Der Doppelgänger Zukunftsroman von Vargo Statten Wenn Sie UTOPIA-Zukunftsroman Nr. 162 und Nr. 163 gelesen haben, dann ...
34 downloads
344 Views
5MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Der Doppelgänger Zukunftsroman von Vargo Statten Wenn Sie UTOPIA-Zukunftsroman Nr. 162 und Nr. 163 gelesen haben, dann wissen Sie, was eine Psycho-Story ist. Hier geht es nicht um Raumfahrt und Eroberung im Weltall. Hier wird der Kampf des Menschen auf der Erde geschildert, der sich durch Dinge bedroht sieht, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Stellen Sie sich einmal vor, daß ein Mann in Ihre Wohnung eindringt, der Ihnen aufs Haar gleicht, dessen Fingerabdrücke sogar mit Ihren eigenen identisch sind! – Doch wir wollen nicht zu viel vorwegnehmen. Lesen Sie selbst, wie Harvey Bradman sein Leben verteidigt gegen ein Wesen, das ihm in allem überlegen scheint.
PERSONEN: Harvey Bradman, Vera Maynal, Peters, Dr. Carter, Mr. Danvers, Mr. Calmore, Dr. Hargraves, Oena,
Millionär seine Verlobte sein Diener Wissenschaftler Fotograf Bankier Physiker eine bezaubernde Frau
1. Kapitel Harvey Bradman und seine Verlobte Vera Maynal hatten eines der elegantesten Londoner Nachtkabaretts aufgesucht, um einen netten Abend zu verbringen. An einem Ecktisch saßen sie sich schon seit mehr als einer Stunde gegenüber und führten ein so angeregtes Gespräch, daß sie der Vorstellung nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenkten. Noch außergewöhnlicher mußte der Umstand erscheinen, daß sie an diesem Abend kein einziges Mal auf der Tanzfläche zu sehen gewesen waren, obwohl sie sonst leidenschaftlich gern tanzten. Man zählte sie zu den besten Tänzern der gesellschaftlichen Kreise dieser Stadt. Vera Maynals Gesicht strahlte Ernst und Entschlossenheit aus. Sie trug ein Abendkleid nach der allerletzten Mode, und ihr Schmuck blitzte und funkelte. Ihr schwarzes Haar ließ das strahlende Weiß ihres Gesichtes aufleuchten und der Duft eines erfrischenden und zugleich betörenden Parfüms ging von ihr aus. Ihre ganze Erscheinung verriet vollendeten Geschmack. Harvey Bradman, ihr Verlobter, war ein großer, gutmütiger Junge mit sympathischem Gesicht und liebenswürdigem Lächeln. Sein gutsitzender seidener Smoking betonte seine klaren, offenen Züge. Er sah sehr gut aus, doch ließ heute eine gewisse Unschlüssigkeit sein Gesicht verändert erscheinen. Als Junggeselle und Besitzer von zwei Millionen Pfund Sterling fand er beim wohlhabenden englischen Bürgertum viel Anklang. Das Groteske an dieser Situation war, daß Vera trotz ihrer Verlobung und ungeachtet der vielen Rivalinnen, die nur darauf warteten, ihren Platz einzunehmen, sich plötzlich weigerte, Harvey zu heiraten! Er versuchte vergeblich, den wahren Grund dieses Entschlusses zu erfahren, der ihn verwirrte und traurig stimmte. „Offen gestanden, Vera“, sagte er zum zwanzigsten Male, 4
„soviel ich mir auch den Kopf zerbreche – ich verstehe einfach nicht, was dich eigentlich daran hindert, mich zu heiraten … ich bin vielleicht nicht sehr intelligent, aber schließlich gehöre ich doch auch nicht zu den Dümmsten. Andererseits kann ich mir genausowenig vorstellen, daß es sich um ein finanzielles Problem handelt. Mein Vermögen erlaubt uns, der Zukunft in aller Ruhe entgegenzusehen … haben denn deine Eltern ihre Meinung über mich geändert?“ „Ich bin volljährig“, bemerkte sie. „Um so freier kannst du dich entscheiden.“ „Kommst du wirklich nicht darauf, Harvey?“ Wieder begann er mit gerunzelter Stirn zu grübeln – er war ehrlich verwirrt. Vera zündete sich eine Zigarette an und wartete ruhig lächelnd ab. „ln Wirklichkeit liebst du mich also gar nicht“, sagte er schließlich. „Da bin ich ja schön hereingefallen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, daß wir für einander bestimmt sind und daß …“ „O doch, ich liebe dich, Harvey“, unterbrach sie ihn. „Daran liegt es nicht.“ „Das ist doch unmöglich“, erwiderte er, „dann wärst du doch bestimmt damit einverstanden, mich zu heiraten!“ „Ich werde es auch tun, sobald du dich dessen als würdig erwiesen hast, Harvey.“ Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wechselte, und seine blauen Augen musterten das Gesicht des Mädchens aufmerksam. „Wann bin ich dessen würdig? Was meinst du damit? Willst du damit sagen, daß ich ein Nichtsnutz bin?“ „Ja, ungefähr das. Aber ich meine es nicht böse, glaube mir.“ Sie legte ihre Hand auf Harveys Arm und erklärte: „Du bist der beste Junge der Welt, und man kann sich nie5
manden vorstellen, der großzügiger wäre als du. Aber eines steht fest, du vergeudest dein Leben. Daß dein Vater als Waffenfabrikant Millionen verdient hat, ist kein Grund dafür, daß du herumlungerst und nichts tust.“ „Du möchtest also, daß ich ein Herdentier werde, nicht wahr?“ fragte er mit ironischem Lächeln. „Jeden Morgen ins Büro gehen, den ganzen Tag arbeiten und mich für Geschäfte begeistern. Wie jeder heute.“ „Ich glaube, daß dir das gut täte“, gab sie zu, „aber es ist ja nicht unbedingt notwendig, die Dinge so weit zu treiben …“ Sie lehnte sich nach hinten. „Nein, ich stelle mir eigentlich eher vor, daß du dich in einem bestimmten Beruf hervortun mußt: als Architekt, Ingenieur, Chemiker oder irgend etwas Ähnliches. Es steht dir ja frei, das auszusuchen, was dir paßt, etwas Überdurchschnittliches.“ „Mit achtundzwanzig Jahren?“ stieß er mit erstickter Stimme hervor. „Mit achtundzwanzig Jahren soll ich noch einen Beruf ergreifen! Überleg doch, Vera – ich bin wirklich zu alt, um erst anzufangen …“ „Du bist nicht zu alt, um zu studieren. Viele große Geister haben vor ihrem dreißigsten Lebensjahr überhaupt nichts Vernünftiges getan. So kann es auch bei dir sein.“ „Soll ich mich etwa darauf verlassen, daß du während dieser … dieser Lehrzeit auf mich wartest? Bei meiner geistigen Veranlagung bin ich bestimmt sechzig Jahre alt, bevor ich etwas Vernünftiges zuwege bringe.“ „Ich warte schon, aber übertreibe nicht so!“ fügte Vera streng hinzu. „Du hast sicher die notwendige Begabung, aber du tust nichts dafür. Verstehst du mich denn nicht? Ich möchte, daß du etwas aus deinem Leben machst, weil ich dich liebe! Ein Mensch ohne Aufgabe ist ein Parasit. Ich will keinen Parasiten heiraten.“ „Du verlangst also, daß ich meine Existenz in dieser Welt 6
durch unsterbliche Werke bekräftige und mich damit dem Dienst an der Menschheit weihe?“ fuhr Harvey ironisch fort. „Du bist von einem geradezu erschreckenden Optimismus besessen, Vee, und ein bißchen verrückt dazu. Da sitze ich also mit meinen Millionen, einem Haus in der Stadt und einem auf dem Land, frei wie ein Vogel und blind vor Liebe zu dir … und du verlangst von mir, daß ich Leiter einer Baufirma werde oder etwas Ähnliches!“ „Davon habe ich nichts gesagt. Weiche nicht ständig vom Thema ab. Du weißt, daß ich auch arbeite, obwohl mein Vater mehr Geld hat, als er jemals ausgeben kann. Ich bin Präsidentin der Frauenhilfsliga.“ „Tatsächlich?“ sagte Harvey feierlich. Doch dann schlug er plötzlich einen anderen Ton an. „Ach, laß uns doch mit diesem Unsinn Schluß machen, Vee! In unseren Kreisen hat doch so etwas keinen Sinn …“ „Für mich schon. Du meinst also, du wärst über das Alter hinaus, sich für einen Beruf vorzubereiten? Also gut, dann tue irgend etwas Bemerkenswertes. Etwas, das dich über dein eigenes Ich hinaushebt und beweist, daß du zu Großem fähig bist, etwas Heldenhaftes, etwas Berühmtes …“ „Es ist Zeit, daß ich dich nach Hause bringe, Vee“, sagte er und stand auf. „Du fängst jetzt wirklich an, den Kopf zu verlieren.“ „Nicht im mindesten! Ich wollte dir nur sagen, unter welcher Bedingung ich dich heirate – alles andere hängt von dir ab. Niemals werde ich mein Leben an einen Faulpelz hängen, der sich durch nichts anderes auszeichnet als sein Bankkonto.“ Sie schob sanft, aber entschlossen das Chinchillacape von sich, das Harvey ihr hinhielt. „Ich gehe noch nicht nach Hause“, sagte sie. „Ich warte auf Maisie, der noch kommen wollte. Ich habe ihm etwas zu sagen.“ 7
Harvey seufzte, hängte den Umhang wieder weg und murmelte: „Ich ziehe mich mit deiner Erlaubnis zurück, Vee, und sei es auch nur, um deine Anregung zu bedenken. Kann ich dich morgen gegen Mittag anrufen?“ „Einverstanden!“ Harvey beugte sich zu ihr herunter, drückte einen zärtlichen Kuß auf die Stirn des Mädchens und verließ den Raum. Er ließ sich in der Garderobe Mantel und Hut geben und verließ, in Gedanken versunken, das Lokal. „Ihr Wagen, Mr. Bradman?“ fragte der Portier. „Mein Wagen? Was … ach ja, richtig. Hören Sie, Charles – was würden Sie als besonders mutige Tat ansehen?“ Charles schien irgendwie überrascht, aber er hatte sich an die zuweilen recht seltsamen Einfälle seiner Gäste gewöhnt. Nachdenklich zog er die Stirn kraus und meinte: „Zum Zahnarzt zu gehen und sich sämtliche Zähne ziehen zu lassen ohne Betäubung.“ „Nein, so etwas meinte ich nicht“, seufzte Harvey. „Aber trotzdem – vielen Dank. Hier, gönnen Sie sich einmal ein paar gute Zigarren.“ „Danke, Mr. Bradman.“ Charles steckte das Geld ein, hielt den hinteren Wagenschlag auf und schloß ihn dann wieder, während sich Harvey in die Polster fallen ließ. „Wir fahren sofort nach Hause, Richard“, sagte er zum Chauffeur, „Miß Maynal kommt heute abend nicht mit.“ „Sehr wohl, Mr. Bradman.“ Harveys Gedanken schweiften in unbestimmte Ferne, und plötzlich hielt der Wagen vor seiner Wohnung in der Nähe von Piccadilly Circus. Er schien noch in tiefer Selbstbemitleidung versunken, als Peters, sein Diener, ihm Mantel und Hut abnahm. 8
„Fühlen Sie sich nicht ganz wohl, Mr. Bradman?“, fragte der Diener. „Ich bin durchaus auf der Höhe“, erwiderte Harvey feierlich. Peters wußte, daß er besser daran tat zu schweigen, doch er konnte sich erlauben, auf seinem mageren Gesicht leise Zweifel sichtbar werden zu lassen. Er war groß gewachsen, fast sechzig Jahre alt, pünktlich wie der Sonnenaufgang und dem jungen Bradman ganz ergeben – was ihn jedoch nicht daran hinderte, wie Vera Maynal heimlich zu bedauern, daß seinem jungen Herrn jeder gute Wille und jedes Interesse abgingen und er sich mit nichts Ernsthaftem beschäftigte. „Verzeihen Sie, daß das Abendessen noch nicht fertig ist. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, möchte ich sagen, daß Sie heute etwas früher als gewöhnlich gekommen sind.“ „Zwei Stunden früher“, gab Harvey zu. „Es ist mir, wie man so sagt, eine Laus über die Leber gelaufen.“ „Tatsächlich, Sir?“ Peters ging mit geräuschlosem Schritt zur Garderobe, legte Hut und Mantel ab und kam dann wieder zu Harvey. „Sollte etwa Miß Maynal dafür verantwortlich sein?“ „Genau. Machen Sie mir einen Cocktail zurecht, Peters, und ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen – vielleicht können Sie mir helfen.“ „Es wird mir ein Vergnügen sein.“ Peters folgte Harvey gemessenen Schrittes in sein Arbeitszimmer. Der junge Mann setzte sich trübselig auf den Divan und nahm seinen Cocktail, den Peters ihm auf einem Teewagen servierte. „Peters, ich muß mich entweder für einen Beruf entscheiden, um darin Hervorragendes zu leisten, oder irgend etwas tun, das die Leute zur Überzeugung bringt, daß ich meine Zeit nicht damit totschlage, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen und Snobs zu besuchen.“ 9
Auf Peters Gesicht erschien ein leichtes, unpersönliches Lächeln. „Sind das die Bedingungen, die Ihnen Miß Maynal wegen der Heirat gestellt hat?“ „Wie haben Sie das erraten?“ fragte Harvey und warf einen traurigen Blick auf seinen Cocktail. „Nun, Sie bemerkten heute abend, bevor Sie weggingen, daß Sie … Miß Maynal Ihren Antrag stellen würden. Meine Folgerung ist daher gar keine besondere Leistung.“ Harvey leerte sein Glas, zündete sich eine Zigarette an und stand auf. „Was, zum Teufel, soll ich tun, Peters? Das ist jetzt die Frage. Ich kann doch nicht in meinem Alter noch anfangen zu studieren! Außerdem interessiert mich überhaupt kein bestimmter Beruf.“ „Sie haben doch manchmal Interesse für wissenschaftliche Fragen gezeigt. Die gegenwärtigen Erkenntnisse der Wissenschaft interessieren Sie sicher sehr?“ „Hm – ich möchte nicht übertreiben. Mein Interesse für die Wissenschaft geht kaum über das hinaus, was jeden intelligenten Menschen anspricht. Das bedeutet also nicht, daß ich mir jemals den Ehrgeiz leisten könnte, in Einsteins Fußstapfen zu treten.“ Harvey starrte auf das glühende Ende seiner Zigarette und überlegte. „Kennen Sie nicht zufällig eine hübsche Blondine, die man aus einem Haus retten müßte, das in Flammen steht? Denn mit einer Heldentat wird man wohl am ehesten bekannt, nicht?“ „Selbst wenn ich jemanden kennen würde, glaube ich eher, daß man diese Aufgabe besser der Feuerwehr überlassen sollte, Mr. Bradman. Je länger ich überlege, desto mehr komme ich zur Ansicht, daß Maß Maynal Ihnen eine sehr schwierige Bedingung gestellt hat.“ „Schwierig? Ungeheuerlich!“ 10
Harvey zog an seiner Zigarette und rauchte gleichgültig weiter. Peters wartete mit zur Decke gewandtem Blick, was erraten ließ, wie angestrengt er nachdachte. „Vielleicht sehe ich morgen früh klarer“, sagte Harvey schließlich und zuckte die Schultern. „Da ich ja sonst so sinnund ziellos lebe, kann ich heute einmal ganz früh zu Bett gehen.“ „Sehr wohl, Mr. Bradman.“ Und tatsächlich lag Harvey um ein Uhr schon in tiefem Schlaf, und nach dem Lächeln auf seinen Zügen zu schließen, störte ihn Veras Ultimatum nicht mehr allzusehr. Peters dagegen zerbrach sich den Kopf, um eine Aufgabe zu finden, die den Fähigkeiten seines jungen Herrn entsprach. Doch nach einer Weile stellte er fest, daß ihm nichts einfallen wollte, und er legte sich ebenfalls schlafen. * Am nächsten Morgen um sieben Uhr war Peters wie gewöhnlich wieder auf den Beinen, um seinem Herrn den Tee zu machen. Auf diesen Augenblick freute sich Peters immer am meisten. Er war der einzige dienstbare Geist des Hauses, und wenn sein Herr nicht in der Nähe war, wurde der alte Diener sozusagen zu einem menschlichen Wesen. Er rauchte bei der Arbeit und trug auch seine gestreifte Weste nicht. Er holte die Zeitung herein, die vor der Haustür auf der Matte lag, und nahm sie in die Küche mit, um beim Teetrinken die Neuigkeiten zu lesen – da fiel sein Blick sofort auf ein Bild. Er fuhr hoch, und die halbvolle Tasse fiel zu Boden, ohne daß er es bemerkte. „Der Teufel soll mich holen!“ Er sah noch einmal genauer auf Harveys Bild – denn daß er es war, darüber bestand kein Zweifel –, dann sprang ihm das 11
einzige Wort in die Augen, das unter dem Bild zu lesen war: „Held“! Peters starrte wie gebannt auf den Artikel darunter und überflog ihn rasch. Dann las er ihn noch einmal langsam durch und bemühte sich, das Unmögliche zu fassen. Der Artikel lautete: „In der vergangenen Nacht gegen vierundzwanzig Uhr wurde die Pressekorrespondentin Janet Thomson am Steuer ihres Wagens von plötzlichem Unwohlsein ergriffen. Sie verlor die Herrschaft über ihr Fahrzeug, das auf der Straße weiterrollte und schließlich am Bahnübergang in der Nähe vor UpperNamos mitten auf den D-Zug-Schienen stehenblieb. Als es Mrs. Cardwell, der Schrankenwärterin – eine der wenigen Frauen, die auch heute noch dieses Amt versehen – trotz aller Bemühungen nicht gelang, die bewußtlose Frau zu retten, verließ sie den Übergang einen Augenblick, um Alarm zu geben. Während sie damit beschäftigt war, erschien ein Mann am Schauplatz unseres Berichtes, hob Miß Thomson aus dem Wagen, zog dann – ein Beweis ungewöhnlicher Kraft – den Wagen aus dem Gleis, und verhütete damit einen Unfall, der tragisch hätte enden können. Der unbekannte Retter behob darauf den Motorschaden, der beim Anprall gegen die Schranke entstanden war und brachte Miß Thomson zum nächsten Arzt. Sie kam bald wieder zu Bewußtsein, ohne sich jedoch in irgendeiner Weise an die gefährliche Lage zu erinnern, in die sie geraten war. Ihr Wohltäter erzählte ihr schließlich, wo er sie gefunden hatte. Miß Thomson beharrte darauf, diese mutige Tat und das Bild ihres Retters zu veröffentlichen und wir kommen ihrem Wunsch gerne nach. Unseren Lesern sind die Modechroniken von Miß Thomson ohne jeden Zweifel ein Begriff. 12
Der mutige Retter weigerte sich, seinen Namen zu nennen und verschwand, kaum daß man ihn fotografiert hatte.“ „Der Teufel soll mich holen, wenn ich das verstehe!“ murmelte Peters und betrachtete das Bild nochmals. „Kein Zweifel, er ist es. Wie war denn das möglich? Und wo soll UpperNamos sein?“ Peters überlegte einen Augenblick, dann stand er auf und ging zur Bibliothek. Er schlug in einem Ortsverzeichnis nach und stellte fest, daß Upper-Namos etwa zwanzig Meilen von London entfernt war. „Das ist unmöglich“, murmelte Peters verblüfft. „Das gibt es einfach nicht. Harvey konnte gar nicht dort sein, wenn er kein Nachtwandler ist, und davon habe ich noch nichts gemerkt.“ Kopfschüttelnd richtete er das Frühstück und brachte es Harvey. Etwas verwirrt betrat er das Zimmer, als ob er erwartet hätte, Harvey auf- und abschreitend seinen Heroismus preisen zu sehen. Doch nichts Derartiges begegnete ihm: Harvey hatte sich unter der Decke zusammengerollt, und er mußte ihn wie üblich dreimal kräftig schütteln, bevor er sich rührte. „Schon Morgen?“ nörgelte er endlich, und sein verschlafenes Gesicht tauchte über der Decke auf. „Halb acht?“ „Jawohl, halb acht Uhr, Mr. Bradman.“ Peters sah ihn starr an – immer noch die Zeitung unter dem Arm. Harvey knurrte und griff nach der Teetasse. „Wir müssen die Zeit zum Wecken verschieben, Peters. Um halb acht wegen einer Tasse Tee aufwachen zu müssen, ist einfach ekelhaft“, murmelte er. „Sehr wohl, Sir … äh … Verzeihen Sie mir eine indiskrete Frage: Sind Sie heute nacht noch einmal ausgegangen? Ich meine, sind Sie, nachdem Sie nach Hause gekommen waren, zufällig noch einmal weggegangen?“ 13
Harvey starrte ihn durch sein über die Augen hängendes Haar an. „Ich bin schlafen gegangen, sonst nichts. Warum sollte ich denn wieder fortgehen, wenn ich hier ein gutes Bett zum Schlafen habe?“ „Ich meinte nichts Bestimmtes, aber … aber das beunruhigt mich irgendwie. Um es kurz zu machen … hier können Sie sich selbst sehen.“ Peters streckte ihm die Zeitung hin. Harvey war noch nicht ganz wach und konnte daher den Text kaum entziffern. Aber sein Bild erkannte er gleich. Als schlagender Beweis dafür floß der Rest seines Tees über die Daunendecke. Peters holte schnell ein Tuch, und während er die Flüssigkeit abtupfte, las Harvey den Artikel. Der Mund blieb ihm offenstehen. „Aha, ich schlafe noch!“ sagte er schließlich. „Das ist die einzige Erklärung.“ „Keineswegs, Mr. Bradman, Sie sind schon wach!“ erwiderte Peters und legte das feuchte Tuch auf sein Tablett. „Dieser Artikel existiert und Ihr Bild ist auch abgedruckt.“ „Es scheint wirklich so“, gab Harvey zu Und schluckte. „Wie erklären Sie sich das? Haben Sie eine Idee?“ „Ich hoffte, Sie könnten mir das erklären, Mr. Bradman, deshalb habe ich Sie gefragt, ob Sie heute nacht noch ausgewesen sind. Denn gestern abend sind Sie doch früh zu Bett gegangen. Um zwanzig vor zwölf, um es genau zu sagen. Ich nehme an, daß Sie dann eingeschlafen sind …“ „Gegen ein Uhr morgens“, stellte Harvey fest und schlang die Arme um seine Knie. „Ich konnte Veras Worte einfach nicht vergessen. Die Geschichte, von der die Zeitung berichtet, geschah gegen Mitternacht, und der Ort liegt ungefähr … Wie weit ist das Dingsdorf von hier weg?“ „Grob gerechnet, zwanzig Meilen.“ 14
Peters erwähnte nicht, daß er nachgeschlagen hatte. Er zog es vor, gut informiert zu erscheinen. „Zwanzig Meilen! Na, dann kann diese idiotische Geschichte ja gar nicht stimmen! Es handelt sich sicher um jemanden, der mir sehr ähnlich sieht … nein, der mein Doppelgänger ist! Man behauptet ja, jeder habe seinen Doppelgänger. Dieser Kerl ist meiner. Vielleicht ist es sogar ein entfernter Verwandter. Leider hat er seinen Namen nicht genannt.“ „Sie sollten eigentlich sagen: Gottlob nicht!“ „Gottlob nicht? Wieso?“ „Sehen Sie, Mr. Bradmann, gestern abend machte uns doch das Ultimatum von Miß Maynal so zu schaffen. Was verlangte sie? Eine besonders mutige Tat. Es sieht doch jetzt so aus, als hätten Sie das erfüllt, und vor lauter Bescheidenheit nicht einmal Ihren Namen genannt. Das sagt sogar die Schlagzeile über Ihrem Bild. Sie sind ein Held. Das ist doch etwas ‚Außergewöhnliches’, meinen Sie nicht?“ „Und wenn der andere sich nun zu erkennen gibt, was ist dann?“ „Sich wem zu erkennen gibt, Mr. Bradman?“ „Nun … ich meine … das heißt …“ Harvey schob sich die Locken aus der Stirn und zündete die erste Zigarette des Tages an. „Ich verstehe schon, was Sie meinen, Peters“, fuhr er fort. „Ich soll Vera im Glauben lassen, ich sei der Betreffende gewesen, nicht wahr? Das einzige, was sie dazu bringen könnte, mir nicht zu glauben, wäre das Auftauchen des wirklichen Retters.“ „Genau das, Mr. Bradman – und diese Möglichkeit können wir doch wohl als sehr unwahrscheinlich betrachten. Außerdem würde dieser Mann, wenn er wirklich so bescheiden ist, wie es den Anschein hat, niemals von seiner mutigen Tat sprechen. Ich 15
weiß zwar nicht, ob andere Zeitungen auch davon berichtet haben, aber ich zweifle daran. Wenn die Frau nicht Mitarbeiterin bei dieser Zeitung wäre, hätte man doch wohl kein so großes Aufhebens davon gemacht. Auf jeden Fall muß Miß Maynal diesen Bericht zu Gesicht bekommen.“ „Richtig“, gab Harvey zu und rieb sich die Hände. „Das kommt uns wie ein Geschenk vom Himmel, Peters. Ich weiß zwar nicht, wer dieser tapfere Junge ist, aber ich ziehe den Hut vor ihm.“ Harvey schwieg und runzelte die Augenbrauen. Peters wartete ruhig und schweigend ab. „Eigentlich ist es ja seltsam“, murmelte Harvey. „Ich meine diese Ähnlichkeit mit mir. Ich kenne niemand in meiner Verwandtschaft, der mir so verblüffend ähnlich sähe. Ich frage mich, wer das nur sein könnte.“ „Das ist doch ziemlich unwichtig, Mr. Bradman. Soll ich Ihnen das Telefon herübergeben?“ Harvey stimmte abwesenden Geistes zu. Doch Peters hatte kaum die Hand auf den Apparat gelegt, als er zu klingeln begann. Peters nahm den Hörer ab. „Hier bei Bradman. Oh – guten Tag, Miß Maynal.“ Peter wechselte einen Blick mit Harvey. „Ja, er ist schon aufgestanden. Wenn Sie einen Augenblick warten, schalte ich sofort um.“ Der alte Diener flüsterte seinem Herrn ins Ohr: „Vergessen Sie auf gar keinen Fall, daß Sie sich zunutze machen müssen, was wir gelesen haben. Miß Maynal wird aus diesem Grund anrufen, glaube ich.“ „Hallo, Liebling, was gibt es? Hatte ich nicht gesagt, daß ich gegen Mittag anrufen würde?“ „Das ist mir zu spät, Harvey. Ich muß sofort die Erklärung für diese Geschichte haben. Was hast du heute nacht am Bahn16
übergang bei Upper-Namos zu suchen gehabt? Falls du es nicht wissen solltest: dein Bild prangt auf der ersten Seite der ‚Nachrichten’.“ „Das befürchtete ich“, seufzte Harvey. „Aber die Sache selbst ist doch kaum erwähnenswert.“ „Ganz im Gegenteil – ich finde das sehr mutig. Nur eins verstehe ich nicht: wie konntest du so viel Kraft entfalten?“ „So viel Kraft, wieso?“ „Die Vorstellung, daß du allein einen Wagen mit Panne vom Bahnübergang weggeschoben hast! Einen Wagen zu schieben ist an sich nicht schwierig, aber auf dem unebenen Gelände eines Gleisübergangs ist das doch einfach mörderisch. Du bist viel stärker, als ich angenommen hatte.“ „Du weißt eben manches von mir nicht“, sagte Harvey lächelnd. „Auf jeden Fall bist du zufrieden, wie ich annehme? Du wolltest doch, daß ich mich als Held zeige, nicht? Also gut. Das ging wenigstens schneller, als über Büchern zu schwitzen oder so etwas Ähnliches.“ „Lieber Harvey, ich bin wirklich stolz auf dich“, flötete Vera. „Und ich werde mein Wort halten … Wann können wir uns sehen?“ „Muß man das wirklich so geschäftsmäßig abhandeln?“ sagte Harvey mit klagender Stimme. „Aber wenn du mich schon fragst, was hältst du davon, wenn ich dich zum Mittagessen einladen würde?“ „In Ordnung! Hole mich zu Hause ab – punkt zwölf Uhr erwarte ich dich!“ „Ich werde Schlag zwölf da sein“, versprach Harvey feierlich. Er hängte ein. Peters nahm ihm den Apparat ab und rieb sich dann leise die Hände. „Ich errate, daß Miß Maynal jetzt überzeugt ist?“ 17
„Voll und ganz! Um so besser, daß sie es selbst gelesen hat, ohne daß man sie darauf aufmerksam machen mußte. Mein grauer Anzug mit den feinen Streifen, Peters. Ich habe viel zu tun.“ * Pünktlich um zwölf Uhr hielt Harvey, am Steuer seines großen Sportwagens, vor dem Hause, in dem Vera mit ihren Eltern wohnte. Harvey, untadelig gekleidet, stieg aus, ging auf und ab – doch dann zögerte er. Ein Mann sah ihn aus der Ferne an. Das war an sich nichts Besonderes; merkwürdig daran war nur, daß dieser Mann ihm geradezu verblüffend ähnelte, obwohl er anders gekleidet war. „Teufel!“ murmelte Harvey, winkte dem Unbekannten sofort zu und tat einige Schritte in seiner Richtung. Der Mann kümmerte sich nicht darum, nahm die Beine unter den Arm und flüchtete. Noch nie hatte Harvey jemanden so schnell laufen gesehen! Bald verzichtete er darauf, dem Mann nachzurennen. Die Straße verlief gerade, und der Unbekannte entfernte sich immer schneller; Harvey eilte zu seinem Wagen, sprang hinein und setzte zur Verfolgung seines Doppelgängers an. Zweifellos wäre ihm sein Plan geglückt, wenn er bei dieser Hetzjagd nicht ausgerechnet einem Polizeiwagen in die Quere gefahren wäre. Während er seine Ungeschicklichkeit erklären wollte, war der Doppelgänger schon verschwunden. „Das ist ja zum Verrücktwerden!“ beklagte er sich, während der Polizist ihn eiskalt musterte und sich Notizen machte. „Durch Ihre Schuld versäume ich jetzt eine wichtige Verabredung. Mein Freund wird mir was erzählen. Aber vielleicht wissen Sie gar nicht, wer ich bin?“ 18
„Ich weiß es nur zu gut, Mr. Bradman“, erwiderte der Polizist. „Wie merkwürdig es doch manchmal im Leben zugeht – das überlege ich mir gerade.“ „Aha, Philosoph sind Sie also auch noch?“ stieß Harvey wütend hervor. „Was ist denn so merkwürdig im Leben?“ „In der vergangenen Nacht haben Sie eine Frau gerettet, die sich in Lebensgefahr befand, und heute morgen fahren Sie in einer Weise, daß man Sie als verkehrsgefährdend ansehen muß. Bei dem Unterschied zwischen Mörder und Held scheint es offenbar nur auf die Umstände anzukommen?“ Harvey zog den Mund schief, erwiderte jedoch nichts. Fünf Minuten später stand er wieder vor Veras Haus. Er fand sie an der Tür. Sie war entzückend gekleidet, sah jedoch ihren Verlobten mit unverhohlenem Zorn an. „Bist du denn wahnsinnig?“ fragte sie kalt. „Ich, Liebling?“ fragte er und kam näher. „Nein, bis jetzt noch nicht. Aber man kann ja nie wissen …“ „Das dachte ich auch gerade! Ich komme aus dem Haus, um dir entgegenzugehen, da rast du wie ein Wirbelwind zum Wagen und braust ab. Hast du einen Stich?“ „Ich … äh … ich sah gerade einen Bekannten und ich …“ „Jemand, der wichtiger ist als ich?“ warf sie scharf ein. „Keineswegs!“ antwortete Harvey mit einer vagen Handbewegung. „Es war nur eine Zufallsbekanntschaft … aber steig doch ein, wir kommen ja zu spät zum Essen.“
Kapitel 2 Harvey kam zur üblichen Zeit, um ein Uhr nachts, nach Hause. Peters erwartete ihn. „Heute abend sind wir zufrieden, Mr. Bradman“, bemerkte er, 19
als er Harvey Hut und Überzieher abnahm. „Irre ich mich, wenn ich annehme, daß Miß Maynal Ihren Antrag angenommen hat?“ „Keineswegs. Aber Sie nahm ihn nur mit Vorbehalt an. Es gab einen Zwischenfall.“ „Tatsächlich? Möchten Sie vielleicht etwas essen und mir dabei erzählen?“ „Ausgezeichnete Idee!“ Bei einigen Sandwiches und einem Cocktail berichtete Harvey von der merkwürdigen Begegnung, die er mit seinem Doppelgänger gehabt hatte. Peters unterbrach ihn wie gewöhnlich nicht, und als Harvey zu Ende war, standen scharfe Falten auf der Stirn des Dieners. „Seltsam, sehr seltsam, Mr. Bradman – und ist es Ihnen gelungen, in Rufweite des Mannes zu kommen?“ „Bei Gott, nein! Dieser Mann läuft, als säße er auf einer Rakete! Was mich am meisten wundert, ist, daß er weiß, wo er mich finden kann, obwohl es doch dafür keinen Anhaltspunkt gibt. Beim nächsten Mal wird er vielleicht hier erscheinen!“ „Ich würde es wünschen, Mr. Bradman, denn dann könnten wir die Situation in die Hand bekommen. Denn all das ist gewiß kein purer Zufall. Irgend jemand, der Ihnen äußerlich ähnelt, überwacht Sie auf Schritt und Tritt und beabsichtigt vielleicht, Ihnen Angst zu machen.“ „Nun, wenn er das wirklich beabsichtigt, hat er sein Ziel verfehlt! Ich ängstige mich nicht im mindesten … leider bin ich aber dadurch in einer unangenehmen Lage, denn wenn Vera ihn jemals zu sehen bekommt, geht ihr ein Licht auf, und meine Heldensage löst sich auf wie Butter an der Sonne.“ Peters schwieg lange, dann seufzte er. „Ich glaube, wir können nichts gegen diesen Mann unternehmen. Da er sich bis jetzt Miß Maynal noch nicht gezeigt hat, hoffen wir, daß er sich auch weiter so vorsichtig verhält.“ 20
„Hoffen wir das beste!“ sagte Harvey. Er zog sich zurück und ging zu Bett, doch immer wieder geisterte in furchtbaren Alpträumen der Mann durch seine Gedanken, der aussah wie er, und Harvey fuhr immer wieder aus dem Schlaf. Wie Peters ganz richtig gesagt hatte – diese Geschichte beruhte nicht auf einem Zufall. Es war eine regelrechte Bedrohung. Mehrere Tage verstrichen, ohne daß der Fremde wieder erschien. Harvey hatte es aufgegeben, plötzlich grundlos die Flucht zu ergreifen, hatte sich beruhigt und überließ sich Veras zärtlichen Regungen. Das Geheimnis des Doppelgängers schien vergessen. * Als Harvey eines Abends aus dem Hause ging, um Vera zu treffen, kam er an einem Zeitungshändler vorüber, der gerade vor Harveys Wagen stand. Dabei warf er einen raschen Blick auf die erste Seite der Zeitung, die der Mann unter dem Arm hielt. Aber dieser Blick genügte, ihn von Kopf bis Fuß erstarren zu lassen. Wieder war ein Bild – diesmal allerdings ein anderes – von ihm abgedruckt. „Hallo, Sie!“ schrie Harvey und winkte dem Verkäufer. „Bitte eine Zeitung!“ Der Mann wandte sich sofort um und kam näher. Harvey gab ihm eine halbe Krone und war so in das Blatt vertieft, daß er nicht auf sein Geld achtete. Er vergaß auch völlig, daß er zu seinem Wagen wollte, ging wieder zum Haus zurück und klingelte. „Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?“ fragte Peters überrascht, als Harvey in den Vorraum stürzte. Harvey antwortete nicht. Er streckte Peters die Zeitung hin, und dieser las: „Wissenschaftler zieht gegen die Frauen zu Felde. 21
Dr. Boris Carter, ein amerikanischer Philosoph, der seit kurzer Zeit in England weilt und am Abend seiner Ankunft eine Frau rettete, die von einem D-Zug erfaßt worden wäre, hat heute im Institut für Angewandte Wissenschaften einen Vortrag vor Psychologen gehalten. Dr. Carter äußerte sehr strenge Urteile über die Frauen, die seiner Aussage zufolge auf grundlegenden Untersuchungen beruhen. So ist er zum Beispiel unbedingt überzeugt davon, daß Egoismus, der meist als männliche Eigenschaft betrachtet wird, bei Frauen weitaus häufiger vorkommt und bei ihnen auch stärker ausgeprägt erscheint. Außerdem erklärte er, auf Grund der Ergebnisse seiner Untersuchungen müsse man die Frauen als Wesen ansehen, die kaum wesentlich über niederen Tieren ständen, bei welchen man ebenfalls intelligenzähnliches Verhalten beobachten könne. Bei der Mehrzahl der Frauen indessen sei diese Fähigkeit nur scheinbar vorhanden, denn keine Frau habe jemals in ihren Überlegungen die mindeste logische Befähigung gezeigt. Dr. Carters Behauptungen lösten bei seinen Zuhörerinnen lebhaften Protest aus. Dennoch rückte er in keiner Weise von seinem Standpunkt ab und beantwortete mit ruhiger Stimme alle Einwände, die man ihm entgegenhielt. Dieser Vortrag war der erste, den Dr. Carter in der Öffentlichkeit hielt. Lange Zeit lebte er völlig zurückgezogen und widmete sich psychologischen Studien über die Frau.“ „Um Gottes willen!“ rief Peters entsetzt. „Ein Elefant im Porzellanladen! Wenn Miß Maynal das liest …“ „Das muß ich um jeden Preis verhindern!“ entschloß sich Harvey und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich weiß zwar nicht, ob sie diese Zeitung überhaupt liest … jedenfalls werde ich alles tun, um sie davon abzubringen. Sofort muß ich zu ihr hin!“ Peters blieb allein zurück, dachte lange über dieses Pro22
blem nach und bemühte sich, den Zusammenhang zwischen Boris Carter und Harvey Bradman zu finden – doch er kam zu keinem Schluß. Harvey indessen holte das Letzte aus dem Motor heraus, und war bald vor dem Hause von Vera angekommen. Er wurde gleich eingelassen und mußte eine Zeitlang warten. Als er Vera erblickte, merkte er sofort, daß sie guter Laune war und also bis jetzt alles gut ging. „Du hast dich verspätet“, sagte sie. „Ich war schon fertig zum Ausgehen, als ich aber sah, daß du nicht da warst, habe ich mich wieder umgezogen. Es wäre mir wirklich lieb, wenn du etwas pünktlicher wärst. Was hat dich denn so lange auf gehalten?“ „Peters“, log Harvey. „Er ist heute nicht fertig geworden mit meinen Sachen. Gehen wir gleich los.“ Vera nickte und ging noch einmal in ihr Zimmer – wahrscheinlich, um sich noch ein letztes Mal vor den Spiegel zu stellen. Harvey sah sich unruhig um, und seine Augen blieben auf einem Radioapparat haften. Vielleicht würden die sensationellen Erklärungen von Dr. Carter auch im Nachrichtendienst erwähnt werden. Ohne sein Bild war das nicht von Belang, sofern man nicht die Rettung am Bahnübergang erwähnte. „Teufel“, dachte er, „die Sache wird immer schwieriger!“ Er näherte sich dem Gerät, klappte die Rückwand auf und schnitt mit seinem Zigarrenschneider einen der wichtigsten Drähte durch. Dann brachte er die Hinterwand wieder in ihre ursprüngliche Lage und versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen. Sobald der Apparat repariert sein würde, wäre von Carter im Nachrichtendienst keine Rede mehr. Aber das Fernsehgerät? Harvey Blick ruhte auf dem großen Kasten in der Ecke des Zimmers. War es anzunehmen, daß 23
Carter vor der Kamera erschien? Ziemlich unwahrscheinlich – aber falls er doch in einer Sendung erschien? Die Zuleitung der Kathodenröhre dieses Gerätes wurde ebenfalls durchgeschnitten. Harvey ließ seinen Zigarrenstutzer verschwinden und betrachtete den Schauplatz seiner Untaten mit schuldbewußtem Blick. Als er sich so im Zimmer umsah, fühlte er, wie das Herz ihm stillstand. Auf einem Ecktischchen lag die gefährliche Zeitung! Wahrscheinlich hatte das Dienstmädchen sie mitgebracht, denn sie war noch zusammengefaltet. Harvey nahm sie sofort an sich und dankte dem Himmel, daß das Blatt so gelegen hatte, daß sein Bild – oder vielmehr das Bild Carters – nach unten gekommen war. Er suchte etwas, um die Zeitung hineinzuwerfen, doch als er Vera kommen hörte, ließ er die Zeitung schnell verschwinden, indem er sie so gut es ging in die Tasche stopfte. „Ich bin fertig“, kündigte Vera an, als sie im Pelzmantel mit modischem Hut hereinkam. „Jane, ich komme – Harvey, was machst du denn da?“ Harvey ließ von seinen schier übermenschlichen Bemühungen ab, das Blatt zu verbergen. Aber der Atem stockte ihm, als er bemerkte, daß er beim Herausziehen seiner Hand aus der Tasche die Zeitung mit herausgeschleudert hatte. Sie fiel zu Boden, und diesmal kam Harveys Bild nach oben. „Aber hör mal! Was machst du denn da mit meiner Zeitung? Ich habe sie ja noch nicht einmal gelesen!“ rief Vera und kam näher. „Was soll das?“ „Nichts, gar nichts.“ Harvey hob die Zeitung mit gleichgültigem Gesicht auf und faltete sie zusammen; aber er benahm sich dabei so gezwungen, daß bei Vera sogleich ein Verdacht auftauchte. „Harvey, gib her!“ „Sie ist ein bißchen beschädigt“, gab Harvey zu, während er 24
das Blatt so drehte, daß die erste Seite ihm zugewandt war. „Ich kaufe nachher den ‚Standard’, sobald wir unterwegs sind.“ „Ich will den ‚Standard’ gar nicht haben! Ich will meine Zeitung!“ Und Vera, die gewöhnt war, jederzeit ihren Willen durchzusetzen, hatte sich im Handumdrehen das Blatt genommen. Harvey, der in Gegenwart des Dienstmädchens kein Handgemenge entfesseln wollte, mußte wohl oder übel loslassen und erwartete unbekümmert das Ungewitter, das gleich losbrechen mußte. Vera sah auf das Bild, dann blickte sie genauer hin. Danach las sie den Artikel über Dr. Carter. Ihre Lippen preßten sich aufeinander, und endlich wandte sie sich an ihr Mädchen. „Lassen Sie uns bitte allein, Jane.“ „Ja, gnä’ Frau. Ich wollte nur noch fragen wegen …“ „Später, Jane.“ Das Mädchen zog sich zurück. Veras Augen sprühten Funken. „Das ist nicht mein Bild!“ erklärte Harvey und ergriff damit die Initiative. „Tu doch nicht so albern! Natürlich bist du es! Unter Tausenden würde ich dich erkennen, und dieses Bild gleicht dir haargenau. Ja. ja, Dr. Carter!“ „Hör doch, Vee, dieser Dr. Carter hat überhaupt nichts mit mir zu tun …“ „Das glaube ich nicht! Zumindest nicht, bis du es mir beweist!“ „Das ist eben die Schwierigkeit“, murmelte Harvey. „Ich habe dich heute noch nicht gesehen, sonst hätte ich ein Alibi. Du hast mir gesagt, du hättest heute für die Frauenhilfsliga zu tun, glaube ich, und hast unsere Verabredung auf heute abend verschoben.“ „Kümmere dich nicht um das, was ich tue. Sprechen wir lie25
ber von dir. Demnach, was ich hier sehe, hast du jahrelang die Frauen im allgemeinen und mich im besonderen studiert? Mit einer Art von … geistigem Mikroskop! Ich verstehe schon, daß du solche Erklärungen nicht mit deinem Namen abgibst!“ „Vee, es ist nicht wahr!“ „Der Artikel erwähnt, es sei derselbe Mann, der vorgestern nacht am Bahnübergang seinen Mut bewiesen hat. Du mußt mich wirklich für sehr dumm halten, Harvey.“ Harvey verwünschte sich selbst und schwieg. Vera fuhr fort: „Die Frauen sind also Egoisten! Tieren kaum überlegen! Wie liebenswürdig! Und wie taktvoll!“ „Ich habe nichts Derartiges gesagt, und ich bin nicht Dr. Carter!“ schrie Harvey wütend. „Wer hat denn dann die Journalistin gerettet?“ fragte Vera eisig. „Dr. Carter, nehme ich an“, bekannte Harvey kleinlaut. „Ich habe nichts damit zu tun, Vee! Ich habe nur von seiner erstaunlichen Ähnlichkeit mit mir profitiert.“ „Das glaube ich nicht“, erklärte Vera. „So sehr hättest du dich nicht erniedrigt! Nein, du bist Dr. Carter, es ist dein Pseudonym. Entweder bist du nicht Dr. Carter, dann hast du die Journalistin auch nicht gerettet und bist kein Held. Oder du bist es doch, und dann will ich nichts mit einem Mann zu tun haben, der von den Frauen eine solche Meinung hat. Das ist mein letztes Wort, Harvey!“ Harvey öffnete den Mund, um zu sprechen, schloß ihn aber gleich wieder, als er sah, daß Vera ihm den Verlobungsring in die Hand gedrückt hatte. Er sah ihn an, darauf das Mädchen, doch sie wandte sich mit einer Kopfbewegung ab. „Also gut“, sagte er ruhig und steckte den Ring ein. „Ich habe die Wahrheit gesagt und meine Sünden gebeichtet. Wenn du 26
mich jetzt nicht mehr willst, ist es besser, daß ich gehe. Ich werde dir einen Elektriker schicken, um das Radio und das Fernsehgerät zu reparieren.“ „Wieso denn? Es ist doch gar nichts daran zu machen“, sagte Vera und sah ihn an. „Es war nichts daran, aber jetzt ist etwas daran zu machen“, versicherte Harvey ernst. „Adieu, Vera … unsere Liebe war nur kurz, aber um so schöner.“ Er verließ die Wohnung und schloß die Tür mit einer entschlossenen Geste. Dann schritt er mit düsterer Miene zu seinem Wagen und startete. Er fuhr so schnell er konnte zum Sekretariat des Instituts für Angewandte Wissenschaft. Er hatte erwartet, das Gebäude geschlossen zu finden, doch die Fenster waren erleuchtet, wahrscheinlich sollte ein Abendkurs stattfinden. Mit einigen Sätzen war er im Innern des Hauses. Studenten und Studentinnen mit ihren Kollegheften unter dem. Arm liefen eilig an ihm vorüber, streiften ihn mit einem Blick und verschwanden in der großen Vorhalle oder im Treppenhaus. Da blieb ein jüngerer Mann, der wie ein Professor aussah, stehen, als er bemerkte, daß sich Harvey umsah. „Nein! Sie, Dr. Carter!“ rief der Professor erfreut und kam näher. „Welche Freude für mich! Ich hatte nicht gedacht, daß Sie noch einmal wiederkommen würden. Sie hatten doch angekündigt, daß Sie sich der Ionenforschung widmen wollten und keine Zeit mehr hätten, mit uns zusammenzusein …“ „So?“ sagte Harvey unsicher. Dann: „Ach ja, natürlich! Jetzt entsinne ich mich! Aber ich … ich dachte, daß …“ „Kommen Sie mit, lieber Doktor. Es gibt so viele Fragen, über die ich gern mit Ihnen diskutieren möchte.“ 27
Der Professor führte ihn in sein Arbeitszimmer und öffnete den Schreibtisch. „Sie haben Ihren Rechenschieber hier liegengelassen, was bei einem Mann, der zweifellos in abstrakte Spekulationen versunken ist, keineswegs überraschend erscheint … Sie ließen ihn auf dem Tisch liegen, nachdem Sie ihre außerordentlich interessante Theorie über die Kräfte und Spannungen der atomaren Interaktion auseinandergesetzt hatten.“ „Wirklich? Ach ja – das hatte ich völlig vergessen. Aber da Sie es jetzt sagen, ist es mir klar, daß ich deswegen gekommen sein muß. Ich wußte, daß ich etwas hier wollte, aber als ich vor Ihnen stand, hatte ich vergessen, was es war. Danke …“ Er nahm den Rechenschieber entgegen, den der Professor aus der Schublade geholt hatte und ihm hinstreckte. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: so rasch wie möglich fort von hier! „Das wäre also erledigt“, sagte er mit gekünstelter Fröhlichkeit. „Eigentlich habe ich jetzt keinen Anlaß mehr, noch länger hierzubleiben.“ „Wollen Sie nicht noch ein paar Worte zu den Studenten vom Abendkurs sprechen? Sie wären sicher erstaunt und erfreut!“ „Daran zweifle ich nicht, aber ich spreche nie ohne Notizen. Vor meinem Vortrag bereite ich mich immer bis ins Detail für mein Thema vor.“ „Sie haben aber doch heute nachmittag ganz ohne Notizen gesprochen, Doktor.“ „Das ist etwas ganz anderes. Ich konnte den Vortrag sozusagen auswendig.“ „Ich verstehe“, sagte der Professor mit nachsichtigem Lächeln. Er stand auf und streckte Harvey die Hand hin. „Da ich Sie heute nicht überreden kann, Dr. Carter, darf ich 28
Ihnen nur vollen Erfolg bei Ihren Untersuchungen über die Ionen wünschen.“ Harvey nickte ziemlich kühl und zog sich zurück, so rasch er konnte, ohne unhöflich zu erscheinen. Während er zum Ausgang schritt, erkannten ihn da und dort Studenten wieder und sahen ihn voll scheuer Bewunderung an – bis sie schließlich weitergingen. Sehr merkwürdig, dachte Harvey, als er wieder in seinem Wagen saß. … aber vielleicht wird sich die Erklärung dieser rätselhaften Geschichte bald finden, und dann bringen wir diesen Kerl schon dazu, seine Karten aufzudecken. * Hatte sich Harvey einmal etwas in den Kopf gesetzt, so ließ er nicht leicht locker. Ohne sich aufzuhalten, fuhr er schnell nach Hause. Peters öffnete mit ernster Miene. Da es erst ein Viertel nach sieben Uhr war, erriet er, daß die Ereignisse des Abends nicht planmäßig verlaufen waren. „Ich sehe, daß Ihre Anstrengungen, Miß Maynal zu beruhigen, nicht ganz erfolgreich verlaufen sind.“ „Ein völliger Reinfall, Peters. Und sie hat mir trotz meines ehrlichen Geständnisses den Ring zurückgegeben. Aber lassen wir das jetzt. Ich werde von jetzt an Privatdetektiv spielen, um endlich herauszubekommen, wer dieser Kerl ist, der seine Ähnlichkeit mit mir ausnützt.“ „Eine totale Ähnlichkeit, wenn man so sagen darf“, bemerkte Peters. „Das ist direkt eine teuflische Geschichte.“ Als Bradman seinen Mantel und Hut abgelegt hatte, griff er in die Tasche und zeigte Peters den Rechenschieber in seiner Zellophanhülle. „Der gehört Dr. Carter, Peters!“ verkündete er triumphierend. 29
„Sehr interessant, Sir. Darf ich fragen, wo Sie ihn gefunden haben?“ „Im Sekretariat des Instituts für Angewandte Wissenschaften. Ich bin hingegangen, um mich über Carter zu erkundigen …“ Harvey erzählte was er erlebt hatte und schloß: „Mir ist eingefallen, daß dieses Ding wegen, der Fingerabdrücke besonders wertvoll sein kann. Denn da es Carter gehört, müssen sich seine Fingerabdrücke darauf finden. Wir werden das mit Kreidepulver feststellen …“ „Ja, Sir, das ist sehr gut möglich. Aber was wollen Sie damit anfangen?“ „Was ich damit anfange? Wenn wir ein paar wirklich gute Fingerabdrücke finden, dann fotografiere ich sie und übergebe sie Scotland Yard, um sie in C-3 untersuchen zu lassen, das heißt von der Identifikationsabteilung. Denn schließlich ]ese ich ja nicht umsonst Kriminalromane!“ „Ich verstehe schon, Mr. Bradman“, sagte Peters, dessen Gesicht verschlossener aussah als je. „Sie meinen also, daß dieser Dr. Carter ein Verbrecher ist? Und Sie wollen die Hilfe von Scotland Yard anrufen.“ „Nicht unbedingt ein Verbrecher, sondern eine Gefahr für die Allgemeinheit, vor allem für mich.“ „Seien Sie ja vorsichtig, Sir“, murmelte Peters, nachdem er eine Weile überlegt hatte. „Dieser Dr. Carter hat bisher noch in keiner Weise bewiesen, daß er ein Verbrecher ist. Ganz im Gegenteil. Er ist ein Gelehrter mit revolutionären Theorien, nicht mehr. Jede Äußerung Ihrerseits, die darauf abzielt, zu behaupten, er sei ein Verbrecher, könnte man für verleumderisch halten, und das könnte Ihnen Feinde schaffen.“ „Ich werde das so regeln, wie ich es für richtig halte“, unterbrach ihn Harvey starrköpfig. „Sehen Sie lieber zu, was Sie dazu tun können, daß wir zu Fingerabdrücken kommen …“ 30
„Wenn Sie gestatten, Sir – ich kenne einen Fotografen, der uns alles verschaffen kann, was wir brauchen. Sein Geschäft ist zu dieser Zeit natürlich geschlossen, aber ich glaube, ich kann ihn trotzdem sprechen.“ „Gehen Sie gleich hin. Alle Kosten gehen zu meinen Lasten.“ „Wenn er mitkommen will, soll ich ihn dann herbringen?“ fragte Peters. „Er ist Fachmann für Mikrofotografie und versteht sicher auch etwas von Fingerabdrücken.“ „Bringen Sie ihn auf jeden Fall mit, ganz gleich wann“, sagte Harvey. * Peters zog sich zurück, und Harvey begab sich mit dem Rechenschieber in das kleinste Zimmer seines Hauses, ein Arbeitskabinett, in das nur er Zutritt hatte. Er legte den Rechenschieber auf den Schreibtisch und setzte sich, um zu warten. Dabei fiel ihm ein, daß sein Abendanzug zum Arbeiten schlecht geeignet war, und – vielleicht zum ersten Male in seinem Leben – wechselte er seine Kleidung ohne die Hilfe eines Bediensteten. Gerade hatte er eine Hose und eine Hausjacke angezogen, als Peters mit einem kahlköpfigen Mann zurückkehrte, den er vorstellte. „Mr. Danvers, Mr. Bradman.“ „Guten Abend, Mr. Bradman.“ Der Fotograf legte eine große Kamera mit Stativ auf den Tisch, dann drückte er Harvey die Hand. „Ich habe von Ihnen gehört und auch kürzlich in der Zeitung ein Bild von Ihnen gesehen.“ „Sind Sie sicher, daß es nicht Dr. Carter war?“ fragte Harvey trocken. Peters hüstelte. „Ich habe mir die Freiheit genommen, Mr. Danvers die Ge31
schichte mit Ihrem Doppelgänger zu erklären. Da Miß Maynal nicht mehr zu berücksichtigen ist, glaube ich nicht, daß Ihnen das unangenehm sein könnte.“ „In keiner Weise.“ Er wandte sich an Danvers und fügte hinzu: „Ich würde gern Fingerabdrücke von diesem Doppelgänger bekommen, um seiner Tätigkeit einen Riegel vorzuschieben, sofern das überhaupt möglich ist. Mein Leben wird allmählich immer mehr zu einem Alptraum.“ „Darf ich den Rechenschieber sehen, Sir?“ fragte Danvers und streckte die Hand aus. Harvey gab ihm das Gerät, und er verfolgte mit Peters jede Bewegung des Fotografen. Dieser war, wie man sofort erkannte, ein ordentlicher und zuverlässig arbeitender Mann. Er faltete zunächst ein sauberes Tuch auseinander, breitete es auf dem Tisch aus, und zog dann einen Streuer sowie mehrere Fläschchen mit Pulver aus einem Kasten. Dann klemmte er eine Lupe in sein rechtes Auge und untersuchte aufmerksam den Rechenschieber, auf den er das volle Licht fallen ließ. „Es sind sehr viele Abdrücke darauf“, verkündete er schließlich. „Ich werde sehen, was sich tun läßt …“ Er ging ans Werk. Zunächst versuchte er es mit Kreide- und Quecksilberstaub. Doch da er damit keine befriedigen Ergebnisse erzielte, benutzte er schließlich Aluminiumpulver. Noch einmal nahm er die Lupe und betrachtete lange die überpuderten Stellen. „Es sind sehr viele Abdrücke darauf“, verkündete er schließlich. „Ich glaube, die Abdrücke sind klar genug, um sie zu fotografieren“, sagte er. Er stellte seine Kamera auf und machte mehrere Aufnahmen, wobei er jedesmal den Lichteinfall änderte, und als er das Pulver abgewischt hatte, reichte er Harvey den Schieber. 32
33
„Was machen Sie jetzt?“ fragte Harvey. „Sie bekommen in einer Stunde das Resultat, Mr. Bradman, und können dann selbst die Abdrücke untersuchen. Ich werde außerdem noch Abzüge machen, die sie Scotland Yard einsenden können, wenn Sie das wollen.“ „Genau das war meine Absicht.“ Peters schaltete sich ein und sagte: „Ich frage mich, Mr. Bradman, ob es nicht vielleicht gut wäre, Ihre Abdrücke auch zu fotografieren?“ „Wozu, zum Teufel, soll denn das gut sein?“ schrie Harvey und riß die Augen weit auf. „Ich bin doch kein Taschendieb!“ „Ich wollte damit nur sagen“, erklärte der Diener, „falls Sie Miß Maynal beweisen wollen, daß Sie nicht Dr. Carter sind, wäre es doch sehr einfach, Ihre Abdrücke und die des Mannes nebeneinanderzulegen, mit einer Beglaubigung von Mr. Danvers. Es wäre übrigens nicht nur für diesen Fall wichtig, sondern könnte sich auch als notwendig erweisen, falls Sie in einer schwierigen Situation Ihre Unschuld oder Nichtbeteiligung nachzuweisen hätten. Nämlich falls Dr. Carter jemals ein Verbrechen begehen würde.“ „Eine gute Idee“, stimmte Harvey sofort zu. „Können Sie das machen, Mr. Danvers?“ „Mit Leichtigkeit, Mr. Bradman.“ Diesmal dauerte es zehn Minuten, bis Danvers seine Arbeit beendet hatte und beim Fortgehen versprach, in einer Stunde wiederzukommen. „Machen Sie mir bitte einen Cocktail, solange wir warten, und nehmen Sie auch einen, wenn Sie wollen.“ „Sehr liebenswürdig von Ihnen, Sir.“ Harvey goß seinen Cocktail hinunter und konnte es dann kaum mehr ertragen zu warten. Jedenfalls war es die längste Stunde seines Lebens. Schließlich kam Danvers wieder. Sein Gesicht wies zwar 34
noch immer den rosigen Schimmer auf, doch sein Blick verriet eine merkwürdige Bestürzung. Es hatte den Anschein, als warte er nur darauf, ein Geheimnis auszuplaudern. „Ist alles gut gegangen?“ fragte Harvey lebhaft, als Danvers in den kleinen Arbeitsraum trat. „Was meine Arbeit angeht, ja, Mr. Bradman“, antwortete Danvers und legte mehrere ausgezeichnete Bilder auf den Tisch. „Aber vorher muß ich Ihnen eine Frage stellen. Haben Sie den Rechenschieber angefaßt?“ „Nicht ein einziges Mal, das garantiere ich Ihnen!“ „Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr. Sehen Sie einmal her.“ Danvers wies auf zwei Fotos, auf denen merkwürdige, durchnumerierte Linien zu sehen waren. „Sie haben hier“, erklärte er, „zwei Aufnahmen, die beide einen ganz scharfen Daumenabdruck zeigen. Diese beiden Abdrücke scheinen von derselben Person zu stammen, aber das kann nicht sein. Denn der Abdruck auf dem linken Bild stammt von dem Rechenschieber und rührt zweifellos von Dr. Carter her. Der rechte ist von Ihrem Daumen aufgenommen.“ Harvey war erstarrt. Er stammelte: „Aber … wollen Sie damit etwa sagen, daß meine Abdrücke identisch sind mit denen von Dr. Carter? Das ist doch einfach unmöglich!“ „Ich weiß, und trotzdem beweist es meine Analyse. Leiste für Leiste, Stück für Stück sind die Fingerabdrücke identisch. Sie gehören beide dem Typ ‚Schlinge mit Seitentasche’ an.“ Schweigen folgte. Harvey brachte kein Wort heraus, und Peters lebendige Augen waren hinter seinen gerunzelten Brauen verdeckt. „Ich habe die Abdrücke dann noch eingehender untersucht, was meine Verwunderung nur noch mehr gesteigert hat. Auf dem Rechenschieber fand ich ein halbes Dutzend Abdrücke, die 35
von der gleichen Person stammen. Außerdem sind noch andere darauf, allerdings nur an zwei Stellen.“ „Die sind von dem Professor, der mir das Ding überreichte“, sagte Harvey. „Ich hoffte, es wären die Ihrigen.“ „Ich sage Ihnen doch schon die ganze Zeit, daß ich ihn überhaupt nicht berührt habe!“ „Vielleicht lasse ich Sie jetzt am besten allein“, sagte Danvers. „Ich habe alles getan, was ich konnte, und falls Sie mich noch brauchen sollten, stehe ich gerne zur Verfügung. Meine Rechnung schicke ich Ihnen später.“ Er verschwand rasch, und man hätte meinen können, er habe etwas gesehen, das ihm nicht ganz geheuer war. Und tatsächlich überkam Harvey ein ähnliches Gefühl. Das war klar auf seinem Gesicht zu lesen, als Peters gemessenen Schrittes in das Arbeitszimmer zurückkehrte. „Eine absolut rätselhafte Situation, Mr. Bradman“, bemerkte er. „Das ist nicht das richtige Wort. Eine unmögliche Situation, Peters, eine absolut unmögliche Lage!“ Harvey entzündete eine Zigarette und begann nervös zu rauchen. „Da stecke ich nun ganz schön in der Klemme, Peters. Nehmen Sie an, Carter bringt jemanden um oder raubt eine Bank aus und hinterläßt überall Abdrücke! Wie leicht könnte man mich beschuldigen, und keine Jury würde an meine Unschuld glauben. Die einzige Erklärung dafür ist die, daß die Wahrscheinlichkeitsregel für die Fingerabdrücke nicht ganz stimmt. Es gibt eben doch identische Abdrücke bei zwei verschiedenen Menschen, das beweist ja mein Fall.“ „Ich bedaure sehr, Mr. Bradman, aber über diesen Punkt bin ich mit Ihnen nicht einer Meinung. Es gibt sicher noch eine an36
dere Erklärung … Entschuldigen Sie“, fügte er bedauernd aber entschlossen hinzu, „ich bin überzeugt, daß …“ Das Telefon schrillte durch die Vorhalle und unterbrach ihn. Harvey warf einen mißmutigen Blick in diese Richtung, dann fuhr er fort, stirnrunzelnd im Zimmer auf und ab zu gehen. Peters eilte zum Apparat, kam jedoch sofort zurück. „Miß Maynal ist am Apparat“, kündigte er an. „Sie möchte Sie sprechen. Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß sie glänzender Laune zu sein scheint?“ „Wirklich? Ich wünschte, ich könnte das auch von mir sagen!“ Harvey ging rasch ans Telefon und nahm den Hörer auf. Absichtlich blieb er kühl. „Hallo, Vee? Ich dachte, wir wären verkracht?“ „Aber Harvey, warum denn so widerborstig?“ fragte das Mädchen scherzend. „Du überzeugst mich eine Stunde lang, daß du im Recht bist, du gibst mir Bedenkzeit, und dann kommst du urplötzlich zum Schluß, wir wären verkracht. Das ist doch unsinnig!“ „Ja, richtig“, gab Harvey zu und fuhr zusammen. „Es ist nicht logisch, das stimmt.“ Er war nahe daran, Vera zu fragen, wann er denn eine Stunde bei ihr gewesen sei, um sie zu überzeugen, doch ein sechster Sinn warnte ihn, es lieber nicht zu tun. „Ich habe mich eben zu sehr ereifert“, bekannte das Mädchen, „Wenn du mir verzeihen kannst, dann wäre ich glücklich, den Verlobungsring zurückzubekommen.“ „Einen Besen will ich fressen, wenn …“ „Was sagst du, Harvey? Ich kann dich so schlecht verstehen. Ich kann heute kaum deine Stimme hören.“ „Eins möchte ich aber doch wissen“, fuhr Harvey fort. „Wie kommt es, daß du dich so plötzlich anders besonnen hast?“ 37
„Wie kannst du mich das fragen, nachdem du dir soviel Mühe gegeben hast, mich davon zu überzeugen, daß du wirklich streng wissenschaftliche Arbeiten geleistet hast?“ Diesmal begnügte sich Harvey damit, vor sich hin zu starren. Veras Stimme drang wieder, diesmal mit einem Unterton von Bekümmertheit, an sein Ohr: „Harvey, verstehst du mich nicht?“ „Doch, doch, meine Liebe. Sicher verstehe ich dich. Ich komme sofort mit dem Ring. Ich bin nur etwas erstaunt, das ist alles!“ „Wieso denn? Du hast mir doch die ganze Sache so klar und aufrichtig dargelegt, daß keine vernünftige Frau sich dem hätte verschließen können.“ „Wirklich? Ich … ich komme sofort, mein Schatz!“ Harvey legte den Hörer auf und sah wortlos Peters an, der gerade eintrat. „Etwas Unangenehmes, Mr. Bradman?“ fragte der Diener höflich. „Entschuldigen Sie bitte, aber die Reaktion von Miß Maynal interessiert mich …“ „Peters, entweder ist sie verrückt oder ich bin wahnsinnig! Sie ist ganz anders geworden – ich soll mich bemüht haben, sie von meinen wissenschaftlichen Qualitäten zu überzeugen. Sie sagt, ich hätte ihr eine Stunde lang die ganze Sache erklärt.“ „Erstaunlich, wirklich erstaunlich, Mr. Bradman! Offensichtlich war Dr. Carter bei ihr und hat etwas zu Ihren Gunsten gesagt.“ „Es scheint tatsächlich so. Aber wie konnte er Vera nur überzeugen, daß sie annahm, ich sei es wirklich? Denn sie hat ja nichts gemerkt!“ „Das ist in der Tat bemerkenswert. Zumindest ist es nicht uninteressant festzustellen, daß die Absichten dieses Dr. Carter Ihnen gegenüber nicht ganz feindselig zu sein scheinen. Was Miß Maynal angeht, so hat er dort wirklich die Situation für Sie 38
gerettet. Ich würde Ihnen raten, sofort zu ihr zu gehen. Vielleicht können sie dort irgendeinen Fingerzeig finden …?“ Harvey nickte mechanisch und stimmte dann zu. Dann sah er in einen Spiegel: „Aber so wie ich jetzt bin, kann ich unmöglich hingehen. Sicher werden wir zur Feier dieser Versöhnung ausgehen … Helfen Sie mir bei meinem Smoking, Peters.“ „Gern, Sir.“
Kapitel 3 Als Harvey bei Vera ankam, empfing sie ihn mit strahlendem Lächeln, was seine Verblüffung nur noch steigerte. „Tritt ein. Liebster!“ sagte sie und hängte sich bei Harvey ein. „Kannst du mir wirklich verzeihen, daß ich dich so verkannt habe?“ „Ach was, ich glaube, jedem von uns geht es einmal so.“ Harvey setzte sich mit leichtem Lächeln. Er trug noch seinen Überzieher, nur den Hut hatte ihm das Dienstmädchen abgenommen. Vera ging zur Hausbar, um zwei Cocktailgläser zu füllen. Dann brachte sie die Getränke und fragte: „Deine wissenschaftlichen Grundsätze verbieten dir doch nicht das Trinken, nicht wahr? Nach all dem, was du mir erklärt hast und bei dem hohen Gedankenflug deiner Ausführungen wage ich kaum, dir Alkohol anzubieten.“ „Vera, glaube mir – es fällt mir niemals leicht, ein gutes Glas zurückzuweisen. Ich … äh … ich hoffe, daß du meine wissenschaftlichen Darlegungen nicht als zu phantastisch ansiehst und mitgekommen bist?“ „Ich habe alles verstanden. Im übrigen hast du ja auch keine technischen Einzelheiten berührt, wie mir schien?“ 39
„Nein, natürlich nicht.“ Während Harvey sein Glas leerte, überlegte er ständig, wie er herausfinden konnte, worüber er eigentlich des Näheren gesprochen haben sollte. „Auf jeden Fall“, fuhr Vera fort, die geradezu im Glück schwamm, „ist jetzt alles klar. Wir verzeihen, wir vergessen, und ich werde die Braut des berühmten Wissenschaftlers, der seine Genialität unter dem Äußeren des Salonlöwen verbirgt.“ Harvey fiel das Glas aus der Hand auf den Teppich. Vera bemerkte es wohl, schien dem aber keine Bedeutung beizumessen. Als Harvey es aufhob, fügte sie hinzu: „Trotz allem, Harvey – du hättest mir doch früher die Wahrheit sagen sollen. Ich hätte alles verstanden, das schwöre ich dir! Und wie viele Mißverständnisse wären uns erspart geblieben.“ „Äh … aber … nach dem zu schließen, wie du mich vor die Tür gesetzt hast, als ich über die Frauen gesprochen hatte …!“ „Ja, ganz am Anfang, bis du mir dann die Sache erklärt hast. Jetzt verstehe ich natürlich, daß vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus fünfundsiebzig Prozent aller Frauen in Wirklichkeit unfähig sind, logisch zu denken, mich mit eingeschlossen.“ „Die rednerische Begabung und die Überzeugungskraft sind sicher gut bei mir entwickelt, wenn es mir gelungen ist, dich davon zu überzeugen.“ Vera begnügte sich damit, zu lächeln, und Harvey wartete gespannt, was nun folgen würde. Doch da das Mädchen schwieg, erinnerte er sich plötzlich des Ringes und zog ihn aus der Tasche. Behutsam steckte er ihn Vera an den Finger. „Diesmal wird nichts mehr unsere Pläne umstoßen“, sagte sie entschlossen. „Wenn ich nur daran denke, daß ich fast die Chance verpaßt hätte, die Frau eines so glänzenden Gelehrten 40
zu werden! Ich bin so glücklich zu wissen, daß du nicht nur ein Schürzenjäger und Gintrinker bist, Harvey. Du bist wirklich etwas, ein wertvoller Mensch, der seine Gaben zu nutzen versteht!“ „Und trotzdem scheint mein Geist manchmal furchtbar schwerfällig zu funktionieren!“ stöhnte Harvey. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe schon fast wieder vergessen, was ich dir überhaupt erklärt habe … meine wissenschaftliche Persönlichkeit scheint nur sporadisch aktiv zu sein.“ „Es wird dir schon wieder alles einfallen, wenn du es brauchst“, sagte Vera. „Ich bin selbst nicht intelligent genug, um mich an all das noch zu erinnern …“ Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. „Danke, Jane, ich nehme ab“, sagte sie, als das Mädchen hereinkam. „Miß Maynal?“ fragte eine süßlich klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ist Mr. Bradman bei Ihnen? Hier Peters.“ „Ach, Peters? Ja, Harvey ist hier.“ Harvey hob lebhaft den Kopf und nahm den Hörer aus Veras Hand entgegen. „Können Sie mich verstehen, wenn ich leise spreche, Mr. Bradman?“ fragte Peters mit gedämpfter Stimme. „Ja, gerade noch. Was ist denn los?“ „Alles, Mr. Bradman. Er ist da!“ „Was?“ stöhnte Harvey und fuhr zusammen. „Wer? Haben Sie getrunken, Peters?“ „Sicher nicht, Mr. Bradman! Sie täten gut daran, gleich nach Hause zu kommen: er erwartet Sie.“ „Er erwartet mich?“ schrie Harvey fast. „Ja, Dr. Carter, Sir. Carter persönlich ist da! Ich dachte, Sie wären es, als ich die Tür aufmachte. Dann merkte ich erst, daß Sie es nicht waren … oder besser, daß Sie es zumindest jetzt 41
nicht sind. Er sagte es mir. Und daß ich jetzt mit Ihnen spreche, beweist es ebenfalls.“ „Oh!“ ließ Harvey schwach vernehmen. „Ja, ich komme.“ Er hängte ein und wandte sich zu Vera. Auf ihren fragenden Blick antwortete er mit unsicherem Lächeln. „Erinnerst du dich an den Bekannten, dem ich neulich nachlief?“ „Ja, natürlich! Was ist mit ihm?“ „Er ist zu mir gekommen; ich muß sofort nach Hause.“ „Nun, wenn du ihn treffen mußt, so geh nur.“ „Das klingt doch anders als früher“, bemerkte Harvey erstaunt. „Ich konnte ja noch nicht wissen, daß du eben mit allen möglichen Leuten Zusammenkommen mußt wegen deiner Arbeit. Wenn du magst, begleite ich dich. Natürlich lasse ich dich mit diesem Mann allein. Hab’ keine Angst, ich will mich nicht in eure Diskussionen einmischen.“ „Nein, ich … ich glaube, ich gehe besser allein. Er ist ein merkwürdiger Mensch, und ich muß ziemlich vorsichtig sein. Er hat einmal eitlen Unfall gehabt, und dadurch ist er manchmal etwas seltsam. Deswegen habe ich schon so oft umsonst versucht, ihn zu treffen. Wir sehen uns morgen früh, wenn du willst. Dann essen wir wie üblich zusammen, nicht wahr?“ „Wie du meinst, Harvey.“ Vera schien immer noch in Glückseligkeit zu schwimmen und umarmte Harvey fast leidenschaftlich. „Also gut“, sagte Harvey und machte sich los. „Auf morgen, Darling.“ Er nahm seinen Hut und begab sich nach Hause, ohne Zelt zu verlieren. Peters öffnete ihm und schien sehr beunruhigt. „Es ist zum Verrücktwerden, Mr. Bradman“, flüsterte er. „Ich bin über den Schock immer noch nicht ganz weg …“ 42
„Macht er einen gefährlichen Eindruck?“ fragte Harvey unruhig. „Ganz im Gegenteil, Mr. Bradman. So wenig, wie Sie selbst als gefährlich betrachtet werden können. Er verhält sich ruhig, zeigt gute Manieren und hat bis jetzt nur recht einsilbige Äußerungen von sich gegeben.“ „Ich verstehe … gut, gehen wir hinein.“ * Harvey nahm all seinen Mut zusammen und trat in den Salon. Er begegnete dem freundlichen Blick eines Mannes, der in einem Sessel saß … aber er war dennoch verwirrt. Es war genau so, als sähe er sich in einem Spiegel, mit dem einzigen Unterschied, daß das Spiegelbild seinen Bewegungen nicht folgte. „Guten Abend“, sagte Harvey mit einer Stimme, die ihm merkwürdig fremd vorkam. Sein Doppelgänger erhob sich. Er trug ähnliche Kleidung wie Harvey, nur hatte er seinen Mantel nicht ausgezogen. „Guten Abend, Mr. Bradman. Eine kleine Unterhaltung zwischen uns wäre doch wohl angebracht, nicht wahr?“ Harvey schüttelte ihm etwas besorgt die Hand, doch nichts geschah. Das ganze verlief so einfach, als ob er die Hand irgendeines Fremden geschüttelt hätte. „Wün… wünschen Sie etwas, Mr. Bradman?“ stotterte Peters an der Tür. Sein ratloser Blick ging dabei von einem zum anderen. „Ja, etwas zu trinken, Peters“, antwortete Harvey und ergriff damit die Initiative. „Nehmen Sie einen Cocktail, Dr. Carter?“ „Gern. Alles was Ihnen schmeckt, schmeckt mir auch.“ „Ich verstehe“, sagte Harvey. Doch er runzelte heftig die Augenbrauen und man hätte meinen können, er suche hinter diesen Worten einen tieferliegenden Sinn. 43
Dann zog er das Taschentuch heraus und band es sich um den linken Arm, so gut es gehen wollte. „Damit Sie uns auseinanderhalten können“, erklärte er Peters, der gerade mit den Gläsern kam. „Vielen Dank, Sir. Ich muß zugeben, daß sonst die Lage wirklich etwas … entmutigend wäre.“ Als Peters fertig war, zog er sich, wenn auch widerstrebend, zurück. Carter warf einen Blick zur Tür, dann beugte er sich in dem Sessel nach vorn. „Um jeden Zweifel zu zerstreuen, möchte ich Ihnen zunächst versichern, daß ich Ihnen nicht als Feind gegenübertrete. Was ich auf diesem Planeten suche, ist lediglich eine Unterkunft und Ruhe, um mich der Meditation hingeben zu können.“ „Auf – auf diesem Pla… Planeten? Was wollen Sie damit sagen?“ fragte Harvey. „Sie suchen einen Schlupfwinkel hier? Soll das heißen, daß …“ „Nun ja! Es ist doch ganz klar, daß ich nicht auf dieser Welt zu Hause bin!“ „Vielleicht bin ich etwas begriffsstutzig, aber ich muß gestehen, daß ich das nicht für so selbstverständlich halte. Sie gleichen mir Zug um Zug, was bedeutet, daß Sie genau wie ein Erdenmensch aussehen. Sie sprechen ganz normal, Sie kleiden sich wie ich, ich finde überhaupt kein Anzeichen dafür, daß Sie nicht in diese Welt gehören …“ Harvey unterbrach sich, schüttelte den Kopf und schloß mit dem Brustton der Überzeugung: „Ich weigere mich einfach, Ihnen Glauben zu schenken!“ „Was absolut unsinnig ist, denn ich bin kein Erdenmensch!“ „Aber das ist doch unmöglich! Wenn Sie von einer anderen Welt kämen, würden Sie aus dem Propaganda- und Pressegeschrei überhaupt nicht mehr herauskommen! Jedenfalls hätten die Astronomen Ihr Raumschiff gesehen, als es zur Erde kam.“ 44
„Nicht, wenn es aus einem nichtreflektierenden und transparenten Metall besteht, wie das bei meinem Fahrzeug der Fall war.“ Harvey starrte vor sich hin, nahm die beiden Gläser und stellte sie aufs Büfett zurück. Er wußte, daß er eigentlich entsetzt sein mußte, aber er war es nicht. Hier, in seinem eigenen Hause, sprach er mit einem Menschen, der mit ihm identisch war und aus dem Weltraum kommen sollte. Das genügte an sich, um einem den Schauer über den Rücken laufen zu lassen, aber merkwürdigerweise ließ es ihn kalt. Vielleicht weil sich Carter so ungezwungen, mit einer so selbstverständlichen Natürlichkeit gab, so wie irgendein Mensch dieser Erde aussah. „Von welchem Planeten kommen Sie?“ fragte Harvey. „Von Malconeth im Andromedanebel.“ „Von so weit her!“ rief Harvey verblüfft. „Das ist doch eine ungeheure Entfernung!“ „Auf die Entfernung kommt es gar nicht an. Mein Raumschiff fliegt mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit. Im freien Weltraum ist die Lichtgeschwindigkeit nicht die oberste Geschwindigkeitsgrenze, obwohl bestimmte Gelehrte das annehmen. Genauso, wie ja für einen Teil Ihrer Flugzeuge die Schallgrenze nicht die oberste Grenze ist. Die Sonne meines Planeten ist das Dreigestirn Gamma Andromeda. Aber zweifellos wissen Sie das doch …“ „Ja, natürlich“, bekannte Harvey. „Astronomie ist mein Steckenpferd, deshalb kenne ich mich auf diesem Gebiet etwas aus, wenn auch sehr oberflächlich, um die Wahrheit zu sagen. Zur Zeit bin ich sehr beschäftigt mit …“ „Mit Nichtstun?“ warf Carter ironisch ein. Harvey bedachte ihn mit einem wütenden Blick. „Kann ich mit meinem Leben nicht tun und lassen, was ich will? Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen auch sagen, daß 45
ich über Ihre Ähnlichkeit mit mir empört bin. Sie haben mir endlose Unannehmlichkeiten mit meiner Verlobten beschert.“ „Das habe ich bemerkt, und deshalb habe ich für Sie die Situation gerettet. Vielleicht ist es zu bedauern, daß ich als Abbild eine in der Gesellschaft so bekannte Persönlichkeit gewählt habe. Aber was geschehen ist, läßt sich nicht rückgängig machen. Im übrigen möchte ich Ihnen sagen, daß es sich hier um mehr als eine bloße Ähnlichkeit handelt. Physisch bin ich Ihnen bis ins kleinste Detail ähnlich. Nur im Geistigen besteht ein Unterschied.“ „Sie wollen damit sagen, daß Ihr Gehirn anders ist, nicht?“ „Ich sagte geistig, und genau das meine ich auch. Ein Gehirn besteht an sich nur aus einer grauen Substanz, die nicht mehr geistige Fähigkeiten besitzt als dieser Tisch. Im Geistigen liegt meine Persönlichkeit, und da ich ein Wesen von Malconeth bin, ist die Reichweite meines Geistes erheblich größer als die Ihrige.“ „Wirklich?“ bemerkte Harvey ironisch. „Sie scheinen ziemlich von sich eingenommen zu sein!“ „Keineswegs. Die Entwicklung hier auf dieser Erde ist weit davon entfernt, ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Vielmehr wird es noch einige Millionen Jahre dauern. Auf meinem Planeten hingegen steht sie gerade auf dem Höhepunkt; so erklären sich unsere weiterreichenden Erkenntnisse. Nur die Zeit kann Wissen entstehen lassen, mein lieber Freund. Ich bin der Letzte meiner Rasse und wie ich schon sagte, suche ich hier einen Unterschlupf, um nachzudenken.“ „Über was nachzudenken?“ „Oh, über sehr viele Dinge“, antwortete Carter ausweichend, während er ins Feuer blickte. Dann sah er Harvey in die Augen. „Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Geschichte von Anfang an erzähle, Mr. Bradman“, fuhr er fort. „Als ich vor etwa einem 46
Jahr allein auf meinem Planeten zurückgeblieben war, was mir nicht so recht gefiel, beschloß ich, mir Gesellschaft zu suchen. Ich untersuchte alle in Frage kommenden Planeten und fand schließlich einen in Reichweite meines Teleskops, auf dem denkende Wesen lebten, die zu besuchen es sich lohnte. Das war Ihre Welt. Ich wußte jedoch, daß ein Wesen in natürlicher Gestalt Gefahr laufen würde, eine Panik zu entfesseln oder sofort umgebracht zu werden. Das beste Mittel, mich aus der Affäre zu ziehen, bestand offensichtlich darin, die Gestalt eines Menschen dieser Welt anzunehmen.“ „Mußten Sie unter Milliarden von Menschen ausgerechnet mich dazu wählen?“ rief Harvey bitter. „Die Situation wäre für jeden anderen genauso schwierig gewesen wie für Sie“, entgegnete Carter und zuckte die Schultern. „Ich habe Sie gewählt, weil Ihre physische Konstitution genau dem entsprach, was ich suchte. Eine einfache technische Frage, um es kurz zu sagen. Es ist wie bei einem Bildhauer, der weiß, daß eine bestimmte Art von Tonerde sich besser für seine Arbeiten eignet als eine andere.“ Harvey antwortete nichts mehr. Er war zu niedergeschlagen. „Alle lebenden Wesen senden auf Grund der Tatsache, daß sie aus Materie bestehen, elektrische Schwingungen aus“, fuhr Carter fort. „Genügend empfindliche Geräte können selbst auf große Entfernungen diese kaum wahrnehmbaren Schwingungen entdecken. Das habe ich bei Ihnen getan. Bei der Entfernung, die zwischen uns lag, waren Sie für mich nur ein elektrisches Modell von genau dem Typ, den ich benötigte. Äußerlich blieben Sie mir unbekannt, denn mein Teleskop war nicht stark genug, um Sie zu sehen. Erst als ich meinen Körper in die Umwandlungskabine gebracht hatte, wußte ich, wie Sie aussahen, denn ich ließ mich nach Ihren elektronischen Schwingungen völlig umformen.“ 47
„Dieser Prozeß muß doch sehr schmerzhaft gewesen sein, nicht wahr?“ fragte Harvey. „Keineswegs. Alle Sinneswahrnehmungen wurden durch einen Vereisungsvorgang ausgelöscht, der so lange anhielt, bis mein Körper mit dem Ihrigen identisch geworden war. Damit hatte ich den schwierigsten Teil meines Werkes getan. Ich sah aus wie ein irdisches Wesen, aber ich mußte nun herausfinden, ‚wer’ ich eigentlich war. Also startete ich zum Raumflug und landete auf der Erde an einer unbewohnten Stelle in einer Wüste.“ Harvey schenkte wieder die Gläser voll, Carter ergriff das seine sofort und bedankte sich höflich. „Ich hatte sehr viel zu tun“, fuhr er fort. „Mit Hilfe des Rundfunks und anderer Mittel mußte ich herausfinden, wie der Planet beschaffen war, auf dem ich mich nun befand. Außerdem mußte ich wissen, wie seine Bewohner sich verhielten. Vor allem aber mußte ich mich genauestens über die Person informieren, die ich verkörperte. All das dauerte mehrere Monate. Schließlich war ich soweit. Ich hatte Ihre Sprache mit Hilfe der Rundfunksendungen von Grund auf gelernt, und bei der ersten Gelegenheit begab ich mich nach England und ließ absichtlich mein Raumschiff im Meer versinken, damit es nicht gefunden werden konnte. Zufällig erlebte ich gerade, daß eine Frau sich in Lebensgefahr befand, als sie mit dem Wagen auf einem Bahnübergang stehengeblieben war Den Rest wissen Sie …“ „Ja, gewiß“, stimmte Harvey trocken zu. „Sie haben ungewöhnliche Kraft an den Tag gelegt, als Sie den beschädigten Wagen aus dem Gleis zogen.“ „Stimmt! – Auch ein Teil meiner früheren Kraft ist mir geblieben. – Bei diesem Zwischenfall gab ich mich nicht zu erkennen, weil ich noch keinen Namen gewählt hatte und mich nicht des Ihrigen bedienen wollte. Es wäre doch zu unehrlich gewesen. Da ich kein Geld hatte, mußte ich es mir verdienen, 48
und das tat ich durch meine wissenschaftlichen Kenntnisse. Ich gab mich als Gelehrter aus, der lange Zeit im Verborgenen gearbeitet hatte und nun mit seinen Ideen an die Öffentlichkeit trat. Ich nannte mich Dr. Carter und ging das Risiko ein, daß man mich mit Ihnen verwechselte. Vor meinem Vortrag über die Psychologie der Frau hatte ich schon eine ganze Reihe anderer, weniger wichtiger Vorträge gehalten. So erlaubte mir mein Rednertalent, eine nicht unbeträchtliche Summe zu verdienen. Doch ich wollte unbedingt mit Ihnen in Verbindung treten. Deshalb überwachte ich Sie ständig und versuchte, einen geeigneten Augenblick zu finden, um Sie zu sprechen …“ „Sie hatten aber doch zweimal dazu Gelegenheit, wenn ich mich recht entsinne. Und doch sind Sie davongelaufen – und in welchem Tempo!“ „Ich lief davon, weil das Zusammentreffen von zwei so ähnlichen Menschen in belebten Straßen unbedingt zuviel Aufmerksamkeit auf uns gezogen hätte. Also entschloß ich mich dazu, Sie früher oder später privat aufzusuchen, und das habe ich hiermit getan.“ „Sie scheinen tatsächlich immer zu wissen, wo ich mich aufhalte. Wie machen Sie das eigentlich?“ „Ich schalte mich auf Kontakt mit Ihnen, genau wie Sie einen bestimmten Sender in Ihrem Rundfunkgerät einschalten. Um es verständlicher zu sagen, ich lese Ihre Gedanken und weiß daher alles, natürlich auch, was Sie gerade unternehmen und wo Sie sind.“ „Können Sie eigentlich auch die Gedanken anderer lesen?“ fragte Harvey peinlich berührt. „Ich kann es wohl, aber ich versichere Ihnen, daß ich es nicht tue. Die Gedanken der Menschen dieser Welt sind so banal, daß sich die Anstrengung überhaupt nicht lohnt. – Ich sagte eben, daß es mir nicht schwerfiel, mich als Philosophieprofessor aus49
zugeben, der lange sehr zurückgezogen gelebt hat. Bei einem meiner Vorträge schob ich eine Demonstration ein, bei der ich einen Rechenschieber benutzen mußte. Daß ich ihn liegenließ, war ein reiner Zufall, aber ich stellte fest, daß Sie sofort darangingen, mir nachzuspüren, als ich mich wieder mit Ihnen in geistige Verbindung setzte, um zu beobachten, wie Sie reagierten. So stellte ich auch fest, daß Ihre Freundin Miß Maynal mit Ihnen gebrochen hatte.“ „Und gingen Sie zu ihr?“ „Genau das. Die Beschreibung Ihrer Kleidungsstücke war in Ihren Gedanken enthalten, so daß diese Frage für mich keine Schwierigkeiten mehr bot. Als ich zu Miß Maynal kam, las ich sofort in ihren Gedanken, daß sie teilweise leicht beeinflußbar und für positive Stimmung empfänglich war, und ging an die Arbeit. In ungefähr einer Stunde hatte sich die Situation völlig gewandelt. Miß Maynal ist jetzt davon überzeugt, daß Sie sich unter dem Namen des Dr. Carter anonym leidenschaftlich der wissenschaftlichen Forschung hingeben, und Ihr parasitenhaftes Auftreten nur dazu dient, Ihre wahre Persönlichkeit zu verschleiern.“ „Sie haben sie sogar von der Richtigkeit Ihrer Behauptungen anläßlich dieses erstaunlichen Vortrages überzeugt: daß die Frau im allgemeinen dem Tier kaum überlegen sei, und daß sie keine Ahnung von logischem Denken hat.“ „Die Reporter haben offenbar das Ergebnis meines Vortrages ziemlich frisiert“, entgegnete Carter lächelnd. „Ich habe zwar gesagt, daß die Frauen geistig unterlegen sind, aber die Männer sind es ebenso. Darauf wurde nicht eingegangen. Wenn ich die Menschen dieser Erde mit mir vergleiche, stehen sie eben auf einem ziemlich tiefen Intelligenzniveau. Miß Maynal hat, wie ich glaube, meine Theorie nicht so sehr aus Überzeugung angenommen, als vielmehr, weil sie dazu gezwungen wurde.“ 50
„Wollen Sie damit sagen, daß Sie eine hypnoseähnliche Suggestivkraft angewandt haben?“ „Ungefähr das, ja. Nach meinem Dafürhalten mußte ich Ihnen die Situation retten, also habe ich es getan. Aber von jetzt an wird alles, was ich für Miß Maynal tue, nur Ihnen zugeschrieben werden, denn Sie können sicher sein, daß ich nur noch in Aktion trete, wenn Sie allein sind. Es ist unnötig, daß jemand erfährt, wie es um unsere ‚Doppelheit’ steht.“ „Das ist alles gut und schön, soweit es Sie betrifft, Dr. Carter – aber ich? Was wird aus mir bei der ganzen Sache? Wenn ich nun plötzlich gezwungen bin, ein Wunder der Wissenschaft zu produzieren, um meinen Ruf zu rechtfertigen, was soll ich dann tun?“ „Sie gewinnen einfach mit einer Entschuldigung Zeit und setzen sich mit mir in Verbindung. Ich werde Sie jederzeit stützen, und sei es auch nur zu meiner eigenen Sicherheit.“ „Und wo finde ich Sie?“ „Das ist eine Frage, über die wir noch sprechen müssen“, sagte Carter mit seltsamem Blick. „Unsere Schicksale sind so eng aneinander geknüpft, daß wir uns nicht mehr erlauben können, Geheimnisse voreinander zu haben.“ „Ein schöner Trost“, warf Harvey sarkastisch ein. „Sie lesen einfach meine Gedanken, daß es mir sowieso unmöglich ist, Geheimnisse vor Ihnen zu haben. Aber wie stehe ich da? Mit Ihnen verglichen, bin ich nicht mehr als eine Puppe, eine Marionette, die Sie am Draht tanzen lassen.“ „Das ist nicht meine Absicht, glauben Sie mir. Aber kommen wir wieder zur Hauptsache zurück … die größte Schwierigkeit in dieser Welt besteht für mich darin, einen ruhigen Aufenthaltsort zu finden, wo ich meditieren und vielleicht auch ein paar Experimente machen kann. Die zweite Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß ich kein Geld habe, denn ich 51
kann natürlich nicht ewig Vorträge halten und Dinge produzieren, die man für wissenschaftliche Wundertaten hält …“ „Von was für Wundern sprechen Sie eigentlich? Wenn man mich schon für fähig hält, derlei fertigzubringen, wäre es vielleicht doch besser, wenn ich darüber Bescheid weiß, was Sie getan haben?“ „Ohne näher auf Details einzugehen, will ich Ihnen nur kurz einiges andeuten. Ich habe bei meinem Vortrag im Institut für Angewandte Wissenschaften mit rein geistigen Mitteln Wasser in Eis verwandelt, obwohl die Raumtemperatur bei 25 Grad lag. Außerdem habe ich ein Metall in ein anderes umgewandelt ohne irgendwelche Hilfsmittel. Diese Experimente rechnen zur rein geistigen Wissenschaft und stellen mich über alle Wissenschaftler, die gegenwärtig auf diesem Planeten zu finden sind. Von jetzt an wird man also Ihnen diese ‚Wunder’ zuschreiben. Falls man verlangt, daß Sie sie wiederholen, setzen Sie sich mit mir in Verbindung, damit Ihr Ruf bestehen bleibt.“ „Ich frage Sie noch einmal: wo finde ich Sie?“ „Sie haben doch ein Gut in Buckinghamshire, nicht wahr, Mr. Bradman? Wenn ich nicht irre, heißt es ‚Denhamtowers’? Ich dachte, ich könnte mich vielleicht dort niederlassen. Momentan wohne ich in London im Hotel Darlington, was aber für meine Arbeit ein denkbar schlechter Aufenthalt ist.“ „Und Sie glauben, in einem Landhaus fühlen Sie sich wohler?“ „Wenn Sie daran interessiert sind, daß ich Ihnen helfe, ja. Sollten Sie versuchen wollen, ohne meine Unterstützung auszukommen, so werden Sie bald wegen der zahlreichen ‚Wunder’ in Verlegenheit geraten, die man von Ihnen verlangen könnte.“ Harvey überlegte. Er hielt sich zwar nicht für übermäßig intelligent, doch er durchschaute den Hintergrund dieses teuflischen Planes gleich – eines Planes, der ihn seinem Doppelgänger völlig auslieferte. Zuerst hatte ihm dieser sein Äußeres ge52
stohlen, und jetzt wollte er ihn durch diese Erpressung ganz in seine Gewalt bringen. „Sehen Sie“, fuhr Carter ruhig fort und entspannte sich in seinem Sessel, „ich brauche eben einen ruhigen Aufenthaltsort und Geld. Sie können mir beides bieten. Dafür gebe ich Ihnen eine Berühmtheit, die alle heutigen Wissenschaftler in den Schatten stellt, und ich verschaffe Ihnen die Frau, die Sie lieben. Ist das nicht ein ehrlicher Handel? Ich werde mich immer von Ihnen fernhalten, um Ihre Braut unser Geheimnis nicht entdecken zu lassen. Wenn Sie sich meiner bedienen, können Sie so berühmt werden, daß Sie in die Geschichte der Wissenschaft eingehen. Das ist der Pakt, den ich Ihnen vorzuschlagen habe.“ Harvey stand auf um zu klingeln, dann wandte er sich um und erklärte Carter: „Ich möchte, daß mein Diener Ihren Vorschlag auch anhört, denn ich habe das größte Vertrauen zu seiner Einsicht, besonders auch, da er ohnehin den Fall genau kennt.“ „Sie sollten sich daran gewöhnen, sich auf Ihr eigenes Urteil zu verlassen, Mr. Bradman. Das ist wesentlich befriedigender.“ Harvey antwortete nicht. Er hob den Blick, als Peters eintrat. „Haben Sie geklingelt, Sir?“ fragte er nach einem kurzen Blick auf das Taschentuch, das Harvey am Arm trug, um sich von Carter zu unterscheiden. „Ja, Peters. Mein Doppelgänger hat mir einen Vorschlag zu machen. Da er mich betrifft, geht er auch Sie an. Ich hätte gern, daß Sie ihn anhören und unvoreingenommen urteilen. Betrachten Sie sich also als Berater, nicht als Diener.“ „Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Mr. Bradman, und werde mein möglichstes tun.“ Dr. Carter lächelte, und als er seinen Vorschlag auseinandergesetzt hatte, lächelte er immer noch. Peters’ strenges Gesicht 53
spiegelte keine Gefühlsäußerung wider, doch man sah, er dachte intensiv nach. „Ich glaube, daß der Vorschlag zu ungünstig für Sie ist“, sagte er endlich und sah Harvey an. „Um ganz offen zu sein: es ist doch klar, daß Dr. Carter alle Trümpfe in der Hand hat.“ „Das habe ich mir auch gesagt“, stimmte Harvey zu und nickte. „Natürlich haben Sie im Grunde recht“, gab Carter zu. „Aber können Sie einen besseren Vorschlag machen? Der Ruf von Dr. Carter, den man von jetzt an unter dem Namen Harvey Bradman kennen wird, ist nun einmal da, und Mr. Bradman muß sich danach richten, sonst wird man ihn lächerlich machen, und seine Braut wird ihm ein für alle mal einen Korb geben. Sie verlieren alles, Mr. Bradman, außer vielleicht Ihr Vermögen … ich, an Ihrer Stelle, würde den Ruf eines Genies dem eines trinkenden Snobs vorziehen. Was meinen Sie dazu?“ „Na hören Sie mal!“ entgegnete Harvey getroffen. Aber er hielt sofort inne und seufzte: „Er hat recht, Peters. Vera denkt, ich sei ein Genie. Ich kann nicht mehr auf sie verzichten, denn ich liebe sie zu sehr. Im übrigen liegen die Forderungen des Dr. Carter ja noch durchaus im Rahmen des Möglichen, nicht wahr?“ „Das finde ich nicht, Mr. Bradman“, erwiderte Peters, beunruhigt von Harveys plötzlichem Frontwechsel. Doch als er Carters entschlossenen, unbarmherzigen Blick sah, glaubte er zu verstehen. Harvey fuhr fort: „Der Ostflügel von ‚Denhamtowers’ ist seit Jahren geschlossen … nichts steht dem im Wege, ihn Carter zur Verfügung zu stellen.“ „Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen“, sagte Carter und erhob sich lächelnd. „Mehr will ich gar nicht. Ich hoffe, daß dieser Flügel einen Keller hat?“ 54
„Es ist ein Keller da, aber was wollen Sie damit?“ „Ach, ich möchte nur basteln und ein paar Experimente machen … da wir also einer Meinung sind, bin ich Ihr Gast in Denhamtowers, und Sie werden mir alles zur Verfügung stellen, was ich brauche. Dafür helfe ich Ihnen immer aus, wenn Sie mich brauchen.“ „Also gut“, stimmte Harvey zu. „Aber wie richten Sie sich ein? Werden Sie Ihren ‚Haushalt’ selbst besorgen?“ „Ich glaube, das wird nicht nötig sein, und auch nicht wünschenswert. Ihr Diener kann doch für uns beide sorgen.“ Peters hob leicht die Augenbrauen. Harvey murmelte überrascht: „Buckinghamshire ist sehr weit weg von hier, Carter. Ich …“ „Mr. Bradman“, unterbrach ihn Carter mit kühlem Lächeln, „Sie sind doch fest entschlossen, in den nächsten Tagen Miß Maynal zu heiraten, nicht wahr? Nein, geben Sie sich nicht die Mühe zu leugnen, ich kenne Ihre Absichten ganz genau. Sie gehen auf die Hochzeitsreise und kommen dann wieder hierher. Aber ist das so sicher? Wenn Sie – oder ich – Miß Maynal zur rechten Zeit sagen, dann wird sie sicher geneigt sein, in Denhamtowers zu wohnen, und nur ab und zu hierher zu kommen. Ich glaube, das ist die beste Lösung.“ „Aber – aber wenn wir beide im Schloß wohnen, müssen wir uns doch eines Tages einmal begegnen!“ wandte Harvey ein. „Sie haben mir doch versprochen, daß dies nie der Fall sein würde.“ „Es wird auch nicht vorkommen. Sie bewohnen mit Ihrer Frau den modernen Flügel und ich bleibe im alten. So werden sich, wie es in der Fabel heißt, ‚die Zwillingsbrüder nie begegnen’. Peters soll unsere einzige Verbindung sein, und er ist, davon bin ich überzeugt, die Diskretion selbst.“ Peters, der ja im übrigen von Carter gar nichts wußte, schwieg 55
zwar, doch sein Gesicht verriet, daß all diese Vorschläge ihm kaum gefielen. „Ist also alles geregelt?“ fragte Carter schließlich. „Äh … ja“, sagte Harvey. „Einverstanden! Von jetzt an haben Sie nichts mehr zu fürchten … Sie werden ein großer Mann. Mr. Bradman! Was mich angeht, so werde ich noch heute abend in Denhamtowers einziehen.“ „Heute abend?“ rief Harvey. „Warum nicht? Wir haben doch kein Interesse daran, die Ausführung unserer Pläne zu verzögern, und ich werde London so rasch wie möglich verlassen, um. Ihnen das Feld zu räumen und nicht Gefahr zu laufen, mit Ihnen gesehen zu werden. Ich glaube bestimmt, daß Peters mich nach Denhamtowers fahren kann.“ „Ich bin kein Chauffeur, Mr. Carter“, bemerkte Peters kalt. „Das ist möglich, aber Sie können fahren, und sogar sehr gut. Ich sehe es in Ihren Gedanken … Mr. Bradman wird bestimmt einige Tage ohne Sie auskommen. Ich brauche einen Diener nötiger als er. Im Gegensatz zu ihm kenne ich die Sitten und Gebräuche dieses Planeten nicht.“ Diesmal riß Peters die Augen weit auf, und sein Blick ging langsam zu Harvey. „Tun Sie, was er verlangt, Peters“, riet Harvey. „Er kommt aus einer anderen Welt.“ „Er … er ist kein Mensch wie wir, Mr. Bradman?“ stammelte der Diener. „Darf ich fragen …“ „Das ist eine lange Geschichte, Peters. Bitten Sie ihn, zu erzählen, während Sie nach Denhamtowers fahren. Sie werden jetzt verstehen, daß er in der Lage ist, alles von uns zu verlangen, was er will.“ Peters lockerte mit einem Finger seinen Kragen. „Wünschen Sie also, daß ich Mr. Carter nach Denham fahre 56
und ihm zur Verfügung stehe, bis Sie mit … mit Mrs. Bradman ankommen?“ „Ja, Peters“, sagte Harvey und starrte in die Ferne. Erst als sich die Tür hinter Carter und Peters geschlossen hatte, wurde ihm der seelische Zwang bewußt, der von seinem Doppelgänger ausgegangen war und ihm den größten Teil der Entschlüsse vorschrieb, die er scheinbar selbst gefaßt hatte.
Kapitel 4 Am folgenden Montag fand die Hochzeit statt. Die Zeitungen widmeten diesem Ereignis ein vielfältiges Echo, denn Vera war entschlossen, in der mondänen Welt nicht in Vergessenheit zu geraten und hatte daher den Presseleuten alle Informationen gegeben, die sie über Harveys doppelte Persönlichkeit hatte. So erfuhr das Publikum, daß der berühmte Dr. Carter und Harvey Bradman ein und dieselbe Person waren, was die Londoner Gesellschaft sehr überraschte. Dann fuhren die beiden neugebackenen Eheleute nach Südfrankreich, um dort ihre Flitterwochen zu verbringen. Dr. Carter wurde im Schloß von Denhamtowers, einem riesigen alten Gebäude mit vielen verborgenen und unbekannten Schlupfwinkeln, durch den Rundfunk ständig auf dem laufenden gehalten. Er lebte im Ostflügel, wo er eine eigene Wohnung für sich hatte. Peters erzählte er einiges von sich, so daß dieser über alles Notwendige Bescheid wußte. Er hielt sich jedoch soviel als möglich von dem Fremden fern, obwohl er ihm natürlich für alle Dienstleistungen zur Verfügung stand. Am Abend der Heirat rief Carter Peters noch einmal zu sich, als der Diener gerade Carters Wohnraum verlassen wollte, wo der Kamin eine wohlige Wärme ausstrahlte. 57
„Einen Augenblick noch, Peters, ich möchte mit Ihnen reden.“ Peters wandte sich langsam um. „Ja, Sir?“ „Wie ich annehme, sind Sie der Vertraute Ihres Herrn?“ „Jawohl, Sir. Ich versuche, ihm zu helfen, so gut ich kann.“ „Das habe ich nicht gerade gemeint. Ich überlegte, daß er Ihnen auch die Schlüssel seines Tresors in London anvertraut hat.“ „Zweifellos haben Sie das aus meinen Gedanken gelesen, Mr. Carter?“ „Natürlich.“ Carter setzte sich in dem riesigen Sessel zurecht und dachte nach. Das flackernde Licht huschte über sein Gesicht und ließ ihn Harvey völlig gleich erscheinen, woran sich Peters noch nicht hatte gewöhnen können. „Peters“, begann Carter wieder, „ich wünsche, daß Sie nach London fahren und sein Scheckbuch Nummer 9 holen, das er selten benutzt, obwohl es auf sein Privatkonto lautet.“ „Darf ich Sie nach dem Grund dieses überraschenden Ansuchens fragen, Dr. Carter?“ „Ich brauche Geld, und zwar viel Geld. Die einzige Möglichkeit in meiner jetzigen beschränkten Lage besteht eben darin, mir die völlige Gleichheit mit Ihrem Herrn zunutze zu machen, um einen Scheck zu zeichnen.“ Peters wurde steif. „Ich würde es vorziehen, Ihrer Anordnung nicht Folge leisten zu müssen, Sir. Was Sie von mir verlangen, ist sehr unehrenhaft.“ „Machen Sie keine Umstände, und tun Sie, was ich Ihnen sage, Peters. Sie verstehen doch wohl, daß ich Geld brauche. Wie soll ich denn hier herauskommen, wenn jeder weiß, daß Bradman mit seiner Frau in Südfrankreich ist? Ich halte mein Wort, das 58
ich gegeben habe – nämlich, mich zurückzuhalten. Sie haben Ihre Pflichten, auch mir gegenüber.“ „Ich tue, was Sie verlangen, Sir, aber nur, wenn ich die Erlaubnis meines Herrn dazu habe. Ich kann ihn in Frankreich in seinem Hotel anrufen.“ „Sicher, aber ich halte das nicht für notwendig. Sie fahren heute abend nach London und richten sich nach meinen Anordnungen. Ich weiß, daß Sie die Tresorschlüssel haben. Außerdem müssen Sie endlich aufhören, immer an einen Eingriff der Polizei zu denken. Ein Versuch dieser Art – und Sie bringen Ihren Herrn, seine Frau und sich selbst in eine sehr gefährliche Situation, glauben Sie mir.“ Peters überlegte lange, während er vor dem Kamin stand, und sagte endlich: „Wie Sie wünschen, dir. Ich tue, was Sie verlangen.“ „Gut! Das wäre alles, Peters.“ Peters zog sich wie traumbefangen zurück. Er war nicht hypnotisiert, und dennoch hatte er nicht mehr volle Kontrolle über sich selbst. Er wußte, daß er genauso handeln mußte wie Carter angeordnet hatte, weil es ihm unmöglich war, Dr. Carter zu widerstehen … Peters begab sich also nach London und kam gegen zehn Uhr zurück, das Scheckbuch in der Tasche. Als er in den geräumigen, antik möblierten Salon trat, fand er Dr. Carter noch im Sessel vor dem Feuer sitzend, so daß man hätte glauben können, er habe sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt. Doch da Kohlen auf dem Feuer lagen, war er offensichtlich nicht sitzen geblieben. „Gut gemacht, Peters“, sagte Carter. Es war keine Frage, sondern eine nüchterne Feststellung. „Machen Sie doch bitte Licht, Peters“, fuhr er fort. Dieser gehorchte. Im alten Flügel des Schlosses gab es noch 59
keine Elektrizität. So bestand die Beleuchtung aus Öllampen, und der Raum wurde von tanzenden Reflexen erfüllt. Carter stand auf und setzte sich mit dem Scheckbuch an den Tisch, wo er es aufmerksam prüfte. Dann schrieb er einen Scheck aus. „Morgen früh lösen Sie mir den Scheck ein, sobald die Bank geöffnet hat, Peters. Das Geld ist für unsere dringenden Bedürfnisse. Ich werde noch mehr Schecks ausfüllen müssen.“ Peters nahm den Scheck entgegen und prüfte ihn aufmerksam. Es war absolut unmöglich festzustellen, daß ihn nicht Harvey selbst ausgestellt hatte. „Sie meinen, der Scheck sei eine Fälschung, Peters?“ sagte Carter mit einem ironischen Blick „Glauben Sie mir, Sie irren sich … Bradman und ich sind ein und dieselbe Person, und daher haben wir die gleichen Kennzeichen in allem, also auch Schrift und Unterschrift. Ich brauche Sie im Augenblick nicht mehr, mein Lieber.“ „Sehr wohl, Sir“, murmelte Peters. Würdevoll zog er sich zurück und betrachtete von neuem den Scheck, der auf zweitausend Pfund Sterling lautete. Mr. Bradman hätte niemals auf die Vorschläge dieses Kerls eingehen dürfen, dachte er, als er den Scheck einsteckte. Ich habe das Gefühl, daß unsere Scherereien überhaupt erst anfangen. * Carter hatte sich eingerichtet und schien die Absicht zu haben, für längere Zeit dazubleiben. Während Peters schlief, war er sehr intensiv tätig, ohne es irgendwie verbergen zu wollen. In den ersten Stunden nach Mitternacht besichtigte Carter die weitläufigen Kellerräume, die unter dem alten wie auch dem neuen Flügel des Schlosses lagen. Bei dieser Untersuchung hatte 60
er eine Petroleumlampe mit und hielt von Zeit zu Zeit inne, um einen Plan der Räume zu skizzieren, durch die er kam. Schließlich kehrte er um drei Uhr morgens befriedigt von seiner Besichtigung in seine Wohnung zurück, und arbeitete mit Hilfe der Planskizzen verwickelt aussehende Zeichnungen aus, zu denen er sich dann Notizen machte. Jedenfalls konnte man trotz der seltsamen Formen erkennen, daß es sich um Maschinenanlagen handelte. Danach schrieb er Briefe – etwa ein gutes halbes Dutzend – und fügte jedem einen Scheck bei. Da er die Erledigung dieser Post Peters nicht anvertrauen wollte, begab er sich in die eisige und pechschwarze Nacht und suchte den nächsten Briefkasten des Dorfes auf. Dann kam er zum Schloß zurück und legte sich schlafen. Wenige Tage darauf begann der Erfolg dieser Unternehmungen sichtbar zu werden. Mehrere Lastwagen kamen vor dem Schloß an. Sie waren mit Maschinen und Laborgeräten beladen, die Tuchplanen verhüllten. Vom Küchenfenster aus beobachtete Peters, wie die Männer schwere elektrische Einrichtungsgegenstände in den Keller transportierten. Danach begann eine Reihe von Monteuren unter Carters Aufsicht die Maschinen zu installieren. Um Harvey nicht zu schaden, hatte sich Carter einen Bart angeklebt, was ihn völlig entstellte. Außerdem sorgte auch die trübe Beleuchtung im Keller dafür, daß die Arbeiter keine Ähnlichkeit feststellten. Diese Montagen dauerten bis zum Abend. Als alles fertig war, konnte Peters seine Neugier nicht mehr bezähmen. Als er Carter das Abendessen servierte, murmelte er: „Verzeihung, Sir, aber …“ „Sie fragen wegen des Materials im Keller, Peters?“ unterbrach ihn Carter. „Ja, Sir. Ich verstehe nicht, zu was es gebraucht wird, zumal 61
wir ja nirgends dort unten Elektrizität oder eine sonstige Kraftquelle haben.“ „Das kommt noch. Ich werde eine Ableitung vom Hauptkabel legen, um den Generator zu betreiben. Das ist aber noch nicht alles. Andere Spezialmaschinen werden folgen. Ich erwarte sie zwar nicht vor einer Woche, aber es ist wesentlich, daß die ganze Arbeit abgeschlossen ist, bevor Mr. Bradman mit seiner Frau zurückkommt. Es könnte ihr sonst auffallen, und sie würde zu viele Fragen stellen …“ „Daran zweifle ich nicht, Sir. Aber – wozu das alles?“ „Ich beabsichtige nicht, es Ihnen zu erklären, Peters“, entgegnete Carter. Peters sagte nichts mehr. Er wartete, daß Carter ihn entließ, und begab sich dann durch die langen Gänge des Schlosses in den modernen Flügel. Dort griff er nervös zum Telefon. „Sind Sie es, Bradman?“ fragte Peters mit einer Stimme, die fremd und fern klang. „Es gehen hier merkwürdige Dinge vor, und deswegen muß ich trotz der Gefahr mit Ihnen sprechen.“ „Unser Freund?“ „Ja, Sir. Es handelt sich um folgendes.“ Und Peters berichtete kurz, was vorgefallen war; auch die Angelegenheit mit dem Scheckbuch. Seine Stimme klang heiser. „Ich weiß nicht, was das alles bedeutet“, fuhr er fort, „aber ich wäre froh, wenn Sie zurückkämen. Es ist eine zu große Verantwortung für mich.“ „Und Sie sagen, daß er nicht erklären will, was er mit dem Material anfängt?“ „Nicht ein Wort, Sir.“ „Ich glaube wirklich, wir sollten zurückkommen. Was Sie erzählen, beunruhigt mich …“ „Ich erwarte Ihre Rückkehr mit Ungeduld, Sir. Vielleicht hänge ich jetzt besser ein, solange ich noch in Sicherheit bin?“ 62
Harvey tat das gleiche und kam nachdenklich in den Salon zurück. Vera sah ihn neugierig an, während er wieder im Sessel ihr gegenüber Platz nahm. „Wer war das?“ fragte sie. „Noch ein Freund, der Glückwünsche anbringen wollte?“ „Nein … stell dir vor, ich habe in London Schwierigkeiten bekommen … ich glaube, wir müssen sofort wieder nach Hause zurück, Vee. Es tut mir so leid, daß dadurch unsere Flitterwochen unterbrochen werden, aber mein Ruf steht auf dem Spiel.“ „In diesem Fall fahren wir natürlich sofort! Aber kannst du mir nicht mehr darüber erzählen? Um was handelt es sich eigentlich?“ „Es geht um ein wissenschaftliches Problem erster Ordnung“, sagte Harvey mit etwas gezwungenem Lächeln. „An diese Geheimnisse mußt du dich eben gewöhnen, Liebling.“ „Um die Frau eines so berühmten Mannes zu sein, nehme ich das gern in Kauf“, erklärte sie versöhnlich. Harvey entgegnete nichts, doch er begann sofort, die Vorbereitungen zur Abreise zu treffen. Sie verbrachten noch eine Nacht im Hotel, dann nahmen sie am nächsten Morgen das Flugzeug, um nach England zurückzukehren. Gegen Mittag kamen sie mit dem Wagen in Denhamtowers an. Der Chauffeur öffnete ihnen den Schlag. „Du hattest ganz recht“, bemerkte Vera beim Aussteigen. „Hier auf dem Land ist es wunderbar ruhig. Ich frage mich nur, ob ich mich jemals daran gewöhnen kann, hier zu wohnen.“ „Vielleicht ist es hier gar nicht immer so friedlich, wie du meinst“, erwiderte Harvey doppelsinnig und warf Peters rasch einen verstohlenen Blick zu. Ganz leise fragte er ihn: „Wo ist er gerade?“ „Er lebt immer ganz zurückgezogen im alten Flügel, Sir. Sie 63
haben nichts zu befürchten, er hält sein Versprechen – obwohl er etwas verwirrt schien, als er erfuhr, daß Sie vorzeitig zurückkommen.“ Vera fragte: „Was tuschelt ihr beide eigentlich? Tauscht ihr Erinnerungen aus?“ Sie kam näher – erstaunt, daß die beiden die Köpfe zusammensteckten. Peters richtete sich sofort auf. „Ich bitte um Verzeihung, Madam. Darf ich Ihnen sagen, wie sehr ich mich freue, Sie hier als Haushälterin willkommen heißen zu dürfen?“ „Das dürfen Sie, Peters“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Ich kenne Sie genügend, glaube ich, um sicher zu sein, daß alles reibungslos ablaufen wird.“ „Danke, Mrs. Bradman. Das wünsche ich wirklich von ganzem Herzen.“ Er entschuldigte sich mit einer gewissen Eile, um dem Chauffeur beim Transport des Gepäcks zu helfen. Beim Essen rief Vera Peters zu sich. „Was haben Sie hinsichtlich des Hauspersonals getan, Peters?“ „Nichts, Madam“, sagte er und warf einen raschen Blick zu Harvey. „Ich dachte, nicht, daß wir Personal brauchten. Mr. Bradman hat nichts davon gesagt.“ „Natürlich nicht, er hat andere Dinge im Kopf. Aber da ich jetzt das Haus leite, will ich, daß es gut in Schuß ist. Sie werden doch selbst nicht glauben, daß Sie allein alle Arbeiten in diesem weitläufigen Gebäude leisten können?“ Da Peters schwieg, schaltete sich Harvey ein. „Es besteht kein Grund anzunehmen, daß Peters nicht damit fertig wird, Liebes. Schließlich ist der größte Teil der Zimmer 64
ja unbewohnt, vor allem im alten Flügel. Und wir zwei allein machen ihm ja nicht so viel Arbeit.“ „Ich denke dabei nicht nur an uns, Harvey“, erwiderte sie. „Wir müssen doch hier auch Feste geben, damit das Schloß seinen Ruf erhält. Wenn wir keine Freunde einladen, dann werden wir bald nur noch lebende Mumien sein! Außerdem mußt du deine Kollegen empfangen, und überhaupt allen Wissenschaftlern soll das Haus offenstehen. Ich möchte das ganze Gebäude renovieren und modernisieren lassen. Peters, ich gebe Ihnen Vollmacht, zu diesem Zweck geeignete Leute für uns einzustellen.“ „Sehr wohl, Madam.“ Harvey schien etwas sagen zu wollen, doch er äußerte seine Gedanken nicht. Er wechselte einen Blick mit Peters, und der Gegenstand wurde nicht weiter erörtert. Das Essen neigte sich dem Ende zu, als die Klingel am Haupteingang ertönte. Peters verschwand, um zu öffnen. Er sagte einen überraschenden Besuch an, als er den Raum wieder betrat. „Mr. Calmore, Ihr Bankier, möchte Sie sprechen. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt.“ Calmore ein vertrauenerweckend aussehender, tadellos gekleideter Mann, wandte sich um, als Harvey ihm mit entgegengestreckter Hand entgegenkam. „Das ist aber eine Überraschung, Mr. Calmore! Was gibt es denn? Setzen Sie sich doch!“ „Danke, Mr. Bradman. Sie werden mir sicher die Freiheit, Sie hier aufzusuchen, nicht übelnehmen. Meine einzige Entschuldigung ist die, daß ich Ihre Interessen vertrete. Aus den Zeitungen habe ich erfahren, daß Sie heute zurückgekommen sind und hier wohnen wollen. Außerdem habe ich …“ er zögerte. „Um was geht es denn eigentlich?“ 65
„Ich wurde auf einige Schecks aufmerksam, die auf Ihr Konto Nummer 9 ausgestellt sind. Ich nehme natürlich an, daß alles in Ordnung ist. Aber es kam mir doch etwas merkwürdig vor, daß Sie diese Schecks ausgestellt haben, während Sie auf der Hochzeitsreise waren, und dazu auf ein Konto, das Sie sonst kaum benutzen.“ „Wie hoch war noch die Gesamtsumme der eingelösten Schecks?“ Calmore öffnete seine Aktenmappe und zog fünf ausgezahlte Schecks heraus. Harvey nahm sie und sah sie mit gerunzelter Stirn durch. Alle Schecks waren für bekannte Firmen ausgestellt und lauteten auf beachtliche Summen. Einer betrug fünfzehntausend Pfund, und von den anderen war keiner unter zweitausend Pfund wert. „Ja, das ist schon richtig“, sagte Harvey nachdenklich. „Ich habe sie ausgestellt, um wissenschaftliches Material zu bezahlen. Sie haben sicher gelesen, daß ich Forschungen betreibe?“ „Ja, gewiß.“ Calmore war zufrieden, die Interessen seines reichen Kunden richtig wahrgenommen zu haben. Er schüttelte Harvey die Hand und empfahl sich. Harvey überlegte eine Weile, verließ dann mit finsterem Gesicht die Bibliothek und betrat den langen Gang, der zum geschlossenen Flügel führte. Schließlich kam er im Salon an, wo Carter sein Hauptquartier aufgeschlagen hätte. Er saß da und schien in komplizierte Rechnungen auf seinem Notizblock vertieft. „Herzlich willkommen, Mr. Bradman!“ sagte er und erhob sich. „Hoffentlich entstehen Ihnen infolge Ihrer verfrühten Rückkehr nicht zuviel Schwierigkeiten …“ „Schwierigkeiten? Wieso?“ „Weil ich noch einige Spezialmaschinen geliefert bekomme. 66
Ich hoffte, damit fertig zu sein, bevor Sie mit Ihrer Frau zurückkommen würden, aber beim jetzigen Stand der Dinge müssen wir ihr eben eine Erklärung geben.“ „Das erledige ich schon, machen Sie sich darüber keine Sorgen … aber da wir gerade dabei sind – könnten Sie mir vielleicht eine Erklärung geben? Ich habe eben fünf Schecks im Gesamtwert von dreißigtausend Pfund bekommen, die Sie ausgestellt haben. Wissen Sie eigentlich, was Sie tun, wenn Sie von meinem Vermögen Gebrauch machen?“ „Ich übe das Privileg aus, Ihr Doppelgänger zu sein, Mr. Bradman. Ich besitze kein Geld, und wenn ich mich des Ihren bediene, so bin ich sicher, daß Sie nichts dagegen haben. Selbst wenn es anders wäre, würde das an der Situation nichts ändern. Ich habe für meine Experimente ein paar unbedingt notwendige Maschinen bestellt.“ „Als Sie von wissenschaftlichen Experimenten sprachen“, sagte Harvey mit wütendem Blick, „hätte ich nicht vermutet, daß sie mich dreißigtausend Pfund kosten würden! Was wollten Sie anfangen, wenn ich bei der Polizei eine Anzeige erstatten würde? Schecks zu fälschen ist ein Verbrechen, zumindest in unserer Welt.“ „Sie haben wirklich Humor, Mr. Bradman. Die ganze Welt ist doch jetzt dank der ‚Enthüllungen’ Ihrer Frau davon überzeugt, daß Sie und ich eine Person sind. Wie wollen Sie das Gegenteil beweisen, vor allem, wenn unsere Fingerabdrücke identisch sind?“ „Sie haben wieder einmal gewonnen“, gab Harvey mürrisch zu. „Aber seien Sie von jetzt an bitte bescheidener.“ „Wieso denn? Sie sind doch mehrfacher Millionär, nicht wahr? Es ist aber unwahrscheinlich, daß ich noch soviel Geld brauche. Was ich bestellt habe, genügt mir für den Zweck, den ich erreichen will.“ 67
„Und das wäre? Da Sie sich meines Geldes bedienen und wir, wie Sie sagten, keine Geheimnisse voreinander haben, darf ich doch wohl erfahren, wozu mein Vermögen verwandt wird?“ „Nicht in diesem Fall, Mr. Bradman. Es handelt sich um ein äußerst schwieriges Experiment, das auf einer Ebene abläuft, zu der Sie geistig keinen Zugang haben. Sie würden jetzt vielleicht besser daran tun, zu Ihrer Frau zurückzukehren, bevor Sie überlegt, wo Sie stecken könnten!“ Harvey überhörte diesen Hinweis. „Von jetzt an müssen Sie sich in acht nehmen, Carter“, sagte er entschlossen. „Meine Frau möchte diesen Teil des Hauses reinigen lassen. Wenn Sie wirklich darangeht, wird es Schwierigkeiten geben.“ „Ich überlasse es Ihnen, sie daran zu hindern, lieber Bradman … außerdem möchte ich Ihnen dazu gleich sagen, daß ich keine Störung dulde. Wenn jemand sich einfallen lassen sollte, meine Einrichtungen im Keller anzurühren, würde ich mich gezwungen sehen einzugreifen.“ „Das heißt?“ „Jeder Eindringling wird beseitigt! Ich sage das nicht leichthin.“ „Sie wären dazu fähig.“ Wortlos verließ er den Raum und begab sich in den anderen Flügel zurück. Als er in den Salon trat, lag Vera auf dem Sofa ausgestreckt. „Was wollte denn der Bankmann?“ fragte sie erstaunt. „Er ist wahrhaftig lange genug dageblieben, um dir die ‚Bank von England’ zu verkaufen.“ „Calmore ist schon seit einer ganzen Weile fort“, sagte Harvey und schob seiner Frau die Zigarettendose hin. „Ich habe nur noch ein paar Schecks ausgestellt, um Maschinen zu bezahlen, die ich vor unserer Abreise bestellt hatte. Sie können jeden Au68
genblick ankommen. Ich war so lange weg, weil ich den Keller besichtigte.“ „Oh, das ist interessant! Wenn man bedenkt, daß ich nie darauf gekommen war, wer du in Wirklichkeit bist!“ „Ich überlegte, wo ich sie dort unten aufstellen soll … das bringt mich auf etwas: ich möchte, daß der alte Teil so bleibt wie er ist. Ich lege keinen Wert darauf, daß sich dort Dienstboten herumtreiben unter dem Vorwand, sie müßten putzen …“ „Warum sollen wir denn das halbe Haus den Spinnen überlassen, wenn man es in Ordnung bringen und benutzen könnte?“ fragte Vera enttäuscht. „Es sind gar keine Spinnen dort!“ „Um so besser!“ „Hör zu, Vee“, sagte Harvey seufzend, „um ganz offen zu sein, möchte ich die Hälfte des Hauses für meine Experimente freihalten. Ich möchte niemanden dort haben. Auch dich nicht, sofern ich es dir nicht ausdrücklich erlaube.“ „Das ist doch das Unvernünftigste, was ich jemals gehört habe!“ wandte Vera ein. „Was hast du eigentlich vor, das so geheimgehalten werden muß? Spielst du jetzt Ritter Blaubart?“ „Ich studiere die Grundenergie der Materie“, antwortete Harvey geheimnisvoll. „Wenn nun jemand in den Bereich meiner Versuche kommt, könnte er in ein statisches elektrisches Feld geraten und umkommen. Außerdem bin ich moralisch und gesetzlich verpflichtet, die Sache geheimzuhalten. Sei mir nicht böse, daß ich nicht mehr sagen darf, Liebling.“ „Gut“, gab sich Vera zufrieden, obwohl es nicht sehr froh klang. „Aber das heißt doch nicht, daß wir für den neuen Flügel kein Personal einstellen sollen?“ Harvey wurde der Antwort auf diese Frage enthoben, denn Peters kam und lenkte dadurch die beiden von ihrem Gespräch ab. 69
„Dr. Hargraves vom Institut für Angewandte Wissenschaften, Sir. Er möchte Sie sprechen, und ich habe ihn in die Bibliothek geführt.“ „Um Gottes willen!“ rief Harvey, stand auf und löschte seine Zigarette aus. „Gut, Peters, ich komme gleich.“ „Warum bist du denn so verwirrt?“ fragte Vera. „Ich dächte doch, daß Dr. Hargraves, der größte englische Experte auf dem Gebiet der Elementarenergie und Materie – wie die Zeitungen schreiben –, genau der Mann wäre, den du kennenlernen solltest. Das ist doch jemand von deinem Niveau, was selten vorkommt, nicht?“ Harvey lächelte schwach. Er sagte nichts und verließ den Raum. In der Bibliothek traf er Kenneth Hargraves, den man als den größten lebenden Physiker anerkannte. Er war hochgewachsen, hatte graumelierte Schläfen und sah streng aus. Doch er grüßte Harvey mit offensichtlicher Herzlichkeit. „Es ist wirklich eine Freude für mich, Sie kennenzulernen, Mr. Bradman!“ rief er und schüttelte Harvey die Hand. „Aber Sie ziehen es vielleicht vor, wenn ich Sie bei Ihrem Pseudonym nenne – Dr. Carter?“ „Das ist gleichgültig“, antwortete Harvey lässig. „Setzen Sie sich, Dr. Hargraves. Was kann ich für Sie tun?“ „Ich habe Ihren Vortrag im Institut für Angewandte Wissenschaften gehört. Es war ein Meisterwerk unerklärlicher Fähigkeiten, und ich sage das, ohne Ihnen schmeicheln zu wollen! Ein bisher nicht dagewesenes Experiment! Es ist mir schwergefallen, Kollegen davon zu überzeugen, die nicht anwesend waren. Sie wollen nicht glauben, daß Sie wirklich in der Lage sind, die Materie zu beherrschen. Ich habe also eine Spezialsitzung anberaumt, bei der sich Wissenschaftler aus aller Welt einfinden werden, die beim letzten Mal nicht dabei waren. Dürfte ich Sie bitten, Ihre Experimente dann zu wiederholen? 70
Es erübrigt sich zu sagen, daß Sie die Höhe des Honorars selbst bestimmen …“ „Warten Sie …“, murmelte Harvey und dachte nach. „Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt, weil ich Versuche durchführe, die ich schwerlich unterbrechen kann.“ „Sie werden mir doch keine Absage geben, Mr. Bradman? Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß das Ganze Sie aufhält. Aber denken Sie doch an Ihre Kollegen! Solche Zusammenkünfte sind im Interesse der Wissenschaft unentbehrlich …“ „Hm – wann soll es denn stattfinden?“ fragte Harvey. „Morgen abend im Institut, in der Aula. Es werden etwa dreitausend Leute anwesend sein.“ „Würden Sie mich für einen Augenblick entschuldigen? Ich werde in meinem Terminkalender nachsehen, ob es geht …“ Harvey verließ die Bibliothek und begab sich noch einmal zu Carter. Harvey bemerkte, daß er die gleichen Kleider trug wie er selbst. „Sie brauchen gar nichts zu sagen“, lächelte Carter. „Ich weiß, um was es sich handelt. Ich werde die Sache in die Hand nehmen, um mein Versprechen zu halten, daß ich Ihnen jederzeit zur Verfügung stehe. Bleiben Sie hier, bis ich zurück bin, und rühren Sie sich nicht von der Stelle, ganz gleich was geschieht. Verstanden?“ „Ja, gut … wie haben Sie es eigentlich gemacht, zu denselben Kleidern zu kommen wie ich?“ „In Ihrer Wohnung in London gibt es zahlreiche Exemplare aller Kleidungsstücke, die Sie tragen. Ich habe mir von Peters eine Auswahl davon besorgen lassen, um für solche Fälle wie jetzt ausgerüstet zu sein.“ „Aber wie konnten Sie denn wissen, was geschehen würde? Das konnten Sie doch nicht so schnell in meinen Gedanken lesen?“ 71
„Nein, aber es gibt noch andere Mittel. Vergessen Sie nicht, daß Sie bis zu meiner Rückkehr hierbleiben müssen. Also machen Sie es sich bequem und haben Sie Geduld.“ Carter verschwand. Eine Weile später betrat er die Bibliothek im anderen Flügel, und Dr. Hargraves sah ihn fragend an. „Also gut, es geht“, sagte Carter. „Ich werde Ihrer Einladung Folge leisten und schlage die üblichen Demonstrationen vor: Wasser in Eis zu verwandeln, eine Stahlplatte in einem Würfel umzuformen durch Mentalpolarisation der Lichtwellen.“ „Wunderbar!“ sagte Hargraves und schüttelte ihm erfreut die Hand. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Bradman. Ich werde auch dafür sorgen, daß die Presse vertreten ist. Nochmals vielen Dank!“ Dann zog sich Hargraves zurück, und Peters begleitete ihn hinaus. Carter lächelte leicht, dann begab er sich in den Salon, wo er Vera lesend antraf. „Was wollte er?“ fragte sie gelangweilt. Carter erzählte, und sie richtete sich auf, um ihn anzusehen. „Harvey, wie machst du das eigentlich? Handelt es sich tatsächlich um wissenschaftliche Wunder oder sind das nur sehr geschickte Gauklertricks?“ „Leute wie Dr. Hargraves täuscht man nicht mit Tricks, meine Liebe! Nein, es sind wissenschaftliche Demonstrationen. Die Kraft der Gehirnwellen erlaubt, die Gesetze der Materie zu überwinden.“ „Das mußt du mir erklären, Harvey. Denn heute hältst du mich zum ersten Male für intelligent, genug, um dich zu verstehen …“ Carter setzte sich in Harveys Sessel und entspannte sich. „Ich habe nicht die Absicht, dir die ganze Sache im einzelnen auseinanderzusetzen, Vee. Denn die vielen Jahre, in denen ich mich damit beschäftigt habe, kann ich nicht in einen Augenblick zusammenpressen.“ 72
„Erzähle mir doch von etwas Einfacherem zum Anfang … zum Beispiel, was hältst du vom Weltraumflug? Das scheint dich doch schon seit längerer Zeit zu beschäftigen, und ich interessiere mich auch dafür. Ich bin erstaunt, daß du bei deinem Wissen dafür noch keine Lösung gefunden hast.“ „Aber die Lösung habe ich schon seit langer Zeit!“ antwortete Carter heimlich amüsiert. „Warum weiß es dann niemand? Hör mal, Harvey, es hat doch keinen Sinn, daß du große Entdeckungen machst, um sie dann für dich zu behalten. Die Raumfahrt ist eine Sache, die alle Gelehrten der Welt zu realisieren suchen. Und du sagst, du hättest das Problem gelöst?“ „Ja, Liebling. Aber ich habe triftige Gründe dafür, meine Arbeiten jetzt noch nicht zu veröffentlichen.“ „Ich kenne keinen einzigen, der hieb- und stichfest wäre! Bitte, Harvey, erkläre mir das doch!“ „Ein anderes Mal, Vee. Bitte entschuldige mich jetzt einen Augenblick, denn ich muß mir für morgen abend noch ein Konzept machen.“ Er verließ den Salon und kehrte schnell in seinen Flügel zurück, wo ihn Harvey erwartete. „Ich habe Hargraves Angebot angenommen“, sagte Carter und schloß die Tür. „Ich werde also morgen abend an Ihrer Stelle einen Vortrag halten. Falls wir uns vorher nicht mehr sehen, seien Sie gegen halb sieben Uhr hier, damit wir unsere Rollen wechseln können.“ „In Ordnung“, stimmte Harvey zu und ging zur Tür. „Ich hoffe, Ihre Frau macht Ihnen nicht zuviel zu schaffen, Mr. Bradman!“ fügte Carter mit maliziösem Lächeln hinzu. „Ich habe mich ein bißchen mit ihr über wissenschaftliche Fragen unterhalten.“ „Teufel auch!“ 73
„Ich habe eine oder zwei Fragen offen gelassen. Wenn Sie darauf besteht, versuchen Sie, sich nicht zu sehr festzufahren.“ Harvey knurrte unwillig und ging zum Salon zurück.
Kapitel 5 Am nächsten Abend um halb sieben Uhr entschuldigte sich Harvey und verließ für einen Augenblick den Salon. Carter erschien an seiner Stelle und gab an, er würde sich umkleiden, um zu seinem Vortrag zu gehen. Vera sah darin eine Einladung, sich ebenfalls fertigzumachen, denn sie war fest entschlossen, ganz gleich ob mit oder gegen den Willen ihres Mannes, ihn zu begleiten, um seiner Demonstration beizuwohnen. Harvey hielt sich währenddessen im alten Salon auf und ließ seine Gedanken in alle Richtungen schweifen. Erleichtert sah er auf, als gegen Viertel nach sieben Uhr Peters mit dem Diner erschien. „Ich dachte, ich sollte genauso für Sie sorgen, wie sonst für Dr. Carter. Er ist weg, und Ihre Frau Gemahlin ist mit ihm ausgegangen.“ „Was?“ schrie Harvey und stand aus seinem Sessel auf. „Ich dachte, das gehörte zu dem ganzen Plan, Sir“, sagte Peters, während er. das Gedeck auflegte. „Niemals! Davon war keine Rede, und ich sehe es gar nicht gern, wenn Carter um meine Frau herumscharwenzelt! Das war nicht abgemacht!“ „Ich fürchte, Sir“, sagte Peters mit dünnem Lächeln, „daß es vieles gibt, das nicht in Ihrem Vertrag mit diesem Fremden abgemacht war. Das heißt natürlich nicht, dessen bin ich sicher, daß Sie nun für Ihre Frau Gemahlin etwas zu befürchten hätten. Da Dr. Carter von einem anderen Planeten kommt, wie er ja 74
selbst erklärte, glaube ich, daß er keinerlei physische Anziehung zu Mrs. Bradman verspüren wird. Wir haben es ja nicht mit einem Menschen zu tun, sondern mit einer … einem Lebewesen.“ „Und was für einem Lebewesen!“ fiel ihm Harvey ins Wort, während er sich mit umwölkter Stirn zu Tisch setzte. „Wissen Sie, Peters, was mich am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, daß er immer genau weiß, was im anderen Flügel vorgeht. Wie macht er das?“ „Die Erklärung dieses Geheimnisses erscheint mir relativ einfach. Wenn Sie mit dem Essen fertig sind, werde ich Ihnen, falls Sie erlauben, etwas sehr Interessantes zeigen.“ „Sollten Sie ein Zauberer sein?“ rief Harvey enthusiastisch. „Wieso sind Sie so gut informiert, Peters?“ „Ich habe unseren Gast unter ständiger Bewachung gehalten, Sir“, sagte Peters, während er unerschütterlich weiter das Essen servierte, das er auf einem Teewagen gebracht hatte. „Da ich im großen ganzen wenig zu tun habe, und das Haus bis in alle Winkel kenne, habe ich mich an Stellen verstecken und unseren Gast beobachten können, die er nicht kennt …“ Nach dem Essen führte ihn Peters in den Keller. Als ein Schalter knackte und elektrisches Licht aufflammte, war Harveys Überraschung vollkommen. „Ich dachte, wir hätten keinen Strom hier unten?“ wunderte er sich. „Es gab auch keinen, aber Dr. Carter hat einen Generator installiert, Sir, hier nebenan. Er sieht klein aus, leistet aber viel und ist ständig in Betrieb. Sie hören ihn doch?“ Harvey spitzte die Ohren und vernahm tatsächlich das leichte summende Geräusch – er nickte. „Ich glaube, unser Gast will auch in seine Wohnung eine Leitung legen“, fügte Peters hinzu. „Bis jetzt hat er sich noch 75
nicht damit beschäftigt, denn er hat sehr viel Zeit darauf verwendet, die Fenster der Zimmer, die er bewohnt, anzustreichen, damit man von außen kein Licht sieht.“ „Ein reizender Mieter“, knirschte Harvey zwischen den Zähnen. Er folgte Peters, der ihn schließlich zu einer kleinen Seitentreppe führte. Auch hier gab es elektrisches Licht, und sein Schein fiel auf eine Einrichtung, die wie eine Funk- und Fernsehstation aussah. „Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, hier hereinzukommen, um zu sehen, was unser seltsamer Gast trieb … da merkte ich, daß der Salon des modernen Flügels auf dem Bildschirm erschien und daß Dr. Carter mit einem sehr einfachen Einstellungssystem hier jeden Raum des Hauses überwachen kann. Ich nehme an, daß der Lautsprecher neben dem Bildschirm damit synchronisiert ist. Kurz, mit diesem einzigartigen Apparat – der für unsere Landesverteidigung ein Geschenk des Himmels wäre – kann Dr. Carter jederzeit alles verfolgen, was irgendwo im Haus geschieht …“ „Für alles gibt es also eine Erklärung“, seufzte Harvey erleichtert auf. „Diesem Mann sind wir eben nicht gewachsen, Peters. Gibt es sonst noch etwas?“ „Nichts, was wir sofort verstehen würden, Sir. Vielleicht interessieren Sie sich für die Einrichtung im Nachbarkeller? Allerdings ist noch nicht alles da. Es sollen noch einige Maschinen ankommen, wie Sie wissen …“ Harvey betrat mit Peters den anstoßenden, ebenfalls hell erleuchteten Raum. Zahlreiche elektrische Apparate waren dort aufgestellt, doch keiner hatte im Augenblick eine spezielle Funktion zu erfüllen. Das wichtigste schien eine durchsichtige Röhre zu sein, die horizontal auf einem Gestell lag. Innen war sie teilweise mit Filz und Leder gepolstert. Sie war luftdicht 76
verschlossen und trug am einen Ende eine Chromhülle, die wie die Schleusenkammer einer Rakete aussah. Das Ganze mochte ungefähr sechs Fuß lang sein und im Augenblick waren keine Zuleitungen zu sehen, obwohl in der Betonwand direkt daneben Schalttafeln angebracht waren. „Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte, Peters?“ fragte Harvey mit einem Blick zu seinem Diener. „Nein, Sir. Ich habe auch darauf verzichtet, den Zweck dieses Instruments hier herauszufinden, das mir sofort auffiel, als ich es wagte, diese Kellerräume zu betreten …“ Harvey näherte sich einem zweiten Zylinder, der ebenfalls durchsichtig war, jedoch vertikal stand und nicht besonders breit schien. Im Innern schwebte eine Art von grauem Plasma. Es schien von elektrischem Strom durchflossen, denn es blähte sich auf und machte seltsame Bewegungen, während die beiden Männer es ansahen. „Ein widerliches Zeug“, sagte Harvey und zog eine Grimasse. „Der Zweck von diesem Ding ist mir genauso schleierhaft wie Ihnen.“ Er sah sich um. „Ich gäbe einiges darum, wenn ich herausbekommen könnte, was dieses teuflische Wesen sucht. Manchmal spricht er von Experimenten. Aber was für Experimente? Das ist es, was mich so beunruhigt …“ „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir, für Sie wäre es am besten, Dr. Carter würde verschwinden!“ „Was? Sie meinen, man könnte … ihn umbringen?“ „Ich wagte nicht, dieses Wort auszusprechen, Sir, aber das meinte ich wohl. Wenn die Umstände es erfordern würden, wenn etwa Ihr Leben in Gefahr wäre … ich halte ihn zu allem fähig. Wenn er verschwände, gäbe es keinen Beweis: alle würden denken, daß Sie ja da sind. Genauso gut kann er ja 77
auch Sie verschwinden lassen. – Nur wir beide wissen die Wahrheit.“ „Es ist zu fürchterlich, Peters. Wenn ich mich dazu entschließe, ihn mir vom Hals zu schaffen, möchte ich ihm doch eine Chance lassen, in einer anderen Welt weiterzuleben. Aber ich bin Ihnen für Ihre Anregung dankbar.“ „Ein ernsthaftes Hindernis gibt es noch bei der Sache. Wenn man sich also dazu entschließen würde, verlieren Sie jede Möglichkeit, Ihren Ruf als Wissenschaftler aufrechtzuerhalten. Haben Sie daran auch gedacht?“ „Ja, natürlich. Aber wenn ich mich seiner entledige, gebe ich öffentlich bekannt, daß ich keine wissenschaftlichen Forschungen mehr durchführen werde. Dadurch ziehe ich mich aus der Schlinge.“ „Ja, Sir“, antwortete Peters, der nicht sehr überzeugt schien. „Das wäre eine Lösung …“ Inzwischen waren sie in Carters Wohnung angekommen. Peters räumte den Tisch ab, wobei ihm Harvey trübselig zusah. „Hat Carter gesagt, wann er zurück sein wollte?“ „Nein, kein Wort.“ „Dann werde ich wohl hierbleiben müssen, bis er wieder erscheint. Es wäre vielleicht besser, wenn Sie sich nicht hier aufhielten und womöglich entdeckt würden.“ „Gut, Sir.“ Harvey streckte sich aus, dachte nach, rauchte und wartete so bis nach Mitternacht. Endlich hörte er das Schloß schnappen, Carter trat ein und zog seinen Überzieher und die weiße Krawatte aus. „Hier, ziehen Sie sich das an“, sagte er. „Aber beeilen Sie sich. Ich habe mich mit der ziemlich fadenscheinigen Entschuldigung hierherbegeben, ich müßte eine Textseite in der Bibliothek nachschlagen.“ 78
Harvey warf einen Blick auf seinen Abendanzug, nahm Krawatte und Überzieher und ging zur Tür. „Wo ist der Hut?“ fragte er. „Peters hat ihn mir abgenommen. Sie haben heute einen großen Tag gehabt und sind nach Ihrem Vortrag großartig gefeiert worden, mein Lieber … aber das werden Sie morgen bis in alle Einzelheiten in der Zeitung finden. Sie werden schon sehen!“ Am nächsten Morgen widmeten alle Zeitungen dem Bericht über Harveys sensationellen Experimentalvortrag mehrere Spalten und hoben ihn in die Wolken. Man begrüßte in ihm das mächtigste Gehirn des zwanzigsten Jahrhunderts, einen Meister der Physik und sonst noch alles mögliche! Doch manche Redakteure begannen nun, Fragen zu stellen, und der letzte, der sie hätte beantworten können, war Harvey! Der „Tägliche Beobachter“ fragte mit einer gewissen Schärfe, ob der hervorragende Gelehrte nicht bald davon ablassen würde, sich und sein Publikum zu amüsieren, um der Wissenschaft seine wertvollen Beiträge zu liefern. Andere Zeitungen stellten noch präzisere Fragen: „Warum widmet Dr. Carter bei seinen wissenschaftlichen Kenntnissen nicht sein ungeheures Vermögen der praktischen Verwirklichung seiner Ideen? Warum verwendet er seine Talente nicht zur Ausrottung der tödlichen Krankheiten, zur Heilung von Geisteskrankheiten? Warum bewältigt er nicht die Raumfahrt, schafft die Kriege aus der Welt, erfindet Sicherheitsvorrichtungen für die Eisenbahn, den Flugverkehr und den motorisierten Straßenverkehr? Demonstrationen sind gut, aber unser Land braucht etwas anderes: konkrete Leistungen.“ „Das ist vor allem deine Schuld, Liebling!“ stöhnte Harvey beim Frühstück, als er las, was „er“ am Vorabend getan hatte. „Wenn du den Presseleuten nicht erzählt hättest, daß ich im Be79
sitz des Geheimnisses der Raumfahrt sei, wären jetzt nicht diese Geschichten!“ „Ich stimme völlig mit diesen Leuten überein“, antwortete Vera offen. „Wenn du ein oder zwei Geräte zuwegebringen würdest, um das Haus zu reinigen, wäre ich wesentlich glücklicher, weißt du!“ „Das würde ich nie fertigbringen, Vee. Mein Geist erhebt sich über alles Alltägliche.“ Er machte ein unwilliges Gesicht und schien während der ganzen Mahlzeit an etwas anderes zu denken. Sobald er gehen konnte, ohne Verdacht bei seiner Frau zu wecken, stahl er sich davon. Natürlich, um Carter zu sprechen. Dieser arbeitete im Keller, und dort stöberte ihn Harvey endlich auf. Er war gerade dabei, einen Apparat zu überprüfen, wobei er aber doch noch den Fernsehschirm im Auge behielt, auf dem Vera zu sehen war, die halb ausgestreckt in einer Modezeitschrift blätterte. „Erstens“, sagte Carter, bevor Harvey noch den Mund aufgetan hatte, „sehe ich es nicht gern, daß Sie mich hier aufsuchen. Sie sind nicht intelligent genug, um diese Maschinen zu verstehen …“ „Die Morgenzeitungen verlangen, daß ich meinen Ruf mit hieb- und stichfesten Erfindungen rechtfertige. Auch meine Frau tritt mich ständig deswegen … warum geben Sie nichts Nützliches von sich?“ Carter trat mit einer gelangweilten Bewegung von seinen Maschinen zurück. „Gut, einverstanden! Ich setze also voraus, daß ich Ihnen möglicherweise etwas schulde. Sie könnten einmal das hier versuchen …“ Er näherte sich einem der Apparate, dessen Vorderteil sich zu Harveys Überraschung schlagartig öffnete. Was ein völlig 80
glattwandiger, massiver Metallzylinder schien, und an der Spitze eine seltsame Vorrichtung trug, war in Wirklichkeit eine Art Tresor, dessen Tür unsichtbar war. Carter stöberte in den darin gesammelten Notizen, die sich hoch auftürmten, und zog schließlich ein Bündel heraus. „Amüsieren Sie sich damit“, sagte er. Er war gerade dabei, einen Apparat zu überprüfen und streckte Harvey das Bündel hin, während er den Tresor schloß. „Jede Firma für mechanische Konstruktionen kann es ohne weiteres herstellen.“ „Was ist denn das eigentlich?“ fragte Harvey, der beim Anblick von Skizzen und Gleichungen unruhig wurde. „Ein magnetischer Hebel. Man kann damit die ungeheuerlichsten Lasten heben, und braucht nur auf einen Knopf zu drücken. Man könnte damit zum Beispiel ohne weiteres einen ganzen Wolkenkratzer wegheben und woanders hinstellen. Um Parkplätze zu sparen, könnte man die Wagen wie auf Regalen in Hochhäusern abstellen. Man kann alles mögliche damit anfangen. Beantragen Sie dafür das Urheberrecht. Es ist eine meiner unwichtigsten Erfindungen.“ Harvey sah ihn erstaunt an. „Aber … wie funktioniert denn das Ding überhaupt? Ich muß doch mindestens eine Vorstellung davon haben.“ „Mit Hilfe der Kraftlinien der Erde oder jedes beliebigen anderen Planeten. Mit Hilfe dieses Apparates, dessen Pläne ich Ihnen eben überreicht habe, werden die Kraftlinien, die aus der Schwerkraft entstehen, so gekrümmt, daß die Erdanziehung aufgehoben wird. Das so gewichtlos gemachte Objekt wird dann mit Richtstrahlen bewegt. Diese Maschine ist ideal für Arbeiten an der Oberfläche eines Planeten, Sie können in der Öffentlichkeit bekanntgeben, daß es sich hier um ein Nebenprodukt Ihrer Forschungen über den Weltraumflug handelt …“ 81
82
„Danke“, sagte Harvey. „Damit komme ich eine Zeitlang aus. Ich überlasse Sie Ihrer Arbeit.“ Carter knurrte etwas vor sich hin und fuhr mit der Aufstellung seiner Maschinen fort. Harvey warf einen Blick auf Veras Bild, das noch immer auf dem Fernsehschirm war, und kehrte dann in seine Wohnung zurück. Aber er ging nicht sofort zu Vera, sondern öffnete die Küchentür einen Spalt und winkte Peters. „Ja, Sir?“ flüsterte dieser und trat in den Gang. Harvey machte eine Kopfbewegung, und Peters folgte seinem Herrn neugierig in den großen Innenhof hinter dem modernen Flügel. „Nur der Vorsicht halber“, erklärte Harvey. „Ich glaube nicht, daß Carter uns hier beobachten kann. Ich bin sogar ziemlich sicher darüber. Aber ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich weiß, wo er seine Papiere versteckt hat.“ „Wirklich, Sir? Meine aufrichtige Anerkennung!“ „Ich habe meine Gedanken schweifen lassen, so gut es gehen wollte, damit er nicht erriet, daß ich Absichten auf seinen Tresor habe“, fuhr Harvey fort. „Vielleicht findet sich unter den aufgestapelten Papieren auch das Geheimnis der Raumfahrt, um von anderen Entdeckungen gar nicht zu reden, die unschätzbaren Wert haben könnten. Selbst das, was ich hier habe, geht weit über alle Erfindungen hinaus, die bisher von unseren Ingenieuren gemacht wurden …“ Peters sah ihn verwirrt an, und so erzählte ihm Harvey im einzelnen, was sich ereignet hatte. „Sehr gut, Sir“, sagte der Diener schließlich. „Ich nehme an, Sie wollen diese Erfindung veröffentlichen und erklären, sie stamme von Ihnen?“ „Genau das, aber da ich keine Ahnung habe, auf welchem Prinzip der Apparat beruht, werde ich Dr. Hargraves die Pläne 83
anvertrauen. Er wird das alles erledigen, und mein Ruhm wird dadurch noch mehr steigen. Sehen Sie, Peters, jetzt sind wir aktionsbereit. Ich habe mein Ansehen als Wissenschaftler gefestigt dadurch, daß ich der Welt die Entwürfe für diesen wunderbaren magnetischen Hebel überreiche. Jetzt kann ich mich von allen wissenschaftlichen Arbeiten zurückziehen und … über Carter verfügen. Jedenfalls werde ich es versuchen. Er macht im Keller gerade ein Experiment, das mich beunruhigt, und ich fühle, daß der Augenblick näher rückt, wo er gefährlich wird.“ „Einverstanden, Sir. Mit was fangen wir also an?“ „Mit zweierlei. Erstens werde ich diese Erfindung Dr. Hargraves schicken und zweitens werden wir heute abend versuchen, Carters Tresor zu öffnen. Da es zu gefährlich wäre, Papiere einfach mitzunehmen, schlage ich vor, daß wir Fotokopien machen. Ich möchte, daß Sie gleich anfangen. Nehmen Sie die Pläne mit und gehen Sie bei Ihrem Freund, dem Fotografen vorbei, um eine Kleinbildkamera mit Blitzlicht und so weiter zu kaufen.“ „Sehr gut, Sir. Ich werde es sofort besorgen.“ * Ziemlich spät gingen Vera und Harvey schlafen. Peters zog sich nicht in sein Zimmer zurück. Da er die Örtlichkeiten genau kannte, blieb er auf, um den Augenblick abzuwarten, da Carter zu Bett gehen würde. Erst gegen drei Uhr verließ dieser den Keller und ging in seine Wohnung. Doch Peters wartete noch bis vier Uhr. Dann schlich er zum neuen Flügel und kam schließlich in den Gang, der zu Harveys Zimmer führte. Dieser erwartete ihn schon. „Wo waren Sie denn so lange?“ fragte er flüsternd. „Sie hatten doch drei Uhr gesagt.“ 84
„Ja, Sir, ich bitte um Entschuldigung. Aber ich mußte warten, bis Dr. Carter schlafen gegangen war. Jetzt ist der Weg frei. Entschuldigen Sie mich bitte noch einen Augenblick …“ Er verschwand in der Dunkelheit und kam einen Augenblick später mit einem Rucksack auf der Schulter zurück. Er zog zwei Taschenlampen hervor, zwei neue Selbstladepistolen, die Mikrokamera, Blitzlicht und ein paar Gartengeräte, die sie vielleicht brauchen würden, um den Tresor aufzusprengen. „Sehr schön“, sagte Harvey. „Sie haben wirklich an alles gedacht. Peters! Gehen wir also. Die Idee, Waffen mitzunehmen, gefällt mir zwar nicht sehr …“, fügte er hinzu, während er die eine Pistole einsteckte. „Ich dachte, man müßte auf das Schlimmste vorbereitet sein, Sir. Dr. Carter wird sicher vor nichts zurückschrecken, wenn er entdeckt, daß wir in sein Reich eindringen. Man wird dann auf ihn schießen müssen. Ich hoffe, Ihre Frau Gemahlin schläft?“ „Ich hoffe es auch“, antwortete Harvey und glitt vorwärts wie ein Schatten. Der Zugang zum Keller bot keine Schwierigkeiten. Carter hatte nicht einmal die Tür abgeschlossen, die hinabführte. Die beiden Männer stiegen lautlos auf Zehenspitzen die Treppe hinab und gelangten in eine eigentümlich feuchte Hitze. Offenbar hatte Carter, nach den chemischen Gerüchen zu schließen, sich geheimnisvollen Experimenten gewidmet … „Sollen wir Licht anzünden?“ fragte Harvey, während er auf das schwache aus der Ferne vernehmbare Brummen des Generators lauschte. „Ich würde davon abraten, Sir. Unsere Lampen genügen, wenn Sie wissen, wo der Tresor steht.“ „Natürlich, das weiß ich genau …“ Harvey ließ seine Lampe aufleuchten. Ihr Licht streifte über Carters seltsame Maschinen und blieb schließlich auf einem 85
Zylinder haften, der einen elektrischen Apparat zu stützen schien. „Ist es das?“ fragte Peters überrascht. „Äh … ja. Raffiniert, nicht? Ich weiß nur nicht, ob wir das Ding aufbekommen.“ Sie gingen näher an den „Pfeiler“ heran und konnten nur die haarfein eingekerbte Linie sehen, die zeigte, wo die Tür lag. Kein Schloß war sichtbar, kein Griff – nur das glatte, glänzende Metall. „Vielleicht hat die Tür eine verborgene Feder, Sir?“ vermutete Peters und tastete über die metallene Fläche. Doch trotz eingehender Untersuchung konnte weder er noch Harvey herausfinden, wie die Tür funktionierte. „Es handelt sich hier um einen Verschluß, der durch geistige Wellen getätigt wird, Sir“, schloß endlich Peters. „Das wäre wohl auch das sicherste. Aber dann …“ Er unterbrach sich, denn ein Geräusch ließ ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Es klang wie ein Pfeifen von Luft, die aus einem Reifen entweicht. Darauf folgte das Knacken mehrerer Schalter. Verschiedenfarbige Strahlen leuchteten im Labor auf. Angstschlotternd versuchten die beiden Männer herauszufinden, wo diese beunruhigenden Erscheinungen herrührten, indem sie den Strahl ihrer Lampen suchend durch den Raum wandern ließen. „Es kommt … es kommt von dort hinten, von der waagrecht liegenden Röhre“, stammelte Harvey, hastig atmend, und richtete seine Lampe an die bezeichnete Stelle. „Da drin bewegt sich etwas.“ „Äh … ja … tatsächlich, Sir“, bestätigte Peters, starr vor Schrecken. Keiner der beiden fühlte sich imstande, eine Bewegung zu machen. Sie blieben bei dem Metallzylinder stehen, den sie zuvor untersucht hatten, und beobachteten die Röhre. 86
Aus der verchromten „Kappe“ am Ende glitt etwas hervor und fiel zu Boden. Etwas, das wie eine weißliche, zerfließende Gestalt aussah und sich geisterhaft bewegte. Sie konnten einfach nicht erkennen, was es wirklich war. Und plötzlich erhellte sich das Labor ohne ersichtlichen Grund. „Großer Gott“, flüsterte Harvey, „sehen Sie das, Peters?“ Peters sah es wohl, doch er wußte nicht, was er davon halten sollte. Die Erscheinung aus der Röhre erhob sich langsam. Es war weder eine Ausgeburt des Grauens, noch eine übernatürliche Erscheinung. Es war eine Frau. Eine wundervolle Frau. Das Licht zeichnete alle Rundungen ihres makellosen Körpers nach und ließ ihr blondes Haar aufschimmern. Sie war wirklich schön, von seltener Harmonie, höchster Vollkommenheit der Proportionen. „Be… bemerkenswert, Sir“, urteilte Peters mit schwerer Zunge. „Eine junge, entzückende Frau, tatsächlich …“ „Und sie kommt aus dieser Röhre!“ fügte Harvey hinzu, der mit schweißbedeckter Stirn abwartete, was nun geschehen würde.
Kapitel 6 Mit graziösen, sanften Bewegungen kam die geheimnisvolle Frau auf Harvey zu und sah ihn aus großen blauen Augen an. Bradman klammerte sich verzweifelt an Peters, doch nicht für lange. Als sie vor ihm stand, legte sie ihm die Arme um den Hals und hielt ihn fest. Ihr schönes, strahlendes Gesicht war nur wenige Zentimeter von Harvey entfernt. Ein durchdringender Geruch, wie von einem Desinfektionsmittel wehte ihn flüchtig an, und er hatte das Gefühl, einen 87
warmen, lebendigen Leib zu streifen. Doch er machte sich los und streifte die Hände der Frau von seinen Schultern. „Wir müssen fort von hier!“ sagte er keuchend zu Peters. „Sofort weg von hier, um Gottes willen!“ Sie stürmten zur Treppe, die nach oben führte, doch ein Geräusch von oben ließ die beiden zusammenfahren. Sie blieben stehen und sahen die Silhouette von Dr. Carter über ihnen. Er hatte einen Schlafrock über die Schultern geworfen, und auf seinem Gesicht malte sich Erstaunen und zugleich Befriedigung. „Sie lebt, nicht wahr?“ rief er und stieg die Stufen hinab. „Meine schöne Oena lebt!“ „Es sieht jedenfalls ganz danach aus!“ wetterte Harvey und erinnerte sich plötzlich daran, daß weder er noch Peters ein Recht dazu hatten, sich hier aufzuhalten. Er wartete auf einen Wutausbruch von Dr. Carter, doch diesen schien der Einbruch in sein Reich nicht besonders zu beunruhigen. Inzwischen war er zu den beiden Männern getreten und betrachtete die Frau, die unbeweglich verharrte, mit einer senkrecht auf der Stirn stehenden Falte, was ihr den Ausdruck der Enttäuschung verlieh. „Wer zum Teufel ist denn das, Carter?“ fragte Harvey, der seine Neugier nicht länger verbergen konnte. „Sie gehört mir!“ antwortete Carter, und seine Augen strahlten vor Freude und Stolz. „Ich habe sie geschaffen – aus Fleisch, synthetischem Gewebe, kosmischer Strahlung, Mitogenese …“ „Soll das heißen, daß sie ein künstliches Wesen ist?“ brachte Peters mühsam hervor. „Genau“, antwortete Carter mit glühenden Blicken. „Ich war nicht sicher, ob mein Versuch gelingen würde, aber er ist es, und wie wunderbar, sehen Sie selbst! Als Grundstoff habe ich ein Plasma benutzt, das dort in der Röhre gehalten wurde. Ich 88
nahm mir als Modell sämtliche Frauen zum Vorbild, die mir als die schönsten dieses Planeten erschienen – ähnlich wie mich nach Ihnen geformt hatte, Bradman. So habe ich eine Komposition geschaffen, welche die ideale Frau verkörpert, von der Maler und Dichter träumen. Ein makelloser Körper, ein strahlendes Antlitz … ist sie nicht wundervoll anzusehen?“ „Sie haben alles vorbereitet und sie dann ganz allein zur Welt kommen lassen?“ fragte Harvey, der sich innerlich sträubte, diese phantastische Geschichte zu glauben. „Nicht ganz. Ich habe den Versuch überwacht, solange es notwendig war, und das weitere habe ich einem automatischen System überlassen. Ich hatte eine Alarmanlage in meinem Zimmer angebracht, die mir anzeigen würde, daß der Prozeß seinem Ende zuging. Das war jetzt eben der Fall, und deswegen bin ich hier. Die Impulse, die ich dem synthetischen Gehirn verlieh, haben mein Geschöpf aus seinem Entstehungsort heraustreten lassen, und diese Bewegung hat einen elektromagnetischen Strahl unterbrochen, der dann das Licht hier einschaltete. Ich hatte diese Vorsichtsmaßnahme getroffen, damit sie sehen konnte, was um sie war, und nicht durch eine Panik ihrer merkwürdigen ‚Geburt’ irgendwie zu Schaden käme.“ „Wollen Sie mir bitte sagen, warum Sie diese Frau geschaffen haben?“ fragte Harvey. „Sie könnte uns beiden allerhand Schwierigkeiten bereiten.“ „Schwierigkeiten? Oena?“ gab Carter mit einem trockenen, verächtlichen Lachen zur Antwort. „Sie wird nur das tun, was man ihr befiehlt, und nichts anderes. Sie fragen, warum ich sie geschaffen habe … ich brauche eine Frau. Wenn ich allein auf diesem Planeten bliebe, wäre ich ja überflüssig.“ „Gibt es denn hier nicht genügend Frauen, unter denen Sie eine hätten wählen können?“ fragte Harvey vorwurfsvoll. „Das hätte Unzuträglichkeiten mit sich gebracht, Mr. Brad89
man. Erstens kann ich ja dieses Haus nicht verlassen, ohne Ihnen Unannehmlichkeiten zu schaffen. Außerdem – und das ist sehr wesentlich – gibt es auf diesem Planeten keine Frau meiner Art. Ich bin allen überlegen, genau wie Ihnen. Also habe ich mich entschlossen, die Frau, die zu mir paßt, selbst zu schaffen. Ich habe nicht beabsichtigt, eine Frau meiner Intelligenz hervorzubringen, sondern eine Gefährtin, die die erste Frau einer neuen Rasse werden soll. Später können wir ein Reich für unsere Nachkommenschaft gründen.“ „Ich errate Ihre Absichten“, sagte Peters bedrückt. „Sie haben uns von Anfang an glauben gemacht, Sie seien ein Heimatloser, der Überlebende einer verlassenen Welt und suchten nur ein Asyl, um zu meditieren und Experimente zu machen. Es ist aber jetzt ganz klar, daß Sie sich nur meines Herrn bedient haben, um Ihre wahren Absichten zu verschleiern. Ihr wirkliches Ziel ist, auf unserem Planeten eine neue Rasse anzusiedeln, wofür diese Frau der Ausgangspunkt ist. Kurz, Sie sind zur Erde gekommen, um hier ein eigenes Volk zu gründen, ein eigenes Reich, ohne sich darum zu kümmern, was aus uns wird, die wir hier unsere Heimat haben.“ „So ist es“, gab Carter ungerührt zu. Harvey fragte: „Da Sie so leicht lebende Wesen schaffen können, warum stellen Sie nicht auf diese Weise eine ganze Rasse her?“ „Weil ich nicht genügend Material dazu habe. Ich konnte nur eine beschränkte Menge von Ausgangsmaterial gewinnen, gerade so viel wie ich brauchte, um den Körper dieser Frau zu bilden. Das übrige entsteht normal. Ja, Mr. Bradman, ich habe Sie benutzt, um meine wahren Pläne zu verbergen. Ich habe Ihnen die Möglichkeit gegeben, Ihr armseliges Wesen aufzublasen, während ich mich mit diesem wunderbaren Schöpfungsversuch beschäftigte. 90
Ich werde noch einige Jahre Ihr Schatten sein – bis zu dem Tage, an dem ich mein Ziel erreicht habe. Daran können Sie mich nicht hindern, denn ich weiß immer, was Sie denken.“ Schweigen folgte. Während dieses Gesprächs hatte sich die Frau den drei Männern lautlos genähert. Sie ignorierte Carter völlig, umfaßte Harveys Schultern zärtlich und zog ihn sanft an sich. Bevor er sich bewußt werden konnte, was ihm geschah, küßte sie ihn leidenschaftlich. „Halt, halt! Moment mal!“ protestierte Harvey und bemühte sich, sie fortzuschieben. Da seine Anstrengungen sich als vergeblich erwiesen, hob Peters die Augenbrauen und hüstelte, geniert von dieser unerwarteten Szene. „Das ist doch merkwürdig“, murmelte Carter nachdenklich und musterte finsteren Blickes das schöne Antlitz der Frau. „Und lästig“, knurrte Harvey, der sich nicht befreien konnte. „Nehmen Sie sie weg von mir, schnell!“ „Weg, vorwärts!“ kommandierte Carter mit gebieterischer Bewegung. Doch die Frau antwortete, ohne sich um den Befehl zu kümmern, mit klangvoller Stimme: „Ich gehorche nur meinem Schöpfer. Ich kann nicht anders.“ „He?“ machte Harvey und sah das Wesen an, dessen rauchblaue Augen ihn unter wohlgeformten schwarzen Wimpern liebevoll intensiv anblickten. „Aber ich habe Sie doch nicht geschaffen! Ich möchte, daß Sie das ein für allemal wissen!“ „Mr. Bradman“, fiel Carter niedergeschlagen ein, „ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte daran denken sollen. Befehlen Sie ihr, sich zu entfernen. Sagen Sie ihr, sie soll sich auf den Stuhl dort setzen … sie heißt Oena.“ „Was? Ich? Gut, sehr gut … setzen Sie sich dorthin, Oena“, befahl Harvey. 91
Die Frau ließ ihn sofort los und bewegte sich mit der Anmut einer Nixe zu dem Stuhl. Sie setzte sich, und wieder trat ihre überirdische Schönheit jedem deutlich vor Augen. „Sehr interessant“, bemerkte Carter nachdenklich. „Wie konnte ich nur diese Seite der Angelegenheit vergessen! Trotzdem, sie ist einfach wundervoll …“ Harvey zog den Knoten seiner Krawatte gerade und stieß unwillig hervor: „Vielleicht für Sie, Carter. Aber ich zittere bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn meine Frau jetzt dagewesen wäre. Ich zittere sogar jetzt noch. Wenn dieses Wesen entflieht …“ „Sehen Sie, ich habe eben einen ärgerlichen Fehler gemacht“, wiederholte Carter. „Das ist viel zu schwach ausgedrückt!“ bemerkte Peters. „Ich muß jedoch zugeben, daß die junge Dame, synthetisch oder nicht, einfach … verführerisch ist!“ „Herrgott, wie naiv sind Sie doch!“ schrie Carter. „Sie sehen nur den Körper der Frau und verlieren sofort den Kopf. Alle Menschen auf diesem Planeten sind doch gleich: die Schönheit einer Frau verzaubert sie. Für mich ist diese Frau nur das Mittel, mein Ziel zu erreichen, mein Ziel …, zumindest war es so. Jetzt ist aber der Ärger da, und alles ist verkehrt. Und Sie, Bradman, haben mein Experiment verdorben. Was zum Teufel hatten Sie hier zu suchen, und Sie, Peters? Sie hatten kein Recht, in mein Labor einzudringen.“ „Ich bin hier zu Hause, und das ist immer noch mein Keller“, gab Harvey zurück, „infolgedessen habe ich das Recht, mich hier umzuschauen. Nicht einmal Miete zahlen Sie, was allenfalls Ihren Anspruch begründen könnte! Im übrigen, warum sollte ich Ihnen eigentlich Ihr Experiment verdorben haben? Wir sind hergekommen, um zu sehen, was Sie treiben, und jetzt wissen wir es.“ 92
„Ach so!“ höhnte Carter. „Sind Sie ganz sicher, daß Sie nur deswegen gekommen sind, Mr. Bradman?“ Carter las mit glühenden Augen und verzerrten Zügen in Harveys Gedanken. „Sie brauchen nicht mehr zu lügen, Harvey. Sie wollten mir meine wissenschaftlichen Geheimnisse stehlen. Sie hofften, diesen Tresor öffnen zu können, der mir gehört. Aber er funktioniert nur durch Gehirnwellen, und ich allein weiß, welche es sind. Was meinen Versuch angeht, so haben Sie ihn deswegen verdorben, weil diese Frau Sie nun als ihren Schöpfer ansieht.“ „Warum sollte sie denn das glauben?“ „Weil sie Sie als ersten gesehen hat – während eigentlich ich es hätte sein müssen! Ich will es Ihnen erklären: ich habe dem Gehirn dieser Frau bestimmte Gedanken eingeprägt, während ich sie schuf. Zuerst gab ich ihr die Sprache. Ich gab ihr auch einen geistigen Eindruck von meinem Aussehen und gab ihr zu verstehen, daß ich der erste Mensch wäre, den sie nach ihrer Geburt zu Gesicht bekommen würde. Ich war absolut sicher, daß es so sein mußte. Aber es ergab sich eben, daß Sie, mein Doppelgänger, von ihr gesehen wurden. Ihr Gehirn ist so gebaut, daß dieser erste Eindruck nicht mehr geändert werden kann. Sie glaubt, Sie hätten sie geschaffen, und sie wird nur Ihnen gehorchen!“ „Aber … aber können Sie das nicht ändern?“ fragte Harvey ziemlich beunruhigt. „Vielleicht, ich muß darüber nachdenken. Vorerst kann ich nichts machen. Was Sie angeht, kann ich Ihnen nur raten, Sie gut zu behandeln, denn wenn Sie ihr etwas tun, bringe ich Sie um. Sie ist mir zu kostbar, um sie zu verlieren …“ Harvey sah Peters an, aber zum ersten Male hatte der treue Diener seinem Herrn keinen Vorschlag zu machen. Dann fuhr Carter fort: 93
„Wenn ich ihr Gehirn nicht so ändern kann, daß sie nur mir allein gehorcht, muß ich sie ganz umformen … wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, wäre das niemals vorgekommen.“ „Jedenfalls muß sie im Augenblick hierbleiben, das ist klar. Gehen wir, Peters.“ „Sehr gut, Sir.“ Harvey ging zur Treppe, während Carters teuflische Augen und der nachdenkliche Blick der synthetischen Frau ihm folgten. Peters kam hinterher. Sie stiegen rasch empor, gelangten in den Hauptkorridor, der im Dunkeln lag. Da erinnerte sich Harvey, daß er ja eine Lampe in der Tasche trug. „Da stecken wir ja schön in der Klemme“, bemerkte er, als sie wieder in ihren Räumen angekommen waren. „Ganz meine Meinung, Sir. Ich … ich kann kaum glauben, daß diese junge Frau nur aus Chemikalien besteht. Wirklich hübsch, finde ich. Wirklich –“ Harvey wetterte dazwischen: „Sie brauchen nicht ständig zu wiederholen, daß sie hübsch ist! Die Frage ist jetzt, was wir tun sollen. O Gott!“ brach er entsetzt ab. Das Licht im Gang war plötzlich aufgeflammt, und Vera stand vor ihnen. „Da seid ihr also!“ rief sie und kam näher. „Überall habe ich euch gesucht, und plötzlich hörte ich euch reden. Was machst du denn hier? Und Sie, Peters? Ich habe noch nie solche Angst gehabt wie heute, als ich merkte, daß du verschwunden warst!“ „Angst?“ sagte Harvey und versuchte, so unbefangen wie möglich zu erscheinen. „Warum denn? Ich hätte doch … irgendwohin gegangen sein können?“ „Das meine ich ja eben. Ein Wissenschaftler, der solche Experimente macht wie du, könnte doch jeden Augenblick in die 94
vierte Dimension oder sonst wohin rutschen. Was macht ihr denn hier mitten in der Nacht?“ „Wir haben gerade noch einmal die letzten Vorbereitungen für einen Versuch überprüft, Liebling“, antwortete Harvey lächelnd. „Wir kommen aus dem Keller. Es ist keine Arbeit für eine Frau, sonst hätte ich dich gebeten, mir zu helfen …“ „Das stimmt, Mrs. Bradman“, bestätigte Peters. Veras Blick ging von einem zum anderen. „Es steht dem doch wohl nichts im Wege, daß ich mir ansehe, was ihr im Keller gemacht habt?“ fragte sie plötzlich. „Weißt du, ich. … ich glaube, das wäre nicht gut, mein Schatz“, sagte Harvey leise und nahm sie beim Arm. „Dort unten sind statische und freie Elektronen in großen Mengen, die nicht gut für dich wären …“ Er verstummte, denn plötzlich richtete sich Veras Blick auf einen Punkt im Gang hinter ihm. Auch Peters sah dorthin, und sein Gesicht nahm einen so unbeschreiblichen Ausdruck an, daß Harvey nicht wagte, sich umzudrehen. „Meister … Schöpfer … warum hast du mich verlassen?“ Diese klagende Stimme, in der ein überirdischer Zauber schwang, konnte niemand überhören. „Da ist sie!“ ließ Harvey vernehmen, ohne sich dessen bewußt zu sein, was er sagte, und kniff die Augen fest zu, als könnte er dadurch das Unheil abwehren. Vera schien ihn nicht zu hören. Ihr entsetzter Blick ruhte auf der Frau, die in dem lichtdurchfluteten Korridor vorwärtsschritt. Sie ging wie ein Gespenst, und dennoch war jede ihrer Bewegungen von unsagbarem Reiz erfüllt. „Um Himmels willen, wer ist denn das?“ rief Vera aufgebracht. „Harvey! Harvey! Bist du wahnsinnig? Mach die Augen auf … wenn du den Mut dazu hast!“
95
Oena riß sich von Peters los 96
Harvey öffnete die Augen und schluckte. Es folgte genau das, was er befürchtet hatte. Oena stand vor ihm, umschlang ihn zärtlich und küßte ihn. Vera starrte sie mit weitaufgerissenen Augen an, daß man hätte meinen können, sie sei übergeschnappt. „Sie ist … es ist ein Medium, das ich für meine Forschungen benutze, Vera“, stieß Harvey schließlich hervor, während er versuchte, sich den Armen zu entwinden, die ihn umklammerten. „Das ist keine richtige Frau, Vera, es ist … es ist …“ „Was denn?“ schrie Vera außer sich. „Sie ist synthetisch hergestellt. Eine künstliche Frau … äh … sie ist im Labor entstanden. Übereinandergeblendete Fotos und Plasma, dann das Ganze zum Leben erweckt.“ „Es stimmt, Madam“, fügte Peters hinzu. Vera stammelte mit erstickter Stimme: „Seien Sie ruhig, Peters! Ich kann mich nur wundern, daß ein so … ein so gesetzter Mann wie Sie bei … bei solchen Geschichten mit im Spiel ist!“ „Einen Augenblick!“ protestierte nun Harvey. „Es handelt sich hier nicht um Geschichten, Liebling! Oena ist musterhaft erzogen … in den Grenzen ihres synthetischen Charakters. Oena, lassen Sie mich los!“ Sie gehorchte auf der Stelle und blieb mit hängenden Armen vor ihm stehen. „Ich verstehe“, sagte Vera eisig. „Das war also dein großes Geheimnis, Harvey. Hast du dafür dreißigtausend Pfund an Material ausgegeben? Soviel war es doch, nicht? Ich selbst nehme an, daß deine wissenschaftliche Befähigung und die Experimente nur ein Deckmantel waren, um diese furchtbare Geschichte zu verbergen … ich bin absolut sicher, daß du diese Frau schon seit langem im Keller versteckt hältst! Daran gibt es nichts zu rütteln, Harvey! Jetzt verstehe ich, warum du immer 97
so viel im Keller warst! Ich werde einen derartigen Skandal in den Zeitungen machen, daß dir noch jahrelang die Ohren dröhnen!“ „Vera, hör doch …“ Doch sie hörte nicht zu. Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte die Treppe hinunter. „Peters, halten Sie Oena zurück!“ rief Harvey und rannte so schnell hinter seiner Frau her, wie er nur konnte. Peters sah ihm nach und nahm dann Oena beim Arm, die Miene machte, Harvey zu folgen. Er wollte die synthetische Frau mit Gewalt zurückhalten; doch er hatte ihre Kräfte weit unterschätzt. Carter mußte ihr einen Teil der Bärenkräfte verliehen haben, die er selbst hatte. Oena riß sich von Peters los. Und zwar mit solcher Gewalt, daß dieser taumelte und zu Boden fiel. Schreckensbleich sah er, wie sie den beiden nachsetzte. „Jetzt gibt es nur noch einen Ausweg“, murmelte er. Kaum war ihm diese Idee gekommen, als er auch schon zu Carters Flügel rannte. Er fand ihn im Keller in Berechnungen versunken, die nur zuweilen von Überlegungen unterbrochen wurden, wobei er dann ins Leere starrte. „Was ist los, Peters?“ fragte er ungeduldig. „Verzeihung, Sir, aber wir brauchen Ihre Hilfe dringender als je. Oena ist ausgerissen!“ „Ich weiß es. Leider! Ich konnte sie nicht halten. Bradman ist an allem schuld.“ „Das ist möglich, Sir, aber wenn Sie nicht einspringen, wird Mrs. Bradman Ihre Roboterin vernichten, oder mindestens verletzen. Sie ist in einer seelischen Verfassung, die …“ Carters Ausdruck änderte sich blitzschnell. Er legte seine Notizen hin und eilte zu seinem Fernsehgerät. Er schaltete es ein und drehte an einem Einsteller, bis ein Zimmer erschien. Vera zog sich gerade an, und Harvey, der neben ihr stand, rang 98
verzweifelt die Hände. An der Tür wartete Oena; schön wie ein Engel, sah sie den beiden zu. Der Lautsprecher erdröhnte: „… das ist die reine Wahrheit, Vee, du mußt mir einfach glauben. Laß mich wenigstens Oena Wissenschaftlern zur Untersuchung vorführen und beweisen, daß sie keine wirkliche Frau ist, sondern ein Gespenst …“ „Sie untersuchen?“ fauchte Vera und fuhr herum. „Wozu denn eigentlich? Schau sie doch an! Sie ist ja nicht einmal normal angezogen … ich gehe jetzt, und du wirst von meinem Rechtsanwalt das Weitere hören, das verspreche ich dir!“ Vera knöpfte ihr Kleid mit zornigen Bewegungen zu. Sie ging zum Schrank, riß einen Koffer heraus und warf ihn auf den Boden vor dem Bett. Oena näherte sich Harvey mit ausgestreckten Armen. Carter drehte sich um. Dann begann er, sich schnell auszuziehen. „Ich werde hinübergehen. Holen Sie mir dieselben Kleider, die Ihr Herr gerade trägt.“ Peters eilte hinüber, und nach zehn Minuten war Carter fertig. Er stürmte die Treppe hinauf, Peters hinter ihm her. Als sie schließlich in der Nähe des Zimmers angekommen waren, blieb Carter stehen und lauschte. „… das ist mein letztes Wort, Harvey! Du kannst dein Doppelleben allein weiterführen, das berührt mich nicht mehr! Aber ich werde alles in der Öffentlichkeit bekanntmachen, verlaß dich darauf! Dein Ruf geht dann auch zum Teufel! … Adieu!“ Harvey ließ Veras Zornausbruch ohnmächtig über sich ergehen. Sie hatte ihren Mantel an und das Köfferchen in der Hand. Oena lehnte am Bett und lächelte ihrem „Schöpfer“ zu. Nach einem letzten wütenden Blick wandte Vera sich um und trat in den Gang. Sie hatte kaum sechs Meter zurückgelegt, als sie 99
plötzlich Harvey und Peters vor sich stehen sah. Sie fuhr vor Schreck zusammen und öffnete den Mund. Carter fragte scherzend: „Überrascht, Liebling? Schließlich bin ich ja ein Mann mit ungewöhnlichen Fähigkeiten, wie du weißt, und ich beharre darauf, daß Oena ein Kunstgeschöpf ist.“ „Wie … wie kommst du denn hierher?“ brachte Vera mühsam hervor. „Ach, das ist einfach Fortbewegung im Überraum. Ich …“ Er schwieg. Vera war ohnmächtig geworden und zu Boden geglitten. Carter sah sie an und nahm sie dann mit außergewöhnlicher Behendigkeit auf seine Arme. Peters ergriff den Koffer. Carter trug die Bewußtlose in ihr Zimmer. Harvey fuhr zusammen, als er sah, was geschehen war. „Was bedeutet denn das alles?“ fragte er und starrte auf Veras reglosen Körper. „Ich bin an Ihre Stelle getreten“, sagte Carter. „Ihre Frau hat mich vor sich gesehen, nachdem sie gerade aus dem Zimmer gekommen war, denn ich hatte keine Möglichkeit, mich zu verstecken. Sie ist durch diesen Schreck etwas durcheinander geraten. Gehen Sie in meine Wohnung und bringen Sie Oena hinüber. Um den Rest kümmere ich mich selbst.“ „Aber was haben Sie …“ „Beeilen Sie sich!“ schrie Carter. „Ihre Frau kann jeden Augenblick aufwachen.“ Harvey ballte die Fäuste und ging zur Tür. „Oena, folgen Sie mir!“ befahl er. Die synthetische Frau gehorchte glücklich. Peters, der halbtot vor Müdigkeit war, wartete die Dinge ab, die weiter folgen würden. Sie ließen nicht lange auf sich warten; denn Vera kam all100
mählich wieder zu sich. Endlich setzte sie sich auf, und Carter legte ihr den Arm um die Schultern. „Geht es jetzt besser?“ fragte er lächelnd. „Du hast mir Sorgen gemacht – wahrscheinlich überfiel dich plötzlich eine Art Alptraum, denn du hast von einer synthetischen Frau gesprochen in deinem Delirium, oder von so etwas Ähnlichem. Dann sagtest du, du wolltest dich scheiden lassen und das Haus verlassen. Und schließlich bist du bewußtlos geworden.“ Vera sagte nichts. Sie sah Peters an, konnte jedoch seinem Gesicht nichts entnehmen. Langsam sammelte sie sich und schien nachzudenken. „Darf ich Ihnen etwas holen, Madam?“ fragte Peters höflich. Vera antwortete noch immer nicht. Ein Gedanke schien sie zu quälen, den sie nicht klar erfassen konnte. Schließlich richtete sie einen intensiven Blick auf Carter. „Gab es nie eine synthetische Frau im Haus, Harvey?“ „Aber hör mal, natürlich nicht! Das war doch alles nur ein verrückter Traum, Liebling! Vielleicht kommt das von den Strahlungen aus dem Keller, wo ich mit Peters ständig arbeite.“ „Ich verstehe … hilf mir vom Bett herunter, bitte. Ich fühle mich jetzt schon besser.“ Carter kam ihrer Bitte nach, und Vera sah sich um. Dann schrie sie plötzlich: „Wo ist Harvey?“ Carter schien erstaunt. „Aber ich bin doch hier, Liebling …“ „Sie frage ich, Peters! Wo ist mein Mann?“ schrie Vera wild. Peters stotterte, brachte jedoch nichts Vernünftiges heraus. Vera wandte sich langsam um und sah Carter an. Peters erkannte an seinem gespannten Gesichtsausdruck, daß er in Veras Gedanken zu lesen suchte. 101
„Wer Sie auch immer sind“, sagte Vera und fixierte ihn, „Sie sollen wissen, daß ich nicht ganz bewußtlos war, als ich im Gang ohnmächtig wurde. Der Schock hat mich zwar einen Augenblick betäubt, zumal noch die Begegnung mit der unbekannten Frau aus dem Keller dazukam. Ich habe alles gehört, was Sie sagten, und ich hörte auch, was mein Mann Ihnen antwortete … Harvey muß irgendwo im Haus sein. Holen Sie ihn sofort, Peters! Ich verlange eine umfassende Erklärung all dieser seltsamen Ereignisse!“ Carter entspannte sich langsam und lächelte etwas niedergeschlagen. „Sie haben zweifellos die Gabe, Ihre Gedanken zu verschleiern“, sagte er. „Ich konnte in Ihren Gedanken nicht lesen, daß Sie die Wahrheit erraten hatten.“ „Das ist auch gar nicht erstaunlich!“ erwiderte Vera. „In Wirklichkeit habe ich nichts erraten. Ich tappe völlig im dunkeln. Ich weiß nur, daß Sie mit meinem Mann gesprochen haben, und ihn nicht zu Wort kommen ließen. Wer sind Sie? Sein Zwillingsbruder oder was?“ „Nehmen Sie das einmal an“, meinte Carter. „Ich glaube, daß es früher oder später so kommen mußte. Ich meine, daß Sie es erfuhren … das ändert aber nichts an der Lage, denn ich bin allen Wesen dieses Planeten weit überlegen und ich …“ „Was meinen Sie damit …“ Sie verstummte, und ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie war kaltblütig genug, um nicht bewußtlos zu werden. Sie blickte zur Tür, als Harvey ins Zimmer stürmte. Peters folgte ihm. Ein paar Sekunden später kam auch Oena nach und ergriff Harveys Arm. „Hier sind wir! Das Spiel ist aus, Vee“, knirschte Harvey trübselig. „Peters sagte mir gerade, daß du die Wahrheit herausgefunden hast!“ 102
„Eben nicht!“ berichtete sie sarkastisch. „Aber es wäre an der Zeit, daß du damit herausrückst, meinst du nicht?“ „Das ist das Ende meiner Karriere“, seufzte Harvey. „In Wirklichkeit bin ich das, was ich immer war: ein Snob, ein Tangojüngling, ein ganz gewöhnlicher Gin- und Whiskysäufer.“ „Vorwärts, weiter!“ beharrte Vera eisig. „Ich will die Tatsachen wissen, Harvey. Bis ins Detail! Was bedeutet diese ganze Geschichte?“ Harvey erzählte alles von Anfang an. Er brauchte dazu mehr als eine halbe Stunde, und die ganze Zeit über blieb Oena bei ihm stehen. Schließlich war Vera in einen Sessel am Fenster gesunken, niedergeschmettert von den Enthüllungen ihres Mannes, überwältigt von diesem seltsamen Durcheinander von Wissenschaft und Täuschung. Sie war restlos enttäuscht. Carter machte sich Notizen und interessierte sich in keiner Weise für das, was im Zimmer vorging. Peters sah aus, als schliefe er im Stehen. „So sieht es also aus!“ sagte Vera schließlich und ließ die Hände in hilfloser Entmutigung in den Schoß sinken. „Du hast die Fähigkeiten dieses Wesens von Andromeda ausgenutzt. Bei den wissenschaftlichen Demonstrationen und wenn es darum ging, mich zu überzeugen, trat er an deine Stelle. Das ist ja reizend! Wirklich! Nett!“ „Wenigstens erklärt das die Anhänglichkeit der Roboterin an Mr. Bradman“, sagte Peters plötzlich und schien aus tiefem Schlaf zu erwachen. „Glauben Sie mir, es ist die absolute Wahrheit. Mr. Carter hat noch keine Möglichkeit gefunden, ihr Hirn zu ändern.“ „Ich glaube, ich habe etwas gefunden!“ rief Carter aus und erhob sich. „Fassen wir einmal zusammen. Sie wissen jetzt al103
les, Mrs. Bradman, und Ihr Mann braucht also vor Ihnen keine Ausflüchte mehr. Er kann, wenn er will, sich weiter als Meister der Wissenschaften hinstellen, und ich bin bereit, ihm jede Hilfe zu geben, die er haben will …“ „Das ist auch das mindeste, Ihre Pflicht“, sagte Vera eisig. „Was Sie betrifft, so müssen Sie sich alle drei über eines klar sein“, fuhr Carter fort. „Oena ist meine zukünftige Gefährtin, und ich werde mit ihr meine Rasse auf diesem Planeten wieder zum Leben erwecken. Ich bin fest entschlossen, sie zu dem Ziel zu führen, für das ich sie geschaffen habe –“ „Das heißt also, daß Sie eine Rasse von Wesen in die Welt setzen wollen, die intelligenter sind als wir und uns allmählich unterwerfen?“ fragte Vera. Carter erwiderte überlegen: „Die Schwächeren werden den Stärkeren immer erliegen, Mrs. Bradman. Das ist ein unumstößliches Gesetz. Oena kann aber so, wie sie jetzt ist, die Aufgabe nicht erfüllen, zu der sie geschaffen ist, wegen ihrer Anhänglichkeit an Ihren Mann. Es gibt nur ein einziges Mittel, die Situation wieder ins rechte Gleis zu bringen. Dann wird Oena Ihren Mann nicht mehr belästigen, und ich kann meine Rechte auf diese Frau in jeder Weise geltend machen, so, wie ich das vorhatte.“ „Und welches Mittel wäre das?“ fragte Vera argwöhnisch. „Ich muß eine Gehirnoperation bei Ihnen vornehmen, Mr. Bradman, um die magnetische Anziehungskraft auf Oena auszuschalten. Ich kann das so abändern, daß Sie Oena nur noch abstoßen. Eine geringfügige Änderung ihres Gehirns wird sie dann ganz auf mich ausrichten. Das ist eine ganz einfache elementare chirurgische Operation, ich werde nur die Ganglien readjustieren …“ „Soweit es Harvey angeht, werden Sie das nicht tun!“ erklärte Vera entschlossen. „Mein Mann ist schon tief genug in Ihre teuflischen Experimente hineingeraten. Diesmal wird er 104
Ihnen nicht nachgeben, sondern wird das tun, was ich verlange!“ Harvey schien überrascht. „Danke, Vee, daß du mich unterstützt“, murmelte er. „Nach allem, was geschehen ist, hätte ich nicht gedacht, daß du …“ „Du hast dich von A bis Z wie ein Kind benommen, wie ein ahnungsloser, naiver Mensch. Aber du bist mein Mann, und ich werde dir bis zum Letzten den Rücken gegen dieses Ungeheuer stärken! Was sagen Sie jetzt, Mr. Andromeda?“ Carter begnügte sich mit einem Lächeln. „Wenn Sie es verweigern, werden Sie Ihr ganzes Leben lang gegen Oena zu kämpfen haben. Sie altert nie, vergessen Sie das nicht.“ Harvey überlegte einen Augenblick. „Es wird Sie vielleicht überraschen, Carter, und auch dich, Vera“, sagte er plötzlich. „Ich bin bereit, mich dieser Operation zu unterziehen.“ „Was?“ preßte Vera heraus, und vor Entsetzen stockte ihr der Atem. „Unter einer Bedingung. Als Entgelt will ich alle wissenschaftlichen Geheimnisse ausgehändigt haben, die ich zu besitzen wünsche, um meinen Ruf als sogenannter ‚Fürst aller Wissenschaften’ aufrechtzuerhalten. Ich will um keinen Preis auf meinen Namen verzichten, den ich mir doch wohl ehrlich verdient habe. Es hängt also alles von Ihnen ab, Carter. Sie wollen Oena, und ich will sie loswerden. Geben Sie mir, was ich fordere, sonst bleibt alles so, wie es ist.“ „Sieh mal an!“ rief Vera überrascht. „Offenbar hast du trotz allem doch ein kleines bißchen Geschäftssinn, Harvey! Herzlichen Glückwunsch!“ Harvey antwortete nicht. Er sah Carter an, und der schien, seinem Gesichtsausdruck nach, verblüfft. „Nehmen wir einmal an, ich ginge auf Ihre Forderung ein, 105
Mr. Bradman. Wer garantiert Ihnen, daß ich nach der Operation mein Wort halte?“ „Ich werde die Formeln vor der Operation bekommen, sonst wird aus der Sache nichts! Sie werden auch nicht die Möglichkeit haben, mir wertlose Notizbündel zu geben, um so meine Unerfahrenheit auszunutzen. Alles, was Sie mir geben, werde ich Dr. Hargraves unterbreiten. Erst wenn er das Material positiv begutachtet, wie er es bei dem Hebel tat, stelle ich mich zu Ihrer Verfügung.“ „Ich verstehe“, sagte Carter. „Sie nutzen die Situation nicht schlecht aus, Mr. Bradman. Aber ich nehme Ihren Vorschlag an. Welche Erfindungen wollen Sie?“ „Die Weltraumfahrt, das direkte Fernsehen, und das Mittel, das Sie angewandt haben, um chemische Produkte und synthetische Gewebe zu beleben.“ Carter zögerte und hob schließlich die Achseln. „Meinetwegen!“ sagte er. „Ich hole die Formeln aus dem Keller. Inzwischen müssen wir ein Mittel finden, Oena von Ihnen fernzuhalten.“ „Man könnte sie in den Keller führen und dort in einen Schrank einschließen“, schlug Harvey vor. „Ich bringe sie hinunter. Und Sie, Carter, achten darauf, daß sie bis zur Operation nicht mehr entfliehen kann!“ „Einverstanden“, stimmte Carter zu. Harvey wandte sich der Roboterin zu. „Kommen Sie, Oena … wir müssen uns für einige Zeit trennen.“ „Dr. Carter, ich wäre Ihnen zu Dank verbunden, wenn Sie sich, nachdem Sie mir die Unterlagen ausgehändigt haben, in Ihrer Wohnung aufhalten würden. Ich muß erst neue Dispositionen treffen. Obwohl meine Frau jetzt alles weiß, möchte ich nicht, daß Sie sich in unser Privatleben mischen.“ „Ich habe keineswegs die Absicht“, entgegnete Carter kalt. 106
Kapitel 7 Als Harvey die Lektüre der Unterlagen von Carter beendet hatte, war die Zeit zum Frühstück gekommen. Vera schien nach dieser turbulenten Nacht etwas erschöpft, und Peters verbarg sein Gähnen, so gut er konnte. Beide sahen Harvey fragend an, als er ins Eßzimmer trat. „Sag, Harvey, bist du sicher, daß diese Papiere echt sind?“ „Das kann ich nicht allein feststellen, denn ich bin ja kein Wissenschaftler. Hargraves wird es uns sagen. Nach dem Essen gehe ich zu ihm, und wenn alles in Ordnung ist, sind die Würfel gefallen!“ „Kann ich dich nach London begleiten?“ fragte Vera. „Die Idee, mit dem Ungeheuer im Haus zu bleiben, entzückt mich gar nicht.“ „Ja, du kannst ruhig mitkommen“, sagte Harvey. „Auch Sie täten gut daran, uns zu begleiten, Peters. Carter kann während unserer Abwesenheit im Schloß tun und lassen was er will – aber was macht das schon aus!“ Beide stimmten zu, und so startete Harvey kurz nach zehn Uhr in seinem mächtigen Wagen. Neben ihm saß Vera, und Peters hatte auf dem Rücksitz. Platz genommen. Als sie ein gutes Stück vom Schloß entfernt waren, ergriff Harvey das Wort. „Jetzt können wir frei sprechen, ohne Gefahr zu laufen, daß er uns hört“, sagte er. „Wenn bei diesen Formeln tatsächlich die Anleitung zur Raumfahrt ist, werde ich versuchen, Carter mit Oenas Hilfe in den Weltraum abzuschieben. Carter hält sich der ganzen Welt für derartig überlegen, daß es für ihn ein verdammter Schock wäre, wenn der gintrinkende Salonlöwe ihm am Ende überlegen wäre, nicht wahr?“ 107
„Bist du denn sicher, daß du etwas gegen ihn ausrichten kannst?“ fragte Vera zitternd. „Ich werde es jedenfalls versuchen. Wir wissen, was dieses Wesen der Menschheit in ein paar Jahren antun würde, und wir müssen den Kerl einfach daran hindern! Außerdem ärgert es mich, daß man mich für einen hirnlosen Idioten hält. Ich bin zwar kein Gelehrter, aber deswegen bin ich doch nicht ganz ohne Grips, ob ihr es nun glaubt oder nicht. Ich will Carter und Oena loswerden und alle Geheimnisse von Andromeda behalten.“ „Wenn es nur ginge“, seufzte Vera, die wenig von dieser Möglichkeit überzeugt war. Harvey entgegnete darauf nichts, doch man sah seinem Gesicht an, daß er seiner sicher und zu allem entschlossen war. Eine erstaunliche Veränderung schien mit ihm vorgegangen, wohl durch das Bewußtsein, er stehe selbst im Mittelpunkt dieses Planes. Er war fest entschlossen, gegen seinen unbarmherzigen Gegner zu kämpfen, der bis jetzt alles durchgesetzt hatte, was er wollte. * Das Gespräch mit Dr. Hargraves dauerte lange. Vera und Peters warteten im Wagen. Nach zwei Stunden erschien Harvey endlich wieder. Sein Gesicht strahlte. „Alles in Ordnung!“ rief er und setzte sich wieder ans Steuer. „Hargraves hat eine Gruppe von Spezialisten an die Arbeit gesetzt, und es besteht kein Zweifel: Carters Formeln sind authentisch! Sie sind übrigens ganz einfach und klar. Das Schönste an der Sache ist, daß Hargraves mich für den genialsten Physiker aller Zeiten hält! Die Abendzeitungen werden von Berichten über mich überquellen. Ich habe jetzt genug für die Wissen108
schaft getan und kann mich endgültig zurückziehen und auf meinen Lorbeeren ausruhen …“ „Aber was wird aus diesem Plan, Carter loszuwerden?“ fragte Vera angstvoll. „Das ist doch das Allerwichtigste, nicht? Wenn wir uns Carter nicht vom Hals schaffen können, haben alle deine ‚wissenschaftlichen Entdeckungen’ nichts zu sagen!“ „Zu diesem Zweck habe ich Hargraves beauftragt, sofort eine kleine Rakete nach den Plänen in Auftrag zu geben, die ich ihm dagelassen habe. Ich finanziere den Bau selbst, die Arbeit wird von Experten und Ingenieuren ausgeführt. Hargraves glaubt, ich brauchte den Apparat für Demonstrationen …“ „Wann wird denn diese Spezialrakete geliefert?“ fragte Peters mit lebhafter Anteilnahme. „In zwei bis drei Wochen, nehme ich an. Es gibt dabei keine Schwierigkeiten. Als Antrieb benutzt das Fahrzeug die magnetischen Kraftlinien, ähnlich wie der Hebel, aber doch anders. Wenn es mir gelingt, Oena und Carter in so eine Rakete hineinzubringen, ist das Spiel gewonnen!“ „Ich verstehe aber immer noch nicht, was du damit erreichen willst“, sagte Vera verwirrt. „Carter kann doch das Projektil zur Erde zurückbringen, ganz gleich, wie weit es entfernt ist?“ „Er kann es schon, sofern ihm nicht die Apparatur unter den Händen auseinanderfällt. Ich habe alles mit Hargraves arrangiert. Er weiß natürlich nicht, was ich wirklich will. Er glaubt, daß ich ein Mittel suche, um Unfälle zu verhüten, die bei der Raumfahrt auftreten und die Insassen zu Schiffbrüchigen werden lassen könnten. In Wirklichkeit will ich eine Havarie herbeiführen, die selbst Carter mit seiner unfehlbaren Intelligenz nicht beseitigen kann. Aber darüber sprechen wir später noch … ich muß mir erst Verschiedenes überlegen.“
109
* Wie Harvey vorausgesagt hatte, flossen die Abendzeitungen von Lobliedern auf die Entdeckungen über, die er Dr. Hargraves zur Verfügung gestellt hatte. Am erstaunlichsten erschien, daß Harvey keinerlei Entschädigung für seine Erfindungen verlangte. Als Harvey mit Vera und Peters nach Buckinghamshire zurückkam, war es schon Abend geworden. Sie dinierten wie gewöhnlich, und nichts ließ annehmen, daß Carter in ihrer Abwesenheit seine Räume verlassen hatte. Gegen neun Uhr entschloß sich Harvey, den Sprung zu wagen. „Soll ich dich nicht begleiten?“ fragte Vera nervös. „Ich habe wirklich Angst, er könnte dich umbringen, Harvey.“ „Der Ginsäufer geht seinem Schicksal entgegen“, scherzte Harvey. Er wandte sich um, verließ den Salon und stieß in der Vorhalle fast mit Peters zusammen. „Ich möchte Ihnen nur sagen, Sir“, erklärte dieser mit unsicherem Lächeln, „daß ich außerordentlich beunruhigt bin, wenn ich bedenke, in welche Gefahr Sie sich begeben. Darf ich nicht wenigstens irgendwie aufpassen …“ „Dürfen Sie. – Vielleicht braucht er Hilfe. Sie haben doch wahrscheinlich Carter das Abendessen schon gebracht. Wie ist die Stimmung?“ „Undurchsichtig wie gewöhnlich, Sir.“ Sie fanden Carter in seinem Arbeitszimmer. Der Mann von Andromeda schien in tiefes Sinnen versunken. Als Harvey eintrat, hob er den Kopf. Harvey bemerkte, daß der Raum gut geheizt war, obwohl im Kamin kein Feuer brannte. „Während Sie fort waren, habe ich mein Wärmestrahlsystem eingerichtet“, erklärte Carter, der die Frage Harveys in 110
dessen Gedanken gelesen hatte. „Und Sie sind jetzt davon überzeugt, wie ich in Ihren Gedanken sehe, daß ich nicht versucht habe, Sie zu täuschen, sondern Ihnen echte Unterlagen auslieferte?“ „Voll und ganz. Die Welt denkt, ich sei der größte Wohltäter aller Zeiten. Sie haben es ja sicher im Radio gehört?“ „Ich höre keine Nachrichten. Ich ziehe vor zu meditieren. Darf ich daraus entnehmen, daß Sie bereit sind, sich der Operation zu unterziehen?“ „So ist es! Wie lange wird es dauern, bis ich danach wiederhergestellt bin?“ Carter lachte kurz auf. „Wenn Sie etwa an eine Rekonvaleszenzzeit denken, dann trauen Sie meinen medizinischen Fähigkeiten nicht viel zu, mein Lieber … Eine Stunde nach der Operation werden Sie nichts mehr davon merken. Ich habe das Labor im Keller schon zu diesem Zweck hergerichtet. Gehen wir also?“ Harvey stimmte zu und fragte dann: „Wie geht es übrigens Oena?“ „Sie ist noch in dem Schrank, wo Sie sie eingeschlossen hatten. Ich habe dafür gesorgt, daß sie genügend Luft bekommt und mit Hilfe von Strahlen ernährt wird, die durch die Stahlwände dringen. Nahrung in Form von Lebensmitteln ist nicht erforderlich. Auf jeden Fall muß ich sie behalten – je länger ich darüber nachdenke, desto wertvoller ist sie für mich …“ Da Harvey nichts erwiderte, ging Carter voran aus dem Zimmer, und beide stiegen in den Keller. Als Harvey unten ankam, bemerkte er sofort einige Veränderungen. Ein langer Tisch war als Operationstisch hergerichtet, und daneben stand ein kleinerer Tisch, der über und über mit Scheren, Skalpellen und Nadeln bedeckt war, die kalte Reflexe widerspiegelten. 111
„Reizend!“ sagte Harvey. „Genau das, was einen Patienten erfreut!“ Carter zuckte die Achseln und machte eine Bewegung zum Tisch. Harvey ging hin und streckte sich darauf aus. Sein Kopf wurde von einer Stahlvorrichtung festgehalten, die eine Spezialeinrichtung sein mußte. Offensichtlich hatte Dr. Carter sich Mühe gegeben, sein Material so vollkommen wie möglich zu ergänzen. „Ich hoffe, Sie sind sich des Vertrauens bewußt, das ich Ihnen entgegenbringe?“ sagte Harvey, während Carter seine Instrumente bereitlegte. „Sie könnten mich ja ohne weiteres umbringen. Ich glaube aber nicht, daß Sie es tun.“ „Womit Sie recht haben“, stimmte Carter zu und drehte das Auslaßventil des Betäubungsapparates auf. „Das ginge gegen meine eigenen Interessen. Sind Sie bereit?“ Harvey nickte und zählte in Gedanken weiter, um seinen Plan nicht zu verraten. Als Peters die Operationsausrüstung brachte, war er bei 43, als Carter und Peters angezogen waren, bei 122. Die Narkosemaske senkte sich auf Harveys Gesicht, der keine Versuche unternahm, gegen das Schwinden des Bewußtseins anzukämpfen. Er hatte den Eindruck, sofort wieder aufzuwachen, und fühlte sich in keiner Weise anders als zuvor. Er sah um sich. Carter rollte gerade eine Verbandsbinde zusammen. „Hat es nicht geklappt?“ fragte Harvey und setzte sich auf. „Wieso denn nicht?“ gab Carter zur Antwort und sah ihn an. „Die Operation ist geglückt. Sie können sich jetzt bewegen, wenn Sie Lust haben.“ Harvey stieg vom Operationstisch und bewunderte im stillen die chirurgischen Fähigkeiten des Fremden. Er hatte nicht einmal ein Gefühl der Schwäche.
112
113
„Jetzt wollen wir einmal sehen, wie das Resultat ist“, sagte Carter und wandte sich dem hohen Stahlschrank zu, in dem Oena eingeschlossen war. Er öffnete die Tür, und Harvey erblickte die synthetische Frau, die im Schrank auf einem Hocker saß. „Befehlen Sie ihr, herzukommen, Bradman“, bat Carter. Harvey gehorchte. Die Frau sah ihn als einzige Antwort nur mit ihren aschblauen Augen starr an. Sie schien zu zögern, machte jedoch keine Miene aufzustehen. „Ausgezeichnet“, murmelte Carter und rieb sich leise die Hände. „Ihr Gehirn stößt sie jetzt ab. Sie halten sie sozusagen auf Abstand. Jetzt muß ich nur noch Oenas Gehirn so ändern, daß sie mir gehorcht. Da ihr jetzt keiner von uns Befehle geben kann, wird sie vielleicht etwas schwierig zu behandeln sein.“ Er wandte sich um und ergriff eine Flasche mit einer gelben Flüssigkeit. Rasch goß er etwas davon auf einen Wattebausch und war mit einem Satz hinter ihr. Sie drehte sich um und wollte sehen, was vorging. Doch schon lag ihr der Bausch auf Mund und Nase, sie konnte nichts mehr tun und schwankte nach einigen Sekunden. Carter hob sie mit seinen starken Armen hoch und trug sie auf den Operationstisch. Was folgte, schien ein derartiges Wunder der Chirurgie, daß Harvey nur noch entgeistert und fasziniert zusehen konnte. Carter führte mit leichter Hand eine Trepanation durch und hob sogar einen Teil der künstlichen Schädeldecke ab, um die Hirnwindungen bloßzulegen. Es war Harvey nicht ganz klar, was dann geschah – wahrscheinlich nahm Carter eine Ganglienreadjustierung vor. Doch schließlich nahm der Schädel wieder sein normales Aussehen an und antiseptischer Geruch erfüllte die Luft. Harvey setzte sich und wartete; Carter wusch die Hände und ging nachdenklich ein paarmal auf und ab. Peters saß wie erstarrt vor einer Schalttafel. 114
Endlich bewegte sich Oena und murmelte unverständliche Worte. Nach und nach kehrte ihr Bewußtsein zurück, und sie setzte sich aufrecht. Harvey machte eine instinktive Bewegung, um ihr zu helfen, erinnerte sich jedoch gleich, daß sie keine Frau im üblichen Sinne war. Also blieb er sitzen und beobachtete – genau wie Carter – die Bewegungen der Roboterin, als sie langsam vom Tisch herabstieg. „Oena, sieh mich an“, befahl Carter. Sie gehorchte. „Du bist mein Schöpfer“, sagte sie atemlos. „Du hast mich geschaffen, hast mich geformt …“ „Ja, ja, wissen wir alles!“ knurrte Carter. „Setz dich auf diesen Stuhl.“ Oena gehorchte wieder, und ihr Blick schien Harvey zu durchdringen, ohne ihn zu sehen. Sie schenkte ihm gerade soviel Aufmerksamkeit, als wäre er nicht dagewesen. „Sehr gut“, bemerkte Carter. „Von jetzt an habe ich die Situation in der Hand. Ich werde dafür sorgen, daß Oena die Grenzen meiner Wohnung nicht überschreitet, Bradman – und Sie werden sich bemühen, mir nicht ins Gehege zu kommen.“ „Das ist also ein Abkommen?“ fragte Harvey und stand auf. „Ich nehme an, Sie beabsichtigen, für unbestimmte Zeit hierzubleiben?“ „Natürlich. Da ich jetzt die ganze Einrichtung hier habe, wäre es Zeitvergeudung, wenn ich etwas anderes täte.“ Harvey entgegnete nichts. Er verließ mit Peters den Keller und ging in seinen Flügel zurück, wo er Vera fand, die vor Freude förmlich überschäumte. „Dieser Mann ist ein Zauberer!“ rief Vera aus. „Man sieht nicht die mindeste Spur der Operation.“ „Tatsächlich nicht“, erkannte Harvey nachdenklich an. 115
* Harvey konnte kaum seine Ungeduld bezähmen, denn in den folgenden Tagen geschah nicht das geringste. Auch Vera und Peters lebten in der gleichen fiebrigen Erwartung. Peters, der nun wieder die einzige Verbindung zwischen den Bradmans und dem rätselhaften Carter war, berichtete, daß dieser genau wie früher sei und kein Zeichen Oenas Existenz verriet. Sie hielt sich sicher im Keller auf. In dieser unangenehmen Zeit gab Harvey in der Presse bekannt, er wolle sich von der Wissenschaft zurückziehen. Um sich die Langweile etwas zu vertreiben, verbrachten Vera und er einen Großteil der Zeit in London. Nach und nach nahmen sie wieder ihr früheres Leben auf. Vera hatte jetzt nichts mehr dagegen, denn Harvey hatte – obwohl das eigentlich nicht sein Verdienst war – jetzt einen Namen und seinen Mut bewiesen. Sechs Wochen nach der Operation ließ Dr. Hargraves endlich wissen, daß die Rakete bereitstand. Er fragte, wo die Demonstration stattfinden sollte. „Hier bei mir zu Hause“, benachrichtigte ihn Harvey telefonisch. „Wir haben genügend Platz, und es ist hier einfacher für mich.“ „Gut“, sagte Hargraves. „Soll ich alle Fachexperten dazu einladen?“ „Im Augenblick noch nicht. Ich möchte erst mit der Rakete vertraut werden und einige Versuche machen. Lassen Sie bitte die Maschine so schnell wie möglich herbringen.“ „Heute nachmittag um drei Uhr“, versprach Hargraves. „Sie wird zu Ihnen geflogen.“ „Sehr gut.“ Harvey hängte ein und sah Vera an. Seine Augen leuchteten. 116
Weiter hinten stand Peters unbeweglich, bis Harvey plötzlich entdeckte, daß er da war. „Ich … äh … entschuldigen Sie, Sir, aber ich wußte, daß es Dr. Hargraves war, und ich bin natürlich …“ „Ich verstehe, was Sie meinen, Peters – das betrifft Sie ja genauso stark wie uns. Wir werden jetzt das Gelände besichtigen und die beste Stelle für einen Start wählen. Ich will zunächst einmal eine Reise zum Mond versuchen. Kommen Sie mit?“ Die drei verließen den Raum, und Harvey zischelte: „Ich habe das mit der Mondfahrt nur gesagt, um Carters Verdacht abzulenken, falls er zugehört hat. Es wird ihm ohne weiteres einleuchten, daß ich eine Raumfahrt machen möchte, da ich jetzt technisch dazu in der Lage bin. Ich habe nun folgenden Plan, Peters. Hören Sie einmal genau zu. Wenn die Rakete hier ankommt, werde ich zuallererst verschiedene Teile aus dem Motorengenerator herausnehmen. Hargraves selbst hat sie mir als Gefahrenpunkte genannt. Danach wird die Maschine wie vorher starten und mindestens sechzig Millionen Meilen weit fliegen, da sie ja keinen Antrieb mehr braucht, außer bei einer Richtungsänderung oder beim Ausweichen vor Meteoriten. Das heißt also, daß sie starten und fliegen kann ohne Antrieb, also ohne den Motor zu brauchen. Aber wenn wieder eingeschaltet wird, kann der Generator die Belastung nicht durchhalten. Sie erraten, was dann geschieht?“ „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagte Peters. „Entweder zerschellt sie am nächsten Himmelskörper, oder sie schwebt weiter mit der Anfangsgeschwindigkeit, bis sie einmal an ein Hindernis kommt.“ „Sehr gut“, stimmte Harvey zu. „Sie sind direkt ein Wissenschaftler, Peters.“ „Das scheint ganz gut ausgedacht“, sagte Vera. „Aber 117
kommt Carter dabei nicht um? Ich dachte, Carter sollte am Leben bleiben.“ „Das wird er auch, denn die Rakete hat für solche Unfälle ein Rückwärtsflugsystem, mit dem sie eine Notlandung machen kann. Nur hierher kann Carter nicht zurück, es sei denn, er könnte die Werkzeuge und Ersatzteile für den Generator aus dem Nichts schaffen. Das ist aber doch wohl sehr unwahrscheinlich.“ „Und wie steigt er an Bord, ohne die Falle zu wittern?“ fragte Vera. „Oena wird an Bord sein, und er legt ja viel Wert auf diese Frau, will sie nicht verlieren. All das ist nur eine Frage der, Zeiteinteilung. Man muß Oena überwältigen und in das Schiff sperren. Die Startvorrichtung wird automatisch ausgelöst. Und wenn dieser Augenblick gekommen ist, muß Carter auch an Bord sein. Ich habe alles genau ausgedacht. Sobald die Maschine da ist, werde ich den Generator ‚reparieren4 und die Startvorrichtung einstellen. Dann gehe ich zu Carter und sage ihm, ich wollte versuchen, zum Mond zu fliegen, und würde Wert auf seine Ratschläge legen. Ich halte ihn in seinem Arbeitsraum zurück, sollte er nicht dort sein, versuche ich, ihn hinzubringen.“ Er dachte eine Weile nach und fuhr fort: „Sie, Peters, warten den günstigsten Augenblick ab, um Oena zu fangen. Jedes Mittel ist recht, um sie in die Rakete zu bringen. Wenn sie drin ist, mußt du, Vee, zu Carter hineinstürmen und uns melden, daß Oena entflohen ist und Peters mitgeschleppt hat. Carter wird sie retten wollen und uns folgen. Peters hat inzwischen Oena in der Rakete festgebunden und die Maschine verlassen. Sobald Carter drin ist, schlagen wir die Luke zu und verriegeln sie von außen – ich habe zu diesem Zweck besondere Außenriegel anbringen lassen. Die Startvor118
richtung tritt in Tätigkeit und …“ Er öffnete mit einer triumphierenden Geste die Hände. „Das Ganze darf nur eine Viertelstunde dauern“, schloß er. „Darf ich bemerken, daß die Kunstfrau stärker ist als ich“, wandte Peters ein. „Ich werde sie nicht überwältigen können.“ „Im Keller steht eine Flasche mit einer gelben Flüssigkeit“, antwortete Harvey. „Eine eckige Flasche auf einem Tischchen. Gießen Sie etwas davon auf einen Wattebausch, und Oena wird bewußtlos. Das ist doch einfach, nicht? Und du, Vee? Ist dir deine Rolle klar?“ „Sie haben tatsächlich an alles gedacht“, höhnte eine harte Stimme hinter den dreien. Sie fuhren mit einem Ruck herum. Sie waren so in ihr Komplott vertieft gewesen, daß sie alles um sich vergessen und laut gesprochen hatten. Carter stand einige Schritte vor ihnen, einen Revolver in der Hand. lieben ihm, bestrickend und unbeteiligt, Oena. „Das ist alles sehr schlau ausgedacht“, fuhr Carter lächelnd fort. „Ich hörte Ihre Bemerkung im Salon, daß Sie eine Mondreise planten, Mr. Bradman, und ich wollte Ihnen einen guten Platz zum Start zeigen. Ich kam also hierher, um Ihnen zu helfen, und was finde ich? Oder vielmehr, was höre ich? Eine regelrechte Verschwörung, um mich und Oena loszuwerden. Ihr Plan hätte glücken können, aber jetzt ist alles aus. Außerdem ist dieser Plan eine offene Verletzung des Abkommens, das wir geschlossen hatten, Bradman. Ich fühle mich also durchaus im Recht, wenn ich Sie jetzt beseitige. Übrigens ist diese Waffe kein gewöhnlicher Revolver, sondern ein Atomisierer, der Sie alle zu Asche verbrennen wird …“ Harvey warf einen verzweifelten Blick um sich. Vera klammerte sich an ihn. Er wich einige Schritte zurück, und Vera wie Peters folgten seiner Bewegung. Carter rührte sich nicht. Oena lächelte ihm liebenswürdig zu. 119
„Ihr könnt zurückweichen, soweit ihr wollt“, sagte Carter lachend. „Dieses kleine Spielzeug hat eine Reichweite von mehr als einer halben Meile! Euer Entsetzen belustigt mich, ihr elenden Erdenwürmer!“ Er unterbrach sich und hob die Augen. Eine fast durchsichtige Flugmaschine kam aus südlicher Richtung und überflog den Platz. Dann kehrte sie zurück und beschrieb Kreiste über dem Schloß. „Das Raumschiff!“ rief Carter. „Ihre Ingenieure haben keine schlechte Arbeit geleistet, Bradman. Ich werde mir erlauben, noch einen Blick darauf zu werfen, bevor ich mich von euch für immer trenne; warum auch nicht?“ Er beobachtete aufmerksam die Maschine. Vera, Peters und Harvey taten das gleiche. Alle drei vergaßen die Gefahr, in der sie schwebten und sahen die Rakete zurückweichen, vorstürmen, über den Himmel rasen – dann schließlich neigte sie den Bug nach unten und setzte zu einem steilen Abstieg an. „Ein Unglück!“ schrie Harvey und packte Vera beim Arm. „Los, weg von hier! Das Ding schlägt am Boden auf!“ Stolpernd rannte er weg und preßte Veras Arm mit festem Griff, um sie in Sicherheit zu bringen; Peters folgte ihnen. Das Heulen der Flugmaschine, die steuerlos zur Erde raste, wurde ohrenbetäubend. Doch plötzlich verstummte es und an seiner Stelle ertönte das tiefe Brummen der Rückstoßvorrichtung. Eine blendende Wolke weißglühender Flammen, Gase und Rauch schlugen zu Boden, wo sich ein verkohlter Kreis im Gras abzeichnete. Carter stand mitten drin und schrie vor Angst, und Oena lächelte sanft, während ihr Körper flüssig wurde und in einer Dampfwolke explodierte. Vergeblich hatte Carter versucht, den Flüchtenden nachzueilen; Oena hielt ihn fest umklammert. Offenbar glaubte sie, ihr Schöpfer wolle vor ihr flüchten. Und so starben Carter und Oena gemeinsam. 120
Die Rakete stieß auf den Erdboden, und eine weitere Explosion leuchtete im Höhepunkt des Trubels auf. Tumult und Entsetzen legten sich. Eine schwarze Rauchwolke stieg zum Himmel. „Was … was ist denn passiert?“ Harvey schüttelte wortlos den Kopf, und Peters wischte den Schweiß ab, der ihm auf dem Gesicht stand. Die Luke der Maschine öffnete sich und Dr. Hargraves erschien. Er sah sich um und stieg dann aus. Mit unsicheren Schritten kam er heran. „Lieber Mr. Bradman, werden Sie mir jemals verzeihen können?“ fragte er und ergriff Harveys Hand. „Ein entsetzlicher Fehler! Ich verlor die Kontrolle über die Kraftlinien, und die Maschine sackte wie ein Stein zu Boden. Wenn das Hilfssystem nicht so gut funktioniert hätte, wäre von mir nichts mehr übrig. Sehen Sie die Rakete an übel mitgenommen, mein Gott! Aber haben Sie keine Angst, die Vereinigung für Angewandte Wissenschaften wird die Reparaturen bezahlen.“ Harvey bemühte sich, kühl zu erscheinen. „Es ist doch gar nicht verwunderlich, daß Ihnen bei einer so ungewöhnlichen Maschine Irrtümer unterlaufen“, sagte er lächelnd. „Der Schaden wird bald behoben sein.“ Hargraves fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit. Ich wollte eine schöne Schaulandung vorführen und hätte mich fast umgebracht. Wenn die Innenfederung nicht gewesen wäre …“ Er hielt inne, runzelte die Brauen und sah sich um. „Sind Sie nur zu dritt?“ „Ja, wir sind zu dritt“, bestätigte Harvey. „Interessant. Daran sieht man, wie stark die Auspuffgase die Lichtwellen brechen können. Ich hatte einen Augenblick lang geglaubt, während ich heruntertrudelte, es ständen fünf Personen hier.“ 121
Harvey lächelte und klopfte ihm herzlich auf die Schulter. „Sie brauchen jetzt dringend etwas zum Aufpulvern, Doktor – und wir auch. Hinterher sehen wir weiter, was zu tun ist, um die Rakete in Ordnung zu bringen.“ Hargraves stimmte zu und trocknete sich das Gesicht. Mit den anderen trat er ins Haus. Doch er bemerkte, im Gegensatz zu ihnen, nichts von den schwarzen Aschenhäufchen an der Stelle, wo der Flammenstrahl der Rakete auf den Boden gestoßen war. Dr. Carter von Andromeda und seine seltsame Braut aus dem Reagenzglas waren verschwunden – für immer.
Lesen Sie in der nächsten Woche den phantastischen UTOPIA-ZUKUNFTSROMAN Nr. 165
Kampf mit der Urwelt von J. G. Wells
Der vorliegende Roman ist eine Übersetzung aus dem Französischen. Titel des Originals „Hommes en double“. UTOPIA-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden) Pabel-Haus (Mitglied des Remagener Kreises e.V.). Einzelpreis DM 0,60. Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 7. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druckund Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Verbik & Pabel KG., Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz, Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Scan by Brrazo 01/2012
122