ritter näher. »Ihr irrt Euch in mindestens einer Hinsicht«, sagte Neil. »Ich trage keinen Titel und bin deshalb kein >Sir<.« »Also einfach nur Bauerntölpel? Wie schade«, erwiderte der Ritter und zupfte nachdenklich an seinem Kinnbärtchen. »So ungeschickt, wie Ihr auf dem Pferd sitzt, hätte ich nicht übel Lust, zu schauen, wie es aussieht, wenn Ihr herunterfallt. Aber ich nehme an, wenn ich lange genug zuschaue, passiert das ganz von allein.« »Habe ich Euch irgendwie gekränkt, Sir?« »Gekränkt ist ein zu starkes Wort. Ihr belustigt.« 186 »Nun, dann bin ich wohl froh, dass ich einem so hohen Herrn wie Euch Anlass zur Belustigung bieten kann«, entgegnete Neil gelassen. »Wohl? Ihr wisst nicht einmal, wer ich bin, nicht wahr?« »Nein, Sir. Ihr tragt kein Wappen.« »Dieser blökende Inselochse weiß nicht, wer ich bin, Freunde.« Der dritte Ritter gesellte sich zu ihnen, ein gewaltiger, bärengleicher Mann mit borstigem, blondem Bart. »Manchmal tut deine eigene Mutter so, als wüsste sie nicht, wer du bist, Jemmy«, brummte er mit tiefer Stimme. »Lass den Jungen in Ruhe.« Der Mann, der anscheinend Jemmy hieß, spitzte die Lippen, als wolle er etwas erwidern, dann lachte er. »Das muss ich wohl«, sagte er. »Und er steht schließlich auch viel zu weit unter mir, um mich mit ihm abzugeben. Geht Eurer Wege, Bauerntölpel.« Er trieb sein Pferd vorwärts und wandte sich geringschätzig ab. »Ich bitte Euch, Sir, mir Euren Namen zu nennen«, rief Neil ihm nach. Langsam drehte sich der Bursche im Sattel um. »Und warum, Bauerntölpel?« »Damit ich Euch fordern kann, wenn ich Rose und Sporen erhalte.« Der Ritter lachte, und seine Gefährten stimmten ein. »Nun denn«, sagte er. »Ich bin Sir James Cathmayl. Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch zu töten, sobald Ihr die Rose tragt. Aber es geht das Gerücht, dass Ihr nichts weiter seid als ein verirrter Welpe, der nach Sir Fails Fersen schnappt, ohne Haus, Titel oder guten Namen. Stimmt das?« Neil richtete sich auf. »Alles außer dem Letzten. Mein Vater hat mir diesen Namen gegeben, und sein Vater davor ihm, und wir haben den Toute de Liery drei Generationen lang treu gedient. MeqVren ist ein guter Name, und jeder, der das bestreitet, ist ein Lügner.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Und wenn ich so unbedeutend bin, wie kommt es dann, dass Euch bereits Gerüchte über mich zu Ohren gekommen sind?« Sir James zwirbelte seinen Schurrbart. »Weil Sir Fail, so verschroben er auch sein mag, einer der wichtigsten Männer des Königreiches 187 ist. Weil Ihr sowohl mit Seiner als auch mit Ihrer Majestät gesprochen habt.« »Und weil es heißt, Ihr hättet drei Knappen dieses Flegels Alareik Fram Wishilm dazu gebracht, sich in die Hose zu pissen«, fügte der Riese mit dem blonden Bart hinzu. »Das auch«, gab Sir James zu. »Ihr seid eine Kuriosität, genau das seid Ihr.« »Und wer seid Ihr Burschen? Welchem Lord dient Ihr?« Blondbart schmunzelte gutmütig, die anderen lachten höhnisch. »Ein rechter Kindskopf, nicht wahr?« Sir James grunzte und verdrehte die Augen. »Was glaubt Ihr denn, wer wir sind, Junge?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich ab und ritt davon. Pockengesicht folgte ihm. Neil wurde rot, gab jedoch nicht klein bei. »Wir sind die Handwerksmeister, mein Junge«, sagte Blondbart. »Die Königliche Leibwache.« »Oh.« Natürlich hatte er von der berühmtesten Leibwache des Landes gehört. Wie dumm von ihm, dass er ihre
Farben nicht erkannt hatte. »Um Vergebung. Ich hätte es wissen müssen, schon wegen Eurer Anwesenheit in der unmittelbaren Nähe des Königs.« Der blonde Mann zuckte mit den Schultern. »Macht Euch nichts aus Jemmy. Er ist kein schlechter Kerl, wenn man ihn erst besser kennt.« »Und darf ich Euren Namen erfahren, Sir?« »Wozu? Damit Ihr auch mich fordern könnt?« »Ganz und gar nicht. Ich wüsste gern den Namen des Mannes, der mir mit Freundlichkeit begegnet ist.« »Nun gut. Vargus Farre, zu Euren Diensten. Es freut mich, Euch kennen zu lernen, und ich wünsche Euch Glück. Es ist aber wohl nur ehrlich, Euch Folgendes zu sagen: Ich habe noch nie gehört, dass ein Mann von unedler Geburt in den Ritterstand erhoben worden ist, und wenn Euch dies durch irgendein Wunder widerfahren sollte, so werdet Ihr wenig Frieden haben. Man wird Euch als Beleidigung ansehen, und jeder Ritter im Land wird Euch herausfordern. Nehmt meinen Rat - bleibt als Kämpfer bei Sir Fail. Das wäre gut für Euch.« 188 »Ich werde nehmen, was der König mir gibt, und nicht nach mehr verlangen«, erwiderte Neil. »Mein einziger Wunsch ist, Seiner Majestät nach besten Kräften zu dienen.« Sir Vargus lächelte. »Das sind Worte, die ich oft genug gehört habe, um zu wissen, dass sie eigentlich so bedeutungslos sind wie Gänsegeschnatter. Und doch glaube ich, es ist Euch ernst damit, oder nicht?« »Es ist mir ernst.« »Nun denn. Die Heiligen mögen Euch zulächeln. Und nun muss ich mich wieder meinen Pflichten widmen.« Neil sah ihm nach und kam sich immer noch dumm vor. Jetzt bemerkte er sie, wie sie von fern beobachteten. Obwohl es aussah, als wären der König und Sir Fail allein, waren sie in Wirklichkeit von einem Kreis der Handwerksmeister umgeben - in einigem Abstand, gewiss, und die Männer wirkten beinahe, als interessierten die beiden sie gar nicht. Doch wenn sich jemand auf den König zubewegte, taten sie es ihm gleich. Er sah sich nach der Königin um und entdeckte sie dicht am Rand des Hügels, wo sie mit zwei Ladys sprach. Auch hier hielten aufmerksame Handwerksmeister gleichzeitig Wache und Abstand. Es hieß, diese Männer verzichteten auf jegliche Besitztümer und Ländereien, wenn sie in die Königliche Leibwache eintraten. Außerdem sagte man, sie fühlten weder Schmerz noch Verlangen, niemand könne gegen sie bestehen und ihre Waffen seien von Riesen geschmiedet worden. Vielleicht hatte Neil sie deshalb nicht gleich erkannt. Für ihn hatten sie ausgesehen wie ganz gewöhnliche Männer. Wieder allein, hatte Neil Muße, darüber nachzudenken, wie fehl am Platze er sich fühlte. In Liery hatte er gewusst, wer er war. Er war Neil, Sohn des Fren, und seit der Vernichtung seines Clans der Zögling Fail de Lierys. Und mehr als das, er war ein Krieger gewesen, und zwar ein guter. Selbst die Ritter von Liery hatten das anerkannt und ihn dazu beglückwünscht. Bis auf den Titel war er einer von ihnen gewesen. Niemand hatte ihn im Zweikampf besiegen können, seit er das 189 vierzehnte Lebensjahr erreicht hatte. Kein Feind der de Lierys hatte je gegen ihn bestanden, seit jenem Tag am Strand nicht mehr. Doch wozu war er hier gut, an diesem Ort voller verzierter Zelte und Kostüme? Wo selbst der höflichste der Königlichen Leibwächter mit solcher Herablassung zu ihm sprach? Was konnte er hier tun? Es wäre besser, wenn er dem Reich so diente, wie er es immer getan hatte, als Krieger der Marschen, wo es nicht darauf ankam, ob man eine Rose trug oder nicht, und wo es sehr viel mehr zählte, wie man mit dem Schwert umging. Er würde Fail de Liery suchen und ihn bitten, nicht für ihn zu sprechen. Das war das einzig Vernünftige. Er blickte sich um und sah, wie Sir Fail sich von der Seite des Königs löste. »Komm, Hurrikan«, sagte er zu seinem Pferd. »Sagen wir es ihm, und hoffen wir, dass es noch nicht zu spät ist.« Doch als er wendete, sah er die Königin. Ihr Anblick ließ ihn einen Moment lang innehalten. Sie saß noch immer auf ihrem Pferd, ihr Umriss hob sich gegen den blauen Himmel ab. Hinter ihr fiel das Gelände steil zu einer fernen Grünfläche ab, über der noch die Morgennebel hingen. Eine Brise spielte in ihrem Haar. Er merkte, dass er sie zu lange angestarrt hatte, und wollte sich gerade abwenden, als er eine Bewegung wahrnahm. Es war einer der Handwerksmeister, der in vollem Galopp über die Wiese auf sie zupreschte, einen langen, silbern funkelnden Stahlblitz in der Hand. Neil dachte nicht nach, sondern trieb Hurrikan die Fersen in die Flanken. Ganz offensichtlich eilte der Ritter herbei, um irgendeiner Bedrohung entgegenzutreten. Verzweifelt suchte Neil mit den Augen das Gelände ab, während er vorwärts galoppierte, doch er sah nichts, was den Krieger alarmiert haben könnte. Und dann begriff er. Er zog sein Schwert Krähe, schwang es hoch über dem Kopf und stieß den gellenden Kriegsschrei der MeqVrens aus. 190 Austra kicherte, als Anne ihr Weidenrutenschwert schwenkte und irgendeinen großen Tölpel verscheuchte, der sich als Riese verkleidet hatte. »Das macht Spaß«, meinte die Zofe.
»Nett, dass du mir das sagst«, entgegnete Anne. »Sonst hätte ich es am Ende gar nicht gemerkt.« »Ach, hör schon auf. Du findest es doch auch lustig.« »Ein bisschen vielleicht. Aber es ist an der Zeit, dass wir uns trennen, liebreizende Lady« »Wie meinst du das?«, fragte Austra. »Du bist mein Ritter. Wer soll mich denn sonst zur Mitte des Labyrinths und zum Hof der Königin von Elphin geleiten?« »Das ist nicht deine Aufgabe, das weißt du ganz genau. Du musst Roderick suchen und ihm sagen, dass er mich am Tempel des heiligen Under erwarten soll.« »In Eslen-des-Schattens? Das ist -« »Der letzte Ort, wo irgendjemand nach uns suchen wird. Und es ist nicht weit von hier. Wir treffen uns dort, wenn die Abenddämmerung hereinbricht. Geh ihn suchen, sag es ihm, und dann komm wieder zu mir ins Labyrinth. Dann gehen wir weiter zum Geburtstagshof meiner Schwester, und niemand wird etwas merken.« »Ich weiß nicht. Fastia und deine Mutter beobachten uns bestimmt.« »In all dem Trubel hier? Das ist sicher schwierig.« »Genauso schwierig, wie es für mich sein wird, Roderick zu finden.« »Du schaffst das schon, Austra. Und jetzt beeil dich.« Austra eilte davon, und Anne ging allein weiter durch das Labyrinth. Sie wusste natürlich, wie man sich in so einem Gewirr zurechtfand. Zu ihren frühesten Erinnerungen gehörten Glenchest, das Anwesen ihrer Tante Eloyner in Loiyes, und das riesige Heckenlabyrinth dort. Sie hatte sich davor gefürchtet, bis ihre Tante ihr das Geheimnis verraten hatte. Man fuhr einfach immer mit einer Hand an der Wand ent191 lang und ging immer weiter, wobei man die Wand nie losließ. So arbeitete man sich durch das ganze Gewirr hindurch. Es dauerte vielleicht lange, jedoch nicht so lange, wie vier Glockenschläge lang völlig verwirrt in ein und derselben Ecke herumzustolpern. Sie hatte es nicht eilig, doch aus alter Gewohnheit strich sie mit der linken Hand an der Wand aus Blumen entlang. Als Kobolde und Wichte verkleidete Kinder und Hofzwerge rannten quietschend und Grimassen schneidend vorbei. Viele der Hofriesen waren als Uttins mit Schweinsköpfen und Hauern verkleidet oder als grünhäutige Trolle mit hervorquellenden Augen. Hundehut, der Sefry-Hofnarr ihres Vaters, tippte an seinen riesigen Hut, als sie vorüberging; das Gesicht im Schatten der breiten Krempe war das Einzige, was von ihm zu sehen war, der Rest war mit wallenden Gewändern verhüllt, die sogar seine Hände verbargen. Sie hoffte, Austra würde Roderick finden. Der Kuss im Obstgarten war ganz anders gewesen als jene erste, flüchtige Berührung in der Stadt der Toten. Oder vielmehr die Küsse im Obstgarten, denn anscheinend war sie länger als einen halben Glockenschlag mit ihm zusammen gewesen. Beim Küssen ging es nicht nur um die Lippen, wie sie immer gedacht hatte. Es war das Gesicht, so dicht, die Augen, so nahe, dass sie nichts verbergen konnten. Und die Wärme der Körper - das war ein bisschen beängstigend. Verwirrend. Sie wollte mehr. Anne hielt inne, die Hand immer noch an der Wand. Irgendetwas war anders. Sie schien in eine Ecke des Labyrinths geraten zu sein, die keiner von den anderen entdeckt hatte, nicht einmal die »Ungeheuer«, die hier eigentlich ihr Unwesen treiben sollten. So sehr war sie in Gedanken versunken gewesen, dass sie es gar nicht bemerkt hatte. Als sie jetzt lauschte, konnte sie die anderen nicht einmal mehr hören. Wie groß war dieses Labyrinth eigentlich? Auch die Blumen waren anders. Hier bestanden die Wände aus scharlachroten und weißen Rosen - und sie waren dichter. Sie konnte überhaupt nicht hindurchsehen. Tatsächlich waren die Stiele unten an 192 der Wurzel ziemlich dick, als wüchsen sie schon sehr lange hier. Doch sie war im Winter auf Tom Woth gewesen, und von einem Labyrinth war dort nichts zu sehen gewesen. Sonnenblumen konnten in ein paar Monaten leicht mannshoch werden, aber eine Rosenhecke? Das schien unwahrscheinlich. Ihr Atem ging rascher. »Hallo?«, rief sie. Niemand antwortete. Stirnrunzelnd machte Anne kehrt, sodass jetzt ihre rechte Hand an der Wand entlangglitt, der sie gefolgt war. Mit raschen Schritten ging sie denselben Weg zurück. Nach ungefähr hundert Schritten hob sie die Röcke und begann zu laufen. Das Labyrinth bestand immer noch aus Rosen, jetzt rot wie der Sonnenuntergang, dann wieder himmelblau, weiß, rosa und lavendelfarben. Keine Sonnenblumen oder Prunkwinden, keine Narren oder als Kobold verkleidete Kinder, keine kichernden Hofdamen. Nichts als endlose Korridore aus Blumen und ihr eigenes heftiges Atmen. Schließlich hielt sie an und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Offenbar war sie nicht mehr auf Tom Woth. Wo war sie dann? Der Himmel sah noch genauso aus, aber irgendetwas war doch anders. Etwas anderes als das Labyrinth. Zuerst konnte sie es nicht einordnen, doch als sie begriff, schnappte sie nach Luft und begann unwillkürlich zu
zittern. Sie konnte die Sonne nicht sehen, was bedeutete, dass diese tief am Himmel stand. Doch es gab keine Schatten. Keine Schatten des Labyrinths, keinen Schatten von ihr. Sie hob den Rock. Selbst direkt unter ihr war das Gras ebenso gleichmäßig beleuchtet wie überall. Sie schlug sich selbst ins Gesicht. Sie kniff sich, doch es änderte sich nichts. Bis sie hinter sich ein leises, kehliges Lachen vernahm. Die Zeit verstrich langsamer, wie Neil es in solchen Momenten oft erlebt hatte. Das Pferd des Handwerksmeisters schien beinahe auf die 193 Königin zuzutreiben, seine mächtigen Beine wogten und glänzten wie schwarzes Wasser unter dem Mond. Die Königin hatte noch nichts Ungewöhnliches bemerkt, denn der schwarzgrün gekleidete Ritter näherte sich ihr von hinten. Doch Fastia sah den Reiter kommen, und in ihrer Miene verwandelte sich Verwirrung langsam in Entsetzen. Denn das Ziel des Handwerksmeisters war die Königin selbst. Er hielt sein Schwert in Höhe seiner Hüfte waagrecht über dem Boden und holte weit nach hinten aus zu einem Hieb, der als »der Schnitter« bekannt war. Die Klinge sollte den Nacken Ihrer Majestät küssen und ihre schöne weiße Kehle in einen blutigen Springbrunnen verwandeln. In diesem langen, langsamen Augenblick der Überlegung schwebte Neil zwischen mehreren Möglichkeiten. Wenn der Handwerksmeister nicht zauderte, würde Neil ihn niemals aufhalten können. Der Mann zauderte nicht, aber sein Pferd tat es, als es Hurrikan so schnell auf sich zustürmen sah. Ein winziges Zögern, weniger als einen Herzschlag lang, doch es war genug. Hurrikan krachte mit solcher Wucht von der Seite gegen die Hinterhand des anderen Pferdes, dass der Handwerksmeister herumgerissen wurde. Zwar ging Neils eigener Schwerthieb über den Kopf des Mannes hinweg, doch es gelang ihm, den linken Arm herumzureißen, und die beiden gepanzerten Männer prallten mit einem Getöse aufeinander, als hätte man eine Tonne voller Ketten von einem Wachturm auf das Kopfsteinpflaster hinuntergeworfen. Dann gab es ein Gewirr aus schwerelosen Gliedmaßen, und Neil stellte fest, dass der Hügel tatsächlich jäh abfiel. Sehr steil abfiel, und er und der Ritter flogen über die Kante dieses Hanges hinaus wie die unbeholfensten, merkwürdigsten Vögel der Welt. Mehrere Donnerschläge ertönten, als sie auf dem grasbewachsenen Hang aufschlugen, abprallten, erneut aufschlugen und weiterrollten. Neils Griff löste sich, und die beiden Männer trennten sich voneinander. Ein Stein, gegen den er prallte, hielt schließlich seinen Sturz auf; Lichtblitze zuckten vor seinen Augen wie von einem Amboss auf stiebende Funken. 194 Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, aber lange konnte es nicht gewesen sein, denn er und der Königliche Leibwächter waren immer noch allein, obgleich sich auf der fernen Hügelkuppe viele Gestalten drängten. Neil kam ein paar Atemzüge vor dem Handwerksmeister, der etwa zehn Schritte entfernt dalag, auf die Beine. Zum Glück lag Krähe ungefähr in der Mitte zwischen ihnen. Dass der andere Ritter sein Schwert noch in der Hand hielt, war weniger glücklich. Neil bekam Krähe nicht rechtzeitig hoch und musste den ersten Schlag mit dem Unterarm abfangen. Obwohl sein Arm in Stahl gehüllt war, hätte die schwere Klinge den Knochen zerschmettert, doch Neil hielt den Arm schräg, sodass sie abrutschte. Die Wucht des Schlages durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag bis hinunter zur Hüfte, und einen Moment lang blieb die Zeit erneut stehen. Dann hob Neil Krähe, seinen Schlachtenvogel, und schwang sie vom Boden hoch, mit einer Hand, ein schwacher Schlag, doch er traf den Ritter direkt unter dem Kinn. Der Helm hielt die Klinge auf, doch der Kopf des Mannes flog zurück, und jetzt hatte Neil beide Hände an der Waffe. Mit aller Kraft schlug er erneut zu und traf wieder den Helm, diesmal ungefähr dort, wo das Ohr des Mannes sein musste. Der Ritter stürzte zu Boden. Neil wartete darauf, dass er sich wieder erhob. Er tat es, doch sein Helm wies eine tiefe Delle auf, und er hinkte ein wenig. Es war ein großer Mann, und an der Art, wie er das Schwert schützend vor der Körpermitte hielt, sah Neil, dass er ohne Schild zu kämpfen verstand. Der Handwerksmeister griff an, täuschte einen Hieb gegen den Kopf vor und duckte sich dann, um ihn unter dem Arm zu treffen. Die Finte war gut, doch Neil sah sie kommen; er machte einen raschen, langen Schritt nach rechts, und die Klinge seines Gegners traf nichts als Luft. Krähe dagegen hob sich, wie um die Finte abzuwehren, dann zuckte sie zurück und traf erneut den kegelförmigen Helm, an derselben Stelle wie^zuvor. 195 Diesmal spritzte Blut aus dem Visier. Sein Feind schwankte, fiel zu Boden und krümmte sich zusammen. Neil seufzte, machte ein paar Schritte und setzte sich; er musste dringend ein paarmal tief Luft holen. Das war nicht leicht. Seine schöne neue Rüstung war von der linken Achselhöhle bis hinunter zur Hüfte eingebeult, und er war sich ziemlich sicher, dass auch die Rippen darunter Schaden genommen hatten.
Über sich hörte er Schreie. Zu steil für Pferde. Fünf Handwerksmeister schepperten, so gut es ihnen in ihren Rüstungen möglich war, den Abhang herunter. Wieder hob Neil Krähe, bereit, ihnen entgegenzutreten. Ihr Kleid war von einem so dunklen Rot, dass es fast schwarz aussah, und am Saum glitzerten seltsame, schneckenförmig gewundene Stickereien rubinrot. Darüber trug sie einen schwarzen Mantel, der mit blassgoldenen Sternen, Drachen, Salamandern und Gryffins bestickt war. Bernsteinfarbenes Haar fiel ihr in hundert Zöpfen bis zur Taille. Sie trug eine fein gearbeitete Maske aus rotem Gold, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Zucken, das fast schon ein höhnisches Lächeln war. »Wer seid Ihr?«, fragte Anne. Ihre Stimme klang lächerlich in ihren Ohren, sie zitterte wie ein Vogeljunges. »Du gehst verkehrt herum«, sagte die Frau leise. »Du musst dich vorsehen, wenn du das tust. Dein Schatten fällt dabei hinter dich, wo du nicht auf ihn Acht geben kannst. Jemand könnte ihn sich greifen -einfach 50.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wo sind meine Freunde? Der Hofstaat?« »Wo sie immer schon waren. Wir sind es, die woanders sind. Wir Schatten.« »Bringt mich zurück. Bringt mich sofort zurück. Sonst...« »Was sonst? Glaubst du, hier bist du eine Prinzessin?« »Bringt mich zurück. Bitte.« »Ich bringe dich zurück. Aber erst musst du mir zuhören. Das ist meine einzige Bedingung. Wir haben nur wenig Zeit.« 196 Das ist bloß ein Traum, dachte Anne. Genau wie gestern Nacht. Sie holte tief Luft. »Na schön.« »Crothenien darf nicht fallen«, sagte die Frau. »Natürlich wird es nicht fallen. Was meint Ihr damit?« »Crothenien darf nicht fallen. Und es muss eine Königin in Crothenien geben, wenn er kommt.« »Wenn wer kommt?« »Ich darf ihn nicht beim Namen nennen. Nicht hier, nicht jetzt. Und sein Name würde dir auch nicht helfen.« »Es gibt doch eine Königin. Meine Mutter ist Königin.« »Und so muss es auch bleiben.« »Wird Mutter etwas zustoßen?« »Ich sehe nicht, was die Zukunft bringt, Anne. Ich sehe, was gebraucht wird. Und dein Königreich wird dich brauchen. Das ist in Erde und Stein eingebrannt. Ich kann nicht erkennen, wann oder warum, aber es hat etwas mit der Königin zu tun. Deine Mutter, eine deiner Schwestern - oder du.« »Aber das ist doch dumm. Wenn Mutter etwas zustößt, gibt es keine Königin, es sei denn, Vater heiratet wieder. Und er kann doch nicht eine von seinen Töchtern heiraten. Und wenn Vater etwas passiert, wird mein Bruder Charles König, und diejenige, die er sich zur Frau nimmt, wird dann Königin.« »Trotzdem. Gibt es in Crothenien keine Königin, wenn er kommt, dann ist alles verloren. Und ich meine alles. Du musst dich darum kümmern.« »Wieso ich? Wieso nicht Fastia? Sie ist diejenige -« »Du bist die Jüngste. Darin liegt Macht. Es ist deine Pflicht. Deine Verantwortung. Versagst du, bedeutet das den Untergang deines Reiches und aller anderen Königreiche. Verstehst du?« »Aller anderen Königreiche?« »Verstehst du?« »Nein.« »Dann vergiss- es nicht. Es genügt, wenn du dich daran erinnerst, fürs Erste.« 197 »Aber ich —« »Wenn du mehr wissen willst, such bei deinen Vorfahren. Vielleicht helfen sie dir, wenn ich es nicht vermag. Jetzt geh.« »Nein, wartet. Ihr -« Irgendetwas schreckte sie auf, und sie blinzelte. Als sich ihre Augen flatternd wieder öffneten, stand Austra vor ihr und schüttelte sie. »-nne! Was ist denn los?« Austra schien völlig außer sich zu sein. »Hör auf!«, befahl Anne. »Wo ist sie hingegangen? Wo ist sie?« »Anne! Du hast einfach dagestanden. Hast geradeaus gestarrt, egal, wie sehr ich dich geschüttelt habe!« »Wo ist sie hingegangen? Die Frau mit der Goldmaske?« Doch die maskierte Frau war fort. Als Anne zu Boden blickte, sah sie, dass sie wieder einen Schatten hatte. Teil 2 Domänen der Nacht und des Waldes Im Jahre 2223 von Everon Im Monat Truthmen So wie die Heere der Menschen die Skasloi besiegten, besiegten die Heiligen die alten Götter. Durch ihre Niederlage wurden die alten Zauber der Skasloi stark geschwächt, jedoch nicht vernichtet. Es war das Sacaratum - der hochheilige Kreuzzug, der den Segen und die Weisheit der Kirche in alle Königreiche auf
Everon trug -, das die Welt schließlich von diesem Übel läuterte. Das Einzige, was noch von ihm geblieben ist, sind Wahngespinste in den Köpfen der Unwissenden und der Ketzer. aus dem Naration Lissum Saahtum: Die Verkündigung des Heiligen Gesetzes, überarbeitet 1407 E. vom Senaz Maims der Kirche Niwhan scalth gadauthath sa ovil Sleapath at in werlic Falhath thae skauden in thae raznes Äf sa nath ya sa holt. Das Böse stirbt niemals Es schlummert nur Schatten verbergen Die Domänen der Nacht und des Waldes Sprichwort aus Ingorn 12. Kapitel Die Halafolk Ein Blitz zerschmetterte einen Baum, so nahe, dass Aspar das Kribbeln im feuchten Erdboden spüren konnte und den metallischen Geruch der versengten Luft einatmete. Unhold erschauerte, und Engel schrie auf und tänzelte wild. Honigkuchen, Winnas Pferd, tat es der Stute nach, sodass sie ihre freie Hand in seine Mähne krallen musste. Wind rauschte durch den Wald wie eine Geisterarmee auf der Flucht, und die uralten Bäume rasselten und stöhnten wie dem Untergang geweihte Titanen im Angesicht des Herrschers der Stürme. Dumpfer Donner rollte in der Ferne, kupfergrelle Schläge ertönten nahebei. Streitwagenräder und Peitschenknall hatte sein Vater das einmal genannt, als Aspar noch sehr jung gewesen war. Er konnte sich nicht mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern, an seinen Namen, an so gut wie nichts mehr, außer an diesen Satz und an den rauchigen Geruch gegerbten Rehleders. »Sollten wir uns nicht lieber in Sicherheit bringen?«, fragte Winna und hob die Stimme, um das herannahende Gewitter zu übertönen. »Ja«, stimmte Aspar zu. »Die Frage ist nur, wo? Und die Antwort ist, ich weiß es nicht. Wenn es hier in der Gegend keine Wildsiedler gibt, von denen ich nichts weiß, gibt es nirgendwo einen Unterschlupf.« Ein zeternder Schwalbenschwarm wirbelte über sie hinweg, fast nicht zu unterscheiden von den Blättern, die von den wilden Böen mitgerissen wurden. Ein Regentropfen von der Größe eines Wachteleis zerplatzte am Boden. Aspar suchte die Gegend mit den Blicken ab. Zwei Wochen auf der 201 Fährte des Gryffin hatten sie weit in die Sümpfe des Tieflandes geführt, die den Slagishfluss umgaben. Die Quellen des Slagish lagen im Süden, in den Hasenbergen, von wo auch das Gewitter kam. Wenn sie kein höher gelegenes Gelände fanden, mussten sie bald nicht nur die Blitze, sondern auch das Hochwasser fürchten. Es war lange her, dass er das letzte Mal hier gewesen war, und damals war er nur durchgeritten. Welche Seite des Tals stieg rascher an? Soweit er sich erinnern konnte, gab es hier einen Höhenzug, ganz nahe in der einen Richtung, in der anderen jedoch Meilen entfernt. Und plötzlich fiel ihm noch etwas anderes ein. Etwas, das Jesp ihm vor vielen, vielen Jahren erzählt hatte. »Versuchen wir's hier entlang«, schrie er. »Und der Fluss?« »Sieht aus, als könnten wir ihn hier überqueren.« »Wenn Ihr es sagt.« Das Wasser war bereits schlammig und aufgewühlt. Sie stiegen ab und ertasteten sich einen Weg hinüber; Aspar ging voran. In der Mitte des Stroms reichte ihm das Wasser bis zur Brust, Winna ging es fast bis zum Hals. Die Strömung wurde merklich stärker, noch während sie sich hinüberkämpften. In nächster Zeit würde es kein Zurück mehr geben. Am anderen Ufer saßen sie wieder auf und ritten über das flache Gelände nach Osten. Kurze Zeit später begann es heftiger zu regnen. Trockener Boden wurde immer seltener, als die Bäche, die den Slagish speisten, anschwollen, und Aspar fürchtete schon, er hätte einen Fehler gemacht. Am Ende würden sie noch auf einen Baum klettern und die Pferde sich selbst überlassen müssen. Doch dann stieg der Weg endlich an, und sie kamen langsam aus dem Tal heraus. Der Regen drosch jetzt auf sie ein, ein unbarmherziger grauer Vorhang. Aspar war bis auf die Knochen durchnässt, und Winna sah elend aus. Das Gewitter wurde noch heftiger, und um sie herum stürzten Äste und ganze Bäume zu Boden, vom Wind oder vom Blitz gefällt. 202 Wenn es stimmte, was Jesp ihm erzählt hatte - und wenn die Jahre seine eigene Erinnerung nicht zu sehr getrübt hatten -, sollte der Höhenzug felsig sein, voller Höhlen und Unterstände. Selbst ein kleiner Überhang wäre willkommen. Er war einigermaßen erleichtert, als er auf die steinige Rückseite des Höhenzuges stieß. Also hatte Jesp vielleicht wirklich die Wahrheit gesagt, was immer eine angenehme Überraschung war. Schließlich hatte er die alte Hexe
geliebt, und auf ihre eigene Art hatte sie auch ihn geliebt. Sie folgten dem Verlauf des Höhenzuges, während der Himmel über ihnen sich von einer SturmgrauSchattierung zur nächsten verdunkelte. Die Nacht brach herein, und noch immer nahm der Sturm an Stärke zu. Doch er hatte sich nicht verschätzt. Als gerade noch genug Licht herrschte, um ihre Umgebung zu erkennen, entdeckte er ein vorspringendes Felssims, unter dem der Fels zurückwich und zwei Reisende und ihre Pferde bequem Platz fanden. »Den Heiligen sei Dank«, sagte Winna. »Ich glaube nicht, dass ich das noch einen Moment länger ausgehalten hätte.« Sie sah blass und durchgefroren aus. Es war nicht sehr kalt draußen, doch es war kälter als ein menschlicher Körper, und der Regen schwemmte jegliche Wärme davon. Aspar öffnete ein in eine geharzte, wasserdichte Plane gehülltes Bündel und zog eine trockene Decke hervor. »Zieh deine nassen Sachen aus, und wickle dich hier hinein«, wies er sie an. »Ich bin gleich wieder da.« »Wo wollt Ihr hin?« »Brennholz holen.« »Ihr glaub Ihr findet bei dem Wetter irgendetwas, das brennt?« Ihre Zähne klapperten. »Ja. Zieh dich um.« »Na schön, dreht Euch weg.« »Ich gehe.« Es dauerte eine Weile, bis er fand, was er suchte - harzige Kiefern203 knorren, trockenes Holz im Windschatten der Felsen und anderes Zeug, das zwar qualmen, schließlich aber doch Feuer fangen würde. Als er seinen Rucksack gefüllt hatte, kehrte er zur Höhle zurück. Inzwischen war es fast dunkel. Die schlimmsten Donnerschläge hatten sich verzogen, doch der Wind legte immer noch Bäume um. Winna, fest in ihre Decke gewickelt, sah schweigend zu, wie er das Holz mühsam zum Brennen brachte. Er sah, dass sie die Pferde abgesattelt und abgerieben hatte. »Danke, dass du dich um Engel und Unhold gekümmert hast«, sagte er. Sie nickte nachdenklich. »Werden wir die Fährte verlieren?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Die Sache mit der Gryffinspur ist die: Es wird immer leichter, ihr zu folgen, je weiter wir zurückfallen. So haben die Dinge mehr Zeit zu sterben.« »Was ist mit den Männern?« Er zögerte. »Du hast es also bemerkt, nicht wahr?« »Aspar, ich bin keine Fährtensucherin, ich habe noch nie gejagt, aber ich bin auch keine Idiotin. Die Hufspuren sind deutlich genug, und ich kann sehen, dass es mehr als ein Pferd war. Und hin und wieder auch Stiefelabdrücke.« »Ja.« »Glaubt Ihr, dass noch jemand anders dem Gryffin folgt?« »Nein, ich glaube, dass jemand ihn begleitet.« Widerstrebend erläuterte er, was er sich über die Leichen auf dem Sedos zusammengereimt hatte, über die, die ganz offensichtlich von Menschen getötet worden waren, und fügte auch Sir Symens Geschichten über ähnliche Morde hinzu. »Und Ihr habt fünfzehn Tage gebraucht, um mir das zu erzählen?«, fragte sie. »Zuerst war ich mir nicht sicher, dass sie mit dem Gryffin zusammen sind. Ihre Wege kreuzen sich, trennen sich und laufen dann wieder zusammen.« »Und was verschweigt Ihr mir sonst noch?« 204 »Die Sefry glauben, dies sei das Werk des Dornenkönigs.« Sie wurde noch blasser. »Glaubt Ihr das auch?«, wollte sie wissen. »Anfangs nicht.« »Aber jetzt schon?« Er zögerte einen Augenblick zu lange. »Nein.« »Aber so seid Ihr eben, nicht wahr, Aspar? Das würde Euch leichtgläubig erscheinen lassen, nicht wahr, zuzugeben, dass sie vielleicht Recht haben.« »Vielleicht hätte ich es dir gleich sagen sollen«, erwiderte er. »Vielleicht hätte ich dir dann ausreden können mitzukommen.« »Nein. Da irrt Ihr Euch.« Ihre Miene war tapfer, doch er bemerkte, dass ihr Kinn zitterte. Plötzlich verspürte er das überwältigende Bedürfnis, zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu nehmen, sie zu wärmen, ihr zu sagen, dass es ihm Leid täte, dass er so ein verschwiegener Bastard war, dass alles gut werden würde. »Wie könnt Ihr die Sefry nur so hassen, Aspar? Wo sie Euch doch aufgezogen haben? Wo Ihr doch eine von ihnen geliebt habt?« Das zerbrach etwas Kaltes in ihm, ließ etwas Schroffes überschwappen. »Das geht dich verdammt noch mal nichts an, Winna«, blaffte er. Als er den Schmerz in ihrem Gesicht sah, konnte er sie nicht mehr anschauen. Fast war er erleichtert, als sie schweigend aufstand und zu den Pferden hinüberging. Zuerst dachte er, sie würde vielleicht weinen, doch dann
tat er das als abwegig ab. Winna war zäh, nicht so weinerlich wie manche Frauen. Neugierig, ja, aber nicht weinerlich. Er wünschte, er hätte sie nicht so angefahren, doch jetzt war es zu spät, und wenn er sich entschuldigte, würde es das Ganze auch nicht besser machen, oder? Am nächsten Tag war der Himmel immer noch bleigrau, doch der Regen hatte aufgehört und nur den Nebel im Tal unter ihnen zurückgelassen. Genau wie Aspar es erwartet hatte, war das Tiefland überflutet; es würde mehrere Tage dauern, bis das Wasser abfloss. Er beschloss, entlang des Höhenzugs weiter nach Süden zu reiten. Die 205 Fährte des Gryffin hatte sowieso mehr oder weniger in diese Richtung geführt. Noch vor dem Mittag stießen sie auf die verräterische Spur aus toten und sterbenden Pflanzen. Jegliche Anzeichen menschlicher Begleiter waren verschwunden, doch das hatte er auch nicht anders erwartet. Wie gewöhnlich hielten sie sich lieber neben der Giftspur, statt direkt darauf zu reiten. »Der Dornenkönig«, sagte Winna und brach zum ersten Mal das frostige Schweigen. »Als ich in Glangaf gewohnt habe, hatten wir jedes Jahr einen Dornenkönig - Ihr wisst schon, beim Frühlingsfest. Er hat die Bierfässer angezapft und den Tanz angeführt. Für uns Kinder hatte er Süßigkeiten und Geschenke. Als Vater mit uns nach Colbaely gezogen ist, um das Wirtshaus meines Onkels zu übernehmen, haben sie so etwas dort nicht getan. Die alten Weiber flechten Figuren aus Weidenruten und verbrennen Hühner darin. Sie machen das Zeichen gegen das Böse, wenn jemand seinen Namen ausspricht.« »Ja. Colbaely liegt näher am Wald, und die Leute, die dort wohnen, sind meist noch vom alten Schlag. Keine Virgenyaner von der anderen Seite der Berge oder Siedler aus dem Westen. Für die Alteingesessenen ist der Dornenkönig nichts, worüber man lacht.« »Was sagen die Sefry über ihn?« Ein wenig widerwillig räusperte sich Aspar. »Dass er dereinst ein Fürst unter den alten Göttern war, unter denen, die die Welt erschaffen haben. Dass er, während sie alle gestorben sind, dazu verflucht war zu leben. Dass es sein einziger Wunsch ist zu sterben, dass er aber nur sterben kann, indem er die ganze Welt vernichtet. Die Scaosen, die die alten Götter getötet haben, haben ihn in einen Schlummer gebannt, doch ungefähr einmal in jedem Zeitalter erwacht er ...« Er runzelte die Stirn. »Da war etwas über eine Frau, glaube ich, und über einen Dieb, der versucht hat, ihn zu bestehlen, und jetzt ein Teil des Fluchs ist. Und irgendein dem Untergang geweihter Ritter. Der übliche Unsinn. Ich hab nie sonderlich darauf geachtet.« »Ich weiß noch, dass ich gehört habe, er wacht nur dann auf, wenn das Land krank ist«, sagte Winna. 206 »In der Stadt Dolham behaupten sie, er erwacht jedes Jahr«, knurrte Aspar. »Dass er im Herbst anfängt, sich herumzuwälzen, im Winter mit den Augen blinzelt und sich dann umdreht und im Frühling wieder einschläft. All diese Geschichten behaupten etwas anderes. Deswegen traue ich ihnen nicht. Wenn sie wahr wären, müssten sie alle das Gleiche sagen.« »Sie sind nicht völlig unterschiedlich«, wandte Winna ein. »Sie scheinen alle zu besagen, dass es sehr schlimm ist, wenn er aufwacht.« »Außer das mit deinem Bierzapfer in Glangaf.« »Sogar der hat ein paar hässliche Dinge getan. Ich weiß noch, wie ein Bursche mal vom Comven des Ortes des Ehebruchs für schuldig befunden wurde. Der Dornenkönig hat Schweinesceat über ihn geschüttet, mitten auf dem Dorfplatz, und hat die Hälfte der Kartoffelpflanzen des Mannes ausgerissen. Was immer der Dornenkönig einem antat, das musste man sich gefallen lassen. Nach dem Frühlingsfest wollte niemand ihn sehen, weil das meistens hieß, dass er kam, um jemanden zu bestrafen. Und er musste es tun, versteht Ihr? Es war ein Teil dessen, was ihm dadurch, dass er erwählt worden war, auferlegt war.« »Komischer Ort, Glangaf. Und wenn er sein Jahr herumgebracht hat, was ist dann aus dem Kerl geworden, den sie zum König gemacht hatten?« »Alle haben so getan, als würden sie ihm verzeihen. Meistens haben sie ihm nicht verziehen.« »Wie haben sie denn jedes Jahr entschieden, wer König wird?« »Die Männer haben Lose gezogen. Der Verlierer musste König sein.« »Wo ist die Fährte geblieben?«, wollte Winna wissen. Aspar fragte sich das Gleiche, und die Antwort, die sich aufdrängte, gefiel ihm nicht. Sie standen vor einer Klippe aus dem gleichen bröckeligen gelben Stein, der ihnen in der Nacht zuvor Schutz geboten hatte. Dahinter stieg das Vorgebirge steil an. Ein Wasserlauf rieselte von der Klippe herab und plätscherte in einen Teich von viel207 leicht zwanzig Schritt Durchmesser. Ein Bach floss aus dem Teich talwärts auf die Niederungen des Slagish zu. Im Süden ragten die blauen Umrisse der Hasenberge in die ruhig dahinziehenden Wolken. Die Fährte führte ins Wasser. »Nicht anfassen«, warnte Aspar. »So dumm bin ich nicht«, entgegnete Winna, als Aspar absaß und sich anschickte, den Teich näher zu untersuchen.
Keine Spuren, keine toten Fische. Wahrscheinlich hatte das Gewitter den Teich gründlich durchgespült. Da sie seinen Berechnungen nach bei der Verfolgung der Bestie mindestens drei Tage zurücklagen, vermutete er, dass nichts von diesem Wasser zur selben Zeit hier gewesen war wie der Gryffin. Das Wasser von damals floss jetzt längst den Slagish hinunter, um schließlich in die Lierische See zu gelangen. Trotzdem wollte er sichergehen. Er fand einen mit Geröll übersäten Hang, auf dem er bis zum Rand der Klippe emporsteigen konnte. Dort oben gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass der Gryffin hier vorbeigekommen war. Er kletterte wieder hinunter. »Ist er im Wasser?«, fragte Winna. »Er ist hineingegangen. Ich glaube nicht, dass er wieder herausgekommen ist.« Er hängte seine Bogensehne ein. »Ihr denkt, dass er ertrunken ist?« »Nein.« »Dann -« Sie begann zurückzuweichen. »Schau.« Er zeigte mit dem Finger. Auf der Oberfläche des Teiches woben Wasserläufer Netze aus winzigen Wellen, und kleine Fische huschten vom Uferrand davon. »Wenn er immer noch da drin wäre, wären die nicht mehr am Leben, glaube ich.« »Es sei denn, er kann entscheiden, wann er tötet und wann nicht. In diesem Fall versteckt er sich vielleicht und wartet auf Euch.« »Das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass dieser Teich so tief ist.« »Und was dann?« »Jesp - die Sefry-Frau, die mich aufgezogen hat. Sie hat immer von 208 diesem Ort geredet. Sie hat behauptet, in diesen Hügeln gäbe es eine Rewn der Halafolk.« »Eine was?« »Die Halafolk hausen in verborgenen Höhlen. Sie nennen sie Rewns.« »Ich dachte, das wäre nur Märchenstaub der Phay« Aspar schüttelte den Kopf. »Wenn ich mich recht erinnere, heißt diese hier Rewn Aluth. Jesp hat wohl die Wahrheit gesagt.« »Die Halafolk«, wiederholte Winna. »Dort unten.« »Ja. Ich wette, hier ist ein Unterwasser-Eingang. Das ist bei ihnen so üblich.« »Ihr - Ihr wart schon einmal in so einer Rewn?« Er nickte. »Die meisten Leute glauben, die Sefry und die Halafolk wären zwei verschiedene Völker. Sind sie aber nicht. Die Wagenleute sind die Wanderer, die Rastlosen. Aber hin und wieder kehren sie nach Hause zurück. Als ich ein Junge war, haben sie mich mitgenommen.« Er setzte sich auf einen Stein und begann, die Verschnürungen seines Lederharnischs zu lösen. »Was macht Ihr denn da?«, fragte Winna. »Diese Spuren, denen wir gefolgt sind - die bei der Gryffin-Fährte -, könnten ebenso gut von Sefry wie von Menschen stammen.« »Ihr meint, die beiden haben etwas miteinander zu tun? Dass die Halafolk für all die Toten verantwortlich sind?« »Alle Toten, die ich gesehen habe, waren Menschen. Wir versuchen seit Jahren, die Sefry aus dem Königswald zu vertreiben. Vielleicht sind sie es leid geworden.« »Wenn das so ist, könnt Ihr nicht allein dort hinein. Selbst wenn Euch der Gryffin nicht umbringt, dann tun es eben die Halafolk. Ihr braucht eine Armee oder so etwas.« »Wenn der König eine Armee schicken soll, braucht er einen Grund dafür. Noch habe ich nicht mehr zu bieten als Vermutungen.« Er hatte sein Hemd ausgezogen. »Warte hier«, befahl er. Der Teich war gerade etwas mehr als mannstief und klar genug, dass er ohne Mühe finden konnte, wonach er suchte - eine rechtecki209 ge Öffnung in der Felswand, die in den Berg hinein- und ein wenig abwärts führte. Er tauchte wieder auf. »Da ist ein Tunnel«, sagte er. »Ich sehe mal nach, wo er hinführt.« »Seid vorsichtig.« »Sicher.« Er löste die Sehne wieder von seinem Bogen, wickelte diesen ein und befestigte ihn erneut an Unholds Sattel. Dann vergewisserte er sich, dass er Dolch und Axt bei sich hatte, holte ein paarmal tief Luft, atmete dann noch tiefer ein und tauchte. Der Tunnel war geräumig und glatt, und er hatte keine Mühe, vorwärts zu kommen. Was ihm zu schaffen machte, war die Dunkelheit. Das Tageslicht verblasste rasch hinter ihm, während seine Lunge zu schmerzen begann. Zu spät fiel ihm ein, dass die Halafolk dafür bekannt waren, falsche Eingänge zu ihren Zufluchtsorten anzulegen. Fallen, dazu gedacht, die Unvorsichtigen zu töten. Und ihm wurde klar, dass der Tunnel zu schmal war, um sich ohne weiteres darin umdrehen zu können. Könnte er sich schnell genug rückwärts hinausschieben, um sein Leben zu retten? Nein, das könnte er nicht.
Er schwamm schneller. Bunte Flecken tanzten vor seinen Augen. Und dann Luft. Sie war feucht und roch nach Erde, doch es war Luft, und es herrschte völlige Finsternis. Er nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, um zu atmen, ehe er weiterforschte. Er befand sich in einem weiteren Teich, nicht viel größer als der, in dem er getaucht war. Mit den Händen tastend, stellte Aspar fest, dass er von einer natürlichen Kammer aus rauem Fels umgeben war, die in eine Richtung weiterzugehen schien. Nun gut. Er würde auf demselben Weg zurückkehren, auf dem er hereingekommen war, all seine Waffen sowie ein paar Fackeln holen, zurückkommen und herausfinden, wohin der Gang führte. Und Winna irgendwie davon überzeugen zurückzubleiben. Das würde der schwierige Teil werden. Genau dies dachte er gerade, als er hinter sich ein Platschen und ei210 nen keuchenden Atemzug hörte. Er riss den Dolch aus dem Gürtel und hielt ihn zwischen sich und das Unbekannte. »Aspar? Aspar, seid Ihr hier?« »Winna - ich hab dir doch gesagt, du sollst mir nicht folgen. Und schrei nicht so!« »Aspar!« Sie senkte die Stimme, doch er konnte die Panik darin hören. »Gleich nachdem Ihr ins Wasser gegangen seid, sind ein paar Männer aufgetaucht auf Pferden. Drei, vielleicht auch vier. Sie haben angefangen, mit Pfeilen auf mich zu schießen. Ich habe nicht gewusst, was ich tun sollte. Ich -« Er hatte die ganze Zeit nach ihr getastet. Jetzt hatte er sie gefunden, und auf seine Berührung hin stolperte sie durchs Wasser und in seine Arme, klammerte sich an ihn, mit mehr Kraft, als er ihr zugetraut hätte. In der Finsternis fiel es ihm leicht, sie ebenfalls zu umklammern. »Drei oder vier, sagst du? Könnten es auch mehr gewesen sein?« »Vielleicht. Es ging alles sehr schnell, Aspar. Unhold und Engel sind immer noch frei -« »Das ist das Beste so. Gut gemacht, Winna. Du denkst schnell, Mädchen!« »Aber was jetzt? Was ist, wenn sie mir folgen?« »Waren es Menschen oder Sefry?« »Jch konnte ihre Gesichter nicht gut sehen. Sie hatten Kapuzen auf.« »Dann wahrscheinlich Sefry.« »Bei allen Heiligen! Das heißt, sie werden uns folgen! Wir sind schon in ihrer Höhle!« »Wahrscheinlich. Nun gut. Wir sollten lieber nicht hier sein, wenn sie durch den Tunnel kommen. Gib mir deine Hand. Taste mit der anderen und mit den Füßen. Versuch, still zu bleiben. Wir stehen das hier durch, Winna. Vertrau mir.« »Ich vertraue Euch, Aspar.« »Gut.« Wenn ich mir jetzt bloß selbst vertrauen würde, dachte er. Was für eine verdammte Lage. 211 13. Kapitel D'Ef Also, da wären wir«, sagte Henne, wandte Stephen sein sonnengebräuntes Gesicht zu und zeigte in einem breiten Grinsen angeschlagene Zähne. »Wo wären wir?«, fragte Stephen. Er sah nichts Ungewöhnliches -nur die Königsstraße, die geraden, von heller Rinde umhüllten Stämme der Birken überall um sie herum, den grünen Wust des Schilfrohrs, das sich ein Stück zur Rechten am Ufer des Flusses Ef entlangzog. Henne deutete auf ein Farndickicht, und nach einem Augenblick des Unverständnisses begriff Stephen, dass darin ein Grenzstein verborgen war. An diesem Punkt zweigte ein Weg, der ebenso gut ein Wildpfad hätte sein können, von der Königsstraße ab und wand sich durch den Wald. »Dahinter liegen die Ländereien des Klosters. Die Hauptstraße kommt von Süden her dort vorbei, aber auf dem Weg hier seid Ihr schneller da.« »Ich sehe das Kloster aber nicht.« »Stimmt, man muss um den Hügel da herumreiten, ich würde sagen, noch etwa eine Meile. Wenn Ihr wollt, komme ich mit.« Stephen biss sich auf die Unterlippe. In letzter Zeit war er vorsichtiger geworden, was das Alleinsein im Wald anging. »Wahrscheinlich geben sie Euch dort zumindest etwas zu essen, dafür, dass Ihr mich den ganzen Weg begleitet habt«, sagte er. »Bestimmt«, pflichtete Henne ihm bei. »Aber dann müsste ich eine Weile bleiben und freundlich mit ihnen plaudern. Dagegen ist ja eigentlich nichts zu sagen, aber drei Meilen flussabwärts liegt ein Dorf, Whitraff, und das würde ich gern erreichen, ehe sie die Abendglocke läuten. In Whitraff gibt's die hübschere Sorte Menschen, die, die man in einem Kloster nicht finden wird, ohne Euch kränken zu wollen, mein Junge.« 212 »Oh«, sagte Stephen. »Äh, nein, ganz und gar nicht. Und ich schaffe die letzte Meile schon allein. Habt vielen Dank für Eure Begleitung.« »Gern geschehen«, erwiderte Henne. »Wahrscheinlich werde ich Euch ab und zu wiedersehen. Sir Symen
schickt manchmal jemanden hier herunter, um Wein und Käse zu kaufen und um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Vielleicht schaue ich sogar auf dem Rückweg vorbei. Ihr könntet ja ein Wort für mich einlegen, damit sie mir einen guten Preis machen.« »Ich werden dem Fratex von der Gastfreundschaft berichten, die mir von den Bewohnern von Tor Scath gewährt wurde«, versicherte Stephen. »Gut. Dann farst-thu goth.« Henne wendete sein Pferd. »Die Heiligen mögen Euch bewahren«, erwiderte Stephen. Wenige Augenblicke später war er zum ersten Mal seit seiner Entführung allein. Zu seiner Überraschung gefiel es ihm. Einen Moment lang saß er auf seinem Pferd und genoss die Stille des Waldes. Plötzlich fragte er sich, wie es wohl wäre, Aspar White zu sein, allein und daheim in diesem riesigen Land. Frei zu sein, an nichts und niemanden gebunden, kommen und gehen zu können wie der Wind. So etwas hatte Stephen nie gekannt. Wahrscheinlich würde er es auch nie kennen lernen. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch nicht einmal darüber nachgedacht. Sein Weg war vorgezeichnet; seit seiner Geburt war er der Tribut seines Vaters an die Kirche gewesen. Und Stephen wollte dienen und vor allem lernen, das wollte er wirklich. Manchmal jedoch ... Die Stirn über seine eigene Torheit gerunzelt, trieb er sein Pferd voran. Der Wald begann, sich zu lichten; es gab jetzt ebenso viele Baumstümpfe wie Bäume, und dann waren die Stümpfe sogar in der Überzahl. Auf den Lichtungen wucherten Brombeeren, Himbeeren, wilde Pflaumen, Rosszahnsträucher und Heidelbeeren. Das Summen der Insekten hob und senkte sich um ihn herum, und zum ersten Mal 213 seit Tagen schien die heiße Sonne ungehindert auf ihn herab. Der Sonnenschein stimmte ihn fröhlich, und er begann, ein Liedchen zu pfeifen. Ein Krachen und ein Fluch im Unterholz ließen ihn innehalten, und das Blut schoss ihm in den Kopf. Einen schrecklichen Augenblick lang wurde er wieder von seinem Pferd gezerrt und von Männern gefesselt und geknebelt, die ihn jeden Augenblick umbringen konnten. Ein paar trommelnde Herzschläge lang war die Erinnerung lebendiger als die Wirklichkeit. Er beruhigte sich, als er einen alten Mann im Habit eines Decmanusianermönches erblickte. »Kann ich Euch behilflich sein?«, rief Stephen. »Wie?« Die buschigen Augenbrauen des alten Mannes krochen himmelwärts. »Wer seid Ihr?« »Ich bin Stephen Darige, von den Chavel... äh, Stephen Darige, zu Euren Diensten.« »Nun ja. Gut, gut. Wollt Ihr Käse kaufen?« »Nein, eigentlich -« »Ja, ja, unser Käse ist landauf, landab bekannt. Seinetwegen kommen sie sogar den ganzen Weg von Fenburh herauf. Nun, da Ihr sowieso nach d'Ef wollt, würden die Heiligen sicher wohlwollend lächeln, wenn Ihr einem alten Mann zur Hand gehen würdet.« »Wie gesagt, ich stehe Euch zu Diensten. Was gibt es denn für ein Problem?« »Wo die Heiligen walten, gibt es keine Probleme, junger Mann, nur Herausforderungen.« Er grinste verlegen. »Aber um weise zu sein, sollte man wissen, wann einer Herausforderung gemeinsam entgegenzutreten ist. Ich habe hier ein Bündel Brennholz, das ich, äh ... ein wenig zu groß gebündelt habe. Ich wäre sehr dankbar für ein wenig Hilfe. Es liegt gleich hier, hat sich in diesen Brombeerranken verfangen.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trat er gegen etwas, das Stephen nicht sehen konnte. »Jederzeit«, beteuerte Stephen und schwang sich vom Pferd. »Einem Fratir zu helfen ist mir ein Vergnügen. Seid Ihr ein Novize, oder 214 habt Ihr schon die erste Weihe erhalten? Ich kann die Habite nicht auseinander halten.« »Ich bin das, was Ihr seht«, sagte der Mann und wirkte ein wenig niedergeschlagen. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Ich bin Bruder Pell.« »Aus Hornladh?« »Ja, ja. Natürlich.« Plötzlich machte er ein misstrauisches Gesicht. »Woher wisst Ihr das?« »Ihr seid nach dem heiligen Queislas benannt«, antwortete Stephen ein wenig selbstgefällig. »Es gibt viele Formen seines Namens -hier in Crothenien sagt man Ciesel -, aber nur in den ländlichen Regionen von Hornladh nennen sie ihn den heiligen Pell.« »Das stimmt nicht. In Tero Galle nennen sie ihn auch so.« »Bei allem Respekt, guter Bruder, dort ist er als Pelle bekannt.« »Das ist fast das Gleiche.« »Fast, aber doch nicht ganz.« Bruder Pell sah ihn an, blinzelte ein paarmal und zuckte dann mit den Schulten^ »Also, hier liegt das Brennholz.« Er lächelte geistesabwesend. Stephen schaute zu Boden. Das Bündel war riesig. Wahrscheinlich wog es mehr als der alte Mann. »Gut, dass ich vorbeigekommen bin«, sagte er. »Wie weit ist es denn bis zum Kloster?«
»Eine halbe Meile. Die Fügung der Heiligen. Werdet Ihr mir helfen?« »Ruht Euch ein wenig aus, Bruder. Ich kümmere mich darum.« »Vielen Dank, junger Herr, der Ihr so gelehrt seid, was die Namen der Heiligen betrifft.« »Keine Ursache«, erwiderte Stephen und packte die dicken Stricke, mit denen die Zweige zusammengebunden waren. Unter heftigem Zerren, Ziehen und Heben gelang es ihm, das Bündel auf seinen Rücken zu wuchten. Es war erstaunlich schwer und sperrig. Fast zitterten seine Knie. Eine halbe Meile! Er konnte von Glück sagen, wenn er es bis zu seinem Pferd schaffte. Sollte doch das Tier das Bündel ziehen. 215 Doch als er sich anschickte, das Bündel hinter seinem Reittier abzulegen, sagte der alte Mann: »Was macht Ihr da, junger Herr?« »Ich will mein Pferd vor Euer Brennholz spannen.« »Nein, nein, Master Darige. Das geht nicht. Der heilige Decmanus, der Schutzpatron unseres Heiligtums, hat sich in dieser Hinsicht sehr klar geäußert. Die Glieder der Bäume müssen mit Menschengliedern gesammelt und auf Menschengliedern getragen werden. Wir dürfen das Holz nicht mithilfe Eures Pferdes zurückbringen.« »Oh.« Stephen rückte das Gewicht auf seinem Rücken ein wenig zurecht. Davon hatte er noch nie gehört. »Nun, könntet Ihr dann die Zügel nehmen?« »Gewiss, Master Darige.« Sie schritten weiter den Pfad hinunter. Stephen ächzte unter der Last; Bruder Dell pfiff eine Weise. Kurz darauf endete der Wald, und aus seiner gebückten Haltung heraus hatte Stephen einen guten Blick auf grünes Gras und Kuhfladen. Wenn er sich die Mühe machte, den Kopf zu heben, sah er saftige Wiesen, auf denen langsam dahinziehendes, braunweiß geflecktes Vieh graste. »Der Ursprung unseres viel gerühmten Käses, ja«, sagte Bruder Pell. »Gutes Vieh ist das, aber das Geheimnis ist das Gras. Taugetränkt - Ihr habt nie etwas Süßeres gerochen. Fast möchte man lieber das Gras essen, nicht wahr?« Der Bruder winkte ein paar Kuhhirten zu, und diese winkten von ihrem schattigen Rastplatz neben einem von Weiden gesäumten Bach aus zurück. »In dem Bach dort gibt es schöne Brassen«, fuhr Bruder Pell fort. »Ein guter Ort, um innere Einkehr zu halten.« Er lachte in sich hinein. »Brassen im Bach. Das ist ja schon fast eine Gedichtzeile.« »Ich glaube, ich muss jetzt gleich innere Einkehr halten«, presste Stephen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der schattige Bach sah aus wie das Paradies. »Oh, es ist nicht mehr weit«, versicherte ihm Bruder Pell. »Seht doch, wir sind schon beim Obstgarten angelangt.« 216 Stephen begann im Geiste eine neue Abhandlung. Meine Reisen mit den Verdammten, Teil II: Die seltsame Begebenheit vom Mönch mit dem Kuhgehirn. Erscheint diese menschlich aussehende Kreatur auch anfangs verständig, so verschwindet diese Illusion doch augenblicklich, wenn sie sich an einem Gespräch versucht... Während Stephen seinen Text verfasste, stolperte er zwischen langen Reihen blühender Apfelbäume dahin, durch ein Königreich der Bienen und Schmetterlinge. Seine Beine flehten ihn um eine Rast an, darum, sich nur einen einzigen Moment lang an einen dieser duftenden Stämme zu lehnen. Er dachte an Äpfel, daran, knirschend in einen hineinzubeißen, sodass ihm der Saft übers Kinn rann. An kalten Apfelwein, der seine Kehle benetzte, die so trocken war wie Pergament. Der Ton seiner Abhandlung wurde harscher. »Sagt, Bruder, wie weit ist es noch?« »Nicht der Rede wert. Sagt mir, Master Stephen, wie kommt es, dass Ihr solche Kenntnis über die Namen der Heiligen besitzt?« »Ich war in Ralegh auf der Akademie. Ich bin hier, um das Noviziat im Scriftorium anzutreten.« »Bei der heiligen Luje! Ihr seid der junge Mann aus Virgenya! Wir hatten schon alle Hoffnung verloren. Drei Suchmannschaften sind ausgezogen und haben keine Spur von Euch gefunden.« »Ich wurde entführt«, stieß Stephen zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Waldhüter hat mich gerettet. Hat mich nach ... Tor Scath gebracht.« »Euer Schutzheiliger muss über Euch gewacht haben. Aber - warum habt Ihr dann gesagt, Ihr wärt hier, um Käse zu kaufen?« Es gelang Stephen, den Blick genug zu heben, um den Mönch anzustarren. ... jeglicher Gedanke, der dem Geschöpf in den Kopf kommt, flattert in dessen Hohlräumen herum wie ein zielloses Insekt und verursacht endlose Verwirrung... »Das habe ich doch gar nicht getan«, erwiderte er gereizt. »Ich -« »Aber, aber. Eure Abenteuer haben Euch gewiss vorsichtig werden 217 lassen. Aber jetzt seid Ihr in Sicherheit - Ihr seid bei uns. Und, seht Ihr, dort wohnen wir.« Er deutete mit dem Finger, doch alles, was Stephen sehen konnte, war der Boden. Bis er den Kopf hob, höher, noch höher. Der Pfad wand sich die steile Flanke eines kegelförmigen Hügels hinauf, und dort, ganz oben auf der Hügelkuppe, erhoben sich die Mauern und Türme des Klosters d'Ef.
»Kommt«, ermunterte ihn Bruder Pell. »Nur voran, dann kommen wir vielleicht noch rechtzeitig zum Praicersnu. Ich glaube, heute gibt es Schinken und Kirschen.« Stephen jedoch war am Ende seiner Kraft. »Ich werde mich ausruhen, ehe ich dort hinaufsteige«, verkündete er, vielleicht ein wenig zu scharf. »O mein Junge - nein! Das könnt Ihr nicht. Ihr habt den Fuß auf heiligen Boden gesetzt. Denkt doch an den heiligen Decmanus! Die Bürde ist ein Segen auf dem Weg des Gerechten. Leget sie nicht ab, ehe ihr das Ende der Reise erreicht habt, woselbst sie von euch genommen werden soll.« »Ich glaube nicht, dass er das mit der Bürde wörtlich gemeint hat«, protestierte Stephen. »Bei den Heiligen, Ihr seid doch keiner von denen, oder doch? Von denen, die endlose Ausreden erfinden, dass die Heiligen gar nicht das gesagt haben, was sie gesagt haben, oder dass sie es, wenn doch, nicht so gemeint haben? Das wird hier nicht gern gehört werden. Außerdem kann unser ehrwürdiger Fratrex Euch sehen, und Ihr solltet einen guten Eindruck machen.« »Glaubt Ihr wirklich, dass der Fratrex uns zusieht?« »Ohne Zweifel. Ich würde es an Eurer Stelle nicht darauf ankommen lassen.« »Man sollte meinen, ein Fratrex hätte etwas Besseres zu tun, als den ganzen Tag aus dem Fenster zu schauen«, beklagte sich Stephen. »Kommt schon, Junge.« Mit einem weiteren ergebenen Seufzer machte sich Stephen an den steilen Aufstieg. 218 Direkt vor den Toren von d'Ef knickten seine Beine ein, was ein paar Männer im Mönchshabit, die gerade von den Feldern kamen, mit Feixen und verstohlenem Gelächter zur Kenntnis nahmen. »Bruder Lewes«, wandte Bruder Pell sich an einen stämmigen blonden Burschen, »könntet Ihr die Bürde unseres neuen Bruders übernehmen?« Der Mönch nickte, trat vor und hob das Bündel hoch, als wäre es ein Haufen Zweige. »Kommt mit, hier herum«, sagte Bruder Pell. »Ich habe das Gefühl, Ihr könntet etwas Wasser vertragen.« »Ich wäre sehr dankbar«, erwiderte Stephen. Ohne die erdrückende Last des Brennholzes konnte er einen genaueren Blick auf das Kloster werfen. Es war in der hoch aufstrebenden Bauweise der frühen de Loy-Periode errichtet worden, als Regenten aus Liery auf dem Thron in Eslen gesessen und Baumeister aus Safnien und Vitellio herbeigerufen hatten, damit sie ihr Talent mit dem Geschick der hiesigen Maurer und Steinmetze vermählten. In diesem Falle war das Resultat ein kunstvolles, solides und praktisches Bauwerk aus blassrosafarbenem Granit. Ein Glockenturm mit zwei Bogenfenstern erhob sich über einem langen, von Türmchen gezierten Hauptschiff und machte so die Kapelle kenntlich. Die Türen waren ebenfalls in hohe Bögen eingelassen. Zwei Flügel erstreckten sich von der Mitte der Kapelle aus jeweils dreißig Ellen weit, bogen dann in rechtem Winkel ab, dorthin, wo Stephen stand, und endeten in Türen, die genauso aussahen wie die der Kapelle, nur kleiner. In den beiden solcherart jeweils auf drei Seiten abgeschlossenen Höfen erblickte er Kräuterbeete, kleine Weingärten, Hühner, ein paar Kochstellen unter freiem Himmel, ein paar träge Hunde und etliche Mönche, die unterschiedliche Arbeiten verrichteten. Bruder Pell führte ihn durch einen Torbogen in dem dazugehörigen Flügel in den zur Rechten liegenden Hof, und Stephen sah, dass die Rückseite des Gebäudes genauso aussah wie die Vorderseite. Allerdings war dieser Hof friedlicher; hier waren Rosengärten angelegt, und Statuen und Schreine verschiedener Heiliger schmückten die An219 läge. An der Mauer der Kapelle befand sich eine von Weinranken bewachsene Laube, und darin bildeten hölzerne Tische und Bänke einen Essplatz. Auf einem Tisch standen Krüge, zwei Trinkbecher und mehrere Platten mit Speisen. »Setzt Euch, setzt Euch«, sagte Bruder Pell. Er ergriff einen der Steingutkrüge und schenkte ihnen beiden einen Becher Wasser ein. Es war kalt und schmeckte rein, als es seine Kehle hinunterrann, fühlte es sich an wie das Lachen eines Engels. Stephen trank gierig aus, dann goss er sich noch einmal ein. Bruder Pell hatte seine Aufmerksamkeit den mit Tüchern bedeckten Platten zugewandt. »Was haben wir denn hier?«, fragte er und hob die Leinentücher an. Die Antwort ließ Stephen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Knuspriges Brot, ein Laib weicher, würzig duftender Käse, Scheiben von ziegelrotem Schinken, so salzig, dass er ihn bereits auf der Zunge schmecken konnte, und gelbrot gefleckte Kirschen. »Darf ich?«, fragte er. »Nur das Brot«, antwortete Bruder Pell. »Novizen dürfen während ihres ersten Monats hier kein Fleisch, keinen Käse und keine Früchte verzehren.« »Kein -« Stephen machte den Mund wieder zu. Von solchen Dingen hatte er schon gehört. Er hätte darauf gefasst sein müssen. Bruder Pell lachte sanft und klatschte dreimal in die Hände. »Um Vergebung, ja? Ich habe mir einen Spaß mit Euch erlaubt. Bitte nehmt von allem, was Ihr vor Euch seht. Hier gibt es keine Not, was das Essen angeht, außer an Fastentagen oder wenn jemandem Einkehr auferlegt wird. Iss einfach, aber gut, das ist unser Wahlspruch hier.«
»Dann -« »Greift zu«, drängte Bruder Pell. Stephen gehorchte. Er zwang sich, langsam zu essen, doch es fiel ihm schwer. Sein Magen verlangte nach allem, und zwar sofort. »Was führt Euch hierher, Bruder Darige?«, erkundigte sich Bruder Pell. »Zur Kirche oder nach d'Ef ?« 220 »Nach d'Ef. Ich habe gehört, Ihr habt darum gebeten, gerade diesem Kloster beitreten zu dürfen.« »Das stimmt. Wegen des Scriftoriums. Es gibt nur eins, das noch größer ist - das in der Sacarasio der Caillo Vallaimo in z'Irbina.« »Ach ja, Ihr interessiert Euch für Namen und solche Dinge. Aber warum seid Ihr dann nicht dorthin gegangen? Warum nach d'Ef?« »Die Caillo Vallaimo hat mehr Scrifti, d'Ef hat bessere, zumindest was das angeht, was mich interessiert.« »Wie meint Ihr das?« »D'Ef verfügt über die beste Sammlung von hiesigen Texten aus der Frühzeit der Hegemonie.« »Und wieso reizt Euch das?« »Es ist die Chronik der Verbreitung des Glaubens, seines Kampfes gegen Ketzerei und schwarze Magie, die mich reizt. Außerdem interessiere ich mich für die frühen Sprachen dieser Region, ehe Vitellianisch überall eingeführt wurde.« »Ich verstehe. Dann seid Ihr also bewandert in allotersianischen Dialekten und Schriften?« Stephen nickte begeistert. »Das war das Hauptthema meiner Studien.« »Und Vadhiianisch?« »Das ist schwieriger. In dieser Sprache wurden nur drei Zeilen niedergeschrieben, obgleich sie dem alten Plath sehr ähnelt, soweit ich sehen kann -« »Wir haben hier zehn Scrifti in Vadhiianisch. Keine davon ist je vollständig entziffert worden.« »Was?« In seiner Aufregung stieß Stephen seinen Becher um. Er flog vom Tisch und zerbrach vor den Füßen des Bruders in Stücke. »Oh!«, stieß Stephen hervor, als Bruder Pell sich bückte, um die Scherben aufzulesen. »Oh, das tut mir Leid, Bruder. Ich war nur -« »Es macht nichts, Bruder Darige. Seht Ihr?« Stephen sah in der Tat, und sein Mund klappte auf. Bruder Pell hatte Scherben aufgehoben, doch was er auf den Tisch stellte, war ein unversehrter Becher. Leichter Dampf stieg von ihm auf. 221 »Ihr -« Stephen blickte zwischen dem alten Mann und dem heilen Becher hin und her und fühlte, wie tausend Nadeln von innen in sein Gesicht stachen. »Ihr habt ein Sacaum der Wiederherstellung durchgeführt. Nur ein -« Die Bedeutung des Gesehenen nahm Gestalt an. »Ihr m-müsst der ehrwürdige Fratrex sein«, stammelte er. »Fürwahr, so ist es. Seht Ihr? Ich habe tatsächlich etwas Besseres zu tun, als den ganzen Tag aus dem Fenster zu starren.« Seine dichten Brauen senkten sich bedrohlich. »Und jetzt müssen wir überlegen, was wir mit einem so eingebildeten jungen Mann anfangen sollen. Wahrhaftig, das müssen wir.« 14. Kapitel Kriegsgerüchte Wir liegen nicht im Krieg mit Euch«, erklärte der Erzgrefft Valamhar af Aradal William IL und seinem Hofstaat und strich sich über den gelben Schnurrbart. »Fürwahr, Hansa liegt mit niemandem im Krieg.« William zählte im Stillen langsam bis sieben, ein Trick, den sein Vater ihm beigebracht hatte. Ein König sollte nicht zu rasch antworten. Ein König sollte ruhig erscheinen. Der alte Mann war voller Ratschläge gewesen; wie William später herausgefunden hatte, stammten die meisten davon aus einem Buch, das vor Hunderten von Jahren vom Ersten Minister von Ter Eslief geschrieben worden war - einem Land, das nicht einmal mehr existierte. Er verlagerte sein Gewicht auf dem schlichten Thron aus weißem, hadamesischem Eschenholz und schaute sich im Kleinen Thronsaal 222 um. »Kleiner« war der Raum nur insofern, dass er nicht so prächtig verziert war wie der Saal, in dem Krönungszeremonien und das Große Hofzeremoniell abgehalten wurden. Was die Größe anging, war er genauso grandios; die Decke bestand aus einer Reihe hoher Gewölbe, der Marmorboden war riesig genug, dass selbst ein hochmütiger Narr wie Aradal darauf klein wirkte. Was ja auch der Sinn der Sache war. Aradals Wachen standen ein gutes Stück hinter ihm, gepanzert, aber unbewaffnet; sie trugen Überwürfe in Schwarz und Blutrot. Zehn Handwerksmeister waren den vier Männern gegenüber mehr als zweifach in der Überzahl. Zu Williams Rechter stand Praifec Marche Hespero, in feierlicher schwarzer Robe und viereckiger Kappe. Zu seiner Linken, wo ein Erster Minister hätte stehen sollen, stand Robert, in leuchtend gelben und grünen Samt gekleidet. Die einzigen anderen Personen im Raum waren der Baron Sir Fail de Liery in seinem braunen Überwurf und sein junger Schützling Neil MeqVren.
Sieben. Und jetzt konnte er milde sprechen, statt in einem Ausbruch des Zorns zu antworten. »Das waren also keine hansischen Truppen auf diesen hansischen Schiffen, die vier Städte auf den Kummerinseln geplündert haben? Was mich betrifft, scheint mir das einem Krieg gefährlich nahe zu kommen.« »Der Krieg«, entgegnete Aradal, »wenn man denn kleinere Scharmützel dieser Art so bezeichnen kann, herrscht zwischen den Kummerinseln und der Salzmark. Die Salzmark ist, wie Euch gewiss bekannt ist, seit langem ein Verbündeter Hansas. Sie haben uns um Hilfe gebeten, und wir haben ihnen gegeben, was wir entbehren konnten; unsere Schiffe und unsere Soldaten stehen unter ihrem Befehl. Schließlich waren die Kummerinseln der Angreifer. Und darf ich des Weiteren darauf hinweisen, Majestät, dass die Kummerinseln nicht Teil des crothenischen Reiches sind?« William stützte den Ellenbogen auf die Armlehne des Throns, ließ das Kinn auf der Faust ruhen und betrachtete den hansischen Gesandten. Aradal hatte ein feistes, rosiges Gesicht und einen fettleibi223 gen Körper; er war viel zu protzig gekleidet, in ein Wams aus schwarzem, mit Marderpelz abgesetztem Seehundsfell und rote Stiefel aus weichem Ziegenleder, auf denen Diamanten glitzerten - wohl kaum ein leuchtendes Beispiel hansischer Männlichkeit. Doch der Eindruck trog, wie William aus bitterer Erfahrung wusste. Der Mann war schlau wie ein Rabe. »Die Kummerinseln stehen unter unserem Schutz«, sagte William, »so wie die Salzmark unter dem Euren steht, wie Ihr sehr wohl wisst. Welche Beweise habt Ihr dafür, dass König Donech in diesem Fall der Angreifer war?« Aradal lächelte. »Es begann mit einem Streit um Fischgründe, Majestät. Die westlichen Sandbänke sind fischreich und laut Vertrag neutrales Gebiet. Im letzten Jahr sind zehn wehrlose Fischerboote der Salzmark zu den Draugs hinabgesunken, und sie wurden von Freibeutern der Kummerinseln dorthin geschickt. Drei weitere wurden in den Hoheitsgewässern der Salzmark versenkt. Wer könnte einen solchen Vertragsbruch hinnehmen? Und was für ein Schirmherr wäre Hansa, würde es ruhen und zusehen, während unser Verbündeter sich der Flotte der Kummerinseln gegenübersieht? Einer Flotte, die, wie ich hinzufügen darf, sowohl von Liery als auch von Crothenien ausgerüstet und aufgestockt wurde.« »Ich habe Beweise verlangt, keine Seemannsmärchen«, fuhr William auf und vergaß diesmal zu zählen. »Was für Beweise habe ich dafür, dass jemals Schiffe der Salzmark versenkt worden sind? Und wenn es so wäre, dass sie von Schiffen der Kummerinseln versenkt worden sind?« Aradal spielte mit seinem Schnurrbart. Bewegten sich seine Lippen? Zählte er etwa auch? Verdammtes Buch. »Die Beweise können vorgelegt werden«, sagte der Gesandte schließlich. »Wir haben Zeugen zuhauf. Der wahre Beweis jedoch ist, dass Euer Majestät die Zahl Ihrer Schiffe in den Gewässern der Kummerinseln verdoppelt hat.« »So wie Ihr die Euren vor der Küste der Salzmark mehr als verdoppelt habt.« 224 »Ah, ja, nur scheint es, als hättet Ihr Eure Schiffe ausgesandt, bevor wir die unseren geschickt haben«, erwiderte Aradal. »Weist das nicht darauf hin, dass Euer Majestät wohl bekannt war, dass sich zwischen den Kummerinseln und unseren Schutzbefohlenen ein Zwist anbahnte? Und ehe Ihr solche Maßnahmen ergreift, würdet Ihr doch den Grund dieses Zwistes kennen, oder nicht?« William verzog keine Miene. Er hatte die Verlegung der Schiffe geheim gehalten; sie waren bei Nacht zu versteckten Häfen ausgelaufen. Wie hatte Hansa davon erfahren? »Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte er. »Dass wir Eure Fischerboote versenkt haben?« »Nein, Sire. Nur dass Ihr wusstet, dass den Kummerinseln verdiente Rache bevorstand. Dass die Kummerinseln wie Eure Kinder sind und dass Ihr sie beschützen würdet, selbst wenn sie vom rechten Pfad abweichen.« Seine Augen wurden hart. »Und dass dies ein Fehler wäre, so wie es ein Fehler wäre, auch nur einem einzigen Ritter, Soldaten oder Kapitän der crothenischen Armee zu befehlen, sich in diesen Zwist einzumischen.« »Ist das eine Drohung?« »Es ist eine simple Erklärung. Wenn Ihr gegen die Salzmark in den Krieg zieht, müsst Ihr gegen Hansa in den Krieg ziehen. Und das, Majestät, wäre niemandem dienlich.« Sir Fail de Liery, der bis dahin still dagesessen hatte, fuhr jäh von seiner Bank auf. »Ihr Stutzerl Glaubt Ihr wirklich, Liery würde tatenlos daneben stehen, während Ihr unsere Vettern unter diesem lächerlichen Vorwand unterwerft?« »Wenn Liery sich auf die Seite der Kummerinseln stellt, haben wir keine andere Wahl, als davon auszugehen, dass wir im Krieg mit Euch liegen«, antwortete der Gesandte. »Und zweifellos«, sagte William leise und winkte de Liery, sich wieder zu setzen, »werdet Ihr mir raten, mich Liery nicht anzuschließen? Und wenn sich sowohl die Kummerinseln als auch Liery in Euren Händen befinden und irgendein Vorwand es Euch gestattet, Eure 225 Aufmerksamkeit auf Andemeur zu richten, werdet Ihr immer noch darauf beharren, dass dies nicht meine Sache sei? Was ist dann meine Sache, wenn Ihr auf der Schleppe lagert? Oder in meinen eigenen Gemächern?« »Das ist nicht die Lage, über die wir hier reden, Majestät«, entgegnete Aradal glatt. »Wenn Salzmark einen neuen Vertrag mit den Kummerinseln abgeschlossen hat, wird diese traurige kleine Angelegenheit ein Ende
haben. Wir haben seit dreißig Jahren Frieden, Majestät. Setzt ihn nicht aufs Spiel, ich flehe Euch an.« »Ich werde Euch zeigen, was hier auf dem Spiel steht, Ihr verdammter Geck -«, begann Fail, doch William schnitt ihm das Wort ab. »Das hier ist unser Hof, Sir Fail. Wir werden hören, was Liery zu sagen hat, aber erst später. Lord Aradal ist hier, um mit Crothenien zu verhandeln.« Die Miene des alten Ritters war finster, doch er setzte sich wieder. William lehnte sich zurück, dann warf er Marche Hespero einen Blick zu. »Praifec, habt Ihr irgendetwas zu dieser ... Unterhaltung beizutragen?« Hespero spitzte die Lippen und zögerte einige Atemzüge lang, ehe er antwortete. »Ich bin betrübt«, sagte er, »dass der Kirche nicht ihre althergebrachte Rolle als Hüterin des Friedens angetragen wurde. Es ist mir unverständlich, wieso ich nichts von meinem Amtsbruder in Hansa gehört habe, obgleich ich sicher bin, dass jegliche Verzögerung unbeabsichtigt war. Nichtsdestotrotz scheint es, als würde die Kirche mit jedem Tag bei weniger Entscheidungen von Bedeutung zurate gezogen, und das ist, wie ich schon gesagt habe, höchst betrüblich.« Der Blick seiner schwarzen Augen wanderte über jeden Mann im Raum hinweg. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Der Senaz der Kirche und Seine Heiligkeit, der Fratrex Prismo, haben ihrem Wunsch nach Frieden, besonders zwischen Hansa und Crothenien, nachdrücklich Ausdruck verliehen. Ein Krieg zwischen 226 diesen beiden Reichen könnte die ganze Welt verheeren. Ich bitte Euch beide inständig, jegliche Feindseligkeiten ruhen zu lassen, bis ich Gelegenheit hatte, mit Praifec Topan zu sprechen und mich mit dem Senaz zu beraten.« Neil beobachtete den hansischen Gesandten, als dieser den Saal verließ. Das Lächeln des Mannes gefiel ihm nicht. »Siehst du, was ich meine?«, grollte Fail. »Wir fechten seit Jahren einen langsamen Kampf mit Hansa aus. Dein Vater war eines der Opfer diese Kampfes. Aber wenn sie hierher kommen, geht es plötzlich nur um Fischereirechte und darum, wer wen hätte zurate ziehen sollen.« »Ihr seid nicht einverstanden mit unserer Regierung, Sir Fail?«, erkundigte sich William milde. »Ich bin nicht einverstanden damit, auf Samtpfoten um etwas herumzuschleichen, was wir alle wissen«, erwiderte Sir Fail. »Aber ich denke, Euer Majestät hat heute deutlich gesprochen. Trotzdem, was bedeutet das ? Das ist es, was ich wissen möchte. Werdet Ihr uns helfen, sie von den Kummerinseln zu vertreiben?« »Es wäre mir lieber, wenn sie sich zurückzögen«, erwiderte William. »Und ich werde ganz sicher abwarten, bis der Praifec seine Erkundigungen eingezogen hat.« »Es wäre Euch lieber, wenn sie sich zurückzögen? Genauso gut könnt Ihr von einer Wölfin erwarten, dass sie ein Rehkitz säugt!« »Genug, Sir Fail. Wir werden diese Angelegenheit ausführlich besprechen, das versichere ich Euch. Ich habe heute nicht nach Euch geschickt, damit wir uns streiten.« »Weshalb dann?« »Aus zwei Gründen. Erstens, damit Ihr den Gesandten Aradal anhören und aus seinem eigenen Munde erfahren konntet, was er mir mitgeteilt hat, damit Ihr seine Worte nach Liery tragen könnt, wenn Ihr abreist. Zweitens ich wollte Euren jungen Lehrling sehen. Es ist zehn Tage her, seit er meiner Königin das Leben gerettet hat, und ich habe ihm noch nicht angemessen gedankt.« 227 Neil sank auf ein Knie nieder. »Majestät, ich bedarf keines Dankes.« »Ich denke doch, besonders nach der Abreibung, die Ihr von meinen Handwerksmeistern bezogen habt. Gewiss versteht Ihr, dass ihnen anfangs nicht klar war, warum Ihr Sir Argom angegriffen habt?« Neil warf Vargus Farre, einem der Ritter, die im Saal Wache standen, einen kurzen Blick zu. Er verdankte Vargus eine gebrochene Rippe. »Ich verstehe, Euer Majestät. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen und hätte nur das gewusst, was sie wussten, so hätte ich das Gleiche getan.« William beugte sich angespannt vor. »Woher habt Ihr es gewusst? Dass Argom die Königin angreifen wollte?« »Zuerst wusste ich es nicht. Ich dachte, er hätte irgendeine Gefahr bemerkt und eile herbei, um sie abzuwenden. Aber niemand hat die Königin bedroht, und Argom hat zum Schnitter angesetzt - so nennt man bei uns einen langen, flachen Schwertstreich. Er ist dafür gedacht, unbewaffnetes Gesindel niederzumachen, und gut ausgebildete Ritter schätzen ihn nicht. Wäre die Königin von irgendjemandem in ihrer unmittelbaren Nähe bedroht worden, hätte er es nie gewagt, diesen Hieb anzubringen. Die Gefahr, sie dabei zu verletzen, wäre zu groß gewesen. Deshalb habe ich angenommen, dass er gar kein echter Handwerksmeister war, sondern irgendein Fremder, der den Überwurf angelegt hatte.« »Und all das innerhalb weniger Herzschläge?« »In solchen Dingen ist er sehr flink«, warf Sir Fail ein. William lehnte sich auf seinem Thron zurück. »Hier ist mein Problem, Neil, Sohn des Fren. Es gab Zeiten, da wäre Euch als Belohnung dafür, dass Ihr die Königin von Crothenien gerettet habt, durchaus eine kleine Baronie zuteil geworden. Unglücklicherweise brauche ich, so wie die Dinge liegen, das Wohlwollen aller meiner Edlen,
und, um offen zu sprechen, ich kann es mir nicht leisten, einen von ihnen zu verärgern, indem ich einem Mann von niederer Geburt ein Lehen gebe.« 228 »Ich verstehe, Euer Majestät«, sagte Neil. Er hatte sich auf diese Antwort vorbereitet, trotzdem war sie erstaunlich schmerzhaft. Sehr viel schmerzhafter als die Prügel. »Verstehen? Ich verstehe überhaupt nichts!«, brüllte Fail. »Kommt, Sir Fail«, mischte sich Robert ein. »Ich weiß, Ihr liebt große Gesten, aber gestattet dem König doch auszureden.« William selbst blieb ungerührt. Seine Lippen schienen sich leicht zu bewegen. Betete er? »Andererseits sind wir alle ungemein beeindruckt von Euch. Besonders meine Gemahlin, wie es ja auch nicht anders zu erwarten war. Ihr stammt aus ihrem Heimatland, Ihr genießt Sir Fails Vertrauen und seine Fürsprache, was an und für sich schon von immenser Bedeutung ist, und Ihr habt Euch als besser erwiesen als ihre eigene Leibwache, als es darum ging, sie vor Schaden zu bewahren. Tatsächlich stehen, da wir noch nicht wissen, wieso ein scheinbar so getreuer Ritter wie der verstorbene Sir Argom zum gewalttätigen Renegaten wurde, alle Handwerksmeister unter Verdacht. Also werden wir Folgendes tun. Wir werden Euch die Rose überreichen, und Ihr werdet zum Hauptmann der persönlichen Leibgarde der Königin ernannt, die fortan die Liergarde heißen wird. Wie die Handwerksmeister, so müsst auch Ihr Ländereien und Besitztümern entsagen. Da Ihr nichts habt, dem Ihr entsagen könntet, ist dies bereits geklärt. Das wird meine Königin glücklich machen, es wird mich glücklich machen, und es wird meine etwas gestrengeren Edlen nur ein klein wenig ärgern - die Frage ist, wird es Euch glücklich machen?« »Euer Majestät?« Neils Kopf schien von einem weiß glühenden Licht erfüllt zu sein. »Kommt her und kniet nieder.« Stumm gehorchte Neil. »Praifec, segnet Ihr diesen jungen Mann, auf dass er ein Ritter in meinen Diensten werde?« »Das tue ich«, antwortete der Geistliche. »Und ich segne ihn, auf dass er im Dienste der Heiligen walte. Beim heiligen Michael, dem heiligen Mamres und dem heiligen Nod.« 229 »Wohlan.« William zog sein Breitschwert, und zwei der Handwerksmeister brachten einen großen Holzblock herbei. »Legt Eure rechte Hand auf den Block.« Neil legte die rechte Handfläche auf den Block und bemerkte dabei die tiefen Kerben im Holz. William senkte das Schwert, bis die Schneide die bloße Haut von Neils Handgelenk berührte. »Gelobt Ihr dem Königreich Crothenien die Treue?« »Ja, Euer Majestät.« »Und schwört Ihr, seinen König und sein Schloss zu schützen?« »Ja.« »Schwört Ihr, besonders und vor allem anderen die Königin Muriele Dare, geborene de Liery, zu beschützen?« »Ja, Majestät.« »Gelobt Ihr Gehorsam und Armut?« »Ja, Sire.« »Der heilige Nod gab seine Hand, damit sein Volk am Leben bliebe. Werdet Ihr es ihm gleichtun?« »Meine Hand, meinen Kopf, mein Leben«, sagte Neil. »Es ist mir einerlei.« William nickte und zog die Klinge rasch über Neils Fleisch. Blut quoll hervor; Neil zuckte nicht mit der Wimper. »Behaltet Eure Hand fürs Erste, Sir Neil«, sagte der König. »Ihr werdet sie noch brauchen.« Ein Diener kam mit einem Kissen. Darauf lag eine rote Rose. »Ihr dürft die Rose Eurem Banner hinzufügen, als Schmuck Eurer Rüstung, Eures Schildes und Eures Schwertes. Erhebt Euch.« Neil gehorchte. Seine Knie zitterten, doch sein Herz war eine Kriegstrommel, laut, wild und stolz. Fast bemerkte er es gar nicht, als Sir Fail zu ihm trat und ihm auf den Arm klopfte. »Das war wohl getan, mein Sohn. Sollen wir gehen und einen Verband für dein Handgelenk besorgen?« »Damit das Blut nicht auf den Boden tropft«, murmelte Neil. 230 »Aber verbinden werde ich es nicht. Soll es bluten, wie es mag. Bin ich wirklich ein Ritter?« Sir Fail lachte. »Fürwahr, das bist du. Auch deinen Taten nach.« Ein Husten war hinter ihnen zu vernehmen. Neil drehte sich um und sah Sir Vargus über sich aufragen. »Sir Neil«, sagte Vargus und verbeugte sich leicht aus der Hüfte. »Lasst mich der Erste der Handwerksmeister sein, der Euch gratuliert. Ihr verdient es. Als wir schliefen, habt Ihr gewacht.« Neil erwiderte die Verbeugung. »Ich danke Euch, Sir Vargus. Ich weiß Eure Worte wohl zu schätzen.« Aus dem Augenwinkel sah er Sir James Cathmayl näher kommen. »Jetzt heißt es also wirklich Sir Bauerntölpel«, sagte dieser. Seine Stimme klang ein wenig gezwungen. »Bei Lier, Mann!«, fuhr Fail ihn an. »Was veranlasst Euch, meinen Schützling zu beleidigen? Dafür will ich
Euch auf dem Duellfeld sehen.« Sir James zuckte die Achseln. »Gewiss, Sir. Aber zuerst habe ich eine Verabredung mit Eurem Schützling. Er hat geschworen, wenn er die Rose erhält, würde er Sporen anlegen und mich töten.« »Und ich bin nicht länger Euer Schützling, Sir Fail«, erinnerte Neil den Älteren. »Ich kann meine Kämpfe selbst ausfechten.« »James, hör mit dem Blödsinn auf!«, ging Vargus dazwischen. »Der Junge - äh, Sir Neil weiß doch nicht, dass du bloß einen Scherz machst. Er hat jetzt geschworen, die Königin zu beschützen, willst du deinen Stolz damit messen? Du bist ein Handwerksmeister! Die Wachen des Königlichen Haushalts kämpfen nicht gegeneinander.« »Die Herausforderung kam von ihm«, wandte James ein. »Wenn er sie zurücknehmen will, habe ich nichts dagegen.« »Ich nehme sie zurück, wenn Ihr Eure Beleidigungen zurücknehmt, Sir«, entgegnete Neil. Einen langen, eisigen Moment lang betrachtete James ihn. »Manche Beleidigungen entstehen aus Voreiligkeit und Fehlurteilen«, sagte er schließlich. »Manche aus Wissen und Überlegung. Die meinen waren ungerechtfertigt, und ich entschuldige mich. Doch lasst mich trotz231 dem meine Ansicht äußern. Ich bin nach wie vor nicht einverstanden mit Eurer Ernennung. Die Ritterschaft sollte Männern von edler Geburt vorbehalten bleiben. Doch mein König hat gesprochen, und meine Königin hat einen Beschützer, und ich sehe mich nicht in der Lage, Euch die Schuld daran zuzuschreiben - Sir Neil.« Er verzog das Gesicht. »Sir Neil - es schmerzt meine Zunge, das zu sagen. Aber ich werde es tun.« Er blickte Neil geradeheraus an. »Haben wir noch Grund zu streiten, Sir?« »Nein, Sir James, das haben wir nicht. Und ich bin froh darüber. Ich bin der Königin gegenüber verpflichtet, und es wäre leichtfertig, ein Duell auszufechten, das die Königliche Wache um einen Mann schmälern würde - wie auch immer der Zweikampf ausgeht -, besonders wenn es um nichts Wichtigeres geht als um meine eigene Ehre. Ihr wart aufrichtig, als Ihr Eure Ablehnung geäußert habt, und ich habe nichts an Euch auszusetzen.« Sir James vollführte eine kleine, steife Verbeugung. »Nun denn«, erwiderte er. »Auf ein andermal.« Als er davonging, zwinkerte Vargus Neil zu. »Ihr werdet bestimmt im Handumdrehen dicke Freunde«, meinte er. »Und jetzt werde ich Euch zeigen, wo sich unsere Waffenkammer und unsere Vorräte befinden, wenn es Euch beliebt. Solange Ihr eine Ein-Mann-Garde seid, werdet Ihr an den unseren teilhaben müssen, denke ich.« »Das ist sehr freundlich von Euch, Sir Vargus. Wirklich sehr freundlich.« »Nun, das war wirklich rührend, Bruder«, sagte Robert, als sie sich in Williams äußere Gemächer zurückgezogen hatten. »Ich denke, es wird gut gehen.« Robert zuckte mit den Schultern. »Bestimmt werden manche empört sein. Aber du erhältst dir Fails Wohlwollen - dieser alte Knochen -, und überhaupt, der Junge ist beim gemeinen Volk sehr beliebt. Es schadet nie, sie wissen zu lassen, dass auch einer der ihren es gelegentlich zu etwas bringen kann, nicht wahr? Genauso wenig, wie es schadet, die Edlen daran zu erinnern, wer ihr König ist.« 232 »Wohl gesprochen«, pflichtete William ihm bei. Mit dem Handrücken wischte er das ganze Thema beiseite. »Aber diese Sache mit Hansa«, sagte er. »Glaubst du, der Praifec wird sich auf unsere Seite stellen?« »Wieso sollte er?«, erwiderte Robert und betrachtete eingehend seine Fingernägel. »Du hast ihm die letzten fünf Jahre lang unmiss-verständlich klar gemacht, dass du keinerlei Einmischungen von ihm oder seiner Kirche in innere Angelegenheiten wünschst. Und jetzt willst du, dass er sich für dein Anliegen stark macht? Nein, er wird abwarten und dich schwitzen lassen. Wird seine Unterstützung verweigern, bis du sie wirklich nötig hast. Dann wird er etwas von dir verlangen. Vielleicht verlangt er, dass du einen männlichen Thronerben benennst.« »Das würde dir gefallen, nicht wahr? Weil ich dann dich benennen müsste.« »Unsinn. Das würde dem Praifec genauso wenig passen, wie dich weiterhin auf dem Thron zu sehen. Aber dein Sohn könnte regieren, unter der richtigen Anleitung - wenn du verstehst, was ich meine.« »Ah. Du willst sagen, unter heiliger Anleitung.« »Genau.« »Woher weißt du, dass Hespero das verlangen wird?« »Ich weiß es nicht. Es ist nur eine Vermutung. Aber ich glaube, Hespero hat immer gedacht, dass er in diesem Imperium eines Tages in jeder Hinsicht herrschen wird, außer dem Namen nach. Du hast seine Pläne vereitelt, indem du deine Töchter zu Thronerbinnen erklärt hast. Fastia ist zu willensstark, und außerdem stünde ihr Ehemann zwischen ihr und Hespero. Elseny ist zwar etwas weniger stark, wird aber bald ebenfalls vermählt sein, und Anne - nun, von wem lässt Anne sich schon etwas sagen?« William runzelte die Stirn. »Genug von Hespero und davon, was er will. Hast du etwas über den Mordversuch an meiner Frau erfahren? Meine Spione sagen mir nichts.« »Man spricht von schwarzer Magie und Nekromantie«, antwortete Robert. »Sir Argom hat uns zehn Jahre lang treu gedient. Ich kann 233 keinerlei Verbindung zu unseren Feinden finden, und genauso wenig kann ich mir irgendetwas vorstellen, womit man ihn hätte erpressen oder bestechen können.« Er zuckte mit den Schultern. »Andererseits funktioniert
Erpressung nur, weil etwas geheim ist. Nein, ich kann dir nicht mehr sagen, als du schon weißt, Bruder.« »Nun gut.« William tippte mit den Fingerspitzen gegen die Wand. »Es macht mir große Sorge. Wieso Muriele? Wenn ein Handwerksmeister zum Verräter gemacht werden kann, hätte er genauso gut mich töten können. Oder dich. Oder eines der Kinder.« »Ein trauernder König kann von größerem Nutzen sein als ein toter. Oder vielleicht war es Liery, das sie treffen wollten, nicht du.« »Das wer treffen wollte?« Robert lachte. »Bruder! So verschieden können wir doch gar nicht sein. Wir wissen nicht, wie Sir Argom vom Beschützer zum Meuchelmörder geworden ist, aber bestimmt wissen wir doch, wer dafür verantwortlich ist.« »Hansa?« »Sie haben vor, dir deinen Thron zu rauben, so viel muss selbst dir klar sein. Zuerst werden sie nur ein wenig knabbern, aber ihr Appetit wird schon bald größere Bissen fordern. Kleinkriege an unseren Grenzen, Mordanschläge und Sabotage hier in der Hauptstadt. So denkt Marcomir eben.« »Wieso bist du dir da so sicher?« »Weil ich ihn verstehe. Marcomir ist ein Mann, der praktisch denkt und sich nicht von Skrupeln oder irgendwelchen Vorstellungen von Ehre abschrecken lässt. Er ist ein starker Herrscher und ein höchst gefährlicher Feind.« »Mit anderen Worten, er ist wie du.« »Genau, Bruderherz.« »Und was sollte ich dann deiner Meinung nach tun?« »Marcomir töten lassen«, erwiderte Robert prompt. »So bald wie möglich. Berimund, sein Erbe, erweist sich vielleicht als weniger tüchtig.« »Marcomir töten lassen«, wiederholte William fassungslos. 234 Robert verdrehte die Augen. »Bei den Zitzen der heiligen Anne, Bruder! Er hat versucht, deine Ehefrau ermorden zu lassen. Bei der Geburtstagsfeier deiner Tochter.« »Das weiß ich aber nicht sicher«, wandte William ein. »Natürlich weißt du es. Und selbst wenn ich mich irre, wie kann ein toter Marcomir schlecht für Crothenien sein?« »Wenn ein Attentäter zur mir zurückverfolgt werden könnte, würde das mit Sicherheit Krieg bedeuten.« »Ja. Krieg mit Berimund - ein Krieg, den wir gewinnen können. Bruder, lass uns beide hier in diesem Raum aufrichtig sein. Hansa ist zu stark. Wenn sie bereit sind, einen genügend hohen Preis zu zahlen, werden sie sich Tier Eslen, deine Krone und unsere Köpfe holen. Marcomir ist willens, diesen Preis zu bezahlen, und er hat die Willensstärke, ihn seinen Edelleuten aufzuzwingen. Berimund hat diese Macht nicht.« »Wenn wir die Unterstützung der Kirche haben -« »Wenn. Vielleicht. Wie lange ist es her, dass heilige Truppen in einem Krieg zwischen zwei Königreichen der Kirche eingesetzt worden sind? Es gibt keine Ketzer in Hansa, jedenfalls ist mir in dieser Hinsicht nichts bekannt. Bruder, merze diese Übel an der Wurzel aus. Lass Marcomir töten.« »Nein.« »William -« »Nein. Und damit Schluss. Nicht weil ich zimperlich bin, wie du ohne Zweifel glaubst, sondern weil ich vernünftig bin. Marcomir ist gut geschützt, und nicht nur von Schwertern. Wen könnten wir schicken, der mit Sicherheit Erfolg hätte?« »Lady Erren.« »Sie dient meiner Gemahlin und wird sich nie von ihr trennen.« »Dann jemand anders, der vom Konvent geschult wurde.« »Noch einmal, bedenke das Risiko. Die Konventjüngerinnen erstatten der Kirche Bericht.« »Ich könnte eine für dich finden, die es nicht tut.« »Hör auf damit, Robert. Wenn du helfen willst, lass dir etwas ein235 fallen, um Hespero für uns zu gewinnen, anstatt die Kirche gegen uns aufzubringen.« Robert seufzte. »Wie du meinst. Aber tu wenigstens eins - schick Muriele und die Kinder nach Cal Azroth.« »Nach Cal Azroth? Warum das?« »Dort werden sie leichter zu beschützen sein. Es ist unsere vollkommenste Festung, ohne eine Stadt voller Mörder und Hexen auf der Türschwelle. Niemand kann dort kommen oder gehen, ohne gesehen zu werden. Unsere Schwester Elyoner beherrscht das umliegende Land, und sie ist diejenige von uns, die nicht den geringsten politischen Ehrgeiz hat. Hier ist vieles im Gange, William, vieles, was auch ich nicht durchschauen kann. Irgendjemand hat beschlossen, dich zu treffen, indem er gegen deine Familie vorgeht. Du wirst bessere Entscheidungen treffen, wenn sie in Sicherheit sind.« Wiederstrebend nickte William. »Ich werde darüber nachdenken.« »Gut.« »Robert?«
»Ja, Bruderherz?« »Sei Lesbeth nicht böse, weil sie dich nicht zuerst gefragt hat.« »Sie hat mich überhaupt nicht gefragt«, sagte Robert mit merkwürdig schwacher Stimme. »Sie hatte Angst, du wärst nicht einverstanden.« »Natürlich. Warum sollte ich meine Zwillingsschwester diesem safnischen Rüpel zur Ehefrau geben? Nach der Kränkung, die er mir zugefügt hat?« »Siehst du?« Robert stieß den Atem aus. »Nein. Hätte sie mich gefragt, so hätte ich protestiert, gebettelt, gedrängt, aber wäre sie standhaft geblieben, hätte ich eingelenkt.« Er sah William an, und genau wie seine Stimme waren auch seine Augen seltsam geworden. »Keiner von euch glaubt, dass in mir auch nur ein Funken Gutes wohnt«, murmelte er. »Keiner von euch kann auch nur einen einzigen großherzigen Gedanken über mich denken. Ich habe gedacht, wenigstens sie -« Er verstummte; sein Gesicht war blass geworden. »Sind wir fertig, Bruder?« 236 »Ja. Außer dass ich noch sagen wollte, dass ich sehr erfreut darüber bin, wie du als mein Stellvertreter gehandelt hast. Lord Hyndes Nachfolge ist schon zu lange offen. Ich würde dich gern zum Ersten Minister ernennen.« »Tu, was du willst«, erwiderte Robert. »Aber denk daran - ich kenne den Unterschied zwischen Worten und Gedanken.« Damit verließ er das Gemach, ohne nach rechts oder links zu schauen. Im Büßerstuhl kniend blickte Anne gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie der Praifec sie bemerkte und die Brauen hochzog. Anne versuchte ein kleines Lächeln. »Wer ist denn diese Fremde?«, fragte der Geistliche sanft. Anne ließ den Kopf hängen. »Es ist wohl schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal hier war«, murmelte sie. »Ohne Eskorte schon. Ich kann nur vermuten, dass Euch irgendetwas schwer bedrückt. Oder seid Ihr nur gekommen, um die Lustration zu empfangen?« Anne schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gewusst, mit wem ich sonst reden könnte, wer mir sagen könnte, ob ich - ob ich den Verstand verliere oder nicht.« Hespero nickte. »Ich bin immer da, Kind.« Er ließ sich auf einem Schemel nieder, tauchte die Finger in eine Schale mit duftendem Öl und tupfte ihr ein wenig davon auf die Stirn. »Piesum deicus, tacez«, murmelte er. Dann beugte er sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. »Also, was bekümmert Euch?« »Ich habe Träume gehabt. Sehr seltsame Träume.« »Erzählt mir davon.« »Ich habe geträumt, ich stehe vor einem dunklen Wald, einem Wald aus Dornen. Um mich herum waren schwarze Rosen, wie die, die in Liery wachsen. In dem Wald war etwas Schreckliches, das mich beobachtet hat, und es fing an herauszukommen, und dann bin ich aufgewacht.« Plötzlich kam sie sich töricht vor, so gebannt hörte sich Hespero 237 ihren Albtraum an. Beinahe hätte sie ihm von der verschwundenen Rose erzählt, doch das behielt sie für sich. Es war nicht nötig, dass Hespero von Roderick erfuhr. Der Praifec rieb sich das Kinn. »Ich nehme an, Ihr hattet mehr als einen beunruhigenden Traum.« »Das andere war nicht direkt ein Traum. Es war bei Elsenys Feier, zur gleichen Zeit wie der Anschlag auf meine Mutter.« Sie schilderte die Ereignisse, so gut sie sich erinnerte. Hespero hörte schweigend zu. Als sie geendet hatte, zog sich das Schweigen in die Länge. »Und Ihr seid sicher, dass Ihr nicht in Ohnmacht gefallen seid?«, erkundigte sich Hespero schließlich. »Eure Zofe hat Euch in einem Zustand völliger Geistesabwesenheit vorgefunden?« »Ja, Praifec.« »Und als Ihr glaubtet, Ihr hättet Euch im Labyrinth verirrt, wart Ihr in Panik.« »Aber das war nicht das Labyrinth, Praifec. Das war woanders, und ich hatte keinen Schatten, und -« »Es mag Euch so erschienen sein«, sagte Hespero mit beschwichtigender Stimme. »Das ist bei jungen Mädchen in Eurem Alter nicht ungewöhnlich. Es gibt mannigfaltige Phantome auf der Welt, und während dieser ersten Jahre als Frau seid Ihr dafür besonders empfänglich. Höchstwahrscheinlich ist es genau das, was Euch befallen hat. Es besteht die entfernte Möglichkeit, dass Ihr das Opfer von Hexerei geworden seid, und das wäre etwas sehr viel Ernsteres. Wenn es Zauberei war, waren die Dinge, die Euch erzählt wurden, Lügen. Prophezeiungen kommen nur von den Heiligen und nur durch die wahre Kirche. Etwas anderes zu glauben ist Ketzerei.« »Dann glaubt Ihr nicht, dass Crothenien wirklich in Gefahr ist? Oder meine Mutter?« »Beide sind in Gefahr, liebes Kind. Auf das Leben Eurer Mutter wurde ein Anschlag verübt. Kriegsgerüchte gehen um. Doch Euer Vater wird diesen Gefahren entgegentreten, mit Hilfe der Kirche. Ihr solltet Euch nicht Euren hübschen Kopf darüber zerbrechen, Prinzessin. Das wäre unnötig grausam Euch selbst gegenüber, und außer238 dem genau das, was die Feinde dieses Landes wollen.« Er hob einen Finger. »Wartet einen Moment.« Er verschwand in einem Raum hinter dem Altar und kehrte ein paar Augenblicke später zurück. In der Hand hielt er etwas Kleines.
»Dies ist ein Unterpfand Eurer Namensschwester, der heiligen Anne. Wenn Ihr unter Hexerei leidet, sollte es Euch Schutz bieten.« Er reichte ihr das Kleinod. Es war ein kleines hölzernes Täfelchen, in das der Name der Heiligen graviert war. »Es ist aus dem Holz eines Baumes gemacht, der auf dem Sedos der heiligen Anne in Andemeur wächst«, erklärte er ihr. »Ihr könnt es an einer Halskette tragen oder in einer Tasche Eures Kleides aufbewahren.« Anne verneigte sich. »Danke, Praifec. Ich -« Unsicher hielt sie inne. Sie wollte ihm von Genia Dares Gruft erzählen, von dem Fluch, den sie dort gewirkt hatte. Doch wenn er davon erfuhr, würde er die Dinge vielleicht anders sehen. Noch während sie sich um die richtigen Worte bemühte, überlegte sie es sich anders. Virgenya war ihr Geheimnis, ihres und Austras. Sie durfte es nicht verraten, nicht einmal dem heiligsten Mann des ganzen Königreiches. Außerdem hatte er zweifellos Recht. Ihre Träume waren nichts weiter als Phantomfantasien oder Hexenwerk. »Habt Ihr sonst noch etwas auf dem Herzen?«, fragte er sanft. »Nein, Praifec. Gewiss habt Ihr Recht. Mit allem.« »Vertraut mir. Aber wenn Ihr noch mehr solcher Anfälle habt, lasst es mich wissen. Wie gesagt, ich bin immer da. Dieses Königreich und die Familie, die es regiert, sind meine heilige Verantwortung, auch wenn Euer Vater das nicht immer so sieht.« Anne lächelte, dankte ihm und ging mit leichterem Herzen. 239 15. Kapitel Rewn Aluth Aus dem Gang wurden Stufen, die in den Fels gehauen worden waren. Aspar zählte sie im Hinaufsteigen. Als er bei dreißig angelangt war, hörte er Stimmen von unten heraufdringen. Auch Winna hörte sie, und ihr Griff um seine Hand wurde fester. Unwillkürlich sah er zu ihr hinüber und bemerkte, dass er ihr Gesicht undeutlich erkennen konnte. Winna bemerkte die schwache Helligkeit ebenfalls. »Das muss ein Weg nach draußen sein!«, flüsterte sie hoffnungsvoll, als das silbrige Licht heller wurde. »Psst.« Aspar sah die Lichtquelle, die sich gemächlich die Treppe hinabbewegte. Seine Hand fuhr an den Dolch, hielt dann jedoch inne. »Ein Hexenlicht«, sagte er. Eine bleiche Kugel aus leuchtendem Dunst, so groß wie eine Männerfaust, trieb auf sie zu. »Ist das gefährlich?« »Nein.« Winna streckte die Hand aus, um das Licht zu berühren, und ihre Finger tauchten in das Glühen ein. »Ihr Heiligen!« »Später«, sagte Aspar. »Komm weiter.« Dreißig weitere Stufen brachten sie zum Ende der gewundenen Treppe. Einen Augenblick lang waren Winnas verblüfftes Aufkeuchen und fernes Wassertröpfeln die einzigen Geräusche. Tausend Hexenlichter schwebten zwischen Türmen und Säulen aus glasglattem Stein und brachten hier und da Farben zum Aufleuchten, ließen jedoch das gewaltige Ausmaß der Höhle, die sich vor ihnen erstreckte, lediglich erahnen. Direkt vor ihren Füßen ging es von dem Felssims, auf dem sie standen, senkrecht hinunter zu einem riesigen, tiefschwarzen Spiegel. 240 »Es ist wunderschön«, hauchte Winna. »Ist das ... Wasser? Ein unterirdischer See?« »Ja.« Aspar hatte wenig Zeit zum Staunen. Er spähte in die Düsternis. Wenn dieses Sims nirgendwo hinführte, würde er versuchen, hier standzuhalten und seine Verfolger einen nach dem anderen zu töten, wenn sie die Treppe heraufkamen. Es könnte ihm vielleicht gelingen, selbst wenn sie Schwerter hatten. Wahrscheinlicher war, dass es ihm nicht gelang. Doch das Sims zog sich weiter an der Wand entlang und wurde ein Stück zur Linken sogar breiter. »Hier entlang«, drängte er und zerrte an ihrer Hand. Mehrere der Hexenlichter begannen, ihnen zu folgen. Er erinnerte sich, wie er sich als Kind darüber gefreut hatte, wie er ihnen Namen gegeben hatte, als wären sie Haustiere. Jetzt jedoch wünschte er, sie würden verschwinden; so dicht um ihn und Winna gedrängt, würden sie sie ihren Feinden verraten. Natürlich würde es denen nicht anders ergehen; auch sie würden bald ein Gefolge hilfreicher Lichtkugeln um sich scharen. Der Pfad führte abwärts, wand sich im Zickzack an der Felswand hinunter. Aspar schätzte, dass sie etwa zehn Ellen weit hinabgestiegen waren, als sie einen Kai erreichten, der vielleicht eine halbe Elle über dem dunklen Wasserspiegel lag. Dort hatten sie Glück, denn zwei schmale Boote waren hier festgemacht. Sie stiegen in das eine, und Aspar schlug mit seiner Axt ein Loch in den Rumpf des anderen. Als sie über den stillen See ruderten, bemerkte Aspar eine Schar Hexenlichter über ihnen, wo die Treppe in die Höhle mündete. Doch bei der unbeständigen Beleuchtung konnte er nur hin und wieder eine dahinhuschende Silhouette erkennen. Er konnte nicht sagen, wie viele es waren. Bald gerieten sie außer Sicht, und um sie herum waren nur noch das Wasser und sauberer, feuchter Steingeruch.
»So einen Ort habe ich mir noch nicht einmal in meinen Träumen vorgestellt«, flüsterte Winna. »Wie schön es hier ist.« »Als ich klein war, fand ich das auch. Aber nach einer Weile beengt 241 es einen. Die Dunkelheit. Nicht einmal alle Sefry können damit leben. Deswegen gehen sie hinaus und setzen sich der Sonne aus.« »Wo sind sie? Die Halafolk?« »Ich weiß es nicht. Ich hatte gedacht, wir würden auf sie stoßen.« Winna lächelte. »Ihr seht komisch aus, mit all diesen kleinen Lichtern, die Euch folgen. Jünger, wie ein Knabe.« Dazu fiel ihm nichts ein, also knurrte er nur. Dann veränderte sich ihre Miene. »Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf etwas hinter ihm. Er drehte sich um, um zu sehen, was sie meinte. Etwas Großes, Schattenhaftes ragte aus dem See empor. Eine Insel, dachte er; von oben hatte der See viel größer ausgesehen. »Hier werden wir wohl die Halafolk finden, denke ich«, sagte er. Was sie fanden, war eine Stadt der Toten. Die Häuser waren fast absonderlich hoch und schmal und machten die Straßen, die in den Boden der Höhle gehauen worden waren, zu engen Korridoren. Die Gebäude selbst waren aus sorgsam aneinander gefügten Steinen gebaut, mit steilen Schindeldächern, die das beständig von oben herabtropfende Wasser ableiten sollten. Aus einigen von ihnen waren kleine Steinfinger herausgesprossen, die der unsichtbaren Höhlendecke entgegenwuchsen. Irgendjemand hatte Aspar einmal gesagt, daran könne man die ältesten Häuser erkennen; Stein wuchs nur sehr langsam. Die Häuser waren alle leer. Aspars und Winnas Schritte klangen wie der Widerhall einer kleinen Armee. »Sir Symen hat gesagt, alle Sefry würden den Wald verlassen, sogar die Halafolk«, meinte Aspar nachdenklich. »Ich habe ihm nicht geglaubt. Warum sollten sie das tun?« »Sie müssen einen guten Grund gehabt haben, all dies zu verlassen.« »Es ist unvorstellbar«, murmelte er. Er zeigte auf eine Schieferplatte, die über der Tür eines der Häuser hing. In silberner Einlegearbeit war darauf eine sechsfingrige Hand abgebildet; drei der Finger waren von kleinen Kerzenflammen gekrönt. »Das ist das Wappen des Hau242 ses Sern. Seit fünf Generationen ist kein Angehöriger dieses Clans mehr ins Freie gegangen, oder jedenfalls sagt man das. Manche dieser Häuser kenne ich nicht einmal.« »Sollen wir die Gebäude durchsuchen?« »Wozu? Was wir finden müssen, ist ein Weg hinaus.« »Glaubt Ihr, der Gryffin ist noch hier?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Lass uns hier entlang weitergehen, ich möchte die Mitte der Stadt sehen.« Die Insel war nicht breit, aber sie war lang. Sie durchquerten Parkanlagen, die mit bleichen, farnartigen Bäumen und schwarzem Schilf bepflanzt waren. Zerbrechlich wirkende Brücken führten über Kanäle, an deren Ufern noch immer schlanke, schwarze Gondeln festgemacht waren und auf Passagiere warteten, die niemals kommen würden. Schließlich erreichten sie einen großen Platz und das größte Bauwerk, das sie bis jetzt gesehen hatten. Es ähnelte einem Schloss - oder dem Zerrbild eines Schlosses, mehr um der Eleganz als um der Brauchbarkeit willen errichtet. Die Türme aus glasartigem Stein und die durchscheinenden Kuppeln schimmerten in einem natürlichen, kalten Leuchten. »Der Palast?« »Hier hat der Fürst gelebt, und die Ratssitzungen haben hier stattgefunden. Wenn noch irgendjemand geblieben ist, dann ist er hier.« »Wenn noch irgendjemand geblieben ist, wollen wir ihn dann wirklich finden?« Aspar nickte grimmig. »Ja. Wir müssen herausfinden, was hier passiert ist.« »Was ist mit den Männern, die uns folgen? Werden sie nicht auch hierher kommen, genau wie wir?« »Ja.« Er überlegte einen Augenblick. »Werlic, das ist ein guter Einwand. Wir bleiben in einem der anderen Häuser hier am Stadtplatz und halten Wache. Wenn wir Glück haben, sind sie zu wenige, um jedes Gebäude in der ganzen Stadt zu durchsuchen.« »Gut. Ich bin müde. Ich würde mich gern ausruhen.« 243 Aspars Wahl fiel auf ein unscheinbares vierstöckiges Haus, von dem man einen guten Blick auf den Platz hatte. Die Tür war nicht abgeschlossen. Neun Hexenlichter folgten ihnen hinein und die Wendeltreppe hinauf. Sie machten erst Halt, als sie das oberste Stockwerk erreicht hatten. Es bestand aus einem schmalen Schlafzimmer, so breit wie das Haus und mit mondfarbenem Sardonyx ausgekleidet. Eine niedrige Schlafbank und ein größeres Himmelbett standen darin. Kristallknäufe auf den Bettpfosten glühten in einem schwachen, weißen Schimmer, sodass selbst ohne die Hexenlichter etwas Helligkeit vorhanden gewesen wäre. Neben der Treppe führte ein einzelner Türbogen auf einen kleinen Balkon auf der vom Stadtplatz abgewandten Seite des Hauses hinaus. Von dort aus sah man natürlich hauptsächlich
Dunkelheit, doch im Schein der Hexenlichter konnte Aspar gerade noch ein weiteres vierstöckiges Gebäude direkt gegenüber erkennen, und einen zweiten Balkon, der ein wenig tiefer lag als der, auf dem er stand. Er ging zurück ins Zimmer und zog die Schlafbank vor ein breites Fenster, das auf den Platz hinausging. Dann zog er die Vorhänge zu, bis nur noch ein schmaler Spalt übrig blieb, durch den man hinausspähen konnte. Niemand durfte bemerken, dass in diesem Stockwerk Licht war. »Halt hier Wache«, sagte er. »Ich schaue mal nach, ob ich etwas zu essen finde.« »Bleibt nicht zu lange weg.« »Keine Sorge.« Die Speisekammer lag tiefer als die Straße, sie war in das Felsfundament der Insel gemeißelt worden. Das Brot war weitgehend verschimmelt, doch er fand ein wenig gesalzenen Fisch, Wildbret, Wildschweinschinken, einen Laib gelben Käse und mehrere Regale mit Wein. Er schnitt einen Käsekeil und ein Stück Schinken ab und klemmte sich zwei Weinflaschen unter den Arm. Dann kehrte er ins oberste Stockwerk zurück. 244 »Kann man das essen?«, fragte Winna. »Es wird immer davor gewarnt, Brot mit den Halafolk zu brechen.« Aspar schmunzelte. »Der Käse ist irgendwo aus Holtmarh. Der Wein kommt aus den Midenlanden, und das Fleisch ist im Königswald gewildert worden. Das einzige Nahrungsmittel, das sie hier unten wirklich selbst anbauen, ist Hrew, eine Art Nuss, die im Wasser wächst. Sie machen Brot daraus. Es schmeckt nicht gut, aber es ist durchaus ungefährlich. Wenn es Fische im See gibt, essen sie die auch.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Fenster. »Gab es etwas zu sehen?« »Nein. Aber vielleicht habe ich sie nicht bemerkt.« Sie blickte zu Aspar auf; ein sehr junger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Ich habe keine Angst.« »Du bist ein tapferes Mädchen.« »Nein, ich meine es ernst. Ich sollte eigentlich Angst haben. Ich hatte auch welche, vorhin am Teich. Sogar als ich gesagt habe, ich würde mit Euch kommen. Jetzt - ist sie ganz und gar verschwunden.« »Sie kommt schon wieder«, sagte Aspar. »Darauf gebe ich dir mein Wort.« »Ich habe Euch nie als jemanden betrachtet, der Angst haben könnte. So lange ich denken kann, wart Ihr immer da, Aspar. Als ich ein kleines Mädchen war, seid Ihr einfach aus dem Wald aufgetaucht, wie ein Held aus den Legenden.« Sie schaute weg. »Was müsst Ihr von mir denken«, sagte sie. Aspar schenkte ihr einen Becher Wein ein, dann füllte er einen für sich selbst. Der Wein war dick und ein wenig bitter. Er hatte gar nicht gewusst, wie durstig er war. »Ich habe auch schon Angst gehabt«, sagte er. »Das weiß ich jetzt«, erwiderte sie. Er schob sich ans Fenster, um hinauszusehen. Der Platz lag ruhig und still unter ihnen. Winna blieb, wo sie war, so nahe, dass sie ihn fast berührte. »Was glaubt Ihr, wo sind sie hingegangen? Die Halafolk.« Aspar zuckte mit den Schultern. »Vielleicht in die Berge. Nach al245 lern, was ich weiß, könnten sie auch über das Ostmeer gefahren sein.« Er trank einen weiteren Schluck. Der Wein entzündete ein kleines Feuer tief in seinem Bauch. »Ich war gestern Abend zu grob«, murmelte er. »Ich wollte dich nicht so anfahren.« Ihr Blick verfing sich in dem seinen. »Nun ja, Ihr wisst wirklich, wie man sich entschuldigt«, sagte sie. »Auch das hätte ich nie gedacht, und niemand wird mir glauben, wenn ich davon erzähle.« »Ich kann das nicht besonders gut«, knurrte Aspar. »Nein, wirklich nicht. Aber ich verzeihe Euch.« Er trank noch einen Schluck Wein und suchte nach etwas, das er sagen könnte, als Winna plötzlich nach Luft schnappte. »Was ist das?« Sie drückte sich an ihn, die Augen weit aufgerissen. »Was? Hörst du etwas?« Ihr Gesicht war nur wenige Zoll von dem seinen entfernt. Sie lächelte. »Ihr könnt das tatsächlich nicht besonders gut.« »Das habe ich nicht gemeint, Winna, ich -« Sie fühlte sich gut an in seinen Armen, und plötzlich wurde ihm klar, wie lange es her war, dass er jemand anderen berührt hatte. Abgesehen von dem Kuss vor ein paar Wochen. Der Kuss. Er hatte nicht beschlossen, es zu tun. Das wusste er ganz genau. Doch plötzlich schmiegte sich sein Gesicht gegen ihres, pressten sich seine Lippen hungrig auf die ihren, und er kam sich dumm und unbeholfen vor, wie ein Knabe mit seiner ersten Frau. Ihre Kleidungsstücke lösten sich eins nach dem anderen, und Lippen und Fingerspitzen glitten über die entblößte Haut. Ein Teil von ihm schlug zaghaft Alarm: Dort draußen waren Feinde. Zu viel von ihm scherte sich nicht darum. Als sie zusammenfanden und sie die Knöchel hinter seinen Kniekehlen kreuzte, schaute er ihr einen langen Moment in die Augen, ohne zu blinzeln. Was er dort sah, verblüffte ihn. Sie erwiderte seinen Blick und legte die
Hand an seine Wange. Viel später, als sie ineinander verschlungen und erschöpft dalagen, streichelte er die Haut über ihren Rippen und fragte sich, ob er glauben konnte, was er fühlte. 246 Er setzte sich auf, um aus dem Fenster zu blicken. »Ist die Sefry-Armee schon da draußen aufmarschiert?«, erkundigte sich Winna träge. »Die hätte zehnmal um den Platz marschieren können, und ich hätte es nicht gemerkt«, erwiderte er. »Das war wohl gerade nicht sehr klug.« Hilflos hob er die Schultern. »Vielleicht war es das Klügste, was ich seit Jahren getan habe.« Sie lachte leise und küsste ihn. »Das war gut. Und jetzt kein Wort mehr darüber. Dir fällt bestimmt etwas ein, wie du es verderben kannst, wenn du weiterredest, und ich möchte noch eine Weile glücklich sein.« »Na schön.« Wieder sah er aus dem Fenster. »Aber rede über etwas anderes, sonst schlafe ich ein.« »Das ist gar keine schlechte Idee. Ich kann ja Wache halten.« »Nein, noch nicht. Wer, glaubst du, sind diese Männer? Die, die uns verfolgen.« »Nach dem, was du gesagt hast, waren sie gekleidet wie Sefry.« »Ja. Mir ist noch etwas eingefallen. Einer von ihnen hatte eine Augenklappe.« »Was?« Er packte sie an den Schultern. »Aspar! Das tut weh!« »Eine Augenklappe! Über welchem Auge?« »Ich weiß es nicht. Aspar, was ist los mit dir? Kennst du ihn?« Er ließ die Hände sinken. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.« »Bei allen Heiligen! Aspar, dein Gesicht -« Sie hielt inne. »Das hat etwas mit ihr zu tun, nicht wahr?« »Winna, ich muss nachdenken.« »Dann denk nach.« Selbst durch seinen Zorn hindurch konnte er hören, wie verletzt ihre Stimme klang. »Siehst du?«, sagte er. »Ganz gleich, was ich tue, ich finde eine Möglichkeit, alles zu verderben.« Sie stand auf, ging zum Bett hinüber und hüllte sich in eins der Laken. 247 »Ich verstehe ja, dass du nicht über sie reden willst«, entgegnete sie. »Aber dieser Mann - er hat versucht, mich zu töten, Aspar.« »Komm her«, sagte er. Sie zögerte einen Moment, dann kam sie in seine Arme. »Sie hieß Qerla, meine Frau«, sagte er leise. »Sie gehörte zum Clan Nere. Wir sind uns begegnet - ach, egal. Wir waren jung, und wir dachten, es wäre nicht wichtig.« »Was wäre nicht wichtig?« »Dass Menschen und Sefry keine Kinder miteinander zeugen können. Dass ihr Clan sie verstoßen, ihr seinen Schutz entziehen würde. Dass wir allein sein würden, nur wir beide.« »Das klingt romantisch.« »Das war es auch, eine Zeit lang. Dann war es nur noch schwer. Schwerer für sie als für mich. Ich hatte nie wirklich einen Clan gehabt, nur meine alte Mutter Jesp. Qerla war die erste Person, die ich je wirklich - die auf irgendeine Weise jemals mein gewesen war.« »Du hast sie geliebt.« »Ich habe sie geliebt.« »Und der Mann mit der Augenklappe, er ist derjenige, der -« Sie verstummte. »Er hat sie getötet«, bestätigte Aspar. »Wenn es derselbe Mann ist. Er war ein Geächteter, ein Sefry namens Fend. Er hatte mir eine Falle gestellt, doch stattdessen hat er die beiden gefangen.« »Die beiden} Ich dachte -« »Einen alten Sefry-Liebhaber von ihr, einen Mann vom Clan Jasper. Ein Dichter. Fend hat sie im Bett gefunden und sie dort umgebracht. Und dann habe ich ihn gefunden.« Er schürzte die Lippen. »Er hat mir ein Schwert in den Bauch gerammt und ich ihm einen Dolch ins Auge. Wir sind beide zusammengebrochen, und als ich wieder zu mir kam, war er fort.« »Sie hat dich betrogen.« »Ich glaube, zuerst muss ich sie wohl irgendwie betrogen haben«, sagte Aspar. »Das bezweifle ich«, flüsterte sie. »Das bezweifle ich sehr. Jeder 248 wird mal schwach. Sie ist schwach geworden. Das heißt nicht, dass sie dich nicht geliebt hat.« Als er nichts erwiderte, nahm sie seine Hand. »Glaubst du wirklich, der Mann, den ich gesehen habe, war Fend?« »Ich dachte, er wäre tot. Aber wer weiß? Vielleicht.« In seinem Herzen gab es keine Zweifel. Wenn die Götter seines Vaters wirklich existierten, gehörte dies zu den Dingen, die sie belustigen würden. Sie sprachen eine Zeit lang nicht, und Winna döste an ihn gelehnt vor sich hin. Er betrachtete ihr Gesicht und verspürte kurz Gewissensbisse. Sie war so jung! Als Qerla gelebt hatte, war Winna noch nicht einmal geboren
gewesen. Die Schuldgefühle vergingen. In jeder Hinsicht, auf die es ankam, war Winna älter als er. Eines Tages würde ihr vielleicht klar werden, dass sie kein Interesse an einem zerschundenen alten Waldhüter hatte. Bis dahin würde er sich glücklich schätzen und es dabei bewenden lassen. Und sie lebendig durch diese ganze Geschichte bringen. Und Fend töten, wenn es denn Fend war. Er konnte sich nicht vorstellen, was der Geächtete mit Dornenkönigen und Gryffins zu schaffen haben könnte. Doch er würde es herausfinden, und diesmal würde er ihn töten. Beinahe döste er selbst, als er das Geklapper von Pferdehufen auf Stein vernahm. Er spähte zum Fenster hinaus und sah Wolken aus Hexenlichtern über den Platz ziehen. Rasch riss er den Kopf zurück -auch er wurde natürlich von Hexenlichtern umschwirrt. Er glaubte, dass es ihm gerade noch rechtzeitig gelungen war. »Pferde«, flüsterte er. »Sie haben einen anderen Weg hier herein gefunden.« »Vielleicht ist das nicht dieselbe Bande, die versucht hat, mich zu töten.« »Vielleicht«, sagte er zweifelnd. Von unten hörte er den schrillen Klang eines Horns, und die Hexenlichter strömten plötzlich aus dem Fenster, als folgten sie dem Ruf. »Zieh dich an«, sagte er zu Winna. »Schnell.« 249 16. Kapitel Bruderschaft Der Fratrex führte Stephen über den Hof und durch eine kleine Tür. Stephen hielt seine Zunge im Zaum; alles, was er jetzt sagen könnte, fürchtete er, würde seinem Selbstwertgefühl nur ein noch tieferes Grab schaufeln. Stattdessen versuchte er sich zu erinnern, was er über die Bußgewohnheiten der Decmanusianer gehört hatte. Was gehörte alles dazu? Geißelungen? Einzelhaft? »Kommt schon, kommt schon, beeilt Euch!«, drängte Fratrex Pell. »Hier hindurch.« Er deutete auf eine sehr niedrige Tür; der Türsturz war nicht höher als Stephens Taille. »Ja, ja - auf den Knien.« Zerknirscht sank Stephen auf die Knie, kroch durch die Öffnung und wappnete sich für das, was da kommen mochte. Er sprach ein kurzes Gebet und hob den Kopf. Dann keuchte er laut auf. »Wir kommen auf Knien vor die Heiligen«, erklärte Fratrex Pell hinter ihm. »Und genauso kommen wir vor das Wissen - in Demut.« »Es ist wundervoll«, sagte Stephen. Tränen brannten in seinen Augen. »Das ist wie hunderttausend Geschenke, die alle darauf warten, ausgepackt zu werden.« »Kriecht weiter, mein Sohn, damit ich nachkommen kann.« Stumm vor Ehrfurcht gehorchte Stephen. Das Scriftorium erhob sich vor ihm, ein Turm mit Wänden aus Büchern, Schriftrollen, Tafeln, Pergamentmappen und Landkarten. Nirgends war nackter Stein zu sehen; das ganze Bauwerk hätte von dem an einen Insektenbau gemahnenden Gerüst aus Leitern aufrecht gehalten werden können, die sich dünn und zerbrechlich vom Boden zum nächsten Stockwerk hinaufzogen. Dort sah er nicht mehr als einen schmalen Rundgang, der sich am Fuße einer weiteren Reihe von Regalen entlangzog und den Leitern als Standort diente, die wiederum zum nächsten Stockwerk hinaufführten. Insgesamt vier Stock250 werke, und dann eine Kuppel aus Kristallscheiben, sodass das Sonnenlicht hereinfiel und alles beleuchtete. Auf Tischen, die unten am Boden standen, stapelten sich unzählige Scrifti, und fleißige Mönche blieben in ihre Studien und ihre Kopierarbeit vertieft, als Stephen und der Fratrex hereinkamen. Andere arbeiteten an Tischen, die auf gefährlich kleinen Baikonen standen, welche in seltsamen Abständen überall aus der Wand ragten. Seile und Flaschenzüge waren allenthalben am Werk; die Mönche zogen Körbe voller Manuscrifti empor, ließen sie herab oder schickten sie blitzgeschwind waagrecht quer durch den Raum. Und der Geruch! Tinte und Pergament, Papier und Kreide und geschmolzenes Wachs. Stephen merkte, dass er strahlte wie ein vollkommener Narr. »Hier ist Eure Strafe«, sagte Fratrex Pell leise. »Wie meint Ihr das?«, fragte Stephen. »Der Anblick dieses Raumes bringt mir nichts als Freude.« »Eure Sünde war der Stolz. Ihr hieltet Euch für wissend, und fürwahr, das seid Ihr auch. Doch wenn Ihr hier steht, werdet Ihr daran erinnert, wie viel Ihr nicht wisst. Niemals wissen könnt. Seid demütig, Stephen. Ihr werdet ein besserer Mensch sein und ein besseres Mitglied dieses Ordens.« »Danke, ehrwürdiger Fratrex. Ich bin so ...« Er schüttelte den Kopf. »So dankbar. Und so voller Eifer! Wann darf ich anfangen? Was soll ich tun?« »Heute? Was immer Ihr wollt. Macht Euch mit dem Scriftorium vertraut. Stöbert herum. Morgen werden wir sehen, wie Ihr mit dem Vadhiianischen zurechtkommt. Wir stehen in der dringenden Pflicht, diese Texte zu übersetzen; das ist einer der Gründe, warum ich darauf gedrängt habe, dass Ihr hierher geschickt werdet.« »Ihr meint, Ihr -« »Nur zu, mein Sohn. Ich sehe Euch dann bei der Abendandacht.« »Aha. Ihr seid bestimmt der Neue.«
Stephen blickte von dem Text auf, über den er sich gebeugt hatte, 251 und erblickte einen Mann mit freundlichem Gesicht und kurz geschnittenem braunem Haar, der ihn betrachtete. »Ah -ja, Bruder.« Vorsichtig legte er das Scrift zur Seite und erhob sich. Er war einen Kopf kleiner als der Fremde. »Ich heiße Stephen Darige.« »Desmond Spendlove.« »Ihr seid aus Virgenya!« »So ist es«, erwiderte Spendlove. »Aus welchem Landesteil?« »Gleich südlich von Quick, am Nerihfluss.« »Das kenne ich!«, sagte Stephen. »Wir sind oft mit dem Boot bis zur Mündung hinuntergefahren. Dabei haben wir immer in dieser kleinen Stadt angelegt - die mit der Schweinestatue -« » Wildeaston. Ja, das ist nur eine Achtelmeile von dem Ort entfernt, wo ich aufgewachsen bin.« »Ja? Es freut mich, Euch kennen zu lernen«, sagte Stephen. »Ihr seid wohl gerade dabei, Euch im Scriftorium zurechtzufinden, wie?« Stephen grinste. »Weit bin ich nicht gekommen. Ich bin gleich am Anfang auf das hier gestoßen. Das ist ein Original der Amena Tirson, eine Art Geographie der hiesigen Gegend aus -« »- der Vorhegemonialzeit«, vollendete Spendlove den Satz. »Ja, ich bin recht gut vertraut mit der Amena Tirson. Das war mein Studienthema in der Hochschule von Pennwys.« »Wirklich? Tut mir Leid, gerade hat man mir eine Lektion in Demut erteilt, und schon behandle ich Euch so von oben herab.« »Das macht nichts. Der Alte hat Euch mit seinem Holzschlepp-Trick hereingelegt, oder?« »Trick?« »Niemand kann sich d'Ef ohne sein Wissen nähern. Er begrüßt die meisten Novizen auf irgendeine ähnliche Weise.« »Oh.« Spendlove deutete auf das Scrift. »Aber Ihr wolltet gerade etwas über die Amena Tirson sagen«, meinte er. 252 »Ja. Diese Version ist anders als die, die ich kenne.« »Ein wenig. Das Kapitel über Bäume ist länger.« »Das meine ich nicht. Da gibt es eine Liste mit Namen von Schreinen und anderen Orten, von denen ich noch nie gehört habe, und es ist die Rede davon, sie zu beschreiten.« »Nun ja, hier gibt es den Pfad der Schreine, den Weg des heiligen Decmanus.« »Ja, natürlich. Aber diese anderen -« Desmond zuckte mit den Schultern. »Sind inzwischen mit Sicherheit tot, oder die Heilige Präsenz ist so schwach, dass sie unbeschreitbar sind.« »Ich weiß«, erwiderte Stephen. »Es ist nur merkwürdig. Es hat Morde gegeben -« Er hielt inne. »Ihr Heiligen! Wie konnte ich das vergessen? Ich war einfach so überwältigt, ich meine, erst vom Holzschleppen, und dann herauszufinden, dass er der Fratrex ist, und dann all das hier.« »Wovon redet Ihr eigentlich?«, erkundigte sich Desmond freundlich. »Es hat Morde im Königswald gegeben.« »Das ist wohl kaum etwas Neues. Dort wimmelt es von Strauchdieben.« »Ja, ich weiß. Aber ich glaube, das ist etwas anderes. Blutrituale auf den alten Sedoi, und irgendeine Art von Ungeheuer ist auch daran beteiligt.« »Ungeheuer? Hat das etwas mit dem alten Symen oben auf Tor Scath zu tun?« »Ja, ja. Dort habe ich davon gehört.« »Dann muss ich Euch warnen, der alte Ritter ist für seine Übertreibungen bekannt. Vor zwei Wochen hat er einen Mann hergeschickt, um uns vor irgendetwas Bösem im Wald zu warnen. Wir haben zusätzliche Wachen aufgestellt, nur für alle Fälle, und der Fratrex hat einen Bericht an den Praifec in Eslen geschrieben. Aber die Suchtrupps, die wir nach Euch ausgesandt haben, haben nichts Seltsames gefunden.« 253 »Oh, ich hatte auch meine Zweifel an seiner Geschichte, aber -« Aber Sir Symen hatte irgendetwas gesehen. Dessen war Stephen sich sicher. Doch der Waldhüter war ausgezogen, um die Wahrheit herauszufinden, und er hatte nicht gewollt, dass Stephen mitkam. Was immer es war, Aspar White würde es gewiss töten. Stephen würde einen Bericht für den Fratrex verfassen, doch damit wäre seiner Pflicht Genüge getan. Dann konnte er sich kopfüber in seine Studien stürzen. »Kommt«, sagte Desmond und schlug ihm auf die Schulter. »Es dauert nicht mehr lange bis zur Abendandacht und zum Essen. Gehen wir ein Stück. Es gibt manches über das Leben in d'Ef zu wissen, wovon der Fratrex Euch bestimmt nichts erzählt hat.« Stephen warf einen Blick auf die Amena Tirson, dann nickte er widerstrebend. Er legte die dünnen Pergamentblätter wieder in ihren Zedernholzkasten und stellte diesen ins Regal zurück. »Ich bin so weit!«, verkündete er.
Abendstille hatte sich draußen herabgesenkt. In der Ferne muhten Kühe, die Grillen hatten ihr nächtliches Konzert angestimmt, und die Frösche in den Niederungen des Ef quakten kehlige Melodien. Der Abendstern war ein auf Samt gebettetes Juwel am östlichen Himmel, während der Westen noch immer eine Esse voll sterbender Glut war. Fern und grün lag der Wald jenseits der Weiden und Weingärten. Stephen und Desmond standen auf dem Hügel, ein wenig oberhalb des Klosters, wo Kerzenlicht in den Fenstern zu schimmern begann. »Der Pfad der Schreine beginnt in der Kapelle«, sagte Desmond, »und endet hier draußen. Man braucht ungefähr zwei Tage, um ihn zu beschreiten.« »Ihr habt ihn also schon beschritten?« »Ja. Auch Ihr werdet das tun, schon bald. Nach dem, was ich gehört habe, seid Ihr kein normaler Novize. Die Mysterien werden Euch rascher erschlossen werden, denke ich.« »Das verdiene ich wohl kaum.« »Nein. Das tut Ihr auch nicht.« 254 Irgendetwas an Desmonds Stimme klang nicht richtig. Stephen schaute seinen Begleiter an und sah einen harten Ausdruck auf seinem Gesicht. »Es gibt eine Ordnung der Dinge«, erklärte Desmond. »Oder es sollte eine geben. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass diese Ordnung eingehalten wird, versteht Ihr?« Stephen trat ein paar Schritte von dem Mönch zurück. »Wie meint Ihr das?« Desmond lächelte. Es war kein besonders tröstliches Lächeln. Stephen wich noch weiter zurück und überlegte, ob er davonrennen sollte. Dabei lief er einem anderen Mönch rückwärts direkt in die Arme. Es war Bruder Lewes, der Riese, der das Brennholz hochgehoben hatte wie eine Weidenrute. Stephen versuchte wegzuspringen, doch der Mönch packte ihn am Arm. Stephen wollte schreien, aber eine fleischige Hand legte sich über seinen Mund. Sie roch nach Heu und Kuhmist. »Ihr seid neu«, erklärte Desmond. »Wie gesagt, es gibt ein paar Dinge, die Ihr wissen solltet. Angefangen hiermit: Es ist mir gleich, wer Ihr seid oder wer Eure Familie war. Hier fangt Ihr ganz von vorn an. Hier beginnt Euer Leben von neuem. Und hier bin ich Euer Vater, Euer Bruder, Euer bester Freund. Ich werde Euch bei allem helfen, aber Ihr müsst mir vertrauen. Ihr müsst mir glauben. Der Fratrex denkt, Ihr seid etwas Besonderes. Das bedeutet uns anderen gar nichts. Uns gegenüber müsst Ihr Euch erst beweisen. Es ist egal, was der Fratrex denkt, wenn Ihr ausrutscht und mit dem Kopf auf einem Stein aufschlagt, wenn Ihr auf eine Mistgabel stürzt oder den falschen Pilz esst. Es sind allein wir anderen, die Euch vor solchen Dingen bewahren können. Versteht Ihr, was ich sage?« Jetzt hatten sich noch andere Mönche um sie geschart; es waren mindestens zehn. Sie hatten die Kapuzen hochgeschlagen, und Stephen konnte ihre Gesichter nicht sehen. Er war jenseits der Panik; ihm war klar, dass er sich nicht wehren sollte, doch er konnte nicht anders. Seit er entführt worden war, war schon der Gedanke, gewaltsam festgehalten zu werden, unerträglich. Jetzt, wo ihn dieser stählerne 255 Griff umklammert hielt, war es Wirklichkeit, und es war immer noch unerträglich. Er konnte kaum denken, so wütend und verängstigt war er. Tränen traten ihm in die Augen. »Bruder, gebt Bruder Stephens Mund frei, damit er mir sagen kann, dass er mich versteht.« Die Hand löste sich. »Ich verstehe! Natürlich verstehe ich! Alles, was Ihr sagt.« Desmond nickte beifällig. »Das klang aufrichtig. Aber ich kenne Euch nicht, Bruder Stephen. Ich kann mir nicht sicher sein. Und Ihr könnt Euch nicht sicher sein, was mich betrifft. Also erteilen wir Euch doch einfach eine Lektion, einverstanden?« Er vollführte eine ruckartige Kopfbewegung, und die anderen Mönche traten näher. Stephen versuchte zu schreien, doch ein Stofffetzen wurde ihm mit Gewalt in den Mund geschoben. Seine Arme wurden hochgezogen und dann wurde ihm das Hemd vom Körper gerissen. Er wurde zu Boden gestoßen und man hielt ihn mit abgespreizten Armen und Beinen auf der Erde fest, das Gesicht nach unten. »Hier ist Eure Lektion«, sagte Desmonds Stimme von irgendwoher aus weiter Ferne und viel zu nah. »Die sieben Tugenden. Die erste ist die Treue.« Ein Strahl des heftigsten Schmerzes, den Stephen je verspürt hatte, schnitt seinen Rücken entzwei. Er schrie in seinen Knebel, ein schrilles, hysterisches Kreischen nackten, tierischen Schreckens. »Die zweite Tugend ist die Keuschheit.« Ein zweiter Feuerstreich traf ihn, und Tropfen spritzten über Stephens Wange. Nach der dritten zählte er die Tugenden nicht mehr mit. Vielleicht war er ohnmächtig geworden. Das Nächste, was ihm bewusst wurde, war Desmonds Stimme sehr dicht an seinem Ohr. »Ich lasse Euch neue Kleider und einen Lumpen da. Ein Stück weit den Hügel hinunter ist ein Brunnen. Reinigt Euch und kommt zum Abendmahl. Setzt Euch an meinen Tisch. Sprecht zu niemandem über dies hier - zu niemandem. Es gibt, wie Ihr wisst, mehr als sieben Tugenden. Es gibt siebenmal sieben.« Der Knebel wurde herausgezo256 gen, und man ließ ihn los. Er lag da, unfähig, sich zu rühren oder auch nur daran zu denken, sich zu bewegen, während die Nacht sich vollends herabsenkte.
17. Kapitel Mutter Gastya Sie haben uns gesehen?«, flüsterte Winna. »Ich glaube schon«, sagte Aspar und zog seine Hose an. »Hast du gesehen, was die Hexenlichter getan haben? Jemand hat sie gerufen. Sie werden wissen, wo wir sind, Hexenlichter versammeln sich immer um Personen.« »Vielleicht sind die Lichter ja nur deshalb hinuntergeflogen, weil dort mehr Leute sind.« »Vielleicht. Ich bezweifle es, so plötzlich, wie sie davongestoben sind. Und dann dieses Hornsignal. Wenn der Mann mit der Augenklappe wirklich Fend war - er verfügt über ein wenig Magie. Ich zweifle nicht daran, dass er Hexenlichter herbeirufen kann. Also beeil dich und zieh dich an. Wir haben vielleicht nicht viel Zeit.« Er fluchte im Stillen, während er seine Hose hochzerrte und sich das Hemd über den Kopf zog. Augenblicke zuvor schien ihre Liebelei das Risiko noch wert gewesen zu sein. Jetzt - für wie alt hielt er sich eigentlich? Er wusste es doch besser. Wenn er gewusst hätte, dass Fend einer ihrer Verfolger war ... »Fertig«, sagte Winna. Sie klang nicht, als hätte sie Angst. »Hier.« Aspar zog die Riemen seines Lederharnischs fest, riss zwei der schimmernden Kristallkugeln von den Bettpfosten und reichte Winna eine davon. »Es ist nicht viel«, sagte er, »aber jetzt, wo die Hexenlichter weg sind, ist es das Beste, was wir haben. Und jetzt hier entlang.« 257 Er trat durch den Türbogen auf den Balkon. Ohne die Hexenlichter war dort nur Leere, und der blasse Schein der Kristallkugeln reichte nicht aus, um sie zu füllen. Aspar wog den Kristall in der Hand und versuchte, sich daran zu erinnern, wo der andere Balkon war. Dann warf er die Kugel. Sie prallte mit einem silbrigen Klirren auf, und ein jähes, vages Licht erblühte. Der Balkon erschien, von einem niedrigen Eisengeländer umgeben, das in Form von Schlangen mit Kronen und gefiederten Schwänzen geschmiedet war. »Kannst du bis dort springen?«, fragte Aspar Winna. Sie kniff die Augen zusammen. »Ja.« »Dann tu es. Schnell, gleich verschwindet das Licht wieder. Wenn du drüben bist, geh hinein und such alle Wege, die von diesem Stockwerk wegführen - nach oben, nach unten, aus den Fenstern. Ich komme gleich nach.« »Was hast du vor?« »Die Tür zum Treppenhaus verkeilen. Vielleicht denken sie, wir wollen uns hier drinnen verbarrikadieren.« Sie nickte, wappnete sich und sprang. Im selben Augenblick wusste Aspar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Winna hatte keine Ahnung, ob sie so weit springen konnte, sie hatte es nur behauptet, um ihm zuliebe zuversichtlich zu klingen. Fast schaffte sie es trotzdem, doch sie streifte das niedrige Geländer und verlor das Gleichgewicht. Einen tiefen Abgrund und steinerne Straßen im Rücken, fuchtelte sie wild mit den Armen. Aspar hielt den Atem an, bemühte sich, nicht ihren Namen zu rufen; alles Blut schoss ihm in den Kopf, es juckte ihn in den Fingern, sie zu packen. Er beugte sich vor, um zu springen, in der schwachen Hoffnung, sie irgendwie zu erreichen, ehe sie fiel, doch da hatte sie sich schon wieder gefangen - indem sie sich mit Schwung seitlich auf den Balkon setzte. Winna drehte sich um, schenkte ihm ein unsicheres Grinsen, dann versuchte sie ihr Glück mit der Balkontür. Sie schwang auf. Erneut drehte sie sich um, formte mit dem Mund die Worte Mach schnell!, dann schlüpfte sie hindurch. 258 Aspar stieß die Luft aus, die er angehalten hatte, zog Axt und Dolch und kehrte ins Zimmer zurück. Er schlich die Wendeltreppe hinunter, die sie vor Stunden hinaufgestiegen waren, und zwang seine Muskeln, sich zu lockern, und seinen Atem, ruhig und stetig zu bleiben. Ohne Hexenlichter oder Kristallkugeln war es stockfinster. Es roch nach totem Laub. Er erreichte den ersten Absatz und horchte. Als er nichts hörte, fragte er sich, ob er sich geirrt hatte. Vielleicht wusste niemand, dass sie hier waren. Leise wie ein Nebelstreif in der Nacht glitt er weiter treppab war ts. Auf dem nächsten Absatz hielt er an und kauerte sich hin, um zu lauschen. Er hörte seinen eigenen Atem - und noch etwas anderes. Aspar schloss die Augen - unnötigerweise, denn er konnte sowieso nichts sehen, doch es half ihm, sich zu konzentrieren. Langsam und tief holte er Atem, schmeckte die Luft, roch nichts als Staub. Er hielt die Luft in der Lunge. Dann war kein Laut mehr zu vernehmen, doch er rührte sich trotzdem nicht. Immer noch hingekauert, wartete er. Und dann ein Atemzug, nicht seiner. Er hörte ihn nicht; er spürte ihn auf seinem Gesicht. Aspar stach heftig mit dem Dolch zu, aufwärts, und fühlte, wie die Klinge auf einen Kettenpanzer traf. Ein Ächzen und ein sausendes Geräusch, als etwas an seinem Gesicht vorbeifuhr, waren das Resultat. Aspar griff zu, tastete nach Oberarmen, spürte, wie etwas von hinten gegen seinen Harnisch prallte. Sein unsichtbarer Feind brüllte daraufhin auf, was Aspar half, das Gesicht seines Gegners ausfindig zu machen. Ein Helm dröhnte unter der Klinge seiner Axt, und er rammte den Dolch in etwas Weiches, dort, wo eigentlich die Kehle des anderen sein sollte. Er hatte richtig geraten, der Schrei erstarb in einem Gurgeln. Dann trat ihn etwas mit der Wucht eines ausschlagenden Maultiers gegen die Brust, einen oder zwei Fingerbreit
rechts vom Brustbein. 259 Goldene Blitze barsten im Innern seiner Augen, als er einen Abwärtshieb führte, auf einen stabilen Holzschaft traf und begriff, dass ein Speer aus ihm herausragte und jemand sich immer noch dagegen stemmte. Es tat so weh, dass er sicher war, dass die Spitze durch das harte Leder seines Harnischs gedrungen war, doch er konnte nicht sagen, wie tief. Er drehte sich von der Wucht des Speerstoßes weg und schlug mit seiner Axt zu. Die Waffe traf etwas Fleischiges, und irgendjemand heulte auf. Der Speer in Aspars Brust hing frei herab und wurde gleich darauf von seinem eigenen Gewicht aus dem Harnisch herausgerissen. Auch das schmerzte, so sehr, dass Aspars Knie einknickten. Vielleicht rettete ihn das vor dem, was über seinen Kopf hinwegzischte und gelbe Funken aus der Wand schlug, was immer es auch gewesen sein mochte. In jenem kurzen Lichtschein gerann ein Schatten, und Aspar fuhr aus seiner Kauerstellung auf, trieb seinen Dolch durch einen Unterkiefer und höher hinauf ins Gehirn. Er stieß den zuckenden Körper heftig weg und hörte ein Stück weiter unten jemanden stöhnen, als er aufschlug. »Ihr Narren!«, brüllte eine andere Stimme von noch weiter unten im Treppenschacht. »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt warten, bis -so!« Plötzlich wogten Farben durch das Treppenhaus, als ein Schwärm Hexenlichter um die Biegung des nächsten Absatzes geflogen kam und Aspar umringte wie hungrige Blutfliegen. In ihrem Licht sah er drei Sefry auf einem Haufen, zwei davon wahrscheinlich tot, und ein dritter versuchte ein Stück weiter unten, seine halb abgetrennte Hand wieder an seinen Arm anzufügen. Hinter den Lichtern kamen mindestens vier weitere um die Biegung. Einer hatte eine Augenklappe, doch Aspar wusste bereits, dass es Fend war; er hatte die Stimme wieder erkannt. Fast wäre er den Treppenschacht hinunter gesprungen und hätte sich auf sie gestürzt. Möglicherweise konnte er Fend töten, ehe er starb. Doch wenn ihm das nicht gelang, würde Fend Winna fangen. Und 260 wenn Aspar es schaffte, den Sefry-Bastard zu töten, würden seine Männer ihn wahrscheinlich trotzdem umbringen und dann Winna fangen. Also hob Aspar den Speer vom Boden auf und rannte, in Hexenlichter gehüllt, die Treppe wieder hinauf. Oben angekommen schlug er die Tür zu, legte den Riegel vor und klemmte den Speerschaft schräg darunter. Er berührte seine Brust, und seine Finger waren klebrig, als er sie hochhielt. Es war nicht hell genug, um zu sehen, wie weit die Speerspitze eingedrungen war. Er könnte einen Finger in die Wunde stecken, um zu überprüfen, wie tief sie war, doch ihm war ohnehin schon leicht übel, und dann müsste er sich vielleicht übergeben. Im Augenblick konnte er sich das nicht leisten. Also achtete er nicht weiter auf die Wunde und folgte Winna, landete auf dem Balkon und trat in das gegenüberliegende Haus, wo Winna auf ihn wartete. »Wo warst du denn?«, wollte sie wissen. »Ich habe ein paar getötet. Sie werden bald kommen. Wir müssen uns beeilen. Hast du einen Weg gefunden, auf dem wir weiterkommen?« »Warte«, sagte Winna. Sie hob einen großen Korb und kippte ihn aus. Glasscherben ergossen sich mit melodischem Klirren auf den Balkon. »Ich habe ein paar Vasen gefunden und sie zerschlagen. Sollen sie ruhig darauf landen, wenn sie hinter uns herspringen.« »Gut überlegt«, lobte Aspar und verspürte ein Aufwallen von Stolz. »Jetzt lass uns gehen.« »Also dann, da hinaus«, sagte sie. »Wir sollten noch nicht hinuntergehen. Ich glaube, ich habe einen besseren Weg entdeckt. Ich konnte nicht sehr weit sehen, aber jetzt, wo wir die Hexenlichter wiederhaben, sind wir sicher.« Er folgte ihr zum nächsten Fenster, das im rechten Winkel zu der Balkontür lag, durch die sie gekommen waren. Dahinter waren Dächer, steil, schindelgedeckt und nahe. Sie sprangen hinaus, Winna zuerst, und tasteten sich über polierte 261 Dachziegel um die Basis eines steil abfallenden Türmchens herum, wobei sie sich bemühten, ihre leuchtende Eskorte aus jeglicher Blicklinie herauszuhalten, die ihre Verfolger vielleicht haben mochten. Aspar schaute oft zurück. Auf der anderen Seite des Türmchens mussten sie wieder springen, doch diesmal war es nicht viel mehr als ein langer Schritt. Die steile Neigung des Daches machte das Landen allerdings nicht gerade leicht. So ging es weiter, Dach um Dach. Unglücklicherweise fühlte Aspar, wie seine Kräfte nachließen, und ihm wurde ein wenig schwindlig. Als sie den Rand des vierten Daches erreichten, versagten seine Füße ihm den Dienst, und er rutschte aus. Die Dachziegel boten seinen verzweifelt zupackenden Fingern keinen Halt, und er glitt über die Kante, landete jedoch hart auf dem Geländer des darunter liegenden Balkons, das seinen Sturz lange genug aufhielt, dass er die Eisensprossen zu fassen bekam. Als er sich auf den Balkon hinaufgezogen hatte und wieder zu Atem gekommen war, hatte Winna sich bereits neben ihn fallen lassen.
»Ist alles in Ordnung? Haben sie -« Ihre Augen weiteten sich. »Du blutest ja!« »Ich glaube, mit den Dächern sind wir fertig«, brummte er. »Lass uns auf die Straße hinuntergehen.« »Aber du blutest«, wiederholte sie. »Mir geht es gut. Wir können jetzt nicht darüber streiten, Winna. Wir müssen in Bewegung bleiben und uns versteckt halten. Irgendwann finden wir einen Weg hinaus, oder sie geben es auf.« Es sei denn, Fend weiß, wen erjagt. Er wird nicht aufgeben, wenn er weiß, dass ich es bin. »Diesmal suchen wir uns etwas ohne Fenster.« In der Ferne hörte er wieder das Hörn und fluchte, als die Hexenlichter, die um sie herumgeschwebt waren, plötzlich emporstoben wie ein bunter Springbrunnen. Sie schössen hinauf zur Höhlendecke und stießen dann wie ein Schwärm zorniger Bienen wieder auf Aspar und Winna herab. Aspar sagte nichts. Es war auch nicht nötig; Winna wusste, was soeben geschehen war. 262 »Nach unten«, sagte sie. Hufschläge auf Pflastersteinen begrüßten sie, als sie auf die Straße hinaustraten, obgleich Aspar nicht genau ausmachen konnte, woher sie kamen. Das mächtige Gewölbe der Höhle und die engen Straßen der Stadt spielten Prellball mit Geräuschen. Er und Winna huschten mehr oder weniger aufs Geratewohl geduckt in Gassen hinein und wieder heraus. Aspars Füße schienen ihm weit weg zu sein. Und er begann sich zu fragen, ob der Speer vielleicht vergiftet gewesen war. So viel Blut hatte er doch gewiss nicht verloren. »Wohin?«, flüsterte Winna, als sie an eine Kreuzung kamen. Ein Pfosten in der Mitte war mit einem geschnitzten Kopf mit vier Gesichtern verziert. Alle hatten hervorquellende Fischaugen. »Grim!«, brummte er. »Entscheide du.« »Aspar, wie schwer bist du verletzt?« »Ich weiß es nicht. Such dir eine Richtung aus.« Die Hexenlichter hatten sie erneut verlassen, und ihnen blieb nur die Kristallkugel, um ihnen den Weg zu zeigen. Sie wählte, und wählte aufs Neue. Aspar schien den Ereignissen einen Moment lang nicht richtig folgen zu können, und das Nächste, was er mitbekam, war, dass er flach auf dem Kopfsteinpflaster lag. Wenn er den Kopf ein wenig hob, konnte er den zerschlissenen Saum von Winnas Rock sehen, und er hörte Wasser plätschern. Er lag am Rand eines Kanals. Ihre Hexenlichter waren wieder da. »... auf, du verdammter Narr!«, drängte Winna. In ihrer Stimme schwang mehr als nur ein bisschen Panik mit. Er half ihr dabei, ihn zum Sitzen aufzurichten. »Du wirst ohne mich gehen müssen, Winna«, brachte er hervor. »Eher bleibt ein Ei in einer Schlangengrube heil«, erwiderte Winna. »Mir zuliebe. Ich kann nicht zulassen, dass Fend - ich kann nicht zulassen, dass er noch jemanden tötet, den -« Er verstummte und packte ihren Arm, als etwas Großes aus der Gasse hervortrat. »Dreh 263 den Kopf weg«, keuchte er. »Sieh ihn nicht an.« Er zog seine Axt und hielt die flache Seite hoch wie einen matten Spiegel. Aber die Klinge war mit Blut bespritzt, und alles, was er erkennen konnte, war ein schwaches, gelbes Leuchten. Doch der Gryffin war da, am Ende der Gasse, größer als ein Pferd. Aspar spürte das widernatürliche Licht, das von ihm ausging, auf seinem Gesicht. »Der Gryffin?«, fragte sie mit bebender Stimme. Sie hatte getan, was er ihr gesagt hatte, Grim sei Dank, und hielt die Augen abgewandt. »Ja. In den Kanal mit dir. Schau nicht zurück.« »In den Kanal mit euch beiden. Oder in mein Boot, wenn euch das lieber ist.« Die Stimme klang kehlig, sogar heiser, als spräche sie entweder zu oft oder nicht genug. Aspar spähte in die Dunkelheit und konnte eine verhüllte Gestalt in einer schmalen Gondel erkennen, direkt am Rand des Kanals. Dann stellte er fest, dass er hierbei nicht viel zu sagen hatte. Ächzend rollte Winna ihn vom Uferrand in das Boot und folgte ihm dann. Als sich die Gondel in Bewegung setzte, erhob sich hinter ihnen eine Art Schnarren; es begann kaum hörbar und stieg dann zu einem jähen, unerträglich schrillen Kreischen an. Aspar spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Winna begann zu schluchzen, dann zu würgen, und schließlich erbrach sie sich ins Wasser. Sie fuhren unter einem Torbogen hindurch, den Aspar zunächst für eine Brücke hielt, doch er erstreckte sich weiter und immer weiter, ein Loch innerhalb eines Loches, wahrscheinlich der Eingang zur Hölle, zum Reich von Staub und Blei. Aber Winnas Hand fand die seine, und das alles kümmerte ihn nicht, und eine andere Art von Nacht trug ihn mit sich fort. Als er erwachte, roch er das vertraute Aroma von Spinnenlilientee und Herdstein, fühlte Finger auf seinem Gesicht und ein dumpfes Fieber in seiner Brust. Er versuchte, die Augen zu öffnen, doch seine Lider wollten sich nicht bewegen. Sie fühlten sich an wie zugenäht. 264 »Er wird wieder gesund«, sagte eine Stimme. Es war die kehlige, alte Stimme von dem Boot. »Er ist stark«, erwiderte Winnas Stimme. »Das bist du auch.«
»Wer seid Ihr?«, krächzte Aspar. »Ah. Hallo, Findelkind. Mein Name - ich weiß meinen richtigen Namen nicht mehr. Nenn mich einfach - nenn mich Mutter Gastya.« »Mutter Gastya. Warum habt Ihr uns gerettet?« Ein langes Schweigen. Dann ein Husten. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich muss euch etwas sagen. Ich vergesse, versteht ihr?« »Was vergesst Ihr?« »Alles.« »Erinnert Ihr Euch daran, wo all die anderen hingegangen sind? Die Sefry aus der Stadt?« »Sie sind fortgegangen«, krächzte Mutter Gastya. »Natürlich sind sie fortgegangen. Nur ich bin geblieben.« »Aber die Männer, die uns gejagt haben, waren Sefry«, wandte Winna ein. »Nicht aus diesen Häusern. Ich kenne sie nicht. Und sie kamen mit dem Sedhmhar. Sie kamen, um mich zu töten.« »Sedhmhar. Der Gryffin?« »Ihr nennt ihn so.« »Was ist er, Gastya?«, fragte Aspar. »Der Gryffin.« »Er ist der Traum des Waldes vom Tod. Der entsetzte Blick, bevor die Augen sich verdrehen. Die Made, die aus der Wunde gekrochen kommt.« »Was bedeutet das?«, wollte Winna wissen. Der Ärger verlieh Aspar endlich genug Kraft, um die Augen zu öffnen, obgleich sie so schwerfällig waren wie Eisenklappen. Er befand sich in einer kleinen, spärlich eingerichteten Höhle. Im Hexenlicht konnte er Winnas Gesicht erkennen, jung und hübsch. Ihr gegenüber saß die älteste Sefry, die Aspar je gesehen hatte. Im Vergleich zu ihr wirkte Mutter Cilth wie ein Kind. »Die Sefry können sich nicht deutlich ausdrücken, Winna«, knurr265 te Aspar. »Nicht einmal, wenn sie es wollen. Sie lügen so viel und so oft, dass es ihnen einfach nicht möglich ist.« »Du findest die Kraft, mich zu beleidigen«, stellte die alte Frau fest. Ihre silberblauen Augen hefteten sich auf ihn, und er verspürte einen verschwommenen Schock, als ihr Blick ihn traf. In ihrem Gesicht war nichts mehr zu lesen; es sah aus, als sei die Haut abgezogen, gegerbt und wieder über ihren Schädel gespannt worden. Eine Maske. »Das ist gut.« »Wo sind wir?« »Im uralten Hisli-Schrein. Die Geächteten werden uns hier nicht finden, jedenfalls eine Zeit lang nicht.« »Wie zuversichtlich Ihr mich stimmt«, erwiderte Aspar. »Sie hat uns das Leben gerettet, Aspar«, mahnte Winna. »Das bleibt abzuwarten«, brummte Aspar. »Wie schwer bin ich verletzt?« »Die Brustwunde ist nicht tief«, antwortete Gastya. »Aber der Speer war mit der Ausdünstung der Sedhmhari vergiftet.« »Dann sterbe ich.« »Nein. Nicht heute. Das Gift ist herausgezogen worden. Du wirst leben, und dein Hass mit dir.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Dein Hass. So eine Verschwendung. Jesperedh hat ihr Bestes getan.« »Woher wisst... Sind wir uns schon einmal begegnet?« »Ich wurde hier in Rewn Aluth geboren. Ich habe es nie verlassen.« »Und ich bin noch nie hier gewesen. Woher wisst Ihr es also?« »Ich kenne Jesperedh. Jesperedh kennt dich.« »Jesp ist tot.« Die uralte Frau blinzelte und lächelte, dann hob sie in einem höflichem Achselzucken die Schultern. »Wie du willst. Doch was deinen Hass angeht - Menschen zu umsorgen ist keine leichte Aufgabe, verstehst du. Bei den meisten Clans ist es verboten. Jesperedh hätte dich sterben lassen können.« »Das hätte sie tun können«, stimmte Aspar zu. »Ich bin ihr dankbar. Nur dem Rest von euch nicht.« »Das ist verständlich«, räumte Gastya ein. 266 »Warum haben die anderen Sefry Rewn Aluth verlassen?« Mutter Gastya schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das weißt du doch«, erwiderte sie. »Der Dornenkönig erwacht, und der Sedhmhar streift umher. Unsere uralten Orte sind nicht länger sicher. Wir wussten, dass sie nicht sicher sein würden, wenn die Zeit kommt. Wir haben Pläne geschmiedet. Alle großen Rewns des Waldes stehen jetzt leer.« »Aber warum} Ihr alle zusammen hättet den Gryffin doch gewiss besiegen können.« »Hmm? Vielleicht. Aber der Gryffin ist bloß ein Vorbote. Schwert und Speer und Hexerei werden das, was ihm folgt, nie besiegen. Wenn das Wasser steigt, warten wir nicht auf die Flut, wir Sefry Unsere Boote sind schon lange gebaut.«
»Aber der Gryffin kann getötet werden«, beharrte Aspar. »Möglich. Und wenn schon.« »Gebt mir eine klare Antwort, verdammt noch mal. Mutter Cilth wollte, dass ich irgendetwas tue. Was?« »Ich ...« Sie hielt inne. »Ich erinnere mich. Sie wollte, dass du mich findest. Mich und den Dornenkönig. Mehr weiß ich auch nicht.« »Und der Gryffin wird mich zum Dornenkönig führen?« »Es wäre besser, wenn du ihn erreichst, bevor der Gryffin es tut«, murmelte Mutter Gastya. »Wieso? Und wie soll ich das machen?« »Was das Erste betrifft, das ist nur ein Kribbeln in meinem Verstand. Und das Zweite - folge dem Slagish in die Hasenberge, halt dich immer an die südlichsten und östlichsten Flussläufe. Zwischen ihrem Quellgebiet und den Hahnensporen befindet sich ein hoch gelegenes Tal.« »Nein, das stimmt nicht«, widersprach Aspar. »Ich war dort.« »Doch.« »Sceat.« Die Greisin schüttelte den Kopf. »Es war immer schon da, aber hinter einer Art Mauer. Eine Bresche ist darin entstanden. Folge dem Tal abwärts, durch die Dornenmulden. Dort wirst du ihn finden.« 267 »So ein Tal gibt es nicht«, widersprach Aspar starrköpfig. »So etwas kann man nicht verstecken. Aber nehmen wir mal an, es wäre doch so. Nehmen wir an, Schweine würden es mit Gänsen treiben und alles, was Ihr sagt, wäre wahr. All das angenommen - warum soll ich tun, was Mutter Cilth von mir verlangt? Was soll das nützen?« Mutter Gastyas Augen schienen zu flackern wie fernes Wetterleuchten. »Weil du dann glauben wirst, Aspar White. Nur wenn du ihn siehst, wirst du das tun. Und um zu tun, was du tun musst, musst du zuerst glauben, in der tiefsten Tiefe deines Blutes.« Aspar rieb sich die Stirn. »Ich hasse Sefry«, murmelte er. »Ich hasse euch alle. Wieso ich? Wieso muss ich das tun?« Sie zuckte mit den Schultern. »Du siehst sowohl mit den Augen der Sefry als auch mit denen der Menschen.« »Warum sollte das einen Unterschied machen?« »Es wird einen Unterschied machen. Menschlichen Atem soll er atmen und menschliche Seele ihn umtreiben, doch sein Blick soll Sefry-Schärfe besitzen und die Farben der Nacht wahrnehmen. So lautet die Prophezeiung.« »Prophezeiung? Grim verdamme dich. Ich -« Das Echo einer Stimme ließ ihn jäh verstummen. »Was war das?« »Die Geächteten. Sie kommen, um dich zu holen.« »Ich dachte, du hättest gesagt, sie könnten uns nicht finden.« »Nein. Ich habe gesagt, sie würden uns finden, wenn die Zeit reif ist. Diese Zeit ist nahe. Aber sie werden dich nicht finden. Nur mich. Nehmt mein Boot und lasst euch von der Strömung stromabwärts tragen. Bald werdet ihr Licht sehen und darauf zuhalten.« »Warum kannst du nicht mitkommen?« »Das Licht wäre mein Ende, und es gibt Dinge, die ich vorher noch tun muss.« »Fend wird dich töten.« Daraufhin krächzte Gastya leise und legte ihre Hand kurz auf die von Aspar. Mit einem schrecklichen Frösteln sah und fühlte er keinerlei Fleisch auf ihren Fingern, nur kalte, graue Knochen. »Geht«, sagte Mutter Gastya. »Aber nimm dies hier mit.« Die Knochen ihrer 268 Hand öffneten sich und ließen eine kleine, wachsartige Kugel in seine Handfläche fallen. »Das zieht das Gift heraus. Vielleicht bist du noch nicht gesund. Wenn es dir wieder schlechter geht, drück sie gegen die Wunde.« Aspar nahm die Kugel und starrte ihre Hand an. »Komm, Winna«, murmelte er. »J-Ja.« »Das Boot ist dort drüben«, sagte Gastya und deutete mit dem Kinn. »Verweile nicht. Finde ihn.« Aspar antwortete nicht. Ein Schauer lief ihm immer wieder den Rücken hinauf und hinunter, wie eine Maus in einer Röhre. Er fürchtete, dass seine Stimme beben würde, wenn er sprach. Er ergriff Winnas Hand, und sie gingen in Richtung Boot. Doch als das Wasser die Gondel an den behauenen Steinpfosten vorbeigetragen hatte, die den Hisli-Schrein kennzeichneten, und sie in einen niedrigen Tunnel hineintrieben, fort von Mutter Gastya und ihrer hohlen, verwitterten Stimme, drückte Winna seine Finger. »War sie tot, Aspar? War sie wirklich tot?« »Ich weiß es nicht«, brummte er. »Die Sefry behaupten - sie sagen, ihre Magie könne solche Dinge zuwege bringen. Ich habe das nie geglaubt. Niemals.« »Aber jetzt glaubst du es?« »Es könnte ein Blendzauber gewesen sein. Wahrscheinlich war es ein Blendzauber.« Lange danach schienen seltsame Geräusche den Tunnel hinunterzutreiben. Es hätten Schreie sein können wessen Schreie jedoch, wusste Aspar nicht zu sagen. 269 18. Kapitel
Reisepläne Majestät!«, protestierte die Wache. »Ihr könnt doch nicht - Ich meine, es ist -« Muriele blickte finster zu dem hoch gewachsenen Burschen mit dem fliehenden Kinn auf. Er hatte einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart und trug einen makellosen blauweißen Überwurf des Hauses Gramme. Sein Name wollte Muriele nicht einfallen, und sie gab sich auch keine besondere Mühe. »Was kann ich nicht?«, fuhr sie ihn an. »Bin ich Eure Königin oder nicht?« Der Mann zuckte zusammen, verbeugte sich, und verbeugte sich gleich noch einmal, so wie er es schon vom ersten Augenblick an getan hatte. »Ja, Majestät, gewiss, aber -« »Und ist Lady Gramme nicht mein Untertan und Gast im Hause meines Gemahls?« »Ja, Majestät, natürlich, aber -« »Aber was? Dies sind meine Gemächer, Sir, auch wenn Eure Herrin darin wohnt. Aus dem Weg, damit ich eintreten kann. Es sei denn, Ihr wisst einen Grund, warum ich es nicht tun sollte.« »Bitte, Majestät. Die Witwe Gramme ... hat Besuch.« »Besuch? Sie müsste wahrhaftig Besuch vom König selbst haben, dass Ihr Euch meinen Wünschen widersetzt. Wollt Ihr, Sir, mir sagen, dass Lady Gramme Besuch von meinem Gemahl hat?« Einen langen Moment stand der junge Ritter einfach da und probierte verschiedene Lippenstellungen aus, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben. Er blickte von Muriele zu Erren und dann zu dem jungen Ritter, Neil MeqVren, der mit der Hand am Schwertgriff dastand. Dann seufzte er. »Nein, Majestät. Das will ich Euch nicht sagen.« »Nun denn. Öffnet die Tür.« 270 Einen Augenblick später betrat sie mit großen Schritten die Gemächer Lady Grammes. Adlainn Selgrene Grammes Zofe - ließ ihre Stickerei fallen und stieß einen kleinen Schrei aus, als Muriele auf das Schlafzimmer zumarschierte, doch auf einen scharfen Blick von Erren hin verstummte die kleine Blondine. Muriele blieb vor der Doppeltür stehen und richtete das Wort an Neil und Erren, ohne sie anzusehen. »Bleibt einen Moment draußen«, sagte sie. »Gebt ihnen Zeit, sich zu bedecken.« Dann griff sie nach der Klinke und stieß die Türflügel auf. Lady Gramme und William IL waren auf dem riesigen Bett in einem Durcheinander aus rosigen Gliedmaßen ineinander verschlungen. Die Menschen sehen beim Geschlechtsakt ziemlich lächerlich aus, dachte Muriele seltsam unbeteiligt. Hilflos und albern, wie Säuglinge, nur ohne deren Liebreiz. »Bei allen Heiligen!«, sagte Muriele mit unbewegtem Gesicht. »Was tut Ihr da mit meinem Gemahl, Lady Gramme?« Gramme kreischte, ein Laut der Empörung, völlig frei von jeglicher Furcht, und der König stieß eine Art Stiergebrüll aus, doch sie krochen beide hastig unter die Bettdecke. »Muriele, was im Namen der Heiligen -«, schrie William mit hochrotem Gesicht. »Wie könnt Ihr es wagen, in meine Gemächer einzudringen -«, heulte Gramme. Mit einer Hand nestelte sie an ihren aschblonden Locken herum, während sie mit der anderen die Decke hochzog. »Still, alle beide!«, schrie Muriele. »Besonders Ihr, Lady Gramme. Dass jeder ... hierüber Bescheid weiß, macht es in den Augen der Kirche nicht rechtens. Mein Mann mag über kirchliche Strafen erhaben sein, aber ich versichere Euch, Ihr seid es nicht, und er wird sich mir -in diesen Zeiten - auch nicht in den Weg stellen, wenn ich darauf bestehen sollte.« »Muriele -« »Nein, schweig, William. Es droht Krieg, oder? Mit welcher Familie würdest du es lieber auf ein Zerwürfnis ankommen lassen? Mit der meinen, mit ihrer unvergleichlichen Flotte und ihren Legionen von 271 Rittern? Oder mit der dieser Hure, deren Vater den Befehl über vierzig Tölpel führt, die Kochtöpfe als Helme tragen und auf dürren Schindmähren reiten?« Gramme erfasste die Drohung rascher als William. Ihr Mund klappte in der Tat hurtig zu, obgleich sie vor Zorn den Tränen nahe war. Auch William gab nach. Er biss sich auf die Unterlippe. »Was willst du, Muriele?«, fragte er müde. »Dein Gehör, Gemahl. Man hat mir mitgeteilt, dass ich per Schiff nach Cal Azroth eskortiert werden soll. Ich kann mich nicht erinnern, beschlossen zu haben, dass ich dorthin will. Und ich kann mich nicht erinnern, gefragt worden zu sein.« »Ich bin immer noch dein Ehemann. Ich bin immer noch König. Muss ich um Erlaubnis bitten, meine Frau in Sicherheit zu bringen? Du wärst beinahe getötet worden!« »Ich nehme deine Besorgnis zur Kenntnis. Wolltest du das mit Lady Gramme besprechen? Deine tief empfundene Sorge um mein Wohlergehen?« William beachtete den Seitenhieb nicht. »In Eslen bist du nicht sicher, Muriele. So viel ist klar. Es wird in Cal Azroth viel leichter sein, dich zu bewachen. Für so etwas wurde die Burg gebaut.« »Dann schick den ganzen Hofstaat dorthin, nicht nur mich.« »Das geht nicht. Ich muss hier sein, in der Nähe der Flotte. Aber Fastia, Elseny, Anne und Charles werden dich begleiten. Ich werde auch meine Kinder keiner Gefahr aussetzen, wenn sich hier Meuchelmörder herumtreiben.«
»Ich will diesen Schutz nicht. Schick die Kinder, wenn du willst.« Williams Miene verschloss sich. »Erren, redet mit Eurer Herrin.« Aus dem Augenwinkel sah Muriele, dass Erren und Sir Neil einen Moment lang abgewartet hatten, wie sie es gewünscht hatte, und jetzt ebenfalls das Zimmer betraten. »Sie weiß bereits, wie ich darüber denke, Majestät«, erwiderte Erren. »Lady Erren, zumindest Ihr müsst doch einsehen, dass es so am besten ist.« 272 Erren verneigte sich höflich. »Ja, Majestät. Wenn Ihr es sagt, Majestät.« »Nun, ich sage es!« Jäh sprang William aus dem Bett und hob einen Morgenmantel vom Boden auf. Er warf ihn sich um die Schultern. »Muriele«, knurrte er. »Komm mit in Lady Grammes Sonnenzimmer. Sofort. Ihr anderen wartet hier. Ich bin euer König, verdammt sollt ihr alle sein. Vergesst das nie!« William stützte sich auf das Fensterbrett und betrachtete den Sonnenuntergang. Er sah Muriele beim Sprechen nicht an. »Das war kindisch, Muriele, kindisch und schädlich. Was wird man sich jetzt am Hof erzählen? Wolltest du wirklich, dass Lady Gramme denkt, ich erzähle dir gar nichts? Wolltest du, dass sie das verbreitet?« Muriele würgte die Tränen hinunter. »Du erzählst mir ja auch nichts, verdammt sollst du sein. Wenn ich dein Ohr nicht habe, warum soll irgendjemand denken, es wäre doch so? Mir ist es lieber, man hält mich für verschmäht als für dumm, Gemahl.« William blickte sie mit erschreckend erschöpfter Miene an. »Dies ist nicht der normale Verlauf unseres Lebens«, wehrte er ab. »Wenn alles seinen Gang geht, vertraue ich mich dir an und frage nach deiner Meinung. Das hier habe ich verschwiegen, weil ich wusste, du würdest nicht gehen wollen, und es ist notwendig, dass du gehst. Du hast Recht, allenthalben droht Krieg, und sie haben schon einmal versucht, dich zu töten. Ich weiß nicht einmal, wie sie das gemacht haben. Ich würde eine Menge darauf wetten, dass auch deine tödliche alte Erren es nicht weiß.« »Wie kommst du dann darauf, dass ich in Cal Azroth sicherer wäre?« »Weil Cal Azroth von all unseren Festungen am besten geeignet ist, Meuchelmörder abzuwehren, Magie und Hexerei und den bösen, geflügelten Tod oder was immer sonst noch kommt. In der Burg steht eine volle Garnison, also würdest du dort auch dann in Sicherheit sein, wenn sie eine Armee auf dich ansetzen. Du kennst Cal Azroth doch, Muriele. Siehst du es denn nicht ein?« 273 »Es ist leichter, etwas am helllichten Tag einzusehen, als wenn es sich im Finstern von hinten an einen heranschleicht. Ich erfahre mein Los nicht gern durch Gerüchte. Noch vor vier Jahren hättest du mich niemals so behandelt. Jetzt tust du es ständig. Wird Grammes Geflüster in deinem Kopf lauter? Denkst du tatsächlich darüber nach, mich als Königin zu ersetzen?« Auf diese Worte hin senkte sich etwas über Williams Gesicht, etwas, das sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Unfähig, ihrem Blick zu begegnen, wandte er sich ab. »Alle Könige haben Geliebte, Muriele. Auch dein eigener Vater.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« Er drehte sich wieder zu ihr um. »Du bist meine Königin, meine Gemahlin, und ich glaube, meine Freundin.« »Einst waren wir Freunde«, sagte sie, leiser jetzt und ein wenig verwirrt. »Ich kann nicht zulassen, dass du getötet wirst. So einfach ist das. Ich kann ohne Ambria leben, oder Alis, ohne jede von den anderen. Ohne dich ...« Seine Hände sanken hilflos neben seinem Körper herab. »König zu sein ist schon schwer genug, auch ohne dass du von mir verlangst, als Mann besser zu sein. Das hast du noch nie getan. Du hast nicht ein Wort über meine Geliebten verloren. Warum suchst du dir gerade diesen Augenblick aus, wo alles am schlimmsten und am schwächsten ist, um so ... so ... auszubrechen}« Trotzig hob sie das Kinn. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil ich mich zum ersten Mal wirklich unerwünscht gefühlt habe. Nachdem ich fast ermordet worden wäre, bist du zu mir gekommen. Du warst zärtlich, so wie früher. Und dann, puff! Nichts. Als könntest du mir in dieser einen Nacht all meine Angst nehmen. Und jetzt willst du mich wegschicken, wie ein Kind, ohne auch nur mit mir zu reden? Das ist unerträglich.« Er senkte den Kopf. »Heute Nacht. Können wir nicht heute Nacht darüber reden, wenn du dich ein wenig beruhigt hast?« »Du willst, dass ich in unser Bett steige, wenn du noch ihren Gestank an dir hast? Wenn ich es genau weiß? Was denkst du eigentlich 274 von mir? Dass ich überhaupt keinen Stolz habe? Ich bin eine de Liery, Wilm, verdammt noch mal!« Sie wusste, dass sie gleich anfangen würde zu weinen, wenn sie nicht sofort ging. »Ich werde gehen. Nicht um meinetwillen, aber wenn meine Kinder in Cal Azroth sicherer sind, werde ich sie dorthin bringen. Egal, was deine alberne -« Sie konnte nicht weitersprechen. Brüsk drehte sie sich um und ging eilig die Treppe hinunter und durch das Schlafzimmer. »Erren. Sir Neil. Zu mir, sofort.«
Ihre Schultern bebten, als sie auf den Flur hinaustrat. Als sie die Depren-Treppe erreichte, hatten die Tränen zu fließen begonnen. Neil ging langsam im Vorzimmer auf und ab und überlegte, was er tun sollte. Erst vor ein paar Stunden hatte er seinen Dienst als einziges Mitglied der Lier-Garde angetreten. Die Königin hatte kaum mehr als zwei Worte zu ihm gesagt, und ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte er seinem Herrscher - demselben König, der ihm gerade erst die Rose überreicht hatte! - gegenübergestanden, als dieser im Beisein seiner Geliebten völlig unbekleidet gewesen war. Jetzt hatte die Königin sich in ihrem Schlafgemach eingeschlossen, und Lady Erren war bei ihr. Die anderen Ritter, die der Königin zugeteilt waren, standen draußen auf dem Gang. Nur Neil wurde Zutritt zu ihren Gemächern gewährt. Vielleicht sollte er den Kopf zur Tür hinausstrecken und sie fragen, was er jetzt machen sollte, doch Vargus war nicht da, nicht einmal Sir James, und die anderen kannte er nicht. Eine Tür knarrte, und er drehte sich um, die Hand an Krähes Heft. Es war Lady Erren. »Ruhig, junger Recke«, sagte sie auf Lierisch. »Die Königin bittet um Entschuldigung. Sie war - wie Ihr wohl gesehen habt - zu bekümmert, um Euch angemessen im Stab ihrer Dienstboten willkommen zu heißen.« »Das macht doch nichts«, beteuerte Neil. »Dies ist eine so große Ehre für mich, dass ich es gar nicht beschreiben kann. Aber ...« »Aber Ihr habt Fragen, nicht wahr? Stellt sie mir.« 275 »Ich danke Euch, Lady Hauptsächlich geht es darum - was genau sind meine Pflichten?« Erren lächelte streng. »Das ist ganz einfach. Ihr beschützt die Königin. Nicht mich, nicht ihre Töchter, nicht ihren Gemahl, nicht den Kronprinzen - sondern die Königin. Immer und ausschließlich gilt Euer Augenmerk ihrer Sicherheit. Wenn Ihr das Leben des Königs retten könnt, indem Ihr zulasst, dass die Königin von einer Biene gestochen wird, müsst Ihr den König sterben lassen. Ist das einfach genug?« »Ja. Sehr einfach.« »In einem solchen Fall handelt Ihr nach eigenem Ermessen. Kein Auftrag und keine Pflicht dürfen Euch von ihrer Seite fern halten. Es ist gleichgültig, wer sie Euch auferlegt. Handelt immer so, wie Ihr es für das Beste haltet.« »Und die anderen Ritter? Die Handwerksmeister?« »Sie unterstehen nicht Eurem Befehl, falls Ihr das meint, noch Ihr dem ihren. Die Königin befehligt diesen Haushalt, und ich bin ihr General. Ihr gehorcht dem Befehl der Königin, dann meinem, dann dem des Königs. Wenn Ihr je meint, dass irgendein Befehl die Sicherheit der Königin gefährdet, müsst Ihr ihn ignorieren.« Sie hielt einem Moment lang inne. »Aber seid Euch dessen sicher. Ich will nicht, dass irgendein junger Vorwitz jeden Befehl in Frage stellt, den ich gebe. Ihr seid hier nicht der Stratege. Ihr seid der Wachhund. Ihr seid das Schwert. Ist Euch der Unterschied klar?« »Jawohl, Lady.« »Nun gut. Mit der Zeit werden wir eine richtige Lier-Garde zusammenstellen, und Ihr werdet ihr Hauptmann sein. Bis dahin bleiben die Dinge so, wie ich sie Euch dargelegt habe. Habt Ihr noch Fragen? Zum Beispiel über das, was gerade passiert ist?« »Keine Frage, die sich ziemt, glaube ich.« »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, es ist eine Frage, die ich dem König stellen würde, wenn sie nicht unverschämt wäre«, sagte Neil leise. Ein Ausdruck sowohl des Erschreckens als auch der Zustimmung 276 huschte über Lady Errens Gesicht. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Liebt sie«, sagte sie, »aber verliebt Euch nicht in sie. Sie vertraut Euch ihr Leben an, und ich möchte nicht, dass Ihr das völlig leidenschaftslos betrachtet. Aber verliebt Euch in sie, und sie ist so gut wie tot. Genauso gut könntet Ihr ihr das Messer selbst in den Leib stoßen. Versteht Ihr?« Neil versteifte sich. »Ich weiß, wo mein Platz ist, Lady.« »Dessen bin ich mir sicher. Das meine ich nicht.« »Ich weiß, was Ihr meint, Lady Erren. Ich bin vielleicht jung, aber ich bin kein Narr.« »Würde ich glauben, Ihr wärt einer, dann wärt Ihr nicht hier«, erwiderte Erren leise. »Und seid versichert, wenn ich je denke, dass Ihr einer seid, dann werdet Ihr sehr schnell verschwinden.« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »So. Willkommen im Stab. Ich muss für eine Weile fort.« »Sollte ich in diesem Fall nicht in ihrem Gemach sein, Lady? Das heißt, wenn Ihr nicht über sie wacht, sollte ich es dann nicht tun?« »Ein ausgezeichneter Gedanke«, entgegnete Erren. »Lasst mich ihr Bescheid sagen. Ich bin bald zurück; ich muss Erzgrefftin Fastia eine Nachricht überbringen. Soll sie die unangenehme Pflicht übernehmen, es weiterzuleiten.« »Cal Azroth?«, entfuhr es Anne. »Ich kann nicht nach Cal Azroth fahren! Nicht jetzt!« Fastia warf Anne einen sonderbaren Blick zu. »Was meinst du damit, Anne? Was hält dich denn Besonderes
hier, zu diesem besonderen Zeitpunkt?« Anne fühlte, wie irgendetwas in ihrem Bauch abstürzte. »So habe ich das nicht gemeint«, sagte sie rasch. »Ich will einfach nicht, das ist alles. Cal Azroth ist langweilig.« Fastias misstrauischer Blick verweilte einen Moment. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Anne, lass mich dir die Tatsachen erläutern. Tatsache eins: Unsere Mutter wäre fast ermordet worden. Tatsache 277 zwei: Vater und Erren und jeder andere, der sich auskennen sollte, haben Angst, dass du oder ich oder jemand anders von uns der Nächste sein wird. Wir fahren alle dorthin, wo man uns beschützen kann. Tatsache drei: Du wirst nach Cal Azroth fahren. Das ist kein Abendgottesdienst oder eine Nähstunde, die du schwänzen kannst, indem du dich als Junge verkleidest und mit der königlichen Reiterei Fangen spielst. Wenn es nötig sein sollte, wirst du an Händen und Füßen gefesselt, bis das Boot abgelegt hat.« Anne öffnete den Mund und setzte zu einem Protest an, doch Fastia hob den Finger an die Lippen. »Einen Augenblick«, mahnte die Altere. »Lass mich noch etwas sagen. Mutter braucht uns, Anne. Glaubst du vielleicht, sie geht nicht genauso ungern ins Exil wie wir? Als sie davon erfahren hat, ist sie zu Vater gestürmt und hat sich furchtbar darüber aufgeregt. Aber Vater muss wissen, dass wir in Sicherheit sind, und Mutter braucht ihre Kinder. Braucht dich, Anne.« Anne schloss den Mund. Fastia hatte so eine Art zu reden, dass alles wahr klang. Und wenn Erren damit zu tun hatte - nun, Erren hatte so eine Art, Dinge in Erfahrung zu bringen, wenn sie sich Mühe gab. Und Erren sollte ganz sicher nichts von Roderick erfahren. »Na schön«, erwiderte sie. »Ich verstehe, dass es wichtig ist. Wann fahren wir?« »Morgen früh. Und erzähl es niemandem, hörst du? Es wissen schon zu viele Leute, wo wir hinwollen.« Anne nickte. »Austra kommt natürlich mit?« »Natürlich.« Fastia umfasste Annes Kinn. »Du siehst müde aus, Anne. Hast du nicht gut geschlafen?« »Ich hatte Schwarze Marys«, gestand Anne. »Ich -« Plötzlich verspürte sie das heftige Bedürfnis, Fastia von ihrem Erlebnis im Labyrinth zu erzählen. Doch wenn selbst der Praifec meinte, sie solle sich deswegen keine Sorgen machen, dann war das eigentlich nicht nötig. Es wäre nur eines mehr von all den Dingen, die Fastias Meinung nach mit ihr nicht stimmten. »Ja?«, half Fastia nach. »Was für Schwarze Marys?« »Alberne Geschichten«, log Anne. 278 »Wenn das anhält, musst du mir davon erzählen. Träume können wichtig sein.« »Ich weiß. Aber die, die ich habe, sind einfach ... albern.« »Nicht, wenn es dir deshalb nicht gut geht.« Anne rang sich ein Lächeln ab. »Na ja, wir werden in Cal Azroth viel Zeit haben, darüber zu reden, glaube ich. Dort gibt es schließlich nichts anderes zu tun.« »Nun, im Zweifelsfall gibt es ja Elyoner. Sie wird uns bestimmt besuchen. Und ich werde versuchen, dafür zu sorgen, dass dein Pferd Windschnell mitkommt. Wie fändest du das?« »O Fastia, würdest du das wirklich tun?« »Ich werde mein Bestes versuchen.« »Danke.« »Jetzt pack deine Sachen. Bis nachher.« »Na gut.« »Und, Anne?« »Ja, Fastia?« »Ich habe dich lieb, weißt du. Du bist meine kleine Schwester. Ich weiß, manchmal denkst du -« Sie runzelte die Stirn und wurde ein wenig rot. »Na ja, wie auch immer.« Ihre Hände flatterten kurz, senkten sich dann herab. »Pack deine Sachen«, sagte sie. Als Fastia gegangen war, kam Austra ins Zimmer. »Hast du es schon gehört?«, erkundigte sich Anne. »Ja.« »So etwa Dummes. Ich wollte mich morgen mit Roderick treffen.« »Soll ich ihm Bescheid sagen?«, fragte Austra ein wenig beklommen. »Ja«, murmelte Anne. »Ja. Sag ihm, wir treffen uns stattdessen heute Nacht. Zur Mitternachtsglocke, in der Gruft meiner Vorfahren.« »Anne, das ist eine ganz schlechte Idee.« »Vielleicht sehe ich ihn monatelang nicht wieder. Ich werde mich mit ihm treffen, bevor wir abfahren.« 279 19. Kapitel Scrifti Das Brennen einer Ohrfeige riss Stephen aus seinem Traum. Eigentlich war er dankbar für den Schmerz, denn er erlöste ihn von seinem Schrecken, aus einer fantastischen Unterwelt mit gehörnten Tiermenschen, Frauen und Kindern mit herausgerissenen Eingeweiden, gefiederten Bestien und gierig grinsenden Gesichtern, die sich wie Wolken formten und wieder auflösten und abwechselnd zu denen seiner Entführer, Aspar Whites und Bruder
Desmonds wurden. Die Dankbarkeit währte nicht lange. Im Schlaf hatte Blut ihm das Hemd an den Rücken geklebt, und hier und dort auch an die Holzpritsche, auf der er geschlafen hatte. Die Bewegungen des Erwachens zogen Seile des Schmerzes straff um seinen Rücken und seine Glieder. »Braver Junge«, sagte der Bruder, der sich über ihn beugte, als Stephen sich aufsetzte. »Hoch mit dir.« Er versetzte Stephen einen Klaps auf den Rücken, was diesem ein heftiges Aufkeuchen und Tränen des Schmerzes entlockte. »Lass ihn doch in Ruhe«, ließ sich eine leisere Stimme vernehmen. »Desmond und seine Bande sind doch gerade nicht in der Nähe.« »Das weiß ich aber nicht sicher«, brummte der Erste. Er war klein, hatte eine Brust wie ein Fass, dürre Arme, rotes Haar und unzählige Sommersprossen. »Nach allem, was ich weiß, könntest du auch dazugehören. Ich weiß nur, dass es nicht schaden kann, grob zu den Neuen zu sein. Aber es kann durchaus schaden, sie sanft anzupacken.« Wieder schlug er Stephen auf den Rücken, diesmal allerdings nicht ganz so fest. Doch es war zu viel. Stephen fuhr von der Schlafbank auf; er überragte seinen Gegner gut um Haupteslänge. »Bleibt weg von mir«, warnte er. »Rührt mich ja nicht noch einmal an.« Der Rotschopf wich zwei Schritte zurück, sah jedoch nicht übermäßig ängstlich aus. 280 »Wie heißt du, Bursche?« Das kam von dem anderen, einem schlaksigen jungen Mann mit großen Ohren und einnehmendem Lächeln. »Stephen Darige.« »Ich bin Bruder Alprin, und der Kleine da ist Bruder Ehan.« »Nenn mich nicht >den Kleinen<«, warnte der Rotschopf. »Gosh margens ezwes, mehelz brodar Ehan«, sagte Stephen. »Wie?«, rief Bruder Ehan. »Das ist ja Herilanzisch! Wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?« »Tue ich gar nicht. Nur ein paar Worte.« »Woher wusstest du denn, dass er Herilanzer ist?«, wollte Bruder Alprin wissen. »Sein Name. Sein Akzent. In solchen Dingen bin ich gut.« Und bis jetzt habe ich mir damit jede Menge Arger eingehandelt. Ich hätte den Mund halten sollen. Doch Ehan grinste. »Also, das übertrifft alles, was ich in letzter Zeit gehört habe. Allgemein gesagt, niemand versteht Herilanzisch, außer einem Herilanzer. Und es versucht auch niemand. Wozu auch?« Stephen zuckte mit den Schultern. »Vielleicht reise ich irgendwann mal nach Herilanz.« »Das ist ja noch komischer«, sagte Ehan. »Du würdest in meinem Land ungefähr einen halben Glockenschlag lang überleben. Wenn die Kälte dich nicht umbringt, tut es das erste Kind, das dir über den Weg läuft.« Wenn Bruder Ehan ein typischer herilanzischer Erwachsener war, dachte Stephen, konnten die Kinder nicht mehr als kniehoch sein. Doch er beschloss, dergleichen nicht laut zu äußern. »Vielleicht«, lenkte er ein. Er sah sich im Schlafsaal um - einem großen Raum, in den durch hohe Fensterschlitze Licht fiel. Er war sehr karg eingerichtet - fünfzig hölzerne Pritschen, jede gerade breit genug, um darauf zu schlafen, und ein kleines offenes Fach für Habseligkeiten am Kopfende jeder Bank. Er bemerkte, dass sein Fach leer war. »Meine Sachen! Meine Bücher, meine Kohlestifte - meine Zeichnungen! Wo sind sie?« 281 »Einer von Desmonds Kumpanen hat sie genommen. Wenn du Glück hast und dich gut benimmst, nun, dann bekommst du sie zurück.« »Ist - ich meine, der Fratrex -« »Denk nicht einmal an so etwas«, riet ihm Alprin. »Die einzige Möglichkeit, um Desmond und seine Bande herumzukommen, ist, mitzuspielen und zu hoffen, dass sie sich irgendwann jemand anderen vornehmen. Ob der Fratrex von all dem weiß, kann ich dir nicht sagen. Es spielt auch keine Rolle. Wenn du zu ihm gehst - oder zu irgendjemand anderem -, wäre das ein sehr großer Fehler.« »Aber wie kann er - wie können sie - solche Sachen einfach tun}« Wieder schlug Bruder Ehan ihm auf den Rücken, und Stephen biss sich fast die Zunge entzwei. »Du Idiot!«, zischte Ehan. »Kennst du mich? Oder Bruder Alprin? Du bist uns doch gerade erst begegnet! Wir könnten die Schlimmsten von der ganzen Bande sein! Und wenn es so wäre, dann würdest du es jetzt bereuen, bei den Heiligen des Blutes und des Sturms, oh, wie schrecklich du es bereuen würdest. Du willst hier überleben? Hör zu, lerne - sprich nicht, bevor du den anderen wirklich kennst.« »Brichst du nicht gerade deine eigene Regel? Du kennst mich doch auch nicht.« »Ich weiß, dass du neu bist. Das reicht.« »Er hat Recht«, warf Alprin ein. »Und erwarte keinerlei Freundlichkeit von uns - oder von sonst irgendjemandem -, wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass jemand zusieht. Es gibt Regeln, was Neue betrifft. Nicht einmal ich werde sie brechen, jedenfalls nicht oft.« »Also, du bist gewarnt«, knurrte Ehan. »Das ist mehr, als ich eigentlich tun wollte, und es ist das Letzte, was du kriegst. Vertraue niemandem.« Er kratzte sich am Kinn. »Ach ja, und der Fratrex wollte, dass du im Scriftorium bist, und zwar vor einem Viertelglockenschlag. Irgendwas wegen >wichtiger Übersetzungen^« »Bei allen Heiligen!«, entfuhr es Stephen. »Aber meine Sachen -«
»Vergiss sie«, sagte Alprin. »Du hast sowieso Armut gelobt.« 282 »Aber meine Sachen waren keine Reichtümer. Es waren Dinge, die ich für meine Arbeit brauche.« »Pech.« Bruder Ehan wandte sich an Bruder Alprin. »Wird Zeit, dass wir verschwinden. Wir haben für einen Tag den Kopf lange genug hingehalten, und ich habe noch zu arbeiten.« »Danke«, sagte Stephen. »Eh Danka 'zwes.« Ehan lachte, als er den Schlafsaal verließ. »Er spricht Herilanzisch«, rief er. »Was kommt als Nächstes?« Ja, was?, dachte Stephen. In Tor Scath hatte er geglaubt, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Jetzt stellte er fest, dass er bereits wehmütig an jene Tage zurückdachte. Doch das Scriftorium erwartete ihn, und dieser Gedanke ließ immer noch Vorfreude in ihm aufsteigen, wenn auch eine sehr viel misstrauischere Vorfreude, als er sie gestern empfunden hatte. »Euer Rücken schmerzt wohl vom Holzschleppen, wie?«, erkundigte sich der Fratrex und blickte auf Stephen herab. »Sehr, Ehrwürdiger«, erwiderte dieser. Er machte sich nichts vor. Obgleich er seine Worte sorgsam gewählt hatte, hatte er soeben seinen Kirchenoberen angelogen. Es gefiel ihm nicht, doch solange er nicht mehr über das Kloster und seine Bewohner wusste, war er fest entschlossen, den unheilvollen Rat der Brüder Alprin und Ehan zu befolgen. Der Fratrex machte ein mitleidiges Gesicht. »Nun, heute Abend könnt Ihr den Wachposten das Abendmahl hinausbringen. Der Fußmarsch wird Eure Muskeln lockern.« »Ich danke Euch, Fratrex.« »Nicht nötig. Nun, mein Junge, habt Ihr gestern etwas Interessantes gefunden? Gewiss habt Ihr etwas entdeckt.« Ich habe faule Äpfel im Kirchenkorb gefunden, dachte Stephen bitter. »Ich habe eine frühe Kopie der Amena Tirson entdeckt«, sagte er. Der Fratrex nickte beifällig. »Ah, ja, die alte Geographieabhandlung. Wir haben das Original.« 283 »Das muss wohl das gewesen sein, was ich gefunden habe. Wurden - wurden die Kopien hier erstellt?« Der Fratrex kratzte sich am Kinn und neigte den Kopf zur Seite. »Das Original ist seit zwei Jahrhunderten hier, also würde ich sagen, jede Kopie, die Ihr anderswo gesehen habt, kam von hier. Wieso? Habt Ihr einen Fehler gefunden?« »Nicht direkt. Was ich -« »Na also! Natürlich nicht. Wir haben die besten Kopisten der Welt.« Er zwinkerte Stephen zu. »Und die tüchtigsten Übersetzer, wie? Nun denn, wollt Ihr sehen, was ich Euch hier zeigen wollte?« »Unbedingt, Fratrex Pell«, erwiderte Stephen. Der alte Mann klopfte auf einen Holzkasten. »Es ist hier drin.« Der Kasten sah fast genauso aus wie der, in dem die Amena Tirson aufbewahrt wurde, war jedoch größer. Er sah neu aus - doch als der Fratrex den Deckel wegzog, sah das, was sich darin befand, ganz und gar nicht neu aus. »Bleibogen«, sagte Stephen leise, beinahe als spräche er mit sich selbst. »Ein heiliger Text.« »So sollte man meinen. Aber seht Ihr das Datum? Das hier ist zweihundert Jahre älter als die Hegemonie und die Verbreitung der Kirche in dieser Region.« »Das ist wahr«, stimmte Stephen zu. »Aber das Scriften auf Blei war schon als bedeutungsvoll bekannt, bevor die Kirche seinen Gebrauch einem Kodex unterwarf. Botschaften an die Toten wurden zum Beispiel auf diese Weise verfasst, in archaischem Vitellianisch, noch vor dem. Sacaratum und der ersten Kirche.« »Botschaften an die Toten, ja«, pflichtete der Fratrex ihm bei. »Unser frühesten Doktrin zufolge können die Geister der Dahingeschiedenen auf Blei am besten lesen. Aber vor der Kirche waren solche Nachrichten unbedeutende Dinge - Flüche und andere Gesuche, so wie manche sie heute immer noch schreiben. Erst nach der zweiten Reform wurden Texte, die den Heiligen gewidmet waren, auf diese Weise verfasst, da die Verstorbenen den Heiligen dienen. Hier jedoch, lange vor der zweiten Reform - nun, seht selbst.« 284 Stephen trat näher, um die Bogen genauer zu betrachten, und sein Herz schlug rascher. Die Schmerzen in seinem Rücken verschwanden nicht, aber einen Moment lang vergaß er sie fast. »Es ist ein vollständiger Text«, sagte er. »Ein Buch, wie die heiligen Niederschriften der Kirche.« »Und kennt Ihr die Sprache?« »Darf ich es in die Hand nehmen?« »Selbstverständlich.« Stephen hob den ersten schweren Bogen auf. Als seine Fingerspitzen ihn berührten, war ihm, als könne er das Blei fast auf der Zunge schmecken, und seine Finger zitterten ein wenig. Wer hatte dies geschrieben? Was hatte der Verfasser empfunden, als er diese erste Seite niedergeschrieben hatte? Die Unermesslichkeit der Zeit flutete über Stephen hinweg wie eine Woge, die ihn im Meer herumwirbelte und mit sich riss - beglückend und ein wenig beängstigend. Blinzelnd betrachtete er die kleinen Schriftzeichen. »Es ist sehr stark angelaufen«, murmelte er und wischte über den weißen Film, der das Blei bedeckte. »Wo wurde das hier gefunden?« »In der alten Kapelle des heiligen Donwys, in den Marschen von Hume, oder jedenfalls hat man mir das
erzählt.« »Sie haben nicht besonders gut Acht darauf gegeben«, stellte Stephen fest. »Es ist irgendwo aufbewahrt worden, wo es feucht war.« Er runzelte die Stirn. »Und es sieht beinahe so aus - könnte es einmal vergraben gewesen sein?« »Das bezweifle ich«, sagte der Fratrex. »Jedenfalls haben wir es jetzt und werden es mit der angemessenen Sorgfalt verwahren. Fürwahr, das ist ein weiterer Grund dafür, dass wir einen Bruder mit Euren Fähigkeiten angefordert haben. Ehrlich gesagt wäre mir jemand, der im Orden ein wenig höher steht als ein Novize, lieber gewesen, aber ich bin sicher, das Ihr Euch des Vertrauens der Kirche würdig erweisen werdet.« »Ich werde mich bemühen, Ehrwürdiger.« »Nun denn. Was könnt Ihr mir darüber sagen? Es ist Vadhiianisch, so viel kann sogar ich erkennen, aber -« 285 »Mit dem allergrößten Respekt, Ehrwürdiger«, sagte Stephen, der sich an die vorangegangene Lektion in Demut erinnerte, sehr vorsichtig, »auf den ersten Blick bin ich mir durchaus nicht sicher, dass das der Fall ist.« »Ach?« »Es ist ähnlich, gewiss, aber ...« Mit gefurchter Stirn starrte er die erste Zeile an. »Es sind doch vadhiianische Schriftzeichen, oder?«, fragte der Fratrex. »Ja. Aber seht Euch diese Zeile an. Das sieht aus wie Dhyvhubh khamy, >dies an die Götter gerichtete Auf Vadhiianisch müsste es Kanmi udhe dhivhi heißen. Seht Ihr? Das Vadhiianische hat die Fallendungen des Altcrothenischen verloren. Ich glaube, das hier ist ein unbekannter Dialekt - vielleicht eine sehr alte Form des Vadhiianischen.« »Wirklich? Wie alt? Das Datum verrät uns, dass es während der Herrschaft des Schwarzen Narren verfasst wurde. Die Sprache seines Imperiums war Vadhiianisch.« »Der Text könnte kopiert worden sein. Seht Ihr das hier, unter dem Datum?« »Ich sehe den Buchstaben Q, jedenfalls so, wie ich das Scrift verstehe.« »Es ist ein Q«, bestätigte Stephen. »Der Schwarze Narr hat den größten Teil eines Jahrhunderts regiert. Während der frühen Jahre seiner Herrschaft wurde es bei Schreibern und Übersetzern Brauch, ihr Zeichen unter das Datum zu setzen.« Er lächelte grimmig. »Der Narr wollte wissen, wen er bestrafen musste, wenn irgendetwas nicht korrekt kopiert wurde. Nach seiner Niederlage hat sich natürlich die Hegemonie etabliert, und mit ihr die Kirche, und die Bräuche wurden durch die Kirchenprozeduren vereinheitlicht.« »Ihr glaubt also, das hier ist eine Kopie eines früheren Textes?« »Möglicherweise. Oder vielleicht eine Art literarischer Dialekt - so wie wir heute Vitellianisch oder Croatanisch für unsere heiligen Texte verwenden.« 286 Der Fratrex nickte. »Hier erkenne ich meine Grenzen an. Es mag so sein, wie Ihr sagt.« »Oder auch nicht«, erwiderte Stephen hastig. »Immerhin stütze ich mich hier nur auf ein paar Wörter. Aber durch ein genaueres Studium könnte ich zu einer gesicherteren Aussage gelangen.« »Und wie lange wird es dauern, bis Ihr das alles übersetzt habt?« »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Ehrwürdiger. Wenn es sich um einen unbekannten Dialekt handelt, könnte es schwierig werden.« »Ja. Könnt Ihr es in neun Tagen schaffen?« »Ehrwürdiger?« Entgeistert gab sich Stephen alle Mühe, seine Stimme nicht angespannt klingen zu lassen. »Ich kann es versuchen. Ist es wichtig?« Der ehrwürdige Fratrex runzelte die Stirn. »Für mich? Nein. Aber betrachtet es als Prüfung, als einen ersten Akt der Andacht. Tut dies in dem Zeitraum, den ich Euch genannt habe, und vielleicht werdet Ihr den Pfad der Schreine früher beschreiten als jeder andere Novize.« Bei der Erwähnung des Pfades wurde Stephen sich von neuem seiner Schmerzen bewusst. Was würde Bruder Desmond dazu sagen? »Ehrwürdiger, ich strebe nicht nach Bevorzugungen. Natürlich werde ich mit allem Eifer übersetzen. Dafür habt Ihr mich hergeholt, und ich werde Euch nicht enttäuschen.« »Das erwarte ich auch nicht von Euch.« Dann wurde Fratrex Pells Stimme schärfer. »Ebenso wenig, wie ich von Euch erwarte, mein Urteil in Frage zu stellen. Wenn ich befinde, dass Ihr bereit seid, den Pfad der Schreine zu beschreiten, dann geschieht das, weil Ihr bereit seid. Versteht Ihr? Das hat nichts mit Bevorzugung zu tun. Seit Monaten rennen wir uns an diesem Scrift die Schädel ein, und in der Zeit, die man braucht, um bis hundert zu zählen, habt Ihr bereits eines seiner Geheimnisse gelöst. Das ist ein eindeutiges Zeichen der Heiligen. Euer Erfolg oder Misserfolg in den nächsten neun Tagen wird ebenfalls ein eindeutiges Zeichen sein, so oder so. Versteht Ihr?« »So oder so, Ehrwürdiger?« »Genau.« Der Fratrex klopfte ihm nachdrücklich auf die Schulter, 287 was Schmerzpfeile durch Stephens Körper schießen ließ. »Meiner Treu, Ihr habt wirklich Muskelschmerzen«, sagte er. »Wohlan, ich überlasse Euch Eurer Arbeit. Die Heiligen seien mit Euch.« »Mit Euch auch, Ehrwürdiger«, erwiderte Stephen.
Als der Fratrex gegangen war, hingen seine Worte noch immer in der Luft, so deutlich, als wären sie in Blei geritzt, und so unklar wie der Inhalt des Manuscrifts. So oder so. Wenn Stephen Erfolg hatte, würde er den Pfad der Schreine beschreiten und ein Geweihter werden, etwas, das sonst ein Jahr oder länger dauern könnte. Natürlich würde Bruder Desmond ihn dann wahrscheinlich totschlagen. Doch was war, wenn er versagte? Was würden die Heiligen dem Fratrex dann sagen? Eines war allerdings sicher - niemand hatte seit mehr als tausend Jahren diese uralten Worte gelesen. Was auch kommen mochte, was immer er auch riskierte, er würde es tun. Er suchte sich Papier und Kohle zum Durchpausen, einen Pinsel, um die Buchstaben zu reinigen, und rührte etwas Tinte an. Einen Glockenschlag später hatte er den Fratrex, Desmond Spendlove und alle Drohungen von Strafe und Schmerz vergessen, während sich uralte Gedanken langsam und zögernd offenbarten. Der Dialekt war tatsächlich unbekannt. Die Form der Worte ähnelte dem Vadhiianischen sehr, doch die Art und Weise, wie diese Worte aneinander gefügt wurden, und die Grammatik, die ihnen eine Sinn gab, waren älter und eher mit den Sprachen des älteren Cavarum verwandt. Das Läuten zur Abendandacht fand ihn noch immer über das Manuscrift gebeugt; übersetzte Zeilen waren auf das Papier daneben gekritzelt. Während er weiter in den Text vordrang, hatte er anfängliche Vermutungen durchgestrichen und sie durch sicherere ersetzt. Er richtete sich auf, ließ seine Halswirbel knacken und rieb sich die Augen, dann ging er noch einmal seine Notizen durch. Er hatte angefangen, die Steinchen des Mosaiks zusammenzusu288 chen - die Konjugationen dieses oder jenes Verbs, die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt -, hatte jedoch nicht versucht, alles zusammenzusetzen. Also begann er auf einem frischen Blatt Papier eine vorläufige Übersetzung. Sie lautete: Dies an die Götter gerichtet. Im achtunddreißigsten Jahr der Herrschaft von Ukel Kradh dhe'Uvh (ein Titel des Schwarzen Narren, der »Stolzes Herz der Furcht« bedeutet; im Gegensatz zum Rest des Dokuments im vadhiianischen Dialekt angegeben - S. D.) wurden diese Worte niedergeschrieben. Schaue sie, denn sie sind fürchterlich. Sie sind für Eure Augen bestimmt, Gewaltiger Herrscher, und für keinen anderen. Lord der Sedoi, hier wird gekündet von den (noybhubh: Schreine? Altäre? Tempel?), welche den (zhedunmara: Verdammte Götter? Unheilige Dämonen?) gehören. Hier wird gekündet von den (vath thad-hatun: Sedos-Pfade? Pfade der Schreine?) der Mutterverschlingenden, vom Heiligen Verlangen, vom Wahnsinnigen Lord, vom Nach Innen Gewendeten Blitz, von ihren Verwandten und ihrem Clan. Hier wird verkündet, wie sie zu empfangen sind. (Uwdathez: Verflucht?) sei jeder andere, der diese Worte erblickt. Und (verflucht?) sei der, der sie geschrieben hat. Frost streifte Stephens Rückgrat. Was im Namen der Heiligen hatte er hier vor sich? Er hatte noch nie einen alten Text gesehen, der diesem auch nur entfernt geglichen hätte. Natürlich hatten nur wenige Zeugnisse aus der Zeit der Magierkriege überdauert. Das meiste von dem, was damals niedergeschrieben worden war, war lästerlich und böse gewesen und von der Kirche vernichtet worden. Wenn dies hier so ein Text war, wie war er der Vernichtung entgangen? Nur weil niemand ihn lesen konnte? Das war doch dumm. Als 289 die Hegemonier dem Norden Frieden gebracht hatten, hatten sich einige der größten Gelehrten der alten Welt in ihren Reihen befunden. Außerdem wäre diese Sprache den Dialekten der damaligen Zeit ähnlich genug gewesen, dass jeder Gelehrte mit Leichtigkeit in der Lage hätte sein müssen zu tun, was Stephen jetzt mit Mühe vollbrachte -den Text anhand von Querverbindungen zu verwandten Sprachen zu übersetzen. Vielleicht war dieses Scrift versteckt oder, wie Stephen argwöhnte, vergraben worden. Vielleicht hatte irgendein Bauer es ausgegraben und es zu den Brüdern des heiligen Donwys gebracht, die es für einen heiligen Kirchtext gehalten und es in ihrem Scriftorium verwahrt hatten. Wo immer es auch herkam, Stephen war sich im Grunde genommen sicher, dass es eigentlich nicht existieren dürfte. Genauso sicher würde es vernichtet werden, wenn die Kirche erfuhr, worum es sich handelte. Das alles sollte er sofort Fratrex Pell melden. Er sollte nicht weitermachen. »Bruder?« Stephen erschrak fast zu Tode. Ein Mönch, den er nicht kannte, stand nur ein kleines Stück entfernt. »Verzeihung?«, sagte Stephen. »Fratrex Pell hat Euch gebeten, das Abendmahl zu den Wachtürmen zu bringen.« »Oh! Natürlich.« »Soll ich das dort zurücklegen?« Der Bruder deutete mit einer Flandbewegung auf das Scrift. »Oh - nein. Das ist etwas, das ich für den Fratrex übersetze. Können wir es hier lassen, damit ich morgen gleich weitermachen kann?« »Gewiss«, sagte der Mönch. »Ich bin Stephen Darige«, stellte er sich vor. »Bruder Sangen, zu Euren Diensten. Ich sorge hier dafür, das alles in den Regalen bleibt. Ist das eins von den
neuen vadhiianischen Serif -ti?« 290 »Es gibt noch mehr davon?« »O ja. Seit ein paar Jahren treffen immer wieder welche hier ein.« »Wirklich? Alle von der Kapelle des heiligen Donwys?« »Gütiger Himmel, nein. Von überall her.« Er runzelte die Stirn, als bekümmere ihn plötzlich etwas. »Ihr solltet Euch lieber auf den Weg machen. Fratrex Pell ist normalerweise geduldig, aber wenn er will, dass etwas erledigt wird, dann meint er das auch so.« »Natürlich.« Stephen griff nach seiner freien Übersetzung und seinen Notizen. »Die hier nehme ich mit, damit ich vor dem Schlafen noch ein wenig darüber brüten kann. Ist das erlaubt?« »Selbstverständlich. Einen guten Abend, Bruder Stephen.« Seine Stimme wurde leiser. »Habt Acht auf dem Weg zum Wachturm. Es heißt, der südliche Pfad unten am Wald sei länger, aber ... angenehmer. Ich kann Euch den Weg beschreiben, wenn Ihr möchtet.« »Gern«, antwortete Stephen. »Sehr gern.« Im Abenddunkel, aus dem Glühwürmchen aufstiegen wie Geister, die diese Welt verließen, fühlte Stephen, wie das Frösteln zurückkehrte. Er kämpfte gegen das Verlangen an, schnurstracks zum Fratrex zu gehen und zu offenbaren, was er entdeckt hatte. Natürlich fürchtete er sich nicht vor dem Fluch. Welcher heidnische Gott auch immer dafür angerufen worden war, war längst tot oder ein Gefangener der Heiligen. Der Schwarze Narr war besiegt worden und seit über einem Jahrtausend tot. Der Fluch spielte keine Rolle mehr. Aber jedes Scrift, das mit einem so starken Fluch begann, enthielt wahrscheinlich Dinge, deren kein Mensch jemals ansichtig werden, jemals ansichtig geworden sein sollte. Und doch konnte er sich nicht sicher sein. Vielleicht stellte sich heraus, dass es nichts weiter war als eine Aufzählung toter Dämonen. Aber es könnte auch Informationen enthalten, die für die Kirche wichtig waren. Ehe er sich nicht davon überzeugt hatte, dass es nicht vertretbar war, konnte er das Scrift nicht der Vernichtung anheim geben. 291 Er würde weiterlesen. Wenn er auf etwas eindeutig Ruchloses und Gefährliches stieß, würde er damit sofort zum Fratrex gehen. Im Augenblick hatte er andere Sorgen. Bruder Sangen wollte ihm entweder helfen, Bruder Desmond und seinen Schlägern aus dem Weg zu gehen, oder er ließ ihn geradewegs in deren Arme laufen. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, was er vorhatte, und er konnte nichts tun, außer sich auf alles gefasst zu machen. Der plötzliche, seltsame Gedanke, wie schön es wäre, Aspar White an seiner Seite zu haben, schoss ihm durch den Kopf. Der Waldhüter war mürrisch, doch er schien auch genau zu wissen, was falsch und was richtig war. Ganz zu schweigen davon, dass Desmond Spendlove und seine Spießgesellen Aspar nicht einmal so lange die Stirn bieten könnten, wie man brauchte, um bis zwanzig zu zählen. Das war ein Kampf, den Stephen liebend gern gesehen hätte. Andererseits würde Aspar White Stephen als schwaches, verweichlichtes Knäblein verhöhnen. Entschlossen straffte er die Schultern. Er konnte seine Feinde nicht besiegen, doch er konnte dafür sorgen, dass sie ihn nicht besiegten, auch wenn sie ihn zu Boden schlugen. Seinen Geist würden sie nicht besiegen. Das war das Beste, was er tun konnte. Es würde genügen müssen; er hoffte nur, dass es ihn nicht das Leben kostete. Dicht auf den Fersen dieses Gedankens ertönte eine Stimme aus dem Wald; sie war leise, jedoch deutlich vernehmbar. »Sieh mal an. Was hast du denn vor, Kleiner?« Er holte tief Luft, um seinen Mut zusammenzuraffen, als Desmond Spendlove, ein boshaftes Funkeln in den Augen, auf das Gras hinaustrat. Stephen brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass Bruder Desmond nicht mit ihm sprach. Tatsächlich hatte er Stephen nicht einmal bemerkt. Rasch duckte dieser sich hinter einen Heuhaufen und spähte dahinter hervor. Die Beute, um die Spendlove und seine Wölfe sich scharten, war Bruder Ehan. 292 »Nenn mich nicht so«, sagte Ehan warnend. »Ich nenne dich, wie ich will. Was hast du dem Neuen erzählt, Bruder Ehan? Ich hoffe doch, es war nichts Geringschätziges.« »Nichts, was er nicht schon wusste«, erwiderte Ehan. »Woher willst du wissen, was er weiß und was nicht? Bist du schon so eng mit ihm befreundet?« Bruder Ehans Kinn hob sich trotzig. »Na komm, Spendlove. Nur du und ich. Ohne deine Köter.« »Hört ihr, wie er euch nennt, Kameraden?«, fragte Desmond. »Köter«, wiederholte Ehan. »Kleine Tölen, die einer großen nachlaufen.« Der Kreis wurde enger. Urplötzlich schoss Bruder Ehan los, direkt auf Desmond zu. Er erreichte ihn nicht. Eine der anderen vermummten Gestalten schwang einen ausgestreckten Arm, sodass er
Ehan unter dem Kinn traf. Seine Füße flogen in die Luft, und er landete mit einem lauten Wuusch!, das selbst von Stephens Versteck aus deutlich zu hören war. Stephen spürte einen Kloß im Hals. Er sollte sich nicht einmischen, alle seine Instinkte warnten ihn davor. Und doch fühlte er immer noch aus weiter Ferne die Augen des Waldhüters auf sich ruhen. Aspar White, so ungehobelt er auch sein mochte, würde das hier niemals einfach tatenlos mit ansehen. »Verdammte Feiglinge!«, schrie Stephen. Oder jedenfalls tat seine Kehle es. Er konnte sich nicht erinnern, ihr die Erlaubnis dazu gegeben zu haben. Doch die Worte fanden Gehör. Bruder Desmond und vier andere kamen auf ihn zugerannt. Drei auf direktem Wege, die anderen beiden liefen um den Heuhaufen herum. Stephen duckte sich hinter den duftenden Schober. Er hätte natürlich weglaufen können, doch sie waren schnell, viel schneller als er. Sie würden ihn einholen. Also grub er stattdessen die Finger in das gebündelte Heu und kletterte hinauf, so schnell er konnte. Als er fast oben war, verharrte er still und sah zu, wie seine Verfolger unter ihm herumstapften. 293 »Er muss zu den Bäumen gelaufen sein«, sagte einer von ihnen. »Findet ihn.« Das war Bruder Desmond, dessen Gesicht Stephen plötzlich ziemlich gut erkennen konnte, denn ein Lichtschimmer war um ihn herum erschienen, eine Art leuchtender Nebel. Heiliger Tyw, lass sie nicht nach oben schauen, betete Stephen im Stillen. Ob nun durch die Fügung des Heiligen oder weil sie einfach nicht auf die Idee kamen, sie taten es nicht, sondern schwärmten stattdessen aus und rannten auf die Bäume zu. Lange würde sie das nicht ablenken. Hinter dem Bach und seinem Saum aus Trauerweiden lag nichts als offene Wiesen, und sie würden rasch herausfinden, dass er nicht dort war. Stephen kroch über den Heuhaufen und rutschte auf der anderen Seite hinunter. Die beiden letzten Männer waren immer noch mit Ehan beschäftigt; einer drückte den kleinen Burschen zu Boden, während der andere etwas aufhob, das wie ein schwerer Sack aussah. Sie bemerkten Stephen erst im allerletzten Moment, als er dem, der Ehan niederhielt, einen Tritt unters Kinn versetzte. Er fühlte Zähne aufeinander klacken, während der andere Mann brüllte wie ein Stier und mit dem Sack nach ihm schlug. Er traf ihn hart ins Kreuz, und es tat weh. Das Ding fühlte sich an wie ein Sack voller Birnen, und wahrscheinlich war es das auch. Stephen fiel auf die Knie und schmeckte Blut im Mund. Das Nächste, was er spürte, war, dass Ehan an ihm zerrte. »Steh auf, du Idiot! Sie werden gleich kommen!« Benommen kam Stephen auf die Beine. Der Mann, den er getreten hatte, lag regungslos da, und der andere lag ebenfalls am Boden und stöhnte. »Komm schon!«, drängte Ehan erneut. Dann rannte er los. Stephen folgte ihm mit neuem Schwung, denn er konnte plötzlich Desmond und die anderen hören, die ihnen zuriefen, sie sollten stehen bleiben, und ihnen schreckliche Dinge androhten, wenn sie es nicht täten. 294 Er folgte Ehan zum Waldrand, und dann gab es nur noch Äste, die ihn zerkratzten, jähe, unsichtbare Felsen und schließlich einen Pfad, der sich hügelaufwärts wand. Seine Lunge fühlte sich an wie eine heiße Laterne, und der Schmerz in den Nieren, wo der Sack ihn getroffen hatte, wurde zu einem nicht minder heißen Feuer. Schließlich kamen sie wieder auf eine Lichtung. Inzwischen war es stockfinster, doch Ehan schien zu wissen, wohin er wollte. Gerade als Stephen dachte, er könne keinen Schritt weitergehen, packte ihn sein Begleiter am Arm und zog ihn zu Boden. »Ich glaube nicht, dass sie uns noch folgen«, keuchte er. »Wir warten hier, dann sehen wir es ja. Aber sie können uns jederzeit finden; wahrscheinlich machen sie sich nur nicht die Mühe.« »Warum - sind - wir - dann - weggelaufen?«, brachte Stephen zwischen heftigen, schmerzhaften Atemzügen heraus. »Ich wäre nicht weggelaufen, wenn du nicht getan hättest, was du getan hast«, erwiderte Ehan. »Aber danach hätten sie uns vielleicht einfach umgebracht. Wenn Desmond uns das nächste Mal allein erwischt, wird es schlimm, aber dann wird er sich beruhigt haben.« »Die können uns doch nicht einfach umbringen!«, protestierte Stephen. »Ach nein, können sie das nicht?«, entgegnete Ehan. »Erst vor zwei Monaten haben sie einen Novizen getötet. Haben ihm das Genick gebrochen und seinen Leichnam in einen Brunnen geschmissen, damit es wie ein Unfall aussah. Diese Kerle spielen nicht. Das war eine Riesenblödheit, was du da gemacht hast. Wir hatten Glück, dass sie Inest und Dyonis bei mir zurückgelassen haben, die haben noch keine Heiligengaben. Wenn es einer von den anderen gewesen wäre, wären wir jetzt wirklich tot.« Ehan hielt inne. »Aber - Eh danka 'zwes, yah? Danke. Du wusstest es ja nicht besser. Du bist ein feinerer Kerl, als ich es dir zugetraut habe. Blöd, aber ein feiner Kerl.« »Ich konnte doch nicht einfach zusehen«, sagte Stephen. »Dann solltest du es lieber lernen«, erwiderte Ehan. »Wirklich.«
»Wenn wir uns alle zusammentun, könnten wir doch bestimmt -« 295 »Vergiss es. Hör zu, sie werden dich wirklich irgendwann in Ruhe lassen. Das ist seit einem Jahr das erste Mal, dass sie auf mich losgegangen sind.« »Weil du mit mir geredet hast.« »Ja, wahrscheinlich.« Stephen nickte in die Dunkelheit, und beide saßen da, bis der Sturm in ihren Lungen zu einem Zephyr normaler Atemzüge abgeflaut war. »Schön«, sagte Ehan. »Hier geht es zum Schlafsaal.« Stephen fühlte den Essensbeutel, der immer noch an seinem Gürtel hing. »Ich muss das hier zu den Wachen bringen.« »Bestimmt warten sie nur darauf, dass du das tust.« »Der Fratrex hat es mir aufgetragen.« »Die Brüder, die Wache halten, werden es verstehen.« »Der Fratrex hat es mir aufgetragen«, sagte Stephen erneut, »und ich werde es tun.« Ehan murmelte irgendetwas in seiner eigenen Sprache, zu leise und zu schnell, als dass Stephen es hätte verstehen können. »Na gut«, sagte er schließlich. »Wenn du unbedingt ein Idiot sein musst. Aber lass mich dir einen Schleichweg zeigen.« 20. Kapitel Verbannung Anne hielt den Atem an, als Rodericks Finger leicht ihre Brust streiften. War das ein Versehen gewesen? Das hatte er noch nie getan. Doch es war auch noch nie so gewesen wie jetzt, ihre Küsse waren so drängend geworden, verlangten nach mehr. Nein, hier war seine Hand schon wieder an ihrer Brust, das schlaue Ding. Die erste Berührung war ein Überfall gewesen, um zu sehen, 296 wie sie es aufnahm. Jetzt jedoch war er keck dort zugange, ließ die Fingerspitzen über den dünnen Stoff ihres Kleides gleiten und ihre Brustwarze sich zu einem kleinen Festungsturm aufrichten. Und sein Mund knabberte und biss und leckte sich um ihren Hals herum, bis er hinter ihr stand und keuchend in ihren Nacken atmete, eine Hand noch immer an ihrer Brust; die andere glitt kitzelnd über ihren Bauch, tiefer und tiefer, erforschte sie wie ein Abenteurer ein unbekanntes Land. Als sie es nicht mehr aushielt, drehte sie sich in seinem Griff um, küsste ihn heftig und begann ihrerseits mit dem Erforschen, um seinen Hals herum, dann hinunter zur Brust, wo sich sein Hemd öffnete. Als ihre Lippen sich erneut trafen, geschah dies in einer wilden, leidenschaftlichen Umschlingung, irgendetwas anderes als ihr Gehirn übernahm die Kontrolle, und Anne presste ihren Körper mit aller Kraft an den seinen. Beide wie Tiere nach Luft schnappend, lösten sie sich voneinander, und einen Augenblick lang schämte sich Anne und hatte Angst. Dann jedoch legte sich Rodericks Hand sehr sanft an ihre Wange, und seine dunklen Augen hielten sie fest und versprachen nichts als Liebe und Hingabe. Um sie herum war die Gruft vollkommen still; die einzige Kerze, die in einer Mauernische brannte, ließ nicht viel erkennen. Sie standen in der Mitte des Raumes, wo die Leichname aufgebahrt wurden und die Familie sich für die Totenriten versammelte. Niemand war in letzter Zeit gestorben; ihre Vorfahren waren woanders, in ihren eigenen Gemächern, den Gewölben, die die Zimmer des großen Hauses bildeten. Ehe Roderick eingetroffen war, hatte sie ein Gebet gesprochen, damit sie still blieben. »Du bist schöner als jeder andere Mensch, den ich je gesehen habe«, flüsterte Roderick. »Als ich dich das erste Mal getroffen habe, war es noch nicht so. Du warst schön, ja, aber jetzt -« Er suchte nach Worten. »Es ist, als ob du jedes Mal heller leuchtest, wenn ich dich sehe.« Ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können, und sie konnte den eindringlichen Blick seiner Augen kaum ertragen, also lehnte sie sich 297 an ihn, barg ihren Kopf unter seinem Kinn und legte die Wange an seine Brust. »Es muss die Liebe sein, die größere Schönheit bringt«, sagte er in ihr Haar. »Was?« Sie lehnte sich zurück, um zu sehen, ob er scherzte. »Ich weiß, es ist hoffnungslos, aber es ist nun einmal so. Ich liebe dich, Anne.« Diesmal wandte sie sich nicht von seinem Blick ab, sondern sah zu, wie sich sein Gesicht herabsenkte; seine Lippen öffneten sich, und er gab ihr einen langen, süßen Kuss. Doch dann schob sie ihn von sich weg. »Ich muss morgen fort«, sagte sie rau. Sie spürte, wie sich plötzlich Tränen in ihrem Kopf zusammenballten und ins Freie drängten. »Wie meinst du das?« »Vater schickt uns weg, nach Cal Azroth. Meine Mutter, meine Schwestern, meinen Bruder - mich. Er denkt, wir sind in Gefahr. Es ist albern. Wie könnten wir dort sicherer sein?«
»Morgen?« Roderik klang, als hätte er Schmerzen. »Wie lange denn?« »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich Monate, bis diese blöde Geschichte mit der Salzmark vorüber ist.« »Das ist ja schrecklich«, flüsterte er. »Ich will nicht gehen.« Jetzt war es an ihr, seine Wange zu streicheln. »Wir haben immer noch Zeit«, sagte sie. »Küss mich noch einmal, Roderick. Lass uns an Morgen denken, wenn es so weit ist.« Zuerst küsste er sie behutsam, doch binnen weniger Augenblicke hatte er all das Gelände zurückerobert, das er vorhin eingenommen hatte, und drängte weiter. Als er ihre Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, lachte sie entzückt auf: Wer würde sich denn so etwas einfallen lassen? Es war alles so überraschend! Er schnürte ihr Mieder auf und küsste die lange Grenze zwischen Stoff und Haut, sodass jede Berührung seiner Lippen feucht und lebendig und gleichzeitig weit entfernt und so noch aufregender war. Das Mieder glitt tiefer. 298 Als sich seine Hand am Rand ihres Strumpfes zum bloßen Fleisch ihres Oberschenkels vorarbeitete, wurde Annes ganzer Körper steif. Sie stöhnte auf und empfand zum ersten Mal echte Furcht. Doch es war eine seltsame Furcht, eine gemischte Furcht. Und Roderick schien sich dessen, was er tat, so gewiss zu sein, schien so selbstsicher. Und er liebte sie doch, oder nicht? Er hielt inne und fing sie erneut mit diesen großen Augen ein. »Soll ich aufhören? Wenn du dir nicht sicher bist, Anne, dann sag es.« »Würdest du aufhören, wenn ich dich darum bitte?«, keuchte sie. »Ja.« »Weil, ich bin mir nicht sicher - aber ich will nicht, dass du jetzt schon aufhörst.« Er grinste. »Ich liebe dich, Anne Dare.« »Ich liebe dich auch«, erwiderte sie, und gerade als ihr klar wurde, was sie da gesagt hatte, kam er wieder zu ihr. Eine Art Hilflosigkeit verschlang sie, als könne nichts passieren, wofür irgendjemand ihr Vorwürfe machen könnte. Nichts. Und sie war fünfzehn! Wer blieb denn in diesem Alter noch Jungfrau! Genau in diesem Moment erstarrte Roderick, sprang auf, wirbelte herum und griff nach seinem Schwert. »Junger Mann«, sagte eine vertraute Stimme. »Seid nicht dümmer, als Ihr es bereits gewesen seid.« Anne setzte sich auf und drückte ihr Kleid an die Brust. »Wer ist da? Erren?« Erren trat durch die Tür, und hinter ihr, ihr Heiligen helft, kam Fastia! »Wir wollten -«, setzte Roderick an. »Es treiben wie die Wildziegen? Ja, das habe ich gesehen«, sagte Erren trocken. »Anne, mach dein Kleid zu«, herrschte Fastia sie an. »Sofort. Bei allen Heiligen, im Hause unserer Vorfahren?« Etwas Merkwürdiges bebte in ihrer Stimme, etwas, das über Empörung hinausging, doch Anne konnte nicht sagen, was es war. 299 »Anne kann nichts dafür«, begann Roderick. Doch Anne hatte ihre Stimme wiedergefunden. »Was untersteht ihr euch?«, fuhr sie auf. »Wie könnt ihr es wagen, mir hierher zu folgen? Das hier ist meine Sache, meine ganz allein! Es geht niemanden etwas an, wen ich liebe!« »Vielleicht nicht«, entgegnete Erren. »Aber ich fürchte, es geht das Königreich sehr viel an, mit wem du Unzucht treibst.« »Ach ja? Wirklich? Und was ist mit meinem Vater, der mit jeder Schlampe schläft, die -« »Sei still, Anne!«, schrie Fastia. »- im Palast herumläuft! Nein, Fastia, ich bin nicht still. Ich kann nichts dafür, dass ich kein Eis statt Blut in den Adern habe, so wie ihr beide.« »Du hältst jetzt sofort den Mund, Anne«, sagte Fastia. »Und Ihr, Roderick von Dunmrogh, Ihr solltet lieber machen, dass Ihr wegkommt. Sofort, ehe aus dieser Geschichte ein Zwischenfall wird, der vor dem Hof abgehandelt werden muss.« Roderick hob das Kinn. »Das ist mir gleich. Wir haben nichts Verwerfliches getan, Anne und ich, und wir sind nur unseren Herzen gefolgt.« »Wenn Herzen zwischen Schenkeln hängen, wird das zweifellos stimmen«, erwiderte Erren. »Geh nicht, Roderick«, sagte Anne. Es war mehr ein Befehl als eine Bitte. Er nahm ihre Hand. »Ich gehe. Aber das hier ist noch nicht vorbei. Du hörst von mir.« Er warf Fastia und Erren einen hochmütigen Blick zu, dann verließ er die Gruft, ohne zurückzuschauen. Auch Anne starrte die anderen Frauen finster an und ordnete im Stillen ihre Einwände, noch während die Hufschläge von Rodericks Pferd auf dem Bleipflaster verklangen. Derweil huschte eine Reihe beängstigender Grimassen über Fastias Gesicht. Und plötzlich fing Annes große Schwester laut zu lachen an. Grinsend und kopfschüttelnd folgte Erren ihrem Beispiel. 300
»Himmlische Heilige!«, brachte Fastia schließlich heraus. »Wo hast du denn den aufgetrieben?« »Das ist nicht komisch! Warum lachst du?« »Weil es so lächerlich ist! Glaubst du denn, du bist die Erste, die sich für so etwas in die Gewölbe schleicht? Hast du dich für schlau gehalten? Und Roderick. >Soll ich aufhören?< Hilfe! Und du hast gedacht, er würde wirklich aufhören, falls du wollen würdest, dass er aufhört!« »Ihr habt uns die ganze Zeit zugesehen?« Fastia beruhigte sich, obgleich sie immer noch kicherte. »Nein, nicht die ganze Zeit. Erst von da an, als es anfing, interessant zu werden.« »Dazu hattest du kein Recht, du eiskaltes Luder!« Das ließ Fastias Gelächter verstummen, und plötzlich tat es Anne Leid. Wie lange war es her, seit ihre Schwester zum letzten Mal gelacht hatte? Selbst wenn es auf Annes Kosten sein musste. Ihre Empörung ließ ein wenig nach. Fastia nickte vor sich hin. »Geh ein Stück mit mir, Anne. Erren, wenn du hier bleiben könntest?« »Gewiss.« Die Luft draußen war ein wenig frostig. Die Nekropolis erstreckte sich unter silbernem Licht. Fastia ging ein paar Schritte in den Hof hinaus, dann blickte sie zum abnehmenden Halbmond empor. Ihre Augen waren groß und glänzten; Anne war sich nicht sicher, ob Tränen darin standen oder nicht. »Du glaubst, ich gönne dir das nicht, Anne?«, fragte sie leise. »Du glaubst, ich wüsste nicht ganz genau, wie du dich fühlst?« »Niemand weiß, wie ich mich fühle.« Fastia seufzte. »Das gehört dazu, Anne. Wenn man zum ersten Mal ein neues Lied hört, denkt man, man ist die Erste, die es je vernommen hat, egal, über wie viele Lippen es schon gekommen ist. Glaubst du, ich hätte niemals ein Stelldichein gehabt? Denkst du, ich hätte nie Leidenschaft empfunden oder geglaubt, ich wäre verliebt?« »Du benimmst dich nicht so.« 301 »Wahrscheinlich nicht. Anne, ich erinnere mich an das, was du jetzt fühlst. Es war die aufregendeste Zeit meines Lebens.« »Und dann hast du geheiratet.« Zu Annes Überraschung nickte Fastia zustimmend. »Ja. Ossel ist ein starker Lord, ein guter Verbündeter. Alles in allem ist er ein guter Mann.« »Er ist nicht gut zu dir.« »Darum geht es nicht. Es geht um Folgendes, Anne: Jede Leidenschaft, die ich verspürt habe, als ich so alt war wie du, jede Freude, jede Sehnsucht - jetzt sind sie wie Dornen, die sich in mein Fleisch bohren. Ich bereue es, jemals -« Hilflos flatterten ihre Hände umher. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.« »Ich schon«, erwiderte Anne. »Wenn du nie erlebt hättest, wie schön es sein kann, jemanden zu lieben, dann fändest du es jetzt mit deinem Ehemann nicht so schrecklich.« Fastia kniff die Lippen zusammen. »Das ist zwar geschmacklos, trifft es aber recht gut.« »Aber wenn du aus Liebe geheiratet hättest -« Fastias Stimme wurde schroffer. »Anne, wir heiraten nicht aus Liebe. Und genauso wenig dürfen wir - wie unsere Männer - nach der Heirat nach Liebe suchen. Dieses Schwert schwingt nicht in beide Richtungen. Wir können anderswo Freude finden - in unseren Kindern, unseren Büchern und Stickereien, in unseren Pflichten. Aber wir dürfen nicht -« Ihre Hände huschten herum wie verstörte Vögel, und sie zwang sie schließlich zur Ruhe, indem sie die Arme vor der Brust verschränkte. »Anne, deshalb beneide und bemitleide ich dich gleichzeitig. Du bist genau wie ich, und wenn die Wirklichkeit schließlich über deine Träume hereinbricht, wirst du genauso verbittert werden. Ich weiß, wie du über mich denkst. Das weiß ich schon seit Jahren, seit du mich aus deinem Herzen verstoßen hast.« »Ich? Ich war ein Kind! Du hast mich aus dem deinen verstoßen, als du diesen Dummkopf geheiratet hast.« Fastia wand die Finger ineinander. »Vielleicht. Ich wollte das nicht. 302 Aber diese ersten Jahre waren die schwersten, und danach -« Sie zuckte mit den Schultern. »Danach schien es am besten so. Du wirst eines Tages heiraten und fortgehen, und ich werde dich sowieso nicht mehr sehen.« Anne starrte Fastia lange an. »Wenn das alles stimmt, ich meine ...« »Warum bin ich dir dann hier herunter gefolgt?« »Ja. Warum hast du dich nicht einfach herausgehalten?« »Hast du nicht zugehört? Ich habe dir meine Gründe gesagt. Aber es gibt noch andere. Dieser Roderick - er ist ein Intrigant aus einer Familie von Intriganten, Anne. Wenn er dich schwängern sollte, würde das nie ein Ende nehmen.« »Das ist nicht wahr! Roderick ist - nein, er ist nicht so! Du kennst ihn nicht, und seine Familie ist mir egal.« »Dir schon. Ich wünschte, mir könnte das auch egal sein, aber Vater und Mutter ist es nicht egal. Absolut nicht. Anne, ich habe nur meine Pflicht getan, verstehst du? Ich konnte nicht einfach dastehen und das zulassen. So weh es dir jetzt auch tun mag, später hätte es noch viel, viel mehr wehgetan. Und es hätte dem Königreich
geschadet, etwas, woran du noch nicht denkst, ich weiß, aber es stimmt.« »Ach, Unfugl«, rief Anne. »Was für ein Unsinn. Und außerdem hätten er und ich - wir hätten nie - ich meine, er hätte mich gar nicht schwängern können, weil wir niemals -« »Ihr hättet, Anne. Vielleicht glaubst du es nicht, aber es ist so.« »Das kannst du doch gar nicht wissen.« »Anne, bitte. Du weißt, dass es stimmt. Wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, hättest du die Gruft nicht als Jungfrau verlassen.« Anne straffte die Schultern. »Wirst du es Mutter erzählen?« »Das hat Erren schon getan. Sie wartet auf uns.« Anne verspürte ein jähes Beben der Furcht. »Was?« »Mutter hat uns geschickt, um dich zu holen.« »Was wird sie tun? Was kann sie tun? Ich bin doch schon verbannt. In Cal Azroth werde ich ihn nicht mehr sehen.« »Ich kann es dir nicht sagen, Anne. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe Partei für dich ergriffen. Lesbeth übrigens auch.« 303 »Lesbeth? Sie hat es ausgeplaudert? Sie hat mich verraten?« Fastias Augenbrauen hoben sich. »Ach. Also wusste Lesbeth schon Bescheid? Wie interessant.« Anne glaubte, Schmerz in ihrer Stimme zu hören. »Und wohl nicht anders zu erwarten. Nein, Mutter hat sie in dieser Angelegenheit nach ihrer Meinung gefragt, genau wie mich.« »Oh.« Fastia strich Anne das Haar aus dem Gesicht. »Komm. Mach dich zurecht. Je länger wir Mutter warten lassen, desto wütender wird sie sein.« Wie betäubt nickte Anne. Den ganzen Weg den Hügel hinauf, durch die Tore ins Schloss - von Eslen-des-Schattens bis zu den Gemächern ihrer Mutter - bereitete Anne sich darauf vor, ihre Meinung zu vertreten. Sie fachte ihre Empörung an, sagte sich immer wieder, wie ungerecht dies alles war. Doch als sie die Räume ihrer Mutter betrat und die Königin in einem Sessel sitzen sah wie auf einem Thron, wurde ihr Mund trocken. »Setz dich«, sagte Muriele. Anne gehorchte. »Dies ist wirklich eine große Enttäuschung. Ich dachte, auf deine eigene Art und Weise wärst du die vernünftigste von allen meinen Töchtern. Ich habe mir wohl etwas vorgemacht.« »Mutter, ich -« »Halt einfach den Mund, Anne. Was könntest du sagen, was mich vom Gegenteil überzeugen würde?« »Er liebt mich! Ich liebe ihn!« Ihre Mutter schnaubte. »Natürlich. Gewiss tut er das.« »Tuterauch!« »Hör mir zu, Anne«, sagte ihre Mutter leise und beugte sich vor. »Das. Ist. Mir. Gleich.« Sie betonte jedes Wort sorgfältig, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und fuhr fort: »Die meisten Menschen in diesem Königreich würden dafür töten, dein Leben führen zu können, die Vorrechte zu haben, die du genießt. Du wirst nie Hunger oder Durst ken304 nen, es wird dir nie an Kleidern oder Obdach fehlen. Du wirst nie auch nur unter dem winzigsten Karbunkelchen leiden müssen, ohne dass der beste Arzt des Landes seine Zeit damit zubringt, deine Schmerzen zu lindern und dich zu heilen. Du wirst verwöhnt, verhätschelt und verzogen. Und weißt das nicht im Mindesten zu schätzen. Und hier, Anne, hier ist der Preis, den du für dein Sonderrecht bezahlst: Es ist Verantwortung.« »Du meinst wohl, der Preis ist mein Glück.« Muriele blinzelte langsam. »Siehst du? Du hast nicht die leiseste Ahnung, was ich meine. Aber du wirst es begreifen, Anne. Das wirst du.« Die Gewissheit in diesen Worten krallte sich um Annes Herz. »Was meinst du damit, Mutter?« »Lady Erren hat einen Brief für mich geschrieben. Ich habe für eine Kutsche, einen Kutscher und eine Eskorte gesorgt. Du reist morgen früh ab.« »Du meinst, nach Cal Azroth? Ich dachte, wir fahren mit dem Schiff.« »Das tun wir auch. Du fährst nicht nach Cal Azroth.« »Und wo fahre ich hin?« »Du wirst lernen, so wie Erren es getan hat. Du wirst die nützlichsten Künste erlernen, die eine Lady beherrschen kann.« »Erren?«, entfuhr es Anne. »Du - du schickst mich in einen Konvent}« »In einen ganz besonderen.« »Mutter, nein!« Ranken der Panik schlangen sich um sie. »Was soll ich sonst mit dir machen? Ich weiß nicht mehr weiter.«
»Bitte. Schick mich nicht fort.« »Es ist ja nicht für immer. Nur bis du ein paar Dinge gelernt hast, bis du zu schätzen weißt, was du hast, und verstehst, dass es in dieser Welt noch mehr gibt als deine eigenen Wünsche. Du brauchst keine Gelübde abzulegen, obwohl du das in deinem vierten Jahr natürlich tun kannst, wenn du möchtest.« »Viertes Jahr! Bei allen gnädigen Heiligen, Mutter!« 305 »Anne, stell dich nicht so an! Du hast dich für eine Nacht peinlich genug aufgeführt.« »Aber das ist nicht gerecht!« Anne fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Das Leben ist selten gerecht.« »Ich hasse dich!« Muriele seufzte. »Ich hoffe, das ist nicht wahr.« »Ist es doch. Ich hasse dich.« »Nun gut«, erwiderte ihre Mutter. »Dann ist das eben der Preis, den ich bezahlen muss. Geh jetzt und pack deine Sachen. Aber mach dir nicht die Mühe, irgendwelche von deinen feineren Kleidern einzupacken.« 21. Kapitel Ins Dickicht Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, sagte Winna. Sie stand auf einem felsigen Bergkamm und hob sich im Profil gegen den mächtigen Gipfel des Sie Eru ab, wo Gletscher die Strahlen der Sonne zum Himmel zurückschleuderten und Adler gemächlich ihre Kreise zogen. Auf der anderen Seite fiel der Kamm - eigentlich ein Bergsattel zwischen Sie Eru und dem niedrigeren, jedoch immer noch Schwindel erregenden Sie Cray - zu atemberaubenden Klüften ab, tief und bewaldet. Eben waren sie von der Ferth-Klamm heraufgekommen, wo der Oberlauf des Slagish im Schmelzwasser der beiden Berge seinen Ursprung hatte. Dort ging es sehr tief hinunter; eine riesige grüne Schüssel, deren ferner Rand dunkelblau und verschwommen zu erkennen war. Der Slagish war ein winziges, silbernes Rinnsal in ihrem Grund. Die andere Seite des Kamms fiel nicht so tief ab, war jedoch nicht weniger atemberaubend: ein Hochlandtal voller 306 Wiesen und Birken, und dahinter eine weitere Reihe bescheidener Gipfel, die Ausläufer der gewaltigen Bergkette, deren Spitzen sich selbst bei blauem Himmel dem Blick entzogen. »Das stimmt«, erwiderte Aspar. Doch er sah nicht die Landschaft an, sondern Winna, die vor dem Hintergrund des Sie Eru mit seinen Schneefeldern stand. Ein breites Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und ihre Wangen waren rosig vor Anstrengung und Erregung. Ihre Augen leuchteten vor Staunen wie Juwelen. Winna ertappte ihn und warf ihm von der Seite einen durchtriebenen Blick zu. »Aspar White! Raspelst du etwa Süßholz?« »Besser kann ich es nicht«, erwiderte er. »Du machst das gut genug«, versicherte sie ihm. Sie zeigte auf die höchsten Gipfel am Horizont. »Was sind das für Berge?« »Sa'Ceth ag sa'Nem - die Schultern des Himmels«, antwortete er. »Warst du schon einmal dort?« »Kein Mensch hat je die Schultern erstiegen«, entgegnete er. »Nicht einmal die Eingeborenen, die auf ihnen leben. Diese Berge haben noch nicht einmal richtig angefangen, wenn man an der Schneegrenze angekommen ist.« »Sie sind wunderschön.« »Das sind sie«, pflichtete er ihr bei. »Und dieses Tal da unter uns? Wie heißt das?« »Wie immer du willst. Ich habe es noch nie gesehen oder seinen Namen gehört. Das dahinter sind die Hahnensporen.« »Also hatte Mutter Gastya Recht. Hier gibt es wirklich ein verborgenes Tal.« »Sieht so aus«, stimmte Aspar zu. Er wollte sich darüber ärgern, doch er stellte fest, dass es ihm nicht gelang. Stattdessen fragte er sich, wie mächtig Magie sein musste, um ein ganzes Tal zu verbergen - und was solche Macht bedeuten könnte, wenn sie sich gegen zwei kleine Menschen richtete. »Dann los!«, rief Winna. »Gönn den Pferden ein bisschen Zeit«, entgegnete Aspar. »Sie sind nicht an die Höhe gewöhnt, und sie haben einen harten Aufstieg hin307 ter sich. Nach allem, was sie durchgemacht haben, möchte ich jetzt nicht riskieren, dass eines fehltritt.« Als sie mit dem Strom, der aus Rewn Aluth hinausführte, ins Freie gekommen waren, hatten Unhold, Engel und Honigkuchen auf sie gewartet. Woher sie gewusst hatten, wo sie sie erwarten mussten, würde für immer ein Geheimnis bleiben. Unhold war ein kluges Pferd, so klug jedoch nun auch wieder nicht. Mutter Gastya musste dabei die Hand im Spiel gehabt haben, und das gefiel Aspar nicht besonders - der Gedanke, dass seine Pferde verhext werden konnten. Obgleich er verflucht dankbar dafür war, dass er sie hatte. »Wie lange sollen wir sie ausruhen lassen?«, fragte Winna. »Ungefähr einen Glockenschlag lang. Sie können unten am Hang ein bisschen grasen.«
»Gut. Und was machen wir in der Zwischenzeit?« »Uns ebenfalls ausruhen, würde ich vorschlagen«, sagte Aspar. »Ach?«, erwiderte Winna. »Bei einem Schlafzimmer mit so einer Aussicht? Da habe ich aber an etwas anderes gedacht.« Und sie lächelte auf jene Art, die er sehr zu schätzen gelernt hatte. »Was siehst du?«, erkundigte sich Winna einen Glockenschlag später. Sie befanden sich noch immer auf dem Bergkamm; Winna war damit beschäftigt, ihr Kleid zuzuknöpfen, und Aspar zog seine Hose an. Aspar blickte zum Slagish hinüber, den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Und?«, drängte Winna. »Siehst du sie?« »Nichts. Das ist es ja, was mir Sorgen macht. Es ist fünfundzwanzig Tage her, dass wir Rewn Aluth verlassen haben, und von Fend oder dem Gryffin ist nichts zu sehen.« »Bist du enttäuscht?« »Nein. Aber wo sind sie? Wenn der Gryffin hierher kommt, wie Mutter Gastya gesagt hat, und wenn Fend und seine Bande mit ihm ziehen oder ihm folgen -« Er schüttelte den Kopf. »Was tun sie dann?« »Glaubst du nicht, dass sie diejenigen sind, die die Opfer bei den 308 alten - wie heißt das doch gleich wieder? - Sedos-Schreinen darbringen? Diejenigen, die diese armen Leute zerstückeln?« »Beim Taffbach waren Männer mit dem Gryffin zusammen«, sagte Aspar und schnürte seine Hose zu. »Ein paar davon sind bis Rewn Aluth bei ihm geblieben, glaube ich, aber einige sind wieder nach Westen gezogen. Natürlich konnte ich nicht beiden folgen. Also, ja, ich denke, Fend hat etwas damit zu tun, aber er war es nicht allein. Irgendwo dort draußen ist noch eine Bande.« »Also haben sie Wildsiedler im Wald umgebracht und waren hinter den Halafolk in Rewn Aluth her«, sagte sie. »Sie vertreiben die Leute aus dem Königswald.« »Ja.« »Dann sind sie vielleicht noch nicht fertig. Vielleicht verfolgen sie noch andere Wildsiedler, oder sie wollen sich noch eine Halafolk-Rewn vornehmen, ehe sie zurückkommen, um den Dornenkönig zu holen.« »Das klingt vernünftig«, stimmte Aspar zu. »Aber die Opfer verstehe ich nicht. Der Gryffin tötet durch bloße Berührung. Also sind es die Männer, die diese schrecklichen Dinge tun, nicht wahr? Nicht dass nicht jeder Tod schrecklich wäre, aber du weißt schon, was ich meine.« »Ja, ich weiß. Und ja, die Männer haben das getan, was ich am Taffbach gesehen habe.« »Warum? Was hat das mit dem Gryffin zu tun?« Aspar betrachtete seine Handrücken und bemerkte verblüfft, wie faltig sie geworden waren. »Dieser Priesterbursche, von dem ich dir erzählt habe, dieser Virgenyaner - er hat gesagt, die Magier hätten vor Tausenden von Jahren solche Sachen gemacht. Opfer für die Verdammten Heiligen, hat er gesagt. Das Volk meines Vaters« - er deutete vage in Richtung Nordosten - »hängt heute noch Verbrecher als Opfer für den Wüterich.« Winna machte große Augen. »Das ist das erste Mal, dass du irgendetwas über deine Eltern gesagt hast.« »Mein Vater war ein Ingorner, meine Mutter eine Watau. Meine 309 Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, aber mein Vater hat ein neues Weib genommen, und wir haben bei seinen Leuten gewohnt, in den Bergen. Die Ingorner folgen den alten Bräuchen, aber ich erinnere mich kaum noch daran, wie es war, dort zu leben. Es gab so eine Art Fehde, und mein Vater wurde geächtet. Er ist vom Wandererswall ein paar Meilen ins Tal gezogen, und wir haben in den Wäldern gelebt, bis ich ungefähr sieben war. Dann hat uns die Fehde eingeholt. Sie haben meinen Vater und meine Stiefmutter getötet. Ich bin gerannt wie ein Kaninchen, aber ich habe einen Pfeil abgekriegt. Sie haben gedacht, ich wäre tot, und das wäre ich auch gewesen, aber Jesp hat mich gefunden.« »Und dich aufgezogen.« »Ja.« »Es tut mir Leid um deine Eltern. Ich habe mir wohl gedacht, dass sie tot sind, aber niemand wusste es genau.« »Ich habe diese Geschichte schon sehr lange nicht mehr erzählt.« »Aspar?« »Hmm?« Sie küsste ihn auf die Wange. »Danke, dass du sie mir erzählt hast.« Er nickte. »Es ist sehr leicht, dir Sachen zu erzählen.« Möglicherweise zu leicht. Sie folgten der Klamm talwärts, wie Mutter Gastya es sie geheißen hatte. An diesem Abend schlugen sie ihr Lager am Rand einer Wiese auf und erwachten von dem leisen Muhen wilder Auerochsen. Die Waldrinder suchten am Rand der Lichtung nach Futter, und ein paar der Bullen warfen unruhige Blicke in Aspars und Winnas Richtung. Unhold stampfte und wieherte herausfordernd. »Kälber«, flüsterte Aspar und deutete mit dem Kopf auf das kleinste der Tiere. »Verschwinden wir lieber, ganz langsam.« Also brachen sie das Lager ab und zogen sich in den Wald zurück, wobei sie einen weiten Bogen um die
Lichtung und ihre reizbaren Bewohner machten. Den größten Teil des Tages ritten sie das sanft abfallende Tal hinun310 ter, durch leuchtend grüne oder von flammend rotem Klee bedeckte Wiesen. Hirsche, Elche und ein Rudel gefleckter Löwen, das Aspar bemerkte, sahen mit meist geruhsamem Blick zu, wie sie vorüberzogen. Es war, als wäre der Ruf des Menschen niemals bis hierher gedrungen. Gegen Ende des Tages wurde das Gelände steiler, und sie folgten dem felsigen Lauf eines Baches, der von mannshohen Farn- und Schachtelhalmdickichten gesäumt war. Die Wände des Tales ragten zu beiden Seiten steil empor und bedrängten sie, unerklimmbar ohne Haken und Seile. Die Nacht kam rasch in dem schmalen Tal; Aspar und Winna badeten in einem eiskalten Teich und drängten sich aneinander, erst um der Wärme willen und dann wegen etwas anderem. Winna schmeckte wie das Wasser, fast metallisch vor lauter Jugend und Leben. Hinterher rollten sie sich unter dem Farn in ihren Decken zusammen. Als Winna eingeschlafen war, lauschte Aspar dem Gesang der Frösche und Nachtvögel und dem Wasser, das über die Steine rieselte. Irgendwo wurde aus dem Rieseln ein zischendes Rauschen, mit dem der Bach in unbekannte Tiefen stürzte. Es war dieses Geräusch gewesen, das Aspar noch kurz vor der richtigen Dunkelheit hatte Halt machen lassen. Wenn sie einen Klippe hinunterklettern mussten, dann lieber bei Tageslicht. Sie stießen tatsächlich auf eine Klippe, so senkrecht wie eine Klippe nur sein konnte, und sie schien unendlich weit hinabzuführen. Natürlich war das schwer zu sagen, denn die Schlucht - und um eine solche handelte es sich ganz sicher, waren doch die Wände kaum einen Steinwurf weit voneinander entfernt - war voller Bäume. Keine hohen, schlanken Stämme, sondern ein Wust von gewundenen, verschlungenen, verdrehten dicken Ästen, bedeckt von schwarzer Rinde und bewaffnet mit Dornen, die größer waren als seine Hand. In einem Schwindel erregenden Gewirr, das ihn sehr an die Tyrannen erinnerte, erhoben sie sich von dem unsichtbaren Boden. Weit konnte man dort drinnen nicht fallen. Selbstverständlich würde man wahr311 scheinlich von den dolchgroßen Dornen aufgespießt, wenn man dort abstürzte. »Was sind das für Bäume?«, wollte Winna wissen. »Solche habe ich noch nie gesehen.« Winna deutete auf die glänzenden grünen Blätter, die wie lange, schmale Herzen geformt waren. »Dornenbäume vielleicht? Für einen Dornenkönig?« »Wieso nicht?«, überlegte Aspar laut. »Wir müssen da hindurch nach unten klettern, nicht wahr?« »Entweder das oder umkehren«, erwiderte Aspar. »Was ist mit den Pferden?« Widerstrebend nickte Aspar. »Wir werden sie zurücklassen müssen. Wahrscheinlich kommen wir sowieso auf demselben Weg wieder zurück. Ich habe das Gefühl, dass dieses Tal irgendwo vor uns in einer Sackgasse endet.« Er drehte sich um und tätschelte Unholds Wange. »Pass schön auf die beiden anderen auf, ja? So wie letztes Mal. Ich komme zurück und hole dich.« Unhold sah ihn finster an, dann warf er den Kopf zurück und stampfte auf. Sie hielten sich dicht an der festen, tröstlichen Granitwand und stiegen von einem gewundenen Ast zum nächsten hinab. Nur selten fand Aspar genug Platz, um sich aufzurichten, so eng schlangen und drehten sich die Zweige umeinander. Zumindest die Dornen lagen weit genug auseinander, um sie einigermaßen leicht umgehen zu können, und manchmal konnte man sich sogar gut daran festhalten. Der Himmel über ihnen wurde zu einem Mosaik, zu einer Buntglasscheibe, einer Erinnerung. Als es Mittag wurde, kletterten sie im Zwielicht, und die Blätter wurden dünn und gelb, weil ihnen das Sonnenlicht fehlte. Noch etwas weiter unten gab es überhaupt keine Blätter mehr. Stattdessen beherbergten die Stämme bleiche Pilzschwämme und gelben, schleimigen Schimmel, weiße, morchelartige Kugeln und irgendwie obszön aussehende, rote Röhrenpilze. Libellen, so groß wie kleine Vögel, schwirrten zwischen den Dor312 nen herum, und blasse, eichhörnchenähnliche Tiere huschten vor Aspar und Winna davon, während sie weiter und weiter von der Sonne fortkletterten. "Winna, die sich an allem freute und sich an den Abstieg gewöhnt hatte, war Aspar einen Steinwurf voraus. Ihm gefiel das nicht, und er sagte es ihr, doch sie antwortete mit spielerischen Spötteleien über sein Alter und drängte ihn, schneller zu klettern. Als sie das erste Mal aufschrie, dachte er zuerst, es wäre wieder ein Scherz, so unwirklich klang ihr Schrei. Doch als er erneut ertönte, hörte er das Entsetzen darin. »Winna!« Er ließ sich eine Mannslänge weit herabfallen, landete auf einem von Pilzen glitschigen Ast und wäre fast abgestürzt. Doch er fing sich wieder und kletterte flink wie ein Eichhörnchen zum nächsttieferen Ast hinunter. Er konnte sie sehen, doch er konnte nicht erkennen, was sie bedrohte. Rasch schwang er sich unter dem nächsten Ast hindurch, und etwas traf ihn im Gesicht, etwas, das ihn packte wie eine riesige, haarige Hand. Er stieß einen heiseren Schrei aus, griff verzweifelt danach und bekam eine Spinne zu fassen, die größer war als sein Kopf. Außerdem war er in ein Netz geraten. Es zerriss zwar sofort,
doch es war klebrig und widerwärtig. Er schleuderte die Spinne weg und hoffte, dass sie ihn nicht gebissen hatte; er spürte allerdings keinen Schmerz. Einen Augenblick später war er direkt über Winna. Auch sie war in klebrige weiße Spinnweben gehüllt; sie weinte und zitterte. Eine der achtbeinigen Kreaturen kam auf einem Ast auf sie zugekrochen. Er nagelte das Scheusal mit seiner Wurfaxt dort fest. Die Beine des Tieres zappelten wild, doch es kam nicht vom Fleck. »Bist du gebissen worden?«, fragte er, als er sie endlich erreichte. »Hat eines von den Biestern dich gebissen?« Sie schüttelte den Kopf, machte jedoch mit zitternder Hand eine Geste in die Runde. Sie waren überall, die Spinnen, hingen zwischen fast allen Ästen. Manche waren faustgroß, andere so groß wie Katzen. Sie waren be313 haart, hatten dicke Beine und gelbe Streifen. Eine Armlänge von Winna entfernt strampelte eines der Eichhörnchen in einem Netz, während dessen Besitzerin mit gierig schnappenden Kiefern näher kroch. »Sind sie giftig?«, keuchte Winna schwach. »Das werden wir nicht herausfinden«, erwiderte Aspar. »Wir klettern wieder nach oben. Wir arbeiten uns in den höher gelegenen Ästen vorwärts.« »Aber müssen wir nicht nach unten?« »Noch nicht. Nicht jetzt. Vielleicht ist das hier nur ein Nest.« Aspar holte sich seine Axt zurück, und sie stiegen wieder empor, wobei sie sich vorsichtig zwischen den Netzen hindurchwanden. Eine Spinne ließ sich von einem Ast fallen, genau auf Aspars Kopf zu, doch er fegte sie mit einem angewiderten Knurren zur Seite. Als sie endlich hoch über den Spinnen waren, machten sie Halt und säuberten sich, so gut sie konnten, von den Spinnweben. Dann untersuchten sie sich gegenseitig nach Wunden und schmiegten sich ein Weilchen aneinander. »Wenn die Nacht hereinbricht, müssen wir aus diesen Bäumen heraus sein«, sagte Aspar. »Warum? Glaubst du, die Spinnen werden heraufkommen?« »Nein. Aber was haust sonst noch hier drinnen? Was lebt tiefer unten, wo es immer dunkel sein muss ? Ich weiß nicht, was nach Sonnenuntergang heraufkommen könnte, und das ist das Problem. Außerdem werden wir in diesen Ästen nicht schlafen, und wir können kein Feuer machen.« »Dann sollten wir uns auf den Weg machen.« Sie klang zittrig. »Schaffst du das?« »Ja. Ich schaffe es.« Er empfand das plötzliche Verlangen, sie zu küssen, und tat es auch. »Wofür war das denn?«, fragte sie. »Du bist ein tapferes Mädchen, Winna. Wirklich tapfer.« Sie stieß ein abgehacktes Lachen aus. »Ich komme mir aber gar nicht tapfer vor. Wegen Spinnen loszuschreien.« Aspar verdrehte die Augen. »Los, komm.« 314 Sie kletterten weiter und hielten sich dabei in mittlerer Höhe. Die Wände drängten sich dicht zusammen und wichen dann wieder auseinander, und als die Schlucht breiter wurde, wurde der Dornenwald niedriger. Ohne die beengenden Wände, die sie nach oben zwangen, dem Sonnenlicht entgegen, konnten sich die Äste freier ausbreiten. Hier und dort konnte Aspar sogar den Boden sehen, der von etwas überwuchert war, das wie weißer Farn aussah. Doch die riesige, unbekannte dunkle Höhle hinter ihnen beunruhigte ihn immer stärker, als der Tag zur Neige ging. Er konnte die Gegenwart von etwas Großem, Finsterem beinahe riechen; von der Sonne in einen Käfig gebannt, jedoch frei, wenn der Leuchtende König schlief. Und er würde bald schlafen. »Lass uns hinabsteigen«, sagte Aspar, »und hoffen, dass wir nicht noch mehr Überraschungen erleben.« Die Spinnen waren auch hier, jedoch in sehr viel geringerer Anzahl und viel weiter verstreut. Außerdem waren sie meistens kleiner, sodass Aspar und Winna sich ohne allzu viele unangenehme Momente einen Weg an ihnen vorbei bahnen konnten. Schließlich ließ sich Aspar widerstrebend von einem Ast fallen, der sich ungefähr zwei Mannslängen über dem Boden befand, und landete auf dem Humus, der den Untergrund bedeckte. Er mied die Büschel der weißen, faserigen Farngewächse, die vielleicht weitere vielbeinige Jäger verbergen mochten. Einen Moment später fing er Winna auf, die ihm gefolgt war. Mehr denn je kam er sich vor wie in einer Höhle. Die Stämme der Dornenbäume waren von gewaltigem Umfang, standen jedoch weit auseinander. Das Resultat war der Eindruck einer riesigen, niedrigen Halle mit vielen Säulen. Eine sehr düstere Halle, und aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, aus dem Herz dieser Dunkelheit, roch Aspar Gestank. »Komm«, sagte er. »Beeilen wir uns.« Sie rannten mehr oder weniger. Aspar spannte seinen Bogen und schwenkte ihn vor sich, für den Fall, dass es hier Spinnennetze gab, die 315
sie nicht sehen konnten. Der Untergrund war eben, flach und dick mit Humus bedeckt. Er roch nach Tausendfüßlern, wie die Unterseite eines verrottenden Rindenstücks. Während das Licht nachließ, wurden die Stämme größer, doch Aspar konnte immer noch kein Ende des Waldes ausmachen. Schließlich bemerkte er einen Baum mit einer großen Höhlung. Sein Rücken juckte, und der Geruch von Herbstlaub drang in seine Nase. »Wenn dieser Wald ein Ende hat, dann werden wir es nicht vor Einbruch der Nacht finden«, sagte er zu Winna. »Dies hier ist das Beste, was wir auftreiben können.« Er entzündete einen Span und hielt ihn in die Höhlung, um sicherzugehen, dass sie leer war, dann kauerten sich die beiden hinein. Der Wald verschwamm und verschwand, und Aspar schob sich zwischen Winna und den Eingang, den Bogen fest in der Hand. Nach etwa einem Glockenschlag wurde Winnas Atem hinter ihm tief und gleichmäßig. Kurz darauf verstummten die Nachtvögel, und die Nacht wurde sehr, sehr still. Und dann - noch immer war kein Laut zu vernehmen, doch Aspar fühlte es, wie ein Blinder die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht spürt. Die Erde erzitterte leise, und der Gestank erfüllte die Luft. Aspar spähte in die Finsternis und wartete. 22. Kapitel Abschiede Ich weiß, dass es nicht gerecht ist, Täubchen«, sagte Lesbeth und zog Annes Haar nach hinten, um es festzustecken. »Aber deine Mutter findet, dass es das Beste für dich ist.« »Roderick wird mich vergessen.« 316 »Wenn er das tut, hat er dich nie geliebt«, erwiderte Lesbeth. »Außerdem - Anne, genau davor habe ich dich zu warnen versucht.« »Aber du heiratest doch aus Liebe!«, wandte Anne ein. »Du bist die Jüngste, und das bin ich doch auch.« »Ich hatte Geduld«, sagte Lesbeth. »Und vor allem Glück.« »Ich wollte, ich hätte so viel Glück«, erwiderte Anne. Lesbeth trat vor Anne hin, damit sie ihr in die Augen sehen konnte. »Dann tu, was deine Mutter sagt. Du verstehst es vielleicht nicht, Anne, aber sie gibt dir eine größere Chance, wahre Liebe zu finden, als du je gehabt hast.« »Indem sie mich fortschickt? In einen Konvent? Das ist doch verrückt.« »Oh, das ist es nicht«, versicherte ihr Lesbeth. »Einerseits wird eine Vermählung so eine Zeit lang aufgeschoben, und selbst wenn du den Konvent wieder verlässt, wird man dir eine gewisse Bedenkzeit zugestehen, in der du behaupten kannst, dass du erwägst, das Gelübde abzulegen. Auf diese Weise hast du die Möglichkeit, Freier hinzuhalten und so von mehr Männern umworben zu werden. Je mehr Bewerber du hast, desto größer ist die Chance, einen zu finden, der dir gefällt. Und wenn es zum Schlimmsten kommt - nun, dann kannst du ja wirklich das Gelübde ablegen.« »Niemals.« Anne warf den Kopf zurück. »Außerdem habe ich schon den Freier gefunden, den ich will.« »Nun, den kriegst du aber nicht, und das ist nicht zu ändern, Anne. Jedenfalls jetzt nicht. Vielleicht in ein paar Jahren - möglicherweise tut sich Roderick in des Königs Diensten hervor, oder auf irgendeine andere Weise, um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen. Wahrscheinlich wird dir aber eher klar werden, dass das, was ihr beide hattet, eine jugendliche Leidenschaft war, eine Teekesselliebe, die zu Ende ist, sobald sich der Dampf setzt.« Lesbeth nahm Annes Hand in die ihre. »Ein Kaufmann weiß, dass man nie die erste Ware kaufen soll, die man begutachtet. Sie mag ja sehr gut aussehen, aber ehe man sich ein wenig auskennt, um sich ein Urteil zu bilden, woher soll man es da genau wissen?« 317 »Nun, im Konvent werde ich jedenfalls nicht dazu kommen, Vergleiche anzustellen, so viel ist sicher!«, erwiderte Anne bitter. »Geduld«, erwiderte Lesbeth. »Und du hast doch Austra bei dir, oder?« »Ja«, gab Anne widerwillig zu. »Aber es wird bestimmt trotzdem grässlich. Zu lernen, so wie Erren zu sein? Was tut Erren eigentlich genau, außer herumzuschleichen und ihre Nase in alles Mögliche zu stecken?« Ein komisches kleines Stirnrunzeln zeigte sich auf Lesbeths Gesicht. »Du weißt doch bestimmt, was Erren tut.« »Sie ist Mutters Spionin.« »Ja, das ist sie. Aber sie ist auch -Anne, Erren bringt Menschen um.« Anne wollte schon loslachen, doch dann sah sie, dass Lesbeth nicht scherzte. »Wen bringt sie um? Wie?«, wollte sie wissen. »Andere Leute. Leute, die für das Königreich und für deine Mutter gefährlich sind.« »Aber wen? Wen hat sie umgebracht?« Lesbeths Stimme wurde sehr leise. »Meistens ist das geheim. Das ist es ja gerade bei Erren, sie ist sehr ... still. Aber - erinnerst du dich noch an diesen fetten Lord aus Wysmünde? Hemming?« »Ja. Ich habe ihn immer für eine Art Spaßvogel gehalten; er hat ständig Witze gemacht.« »Er war ein Spion der Reiksbaurgs. Er war an einer Verschwörung beteiligt, um Fastia zu entführen.« »Aber ich weiß noch - er ist in seinen Gemächern gestorben. Damals hieß es, es hätte an seinem Herzen
gelegen.« »Mag sein. Aber es war Erren, die sein Herz hat stillstehen lassen; ob mit Gift, Nadel oder Todes-Sacaum weiß man nicht. Aber es war Erren. Ich habe einmal gehört, wie deine Mutter darüber gesprochen hat.« »Das ist ...« Anne wusste nicht, was es war. Erren war schon immer unheimlich gewesen, aber ... »Ich soll solche Dinge lernen?«, fragte sie. »Warum?« »Alle großen Häuser müssen Frauen wie Erren haben. Sie ist die 318 Base deiner Mutter, weißt du, von edler Geburt. Aber deine Mutter sieht das so: Wenn du deinem Haus nicht durch eine Ehe dienst, wirst du ihm eben auf irgendeine andere Weise dienen. Sie lässt dir eine Wahl.« »Das glaube ich nicht. Mutter hasst mich.« »Wie absurd. Sie liebt dich. Vielleicht liebt sie dich von all ihren Kindern am meisten.« »Wie kannst du das sagen?« »Du kannst es nicht sehen, Anne, oder? Außer im Spiegel, und dort erscheint alles verkehrt herum. Glaub mir, deine Mutter liebt dich. Ich wünschte auch, sie würde dich nicht fortschicken, aber ich verstehe, warum sie es tut. Auch du wirst es eines Tages verstehen, selbst wenn du niemals damit einverstanden sein wirst. So sollte es sein, wenn man erwachsen wird, weißt du, oder jedenfalls sollte Erwachsenwerden das mit sich bringen - den Weitblick, etwas zu verstehen, auch wenn man von ganzem Herzen dagegen ist.« Anne fühlte, wie ihr die Tränen kamen. »Ich werde dich vermissen, Lesbeth. Gerade habe ich dich zurückbekommen, und jetzt muss ich fort.« »Ich werde dich auch vermissen, Anne«, erwiderte Lesbeth und umarmte sie lange. »Und jetzt muss ich gehen. Ich kann es nicht ertragen, dich abfahren zu sehen.« »Mutter anscheinend auch nicht. Oder Fastia.« »Sie sind schon fort, Anne. Wusstest du das nicht? Sie sind mit dem Schiff abgefahren, noch vor dem Morgengrauen. Und alle glauben, du bist mit ihnen gefahren.« Einschließlich Roderick, dachte Anne, während sie zusah, wie ihre Tante durch den Torbogen verschwand, der aus dem Vorplatz vor den Stallungen herausführte. Er denkt immer noch, ich fahre nach Cal Azroth. Sie und Austra waren bewacht worden wie Sträflinge, und sie hatte weder die Zeit noch eine Gelegenheit gefunden, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Außerdem wusste sie nicht, wohin es ging. Ich werde die erstbeste Gelegenheit nutzen, dachte sie. Das können 319 sie mir nicht antun. Nicht einmal Lesbeth versteht mich, obwohl ich sie sehr lieb habe. Ich kann mich nicht in einem Konvent einsperren lassen. Ich kann nicht. Und wenn ich wie ein Bandit leben oder mich als Mann verkleiden und wie ein Söldner kämpfen muss, dann werde ich es tun. Ihre Gedanken gingen immer noch in diese Richtung, als die Kutsche vorfuhr und Austra mit ein paar Trägern für ihr Gepäck erschien. »Was glaubst du, wo wir hinfahren?«, flüsterte Austra, als die Vorhänge der Kutsche zugezogen wurden und sie sich rumpelnd in Bewegung setzte. »Egal«, antwortete Anne mit gespielter Fröhlichkeit. »Das ist doch vollkommen egal.« Muriele sah die Ulmen vorüberziehen. Sie säumten den Kanal wie ein Säulengang; Ulmen hatten tiefe, gerade Wurzeln, die die Deiche, auf denen sie gepflanzt waren, niemals untergraben, sondern sie stärken würden. Hinter den Ulmen erstreckten sich die Felder von Neuland flach und grün bis zum Horizont. Nur die jetzt ferne Erhebung, die die Insel Ynis bildete, unterbrach die ebene Fläche, denn selbst die Südhügel waren hinter mittäglichem Dunst verschwunden. »Habe ich richtig gehandelt?«, murmelte sie. Annes Gesicht stand ihr deutlich vor Augen. Ich hasse dich. Welche Mutter konnte es ertragen, das von ihrem Kind zu hören? Manche Dinge musste man eben ertragen. »Meine Königin?« Muriele drehte sich um und fand den jungen Ritter, Neil MeqVren, beinahe an ihrem Ellenbogen. »Ja?«, sagte sie. »Es tut mir Leid, Euer Majestät.« Er verbeugte sich hastig. »Ich dachte, Ihr hättet mit mir gesprochen.« »Nein«, erwiderte sie. »Nur mit mir selbst, oder mit den Heiligen.« »Dann tut es mir Leid, dass ich Euch belästigt habe.« »Ihr habt mich nicht belästigt. Ich hoffe doch, Ihr habt Euch von Sir Fail verabschiedet?« 320 »Ich hatte nicht viel Zeit, und wir haben nur ein paar Worte gewechselt«, antwortete Neil. »Er platzt fast vor Stolz auf Euch. Wärt Ihr sein eigener Sohn, ich glaube, er könnte nicht stolzer sein.« »Wäre er mein eigener Vater, könnte ich nicht glücklicher darüber sein.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Muriele. Einen Augenblick lang ließ sie Schweigen zwischen ihnen herrschen. »Was haltet Ihr von all dem, Neil?« »Von Neuland, meint Ihr?« »Nein, das meine ich nicht, aber da Ihr es erwähnt, müsst Ihr ja eine Meinung dazu haben.«
Neil grinste ein wenig verlegen und sah sehr, sehr jung aus. »Es macht mich wohl nervös, Majestät. Ihr seid aus Liery, deshalb versteht Ihr; wir würden unserem Herrn, der See, niemals Ketten anlegen. Wir würden ihm niemals vorschreiben, wohin er gehen darf und wohin nicht. Hier jedoch - nun, es ist wirklich grandios, das muss ich sagen, und erstaunlich, dass Land den Wogen entrissen werden kann. Und ich nehme an, der heilige Lier hat keine Einwände erhoben, aber es erscheint mir ... vermessen.« »Selbst für den König von Crothenien?« »Um Vergebung, Euer Majestät, aber auch ein König ist nur ein Mensch. Ich diene diesem Menschen und allem, wofür er steht, und solltet Ihr von mir verlangen, mich in eine Bresche in einem dieser Deiche zu werfen und sie mit meinem Leib zu schließen, um das Meer fern zu halten, so werde ich es tun, und dann sollen die Heiligen über mich urteilen, wie sie mögen. Aber trotzdem, alles in allem - ich liebe den Lord der See, aber ich traue ihm nicht, wenn er mir über den Kopf steigt, wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Das tue ich«, sagte Muriele leise. »Die Reiksbaurgs haben das hier begonnen, und die Leute meines Gemahls haben es vollendet. Unter diesen Wassern haben sie den fruchtbarsten Boden der ganzen Welt gefunden. Aber lasst Euch nicht täuschen; wir zahlen einen Zehnten an die Heiligen der Wogen, der Marschen und des Flusses. Und 321 manchmal holen sie sich ihren Zehnten auch selbst. Es ist ein zerbrechliches Bündnis, genau wie Ihr sagt.« Neil nickte. »Und was habt Ihr nun gemeint, Majestät, als Ihr gefragt habt, was ich davon halte?« »Stimmt Ihr meinem Gemahl zu? Ist es das Richtige, nach Cal Azroth zu gehen?« Neil wog seine Worte sorgfältig ab, ehe er antwortete. »Die Lords von Hansa sind ein verräterischer Haufen«, sagte er schließlich. »Sie kämpfen im Rauch, stets hinter Masken. Sie bezahlen Weihand-Freibeuter für abgeschnittene lierische Ohren und nennen das nicht Krieg. Sie benutzen Magie, trotz all ihrer Beteuerungen, ein heiliges, kirchengläubiges Reich zu sein. Der Ritter, gegen den ich gekämpft habe, war durch und durch Euer Mann, das glaube ich wirklich. Und trotzdem hätte er Euch getötet.« »Das sind alles mehr oder weniger Tatsachen«, stellte Muriele fest. »Was denkt Ihr?« »Ich denke, wenn Hansa glaubt, dass sie das Reich schwächen können, indem sie einen Schlag gegen des Königs Familie führen, dann werden sie das tun. Aber um ehrlich zu sein, dieser Rückzug aufs Land behagt mir nicht.« »Wieso?« »Ich bin nicht ganz sicher. Es fühlt sich ... falsch an. Warum sollten sie versuchen, Euch zu töten anstatt den König selbst? Und wie könnt Ihr irgendwo sicher sein, wenn wir noch nicht einmal wissen, wie Euer Mann dazu gebracht wurde, sich gegen Euch zu wenden? Wenn es Hexerei war, könnte ich genauso leicht dazu gebracht werden, mich gegen Euch zu wenden. Ich würde mich in mein Schwert stürzen, ehe ich Euch etwas zuleide täte, aber ich wette, der Ritter, den ich erschlagen habe, hätte das Gleiche geschworen.« »Vielleicht seid Ihr Euren Jahren in manchen Dingen an Weisheit weit voraus, Sir Neil, doch was den Königshof angeht, seid Ihr immer noch naiv. Es bedarf keiner Hexerei, um einen Mann zu verleiten. Die Magie von Gier, Furcht und Neid reicht vollkommen aus, um den größten Teil aller Übel zu bewirken, die Ihr am Hof jemals 322 sehen werdet. Was die Frage betrifft, warum man mich beseitigen wollte anstelle des Königs ... Ich muss zugeben, dass auch ich verwirrt bin.« »Vielleicht ...« Stirnrunzelnd überlegte Neil einen Moment. »Was ist, wenn Euer Feind es nur darauf angelegt hat, Euch vom König zu trennen} Eure Familie zu teilen?« Irgendetwas an dem, was der Ritter sagte, klang ungemein richtig. »Fahrt fort«, sagte sie. »Wenn ich der König wäre und plötzlich von Kindern und Gemahlin getrennt wäre, würde ich mich schwächer fühlen. Wie ein Wagen, dem ein Rad fehlt.« »Mein Gemahl hat immer noch seine Geliebten. Und seinen Bruder.« »Ja, Euer Majestät. Aber - was, wenn sie es sind, die Euch aus dem Weg haben wollen?« Muriele starrte den jungen Mann an und begriff plötzlich, dass sie ihn völlig falsch eingeschätzt hatte. »Bei allen Heiligen, Sir Neil«, sagte sie leise. »Es war pure Verleumdung meinerseits, Euch als naiv zu bezeichnen. Nehmt meine Entschuldigung an, ich bitte Euch.« »Ich weiß nichts, Euer Majestät«, sagte Neil langsam, »aber ich folge Lady Errens Rat bis zum Ende des Weges. In meinem Kopf muss ich jeden auf der Welt für Euren Feind halten. Lady Erren eingeschlossen. Und wenn ich so denke, kommt mir alles verdächtig vor. Und wenn ich so denke, werde ich, so die Heiligen wollen, nicht lange überrascht sein, wenn Eure wahren Feinde erneut die Hände wider Euch erheben. Stattdessen werde ich sie auf der Stelle niedermachen.« Die Leidenschaft in seiner Stimme ließ sie erschauern. Bei Hofe vergaß man manchmal, dass es richtige Menschen auf der Welt gab, echte Menschen. Dieser junge Mann war so ein Mensch. Er war echt, er war gefährlich, und so die Heiligen wollten, war er der ihre. »Ich danke Euch für Eure Ansichten, Sir Neil. Ich finde sie durchaus erwägenswert.« »Ich danke Euch, Majestät, dass Ihr Euch meine Bedenken angehört habt.« 323 Lesbeth warf ihr rotbraunes Haar zurück und starrte über die westliche Bucht und die gewaltigen weißen Zähne von Thornrath, die diese von der grünen See dahinter trennten. Sie konnte gerade noch die weißen Segel eines
Handelsschiffes erkennen, dicht am Horizont. Eine Möwe kreiste über ihnen; zweifellos beäugte sie die Reste des Brathähnchens, des Donchestkäses und der Honigkuchen, die immer noch auf dem Picknicktuch lagen. »Ein schöner Tag«, sagte ihr Bruder Robert und nippte an der letzten Hälfte ihrer zweiten Weinflasche. Sie saßen zusammen auf der westlichsten Landspitze von Ynis, einem grasbewachsenen Vorsprung, auf dem die Trümmer eines alten Turms verstreut lagen. »Das stimmt«, erwiderte Lesbeth und schenkte ihm ein Lächeln, nach dem ihr nicht wirklich zumute war. Robert war ... spröde gewesen, seit er von ihrer Verlobung erfahren hatte. Sie hatte seine Einladung zu einem Picknick angenommen, weil sie hoffte, dem abhelfen zu können. Doch sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er sie ausgerechnet hierher bringen würde. Robert war boshaft, ja, aber normalerweise nicht zu ihr. Konzentriere dich einfach auf das Meer und den Himmel, sagte sie sich. Konzentriere dich auf die Schönheit. Doch Robert schien fest entschlossen, das nicht zuzulassen. »Weißt du noch, wie wir als Kinder immer hier heraufgekommen sind?«, fragte er. »Wir haben gespielt, dieser Turm wäre unser Schloss.« »Das waren wunderbare Tage«, brachte Lesbeth trotz des Klumpens in ihrer Kehle hervor. »Damals habe ich dich gekannt«, sagte Robert. »Oder ich habe gedacht, ich kenne dich. Ich habe mir immer eingebildet, ich würde auch den geringsten deiner Gedanken kennen. Damals.« Lesbeth griff nach seiner Hand. »Robert, es tut mir wirklich Leid. Ich hätte dich um Erlaubnis bitten sollen zu heiraten. Das weiß ich. Und jetzt bitte ich dich darum.« Ein seltsamer Ausdruck glitt über Roberts Gesicht, doch er schüttelte den Kopf. »Du hast Wilm gefragt. Er ist der Älteste.« 324 Lesbeth drückte seine Hand. »Ich weiß, ich habe dir wehgetan, Robert. Es ist nur, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte.« »Wie kann das sein?«, fragte er. Sie holte tief Atem. »Es ist so, wie du sagst. Früher haben wir uns so nahe gestanden, dass keiner von uns auch nur blinzeln konnte, ohne dass der andere es wusste. Und jetzt, irgendwie -« »Du kennst mich nicht mehr«, beendete er den Satz für sie. »Wir haben uns voneinander entfernt. Seit dem Tag, als Rose -« »Bitte hör auf!« Lesbeth schloss die Augen vor den schrecklichen Erinnerungen, drängte sie zurück. »Wie du willst«, meinte er. »Aber wir haben nie darüber gesprochen -« »Und das werden wir auch nicht tun. Ich kann nicht.« Er nickte, und ein Ausdruck der Resignation huschte über seine Züge. »Außerdem«, fuhr sie fort, »weiß ich, dass du glaubst, mein Fürst Cheiso hätte dich beleidigt -« »Das glaube ich nicht«, unterbrach Robert sie, »dessen bin ich mir sicher.« »Bitte, Robert. Er hatte nicht vor, dich zu kränken.« Robert lächelte und hob die Hand. »Vielleicht nicht«, gab er nach. »Also, wo ist er jetzt? Ich hätte gedacht, er würde kommen und um Erlaubnis bitten - wenn schon nicht um meine, dann doch wenigstens um Wilms. Warum hat er das dir überlassen?« »Er wird in einer oder zwei Wochen eintreffen«, erwiderte Lesbeth. »Er musste sich um dringende Angelegenheiten kümmern. Er hat mich gebeten zu warten, damit wir zusammen reisen könnten, aber ich war ungeduldig. Ich wollte meine Neuigkeiten mit euch teilen.« Sie drehte den Kopf zur Seite. »Bitte, Robert. Freu dich für mich. Du bist mein Bruder, und ich liebe dich, aber nachdem -« »Nachdem wir Rose getötet haben?«, sagte er grob. Stumm nickte Lesbeth; sie konnte nicht weitersprechen. »Es war ein Versehen«, erinnerte er sie. So war es Lesbeth nicht im Gedächtnis geblieben. Sie erinnerte sich 325 an ein grausames Spiel mit einem Dienstmädchen, ein Spiel, das weiter getrieben worden war, als es je hätte gehen dürfen. Und sie erinnerte sich an das Wissen, dass Robert von Anfang an vorgehabt hatte, dass es so weit gehen sollte. Danach hatte sie nicht mehr wissen wollen, was Robert dachte. Doch sie nickte erneut, als stimme sie ihm zu. »Ich kann nicht darüber sprechen«, sagte sie wieder. »Es tut mir Leid«, murmelte er. »Ich habe unseren Ausflug verdorben. Das war nicht meine Absicht. Zwischen uns liegen Jahre, die wir nicht kitten können, ich weiß. Schweigen hat auf uns gewirkt wie Gift. Aber wir sind Zwillinge, Lesbeth.« Abrupt stand er auf. »Darf ich dir etwas zeigen?« »Was denn?« Er lächelte, und einen Moment lang sah er aus wie der Knabe, an den sie sich erinnerte. »Ein Hochzeitsgeschenk«, sagte er. »Hier oben?« »Ja.« Er sah ein wenig verlegen aus. »Es ist etwas, das ich mit eigenen Händen geschaffen habe. Es ist nicht weit.« Lesbeth lächelte vorsichtig. So viel in Robert war verletzt, so viel zerbrochen. Trotzdem liebte sie ihn. Sie nahm seine Hand, ließ sich von ihm auf die Beine ziehen und folgte ihm, als er sie in die fast völlig verwilderten
Gärten hineinführte, die sie umgaben. Als sie klein gewesen waren, waren die Gärten noch instand gehalten worden, doch im Laufe der Jahre war dieser Ort aus der Mode gekommen, und die Rosen und Hecken waren sich selbst überlassen worden. Jetzt waren sie an manchen Stellen so dicht wie ein richtiger Wald. Robert führte sie nicht weit. »Hier ist es.« Lesbeth konnte es nur in stummem Entsetzen anstarren. Die Sonne schien, Blumen blühten. Sie würde heiraten. Wie konnte er ihr das antun? Er hatte Rose ausgegraben. Ihre kleinen Gebeine - sie war zehn gewesen - lagen am Grund eines Loches in der Erde. Ihre Kleider waren zum größten Teil verrottet, doch Lesbeth erkannte das, was von dem blauen Kleid übrig geblieben war, das sie zuletzt getragen hatte. 326 »Bei allen Heiligen, Robert -« Das Grauen erstickte alles, was sie noch hätte sagen können. Sie wollte davonrennen, schreien und sich die Augen aus dem Kopf heulen. Stattdessen konnte sie nur dastehen und in das Loch blicken, in jenes fürchterliche Verbrechen aus ihrer Vergangenheit. Sie hatte nie erfahren, was Robert mit der Leiche gemacht hatte. Sie hatten allen erzählt, dass Rose davongelaufen sei. Es tut mir Leid, Rose, dachte sie. Ihr Heiligen des Kummers, es tut mir Leid. »Ich liebe dich, Lesbeth«, sagte Robert leise. »Du hättest mich um Erlaubnis bitten sollen. Mich, nicht Wilm. Mich.« Als sie sich zu ihm umdrehte, versetzte er ihr einen Schlag gegen die Brust, so hart, dass sie zurücktaumelte und zu Boden ging; ihre Röcke bauschten sich um sie herum. Mehr verblüfft als verletzt starrte sie zu ihm empor. Robert hatte sie noch nie zuvor geschlagen, niemals. »Robert, was -« Sobald sie versuchte zu sprechen, wurde ihr klar, dass irgendetwas sehr, sehr Schlimmes passiert war. Irgendetwas in ihrem Innern war ganz verdreht, und ihr Atem schmerzte wie Feuer. Und Robert stand über ihr - seine Hand war noch immer zur Faust geballt, doch es war ein Messer darin, der schmale Zierdolch, den er stets am Gürtel trug, der, den Großvater ihm geschenkt hatte, als er elf gewesen war. Die Klinge war rot bis zum Heft. Dann schaute sie auf ihr Kleid hinunter und sah die rote Nässe über ihrem Herzen. Auch ihre Hand war blutig, wo sie sie, ohne nachzudenken, auf die Wunde gepresst hatte. Noch während sie zusah, quoll das Blut tatsächlich zwischen ihren Fingern hervor, wie eine Quelle, die aus der Erde sprudelt. »Robert, nein«, keuchte sie; ihre Stimme klang hoch und seltsam. »Robert, töte mich nicht.« Er beugte sich über sie; seine dunklen Augen glänzten vor Tränen. »Das habe ich schon getan, Lesbeth«, sagte er sehr leise. »Das habe ich schon getan.« Und er küsste sie auf die Stirn. Kopfschüttelnd kroch sie davon, versuchte auf die Beine zu kommen, fiel wieder hin. »Ich werde heiraten«, sagte sie, versuchte ihn 327 dazu zu bringen, dass er verstand. »Einen safnischen Fürsten. Er kommt, um mich zu holen.« Sie konnte Cheiso fast vor sich stehen sehen. »Ich werde ihm Kinder schenken. Eines werde ich nach dir benennen. Robert, nicht -« Nackte Panik durchzuckte sie. Sie musste fliehen. Robert war wahnsinnig geworden. Er wollte ihr wehtun. Doch es war keine Kraft in ihren Armen, und irgendetwas schloss sich um ihren Knöchel, und das Gras glitt unter ihr weg, und sie hinterließ eine breite Spur, wie eine riesige Schnecke, nur dass die Spur rot war. Und dann ein Moment des Schwebens, und Roberts Gesicht wieder vor ihr. »Schlaf, Schwester«, sagte er. »Träum von der Zeit, als wir klein waren und alles gut war. Träum von der Zeit, als du mich am liebsten hattest.« »Töte mich nicht, Robert«, flehte sie schluchzend. »Hilf mir.« »Du hast ja Rose«, sagte er. »Und sehr bald - sehr bald wirst du reichlich Gesellschaft haben. Reichlich.« Und er lächelte, aber sein Gesicht schien sehr weit weg, wich immer weiter zurück. Sie hatte den Fall nicht gespürt, doch die leeren Augenhöhlen von Roses kleinem, weißem Schädel waren direkt neben ihr. Lesbeth hörte die Musik der Vögel und ein Wispern, das sie hätte wiedererkennen sollen, Worte, die sie halb verstand. Sie schienen sehr wichtig zu sein. Und dann war das plötzlich alles. 328 23. Kapitel Spendlove Als Stephen Darige zum vierten Mal in ein und derselben Nacht aus der Unklammerung einer Schwarzen Mary erwachte, verfluchte er den Schaf, erhob sich und schlich aus dem Schlafsaal. Die Nacht war still und mondlos, und die Luft fühlte sich an wie im Frühherbst. Er ging ein kleines Stück, bis dorthin, wo der Hügel zu den Weiden hin abfiel, setzte sich und blickte zu den Sternen hinauf. Die ewigen Sterne hatte sein Großvater sie genannt. Doch sein Großvater irrte sich; nichts war ewig. Sterne nicht, und Berge auch nicht. Die Heiligen nicht, Liebe nicht, und auch die Wahrheit nicht. »Heiliger Michael«, murmelte er. »Sag mir, was Wahrheit ist. Ich weiß es nicht mehr.« Ihm war, als läge etwas Verdorbenes in seinem Innern, etwas, das er dringend ausspeien musste. Doch er
fürchtete, dass es eine eigene Gestalt annehmen und ihn verschlingen würde, wenn es herauskäme. Er hätte dem Fratrex sagen sollen, was das für eine Schriftrolle war, sobald er es begriffen hatte. Er hätte sie nicht übersetzen sollen. Bei den Heiligen, das hätte er nicht tun sollen. Jetzt war es zu spät. Jetzt hatte er diese bösen Worte in seinem Inneren. Jetzt wurde er sie nicht mehr los. Das leise Schlurfen von Schuhen auf Gras verriet ihm, dass jemand hinter ihm war. Er war sich sicher zu wissen, wer es war, und es war ihm gleichgültig. »Hallo, Bruder Desmond.« »Guten Morgen, Bruder Stephen. Wolltest du ein wenig Luft schnappen?« Stephen drehte sich weit genug um, um den Schatten des Mannes vor den Sternen aufragen zu sehen. »Lass mich in Ruhe oder bring mich um. Mir ist es egal.« 329 »Wirklich?« Es klang seltsam, wie er das sagte, fast wie ein Wiegenlied. Dann krallte sich eine Faust in Stephens Haar und riss ihn rücklings zu Boden. Desmond schleifte ihn ein Stück, dann kauerte er sich hin und hielt ihm die Schneide eines Messers mit breiter Klinge an die Kehle. »Wirklich?«, flüsterte er erneut, diesmal fast in Stephens Ohr. »Warum?«, brachte Stephen heraus. »Warum tust du mir das an?« »Weil ich dich nicht mag. Du wirst nächsten Monat den Pfad der Schreine beschreiten. Hast du das gewusst?« »Was?« »Ja. Du hast deine Übersetzung fertig, nicht wahr?« »Was? Woher weißt du das?« »Ich weiß alles, was hier vorgeht, du kleiner Schleimer. Wieso sollte ich es nicht wissen?« »Ich habe es niemandem erzählt.« »Keine Sorge. Ich hab deine Notizen für dich zum Fratrex gebracht, nachdem ich sie gelesen habe.« Das Messer verschwand, und Bruder Desmond richtete sich auf. Stephen machte sich auf einen heftigen Fußtritt gefasst, doch zu seiner Überraschung seufzte Desmond und setzte sich neben ihn ins Gras. »Schlimme Sachen«, sagte Spendlove beinahe im Flüsterton. »Zaubersprüche, um Männer zu Brei werden zu lassen, Gebete an die Verdammten Heiligen. Blutriten, Kindesmissbildungen. Ganz, ganz schlimm. Kannst du deswegen nicht schlafen?« »Du hast es doch gelesen«, erwiderte Stephen dumpf. »Kannst du schlafen?« Desmond stieß etwas hervor, das einem Lachen ähnelte. »Das konnte ich noch nie«, erklärte er. »Warum hast du meine Arbeit gestohlen?« »Warum nicht?« »Aber du hast sie dem Fratrex übergeben.« »Ja. Glaub von mir, was du willst, Bruder Stephen, aber ich diene meinem Orden.« Seine Stimme wurde noch leiser. »Ich diene ihm wohl.« 330 Stephen nickte. »Nun, du hast mir einen Gefallen getan. Ich habe nicht gewusst, ob ich den Mut dazu haben würde.« »Wie meinst du das?« Plötzlich wünschte Stephen, er könne Bruder Desmonds Augen sehen. Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, klang der andere verwirrt. »Das weißt du doch«, sagte Stephen. »Du weißt ganz genau, dass ich keinen Pfad der Schreine beschreiten werde, wenn der Fratrex liest, was ich geschrieben habe, und ihm klar wird, was ich getan habe.« »Du hast getan, was er dir aufgetragen hat«, erwiderte Spendlove, und diesmal konnte es keinen Zweifel geben, der Mönch war verblüfft, oder er gab eine begnadete Vorstellung. »Bruder Desmond, die Arbeit der Kirche hat stets darin bestanden, solch widerwärtige Texte zu vernichten. Sobald ich wusste, um was es sich handelt, hätte ich den Fratrex zurate ziehen sollen. Stattdessen habe ich weitergemacht und ein verbotenes Scrift übersetzt. Wahrscheinlich habe ich mich selbst verdammt, und meine Stellung hier verliere ich ganz sicher.« Diese Worte entlockten Spendlove ein trockenes Lachen. »Bruder Stephen, du denkst vielleicht, ich bin hier an diesem Ort dein schlimmster Feind. Das bin ich nicht. Du selbst bist dein ärgster Feind. Das würde ich niemandem wünschen.« Damit erhob sich Bruder Desmond. »Viel Glück auf dem Pfad«, sagte er. Es klang fast, als meine er es ernst. Einen Augenblick später war Stephen wieder mit den Sternen allein. Der Fratrex blickte von seinem Schreibpult hoch, auf dem sich Bücher, Papier und mehrere Tintenfässer stapelten. »Guten Morgen, Bruder Stephen.« Er klopfe auf ein paar Papierbögen auf dem Pult. »Hervorragende Arbeit, das hier. Seid Ihr Euch all dessen wirklich sicher?« »Ehrwürdiger? So sicher, wie ich mir nur sein kann.« 331 »Nun denn. Ich bin nicht enttäuscht von Euch, das kann ich Euch sagen.« »Aber Ehrwürdiger -« Er fühlte sich wie damals im Wald, als die Hunde gekommen waren und er einen Moment
lang wirklich geglaubt hatte, Aspar Whites grimmiger Wüterich stieße auf ihn herab. Genauso hatte er sich gefühlt, als er die Übersetzung des Scrifts halb fertig gehabt und begriffen hatte, was er da vor sich hatte. Es war jenes Schwindelgefühl, das von der jähen Erkenntnis herrührte, dass er die Welt tatsächlich nicht verstand. Daher, dass zu viele Dinge, deren er sich sicher gewesen war, sich auf einmal als nichtig erwiesen. Der Fratrex wartete mit hochgezogenen Brauen darauf, dass er fortfuhr. »Die Natur dieses Scrifts«, erklärte Stephen. »Ich hätte es Euch sagen müssen, sobald ich es erkannt hatte. Ich hätte aufhören sollen, ehe ich es vollendet hatte. Es tut mir Leid. Ich würde verstehen, wenn Ihr verlangt, dass ich meine Stellung aufgebe.« »Das braucht Ihr mir nicht zu sagen«, meinte der Fratrex. »Wenn ich verlange, dass Ihr Eure Stellung aufgebt, dann werdet Ihr das tun, und ob Ihr es versteht oder nicht, tut überhaupt nichts zur Sache. Aber weshalb sollte ich das verlangen? Ihr habt genau das getan, was ich von Euch wollte, und zwar ganz ausgezeichnet.« »Ich verstehe nicht, Ehrwürdiger. Die Haltung der Kirche -« »Kenne ich sehr viel besser als Ihr«, vollendete der Fratrex den Satz. »Die Kirche hat Anliegen, die Ihr nicht einmal ansatzweise verstehen könnt und die ich Euch zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht erläutern kann. Lassen wir es dabei bewenden, dass es Böses auf der Welt gibt, einverstanden? Und dass das Böse viele Jahre lang stumm bleiben mag; wenn es jedoch spricht, sollten wir wenigstens die Sprache kennen. Wenn nicht, könnte es uns alle leicht in seinen Bann schlagen.« Die Folgerungen, die sich aus diesen Worten ergaben, durchzogen Stephen wie ein Geist und hinterließen eisige Fußstapfen auf seinem Herzen. »Ehrwürden, kann ich Euch etwas anvertrauen?« 332 »Wie keinem anderen.« »Ich habe auf dem Weg hierher ... Dinge gehört. Auf der Straße. Bei Tor Scath.« »Fahrt fort. Bitte, setzt Euch doch. Ihr seht aus, als ob Eure Beine Euch gleich den Dienst versagen.« »Danke, Ehrwürdiger.« Er ließ sich auf einem harten kleinen Schemel nieder. »So erzählt mir denn diese Dinge.« Stephen schilderte ihm die Gerüchte von dem Gryffin und den grauenvollen Riten bei den verlassenen SedosSchreinen. Als er geendet hatte, beugte der Fratrex sich vor. »Solche Gerüchte sind uns nicht unbekannt«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Und sie sollten sich auch nicht weiter verbreiten. Behaltet sie für Euch, und seid versichert, dass die Kirche in diesen Angelegenheiten nicht untätig ist.« »Ja, Ehrwürdiger. Es ist nur - die Opfer bei den Schreinen. Sie ähneln bestimmten Ritualen, die in dem Serift beschrieben werden.« »Ich habe es gesehen. Was glaubt Ihr denn, warum ich wollte, dass es übersetzt wird?« »Aber - ich glaube, wer immer diese Dinge tut, versteht nur zur Hälfte, um was es dabei geht.« »Und was glaubt Ihr, worum es dabei geht?« »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie versuchen, einen der alten Schreinpfade wieder zu erwecken, einen der verbotenen. Vielleicht denselben, den der Schwarze Narr beschritten hat, um seine gottlose Macht zu erlangen. Die Riten sind eine Art Prüfung, sie sollen ihnen helfen herauszufinden, welchen der tausend Schreine im Wald noch Macht innewohnt, und um die Reihenfolge festzulegen, in der sie abgeschritten werden müssen.« »Aber sie führen die Riten nicht korrekt durch, also haben wir nichts zu befürchten - noch nicht«, wandte der Fratrex ein. »Aber meine Arbeit würde ihnen helfen«, sagte Stephen leise. »Ein paar der fehlenden Steine ihres Mosaiks sind vielleicht in dem zu finden, was da vor Euch liegt.« 333 Der Fratrex nickte ernst. »Selbstverständlich sind wir uns darüber im Klaren. Doch wir können es nicht riskieren, im Finstern gegen diese Feinde zu kämpfen. Sie sind im Besitz einiger der Geheimnisse. Irgendwo haben sie sie her. Wir können uns ihnen nicht entgegenstellen, wenn wir nichts wissen.« »Aber, Ehrwürdiger -« Das Bild Desmond Spendloves blitzte in seinem Kopf auf. »Was ist, wenn unsere Feinde bereits in unserer Mitte sind? In der Kirche selbst?« Der Fratrex lächelte grimmig. »Die sicherste Methode, ein Wiesel zu fangen, ist, eine Falle aufzustellen«, sagte er. »Und für eine Falle braucht man einen Köder.« Er erhob sich. »Ich dachte, ich hätte Euch eine Lektion in Demut erteilt, Bruder Stephen. Ich bin kein altersschwacher Tor, und die Kirche ist zu schlau, um sich vom Bösen zum Hahnrei machen zu lassen. Eure lose Zunge und Eure Fragen jedoch könnten beträchtlichen Schaden anrichten, versteht Ihr? Tut, was ich Euch auftrage. Sprecht mit niemandem darüber, außer mit mir. Tut Euer Bestes, um zu verhindern, dass irgendjemand anders Eure Arbeit zu Gesicht bekommt.« »Aber jemand hat meine Arbeit bereits zu Gesicht bekommen.« »Bruder Desmond, ja. Das war nicht unvorhergesehen. Aber macht es in Zukunft besser. Haltet Eure Fortschritte verborgen. Schreibt neben den richtigen auch falsche Übersetzungen.« »Ehrwürdiger? Die Übersetzung ist doch fertig.« Als Antwort bückte sich der Fratrex und zog einen großen Zedernholzkasten unter seinem Pult hervor. »Es gibt noch mehr zu tun. Ich erwarte denselben Eifer, den Ihr bisher an den Tag gelegt habt.« Er lächelte dünn.
»Und jetzt schlage ich vor, dass Ihr Einkehr haltet und Euch vorbereitet. Bald werdet Ihr den Schreinpfad des heiligen Decmanus beschreiten, und Ihr müsst dazu in der richtigen geistigen Verfassung sein.« Stephen kniete nieder und verbeugte sich. »Ich danke Euch, Ehrwürdiger. Und ich entschuldige mich für jegliche Unverschämtheiten. Ich versichere Euch, sie rühren lediglich von der Sorge um das Wohlergehen der Kirche her.« 334 »An diesem Ort ist das meine Sache«, ermahnte ihn der Fratrex. Er winkte mit dem Handrücken. »Geht«, sagte er. »Legt Eure Sorgen ab, und macht Euch bereit für Offenbarungen.« Stephen jedoch hatte das Gefühl, bereits einer Offenbarung zu viel teilhaftig geworden zu sein. Noch eine würde ihn vielleicht zerbrechen, fürchtete er. 24. Kapitel Der Dornenkönig Beim ersten sachten Schimmer des Morgens war Aspar noch immer wach, die Beine unter sich verkrampft, den Bogen nach wie vor gespannt. Was auch in der Nacht gekommen war, es war vorübergegangen und hatte nur die Erinnerung an seinen Gestank zurückgelassen. Und als Winna sich zu regen begann, trat Aspar vorsichtig ins Licht und sah sich um. Sonnenmaiden küssten die Blätter hoch über ihm, und obgleich die Schatten lang auf der Erde lagen, zeigten sie alle dorthin, wo Aspar und Winna hergekommen waren. Vor ihnen lichteten sich die Bäume, und nicht weit entfernt konnte Aspar das Ende des Waldes erahnen. Er suchte das feuchte Laub am Boden nach irgendeinem Zeichen ab, was da gestern Nacht vorbeigeschlichen war, doch er fand weder Spur noch Fährte, keine abgebrochenen Äste, Fell oder Federn. Dies ließ ihn überlegen, ob seine Sinne ihn vielleicht irgendwie getrogen hatten. Schließlich war er in einem Auftrag der Sefry unterwegs, bei dem Wahrheit und Lüge sich im selben trüben Wasser vermischten. »Guten Morgen, Aspar«, sagte Winna. »Hast du überhaupt nicht geschlafen?« Er grinste schief. »Schwerlich.« 335 »Wir hatten doch abgemacht, abwechselnd Wache zu halten«, schalt sie ihn entrüstet. »Du hättest mich wecken sollen.« »Du kannst morgen Nacht wachen, die ganze Zeit«, versprach er ihr. »Wie auch immer, schau nur. Ich glaube, wir haben den Wald fast hinter uns.« Mit einem Kopfnicken wies er in die Richtung, wo sich die Bäume lichteten. Winna reckte sich und gähnte. »Das sieht für mich genauso aus wie überall hier, aber ich nehme dich beim Wort. Hatten wir in der Nacht irgendwelchen Besuch?« »Irgendwas ist herausgekommen, aber es hat kein Geräusch gemacht und auch keine Spuren hinterlassen. Vor dem Morgengrauen ist es verschwunden.« Winna runzelte die Stirn. »Ich habe von etwas geträumt, das fürchterlich gerochen hat.« »Der Gestank war kein Traum«, sagte Aspar. »Das ist mal sicher.« »Könnte es - könnte es der Dornenkönig selbst gewesen sein?«, überlegte sie laut. »Bei Grim, ich hoffe nicht«, fluchte Aspar. »Was immer da draußen im Dunkeln war, ich will es nie zu Gesicht bekommen.« Winna sah verunsichert aus, sagte jedoch nichts. »Was jetzt?«, fragte sie stattdessen. »Ich würde sagen, wir gehen weiter und schauen, was es zu sehen gibt. Brauchst du etwas zu essen?« »Noch nicht. Wir können ja ein bisschen später essen. Wenn es hier noch mehr von diesen Spinnen gibt, dann wäre ich gern nicht mehr direkt unter ihnen. Ihr Heiligen, ja! Die sind auch durch all meine Träume gekrabbelt.« Als die Zwischenräume zwischen den Baumstämmen größer wurden, wich das weiße, strohartige Gewächs, das den Boden bedeckte, erst Farnwedeln und Schachtelhalmen und dann Gebüsch - dichten Brombeerbüschen, kniehohem Riedgras und Weinranken, die alles überwucherten. Für Aspar war es eine Erleichterung, Pflanzen zu sehen, die er kannte, bei Grims blutigen Augen! 336 Kurz vor Mittag ließen sie den Wald schließlich hinter sich. Die Bäume endeten ziemlich abrupt und gaben den Blick auf die leicht hügelige Talsohle frei. Berge umgaben sie in allen Himmelrichtungen, was Aspar in seiner Annahme bestärkte, dass der einzige Weg aus dem Tal heraus - wollte man nicht über die eisigen Gletscher kriechen -wahrscheinlich derselbe war, auf dem sie hereingekommen waren. Dichtes Gras voller Disteln und wilder Nachtkerzen wuchs auf den Wiesen, doch es zogen sich genug Wildpfade hindurch, um verhältnismäßig mühelos voranzukommen. Sie machten sich zur anderen Seite des Tales auf, allerdings geruhsam. Aspar fragte sich, wonach im Namen der Sarnwaldhexe er eigentlich suchte. Es war einen Glockenschlag später, als Winna nach rechts zeigte. »Was ist das?«, fragte sie. Aspar hatte das, worauf sie zeigte, bereits gesehen - eine Reihe kleiner Bäume, nicht viel höher als das Gras, die sich bis zu der Felswand hinzog, die das Tal begrenzte - nicht ganz parallel zu ihrem eigenen Weg. »Höchstwahrscheinlich ein Bach«, knurrte er. »Höchstwahrscheinlich«, gab Winna ihm Recht. »Aber es kommt mir seltsam vor.«
»Da ist nichts Seltsames dran«, widersprach Aspar. »Was kann es schaden, sich das genauer anzusehen?«, erkundigte sich Winna. »Ich sehe sonst nichts, was auch nur ein bisschen seltsam wäre.« »Da hast du Recht«, gab er zu. Sie wandten ihre Schritte in die entsprechende Richtung. Nach ein paar Hundert Schritten fragte Winna: »Aspar, was erwarten die Sefry hier von uns?« »Dass wir den Dornenkönig finden, nehme ich an.« »Ihn einfach nur finden?« »Das hat Mutter Gastya gesagt«, erwiderte Aspar. Winna nickte. »Ja. Aber sagst du nicht selbst, dass die Sefry ständig lügen?« 337 »Stimmt«, sagte Aspar. »Aber das spielt keine Rolle. Was immer sie auch von mir wollen, irgendwann wäre ich so oder so hierher gekommen. Ich habe mein ganzes Leben im Wald verbracht, Winna. Irgendetwas ist nicht in Ordnung mit ihm. Ganz und gar nicht in Ordnung.« Er kaute auf seiner Unterlippe, dann räusperte er sich. »Ich glaube, er stirbt. Ich glaube, dass der Gryffin etwas damit zu tun hat, und wenn es wirklich einen Dornenkönig gibt und er hinter all diesem Verfall steckt - dann muss ich es wissen.« »Aber wenn Mutter Gastya nun gelogen hat? Wenn der Dornenkönig gar nicht hier ist? Was, wenn sie dich einfach irgendwohin geschickt hat, so weit fort von ihm, wie sie nur konnte?« »Das habe ich bedacht. Ich habe es darauf ankommen lassen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Aber das ist es nicht, was dir Sorgen macht, nicht wahr? Du machst dir Sorgen, dass er doch hier ist.« Einen Moment lang war nur das Rascheln von Winnas zerschlissenem Rocksaum im Gras zu hören. »Ich weiß, dass er hier ist«, sagte sie schließlich. »Aber was ist, wenn die Sefry dich zu ihm geschickt haben, damit er dich tötet?« »Wenn Mutter Gastya meinen Tod gewollt hätte, hätte sie in Rewn Aluth bloß ein paar Herzschläge länger zu schweigen brauchen«, wandte Aspar ein. »Was immer die Sefry wollen, es ist nicht einfach nur mein Tod.« »Wahrscheinlich nicht«, pflichtete Winna ihm bei. Dann blieb sie stehen. Sie hatten die Reihe der kleinen Bäume erreicht. »Ich sehe keinen Bach.« »Nein«, sagte Aspar langsam. Die Bäume waren kleine Ableger der Dornenbäume. Sie reichten ihnen gerade bis über die Taille. »Schau, wie gleichmäßig die Abstände zwischen ihnen sind«, sagte Winna. »Als hätte jemand sie gepflanzt.« »Da ist noch etwas anderes.« Aspar kauerte sich hin. »Etwas...«Irgendwie erinnerte es ihn ans Spurenlesen. Doch es dauerte noch weitere zwanzig Herzschläge, bis er begriff, warum. 338 »Sie sind so gepflanzt wie die Schritte eines Mannes«, sagte er. »Eines großen Mannes. Siehst du? Als wäre überall dort, wo er aufgetreten ist, ein Baum gesprossen.« Er warf einen Blick über die Schulter. Die Baumspur führte zurück in den Wald - und vor ihnen führte sie weiter, zum Rand des Tals. »Was ist das dort oben?« Aspar folgte der unsichtbaren Linie, die ihr Finger in die Luft zeichnete. Weit entfernt - vielleicht eine halbe Meile - führte die Baumreihe zu einer Art Kuppel. Sie sah aus, als sei sie von Menschenhand errichtet worden. »Ein Gebäude?«, überlegte er. »Sieht aus wie ein Watau-Langhaus.« Es war kein Langhaus. Das Volk seiner Mutter baute seine Behausungen aus jungen Bäumen, krümmte sie zu Bogen und deckte das Ganze dann mit Schindeln aus Rinde. Das Gebäude, das Winna und er hier vor sich sahen, war ebenfalls aus Bäumen errichtet - doch sie lebten, gruben starke Wurzeln in den Erdboden und verflochten ihre Äste fest miteinander. Es war wie ein riesiges, umgestülptes Vogelnest geformt und an seinem höchsten Punkt etwa zwanzig Ellen hoch. So fest und dicht waren die Bäume ineinander verwoben, dass man im Innern nichts erkennen konnte, auch als sie nahe genug herangekommen waren, um das Bauwerk zu berühren. Sie gingen um das seltsame, lebendige Gebilde herum und entdeckten eine Art Öffnung - einen gewundenen Pfad zwischen den Ästen und Stämmen, gerade breit genug, dass Aspar sich hindurchzwängen konnte. Kein Laut war von drinnen zu vernehmen. »Du bleibst hier«, sagte Aspar zu Winna. Winna blickte ihn stirnrunzelnd an. »Aspar White, ich bin mit dir auf Berge geklettert, durch eiskaltes Wasser geschwommen und habe Gewitter über mich ergehen lassen. Nach meiner Rechnung habe ich dir bisher zweimal das Leben gerettet -« »Winna, tu es mir zuliebe.« »Sag mir einen Grund. Einen vernünftigen.« 339 Er starrte sie an, trat dann einen Schritt vor und legte die Hand an ihre Wange. »Weil das hier etwas ganz anderes ist«, sagte er. »Wer weiß, welche von den Geschichten wahr sind und welche Lügenmärchen? Wer weiß, ob, wenn der Blick des Gryffin Schwäche verursacht, die Augen des Dornenkönigs nicht mit einem einzigen Blinzeln zu töten vermögen?« Er küsste sie. »Weil ich dich liebe, Winna, und dich beschützen werde, ob du es nun willst oder nicht. Und schließlich muss irgendjemand dem König und den anderen Waldhütern Bericht erstatten, wenn mir etwas passiert. Irgendjemand muss meinen Wald retten.«
Sie schloss lange die Augen, und als sie sie wieder aufschlug, lächelten sie und waren feucht. »Ich liebe dich auch, du großer Flegel. Komm ja lebendig wieder dort heraus, hörst du? Und dann bring mich hier weg. Allein könnte ich den Weg zurück sowieso nicht finden.« »Das werde ich tun«, sagte er. Einen Moment später schritt er in die Bäume hinein. Augenblicklich wurde irgendetwas sonderbar. Er verspürte eine Art Schreck, wie er ihn empfunden hätte, wenn er kurz eingenickt und dann jäh hochgefahren wäre. Eine Hummel schien irgendwo in seiner Brust zu brummen, begleitet von einem rhythmischen Summen aus seiner Lunge. Er ging weiter, folgte dem gewundenen Pfad und fühlte Tiefe, als wäre er weit unter der Erde. Auch ein Geruch herrschte hier, stark und wankelmütig, nie zwei Atemzüge lang gleich und doch beständig. Kiefernharz, Bärenfell, Schlangenhaut, brennendes Hickoryholz, saurer Schweiß, alte Kadaver, faulende Früchte, Pferdepisse, Rosen. Er schien stärker zu werden, als er näher kam, und sich zu setzen, bis der Geruch von Tod und Blumen seinen Kopf erfüllte. So bog Aspar um die letzte Ecke des Labyrinths und erblickte den Dornenkönig. Er war eine Schattengestalt, gefangen in tausend winzigen Punkten aus Licht, das durch Lücken im Dach der lebenden Halle drang. Er 340 war Dornen und Rosen, Wurzel und Ast und verschlungene Ranken; Triebe bildeten seine Finger. Sein Haar und sein Bart waren aus langem, grauem Moos, und verdrehte Aste ragten wie Hörner von seinem Kopf auf., Sein Gesicht jedoch - sein Gesicht bestand aus gesprenkelten Flechten, die auf einem menschlichen Schädel klebten; schwarze Blumen blühten in seinen Augenhöhlen. Und vor Aspars Augen drehte sich der König langsam zu ihm um, und die noch immer blühenden Rosen öffneten sich weiter. Aspar machte den Mund auf, doch er sagte nichts. Er konnte den Blick nicht von diesen immer größer werdenden Augen abwenden, von diesen ebenholzschwarzen Staubgefäßen, die immer gewaltiger wurden, bis sie das Einzige auf der Welt waren. Der Gestank nach Tod und Parfüm erstickte ihn beinahe, und seine Glieder begannen zu zucken; sein Körper fühlte sich ungestüm und heiß an, und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, zersplitterte sein Blickfeld wie ein Spiegel, und dahinter sah er ... Dinge. Er sah die Eiseneichen - seine Eiseneichen, die Tyrannen - verfaulen, sah Äste abbrechen und Horden von Würmern und Fliegen unter ihrer verwesenden Rinde hervorquellen wie Maden aus einem Leichnam. Er sah den Magierfluss schwarz dahinfließen, Hirsche dort, wo sie standen, tot zusammenbrechen, grüne Pflanzen einschrumpfen und zu zähem Eiter zerfließen. Er roch die Fäulnis. Die Übelkeit, die er verspürt hatte, als er den Fußabdruck des Gryffin berührt hatte, überkam ihn erneut, hundertmal stärker, und er krümmte sich zusammen, übergab sich, und dann - dann wurde er wahnsinnig. Als ihm das nächste Mal irgendetwas bewusst wurde, waren es heftige Schmerzen. Seine Schulter stand in Flammen. »Aspar?« Durch einen Nebel des Schmerzes blickte er auf und sah Winna, die verzweifelt auf ihn herabstarrte. Sie waren irgendwo in einem Wäldchen. Pappeln. Seine Hand umklammerte irgendetwas. 341 »Aspar, bist du's? Bist du bei Sinnen?« »Ich - was ist los?« »Du warst fort -« Ihr Kopf ruckte plötzlich in die Höhe, und als sie weitersprach, war ihre Stimme viel leiser. »Du warst drei Tage lang dort drin! Das Baumhaus hat sich verschlossen, und ich konnte dir nicht folgen. Und dann, als du herausgekommen bist, bist du davongerannt wie ein Verrückter. Ich bin dir nachgelaufen.« Er griff nach seiner Schulter und fand einen blutgetränkten behelfsmäßigen Verband. »Der einäugige Mann und seine Bande sind hier. Du bist auf sie losgegangen, und sie haben dich angeschossen. Jetzt jagen sie uns.« »Fend? Er ist hier?« »Psst. Ich glaube, sie sind ganz in der Nähe.« »Drei Tage?« Aspar stöhnte. »Wie ist das möglich?« Er sah sich um. »Mein Bogen. Wo ist er?« Stumpf schaute er auf das, was er in der Hand hielt. Es war ein Hörn, ein Hörn aus weißem Knochen, in das seltsame Figuren eingraviert waren. Wo hatte er das her? »Bestimmt immer noch beim Dornenkönig. Als du herausgekommen bist, hattest du ihn nicht -« Wieder riss sie den Kopf hoch, und sie hob einen Dolch. Aspars Dolch. »Gib das her«, knurrte er. »Ich kann immer noch kämpfen.« Er schob das Hörn in seinen Rucksack und griff nach der Waffe. »Aber ich würde es dir nicht raten«, ließ sich eine vertraute Stimme vernehmen. Ein Kreis aus Bogen erschien um sie herum, und dort, in Aspars vor Schmerz rot verschleiertem Blickfeld, stand ein Sefry mit einem breitkrempigen Hut, verhüllt gegen das bernsteinfarbene Abendlicht. Er trug ein Wams und einen Mantel aus braunem Filz, in der gleichen Farbe wie sein Hut. Er hatte ein blassgrünes Auge; wo das andere hätte sein sollen, war eine gelbe Klappe.
»Fend«, grollte Aspar. »Komm her und stirb.« Fend lachte. »Nein danke.« »Bleibt zurück«, warnte Winna. »Den Ersten, der mir nahe kommt, schlitze ich auf.« 342 »Dann kommen wir dir eben nicht nahe«, erwiderte Fend verständig, »sondern spicken euch von weitem mit Pfeilen. Aspar, sag deiner Kleinen, sie soll das Messer weglegen und herkommen.« »Tu es, Winna«, sagte Aspar sofort. »Asp-« »Er bringt dich um, wenn du es nicht tust.« »Und was ist mit dir?« »Mädchen«, sagte Fend, »ich habe nichts gegen dich, wirklich nicht. Natürlich kann ich Aspar nicht am Leben lassen. Er weiß es, und ich weiß es auch. Aber er weiß auch, dass ich dich vielleicht am Leben lasse, wenn du dich gut benimmst.« »Und lass sie in Ruhe«, sagte Aspar. »Versprich mir, dass du ihr nichts tust.« »Warum sollte ich?«, fragte Fend. »Schließlich gibt es so viel, was man jemandem tun kann. Vielleicht findet sie an einigem ja Gefallen.« Winna drehte das Messer um und setzte die Spitze auf ihre Brust. »Das kannst du vergessen.« Einen Wimpernschlag später lag der Dolch jedoch am Boden, und Winna schrie auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen den Pfeil an, der ihre Handfläche durchbohrt hatte. »Winna!«, brüllte Aspar. Und dann: »Fend!« Eine unerwartete Energie fuhr in seine Glieder, er hob das Messer auf und stürzte vorwärts. Ein Pfeil traf ihn in den Oberschenkel, ein weiterer in den Arm. Noch im Taumeln wusste er genau, dass sie mit Absicht keine lebenswichtigen Organe trafen, und die Leichen um den alten Sedos-Schrein am Taffbach kamen ihm in den Sinn, bei lebendigem Leibe gefoltert und ausgeblutet. Mit verzerrtem Gesicht kam er wieder hoch und hörte Fends Gelächter. »Ach, Aspar, ich bewundere deine Beharrlichkeit ja so sehr.« »Ich bringe dich um, Fend«, sagte Aspar leise. »Glaub es ruhig, du Hundesohn.« 343 Er drehte den Pfeilschaft in seinem Schenkel, bis er abbrach. Ihm wurde schwindlig vor Schmerz, doch dann machte er einen weiteren Schritt auf den einäugigen Sefry zu. Die Pfeilspitze hatte keine Sehnen durchtrennt. Plötzlich wichen Fends Männer zurück, und auch Fend selbst machte ein paar Schritte rückwärts. Sein Auge wurde groß. Einen Moment lang empfand Aspar tiefe Befriedigung, bis ihm klar wurde, dass nicht er es war, den sie fürchteten. Es war der Gryffin. Sehr leise war er aus dem Wald getreten. Mit schweigender Zielstrebigkeit kam er auf Aspar zu. »Nun denn«, sagte Fend. »Er hat dich erwählt. Ich hätte dich lieber selbst getötet, aber ich denke, so geht es auch. Leb wohl, Aspar.« Aspar blinzelte einmal; der Gryffin war weniger als eine Königselle entfernt. Dann drehte er sich um und rannte los. Fend lachte erneut. Der Gryffin schien es nicht eilig zu haben, ihn zu erledigen. Aspar rannte wie in einem Albtraum, seine Füße kamen nicht vom Boden los. Wenn er dem Gryffin entkommen und seinen Bogen finden konnte, hatte er vielleicht eine Chance, Winna zu retten. An diesen Gedanken klammerte er sich, um weiterzulaufen, um sein Herz zu zwingen, weiter Blut zu pumpen. Er schaute nicht zurück, doch jetzt konnte er den Gryffin hinter sich durchs Gras rascheln hören. Vielleicht genoss er die Verfolgungsjagd, wie die Katzen, mit denen er solche Ähnlichkeit hatte. Jedenfalls wusste er jetzt, wo er war. In seinem Wahnsinn war er weiter an der Wand der Schlucht entlanggelaufen. Vor sich konnte er den sonderbaren, lebendigen Bau des Dornenkönigs sehen. Wenn er ihn erreichte, würde es dem Gryffin vielleicht nicht gelingen, sich durch die schmale Öffnung zu zwängen. Und sein Bogen war dort drin. Er rannte weiter, doch seine Beine gaben den Befehl zum Halten, und sein Körper ließ seine Füße hinter sich. Mit dumpfem Erstaunen stellte er fest, dass er mit dem Gesicht in der weichen Erde lag. Er schaffte es, sich herumzurollen, den Dolch in die Höhe gereckt. 344 Der Gryffin war da, starrte mit untertassengroßen Augen auf ihn herab. Aspars andere Hand stahl sich zu seinem Gürtel und fand seine Axt. Der Gryffin kam einen Schritt näher und senkte den Kopf. Er schnüffelte an ihm. Dann klackte er mit den Kiefern, kam noch einen Schritt näher und schnüffelte erneut. »Nur noch ein bisschen näher«, sagte Aspar und umklammerte seine Axt. »Komm schon, worauf wartest du?« Doch der Gryffin schnüffelte noch einmal und wich dann zurück. Aspar wusste nicht, was das bedeutete, doch er nutzte die Gelegenheit, um wieder auf die Beine zu kommen. Er drehte sich um und setzte seinen Weg fort, stolperte oft, aber der Gryffin folgte ihm nicht. Sein Blick jedoch tat es, das süße, heiße Übelkeitsgefühl, das er schon dreimal erlebt hatte. Diesmal war es nicht
so schlimm. Vielleicht wirkte die Arznei, mit der Mutter Gastya ihn in Rewn Aluth kuriert hatte, immer noch. Vielleicht hatte der Gryffin ihn deshalb nicht anrühren wollen. Wie auch immer, zwei Pfeilwunden und der tödliche Blick des Gryffin erwiesen sich schließlich doch als zu viel. Er fiel ins hohe Gras und schlief, träumte fürchterliche Schwarze Marys. Mit seinem eigenen Erbrochenen beschmiert, erwachte er. Seine Wunden bluteten nicht mehr, doch sie waren rot und pochten und fühlten sich glühend heiß an. Trotzdem erhob er sich; er dachte an Winna in Fends Gewalt. Er zündete ein kleines Feuer an, zog den verbliebenen Pfeil heraus und brannte die Wunden dann mit glühenden Kohlen aus. Danach drückte er die Paste, die Mutter Gastya ihm gegeben hatte, in die versengten Löcher und verband sie mit Fetzen seines Hemdes. Die Nacht kam und ging, ehe es ihm gelang, an einem Stück mehr als ein paar Ellen weit zu taumeln, doch die Sonne schien ihm neue Kraft zu geben, und er stand grimmig auf, um nach Fend, seinen Männern und nach Winna zu suchen. Vor allem nach Winna. 345 Er fand nur ihre Fährte, die zurück in den Dornenwald führte. Unerbittlich machte er sich an die Verfolgung; er wünschte, der Nebel in seinem Kopf möge sich lichten, wünschte, die Schmerzen würden nachlassen, anstatt bei jedem Schritt schlimmer zu werden. »Ich werde dich töten, Fend«, murmelte er. »Bei Grim, das werde ich. Das werde ich.« Er wiederholte die Worte, bis sie keinen Sinn mehr ergaben, bis er nicht mehr fähig war, klar zu denken. Doch selbst dann hielt er nicht an. Nur der Tod konnte ihn aufhalten. Teil III Das Verborgene regt sich Im Jahre 2223 von Everon Im Monat Ponthmen Wenn die verborgene Welt erwacht, wird das Schwert wie eine Feder erscheinen, der Wolf wie eine Maus, die Legion wie ein Festspielzug. Ich werde aus meinem Grab heraus lachen, und es wird klingen wie eine Laute. aus dem Geständnis der Hexe Emme Viccars, nach der Verkündung ihres Todesurteils 25. Kapitel Kriegsrat William schenkte sich ein weiteres Glas seines virgenyanischen Lieblingsweines ein und schritt über den roten Marmorboden der Halle der Krieger. Er trank einen kräftigen Schluck von dem amethystfarbenen Rebensaft, dann stellte er den Kelch auf dem breiten schwarzen Tisch in der Mitte des Raumes ab. Die Bilder musterten ihn schon wieder. Rebellisch erwiderte er ihren prüfenden Blick. Sie waren überall; ganze Wandabschnitte waren vom Boden bis zur Decke mit vergoldetem Eichenblatt-Stuck eingefasst und in kräftigen, düsteren Farben ausgemalt worden, wie mit Schlamm und Blut. In gewisser Weise war das auch so, denn jedes einzelne stellte einen Teil der langen Geschichte der Kriege dar, die seine Familie geführt hatte. »Schaut Ihr Euch diese alten Bilder lieber an als mich?«, fragte Alis Berrye schmollend. Sie lag wie hingegossen in einem Sessel, das Mieder aufgeschnürt, so dass ihre festen Brüste mit den rosigen Spitzen zu sehen waren. Die Strümpfe hatte sie ausgezogen und ein nacktes Bein über die Armlehne gelegt. Es war ein hübsches Bein, schlank und weiß wie Milch. Ihr kastanienbraunes Haar war ein wenig zerzaust, und die saphirblauen Augen blickten trotz ihres schnippischen Tonfalls träge in die Runde. Sie hatte fast ebenso viel getrunken wie er und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Bildern. Nun, das stimmte nicht ganz. Sie war zwar nicht kräftig, aber die Hellste war sie auch nicht. »Es tut mir Leid, Liebes«, murmelte William. »Ich bin nicht mehr in Stimmung.« 349 »Ich kann Euch in Stimmung bringen, Mylord, das versichere ich Euch.« »Ja«, seufzte er. »Sicher könntest du das. Aber das möchte ich nicht.« »Werdet Ihr meiner überdrüssig, Majestät?« Es gelang Alis nicht, einen Anflug von Panik in ihrer Stimme zu verbergen. Einen Augenblick lang betrachtete er sie und nahm die Frage ernst. Sie war eine ausgelassene, lebhafte Geliebte, wenn ihr auch das Geschick einer älteren Frau fehlte. Ihre politischen Ränke waren liebenswert durchsichtig und naiv. Sie war reizend, wenn sie betrunken war, und wenn sie nicht auf der Hut war, konnte sie auf unbefangene Weise liebevoll sein, und ihre Gedanken nahmen ganz andere Wege als die seinen, etwas, das er im Bett durchaus genoss. Sie war eine willkommene Abwechslung zu Gramme, deren Sinnen und Trachten sich in den letzten Jahren fast ausschließlich auf ihre Bastarde richtete. Für das Wohl der Kinder war natürlich gesorgt, und er mochte sie auch, besonders die kleine Mery, doch Gramme wollte, dass sie den Namen Dare trugen, und das sagte sie viel zu oft. Alis war weniger ehrgeizig und besaß vielleicht auch gar nicht die nötige Klugheit für solche Bestrebungen. Und das war gut so. Zwei kluge Frauen in seinem Leben waren mehr als genug. »Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte er. »Du bereitest mir Freude.« »Sollen wir dann zu Bett gehen? Ich kann Euch in den Schlaf wiegen, wenn Euch der Sinn nicht nach Liebe steht.«
»Geh du zu Bett«, sagte er sanft. »Ich komme gleich nach.« »In Euren Gemächern, Majestät?« Mit zornig gefurchter Stirn sah William sie an. »Nein, und das weißt du ganz genau. Das ist mein Ehebett, und ich teile es nur mit meiner Gemahlin. Maße dir nichts an, Alis, nur weil sie nicht hier ist.« Ihr Gesicht erstarrte, als ihr klar wurde, was für einen Fehler sie begangen hatte. »Es tut mir Leid, Sire. Dann werdet Ihr zu mir kommen?« 350 »Das habe ich doch gesagt.« Schwankend erhob sie sich und hob ihre Strümpfe auf; dann kam sie zu ihm herüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen. Sie lächelte fast verstohlen und blickte an ihm hinunter, und einen Moment lang spürte er, wie sich das Verlangen in ihm regte, doch er war zu betrunken und zu traurig, und er wusste es. »Gute Nacht, Sire«, murmelte sie. »Gute Nacht, Alis.« Er sah ihr nicht nach, sondern betrachtete stattdessen das größte Bild im Saal. Es zeigte Virgenya Dare, die, leuchtend wie eine Heilige, ein großes Heer anführte. Vor ihr ragte der undeutliche, aber bedrohliche Schatten der Skasloi-Festung auf, die einst genau dort gestanden hatte, wo jetzt das Schloss von Eslen stand. Vor jener gewaltigen dunklen Zitadelle waren nur mit Mühe riesige, formlose schwarze Gestalten auszumachen. »Was soll ich tun?«, flüsterte er. »Was ist richtig?« Er ließ den Blick über die anderen Bilder schweifen - die Schlacht bei Minster, die Kämpfe an der Furt von Woorm, die Belagerung von Carwen. Überall stand ein Dare an der Spitze einer Armee, entschlossen und unerschütterlich. Vor hundert Jahren waren Siege der Reiksbaurgs auf diesen Wänden abgebildet gewesen. Die Bilder waren ausgelöscht und übermalt worden. Das könnte wieder geschehen. Er schauderte bei dem Gedanken und fragte sich, ob es nicht an der Zeit war, ihm einen Besuch abzustatten. Das Wesen im Verlies, das Wesen, das sein Vater ihm gezeigt hatte, vor so langer Zeit. Doch diesen Gedanken fand er fast ebenso beängstigend wie die Vorstellung eines Sieges der Reiksbaurgs, und er schob ihn beiseite. Stattdessen kehrte William zum Tisch zurück und entrollte eine Landkarte. Er beschwerte die Ecken mit Messinggewichten, die die Form von zusammengerollten, zum Zustoßen bereiten Vipern mit Widderköpfen hatten. 351 »Immer noch auf? Immer noch am Grübeln?«, ließ sich eine Stimme mit leicht spöttischem Unterton vernehmen. »Robert?« William fuhr herum, verlor beinahe das Gleichgewicht und fluchte. »Was ist denn los?« »Nichts. In letzter Zeit kann ich kaum noch trinken. Mehr als eine Flasche ist nicht nötig, damit ich nicht mehr fest auf den Beinen stehe. Wo im Namen der Heiligen warst du die letzten neun Tage?« Robert lächelte dünn. »Ehrlich gesagt, in der Salzmark.« »Was? Ohne meine Erlaubnis? Wieso?« »Es war besser, dafür nicht deine Erlaubnis einzuholen«, sagte Robert düster. »Es ging wieder einmal um meine - ich denke, du würdest sagen >unangemessenen< - Geschäfte.« Er setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Du hast mich schließlich zum Ersten Minister gemacht, weißt du noch?« »Hatte es etwas mit Lesbeth zu tun?« Robert fingerte an seinem Schurrbart herum. »Zum Teil.« William zögerte einen Moment, um seinen Mut zusammenzuraffen, ehe er die nächste Frage stellte: »Ist sie ermordet worden?« »Nein. Sie lebt. Ich durfte sie sogar sehen.« William trank einen großen Schluck Wein. »Der heiligen Anne sei Dank«, murmelte er. »Was verlangen sie als Lösegeld?« »Kann ich etwas Wein haben?«, fragte Robert. »Nur zu.« Robert betrachtete die Karaffe auf dem Tisch und gab ein angewidertes Geräusch von sich. »Hast du noch etwas anderes? Etwas, das ein bisschen weiter aus dem Süden kommt? Ich verstehe nicht, wie du dieses saure Zeug trinken kannst.« William deutete auf die Vitrine an der Wand. »Da steht eine Flasche von dem Tero Galle, den du so gern magst, gerade frisch entkorkt.« »Vin Crove?« »Genau.« Ungeduldig sah er zu, wie Robert die Flasche nahm, ein wenig von der dunkelroten Flüssigkeit in ein Glas goss und sie kostete. 352 »Ah! Das ist besser. Wenigstens deine Weinbauern haben Geschmack.« »Wie kannst du nur so ruhig sein, wenn unsere Schwester entführt worden ist?«
»Zweifle nie daran, dass ich mich um Lesbeth sorge«, erwiderte Robert scharf. »Es tut mir Leid - es war falsch, das zu sagen. Aber bitte, erzähl mir, was es Neues gibt.« »Wie gesagt, es geht ihr gut, und ich durfte sie besuchen. Sie lässt dich grüßen.« »Wo ist sie?« »Sie ist eine Gefangene des Herzogs von Austrobaurg.« »Wie? Im Namen der Heiligen, wie? Das letzte Mal wurde sie auf ihrem Pferd gesehen, wie sie von der Schleppe aus nach Osten geritten ist. Wie haben sie sie von dieser Insel entführt?« »Das wollte Austrobaurg mir nicht sagen.« »Ihr Verlobter ist aus Safnien eingetroffen. Er ist völlig außer sich.« »Tatsächlich?« Roberts Augen funkelten sonderbar. »Jetzt komm schon. Was will der Herzog?« »Was glaubst du denn? Er will Lösegeld.« »Was für Lösegeld?« »Er will Schiffe als Lösegeld. Zwanzig Stück, um genau zu sein.« »Zwanzig Segelschiffe? Die können wir nicht entbehren, nicht, wenn wir gegen die Salzmark in den Krieg ziehen. Oder gegen Hansa, Heilige, helft!« »Oh, er will nicht zwanzig von unseren Schiffen. Er will zwanzig Schiffe der Kummerinseln. Und zwar versenkt. Auf dem Meeresgrund.« »Was?«, donnerte William. Er schleuderte den Kelch gegen die Wand und sah zu, wie er in tausend violett gefärbte Scherben zersprang. »Er wagt es? Bei den Eiern des Heiligen Rooster, er wagt es?« »Er ist ein ehrgeiziger Mann, Sire. Zwanzig Schiffe, die in seinem Namen versenkt wurden, werden ihn am hansischen Hofe weit bringen.« 353 »In seinem Namen? Meine Schiffe müssen vorgeben, zur Salzmark zu gehören? Du meinst, er erwartet, dass meine Schiffe, meine Mannschaften, unter seiner Flagge segeln?« »Das ist seine Forderung, Majestät«, bestätigte Robert. Eine zornige Schärfe kroch in seine Stimme. »Andernfalls wird er sich, wie er sich ausgedrückt hat, nach Herzenslust mit unserer Schwester vergnügen und sie dann seinen Männern überlassen mit dem Befehl, sie zuschanden zu reiten.« »Heiliger Michael«, rief William und setzte sich. »Was ist nur aus der Welt geworden? Gibt es denn gar keine Ehre mehr?« »Ehre?« Robert stieß ein freudloses, bitteres Lachen aus. »Hör zu, William -« »Du weißt genau, dass ich das nicht tun kann.« »Du -« Einen Moment lang verschlug es Robert tatsächlich die Sprache. »Du aufgeblasener Esel! Die Geisel, von der wir hier reden, ist Lesbeth!« »Und ich bin der König. Ich kann die Ehre meines Throns nicht für eine Schwester verkaufen, ganz gleich, wie sehr ich sie liebe.« »Nein«, sagte Robert sehr leise und richtete den Finger auf ihn wie einen Dolch. »Nein. William, ich werde diese Schiffe selbst versenken, hörst du mich? Mit bloßen Händen, wenn es sein muss. Du hättest Lesbeth mit den anderen fortschicken sollen, aber du hast ihrer Laune nachgegeben und sie hier bleiben lassen, damit sie auf ihren safnischen Fürsten warten kann. Auf denselben safnischen Fürsten, wie ich vielleicht hinzufügen darf, der sie an Austrobaurg verkauft hat.« »Was?« William starrte seinen Bruder an und fragte sich, ob er dessen Worte irgendwie missverstanden hatte. »Ich habe gesagt, Austrobaurg wollte mir nicht verraten, wie er sie entführt hat. Aber ich habe es durch meine Spione herausgefunden, durch einen Mord und durch Folter, über die du bestimmt nichts hören möchtest. Austrobaurg hat Feinde, zum Teil sogar ganz in seiner Nähe, aber leider nicht nahe genug, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Noch nicht. Aber ich habe erfahren, was ich wissen wollte. Lesbeths safnischer Fürst hat oft in Hansa angelegt. Er ist dort wohl be354 kannt, und er steht in ihrem Sold. Er hat Lesbeth einen Brief geschickt, in dem stand, dass sie sich am Kap von Rovy mit ihm treffen sollte, sein Schiff sei beschädigt, und er habe dort sein Lager aufgeschlagen. Sie ist zu ihm geritten und hat dort eine hansische Korvette vorgefunden.« »Fürst Cheiso hat das getan? Hast du Beweise dafür?« »Ich habe das, was ich gehört habe. Ich vertraue meinen Quellen. Ach ja, und dann ist da noch das hier.« Er zog etwas aus dem Beutel an seinem Gürtel und warf es William zu. Es war ein schmales Metallkästchen, das mit einem Verschluss gesichert war. »Was ist das?« Robert gab einen merkwürdigen Laut von sich, und William war erschüttert, Tränen in den Augen seines Bruders zu sehen. »Es ist ihr Finger, verdammt sollst du sein.« Er hielt die rechte Hand hoch und bewegte den Zeigefinger vor und zurück. »Dieser hier, mit dem gleichen Ring. Wir haben die Ringe angesteckt, als wir acht waren, und seit unserem fünfzehnten Lebensjahr haben wir sie nicht mehr heruntergebracht.« William öffnete den Verschluss. In dem Kästchen lag ein schlanker, beinahe schwarz verfärbter Finger. Darauf
steckte ein goldener Ring mit einem Band aus Eichenblättern. »O Heilige der Barmherzigkeit!« Mit zitternden Händen ließ er das Kästchen zuschnappen. Wer konnte Lesbeth so etwas antun? Lesbeth, die immer lächelte, die Beste, die Mitfühlendste von ihnen allen? »Robert, das wusste ich nicht. Ich -« Er kämpfte gegen die Tränen an. »Tröste mich nicht, Wilm. Hol sie zurück. Sonst tue ich es.« William fand ein neues Glas. Für dies hier brauchte er mehr Wein, um das Blut, das in seinen Ohren donnerte, zum Schweigen zu bringen, die blinde Wut, die er in sich aufsteigen fühlte. »Und wie, Robert?«, blaffte er. »Wenn wir das tun, könnte es uns all unsere Bündnisse kosten. Sogar Liery könnte mit uns brechen. Es ist unmöglich.« 355 »Nein«, widersprach Robert mit noch immer bebender Stimme. »Das ist es nicht. Wir haben doch bereits heimlich Schiffe ins Saurgabecken geschickt, oder nicht?« »Das ist kein großes Geheimnis.« »Aber die Schiffe wurden nicht gezählt. Nur wir beide wissen, wie viele ausgeschickt wurden. Mannschaften lassen sich finden; ich weiß, wo. Mannschaften, die keine Fragen stellen und keine Geschichten erzählen werden, wenn sie ausreichend bezahlt werden.« William starrte Robert einen Moment lang an. »Ist das wahr?« »Es ist wahr. Austrobaurg wird es als seinen Verdienst ausgeben, genau wie er es möchte - und man wird ihm auch die ganze Schuld geben. Die Seelords von Liery werden nichts von unserem Anteil an dieser Sache erfahren und auch weiterhin unsere Freunde bleiben. Ich kümmere mich persönlich darum, William. Du weißt, wie sehr ich Lesbeth liebe; ich würde in dieser Angelegenheit nichts riskieren, was sie das Leben kosten könnte. Aber ich würde auch niemals unser Königreich aufs Spiel setzen.« William trank noch mehr Wein. Bald würde es zu viel sein; schon jetzt war die Welt flach, wie die Bilder an der Wand. Dies war ein schlechter Zeitpunkt, um Urteile zu fällen. Oder vielleicht auch der beste, wenn es um solche Dinge ging. »Tu es«, flüsterte er. »Aber erzähl mir keine Einzelheiten.« »Einverstanden«, erwiderte Robert. »Und Fürst Cheiso. Lass ihn festnehmen und in den Jungfernturm bringen. Mit ihm befasse ich mich morgen früh.« 356 26. Kapitel Der Schattenprinz Die Luft über den gelblichen Ziegeln der Piata da Fiussa waberte wie über einer Herdplatte. Es war so heiß, dass selbst die Tauben und Stare - die normalerweise auf der Suche nach Brotkrumen und Käseresten den ganzen Platz bedeckten - sich nicht darauf niederlassen wollten aus Furcht, gebraten zu werden. Cazio, dem es ähnlich ging, bewegte sich gerade genug, um eine Armspanne weit zur Seite zu rutschen und so dem Schatten des Brunnens zu folgen, an dem er lehnte, während er schweigend über den Platz blickte. Dort sah er nur wenige Menschen mit größerer Bereitschaft, sich von der Stelle zu rühren. Ein wenig früher war der kleine Marktflecken Avella ein Ort geschäftigen Treibens gewesen. Jetzt, wo die Sonne im Mittag stand, waren die Leute zu klug dafür. Dreistöckige Häuser aus den gleichen gelben Ziegelsteinen säumten die Piata, doch nur an der Südseite warfen sie dürftigen Schatten. In dessen willkommenem Dämmerlicht saßen, lagen oder lehnten die Ladenbesitzer, Maurer, Straßenhändler, Ordnungshüter und Kinder von Avella, nippten an den strengen jungen Weinen des Tero Mefio, knabberten an kellerkühlen Feigen oder betupften sich die Stirn mit nassen Lumpen. Kleinere Menschentrauben unter Markisen und neben Treppen -wo immer der Sonne der Zutritt verwehrt war machten deutlich, warum die Stunden zwischen dem Mittag und dem dritten Glockenschlag z'onfros caros genannt wurden - der kostbare Schatten. Und in einer Stadt, wo mittäglicher Schatten wertvoll war - und gelegentlich auch tatsächlich gekauft und verschachert wurde -, gehörte der Schatten von Fiussas Brunnen zu den teuersten. Genau hier ruhte Cazio, während die nackte, mit Blumen geschmückte Göttin über ihn wachte. Die drei Nymphen zu ihren Füßen spien große Wasserfontänen aus, sodass sich ein sanfter, feuchter 357 Nebel auf sein gut geschnittenes dunkles Gesicht und seine breiten Schultern legte. Das Marmorbecken war kühl, und ganz gleich, welche Stunde der Mittagsruhe gerade herrschte, es warf immer reichlich Schatten - für etwa vier Personen. Träge musterte Cazio die obersten Fenster der Häuser auf der anderen Seite des Platzes. Um diese Tageszeit waren die Fenster mit den rostroten oder braunen Rahmen alle offen, und manchmal lehnten sich hübsche Mädchen auf das Sims und hofften auf eine Brise. Seine schweigsame Suche wurde belohnt. »Schau mal, da«, sagte er zu seinem Freund Alo, der ganz in der Nähe lehnte. »Das ist Braza daca Feiossa.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf eine dunkelhaarige Schönheit, die über den Platz blickte. Sie trug lediglich ein Unterkleid aus Baumwolle, das ihren Hals und den größten Teil ihrer Schultern frei ließ.
»Ich sehe sie«, meinte Alo. »Sie versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken«, behauptete Cazio. »Ganz bestimmt. Sicher ist die Sonne heute nur für dich aufgegangen.« »Ich wollte, sie hätte sich die Mühe nicht gemacht«, brummte Cazio, wischte sich eine Schweißperle von der Stirn und strich sein dichtes dunkles Haar zurück. »Was habe ich mir bloß dabei gedacht, so früh aufzustehen?« Alo starrte ihn an. »Früh? Du bist doch gerade erst aufgestanden!« Mit sechzehn war Alo, ein blasser Knabe mit karamellfarbenem Haar, ein Jahr jünger als Cazio. »Ja, und siehst du? Es ist zu heiß, um sein Tagwerk zu verrichten. Da sind sich alle einig.« »Tagwerk? Was verstehst du schon von Tagwerk?«, knurrte Alo. »Die haben den ganzen Vormittag gearbeitet. Ich bin schon seit dem Morgengrauen auf und habe Getreidefässer abgeladen.« Cazio musterte Alo und schüttelte betrübt den Kopf. »Getreide abladen - das ist kein Tagwerk. Das ist Arbeit.« »Gibt's da einen Unterschied?« 358 Cazio tätschelte den blanken Knauf seines Degens. »Gewiss. Ein Edelmann darf sein Tagwerk verrichten. Er darf Taten vollbringen. Er darf nicht arbeiten.« »Dann darf ein Edelmann eben verhungern«, entgegnete Alo. »Da ich für das Essen in diesem Korb gearbeitet habe, willst du bestimmt nichts davon.« Cazio betrachtete den harten Schafskäse, den flachen braunen Brotfladen, die irdene Weinkaraffe. »Ganz im Gegenteil«, sagte er. »Ein Edelmann hat nichts dagegen, von der Arbeit anderer zu leben. Das liegt in der Natur der Abmachung zwischen Herren und Dienern.« »Ja, aber ich bin nicht dein Diener«, wandte Alo ein. »Und wenn ich es wäre, was würde bei dieser Abmachung für mich herausspringen?« »Nun, die Ehre, einem Edelmann zu dienen. Und das Vorrecht, dich hier auszuruhen, in meinem Schattenpalast. Und der Schutz meiner Klinge.« »Ich habe selber einen Degen.« Cazio beäugte die rostige Waffe seines Freundes. »Natürlich«, sagte er mit aller Herablassung, die er in seine Stimme legen konnte. »Stimmt doch!« »Und er wird dir sicher gute Dienste leisten«, erwiderte Cazio. »Schau nur. Vielleicht bekommst du bald Gelegenheit, ihn zu benutzen.« Alo drehte sich um und folgte seinem Blick. Zwei Männer waren gerade aus dem Vio aza Vera auf den Platz geritten. Einer trug ein rotes Samtwams, schwarze Beinkleider und einen breitkrempigen Hut mit einem Federbusch. Sein Bart war sauber gestutzt und sein Schnurrbart zierlich gekräuselt. Sein Begleiter war einfacher gekleidet, in schlichtes braunes Tuch. Sie hielten direkt auf den Brunnen zu. Cazio lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und lauschte den nahenden Hufschlägen. Als sie ganz nahe herangekommen waren, hörte er das Knarren von Leder und dann Stiefelsohlen auf Ziegelsteinen, als die beiden Männer absaßen. 359 »Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich aus dem Brunnen trinke, oder?«, fragte eine belustigte Stimme. »Ganz und gar nicht, Casnar«, erwiderte Cazio. »Der Brunnen ist eine öffentliche Anlage, und sein Wasser ist für alle frei.« »Sehr wahr. Tefio, bring mir zu trinken.« »Ja, Herr«, sagte der Lakai des Mannes. »Das sieht nach einem bequemen Plätzchen aus, wo Ihr da sitzt«, meinte der Mann kurz darauf. »Ich denke, das nehme ich auch in Anspruch.« »Nun, da seid Ihr im Irrtum, Casnar«, erwiderte Cazio, die Augen noch immer geschlossen, in freundlichem Tonfall. »Seht Ihr, der Schatten ist keine öffentliche Anlage, sondern wird, wie Ihr Euch überzeugen könnt, von der Göttin Fiussa geworfen. Und die bevorzugt - wie Ihr ebenfalls sehen könnt - mich.« »Ich sehe nur ein paar Knaben, die nicht wissen, wo ihr Platz ist.« Alo wollte zur Seite rücken, doch Cazio legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Ich weiß nur, was man mich gelehrt hat, Casnar«, erwiderte er leise. »Bittest du mich um eine Lektion?« Cazio richtete sich ein wenig auf. »Bitten, sagt Ihr? Ich kenne die Bedeutung dieses Wortes nicht. Da sie Euch jedoch so wohl vertraut zu sein scheint, gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr mich in den Grundbegriffen der Sprache unterrichten wollt?« »Ah«, sagte der Mann. »Jetzt verstehe ich. Ihr seid der Dorftrottel.« Cazio lachte. »Nein, aber wenn ich es wäre, hätte sich das in dem Augenblick geändert, als Ihr durchs Tor geritten seid.« »Genug«, wehrte der Mann ab. »Macht den Platz frei, sonst verprügelt Euch mein Diener.« »Lasst ihn auf mich los, und Ihr bleibt künftig unbedient. Und verstehe ich Euch jetzt, Casnar? Seht Ihr Euch nicht hinlänglich gerüstet, mich zu unterrichten? So erzählt mir doch mehr von diesem >Bitten<, von dem Ihr gesprochen habt.«
360 »Ihr unterschreibt Euer eigenes Urteil, wenn Ihr solche Reden führt und dabei eine Klinge tragt«, sagte der Mann; seine Stimme klang plötzlich leise und gefährlich. »Mein eigenes Urteil? Wie, hiermit?«, fragte Cazio und zeigte auf seinen Degen. »Das hier ist zum Schreiben da, ja. Eine vortreffliche Feder, wenn ich sie ins richtige Tintenfass tauche - aber mein eigenes Urteil habe ich damit noch nie unterschrieben. Oder meint Ihr, dass Ihr die Handschrift der Dessrata an mir bemerkt und Eure Künste gegen die meinen zu tauschen wünscht? Was für eine wundervolle Idee. Ihr lehrt mich etwas über das Bitten, und ich lehre Euch etwas über die Fechtkunst.« »Ich werde Euch bitten lehren, jawohl. Bei Mamres, das werde ich.« »Sehr gut«, entgegnete Cazio und stemmte sich langsam hoch. »Aber wie wäre es damit: Lasst uns eine Abmachung treffen, dass derjenige, der die beste Lektion erhält, dafür den üblichen Preis entrichtet. Also, ich habe zwar keine Ahnung, was man gewöhnlich für eine Lektion im Bitten bezahlt, aber in Mestro Estenios Fechtschule beträgt die Gebühr einen goldenen Regatur, habe ich gehört.« Der Mann musterte Cazios ausgeblichenes Lederwams und die abgetragene Samthose. »Ihr habt keinen Regatur im Beutel«, höhnte er. Seufzend griff Cazio unter den Kragen seines weißen Hemdes und zog ein Medaillon hervor. Das Schmuckstück war aus Gold; ein steigender Keiler war darauf geprägt. Es war beinahe alles, was vom Vermögen seines Vaters übrig geblieben war, und es war mindestens drei Regaturs wert. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Wer soll unser Geld für uns verwahren?« Cazio nahm das Medaillon ab und warf es ihm zu. »Ihr scheint ehrlich zu sein«, sagte er. »Oder zumindest werdet Ihr es sein, als Leichnam, denn alle Toten haben starre Ehrbegriffe. Sie liegen, aber sie können nicht lügen, wenn Ihr mich versteht.« Er zog seinen Degen. »Dies ist Caspator«, sagte er. »Wir beide sind überglücklich, Euch die Kunst der Dessrata zu lehren.« Der Mann zog seine eigene Waffe. Wie Caspator war auch diese ein 361 Rapier mit leichter, schmaler Klinge und einer Halbglocke über dem Heft. »Ich mache mir nicht die Mühe, meinen Waffen Namen zu geben«, sagte er. »Der meine ist Minato Sepios daz'Afinio, und das ist vollauf genug.« »Ja, was braucht Ihr einen Degen, mit einem Namen wie diesem? Wiederholt ihn oft genug - sagen, wir, zweimal -, und Euer Gegner schläft auf der Stelle ein.« »Seid auf der Hut, Bursche«, grollte daz'Afinio und nahm Fechtposition ein. Cazio runzelte die Stirn und hob tadelnd den Finger. »Nein, nein. Lektion Nummer eins: Die Grundstellung ist entscheidend. Seht Ihr? Die Eure ist zu eng und zu sehr nach vorn gewandt, es sei denn, Ihr plant einen Stich von links. Richtet Eure vordere Fußspitze so -« Daz'Afinio brüllte auf und stieß zu. Cazio tänzelte zur Seite. »Ah«, sagte er. »Der Ausfall. Den Ausfall macht man so.« Er täuschte mit den Schultern, machte einen Sprung nach links, und als daz'Afinio die Klinge hochriss, um einen Angriff abzuwehren, der gar nicht stattfand, ließ er die Klinge vorschnellen und setzte den vorderen Fuß nach vorn. Caspators Spitze stieß leicht gegen daz'Afinios Arm, nicht tief genug, um Blut fließen zu lassen. »Seht Ihr? Ihr bereitet die Attacke mit irgendeiner anderen Bewegung vor, und dann -« Daz'Afinio kniff grimmig den Mund zusammen und griff mit einem Wirbel aus harten Schlägen, kurzen Stößen und ungeschickten Versuchen, Cazios Klinge zu blockieren, an. Dieser lachte entzückt und parierte oder wich aus, wobei er im Uhrzeigersinn um seinen Gegner herumtanzte. Plötzlich machte daz'Afinio einen weiten Ausfall, seine Degenspitze zielte genau auf Cazios Herz. Cazio duckte sich, sodass der Stahl über seinen Kopf hinwegfuhr, und streckte dabei die eigene Klinge vor. Daz'Afinio, vom Schwung des eigenen Angriffs vorwärts getragen, rammte seine Schulter auf Cazios Klinge -auch diesmal nicht tief, doch auf Caspators Spitze zeigte sich ein wenig Rot, das kein Samt war. »Der Pertunmumperumpraisef«, erläuterte Cazio seinem Gegner. 362 Daz'Afinio führte einen Hieb gegen Cazios Hand. Dieser fing die Klinge mit seiner eigenen ab, blockierte die Waffe des Mannes mit einer raschen Drehung und stieß durch seine Deckung. Daz'Afinio musste hastig zurückweichen, um eine weitere Wunde zu vermeiden. »Der Aflukam en truz.« Daz'Afinio schlug zu und machte wieder einen Ausfall. Cazio parierte, hielt inne und durchbohrte ihm den Schenkel. »Parade prismo«, sagte er, »com postro en utave. Ein schwieriger Gegenstoß, aber er erfreut das Auge.« Er sah zu, wie daz'Afinio seine Waffe fallen ließ, auf die Knie sank und sein heftig blutendes Bein umklammerte. Cazio nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich unter dem Applaus der Zuschauer im Schatten zu verbeugen; interessiert stellte er fest, dass Braza daca Feiossa darunter war. Er zwinkerte ihr zu, warf ihr eine Kusshand zu und wandte sich dann wieder an seinen gefallenen Gegner. »Ich glaube, mein Herr«, sagte er, »dass meine Lektion beendet ist. Möchtet Ihr jetzt die Eure anbringen? Die im
Bitten?« Die Tür erbebte, gab ein rostiges Kreischen von sich und sackte in ihren Angeln durch, als Cazio sie aufzog. Irgendetwas - höchstwahrscheinlich eine Ratte - huschte über das geborstene Pflaster des abgedunkelten Säulengangs, der dahinter lag. Cazio beachtete beides nicht und schritt den überdachten Weg entlang zum Innenhof seiner Villa. Wie der Rest des Anwesens war auch dieser Bereich völlig heruntergekommen. Der Garten war von Unkraut überwuchert, und Weinranken wanden sich ungebändigt über Mauern und Fensterflügel. Das Kupferbecken mit der Sonnenuhr, das einst die Mitte des Hofes geziert hatte, lag auf der Seite, wie schon seit zwei Jahren. Der einzige ordentliche Teil des Hauses war der kleine Bereich, der für Dessrata-Übungen vorgesehen war - ein kleines Geviert, in dem die Steinplatten gesäubert waren. Ein kleiner Ball baumelte an einer Schnur, und auf einer arg mitgenommenen Übungspuppe waren die wichti363 gen Punkte des menschlichen Körpers mit verblasster Tinte markiert worden. Nicht weit davon schnarchte ein auf einer Marmorbank ausgestreckter Mann ungleichmäßig vor sich hin. Er war vielleicht fünfzig; schwarzgraue Stoppeln bedeckten sein Gesicht, und eine lange weiße Narbe zog sich über eine seiner Wangen. Sein langes Haar war ein ungekämmtes Gewirr. Er trug ein zerlumptes, braunes Wams, das über und über mit Rotweinflecken bedeckt war, und keine Hose. Eine leere Weinkaraffe lag dicht neben seiner halb offenen Hand, die am Boden ruhte. »Z'Acatto.« Der Mann schnaufte. »Z'Acatto!« »Verschwinde, sonst bring ich dich um«, knurrte der Mann, ohne die Augen zu öffnen. »Ich habe etwas zu essen.« Daraufhin öffnete er die Lider einen Spalt weit. Die Augen dahinter waren gerötet und tränten. Cazio reichte ihm einen Hanfbeutel. »Hier sind Käse und Brot und Knoblauchwurst.« »Und was gibt's zum Runterspülen?«, erkundigte sich z'Acatto, in dessen Blick ein trübes Funkeln erschien. »Hier.« Cazio reichte ihm eine irdene Flasche. Augenblicklich tat z'Acatto einen tiefen Zug. Gleich darauf spuckte er aus, heulte wie eine verdammte Seele und warf die Flasche gegen die Wand, wo sie in hundert Stücke zersprang. »Gift!«, kreischte er. »Wasser«, verbesserte Cazio. »Jene Substanz, die vom Himmel fällt. Gräser finden sie höchst nahrhaft.« »Wasser trinken sie in der Hölle«, stöhnte z'Acatto. »Nun, dann solltest du anfangen, dich daran zu gewöhnen, denn es besteht kein Zweifel daran, dass du im nächsten Leben bei Lord Ontro und Lady Mefita zu Gast sein wirst. Außerdem hatte ich kein Geld für Wein.« »Undankbarer Tropf! Du denkst nur daran, deinen Bauch zu füllen.« 364 »Und deinen«, ergänzte Cazio. »Iss.« »Bah«, stöhnte z'Acatto und richtete sich langsam auf. »Ich -« Plötzlich zuckte seine Nase, und er runzelte misstrauisch die Stirn. »Komm näher!« »Ich glaube, das lasse ich lieber«, wehrte Cazio ab. »Weißt du, Wasser kann man dem Körper auch von außen angedeihen lassen.« Doch z'Acatto erhob sich und kam auf ihn zu. »Ich rieche Wein in deinem Atem«, sagte er anklagend. »Vino dac'arva aus Troscia, vom letzten Jahr.« »Unsinn«, erwiderte Cazio. »Er kam aus Escarra.« »Hah! Das ist dieselbe Traube!«, brüllte z'Acatto und fuchtelte mit den Armen wie ein Verrückter. »Der Rebenbrand hat vor zehn Jahren die escarranischen Weinstöcke dahingerafft, und sie mussten sich Setzlinge in Troscia erbetteln.« »Interessant. Ich werde versuche, es mir zu merken. Auf jeden Fall war es nicht mein Wein, es war Alos, und jetzt ist er weg. Iss etwas.« »Essen.« Wieder runzelte z'Acatto die Stirn. »Warum nicht?« Er kehrte zu seiner Bank zurück, kramte in dem Beutel herum und zog schließlich ein Brot heraus. Er riss ein Stück ab und begann zu kauen. Durch den auf diese Weise entstehenden Brei hindurch fragte er: »In wie viele Schlägereien warst du heute verwickelt?« »Ich nehme an, du meinst Duelle? Nur eins, das ist ja das Problem. Es war zu heiß, glaube ich, und es sind nicht genug Fremde vorbeigekommen. Also nicht genug Geld.« »Du duellierst dich nicht«, knurrte z'Acatto. »Du prügelst dich. Das ist eine törichte Vergeudung der Kunst, die ich dich lehre. Eine Herabwürdigung.« »Ach ja?«, erwiderte Cazio. »Und sag mir, wie sollen wir leben, wenn nicht so? Du verschmähst das Essen, das ich bringe, und doch ist es höchstwahrscheinlich das einzige Essen, das du zu Gesicht bekommen wirst. Und woher kommt dein Wein, wenn du welchen kriegst? Du kaufst ihn mit dem Geld, das du mir stiehlst!« »Dein Vater hat sich nie so weit herabgelassen.« »Mein Vater hatte Güter, du Narr. Er hatte Weinberge und Obst365
gärten und Weiden voller Vieh, und er hat es für richtig gehalten, sich in einem eurer Ehrenhändel töten zu lassen und seinen Besitz so seinem Mörder zu hinterlassen statt mir. Das Einzige, was mir mein Vater hinterlassen hat, mit Ausnahme seines Titels, warst du -« »Und dieses Haus.« »Ja, und schau es dir an.« »Du könntest dir damit ein Einkommen sichern«, sagte z'Acatto. »Man könnte es vermieten -« »Es ist mein Haus!«, schrie Cazio. »Ich werde hier wohnen. Und ich werde mein Geld so verdienen, wie es mir gefällt.« Z'Acatto drohte ihm mit dem Finger. »Du wirst dabei umkommen.« »Wer hier kann sich im Fechten mit mir messen? Niemand. Seit fast zwei Jahren hat das niemand auch nur annähernd geschafft. Es liegt keine Gefahr darin, und es ist auch kein Glücksspiel. Es ist reine Wissenschaft.« »Ich kann es immer noch mit dir aufnehmen«, wandte z'Acatto ein. »Und obwohl ich vielleicht der größte Dessrata-Meister der Welt bin, gibt es doch einige, deren Geschick dem meinen nahe kommt. Eines Tages wirst du einem von ihnen gegenüberstehen.« Ohne zu blinzeln, starrte Cazio den alten Mann an. »Dann ist es deine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ich bereit bin, wenn ich auf ihn treffe. Sonst wirst du mir gegenüber genauso versagt haben, wie du meinem Vater gegenüber versagt hast.« Darauf sank der Kopf des Alten herab, und sein Gesicht wurde noch mürrischer. »Deine Brüder haben das hinter sich gelassen.« »Das haben sie wohl. Sie würden zulassen, dass unser guter Name im Seewind verweht wird, zu dem sie sich geflüchtet haben. Ich nicht, nicht Cazio. Ich bin ein da Chiovattio, bei Diuvo!« »Ich kenne das Gesicht des Mannes nicht, der deinen Vater getötet hat«, sagte z'Acatto leise. »Das kümmert mich wenig. Mein Vater hat sich mit dem Falschen duelliert, aus den falschen Gründen. Ich werde diesen Fehler nicht machen, und ich werde nicht um ihn trauern. Doch ebenso wenig 366 werde ich vorgeben, von niederer Geburt zu sein. Ich wurde dazu geboren, zu kämpfen und zu siegen und zurückzugewinnen, was mein Vater verloren hat. Und das werde ich auch tun.« Z'Acatto packte ihn am Ärmel. »Du glaubst, du bist klug. Du glaubst, du weißt etwas über die Welt. Junge, Avella ist nicht die Welt, und du weißt gar nichts. Du willst die Güter deines Vaters zu alter Größe bringen? Fang mit diesem Haus an. Fang mit dem an, was du hast.« Cazio streifte die Hand von seinem Ärmel. »Ich habe nichts«, sagte er und erhob sich. Z'Acatto schwieg, als Cazio wieder hinausging. Draußen auf der Straße verspürte Cazio einen Stich des Bedauerns. Z'Acatto machte nicht viel her, doch immerhin hatte er ihn, Cazio, seit seinem fünften Lebensjahr großgezogen. Sie hatten gute Zeiten erlebt. Nur in letzter Zeit nicht mehr. Bei Nacht war Avella dunkler als eine Höhle, doch Cazio kannte sich gut aus. Er fand die Nordmauer so leicht wie ein Blinder, der sich durch sein eigenes Haus tastet, und nachdem er die Treppe hinaufgestiegen war, stand er im Nachtwind, schaute über die mondbeschienenen Weinberge und Olivenhaine, über die sanft geschwungenen Hügel von Tero Mefio, das Herz Vitellios. So stand er länger als einen Glockenschlag da und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich werde mich bei ihm entschuldigen, dachte er bei sich. Schließlich gibt es Geheimnisse der Dessrata, die er immer noch für sich behält. Als er zu seinem Haus zurückkehrte, fühlte Cazio ein seltsames Prickeln im Nacken, und seine Hand wanderte zu Caspators Heft. »Wer ist da?«, fragte er. Überall um sich herum vernahm er die leise Berührung von Leder auf Ziegelstein. Zu viert, vielleicht auch zu fünft. »Feiglinge«, sagte er leiser. »Lord Mamres spuckt auf euch alle.« 367 Caspator machte kein Geräusch, als er aus seiner Scheide glitt. Cazio wartete auf den ersten Angriff. 27. Kapitel Flucht und Traum Anne stieß die hölzernen Läden auf und zuckte zusammen, als sie leise quietschten. Die Nachtluft draußen war warm und schwer von dem Geruch nach Holzfeuern und dem Gestank nach Pferdemist. Der Mond trug sein knappstes Gewand und streifte die Schieferdächer des Dorfes mit trübem, weißem Licht. Anne konnte den Boden nicht sehen - die Straße unter ihr lag in schwärzestem Schatten -, doch von vorhin wusste sie, dass sie sich nur ein Stockwerk darüber befand, dass direkt unter ihrem Fenster eine schmale Traufe vorsprang und dass darunter die Tür des kleinen Gasthauses war. Sie war in ihrem Leben schon aus größeren Höhen hinuntergesprungen. Zwanzig lange Tage waren gekommen und gegangen, seit sie Eslen verlassen hatten - Austra, fünf Handwerksmeister und sie. Anne wusste nicht, wo sie waren oder wie weit es noch war. Doch sie erkannte ihre beste Chance zu fliehen, wenn sie sich bot. Es war ihr gelungen, genug Brot und harten Käse zu horten, dass es
für ein paar Tage reichen müsste. Wenn sie einen Bogen und ein Messer fände, würde sie sich verpflegen können, dessen war sie sich sicher. Wenn sie nur bessere Reitkleidung hätte - doch auch die konnte sie sich besorgen. Die heilige Erenda würde ihr gewiss zulächeln und ihr Glück bringen. Anne warf einen Blick in die Richtung, aus der Austras regelmäßiges Atmen zu hören war, und unterdrückte einen Stich der Reue. Doch sie konnte ihrer besten Freundin nicht sagen, was sie vorhatte; 368 es wäre besser für Austra, wenn sie nichts davon wusste, wenn sie morgen früh genauso überrascht war wie Hauptmann Marl und der Rest ihrer Eskorte. Anne holte tief Atem, setzte sich auf das Fenstersims und tastete mit den Füßen nach der Traufe unter ihr. Sie fand sie - tiefer, als sie gehofft, und abschüssiger, als sie sie in Erinnerung hatte. Die Angst zu fallen ließ sie einen Moment innehalten, doch dann verlagerte sie vorsichtig ihr Gewicht darauf. Und rutschte prompt ab. Ihre Hände scharrten wild umher, als sie hinabglitt. Im letzten Augenblick bekam sie etwas zu fassen - und hielt es fest umklammert, während sie in hastigen Stößen atmete und ihre Füße über dem unsichtbaren Boden hingen. So wie es sich anfühlte, hatte sie den hölzernen Hahn erwischt, der über die Gasthaustür lugte. Ganz in der Nähe schnitt plötzlich raues Gelächter durch die Finsternis. Zuerst dachte sie, jemand hätte sie gesehen, dann begannen sich zwei Männer in einer Sprache zu unterhalten, die sie nicht verstand. Ihre Stimmen wanderten unter ihr vorbei, während sie den Atem anhielt, und wurden leiser. Ihre Arme begannen vor Anstrengung zu zittern. Sie musste sich entweder fallen lassen oder wieder zum Fenster hinaufklettern. Sie schaute hinunter, obgleich sie ihre Füße nicht sehen konnte, und nach einem weiteren Stoßgebet ließ sie los. Die Luft schien sehr viel länger an ihr vorbeizurauschen, als es eigentlich hätte sein sollen, und dann kam sie auf dem Boden auf. Ihre Knie knickten ein, und sie fiel vornüber. Eine ihrer Hände landete auf etwas, das feucht quatschte, und sie roch frische Pferdeäpfel. Zitternd, doch mit einem wachsenden Gefühl des Triumphs, kam sie auf die Beine und schüttelte sich den nassen Mist von der Hand. »Anne!« Eine verzweifelte Stimme von oben, die sich vor Anstrengung, so laut wie möglich zu flüstern, fast überschlug. »Psst, Austra!«, zischte Anne zurück. »Wo willst du denn hin?« »Ich weiß nicht. Geh wieder ins Bett.« 369 »Anne! Du rennst in den Tod. Du weißt doch noch nicht einmal, wo wir sind!« »Das ist mir egal! Ich gehe nicht in einen Konvent! Leb wohl, Austra - ich hab dich lieb!« »Das wird mein Ende sein«, keuchte Austra. »Wenn ich dich weglaufen lasse -« »Ich bin hinausgeschlüpft, während du geschlafen hast. Daran können sie dir nicht die Schuld geben.« Austra antwortete nicht, doch Anne hörte ein Kratzen über sich. »Was machst du denn?« »Mitkommen, natürlich. Ich lasse dich doch nicht allein sterben.« »Austra, nein!« Doch es war zu spät. Austra stieß einen winzigen Schrei aus. Ihr Flug verursachte einen leichten Luftzug, dann landete sie geräuschvoll auf dem Boden. »Ihr Arm ist schlimm geprellt, aber nicht gebrochen«, teilte Hauptmann Marl ihr beiläufig mit. Er war so schweigsam und direkt. Seine Manieren passten zu seinem schlichten, pockennarbigen Gesicht. »Ich will sie sehen«, verlangte Anne. »Noch nicht, Prinzessin. Da wäre noch die Frage, was Ihr beide getrieben habt.« »Wir waren albern; wir haben neben dem Fenster miteinander gerangelt und das Gleichgewicht verloren.« »Und wie kommt es dann, dass Ihr nicht einmal blaue Flecken habt, während sie verletzt ist?« »Ich habe Glück gehabt. Aber ich habe mein Kleid schmutzig gemacht, wie Ihr sehen könnt.« »Das wäre eine weitere Frage. Wieso wart Ihr vollständig angezogen?« »War ich doch gar nicht. Ich hatte keine Schuhe an.« »Eure Zofe trug ein Nachthemd - wie Ihr es ebenfalls hättet tun sollen.« »Hauptmann, wer seid Ihr, dass Ihr Euch anmaßt, zu bestimmen, 370 wie eine Prinzessin von Crothenien gekleidet zu sein hat? Ihr behandelt mich wie eine Kriegsgefangene!« »Ich behandle Euch wie das, was Ihr seid, Prinzessin - meine Schutzbefohlene. Ich kenne meine Pflicht, und ich nehme sie ernst. Euer Vater vertraut mir. Dazu hat er auch allen Grund.« Er seufzte und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Mir gefällt das nicht. Junge Frauen sollten für sich sein können, fern von jeder Männergesellschaft. Ich dachte, ich könnte Euch das zugestehen. Jetzt sehe ich, dass das dumm war.« »Ihr wollt doch wohl nicht, dass ich mein Zimmer mit einem Eurer Männer teile?« »Nein, Prinzessin. Keiner meiner Männer wäre dafür geeignet.« Sein Gesicht färbte sich rosig. »Aber wenn ich
keine Unterkunft finde, die ein Entkommen unmöglich macht, muss ich selbst in Eurem Gemach Wache stehen.« »Meine Mutter wird Euren Kopf fordern!«, schrie Anne »Wenn dem so ist, dann ist dem eben so«, erwiderte Marl gelassen. Sie hatte gelernt, ihm nicht zu widersprechen, wenn er diesen Ton anschlug. Er hatte einen Entschluss gefasst, und man würde ihn wirklich köpfen müssen, um das zu ändern. »Darf ich jetzt zu Austra?«, fragte sie stattdessen. »Ja, Prinzessin.« Austras Gesicht war weiß, und ihr Arm lag in einer Schlinge. Sie lag auf ihrem Bett und sah Anne nicht an, als diese hereinkam. »Es tut mir Leid«, sagte Austra. Ihre Stimme klang seltsam tonlos. »Das sollte es auch. Du hättest tun sollen, was ich gesagt habe. Jetzt wird mich Marl nicht mehr aus den Augen lassen.« »Ich hab doch gesagt, dass es mir Leid tut.« Tränen strömten über Austras Gesicht, doch sie gab keinerlei Klagelaute von sich. Anne seufzte und ergriff die Hand ihrer Freundin. »Schon gut«, sagte sie. »Was macht dein Arm?« Austra kniff störrisch den Mund zusammen und antwortete nicht. »Es ist schon gut«, wiederholte Anne sanfter. »Ich finde schon wieder eine Gelegenheit.« 371 Austra wandte sich ihr zu; ihre geröteten Augen funkelten wütend. »Wie konntest du?«, fragte sie. »Nachdem ich so oft für dich aufgepasst, für dich gelogen habe, dir geholfen habe, deine blöden Spiele zu spielen. Deine Mutter hätte mich zu den Scheuermägden schicken können! Bei allen Heiligen, sie hätte mich köpfen lassen können, und trotzdem habe ich immer getan, was du gesagt hast! Und wofür? Damit du mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zurücklassen kannst?« Einen Moment lang war Anne so schockiert, dass sie nichts erwidern konnte. »Ich hätte nach dir geschickt«, brachte sie schließlich mühsam hervor. »Wenn ich in Sicherheit gewesen wäre, und -« »Nach mir geschickt? Hattest du überhaupt eine Ahnung, was du tun wolltest?« »Davonlaufen. Meinen Liebsten suchen, und mein Schicksal.« »Das Schicksal einer Frau allein in einem fremden Land, wo du noch nicht einmal die Sprache kennst? Wovon wolltest du denn leben?« »Ich hätte mich von dem ernährt, was das Land zu bieten hat.« »Anne, das Land gehört jemandem. Fürs Wildern wird man gehängt, weißt du das? Oder man verrottet im Kerker oder arbeitet als Sklave, bis man seine Schuld bezahlt hat. Das passiert im Königreich deines Vaters mit denen, die sich >von dem ernähren, was das Land zu bieten hat<.« »Mich hätte niemand gehängt«, wandte Anne ein. »Nicht, nachdem sie erfahren hätten, wer ich bin.« »O ja. Wenn du also erwischt worden wärst, hättest du erklärt, dass du eine sehr bedeutende Prinzessin bist, und dann hätten sie - was getan? Dich laufen lassen? Dir ein kleines Lehen gegeben? Oder dich eine Lügnerin genannt und dich aufgeknüpft. Natürlich hätten sie dich nicht gleich gehängt, weil du eine Frau bist, und hübsch dazu. Zuerst hätten sie ihr Vergnügen mit dir gehabt. Oder nehmen wir mal an, du hättest sie irgendwie davon überzeugen können, wer du bist. Im günstigsten Fall hätten sie dich nach Hause geschickt, und das Ganze wäre wieder von vorn losgegangen - außer für mich, ich würde Holzkohle von den Lastkähnen heraufschleppen oder Schlimme372 res. Im schlimmsten Fall hätten sie dich gefangen genommen, um Lösegeld zu erpressen. Vielleicht hätten sie deinem Vater deine Finger geschickt, einen nach dem anderen, um ihm zu beweisen, dass du wirklich ihre Gefangene bist.« »Ich verkleide mich als Mann«, entgegnete Anne. »Und ich werde mich nicht erwischen lassen.« Austra verdrehte die Augen. »Oh, sich als Mann verkleiden. Das geht bestimmt gut.« »Immer noch besser, als in einen Konvent zu gehen.« Austras Augen wurden noch härter. »Das ist dumm. Und es ist selbstsüchtig.« Sie ballte die unverletzte Hand zur Faust und schlug damit gegen den Bettpfosten. »Ich war dumm. Jemals zu glauben, du wärst meine Freundin. Dass du dich auch nur einen Deut um mich scheren würdest!« »Austra!« »Lass mich in Ruhe.« Anne wollte noch etwas sagen, doch Austras Blick bekam etwas Wildes. »Lass mich in Ruhe« Anne erhob sich. »Wir reden später weiter.« »Geh weg!«, schrie Austra und brach in Tränen aus. Anne war selbst zum Heulen zumute, als sie ging. Anne betrachtete Austras Gesicht vor dem Hintergrund hügeliger Weiden, unterbrochen von Hainen aus kerzengeraden Zedern und eleganten Pappeln. Ihr Kopf versperrte den Blick auf einen fernen Hügel, wo eine kleine Burg sich herrschaftlich über ein paar verstreuten Hütten mit roten Ziegeldächern erhob. Eine Pferdeherde beäugte die vorbeirollende Kutsche neugierig.
»Redest du immer noch nicht mit mir?«, flehte Anne. »Es ist jetzt drei Tage her.« Austra runzelte die Stirn und starrte weiter aus dem Fenster. »Na schön«, zischte Anne. »Ich habe mich bei dir entschuldigt, bis meine Zunge grün geworden ist. Ich weiß nicht, was du noch von mir willst.« 373 Austra murmelte etwas, doch die Worte flatterten aus dem Fenster wie ein Vogel. »Was hast du gesagt?« »Ich habe gesagt, du könntest es versprechen«, wiederholte Austra, immer noch ohne sie anzusehen. »Du könntest versprechen, nicht wieder wegzulaufen.« »Ich kann doch gar nicht weglaufen. Hauptmann Marl ist jetzt viel zu wachsam.« »Wenn wir in dem Konvent sind, ist kein Hauptmann Marl mehr da«, erklärte Austra langsam, als spräche sie mit einem Kind. »Ich will, dass du mir versprichst, dass du nicht versuchst, von dort zu fliehen.« »Du verstehst das nicht, Austra.« Schweigen. Anne öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen, doch die Worte kamen nicht über ihre Zähne hinaus. Stattdessen schloss sie die Augen, ließ ihren Körper in das rastlose Schaukeln der Kutsche sinken und versuchte, sich vorzugaukeln, sie sei weit weg. Sie streifte Träume über wie Kleider. Zunächst probierte sie Roderick an, die Erinnerung an jenen ersten, süßen Kuss zu Pferde, ihre immer innigeren, heimlichen Treffen. Am Ende jedoch brachte sie das lediglich zu dem Abend in der Gruft und zu der Demütigung, die darauf gefolgt war. Ihre ganze Erinnerung an diese Nacht war verdorben, doch sie wollte sich erinnern, wollte jene letzten, erregenden, beängstigenden Liebkosungen noch einmal spüren. Sie änderte die Szenerie, gab vor, sie und Roderick hätten sich stattdessen in ihren Gemächern in Eslen getroffen, doch das verlief auch nicht besser. Als sie versuchte, sich auszumalen, wie seine Räume in Dunmrogh wohl aussahen, scheiterte sie völlig. Schließlich stellte sie sich in einer plötzlichen Eingebung, die ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht zauberte, die kleine Burg auf dem Hügel vor, die sie eben gesehen hatte. Sie stand in einem grünen Kleid am Tor, während Roderick mit leuchtender Schabracke über die Wiesen ritt. Als er sie erreichte, stieg er vom Pferd, verbeugte sich tief und küsste ihr die Hand. Dann, während ein Feuer in seinen Augen auf374 loderte, zog er sie an die stählerne Rüstung, die er trug, und küsste sie auf den Mund. Das Innere der Burg war luftig und hell erleuchtet, seidene Wandbehänge bedeckten die Mauern, und strahlendes Sonnenlicht fiel durch Dutzende von Fenstern aus Kristallglas. Wieder trat Roderick auf, in einem prachtvollen Wams, und jetzt endlich konnte sie das Gefühl seiner Hand auf ihrer Haut heraufbeschwören und sich vorstellen, dass er weiter ging, dass sie beide schließlich unbekleidet waren. Sie vervielfachte die Erinnerung an seine Hand auf ihrem Schenkel, malte sich aus, wie sich sein ganzer Körper gegen den ihren presste. Es gab nur einen Teil von ihm, den sie sich nicht genau vorstellen konnte, obgleich sie ihn an sich gefühlt hatte durch seine Reithose hindurch. Sie hatte noch nie das Gemächt eines Mannes zu Gesicht bekommen, doch sie hatte schon oft genug Hengste beobachtet. Zumindest die Form musste ähnlich sein. Doch das Bild, das sie heraufbeschwor, war so lächerlich, dass sie plötzlich unsicher wurde und sich stattdessen vorstellte, wie seine Augen in die ihren starrten. Irgendetwas passte auch hier nicht, und in einem raschen Aufwallen des Schreckens begriff sie, was es war. Sie konnte sich nicht mehr an Rodericks Gesicht erinnern! Zwar hätte sie es noch immer beschreiben können, doch sie konnte es nicht mehr vor sich sehen in den Schatten ihrer Gedanken. Wild entschlossen änderte sie die Szenerie erneut, beschwor ihre erste Begegnung herauf, ihr letztes Treffen Doch es nützte nichts. Es war, als versuche sie, mit bloßen Händen einen Fisch zu fangen. Sie öffnete die Augen und sah, dass Austra eingeschlafen war. Enttäuscht schaute Anne zu, wie die Landschaft vorbeizog, und versuchte jetzt, sich vorzustellen, was für Menschen wohl dort draußen lebten, in diesem Land, das ihr so fremd war. Doch bei ihrer vergeblichen Suche nach Rodericks Gesicht hatte sie irgendwie etwas anderes geweckt und ein anderes Gesicht gefunden. Die maskierte Frau mit dem bernsteinfarbenen Haar. Fast zwei 375 Monate lang hatte Anne dieses Traumbild verdrängt, hatte es verschlüsselt, so wie den Traum von den schwarzen Rosen. Jetzt kehrten beide vereint zurück und forderten aufdringlich Beachtung, trotz der Versicherungen des Praifecs. Nachdem sie drei Tage des Schweigens und Austras Schmollen ertragen hatte, und das ohne jegliche Ablenkung, setzten Anne die Gedanken an jenen Tag auf Tom Woth zu wie ein hartnäckiger Juckreiz, und die einzige Möglichkeit, dort zu kratzen, war Nachdenken. Was war geschehen? War sie wirklich ohnmächtig geworden, wie der Praifec glaubte? Das schien am wahrscheinlichsten, und es war auch das, was sie sich selbst am häufigsten eingeredet hatte. Und trotzdem, tief in ihrem Herzen wusste sie irgendwie, dass es nicht die Wahrheit war.
Etwas Wirkliches war ihr passiert; sie hatte eine Heilige gesehen oder einen Dämon, und die Erscheinung hatte zu ihr gesprochen. Sie konnte die Stimme beinahe in ihrem Kopf fühlen, eine Art Ermahnung, einen Tadel. Wie konnte sie an sich und Roderick denken, wenn so viel passierte? Ihre Mutter und ihr Vater waren in Gefahr, vielleicht das ganze Reich, und nur sie allein wusste es. Und trotzdem hatte sie nichts unternommen, hatte es niemandem gesagt, war dieser hoffnungslosen, selbstsüchtigen Liebe nachgelaufen. Die Worte des Praifecs hatten ihr lediglich die nötige Ausrede verschafft. »Nein«, murmelte Anne. »Das bin nicht ich, die da spricht. Das ist Fastia. Das ist Mutter.« Doch es war keine von beiden, und sie wusste es. Es war Genia Dare; ihre Stimme flüsterte über all die Meilen hinweg durch den Spalt unter ihrem Sargdeckel. Genia Dare, die erste Königin, ihre älteste Ahnin. Hätte Genia Dare um der selbstsüchtigen Freuden der Jugend willen ihre Pflicht vernachlässigt? Anne fuhr zusammen. Das war nicht ihr Gedanke gewesen; das war eine Stimme gewesen, die ihr ins Ohr gesprochen hatte. Und geflüstert hatte die Stimme auch nicht, sondern in selbstbewusstem Tonfall gesprochen. Eine Frauenstimme. 376 Die Stimme der maskierten Frau, sie war sich fast sicher. Anne warf den Kopf vor und zurück, suchte nach der Sprecherin, doch sie sah nur die schlafende Austra. Schwer atmend lehnte sich Anne in ihrem Sitz zurück. »Seid Ihr da?«, flüsterte sie. »Wer spricht da?« Doch die Stimme ließ sich nicht wieder vernehmen, und Anne begann sich zu fragen, ob sie einen Moment lang eingeschlafen war, lange genug, damit die Schwarze Mary ihr ins Ohr wispern konnte. »Ihr seid nicht Genia Dare«, murmelte sie. »Ganz bestimmt nicht.« Sie wurde verrückt, führte Selbstgespräche. Das war es, ganz sicher. Sie hatte von solchen Dingen gelesen, von Gefangenen in Turmverliesen, die lange Reden hielten, obwohl niemand da war. Sie schüttelte Austras Knie. »Austra! Wach auf.« »Hmm?« Austra öffnete die Augen. »Oh«, sagte sie. »Du bist es.« »Ich verspreche es, Austra.« »Was?« »Ich verspreche, dass ich nicht versuchen werde wegzulaufen.« »Wirklich?« »Ja. Ich muss ...« Verlegen furchte sie die Stirn. »Alle versuchen, mir das Gleiche zu sagen. Mutter, Fastia, du. Ich habe nur an mich gedacht. Aber ich glaube - ich werde für etwas gebraucht.« »Heißt das, du gibst Roderick auf?« »Nein. Manche Dinge sind vorherbestimmt, und wir beide sind dafür bestimmt, zusammen zu sein. Ich habe Genia gebeten zu bewirken, dass er sich in mich verliebt, weißt du noch? Das alles ist meine Schuld, und ich kann mich nicht einfach von seiner Liebe abwenden.« »Du hast Genia auch gebeten, Fastia netter zu machen«, erinnerte Austra sie. »Aber sie war ja auch netter«, entgegnete Anne und dachte an die letzten beiden Gespräche mit ihrer Schwester. »Wirklich. Sie war beinahe wieder so wie die Fastia, die ich als kleines Mädchen lieb gehabt habe. Sie und Mutter haben mir das angetan - aber sie glauben, was sie tun, ist das Beste. Lesbeth hat es mir erklärt, aber ich wollte ihr nicht zuhören.« 377 »Und was hat dich überzeugt?« »Ein Traum, glaube ich. Oder eine Erinnerung. Vor allem du. Wenn mich sogar meine liebste Freundin für selbstsüchtig hält, wie soll ich mir da keine Gedanken machen?« »Jetzt fängst du langsam an, mir Sorgen zu machen. Hast du dir den Kopf angeschlagen, als du aus dem Fenster geklettert bist?« »Mach dich nicht über mich lustig«, entgegnete Anne. »Du wolltest, dass ich mich bessere. Ich gebe mir Mühe.« Austra nickte ernst. »Es tut mir Leid. Du hast Recht.« »Ich war einsam, so ohne dich zum Reden.« Austra trat das Wasser in die Augen. »Ich war auch einsam, Anne. Und ich habe Angst. Davor, wo wir hinfahren, wie es wohl sein wird.« »Ab jetzt stecken wir zusammen hier drin. Einverstanden?« »Bei Genia?« »Bei ihrem Grab. Wenn ich Bleifolie hätte, um es niederzuschreiben, würde ich es tun. Ich schwöre, dass ich keinen Fluchtversuch von dem grässlichen Ort unternehmen werde, an den meine Mutter uns schickt. Und ich werde dir eine Gefährtin sein, und ganz gleich, was kommt, ich werde dich nie, nie verlassen.« Austra lächelte zaghaft. »Danke«, sagte sie. Sie griff über den Zwischenraum hinweg, der sie trennte, und beide drückten sich kurz die Hände. »Was glaubst du, wo wir hinfahren?«, fragte Anne, um das Thema zu wechseln. »Ich würde sagen, wir sind nach Süden unterwegs.« Austra bekam kleine Grübchen.
»Das Gesicht kenne ich!«, rief Anne. »Du weißt etwas.« »Ich habe mir Anhaltspunkte notiert«, verkündete Austra. »Die Namen von Städten und Flüssen und all so was. Damit wir unsere Route finden können, wenn wir je eine Karte zu Gesicht bekommen.« Anne starrte sie erstaunt an. »Austra! Kluges Mädchen. Warum bin ich nicht darauf gekommen? Ich bin so blöd!« »Nein«, beschwichtigte Austra. »Du warst nur noch nie draußen in der Welt. Wahrscheinlich hast du gedacht, wenn du wegläufst, bringt 378 dich die Straße schon dorthin, wo du hinwillst, wie in den Phay-Märchen. Aber in der wirklichen Welt muss man wissen, wo es langgeht.« »Also dann, dein Tagebuch! Darf ich es sehen?« Austra griff in ihre Tasche und zog ein kleines Büchlein hervor. »Ich habe nicht alle Städtenamen herausbekommen«, sagte sie. »Nur wenn ich gehört habe, wie eine der Wachen ihn erwähnt hat, und manchmal habe ich auch Schilder gesehen. Die Schrift sieht hier fast genauso aus wie bei uns, nur mit ein paar komischen Schnörkeln. Hier, ich lese es dir vor, du kannst mein Gekritzel vielleicht nicht lesen, und ich kann es für dich zusammenfassen.« »Lies schon«, erwiderte Anne. »Zuerst haben wir den Magierfluss überquert, auf der hohen Straße. Die Sonne ist rechts von uns untergegangen, also sind wir nach Süden gefahren. Dann ging es irgendwelche Hügel hinauf, immer noch nach Süden.« »Dann waren wir in Hornladh!«, sagte Anne. »Roderick kommt aus Hornladh! Nachdem ich ihm begegnet bin, habe ich es auf der Landkarte gesucht.« »In diesen Hügeln haben wir in einem Ort namens Carec übernachtet, einer sehr kleinen Stadt. Die nächsten paar Abende habe ich keine Ortsnamen herausgekriegt, aber wir haben einen Wald durchquert, der, glaube ich, Duv Caldh oder so ähnlich hieß. Am Waldrand haben wir in einem kleinen Ort namens Prentreff Halt gemacht.« »O ja. Das Gasthaus mit diesem schrecklichen Lautenspieler.« »Genau. Von dort aus haben wir uns immer noch südlich gehalten, glaube ich, aber auch mehr nach Westen, aber am nächsten Tag hat es geregnet, und so konnte ich es nicht genau erkennen. Dann sind wir zwei Nächte lang in Paldh geblieben.« »An Paldh erinnere ich mich von der Landkarte her! Das ist eine Hafenstadt. Also waren wir am Meer! An dem Abend habe ich gedacht, ich könnte das Meer riechen.« »Danach haben wir einen Fluss überquert. Ich glaube, er hieß Teremene, und die Stadt dort hieß genauso. Ab da hat man mehr Wiesen gesehen als Wald und diese Häuser mit den roten oder hellen Dä379 ehern. Und Weingärten - weißt du noch, die endlosen Weingärten? Dann haben wir in einer kleinen Stadt namens Pacre geschlafen, dann in Alfohes, Avale und Vio Toto. Ich glaube, die meiste Zeit sind wir nach Südwesten gefahren. Wir haben noch einen Fluss überquert, aber ich weiß nicht, wie er hieß, und auf der anderen Seite lag Ches-ladia. Danach habe ich ein paar Orte verpasst, aber der, wo du versucht hast davonzulaufen, hieß Trivo Rufo. Seitdem habe ich nichts mehr aufgeschrieben. Ich war zu wütend.« »Das reicht doch!«, sagte Anne. »Aber ich verstehe dich nicht. Wenn du nicht wolltest, dass ich weglaufe, warum hast du das dann getan? Warum hast du mir den Heimweg aufgeschrieben?« »Ich wollte dir erst davon erzählen, nachdem du versprochen hast, nicht fortzulaufen. Aber ich dachte - es ist immer besser zu wissen, wo man ist. Was ist, wenn etwas Schreckliches passiert? Wenn wir von Räubern angegriffen werden, unsere Eskorte getötet wird und wir fliehen müssen} Es ist besser, Bescheid zu wissen.« Sie hob mahnend den Finger. »Aber versprochen ist versprochen, nicht wahr?« »Natürlich«, erwiderte Anne. »Aber du hast Recht. Von jetzt an schreibe ich auch Tagebuch.« »In welchem Land sind wir jetzt wohl, was glaubst du?«, fragte Austra. »Ich habe keine Ahnung. Im Unterricht habe ich nie aufgepasst, und ich habe nur auf die Karte geschaut, um zu sehen, woher Roderick kommt. Vielleicht sind wir in Safnien, wo Lesbeths Verlobter wohnt.« »Vielleicht«, sagte Austra. »Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, das hier ist Vitellio.« »Vitellio!« Anne schaute wieder aus dem Fenster. Die Straße verlief schnurgerade durch ein Feld, auf dem irgendeine Sorte Getreide stand. Zu beiden Seiten erhoben sich steile Böschungen, und die Erde war leuchtend weiß. »Ich dachte, in Vitellio wäre alles rot und gelb und voller großer Städte und Tempel! Und die Leute sollen sich ganz in Seide kleiden, in fantastische Farben, und die ganze Zeit miteinander streiten.« 380 »Ich könnte mich irren«, gab Austra zu bedenken. »Wo immer wir sind, die Landschaft ist jedenfalls sehr schön«, bemerkte Anne. »Ich würde gern mit Windschnell durch diese Felder galoppieren. Wie weit ist es wohl noch?« »Wer weiß?«, erwiderte Austra. »Dieser Konvent muss am äußersten Rand der Welt liegen.« »Vielleicht wird das alles doch noch ein Abenteuer!«, meinte Anne und spürte, wie ihre Stimmung sich hob. Doch ein kurzer, schuldbewusster Gedanke huschte ihr durch den Kopf. Roderick würde über das Ende der Welt hinauswandern, um mich zu finden. Und wenn ich ihm nur einen einzigen Brief schicken kann, wird er wissen, wo das ist.
Sie versuchte, den Gedanken wegzuwischen, fest zu ihren neuen Überzeugungen zu stehen, und wenige Augenblicke später, als die Mädchen darüber plauderten, wie es in Vitellio wohl sein mochte, hatte sie fast vergessen, dass er ihr je in den Sinn gekommen war. Und acht Tage später, im zerfaserten Licht des Sonnenuntergangs, in einer Landschaft ohne Häuser, dafür jedoch mit sich sacht wiegenden Bäumen und grünen Weiden, stiegen sie und Austra zum letzten Mal aus der Kutsche. 28. Kapitel Der Pfad der Schreine Bruder Ehan stand mit verschränkten Armen und besorgter Miene da und sah Stephen bei seinen Vorbereitungen zu. »Nimm dich vor Bruder Desmond und seiner Bande in Acht«, sagte der kleine Mann. »Die sind nicht allzu glücklich darüber, dass du den Pfad schon so früh beschreitest.« 381 »Ich weiß.« Stephen zuckte mit den Schultern. »Was soll ich tun? Wenn sie mir folgen, dann folgen sie mir eben. Wenn sie mich allein im Wald erwischen, kann ich nicht viel machen, ob ich sie nun kommen sehe oder nicht.« »Du könntest wegrennen.« »Dann würden sie bloß beim nächsten Schrein auf mich warten. Ich könnte den Pfad trotzdem nicht bis zum Ende gehen.« »Aber du wärst am Leben.« »Stimmt«, räumte Stephen ein. »Du klingst nicht so glücklich, wie man meinen sollte.« »Irgendwas macht ihm zu schaffen«, sagte Bruder Alprin. Er war gerade eben aus den Weingärten hereingekommen und trug noch immer den breitkrempigen Hut, der ihn vor der Sonne geschützt hatte. »Und zwar nicht Bruder Desmond.« »Heimweh?«, erkundigte sich Bruder Ehan ein wenig spöttisch. »Nein«, erwiderte Stephen. Nur hatte er tatsächlich Heimweh. Nicht nach einem Ort, sondern nach einer Welt, die noch einen Sinn ergab. »Was dann?«, drängte Ehan, doch Stephen blieb stumm. »Er wird es uns erzählen, wenn er so weit ist«, sagte Alprin. »Nicht wahr, Bruder? Mach dir jedenfalls keine Sorgen wegen Bruder Desmond. Der Fratrex hat ihn gestern fortgeschickt.« »Fort?«, wiederholte Stephen. »Du meinst, für immer?« »Schön war's. Er soll nur irgendwelche Kirchenangelegenheiten erledigen.« Stephen musste plötzlich an Bruder Desmond in jener Nacht auf dem Hügel denken, als er still und seltsam geworden war. »Soll er Vorräte besorgen oder so etwas?« »Ha.« Bruder Ehan schnaubte. »Nein. Er wird losgeschickt, damit er sich um bestimmte Dinge kümmert. Bruder Desmond hat die Schreine des heiligen Mamres durchschritten. Er ist nur noch eine Beförderung weit davon entfernt, ein Ritter der Kirche zu sein. Was glaubst du denn, warum er so stark und so schnell ist? Das ist Mamres' Segen. Ein paar Wochen bevor du gekommen bist, haben irgendwelche 382 Banditen den Tempel in Baymdal geplündert, in den Midenlanden. Der Fratrex hat Bruder Desmond und seine Truppe losgeschickt.« »Desmond hat mit den Banditen aufgeräumt, das kann man wohl sagen. Sehr gründlich aufgeräumt, nach allem, was ich gehört habe«, erklärte Bruder Alprin. Ehan runzelte die Stirn. »Das hier könnte schlimmer sein. Was ist, wenn sie noch einen Tag im Wald herumlungern? Wenn man dich mit gebrochenem Genick findet, können sie sagen, sie seien in Kirchengeschäften ganz woanders gewesen.« »Wartet mal«, sagte Stephen. »Ich dachte, ein Fratrex darf das gar nicht. Er darf doch die Männer nur dafür einsetzen, sein Kloster zu beschützen. Ein Befehl, der sie irgendwohin schickt, muss von einem Praifec kommen.« »Gestern kam ein Bote von Praifec Hespero in Eslen«, sagte Bruder Alprin. »Oh.« »Ich würde mir wegen Bruder Desmond nicht allzu viele Gedanken machen«, meinte Bruder Alprin. »Er genießt diese Reisen. Schließlich kann er dich umbringen, wann immer er will.« »Sehr tröstlich«, bemerkte Stephen. Alprin lächelte. »Außerdem musst du dich um innere Einkehr bemühen, wenn du die Schreine angemessen durchschreiten willst.« »Das versuche ich ja«, erwiderte Stephen. »Könnt ihr mir sagen, was ich zu erwarten habe, wie es sich anfühlt?« »Nein«, sagten Bruder Ehan und Bruder Alprin im Chor. »Aber danach wirst du anders sein«, fügte Bruder Ehan hinzu. »Danach wird nichts mehr so sein wie vorher.« Ehan hatte das wahrscheinlich als Aufmunterung gemeint, stattdessen öffnete sich bei diesen Worten jedoch ein weiterer Abgrund in Stephens Bauch. Seit er seine Heimat verlassen hatte, war ihm eine schlimme Überraschung nach der anderen zuteil geworden. Seine ganze Welt war bereits auf den Kopf gestellt worden, und er hatte das
ungute Gefühl, dass durchaus noch mehr unangenehme Überraschungen auf ihn warteten. 383 Und so geschah es, dass er, obgleich er sein Bestes tat, Betrachtungen über die Heiligen anzustellen und seinen ersten Schritt zur Priesterschaft in besinnlicher Stimmung zu tun, seinen Fuß voller Beklommenheit auf den Pfad setzte und sich dem ersten der zwölf Schreine des heiligen Decmanus näherte. Seine eigenen Schritte klangen für Stephen irgendwie wie Eindringlinge im riesigen Hauptschiff der Kirche. So leer und still hatte er es noch nie gesehen. Er sehnte sich nach ganz normalen Geräuschen, nach einem anderen Menschen, mit dem er reden könnte. Doch von diesem Augenblick an würde er allein sein, bis er den Rundgang durch die Schreine beendet hatte. Einen Moment lang stand er da und betrachtete die gewaltigen Strebepfeiler, die die Decke stützten, voller Staunen darüber, dass zerbrechliche, unvollkommene Menschen solche Schönheit schaffen konnten. War es das, was die Heiligen in ihnen sahen, diese Möglichkeiten? War die Erschaffung einiger weniger schöner Dinge all das Böse wert, das Menschen anrichten konnten? Er würde keine Antwort auf diese Frage bekommen. Vielleicht gab es keine. Gebete vor sich hin murmelnd, hielt er bei den Einkehrstationen inne, zwölf kleine Alkoven, in denen Statuen und Reliefs die verschiedenen Gestalten des heiligen Decmanus zeigten. Außer der Kraft, die jedem Bildnis innewohnt, besaßen sie keine Macht, doch sie erinnerten ihn an das, was er bald tun würde, denn der Pfad der Schreine ähnelte diesen kleinen Stationen sehr, war bloß viel größer. Als er in jedem der Alkoven eine Kerze angezündet hatte, wandte er sich schließlich dem ersten Schrein zu. Er lag hinter einer kleinen Tür im hinteren Teil des Hauptschiffs. Die Steine um die Tür herum sahen viel älter aus als die des restlichen Klosters, und beinahe sicher waren sie das auch. Der Heilige hatte sein Zeichen hier hinterlassen, bevor die Kirche ihren Weg in diese Landstriche gefunden hatte, sogar bevor die gefürchteten Skasloi besiegt worden waren. Einst war hier nichts gewesen außer einem Hügel. Ein Schrein oder 384 gar ein Kloster trug nicht dazu bei, die Macht des Sedos zu verstärken; dergleichen konnte lediglich dazu dienen, diejenigen, die sich anschickten, den Pfad zu beschreiten, an der Macht des Heiligen teilhaben zu lassen, sie auf das vorzubereiten, was auf sie zukam. Als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, verspürte er ein Kribbeln im Bauch und wusste, dass er, hätte er nicht drei Tage lang gefastet, womöglich alles von sich gegeben hätte, was darin war. Er blieb stehen und starrte die Tür an, wollte nicht beginnen. Er war nicht bereit zu beginnen; seine Gedanken waren nicht auf sein Ziel gerichtet, auf die Heiligung seines Fleisches und seiner Seele. Dort drinnen gab es zu viel, was ausgesprochen ungeheiligt war. Also kniete er seufzend auf dem Steinboden vor der Tür nieder und versuchte zu meditieren. Manchmal, wenn er nicht schlafen konnte, lag das daran, dass die Ereignisse des Tages in seinem Schädel herumhuschten wie Ratten, die ihren eigenen Schwänzen nachjagten. Was er hätte sagen, hätte tun, nicht hätte sagen und tun sollen - immer und immer wieder. Der Versuch, jetzt Einkehr zu halten, war genauso. Er bemühte sich, die Gedanken durch schiere Willenskraft zu vertreiben, sie aufzulösen wie Salz in kochendem Wasser, doch jedes Mal formten sie sich aufs Neue, aufdringlicher denn je. Und an erster Stelle unter diesen Gedanken stand eine einfache Frage: Nachdem er getan hatte, was er getan hatte, wie konnte er da den Segen des Heiligen verdienen? Nach vielleicht einem halben Glockenschlag war Stephen klar, dass die Meditation der Leere nicht funktionieren würde, also änderte er seine Taktik. Anstatt sich zu bemühen, seinen Kopf zu leeren, würde er es mit der Meditation der Erinnerung versuchen. Wenn er im Erinnern ein paar Momente des Friedens finden könnte, dann erlangte er vielleicht jenen Zustand gelassener Hinnahme, der nötig war, um den Schrein zu betreten. Also schloss er die Augen und öffnete die Galerie seines Gedächtnisses, betrachtete die Bilder dort, erstarrt wie Gemälde. Dort hing Bruder Geoffry in der Andachtshalle der Akademie, 385 groß und aufrecht in dem trüben Licht, das durch die Fenster sickerte. Bruder Geoffry, der die Mysterien des Sacariums in so gewandten Worten erläuterte, dass es wie ein Lied klang. Sein Vater, Rothering Darige, der auf der Klippe des Chavelkaps kniete, die ihre weißen Zähne fletschende See hinter und den blauen Himmel über sich. Sein Vater, der ihm seine ersten Anweisungen erteilte, wie er sich im Tempel verhalten sollte. Stephen war acht und voller Ehrfurcht sowohl vor dem Wissen seines Vaters als auch angesichts der Tatsache, dass er bald die Altarkammern sehen würde. Seine Schwester Kay, die beim Fest des heiligen Temnos seine Hand hielt, wo alle Totenschädelmasken trugen und Rauchfässchen mit qualmendem, flüssigem Bernstein schwenkten. Wachfeuer in Gestalt brennender Männer waren an der ganzen Küste entlang aufgereiht, wie als Brandopfer dargebrachte Titanen. Wie Skelette bemalte Sefry-Musikanten und Akrobaten tanzten wild durch die Menge, als die Sonne schließlich untergegangen war. Die Sverrun-Priester, ganz in Schwarz gekleidet, sangen Klagelieder und schleppten Ketten hinter sich her. Kay erzählte ihm, dass die Sefry kleine Jungen stahlen, die dann nie wieder gesehen wurden. Es war eine der eindringlichsten Erfahrungen seines Lebens, denn es war das erste Mal, dass er wirklich die Gegenwart der
Heiligen und der Geister spürte, die unter den Menschen wandelten, sie so gewiss fühlte wie Fleisch und Knochen. Doch von all diesen Bildern seines Gedächtnisses war es der alte Sacritor Bürden, der Altpriester von Stephens Seminar, der ihn dem nahe brachte, dessen er bedurfte. Auf dieser Leinwand konnte Stephen das fahle Gesicht des alten Mannes sehen, sein rasches, wenngleich irgendwie trauriges Lächeln, seine Brauen, im Alter fast echsenhaft geworden, als mache die Zeit etwas anderes als einen Menschen aus ihm. Seine Stimme jedoch war menschlich, und an dem Tag, als er Stephen in das kleine Scriftorium in den Räumen hinter dem Altar mitgenommen hatte, war sie leise gewesen. Stephen konzentrierte sich und entspannte sich dann, bis sich das 386 starre Porträt erneut zu regen begann und er durch zwölf Sommer alte Augen sah und die Stimme aus seiner Vergangenheit hörte. Er blickte sich im Raum um, betrachtete die Kästen und die Rollen mit den Scrifti. Er hatte seinen Vater schreiben sehen, hatte das Gebetbuch bemerkt, das seine Mutter immer am Gürtel hängen hatte; dies hier zu verstehen fiel ihm jedoch schwer. Was konnte denn auf all diesen Seiten geschrieben stehen? »Das größte Geschenk der Heiligen ist Wissen«, erklärte ihm Sacritor Bürden, zog ein verblasstes Pergament von einem Regal und entrollte es. »Die reinste Form der Anbetung ist, sich dieses Wissen anzueignen, es zu hüten wie eine kleine Flamme im Wind, es für die nächste Generation am Leben zu erhalten.« »Was steht da?«, wollte Stephen wissen und zeigte auf die Rolle. »Hier? Das habe ich aufs Geratewohl ausgewählt.« Der Priester ließ den Blick über den Inhalt gleiten. »Ah! Das ist eine Liste aller Namen des heiligen Michael, verstehst du?« Stephen verstand gar nichts. »Der heilige Michael hat mehr als einen Namen?« Bürden nickte. »Man sollte lieber sagen, dass >heiliger Michaeh einer von vielen Namen für eine Macht ist, die eigentlich namenlos ist -die wahre Essenz des Heiligen, das, was wir das Sahto nennen.« »Das verstehe ich nicht.« »Wie viele Heilige gibt es, Stephen?« »Ich weiß es nicht. Hunderte.« »Wenn wir nach den Namen gehen«, sagte der Sacritor nachdenklich, »würde ich sagen, Tausende. Der heilige Michael zum Beispiel -er ist auch bekannt als der heilige Tyw, Nod, Mamres, Tirving - und das sind nur vier von vierzig Namen. Genauso nennt man den heiligen Thunder auch Diuvo, Fargun, Tarn und so weiter.« »Oh!«, erwiderte Stephen. »Ihr meint, so nennt man sie in anderen Sprachen, auf Lierisch oder Crothenisch.« Er lächelte und blickte zu dem Priester auf. »Ich habe ein bisschen Lierisch gelernt von einem Kapitän. Wollt Ihr es hören?« 387 Der Priester grinste. »Du bist ein kluger Junge, Stephen. Deine rasche Auffassungsgabe für Sprachen ist mir schon aufgefallen. Das empfiehlt dich für die Priesterschaft.« »Das sagt Vater auch.« »Du klingst nicht gerade begeistert.« Stephen blickte zu Boden und versuchte, nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten. Sein Vater mochte es nicht, wenn er herumzappelte. »Ich - ich glaube, ich will kein Priester werden«, gestand er. »Ich würde lieber ein Kapitän sein, auf einem Schiff, der überallhin segelt und alles sieht. Oder vielleicht ein Kartenmacher.« »Nun«, sagte Sacritor Bürden, »das ist etwas für später. Jetzt hast du jedenfalls etwas sehr scharf beobachtet; manche Namen der Heiligen bezeichnen lediglich das, was sie für andere Menschen in anderen Sprachen bedeuten. Aber es ist komplizierter. Die wahre, echte Essenz eines Heiligen - das Sahto - ist ohne Namen und Form. Es sind nur die verschiedenen Aspekte des Sahto, die wir erfahren und benennen, und jedes Sahto besitzt viele Aspekte. Jedem dieser Aspekte geben wir in der Königssprache den Namen eines Heiligen. In Hansa nennen sie sie Ansi, oder Götter, und in Vitellio Lords. Die Herilanzer nennen die Aspekte Angilu. Das macht nichts, denn die Kirche erlaubt jedem Land, die Aspekte so zu nennen, wie es dort Brauch ist.« »Dann sind also der heilige Michael und der heilige Tarn derselbe Heilige?« »Nein. Sie sind beide Aspekte desselben Sahto, aber sie sind unterschiedliche Heilige.« Er lachte über Stephens verwirrten Gesichtsausdruck. »Komm her«, sagte er. Dann führte Sacritor Bürden Stephen zu einem kleinen, wackligen Tisch, und aus einer kleinen Holzkassette, die dort stand, holte er ein eigenartiges Stück Kristall hervor. Es war so geschliffen, dass es drei lange Seiten von gleicher Breite und zwei dreieckige Enden hatte. Der Kristall passte mit Leichtigkeit in die Handfläche des Sacritors. »Das ist ein Prisma«, sagte Bürden. »Ein einfaches Stück Glas, hm? Und jetzt schau mal, was passiert, wenn ich es ins Licht halte.« Er 388 hielt das Prisma in einen Sonnenstrahl, der durch ein kleines, unverglastes Fenster hereinfiel und den Tisch beschien. Zuerst bemerkte Stephen nichts Ungewöhnliches - doch dann begriff er. Nicht der Kristall veränderte
sich, sondern der Tisch. Ein kleiner Regenbogen machte sich darauf breit. »Wie kommt das?«, fragte er. »Das weiße Licht enthält in Wirklichkeit alle diese Farben«, erklärte der Priester. »Wenn es durch den Kristall dringt, werden sie getrennt, sodass wir jede einzelne sehen können. Ein Sahto ist wie ein Licht, und die Heiligen sind wie all diese Farben. Verschieden, und doch Teil desselben Dinges. Verstehst du?« »Ich weiß nicht genau«, antwortete Stephen. Doch dann begriff er, oder glaubte es zumindest, und eine plötzliche, schwindelnde Erregung bemächtigte sich seiner. »Normalerweise«, fuhr Sacritor Bürden fort, »können wir die Wahrheit eines jeden Sahto niemals erfahren. Wir kennen nur seine Aspekte, seine verschiedenen Namen und was seine Natur in jeder Gestalt ist. Doch wenn wir Acht geben und die Farben verstehen und sie wieder zusammenfügen, können wir für einen kurzen Moment das weiße Licht erleben - das wahre Sahto. Und indem wir das tun, können wir in gewisser Weise selbst kleine Aspekte der heiligen Kraft werden.« »Wie? Indem man diese Bücher liest?« »Wir können sie hier verstehen und dazu diese Bücher benutzen«, sagte Bürden und tippte sich gegen den weiß gelockten Schädel. »Doch um sie hier zu begreifen« - er deutete auf sein Herz -, »um auch nur das dürftigste ihrer Gewänder anzulegen, müssen wir die Schreine durchschreiten.« »Davon hab ich gehört. Das machen die Priester.« »Ja. So werden wir geheiligt. Daher kennen wir sie.« »Wo kommen die Schreine her?« »Es gibt Orte, wo die Heiligen sich ausgeruht oder gewohnt haben oder wo Teile von ihnen begraben sind. Wir nennen diese Orte Sedoi - Sedos in der Einzahl. Meist sind es kleine Hügel. Die Kirche ist 389 mit dem Wissen gesegnet, diese Sedoi zu finden und zu erkennen, welcher Heilige es ist, dessen Macht dort verweilt. Dann errichten wir Schreine, um sie zu bezeichnen, damit diejenigen, die dorthin kommen, wissen, zu wem sie beten und wem sie opfern.« »Und wenn ich also zu einem solchen Schrein gehe, bin ich dann gesegnet?« »Ein wenig, wenn der Heilige es will. Aber den Pfad der Schreine zu beschreiten ist etwas anderes. Um das zu tun, muss man viele Schreine durchschreiten, von denen jeder von einem anderen Aspekt des Sahto hinterlassen wurde. Man muss sie in einer bestimmten Reihenfolge durchschreiten und dabei unterwegs bestimmte Waschungen vornehmen.« »Und die Heiligen - äh, das Sahto - verleihen einem dann ihre Macht?« »Sie schenken uns Gaben, ja, um sie in ihren Diensten zu nutzen -wenn wir dessen würdig sind.« »Könnte ich - könnte ich den Pfad der Schreine beschreiten? Könnte ich aus diesen Büchern lernen?« »Wenn du willst«, antwortete Sacritor Bürden leise. »Du hast die Fähigkeit dazu. Wenn du studierst und dich der Kirche hingibst, glaube ich, dass du es gut machen und viel Gutes in diese Welt bringen könntest.« »Ich weiß nicht«, erwiderte Stephen. »Wie gesagt, dein Vater ist dafür.« »Ich weiß.« Und trotzdem hörte es sich zum ersten Mal gar nicht so schlimm an. Die Geheimnisse der Welt um ihn herum zupften an seiner Fantasie. Das Prisma und sein Muster aus farbigem Licht schlugen ihn in ihren Bann. Kurz, Sacritor Bürden hatte Stephen ein unbekanntes Land gezeigt, so fremd und fern wie das berüchtigte Hadam und doch so nahe wie jeder Lichtstrahl. Bürden musste irgendetwas in seinem Gesicht gesehen haben. »Es ist nicht der einfachste Weg«, murmelte er. »Nur wenige beschreiten ihn aus freien Stücken. Aber es kann ein Weg der Freude sein.« 390 Und in diesem Moment hatte Stephen dem alten Mann geglaubt. Es war wirklich eine Erleichterung. Er wusste nicht, ob er sich gegen seinen Vater hätte behaupten können, selbst wenn er es gewollt hätte. Und jetzt hatte ihn das Staunen gepackt, und er erinnerte sich, wie Sacritor Bürden Licht aus der Luft herbeigerufen, Musik aus Steinen hatte erklingen lassen und Fische von den Sandbänken gerufen hatte, wenn der Fang mager war. Kleine Wunder, von der Art, die so alltäglich war, dass niemand auch nur darüber nachdachte. Doch in einer so großen, vielschichtigen Welt musste es größere Wunder geben. Wie viele Schreinpfade gab es ? Waren sie alle entdeckt worden? Vielleicht wäre es doch nicht so schlimm, Priester zu werden. Er senkte den Kopf. »Ehrwürdiger, ich würde es gern versuchen. Ich würde gern lernen.« Der Sacritor nickte feierlich. »Es ist eine Freude für einen alten Mann, das zu hören«, sagte er. »Eine Freude. Möchtest du gleich anfangen?« »Jetzt gleich?« »Ja. Wir beginnen mit der ersten Gabe des heiligen Decmanus. Mit dem Alphabet.« Stephen kehrte aus seinen Erinnerungen zurück und hörte einen Häher, der hoch oben im Kirchenschiff laut zeternd einen anderen Vogel verscheuchte. Er brachte ein beklommenes Lächeln zustande. Sacritor Bürden war ein Mann des Glaubens und der Prinzipien gewesen, ein guter Mann. Auch Fratrex Pell schien ein guter Mann zu sein, wenn auch manchmal ein wenig streng. Der Fratrex wusste genau, was Stephen getan hatte, und er hielt ihn
immer noch für würdig, den Pfad der Schreine zu beschreiten. Wenn ihn die letzten paar Monate irgendeine Lektion gelehrt hatten, dann die, dass man sich nur Ärger einhandelte, wenn man seine eigenen Gedanken zu ernst nahm. Was war er denn schon? Nur ein Novize. Nein - er hatte Sacritor Bürden vertraut, und er würde Fratrex Pell vertrauen. Das hörte sich gut an, doch er fragte sich, ob Sacritor Bürden sich 391 hätte vorstellen können, dass in den leuchtenden Farben des Regenbogens ein Streifen absoluter Finsternis lauerte. Dass das Staunen in seiner Umarmung ein gerüttelt Maß an Grauen bereithielt. Fratrex Pell wusste Bescheid. Und wenn das nicht genug war, so konnte jenes erhabene Wesen, das manche den heiligen Decmanus nannten, beurteilen, ob Stephen seiner noch immer würdig war. Er zog sich an der Türklinke hoch, versuchte noch einmal, seine Gedanken zu ordnen, und öffnete die hölzerne Tür. Im Türrahmen zögerte er kurz, die Hand auf dem verwitterten Stein, dann trat er mit einem gemurmelten Gebet ein und schloss die Tür hinter sich. Dunkelheit verschluckte ihn. Er zog seine Zunderbüchse und eine einzelne weiße Kerze hervor, schlug Feuer in den Zunder, hielt ihn an den Docht und sah zu, wie die Flamme ihre Leiter aus Rauch emporkletterte. Der Schrein war so klein, dass er fast beide Wände berühren konnte, wenn er die Arme weit ausbreitete. Außerdem war er karg, die Einrichtung bestand lediglich aus einer steinernen Kniebank und dem Altar. Hinter dem Altar war an der Wand ein kleines Relief des heiligen Decmanus angebracht, eine wettergegerbte Gestalt, die über einer offenen Schriftrolle kauerte, mit einer Hand eine Laterne hochhielt und mit der anderen einen Federkiel umfasste. »Decmanus ezum aittis sabto faamo tangineis. Vos Dadom«, sagte Stephen. Decmanus, Aspekt des Sahto des Beherrschenden Wissens. Ich ergebe mich dir. »Du verkörperst die Macht des geschriebenen Wortes«, fuhr Stephen in der liturgischen Sprache fort. »Du schenktest uns Papier und Tinte und die Buchstaben, die wir damit hervorbringen. Dein ist das Geheimnis und die Macht und die Offenbarung des aufgezeichneten Wissens. Du versetzest uns aus der Vergangenheit in die Zukunft, mit den Erinnerungen unserer Väter. Du hältst unseren Glauben rein. Ich ergebe mich dir.« In dem unsteten Licht schien die Figur des Heiligen Stephen auszulachen, ein sanftes, aber spöttisches Lachen. »Ich ergebe mich«, wiederholte Stephen, diesmal sehr schwach. 392 Als die Kerze halb heruntergebrannt und seine Wache zu Ende war, hatte sich nichts geändert; er fühlte sich nicht anders als vorher. Mit einem Seufzer streckte er die Hand aus, um die Kerzenflamme mit Daumen und Zeigefinger auszudrücken. Die Flamme erlosch zischend, und einen Herzschlag lang begriff Stephen, dass etwas nicht stimmte, konnte jedoch nicht sagen, was. Dann wurde ihm klar, dass er die Flamme überhaupt nicht gespürt hatte. Oder den Docht. Er rieb die Finger aneinander und fühlte wieder nichts. Vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen war seine Hand die Hand eines Gespenstes. Er kniff sie, bis das Blut rot hervorquoll, doch ebenso gut hätte er ein Stück Braten kneifen können. Stephens Erstaunen verwandelte sich in Entsetzen und dann in nackte Panik. Er stürzte aus dem Schrein, hinaus in die leere Kirche, wo er auf die Knie fiel und trockene Schluchzer aus einem leeren Bauch hervorwürgte, der versuchte, noch leerer zu werden. Das tote Ding, das seine Hand gewesen war, widerte ihn an, und er ertappte sich dabei, wie er in einem Rucksack nach der kleinen Holzaxt wühlte. Als er sie gefunden hatte, war er in der Lage, sich zu fragen, was er damit vorhatte. Mit wildem Blick saß er da und schaute von der Axt zu seiner gefühllosen Hand. Er kam sich vor wie ein Biber mit einer Pfote in der Falle, der sich anschickte, sie abzunagen. »O ihr Heiligen, was habe ich getan?«, stöhnte er. Doch er wusste es; er hatte sich in ihre Hände begeben, und sie hatten ihn für mangelhaft befunden. Zitternd steckte er die Axt weg. Er konnte die Hand nicht abhacken, jetzt, wo der Augenblick des Wahnsinns vorüberging. Stattdessen lag er auf dem Steinboden, noch immer schlotternd und gelegentlich würgend, starrte zu dem Licht hinauf, das durch die bunten Fensterscheiben fiel, und weinte, bis er fast wieder bei Sinnen war. Dann erhob er sich zittrig, holte seine Kerze und sprach ein weiteres Gebet an den heiligen Decmanus. Schließlich ging er, ohne zurückzublicken, durch eine andere Tür - eine kleine, die ins Freie führte, dorthin, wo der Pfad begann. 393 Trostlos schaute er auf den Pfad hinab. Von hier aus führte er nur in eine Richtung. Er könnte jetzt aufhören, sein Versagen eingestehen und es dabei bewenden lassen. Sein Vater würde ihn verachten, doch das wäre wohl kaum etwas Neues. Wenn er jetzt aufhörte, könnte er allem entkommen - Bruder Desmond, den schrecklichen Texten, Fratrex Pells Forderungen, diesem Fluch der Heiligen. Er könnte frei sein. Doch auf seine Panik folgte eine harte Entschlossenheit. Er würde dies durchstehen. Wenn die Heiligen ihn hassten, war sein Leben sowieso zu Ende. Vielleicht würden sie ihm die Absolution anbieten, wenn sie ihn genug bestraft hatten. Wenn nicht - nun, das würde er herausfinden. Doch er würde nicht umkehren. Der Pfad führte nur in eine Richtung.
Er erreichte den Schrein des heiligen Ciesel ein paar Glockenschläge nach dem Mittag, unter einem bereits von Wolken getrübten Himmel in einem Eschenwäldchen. Das passte, denn die Geschichte des heiligen Ciesel war düster. Einst war er ein Mensch gewesen, der Fratrex eines Klosters auf den damals noch heidnischen Lierischen Inseln. Ein Barbarenkönig hatte Ciesels Kloster und all seine Scrifti, von denen viele unersetzlich waren, verbrannt und Ciesel dann in ein Verlies geworfen. Dort, in der Finsternis, hatte der Mönch die vernichteten Scrifti erneut niedergeschrieben - hatte sie sich mit seinen Fingernägeln, die er an den Steinen seiner Zelle gewetzt hatte, ins Fleisch geritzt und den öligen Schmutz vom Boden seines Kerkers benutzt, um die Narben zu schwärzen. Als er starb, warfen seine Häscher seine Leiche in die See, doch der heilige Lier, der Herr des Meeres, trug den Leichnam an die Küste von Hornladh, in die Nähe eines Klosters von Ciesels Orden, wo die Mönche ihn fanden. Ciesels Haut war erhalten und im Laufe der Zeitalter kopiert worden. Angeblich war die Haut im Caillo Vallaimo, dem Muttertempel der Kirche in z'Irbina, in Salz gelegt und erhalten worden. Stephen brannte seine Kerze ab und nahm seine Reinigungen vor. Er verließ den Schrein ohne Gefühl in der Haut auf seiner Brust. 394 Zwei Glockenschläge später raubte die heilige Mefitis, Schutzherrin und Erfinderin der Kunst, an die Toten zu schreiben, ihm das Gefühl in seinem rechten Bein. Ein wenig später schlug er sein Lager auf, und als er ein Feuer entfachte, um wilde Tiere fern zu halten, entdeckte er überrascht Blut an seiner Hose. Er hatte sein Bein mit der Axt gestreift und es nicht bemerkt. Die Wunde war klein, doch er hätte sich den Fuß abhacken können, und es wäre nicht anders gewesen. Er schlief nicht, doch er träumte trotzdem von Entsetzen. Es lauerte außerhalb des Lichtkreises seines Feuers; es war in seinen Körper eingedrungen. Wenn er den Pfad der Schreine vollendete, würde er mit Sicherheit sterben. Die ersten drei Schreine waren Aspekte des Wissens in Verbindung mit dem geschriebenen Wort gewesen; die nächsten drei waren wilder, wie man an den gröberen, primitiveren Reliefs sah. Die heilige Rosmerta, Schutzherrin des Gedächtnisses und der Dichtung, wurde fast brutal simpel dargestellt; sie war kaum als menschlich zu erkennen. Sie nahm ihm den Gebrauch seiner Zunge. Der heilige Eugmie forderte sein Gehör, und von da an stolperte Stephen in unheimlicher Stille durch den Wald. Der heilige Woth raubte ihm die Sehkraft in seinem linken Auge. Als er am dritten Tag erwachte, fragte er sich, ob er bereits tot sei. Er erinnerte sich daran, wie sein Großvater gesagt hatte, der Tod bereite die Alten auf sich vor, indem er sie nach und nach ihrer Sinne beraubte. Wie alt war Stephen jetzt nach diesem Maßstab, hundert? Er war verkrüppelt, taub und halb blind. Der nächste Tag schien besser zu sein; die Schreine waren Coem, Huyan und Veiza geweiht - Aspekten der Weisheit, des Denkens und des Schlussfolgerns. Soweit er es beurteilen konnte, verlangten sie ihm nichts ab, und inzwischen gewöhnte er sich daran, auf einem gefühllosen Bein zu laufen. Auch an die Stille gewöhnte er sich. Ohne Vogelgezwitscher, knarrende Äste oder das Geräusch seiner eigenen Schritte wurde der Wald zu einem Traum, so unwirklich, dass Stephen sich nicht länger vorstellen konnte, dass Gefahren darin lauern könnten. Er war wie seine 395 Gedächtnisporträts, ein Bild oder eine Reihe von Bildern, mit denen er nur entfernt verbunden war, die sehr wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hatten. Doch als er sich an diesem Abend anschickte, ein Feuer anzuzünden, wusste er nicht mehr, wie er das anstellen sollte. Er durchwühlte seine Habseligkeiten und wusste genau, dass er über die nötigen Werkzeuge verfügte. Doch er wusste nicht, welche es waren. Er versuchte, sich den Vorgang vorzustellen, und auch das gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht einmal mehr an das Wort Feuer erinnern, begriff er mit aufwallendem Grauen. Oder an den Namen seiner Mutter oder den seines Vaters. Oder an seinen eigenen. An Angst jedoch konnte er sich sehr gut erinnern, wenn auch nicht an die Bezeichnung dafür, und er verbrachte die Nacht eng zusammengekauert und betete darum, dass die Sonne aufgehen, dass alles ein Ende nehmen möge. Die Morgendämmerung lugte über die Baumwipfel, und er überlegte, wer er war. Die einzige Antwort, die er fand, war: Ich schreite auf diesem Pfad. Er machte Halt in den verschiedenen Gebäuden, auf die er stieß; er wusste nicht mehr, warum er das tat, und es war ihm auch gleichgültig. Als er das letzte erreichte - irgendwie wusste er, dass es das letzte war und dass es fast vollbracht war -, war er eine Wolke mit einem einzigen Auge, die durch ein Gewirr unbekannter Farben und Formen dahintrieb, viele einander ähnlich, alle verschieden. Er strich vorüber wie weniger als der Wind, und das einzige Gefühl, das geblieben war, war ein rhythmisches Pochen, das der Stephen, der er vor ein paar Tagen gewesen war, als seinen Herzschlag wieder erkannt hätte.. Als er den letzten Schrein betrat, hörte auch dieses Pochen auf. 396 29. Kapitel Duell in der Dunkelheit Bin feuriges Auge öffnete sich zu Cazios Rechter blinzelnd in der Finsternis, und er fand sich plötzlich im Lampenlicht wieder. Eine weitere Laterne wurde neben seiner rechten Hand aufgeklappt. Beides waren
aenahnische Lampen, die ihr Licht ausschließlich in eine Richtung warfen; dafür sorgte ein Spiegel aus poliertem Messing, der in eine Blechhülle eingelassen war. Jetzt konnten Cazios Feinde ihn recht gut sehen, er jedoch konnte nur verschwommene Schemen und ein gelegentliches Glänzen von Stahl erkennen. Langsam drehte er sich, lockerte seine Schultern und hielt Caspator fast träge in den Fingern. Er hoffte inständig, dass die Angreifer nur Degen hatten. Bogen waren innerhalb der Stadtmauern für alle außer für die Wache verboten, doch Cazios Erfahrung nach scherten Mörder sich nicht darum, ob sie das Gesetz brachen oder nicht. Einer der Männer wurde kühn, und eine lange Degenspitze zuckte ins Licht, ein Hieb, der auf Cazios Hand zielte. Cazio lachte und trat leichtfüßig einen Schritt zur Seite. Er ließ die Spitze seiner Waffe sinken, bis sie den Boden berührte. »Kommt schon, ihr tapferen Burschen«, sagte er. »Ihr seid in der Überzahl und habt mich geblendet, und trotzdem fangt ihr mit so einem zaghaften Herumstochern an?« »Halt den Mund, Junge, vielleicht schlägt dein Herz dann noch, wenn wir mit dir fertig sind«, warnte jemand. Die Stimme kam ihm vertraut vor. »Ah!«, erwiderte Cazio. »Es spricht und klingt wie ein Mann, doch es zeigt nichts von der dazugehörigen Ausrüstung. Habt Ihr Euch einen Beutel mit Murmeln zwischen die Beine gebunden, damit bei Tageslicht niemand merkt, wie furchtsam Ihr seid, wenn der Mond scheint?« 397 »Ich habe dich gewarnt.« Eine Klinge fuhr ins Licht, hob sich für einen von oben geführten Hieb. Es war kein Rapier, sondern ein schwereres Schwert, geeignet, Arme und Köpfe von Schultern zu trennen. In dem Augenblick, als der Mann zum Schlag ausholte, sah Cazio seinen Unterarm, der sich gegen das Lampenlicht abhob. Er traf ihn mit einem geraden Stoß; seine Klinge drang durchs Fleisch bis ins Ellenbogengelenk. Der Mann führte den Hieb nicht zu Ende. Die Waffe fiel klirrend zu Boden, während ihr Besitzer aufkreischte. »Ihr singt wirklich Sopran«, sagte Cazio. »Genau die Stimme, die ich mir bei Euch vorgestellt habe.« Im nächsten Augenblick musste Cazio drei Klingen gleichzeitig abwehren - zwei leichte Rapiere und ein weiteres Metzgerschwert -, und jetzt wusste er, wo seine Gegner waren, zumindest ungefähr. Als sie angriffen, gerieten sie in den Lichtschein. Er parierte, duckte sich, machte aus der geduckten Stellung heraus einen Ausfall und hätte beinahe ein überraschtes Gesicht getroffen. Dann fuhr er sehr schnell herum und machte einen Satz auf eine der Laternen zu. Ein rascher Doppelstoß, und seine Degenspitze traf genau die Flamme und durchbohrte sie. Der verblüffte Laternenträger ließ los, als Öl aufspritzte und die Lampe in eine lodernde Fackel verwandelte. Wieder wirbelte Cazio herum. Brennendes Öl lief an seiner Klinge entlang. Er hob den Stiefel und trat nach dem flammenden Klumpen, der an der Spitze hing, ließ ihn auf seine Gegner zufliegen. Sie erschienen in einem plötzlichen Aufflackern des Lichts, und Cazio sprang mit einem Schrei auf sie zu. Mit einem Stoß traf er einen von ihnen am Handgelenk, sodass ein weiterer Mann keine Waffe mehr zu führen vermochte, dann ging er auf einen anderen los. Sein Rapier stand noch immer in Flammen. Er erkannte das Gesicht des Mannes -eine der Hauswachen der Familie z'Irbono, ein Bursche namens Laro irgendwas. Laro sah aus, wie er aussehen mochte, wenn Lord Ontro gekommen wäre, um ihn zu holen, was Cazio erhebliches Vergnügen bereitete. 398 Dann traf ihn etwas hart am Hinterkopf, und bleiche Lilien erblühten vor seinen Augen. Er schlug mit dem Degen zu, doch der Hieb wurde wiederholt, diesmal gegen sein Knie, und er fiel stöhnend zu Boden. Ein Stiefel traf ihn unterm Kinn, und er biss sich auf die Zunge. Und dann lag er plötzlich auf der Straße, und der Angriff war vorüber. Er versuchte sich auf den Ellenbogen hochzustemmen, konnte jedoch die Nadel der Kraft in dem Heuhaufen der Schmerzen nicht finden. »Das hier geht dich nichts an, Säufer«, hörte er Laro sagen. »Verschwinde.« Endlich gelang es Cazio, den Kopf zu heben. Die brennende Laterne erhellte jetzt die ganze Gasse. Z'Acatto stand am Rande des Lichts, einen Weinkrug in der Hand. »Ihr habt getan, wassir vorhattet«, lallte z'Acatto. »Jetzt lasst ihn in Ruhe.« »Wir sind fertig, wenn wir es sagen.« Hinter Laro, der die andere Lampe hielt, stand daz'Afinio, der Mann, mit dem sich Cazio am Mittag duelliert hatte. Einer der Männer, der seine Hand umklammert hielt, war Tefio, daz'Afinios Lakai. »Dieser Mann hat mich überrumpelt und ausgeraubt«, verkündete daz'Afinio. »Ich zeige mich lediglich erkenntlich.« »Ich werd's ihm zeigen, Herr«, sagte Laro und hob den Fuß, um auf Cazios ausgestreckte Hand zu treten. »Danach spielt er keine Degenspiele mehr.« Doch Laro trat nicht zu. Stattdessen kippte er hintenüber, als z'Acattos Weinkrug in seinem Gesicht landete und ihm die Nase brach. Und irgendwie hatte z'Acatto im selben Moment blankgezogen. Schwankend stolperte er vorwärts. Einer der anderen Männer machte den Fehler, die Klinge mit ihm zu kreuzen. Cazio sah zu, wie der Alte die Waffe des anderen fast träge im Perto blockierte und ihm die Schulter durchbohrte. Taumelnd kam Cazio auf die Beine, just als daz'Afinio seinen De-
399 gen zog und zum Angriff ansetzte - nicht gegen z'Acatto, sondern gegen Cazio. Dieser schaffte es gerade noch, den Arm auszustrecken, und Caspator versank tief in daz'Afinios Bauch. Die Augen des Edelmannes wurden groß. »Ich -«, würgte Cazio hervor. »Ich wollte nicht -« Daz'Afinio fiel hintenüber, löste sich von Caspator und presste beide Hände gegen den Leib. »Der Nächste, der vortritt, stirbt«, sagte z'Acatto. Er klang nicht betrunken. Nur einer der Männer war jetzt noch unversehrt, und sie wichen alle zurück, bis auf daz'Afinio, der zusammengekrümmt am Boden lag. »Ihr seid beide Narren«, sagte ein anderer. Cazio erkannte ihn; er gehörte zur z'Irbono-Wache - Mareo wie-auchimmer. »Habt Ihr eine Ahnung, wen Ihr da gerade durchbohrt habt?« »Einen Strolch und einen Mörder«, erwiderte z'Acatto. »Wenn ihr ihn zum Feldscher beim Zeichen der Nadel schafft, bleibt er vielleicht am Leben. Das ist mehr, als er verdient. Mehr, als irgendeiner von euch verdient. Jetzt verschwindet.« »Das wird Folgen haben«, sagte Mareo. »Ihr hättet einfach Eure Prügel einstecken sollen, Cazio. Jetzt werden sie Euch auf dem Platz hängen.« »Beeilt euch«, drängte z'Acatto. »Seht ihr, er spuckt jetzt Blut, das ist nie ein gutes Zeichen.« Ohne ein weiteres Wort hoben die Männer daz'Afinio auf und trugen ihn davon. »Komm«, sagte z'Acatto. »Schaffen wir dich ins Haus zurück und untersuchen dich. Bist du getroffen worden?« »Nein. Nur verprügelt.« »Hast du dich heute mit diesem Mann geschlagen? Mit daz'Afinio?« »Du kennst ihn?« »Ich kenne ihn. Lord Diuvo stehe dir bei, wenn dieser Mann stirbt.« »Ich wollte ihn nicht -« 400 »Nein, natürlich nicht. Für dich ist das alles nur ein Spiel. Ein Stich in den Schenkel, ein Schnitt übers Handgelenk, und dann dein Geld einstreichen. Komm.« Hinkend tat Cazio, wie der alte Fechtmeister ihn geheißen hatte. »Du hast Glück«, sagte z'Acatto. »Du hast dir nur ein paar blaue Flecken eingehandelt.« Cazio zuckte unter der Berührung des alten Mannes zusammen. »Ja, genau wie ich gesagt habe.« Er griff nach seinem Hemd. »Wie kommt es, dass du mir zufällig gefolgt bist?« »Bin ich gar nicht. Ich war auf der Suche nach ein bisschen Wein und habe dich brüllen gehört. Dein Glück.« »Mein Glück«, wiederholte Cazio. »Woher kennst du daz'Afinio?« »Jeder mit ein wenig Verstand würde ihn kennen. Er ist der Schwager von Velo z'Irbono.« »Was? Dieser Flegel hat Setera geheiratet?« »Dieser Flegel besitzt tausend Versos Weingärten im Tero Vaillamo, drei Güter, und sein Bruder ist der Ädil von Ceresa. Von allen Leuten, mit denen du hättest Streit anfangen können -« »Es war ein Duell. Und er hat angefangen.« »Nachdem du ihn hinlänglich beleidigt hast, nehme ich an.« »An Beleidigungen hat er es auch nicht fehlen lassen.« »Nun, wie auch immer. Jetzt hast du ihn beleidigt, indem du ihm ein Loch von vorn bis hinten verpasst hast.« »Wird er sterben?«, fragte Cazio. »Darüber machst du dir jetzt Gedanken?« Der Fechtmeister sah sich suchend um. »Wo ist mein Wein?« »Damit hast du Laro Vintallio das Gesicht zerschlagen.« »Stimmt. Verdammt.« »Wird daz'Afinio sterben?«, wiederholte Cazio. »Möglich!«, blaffte z'Acatto. »Was für eine dumme Frage! So eine Wunde ist nicht immer tödlich, aber wer weiß das schon mit Sicherheit?« »Ich bin nicht schuld daran«, erklärte Cazio. »Sie sind im Dunkeln 401 auf mich losgegangen wie Diebe. Sie haben sich schuldig gemacht, nicht ich. Das Gericht wird auf meiner Seite sein.« »Z'Irbono ist das Gericht, du kleiner Idiot!« »Oh. Richtig.« »Nein, wir müssen fort.« »Ich fliehe nicht wie ein Feigling!« »Du kannst die Henkersschlinge nicht mit Dessrata besiegen, Junge. Oder die Bogen der Stadtwache.« »Nein!« »Nur für einige Zeit. Irgendwohin, wo wir hören, was es Neues gibt. Wenn daz'Afinio überlebt, wird sich der Aufruhr legen.« »Und wenn nicht?« Z'Acatto zuckte mit den Schultern. »Es ist wie beim Fechten -nimm jede Attacke so, wie sie kommt.«
Cazio hob anklagend den Finger gegen den alten Mann. »Du hast mich gelehrt vorauszuschauen, zu erfassen, wie die nächsten fünf Züge meines Gegners aussehen werden.« »Ja, gewiss«, entgegnete z'Acatto. »Aber wenn du dich auf deine Vorausschau verlässt, könntest du sterben, falls du seine Absichten falsch einschätzt. Manchmal ist dein Gegner nicht stark genug oder geschickt genug, um überhaupt Absichten zu haben, und wo stehst du dann? Ich hatte einen Freund in der Akademie von Mestro Acameno; er hatte seit seiner Kindheit gelernt, vierzehn Jahre lang. Nicht einmal der Mestro konnte ihn im Wettkampf schlagen. Er ist von einem blutigen Amateur getötet worden. Wieso? Weil dieser blutige Amateur nicht wusste, was er tat. Er hat nicht so reagiert, wie mein Freund es angenommen hatte. Und so ist mein Freund gestorben.« Cazio seufzte. »Ich kann das Haus nicht verlassen. Was ist, wenn sie es als Pfand dafür einfordern, dass ich zurückkomme?« »Das tun sie bestimmt. Aber wir können dafür sorgen, dass es jemand kauft, dem wir vertrauen.« »Wer sollte das denn sein?«, brummte Cazio. »Ich traue nur dir, und auch dir nicht voll und ganz.« »Denk nach, Junge! Orchaevia! Die Gräfin Orchaevia war deiner 402 Familie wohlgesonnen und dir ganz besonders. Sie wird uns aufnehmen. Niemand wird auf die Idee kommen, so weit draußen auf dem Lande nach uns zu suchen. Und die Gräfin kann dafür sorgen, dass dein Haus in die richtigen Hände fällt.« »Die Gräfin«, sagte Cazio nachdenklich. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich ein Knabe war. Würde sie uns wirklich aufnehmen?« »Sie schuldet deinem Vater viele Gefälligkeiten, und die Gräfin ist kein Mensch, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt.« »Trotzdem«, knurrte Cazio. In diesem Moment donnerte eine Faust gegen das Tor. »Cazio Pachiomadio da Chiovattio!«, rief eine Stimme, die schwach durch das Portal drang. »Du kannst dich nicht mit einem Strick duellieren«, sagte der Alte zum zweiten Mal. »Das ist wahr. Wenn ich sterbe, sterbe ich durch das Schwert«, schwor Cazio. »Aber nicht hier. Du wirst ein paar von ihnen erwischen, und dann werden sie dich mit ihrer schieren Masse überwältigen, genau wie da draußen in der Gasse.« Z'Acatto zuckte mit den Schultern. »Du wirst dich daran erinnern, dass ich das gesagt habe, wenn du spürst, wie sich die Schlinge zuzieht.« »Na schön!«, fuhr Cazio ihn an. »Es gefällt mir zwar nicht, aber ich gebe zu, dass du Recht hast. Wir holen unsere Sachen und schlüpfen durch die Zisterne hinaus.« »Du kennst den Tunnel bei der Zisterne?« »Seit ich acht war«, antwortete Cazio. »Was glaubst du denn, wie ich immer nachts hinausgekommen bin, selbst nachdem du mein Fenster vernagelt hast?« »Verdammt. Ich hätte es wissen müssen. Also, lass uns gehen.« 403 30. Kapitel Der Wohnsitz der Tugenden Eine Frau in einem ockerfarbenen Habit mit schwarzer Haube und Handschuhen begrüßte Anne und Austra förmlich, als sie aus der Kutsche stiegen. Ihre grauen Augen, die über einer scharf geschnittenen, hoch erhobenen Nase hervorblickten, musterten die beiden Mädchen eingehend. Sie war vielleicht dreißig und hatte einen schmallippigen Mund, dem ein Ausdruck des Missfallens offenkundig nicht fremd war. Anne straffte die Schultern, während die Ritter hinter ihr begannen, ihre Habseligkeiten vom Dach der Kutsche zu holen. »Ich bin Prinzessin Anne aus dem Hause Dare, Tochter des Herrschers von Crothenien«, teilte sie der Frau mit. »Dies ist meine Zofe Austra Laesdauter. Mit wem habe ich die Ehre?« Die Lippen der Nonne zuckten, als fände sie das komisch. »Ich werde Schwester Casita genannt«, sagte sie mit starkem Akzent auf Virgenyanisch. »Willkommen am Wohnsitz der Tugenden.« Schwester Casita verbeugte sich nicht, als sie dies sagte; sie nickte nicht einmal, sodass Anne sich fragte, ob sie wohl schwerhörig war. Konnte Vitellio so anders sein, dass sie hier der Tochter eines Königs keine Ehre erwiesen? An was für einen Ort war sie geraten? Ich habe mich entschieden, dachte sie und kämpfte gegen den schlechten Geschmack in ihrem Mund an. Ich werde das Beste daraus machen. Der Wohnsitz der Tugenden bot keinen unerfreulichen Anblick. Tatsächlich sah er sogar recht exotisch aus, wie er sich so aus der kargen, schlichten Landschaft erhob, als wäre er dort gewachsen. Die Steine, aus denen die Gebäude erbaut worden waren, hatten die gleiche Farbe wie die, die sie aus der Böschung entlang der Straße hatte herausragen sehen, ein gelbliches Rot. Der Konvent stand auf einem Hügelkamm, er war länger, als er breit war, und von einer Zinnen404 mauer umgeben, die ein Gebiet von der Größe eines kleinen Dorfes umschloss. Viereckige Türme mit steilen Giebeldächern aus rostroten Ziegeln ragten in unregelmäßigen Abständen und in ungleichen Höhen rund um die
Mauer auf, und durch den Torbogen hindurch konnte Anne die großen, aber seltsam niedrigen Häuser jenseits des mit Steinplatten gepflasterten Hofes erkennen. Das einzige hohe Gebäude innerhalb der Mauern war ein Rippengewölbe, das sie für das Hauptschiff der Kapelle hielt. Weinranken und Blauregen krochen an Mauern und Türmen hinauf, und Olivenbäume wanden sich zwischen geborstenen Pflastersteinen hervor. Sie ließen ihre Umgebung unordentlich und makellos zugleich wirken. Der einzige Missklang wurde durch zehn Gestalten mit Karren und Maultieren erzeugt, die vor dem Tor zu lagern schienen. Sie waren von Kopf bis Fuß mit bunt geflickten Leinentüchern und Gazeschleiern verhüllt und saßen oder hockten unter einem behelfsmäßigen Sonnendach aus leichtem Baumwollstoff. »Sefry«, flüsterte Austra. »Was war das?«, fragte Schwester Casita scharf. »Mit Verlaub, Schwester«, sagte Austra, »ich habe nur das Sefry-Lager bemerkt.« Sie machte einen kleinen Knicks. »Sieh dich vor«, mahnte die Schwester. »Wenn du die Stimme senkst, wird man annehmen, dass du Böses im Schilde führst.« »Danke, Schwester«, erwiderte Austra, lauter diesmal. Anne räusperte sich gereizt. »Wohin soll ich meine Männer unser Gepäck bringen lassen?« »Männer haben selbstverständlich keinen Zutritt zum Wohnsitz der Tugenden«, erwiderte Schwester Casita. »Was du mitnehmen willst, wirst du selbst tragen.« »Was?« »Such das aus, was du brauchst und auf einmal tragen kannst. Der Rest bleibt draußen vor den Toren.« »Aber die Sefry -« »Werden es sich nehmen, ja. Deshalb sind sie hier.« 405 »Aber das ist doch verrückt«, begehrte Anne auf. »Diese Sachen gehören mir.« Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Dann trag sie.« »Das ist doch -« »Anne Dare«, sagte die Schwester. »Du bist sehr weit weg von Crothenien.« »Crothenien reist mit uns«, verkündete Anne stolz und deutete mit einem Kopfnicken auf Hauptmann Marl und den Rest ihrer Eskorte. »Sie werden nicht einschreiten«, versicherte ihr Schwester Casita. Anne drehte sich um und funkelte Hauptmann Marl an. »Ihr lasst zu, dass sie mich so behandelt?« »Meine Befehle hindern mich daran, dem Wunsch der Schwestern zuwiderzuhandeln«, antwortete Hauptmann Marl. »Ich sollte Euch heil und unversehrt herbringen und Euch der Obhut des Konvents der heiligen Cer übergeben, auch als der Wohnsitz der Tugenden bekannt. Das habe ich getan.« Anne wandte den Blick der Ordensschwester zu, dann schaute sie wieder hinunter auf ihr Gepäck. Es waren zwei Truhen, beide groß und unhandlich. »Nun gut«, sagte sie schließlich. »Hindern Euch Eure Befehle daran, mir ein Pferd zu geben, Hauptmann Marl?« »So ist es, Prinzessin.« »Und ein Seil?« Er zögerte. »Ich sehe keinen Grund, Euch kein Seil auszuhändigen«, erklärte er schließlich. »Dann gebt mir eins.« Anne ächzte, stemmte Beine und Rücken gegen den Boden, und ihre Truhen rutschten widerwillig noch eine Handspanne weit vorwärts. Sie rückte ihre Füße zurecht. »Ich kann dir versichern«, sagte Schwester Casita, »dass das, was immer dort drin ist, die Mühe nicht wert sein wird. Innerhalb dieser Mauern braucht man nicht viel - den Habit, Nahrung, Wasser, Werkzeuge. Und all das wirst du bekommen. Wenn du eitel bist, rette dei406 nen Kamm. Man wird dir nicht gestatten, Schmuck oder feine Kleider zu tragen.« »Es gehört mir«, beharrte Anne mit zusammengebissenen Zähnen. »Lasst mich ihr helfen«, bat Austra zum sechsten Mal. »Es sind nicht deine Sachen, meine Liebe«, erwiderte die Schwester. »Du darfst nur deine eigenen Habseligkeiten tragen.« Müde blickte Anne auf. Nach einer Stunde Plackerei hatte sie es fast bis zum Tor geschafft. Inzwischen hatte sie auch Publikum, ungefähr zwanzig Mädchen verschiedenen Alters, meist jedoch etwa so alt wie sie. Sie trugen schlichte braune Ordensgewänder und Hauben in der gleichen Farbe. Die meisten lachten und verspotteten sie, doch sie beachtete sie nicht. Wieder zog sie und spürte, wie das Seil, das sie sich über die Brust gelegt hatte, in ihr Mieder schnitt. Ihr Fuß versuchte, auf der ersten Steinplatte Halt zu finden; es gelang ihm nicht. Die Sefry schienen das Schauspiel genauso zu genießen wie alle anderen. Einer von ihnen hatte ein Tamburin hervorgeholt, ein anderer eine kleine, fünfseitige Fiedel, auf der er mit einem kleinen Bogen spielte. »Gib's auf, Prinzessin Maultier!«, schrie eins der Mädchen im ländlichen Dialekt Ostvirgenyas. »Die kriegst du nie da hinein, egal was für ein störrischer Esel du bist. Und wozu auch?«
Die Spötterin wurde dafür mit einstimmigem Gelächter belohnt. Anne merkte sie sich, ihren langen, schlanken Hals und die dunklen Augen. Ihr Haar war unter der Haube verborgen. Doch sie antwortete nicht, sondern stemmte sich grimmig in das Seil und zerrte weiter. Sie musste umkehren und jede Truhe einzeln auf die Steinplatten wuchten, doch danach ging es etwas leichter. Unglücklicherweise ging ihr allmählich die Kraft aus. Zuerst bemerkte sie das plötzliche Schweigen nicht, das sich über die anderen Mädchen senkte, und als es ihr auffiel, dachte sie, es läge daran, dass sie gestolpert war. Dann blickte sie auf und sah, was sie wirklich hatte verstummen lassen. Als Erstes sah sie die Augen, scharf, durchdringend und wach, wie die der heiligen Fendve, der Schutzherrin des Schlachtenwahns, auf 407 dem Bild in der Kriegskapelle ihres Vaters. Sie schlugen sie so in ihren Bahn, dass sie ein paar Momente brauchte, um zu begreifen, welche Farbe sie hatten - oder vielmehr, dass sie fast gar keine hatten, so schwarz waren sie. Das Gesicht war harsch, alt und sehr, sehr dunkel, wie Kirschholz. Ihr Habit war schwarz mit einer sturmgrauen Haube, und von dem Moment an, als sie sie erblickte, fürchtete sie sich vor ihr, vor dem Unheil, das hinter diesen Augen und den groben Zügen dieses Gesichts lauerte. »Wer bist du?«, fragte die alte Frau. »Und was glaubst du, was du da tust?« Anne reckte das Kinn vor. Wer auch immer sie sein mochte, sie war nur eine Frau. Schlimmer als ihre Mutter oder Erren konnte sie auch nicht sein. »Ich bin Anne aus dem Hause Dare, Prinzessin von Crothenien. Man hat mir gesagt, ich kann nur die Sachen behalten, die ich selbst befördern kann, also befördere ich sie. Und darf ich nach Eurem Namen fragen, Schwester?« Ein einstimmiges Aufkeuchen war aus den Reihen der versammelten Frauen zu vernehmen, und selbst Casita zog eine Braue hoch. Die alte Frau blinzelte, doch ihre Miene veränderte sich nicht. »Mein Name wird nicht laut ausgesprochen, ebenso wenig wie der irgendeiner anderen Schwester hier. Aber du darfst mich Schwester Secula nennen. Ich bin die Mestra dieses Konvents.« »Schön«, sagte Anne und versuchte, tapfer zu bleiben, »wo soll ich meine Sachen hinbringen?« Schwester Secula sah sie einen weiteren Moment lang ungerührt an, dann hob sie den Finger. Zuerst dachte Anne, sie zeige auf den Himmel. »Das oberste Zimmer zur Linken«, sagte sie leise. Da wurde Anne klar, dass sie auf den höchsten der Türme in der Mauer deutete. Die Mitternachtsstunde fand Anne zusammengesunken am Fuß der schmalen Wendeltreppe, die in den Turm hinaufführte. Schwester 408 Casita war von einer anderen Wächterin abgelöst worden, einer älteren Ordensfrau, die sich als Salaus vorgestellt hatte. Austra war natürlich immer noch da, ansonsten jedoch war der Hof verwaist. »Wieso bestehst du so darauf, Anne?«, flüsterte Austra. »Wenn dir die Flucht gelungen wäre, hättest du das alles doch auch zurückgelassen. Warum ist es dir jetzt so wichtig?« Anne betrachtete ihre Freundin müde. »Weil das meine Entscheidung gewesen wäre, Austra. Alles andere ist für mich entschieden worden. Meine Sachen zu behalten ist die einzige Entscheidung, die ich noch selbst treffen kann.« »Ich war dort oben. Die Treppe schaffst du nie, und sie werden nicht zulassen, dass du von den Truhen weggehst. Lass eine zurück.« »Nein.« »Anne ...« »Was ist, wenn ich dir eine gebe?« »Ich darf dir nicht helfen.« »Nein, ich meine, ich schenke dir eine der Truhen, und alles, was darin ist.« »Ich verstehe«, erwiderte Austra. »Und später gebe ich sie dir dann zurück.« »Nein. Sie wäre dein, Austra. Für immer.« Austra schlug die Hand vor den Mund. »Ich habe noch nie etwas besessen, Anne. Ich glaube, das darf ich gar nicht.« »Unsinn«, sagte Anne. Sie hob die Stimme. »Schwester Salaus, ich schenke meiner Freundin Austra eine meiner Truhen. Ist das erlaubt?« »Wenn es ein echtes Geschenk ist.« »Das ist es«, erwiderte Anne. Sie klopfte auf die kleinere der beiden Kisten. »Nimm die hier. Da ist ein schönes Kleid drin, Strümpfe, ein Spiegel und Kämme -« Austra schnappte nach Luft. »Der Spiegel mit den Opalen?« »Ja, genau der.« »Den kannst du mir doch nicht schenken!«
»Das habe ich doch gerade getan. Also. Du kannst deine Sachen in 409 unser Zimmer hinaufschleppen oder sie für die Sefry zurücklassen. Ich habe mich entschieden. Jetzt entscheide du dich.« Ungefähr eine Stunde vor dem Morgengrauen traten sie über die Schwelle ihres Zimmers und schleiften die Truhen hinter sich her. Schwester Salaus reichte ihnen einen brennenden Kienspan und ein Paar braune Gewänder. »Das Morgenmahl wird beim siebten Glockenschlag aufgetragen«, sagte sie. »Ihr solltet es nicht versäumen.« Sie zögerte, und ihr Stirnrunzeln vertieften sich. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, erklärte sie dann. »Ich weiß nicht, ob es ein guter oder ein schlechter Anfang für euch ist, aber es unterscheidet euch ganz gewiss von den anderen.« Und damit ging sie. Anne und Austra sahen sich einen Augenblick lang an, dann brachen beide in Gelächter aus. »Gewiss unterscheidet es euch von den anderen«, ahmte Austra den schweren vitellianischen Akzent der Schwester nach. »Da ist wohl was dran«, meinte Anne. Sie ließ den Blick durch den Raum wandern. »Beim heiligen Loy, sollen wir hier wirklich wohnen?« Das Zimmer nahm ein Viertel der Grundfläche des Turmes ein; es maß ungefähr fünf Schritt an jeder Seite. Die Decke bestand nur aus Balken, und jenseits davon erstreckte sich das tiefe Dunkel des kegelförmigen Daches. Die Mädchen konnten Tauben gurren hören, und Federn und Vogelmist zierten den Boden und die beiden hölzernen Betten, die die einzige Einrichtung des Raumes darstellten. Es gab auch ein kleines Fenster. »Das ist ja kaum besser als ein Verlies«, bemerkte Austra. »Nun«, seufzte Anne, »wahrscheinlich ist es gut, dass ich eine Prinzessin bin und keine Grefftin.« »So schlimm ist es gar nicht«, erklärte Austra. »Jedenfalls bist du jetzt eine Prinzessin im Turm, wie in der Geschichte von Rafquin.« »Ja, ich fange gleich an, eine Leiter aus Spinnweben zu stricken, damit ich, wenn Roderick kommt -« Austras Gesicht wurde ernst. »Anne!« 410 »Ich mache doch nur Spaß, Täubchen«, beschwichtigte Anne. Trotzdem trat sie zum Fenster und sah hinaus. »Schau«, sagte sie. »Die Sonne geht auf.« Der bleiche Horizont bekam einen goldenen Rand, und schließlich lugte die Sonne selbst hervor, um die Meilen sanft wogender Wiesen zu enthüllen, hier und da mit knorrigen Olivenbäumen oder schlanken Zedern geschmückt. Ein gutes Stück entfernt hüllte sich ein gewundener Fluss in ein grüneres Gewand aus Weiden und Zypressen, und dahinter verschwamm die Szenerie zu blassem Grün und Gelb und wurde schließlich zum Himmel. »Es ist genug«, sagte Anne leise. »Solange ich den Horizont sehen kann, kann ich alles ertragen.« »Das probieren wir gleich mal aus«, erwiderte Austra und hielt Anne eines der Ordensgewänder hin. »Da kommt ja Prinzessin Maultier«, sagte das Mädchen mit dem langen Hals, als Anne und Austra den Speisesaal betraten. Annes Ohren brannten, als die Mädchen, die in Hörweite saßen, lachten und sich Geplapper auf Vitellianisch erhob. »Anscheinend habe ich einen Spitznamen weg«, bemerkte sie. Der Speisesaal war ein luftiger Raum, dessen flaches Dach auf allen Seiten von offenen Bogen getragen wurde. Die Tische waren lang, gewöhnlich und grob gezimmert, und ein paar leere Plätze winkten. Anne suchte sich die leerste Bank aus und setzte sich an ein Ende, gegenüber einer stämmigen, jungen Frau mit kräftigem Unterkiefer und eng zusammenstehenden Augen. Als Austra neben ihr Platz nahm, sah Anne, dass die anderen bereits Schüsseln voll Hafergrütze mit Quark oder Dickmilch gereicht bekommen hatten. Die Mädchen am Tisch warfen ihr aus dem Augenwinkel Blicke zu, doch niemand sprach, bis mehrere unbehagliche Augenblicke verstrichen waren. Dann sagte das stämmige Mädchen, ohne aufzusehen, auf Virgenyanisch: »Ihr müsst euch selbst bedienen. Aus dem Kessel auf dem Herd.« Sie deutete, und Anne erblickte einen Kessel, um den sich zwei der braun gekleideten Mädchen kümmerten. 411 »Ich hole uns etwas, Anne«, sagte Austra rasch. »Das erlauben sie nicht«, wandte das Mädchen ein. »Hat sie denn gar keine Ahnung?«, wunderte sich eines der anderen Mädchen laut. »Du wusstest das auch nicht, als du hergekommen bist, Tursas«, bemerkte das dicke Mädchen. »Ihr solltet euch lieber beeilen. Bald bringen sie das Essen hinaus zu den Ziegen.« »Was ist dies bloß für ein Ort?«, flüsterte Anne. »Mein Vater -« »Deinen Stand vergisst du hier besser«, warnte das Mädchen. »Vergiss ihn, und zwar schnell, sonst lehrt dich Mestra Secula, deine Halsstarrigkeit zu bereuen. Du bist schon töricht genug gewesen. Lass es dir gesagt sein.« »Rehta sollte es wissen«, meinte das andere Mädchen. »Mestra Secula hat sie -« »Sei still, Tursas«, sagte Rehta scharf. Anne erwog, den Rat nicht zu beachten, doch ihr Bauch verlieh ihm das nötige Gewicht. Mit brennenden
Wangen ging sie und holte sich Hafergrütze, füllte sie in eine irdene Schüssel und nahm sich einen Löffel, wobei sie aller Augen auf sich gerichtet fühlte. Austra schloss sich ihr an. Trotz ihrer Beschaffenheit war die Grütze erstaunlich gut. Anne spülte sie mit kaltem Wasser hinunter und sehnte sich nach Brot. Als sie ihre Schüssel halb geleert hatte, warf sie dem Mädchen namens Rehta einen Blick zu. »Danke für den Rat«, sagte sie. »Und was passiert jetzt?«, erkundigte sich Austra. »Was tut ihr den ganzen Tag?« »Ihr werdet zur Mestra gerufen«, erklärte Tursas. »Ihr bekommt eure Namen, dann wird man euch Pflichten und Studien zuweisen.« »Das klingt ja wundervoll«, sagte Anne bissig. Die anderen Mädchen antworteten nicht. Sie wurden von der Mestra in einem kleinen, dunklen Raum ohne Fenster empfangen, der nur von einer einzigen Öllampe erhellt wurde. Die alte Ordensschwester saß hinter einem kleinen Schreibpult 412 und betrachtete die Mädchen sehr lange, ehe sie sprach. Dann schaute sie auf das Buch, das vor ihr lag. »Austra Laesdauter. Fürderhin wirst du in diesem Konvent als Schwester Persondra bekannt sein. Du, Anne Dare, wirst Schwester Ivexa sein.« »Aber das heißt ja -« »In der Sprache der Kirche bezeichnet dieses Wort ein Kuhkalb, und es beschreibt das Betragen, das ich mir von dir wünsche - gehorsam und fügsam.« »Ihr meint dumm.« Die Mestra richtete ihren Furcht einflößenden Blick erneut auf Anne. »Versucht nicht, hier Schwierigkeiten zu machen, Schwester Ivexa«, sagte sie leise. »Eine Ausbildung am Wohnsitz der Tugenden ist ein seltenes Privileg und eine unbezahlbare Gelegenheit, sich zu verbessern. Die Lady Erren hat dich empfohlen, und ich halte viel von ihr. Wenn du mich enttäuschst, bin ich enttäuscht von ihr, und ihr gegenüber Enttäuschung zu empfinden ist betrüblich.« »Ich bemühe mich nach Kräften«, erwiderte Anne steif. »Du tust nichts dergleichen. Du hast deinen Aufenthalt hier mit einem unziemlichen Trotzanfall begonnen. Ich wünsche, dass dies das letzte Mal war. Es kann sein, dass du eines Tages in die Welt zurückkehrst. Wenn du das tust, muss dein Verhalten ein gutes Licht auf die Zeit werfen, die du hier verbracht hast, oder ich und jede andere Schwester dieses Ordens und sogar die Lady der Finsternis selbst werden deine Schande tragen. Wenn ich nach einer Weile nicht sicher bin, dass du uns würdig vertreten wirst, dann, das verspreche ich dir -dann wirst du diesen Ort überhaupt nicht verlassen.« Annes Kopfhaut kribbelte bei diesen Worten, und jähe Panik verschloss ihr die Kehle. Plötzlich fühlte sie sich sehr unsicher und sehr weit weg von zu Hause, während sie darüber nachdachte, auf wie viele verschiedene Arten Mestra Secula dieses Versprechen halten konnte. Zwei waren ihr schon eingefallen, und keine davon erschien ihr sonderlich viel versprechend. 413 31. Kapitel Gaben Sein eigener Atem weckte Stephen und ein Schmerz, der wie Flammen von seiner Lunge bis in Finger und Zehen schoss, Löcher dorthin brannte, wo seine Augen sein sollten, und ihm die Haare vom Kopf sengte. Seine Augen öffneten sich und erblickten ein entsetzliches Licht, das Albtraumfarben in seinen Schädel ergoss und sie dort zu Formen gerinnen ließ, die so grauenvoll und fantastisch waren, dass er schon angesichts ihrer bloßen Existenz aufschrie. Jammernd lag er am Boden und hielt sich die Augen zu, und allmählich ließ der Schmerz nach, bis er begriff, dass es gar kein Schmerz war, sondern die Rückkehr aus dem Nichts zum normalen Empfinden. Nichts. Er war überhaupt nichts gewesen. Er war noch nicht einmal tot gewesen. Er war weniger und weniger gewesen, und dann -gar nichts. Jetzt war er zurück, und während er sich langsam wieder daran gewöhnte zu fühlen, sah er, dass die grauenhaften Formen lediglich die Bäume des Waldes waren - und der blaue Himmel darüber. Das Reiben auf seiner Haut war eine sanfte Brise, die die Farnwedel wiegte. »Mein Name«, sagte er zittrig, »ist Stephen Darige.« Er setzte sich auf und hob die Hände vors Gesicht, spürte die Form der Knochen unter der Haut, die Bartstoppeln an seinem Kinn und begann zu weinen. Er holte tief Atem und schwelgte darin. Lange danach zog er sich an einem nahe stehenden Schössling hoch und kam auf die Beine. Die Rinde war ein Hochgenuss unter seinen wunden Fingern, und er stieß ein bellendes Lachen aus, das in seinen Ohren seltsam klang. Er starrte vor Schmutz, war von oben bis unten mit Schlamm und Blut aus oberflächlichen Schrammen bedeckt. Außerdem roch er, als hätte er seit Wochen nicht mehr gebadet, und es roch wunderbar. Als die Vernunft wieder die Oberhand gewann, versuchte er he414 rauszufinden, wo er sich befand. Er war - wer konnte sagen, vor wie langer Zeit? - auf dem sanft abfallenden
Hügel eines Sedos zusammengebrochen, baumlos, jedoch von Farnkraut bedeckt. Auf seinem Gipfel stand ein kleiner Schrein, und an den Schriftzeichen, die darauf eingraviert waren, erkannte er, dass er dem heiligen Dryth geweiht war, der letzten Inkarnation des Decmanus auf diesem Pfad der Schreine. Was bedeutete, dass er den Pfad vollendet hatte. Die Heiligen hatten ihn nicht vernichtet. Er fand einen Teich, der von einer klaren Quelle gespeist wurde, zog seine übel riechende Kleidung aus und badete unter den überhängenden Ästen einer uralten Trauerweide. Sein Bauch war flach und so hohl wie eine Trommel, doch trotz seines Hungers fühlte er sich unglaublich wohl. Er schrubbte seine Kleider, hängte sie zum Trocknen auf und faulenzte am moosigen Ufer, nahm die Geräusche in sich auf, die ihn umgaben, so froh darüber, am Leben zu sein und fühlen zu können, dass er nichts versäumen wollte. Irgendein Vogel trillerte eine komplizierte Notenfolge, und ein zweiter antwortete ihm mit einem etwas anderen Lied. Libellen in Bronzegold und Grün tanzten über dem Wasser, und Wasserläufer hinterließen kleine Grübchen auf der durchsichtigen Oberfläche einer anderen Welt, wo silberne Elritzen huschten und Krebse auf Beute lauerten. Alles war faszinierend, alles war ein Wunder, und zum ersten Mal seit langer Zeit wusste er wieder, warum er Priester hatte werden wollen: um die Welt in all ihrer Pracht zu kennen. Um ihre Geheimnisse zu einem Teil von sich zu machen, nicht um des Gewinns, sondern um der simplen Freude willen, sie zu kennen. Die Sonne stieg langsam empor, und als seine Kleider einigermaßen trocken waren, zog er sie an und setzte die Füße erneut auf den Pfad, zurück zum Kloster. Er pfiff sich eins und überlegte, wie lange er wohl fort gewesen war. Versuchte zu verstehen, was mit ihm geschehen war. Um seine eigene Stimme zu hören, redete er laut vor sich hin. 415 »Jeder Heilige hat mich eines Sinnes beraubt«, erklärte er dem Wald. »Am Ende haben sie sie zurückgegeben. Aber haben sie etwas damit gemacht? Haben sie sie verändert, so wie ein Grobschmied Gusseisen nimmt und etwas Besseres daraus macht? Nichts fühlt sich mehr so an wie vorher!« Und zudem hatte er das Gefühl, dass nichts je wieder so sein würde wie vorher. Erneut begann er zu pfeifen. Er verstummte und blieb stehen, als seine Melodie mit einer ebensolchen erwidert wurde, und verdutzt erkannte er, dass es das Vogelgezwitscher war, das er vorhin gehört hatte. Jede Note, jede Tonfolge war noch immer in seinem Kopf, klar und zart. Wieder lachte er. Hätte er das früher auch schon gekonnt, oder war es eine Gabe, die ihm durch den Pfad der Schreine zuteil geworden war? Die Gaben eines jeden Pfades waren verschieden, und jeder, der sie beschritt, erhielt andere, daher konnte man nicht wissen, was er gewonnen hatte. Im Augenblick fand er, dass es genug wäre, wenn ihm nur dieses eine geschenkt worden war - die Fähigkeit, Vögel nachzuahmen. Nachts veränderten sich die Lieder, und während er neben seinem Feuer saß, erfreute sich Stephen daran, sie zu erlernen, so wie er die des Tages gelernt hatte. Es schien, als könne er jetzt nichts vergessen. Ohne jede Mühe konnte er sich den Teich, in dem er gebadet hatte, bis in die kleinste Einzelheit ins Gedächtnis rufen. Er konnte die Muster der Nacht fühlen, als hätte er sie immer schon verstanden. Decmanus' Sahto war das des Wissens, des Verstehens in jeglicher Form. Es hatte den Anschein, als sei er tatsächlich ... besser gemacht worden. Am nächsten Tag stellte er seine Fähigkeiten weiter auf die Probe, indem er beim Wandern Balladen rezitierte. Die Gorgoriad, die Fetteringsaga, die Mär von Findomere. Nicht ein einziges Mal kam er bei einer Zeile oder einem Reim ins Straucheln, obgleich er Letztere erst einmal gehört hatte, vor zehn Jahren, und es fast zwei Glockenschläge dauerte, sie aufzusagen. Bei jedem Schrein brachte er Opfer dar und dankte den Heiligen, 416 doch er erklomm ihre Sedoi nicht. Wer konnte sagen, was geschah, wenn man den Pfad der Schreine rückwärts beschritt? In der zweiten Nacht veränderte sich der Vogelgesang. Ein Beben lag darin, ein Widerhall von etwas, das er kannte, als rede der Wald über etwas Finsteres, Schreckliches, dem Stephen einmal begegnet war. Je länger Stephen lauschte, desto überzeugter wurde er, dass es etwas mit ihm zu tun hatte. Diese Gewissheit wuchs, während der Schlaf sich nicht einstellen wollte, doch er versuchte, sie nicht zu beachten. Man erwartete ihn im Kloster. Er hatte zu arbeiten, und der Fratrex wäre bestimmt ungehalten, wenn er herumtrödelte. Schließlich hatte er den Pfad der Schreine so früh beschritten, um seine Arbeit besser verrichten zu können. Doch am Morgen war noch immer jener schreckliche Unterton im erwachenden Wald zu spüren, und wann immer Stephen das Gesicht nach Osten wandte, verspürte er ein Frösteln und eine vage Übelkeit. Die finsteren Geschichten von Tor Scath fielen ihm ein, die Überzeugung des alten Ritters, dass etwas Böses im Lande sein Unwesen trieb. Als er an den Dornenkönig dachte, verspürte er ein Grauen, das ihn fast verbrühte. Beim Schrein des heiligen Ciesel begann das Gefühl zu verblassen, und mit jedem Schritt, der ihn dem Kloster näher brachte, wurde es schwächer. Bald begann er wieder zu pfeifen, sang andere Lieder oder Balladen, die er kannte, doch trotzdem war seine Freude getrübt, hatte einem unbehaglichen Gefühl in seinen Knochen Platz gemacht. Irgendetwas war dort draußen nicht in Ordnung, irgendetwas brauchte ihn, und er hatte sich abgewendet. Schließlich kam er an einen Bach, von dem er wusste, dass er ihn zu Beginn seiner Wanderung überquert hatte.
Er war fast da, würde das Kloster wahrscheinlich bei Sonnenuntergang erreichen. Morgen würde er seine neuen Gaben an den Dingen ausprobieren, die er am meisten liebte, den alten Scriften und Büchern der Kirche. Gewiss war es das, was der heilige Decmanus von ihm wollte, und nicht, dass er einem bösen Traum durch die Wildnis nachjagte. Zaudernd starrte er den Bach eine Zeit lang an, ließ sich dann je417 doch von seinem brandneuen Herzen nach Osten führen. Er verließ den Pfad und machte sich auf in die Wildnis. Der Hunger wütete jetzt in ihm wie ein lebendes Wesen. Den Proviant, den er dabeigehabt hatte, musste er gleich zu Beginn seiner Wanderung verloren haben; ihm war, als habe er mindestens seit drei oder vier Tagen nichts mehr gegessen. Der Wald hatte nicht viel zu bieten, nichts Essbares wuchs unter den gewaltigen Bäumen, und er verstand nichts vom Jagen oder Fallenstellen. Es gelang ihm, ein paar Fische mit einem Stock aufzuspießen, den er mit dem Federmesser angespitzt hatte, und er lernte, dass offene Flächen, freigebrannt durch Blitzschläge vergangener Jahre, wahre Oasen waren. Auf solchen Lichtungen, die nicht von Ästen beschattet wurden, fand er kleine Apfel- und Pflaumenbäumchen, winzige Kirschen und Weintrauben. Indem er diese sammelte, gelang es ihm zu überleben, doch sein Hunger wurde immer größer. Den Rest des Tages wanderte er nach Osten und lagerte auf einer Kuppe, wo Felsen den Boden durchstoßen und sich in Flechten gehüllt hatten. Er zündete ein Feuer an und hörte zu, wie die Nacht außer sich geriet. Denn was immer dem Wald Angst machte, war nahe. Seine Ohren waren schärfer, als sie es gewesen waren; er konnte schwerfällige Schritte in der Dunkelheit hören, das Knacken von Zweigen und ein Kratzen, als etwas die Rinde eines Baumes streifte. Hin und wieder drang ein hustendes Knurren durch die Säulen der Stämme. Was tue ich hier?, fragte er sich, als aus dem Knacken ein Krachen wurde, das durch den Wald hallte. Was auch immer das ist, was soll ich dagegen unternehmen? Er war nicht Aspar White. Wenn es der Gryffin war, war er tot. Wenn es der Dornenkönig war ... Das Krachen war jetzt ganz nahe. In einem plötzlichen Aufwallen von Panik kam Stephen sich im Feuerschein schrecklich schutzlos vor. Mit seinem angespitzten Fischspeer zog er sich aus dem Lichtkreis zurück und überlegte reichlich spät, ob er auf einen Baum klettern 418 sollte, wenn er denn einen finden konnte, dessen Äste niedrig genug waren. Stattdessen kauerte er sich neben einen riesigen Stamm und versuchte, das Echo seines Herzschlags zu dämpfen. Dann verstummten die Geräusche. Alle Geräusche waren verstummt. Die Käuzchen und Ziegenmelker, die Frösche und Grillen. Die Nacht war eine leere Schachtel. Stephen wartete, betete und versuchte, seine Furcht daran zu hindern, aus seinem Kopf in seine Beine zu kriechen. Er hatte einmal gesehen, wie eine Katze sich an eine kleine Ratte angeschlichen hatte. Die Katze hatte mit dem kleinen Tier gespielt, hatte immer erst dann zugeschlagen, wenn die Angst die Ratte dazu bewogen hatte loszurennen. Nicht weil sie ihre Beute nicht sehen konnte, sondern weil die Katze wie alle ihre Artgenossen einen Hang zur Grausamkeit besaß. Stephen fühlte sich im Augenblick sehr wie eine Maus. Doch er war keine. Er hatte Verstand. Er konnte gegen seine Instinkte ankämpfen. Aber vielleicht wäre es in diesem Fall doch besser davonzurennen ... Der alte Stephen hätte das Geräusch niemals rechtzeitig gehört, um zu reagieren, das schwache Wispern von Leder auf Laub. Er warf sich nach vorn, weg von dem Geräusch, doch irgendetwas schlug ihm hart von hinten gegen die Beine, und er kam aus dem Tritt und fiel hin. Etwas Dunkles griff nach seinen Füßen, und Stephen drehte sich auf den Rücken und trat danach, schob sich mit den Händen davon weg. Die Kreatur folgte ihm, bäumte sich auf und geriet ins Licht des Feuers. Sie hatte die Gestalt eines Mannes und ein Antlitz, das schrecklich und gleichzeitig vertraut war. »Aspar!«, schrie Stephen, der sich auch jetzt noch nicht ganz sicher war. Doch es war der Waldhüter, das Gesicht geschwärzt und von Blutergüssen entstellt, die Augen ohne jegliche menschliche Vernunft. Beim Klang seines Namens taumelte er keuchend vorwärts. »Aspar, ich bin's, Stephen Darige!« »Ste-?« Die Züge des Waldhüters wurden weich, verzogen sich zu 419 einer Maske wahnsinniger Verwirrung, und er brach vor Stephens Füßen zusammen. Dieser öffnete den Mund und machte einen Schritt auf den Gefallenen zu, dann verharrte er sehr still, als er sah, was sich hinter seinem ehemaligen Gefährten befand, was dessen Körper im Stehen verdeckt hatte. Hinter dem Waldhüter starrte ein gelbes Augenpaar Stephen durch die Dunkelheit hindurch an. Lautlos glitt es näher, und im unsteten Feuerschein war etwas Riesiges auszumachen, mit einem Schnabel wie ein Vogel. Das Geschöpf schnüffelte an ihm, und die Augen blinzelten behäbig. Dann hob sich der Kopf, und es gab ein Geräusch von sich, das klang, als zersäge ein Metzger einen langen Rinderknochen. Es tat einen weiteren Schritt in Stephens Richtung, dann nickte ihm der schnabelbewehrte Kopf zornig zu. Die Augen blinzelten erneut, und mit einem lautlosen Satz war es fort, zwischen den Bäumen verschwunden, rannte schneller, als irgendetwas laufen könnte, und ließ nur die Stille und Stephen und den toten oder bewusstlosen Aspar White zurück.
32. Kapitel Studien Anne schmeckte einen Augenblick lang Galle in der Kehle, als der Leib des Mannes in zwei große Fleischlappen auseinander klappte wie ein Paar Schranktüren. Darin kam ein Gewirr wurmartiger Windungen zum Vorschein, wie sie es nie im Innern eines Menschen vermutet hätte. Sie hatte sich wohl immer vorgestellt, dass die Leute innen mehr oder weniger genauso aussahen wie außen, vielleicht röter, wegen des Blutes. Was sie jetzt erblickte, erschien ihr sinnlos und bizarr. Das Mädchen zu ihrer Rechten sank würgend auf die Knie und lös420 te damit eine allgemeine Reaktion aus, sodass bald bis auf zwei alle in dem Raum versammelten acht Mädchen ihr Frühstück wieder von sich gaben. Anne schloss sich ihnen nicht an, und auch Serevkis nicht, die junge Frau mit dem langen Hals, der Anne den Spitznamen »Prinzessin Maultier« verdankte. Aus dem Augenwinkel fing Anne einen Blick von Serevkis auf und war überrascht, als das Mädchen ihr ein rasches, verzerrtes Lächeln schenkte. Schwester Casita, die die Einschnitte in den Leichnam gemacht hatte, wartete geduldig, bis die unfreiwillige Brechkur ein Ende fand. Anne trat geistesabwesend zur Seite, damit ihre Schuhe nichts abbekamen, richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch nach wie vor auf die Leiche. »Das ist eine ganz natürliche Reaktion«, sagte Schwester Casita, als das allgemeine Übergeben vorüber zu sein schien. »Seid versichert, dass dieser Mann ein Verbrecher der übelsten Sorte war. Der Kirche und unserem Orden im Tode zu dienen ist das einzig Tugendhafte, was er je zuwege gebracht hat, und es wird seinen sterblichen Überresten zu einem anständigen Begräbnis verhelfen.« »Wieso blutet er nicht?«, fragte Anne. Casita betrachtete sie mit einer hochgezogenen Braue. »Schwester Ivexa stellt eine interessante Frage. Ohne Erlaubnis, aber interessant.« Sie deutete auf etwas Faustgroßes, bläulich-graues in der Mitte der linken Brusthöhle. »Hier haben wir das Herz. Ein hässliches Ding, nicht wahr? Dem Äußeren nach kaum all die Lobpreisungen wert, mit der Poesie und Wortspiele es überschütten. Doch es ist in der Tat ein Organ von großer Wichtigkeit. Lebendig zieht es sich zusammen und dehnt sich wieder aus, wodurch das Klopfen entsteht, das ihr in eurer Brust fühlt. Dadurch lässt es das Blut in röhrenförmigen Kanälen durch den Köper jagen. Vier davon seht ihr hier.« Sie zeigte auf vier dicke Röhren, die fest an dem Herzen hingen. »Im Tode stellt das Herz seine Tätigkeit ein, und das Blut hört auf zu fließen. Es stockt und gerinnt im Körper, sodass, wie Schwester Ivexa festgestellt hat, auch schwerste Schnittverletzungen nur wenig bluten.« »Um Erlaubnis, Schwester?«, murmelte Serevkis. »Gewährt.« 421 »Würdet Ihr einen lebendigen Mann aufschneiden, würden wir dann sein Herz schlagen und sein Blut fließen sehen?« »Bis er stirbt, ja.« Anne legte die Hand auf ihr Brustbein und fühlte das Herz darunter schlagen. Sah ihres tatsächlich auch so aus? »Und woher kommt das Blut?« »Ah. Es entsteht durch ein Zusammenströmen von Körpersäften. All dies werdet ihr zu gegebener Zeit lernen. Heute lernen wir die Namen bestimmter Körperteile, und später die der Flüssigkeiten, die sie beherrschen. Im Laufe der Zeit werden wir darüber sprechen, wie man jedes einzelne Organ erkranken und zugrunde gehen lassen kann, sei es durch Verwundung, Gift oder heiligen Sacaum. Heute jedoch möchte ich, dass ihr euch völlig darüber im Klaren seid -« Ihr Blick schweifte durch den Raum. »Schwester Facifela, Schwester Aferum - hört ihr zu?« Facifela, ein schlaksiges Mädchen mit fliehendem Kinn, blickte unterwürfig auf. »Es ist schwer, das anzuschauen, Schwester.« »Zuerst schon«, sagte Casita. »Aber du wirst hinsehen. Am Ende dieses Tages müsst ihr mir all diese Organe benennen können. Aber die erste Lektion ist Folgendes, also hört gut zu.« Sie griff in die Körperhöhle hinein, hantierte darin herum und verursachte ein nasses, schmatzendes Geräusch. »Ihr, euer Vater, eure Mutter, der größte Krieger eures Königsreiches, der ehrwürdigste Fratrex der Kirche, Könige, Schurken, Mörder, Ritter ohne Tadel - innen sind wir alle so. Gewiss, es gibt Unterschiede, was Kraft, Gesundheit und innere Widerstandsfähigkeit betrifft, doch am Ende spielt das keine große Rolle. Unter Rüstung, Kleidung und Haut befindet sich stets dieses weiche, feuchte, unendlich verletzliche Innere. Hier haust das Leben in euren Körpern; hier verbirgt sich der Tod wie eine Made, die darauf wartet zu schlüpfen. Männer kämpfen von außen, mit Schwertern und Pfeilen; sie versuchen, die schützenden Hüllen zu durchdringen, mit denen wir uns umgeben. Sie gehören zum Äußeren. Wir gehören zum Inneren. Wir können es auf tausenderlei Arten erreichen, können durch die Öffnung von Auge und Ohr schlüpfen, von Nasenloch und 422 Lippen, sogar durch die Poren des Fleisches. Hier ist euer unerforschtes Neuland, Schwestern, und letzten Endes euer Reich. Hier wird eure Berührung den Aufstieg und Fall von Königreichen bedeuten.« Anne verspürte ein leises Beben im Innern, und einen Augenblick lang glaubte sie, den trockenen Verfallsgeruch
der Gruft wahrzunehmen, die sie und Austra vor langer Zeit entdeckt hatten. Sie spürte Erregung in sich aufsteigen. Es fühlte sich plötzlich an, als säße sie in einem winzigen Boot auf einem gewaltigen Meer und man habe ihr eben zum ersten Mal die Bedeutung des Wassers erklärt. Als sie in den Flur hinausging, stieß sie beinahe mit Schwester Serevkis zusammen und starrte plötzlich in die kühlen grauen Augen des anderen Mädchens. »Du hast dich nicht geekelt?«, fragte Serevkis. »Ein bisschen«, gestand Anne. »Aber es war interessant. Ich habe gesehen, dass dir auch nicht schlecht geworden ist.« »Nein. Aber meine Mutter war Leichenbestatterin für den Meddix von Formesso. Ich habe mein ganzes Leben lang das Innere von Leichen gesehen. Für dich war es das erste Mal, wie?« »Ja.« Serevkis nickte und schaute irgendwo hinter Anne in die Ferne. »Dein Vitellianisch ist besser geworden«, bemerkte sie. »Danke. Ich gebe mir Mühe.« »Gute Idee«, erwiderte Serevkis. Sie lächelte, und ihr Blick traf wieder auf Annes. »Ich muss zu meinem Geheimschrift-Unterricht. Vielleicht sehen wir uns beim Abendessen, Schwester Ivexa.« Annes restlicher Unterricht war weniger spannend, vor allem Zahlenlehre, doch sie tat ihr Bestes, sich zu konzentrieren und ihre Aufgaben zu lösen. Nach Zahlenlehre kam Pflanzenkunde; zuerst dachte sie, das würde sich als interessanter erweisen. Sogar Anne wusste, dass das Unkraut unter einem Henkersbaum und die dunkelvioletten Blüten der Benabelle als Gift benutzt wurden. Doch sie sprachen nicht über solche Dinge, sondern widmeten sich der Pflege von Rosen, als sollten sie das Gärtnerhandwerk erlernen statt der Kunst der 423 Assassinen. Am Ende der Stunde kam Schwester Casita herein und rief drei Namen auf. Einer davon war Annes. Die beiden anderen Mädchen kannte Anne nicht. Sie gingen hinaus in den Hof hinter dem Konvent, in den die Schafe zum Melken und Scheren von den Wiesen hereingetrieben wurden. Anne starrte die dummen Geschöpfe an, die ziellos umherliefen, während Schwester Casita den anderen Mädchen etwas in ihrer eigenen Sprache erklärte; Anne dachte, dass es vielleicht Safnisch sein könnte. Sie wandte sich wieder der Älteren zu, als diese erneut Vitellianisch sprach. »Entschuldigung«, sagte die Schwester. »Die beiden haben nicht solche Fortschritte in Vitellianisch gemacht wie du. Ich muss sagen, du bist in kurzer Zeit sehr weit gekommen.« »Brazi, Sor Casita«, sagte Anne. »Ich habe zu Hause Kirchenvitellianisch gelernt. Es ist wohl mehr hängen geblieben, als ich dachte, und viele der Wörter sind ähnlich.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Tiere. »Warum sind wir hier bei den Schafen, Schwester?« »Ah. Du wirst lernen, wie man sie melkt.« »Wird Schafsmilch in der Heilkunde verwendet?« »Nein. Am Ende des ersten Monats wird jeder Schwester eine Arbeit zugewiesen. Dies hier wird deine sein, Melken und Käsemachen.« Anne starrte sie an, dann lachte sie laut heraus. Tränen brannten in Annes Augen, als die Rute einen heißen Striemen über ihre nackte Schulter zog, doch sie schrie nicht. Stattdessen starrte sie ihre Zuchtmeisterin mit einem Blick an, bei dem jeder Höfling die Flucht ergriffen hätte. Schwester Secula war kein Höfling, und sie zuckte bei Annes Miene nicht einmal zusammen. Ein weiterer Hieb sauste herab, und diesmal entfuhr Annes Lippen ein leises Keuchen. »So«, rief Schwester Secula. »Nur drei, bis du Laut gibst? Du hast nicht die nötige Tapferkeit für deinen Hochmut, kleine Ivexa.« »Schlagt mich, so lange Ihr wollt«, sagte Anne. »Wenn mein Vater davon erfährt -« 424 »Wird er gar nichts tun. Er hat dich hergeschickt, meine Liebe. Deine königlichen Eltern haben sich bereits mit jeglicher Medizin einverstanden erklärt, die ich dir verabreiche - und dies ist das letzte Mal, dass ich dich daran erinnere. Aber ich werde dich nicht wieder schlagen, nicht gleich. Ich habe bereits herausgefunden, was ich wissen wollte. Das nächste Mal kannst du mehr erwarten als drei Streiche mit der Rute. Und jetzt - zurück an die Arbeit, die dir zugewiesen wurde.« »Nein. Ich gehe da nicht hin«, erwiderte Anne. »Was? Was hast du gesagt?« Anne streckte den Rücken. »Ich werde keine Schafe melken, Schwester Secula. Ich wurde als Prinzessin des Hauses Dare und als Gräfin des Hauses de Liery geboren. Als solche werde ich sterben, und ich werde während der Jahre dazwischen all dies sein. Wie lange Ihr mich auch hier festhaltet und wie auch immer Ihr mich behandelt, ich bleibe, wer ich bin, und ich werde mich nicht zu niederen Diensten zwingen lassen.« Schwester Secula nickte nachdenklich. »Ich verstehe. Du wahrst also die Würde deiner Titel.« »Ja.« »So, wie du sie gewahrt hast, als du die Wünsche deiner Mutter missachtet hast und wie eine Wildziege auf Eslen herumgeritten bist? Als du für den ersten jungen Bock, der dir Gedichte vorgesäuselt hat, die Beine breit gemacht hast? Anscheinend hast du die deinem Stand angemessene Würde sehr schnell entdeckt, und sie kam dir auch sehr gelegen, als man dich aufgefordert hat, etwas Unerfreuliches zu tun.«
Anne legte den Kopf wieder auf den Straftisch. »Schlagt mich ruhig weiter. Ich schere mich nicht darum.« Schwester Secula lachte. »Das ist auch etwas, das du lernen wirst, kleine Ivexa. Du wirst lernen, dich um etwas zu scheren. Aber vielleicht sind es nicht Schläge, die dich dazu bringen werden. Was glaubst du denn, wer die Ladys dieses Konvents sind, gemeine Bauerndirnen? Sie kommen aus den besten Familien in allen bekannten Ländern. Sollten sie beschließen, in die Welt zurückzukehren, so wer425 den ihre Titel dort auf sie warten. Hier sind sie Mitglieder dieses Ordens, nicht mehr und nicht weniger. Und du, meine Liebe, bist die Allergeringste unter ihnen.« »Ich bin nicht die Geringste«, erwiderte Anne. »Ich werde niemals bei irgendetwas die Geringste sein.« »Wie absurd! Du bist in jedem Fach die am wenigsten Gebildete. Du bist die Undisziplinierteste. Du bist sogar der Novizenrobe, die du trägst, am wenigsten würdig. Hör dir doch einmal selbst zu! Was hast du je getan? Du hast nichts, was dir nicht bei deiner Geburt mitgegeben worden ist.« »Das ist genug.« »Ja, wenn es dein einziger Ehrgeiz ist, die Zuchtstute für irgendeinen hochgeborenen Tölpel abzugeben, denn Zuchtstuten brauchen weder Verstand, noch haben sie genug davon, um mehr zu wollen als das, womit sie geboren worden sind. Allerdings hat man mir zu verstehen gegeben, dass selbst dieses niederste aller Streben nicht in deinen Dickschädel will.« »Ich habe Begabungen. Ich habe eine Bestimmung.« »Du hast Neigungen. Du hast Sehnsüchte. Die hat ein Esel vorm Pflug auch.« »Nein. Ich habe mehr.« Meine Träume. Meine Visionen. Doch das sprach sie nicht laut aus. »Nun, das werden wir ja sehen, nicht wahr?« »Wie meint Ihr das?« »Du hältst dich für ein erlesenes Geschöpf, besser als jedes andere Mädchen hier. Wohlan - wir werden dir Gelegenheit geben, das zu beweisen. Komm mit.« Anne blickte in die vollkommene Finsternis hinab und versuchte, nicht zu zittern. Hinter ihr zogen drei Schwestern mehrere Seile straff, die an dem Ledergeschirr festgemacht waren, das sie ihr umgeschnallt hatten. »Tut das nicht«, sagte Anne und bemühte sich, nicht die Stimme zu heben. 426 Keine der Schwestern antwortete, und Schwester Secula war bereits gegangen. Die Luft, die aus dem Loch heraufwehte, war kalt und metallisch. »Was ist das?«, fragte Anne. »Wo steckt ihr mich hin?« »Man nennt es den Schoß der Lady Mefitis«, sagte eine der Frauen. »Mefitis ist ein Aspekt von Cer, wie du ja weißt.« »Der Aspekt, der verdammte Seelen foltert.« »Ganz und gar nicht. Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Sie ist der Aspekt von Bewegung in Ruhe, von Schwangerschaft ohne Geburt, von Zeit ohne Tag und Nacht.« »Wie lange muss ich da unten bleiben?« »Neun Tage. Das ist die übliche Buße, wenn es um Demut geht. Aber ich rate dir dringend, deine Zeit zur inneren Einkehr zu nutzen, und dazu, die Herrlichkeit unserer Lady zu erkennen. Schließlich ist hier ihr Schrein.« »Neun Tage? Ich werde verhungern!« »Wir werden dir genug Essen und Trinken für diese Zeitspanne hinunterlassen.« »Und eine Lampe?« »Licht ist im Schoß nicht gestattet.« »Ich werde den Verstand verlieren!« »Nein, das wirst du nicht. Aber du wirst Demut lernen.« Ihr Lächeln verbarg eine unklare Gefühlsregung. Triumph? Trauer? Für Anne hätte es beides sein können. »Irgendwann musst du das lernen, weißt du? Und jetzt hinein mit dir.« »Nein!« Anne schrie und trat um sich, doch es nützte nichts. Sie hatten sie gut festgeschnallt, und im Handumdrehen hatten die Schwestern sie über den dunklen Schacht geschwungen und ließen sie hinunter. Die Öffnung war so breit, wie sie groß war. Als ihr Abstieg ein Ende fand und ihre Füße Steinboden berührten, schien sie nicht größer als ein heller Stern. »Bleib in der Nähe, dort, wo der Boden flach und eben ist«, schwebte eine Stimme zu ihr herab. »Geh nicht weiter als bis zu der 427 Mauer, die wir gebaut haben, sonst wirst du Gefahren begegnen. Es gibt keine wilden Tiere in den Höhlen, aber sie sind voller Spalten und Abgründe. Bleib innerhalb der Mauer, da bist du sicher.« Dann verschwand der Kreis, und das einzige Licht, das noch übrig war, war dessen Trugbild auf der Innenseite ihrer Augenlider, ein Fleck, der rasch von Grün zu Rosa verblasste, dann zu Tiefrot - und dann war er fort. Und Anne schrie, bis sich ihre Kehle anfühlte, als sei sie zerrissen. 33. Kapitel
Der Bewahrte Fürst Cheiso von Safnien zuckte krampfhaft und hustete Blutstropfen auf den Zellenboden, als der Folterknecht mit einem rot glühenden Eisen eine Furche über seinen Rücken zog, doch er schrie nicht. William sah den Schrei trotzdem, begraben im Gesicht des Safniers, wie er versuchte, sich den Weg ins Freie zu bahnen, wie die Larve einer Erdwespe sich aus einer gelähmten Spinne hervorgräbt. Doch er blieb in dem dunklen, stolzen Antlitz eingekerkert. William konnte nicht anders, er bewunderte Cheisos Tapferkeit. Der Mann war ausgepeitscht und mit heißen Eisen traktiert worden, sein Rücken war mit Sand wund gerieben und dann mit Salz bestreut worden. Vier seiner Finger waren gebrochen, und er war mehrmals in einen Trog voll Jauche getaucht worden. Trotzdem flehte er nicht um Gnade, schrie oder gestand nicht. Sie waren aus härterem Holz geschnitzt, als William es geahnt hatte, diese Safnier. Er bezweifelte, dass er sich so gut gehalten hätte. »Werdet Ihr jetzt reden?«, fragte Robert sanft. Er stand hinter dem Fürsten und strich ihm mit einem feuchten Lumpen über die Stirn. »Ihr habt doch selbst Schwestern, Fürst Cheiso. Versucht, Euch vor428 zustellen, wie uns zumute ist. Wir erniedrigen uns selbst, wenn wir Euch so behandeln, aber wir werden erfahren, warum Ihr sie verraten habt.« Auf einem aufrecht hingestellten Tisch ausgestreckt, hob Cheiso daraufhin den Blick, doch er sah nicht Robert an. Stattdessen hefteten sich seine schwarzen Augen fest auf William. Er leckte sich die Lippen. »Euer Majestät«, sagte er in dem fremdländischen Akzent seiner Landsleute, »ich bin Fürst Cheiso von Safnien, Sohn Amfiles, Enkel von Verfunio, der die harshemische Flotte bei Bidhala mit zwei Schiffen und einem Wort abgewehrt hat. Ich lüge nicht. Ich verrate meine Ehre nicht. Lesbeth, Eure Schwester, ist meine große Liebe, und wenn ihr ein Leid geschehen ist, werde ich am Leben bleiben, um herauszufinden, wer das getan hat, und ihn dafür bezahlen zu lassen. Ihr jedoch, Herrscher von Crothenien, seid ein Tor. Ihr habt Euch an Lügen gelabt, und sie haben Euren Verstand gemästet. Ihr mögt mit Eurem eisernen Stachel bis hinunter zu meinen Knochen graben und Euren Boden mit meinem Blut bedecken, doch es gibt nichts, was ich Euch sagen kann, außer dass ich unschuldig bin.« Robert winkte, und der Folterknecht packte das Ohr des Safniers mit einer glühenden Zange. Der schlanke Körper des Fürsten bäumte sich auf, als wolle er sein eigenes Rückgrat brechen, und diesmal entfuhr ihm ein rauer Seufzer, mehr jedoch nicht. »Wird nicht mehr lange dauern«, sagte der Folterknecht zu Robert. »Er wird schon gestehen.« William verschränkte die Hände hinter dem Rücken und bemühte sich, nicht von einem Bein aufs andere zu treten. »Robert«, knurrte er. »Auf ein Wort.« »Gewiss, Bruderherz.« Er nickte dem Folterknecht zu. »Mach weiter.« »Nein«, widersprach William. »Halt ein, bis wir uns besprochen haben.« »Aber liebster Bruder -« »Halt ein«, wiederholte William bestimmt. 429 Robert hob die Hände. »Oh, meinetwegen. Aber das ist eine Kunst, Wilm. Wenn du von einem Maler verlangst, mitten im Strich den Pinsel von der Leinwand zu nehmen -« Doch er sah, dass es William ernst war, und verstummte. Sie zogen sich zurück, in die feuchten Gewölbe der Verliese unter Eslen, wo sie sich unbelauscht unterhalten konnten. »Was beunruhigt dich, Bruder?« »Ich bin absolut nicht überzeugt davon, dass dieser Mann unaufrichtig ist.« Robert verschränkte die Arme. »Die Vögelchen, die mir ins Ohr zwitschern, sagen etwas anderes«, erwiderte er. »Deine Vögel waren schon öfter Elstern«, sagte William, »und haben uns vom rechten Weg abgebracht. Jetzt ist es wieder so.« »Dessen kannst du dir nicht sicher sein. Lass uns weitermachen, bis alle Zweifel ausgeräumt sind.« »Und wenn wir dann herausfinden, dass er doch unschuldig ist? Sie haben Schiffe in Safnien, das weißt du doch. Diese Schiffe könnten sie unseren Feinden zur Verfügung stellen, und in einer Zeit, da Krieg heraufzieht, ist das keine Kleinigkeit.« Roberts Augenbrauen hoben sich. »Treibst du Scherze mit mir, William?« »Was für einen Scherz kannst du darin finden?« »Ich habe bereits verbreiten lassen, dass der Fürst und alle seine Männer auf dem Meer von Ale von rovischen Piraten niedergemacht worden sind. Was wir hier tun, wird niemand erfahren.« »Du erwartest doch nicht von mir, dass ich diesen Mann ermorden lasse?«, fragte William entgeistert. »Was für ein König bist du eigentlich? Was für ein Bruder?« »Wenn er unschuldig ist -« »Er ist nicht unschuldig«, fuhr Robert auf. »Er ist ein Safnier, geboren aus tausend Jahren öliger südländischer Lügen. Natürlich wirkt er überzeugend. Aber er wird gestehen, und er wird sterben, und der Verrat an Lesbeth wird gerächt werden. Meine Lauscher irren sich nicht, Wilm.« »Und wie bringt uns das unsere Schwester wieder, Robert? Rache
430 ist ein trauriges Vergnügen, verglichen mit der Heimkehr eines Menschen, den man liebt.« »Wir werden beides bekommen, Wilm. Du bist auf Austrobaurgs Bedingungen eingegangen; zehn Schiffe sind bereits ins Saurgabecken geschickt worden.« »Und du verlässt dich darauf, dass Austrobaurg Wort hält?« »Er ist ein ehrgeiziger Feigling; es gibt keine vertrauenswürdigeren Männer, solange man sie versteht. Er wird tun, was wir sagen.« »Austrobaurg hat Lesbeth verstümmelt, Robert. Wie kann er hoffen, unserer Rache zu entgehen, wenn er sie freilässt?« »Weil er, wenn du versuchst, dich zu rächen, die Lords von Liery davon in Kenntnis setzen wird, dass du ihm gegen ihre Verbündeten beigestanden hast. Beweise kann er mit Sicherheit vorlegen.« »Und das hast du nicht vorhergesehen?« »Sehr wohl habe ich das«, widersprach Robert. »Und ich habe es für die einzige Gewähr für Lesbeths sichere Rückkehr gehalten.« »Dann hättest du das klar und deutlich sagen sollen.« Robert zog die Augenbrauen hoch. »Du bist der Herrscher. Wenn du die Folgen nicht sehen kannst... ich bin nicht dein einziger Berater, Bruder.« »Liery darf nie erfahren, was wir getan haben.« »Das stimmt. Und deshalb darf nicht nach außen dringen, dass Lesbeth je gefangen genommen wurde. Das würde uns schwach erscheinen lassen, und das können wir uns auch in den besten Zeiten nicht leisten. Nein, diese ganze Angelegenheit muss ausgelöscht werden. Austrobaurg wird nicht reden. Lesbeth ist unsere Schwester.« »Also bleibt nur noch Cheiso übrig«, knurrte William. »Nun denn.« Robert senkte den Kopf, dann blickte er auf. »Du brauchst den Rest nicht mit anzusehen. Es könnte eine Weile dauern.« William runzelte die Stirn, nickte jedoch. »Wenn er gesteht, will ich es hören. Töte ihn nicht zu schnell.« Robert lächelte grimmig. »Der Mann, der Lesbeth verraten hat, wird nicht leicht sterben.« 431 Williams Schritte durch die Verliese waren langsam. Die unbestimmte Angst, die seit Monaten in ihm gelauert hatte, vertiefte sich, und schließlich begann sie, schärfere Gestalt anzunehmen. Während seiner Herrschaft hatte es Grenzstreitigkeiten und Provinzaufstände gegeben, richtiger Krieg war ihm jedoch erspart geblieben. Oberflächlich betrachtet schien diese Geschichte mit der Salzmark wieder so ein kleinlicher Zank zu sein, doch William war es, als balancierten er und das Königreich auf der Spitze einer Nadel. Irgendwie schlugen seine Feinde in seinem eigenen Hause zu - erst Muriele und dann Lesbeth. Sie lachten über ihn, den machtlosen König des größten Reiches der Welt. Und während Robert seine dunklen Netze spann, um ihre Sorgen darin einzufangen, tat er gar nichts. Vielleicht sollte Robert doch König sein. William blieb stehen; ihm war plötzlich klar geworden, dass seine Schritte ihn nicht zu der Treppe gebracht hatten, die zum Palast hinaufführte, sondern tiefer in die Gewölbe hinein. Hier flackerten noch immer Fackeln und füllten die feuchte Luft mit nach verbranntem Öl stinkenden Rauchwolken, doch der Gang verschwand in der Finsternis. Einen Augenblick lang stand er da und starrte in diese Dunkelheit. Wie viele Jahre war es her, dass er dort gewesen war? Zwanzig? Ja, seit dem Tag, als sein Vater ihm zum ersten Mal gezeigt hatte, was im tiefsten Verlies des Schlosses von Eslen lag. Er war nie zurückgekehrt. Einen Moment lang packte ihn die Panik, und er musste sich zusammennehmen, um nicht wieder hinauf ins Licht zu fliehen. Dann ging er mit etwas, das sich zumindest den Anschein von Entschlossenheit gab, ein wenig weiter, bis er zu einer kleinen Kammer kam, die keine Kerkerzelle war, jedoch eine kleine hölzerne Tür hatte. Durch sie hindurch vernahm William schwache, liebliche Musik, eine nur halb vertraute Weise, die auf den Saiten einer Theorbe gespielt wurde. Die Melodie war in Moll; sie klang traurig, mit kleinen Trillern wie Vogelgesang und mit vollen Akkorden, die an das Meer erinnerten. 432 Er zögerte und wartete auf eine Pause in der Melodie, doch diese schien nie wirklich ein Ende zu finden, verspottete das Ohr mit dem Versprechen eines Schlussakkords und schwebte dann weiter wie ein launischer Zephyr. Schließlich erinnerte er sich daran, wer hier König war, und klopfte an die Tür. Lange geschah nichts, dann jedoch verstummte die Musik mitten in einer Strophe, und die Tür schwang in gut geölten Angeln lautlos nach innen. In dem orangefarbenen Licht erschien ein schmales, geisterbleiches Antlitz. Milchig-weiße Augen schauten auf keine Welt, die William bekannt war, doch der uralte Sefry lächelte wie über einen geheimen Scherz. »Euer Majestät«, murmelte er mit dünner Stimme. »Es ist viele Jahre her.« »Woher -?« William hielt inne. Wie konnten diese blinden Augen ihn erkennen? »Ich weiß, dass Ihr es seid«, sagte der Sefry, »weil der Bewahrte nach Euch geflüstert hat. Ihr musstet kommen.«
Leichenfinger kitzelten Williams Rückgrat. Die Toten sprechen meinen Namen. Jener Tag in seinen Gemächern fiel ihm wieder ein, der Tag, an dem Lesbeth heimgekehrt war. Der Tag, an dem er zum ersten Mal von Robert von den Intrigen der Salzmark erfahren hatte. »Ihr werdet mit ihm sprechen wollen«, meinte der Alte. »Ich weiß Euren Namen nicht mehr, Sir«, murmelte William. Der Sefry lächelte und enthüllte Zähne, die noch immer weiß, jedoch fast bis aufs Zahnfleisch abgenutzt waren. »Ich habe nie einen Namen bekommen, mein Lehnsherr. Die, die dafür bestimmt sind, den Schlüssel zu verwahren, bekommen niemals Namen. Ihr könnt mich Bewahrer nennen.« Er drehte sich um, und seine seidene Robe verrutschte und spannte sich über etwas, das ohne weiteres ein Knochengerüst hätte sein können. »Ich hole meinen Schlüssel.« Er verschwand in die Finsternis seiner Behausung und erschien einen Augenblick später wieder, einen eisernen Schlüssel in den weißen Fingern. In der anderen Hand hielt er eine Laterne. 433 »Wenn Ihr die anzünden wolltet, Majestät? Feuer und ich sind keine Freunde.« William nahm eine Fackel von der Wand und entzündete den Docht. »Wie lange seid Ihr schon hier unten?«, erkundigte sich William. »Mein Vater sagte, Ihr wärt bereits zur Zeit seines Vaters der Bewahrer gewesen.« Wie lange leben die Sefry? »Ich bin mit den ersten der Dares hierher gekommen«, sagte die verdorrte Kreatur und setzte sich den Gang hinunter in Bewegung. »Eure Vorfahren haben meinem Vorgänger nicht getraut, weil er ein Diener der Reiksbaurgs war.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Eine unbegründete Furcht.« »Wie meint Ihr das?« »Der Bewahrer dient den Reiksbaurgs ebenso wenig, wie ich Euch diene, mein Lehnsherr. Meine Aufgabe ist um vieles älter als jede Blutlinie, die jemals auf diesem Thron gesessen hat.« »Dann dient Ihr dem Thron selbst, ohne Euch darum zu kümmern, wer darauf sitzt?« Die Schritte des Sefry scharrten zehnmal über den Steinboden, ehe er leise antwortete: »Ich diene diesem Ort und diesem Land, ohne mich überhaupt um Throne zu kümmern.« Schweigend gingen sie weiter, eine schmale Treppe hinunter, die das Gestein zerschnitt, in dem hin und wieder die schwarzen Gebeine unbekannter Tiere zu erkennen waren - hier ein Brustkorb, dort die leeren Augen eines flachen, fremdartigen Schädels. Es war, als sei der Stein geschmolzen und um sie herumgeströmt. »Diese Knochen im Fels«, sagte William, »sind das Ungeheuer, die meine Vorfahrin in den Stein gebannt hat, oder ist das irgendeine noch ältere Skasloi-Zauberei?« »Es gibt Zauberei, die noch weiter zurückliegt als die der Skasloi«, murmelte der Bewahrer. »Die Welt ist sehr alt.« William stellte sich seinen eigenen Schädel vor, wie er leer aus dem Fels über unvorstellbare Abgründe der Zeit hinwegschaute. Ihn schwindelte plötzlich, als hinge er über einer riesigen Grube. 434 »Jetzt sind wir unter Eslen«, teilte der Sefry ihm mit. »Das hier ist alles, was von Ulhegelesh übrig geblieben ist.« »Sprecht diesen Namen nicht aus«, sagte William und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu halten. Obgleich die Treppe schmal war, hielt das seltsame Schwindelgefühl an. Der Sefry schüttelte den Kopf. »Von allen Namen, die hier ausgesprochen werden könnten, ist dies derjenige mit der geringsten Macht. Eure Vorfahrin hat nicht nur das Äußere, sondern auch die Seele der Zitadelle zerstört. Der Name ist nur ein Geräusch.« »Ein grauenvolles Geräusch.« »Ich werde ihn nicht wieder aussprechen, wenn es Euch stört«, versprach der Sefry gleichmütig. Sie drangen weiter vor, ohne zu reden, doch es herrschte nicht länger Schweigen auf ihrem Weg. Außer dem Schaben ihrer Schuhe auf dem Stein war noch ein Zischen zu hören, ein Wispern. William konnte die Worte nicht verstehen, wenn es überhaupt Worte waren, wenn es nicht Wasser war oder Luft, die sich in der Tiefe jenes Ortes regte. Und als er sich seinem Ziel näherte, begann es, vertraut zu klingen. Hatte der Alte Recht? Rief der Bewahrte seinen Namen? Die Worte lispelten, wie von einem Mund ohne Lippen ausgesprochen. Hriiy-ah. Hriiyah Darrr... »Warum bekommen Bewahrer niemals Namen?«, fragte William, um die Stimme aus seinem Kopf auszusperren. »Ich denke, Ihr spürt, warum. Namen geben ihm ein wenig Macht. Keine Angst. Er ist schwach, und was er an Macht besitzt, werde ich im Zaum halten.« »Seid Ihr sicher?« »Es ist meine einzige Pflicht, Sire. Euer Großvater ist oft hergekommen, Euer Vater auch. Sie haben mir vertraut.« »Nun gut.« Er blieb stehen und starrte die Tür an, die vor ihnen auftauchte. Sie war aus Eisen, doch trotz der Feuchtigkeit verunstaltete kein Rost ihre Oberfläche. Im Lampenlicht sah sie schwarz aus, und die verschnörkelten Schriftzeichen, die in sie eingraviert waren, 435
schienen noch schwärzer. Ein schwacher Geruch hing in der Luft, ein wenig wie verbranntes Harz. Der Bewahrer trat zu der Tür und steckte den Schlüssel in eines der beiden Schlüssellöcher. Doch er zögerte. »Ihr braucht dies nicht zu tun, Sire«, sagte der Sefry. »Ihr könnt jederzeit wieder gehen.« Er hält mich für schwächer als meinen Vater und Großvater, dachte William beschämt. Er spürt eine Willensschwäche. »Ich glaube, ich muss«, sagte er. »Dann ist der zweite Schlüssel vonnöten.« William nickte und griff unter seinem Wams nach der Kette, die dort hing. Er zog den Schlüssel hervor, den er getragen hatte, seit er den Thron bestiegen hatte, den Schlüssel, den jeder König Crotheniens getragen hatte, seit den Tagen des Alteren Cavarum. Normalerweise trug William ihn nicht, sein Gewicht fühlte sich auf seiner Brust kalt an, und meist lag der Schlüssel in einer Schatulle neben seinem Bett. An diesem Morgen hatte er ihn angelegt, ehe er in die Verliese hinabgestiegen war. Wie die Tür, zu der er passte, war der Schlüssel aus schwarzem Metall, und genau wie die Tür schien auch er gefeit gegen Rost und alle anderen Spuren der Zeit. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Es war so gut wie kein Laut zu vernehmen, nur ein kaum hörbares Klick irgendwo tief aus dem Innern des großen Portals. Ich bin König, dachte William. Dies hier ist mein Hoheitsrecht. Ich habe keine Angst. Er ergriff den Türknauf, zog und spürte das erstaunliche Gewicht der Tür. Trotz ihrer Schwere jedoch öffnete sie sich fast so, als sei es mehr die Berührung seiner Hand als die Kraft seines Armes, die sie bewegte. Die Stimme wurde lauter und stieß einen seltsamen, leisen Laut aus, der vielleicht ein Lachen war. »Und jetzt, Sire, müsst Ihr die Lampe löschen«, wies der Bewahrer ihn an, »bevor wir die innere Tür öffnen. Licht hat keinen Platz hier.« 436 »Ich erinnere mich. Ihr könnt mich führen?« »Das ist meine Aufgabe, Sire. Noch bin ich nicht zu schwach dafür.« William löschte die Laterne, und Schwärze wallte aus dem finsteren Herzen der Welt auf. Er spürte das Drängen der uralten Gebeine überall um sich herum, als flösse der Fels in der Dunkelheit, als kröche er heran, um ihn zu verschlingen. Einen Augenblick später hörte er das Geräusch gleitenden Metalls, und der Geruch wurde stärker und bitterer. Er hatte einmal etwas Ähnliches in seinem eigenen Schweiß gerochen, gleich nach einem unerwarteten Bienenstich. »Qexqaneh«, sagte der Bewahrer mit der lautesten Stimme, die William bisher von ihm gehört hatte. »Qexqanehilhidhitholuh, ule-qedhinikhu.« »Gewiss«, schnurrte eine Stimme, so nahe und vertraut, dass William zusammenfuhr. »Gewiss. Da seid Ihr ja, Herrscher von Crothenien. Da seid Ihr ja, mein geliebter Herr.« Der Tonfall war nicht spöttisch, und auch die Worte waren es nicht ganz. Trotzdem fühlte William sich verspottet. »Ich bin König«, erwiderte er mit erzwungenem Selbstvertrauen. »Sprich angemessen mit mir.« »Ein Eintagsfliegen-Herrscher, der kaum länger als zwei Schläge meines Herzens leben wird«, antwortete der Bewahrte. »Nicht, wenn ich dein Herz zum Stillstand bringen lasse«, sagte William. Bewegung, ein Geräusch wie über Steine schleifende Schuppen, und noch mehr gehauchtes Gelächter. »Könnt Ihr das, könntet Ihr das? Ich würde schwarze Granate für Euch weinen, Fürst der Geringsten. Ich würde weißes Gold bluten und Euch Diamanten scheißen.« Ein krächzendes Husten folgte. »Nein, kleiner König«, fuhr der Bewahrte fort. »Nein, nein. Das sind nicht die Regeln unseres Spiels. Dafür hat Eure Vorfahrin gesorgt, dieses Miststück. Geht zurück zu Euren sonnendurchfluteten Hallen und kuschelt Euch um Eure Furcht zusammen. Vergesst mich und verträumt Euer Leben.« 437 »Qexqaneh«, sagte der Bewahrer streng. »Es ist dir befohlen.« Der Bewahrte fauchte, und schwefelige Wut durchdrang seine Stimme. »Mein Name. Älter als eure Rasse, mein Name, und ihr benutzt ihn wie einen Lumpen, um den dünnflüssigen Dreck eurer Gedärme wegzuwischen.« William kniff die Lippen zusammen. »Qexqaneh«, sagte er. »Bei deinem Namen, antworte mir.« Der Zorn des Bewahrten verschwand ebenso rasch, wie er aufgeflammt war, und jetzt flüsterte er: »O ja, kleiner König, mit Freuden. Die Antworten werden mich froh machen.« »Und antworte die Wahrheit.« »Das muss ich tun, seit diese rothaarige Hure, die Eure Linie begonnen hat, mich in Bande geschlagen hat. Bestimmt wisst Ihr das.« »Es ist wahr, Sire«, bestätigte der Bewahrer. »Aber er könnte ausweichend antworten. Ihr müsst seine Worte genau prüfen.« William nickte. »Qexqaneh, kannst du die Zukunft sehen?« »Könnte ich die Zukunft sehen, säße ich nicht an diesem Ort, törichter Menschling. Aber ich kann das Unausweichliche sehen, was wiederum etwas anderes ist.« »Steht meinem Königreich ein Krieg bevor?«
»Hmm? Eine Flut aus Blut kommt. Tausend Jahreszeiten des Leides. Schwerter werden sich satt trinken. Mehr als satt.« Furcht erfasste William, jedoch keine Überraschung. »Kann ich das verhindern?«, wollte er wissen, ohne wirklich zu hoffen. »Kann es aufgehalten werden?« »Ihr könnt den Tod besitzen, oder er kann Euch besitzen«, sagte der Bewahrte. »Es gibt keine andere Möglichkeit.« »Meinst du damit, ich sollte gegen diesen Krieg vorgehen? Die Salzmark angreifen, oder gar Hansa selbst?« »Das spielt nur eine sehr kleine Rolle. Würdet Ihr den Tod besitzen, kleiner König? Würdet Ihr ihn dicht an Eurem Herzen halten und sein Freund sein? Werdet Ihr ihn mit Eurer Familie, Eurem Land, Eurer jämmerlichen menschlichen Seele laben? Ich kann Euch sagen, wie. Ihr könnt unsterblich sein, König. Ihr könnt sein wie ich, der 438 Letzte Eurer Art. Ewig. Doch anders als in meinem Falle wird es niemanden geben, der Euch einsperrt.« »Der Letzte meiner Art?« Dies waren verwirrende Worte. »Der letzte Dare?« »O ja. Und der letzte Reiksbaurg, und der letzte de Liery - der Letzte Eurer erbärmlichen Rasse. Eure erste Königin hat euch alle getötet. Ein langsamer, ein schläfriger Tod, doch jetzt ist er erwacht. Ihr könnt ihn nicht aufhalten. Aber Ihr könnt er sein.« »Das verstehe ich nicht. Kein Krieg bringt alle um. Das ist es doch, was du sagst, Qexqaneh, nicht wahr? Dass nur ein Mann das Gemetzel überleben wird? Was ist das für ein Unsinn?« Er wandte sich an den Bewahrer. »Ihr seid sicher, dass er nicht lügen kann?« »Er kann nicht bewusst lügen, nein. Aber er kann die Wahrheit zu Ringen verbiegen«, antwortete der Sefry. »Ich kann es Euch sagen«, murmelte Qexqaneh seidenweich. »Ihr könnt derjenige sein. Ihr könnt die Lichter dieser Welt löschen und eine neue beginnen.« »Du bist wahnsinnig.« »Irgendjemand wird es tun, kleiner König. Der Nesselmann erhebt sich bereits, wisst Ihr. Die Fäulnis ist tief vorgedrungen, und die Maden kriechen herauf. Sogar hier rieche ich das Verrotten. Ihr könnt derjenige sein. Ihr könnt das Gewand der Nacht tragen und das Zepter der Verwesung schwingen.« »Drück dich klar aus. Willst du wirklich andeuten, das Ende der Welt sei nahe?« »Natürlich nicht. Aber das Ende Eures Hauses, Eures Reiches, Eurer stinkenden kleinen Rasse - das steht fürwahr am nächsten Horizont der Zeit.« »Und ein Mann wird all das verursachen?« »Nein, nein. Was sind das für Dinger da seitlich an Eurem Kopf? Erreicht denn nichts von dem, was Ihr hört, Euren Verstand? Einem wird es nützen.« »Zu welchem Preis?«, fragte William skeptisch. »Abgesehen von dem Preis, so zu sein wie du?« 439 »Der Preis ist gering. Euer Weib. Eure Töchter.« »Was?« »Sie werden sowieso sterben. Ihr könnt genauso gut Gewinn aus ihrer Vernichtung ziehen.« »Genug!«, brüllte William. Er wandte sich zum Gehen, dann fuhr er plötzlich auf dem Absatz herum. »Jemand hat versucht, meine Frau zu ermorden. "War dies der Grund? Diese verderbliche Prophezeiung einer Zukunft, von der selbst du zugibst, dass du sie nicht wirklich sehen kannst?« »Habe ich das zugegeben?« »Ja, das hast du getan. Antworte mir, Qexqaneh. Diese Prophezeiung. Kennen auch andere sie?« Der Bewahrte keuchte ein paar Augenblicke lang, und die Luft schien wärmer zu werden. »Als ihr elenden Sklavengeschöpfe auf den Knochen der meinen standet«, knurrte er schließlich, »als ihr jegliches Schöne niedergebrannt hattet und glaubtet, ihr - ihr niederes Gewürm - besäßet endlich die Welt, da habe ich euch gesagt, was geschehen würde. Meine "Worte begannen die neue Ära, dieses Zeitalter, das ihr Everon genannt habt. Man erinnert sich vielerorts an sie.« »Deshalb also der Anschlag auf meine Gemahlin?« »Ich weiß es nicht. Zufälle passieren, und eure Rasse schätzt Gemetzel. Das ist es, was euch zu unterhaltsamen Sklaven gemacht hat. Doch sie wird sterben, und Eure Töchter auch.« »Das weißt du nicht«, widersprach "William. »Du kannst es nicht wissen. Du sprichst nur, um mich zu täuschen.« »Wie Ihr es wünscht, so ist es.« »Genug davon. Es war ein Fehler herzukommen.« »Ja«, krächzte Qexqaneh. »Ihr habt nicht dasselbe Eisen in Euch wie Eure Ahnen. Sie hätten nicht gezögert. Lebt wohl, Eintagsfliege.« Daraufhin ging William, kehrte zurück in die Hallen hoch über ihm, doch Gelächter lief ihm nach wie ein tausendfüßiger Wurm. In dieser Nacht schlief er nicht, sondern ging zu Alis Berrye. Er ließ ihr Gemach durch Kerzen erhellen, und sie spielte auf der Laute und sang fröhliche Weisen, bis die Sonne aufging. 440
34. Kapitel Verirrt Aspar White öffnete die Augen und erblickte eine gewölbte Steindecke. Aus der Ferne hörte er eine getragene Litanei. Fieber kroch wie Tausendfüßler unter seiner Haut, und als er versuchte, sich zu bewegen, fühlten sich seine Glieder an wie verrottende Farnwedel. Er lag still da, lauschte auf das sonderbare Lied und seinen rauen Altmänneratem, starrte verwirrt in die Luft über ihm und befragte seine stummen Erinnerungen. Es ging ihm besser, als es ihm vorher gegangen war, daran erinnerte er sich. Er hatte gefiebert, sein Verstand war von Schmerzen gefesselt gewesen. Was war geschehen? Wo war er jetzt? Mühsam drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen. Er lag auf einer harten Holzpritsche, auf drei Seiten von Mauern umgeben, eine niedrige, gewölbte Decke über sich. Es sah fast aus wie eine Gruft, nur dass ein kleiner Fensterschlitz in der Mauer über seinem Kopf Luft von draußen hereinließ. Es roch nach spätem Frühling. Als er über seine Füße hinwegschaute, sah er, dass sich die Nische zu einem viel größeren Raum hin öffnete - die Halle einer Burg oder, nach dem merkwürdigen Gesang zu urteilen, einer Kirche. Zoll für Zoll versuchte er, sich aufzurichten. Schmerzen pochten in seinen Beinen, doch eine nähere Untersuchung zeigte sie beide noch an ihrem Platz, sehr zu seiner Erleichterung. Doch als er sich halb aufgesetzt hatte, drehte es sich so sehr in seinem Kopf, dass er sich zurücksinken ließ. Er kämpfte gegen den Brechreiz an, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Es dauerte eine Weile, ehe er mit seinen Nachforschungen fortfahren konnte. Als er es tat, stellte er fest, dass er unter dem Laken, abgesehen von Verbänden, nackt war. Seine Waffen, der Harnisch und seine Kleider waren nirgends zu sehen. Die Verbände ließen darauf 441 schließen, dass irgendjemand ihm wohlgesonnen war, doch das war alles andere als sicher. Wo war er? Er folgte der Spur seiner Erinnerung wie ein Hund auf einer schwachen Fährte und machte an den Marksteinen Halt. Er war von den Bergen heruntergekommen, das wusste er noch, festgeklammert auf Unholds Rücken. Er erinnerte sich, einen Geröllhang halb hinuntergefallen zu sein, und an einen Sturz in eine Schlucht. Irgendwann war er vom Pferd gefallen und hatte es nicht wiederfinden können. Tage blitzten vor ihm auf, an denen er, an einen Baumstamm geklammert, einen Fluss hinuntertrieb, dann endloses Dahinstolpern durch hügeliges Gelände, das allmählich ebener wurde. Und er erinnerte sich an etwas, das ihm folgte, immer dicht hinter ihm, ein Spiel daraus machte. Danach ließ ihn sein Gedächtnis vollends im Stich. Er ging im Geist rückwärts die Fährte entlang, zurück in die Berge, kletterte durch ein dunkles Gewirr von Ästen, während sich in seinem Kopf ständig ein Lied wiederholte. Plappernd und plaudernd, Taler, musst wandern ... Der Dornenkönig. Mit Übelkeit erregender Abruptheit erinnerte er sich an das Wesen in der Höhle. Er erwacht. Es ist alles wahr. »Winna!«, krächzte er. Verdammt sollte der Dornenkönig sein. Verdammt sollte die Welt sein. Fend hatte Winna. Erst Qerla, jetzt Winna. Er hob die Beine über den Rand der Pritsche, achtete nicht auf die gewaltigen Wogen des Schmerzes. Irgendetwas in seinem Kopf drehte sich wie ein Kinderkreisel, doch es gelang ihm trotzdem aufzustehen. Zwei Schritte brachten ihn zu der nach oben hin gewölbten Wand, und er benutzte sie als Stütze, um aus der Nische zu wanken. Ein schwarzer Blitz zuckte hinter seinen Augen vorbei, und dann war er in dem großen Raum, einer riesigen Höhle, wie eine Sefry-Rewn, aber ebenmäßig, hoch gewölbt, hoch über ihm. Seine Beine befanden sich nicht mehr unter ihm. Der Steinboden 442 machte ihm jäh klar, wie töricht er gewesen war, es mit Gehen zu versuchen. Er verfluchte ihn und beschränkte sich aufs Kriechen. Irgendwo läutete eine Glocke, und der Gesang verstummte. Ein paar Augenblicke später hörte er ganz in der Nähe ein rasches Atemholen. »Gnädige Heilige!«, rief eine Männerstimme. »Herr, Ihr solltet im Bett bleiben.« Blinzelnd schaute Aspar auf und sah einen Mann in der schwarzen Kutte eines Mönchs. »Winna«, erklärte er durch zusammengebissene Zähne. Dann wurde er ohnmächtig. Als er das nächste Mal zu sich kam, fiel sein Blick auf ein vertrautes Gesicht. »Ha«, knurrte Aspar. »Ich habe viel Zeit und Mühe darauf verwandt, Euch hierher zu schleifen«, sagte Stephen Darige. Der junge Mann saß ein kleines Stück von ihm entfernt auf einem Schemel. »Es wäre nett, wenn Ihr die ganze Arbeit nicht zunichte machen würdet, indem Ihr Euch jetzt umbringt.« »Wo bin ich?«, wollte Aspar wissen. »Im Kloster d'Ef natürlich.« »D'Ef ?«, grunzte Aspar. »Mehr als sechzig Meilen?« »Sechzig Meilen von wo? Was ist Euch zugestoßen, Waldhüter White?« »Und Ihr habt mich gefunden?«, brummte Aspar skeptisch.
»Ja.« Wieder versuchte er, sich aufzusetzen. »Darige«, verkündete er. »Ich muss fort.« »Das geht nicht«, widersprach Stephen und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es geht Euch besser als vorher, aber Ihr seid immer noch schwer verwundet. Ihr werdet sterben, ehe Ihr nur eine halbe Meile weit kommt, und was immer es ist, was Ihr so dringend erledigen wollt, wird dann ebenso wenig getan werden, wie es geschehen wird, wenn Ihr Euch hier ein wenig ausruht.« 443 »Das ist Sceat. Ich bin verletzt, aber so schlimm auch wieder nicht.« »Waldhüter, wenn ich Euch nicht gefunden hätte, wärt Ihr jetzt tot. Wenn ich Euch nicht in der Nähe eines Klosters gefunden hätte, wo die heilenden Sacaum wohl bekannt sind, wärt Ihr auch tot oder hättet zumindest Eure Beine verloren. Noch immer wollen Euch drei verschiedene Sorten Gift ans Leben, und das Einzige, was sie in Schach hält, ist die Behandlung, die Euch hier zuteil wird.« Aspar starrte in die Augen des jungen Mannes und überlegte. »Also, wie lange noch, bis ich aufbrechen kann?«, schnaubte er. »Fünfzehn, zwanzig Tage.« »Das ist zu lange.« Stephens Gesicht wurde grimmig, und er beugte sich vor. »Was habt Ihr dort draußen gefunden?«, fragte er mit gesenkter Stimme. »Was hat Euch das angetan?« Er hielt inne. »Als ich Euch gefunden habe, ist Euch irgendein Tier mit glühenden Augen gefolgt.« Es geht nicht um das, was ich gefunden habe, dachte Aspar trostlos. £5 geht um das, was ich verloren habe. Doch er sah Stephen erneut in die Augen. Irgendjemandem musste er es schließlich erzählen, oder nicht? »Das war der Gryffin«, knurrte er. »Es war genau so, wie Sir Symen gesagt hat. Ich habe alles gesehen. Die Toten, die Opfer auf dem Sedos. Den Gryffin. Den Dornenkönig. Ich habe alles gesehen.« »Den Dornenkönig?« »Ich hab ihn gesehen. Ich glaube nicht, dass er schon richtig wach ist, aber er hat sich geregt. Das habe ich gespürt.« »Aber wer ... was ist er?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Aspar. »Grim soll mich holen, ich weiß es nicht. Aber ich wünschte, ich hätte ihn nie gesehen.« »Aber er hat Euch das angetan?« »Ein Mann namens Fend hat einiges davon getan. Seine Männer haben mich mit Pfeilen gespickt. Der Gryffin hat noch mehr getan.« Er rieb sich den Kopf. »Darige, zumindest muss ich die anderen Waldhüter benachrichtigen, so bald wie möglich. Und den König. Könnt Ihr dafür sorgen, dass das geschieht?« 444 »Ja«, antwortete Stephen, doch Aspar glaubte, ein Zögern zu bemerken. »Dieser Mann, der mich verwundet hat - Fend. Er hat eine Freundin von mir als Gefangene genommen. Ich muss Fend finden.« »Das werdet Ihr auch«, sagte Stephen leise. »Aber nicht jetzt. Selbst wenn Ihr ihn finden würdet - in diesem Zustand könntet Ihr nicht gegen ihn bestehen.« »Nein«, gab Aspar widerstrebend zu. Wenn Fend Winna umbringen wollte, war sie längst tot. Wenn er irgendeinen Grund hatte, sie am Leben zu lassen, würde sie wahrscheinlich noch eine Weile am Leben bleiben. Er zuckte zusammen, als ein Bild von ihr vor ihm auftauchte, an einen Baum genagelt, die Eingeweide herausgerissen undNein. Sie lebt noch. Sie muss noch leben. Der Junge hatte Recht. Er gestattete seinen Gefühlen, seiner Vernunft im Weg zu stehen. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Ihr habt den Gryffin gesehen?«, fragte Aspar. »Aus der Nähe?« Stephen nickte. »Wenn er das war. Es war dunkel, aber das Vieh hatte leuchtende Augen und einen Schnabel wie ein Vogel.« »Werlic. Ja. Aber Ihr seid nicht krank geworden? Er hat Euch nicht angegriffen?« »Nein, das war seltsam. Er hat sich benommen, als sei er ungehalten oder so etwas, und dann ist er verschwunden. Ich weiß nicht, warum. Er hätte mich mit einem einzigen Schlag töten können, da bin ich mir sicher.« »Er hätte Euch mit seinem Atem töten können«, verbesserte Aspar. »Ich bin schon umgekippt, weil ich ihm bloß in die Augen geschaut habe. Ich weiß von einem Jungen, der gestorben ist, weil er jemanden berührt hat, der durch die Berührung des Ungeheuers umgekommen ist. Und Ihr habt noch nicht einmal Bauchschmerzen bekommen?« Stephen runzelte die Stirn. »Ich hatte gerade den Pfad der Schreine des Decmanus beschritten. Vielleicht hat der Heilige mich beschützt.« 445 Aspar nickte. Was den Gryffin betraf, gab es sowieso eine Menge Dinge, die er nicht verstand. Die Bestie hätte ihn jederzeit töten können, doch sie hatte es nicht getan. »Könnt Ihr den Brief für mich überbringen?«
»Ich kann jemanden finden, der es tut«, antwortete Stephen. »Im Augenblick habe ich zu tun.« »Dann tut es, sobald Ihr könnt. Ich vertraue sonst niemandem hier.« »Ihr vertraut mir?« »Ja. Nehmt es nicht persönlich - ich kenne sonst niemanden hier. Euch kenne ich ein bisschen.« Er hielt inne. »Und nehmt auch dies nicht so wichtig - aber, äh ... danke.« Der junge Priester gab sich alle Mühe, nicht zu lächeln. »Das war ich Euch schuldig«, erwiderte er. Sein Gesicht wurde ernster. »Ich muss Euch noch etwas anderes fragen. Als ich Euch gefunden habe, hattet Ihr dies hier bei Euch.« Stephen griff in einen Lederbeutel und zog ein mit Gravuren verziertes Hörn hervor. Ein Schauer durchlief Aspars Glieder, als er es erblickte. »Ja«, bemerkte er. »Wo habt Ihr das gefunden?« »Ich weiß es nicht. Da ist eine Lücke, eine Zeit, an die ich keine Erinnerung habe, nachdem ich den Dornenkönig gesehen habe. Danach hatte ich das. Wisst Ihr, was es ist?« »Nein. Aber die Sprache darauf ist sehr alt.« »Und was steht da?« »Ich weiß es nicht.« Der Priester klang besorgt. »Aber ich habe vor, es herauszufinden. Darf ich es mir eine Weile ausleihen?« »Ja. Ich habe keine Verwendung für das verdammte Ding.« Stephen nickte und machte Anstalten, sich zu erheben. »Ach, noch etwas«, sagte er. »Eure Pferde sind hier aufgetaucht, einen Tag nachdem ich Euch hergebracht habe. Natürlich darf niemand in ihre Nähe kommen, aber sie haben massenhaft Gras. Man wird sie in Ruhe lassen, bis Ihr Euch erholt habt.« Aspar schnürte sich die Kehle zu, und einen Moment lang packte 446 ihn die furchtbare Angst, dass er gleich vor dem Jungen in Tränen ausbrechen würde. Wenigstens hatte er Unhold und Engel nicht verloren. Sie waren ihm gefolgt, die verdammten, blöden, treuen Biester, selbst mit einem Gryffin auf den Fersen. »Ich komme zurück, wenn ich meine Arbeit erledigt habe«, versicherte ihm Stephen. »Macht Euch bloß keine Umstände«, knurrte Aspar schroff. »Ich brauche kein Kindermädchen.« »Ehrlich gesagt doch«, entgegnete Stephen. Aspar schnaubte und schloss die Augen. Er hörte, wie Stephens Schritte sich entfernten. Ich werde dich finden, Winna. Oder ich werde dich rächen, gelobte er. Fratrex Pell lächelte Stephen an, als dieser in sein karges Zimmer trat. »Ich bin hocherfreut«, verkündete er und tippte auf den neuesten Stapel Übersetzungen. »Niemand sonst hat auch nur einen Satz dieser Tafeln entziffern können. Die Heiligen müssen Euch wahrlich gesegnet haben.« »Das haben sie, Fratrex«, erwiderte Stephen. »Die Sprache selbst war nicht schwer - ein Dialekt des Alten Cavarum.« »Wieso war es dann so schwierig?« »Es war rückwärts geschrieben.« Der Fratrex blinzelte, dann lachte er. »Rückwärts?« »Jedes Wort, von hinten nach vorn.« »Welcher Schreiber würde so etwas tun?« Stephen dachte an den beklemmenden Inhalt der Tafeln. »Einer, der nicht will, dass sein Werk allenthalben gelesen wird, würde ich sagen.« Er rang um die nächsten Worte. »Fratrex, ich weiß, wir haben schon darüber gesprochen, aber mein Herz sagt mir, dass diese Dinge am besten verschlüsselt bleiben sollten.« »Wissen gehört der Kirche«, erwiderte der Fratrex sanft. »Alles Wissen. Macht ein Ende mit Euren Fragen, Bruder Stephen, ein für alle Mal. Ich bewundere Eure Beharrlichkeit, aber sie ist fehl am Platze.« 447 Stephen nickte. »Ja, Fratrex.« »Nun zu dem hier.« Der Geistliche hielt eine Pergamentrolle hoch. »Ich bin verwirrt. Ich habe Euch nicht gebeten, das zu übersetzen.« »Nein, Fratrex, aber in Anbetracht dessen, was der Waldhüter uns berichtet hat, hielt ich es für angebracht nachzusehen, was im Seriftorium über den Dornenkönig und über Gryffins zu finden ist.« »Ich verstehe. Ich nehme doch an, Ihr habt dies in Eurer Freizeit getan?« »Abends, Fratrex, während der Stunde der Einkehr.« »Es gibt einen Grund dafür, dass diese Stunde so heißt, Bruder Stephen. Ihr solltet in Euch gehen.« »Ja, Fratrex. Aber ich dachte, das hier wäre vielleicht wichtig.« Der Fratrex seufzte und schob die Scrifti zurück. »Der Waldhüter war im Fieberwahn, als Ihr ihn hergebracht habt. Er stand am Ufer und erwartete das Boot des heiligen Farsinth. Was immer er auch für Fieberträume gehabt hat, sie haben wahrscheinlich keinerlei Bedeutung.« »Er war schwer verletzt«, gab Stephen zu. »Und trotzdem kenne ich diesen Mann, jedenfalls ein wenig. Er ist durch und durch sachlich und neigt nicht zu wilden Fantasien. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hielt er
Gryffins und Dornenkönige für Kindermärchen und sonst gar nichts. Jetzt ist er überzeugt, beide gesehen zu haben.« »Wir machen uns oft über die Dinge lustig, die wir am innigsten glauben«, sagte der Fratrex. »Besonders über die, die wir nicht glauben wollen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem wachen und dem im Wahn gefangenen Verstand.« »Ja, Fratrex. Aber wie Ihr seht, gibt es in den Tafles Taceis, dem Buch des Raunens, einen Abschnitt, der aus einer ungenannten Quelle in altem Hochcavarisch kopiert wurde. Darin wird der Gorgos Gripon erwähnt, das >krummnasige Grauen<. Sie werden als >Hunde des Gehörnten Lords< bezeichnet, und außerdem heißt es, ihr Blick wäre tödlich.« »Ich kann lesen, wisst Ihr«, entgegnete der Fratrex. »Die Tafles Taceis sind eine Aufzählung heidnischer Torheiten. In den Anmerkun448 gen heißt es doch, dass dies höchstwahrscheinlich ein Begriff war, mit dem die Leibwächter des Magierkönigs Bhragnos beschrieben wurden, oder? Grausame Mörder, bekannt für ihre Schnabelhelme?« »Das stimmt«, gab Stephen zu. »Aber diese Anmerkung wurde fünfhundert Jahre später geschrieben als der ursprüngliche Textabschnitt.« »Von einem gelehrten Mitglied der Kirche.« »Aber Fratrex, ich habe die Bestie gesehen.« »Ihr habt eine Bestie gesehen, gewiss. Es sind schon öfter Löwen aus den Hügeln heruntergekommen.« »Ich glaube nicht, dass das ein Löwe war, Fratrex.« »Habt Ihr schon einmal einen Löwen gesehen, mitten in der Nacht?« »Ich habe überhaupt noch nie einen Löwen gesehen, Ehrwürdiger.« »Genau. Wenn das, was Ihr gesehen habt, eine dieser Bestien war, wieso hat sie Euch dann nicht getötet? Wieso wurdet Ihr nicht durch ihre bloße Gegenwart vergiftet? Genau das hätte geschehen müssen, wenn wir das Gestammel des Waldhüters ernst nehmen wollten.« »Das kann ich nicht beantworten, Fratrex.« »Ich denke, Eure Nachforschungen sind Zeitverschwendung.« »Ist es Euer Wunsch, dass ich mich nicht länger mit der Angelegenheit befasse?« Der Fratrex zuckte mit den Schultern. »Solange es keine nachteiligen Auswirkungen auf die Arbeit hat, die von Euch erwartet wird, könnt Ihr Euch befassen, womit Ihr wollt. Aber meiner Ansicht nach jagt Ihr Hirngespinsten nach.« »Ich danke Euch für Eure Meinung, Fratrex«, sagte Stephen und verbeugte sich. Warum habe ich nichts von dem Hörn gesagt?, fragte sich Stephen, als er das Zimmer des Fratrex verließ. Das Hörn war ein Problem. Die Zeichen darauf gehörten zu einer Schrift, die er erst zweimal zu Gesicht bekommen hatte. Es war eine Geheimschrift, die während der Herrschaft des Schwarzen Narren verwendet worden war. Man konn449 te sie nur aufgrund eines einzigen Scrifts - geschrieben auf Menschenhaut - entziffern, zu dem eine gleich lautende Abschrift in Vadhiianisch gehörte. Die Buchstaben hatten keinerlei Ähnlichkeit mit irgendwelchen anderen Schriftzeichen, die der Kirche bekannt waren, und daher hatte Stephen stets angenommen, sie seien von den Schreibern erfunden worden, die sich ihrer bedient hatten. Und doch tauchten sie hier wieder auf und gaben diesmal etwas in einer so fremdartigen Sprache wieder, dass Stephen nicht die leiseste Ahnung hatte, was es heißen könnte. Die Sprache ähnelte keiner anderen, die er je gelesen oder gehört hatte. Oder vielmehr, keiner menschlichen Sprache. Doch die Art und Weise, wie die Worte gebildet wurden, gemahnte an die winzigen Fragmente der Skasloi-Sprache, die in älteren Texten des Cavarums erläutert wurden. Was hatte der Waldhüter da gefunden? Mit nachdenklich geschürzten Lippen kehrte Stephen ins Scriftorium zurück. Eine genauere Untersuchung des Buchs des Raunens erwies sich als enttäuschend. Im Hinterkopf hatte er den Gedanken gehegt, »Gehörnter Lord« sei vielleicht besser als »Lord mit Hörnern« zu übersetzen, doch das fragliche Wort bezog sich ganz deutlich auf etwas wie ein Geweih, nicht auf ein Blasinstrument aus Hörn. Eine Weile saß er da, starrte trübsinnig auf den Text und wünschte sich, er hätte die ursprünglichen Quellen zur Hand, über die der unbekannte Autor hatte verfügen können. Sein Verstand schwirrte verschiedene Pfade hinauf, die alle nirgendwo hinführten. Er blätterte das Werk der Relikte durch, in der schwachen Hoffnung, auf irgendeine religiöse Ikone zu stoßen, die Ähnlichkeit mit dem Hörn hatte. Wenn die Sprache tatsächlich ein Skasloi-Dialekt war, dann stammte sie wahrscheinlich aus der Zeit vor dem Triumph der Heiligen über die alten Götter. Als er das Buch wegstellte, drängte sich ihm eine Erinnerung auf, 450 an einen noch nicht lange zurückliegenden Abend, an dem Aspar White ihm mit Haergrim dem Wüterich gedroht und ihm Heidenangst gemacht hatte. Seine eigene, wirklichkeitsfremde Verbindung zu der Bemerkung seines Großvaters über den heiligen Hörn den Verdammten fiel ihm wieder ein, und einer plötzlichen Eingebung
folgend machte er sich auf die Suche nach einem Buch über obskure und falsche Heilige Ostcrotheniens. Es dauerte nicht lange, bis er es gefunden hatte. Seit er den Pfad der Schreine beschritten hatte, erschien Stephen das Scriftorium fast wie eine Erweiterung seines Verstandes und seiner Finger, er brauchte nur an ein Scrift zu denken, und schon führte ihn der Gedanke zu dem richtigen Regal. Das Buch war noch recht neu, verfasst von einem Gelehrten aus den Midenlanden, und obgleich es ein wenig altertümlich aufgebaut war, fand er bald den Verweis, den er suchte. Er schlug die angegebene Seite auf und begann zu lesen. Das Volk der Ooten spricht im Flüsterton über Haergrim den Wüterich, einen blutrünstigen Geist des Wahnsinns, der mit der Jagd der Toten reitet. Es kann nicht bezweifelt werden, dass es sich hier um nichts anderes als um eine Erscheinungsform des heiligen Wrath oder, wie er auf Hansisch genannt wird, von Ansi Woth handelt, einem Heiligen mit seltsamem Werdegang. Ursprünglich einer der älteren Götter, war er von wankelmütiger Natur und wechselte zu Beginn des Zeitalters Everon die Seiten, um ein Heiliger zu werden, wenn auch ein zweifelhafter. Er führt das Regiment bei der Hinrichtung von Verbrechern durch den Strang, und es gilt, seinen Segen zu meiden, da er unfehlbar zu Wahnsinn und Vernichtung führt. Der Ruf seines Horns, wie das des Weidenlords, weckt angeblich das Verhängnis. Stephen hielt inne, las dann aber weiter. Was folgte, war jedoch weitgehend eine Liste anderer Namen für den Wüterich. Einer davon lautete tatsächlich heiliger Hörn der Verdammte, denn es hieß, er habe den Fluch der Alten Götter auf sich gezogen, weil er sie verraten hatte. 451 Doch Stephen kehrte immer wieder zu dem Verweis auf den Weidenlord zurück, und als er zu Ende gelesen hatte, suchte er nach einem Eintrag dazu. Zu seiner Enttäuschung gab der nicht viel her. Der Weidenlord ist ein falscher Heiliger, zweifelsohne eine Erfindung der Landbevölkerung, in der sich ihre Furcht vor dem finsteren, unergründlichen Wald niederschlägt, der sie umgibt. Am häufigsten findet man ihn in Kinderliedern, wo er eine Gestalt des Schreckens ist. Sein Erwachen lässt angeblich den Himmel einstürzen und wird mit einem Hörn in Verbindung gebracht, das ihn in seiner dornigen Behausung begleitet. Möglicherweise hat er etwas mit den Erzählungen von Baron Grünblatt zu tun, und er könnte auch eine wirre Version des heiligen Selvans sein, da von beiden ähnliche Dinge erzählt werden. In manchen Liedern wird er auch als der Dornenkönig bezeichnet. Aufgeregt durchstöberte Stephen ähnliche Quellen und fand einige der erwähnten Kinderlieder, jedoch nichts, was mehr Licht auf die gegenwärtige Lage geworfen hätte. Es war spät, und nur er war noch im Scriftorium. Schlaf zupfte an seinen Augenwinkeln, und fast wollte er schon beschließen, dass er alles gefunden hatte, was es zu finden gab. Ein Scrift war noch übrig, und das war nicht besonders viel versprechend, kaum mehr als eine Sammlung Kindermärchen, doch als er es müde entrollte, fiel ihm eine kleine Zeichnung ins Auge. Sie stellte eine menschenähnliche Gestalt dar, die ganz aus Blättern und Ranken bestand; Äste ragten wie ein Geweih von ihrem Kopf auf. In einer Hand hielt sie ein kleines Hörn. Sie gehörte zu einem Lied, auf das er schon zweimal gestoßen war, ein Ringelreihen für Kinder. Als er das Scrift weglegen wollte, glitten seine Finger über dessen Rand, und er fühlte etwas - eine Art Prägung in dem Pergament. Neugierig geworden, untersuchte er sie näher. Es sah aus, als hätte sich jemand auf einem anderen Pergament oder auf Papier eine Notiz gemacht, höchstwahrscheinlich mit einem Blei452 griffel, und die Schrift hatte sich durchgedrückt. Eifrig suchte er nach einem Kohlestift und rieb leicht über das Pergament, wie er es bei den Grenzsteinen an der Vio Caldatum gemacht hatte. Als er fertig war, saß er da und starrte das Ergebnis an. Die Schriftzeichen waren die gleichen wie auf Aspar Whites Hörn, Buchstabe für Buchstabe. Ihnen folgte ein einziges Wort in der Königssprache. Finden. »Ich würde mich von ihr fern halten, wenn ich du wäre«, bemerkte Bruder Ehan am nächsten Tag, als Stephen sich vorsichtig an Engel heranpirschte. »Ich habe Engel schon einmal geritten«, sagte Stephen. »Nicht wahr, Mädchen?« Die Stute sah ihn zweifelnd an. »Na ja, vielleicht ist sie nicht so verrückt wie der andere, aber sie ist ganz schön verwildert.« »Schsch. Engel.« Er hielt der Stute einen Apfel hin. Sie schnupperte misstrauisch und rollte die Augen, doch sie kam ein oder zwei Schritte näher. »So ist's recht, braves Mädchen. Komm her.« »Ich verstehe auch gar nicht, was du vorhast«, wunderte sich Bruder Ehan. »Ich habe vor«, erwiderte Stephen leise, »sie zu reiten.« »Warum?« »Weil ich zu Fuß zu lange brauchen würde, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill.« »Wovon im Namen des heiligen Rooster redest du eigentlich?« Die Stute war jetzt fast nahe genug, dass er sie hätte berühren können. Ihre Flanken bebten, als sie einen weiteren Schritt machte, den Kopf senkte, ihn wieder hob und vorsichtig den Apfel nahm.
»So ist es gut, Mädchen«, lobte Stephen. »Kennst du das hier noch?« Er holte ein Zaumzeug hinter dem Rücken hervor. Engel beäugte das Ding, doch seine Gegenwart schien sie fast zu 453 beruhigen. Stephen legte es ihr seitlich an den Kopf und ließ sie die Trense und ihn selbst gründlich beschnuppern, dann legte er es ihr behutsam um. Sie hatte nichts dagegen. »So eine Brave bist du«, gurrte Stephen. »Sag mir, wo du hinwillst«, verlangte Bruder Ehan. »Wir sollen uns nachher um den Obstgarten kümmern.« »Ich weiß. Wenn man mich vermisst, erwarte ich nicht, dass du für mich lügst. Deshalb sage ich dir auch nicht, wo ich hinwill.« Ehan kaute auf seiner Unterlippe und spuckte aus. »Bist du zur Abendandacht zurück?« »Ja, oder ich komme gar nicht wieder«, versicherte ihm Stephen. »Also gut, Mädchen, bist du so weit?« Engel antwortete, indem sie ihn nicht umgehend abwarf, nachdem er vorsichtig auf ihren Rücken geklettert war. Sie stampfte ein wenig, nahm dann jedoch das Gebiss an. Stephen ließ sie in raschen Trab fallen, was auf dem blanken Pferderücken für alle Beteiligten nicht besonders angenehm war. »Tut mir Leid, Mädchen«, sagte er. »Ich hätte keinen Sattel hier herausschleppen können, ohne dass es aufgefallen wäre.« Er hatte fast zwei Tage gebraucht, um Aspar White von dort, wo er zusammengebrochen war, zum Kloster zu schleppen, tatsächlich jedoch betrug die Entfernung nur wenige Meilen. Ohne Bürde und zu Pferde legte er sie in weniger als zwei Glockenschlägen zurück. Sein Gedächtnis war im geistigen Kartenzeichnen genauso gut, wie es seit dem Pfad der Schreine in allen Dingen war, sodass er den Ort ohne große Mühe fand. Stirnrunzelnd betrachtete er die Stelle und stieg ab. Totes Laub bedeckte den Boden; es stammte von einem Baum, der vom Blitz hätte getroffen sein können, doch er wies keine Spuren eines Blitzschlags auf. Nichtsdestotrotz war er tot, ebenso ein Streifen Unterholz und Farn, der sich in die Lichtung wand, kurz vor den Überresten seines Feuers endete, dann in eine andere Richtung verlief und schließlich außer Sicht geriet. Der Punkt, an dem die Spur die Richtung wechselte, war genau die Stelle, wo seiner Erinnerung nach das Tier mit dem Schnabel gestanden hatte. 454 »Das war kein Löwe, Engel«, murmelte er. Nicht dass er die Erklärung des Fratrex je akzeptiert hatte. Er betrachtete immer noch die unnatürliche Fährte, als er in der Ferne Stimmen hörte. Stephen hatte für ein Leben reichlich genug Erfahrung mit Fremden im Wald gemacht, deshalb führte er Engel schnell davon. Er erinnerte sich an Aspars Geschichte und stieg einen Hügelkamm hinauf, wo man ihn hinter einer Reihe dichterer Bäume vom Tal aus nicht sehen konnte. Auf der anderen Seite des Kamms band er die Stute an und kroch dann wieder hinunter, sodass er die Stelle, wo er Aspar White gefunden hatte, im Blick hatte. Vielleicht einen halben Glockenschlag später tauchten acht berittene Männer auf. Stephen verspürte einen kalten Schock, als er sie erkannte. Es waren Desmond Spendlove und seine Männer. Sie hatten die Kapuzen zurückgeschlagen, und Stephen erkannte mehrere von ihnen: den riesigen Bruder Lewes, die Brüder Aligern, Topan und Sei-gereik - laut Ehan die vier Gemeinsten der ganzen Bande. Die anderen kannte er vom Sehen, wusste jedoch ihre Namen nicht. Sie machten Halt und untersuchten die Feuerstelle und die abgestorbenen Pflanzen. »Was hat er vor?«, grunzte Lewes. Spendlove schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hat jemanden gejagt. Vielleicht diesen Waldhüter, von dem Fend uns erzählt hat.« »Richtig. Und wo ist der jetzt?« »Irgendjemand hat seine Leiche weggeschleift«, sagte Seigereik, der den Boden untersuchte. »Hier entlang.« »D'Ef liegt ein paar Meilen entfernt in dieser Richtung«, brummte Spendlove nachdenklich. »Interessant.« »Aber der Gryffin ist ihnen nicht gefolgt«, sagte Seigereik. »Wahrscheinlich ist er weitergezogen, nachdem er seine Beute zur Strecke gebracht hat.« »Sollen wir also seine Fährte wieder aufnehmen?« 455 Spendlove schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben im Westen zu tun.« »Ah. Die Königin?« »Der Wechselbalg in ihrer Leibwache hat den Anschlag verpfuscht. Jetzt sind wir an der Reihe. Wir sollen uns in Loiyes mit Fend treffen.« Wieder betrachtete er die Spur des Gryffin. »Aber zuerst schauen wir wohl lieber in d'Ef vorbei, um mehr darüber zu erfahren, was hier passiert ist.« »Mit den Verbündeten, die Fend hat, sollte er eigentlich in der Lage sein, allein damit fertig zu werden«, sagte Topan. Seine eisblauen, stechenden Augen suchten müßig den Wald ab. »Fend kann scheitern, genau wie der Wechselbalg. Sie hätten uns gleich schicken sollen, aber es steht uns nicht zu, Fragen zu stellen.« »Trotzdem, es könnte einen Monat dauern, dorthin zu kommen«, wandte Topan ein. »Was ist, wenn wir die ganze Reise umsonst machen?« »Es gibt noch andere Angelegenheiten zu bereinigen«, versicherte ihm Spendlove. »Außerdem tut dir die
Landluft bestimmt gut.« »Davon hab ich in letzter Zeit schon zu viel abgekriegt.« »Wir tun, was wir tun«, erwiderte Spendlove. »Wenn du es nicht mehr tun willst, weißt du ja, wo es hinausgeht.« Er ging zu seinem Pferd. Als sie davonritten, wagte Stephen nicht zu atmen. Mit zusammengebissenen Zähnen lag er da, und ihm wurde klar, dass er Aspar White möglicherweise an den gefährlichsten Ort gebracht hatte, den man sich vorstellen konnte. 456 35. Kapitel Der Schoß der Mefitis Anne träumte vom Sonnenlicht auf der grasbewachsenen Steppe, XA_ von den feurigen Sonnenuntergängen über dem Flussdelta, vom simplen Tanz einer Kerzenflamme. Sie hüllte sich in die Erinnerung an Farbe und Schatten und hoffte, sie würde nicht vergessen, wie der Wind im Laub der hohen Ulmen entlang der Kanäle das Licht in unzählige Stücke Phay-Gold zersplittern ließ. Nicht so, wie sie Rodericks Gesicht vergessen hatte. Sie werden nicht zulassen, dass ich verrückt werde, dachte sie. Sie werden mich nicht neun Tage lang hier unten lassen. Doch vielleicht hatten sie das bereits getan. Vielleicht war sie schon seit einem Monat hier. Seit einem Jahr. Vielleicht war ihr Haar grau geworden, und Roderick war verheiratet. War Vater geworden, war an Alterschwäche gestorben. Vielleicht bestand ihr Wahnsinn darin, sich an Hoffnungen zu klammern, darin, so zu tun, als sei sie noch gar nicht sonderlich lange hier. Sie versuchte, die Zeit zu erfassen, indem sie ihre Herzschläge zählte oder mit den Fingern klopfte. Sie versuchte, sie anhand ihres Hungers zu messen, und daran, wie viel Essen und Wasser noch übrig war. Die Augen hielt sie lieber geschlossen als geöffnet. Mit geschlossenen Augen konnte sie so tun, als sei alles so, wie es sein sollte, als läge sie in ihrem Bett und versuche zu schlafen. Natürlich konnte sie kaum noch zwischen Wachen und Schlafen unterscheiden. Ihr einziger Trost war, dass sie angefangen hatte, die Dunkelheit zu hassen. Nicht sie zu fürchten, wie sie es anfangs getan hatte, oder sich ihr zu ergeben, wie Schwester Secula es sicher beabsichtigte. Nein, sie verabscheute sie. Sie schmiedete Komplotte gegen sie, stellte sich vor, wie sie ihr ein Licht in ihren hässlichen Wanst rammte und sie tötete. In der Hoffnung, irgendein kleines Stück Stahl zu 457 finden, irgendetwas, womit man einen Funken aus dem Stein schlagen konnte, durchsuchte das sie das wenige, das ihr zu Verfügung stand, doch sie fand nichts. Natürlich nicht. Wie viele Mädchen hatten sie im Laufe der Jahrhunderte hier heruntergeschickt? Wie viele von ihnen hatten das Gleiche gedacht? »Aber ich bin nicht irgendein Mädchen«, murmelte Anne und lauschte ihrer Stimme, die die Höhle füllte. »Ich bin eine Tochter des Hauses Dare.« Und so starrte sie mit großer Entschlossenheit ins Nichts und stellte sich einen Lichtpunkt vor, verdrängte alle anderen Gedanken. Wenn sie die Dunkelheit in der Wirklichkeit nicht brechen konnte, so doch zumindest in ihrem Herzen. Sie versuchte es, und vielleicht schlief sie, und sie versuchte es wieder. Sie nahm die Vorstellung von Licht, ihre Erinnerungen daran, und presste sie zwischen ihren Augen zusammen, wollte mit jeder Faser ihres Seins, dass es wirklich war. Und auf einmal war es da - ein Funke, der winzigste aller Punkte, nicht größer als ein Nadelstich. »Bei allen Heiligen!«, keuchte sie, und das Licht verschwand. Sie weinte eine Weile, trocknete sich die Augen und begann von neuem, mit noch größerer Entschlossenheit als zuvor. Als der Funke das nächste Mal erschien, hielt sie ihn fest, hätschelte ihn, nährte ihn mit jedem Quäntchen Licht, das sie finden konnte, und langsam, zögernd und wunderschön wurde er größer. Er wuchs zur Größe einer Eichel an, dann war er so groß wie eine Hand, und er enthielt Farben und breitete sich aus, so wie sich die Blütenblätter einer Prunkwinde öffneten. Jetzt konnte sie etwas sehen, allerdings nicht das, was sie erwartet hatte. Keine Mauern, keinen Steinboden, sondern raue Eichenrinde, verschlungene Ranken, ein paar gelbe Blumen - als sei das Licht in Wirklichkeit ein Loch in der Wand des dunklen Raums, durch das man einen Garten sehen konnte. Doch es war kein Loch, es war eine Sphäre, und sie drängte die Finsternis zurück, bis nichts mehr übrig war und Anne nicht in einer Höhle, sondern auf einer hell erleuchteten Lichtung stand. 458 Sie schaute nach unten und konnte ihren Schatten nicht sehen, und mit einem jähen Stolpern ihres Herzens wusste sie, wo sie war. Außerdem wusste sie, dass ihr Wahnsinn jetzt vollkommen sein musste. »Du bist ohne deinen Schatten gekommen«, sagte eine Stimme. Es war eine Frau, allerdings nicht die, die sie schon einmal gesehen hatte, damals, an jenem Tag auf Tom Woth. Das offene Haar dieser Frau war von wunderschönem Kastanienbraun, und sie trug eine Maske, die aus Knochen geschnitzt und sehr blank poliert war. Sie war fein gearbeitet und sah fast lebendig aus, und sie bedeckte den Mund der Frau nicht. Die trug ein Kleid aus goldbrauner Seide, das mit verschlungenen Flechten und Knotenmustern aus Schlangen mit Widderköpfen und Eichenblättern bestickt war. »Ich hatte überhaupt nicht vor, hierher zu kommen«, sagte Anne.
»Aber du hast es getan. In Eslen hast du einen Pakt mit Cer geschlossen. Dieser Pakt hat dich zum Konvent der heiligen Cer gebracht, und jetzt bist du hier.« Sie hielt inne. »Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.« Aus irgendeinem Grunde ängstigte Anne diese simple Frage mehr, als es die Dunkelheit getan hatte. »Wisst Ihr das nicht? Seid Ihr keine Heilige? Wer seid Ihr, und wo ist die andere Frau, die mit dem goldenen Haar?« Die Frau lächelte wehmütig. »Meine Schwester? In der Nähe, da bin ich mir sicher. Was mich betrifft, ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich warte darauf, es zu erfahren. Genau wie du.« »Ich weiß, wer ich bin. Ich bin Anne Dare.« »Du weißt diesen Namen, das ist alles. Alles andere ist entweder geraten oder eine Illusion.« »Ich verstehe Euch nicht.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht wichtig. Was willst du?« »Was wollt Ihr?« »Du bist hergekommen, weil du etwas willst.« Anne zögerte. »Ich will aus der Höhle heraus, aus dem Schoß der Lady Mefitis.« 459 »Ganz einfach. Verlass ihn.« »Es gibt einen Weg hinaus?« »Ja. Einen hast du schon gefunden, aber es gibt noch einen anderen. Ist das alles?« Anne dachte einen Moment lang sorgfältig darüber nach. Wahrscheinlich war sie verrückt, aber wenn nicht... Wenn nicht, würde sie es diesmal besser machen als beim letzten Mal. »Nein«, antwortete sie entschlossen. »Als Eure Schwester mich entführt hat, hat sie ein paar Dinge gesagt. Ich dachte, es wäre Unsinn, oder ich hätte geträumt. Praifec Hespero hat das auch gedacht, als ich es ihm erzählt habe.« »Und jetzt?« »Ich glaube, sie war wirklich da, und ich möchte verstehen, was sie gesagt hat.« Die Lippen der Frau wölbten sich zu einem Lächeln. »Sie hat dir gesagt, dass es eine Königin in Eslen geben muss, wenn er kommt.« »Ja. Aber wieso, und wer ist >er Und warum hat sie das mir gesagt?« »Gewiss hast du meine Schwester das auch gefragt.« »Ja, und sie hat mir mit Unsinn geantwortet. Außerdem hatte ich damals Angst, zu viel Angst, um klarere Antworten zu verlangen. Jetzt will ich welche haben.« »Man bekommt nicht immer alles, was man will.« »Aber Ihr - sie - wollte, dass ich etwas tue. Jeder will, dass ich etwas tue. Dass ich mich so benehme anstatt so, dass ich in einen Konvent gehe, dass ich dies oder jenes verspreche. Also, hier bin ich! Wenn Ihr etwas von mir wollt, erklärt es, oder haltet Euch aus meinen Träumen heraus!« »Diesmal bist du hergekommen, Anne, aus freiem Willen.« Die maskierte Frau seufzte. »Stell deine Fragen. Ich werde versuchen, hilfreicher zu sein als meine Schwester. Aber du musst verstehen, Anne, dass wir sehr viel weniger über uns selbst bestimmen können, ganz gleich, wie du es empfindest. Ein Hund kann nicht sprechen wie ein 460 Mensch, und eine Wolke kann nicht klingen wie eine Laute. Der Hund kann bellen, die Wolke donnern. So sind sie geschaffen.« Anne schürzte die Lippen. »Eure Schwester hat gesagt, Crothenien dürfe nicht fallen und es müsse eine Königin in Eslen geben, wenn Euer geheimnisvoller >er< kommt. Genau in dem Moment, als sie mir das erzählt hat, ist meine Mutter beinahe getötet worden. Wusste sie davon?« »Sie wusste es.« »Warum hat sie es mir nicht gesagt?« »Was hätte das genützt? Der Anschlag auf deine Mutter war vorüber, bevor du nach Eslen zurückgekehrt bist. Meine Schwester hat dir gesagt, was du wissen musstest.« »Sie hat mir überhaupt nichts gesagt. Wer ist dieser Mann, der kommt? Wieso muss es eine Königin geben? Und vor allem - vor allem -, was muss ich tun?« »Du wirst es wissen, wenn die Zeit kommt, wenn du dich nur daran erinnerst, was sie gesagt hat. Es muss eine Königin geben, nicht die Gemahlin eines Königs, verstehst du, sondern eine Höchste Königin.« Anne fiel die Kinnlade herunter. »Nein. Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht. Aber trotzdem -« »Du musst dafür sorgen, dass es eine Königin gibt, Anne.« »Ihr meint, eine werden?« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Das wäre eine Möglichkeit.« »Ja, eine unmögliche. Mein Vater und meine Mutter, mein Bruder und meine Schwestern müssten tot sein ... ehe ...« Einen Augenblick lang konnte sie nicht weitersprechen. »Ist es das?« Ihr war kalt. »Ist es das, was passieren wird?« »Ich weiß es nicht.«
»Erzählt mir nicht so etwas! Sagt mir etwas, das wirklich ist!« Die Frau neigte den Kopf zur Seite. »Wir sehen nur, was nötig ist, Anne. Wie eine gute Köchin weiß ich, wann der Braten mehr Salz oder ein Lorbeerblatt benötigt, ob er noch einen Glockenschlag lang am Spieß bleiben muss oder nicht.« 461 »Crothenien ist kein Braten.« »Nein. Und die Welt auch nicht. Vielleicht bin ich dann eher wie ein Heiler. Ich sehe einen Mann, der so verwundet und krank ist, dass Teile von ihm zu verfaulen begonnen haben, und die Würmer werden kühner und fangen an zu verschlingen, was noch übrig ist. Ich fühle seinen Schmerz, seine Krankheit und weiß, was für Heilsalben er braucht, wo und wann eine Wunde ausgebrannt werden muss.« »Crothenien verfault nicht.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Es ist schon fast tot.« Anne schlug mit dem Handrücken in Richtung der Frau. »Ihr seid eine Wolke, Ihr seid ein Heiler. Crothenien ist ein Braten, es ist ein verwundeter Mann. Sprecht klare Worte! Ihr deutet an, dass mein Land und meine Familie in größter Gefahr sind und dass ich Königin sein oder für eine Königin sorgen muss, und trotzdem sitze ich hier, in Vitellio, tausend Meilen weit entfernt! Soll ich bleiben oder gehen? Sagt mir, was ich tun soll, und redet keinen Unsinn mehr von Braten oder Kranken.« »Du bist dort, wo du sein sollst, Anne, und ich habe dir bereits gesagt, was du tun sollst. Den Rest musst du selbst herausfinden.« Anne verdrehte die Augen. »Das ist nicht besser. Überhaupt nicht besser. Dann antwortet mir geradeheraus, wenn Ihr könnt: Wieso ich? Wenn Ihr die Zukunft nicht wirklich sehen könnt, wieso werde ich dann gebraucht und nicht Fastia oder meine Mutter, um der Liebe der Heiligen willen?« Die Frau wandte Anne den Rücken zu und ging ein paar Schritte. Immer noch mit dem Rücken zu Anne, seufzte sie. »Weil die Eichen es wispern, noch während der Gryffin sie tötet. Und weil du von allen Frauen die Einzige bist, die so zu mir kommt, ungerufen.« »Was?« »Meine Schwester hat dich gerufen, als du verkehrt herum unter der Sonne gewandelt bist. Ich habe dich nicht gerufen - du hast mich gerufen.« »Ich ... wie denn?« »Ich habe es dir doch gesagt. Du hast einen Pakt mit der heiligen 462 Cer geschlossen. Wenn du durch die Toten Gebete schickst, so hat das stets seinen Preis, hat stets Folgen.« »Aber das habe ich nicht gewusst.« Die Frau stieß ein kleines Lachen aus, bei dem Anne fröstelte. »Wenn ein Blinder über den Rand einer Klippe hinauswandert, fragt dann die Luft danach, ob er wusste, was er tat, ehe sie sich weigert, ihn zu tragen? Fragen die Felsen am Grunde danach, was er wusste oder nicht wusste, ehe sie seine Knochen zerschmettern?« »Dann hat Cer mich verflucht?« »Sie hat dich gesegnet. Du bist auf dem seltsamsten aller ihrer Schreinpfade gewandelt. Du wurdest von ihr berührt wie kein anderer Sterblicher.« »Ich bin noch nie auf einem Pfad der Schreine gegangen«, widersprach Anne. »Die Pfade sind etwas für Priester, nicht für Frauen.« Ein Lächeln legte sich über die dünnen, blutleeren Lippen der Frau. »Die Gruft unter Eslen-des-Schattens ist ein Sedos«, erklärte sie. »Der Schoß der Mefitis ist ebenfalls einer, sein Ebenbild. Sie sind zwei Hälften desselben Dings. Ein sehr kurzer Pfad der Schreine, nehme ich an, aber sehr schwer zu finden. Du bist die Einzige, die ihn seit mehr als tausend Jahren beschritten hat. Vielleicht wirst du für weitere tausend Jahre die Letzte sein.« »Was bedeutet das?« Wieder lachte die Frau. »Wenn ich das wusste, würde ich es dir sagen. Aber eins weiß ich: Es musste geschehen. Dein Gebet an die heilige Cer hat dich hergebracht und alle Folgen dieser Reise ausgelöst. Einschließlich dieser. Wie gesagt, du bist dort, wo du sein sollst.« »Ich soll also im Konvent bleiben, auch wenn sie mich in ein Loch in der Erde werfen, damit ich verrotte? Nein, ich verstehe. Sie sollten mich da hineinwerfen, weil die heilige Cer es so gewollt hat.« Sie schnaubte. »Was ist, wenn ich beschließe, Euch nicht zu glauben? Was ist, wenn ich denke, Ihr seid eine böse Hexe, die versucht, mich hereinzulegen? Ihr taucht in meinen Träumen auf, tischt mir Lügen auf und erwartet, dass ich sie schlucke wie Ingwerplätzchen.« Ein plötzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf, traf sie genau in die Mit463 te. »Was ist, wenn Ihr eine hansische Magierin seid? Wenn Ihr und Eure Schwester den Ritter mit Hexerei dazu gebracht habt zu versuchen, meine Mutter umzubringen? Natürlich, so muss es sein! Wie dumm von mir!« Die Bedeutung dieser Worte ließ ihr die Knie weich werden. Jeder in Eslen hielt Ausschau nach jemandem, der mächtig genug war, einen Handwerksmeister zu behexen, und genau in dem Moment, als es passiert war, hatte Anne sich mit just so einer Person unterhalten. Und sie hatte niemandem davon erzählt, außer dem Praifec, der ihr nicht geglaubt hatte, und jetzt war sie hier, gefangen im Griff grausamer Nonnen, tausend Meilen entfernt von jedem Menschen, dem sie vertraute.
Sogar Austra hatte sie versprechen lassen, dass sie nicht davonlaufen würde. Vielleicht war auch Austra verhext. »Ihr seid eine Lügnerin«, sagte Anne. »Eine Lügnerin und eine Hexe.« Die Frau schüttelte den Kopf, doch Anne wusste nicht, ob es als Verneinung gemeint war. Sie wandte sich ab und ging davon, in den Wald hinein. »Nein! Kommt zurück und antwortet mir.« Die Frau winkte mit der Hand, und alles war dunkel. »Nein!«, jammerte Anne noch einmal. Doch sie hockte wieder auf dem kalten Steinboden der Höhle. Mit den Fäusten schlug sie auf den Boden ein, während Tränen des Zorns aus ihren Augen rannen. Nachdem sie sich selbst ein paar Hundert Mal für dumm erklärt hatte, kam Anne zu einem sehr gewissen Schluss: Sie konnte und würde sich nicht darauf verlassen, dass Schwester Secula sie wieder hinauslassen würde. Die maskierte Frau hatte gesagt, es gäbe noch einen anderen Weg. Wahrscheinlich war das eine Lüge, doch jetzt fielen ihr die Geschichten wieder ein, in denen Höhlen vorkamen, und darin hatten diese für gewöhnlich mehr als einen Ausgang. Und so überquerte sie, wie ein Tier auf allen vieren kriechend, sehr vorsichtig und sehr langsam die Grenze, die zu überschreiten die 464 Nonnen sie gewarnt hatten, und wagte sich auf den unebenen, unbekannten Boden der Höhle hinaus. Es war leichter, als sie erwartet hatte. Jede Senke und jede Kurve des Weges schienen irgendwie genau da zu sein, wo sie hingehörten, und aus dem Erforschen wurde rasch eine Art Erinnern. Es war beängstigend und aufregend zugleich. Was, wenn sie tatsächlich einen Pfad der Schreine beschritten hatte wie ein Priester? So wie Genia Dare und ihre Helden? Was, wenn dieser seltsame neue Spürsinn keine Einbildung war, sondern genau das, was er zu sein schien? Einbildung oder nicht, sie fühlte sich ihres Weges immer sicherer und stand schließlich auf. Das Echo ihrer Schritte sagte ihr, ob sie sich in einem großen oder in einem kleinen Raum befand. Kalte Luft an ihrem Gesicht warnte sie vor einer unsichtbaren Spalte im Boden, und der Geschmack des Höhlenatems ließ auf Wasser schließen. Dieser Geschmack wurde stärker, als sie weiterging, bis sie schließlich ein fröhliches Plätschern vernahm. Und dann, nachdem sie durch enge Gänge auf und ab gekrochen war - manche davon fast zu eng, um sich hindurchzuquetschen -, sah sie Licht. Trübes Licht. Echtes Licht. Bald war das Licht hell genug, um zu schmerzen, und sie musste Halt machen und ihren Augen erlauben, nach so vielen Tagen der Schwärze wieder zu Kräften zu kommen. Schließlich jedoch, als die Sonnenstrahlen keine Dolche mehr waren, drang sie bis zum Höhlenausgang vor, und eine Weile tat sie gar nichts, außer das Gefühl von Licht und Wind auf ihrer Haut zu genießen. Dann nahm sie ihre Umgebung in Augenschein. Die Höhle öffnete sich zu einer dicht mit Olivenbäumen, Lorbeer- und Wachholdersträuchern bewachsenen Hügelflanke. Anne nahm an, dass sie zu demselben langen Höhenzug gehörte, auf dem auch der Konvent stand, doch ein paar vorsichtige Blicke zeigten, dass die Türme nirgends zu sehen waren. Das hieß, dass sie sich am anderen Ende des Hügelkamms befinden musste. Behutsam suchte sie sich einen Weg hinauf, bis sie die Klostergebäude schließlich erblickte und 465 sah, dass sie ein gutes Stück entfernt waren. Jetzt wusste Anne, wo sie war; sie kletterte den Hügel wieder hinunter und begann, die Gegend zu erkunden, wobei sie sich die Umgebung des Höhleneingangs sorgfältig einprägte. Das flachere Gelände unterhalb der Höhle war spärlich bewaldet, grasbewachsene Lichtungen unterbrachen häufig die Reihen der Bäume. Einst musste dies Weideland gewesen sein - wahrscheinlich für die dummen Schafe -, doch sie sah keine Anzeichen dafür, dass hier in letzter Zeit Tiere gegrast hatten. Ein Stück weiter hörte sie erneut Wasser plätschern und entdeckte zu ihrem Entzücken einen Teich, der von einer Quelle gespeist wurde. Ein Vogelschwarm flog aus den Bäumen auf, die ihn umgaben; die Vögel waren von so leuchtend gelber Farbe, dass sie einen Ruf der Überraschung ausstieß. Nachdem sie das Teichufer ringsherum erforscht hatte, tauchte sie prüfend die Hand ins Wasser. Es war kühl. Wieder sah sie sich um, bis sie sicher war, dass sie allein war, dann streifte sie den muffigen Habit ab und ließ sich ins Wasser gleiten. Es fühlte sich wundervoll an, und nachdem sie ein wenig geschwommen war, war sie vollauf zufrieden damit, einfach im flachen Wasser zu liegen, das ihr bis ans Kinn reichte, und die Augen zu schließen. Die Innenseite ihrer Augenlider leuchtete rot, und sie versuchte, ihre Erlebnisse im Schoß der Mefitis zu vergessen - und auch zu vergessen, dass sie dorthin zurückkehren musste. Ob die Frau in ihrer Vision nun eine Lügnerin war oder nicht, da war immer noch ihr Versprechen Austra gegenüber, und das würde sie nicht brechen. Vielleicht war sie eingenickt, denn sie fuhr auf und war überzeugt, dass sie etwas gehört hatte, doch sie war sich nicht sicher, was es gewesen war. In jäher Furcht ließ sie ihren Blick rasch umherwandern; ihr wurde plötzlich klar, dass dies nicht Eslen war und dass es hier alle möglichen wilden Tiere geben konnte, von denen sie nichts wusste. Doch es war kein Tier, das sie mit großen, dunklen Augen anstarrte. Es war ein Mann, ein hoch gewachsener
junger Mann in schwar466 zem Wams, braunen Beinkleidern und einem breitkrempigen Hut. Er hatte eine Hand auf das Heft eines langen Degens gelegt und lächelte ein Lächeln, das Anne ganz und gar nicht gefiel. 36. Kapitel Ein schneller Entschluss Als Bruder Desmond und seine Männer außer Sicht waren, ritt Stephen Engel im Schritt im schrägen Winkel von dem Weg nach d'Ef weg. Spendlove hatte den Pfad der Schreine des heiligen Mamres beschritten, aber auch denselben Pfad der Schreine, den Stephen hinter sich hatte. Jeder, der einen solchen Pfad beschritt, erhielt andere Gaben, doch es war nur vernünftig anzunehmen, dass auch Spendloves Sinne geschärft worden waren - und umsichtig, davon auszugehen, dass sein Gehör mindestens so gut war wie Stephens. Sobald Stephen ihre Stimmen nicht mehr hören konnte, lenkte er Engel parallel zu dem Weg zum Kloster und trieb sie zum Galopp an. Ein gesatteltes Pferd in gestrecktem Galopp auf einem Weg zu reiten war eine Sache, ohne Sattel mitten durch den Wald zu preschen eine andere. Stephen presste die Knie gegen Engels Flanken, krallte die Hände in ihre Mähne und duckte sich tief über ihren Hals. Engel platschte durch einen Bach, stolperte, als sie das gegenüberliegende Ufer erklomm, und fing sich dann wieder. Stephen betete, dass die Stute nicht in irgendein verborgenes Loch oder in einen Kaninchenbau trat, doch er konnte es sich nicht erlauben, das arme Tier zu schonen; er wusste bis ins Mark, dass Aspar White ein toter Mann war, wenn er d'Ef nicht vor Desmond Spendlove erreichte. Er schluckte seine Angst vor dem halsbrecherischen Tempo hinunter und tat sein Bestes, oben zu bleiben. Er und die Stute brachen aus dem Wald hervor und ritten auf die 467 tiefer gelegene Weide, wo ein paar Kühe vor ihnen davonstoben und die beiden Brüder, die sie hüteten, ihn verwundert anglotzten. Auf freiem Feld ging Engel von lediglich atemberaubendem in absolut Furcht erregenden Galopp über. Die beiden stürmten den Hügel hinauf, dorthin, wo sie Unhold zum letzten Mal gesehen hatten. Der große Hengst war noch da und blickte ihnen misstrauisch entgegen. Stephen zügelte Engel ein wenig, als sie näher kamen, räusperte sich und brüllte: »Komm mit, Unhold!«, wobei er Aspar Whites Stimme so gut nachahmte, wie er es vermochte. Es verblüffte ihn, wie gut es ihm gelang. Unhold zögerte und stampfte. Stephen wiederholte den Befehl, und das Tier warf den Kopf zurück, ehe es sich - mit einem stählernen Funkeln in den Augen - in Trab setzte und Engel folgte. Zusammen jagten sie durch den Obstgarten, vorbei an Bruder Ehan. Der untersetzte Bruder schrie irgendetwas, das Stephen nicht verstand. Stephen beachtete ihn nicht; er hatte keine Zeit umzukehren, und es war nicht nötig, denjenigen, den er noch am ehesten als Freund bezeichnen konnte, in diese üble Geschichte hineinzuziehen. Er musste Aspar erreichen. Bruder Ehan ausgenommen, gab es sonst niemanden in d'Ef, auf den er zählen konnte. In seinem Zustand würde der Waldhüter niemals allein überleben, und Stephen selbst wäre sowieso in Gefahr, weil er White geholfen hatte. Sie würden zusammen fliehen müssen, und obgleich er Scham verspürte und sich als Versager betrachtete und all die Dinge empfand, die sein Vater in dieser Flucht sehen würde, musste er sich doch eingestehen, dass er verdammt noch eins bereit war, das Kloster d'Ef zu verlassen. Hier gab es zu viel, was falsch war, zu viel Dunkelheit, und er war nicht dafür gerüstet, sich damit auseinander zu setzen. Und außerdem, wenn die Königin von Crothenien in Gefahr war, war es seine Pflicht, sie zu warnen. Er brachte Engel direkt vor dem Eingang des Hauptgebäudes zum Stehen, sprang vom Pferd und eilte in die kühle Düsternis. Hoffentlich kam er nicht zu spät. Aspar lag dort, wo er ihn zurückgelassen hatte, blass und mit geschlossenen Augen, doch ehe Stephen sich ihm 468 auch nur auf fünf Schritte genähert hatte, öffneten sich die Augen des Waldhüters, und er setzte sich auf. »Was ist?«, brummte Aspar. »Ihr seid in Gefahr!«, stieß Stephen hervor. »Wir sind in Gefahr. Wir müssen weg, und zwar sofort. Schafft Ihr das?« Aspar verzog den Mund, wahrscheinlich um eine bissige Bemerkung zurückzuhalten, dann jedoch nickte er brüsk. »Ja. Ich brauche ein Pferd.« Erleichtert holte Stephen tief Luft, er war überrascht, dass der Waldhüter ihm so ohne weiteres Glauben schenkte. »Unhold steht gleich draußen vor der Tür«, sagte er. »Habt Ihr Waffen?« »Nein. Und wir haben keine Zeit, uns welche zu besorgen.« »Werden wir verfolgt?« »Ganz bestimmt.« »Dann brauche ich Waffen. Einen Bogen. Wisst Ihr, wo Ihr einen herbekommen könnt?« »Vielleicht. Aber, Waldhüter -« »Macht schon.« Erbost stürzte Stephen wieder hinaus; ihm war eingefallen, dass im Gartenschuppen ein Bogen aufbewahrt
wurde, mit dem in den Obstgärten auf Hirsche geschossen wurde. Er hatte nie eine andere Waffe in d'Ef gesehen, es sei denn, man zählte das Fleischerbeil mit. Irgendwo musste es eine Waffenkammer geben, doch er war nie auf die Idee gekommen, danach zu suchen. Auf dem Weg nach draußen rannte er fast Bruder Recard über den Haufen. »Bruder!«, rief der hansische Mönch. »Was ist denn los?« »Banditen«, improvisierte Stephen. »Vielleicht fünfzig Mann, sie kommen durch die Obstgärten! Wir müssen uns verteidigen. Gebt Alarm!« Die Augen des Mönchs weiteten sich. »Aber warum bist du dann hier drinnen?« »Weil ich die Banditen kenne«, knurrte Aspar. »Es könnte sein, 469 dass sie mir hierher gefolgt sind. Geächtete Halsabschneider von der anderen Seite der Naksokberge. Blutrünstige Barbaren. Die werden keinerlei Respekt davor haben, dass ihr Geistliche seid. Wenn ihr euch nicht wehrt, werden sie euch gefangen nehmen und euch mit einem Auge zusehen lassen, wie sie das andere essen.« »Ich läute die Glocke!«, stieß Recard hervor, während er bereits losrannte. »Ich hole Euch Euren Bogen«, sagte Stephen. »Ja. Die Pferde sind draußen? Wir treffen uns dort.« Stephen erreichte den Schuppen, nahm den Bogen vom Haken, prüfte rasch, ob die Sehne auch daran war, und griff sich den Köcher mit den Pfeilen, der daneben hing. Als er hinauseilte, bemerkte er ein Schwingmesser zum Gestrüpphauen, das an der Wand lehnte. Er nahm es ebenfalls mit und eilte zurück zum Hauptgebäude. Er fand den Waldhüter vor der Tür; sein Gesicht war weiß, und er schwitzte, während er versuchte, auf Unholds Rücken zu klettern. Mönche rannten an ihm vorbei zu den Plätzen, die ihnen im Falle eines Angriffs auf das Kloster zugewiesen worden waren, um dort die Befehle des Fratrex zu erwarten. Der Fratrex, der in der Tür des Hauptgebäudes stand, sah stirnrunzelnd zu, wie der Waldhüter aufsaß. Wachsam trat Stephen näher. Der Blick des Geistlichen glitt zu ihm hinüber. »Bruder Stephen?«, erkundigte er sich sanft. »Steckt Ihr hinter diesem Aufruhr? Warum seid Ihr bewaffnet?« Stephen antwortete nicht, sondern reichte dem Waldhüter den Bogen, die Klinge fest in der Hand. »Antwortet mir«, sagte der Fratrex. »Bruder Spendlove kommt, um diesen Mann zu töten«, erklärte Stephen. »Das werde ich nicht zulassen.« »Bruder Spendlove wird nichts dergleichen tun. Wieso sollte er?« »Weil er derjenige ist, der im Wald Menschen ermordet, der die Blutrituale auf den Sedoi durchführt. Dieselben Blutrituale, über die Ihr mich habt forschen lassen.« 470 »Spendlove?«, fragte der Fratrex. »Woher wisst Ihr das? »Ich habe gehört, wie er es gesagt hat«, erwiderte Stephen. »Und jetzt will er die Königin ermorden.« »Einer aus unserem Orden?«, fragte der Fratrex. »Das ist nicht möglich, es sei denn -« Seine Augen wurden groß, und dann noch größer. Er röchelte, spuckte Blut und brach zusammen. Aus den Schatten des Hauptschiffs hinter ihm trat Desmond Spendlove ins Licht; seine Männer waren dicht hinter ihm. »Gratuliere, Bruder Stephen«, sagte Spendlove. »Um diesen Waldhüter zu retten, hast du den Fratrex getötet.« Wieder einmal brach Stephens wohl geordnete Welt der Annahmen und Vermutungen über ihm zusammen. »Aber ich dachte ...« »Ich weiß. Sehr erheiternd zu denken, dass dieser tattrige alte Narr in irgendetwas verwickelt sein könnte. Hast du ihn jemals für weise gehalten?« Er blickte zu Aspar auf. »Und Ihr. Ich habe Freunde, die nach Euch suchen. Ich nehme an, sie werden mit einem Nachweis Eures Todes vollauf zufrieden sein. Mit Eurem Kopf vielleicht. Und hört auf zu versuchen, die Bogensehne da einzuhängen, sonst lasse ich Euch auf der Stelle niedermachen.« Er blickte wieder zu Stephen. »Bruder, trotz deiner Übertretungen kann dir Vergebung zuteil werden. Nun, vielleicht nicht Vergebung, gewiss aber Schonung. Du kannst immer noch von Nutzen sein.« »Ich helfe euch nicht mehr«, sagte Stephen. Er schluckte einen harten Klumpen aus Angst hinunter, doch zu seiner Überraschung spürte er, wie in seiner Brust etwas Stärkeres Gestalt annahm. »Ich werde meine Gelübde, meine Kirche und meine Landsleute nicht verraten. Ihr werdet auch mich töten müssen.« Er hob seine behelfsmäßige Waffe. »Ich frage mich, ob ich den Mut habe, mich selbst zu töten.« Spendlove zuckte mit den Schultern. »Mut? Mut ist nichts. Du hast ja gesehen, was mit deinem Mut passiert ist, als wir dich geschnitten haben. Nicht um dich zu töten, wohlgemerkt. Nur um dich von deinem Wert zu überzeugen. Ich fürchte, ich kann dich nicht einfach dem heiligen Dun überlassen.« 471 Stephen wollte etwas erwidern, doch er brachte kein Wort heraus. Mit zitternden Händen hob er die Waffe. »Reitet los, Aspar White«, sagte er. »Ich werde mein Bestes tun, sie aufzuhalten.« »Ich würde nicht weit kommen«, entgegnete Aspar. »Ich kann ebenso gut hier sterben wie anderswo.« »Dann tut mir einen Gefallen«, bat Stephen. »Stoßt mir Euren Pfeil ins Herz, wenn sie auch nur einen Schritt auf mich zumachen.« »Das ist ja rührend«, sagte Spendlove. Unvermittelt bleckte er die Zähne, und Stephen fühlte, wie etwas wie ein heißer Windstoß an ihm vorbeifegte. Aspar White keuchte vor Schmerz, und der Pfeil, den er in der Hand hielt, fiel zu Boden.
»So«, sagte Spendlove. »Und jetzt...« Eine plötzliche Bewegung zu seinen Füßen ließ ihn nach unten blicken. Es war der Fratrex, der sich hochstemmte und die Hand nach der Klostermauer ausstreckte. »Spendlove, Verräter, Ketzer«, murmelte der alte Mann gerade noch vernehmlich. Ein Spinnennetz feiner Risse zog sich jäh an den steinernen Wänden des Hauptschiffs empor, und einen Augenblick später brach die ganze Fassade mit einem lauten Donnern zusammen. Spendlove und seine Männer verschwanden hinter Schutt und Staub. »Reitet los, verdammt!«, brüllte Aspar, noch ehe der Lärm verklungen war. »Aber ich -« Hilflos starrte Stephen das eingestürzte Gebäude an. »Reitet, und vielleicht bleiben wir am Leben, um später zu kämpfen. Bleibt, und wir sterben noch heute.« Stephen zögerte noch einen Moment, dann wirbelte er herum und schwang sich auf Engels Rücken. Die beiden Männer ritten davon, als säßen ihnen alle Dunklen Heiligen im Nacken. Vielleicht war es ja auch so. 472 37. Kapitel Ein Begegnung Cazio ließ die Hand auf Caspators Heft ruhen und lehnte sich gegen einen Granatapfelbaum. Das Mädchen im Teich bemerkte ihn, schnappte hörbar nach Luft und versank plötzlich bis zum Kinn im Wasser, was sehr enttäuschend war. Obgleich er ihren schlanken Körper im Wasser nur undeutlich hatte erkennen können, war ihr Hals hübsch genug gewesen, und jetzt war selbst der verborgen. Er lächelte und stocherte mit der Degenspitze in dem Haufen ihrer Kleidungsstücke herum. »Danke«, sagte er mit klingender Stimme und hob das Gesicht zum Himmel. »Ich danke Euch, Lady Erenda, Schutzherrin der Liebenden, dass Ihr mir meinen Wunsch erfüllt habt.« »Ich bin nicht Euer Wunsch«, fauchte das Mädchen. »Ihr müsst sofort gehen, wer immer Ihr auch seid.« Sie sprach mit einem Akzent, der ebenso fremd und exotisch war wie ihre Haarfarbe. Dieses Mädchen wurde immer interessanter. Natürlich war dies auch das erste Mal seit Wochen, dass er ein Mädchen zu Gesicht bekam, seit er und z'Acatto die Gastfreundschaft der Gräfin Orchaevia in Anspruch genommen hatten. Die Gräfin bevorzugte männliche Dienstboten, und das nächste Dorf war einen ganzen Tagesmarsch entfernt. Hier jedoch, nur eine Stunde vom Landsitz der Gräfin entfernt, hatte er Glück gehabt. »Und ich bin nicht Euer Sklave, Lady«, entgegnete Cazio. »Ich lasse mir von Euch nichts befehlen.« Mahnend hob er den Finger. »Und überhaupt, wer seid Ihr, dass Ihr zu wissen glaubt, was ich mir wünsche und was nicht? Als ich hier meines Weges gegangen bin, gerade eben, da habe ich zu unserer Lady Erenda gesagt: >Herrin, diese Welt ist voller Hässlichkeit und Leid. Sie ist ein öder Ort der Trübsal, und die Prüfungen, die mir auferlegt wurden, haben mich gelehrt, sie zu verachten. Das Ergebnis ist, dass ich, Cazio Pachiomadio da Chiovat473 tio, der das Leben einst liebte, seiner nunmehr überdrüssig werde. Lady Erenda< - habe ich gebetet -, >könntet Ihr mir nur ein Beispiel der vollkommensten Schönheit zeigen, die man sich vorstellen kann, mir nur einen kurzen Blick darauf gewähren, so könnte ich die Kraft finden weiterzuleben, die Bürden auf mich zu nehmen, die einem Mann wie mir vom Schicksal zugeteilt werden.< Nur einen Augenblick später habe ich das Wasser hier plätschern gehört und diesen Teich erblickt, und darin die Antwort auf mein Gebet.« Das war nicht völlig gelogen. Er hatte die ganze Zeit auf weibliche Gesellschaft gehofft, allerdings hatte er sich nicht an die Schutzherrin der Liebenden gewandt, jedenfalls nicht offiziell. Die junge Frau blickte noch ein wenig finsterer. »Sind die vitellianischen Mädchen dümmer als andere? Oder haltet Ihr mich für begriffsstutzig, weil ich aus einem anderen Land komme?« »Dumm? Ganz und gar nicht. Ich kann den scharfen Verstand in Euren Augen sehen. Vielleicht seid Ihr unvorsichtig gewesen, in einem Teich zu baden, der von Wegelagerern und anderen verrufenen Schurken heimgesucht wird, gewiss jedoch liegt das nur daran, dass Ihr die Gegend nicht kennt.« »Ich lerne schnell«, erwiderte das Mädchen. »Ich bin erst seit kurzem hier und bin bereits auf jemand Verrufenen gestoßen.« »Jetzt versucht Ihr, mich zu verletzen«, sagte Cazio betrübt. »Geht, damit ich mich anziehen kann.« »Ich kann nicht«, erwiderte Cazio bedauernd. »Mein Herz lässt es nicht zu. Nicht, ehe ich Euren Namen weiß.« »Meinen Namen? Mein Name ist... Fiene.« »Ein interessanter Name.« »Ja, und nun wisst Ihr ihn, also verschwindet.« »Ein melodiöser Name. Schon jetzt singt ihn mein Herz. Aus welchem fernen Land kommt dieser Name, Lady?« »Aus Liery, Ihr ungehobelter Tölpel. Werdet Ihr jetzt gehen?« Blinzelnd sah Cazio sie an. »Ihr lächelt mich an, Fiena.« »Fiene. Und das tue ich nicht. Oder wenn, dann weil Ihr so lächerlich seid. Und der Name wird Fi-e-ne ausgesprochen.« 474 »Wollt Ihr denn nicht wissen, wie ich heiße?«
»Das habt Ihr schon gesagt, Castor oder so ähnlich.« »Cazio. Ca-zi-o«, verbesserte er. »Cazio. Cazio, Ihr müsst jetzt gehen.« Cazio nickte und setzte sich auf die knorrige Wurzel einer Weide. »Gewiss muss ich das«, stimmte er zu. Plötzlich fiel ihm auf, dass der Kleiderhaufen aus einem Habit bestand. »Seid Ihr Nonne?«, wollte er wissen. »Nein«, sagte das Mädchen. »Ich bin einer Nonne begegnet, habe sie getötet und ihre Kleider gestohlen. Was glaubt Ihr denn, Ihr Flegel, wo der Wohnsitz der Tugenden gleich dort oben liegt?« Cazio schaute hoch und sah sich um. »Hier gibt es einen Konvent?« »Auf der anderen Seite des Hügels.« »Ein ganzes Haus voller Frauen, die so schön sind wie Ihr? Lady Erenda muss mir fürwahr gewogen sein.« »Ja, Ihr solltet Euch lieber beeilen und ihnen den Hof machen«, sagte Fiene. »Sie sind alle genauso nackt wie ich.« »Das wäre Zeitverschwendung«, erwiderte Cazio und versuchte, betrübt zu klingen. »Die Lieblichste unter ihnen habe ich bereits gesehen. Ich müsste um den Hügel dort herumgehen, nur um wieder herzukommen. Was die Frage aufwirft - warum seid Ihr hier? Irgendetwas sagt mir, dass das eigentlich nicht so sein dürfte.« »Seid Ihr ein Wegelagerer?«, verlangte das Mädchen plötzlich zu wissen. »Seid Ihr ein Schurke?« »Ich stehe Euch zu Diensten«, erwiderte Cazio. »Wenn Ihr einen Schurken wollt, dann kann ich gewiss einer sein.« »Ich will einen Edelmann, der mir gestattet, mich anzukleiden.« »Dieser Edelmann gestattet das«, beteuerte Cazio und klopfte auf den Kleiderhaufen. »Nicht während Ihr zuseht.« »Aber Euer Anblick wurde mir von einer Göttin gewährt. Wer bin ich, mich ihrem Willen zu widersetzen?« »Ihr habt mich doch gar nicht gesehen«, wandte Fiene ein, wenngleich ihre Stimme leise Zweifel verriet. »Ich war untergetaucht.« 475 Cazio schielte an seiner Nase entlang. »Das stimmt, mir wurde kein Blick auf das unverzerrte Bild zuteil. Die Wellen könnten Unvollkommenheiten Eurer Gestalt verbergen. Ich fange an, mich zu fragen, ob Ihr tatsächlich so schön sein könnt, wie ich es mir vorstelle.« »Pah!«, fuhr Fiene auf. »So eine Schmähung brauche ich mir nicht gefallen zu lassen. Hier, seht selbst, ob ich irgendwelche Makel aufweise.« Damit machte sie Anstalten, sich zu erheben - doch als das Wasser ihr Brustbein umspielte, schnaubte sie abfällig und sank wieder zurück. »Noch einmal, warum haltet Ihr mich für dumm?« Cazio ließ den Kopf hängen. »Ich bin derjenige, der dumm ist. Ich weiß bereits, dass Eure Schönheit vollkommen ist.« Fiene verdrehte die Augen, dann heftete sie ihren Blick kühn auf ihn. »Ich bin verlobt, mein Herr«, verkündete sie. »Es kümmert mich nicht, ob Ihr mich vollkommen findet oder vollkommen hässlich.« »Ah. Dann seid Ihr also gar keine Nonne.« »Ich wurde hierher geschickt, um zu lernen, das ist alles.« »Gelobt seien jeder Lord und jede Lady im Nachthimmel und unter der Erde«, sagte Cazio. »Denn jetzt habe ich wenigstens ein wenig Hoffnung.« »Hoffnung? Für Euch und mich?« Sie lachte. »Da besteht keine Hoffnung, es sei denn, Ihr habt vor, mich zu töten und meinen Leichnam zu schänden. Danach könnt Ihr Euch auf Euren Tod durch die Hand meines Verlobten Roderick gefasst machen.« »Roderick? Das ist ein unguter Name. Das klingt nach Pickeln und Betrug.« »Er ist edel und gut, und er würde nie die missliche Lage einer Lady ausnutzen, so wie Ihr es tut.« All seiner Großspurigkeit zum Trotz begannen Cazios Ohren plötzlich zu brennen. »Dann ist er kein Mann«, entgegnete er. »Denn kein wahrer Mann könnte je den Blick von Eurem Gesicht abwenden.« »Oh, also ist es mein Gesicht, das Euch interessiert. Dann habt Ihr 476 gewiss nichts dagegen, dass ich mich anziehe. Meine Haube wird mein Gesicht nicht verdecken.« »Nicht, wenn Ihr mir versprecht, noch eine Weile hier zu bleiben und mit mir zu reden«, gab Cazio nach. »Ich spüre, Ihr habt es nicht besonders eilig.« Das Mädchen zog die Brauen hoch. »Werdet Ihr Euch wenigstens umdrehen?« »Das werde ich, Lady« Und er gehorchte, trotz des verlockenden Plätscherns, als sie aus dem Teich stieg, und des Rascheins der Kleider, als sie diese aufhob. Einen Moment lang war sie ihm so nahe, dass er sich hätte umdrehen und sie berühren können. Doch sie war ungebärdig, dieses Mädchen. Sie würde Mühe kosten. Er hörte, wie sie ihre Sachen zum Teich zurücktrug. »Welcher Tag ist heute?«, fragte sie. »Darf ich mich jetzt umdrehen?« »Das dürft Ihr nicht.« »Heute ist Menzodi«, antwortete er. »Noch drei Tage«, murmelte sie.
»Noch drei Tage wovon?«, wollte er wissen. »Habt Ihr etwas zu essen?«, erkundigte sich Fiene, anstatt auf seine Frage zu antworten. »Ich fürchte nein.« »Nun gut. Nein, dreht Euch nicht um, ich bin noch nicht ganz fertig.« Cazio blies die Backen auf und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. »Ihr habt mir nicht gesagt, was Ihr hier macht«, sagte er. »Ihr habt etwas angestellt, nicht wahr?« Sie antwortete nicht. »Darf ich mich jetzt umdrehen?«, fragte er. »Ich habe mich an die Abmachung gehalten.« Als sie wieder nicht antwortete, wandte er sich um - gerade noch rechtzeitig, um sie den Hügel hinauf verschwinden zu sehen. »Treulose Schönheit!«, rief er ihr nach. 477 Sie tauchte kurz wieder auf, winkte und warf ihm eine Kusshand zu. Dann war sie fort. Er überlegte, ob er ihr nachlaufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Wenn sie solche Spiele spielen wollte, dann zu Lord Ontro mit ihr. Mit einem Seufzer drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg zum Haus der Gräfin Orchaevia. Doch er prägte sich den Ort genau ein. Die Sonne war ein makelloses Goldstück und der Sonnenuntergang noch einen Glockenschlag entfernt, als Cazio den Landsitz erblickte. Er lag unter ihm, inmitten von hundert Versos Weingärten; eine einzelne Straße führte darauf zu und von ihm weg. Das Haus selbst war riesengroß und prachtvoll, mit weißen Mauern und rotem Dach, einem großen Innenhof und einem von einer groben Mauer umgebenen Horz neben dem Westflügel. Dahinter lagen Ställe, Sattelplatz und der Mostschuppen, wo Wein vergoren und auf Flaschen gezogen wurde. Zwischen zwei Rebenreihen schritt Cazio den Hügel hinab und pflückte hier und da träge von den amethystfarbenen Früchten. Er genoss den süßen Weingeruch der von den Stöcken gefallenen Trauben, die faulend am Boden lagen. Er konnte nicht aufhören, über das Mädchen nachzudenken. Sie hatte gesagt, sie käme aus Liery. Bestimmt war das eines der Länder im Norden, wo so helle Haut und so seltsame Haarfarben häufig vorkamen. Ehe er sichs versah, fand er sich vor den Toren des Landsitzes wieder. Ein Bursche mit scharf geschnittenem Gesicht, gekleidet in gelbe Beinkleider und ein pflaumenfarbenes Wams, erkannte ihn und ließ ihn in den mit rotem Stein gepflasterten Innenhof eintreten. Eine kehlige Frauenstimme begrüßte ihn. »Cazio, mein dellol«, sagte sie. »Wo seid Ihr gewesen? Beinahe hättet Ihr das Abendessen versäumt.« Cazio verbeugte sich. »Guten Abend, Casnara Gräfin Orchaevia. Ich habe mich lediglich an der herrlichen Landschaft um Euer Gut herum erfreut.« 478 Die Gräfin Orchaevia saß an einem langen Tisch unter dem vorspringenden Dach der Hof mauer. Sie war in mittleren Jahren und füllig von dem reichlichen Essen, das stets ihre Tafel zierte. Ihr Gesicht war rund und glänzend wie ein Porzellanteller, mit einer kleinen Stupsnase, smaragdgrünen Augen und rosigen Wangen. Cazio hatte sie nur selten ohne ein Lächeln auf ihrem Antlitz gesehen. »Wieder einmal unterwegs? Ich wollte, mir fiele mehr ein, womit ich Euch hier unterhalten könnte, damit Ihr nicht in der ganzen Schöpfung herumlaufen müsstet.« »Das tue ich gern«, entgegnete Cazio. »Es hält mich in Form.« »Nun, ein junger Mann sollte in Form sein«, pflichtete sie ihm bei. »Bitte leistet mir Gesellschaft bei meinem Mahl.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die aufgetragenen Speisen. »Das werde ich wohl tun«, erklärte er. »Ich habe mir ein bisschen Appetit angelaufen.« Er zog sich einen Stuhl mit lederner Sitzfläche heran, setzte sich und betrachtete die Tafel. Schließlich entschied er sich für eine in Blütenform aufgeschnittene Feige, die mit dem salzigen Schinken dieser Gegend garniert war. Ein Diener trat an den Tisch und schenkte ihm einen Kelch mit rotem Wein ein. »War z'Acatto bei Euch?«, wollte die Gräfin wissen. »Ich habe ihn heute auch noch nicht gesehen.« »Habt Ihr im Weinkeller nachgeschaut?«, fragte Cazio. »Er neigt dazu, sich dort niederzulassen.« »Nun, dann soll er eben dort bleiben«, schmollte sie und löffelte frischen, in Olivenöl und Knoblauch getränkten Käse auf ein Stück geröstetes Weißbrot. »An die besten Jahrgänge kommt er sowieso nicht heran. Er glaubt, ich weiß nicht, dass er danach sucht.« Sie blickte zu Cazio auf. »In welche Richtung seid Ihr heute gegangen?« Er deutete mit der noch übrigen Hälfte der Feige nach Westen. »Ach! Ihr habt dem Wohnsitz der Tugenden einen Besuch abgestattet.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, erwiderte Cazio unschuldig und nippte an seinem Wein. »Ich habe nur Bäume und Schafe gesehen.« 479 Misstrauisch blickte sie ihn an. »Wollt Ihr mir erzählen, ein stattlicher junger dello wie Ihr habe noch nicht Wind von einem ganzen Konvent voller hübscher junger Damen bekommen? Ich hätte nie gedacht, dass das so lange dauern würde.« Cazio zuckte mit den Schultern und griff nach einer reifen, schwarzen Olive. »Vielleicht gehe ich morgen mal
hin.« Die Gräfin drohte ihm mit einem gebratenen Rebhuhnbein. »Macht dort ja keinen Ärger. Das sind meine Nachbarn, versteht Ihr? Jedes Jahr veranstalte ich ein kleines Fest für sie. Das ist der einzige Luxus, der ihnen gestattet ist.« »Tatsächlich?« Cazio legte den Olivenkern in ein kleines Schälchen und wandte sich einem Teller mit Birnenscheiben und hartem Schafskäse zu. »Oh, jetzt hat Orchaevia Eure Aufmerksamkeit, nicht wahr?« »Unsinn.« Lässig streckte Cazio die Beine aus und kreuzte die Knöchel. »Nun, wenn es Euch nicht interessiert ...« Sie zuckte mit den Schultern und trank einen großen Schluck Wein. »Oh, na schön, nehmen wir einmal an, ich hätte geringfügiges Interesse daran. Wann würde dieses Fest denn stattfinden?« Die Gräfin lächelte. »Am Fiussanal-Abend, am ersten Tag des Seftamenza.« »In drei Wochen.« »Selbstverständlich seid Ihr nicht eingeladen«, sagte sie listig. »Aber ich wäre vielleicht in der Lage, etwas zu arrangieren, wenn es um eine Herzensangelegenheit geht.« »Es gibt keine solche Angelegenheit. Außerdem bin ich in drei Wochen vielleicht gar nicht mehr hier.« Orchaevia schüttelte den Kopf. »Oh, die Lage in Avella hat sich noch nicht beruhigt. Das wird noch länger dauern.« »Ich hatte an eine Reise nach Furonesso gedacht«, erklärte Cazio. Die Gräfin prustete in ihren Wein. »Bei dieser Hitze? Wozu um alles in der Welt denn das?« »Mein Degen rostet.« 480 »Ihr übt doch jeden Tag mit meinen Wachen!« Cazio zuckte die Achseln. Die Gräfin kniff die Augen zusammen, dann lachte sie plötzlich fröhlich auf. »Ihr werdet bleiben«, verkündete sie, während sie ein weiteres Stück Röstbrot mit Kaninchenleberpastete bestrich. »Ihr wollt Euch bloß vormachen, dass Euch nicht jemand am Band hat.« Ein gebuttertes Wachtelei auf halbem Weg zum Mund, hielt Cazio inne. »Casnara, wovon um Himmels willen redet Ihr eigentlich?« Sie lächelte. »Ich sehe es an Eurer verwirrten Miene, an Eurem Gesicht, als ich mein Fest erwähnt habe. Versucht nie, Orchaevia zu täuschen, wenn es um Liebesdinge geht. Ihr seid verliebt.« »Also, das ist wirklich lächerlich«, verwahrte sich Cazio mit Nachdruck. Langsam wurde er ärgerlich. »Selbst wenn ich heute jemandem begegnet wäre, glaubt Ihr, mein Herz wäre so leicht zu gewinnen? So etwas gibt es in Euren Romanzen, Gräfin, nicht im richtigen Leben.« »Das denkt jeder junge Mann, bis es ihm selbst passiert«, erwiderte die Gräfin mit einem Augenzwinkern. »Morgen werdet Ihr in dieselbe Richtung wandern wie heute. Glaubt mir.« Anne erwachte in Finsternis. Von einem guten Aussichtspunkt auf dem Hügel hatte sie beobachtet, wie der seltsame junge Mann davongegangen war, doch sie hatte sich nicht darauf verlassen wollen, dass er nicht zurückkam, deshalb hatte sie in der Höhle geschlafen. Natürlich schien er verhältnismäßig harmlos; er hatte sie nicht ein einziges Mal bedroht, sondern war nur herumstolziert wie ein Hahn. Aber dumm zu sein hatte auch keinen Sinn. Sie stand auf, reckte sich und machte sich vorsichtig wieder auf den Weg hinaus, nachdem sie sich vergewissert hatte, wo sie war. Ihr Magen knurrte; alles, was ihr an Essen mitgegeben worden war, befand sich noch im Schrein der Mefitis, und Anne wollte nicht dorthin zurückkehren, solange es nicht sein musste. Sie hatte erwogen, den ganzen Weg zurückzugehen, um dort zu schlafen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Schwestern nach ihr sehen würden, doch wenn sie das in den sechs Tagen, die bereits vergangen waren, 481 noch nicht getan hatten, dann würden sie wohl kaum ausgerechnet heute kommen. Trotzdem würde sie bald etwas gegen ihren Hunger unternehmen müssen. Vielleicht konnte sie Äpfel oder Granatäpfel finden. Eine Weile verharrte sie am Höhleneingang, dann machte sie sich an den Abstieg. Sie fand den Teich wieder, umkreiste ihn mehrmals, sah jedoch niemanden. Dann machte sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Gegen Mittag war sie kurz davor, aufzugeben und zum Schrein zurückzukehren. Sie hatte ein paar Früchte entdeckt, die sie jedoch entweder nicht kannte oder die noch nicht reif waren. Außerdem hatte sie ein Kaninchen und viele Eichhörnchen gesehen, doch sie verstand nichts vom Jagen und hätte auch nicht gewusst, wie sie ein Feuer hätte machen sollen, wenn es ihr geglückt wäre, eins zu erlegen. Natürlich hatte Austra Recht gehabt; ihr Traum davon, vogelfrei von dem zu leben, was das Land zu bieten hatte, war genau das, ein Traum. Gut, dass es ihr nicht gelungen war wegzulaufen. Bedrückt machte sie sich auf den Rückweg zur Höhle. Als sie wieder am Teich vorbeikam, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung und duckte sich hinter einen Busch. Das Geraschel, das sie dabei verursachte, ließ sie zusammenzucken, dann spähte sie vorsichtig hinter den Blättern hervor. Cazio war zurück. Heute trug er ein weißes Hemd und dunkelrote Reithosen. Sein Degen lehnte an einem nahen
Olivenbaum, und er saß auf einer Decke und war damit beschäftigt, Dinge aus einem Korb zu holen - Birnen, Käse, Brot, eine Weinflasche. »Diesmal habe ich etwas zu essen mitgebracht«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Anne zögerte. Er war weit genug weg; wenn sie davonrannte, konnte er sie wahrscheinlich nicht erwischen. Was wusste sie denn schon von diesem Burschen, abgesehen davon, dass er ein eingebildeter Esel war? Dass er sich nicht nach ihr umgedreht hatte, als sie nackt gewesen 482 war, wie sie ihn gebeten hatte. Nach einem Augenblick des Überlegens kam sie aus ihrem Versteck hervor und ging auf ihn zu. »Ihr seid hartnäckig«, bemerkte sie. »Und Ihr seid hungrig«, erwiderte der junge Mann. Er stand auf und verbeugte sich. »Gestern haben wir uns einander nicht angemessen vorgestellt. Ich bin Cazio Pachiamadio da Chiovattio. Ich stünde tief in Eurer Schuld, wenn Ihr Euch eine Weile zu mir gesellen würdet.« Anne verzog den Mund. »Wie Ihr schon sagtet, ich habe Hunger.« »Dann bitte, Casnara Fiene, setzt Euch zu mir.« »Und Ihr werdet Euch geziemend betragen?« »In jeder Hinsicht.« Wachsam ließ sie sich auf der anderen Seite der Decke nieder, sodass sich das Essen zwischen ihnen befand. Sie betrachtete es gierig. »Bitte, esst«, forderte Cazio sie auf. Sie griff nach einer Birne und biss hinein. Die Frucht war reif und süß, und der Saft rann ihr übers Kinn. »Versucht den Käse dazu«, riet Cazio und schenkte ihr ein Glas Wein ein. »Das ist caso dac'uva, einer der besten der ganzen Gegend.« Anne nahm sich ein Stück Käse. Er war hart, scharf und würzig und passte ausgezeichnet zu der Birne. Sie spülte beides mit dem Wein hinunter. Auch Cazio begann zu essen, allerdings sehr viel gemächlicher. »Ich danke Euch«, sagte Anne, nachdem sie ein Stück Brot gegessen und noch ein wenig mehr Wein getrunken hatte, der bereits begann, ihre Gedanken zu erwärmen. »Euch zu sehen ist Dank genug«, erwiderte Cazio. »Ihr seid ja gar kein Schurke«, sagte Anne vorwurfsvoll. Cazio zuckte die Achseln. »Manche Leute wären da anderer Meinung, aber ich habe es ja auch nie behauptet, nur angeboten.« »Und was seid Ihr dann? Jedenfalls kein Schäfer, mit diesem Degen. Ein Wanderer?« »Sozusagen«, antwortete Cazio. »Ihr seid also nicht von hier?« 483 »Ich bin aus Avella.« Darauf ging Anne nicht weiter ein. Sie wusste nicht, wo Avella lag, und es war ihr auch einerlei. »Verbringt Ihr hier Feiertage?«, erkundigte sie sich. Cazio grinste. »Sozusagen«, wiederholte er. »Obwohl es gar nicht festlich war, bis jetzt.« »Ihr wisst, ich bin immer noch verlobt«, erinnerte Anne ihn. »Ja, das wurde mir gesagt. Ein vorübergehender Zustand, denn wenn Ihr mich erst besser kennt -« »Ich werde Euch zweifellos für einen Dummkopf halten, wenn Ihr weiter so redet«, unterbrach ihn Anne. Cazio presste die Hände auf die Brust. »Also, das war ein Pfeil«, verkündete er, »der mich direkt ins Herz getroffen hat.« Anne lachte. »Ihr habt kein Herz, Cazio, oder zumindest kein sehr lautes. Ich glaube, andere Teile von Euch sind lauter.« »Glaubt Ihr, Ihr kennt mich nach so kurzer Zeit schon so gut?«, fragte Cazio. »Euer Verlobter - ist er wortgewandter?« »Unendlich viel wortgewandter. Er schreibt wunderbare Briefe, er rezitiert Gedichte.« Sie hielt inne. »Jedenfalls hat er das getan, als er noch mit mir sprechen und mir schreiben konnte.« »Sagt er Euch, dass Euer Haar dem seltensten roten Safran von Shaum gleicht? Spricht er über die Myriaden von Farben in Euren Augen? Kennt er Euren Atem ebenso gut, wie er seinen eigenen kennt?« Cazios Augen hefteten sich plötzlich auf unbehagliche Weise fest auf die ihren. »Solche Dinge solltet Ihr nicht sagen«, murmelte Anne und verspürte einen jähen, hohlen Schmerz. Ich kann mich nicht einmal an sein Gesicht erinnern. Nichtsdestotrotz liebte sie Roderick. Das wusste sie. »Wie lange habt Ihr ihn nicht mehr gesehen?«, wollte Cazio wissen. »Seit fast zwei Monaten.« »Seid Ihr sicher, dass Ihr noch verlobt seid?« »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, dass ein Mann, der zulässt, dass seine Liebste tausend 484 Meilen weit weg in einen Konvent geschleppt wird, in seiner Zuneigung vielleicht weniger beständig ist als
manch anderer.« »Das ... nehmt das zurück!« Wütend kam Anne auf die Beine und vergaß beinahe, dass ihre »Verlobung« eine Lüge war. Roderick hatte nichts vom Heiraten gesagt. Sie hatte das nur erfunden, um Cazios Annäherungsversuche abzuwehren. »Ich wollte Euch nicht kränken«, versicherte Cazio eilig. »Sollte ich zu weit gegangen sein, entschuldige ich mich. Wie Ihr gesagt habt, ich kann manchmal ein Dummkopf sein. Bitte, nehmt doch noch etwas Wein.« Der Wein zeigte bei Anne bereits erhebliche Wirkung, doch sie kniete gleichwohl nieder und nahm das frisch gefüllte Glas entgegen. Trotzdem bedachte sie ihn mit etwas, das einem eisigen Blick nahe kam. »Ich habe eine Idee«, verkündete Cazio einen Moment später. »Wie einsam muss die sein.« »Ich habe mich doch entschuldigt«, erinnerte er sie. »Nun gut. Was habt Ihr für eine Idee?« »Ich nehme an, Euer Liebster hat Euch nicht geschrieben, weil Ihr im Konvent keine Briefe erhalten dürft?« »Er weiß nicht, wo ich bin. Doch selbst wenn er es wusste, würde ihn ein Brief von mir niemals erreichen, fürchte ich.« »Ihr kennt seine Handschrift?« »So gut wie meine eigene.« »Nun denn.« Cazio lehnte sich auf einen Ellenbogen und hob sein Weinglas. »Ihr schreibt einen Brief und versiegelt ihn, und ich sorge dafür, dass er diesem Roderick überbracht wird. Im Falle einer Antwort werde ich diese entgegennehmen und sie zu Euch bringen, an einen Ort Eurer Wahl.« »Das würdet Ihr wirklich tun? Warum?« »Wenn er Euch, wie Ihr sagt, zugetan ist, wird er zurückschreiben. Wenn er Euch liebt, wird er angeritten kommen, um Euch zu sehen. Wenn er Euch vergessen hat, wird er weder das eine noch das andere tun. In diesem Fall hoffe ich, Gewinn daraus zu ziehen.« 485 Wie betäubt von dem Angebot zauderte Anne, erkannte jedoch schnell dessen Schwachpunkt. »Aber wenn ich Euch einen Brief anvertraue«, wandte sie ein, »könntet Ihr ihn leicht der Treulosigkeit bezichtigen, indem Ihr den Brief gar nicht erst abschickt.« »Und ich gebe Euch mein Wort, dass ich Euch jeden Brief überbringen werde, den er Euch schickt. Das schwöre ich beim Namen meines Vaters und bei der Klinge meines braven Degens Caspator.« »Trotzdem könnte ich es nie als Beweis ansehen, wenn er nicht schreibt.« »Wie dem auch sein, mein Angebot steht«, erwiderte Cazio leichthin. »Noch einmal, warum?« »Wenn denn nichts anderes zwischen uns sein kann«, erklärte Cazio, »so will ich, dass Ihr zumindest wisst, dass ich ehrlich bin. Außerdem kostet es mich wenig, dies zu tun. Ein Ritt in ein nahes Dorf, eine Hand voll Münzen für einen cuveitur. Ich muss nur wissen, wo Euer Roderick zu finden ist.« »Ab morgen könnte es schwierig für uns werden, uns zu treffen«, sagte Anne. »Und ich habe nichts zum Schreiben.« »Uns fällt bestimmt etwas ein.« Anne dachte einen Augenblick darüber nach, und ihr ging auf, dass sie nicht nur Roderick eine Nachricht senden könnte, sondern auch ihrem Vater, um ihm von ihren Visionen zu berichten und ihn vor der Bedrohung zu warnen, die diese für Crothenien voraussagten. »Habt Ihr den Konvent gesehen?«, fragte sie. »Noch nicht. Er liegt auf der anderen Seite des Hügels, nicht wahr?« »Ja. Ich wohne im höchsten Zimmer des höchsten Turmes. Ich werde den Brief schreiben, ihn mit einem Stein beschweren und ihn hinunterwerfen. Vielleicht können wir eine Schnur besorgen, an der Ihr die Antworten hinaufschicken könnt. Oder vielleicht kann ich mich wieder hier mit Euch treffen. Wenn ja, werfe ich Euch weitere Nachrichten hinab.« Sie blickte zu ihm auf. »Verlangt Euch das zu viel ab?« »Nicht im Mindesten«, versicherte ihr Cazio. 486 »Ihr werdet nicht weiterziehen?« »Im Augenblick fühle ich mich in dieser Gegend ganz wohl«, antwortete er. »Dann danke ich Euch noch einmal«, sagte Anne. »Euer Angebot ist mehr, als ich zu träumen oder zu hoffen gewagt habe. Ich werde eine Möglichkeit finden, Euch zu belohnen.« Einen Moment lang sah es fast so aus, als erröte Cazio. Dann zuckte er erneut die Achseln. »Das ist doch gar nichts. Wenn es eine Belohnung gibt, dann soll es unsere Freundschaft sein.« Er hob sein Glas. »Auf die Freundschaft.« Lächelnd stieß Anne mit ihm an. Cazio grinste schief in sich hinein, als er über die Felder auf Orchaevias Landsitz zumarschierte. Er war sehr zufrieden mit sich. Vielleicht gab es in diesen Breiten niemanden, der seines Degens würdig gewesen wäre, doch zumindest war er auf eine Herausforderung gestoßen. Liebe, nein. Orchaevia war eine törichte Romantikerin. Aber die Jagd, ja, das lohnte die Mühe. Das würde die Liebe nur umso süßer machen, wenn Fiene nachgab. Sie war es wert, dass er seine Zeit auf dieses Ziel verwandte.
Und wenn dieser Roderick auftauchen sollte? Nun, dann würde Caspator ihm vielleicht die eine oder andere Lektion erteilen, und das wäre sogar noch besser. 38. Kapitel Verfolgung Ich höre sie«, flüsterte Stephen. »Dort.« Er zeigte mit dem Finger nach Osten durch die Bäume. »Ich höre nichts«, sagte der Waldhüter. 487 »Psst. Wenn ich sie hören kann, dann hören sie uns vielleicht auch. Der Pfad der Schreine hat meine Sinne gesegnet, und ein paar von ihnen haben dieselben Schreine besucht.« Aspar nickte lediglich und legte zum Zeichen des Schweigens den Finger an die Lippen. Nach einer Weile verklangen die Geräusche der Pferde und Reiter. »Sie sind außer Hörweite«, sagte Stephen zu dem Waldhüter, als er sich sicher war. »Dann haben sie den falschen Pfad genommen. Gut.« Der Waldhüter erhob sich. Noch immer war sein Gesicht blass und angespannt, und er bewegte sich, als seien seine Gliedmaßen halb abgetrennt worden. »Ihr braucht Ruhe und Pflege«, meinte Stephen. »Sceat. Ich werd's überleben. Es geht mir schon besser.« Stephen hatte diesbezüglich seine Zweifel, widersprach jedoch nicht. »Was jetzt?«, fragte er stattdessen. »Erzählt mir genau, was Ihr sie habt sagen hören.« Stephen wiederholte die Unterhaltung so, wie er sie mit angehört hatte. Als er zu dem Teil kam, wo es um Fend ging, erstarrte der Waldhüter. »Ihr seid Euch sicher? Ihr seid sicher, dass sie Fend erwähnt haben?« »Ja. Mein Gedächtnis ist auch besser geworden.« »Fend und ein Haufen Mönche wollen die Königin töten. Was bei den Augen des Wüterichs geht hier vor?« »Ich wollte, ich wüsste es«, erwiderte Stephen. »Cal Azroth«, brummte Aspar nachdenklich. »Das ist in Loiyes. Dort gehen die Angehörigen des Königshauses hin, wenn sie besonderen Schutzes bedürfen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Hand voll Meuchelmörder da hineinzukommen gedenkt.« »Sie haben den Gryffin.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, knurrte Aspar. »Sie sind ihm gefolgt, ja, und er hat sie nicht angegriffen, aber ich glaube nicht, dass sie ihn beherrschen.« 488 »Aber der Dornenkönig beherrscht ihn«, gab Stephen zu bedenken. »Und der Dornenkönig scheint hinter all dem zu stecken. Und wer weiß, was für Mächte Spendlove sich auf den Pfaden der Dunklen Schreine angeeignet hat.« »Ja«, knurrte Aspar. »Ist auch egal. Wir folgen ihnen und töten sie.« »Ihr seid nicht in der richtigen Verfassung, irgendjemanden zu töten«, wandte Stephen ein. »Können wir nicht Verbindung mit dem König aufnehmen? Ihn dazu bewegen, Ritter zu schicken?« »Bis wir das tun könnten, wären die schon in Cal Azroth.« »Was ist mit Sir Symen?« »Zu weit ab vom Weg.« »Also bleiben nur wir?« »Ja.« Stephen holte tief Luft. »Nun denn. Dann werden wir das wohl tun.« Er warf dem Waldhüter einen Blick zu. »Vielen Dank übrigens.« »Wofür? Ihr wart es, der meine Haut gerettet hat. Wieder einmal.« »Dafür, dass Ihr mir geglaubt habt. Dass Ihr mir vertraut habt. Wenn Ihr erst Fragen gestellt hättet -« »Hört zu«, sagte der Waldhüter. »Ihr seid ein Grünschnabel, und Ihr seid naiv und lästig, aber Ihr seid kein Lügner, und wenn Ihr eine Gefahr seht, dann muss sie verdammt noch mal ziemlich offensichtlich sein.« »Fast hätte ich sie nicht rechtzeitig gesehen«, bemerkte Stephen. »Aber Ihr habt sie gesehen. Muss an den neuen Augen liegen, die Ihr gekriegt habt.« »Ich habe sie nicht rechtzeitig gesehen, um den Fratrex zu retten«, sagte Stephen und spürte, wie sich diese Tatsache in sein Innerstes bohrte. »Ja, nun, der Fratrex war länger dort als Ihr. Er hätte es selbst merken müssen.« Aspar ging zu Unhold hinüber. »Außerdem ist all dieses Schulterklopfen und Klagen reine Zeitverschwendung. Folgen wir ihrer Spur, bevor sie kalt wird.« Stephen nickte, und sie saßen auf. Um sie herum sang der Wald vom nahenden Tod. 489 Teil IV Königliches Blut Im Jahre 2223 von Everon Im Monat Seftmen O Mutter, ich bin verwundet schwer Und sterben werd ich noch heut Doch berichten muss ich dir, was ich gesehen Bevor ich fortging so weit. Eine Purpursichel die Sterne wird mäh'n Laut schmettern ein fremdes Hörn Wo Königsblut den Boden tränkt Dort rankt der Schwarze Dorn.
aus Riciarya sa Alvqin, ostcrothenisches Volkslied 39. Kapitel Eine Landpartie Neil MeqVren ließ den Blick auf der Suche nach Gefahr über den Hügel wandern. Leise schnalzte er mit der Zunge und drängte Hurrikan, die Königin und Lady Erren einzuholen, die im Damensattel unmittelbar vor ihm auf der erhöhten Straße dahinritten. »Majestät«, sagte er zum dritten Mal, »das ist keine gute Idee.« »Stimmt«, pflichtete Erren ihm bei. »Ich kenne eure Ansicht«, entgegnete die Königin und wischte ihren Protest mit einer Handbewegung weg. »Tatsächlich habe ich sie schon mindestens zweimal zu oft gehört.« »Wir sind wegen des Schutzes gekommen, den Cal Azroth bietet«, bemerkte Erren. »So ist es«, erwiderte die Königin. »Wenn wir uns aber nicht in Cal Azroth aufhalten, wie viel Schutz kann sie dann bieten?« Sie deutete auf die Burg, die hinter ihnen immer noch zu sehen war. Sie war nicht groß, doch sie hatte drei Wehrmauern, eine volle Garnison und lag in günstiger Position auf einer Hügelkuppe, wo sie zudem von breiten Kanälen umgeben war. Zehn Mann hatten Cal Azroth einmal gegen tausend Angreifer gehalten. »Ich bin nicht überzeugt davon, dass wir in der Festung sicherer sind als hier draußen«, entgegnete die Königin. »Sie bietet Schutz gegen eine Armee, da gebe ich dir Recht. Aber glaubst du, jemand wird eine Armee schicken, um meine Töchter oder mich umzubringen? Ich nicht. Ich bin mehr und mehr Sir Neils Meinung.« »Und wie sieht diese Meinung aus, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Erren, wobei sie Neil einen so scharfen Blick zuwarf, dass man damit Stahl hätte durchtrennen können. 493 »Dass William von irgend jemandem dazu verleitet wurde, uns hierher zu schicken - von Robert oder Lady Gramme vielleicht -, der uns eine Weile vom Hof fern halten will.« Errens Augen wurden schmal. »Nicht dass ich diesen Verdacht nicht selbst hege«, sagte sie, »aber ich wüsste doch gern, warum Sir Neil diese Meinung mir gegenüber nicht geäußert hat.« Ich bin nur das Schwert, habt Ihr das vergessen?, dachte Neil. »Ich war mir sicher, Mylady stünden sehr viel klügere Meinungen zur Verfügung als die meine.« »Was das betrifft, habt Ihr Recht, wenn auch nur darin«, erwiderte Erren. »Aber ist Euch schon einmal der Gedanke gekommen, dass, wenn jemand durch irgendein Ränkespiel Ihre Majestät und ihre Kinder hierher hat schicken lassen, die Absicht dahinter nicht nur darin bestehen könnte, ihren Einfluss vom Hofe fern zu halten? Dass sie zudem darin bestehen könnte, ihnen etwas anzutun?« Noch ehe Neil antworten konnte, lachte die Königin. »Wenn das der Fall ist, dann ist die Festung der letzte Ort, wo wir uns aufhalten sollten, da unsere mutmaßlichen Verschwörer ja annehmen, dass wir uns dort zusammendrängen wie Lämmer, die auf die Keule des Metzgers warten.« »Es sei denn, sie zählen darauf, dass du eine Dummheit begehst, wie zum Beispiel nach Glenchest zu reiten.« Die Königin verdrehte die Augen. »Erren, wir sind seit fast zwei Monaten in Cal Azroth eingesperrt. Elyoners Anwesen ist nicht einmal einen halben Tagesritt entfernt, und wir haben zwölf gepanzerte Ritter und dreißig Mann Fußvolk dabei.« »Ja, wir sind weithin sichtbar«, stellte Erren fest. »Lady Erren, Sir Neil, gebt auf!«, riet Fastia, die von hinten herangeritten kam. »Wenn Mutter einmal einen Entschluss gefasst hat, dann gibt es daran nichts zu rütteln, wie zumindest du wissen solltest, Erren. Wir gehen Tante Elyoner besuchen, und damit hat es sich.« »Außerdem habe ich die alte Burg satt«, ließ sich Elseny vernehmen. »Dort gibt es überhaupt nichts zu tun.« Sie seufzte. »Ich ver494 misse den Hof ja 50 sehr. Fürst Cheiso, Lesbeths Verlobter, müsste inzwischen angekommen sein, und ich wollte ihn so gern kennen lernen.« »Du wirst ihn noch früh genug kennen lernen«, tröstete die Königin. Neil hörte dies alles nur mit einem Ohr, mit dem anderen horchte er auf Gefahren. Die Straße, der sie folgten, verlief zumeist durch offenes Land - Apfel- und Birnbaumplantagen, Weizen- und Hirsefelder. Und doch bot auch solches Gelände reichlich Gelegenheit für einen Hinterhalt. Ein einziger gut gezielter Pfeil von jemandem, der sich im Geäst eines Baumes verbarg, und alles war verloren. Wie Erren gesagt hatte, sie waren ein beachtlicher Zug. Die Königin, Erren, Fastia, Elseny und er selbst ritten dicht beieinander. Audra und Mere - die Zofen von Fastia und Elseny - ritten ein paar Schritte hinter ihnen und schwatzten wie die Elstern. Prinz Charles folgte noch weiter hinten und sang ein Kinderlied, während Hundehut zu Fuß neben ihm herhüpfte. Heute war die Mütze des Hofnarren so riesig, dass sie ihn fast bis zu den Knien bedeckte, und obgleich Neil sich sicher war, dass der Narr durch irgendeinen Trick sehen konnte, wusste er nicht genau zu sagen, wie, denn Löcher hatte die Kappe nicht. Berittene Handwerksmeister und die Königliche Infanterie bildeten ein loses Rechteck um sie herum, jederzeit bereit, die Reihen zu schließen. Das war kein besonderer Trost für Neil. Nach allem, was er wusste, konnte jeder der Männer - oder alle auf
einmal - sich gegen ihn wenden. Allerdings hatte die Königin in diesem Falle Recht: Sie konnten ihr Mordwerk genauso gut in einer Burg wie im hellen Tageslicht verrichten. »Warum so griesgrämig, Sir Ritter?« Erschrocken fuhr Neil im Sattel herum. Er hatte sich so auf die Umgebung und den Horizont konzentriert, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Fastia zurückgefallen war, um neben ihm herzureiten. »Ich bin nicht griesgrämig, Erzgrefftin. Nur wachsam.« 495 »Ihr seht nicht nur wachsam aus, Ihr seht so nervös aus wie ein Kaninchen, das in eine Fuchsjagd hineingeraten ist. Rechnet Ihr hier draußen wirklich mit Gefahr? Schließlich sind wir in Loiyes, nicht in Hansa.« »Und wir waren in Eslen, als Eure Mutter angegriffen wurde.« »Das ist wahr. Trotzdem, es ist so, wie ich eben gesagt habe - Mutter wird sich nicht davon abbringen lassen, also solltet Ihr lieber das Beste daraus machen.« Sie lächelte, und das sah auf ihrem normalerweise streng beherrschten Gesicht so unerwartet aus, dass er nicht anders konnte, als es ihr gleichzutun. »So ist es besser«, meinte sie immer noch lächelnd. »Ich -« Plötzlich machte er sich Sorgen, dass vielleicht eine Fliege zwischen seinen Zähnen hing oder so etwas. »Ist irgendetwas komisch, Erzgrefftin?« »Schaut Euch einmal um.« Neil tat wie geheißen. Hinter ihm waren Prinz Charles und Hundehut, die Zofen ... Als sein Blick Audra und Mere streifte, wurden beide dunkelrot wie reife Kirschen und brachen dann in Gekicher aus. Peinlich berührt drehte Neil sich rasch wieder um. »Die beiden reden da hinten schon den ganzen Vormittag über Euch«, erklärte Fastia. »Sie bekommen anscheinend nicht genug davon, Euch zu beobachten.« Neil spürte, wie sein eigenes Gesicht brannte. Bestimmt stand es denen der Mädchen an Farbe nicht nach. »Ich wollte nicht - ich meine, ich habe noch nicht einmal...« »Mit ihnen geredet? Ich weiß. Würdet Ihr sie ansprechen, würden sie wahrscheinlich von ihren Pferden fallen.« »Aber wieso denn?« »Sir Neil! Bitte. Ihr seid ein stattlicher Mann, das müsst Ihr doch wissen. Es gab doch bestimmt Mädchen in Liery, oder?« »Äh - nun ja, es gab eine.« Solche Themen waren ihm unangenehm, vor allem der schicklichen Fastia gegenüber. »Eine? Auf all den Inseln?« 496 »Ich meine, nur eine, die ich, äh ...« »Ihr hattet nur eine einzige Liebste?« »Sie war nie meine Liebste. Sie wurde verlobt, bald nachdem wir uns begegnet sind.« »Wie alt wart Ihr?« »Zwölf.« »Sie wurde einem anderen versprochen, als Ihr zwölf wart? Und danach hatte es also nie wieder eine Frau auf Euch abgesehen?« »Ein paar wohl schon. Aber mein Herz war vergeben. Versteht Ihr, ich hatte ihr versprochen, dass ich keine andere lieben würde, so lange sie lebt.« »Ein Versprechen, das Ihr mit zwölf Jahren gegeben habt. Und sie hat Euch nie von Eurem Gelübde entbunden?« »Sie ist im Kindbett gestorben, Prinzessin, vor einem Jahr.« Fastias Augen wurden groß und eigenartig sanft. So hatte er sie noch nie gesehen. »Möge die heilige Anne sie segnen«, sagte sie. »Es tut mir Leid, das zu hören.« Neil nickte nur. »Aber - vergebt mir, wenn das grausam klingt - jetzt seid Ihr doch von Eurem Eid entbunden.« »Das stimmt. Aber ich habe einen anderen geschworen - Eure Mutter zu beschützen.« »Ah.« Fastia nickte. »Ich denke, Ihr werdet feststellen, dass nicht viele Männer ihre Gelübde so halten wie Ihr.« Ein bitterer Unterton stahl sich in ihre Stimme. »Besonders Ehegelübde.« Neil fiel nichts Taktvolles ein, was er darauf hätte erwidern können, und so blieb er stumm. Kurz darauf hellte sich Fastias Miene auf. »Was kann ich doch für eine Langweilerin sein«, sagte sie. »Anne hat ganz Recht, was mich betrifft.« »Ich finde Euch nicht langweilig«, erwiderte Neil. »Von allen Menschen, denen ich bei Hofe begegnet bin, wart Ihr am freundlichsten und hilfsbereitesten.« Fastias Wangen färbten sich rosig. »Wie freundlich von Euch, Sir. 497 Eure Gesellschaft während der letzten Monate wurde durchaus geschätzt.« Neil fürchtete plötzlich, irgendeine Grenze überschritten zu haben, der er sich niemals hätte nähern dürfen, und so ließ er den Blick erneut scharf über die Landschaft schweifen. Hohe Blumenstängel mit wie winzige Wendeltreppen geformten Blüten fielen ihm am Straßenrand durch ihre leuchtend orangerote Farbe ins Auge.
»Wisst Ihr, wie diese Blumen heißen?«, erkundigte er sich, da ihm nichts Besseres einfiel. »In Liery habe ich die nie gesehen.« »Das sind Jeremytreppchen«, antwortete Fastia. »Wisst Ihr, früher wusste ich einmal die Namen aller Pflanzen an dieser Straße.« »Würdet Ihr mich damit unterhalten, sie mir zu nennen, Prinzessin? Das würde mir helfen, wachsam zu bleiben. Ich weiß, es ist unhöflich, während einer Unterhaltung wegzuschauen, aber ...« »Ich verstehe vollkommen. Ich würde Euch gern auf diese Weise unterhalten, Sir Neil.« Als sie Halt machten, um die Pferde zu tränken, flocht Fastia Halsketten aus Wiesenblumen - eine für jedes der Mädchen, eine für Charles und eine für Neil. Er kam sich damit ziemlich albern vor, doch er wusste nicht, wie er höflich ablehnen sollte. Während sich die Reisegesellschaft sammelte, ritt Neil zur nächsten Kuppe hinauf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Die sanft hügelige Landschaft war wunderschön; hier und da waren Wäldchen zu sehen, das meiste jedoch war Weideland, mit braunweißen Kühen gesprenkelt. Ungefähr eine Meile entfernt konnte er die schlanken Türme eines Schlosses ausmachen - wahrscheinlich Glenchest, das Ziel ihres Rittes. Hufgetrappel kündigte die Ankunft von Sir James Cathmayl und Sir Vargus Farre an. »Na, wenn das nicht der Hauptmann der Königinnengarde ist«, sagte Cathmayl. »Wie stehen unsere Chancen, Hauptmann? Glaubt Ihr, Ihr kriegt sie so weit?« »Bitte?« 498 »Ihr seid ein guter Taktiker, das muss ich Euch lassen. Ihr habt die Eisprinzessin oben herum zum Lächeln gebracht, das ist ein guter erster Schritt für das gewisse Lächeln weiter unten.« »Sir James, ich hoffe doch aufrichtig, dass Ihr nicht auf das anspielt, worauf Ihr anzuspielen scheint.« »Für gutes Anspielen hat so manch einer etwas übrig«, erwiderte Sir James. »Geschmacklosigkeiten einmal beiseite«, unterbrach Vargus. »Ihr scheint Euch gut mit Ihr zu verstehen.« »Unter dem Kleid ist sie immer noch ein Mädchen«, sagte Sir James. »Dieser Trottel Ossel rührt sie in letzter Zeit kaum noch an, heißt es. Aber bis jetzt habe ich noch nie erlebt, dass es sie gejuckt hätte.« Neil betrachtete Sir James ernst. »Prinzessin Fastia, wenn sie es ist, die Ihr meint, ist eine Edelfrau und eine vollendete Lady«, sagte er. »Jegliche Freundlichkeit, die sie mir erweist, ist reine Höflichkeit, das kann ich Euch versichern.« »Na, hoffen wir, sie leckt Euch sehr höflich den -« »Schweigt auf der Stelle, Sir, ich warne Euch!«, brüllte Neil. James gehorchte und erlaubte sich ein anzügliches Grinsen. Dann lachte er in sich hinein und ritt davon. »Sir Neil«, sagte Vargus, »Ihr seid ein viel zu leichtes Ziel für James. Er meint es nicht böse, aber es macht ihm Spaß, Euch zur Weißglut zu bringen.« »Er sollte nicht so über die Erzgrefftin reden. Das verstößt gegen jegliches Ehrgefühl.« Vargus schüttelte den Kopf. »Ihr seid von Sir Fail aufgezogen worden. Ich weiß sehr wohl, dass er Euch beigebracht hat, dass Ehre ihren Platz im Leben hat. Aber das gilt auch für Leichtfertigkeit, und sogar für ein wenig Derbheit.« Er deutete mit einer Handbewegung auf die Reisegesellschaft am Fuße des Hügels. »Wir sind jederzeit bereit, für jeden von ihnen unser Leben zu geben, und Sir James macht da nicht die geringste Ausnahme. Warum missgönnt Ihr uns ein bisschen harmlosen Spaß? Und was noch wichtiger ist, die Garde wird 499 Euch nicht mögen, wenn Ihr diese steife, abweisende Art beibehaltet. Und es ist wichtig für Euch, dass die Männer Euch mögen, Sir Neil. Ihr sollt eine Mannschaft für die neue Leibwache der Königin zusammenstellen und sie führen, nicht wahr?« »So ist es.« »Es ist besser, Männer zu haben, die Euch gut leiden können.« »Die meisten werden mich sowieso nicht mögen, egal wie ich mich benehme. Ich bin nicht von edler Geburt, und viele finden das unschicklich.« »Und viele finden das nicht. Es gibt Bande, die Krieger viel fester miteinander verbinden als jeder Titel und jeder Rang. Aber Ihr müsst bereit sein, einen Teil davon selbst zu knüpfen.« Neil schürzte die Lippen. »In Liery war ich wohlgelitten. Ich habe neben Lords gekämpft und sie Bruder genannt. Aber das hier ist nicht Liery.« »Ihr habt Euch dort Euren Platz verdient«, erwiderte Vargus. »Nun verdient ihn Euch hier.« »Das ist schwer, so ohne Schlachten.« »Es gibt viele Arten von Schlachten, Sir Neil, besonders am Hof.« »Von dieser Sorte Krieg verstehe ich nicht viel«, gab Neil zu. »Ihr seid jung. Ihr könnt lernen.« Nachdenklich nickte Neil. »Ich danke Euch, Sir Vargus«, sagte er aufrichtig. »Ich werde es mir merken.« Glenchest erwies sich weniger als Schloss, sondern vielmehr als ein von einer Mauer umgebener Vergnügungspark. Seine Türme liefen nach oben spitz zu, waren wunderschön und als Verteidigungsanlagen vollkommen ungeeignet. Die Schlossmauer war zwar hoch genug, um Bauern und Ziegen abzuhalten, würde
einer Armee jedoch kaum mehr als eine kurze Atempause aufzwingen. Das Tor war ein Witz, ein mit kunstvoll geformten Singvögeln und blühenden Ranken reich verziertes, schmiedeeisernes Gitter, durch das man einen riesigen Park mit Bäumen, Hecken, Springbrunnen und Teichen sehen konnte. Außer den Türmen konnte Neil noch das Dach der Villa 500 erkennen; es war mit hellem Kupfer gedeckt, und seine Form ähnelte einem umgekippten Boot. Das Schloss stand auf einem niedrigen Hügel, und das Städtchen an dessen Fuß war sauber, ordentlich und sehr klein. Ganz offensichtlich war es unlängst entstanden, um Glenchest zu dienen. Seine Bewohner betrachteten das Gefolge der Königin neugierig. Als sie näher kamen, lösten sich vier junge Mädchen von den anderen und kamen aufgeregt auf die Reiter zugehüpft. Neils Hand wanderte zum Schwertgriff. »Sir Neil, haltet ein«, flüsterte Fastia. »Von Dorfmädchen droht keine Gefahr.« Was die Mädchen betraf, so schienen sie Neils Misstrauen gar nicht zu bemerken. Sie drängten sich dicht an Hurrikan heran und schauten mit leuchtenden Augen zu ihm hoch, auf die gleiche Weise, wie ihn die Zofen vorhin angesehen hatten. »Sir Ritter«, sagte die Älteste, ein brünettes Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren, »könnt Ihr uns ein Zeichen Eurer Gunst geben?« Neil starrte die Mädchen verständnislos an. »Meiner Gunst?« »Für mein Wunschkästchen«, erklärte die Kleine mit sittsam gesenktem Blick. »Nur zu, Sir Neil«, drängte Vargus leutselig. »Gebt dem Mädel doch eine Kleinigkeit.« Neil zauderte und fühlte, wie er rot anlief, doch er erinnerte sich an den Rat des älteren Ritters. »Ich weiß -« Verwirrt hielt er inne. Elseny lachte. »Hier«, sagte Sir Vargus. »Ich bin auch ein Ritter, wenn auch kein so junger und hübscher wie der dort. Tut es auch ein Angebinde von mir?« »Oh, für mich!«, rief eines der jüngeren Mädchen und lief augenblicklich zu Vargus über. Der Ritter lächelte, zog ein Messer und schnitt sich eine Locke ab. »Das ist für Euch, junge Dame«, sagte er. »Danke, Sir!«, rief das Mädchen. Das kostbare Geschenk stolz emporgereckt, rannte es davon. 501 »Das ist hier so Sitte«, erklärte Fastia. »Für sie sind solche Dinge wie Wunschsteine, sie beten darüber zur heiligen Erren um einen Liebsten, der ebenso edel ist wie Ihr.« »Oh.« Neil blickte in die Gesichter der drei immer noch ungeduldig wartenden Mädchen hinab. »Das kann ja wohl nichts schaden.« Er nahm sein kleines Messer vom Gürtel, schnitt sich ein paar Haarsträhnen ab und reichte sie der Ältesten. Sie strahlte ihn an, verbeugte sich und schoss davon. Die anderen folgten ihr und forderten ihren Anteil an der Beute. Elseny klatschte Beifall. Audra und Mere schmollten. »Wie gesagt«, ließ sich Sir James vernehmen. »Der versteht sich auf die Ladys.« Neil bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung und stellte betroffen fest, dass er hinlänglich abgelenkt gewesen war, um die Ankunft einer recht großen Gesellschaft zu übersehen. Es war ein farbenfroher Haufen, der dort aus dem Tor kam: Pagen in gelben Beinkleidern und orangeroten Kitteln, silbern gepanzertes Fußvolk - die Harnische sahen aus, als wären sie aus echtem Silber, was vollkommen lächerlich war -, Ritter in reich verzierten, verschnörkelten Rüstungen mit roten und blauen Überwürfen, die mit goldener Spitze besetzt waren. In der Mitte des Ganzen ruhte in einer Liegesänfte mit seidenem Baldachin und goldenen und silbernen Wimpeln eine Frau in einem üppigen Gewand aus goldenem Tuch und waldgrünem Brokat, der hier und dort mit scharlachroten Blumen bestickt war. Der Stoff strömte wie ein Wasserfall in alle Richtungen über die Ränder des Ruhebettes; ganz sicher war es unmöglich, in diesem Gewand zu gehen. Das Mieder war gefährlich tief ausgeschnitten und presste seinen Inhalt ebenso gefährlich in die Höhe, und Neil schien es, als müsse jegliche Bewegung auch noch das wenige von ihren Brüsten enthüllen, was bislang verborgen war. Das Gesicht über all dieser Pracht erschien auf den ersten Blick beinahe reizlos; ein sanftes Oval mit einer winzigen, scharf geschnittenen Nase und einem kleinen Mund. Die Augen der Frau jedoch waren tiefblau und strahlten vor freizügigem Übermut, und ihre Lippen 502 waren rot bemalt und wölbten sich zu einem Lächeln, das zu ihren Augen passte. All dies machte sie auf seltsame Weise schön. Ihr Haar war hellbraun und wurde von einem komplizierten Diadem zusammengehalten. »Meine Tante Elyoner, die Schwester meines Vaters und die Herzogin von Loiyes«, flüsterte Fastia. Sie richtete sich auf, dann beugte sie sich wieder zu ihm hinüber. »Sie ist Witwe und eine Feindin der Tugend, meine Tante. Nehmt Euch vor ihr in Acht, besonders, wenn Ihr mit ihr allein seid.« Neil nickte. Er fand, dass die Herzogin ihrem Bruder, dem König, nicht im Mindesten ähnlich sah. »Muriele, mein Liebes!«, sagte die Herzogin, als sie herangekommen waren. »Was für ein Unglück, dass du ausgerechnet jetzt kommst! Ich bin noch kaum imstande, Besuch zu empfangen. Ich bin gerade erst vor ein paar Tagen hier herausgekommen und hatte noch keine Zeit, alles in Ordnung zu bringen. Hoffentlich verzeihst du mir diesen schäbigen Empfang! Es ist das Beste, was ich so kurzfristig zustande gebracht habe, aber ich konnte
doch nicht darauf verzichten, dich willkommen zu heißen.« Während sie sprach, streuten die Pagen Lilien vor ihnen auf die Straße; andere boten gefüllte Weinkelche an oder nahmen die Pferde beim Zügel. Die Königin nahm einen der dargebotenen Kelche. »Ein prächtiger Empfang, wie stets«, sagte sie. »Es ist schön, dich zu sehen, Elyoner.« Verschämt wandte die Herzogin den Blick ab. »Du bist immer so gütig, Muriele. Bitte, ihr alle, steigt doch von diesen schwitzenden Tieren. Für die meisten habe ich Sänften, und deine Wachen werden es erholsam finden, zu Fuß zu gehen.« Sie deutete auf vier zweisitzige Sänften. Alle waren etwas kleiner als ihre. »Elseny, was für eine Schönheit du geworden bist!«, fuhr sie fort, als die Reisenden abstiegen. »Und Fastia! Deine Wangen haben wieder Farbe bekommen. Hast du etwa meinen Rat befolgt und dir einen Liebhaber zugelegt?« Fastia gab ein Geräusch von sich, das wie ein Schluckauf klang, und 503 aus unerfindlichen Gründen heftete die Herzogin ihren Blick plötzlich auf Neil. »Ah!«, sagte sie. »Eine ausgezeichnete Wahl.« »Ich habe nichts dergleichen getan, Tante Elyoner«, widersprach Fastia. »Wie du sehr wohl wissen solltest.« »Wirklich? Wie traurig. Ich schließe also daraus, dass dieser entzückende junge Ritter zur Erbauung freigegeben ist?« »Das ist Sir Neil MeqVren, der Hauptmann meiner Lier-Garde«, erklärte Muriele. »Tatsächlich? Wie merkwürdig. Ich hätte schwören können, er wacht über Fastia. Aber das ist eigentlich keine Antwort auf meine Frage.« Erschrocken wurde Neil plötzlich klar, dass er tatsächlich näher bei Fastia stand als bei ihrer Mutter. »Tante Elyoner, du hast wirklich überhaupt kein Schamgefühl«, tadelte Fastia. »Aber das habe ich doch auch niemals behauptet, Liebes! Jetzt komm her, gib mir einen Kuss und komm aus diesem schrecklichen Sonnenlicht heraus!« »Noch einmal. Ich bitte euch alle um Entschuldigung«, sagte die Herzogin beim Abendmahl und deutete auf den Tisch, eine riesige Tafel, so groß wie manch eine Kirchenempore. »Die Speisekammer hat nicht viel hergegeben, und meine beste Köchin ist zu krank, um ihren Dienst zu versehen.« Langsam erkannte Neil ein Muster im Verhalten der Herzogin. Auf dem polierten Eichentisch reihten sich von einem Ende zum anderen Rebhühner in Buttersoße, Wachtelpasteten mit Johannisbeeren und Mandeln, zehn verschiedene Käsesorten, Kräutermischungen, dampfende Schüsseln mit Aalfrikassee, Kapaun in Salzkruste, drei gebratene Spanferkel und ein vergoldeter Stierkopf aneinander. Wein war wie Wasser geflossen, seit sie durch das Tor und die fantastischen Gärten von Glenchest geritten waren, und Elyoner selbst hatte sich reichlich daran gütlich getan, obgleich man ihr nichts anmerkte. Dienstboten huschten überall herum und sorgten dafür, dass die Gläser stets ge504 füllt waren, und Neil musste aufpassen, um nicht den Überblick darüber zu verlieren, wie viel er trank. »Deine Gastfreundschaft ist wie immer mehr als angemessen«, versicherte die Königin ihrer Schwägerin. »Nun, solange ich euch nur aus diesem öden Cal Azroth herausgelockt habe. Was für ein tristes Loch!« »Aber ein sicheres Loch«, murmelte Erren. »Ach ja. Der Anschlag auf Muriele. Ich habe erst vor kurzem davon erfahren. Es muss schrecklich gewesen sein, meine Liebe.« »Ich hatte kaum Zeit, die Gefahr zu bemerken, ehe Sir Neil sie schon wieder gebannt hatte«, erwiderte Muriele. »Aha!« Die Herzogin hob ihr Glas in Neils Richtung. »Das ist er also? Ich wusste ja, dass an diesem jungen Mann etwas dran ist. So etwas erkenne ich auf den ersten Blick.« »Das sind freundliche Worte, Herzogin«, erwiderte Neil. »Aber ich habe nur getan, was jeder Mann der Wache getan hätte. Ich war nur näher dran.« »Oh, und bescheiden ist er auch noch«, bemerkte die Herzogin. »Das ist er wahrhaftig«, sagte Fastia. Sie stellte ihr Glas hin und verschüttete dabei ein wenig Wein. »Und bei ihm ist es nicht nur gespielt. Er ist's -« Fastia machte ein verblüfftes Gesicht und betrachtete ihr Weinglas mit einigem Verdruss. Ein Page, der dies missverstand, beeilte sich, es zu füllen. Ihrer undeutlichen Aussprache und ihren rosigen Wangen nach zu urteilen, war dies jedoch das Letzte, was die ansonsten so beherrschte Fastia nötig hatte. Neil schien der Einzige zu sein, der ihre Beklommenheit bemerkte, vielleicht, weil er sie teilte. »Nun, Sir Neil«, sagte die Herzogin mit listigem Lächeln, »wir werden uns eine Belohnung für Euch ausdenken müssen. Unsere Schwägerin ist uns lieb und teuer, und wir sind Euch fürwahr sehr dankbar, dass Ihr ihr das Leben gerettet habt.« Neil nickte höflich. »Und jetzt, liebe Muriele, erzähl mir jede winzige Kleinigkeit vom Hofe. Nun ja, nein, nicht den langweiligen Kram, keine Staatsgeschäf505 te oder solche Sachen. Nur das Interessante - welche Hähne in welchen Hühnerställen zugange sind, du weißt schon. Page! Bring mehr Wein.«
Nach dem Abendessen wurden im Park Spiele gespielt - Pfeilwerfen, Ballschlagen, Verstecken im Heckenlabyrinth. Die Herzogin ließ Neil immer stärkere Getränke zukommen, an denen er nippte und sie dann ausschüttete, wenn sie gerade nicht hinsah. Die Königin beteiligte sich an den Spielen und schien sogar Spaß daran zu haben. Auch Fastia machte mit, obwohl sie unsicher schwankte, während sie noch mehr Wein und Branntwein trank. Die Herzogin hatte sich vor dem Abendessen umgezogen und trug jetzt ein schwarzes, mit silbernen und orangefarbenen Stickereien verziertes Kleid von etwas praktischerer Länge, allerdings war auch dieses geradezu skandalös tief ausgeschnitten. Sie saß auf einem kleinen Thron, den die Pagen von einem Ort zum anderen schleppten, und führte das Regiment über die Spiele. Als die Sonne unterging, winkte sie Neil heran. Als er zu ihr trat, zog ihr Diener einen kleinen goldenen Schlüssel hervor. »Der ist für Euch«, sagte sie und ließ den Blick langsam über sein Gesicht wandern. »Ich hoffe, Ihr werdet ihn benutzen.« »Ich verstehe nicht, Herzogin.« »Das ist der Schlüssel zu einem gewissen Gemach, im höchsten Turm dort drüben. Darin werdet Ihr eine Belohnung vorfinden, die Euch, wie ich glaube, durchaus zusagen wird.« »Mylady, ich muss in der Nähe der Königin bleiben.« »Unfug. Ich sorge für ihre Sicherheit. Ich bin die Herrin dieses Hauses, und ich befehle es.« »Lady, mit dem allergrößten Respekt und allen nur erdenklichen Entschuldigungen, ich kann nicht von der Seite meiner Königin weichen.« »Was? Schlaft Ihr etwa bei ihr?« »Nein, Lady Aber in ihrer Nähe.« »Sie hat Erren, wenn sie schläft.« 506 »Es tut mir sehr Leid«, wiederholte Neil standhaft. »Aber meine erste und einzige Pflicht ist die der Königin gegenüber.« Fasziniert betrachtete die Herzogin sein Gesicht. »Ihr seid wirklich tugendsam, wie? Ich dachte, Euresgleichen hätten sie alle schon vor langer Zeit von den Klippen geworfen.« Sie kaute auf einer Seite ihrer Unterlippe herum, dann rückte sie ihr Lächeln wieder gerade. »Wie aufregend. Das macht die Jagd nur noch lohnender. Ich bin jung, ich habe viel Zeit.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Pflichtet mir bei, Sir Neil. Sagt mir, dass ich jung bin.« »Das seid Ihr, Mylady Und schön.« »Vielleicht nicht so schön wie andere«, erwiderte sie. »Aber das sage ich Euch, Sir Neil: Ich bin sehr, sehr geschickt. Ich habe Bücher gelesen - verbotene Bücher -, und dabei hasse ich es zu lesen. Aber es hat sich ausgezahlt.« Sie strich ihm über die Wange und öffnete mit der Fingerspitze seine Lippen. »Ihr würdet feststellen, dass meine Studien nicht vergebens waren, das versichere ich Euch.« Neils Körper war bereits vollauf überzeugt, und er musste schlucken, ehe er antwortete. »Pflicht«, brachte er heraus. Sie lachte, ein trillernder, lieblicher Klang. »Ja, das werden wir sehen«, meinte sie. »Mit Euch wird man arbeiten müssen, aber jedes Pferd kann geritten werden.« Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen. »Und wenn ich Euch jetzt sage, dass ich Euch etwas in den Wein habe mischen lassen, etwas, das Euch vor Verlangen wahnsinnig machen wird?« »Dann werde ich aufhören müssen zu trinken«, erwiderte Neil. »Und wenn ich Euch sage, dass Ihr den Trank bereits zu Euch genommen habt?« Neil blieb der Mund offen stehen. Ihm war tatsächlich heiß, und einige Teile seines Körpers waren ungemein aufmerksam. Er konnte das blumige Parfüm der Herzogin riechen, und seine Augen wurden mehr und mehr von ihren Brüsten angezogen, die sie auf so abenteuerliche Weise zur Schau stellte. »Entschuldigt Ihr mich, Lady?«, fragte er. »Aber natürlich, mein Lieber«, sagte sie. Dann streichelte sie seine 507 Hand, sodass ein Blitzschlag seinen Körper durchzuckte. »Ein bisschen schreckhaft, wie?« Sie ließ seine Hand los. »Ich sehe Euch dann später, Sir Neil. Hoffentlich alles an Euch.« Später an diesem Abend, nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Gemach der Königin sicher war, zog Neil sich in eine kleine Kammer neben ihrem Vorzimmer zurück und legte dort seine Rüstung, das gefütterte Wams und seine Unterkleidung ab. Aus der Waschschüssel spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann setzte er sich aufs Bett und versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen, der immer noch ein wenig unregelmäßig war. Inzwischen war er sich fast sicher, dass ihn die Herzogin tatsächlich behext hatte. Es war, als zuckten Blitze in seinem Kopf, und jedes grelle Aufleuchten zeigte das Phantom einer weiblichen Gliedmaße oder Rundung. Er wusste, dass sich die Königin im Zimmer nebenan entkleidete, und es widerte ihn an, dass er diese Tatsache nicht aus seinem Kopf verdrängen konnte. Er legte sich aufs Bett und beschwor Erinnerungen an Schlachten und Tod herauf, alles, um seine Gedanken von lüsternen Bildern abzulenken. Da es ihm nicht gelang, erhob er sich und machte ein paar Übungen, tappte lautlos in seiner kleinen Kammer herum und ging mit
geöffneten Händen nacheinander die verschiedenen Stellungen des Schwertkampfes durch, so wie er sie gelernt hatte. Schließlich hielt er schwitzend inne, setzte sich wieder aufs Bett und legte den Kopf in die Hände. Er wusste, dass er Schlaf brauchte, wenn er wachsam bleiben wollte. Über dem Pochen des Blutes in seinen Ohren hätte er das leise Knarren der Tür fast nicht gehört, doch sein Körper war geschmeidig und sprungbereit, und nach einem winzigen Augenblick hatte er sein Schwert in der Hand. »Sir Neil, ich bin es«, flüsterte eine Frauenstimme. Langsam ließ er das Schwert sinken und versuchte den undeutlichen Schatten im Türrahmen zu erkennen. Ihm war klar, dass es die Herzogin sein musste, und das Blut dröhnte nur noch lauter in seinen Ohren. 508 Sie trat ein wenig vor, sodass das Mondlicht, das durchs Fenster schien, auf ihr Gesicht fiel, und erschrocken sah er, dass es Fastia war. 40. Kapitel Spuren Aspar kniete vor der noch immer rauchenden Asche des Lagerfeuers und stieß ein tiefes Knurren aus. »Was ist denn los?«, wollte Stephen wissen. Der Waldhüter sah den Jungen nicht an, sondern stand auf und ließ den Blick erneut über die Lichtung schweifen. »Sie haben nicht versucht, ihre Spuren zu verwischen«, brummte er. »Sogar die Asche haben sie glühen lassen. Sie haben uns direkt hierher geführt.« »Vielleicht können sie sich nicht vorstellen, dass wir ihnen folgen. Sie sind jetzt schon fast einen Monat unterwegs.« Tatsächlich hatten sie d'Ef am heißesten Tag des Sestemen verlassen, jetzt jedoch war es mitten im Seftmen. Der Herbst färbte bereits die Blätter, sogar hier in der Ebene, wo Weide- und Ackerland den Königswald durchsetzten. Aspar war einfach nicht in der Lage gewesen, das Tempo durchzuhalten, das nötig gewesen wäre, um die Mönche frühzeitig einzuholen. Er war jetzt kräftiger, obgleich er sich noch immer nicht völlig wiederhergestellt fühlte. »Die wissen, dass wir hinter ihnen her sind, täuscht Euch nicht«, sagte Aspar. Er legte einen Pfeil an die Sehne, einen der vier, die noch übrig waren. Die anderen waren beim Jagen zerbrochen. »Ihr meint -«, setzte Stephen an, doch genau in diesem Moment roch Aspar den Hinterhalt. Zwei Männer kamen zwischen den Bäumen hinter ihnen hervorgestürzt. Sie waren nackt bis zur Taille, mit großen Tätowierungen auf Schultern und Brust, und schwangen 509 Breitschwerter. Und sie rannten schneller, als es Menschen hätte möglich sein sollen. »Das sind Desmonds Männer!«, schrie Stephen. »Oder zumindest zwei von ihnen.« »Aufsitzen!«, brüllte Aspar, sprang auf Unholds Rücken und drückte ihm die Fersen in die Flanken. Der große Hengst schoss vorwärts. Die Männer wichen auseinander, einer rannte auf Stephen los, während der andere weiter auf Aspar zustürmte. Aspar stellte sich in den Bügeln auf, drehte sich ein wenig und zielte auf den, der Stephen angriff. Unhold hatte noch nicht richtig Tritt gefasst, aber Aspar konnte nicht warten. Er ließ den Pfeil fliegen. Das Geschoss traf sein Ziel; es bohrte sich in die Nierengegend des Mönches. Dieser fiel zu Boden, was Stephen Zeit gab, auf Engels Rücken zu klettern, kam jedoch absurd schnell wieder auf die Beine. Mittlerweile hatte der andere Mönch Unhold beinahe eingeholt, so unbeschreiblich es auch war. Aspar verzog das Gesicht, legte einen neuen Pfeil an die Sehne und schoss. Doch just in diesem Moment sprang Unhold über einen im Gras verborgenen Baumstamm, und sein Schuss ging fehl. Jetzt hatte er nur noch zwei Pfeile. Er riss an den Zügeln, warf das Pferd herum und ritt genau auf seinen Verfolger zu, während er ihn an dem nächsten Pfeil entlang anstarrte. Er sah das Gesicht des Mannes, entschlossen und unerschütterlich, und so wahnsinnig wie ein Berserker des Wüterichs. Er zielte auf das Herz. Im letzten Augenblick warf sich der Mönch zur Seite, sodass sich der Pfeil ins Gras bohrte. Im Fallen schlug er mit aller Kraft nach Unholds Beinen, doch der Hengst entging dem Schlag um Haaresbreite. Sie donnerten vorüber, zurück zu Stephen, dessen verwundeter Gegner ihn fast erreicht hatte. Der Mann blutete heftig, doch das schien ihn nur für kurze Zeit aufgehalten zu haben. Glücklicherweise war seine ganze Aufmerksamkeit auf den Jungen gerichtet, sodass er Unhold nicht bemerkte, bis es zu spät war und die Vorderhufe des Braunen ihm bereits den Schädel zerschmettert hatten. 510 Wieder wendete Aspar, zog den letzten Pfeil aus dem Köcher und sprang aus dem Sattel. »Unhold, qalyastl«, brüllte er. Augenblicklich ging Unhold auf den zweiten Mönch los, der sich grimmig in Positur stellte, um dem Angriff des Hengstes zu begegnen. In diesem Moment verhältnismäßiger Stille traf Aspars Schuss ihn mitten in die Brust. Der Mönch wurde von dem Einschlag herumgewirbelt, entging dadurch Unholds Ansturm und rannte an dem
Pferd vorbei auf Aspar zu. Fluchend drehte sich dieser um und hob das Schwert des Toten auf. Es war eine Waffe, mit der er sich nicht besonders gut auskannte - er wünschte sich sehnlichst seinen Dolch und seine Axt herbei -, doch er hielt sie abwehrbereit vor sich und wartete. Hinter sich hörte er, wie Stephen vom Pferd sprang. Der Mönch hatte ihn erreicht und zielte mit einem schnellen, harten Hieb auf Aspars Kopf. Der Waldhüter wich zurück, allerdings nicht weit genug, und er musste die schwere Waffe hochreißen, um den Schlag zu parieren. Er spürte den Aufprall bis in die Schulter, als habe er gerade ein tonnenschweres Gewicht abgefangen, das von einem Turm gestürzt war. Stephen kam von rechts herbeigestürzt und schwang das Buschmesser, doch der Mann drehte sich um und hackte mit einem Schlag den hölzernen Schaft entzwei. Unbeholfen schlug Aspar zu, und der Mönch tanzte zur Seite, setzte zu einer Finte an und schlug zurück. Mit einem Satz sprang Aspar vor, ließ seine Waffe fallen, packte den Schwertarm des Mannes mit der Linken und schlug ihm die Faust gegen die Kehle. Er spürte, wie Knorpel unter seinen Knöcheln nachgab, doch sein Gegner rammte ihm mit voller Wucht das Knie gegen die Brust und stieß ihn nach Luft ringend rücklings zu Boden. Der Mönch taumelte vorwärts und hob gerade sein Schwert, als Unhold von hinten über ihn herfiel. Er stürzte zu Boden, und Unhold trat wieder und wieder zu, bis seine Hufe rot waren und der Leichnam nicht länger zuckte. 511 »Die hätten uns töten können, wenn sie ein bisschen schlauer gewesen wären«, sagte Aspar, als er wieder zu Atem gekommen war. »Sie haben sich überschätzt. Hätten gleich auf Unhold losgehen sollen.« »Ich würde eher sagen, sie haben uns unterschätzt«, erwiderte Stephen. »Das waren die beiden kleinsten Lichter von Spendloves Bande - Topan und Aligern. Spendlove selbst wäre nie so dumm.« »Ja, wahrscheinlich hat er die Männer geschickt, auf die er am ehesten verzichten kann. Selbst wenn sie nur einen von uns erwischt hätten, hätte es sich noch gelohnt. Er hätte ihnen Bogen geben sollen.« »Wer auf dem Pfad der Schreine des heiligen Mamres wandelt, darf keinen Bogen benutzen«, erinnerte Stephen ihn. »Richtig. Dann bedankt Euch in Euren Gebeten beim heiligen Mamres.« Sie durchsuchten die Leichen, und zu Aspars Freude entdeckten sie einen Kampfdolch, der dem, den er verloren hatte, nicht unähnlich war. Außerdem fanden sie ein paar Silbermünzen und genug Brot und Trockenfleisch für einen Tag, eine willkommene Ergänzung ihrer mageren Vorräte. »Jetzt sind wohl noch ungefähr sechs übrig«, überlegte Aspar. »Und die, die Fend mitbringt, wie viele es auch sein mögen. Hoffen wir, dass er sie weiter paarweise auf uns loslässt, damit wir die Überzahl weiter verringern können.« »Ich bezweifle, dass Spendlove denselben Fehler zweimal macht«, sagte Stephen. »Das nächste Mal wird er sichergehen.« »Das nächste Mal kann jederzeit sein. Vielleicht wurden diese beiden nur ausgeschickt, um uns in Sicherheit zu wiegen. Wir reiten weiter, sofort, und zwar nicht in die Richtung, die sie erwarten. Wir wissen, wo sie hinwollen, also brauchen wir ihrer Spur nicht zu folgen.« Als sie aufgesessen waren, lachte der Waldhüter leise in sich hinein. »Was ist?«, fragte Stephen. »Mir fällt gerade auf, dass Ihr nicht herumzetert, dass wir die beiden begraben sollen, so wie beim letzten Mal.« »Ein Waldbegräbnis ist gut genug für die«, befand Stephen. »Werlic, wenigstens etwas habt Ihr gelernt«, erwiderte Aspar. 512 41. Kapitel Ränke Nun, Schwester Maultier«, erkundigte sich Serevkis, »Pflanzenkunde ist viel interessanter geworden, nicht wahr?« Anne blickte von ihrer eingehenden Untersuchung des Kessels und der Schafsmilch darin auf. Sie mochten den Geruch der Milch, noch warm von den Schafen, und noch mehr genoss sie die Vorfreude auf die Magie, die sich bald ereignen würde. »Wieso nennst du mich immer noch so?«, fragte sie zerstreut. »Wärst du nicht lieber ein Maultier als eine kleine Kuh?« Anne lächelte. »Da ist was dran«, gab sie zu. »Ja, Pflanzenkunde ist jetzt interessanter. Alles ist interessanter.« »Sogar Zahlenlehre?« Serevkis klang nicht überzeugt. »Ja. Wenn sie mir von Anfang an erklärt hätten, dass wir den Umgang mit Zahlen üben, damit wir die Gelder unseres Haushalts verwalten können, hätte ich vielleicht gleich besser aufgepasst.« »Aber Pflanzenkunde ist am spannendsten«, beharrte Serevkis. »Wer hätte auch geahnt, wie viele Gifte es direkt unter unseren Füßen oder in den Fugen der Gartenmauern gibt, die nur ein bisschen Alchemie brauchen, um wirksam zu werden!« »So ist das mit vielen Dingen«, meinte Anne. »Sogar mit dem Käse, den ich hier mache. Sich vorzustellen, dass wir die Macht haben, Dinge zu verändern, etwas zu etwas anderem zu machen.« »Du und dein Käse. Tut sich schon was?« »Noch nicht«, sagte Anne. »Aber du hast Recht«, fuhr Serevkis fort. »Aus etwas Harmlosem etwas Tödliches machen zu können - das ist
wundervoll.« »Du bist ein böses Mädchen, Schwester Serevkis«, tadelte Anne. »Wen wirst du als Erstes umbringen, Schwester Maultier?« »Psst!«, warnte Anne. »Wenn die Mestra oder eine der Ältesten dich so reden hört...« 513 Serevkis gähnte und reckte die langen Glieder. »Keine Angst«, erwiderte sie. »Die Mestra und ihre Lieblinge sind vor vier Glockenschlägen zum Tor hinaus, und der Rest unterrichtet. Niemand kommt jemals zum Milchschuppen. Also, wen wirst du nachts meucheln?« »Mir fällt niemand ein, außer jemand mit langem Hals, der mir abfällige Spitznamen gibt.« »Ich meine es ernst.« Anne begegnete dem gelassenen, boshaften Blick des anderen Mädchens. »Hast du jemand Bestimmten im Sinn?« »O ja. Mehrere. Da wäre Dechio - der wäre der Erste. Für den nehme ich Dörrkrautpollen, mit Nachtschatten zu einer Paste gekocht. Die tue ich dann in die Kerzen in seinem Zimmer.« »Das ist ein langsamer, grausamer Tod. Was hat dir dieser Dechio denn getan?« »Er war mein erster Liebhaber.« »Und er hat dich sitzen lassen?« »Ich war zehn. Er war zwanzig. Er hat so getan, als wäre er mein Freund, und hat mir Wein zu trinken gegeben, bis ich nicht mehr stehen konnte. Dann hat er sich über mich hergemacht.« »Er hat dich geschändet?«, fragte Anne ungläubig. »So nennt man's«, erwiderte Serevkis. Dann zuckte ihr Mund. »Und dein Vater? Er hat keine Rache dafür genommen?« Serevkis lachte. Es klang ein wenig verbittert. »Was nützt einem Vater eine Tochter, die so früh entehrt wurde? Nein, es wäre besser gewesen, vom Ziegenturm in den Tod zu springen, als meinem Vater zu erzählen, was Dechio an diesem Tag getan hatte - und immer wieder getan hat, bis ich zu alt war, um ihn noch zu reizen.« »Ich verstehe.« Doch eigentlich verstand Anne nicht. Sie konnte sich das nicht vorstellen. »Darf ich einen Vorschlag machen?« »Sicher.« »Spinnen. Schwarze Witwen, gemästet mit Leichenfliegen. Kleb dünne Fäden auf ihre Rücken, und das andere Ende machst du unter dem Rand des Sitzlochs in seinem Abtritt fest. Wenn er sich dann drauf setzt und alles runterhängt...« 514 Serevkis klatschte in die Hände. »Wunderbar. Es würde verfaulen wie eine alte Wurst, nicht wahr? Aber vielleicht bringt es ihn nicht um.« »Das ist wahr. Aber es gibt andere Möglichkeiten, ihm den Rest zu geben. Schließlich könnten die Kerzen Unschuldige töten - die Stubenmagd, die sein Gemach sauber macht, oder eines seiner anderen Opfer.« »Oder ich könnte ihn mit einem verfaulten Schwengel leben lassen«, ergänzte Serevkis. »Sehr schlau, Schwester Maultier.« »Danke.« Sie blickte wieder in den Kessel. »Schau! Es gerinnt!« Serevkis stand auf, um es sich anzusehen. Eine feste weiße Masse hatte sich in dem Kessel gebildet und war dabei ein wenig geschrumpft, sodass sie sich von der Wand des Topfes löste. Wie eine Insel trieb sie dort, umgeben von klarer, gelblicher Flüssigkeit. Anne stach mit einem Spieß in den festen Klumpen, und als sie ihn wieder herauszog, blieb ein Loch zurück. »Das Feste ist Weißkäse«, erklärte Anne. »Der Rest ist Molke.« »Was hat diese Veränderung bewirkt?«, wollte Serevkis wissen, plötzlich interessiert. »Was hat die Milch in zwei Bestandteile aufgebrochen?« »Lab, aus dem Leib einer Kuh.« »Appetitlich. Was das wohl noch alles zum Gerinnen bringen könnte? Blut? Ich glaube, ich verstehe, warum du das so spannend findest.« »Natürlich. Erst war es eine Sache - Milch -, und jetzt sind zwei daraus geworden.« »Es sieht aber immer noch nicht besonders nach Käse aus.« »Stimmt. Dazu muss noch mehr Magie gewirkt werden.« »Weißt du«, sagte Serevkis, »als ich klein war, hatten wir ein Dienstmädchen aus Herilanz. Sie hat so getan, als wäre sie religiös, aber in Wirklichkeit war sie ein Heidin. Einmal hat sie mir erzählt, ihr Gott Yemoz hätte die Welt aus Milch erschaffen.« »Den Käse von der Molke getrennt, das Land vom Meer«, überlegte Anne. »Das ist in gewisser Weise sinnvoll. Schließlich haben die Heiligen die Welt wirklich in ihre Elemente unterteilt.« 515 »Heiliges Maultier, die Frau, die Käse und Molke aus Milch schafft«, sagte Serevkis und lachte. »Jetzt bist du wie eine Göttin.« »Lach nur«, erwiderte Anne. »Aber genau darum geht es ja. Wenn wir lernen, diese Dinge zu erschaffen - deine Giftkerzen, meinen Käse -, dann nehmen wir teil an der Schöpfung. In gewisser Weise werden wir wirklich ein
klein wenig so wie die Heiligen.« Serevkis runzelte zweifelnd die Stirn. »Du hast Schwester Secula zu lange zugehört.« Anne zuckte die Achseln. »Gemein ist sie ja, aber sie weiß alles.« »Sie hat dich in die Höhle gesperrt!« Anne lächelte geheimnisvoll. »So schlimm war das gar nicht.« Alle waren über Annes gefasste Haltung verblüfft gewesen, als man sie aus dem Schoß der Mefitis geholt hatte, und Schwester Secula hatte sie mehr als einmal misstrauisch gemustert und Bemerkungen über ihre gesunde Farbe gemacht. Doch man war der Angelegenheit nicht weiter nachgegangen. Anne führte das Ganze auch jetzt Schwester Serevkis gegenüber nicht näher aus. Nicht einmal Austra hatte sie davon erzählt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, was in und vor der Höhle passiert war, sei ihr Geheimnis, und ihres allein. Außerdem durfte Austra nicht erfahren, dass sie einen Brief an Roderick geschickt hatte. Obgleich es kein Verstoß gegen ihren Eid war, argwöhnte Anne trotzdem, dass Austra alles andere als erfreut darüber wäre. Cazio hatte den ersten Teil seines Versprechens gehalten. Als sie an ihrem ersten Abend nach ihrer Rückkehr in den Konvent den Brief aus dem Fenster geworfen hatte, war er kurz vor Sonnenuntergang aufgetaucht, hatte ihr zugewinkt und den Brief mitgenommen. Die Zeit würde zeigen, ob er tatsächlich ehrlich war. Inzwischen war sie zufrieden. Alles fand sie auf einmal interessant, und sie begann zu begreifen, wieso Schwester Secula gemeint hatte, dass Annes Aufenthalt im Wohnsitz der Tugenden ein Privileg sei. Sie hasste die Mestra noch immer, aber allmählich erkannte sie widerwillig an, dass es sich lohnte, ihr zuzuhören. »Und was jetzt?«, wollte Serevkis wissen. 516 »Jetzt schneiden wir unsere frisch erschaffene Welt in Würfel, damit die Molke, die noch darin ist, herausläuft«, antwortete Anne. Mit einem scharfen Elfenbeinmesser tat sie genau das, zerschnitt den Klumpen erst längs, dann quer und dann im schrägen Winkel zum Kesselboden. Als sie damit fertig war und das Ganze einmal umgerührt hatte, trieb ein Haufen säuberlich geschnittener Würfel in der gelblichen Molke. »Jetzt kochen wir das alles noch ein bisschen, und dann tun wir es in eine Form und in die Presse. In sechs Monaten essen wir es.« »Die Schöpfung dauert ganz schön lange«, sagte Serevkis. »Ich habe jetzt Hunger.« »Deswegen haben Heilige Geduld. Aber es gibt doch genug zu essen -« Austra, die aus dem Garten hereingestürzt kam, unterbrach sie. »Habt ihr schon gehört?«, fragte das blonde Mädchen aufgeregt. »Hallo, Schwester Persondra«, sagte Anne, wobei sie die Rs drollig rollte. »Ich hab schon gehört«, erwiderte Serevkis. »Ich tu's sogar immer noch.« »Die Neuigkeiten, meine ich«, entgegnete Austra. »Alle reden davon. Wir gehen aus.« »Was soll das heißen?« »Zu einer großen Triva auf dem Lande. Die Casnara dort feiert jedes Jahr ein Fest für die Frauen des Konvents, und das findet in drei Tagen statt.« »Wirklich?«, fragte Anne. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Schwester Secula so was erlaubt.« »Nein, es stimmt«, bestätigte Serevkis. »Die älteren Mädchen haben davon erzählt. Es heißt, sie veranstaltet einen wunderschönen Ball, allerdings ohne Männer.« »Hört sich trotzdem lustig an«, sagte Austra; es klang ein bisschen so, als müsse sie sich verteidigen. »Und wenn nicht«, ergänzte Serevkis, »dann sorgen wir eben dafür, dass es lustig wird.« 517 »Was kann man denn für ein Fest feiern, wenn alle diese Kutten tragen?«, wandte Anne ein. »Nun, du hast ja deine eigenen Sachen, Schwester Maultier«, erwiderte Serevkis. »Aber ich habe gehört, die Gräfin hat genug Kleider für uns alle.« »Ein geliehenes Kleid?«, fragte Anne angewidert. »Aber nicht für uns«, rief Austra. »Wie Schwester Serevkis gesagt hat, dank deiner Sturheit können wir wenigstens unsere eigenen Sachen tragen.« »Du vielleicht«, entgegnete Anne. »Ich habe nur ein Kleid mitgebracht, und das habe ich dir geschenkt.« Austra blieb einen Moment lang der Mund offen stehen. »Aber deine andere Truhe. Die ist sogar noch schwerer als meine.« »Ja, weil da mein Sattel drin ist.« »Dein Sattel?«, fragte Austra. »Ja. Der, den mir Tante Fiene geschenkt hat, der, mit dem ich Windschnell geritten habe.« »Du hast die ganze Nacht geschuftet und dir den Zorn der Mestra zugezogen, nur wegen eines Sattels?«, fragte Serevkis. Anne nickte nur. Sie hatte keine Lust, das alles zu erklären. Doch Austra ließ die Angelegenheit natürlich nicht auf sich beruhen. »Wieso?«, fragte sie abends in ihrem Zimmer. »Wieso hast du den Sattel mitgebracht? Damit du durchbrennen konntest?«
»Das war ein Grund«, gab Anne zu. »Aber du hast ihn die Treppe hinaufgeschleift, nachdem du mir versprochen hast, dass du nicht versuchst davonzulaufen.« »Ich weiß.« Austra schwieg eine Weile, und als sie wieder sprach, schien es, als kröche ihre Stimme nur widerstrebend aus ihrem Mund hervor. »Anne, bist du böse auf mich?« Anne setzte sich zwischen ihren Laken auf und schaute ihrer Freundin im schwachen Mondlicht ins Gesicht. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie. 518 »Weil du - du bist anders«, antwortete Austra. »Du verbringst jetzt immer so viel Zeit mit Serevkis.« »Sie ist meine Freundin. Wir lernen dieselben Dinge.« »Es ist nur - in Eslen hattest du nie andere Freundinnen.« »Du bist immer noch meine Lieblingsfreundin, Austra. Es tut mir Leid, wenn du dich vernachlässigt fühlst, aber -« »Aber ich kann nicht über dieselben Sachen reden, über die du und Serevkis euch unterhaltet«, sagte Austra tonlos. »Ihr lernt zaubern, während ich Töpfe schrubbe. Und sie ist von edler Geburt. Natürlich ziehst du ihre Gesellschaft vor.« »Austra, du alberne diumma, ich ziehe ihre Gesellschaft nicht der deinen vor. Und jetzt schlaf.« »Ich weiß nicht einmal, was du mich da eben genannt hast«, murmelte Austra. »Siehst du? Ich bin blöd.« »Eine diumma ist eine Art Wassergeist«, erklärte Anne. »Und du bist nicht blöd, nur weil du ein bestimmtes Wort nicht kennst. Wenn du dasselbe lernen dürftest wie ich, würdest du es kennen. Genug davon! Austra, dich werde ich immer am allerliebsten haben!« »Das hoffe ich«, erwiderte die Jüngere. »Denk doch nur, wie du auf dem Ball aussehen wirst. Das einzige Mädchen in einem eigenen Kleid.« »Ich werde es nicht anziehen.« »Was? Warum denn das? Es gehört doch dir.« »Aber du hast keins. Es wäre nicht richtig.« Anne lachte. »Wie mir eine ganze Menge Leute - du eingeschlossen - immer wieder vorhalten, sind wir nicht mehr in Crothenien. Ich bin hier keine Prinzessin, und du bist keine Zofe.« »Nein?«, fragte Austra leise. »Wie kommt es dann, dass du Zauberei lernst und ich Teppiche klopfe?« Darauf wusste Anne keine Antwort, bei der ihr wohl gewesen wäre. Die Klinge zuckte auf Cazio zu, schneller, als er es für möglich gehalten hätte, und ritzte leicht seine Wange. Der Schmerz ließ ihn jäh alles gestochen scharf sehen, und mit einem Schrei stampfte er auf und 519 machte einen Schritt zur Seite, dann duckte er sich rasch wieder in die Richtung, aus der er gekommen war, und versuchte es mit einem flachen fleche. Das erwies sich als unklug. Z'Acatto parierte sein prismo, wehrte Cazios Attacke ab und trat dicht an ihn heran. Mit der freien Hand packte er Cazios Wams. In einer Fortführung der Parade hob er das Heft seines Degens hoch über den Kopf, sodass die Klinge schräg nach unten zeigte und ihre blanke, scharfe Zungenspitze in Cazios Nabel ruhte. »Was in Lord Fufios Namen ist los mit dir?«, fauchte der alte Mann. »Wo ist dein Verstand? Du kannst nicht nur mit Händen und Füßen fechten!« Z'Acattos Atem stank nach dem Wein von gestern Abend. Angeekelt rümpfte Cazio die Nase. »Lass mich los«, verlangte er. »Sagst du das auch zu deinem nächsten Gegner, wenn er dich so oder noch schlimmer in die Zange nimmt?« »In einem richtigen Kampf würde ich so etwas nie zulassen«, behauptete Cazio. »Jedes Mal, wenn du diesen Degen ziehst, ist es ein richtiger Kampf!«, brüllte z'Acatto. Er ließ ihn los und stolzierte davon. »Du bist hoffnungslos! Ich geb's auf!« »Das sagst du seit zehn Jahren«, erinnerte ihn Cazio. »Und es hat die ganze Zeit gestimmt. Als Dessrator bist du hoffnungslos.« »Das ist doch lächerlich. Ich bin noch nie besiegt worden, außer von dir.« Z'Acatto wirbelte zu ihm herum; die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf. »Und jetzt erzählst du mir, du verstehst mehr davon, was einen Dessrator ausmacht, als ich}« Er hielt seinen Degen auf Cazio gerichtet, parallel zum Boden. »Deckung«, fauchte er. »Z'Acatto -«, setzte Cazio an, doch der alte Mann griff an, und Cazio war gezwungen, den Degen hochzureißen. Er wich zurück, parierte und machte seinerseits einen Ausfall, doch sein Meister blo520 ckierte seine Waffe, drängte ihn zurück und löste dann die ineinander verkeilten Klingen mit einer blitzschnellen Bewegung. Cazio wich rasch zurück und parierte erneut, vollführte einen verzweifelten Gegenstoß. Fast verächtlich sprang z'Acatto leichtfüßig zur Seite und antwortete mit einer erneuten Attacke. Cazio konnte dem tödlichen Stoß nur ausweichen, indem er sich zurückwarf; er stolperte, fiel jedoch nicht hin. Z'Acatto drängte nach; in seinen Augen
lag ein Ausdruck, den Cazio noch nie gesehen hatte, ein Ausdruck, bei dem ihm ein plötzliches Frösteln der Panik über den Rücken lief. Nein. Ich werde mich nicht fürchten, dachte Cazio und riss sich zusammen. Einen Augenblick lang umkreisten sich die beiden Männer wachsam, kamen in Reichweite und zogen sich wieder zurück. Cazio schlug als Erster zu, eine Finte, die in einen auf den Arm seines Meisters gezielten Hieb überging. Z'Acatto ließ die Hand aus der Gefahrenzone sinken und stach nach Cazios Kehle. Jäh wurde Cazio klar, dass der ältere Fechter seinen hinteren Fuß näher an den Körper gezogen hatte und dass sein Ausfall eine viel größere Reichweite hatte, als Cazio es sich je hätte vorstellen können. Er drehte sich, sodass ihn die Spitze in die linke Schulter traf. Sie drang ins Fleisch und stieß auf Knochen, und mit einem Aufschrei streckte er seinen Schwertarm. Mit einer Drehung riss z'Acatto seine Waffe heraus, und binnen eines Augenblicks hatten die Männer einander die Degenspitzen auf die Brust gesetzt. »Versuchen wir es mit der Parade der beiden Witwen?«, knurrte z'Acatto. »Keiner von uns ist verheiratet«, keuchte Cazio und fühlte, wie Blut sein Hemd durchtränkte. Sie verharrten in dieser Stellung, und einen langen, schrecklichen Moment dachte Cazio, er würde zustoßen müssen. Fast konnte er den Stahl des Älteren in seinem eigenen Herzen spüren. Doch schließlich ließ z'Acatto seine Klinge sinken. »Bah«, knurrte er, als sie auf den Steinboden klirrte. Erleichtert sank Cazio auf einen Stuhl und umklammerte seine verletzte Schulter. 521 »Ich dachte schon, du bringst mich um«, sagte er, sobald er wieder zu Atem gekommen war. »Das dachte ich auch.« Z'Acattos Augen blitzen noch immer vor Zorn. Dann brummte er ein wenig sanfter: »Junge, du bist ein guter Fechter. Du bist nur kein Dessrator. Du hast nicht das, was man dazu braucht, hier drinnen.« Er klopfte sich mit der Hand aufs Herz. »Dann bring es mir bei.« »Ich hab's versucht. Ich kann es nicht.« Er senkte den Kopf. »Lass uns die Wunde da verbinden. Ich brauche was zu trinken. Und du auch.« Kurz darauf saßen sie im Garten unter dem Vordach; eine Weinflasche war bereits leer, die zweite zur Hälfte. Es war fast genug, dass Cazio nicht mehr an die Schmerzen in seinem Arm zu denken brauchte. Um sie herum hängten Orchaevias Diener Laternen, Banner und Ketten aus Trockenblumen auf. Orchaevia selbst kam geschäftig herbeigeeilt, gekleidet in ein limonengrünes Kleid, das mit goldenen Rosen bestickt war. »Nun, Ihr beide seid mir ja ein schöner Anblick«, bemerkte die Gräfin. »Wie mundet Euch dieser Jahrgang? Ich habe ihn nie für einen der besten aus dieser Gegend gehalten.« »Nein«, knurrte z'Acatto. »Das wäre der Jahrgang, der in dem Jahr gekeltert wurde, als Baron Irpinichio Medisso der sieben Städte wurde.« »Ganz genau«, pflichtete die Gräfin ihm bei. »Und vielleicht führen Euch Eure Wanderungen durch meine verschiedenen, leicht und schwer zugänglichen Keller eines Tages zu ihm. Obwohl ich das nicht für wahrscheinlich halte.« Sie wandte sich an Cazio. »Euch dagegen kann ich vielleicht helfen.« »Gräfin?« »Die jungen Damen des Konvents werden morgen Abend hier sein.« »Was soll das?«, fragte z'Acatto. »Das Letzte, was der Junge nötig hat, ist, wegen einer Horde Nonnen den Kopf zu verlieren. Er ist sowieso schon abgelenkt genug.« 522 »Ja, und was, glaubt Ihr, lenkt ihn so ab?«, fragte Orchaevia zurück. »Blödsinn«, wehrte Cazio ab und wischte ihre Worte mit einer Handbewegung weg, als verscheuche er eine Fliege. »Das ist es!«, fuhr z'Acatto auf. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Es ist genau wie damals, als du hinter der kleinen Brettii her warst. Der gleiche dumme Gesichtsausdruck. Kein Wunder, dass du nicht mal deinen Degen halten kannst.« »Es gibt kein Mädchen«, beharrte Cazio. Das war jetzt zu viel. Allmählich setzten sie ihm wirklich zu. »Natürlich nicht«, sagte Orchaevia. »Und wenn es eins gäbe, so würdet Ihr es auf meinem Fest nicht zu Gesicht bekommen, denn die Mestra des Konvents verbietet ihren Schützlingen den Umgang mit Männern. Ich musste Dienstmädchen aus Trevina kommen lassen und meinen eigenen Dienern den Tag freigeben. Aber ... es wäre möglich, dass eines der kleinen Täubchen allein im Lavendelgarten anzutreffen wäre, wenn ich wüsste, wie sie aussieht.« Cazio nickte und trank. Sein Kopf begann sich zu drehen, und er gab nach. »Es gibt kein Mädchen«, wiederholte er, »aber wenn Ihr mir schon eins vor die Füße werfen wollt, dann bitte eines mit heller Haut und rotem Haar. Ein Mädchen aus dem Norden. So eins wollte ich immer schon mal.« Orchaevias Lächeln wurde breiter, bis Cazio glaubte, es würde ihr gleich den Kopf spalten. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach sie. Z'Acatto leerte die Weinflasche in einem einzigen langen Zug. »Das wird kein gutes Ende nehmen«, prophezeite er seufzend.
523 42. Kapitel Ein Zusammentreffen Lady Fastia?«, stieß Neil völlig verblüfft hervor. Im Mondlicht stand sie da, und ihr langes Haar floss ungebändigt bis zu ihrer Taille hinab und schimmerte wie Seide. »Ich ...« Fastia sah verwirrt aus. Plötzlich schnappte sie nach Luft und schlug die Hand vor den Mund. »Sir Neil, Ihr habt ja gar nichts an!« Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sie Recht hatte, und er zerrte ein Laken vom Bett und schlang es um seinen Körper. Er kam sich töricht vor, weil er so lange gebraucht hatte, um zu reagieren. Wenn Fastia nun ein Meuchelmörder gewesen und gekommen wäre, um die Königin zu ermorden? Warum war sie gekommen? »Habt Ihr Euch in der Tür geirrt, Mylady? Darf ich Euch zu Eurem Gemach führen?« »Nein.« Fastia blickte zu Boden. Er bemerkte, dass sie einen Morgenmantel aus Seidenbrokat trug und darunter ein dünnes Nachthemd aus Baumwolle. »Nein«, wiederholte sie. »Ich bin gekommen, weil ... ich ... Elyoner hat mir den Schlüssel gegeben. Und sie - Sir Neil, ich muss wohl den Verstand verlieren.« Neil wusste, was sie meinte. Sein Herz hämmerte wie eine Kriegstrommel. Fastias Gesicht war in der Dunkelheit vollkommen, nichts als Juwelen und kostbares Elfenbein, ein Mysterium aus Schatten, das berührt, das mehr als berührt werden musste. Er verspürte einen tiefen Schmerz in der Brust, und noch heftiger fühlte er das Blut durch seinen ganzen Körper strömen. »Die Herzogin, sie hat uns etwas gegeben, hat einen Zauber gewirkt«, sagte er. »Ja«, erwiderte Fastia. »Ja.« Dann schaute sie unerschrocken auf. »Und außerdem bin ich ziemlich betrunken, obwohl es mich nicht 524 kümmert.« Sie runzelte die Stirn. »Nun ja, doch, es kümmert mich, aber es kümmert mich nicht.« Sie kam auf ihn zu, oder jedenfalls schien es so, und er musste es ihr gleichgetan haben, denn im nächsten Moment blickte er in ihr Gesicht hinab, und ihre Augen waren nur wenige Zoll von den seinen entfernt, ihre Lippen so nahe, dass er ihren Atem riechen konnte. Irgendwie kümmerte es ihn plötzlich nicht mehr, was geschah. Ihre Arme waren fest um seinen Rücken geschlungen, und sie bog den Kopf zurück. Er fühlte, wie Elyoners Zauber ihn überkam, und ihm fiel kein guter Grund ein, sich ihm nicht zu ergeben und Fastia zu küssen, diese Lippen an seinen zu spüren und sich den Gefühlen zu überlassen, die in seinem Blut kreisten. Doch es gab einen Grund. Er wusste es. Sanft schob er sie zurück, und ihre Augen waren plötzlich schmerzerfüllt. »Ihr wollt mich nicht?«, fragte sie. »Ich ... glaube, ich kann nicht«, erwiderte Neil. Die Worte auszusprechen fühlte sich an, als kaue er Glasscherben. Ihr Gesicht zu sehen war noch schlimmer. »Ich bin eine junge Frau«, sagte Fastia leise. »Ich bin eine junge Frau, die mit einem alten Mann verheiratet ist. Einem alten Mann, den es nicht im Mindesten interessiert, dass ich eine Frau bin, schon gar nicht, dass ich jung bin, obwohl er sich mit noch Jüngeren vergnügt. Ich bin so unglücklich, Sir Neil. Während unserer Unterhaltungen in den letzten zwei Monaten war ich glücklicher, als ich es je gewesen bin. Ich will mehr davon, jetzt, solange es mich nicht kümmert, solange Elyoners Zauber mich in seiner Gewalt hat.« Dann begann sie zu weinen, was nicht gerecht war. Es bedeutete, dass er erneut die Hand nach ihr ausstrecken und versuchen musste, ihre Tränen wegzuwischen. »Erzgrefftin -«, begann er. »Ich heiße Fastia. Einfach nur Fastia. Nennt mich wenigstens Fastia.« 525 »Fastia, Ihr seid die Tochter meiner Königin.« »Ich weiß, wer ich bin«, sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich zornig. »Die Heiligen sind meine Zeugen, ich weiß, wer ich bin. Tagein, tagaus spiele ich meine Rolle und bleibe dort, wo mein Platz ist, wie eine Ranke, die darauf getrimmt wird, ein Spalier hochzuklettern, wie ein Hund, den man gelehrt hat, einem die Pantoffeln zu bringen. Ich vergesse mich nie, ich sündige nie -«In ihrem Gesicht war plötzlich etwas Wildes, und sie warf sich ihm entgegen. Diesmal war er unfähig zu widerstehen. Ihre Lippen schlössen sich über seinen. Mit den Tränen darauf schmeckten sie wie das Meer. »Nur dieses eine Mal«, sagte sie gegen seine Lippen, während sie sich küssten. »Nur dieses eine Mal.« Ineinander verschlungen sanken sie aufs Bett, und ihr Morgenmantel fiel wie ein Paar Schwingen über ihn, als sie seinen Hals küsste, und eine Weile gab es keine Gedanken, nur Gefühl und eine Art verrücktes Glück. Doch als ihr Körper entblößt an seinem ruhte und seine und ihre Lippen sich von Hals und Kehle zu anderen Regionen verirrt hatten, gebot ihm sein Herz erneut Einhalt - oder vielmehr der winzige Teil davon, der noch ihm gehörte. »Ich kann nicht«, sagte er. »Fastia -« Sie löste sich von ihm und setzte sich auf. Das Mondlicht war jetzt heller, und sie sah aus wie eine Heilige, wie sie so über ihm schwebte. »Ich wünsche es mir«, sagte er heiser. »Aber ich kann nicht.«
Ein paar Augenblicke lang blickte Fastia auf ihn herab; ihr Gesicht war unergründlich. Dann lächelte sie schwach. »Ich weiß«, sagte sie und klopfte ihm auf die Wange. »Ich weiß. Ich auch nicht.« Sie schwang ihr Bein aus dem Bett und begann, ihre Kleider zusammenzuraffen. Doch sie ging nicht. »Darf ich ein wenig hier liegen?«, fragte sie. »Neben Euch?« »Das dürft Ihr«, erwiderte er. Die Wahrheit war, dass er sich wünschte, sie möge die ganze Nacht dort liegen. Sie ließ sich neben ihm nieder und richtete den Blick an die Decke. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich schäme mich furchtbar. Ich bin wirklich nicht so. Ich bin nie -« »Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss«, wehrte er ab. 526 »Die Herzogin hat mich vor ihrem Zaubertrank gewarnt. Ich dachte, ich wäre darauf vorbereitet, mich seiner Wirkung zu widersetzen. Aber da dachte ich noch, sie würde kommen und nicht Ihr.« Ihr Gesicht wandte sich ihm zu. »Ist das wahr? Ihr empfindet etwas für mich?« »Bis heute Nacht habe ich es nicht gewusst. Oder es mir eingestanden.« »Vielleicht ist es dann wirklich nur ihr Zauber.« Neil lächelte leicht. »Glaubt Ihr wirklich, dass sie einen Zauber gewirkt hat?«, fragte er. »Ich habe da so meine Zweifel.« »Ich auch«, gestand Fastia. »Morgen werden wir es wissen, jeder für sich. Aber wir werden wieder wir selbst sein, so oder so. Ich glaube nicht, dass wir darüber sprechen werden.« »Ich auch nicht. Aber Ihr müsst wissen, wärt Ihr unverheiratet und ich von angemessenem Stande -« »Still. Wenn Wünsche Tränen wären, würde die Welt überflutet werden, Sir Neil.« Tränen glitzerten in ihren Augen, und sie sprachen nicht mehr. Nach einer Weile, als ihr Atem im Schlaf tief und gleichmäßig wurde, stand Neil auf, hob sie in seine Arme und machte sich auf den Weg zu ihrem Gemach. Als er die Tür öffnete, sah er eine Gestalt im Flur stehen. »Lady Erren«, sagte er steif. »Sir Neil«, erwiderte sie. »Braucht Ihr Hilfe dabei, diese Fracht abzuliefern?« »Denkt nicht schlecht von der Erzgrefftin, Lady Erren«, bat Neil. »Sie war nicht Herrin ihrer Sinne. Jegliche Schuld trifft mich.« Erren zuckte mit den Schultern. »Kommt. Stecken wir sie ins richtige Bett.« Sie trugen die schlafende Fastia den Gang hinunter und brachten sie zu Bett. Errens Gegenwart zum Trotz verharrte er einen Moment, um ihr träumendes Gesicht zu betrachten, so jugendlich im Kerzenlicht. Dann verließen die beiden leise das Gemach. Draußen im Gang musterte Erren ihn eingehend. »Ihr habt es nicht 527 getan«, sagte sie. »Ihr wart kurz davor, doch Ihr habt die Tür nicht geöffnet.« »Wie könnt Ihr das wissen?«, fragte Neil, gleichzeitig erstaunt und dankbar, dass Erren die Wahrheit erkannte. »Ich weiß es«, erwiderte sie. »Es ist meine Kunst, solche Dinge zu wissen. Nicht dass ich es Euch übel genommen hätte, wenn Ihr Fastia in Euer Bett gelassen hättet, nicht den Akt an sich. Die Heiligen wissen, dass sie es nötig hat, jemanden wie Euch nötig hat. Vielleicht sogar gerade Euch. Ich habe das Treiben dieser Familie den größten Teil meines Lebens mit angesehen, sodass ich es nicht mehr von einem moralischen Standpunkt aus betrachte. Aber, Sir Neil, Ihr habt der Königin die Treue geschworen, versteht Ihr? Ihr könnt Euch nicht durch Liebe ablenken lassen. Wenn Ihr eine Frau braucht, so wird sich eine finden lassen, sehr diskret, und ich werde deshalb nicht schlecht von Euch denken. Aber Ihr dürft Euch nicht verlieben.« Ihre Augen wurden schmal. »Obwohl es vielleicht schon zu spät dafür ist, die Heiligen mögen sich Eurer erbarmen. Aber wir werden sehen. Heute Nacht wäre ein Feind ohne weiteres an Euch vorbeigekommen. Das darf nicht wieder passieren.« »Ich verstehe, Lady Erren.« »Und, Sir Neil?« »Lady?« »Ihr hattet Recht. Der einzige Zauber, mit dem Elyoner Euch belegt hat, waren Einflüsterungen, und der einzige Zaubertrank war Wein und Branntwein. Denkt in Zukunft daran, was für eine Wirkung beides auf Euch hat, ja?« »Das werde ich tun, Mylady«, antwortete Neil tief beschämt. Am nächsten Tag legte Neil seine Rüstung an und ging mit der Königin hinunter zum Frühstück. Elyoner war schon da, lächelnd, wenn auch ein wenig hohläugig, gekleidet in einen mit schwarzem Nerzfell besetzten Morgenmantel aus goldenem Tuch. Sie begrüßte ihn mit einem kleinen Lächeln, das sich rasch in ein gereiztes Stirnrunzeln verwandelte. 528 »Ach, pfui, Sir Neil«, seufzte sie. Neil fühlte sich nackt unter ihrem Blick. Woher konnte sie es wissen? Wusste denn jeder Bescheid? Die Königin nicht. »Was hast du mit meinem Ritter gemacht, Elyoner?«, erkundigte sich Muriele sanft. »Was hast du wieder ausgeheckt?« »So, wie er aussieht, nicht genug«, murrte Elyoner. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Nun, jeder Tag bringt neue Hoffnung.«
Noch während sie sprach, brachten Bedienstete Platten mit gekochten Eiern, weichem weißem Käse und Bratäpfeln, geschlagenem Rahm, Gebäck und Dattelkonfitüre herein. Elseny kam freudig die Treppe heruntergehüpft, gekleidet in ein leuchtend blaues Kleid und gefolgt von ihrer Zofe Mere. »Was hast du heute für uns geplant, Tante Elyoner?«, wollte sie wissen. »Eine Bootsfahrt auf dem Evermere, denke ich«, antwortete die Herzogin. »Und ein Ringspiel auf der Wiese im Obstgarten.« »Kommt nicht in Frage«, wehrte Erren ab. »Richtig«, bekräftigte Neil. »Mutter!«, protestierte Elseny »Das klingt doch wunderbar.« Muriele nippte an ihrem Tee und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, diesmal werde ich mich meinen Bewachern beugen. Ich fürchte, ich habe sie mit der Reise hierher schon zu sehr strapaziert.« »Danke, Majestät«, sagte Neil. »Ja, den Heiligen sei's gelobt«, brummte Erren. »Aber Liebes«, wandte Elyoner stirnrunzelnd ein. »Es ist bereits alles geplant! Ich versichere dir, hier auf meinen Ländereien droht keine Gefahr.« »Trotzdem«, entgegnete Muriele. »Ich muss an meine Kinder denken.« »So, wie du an Anne gedacht hast?«, fragte Elyoner. Ein Hauch von Spott lag in ihrer Stimme. »Anne ist meine Sache, Elyoner. Ich habe getan, was nötig war.« »Du hast ein absolut wundervolles, lebhaftes Mädchen fortge529 schickt, um gezähmt und gebrochen zu werden wie eine Schindmähre«, gab Elyoner zurück. »So wie dieses sauertöpfische Weibsstück Erren hier.« »Ich habe sie vor sich selbst beschützt«, erwiderte Muriele. »Und wir werden nicht mehr davon sprechen.« Während dieses Wortgefechts waren Charles und Hundehut die Treppe heruntergekommen. Der Prinz war noch im Nachtgewand. »Äpfel!«, rief Charles. »Tante Elyoner, die mag ich am liebsten!« »Richtig, Kind, das vergesse ich nie«, sagte Elyoner. »Nimm dir, so viel du magst. Ich fürchte, das ist die einzige Freude, die du heute haben wirst.« Seufzend strich sie sich mit den Fingerspitzen übers Kinn. »Ich könnte wohl meine Mimen etwas für euch aufführen lassen, falls Ihr das nicht für zu gefährlich haltet, Sir Neil. Elseny, du könntest eine Szene mit ihnen einüben, wenn du Lust hast.« »Ja, wahrscheinlich wäre das besser als gar nichts«, schmollte Elseny »Obwohl die Bootsfahrt viel schöner gewesen wäre.« Audra kam allein die Treppe herunter. »Wo ist denn Prinzessin Fastia?«, fragte Elyoner die Zofe. »Sie fühlt sich nicht wohl, Herzogin«, antwortete Audra. »Sie hat mich gebeten, ihr etwas aus der Küche zu holen.« »Ich verstehe. Nun, die Köchin wird alles zubereiten, was sie sich wünscht. Und nehmt Euch auch etwas, Kind.« »Danke, Herzogin«, sagte Audra. »Es sieht alles köstlich aus.« Neil biss in ein gekochtes Ei. Er war froh, dass er Fastia noch nicht gegenübertreten musste, und er schämte sich deswegen. Wahrscheinlich hasste sie ihn dafür, dass er die Situation so weit ausgenutzt hatte, wie er es getan hatte. Trübsinnig aß er, während die Familie um ihn herum plauderte und das Haus zum Leben erwachte. Ein Diener trat ein und unterbrach seine düsteren Gedanken. »Ein Reiter ist eingetroffen, Herzogin«, meldete der Mann. »Aus Eslen.« »Wirklich? Was bringt er für Neuigkeiten?« »Meldung vom Kriege, Herzogin. Liery hat der Salzmark den Krieg erklärt.« 530 »Es fängt an«, murmelte Erren. »Muriele -« »Du hast Recht«, sagte Muriele. »Sir Neil, gebt den Wachen Bescheid. Wir kehren in den Schutz von Cal Azroth zurück. In einer Stunde brechen wir auf.« »Das ist einfach lächerlich!«, protestierte Elyoner. »Ich sage dir doch, du bist hier vollkommen sicher. Es ist ja nicht so, als wäre Crothenien im Krieg.« »Der Reiter hat fünf Tage bis hierher gebraucht«, erklärte Muriele. »Diese Nachricht ist alt. Wenn Liery den Krieg erklärt hat, kann Crothenien nicht lange zaudern, und wenn wir in den Streit eintreten, tut es auch Hansa. Wahrscheinlich geschieht das gerade jetzt, in diesem Augenblick. Kinder, lasst eure Sachen packen.« »Aber wir sind doch gerade erst angekommen«, begehrte Elseny auf. »Cal Azroth ist so unsagbar langweilig.« »Ja, das ist es«, gab Muriele zu. »Pack deine Sachen.« Trotz allem verspürte Neil Erleichterung. Krieg war weniger gefährlich als Glenchest. 43. Kapitel Ein Treffen auf der Landspitze Vom Nebel verhüllt ging die Sonne auf und übergoss die Landspitze von Aenah mit Farbe und einem Hauch von Reif, sodass William seinen Mantel enger um sich zog, obgleich noch immer Sommer in der Meeresbrise lag. Ruhelos huschte sein suchender Blick die Klippen hinunter zu den dort verstreuten Steinen und darüber hinaus
zu den bewegten Linien von Wasser und Himmel. Um ihn herum saßen fünfzehn Ritter schweigend auf ihren Pferden. Robert, mit ungewohnt ernster Miene, war abgestiegen. Auch er starrte aufs Meer hinaus. 531 »Wo bleiben sie denn?«, knurrte William. Robert zuckte mit den Schultern. »Du weißt genauso gut wie ich, dass die Straßen der See ungewiss sind«, erwiderte er. »Der heilige Lier schert sich nicht um die Pünktlichkeit der Seeleute.« »Und sogar noch weniger um die von Piraten. Bist du sicher, dass dies so vereinbart worden ist? Wir bekommen Lesbeth zurück?« »Wir haben unser Wort gehalten«, antwortete Robert. »Sie werden das ihre halten. Austrobaurg weiß, dass er alles aus uns herausgequetscht hat, was er mit ihrer Gefangenschaft erreichen kann. Das wurde ihm klar zu verstehen gegeben.« »Aber warum dieses heimliche Treffen? Wieso besteht er darauf, dass wir beide dabei sind?« Ananias Hargoln, Hauptmann der Lanzenreiter, meldete sich zu Wort. »Genau das frage ich mich auch, Sire. Das sieht mir nach einer sehr offensichtlichen Falle aus.« Seine stahlblauen Augen suchten misstrauisch die Küstenlinie ab. »Das haben wir doch alles schon besprochen. Meine Spione haben das Gebiet gesichert«, erwiderte Robert knapp. »Zweifelt Sir Ananias etwa an seinem Ersten Minister?« Der Hauptmann schüttelte den ergrauenden Kopf. »Nicht im Mindesten, mein Prinz. Aber ich habe Zweifel, was Herzog Austrobaurg betrifft. Erst nimmt er ein Mitglied der königlichen Familie gefangen, und jetzt will er sie nur in Gegenwart des Herrschers persönlich übergeben, auf dieser von allen Heiligen verlassenen Landspitze. Obwohl wir uns darauf geeinigt haben, nur fünfzehn Mann für jeden zu gestatten, hat der König Recht. Das hier wäre genau das Richtige für einen Königsmord.« »Austrobaurg wird ebenfalls nur fünfzehn Männer mitbringen«, wandte Robert ein. »So hat er es versprochen. Das heißt nicht, dass es auch so sein wird.« Robert zeigte auf den gewundenen Klippenpfad, der vom Ufer heraufführte. »Wir werden reichlich Zeit haben, es zu bemerken, wenn er mehr mitbringt. Nein, Austrobaurgs Beweggründe sind viel weni532 ger geheimnisvoll. Er will uns ins Gesicht pissen und lachen, wenn wir nichts dagegen unternehmen können.« »Ja, das passt zu ihm«, brummte William. »Ich erinnere mich nur zu gut an ihn. Ein aufgeblasener Bursche, ein Prahlhans.« Er beugte sich zu Robert hinunter. »Soll er diesen Moment ruhig genießen«, flüsterte er. »Aber wenn das hier erledigt und Lesbeth wieder sicher in Eslen ist - dann, Robert, reden wir noch einmal über Austrobaurg.« Robert zog die Augenbrauen hoch. »Fürwahr«, sagte er. »Vielleicht machen wir doch noch einen Politiker aus dir, William.« »Vorausgesetzt, dass er überhaupt kommt«, fügte William hinzu. Robert jedoch deutete mit einem Kopfnicken auf die Wogen und zeigte mit dem Finger. »Da.« Williams Augen waren nicht mehr das, was sie einst gewesen waren, doch ein paar Augenblicke später konnte er erkennen, was Robert gesehen hatte - die lange Silhouette einer Galeere, die durch die Brecher auf den felsigen Kiesstrand zuhielt. Über das Donnern der Brandung hinweg vernahm er allmählich den rhythmischen Gesang, der die langen, gleichmäßigen Ruderschläge begleitete. »Wie viele Männer seht Ihr?«, fragte William Sir Ananias. Die hoch gewachsene Gestalt des Ritters beugte sich im Sattel vor. Ananias betrachtete das näher kommende Schiff. »Nicht mehr als fünfzehn, Sire«, sagte er schließlich. »Wie versprochen.« »Könnten unter Deck noch mehr lauern?« »Das könnte sein, Sire. Ich rate Euch, hier oben auf der Klippe zu bleiben, während ich mich versichere, dass kein falsches Spiel gespielt wird. Lasst mich Euch so gut schützen, wie ich kann.« »Ein guter Rat, Bruder«, bemerkte Robert. »Nun gut. Erwartet sie an der Anlegestelle. Sagt ihnen, Ihr wärt gekommen, um sicherzugehen, dass die vereinbarten Bedingungen für dieses Treffen eingehalten werden - auf beiden Seiten. Sagt ihnen, sie können ebenfalls einen Abgesandten schicken, um sich von der Anzahl unserer Männer zu überzeugen.« 533 Er sah zu, wie Ananias den in die weißen Klippen gehauenen Pfad hinunterritt und immer kleiner zu werden schien, bis er und sein Pferd ebenso gut ein silberner Käfer hätten sein können. Der Ritter erreichte den Strand genau in dem Moment, als das Schiff auf den Kies lief. Eine Gestalt in goldziselierter Rüstung stand am Bug. Sie sprachen miteinander, und wenige Augenblicke später stieg der Ritter an Bord der Galeere. Ein Pferd wurde aus dem Laderaum heraufgeschafft, und bald kam einer von Austrobaurgs Rittern die Klippe heraufgeritten. Unterdessen wurden weitere Pferde an Land gebracht. Austrobaurgs Mann stellte sich mit gestelzten Worten in der Königssprache als Sir Wignhund Fram Hravenfera vor und machte sich daran, die Landspitze nach versteckten Truppen abzusuchen. Die Suche dauerte nicht lange; die Landspitze war der letzte Ausläufer der Ebene von Maog Vaost, die hier an der Küste endete. Es war Schafland, baumlos und sanft geneigt, ohne jegliche Hügelkämme oder Schluchten, in denen man sich verbergen
könnte. Gleich darauf kehrte Ananias zurück. »Es sind so viele wie ausgemacht«, berichtete er. »Fünfzehn, nicht mehr und nicht weniger.« »Und Lesbeth? Ist sie wohlauf?« Das lange Gesicht des Ritters verzog sich finster. »Ich habe sie nicht gesehen, Sire.« William wandte sich an seinen Bruder. »Was geht hier vor, Robert?« Robert zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Noch mehr Winkelzüge, nehme ich an.« »Mir gefällt das nicht, Sire«, sagte Sir Ananias. »Ich empfehle einen Rückzug. Lasst den Ersten Minister die Fragen stellen.« »Genau«, meinte Robert. »Lasst jemanden mit dem aufgeblasenen Burschen< reden, der Manns genug dazu ist.« »Ich denke nur an den König und seine Sicherheit, Prinz Robert«, erwiderte der Ritter steif. »Niemand zieht sich zurück«, entschied William. »Ich will selbst mit Austrobaurg sprechen.« Ungeduldig wartete er, während die gegnerische Gruppe näher 534 kam. Sie waren nach hansischer Art gerüstet; silberne und goldene Glöckchen klingelten an ihren Sätteln und in den Mähnen ihrer Pferde, Rosshaar- oder Federbüsche wallten von ihren Helmen herab. William hatte sein Gefolge schlicht ausgestattet, um zu vermeiden, dass sie auf dem Ritt zum Kap erkannt wurden. Austrobaurg jedoch ließ alle Welt wissen, wer er war; er wusste, dass nur William und seine Ritter es sehen würden Robert hatte Recht - es war Prahlerei, Salz, das vom Herzog einer kleinen Provinz, der den König gezwungen hatte, sich seinem Willen zu beugen, in dessen Wunde gerieben wurde. Die Demütigung schmeckte wie verfaultes Fleisch und lag William schwer im Magen. Herzog Austrobaurg war ein dicker, untersetzter Mann mit borstigem Schnurrbart und Augen, die so grün waren wie die Meereswogen. Graue Strähnen zogen sich durch sein langes, schwarzes Haar, und seine Miene war herrisch, als er ein paar Schritt entfernt sein Pferd zügelte. Einer seiner Ritter hob die Hand. »Der Herzog Alfreix von Austrobaurg grüßt den König von Crothenien und wünscht den Segen der Heiligen für dieses Treffen.« Robert räusperte sich. »Der König -« William schnitt ihm auf Hansisch das Wort ab. »Was soll das, Austrobaurg? Wo ist meine Schwester? Wo ist Lesbeth?« Zu seinem Erstaunen schien der Herzog völlig verwirrt zu sein. »Euer Hoheit?«, fragte er. »Ich habe keinerlei Kenntnis von Ihrer Hoheit. Wieso fragt Ihr mich nach ihr?« William versuchte, bis sieben zu zählen. Er kam nur bis fünf. »Ich habe keine Geduld für solchen Unsinn«, brach es aus ihm heraus. »Ihr habt, was Ihr wolltet: Zwanzig Schiffe der Kummerinseln liegen auf dem Meeresgrund. Und jetzt werdet Ihr meine Schwester zurückgeben, oder, bei der heiligen Fendve, ich brenne jede Eurer Städte bis auf die Grundmauern nieder.« Der Herzog wandte sich an Robert. »Wovon redet Seine Majestät?«, verlangte er zu wissen. »Wir hatten eine Abmachung.« 535 »Ihr wisst sehr gut, wovon mein königlicher Bruder redet«, knurrte Robert. »Euer Hoheit«, sagte Austrobaurg und sah erneut William an, »ich verstehe überhaupt nichts. Ich bin auf Euren Wunsch hier, um den Zwist zwischen der Salzmark und den Kummerinseln beizulegen. Dieser Krieg nutzt niemandem, darauf haben wir uns doch beide in unseren Briefen geeinigt.« »Robert?«, fragte William und drehte sich zu seinem Bruder um. Robert brach in gellendes Gelächter aus und trieb sein Pferd zum vollen Galopp an. Mit offenem Mund sah William zu, wie er davonritt. Und während er verblüfft dasaß und seine Ritter zu brüllen begannen und nach ihren Waffen griffen, spie die Erde Tod und Verderben aus. Zuerst dachte William, ein seltsamer Schwärm dunkler Vögel steige aus unterirdischen Nestern in die Höhe, denn die Luft war von schwarzem Flug und furchtbarem Surren erfüllt. Dann begriff jener Teil von ihm, der einst - vor so langer Zeit - ein Krieger gewesen war, als ein Pfeil Sir Ananias ins Auge traf und die Spitze am Hinterkopf herausdrang. Zwanzig Schritt entfernt hatte sich ein Graben aufgetan, als die darin verborgenen Bogenschützen die Grassoden, mit denen er bedeckt gewesen war, emporgestoßen hatten. Sie trugen rabenschwarze Kleidung, so schwarz wie die Pfeile, die sie abschössen. »Verrat!«, schrie Austrobaurg und versuchte verzweifelt, sein Pferd zu wenden und hinter seinen Männern Deckung zu finden. »Crothenischer Verrat!« »Nein!«, rief William, doch Austrobaurgs Ritter waren bereits in Kämpfe mit den seinen verstrickt, und Blut floss unter Schwerthieben. Nur er schien zu bemerken, dass Männer beider Seiten unter den tödlichen Pfeilen der Schützen fielen. »Dort ist unser Feind!«, schrie er, zog sein Schwert und deutete damit auf den Graben. »Unser beider Feind!« Robert hat mich verraten. Er versuchte, sich aus dem Gewühl zu lösen, um auf die Bogenschützen loszustürmen, und schnappte nach Luft, als ein Pfeil von seinem
536 Brustharnisch abglitt. Vor seinen Augen galoppierte Sir Tarn Dare, sein Cousin, auf den Graben zu. William sah ihn zu Boden stürzen, mit Pfeilen gespickt wie ein Igel. Einer von Austrobaurgs Rittern fiel auf die gleiche Weise. Der Kopf flog von Sir Avien MaqFergoists Schultern, abgetrennt vom Schwert eines Ritters, der das Wappen des Hauses Sirgrohsn führte. Ein Pferd schrie auf, sein eigenes, und William sah einen Pfeil in seinem Hals stecken. Als es sich aufbäumte, trafen es zwei weitere in den Bauch, dann krachte es zu Boden, drehte sich im Fallen. Auch William verdrehte sich und spürte ein kurzes, knirschendes Brechen von Knochen, als das Tier auf ihn stürzte. Um sich schlagend wälzte es sich von ihm herunter. Ein Huf - vielleicht der seines Pferdes, vielleicht der eines anderen - traf ihn am Kopf, und für eine Weile wurde es um ihn dunkel. Seewind und der Blick über die Klippen begrüßten ihn, als er wieder zu sich kam. An einen Felsen gelehnt saß er aufrecht da, die Füße dem Wasser zugewandt, und sein Kopf schmerzte fürchterlich. Er versuchte aufzustehen und stellte fest, dass er die Beine nicht bewegen konnte. »Schön, dass du wieder bei uns bist, Bruderherz.« William drehte den Kopf, wobei Schmerzsplitter ihm bis in den Hals schössen. Robert stand neben ihm; er schaute ihn nicht an, sondern blickte zum Horizont. Die Sonne hatte den Nebel zu Wolken gerinnen lassen, und die Wellen tanzten jetzt im unsteten Sonnenlicht. »Was ist geschehen?«, fragte William. Noch war er nicht tot. Vielleicht würde Robert einen anderen Weg einschlagen, wenn er weiter vorgab, nichts zu wissen. »Der Hinterhalt -« »Sie sind alle tot, außer mir.« »Und mir«, verbesserte William. Robert lachte leise. »Nein, Wilm, du bist bloß ein Geist, ein Bote an unsere Vorfahren.« William sah seinem Bruder ins Gesicht. Es war gelassener, als er es je gesehen hatte, fast heiter. 537 »Du wirst mich töten, Bruder?« Geistesabwesend kratzte Robert sich am Hals. »Du bist schon tot, ich habe es dir doch gesagt. Du hast dir den Rücken gebrochen, als du vom Pferd gefallen bist. Hab doch ein wenig Würde, Wilm.« Heiße Tränen schössen William in die Augen, doch er hielt sie zurück. Sogar die Luft kam ihm unwirklich vor, zu gelb, wie Farben in einem Traum. Er drängte Angst und Grauen zurück, zusammen mit den Tränen. »Warum, Robert? Warum dieses Gemetzel? Warum mich ermorden?« »Keine Angst«, sagte Robert. »Du wirst jede Menge Gesellschaft haben auf deiner Reise nach Westen. Muriele stirbt heute. Und deine Töchter auch. Lesbeth ist schon dort und erwartet dich.« »Alle? Sie alle?« William stellte fest, dass er seine Hände bewegen konnte, obgleich sie krampfhaft zitterten. »Du dreckige Bestie! Du bist kein Dare. Du bist nicht mein Bruder.« Nun war in Roberts Stimme ein Hauch von Zorn zu vernehmen. »Aber das hattest du doch schon längst beschlossen, nicht wahr, Wilm? Wenn du mich als Bruder betrachtet hättest, hättest du Lesbeth nie verlobt, ohne mich zu fragen. Das konnte ich dir nie verzeihen.« »Du hast sie getötet. Du hast sie getötet und ihr den Finger abgeschnitten, damit ich glauben sollte - warum? Und meine Kinder? Meine Frau? Alles wegen einer einzigen Kränkung?« Er hatte die Hand jetzt am Griff seines Echein doif, des kleinen Messers, das jeder Krieger an einer besonderen Stelle am Körper verborgen trug. Das Messer des letzten Auswegs. »Und wegen der Throne von Hansa und Crothenien, und eines Tages auch von Lier«, erwiderte Robert gedankenverloren. »Aber die Kränkung hätte vielleicht ausgereicht. Ich bin von dieser Familie zu oft links liegen gelassen worden. Zu oft verraten worden.« »Du bist verrückt. Crothenien wird dich nicht dulden, nicht lange. Und Hansa -« »Gehört mir schon fast.« Er lächelte. »Ich habe ein Geheimnis. Und fürs Erste wird es auch mein Geheimnis bleiben. Es gibt Mög538 lichkeiten, mit den Toten zu sprechen, und obwohl dein Geist fern von den Häusern unserer Ahnen wandeln wird, bin ich nicht so dumm, dieses Risiko einzugehen. Aber ich werde dir für deine Hilfe danken, Bruder.« »Hilfe?« »Ich hätte unsere Schiffe nicht gegen die Kummerinseln schicken können. Das hast du getan. Wusstest du, dass die Lords von Liery entdeckt haben, woher diese Schiffe kamen? Wenn du noch ein paar Tage länger gelebt hättest, hättest du eine Menge zu hören bekommen, das kann ich dir sagen. Du solltest mir dafür danken, dass ich dir die selbstgerechte Schwülstigkeit dieses De-Liery-Narren Fail erspare.« »Das verstehe ich nicht.« »Kannst du nicht einmal nachdenken, Wilm? Die Seelords haben herausgefunden, dass wir der Salzmark gegen ihre Verbündeten beigestanden haben. Ich habe die nötigen Hinweise fallen lassen.« »Aber ich habe dem doch nur zugestimmt, weil ich dachte, dass Lesbeth -« »Sei still und hör zu. Das werden sie natürlich nie erfahren. Jeder, der die Geschichte von Lesbeths Entführung geglaubt hat, ist tot. Das Gezeter über deine Politik hat schon begonnen, und jetzt du und Austrobaurg, getötet
beim Versuch, einen dauerhaften Frieden zu schließen. Sehr verdächtig. Besonders, da du mit lierischen Pfeilen getötet wurdest.« Sein Lächeln war grauenhaft. »Das bedeutet Krieg«, stöhnte William. »Bei allen Heiligen, das bedeutet Krieg mit Liery« »Ja, besonders wenn Murieles Tod entdeckt wird. Ihre Familie wird das nicht auf die leichte Schulter nehmen.« »Wieso Muriele? Wieso meine Mädchen?« »Du hast die Mädchen getötet, als du sie zu legitimen Thronfolgerinnen gemacht hast. Muriele musste natürlich sterben. Sie ist schön, und ich hätte nichts dagegen, sie zu meiner Königin zu machen, aber sie ist zu willensstark.« Plötzlich verstand William. »Charles?« »Genau. Dein armer Idiot von Sohn wird König, und ich werde 539 sein Erster Minister sein. Die Mädchen - sogar Elseny - hätten vielleicht einen eigenen Verstand entwickeln können. Sie schlagen ihrer Mutter zu sehr nach. Aber Charles - niemals.« »Ich verstehe«, murmelte William tonlos und versuchte, Robert durch reine Willenskraft dazu zu bringen, näher zu kommen. »Aber wenn du planst, das Land zu regieren, warum legst du es dann auf einen Krieg mit Liery an? Das ist doch sinnlos. Es wird dich nur schwächen.« Robert lachte. »Genau. Hansa hätte nie über ein starkes Crothenien triumphieren können, das Liery als Verbündeten behalten hätte, nicht einmal mit einem Tölpel wie dir auf dem Thron. Immerhin haben deine Generäle eine Menge Verstand, jedenfalls einige von ihnen. Aber jetzt - zumindest wird es die Seelords von unserer Seite vertreiben, wenn es sie nicht gar dazu bringt, uns den Krieg zu erklären. So oder so verschafft dies Hansa in dem Krieg, der auf uns zukommt, einen Vorteil.« »Dem Krieg, der ... du willst, dass Hansa Crothenien erobert? Bist du vollkommen wahnsinnig?« »Siehst du«, flüsterte Robert. »Selbst du kannst denken lernen, wenn auch nur ein bisschen. Zu spät, glaube ich. Und nun, Bruderherz, ist es an der Zeit, dir Lebewohl zu sagen.« Er ging zu Williams Füßen und bückte sich, um sie zu packen. »Warte. Wie hast du Muriele umgebracht?« »Ich habe sie ganz offensichtlich überhaupt nicht umgebracht, da ich hier bin und sie in Cal Azroth ist. In der Tat wird sie nicht einmal durch meine Machenschaften sterben. Darum haben sich andere gekümmert.« »Wer?« Robert gab sich verschämt. »Nein, nein. Das darf ich nicht sagen. Nur ein paar Leute, die im Augenblick die gleichen Ziele verfolgen wie ich.« Er leckte sich die Lippen. »Sie wünschen Murieles Tod aus Gründen des ... Aberglaubens. Ich habe mir ihre Leichtgläubigkeit zunutze gemacht. Und wenn du dies hier jetzt mit einem bisschen von dem berühmten Gleichmut der Dares ertragen würdest...« 540 William sah, wie Robert seine Knöchel packte, doch er fühlte nichts. Robert zog ihn näher an den Rand der Klippe heran. »Ach, übrigens, sag mir, wo der Schlüssel ist«, sagte Robert. »Du hast ihn nicht bei dir.« »Welcher Schlüssel?« »William, bitte. Sei doch nicht ausgerechnet jetzt kleinmütig. Der Herrscher muss den Schlüssel zur Zelle des Bewahrten besitzen.« Eine kurze Hoffnung keimte in William auf. »Ich kann dir zeigen, wo er ist«, erwiderte er. »Aber sagen tue ich es dir nicht.« Robert strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich finde ihn schon. Wahrscheinlich ist er in der Schatulle in deinem Gemach.« Er machte sich wieder ans Werk. Heilige Fendve, gibt mir Kraft, betete William. »Verrate mir noch eins, Robert«, sagte er. »Was hast du mit Lesbeths Leichnam gemacht?« »Ich habe ihn im Garten am Kap begraben.« "Williams Füße baumelten jetzt fast über der Klippe. Robert runzelte die Stirn, als er sah, dass er seinen Bruder nicht einfach über den Rand zerren konnte. »So wird es gehen«, murmelte er. »Nicht so würdevoll, aber so ist es nun mal.« Er zog an Williams leblosen Beinen, zerrte ihn so herum, dass er parallel zum Rand lag. William hörte die Möwen unter sich. Wenn Robert seine Beine jetzt hinunterstieß, würde ihr Gewicht den Rest von ihm mitreißen. »Ich meine nicht, wo du sie begraben hast, Robert. Ich meine, was du mit der Leiche gemacht hast, bevor du sie vergraben hast, außer den Finger abzuschneiden? Ein kluger Mann wie du, da muss es doch Möglichkeiten geben, sich mit dem Leichnam einer Schwester zu vergnügen, besonders einer Schwester, die du auf so unnatürliche Weise begehrt hast -« Ein Tritt gegen den Kopf und der blutrote Blitz, der ihn blendete, schnitten ihm das Wort ab. »Das habe ich niemals getan!«, kreischte Robert. Seine Ruhe zersplitterte wie dünnes Glas. »Meine Liebe zu ihr war reine -« 541 »Reine Geilheit, du widerlicher Dreckskerl!«
Der Fuß zuckte erneut vor, doch diesmal bekam William ihn zu fassen und trieb die Spitze des Echein in die Wade seines Bruders. Robert schrie unter dem plötzlichen Schmerz auf und fiel mit einem Knie auf Williams Brust. Mit einem unverständlichen Aufschrei bäumte sich William auf und stieß mit dem Messer nach Roberts Herzen. Es versank bis zum Heft. Dann versetzte Robert ihm einen mächtigen Stoß, und er war in der Luft, schwerelos. Er griff um sich nach einem Halt, fand beinahe einen ... und dann gab es keinen Halt mehr. Die Felsen fingen ihn auf, doch er spürte keinen Schmerz. Die Gischt der See, das salzige Blut der Welt, spritzte ihm ins Gesicht. Muriele, dachte er. Muriele. In der Tiefe hörte er die Draugs singen, trauervoll und gierig; sie kamen, um ihn zu holen. Wenigstens hatte er Robert getötet. Seine Augen schlössen sich, und der Wind erstarb, und dann, wie eine Figur in einem Schattenspiel, erschien eine Silhouette vor einem grauen Hintergrund. Groß, von menschlicher Gestalt und doch auch wieder nicht; ein Geweih wie das eines Hirsches ragte von ihrem Kopf auf. Die Gestalt winkte, und William sah Eslen, eine rauchende Ruine, in ihrer Handfläche liegen. Er sah das Herzland Crotheniens, verheert und verdorrt in der anderen Hand der Silhouette. In ihren Augen, wie in einem vom Feuer erhellten Spiegel, sah er Krieg. In weiter, weiter Ferne hörte William das gellende Schmettern eines Horns. Die geweihgekrönte Gestalt begann zu wachsen, ganz und gar nicht mehr wie ein Mensch jetzt, sondern wie ein Wald; ihr Geweih vervielfachte sich, um die Äste zu bilden, ihr Körper dehnte sich und zerriss in dunkle Stämme und dornige, wuchernde Ranken. Und während es wuchs, sagte das finstere Wesen einen einzigen Namen. Anne. Der Name riss ihm die Seele aus dem Leib, und das war das Ende von William IL, dem König von Crothenien. 542 Roberts Mund arbeitete, versuchte Luft zu holen. Er starrte das Heft in seiner Brust an und kam sich töricht vor. »Gut gemacht, Wilm«, murmelte er. »Gut gemacht, die Heiligen mögen dich verfluchen.« Es war ein seltsamer Augenblick, um stolz auf seinen Bruder zu sein, doch so war es. »Mein Prinz!« Robert erkannte die Stimme des Hauptmanns seiner Nachtschreiter, doch sie klang, als käme sie von weit her. Robert schaute nicht zurück; er konnte den Blick nicht von dem Messergriff losreißen. Aus seinem Blickwinkel ragte er vor der See auf wie ein Turm. Weit entfernt vernahm er das wilde Blasen einer Trompete, und der Himmel stürzte auf ihn herab. 44. Kapitel Der Fiussanal-Abend Anne, Austra und Serevkis schlenderten durch die Gärten der Gräfin Orchaevia. Gelächter und Musik erfüllten das Zwielicht, Blüten in fantastischen Farben und Formen schwängerten die Luft mit ihrem Duft, und die Stimmung war allenthalben unbestreitbar ausgelassen. Das Ganze bereitete Anne heftiges Unbehagen, und sie wusste nicht, warum. Zum Teil lag es gewiss an dem geborgten Kleid; es war ein wenig zu eng und von einem so grellen Grün, dass ihr fast die Augen wehtaten. Der größte Teil des unguten Gefühls jedoch lauerte unerkannt ganz hinten in ihrem Verstand, bis Austra ihn mit einer simplen Bemerkung ans Licht brachte. 543 »Das erinnert mich an Elsenys Geburtstag«, meinte sie. »All die Blumen.« »Das ist es«, murmelte Anne. »Was?« »Ach, nichts.« Doch das war es tatsächlich. Es war das Fest der heiligen Fessa -oder, wie sie hier genannt wurde, der Lady Fiussa. Fiussa war die Schutzherrin der Blumen und Pflanzen, und im Frühherbst, wenn sie sich zu ihrem langen Schlaf zurückzog, war es Sitte, ihr alles Gute zu wünschen und für ihre Rückkehr im nächsten Frühling zu beten. Deshalb waren überall Blumen, genau wie bei Elsenys Geburtstag; viele davon waren im Frühjahr getrocknet worden, damit sie ihre Farbe behielten. Austra bemerkte ihr Unbehagen natürlich und hakte nach. »Sie machen hier viel Aufhebens um das Fiussanal, nicht wahr?«, sagte sie vorsichtig. »Viel mehr als in Eslen.« »Ja«, antwortete Anne zerstreut; sie hatte keine Lust, den Köder zu schlucken. Sie hatte Austra nichts von ihren Visionen erzählt, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie vorhatte, es jemals zu tun. Noch nie hatte sie vor ihrer besten Freundin Geheimnisse gehabt, jetzt jedoch, wo sie einmal damit angefangen hatte, würde es schwer sein, wieder damit aufzuhören. Ohne es zu wollen, rettete Serevkis sie. »Wirklich?«, fragte das vitellianische Mädchen. »Wie wird das Fiussanal denn in Crothenien gefeiert?« »Wir schenken uns gegenseitig Medaillons mit gepressten Blumen darin«, erzählte Austra. »Und wir stellen einen Feinglest im heiligen Horz auf und trinken den letzten der neuen Weinjahrgänge.«
»Was ist ein Feinglest?«, wollte Serevkis wissen. »Eine Art Weidengeflecht voller Blumen«, erklärte Anne. »Ich glaube, die Sitte stammt ursprünglich aus Liery« »Ah.« Serevkis grinste. »Diesen Brauch gibt es bei uns auch, denke ich, aber wir nennen es anders. Kommt mit. Ich glaube, ich habe den Horz hier ganz in der Nähe gesehen.« Vorbei an einem üppigen 544 Olivenhain, in dessen Zweigen bunte, kastenförmige Papierlaternen leuchteten, gingen sie an einem Flügel der Triva entlang zu einem kleinen, ummauerten Garten. Dort stand, neben einer uralten, knorrigen Eiche, eine Frau aus Blumen. Ihre Augen waren rote Klatschmohnblüten, ihr Rock war aus Goldraute und Tagetes, und ihre Finger waren aus violetten Astern. Der Anblick durchfuhr Anne wie ein schrecklicher Ruck, fast wurde ihr übel. Dies hier erinnerte sie lebhaft an die Frauen in ihren Visionen, an die schwarzen Rosen, an das gehörnte Wesen in dem Wald. »So wie das da?«, fragte Serevkis. »Ist das ein Feinglest?« »Nein«, antwortete Anne schwach. »Ich meine, doch, ich glaube schon, aber in Crothenien machen wir Kegel oder hohe Körbe oder ... niemals so etwas. Nie etwas, das wie ein Mensch aussieht.« Doch ihr fiel wieder ein, dass feinglest Lierisch war und grüne Frau hieß. Eine Grube der Furcht tat sich in ihrem Innern auf. »Lass uns gehen«, sagte sie. Im Licht der Laternen sah es aus, als würde das Lächeln der grünen Frau breiter, als könne sie jeden Moment einen Schritt auf sie zumachen. »Ich finde sie hübsch«, stellte Austra fest. »Ich gehe.« Anne drehte sich um und ging zurück zum Haus und zum Lärm des Festes. »Was ist denn mir der los?«, murmelte Serevkis eher verblüfft als verärgert. Anne beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte weg von dem Garten, von dem offenen Nachthimmel, den Wiesen und Bäumen. Sie wollte Lampenlicht, Menschen und Wein. Vor allem Wein. Als sie wieder in den riesigen Hof des Landhauses traten, kam ihnen die Gräfin persönlich lächelnd entgegen. Sie trug ein bis zur Geschmacklosigkeit mit goldenen und silbernen Blumenranken besticktes Kleid. »Meine Liebe«, sagte sie zu Anne. »Dieses Gesicht! Ich hoffe, Ihr amüsiert Euch gut.« »O ja, Casnara«, log Anne. »Vielen, vielen Dank für Eure Gastfreundschaft.« 545 »Aber nicht doch«, wehrte die ältere Frau strahlend ab. »Und für Euch, Liebes, habe ich vielleicht eine ganz besondere Überraschung, denke ich.« Anne blinzelte. Sie war der Gräfin natürlich bei ihrer Ankunft vorgestellt worden, genau wie alle anderen, doch sie konnte sich nicht vorstellen, womit sie ihre besondere Aufmerksamkeit erregt haben könnte. »Hier«, sagte die Gräfin, zog sie beiseite und flüsterte ihr ins Ohr: »Betretet mein Haus durch die größte Tür, und Ihr werdet eine Treppe zu Eurer Linken sehen. Geht hinauf, dann den Gang hinunter, wo eine Tür in meinen Lavendelgarten hinausführt. Dort werdet Ihr einen jungen Mann finden, der sich sehr nach Eurer Gesellschaft sehnt.« »Ich ... einen jungen Mann?« Die Gräfin sah aus, als wäre sie sehr zufrieden mit sich. »Eurem Gesicht nach zu urteilen, müsst Ihr die Richtige sein. Ich glaube, Ihr wisst, wen ich meine.« »Danke, Gräfin«, sagte Anne und gab sich alle Mühe, ihre Gesichtszüge im Zaum zu halten. Doch in ihrer Brust tat ihr Herz seltsame Dinge, und ihr Verstand raste. Inzwischen würde Roderick ihren Brief bekommen haben. Inzwischen könnte er hier sein. Vielleicht hatte er von diesem Fest gehört und der Gräfin von seiner großen Liebe erzählt, und von seinem Verlangen, sie zu sehen, und natürlich war dies der einzige Zeitpunkt und der einzige Ort, wo so etwas möglich war. Wenn er zum Konvent kam, würde er mit Sicherheit abgewiesen. Vielleicht hatte er es schon versucht, und sie hatte nichts davon erfahren. »Was wollte sie denn?«, fragte Serevkis. »Gar nichts«, erwiderte Anne. »Sie hat Austra und mich gebeten, ihr einen Gefallen zu tun, das ist alles.« »Ich komme mit«, sagte Serevkis. »Nein!«, widersprach Anne ein bisschen zu laut. Mehrere Köpfe wandten sich nach ihr um, einschließlich der von Schwester Casita. »Nein«, wiederholte sie etwas leiser. »Sie hat darum gebeten, dass nur Austra und ich gehen.« 546 »Wie geheimnisvoll«, sagte Serevkis ein wenig skeptisch. »Man könnte fast meinen, hier geht irgendetwas vor.« »Nein, es ist nichts in der Art«, beharrte Anne. »In welcher Art?«, erkundigte sich Serevkis und hob eine Braue. »Ich erzähle es dir später«, versprach Anne. »Komm, Austra.« Sie zog ihre Freundin an der Hand auf die Tür zu, von der die Gräfin gesprochen hatte. »Was hat die Gräfin zu dir gesagt?«, wollte Austra wissen, als sie durch die Tür geschlüpft waren und die Treppe hinaufstiegen. »Wo gehen wir denn hin?« Anne drehte sich um und nahm Austras Hände in die ihren. »Ich glaube, Roderick ist hier.« Austras Augen wurden untertassengroß. »Wie ist das möglich?«
»Ich habe ihm einen Brief geschickt, und eine Wegbeschreibung.« »Was? Wie hast du das gemacht?« »Das erkläre ich dir schon noch. Aber er muss es sein.« Sie erreichten das Ende des Ganges und standen vor einer schmiedeisernen Gittertür. Dahinter raschelten Blätter leise in der Brise, und sie konnte die Sterne über einer ziegelgedeckten Mauerkrone sehen. Vor lauter Erwartung fühlte Anne sich fast wie versteinert. »Er soll dort drin sein«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Soll ich hier warten?«, fragte Austra. »Um Alarm zu geben, falls eine der Schwestern auftaucht?« »Nein. Komm mit mir, bis ich sicher bin. Ich lasse es dich wissen, wenn du gehen sollst.« »Na schön.« Austra klang nicht gerade überglücklich. Zusammen traten die beiden Mädchen durch die Tür. Der Garten war klein, und der Boden war mit roten Ziegeln ausgelegt. Orangen- und Limonenbäumchen wuchsen in irdenen Töpfen, und Lavendel wucherte in Steinkästen und ließ die Luft würzig duften. Aus einem kleinen Springbrunnen rieselte Wasser in ein muschelförmiges Becken. Ein Mann stand im Schatten. Anne konnte die Umrisse seiner Gestalt erkennen. 547 »Roderick?«, fragte sie fast atemlos. »Ich habe nichts von ihm gehört, fürchte ich«, sagte der Unbekannte. Sie erkannte die Stimme sofort. »Ihr!«, stieß sie hervor. Cazio trat ins Mondlicht und lächelte. Schwungvoll zog er den Hut. »Ich habe Euch doch gesagt, dass ich ein Gast in diesem Lande bin«, erwiderte er. »Ich muss sagen, angezogen seht Ihr ganz anders aus.« »Anne«, flüsterte Austra und zerrte an ihrem Ärmel. »Wer ist das? Woher kennst du ihn?« Plötzlich fuhr sie zusammen. »Und was meint er mit angezogen?« »Ich bin Cazio Pachiomadio da Chiovattio.« Cazio verbeugte sich erneut. »Und Ihr müsst Lady Fienes Schwester sein, so hübsch und anmutig seid Ihr.« »Fiene?«, fragte Austra verdutzt. »Cazio kennt mich unter meinem richtigen Namen, nicht unter meinem Konventnamen«, erklärte Anne und hoffte, Austra würde begreifen. Sie begriff. »Oh. Ich verstehe.« »Würdet Ihr mich mit Eurem Namen bezaubern, Lady?« »Ich heiße Margry«, erfand Austra aus dem Stegreif. Cazio richtete sich auf, ergriff ihre Hand und hob sie an die Lippen. »Pass auf«, warnte Anne ihre Freundin. »Er benutzt Honig, wo die meisten anderen Worte benutzen.« »Besser Honig als Zitronensaft«, gab Cazio zurück. Er drehte leicht den Kopf. »Ist es möglich, dass Ihr mir zürnt, Lady Fiene?« »Nein«, gab Anne zu und stellte fest, dass es wirklich nicht so war. »Ich hatte nur gedacht, Roderick wäre gekommen.« »Und Ihr seid enttäuscht. Mit Recht. Der Brief ist ohne Schwierigkeiten abgeschickt worden, aber vielleicht war das Wetter im Norden schlecht. Auch ein sehr verliebter Mann kann durch alles Mögliche aufgehalten werden.« Anne meinte, einen versteckten Seitenhieb in diesen Worten auszumachen. »Margry«, sagte sie. »Könntest du im Flur warten und Bescheid 548 geben, wenn jemand kommt? Ich erkläre dir alles später, ich verspreche es.« »Wie du willst«, entgegnete Austra. Leiser Groll schwang in ihrer Stimme mit. Als Austra fort war, wandte Anne sich wieder an Cazio. »Und was wolltet Ihr?«, fragte sie unverblümt. Zu ihrer Überraschung zögerte er, als suche er nach Worten. Das hatte sie bei ihm bisher noch nie erlebt. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Die Gräfin hat angeboten, ein Treffen für uns zu arrangieren. Ich glaube, ich wollte einfach wissen, wie es Euch geht.« Anne fühlte, wie ihre Wachsamkeit ein wenig nachließ. »Mir geht es sehr gut. Was ist denn mit Eurem Arm passiert? Ihr tragt einen Verband.« »Ein Kratzer beim Fechten. Nichts weiter.« »Beim Fechten? Wart Ihr in einen Kampf verwickelt?« Seine Stimme wurde kecker. »Es war kein richtiger Kampf. Fünf Banditen. Sie haben nicht lange durchgehalten.« »Wirklich?« Wieder zögerte er. »Nein«, gestand er. »Das da habe ich mir beim Üben mit meinem Fechtmeister geholt. Er war wütend auf mich.« »Warum?« »Er denkt, ich sei zu abgelenkt zum Fechten. Vielleicht hat er Recht.« Anne spürte eine merkwürdige kleine Wärme im Bauch. »Was hat Euch denn abgelenkt?«, fragte sie unschuldig. »Ich glaube, das wisst Ihr ganz genau.« Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit, und für einen Augenblick ... »Ich habe es Euch doch gesagt, Cazio«, erklärte sie leise.
»Was habt Ihr mir gesagt?«, fragte er sanft. »Ihr habt mir noch nicht einmal gesagt, wie Ihr wirklich heißt. Und Ihr beschwert Euch über meine Ehrlichkeit.« Einen Moment lang blieb sie still, dann nickte sie. »Das habe ich verdient.« Erneut sah sie zu ihm auf. »Ich heiße Anne.« 549 Er griff nach ihrer Hand. Sie wollte sie eigentlich wegziehen, doch irgendwie gelang es ihr nicht. »Es freut mich, Euch kennen zu lernen, Anne.« Und er küsste ihren Handrücken. »Kann ich sie jetzt wiederhaben?«, erkundigte sich Anne. »Sie war stets Euer.« »Habt Ihr meinen Brief überhaupt abgeschickt?« »Ja«, sagte er. »Ich habe gehofft, dass er kommen würde. Ich hoffe es immer noch.« »Wieso?« »Manchmal macht die Entfernung die Liebe besser. Manchmal lässt sie sie vergehen. Ich finde, Ihr verdient es zu wissen, was von beidem geschehen ist.« »Roderick liebt mich«, fuhr Anne ihn an. »Dann soll er es beweisen«, entgegnete Cazio. »Liebt Ihr mich denn?«, fragte Anne und bereute die Frage noch im selben Atemzug. Doch Cazio antwortete nicht sofort. Als er es tat, geschah es wieder in diesem neuen, unsicheren Tonfall. »Ich glaube nicht, dass Menschen sich so schnell verlieben.« Das klang aufrichtig, und aus irgendeinem Grund brachte es Anne mehr durcheinander, als jede Liebeserklärung es vermocht hätte. »Wenn das so ist, was wollt Ihr dann von mir?«, fragte sie. »Euch besser kennen lernen«, antwortete Cazio leise. Annes Kehle fühlte sich eng an. »Und wie wollt Ihr das machen?«, fragte sie und versuchte, spöttisch zu klingen. »Indem Ihr den ganzen Tag zu meinem Turm hinauf starrt?« »Vielleicht«, erwiderte er. »Wenn das die einzige Möglichkeit ist, Euch zu sehen.« »Das ist doch albern.« Anne warf einen Blick über die Schulter. »Man wird uns vermissen. Wir müssen gehen.« »Wann kann ich Euch wiedersehen?« »Gar nicht«, erwiderte Anne. Damit drehte sie sich um und verließ den Garten. Es war schwer, sich nicht umzuschauen, doch sie schaffte es. 550 Cazio scharrte verärgert mit dem Fuß und seufzte. Was war nur los mit ihm? Was kümmerte ihn diese dürre, krankhaft blasse, rotschöpfige Hexe überhaupt? Gar nichts, jawohl. Das Ganze war Orchaevias Idee gewesen, nicht seine. Ein leises Geräusch ließ ihn aufhorchen, und seine Hand zuckte zu Caspators Heft, doch es war bloß das andere Mädchen, das mit dem gelben Haar. »Es war nett, Euch kennen zu lernen, Casnar Chiovattio«, sagte sie und machte einen kleinen Knicks. Cazio hatte eine jähe Eingebung. »Einen Moment, bitte«, sagte er. »Ich muss meiner Herrin folgen.« »Ich flehe Euch an, Casnara. Anne wird Euch einen oder zwei Augenblicke lang nicht vermissen.« Er stockte. »Sagtet Ihr Herrin?« »Ich bin ihre Zofe.« »Und auch im Konvent?« »Ja, das bin ich.« »Und heißt Ihr wirklich Margry?« Das Mädchen warf einen Blick hinter sich. »Nein, Casnar. Mein Name ist Austra.« Cazio setzte das Lächeln auf, das er für sein wirkungsvollstes hielt. »Also, das ist ein angemessener Name für ein so entzückendes Geschöpf, wie Ihr es seid«, schnurrte er. »So etwas solltet Ihr nicht sagen, Casnar«, wehrte das Mädchen ab und schaute züchtig zu Boden. »Bitte nennt mich einfach Cazio.« Er streckte die Hand nach ihrem Haar aus. »Ist das aus Gold gesponnen?« Sie zuckte vor seiner Berührung zurück. »Bitte, ich muss jetzt gehen«, sagte sie und machte Anstalten, sich zurückzuziehen. »Einen Moment.« Er trat noch dichter an sie heran. Zuerst dachte er, sie würde die Flucht ergreifen, doch sie tat es nicht. Er kam ganz nahe und ergriff ihre Hand. »Dieser Roderick, Annes künftiger Gemahl - ist er so ein Prachtbursche?« 551 »Künftiger Gemahl?« Austra riss die Augen auf. Aha!, dachte Cazio. Also nicht einmal richtig verlobt. »Ich meine, ja, sie sind verlobt«, verbesserte sich Austra. Cazio nahm die Lüge hin. »Aber das war gar nicht meine Frage. Antwortet mir, liebreizende Austra.« »Er ist -« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich finde ihn gar nicht so prachtvoll. Um ehrlich zu sein, ich finde Euch viel netter, obwohl ich Euch gerade erst begegnet bin.«
»Danke, Austra. Das ist sehr gütig von Euch.« »Es ist nur, Anne kann so ... störrisch sein.« »Nun, soll sie nur«, erwiderte Cazio. »Ich werde niemandem nachstellen, der kein Verlangen danach verspürt, sich fangen zu lassen.« Er drückte ihre Hand. »Danke, dass Ihr mit mir gesprochen habt.« »Es war mir ein Vergnügen, Cazio.« Er verneigte sich und runzelte dann in gespielter Betroffenheit die Stirn. »Oh, seht nur«, sagte er und zeigte mit dem Finger. »Ihr habt da etwas auf den Lippen.« »Was?« Sie hob die Hand, doch er ergriff sie, beugte sich rasch vor und küsste sie auf den Mund. Sie keuchte leise auf und zuckte zurück - nicht allzu heftig. »Seht Ihr? Da lag ein Kuss drauf«, verkündete er. »Aber ich habe ihn.« Selbst in dem schwachen Licht konnte er sehen, wie ihre helle Haut rot anlief. Ohne ein weiteres Wort wich sie zurück und floh hinter der verschwundenen Anne her. Cazio sah ihr nach und war erfreut. Ergebene Dienste hatten nichts genützt. Vielleicht fruchtete ein wenig Eifersucht, dachte er. Der Jäger war wieder auf der Fährte. Pfeifend ging er davon, um sich die Sterne anzuschauen. 552 45. Kapitel Opfergang Aspar kniete nieder, um die Pferdeäpfel auf dem Pfad zu begutachten, und nickte. »Wir sind dicht dran«, sagte er schroff. »Nicht einmal einen Tagesritt hinter ihnen. Und es haben sich noch andere zu ihnen gesellt, vielleicht noch zehn mehr.« Stephen beobachtete, was der Waldhüter tat, und versuchte, die schwachen Zeichen zu erkennen, die der Ältere deutete. »Glaubt Ihr, die Neuankömmlinge waren Sefry? Dieser Fend und seine Schurken?« Aspars Miene verdüsterte sich. »Das hat Euer Bruder doch gesagt, nicht wahr? Dass er sich mit Fend in Cal Azroth treffen will.« »Desmond Spendlove ist nicht mein Bruder«, wehrte Stephen ab, durch Aspars Tonfall gereizt. »Was immer er auch vorhat, hat nichts mit der Kirche zu tun.« »Ihr scheint Euch dessen ja sehr sicher zu sein«, meinte Aspar. »Denkt doch einmal nach, Waldhüter«, sagte Stephen. »Der Fratrex hat uns das Leben gerettet. Hätte er das getan, wenn die Kirche hinter all dem stecken würde?« Aspar richtete sich auf. »Sagt Ihr mir das«, erwiderte er ernst. Es überraschte Stephen immer noch, wenn der Waldhüter tatsächlich seine Meinung hören wollte. Er dachte an Desmond, an jene Nacht im Kloster, als er darüber geredet hatte, wie er der Kirche diente. Dies Gespräch hatte sich echt angefühlt, wie der einzige wahrhaft aufrichtige Moment, den er mit dem mörderischen Spendlove je erlebt hatte. »Bruder Desmond befolgt irgendjemandes Befehle«, gab er zu. »Vielleicht ist es jemand innerhalb der Kirche. Vielleicht auch nicht. Er ist nicht völlig klaren Verstandes, glaube ich.« »Ihr denkt, er befolgt Fends Befehle?«, knurrte Aspar. Stephen dachte einen Augenblick über diese Möglichkeit nach. 553 »Nein«, sagte er schließlich. »Er hat über Fend geredet wie über eine Art Mitverschwörer und mit einer gewissen Abneigung. Ich glaube, Spendlove und Euer geächteter Sefry dienen einem höheren Herrn und Meister. Ich weiß nicht, wer das sein könnte.« »Nun ja, der Wald ist bald zu Ende«, sagte Aspar. »Wir kommen zur Ebene von Mey Ghorn, wo Cal Azroth steht. Sie haben sich getroffen, und was immer sie planen, wird also bald passieren.« »Können wir sie umgehen? Die Festung vor ihnen erreichen und die Königin warnen?« »Vielleicht«, antwortete Aspar. »Wahrscheinlich nicht.« »Was dann? Zehn mehr, das macht sechzehn Männer. Wir können nicht gegen sie alle kämpfen.« Aspar zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wir, Chavelkap-Darige? Das, was Ihr übers Kämpfen wisst, könnte ich auf den Schaum in einem Bierkrug legen, und es würde oben bleiben.« »Nun, Ihr hättet mir ja ein wenig beibringen können, Waldhüter. Ich hätte vielleicht ein bisschen helfen können.« »Ich hätte Euch gerade genug beibringen können, um Euch zu helfen, Euch selbst zu einer Leiche zu machen«, entgegnete Aspar. »Also werdet Ihr sie alle selbst töten? Und wie?« Aspar gab ein grunzendes Lachen von sich. »Ich habe nie gesagt, dass mir keine Möglichkeit einfällt, wie Ihr Euch nützlich machen könntet. Ihr könntet mit den Armen wedeln und sie ihre Pfeile auf Euch abschießen lassen, während ich mich um sie herumschleiche.« »Das will ich gern tun«, erwiderte Stephen ernsthaft. »Wenn das hilft.« »Das war ein Witz, Junge.« »Oh.« Stephens Sarkasmus gewann die Oberhand. »Ein dummer Fehler, aber ein verzeihlicher. Ein Witz, von Euch? Um Vergebung, aber wenn man zum ersten Mal einen Fisch fliegen sieht, neigt man dazu, ihn für einen Vogel zu halten.« Er hielt einen Moment inne. »Und, was dann?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte der Waldhüter. »Ich lass mir was einfallen, bevor wie sie einholen.« 554 »Hervorragender Plan.« Aspar zuckte die Achseln. »Habt Ihr einen besseren? Vielleicht irgendwas, das Ihr in einem Buch gelesen habt?« »Nun ja«, überlegte Stephen, »in den Reisen des Hinn haben Hinn und seine Gefährten, als sie von Räubern angegriffen wurden, so getan, als wären sie viel mehr, indem sie Puppen aus Schlamm und Stroh gemacht haben.« »Ach ja? Haben sie diese Puppen auch zum Laufen bringen können?« »Äh ... nein. Aber wenn wir Desmond und seine Männer dazu verleiten, auf uns loszugehen -« »Um gegen unsere Strohpuppen zu kämpfen?« »Schön, vielleicht würde das nicht gelingen. Was wäre, wenn wir ihnen eine Falle stellen? Eine Grube graben, angespitzte Pflöcke hineintun und sie mit Blättern oder so etwas zudecken?« Aspar nickte. »Gute Idee. Graben wir also diese Grube, ja, mit bloßen Händen, noch vor Sonnenaufgang. Vielleicht könnt Ihr sie im Kreis führen, während die Pferde und ich graben.« »Ich versuche ja nur zu helfen«, murmelte Stephen. »Und Ihr habt gefragt.« »Das habe ich wirklich, wie?« Aspar seufzte. »Demnächst frage ich noch, ob Ihr mir eins auf den Kopf hauen könnt. Das wäre nützlicher.« Er schwang sich wieder auf Unholds Rücken und warf Stephen dann einen angenehmeren Blick zu. »Denkt weiter nach«, wies er ihn an. »Wer weiß, vielleicht fällt Euch ja wirklich noch etwas Hilfreiches ein.« Ein paar Glockenschläge später erwies sich Stephen tatsächlich als hilfreich, als er winkte, um Aspar auf sich aufmerksam zu machen. Der Waldhüter bemerkte die Bewegung sogleich und brachte Unhold zum Stehen. Stephen tippte sich ans Ohr und deutete dann mit dem Finger. Er konnte vor ihnen Männer miteinander reden hören, und er war sich sicher, dass es die abtrünnigen Mönche waren. Inzwischen war er der Ansicht, dass keiner der Männer, die sie verfolgten, so fein geschärfte Sinne hatte wie er, doch es hatte trotzdem 555 keinen Sinn, leichtsinnig zu sein. Dass sie sich am äußersten Rand seiner eigenen Hörweite gehalten hatten, hatte sie bisher unentdeckt bleiben lassen. Stephen hatte vor, dies als Regel zu betrachten. Aspar verstand seine Signale und saß vorsichtig ab. Stephen tat es ihm nach. Leise befahl der Waldhüter den Pferden zu bleiben, wo sie waren, und die beiden Männer machten sich daran, durch die Bäume und das Unterholz des Waldrandes auf die Geräusche zuzukriechen. In einem Gewirr aus Weinranken auf der verwitterten Schulter eines Hügels machten sie Halt. Unter ihnen ging der Wald in spärlich mit Bäumen bestandene Wiesen über, und dahinter erstreckte sich eine breite Ebene grüngolden im Sonnenlicht des Nachmittags. Sechzehn Männer waren damit beschäftigt, um einen kleinen, kegelförmigen Hügel am Waldrand herum ein Lager aufzuschlagen. Ein paar Zelte standen bereits. Zehn der Gestalten trugen breitkrempige Hüte, und ihre Gesichter waren mit Gazeschleiern verhüllt; das waren wohl die Sefry. Die anderen waren Menschen, und Desmond und die übrig gebliebenen Mönche gehörten dazu. Stephen warf einen Blick zu Aspar hinüber, auf dessen Gesicht ein Ausdruck lag, den der junge Mann als stille Wut zu deuten gelernt hatte. Er zog eine Braue hoch, und der Waldhüter erwiderte seinen Blick und formte mit den Lippen stumm ein Wort. Fend. Zweifellos überlegte der Waldhüter bereits, wie er fünfzehn Männer töten konnte, um an diesen einen heranzukommen. Aspar bedeutete Stephen, liegen zu bleiben, und verschwand so lautlos, dass er ebenso gut eine Waldkatze hätte sein können. Stephen hätte ihn gern gefragt, wo er hinwollte, doch er wagte es nicht. Als der Waldhüter außer Sicht war, lag Stephen still da, beobachtete und überlegte, was er tun sollte. Unter ihm hatten die Sefry und Menschen das Lager bald errichtet, doch ihre Geschäftigkeit ließ nicht nach. Stattdessen wurde der kleine Hügel zum Mittelpunkt neuen Treibens. Mit einem unguten Gefühl der Vorahnung wurde Stephen klar, dass der Hügel ein Sedos sein musste. 556 Es war kühl, doch als er näher kroch, trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Schließlich verharrte er, verborgen hinter den hochgewölbten Wurzeln einer gewaltigen Eiche ein Stück weiter hügelabwärts. Seine Sinne forschten in die Weite, und das Leben des Waldes pulsierte als Gewirr von Geräuschen durch ihn hindurch. Das Geschnatter der Eichhörnchen über ihm drängte sich hartnäckig in sein Denken, begleitet vom Zirpen der Grillen und Zikaden, die die Dunkelheit herannahen fühlten, nur noch einen oder zwei Glockenschläge entfernt. Der klickende Chor der Blattschneiderameisen, die ihr Tagwerk verrichteten, kitzelte seine Trommelfelle. Finken zwitscherten fröhlich, und Häher verwahrten sich zeternd gegen die Anwesenheit von Spendloves Männern am Fuße des Hügels. Er vertiefte seine Konzentration und hörte seine Feinde durch das Rühren und Regen des Waldes hindurch miteinander reden. Spendlove rezitierte in singendem Tonfall in einer Sprache, die Stephen nicht geläufig war, obgleich er hin und wieder ein Wort aufschnappte, das ihm bekannt vorkam. Zwei der anderen Mönche - Seigereik und einer, den
Stephen nicht kannte - hatten sich bis zur Hüfte entkleidet, und einer der Sefry malte ihnen seltsame Zeichen oder Symbole auf die Brust. Ein weiterer Mann - auch ihn kannte Stephen nicht, doch er glaubte nicht, dass es sich um einen Mönch handelte -war nackt ausgezogen worden. Man brachte ihn auf die Kuppe des Sedos hinauf, streckte ihn mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden aus und band seine Hand- und Fußgelenke an Pflöcken fest. Irgendetwas wurde ihm in den Mund gestopft. Wo ist Aspar?, fragte sich Stephen verzweifelt. Gleich würde etwas sehr Schlimmes passieren, etwas, dem Einhalt geboten werden musste. Er suchte die Umgebung mit Augen und Ohren ab, doch der Waldhüter konnte sich, wenn er wollte, so unsichtbar von Ort zu Ort bewegen, dass selbst Stephens von den Heiligen geschärfte Sinne ihn nicht immer ausmachen konnten. Desmond wechselte in eine andere Sprache über, ins Altvadhiianische, und Stephen war plötzlich wie gebannt. Sein Verstand übersetzte so schnell, dass es war, als höre er seine Muttersprache. 557 Einer, den Weg zu bahnen, furchtbare Macht, und einer, den Weg zu beschreiten. Ein Pfad des Blutes für den Wechselbalg, eine Seele, den Wechsel zu bringen. Spendlove zog etwas aus seiner Kutte hervor, etwas, das so grell glitzerte, dass Stephens Augen davon schmerzten. Bruder Desmond trat zu dem ausgestreckten Mann, der vergeblich versuchte zu schreien. Er kniete sich über ihn, und Stephen begriff mit dumpfem Entsetzen, dass das schreckliche Ding in seiner Hand eine Art Messer war, als der Mönch den Mann vom Brustbein bis zum Gemächt aufschlitzte und anfing, ihm die Gedärme aus dem Leib zu zerren. Die verzweifelte Gegenwehr verkümmerte rasch zu einem Zucken. Stephen kam das Frühstück hoch, doch er beherrschte sich, stählte seinen Willen, konzentrierte sich auf die Einzelheiten dessen, was dort vorging, versuchte, sie losgelöst von der Wirklichkeit zu betrachten, so zu tun, als wäre das, was er hier beobachtete, nicht das Ende eines Menschenlebens. Als wären das, was Spendlove und seine Männer da in seltsamen Mustern um die sich noch immer windende Gestalt herum ausbreiteten, gar keine Gedärme. Nach einer Weile schien Spendlove zufrieden und bedeutete einem der halb nackten Mönche - Seigereik vorzutreten. Mit grimmigem Gesicht stellte sich Seigereik breitbeinig über den ausgeweideten Mann, der immer noch zuckte. »Bist du bereit, Bruder?«, fragte Spendlove leise. »Das bin ich, Bruder Spendlove«, antwortete Seigereik. Seine Stimme klang gepresst vor Entschlossenheit. »Sei stark«, wies Spendlove ihn an. »Du wirst einen Augenblick der Verwirrung erleben. Du wirst Schmerzen leiden, doch du musst sie ertragen. Und du musst Erfolg haben. Es darf keine Fehlschläge mehr geben.« »Ich werde nicht versagen, Bruder Spendlove.« »Das weiß ich, Bruder Seigereik, mein Krieger.« Seigereik hob die Arme und schloss die Augen. »Eine Seele, den Wechsel zu bringen«, intonierte Spendlove und 558 stieß Seigereik das glitzernde Messer ins Herz. Stephen unterdrückte ein entsetztes Aufkeuchen, als die Knie des Mönchs einknickten und er leblos zu Boden sank. Die Luft um den Sedos herum schien sich zu verdüstern, und etwas wie das hohe Heulen eines Windstoßes, der schwarzen Rauch vor sich her peitschte, rauschte durch die Baumwipfel davon. Was habe ich da gerade mit angesehen?, fragte sich Stephen. Zwei Opfergänge, einer freiwillig, der andere nicht. Und Seigereik sollte eine Aufgabe erfüllen, nachdem er tot war? Das ergab doch keinen Sinn. Es sei denn ... Würde der Leichnam sich wieder erheben? Hatte Desmond das Undenkbare getan und das Gesetz des Todes gebrochen? Doch die Leiche des Mönchs blieb liegen, wo sie zu Boden gestürzt war. Nein, es war die Seele, die fortgeschickt worden war, eingehüllt in schwarze Magie. Er schüttelte seine abergläubischen Gedanken ab. Die Sefry und zwei der verbliebenen Mönche bestiegen ihre Pferde. »Es sollte ihm lieber gelingen«, sagte einer der Sefry, der Augenklappe nach wahrscheinlich Fend. »Euer Weg ist bereitet«, versicherte ihm Spendlove. »Vielleicht ist es sogar schon vorbei, wenn Ihr dort ankommt.« »Das bezweifle ich.« »Einer mehr wird mit Sicherheit dafür sorgen«, erwiderte Spendlove. Er kniete neben dem aufgeschlitzten Mann nieder. »Es ist noch Leben in ihm. Wahrscheinlich kann ich ihn noch einmal benutzen. Bruder Ashern, mach dich bereit.« Der andere bemalte Mönch nickte. »Wozu ein Risiko eingehen? Nehmt doch das Mädchen.« »Ich dachte, Ihr wolltet sie vor den Augen des Waldhüters töten?«, wandte Spendlove ein. »Schließlich habt Ihr sie den ganzen Weg mitgeschleppt.« »Ja, das war so eine Laune«, entgegnete Fend. »Ich habe es mir anders überlegt. Lasst sie einfach so liegen, dass er sie findet.«
Desmond warf einen Blick auf den Sterbenden. »Vielleicht habt Ihr 559 Recht«, sagte er. »Wenn er mittendrin abkratzt, geht Asherns Übertritt fehl.« Fend und seine Sefry ritten davon. Ein paar Augenblicke später deutete Spendlove mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf einen seiner Männer und sagte: »Bring sie raus.« Eine sich heftig wehrende Frau wurde aus einem der Zelte geführt. Waldhüter, wo seid Ihr?, dachte Stephen verzweifelt. Aspar White war nirgends zu sehen. Wenn der Waldhüter bemerkt hatte, dass Fend fortgeritten war -und natürlich würde er das bemerken -, dann würde er ihm wahrscheinlich folgen, in der Hoffnung, ihn töten zu können. Stephen begriff, dass er nicht länger auf Aspar White zählen konnte; es war offensichtlich, dass der Mann wie besessen von dem einäugigen Sefry war, obgleich er sich nie dazu herabgelassen hatte, ihm zu erklären, warum. Stephen glaubte jetzt zu wissen, was Spendlove vorhatte, obgleich es unglaublich schien. Wenn er nicht sehr schnell handelte, würde die junge Frau dort unten auf sehr unangenehme Weise ermordet werden. Gerade hatte er einen Mann so sterben sehen. Ehe er mit ansah, wie das noch einmal geschah, würde er lieber selbst sterben. Er wappnete sich und begann, so schnell er konnte, auf das Lager zuzukriechen. 46. Kapitel Die Ebene des Schreckens Ein Windhauch wie der Atem eines Heiligen strich über die Zinnen Cal Azroths, als Neil an der Königin vorbei zur Sonne schaute, die am fernen grünen Horizont schmolz. Die Ebene von Mey Ghorn lag offen und still da; die einzige Bewegung kam von den Schwalbenschwärmen, die gelegentlich über ihnen dahinwirbelten. 560 Der Ring der drei Kanäle, die die Festung umgaben, lag bereits im Schatten, und bald würden Sterne in dem Wasser erscheinen. Zu seiner Rechten hörte er, wie sich Soldaten in dem durch eine Brücke mit dem inneren Burgfried verbundenen Mannschaftsraum unterhielten. Die Königin stand des Abends oft so da, den Blick gen Eslen gerichtet. Gelächter stieg aus der Gasse zwischen Burgfried und Mannschaftsraum auf. Elseny, so wie es sich anhörte. Neil schaute über die Schulter hinab und sah sie. Von oben ließen der Kreis ihres gelben Kleides und ihr dunkles Haar sie wie eine Sonnenblume aussehen. Sie stand in dem schmalen, von einer hohen Mauer umgebenen Horz der Zitadelle, auf dem großen, flachen Stein, der dessen Mittelpunkt bildete, und steckte Blumen in den Feinglest aus Weidengeflecht, den zwei ältere Dienerinnen am Vormittag gefertigt hatten. Neil hatte noch nie einen Feinglest wie diesen gesehen; seine Form erinnerte entfernt an die eines Menschen. In Liery hieß es, es brächte Unglück, einen Feinglest so zu gestalten, obgleich er nie erfahren hatte, warum. Sein Auge erhaschte eine Bewegung, und verblüfft stellte er fest, dass er den Rand eines zweiten Kleides sehen konnte, der unter dem Baldachin eines Eschenwipfels hervorlugte. Dieses Kleid war blau und fiel im schwindenden Licht weniger auf. Dann folgte das Aufblitzen eines weißen Gesichts, das sich zu ihm emporwandte, und Fastias Blick begegnete dem seinen. Rasch schaute sie wieder zu Boden, während Neil sich auf die Unterlippe biss und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Fastia hatte ihn in den zwei Wochen, die seit jenem Abend in Glenchest vergangen waren, häufig gemieden. Er wusste nicht, ob sie ihn hasste oder ob ... Und es spielt auch keine Rolle, sagte er sich. Denk daran, was Erren gesagt hat. Er war nicht Herr über das, was er fühlte, ganz sicher jedoch war er Herr über das, was er tat. Einmal war genug, dachte er. Das unvertraute Gefühl, versagt zu haben, lastete schwer auf seinem Herzen. »Zehntausend Männer und Frauen haben auf dieser Ebene ihr Leben gelassen«, sagte die Königin leise. 561 Neil zuckte zusammen und wandte den Blick schuldbewusst von dem Horz ab, doch die Königin sah ihn nicht an. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie mit ihm gesprochen hatte. »Ist das wahr, Majestät?« Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. »War es eine Schlacht gegen Hansa?« »Hansa?«, wiederholte die Königin. »Nein, Hansa war damals noch nicht einmal ein Traum. Genau wie Crothenien. In jenen Tagen waren die Häuser der Menschen nicht geteilt. Die Vorfahren Marcomirs kämpften Seite an Seite mit den Dares.« »Dann war es der Krieg gegen die Skasloi?« Sie nickte. »Sie hatten ihre Ketten gesprengt und die Zitadellen im Osten niedergebrannt, doch all das hätte nichts genützt, hätten sie Ulheqelesh nicht erreicht und dort gesiegt.« Sie drehte sich zu ihm um, und erschrocken erblickte er Tränen in ihren Augen. »Ulhegelesh war dort, wo heute Eslen steht.« »Ich wusste nicht, wie es in der Dämonensprache heißt«, erwiderte Neil. Er kam sich unglaublich unwissend vor. »Wir sprechen den Namen nicht oft aus. Die meisten kennen ihn nicht. Es gehört zu den Bürden der Königswürde, dass wir die alten Geschichten lesen müssen.« »Und die Schlacht hier, auf Mey Ghorn?« »Der Name ist im Laufe der Zeit verändert worden. In der Alten Sprache hieß es Magos Gorgon, die Ebene des Schreckens.« »Und die Schlacht - war es ein großer Kampf?« »Es gab keine Schlacht«, sagte die Königin. »Sie sind marschiert und gestorben, ihr Fleisch wurde von den Knochen gerissen, ihre Gebeine wurden zu Staub verbrannt. Und trotzdem sind sie weitermarschiert.«
»Sie haben ihren Feind nie zu Gesicht bekommen? Es gab nie einen Gegner, gegen den sie die Waffen hätten erheben können?« Die Königin schüttelte den Kopf. »Sie sind marschiert und gestorben«, wiederholte sie. »Weil sie wussten, dass sie es tun mussten. Weil die einzig andere Möglichkeit gewesen wäre, als Sklaven zu leben.« Neil starrte hinaus auf die dunkler werdende Ebene; ein eigentüm562 liches Prickeln der Ehrfurcht machte sich in seinem Innern bemerkbar. »Auf dieser Ebene muss man bei jedem Schritt auf die Überreste jener Krieger treten.« Die Königin nickte. »Das ist eine furchtbare Geschichte«, sagte Neil. »Krieger sollten in der Schlacht sterben.« »Krieger sollten im Bett sterben«, widersprach die Königin; ein Hauch von Zorn schwang plötzlich in ihrer Stimme mit. »Habt Ihr nicht gehört, was ich gesagt habe? Zehntausend Geister sind an den Boden von Mey Ghorn gebunden. Zehntausend Brüder und Schwestern, die Väter und Mütter von Hansa, Crothenien, der Salzmark, von Tero Galle und Virgenya - jede Nation Everons hat Gebeine in dieser Erde. Sie waren edel, und sie waren stolz, und ihre einzige wirkliche Waffe war die Hoffnung, dass ihre Söhne und Töchter einen besseren Tag erleben, eine bessere Welt kennen lernen würden. Und seht Euch an, was wir daraus gemacht haben. Worum kämpfen wir jetzt? Um Fischereirechte. Handelszölle. Wir streiten um Grenzverläufe. Unsere ganze Rasse ist kleinlich und boshaft geworden. Wir kämpfen um nichts und wieder nichts.« Sie machte eine Geste mit der Hand, die das umliegende Land umfasste. »Wir verunglimpfen ihr Andenken. Wie müssen sie sich für uns schämen.« Neil stand einen Moment lang stumm da, bis die Königin sich zu ihm umwandte. »Sir Neil?«, sagte sie leise. »Ihr habt etwas zu sagen?« Er hielt den Blick fest auf sie gerichtet, auf ihre Augen, die denen ihrer Tochter so ähnlich waren. »Ich verstehe nicht viel von Handelszöllen oder Staatsgeschäften«, gab er zu. »Ich weiß wenig von alter Geschichte.« »Aber etwas wisst Ihr«, half sie nach. »Ich weiß von meinem Großvater, Dovel MeqFinden. Er war ein guter Mann. Er hat kleine Schiffe aus Holz für mich gemacht, als ich ein Junge war, und er ist mit mir auf den Schultern über die steinigen Wiesen von Skern gewandert. Er hat mir das Meer gezeigt und mir 563 von der wunderschönen Fier de Meur erzählt und von den schrecklichen Draugs, die in der Tiefe hausen.« »Fahrt fort.« »Skern ist nicht groß, Majestät. Ihr wisst vielleicht nicht, dass unser Herr in jenen Tagen ein hansischer Herzog war und dass es schon seit sechs Generation so gewesen war. Unsere eigene Sprache war uns verboten, und die Hälfte unserer Ernte und unseres Viehs fiel an diesen Mann und sein Haus. Wenn uns das an den Rand der Hungersnot brachte, mussten wir notgedrungen etwas von dem Herzog borgen, und um unsere Schulden zu bezahlen, mussten wir in seine Dienste treten. Wir sind ein stolzes Volk, Majestät, aber nicht so stolz, dass wir unsere Kinder verhungern lassen.« »Euer Großvater?« »Eine Seuche ist gekommen und hat die meisten seiner Rinder dahingerafft, und er konnte nicht zurückzahlen, was er sich geborgt hatte. Er war gezwungen, in den Ställen des Herzogs zu arbeiten. Eines Tages hat dessen Tochter ein Pferd geritten, das zu wild für sie war. Mein Großvater hatte sie gewarnt, aber sie hat seine Worte nicht beachtet. Sie wurde abgeworfen.« »Sie wurde getötet?« »Nein. Zehn Männer waren Zeuge. Mein Großvater hat sie zu fassen bekommen und sie unter den Hufen des Pferdes hervorgezogen und dabei selbst einen heftigen Schlag abbekommen. Er hat ihr das Leben gerettet. Doch dabei hat er sie berührt, die große Lady eines hansischen Hauses. Dafür wurde er gehängt.« Mitleid machte das Gesicht der Königin weicher. »Das tut mir Leid«, sagte sie. Neil zuckte die Achseln. »Es ist eine Geschichte von vielen«, sagte er. »Viele Male haben wir versucht, uns gegen unsere hansischen Herren zu erheben. Stets sind wir gescheitert, bis zu dem Tag, als Fail de Liery mit seinen Schiffen übers Meer kam, uns Waffen brachte und an unserer Seite kämpfte und den Herzog und all seine Männer in ihre Heimat zurücktrieb. Vielleicht hat Liery um eines kleinlichen Streits willen für Skern gekämpft ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mein 564 Volk sich jetzt ernähren und kleiden kann und dass die Menschen nicht mehr dafür gehängt werden, dass sie ihre Muttersprache sprechen. Ich weiß, dass wir jetzt wie Männer leben können, und nicht mehr wie hansische Schoßhunde. Das ist vielleicht eine Kleinigkeit, verglichen mit dem, was auf dieser Ebene geschehen ist. Aber in meinem Herzen weiß ich, Majestät, dass die Tyrannei nicht mit den Skasloi geendet hat und dass der Kampf um das, was richtig ist, nicht mit den Männern geendet hat, die über Mey Ghorn marschiert sind. Ich weiß, dass es meiner Ansicht an Bildung und Wissen fehlt -« Plötzlich hatte er das Gefühl, schon viel zu viel gesagt zu haben. Wer war er denn, dass er der Königin widersprach? »Nein«, sagte sie, und ein kleines Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Das Einzige, woran es Eurer Ansicht fehlt, ist
die abgeklärte Sicht von den Türmen der Hochgeborenen. Den Heiligen sei für Euch gedankt, Neil MeqVren. Ihr habt mich in meine Schranken verwiesen.« »Majestät, ich wollte auf keinen Fall -« »Still. Ich bin fertig mit Grübeln, und das ist Euch zu verdanken. Reden wir nicht mehr darüber, sondern gehen wir hinunter und vergnügen uns. Es ist der Vorabend des Fiussanal, das wisst Ihr doch.« Eine Erinnerung blitzte auf, von einem blauen Kleid und einem blassen Gesicht, dass zu ihm emporschaute, und Eifer und Beklommenheit tauschten Hiebe auf dem Schlachtfeld seines Herzens. Doch als sie den Horz erreichten, war Fastia nirgends zu sehen. Die Nacht senkte sich sanft auf die Festung herab, und als der achte Glockenschlag ertönte, waren die Vorbereitungen für das Fiussanal abgeschlossen, und selbst die aufgeregte Elseny war in ihrem Zimmer zur Ruhe gekommen und wartete auf den Schlaf. Neil jedoch fand keinen Schlaf. Die Erinnerung an Fastia im Mondlicht ließ ihn nicht los, doch außerdem trieb ihn noch etwas anderes um. Vielleicht waren es die Worte der Königin, von dem Heer uralter Toter, das Cal Azroth umgab, die ihn wieder hinaus auf die Brustwehr des Turms lockten, in dem ihre Gemächer lagen. Von dort würde er jeden sehen, der den königlichen Wohnsitz betrat oder verließ, 565 und so seiner Pflicht Genüge tun. Gleichzeitig jedoch konnte er auf die unheimliche, mondbeschienene Ebene hinausblicken und nach Nebelfetzen oder Lichtschimmern Ausschau halten, die vielleicht ein Zeichen dafür waren, dass dort Geister ihr Unwesen trieben. Als der zehnte Glockenschlag erklungen war, wurden seine Lider langsam schwer. Gerade erwog Neil, in seine Kammer zurückzukehren, als er mit einem leisen Schauder der Erregung aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Als er direkt hinschaute, sah er zunächst nichts, von der Seite her gesehen konnte er jedoch mehrere Gestalten ausmachen, die sich rasch auf die Burg zubewegten. Er glaubte nicht, dass es Geister waren. Er stieg den Turm bis zur Mauerkrone hinunter, in der Hoffnung, von dort aus besser sehen und die Wache alarmieren zu können. Was er gesehen hatte, könnte alles Mögliche gewesen sein - ein Rudel wilder Hunde, eine Sefry-Bande, Boten vom Königshof -, doch sein Losungswort lautete Misstrauen. Von der Mauer aus konnte er auch nicht besser sehen, doch im Hof unter sich bemerkte er etwas, bei dessen Anblick sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Zwei menschliche Gestalten lagen dort regungslos am Boden. Der Mond war noch nicht aufgegangen, deshalb konnte er nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch die Art und Weise, wie sie dalagen, ließ ihn daran zweifeln, dass sie lediglich zu viel getrunken hatten und eingenickt waren. Er zögerte gerade lange genug, um zu überlegen, ob er noch den Rest seiner Rüstung anlegen sollte. Er trug sein gefüttertes Wams aus Leder und ein leichtes Kettenhemd mit Haube und Halsberge, und den Panzer anzulegen würde viel zu lange dauern. Mit hämmerndem Herzen und grimmigem Gesicht stieg er die Treppe hinunter und achtete darauf, leise aufzutreten. Unten im Hof stellte er fest, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. Das schwere, zweiflüglige Tor stand offen, und er konnte die Sterne dahinter sehen. Jetzt konnte er außerdem die Insignien der Königlichen Infanterie auf der Kleidung der 566 gefallenen Männer erkennen, und die Blutlachen, die zeigten, dass sie tot waren. Ein Mann, den er von oben nicht gesehen hatte, lag zusammengekauert am Fuße der Treppe. Er lebte noch, obgleich sein Atem seltsam keuchend ging. Vorsichtig trat Neil näher; sein Blick huschte über den Hof. Rechts von dem offenen Tor befand sich eine zweite Tür, hinter der der Durchgang zum Mannschaftsraum lag. Sie war noch geschlossen. Zur Linken lag der Turm der Königin. Als er dort niemanden entdeckte und keine Bewegung sah, wandte er sich dem Verletzten zu. Erschrocken sah er, dass es Sir James Cathmayl war. Seine Kehle war durchgeschnitten worden, und er versuchte vergeblich, dem Blutstrom mit beiden Händen Einhalt zu gebieten. Sein Blick fiel auf Neil, und er versuchte, etwas zu sagen. Kein Laut kam hervor, nur noch mehr Blut, doch der gefallene Ritter deutete auf etwas hinter Neil, und in seinen Augen leuchtete eine drängende Warnung. Neil warf sich nach rechts, und Stahl krachte auf die Pflastersteine, auf denen er gekniet hatte. Er drehte sich um und brachte Krähe in Abwehrstellung. Ein Mann stand dort, ein Ritter in voller Rüstung. »Der Tod hat Euch gefunden«, sagte der Ritter zu ihm. »Der Tod hat mich schon oft gefunden«, erwiderte Neil. »Ich habe ihn jedes Mal hungrig wieder weggeschickt.« Dann hob er die Stimme und schrie: »Alarm! Das Tor ist offen, und Feinde sind in der Burg!« Der Ritter lachte und trat näher, und erstaunt sah Neil, dass es Sir Vargus Farre war. »Verräter«, knurrte Neil und ließ Krähe in einem harten Sichelhieb abwärts zischen. Der Ritter wich lediglich zurück und hob jetzt seinerseits das Schwert. »Fühlt Ihr es nicht, Sir Ritter?«, fragte Vargus. Irgendetwas war verkehrt an seinem Akzent, an der Art, wie er sprach, und obwohl der Mann Vargus' Gesicht hatte, zweifelte Neil plötzlich daran, dass dies wirklich der Mann war, den er kannte. 567
»Fühlt Ihr es nicht?«, wiederholte Sir Vargus. »Wie der Tod in Euch ankommt?« »Was soll das, Sir Vargus, oder was immer Ihr auch seid? Für wen habt Ihr das Tor geöffnet?« »Ihr werdet es noch früh genug fühlen.« Und plötzlich fühlte Neil es. Etwas traf ihn wie eine Flamme zwischen die Augen, doch die Flamme fraß sich von innen nach außen. Er hörte eine Stimme, die nicht die seine war, in seinen Ohren, spürte einen Willen, der nicht seiner war, in seinem Schädel rumoren. Mit einem Aufschrei fiel er auf die Knie. Krähe klirrte neben ihm zu Boden. Der Ritter, der nicht Sir Vargus sein konnte, lachte erneut, und irgendetwas hinter Neils Lippen gab hämisch Antwort. 47. Kapitel Nächtliche Besucher Nun, das war ja ziemlich langweilig«, sagte Anne und entzündete einen Kienspan, um das Zimmer zu erhellen, das sie und Austra sich teilten. »Wirklich?«, fragte Austra. Ihre Stimme klang irgendwie sehr weit weg. »Ich fand es eigentlich ziemlich lustig.« »Ich würde vielleicht so weit gehen, es kurios zu nennen«, erwiderte Anne. »Kurios«, wiederholte Austra und nickte. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Anne seufzte und machte sich daran, sich auszuziehen. »Zumindest war es schön, wieder mal ein Kleid zu tragen«, erklärte sie. »Sogar eins von so zweifelhaftem Geschmack.« Sie hielt das leere Kleid vor sich hin, dann zuckte sie die Achseln und legte es sorgsam zusammen. Sie zog sich das grob gewebte Nachthemd über den 568 Kopf. »Morgen geht der Unterricht wieder los«, sagte sie in dem Versuch, sich von der Enttäuschung darüber abzulenken, dass Cazio nicht Roderick gewesen war, und von den beunruhigenden Gefühlen, die der unverschämte Vitellianer in ihr geweckt hatte. »Wir lernen, wie man Alvenkraut verwendet, habe ich gehört; ich freue mich schon darauf.« »Hm-hm«, murmelte Austra. Anne sah ihre Freundin misstrauisch an. »Außerdem lernen wir, wie man Säuglinge in Welpen verwandelt und wieder zurück.« »Schön«, sagte Austra und nickte. »Das wird bestimmt interessant.« »Bei den Heiligen, was ist denn los mit dir?«, wollte Anne wissen. »Du hörst mir ja nicht mal zu.« Schuldbewusst wandte Austra sich vom Fenster ab. »Gar nichts«, beteuerte sie. »Gar nichts ist los mit mir. Ich bin nur müde.« »Du siehst aber gar nicht müde aus. Du siehst richtig aufgekratzt aus.« »Nein, gar nicht wahr«, beharrte Austra. »Ich bin wirklich schläfrig.« »Ach ja? Und was findest du dann da draußen so interessant?« »Gar nichts. Es ist nur schön draußen heute Nacht.« »Der Mond scheint nicht. Du kannst doch gar nichts sehen.« »Ich kann eine Menge sehen«, widersprach Austra. »Vielleicht sehe ich gleich, wie Roderick angeritten kommt.« »Austra Laesdauter, machst du dich über mich lustig?« »Nein, tue ich nicht. Ich hoffe um deinetwillen, dass er noch kommt. Du liebst ihn immer noch, nicht wahr?« »Ja.« »Und dieser Wie-heißt-er-gleich-noch -« »Cazio.« »Ja, genau. Wie hast du ihn kennen gelernt? Du hast gesagt, du würdest es mir erzählen.« 569 Anne dachte darüber nach. »Das ist eins von den ganz besonderen Geheimnissen, Austra«, sagte sie schließlich. »Eins von unseren heiligen Geheimnissen.« Austra legte die Hand aufs Herz. »Bei Genia Dare, ich werde dieses Geheimnis bewahren.« Anne schilderte, wie sie den Weg aus der Höhle gefunden hatte und Cazio begegnet war, wobei sie jedoch die geheimnisvolle Frau und ihre neu entdeckten Sinne trotzdem nicht erwähnte. Sie schämte sich dafür, doch irgendetwas warnte sie immer noch, vorsichtig zu sein. »Du siehst also«, schloss sie, »was immer Cazio heute Abend auch für einen Eindruck gemacht hat, im Herzen ist er ein ungehobelter Taugenichts.« »Aber ein hübscher«, wandte Austra ein. Anne öffnete den Mund, schloss ihn wieder und lachte. »Du hast dich in ihn verguckt.« »Was?« Austra verzog entsetzt das Gesicht. »Nein, habe ich nicht.« Anne verschränkte die Arme und blickte skeptisch zu Boden. »Du bist noch ein bisschen geblieben«, meinte sie. »Was ist passiert? Was hat er zu dir gesagt?« Austra errötete so sehr, dass es selbst im Licht des Kienspans auffiel. »Es ist genau, wie du sagst«, erwiderte sie und schaute zur Ecke des Zimmers hinüber, als habe sie dort etwas verloren. »Er ist ein Taugenichts.« »Austra, sag mir, was passiert ist.« »Dann wirst du bestimmt wütend«, erwiderte Austra.
»Ich werde nur wütend, wenn du weiter so geheimnisvoll und phaybehext tust. Sag es mir!« »Na ja - er hat mich ein bisschen geküsst, glaube ich.« »Du glaubst?«, fragte Anne. »Was soll das heißen, du glaubst} Entweder hat er dich geküsst oder nicht.« »Also, dann hat er mich geküsst«, sagte Austra ein wenig trotzig. »Du hast dich wirklich in ihn verguckt«, beharrte Anne vorwurfsvoll. »Ich kenne ihn doch gar nicht.« 570 »So etwas Wankelmütiges!«, empörte sich Anne. »Erst ist er völlig vernarrt in mich, und zwölf Herzschläge später ist er hinter dir her. Was könntest du an so einem treulosen Herzen finden?« »Nichts«, erwiderte Austra. »Nur ...« »Nur was?« »Na ja, es war schön. Der Kuss. Er küsst gut.« »Ich habe keine Ahnung, wie er küsst. Ich will es auch gar nicht wissen.« »Solltest du auch nicht. Für so was hast du ja Roderick. Wie auch immer, bestimmt wird keine von uns Casnar da Chiovattio je wieder sehen.« »Wenn die Heiligen gütig sind.« Austra zuckte die Achseln und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Oh!«, entfuhr es ihr. »Was ist? Ist er etwa da unten?«, erkundigte sich Anne. »Das sähe ihm ähnlich, uns hierher zu folgen und uns zu belästigen.« »Nein, nein«, wehrte Austra ab. »Es sei denn, er hat Freunde mitgebracht. Sieh doch nur all die Fackeln.« »Was? Lass mich sehen.« Anne drängte sich zum Fenster und sah, dass Austra Recht hatte. Eine lange Lichterschlange näherte sich dem Konvent. Anne hörte Pferde schnauben und das Getrappel von Hufen. »Wer kann das denn sein, um diese Zeit?«, fragte sie. »Vielleicht eine Sefry-Karawane«, antwortete Austra. »Die reisen im Dunkeln.« »Vielleicht«, sagte Anne zweifelnd. In diesem Moment läuteten die Glocken des Konvents zum Sammeln. »Wir werden es wohl gleich herausfinden«, meinte Anne. Schwester Casita empfing sie im Hof am Fuß der Treppe, wo sich bereits andere verschlafene Mädchen zu versammeln begannen und verwirrt und gereizt vor sich hin murmelten, weil man sie so kurz nach dem Schlafengehen schon wieder aus den Betten gerissen hatte. 571 »Geht in den Weinkeller«, wies Schwester Casita sie an und deutete mit einem Weidenstab in die ungefähre Richtung. »Bleibt dort, bis euch gesagt wird, dass ihr in eure Kammern zurückkehren sollt.« »Was ist denn los?«, fragte Anne. »Vom Turm aus haben wir Reiter gesehen.« »Still, Schwester Ivexa. Sei still und tu, was dir gesagt wird. Geh in den Weinkeller.« »Ich gehe nirgendwohin, ehe ich nicht weiß, was los ist«, begehrte Anne auf. Ehe sie sich ducken konnte, versetzte Schwester Casita ihr mit ihrem Stab einen Schlag auf den Mund. Anne wollte aufschreien, stellte jedoch fest, dass ihre Lippen wie festgefroren aneinander klebten. »Gehorcht mir«, befahl Schwester Casita den versammelten Mädchen. Nachdem sie gesehen hatten, was mit Anne passiert war, wagte keine der anderen, sich gegen die Schwester aufzulehnen. Wütend und verängstigt folgte Anne ihnen in Richtung Keller. Der Sacaum, mit dem Schwester Casita Annes Lippen belegt hatte, verflog nach wenigen Augenblicken und ließ nur ein seltsames Kribbeln in ihrem Kiefer zurück. Inzwischen hatten sie und Austra die Treppe erreicht, die in die Keller unter dem Konvent führte, doch anstatt mit den anderen Mädchen hinunterzusteigen, zog Anne Austra in einen Seitengang. »Komm«, sagte sie. »Wohin?« »Auf die Mauer. Ich werde herausfinden, was los ist.« »Bist du verrückt? Hast du noch immer nicht gelernt, nicht ungehorsam zu sein?« »Wir werden uns verstecken. Aber herausfinden werde ich es. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich glaube, der Konvent wird angegriffen.« »Wieso sollte jemand einen Konvent angreifen?« »Ich weiß es nicht. Deswegen gehe ich auch nicht in den Weinkeller.« »Anne -« 572 »Geh ruhig mit den anderen, wenn du magst«, sagte Anne. »Ich weiß, was ich tue.« Sie drehte sich um und ging davon. Einen Moment später hörte sie einen Seufzer und vernahm ein leises Rascheln, als Austra ihr folgte. Sie schlichen an der Küche und dem dahinter liegenden Kräutergarten vorbei, dorthin, wo sich von einer kleinen Weinlaube aus Ranken das rissige Mauerwerk hinaufwanden. Dort führte, wie Anne sich erinnerte, eine schmale Stiege zur Krone der Mauer hinauf, die den Konvent umgab. Die Stufen waren steil und verfallen, und sie
rutschte zweimal aus, doch bald darauf hatten sie die Mauerkrone und den Wehrgang dahinter erreicht. Leise schlich sie auf das Tor zu, Austra dicht hinter sich. Einmal hörten sie hastige Schritte und duckten sich in den Schatten eines Turms, als eine Gestalt in einem Habit hineineilte. Anne lauschte den gedämpften Schritten, die die Turmtreppe hinaufeilten, dann huschten sie vorbei. Der große Hof hinter dem Tor war voller dunkel gewandeter Gestalten, die meisten davon Mitglieder des Cerianerordens. Schwester Secula war nicht dabei; sie stand mit Schwester Savitor und Schwester Curnax auf der Mauer über dem Tor und schaute auf die Ankömmlinge hinab, wer immer sie auch sein mochten. Anne hörte sie sprechen, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagte. Sie schlich näher heran; Austra war immer noch direkt hinter ihr, und zusammen entdeckten sie eine vorspringende Ecke der Brustwehr, von wo aus sie sowohl Schwester Secula als auch die Männer sehen konnten, die vor dem Tor Halt gemacht hatten. »Ihr Heiligen!«, hauchte Anne. Im Fackellicht konnte sie etwa dreißig Reiter erkennen; sie saßen auf edlen Schlachtrössern und trugen volle Rüstung. Doch keiner von ihnen hatte eine Standarte bei sich - nicht einmal ihr Anführer, der eine Rüstung mit vergoldeten Rändern trug und sein Pferd zwei Ellen vor den anderen gezügelt hatte. Er hatte sein Visier hochgeschoben, doch Anne konnte seine Gesichtszüge aus dieser Entfernung nicht ausmachen. Der Mann sprach mit Schwester Secula - oder vielmehr, sie sprach zu ihm. 573 » ... keine Rolle«, sagte die Mestra gerade. »Wir stehen unter dem Schutz der Kirche und des Medisso. Wenn Ihr nicht auf mich hört, wird es Euch übel ergehen. Und nun geht.« Ihr Stimme klang angespannt und befehlend, und obgleich ihre Worte nicht an Anne gerichtet waren, fuhr diese zusammen. Sie wäre nicht gern dieser Ritter dort unten gewesen, wer immer er auch war. Der Ritter allerdings schien wenig beeindruckt. »Das kann ich nicht, Lady«, rief er zur Mauer hinauf. Hinter ihm klirrten Sporen, und Pferde stampften. Der Geruch nach brennendem Teer von den Fackeln wehte über die Mauer. Die ganze Szene war unwirklich, wie ein Traum. »Ich habe mich mit einem Eid dazu verpflichtet«, fuhr der Ritter fort. »Schickt sie heraus, und wir können diese Angelegenheit beenden. Beklagt Euch, worüber es Euch beliebt.« »Ihr glaubt, weil Ihr als Feiglinge erscheint, ohne Standarte oder Wappen, werden wir nicht herausfinden, wer Ihr seid?«, erwiderte Schwester Secula. »Verschwindet. Hier werdet Ihr nichts bekommen, außer den Flüchen der Heiligen.« »Die Heiligen sind mit uns, Schwester«, entgegnete der Ritter gelassen. »Unsere Sache ist ohne Makel, und ich fürchte keine Hexerei, die Ihr gegen mich entfesseln mögt. Ich warne Euch noch einmal. Schickt mir Anne Dare herunter, oder Ihr zwingt mich dazu, unhöflich zu werden.« »Anne!«, keuchte Austra. Anne griff nach Austras Hand, während ihr Herz schneller klopfte. Die Welt schien um sie herumzuwirbeln, als alles, was geschah, sich neu zusammenfügte. Es ging um sie. »Ich warne Euch noch einmal«, antwortete Schwester Secula dem Ritter. »Ein unerlaubtes Eindringen werden wir nicht hinnehmen. Kein Mann darf diesen Konvent betreten.« Anne konnte das Gesicht der Mestra nicht sehen, doch sie konnte es sich vorstellen, und sie fragte sich, ob der namenlose Ritter ihrem Blick wirklich standhielt. 574 »Ich bedaure, was ich tun muss«, sagte der Mann. »Aber Ihr habt mich dazu gezwungen.« Er winkte, und die Reihen seiner Reiter teilten sich. Durch die Lücke kamen zehn Bogenschützen sowie noch einmal so viele Männer, die einen Holzbalken trugen, der an einem Ende mit einer Stahlkappe versehen war. Die Bogenschützen zielten auf die Schwestern auf der Mauer. »Öffnet das Tor«, befahl der Ritter. »Um der Liebe der Heiligen willen, macht auf und lasst uns hinein.« Als Antwort spreizte Schwester Secula die Finger, und Anne spürte ein plötzliches Prickeln auf der Haut, ein Gefühl, so ähnlich wie die Nähe eines Feuers, und doch wieder anders. Etwas Dunkles wirbelte von den Fingerspitzen der Mestra auf, wie ein Spinnennetz, doch noch feiner und substanzloser. Es senkte sich auf die Männer herab. Als es die größten unter ihnen berührte, schrien sie auf und schlugen die Hände vor die Augen. Anne sah Blut zwischen ihren Fingern hervorschießen, und ihr Magen krampfte sich vor Grauen zusammen. Sie hatte Gerüchte über die Schwarzen Sacaum gehört, obgleich sie nie wirklich daran geglaubt hatte. Als Antwort hob der Ritter die Arme und rief etwas, und wieder fühlte Anne einen Machtschwall. Dieser durchfuhr sie wie ein kalter Schrecken. Der Sacaum der Mestra zerfaserte, schwebte hinauf in die Nachtluft und verschwand. »So«, sagte Secula. »Jetzt zeigt Ihr Euer Gesicht, Bruder. Jetzt kenne ich die Wahrheit.« »Eine Wahrheit vielleicht«, erwiderte der Ritter. »Diese Angelegenheit übersteigt Euer Begriffsvermögen, Mestra.« »Dann erleuchtet mich.« »Das darf ich nicht.« Er winkte, und seine Männer stürmten vorwärts; die Ramme krachte gegen das Tor. Im selben Moment blitzte die Hand des Ritters weiß auf, jäher Donner grollte in der Luft, und blaues Feuer wand sich in einer Spirale am Fuße der Mauer. Anne konnte das Tor nicht von der Seite sehen, die getroffen wurde,
wohl aber von der Hofseite, und sie schnappte nach Luft, als das Feuer 575 knisternd durch die Spalten im Holz drang wie die gierigen Schösslinge einer Ranke. Beim zweiten Stoß brach das Tor zusammen, und der Ritter ritt hindurch; seine Männer folgten ihm dichtauf. Anne konnte ihren Körper nicht mehr spüren. Sie kam sich vor, als stünde sie außerhalb, losgelöst, ein Wesen, so flüchtig wie ein Geist, der mit ansah, was nun folgte. Die Schwestern scharten sich zusammen und sprachen finstere Worte, und Ritter stürzten von den Pferden und rissen sich die Helme vom Kopf, um Gesichter zu enthüllen, die dunkelblau angelaufen waren. Sie bissen sich selbst die Zungen ab und zermalmten ihre eigenen Zähne, als sich ihre Kiefer verkrampften. Während sie die Wasser des Todes überquerten, weinten sie grüne Tränen. Unversehrt schritt der Anführer durch den unsichtbaren Schleier des Verderbens. Sein schweres Schwert hob sich, und Augenblicke später war eine der Nonnen enthauptet; ihr Körper sank langsam auf die Knie, während sich ihr Hals in die Länge und Breite zu dehnen schien und erblühte wie eine rote Orchidee. Das blutige Schwert kam zurück, wieder und wieder, und schlug auf die Schwestern von Cer ein. Zuerst hielten die Frauen stand, und weitere Krieger starben, wie Ameisen, die ins Feuer marschieren, doch plötzlich wichen die Schwestern vor der mörderischen Klinge zurück. Pfeile zischten auf den Wehrgang zu, wo Schwester Secula schwarzen Hagel herabregnen ließ, der durch die Panzer drang, als wären sie nicht vorhanden. Schwester Savitor und Schwester Curnax brachen zusammen und starrten die Pfeile an, die aus ihren Körpern ragten. Grimmig klatschte Schwester Secula in die Hände und schien in einen Schatten zu gleiten, der nicht da war. Dann war auch sie nicht mehr da. »Bei allen Heiligen!«, schrie Austra auf. »Das passiert meinetwegen«, sagte Anne wie betäubt. Die Worte ergaben keinen Sinn, aber sie waren ausgesprochen. »Wir müssen in den Weinkeller«, stammelte Austra. »Wir müssen uns irgendwo in Sicherheit bringen. Anne, komm schon.« Doch Anne konnte sich nicht bewegen. Überall war jetzt Blut. Nie 576 hätte sie sich träumen lassen, dass es so viel Blut auf der Welt gab oder dass kopflose Leiber so zucken könnten oder dass die Augen der Toten so sehr wie Glas aussahen. »Anne!«, schrie Austra ihr ins Ohr. Der Anführer der Ritter hörte es und blickte auf. Sein Visier war noch immer geöffnet, doch das Einzige, was Anne sehen konnte, waren Augen, so blau, dass sie fast weiß schienen. »Dort!«, brüllte er und deutete mit dem gepanzerten Finger auf sie. »Anne!« Austra weinte jetzt hemmungslos vor Angst und Trauer und zerrte an ihrem Arm. Anne fand ihre Beine wieder, oder sie fanden sich selbst wieder, und mit einem Satz rannte sie plötzlich los, taumelte den Wehrgang entlang, all ihre Sinne wie taub, nur darauf gerichtet, ihre Angst anzufachen. Austra war dicht hinter ihr, stieß sie beinahe vorwärts. Sie fanden die Treppe, auf der sie heraufgekommen waren, und stolperten hinunter. Anne rutschte aus, und ihre Knie schlugen hart auf dem Stein auf, doch sie bemerkte es kaum, denn als sie den Hof erreichten, ertönte eine weitere heisere Männerstimme. »Der Weinkeller!«, schrie Austra und deutete mit dem Finger. »Und da in der Falle sitzen? Nein!« Anne bog in den Speisesaal ab; sie wagte es nicht, sich nach dem Geräusch gepanzerter Füße umzusehen, die hinter ihr auf die Steinplatten krachten. Doch als sie an der Tür zur Speisekammer vorbeikamen, kreischte Austra auf, und Anne war jetzt doch gezwungen, sich umzudrehen. Ihr Verfolger - ein Mann in Halbrüstung, mit langem schwarzem Haar, das im Nacken zusammengebunden war hatte Austra am Haar gepackt und sein Schwert auf Anne gerichtet. »Bleib stehen«, befahl er. »Komm mit mir.« Austras Augen hatten jeglichen Anschein klaren Denkens verloren, und Anne verspürte plötzlich mehr Zorn als Furcht. Das Nächste, was zur Hand war, war ein Hammer, der dazu diente, Fässer zuzunageln. Sie griff danach und warf ihn. Es war kein besonders kräftiger Wurf, doch er war erstaunlich gut gezielt. Sie erhaschte einen Blick auf das Staunen, das sich auf dem 577 Gesicht des Ritters breit machte, just bevor der Schlegel ihm die Nase zerschmetterte. Fluchend stolperte er zurück, und Austra war frei. Wieder rannten die beiden Mädchen los. Hinter ihnen hörte Anne den Ritter heulen und herumstampfen, und dann traf sie etwas hart am Kopf. Erst wurde sie leicht und dann schwer, und ihre Wange schlug auf dem Boden auf. Sie spuckte Blut und wollte sich aufrappeln, doch ein Stiefel senkte sich auf ihren Rücken herab. »Kleines Luder«, sagte der Mann. »Ich werde dich lehren - o ihr Heiligen).« Beim letzten Wort hob sich seine Stimme zu einem so gellenden Schrei, dass es sich anhörte wie ein sterbendes Pferd, und der Druck verschwand von Annes Rücken. Verwirrt und benommen stemmte sie sich auf Hände und Knie hoch und drehte sich um. Der Ritter lag tot da, und Dampf stieg zwischen seinen Lippen empor.
»Steh auf. Schnell.« Anne blickte zu der neuen Stimme empor. An ihrer Seite mühte sich auch Austra auf die Beine. Schwester Secula stand neben ihnen und blickte auf sie hinab. »Kommt mit«, befahl sie. »Die Schwesternschaft kann sie nicht mehr lange aufhalten.« Stumm nickte Anne und rieb sich den Kopf, der noch immer von dem Schlag dröhnte. Sie heftete den Blick auf den Rücken der Mestra und fragte sich erneut, ob das alles wirklich geschah. Zu schnell. Alles zu schnell. Die Ereignisse verschwammen miteinander. Als sie das nächste Mal Notiz von ihrer Umgebung nahm, standen sie vor dem Schacht, der zum Schrein der Mefitis hinabführte. Die Mestra packte sie bei den Schultern. »Ich habe das nicht erwartet«, sagte sie mit merkwürdig sanfter Stimme. »Ich bin noch nicht fertig mit dir, und du bist nicht bereit, aber was ist, ist eben.« »Was wollen diese Männer von mir?«, fragte Anne. Schwester Seculas dunkle Augen wurden schmal. »Der Welt die Hoffnung nehmen«, sagte sie. »Ihr dich nehmen.« Sie deutete auf das Geschirr. »Hinein da, alle beide.« 578 »Wartet«, sagte Anne. Ihr war, als gäbe es noch etwas, das sie fragen sollte. »Keine Zeit«, wehrte die alte Frau ab. »Haltet euch gut an den Seilen fest.« »Was soll ich tun?«, fragte Anne, als sie und Austra sich in die verdrehten Taue hängten. »Ich verstehe nicht, was ich tun soll.« »Bleib am Leben«, erwiderte Schwester Secula. »Der Rest wird sich ergeben, so gut es geht, so die Heiligen wollen. Verlasst diesen Ort, und zwar schnell, sonst werden sie euch finden. Bleibt immer in Bewegung, und vertraut niemals dem Anschein von Sicherheit.« Sie begann, an der Winde zu drehen und sie hinabzulassen, und ihr Gesicht entfernte sich von Anne. Irgendetwas begann, gegen die Tür über ihnen zu donnern. »Du kennst den Weg hinaus«, sagte die Mestra. »Geht sofort, sobald ihr unten angekommen seid.« »Ihr habt es gewusst?«, entfuhr es Anne. Schwester Seculas einzige Antwort war ein leises Lachen. Sie ließ sie jetzt rasch hinuntergleiten, und kaum hatten sie den Steinboden am Grunde des Schachts berührt, als über ihnen ein vielstimmiges Geheul losbrach, wie von verdammten Seelen, und schwacher Schwefelgeruch aufwallte. Dann Stille. In der Dunkelheit fühlte Anne sich plötzlich stärker. »Austra, nimm meine Hand«, sagte sie. »Es ist zu dunkel«, protestierte Austra. »Wir werden in eine Spalte fallen oder stolpern.« »Vertrau mir einfach und nimm meine Hand. Du hast doch gehört, was die Mestra gesagt hat. Ich kenne den Weg.« Männerstimmen trieben zu ihnen herab. »Hörst du das? Sie wissen, dass wir hier sind.« »Ja«, sagte Austra. »Ja, lass uns gehen.« Die Finger fest ineinander verschlungen, machten sich die beiden Mädchen auf den Weg in die Finsternis. 579 48. Kapitel Hörnerklang Lange bevor Stephen die Lichtung betrat, hatte Desmond ihn natürlich schon gesehen. Das hatte Stephen gewusst. Der Mönch hielt in seinen Beschwörungen inne, und ein verzerrtes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »Lewes, Owlic«, sagte er. »Gebt Acht! Bestimmt ist der Waldhüter in der Nähe. Wenn er Topan und Aligern getötet hat, ist er ein gefährlicher Mann.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. »Du kannst ja wohl kaum allzu viel zu ihrem Tod beigetragen haben, was, Bruder Stephen?« »Nein, da hast du Recht«, erwiderte Stephen fröhlich. Er verschränkte die Arme und versuchte unbekümmert auszusehen. Desmond neigte angesichts seines Tons den Kopf zur Seite, dann zuckte er die Achseln. »Ich würde sagen, du hast den Verstand verloren. Durchaus von Vorteil für dich, wenn man bedenkt, was ich mit dir machen werde.« »Aber was den Waldhüter betrifft, irrst du dich«, fuhr Stephen fort. »Er hat Topan und Aligern getötet, aber Topan hat ihn tödlich verwundet. Ich werde dich also allein umbringen müssen.« »Schön«, sagte Spendlove. »Das kannst du gleich tun. Mach es dir inzwischen bequem - setz dich, wenn du willst. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen, ehe ich mich mit dir befassen kann.« Er sah Lewes und Owlic an. »Wahrscheinlich lügt er, was den Waldhüter angeht. Passt gut auf.« Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Du brauchst die ganze Prozedur nicht noch einmal zu wiederholen«, bemerkte Stephen. »Den Sedos kümmert es nicht, ob du etwas sagst oder nicht.« Desmond blickte ihn finster an. »Vielleicht nicht. Aber die Dunklen Heiligen kümmert es, und zwar sehr.« »Die Dunklen Heiligen sind tot«, entgegnete Stephen. »Du zeigst
580 deine Unwissenheit, wenn du hier Beschwörungen rezitierst wie ein Wundermann der Watau. Die Sedoi sind die Überbleibsel ihrer Stärke, ihrer alten Machtpfade. Die Kraft ist da, aber sie ist ohne Leben.« In einem Tonfall, in dem er mit einem Kind reden würde, fuhr er fort. »Das heißt, sie kann dich nicht hören.« Desmond versuchte sich erneut an einem Lächeln, doch diesmal wirkte es gezwungen. »Du redest über Dinge, von denen du keine Ahnung hast«, sagte er. Stephen lachte. »Das ist gut. Wovon habe ich keine Ahnung? Du erschaffst Wechselbälger, Raubseelen. Gerade hast du Bruder Seigereiks Seele ausgeschickt, sich des Körpers eines Menschen zu bemächtigen, und jetzt schickst du Ashern, um das Gleiche zu tun. Ritter der Leibwache der Königin vielleicht? Ist das eine Haarlocke, was da um Bruder Asherns Hals hängt? Man braucht etwas Persönliches, um den Körper zu finden, nicht wahr?« »Lewes, stopf ihm das Maul, bis ich fertig bin«, knurrte Desmond. Mahnend hob er den Finger. »Aber bring ihn nicht um.« Der riesige Mönch ging auf Stephen zu. »Ihr seid diejenigen, die nicht begreifen, was sie tun«, sagte Stephen. »Euer Wissen ist unzureichend und beruht mehr auf Aberglauben als auf irgendetwas anderem. Deshalb habt ihr mich gebraucht. Ihr braucht mich immer noch.« »Ach, und jetzt bist du bereit, uns zu helfen?«, fragte Spendlove. »Irgendwie bezweifle ich das.« »Ruf Lewes zurück«, sagte Stephen. »Ruf ihn zurück, sonst benutze ich das hier.« Er zog das Hörn, das der Waldhüter aus den Hasenbergen nach d'Ef gebracht hatte, aus seinem Rucksack. Desmonds Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Warte, Lewes«, befahl er. Er trat ein Stück von der jungen Frau weg und streckte die leeren Hände aus, um zu zeigen, dass er sie nicht bedrohte. »Wo hast du das her?« »Du hättest ein bisschen mehr Zeit im Scriftorium verbringen sollen und weniger damit, es mit Leichen zu treiben«, erwiderte Stephen. »Weißt du, was das ist? Ich glaube, du weißt es.« 581 »Etwas, das du nicht besitzen solltest. Etwas, das du nicht lange besitzen wirst.« »Ich brauche es auch nicht lange. Nur einen Augenblick lang.« Desmond schüttelte den Kopf. »Für so dumm kannst du mich nicht halten. Das Ritual, das dazugehört -« »Ist genauso bedeutungslos wie das, das du hier gerade stammelst. Jeder Sedos kann die Macht des Horns freisetzen. Jeder Mund kann es blasen. Und nun sieh mal an, hier haben wir beides.« »Wenn du wirklich weißt, was du da in der Hand hältst, dann weißt du auch genug, um es nicht zu benutzen. Ihn zu rufen wird dir nicht helfen.« »Hast du Angst, ihn beim Namen zu nennen? Ich nicht. Der Dornenkönig. Der Gehörnte Lord. Der Nesselmann. Und das Problem dabei, ihn zu rufen, ist, dass ich wirklich keine Ahnung habe, was dann passiert, und du auch nicht. Vielleicht tötet er uns alle, obgleich es im Codex Khwrn heißt, demjenigen, der das Hörn in den Händen hält, würde kein Leid geschehen. Das ist ein Risiko, das ich einzugehen bereit wäre, vor allem, da du ja selbst zugegeben hast, dass du etwas sehr Hässliches mit mir vorhast«. Er hob das Hörn und fragte sich im Stillen, ob es wirklich ein Scrift wie den Kodex Khwrn gab. »Halt ein«, sagte Desmond. Ein Anflug von Verzweiflung lag in seiner Stimme. »Warte.« »Du hast doch so eine Vorliebe für die Dunklen Heiligen, aber du möchtest trotzdem keinem von ihnen begegnen?« »Nicht ihm. Noch nicht.« Spendlove neigte den Kopf leicht zur Seite. »Du weißt auch nicht alles, Bruder Stephen. Nicht einmal annähernd. Wenn du ihn jetzt aufweckst - wenn du ihn aus seinem Wald hervorrufst, ehe wir mit den Vorbereitungen fertig sind -, dann wirst du mehr Blut an den Händen haben, als ich mir je hätte träumen lassen.« Stephen zuckte mit den Schultern. »Dann sollten wir ihn wohl lieber nicht wecken.« Desmonds Stimme nahm den Tonfall eines feilschenden Händlers an. »Was willst du?«, fragte er. 582 »Das Mädchen. Lass sie gehen.« »Du kennst diese Dirne?« »Ich habe sie noch nie gesehen. Aber ich werde nicht zuschauen, wie du sie umbringst. Lass sie gehen, und lass uns beide ungehindert abziehen.« »Wo ist der Waldhüter?« »Das habe ich dir doch gesagt. Er ist tot.« Spendlove schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ist er hinter Fend her. Die beiden sind alte Freunde.« Lewes war nur ein paar Schritte entfernt und spannte sich wie zum Sprung. Stephen hob das Hörn fast bis an die Lippen und drohte dem Riesen warnend mit dem Finger. Bruder Ashern, der mit nackter Brust auf dem Sedos stand, räusperte sich. »Seigereik hat das Tor wahrscheinlich inzwischen geöffnet«, sagte er. »Vielleicht ist es gar nicht nötig, dass ich gehe.« Desmond lachte bitter. »Im Herzen warst du schon immer ein Feigling, Bruder Ashern. Deine Aufgabe ist die wichtigste von allen. Du sollst die Königin töten, wenn die anderen versagen. Dir wird sie vertrauen.«
»Wenn er das Hörn da bläst, dann werde ich überhaupt keine Königinnen töten«, verteidigte sich Bruder Ashern. »Seigereik hat die Tore geöffnet, und Fend und seine Männer werden bald in der Burg sein. Der Ritt dauert nicht einmal einen halben Glockenschlag. Selbst im Dunkeln. Sie kriegen die Königin schon, ganz sicher.« »Wir wissen doch noch nicht mal, ob das Ding echt ist«, grollte Lewes. »Es könnte auch ein Kuhhorn sein, das er irgendwo aufgelesen hat.« »Oder es könnte sein, dass ich mit dem Waldhüter geritten bin, der den Dornenkönig gesehen hat, der bis in seine Behausung vorgedrungen ist. Gewiss hat Fend euch davon erzählt. Das war es, worauf Fend eigentlich aus war - das Hörn. Glaubst du, er hat es gefunden?« All dies war natürlich nur geraten, doch an ihren Gesichtern sah Stephen, dass er ins Schwarze getroffen hatte. 583 Lewes schob sich näher heran. »Nein, Lewes«, sagte Spendlove. »Er hat Recht, und Bruder Ashern auch. Bald werden die Königin und ihre Töchter tot sein; der Waldhüter kann Fend und all seine Männer nicht ganz allein erledigen. Es ist vollbracht. Wir brauchen diese kleine Hure nicht zu töten.« Er zog ein Messer aus dem Gürtel, eins, das grell glitzerte. »Ich schneide sie los.« Stephen presste das Hörn an die Lippen, eine stumme Warnung. Er hatte nicht bedacht, wie schnell Spendlove sich bewegen konnte. Das Messer war plötzlich ein verwischter Schemen in der Luft und dann ein brennender Schmerz in Stephens Arm. Er keuchte. Er keuchte, und Klang erfüllte die Welt. Natürlich hatte Stephen niemals vorgehabt, das Hörn zu blasen, und er glaubte auch nicht wirklich daran, dass irgendetwas passieren würde, wenn er es täte. Er hatte sich auf Spendloves abergläubische Überzeugung verlassen, dass es die Dunklen Heiligen wirklich gab. Er wusste nicht einmal, wie man ein Hörn blies, obwohl er so etwas schon gesehen hatte und wusste, dass es nicht das Gleiche war, wie auf einer Oboe oder einer Flöte zu spielen; man musste die Lippen vibrieren lassen oder so etwas. Einfach nur Luft hineinzupusten hätte nicht genügen sollen. Der klare Ton jedoch, der in die dunkle Luft emporstieg, strafte all dies Lügen. Und das Hörn ließ ihn nicht aufhören. Noch während er auf die Knie sank und Blut aus seinem Arm spritzte, schmetterte es lauter, sog den Atem aus ihm heraus, bis selbst die Felsen und Bäume den Ton aufzunehmen schienen, während der Himmel davon erschauerte. Auch als Bruder Lewes auf ihn einschlug und ihm das Instrument aus der Hand riss, hallte der Klang weiter, nahm an Kraft zu wie eine Gewitterwolke, türmte sich höher und höher auf, bis er ohrenbetäubend war, bis es auf der ganzen Welt keinen anderen Laut mehr gab. Bruder Lewes stieß Stephen grob zu Boden. Mit zusammengebissenen Zähnen zog dieser das Messer aus seinem Arm, wobei der jäh verdoppelte Schmerz, den dies mit sich brachte, ihm fast die Sinne 584 raubte. Er rollte sich auf den Rücken und hob die Waffe in einer unsicheren Geste der Abwehr. Doch Bruder Lewes tat etwas Seltsames. Er schien einen langen, geraden Stock gefunden und ihn sich ins rechte Auge gerammt zu haben. Wieso tat er das? Als ein zweiter Pfeil den Mönch ins Herz traf, leuchtete Stephen das alles plötzlich ein. Wie betäubt sah er zu, wie Lewes nach dem Schaft grabschte, ein letztes Brummen des Verdrusses von sich gab und zu Boden stürzte. »Aspar«, sagte Stephen. Bei dem Schmettern des Horns konnte er seine eigenen Worte nicht hören. Taumelnd kam er auf die Beine und umklammerte das Messer. Mit schierer Willenskraft versuchte er, die Schmerzen in seinem Arm zu verdrängen, und sie verschwanden, genau so, wie sein Körper auf dem Pfad der Schreine gefühllos geworden war. Grimmig schritt er auf Desmond zu. Der Mönch sah ihm entgegen. Verschwommen bemerkte Stephen, dass Aspar sich jetzt Owlic vorgenommen hatte. In der Luft um sie herum begann der Klang des Horns nun zu verebben, allerdings sehr langsam. »Du bist der größte Narr der Welt!«, schrie Spendlove. »Du Idiot! Was hast du getan?« Stephen antwortete nicht. Sein erster Atemzug, nachdem er das Hörn geblasen hatte, fühlte sich an wie die eisigen Winde eines ganzen Winters. Er wusste, dass Spendlove ihn töten würde. Es war ihm egal. Er hob das Messer und rannte geradewegs auf den anderen Mönch zu; sein verwundeter Arm war vergessen. Desmond blickte auf die gefesselte Frau hinunter, und dann, schnell wie eine Katze, packte er Bruder Ashern, der über dem noch immer schwach zuckenden Opfer stand. Er stieß Ashern die Klinge ins Herz. Fast im selben Moment traf ein Pfeil Desmond mitten in die Brust. Er stöhnte und torkelte zurück. Das verschaffte Stephen einen Augenblick Zeit, eine Wahl zu treffen, und in diesem Moment verspürte er eine strahlend helle Gewiss585 heit. Er änderte die Richtung seines Ansturms, rammte den sterbenden Bruder Ashern, der mit weit aufgerissenen Augen dastand, mit der Schulter und schleuderte ihn von dem Hügel herunter. Dann kniete er neben dem anderen Mann nieder, der noch immer seine eigenen Gedärme anstarrte. »Vergebt mir«, sagte er und stieß das glitzernde Messer in ein gequältes blaues Auge, so tief es nur ging. »Ist die Klinge eingedrungen«, erinnerte er sich, in der Physiognomie von Ulh gelesen zu haben, »so bewege man sie hin und her, um das Gehirn zu zerstören. Ein rascher Tod ist die Folge.«
Er bewegte die Klinge, und irgendetwas in der Erde unter ihm schien aufzustöhnen. Er schaute genau in dem Moment auf, als Desmond zuschlug. Stephen fühlte, wie seine Nase brach und schmeckte Blut hinten im Hals, und als er den Sedos hinunterrollte, fühlte er beinahe überhaupt nichts. Verbissen folgte ihm Desmond und brach den Pfeilschaft in seiner Brust ab. Stephen sah, wie er einem weiteren Pfeil auswich, und dann hatte der Mönch ihn am Kragen gepackt, und er befand sich wieder in der Luft. Er krachte auf der anderen Seite des Hügels zu Boden. Hier hat er Deckung, ging es ihm durch den Sinn. Aspar kann ihn nicht erschießen, ohne die Stellung zu wechseln. Bis er hier ist, bin ich tot. Desmond kam um den Sedos herum und versetzte ihm einen Tritt in die Rippen. Stephen ächzte; er bekam keine Luft durch die Nase, und sein Mund war voller Blut. »Das ist genug, Stephen Darige«, sagte Desmond. »Das ist jetzt wirklich vollauf genug.« Stephen fühlte etwas in seiner Hand, als er versuchte zurückzuweichen, und begriff, dass er noch immer das Messer umklammert hielt. Nicht dass er dazu kommen würde, es zu benutzen. Spendlove war zu schnell. Und er konnte es nicht werfen, so wie dieser es getan hatte. Oder doch? Er erinnerte sich, wie Spendlove mit der Hand ausgeholt und sie dann auf ihn hatte zuschnellen lassen. So blitzschnell der Wurf auch gewesen war, er war Stephen klar im Gedächtnis geblieben, 586 jede Einzelheit der Bewegung. Er dachte an seine eigene Hand, wie sie die gleiche Bewegung vollführte. Beinahe verächtlich kam Spendlove näher. Stephen, der sich noch nicht einmal halb erhoben hatte, holte aus und warf. Er war sich sicher, dass er sein Ziel verfehlt hatte, bis Spendlove mit weit aufgerissenen, ungläubigen Augen nach dem Heft des Messers griff, das unter seinem Brustbein hervorragte, direkt unterhalb der Pfeilwunde. Stephen sprang auf; wilde Freude trieb seine Glieder an. Wieder versetzte Spendlove ihm einen Hieb, diesmal gegen die Brust. Der Schlag fühlte sich an wie ein Schmiedehammer, doch Stephen taumelte vorwärts und umschlang den Mönch mit beiden Armen. Spendlove legte die Hände um Stephens Hals und drückte zu. Die Welt wurde grau, als sich die Finger des Bruders in seine Kehle gruben. Stephen fragte sich, wie Spendlove so dumm sein konnte. War das ein Trick? Es war kein Trick, beschloss er, Spendlove war einfach rasend vor Wut. Mit beiden Händen packte Stephen den Messergriff und zog ihn nach unten. »Oh, verdammt«, sagte Spendlove und sah zu, wie seine Eingeweide hervorquollen und zu Boden fielen. Er ließ Stephen los, machte drei Schritte rückwärts und setzte sich schwer auf den Hügel. Dann schlang er die Arme um seinen klaffenden Bauch. »Ich habe mich schon gewundert, weshalb du nicht daran gedacht hast«, bemerkte Stephen und sank auf die Knie. »Zu wütend. Bei allen Heiligen, Darige, du weißt wirklich, wie du mich wütend machen kannst.« Seine Augen verdrehten sich. »Du hast mich getötet. Ich, getötet von einem wie dir.« »Du hättest die Kirche nicht verraten sollen«, erklärte Stephen. »Du hättest Fratrex Pell nicht ermorden sollen.« »Du bist trotzdem ein Narr, Bruder Stephen«, erwiderte Spendlove. »Ich weiß, dass auch andere in der Kirche da mit drinstecken«, sagte Stephen. »Ich weiß, dass du Befehle von jemandem bekommen 587 hast. Sag mir, von wem. Beichte mir deine Sünden, Bruder Desmond. Du musst einiges von dem, was du getan hast, bereuen, das weiß ich.« »Ich bereue, dass ich dich nicht gleich umgebracht habe, als ich dir begegnet bin, ja«, räumte Bruder Desmond ein. »Nein. Die Nacht damals, auf dem Hügel.« Spendlove sah sehr müde aus. Wäre der blutrote Strom nicht gewesen, der sich durch seine gekreuzten Arme ergoss, hätte man meinen können, er wolle ein Nickerchen machen. »Ich hatte nie eine Chance«, murmelte er. »Ich dachte, sie würden etwas Besseres aus mir machen. Sie haben etwas Schlimmeres geschaffen.« Er blickte auf, als sähe er etwas. »Da sind sie«, sagte er. »Sie kommen, um mich zu holen.« »Sag mir, wer deine Herren sind«, drängte Stephen. »Komm näher, dann flüstere ich es dir zu«, erwiderte Spendlove. Seine Augenlider flatterten wie halb tote Motten. »Lieber nicht. Du hast immer noch genug Kraft, um mich zu töten.« »Nun, dann hast du doch ein wenig gelernt.« Er ließ sich nach hinten sinken. »Es ist auch besser, wenn du am Leben bleibst, um die Welt zu erblicken, die du geschaffen hast. Ich hoffe, du hast deine Freude daran, Bruder Stephen.« »Wie meinst du das?« »Sie sind hier.« Plötzlich klang Spendloves Stimme furchtsam. Sein Kopf fiel zurück, und sein Rücken bog sich durch. »Jetzt ist es nur noch Asche. Ich war ein Tor zu glauben, ich könnte mehr sein. Mächtige Lords!« Das Letzte war ein gellender Schrei, und dann lag er still da, sein Körper ebenso regungslos, wie seine Miene
gequält war. Heftig atmend betrachtete Stephen ihn und versuchte, sich langsam aus dem Wahnsinn zu lösen. Schließlich traf Aspar den lästigen Mönch in den Hals und versenkte dann einen letzten Schaft in seinem Herzen, als der Mann taumelte. Jetzt war nur noch der Anführer übrig, der mit Stephen hinter dem Hügel verschwunden war. Aspar rannte los. 588 Der Bursche, den er eben erschossen hatte, hatte allerdings noch nicht aufgegeben. Auf halbem Weg zum Hügel trafen sie aufeinander, und er schlug mit einem Schwert nach Aspar. Der Stahl war ein undeutlicher Schemen. Aspar kam zum Stehen, sprang zurück und machte dann einen Satz nach vorn, in die Reichweite der Klinge hinein, wobei er seinen Dolch und die Axt, die er sich vor zwei Tagen in einem Dorf besorgt hatte, kreuzte. Er zwang das Schwert nach unten, riss dann die Axt hoch, die Schneide nach oben gerichtet, traf den Mönch unterm Kinn und spaltete ihm den Unterkiefer. Als Antwort bekam er einen Hieb mit dem Schwertknauf, der ihn zu Boden schickte. Der Mönch ging auf ihn los und stach mit der abwärts gerichteten Klinge zu, langsamer diesmal. Aspar schlug die Waffe zur Seite, setzte sich rasch auf und rammte dem Mann den Dolch in den Unterleib. Als der Mönch sich krümmte, riss Aspar die Klinge zurück und stieß sie ihm ins Herz, was ihm endlich Einhalt gebot. Stöhnend kam der Waldhüter auf die Beine und rannte wieder los, auf den Hügel zu, wo Winna noch immer gefesselt dalag. »Winna!« Hinter ihr konnte er den letzten Mönch sehen, der zusammengekrümmt seinen Bauch umklammert hielt, während Stephen stumm ein paar Schritt entfernt wartete. Der Junge blutete heftig aus einer Wunde im Arm, schien aber ansonsten wohlauf. Winna schaute zu ihm empor; ihre Augen waren merkwürdig ruhig. Er kniete nieder, zerschnitt ihre Fesseln, riss sie mit einem erstickten Schrei in seine Arme und zog ihr den Knebel aus dem Mund. »Winna -« Er wollte noch mehr sagen, doch er konnte nicht, denn es fühlte sich an, als habe er etwas Großes verschluckt und es sei ihm im Hals stecken geblieben. Und warum war sein Gesicht nass? Bluteteer ander Stirn? Dann schluchzte Winna auf und vergrub das Gesicht an seinem Hals, und sie verharrten lange regungslos. Schließlich schob er sie sanft zurück. »Winna, haben sie dir etwas getan? Haben sie ...« »Sie haben meinen Körper nicht angerührt«, flüsterte sie. »Sie ha589 ben oft davon geredet. Er wollte es nicht zulassen. Fend. Er wollte mich unbefleckt, hat er gesagt. Er wollte all diese Dinge vor deinen Augen tun. Ist er tot?« »Fend nicht. Noch nicht. Winna?« »Ich habe gewusst, dass du mich findest.« »Ich liebe dich, Winna. Wenn du umgekommen wärst...« Sie wischte sich die Augen, und ihre Stimme war plötzlich sachlich wie eh und je. »Ich bin aber nicht umgekommen«, sagte sie. »Und du auch nicht. Hier sind wir also, und ich liebe dich auch. Aber die Königin wird umkommen, wenn wir nichts unternehmen.« »Ich habe die einzige Königin, auf die es mir ankommt«, knurrte Aspar. »Ich werde Fend umbringen, gewiss. Aber zuerst, beim Wüterich, bringe ich dich in Sicherheit.« »Nichts da. Wir haben das hier zusammen begonnen, Aspar. Jetzt müssen wir zusammen weitermachen.« »Sie hat Recht«, ließ sich Stephen vernehmen, der hinter ihnen auftauchte. »Wir müssen tun, was wir können.« »Das haben wir schon getan, würde ich sagen«, wandte Aspar ein. »Nein«, widersprach Stephen. »Noch nicht. Vielleicht können wir in Cal Azroth nicht helfen, aber wir müssen es versuchen.« »Ihr habt Euch hier verdammt gut geschlagen, Junge«, sagte Aspar. »Wir sind alle stolz auf Euch. Aber schaut Euch doch an, Ihr könnt nicht mehr. Wenn wir Euren Arm nicht verbinden, verblutet Ihr uns noch.« »Dann verbindet ihn«, erwiderte Stephen, »und dann lasst uns gehen.« Aspar betrachtete die beiden entschlossenen jungen Gesichter und hatte plötzlich das Gefühl, in der Minderheit zu sein. »Winna, solltest du nicht wenigstens vernünftig sein?«, fragte er. Winna hob das Kinn in Stephens Richtung. »Ich heiße Winna Rufoote«, sagte sie. »Stephen Darige, zu Euren Diensten.« Er warf Aspar einen Blick zu, der deutlich sagte: Das hättet Ihr mir ruhig erzählen können, aber er enthielt sich einer Bemerkung. Aspar war plötzlich verlegen. 590 »War er Euch gegenüber genauso stur wie bei mir?«, wollte Winna von Stephen wissen. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie er noch sturer sein könnte, als ich es erlebt habe«, antwortete Stephen. »Oh, das kann er«, versicherte Winna. »Aber ich bin ihm gewachsen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Oder etwa nicht, Liebling?« Aspar spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er schürzte die Lippen. »Sceat«, knurrte er. »Wir gehen, aber wir tun genau das, was ich sage, ja?« »Immer«, versicherte Winna. »Und wir holen die Pferde. Wir werden sie brauchen.« 49. Kapitel Wechselbalg
Neil fiel auf die Knie und übergab sich. Er konnte die Steinplatten unter seinen Händen nicht fühlen, ja, nicht einmal seine Hände selbst. Fäden aus Dunkelheit stickten Muster vor seinen Augen. »Willkommen, Bruder Ashern«, sagte der Ritter, der Vargus Farre war und auch wieder nicht. »Du kommst spät. Wir haben Schwierigkeiten.« Neil konnte seine Stimmbänder nicht dazu bringen zu antworten. »Was ist denn mit ihm?«, fragte eine andere Stimme. Neil schloss die Augen und sah die Stimme als eine zuckende blaue Linie, wie einen Blitz. »Ich weiß nicht«, antwortete der falsche Vargus. »Mir war zuerst auch schlecht, aber nicht so.« »Macht nichts«, sagte die neue Stimme. »Wir können tun, was ge591 tan werden muss, mit ihm oder ohne ihn. Aber wir können nicht warten.« »Richtig«, stimmte Vargus zu. »Bruder Ashern, wenn du dich von deiner Reise erholt hast, such die Königin. Wenn sie noch nicht erledigt ist, dann tu du es. Denk daran, sie hält dich für ihren Leibwächter. Dein Name ist Neil. Weißt du das noch?« Seine Worte ergaben keinen Sinn. Die Maschen des dunklen Netzes vor Neils Augen zogen sich zusammen, hüllten ihn ein, sanken auf seine Knochen zu, wie ein Netz in der See versinkt. Einen Moment lang fragte er sich, was man wohl darin emporziehen würde, und er erinnerte sich an Sonnenlicht auf weißen Schaumkronen. Er spürte die Hand seines Vaters in der seinen. Dann nichts mehr. Er erwachte dort, wo er gefallen war, das Gesicht gegen den Steinboden gepresst. Sein Mund war trocken, und sein Kopf schmerzte wie von zu viel Wein. Gegen erneuten Brechreiz ankämpfend, tastete er nach Krähe und kam mühsam auf die Beine. Einen Moment lang stand er schwankend da und suchte mit Blicken die Schatten des Burgfrieds ab. Es war immer noch Nacht, also war er nicht lange bewusstlos gewesen, doch der falsche Vargus und der, mit dem er geredet hatte, waren nirgends zu sehen. Was ist mit mir passiert? Die beiden Männer hatten so geredet, als wäre er jemand anders. Aber er fühlte sich immer noch wie Neil MeqVren. Als er zu Boden blickte, sah er, dass Sir James Cathmayl tot war; seine glasigen Augen starrten weit über das Land des Schicksals hinaus. Überall um ihn herum lag Cal Azroth vollkommen still und schweigend da, und doch spürte Neil die Ahnung einer Bewegung, einer scharfen Finsternis, die darauf wartete, zuzuschlagen und seine Adern zu öffnen. Die Königin. In vollem Lauf rannte er die Treppe hoch. Vargus hatte irgendje592 manden in die Burg gelassen, jemanden, der auf Mord aus war. Er betete zu den Heiligen, dass noch Zeit blieb, ihn aufzuhalten. In dem Wachhaus auf der Mauer waren nur tote Soldaten, dort niedergemacht, wo sie gesessen oder gelegen hatten. Als er den Turm betrat, fand Neil dort noch mehr Tote. Das Blut, das den Boden bedeckte, war noch warm. Er kam an Elsenys Zimmer vorbei und sah, dass die Tür offen stand. »Elseny?«, zischte er. Er konnte sie im Bett liegen sehen. Einen Moment lang hielt er inne - seine Pflicht war zuallererst die Sicherheit der Königin -, entschloss sich jedoch, sie zu wecken und sie dicht bei sich zu halten. Doch Elseny würde nicht mehr erwachen. Das Bettzeug unter ihrem Kinn war dunkel, und ein zweiter Mund klaffte in ihrem zierlichen weißen Hals. Ihre Augen waren Steine, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Verwirrung. Fastia! Panik durchzuckte Neil. Fastias Gemach lag auf der anderen Seite des Turms, in der entgegengesetzten Richtung von den Räumen der Königin. Nur einen Augenblick zögerte er, dann setzte er grimmig seinen Weg zu den Gemächern der Königin fort. Im Vorzimmer hatte ein Blutbad stattgefunden. Zwei Männer und ein Sefry lagen regungslos am Boden. Die Innentür war fest verschlossen. Er ging darauf zu, doch etwas Scharfes bohrte sich direkt an der Schädelbasis in seine Haut, und er erstarrte. »Rührt Euch nicht«, krächzte Errens Stimme. »Ich kann Euch töten, noch ehe Ihr Atem holen könnt, lange, bevor Ihr Euch umdrehen könnt.« »Lady Erren, ich bin's, Neil.« »Ich habe auch Vargus Farre gesehen«, entgegnete Erren. »Nur war er nicht Vargus Farre. Beweist es. Sagt mir etwas, das nur Sir Neil wissen kann.« »Die Königin ist wohlauf?« »Tut, was ich sage.« 593 Neil biss sich auf die Lippe. »Ihr wusstest, dass ich mit Fastia zusammen gewesen war«, sagte er. »In jener Nacht in Glenchest. Ihr habt gesagt, ich soll mich nicht in sie verlieben.« Die Assassine schwieg einen Moment. »Nun gut«, sagte sie. »Dreht Euch um.«
Er tat wie geheißen, und sie bewegte sich so schnell, dass er sie fast nicht sah. Ihre Hand traf ihn hart ins Gesicht. »Wo wart Ihr? Verdammt sollt Ihr sein, wo wart Ihr?« »Ich habe Männer über die Ebene kommen sehen. Ich habe versucht, Alarm zu schlagen, aber das Tor war schon offen. Sir Vargus hatte es geöffnet. Und dann hat er irgendetwas mit mir gemacht, mich behext. Mir war schlecht, und dann bin ich ohnmächtig geworden, ich weiß nicht, wie lange. Ist die Königin ...« »Sie ist drinnen und wohlauf.« »Den Heiligen sei Dank.« Er senkte die Stimme. »Lady Erren, Elseny ist tot. Fastia ist vielleicht ebenfalls in Gefahr.« »Elseny?« Kummer verzerrte Errens Gesicht, doch dann wurden ihre Augen schmal, und ihre Züge waren wieder wie aus Marmor gemeißelt. »Ihr bleibt hier, Sir Neil«, zischte sie. »Ihr seid Muriele verpflichtet, und nur Muriele allein.« »Dann geht Ihr, Lady Erren«, drängte Neil. »Bringt Fastia hierher, wo wir sie beschützen können. Und Charles. Sie sind alle in Gefahr.« Erren schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe nicht die Kraft.« »Wie meint Ihr das?« »Ich bin verwundet, Sir Neil. Ich werde diese Nacht nicht überleben. Vielleicht nicht einmal diese Stunde.« Daraufhin trat er zurück und bemerkte, wie seltsam sie an der Wand lehnte. Es war zu dunkel, um genau zu sehen, wo sie verletzt war, doch er konnte das Blut riechen. »So schlimm kann es nicht sein«, sagte er. »Ich kenne den Tod, Sir Neil. Er ist für mich wie eine Mutter. Vertraut meinen Worten und verschwendet keine Zeit mit Trauer - um mich, um Elseny - und mit Sorge um Fastia. Behaltet einen klaren 594 Kopf und beantwortet meine Fragen. Drei habe ich getötet. Wie viele sind es insgesamt?« »Ich weiß es nicht«, gestand Neil. »Als die Übelkeit mich übermannt hat, war ich nicht bei Sinnen. Aber sie haben mir gesagt, ich solle die Königin töten.« Erren runzelte die Stirn. »Sie haben Euch für einen Wechselbalg gehalten, wie Vargus. Aber Ihr wart keiner. Irgendwie ist der Zauber gestört worden.« »Das verstehe ich nicht.« »Finsterste Nekromantie«, flüsterte Erren. »Ein Mann wird getötet, und seine verhexte Seele wird ausgeschickt, den Körper eines anderen zu übernehmen. Die Seele, die sich bereits darin befindet, wird ihm entrissen. Ihr solltet eigentlich nicht am Leben sein, Sir Neil, trotzdem seid Ihr es. Doch das könnte für uns von Vorteil sein. Wenn Ihr vorgebt zu sein, wofür sie Euch halten, verschafft uns das vielleicht mehr Spielraum, um zuzuschlagen.« »Ja, Lady« »Ihr glaubt, die Wachen und Diener sind tot?« »Ja, Lady.« »Dann müsst Ihr die Königin in die Mannschaftsquartiere bringen«, entschied Erren. »Sie können nicht alle Soldaten dort getötet haben. Es sind viel zu viele.« Ein leises Geräusch war vom Flur her zu vernehmen. »Psst.« Erren trat neben die Tür. Neil sah zwei helle Gestalten auf sich zukommen und fasste Krähe fester. »Bist du's, Ashern?« Neil glaubte, sich vom Hof her an diesen Namen zu erinnern. »Ja.« »Hast du es getan? Die Königin ist tot?« Sie waren jetzt näher, und Neil konnte erkennen, dass beide Sefry waren. Der Sprecher trug eine Augenklappe. »Ja, es ist getan.« »Nun, dann lass es uns sehen. Wir sollten nicht verweilen.« »Ihr traut meinem Wort nicht?« Sie waren fast nahe genug, doch 595 der Sefry mit der Augenklappe zögerte, just als Neil zuschlug. Beide sprangen zurück, doch der, der gesprochen hatte, war schneller, sodass Krähe den anderen an der Schulter traf und ihm den Brustkorb bis in die Lunge hinein aufriss. Etwa Hartes traf Neils Kettenhemd, unmittelbar über dem Herzen. Der einäugige Sefry rannte rückwärts, seine Hand holte aus ... Neil begriff und warf sich zur Seite, als das zweite Wurfmesser an seinem Kopf vorbeiflog und gegen die Mauer prallte. Als er sich wieder gefangen hatte, war der Sefry verschwunden. »Das ist das Ende Eures Vorteils«, sagte Erren. »Jetzt müsst Ihr gehen, und zwar schnell, ehe er mit mehr Männern zurückkommt.« »Vielleicht hat er keine Männer mehr.« »Der Wechselbalg Vargus ist noch am Leben. Damit sind es mindestens zwei, aber wir müssen davon ausgehen, dass es mehr sind.« Sie klopfte an die Tür der Königin, drei leichte Schläge, eine Pause, dann zwei lautere. Neil hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit nach innen. Dahinter sah er die Augen der
Königin. »Sir Neil ist hier«, sagte Erren. »Er bleibt bei dir.« »Erren, du bist verletzt«, stellte die Königin fest. »Komm herein.« Erren lächelte flüchtig. »Wir haben noch mehr Besucher, die ich in Empfang nehmen muss. Sir Neil wird dich zu den Mannschaftsquartieren bringen. Dort bist du in Sicherheit.« »Meine Töchter -« »Deine Töchter sind bereits in Sicherheit«, erwiderte Erren, und Neil fühlte, wie ihre Hand warnend seinen Rücken berührte. »Jetzt musst du mit Sir Neil gehen.« »Ich verlasse dich nicht.« »Doch«, entgegnete Erren schlicht. »Ich komme ins Mannschaftsquartier nach.« Ein Geräusch ertönte dicht am Ende des Flurs, und Erren wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um einen der drei Pfeile aufzuhalten, die durch die Tür geflogen kamen. Er bohrte sich in ihre Niere. Die beiden anderen trafen die Wand neben Neil. 596 »Erren!«, schrie die Königin auf. »Sir Neil«, ermahnte Erren ihn mit einer Stimme, die kalter, absoluter Befehl war. Innerhalb eines Augenblicks war Neil durch die Tür geschlüpft und drängte die Königin zur Seite. Er schlug die Tür hinter sich zu, gerade als mehrere weitere Pfeile sich mit dumpfen Schlägen von außen hineinbohrten. Rasch schob er den Riegel vor. »Nicht aufmachen«, wies er die Königin an. »Erren -« »Erren ist tot«, sagte Neil. »Sie ist gestorben, damit Ihr am Leben bleibt. Brecht ihr nicht die Treue.« Daraufhin veränderte sich das Gesicht der Königin. Verwirrung und Schmerz verschwanden, und königliche Entschlossenheit trat an ihre Stelle. »Wohlan«, sagte sie. »Aber wer immer dies getan hat, wird Grund haben, es zu bereuen. Versprecht mir das.« Neil dachte an Elseny, tot in ihrem Bett, all ihr Lachen und ihre drolligen Launen in die Kissen verströmt. Er dachte an Fastia und hegte die unwahrscheinliche Hoffnung, dass sie noch lebte. »Sie werden es bereuen«, sagte er. »Aber wir müssen diese Nacht überleben.« Er ging zum Fenster und schob dabei Krähe in die Scheide. Selbstverständlich hatte er das Gemach am Vorabend untersucht, und auch ohne Mondlicht wusste er, dass die Turmmauer ungefähr fünf Ellen tiefer an die Mauer des inneren Burgfrieds stieß, wo er vorhin gestanden und nach Geistern Ausschau gehalten hatte. Es war niemand zu sehen. Dann kehrte er zum Bett zurück und begann, die Laken zusammenzuknoten. Ein Ende machte er am Bettpfosten fest. Die Tür erbebte unter wiederholten Schlägen. »Macht das hier fertig«, wies er die Königin an. »Bindet die Laken fest aneinander. Wenn Ihr noch zwei mehr daran geknotet habt, seilt Euch ab. Wartet nicht auf mich.« Die Königin nickte und machte sich an die Arbeit. Inzwischen schob Neil eine schwere Truhe vor die Tür, um sie zu verstärken. 597 Er war nicht schnell genug. Der Riegel schnappte plötzlich auf wie von unsichtbaren Fingern geschoben. Neil sprang vor, zog Krähe, riss die Tür auf und schlug zu. Das bleiche Gesicht eines Sefry starrte ihn verdutzt an, als Krähe ihm Schlüsselbein, Herz und Brustbein spaltete. Neil ließ den Übeltäter nicht hinfallen, sondern riss ihn mit der freien Hand an den Haaren hoch und benutzte ihn als Schild gegen die unvermeidlichen Pfeile, die aus der Finsternis geflogen kamen. Dann stieß er den Leichnam weg, schlug die Tür wieder zu und schob den Riegel nachdrücklich an seinen Platz zurück. Ein Blick nach hinten zeigte ihm, dass die Königin ihren Abstieg bereits begonnen hatte. Er trat ans Fenster und beobachtete sie, bis sie die Pflastersteine des Wehrgangs erreicht hatte. Er wollte ihr gerade folgen, als die Tür nach innen aufflog. Neil durchschnitt die Laken dicht hinter dem Bettpfosten, sprang aufs Fenstersims und ließ sich fallen, sodass er nur noch an den Fingerspitzen hing, als zwei Pfeile über ihn hinwegsurrten und ein dritter von seiner Kettenhaube abglitt. Dann ließ er los. Auch in Halbrüstung reichte ein Fall aus dieser Höhe, um Knochen brechen zu lassen. Er landete auf dem Pflaster und knickte in den Knien ein. Die Luft wurde ihm aus der Lunge gepresst, und Glimmerpunkte tanzten vor seinen Augen. »Sir Neil.« Die Königin war da. Am Horizont erhob sich ein schwaches purpurfarbenes Leuchten. Einen Moment lang erkannte Neil nicht, dass es der Mond war. »Weg vom Fenster«, keuchte er und streckte den Arm zu ihr hinauf. Sie ergriff seine Hand, und sie liefen geduckt an der runden Turmmauer entlang, fort von den scharfen Pfeilen, die sie vielleicht von oben wittern mochten. »Hier entlang«, sagte Neil. Sie eilten den Wehrgang entlang auf die Treppe zu, die zum Hof hinunterführte, wobei sie oft nach hinten schauten. Neil konnte mindestens eine schlanke Gestalt ausmachen, die im Mondlicht aus dem Turmgemach sprang. Er hoffte, dass es keiner der Bogenschützen war.
598 Doch sie erreichten die Treppe ohne Zwischenfälle. Wenn sie erst unten waren, brauchten sie nur noch den Hof zu überqueren und das Tor zu öffnen, das durch die alte Mauer und über den Kanal zu den Mannschaftsquartieren führte. Das letzte Mal, als Neil in den Hof geschaut hatte, war er verlassen gewesen, und er hoffte, dass es noch immer so war. Sie hatten jedoch erst einen Schritt hinunter getan, als sich die Königin plötzlich von ihm losriss und die Treppe wieder hinaufstrebte. »Euer Majestät -«, begann er. »Fastia!«, schrie die Königin. Neil sah Fastia vielleicht zwanzig Ellen weit entfernt um die Ecke des Wehrgangs kommen. Sie trug noch immer dasselbe blaue Kleid, in dem er sie am Abend gesehen hatte. Beim Klang ihres Namens blickte sie auf. »Mutter? Sir Neil?« »Fastia. Komm zu uns. Schnell, du bist in Gefahr.« Sie wollte zu ihrer Tochter. Neil fluchte und folgte ihr, wobei er die drei Gestalten bemerkte, die sich rasch aus der Richtung näherten, aus der sie gekommen waren. Eine vierte tauchte lautlos aus den Schatten hinter Fastia auf. »Fastia!«, schrie er. »Hinter Euch! Lauft zu uns!« Einen Augenblick später überholte er die Königin, sein Herz brüllte auf, während er Fastias Gesicht näher kommen sah, auf dem sich Verwirrung mit Furcht mischte, als sie sich umdrehte, um zu sehen, weswegen er so schrie. »Bleibt weg von ihr!«, donnerte Neil. »Bei allen Heiligen, bleibt weg von ihr!« Doch die schwarz gekleidete Gestalt war da, bewegte sich mit furchtbarer Schnelligkeit. Ein Splitter aus Mondlicht in ihrer Hand hob sich und grub sich in Fastias Brust, zwei Herzschläge, bevor Neil sie erreichte. Der Mann tänzelte zurück und zog ein Schwert, als Neil aufheulte und sich auf ihn warf. Mit beiden Händen ließ er Krähe herabsausen. Der Mann parierte und schlug zurück, doch Neil ließ den Hieb an seinem Kettenhemd abgleiten und krachte gegen ihn, wobei 599 er ihm mit einem heiseren Schrei den Ellenbogen gegen das Kinn rammte. Der Mann ging zu Boden, sprang aber bereits wieder auf, als Krähe ihm den Schädel spaltete. Die Königin kniete neben ihrer Tochter, und die Männer, die sich vom Turm her näherten, hatten sie fast erreicht. Sie würden es nie zur Treppe und hinunter schaffen, ehe sie sich auf sie stürzten. Fastia blickte zu ihm auf, blinzelte und schluckte. Es gab nur einen Ausweg, und Neil traf seine Entscheidung. »Über die Mauer, in den Kanal; schwimmt zur Brücke«, befahl er der Königin. »Ich nehme Fastia.« »Ja«, sagte die Königin. Sie zögerte keinen Augenblick, sondern sprang sofort. Neil hob Fastia auf seine Arme. »Ich liebe dich«, keuchte sie. »Ich dich auch«, erwiderte er und sprang. Die Mauer war sieben Ellen hoch, und das Wasser fühlte sich an wie Stein, als er auf der Oberfläche aufschlug. Sein Kettenpanzer zog ihn auf den Grund hinunter, und er musste Fastia loslassen, um Haube und Halsberge abzustreifen. Einen grauenvollen Moment lang konnte er sie nicht wiederfinden, doch dann ertastete er ihren Arm, bekam sie zu fassen und zog sie an die Oberfläche. Er sah sich um und schwamm auf die Brücke zu, die zu den Mannschaftsräumen führte. Sie schien unmöglich weit entfernt. Vor ihm schwamm bereits die Königin. Fastias Augen waren geschlossen, doch ihr Atem pfiff immer noch dicht an seinem Ohr. Lautes Platschen hinter ihm, zweimal. Neil fluchte und schwamm schneller. Er erklomm die Brücke fast gleichzeitig mit der Königin. Wieder hob er Fastia hoch, und sie rannten auf das Tor der Mannschaftsquartiere zu. Beide waren sich nur allzu bewusst, dass das Tor zum äußeren Hof - und die, die es jetzt wahrscheinlich besetzt hatten - hinter ihnen war. Das Tor vor ihnen stand ebenfalls offen, und die Leichen von vielleicht zehn Soldaten lagen verkrümmt unter dem Torbogen. 600 In der Dunkelheit dahinter knurrte etwas, und Neil erblickte glühende Augen und einen Schatten, der so groß war wie ein Pferd, dessen Gestalt jedoch keinem Pferd glich, das Neil jemals gesehen hatte. 50. Kapitel Eine Fechtlektion Cazio erwachte und fragte sich, wo er war; es verdross ihn, dass er eingenickt war. Ohne mehr als seine Augen zu bewegen, nahm er still seine Umgebung in Augenschein. Er lag in einem kleinen Olivenhain, durch dessen Aste die Sterne freundlich von einem wolkenlosen Himmel herabblinzelten. Nicht weit entfernt ragte der Schatten des Konvents der heiligen Cer empor. Er setzte sich halb auf, rieb sich die Augen, und seine Hand wanderte instinktiv zu seiner Hüfte, um zu sehen, ob Caspator noch da war. Beruhigt fühlte er das Heft der Waffe. Was hatte ihn geweckt? Anscheinend ein vertrautes Geräusch. Oder war es nur ein Traum gewesen?
Die Erinnerung kam langsam, doch es gab nicht viel zu erinnern. Als die Mädchen Orchaevias Fest verlassen hatten, hatte er einen Spaziergang durch die Felder gemacht. Er hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet und war der Ansicht, dass es seiner Geschicklichkeit mit dem Degen nur förderlich sein konnte, wenn er lernte, sich im Dunkeln zu bewegen und das Ungesehene zu spüren. Warum und wie seine Schritte ihn direkt zum Konvent geführt hatten, wusste er nicht zu sagen. Er hatte einfach aufgeblickt, und da hatte er vor ihm gelegen. Einmal dort, hatte er überlegt, was er tun sollte; es war zu früh und hätte einen viel zu übereifrigen Eindruck gemacht, wenn er versucht hätte, Anne und Austra auf sich aufmerksam zu machen. Also hatte er lediglich eine Weile zu ihrem Turm hinauf 601 gestarrt und schließlich beschlossen, dass der beste Jäger derjenige war, der die Gewohnheiten seiner Beute kannte. Deshalb würde er weiter beobachten und vielleicht einen Blick auf sie erhaschen. Und es war schließlich eine schöne Nacht - nicht die schlechteste, um sie draußen unter den Sternen zu verbringen. Zweifellos lief z'Acatto betrunken auf der Triva herum und war ganz versessen darauf, Streit anzufangen. Und wenn Orchaevia ihn zu fassen bekam, würde er über Erfolg oder Misserfolg des Treffens mit Anne berichten müssen. Dieses Gespräch zu vermeiden war einer der Gründe gewesen, weshalb er zu seiner nächtlichen Wanderung aufgebrochen war. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf hatte er den Olivenhain entdeckt und abgewartet. Schließlich war im Turm ein Licht angegangen, und er hatte die Schatten der beiden Mädchen am Fenster beobachtet - ohne Zweifel sprachen sie über ihn. Dann war das Licht wieder ausgegangen, enttäuschend rasch, und er hatte für einen Moment die Augen geschlossen ... Und offenbar geschlafen. Er beglückwünschte sich dafür, noch einmal knapp davongekommen zu sein. Wie albern hätte es ausgesehen, wenn er bis zum Morgen geschlafen hätte. Vielleicht hätte Anne ihn gesehen und gedacht, dass genau das aus ihm geworden war, was Orchaevia behauptete: ein verliebter Tor. Er, Cazio Pachiomadio da Chiovattio, verliebt. Lächerlich. Wieder warf er einen Blick zum Turm hinüber. Kein Licht zeigte sich im Fenster, aber wieso sollte dort auch Licht sein? Mittlerweile musste es schon auf den Morgen zugehen. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war erneut zu vernehmen; eine Glocke läutete, und mit jähem Interesse begriff Cazio, dass im Konvent irgendetwas vor sich ging. Überall auf den Wehrgängen sah er Fackeln, die sich mit einer Geschwindigkeit bewegten, die auf verzweifelte Eile schließen ließ. Außerdem glaubte er, Pferde zu hören, was merkwürdig war. Und schwach, ganz schwach, Geschrei und etwas, das sich wie ein gelegentliches Klirren von Stahl anhörte. 602 Er richtete sich weiter auf. Nein, bei Diuvo, er hörte tatsächlich Stahl. Das war kein Geräusch, das er so leicht verwechseln würde. Bei dieser Erkenntnis wechselte sein Geisteszustand schlagartig von benebelt zu hellwach, und er sprang so hastig auf die Füße, dass er sich den Kopf an einem tief hängenden Ast stieß. Fluchend tastete er nach seinem Hut und setzte ihn auf, griff nach dem Mantel, den er als Schlafdecke benutzt hatte, und legte ihn um. Wer kämpfte dort im Konvent? Hatten Banditen das Kloster angegriffen? Wahnsinnige vagabundierende Frauenschänder aus den Zitronenhügeln im Süden? Er musste es wissen. Rasch machte er sich auf den Weg und hielt sich links, wo er das Tor vermutete. Wenn es nichts weiter war - irgendwelche eigentümlichen Exerzitien, um das Fiussanal zu feiern -, dann konnten sie ihn im schlimmsten Fall nur wieder fortschicken. Er hatte nicht mehr als fünfzig Pereci zurückgelegt, als er rasendes Hufgetrappel durch die Nacht dröhnen hörte. Lauschend blieb er stehen, legte die Hand ans Ohr und drehte sich hierhin und dorthin, bis er sicher war, dass die Geräusche genau aus der Richtung kamen, in die er unterwegs war - und dass sie lauter wurden. Er hielt Ausschau nach Fackeln - wer würde nachts ohne Fackeln reiten? -, sah jedoch keine. Eine dünne Mondsichel war halb aufgegangen; sie hatte die sonderbarste Farbe, die er je gesehen hatte, fast violett. Ihm war, als habe er einmal gehört, dass das etwas zu bedeuten hätte, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wo. War es ein Gedicht? Die Schatten von zwei, vielleicht auch drei Pferden erschienen vor den etwas helleren Mauern des Konvents. Sie liefen in vollem Galopp, und in die Hufschläge mischte sich viel metallisches Klappern, woraus er schloss, dass die Reiter, wer immer sie auch waren, Rüstungen trugen. Sie kamen dicht an ihm vorbei, hielten jedoch nicht an. Wahnsinnige vagabundierende Frauenschänder aus den gelben Hügeln würden keine Rüstungen tragen. Nur den Rittern des Medisso war das gestattet. Oder Rittern einer feindlichen Armee, die sich nicht darum scherten, was der Medisso gestattete. 603 Neugieriger denn je änderte Cazio die Richtung und folgte den Reitern in gemessenem Laufschritt. Caspator schlug im Takt gegen seinen Schenkel. »Ich wollte es schon immer mal mit einem von diesen prahlerischen Rittern mit ihren unbeholfenen Schwertern
aufnehmen, Caspator«, vertraute er seinem Degen an. »Vielleicht bekomme ich heute Nacht Gelegenheit dazu.« Es war leicht, den Reitern zu folgen, denn sie gerieten bald in das dichtere Unterholz, das den Hügel dort umgab, wo er Anne zum ersten Mal begegnet war. Hier mussten sie ihre Rösser zügeln, was Cazio an dem häufigen Knacken und Brechen von Ästen hörte. Hin und wieder erhaschte er Laute in einer fremden Sprache. Ein neuer Verdacht keimte in ihm auf, ein aufregender Verdacht. Vielleicht war ja Annes Liebster tatsächlich gekommen, um sie zu holen. Cazio wusste, dass das Mädchen irgendeinen geheimen Weg kennen musste, auf dem sie den Konvent betreten und verlassen konnte, und zwar in der Nähe des Teichs, wo er sie erblickt hatte und das war der geeignetste Ort für ein Stelldichein. Wenn dem so war, könnte das hier durchaus unterhaltsam werden. Er hielt inne; jetzt erst bemerkte er, dass die Pferde angehalten hatten und dass er fast in sie hineingelaufen wäre. Er konnte sie - zwei von ihnen - undeutlich durch die Bäume hindurch erkennen. Das purpurne Mondlicht glänzte auf polierten Panzern. » Unnut«, sagte einer der Männer in einem klaren Bariton. Er klang gelangweilt. »Sa taujaza ni waiht«, fügte er hinzu. »Ney«, erwiderte der andere in derselben hässlichen, unverständlichen Sprache. »Wakath! Jainar, inna baymes.« Er deutete mit dem Finger, als er das sagte, und binnen eines Augenblicks hatten sie ihre Pferde wieder in Bewegung gesetzt, doch diesmal ritten sie in verschiedene Richtungen. Außerdem sah Cazio, worauf der Mann gezeigt hatte - zwei zierliche Gestalten in Ordensroben, die im Mondschein eine Lichtung überquerten. Die Ritter versuchten, ihre Beute einzukreisen. Mit Pferden und Rüstungen hatten sie es zwischen den Bäumen schwerer als die Ver604 folgten zu Fuß, doch wenn die Ritter wussten, was sie taten, war es nur eine Frage der Zeit. Cazio hörte eine der Gestalten nach Luft schnappen, ein unverkennbar weiblicher Laut. Er zog Caspator und rannte los, schoss auf geraderem Weg durch das Unterholz als die Reiter. In einem Aufblitzen des Mondlichts war er sich sicher, Annes Gesicht zu erblicken. Einer der berittenen Verfolger brach direkt vor ihm zwischen den Bäumen hervor. Der Geruch nach Pferdeschweiß füllte die Lunge des Degenkämpfers, und einen Moment lang ließ die schiere Größe des Tieres eine winzige Saite der Furcht in seinem Innern erklingen. Empört, dass ein solches Gefühl in ihm ausgelöst worden war - und wütend darüber, dass der Ritter ihn nicht einmal bemerkt zu haben schien -, sprang Cazio hoch und schmetterte dem Mann Caspators Heft mit beiden Händen gegen die Brust. Es fühlte sich an, als ramme er in vollem Lauf eine Mauer, doch der Ritter schrie auf und kippte rücklings vom Pferd, wobei er mit einem Fuß im Steigbügel hängen blieb. Sein Helm prallte gegen einen Stein, und das Pferd fiel in Schritt. Der Mann tastete unsicher um sich. Cazio griff nach unten und riss ihm den Helm weg. Langes, milchfarbenes Haar kam darunter zum Vorschein. Das Gesicht sah sehr jung aus. »Um Vergebung, Casnar«, sagte Cazio. »Wenn Ihr es wünscht, können wir uns duellieren, sobald ich mit Eurem Freund fertig bin. Bis dahin muss ich jedoch für ehrenhafte Bedingungen sorgen, anstatt sie selbst zu gewähren.« Damit versetzte er dem Mann einen Schlag mit dem Degenknauf, der ihn das Bewusstsein verlieren ließ. Nunmehr recht zufrieden mit sich, rannte Cazio den Mädchen nach. Er holte sie ein, als sie am Rande der Lichtung zögerten und wahrscheinlich überlegten, ob sie Deckung suchen oder über das offene Gelände laufen sollten. »Anne! Austra!«, zischte er. Die beiden fuhren herum, und er sah, dass sie es tatsächlich waren. 605 »Cazio?«, fragte Anne. Ihre Stimme klang hoffnungsvoll. Dann wurde ihr Tonfall schärfer. »Bleibt weg von mir, Ihr - was habt Ihr mit all dem zu schaffen?« Das traf ihn völlig unvorbereitet. »Was? Also, das ist ja -« Doch in diesem Moment sprengte der andere Ritter unter den Bäumen hervor. Cazio warf Anne einen verächtlichen Blick zu, während er sich dem Berittenen in den Weg stellte. Der Mann kam zwischen zwei Stämmen hindurch; er konnte also nicht an Cazio vorbei, wenn er Anne und Austra erreichen wollte, oder er musste zurück und es aus einer anderen Richtung versuchen. »Werdet Ihr mit mir kämpfen, Casnar?«, schrie Cazio dem Ritter entgegen. »Machen sie Männer dort, wo Ihr herkommt, oder nur feige Frauenschänder?« Das Visier des Ritters war geöffnet, doch Cazio konnte seine Züge nicht erkennen. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid«, erwiderte der Ritter mit einem Akzent, der sich anhörte, als versuche er gleichzeitig zu sprechen und etwas hinunterzuschlucken, »aber ich empfehle Euch, Euch nicht einzumischen.« »Und ich empfehle Euch abzusteigen, Sir, sonst spieße ich Euer edles Ross auf, etwas, das ich nur ungern täte. Euren Schildkrötenpanzer mögt Ihr auch weiterhin tragen; ich will Euch nicht benachteiligen, indem ich von Euch verlange, ehrenhaft zu kämpfen.« »Das ist kein Spiel«, grollte der Ritter. »Vergeudet meine Zeit nicht, und ich lasse Euch am Leben.« »Eine Lektion in der Kunst der Dessrata wäre keine Zeitvergeudung für Euch«, erwiderte Cazio. »Zumindest hättet Ihr etwas, worüber Ihr nachdenken und Euch die langen Stunden in der Hölle vertreiben könnt - oder
zusammengekrümmt auf dem Ruhebett Eurer Mutter, je nachdem, wie gnädig ich gestimmt bin.« Der Ritter sagte kein weiteres Wort, sondern stieg ab, löste einen wie ein gewölbtes Dreieck geformten Schild von der Flanke seines Pferdes und zog mit der freien Hand ein unbeschreiblich plump wirkendes Breitschwert. Dann schloss er sein Visier und ging auf Cazio 606 zu. Cazio grinste und nahm breitbeinig die Ausgangsstellung der Dessrata ein. Er ließ seine Klinge durch die Luft zischen und federte ein wenig in den Knien. Der Ritter salutierte nicht, ging auch nicht in Positur oder Ähnliches. Als er auf zwei Pereci herangekommen war, ging er einfach auf seinen Gegner los; er hielt den Schild dicht vor dem Körper und das Schwert schlagbereit hinter der Schulter. Das überraschte Cazio, doch im letzten Moment vollführte er ein schnelles ancio, schwang seinen Körper zur Seite und ließ die Degenspitze stehen, damit der Ritter hineinlief. Caspator glitt über den Schild und prallte gegen den oberen Teil des Brustharnischs, wo die stählerne Brünne die Spitze aufhielt. Ungerührt schwang der Ritter den Schild in einem Rückhandschlag, wodurch der Degen hochgerissen wurde und Cazios Unterarm ihm mit solcher Wucht gegen die eigene Brust krachte, dass es ihn vom Boden hob. Er landete auf den Füßen, hätte jedoch beinahe das Gleichgewicht verloren und stolperte rückwärts, als der Ritter ihn rasch überholte, das Schwert nach wie vor schlagbereit. Cazio fing sich gerade noch rechtzeitig, um den Abwärtsschlag zu parieren, der so hart war, dass er beinahe Caspator verloren hätte und sich sein bereits arg mitgenommener Arm nach dem Aufprall halb taub anfühlte. Ohne nachzudenken, stach er nach dem Schenkel des anderen, doch erneut war alles, was dabei herauskam, das Geräusch von Stahl auf Stahl. Aber es verschaffte ihm Zeit, um sich wieder zu sammeln, und er tänzelte zurück und war außer Reichweite, als der Ritter sein Schwert erneut hob. Etwas, das z'Acatto ihm einmal gesagt hatte, fiel Cazio wieder ein, etwas, das er damals nicht besonders beachtet hatte. »Ritter in Rüstungen fechten nicht, Junge«, hatte der alte Mann gesagt, nachdem er einen Schluck blassgelben abrinianischen Wein getrunken hatte. »Nicht?«, hatte Cazio gleichgültig gefragt und dabei Caspators lange Klinge geschliffen. »Nein. Ihre Schwerter wiegen acht Coinix oder mehr. Sie schlagen 607 damit einfach so lange aufeinander ein, bis sie herausgefunden haben, wer die bessere Rüstung hat.« »Ah«, hatte Cazio geantwortet, »die sind bestimmt langsam und unbeholfen, denke ich mir.« »Sie brauchen dich nur einmal zu treffen«, hatte z'Acatto eingewandt. »Mit Rittern duelliert man sich nicht. Man läuft vor ihnen davon, oder man lässt von einer Burgmauer aus etwas sehr Schweres auf sie drauffallen. Fechten tut man nicht mit ihnen.« »Wie du meinst«, hatte Cazio erwidert, doch er war nicht überzeugt gewesen. Jeder Mann mit einem Schwert konnte von einem Meister der Dessrata besiegt werden. Z'Acatto hatte das selbst gesagt, in seinen nüchterneren Momenten. Die Sache war nur, dieser Ritter war bei weitem nicht so langsam und unbeholfen, wie er hätte sein sollen, und er fürchtete sich nicht im Geringsten davor, von Caspator getroffen zu werden. Cazio tänzelte erneut davon und versuchte nachzudenken. Er würde ihn in den Sehschlitz seines Helmes treffen müssen, entschied er, fürwahr eine Herausforderung. Also versuchte er es, täuschte eine Kniebeuge vor, um den Schild nach unten zu locken. Der Gepanzerte senkte auch wirklich den Schild, riss ihn jedoch wieder empor, als Cazio seinen Ausfall machte, und stieß den Degen erneut in die Höhe. Dann kam das gewaltige Hackmesser von einem Schwert hinter dem Schild hervorgesurrt; ein Hieb, der darauf abzielte, Cazio in Hüfthöhe in zwei Teile zu spalten. Das wäre ihm auch geglückt, doch Cazio parierte kühl im prismo, senkte die Spitze seiner Waffe senkrecht zu Boden und hielt das Heft links neben dem Kopf, sodass seine linke Flanke geschützt war. Ein anderer Degen wäre harmlos abgeprallt, nicht jedoch acht oder neun Coinix Breitschwert. Die Klinge drosch Caspator in seine Seite und trieb ihm alle Luft aus der Lunge. Cazio fühlte und hörte Rippen brechen, und dann hatte er wieder keinen Boden mehr unter den Füßen; diesmal landete er schmerzhaft auf dem Rücken. Er griff nach seiner Seite, und seine Hand wurde nass; die Klinge hatte seine Deckung teilweise durchbrochen. Der Schnitt schien nicht tief zu sein, 608 doch die gebrochenen Rippen schmerzten so sehr, dass es ihn beinahe lähmte. Der Ritter ging erneut auf ihn zu, und er glaubte nicht, dass er rechtzeitig auf die Beine kommen würde. Cazio kam der Gedanke, dass er am Ende in Schwierigkeiten stecken könnte. 51. Kapitel Das Lied der Raben Als Muriele dieses Wesen aus Schwarzen Marys und Kindermärchen anstarrte, schienen sich Fieberpfeile in ihre Lunge zu bohren. Einen Moment lang sahen sie alle aus wie Statuen in irgendeiner seltsamen Ruhmeshalle Neil MeqVren mit ihrer sterbenden Tochter in den Armen, das schnabelbewehrte Ungeheuer, sie selbst. Staunen ist etwas Schreckliches, dachte sie. Ihr Verstand schien von ihr wegzutreiben. Dann sah sie, wie Neil nach seinem Schwert greifen wollte.
»Nein!«, schrie sie. »Nicht!« Es fühlte sich an, als schreie sie im Traum, ein Laut, den niemand hören konnte. Doch der junge Ritter zögerte. »Ich bin Eure Königin«, rief sie. Das Entsetzen war jetzt eine winzige Stimme in ihrem Innern, wurde vom Wahnsinn fast übertönt. »Ich befehle es Euch.« Das schien zu dem jungen Mann durchzudringen. Er machte auf dem Absatz kehrt und folgte Muriele in stolperndem Laufschritt zurück zum inneren Burgfried, den sie gerade verlassen hatten, Fastia immer noch in den Armen. Doch das Tor war geschlossen und von der anderen Seite her verriegelt. Dort gab es für sie kein Entkommen. Muriele warf einen Blick zurück. Das Ungeheuer kam leise auf sie zugetappt, ohne besondere Eile. Warum sollte es sich auch beeilen? 609 In einer plötzlichen Erleuchtung begriff sie, dass die ganze Welt -Crothenien, ihre Kinder, ihr Gemahl, sie selbst - am Rande eines riesigen, unsichtbaren Abgrunds existierte. Sie waren auf den oberen Hängen dieses Abgrunds gewandelt und hatten nie gemerkt, dass er überhaupt da war. Jetzt glitten sie alle hinein, und die Bestie hinter ihr lauerte an seinem Grund und wartete auf sie alle. Wartete auf sie. Fast ebenso gemächlich wie ihr Verfolger blickte sie sich um und sah, dass nur noch ein Weg offen blieb. »Der Horz!«, sagte sie und deutete. Der Horz bedeckte eine Fläche zwischen dem Burgfried und den Mannschaftsquartieren. Der Eingang war nur ungefähr zehn Ellen weit entfernt. Muriele eilte darauf zu, und der Gryffin folgte ihr und beschleunigte seine Schritte ein wenig. Sie spürte seine Augen auf ihrem Rücken, stellte sich seinen Atem in ihrem Nacken vor und erkannte an ihrem neuerlichen Schrecken, dass sie noch nicht vollkommen wahnsinnig war. Sie rannte auf den gewölbten Torbogen des geheiligten Gartens zu. Vielleicht würden die Heiligen sie beschützen. Als sie den Horz betraten, schien Sir Neil wieder zur Vernunft zu kommen. Rasch, aber sanft legte er Fastia auf ein Bett aus Moos neben dem Stein in der Mitte des Gartens, dann zog er sein Schwert und drehte sich schnell um. Der Eingang zum Horz war nicht durch ein Tor gesichert, er stand jedem offen. »Versteckt Euch, Majestät«, sagte er. »Sucht Euch das dichteste Gebüsch des Gartens und versteckt Euch dort.« Doch Muriele starrte an ihm vorbei. Der Gryffin, der direkt hinter ihnen gewesen war, war nirgends zu sehen. Dann krümmte sie sich zusammen; die Muskeln ihrer Beine verkrampften sich, und Fieber brannte in ihren Adern. Sie brach neben ihrer Tochter zusammen und streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu berühren, sie zu trösten. Doch Fastias Haut war kühl, und ihr Herz schlug nicht mehr. Unfähig, irgendetwas anderes zu tun, lag Muriele da, weinte und wartete auf den Tod. 610 Neil taumelte gegen den Torpfosten; alles verschwamm vor seinen Augen. Wo war das Ungeheuer hin? Es war nur wenige Schritte hinter ihnen gewesen. Jetzt war es auf ebenso mysteriöse Weise verschwunden, wie es erschienen war. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht begann er sich zu fragen, ob er den Verstand verloren hatte. Seine Beine zitterten, und ein heißes, krankes Gefühl waberte in seinem Innern. »Ich habe versagt, Vater«, flüsterte er. »Ich hätte auf die Warnungen hören sollen. Ich habe niemals hierher gehört.« In Liery hatte er gewusst, wer er war. In Liery hatte er niemals versagt. Hier hatte er einen Fehltritt nach dem anderen begangen, einer schlimmer als der andere. Seine Gefühle für Fastia - Gefühle, die kein wahrer Ritter je gehegt hätte - hatten ihm sein Selbstvertrauen genommen. Er war zurückgeschreckt, er hatte gezaudert, und jetzt hatte dieser Mangel an Sicherheit Sir James und Elseny das Leben gekostet. Er hatte die Königin im Stich gelassen, die zu schützen er geschworen hatte, und selbst jetzt wusste ein Teil von ihm, dass er es wieder tun würde, wenn es Fastia retten könnte. Er verdiente den Atem in seiner Lunge nicht. Ein Pfeil klickte gegen Stein, und ihm wurde klar, dass er seine Todfeinde beinahe vergessen hatte. Fluchend suchte er, so gut es ging, Deckung hinter dem Rahmen des Tors und versuchte zu erkennen, wer dort draußen war. Er konnte zwei, vielleicht drei Sefry-Bogenschützen auf der Brücke ausmachen. Ein weiterer war durch das Tor zum inneren Burgfried gekommen und hatte Deckung hinter dem jetzt offenen Torflügel gefunden. Die gepanzerte Gestalt des Mannes, der einst Sir Vargus Farre gewesen war, schritt auf ihn zu. Als er Neil erblickte, brüllte er laut und zog das große Schwert aus der Scheide auf seinem Rücken. Neil, der kaum stehen konnte, raffte grimmig all seine Kräfte zusammen und trat hinter dem Torbogen hervor. »Ihr seid nicht Ashern«, sagte der falsche Ritter, als er näher kam. »Ich weiß nicht, wer Ashern ist«, erwiderte Neil. »Aber glaubt mir eins: Ich bin die Hand des Todes.« 611 »Ihr seid krank vom Blick des Gryffin. Ihr seid erschöpft von Flucht und Schlacht. Legt Eure Waffen nieder und nehmt das Unvermeidliche hin.« Zu Neils Entsetzen klang das verlockend. Seine Waffen niederlegen, sich vom Feind den Kopf abschlagen lassen. Wenigstens würde er dann keine Fehler mehr machen. Wenigstens hätte er dann Frieden. Doch nein. Er würde sterben wie ein Mann, wie wenig das auch bedeuten mochte. »Wenn die See in den
Himmel stürzt, wird das geschehen«, sagte er. »Dieser Tag ist vielleicht gar nicht mehr so fern, wie Ihr glaubt«, erwiderte Farre. Er hob sein Schwert und schlug zu. Neil parierte den Hieb, doch er brachte ihn ins Straucheln. Er antwortete mit einem Schlag, der auf das Schultergelenk seines Gegners zielte, verfehlte es jedoch, und seine Klinge klirrte harmlos gegen Stahl. Wieder schlug Farre zu, und diesmal gelang es Neil, sich zu ducken. Die Klinge zischte vorbei, doch ihm wurde schwindlig, und noch ehe er sich fangen konnte, traf ihn ein Rückhandschlag in den Rücken. Die Glieder seines Kettenhemdes wehrten die Schneide ab, wobei einige zerbarsten, doch sie dämpften die Wucht des Schlages nicht im Geringsten, die ihn auf die Knie sinken ließ. Sir Vargus versetzte ihm einen Tritt unters Kinn, doch es gelang Neil, einen Arm um ein gepanzertes Bein zu schlingen und Krähe aufwärts zu stoßen. Es war kein kräftiger Stoß, und wieder kreischte Krähe enttäuscht auf, als das Schwert über den Stahlpanzer schrammte, den Mann jedoch unversehrt ließ. Das Heft fuhr auf seinen Kopf hinunter, doch Neil drehte sich weg, sodass es stattdessen seine Schulter traf. Schmerz flammte an seinem Schlüsselbein entlang, das, wie er benebelt annahm, wahrscheinlich zerschmettert war. Farre trat erneut zu, und er flog rückwärts in den Horz wie eine Lumpenpuppe. Der Ritter folgte ihm. Die Heiligen, so schien es, kümmerte es nicht, was aus Neil MeqVren wurde. Neil spuckte Blut und kam langsam auf die Beine. Er sah zu, wie der Wechselbalg durch einen roten Nebel des Schmerzes vorwärts 612 schritt. Der Mann schien sehr langsam näher zu kommen, als dauere jeder Lidschlag Tage. In einem seltsamen Aufwallen vernahm Neil erneut das Geräusch des Meeres und schmeckte kaltes Salz auf seinen Lippen. Einen Augenblick lang war er wieder mit seinem Vater am Strand, die Hand des Älteren hielt die seine umklammert. Wir werden verlieren, Fah? Wir werden sterben? Und dann, so klar, als sei es ihm direkt ins Ohr gesprochen worden, hörte er eine Stimme. Du bist ein MeqVren, Junge. Verdammt noch mal, untersteh dich, schon aufzugeben. Neil richtete sich auf und holte tief Luft. Der Atemzug fühlte sich an wie ein brennender Windstoß. Muriele schaffte es, den Kopf zu heben, als sie das Lied hörte. Es begann schwach, kaum mehr als ein Flüstern, doch es war die Sprache ihrer Kindheit. »Mi, Euer meuf, eyoiz 'etiern rem, Crach-toi, frennz, mi viveut-toi dein.« Es war Sir Neil, der vor Vargus Farre stand. »Ich, mein Vater, meine Ahnen allhier, Schreit nur, ihr Raben, bald schwelget ihr.« Er sang, obgleich es unmöglich schien, dass er sich auch nur auf den Beinen halten konnte. Sir Vargus ließ mit beiden Händen einen mächtigen Hieb auf den kleineren Mann niederfahren. Fast gleichgültig parierte Sir Neil die Waffe, und seine Stimme wurde lauter. »An der Küste, auf See - unsere Ehr' wahren wir, Schreit nur, ihr Raben, bald schwelget ihr.« 613 Plötzlich zuckte Sir Neils Schwert vor, völlig im Widerspruch zu seinem Verhalten, und das Scheppern von Metall ertönte. Vargus taumelte unter dem Schlag zurück, doch Sir Neil ließ sogleich einen weiteren folgen, der aus dem Nichts zu kommen schien. Jetzt schrie er. »Mit Schwert und Speer, mit Mast und Spier, Schreit nur, ihr Raben, bald schwelget ihr.« Sir Vargus sammelte seine Kräfte und traf Neil hart in die Seite. Kettenglieder zersprangen, Blut spritzte, doch der junge Ritter schien es nicht zu bemerken. Er sang weiter und schlug einen Takt aus furchtbaren Hieben, die gegen Panzerstahl dröhnten. »Zum Kämpfen und Sterben geboren sind wir, Schreit nur, ihr Raben, bald schwelget ihr.« Neil brüllte jetzt, und Muriele begriff. Die Raserei hatte ihn gepackt. Vargus Farre konnte keinen einzigen Treffer mehr landen. Er stolperte und ging unter dem Ansturm zu Boden, und Neil drosch mit seiner Klinge auf ihn ein wie mit einer Keule, schlug Funken aus seiner Rüstung. Er hackte durch Farres Ellenbogengelenk und zerschmetterte dann dessen Helm. Lange nachdem sich der andere nicht mehr rührte, schlug er immer noch auf den gepanzerten Leichnam ein und schrie den Totengesang seiner skernischen Ahnen heraus. Und als er sich schließlich aufrichtete und seine Augen sich auf sie hefteten, war der Anblick grauenvoller als alles, was sie bisher gesehen hatte. »Die Tore sind offen«, murmelte Stephen, als sie über die Zugbrücken ritten, die nach Cal Azroth führten. »Ich denke, das sehe ich«, brummte Aspar. »Seid einen Augenblick still und horcht.« Stephen nickte und schloss die Augen. Das Einzige, was Aspar hören konnte, waren sein eigener Atem und das angestrengte Keuchen der Pferde. Winna war ein hochwillkommenes Gewicht hinter ihm 614 und gleichzeitig ein Anlass zur Furcht. Er hatte sie wieder. Er durfte sie nicht noch einmal verlieren. Doch Fend war hier. Er konnte ihn riechen. »Ich höre Stahl auf Stahl treffen«, sagte Stephen nach einem Moment. »Und jemanden singen, auf Lierisch, glaube ich. Abgesehen davon ist alles still.« »Fend ist still«, knurrte Aspar. Ein Windstoß wehte von Cal Azroth herüber, und Herbst lag darin. »Ihr beide
bleibt hier und wartet auf mich.« »Wir tun nichts dergleichen«, wehrte Winna ab. »Es wird einen Kampf geben«, sagte Aspar. »Du wirst mich behindern.« »Du brauchst Stephens Ohren und meine Vernunft«, erwiderte Winna ruhig. »Wir haben uns beide schon öfter gegenseitig die Haut gerettet, Aspar White. Nichts weist darauf hin, dass das nicht wieder nötig sein wird.« Aspar suchte gerade nach einer Antwort, als Stephen einen sonderbaren Laut von sich gab. »Was ist?«, fragte Aspar. »Hört Ihr es nicht?« »Nein. Meine Ohren sind nur von der gewöhnlichen Sorte.« »Das Schmettern eines Horns. Es kommt zurück.« »Vielleicht ein anderes Hörn.« »Nein«, widersprach Stephen. »Dasselbe.« »Ein Echo? Das ist doch unsinnig«, entgegnete Aspar. »Nein«, sagte Stephen. »Das ist es nicht. Er kommt. Der Dornenkönig antwortet auf den Ruf, und der Ruf kommt mit ihm zurück.« In Stephens Augen lag Furcht, doch seine Stimme war fest. »Ich glaube, wir sollten uns lieber beeilen, Waldhüter. Hier steht mehr auf dem Spiel als eine Königin.« »Augenblick, wartet mal«, begehrte Aspar auf. »Fend und seine Sefry sind da drin und warten nur darauf, jeden zu ermorden, der durch dieses Tor kommt. Wir gehen überlegt und vorsichtig, oder wir gehen gar nicht.« 615 Stephen nickte, als verstünde er. Im nächsten Moment versetzte er Engel einen harten Tritt, und die Stute stürmte auf das offene Tor zu. »Soll Grim Euch doch fressen und als Sceat wieder loswerden!«, fauchte Aspar. Doch er drückte Unhold die Fersen in die Flanken und folgte dem Mönch. Dicht hinter Stephen preschte er auf einen von Leichen übersäten Hof. Wie er es erwartet hatte, hörte er augenblicklich Bogensehnen surren. Er lenkte Unhold hinter das Tor und sprang vom Pferd. »Steig ab«, befahl er Winna. »Unhold wird dich am besten beschützen. Bleib hier in Deckung.« »Ja«, hauchte Winna. Sie drückte seine Hand. »Pass für mich auf meine Liebe auf.« »Ja. Das tue ich.« Er zog seinen Bogen heraus und huschte hinter dem Tor hervor, wobei ihm schmerzlich bewusst war, dass er von seinem letzten Kampf nur fünf Pfeile wieder gefunden hatte. Er war noch keine zehn Ellen weit gekommen, als ein Pfeil von oben herabgezischt kam und auf die Steinplatten schlug. Kühl drehte Aspar sich um, sah den Schatten oben auf der Mauer und ließ sich beim Zielen einen ganzen Atemzug lang Zeit. Sein Geschoss sprang himmelwärts, als ein zweiter Pfeil seinen Arm streifte. Er wartete nicht ab, was passierte, denn er wusste, dass er getroffen hatte. Stattdessen drehte er sich um und rannte hinter Stephen her, der bereits in erheblichen Schwierigkeiten steckte. Engel hatte einen Pfeil in die Flanke abbekommen und den Jungen abgeworfen. Er versuchte, sich zu erheben, doch es war ein Wunder, dass er nicht getroffen worden war, denn Pfeile klapperten überall um ihn herum über den Boden. Aspar stellte fest, wo einige dieser Pfeile herkamen, und traf den Schützen mit seinem nächsten Pfeil. Es war ein schwieriger Schuss, und er konnte sehen, dass er ihn nicht tödlich verwundet hatte, doch fürs Erste hörte der Mann auf zu schießen. Der Rest der Mörder ging hinter dem zweiten Tor in Deckung. Aspar zählte fünf oder sechs, und er konnte auch auf der anderen Seite des Tores jemanden kämpfen hören. 616 »Sucht Euch Deckung!«, rief er Stephen zu und brachte die Sefry mit einem weiteren Schuss dazu, sich zu ducken. Ihm blieben nur noch zwei Pfeile, also musste er die Entfernung verringern. Einen neuen Schaft an der Sehne, ging er auf das Tor zu. Es war einfacher, als er gedacht hatte, denn ganz offensichtlich waren die Schützen durch den Tumult abgelenkt, den er nicht sehen konnte. Er bemerkte, dass Stephen getan hatte, was er ihm gesagt hatte, und sich flach gegen die Mauer drückte, in der sich das Tor befand. Außerdem bemerkte er, dass der Junge auf etwas hinter Aspar zeigte. »Waldhüter!«, schrie er. Aspar stellte keine Fragen; er fuhr herum, trat rasch nach rechts und sah sich Fend gegenüber. Der Sefry hatte ein Messer in jeder Hand, und auf seinem Gesicht zeichnete sich eine Mischung aus Schadenfreude und Wut ab. Aspar hob den Bogen, doch er war viel zu nahe, um zu schießen, und Fends Messer waren Blitze, die auf ihn zuzuckten. Aspar wehrte sie mit dem Bogen ab, so gut es ging, doch das rechte Messer des Sefry fuhr an dem Holz vorbei und traf ihn am Unterarm. Es gelang Aspar, einen Schlag mit dem Bogen anzubringen; zwar fügte er Fend damit keinen Schaden zu, doch es verschaffte ihm die Möglichkeit, Dolch und Axt zu zücken. Fend umkreiste ihn, wachsamer jetzt, und täuschte mit den Schultern einen Angriff vor. Aspar drehte sich mit ihm, Axt und Dolch bereit. »Du wirst alt, Aspar«, sagte Fend. »Und langsam. Das hier ist keine Herausforderung mehr.« »Bist du deswegen von hinten auf mich losgegangen?« »Oh, ich hätte dafür gesorgt, dass du mich siehst, bevor du stirbst. Damit du Bescheid gewusst hättest.« Er warf
einen Blick zu Winna hinüber. »Hübsches kleines Dirnchen. Fast so niedlich wie Qerla. Bestimmt auch genauso treu.« »Ich glaube, ich hole mir noch dein anderes Auge, Fend«, erwiderte Aspar. »Das bezweifle ich, alter Mann. Aber du kannst es gern versuchen.« 617 Aspars Wut war so tief und so allumfassend, dass er eine eisige Ruhe verspürte. Er hörte ein leises Lachen zwischen seinen Lippen hervordringen und war überrascht. »Was ist denn so komisch?«, wollte Fend wissen. »Du. Versuchst mich zu reizen wie ein verängstigter kleiner Junge.« »Ich habe nur meinen Spaß«, entgegnete Fend. »Es ist gar nicht so sehr -« Er vollendete den Satz nicht, sondern sprang stattdessen vor. Aspar hatte bemerkt, wie er beim Sprechen das hintere Bein herangezogen hatte. Er fing den rechten Dolch mit seinem eigenen ab und schlug mit der Axt nach Fends linkem Handgelenk. Ein wenig erwischte er auch davon und ließ Blutstropfen fliegen, doch Fend war wieselflink, und der Schnitt ging nicht tief. Der Sefry sprang knapp außer Reichweite und griff dann wieder an; er schlug mit der rechten Hand zu und hielt die linke dicht am Körper. Aspar ließ ihn kommen, wich dem Hieb aus und trat heftig nach Fends vorderem Knöchel. Er traf, und sein Gegner verlor das Gleichgewicht. Aspar sprang vor, doch statt zu versuchen, sich wieder zu fangen, ließ Fend sich fallen und rollte sich ab. Als er wieder auf die Beine kam, hatte er nur noch ein Messer. Aspar hielt das für gut, bis er bemerkte, dass das Heft des anderen aus seinem Bein herausragte. »Du hast schon mal besser gezielt«, meinte er, griff nach unten und riss die Waffe heraus. Es tat weh, doch der vordere Schenkelmuskel verzieh eine ganze Menge. Wahrscheinlich würde es nicht einmal besonders heftig bluten. Er schob den Dolch in seinen Gürtel und ging wieder auf Fend los. Fend, der immer noch zuversichtlich aussah, begann einen leichtfüßigen Tanz um den Waldhüter herum. Dieser folgte, wobei er sich langsamerer Beinarbeit bediente. Als Fend erneut vorstieß, griff seine linke Hand nach Aspars Axthand, und dieser ließ ihn in dem Glauben, er sei langsam genug, sich erwischen zu lassen. Sobald ihn jedoch die Finger des anderen berührten, wich er zur Seite aus, entging dem Stoß, der auf sein Herz gezielt hatte, und schlug mit der Axt zu. Der 618 Hieb drang tief ein, grub eine Kerbe in Fends Schulter, und er fühlte Knochen knirschen. Der Sefry schnappte nach Luft und taumelte zurück. Sein eines Auge wurde groß vor Verblüffung. »Ja, ich glaube, heute töte ich dich, Fend«, sagte Aspar. »Du hattest deine Gelegenheit, als du das Messer geworfen hast, und du hast sie verpasst.« Immer noch vorsichtig trat er vor. Wieder gerieten sie aneinander, doch jetzt hatte die Art, wie Fend kämpfte, etwas Verzweifeltes an sich, etwas Ängstliches. Der Kampf war rasch und heftig, und als sie sich wieder voneinander lösten, hatte jeder neue Wunden davongetragen. Aspars waren alle oberflächlich, Fend jedoch hatte ein Loch zwischen den Rippen. Nicht tief genug, um ihn in absehbarer Zeit zu töten, aber wahrscheinlich schmerzte es ziemlich. »Wieso Qerla, Fend?«, fragte Aspar. »Warum hast du sie umgebracht? Das habe ich nie verstanden.« Fend grinste und zeigte die Zähne. »Das weißt du nicht? Das ist ja großartig.« Er hustete. »Du hast Glück, alter Mann, weißt du das? Du hast immer Glück gehabt.« »Ja. Sehr viel Glück. Sagst du es mir jetzt oder nicht?« »Nein, ich glaube nicht.« Aspar zuckte die Achseln. »Das ist das Einzige, was ich von dir wollte, abgesehen von deinem Leben. Ich glaube, mir genügt -« »Ich habe auch ein bisschen Glück«, unterbrach ihn Fend. »Schau mal zu deiner Lady« Es war ein alter Trick, und Aspar fiel nicht darauf herein, bis Winna aufschrie. Dann fuhr er herum und duckte sich; er wusste, dass sein Feind sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, ganz gleich, was geschah. Fends zweites Messer zischte über seinen Kopf hinweg, doch es kümmerte Aspar nicht mehr. Soeben war der Gryf-fin durch das Tor gekommen. Er tappte auf Winna zu, und Unhold stampfte mit den Hufen, bereit, es mit ihm aufzunehmen. 619 52. Kapitel Die Ankunft Als Anne sah, wie der Ritter auf Cazio zuschritt, schien irgendetwas in ihrem Innern dunkler zu werden, während das purpurne Mondlicht heller wurde, als suche die Dunkelheit, die der Mond vertrieb, sich ein Versteck in ihrer Seele. »Er wird Cazio umbringen«, sagte Austra. »Und dann uns.« »Ja«, erwiderte Anne. Ihr wurde klar, dass sie hätte fliehen sollen, während Cazio kämpfte, doch irgendetwas hatte sie zurückgehalten. Vielleicht war immer noch Zeit. Zwar verlor der Vitellianer den Zweikampf ganz offensichtlich, doch möglicherweise hielt er noch ein wenig aus, lange genug, damit sie entkommen konnten. Doch nein, sie war Reiterin genug, um genau zu wissen, wie schnell sie und Austra niedergeritten werden würden. Ihre erste Hoffnung war es gewesen, unbemerkt fliehen zu können, ihre zweite war Cazio gewesen. Beide hatten sich nicht erfüllt. Nachdenklich betrachtete sie das Pferd des Ritters - nein, ein Schlachtross würde
sie niemals aufsitzen lassen. Wahrscheinlich würde es sie tottreten, wenn sie nahe genug herankam, um es zu versuchen. »Können wir ihm nicht helfen?«, fragte Austra. »Gegen einen Ritter?« Doch noch während sie das aussprach, empfand Anne ein seltsames Gefühl der Entfremdung, als sei sie plötzlich zwei Personen - die Anne, die furchtlos die Schlange hinuntergeritten war, und die, die allmählich begann, die Auswirkungen des Lebens zu begreifen, die soeben mit angesehen hatte, wie Ritter wie dieser Frauen wie Schlachtvieh niedergemetzelt hatten. Früher hatte sie sich Abenteuer ausgemalt, in denen sie, selbst als Ritter verkleidet, über böse Feinde triumphiert hatte. Jetzt war alles, was sie sehen konnte, Blut, und alles, was sie sich ausmalen konnte, war das Bild ihres eigenen Kopfes, wie er in einer Blutfontäne von ihren Schultern flog. 620 Vor ein paar Monaten wäre sie Cazio zu Hilfe geeilt. Jetzt lagen ihre Träume im Sterben, und ihr blieb nur noch die Welt übrig, so wie sie war. Und in dieser Welt stellte sich eine Frau einem Ritter nicht entgegen. Austra warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, den Anne noch nie gesehen hatte, als sei ihre Freundin eine Fremde, der sie eben erst begegnet war. Unterdessen holte der Ritter mit seinem Schwert über dem am Boden liegenden Cazio aus, der in einer schwachen Abwehrbewegung seine eigene zierliche Waffe hob. »Nein!«, schrie Austra. Noch ehe Anne auch nur daran denken konnte, sie zurückzuhalten, stürzte das jüngere Mädchen vor, hob einen Stein auf und warf ihn. Er prallte gegen die Rüstung des Ritters und lenkte ihn einen Augenblick lang ab. Austra rannte weiter auf ihn zu. Anne ergriff einen herabgefallenen Ast und fluchte. Sie konnte doch nicht einfach zusehen, wie Austra ums Leben kam. Austra versuchte, den Schwertarm des Kriegers zu packen, doch er versetzte ihr mit seiner gepanzerten Faust einen harten Schlag gegen die Schläfe. Cazio kam gerade schwankend auf die Beine, als Anne herbeieilte und über ihrer Freundin stehen blieb, den Stock in der Hand. Das Visier des Ritters drehte sich in ihre Richtung. »Sei nicht töricht«, sagte er. Durch die Schlitze in seinem Helm sah sie, wie sich Verachtung und Mondlicht in seinen Augen spiegelten, und eine plötzliche, finstere Wut durchzuckte sie. Ihre Gedanken waren Eulen mit lautlos flüsternden Schwingen, die sich auf Mäuse hinabstürzten. Wie konnte er es wagen, unter dem Sichelmond? Wie konnte er es wagen, im tiefsten Schoß der Nacht? Er, der den geheiligten Boden Cers entweiht und ihn mit dem Blut ihrer Töchter getränkt hatte? Wie konnte er es wagen, sie so anzusehen? »Mann«, sagte Anne heiser. »Mann, sieh mich nicht an.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder, so gefühllos klang sie, so ohne jedes Leben, als quelle die Dunkelheit in ihr zusammen mit ihren Worten hervor. 621 Das Licht in den Augen des Ritters verschwand, obgleich der Mond noch da war, obgleich er den Kopf nicht gedreht hatte. Er keuchte rasselnd auf, und dann drehte er den Kopf, hierhin und dorthin. Er rieb sich die Augen, zwei Löcher, dunkler als Mondschatten. Männer kämpfen von außen, mit Schwertern und Pfeilen, hatte Schwester Casita gesagt. Sie versuchen, die schützenden Hüllen zu durchdringen, mit denen wir uns umgeben. Sie gehören zum Äußeren. Wir gehören zum Inneren. Wir können es auf tausenderlei Arten erreichen, können durch die Öffnung von Auge und Ohr schlüpfen, von Nasenloch und Lippen, sogar durch die Poren des Fleisches. Hier ist euer unerforschtes Neuland, Schwestern, und letzten Endes euer Reich. Hier wird eure Berührung den Aufstieg und Fall von Königreichen bedeuten. Anne stolperte zurück, verwirrt und plötzlich wieder verängstigt. Was hatte sie getan? Und wie? »Casnar!«, schrie Cazio. Anne bemerkte, dass er sich auf den Beinen halten konnte, wenngleich nicht allzu sicher. »Haltet ein mit Eurem tapferen Kampf gegen unbewaffnete Frauen, und stellt Euch mir.« Der Ritter beachtete ihn nicht und schlug mit dem Schwert wild in der Luft herum. »Haliurun! Waizeza! Hundan!«, brüllte er. »Meina auyos! Hwa... Was hast du mit meinen Augen gemacht?« »Hansisch!«, stieß Anne hervor. »Austra, sie kommen aus Hansa!« Sie wandte sich an Cazio. »Tötet ihn! Schnell, solange er blind ist.« Cazio hatte sich schon angeschickt, auf den Mann loszugehen, doch jetzt blieb er verwirrt stehen. »Er kann nichts sehen? Ich kann doch nicht gegen einen Mann kämpfen, der nichts sehen kann.« Der Ritter kam auf Cazio zugestolpert, doch trotz seiner Verletzungen konnte der Vitellianer ihm mit Leichtigkeit ausweichen. »Wie habt Ihr das übrigens gemacht?«, fragte er und sah zu, wie sein Gegner krachend gegen einen Baum rannte. »Ich habe gehört, ein Pulver aus den gemahlenen Nüssen des Rocks der Lady Una -« »Er wollte Euch töten«, unterbrach ihn Anne. »Er hat keine Ehre. Ich schon.« 622 »Dann lasst uns fliehen!«, drängte Austra. »Erlaubt die Ehre das?«, fragte Anne sarkastisch. Cazio hustete, und ein Ausdruck des Schmerzes zeigte sich auf seinem Gesicht. »Die Ehre hält nicht viel
davon«, erwiderte er. Anne schüttelte mahnend den Finger vor seinem Gesicht. »Hört mir gut zu, Cazio Pachiomadio da Chiovattio«, sagte sie und dachte daran, wie ihre Mutter sich immer anhörte, wenn sie Befehle gab. »Es gibt hier noch viel mehr Ritter außer diesem einen, und uns droht Gefahr von ihnen. Ich fordere Euren Schutz für Austra und mich. Ich verlange Eure Hilfe dabei, uns vor Schaden zu bewahren. Wird Eure Ehre mir das verweigern?« Cazio kratzte sich am Kopf, dann grinste er verlegen. Der blinde Ritter stand mit dem Rücken an einen Baum gelehnt da, das Schwert erhoben und gegen niemanden im Besonderen gerichtet. »Nein, Casnara«, sagte Cazio. »Ich werde Euch begleiten.« »Dann lasst uns gehen, schnell«, bat Austra. »Einen Augenblick noch«, sagte Anne. Sie hob die Stimme. »Ritter Hansas. Warum habt Ihr und Eure Gefährten wider die heilige Cer gesündigt? Warum habt Ihr die Schwestern ermordet, und warum verfolgt Ihr mich? Antwortet mir, oder soll ich den Rest von Euch vergehen lassen, so wie ich Eure Augen verdunkelt habe?« Beim Klang ihrer Stimme wandte der Ritter sich um. »Ich kenne die Antwort darauf nicht, Lady«, sagte er. »Ich weiß nur, dass das, was mein Prinz mich tun heißt, getan werden muss.« Damit griff er an. Fast beiläufig streckte Cazio den Fuß aus, über den der Ritter stolperte. Er krachte der Länge nach zu Boden. »Habt Ihr noch weitere Fragen an ihn?«, erkundigte sich der Vitellianer. »Lasst mich nachdenken«, erwiderte Anne. »Die Nacht neigt sich dem Ende zu, und sie ist unsere Verbündete. Die Sonne wird uns nicht so gewogen sein.« Anne nickte. Sie glaubte nicht, dass ihr der hansische Ritter mehr sagen würden, selbst wenn er mehr wusste. Sie würden kostbare Zeit vergeuden. 623 »Wohlan«, verkündete Cazio. »Folgt mir, liebreizende Casnaras. Ich kenne die umliegenden Ländereien und werde Euch hindurchgeleiten.« Er runzelte seine Stirn. »Wenn Ihr mich nicht meines Augenlichts beraubt, natürlich.« Cazios Rippen fühlten sich an, als stünden sie in Flammen, aber wenigstens verlor er nicht allzu viel Blut. Er war in der Lage, ein forsches Tempo anzuschlagen, konnte jedoch nicht lange rennen. Das war nur gut so, das wusste er, denn wenn sie rannten, würden sie sich alle nur verausgaben. Natürlich gab es keinen Grund anzunehmen, dass die Ritter, die den Konvent überfallen hatten, ihnen folgen würden. Wenn es Frauen waren, worauf sie aus gewesen waren, dann hatten sie davon jetzt mehr als genug. Oder etwa nicht? »Wie viele von diesen käferrückigen Schuften treiben denn hier ihr Unwesen?«, fragte er. »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Anne. »Am Anfang waren es ungefähr dreißig. Einige sind von den Schwestern des Konvents getötet worden.« Das war beeindruckend. »Und Ihr habt keine Ahnung, warum?« Es kam Cazio so vor, als zögere Anne zu lange, ehe sie antwortete. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber ich glaube, sie haben alle Schwestern umgebracht. Die Novizinnen hatten sich versteckt. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Austra und ich sind durch den Schrein der Mefitis geflohen, eine Höhle, aus der man dicht bei der Stelle herauskommt, wo Ihr uns gefunden habt. Wo gehen wir hin?« »Zurück zur Triva der Gräfin Orchaevia.« »Kann sie uns beschützen? Ich habe dort keine Soldaten gesehen.« »Das stimmt«, erwiderte Cazio. »Sie hat sie wegen des Fiussanals weggeschickt. Aber warum sollten diese Ritter uns nachstellen?« »Wieso sollten sie nicht?« »Hegen sie einen besonderen Groll gegen Euch beide? Habt Ihr es ihnen auf irgendeine Weise angetan?« 624 Wieder schien Anne zu zögern. »Sie werden uns nachstellen, Cazio.« »Warum?« »Das kann ich Euch nicht sagen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selbst weiß, warum. Aber es ist so.« Sie wusste etwas, aber sie wollte es ihm nicht erzählen. Wieder sah er sie an. Wer war dieses Mädchen wirklich? Die Tochter irgendeines Magiers aus dem Norden? Wo war er da hineingeraten? »Nun gut«, sagte er. Was immer es war, er steckte tief mittendrin. Er sollte es bis zum Ende durchstehen. Vielleicht sprang dabei ja eine Belohnung für ihn heraus. Die Robe der Lady Ausa lag korallenrot am östlichen Horizont ausgebreitet, und über ihnen verschwanden die Sterne. Sie befanden sich auf offenem Gelände, eine leichte Beute für Reiter. Er versuchte, seine Schritte zu beschleunigen. Wenn Anne Recht hatte und sie verfolgt wurden, würde er der Gräfin einen schlechten Dienst für die Gastfreundschaft erweisen, die sie ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte. Man konnte das Anwesen verteidigen, aber nicht mit zwei Degenfechtern und ein paar Dienstmägden. »Ganz in der Nähe gibt es ein altes Landhaus«, überlegte er laut. Z'Acatto hatte ihn eines Tages dorthin geschleift, in der Hoffnung, einen ungeplünderten Weinkeller zu finden. Den Keller hatten sie tatsächlich entdeckt, doch der ganze Wein war bereits zu Essig geworden. »Das gäbe ein gutes Versteck ab«, beschloss er.
Wenn er nicht einmal einen einzigen dieser Ritter im Zweikampf besiegen konnte, wie könnte er dann gegen zehn oder zwanzig von ihnen bestehen? Sein Vater hatte den Fehler gemacht, sich aus den falschen Gründen dem falschen Feind zu stellen. Er würden diesen Fehler nicht machen. Anne antwortete nicht, doch sie begann allmählich zu stolpern. Die Sandalen, die Austra und sie trugen, waren für eine solche Wanderung nicht geeignet. Lord Abullos Rösser waren in den Himmel hinaufgestürmt und zogen eine orangefarbene Sonne hinter dem Horizont hervor, ehe Ca625 zio die verfallenen Mauern der alten Triva ausmachen konnte. Er fragte sich, ob der Brunnen noch Wasser führte, denn er war schrecklich durstig. Der Essig war weg; z'Acatto hatte die Flaschen in einem Anfall von Wut und Enttäuschung zerschlagen. Sie hatten die Mauern fast erreicht, als er Hufgetrappel zu hören glaubte und einen Blick über die Schulter warf. Zwei Reiter näherten sich. Es war nicht nötig, sich zu fragen, wer sie waren, denn der Glanz der nunmehr goldenen Sonne auf Panzerstahl war offenkundig. »Vielleicht haben sie uns noch nicht gesehen«, hoffte Cazio laut und führte sie hinter eine Reihe von Zedern, die das verlassene Landhaus umgaben. »Schnell.« Das Tor war schon lange verrottet und hatte lediglich die Säulen des Pastato zurückgelassen sowie Mauern, die manchmal nur kniehoch, manchmal auch höher als er selbst waren. Unkraut und kleine Oliven-schösslinge hatten die Steinplatten des Hofes gesprengt und emporgedrückt; Lord Selvans versuchte, diesen Ort zurückzuerobern. In der Ferne hörte er das Hufgetromme! näher kommen. »Genau da, wo ich ihn zurückgelassen habe«, murmelte Cazio, als sie den von Ranken überwucherten Eingang zum Weinkeller erreichten. Die Treppe war noch da, wenn auch verfallen und von Erde und Moos bedeckt. Ein kühler Hauch schien aus der Tiefe aufzusteigen. »Da unten werden wir in der Falle sitzen«, protestierte Anne. »Lieber dort als hier draußen«, erklärte Cazio. »Seht Ihr, wie schmal der Eingang und die Treppe sind? Da werden sie ihre Pferde nicht hineinbekommen, und sie werden nicht imstande sein, ihre Schlachtermesser von Schwertern zu schwingen. Das wird mir einen Vorteil verschaffen.« »Ihr könnt Euch kaum auf den Beinen halten«, sagte Anne. »Ja, aber ein da Chiovattio, der kaum stehen kann, ist mehr wert als sechs kerngesunde Männer. Und hier haben wir es nur mit zweien zu tun.« »Lügt mich nicht an, Cazio. Wenn wir dort hinuntergehen, könnt Ihr dann gewinnen?« Cazio zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Aber 626 hier draußen kann ich es nicht.« Die Worte klangen seltsam in seinen Ohren, obgleich er sie im Stillen bereits gedacht hatte. Er nahm Annes Hand, und sie erhob keinen Einspruch. »Zu Fuß, dort draußen, würdet Ihr niedergeritten, ehe Ihr auch nur ein Cenpereci weit gekommen wärt.« Widerstrebend folgten die beiden Mädchen ihm nach unten. »Hier riecht es nach Essig«, stellte Austra fest. »In der Tat«, erwiderte Cazio. »Und jetzt bleibt hier.« Einen Augenblick lang schien die Welt sonderbar zu werden, und im nächsten lag er auf dem kalten Steinboden. »Cazio!«, rief Austra und eilte an seine Seite. »Es ist nichts« murmelte Cazio. »Nur ein bisschen schwindlig, das ist alles. Vielleicht hilft noch ein Kuss.« »Er kann nicht gegen sie kämpfen«, sagte Austra. »Sie werden ihn töten.« »Vielleicht wissen sie ja gar nicht, wo wir sind«, meinte Cazio. Doch sie hörten Hufschläge draußen, ganz in der Nähe. »Ich werde den Kuss brauchen«, flüsterte Cazio. Er konnte ihr Erröten nicht sehen, doch Austra beugte sich vor und berührte seine Lippen mit den ihren. Sie schmeckten süß, wie Wein und Pflaumen, und er zögerte die Berührung hinaus. Wahrscheinlich war es der letzte Kuss, den er jemals bekommen würde. Er erwog, auch Anne um einen zu bitten, doch sie würde ihm keinen geben, und Zeit war jetzt kostbar. »Das wird mein Unterpfand sein«, sagte Cazio und mühte sich auf die Beine. »Und jetzt wird es mir ein Vergnügen sein, Euch zu verteidigen, Ladys.« Mit zitternden Beinen stieg er wieder zum Sonnenlicht hinauf, wo sich Schatten regten. Aus irgendeinem Grund fiel ihm ein, wo er von dem purpurnen Mond gehört hatte. In einem Lied, das sein Vater immer gesungen hatte, als er noch klein gewesen war. Und wann kommen die Wolken vom Himmel herab? Wenn der Nebel im Tal liegt wie im Grab. 627 Und wann werden Gipfel und Meere vereint? Wenn der schwere Regen fällt, dann wird es sein. Und wann hat der Himmel ein purpurrot Hörn? Wenn der Alte wandelt, der da ruft die Dorn'. Er erinnerte sich an diese Zeile, weil er sie, im Gegensatz zum Rest der Strophe, nie verstanden hatte. Er verstand sie immer noch nicht. Aus weiter Ferne glaubte er ein Hörn schmettern zu hören.
Für Muriele verstummte die Welt plötzlich, als wäre aller Schlachtenlärm in unendliche Ferne gerückt. Sie blickte in das tote Gesicht ihrer Tochter, sah sie als Säugling, als Sechsjährige, die Milch auf den Galleanerteppich in ihrem Sonnenzimmer verschüttete, als Frau im Hochzeitskleid. Die Stille packte unter ihrer Brust zu, wartete darauf, zu einem Schrei zu werden. Elseny muss auch tot sein. Und Erren, und Charles... Doch die Stille war in ihrem Innern, nicht außerhalb. Stahl klirrte, und Neils wilde Kampfschreie zeigten, dass er noch am Leben war. Und über allem lag der Schall eines Horns und wurde stetig lauter. Zuerst hatte es weit entfernt geklungen, als gellte es vom Ende der Welt herüber. Jetzt erklang es viel näher, doch mit einem prickelnden Gefühl wurde ihr klar, dass es nicht näher kam, sondern nur lauter wurde. Und die Quelle des Klangs schien ganz in der Nähe zu liegen. Aber wo ? Muriele grübelte darüber nach, bediente sich dieses Mysteriums, um damit Fastias totes Gesicht und ihre eigenen Schreckensbilder zu verhüllen. Es dauerte nicht lange, bis sie feststellte, dass das Geräusch von dem aus Weidenruten geflochtenen Feinglest kam, den Elseny erst gestern mit Blumen gefüllt hatte. Und vor ihrem benommenen Blick veränderte sich der Feinglest, so langsam und gewiss, wie der Sonnenaufgang den Morgenstern in grauem Licht ertränkt. Ihr Blick heftete sich darauf und wollte nicht loslassen, und als das Hörn lauter dröhnte, sah sie, wie die Veränderung sich beschleunigte, 628 wie sich das Weidengeflecht fester zusammenzog und höher aufragte. Mit jedem Herzschlag wurde die vage Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt deutlicher. Muriele sah zu, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen; ihr Verstand weigerte sich, den Anblick als etwas anderes anzuerkennen denn als einen Wachtraum. Es wuchs weiter, und das Gellen des Horns wurde so laut, dass es Muriele schließlich gelang, die Hände über die Ohren zu legen, um dem Lärm Einhalt zu gebieten. Doch ihre Handflächen hatten nicht die Macht, ihn zu dämpfen. Ebenso wenig konnte ihr Gehirn verhindern, dass ihre Augen den Feinglest zittern sahen wie einen Wespenflügel im Flug, ihn Arme ausstrecken und ein Geweih aus seinem Kopf sprießen sahen und erblickten, wie er zwei beinahe menschliche Augen öffnete, blattgrüne Kugeln in schwarzen Mandelspalten. Ein heftiger, moschusartiger Tiergeruch drang ihr in die Nase und verdrängte den ekelhaft süßen Geruch der Blumen. Der Dornenkönig ragte zwei Mannslängen über ihr auf; sein Blick begegnete dem ihren. Er schien nackt, aber sein Fleisch war von fleckiger Rinde bedeckt. Ein Bart aus Moos lockte sich von seinem Gesicht, und ebensolche Flechten hingen ihm lang vom Kopf. Seine Augen schienen gleichzeitig nichts und alles zu sehen, wie die eines Neugeborenen. Seine Nasenlöcher bebten, und ein Laut drang aus seiner Kehle, der für sie keinerlei Bedeutung hatte, wie das Schnaufen eines seltsamen Tieres. Er beugte sich zu ihr und schnüffelte abermals, und obgleich seine Nase menschlich geformt war, erinnerte er Muriele mehr an ein Pferd oder einen Hirsch als an einen Mann. Sein Atem war feucht und kalt, und er roch wie ein Waldbach. Murieles Haut kribbelte, als sei sie von Ameisen bedeckt. Der Dornenkönig wandte sich Fastia zu und blinzelte langsam, dann kehrte der Blick seiner sonderbaren Augen wieder zu Muriele zurück. Sie verengten sich, als sie sich bis auf Fingerlänge den ihren näherten. Ihr Gesichtsfeld löste sich in diesen Augen auf. Sie sah seltsame, tiefe Wälder voller Bäume, die wirkten wie riesige Moostriebe oder 629 Farnwedel mit Stämmen. Sie sah Tiere mit den Augen von Eulen und den Leibern von Hunden. Wieder blinzelte er langsam, und sie sah Eslen in Trümmern liegen, verschlungen von schwarzen Dornenranken mit Blüten wie purpurfarbene Spinnen. Sie sah Neuland unter den Sternen, von dunklem Wasser bedeckt, und dann tanzten bleiche Flammen auf diesem Wasser. Sie sah eine gewaltige Halle aus Schatten und einen Thron aus rußigem Stein, und darauf eine Gestalt, deren Gesicht nicht zu sehen war, außer den Augen, die wie grüne Flammen brannten. Sie hörte Gelächter, das sich beinahe wie Hundegeheul anhörte. Und dann, wie in einem Spiegel aus poliertem Jett, erblickte sie ihr eigenes totes Gesicht. Dann war es wieder das Gesicht des Dornenkönigs, und ihre Furcht war verschwunden, als wäre sie wirklich tot und über alle sterblichen Zweifel erhaben. Wie im Traum streckte sie die Hand aus und berührte seinen Bart. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem jähen Ausdruck von Schmerz und Zorn, und er heulte, ein Geräusch, in dem nichts Menschliches und alles, was wild war, lag. Aspar war zu weit von seinem Bogen entfernt. Der Gryffin würde Winna und Unhold erreichen, lange bevor er einen Pfeil an die Sehne legen könnte. Er tat das Einzige, was ihm übrig blieb; er warf seine Axt. Sie traf den Gryffin am Hinterkopf und prallte ab. Zurück blieb eine schmale Risswunde, aus der eine dünne Spur rubinroter Tropfen rann. »Du kannst also doch bluten, du mickriger Gockel«, knurrte Aspar mit unsinniger Befriedigung. Der Gryffin drehte sich langsam nach ihm um, und Aspar fühlte, wie das Fieber seiner Augen durch seine Knochen fuhr. Doch es war nicht so schlimm wie zuvor; seine Knie zitterten, versagten ihm jedoch nicht den Dienst. Er richtete den Blick fest auf Winna, auf ihr Gesicht, denn er wollte es im Gedächtnis behalten. An Qerlas Gesicht konnte er sich nicht mehr richtig erinnern. Es war Glück, in einem Leben zweimal Liebe zu finden, entschied 630
er, und Glück hatte immer seinen Preis. Es war wohl an der Zeit, ihn zu bezahlen. Gib mir Kraft, Wüterich, dachte er. Er hatte Haergrim noch nie um etwas gebeten. Vielleicht würde der Wüterich ihm das zugute halten. Dann kam der Gryffin angestürmt, schneller fast, als ihm das Auge folgen konnte. Aspar drehte sich leicht und versetzte der Bestie mit dem eisernen Knauf seines Dolchs einen Schlag zwischen die Augen. Er fühlte einen fürchterlichen Ruck in seinem Arm und wusste, dass er bereits tot war. Er hörte Winna schreien. Es war unglaublich, doch der Gryffin taumelte unter dem Hieb, und Aspar nutzte die einzige Gelegenheit, die sich ihm bot. Er warf sich auf den geschuppten Rücken und schlang einen Arm um den Hals der Kreatur, dicht unter den schnabelbewehrten Kiefern. Darauf schrie der Gryffin auf, eine schrille Kakophonie, die fast den immer lauter werdenden Klang des Horns übertönte. Er überlegte, wo wohl das Herz sein mochte, und stieß seinen Dolch dort hinein, einmal, zweimal, und noch einmal. Der Gryffin krachte gegen die Hofmauer und versuchte ihn abzuschütteln, doch im Augenblick war sein Arm ein Band aus Stahl. Aspar fühlte sich größer, wie einer der riesigen Tyrannen des Waldes; seine Wurzeln reichten tief, zogen Kraft aus Fels und Grund und verborgenen Quellen in der Tiefe, und als sein Herz wieder schlug, wusste er, dass er der Wald selbst war, der nach Rache dürstete. Alles verschwamm in Bewegung. Er erhaschte einen kurzen Blick auf Winnas verzweifeltes Gesicht, auf Unhold, stolz und furchtlos, der heranstürmte, um ihm zu helfen. Dann Luft, und dann Wasser, als sie in den Kanal auf der anderen Seite des Tores stürzten. Schließ das Tor, Winna, dachte er. Sei ein kluges Mädchen. Er hätte es gebrüllt, doch das Wasser umhüllte ihn zu fest. Die ganze Zeit stach und schnitt sein Dolch, als hätte der Wüterich Aspars Hand tatsächlich zu der seinen gemacht. Das Wasser des Kanals brannte wie Lauge. 631 Cazio stand auf unsicheren Beinen am Eingang zum Weinkeller, doch als er Caspator hob, schwankte die Klinge nicht. »Hallo, meine feinen Casnars«, sagte er zu den beiden gepanzerten Männern. »Wen von Euch habe ich die Ehre, zuerst umbringen zu dürfen?« Die Ritter waren gerade abgestiegen. Er bemerkte, dass einer von ihnen eine reicher verzierte Rüstung trug als der andere; alle Ränder waren vergoldet. Dieser antwortete ihm. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, Sir«, sagte der Mann. »Aber es besteht keine Notwendigkeit für Euch zu sterben. Verlasst diesen Ort und kehrt zurück zu einem Leben, das lange währen und von Wohlstand gekrönt sein möge.« Cazio blickte an Caspators Klinge entlang. Er fragte sich, ob sich sein Vater am Ende wohl auch so gefühlt hatte. Ganz sicher war bei diesem Kampf nichts zu gewinnen. Niemand würde davon hören. »Ich ziehe ein ehrenhaftes Leben einem langen vor, Casnar«, erwiderte er. »Kann man von Euch das Gleiche sagen?« Der Ritter betrachtete ihn einen Augenblick lang unergründlich, und Cazio verspürte einen Anflug von Hoffnung. Dann wandte sich der Mann mit der goldgeränderten Rüstung an seinen Gefährten. »Töte den für mich«, sagte er. Der andere Mann nickte leicht und kam auf ihn zu. Wenigstens hat er keinen Schild, dachte Cazio. Die Augenschlitze. Das ist mein Ziel. Das Hörn in der Ferne wurde lauter. Wahrscheinlich noch mehr Ritter. Der Ritter griff mit mächtigen Schwertstreichen an. Ruhig parierte Cazio die Hiebe, obgleich Caspator darunter erbebte. Er stach nach dem Visier, doch der Mann hielt sich außer Reichweite, und Cazio hatte keinen ausreichend festen Stand für einen Ausfall. Sie fochten einige sehr lange Wechsel, ehe das schwere Breitschwert schließlich auf Caspators Heft niederkrachte und seinen bereits tauben Arm so erschütterte, dass die Waffe klirrend zu Boden fiel. Der Schauer aus Ziegeln und Mörtel ging genau in diesem Augen632 blick auf den Kopf des Ritters nieder. Staub und Sand folgten und brannten in Cazios Augen. Mauertrümmer polterten an ihm vorbei die Treppe hinunter, und er sah den Ritter mit tief eingedelltem Helm zusammenbrechen. Der vergoldete Ritter - der nicht unter die Schuttlawine geraten war - blickte gerade rechtzeitig auf, um einen Ziegelstein ins Gesicht zu bekommen, und dann noch einen. Betäubt bückte sich Cazio, um Caspator aufzuheben, als z'Acatto sich vom Torbogen über dem Kellereingang herabfallen ließ. »Ich hab's dir doch gesagt, Junge«, knurrte der Fechtmeister. »Mit Rittern duelliert man sich nicht.« »Stimmt«, erwiderte Cazio und bemerkte, dass der vergoldete Ritter wieder auf die Beine kam. Mit dem bisschen, was von seiner Kraft noch übrig war, sprang Cazio vor. Das Breitschwert hob sich und fuhr herab, doch er drehte sich weg, und diesmal fand Caspator sein Ziel, drang durch den Helmschlitz und weiter, bis ihm der Stahl auf der anderen Seite des Schädels Einhalt gebot, oder vielleicht auch der Schädel selbst. Er zog die blutige Spitze zurück und sah zu, wie der Ritter erst auf die Knie sank und dann vornüberfiel. »Das nächste Mal höre ich besser auf deinen Rat«, versprach er dem Älteren. »Was hast du dir da eingebrockt, Junge?«, fragte z'Acatto. Dann schaute er an Cazio vorbei und schüttelte den
Kopf. »Ah«, sagte er. »Ich sehe schon, wo die Schwierigkeiten sind.« Anne und Austra waren die Treppe heraufgekommen und starrten auf das Bild, das sich ihnen bot. »Wir werden noch mehr kriegen.« »Mehr Frauen?« »Mehr Schwierigkeiten.« »Das ist dasselbe«, bemerkte z'Acatto. »Mehr Ritter«, stellte Cazio klar. »Vielleicht viel mehr.« »Ich habe zwei Pferde«, sagte z'Acatto. »Wir könnten paarweise reiten.« Cazio verschränkte die Arme und bedachte seinen Fechtmeister 633 mit einem zweifelnden Blick. »Ein Glück, dass du Pferde mitgebracht hast«, sagte er. »Außerdem sehr merkwürdig.« »Sei doch keine leere Flasche, Junge. Die Straße zum Konvent führt an dem Brunnen am Rand von Orchaevias Anwesen vorbei. Ich habe gesehen, wie sie gekommen sind.« »Was hast du denn dort gemacht?« Z'Acatto grinste und zog eine schmale grüne Glasflasche unter seinem Wams hervor. Er hielt sie ins Licht. »Ich habe ihn gefunden«, verkündete er triumphierend. »Den allerbesten Jahrgang. Ich habe ja gewusst, dass ich das Zeug irgendwann aufstöbern würde.« Cazio verdrehte die Augen. »Wenigstens sind wir von einem guten Jahrgang gerettet worden.« »Vom allerbesten«, wiederholte z'Acatto freudestrahlend. An die beiden Frauen gewandt, vollführte Cazio eine schwache Verbeugung. »Meine liebwerten Casnaras Anne und Austra, darf ich Euch meinen Fechtmeister vorstellen, den gelehrten z'Acatto.« Er zögerte und begegnete dem Blick des alten Mannes. »Mein Meister und mein bester Freund.« Z'Acatto hielt seinem Blick einen Moment lang stand, und irgendetwas, das Cazio nicht verstand, schimmerte in seinen Augen. Dann sah er Anne und Austra an. »Ich bin entzückt, Casnaras. Ich hoffe, eine von Euch wird gegen meine Gesellschaft zu Pferde nichts einzuwenden haben.« Anne verneigte sich. »Ihr habt uns gerettet, Sir«, sagte sie. Bedeutungsvoll sah sie Cazio an. »Ihr beide. Ich stehe in Eurer Schuld.« Genau in diesem Augenblick schrie Austra angesichts von irgendetwas, das sich hinter Cazio befand, gellend auf. Cazio seufzte und drehte sich um, auf alles gefasst. Außer auf das, was er jetzt erblickte. Langsam und zittrig versuchte der Ritter in der vergoldeten Rüstung, sich zu erheben. Blut rann aus seinem Visier wie Wasser aus einem Brunnen. Cazio hob den Degen. »Nein«, hielt z'Acatto ihn zurück. »Nein. Er ist nicht lebendig.« Cazio konnte nicht sagen, ob das eine Feststellung oder eine Frage 634 war, doch z'Acatto zog seine eigene Waffe und stieß sie dem Ritter durch das andere Auge. Der Mann ging erneut zu Boden, doch diesmal machte er sofort Anstalten, wieder aufzustehen. »Bei Diuvos pendelnden -« Z'Acatto vollendete den Fluch nicht, sondern hob stattdessen das Breitschwert des Gefallenen auf und schlug ihm den Kopf ab. Die Finger fuhren fort, im Schmutz zu scharren. Z'Acatto sah sich das einen Moment lang an. »Ich rate zu rascher Flucht«, sagte er dann. »Und später zu etwas Wein.« »Einverstanden«, stimmte Cazio heiser zu. Die Raserei war beinahe ganz von Neil gewichen, als der Horz barst. Der Sefry, dem er das Schwert in den Leib gerammt hatte, stierte dem Jenseits entgegen, und da keine weiteren Feinde vorhanden waren, lichtete sich die rote Wolke und gewährte der Vernunft wieder Zutritt zu seinem Kopf. Er hatte schon früher von solchen Anfällen gehört; sein Onkel Odcher hatte diese Gabe besessen. Neil selbst hatte so etwas in all seinen Jahren als Krieger noch nie erlebt. Während er zusah, wie der Sefry langsam sein Leben aushauchte, starrte er gleichzeitig das Blutbad um sich herum an und versuchte, sich daran zu erinnern, was er gerade getan hatte, als das Licht in seine Seele eingebrochen war. Das Krachen einstürzender Mauern riss ihn herum, und er sah etwas, das wie schwarze Rauchschwaden aussah, durch die zerschmetterte Gartenmauer dringen. Er stolperte auf den Horz zu; ihm war eingefallen, dass er die Königin und Fastia dort zurückgelassen hatte. Erst als er in das eintauchte, was er für Rauch gehalten hatte, sah er, was es war, obgleich er es nicht verstand. Schwarze Ranken tasteten sich an ihm vorbei, griffen nach seinen Gliedern, klammerten sich am Stein der Brücke fest. Er schlug auf sie ein, und sie fielen zu Boden und krümmten sich, doch sie waren lediglich die Vorhut der dickeren Ranken, aus denen sie hervorsprossen, so dick wie das Bein eines erwachsenen Mannes, und mit jedem Au635 genblick wurden sie größer. Die scharfen Stacheln rissen an Neils Rüstung. Die Dornenranken drängten ihn zurück zum Rand der Brücke, obgleich er mit Krähe auf sie einhackte. Es war lange her, dass er überhaupt
irgendetwas verstanden hatte, und es kümmerte ihn nicht länger. Er hatte die Königin im Horz zurückgelassen; er musste zurück und sie holen. Also warf er sich vorwärts. Schweiß und Blut glänzten auf seinem Gesicht und brannten ihm in den Augen. Langsam kämpfte er sich durch das Gestrüpp, bis sein Schwert auf etwas traf, das es nicht zerteilen konnte. Er blickte auf, und grüne Augen starrten auf ihn herab. Es war viel größer als ein Mensch, dieses Wesen, und völlig von den schwarzen Ranken eingehüllt. Sie zerrten an ihm, als wollten sie es wieder in die Erde hinabziehen, doch es beachtete sie nicht, genauso wie es Neil nach einem einzigen Blick keine weitere Beachtung schenkte. Neil roch Frühlingsregen, vermischt mit verfaulendem Holz. Die grünäugige Kreatur schritt an dem jungen Krieger vorbei, zerfetzte dabei die Ranken und riss sie von den Steinen los, doch überall, wo ihre Füße den Boden berührten, wucherten neue empor. Mit offenem Mund sah Neil zu, wie sie in den Kanal stieg, dessen Wasser ihr auch an der tiefsten Stelle nur bis zur Hüfte reichte. Er hatte noch nie ein Ungeheuer zu Gesicht bekommen, und jetzt hatte er gleich zwei gesehen. Neil fragte sich, ob das Ende der Welt gekommen sei. Die Königin, du Narr. Das Ende der Welt war nicht seine Angelegenheit. Muriele Dare schon. Er wandte sich dem zu, was von dem Horz noch übrig war, und drosch schluchzend mit Krähe auf die schwarzen Ranken ein, denn was imstande war, Mauern zu zerreißen, musste menschlichem Fleisch noch viel Schlimmeres antun können. Doch er fand die Königin unversehrt auf dem Stein vor, aus dem die mächtigste der Ranken hervorgesprossen war. Sie starrte auf die Stelle, wo die dunklen Dornen über Fastias Gestalt hinweggekrochen waren. Taub für jegliches menschliche Gefühl hob Neil die Königin in 636 seine Arme und stolperte den Pfad entlang, den er durch die Dornen gehauen hatte, über den von Leichen bedeckten Hof und durch das vordere Tor. Wieder erblickte er den Dornenriesen, der den Kanal hinaufschritt, dort, wo er sich dem Tor von Cal Azroth entgegenkrümmte, wo noch andere standen und zusahen. Neil legte die Königin ins Gras und tastete nach Krähe; gewiss waren dies noch mehr von seinen Feinden Doch die Heilige des Vergessens winkte, und er hatte nicht die Macht, ihr zu widerstehen. Der Gryffin tobte und wälzte sich unter Wasser, und Aspars Lunge konnte nicht länger aushalten. Sein Griff lockerte sich, und er wurde fortgeschleudert. Den Dolch noch immer in der Hand, schwamm er auf die Oberfläche zu. Dicht am Ufer tauchte er auf und krallte sich hinein, zog sich mit reiner Willenskraft aus dem Wasser. Er gab sich alle Mühe aufzustehen. Dabei schlotterte er am ganzen Leib, starrte das aufgewühlte Wasser an und wartete auf das Verhängnis, das gewiss daraus emporsteigen würde. Alles in ihm fühlte sich an, als wäre es zerbrochen. Er übergab sich und sah, dass es hauptsächlich Blut war. In weiter Ferne hörte er seinen Namen, doch er hatte keine Zeit dafür, denn der Gryffin kam tatsächlich aus dem Wasser, geschmeidig und schön, wie die Fleisch gewordene Erscheinung von etwas, das vielleicht ein Dichter besingen könnte. Er wunderte sich, dass er ihn nicht von Anfang an so gesehen hatte. Fast schien es eine Schande, dass er dieses Geschöpf verwundet hatte - abgesehen davon natürlich, dass es sterben musste. »Komm her«, sagte Aspar zu der Kreatur. »Es ist zwar nicht mehr viel von mir übrig, aber komm und hol dir den Rest, wenn du kannst.« Es kam ihm vor, als bewege der Gryffin sich diesmal ein wenig langsamer, als er mit seinem riesigen Schnabel nach ihm hackte. Es schien ihm, als hätte er nicht genug Zeit haben dürfen, ihm den Dolch ins Auge zu stoßen, doch er tat es trotzdem. Genau wie Fend, dachte er und fragte sich, wo der Sefry abgeblie637 ben war. Dann prallte der Gryffin wie ein gepanzertes Schlachtross gegen ihn. Alles wurde weiß, doch er blieb bei Bewusstsein und öffnete und schloss die jetzt leeren Hände. Ihm war klar, dass sie ihm nicht das Geringste nützen würden, aber er war froh, dass er zumindest bis zum Ende würde kämpfen können. Doch als er sich umdrehte, sah er, dass die Bestie still dalag. Sie war gegen einen steinernen Pfeiler gerannt, und ihr Hals war in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Nun ja. Einfacher, als ich dachte. Grim, wenn du mir dieses Glück geschickt hast, meinen Dank. Es ist schön, wenn man seinen Feind sterben sieht, ehe man selbst abtritt. Und wenn Fend jetzt vielleicht noch so nett wäre, gleich daneben tot umzufallen ... Aspar lag da und hustete Blut; das mittlerweile vertraute Gefühl des Giftes wurde stärker. Er hoffte, dass Stephen Winna von ihm fern halten würde, aber sie war schließlich vernünftig genug, seinen Leichnam nicht anzufassen, oder? Er drehte den Kopf und sah sie auf der anderen Seite des Kanals neben Stephen stehen. Sie weinte. Er hob die Hand, hatte jedoch nicht genug Kraft, um zu rufen. »Bleib dort, Mädchen«, flüsterte er. »Bei Grim, bleib dort.« Überall, wo der Gryffin Blut vergossen hatte, musste Gift sein. Doch jetzt huschte noch etwas anderes über Winnas Gesicht, und auch über Stephens. Ein Schatten fiel über ihn, verdeckte die Morgensonne, und Aspar hob müde den Kopf, um ein zweites Mal zu dem Dornenkönig aufzublicken.
Mit zitternden Händen ließ Stephen Aspars Bogen fallen. Er hatte versucht, auf den Gryffin zu schießen, doch er hatte befürchtet, Aspar zu treffen, und nun war die Bestie erstaunlicherweise tot. An seiner Seite machte Winna Anstalten loszulaufen, doch er hielt sie zurück. »Ihr könnt nichts für ihn tun«, sagte er. »Wenn Ihr in seine Nähe kommt, werdet Ihr auch sterben.« 638 »Das ist mir egal«, erwiderte Winna heiser. »Das ist mir egal.« »Aber ihm nicht«, entgegnete Stephen. »Ich lasse das nicht zu.« Sie öffnete den Mund, wahrscheinlich um erneut zu widersprechen, doch dann kam etwas um die Ecke der Burg herum den Kanal heraufgewatet, das nur der Dornenkönig sein konnte. Er zog eine Schleppe aus Ranken hinter sich her. Mit einem gewaltigen Schritt stieg er aus dem Wasser und marschierte mit großen, entschlossenen Schritten in Richtung auf den Königswald davon. Dann jedoch hielt er inne und hob die Nase, als wittere er etwas, und sein geweihbewehrter Kopf drehte sich, um die am Boden liegenden Gestalten Aspars und des Gryffin zu betrachten. Zielstrebig ging er auf sie zu. »Es ist geschehen«, flüsterte Stephen. »Bei allen Heiligen, es ist tatsächlich geschehen.« Im Geiste sah er die Scrifti und Bücher, über denen er gebrütet hatte, die von der Zeit entstellten Hinweise, die schrecklichen Prophezeiungen. Und er spürte etwas in Himmel und Erde, als wäre etwas zerbrochen und riesele fort, als blute die ganze Welt. Als habe das Ende wahrhaftig begonnen. Was bedeutete, dass nichts, was getan werden könnte, sich noch lohnte, oder nicht? Aber er sollte es wohl trotzdem versuchen. Er hob den Bogen auf und schoss den letzten verbliebenen Pfeil ab. Ob er das Ungetüm wirklich getroffen hatte oder nicht, wusste er nicht, jedenfalls nahm es keine Notiz von dem Schuss. Es bückte sich zunächst zu Aspar hinunter, und Ranken krümmten und wanden sich um ihn herum. Dann ließ es ihn dort liegen und ging zu dem Gryffin hinüber. Stephen sah, wie es die Bestie wie ein Kind in die Arme nahm und dann davonschritt, wobei es eine Spur aus schwarzen Schösslingen in seinen Fußstapfen zurückließ. Hinter ihnen begannen die Steine von Cal Azroth allmählich zu bersten, als die schwarzen Ranken die Burg niederrissen. 639 53. Kapitel Kuriose und wunderliche Beobachtungen Stephen Darige?« Stephen schaute zu dem in orangefarbene Strümpfe und einen schwarzen, pelzverbrämten Mantel gekleideten Pagen auf. Aus seiner kurzen Bekanntschaft mit ihr schloss er, dass dies wohl das Beste war, was die Herzogin von Loiyes in Sachen Trauerkleidung für ihre Dienstboten hatte finden können. Betrachtungen und Spekulationen über die Vielfarbigen Gecken, begann er im Geiste. Oder Die gesammelten Übel Königlichen Blutes. »Mylord«, wiederholte der Diener, »seid Ihr Stephen Darige?« »Der bin ich«, erwiderte Stephen, während sein Blick düster über die gepflegten Rasenflächen von Glenchest glitt. In der Ferne konnte er Kronprinz Charles sehen, den armen, von den Heiligen berührten Toren, der mit seinem Sefry-Hof narren in ein Kegelspiel vertieft war. Stephen hatte den Prinzen vor vier Tagen kennen gelernt, bei ihrer Ankunft in Glenchest. Charles schien kaum zu begreifen, dass seine Familie abgeschlachtet worden war. Er war nicht im Burgfried von Cal Azroth gewesen, als Fend und die Wechselbälger gekommen waren, sondern hatte nach einem Tag voller kindlicher Spiele im Stall geschlafen. Die kleine Leibwache, die ihm zugeteilt gewesen war, hatte allen Grund zur Dankbarkeit, denn sie waren die einzigen Überlebenden der Garde, die die Angehörigen der königlichen Familie nach Cal Azroth begleitet hatte. Während die unnatürlichen Ranken des Dornenkönigs die Burg in Stücke gerissen hatten, war es ihnen ein Leichtes gewesen, Charles außer Gefahr zu bringen und dann nach Glenchest um Hilfe zu schicken. »Ihre Majestät Muriele Dare wünscht Eure Anwesenheit in der Kammer der Spatzen.« 640 »Um welche Zeit?« »Wenn es Euch genehm ist, sollt Ihr mir folgen.« »Ah. Sofort?« »Wenn es genehm ist, Lord.« »Und wenn nicht?« Der Page sah ihn verwirrt an. »Lord?« »Schon gut. Zeigt mir den Weg, mein Junge.« Er wünschte, der Page würde aufhören, ihn »Lord« zu nennen, doch die Herzogin bestand darauf, dass alle ihre Gäste wie Edelleute behandelt wurden, zumindest was die Anrede betraf. Er folgte dem Knaben zwischen den Hecken hindurch und einen Pfad hinauf, über dem sich ineinander verschlungene Weiden wölbten. Dabei dachte er darüber nach, dass er solche Gärten früher schön gefunden hatte, sie ihm jetzt jedoch beengend erschienen. Die riesigen Bäume des Königswaldes kamen ihm in den Sinn, und er verspürte plötzlich ein heftiges Bedürfnis, dort zu sein, selbst wenn das hieß, dass er den Spott und die Geringschätzung Aspar Whites über sich ergehen lassen musste.
Was habe ich denn geglaubt, was tausend Jahre alte Landkarten nützen würden? Manchmal war es schwer, jenen Stephen Darige von damals zu verstehen, so viel von ihm war jetzt verschwunden. Schwache Stimmen drangen an seine von den Heiligen gesegneten Ohren und verdrängten diese Gedanken. »... die Leichen gefunden. Es waren Mönche, wie sie gesagt haben, aber dieser Stephen Darige ist auch ein Mönch. Und sogar vom selben Orden.« Das war Humfry Thenroesn, Berater der Herzogin, was immer das heißen sollte. Stephen konnte den säuerlichen Branntweingeruch im Atem des Mannes im leichten Herbstwind riechen, obwohl sie noch nicht einmal das Haus betreten hatten. »Darige hat für meine Kinder sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er hat sich für sie Wunden eingehandelt.« Und das war die Königin. »Das behauptet er«, erwiderte Thenroesn. »Wir haben nur sein Wort, was das angeht. Vielleicht war er einer der Eindringlinge, und als er gesehen hat, dass sie verlieren -« 641 Die Königin unterbrach ihn. »Der Waldhüter, der ihn begleitet hat, hat die Hälfte der übrig gebliebenen Meuchelmörder getötet, und den Gryffin noch dazu.« Thenroesn schniefte. »Auch dies, Majestät, beruht lediglich auf Hörensagen. Es ist ein großes Risiko, diesem Darige zu trauen.« Stephen trat in die von einer Kuppeldecke gekrönte Eingangshalle des Hauses. Die Wände, stellte er fest, waren mit einem Muster aus vergoldeten Seeschlangen verziert. Thenroesns Stimme wurde stolzer. »Ich habe einen Reiter zu seiner Eminenz Praifec Hespero geschickt«, brüstete er sich, als verdiene solche Eigenständigkeit höchstes Lob. »Gewiss wird er jemanden schicken, um Dariges Geschichte zu bestätigen.« Eine Pause entstand, in der Stephen nur seine eigenen Schritte hörte, und dann ertönte die Stimme der Königin, so frostig, dass Stephen selbst auf diese Entfernung erschauerte. »Verstehe ich richtig, dass Ihr Euch ohne mein Wissen mit dem Praifec in Verbindung gesetzt habt?«, fragte sie. Stephen folgte dem Pagen einen langen Gang hinunter, während Thenroesn plötzlich begann, sich zu rechtfertigen. »Euer Majestät, ich bin berechtigt -« »Verstehe ich richtig«, fragte die Königin erneut, »dass Ihr Euch ohne mein Wissen mit dem Praifec in Verbindung gesetzt habt?« »Ja, Majestät.« »Herzogin, habt Ihr ein Verlies in diesem ... diesem Hause?« Stephen erkannte die Stimme der Herzogin, die antwortete: »Ja, liebste Majestät.« »Lasst diesen Mann dort hinschaffen, bitte.« »Aber, Euer Majestät«, begann Humfry Thenroesn, dann schnitt die Herzogin ihm das Wort ab, gerade als Stephen die Tür des Raumes erreichte. »Ihr solltet Euch wirklich besser vorsehen, meine Schwägerin nicht zu kränken, lieber Humfry«, sagte die Herzogin. Sie wandte sich an eine ihrer Wachen. »Drey, bitte geleitet Lord Humfry in eine der feuchteren Zellen.« 642 Die Königin blickte zu Stephen hinüber, der in der Tür stand und darauf wartete, hereingebeten zu werden. Sie war ebenso schön wie ihr Ruf, doch ihre Züge waren streng und beherrscht. Hätte man nur aus ihrer Miene schließen können, so hätte sie zornig oder verzweifelt sein oder auch überhaupt nichts empfinden können. Stephens Sinne jedoch erkannten ein Herz in Aufruhr und eine Seele, die Folterqualen litt. »Schickt einen Reiter aus, um Lord Humfrys Kurier abzufangen«, wies sie die Herzogin an. »Tut ihm nichts zuleide, außer wenn es nötig wird. Bringt ihn einfach mitsamt seiner Botschaft hierher zurück.« Die Herzogin winkte, und ein weiterer Mann ihrer Wache verbeugte sich und eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Die Königin wandte sich erneut Stephen zu. »Fraleth Darige. Bitte gesellt Euch zu uns«, sagte sie. Stephen verneigte sich. »Euer Majestät.« Die Königin saß in einem schlichten Sessel und trug ein schwarzes Brokatkleid mit einem hohen Kragen, der steif ihren Hals umschloss. Die Herzogin, die neben ihr saß, war ebenfalls schwarz gekleidet, obgleich ihr Ausschnitt weniger züchtig war. »Fraleth Darige, zwei meiner Töchter sind tot. Sagt mir, warum.« Für Stephen klang ihre Stimme wie eine klaffende Wunde, trotz des ruhigen, gemessenen Tonfalls. »Euer Majestät«, erwiderte er, »ich weiß es nicht. Wie ich der Herzogin und ihrem Ratgeber bereits berichtet habe, ich habe die Verschwörung im Kloster d'Ef zufällig entdeckt, als Aspar White, Euer Waldhüter, verletzt zu uns kam. Wir sind Desmond Spendlove und seinen Männern gefolgt, bis zu einem Ort hier ganz in der Nähe, wo sie sich mit geächteten Sefry getroffen und verbotene Nekromantie getrieben haben. Ich glaube, so haben sie die Tore Eures Burgfrieds von innen öffnen lassen.« »Erklärt das näher.« Stephen erläuterte das Ritual, so gut er konnte. Er erwartete Unglauben, doch die Königin nickte, als verstünde sie. »Meine verstor-
643 bene Zofe Erren hat etwas Derartiges angedeutet, ehe sie mir genommen wurde«, sagte sie. »Gibt es Schutz für uns? Müssen wir diese Wechselbälger in unserer Mitte ständig fürchten?« »Es gibt Schutzmaßnahmen gegen Nekromantie«, erwiderte Stephen. »Wenn Euer Majestät es wünschen und mir ein Seriftorium zur Verfügung stellen können, kann ich sie finden, dessen bin ich mir sicher.« »Euch wird alles zur Verfügung stehen, was dieses Königreich zu bieten hat«, versicherte ihm die Königin. »Jetzt sagt mir eins: Seht Ihr Hansa irgendwo in das Ganze verwickelt?« »Hansa, meine Königin?«, fragte Stephen verwirrt. »Nein. Desmond Spendlove kam aus Virgenya. Die Sefry sind mit keinem Reich im Bunde.« »Ihr meint also auch nicht, dass Liery etwas damit zu tun hat?«, erkundigte sie sich sehr leise. »Nein, Majestät.« »Habt Ihr gewusst, dass auch der König tot war? Haben sie von ihm gesprochen?« Stephen merkte, dass sein Mund offen stand, ohne dass etwas herauskam. »Nun?« »Nein, Majestät«, antwortete er schließlich. »Der König wurde nie erwähnt.« »Es muss am selben Tag passiert sein«, sagte die Königin. »Der Bote hat uns gerade erst erreicht.« »Ich ... mein tief empfundenes Beileid, Euer Majestät.« »Ich danke Euch.« Ihre Stirn furchte sich und glättete sich wieder. Sie schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders und setzte erneut an. »Viel Seltsames ist in Cal Azroth geschehen. Viel Ungewöhnliches. Man hat mir von Eurer Schilderung berichtet, aber ich würde sie gern noch einmal hören, und wie Ihr über das Ganze denkt.« Stephen erzählte ihr, so gut er es vermochte, von dem Gryffin und dem Dornenkönig, von Aspar Whites Abenteuern und von seinen eigenen. Er wusste, dass sich das alles unglaublich anhörte, doch in sei644 nem von den Heiligen gesegneten Gedächtnis war es alles deutlich zu sehen. Er konnte sich nicht in eine Traumwelt zurückziehen wie ein gewöhnlicher Mensch, wo die Ereignisse ihrerseits ein Traum gewesen waren, wo der Dornenkönig und der Gryffin dem Schrecken oder der Erschöpfung, dem Blutnebel oder dem Wein entsprungen waren. »Die Berichte sind nicht ganz klar«, schloss er. »Der Gryffin pflegte den Sefry zu folgen, ich kann nicht sagen, wieso. Ich glaube nicht, dass er ihre Befehle befolgt hat, oder sie die seinen, nur, dass sie seine Begleitung unversehrt ertragen konnten, genau wie die Mönche. Der Dornenkönig wurde durch das Hörn geweckt und herbeigerufen, glaube ich, und er scheint in den Königswald zurückgekehrt zu sein.« »Seine Fährte ist deutlich genug zu sehen«, bemerkte die Herzogin. »Meine Reiter haben eine Spur aus schwarzen Dornenranken gefunden, die auf den Waldrand zuführt.« »Dieselben Dornenranken, die Cal Azroth zerstört haben«, sagte die Königin. »Ihr wisst nicht zu sagen, warum er gekommen ist?« Stephen zuckte zusammen. »Wie Ihr wisst, bin ich gestern nach Cal Azroth zurückgekehrt, mit Rittern Ihrer Durchlaucht der Herzogin. Das Wachstum der Ranken hat zumindest nachgelassen; sie wuchern noch immer, aber langsamer. Was den Dornenkönig betrifft - und ich glaube, der ist es, den wir gesehen haben -, der Dornenkönig ist sehr alt, vielleicht einer der alten Götter, die die Heiligen angeblich besiegt haben. Er ist nach Cal Azroth gekommen, weil ich ihn mit seinem Hörn dorthin gerufen habe. Der Sedos hat den Ruf ermöglicht, und der, der Fiussa geweihte, Feinglest ist zum Tor seiner Manifestation geworden. Was immer er vorher auch war, jetzt wandelt er leibhaftig auf dieser Welt.« »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, bemerkte die Königin. »Ich kenne die Antwort nicht, Majestät«, sagte Stephen leise. »Doch wenn man den Berichten trauen kann, verheißt sein Erwachen schlimme Zeiten.« Er stockte. »Sehr schlimme Zeiten. Vielleicht das Ende von allem, was wir kennen.« »Davon habe ich gehört. Und doch steht die Welt noch.« 645 »Um Vergebung, Majestät«, erwiderte Stephen. »Das mag sein, aber mir ist, als wäre ein Stundenglas umgedreht worden, und wenn der Sand hindurchgelaufen ist ...« Er schüttelte den Kopf. Er hatte nichts, womit er den Gedanken beenden konnte. Irgendwie schien die Königin zu verstehen, und sie bedrängte ihn nicht. Und doch lastete ihr Schweigen wie ein Gewicht auf ihm. »Majestät«, begann er von neuem, »ich habe nur damit gedroht, in das Hörn zu stoßen, um Desmond Spendlove davon abzuhalten, seine Zauberei zu vollenden.« Er hielt inne, und Schuldgefühle schnürten ihm fast die Kehle zu. »Ich hatte nicht vor, es wirklich zu blasen, und genauso wenig habe ich geglaubt, dass irgendetwas passieren würde, wenn ich es täte. Mich trifft die Schuld an allem, was geschieht.« Die Königin zuckte mit den Schultern. »Wäre Sir Neil zum Wechselbalg geworden, so wäre ich jetzt tot. Mit dieser Bedrohung hat es ein Ende, dank Euch. Ich wünschte nur, Ihr hättet früher gehandelt, denn dann wären auch meine Töchter noch am Leben. Was den Dornenkönig betrifft, so schien seinem Handeln ungeachtet Eures Instinkts keinerlei Böswilligkeit zugrunde zu liegen. Auf jeden Fall hat er mich verschont. Er ist fortgegangen,
kaum dass er aufgetaucht war, und die Zerstörung von Cal Azroth war, glaube ich, nur eine Auswirkung seines Kommens. Hebt Euch Eure Schuld für etwas auf, das sie rechtfertigt, Stephen Darige.« Stephen verbeugte sich. »Ich werde versuchen zu erfahren, was ich getan habe, und es wieder gutzumachen, Majestät. Früher dachte ich, ich wüsste eine ganze Menge. Jetzt glaube ich, ich weiß fürwahr nur sehr wenig.« Er blickte der Königin direkt in die Augen. »Doch ich muss mich wiederholen. Ich spreche aus etwas sehr viel Tieferem heraus als nur aus Instinkt. Unsere Schwierigkeiten sind noch nicht vorbei. Sie haben gerade erst angefangen. Die Welt hat sich verändert. Könnt Ihr es nicht fühlen, Majestät?« »Zwei meiner Kinder sind tot«, sagte die Königin, den Blick in die Ferne gerichtet. »Mein Gemahl, der Herrscher von Crothenien, ist tot. Meine beste Freundin ist tot.« Jäh bohrte sich ihr Blick in den von 646 Stephen. »Die Welt, die ich gekannt habe, hat sich nicht verändert. Sie ist tot.« Kurz danach endete Stephens Audienz, und er nutzte die Gelegenheit, durch Glenchests luftige Hallen zu dem Krankenquartier zu schlendern, das in einem der weniger häufig genutzten Gemächer eingerichtet worden war. Ein junger Ritter aus Liery lag dort, ein gewisser Neil MeqVren. Seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge zeigten, dass er schlief und sich die Ruhe gönnte, die sein Körper brauchte, um sich von dem, was ihm zugefügt worden war, zu erholen. Stephens Bett war seit zwei Tagen leer; die Wunde in seinem Arm schmerzte oft, und häufig sickerte Flüssigkeit heraus, doch das Fieber darin war rasch vergangen. Das dritte Bett - Aspars - war natürlich leer. Draußen hörte er Stimmen. Er spähte durch die Tür hinaus auf die Terrasse, wo sich zwei Gestalten eine Bank zwischen ein paar in irdenen Töpfen gepflanzten Orangenbäumchen teilten und die sanften, üppigen Hügel von Loiyes betrachteten. Er beschloss, sie nicht zu stören, und drehte sich schon um, als eine barsche Stimme seinen Namen rief. »Was schleicht Ihr da herum, Chavelkap-Darige? Kommt zu uns in die Sonne.« »Ja, bitte«, fügte Winna, die neben Aspar saß, hinzu. Stephen sah, dass die beiden sich an den Händen hielten. »Ihr habt mir oft gesagt, wie schlecht ich im Schleichen bin«, erwiderte er. »Ich dachte, ich arbeite ein bisschen daran.« »Durch Übung? Gibt es denn kein Buch darüber?« »Doch«, entgegnete Stephen. »Das gehört zu einem gewissen Bestiarium, das ich gut kenne.« Das wunderliche und vulgäre Betragen der gemeinen Waldhüter-Bestie. Stephen unterdrückte ein Lächeln. »Aber manchmal«, fuhr er fort, »manchmal ist ein bisschen Übung vonnöten, das habe ich gelernt.« *Ja«> gaD Aspar zu. »Manchmal wohl schon. Und manchmal -nicht oft, wohlgemerkt - kann auch Bücherwissen nützlich sein.« 647 Stephen schlenderte auf die mit weißen Steinplatten ausgelegte Terrasse hinaus. Herbst lag in der Luft, und wie um es zu beweisen, trugen die Apfelbäume draußen auf der Wiese goldene Kronen. Winna erhob sich, tätschelte Aspars Hand und küsste ihn zart auf die Lippen. »Ich komme gleich wieder«, sagte sie. »Ich sehe nur mal nach, was ich in der Küche auftreiben kann. Dann bringe ich uns ein paar Leckereien.« »Aber keine eingelegten Lerchenzungen oder vergoldete Basiliskeneier«, knurrte Aspar. »Schau mal in die Dienstbotenspeisekammer, ob du da ein bisschen ehrlichen Käse finden kannst.« Als sie fort war, bedachte Aspar Stephen mit einem finsteren Blick »Was grinst Ihr denn so?« »Ihr seid rot geworden. Als sie Euch geküsst hat.« »Sceat. Das kommt von der Sonne, das ist alles.« »Ich glaube, sie ist gut für Euch. Sie verändert Eure Wesensart zum Besseren.« »Da gibt's nichts zu verbessern.« »Sagte der alte Hahn, bevor er im Topf landete«, parierte Stephen. »Ha«, brummte Aspar, dem offenbar keine ausführlichere Antwort einfiel. Stephen nahm auf einer anderen Bank Platz, und Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, bis Aspar sich räusperte. »Wieso bin ich am Leben?«, wollte er wissen. »Die Arznei, die Mutter Gastya mir gegeben hat, kann nicht so stark gewesen sein, und außerdem war sie aufgebraucht.« »Das ist wahr«, erwiderte Stephen. »Ich hatte gehofft, Ihr könntet Euch erinnern. Wisst Ihr es nicht mehr?« Aspar schaute in die Ferne, in Richtung des Königswaldes. »Er hat dafür gesorgt, nicht wahr?« »Ich glaube schon. Fragt mich nicht, warum.« »Dann habt Ihr also keine artigen, gelehrten Worte auf Lager, um das zu erklären? Der Dornenkönig sollte doch eigentlich kommen und uns alle töten, oder?« »Vielleicht tut er das ja noch. Er ist fortgegangen, weil er andere 648 Dinge zu erledigen hatte, und ich glaube, es wird uns nicht gefallen, was das für Dinge sind.« Er zuckte die Achseln. »Er hat das Gift von Euch genommen. Er hat weder Eure Wunden geheilt noch das Blut gestillt, das hat er uns überlassen, und trotzdem wärt Ihr beinahe gestorben.« Stephen hob die Hände. »Vielleicht hat er Euch für
ein Geschöpf seines Königreichs gehalten. Möglicherweise seid Ihr das ja auch - riechen tut Ihr jedenfalls wie eins. Ein verkrüppelter Keiler oder ein räudiger Bär. Mit so etwas könnte man Euch glatt verwechseln.« Aspar starrte ihn lange an. »Ich weiß nur noch, als er mich berührt hat, da habe ich etwas gefühlt, etwas, das ich nicht mehr erlebt habe, seit ich ein Kind war. Es war ...« Er runzelte die Stirn. »Sceat, ich habe keine Worte dafür.« Er wedelte mit den Händen, wischte die ganze Angelegenheit beiseite. Dann schwieg er lange, und Stephen begann sich zu wünschen, Winna möge sich beeilen und zurückkommen. Sie hatte so eine Art, alles leichter zu machen. Doch Aspar sprach erneut, ohne ihn anzusehen. »Ich habe das Gefühl, es war ein Glücksfall, dass ich Euch begegnet bin, Chavelkap-Darige«, sagte er. Stephen blinzelte gegen die unerwartete Feuchtigkeit in seinen Augen an. Über die höchst seltsamen und heiklen Veranlagungen der gemeinen Waldhüter-Bestie, formulierte er im Geiste. Wenngleich im höchsten Maße jähzornig, so muss doch zugegeben werden, dass die Bestie nicht nur Talent dafür besitzt zu verdrießen, sondern dass sich unter ihrer zähen, lederartigen Haut etwas verbirgt, das in vielerlei Hinsicht einem menschlichen Herzen ähnelt. »Was grinst Ihr denn jetzt schon wieder?«, wollte Aspar wissen. Stephen merkte, dass er tatsächlich lächelte. »Ach, nichts«, erwiderte er. »Nur etwas, das ich mal gelesen habe.« Als Cazio in den kleinen Lichtkreis des Feuers trat, fuhr Anne unwillkürlich zusammen. 649 Z'Acatto schnalzte mit der Zunge. »Kein Anlass zur Sorge, kleine Casnara«, sagte er. »Wir sind weit weg von diesen Teufeln.« »Zumindest fürs Erste«, verbesserte Cazio. »Wenn die genauso beharrlich jagen, wie sie sich ans Leben klammern, werden wir sie wieder sehen.« »Ängstige die Ladys doch nicht mit solchem Gerede«, grollte z'Acatto. »Fürs Erste sind wir ihnen entronnen, dessen können wir gewiss sein. Hundert verworrene Meilen haben wir zwischen sie und uns gebracht und niemals Spuren hinterlassen.« Bedeutungsvoll sah er den Jüngeren an. »Es sei denn, du hast heute Abend welche zurückgelassen.« »Ich war ein Geist«, erwiderte Cazio. »Ein Schatten hat das Wirtshaus Zum Lispelnden Eber betreten, und ein Schatten hat es wieder verlassen.« »Hoffentlich hat er es etwas schwerer verlassen«, sagte z'Acatto hoffnungsvoll und betrachtete den Sack, den Cazio sich lässig über die Schulter geworfen hatte. »Schwerer ja. Aber diese Art von Arbeit ist etwas für dich, alter Mann. Das Diebeshandwerk ist nicht mein Gewerbe.« »Als Amateur magst du durchgehen«, entgegnete der Fechtmeister. »Was hast du mitgebracht?« Anne merkte, dass ihr Magen knurrte. Das Land hatte nicht viel Nahrhaftes zu bieten, und alle Menschen zu meiden, die sie etwaigen Verfolgern beschreiben könnten, hieß, dass sie auch nicht bei Fremden um Gastfreundschaft bitten durften, obgleich z'Acatto ihnen versichert hatte, dass die arme, ländliche Provinz Curhavia nicht sehr gastlich sei. Ob das nun stimmte oder nicht, jedenfalls hatten die vier am Vortag nur schimmliges Brot gegessen, und auch davon nicht viel. »Heute Abend wird geschlemmt«, verkündete Cazio. Dann zog er einen Schinken, ein am Spieß gebratenes Huhn, einen ganzen, knusprigen Brotlaib, einen kleinen Krug mit Olivenöl und zwei schwarze Weinflaschen hervor. Anne betrachtete diese Ausbeute hungrig, doch als sie zu Austra hinüberblickte, sah sie etwas, das eher wie Anbetung aussah. Das war ärgerlich. Cazio war aus besse650 rem Holz geschnitzt, als sie gedacht hatte, und gewiss schuldeten sie beide ihm ihr Leben, aber das war doch kein Grund, sich so töricht zu benehmen. »Das ist der falsche Jahrgang«, beschwerte sich z'Acatto. »Geister trinken, was sie kriegen können«, erwiderte Cazio. »Ich bin sicher, dieser hier tut es auch.« Z'Acatto schnappte sich eine der Flaschen, nahm einen Schluck und bewegte den Wein im Mund hin und her. »Kaum besser als Essig«, bemerkte er. Nichtsdestotrotz tat er einen weiteren tiefen Zug. Sie aßen, ohne an Unterhaltung zu denken. Erst später, als der Wein größtenteils ausgetrunken war, kam wieder ein Gespräch in Gang. »In drei Tagen erreichen wir die Küste«, meinte Cazio. »Ich zweifle nicht daran, dass wir für Euch beide ein Schiff finden können, das Euch irgendwohin bringt, wo Ihr in Sicherheit seid. Vielleicht in Eure Heimat.« »Ihr wart sehr freundlich«, sagte Anne. »Ihr könnt uns doch nicht einfach auf ein Schiff setzen, zwei Frauen ganz allein«, protestierte Austra. »Was ist, wenn die hansischen Ritter uns auf hoher See finden?« »Ich würde mir eher wegen der Seeleute Sorgen machen«, bemerkte z'Acatto. »Die stellen die bekanntere und offenkundigere Gefahr dar.« »Dann fahr doch mit«, sagte Cazio. »Ich für meinen Teil werde in das Haus meines Vaters in Avella zurückkehren und so tun, als hätte ich nie einen Ritter gesehen, der nicht sterben wollte.« »Annes Vater wird Euch belohnen«, platzte Austra heraus. »Austra, sei still«, wies Anne sie zurecht. »Die Casnars da Chiovattio und z'Acatto haben bereits mehr getan, als
man ihnen je zurückzahlen könnte.« »Ein Edelmann bedarf keiner Bezahlung, um junge Ladys in Bedrängnis zu retten«, wehrte Cazio ab. »Aber ein Edelmann ohne Mittel kann den Pfandzins für seinen Grund und Boden nicht bezahlen«, gab z'Acatto zu bedenken. 651 »Auch wenn gewisse rechtliche Komplikationen inzwischen ausgeräumt sein sollten, worauf man sich nicht verlassen kann.« Cazio verzog schmerzlich das Gesicht. »Musst du mich mit derart weltlichen Angelegenheiten belasten?«, fragte er. Doch dann wandte er sich an Anne. »Wer ist übrigens Euer Vater?« Anne zögerte. »Ein reicher Mann.« »Aus welchem Land?« »Aus dem Königreich Crothenien.« »Das ist eine weite Reise«, bemerkte Cazio. »Ha!«, schrie z'Acatto. »Du weißt ja noch nicht einmal, wo Crothenien liegt! Du hast keine Ahnung! Für dich ist z'Irbina das Ende der Welt.« »Ich bin glücklich in Vitellio, wenn du das meinst«, wehrte Cazio ab. »Ich muss das Anwesen meines Vaters zurückgewinnen.« »Ihr werdet ihm vergeben, Casnaras«, sagte z'Acatto. »Das Erlebnis mit den hansischen Rittern hat Cazio ein gewisses Widerstreben gegen alles Fremdländische gelehrt. Seht Ihr, in Avella kann er sich für einen großen Fechter halten. In der weiten Welt würde er vielleicht feststellen, dass er sich irrt.« Cazio sah verletzt aus. »Das ist pure Verleumdung«, sagte er. »Und das weißt du auch.« »Ich weiß, was ich sehe. Dessrata ist Taten, nicht Worte.« »Und du hast mir oft genug gesagt, dass ich kein Dessrator bin«, erwiderte Cazio. »Und gelegentlich neige ich zur Schwarzseherei«, brummte z'Acatto. »Und das heißt?« Cazios Augenbrauen hoben sich überrascht. »Das heißt, dass es vielleicht noch Hoffnung für dich gibt«, erklärte z'Acatto. Er drohte seinem Schüler mit der Weinflasche. »Vielleicht.« »Du gibst also zu -« »Ich gebe gar nichts zu!« »Du betrunkener alter Narr, ich -« Sie stritten weiter, doch Anne spürte, dass die Schlacht gewonnen 652 war. Sie und Austra würden ihre Eskorte für die Reise nach Crothenien bekommen. Wieder dachte sie an ihre Visionen und an das, was sie mit dem hansischen Ritter gemacht hatte, und sie wünschte sich, alles auf der Welt wäre so einfach wie Cazio. Für sie würde die Welt nie wieder einfach sein. 54. Kapitel Der König auf dem Thron Der Herrscher von Crothenien zählte bis drei und klatschte dann entzückt in die Hände, als Hundehut ein Rebhuhn scheinbar aus der leeren Luft hervorzauberte. »Ausgezeichnet, Sire!«, sagte der Sefry. »Und jetzt werde ich ein Feuer für Euch herbeizaubern. Wenn ich Euch ersuchen dürfte, diesmal bis vier zu zählen?« Muriele sah den Sefry scharf an und bedachte ihren Sohn dann mit einem sanfteren Blick. »Charles«, sagte sie, »es ist Zeit, Hof zu halten.« Charles sah sie an; in seinem Gesicht arbeitete es. »Mutter«, flüstere er, »ich kann nicht bis vier zählen. Was soll ich machen?« »Charles«, sagte sie erneut, diesmal ein wenig eindringlicher. »Es ist Zeit, Hof zu halten. Du musst dich konzentrieren und König sein.« »Aber Vater ist doch König.« »Dein Vater ist nicht hier. An seiner Stelle musst du König sein. Verstehst du?« Er musste die Gereiztheit in ihrer Stimme bemerkt haben, denn seine Miene verdüsterte sich. Worte verstand Charles nicht immer, aber manchmal konnte er erstaunlich empfänglich für die Stimmungen anderer sein. 653 »Wie macht man das, Mutter? Wie ist man König?« Sie streichelte seine Hand. »Ich zeige es dir. Gleich werden ein paar Männer hereinkommen. Einige davon kennst du. Deinen Onkel Fail de Liery zum Beispiel.« »Onkel Fail?« »Ja. Ich rede mit ihnen, und du bist still. Wenn du das tust, bekommst du hinterher Bratäpfel mit Sahne und kannst auf dem Rasen spielen.« »Ich weiß aber gar nicht, ob ich auf dem Rasen spielen will«, wandte Charles zweifelnd ein. »Dann kannst du tun, was immer du möchtest. Aber du musst still sein, wenn ich mit diesen Männern rede, außer wenn ich dich ansehe. Wenn ich dich ansehe, musst du sagen: >Ich befehle es.< Kannst du das ?« »Benimmt sich so ein König?« »Genau so benimmt sich ein König.«
Charles nickte ernst. »Ich befehle es«, übte er. Muriele zuckte zusammen; in diesem Augenblick klang er fast genau wie ihr toter William. Charles musste bei den paar Gelegenheiten, bei denen er bei Hofe gewesen war, besser zugehört haben, als sie gedacht hatte. »Nun denn.« Sie schickte sich an, der Königlichen Garde zuzunicken, hielt jedoch inne und warf Sir Neil, der ein kleines Stück entfernt stocksteif dastand, einen Blick zu. »Sir Neil?«, fragte sie. »Werdet Ihr dies durchhalten?« Sir Neil wandte ihr dunkle Augen zu, die tief in den Höhlen lagen. »Ich kann dienen, Majestät.« Sie holte tief Luft. »Kommt näher, Sir Neil«, sagte sie. Er tat es und kniete vor ihr nieder. »Erhebt Euch und setzt Euch zu mir.« Der junge Ritter mit den alten Augen tat wie geheißen und nahm auf dem Stuhl zu ihrer Linken Platz. »Sir Neil«, sagte sie leise. »Ich brauche Euch an meiner Seite. Jetzt, wo Erren nicht mehr da ist, brauche ich Euch voll und ganz hier. Seid Ihr hier?« 654 »Ich bin an Eurer Seite, Majestät«, erwiderte Neil. »Ich werde Euch nicht noch einmal enttäuschen.« »Ihr habt mich niemals enttäuscht, Sir Neil«, sagte sie. »Wie könnt Ihr so etwas denken? Kein anderer Mann im ganzen Königreich hätte mich in Cal Azroth retten können, und doch habt Ihr es getan.« Neil antwortete nicht, doch er presste die Lippen fest zusammen, und sie sah seine Zweifel. »Ich weiß, dass Ihr meine Tochter geliebt habt«, sagte sie sanft. »Und nein, Erren hat es mir nicht erzählt. Ich habe es auch nie in Eurem Gesicht gesehen, wohl aber in Fastias. Sir Neil, wir führen kein Leben, das auf Glück ausgerichtet ist, hier, so nahe beim Thron. Wir führen das Leben, das uns gegeben wird, und wir tun unser Bestes. Im Leben meiner Tochter gab es nicht viel Glück. Ich habe zugesehen, wie sie binnen weniger Jahre von einem fröhlichen jungen Mädchen zu einer verbitterten alten Frau verdorrt ist. Ihr habt ihr vor ihrem Ende Glück und Hoffnung zurückgegeben. Einen besseren Dienst hätte ich nicht von Euch verlangen können.« »Ihr hättet von mir verlangen können, sie zu retten«, entgegnete er bitter. »Das war nicht Eure Aufgabe«, sagte Muriele. »Eure Pflicht war es, mich zu schützen. Dieser Pflicht habt Ihr genügt. Sir Neil, Ihr seid mein wahrer Ritter.« »Ich fühle mich dessen nicht würdig, Majestät.« »Es ist mir gleich, was Ihr fühlt, Sir Neil«, sagte sie und ließ diesmal Zorn in ihrer Stimme mitschwingen. »Wenn der Hof jetzt zusammentritt, schaut Euch um. Ihr werdet Praifec Hespero sehen, einen Mann mit Ehrgeiz und Einf luss. Ihr werdet Lady Gramme sehen, und neben ihr den Bankert meines Gemahls, und in ihren Augen werdet Ihr ein Glitzern der Habsucht bemerken. Ihr werdet zehn Männer von edler Geburt sehen, die glauben, dies sei eine günstige Gelegenheit, ihre fetten Hinterteile anstelle meines Sohnes auf den Thron zu pflanzen. Ihr werdet meine eigene Familie und Eure Gefährten aus Liery auf einen Krieg gegen uns dringen sehen. Sie überlegen, ob es nicht an der Zeit wäre, dass Crothenien wieder in Lierys Besitz fällt. 655 Und immer ist da noch Hansa, das seine Heere aufstellt und seine Ränke gegen uns schmiedet. Wer von ihnen hat meinen Gemahl getötet? Es könnte jeder gewesen sein. Sein Leichnam war von lierischen Pfeilen durchbohrt, aber das ist ein sehr durchsichtiger Trick. Irgendjemand hier hat ihn umgebracht, Sir Neil, und meine Töchter, und Prinz Robert. Jemand hier am Hofe, aber wer? Hier in Eslen werdet Ihr nichts anderes als meine Feinde zu Gesicht bekommen, und alles, was zwischen ihnen und mir steht, seid Ihr. Es kümmert mich also nicht, was für Unzulänglichkeiten Ihr Euch selbst zuschreibt. Es kümmert mich nicht, wie sehr Ihr trauert, denn ich schwöre Euch, es ist nicht ein Zehntel dessen, was ich fühle. Aber ich befehle Euch, als Eure Königin und als Mutter Eures Königs, mich zu beschützen, Eure Sinne geschärft und Euren Verstand wach zu halten. Mit Euch kann ich dieses Spiel vielleicht ein paar Monate lang durchstehen. Ohne Euch werde ich diesen Tag nicht überleben.« Er senkte den Kopf, dann hob er ihn wieder, und endlich erblickte sie ein wenig von dem jungen Mann, den sie zum ersten Mal gesehen hatte, als er in der Kapelle des heiligen Lier gebetet hatte. »Ich bin hier, Euer Majestät«, sagte er, diesmal mit fester Stimme. »Ich bin bei Euch.« »Gut. Das ist ein Glück.« »Majestät? Darf ich etwas fragen?« »Ja.« »Wird es Krieg mit Liery geben?« Sie wog die Frage einen Moment ab, ehe sie antwortete. »Wenn es dazu kommt«, fragte sie zurück, »könnt Ihr dann jene töten, an deren Seite Ihr einst gekämpft habt?« Er runzelte die Stirn, als verstünde er die Frage nicht. »Gewiss, Majestät. Ich werde jeden töten, der getötet werden muss, für Euch. Ich möchte es nur wissen, um die Garde besser vorbereiten zu können.« »Ein Krieg mit Liery ist die geringste meiner Sorgen«, erklärte sie. »In mir sehen sie eine Möglichkeit, den Thron schließlich doch noch kampflos zu bekommen, und sie müssen sich mit der Salzmark und mit Hansa befassen. Ich brauche nur anzudeuten, dass sie in mir je656 manden mit großem Einf luss auf den Thron haben, und mir vielleicht von einem meiner Vettern den Hof
machen zu lassen. Die Umstände von meines Mannes Tod und die Schiffe der Kummerinseln, die wir versenkt haben, können stillschweigend vergessen werden, und so wird es auch sein. Ich weiß nicht, was William und Robert vorhatten, und wahrscheinlich werde ich es auch nie erfahren, aber ich kann die Scherben zusammenkehren. Hansa ist es, das mir Sorgen macht, und Dolche in meinem eigenen Haus.« »Ja, Majestät«, sagte Neil. Sie neigte den Kopf. »Und jetzt, wie ich Euch gesagt habe, müsst Ihr wachen und sehen, was ich nicht beobachten kann. Hespero wird zuerst vorgelassen werden, und ich werde ihn zu meinem Ersten Minister ernennen.« Neil zog erstaunt die Brauen hoch. »Ich dachte, Ihr traut ihm nicht über den Weg?« »Nicht im Geringsten, aber das darf er nicht wissen. Man muss ihn einlullen und ihn verhätscheln. Er muss ständig beobachtet werden, und das geht am besten, wenn er stets an meiner Seite ist. Nachdem ich mit ihm gesprochen habe, werden die Seelords kommen, und wir werden Frieden mit ihnen schließen.« »Ja, Euer Majestät.« »Ja.« Sie holte tief Atem. »Ich befehle es!«, schrie Charles probehalber. Neil verneigte sich vor Charles. »Jawohl, Euer Majestät«, versicherte er dem König. »Wie in allen Dingen, bin ich auch jetzt Euer Diener.« Charles grinste, ein jungenhaftes, törichtes Grinsen. »Das wird lustig«, sagte er. 657 Epilog Ein letzter Fluch Ais der letzte Widerhall ihrer Schritte von der hungrigen Finsternis verschlungen worden war, vernahm Muriele Dare ein leises Stöhnen, wie Klauen, die über das Fell einer Kesselpauke kratzten. Etwas Unsichtbares regte sich, und obgleich kein Licht in der Dunkelheit erschien, fühlte sie Augen, als würden heiße Kohlen gegen ihr Fleisch gepresst. »Der Gestank einer Frau«, knirschte eine Stimme. »Es ist viele lange Jahrhunderte her, seit ich das gerochen habe.« Ein leises Klicken, dann fuhr die Stimme nachdenklich fort. »Ihr seid nicht sie. Ähnlich, aber nicht sie.« Murieles Nase zuckte unter dem harzigen Geruch, der in der Kammer herrschte. »Seid Ihr das, was dieser Mann behauptet?«, fragte sie. »Seid Ihr ein Skaslos?« »Bin ich, war ich, werde ich.« Die Worte schienen wie Tausendfüßler durch die Luft zu kriechen. »Wie kommt es, dass Ihr hier seid, wenn Ihr mich nicht kennt?« »Ich habe einen Schlüssel im Schlafgemach meines Gemahls gefunden. Ich habe nachgefragt. Qexqaneh, antwortet auf meine Frage.« »Mein Name«, sagte der Bewahrte. Es klang wie eine Verwünschung. »Ich habe viel von dem vergessen, was ich war. Aber, ja, einst wurde ich so genannt.« »Ihr seid seit zweitausend Jahren hier?« »An Jahre erinnere ich mich ebenso wenig, wie ich mich an den Mond erinnere.« Erneutes Kratzen in der Finsternis. »Euer Geruch missfällt mir.« »Es kümmert mich nicht, was Euch gefällt«, entgegnete Muriele. »Was kümmert Euch dann? Warum stört Ihr mich?« »Eure Rasse besaß Wissen über Dinge, das der meinen fehlt.« 658 »Um viel in wenigen Worten auszudrücken, ja.« »Sagt mir - könnt Ihr Ungesehenes sehen? Wisst Ihr, wer meinen Gemahl und meine Töchter getötet hat? Könnt Ihr sehen, ob meine Jüngste noch am Leben ist?« »Ich sehe«, antwortete der Bewahrte. »Ich sehe Rauch, der sich im Wind ausbreitet. Ich sehe, wie der Mantel des Todes die Welt streift. Ich sehe eine Sichel in Euch, hungrig danach zu ernten.« »Wer hat meine Töchter ermordet?«, wollte Muriele wissen. »Ssssss«, zischte er. »Ihre Gestalten sind zu undeutlich. Sie stehen hinter der Hülle.« Er hob die Stimme zu einem Schrei. »Königin! Ihr habt ein Messer in Euch, das danach giert, zu stechen und sich zu drehen.« »Lügt er?«, fragte Muriele den Bewahrer. »Er kann nicht lügen, Majestät«, antwortete der uralte Sefry. »Was habt Ihr meinem Gemahl gesagt?«, fragte Muriele. »Dass er der Tod sein oder sterben soll. Ich sehe, wofür er sich entschieden hat. Wollt Ihr der Tod sein, Ihr, die Ihr nach Mutterschaft stinkt?« »Ich will die Mörder meiner Familie tot sehen.« »Ssssssss! Das ist einfacher, als zu sehen, wer die Untat verübt hat«, erklärte der Bewahrte. »Ich kann Euch einen Fluch sagen. Es ist ein grauenhafter Fluch, der grauenhafteste, an den ich mich erinnern kann.« »Majestät«, ließ sich der Bewahrer vernehmen. »Hört nicht auf ihn.« Sie achtete nicht auf den Alten. »Ich kann die verfluchen, die mir meine Kinder genommen haben?« »Oh, leicht. Sehr leicht.« »Dann sagt ihn mir.«
»Majestät -«, begann der Bewahrer erneut, doch Muriele schnitt ihm das Wort ab. »Dreimal habt Ihr mich gewarnt, Bewahrer«, sagte sie. »Warnt mich nicht noch einmal, sonst lasse ich Euch die Trommelfelle sprengen. Wie wollt Ihr dann Eure einsame Musik genießen?« 659 Angesichts dieser Drohung verstummte der Sefry einen Moment. »Wie Ihr befehlt, Majestät«, gab er schließlich nach. »Erwartet mich an einem Ort, wo Ihr dieses Gespräch nicht mit anhören könnt. Ich rufe Euch, wenn ich Eurer Führung bedarf.« »Ja, Majestät.« Sie hörte, wie er davonschlurfte. »Eine Tochter der Königin seid Ihr«, sagte der Bewahrte, nachdem der Sefry gegangen war. »Ich bin die Königin«, erwiderte Muriele. »Erzählt mir von diesem Fluch.« »Ich werde Euch etwas sagen, das Ihr niederschreiben sollt, und Ihr werdet es in Blei ritzen und es in einen gewissen Sarkophag legen, den Ihr unter dem Horz in der Stadt der Toten finden werdet. Wer dort schläft, wird Eure Nachricht an jemanden überbringen, der sich auf Flüche wohl versteht.« Muriele dachte einen Moment lang darüber nach, dachte daran, wie der Atem aus Fastia gewichen war. »Sagt mir, was ich schreiben soll.« Die Kerzen in der Kapelle flackerten, als schlüge ein unsichtbarer Flügel über ihnen. Sacritor Hohn sah sich unbehaglich um, als wäre er soeben aus einem Albtraum erwacht, obwohl er nicht geschlafen hatte. Alles schien in bester Ordnung zu sein. In der Kapelle war es still. Fast hatte er sich wieder beruhigt, als die Schreie erklangen. Sie kamen aus der Kammer des Heilens, wo der Fremde war. Hastig eilte der Sacritor dorthin; er wusste, was dies bedeuten musste. Harte, dunkel gekleidete Männer hatten den Fremden vor Wochen gebracht. Sacritor Hohn wusste nicht, wer er war, gewiss jedoch war er jemand von Bedeutung, seiner Kleidung und der Art und Weise nach, wie er umsorgt wurde. Er hatte ein Wunde dicht am Herzen davongetragen, und seine Arzneien und heilender Sacaum hatten nicht viel mehr ausrichten können, als sein Dahinscheiden zu verlangsamen. Erst heute Morgen hatte sich der Zustand des Mannes ver660 schlechtert. Das einzig Überraschende war, dass er noch genug Kraft hatte, um zu schreien. Doch als der Sacritor den Vorhang zurückzog, schrie der Fremde nicht, und ebenso wenig war er tot. Nackt stand er da und starrte auf irgendeinen unsichtbaren Horizont des Grauens. »Lord«, stieß der Sacritor hervor. »Ihr seid erwacht.« »Wirklich?«, flüsterte der Mann. »Mir ist, als träumte ich. Einen entsetzlichen Traum.« »Der Heilige hat Euch gesegnet«, verkündete der Sacritor und machte ein Zeichen. »Ich hätte nie geglaubt, Euch je wieder auf den Beinen zu sehen. Erst heute Morgen war Eure Seele im Begriff, Euch zu entgleiten.« Der Mann sah ihn an, und irgendetwas in seinen Augen ließ Würmer am Rücken des Sacritors hinaufkriechen. »Wo bin ich?«, wollte der Fremde wissen. »In der Kapelle des heiligen Loy in Copenwis«, antwortete der Sacritor. »Wo sind meine Männer?« »Sie haben in der Stadt Quartier genommen. Einer steht draußen Wache. Soll ich ihn holen?« »Gleich. Gleich. Mein Bruder ist tot?« »Ich kenne Euren Bruder nicht, Lord.« »Kennt Ihr mich?« »Nein, Lord.« Der Fremde nickte und strich sich über den Bart. »Ich glaube, ich auch nicht«, sagte er. Sacritor Hohn war sich nicht sicher, ob er richtig verstand. »Habt Ihr Euer Gedächtnis verloren?«, erkundigte er sich. Dergleichen hatte er schon öfter gehört. »Manchmal verursacht der Schock einer Verwundung -« »Nein, das meine ich nicht. Ich erinnere mich nur allzu gut. Bringt mir meine Kleider.« »Lord, Ihr könnt noch nicht aufbrechen.« »Ich denke, ich kann.« Etwas in den Augen des Mannes sagte Sac661 ritor Hohn, dass er nicht widersprechen sollte. Schließlich war er soeben eines Wunders ansichtig geworden. Wenn die Heiligen einen Mann vom Tode erretten konnten, dann konnten sie ihn auch mit Leichtigkeit völlig wiederherstellen. Natürlich war die Wunde noch da ... »Wie Ihr wünscht, Lord«, sagte er und verbeugte sich. »Aber soll ich Euch noch läutern, bevor Ihr geht? Soll ich die Lustration vollziehen?« Der Mann starrte ihn an, und seine Lippen öffneten sich. Er gab ein Geräusch von sich, als ersticke er an irgendetwas, einmal, und dann noch einmal. Erst nach dem dritten Mal begriff der Sacritor, dass er Gelächter hörte, bitterer als die raueste See. 662 Danksagung
Dank gebührt folgenden Personen dafür, dass sie das Manuskript in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien gelesen und ihre Kommentare dazu abgegeben haben: T Karen Anderson, Kris Boldis, Ken Carelton, Veronica Chapman, Dave Gross, Professor Lanelle Keyes, Nancy Ridout Laudrum und Brian Smith. Ein Buch wird von vielen Händen geschaffen. Ich denke oft, dass sie erwähnt werden sollten, wie bei einem Film. Bei Del Rey habe ich vielen zu danken. Betsy Mitchell, der Verlagsleiterin und von ihrem ersten Tag in dieser Stellung an eine echte treibende Kraft für den Dornenkönig. Nancy Delia, der Cheflektorin, die alle Züge in ihren Gleisen hielt. Lisa Collins, der Redakteurin, die sich nicht nur mit meinen Rechtschreibfehlern im Englischen herumschlagen musste, sondern auch noch mit denen in mehreren Fantasiesprachen. Denise Fitzer, der Redaktionsassistentin - ohne eine kompetente Redaktionsassistentin kann alles sehr schnell aus dem Ruder laufen. Nichts lief aus dem Ruder. Und natürlich Steve Staffel, meinem Lektor, der an dieses Buch geglaubt und jahrelang heftig dafür gekämpft hat. Und schließlich danke ich Kuo-YuLiang für all die Jahre der Unterstützung als Verleger, Freund und Saufkumpan. Ich würde gern den Herstellungsleitern Barbara Greenberg und Eric Peterson für das Umschlagbild danken, David Stevenson für die Covergestaltung und eine Menge Rücksprachen mit mir, um sicherzugehen, dass die Karten auch wirklich stimmten. Kartenzeichner Kirk Caldwell danke ich für wahre Kunstwerke, und außerdem PR-Guru Colleen Lindsay und der Online-Marketing-Zauberin Christine Cabello. Ein großes Dankeschön an Dana Hayward dafür, dass sie Zeit und Mühe darauf verwandt hat, ein vorläufiges Leseexemplar zu erstellen, um das Buch so früh wie möglich bekannt zu machen. Darüber hinaus möchte ich Elizabeth B. Vega für ihre Hilfe beim Soundtrack danken (im zweiten Band wird man sehen, was ich mei663 ne) sowie dem Savannah Fencing Club für die moralische Unterstützung. Außerdem scheint dieses Buch auch außerhalb meines unmittelbaren Freundeskreises Anhänger zu haben, wofür ich dankbar bin - David Weller, Chuck Errig, Lisa Congelosi, Rebeccah Fitting, David Phethean, Ron Schoop und David Underwood.